Claudia Steckelberg Zwischen Ausschluss und Anerkennung
Claudia Steckelberg
Zwischen Ausschluss und Anerkennung Lebe...
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Claudia Steckelberg Zwischen Ausschluss und Anerkennung
Claudia Steckelberg
Zwischen Ausschluss und Anerkennung Lebenswelten wohnungsloser Mädchen und junger Frauen
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über abrufbar.
Diese Arbeit wurde als Dissertation vom Fachbereich Erziehungs- und Kulturwissenschaften an der Universität Osnabrück angenommen.
1. Auflage 2010 Alle Rechte vorbehalten © VS Verlag für Sozialwissenschaften | GWV Fachverlage GmbH, Wiesbaden 2010 Lektorat: Katrin Emmerich / Sabine Schöller VS Verlag für Sozialwissenschaften ist Teil der Fachverlagsgruppe Springer Science+Business Media. www.vs-verlag.de Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Die Wiedergabe von Gebrauchsnamen, Handelsnamen, Warenbezeichnungen usw. in diesem Werk berechtigt auch ohne besondere Kennzeichnung nicht zu der Annahme, dass solche Namen im Sinne der Warenzeichen- und Markenschutz-Gesetzgebung als frei zu betrachten wären und daher von jedermann benutzt werden dürften. Umschlaggestaltung: KünkelLopka Medienentwicklung, Heidelberg Druck und buchbinderische Verarbeitung: Rosch-Buch, Scheßlitz Gedruckt auf säurefreiem und chlorfrei gebleichtem Papier Printed in Germany ISBN 978-3-531-17064-0
Inhalt
1. Einleitung oder: „Da haben Sie sich ja ganz schön was vorgenommen!“…………………...9 2. Wohnungslose Mädchen und junge Frauen – eine Standortbestimmung……………………………………………..............17 2.1 Sind es Straßenkinder? Aspekte des Fachdiskurses aus Jugendhilfe und Jugendforschung……..18 2.2 Zwischen „Straßenkindern“ und „Pennern“ – Wohnungslose Jugendliche und junge Erwachsene…….………............21 2.3 Überall und nirgendwo – Straße als räumliche und soziale Metapher…………………..................24 2.4 Mädchen und Frauen als Sonderfall? Wohnungslosigkeit und Geschlecht………………………………………..26 3. Theoretische und methodologische Grundlagen……………………………29 3.1 Lebenswelt als Fachbegriff in der Sozialen Arbeit……………………….30 3.1.1 Lebenswelt als Schnittstelle zwischen Subjektivem und Objektivem……....33 3.1.2 Pragmatisches Motiv und Lebensbewältigung………………………………34 3.1.3 Lebenswelt als normativ-kritisches Konzept………………………………..36 3.2 Methodologische Grundlagen……………………………………………….37 3.2.1 Zur erkenntnistheoretischen Relevanz von Erfahrungen……………………37 3.2.2 Das Konzept des Verdeckungszusammenhangs…………………………….41 3.2.3 Konfliktorientierung…………………………………………………………42 3.3 Perspektiven auf Geschlecht………………………………………………...44 4. Methodische Vorgehensweise……………………………………………..........49 4.1 Methodische Vorarbeiten und Feldzugang………………………………...50 4.1.1 Methode und Fragestellung………………………………………………….50 4.1.2 Planung des Feldzugangs……………………………………………............52 4.1.3 Feldzugang…………………………………………………………………..55 4.2 Rahmenbedingungen der Interviewführung……………………………….58 4.2.1 Räumliche, zeitliche und soziale Voraussetzungen………………………....59 4.2.2 Schwierigkeiten im Feld……………………………………………………..60 4.3 Interviewform und Interviewführung....……………………………………62 4.4 Das erhobene Material und die Auswertung…………………………........65 5
5. Fallbeschreibungen………………………………………………..……………...73 5.1 Umfassende Fallbeschreibungen…………………………………………....75 5.1.1 Lisa, 19 Jahre: „Man denkt dann auch immer, ha, ich will leben, aber das ist ja kein Leben eigentlich so auf der Straße.“……………………75 5.1.2 Nadine, 21 Jahre: „Und dann, irgendwie war auf einmal alles weg.“……….98 5.1.3 Lele, 16 Jahre: „Ich kann nur sagen, das was ich so mitkriege, weil wirklich drin hänge ich ja nicht.“………………………………..…...111 5.1.4 Sam, 20 Jahre: „Es ist auf jeden Fall kein Abenteuer, das braucht man gar nicht zu glauben.“…………………………………...124 5.2 Fokussierte Fallbeschreibungen….………………………………………...….141 5.2.1 Hanna, 22 Jahre: „Irgendwie ein komisches Gefühl, alles noch mal zu erzählen.“……………………………………………......141 5.2.2 Jule, 18 Jahre: „Wirklich interessiert hat es ja auch keinen, was mit mir passiert so.“…………………………………………………..149 5.2.3 Ela, 23 Jahre: „Ich werde irgendwann für immer daheim bleiben.“…..…...155 5.2.4 Petra, 20 Jahre: „Ich würde mal ganz gerne so irgendwie auf der Bühne stehen.“………………………………………162 5.2.5 Katrin, 18Jahre: „Ich hatte eigentlich nie so n festes Zuhause. Will ich auch gar nicht.“…………………………………………………..168 5.2.6 Jasmin, 19 Jahre: „Ist eigentlich ganz easy gewesen mein Leben.“……….174 5.2.7 Anja, 18 Jahre: „Ich ja hab immer gesagt, ich wünsche meinem Kind nie so was, ich wünsche meinem Kind ne Zukunft.“ ……...180
6. „Und seitdem bin ich ganz draußen …“ – Orientierungen wohnungsloser Mädchen und junger Frauen………..189 6.1 Anerkannte Räume…………………………………………………............190 6.2 Verlust von Normalität und Ausschluss aus anerkannten Räumen…....192 6.2.1 Zugang zu anerkannten Räumen……………………………………….…..196 6.2.2 Normalisierung nicht anerkannter Räume…….………………..……….…200 6.3 Gewaltverhältnisse……………………………………………….…………204 6.3.1 Gewaltverhältnisse im Herkunftsmilieu……………………………………206 6.3.2 Gewalterfahrungen während der Wohnungslosigkeit……………………...212 6.4 Orientierungen im Geschlechterverhältnis…..………………….……….216 6.4.1 „Guck, dass du ganz schnell Land gewinnst!“ – Eigenständigkeit und Unabhängigkeit.......................................................217 6.4.2 Gleichberechtigt und gewaltfrei? – Teilhabe an heterosexueller Normalität…….……………………………219
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7. Lebenswelten weiterdenken: Konsequenzen für die Soziale Arbeit………………………………………..225 7.1 Verbindungslinien lebensweltorientierter Forschungs- und Beratungsarbeit…………………………………………226 7.2 Normalität – Zugehörigkeit – Integration………………………………..228 7.3 Bildungs- und Kulturarbeit als Überlebenshilfen im Kontext niedrigschwelliger Arbeit………………………………........231 7.4 Ausblick……………………………………………………………………...233 Literatur……………………………………………………………………………...235 Anhang: Transkriptionszeichen………………………………………………...243
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1. Einleitung oder: „Da haben Sie sich ja ganz schön was vorgenommen!“
„Da haben Sie sich ja ganz schön was vorgenommen!“, lautete der Kommentar einer Besucherin im Mädchencafé1 in A-stadt, nachdem ich ihr mein Forschungsvorhaben erklärt hatte. Ich musste an diese Unterhaltung im Laufe der Arbeit an der vorliegenden Untersuchung häufiger denken und sie war Anlass für mich zu reflektieren, was ich mir eigentlich vorgenommen hatte und wie ich dazu gekommen war, die Lebenswelten von Mädchen und jungen Frauen auf der Straße erforschen zu wollen. Das Leben auf der Straße ist ein Handlungsfeld Sozialer Arbeit, in dem ich mehrere Jahre als Sozialarbeiterin beschäftigt und „unterwegs“ war. Insofern liegt das Interesse an der Zielgruppe und dem Lebensort Straße in meiner Berufserfahrung in der Praxis Sozialer Arbeit begründet. Von außen betrachtet scheint das Leben auf der Straße seinen eigenen Regeln zu folgen und eine fremde Kultur hervorzubringen. Es wird mit sozialem Abstieg, Drogenkonsum und Prostitution assoziiert, mit dem Hauch einer abenteuerlichen, schwer durchschaubaren Welt jenseits des normalen Alltags. Das Leben auf der Straße wird auch als Leben am Rand der Gesellschaft bezeichnet. Der Blick auf diesen Randbereich und die dort verorteten Menschen ist vielfach, wie beispielsweise in Berichterstattungen der Medien deutlich wird, mit einer Mischung aus Abwehr, Faszination, Hilflosigkeit und gut gemeinten Ratschlägen verbunden. SozialarbeiterInnen, die mit Zielgruppen auf der Straße arbeiten, sei es in der Wohnungslosen- oder Drogenhilfe, der mobilen Jugendarbeit oder der Unterstützung von Prostituierten, werden durch ihren Zugang zu den sozialen Räumen jenseits der guten Gesellschaft häufig als ExpertInnen für die als fremd geltenden Lebenswelten ihrer AdressatInnen angesehen und als solche von Institutionen, interessierten Einzelpersonen und den Medien angefragt. Einerseits bietet sich damit die Chance einer Vermittlung zwischen unterschiedlichen Lebenswelten, die als Lobbyarbeit im Interesse der betreffenden marginalisierten Gruppen genutzt werden kann. 1
Das Mädchencafé ist eine niedrigschwellige Tageseinrichtung für wohnungslose Mädchen und junge Frauen.
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Andererseits jedoch wird dabei ein verkürztes Verständnis von Lebenswelt transportiert. Denn es geht um die Beschreibung der Aufenthaltsorte, sozialen Kontakte, Gewohnheiten und Meinungen der AdressatInnen aus der Außenperspektive der professionell Helfenden. Dieses Verständnis von Lebenswelt erwies sich für mich in der Praxis Sozialer Arbeit als unbefriedigend, weil mir die Orientierungen und Sichtweisen der AdressatInnen, ihre Verhaltensweisen und ihr Handeln trotzdem letztlich unverständlich und damit vermeintlich fremd blieben. Der Anspruch, der mit dem Fachbegriff der Lebensweltorientierung verbunden wird, nämlich die Perspektiven der Betroffenen zum Ausgangspunkt des Handelns zu nehmen und eben nicht primär die Vorstellungen und Erwartungen der helfenden Institutionen, kann so nicht umgesetzt werden. Als Sozialarbeiterin und Wissenschaftlerin war (und bin) ich auf der Suche nach theoretischen Grundlagen und Voraussetzungen für einen herrschafts- und hierarchiekritischen Ansatz in der Sozialen Arbeit. Ein solcher Ansatz sollte eine effektive Einzelfallhilfe ermöglichen und gleichzeitig im Sinne von nachhaltigen Wirkungen seines Handelns gesellschaftspolitische Strukturen als Bedingungen individueller Lebenslagen und Benachteiligungen kritisch im Blick und deren Beeinflussung zum Ziel haben. Betrachtet man das theoretische Konzept von Lebenswelt und Lebensweltorientierung in der Sozialpädagogik mit seinen philosophischen und sozialwissenschaftlichen Bezügen jenseits der oben beschriebenen, in der Praxis und praxisnahen Forschung häufig vorkommenden Verkürzung, wird dessen Akzentuierung auf die Verbindungen zwischen subjektiven Deutungs- und Handlungsmustern und gesellschaftlichen Strukturen auf unterschiedlichen Ebenen deutlich. Dieser Ansatz bildet eine theoretische Klammer mit emanzipatorischkritischem Potenzial, der sich durch einen konsequenten Erfahrungsbezug auszeichnet und damit die Sichtweisen derer in den Mittelpunkt stellt, deren Meinungen allgemein wenig beachtet werden. Gleichzeitig wird dabei die untrennbare Verbindung und Wechselwirkung dieser Erfahrungen und Sichtweisen mit gesellschaftspolitischen Verhältnissen in den Blick genommen. Das Interesse an den Lebenswelten auf der Straße und damit an den Lebenswelten der in dieser Arbeit beforschten wohnungslosen Mädchen und jungen Frauen liegt auch in der pädagogischen Fachwelt vor allem in der Motivation begründet, die genannten marginalisierten Gruppen in eine sesshafte gesellschaftliche Normalität zu (re-)integrieren. Um das emanzipatorisch-kritische Potenzial nutzen zu können, dürfen sich Analysen von Lebenswelt nicht auf eine deskriptive Außensicht beschränken, die orientiert ist auf die Nutzbarmachung der Informationen für pädagogische Prävention und Intervention. Werden Lebenswelten erforscht, sei es in praxisnahen Analysen oder wissenschaftlichen Arbeiten, um mit Hilfe der gewonnenen Informationen bereits 10
vorher festgelegte pädagogische Ziele umsetzen zu können, verstellt dies den offenen, akzeptierenden und herrschende Hierarchien kritisch reflektierenden Zugang zu den AdressatInnen bzw. den Beforschten. Eine offene Haltung hingegen bedeutet, den Blick bewusst zu erweitern für das Verstörende, Widersprüchliche, das, was immer wieder übersehen oder auch systematisch verdeckt wird. Zudem bedeutet es, die wohnungslosen Mädchen und jungen Frauen mit ihren Äußerungen ernst zu nehmen, das, was sie sagen, für wahr zu nehmen. Dies ist keine selbstverständliche Einstellung gegenüber Menschen, die zum Teil in existenziellen Notlagen leben, unter Drogeneinfluss stehen oder unter Schlafentzug leiden. Diese Aspekte ihrer Lebenswelten als die Glaubwürdigkeit relativierende, störende und verfälschende Einflüsse bei der Erkenntnisgewinnung einzuschätzen, heißt letztendlich, normalisierende Bedingungen der Wissensproduktion einzusetzen, die den Lebenswelten der Beforschten nicht gerecht werden. Bei einer Zielgruppe, die als besonders im Sinne von abweichend von normalen Lebensverhältnissen gilt, wird häufig angenommen, es bedürfe bezüglich des Fremdverstehens und der Glaubwürdigkeit einer besonderen Herangehensweise. Die besondere methodologische Herausforderung liegt jedoch vielmehr darin, die Wirkungsweisen herrschender Diskurse, die zumeist stereotype Bilder und Meinungen über wohnungslose Mädchen und junge Frauen hervorbringen, als die Forschung (und die Forschenden) beeinflussende Verhältnisse zu reflektieren. Das Erkenntnisinteresse der vorliegenden Arbeit verlässt die auf die pädagogische bzw. sozialarbeiterische Praxis fokussierte Perspektive und wendet sich mit einer offenen Fragestellung den Lebenswelten der wohnungslosen Mädchen und jungen Frauen zu. Die Forschungsfrage lautet: Welche Erfahrungen und Orientierungen der wohnungslosen Mädchen und jungen Frauen sind konstitutiv für ihre Lebenswelt? Erst auf dieser Grundlage könnte in einem zweiten Schritt diskutiert werden, welche Konsequenzen das so gewonnene Wissen für pädagogisches und auch politisches Handeln mit welchen Zielsetzungen haben kann. Ansätze hierfür werde ich in Kapitel 7 am Schluss der Arbeit skizzieren. Diese Forschungsarbeit hat damit zum einen das Ziel, die Lebenswelten der wohnungslosen Mädchen und jungen Frauen zu erforschen. Zum anderen werden Methodologie und Methode in der Forschung mit Menschen in prekären Lebenssituationen lebensweltorientiert diskutiert und weiterentwickelt. Das bedeutet vor allem, die im Forschungsprozess wirksamen Hierarchien und Verdeckungen kritisch zu reflektieren, gesellschaftspolitische Verhältnisse einzubeziehen und eine anerkennende Haltung gegenüber den Beforschten zu ermöglichen. Die geschlechtsspezifische Eingrenzung der Untersuchungsgruppe liegt für mich als Forschende und Sozialarbeiterin mit feministischem Hintergrund nahe. 11
Dabei geht es mir nicht darum, dem vermeintlich geschlechtsneutralen Phänomen der Wohnungslosigkeit bzw. der Straßenkinder den „Sonderfall“ Mädchen und junge Frauen gegenüberzustellen. Feministische Untersuchungen über weibliche Adoleszenz, über jugendliche Mädchen und junge Frauen beziehen sich zumeist explizit oder implizit auf so genannte adoleszente Normalbiografien. Insofern legt es diese Arbeit darauf an, das Wissen über die Lebenswelten von Mädchen und jungen Frauen um die Dimension der Lebenslage Wohnungslosigkeit zu ergänzen. Aussagen im fachlichen Diskurs über Mädchen und junge Frauen auf der Straße gehen vielfach davon aus, dass sie im deklassierten Lebensort Straße aufgrund ihrer Geschlechtszugehörigkeit zusätzlich benachteiligt sind und beschreiben also, wie diese Potenzierung von Benachteiligungsverhältnissen aussieht. Mein Anliegen ist es, den Diskurs von der besonderen Benachteiligung im Rahmen dieses Forschungsprozesses zu verlassen, um mit einer offeneren Fragestellung die Geschlechterkonstruktionen, auf die sich die beforschten Mädchen und Frauen in ihrer Lebenslage Wohnungslosigkeit beziehen, zu rekonstruieren. Das Thema und die Forschungsfrage dieser Arbeit sind also zum einen aus der Reflexion meiner Berufserfahrung in der Praxis Sozialer Arbeit hervorgegangen, zum anderen aus meiner wissenschaftlichen Beschäftigung mit Theorien Sozialer Arbeit und angrenzender Disziplinen. Dabei handelt es sich um einen zirkulären Prozess, in dem sich Erkenntnisse und Fragen aus den beiden Domänen, der Praxis und der Wissenschaft, gegenseitig in Frage stellen, ergänzen und bereichern. Der Weg zu Thema und Forschungsfrage, der Weg zur Erforschung der Lebenswelten wohnungsloser Mädchen und junger Frauen, verlief damit ähnlich wie der Forschungsprozess selbst. Danach gefragt, ob ich mich zunächst theoretisch informiert habe und derart vorstrukturiert ins Feld gegangen sei oder ob in der Orientierung an einer klassisch qualitativen Vorgehensweise theoretische Bezüge und Erkenntnisse Ergebnisse meiner Feldforschung seien, gerate ich auf der Suche nach einer eindeutigen Antwort ins Stocken. Rückblickend lässt sich der Forschungsprozess, von der Entwicklung der Fragestellung bis zur letzten Korrektur der zu veröffentlichenden Arbeit, als zirkulärer Prozess beschreiben, der manchmal runder, manchmal eher „in Zickzacklinien“ zu verlaufen schien. Die nicht mehr eindeutig zu rekonstruierende Wechselwirkung zwischen Praxis und Wissenschaft Sozialer Arbeit, zwischen Feldforschung und Literaturarbeit und an manchen Stellen zwischen scharfer und klarer Analyse und emotionalem Engagement trägt auch dazu bei, die dichotome Trennung der jeweiligen Bereiche aufzuweichen und damit im Sinne von Erkenntnisgewinnung fruchtbare Verbindungen herzustellen.
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Ein Blick ins Inhaltsverzeichnis macht deutlich, dass der Schwerpunkt der vorliegenden Arbeit auf dem qualitativ empirischen Forschungsprozess und den daraus generierten Ergebnissen liegt. Zunächst werden in Kapitel 2 unter der Überschrift „Wohnungslose Mädchen und junge Frauen – eine Standortbestimmung“ wichtige Begriffe, die die Zielgruppe dieser Untersuchung bezeichnen, mit Bezug auf den Stand der Forschung erörtert. Dabei gehe ich davon aus, dass Begriffe und Bezeichnungen ein gesellschaftliches Phänomen nicht nur benennen, sondern zudem wichtige Bestandteile in der Konstruktion solcher Phänomene sind, und sich in den unterschiedlichen Begriffen (meist implizite) Bewertungen und verschiedene Standorte zeigen. Den Standort oder die Perspektive in Bezug auf die beforschten wohnungslosen Mädchen und jungen Frauen in der vorliegenden Untersuchung darzustellen, darauf fokussieren die Ausführungen zum Forschungsstand in diesem Kapitel.2 Theoretische und methodologische Grundlagen werden in Kapitel 3 erörtert. In der Konzipierung der Untersuchung spielten, wie oben ausgeführt, die Begriffe der Lebenswelt und Lebensweltorientierung bereits als theoretische Grundlage eine zentrale Rolle. Während des Forschungsprozesses kristallisierte sich heraus, dass diesen Begriffen zudem eine methodologische Bedeutung zukommt. Das heißt, es geht nicht nur darum, auf der Grundlage eines bestimmten theoretischen Konzeptes Lebenswelten der wohnungslosen Mädchen und jungen Frauen zu erforschen. Zudem wird in diesem Kapitel ausgeführt, welcher methodologischen Grundlage eine lebensweltorientierte Forschung bedarf. Des Weiteren wird hier die Frage beantwortet, warum in dieser Arbeit phänomenologische Denkweisen mit konstruktivistischen Ansätzen verknüpft werden und in welcher Form dies möglich ist. Diese Frage ist relevant in Bezug auf den Begriff der Erfahrung. Dieser spielt sowohl eine bedeutende Rolle bei den Konzepten von Lebenswelt und Lebensweltorientierung und in der dokumentarischen Methode, die ich für die Analyse des empirischen Materials gewählt habe, als auch in Bezug auf die Positionierung innerhalb der Geschlechterforschung. Kapitel 4 unter der Überschrift „Methodische Vorgehensweise“ ist im Aufbau am chronologischen Ablauf des Forschungsprozesses orientiert. Hier wird, wie in einer empirischen Arbeit üblich, die Forschungsmethode dieser Untersuchung vorgestellt. Darüber hinaus ist es mir aber auch wichtig, den Forschungsprozess möglichst transparent und anschaulich darzustellen. Transparenz als methodische Kontrolle stellt ein Prinzip qualitativer Forschung dar, um die Ergebnisse für die Lesenden nachvollziehbar und auch kritisierbar und somit 2
Für eine darüber hinausgehende Ausführung des Forschungsstandes im nationalen und internationalen Kontext sei hier auf Ute Marie Metje (2005) verwiesen (vgl. ebd., 29ff.).
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kontrollierbar zu machen. Mir geht es aber auch darum, die Erfahrungen im Feld und bei der Interpretation des Materials in diesem Kapitel nicht ergebnisorientiert zu verkürzen zu einem „glatten“ und weitgehend linearen Prozess der Anwendung einer Methode für die Beantwortung einer Forschungsfrage. In diesem Kapitel werden auch die Widersprüche benannt und reflektiert, mit denen ich mich im Laufe des Forschungsprozesses konfrontiert sah, sowie vermeintliche Sackgassen, in die ich geriet. Der Begriff der Konfliktorientierung als methodisches Prinzip meint, dass Konflikte und Widersprüche nicht nur unter dem Fokus ihrer (Auf-)Lösung oder auch Glättung betrachtet werden, sondern vielmehr als Hinweis auf dahinterliegende gesellschaftliche Problemlagen oder konflikthafte Verhältnisse analysiert und benannt werden (vgl. Bitzan 2000, 341). Diese Konfliktorientierung war für mich im Forschungsprozess mit einer Zielgruppe, deren Selbstdarstellungen sich mir als schwer durchschaubar und von Brüchen und Widersprüchen durchzogen zeigten, ein wesentlicher Schlüssel zur Erkenntnisgewinnung. Deshalb erachte ich es als wichtig, dieses Prinzip bereits in der Darstellung eben dieses Forschungsprozesses umzusetzen. In Kapitel 4 werden damit Ergebnisse zu qualitativer Forschung mit Menschen in prekären und belasteten Lebenssituationen ausgeführt, mit Menschen, deren Lebenswelten gemeinhin als fremd gelten und die am „Rande der Gesellschaft“ verortet werden. Die Anschaulichkeit der Ausführungen ist mir auch deshalb wichtig, weil es meines Erachtens noch zu wenig Literatur gibt, die Studierenden und anderen Interessierten eine praxisnahe3 Darstellung qualitativer Forschung bietet. Der Inhalt der Interviews wird in Kapitel 5 in Form von Fallbeschreibungen vorgestellt. Für die Lesenden wird die jeweilige Gesamtgestalt jedes Falles sichtbar und dadurch werden auch die daraus folgenden fallübergreifenden Ergebnisse der Interpretation nachvollziehbar. Eingeleitet werden diese Fallbeschreibungen mit einer Beschreibung und Reflexion der Interviewsituation sowie einer Zusammenfassung der biografischen Informationen, bevor auf die fallbezogenen Interpretationsergebnisse eingegangen wird. Die fallübergreifenden Ergebnisse dieser Untersuchung werden in Kapitel 6 ausgeführt. Die Erfahrung des Ausschlusses aus gesellschaftlich anerkannten Rämen (auch im sozialen Sinn) ist für die Lebenswelten der wohnungslosen Mädchen und jungen Frauen von konstitutiver Bedeutung. Dies werde ich in Kapitel 6.1 ausführen. Das Thema der Gewalt, mit dem sich Kapitel 6.2 beschäftigt, war in meiner Gliederung zunächst nicht vorgesehen. Dies erscheint auf den ersten Blick kurios, da sich Erfahrungen von Gewalt als Opfer und auch als Täterin von vagen 3
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Der Begriff „praxisnah“ bezieht sich hier auf die Praxis wissenschaftlichen Arbeitens bzw. qualitativen Forschens.
Andeutungen bis hin zu deutlichen, detaillierten Erzählungen in sämtlichen Interviews zeigen. Dass ich dennoch erst relativ spät im Prozess des Schreibens dieses Thema aufgegriffen und in die Arbeit integriert habe, sehe ich als Hinweis auf die alltägliche Normalität, die Gewalt in den Lebenswelten der Interviewten einnimmt und die kaum als auffälliger Missstand skandalisiert wird – eine Perspektive, von der ich mich als Forschende, die tief im Material „steckte“, erst wieder reflexiv distanzieren musste. Konstruktionen von Geschlecht, die sich in den Orientierungen der Mädchen und jungen Frauen auf der Straße zeigen, werden in Kapitel 6.3 ausgeführt. Zum Abschluss der Arbeit werden in Kapitel 7 die Implikationen der vorliegenden Ergebnisse für die Soziale Arbeit in Bezug gesetzt zu pädagogischen und politischen Handlungsmöglichkeiten Zur besseren Lesbarkeit der zitierten Interviewausschnitte ist eine Erklärung der in der Verschriftlichung der Interviews verwendeten Transkriptionszeichen im Anhang angefügt. Zusätzlich findet sich hier eine Liste der ausgewerteten Interviews mit Name und Alter der Interviewten sowie Ort und Datum des Interviews. Es bleibt noch die Frage nach einer geschlechtergerechten Sprachregelung. Mein Eindruck ist, dass es in zunehmenden Maße Veröffentlichungen gibt, in denen darauf verwiesen wird, dass aufgrund der besseren Lesbarkeit und des verständlicheren Sprachstils ausschließlich die männlichen Bezeichnungen (also z. B. „der Sozialarbeiter“, „die Mitarbeiter“, „die Wissenschaftler“) verwendet werden, wobei betont wird, dass stets beide Geschlechter gleichermaßen gemeint seien. Ich verfahre in dieser Arbeit nicht so, nicht nur aus geschlechterpolitischen Gründen, sondern auch im Sinne einer präzisen Sprache. Im Plural, der sich auf beide Geschlechter bezieht, verwende ich das große „I“, also aus „Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern“ wird „MitarbeiterInnen“. Ebenso verfahre ich im Singular, der sich nicht auf eine konkrete Person bezieht. Diese Lösung ist in der offiziellen neuen Rechtschreibregel nicht vorgesehen, stellt jedoch eine in vielen Institutionen, wie Hochschulen und Parteien, angewandte Praxis dar. Ich begreife sie deshalb als innovative Lösung im Dilemma zwischen umständlicher bis unverständlicher Ausdrucksweise und unpräzisen verallgemeinernden Bezeichnungen. Im Laufe der Forschungsarbeit haben sich gesetzliche Grundlagen für das Beziehen von Sozialgeldern geändert. Seit dem 01.01.2005 wurde im Zuge der Reform der Sozialgesetzgebung als wesentliche Neuerung das Arbeitslosengeld II (gemäß SGB II) eingeführt. Für junge Menschen unter 25 Jahren gelten seit dem 01.07.2006 besondere Bedingungen (vgl. § 7, Abs. 3, Nr. 4 und § 22, Abs. 2a, beide SGB II). Auf Sozialgelder angewiesen, ist es für diese Altersgruppe nur unter besonderen Bedingungen möglich, aus der elterlichen Wohnung aus15
zuziehen. Zu diesen besonderen Bedingungen gehören auch schwerwiegende soziale Gründe, die die/der Betreffende jedoch gegenüber dem Amt nachweisen muss. Junge volljährige Menschen also, die das Elternhaus verlassen (müssen) und nicht die Genehmigung durch die zuständige Behörde beantragen und abwarten, haben in der Folge enorme Schwierigkeiten, finanzielle Leistungen zur Existenzsicherung zu erhalten. Erste Erfahrungen aus der Wohnungslosenhilfe zeigen, dass dies zu einer Verschärfung des Problems der Wohnungslosigkeit junger Menschen führt. Solche Regelungen machen auch deutlich, wie notwendig und aktuell es ist, lebensweltorientiertes pädagogisches und politisches Engagement für diese Zielgruppe in Praxis und Forschung Sozialer Arbeit zu fordern und zu zeigen. Gegen Ende des Interviews mit ihr fragte ich Nadine (Int. 4), ob es noch etwas gebe, das sie sagen möchte, und sie antwortete wie folgt: „N: Ich wünsche Ihnen viel Glück und so; [@(2)@ I: Danke schön; [@(.)@ N: und Sie schaffen des bestimmt; (.) und dass es Ihnen Spaß macht und so; (2) das is bestimmt viel Arbeit jetz gell? I: [ja. N: [Für Sie? (2) Aber Sie wollen des ja; dann schaffen Sie des auch.“4
Mit dem Ende der Einleitung, die ja bekanntlich am Schluss der Arbeit geschrieben wird, ist es, wie Nadine es vorhergesagt hat, tatsächlich geschafft. Ihr und allen anderen Mädchen und jungen Frauen, denen ich im Forschungsprozess begegnet bin und die ihn durch ihre Zeit und ihre Offenheit wesentlich unterstützt haben, ist diese Arbeit mit herzlichem Dank gewidmet.
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„N“ steht für Nadine, „I“ für Interviewerin.
2. Wohnungslose Mädchen und junge Frauen – eine Standortbestimmung
Es gibt eine Vielzahl von Begriffen, mit denen versucht wird, das Phänomen wohnungsloser junger Menschen zu erfassen. Sind es Straßenkinder, Jugendliche in besonderen Lebenslagen, AusreißerInnen, sind sie wohnungslos oder nichtsesshaft, führen sie ein „umherschweifendes Leben“ (Kappeler 1995, 42) und leben sie auf der Straße, auch wenn sie bei FreundInnen oder in Notschlafstellen übernachten? Beim Versuch, die sehr heterogenen Lebenslagen und Biografien exakter einzugrenzen, werden die Betroffenen zum Teil auch in verschiedene Typen unterschieden (vgl. Institut für Soziale Arbeit 1996, 30ff.; Adick 1997, 10ff.; Kilb/Heemann 1999, 182ff.). In ihrer Untersuchung über Mädchen und junge Frauen am Hamburger Hauptbahnhof stellt Ute Marie Metje (2005) diese Diskussion um die eindeutige Definition grundlegend in Frage: „In Anbetracht der genannten Problematik um eine wissenschaftlich exakte und fassbare Eingrenzung des Phänomens, die meiner Ansicht nach entweder zur Konstruktion wird oder aber zur Verhinderung akut nötiger flexibler Hilfen beiträgt, will ich mich gänzlich von den Definitionszwängen verabschieden. Aufgrund meiner Forschungserfahrung und in Erinnerung an einige Tagungen, auf denen es immer wieder um den Versuch ging, die Kinder und Jugendlichen definitorisch einzugrenzen, halte ich es für überflüssig, weiterhin Zeit und Energie darauf zu verschwenden.“ (ebd., 31)
Auch ich stehe Abhandlungen um klare Definitionen kritisch gegenüber, wenn auch nicht so radikal wie Metje. Dieses angestrengte Ringen um Eindeutigkeit und der Wunsch nach einem klaren Verständnis sind eng konnotiert mit den Strukturen der Lebenswelten der Zielgruppe, in denen Nicht-Eindeutigkeit und Widersprüchlichkeit prägend sind und die dadurch schwer zu begreifen und zu durchschauen sind. Meiner Forschungserfahrung nach ist es notwendig, das Streben nach eindeutigen Antworten und einem umfassenden Verständnis zunächst aufzugeben und dieses Aufgeben nicht als Scheitern zu begreifen, sondern als Ausgangspunkt für Erkenntnisse über die Lebenswelten junger wohnungsloser Menschen zu nutzen. 17
Ich halte es dennoch für notwendig, im Folgenden – eng auf meine Zielgruppe und das Forschungsinteresse begrenzt – verschiedene Begriffe und ihre Bedeutung im Kontext der Diskussionen und Fachdiskurse um meine Zielgruppe, die wohnungslosen Mädchen und jungen Frauen, zu erörtern. In diesen Diskussionen werden soziale Phänomene nicht nur beschrieben, sondern auch konstruiert.5 Damit werden gesellschaftlich virulente Kategorien und Bilder konstituiert, die für die Mädchen und Frauen verfügbar und wirkmächtig in ihren Lebenswelten sind. Gleichzeitig komme ich jedoch nicht umhin, meine Zielgruppe und ihre Lebenswelten mit verfügbaren und verständlichen Begriffen zu bezeichnen. Beim Schreiben bin ich oft genug ins Nachdenken darüber gekommen, welche der unscharfen Umschreibungen passend sind und ob ich vielleicht, um mich nicht festzulegen, Anführungszeichen verwenden sollte. Ohne den Anspruch einer wissenschaftlich exakten Festlegung erfüllen zu wollen, werde ich Diskussionen und Fachdiskurse skizzieren und, auch unter Bezug auf die Selbstaussagen der Untersuchungsgruppe, meine Haltung und meinen nicht widerspruchsfreien Standort in dieser Arbeit darlegen. 2.1 Sind es Straßenkinder? Aspekte des Fachdiskurses aus Jugendhilfe und Jugendforschung Jugendliche, die außerhalb von Familie oder Jugendhilfeeinrichtung ihren Lebensmittelpunkt vorübergehend oder dauerhaft auf der Straße haben, stellen zwar ein aktuelles, aber historisch keineswegs neues gesellschaftliches Phänomen dar und sind auch kein unbekanntes Thema in der Sozialen Arbeit (vgl. Müller 1997, 107f.). Veröffentlichungen und Forschungsarbeiten der 70er und 80er Jahre beschäftigten sich v. a. mit den Ursachen der Familien- und Heimflucht Jugendlicher (vgl. Jordan/Trauernicht 1981; Elger/Hofmann/Jordan/Trauernicht 1984; Trauernicht 1989) und entwickelten einen neuen umfassenden Deutungsansatz, der enge personenbezogene Erklärungsmuster überwindet und sowohl mikroals auch makrogesellschaftliche Aspekte berücksichtigt und integriert. Zentral ist dabei die Verknüpfung des sozialisationsbezogenen Ansatzes mit dem soziokulturellen und dem Etikettierungsansatz (vgl. Elger/Hofmann/Jordan/ Trauernicht 1984, 5). Aus dieser Perspektive wurden auch geschlechtsdifferenzierende Arbeiten verfasst, die auf die besondere Situation von Mädchen eingingen. Bereits 1980 beforschte Marianne Kieper mit einem sozialisationstheo5
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Eine ausführliche und anschauliche Analyse hierzu hat unter einer historischen Perspektive Florian Oberhuber 1999 unter dem Titel „Die Erfindung des Obdachlosen“ veröffentlicht.
retischen Ansatz die Lebenswelten „verwahrloster“ Mädchen und bezieht sich mit dem Adjektiv auf eine damals noch gängige Bezeichnung für die Zielgruppe, während sie sich, im Titel symbolisiert durch die Anführungszeichen, gleichzeitig von dieser stigmatisierenden Zuschreibung distanziert (vgl. Kieper 1980). Die 1989 veröffentlichte Dissertation von Gitta Trauernicht unter dem Titel „Ausreißerinnen und Trebegängerinnen“ blieb über viele Jahre die einzige Arbeit, die sich umfassend mit Mädchen und jungen Frauen befasst, die ihr Zuhause verlassen haben, und dabei aus einer feministischen Perspektive mädchenspezifische Konfliktkonstellationen und deren soziokulturellen Verschärfungszusammenhänge aufdeckt (vgl. Trauernicht 1989). Martina Bodenmüller (2000) analysiert Ende der 90er Jahre die Lebenssituation von Mädchen und jungen Frauen ohne Wohnung am Beispiel Münster, um daraus konkrete Schlussfolgerungen für die Jugendhilfe zu ziehen (vgl. ebd.). Mit dem Titel „Auf der Straße leben“ bezieht sie sich auf die Diskussion um Straßenkinder der 90er Jahre. Die jüngste geschlechtsspezifische Veröffentlichung ist das Ergebnis ethnografischer Forschung von Ute Marie Metje (2005) am Hamburger Hauptbahnhof und in einer nahe gelegenen niedrigschwelligen Einrichtung, die auch auf Mädchen und junge Frauen fokussiert und sehr detailliert den Alltag an diesen Orten aus einem ethnopsychoanalytischen Blickwinkel analysiert (vgl. ebd.). Solche umfassenden Untersuchungen gibt es über wohnungslose Jungen nicht. Einen geschlechtsreflektierenden Blick auf diese Zielgruppe findet sich lediglich in Artikeln wie von Michael Langhanky (1994) und Remi Stork (1998). Die mediale Darstellung und Forschung der 90er Jahre ist geprägt durch den Begriff der „Straßenkinder“6 (vgl. Seidel 1994; Britten 1995; Degen 1995; Pfennig 1996; Weber/Retza 1998; Hansbauer 1998). In den Medien7 und einigen Buchveröffentlichungen (vgl. Seidel 1994; Britten 1995) wurde durch Reportagen, die an skandalisierbaren Einzelfällen aufgezogen wurden, die öffentliche Debatte um Kinder und Jugendliche auf der Straße wiederbelebt (vgl. Hansbauer 1998, 28). Das Phänomen „Straßenkinder“ wurde vorgeführt als Symptom des allmählichen Zerfalls des Sozialgefüges und der negativen Folgen der Individualisierung, von Bindungslosigkeit und gesellschaftlichem Wertezerfall (vgl. ebd.).
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Der Frage, ob sich hinter den veränderten Begriffen auch qualitativ unterschiedliche Phänomene verbergen, gehen Peter Hansbauer, Hanna Permien und Gabriele Zink (1997) in ihrem Artikel „Gestern ‚TrebegängerInnen’ – heute ‚Straßenkinder‘? Gemeinsamkeiten und Unterschiede“ nach (vgl. ebd.). Als ein Beispiel sei hier angeführt: Der Spiegel 15/1993: „Notausgang für kaputte Seelen“.
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„Die Existenz der innerstädtischen Bahnhofs- und Cityszenen bildet also einen sozialen Tatbestand, der sich aufgrund seines kumulativen Charakters und seiner deutlichen Sichtbarkeit in besonderer Weise zur Skandalisierung und Mobilisierung von Interessen eignet.“ (ebd., 15)
Wissenschaftliche Untersuchungen diskutierten seit Mitte der 90er Jahre8 in der Folge sehr viel differenzierter und sachlicher, mit welchen Konzepten und mit welcher Zielsetzung die Jugendhilfe darauf reagieren soll, dass sich eine nicht unerhebliche Zahl von Jugendlichen weitestgehend außerhalb eines pädagogischen Zugriffs bewegt9 (vgl. Pfennig 1996; Hansbauer 1998; Permien/Zink 1998; Kilb/Heemann 1999; Bodenmüller 2000; Bodenmüller/Piepel 2003; Thomas 2005). Die AutorInnen dieser Veröffentlichungen äußern sich in der Regel in Abgrenzung zur medialen Inszenierung kritisch zum Begriff des Straßenkindes. Zunächst wird kritisiert, dass der Begriff eine sehr viel jüngere Altersspanne der Betreffenden impliziert, als dies praxisnahe Statistiken ausweisen, nämlich die der Kindheit. Die meisten der Minderjährigen auf der Straße sind 14 Jahre und älter und also Jugendliche (vgl. Hansbauer 1998, 30). Damit wird einer Skandalisierung Vorschub geleistet, indem die Kindheit, die weitgehend im (vermeintlich) geschützten privaten Raum unter pädagogischer Obhut stattfinden soll, in der öffentlichen Sphäre verortet wird. Die Bezeichnung „Straßenkinder“ wurde ursprünglich mit einem sozialen Phänomen in den so genannten Entwicklungsländern, vor allem Lateinamerika, in Verbindung gebracht. In der Folge wurde diskutiert, inwieweit das unter den Begriff „Straßenkinder“ gefasste Phänomen in Deutschland vergleichbar sei mit den sozialen, politischen und gesellschaftlichen Verhältnissen dieser Länder (vgl. Lutz 1999, 58f.). Während der Vergleich den plakativen Bedürfnissen der Massenmedien entgegenkam (vgl. Stickelmann 1999, 84), wird die Übertragbarkeit seitens der Forschung in Frage gestellt (vgl. u. a. Hansbauer 1998, 28; Thomas 2005, 24). Manfred Liebel (2000) weist zudem darauf hin, dass „Straßenkinder“ ein Begriff ist, der in der westlichen Rezeption eines Phänomens in Lateinamerika und Afrika eingeführt wurde und der eine eurozentristische Konstruktion von Kindheit im Allgemeinen und Straßenkindern im Besonderen transportiert (vgl. ebd., 131). Diese Konstruktion rekurriert unter anderem auf die westeuropäische Vorstellung einer Trennung von öffentlichem und privatem Raum und den damit verbundenen Nutzungsvorgaben. Zudem kritisiert Liebel, 8 9
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Auffällig ist, dass die Zahl der Veröffentlichungen seit Beginn dieses Jahrhunderts deutlich abgenommen hat, vor allem im Vergleich zu den 90er Jahren. Eine verlässliche quantitative Einschätzung erweist sich dabei als äußerst schwierig. Praxisnahe Hochrechnungen gehen von einer Größenordnung von ca. 7000 Kindern und Jugendlichen auf der Straße aus (vgl. Hansbauer 1998, 34ff.; Bodenmüller 2000, 21f.; Pfennig 1996, 10ff.).
das mit dem Begriff „Straßenkinder“ gezeichnete Bild leiste einer Opferperspektive Vorschub und schreibe die Kinder und Jugendlichen auf einen Zustand fest (vgl. ebd., 133). Martina Bodenmüller (2002) betont auf der Grundlage ihrer mit Georg Piepel durchgeführten Langzeitstudie, dass das Leben auf der Straße „eher ein heterogenes, durchbrochenes Phänomen ist, mehr eine Lebensphase als ein Dauerzustand“ (ebd., 27). Bezeichnungen wie „die Straßenkinder“ hingegen „täuschen eine Kontinuität vor, die Wohnungslosigkeit als Charaktereigenschaft oder Persönlichkeitsmerkmal erscheinen lässt“ (ebd.). Zudem bezeichnen die Gemeinten sich selbst nicht als Straßenkinder (vgl. Liebel 2000, 132f.). Auch ich habe in meinen Interviews festgestellt, dass der Begriff „Straßenkinder“ so gut wie gar nicht fällt, weder in Aussagen meiner Gesprächspartnerinnen über sich selbst, noch in ihrer Beschreibung der Straßenszenen. Permien und Zink (1998) haben in ihrer Forschungsarbeit den Begriff der Straßenkarrieren eingeführt, der jenseits etikettierender Zuschreibungen auf die Dynamik von Lebensverläufen verweist und Ausdruck eines prozessorientierten Denkens ist (vgl. ebd., 24). Mit der zunächst umständlich erscheinenden Formulierung „Jugendliche in besonderen Lebenslagen“ sind Lutz und Stickelmann (1999) bemüht, „eine differenzierte professionelle Wahrnehmung der Problemlage dieser Jugendlichen zu fördern“ (ebd., 7), wobei sie jene Jugendlichen meinen, für die die Straße zum Lebensmittelpunkt geworden ist (vgl. ebd.). Grundsätzlich ist zu beobachten, dass in wissenschaftlichen und praxisnahen Veröffentlichungen wie auch in Konzepten sozialpädagogischer Einrichtungen vom Straßenkinderbegriff weitgehend Abstand genommen wird, während die „Straße“ als räumliche Metapher präsent und gebräuchlich ist. Es gibt kaum eine Veröffentlichung, in der die Straße nicht bereits im Titel oder Untertitel genannt wird (vgl. z. B. Retza/Weber 2001; Bodenmüller 2000; Hansbauer 1998; Permien/Zink 1998; Thomas 2005). 2.2 Zwischen „Straßenkindern“ und „Pennern“ – Wohnungslose Jugendliche und junge Erwachsene „Wir sind ja keine Straßenkinder mehr, wir sind ja alle schon 18“, stellt sich eine der Interviewten namens Katrin (Int. 9) mir gegenüber dar und greift damit eine für die Beschreibung der Zielgruppe dieser Arbeit und der damit verbundenen Diskurse wichtige Trennlinie auf. Während in Jugendhilfe und -forschung, wie oben erörtert, die Begriffe AusreißerInnen und Straßenkinder verwendet werden, spricht man im Hilfesystem für die erwachsenen Menschen auf der Straße von Wohnungslosen, Obdachlosen und Nichtsesshaften. Ob eine 19-Jährige mit Lebensmittelpunkt Stra21
ße als Straßenkind oder wohnungslose Frau bezeichnet wird, hängt in der Praxis vor allem davon ab, mit welchen sozialen Einrichtungen sie in Kontakt ist und in der Forschung davon, auf welchen Fachdiskurs sich die AutorInnen beziehen. Die erwachsenen jungen Frauen sehen sich nach meinen Kenntnissen selbst weder als Straßenkinder, noch fühlen sie sich unter den „Pennern“ zugehörig. Veröffentlichungen über Jugendliche auf der Straße beziehen vorbehaltlos auch junge Erwachsene ein (vgl. Thomas 2005, 25), was vor allem darin begründet liegt, dass das Kinder- und Jugendhilfegesetz (SGB VIII) die Zuständigkeit der Jugendhilfe für Volljährige unter bestimmten Voraussetzungen festlegt. Die Leistungen des § 41 SGB VIII (Hilfe für junge Volljährige)10 sind bei Überschneidungen der Zuständigkeiten sogar vorrangig vor Hilfe nach den §§ 67–69 SGB XII (Hilfe zur Überwindung besonderer sozialer Schwierigkeiten), die wiederum ausschließlich für Volljährige anwendbar sind. Unter dem Begriff der Wohnungslosigkeit11 wird in Wissenschaft und Praxis von Sozialer Arbeit das Phänomen von volljährigen Menschen, die ohne festen Wohnsitz leben, verhandelt. Hier ist die Veränderung zu beobachten, dass sich dieser Diskurs in letzter Zeit zunehmend auch den jungen erwachsenen Männern und Frauen auf der Straße öffnet (vgl. Schroll-Decker/Kraus 2000; Wallner 2005 und Velmerig 2005), jedoch unter expliziter Ausblendung der unter 18-jährigen Betroffenen. Stefan Thomas (2005) weist auf die Notwendigkeit hin, die Lebenssituation der jungen Volljährigen eigenständig zu behandeln (vgl. ebd., 25). Die Fachzeitung „wohnungslos“ widmete den wohnungslosen jungen Erwachsenen 2005 ein eigenes Schwerpunktheft (vgl. wohnungslos 3/2005), die BAG Wohnungslosenhilfe veranstaltete unter dem Titel „Bauchfrei, hip, wohnungslos“ im selben Jahr eine Tagung über junge volljährige Frauen. Meines Erachtens ist es zwar wichtig, auf bislang wenig beachtete Problem10
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In Zeiten enger finanzieller Spielräume in den öffentlichen Kassen wird es zunehmend schwieriger, Leistungen nach § 41 SGB VIII zu erhalten, wie auf Tagungen von Fachleuten aus unterschiedlichen deutschen Städten berichtet wird. Es entsteht nicht selten eine unangemessen und unerträglich lange Wartezeit für die Betroffenen, bis der Streit zwischen Jugendhilfe- und Sozialhilfeträgern um ihre Zuständigkeiten entschieden ist (vgl. auch Wallner 2005, 97f.). Der Begriff der Wohnungslosigkeit und, analog dazu, der Wohnungslosenhilfe, wurde erst Ende der 1980er Jahre im Fachdiskurs durchgesetzt. In der Geschichte der Sozialen Arbeit wurde aus der Wandererfürsorge die Gefährdetenhilfe, später wurde unterschieden in Obdachlose und Nichtsesshafte, schließlich ist die Rede von Wohnungslosen. Zur kritischen Reflexion dieser (Diskurs-)Geschichte vgl. Eberhard von Treuberg (1990) und Heinrich Holtmannspötter (1996). Holtmannspötter weist darauf hin, dass „die Begriffe ‚Obdachlosigkeit‘, ‚Wohnungslosigkeit‘, (…), ‚Nichtsesshaftigkeit‘ usw. Bezeichnungen sind, die von Hilfe- oder anderen Interventionssystemen oder deren Experten vergeben wurden und die sich nicht ‚selbstredend‘ erklären, sondern nur in Verbindung mit ihren spezifischen Definitionen. Dieser banale Hinweis (…) zeigt, daß die Begriffe weniger objektive, fest begrenzte Probleme zu erkennen geben als vielmehr das Verhältnis, das die genannten Systeme zu dem Gegenstand ihrer Arbeit einnehmen“ (ebd., 17).
lagen hinzuweisen. Kritisch betrachte ich jedoch die Tendenz, im Zuge dessen eine neue Zielgruppe mit spezifischen Bedürfnissen zu konstruieren, für die wiederum spezifische Hilfen entwickelt werden müssen. Auffällig ist in den Veröffentlichungen der beiden Fachdiskurse, dass sie sich nicht aufeinander beziehen, auch wenn es um die gemeinsame Zielgruppe der jungen Erwachsenen auf der Straße geht. Es scheint, als handele es sich trotz gemeinsamer Problemlagen und Altersgruppe um zwei verschiedene Personenkreise, die Jugendforschung und -hilfe einerseits und Forschung und Praxis der Wohnungslosenhilfe andererseits im Blick haben. Die Ergebnisse meiner Interviews stützen diese Annahme nicht, gegen die sich auch die zunehmende Kritik von PraktikerInnen der Sozialen Arbeit richtet, die mühevoll versuchen, mit sehr pragmatischen Zielsetzungen einen Dialog zwischen den Hilfesystemen zu initiieren (vgl. Wallner 2005, 97). Ich bezeichne die Lebenslage der interviewten Mädchen und jungen Frauen unabhängig vom Alter als wohnungslos. Helmut Schröder (2005) definiert in Übereinstimmung mit der BAG Wohnungslosenhilfe, dass wohnungslos ist, wer nicht über einen mietvertraglich abgesicherten Wohnraum (oder Wohneigentum) verfügt (vgl. ebd., 4). Damit schließt diese Definition nicht nur Menschen ein, die im öffentlichen Raum übernachten, sondern auch solche, die beispielsweise bei Freunden oder in Notunterkünften untergekommen sind. Die Lebenslage der Mädchen und Frauen als wohnungslos im Sinne dieser Definition zu benennen, schließt sich damit eng an das Verständnis der Interviewten selbst an, wenn sie davon sprechen, „auf der Straße“ oder „ganz draußen“ zu sein. Der Verlust des eigenen privaten Rückzugsraumes bedeutet in ihrer Lebenswelt fast durchgehend den Beginn des Lebens auf der Straße, auch wenn sie sich bereits vorher viel in den entsprechenden Straßenszenen aufgehalten haben. Juristisch gesehen können Minderjährige nicht als wohnungslos bezeichnet werden, da sie nicht über eigenen vertraglich abgesicherten Wohnraum verfügen können. Grundsätzlich teilt ein minderjähriges Kind nach § 11 BGB den Wohnsitz der Eltern. Bis zur Volljährigkeit liegt das Aufenthaltsbestimmungsrecht als Teil des Personensorgerechts (§ 1631 BGB) nicht bei den Betreffenden selbst, sondern bei den Sorgeberechtigten, in der Regel also den Eltern. In Statistiken zu Wohnungslosigkeit tauchen Minderjährige deshalb auch nur auf, wenn sie gemeinsam in einem Haushalt mit ihren Eltern obdachlos geworden sind. Ich benutze den Begriff „wohnungslos“ trotzdem altersübergreifend, weil er die faktische Lebenslage der Mädchen und Frauen als verbindendes Merkmal treffend benennt (vgl. Bodenmüller 2000, 12ff.).12 Zudem ist er geeignet, einen 12
Inge Bozenhardt und Inge Lindenthal (2002) sprechen in ihrer Studie von der Wohnungsnot junger Menschen und wenden ebenfalls einen Begriff aus der Wohnungslosenhilfe auf Minderjährige an.
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(symbolischen) Bogen zu schlagen zwischen den Fachdiskursen, um eine Diskussion und eine Haltung voranzubringen, die weniger starr an der Wirkmächtigkeit der rechtlichen Grundlagen des Hilfesystems und der Konstruktion klar begrenzter Zielgruppen festhalten, sondern ein bewegliches lebenswelt- und problemorientiertes Verständnis entwickeln. 2.3 Überall und nirgendwo – Straße als räumliche und soziale Metapher „Diese Straße wurde für Autos gebaut. Warum sollte jemand darauf leben?“ Diese Sätze zieren als Teil einer Öffentlichkeitskampagne die Dienstwagen einer Einrichtung der Wohnungslosenhilfe (vgl. Soziale Hilfe aktuell 2006). Bei dem Versuch darauf hinzuweisen, dass die Straße kein angemessener Lebensmittelpunkt für Menschen sein kann, setzen die Autoren die Straße als Verkehrsweg mit der metaphorischen Bedeutung von Straße als öffentlichem Raum gleich. Dabei nimmt niemand an, dass der Verkehrsweg, über den das eigene Auto rollt, anderen Personen als Schlafplatz dient. Vielmehr werden mit „auf der Straße leben“ öffentliche Plätze assoziiert. Unter Brücken oder auf Parkbänken stellt man sich die Aufenthaltsorte Wohnungsloser vor. Tatsächlich umfasst der Begriff „Straße“ so unterschiedliche Orte wie Bahnhof, Park, Innenstadt, Abbruchhäuser, Unterschlupf bei FreundInnen und Bekannten, Tiefgaragen, Notunterkünfte und anderes. Die räumliche Metapher „Straße“ ist nicht nur in der Alltagssprache gebräuchlich, sondern sie findet sich auch, wie oben bereits ausgeführt, im Fachdiskurs Sozialer Arbeit zur Festschreibung und Konstruktion eines Phänomens und einer Zielgruppe. Obwohl der Begriff Straße bei der Benennung der Lebensräume der Menschen, die dort ihren Lebensmittelpunkt haben sollen, äußerst ungenau bleibt, scheint es einen Konsens darüber zu geben, was gemeint ist, wenn vom Zufluchts-, Erfahrungs- oder gefährdenden Ort Straße die Rede ist. Die Qualität der räumlichen Umschreibung „Straße“ liegt nicht in der exakten Benennung der Lebensräume wohnungsloser Menschen, sondern gerade darin, dass sie so unkonkret bleibt. Denn es geht nicht um die positive Benennung von Aufenthalts- und Wohnorten, sondern darum, was dieser räumliche Begriff ausschließt. Auf der Straße zu leben bedeutet, nicht über eigenen Wohnraum und privaten Rückzugsraum zu verfügen und damit darauf angewiesen zu sein, als privat definierte Bedürfnisse und Lebensbereiche im öffentlichen Raum zu leben. Die Straße als Lebensort bezeichnet jedoch nicht nur eine Abweichung von der gesellschaftlichen Norm des Wohnens und des Gebotes der Sesshaftigkeit
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(vgl. Kappeler 1995, 43). Auf der Straße zu leben gilt auch als Zeichen sozialer Randständigkeit. „Auf der Straße leben – dies scheint den Beweis zu liefern für den vor aller Augen sichtbaren, öffentlich gewordenen Abstieg, dessen Beschämung noch durch die Ohnmacht gesteigert wird, nicht einmal mehr an der Sichtbarkeit etwas ändern zu können. In diesen Kontext gehören alle Abwertungen – besonders auch von Frauen und Mädchen –, wie sie mit dem Begriff ‚Gosse‘ gemeint sind: ‚Gossensprache‘ sprechen, ‚in der Gosse landen‘ und ähnliches.“ (Treptow 2000, 572)
Auf der Straße zu „landen“ gilt als (zumindest vorläufige) Endstation dieses Abstiegs, wobei soziale Zugehörigkeit fragwürdig und gesellschaftliche Anerkennung weitgehend entzogen wird. Im pädagogischen Topos zeigt sich eine ambivalente Bewertung der Straße als sozialem Ort (vgl. Zinnecker 1997, 100), die sich auch in der Literatur um wohnungslose Jugendliche und junge Erwachsene spiegelt. Jugendliche, und dabei vor allem die Minderjährigen, deren Lebensmittelpunkt die Straße ist, entziehen sich weitgehend den gesellschaftlichen pädagogischen Institutionen und/oder werden von ihnen ausgegrenzt. Der Blick auf die Straße ist von Seiten der Pädagogik vielfach von Misstrauen geprägt. Die Straße, so Ronald Lutz (1999), wird als „befremdliches Areal“ angesehen (ebd., 71). Die Existenz wohnungsloser Jugendlicher stört die herrschende Vorstellung von Kindheit und Jugend als geschütztem (Zeit-)Raum. Während sich ein Großteil der Forschung der 90er Jahre interventionsbezogen auf die Frage konzentriert, wie die Jugendhilfe konzeptionell und strukturell auf das Phänomen der „Straßenkinder“ reagieren sollte, eröffnen vereinzelte Veröffentlichungen eine Diskussion über die Ziele pädagogischer Intervention und die ihnen zugrunde liegenden Vorstellungen von Normalität und Integration (vgl. u. a. Müller 1997; Lutz 1999; Kappeler 1995). Sie kritisieren, dass Prinzipien wie Lebensweltbezug und akzeptierender Ansatz in Jugendhilfe und -forschung dafür instrumentalisiert werden, wenig reflektierte Normalisierungs- und Integrationsbemühungen zum Erfolg zu führen. Kappeler plädiert dafür, „Lebensräume für das Umherschweifende Leben zu eröffnen“ (Kappeler 1995, 53) und die aktuelle Lebenssituation der Betreffenden nicht von vorneherein als eine zu beendende Notlage zu bewerten (vgl. Kappeler 1999, 380). Solcher Kritik setzt Peter Hansbauer (1998) entgegen, die Autoren unterschätzten das Gefährdungspotential des Lebens auf der Straße (vgl. ebd., 10) und Peter Jogschies (1995) konstatiert: „Kein Kind lebt freiwillig auf der Straße“ (ebd., 224). Auch hier wird meines Erachtens mehr das Ringen um einen eindeutigen Standpunkt in Bezug auf eine fremde Lebenswelt offenbar als zwei sich ausschließende Analysen und Meinungen. 25
Die Straße ist ein Ort der extremen Gefährdung und drohenden Verelendung. Gleichzeitig ist zu beachten, dass Jugendliche in vermeintlich geschützten privaten Räumen vielfach Gewalt und Vernachlässigung ausgesetzt sind. Die Straße ist Lern- und Erfahrungsort, in dem die Jugendlichen und jungen Erwachsenen die Freiheit haben, selbstbestimmt und eigen-sinnig über Raum, Zeit und soziale Kontakte zu verfügen. Die Straße ist aber gleichzeitig auch ein Lebensort, in dem das kräftezehrende Bemühen um das alltägliche Überleben Möglichkeiten für ein besseres Leben verhindert. Ich erachte es nicht als sinnvoll, diese widersprüchlichen Aussagen zu einem kohärenten Bild von „Straße“ zu glätten, sie sind vielmehr, wie oben bereits benannt, markant für die Lebenswelt Straße. 2.4 Mädchen und Frauen als Sonderfall? Wohnungslosigkeit und Geschlecht Die Diskussion über Jugendliche auf der Straße wird bislang weitgehend geschlechtsabstrahierend geführt (vgl. z. B. Degen 1995; Pfennig 1996; Hansbauer 1998; Permien/Zink 1998; Thomas 2005). Geschlechtsdifferenzierende Betrachtungen werden meistens in gesonderten Kapiteln oder im Anhang (vgl. z. B. Stork 1998, 315ff.; Lutz 1999, 55; Permien/Zink 1998, 205ff.) additiv abgehandelt. So konstatieren Monika Weber, Anke Tebbens und Andrea Reckfort (1999), dass sowohl in Diskursen der Öffentlichkeit als auch der Forschung und der pädagogischen Praxis die Kategorie Geschlecht weitgehend ausgeblendet wurde (vgl. ebd., 246). Aktuellere Ausnahmen stellen die Untersuchung von Martina Bodenmüller (2000) dar, die anhand von vier lebensgeschichtlichen Interviews die Mädchen explizit in den Mittelpunkt stellt (vgl. ebd.), sowie die ethnografische Forschungsarbeit von Ute Marie Metje (2005) über Mädchen und junge Frauen am Hamburger Hauptbahnhof (vgl. ebd.). Im Rahmen der Wohnungslosenhilfe gibt es seit Ende der 80er Jahre eine Reihe von meist praxisorientierten Veröffentlichungen, die sich mit der Lebenssituation wohnungsloser Frauen beschäftigen (vgl. im Besonderen Rosenke/ Schröder 2006; Geiger/Steinert 1991; Enders-Dragässer u. a. 2000; EndersDragässer 2006; Helfferich u. a. 2000). Ute Enders-Dragässer und Brigitte Sellach (2000) konstatieren in diesem Zusammenhang: „In der Fachdiskussion wird kaum noch in Frage gestellt, dass wohnungslose Frauen eine eigenständige Zielgruppe für die Wohnungslosenhilfe sind.“ (ebd., 82) Die Definition einer eigenständigen Zielgruppe „Frauen“ innerhalb der Wohnungslosenhilfe wird legitimiert durch die Diskriminierung, die Frauen aufgrund ihrer Geschlechtszugehörigkeit erfahren, und dem daraus resultierenden besonderen Unterstüt26
zungsbedarf. Mit dieser Konstituierung einer Zielgruppe qua Geschlecht wurde es möglich, das hierarchische Geschlechterverhältnis zu thematisieren und seine Auswirkungen auch in so genannten Randgruppen aufzudecken und praxisnah Forderungen nach geschlechtsspezifischen Angeboten und Einrichtungen Nachdruck zu verleihen. Kritisch zu betrachten ist jedoch, dass mit dieser Zielgruppe stereotype Annahmen über die vermeintlich deutlich unterscheidbaren Lebenslagen wohnungsloser Frauen und Männer gefestigt werden, die meines Erachtens Gefahr laufen, die herrschende Geschlechterordnung eher zu reproduzieren als zu verändern. Monika Weber und Burglinde Retza (1998) bewerten in Bezug auf die minderjährigen Jugendlichen das geschlechtsneutrale Reden über Straßenkinder „als Orientierung an den unreflektiert als universell gesetzten männlichen Maßstäben und Prinzipien“13 (ebd., 116). Sie stellen die These auf, dass die Straße männliches Territorium sei, in dem Mädchen und Frauen keinen Raum haben und sich in Szenen bewegen, die von Jungen dominiert werden. Zudem ist in ihrer Sicht die Straße ein deklassierter Lebensort für beide Geschlechter, der jedoch für die Jungen als „männlicher Abenteuerspielplatz“ (ebd., 122) noch Attraktivität bieten kann. „Für Mädchen hingegen gerät die Straße gänzlich in Widerspruch zur Geschlechtsrollenkonstruktion. (…) Entsprechend stellt sich das Leben auf der Straße für die Mädchen als Bedrohung ihrer Weiblichkeit dar, sie müssen unter Beweis stellen, dass sie auf der Straße leben und dennoch weiblich sind.“ (ebd.)
Auch hier findet sich, wie schon in der Wohnungslosenhilfe, die Figur des besonders benachteiligten Mädchens innerhalb einer marginalisierten sozialen Gruppe. Aus Theorien über geschlechtsspezifisches Raumverhalten und Geschlechtsrollenzuschreibungen werden gradlinig Schlüsse auf das Erleben der betreffenden Mädchen (und Jungen) gezogen. Ich erachte es als wichtig, dass diese geschlechtsdifferenzierende Sichtweise in einen vermeintlich geschlechtsneutral geführten Diskurs eingeführt wurde und dabei auf Ergebnisse der Frauen- und Geschlechterforschung rekurriert wird, sehe aber auch die Gefahr, dass in der Konstruktion der oben beschriebenen Figur starre dichotome, wenn auch wohlmeinende Zuschreibungen konstitutiv sind. Ich bezweifle zudem, dass das eindeutige Bild, das dabei in Bezug auf Raumverhalten und Weiblichkeitsbilder gezeichnet wird, den Sichtweisen und Lebenswelten der Mädchen und Frauen gerecht wird. 13
Ich würde nicht von als universell gesetzten männlichen Maßstäben reden, sondern vielmehr von als männlich gesetzten Maßstäben, die die Lebensrealität von Jungen ebenso verdecken wie die der Mädchen.
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Im folgenden Kapitel werde ich die theoretischen und methodologischen Grundlagen auch in Bezug auf die Kategorie Geschlecht (vgl. Kapitel 3.3) ausführen. Meines Erachtens ist es notwendig, eine geschlechtsreflektierende Haltung anzustreben, die die Mädchen und Frauen wahrnimmt in ihrem Bemühen, sich innerhalb der Normierungen und Restriktionen der Geschlechtszugehörigkeit zu verorten (und verorten zu müssen), dadurch entstehende Konflikte zu bewältigen und auch Grenzen von Geschlecht zu erweitern oder zu modifizieren.
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3 Theoretische und methodologische Grundlagen
Die Forschungsfrage ist, wie ich in der Einleitung ausgeführt habe, in einem Prozess entstanden, in dessen Verlauf sich Fragen und Denkbewegungen aus der Praxis Sozialer Arbeit einerseits und der wissenschaftlichen Arbeit andererseits gegenseitig bereicherten und bedingten. Auf ähnliche Weise haben sich auch die im Folgenden ausgeführten theoretischen und methodologischen Grundlagen entwickelt. Daher stellen diese Grundlagen im Forschungsprozess dieser Arbeit nicht die vorher festgelegten Voraussetzungen dar, auf denen die empirische Untersuchung quasi aufbaut. Die theoretischen Bezüge wurden vielmehr durch die Erkenntnisse im Forschungsprozess präzisiert und akzentuiert. Die Forschungsfrage dieser Arbeit lautet: Welche Erfahrungen und Orientierungen der wohnungslosen Mädchen und Frauen sind konstitutiv für ihre Lebenswelten? Bei der Analyse der Lebenswelten gehe ich also davon aus, dass diese durch die Erfahrungen und Orientierungen eines Menschen begründet werden. Warum ich diesen Zugang gewählt habe und wie ich ihn theoretisch herleite und begründe, wird in diesem Kapitel deutlich werden. Zunächst werde ich auf Lebenswelt als Fachbegriff der Sozialen Arbeit eingehen. Wie bereits im Titel der Arbeit deutlich wird, kommt diesem Begriff in dieser Untersuchung eine zentrale Rolle zu. Ich beziehe mich dabei auf den Lebensweltbegriff in der phänomenologischen Tradition, wie ihn vornehmlich Alfred Schütz und Thomas Luckmann (2003) fassen, sowie auf das Verständnis von Lebenswelt und Lebensweltorientierung, das im Wesentlichen von Hans Thiersch (1992) entwickelt, aus einer frauenpolitischen Perspektive kritisch weitergedacht wurde (vgl. Bitzan 1996) und für die Theorie und Praxis Sozialer Arbeit grundlegend ist. Im Hinblick auf die Zielgruppe der wohnungslosen Mädchen und jungen Frauen hat sich diese Fokussierung als angemessen erwiesen, was ich in Kapitel 3.1 begründen werde. Methodisch und methodologisch habe ich mich, vor allem bei der Auswertung des erhobenen Materials14, auf die dokumentarische Methode nach Ralf Bohnsack bezogen. Der Begriff der Erfahrung spielt hier eine wichtige Rolle
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Die methodische Vorgehensweise des Feldzugangs, der Datenerhebung sowie der Auswertung des Materials wird ausführlich in Kapitel 4 beschrieben.
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und stellt eine Verbindung zu phänomenologischen Theorien von Lebenswelt dar (vgl. Alcoff 2000, 39), die in Kapitel 3.2.1 kritisch diskutiert werden. Das Konzept des Verdeckungszusammenhangs und die Konfliktorientierung benennt das Tübinger Institut für frauenpolitische Sozialforschung (1998) als Basiselemente feministischer Forschung (vgl. ebd., 41ff. und 71ff.). In der Forschung mit den wohnungslosen Mädchen und jungen Frauen haben mir diese methodologischen Grundlagen eine Perspektive eröffnet, die es ermöglicht, mit den Widersprüchen, Brüchen und Spannungsfeldern im Forschungsprozess, vor allem bei der Auswertung des erhobenen Materials, erkenntnisgewinnend umzugehen. In Kapitel 3.3 werden die dieser Arbeit zugrunde liegenden Perspektiven auf Geschlecht ausgeführt, unter engem Bezug auf Andrea Maihofers Theorie von Geschlecht als Existenzweise (vgl. Maihofer 1994 und 1995). 3.1 Lebenswelt als Fachbegriff in der Sozialen Arbeit Mit dem Begriff „Lebenswelt“ im Titel der Untersuchung wird ein Fachbegriff Sozialer Arbeit aufgegriffen, der in den letzten Jahrzehnten eine inflationäre Benutzung erfahren hat und dabei vielfach mehr als Schlagwort denn als kritisches Konzept zur Rekonstruktion von Lebensverhältnissen und Handlungsmustern verwendet wurde. In der fachlichen Diskussion der Sozialen Arbeit gilt seit dem Achten Jugendbericht15 und auf Grundlage des 1991 in Kraft getretenen neuen Kinderund Jugendhilfegesetzes (SGB VIII) die Lebensweltorientierung als konzeptionelle Leitidee (vgl. Peters 2001, 228; Lamp 2007, 123). Maria Bitzan (2000) stellt fest, dass es seitdem kaum eine Konzeption sozialpädagogischer Arbeit gibt, die sich nicht auf Varianten dieses Ansatzes beruft (vgl. ebd., 335). Auch für die Entwicklung alternativer Konzepte und Angebote für wohnungslose Jugendliche und junge Erwachsene, die trotz einer differenzierten Angebotspalette von der Jugend- und Wohnungslosenhilfe nicht erreicht wurden, wurde und wird die Orientierung an der Lebenswelt der Jugendlichen und jungen Erwachsenen als wesentliche Grundidee und innovativer Ansatz der sozialpädagogischen Arbeit benannt. Dies gilt sowohl für die Forschung (vgl. Pfennig 1996, 27; Hansbauer 1998 53f., Metje 2005, 81ff.) als auch für praxisnahe Konzepte. Es entstanden szenenah so genannte niedrigschwellige Einrichtungen, die mit einer akzeptierenden Grundhaltung und weitgehend ohne Zugangsvorausset15
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Der Achte Jugendbericht wurde 1990 vom Bundesministerium für Jugend, Familie, Frauen und Gesundheit herausgegeben.
zungen auch im Rahmen aufsuchender Straßensozialarbeit (Überlebens-)Hilfen anbieten (vgl. IgfH 1998, 9f.). Dabei wird nicht expliziert, was mit dem Begriff der Lebenswelt umschrieben wird. Gemeint sind jedoch meist das soziale Umfeld und die alltäglichen Aufenthaltsorte der Zielgruppe (vgl. Bitzan 2000, 337). Die MitarbeiterInnen der Einrichtungen werden aufgrund ihrer Szenekenntnisse als ExpertInnen der Lebens- und Alltagswelt ihrer Zielgruppe eingestuft. Für die Ermittlung des Handlungsbedarfs und die Ausgestaltung der pädagogischen Praxis kommen den expliziten oder impliziten Annahmen über die (nicht näher definierten) Lebenswelten der betreffenden Mädchen und Jungen eine konstituierende und legitimierende Bedeutung zu. Maria Bitzan (2000) sieht in dieser Praxisentwicklung die Gefahr der Verflachung und Verkürzung des ursprünglichen Konzeptes, wie es für die Soziale Arbeit entwickelt wurde (vgl. Thiersch 1992; Grunwald/Thiersch 2004). In ihrem Artikel „Konflikt und Eigensinn“ fordert Bitzan eine Repolitisierung der Lebensweltorientierung (vgl. Bitzan 2000, 335) und damit eine Reaktivierung des darin liegenden emanzipatorischen Potenzials, auch in geschlechterpolitischer Hinsicht. Eine emanzipatorisch-politische Ausrichtung ist dem dieser Arbeit zugrunde liegenden Verständnis von Lebenswelt inhärent, auch in methodologischer Hinsicht. Was mit dieser Ausrichtung im Einzelnen gemeint ist, kann nicht als gesonderter Punkt erörtert werden, sondern zeigt sich konkret quer durch alle im Folgenden ausgeführten Unterpunkte zu den theoretischen und methodologischen Grundlagen dieser Arbeit. In phänomenologischer Tradition bezeichnet Lebenswelt den unhinterfragten und selbstverständlichen Boden „sowohl jeglichen alltäglichen Handelns als auch jeden Träumens, Phantasierens und Theoretisierens“ (Honer 2006, 110) eines Menschen. Diese Definition verdeutlicht die Unterscheidung zwischen Lebenswelt und Alltagswelt, zwei Begriffe, die häufig weitgehend synonym verwendet werden (vgl. ebd.). Schütz und Luckmann (2003) unterscheiden die alltägliche Lebenswelt von Phantasie- und Traumwelten sowie von Theorien (vgl. ebd., 54ff.). Sie bezeichnen die alltägliche Lebenswelt als „die Wirklichkeitsregion, in die der Mensch eingreifen und die er verändern kann, indem er in ihr durch Vermittlung seines Leibes wirkt“ (ebd., 29) sowie als „eine Wirklichkeit, die wir durch unsere Handlungen modifizieren und die andererseits unsere Handlungen modifiziert“ (ebd., 33). Obwohl die alltägliche Lebenswelt als vornehmliche Wirklichkeit eines Menschen hervorgehoben wird (vgl. ebd., 29), sind die weiteren Wirklichkeitsbereiche mit zu bedenken. Die Einteilung der Kategorien der unterschiedlichen Wirklichkeitsbereiche ist weitgehend an normalen Lebensverhältnissen orientiert. Schütz und Luckmann (2003) beziehen sich bei ihren Beschreibungen von alltäglicher Lebenswelt auf den „wachen und 31
normalen Erwachsenen in der Einstellung des gesunden Menschenverstandes“ (ebd., 29) und führen aus: „Die alltägliche Lebenswelt ist die Wirklichkeitsregion, in die der Mensch eingreifen und die er verändern kann, indem er in ihr durch die Vermittlung des Leibes wirkt.“ (ebd.) Die Unterscheidung in alltägliche Lebenswelt einerseits und Phantasie- und Traumwelten andererseits wird der Lebenssituation wohnungsloser Mädchen und junger Frauen nicht gerecht. Ein Alltag, in dem die Handlungsfähigkeit der Betreffenden stark eingeschränkt ist und der geprägt ist von zum Teil starkem Drogenkonsum, Schlafmangel und existenzieller Not, im Kontext von Biografien mit krisenhaften und brüchigen Verläufen, lässt sich nicht unter dieser Definition von Alltagswelt fassen. Eine übergreifende Definition von Lebenswelt ist deshalb in Bezug auf die wohnungslosen Mädchen und jungen Frauen sinnvoll und notwendig. Lebensweltorientierung meint pädagogisches und sozialarbeiterisches Handeln auf der Grundlage der Theorie von Lebenswelt. Zunächst im engen Bezug zur Jugendhilfe formuliert (vgl. Thiersch 1992) und später für eine Vielzahl von Arbeitsfeldern ausdifferenziert (vgl. Grunwald/Thiersch 2004), ist dieses Handeln darauf ausgerichtet, Menschen unter anderem durch die professionelle Rekonstruktion lebensweltlicher Bezüge in ihren Lebensverhältnissen bei der Bewältigung dieser Lebensverhältnisse zu helfen (vgl. Thiersch 1992, 23f.). Lebensweltorientierung will dabei „Menschen primär in den Schwierigkeiten helfen, die sie mit sich selbst und für sich selbst haben, nicht aber in denen, die andere mit ihnen haben“ (ebd., 24). Hans Thiersch, Klaus Grunwald und Stefan Köngeter (2005) benennen als Grundlage für lebensweltorientierte Soziale Arbeit ein Verständnis von Lebenswelt, das in vier Traditionslinien oder Zugängen steht (vgl. ebd., 167). Neben der hermeneutisch-pragmatischen Tradition der Erziehungswissenschaft, die unter anderem von Wilhelm Dilthey, Herrmann Nohl oder Klaus Mollenhauer geprägt wurde, ist das phänomenologisch-interaktionistische Paradigma maßgeblich für ihre Fassung von Lebenswelt (vgl. ebd.). Die kritische Alltagstheorie mit ihrem Verweis auf die dialektischen Anteile von Lebenswelt bildet die dritte Traditionslinie (vgl. ebd.; Lamp 2007, 124). Der vierte Zugang meint die Analyse neuerer gesellschaftlicher Entwicklungen unter den Schlagwörtern Individualisierung der Lebensführung, Pluralisierung von Lebenslagen und zunehmender sozialer Ungleichheit (vgl. Grunwald/Thiersch/Köngeter 2005, 168). Diese Zugangsweise der genannten Autoren ist äußerst breit angelegt und allgemein gehalten. Das Verständnis von Lebenswelt in dieser Arbeit ist unter Bezug auf diese Zugänge konkreter gefasst. In Erweiterung eines phänomenologischen Verständnisses von Lebenswelt in Anlehnung an Alfred Schütz und Thomas Luckmann (2003) werde ich die dialektischen Anteile von Lebenswelt einbeziehen. Gesellschaftspolitische Verhältnisse werde ich mit den Konzepten 32
des Verdeckungszusammenhangs und der Konfliktorientierung sowie unter der Geschlechterperspektive thematisieren und nicht unter den von Grunwald, Thiersch und Köngeter (2005) genannten Schlagwörtern zur Bezeichnung von neueren Entwicklungen. 3.1.1 Lebenswelt als Schnittstelle zwischen Subjektivem und Objektivem Unter dem Begriff „Lebenswelt“ wird in seiner alltagssprachlichen Bedeutung die Beschreibung einer objektiv gegebenen räumlichen Umwelt, in der sich eine Person bewegt, sowie gegebenenfalls der sozialen Kontakte, die sie innerhalb dieser Räume pflegt, gefasst. Es geht also in der Regel um die Lebens- und Aufenthaltsorte eines Menschen, eben sein räumliches und soziales Umfeld, sein persönlicher Ausschnitt der Welt, in der er sich alltäglich bewegt. Dies beinhaltet einen Blick von „außen“ auf die Lebenswelt, der die Sichtweisen der betreffenden Person(en) nur partiell berücksichtigt. Dabei wird eine weitgehende Kongruenz in der Wahrnehmung und Deutung der Umwelt auch von unterschiedlichen Standpunkten aus unterstellt und vorausgesetzt. Lebenswelt meint in dieser Untersuchung nicht diesen deskriptiven Zugang zu den Lebensorten der Mädchen und jungen Frauen, ihren sozialen Kontakten oder ihren alltäglichen Gewohnheiten. Es geht nicht darum zu berichten, wie das Leben auf der Straße „funktioniert“ oder um eine Beschreibung der entsprechenden Straßenszenen. Das hier angewandte Konzept von „Lebenswelt“ begreift die Erfahrungen und Sichtweisen der Einzelnen als konstitutiv und setzt sie als Leitorientierung zur Beschreibung von Lebenswelten. Dabei wird davon ausgegangen, dass es keine für alle Beteiligten identische Umwelt gibt. Im Blickpunkt der Forschungsarbeit stehen also die Konstruktionsprozesse von Lebenswelt. Konstruktion meint hier nicht die Deutung einer vorgängigen Realität durch die Subjekte, sondern die Herstellungsprozesse sozialer Wirklichkeit. Das heißt, mit Lebenswelt ist nicht die Umwelt eines Menschen gemeint, die er aufgrund seiner Erfahrungen mit seinen Deutungen belegt. Vielmehr sind die Erfahrungen eines Menschen und die daraus generierten Orientierungen konstitutiv für seine Lebenswelt. Diese Betonung der vielfältigen Erfahrungen und Orientierungen der Individuen impliziert jedoch keine individuelle und bunte Beliebigkeit von Lebenswelten. Thiersch, Grunwald und Köngeter (2005) betonen, dass die Wirklichkeit, wie sie ein Individuum erfährt, stets bestimmt ist durch gesellschaftliche Ressourcen und Strukturen (ebd., 170). Sie bezeichnen Lebenswelt als „die Schnittstelle von Objektivem und Subjektivem, von Strukturen und Handlungsmustern“ (ebd.). Diese Schnittstelle 33
„ist konstitutiv für die Rekonstruktion von Lebenswelt und grenzt sich damit ab von der Verführung, sich in filigran-subtilen Analysen damit zu begnügen, Gesellschaft im vielfältig bunten Bild von Szenen, Milieus, Situationen und Deutungs- und Handlungsmustern zu sehen“ (Grunwald/Thiersch 2002, 1139).
Lebenswelt als wissenschaftliches Konzept begriffen eröffnet damit die Möglichkeit, die individuellen Sichtweisen und Perspektiven im Kontext bestehender gesellschaftlicher Verhältnisse zu betrachten. Dies bedeutet nicht, Subjektives und Objektives, Individuum und Gesellschaft als zwei quasi getrennte Bereiche anzusehen, die beide beachtet werden müssen. Der oben verwendete Begriff der Schnittstelle verbildlicht vielmehr die komplexe Verwobenheit der beiden Dimensionen, die in der Analyse von Lebenswelten rekonstruiert wird. Wie es methodologisch gelingen kann, die Erfahrungen der Beforschten als Ausgangspunkt zu nehmen, ohne den Erfahrungsbezug zu verabsolutieren und damit gesellschaftliche Strukturen zu vernachlässigen, werde ich in Kapitel 3.2 ausführen. 3.1.2 Pragmatisches Motiv und Lebensbewältigung Konstruktionsprozesse von Lebenswelt sind ausgerichtet auf das pragmatische Motiv der Bewältigung des alltäglichen Lebens (vgl. Schütz/Luckmann 2003, 33). Das heißt, Lebenswelt ist bestimmt von der Notwendigkeit, fortlaufend vielfältige Aufgaben und Anforderungen zu erledigen und zu bewältigen. Dies umfasst sowohl solche Aufgaben, die routiniert erledigt werden und deren Bewältigung für eine Person als sicher und unproblematisch gilt, bis hin zu solchen Situationen, die ein existenzielles Problem darstellen, dessen Lösung fraglich und unsicher ist. Routinen entlasten, indem sie selbstverständliches, problemlösendes Alltagshandeln ohne weitere Reflexion ermöglichen, und Typisierungen bewahren vor der Unsicherheit und der Anstrengung, jede Situation als neu und unbekannt bewältigen zu müssen (vgl. ebd., 37). Man kann auch sagen, Routinen und Typisierungen ermöglichen überhaupt erst die Bewältigung des Alltags, weil sie die für den Alltag nötige Sicherheit im Handeln bieten. Die meisten Bewältigungsaufgaben des alltäglichen Lebens werden in dieser unreflektierten Selbstverständlichkeit erledigt. Eine besondere Bedeutung hat im Kontext dieser Forschungsarbeit die Lebensbewältigung in kritischen Situationen. Als kritische Situationen bezeichnen Schütz und Luckmann (2003) neue Erfahrungen, die „nicht in das bishin als fraglos geltende Bezugsschema“ (ebd., 35) passen. Das Bemühen eines Menschen, in diesen kritischen Situationen zurechtzukommen, fasst Lothar Böhnisch (2005) unter den Begriff der Le34
bensbewältigung und konstatiert: „Lebensbewältigung meint also (…) das Streben nach subjektiver Handlungsfähigkeit in kritischen Lebenssituationen, in denen das soziale Gleichgewicht – Selbstwertgefühle und soziale Anerkennung – gefährdet ist.“ (ebd., 202f.) Im Kontext lebensweltorientierter Sozialer Arbeit ist der Bewältigungsbegriff nicht so eng auf krisenhafte Entwicklungen fokussiert. Die Bewältigung von Aufgaben und Problemen gilt hier als alltägliche Anforderung in unterschiedlichen Formen für alle Menschen (vgl. Grunwald/ Thiersch 2002, 1137). Die lebensweltlichen Deutungs- und Handlungsmuster sind also an ihrer Dienlichkeit zur Bewältigung des alltäglichen Lebens orientiert. Das heißt, die Auslegungen der Welt einer Person bilden nicht notwendigerweise ein in sich geschlossenes System, das logisch gegliedert ist, wie es beispielsweise in der Wissenschaft „mit ihrem Postulat der logischen Kongruenz der geltenden Theorien“ (Schütz/Luckmann 2003, 35) erforderlich ist. Die Deutungs- und Handlungsmuster der Lebenswelt können in sich nicht übereinstimmend und auch widersprüchlich erscheinen, ohne dass dies von den betreffenden Individuen oder auch sozialen Gruppen als widersprüchlich wahrgenommen wird. „Das Konzept Lebensbewältigung signalisiert (…) den Abschied von der Vorstellung, die Widersprüche und Disparitäten des gesellschaftlichen Lebens könnten von einzelnen Menschen in fortlaufenden Akten der Balance, des Vereinbarmachens, der Versöhnung bewältigt werden – die integrierte Gesamtpersönlichkeit um jeden Preis.“ (Böhnisch/Schefold 1985, 77)
Im Hinblick auf die Lebenswelten wohnungsloser Mädchen und junger Frauen ist das, was Schütz/Luckmann (2003) als radikale lebensweltliche Krise und als Sonderfall bezeichnen, von besonderer Bedeutung. Als radikale lebensweltliche Krise definieren sie „die Tatsache, dass unter bestimmten Umständen mein Wissensvorrat als solcher mitsamt den Sedimentierungsprozessen, durch welche Typisierungen überhaupt gebildet werden, fraglich werden kann“ (ebd., 39). Aktuelle Erfahrungen zu machen, die sich wesentlich vom bisherigen Erfahrungsvorrat unterscheiden (vgl. ebd.), stellt für Mädchen und junge Frauen auf der Straße allerdings nicht die Ausnahme dar, sondern einen wesentlichen Bestandteil ihrer Lebenswelten. Widersprüche, Brüche und Unzulänglichkeiten sind wichtige und alltägliche, dem hier verwendeten Konzept von Lebenswelt immanente Aspekte. Sie gelten nicht als Störfaktoren, die geglättet werden müssen, sondern sind in ihrer Unauflösbarkeit produktiv und erkenntnisgewinnbringend als Hinweise auf individuelle und vor allem gesellschaftliche Konfliktlagen und Verdeckungen mit dem darin liegenden Potenzial der Veränderung. 35
Methodologisch interessant ist die Frage, wie mit diesen lebensweltlichen Widersprüchen und Brüchen im Sinne eines anerkennenden und respektvollen Umgangs mit den beforschten Subjekten und einer gesellschaftspolitisch kritischen Perspektive (vgl. Bitzan 2000, 338) umzugehen ist. Auch dies wird im weiteren Verlauf in Kapitel 3.2 zu klären sein. 3.1.3 Lebenswelt als normativ-kritisches Konzept In einer kritischen Wendung des phänomenologischen Lebensweltbegriffes weisen Hans Thiersch und Klaus Grunwald (2004) auf die dialektischen Anteile von Lebenswelt hin (vgl. ebd., 18). In dieser Dialektik wendet sich Lebenswelt als normativ-kritisches Konzept ab vom Verständnis von Lebenswelt als „im Wesentlichen unproblematisches Apriori“ (Lamp 2007, 122)16, das die Überschaubarkeit und Verlässlichkeit unmittelbar erfahrbarer Lebenszusammenhänge und der darin verfügbaren sozialen Beziehungen und alltäglichen Kompetenzen betont. Dieses Verständnis von Lebenswelt entwickelte sich vor allem in den 60er Jahren, nach Thiersch (1992) in Abgrenzung zu einer „expandierenden institutionellen und effektiven Technologie und Rationalisierung und der zunehmenden Abstraktheit der Lebensverhältnisse“ (ebd., 44). Das Verständnis von Lebenswelt als normativ-kritisches Konzept weist hingegen darauf hin, dass die Routinen, Typisierungen und Sicherheiten, die die Alltagsbewältigung und damit Handlungsfähigkeit, Beweglichkeit und Produktivität ermöglichen, zugleich verpasste Chancen und verdeckte Möglichkeiten sein können. Es besteht die Gefahr, dass lebenswertere Alternativen und Hoffnungen durch Sicherheit bietende Routinen verdeckt und verhindert werden. „Pragmatismus und Routinen verführen dazu, sich auf Eingefahrenes zu beschränken, Fremdes auszugrenzen und mögliche Alternativen nicht weiter zu verfolgen. Lebenswelt ist sowohl die Wirklichkeit von Sicherheit und Verlässlichkeit, als auch von unterdrückten Möglichkeiten, Hoffnungen und Wünschen.“ (Thiersch 2002, 177)
Das normativ-kritische Konzept stellt einen wesentlichen Baustein dar für die Lebensweltorientierung in der Sozialen Arbeit. Hier wird von dem/der SozialarbeiterIn eine Haltung verlangt, die sich auszeichnet durch Respekt und Akzeptanz gegenüber den lebensweltlichen Routinen und Bewältigungsformen der 16
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Fabian Lamp (2007) führt an dieser Stelle den Unterschied zwischen Jürgen Habermas und dessen Theorie von Strukturwelt und Lebenswelt einerseits und dem für die Soziale Arbeit grundlegenden Ansatz von Hans Thiersch aus (ebd., 120 ff.).
AdressatInnen. Gleichzeitig müssen professionell Handelnde vor dem Hintergrund der fortwährenden Reflexion eigener Normen und Annahmen dazu fähig sein, mit dem Ziel der Veränderung in die Lebenswelten der AdressatInnen einzugreifen. „Im Namen sozialer Gerechtigkeit und Humanität löst die lebensweltorientierte Soziale Arbeit die Doppelstellung von Respekt vor den Handlungsroutinen und Bewältigungsstrategien der Menschen und der zumindest teilweisen Destruktion dieses Alltags nicht auf, sondern sucht in mäeutischer Manier nach neuen Optionen für einen gelingenderen Alltag.“ (Thiersch/Grunwald/Köngeter 2005, 168)
Was hat nun die Lebensweltorientierung als ein Ansatz aus der Praxis Sozialer Arbeit mit der Methodologie der vorliegenden Arbeit zu tun? Anders als in der Praxis Sozialer Arbeit waren Veränderung, Intervention und Beratung im Rahmen dieser qualitativ empirischen Untersuchung nicht Ziel im Kontakt mit den wohnungslosen Mädchen und jungen Frauen. Dennoch sah ich mich als Forschende vor der Herausforderung, eine Haltung zu entwickeln, die sich durch Respekt und Akzeptanz vor den Aussagen der Beforschten auszeichnet und die gleichzeitig eine Perspektive innehat, die angesichts der Komplexität des erhobenen Materials wissenschaftlich fundierten Erkenntnisgewinn ermöglicht. 3.2 Methodologische Grundlagen Wie oben bereits erwähnt, werde ich im Folgenden als methodologische Grundlagen den Erfahrungsbegriff diskutieren und auf die Theorie des Verdeckungszusammenhangs sowie der Konfliktorientierung eingehen. 3.2.1 Zur erkenntnistheoretischen Relevanz von Erfahrung In der dokumentarischen Methode, die in dieser Untersuchung für die Auswertung des empirischen Materials herangezogen wird, spielt der Begriff der Erfahrung eine zentrale Rolle. Nach Karl Mannheim (1980) ist eine Erfahrung dadurch charakterisiert, dass ihr eine jeweils spezifische Perspektive inhärent ist, die durch die persönlichen Dispositionen eines Menschen geprägt ist (vgl. ebd., 212). Zur Veranschaulichung führt er das gleichnisartige Beispiel einer Landschaft an, die von verschiedenen Standorten aus unterschiedlich erfahren wird.
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„Ist aber nicht jedes dieser Bilder eine Erfahrung dieser Landschaft, auch wenn eine jede ‚Verkürzung‘, eine jede ‚Verschiebung‘ auf den Standort hin orientiert ist, von wo aus man betrachtet? (…) Und dennoch oder gerade darin, dass es perspektivisch ist, hat dieses standortgebundene Bild seine Wahrheit. Denn die Landschaft ist ein Gegenstand, der prinzipiell nur perspektivisch erfassbar ist. Verschwindet die Perspektivität, verschwindet die Landschaft.“ (ebd.)
Dies gilt auch für die Konstruktion von Lebenswelten: Es gibt keine von einem objektivierten Standpunkt beschreibbare Lebenswelt einer Person, sondern Lebenswelt konstituiert sich durch die Erfahrungen und die daraus generierten Orientierungen dieser Person. Im Anschluss an Mannheim könnte auch gesagt werden: Verschwindet die Perspektivität, verschwindet die Lebenswelt. Für die Milieuforschung konstatiert Bohnsack (1998), dass hier vielfach eine epistemologische Leitdifferenz zwischen subjektiver Erfahrung einerseits und objektiver Realität andererseits vorausgesetzt werde. In der dokumentarischen Methode wird diese Differenzierung obsolet, da hier „gesellschaftliches Sein, gesellschaftliche Lagerung, nicht jenseits der Erfahrung oder des Erlebens der Erforschten angesiedelt“ (ebd., 120) wird. Diese Prämisse eröffnet einen Forschungsansatz, der die marginalisierten Erfahrungen und Sichtweisen von Menschen, die am Rande der Gesellschaft verortet werden, mit einer antihierarchischen Haltung wahrnimmt und analysiert, da nicht davon ausgegangen wird, die Forscherin habe einen privilegierten, weil objektivierten Zugang zu gesellschaftlicher Wirklichkeit. Mit Bezug auf Karl Mannheim führt Bohnsack weiter aus: „Nach Mannheim ist gesellschaftliches Sein derart zu verstehen, dass es sich durch Gemeinsamkeiten des biografischen Erlebens, Gemeinsamkeiten der Sozialisationsgeschichte, des Schicksals, d. h. durch konjunktive Erfahrung, überhaupt erst konstituiert.“ (ebd., 120)
In der dokumentarischen Methode wird vom Konzept des konjunktiven Erfahrungsraums gesprochen. Aglaja Przyborski (2004) definiert dieses Konzept als die grundlagentheoretische Fassung einer „von der konkreten Gruppe gelösten Kollektivität“ (ebd., 29) und konstatiert weiter: „Es verbindet diejenigen, die an Wissens- und Bedeutungsstrukturen teilhaben, welche in einem bestimmten Erfahrungsraum gegeben sind.“ (ebd.) Zur Benennung konjunktiver Erfahrungsräume wird in der dokumentarischen Methode auf grundlegende soziale Kategorien oder geografische Einheiten rekurriert, wie Milieu, Geschlecht, Generation oder Dorf/Stadt (vgl. z. B. Bohnsack 2001, 237f.; Nentwig-Gesemann 2001, 295ff.; Nohl 2001, 258ff.; Bohnsack/Schäffer 2002). Bohnsack (1997a) weist darauf hin, dass diese Kategorien in ihrer konjunktiven und nicht in ihrer kom38
munikativen Bedeutung verwendet werden. Diese Unterscheidung in zwei Bedeutungsdimensionen verdeutlicht er am Beispiel des Begriffs „Dorf“, der einerseits im kommunikativen Sinn verwaltungstechnisch oder juristisch eine geografische oder soziale Einheit benennt (vgl. ebd., 197). Andererseits gewinnt das Dorf für diejenigen eine konjunktive Bedeutung, die durch das Leben im Dorf auf der Grundlage gemeinsamer Praxis bestimmte Erfahrungen machen (vgl. ebd., 196f.). Ein anderes, für diese Arbeit relevanteres Beispiel stellt der Begriff der Familie dar. Mit Bezug auf den kommunikativen Sinn ist er zu verstehen als gesellschaftliche Institution. Familienzusammenhänge sind jedoch auch konjunktive Erfahrungsräume in ihrer fall- oder auch milieuspezifischen Besonderheit (vgl. Bohnsack 2006, 42f.).17 Diese Unterscheidung in kommunikative und konjunktive Wissensbestände ist für die wohnungslosen Mädchen und jungen Frauen von besonderer Relevanz. Gerade für soziale Gruppen, deren Einfluss auf die Entwicklung gesellschaftlich objektivierter, also kommunikativer Wissensbestände sehr gering ist und deren Lebensverläufe sich deutlich von dem unterscheiden, was als Normalbiografien verstanden wird, wird die Vermittlung zwischen dem, wie die eigenen Erfahrungen sein sollten, und dem, wie sie sind, zu einer Bewältigungsaufgabe, die sich mit Hilfe der genannten Unterscheidung rekonstruieren lässt. Sich auf gesellschaftlich dominante soziale Kategorien zu beziehen, um den Rahmen für konjunktive Erfahrungen zu begründen, stellt meines Erachtens jedoch ein Problem dar, das auch durch die aufschlussreiche Unterscheidung in die beiden Bedeutungsdimensionen kommunikativen und konjunktiven Wissens nicht gelöst werden kann. Eine Typenbildung in Form einer Milieu-, Geschlechts- oder Generationstypik berücksichtigt die Konstruktionsprozesse dieser Kategorien nicht ausreichend. Letztlich muss es darum gehen zu überprüfen, ob und in welcher Form diese Kategorien für die Konstitution der Erfahrungsräume der Beforschten relevant sind.18 Linda Martin Alcoff (2000) beschäftigt sich mit dem Begriff der Erfahrung im Kontext der Entwicklung einer feministischen Phänomenologie. Die Erfahrungen und Sichtweisen von Frauen in den Mittelpunkt zu stellen, wertzuschät17
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Die dokumentarische Methode ist also darauf ausgerichtet, im Rahmen qualitativer Forschung Zugang zu diesem konjunktiven Wissen zu erhalten. Wie dabei methodisch vorgegangen wird, habe ich im Rahmen der Ausführungen zu dem Forschungsprozess der vorliegenden Untersuchung in Kapitel 4.4 ausgeführt. Eine vertiefende Darstellung der Analyseschritte der dokumentarischen Methode findet sich unter anderem bei Bohnsack u. a. 1995, Bohnsack 2001 sowie Nentwig-Gesemann 2001. Auf dieses methodologische Problem weise ich an dieser Stelle im Rahmen der dokumentarischen Methode lediglich hin, werde es jedoch in Bezug auf Geschlecht in Kapitel 3.3 aufgreifen. In Kapitel 4.4 werde ich ausführen, was in Bezug auf die Zielgruppe dieser Untersuchung unter dem konjunktiven Erfahrungsraum zu verstehen ist.
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zen und für wahr zu nehmen, bezeichnet Alcoff als ein zentrales Moment in der Entstehung und Entwicklung feministischer Politik und Wissenschaft. Es geht um „the idea of making women’s experience visible and of validating women’s experience against the multitude of scientific theories that purported to interpret our experience for us“ (ebd., 43). Frauen als eine im hierarchischen Geschlechterverhältnis benachteiligte soziale Gruppe mit ihren Erfahrungen sichtbar zu machen, ist ein politisch ambitioniertes Projekt, das sich auch auf andere marginalisierte soziale Gruppen übertragen lässt. Dadurch können Standorte und Perspektiven entdeckt werden, die in hegemonialen Diskursformationen verdeckt werden (vgl. Levesque-Lopman 1988, 52f.). Linda Alcoff warnt jedoch vor einer, wie sie es nennt, naiven Beschreibung von Erfahrung (vgl. Alcoff 2000, 45). Es sei nämlich kritisch zu bedenken, dass in den Erfahrungen der betreffenden Menschen nicht nur ihre vermeintlich eigene Perspektive in der Gegenüberstellung zu gesellschaftlich vorherrschenden Diskursen zum Ausdruck kommt, sondern dass Erfahrungen durch gesellschaftliche Strukturen und Verhältnisse beeinflusst und geformt werden (vgl. ebd., 44). Damit ist gemeint, dass Erfahrungen keine autonome Eigenleistung einer Person darstellen, sondern dass gesellschaftliche Strukturen beeinflussen, wie Individuen Erlebnisse erfahren19 und auf welche Art und Weise sie gedeutet, thematisiert und kommuniziert (oder verschwiegen) werden. Vor diesem Hintergrund ist es als problematisch anzusehen, Erfahrung unhinterfragt als maßgebende Grundlage für Erkenntnis anzusehen (vgl. ebd.). Es ist vielmehr eine methodologische Einstellung sinnvoll, die Erfahrung differenzierend versteht, nämlich als, wie Alcoff es ausdrückt, „epistemically indispensable but never epistemically self-sufficient“ (ebd.). Das bedeutet für die vorliegende Untersuchung, dass die lebensweltlichen Erfahrungen der wohnungslosen Mädchen und jungen Frauen rekonstruiert werden unter engem Einbezug der diese Erfahrungen bedingenden objektivierten gesellschaftlichen Verhältnisse. Um diese Einstellung im Forschungsprozess umsetzen zu können, sind die im folgenden ausgeführten theoretischen Konzepte des Verdeckungszusammenhangs und der Konfliktorientierung, die im Kontext der feministischen Frauenforschung entwickelt wurden, sinnvoll.
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Zur Unterscheidung von Erlebnissen und Erfahrungen vgl. Schütz/Luckmann 2003, 447ff.
3.2.2 Das Konzept des Verdeckungszusammenhangs Auch Maria Bitzan (2000) warnt davor, den Erfahrungsbezug „zu verabsolutieren“ (ebd., 339). Sie sieht darin die Gefahr einer individualisierenden Perspektive auf die Lebensverhältnisse von Einzelpersonen und sozialen Gruppen. „Der Rückgriff auf die Lebenswelt als Handlungs- und Deutungshorizont der Subjekte nutzt für eine kritische Perspektive nur dann, wenn ein theoretisches Verständnis der verdeckten Dimensionen und Wirkungsweisen als Interpretationshintergrund eingesetzt wird.“ (ebd., 341)
Das Konstrukt des Verdeckungszusammenhangs, das Maria Bitzan in diesem Zitat anspricht, bildet eine theoretische Klammer zwischen subjektorientierter und struktureller Perspektive (vgl. Bitzan/Daigler 2001, 26). Im Kontext feministischer Frauenforschung20 entwickelt, wird hier davon ausgegangen, dass die Geschlechterhierarchie ein Herrschaftszusammenhang ist, der bestimmte Erscheinungsformen, Zuschreibungen und Zumutungen zeigt und gleichzeitig deren Ursprung verdeckt (vgl. ebd.). „Wichtig daran ist (…) die Erkenntnis, dass die Geschlechterhierarchie nicht nur Benachteiligungen, eingeschränkte Lebensmöglichkeiten und gechlechtsspezifische Einseitigkeiten produziert, sondern dass dieser Mechanismus gleichzeitig verdeckt wirkt und für die Beteiligten nicht erkennbar – und daher als gesellschaftliche Wirkungsweise auch nicht zugänglich – ist.“ (ebd.)
Diese Verdeckungen bewirken, dass gesellschaftliche Benachteiligungen oder stereotype Zuschreibungen als normal, selbstverständlich oder gar natürlich gedeutet werden und nicht als Wirkungsweisen eines Machtverhältnisses, das als Missstand zu beklagen ist. Die Ausblendung der gesellschaftlichen Bedeutung von reproduktiver Arbeit, das Verharmlosen von Gewaltverhältnissen sowie Normierungen darüber, wie sich Mädchen und Jungen zu bewegen, zu verhalten und zu entwickeln haben, sind nur einige Beispiele. Mit dem Konzept des Verdeckungszusammenhangs wird aufzeigbar, wie in geschlechtshierarchischen Verhältnissen Erfahrungen, die Individuen als Mädchen oder Jungen, Frauen oder Männer machen, in systematischer Weise nicht als Realität anerkannt werden (vgl. Bitzan/Daigler 2001, 26). Maria Bitzan und Claudia Daigler sprechen in diesem Zusammenhang von einem „kollektiven Realitätsverlust“ (ebd.). 20
Ein grundlegendes Werk zu Methodologie und Methode feministischer Frauenforschung ist 1998 unter dem Titel „Den Wechsel im Blick“ vom Tübinger Institut für frauenpolitische Sozialforschung e. V. herausgegeben worden und meines Erachtens auch für qualitative Forschung im Allgemeinen relevant und wichtig.
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Verdeckungen von Herrschaftsverhältnissen sind nicht auf die Kategorie Geschlecht beschränkt. Insofern ist der Verdeckungszusammenhang als theoretische Klammer auch auf die Situation gesellschaftlicher Gruppen anwendbar, die als das „Andere“ im Sinne von randständig, nicht normal, minderwertig oder auch exotisch gelten. Die Stigmatisierungen und stereotypen Vorstellungen, mit denen sich wohnungslose Menschen konfrontiert sehen, sind wirkmächtig für ihre Lebenswelt und gleichzeitig von ihnen selbst kaum zu beeinflussen. Diese Bilder und Zuschreibungen verdecken sowohl die gesellschaftlichen Verhältnisse, die das Phänomen „Wohnungslosigkeit“ bedingen, als auch die heterogenen Lebenslagen und Biografien wohnungsloser Menschen. Methodisch bedeutet das Wissen um diese Verdeckungen, im Forschungsprozess, vor allem bei der Datenerhebung, bewusst Raum zu schaffen für Themen, die den Beforschten eine „nichtreduzierte Selbstdarstellung“ (Bitzan 2000, 344) ermöglichen.21 Das bedeutet unter anderem, für Erfahrungen eine „Sprecherlaubnis“ zu geben, die normalerweise verdeckt, als nicht relevant gedeutet oder auch tabuisiert werden. Aber auch bei der Analyse des Materials ist es wichtig, die Wirkungsweise von gesellschaftlichen Machtverhältnissen mitzudenken und einzubeziehen. 3.2.3 Konfliktorientierung Die Orientierung auf Konflikte, auf Widersprüche oder Brüche in den Lebenswelten der Beforschten hat zum Ziel, verdeckte Dimensionen von Lebenswelten zu entdecken (vgl. Bitzan 2000, 341). Mit Konflikten sind hier nicht nur im engeren Sinne Streitigkeiten, Auseinandersetzungen oder innere Zwiespälte gemeint. Vielmehr geht es auch um Widersprüche und Brüche, die sichtbar werden, also all das, was im Forschungsprozess durch Irritationen dem geplanten Ablauf oder der üblichen Vorgehensweise entgegensteht, wie auch Ungereimtheiten, die im erhobenen Material sichtbar werden. In einer individualisierenden Perspektive werden solche Konflikte als Bewältigungsanforderungen an einzelne Personen22 gesehen mit der Ausrichtung auf Harmonisierung und Normalisierung der Lebensverhältnisse. Ob den Individuen dies gelingt, gilt als Gradmesser für ihre Fähigkeiten, unterschiedliche Lebenssituation zu meistern und mit den gesellschaftlichen Vorgaben zurechtzukommen. Will man diese individualisierende und meines Erachtens verkürzende Perspektive verlassen, ist es notwendig, den Fokus auf die Überwindung 21 22
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Die konkrete methodische Umsetzung ist in Kapitel 4.3 ausgeführt. Mit einzelnen Personen sind hier einerseits die Beforschten mit ihren Lebenswelten gemeint sowie andererseits auch die Forschenden im Forschungsprozess.
von Konflikten zu verlassen (vgl. ebd., 343). Wichtig ist vielmehr, solche Konflikte als Hinweise auf quasi dahinterliegende gesellschaftliche Konflikte oder auch widersprüchliche Zumutungen an die Individuen zu sehen. Ein klassisches Beispiel hierfür sind die Anforderungen an Frauen, einerseits erfolgreich und durchsetzungsfähig im Berufsleben und gleichzeitig „weiblich“ im Sinne von heterosexuell, charmant und ansprechend gekleidet zu sein, ohne dabei in den Verdacht zu geraten, sich männlich konnotierter Eigenschaften und Verhaltensweisen zu bedienen bzw. diese anzunehmen. Die Ebene der individuellen Bewältigungsmöglichkeiten und -fähigkeiten zu verlassen, ermöglicht die Benennung von gesellschaftlichen Verhältnissen als konstitutiven Bestandteil von Lebenswelten. „Antihierarchische Forschungsorientierungen sind dabei immer bestrebt, nicht ausschließlich die Seite der Konfliktbewältigung zu untersuchen, sondern ebenso den zugrundeliegenden Konflikten einen Namen zu geben und sie somit als Konfliktverhältnisse kenntlich zu machen und die Konfliktbeteiligten zu benennen.“ (Bitzan 1998, 178)
Der Fokus liegt bei diesem Ansatz nicht primär auf dem Lösen von Konflikten, sondern darauf, Probleme kenntlich und öffentlich zu machen. Dies ermöglicht auch, Bewältigungsformen einzelner Personen nicht nach ihrem Erfolg oder Scheitern zu beurteilen, also nicht nach Maßstäben, die an der Einpassung in als normal anerkannte Verhältnisse orientiert sind. Die Leistungen, die Individuen erbringen, um mit Anforderungen und Zumutungen zurechtzukommen und die Kompetenzen, die sie dabei entwickeln, können damit in den Mittelpunkt gerückt und als ihre Fähigkeiten und Ressourcen wertgeschätzt werden.23 Werden Konfliktverhältnisse und nicht einzelne Personen oder soziale Gruppen als Ausgangspunkte von Problemen benannt, ist es möglich, einen veränderten, umfassenderen Problembegriff zu entwickeln (vgl. Bitzan 2000, 344). Dieser veränderte Problembegriff, der nicht mehr von so genannten „Problemfällen“ ausgeht, sondern von Subjekten, die in Konfliktverhältnissen zurechtkommen müssen, ist eine Voraussetzung für eine anerkennende Haltung der Forschenden gegenüber den Beforschten, die diese Verhältnisse zur Kenntnis nimmt und ihre Wirkungsweisen auch innerhalb der Forschungssituation kritisch reflektiert. Dies gilt im Besonderen für die Forschung mit so genannten Problem- oder Randgruppen, denen in der Regel ein anerkannter gesellschaftli-
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Damit möchte ich nicht einer Tendenz in der Sozialen Arbeit zureden, statt der Defizite der AdressatInnen nunmehr in einer positiven Wendung auf deren Ressourcen und Kompetenzen zu fokussieren – eine Umdeutung, die den individualisierenden Ansatz nicht verlässt.
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cher Status verweigert wird (vgl. Tübinger Institut für sozialwissenschaftliche Frauenforschung 1998, 66). Konflikte im Forschungsprozess sowohl während der Feldphasen und Interviews als auch bei der Analyse des Textmaterials nicht als Störfaktoren anzusehen, die es zu meiden und zu beseitigen gilt, sondern als erkenntnisfördernde Hinweise einzubeziehen, erscheint ungewöhnlich. Dieser Ansatz ist jedoch insbesondere sinnvoll für die Zielgruppe dieser Untersuchung, die wohnungslosen Mädchen und jungen Frauen. Die Erzählungen wie auch die beobachtete Handlungspraxis der Beforschten erscheinen nach dem ersten Eindruck so widersprüchlich und zum Teil auch unglaublich, dass die Versuchung naheliegt, ihnen Lügen oder psychische und soziale Defizite zu unterstellen. Die Selbstdarstellungen der interviewten Mädchen und jungen Frauen zunächst einmal anzunehmen, ohne sie durch verfügbare Erklärungsmuster zu verständlichen Texten zu glätten, ist eine zum Teil schwer auszuhaltende Herausforderung. Gleichzeitig wird durch Konfliktorientierung eine methodologische Herangehensweise umsetzbar, die die Erforschung von Lebenswelten als Schnittstellen zwischen Subjektivem und Objektivem ermöglicht und einer verkürzten Rezeption des Lebensweltbegriffs eine vertiefte Analyse mit emanzipatorischpolitischem Potenzial entgegensetzen kann. 3.3 Perspektiven auf Geschlecht Die Zielgruppen dieser Untersuchung, die wohnungslosen Mädchen und jungen Frauen, haben zweierlei gemeinsam: zum einen die Lebenslage der Wohnungslosigkeit und zum anderen ihre Geschlechtszugehörigkeit. Während wohnungslos zu sein nicht als statischer, sondern als potenziell vorübergehender Zustand angesehen wird, gilt die bereits mit der Geburt festgelegte Geschlechtszugehörigkeit als unveränderbar und eindeutig. Im Kontext der Frauen- und Geschlechterforschung ist in vielfachen Facetten herausgearbeitet worden, dass die binäre Geschlechterordnung keineswegs natürlich vorbestimmt, sondern kulturell konstruiert ist und in alltäglichen komplexen Prozessen gesellschaftlich und sozial hergestellt wird (vgl. Mogge-Grotjahn 2004, 81ff.). Für die empirische Forschung mit einer geschlechtsreflektierenden Perspektive ergibt sich damit ein Spannungsfeld. Während die herrschende Geschlechterordnung mit ihren Zuschreibungen und Zumutungen an die Individuen, entweder als Mann oder als Frau zu existieren, als ein in sich hierarchisches Machtverhältnis enttarnt und kritisiert wird, kommt die Forschung nicht umhin, sich auf eben diese kritisierten Geschlechterkategorien zu beziehen, sei es in gemischtgeschlechtlicher oder, wie in der vorliegenden Untersuchung, in ge44
schlechtshomogener Form. Die Gewissheiten darüber, was Frauen und Männer ausmacht, was das eine Geschlecht signifikant vom anderen unterscheidet, sind mit dem konstruktivistischen Ansatz zunehmend fragwürdig geworden. Die Legitimation, sich auf die Geschlechtszugehörigkeit als aussagekräftige Kategorie zu beziehen, wird damit brüchig. Carol Hagemann-White (1993) fragt in diesem Zusammenhang: „Es ist immer weniger einsichtig, wie die Bezugnahme auf eine real definierbare Personengruppe ‚Frauen‘ sich legitimiert – durch welche inhaltliche Gemeinsamkeit fasse ich sie überhaupt als Gruppe?“ (ebd., 71) Die Gefahr liegt darin, trotz des Anspruchs eines geschlechtsreflektierenden und herrschaftskritischen Forschungsansatzes Ergebnisse zu generieren, die Aussagen darüber treffen, wie Mädchen und Jungen sind, welche geschlechtsspezifischen Besonderheiten sich bei Frauen in Abgrenzung zu Männern finden lassen, und damit Festschreibungen und Wirkungsweisen von Geschlecht fortzuschreiben und möglicherweise zu stabilisieren. Andererseits ist meines Erachtens die Tendenz einer Art Sprachlosigkeit zu beobachten24, wenn die Gefahr des Essentialismus jedes Mal heraufbeschworen wird, sobald sich die Diskussion auf Geschlecht, aber auch auf Natur, Subjekt oder Identität bezieht, ohne dass diese Kategorien zugleich dekonstruiert werden (vgl. Maihofer 1995, 77). Die Herausforderung liegt darin, einen methodologischen Ansatz zu entwickeln, der in der Lage ist, die Wirkmächtigkeit der hierarchischen binären Geschlechterordnung im gelebten Alltag der Menschen, den sie als Mädchen oder Jungen bewältigen müssen, benennbar und damit beschreibbar zu machen, und dem gleichzeitig eine hohe Achtsamkeit vor ontologischen Verkürzungen inhärent ist. Eine geeignete theoretische Grundlegung findet sich bei Andrea Maihofer, die von „Geschlecht als Existenzweise“ spricht (vgl. Maihofer 1994 und 1995). Diese Theorie werde ich im Folgenden skizzenhaft ausführen. Andrea Maihofer bezieht sich auf die Diskussion um die Grenzziehung zwischen „sex und „gender“, die sich mit der Frage beschäftigt, in welchem Verhältnis biologisches und soziales Geschlecht stehen. Sie verwirft die darin implizierte Idee eines vorgängigen, natürlichen geschlechtlichen Körpers, auf dem sich das soziale Geschlecht gründet (vgl. Maihofer 1995, 41). Wird „Geschlechtlichkeit also insgesamt als soziales Geschlecht (gender) verstanden, wird jetzt (…) der scheinbar natürliche Geschlechtskörper im hegemonialen Geschlechterdiskurs begründet und als dessen Repräsentation oder Inszenierung verstanden“ (Maihofer 1995, 42). 24
Diese Einschätzung beruht auf Erfahrungen aus verschiedenen Tagungen und Arbeitskreisen, die sich mit konstruktivistischen Ansätzen der Frauen- und Geschlechterforschung beschäftigten.
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Die geschlechtliche Konnotation der anatomischen Beschaffenheit des Körpers ist demnach ebenso eine gesellschaftliche und soziale Konstruktion wie die Kategorisierung bestimmter Verhaltensweisen und Eigenschaften als männlich und weiblich. Die Begriffe der Inszenierung und der Konstruktion meinen jedoch Geschlecht nicht als eine beliebige, durch individuelle Willensentscheidungen lenkbare und spielerisch veränderbare Darstellungsform. Individuen können sich in einer Gesellschaft weder willkürlich Geschlechterrollen ausdenken noch Geschlecht nach eigenen Vorstellungen frei inszenieren (vgl. ebd. und Hagemann-White 1993, 69f.). Konstruktivismus wird vielmehr verstanden als eine Theorie des Erkennens und Wissens, „in der Wahrnehmung als konstruktive Handlung gefasst wird, die in Abhängigkeit von Begriffssystem und Konvention (verschiedene) Wirklichkeitsmodelle erschafft“ (Krauß 2001, 16). Das heißt, es wird davon ausgegangen, dass keine der Erkenntnis vorgängige Wirklichkeit existiert (vgl. ebd.), sondern diese hergestellt wird in der komplexen Verwobenheit historischer, politischer, gesellschaftlich-kultureller und sozialer Prozesse. Maihofers Theorie von Geschlecht als Existenzweise nimmt ihren Ausgangspunkt in der Kritik an der Reduzierung von Geschlecht auf ein diskursiv hergestelltes Bewusstseinsphänomen, als Effekt von Wahrnehmungen und Darstellungen25 (vgl. Maihofer 1995, 52). „Eine ‚Frau‘ oder ein ‚Mann‘ zu sein, bleibt auf diese Weise den Individuen letztlich äußerlich. Sie sind ‚das‘ nicht selbst, es ist bloß die Art, wie sie sich darstellen und von anderen wahrgenommen werden.“ (ebd. 83) In dieser Perspektive wird, wie Maihofer es formuliert, lediglich das „Imaginäre der Realität“ (ebd. 51) erfasst. Was dabei unreflektiert bleibt, ist die „Realität des Imaginären“ (ebd.), nämlich dass Geschlecht zwar historisch geworden und diskursiv hergestellt wird, aber auch eine „materielle Realität“ (ebd.) besitzt und als solche gelebt wird. Mit dem Begriff der Existenzweise verweist Maihofer auf die materielle Existenz von Ideologien, auf die untrennbare Verbindung von Ideen (von Geschlecht) und gelebter Praxis. Theoriepragmatisch geht sie von einer Gleichursprünglichkeit der beiden aus. „Ich denke, wir begreifen ‚Geschlecht‘, ‚Frau‘ oder ‚Mann‘ sein nur, wenn wir einen Begriff entwickeln, der sowohl das Imaginäre dieser Existenzweise, also Geschlechtlichkeit, Subjektivität, Identität und Körperlichkeit als gesellschaftlich produzierte historisch bestimmte Selbstverhältnisse reflektiert, als auch die Realität dieser Existenzweise als gelebte Denk-, Gefühls und Körperpraxen.“ (1994, 185) 25
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Maihofer meint hierbei vor allem Judith Butlers Buch „Das Unbehagen der Geschlechter“ (1991), bezieht aber auch andere Theorien ein, die der Kategorie „Poststrukturalismus“ zugeordnet werden (vgl. Maihofer 1995, 50).
Geschlecht wird reproduziert und konstruiert durch die Ausübung dieser Praxen. Das hat zur Folge, dass Individuen nicht nur als einem Geschlecht zugehörig als Mann oder Frau identifizierbar sind, sondern es bedeutet auch, „daß ‚Frauen‘ und ‚Männer‘ in diesen Praxen tatsächlich existieren“ (ebd., 183). Vor diesem theoretischen Hintergrund ist es meines Erachtens möglich, die Zielgruppe der Untersuchung auf ihr Geschlecht als eine eingrenzende Kategorie festzulegen. Dabei sind noch drei Aspekte wichtig. Zum Ersten ist es nicht Ziel dieser Untersuchung, beschreibbar zu machen, wie Mädchen und junge Frauen in Abgrenzung zu Jungen und jungen Männern auf der Straße leben. Das heißt, Aussagen, die in den Ergebnissen über die beforschten wohnungslosen Mädchen und jungen Frauen gemacht werden, meinen nicht, dass dies bei der männlichen Vergleichsgruppe in geschlechtsspezifischer Weise anders sei. In diesem Zusammenhang wäre es interessant, eine ähnliche Forschungsarbeit mit wohnungslosen Jungen und jungen Männern als Vergleichsgruppe durchzuführen und daraus Schlüsse zu ziehen, in welchen unterschiedlichen oder ähnlichen Formen die Geschlechtszuordnung in ihrer Lebenswelt von Bedeutung ist. Die in Kapitel 3.2.2 und 3.2.3 ausgeführten methodologischen Grundlagen des Verdeckungszusammenhangs und der Konfliktorientierung ermöglichen es zum Zweiten, Geschlecht nicht in wesensmäßig zuschreibender Form zu verstehen und zu beforschen (vgl. Bitzan 2000, 344). Ein verändertes Problemverständnis, das Personen nicht als Problemfälle, sondern als in Konfliktverhältnissen lebend begreift, hat auch Auswirkungen auf die Deutung von Geschlecht. Es wird möglich, Geschlecht vor allem als gesellschaftliches Verhältnis, nämlich als Macht- und Herrschaftsverhältnis wahrzunehmen, in dem die Beforschten als Mädchen und Frauen zurechtkommen, das sie bewältigen müssen. Bei der Analyse, an welchen verfügbaren Konstruktionen von Geschlecht sich die Beforschten orientieren, ist es von Bedeutung, die Wohnungslosigkeit als zweites Merkmal einzubeziehen, das sämtliche Interviewte gemeinsam haben. Als dritten Aspekt gilt es also in den Blick zu nehmen, dass die Betreffenden als Mädchen oder Frauen und als Wohnungslose leben. Andrea Maihofer (1995) konstatiert zu dieser Verbindung verschiedener Kategorien: „Ein historisch konkretes Individuum ist (…) eine jeweils sehr komplexe und aufgrund seiner je eigenen Biographie für sich genommen unverwechselbare einzigartige Verbindung unterschiedlicher ‚weiblicher‘ wie „männlicher‘ Denk-, Gefühlsund Körperpraxen – auch verschiedener Klassen, Kulturen oder ‚Rassen‘.“ (1995, 105)
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Dabei geht es nicht nur um die additive Betrachtung zweier Merkmale und Zuschreibungen, sondern auch um deren gegenseitige Verschränkung. Ich werde deshalb danach fragen, inwiefern sich die wohnungslosen Mädchen und jungen Frauen auf geschlechtlich konnotierte Diskurse und Praxen zur Bewältigung des Lebens auf der Straße beziehen – und umgekehrt: welcher Umgang mit geschlechtlichen Zuschreibungen auf der Straße möglich ist.
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4. Methodische Vorgehensweise
In diesem Kapitel werde ich ausführlich auf den Erhebungs- und Forschungsprozess eingehen. Im Sinne einer methodischen Kontrolle geht es mir dabei darum, den Forschungsprozess transparent zu machen (vgl. Bohnsack 2000, 21). Zudem begreife ich die produktive Auseinandersetzung mit den besonderen Bedingungen (und Schwierigkeiten) einer qualitativ empirischen Untersuchung in dem von mir gewählten Forschungsfeld als ein Ergebnis meiner Dissertation.26 Ralf Bohnsack (2000) schreibt dem Begriff der rekonstruktiven Forschungsweise eine doppelte Bedeutung zu. Als rekonstruktiv bezeichnet er nicht nur die Beziehung zum Gegenstand der Forschung, also in dieser Arbeit die lebensweltlichen Orientierungen wohnungsloser Mädchen und junger Frauen. Auch der Forschungsprozess selbst ist rekonstruktiv zu nennen, wenn Arbeitsschritte und Vorgehensweise in Bezug auf die spezifische Fragestellung und das Sample im Forschungsprozess nach methodischen und methodologischen Vorüberlegungen als Grundlage, Gerüst und Wegweiser reflexiv konstruiert werden (vgl. ebd., 34). Eva Breitenbach (2001) spricht in diesem Zusammenhang von „einer empirischen Haltung und Vorgehensweise, die die eigenen Begriffe und Konzepte wie auch die der Forschungssubjekte in der empirischen Arbeit selbst neu konstruiert“ (ebd., 165). Ich werde in diesem Kapitel den Arbeitsprozess dieser Forschungsarbeit darstellen: meine Planungen, die in eine ergebnisreiche Erhebungsphase mündeten, um dann das gewonnene Material entlang meiner methodischen und methodologischen Herangehensweise und Haltung auszuwerten und Ergebnisse zu generieren, die ich in den anschließenden Kapiteln darstelle. Die Modifikationen, die sich im Laufe des qualitativen Forschungsprozesses als sinnvoll erwiesen, die Wege und Überlegungen dahin werde ich rückblickend entlang eines roten Fadens, der für mich während des Forschens nicht immer explizierbar war, rekonstruieren. 26
Beeindruckt und angeregt hat mich in diesem Zusammenhang die unkonventionelle, lebendige und ausführliche Darstellung nicht nur des Forschungsprozesses, sondern auch der institutionellen Rahmenbedingungen von Marjorie Mayers (2001) in ihrem Buch „Street Kids & Streetscapes“ (vgl. ebd. 12ff.).
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Im Laufe der Forschungsarbeit wurde deutlich, dass die Lebenswelten wohnungsloser Mädchen und junger Frauen sich dadurch auszeichnen, dass fragile Konstruktionen eine existenzielle Stabilität bieten, die sich mir als von Brüchen durchzogen, als widersprüchlich und schwer durchschaubar zeigten. Nach und nach musste deshalb die Suche nach einem kohärenten, eindeutigen und in dieser Form im wissenschaftlichen Kontext präsentierbaren Bild dieser Lebenswelten aufgeben werden. Was auch Platz finden wird, sind die Sackgassen, Unsicherheiten, die Bewegungen im Forschungsprozess, in denen ich mich wenig kompetent, professionell oder souverän fühlte. Marjorie Mayers (2001) beschreibt ihren Forschungsprozess als Reise (vgl. ebd., 2). Meinem Eindruck kommt eher, bei dem gewählten Thema nicht zufällig, die Metapher des „Unterwegsseins“ entgegen, mit dem Gefühl, beim Schreiben der Arbeit zumindest vorübergehend „sesshaft“ werden zu müssen, um die Ergebnisse „festzumachen". Diese Bewegungen und Richtungen, die kreativen Lösungen, für die ich mich entschieden habe, lassen sich auch rückblickend nicht durchgehend und zweifelsfrei als sinnhaft (re)konstruieren. Ich werde auch diese Seite qualitativer Forschung, die in der Literatur kaum beschrieben wird (und vielleicht auch nur bedingt beschreibbar ist), in diesem Kapitel thematisieren. Dies erachte ich als wichtig, weil ich bei der Vorbereitung für mein Dissertationsvorhaben dankbar war für jede anschauliche und facettenreiche Darstellung des Forschungsprozesses. Ich begreife dies als Weiterentwicklung qualitativer Forschung. Zudem stecken in diesen Sackgassen, der Suche nach der zielführenden Richtung und der zeitweiligen Verwirrung über meine Forschungsfrage und meine Haltung auch „Erkenntnisversatzstücke“ und Erkenntnisquellen über die Lebenswelten der von mir beforschten wohnungslosen Mädchen und jungen Frauen. 4.1 Methodische Vorarbeiten und Feldzugang Bevor ich beginnen konnte, empirisches Material zu erheben, waren Vorarbeiten notwendig, die ich im Folgenden ausführen werde. Dazu werde ich die Herleitung der Methode aus meiner Fragestellung darstellen sowie beschreiben, wie und unter welchen Bedingungen der Feldzugang gelang. 4.1.1 Methode und Fragestellung Wie ich bereits in Kapitel 3 ausgeführt habe, lautet die Forschungsfrage dieser Untersuchung: Welche Erfahrungen und Orientierungen der wohnungslosen 50
Mädchen und jungen Frauen sind konstitutiv für ihre Lebenswelt? Dabei findet Geschlecht als soziale Kategorie besondere Beachtung. Ich habe die Fragestellung bewusst so offen gehalten und sie nicht weiter eingegrenzt oder mich auf einen Lebensbereich beschränkt, weil es bislang keine Forschungsarbeiten gibt, die sich wohnungslosen Mädchen und jungen Frauen aus einem geschlechtsreflektierenden Blickwinkel und mit dem im Folgenden beschriebenen Erkenntnisinteresse zuwenden. Die Erforschung der Lebenswelten junger Menschen auf der Straße bedeutet eine Annäherung an das vermeintlich Fremde. Das wohnungslose Leben ist den Angehörigen der wohnhaften Mehrheitsgesellschaft, mich als Forschende eingeschlossen, in der Regel fremd und schwer nachvollziehbar. Der Lebensweg und die subjektiven Entscheidungen der Beforschten unterscheiden sich zumeist deutlich von den Biografien der Forschenden, Ähnliches gilt für den sozialen Status, die materielle Situation und das gesellschaftliche Ansehen. Auf den ersten Blick würde sich eine ethnografische Herangehensweise anbieten: fremde Lebenswelten innerhalb der eigenen Kultur erforschen, die Reise an den Rand der Gesellschaft zu den Menschen jenseits der „guten Gesellschaft“ unternehmen. Gerade in Bezug auf marginalisierte soziale Gruppen ist die Versuchung groß, als fremd gedeutete Milieus und Lebensformen zu erforschen, um sie dann in ihrer isolierten Besonderheit der Mehrheitsgesellschaft vorzustellen, sei es im wissenschaftlichen oder auch journalistischen Kontext. Dies gilt, im Besonderen unter dem Schlagwort „Straßenkinder“, auch für die hier beforschte Zielgruppe der wohnungslosen Mädchen und jungen Frauen. Ich habe diese ethnografische „Reise“ in dieser Form nicht unternommen. Die Lebensräume der Zielgruppe meiner Untersuchung habe ich primär mit dem Ziel aufgesucht, Kontakt mit ihnen als potenzielle Interviewpartnerinnen aufzunehmen, wie ich es auch bei einer anderen, weniger „fremd“ wirkenden Zielgruppe, seien es beispielsweise Akademikerinnen oder alleinerziehende Mütter, getan hätte. Es ging nicht primär um die Erforschung eines Milieus27, sondern um Konstruktionsprozesse von Lebenswelt. Anders als ein Großteil der bisherigen Forschung, die nach den Ursachen in der Biografie der Mädchen oder nach Wegen des Ausstiegs aus der Straßenszene fragt (und damit die Zeiten vor oder nach der Wohnungslosigkeit in den Blick nimmt, vgl. u. a. Permien/Zink 1998, Hansbauer 1998), ist es Ziel meiner Arbeit, die Lebenswelt Straße als eine Lebensphase, sei sie länger, kürzer oder immer wiederkehrend, zu betrachten, die einen Erfahrungshintergrund darstellt, in dem bestimmte lebensweltliche Orientierungen entstehen. Aus den Aussagen 27
Ein anschauliches Beispiel für diese Form der Milieuforschung ist die Studie „Der Strich“ von Roland Girtler (2004), in der er den Lesenden, wie er es nennt, die „Welt der Prostitution“ (ebd., 1) beschreibt.
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der interviewten Mädchen und jungen Frauen möchte ich mir nicht ausschließlich ein umfassendes Bild über den Alltag auf der Straße machen und erforschen, wo sich die Mädchen und jungen Frauen wann mit wem aufhalten und was sie dabei tun. Es geht also nicht darum, eine Beschreibung und Analyse der entsprechenden Straßenszenen zu erstellen. In Anlehnung an Bohnsack (2000) interessiert mich „der immanente Sinngehalt, also das, worüber berichtet wird, nicht hinsichtlich der Frage, inwieweit die Darstellung faktisch richtig ist, den Tatsachen oder der ‚Wahrheit‘ entspricht“ (Bohnsack 2000, 145). Vielmehr kommt in den Erzählungen etwas zum Ausdruck, dokumentiert sich darin etwas über die lebensweltlichen Orientierungen28 der Sprecherinnen (vgl. ebd.). Vor dem Hintergrund dieser Zielsetzung und Analyseeinstellung habe ich mich entschieden, empirisches Material in Form von erzählgenerierenden narrativ orientierten Interviews zu erheben. Diese Originaltexte habe ich ergänzt durch Protokolle von Gesprächen, die außerhalb der elektromagnetisch aufgezeichneten Interviewsituationen stattfanden. 4.1.2 Planung des Feldzugangs Den Zugang zum Feld, zu meinen Interviewpartnerinnen habe ich über niedrigschwellige Einrichtungen der Jugendhilfe in vier bundesdeutschen Städten gesucht, anonymisiert als A-stadt, B-stadt, C-stadt und D-stadt29 – darunter nicht Berlin, wonach ich immer wieder gefragt wurde, eine Stadt, die als Anziehungspunkt für Straßenkinder gilt. Die Auswahl der unterschiedlich großen Städte richtete sich vor allem forschungspragmatisch nach dem Vorhandensein einer entsprechenden Einrichtung, die bereit war, mir ihre Räume für das Forschungsvorhaben zu öffnen. Zudem war es mir wichtig, nicht nur in einer Region zu forschen und Städte unterschiedlicher Größe einzubeziehen. Die EinwohnerInnenzahl der ausgewählten Städte liegt zwischen 250.000 und 950.000. Durchgeführt habe ich die Untersuchung schließlich in Kooperation mit drei geschlechtshomogenen und einer gemischtgeschlechtlichen Einrichtung. Die Anlaufstellen, die sich ausschließlich an Mädchen und junge Frauen richten, sind Tagesaufenthaltsstätten, die ihren Besucherinnen weitgehend voraussetzungsfrei Grundversorgung in Bezug auf Hygiene, Essen und Kleidung, einen Ort zum Ausruhen wie auch Beratung und weitergehende Hilfe anbieten. Dies waren im Einzelnen: das Mädchencafé in A-stadt, Mafalda in B-stadt und das 28 29
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Der Begriff der Orientierung in der dokumentarischen Methode wird in Kapitel 4.4 ausführlicher erklärt. Im Rahmen der Anonymisierung des Materials habe ich auch Städtenamen und die Namen der Einrichtungen verändert.
Café Stern in D-stadt. Bei der geschlechtsheterogenen Einrichtung handelt es sich um eine Notschlafstelle für Jugendliche, für die dort vergleichbare Überlebenshilfen in Verbindung mit einem Übernachtungsplatz verfügbar sind, dem so genannten Schlafplatz in C-stadt. Das Interesse der Mitarbeiterinnen der kooperierenden Institutionen an meiner Forschungsarbeit war durchgehend vor allem dadurch motiviert, dass es zu ihrer Zielgruppe nach einer Vielzahl von Veröffentlichungen in den 90er Jahren kaum aktuelle Forschungen gibt. Zudem wurde ein Mangel an einem geschlechtsreflektierenden Blickwinkel beklagt. Die Leiterin des Mädchencafés benannte es zudem als ihr Konzept, die Einrichtung für Impulse von „außen“ zu öffnen und meinte damit Aktionen und Projekte, die über das alltägliche Angebot, das durch die Mitarbeiterinnen abgedeckt wird, hinausgehen. Manfred Kappeler (1995) bezeichnet niedrigschwellige Einrichtungen als „Stützpunkte des Umherschweifenden Lebens“ (ebd., 53), die eine Form radikal offener Annäherung an die betreffenden Jugendlichen und jungen Erwachsenen ermöglichen (vgl. Kappeler 1999, 384). Diese Räume zeichnet aus, dass sie ohne Zugangsvoraussetzungen, weitgehend bedingungslos und meist auch anonym genutzt werden können. Zudem wird den BesucherInnen hier mit Akzeptanz und ohne Veränderungs- und Ausstiegserwartungen begegnet. Die Angebote sind höchst flexibel auf unterschiedliche Bedürfnis- und Lebenslagen ausgerichtet (vgl. IGfH 1998, 9f.). Die betreffenden Jugendlichen und jungen Erwachsenen nutzen die Angebote so regelmäßig oder sporadisch und, innerhalb der konzeptionell festgelegten Altersspanne für die Zielgruppe, so lange sie möchten. Die Inanspruchnahme von Überlebenshilfen wie Essen und Duschen hat nicht die Annahme bzw. Akzeptanz von pädagogischer Intervention zur Bedingung. Die von mir interviewten Mädchen und Frauen weisen ein weites Spektrum in der Form und Intensität der Nutzung der jeweiligen Einrichtung auf: sowohl zeitlich, vom sporadischen kurzen Besuch im Abstand mehrerer Monate bis zur regelmäßigen Nutzung zum Teil über mehrere Jahre, als auch in der Art des Kontaktes und der Hilfe, die sie wünschen bzw. auch ablehnen. Diese (pädagogischen) Zwischenräume zwischen der Straßenszene und den Regeln, Normen, Ressourcen und Institutionen der Mehrheitsgesellschaft habe ich als Orte der Begegnung und Annäherung an meine potenziellen Interviewpartnerinnen gewählt. Es war nicht mein Ziel, meine Zielgruppe in ihren Lebensräumen forschend zu begleiten, sondern es ging mir darum, Räume zu finden, die den Mädchen und jungen Frauen vertraut sind und in denen die Voraussetzungen Ruhe, Raum und Zeit zur Anbahnung und Durchführung eines Interviews gegeben sind. Durch diese Vorgehensweise habe ich ausschließlich solche Mädchen und junge Frauen erreicht, die, wie sporadisch auch immer, Kontakt zu einer sozial53
pädagogischen Einrichtung haben. Nicht erreicht habe ich also solche, die diesen Kontakt verweigern oder aus anderen Gründen nicht suchen. Es bleibt damit die Frage offen, ob diese Nicht-Nutzung oder Ablehnung solcher pädagogisch motivierten Überlebenshilfen einen Erfahrungshintergrund darstellen, der das Spektrum der von mir gefundenen Orientierungen der Interviewten erweitert hätte. Aufgrund des zeitlichen Rahmens meiner Untersuchung habe ich den Kontakt zu diesen Mädchen und jungen Frauen nicht gesucht, zumal bereits der von mir gewählte Zugang aufwändig war, wie ich im Weiteren ausführen werde. Mit einem Anschreiben, das mein Forschungsvorhaben und seine institutionelle Anbindung erklärte, nahm ich schriftlich Kontakt zu den Einrichtungen auf. Es folgten Vorgespräche mit der Leitung bzw. einer Mitarbeiterin, deren positiver Verlauf die Voraussetzung für die Durchführung der Erhebung war. Einen Anknüpfungspunkt bildete dabei mein beruflicher Hintergrund als Sozialpädagogin sowie meine Berufserfahrung in der Drogen- und Wohnungslosenhilfe. Zusätzlich erfragt wurde das Interesse, das ich mit der Arbeit (neben meiner wissenschaftlichen Qualifikation) verfolge, und ob dies auch den Interessen der Einrichtungen und ihrer Zielgruppe entgegenkommt. In der Literatur werden solche Personen, wie in meinem Fall die Leitung und Mitarbeiterinnen der Einrichtungen, „gatekeeper“ genannt, sozusagen Schlüsselfiguren für den Zugang zum Feld (vgl. Merkens 2005, 288). Raquel Kennedy Bergen (1993)30 konstatiert für ihre Forschungsarbeit: “Dealing with ‚gatekeepers‘, the directors of these women’s organizations, was a very significant constraint that many who research sensitive topics must confront. (…) To gain access, the research proposal must be presented in a form that will be acceptable to the gatekeepers.“ (ebd., 204)
Für mich boten diese Gespräche zusätzlich die Herausforderung und Gelegenheit, das wissenschaftliche Erkenntnisinteresse meines Forschungsvorhabens auf seine Praxisrelevanz zu überprüfen und mit Fachfrauen aus der Praxis Sozialer Arbeit zu diskutieren. Im Anschluss an die Vorgespräche traf ich in drei der Einrichtungen Vereinbarungen darüber, während der Öffnungszeiten über einen Zeitraum von etwa sieben Tagen vor Ort zu sein, in zwei dieser Einrichtungen (dem Mädchencafé in A-stadt und dem Schlafplatz in C-stadt) habe ich solche Feldphasen jeweils zweimal im Abstand mehrerer Monate durchgeführt. Die Mitarbeiterinnen in B-stadt lehnten eine solche Vorgehensweise aufgrund der beengten Räumlichkeiten ab und vermittelten mir zwei Interviewpartnerinnen, die beide 30
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Bergen führte Interviews mit Frauen, denen sexuelle Gewalt durch ihre Ehemänner zugefügt worden war (vgl. Bergen 1993, 197).
auch zu den verabredeten Terminen erschienen. Der beschriebene Vorlauf benötigte aufgrund der hohen Arbeitsbelastung in den Einrichtungen mehr Zeit, als ich eingeplant hatte. Im Vorfeld zeigten sich Leitung und Mitarbeiterinnen der Einrichtungen zum Teil sehr skeptisch, ob sich auch nur eine ihrer Besucherinnen zu einem Interview bereit erklären würde und wie diese auf meine Anwesenheit reagieren würden, was mich zu Beginn der Erhebung zunächst verunsicherte. Meine Erfahrungen im Feld bestätigten diese Zweifel nur bedingt. In den Vorgesprächen wurde ich auch gefragt, ob ich den Mädchen und jungen Frauen Geld anbieten werde für die Interviews. Einige der Mitarbeiterinnen nahmen an, dass dies eine Frage sei, die mir oder auch ihnen von den Mädchen und jungen Frauen gestellt werden würde. Ich hatte mich dagegen entschieden, das Interview auf diese Weise als eine käufliche Ware zu deuten, zumal ich wollte, dass die Interviewpartnerinnen jederzeit das Gefühl haben sollten, das Interview abbrechen zu können, ohne die Verpflichtung, eine dem Geld angemessene Leistung erbringen zu müssen. In dieser Entscheidung fühlte ich mich durch den Verlauf der Interviews bestätigt, in dem einige der Mädchen und jungen Frauen auch ohne Bezahlung ihre Unsicherheit äußerten, ob sie denn auch alles richtig machten. Mira aus A-stadt wollte (halb scherzhaft), dass ich ihr ein Eis kaufe als Gegenleistung für ihr Interview. Sie erzählte mir später, dass sie wegen dieser Forderung auf der Straße von anderen kritisiert wurde und dann diskutiert wurde, ob es zulässig sei, von „der Interviewerin“, wie ich in A-stadt genannt wurde, eine Gegenleistung zu verlangen. Interessant war für mich auch, auf diesem Weg zu erfahren, dass meine Anwesenheit als Forschende im Mädchencafé die Besucherinnen dort mehr beschäftigt hat, als für mich offensichtlich wurde. 4.1.3 Feldzugang „Ich bin schon etwas geschockt, wo ich denn da gelandet bin. Es ist eine schweinekalte Nacht, Temperaturen weit unter Null und es sind schon 7 von 8 Betten belegt. (…) Es ist völlig verraucht in dem kleinen Aufenthaltsraum, in dem sich hauptsächlich alles abspielt, auch im Vergleich zu anderen Einrichtungen, die ich kenne. Später wird dort gegessen (Pommes und Cevapcici und alles was die örtliche „Tafel“31 hergibt). Es gibt einen kurzen Streit unter den Kids darüber, welche Musik gespielt werden darf, ob HipHop Scheiße ist und ab wann Techno aufgelegt werden darf. Es ist eine sehr aufgedrehte, äußerst unruhige Stimmung, rastlos.“32 31 32
Mit „Tafel“ meine ich hier die Initiativen, die es inzwischen in zahlreichen Städten gibt und die Lebensmittelspenden vor allem in Supermärkten sammeln, um sie kostenlos an Bedürftige weiterzugeben. Aus dem Protokoll, 1. Erhebungsphase im Schlafplatz in C-stadt.
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Dies sind kurze Ausschnitte vom Beginn meiner Aufzeichnungen im Forschungstagebuch nach der ersten Nacht, die ich bis ein Uhr morgens in der Notschlafstelle in C-stadt verbracht hatte. Bei der Planung meiner Forschungsarbeit ging ich als Sozialpädagogin mit Berufserfahrung in niedrigschwelliger Arbeit und Streetwork davon aus, dass mir die Einrichtungen, die ich besuchen, und die Szenen und Personen, denen ich begegnen würde, nicht allzu fremd sein würden. Ich hatte unterschätzt, welchen Unterschied es macht, ob ich als Mitarbeiterin mit einer bestimmten Funktion und Verantwortung in einer Institution mit KlientInnen arbeite oder ob ich als Außenstehende mit einer offenen forschenden Haltung das Geschehen aufnehme und ein Ziel habe (nämlich Interviews zu führen), das den alltäglichen Rahmen dort durchbricht. Letztendlich war dieser deutliche qualitative Unterschied meiner Rollen und meiner Selbstwahrnehmung in diesen Rollen produktiv und förderlich für mein Forschungsvorhaben, um mit der nötigen reflektierten Fremdheit als methodischem Prinzip und dem dadurch ermöglichten distanzierten und offenen Blick im Feld präsent zu sein. Wie funktionierten denn nun mein Feldzugang und die Anbahnung der Interviews? Wie bin ich Schritt für Schritt vorgegangen? Beim Versuch, den Feldzugang in ein Kapitel zu fassen, fallen mir etliche Episoden und Aspekte ein, von denen ich berichten will, die ich erörtern kann, sowie einzelne Annäherungen an die Jugendlichen, zum Teil auch Anekdoten, die ich erlebt habe. Ich bin versucht, in fragmentarischen Absätzen ein unvollständiges Mosaik zu erstellen, das bunt und vielfältig ist und aus dem man Muster, aber kein einheitliches, zusammenhängendes Bild erkennen kann. In dieser „Versuchung“ zeigen sich die Herausforderung und der Widerstreit, die ich in Kapitel 4.4 darlegen werde: die lebensweltimmanenten Strukturen mit ihren markanten Fragmentierungen in einer kohärenten und für die Lesenden nachvollziehbaren sowie einer der wissenschaftlichen Arbeit adäquaten Weise und Form darzustellen. Die zunächst befürchtete offene Ablehnung der Mädchen und jungen Frauen bzw. im Falle der gemischtgeschlechtlichen Notschlafstelle der Jugendlichen blieb aus. Wer nichts mit mir zu tun haben wollte, ignorierte mich schlichtweg. Es galt, mich aus dem Geschehen in den Einrichtungen weitgehend rauszuhalten in meiner Rolle als außenstehende und beobachtende Forscherin, mich und mein Anliegen aber auch gleichzeitig vorzustellen und in Kontakt zu kommen mit den Besucherinnen. Trotz meiner beruflichen Nähe zur Funktion und Verantwortung der MitarbeiterInnen, war meine Rolle von Anfang an für alle Beteiligten fast durchgehend klar. Dies wurde dadurch erleichtert, dass ich ortsfremd war und über keine praxisrelevanten regionalen Informationen für die Hilfesuchenden
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verfügte.33 Zudem begriffen die Jugendlichen sehr schnell, dass ich keine Entscheidungsbefugnis in relevanten Fragen innerhalb der Einrichtung besaß, womit ich als Ansprechpartnerin in den entsprechenden Situationen uninteressant war. Es gab einige wenige Situationen, in denen ich mit den BesucherInnen ohne Mitarbeiterinnen im Raum war und Einzelne durch Provokationen (indem sie z. B. die Füße auf dem Esstisch ablegten) versuchten, mich dazu zu bringen, Verhaltensweisen zu zeigen, wie sie sie von einer Erwachsenen erwarteten. Lele, eine der Mädchen, die ich vorher interviewt hatte, gelang dies, als sie entgegen des Verbotes einer Mitarbeiterin für meine Ohren sehr aggressive Musik auflegte und so laut aufdrehte, dass ich sie quasi aus Selbstschutz anschrie, die Musik leiser zu machen. In manchen Situationen waren die „Mädels“, wie sie sich untereinander nannten, in der Kontaktaufnahme mit mir weniger schüchtern als ich. Ich wurde angesprochen, wer ich sei und was ich mache und ein paar Mal entstand aus dieser Nachfrage ein längeres Gespräch, auch in einer größeren Runde, über Sinn und Nutzen meiner Dissertation. Diejenigen, die meinem Projekt skeptisch gegenüberstanden, hatten starke Zweifel daran, dass sich jemand für die Ergebnisse meiner Arbeit, in der es um ihre Lebenswelt, ihre Perspektiven und ihre Sicht der Dinge gehen sollte, interessieren würde. Diese Einstellung hat nicht nur mit der Erfahrung von Vernachlässigung und mangelnder Anerkennung zu tun, die die Mädchen und jungen Frauen in ihrer Lebensgeschichte machen mussten. Ihre alltägliche Normalität erleben viele als „nichts Besonderes“, wie eine Besucherin sich äußerte und damit nichts Spektakuläres und Erzählenswertes meinte: „Das weiß man doch, wie das ist.“34 Ein 14-jähriges Mädchen, der es offensichtlich sehr schlecht ging, konnte nicht nachvollziehen, warum sie jemandem von ihrem schrecklichen Leben erzählen sollte, und konnte sich als Motiv für das Interesse nur Voyeurismus vorstellen.35 Diese Vorstellung wird sicherlich auch aus der Erfahrung gespeist, dass JournalistInnen häufiger den Kontakt zu jungen Menschen auf der Straße suchen, wie mir Mitarbeiterinnen sowie die Mädchen und jungen Frauen selbst berichteten – ein Interesse, das in der Regel die mediale Verwertbarkeit der Erlebnisse der Interviewten im Blick hat und damit zum Teil auch das Ziel verfolgt, einen öffentlichen Voyeurismus zu bedienen. Anders als viele aus meinem wissenschaftsfremden Bekannten- und Verwandtenkreis zeigten sich die Jugendlichen wenig beeindruckt, geschweige denn eingeschüchtert vom gesellschaftlichen Ansehen und Status einer Doktor33 34 35
Das Bemühen um die Klarheit der Rolle war auch ein Grund, warum ich keine Interviews in Kassel geführt habe, wo ich zum Erhebungszeitpunkt lebte und als Sozialpädagogin arbeitete. Aus dem Protokoll, 1. Erhebungsphase in A-stadt, Mädchencafé. Aus dem Protokoll, 2. Erhebungsphase in A-stadt, Mädchencafé.
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arbeit. Die Tatsache, dass ich als Frau über 30 noch bzw. wieder in einer Ausbildungsphase steckte, stellte für viele der Mädchen und jungen Frauen vielmehr eine Nähe zu ihrer Lebensgeschichte her mit ihren meist abgebrochenen Schullaufbahnen und der Auseinandersetzung mit ihrer beruflichen Zukunft. Die Parallele, die sie herstellten, nämlich über den normalbiografisch vorgesehenen Zeitraum hinaus schulische bzw. berufliche Abschlüsse anzustreben, bot in nicht wenigen Situationen ein Gesprächsthema.36 Schwierig gestaltete sich die Übersetzungsleistung, wenn ich versuchte, den Mädchen das Ziel und das Forschungsinteresse meiner Arbeit zu erörtern – ein Problem, das nicht vollständig zu lösen war. Meine Darstellung, es ginge mir darum, ihre Lebenswelt, so wie sie auf der Straße leben, aus ihrer Perspektive, aus ihrer Sicht zu schildern, entspricht zwar meiner Fragestellung und war gleichzeitig auch für die Beforschten verständlich. Nur habe ich aus den Gesprächen die Vermutung gewonnen, dass die Vorstellung der Mädchen und jungen Frauen von meiner Arbeit eher die eines Sprachrohres für ihre Meinungen und Standpunkte war, um ihren Interessen Gehör zu verschaffen. Diese Erwartung werden sie wahrscheinlich nicht erfüllt sehen, sollten sie die vorliegende Arbeit lesen. Dieser „Auftrag“ der Interviewten, aber auch darüber hinaus der anderen Mädchen und jungen Frauen auf der Straße, denen ich begegnet bin, war in der Auseinandersetzung mit meinen eigenen Ideen zur Forschungsarbeit und den Ansprüchen wissenschaftlicher Standards ein wichtiger Aspekt bei der Entwicklung einer adäquaten Haltung bei der Analyse des erhobenen Materials. 4.2 Rahmenbedingungen der Interviewführung Im Folgenden werde ich die Bedingungen ausführen, unter denen die Interviews im Feld geführt wurden, und die Voraussetzungen, die geschaffen werden mussten, um diese Interviews gelingen zu lassen.
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Dazu passt auch der in der Einleitung zitierte Interviewabschluss mit Nadine (Int. 4), die mit 20 Jahren gerade dabei war, ihren Hauptschulabschluss zu machen und mir recht unvermittelt Mut zusprach für meine Dissertation mit den Worten: „Sie schaffen des schon!“ In den Gesprächen wurde ich auch wiederholt, offenbar besorgt, gefragt, ob ich denn schon eine Ausbildung hätte und es wurde beruhigt zur Kenntnis genommen, dass ich bereits einen Beruf und Berufserfahrung besitze und die Forschungsarbeit lediglich der weiteren Qualifikation dient.
4.2.1 Räumliche, zeitliche und soziale Voraussetzungen Interviews kamen zumeist spontan nach dem Prinzip „jetzt oder nie“ zustande.37 Ob die Mädchen und jungen Frauen zu einem Interview bereit waren, hing meines Erachtens stark von ihrer aktuellen Tagesverfassung und Tagesstruktur ab. Interviews waren möglich, wenn der Tagesablauf der jeweiligen Mädchen und jungen Frauen eine Lücke, eine Zeit des Leerlaufs aufwies. Jule (Int. 3) wusste nicht, wie sie den Vormittag verbringen sollte, bis ihr Freund aus der Schule kam, Lisa (Int. 2) wartete darauf, mit ihren Freunden sprayen zu gehen, Katrin (Int. 9) war mit ihrer besten Freundin verabredet, die zu spät kam. Ela (Int. 5) stimmte einem Interview spontan zu mit dem Kommentar, dass sie es sich abgewöhnt habe, Termine zu machen, weil sie diese erfahrungsgemäß sowieso nicht einhielte. Diejenigen, die bewusst auf mich zukamen oder mein Anliegen zuerst überdachten, bevor sie sich für ein Interview entschieden, waren die jungen Frauen, die eher als Einzelgängerinnen unterwegs und wenig in die Szene involviert waren. Es schien für die meisten Mädchen und jungen Frauen schwierig zu sein, sich auf etwas Unbekanntes wie das Interview außerhalb ihres regulären Tagesablaufs einzulassen. Entgegen der vorherrschenden Wahrnehmung von wohnungslosen Menschen, diese würden in den Tag hinein leben, hatte ich während der Feldphasen vielmehr sehr deutlich das Gefühl, dass ich trotz vollem Terminkalender und ohne die nötige Zeit, Nächte durchzufeiern und stundenlang auf öffentlichen Plätzen „abzuhängen“, im Vergleich zu den Beforschten ein ruhiges Leben mit sehr viel Zeit und einem äußerst entspannten Zeitplan führte. Die Unruhe bis hin zur Gehetztheit des täglichen Überlebens, verstärkt durch die Wirkung aufputschender Drogen, waren sicherlich Gründe, warum ich meinen materiell abgesicherten Alltag als im Vergleich sehr gelassen empfand. Ich hatte vorgesehen, die Interviews in einem gesonderten Raum unter vier Augen zu führen, um Vertraulichkeit herstellen und garantieren zu können. Die meisten der Interviewten lehnten dies jedoch ab und waren entgegen meiner Bedenken trotz des geschäftigen Treibens und des zum Teil erheblichen Lärmpegels um uns herum meist besser als ich in der Lage, sich zu konzentrieren. Ein Interview führte ich im voll besetzten Selbstbedienungsrestaurant eines Kaufhauses, wo wir über zwei Stunden auch über so intime Dinge wie Sexualität redeten, obwohl der Nachbartisch in greifbarer und gut hörbarer Nähe war. Nicht die Privatheit eines Zweiergesprächs und des Rückzugs in einen eigenen Raum bot diesen Mädchen und jungen Frauen Sicherheit, sondern der vertraute 37
Die beiden Interviews, die ich über die Einrichtung Mafalda in B-stadt geführt habe, stellen hier eine Ausnahme dar, weil sie durch Vermittlung der Mitarbeiterinnen verabredet wurden. Hier führte ich ein Probeinterview, das ich nur in Bezug auf die Optimierung der Interviewführung ausgewertet habe und das Interview mit Nadine (Int. 4).
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öffentlichere Rahmen, der ihnen die Gelegenheit bot, kurzzeitig aus der Interviewsituation auszusteigen, indem sie sich auf das Geschehen im Umfeld bezogen. Meine Vorstellung in der Planung der Erhebungsphase war gewesen, dass es notwendig sein würde, zunächst die Mädchen und jungen Frauen kennenzulernen und ihr Vertrauen zu gewinnen, bevor sie bereit sein würden, mir mit einem Interview Einblicke in ihre Lebensgeschichte zu gewähren. In der Erhebungsphase selbst hatte ich jedoch vielmehr den Eindruck, dass mir gerade meine Fremdheit, die Tatsache, dass sie mich nicht kannten und ich keinerlei Relevanz in ihrem Alltag hatte, den Zugang zu den Interviewten verschaffte. Was ausgetestet wurde, war mein Verständnis von ihrer Lebenswelt, beispielsweise durch den Gebrauch von szenespezifischen Ausdrücken, meine verbale Schlagfertigkeit und im Zuge dessen auch meine Belastbarkeit. Auffällig ist, dass die meisten Interviews jeweils zu Beginn meiner Erhebungsphasen stattfanden. Eine Auswahl der Interviewpartnerinnen nach dem Prinzip des „theoretical sampling“ (vgl. Strauss 1994, 49), bei dem nach einer ersten Analyse des bisherigen Materials gezielt entschieden wird, welche Personen mit welchen Merkmalen als Nächstes in die Untersuchung aufgenommen werden (vgl. Merkens 2005, 296), war im Forschungsprozess dieser Untersuchung nicht möglich. Bei dem schwierigen Feldzugang hatte ich keine ausreichenden Auswahlmöglichkeiten, sondern habe alle diejenigen interviewt, die dazu bereit waren. Nachdem ich zu Beginn vor allem volljährige junge Frauen befragt hatte, achtete ich im weiteren Forschungsverlauf darauf, gezielt Mädchen anzusprechen, die noch minderjährig oder gerade erst volljährig geworden waren, um eine größere Ausgewogenheit in der Altersspanne zu erreichen. Mehr relevante Informationen, die Kriterien für eine Auswahl hätten sein können, habe ich von den Mädchen und jungen Frauen im Vorfeld kaum bekommen. Die Besonderheiten des jeweiligen Falls erschlossen sich mir bei der wenig kohärenten Erzählweise der Interviewten und der zum Teil widersprüchlichen Darstellungen im Text häufig erst im Zuge der Auswertung. 4.2.2 Schwierigkeiten im Feld Was mir im Feld Schwierigkeiten bereitete, war nicht die befürchtete Ablehnung der Jugendlichen, sondern die Belastung durch Lebensgeschichten und -situationen, mit denen ich in meiner offenen forschenden Haltung konfrontiert war. Im Unterschied zu Beratungsgesprächen, die ich aus der Berufspraxis mit wohnungslosen Erwachsenen kannte, in denen das Gespräch durch den Filter des Unterstützungsbedarfs wahrgenommen wird und die das Ziel der Hand60
lungsfähigkeit verfolgen, um zu intervenieren, war es mein Ziel, die Gespräche mit den Mädchen zunächst so weit wie möglich ungefiltert wahrzunehmen und aufzunehmen. Was mich zeitweilig emotional niederdrückte, war die Alltäglichkeit, mit der Elend, Zurückweisung und existenzielle Not Teil der Lebenswelt der Beforschten sind. Ich hörte in den Interviews wie auch in anderen Gesprächen, an denen ich teilhatte, von aus meiner Perspektive extremen Erfahrungen, auf die nach meinem Empfinden eine angemessene Reaktion laute Wut, Empörung und eine Unterbrechung der alltäglichen Routine wären – auf individueller und darüber hinaus auch auf gesellschaftlicher Ebene. Beides blieb weitgehend aus und hinterließ bei mir phasenweise ein Gefühl der Ohnmacht und Verzweiflung.38 Diese Dissonanz zwischen dem Inhalt des Erzählten und der Erzählweise, zwischen Inhalt und Deutung zeigt sich beispielsweise sehr deutlich in dem Interview mit Lisa, wie in der Fallbeschreibung in Kapitel 5.2.1 ausführlich beschrieben wird. Während meiner Beobachtungen in den Einrichtungen war ich konfrontiert mit meinen selbstverständlichen Vorstellungen davon, was jugendliche Praxis ausmacht. Die Begegnungen mit den wohnungslosen Mädchen und jungen Frauen, in deren Lebenswelt als normal angesehene adoleszente Verhaltensweisen und Erscheinungsbilder scheinbar bruchlos verknüpft sind mit Erfahrungen wie Drogengebrauch, Gewalt und Vernachlässigung, stellten diese Vorstellungen in Frage. Ich habe beispielsweise in D-stadt eine Unterhaltung mit einem 16-jährigen Mädchen geführt, die vom äußeren Erscheinungsbild unauffällig auf mich wirkte und zunächst von ihrem Liebeskummer erzählte. Später sprach sie über ihre Fähigkeit, auch bei anderen Personen geeignete Venen zum intravenösen Drogengebrauch zu finden, zu erkennen, welche Stellen günstig, welche hingegen lebensgefährlich seien. Danach war ich beeindruckt, dass das Café Stern den Raum bietet, diesen selbstverständlichen Teil ihrer Lebenswelt auch so selbstverständlich und positiv konnotiert, nämlich als Kompetenz darzustellen – gleichzeitig empfand ich es als schrecklich, dass dieses Wissen zu den Erfahrungen und dem Alltag einer Jugendlichen gehört. An dieser Stelle bieten sich Interpretationen zur Konstruktion jugendlicher Praxis an, auf die ich an dieser Stelle nicht näher eingehen kann. Worum es mir hier geht, ist herauszuarbeiten, in welcher Form die Interviews sowie die Feld38
In der Forschung zu Psychotraumatologie werden die Reaktionen und Belastungen Angehöriger und Helfender von Menschen mit traumatisierenden Erlebnissen unter den Begriffen indirekter oder sekundärer Traumatisierung gefasst (vgl. Deistler/Vogler 2002, 264f.). Ohne hier darauf eingehen und diskutieren zu können, ob dieses Konzept anwendbar auf die beschriebene Forschungssituation ist, half es mir doch in der praktischen Anwendung, vor allem in der Forschungssupervision, meine Reaktionen erkenntnisgewinnend reflektieren zu können.
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phasen zur Anbahnung von Interviews eine Belastung darstellten. Die Diskrepanz zwischen meinen als adäquat empfundenen emotionalen Reaktionen auf das Gehörte und Beobachtete und den Erfahrungen und Darstellungsformen der betreffenden Mädchen und jungen Frauen war eine zentrale Belastung, auch bei der Auswertung des Materials, für deren Bewältigung ich mir Unterstützung durch Forschungssupervision suchte. Die Forschungssupervision ermöglichte es mir, die Belastungen und Irritationen nicht als ärgerliche Störungen im Forschungsprozess einzuschätzen, sondern sie als wertvolle Hinweise im Erkenntnisprozess dieser Untersuchung deuten zu können. Zudem diente diese Reflexion der weiteren Qualifikation als Forschende im Feld. 4.3 Interviewform und Interviewführung Vor dem Interview bat ich die Mädchen und jungen Frauen um ihr Einverständnis, das Gespräch mit einem Aufnahmegerät aufzeichnen zu dürfen, was bei keiner der Interviewpartnerinnen ein Problem darstellte. Wichtig für die Interviewten war meine Zusicherung größtmöglicher Anonymität, auch auf besorgte Nachfragen hin während des Interviews, bezüglich sämtlicher Personen und Orte. Zudem betonte ich die Freiwilligkeit der Teilnahme am Interview und ihr Recht darauf, selbst zu bestimmen, welche Fragen sie beantworten, über welche Themen sie in welcher Ausführlichkeit reden möchten. Die Interviewform, die ich im Laufe der Untersuchung für meine Zielgruppe entwicelt habe, lässt sich mit keiner der in der Literatur verfügbaren Kategorien fassen. Barbara Friebertshäuser (1997) spricht von erzählgenerierenden Verfahren als Bezeichnung für einen Typus von Interviewformen, „denen es im Kern darum geht, die Interviewten zu Erzählungen (ihres Alltags, ihrer Biographie oder spezieller Erfahrungen) anzuregen“ (ebd., 386). Hinsichtlich der Untersuchungsfrage war ein erzählgenerierendes Vorgehen wichtig mit dem Ziel, „dass der Fall (die Gruppe oder das Individuum) sich in seiner Eigenstrukturiertheit prozesshaft zu entfalten vermag“ (Bohnsack u. a. 1995, 435). Interviews mit jungen Menschen mit durchweg belasteten Lebensgeschichten, zum Teil traumatisierenden Erfahrungen, die aktuell in problematischen bis hin zu akut sehr krisenhaften Lebenssituationen alltäglich zurechtkommen müssen, müssen diesen spezifischen Faktoren und Umständen gerecht werden. Lebensgeschichten, die wenig nachvollziehbare Strukturen aufweisen, von (gerade für Kinder und Jugendliche) undurchschaubaren Brüchen und Widersprüchen durchzogen sind, und Lebenssituationen, in denen die Beforschten trotz widriger Umstände und akuter Krisen handlungsfähig bleiben müssen, verunmöglichen die Generierung von umfassenden strukturierenden, explizierenden und begrün62
denden Erzählungen, wie sie im narrativen Interview erwartet werden (vgl. Reinders 2005, 108).39 Gabriele Rosenthal (2002) weist darauf hin, dass Gespräche mit Menschen in akuten Lebenskrisen einer vorsichtigeren Interviewführung als gewöhnlich bedürfen (vgl. ebd., 221). Vorsichtiger und zu Beginn unsicher war meine Interviewführung mit den Beforschten dieser Untersuchung, weil ich gewohnte und erlernte Gesprächstechniken modifizieren und dann einüben musste. In Anlehnung an die Vorgehensweise bei narrativen Interviews habe ich die Eingangsfrage als Erzählaufforderung40 formuliert. Was in der Regel folgte, war eine kurze Eingangserzählung, die häufig mit der Erzählcoda endete: „Das wars eigentlich so“ oder „Mehr gibt’s nicht zu erzählen“ und die mich als Interviewerin auf der Suche nach selbstläufigen Erzählungen in den ersten Interviews unruhig werden ließ. Mein Eindruck war, dass die Interviewten sehr plötzlich willig und in der Lage waren, aus der Interviewsituation auszusteigen. In Situationen, in denen ich wenige Sekunden lang über das zuvor Gesagte nachdachte, hörte ich beispielsweise von einer jungen Frau: „Und was machen wir jetzt?“. Dieses Verhalten begreife ich als Bewältigungsstrategie, um mit belastenden Situationen umzugehen – seien dies Erfahrungen aus der Vergangenheit, die im Interview durch die Erzählung wieder präsent wurden oder die Anforderungen und Unsicherheiten in der Interviewsituation selbst. Meine (Nach-)Fragen bezogen sich auf die Themen, die in der Eingangserzählung von den Interviewten angesprochen wurden, und waren darauf ausgerichtet, die Gesprächssituation zu stabilisieren. Es war notwendig, ein Gespür dafür zu entwickeln und eine schnelle Einschätzung zu treffen, welche Themen, welches Gesprächsangebot, welches Verhalten meinerseits eine Entlastung für die Interviewten darstellen könnten, um das Verlassen der Interviewsituation abzuwenden oder überflüssig zu machen. Die Erzählerlaubnis für schreckliche Erlebnisse konnte wichtig sein oder Fragen nach einem positiv konnotierten Thema. Das Ablenken zu banalen Themen wie das Essen in der Einrichtung war manchmal ebenso passend, wie Erzähltes in seltenen Fällen auch mal zu kommentieren oder sogar, wie in einem Interview geschehen, kurz aus meinem Leben zu erzählen. Wichtig ist bei dieser Zielgruppe, über ein breites Repertoire zu verfügen, von der zurückhaltenden Einstellung klassischer narrativer Interviewführung über dialogische Gesprächsführung bis in Ausnahmefällen hin zu einem 39 40
Heinz Reinders konstatiert (und begründet) zudem, dass narrative Interviews mit Jugendlichen im Allgemeinen nur eingeschränkt unter bestimmten Voraussetzungen möglich sind (vgl. Reinders 2005, 107f.). In der Erzählaufforderung habe ich nach dem Lebensverlauf in den letzten Jahren und der aktuellen Lebenssituation gefragt, ergänzt durch die Frage nach dem Befinden der Interviewten, wie es ihnen „dabei so ging“, wie ich es formulierte.
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Verhalten, das ich als intervenierend bezeichnen würde. Beispielhaft dafür ist das Interview mit Nadine (Int. 4), in dem sie immer wieder verhandelt, ob der Sex mit einem Jungen, an den sie sich nicht erinnert, weil sie unter Drogen stand, eine Vergewaltigung war. Gegen Ende äußert sie leise, dass sich diese Situation für sie wie eine Vergewaltigung anfühlt, und ich als Interviewerin falle insoweit aus meiner Rolle, als ich sie parteilich in ihrer Wahrnehmung bestärke und mich bewusst für einen kurzen Moment eher wie eine Beratende verhalte. Bei keiner der Interviewten hatte ich den Eindruck, besonders vorsichtig vorgehen zu müssen, um sie vor erneuten Belastungen oder starken psychischen Reaktionen als Folge des Interviews zu schützen. Eine solche Vorsicht mit der Begründung, das psychische Gleichgewicht der Interviewten schützen zu wollen, sollte meines Erachtens auch immer daraufhin reflektiert werden, inwieweit der Selbstschutz der Interviewenden vor den potenziell belastenden Erzählungen hierbei nicht auch ein gewichtiges Motiv darstellt. Neben der Strategie, die Situation zu verlassen, verweigerten sich alle Mädchen und jungen Frauen – explizit oder ausweichend – konsequent Fragen und Themen, die sie nicht besprechen wollten. Unerlässlich ist es jedoch von Seiten der Interviewenden, eine Atmosphäre zu schaffen, in der deutlich wird, dass auch das Erzählen von Gewalterfahrungen und anderen unangenehmen Erlebnissen erwünscht ist, gehört wird und auch das Unerträgliche mitgetragen wird (vgl. ebd., 223) – und im Rahmen von Supervision oder anderer fachkundiger Unterstützung für sich als Forschende einen Ausgleich zu finden. Meine Fragen waren zudem darauf ausgerichtet, Themen anzusprechen, die die Interviewten aussparten. Ziel war es, wie Heide Funk (1993) es bezeichnet, einen „Raum für Selbstthematisierung“ (ebd., 68) zu schaffen, der es zulässt, Gedanken und Erfahrungen zu äußern, die sonst eher verdeckt und unausgesprochen bleiben. Diese Herangehensweise hat ihren theoretischen Bezug im Konzept des Verdeckungszusammenhangs (vgl. Bitzan/Daigler 2001, 26), auf das ich in Kapitel 3.2.2 eingegangen bin. Gerade die stereotypen Vorstellungen und Bilder über „Straßenkinder“ und wohnungslose Menschen leisten den systematischen Verdeckungen von Erfahrungen und Wirklichkeiten nicht nur in der Fremd-, sondern auch in der Selbstwahrnehmung der Betreffenden Vorschub. Es reicht meines Erachtens nicht aus, darauf zu achten, welche Themen die Interviewten von sich aus ansprechen und welche Relevanzen und Orientierungen sich in ihren Erzählungen zeigen. In der Interviewführung sollte darüber hinaus der Weg eröffnet werden, verdeckte Relevanzstrukturen sichtbar werden zu lassen (vgl. Funk 1993, 70). In vielen Interviews fragte ich, um der Kehrseite der häufig im Schwerpunkt dargestellten Leidensgeschichte Raum zu geben, allgemein nach „Sachen“ und „Dingen“, die meinen Gesprächspartnerinnen Spaß bereiten, an de64
nen sie Freude haben, sowie nach positiven Aspekten des Lebens auf der Straße. Gegen Ende des Interviews forderte ich die Mädchen und jungen Frauen auf, sich vorzustellen, sie hätten die Möglichkeit, Menschen, denen das Leben auf der Straße fremd ist, etwas mitzuteilen in Form einer Botschaft, als Information oder Meinungsäußerung. Hier ging es darum, den Interviewten den Status von Expertinnen zu verleihen und ihnen die Möglichkeit zu geben, sich in diesem Kontext zu äußern. Die meisten der interviewten Mädchen und jungen Frauen befanden sich in einer körperlich stark belasteten Situation, vor allem durch Drogenkonsum und Schlafentzug.41 Zum Teil berichteten sie von Beschwerden wie Kopf- und Zahnschmerzen oder chronifizierten Erkältungskrankheiten.42 Da mangelnder Schlaf und Drogen einen markanten Bestandteil in ihrer Lebenswelt darstellen, war es keine Option, die Interviews lediglich im ausgeruhten und nüchternen Zustand der Betreffenden zu führen. Wichtig war jedoch, bei der Auswertung zu beachten, dass dies Faktoren sind, die sich auf die Konzentrationsfähigkeit und Erzählweise der Interviewten auswirken. 4.4 Das erhobene Material und die Auswertung Insgesamt habe ich 14 Interviews geführt, von denen ich elf intensiv ausgewertet habe. Die restlichen drei setzen sich zusammen aus einem Probeinterview und zwei weiteren Interviews, in denen es thematisch nur am Rande um die (zum Zeitpunkt des Interviews) abgeschlossene Lebensphase auf der Straße geht. Dazu kommen die Protokolle, in denen ich markante Situationen sowie Gespräche außerhalb des Interviewsettings festgehalten habe. Die Protokolle habe ich nicht systematisch ausgewertet, sondern als ergänzende Informationen punktuell herangezogen.43 Die Interviews habe ich vollständig selbst transkribiert – zum einen, weil es schwierig gewesen wäre, jemanden zu finden, die die akustisch wie inhaltlich schwer verständlichen Gespräche mit einer Vielzahl von Szeneausdrücken hätte bewältigen können. Zum anderen war das zeitaufwändige Transkribieren für mich ein wichtiger Schritt im Prozess des Kennenlernens der Interviews. 41 42 43
Mit Schlafentzug ist gemeint, dass sie eine oder mehrere Nächte nicht oder kaum geschlafen hatten. Zur gesundheitlichen Situation wohnungsloser Menschen im Allgemeinen vgl. Jakob 2000. Das Thema Gesundheit und Krankheit wohnungsloser Jugendlicher haben Uwe Flick und Gundula Röhnsch (2008) erforscht. Diese Informationen finden sich vor allem im ersten der drei Gliederungspunkte der Fallbeschreibungen unter der Überschrift „Interviewsituation“.
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Das Material, Interviews wie Protokolle, wurde in Bezug auf alle Daten, die Rückschlüsse auf die Identität der Person und/oder ihres Aufenthaltsortes zulassen, umfassend anonymisiert. Im Gegensatz zu anderen Studien (vgl. Metje 2005; Thomas 2005; Bodenmüller 2000) habe ich auch alle Städte- und Ortsangaben verschlüsselt, da ich der Meinung bin (und dies auch die geäußerte Befürchtung einzelner Beforschter war), dass mit dem Hinweis auf die Stadt eine Identifizierung der Befragten innerhalb der Szene ohne erheblichen Aufwand möglich wäre.44 Das Interpretationsverfahren folgt im Wesentlichen der dokumentarischen Methode, wie sie Ralf Bohnsack zunächst im Kontext von Jugendforschungsprojekten entwickelt hat (vgl. Bohnsack u. a. 1995). Stefan Thomas (2005) kritisiert in seiner ethnografisch angelegten Untersuchung, dass die meisten Studien über wohnungslose junge Menschen ihr Material durch Interviews erhoben haben. „So wird auf einen Zugang zur Lebenswelt in Form der Teilhabe verzichtet, weshalb bei der Datenerhebung auch die Ebene der subjektiven Sichtweisen nicht überschritten werden kann.“ (ebd., 30) Die teilhabende Beobachtung sieht er als Voraussetzung an, um einen „unvermittelten Zugang zu den real vorfindlichen Handlungen und Handlungssituationen“ (ebd.) zu erreichen. Diese Unterscheidung in eine vorgängige objektive Lebenswelt und deren subjektive Deutung ist aus einer konstruktivistischen Perspektive nicht haltbar und in der dokumentarischen Methode kaum relevant. Es geht in der Interpretation nicht darum, aus den Schilderungen der Interviewten die objektive, reale Lebenswelt herauszufiltern. Die Frage danach, ob die Interviewten die Wahrheit sagen oder lügen,45 relativiert sich vor dem Hintergrund der prozessrekonstruktiven Analyseeinstellung, die nicht nach dem „Was“ sozialer Wirklichkeit fragt, sondern nach dem „Wie“ der Herstellung von Lebenswelten. Diese Analyse „nimmt Abstand von der Frage, ‚was‘ diese Wirklichkeit jenseits des milieuspezifischen Erlebens ist. Hierin liegt die erkenntnislogische Differenz zur Alltagspraxis mit ihren pragmatischen Zwängen, wie auch gegenüber Ansprüchen eines objektivistischen Zugangs zur Wirklichkeit.“ (Bohnsack 1997b, 59)
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Dagegen kann man zu Recht einwenden, dass die Szenen sich im Laufe der Jahre recht schnell verändern in ihrer personellen Zusammensetzung und damit Rückschlüsse auf die Person deutlich erschwert werden. Handlungsleitend war für mich die Zusage an die Interviewten für eine umfassende Anonymisierung und der forschungsethische Grundsatz, in diesem sensiblen Forschungsfeld kein Risiko einzugehen. Eine Frage, die voraussetzt und behauptet, beides sei trennscharf voneinander zu unterscheiden.
Indem mit dieser genetischen Einstellung nach der Herstellung von Motiven gefragt wird, wird die gerade bei so genannten Randgruppen naheliegende Gefahr der Unterstellung oder Zuschreibung von Motiven aufgrund beobachteter oder erzählter Handlungspraxis eingedämmt (vgl. Bohnsack 2001, 227). Zudem wird in den rekonstruierten Orientierungen auch die Wirkmächtigkeit sozialer und kultureller Skripte sichtbar. Bei der ersten Durchsicht der Interviews wurde deutlich, dass ein kleinschrittiger und detailgenauer Interpretationsvorgang nötig ist, um der Komplexität und Fremdheit des Materials gerecht zu werden bzw. damit zurechtzukommen. Für die dokumentarische Methode ist die Differenzierung in immanenten Sinngehalt einerseits und konjunktiven oder dokumentarischen Sinngehalt andererseits konstitutiv, die sich in der Forschungspraxis in den Arbeitsschritten der formulierenden und reflektierenden Interpretation findet (vgl. Bohnsack/Nohl 2001, 303). Bei der formulierenden Interpretation wird nach dem „Was“ gefragt, die thematische Gliederung des Textes wird erarbeitet (vgl. Bohnsack 2000, 36). Die Interpretation bleibt hierbei innerhalb des Relevanzsystems der Interviewten, ohne dass dieses reflektiert und expliziert wird. Erst im Zuge der reflektierenden Interpretation wird danach gefragt, wie ein Thema behandelt wird und was sich in dem Erzählten dokumentiert (vgl. Bohnsack/Nohl 2001, 303). Die durch die Interviews gewonnenen Texte haben mich zunächst vor allem verwirrt. Im Rückblick erscheint es mir, als sei ich recht lange „drum herum geschlichen“, bis ich einen geeigneten Zugang gefunden habe. Dies ist in der qualitativen Forschung kein ganz außergewöhnlicher Prozess. Ich möchte ihn hier trotzdem in einen kausalen Zusammenhang setzen zu der Beschaffenheit des Interviewmaterials. Ein Schlüsselerlebnis war für mich eine Stelle im Interview mit Nadine, die ihre Eingangserzählung nach wenigen Minuten unterbricht und nach einer Pause ihre Zweifel darüber äußert, ob sie auch „richtig erzählt“. „N: ((beugt sich vor zum Aufnahmegerät und schaut die Interviewerin an)) I: Was? N: Können wir mal Pause machen, (.) geht des? I: Ja:, wa[rum, N: [Ich weiß nich, ob ich des richtig erzähl, @(1)@ I: Du erzählst das super, N: @(1)@ @Ja?@ I: ja, N: Oh je, das is alles so komisch irgendwie.“46 (Int. 4)
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„N“ steht für Nadine, „I“ für Interviewerin.
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Während ich in dieser Situation versuchte, meinem Gegenüber ein Gefühl von Sicherheit und Bestärkung zu vermitteln, um die Interviewsituation zu stabilisieren, hatte auch ich den Eindruck, dass das „alles“ auf unbestimmte Weise „komisch“ war, im Sinne von merkwürdig und nicht durchschaubar. Eigentlich war ich irritiert von dem zuvor Erzählten, in dem Nadine, wie häufig in den Eingangserzählungen der Interviews, ohne nachvollziehbaren zeitlichen Zusammenhang und explizierten sozialen Kontext Stationen der Wohnungslosigkeit benannt hatte. Ich fühlte mich in der Situation an die These von Harold Garfinkel (1981) erinnert, der bei der Herstellung von Intersubjektivität in der alltäglichen Kommunikation von einer wechselseitig vorgenommenen „Vortäuschung“ und „Unterstellung von Übereinstimmung“ spricht (vgl. ebd., 203). Hätte ich alle Informationen erfragt, die zum Verständnis des Gesagten für mich notwendig gewesen wären, wäre eine selbstläufige Erzählung unmöglich geworden. Garfinkel spricht von der wesensmäßigen Vagheit von Ausdrücken, „die unaufhebbar und gesellschaftlich gebilligt ist“ (ebd., 204). Dabei wird die Person, die diese Vagheit des Alltagsdiskurses durchbrechen will, indem sie auf Klarheit, Konsistenz und Detaillierung besteht, als „Pedant“ angesehen. „Eigentlich fehlt es ihr an gesundem Menschenverstand – in dem Sinne, dass sie ein Außenseiter gegenüber der normativen Ordnung des ordnungsgemäßen Diskurses in der Gruppe ist.“ (ebd., 205). Zur Stabilisierung der Interviewsituation war es wichtig, dass ich eben nicht als Außenseiterin angesehen wurde, sondern ein Grundverständnis von der Lebenswelt der Interviewten signalisierte, bewies und punktuell auch vortäuschte. Gabriele Lucius-Hoene und Arnulf Deppermann (2002) beschreiben die Bedingungen einer Erzählung, die auf Verständigung mit und Nachvollziehbarkeit für die Hörerin ausgerichtet ist (vgl. ebd., 35f.). Unter Bezug auf Fritz Schütze unterscheiden sie die kognitiven Figuren und die Zugzwänge des Erzählens. „Die kognitiven Figuren beinhalten diejenigen informativen Elemente, die zum Aufbau und Verständnis einer Geschichte benötigt werden und fungieren für Erzähler und Hörerin als Orientierungs- und Darstellungsraster.“ (ebd., 35) Diese informativen Elemente, wie unter anderem die Einbettung des Erzählten in Ort, Zeit und situative Umstände, fehlen häufig in den Texten der interviewten Mädchen und jungen Frauen, was mir ein intuitives Verstehen in der Interviewsituation erschwerte. Auch die Zugzwänge des Erzählens, der Gestaltschließungs-, der Kondensierungs- und der Detaillierungszwang, die wirksam sind, damit die Erzählende eine erzählerische Gesamtfigur unter den begrenzenden Bedingungen der Interviewsituation herstellen kann, zeigen sich in den Texten der Interviewten nicht durchgehend (vgl. ebd., 36). Die Detaillierung beispielsweise, die dazu dient, relevante Hintergrundinformationen zu liefern und plausible Verknüpfungen zu erstellen, findet sich in weiten Teilen nur 68
bruchstückhaft bzw. auf eine für mich nur in der kleinschrittigen Interpretation nachvollziehbaren Weise (vgl. ebd.). Dies ist auf das Alter sowie die Lebensgeschichte und aktuelle Lebenssituation der Interviewten zurückzuführen. Heinz Reinders (2005) weist darauf hin, dass im Allgemeinen bei Jugendlichen Erlebnisse, die nah an der aktuellen Lebensphase liegen, schwieriger zu erfragen sind. „Aktuelle Erlebnisse sind bei Jugendlichen nicht immer so sortiert, dass diese sich zu einer geschlossenen Erzählung in der Lage sehen.“ (ebd., 108) Diese Fähigkeit wird bei der Zielgruppe dieser Arbeit, wie oben in Kapitel 4.3 bereits erwähnt, zusätzlich durch Drogeneinfluss und zum Teil extreme körperliche Belastung eingeschränkt. In Bezug auf die Mädchen und jungen Frauen auf der Straße ist es zudem plausibel, dass von Brüchen und Überforderungen geprägte Lebensgeschichten und Erfahrungen schwerlich in eine kohärente Erzählung umgesetzt werden können, sondern in fragmentierter Form dargestellt werden. Schwierigkeiten beim Zugang zum Material hatte ich auch, wenn die Interviewten Widersprüche mit einer kohärenten Erzählung glätten und extreme einschneidende, vor allem gewalttätige Erfahrungen als bruchlos in ihre Lebenswelt integriert darstellen. In einer belasteten Lebenssituation ein Interview zu geben und dabei von vergangenen belastenden Erfahrungen zu erzählen, bedeutet eine Herausforderung, die die Mädchen und Frauen auf unterschiedliche Weise gemeistert haben. Die fragmentierten und die dissoziierenden47 Erzählformen sind auch als Bewältigungsstrategien zu sehen, Belastendes und Überforderndes „aushaltbar“ und damit erzählbar zu machen. Bei der Auswertung der Interviews war ich nun damit beschäftigt, in das Fragmentierte der Erzählungen so viel Kohärenz zu bringen, dass ich eine Grundlage für die Interpretation hatte – hierfür war es notwendig, mich im Zuge der immanenten Interpretation sehr eng am Text in die Perspektive der Erzählenden zu versetzen. Umgekehrt habe ich das Material zum Teil „quergebürstet“ und Dissoziatives und Widersprüchliches entdeckt und expliziert.48 Im Zuge der formulierenden Interpretation wurde eine thematische Gliederung für den gesamten Interviewtext erstellt. Den Arbeitsschritt der reflektierenden Interpretation hingegen habe ich, wie in der dokumentarischen Methode
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Imke Deistler und Angelika Vogler (2002) definieren Dissoziation als Gegenpol zur Assoziation, die beide eine bestimmte Art darstellen, Informationen zu organisieren. Dissoziation bezeichnen Deistler und Vogler als eine Strategie, Informationen, Wahrnehmungen, Gefühle und deren Verknüpfung von sich fernzuhalten, um Überforderungen der Psyche zu vermeiden (vgl. ebd., 42f.). Damit löste ich das Erzählte aus den Formen, die die Erfahrungen aushaltbar und erzählbar machten und spürte zum Teil deutlich die Schwere dessen, was mir mitgeteilt worden war.
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vorgesehen, lediglich an ausgewählten Textstellen durchgeführt.49 Diese Auswahl hat sich weniger am Inhalt des Erzählten als vielmehr an der metaphorischen und narrativen Dichte der Passagen orientiert. Von Interesse waren weiterhin Interviewausschnitte, die eine hohe emotionale Beteiligung der Mädchen und jungen Frauen aufweisen, sowie solche, die besonders auffällig sind im Interview (vgl. Bohnsack 2000, 154). So erzählt beispielsweise Petra (Int. 10) sehr unvermittelt mit Freude in der Stimme von ihrer Begeisterung für Musik und unterbricht damit die fast durchgängigen bedrückenden Erzählungen über ihre leidvollen Erfahrungen. In Zuge der reflektierenden Interpretation wird der dokumentarische Sinngehalt des Textes herausgearbeitet, das heißt Orientierungen werden rekonstruiert. Mit Orientierungen werden Sinnmuster bezeichnet, die einzelne Handlungen strukturieren und hervorbringen (vgl. Przyborski 2004, 55). „Sie sind Prozessstrukturen, die sich in homologer Weise in unterschiedlichen Handlungen, also auch den Sprechhandlungen, ebenso wie in den Darstellungen der Handlungen reproduzieren. Diese Sinnmuster sind in die Handlungen eingelassen und begrifflich-theoretisch nicht gefasst.“ (ebd.)
Dieser Interpretationsschritt bildet die Grundlage für die folgende Typenbildung.50 Die dokumentarische Methode unterscheidet in die sinngenetische und die darauf aufbauende soziogenetische Typenbildung. Die sinngenetische Typenbildung abstrahiert gefundene Orientierungsfiguren im fallübergreifenden Vergleich zu einem Orientierungsrahmen, der als Basistypik verstanden wird. Im Zuge der fallinternen komparativen Analyse wird dieser Typus spezifiziert, der Fokus liegt hierbei nicht bei den Gemeinsamkeiten, sondern den Kontrasten zwischen den Fällen. Die Unterscheidung in sinn- und soziogenetische Typenbildung lässt sich in Anlehnung an Alfred Schütz mit der Differenzierung zwischen „Um-zu-Motiven“ und „Weil-Motiven“ verdeutlichen (vgl. Nentwig-Gesemann 2001, 276). „Um-zu-Motive“ beschreiben die „Orientierung an einem antizipierten, durch eigenes Handeln zu erwirkenden Zustand“ (ebd.). „Weil-Motive“ hingegen fragen nach „den in vergangenen Erfahrungszusammenhängen und Lebensbedingungen wurzelnden Motiven“ (ebd.). Während also die sinngenetische Typenbildung, ausgerichtet an den „Um-zu-Motiven“, zentrale Orientierungsfigu49 50
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Die ausgewählten Textstellen habe ich mir zudem vor der reflektierenden Interpretation durch einen ausführlichen formulierenden Interpretationsschritt erschlossen. Die Darstellung des Interpretationsprozesses als chronologische Abfolge einzelner unterschiedlicher Arbeitsschritte dient zum besseren Verständnis der Vorgehensweise. In der Forschungspraxis ist dieser Prozess vielmehr zirkulär als streng gradlinig.
ren generiert, werden darauf aufbauend in der soziogenetischen Typenbildung, anknüpfend an die „Weil-Motive“, Erfahrungsdimensionen eines Falles rekonstruiert, an die diese Orientierungsfiguren gebunden sind. Als konjunktiven Erfahrungsraum begreife ich bei den von mir Interviewten die Erfahrung der Wohnungslosigkeit als Mädchen und junge Frauen. Dieser Erfahrungsraum bringt bestimmte Orientierungen hervor, die als Sinnmuster den Herstellungsprozess der Handlungspraxis strukturieren und gleichzeitig wiederum von dieser Handlungspraxis geformt werden und sich in ihr zeigen. „Diese kollektive Erlebnisschichtung ist zugleich das Produkt einer gemeinsamen Praxis, wie auch deren Voraussetzung.“ (Bohnsack 2001, 231) Handlungspraxis und Orientierungen begreife ich, wie ich in Kapitel 3.1 dargelegt habe, als konstitutiv für die Konstruktion von Lebenswelten. Die sinngenetische Typenbildung, wie ich sie am vorliegenden Material erarbeitet habe, nimmt notwendig neben den „Um-zu-Motiven“ auch durch vergangene Erfahrungen motivierte Orientierungen im Sinne der „Weil-Motive“ in den Blick. Biografische Verläufe und Lebenssituationen, die in hohem Maße instabil und brüchig sind, lassen die Orientierung an der Zukunft, die Ausrichtung des eigenen Handelns auf einen zu erwirkenden Zustand in den Hintergrund treten. Das Überleben und die Bewältigung leidvoller und zum Teil traumatisierender Erfahrungen kann in einer Art rückwärtsgerichteter Orientierung die Fokussierung auf Vergangenes erforderlich machen. Den Analyseschritt der soziogenetischen Typenbildung vollziehe ich insofern in meiner Arbeit nicht, als ich in meine Erhebung keine Vergleichsgruppen einbezogen habe, wie beispielsweise Jugendliche, die nicht wohnungslos sind, oder Jungen und junge Männer, die auf der Straße leben. Dies würde den Rahmen einer Dissertation weit überschreiten. Vielmehr habe ich mich explizit und implizit auf Ergebnisse anderer relevanter Untersuchungen bezogen, wie auch die Ergebnisse meiner Arbeit für weitergehende Forschungen genutzt werden können. Die Ergebnisse der Interpretation werde ich in den folgenden beiden Kapiteln darstellen: in einzelnen Fallbeschreibungen und der anschließenden fallübergreifenden Zusammenfassung der Erkenntnisse.
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5. Fallbeschreibungen
In diesem Kapitel werden alle elf Interviews in Fallbeschreibungen vorgestellt. Ich unterscheide dabei in vier ausführliche Fallbeschreibungen, in denen die Gesamtgestalt des Falles umfassend entfaltet wird (Kapitel 5.1) und sieben Fallbeschreibungen, die auf eine Dimension des Falles fokussieren, die im Kontext der Gesamtgruppe in der fallübergreifenden komparativen Analyse auffällt (Kapitel 5.2). Die vier umfassenden Fallbeschreibungen zeigen die Komplexität der Fälle auf. Das Ineinanderwirken der einzelnen Aspekte, die Verflochtenheit verschiedener Dimensionen innerhalb eines Falles werden hier herausgearbeitet. In den sieben fokussierten Fallbeschreibungen wird hingegen exemplarisch jeweils eine Dimension der Ergebnisse in den Mittelpunkt gerückt, wodurch einzelne Ergebniselemente jeweils an einem Fall pointiert verdeutlicht werden. Die Entscheidung, welche Fälle ich in welcher Form beschreibe, richtete sich nach den in der sinngenetischen Typenbildung herausgearbeiteten Orientierungen. Für die umfassenden Fallbeschreibungen habe ich Fälle gewählt, anhand derer der Orientierungsrahmen und die in diesem Rahmen zu differenzierenden Orientierungen besonders anschaulich vermittelbar sind, für die fokussierten Fallbeschreibungen umgekehrt solche, die die besonderen Ausprägungen der Orientierungen in der Kontrastierung zu anderen Fällen sehr gut erkennen lassen. Alle Fallbeschreibungen sind durchgehend in drei Abschnitte mit den folgenden Überschriften gegliedert: „Interviewsituation“, „Biografische Informationen“ und „Fallbezogene Interpretation“. Im ersten Teil („Interviewsituation“) beschreibe ich die Umstände der Interviews, die aus dem transkribierten Texten nicht ersichtlich werden und trotzdem wichtige Informationen zum umfangreichen Verständnis der Fälle darstellen. Dazu gehört, wie ich meine Interviewpartnerin kennengelernt habe und unter welchen räumlichen, zeitlichen und sozialen Bedingungen das Interview stattfand. Besonderheiten im Interviewverlauf und meine subjektiven Eindrücke als Interviewerin werden geschildert. Dies ermöglicht den Lesenden einen erweiterten fallbezogenen Einblick in die Forschungssituation und in die Atmosphäre, in der das Interview stattgefunden hat.
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Zudem sind all dies Umstände, die implizit Einfluss haben können auf den Interpretationsprozess und deshalb so weit wie möglich expliziert werden müssen, um sie als erkenntnisleitende Aspekte im Sinne methodischer Kontrolle transparent zu machen. Im Forschungsfeld dieser Untersuchung, in dem mir als Forschende vieles fremd und auf den ersten Blick unverständlich und auch verwirrend erschien und ich Abwehrreaktionen und auch übermäßige Empathie zu entwickeln begann,51 war es wichtig, meine Perspektive und meinen Standort52 zu reflektieren. Diese Reflexion ermöglichte es mir, eine weitgehende Offenheit gegenüber den Beforschten und ihrem Standort zu erhalten bzw. zu entwickeln. In Anlehnung an die Ethnopsychoanalyse nach Maya Nadig (1995), die wesentlich einen Reflexionsprozess beinhaltet, der die Subjektivität der Forschenden, die Beziehung zwischen Forscherin und Beforschten sowie Irritationen im Forschungsprozess einbezieht (vgl. ebd., 152ff.), habe ich deshalb diesen ersten Teil in meinen Fallbeschreibungen eingeführt. Die biografischen Informationen im zweiten Teil der Fallbeschreibungen dienen den Lesenden zur Orientierung im Fall. Die Erzählungen der Mädchen und jungen Frauen folgen in weiten Teilen nicht dem chronologischen lebensgeschichtlichen Verlauf.53 Aus den Aussagen der Interviewten habe ich relevante biografische Informationen entnommen und in einer Form dargestellt, die in ihrer Kohärenz der Struktur der Interviews kaum entspricht. Auch wenn es im Interpretationsprozess weitgehend wichtig war, die Inkohärenz und dissoziative Erzählweise der Interviewten in ihrer Struktur als erkenntnisleitend anzunehmen, ist an dieser Stelle eine Darstellungsweise notwendig, die mit dieser Struktur bricht. Der nachvollziehbar chronologisch und thematisch strukturierte Aufbau des zweiten Teils der Fallbeschreibungen bietet relevante biografische Informationen zum Verständnis der Fälle. In vielen Fällen stand ich dabei vor dem Problem, dass die zeitlichen biografischen Angaben der Mädchen und jungen Frauen in der Addition den Rahmen ihrer Lebenszeit weit überstieg. Solche sowie vergleichbare Unstimmigkeiten und Widersprüche habe ich an den entsprechenden Stellen expliziert und im Weiteren in die Interpretation einbezogen.
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Diese Reaktionen erlebte ich auch bei KommilitonInnen in Kolloquien, in denen ich Interviewtexte vorstellte, die dann gemeinsam interpretiert wurden. Den Begriff des Standortes benutze ich in Anlehnung an die dokumentarische Methode, die nach Karl Mannheim von der „Standortgebundenheit des Wissens“ (Bohnsack 2000, 178) ausgeht, die es notwendig mache, die unterschiedlichen Standorte von Forscherin und Beforschter zu explizieren. Dies liegt unter anderem darin begründet, dass sich meine Erzählauforderung nur auf einen spezifischen biografischen Zeitraum, nämlich das Leben auf der Straße, bezieht, der zudem nicht immer zeitlich klar einzugrenzen ist.
Im dritten Teil folgt die verdichtete und zusammenfassende Darstellung der Ergebnisse der reflektierenden Interpretation, in denen die Erfahrungen und Orientierungen ausgeführt werden, die sich in den jeweiligen Fällen zeigen. Die oben eingeführte Unterscheidung in sieben fokussierte und vier umfassende Fallbeschreibungen zeigt sich vor allem in der Länge und der Form der Ausarbeitung dieses Abschnitts. 5.1 Umfassende Fallbeschreibungen Unter dieser Überschrift werden im Folgenden die Interviews mit Lisa (Int. 2), Nadine (Int. 4), Lele (Int. 7) und Sam (Int. 8) vorgestellt. Die Fallbeschreibungen sind jeweils, wie oben erklärt, in drei Abschnitte gegliedert. Darüber hinaus ist die Strukturierung weitgehend an den Besonderheiten der einzelnen Fälle orientiert. 5.1.1 Lisa, 19 Jahre: „Man denkt dann auch immer, ha, ich will leben, aber das ist ja kein Leben eigentlich so auf der Straße.“ Interviewsituation Lisa treffe ich das erste Mal vor der Öffnungszeit des Mädchencafés in A-stadt vor der Tür. Wie ich später erfahre, hält sie sich hier nur noch selten auf – so können sich die Mitarbeiterinnen nur mit Mühe an sie erinnern, als ich mich während meiner zweiten Feldphase ein halbes Jahr später nach Lisa erkundige. Ich bin mir zunächst nicht sicher, ob sie Besucherin oder Praktikantin ist. Sie wirkt auf mich ruhiger als die anderen Besucherinnen und ist auch in die Gespräche und Aktivitäten der anderen jungen Frauen nicht involviert. Im Mädchencafé fragt Lisa mich recht schnell, ob ich eine neue Mitarbeiterin sei, woraufhin ich ihr mein Forschungsanliegen erkläre. Mir wird bald klar, dass Lisa seit längerer Zeit nicht mehr in der Einrichtung war, denn sie gibt einer Mitarbeiterin eine Zusammenfassung ihres Lebensverlaufes der letzten Monate, so dass ich mir bereits als Zuhörerin ein Bild von ihr machen kann. Lisa zeigt in der Interaktion einen Sinn für Humor, der auch ironische Untertöne versteht und aufgreift. Als ich sie frage, ob sie zu einem Interview bereit wäre, stimmt sie dem ohne Umschweife zu mit der Bemerkung: „Was tut man nicht alles für eine Doktorarbeit!“. Wir gehen dazu in einen separaten Raum und obwohl Lisa die Nacht zuvor ohne Schlaf durchgefeiert hatte, führen wir dort ein über zweistündiges Interview. Lisa wirkt in der 75
Interviewsituation nicht angespannt, sondern eher gelassen und offen für meine Fragen. Sie ist im Gespräch sehr aufmerksam und hat im Gegensatz zu vielen anderen Interviewpartnerinnen kein Problem damit, das Interview „unter vier Augen“ zu führen. Lisa redet leise, dabei aber lebendig und sehr schnell und ist manchmal schwer zu verstehen.54 Auf meine Erzählaufforderung folgt, wie bei den meisten Interviews, eine chronikartige Eingangserzählung. Diese schließt Lisa nach etwa zehn Minuten mit der Bemerkung, dies sei die Kurzfassung ihres Lebens. Als ich sie daraufhin frage, ob es Themen gebe, die sie ausführlicher schildern wolle, erzählt Lisa von ihrer Kindheit im Heim und leitet damit über zu ihren sexuellen Gewalterfahrungen als Kind und als ältere Jugendliche. Auffällig ist, dass Lisa auch ohne explizites Nachfragen meinerseits aus ihrer Kindheit und relativ ausführlich über ihr früheres und gegenwärtiges Verhältnis zu ihrer Mutter erzählt.55 Auch im weiteren Interview redet Lisa offen über prekäre Themen. Dabei gibt es eine Diskrepanz zwischen dem Inhalt der Erzählungen von zum Teil dramatischen und lebensbedrohlichen Erlebnissen einerseits und Lisas Haltung und Sprachstil andererseits. Sie redet abwechselnd belustigt, dann wieder ernster, zeigt sich jedoch weitgehend emotional unbeteiligt, distanziert vom Erzählten. Sie distanziert sich zudem, indem sie im Interview wiederholt feststellt, dass die schwierigen, die „krassen“ Zeiten nun hinter ihr lägen und es ihr heute wieder gut gehe. Nach dem Interview fühle ich mich, alltagssprachlich ausgedrückt, als habe mich emotional ein Zug überrollt. Im Vergleich zu anderen Interviews dieser Länge hatte ich nach diesem im besonderen Ausmaß das Gefühl, dass mein emotionales Fassungsvermögen und meine Belastungsgrenze überschritten wurden, auch wenn ich die Gründe hierfür zunächst nicht benennen konnte.56 Erst in der Reflexion wird mir klar, dass diese eindrückliche Dissonanz zwischen dem Inhalt des Erzählten einerseits und Lisas emotionalen Beteiligung andererseits, also ihrer Fähigkeit zur Dissoziation, diese Reaktion bei mir hervorgerufen hat. Zusätzlich bin ich aber auch beeindruckt von Lisas Haltung, die sich der Opferrolle zu verweigern scheint. Beeindruckend ist für mich auch die Bandbreite an Erlebnissen und Aktivitäten, in denen Lisa sich als risikofreudig und Gefahren überlegen (wie beim S-Bahn-Surfen oder den Schlägereien) präsen54 55 56
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Aus diesem Grund war dieses Interview auch schwer zu transkribieren und weist überdurchschnittlich viele unverständliche Stellen auf. Auffällig ist dies vor allem im Vergleich zu den anderen Interviewten, die beim Thema Elternhaus und Kindheit, sofern ich danach frage, eher einsilbig antworten. Dabei ist auch zu beachten, dass dies eins meiner ersten Interviews war und deshalb meine Reaktion stärker ausfiel als nach der reflektierenden Forschungssupervision. Vgl. dazu auch Kapitel 4.2.2: Schwierigkeiten im Feld.
tiert und sich als Teil einer vielfältigen kreativen Subkultur (Sprayen, Musik machen) zeigt. Dabei blendet sie die Verletzungen, das Leid und die Lebensbedrohung sowie die mangelnde gesellschaftliche Anerkennung ihrer Kreativität in dieser Form der Selbstdarstellung weitgehend aus. Das Interview besteht weitgehend aus langen narrativen Passagen Lisas. Meine Fragen fungieren hier also vor allem als erzählgenerierende Impulse, die sie auch einfordert, wenn sie ein Thema abgeschlossen hat. In noch stärkerem Ausmaß als bei anderen Interviewten fällt bei Lisa auf, dass sie Pausen und Schweigen im Interview nicht erträgt. Fragen nach ihren aktuellen Gefühlen wehrt Lisa, meist mit ironischem Humor, ab. Nachdem beispielsweise das Tonband abgestellt wurde, frage ich sie wie alle Interviewten, wie sie das Interview erlebt habe. Darauf schauspielert Lisa mit einem Lachen, wie schlecht es ihr jetzt ginge und verdeutlicht damit, wie auch an anderen Gesprächsstellen, dass sie nicht bereit ist, mit mir über ihre aktuelle Befindlichkeit zu reden. Als wir wieder gemeinsam im Caféraum bei den anderen Anwesenden sind, berichtet Lisa auf Nachfrage einer Mitarbeiterin entspannt und etwas belustigt vom Interviewverlauf. Sie erzählt, wie sie von mir Fragen eingefordert habe und wie ich daraufhin ein nachdenkliches Gesicht (das sie zur Belustigung der anderen imitiert) gemacht und dann eine Frage gestellt habe. Biografische Informationen Lisa wächst als Einzelkind bei ihrer Mutter und ohne ihren Vater auf. Sie erzählt, dass ihr „Erzeuger“ der Stiefvater ihrer Mutter sei. Lisas Mutter sei von ihrem Stiefvater vergewaltigt worden und dadurch mit Lisa schwanger geworden. Lisa bezeichnet ihre Familienverhältnisse als undurchsichtig: „Das sind dann auch alles n bisschen komische Stories.“ (Int. 2). So ist auch der Verlauf von Lisas Kindheit und Jugend im Interview nur fragmentarisch rekonstruierbar. Lisas Mutter ist in einem katholischen Heim aufgewachsen, in dem auch Lisa im Laufe ihrer Kindheit häufiger lebt. Um welche Zeiträume es sich hierbei handelt, wird nicht klar. Von ihrem dritten bis zum zehnten Lebensjahr wird Lisa von einem der Erzieher sexuell missbraucht. Lisa vertraut sich mit den Gewalterlebnissen anderen MitarbeiterInnen an, die ihr jedoch nicht glauben. Lisa wird kurzzeitig zu einem Psychologen geschickt aufgrund der Vermutung, sie werde nicht von dem Erzieher, sondern von ihrem Stiefvater57 missbraucht. 57
Ihren Stiefvater erwähnt Lisa im Interview nur in Zusammenhang mit den Missbrauchsvorwürfen. Im Zusammenhang mit Lisas Aussage, die Mutter habe meistens in Frauenbeziehungen gelebt, ist anzunehmen, dass der Stiefvater keine besondere Bedeutung in Lisas Leben hatte.
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Lisa erzählt von früheren Bemühungen seitens des Heims58 um eine Adoption, die jedoch keinen Erfolg haben. Ihre Mutter wird im Zuge dessen Lisa gegenüber in einem negativen Licht dargestellt. Eine Mitarbeiterin äußert gegenüber Lisa, ihre Mutter sei nicht ihre leibliche Mutter.59 Während Lisas Kindheit hat die Mutter Drogenprobleme und konsumiert unter anderem Kokain. Um ihren Drogenkonsum zu finanzieren, fordert sie von ihrer Tochter bereits im frühen Jugendalter, selbstständig Geld zu besorgen. Lisa fängt daraufhin an, Autos zu aufzubrechen, lernt ältere Jugendliche kennen und beginnt in der fünften Klasse Haschisch zu rauchen. Als Jugendliche hat sie massive Auseinandersetzungen mit ihrer Mutter. Lisa schwänzt die Schule, konsumiert in zunehmendem Maße selbst Drogen und verbringt viel Zeit auf der Straße. Mit vierzehn Jahren kommt sie für kurze Zeit in eine Pflegefamilie, die jedoch mit Lisas Drogenkonsum nicht zurechtkommt. Nachdem sie im Anschluss wiederum auf der Straße gelebt hat, wird sie für vier Wochen im „Lindenhaus“, einer Inobhutnahme für Jugendliche, untergebracht. Von dort aus zieht sie mit 15 Jahren in eine eigene Wohnung, in der sie bis zu ihrem 18. Geburtstag im Rahmen einer Jugendhilfemaßnahme von einer Sozialarbeiterin betreut wird. Lisas schulischer Werdegang ist von Wechseln und Brüchen gekennzeichnet. Nach der Grundschulzeit besucht Lisa eine Hauptschule. Sie raucht und kifft in der Pause und stiftet ihre MitschülerInnen dazu an. Gemeinsam mit anderen legt Lisa es darauf an, Lehrer „fertigzumachen“, und prügelt sich ohne konkreten Anlass mit Jungen. In der fünften Klasse muss Lisa an einem Therapieprogramm mit dem Titel „Gewalt in Familien“ teilnehmen, in dem sehr intensiv über den sexuellen Missbrauch, den Lisa erlitten hat, gesprochen wird.60 Dadurch verpasst sie einen beträchtlichen Teil des Unterrichts in dieser Klassenstufe. Nach der sechsten Klasse wird Lisa der Hauptschule verwiesen. Sie besucht für kurze Zeit eine besondere Schulform61, wo sie ihr Verhalten fortsetzt. Daraufhin wird sie in eine weitere Hauptschule versetzt und von dort nach der achten Klasse beurlaubt. Lisa beginnt nacheinander mehrere berufsfördernder Maßnahmen, die sie abbricht, da sie den Anforderungen durch die körperli-
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Lisa spezifiziert hier nicht, wie auch schon bei der Auseinandersetzung um den sexuellen Missbrauch, welche Personen mit welchen Funktionen diese Adoption anstrebten. Sie redet allgemein von dem Heim oder benutzt Pronomen im Plural (z. B. „die“ oder „denen“), ohne deren Bezug zu benennen. Lisa bemerkt im Interview in diesem Zusammenhang, sie sehe ihrer Mutter nicht ähnlich und könne nicht zweifelsfrei sagen, dass ihre Mutter tatsächlich ihre biologische Mutter sei. Als positive Erfahrung erwähnt Lisa, dass ihr in diesem Therapieprogramm ihre Aussagen über den Täter geglaubt wurden. Lisa bezeichnet diese Schule als eine Sonderschule für schwer erziehbare Kinder.
chen Belastungen des Drogenkonsums und des nächtlichen Feierns nicht gewachsen ist. Lisa wird bei der Polizei als „Crash-Kid“ geführt, also eine, wie Lisa es definiert, die Autos aufbricht, sprayt und sich in Gangs bewegt. Als Jugendliche beschäftigt sie sich mit ihrer Clique mit S-Bahn-Surfen, womit sie aufhören, als einer ihrer Freunde dabei ums Leben kommt. Zudem fahren sie gelegentlich in Stadtteile von A-stadt, in denen sie auf rechtsradikale Cliquen treffen, um sich mit ihnen zu prügeln; Lisa nennt das „Nazis klatschen“. In der Folge wird sie häufig mit schweren Verletzungen im Krankenhaus behandelt. Bis heute trifft sich Lisa mit einer Clique an einer Halfpipe zum Skaten und zum Sprayen und stand deshalb auch schon mehrmals vor Gericht. Sie ist bis jetzt aber lediglich mit der Auflage bestraft worden, Sozialstunden abzuleisten. Mit etwa 17 Jahren wird Lisa von einem Bekannten und einem weiteren jungen Mann in dessen Wohnung vergewaltigt. Sie vergleicht diese Gewalterfahrung mit dem sexuellen Missbrauch in ihrer Kindheit und bezeichnet die Vergewaltigung als die „extremere“ Erfahrung. Mit ihrer Volljährigkeit beendet Lisa das Betreuungsverhältnis über das Jugendamt. Innerhalb kurzer Zeit verliert Lisa wegen Mietschulden ihr Appartement, in dem auf engem Raum ständig mehrere Freunde und Bekannte übernachtet hatten. Das Sozialamt hat die Zahlungen eingestellt, nachdem Lisa den Auflagen bezüglich der Arbeitssuche nicht nachgekommen war. Nach dem Verlust ihrer Wohnung lebt Lisa auf der Straße. Sie übernachtet im Park, bei Bekannten, bei Studenten in einem Wohnheim und in einer Notschlafstelle für wohnungslose Mädchen und Frauen. Ihren Lebensunterhalt finanziert sie durch Aktivitäten wie Diebstahl und Betrug. Im zunehmenden Maße konsumiert Lisa Ecstasy, Speed und verwandte aufputschende Drogen. Lisa lernt ihren neuen Freund kennen und wohnt eine Zeit lang bei ihm. Der Freund schlägt sie, weil sie sich weigert, ihm Geld für Heroin zu besorgen. Lisa trennt sich von ihm und verlässt die Wohnung. Zu diesem Zeitpunkt ist sie durch den exzessiven Drogenkonsum in sehr schlechter physischer und psychischer Verfassung. In dieser Situation bekommt Lisa von einem Bekannten eine Kamera geschenkt und beginnt wieder mit dem Fotografieren, womit sie sich seit ihrer Kindheit immer wieder beschäftigt hat. Sie fährt dazu ins benachbarte Z-stadt und lernt dort beim Sprayen einen jungen Mann kennen, der ihr eine Wohnung vermittelt. Auch ohne einen Mietvertrag unterschrieben zu haben, geht Lisa zum Zeitpunkt des Interviews davon aus, dass sie sechs Wochen später in ihrer eigenen Wohnung in Z-stadt leben werde. In letzter Zeit hat Lisa bei einem 13 Jahre älteren Freund namens Moritz übernachtet, wohin sie nun jedoch nicht mehr zurück will, weil Moritz sich ihr gegenüber übergriffig verhalten habe. Bis zum
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Einzug in die neue Wohnung hat Lisa vor, mit Freundinnen und Freunden in einem leerstehenden, aber noch möblierten Haus in Z-stadt zu leben. Zu ihrer Mutter hat Lisa weiterhin Kontakt. Das Verhältnis beschreibt sie heute, da die beiden nicht mehr zusammenwohnen, als entspannter. Nach wie vor jedoch bettelt Lisas berufstätige Mutter ihre wohnungslose Tochter um Geld für Haschisch an und gelegentlich kommt Lisa dieser Bitte auch nach. Lisas Berufswunsch ist Fotografin. Zurzeit des Interviews hat sie sich gerade mit einer Mappe bei einer Kunsthochschule in einer nahe gelegenen Stadt beworben, die jedes Jahr einen Prozentsatz an Personen ohne geeigneten Schulabschluss aufnimmt. Zuvor hatte sie sich bereits bei einer Zeitung für ein Fotografiepraktikum beworben, aber hierfür fehlt ihr die schulische Qualifikation. Lisa rechnet sich der HipHop-Szene zu. Sie macht Musik in einer Band, die sich gemeinsam einen Übungsraum gemietet hat, in Jugendzentren auftritt und dort auch Workshops gibt. Mit Musik ihr Geld zu verdienen, ist einer von Lisas Wünschen. In unregelmäßigen Abständen wird Lisa in verschiedenen bundesdeutschen Städten als Discjockey für eine Nacht eingestellt und verdient auch damit Geld. Lisa ist aber auch auf der pragmatischen Suche nach einem Job, mit dem sie ihren Lebensunterhalt bestreiten und ihre Hobbies finanzieren kann. In ihrer Zukunftswunschvorstellung lebt Lisa in London, arbeitet als selbstständige Fotografin, hat viel Geld zur Verfügung und feiert in so genannten Untergrunddiskos, die als Geheimtipp gehandelt werden. Fallbezogene Interpretation Das Interview beginnt mit der folgenden Eingangserzählung: „I: Ja, ähm: (.) wie gesagt, meine erste Frage ist eher weiter gefasst; und es geht darum, dass ich dich jetzt bitten möchte, mir von dir zu erzählen:, ähm wie dein Leben so war in den letzten Jahren, (.) und ähm, wies jetzt is und vor allem wies dir so dabei ging. Und kannst du anfangen, mit dem, was du (.) dir einfällt, was dir wichtig is, L: In den letzten Jahren:, ha- (.) also also mit fünfzehn bin ich von zu Hause ausgezogen, (.) weils halt mit meiner Mutter nich mehr geklappt hat, so und, (.) in den letzten drei Jahren ham wir ein gutes Verhältnis, früher überhaupt nich, (.) so wir ham uns fast schon die (.) gegenseitig die Fressen eingehauen, kann man schon fast sagen, (.) uh: dann bin ich ausgezogen, dann bin ich in betreuten, in sozial betreutes Wohnen gekommen, (.) und? (.) joh (.) dann hab ich da auch @Scheiße@ gebaut, so, dann bin ich mit achtzehn aus der Jugendhilfe rausgeschmissen worden, (.) was ich eben schon erzählt hab, (.) u:nd (.) ja, dann hab ich zuerst ne eigene Wohnung gehabt, auf der M-straße, etwa (.) zwei Jahre, (.) ja, ein oder zwei Jahre lang, dann
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bin ich da gekündigt worden, (.) wegen der Kackmiete halt, dass ich weil ich die auch nich bezahlen konnte, beziehungsweise das Sozialamt sich ja geweigert hat, das mir zu bezahlen, (.) und dann bin ich eigentlich auf die Straße gekommen, (1) äm ja, (.) dann mal hier, (.) mal da, geschlafen, so (.) u:nd, ja, was soll ich da noch erzähln, ja, is halt nich so schön auf der @Straße@ zu leben ne, also man pennt dann halt, also ich hab das zum Beispiel so gemacht, (.) dass ich so: ne Woche bei nem Freund geschlafen hab, weil bei dem n Zimmer leer is, (.) aber das is halt auch nich so prickelnd, weil der halt so n bisschen psychomäßig rüberkommt, find ich zumindest, (.) also ich kenn den jetz seit sechs Jahren, und (.) der is halt (.) jetz der is zweiunddreißig, also der is schon älter als ich so, (.) u:nd der hat halt irgendwelche Filme, keine Ahnung, irgendwie so, will was von mir, und er weiß, dass er nich an mich rankommt, und (.) macht dann irgendwie so Psychostress, so ja dann bin ich am Schluss dann auch nich mehr so oft da gewesen, dann hab ich halt hier im Home geschlafen? (1) I: [mmh, L: [u:nd dann hab ich irgendwann, (.) glaub paar Wochen später, oder so, hab ich dann auf der (.) O-straße, in dem Obdachlosen: (.) Heim oder Asyl, irgendwie man das auch immer nennt, n paar Tage später, (.) [Asyl (glaub ich) I: [Heim, L: und ähm (.), ja da hab ich von da aus von eigentlich ne Wohnung gekriegt, so, das heißt wirklich eigentlich, (.) aber dann hab ich halt (.) meinen damaligen Freund kennengelernt, (.) mit dem war ich vor Kurzem noch zusammen, (.) u:nd, ja dann isses mit mir @nur noch@ bergab gegangen, kann man nur noch @sagen@, also wir ham dann so (.) ähm (.) was man halt nimmt so ne, also ich war vorher schon so ne Speednase, kann man sagen, also ich hab echt, wenn Speed auf m Tisch lag, war ich so die erste, die da ((atmet laut durch die Nase ein)) das weggezogen hatte, u:nd (.) also ich war nie nüchtern mit dem, also kann man schon gar nich sagen, dass wir mal nüchtern waren, bis auf morgens früh so, (.) u:nd ja irgendwann fing das an, dass wir ähm (.) Drogen halt vertickt62 haben, ne, also diese (.) Groupies63, weiß nich, ob dir das was sagt; das sind so Schlaftabletten irgendwie, [an so I: [mmh L: Junkies, halt, also früher hatt ich, ich war noch nie drauf, also mit Heroin oder so hab ich jetzt nichts zu tun, aber so halt, (1) Junkies, oder irgendwas für Leute, die eigentlich ni- keine Ahnung, nich mehr klarkommen, oder so, die essen sich dann so n ganzen Riegel, so Leute die sich jetzt denken, hach davon pennt man dann. Aber da pennt man nich von; wirste halt aufgepuscht, und so, da wirste euphorisch, und n bisschen @komisch drauf@, (.) u:nd ja dann bin ich halt bergab gegangen mit mir, ne, (.) also vorher war ich noch ungefähr so, weiß ich jetz nich, normal halt, und irgendwann hab ich dann so irgendwie zehn, (1) elf Kilo abgenommen, hatt ich noch so vierzig Kilo auf (.) den Rippen und dann, (.) konnt ich fast @gar nichts mehr tragen@, u:nd dann, naja, hab ich halt war ich n halbes Jahr mit dem 62 63
Mit dem Ausdruck „Drogen verticken“ ist Drogen verkaufen gemeint. Eine Droge, die ich nicht kenne und die nach Lisas Angaben aufputschend wirkt, also wahrscheinlich eine chemische amphetaminhaltige Droge ist.
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zusammen, dann gíng das auch voll lange, so mit den Pillen, u:nd (.) u:nd (.) ja, (.) dann ging das halt bergab mit mir, (2) mmh, (.) aber jetzt schon wieder bergauf. @(.)@ Ähm ah, hab ich halt Schluss mit dem gemacht, (.) weil er mich halt auch geschlagen hat, irgendwann, weil ich dem keine Shore64 klar gemacht hab, weil ich wollt damit auch nichts zu tun haben, wollt ich dem keine Shore klar machen, (.) u:nd, (.) ja; (.) jetzt wüsst ich @auch nich@, was ich erzählen soll, also dann (.) bin ich halt da weg, (.) u:nd (.) ja jetzt wohn ich halt wieder bei diesem Psycho, (.) Typ da, (.) im Moment, (.) aber ich hab ja jetzt (.) ab Januar da ne Wohnung in Z-stadt, (1) hab da n Job, (.) und dann bin ich erst mal weg, (.) <<mit kindlicher Stimme> von der Straße,> (.) mmh, (1) °ansonsten gibt es nix mehr°, <@(.)@> kurz gefasst, grade (2) ja (.).“ (Int. 2)65
Lisas Erzählung setzt ein beim Alter von 15 Jahren, als sie bei ihrer Mutter auszieht. Als Grund nennt sie die massiven Auseinandersetzungen mit ihrer Mutter, nicht ohne auf die aktuelle Situation bezogen festzustellen, dass sie zum Zeitpunkt des Interviews schon seit mehreren Jahren ein harmonisches Verhältnis zueinander haben. In einer chronologischen Struktur erzählt Lisa zunächst von Stationen und Bezugspersonen ihres Lebens in den darauf folgenden Jahren bis zu dem Zeitpunkt, als sie die Beziehung mit ihrem letzten Freund beginnt. Mit den Worten „und dann isses mit mir nur noch bergab gegangen“ beendet sie diese chronikartige Aufzählung und erzählt von ihrem Drogenkonsum und ihrer daraus resultierenden zunehmenden Verelendung. Diese Erzählung schließt Lisa mit der Konklusion „dann ging das halt bergab mit mir“, die durch den ähnlichen Wortlaut an die Proposition anknüpft. Durch das Füllwort „halt“ wirkt die Formulierung angesichts der erzählten dramatischen Entwicklung eher lapidar und dadurch distanziert. Es folgt dann mit den Worten „aber jetzt schon wieder bergauf“ die Überleitung zur aktuellen Lebenssituation. Lisa hat sich von ihrem Freund getrennt und berichtet, sie werde in naher Zukunft eine Wohnung und einen Job haben und habe damit die Lebensphase auf der Straße beendet. In diesem letzten Teil der Eingangserzählung konstruiert Lisa den Standort, von dem aus sie das Interview führt. Das Leben auf der Straße, die Wohnungslosigkeit stellt sie als eine Lebensphase dar, die in sehr naher Zukunft abgeschlossen sein wird. Mit diesem Standort schafft Lisa sich einen sicheren Ort, von dem aus sie belastende biografische Erfahrungen erzählen kann. Indem sie krisenhafte Entwicklungen und existenzielle Belastungen einer vergangenen Lebensphase zugehörig macht, ermöglicht sich Lisa eine Distanzierung von
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„Shore“ ist ein Szenebegriff für Heroin. „I“ steht für Interviewerin, „L“ für Lisa.
diesen Erfahrungen und damit eine Entlastung, durch die diese Erfahrungen für sie erzählbar werden. Auch im weiteren Verlauf des Interviews vergewissert sich Lisa immer wieder dieses sicheren Ortes. Erzählungen von Gewalterfahrungen, sexuellen Übergriffen oder der Vernachlässigung durch ihre Mutter beendet sie durchgehend, indem sie bemerkt, dass es ihr aktuell gut ginge oder die Situation sich deutlich verbessert habe. Eine Distanzierung vom Leben auf der Straße findet sich bereits weiter vorne in der Eingangserzählung, als Lisas ihren Drogenkonsum anspricht. Obwohl es, wie Lisa wiederholt sagt, „bergab“ mit ihr ging, stellt sie sich als einer Personengruppe auf der Straße überlegen dar, nämlich den Junkies. Sobald Lisa den Begriff „Junkies“ ausgesprochen hat, distanziert sie sich von dieser Personengruppe, indem sie klarstellt, dass sie weder das für Junkies anscheinend typische Heroin konsumiere noch persönlichen Kontakt zu diesen Menschen habe. Ihre Überlegenheit zeigt sie auch in der Erzählung vom Drogenverkauf. Lisa stellt sich als kompetent im Drogenhandel dar, während sie an Menschen verkauft, die, anders als sie selbst, „nicht mehr klarkommen“. Diese Konstruktion einer Unterscheidung zwischen sich selbst und den Junkies relativiert ihre eigene Entwicklung „bergab“. Dadurch ist für sie trotz allem eine Unterscheidung möglich zwischen sich und der sozialen Gruppe, die ganz unten angekommen ist und nicht mehr klarkommt. Diese beiden Formen der Distanzierung von der aktuellen Lebenssituation und den sozialen Bezüge im Lebensort Straße haben in Lisas Lebenswelt eine stabilisierende Wirkung. Diese Möglichkeit der Stabilisierung ist sicherlich auch ein Grund dafür, dass Lisa in der Lage ist, ein relatives offenes und ausführliches Interview mit mir zu führen. Der Beginn der Wohnungslosigkeit Im folgenden Interviewausschnitt erzählt Lisa vom Beginn ihrer Wohnungslosigkeit. Zuvor hatte sie ihr Verhältnis zu der Sozialarbeiterin geschildert, die Lisa bis zur Volljährigkeit in den Jahren betreute, als sie in einem eigenen Appartement lebte. Lisa kommt mit der Betreuerin nicht zurecht und thematisiert das Ende der Betreuung. „L: Drei Jahre hat sies ausgehalten; (2) mmh, (1) I: Bis du volljährig warst, (1) L: ja, die wollte ja eigentlich immer, dass es ähm irgendwie länger läuft, weil sie halt gesagt hat, oh Gott, dat klappt niemals, und so, (.) aber ich hab das dann aus
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Trotz gemacht. °Ich hab gesagt° ich mach dat schon, kein Proble-, ich wusst dat doch selber, das geht hinten und vorne nich, aber aus Trotz macht man halt so (.) jetz der Alten mal zeigen, hier, ich brauch dich nich, und jeder wusste, klar braucht ich die, zu dem Zeitpunkt braucht ich die wirklich, weil (1) ich halt tierisch gefeiert hab, und schon auf der Kippe stand; also, wenn man morgens sich schon (.) das irgendwie n Ecstasy reinsnaked, is schon heftig; wenn man dann irgendwie bescheppert durch (den Tag) rennt is auch nich so toll; und (.) ja is klar, zu dem Zeitpunkt hätt ich sie schon gebrauchen können, aber halt wollt ich halt nicht, ( ) wozu se mich halt zwingen wollten, aber das hab ich ja nich gemacht, und dann hat se gesagt, okay, wenn de achtzehn bist, hörn wa auf, bis auf, ich hätte n An- Antrag stellen können für das Jugendamt halt, so dass ich doch noch in ner Betreuung bleiben kann und das wollt ich dann doch nich, und, (1) ja dann war das halt zu Ende ne, (.) mit achtzehn; mmh, dann ging das ganze Chaos @los;@ @(1)@ I: Dann ging das Chaos los? L: mm, weil ja klar, da hat ich ja die Wohnung auf der Mahlerstraße, dann vom Sozialamt noch viel Kohle gekriegt, (1) ja und dann wollten die mich halt in die JPH66 stecken, ich dann so, ihr könnt mich mal, mach ich nicht, war ich n Tag da, (.) und bin dann wieder nich hingegangen, haben die halt gesagt, nee wir zahlen keine Miete mehr, weil ich keine Sachen mach, was die wollten, (.) immerzu keine Miete gezahlt, Vermieterin, klopf klopf, (.) und zu dem Zeitpunkt haben irgendwie acht oder neun Leute, in nem Appartement, das war ungefähr so (1) so klein wie das hier, haben irgendwelche Freunde bei mir gepennt, acht Leute, und das war schon irgendwie stressig ehrlich @gesagt,@ I: [mm, L: [so zu der Zeit, (2) aber zumindest mja, °wann war denn das,° (.) vielleicht im März, oder April irgendwann bin ich dann halt doch gegangen; hab dann (.) gedacht, ja, (.) bist jetz auf der Straße, musst halt gucken, was de tust so; und ich naja jetz hab ich zwar meine Wohnung, aber das hat echt lange gedauert so, bis ich ne Wohnung hatte, und Bock hatte, überhaupt auf Wohnung; (.) weil wenn man auf Straße is, haste ja (.) keine Probleme, in dem Sinne, so dass (.) de unterwegs bist, du kannst eigentlich alles machen, was de willst; weil (.) die Bullen können dir nix, und wenn de in n Knast kommst, freuste dich so, geil, Frühstück, @Abendessen und so.@“ (Int. 2)67
Lisa wirkt darauf hin, dass die Jugendhilfemaßnahme mit dem 18. Geburtstag eingestellt wird. Retrospektiv jedoch teilt sie die Einschätzung der Betreuerin und anderer nicht näher benannter Personen, dass sie zum damaligen Zeitpunkt mit einer eigenständigen Lebensführung überfordert gewesen sei. Das Ende dieser Betreuung im eigenen Wohnraum mit ihrer Volljährigkeit setzt Lisa in ihrer Darstellung als das Ereignis, das dazu führte, dass sie ihr Appartement
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Mit „JPH“ ist eine psychiatrische Einrichtung in der Nähe von A-stadt gemeint. „L“ steht für Lisa, „I“ für Interviewerin.
verlassen musste und auf der Straße landete. Die Betreuung endet und das „Chaos“, wie sie es nennt, beginnt. Lisa erzählt von der Auseinandersetzung um die Weiterführung oder Beendigung der Betreuung aus der Perspektive einer Erwachsenen, die die Haltung der jüngeren Lisa aus einer kritischen Distanz darstellt. Diese Haltung konstruiert sie als eine Art Machtkampf mit der Betreuerin, in der für Lisa die Durchsetzung des Eigensinns und ihre Selbstbehauptung handlungsleitend waren. Dem gegenüber stellt sie ihre aktuelle Einschätzung der damaligen Situation, die besagt, dass sie zu diesem Zeitpunkt nicht in der Lage gewesen sei, ohne Unterstützung zurechtzukommen. Diese Perspektive versieht sie durch Gemeinplätze wie „und jeder wusste, klar braucht ich die“ mit der Autorität kollektiver Geltung, so dass sie als objektive und vernünftige Einschätzung erscheint. Lisa impliziert damit, dass sie einen Lern- und Veränderungsprozess durchlaufen hat seit ihrer Volljährigkeit und demonstriert, heute in der Lage zu sein, ihre Lebenssituation realistisch einzuschätzen. Ihr Lachen, als sie den Beginn des Chaos benennt, wirkt in diesem Rahmen eher wie ein amüsierter Rückblick auf eine jüngere, unerfahrene und eigensinnige Jugendliche aus der Perspektive einer Erwachsenen, die sich von dieser Haltung distanziert und nicht, was auch möglich wäre, wie der Auftakt zu einer Erzählung einer krisenhaften Entwicklung. Zuvor hatte Lisa bereits betont, ihre Lebenssituation habe „auf der Kippe“ gestanden, das Ausmaß des Feierns und der Drogenkonsum hätten bedrohliche Ausmaße entwickelt. Sie impliziert damit, dass sie auch während der Betreuung kein geordnetes Leben führte. Erweitert man den Blick über den o. a. Interviewausschnitt hinaus auf die gesamte Lebensgeschichte von Lisa, wird auch hier deutlich, dass diese nicht in geregelten oder normalbiografischen Verhältnissen verlief. Dennoch setzt Lisa die Volljährigkeit als Beginn des Chaos. Der Begriff Chaos, als Synonym für Durcheinander, Wirrwarr und Verwirrung, impliziert, dass es zuvor in Lisas Leben Ordnungen, geregelte Verhältnisse gab, die sich mit Beginn der Volljährigkeit auflösen. Dies zeigt sich auch in der Sprache, mit der Lisa dieses Chaos beschreibt. Ihr Erzählstil ändert sich. Lisa redet weniger in vollständigen Sätzen, sondern mehr in stichwortartiger bis hin zu comicartiger Weise. Dabei werden Situationen zum Teil in wörtlicher Rede inszeniert und Lisa wechselt unvermittelt die Zeiten zwischen Präsens und Perfekt. Den Moment, als sie die Wohnung verlässt, auf der Straße steht und sich bewusst macht, dass nun ein anderer Lebensabschnitt beginnt und sie sich neu orientieren muss, schildert Lisa detailliert. Sie erinnert sich nicht mehr an das Datum, sondern an die Erfahrung einer grundsätzlichen Umstellung. In wörtlicher Rede stellt Lisa den Moment dar, als sie sich mental auf die neue Situation einstellt. Durch diese Erzählform wird für die Zuhörende vor85
stellbar, wie Lisa auf der Straße steht und sich selbst die Situation vergegenwärtigt. Sie spricht sich selbst im Präsens an, indem sie zunächst die veränderte Situation formuliert: „bist jetz auf der Straße“ und sich darauf einen Ratschlag gibt: „musst halt gucken, was de tust“. In der Selbstansprache zeigt sich die Einsamkeit in diesem Moment, Lisa ist auf sich selbst zurückgeworfen. Sie formuliert die Anforderung der Situation, die darin besteht, auf ihre eigenen Ressourcen angewiesen zu sein, ohne auf fremde Hilfe zurückgreifen zu können. Durch das Präsens der wörtlichen Rede wird dieser Moment im Interview gegenwärtig und greifbar und stellt einen Höhepunkt ihrer Erzählung dar: der Endpunkt einer Entwicklung und gleichzeitig markanter Beginn einer neuen Lebensphase. In ihrer Darstellung ist keine Verzweiflung oder ein Hadern mit der Entwicklung, die ihr Leben genommen hat, erkennbar. Das Adverb „halt“ suggeriert vielmehr, dass es sich um eine Situation handelt, die zu bewältigen ist und lediglich pragmatische Lösungen erfordert. Dies mag erstaunen, wenn man bedenkt, dass ein Hadern und Verzweiflung bei einem Wohnungsverlust nicht ungewöhnlich wären. Im Kontext von Lisas Biografie allerdings ist die Herausforderung, ohne fremde Hilfe und trotz widriger Umstände existenziell bedrohliche Erfahrungen und Situationen zu bewältigen und zu meistern, eher Routine und bekanntes Terrain. So bedeuten der Wohnungsverlust und der Beginn des Lebens auf der Straße für Lisa einen Einschnitt in der räumlichen Dimension ihrer Lebenswelt. In Bezug auf die Praxen ihrer Alltagsbewältigung stellt der Wechsel auf die Straße eine Kontinuität und eine konsequente Weiterentwicklung in ihrer Lebenswelt dar: auf sich gestellt zu sein, ohne den engeren Bezug zu oder die Abhängigkeit von erwachsenen Autoritäten. Nach der Erzählung in wörtlicher Rede wechselt Lisa abrupt zu ihrer gegenwärtigen Lebenssituation. Sie stellt klar, dass sie aktuell eine Wohnung habe und schafft damit Distanz zum Erlebten: Sie ordnet die Zeit auf der Straße lebensgeschichtlich der Vergangenheit zu. Den Zeitraum vom Beginn der Wohnungslosigkeit bis heute beschreibt sie rückblickend als einen Entwicklungsprozess, in dem sie erst wieder eine Einstellung gewinnen musste, die sie zur Wohnungssuche motiviert. In dieser Darstellung ist der Grund für ihre Wohnungslosigkeit nicht, wie gemeinhin angenommen wird, der fehlende Zugang zu geeignetem Wohnraum. Lisa benennt vielmehr einen Widerwillen gegen das Leben in einer eigenen Wohnung. Es geht hier also nicht um fremdbestimmte Faktoren, sondern um ihre eigene Haltung. Der erste Schritt zur Beendigung ist also nicht der, sich eine Wohnung zu suchen, sondern eine Haltung zu entwickeln, die zu dieser Veränderung motiviert. 86
Lisa stellt fest, auf der Straße habe man keine Probleme „in dem Sinne“. Sie sieht sich befreit von den Problemen, die sie vor dem Wohnungsverlust belasteten. Es ist eine Freiheit von Belastungen der Vergangenheit, in der die Einsamkeit und das Fehlen tragfähiger sozialer Beziehungen auch eine positive Bedeutung im Sinne von Autonomie und Selbstbestimmung bekommen. Wie grundsätzlich die Unabhängigkeit in dieser Lebenswelt bestimmend ist und wie deutlich sie sich damit von der Mehrheitsgesellschaft abhebt, elaboriert Lisa am Beispiel der Polizei als im öffentlichen Leben präsenter und respektierter staatliche Autorität. Selbst die Macht der Polizei endet in Lisas Darstellung mit der Wohnungslosigkeit, weil das Sanktionsmittel, die angedrohte Strafe Gefängnis zur Belohnung umgedeutet wird – die herrschende Ordnung wird auf den Kopf gestellt. Indem Lisa eine selbstverständliche Voraussetzung gesellschaftlichen Lebens, den festen Wohnsitz, verlässt, ändern auch allgemeingültige Regeln und Gesetze ihre Wirksamkeit. Wohnungslosigkeit stellt Lisa hier nicht als einen Mangel dar, der erhebliche Einschränkungen und Probleme mit sich bringt, sondern als eine Art alternativen Lebensstil, der Unabhängigkeit von den Vorgaben der Mehrheitsgesellschaft mit sich bringt und Entscheidungsspielräume eröffnet. In dieser Darstellung zeigt sich zum einen, dass die alltäglichen Anforderungen, die mit dem Leben in einer Wohnung in sozialer wie materieller Hinsicht verbunden sind, für Lisa eine erhebliche Belastung darstellten. Was im Allgemeinen als unabdingbare Voraussetzung für ein gelingendes Leben angesehen wird, nämlich über privaten Rückzugsraum zu verfügen, deutet Lisa in ihrer Lebenswelt als einen negativen oder zumindest ambivalenten Aspekt, der mit belastenden Einschränkungen verbunden ist. Die Deutung der Wohnungslosigkeit als alternativer Lebensstil ermöglicht es Lisa, ihre Lebenswelt in normalisierender Form darzustellen. Der Beginn der Wohnungslosigkeit bezeichnet in dieser Darstellung den Beginn einer neuen Lebensphase, jedoch nicht die dramatische Konsequenz einer krisenhaften Entwicklung. Im weiteren Interview zieht sich diese Deutung der Wohnungslosigkeit nicht eindeutig durch. Lisa steht dem Leben auf der Straße vielmehr ambivalent gegenüber. Lebenswelt Straße: zwischen Freiheit und existenzieller Not Lisas Erzählungen vom Leben auf der Straße beinhalten unterschiedliche Bewertungen dieser Lebenswelt, die sie als attraktiv und abstoßend, als Freiheit und Beschränkung, als abenteuerlich und lebensbedrohlich darstellt. Anschaulich wird dies im folgenden Interviewausschnitt. 87
„I: Magst du noch was erzählen, zu deiner Zeit auf der Straße, wie das war, L: Uh war das krass; also am Anfang, muss ich auch dazu sagen, fand ich das schon interessant, so ne, weil ich kannt das nich, und hab mir das so einfach vorgestellt. <<singender Tonfall> ach, läufst mal hier hin, läufst mal da hin,> halligalli, aber das war ja gar nich so. Und dann ham wir halt (1) rumgeschnorrt am Bahnhof, (1) ham wa halt die Leute, < hee, haste mal fuffzig Cent?> so halt zum Telefonieren oder so; oder @aufs Klo gehen oder irgendwelche dummen@ Ausreden erfunden, und dann ham wa ähm (.) Taxifahrer gefragt, ob se nich irgendwie uns Geld geben können, also ich bin da immer hingegangen, öh, ham se mal fuffzig Cent? Und, oder irgendwelche Sachen verkauft, verscherbelt, oder geklaut, und das dann halt noch verscherbelt so; (.) und (.) halt irgendwelche Scheiße, und dann wa-, hab ich mich halt zugeknallt, so durch das Kiffen halt, (2) damit man das halt dann nicht mehr ganz so mitkriegt, jetz irgendwie so abends so (.) sich hinlegen kann und sagen kann, okay, das wars jetzt, der Tag is gelaufen; (1) das war ja schon stressig war scheißekalt, so das war (.) das war einfach nur kalt. @(.)@“ (Int. 2)68
Lisa betont zunächst, dass das Leben auf der Straße eine extreme Erfahrung gewesen sei, was sie mit dem Schreckensausruf „uh“ unterlegt. Diese Proposition relativiert sie jedoch im nächsten Satz. Zu Beginn ihrer Zeit auf der Straße und in Unkenntnis des Lebensalltags genießt Lisa die Aussicht auf ein problemloses und ungebundenes Leben, in dem sie tun kann, was ihr einfällt. Aus der distanzierten Perspektive des erzählenden Ichs berichtet Lisa über ihre Deutungen der Lebenssituation zum Zeitpunkt des Beginns der Wohnungslosigkeit und stellt dann klar, dass sich diese Deutungen rückblickend als falsch erwiesen hätten. Lisa erzählt vom Lebensalltag auf der Straße. Sie schildert keine räumlich und zeitlich konkreten Erlebnisse, sondern einen kollektiven Alltag in wiederkehrenden Handlungen. Bei der Sicherung ihres Lebensunterhaltes ist Lisa nicht nur Bittstellerin, sondern wendet bestimmte offensive Strategien an. Am Ende des Tages jedoch schränkt Lisa ihre Wahrnehmung durch Drogenkonsum so weit ein, dass sie trotz des Leidens an den Lebensumständen auf der Straße, wie beispielsweise der Kälte, zur Ruhe kommen kann. Der Interviewausschnitt wirkt wie eine Beschreibung des Tagesablaufes auf der Straße und gleichzeitig werden die verschiedenen Aspekte von Lisas Lebenswelt in der Entwicklung vom Positiven zum Negativen dargestellt. Nach der anfänglichen freudigen Erwartung eines zwanglosen Alltags mischen sich in die Beschreibung der Überlebenstechniken schon andere Töne. Die Anstrengung, sich den Lebensunterhalt zu sichern, wird deutlich, die Formulierungen und ihr Lachen beim Erzählen betonen aber auch die Freude und die positive 68
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„I“ steht für Interviewerin, „L“ für Lisa.
abenteuerliche Seite dabei. Dagegen treten beim dritten Teil, dem Abschluss des Tages, das existenzielle Leiden und die Not in den Vordergrund, die nur durch den Drogenkonsum zu ertragen sind. Ihre ambivalente Haltung gegenüber dem Leben auf der Straße thematisiert Lisa im folgenden Interviewausschnitt. Lisa hatte zuvor erzählt, dass sie das wohnungslose Leben, das Leben „auf der Platte“69 nicht mehr führen wolle. „L: Aber manchmal vermiss ich das jetz schon noch; I: mmh, L: ehrlich gesagt, so manchmal, so was wir früher (.) gemacht haben, das war schon cool. Aber (.) manche Sachen waren cool, das vermisst man das schon so. (.) Aber irgendwann. (.) Das is immer so n Hin und Her ne, wenn man so gerade auf dem Weg is, wieder wegzukommen, so da denkt man immer zurück, und denkt, oh das war da, und das war ja cool, und (1) vor allem für einen selber dann auch Scheiße, weil man kann ja ( ) ach (.) ich nehm doch mal wieder Pillen oder so, (1) dann geht das von vorne los. Deswegen will hier auch erst mal weg bleiben. (2) I: Und was war cool? L: Cool? (.) Ach wenn wa so nachts durch die Straßen gelaufen sind, und (.) Scheiße gebaut haben einfach; weil wir konnten ja eigentlich alles machen; geschnorrt haben, uns was gekauft haben, (.) ( ) drauf hatten ( ) schon kilometerweit weg so oder weiß ich nicht; am A-fluss gewesen, irgendwie halt so Kleinigkeiten. (3) Auch die Leute abgezogen, (.) manchmal @Freier@ @(.)@ manchmal is schon okay irgendwie. Nich cool, aber okay. (.) Dass wir überleben konnten.“ (Int. 2)70
Lisa wendet ein, dass sie das Leben auf der Straße zurzeit noch vermisse. Sie bezieht sich dabei auf Unternehmungen gemeinsam mit anderen, wobei sie jedoch weder die Personen noch die Aktivitäten näher benennt. Im Mittelpunkt steht vielmehr die Bewertung der Aktivitäten als „cool“, also als sehr positiv. Mit den Worten „aber irgendwann“ leitet sie dazu über, dass diese Bewertung, dieses coole Lebensgefühl nicht dauerhaft anhält. Mit „Hin und Her“ fasst Lisa ihre ambivalente Einstellung gegenüber dem Leben auf der Straße in ein räumliches Bild. Die Unschlüssigkeit, in welche Richtung der Weg zu gehen ist, drückt sich im Hin und Her aus. Die negativen Aspekte der Straße erscheinen als eng mit dem Drogenkonsum konnotiert: Wenn sich Lisa der Straßenszene zuwendet, beginnt sie auch wieder mit dem Pillenkonsum. Als positiv führt sie die zeitliche und räumliche Ungebundenheit und Möglichkeit zur Spontanität an. Auch die Fähigkeit zu überleben wird hier 69 70
Mit einer „Platte“ wird unter Wohnungslosen ein Schlafplatz im öffentlichen Raum bezeichnet, an dem sich eine oder mehrere Personen in der Regel für mehr als eine Nacht einrichten. „L“ steht für Lisa, „I“ für Interviewerin.
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benannt. Der tägliche Überlebenskampf ist in ihrer Darstellung nicht nur eine belastende existenzielle Herausforderung, sondern auch eine Möglichkeit, die eigenen Fähigkeiten einzusetzen und dabei Bestätigung und Erfolgserlebnisse zu erfahren und alltäglich abenteuerliche Situationen zu bewältigen. Lisa durchbricht an dieser Stelle zum ersten Mal im Interview ihre aktuelle, eindeutig negative Bewertung der vergangenen Lebensphase auf der Straße und eröffnet, dass diese Lebenswelt auch aus ihrer heutigen Perspektive attraktive Seiten hat, die sie in Erwägung ziehen lassen, dorthin zurückzukehren. Die Bedeutung, die das Leben auf der Straße für Lisa hat, vollzieht damit biografisch keine eindeutige Entwicklung von der Begeisterung für die Freiheit und Unabhängigkeit auf der Straße hin zur Realisierung des Elends, der Gefährdung und der Perspektivlosigkeit dieser Lebenswelt, die zu der Entscheidung führt, ihre Lebenssituation zu verändern. Vielmehr ist die Spannbreite an Aspekten, die diese Entwicklung umfasst, für Lisa bis heute virulent und wirkmächtig. Sie bewegt sich in diesem „Hin und Her“ zwischen Attraktivität und Bedrohlichkeit des Lebens auf der Straße. Lisas Entscheidung bezieht sich vor allem auf den mit dem Leben auf der Straße eng konnotierten exzessiven Drogenkonsum und seinen fast fatalen Auswirkungen. Die Attraktivität des Lebens auf der Straße fasst Lisa auf mein Nachfragen hin zusammen und die Aspekte von Freiheit und Ungebundenheit und die Fähigkeit und Möglichkeit, auf abenteuerliche und ungewöhnliche, eigensinnige Weise überleben zu können, werden in ihrer Erzählung deutlich. An anderer Stelle zieht Lisa eine Bilanz des Lebens auf der Straße. „Das fand ich schon krass alles so. @(Nich nochmal)@ auf keinen Fall mehr, (1) weil, (.) man hat ja auch nix zu tun so ne, man denkt dann auch immer, ha ich will leben, aber das is ja kein Leben eigentlich so auf der Straße. Das is ja eigentlich nur n Wegdröhnen und Hoffen, dass man den Tag überlebt. (.) Mmh, (1) bin ich froh, dat dat nich mehr so is.“ (Lisa, Int. 2)
Attraktivität und Abgründe, die Ambivalenz des Straßenlebens werden in diesem Abschnitt am Begriff „Leben“ kontrastiert. Die Einstellung „ha, ich will leben“ klingt wie ein trotziger Ausruf. Zu leben ist demzufolge unter anderen Umständen nicht so möglich, wie die Betreffende sich das vorstellt. Es geht dabei um ein selbstbestimmtes Leben, um die Freiheit von äußeren Beschränkungen und Vorgaben. „Aber das is ja kein Leben so auf der Straße“ ist ein Einwand, der konstatiert, dass das aktive Gestalten des Lebens nicht möglich sei an einem Lebensmittelpunkt, an dem selbst das pure Überleben gefährdet ist. „Weil man hat ja auch nix zu tun so“ bedeutet einerseits eine passive Freiheit, befreit von Zwängen wie einem strukturierten Tagesablauf und fremdbe90
stimmten Aufgaben. Nichts zu tun zu haben zeigt aber auch einen Mangel an im Sinne eines aktiven Freiheitsverständnisses, das eigene Leben zu gestalten, sinnstiftend zu handeln. Vom „Zombie“ zur Fotografin: weg von der Straße? Lisa erzählt im folgenden Interviewausschnitt von dem Wendepunkt, der die Veränderung zu ihrer aktuellen Lebenssituation herbeigeführt hat. Zuvor hatte sie von der Beziehung zu ihrem gewalttätigen Freund erzählt, in dessen Wohnung sie gelebt hatte und den sie nach einer Entwicklung in die zunehmende körperliche und psychische Verelendung verlässt. „L: Und ähm (.) ja wie ich halt da weg war, war ich halt auch so tierisch fertig, da musst ich erstmal gucken, boah jetzt musste wieder zunehmen, und halt von den Pillen da so, wieder zunehmen, und wie machste das, ich sah echt schon wie n Zombie aus; wusst ich echt nich mehr wo vorne und hinten is. Bis ich dann irgendwann mal, (.) von nem Kollegen hat mir ne Kamera geschenkt, so, also ich bin halt so (.) ne kleene Fotografin, sag ich immer, weil ich immer so (.) ganz viel fotografiere so, I: mmh, L: und dann bin ich halt irgendwie so durch Zufälle, also ich bin irgendwie nach Z-stadt ge- (.) gefahren, da an Halloween, hab irgendwo die dummen Leut @fotografiert@ so, ich hab das jetzt auch schon zur Kunsthalle geschickt; (.) also weil die nehmen da halt so fünf, also so ne ganze Hand voll, Leute, die keinen Abschluss haben. Wenn de gut bist, dann okay, wenn nich haste @Pech gehabt,@ dann musste es nächstes Jahr nochmal probieren. I: mmh, L: U:nd (.) ja, (1) und so kam das halt, dass ich dann in Z-stadt dann halt irgendwelche (.) Cafés abgeklappert hab, Zeitungen gekauft hab, dann mehr in Z-stadt war als in A-stadt so; fotografiert ( ) in Zeitungen geguckt so; (.) dann bin ich halt nach Lindenberg-West gefahren, mit Freunden, weil wir halt so (.) also ich spray halt ganz viel so, Grafitti, Rumschmiererei @(1)@ I: mm L: und ähm (.) in Lindenberg da sprayen halt auch superviele, und dann sind wir (.) bin ich durch Zufall an so nen Typen geraten, der halt n Vermieter da kannte, °und meinte° ha, klar, kann ich dir klar machen, (.) ha, am Anfang hab ich das natürlich nich geglaubt; das hört man immer, ha, ich mach dir ne Bude klar, kein Problem oder so, aber (.) (°scheint zu stimmen,°) is schon cool, (.) mmh.“ (Int. 2)71
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„L“ steht für Lisa, „I“ für Interviewerin.
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Der Interviewausschnitt beginnt mit einer Art Momentaufnahme, die sprachlich auffällige Parallelen aufweist zu der Stelle im Interview, als Lisa die Situation zu Beginn der Wohnungslosigkeit in Präsens und wörtlicher Rede lebendig werden lässt. Sie beschreibt nachdrücklich durch verstärkende Adjektive, Betonungen und Lautäußerungen den Ernst der Lage. Zunächst konstatiert sie, dass es ihr sehr schlecht ging. Daraus folgt die Notwendigkeit, sich neu zu orientieren („musst ich erstmal gucken“). Im folgenden Satzteil wechselt Lisa ins Präsens. Die Selbstansprache im stark fragmentierten Satzbau lässt die Anforderung, die sie an sich richtet ebenso gegenwärtig erscheinen wie die Ratlosigkeit, wie sie diese Aufgabe bewältigen soll. Sie wechselt danach wieder in eine Selbstbeschreibung aus der Außenperspektive und beschreibt sich als „Zombie“, also als ein Lebewesen zwischen Leben und Tod, als ein willenloser und energieschwacher Mensch. Nicht mehr zu wissen, wo „vorne und hinten“ ist, umschreibt Orientierungs- und Ziellosigkeit, einen Zustand der Verwirrung. Diese Momentaufnahme wird unterbrochen von dem Bericht, wie Lisa durch eine geschenkte Kamera wieder zum Fotografieren kam. Während dies auf den ersten Blick wie ein inhaltlicher Bruch erscheint, setzt Lisa die beiden Teile sprachlich in einen logischen Bezug zueinander: A dauerte an, bis B begann. Wie der Zustand der psychischen und physischen Verelendung durch das Geschenk einer Kamera beendet werden kann, erschließt sich der Zuhörenden nicht, weil dies nicht expliziert wird. Lisa erörtert diesen Zusammenhang auch im weiteren Interview nicht. Weder der Drogenkonsum, noch die dringend notwendige Gewichtszunahme oder die verwirrte Psyche werden im weiteren Abschnitt thematisiert. Es gibt keine Beschreibung der schrittweisen Veränderung ihrer Lebenssituation – wahrscheinlich deshalb, weil ein solcher Veränderungsprozess in Lisas Lebenswelt nicht stattgefunden hat. Es gibt keine Kohärenz in der Erzählung von der Problembeschreibung zur Problemlösung. Vielmehr wird das Problem beschrieben und ist im nächsten Moment der Vergangenheit zugeordnet und zwar mit einer solchen Konsequenz, dass es im Folgenden nicht mehr angesprochen wird. Auf die dramatische Zustandbeschreibung folgt der Bericht von vielfältigen Aktivitäten, die über das reine Überleben hinausgehen und sich im kulturellkünstlerischen Bereich bewegen. Auf die Selbstbezeichnung „Zombie“ folgt die „kleene Fotografin“, ein Selbstbild, das Kreativität und Sinnstiftung beinhaltet und das zudem einen positiven identitätsstiftenden roten Faden von Lisas Kindheit bis heute spinnt.72 Diesen Faden greift Lisa auf, als sie einen Fotoapparat 72
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Interessant ist in diesem Zusammenhang eine Information, die Lisa an einer anderen Stelle des Interviews gibt. Bereits als Kind hatte sich Lisa im Heim einen Fotoapparat gewünscht und dieser Wunsch wurde ihr auch erfüllt. Lisa gibt an, ihre Mutter habe ihr berichtet, Lisa habe bereits von klein auf gerne fotografiert und sie sei auch von ihrer Mutter darin unterstützt wor-
zur Verfügung hat. Aus dem teilnahmslosen Zombie wird die Fotografin, die sich aktiv mit ihrer Umwelt beschäftigt. Lisa erzählt von Zukunftsperspektiven, beruflich und in Bezug auf das Wohnen. Die Bewerbung an einer Kunsthochschule73 sticht dabei besonders hervor. Lisa zeigt sich informiert über das Bewerbungsverfahren. Auch im weiteren Interview thematisiert Lisa mehrfach, dass sie gerne professionell im Bereich der Fotografie arbeiten möchte. Das Fotografieren stellt damit nicht nur eine positive Kontinuität in ihrer Biografie dar, sondern ist auch sinnstiftend für gegenwärtige und auf die Zukunft gerichtete Lebensentwürfe. Sie berichtet unter anderem von Bemühungen um ein Fotopraktikum bei der Zeitung. Alle diese Bemühungen scheitern am fehlenden Schulabschluss. Auch andere berufliche Vorstellungen und Ziele sind bei Lisa im künstlerischen Bereich verortet. Im weiteren Interview erzählt Lisa von ihren Tätigkeiten als DJ, als Mitglied einer HipHop-Band und beim Sprayen. Lisa verknüpft diese Aktivitäten in ihrer Erzählung immer wieder mit beruflichen Perspektiven, also eines Tages mit der Musik oder der Fotografie den Lebensunterhalt zu sichern. Im Zusammenhang damit erscheinen ihr Zwänge, die sie bislang ablehnte, wie planendes Handeln, Tagestruktur, verbindliche Terminabsprachen und Schulbesuch, als sinnvoll, weil dienlich für ihre Ziele. Lisa bezieht sich in ihren Zukunftsentwürfen konkret auf ihre aktuellen Vorlieben, Fähigkeiten und Aktivitäten und entwickelt daraus ihre Wünsche, die damit eine lebensgeschichtliche Kohärenz aufweisen. Der Wunsch nach einem eigensinnigen alternativen, nämlich künstlerischen Lebensstil zeigt sich auch hier. Anders als bei der Erzählung über die Vorteile der Wohnungslosigkeit ist der Wunsch an dieser Stelle hingegen eingebettet in eine Orientierung, die Zugang sucht zu gesellschaftlich anerkannten Räumen. Lisa lässt ihre Fotos an der Kunsthochschule bewerten, um dort eine Ausbildung zu machen, die ihr das Fotografieren nach anerkannten professionellen Standards ermöglichen würde. Im Interview mit Lisa zeigt sich damit nicht nur die Orientierung auf die Normalisierung der aktuellen Lebenssituation. Es wird auch deutlich, dass Lisa ihre Wünsche im Kontext gesellschaftlich dominanter Vorgaben umsetzen will, um so Anerkennung im Sinne von Wertschätzung und materieller Sicherung zu erhalten.
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den. Damit stellt das Fotografieren und die Unterstützung dieser Aktivität durch die erwachsenen Autoritäten eine der raren positiven und fürsorglichen Erfahrungen mit ihrem sorgeberechtigten Umfeld dar, von denen Lisa erzählt. Dass Lisa die Welt der Hochschule nicht fremd ist, kann auch daran liegen, dass sie Kontakte zu Studierenden hat und durch diese sozialen Bezüge in der Vergangenheit auch zeitweise in einem Studentenwohnheim übernachten konnte.
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Im Ganzen ist bezeichnend für Lisas Zukunftsperspektiven, dass sie keine Entwürfe hat, die einen weitgehenden Bruch mit ihrer bisherigen Lebenswelt bedeuten und eher allgemein gehalten sind, wie bei vielen anderen Interviewten. Diese beiden Gegenhorizonte, das ziellose „Wegdröhnen“ auf der Straße mit allen oben bereits beschriebenen Auswirkungen einerseits und künstlerischkulturelle Aktivitäten andererseits, die eine sinn- und perspektivenstiftende Dimension haben, sind im Kontext des von Lisa so benannten „Hin und Her“ zwischen Straße und nicht näher spezifizierter Lebenswelt außerhalb der Straßenszene zu sehen und nicht als starre chronologische Abfolge zweier Orientierungen in Lisa Biografie mit einer Wende vom einen zum anderen. Wie die beiden Orientierungen sich übergangs- und zusammenhanglos in Lisas Erzählung ablösen, lediglich sprachlich verbunden durch die Formulierung „bis dann“ weist darauf hin, dass sie gleichzeitig mit jeweils unterschiedlicher Wirkmächtigkeit in Lisas Lebenswelt konstitutiv sind. Von Frauen und Mädels – Geschlechterkonstruktionen Im folgenden Interviewausschnitt hat Lisa zuvor von ihrem Verhältnis zu ihrer Mutter erzählt und geht dann dazu über, sich selbst zu beschreiben. „L: Ja, (.) aber sonst, (.) was gibts denn noch, (2) ich bin auf jeden Fall n schwerer Mensch @sagen wir mal so,@ I: schwerer, L: naja, na irgendwie so schwer mit mir umzugehn, also wenn man mich nich kennt, denken bestimmt manche boah, (.) wie is die denn drauf, (.) warum macht die das jetzt, und so, also ich bin dann halt nich so wirklich wie so andere Mädels manchmal so bin ich da schon anders; (.) ja, (.) normalerweise kommt man gar nich so mit Frauen klar, (.) also was heißt mit Frauen klar, aber mit Mädels halt so, die man einfach so, da gibts nich viele, also die ich sagen würd das sind Freundinnen, (1) ja das kommt halt (.) ich bin halt @(ich bin halt anders)@, ja, (2) Was willst du noch wissen? Frag mich aus, (2) I: Wie bist du anders als andere Mädels? L: ja, ich schmink mich jetzt nich, oder ach, jetzt im Moment hab ich auch nich die Haare jetz gekämmt und das is mir auch egal irgendwie, bin ich total cool, ich steh da auch nich vor dem Spiegel und muss mich da erst mal schick machen eigentlich, (.) aber ich bin da (.) nich so sehr, okay, jetz die Hose is n krasses Beispiel, das kommt jetzt vom Feiern, (.) aber so, ich trag halt so breite Klamotten, so HipHopStyle, sag ich jetz mal @so@, I: mmh,
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L: also breitere Hosen, keine enge Jeans immer, (.) nich irgendwie so tussimäßig, so was kann ich überhaupt nich leiden, (2) °kann ich nich verknusen°.“ (Int. 2)74
Lisa beschreibt sich situationsübergreifend als „schweren“ Menschen und spezifiziert dies auf meine Nachfrage. Sie vermutet, ihre Art und ihr Verhalten könnten auf ihr unbekannte Menschen befremdlich wirken. Dieses Andersartige bezieht Lisa im Folgenden auf ihre Geschlechtszugehörigkeit: Lisa ist anders als andere Mädchen. Daraus resultiert ihres Erachtens auch, dass sie mit gleichaltrigen Geschlechtsgenossinnen kaum Freundschaften pflegt. Lisa bleibt in der Beschreibung ihrer Andersartigkeit weitgehend unkonkret. Vielmehr wiederholt sie in verschiedenen Formulierungen, dass sie sich von anderen Mädchen unterscheidet, ohne zu benennen, worin der Unterschied liegt. Lisa unterscheidet zwischen Frauen einerseits und „Mädels“ andererseits. Mit den „Mädels“ kommt Lisa nicht zurecht. Durch den Ausdruck „Mädels“ grenzt sie die Altersgruppe ein, auf die sie sich bezieht. Zudem ist „Mädels“ der Ausdruck, mit dem sich die Mädchen und jungen Frauen auf der Straße, die ich kennengelernt habe, untereinander bezeichnen. Es liegt also nahe, dass Lisa sich auf die Mädchen und jungen Frauen aus ihrer Gleichaltrigengruppe in ihrer Lebenswelt bezieht. Lisa setzt dazu an, eine Erklärung für dieses Phänomen zu geben („ja das kommt halt“), bricht dies mit einer kurzen Pause jedoch ab. Danach gefragt, was denn an ihr anders sei, erklärt Lisa, dass sie sich nicht schminke und auch keine enge Kleidung trage, eben nicht „tussimäßig“ rumlaufe. Lisa konstruiert in der Beschreibung ihres äußeren Erscheinungsbildes eine Weiblichkeit als negativen Gegenhorizont, den sie als „tussimäßig“ vehement ablehnt. Das gezielte und aufwändige Anpassen an eine an bestimmte Äußerlichkeiten geknüpfte Weiblichkeit lehnt Lisa ab. Als „tussimäßig“ wird hier ein Konzept von Weiblichkeit bezeichnet, für das die Stilisierung des Körpers in einer sexualisierten Form konstitutiv ist mit dem Ziel, dadurch Anerkennung und Beachtung von anderen, vornehmlich von Männern, zu erhalten. Es ist ein Weiblichkeitskonzept, das wenig Eigenständigkeit zeigt, sondern sich den Blicken und Erwartungen anderer aussetzt und beugt. Es ist dadurch eher passiv als aktiv, mehr durch Abhängigkeit von anderen als durch Unabhängigkeit geprägt. Lisa setzt sich als dieser Form von Weiblichkeit überlegen, sie bleibt „cool“, also unberührt und unabhängig von diesen Erwartungen an sie als Frau. Sie kümmert sich nicht um die Bilder und Vorstellungen, die an ihre Geschlechtszugehörigkeit geknüpft sind, während sich die anderen Mädels die Mühe machen, ihnen zu entsprechen. 74
„L“ steht für Lisa, „I“ für Interviewerin.
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Lisa mischt sich ein in Szenen und Zusammenhänge, deren Zugehörigkeit und Verhaltensweisen eher männlich konnotiert bzw. auch männlich dominiert sind. S-Bahn-Surfen, Sprayen, Autos aufbrechen, Schlägereien mit rechtsradikalen Cliquen zeigen ein Risikoverhalten, das vor allem männlichen Jugendlichen zugeordnet wird. Lisa beschreibt ihre Auseinandersetzung in der HipHop-Szene am Ende des Interviews wie folgt: „L: <<energischer> Besonders bei so HipHop-Leuten ey,> da als Mädchen echt durchzukommen, is ganz schön, is schon hart ey; I: mmh, L: < ja, HipHop ey, das müssen Männer machen, und ihr Weiber, und so,> vier Freundinnen von mir hier aus A-stadt, E-Band heißen die, (.) die machen auch so ähm die rappen halt, HipHop, Iggy; (.) und ähm (.) hey wir mussten uns da echt schon durchboxen, manchmal so ey; weil die Typen dann immer < hä Mädels, das machen nur Typen, (.) pf Frauen haben da nix mit zu tun, ey> das sind bei HipHop halt so die Tussis, die stylen sich auf, lassen sich poppen, und bei denen halten die die Schnauze so; aber mittlerweile is das schon, oh Gott ey, nich mehr so extrem. (.) I: mmh, L: Aber (.) so wollen die Typen das halt haben ne; I: mmh, L: wir versuchen da halt irgendwie durch unser (.) dass wir Frauen dann anfangen zu rappen, und so dass die halt checken, dass es ((holt Luft)) (.) auch die Frauen gibt. I: mm, L: Emanzipieren den HipHop. @(.)@ Aber naja (1) mittlerweile finden das die Typen ja auch cool, die sagen das zwar nich, aber man merkt es die sind dann nämlich dann doch schon @mehr@ so am gucken, ah so was.“ (Int. 2)75
Lisa boxt sich gemeinsam mit anderen Frauen durch, auch gegen die Erwartungen und den Widerstand der Jungen und jungen Männer.76 Ihre engagierte Aktivität dabei vermittelt sie lebendig, indem sie in diesem Teil des Interviews emotional sehr engagiert redet, mit veränderter Stimmlage, Betonungen und Nachdruck durch das an das Satzende gesetzte „ey“. Die Meinung der Jungen und Männer inszeniert sie mit imitierender und überzeichnender Stimmlage in wörtlicher Rede. Bei der Beschreibung des im HipHop vorherrschenden Weiblichkeitsbildes findet sich die Bezeichnung „Tussi“ wieder. Den „Tussis“ schreibt Lisa mit eindrücklichen Formulierungen („lassen sich poppen“) eine Passivität zu, die bis zur Willenlosigkeit reicht. Dabei verschwinden die Mäd75 76
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„L“ steht für Lisa, „I“ für Interviewerin. Das Durchboxen ist ein Begriff, der eine sehr aktive Form der Auseinandersetzung mit körperlichem Einsatz bezeichnet.
chen und jungen Frauen als handelnde Subjekte fast vollständig. Diese passive Haltung schließt auch eine sexuelle Fremdbestimmung ein, der Verletzungen und Übergriffe immanent sind. Sie benennt dieses Weiblichkeitsbild explizit als das von den Jungen und Männern im HipHop bevorzugte. Auch an dieser Stelle unterscheidet Lisa zwischen Mädels und Frauen. Mit den Frauen konstruiert sie den positiven Gegenhorizont zu den Mädels (und Tussis) und entwirft damit ein Weiblichkeitskonzept, dem sie sich selbst zuordnet. Frauen behaupten sich durch eigene Aktivitäten und Kreativität und finden Anerkennung durch das, was sie eigenständig tun und schaffen. Lisa möchte, dass die Jungen „checken, dass es auch die Frauen gibt“. Diese Aussage ist so interpretierbar, dass sie demonstrieren möchte, dass der HipHop nicht nur männliches Terrain ist. Es kann im Kontext der elaborierten Gegenhorizonte auch so verstanden werden, dass es neben den Mädels und Tussis auch ein anderes Weiblichkeitskonzept gibt. Die Frauen beugen sich nicht den Erwartungen der „Typen“, sie mischen sich ein und fordern eine gleichberechtigte Teilhabe. Die Emanzipation des HipHop, wie Lisa es nennt, zielt auf die Akzeptanz durch die „Typen“, die Anerkennung von weiblichen Geschlechtsangehörigen als „Frauen“. Obwohl sie sich gegen den Widerstand der Jungen und Männer durchboxen muss, redet sie von ihnen nicht auf eine feindselige Weise. Lisa zeichnet am Ende des Interviewausschnitts schließlich ein versöhnliches Bild, in dem ihre emanzipatorischen Strategien erfolgreich sind. Die Ansichten der Jungen und Männer im HipHop verändern sich, die Leistungen der Frauen überzeugen sie. Lisa findet in ihren Augen eine respektvolle Anerkennung und Teilhabe, die die „Tussis“ durch ihr Verhalten nicht erlangen können. Lisa entwirft hier ein Bild, in dem das Geschlechterverhältnis durch Partnerschaftlichkeit und die Möglichkeit zu gegenseitiger Anerkennung geprägt ist. Ob diese Anerkennung gelingt, hängt in Lisas Darstellung letztendlich vom Verhalten der Mädchen und Frauen ab. Mit ihrer erfolgreichen Strategie, den HipHop zu emanzipieren, stellt Lisa sich als handlungsmächtig und durchsetzungsfähig im Geschlechterverhältnis, also gegenüber den Jungen und Männern dar. Das Ziel ist jedoch nicht, in einer Art Geschlechterkampf als Frau den Sieg davonzutragen, sondern zu einem partnerschaftlichen Verhältnis zu gelangen. Gewalttätiges Verhalten der Jungen und Männer wird nur indirekt thematisiert, die Schuld dafür schreibt Lisa der Passivität der Mädchen zu. Durch die Formulierung „lassen sich poppen“ (wie auch „halten die Schnauze“) distanziert sich Lisa in abwertender Form von den Mädchen, die sexuelle Übergriffe erleiden und von den Jungen und Männern dominiert werden. Mit dieser Distanzierung ermöglicht Lisa sich die Abgrenzung von einem verletzungsoffenen Weiblichkeitskonzept und schafft ein Geschlechterverhältnis, in dem männliche Gewalt keine Rolle spielt. 97
Die Notwendigkeit dieser Distanzierung wird verständlich vor dem Hintergrund, dass Lisa mehrfach Opfer physischer und sexueller Gewalt durch Jungen aus ihrer Peer Group wurde. Die partnerschaftliche, fast überlegene Art, in der sie über die Jungen und Männer im HipHop redet, soll meines Erachtens auch demonstrieren, dass diese erfahrenen Übergriffe keine nachhaltigen Auswirkungen auf sie und damit Macht über sie haben. Sich selbst als wehrhaft darzustellen, ist eine Möglichkeit, diese Erfahrungen zu bewältigen und die Angst zu vermeiden, solche Übergriffe erneut erleben zu müssen. 5.1.2 Nadine, 21 Jahre: „Und dann, irgendwie war auf einmal alles weg.“ Interviewsituation Das Interview mit der 20-jährigen Nadine findet im Tagestreff für Mädchen und junge Frauen „Treffpunkt“ in B-stadt, einer mittelgroßen Stadt, statt. Der Kontakt zu ihr kam, anders als bei den anderen Interviews, durch Vermittlung und Terminvereinbarung einer Mitarbeiterin der Einrichtung zustande. Obwohl wir uns zuvor noch nicht getroffen hatten, nimmt Nadine vom ersten Moment an Kontakt zu mir auf und wir kommen sofort ins Gespräch. Nadine redet lebendig und wirkt aufgeregt. Sie hat glatte Haare, die sie zu einem Pferdeschwanz gebunden hat. Sie ist unauffällig geschminkt und wirkt mit ihrer äußeren Erscheinung schick auf mich, obwohl sie eher sportlich mit Jeans und Markenpullover gekleidet ist. Nadine äußert klar, wo sie das Interview führen möchte, nämlich in den Räumen des „Treffpunkt“. Nachdem ich kurz mein Forschungsanliegen umrissen habe, fragt sie mich nach meinem beruflichen Werdegang und meiner Qualifikation und setzt sie in Bezug zu ihrem Plan, Erzieherin zu werden. Nadine fragt mich vorher, wie lange das Interview dauern wird. So lange, wie sie reden kann, ist meine Antwort, worauf sie erwidert, sie könne viel reden. Nach knapp zwei Stunden beenden wir das Interview. Wir werden während dieser Zeit viermal kurz unterbrochen, beispielsweise als die Mitarbeiterin etwas aus dem Raum holt oder Nadines Handy klingelt und sie kurz telefoniert. Für mich ist es erstaunlich, dass dies den Fluss des Interviews kaum stört und Nadine jedes Mal problemlos in der Lage und willig ist, wieder in die Erzählung einzusteigen. Ich stelle im Interview nur vergleichsweise wenige Fragen. Nadine erzählt zumeist selbstläufig, weit über die Fragestellung hinausgehend. Meine Fragen fungieren hier weniger als thematische Vorgaben, sondern eher als eine Sicherheit bietende Strukturierung der Gesprächssituation. Das episodische Erzählen 98
einzelner Erlebnisse zieht sich durch das gesamte Interview. Nadines Erzählweise wirkt auf mich als Zuhörerin weitgehend zusammenhanglos und verwirrend. Vor allem im ersten Teil des Interviews entsteht bei mir ein Gefühl der Orientierungslosigkeit. Ich bin nicht in der Lage, die Fragmente der Erzählungen räumlichen, sozialen oder zeitlichen Bezugspunkten in Nadines Lebenswelt zuzuordnen, zum Teil klingen sie für mich wie Berichte aus einer fremden und irrealen Welt. Die Bezugslosigkeit, Nadines Befremden und ihre Einsamkeit auf der Straße, die sie nahezu durchgehend thematisiert, sind für mich im Interview deutlich spürbar. Diese befremdliche Atmosphäre wird ausgeglichen durch Nadines zugewandtes Wesen und die Art, in der sie sehr offen und emotional nachvollziehbar über ihre Erfahrungen spricht. Biografische Informationen Nadine wächst gemeinsam mit ihrer Zwillingsschwester bei ihrer alleinerziehenden Mutter in V-stadt auf. Ihren leiblichen Vater erwähnt Nadine im Interview nicht, er scheint zu keiner Zeit mit seinen Kindern und deren Mutter zusammengelebt zu haben. Die ersten sechs Monate betreut die Mutter die Zwillinge alleine. Im Anschluss nimmt sie ihre Berufstätigkeit als Sekretärin wieder auf. Deshalb leben Nadine und ihre Schwester bis zu ihrem ersten Geburtstag bei der Großmutter, danach werden sie unter der Woche in einer Pflegefamilie untergebracht. Mit drei Jahren werden die Schwestern im Kindergarten und schließlich im Grundschulalter im Hort betreut, während ihre Mutter ihrer Berufstätigkeit nachgeht. Im Verlauf von Nadines späterer Kindheit heiratet die Mutter einen Druckereibesitzer, wobei der genaue Zeitpunkt unklar bleibt. Ihren Stiefvater bezeichnet Nadine als ihren Vater, sie nennt ihn auch „Papa“. Die Familie erweitert sich nun um einen Bruder und eine Schwester.77 Nach ihrer Kindheit in V-stadt, einer Großstadt mit über 500.000 EinwohnerInnen, zieht die Familie ins ländliche Umland nach A-dorf. Nadine gefällt es dort nicht, sie empfindet V-stadt weiterhin als ihre Heimat. Im familiären Zusammenleben gibt es viel Streit. Mit 13 Jahren fängt Nadine an, von zu Hause wegzulaufen. Gemeinsam mit einer Freundin lebt sie wiederholt für mehrere Tage, Wochen oder Monate auf der Straße und kehrt anschließend vorübergehend nach Hause zurück. Manchmal sperrt ihre Mutter die minderjährige Tochter die ganze Nacht aus, wenn diese später als zur vereinbarten Uhrzeit nach Hause kommt. 77
Erst bleibt zunächst unklar, ob es sich um Nadines Halb- oder Stiefgeschwister handelt.
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Mit 16 Jahren lebt Nadine für wenige Monate in einer Jugendwohngruppe. Sie verlässt diese jedoch, um wieder zu ihren Eltern zu ziehen, trotz der Warnung des Jugendamtes, ihr nach diesem Abbruch zukünftig keine Jugendhilfe mehr zu gewähren. Mit 17 Jahren zieht Nadine zu einer Freundin, die sie in der Wohngruppe kennengelernt hatte. Gemeinsam mit ihr geht Nadine regelmäßig in größerem Umfang in Supermärkten und Kaufhäusern klauen. Aufgrund der Diebstähle wird Nadine schließlich zu einer Bewährungsstrafe verurteilt. Ihre schulische Laufbahn beendet Nadine zunächst mit einem Abgangszeugnis der Hauptschule. Einen Abschluss hat sie aufgrund hoher Fehlzeiten nicht gemacht. Sie unternimmt in der Folge an mehreren Schulen den Versuch, ihren Schulbesuch fortzuführen, hält es dort aber immer nur wenige Wochen aus. Ab einem nicht benannten Zeitpunkt bis zum Sommer 2002 lebt Nadine mit ihrem Freund in B-stadt zusammen. Als dieser sich von ihr trennt, muss sie die gemeinsame Wohnung verlassen. Der Freund wirft Nadines Eigentum weg und ihr bleibt nichts als die Sachen, die sie am Körper trägt. Für einige Nächte kommt Nadine bei ihrer Zwillingsschwester unter, bis sie auch dort gehen muss. Zeitgleich sperrt das Sozialamt Nadine im August 2002 die Hilfe zum Lebensunterhalt, weil sie den Auflagen in Bezug auf die Arbeitssuche nicht nachgekommen ist. Nadine hatte sich an der Abendhauptschule angemeldet, entgegen der Vorgabe des Sozialamtes, in einem Arbeitsprojekt als Schneiderin zu arbeiten. Auch vom Jugendamt erhält sie keine Unterstützung. Ein Antrag auf Hilfe für junge Erwachsene, den sie eigenständig stellt, wird trotz mehrer Vorsprachen abschlägig beschieden. Nadine lebt in der Folge auf der Straße ohne eigene Einkünfte. Ihren Lebensunterhalt sichert sie in dieser Zeit vor allem durch Klauen. Nadine verschuldet sich in einer geschätzten Höhe von 8000 Euro, zum Teil verursacht durch den Verkauf von Handyverträgen, die auf ihren Namen abgeschlossen wurden. Sie übernachtet in Notschlafstellen, vor allem aber bei Menschen, die sie auf der Straße trifft, oder verbringt die Nächte auf privaten Partys. Tagsüber läuft sie durch die Stadt und durch Kaufhäuser und hält sich an Treffpunkten der Straßen- und Drogenszenen auf. Nadine konsumiert Alkohol und auf unkontrollierte Weise Tabletten. Sie erzählt von mehrfachen sexuellen Übergriffen im Drogenrausch, an die sie sich nur unklar erinnern kann. Zudem hat Nadine psychische Probleme. Sie sucht Hilfe in einer Psychiatrie, wird dort jedoch nicht aufgenommen. Nadine macht sich Sorgen über ihre körperliche Gesundheit. Sie klagt über Unwohlsein, Kopfschmerzen, ständige Müdigkeit und Kreislaufprobleme und ist deshalb in ärztlicher Behandlung. 100
Mehrere Monate nach der Streichung der Sozialhilfe revidiert das Sozialamt seine Entscheidung und stimmt Nadines Besuch der Abendhauptschule zu. Die Gründe hierfür benennt Nadine nicht. Nadine beginnt im November wieder mit dem Schulbesuch und hat vor, drei Monaten nach dem Interview ihren Abschluss zu machen, um dann eine Ausbildung, bevorzugt als Erzieherin, zu beginnen. Nadine lebt zurzeit in einer Notunterkunft für Frauen. Seit drei Monaten hat sie einen neuen Freund, der jünger ist als sie und den sie nicht mit in die Notunterkunft bringen darf. Da sich die beiden auch nicht bei ihm aufhalten können, treffen sie sich ausschließlich im öffentlichen Raum. Für die Zukunft wünscht Nadine sich, ein „normales Leben“ zu führen. Nach der Schule möchte sie B-stadt verlassen, um die Erinnerungen an ihre Zeit in der Straßenszene als Erwachsene hinter sich zu lassen. Fallbezogene Interpretation Ausschluss und Kontrollverlust durch die Wohnungslosigkeit Wie Nadine die Wohnungslosigkeit erfährt, lässt sich sehr gut anhand der Eingangserzählung rekonstruieren. Ich werde im Folgenden einen Teil dieser Eingangserzählung in drei Abschnitten vorstellen und analysieren. „I: Ja; meine (.) Frage, am Anfang is, ähm dass ich dich bitten möchte, mir zu erzählen, wie (.) dein Leben war, in den letzten Jahren, °in den letzten paar Jahren,° ähm wies jetzt is, und wies dir damit geht. (.) Und ähm ja; du kannst einfach damit anfangen, was dir einfällt. (2) N: Al:so das war so, also erstmal war ich mit meinem Freund, (1) dann hab ich mich von dem getrennt, also ham wir uns getrennt, dann war ich bei meiner Schwester, dann hat die mich auch rausgeschmissen, (1) und dann (.) war ich halt, bin ich in den Rastraum gegangen, das is hier für Obdachlose, (.) I: m[mh, N: [und die hätten mich dann halt nur in so ner Pennerunterkunft unterbringen können, und da hat die auch gemeint da sind nur Männer drinne, und die Penner, das sind so richtige Alkoholiker und so, (.) und da hat die Frau auch gemeint, das is nix für mich; dann hat die gesagt ich soll zu Backyard gehen, (.) d- Backyard? Kennen sie des? (.) I: ((schüttelt den Kopf)) N: ((holt kurz Luft)) Äm das is so da für Kinder die auf der Straße leben, (.) aber die können halt nur ne Übernachtung und Essen so tagsüber ham sie keine ( ) auf; dass die da bleiben können oder so; (.) I: mm
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N: Mmja (.) dann war ich da, (3) also davor war auch glaub ich immer bei irgendwelchen Freunden, dann war ich im Park, (.) Liebelpark, (.) kennen sie des? (.) I: ((leichtes Kopfschütteln)) N: Das is so n Drogenpark, aber (.) ich kauf nich die Drogen da, weil ich hat da keine Wohnung und so, und ich war den ganzen Tag draußen, (2) und dann bin ich halt dahin gegangen; weil ich nicht wusste was ich machen sollte; und dann hab ich halt auch so Leute kennengelernt, (.) mit Drogen alles, und so, (1) °ich weiß nich,° (5) ((beugt sich vor zum Aufnahmegerät und schaut die Interviewerin an)) I: Was? N: Können wir mal Pause machen, (.) geht des? I: Ja:, wa[rum, N: [Ich weiß nich, ob ich des richtig erzähl, @(1)@ I: Du erzählst das super, N: @(1)@ @Ja?@ I: ja, N: Oh je, das is alles so komisch irgendwie; außerdem is das schon n bisschen lange her; (1) da im Sommer war des, (2) I: mmh, (1) N: Mm (1) ja, dann hab ich halt die Leute kennengelernt, (.) un:d (2) ich weiß auch nich, (.) mir sind auch schlimme Sachen passiert, (.) I: aha, N: (°nich so gefallen,°) I: mmh, (3) N: Soll ich das auch erzählen? (.) I: Gerne, N: Ja? I: Mmh.“ (Int. 4)78
Nadine beginnt auf meine Erzählaufforderung hin das Interview mit dem Versuch, in chronologischer Reihung über ihr Leben seit Beginn der Wohnungslosigkeit zu berichten. Die Phase der Wohnungslosigkeit beginnt für Nadine, als sie nach der Trennung von ihrem Freund die gemeinsame Wohnung verlassen muss. Sie nennt hierfür kein Datum. Die Aufzählung der Orte, an denen sie in der Folge übernachtet und sich aufgehalten hat, unterbricht Nadine nach kurzer Zeit und reflektiert nun die Interviewsituation. Sie äußert den Wunsch, das Interview zu unterbrechen und benennt als Grund ihre Unsicherheit darüber, wie man in einem Interview „richtig“ erzählt. Meine Bestätigung als Interviewerin, dass sie alles richtig macht, nimmt Nadine mit einem Lachen auf und fordert mich durch eine Nachfrage auf, diese Aussage nochmals zu bestätigen. Im Folgenden erklärt Nadine, worin der Grund für ihre Unsicherheit liegt. Sie bezeichnet ihre Erfahrungen als „komisch“ im Sinne von merkwürdig, also 78
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„N“ steht für Nadine, „I“ für Interviewerin.
außerhalb des Normalen liegend, damit schwer zu verstehen und einer dritten Person zu beschreiben. Zudem erscheint ihr der vergangene Sommer,79 in dem sich die zu erzählenden Erlebnisse ereigneten, so lange her, dass es ihr schwer fällt, sich zu erinnern. Das Kennenlernen der nicht näher beschriebenen „Leute“, die Drogen konsumieren, erwähnt sie nun wieder und wie schon zuvor gerät sie dabei ins Stocken. An dieser Stelle benennt sie den Grund für dieses Innehalten, nämlich dass ihr „schlimme Sachen“ passiert seien, und fragt nun explizit nach dem Einverständnis der Interviewerin, diese Erfahrungen im Rahmen dieses Interviews erzählen zu dürfen. Diese Erzählerlaubnis, die sie sich nochmals bestätigen lässt, beendet diesen Interviewabschnitt, der im Ganzen wie eine Einleitung zu dem wirkt, was Nadine eigentlich zu erzählen hat. Der Beginn des Interviews erweckt den Eindruck, als habe Nadine eine Vorstellung von einer einem Interview angemessenen Erzählweise, in der in chronologischer Reihenfolge ein biografischer Ausschnitt in kohärenter Form dargestellt wird. Dieses Vorhaben gelingt ihr nicht. Dies liegt sicherlich auch daran, dass Nadine sich unsicher fühlt in der ungewohnten Gesprächssituation eines Interviews und sich zunächst die Sicherheit und das Vertrauen verschafft, die sie mit mir als unbekanntem Gegenüber benötigt. Vor allem jedoch stolpert sie darüber, dass die Erfahrungen in ihrer Lebenswelt auf der Straße nicht in einer kohärenten Erzählweise mitteilbar sind. Nadine nimmt die Erlaubnis der Interviewerin zum Erzählen an und beginnt, unmittelbar von den zuvor angedeuteten unangenehmen Erfahrungen zu sprechen. „Okay, also dann: war ich bei so nem Junge, der is erst siebzehn aber, ((räuspert sich kurz)) und ähm (.) der ( ) hat immer Hasch gekauft oder so; der war schon mit fuffzehn Ja- Jahren acht mal im Gefängnis und so, (.) und dann bin ich mit dem zu dem nach Hause gegangen, und da waren die Pillen, die hat er mir gegeben, (.) und der hat gedacht, ich nimm die nicht; das waren so grüne; ich weiß nich, das sind so, wie so Psychopharmaka, oder was, glaub ich; ((holt tief Luft)) un:d dann hat der gedacht, ich nimm die nicht, und so, und ich hats so voll eilig irgendwie, ich weiß auch nich, ich musst irgendwo hingehn; dann hat (.) der irgendwie mich so geärgert, und so, und dann hab ich gemeint, denkst du, ich nimm die nich, und dann hab ich die genommen, (.) und dann auf einmal dann hab ich so Angst gehabt dass mir was passiert, (.) dann wollt ich das wieder raus machen, das ging aber dann nicht, ((holt Luft)) und dann wollt ich ins Krankenhaus gehen, das hab ich dann, hat der Typ gemeint, nee ich geh nich mit dir, und so, und allein wollt ich dann auch nich gehen, weil sonst denken die Leut noch, ich bin bekloppt warum ich so Tabletten nehm; ((holt Luft)) und ((räuspert sich)) dann war ich so drei Tage lang, ich war 79
Das Interview findet im Januar statt.
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so müde gewesen, mir gings total schlecht, dann waren da so irgendwelche Freunde, das waren so Ausländer,die haben die ganze Zeit da (.) rumgeraucht, also gekifft und so (.) und dann hab ich auch, ich bin mal kurz wach gewesen, und dann bin ich wieder eingeschlafen; (.) dann war ich wieder wach, und dann bin ich wieder eingeschlafen; das war ganz komisch; (.) das ging mir bestimmt so drei Tage lang so. (.)“ (Nadine, Int. 4)
Die Erzählung beginnt ohne räumliche oder zeitliche Kontextualisierung. Ein Junge ohne Namen wird eingeführt. Nadine erwähnt sein minderjähriges Alter und seine außergewöhnliche Biografie mit Drogenkonsum und einer Vielzahl von Gefängnisaufenthalten. Das Geschehen beginnt, als Nadine den Jungen in seine Wohnung begleitet. Dort erhält sie von ihm „Pillen“, deren Inhaltsstoffe und Wirkung Nadine nicht kennt, sie kann sie lediglich anhand ihrer Farbe beschreiben. In der Folge erzählt Nadine von dem Entscheidungsprozess um die Frage, ob sie diese Tabletten einnehmen soll. Nadine schluckt die Pillen, wie sie sagt, als spontane Reaktion auf das Verhalten des Jungen, das sie verärgert, und um ihm zu beweisen, dass sie sich traut, diese unbekannten Drogen zu sich zu nehmen. Unmittelbar danach möchte sie aus Angst vor den Folgen diese Handlung rückgängig machen und versucht, die Pillen zu erbrechen und den Jungen zu überreden, sie ins Krankenhaus zu begleiten. Sie erhält keine Unterstützung in der krisenhaften Situation und bleibt während der drei Tage, die der Drogenrausch mit seinen unangenehmen Folgen anhält, auf sich selbst gestellt. Nadine hat nur noch unklare Erinnerungen an diese Zeit. Nadine erzählt nicht aus Perspektive einer retrospektiven Außensicht, sondern reinszeniert die damalige Situation, in der ihre emotionale Beteiligung auch in den parasprachlichen Ausdrücken, wie dem wiederholten tiefen Luftholen oder vermehrten Betonungen, deutlich wird. Die Informationen über das Geschehene sind lückenhaft. Dies wird deutlich, wenn man versucht nachzuvollziehen, was genau passiert ist. Der logische Bezug der einzelnen Sätze zueinander bleibt unklar. Nadine ergänzt ihre Aussagen vielfach durch Füllwörter: „irgendwie“, „oder was“ oder „glaub ich“. Ihre Sätze bleiben teils unvollständig. Durch die erzählerische Dramatik sowie die unvollständigen Informationen und Zusammenhänge ergeben der Inhalt und die Form der Erzählung ein kohärentes Bild, paradoxerweise gerade durch die Irritation und Verwirrung, die dies bei den Zuhörenden hervorruft. Nadine erzählt von einer Dynamik, die sie retrospektiv nicht mehr rekonstruieren geschweige denn verstehen kann. Die Einnahme der Pillen erfolgt, ohne dass Nadine versucht, die Folgen ihres Handelns zu antizipieren. Sie gerät in eine Situation, die durch einen mehrere Tage andauernden Kontrollverlust geprägt ist.
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Der folgende Interviewausschnitt schließt unmittelbar an den zuletzt zitierten an. Nadine erzählt nun ohne erklärenden Übergang von einer weiteren vergleichbaren Erfahrung. „Mja, dann einmal auch (.) war ich mit so nem Jungen, (.) und da hab ich so zwei Flaschen Wodka, glaub ich getrunken, weil die haben so ne Feier gemacht, (.) das war auch nachts, weil ich wusst nicht wo ich hingehn sollte, (.) und dann sind bin ich halt mit jemand auf so ne Party gegangen; (.) und dann hat der gesagt ähm (.) dann ham wir das halt getrunken, dann sind wir noch zu dem gegangen, wollten wir CDs hören:, und meine Schwester die war aber bei dieser Party; meine Zwillingsschwester; (.) un:d (.) dann sind wir noch an die Tankstelle gegangen, ham wir da noch (.) was Alk- zu trinken geholt, dann hab ich das ah hat der gemeint, trink das noch, und so, und dann hab ich das noch getrunken, (.) und dann irgendwie hab ich was mit dem gemacht, hinterher, (.) aber das wollt ich auch so, irgendwie; aber dann, (.) sind wir raus gegangen, und dann hat der, wusst ich gar nich mehr, was passiert is; (.) und dann hat der irgendwas gemacht, am nächsten Morgen, ham die erzählt, dass ich dann gesagt hätt dass ich geweint habe, (.) und so, und dass ich ähm (.) ach wusst ich auch nich; ich hab so geweint, und, mir gings ganz komisch; (.) und dann hat der am nächsten Morgen noch zu mir gesagt, dass ich zu dem gesagt hätte, dass ich n Kind von dem haben will, und so, und draußen irgendwo waren wir in irgend so ner Kirche, oder so, dann hat der da was mit mir gemacht, und, aber davon wusst ich gar nichts mehr, der hat mir das nur erzählt; und (.) ich weiß nich; (.) das war auch so komisch für mich; (.) wo ich dann auch draußen war, und so, und dann is irgendwie, immer sind so schlimme Sachen passiert, (.) weil so was hatte ich ja vorher gar nich; dass ich jetzt zum Beispiel zu irgend jemand hingeh, und dann ((holt kurz Luft)) jetzt Alkohol trinken, und dann mit irgend jemand anderem was machen, oder so, das war so komisch für mich dann. (.)“ (Nadine, Int. 4)
Auch hier erzählt Nadine von Kontrollverlust, in diesem Fall durch übermäßigen Alkoholkonsum. In diesem Ausschnitt spielt ein nicht näher beschriebener Junge eine wichtige Rolle. Nadines Erzählung ist in diesem Abschnitt derart inkohärent in Bezug auf den Handlungszusammenhang, den Ablauf der Ereignisse, die Orte und Personen, dass es nicht möglich ist, an dieser Stelle den Inhalt detailliert wiederzugeben. So benutzt sie beispielsweise an vielen Stellen Personalpronomen, ohne dass deren Bezug klar wird. Deutlich wird, dass Nadine infolge des Alkoholrausches große Schwierigkeiten hat, sich an die Erlebnisse in der betreffenden Nacht zu erinnern. Der betreffende Junge erzählt ihr jedoch am nächsten Tag, was in dieser Zeit geschehen ist und behauptet, sie hätten miteinander geschlafen. Nadine schließt diese Erzählung ab mit einer Konklusion, die sich über diese Erfahrung hinausgehend auf ihre Zeit auf der Straße bezieht: „wo ich dann so draußen war.“ Unangenehme und schlechte Erfahrungen haben eine Regel105
mäßigkeit in dieser Lebenswelt. Sie setzt diese Erfahrungen in einen kausalen Bezug zu ihrem eigenen Handeln. Nicht nur die äußeren Umstände in ihrer räumlichen, zeitlichen und sozialen Dimension sind Nadine fremd auf der Straße. Auch in ihren eigenen Verhaltensweisen erkennt sie sich nicht wieder, sie ist befremdet von sich selbst. Nadine benutzt hier, wie auch an anderen Stellen des Interviews, den Begriff „komisch“ zur Beschreibung ihres Befindens. Mit „komisch“ bezeichnet sie ein Gefühl, das für sie in ihrer Lebenswelt auf der Straße von signifikanter Präsenz und Bedeutung und gleichzeitig unerklärlich und also nicht explizierbar ist. Deutlich wird diese Befremdung von sich selbst am Beispiel des Drogenkonsums. Obwohl Nadine Drogen und Alkohol konsumiert, fühlt sie sich nicht der Drogenszene zugehörig.80 Sie stellt ihren Drogenkonsum als etwas dar, das eigentlich nicht zu ihr gehört, sondern als etwas, das ihr in der fremden Lebenswelt auf der Straße passiert. Sie nimmt die Pillen, weil sie provoziert wird, trinkt Wodka, weil sie auf einer Party ist, und trinkt anschließend noch mehr, weil der Junge sie dazu auffordert. In Nadines Konstruktion zweier Identitäten, die sich unterscheiden in die Person, die sie früher war und die sie eigentlich ist einerseits, und die Person, die durch die äußeren Umstände der Wohnungslosigkeit „komisch“ geworden ist andererseits, bleibt der Drogenkonsum lediglich lebensweltimmanentes Verhalten, das mit ihrer früheren, eigentlichen Identität nichts zu tun hat. Offensichtlich wird dabei Nadines Einsamkeit. Obwohl sie sich in sozialen Zusammenhängen wie auf Partys befindet oder sich gemeinsam mit anderen in der Wohnung von Bekannten aufhält, ist das Gefühl der Fremdheit den anderen Gleichaltrigen und auch sich selbst gegenüber in ihrer Lebenswelt dominant. Im weiteren Interview erzählt Nadine von ihren Erfahrungen mit Sozialund Jugendamt in der Notsituation. „N: dann hab ich auch den ganzen Tag nur geraucht, und so, (.) weil ich wusst eh nicht was ich machen sollte, dann musst ich Schule machen; (1) Abendhauptschule hab ich da gemacht; und ähm (.) dann hat das Sozialamt ja gesagt dass sie meine Hilfe abbrechen, weil die Abendschule nicht bezahlen, (.) dann hab ich beim Jugendamt n Antrag, (1) mm also so (2) beantragt, I: mmh, N: Jugendhilfe, (1) und dann ham die ja gesagt, ähm (.) hat der Mann zwei Monate irgendwie gewartet, und dann hinterher hat bei dieser einen Frau gesagt, dass ich nich ehrlich zu ihm gewesen wär; und ich hatte dem alles erzählt; (.) und deswegen 80
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Die Grenzziehung zwischen selbstbestimmtem und abhängigem Konsumverhalten oder die Unterscheidung zwischen richtigen Drogen (wie Heroin) und Partydrogen, die andere Interviewte herstellen (vgl. Lisa, Kapitel 5.1.1 oder Lele, Kapitel 5.1.3), um sich von der Peer Group auf der Straße zu distanzieren und positiv abzuheben, findet sich bei Nadine nicht.
ham die gesagt, die wissen nich was ich will, deswegen geben die mir keine Hilfe und so; (1) und das war auch, da hat ich zwei oder drei Monate gar nichts gehabt und so, (1) ich hatte gar nix zu essen, und so, nix zu trinken, gar kein Geld, von niemanden; (.) keine Wohnung,(4) ja (.) das wo ich das irgendwie im Moment sehe, das kam mir alles vor wie ein Alptraum; (.) I: mmh; N: weil ich alles auf einmal verloren hab, irgendwie; (.) und gar keiner hat mir geholfen, so, dass is jetzt zum Beispiel; das geht doch nich, dass man einfach irgendjemanden auf (.) in Deutschland auf der Straße sitzen lässt; das geht ja gar nicht.“ (Int. 4)81
Nadine besorgt sich einen Platz in der Abendhauptschule, woraufhin das Sozialamt sämtliche Leistungen einstellt, da sie einen Schulbesuch nicht finanzieren wollen. In der Folge stellt sie einen Antrag auf Jugendhilfe beim Jugendamt, der nach einer Bearbeitungszeit von zwei Monaten abschlägig beschieden wird. Begründet wird dies mit einem Fehlverhalten von Nadine, das sie bestreitet. Sie erhält über mehrere Monate keinerlei finanzielle Unterstützung. Nadine erzählt von einem umfassenden schockartigen Verlust. Zunächst verliert sie ihre Wohnung und ihr Eigentum infolge der Trennung von ihrem damaligen Freund. Als eine unwirkliche und unfassbar schreckliche Erfahrung (sie spricht von einem „Alptraum“) erlebt Nadine die Tatsache, dass sie auch von behördlicher Seite in dieser existenziellen Notlage keine Unterstützung erhält. Ihre privaten sozialen Bezüge sind zerbrochen, ihr Freund hat sie rausgeschmissen und auch ihre Schwester setzt sie nach kurzer Zeit wieder auf die Straße. Die Weigerung der öffentlichen Institutionen, Hilfe zu leisten, stellt einen zusätzlichen und für Nadine recht grundsätzlichen Verlust von Zugehörigkeit in einem übergeordneten gesellschaftlichen Kontext dar. Durch die Erfahrungen während der Wohnungslosigkeit verlieren bisherige selbstverständliche Annahmen und Sicherheiten ihre Gültigkeit. Den Verlust von Normalität erfährt Nadine nachdrücklich durch den Verlust von Zugehörigkeit sowie von unhinterfragten Routinen und Sicherheiten der bisherigen Lebenswelt. Im Zusammenhang mit dieser Erfahrung des umfassenden Verlusts wird auch Nadines oben beschriebene Erzählweise ohne räumliche, zeitliche und zum Teil auch soziale Kontextualisierung zusätzlich erklärbar. Nadine hat mit der Wohnungslosigkeit keinen privaten Ort mehr, zu dem sie gehört, sie muss sich notgedrungen neue Aufenthalts- und Übernachtungsorte suchen, findet sich in fremden sozialen Zusammenhängen wieder und beschreibt diese Bezugs- und Orientierungslosigkeit in einer adäquaten Erzählweise.
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„I“ steht für Interviewerin, „N“ für Nadine.
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In einem Zitat aus dem späteren Interviewverlauf findet sich der Begriff des Alptraums wieder. „Ich hab schon sehr viel in meinem Leben erlebt so; (3) aber so ne Zeit lang, (.) das kam mir echt vor, ich hab mich hingesetzt, ich hab so °geguckt° ich hab gedacht, das is wie n Alptraum; (1) aber richtig; (.) so was hab ich in meinem Leben noch nich erlebt. Mir kam ein Pech nach m anderen; (1) ich hab noch nich mal was gemacht; (.) es kam von alleine.“ (Nadine, Int. 4)
Die Erfahrungen, die Nadine macht, als sie wohnungslos wird (denn das ist der Zeitraum, auf den sie sich im obigen Zitat bezieht), weisen für sie eine deutlich andere Qualität auf als die Erlebnisse ihrer bisherigen Lebensgeschichte. Die Situation ist gekennzeichnet durch Passivität auf ihrer Seite: Sie setzt sich hin und schaut zu. Ein Alptraum bezeichnet eine nicht reale unangenehme oder auch bedrohliche Erfahrung. Das Pech wird als eigenständiger Akteur eingeführt, der ohne ihr Zutun in ihr Leben einbricht. Das Bild, das Nadine in diesem Zitat zeichnet, ist sehr anschaulich. Die Vorstellung, wie sie unbeweglich sitzt und zuschaut, wie das Unglück über sie kommt, transportiert eindrücklich das Gefühl des Kontrollverlusts und der Handlungsunfähigkeit. Nadine beschreibt den Lebensweltwechsel in die Wohnungslosigkeit als schockartigen Verlust, dem sie weitgehend handlungsunfähig ausgesetzt ist. Alle Aktivitäten, die sie unternimmt, wie beispielsweise der Antrag beim Jugendamt, scheinen wirkungslos ins Leere zu gehen. Nadine erzählt nicht von attraktiven Seiten des erwachsenen wohnungslosen Lebens82 oder von der Anziehungskraft der Straße. Die Lebenswelt Straße erfährt sie als einen unangenehmen Ausnahmezustand mit umfassendem gesellschaftlichen und sozialen Ausschluss und Kontrollverlust, den es aus ihrer Sicht möglichst schnell zu beenden gilt. Anders als die „nuttigen“ Mädchen – Geschlechterkonstruktionen Im folgenden Interviewausschnitt thematisiert Nadine im Zusammenhang mit dem Thema „Bewegung“ das Geschlechterverhältnis. „N: Und ich bin eigentlich gerne draußen so; (1) ich laufe viel und so; (3) I: Du läufst viel? 82
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Nadine erzählt hingegen positiv vom Ausreißen als Minderjährige. Der Unterschied besteht für sie darin, dass sie wieder nach Hause zurückkehren konnte, wenn sie kein Geld mehr hatte und es unbequem wurde: „Da hab ich eigentlich nich auf der Straße gesessen“ (Nadine, Int. 4).
N: mmh, (.) also ich denke schon; (2) ich bin nich zu faul zu laufen; (1) manche Mädchen (denken) dann immer, ich lauf so schnell und so; und die konnten dann gar nich mehr laufen, (2) ja; (.) @(1)@ die Mädchen, die wollen immer meistens wollen die fahrn, oder so; die wollen gar nich laufen. (1) Die sind so faul. (.) Deswegen, ich hab auch nich so viele Freundinnen, eigentlich gar nicht. (2) Gar keine eigentlich. (.) Nur Männer als Freunde. (2) Mmh, (.) weil die sind auch nich so zickig, oder so; (2) die meisten Mädchen sind so zickig und nuttig; (1) das mag ich nich. (3) I: So nuttig, N: Mm, (2) die würden zum Beispiel auch sagen die, sie wollen den Typ wegen dem Auto, sagen gell, guck mal, was fürn geiles Auto, oder so; und an sowas denk ich doch gar nicht. Wenn ich jemand seh, dann gefällt der mir, oder (1) und das Auto doch nicht. (2) Die sind so materiell auch. (1) Oder die wollen dann nur mit denen, die nutzen die Jungen dann aus, wegen Geld, und so, (1) dann nehmen die Geld von denen, (.) und die schlafen einfach so mit denen, (.) obwohl die den gar nich lieben, und (.) ich denk mal bei ner Frau, das muss schon irgendwie mit Gefühl sein und so; ohne Gefühl geht des gar nicht; (2) ja; (3) da muss die schon nich ganz sauber sein.“ (Int. 4)83
Nadine erwähnt, wie bewegungsfreudig sie ist. Sie bewegt sich fort, indem sie läuft und betont, dass sie für diese körperliche Anstrengung nicht zu träge ist. Sie stellt den Vergleich her zu ihren Geschlechtsgenossinnen und bezeichnet sich selbst als ihnen in Schnelligkeit und Ausdauer überlegen. Für die meisten Mädchen sei das Fahren die bevorzugte Fortbewegungsart, eben nicht das Laufen. In diesem Unterschied zwischen ihr und den anderen Mädchen sieht Nadine den Grund dafür, dass sie keine Freundinnen hat. Ein weiterer Grund liegt ihres Erachtens darin, dass die anderen Mädchen, anders als sie selbst, „zickig“ und „nuttig“ seien. Auf die fragende Wiederholung des Wortes „nuttig“ durch die Interviewerin begründet Nadine ihre Begriffswahl mit der materiellen Orientierung der Mädchen in Bezug auf das andere Geschlecht und Sexualität. Bei der Auswahl ihrer Geschlechtspartner achten diese Mädchen in Nadines Darstellung darauf, dass die Jungen ein Auto haben, in dem sie mitfahren können. Nadine hingegen betont die untrennbare Verknüpfung von Liebe und Sexualität bei Frauen und lehnt materielle Motive bei der Partnerwahl grundsätzlich ab. Nadine rekurriert in diesem Interviewausschnitt auf „die Mädchen“ im Allgemeinen als eine soziale Gruppe, ohne diese weiter zu spezifizieren. Der Begriff „Mädchen“ lässt lediglich auf eine ungefähre Altersgruppe und die Geschlechtszugehörigkeit schließen. Obwohl Nadine aufgrund dieser äußeren Merkmale dieser Gruppe zugehörig ist, konstruiert sie einen deutlichen Kontrast zwischen den Mädchen und sich selbst. Bewegung stellt in dieser Geschlechter83
„N“ steht für Nadine, „I“ für Interviewerin.
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konstruktion ein wichtiges Motiv dar. Positiv konnotiert ist in Nadines Darstellung die aktive selbstständige Bewegung des eigenen Körpers ohne weitere Hilfsmittel. Ihrer eigenen Bewegungsfreude und Ausdauer setzt sie die Passivität der Mädchen entgegen, die sich fortbewegen lassen wollen. Mit der Zuschreibung der Eigenschaften „zickig“ und „nuttig“ erweitert Nadine die Beschreibung einer negativ konnotierten Form von weiblicher Geschlechtlichkeit. Mit diesen Adjektiven bezieht sie sich auf das gesellschaftlich virulente Bild der launischen und rücksichtslosen Frau, die berechnend in materieller Orientierung auch ihren Körper einsetzt, um an ihr Ziel zu kommen, und dabei das andere Geschlecht ausnutzt. In diese Darstellung legt Nadine eine moralische Wertung, mit der dieses Verhalten abgelehnt und zudem als für Frauen wesensfremd gedeutet wird. „Nuttige“ Mädchen verstoßen damit nicht nur gegen gesellschaftliche Normen, sondern vor allem gegen eine natürliche Ordnung. Als positiven Gegenhorizont beschreibt Nadine hingegen eine Orientierung, in der materielle Motive weitgehend ausgeschlossen bleiben, das Verhältnis zu Männern im Wesentlichen durch Gefühle bestimmt wird. Dies stellt Nadine nicht als individuelle Entscheidung dar, sondern als die gesunde Wesensart von Frauen. Die Mädchen, die gegen diese Wesensart verstoßen, sind ihrer Ansicht nach „nich ganz sauber“. Mit dieser Konstruktion einer essentiell begründeten geschlechtlichen Normalität als einem wichtigen Teil gesellschaftlicher Normalität entwirft Nadine ein positives Selbstbild, in dem sie sich als gesund, überlegen und normal darstellt. Durch Beweglichkeit und Selbstständigkeit und die richtige Einstellung zur Sexualität erscheint sie in dieser Denklogik als eine ihrem Wesen nach richtige Frau. Diese Konstruktion von selbstständiger Beweglichkeit kann auch interpretiert werden als Gegenpol zu der zuvor beschriebenen Erfahrung von Kontrollverlust und Ohnmacht in der Wohnungslosigkeit, der Erfahrung also, aus eigener Kraft nichts bewegen zu können. Die Zugehörigkeit zu geschlechtlicher Normalität, die Nadine in dieser Konstruktion herstellt, ist zu deuten als die Zugehörigkeit zu einer nicht hinterfragbaren gesellschaftlichen Normalität und einer natürlichen Ordnung. Dies wird verständlich auch vor dem Hintergrund, dass Nadine im Laufe des Interviews immer wieder erwähnt, wie „komisch“ sie geworden sei, seit sie auf der Straße lebe, dass sie psychische und physische Probleme habe, die sie selbst nicht verstehe. Während sie sich damit in ihrer Vorstellung von einer gesunden Normalität entfernt hat, stellt sie diese in ihrer Geschlechterkonstruktion wieder her.
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5.1.3 Lele, 16 Jahre: „Ich kann nur sagen, das was ich so mitkriege, weil wirklich drin hänge ich ja nicht.“ Interviewsituation Als ich Lele im Mädchencafé in A-stadt am Tag des Interviews das erste Mal sehe, wirkt sie auf mich unnahbar. Sie ist schwarz gekleidet, die schwarz gefärbten Haare sind zum Teil rasiert, mit längeren Strähnen dazwischen und unter einem ebenfalls schwarzen Kopftuch mit Totenköpfen verdeckt. Dazu trägt sie eine dunkle Sonnenbrille, die sie zunächst nicht absetzt. An den Unterarmen sind eine Vielzahl tiefer roter Narben von Schnittwunden zu sehen und Lele bemüht sich nicht, diese zu verstecken. Ich grüße Lele, doch sie beachtet mich nicht. Sie setzt sich an das Ende des langen rechteckigen Tisches im Mädchencafé, an dem auch ich sitze, und breitet ihre Habseligkeiten auf und vor dem Tisch in für sie greifbarer Nähe aus. Ihre Ratte namens Taca setzt Lele in den dafür vorgesehenen Käfig, der neben ihrem Stuhl steht, und zieht ihre schwarzen Stiefel aus. Es bedarf einiger Zeit und des Engagements einer Mitarbeiterin des Cafés, bis Lele mich grüßt und später auch Blickkontakt aufnimmt. Die Frage der Mitarbeiterin, ob Lele mir ein Interview geben wolle, verneint sie zunächst knapp und kaum verständlich. Nach mehreren kurzen Gesprächen ist Lele dann doch bereit, unter der Bedingung, dass sie an ihrem Platz am Tisch sitzen bleiben kann. Damit bleiben wir mitten im öffentlichen und betriebsamen Teil des Mädchencafés. Bis zu dem Moment, als wir das Interview beginnen, ist für mich unklar, ob Lele es wirklich führen wird. Sie zeigt Angst, zu viel von sich preiszugeben mit Bemerkungen wie „Ich bin doch nicht im Zoo“ oder „Aber keine Fragen zu meinem Sexualleben“84 und äußert, sie sei nervös, weil sie nicht wisse, ob sie das richtig mache. Ihre Nervosität zeigt sich jedoch nicht in aufgeregtem Verhalten. Lele legt mir gegenüber während des Interviews eine sehr lässige und reservierte, fast desinteressierte Haltung an den Tag. Während des Interviews beschäftigt sie sich in zunehmenden Maße mit anderen Dingen, ohne dabei jedoch ihren Platz zu verlassen: Sie lässt sich ihre Wäsche aus dem Trockner bringen, wühlt im Wäschekorb, zieht sich einen BH an und bittet eine Mitarbeiterin, ihr Wundheilsalbe zu bringen. Lele nimmt wenig Blickkontakt mit mir auf und vermittelt mir den Eindruck, dass sie sich hauptsächlich mit anderen Dingen beschäftigt, während sie nebenher das Interview führt. Ich habe Schwierigkeiten, mich zu konzentrieren. Das Interview ist auffällig durchzogen von kürzeren Pausen und an vielen Stellen
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Aus dem Protokoll, 2. Erhebungsphase im Mädchencafé in A-stadt.
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muss ich nachfragen, damit Lele einzelne Sachverhalte weiter expliziert. In ihren Antworten geht sie selten über meine Fragestellung hinaus. Beim Zuhören entsteht bei mir einerseits der Eindruck, dass mir sehr schlüssig eine trotz widriger Umstände recht unproblematische Lebenswelt dargelegt wird. Gleichzeitig wirkt diese Lebenswelt in ihrer Kohärenz instabil und gefährdet. Dieser Gefährdung begegnet Lele, indem sie sich aus dem Interview durch die Beschäftigung mit anderen Dingen und Personen zunehmend zurückzieht. Ich registriere im Interview mehr als bei anderen Interviewpartnerinnen bei mir ein Zögern und eine Vorsicht, Fragen zu stellen, die auf Widersprüche und Brüche in dieser Lebenswelt hinweisen könnten. Dazu trägt sicherlich auch bei, dass Lele, nachdem sie Sonnenbrille und Kopftuch abgelegt hat, sehr viel jugendlicher und zierlicher wirkt, als bei ihrer Ankunft von der Straße im Mädchencafé. Zudem wird durch die sichtbaren Narben an ihren Armen Leles physische und psychische Versehrtheit und Verletzbarkeit auf eindrückliche Weise offenbar. Biografische Informationen Lele ist zum Zeitpunkt des Interviews 16 Jahre alt, wenige Wochen vor ihrem 17. Geburtstag. Damit ist sie die jüngste der Interviewten. Lele wird als jüngste von drei Schwestern geboren. Die Eingangserzählung setzt ein mit der Scheidung ihrer Eltern, als Lele elf Jahre alt war. Bis zu diesem Zeitpunkt lebte sie mit ihren Eltern und vermutlich auch ihren beiden Schwestern zusammen. Im Zuge der Trennung zieht der Vater aus, während Lele weiterhin bei der Mutter lebt.85 Bald darauf zieht ein Freund der Familie als neuer Lebensgefährte der Mutter in die Wohnung ein. Lele kommt mit der veränderten Situation nicht klar und sieht darin den Auslöser für die nun beginnenden Streitigkeiten mit der Mutter. Mit 13 Jahren ist Haschischkonsum für Lele, wie auch für ihre Freunde und Freundinnen, bereits Normalität. In diesem Alter bekommt sie auf einer Party „Pillen“ angeboten, die sie probiert, ohne zu wissen, was sie zu sich nimmt. Hinzu kommt ihr starker Alkoholkonsum. Die Konflikte mit ihrer Mutter eskalieren zunehmend. Lele kommt nachts zu spät oder gar nicht nach Hause, sie ist häufig stark betrunken oder steht offensichtlich unter Drogeneinfluss. Sie berichtet, dass sie bei Auseinandersetzungen leicht „ausraste“, wie zum Beispiel in 85
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Es wird aus dem Interview nicht ersichtlich, ob die Geschwister auch weiterhin bei der Mutter leben – dies könnte man jedoch daraus schließen, dass Lele lediglich den Auszug des Vaters erwähnt.
einer Situation, an deren Auslöser sie sich nicht mehr genau erinnert, als sie ihre Mutter mit einer Schere angegriffen habe. Mit 15 Jahren wird Lele das erste Mal aus der elterlichen Wohnung geworfen. Lele zieht für kurze Zeit zu ihrem Freund, bevor sie wieder zurückkehren kann. In der folgenden Zeit bleibt Lele regelmäßig für Tage oder Wochen von zu Hause weg – zum Teil geht sie von sich aus, manchmal wird sie auch rausgeschmissen. Es kommt vor, dass ihre Eltern, selbst wenn sie Lele der Wohnung verwiesen haben, die Polizei benachrichtigen und Lele als Minderjährige wieder nach Hause gebracht wird. Mit 16 Jahren verlässt Lele schließlich die elterliche Wohnung und kehrt nicht mehr dorthin zurück. Es bleibt unklar, ob sie von sich aus geht oder von ihren Eltern rausgeworfen wird. Sie übernachtet zunächst bei Bekannten, bis sie zu einer Freundin in deren eigene Wohnung zieht. Als diese Freundin ihre Wohnung verliert, sucht Lele eine Notschlafstelle für Mädchen und junge Frauen auf, wo sie auch zurzeit des Interviews nachts unterkommt, wenn sie nicht die Nächte durchfeiert. Nach ihren Angaben war sie bislang noch nicht gezwungen gewesen, im Freien zu übernachten. Durch ihre Wohnungslosigkeit hält sich Lele vermehrt in der „Szene“ auf. Lele konkretisiert nicht, um welche Szene es sich hierbei handelt. Es ist jedoch eine Szene mit einer starken Affinität zu Drogen unterschiedlicher Art, unter anderem Heroin. Leles Drogenkonsum steigert sich. Lele besitzt eine Ratte namens Taca, die sie immer bei sich trägt. Im Mädchencafé wie auch in der Notschlafstelle gibt es je einen Käfig, in dem sie die Ratte vorübergehend unterbringen kann. Seit sie nicht mehr bei ihrer Mutter lebt, erhält Lele finanzielle Unterstützung von ihrem Vater, wenn sie sich mit ihm trifft. Auch von ihrer Mutter hatte sie bislang Geld bekommen, doch seit einiger Zeit hat Lele keinen Kontakt mehr zu ihr, ebenso wie zu ihren Geschwistern. Bislang ist Lele wenig in szenetypische Erwerbsarten involviert. Sie war jedoch schon in Begleitung einer Freundin, die dort arbeitet, auf dem Drogenstrich und sie erzählt von Plänen, gemeinsam mit anderen Leuten Drogen zu schmuggeln. Durch die bestehenden Hilfsangebote erhält Lele eine Grundversorgung wie regelmäßige Mahlzeiten und ein Bett für die Nacht. Lele verbringt ihre Tage und auch Nächte damit, sich mit Freunden in der Stadt zu treffen und dort „rumzuhängen“. Sie malt gerne, geht gerne einkaufen, wenn sie Geld dazu hat und feiert, wie bereits erwähnt, in Diskotheken. Vor acht Monaten musste Lele das Berufskolleg nach wenigen Monaten wieder abbrechen, was sie damit begründet, dass sie mit Schule und Praktikum im Zusammenhang mit ihrer Wohnungslosigkeit überfordert gewesen sei. Sie plant, im nächsten Schuljahr wieder dort anzuknüpfen, wo sie aufgehört hatte. 113
Perspektivisch wünscht sich Lele eine eigene Wohnung und eine Arbeitsstelle, durch die sie sich ihren Lebensunterhalt finanzieren kann. Fallbezogene Interpretation Lebensweltliche Veränderungen durch die Wohnungslosigkeit Das Interview mit Lele beginnt mit einer sehr kurzen Eingangserzählung, die sie nach wenigen Minuten mit der Erzählcoda „das wars eigentlich so“ beendet. „I: Also die Frage am Anfang is einfach ne Bitte, (.) mir zu erzählen, (.) wie dein Leben so war in den letzten Jahren, L: mmh, I: wies jetzt is, (1) und wies dir damit so geht. ((schiebt das Aufnahmegerät in Richtung Lele)) Und ich schieb das einfach mal (.) möglichst nah ran, (.) L: [äh I: [damit ich dich gut höre. L: Okay, das fing so ziemlich mit elf an, (.) da ham sich meine Eltern getrennt, (1) ab da hatt ich eigentlich (.) ziemlich viel Stress mit meiner Mutter, bei der ich dann auch gewohnt hab, (2) und mit Ende fünfzehn, (1) bin ich dann (.) das erste Mal rausgeflogen, (.) zu Hause, (1) bin dann aber wiedergekommen, wegen der Polizei, die hat mich gefunden und nach Hause gebracht, (2) und (.) n Jahr später, also mit sechszehn, bin ich dann endgültig von zu Hause weg, (.) zwischendurch immer mal wieder, (.) für ne Woche, (2) ah ja (1) und jetzt eigentlich (.) seit m halben Jahr (.) schlaf ich immer so (.) in Einrichtungen (.) oder bei Freunden, bin lang nich mehr zu Hause gewesen, (.) ja, dadurch bin ich halt auch (.) n bisschen mehr zu den Drogen gekommen, bin ich schon mit dreizehn so, (1) und jetz dadurch dass ich ganz draußen bin, häng ich halt dementsprechend viel in der Szene ab, (1) I: mm (1) L: ja; (.) eigentlich würd ich sagen, isses auf der Straße gar nich so schwer, das einzigste Problem is halt immer das Finanzielle; (.) I: mmh, L: kriege schon Unterstützung von meinem Vater, teilweise auch von meiner Mutter noch n bisschen so, (2) ansonsten is eigentlich ganz okay. Ich meine, ich krieg mein Essen jeden Tag, (.) ich kann jeden Tag duschen gehen, (2) der Ratte gehts sowieso gut, und (1) ja (.) is eigentlich ganz okay; also es is jetz nich, dass ich (.) große Schwierigkeiten hab; (1) nein. (.) Schule musst ich auch schmeißen, fang ich aber jetz nach den Sommerferien wieder an, (.) I: mmh, (1) L: krieg ich auch schon irgendwie gebacken ja, (2) das wars eigentlich so. (1)“ (Int. 7)86 86
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„I“ steht für Interviewerin, „L“ für Lele.
Die lebensweltliche Veränderung zur Straße als Lebensmittelpunkt verläuft bei Lele in einem langjährigen Prozess, der verbunden ist mit einer eskalierenden Konfliktsituation mit und der zunehmenden Entfremdung von ihrer Mutter als Hauptbezugsperson. Das erste Mal verlässt Lele ihr Zuhause für kurze Zeit, weil sie rausfliegt, wie sie es nennt, also weil ihre Mutter sie der Wohnung verweist. Die Polizei bringt sie anschließend wieder zurück. Wohnungslos wird Lele ein Jahr nach diesem Vorfall, den Zeitraum bis dahin beschreibt sie als eine Entwicklung, während der sie immer wieder auf der Straße lebt. Die Dauer ihrer Wohnungslosigkeit rekonstruiert Lele als den Zeitraum, seit sie das letzte Mal von zu Hause weggegangen ist. Sie spricht von einem halben Jahr, in dem sie in Notunterkünften und bei Freunden übernachtet hat und nicht mehr zu Hause war. Die Wohnungslosigkeit stellt Lele hier als das Ergebnis einer kontinuierlichen Entwicklung dar und nicht wie einen Einschnitt, der an ein bestimmtes Ereignis oder einen bestimmten Moment gebunden ist, wie dies beispielsweise Lisa (vgl. Kapitel 5.1.1) beschrieben hat. Lele wurde wohnungslos, weil sie sich eine lange Zeit nicht mehr zu Hause aufgehalten hat, womit ihr Lebensmittelpunkt nun die Straße ist. Sie spricht in diesem Zusammenhang davon, nun „ganz draußen“ zu sein. Damit wird deutlich, dass „draußen“ für Lele auch zuvor kein fremder Lebensort war, es fand jedoch im letzten halben Jahr eine Art Verlagerung des Lebensmittelpunktes statt. „Ganz draußen“ ist Lele, nachdem sie nicht mehr phasenweise in der elterlichen Wohnung lebt, die vermutlich das Drinnen bezeichnet: einen privaten Rückzugsraum. Der Wechsel in die Wohnungslosigkeit beinhaltet einen Wechsel von der Lebenssituation mit privatem Rückzugsraum – wenn sie sich auch viel „draußen“ im öffentlichen Raum und außerhalb dieses Rückzugsraums aufgehalten hat – hin zu einem Leben ohne diesen privaten Raum. Lele umschreibt die Wohnungslosigkeit später im Interview auch mit den Worten: „wenn man nichts hat, wo man fest ist“. Es gibt also keinen räumlichen Fixpunkt, an dem man verortet ist, der eine feste Basis darstellt und Stabilität und Kontinuität im Leben ermöglicht. Während dieses „Drinnen“ zuvor noch in potenzieller Reichweite ihrer Lebenswelt war, ist es gegenwärtig nicht mehr verfügbar. Dabei wird deutlich, dass es beim „ganz draußen“ und „auf der Straße“ sein für Lele nicht nur um die Frage geht, ob sie nachts ein Dach über dem Kopf hat – denn daran mangelt es ihr durch FreundInnen, die sie aufnehmen und der Notschlafstelle anscheinend nicht. Es geht um die Wohnung als eigenen und jederzeit verfügbaren privaten Rückzugsraum vom Leben im öffentlichen Raum oder in fremden Privaträumen. Trotz des stufenweisen Übergangs benennt Lele konkrete qualitative Unterschiede zu ihrem Leben zuvor. Lele sagt, sie nehme, seit sie auf der Straße lebe, verstärkt Drogen ein. Auch hier stellt Lele eine Kontinuität zu ihrem bisherigen Leben her, indem sie betont, dass sie bereits mit 13 Jahren Drogen konsu115
miert habe. Zudem haben sich durch die Wohnungslosigkeit Leles soziale Kontakte auf der Straße, in der Szene also, intensiviert. Lele bietet eine undramatische Sichtweise auf das Leben auf der Straße. Die Formulierung „eigentlich würd ich sagen, isses auf der Straße gar nich so schwer“ klingt wie ein Vergleich. Es bietet sich die Interpretation an, dass Lele als impliziter Vergleichshorizont die vorherrschende Meinung dient, die Straße sei gerade für Minderjährige ein gefährlicher und anstrengender Lebensort. Lele schildert Probleme bzw. im Zusammenhang mit Wohnungslosigkeit potenziell problematische Aspekte, um gleich darauf die Lösung oder zumindest den vorübergehenden Umgang damit in ihrer Lebenswelt darzustellen. Wiederholt versichert sie, dass in ihrem Leben „eigentlich alles in Ordnung“ ist. Lele benennt Schwierigkeiten, die sie hat, aber keine existenziellen Notlagen. Ihre Grundversorgung (und die ihrer Ratte) sei aktuell und bis auf weiteres gesichert. Einen Bereich, der problematisch geworden ist, stellt die finanzielle Versorgung dar. Lele wird nicht mehr im gemeinsamen Haushalt versorgt, sie erhält finanzielle Unterstützung von ihrem Vater und ihrer Mutter, wenn sie sich mit ihnen trifft. Auch den Schulbesuch musste Lele unterbrechen, aber auch hier stellt sie der Zuhörenden eine perspektivische Lösung des Problems in Aussicht. Mit der Erzählcoda „das wars eigentlich so“ stellt Lele klar, dass ihr Leben auf der Straße so unspektakulär ist, dass sie das Wichtigste in kurzer Zeit zusammenfassen kann. An anderer Stelle im weiteren Interview betont Lele die Vorteile, die ihr das Leben auf der Straße bietet. Diese Vorteile beziehen sich vor allem darauf, unabhängig von den Vorgaben erwachsener Bezugspersonen, vornehmlich ihrer Mutter, leben zu können. „L: Wenn ich nich jetz pünktlich im Home (1) sein (.) will, (.) um da zu schlafen, kann ich so lange draußen bleiben, wie ich will, (2) und (1) ja (.) mm (3) ich kann mich anziehn schminken wie ich will, so ganz krass durft ich das (.) auch nich, (1) I: mmh (9) L: ja, ich muss mir keine Sorgen machen, dass ich Ärger krieg, wenn ich verstrahlt nach Hause komme, [@(.)@ I: [@(.)@ (.) mm (.) L: die Ratte dürft ich auch nich haben, I: mmh (2) L: ich könnte nich so oft weggehn, (5) naja, ich kann einiges (1) relaxter angehen als vorher. I: mm (4) L: Ja, und ich muss kein Zimmer aufräumen. @(1)@ I: @(1)@ [darüber gabs auch Streit? L: [@(1)@ Ah ja, ich bin total @unordentlich;@“ (Int. 7)87 87
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„L“ steht für Lele, „I“ für Interviewerin.
Lele kann aus ihrer Sicht ein selbstbestimmtes Leben ohne elterliche Aufsicht genießen. Hierfür führt sie Beispiele an, die in Bezug auf Selbstbestimmung typische Konfliktbereiche jugendlicher Mädchen mit ihren Eltern sind, wie Ausgehzeiten, Aussehen, Drogen, Ordnung im eigenen Zimmer sowie andere Dinge, für die Lele niemanden mehr um ein Einverständnis bitten muss, wie die Anschaffung eines Haustiers. In diesem Zusammenhang bezeichnet Lele ihr wohnungsloses Leben als „relaxter“, also als entspannter als vorher – eine positive Veränderung also, die ihr das Leben auf der Straße bietet. Das Thema des Schulbesuchs greife ich als Interviewerin im folgenden Interviewausschnitt mit Bezug auf die Eingangserzählung noch mal auf. „I: Und was machst du nach der So- nach dem Sommer für ne Schule? L: Äh fang ich beim Berufskolleg wieder an, weil ich hab das Jahr ja nich zu Ende gemacht; und ähm (1) deswegen fehlt mir ja alles so; und das muss ich (.) nochmal ganz von vorne anfangen. (.) Ja und dann werd ich natürlich auch Praktikum und so machen. Hoff ich, dass ich das irgendwie (.) gebacken krieg so. (1) °Ich glaub ja.° @(.)@ I: Aber haste schon Bock drauf, L: Ja, jetzt auf jeden Fall; also (1) ich glaub, das denkt jeder so, kein Bock auf Schule und alles, aber wenn (.) s dann wirklich nich geht, (.) dann fehlt einem das schon. (.) Also mir fehlts zumindest ziemlich. (1) Ja, man hat den ganzen Tag nichts zu tun, hängt nur doof in der Gegend rum, is Scheiße; (1) auf jeden Fall. (1) Ja; (1) und das Gefühl, was geleistet zu haben, fehlt auch; I: mmh, (1) hattest du das früher in der Schule? L: ja, auf jeden Fall, (2) schon; kam halt auf die Noten an, aber meistens auf jeden Fall. (.) Nur ich habs nich so gemerkt wie jetz; weil: is halt alltäglich, (1) I: mm, (.) L: und ich hab ja auch nich daran gedacht, dass es mal so kommen könnte.“ (Int. 7)88
Den Wert, den Lele der Schule zuschreibt, konstruiert sie als positiven Gegenhorizont zum Lebensalltag auf der Straße. Dabei benennt Lele eher nebenbei die negativen Aspekte der Wohnungslosigkeit, indem sie ihre Unzufriedenheit ausdrückt in Bezug auf die Hauptbeschäftigung innerhalb der Szene, das „Rumhängen“ oder „Abhängen“. Dieser passiven Haltung ohne Bewegung, die zielgerichteter Aktivität entbehrt, stellt sie die Möglichkeit zur Leistung in der Schule gegenüber. In der Freiheit, nichts tun zu müssen, sieht Lele inzwischen ein Defizit des Lebens auf der Straße. Schule hingegen kann die Lebenswelt um Tagestruktur und Aufgaben und „das Gefühl, was geleistet zu haben“ bereichern. Im Gegensatz zum Rumhängen impliziert etwas zu leisten zielgerichtetes Handeln, 88
„I“ steht für Interviewerin, „L“ für Lele.
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um etwas zu bewirken oder zu schaffen. Leistung ist das Ergebnis dieser erfolgreichen Anstrengung, für die man Wertschätzung und Anerkennung bekommt. Seitdem Lele aus dem früheren alltäglichen Lebensbereich „Schule“ ausgeschlossen ist und Erfahrungen gemacht hat mit dem Lebensalltag auf der Straße, setzt ein Perspektivenwechsel ein. Den obligatorischen Schulbesuch, den sie zuvor lustlos als Zwang empfunden hat, begreift sie vor dem Hintergrund des Ausschlusses rückblickend als Möglichkeit und Chance. Bisherige unhinterfragte Routinen und Sicherheiten, wie der Schulbesuch, sind in ihrer jetzigen Lebenswelt hochproblematisch geworden. Durch die reflexive Zuwendung zu verlorenen Alltäglichkeiten entwickelt Lele eine Sichtweise, von der sie zuvor keine Vorstellung hatte. Im Gegensatz zur undramatischen Schilderung der Entwicklung in die Wohnungslosigkeit in der Eingangserzählung wird hier der Wechsel zum Leben auf der Straße als nicht antizipierbare Erfahrung mit nachhaltigen (und verlustreichen) Auswirkungen auf die Lebenswelt thematisiert. Leles Vorsatz, den unterbrochenen Schulbesuch in wenigen Monaten wieder aufzunehmen, bleibt hinsichtlich seiner Umsetzungsmöglichkeiten sehr vage. Ihre Unsicherheit diesbezüglich wird deutlich, wenn sie sagt, dass sie hofft und glaubt, dass sie es diesmal „irgendwie“ schaffen werde und dabei lacht. In ihren Beteuerungen spricht sie sich selbst eher Mut zu, als dass sie einen Plan aufzeigt, wie die im letzten Schuljahr entstandenen Probleme eventuell zu bewältigen seien. Die Schilderung des Vorhabens, den Schulbesuch in wenigen Monaten wieder aufzunehmen, erfüllt hier vor allem eine normalisierende Funktion. Das desintegrierte und ziellose Leben auf der Straße, das Lele aktuell führt, kann dadurch wie eine vorübergehende Phase mit einem absehbaren Ende dargestellt werden. Negative Seiten der Wohnungslosigkeit, wie das langweilige Abhängen oder die mangelnde Anerkennung, kann Lele nur thematisieren im Kontext dieser normalisierenden und damit ihre Lebenswelt stabilisierenden Erzählung. Soziale Verortung zwischen Distanzierung und Zugehörigkeit Im folgenden Interviewausschnitt erzählt Lele auf meine Frage als Interviewerin von ihrem Drogenkonsum. „I: Wie is das gekommen, dass du mit den Drogen angefangen hast, (.) mit dreizehn hast du gesagt? L: Ah das war das erste Mal, das war halt auf ner Fete, und (1) war halt n bisschen Pepp89 im Umlauf, irgendwelche Pillen und ich hab halt gedacht, wieso nich, (.) 89
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Pepp gehört, ähnlich wie Speed, zu den amphetaminhaltigen, aufputschenden Drogen.
habs ausprobiert, war eigentlich auch ganz angenehm, (1) weil Kiffen war eigentlich schon Standard; (1) ja u:nd (1) jetz so (.) kam eigentlich eher so durch den Freundeskreis und (1) ich hab eigentlich auch wenig schlechte Erfahrungen mit Drogen gemacht, deswegen ähm (2) find ich ganz witzig. @(.)@ (1) Was heißt ganz witzig so, is schon n Scheiß, wenn man von irgendwas abhängig is, auf jeden Fall aber (3) so richtig Scheiße wie es (1) den meisten Leuten geht so (.) auf der Straße, wenn die drauf sind, geht’s mir nich, und (2) da brauch ich mir noch nich so Sorgen drüber machen. (2) I: Was is bei dir anders? L: Ich bin nich heroinabhängig. Ich meine, ((räuspert sich)) das is ja bei den Leuten die Sucht, und bei mir isses noch (1) noch Genuss, auf jeden Fall. (1) Ich hab nich den Suchtdruck dass ich sage, ich brauch das jetz sondern (.) dass ich sagen kann, ich hab jetz Lust darauf, ich will das machen, (2) solang es das is, is das in Ordnung; wenn ich merke, is nich mehr so, (2) wird ich wohl auch versuchen, damit aufzuhören; auf jeden Fall. I: mm (2) L: Ja, (1) ich hab (.) nich vor auf m Strich zu enden, u- und mit ner Nadel im Arm. (1)“ (Int. 7)90
Lele erzählt, wie sie auf einer Party vom bereits alltäglichen Haschischrauchen zum Konsum aufputschender Drogen übergeht. Nachdem sie diese Drogen ausprobiert und damit sehr viel mehr gute als schlechte Erfahrungen gemacht habe, sei sie dabei geblieben. Lele stellt eine Unterscheidung her zur Mehrheit ihrer Peers auf der Straße, die anders als sie Heroin konsumieren und abhängig von Drogen seien. Während Leles Drogenkonsum durch Lust und damit durch ihre freie Entscheidung motiviert sei, seien die anderen süchtig und dadurch zum Drogengebrauch gezwungen. Lele möchte ihren Drogenkonsum beenden, sobald sie auch süchtig wird. Zudem äußert sie, was sie auf keinen Fall möchte: sich prostituieren und intravenös Drogen konsumieren. Lele konstruiert in ihrer Darstellung des Drogenkonsums in der Szene einen positiven und negativen Gegenhorizont. Ihre eigene Entwicklung zu einem intensiveren Drogengebrauch stellt sie als unspektakulär dar. Als positiver Gegenhorizont gilt Leles gegenwärtiger Umgang mit Drogen, den sie als selbstbestimmt, freiwillig und lustbetont charakterisiert. Damit distanziert Lele sich von der leidvollen Drogensucht, die das Leben der Mehrheit der Straßenszene bestimmt, als negativen Gegenhorizont. Diese Unterscheidung macht Lele auch an den unterschiedlichen Arten von Drogen fest. Einerseits gibt es die Partydrogen im weitesten Sinne wie Pepp, Speed und Ecstasy, die sie konsumiert. Das Image von Partydrogen ist, wie schon die Bezeichnung sagt, konnotiert mit Spaß und genussvollem und intensiven Leben. Für die andere Seite benennt Lele das He90
„I“ steht für Interviewerin, „L“ für Lele.
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roin als sedierendes Mittel, mit dem Abhängigkeit und Verelendung assoziiert wird. Lele betont, unter wiederholter Einfügung des zeitlichen Adverbs „noch“, dass sie ausschließlich genussorientiert konsumiere. Es besteht also, nach Leles Formulierung, die Gefahr der Entwicklung von der einen (ihrer) Konsumform zu der in der Szene vorherrschenden Konsumform. Damit wird deutlich, was Lele aus ihrer Sicht von den abhängigen DrogenkonsumentInnen trennt: ihre unterschiedliche zeitliche Positionierung auf einer Entwicklungslinie, die vom Genuss in die Abhängigkeit führen kann. Mit dem Adverb „noch“ zeigt sie aber gleichzeitig auch eine Verbindung zwischen ihr und den anderen „Leuten“ der Straßenszene auf. Es wird klar, dass es sich bei den beiden Konsumformen nicht um in statischer Form voneinander getrennte Kategorien handelt, sondern dass die Übergänge fließend sind. In der Konstruktion der beiden Gegenhorizonte distanziert sich Lele von den sozialen Zusammenhängen auf der Straße. Obwohl sie sich aufgrund ihrer Wohnungslosigkeit viel in der Szene bewegt, sich also an den gleichen Orten wie die Szenemitglieder aufhält, hebt sie sich in dieser Konstruktion von den anderen ab. Damit widersetzt Lele sich der eindeutigen Zuordnung zur Straßenszene. Indem sie sich von der sozialen Randgruppe der Drogenabhängigen abgrenzt, ermöglicht sie sich eine normalisierende Darstellung ihres Drogenkonsums. Die genussvolle Art, Rauschmittel zu sich zu nehmen, ohne dass dieser Konsum den Lebensalltag bestimmt, ist gesellschaftlich akzeptiert und bewegt sich innerhalb herrschender Normen. In der Distanzierung von dem sozialen Zusammenhang, in dem Lele sich alltäglich aufhält, konstruiert sie gleichzeitig eine Nähe ihrer Lebenswelt zu als normal anerkannten Lebensverhältnissen. Lele zeichnet eine Entwicklungslinie von Straßenkarrieren, an deren Endpunkt vor allem für Mädchen die Prostitution und die Drogenabhängigkeit stehen, mit der Gefahr, an einer Überdosis zu sterben.91 Indem sich Lele in ihrer Argumentation am Anfang dieser Entwicklungslinie verortet, konstruiert sie für sich einen sozialen Status, der sich der eindeutigen Zugehörigkeit zur Straßenszene verweigert und der sich quasi zwischen den Welten bewegt. Der Vorsatz, rechtzeitig den Absprung zu schaffen, wirkt sehr entschlossen und gleichzeitig hilflos, indem Lele lediglich vom Versuch spricht, diese Entwicklung rechtzeitig zu unterbrechen. Der Plan, den Drogenkonsum erst dann zu beenden, wenn sie abhängig ist, ist paradox. Er dient, ähnlich wie das Vorhaben, den Schulbesuch wieder aufzunehmen, der Normalisierung ihrer aktuellen 91
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Die Formulierung „Mit ner Nadel im Arm“ kann einerseits als Bild für intravenösen Drogenoder Heroinkonsum interpretiert werden. Es kann aber auch als eine Metapher für den so genannten goldenen Schuss gesehen werden, also den Tod durch die Überdosierung von Drogen, weil die Betreffenden in der Regel mit der Spritze im Körper aufgefunden werden.
Lebenssituation und befreit sie von dem Druck, Veränderungen herbeiführen zu müssen. Die beschriebene Distanzierung von den sozialen Zusammenhängen auf der Straße findet sich in anderer Form auch im folgenden Interviewausschnitt. „I: Wenn du (.) draußen unterwegs bist, warst du da immer allleine, (.) unterwegs oder mit (.) mehreren, [mit Freunden? L: [Nee, mit Freunden, mit Freundinnen, auf jeden Fall. (3) Immer eher außerhalb der Szene, weil in der Szene is eigentlich (.) da selber gibts keine wirklichen Freunde; (.) wenn man sieht, da is alles nur auf Drogen so und (2) muss ich nich haben. (2) I: Kannst du da mal n Beispiel erzählen, was (.) in der Szene (1) doof is, oder was da läuft? (.) L: Mm ich kann da nur sagen, das was ich so mitkriege, weil wirklich drin häng ich ja nich. Ähm (2) die (.) Leute, die auf Droge sind, (1) sind den ganzen Tag nur auf der Suche danach, und (1) die sind auch immer (1) so drauf, je nachdem, wie die ihre Drogen gekriegt haben halt; wenn die keine Drogen haben, ultrascheiße gelaunt und keine Ahnung; (.) sind halt nich angenehm, die kann man nich wirklich kennenlernen. (2) Weil der ihr Kreislauf is halt Heroin und (2) und die selber sehn das gar nich, aber (2) nich so toll da drin. (1) Die sind nett, solange (.) du denen die Drogen gibst oder (1) solange sie ihre Drogen haben, und (.) wenn du dann mal zu was nein sagst und (.) sind die ultrascheiße drauf und (.) I: mm, L: klauen untereinander (1) sind schon (.) teilweise dreiste Leute, auf jeden Fall. Auch wenn se nichts dafür können. Die sehens ja selber nich. (.) I: mm, (2) is bei dir und deinen Freunden anders, (2) L: Ja also mein Freundeskreis, den ich ansonsten hab, die sind ja eigentlich nich so auf Drogen. (2) Die haben da eigentlich eher was gegen, die sagen mir auch immer, ich soll damit aufhören, (1) aber @(.)@ (.) I: mm, (1) L: ja da bin ich eigentlich so die Schlimmste. @(.)@ I: @(.)@ (1) und sind die auch auf der Straße? Oder, L: Na ja:, teils teils; I: mmh, L: die wenigsten. (4)“ (Int. 7)92
Auch hier findet sich die Konstruktion zweier Gegenhorizonte, diesmal in Bezug auf Leles soziale Kontakte. Ihre Freunde bzw. ihr Freundeskreis hebt sich dabei positiv ab von der Szene, innerhalb der wirkliche Freundschaften nicht möglich sind.
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„I“ steht für Interviewerin, „L“ für Lele.
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In Bezug auf die Szene stehen Leles Schilderungen, wie auch schon beim Thema „Drogen“, unter dem Leitgedanken, dass sie zwar dabei ist, aber nicht dazugehört. Lele bekommt mit, was in der Szene passiert, so dass sie es mir als Interviewerin erzählen kann, sie „hängt“ aber nicht richtig drin. Sie konstruiert in ihren Ausführungen eine recht homogene drogendominierte Szene über die sie sich quasi als außenstehende Expertin mit mir als szenefremder Interviewerin unterhält. Lele spricht auch nicht in der ersten Person von ihren Erfahrungen mit Leuten aus der Szene, sondern benutzt indefinite Personalpronomen wie „man“ und „du“. Dadurch wirken ihre Schilderungen nicht wie ihre subjektive Sichtweise, sondern wie allgemeingültige Feststellungen. Mit der Positionierung als außenstehende Szenekennerin macht Lele sich fremd gegenüber der Straßenszene und stellt eine Zugehörigkeit zur szenefremden Gesellschaftsmehrheit her. Das Fremdmachen gegenüber den alltäglichen sozialen Zusammenhängen hat damit aus ihrer Sicht eine integrative Wirkung. Lele zeigt sich in diesem Interviewausschnitt als den Szeneangehörigen überlegen, indem sie die Mechanismen und Dynamiken innerhalb der Szene durchschaut, was den darin Involvierten hingegen nicht gelingen kann. Die Szene zeigt sich in Leles Darstellungen als zweckorientierte Gemeinschaft; der Zweck besteht darin, mit Drogen versorgt zu werden. Alle Prinzipien und Verhaltensweisen innerhalb dieser sozialen Gemeinschaft sind diesem Zweck untergeordnet. Es gibt keine Freundschaften, keine unmittelbare persönliche Wertschätzung. Den positiven Gegenhorizont zur Szene bildet Leles Freundeskreis. Dieser zeichnet sich aus durch einen fürsorglichen und besorgten Umgang gegenüber Lele. Die Freunde versuchen zu Leles Wohl auf sie einzuwirken, um sie zur Drogenabstinenz zu bewegen. Die Darstellung des Miteinanders im Freundeskreis wirkt familiär: Lele ist dabei die „Schlimmste“, die Unvernünftigste, umgeben von Menschen, die vernünftiger und besorgt um sie sind – eine Form des Miteinanders, die ihr, wie man an ihrem Lachen ablesen kann, offensichtlich zusagt. Anders als bei den Ausführungen über die Szene stellt sich Lele hier als involviert dar. Sie schildert ihr Verhältnis zu ihren FreundInnen und gewährt Einblick in die Interaktion mit ihnen. Es entsteht die lebendige Vorstellung von Lele als Teil ihres Freundeskreises, auch (oder gerade) in ihrer Sonderrolle als „die Schlimmste“. Diese Konstruktion der Szene einerseits und des Freundeskreises als ihren engeren sozialen Bezugsrahmen andererseits ermöglicht Lele wiederum eine Distanzierung von den sozialen Zusammenhängen, die eindeutig dem Leben auf der Straße zugeordnet werden.
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Mädchencafé – ein Raum „ohne die Kerle“ Lele scheint Kontakte zu Gleichaltrigen vor allem mit Mädchen zu pflegen. Es gibt mehrere Stellen im Interview, in denen sie entweder in Abweichung von ihrer ansonsten geschlechtsabstrahierenden Sprache betont, dass sie mit Freundinnen den Tag verbringt, oder ihre Bezugsgruppe sehr selbstverständlich als „die Mädels“ bezeichnet. Alle von ihr im Interview erwähnten Bezugspersonen sind weiblichen Geschlechts. Im folgenden Interviewausschnitt frage ich als Interviewerin Lele nach ihrer Meinung über die geschlechtshomogene Einrichtung, in der das Interview stattfindet, also das Mädchencafé. „I: Findest dus gut, dass so was wie hier, oder das Home auch (.) nur für Mädchen oder Frauen is? L: Ja, (2) ((Lele zieht einen BH aus dem Wäschekorb und zieht ihn sich während des Interviews im Caféraum an.)) weil ich glaube, wenn jetz die Kerle hier dabei sein könnten, könnte man (1) über vieles nich reden so. (.) Manche, (1) die hier hinkommen, manche Mädchen, (.) erzählen ja dann auch so, (.) was passiert is, und wies ihnen (1) so richtig geht, und ich glaub das könnten viele nich. Ich könnts auch nich, wenn hier Kerle bei säßen. (1) I: Sind das bestimmte Themen? Oder überhaupt, (.) L: Nee überhaupt. Bestimmte Themen, (.) weiß ich nich. (.) I: mm, L: Aber könnt ich mir so vorstellen; I: mm, (5) L: und es soll hier ja auch so sein, dass die (1) Leute hier was zur Ruhe kommen, und das wär glaub ich überhaupt nich möglich, wenn hier noch knalle viele Kerle sitzen würden. I: mmh (3) L: Mir reicht das auch schon, wenn ich die draußen zur genüge sehe. (3)“ (Int. 7)93
Lele entwirft in ihrer Darstellung einen starken Kontrast zwischen den „Kerlen“ und den „Mädchen“. Die Wahl der Begriffe impliziert ein hierarchisches Verhältnis, das auf einem Kräfteungleichgewicht beruht: Kerle als Bezeichnung für sehr männliche und eher derbe Exemplare von Jungen und Männern im Kontrast zum Begriff Mädchen, der sich auf eine jüngere Altersgruppe bezieht. Durch die Geschlechtszugehörigkeit der NutzerInnen wird die Atmosphäre eines Raumes nach Leles Beschreibung spezifisch geprägt. Die Anwesenheit von Jungen und jungen Männern würde die Mädchen davon abhalten, das Mädchencafé ihren Interessen entsprechend zu nutzen. 93
„I“ steht für Interviewerin, „L“ für Lele.
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Die geschlechtshomogene Nutzung macht das Mädchencafé in Leles Augen zu einem Ort mit vertrauensvoller Atmosphäre, in dem man zur Ruhe kommen kann. Dabei ist mit „zur Ruhe kommen“ meines Erachtens keine friedvolle und leise Atmosphäre gemeint, zieht man in Betracht, dass im Mädchencafé laute Auseinandersetzungen und Musik sowie hektisches Treiben an der Tagesordnung sind und Lele maßgeblich daran beteiligt ist. Die Geschlechtshomogenität dieses Raumes erzeugt vielmehr eine Privatheit gegenüber der geschlechtsgemischten Öffentlichkeit: Privatheit gemeint als Raum der Intimität und Sicherheit. Was ausgeschlossen wird aus dieser Privatheit ist die Gefahr der Verletzungen im hierarchischen Geschlechterverhältnis, die in Leles Lebenswelt, ohne dass sie es explizit benennt, eine große Bedeutung zu haben scheint. Die Herstellung von Privatheit ist für Lele in ihrer aktuellen Lebenswelt nur vorstellbar im geschlechtshomogenen Raum. Qua Geschlecht wird eine Privatheit hergestellt, in der gelebt und gezeigt werden kann, was in der geschlechtsgemischten Öffentlichkeit verdeckt bleiben muss. Lele demonstriert dies im wörtlichen Sinne, als sie sich während des Interviews im Caféraum ihren BH anzieht. Auch beim zeitaufwändigen und intensiv betriebenen Stylen des äußeren Erscheinungsbildes werden im Privaten mehrere Varianten des Auftretens in der Öffentlichkeit erprobt. In diesem privaten Raum kann Lele in Abgrenzung zu ihrer Selbstdarstellung in der Öffentlichkeit zeigen, wie es ihr „richtig“ geht. Die Mädchen können erzählen, was sie aufgrund ihrer Geschlechtszugehörigkeit erlebt haben, ohne sich damit verletzlich zu machen. 5.1.4 Sam, 20 Jahre: „Es ist auf jeden Fall kein Abenteuer, das braucht man gar nicht zu glauben“ Interviewsituation Als Sam das Mädchencafé in A-stadt betritt und ich sie das erste Mal sehe, beachtet sie weder mich noch die anderen Besucherinnen und geht direkt durch den Aufenthaltsraum in die Küche, um sich mit einer Mitarbeiterin zu unterhalten. Später nimmt sie Platz an dem großen Tisch, der zentral im Raum steht und an dem ich auch sitze, ohne Blickkontakt zu mir oder auch anderen Anwesenden aufzunehmen. Sam sitzt still da, was auffällig ist in einer Atmosphäre, die durch hektisches Treiben und laute Stimmen bestimmt wird. Sie wirkt auf mich in sich gekehrt, mit einem verschlossenen Gesichtsausdruck und unbewegter Mimik. Sam hat kurze Haare und trägt ein weites T-Shirt über einer sportlichen Hose sowie Turnschuhe. An den Handgelenken sind breite Lederbänder mit stachelförmigen Nieten zu sehen. Vom äußeren Erscheinungsbild ist für mich nicht 124
sofort erkennbar, ob Sam ein Mädchen oder ein Junge ist. Dazu passt auch ihr Name, den sie sich selbst gegeben hat und der beiden Geschlechtern zugeordnet werden kann. Nach einer Weile wird an Sams Reaktionen sichtbar, dass sie am Geschehen um sich herum interessiert ist. Eine Mitarbeiterin und ich unterhalten uns über amüsante Themen und Sam hört zu. Unvermittelt verändert sich dabei ab und zu ihr Gesichtsausdruck zu einem strahlenden Lächeln, bevor sie gleich darauf wieder ihre ernste und unbewegte Mimik zeigt. Sam schließt sich zögerlich dem Gespräch an und stellt mir Fragen zu meiner Dissertation. Als ich sie eine längere Weile später frage, ob sie zu einem Interview bereit wäre, zögert sie und wendet ein, dass sie vielleicht nicht zu meiner Zielgruppe gehöre, weil sie nur kurze Zeit auf der Straße gelebt habe. Ich versichere ihr, dass das keine Rolle spiele, woraufhin Sam dem Interview zustimmt. Als ich die anwesende Mitarbeiterin unter vier Augen darüber informiere, dass ich Sam interviewen werde, wendet diese ein, Sam gehöre eigentlich nicht zur Zielgruppe des Mädchencafés. Da ich Sam kaum kenne, kommentiere ich diese Bemerkung nicht. Das Interview findet auf der Terrasse des Mädchencafés statt, wo wir in Sicht-, jedoch nicht in Hörweite der anderen Besucherinnen sitzen. Sam redet flüssig und dabei so leise, dass ich ihr mit besonderer Aufmerksamkeit zuhören muss. Im Interviewverlauf werden die meisten Themen von mir als Interviewerin eingeführt. Sam geht bei der Beantwortung der Fragen selten über deren thematischen Rahmen hinaus. Sie redet mit auffällig vielen kleinen Pausen, ist jedoch nicht einsilbig, sondern erzählt bereitwillig. Trotz dieser Offenheit gegenüber meinen Fragen habe ich die meiste Zeit des Interviews den Eindruck, dass sie kaum Kontakt zu mir aufnimmt. Sie schaut beim Reden meistens in Richtung des Aufnahmegerätes, das auf einem niedrigen Beistelltisch vor ihr liegt, und wenn sie mich anschaut, wirkt ihr Gesichtsausdruck eher verschlossen. Erst gegen Ende des Interviews vermittelt Sam einen offeneren Eindruck; sie sucht den Blickkontakt zu mir und ihre Mimik wird vielseitiger und lebendiger. Das Interview beenden wir im gegenseitigen Einvernehmen in Bezug auf den Zeitpunkt. Mein Gefühl ist, dass es inhaltlich und emotional stimmig ist, einen Schlusspunkt zu setzen, und Sam ist damit sofort einverstanden. Der Abschluss des Interviews überschneidet sich mit dem Bandende der Kassette, so dass Sams abschließende Worte, nachdem ich mich bei ihr bedankt habe, nicht mehr aufgenommen wurden. Die Bemerkung der Mitarbeiterin vor dem Interview über Sams NichtZugehörigkeit zur Zielgruppe der Einrichtung macht mich nach dem Interview stutzig. Sam war bis kurz vor dem Interview wohnungslos und ist nach wie vor gefährdet, ihren aktuellen festen Wohnsitz zugunsten der Straße aufzugeben. 125
Damit passt sie eindeutig zum Klientel des Mädchencafés. Sam unterscheidet sich jedoch von der Mehrheit der anderen Besucherinnen dadurch, dass sie keine Drogen konsumiert und anscheinend kaum soziale Kontakte zu Gleichaltrigen sucht. Umso erstaunter bin ich, als Sam sich nach dem Interview mit Mira, einer „typischen“ jungen Frau aus dem Mädchencafé, unterhält, die über Sams angespannte und bedrohliche Situation mit den männlichen Mitbewohnern der Jugendwohngruppe Bescheid weiß. Mira gibt Sam engagiert Ratschläge, wie man sich Jungen vom Leib hält. Im Ganzen ist mein Eindruck, dass die anderen Besucherinnen die Einschätzung der Mitarbeiterin bezüglich Sams Zugehörigkeit nicht teilen. Biografische Informationen Sam wurde in B-stadt geboren, wo sie die ersten vierzehn Jahre ihres Lebens mit ihren Eltern wohnt. Sam hat eine jüngere Schwester – ob es noch weitere Geschwister gibt, wird aus dem Interview nicht ersichtlich. In dieser Zeit fügt ein Mann, der nicht zur Familie gehört, ihr unangenehme und angsteinflößende Dinge zu, die sie nicht konkreter benennt. Sam versucht, ihrer Mutter in Andeutungen von ihren Erlebnissen zu erzählen, die diese aber nicht versteht. In der Folge verdrängt Sam die erlebte Gewalt, sie „vergisst“ es, wie sie es nennt. Auch die Situation innerhalb der Familie scheint problematisch zu sein. Sam verbringt einmal eine Nacht in der Mädchenzuflucht in B-stadt – wie alt sie zu diesem Zeitpunkt ist, bleibt unklar. Sie kehrt jedoch noch vor dem nächsten Morgen wieder nach Hause zurück aus Angst, durch ihren Weggang ihre Mutter zu verlieren. Sam verbringt einen großen Teil ihrer Freizeit in einem Jugendzentrum, in dem sich auch ihre Freunde aufhalten. In diesem Jugendzentrum erhält sie auch Unterstützung und Begleitung, um sich ans Jugendamt zu wenden. Mit 14 Jahren zieht Sam in eine stationäre Einrichtung der Jugendhilfe. Die Gründe für diesen Auszug benennt Sam im Interview nicht. Im Heim freundet sie sich mit einem Mädchen an, die sie mit dem Girls-Inn bekannt macht, einer Übernachtungsstelle für wohnungslose Mädchen in B-stadt. Sam verbringt dort bisweilen ihre Zeit und baut Kontakte zu den Mitarbeiterinnen auf. Mit etwa 16 Jahren verbringt Sam einen Urlaub mit ihren Eltern am Bodensee in deren Ferienhaus. Weil es ihr psychisch sehr schlecht geht, wendet sie sich an eine Beratungsstelle der Diakonie im nächstgelegenen Ort Z-ort. In den folgenden Jahren bleibt sie mit der Mitarbeiterin, mit der sie beim ersten Telefonat gesprochen hatte, in Kontakt und meldet sich immer bei ihr, wenn sie Hilfe braucht. 126
Sam absolviert die Realschule und schließt ein Jahr später die Berufsfachschule im Bereich Sozial- und Gesundheitswesen erfolgreich mit einer Prüfung ab. In der Zeit nach ihrem Schulabschluss mit 18 Jahren trifft Sam in B-stadt wiederholt auf den Mann, der in der Vergangenheit die Übergriffe gegen sie verübt hatte. Sie erinnert sich wieder an das Geschehene und gerät in Panik. Sam hat Angst, dass die Begegnungen kein Zufall sind und der Mann sie verfolgt. Nachdem sie diesen Mann an einem Tag bereits zweimal gesehen hat, beschließt Sam in ihrer Panik, B-stadt zu verlassen. Am Bahnhof angekommen, sucht sie telefonischen Rat bei der Mitarbeiterin der Diakonie in Z-ort, die ihr die Notschlafstelle Bude in D-stadt vermittelt. Die folgenden drei Monate verbringt Sam in dieser Stadt auf der Straße und übernachtet in der Regel in der Notschlafstelle. Sie kehrt lediglich nach B-stadt zurück, um ihre Habseligkeiten aus dem Heim zu holen und bei den Eltern unterzustellen und vor Ort Ämterangelegenheiten zu klären. Während dieser Zeit übernachtet sie im Girls-Inn, da die Eltern ihr keinen Unterschlupf gewähren. In D-stadt organisiert sich Sam einen Therapieplatz in einer Beratungsstelle, die auf die Thematik sexuelle Gewalt spezialisiert ist. Sie bewirbt sich außerdem an einer Schule mit dem Ziel, das Fachabitur zu absolvieren. Sie wird angenommen und steht zurzeit des Interviews wenige Monate vor dem Ende des ersten Schuljahres. Sam ist während ihrer Zeit auf der Straße tagsüber alleine unterwegs. Sie leidet unter Geldmangel und hat keinen Ort, um sich tagsüber auszuruhen. Um nicht den ganzen Tag irgendwo „abhängen“ zu müssen, nimmt sie Kontakt zum Kinder- und Jugendteam, einer Kinderschutzeinrichtung, auf mit dem Wunsch nach einer ehrenamtlichen Tätigkeit. Bis heute arbeitet sie dort in der Spielothek und in der Betreuung einer Spielgruppe. Sam findet keine Freunde in D-stadt. Neue Bekannte nehmen Abstand von ihr, wenn sie erfahren, dass sie auf der Straße gelebt hat. In der Straßenszene, meint sie, kann man keine Freunde finden, sondern lediglich Leidensgenossen. Zu ihren früheren Freunden aus B-stadt hat sie keinen Kontakt, weil diese nichts von ihrer Zeit der Wohnungslosigkeit erfahren sollen, aus Angst, auch diese könnten sich von ihr abwenden. Nach den drei Monaten auf der Straße kann Sam in eine Jugendwohngruppe einziehen, in der sie zum Zeitpunkt des Interviews noch lebt. Sie fühlt sich dort als einziges Mädchen jedoch nicht sicher vor den Jungen. Sam überlegt, wieder auf die Straße zu gehen und verwirft diesen Gedanken wieder, da sie dadurch auch ihren Schulbesuch riskieren würde, der für sie nur durch die finanzielle Unterstützung der Jugendhilfe möglich ist. In einer Kindereinrichtung eines sozialen Brennpunkts leistet Sam ihr Praktikum im Rahmen der Schulausbildung ab. Damit verbunden sind auch ihre Zukunftsvorstellungen, ein Studium 127
im sozialen Bereich aufzunehmen und möglichst bei „Terre des Hommes“ international mit Straßenkindern zu arbeiten. Im kommenden Schuljahr wird Sam jedoch in Absprache mit dem Jugendamt den Schulbesuch für einen stationären Klinikaufenthalt unterbrechen. Danach plant sie, in eine eigene Wohnung mit Betreuung durch die Jugendhilfe zu ziehen. Fallbezogene Interpretation Der Beginn der Wohnungslosigkeit Der folgende Interviewausschnitt gibt die Eingangserzählung wieder: „I: Ja, meine Frage dreht sich eigentlich um deine (.) Zeit, auch wenn du sagst, dass es kurz war, auf der Straße, (.) und zu anzugucken wie es dazu gekommen, was is vorher passiert, (.) wie gings dir dabei, (1) und (.) wie kams, dass (.) du da wieder weg warst; (.)°wie gings dir danach. (1) Und du kannst einfach anfangen, mit dem was du willst und ähm (1) wom- ja, was du willst. (.) S: Ja, ähm (.) dann fang ich am besten vorne an, (1) öhm, (.) also auf Straße bin gekommen, dadurch dass ich aus B-stadt abgehauen bin, (.) öhm ich hab (.) achtzehn Jahre in B-stadt gelebt, (.) öhm (1) vierzehn davon bei meinen Eltern, (.) zu Hause, und öhm dann bin ich halt (.) öhm in Jugendhilfe gekommen ins Heim, (2) öhm hab über ne Freundin, die ins Heim dann halt auch später gekommen is, das Girls Inn kennengelernt, (.) und öh war dann auch häufig auch da, und öhm es war halt so gewesen, dass (.) immer ein so n Typ öhm (.) halt aufgetaucht ist, (1) der halt früher mal Sachen mit mir angestellt hatte so; und ich bin halt voll nich drauf klar gekommen, und bin immer vor dem abgehauen, wenn ich den gesehen hab, (1) weil ich so viel Schiss vor dem hatte, und (.) der is mir halt immer häufiger begegnet, ich hab den immer häufiger gesehn, hab immer mehr Schiss bekommen, (1) immer Panik auch vor dem gehabt so und (1) ja (.) wenn ich (.) wenns Girls Inn halt offen hatte, bin ich halt da hin gerannt, (.) hab da mit Betreuern geredet, weil in dem Heim wars so, dass die Betreuer nich so häufig da waren, (2) und ähm (.) ja (.) irgendwann war es dann halt so gewesen, dass ich s den an einem Tag zwei Mal hintereinander gesehen hatte, einmal morgens und einmal mittags (.) und da hab ichs nich mehr ausgehalten im Heim, und hab meine Sachen gepackt, (1) zum Hauptbahnhof gerannt, (.) und öh hab dann (.) überlegt, was machste jetz, was machste jetz? War total in Panik, (.) und hab öhm mich dann an (.) öh ne Connection von mir erinnert, (.) die ich sch- öh (.) schon sehr lange hab, die hab ich jetz schon seit fast drei Jahren, (1) und ah die is (.) von der Diakonie Z-ort, (.) hat äh viel mit Mädchen mit mir zu tun, (1) und die hab ich dann halt angerufen, und hab ge<<schneller gesprochen> ich muss hier weg, ich muss hier weg, du musst mir helfen, ich muss irgendwo hin, aber ganz weit weg, und ich hab nich viel Geld.> (.) Und dann hat die b- ja wart mal n Moment, ich guck mal im Internet nach, hat die im Internet nachgeguckt, und meinte öh wo willste denn hin, ja, is mir egal, mög-
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lichst weit weg, (.) ja, wieviel Geld haste denn? Ja (.) fünfzig Euro. (.) Ja (.) was soll ich denn eigentlich nachgucken im Internet? Und dann hab ich ge- ja, tipp mal Notschlafstelle ein. (1) So und dann hatte se was in C-stadt gefunden, aber das war nur bis achtzehn, und ich war ja zu dem Zeitpunkt schon achtzehn, (.) und das ging dann halt nich und ähm (.) und das was dann (.) möglichst weit halt von B-stadt weg war, und wo ich halt auch hätte hin (1) äh gekonnt, war halt die „Bude“ in D-stadt. Ne Notschlafstelle. (.) Und dann hab ich mir ne Fahrkarte gekauft, und bin nach D-stadt gefahren? (1) Und öhm (.) ich kannte halt D-stadt so überhaupt nich, ich war noch nie da gewesen, und (1) ähm (.) kannte mich halt auch überhaupt nich aus, und öh als ich im Hauptbahnhof in D-stadt angekommen bin, hab ich mich sehr gewundert, über den Zustand des Hauptbahnhof erstmal, (1) weil der sieht ja doch sehr verfallen aus, und ähm (.) und hab dann (.) erstmal n (.) Stadtplan gesucht, hab natürlich keinen gefunden, und musste mich dann halt durchfragen, und hab das dann aber auch gepackt. (.) Mich durchzufragen; und (.) als ich dann in der „Bude“ war, öhm (.) hat (.) haben Betreuer (.) erstmal mit mir n Aufnahmegespräch geführt, (1) und dann war (.) mm aber auch ganz schnell klar, obwohl ich denen nich erzählt hab, warum ich abgehauen bin, (.) dass ich erstmal ne Nacht da pennen darf, und dann am nächsten Tag das Jugendamt Bescheid (.) kriegen würde, das Heim Bescheid kriegen würde, (.) und öh (.) dass ich halt mit den Hauptamt dann reden müsste. (.) Ja (.) dann war ich erstmal ganz froh, und öhm (.) hab dann (1) noch mal bei der Diakonie in Z-ort angerufen, hab (.) Bescheid gesagt so, ich bin jetz in D-stadt, bin gut angekommen; (.) is erstmal alles in Ordnung, (.) und öhm ja; (.) so (.) bin ich halt aus B-stadt weg, und halt eigentlich auf die Straße gekommen.“ (Int. 8)94
Die Erzählaufforderung in diesem Interview fokussiert auf die Zeit auf der Straße, was eine Modifikation im Vergleich zu den anderen Interviews darstellt, in denen ich als Interviewerin allgemein nach dem Leben in den letzten Jahren frage. Dies ist im Zusammenhang mit dem Vorgespräch zu sehen, in dem Sam angedeutet hatte, die Zeit auf der Straße habe nur einen kurzen Teil ihrer Lebensgeschichte ausgemacht. Durch diese Bemerkung fühlte ich mich aufgefordert, die Eingangsfrage thematisch stärker einzugrenzen, um Material über die Lebensphase zu bekommen, die mich für meine Untersuchung interessierte. Sam kündigt eine chronologische Erzählweise an, indem sie sagt, sie wolle „von vorne“ beginnen. Zunächst bietet sie eine zusammenfassende Antwort auf meine Frage, wie es dazu gekommen sei, dass sie auf der Straße lebte: Der Grund liegt für Sam darin, dass sie ihre Heimatstadt B-stadt verlassen musste. Nach dieser Erklärung fügt Sam erörternd in wenigen Sätzen Informationen über den Verlauf ihres Lebens ein bis zu dem Tag, an dem sie B-stadt verließ. Sie erzählt anschließend von den über einen nicht näher spezifizierten Zeitraum immer häufiger werdenden Begegnungen im öffentlichen Raum mit einem 94
„I“ steht für Interviewerin, „S“ für Sam.
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Mann, vor dem sie Angst hat. Diese Entwicklung wird für Sam an dem Tag unerträglich, als sie dem Mann gleich zweimal begegnet. Sie beschließt, B-stadt zu verlassen und sucht den Hauptbahnhof auf. Mit der telefonischen Unterstützung einer bekannten Sozialarbeiterin beschließt Sam, nach D-stadt zu fahren, das sie nicht kennt. Sam beschreibt ihre Eindrücke vom Bahnhof, wie sie sich in der Stadt orientiert und die Notschlafstelle für Jugendliche aufsucht, wo sie Unterkunft findet. Sie schließt die Erzählung mit der zusammenfassenden Bemerkung, dass sie auf diese Weise B-stadt verlassen habe und wohnungslos geworden sei. Die Erzählung hat einen dramatischen Aufbau, mit dem Höhepunkt der Situation am B-städter Hauptbahnhof, der sich darin zeigt, dass Sam bis zu diesem Punkt zunehmend dichter, detaillierter, kleinschrittiger und aufgeregter erzählt. Während die biografischen Informationen aus Kindheit und Jugend sehr bruchstückhaft berichtet werden, ist die Erzählung von den Begegnungen mit dem Mann, der in der Vergangenheit mit ihr „Sachen angestellt“ habe, emotional dichter. Sam expliziert auch im weiteren Interview nicht, welche Erfahrungen sie mit diesem Mann verbindet. Die Formulierung „Sachen anstellen“ erscheint verharmlosend, wenn man Sams panische Reaktion auf die Begegnungen dagegen hält. Es ist eine unspezifische Umschreibung, die impliziert, dass eine Person eine aktive und bestimmende Rolle gegenüber einer anderen Person innehat, deren Part von Passivität und Fremdbestimmtheit geprägt ist. In der Erzählung über die Häufung der Begegnungen mit dem Mann schildert Sam eine Spannung, die sich steigert, bis sie für sie unerträglich wird und aus Sams Perspektive radikales Handeln erforderlich macht. Die Spannung der Situation am Hauptbahnhof, als Sam nicht mehr an dem Ort bleiben will, an dem sie ist, jedoch keinen neuen Ort als Ziel verfügbar hat, wird in ihrer Erzählung gegenwärtig. Gedanken und Dialoge gibt sie in wörtlicher Rede wieder, die Ereignisse werden beinahe in Echtzeit reinszeniert. Durch den Entschluss, B-stadt zu verlassen, wird Sam nicht nur wohnungslos, sondern verliert auch die Zugehörigkeit zu dem Ort, an dem sie ihr bisheriges Leben verbracht hat. Es geht hier nicht nur um das Aufgeben des privaten Rückzugsraums, sondern um den Verlust von räumlicher Zugehörigkeit. Als ich Sams Weggang aus B-stadt an einer späteren Stelle des Interviews als Flucht bezeichne, wehrt sie sich gegen diese Bezeichnung. Sie stellt klar, dass sie ihr Verhalten als „Abhauen“ definiert. „S: Das war aber nich geplant, oder so überhaupt nicht; obwoh:l (.) manche Leute glauben, dass ich das irgendwo schon geplant hab, weils halt nach den Prüfungen war, und nich vor den Prüfungen, dass ich abgehauen bin. (4) I: Ja, aber du bist ja schon auch mehr geflüchtet als abgehauen; von daher
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S: Ja, ich weiß das, I: das plant man ja nich so sehr. (2) S: ich weiß nich, flüchten würd ichs nich nennen, ich I: [mmh, S: [ich hab keine Definition für mich von Flucht (.) so; sondern mehr so halt von Abhauen; I: mmh, (3) ja und dann stimmt das so. (10)“ (Int. 8)95
Sam expliziert im weiteren Interview nicht die Bedeutung, die sie mit den beiden Begriffen verbindet. Das Thema ist damit für sie beendet, wie an der langen Pause am Schluss des Interviewausschnitts zu erkennen ist. In der Interpretation lässt sich jedoch meines Erachtens feststellen, dass flüchten im Sinne von sich vor etwas retten und Schutz suchen reaktiv konnotiert ist, während das Abhauen als weg- oder fortgehen und ausreißen eher aktiven Charakter hat. Sam begreift sich, trotz der Bedrohung und ihrer plötzlichen panischen Reaktion, als aktiv Handelnde und legt Wert darauf, als solche wahrgenommen zu werden. Zurück zur Eingangserzählung. Die oben beschriebene erzählerische Dichte und emotionale Beteiligung nimmt ab, als Sam am Bahnhof von B-stadt beschließt, nach D-stadt zu fahren. Damit ist die Belastung der völligen „Ortlosigkeit“, also in der einen Stadt nicht mehr bleiben zu können, ohne zu wissen, wohin sie abhauen kann, gelöst zugunsten eines konkreten und erreichbaren räumlichen Ziels, auch wenn es sich um eine fremde Stadt handelt. In D-stadt angekommen, dominiert in Sams Erzählung die Atmosphäre der Fremdheit. Sie betont wiederholt, dass ihr die Stadt vollkommen unbekannt gewesen sei und sie sich dadurch zunächst nur schwer räumlich orientieren konnte. Die Art der Erzählung wirkt auf die Zuhörende befremdend und fast kafkaesk überzogen. Sie widmet dem baulichen Zustand des Bahnhofs eine Aufmerksamkeit, die zunächst verwundert. Die Atmosphäre, die sie damit herstellt, entspricht jedoch einer nachvollziehbaren, stark befremdeten Gefühlslage: ein verfallener Bahnhof als ein Gebäude, um das sich niemand kümmert, eine räumliche Umgebung, die ihr keine Orientierung bietet und in der es Sam nicht wundert, dass sie keinen Stadtplan findet. Alles in allem also ein verwahrloster Ort, in dem kein Wert darauf gelegt wird, Ankommende freundlich zu begrüßen.96 In dieser Fremde schafft es Sam, Kontakt zu anderen Menschen aufzunehmen, um den Weg zu ihrem eigentlichen Ziel, der Notschlafstelle zu finden. Hier werden ihre Beschreibungen wieder sehr konkret und nachvollziehbar. 95 96
„S“ steht für Sam, „I“ für Interviewerin. Was sich in Sams Befremdung auch zeigen kann, ist der Kontrast im Image der beiden Städte: Während B-stadt eine Universitätsstadt mit bildungsbürgerlichem Ruf ist, gilt D-stadt eher als Industrie- und Arbeiterstadt.
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Unter dem Dach der Jugendhilfe kennt Sam sich aus, hier wird die Fremdheit durchbrochen durch Kontakte nach B-stadt und das Telefonat mit der Sozialarbeiterin aus Z-ort. Sam stellt den Wechsel des Lebensmittelpunktes hin auf die Straße nicht als längeren Prozess, sondern als das Ereignis eines Tages dar. Wohnungslos zu werden ist kausal verknüpft mit dem Verlassen ihrer bisherigen Heimatstadt. Auf die Straße zu „kommen“, wie Sam es nennt, bedeutet für sie das Weggehen von einem Ort, die Lösung aus einer Notsituation, ohne zu wissen, wohin sie gehen soll. Auf der Straße zu leben beginnt für Sam in einer fremden Stadt mit neuen sozialen Bezügen und verändertem Lebensalltag. Wohnungslos zu werden ist in dieser Lesart verbunden mit einer radikalen Veränderung der räumlichen und sozialen Dimensionen ihrer Lebenswelt sowie der Routinen ihres Alltags. Sam benennt für das plötzliche Ereignis, mit dem ihr Leben auf der Straße beginnt, kein Datum, keine Jahreszeit und auch für die Abläufe am Tag des Abhauens keine Uhrzeiten. Die einzige zeitliche Angabe ist die ihres eigenen volljährigen Lebensalters von 18 Jahren. Die Erzählung wirkt dadurch zeitlich bezugslos. Sam erscheint in der bedrohlichen Situation auch ohne relevante soziale Bezüge in B-stadt und dadurch sehr einsam. Es gibt niemanden vor Ort, den sie über ihr Weggehen informiert, geschweige denn um Hilfe bittet. Sam reflektiert rückblickend die Erfahrung, plötzlich auf der Straße zu leben, im Kontext ihrer Aktivitäten, die sie in D-stadt unternimmt, um ihre Wohnungslosigkeit zu beenden. „I: Hast du ja ganz schön was in Bewegung gesetzt; S: Ja; (.) ich wollt ja schnell mö- schnell möglichst wieder weg und (1) ich wollt ja nich eigentlich auf Straße sein; (2) weil es ha- (.) also ich fands schon krass so (1) auf der einen Seite, (1) ich war nie so der Typ, der jetz sich so vorgestellt hatte, ich wollt mal auf Straße sein und so; überhaupt nich. Ich mein ich hatte eher ge- ja ich werd immer ne Wohnung haben, ich werd immer irgendwas haben, wo ich wieder hin zurück kann, (.) dann war das plötzlich gar nich mehr so; und (.) ich hatte halt (.) auch nie damit gerechnet, dass ich mich aus B-stadt weggeh; ich hatte mir immer gedacht, (.) ich blei- werd da bleiben und so; und jetz war ich plötzlich in ner anderen Stadt, (.) hatte keine Freunde, hatte niemanden; nix. (.) Und s (.) war schon ne krasse Erfahrung so.“ (Int. 8)97
Auf der Straße zu leben hatte Sam nicht gewollt und auch nicht geplant. Sie bezeichnet es mit dem Wort „krass“ als eine extreme Erfahrung. Bis zu ihrer Wohnungslosigkeit war sie selbstverständlich davon ausgegangen, dass sie auch 97
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„I“ steht für Interviewerin, „S“ für Sam.
weiterhin in eigenem Wohnraum in B-stadt leben werde. Die Erfahrung, in einer unbekannten Stadt ohne soziale Bezüge zu leben, trifft Sam deshalb völlig unerwartet. Sam konstruiert hier einen „Typ“ Mensch, für den es attraktiv erscheint, einen Teil seines Lebens auf der Straße zu verbringen, der dieser Perspektive etwas Positives abgewinnen kann. Von diesem Typ Mensch distanziert sie sich. Dass Sam auf der Straße lebt, hat in dieser Konstruktion nichts mit ihren Wünschen zu tun, sondern geschah ausschließlich aufgrund äußerer Umstände. Ihre Formulierungen suggerieren, dass ihr Leben unerwartet eine Wende genommen hatte, die sie selbst weder antizipiert noch herbeigeführt hatte. Diese Wende beschreibt Sam als die Erfahrung eines sehr weitreichenden Verlusts. Sie zählt auf, dass sie die vertraute räumliche Umgebung wie auch freundschaftliche soziale Kontakte und soziale Bezüge überhaupt verloren hatte, um dann generell festzustellen, dass sie „nix“ mehr hatte, und beschreibt damit den umfassenden Verlust von vertrauten und unterstützenden Ressourcen. In B-stadt zu leben und stets über einen privaten Rückzugsraum zu verfügen stellten unhinterfragte Sicherheiten in ihrer Lebenswelt dar, die durch das Abhauen nach D-stadt zusammengebrochen sind. Diese eindeutige Positionierung wird irritiert durch Sams Einschub „auf der einen Seite“ bei der Bewertung des Lebens auf der Straße. Sie impliziert damit eine ambivalente Haltung, die sie jedoch im weiteren Ausschnitt nicht wieder aufgreift: Die andere Seite wird an dieser Stelle nicht benannt oder expliziert. Von Leidensgenossen und Freunden – soziales Miteinander auf der Straße Nach den negativen Aspekten des Lebens auf der Straße gefragt, erzählt Sam von einer Lebenswelt voller leidvoller, gefährlicher und kränkender Erfahrungen. Der Mangel an Aufenthaltsorten im öffentlichen und halböffentlichen Raum aufgrund von Vertreibung und Bedrohung, Hunger und Durst, die demütigende Erfahrung des Bettelns, Krankheit ohne adäquate medizinische Versorgung, Gewalt in der Notschlafstelle: All dies fügt sich in Sams Bild von der Straße als ausschließlich defizitärem Lebensort. Umso überraschter bin ich im Interview, als Sam mir auf meine Frage, ob es auch positive Erfahrungen gab, ohne Zögern antwortet. „I: Gabs irgendwelche netten Erlebnisse? (.) Auf der Straße? (.) Wo du sagst das war, (.) das fand isch gutt oder so. ((putzt sich die Nase)) S: ich war frei, (.) ich es hat mir keiner irgendwo welche Vorschriften gemacht; I: Mmh,
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S: ich konnte machen, was ich wollte; ich konnte sagen, nee, ich komm heut (.) nacht nich zur Notstelle, (.) oder ich konnte sagen, (1) öhm (2) nöh, ich hab jetz keine Lust, irgendwie zum Amt zu gehen oder so, das hat keiner nach gefragt; das hat keinen interessiert, was ich gemacht hab, und was ich nich gemacht hab. (1) Es hätt auch (1) ähm (.) keinen interessiert, wie ich aussah, was ich für Klamotten anhatte und so; das war alles so völlig egal, (.) man hat sich auch so unterhalten (.) so (1) in der Notschlafstelle (.) zum Beispiel. Es war einfach scheißegal, was ich (.) ob ich jetz irgendwie (.) was Neues erreicht hatte, oder nix erreicht hatte, (.) oder ob ich mich geärgert hab, oder nich, (.) das war egal, man war trotzdem freundlich zueinander, man war (.) nett zueinander, (4) es gab zwar manchmal auch Stress, aber (.) das hab ich nie als (.) so total schlimm erlebt so. Und ich fands einfach immer cool, (.) so (.) akzeptiert zu werden, (.) I: mmh, S: so, wie ich bin halt; und nich irgendwie dass ich mich verstellen muss oder so; ich konnt einfach so sein, wie ich wollte und das war cool. I: mm (8)“ (Int. 8)98
Als positiv bezeichnet Sam die Freiheit auf der Straße. Sie führt ein Leben ohne Anweisungen und Verbindlichkeiten. Weil sich niemand dafür interessiert, was sie tut, hat sie die Freiheit, nach Lust und eigenem Willen zu entscheiden. Sam bewegt sich auf der Straße in einem sozialen Umfeld, in dem sie sich unabhängig von ihren Erfolgen, Gefühlslagen oder ihrer äußeren Erscheinung akzeptiert fühlt. Sam erzählt auf meine Frage hin nicht von einzelnen Erlebnissen,99 sondern nennt einen übergreifenden und umfassenden Aspekt: die Freiheit. Damit benennt sie eine Qualität von hohem gesellschaftlichen Stellenwert. Sam spricht dies aus mit einer Lebendigkeit und Begeisterung in der Stimme, die im Vergleich zu ihrer ansonsten ruhigen und kaum freudigen Stimme auffällig ist. Der zuvor im Interview beschriebene Verlust von sozialen Kontakten und von Menschen, die ihr vertraut und wichtig sind, findet hier unter dem Begriff der Freiheit im Sinne von Unabhängigkeit und Unverbindlichkeit eine positive Deutung. Niemand nimmt Anteil an ihrem Schicksal, wodurch Sam frei ist von den Erwartungen anderer. Sam elaboriert die These von der Freiheit auf der Straße am Beispiel der sozialen Gemeinschaft in der Notschlafstelle in D-stadt. Die dort vorherrschende Interesselosigkeit aneinander, die auch als ein negativer Aspekt im Miteinander von Menschen gedeutet werden könnte, bildet in Sams Konstruktion die Voraussetzung für einen bedingungslos freundlichen und akzeptierenden Umgang. Damit stellt die Notschlafstelle aufgrund des sozialen Miteinanders einen Raum mit Qualitäten dar, die üblicherweise der privaten 98 99
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„I“ steht für Interviewerin, „S“ für Sam. Dies hatte sie im Kontrast dazu bei der Frage nach den negativen Aspekten getan.
Sphäre zugeordnet werden: ein Rückzugsraum, in dem sich Sam vorbehaltlos so angenommen fühlt, wie sie ist und wie sie sein will. Die Begeisterung, mit der Sam von dieser Erfahrung erzählt, lässt die Interpretation zu, dass diese Akzeptanz für Sam keine Selbstverständlichkeit ist. Der negative Gegenhorizont, den Sam mit ihrer Erzählung vom positiven Miteinander impliziert, ist ein sozialer Kontext, in dem Anerkennung und ein freundlicher Umgang davon abhängig sind, was man geleistet hat und wie man sich kleidet – eine Atmosphäre, in der man sich für Zuwendung und Akzeptanz anpassen und verstellen muss. In einem weiteren Interviewausschnitt spricht Sam in anderer Form über das Thema der sozialen Kontakte auf der Straße. „I: Hast du denn noch Freunde oder Bekannte v:on der Zeit auf der Straße? Von [der Notschlafstelle? S: [ja, (2) doch, hab ich noch. (.) Also jetz Freunde nich; aber des is (.) ich denke mal, auf der Straße kann man keine Freunde finden, sondern nur Leidensgenossen. I: Mmh, S: Also richtige Freunde würd ich die nich nennen, so mehr so (.) ja Kumpels so; I: mmh, (1) S: aber richtige Freunde sind das nich. (4) I: was is bei denen anders, als bei Freunden? (5) S: Mm (5) ja mit äh (.) Freunden (.) redet man offener, n- offener, man äh versucht nich irgendwie so, (1) ähm sich n bisschen zu verstecken, (.) und ähm bei Freunden isses halt auch (.) so (.) wenn (.) ah (.) denen (.) was nich passt, (.) oder so die sagen das offen; und (.) da tut man das halt einfach nich; das gehört sich nich °wenn man° (.) da was (.) also wenn jetz (.) einer (.) zum Beispiel (.) irgendnen Scheiß baut und das gefällt einem nich sagt man das schon so; (.) aber jetz zum Beispiel, (.) wenn jetz der (.) eine total (.) Klamotten an hat, die nich zueinander passen, dann sagt der halt nichts °zu ihm° so; (2) hab ich zumindest die ganze Zeit so erlebt; I: mm (1) S: also man sagt es zumindest nich direkt; I: [mm S: [so (1) weil (.) mit Freunden isses schon so, (.) man sagt es direkt so, dass der andere das auch direkt versteht, und dann was dran ändern kann. (.) I: mm (.) S: Und ähm richtige Freunde versuchen einen auch nich zum Kiffen zu überreden; oder dazu zu bringen, dass man vielleicht mal irgendwie n Zeug nimmt, oder so. (.) I: und das war da, (1) S: Ja. (2) Die haben das (.) ähm zwar akzeptiert, wenn ich gesagt hab, nöh, ich möcht nich, (1) aber es kamen immer noch (von manchen) Fragen so; (.) ja (.) es es hat zwar gedauert, bis dann (.) Fragen aufgetaucht sind wie ja, warum möchtest du eigentlich nich, warum machst du das nich, und so; aber die sind halt doch schon aufgetaucht. Und ich denk mal richtige Freunde, (.) die akzeptieren das dann einfach.
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I: mm (.) S: für die is dann ei- einfach das so okay..(2)“ (Int. 8)100
Sam beantwortet meine Frage als Interviewerin, ob sie noch Kontakte zur Straßenszene habe, ohne zu zögern mit „ja“ und bestätigt dies auch nach einer kurzen Denkpause mit einem „doch“, so als habe sie ihre spontane Reaktion nochmals kritisch überprüfen müssen. Sam unterscheidet in diesem Abschnitt zwei Kategorien von PeerKontakten: Leidensgenossen und Kumpel einerseits und Freunde andererseits. Erstere bezeichnen die Art von sozialen Kontakten, die man auf der Straße schließen kann, Freunde hingegen findet man dort nach Sams Ansicht nicht. Auf meine Frage nach den Unterschieden zwischen den beiden Kategorien stellt Sam die jeweiligen Umgangsformen vergleichend gegenüber. In Freundschaften herrscht in Sams Darstellung eine offene Atmosphäre, in dem Sinn, dass man sich mit der eigenen Meinung zeigt und sich gegebenenfalls auch kritisch gegenüber den FreundInnen äußert. Im Gegensatz dazu hält man sich in der Straßenszene nach Sams Erfahrungen mit solchen direkten Äußerungen zurück. Des Weiteren schildert Sam die Erfahrung, dass Kumpel aus der Straßenszene versucht haben, sie zum Drogenkonsum zu überreden. Sam stellt fest, dass Freunde sich in zweierlei Hinsicht so nicht verhalten – sie versuchen nicht, andere zu einem selbstgefährdenden Verhalten zu bringen, und sie akzeptieren nach Sams Ansicht ein „Nein“ des Gegenübers. Während Sam zuvor im Interviewausschnitt über die Freiheit auf der Straße die positiven Seiten des sozialen Miteinanders in der Notschlafstelle elaboriert hat, führt sie nun anhand der Definition von Freundschaft die Nachteile und verpassten Möglichkeiten der sozialen Bezüge innerhalb der Straßenszene aus. Dabei zeigt Sam die Vorteile und Chancen auf, die darin liegen, wenn das Miteinander nicht von Interesselosigkeit geprägt ist. Die Beispiele, anhand derer sie dies elaboriert, zeigen Parallelen auf zu denen, die sie bereits im Zusammenhang mit den positiven Aspekten des Lebens auf der Straße aufgegriffen hatte. Die zuvor beschriebene Umgangsform der kritiklosen Akzeptanz führt als negative Konsequenz dazu, dass die eigene Meinung nicht offen geäußert werden kann. Damit werden nach Sams Deutung einerseits Kritik und offene Ablehnung vermieden, andererseits wird jedoch eine direkte Kommunikation verhindert, die eine authentische Beziehung mit dem Gegenüber erst ermöglicht. Somit bietet die Interesselosigkeit in der Straßenszene für Sam eine Form der Akzeptanz, die sich positiv davon abhebt, über Leistung und Aussehen definiert und 100 „I“ steht für Interviewerin, „S“ für Sam.
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abgewertet zu werden. Andererseits wird durch diese Interesselosigkeit die Chance eines kritisch wertschätzenden und anerkennenden Umgangs miteinander verpasst, der in Freundschaften gepflegt wird. In der Ablehnung des Drogenkonsums nimmt Sam eine Außenseiterposition innerhalb der Szene ein,101 mit der sie nicht vorbehaltlos akzeptiert wird: Sie muss sich für ihr Verhalten rechtfertigen. Auch hier zeigt sich ein mangelndes Interesse an ihrer Person, indem sie mit ihrer Drogenabstinenz nicht anerkannt wird, sondern sich wie alle anderen auch verhalten soll. In den zitierten Interviewausschnitten zeigt sich auch Sams Einsamkeit auf der Straße. Diese Einsamkeit hat in der Freiheit, die sich ihr dadurch bietet, auch positive Aspekte. Sam bezeichnet sich im Interview auch als Einzelgängerin. Zurück auf die Straße? Abhauen als Bewältigungsstrategie Im folgenden Interviewausschnitt erzählt Sam von ihrer aktuellen Lebenssituation in der Jugendwohngemeinschaft. „S: Ich bin dann in eine Jugendwohngemeinschaft gekommen, (1) am Anfang hat dann da noch n Mädchen gewohnt, aber mitt(.)lerweile dann nicht mehr, (.) weil die is angehauen nach (.) einem Monat, (.) und ähm jetz (.) leb ich da mit lauter Jungs zusammen. (.) Und das (.) läuft nich gerade super da. (1) I: [Mmh, S: [Und jetzt (.) tendier ich eigentlich mehr so (.) wieder (.) öhm da hin, doch wieder zurück auf die Straße zu gehen. Obwohl es eigentlich total (.) wirr is, und (.) irgendwo auch verrückt ist. (.) Weil (.) irgendwo möcht ich das gar nich, und trotzdem tendier ich dahin; (3) I: Und was sind das sind das für Gedanken, wenn du da hin tendierst? S: Ja, dass ich alles, die ganze Jugendhilfe abbrech, öhm ich weiß genau, dass wenn ich die Schule weitermachen will, ich dann (.) kein Sozi krieg, dass ich dann nur Kindergeld krieg, von meinen Eltern werd ich nie n Cent sehen, (2) öhm solang sich nicht, (.) solang die nicht ans Amt zahlen müssen, zahlen die, (.) nix (.) so, und (3) ich mein, (.) vom Kindergeld zu leben, (.) is (.) is schon schwierig weil (.) Notschlafstellen die Übernachtung kostet zwei Euro, (1) und das is ni- dann nich einfach; und (.) eigentlich möcht ich das nich (.) wieder so haben, dass (.) ich nich weiß, äh wo krieg ich jetz was zu essen her, wo krieg ich wieder was zu trinken her so. (2) I: [Mmh, S: [Weil ähm (.) von Kindergeld ne Wohnung zu finanzieren is unmöglich; (.)
101 Während der Feldphasen hatte ich generell den Eindruck, dass die Besucherinnen in den Einrichtungen, die keine Drogen konsumieren, als Einzelgängerinnen auffallen.
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I: mm (4) und was wäre doof, wenn du da bleibst, in der Jugendhilfe? (1) In der Wohnu- Jugendwohngruppe? S: Ähm (.) is halt so (.) die ähm Jungs haben mir (.) teilweise da schon gedroht, im (.) nachts is da Radau; (1) öhm ich weiß nich, wie lang ich das da noch so durchhalte; ohne durchzudrehen; (3) öhm die Alternative, die ich halt immer so für mich hab, is halt abhauen. (1) I: mmh, (1) S: Nur wenn man Schule macht, is man halt auch n bisschen mehr wert, als wenn man jetz gar nix macht (.) [so; I: [mm S: scheint so n Wertesystem in dieser Gesellschaft zu geben; (5) I: seit wann machst du die Schule? S: Öhm seit Anfang des Schuljahres jetz; (.) also ich hab jetz öhm (.) ich hatte mich vor den Sommerferien hatte ich mich halt beworben, bin direkt angenommen worden, (1) un:d öhm (.) ja, Fachabi mach ich jetz; (.) aus der Elf; (1) is mit Praktikum, (.) und Schule, (.) so gemischt, und das macht mir totalen Spaß halt auch. (14)“ (Int. 8)102
Sam lebt in einer Jugendwohngruppe und erzählt von ihren Überlegungen, von dort abzuhauen und wieder auf der Straße zu leben. Auf meine Nachfrage erzählt sie den Grund dafür: Sie fühlt sich von ihren ausschließlich männlichen Mitbewohnern bedroht. Sie argumentiert zunächst dagegen, dass sie bei Abbruch der Jugendhilfemaßnahme gezwungen wäre, zur Sicherung des Lebensunterhaltes die Schule zu verlassen.103 Der Schulbesuch ist für Sam von großer Bedeutung: Er erhöht ihr Selbstwertgefühl und macht ihr Freude. Nachdem Sam es durch viel Eigeninitiative geschafft hat, als Volljährige erneut in einer Jugendhilfemaßnahme aufgenommen zu werden, zieht sie eine Rückkehr auf die Straße in Erwägung. Den Widerspruch, der darin liegt, nimmt sie wahr und bezeichnet ihre Gedanken als „wirr“ und „verrückt“. In der folgenden Argumentation klärt sie mich als Zuhörende zunächst nicht über die Beweggründe auf, über das Abhauen nachzudenken, sondern führt die aus dem bisherigen Interview bereits offensichtlichen Gegenargumente auf, so als müsse sie sich selbst überzeugen. Ihre Motive für das Abhauen lassen die Interpretation zu, dass Sam darum ringt, die Erfahrung des Weggangs aus B-stadt mit allen negativen Folgen und Verlusten nicht zu wiederholen. Gleichzeitig sagt sie deutlich, dass das Abhauen für sie eine Strategie ist, bedrohliche Situationen zu bewältigen, eine Not-lösung aus unerträglichen Lebensumständen sowie eine 102 „S“ steht für Sam, „I“ für Interviewerin. 103 Der Schulbesuch wird ihr dadurch ermöglicht, dass ihr Lebensunterhalt durch die Jugendhilfe finanziert wird. Eine Bedingung dafür ist, in der Jugendwohngruppe zu leben. Fällt diese Unterstützung weg, müsste sie entweder selbst Geld verdienen oder von Sozialhilfe leben, deren Bezug in der Regel nicht bei gleichzeitigem Schulbesuch möglich war.
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Sicherheit bietende Ressource ihrer Lebenswelt. Paradox erscheint an dieser Bewältigungsstrategie, dass für die damit gewonnene Befreiung und Sicherheit, andere existenzielle lebensweltliche Sicherheiten und Routinen, wie die materielle Versorgung oder das eigene Zuhause, aufgegeben werden müssen.104 An dieser, wie auch an anderen Stellen des Interviews wird aber auch die Bedeutung, die der Schulbesuch für Sam hat, explizit. Die Schule zu besuchen bringt ihr Wertschätzung und gesellschaftliche Anerkennung und damit eine Zugehörigkeit, die den Gegenpol bietet zu den Ausgrenzungs- und Vertreibungserfahrungen auf der Straße. Zudem ist der Schulbesuch nicht nur eine Pflicht, ein Mittel zum Zweck der Berufsausbildung, sondern etwas, das sie, anders als die meisten SchülerInnen, ausnahmslos gerne und freudig tut. Die Wortwahl „totalen Spaß“ lässt keine Steigerung zu und deutet an, dass es nichts gibt, das sie lieber tut.105 Die Schule als Ressource von Freude und Anerkennung fällt in der Argumentation um das Abhauen stärker ins Gewicht als der Impuls, einer bedrohlichen Situation zu entkommen. Geschlecht und Gewalt Im oben zitierten Interviewausschnitt wird das Geschlechterverhältnis auf eine im Interview typische Weise thematisiert. Bei der Erwähnung ihrer FreundInnen in B-stadt und anderer positiv konnotierter Peer-Kontakte differenziert Sam nicht nach Geschlecht. Geschlecht wird dann relevant, wenn Sam von der Gewalt im weiteren Sinne und der Bedrohung, die von bestimmten Jungen und Männern ausgeht, spricht. Der Bezug zu den erwähnten Jungen besteht ausschließlich darin, dass sie ihren Lebensraum mit ihnen teilen muss und sich durch sie gefährdet fühlt. Die Parallele zur Situation mit dem bedrohlichen Mann, wegen dem Sam B-stadt verlassen hat, wird hier deutlich. Auch in der Notschlafstelle wird sie von sexistischen Sprüchen anderer Besucher belästigt. Im geschlechtshomogenen Rahmen des Mädchencafés stößt Sam mit dem Thema der Gewalt der Jungen ihrer Wohngruppe auf Verständnis und Unterstützung. Die Bedrohung durch männliche Gleichaltrige gehört offensichtlich zum geteilten Erfahrungshintergrund der Mädchen und jungen Frauen und kann zumindest in diesem geschlechtshomogenen Zusammenhang als solche benannt 104 Thiersch (2002) bezeichnet die wichtige Fähigkeit, lebensweltliche Routinen aufzugeben, die Sicherheit bieten, als wichtige Ressource, um Chancen für ein gelingenderes Leben nutzen zu können (vgl. ebd., 180). 105 Dies zeigt sich auch, als ich Sam nach Dingen frage, die ihr Freude bereiten und Spaß machen. Sie benennt zuerst spontan die Schule und fügt nach kurzem Überlegen ihre anderen Hobbies wie das Malen und Gedichte schreiben an.
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und problematisiert werden. Aus Gesprächen, die Sam nach dem Interview mit anderen Mädchen im Café führt, wird deutlich, dass diese Sams Problem kennen und ernst nehmen. Die Anschaffung des stacheligen Nietenarmbandes geht auf den Ratschlag eines anderen Mädchens zurück und auch weitere Tipps werden gegeben. Dies ist umso beachtenswerter, als Sam ansonsten nicht in das soziale Miteinander in der Einrichtung eingebunden zu sein scheint und aufgrund ihrer äußeren Erscheinung und ihrer stillen Art eher eine Außenseiterposition einnimmt. Sam thematisiert ein gewaltförmiges Geschlechterverhältnis, unter dem sie aufgrund ihrer Geschlechtszugehörigkeit leidet. Diese Geschlechtszugehörigkeit wird dabei von ihr eher wie ein äußerlich bleibendes Merkmal verhandelt. Sie thematisiert ihre eigene Geschlechtszugehörigkeit nicht als Selbstbeschreibung oder vergleicht sich mit anderen Mädchen und jungen Frauen, wie es viele andere Interviewte tun. Die Figur der Nicht-Eindeutigkeit ist markant bei Sam in Bezug auf Geschlecht als sozialer Kategorie. Sam verhindert durch ihr äußeres Erscheinungsbild und ihren selbst gewählten Namen eine spontane eindeutige geschlechtliche Zuordnung – und verweigert damit eine gesellschaftliche Norm im sozialen Miteinander. „I: Hast du abgesehen vom Beruf Vorstellungen, wie du (.) leben, wohnen möchtest? Wenn die Schule vorbei is; oder in n paar Jahren? (2) Wenn dus dir so aussuchen kannst? (2) S: nee, eigentlich nich; I: mmh, (1) S: öhm (1) ich hab mehr so (.) Vorstellungen so von dem, was ich später mal machen möchte beruflich, (.) aber so (.) was privat sein wird, wo ich wohnen werde, ob ich ne Familie dann ha- (.) haben werde, (.) oder ob ich (1) öhm überhaupt n (.) n Freund mal haben werde, weiß ich nich; I: mmh, S: is: mir eigentlich auch egal, mach ich mir keine Gedanken drüber so; I: mmh, S: Hauptsache, ich hab irgendwas, wo ich (.) von öh leben kann, wo ich (.) dann halt auch wohnen kann; (.) alles andere is irgendwie nich ganz so wichtig.“ (Int. 8)106
Während Sam im Beruflichen konkrete Wünsche und Pläne hat, lässt sie offen, welche Lebensform und sexuelle Orientierung sie in Zukunft wählen wird. Dabei stellt sie vorherrschende Stereotype vom männlichen Partner und der Familiengründung in Frage, ohne sie jedoch auszuschließen. Ihre Vorstellungen von 106 „I“ steht für Interviewerin, „S“ für Sam.
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ihrem zukünftigen Privatleben wirken vielmehr wie ein offenes Feld, in dem es keine selbstverständlichen Vorgaben gibt. Wichtig ist für sie vor allem die Sicherstellung ihrer existenziellen Versorgung, denn dies ist in ihrer Lebenswelt, anders als für die Mehrheitsgesellschaft, keine Selbstverständlichkeit. 5.2 Fokussierte Fallbeschreibungen In den fokussierten Fallbeschreibungen werden im Folgenden die Interviews mit Hanna (Int. 1), Jule (Int. 3), Ela (Int. 5), Petra (Int. 6), Katrin (Int. 9), Jasmin (Int. 10) und Anja (Int. 11) vorgestellt. 5.2.1 Hanna, 22 Jahre: „Irgendwie ein komisches Gefühl, alles noch mal zu erzählen.“ Interviewsituation Hanna treffe ich während der Öffnungszeit im Mädchencafé in A-stadt. Sie setzt sich nach einer kurzen Begrüßung abseits von dem großen Tisch, der den zentralen Treffpunkt in der Einrichtung darstellt, in die Sofaecke unter einem Hochbett. Sie wirkt schüchtern auf mich, hat einen leicht gebeugten Gang und eine hohe Stimme, die für mich kindlich klingt. Hanna entscheidet sich im Vergleich zu den anderen Befragten sehr überlegt für ein Interview mit mir. Ich spreche sie an, indem ich mich und mein Projekt vorstelle und direkt mein Anliegen erkläre. Hanna wendet ein, sie würde anders als die meisten Besucherinnen keine Drogen konsumieren und bezweifelt damit, zu meiner Zielgruppe zu gehören. Ich kann diesen Zweifel ausräumen und Hanna kündigt an, sich bis zum nächsten Tag zu entscheiden und fragt auch nach, ob ich denn dann wieder im Mädchencafé sein werde. Diese Antwort habe ich während der Feldphase häufiger gehört und meistens bedeutete dies eine Absage, die ein direktes „Nein“ vermied. Deswegen bin ich auch freudig überrascht, als Hanna am nächsten Tag tatsächlich auf mich zukommt und an unser Gespräch vom Vortag anknüpft. Sie habe es sich überlegt und wolle in einer halben Stunde das Interview mit mir führen. Ich bin einverstanden. Später gehen wir in einen separaten Raum und auf dem Weg dorthin erzählt Hanna mir, dass sie aufgeregt sei. Ich frage sie nach den Gründen und sie antwortet, es sei wegen der „schlimmen Dinge“, die sie mir gleich erzählen werde. Das Interview dauert etwa 70 Minuten. Zu Beginn ist mein Einschätzung jedoch, dass dies ein sehr kurzes Gespräch werden würde, da Hanna bereits nach wenigen Minuten mit 141
leiser Stimme äußert, sie wolle jetzt nicht mehr über ihre Zeit auf der Straße sprechen. Sie wirkt sehr angespannt. Mein Eindruck ist, dass Hanna Pausen kaum erträgt und eher das Gefühl braucht, dass ich als Interviewerin das Gespräch leite, den Rahmen vorgebe und ihr damit Sicherheit biete. Anschließend erklärt sie mehrmals, auch gegenüber den Mitarbeiterinnen, wie gut ihr das Interview getan habe. Zwei Tage später treffe ich Hanna erneut und frage sie, wie sie sich im Nachhinein gefühlt habe. Sie wiederholt ihre positive Einschätzung und sagt, dass sie das Gefühl gehabt habe, ich sei wie ein „Seelendoktor“ gewesen, dem sie mal alles so erzählt habe. Sie sei zudem froh, dass sie keinen „Heulkrampf“ bekommen habe, wie früher, wenn sie über ihre Zeit auf der Straße geredet habe, und dass sie das als Fortschritt bewerte. Biografische Informationen Hanna erzählt im Interview wenig über ihre Kindheit und Jugend und das Zusammenleben mit ihren Eltern. Hanna wächst als Einzelkind auf. Sie besucht eine Sonderschule, was sie mit den Worten begründet, dass sie eine „geistige Behinderung“ habe, die man ihr nicht ansehe und durch die sie verlangsamt lerne. Die Sonderschule beendet sie mit einem guten Abschlusszeugnis. Darauf nimmt Hanna an einem beruflichen Förderlehrgang teil, um anschließend für zwei Jahre die Berufsschule im Bereich Hauswirtschaft zu besuchen. Auch hier erzielt sie gute Leistungen und ist eine der besten SchülerInnen der Klasse, worauf sie sehr stolz ist. Nach Abschluss der Berufsschule und vor dem geplanten Beginn einer Ausbildung unterbricht Hanna ihren beruflichen Werdegang. Sie beschreibt, dass sie durch die andauernden belastenden Auseinandersetzungen mit ihren Eltern überfordert war, sich um eine Ausbildung zu kümmern. Mit 20 Jahren hält es Hanna schließlich nicht mehr zu Hause aus und verlässt das Elternhaus ohne ein konkretes Ziel. Ihre Eltern machen sich daraufhin Sorgen und schalten die Polizei ein, die jedoch wegen Hannas Volljährigkeit nichts unternimmt. Hanna lebt in der Folge auf der Straße und hält sich tagsüber sowie nachts an öffentlichen und halböffentlichen Orten auf. Sie läuft bei jedem Wetter ziellos durch die Stadt und versucht, sich in öffentlichen Verkehrsmitteln auszuruhen und erholt sich stundenweise von diesem Leben, indem sie Diskotheken aufsucht, in denen sie sich sicher fühlt und Musik hört. Hanna leidet unter der Kälte, ist zunehmend erschöpft und übermüdet, da sie auch nachts kaum Schlaf findet. Sie hat außer dem, was sie am Körper trägt, keine Kleidung mitgenommen. Um sich ihren Lebensunterhalt zu finanzieren, beginnt sie, als Prostituierte auf dem Straßenstrich zu arbeiten. Nach einiger Zeit lernt sie mehrere Leute kennen, die Hanna anbieten, bei ihnen zu wohnen. Hanna nimmt dieses Angebot 142
an. Ihre neuen Mitbewohner fordern von ihr, eine Scheinehe einzugehen, Hanna weigert sich jedoch. Im Laufe des weiteren Zusammenwohnens wird sie ausgenutzt und bedroht. Die Mitbewohner nehmen Hanna beispielsweise das Geld und den Personalausweis ab, um in ihrem Namen Verträge abschließen zu können. Was sie darüber hinaus im Kontakt mit diesen Leuten erlebt, führt Hanna nicht aus, sie fasst lediglich zusammen: „Die haben mir auch richtig (…) ohne Ende Scheiße zugefügt.“ Schließlich erstattet sie Anzeige bei der Polizei und flüchtet ins Frauenhaus. Dort findet Hanna jedoch nicht die Unterstützung, die sie braucht, sondern fühlt sich unverstanden. Zudem ist sie überfordert durch die Probleme, von denen andere Bewohnerinnen ihr erzählen. Vom Frauenhaus aus kehrt Hanna für kurze Zeit zu ihren Eltern zurück, mit denen sie jedoch sofort wieder im Streit liegt. Nach einem erneuten Aufenthalt im Frauenhaus kehrt Hanna auf die Straße zurück. Sie übernachtet draußen, in seltenen Fällen bei einem Freund. Wenn Hanna nicht mehr weiterweiß, ritzt sie sich die Arme mit einer Schere auf. Sie beschreibt dies als eine Methode, um sich selbst zu helfen und sich Erleichterung zu verschaffen. Musik hören, ins Kino gehen, Geschichten schreiben und Malen sind Tätigkeiten, die ihr Spaß machen und sie schwere Zeiten für den Moment vergessen lassen. Als Hanna zum ersten Mal die Notschlafstelle Home aufsucht, erfährt sie dort von den Mitarbeiterinnen das gewünschte Verständnis. Bis auf eine Unterbrechung von ein paar Wochen übernachtet Hanna von nun an im Home, bis sie über den kirchlichen Sozialdienst eine Wohnung und eine Betreuerin vermittelt bekommt. Der Anlass dieser Unterbrechung ist, dass Hanna aus dem Home flüchtete, weil sie entgegen des Rates der Mitarbeiterinnen einen Armbruch nicht im Krankenhaus behandeln lassen wollte. Während dieser Zeit auf der Straße wird Hanna von einem älteren Mann in dessen Wohnung eingesperrt, wobei nicht klar wird, wie es kommt, dass sie sich dort aufhält. Über mehrere Tage hält dieser Mann sie gefangen, schlägt sie und fügt ihr sexuelle Gewalt zu. Ein gutes Jahr, nachdem Hanna ihr Elternhaus verlassen hatte und wohnungslos geworden war, kann sie ihr eigenes Appartement beziehen, wo sie zum Zeitpunkt des Interviews mit 22 Jahren seit mehreren Monaten lebt. Dort wird sie von einer Mitarbeiterin des kirchlichen Sozialdienstes betreut. Während dieser Zeit muss sie erneut ins Krankenhaus, um ihre Neurodermitis behandeln zu lassen. Da sie von dort wiederum flüchtet, wird sie in der geschlossenen Abteilung der Psychiatrie untergebracht, um die Behandlung zu ermöglichen. Im Krankenhaus verliebt sie sich in einen gleichaltrigen Mann, mit dem sie eine Woche lang eine glückliche Zeit verlebt. Als ihr Freund jedoch wieder mit dem Alkoholkonsum beginnt, trennt Hanna sich von ihm.
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Hanna hat vor zu versuchen, den Kontakt mit ihren Eltern wieder aufzunehmen und möchte eine Berufsausbildung beginnen. Sie wünscht sich eine dauerhafte Beziehung zu einem jungen Mann und möchte perspektivisch eine Familie gründen und damit ein neues Leben beginnen. Im Anschluss an das Interview erzählt mir Hanna noch, dass sie vergessen habe, mir im Interview etwas zu erzählen, das ihr wichtig sei. Nach wie vor schreibe sie gerne – weniger Geschichten, sondern eher eine Art Tagebuch. Fallbezogene Interpretation In der Eingangserzählung wird deutlich, wie Hanna die Wohnungslosigkeit, das Leben auf der Straße erfährt. Das Interview mit ihr beginnt wie folgt: „I: Meine Frage an dich ist, (.) einfach die Bitte mir zu erzählen, (.) wie dein Leben (.) war, auf der Straße, und wie es jetzt ist, und wies dir damit geht; und du kannst einfach damit anfangen, was du gerne erzählen möchtest, H: Also, ich hab zu Hause halt, da hab ich halt Stress mit meinen Eltern gehabt, also es lief halt nich so gut, (.) und da bin ich halt einfach von zu Hause weg gegangen, weil ich einfach kein Bock mehr hatte, (.) und (.) dann bin ich halt durch die äh Straßen ge-, einfach so durch die Gegend gelaufen, hab mich in die Straßenbahn gesetzt, irgendwo hingefahren, (.) und das (.) s war halt nich so toll gewesen, weil da bin ich dadurch bin ich auch auf die Heinrichstraße gekommen, und (.) hab halt da auch mein Geld verdient, (.) das war halt nich so schön, (2) halt doof gelaufen; (1) jetzt gehts mir halt jetzt wieder etwas besser, weil ich jetzt halt ne eigene Wohnung habe, die aber durch den kirchlichen Sozialdienst, das SkS läuft? (.) Und da hab ich auch mit den Leuten halt darüber geredet, weil ich (.) paar lange, (.) fast n Jahr auf der Straße gelebt hab; (.) wenns nachts geregnet hat, wenns kalt geworden is, bin ich durch die Gegend gelaufen; (.) mit T-Shirt, klitschnass und undund, bin von irgendwelchen Typen angepöbelt worden, undundund, (.) ((holt laut Luft)) bin fast mitm bin fast beklaut worden, undundund, das is (.) war nich so toll; und dann hab ich irgendwann so andere Leute, so komische Leute, so ausländische Leute kennengelernt, (.) ((holt laut Luft)) die ham mir halt geholfn, weil ich denen erzählt hab, dass ich au- auf der Straße lebe? (.) und dann ham die gesagt, ich kann ja zu denen kommn, (.) da isses ja auch warm, -emütlich und so, (.) und da ham die mich da gefragt, ja und was ich da denn auch von heiraten auf Papier, halte, also das warn Jugoslawen, (1) ich war damit nich so einverstanden gewesen; ich hab auch gesagt, dass ich das nich so gerne will, und so; (.) aber auf der andern Seite tats mal gut, weil ich: (.) für ne Zeit auf der Straße weg war, (.) die warn auch am Anfang total nett zu mir, (.) nur irgendwann hats au Streit gegeben, undundund da bin ich
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dann auch wieder abgehauen, dann hab ich auch wieder auf die Straße gel-, oh Ma:nn, und (.) war nich so toll; (1) °will ich jetzt nichts mehr zu sagen°;“(Int. 1)107
Hanna reiht in dieser Eingangserzählung Ereignisse und Erfahrungen aneinander, ohne sie in einen zeitlichen oder räumlichen Kontext oder in Bezug zueinander zu setzen. Die zunehmende Zahl der Betonungen und auch das laute Luftholen zeigen ihre emotionale Beteiligung beim Reden. Die Erzählung wirkt rastlos, es gibt überwiegend unabgeschlossene Sätze. Das wiederholte „und“ an mehreren Stellen im Text zeigt an, dass Hanna sehr viel mehr Unangenehmes erlebt hat, als sie an dieser Stelle erzählt bzw. erzählen kann. Diese Erzählweise führt zusammen mit dem Inhalt dazu, dass Hannas Erzählung vom Leben auf der Straße befremdlich und nahezu alptraumhaft wirkt. Hanna verlässt ihr Elternhaus im Alter von 20 Jahren, weil sie die anhaltenden Streitigkeiten dort nicht mehr ertragen kann. Sie hatte offensichtlich zuvor keine Kontakte zu einer Straßenszene. Hanna beschreibt an keiner Stelle des Interviews positive oder gar attraktive Seiten des Lebens auf der Straße. Die Straße ist kein Ort, an dem Hanna sich wohlfühlt; sie ist nicht Ziel ihrer Flucht, sondern ein Durchgangsraum. Hanna geht ausschließlich auf die Straße aus Mangel an Alternativen. Sie ist „draußen“, weil es für sie kein erträgliches „Drinnen“ gibt. Die Straße wird hier dargestellt als ruheloser Transitraum und hebt sich dabei deutlich ab von anderen Erzählungen, in denen die Straße auch als attraktiver Lebensort und Aufenthaltsraum beschrieben wird, in dem „Rumhängen“ und „Abhängen“ als Aktivitäten benannt werden. Hannas Erzählungen sind orientiert auf die Überwindung der Vergangenheit auf der Straße. Dies möchte ich im Folgenden an zwei thematischen Beispielen aus dem Interviewtext ausführen. Im ersten Ausschnitt reflektiert Hanna die Erfahrung des Erzählens in der Interviewsituation mit mir. Im zweiten Ausschnitt erzählt sie von ihrem Wunsch, den richtigen Mann zu finden und mit ihm ein neues Leben zu beginnen. Erzählen als Entlastung Gegen Ende des Interviews resümiert Hanna wie folgt: „H: Irgendwie n komisches Gefühl, alles noch mal zu erzählen, I: Ja, (4) H: °Aber auch ganz gut,° (2) I: Was is komisch? 107 „I“ steht für Interviewerin, „H“ für Hanna.
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H: Ja, weil dann alles irgendwie dann wieder hoch kommt, und (.) ne Zeit lang auch jemanden dann wieder beschäftigt, und so, (.) aber man muss mit allem anfangen, irgendwann einmal zu verarbeiten, die ganzen Sachen; (3) I: Ich hatte dich ja gestern gefragt, ne, [du hast gesagt, du überlegst es dir, H: [Ich hatte auch Lust dazu gehabt, (…) I: Was tut daran gut, es zu erzählen? H: Dass mans verarbeiten kann, weil (1) (weiß das) weil das nämlich seelische Probleme mit sich bringt, weil es dann zu sehr belastet, und dann tut man sich nachher wieder irgendwas an, weil man mit der ganzen Scheiße nich fertig wird, und so; (.) dann denkt man, ach ich hab doch keinen zum Reden, und da kann man (.) mal alles erzählen, und alles rauslassen; (.) und das tut gut; (10)“ (Int. 1)108
Hanna ist die einzige der Interviewten, die sich, wie oben bereits beschrieben, mit dieser Motivation bewusst für das Interview, also für das Erzählen ihrer Geschichte, entscheidet. Das Erzählen beschreibt sie als Strategie, um Belastendes zu bewältigen, es „rauszulassen“, und entwirft damit ein Bild von Erlebnissen, die man als Last in sich trägt und durch das Erzählen loswerden kann. Gleichzeitig wendet sie damit eine Strategie an, die frühere Bewältigungsformen, wie das selbstverletzende Verhalten, überflüssig machen soll. Diese Bewältigungsformen will sie damit als Teil ihrer Vergangenheit überwinden und hinter sich lassen. Zugehörigkeit durch Familiengründung mit dem „richtigen Mann“ Ein weiteres Thema, an dem sich Hannas Orientierung deutlich zeigt, ist das der Suche nach dem „richtigen“ Mann als Voraussetzung dafür, eine Familie gründen zu können. Sie setzt dies in Kontrast zu ihren Erfahrungen auf dem Straßenstrich während ihrer Wohnungslosigkeit. Der folgende Ausschnitt weist im Vergleich zum restlichen Interview eine hohe emotionale Dichte und eine längere selbstläufige Erzählung auf. Während andere Abschnitte im Interview eher dialogisch verlaufen, werde ich hier als Interviewerin an zwei Stellen sogar von Hanna unterbrochen. „H: Aber der richtige Mann, der muss auch noch dazu kommen (ja) (1) das wird @nich so einfach@, I: Nee? H: Nä, (2) I: Was is daran schwierig? (.) 108 „I“ steht für Interviewerin, „H“ für Hanna.
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H: Kennenzulernen, (1) s irgendwie, weil wenn de so auf der Straße so die Leute kennenlernst, (.) weiß nich, (.) die wolln immer sofort das Eine haben so; (.) Beziehung wollnse nich haben; und das is nich so für mich, ich möchte eher, wenn dann ne Beziehung haben; (1) nich nur für das Eine, das is mir zu wenig; (4) I: Männer, die du kennenlernst, (wolln das Eine,) H: Nee, wolln nur mal eben eine Nacht, und das wars dann. (1) ((räuspert sich)) und da will ich aber nich. (1) Da wird ich aggressiv, und dann (.) flipp ich aus, °und so;° wenn der Typ da mir dann auf der Straße, dann schrei ich den auf der ganzen Straße an; weil (.) ba ich will das nich; der soll mich in Ruh lassen °damit° (.) I: Hast du das schon erl[ebt, H: [Ja klar, schon häufiger; (.) und ich bin total ausgeflippt; auch gestern wieder so; (.) Typ so ja der sagt, ich geb dir fünfzig Euro, <<schneller gesprochen> und hab ich gesagt, steck dir deine fünfzig Euro,> oder hundert Euro in deinen Hi- (.) deinen Hintern, so das, zieh Leine, ich will das nich, (1) hab ich keinen Bock drauf, (3) I: Der hat dich einfach auf der Straße ange[sprochen, H: < [Ja:, der ja,> der hat mich schon mal gesehen, wir ham uns auch schon mal unterhalten, (.) und jetzt ham wa uns längere Zeit nich mehr gesehn, da meint da (.) zu mir, ich soll doch mit zu ihm nach Hause gehn, (1) ich wusste auch was zu Hause und da hab ich gesagt, ä ä (.) auf gar keinen Fall. Bin ich ausgeflippt ey, (1) ((räuspert sich)) (.) I: Du bist ausgeflippt? H: Ja, n bisschen ausgerastet, (.) weil der der, ich wusste, dass der mit mir (.) Sex haben will, und das will ich nich, (1) wenn dann will ich das, wenn man mich aus Liebe, und nich einfach nur so, (.) wenn Geld dann die Rolle spielt, schon gar nich; weil Geld spielt in so nem Fall für mich überhaupt keine Rolle. Sondern Liebe und Gefühle, spielen da ne Rolle für mich, (4) I: Was machst du wenn du ausflippst? H: Naja ich hau nich g- gleich zu, ich: (.) sag denen, hör auf damit, wie auch gesagt, steck dir das Geld sonst wohin, hab ich ihm gesagt, (.) <hau ab,> (.) lass mich in Ruh, (.) und weg war ich. I: Bist dann lauter, H: Ja:, (.) das muss ich mir ja nich gefallen lassen so was ey, (2) ich sach, wenn de so was willst, geh oben, (.) Heinrichstraße109; (1) das wars (2) I: Ja? H: Ja klar, (2) °ja sicher°, (1) I: Und dann wara ruhig; H: Da issa weg gegangen; ich bin in die Richtung, und er in die andere Richtung gegangen, (1) und tschüß.“110
Hanna ist auf der Suche nach einem Mann, der sie nicht als Prostituierte sieht, dessen Verhältnis zu ihr und dessen Blick auf sie frei ist von den Prinzipien der 109 Die Heinrichstraße ist der Ort des Straßenstrichs in A-stadt. 110 „I“ steht für Interviewerin, „H“ für Hanna.
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Prostitution und damit von den Lebensverhältnissen auf der Straße. Wie dieser Mann sein soll, beschreibt sie in der Kontrastierung zum typischen Mann auf der Straße als negativem Gegenhorizont. Hanna wehrt sich lautstark und aggressiv gegen einen Mann, der mit ihr einmaligen Sex will und ihr dafür auch Geld anbietet. Dabei geht es nicht um die Abwehr einer physischen Bedrohungssituation, sondern um das Abwehren des Anliegens dieses Mannes. Die Zumutung, mit einem solchen Anliegen in Berührung zu kommen, macht Hanna wütend, es ekelt sie an. Es reicht nicht aus, einfach abzulehnen, sie muss den Mann regelrecht verjagen. Sie schickt ihn am Schluss triumphierend aus ihrer aktuellen Lebenswelt dorthin, wo er ihrer Meinung nach mit seiner Einstellung richtig ist: auf den Straßenstrich. Er folgt ihrer Anweisung und sie verlassen den Schauplatz in entgegengesetzten Richtungen. Hanna verlässt in dieser Erfahrung die passive Haltung als Prostituierte auf dem Straßenstrich, wo sie im öffentlichen Raum für die Freier verfügbar sein musste, um Geld zu verdienen. Sie setzt ihre eigenen Vorstellungen vom Geschlechterverhältnis und den Bedingungen von Sexualität aktiv durch und demonstriert dabei ein offensives, Raum aneignendes Verhalten. Mit dem Bezug zur Heinrichstraße wird deutlich, dass die Suche nach dem richtigen Mann eng verknüpft ist mit der Bewältigung der Erlebnisse auf dem Strich und dem Stigma der Prostituierten.111 Hanna strebt den Zugang zu Lebensverhältnissen an, die als normal anerkannt sind, indem sie sich auf ein Geschlechterverhältnis und eine Form von Sexualität bezieht, die dem Stigma der Prostitution fern sind. Sexualität, also die intime gegengeschlechtliche Begegnung, wird hier befreit von materiellen Bedingungen und ist untrennbar konnotiert mit Liebe als einem dauerhaften Gefühl. In Zukunft möchte Hanna ein neues Lebens beginnen. „I: Wenn du jemand Neues kennenlernst, (1) ähm (.) erzählst du dann von deiner Zeit auf der Straße? (.) H: Ich will das lieber vergessen, weil dann beginnt für mich n neues Leben; (.) weil ich weiß, da is jemand da der mich (.) ernst nimmt, der es ehrlich mit mir meint, (.) der mich liebt, und (.) da will ich das eher vergessen; (5)“112
Der Wunsch nach der aufrichtigen Liebe eines Mannes zeigt mit der Formulierung „dann beginnt für mich ein neues Leben“ deutlich Hannas Motiv, die Vergangenheit zu überwinden und hinter sich zu lassen. Ihre Konstruktion von Normalität bezieht sich auf diese Art der Partnerschaft als Basis für die Grün111 Hanna formuliert im obigen Zitat die Tatsache, dass sie den Mann bereits vor diesem Vorfall kannte, mit den Worten: „der hat mich schon mal gesehen“. Das lässt auch die Interpretation zu, dass sie diesem Mann zuvor bereits auf der Heinrichstraße begegnet war, als sie dort noch anschaffen ging. 112 „I“ steht für Interviewerin, „H“ für Hanna.
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dung einer Kleinfamilie, von der sie im Interview konkrete Vorstellungen äußert, vom Geschlecht und der Anzahl der Kinder bis hin zur Inneneinrichtung des gemeinsamen Heims. 5.2.2 Jule, 18 Jahre: „Wirklich interessiert hat es ja auch keinen, was mit mir passiert so.“ Interviewsituation Jule treffe ich abends in einer Notschlafstelle für Jugendliche in C-stadt, es ist zwei Wochen vor Weihnachten. Sie hat schulterlange schwarze glatte Haare und trägt eine weite sportliche Hose, ein Sweatshirt und Turnschuhe. Gemeinsam mit Silvia, einer anderen Besucherin, dominiert Jule lautstark das Geschehen in dem kleinen Aufenthaltsraum der Notschlafstelle. Die beiden sind neben sechs männlichen Jugendlichen die einzigen anwesenden jungen Frauen in dieser Nacht. Jule wirkt auf mich zunächst selbstbewusst, sie scheint keine Scheu davor zu haben, ihre Meinung zu sagen und anderen zu widersprechen, auch nicht gegenüber den männlichen Besuchern. Auch bei der Diskussion darum, wer in welchem Zimmer schläft, setzt sie sich mit, wie ich finde, routinierter Selbstverständlichkeit durch. Jule erklärt sich auf meine Frage hin ohne Zögern bereit, mir ein Interview zu geben, möchte damit jedoch lieber bis zum nächsten Tag warten. Nach dem Aufwachen am nächsten Morgen klagt Jule über Unterleibsschmerzen und wird mit einer Wärmflasche versorgt. Außerdem erzählt sie, sie wisse nicht, wie sie nach dem Schließen der Notschlafstelle die Zeit überbrücken soll, bis ihr Freund mittags aus der Schule kommt und sie dann zu ihm nach Hause gehen kann. Eine Mitarbeiterin erinnert Jule an die Verabredung, die sie mit mir zum Interview getroffen hat und schlägt vor, den Vormittag dafür zu nutzen. Jule ist einverstanden und wir vereinbaren, das Interview im Selbstbedienungsrestaurant eines nahe gelegenen Kaufhauses zu führen. Das Restaurant ist an diesem Morgen sehr voll. Jule bestellt sich einen Kakao und wir setzen uns an einen der wenigen freien Tische. Da es sehr gut möglich ist, Gespräche am Nachbartisch mitzuhören, zumal man wegen des Geräuschpegels recht laut reden muss, habe ich zunächst Bedenken, ob dies der geeignete Ort für ein Interview ist. Diese Bedenken erweisen sich im Laufe des Interviews, das mit einer Dauer von fast 80 Minuten zu den längsten in dieser Untersuchung zählt, als unbegründet. Jule erzählt in zum Teil sehr langen narrativen Frequenzen konzentriert aus ihrem Leben, auch über intime Themen wie Sexualität. Sie benötigt wenig Input von meiner Seite und ihre Antworten gehen 149
thematisch häufig über die von mir gestellten Fragen hinaus. Seltener als dies in einem betriebsamen Restaurant anzunehmen wäre, richtet Jule ihre Aufmerksamkeit auf das Geschehen um sie herum. Sie hält Ausschau nach Bekannten und kommentiert das Aussehen von Frauen, die sie sieht. Jule zeigt sich müde von der vorherigen langen Nacht und äußert gegen Ende des Interviews den Wunsch nach einem Bett. Anders als bei allen anderen Interviews, die ich in den jeweiligen Einrichtungen führe, bin ich mit Jule auf dem Hin- und Rückweg sowie im Kaufhaus für längere Zeit zu zweit unterwegs. Ich empfinde es als eine ungewohnte, aber auch angenehme Situation und Jule scheint es, neben der Motivation, Zeit überbrücken zu müssen, auch interessant zu finden. Sie war noch nie in dem betreffenden Kaufhaus und hält Ausschau nach einem Weihnachtsgeschenk für den kleinen Bruder ihres Freundes, deshalb halten wir uns eine Weile in der Spielzeugabteilung auf. Später hilft sie mir, den Kassenautomaten des Parkhauses zu bedienen. Ich lerne Jule in einer ausgelasseneren, kindlicheren Stimmung kennen, die mein Bild von ihr, das ich mir die Nacht davor gemacht habe, erweitert. Zudem stellt für mich diese gemeinsame Zeit vor und nach dem Interview eine ausgleichende Rahmung, einen Einstieg und Ausklang der intensiven Interviewsituation dar. Biografische Informationen Jule ist zum Zeitpunkt des Interviews 18 Jahre alt und hält sich vor allem in C-stadt auf, einer mittleren Großstadt. Sie ist wohnungslos und übernachtet entweder in der Notschlafstelle, bei Bekannten, bei ihrem Freund oder feiert die Nächte in Diskotheken durch. Jule wächst mit ihrer Mutter und ihrem Vater, später mit ihrer Mutter und dem Stiefvater in Z-stadt auf. Sie hat keine Geschwister. Aus dem Interview geht hervor, dass Jule zeitweise ausschließlich mit ihrer Mutter zusammengelebt hat, dieser Zeitraum lässt sich jedoch nicht genauer rekonstruieren. Sowohl mit dem Vater als auch dem Stiefvater macht Jule in ihrer Kindheit und Jugend schlechte Erfahrungen. Sie erzählt, ihr Vater habe sie bis zu einem Alter von elf bis zwölf Jahren am Wochenende verprügelt, wenn er von der Arbeit nach Hause kam. Was der Stiefvater ihr getan hat, schildert Jule nicht. Sie stellt lediglich fest, dass dieser, genau wie ihr Vater, ihr gegenüber „viel Scheiße gebaut“ habe. Das Verhältnis zu ihrer Mutter beschreibt Jule als ambivalent: sehr konfliktträchtig, wenn sie zusammenwohnten und harmonischer, wenn sie mehr Distanz zueinander hatten. Zum Zeitpunkt des Interviews hat Jule seit mehreren Mona-
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ten keinen Kontakt mehr zur Mutter. Ihren Vater hat sie seit fünf Jahren nicht mehr gesehen. Jules Kindheit und Jugend sind von häufigen Umzügen und Ortswechseln geprägt – sie nennt eine Größenordnung von 25 bis 30 Umzügen. Dies ist zum einen dadurch bedingt, dass sie zusammen mit ihrer Mutter öfter die Wohnung gewechselt hat. Zum anderen pendelt Jule vom frühen Jugendalter an zwischen dem Wohnen bei der Mutter, kurzzeitigen Aufenthalten in Einrichtungen der Jugendhilfe und dem Übernachten bei FreundInnen und Bekannten. Ihren Lebensmittelpunkt bildet dabei, abgesehen von einem längeren Auslandsaufenthalt, durchgehend und in zunehmenden Maße die Straße. Den Lebensunterhalt sichert sie sich als Minderjährige neben Betteln und Dealen durch die Versorgung in sozialarbeiterischen Einrichtungen wie der Bahnhofsmission. Mit 13 Jahren lebt Jule für sechs Wochen in einem Heim in V-stadt, bevor sie wieder zu ihrer Mutter zieht. Mit 14 Jahren wird Jule von ihrer Mutter erneut aus der Wohnung verwiesen. In der Folge übernachtet sie wechselweise in einer Notunterbringung und bei einem Freund. Während dieser Zeit beginnt Jule auch mit dem „Feiern“ in Diskotheken, vor allem dem „Nachtwerk“ in Z-stadt. Seit sie zwölf Jahre alt ist, raucht Jule Haschisch und Marihuana und dealt mit diesem Stoff. Nun steigt sie auf aufputschende Substanzen um und finanziert ihren intensivierten Drogenkonsum weiterhin durch Dealen. Im „Nachtwerk“ lernt Jule einen Jungen kennen, mit dem sie einige Zeit zusammen ist. Durch ihn wird sie in die Bahnhofsszene in C-stadt eingeführt, wo sie sich auch noch nach dem Ende der Beziehung aufhält. Im Laufe ihrer schulischen Karriere wird Jule von drei Hauptschulen verwiesen bzw. verlässt sie von sich aus. Mit 15 Jahren wird sie für 19 Monate im Rahmen eines Auslandsprojektes der Jugendhilfe nach Italien geschickt und erfährt damit eine Zeit außerhalb ihrer bisherigen Lebenswelt. Hier hat sie Gelegenheit, im Einzelunterricht ihren Hauptschulabschluss vorzubereiten, den sie später in einer externen Prüfung besteht. Jule wird psychologisch betreut und lebt auf einem Bauernhof, auf dem sie vor allem handwerkliche Arbeiten erlernt. Im Juli 2001 kehrt Jule nach Deutschland zurück. Hier beginnt sie eine Ausbildung zur Kinderpflegerin und besucht die Berufsschule. Sie bricht das Ganze jedoch nach kurzer Zeit ab. Kurz nach der Rückkehr aus Italien fährt Jule mit FreundInnen zur Love Parade nach Berlin und betrinkt sich bereits vorher über mehrere Tage. In Berlin angekommen traut sie sich trotz vermuteter Alkoholvergiftung nicht, ein Krankenhaus aufzusuchen, da sie als minderjährige Trebegängerin polizeilich gesucht wird.
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In der Folge knüpft Jule wieder an ihr Leben vor dem Auslandsaufenthalt an. Sie pendelt zwischen Jugendhilfeeinrichtungen, der Mutter und Übernachtungen bei FreundInnen und Bekannten und hat wiederum ihren Lebensmittelpunkt auf der Straße und in Diskotheken. Jule beginnt erneut mit dem Drogenkonsum, nachdem sie in Italien über 19 Monate eine weitgehend drogenfreie Zeit verlebt hat. Nach Jules 18. Geburtstag wirft ihre Mutter sie endgültig aus der Wohnung. Eine weitere Jugendhilfemaßnahme bricht Jule nach kurzer Zeit ab, obwohl sie diese selbst beantragt hatte. Seit dieser Zeit ist sie durchgängig wohnungslos und sucht unregelmäßig eine Notschlafstelle für Jugendliche in C-stadt auf. Sie lebt in der Hauptsache von Sozialhilfe und dem, was sie beim Dealen und Betteln verdient. Seit gut einem Monat hat Jule einen neuen Freund, der zwei Jahre jünger ist und wie sie Drogen konsumiert. Der Freund besucht eine Schule und wohnt mit seiner Mutter und Großmutter zusammen. Neben den Plänen, einen Ausbildungsplatz und eine Wohnung zu finden, wünscht sich Jule, ihren Freund, mit dem sie sich bereits verlobt hat, zu heiraten. Fallbezogene Interpretation Durch das Interview zieht sich wie ein roter Faden das Thema der sozialen Bezüge sowie deren existenzielle Bedeutung in ihrer Lebenswelt. Auffällig ist, dass Jule an keiner Stelle von Notlagen berichtet in Bezug auf Schutz vor Kälte, Essen, der Suche nach einem Schlafplatz oder problematischen hygienischen Verhältnissen, die in anderen Interviews thematisiert werden. Jules Schilderungen fokussieren auf soziale Beziehungen und Verhältnisse, auf ihre Vorstellungen von sozialem Zusammenhalt und von Freundschaft und den Enttäuschungen, die sie diesbezüglich erlebt. Ihr Wohlbefinden und ihr Überleben sind eng mit dieser Dimension ihrer Lebenswelt konnotiert. Ich werde im Folgenden zunächst auf die Eingangserzählung eingehen, die mit der folgenden Erzählaufforderung beginnt: „I: Ich hab einfach ne ganz allgemeine Frage, (1) ähm, (.) dass ich dich bitten möchte, mir zu erzählen, wie dein (.) L:- (.) von dir zu erzählen, wie dein Leben in den letzten Jahren aussah, J: [Scheiße, @(1)@ I: [u:nd (.) wies jetzt aussieht. Und (1) du kannst mit dem anfangen (.) was du so willst.“113
113 „I“ steht für Interviewerin, „J“ für Jule.
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Die Eingangsfrage des Interviews, nämlich die Aufforderung zu erzählen, wie ihr Leben in den letzten Jahren verlaufen ist und wie es heute aussieht, nimmt Jule als Anlass zum Bilanzieren. Noch bevor ich die Frage beendet habe, fasst Jule zum ersten Mal mit einem prägnanten Begriff zusammen, wie sie ihr Leben in den letzten Jahren bewertet.114 Sie beurteilt es mit dem Wort „Scheiße“ als im Ganzen negativ und unangenehm. In der folgenden Eingangserzählung zählt sie chronologisch räumliche Stationen ihres Lebens auf, im Schwerpunkt ab ihrem 14. Lebensjahr. Diese einzelnen Stationen beschreibt sie nicht näher, sondern benennt die Ortswechsel recht zusammenhang- und übergangslos nacheinander. Als Einschnitt beschreibt Jule ihren 18. Geburtstag, an dem ihre Mutter sie „endgültig“ der Wohnung verweist, nachdem sie in den Jahren davor zwischen ihrer Mutter, Jugendhilfeeinrichtungen und der Straße gependelt war. Auch muss sie die Jugendhilfemaßnahme, die sie daraufhin als junge Erwachsene bewilligt bekommen hatte, bereits nach zwei Monaten verlassen. Die qualitative Veränderung besteht aus ihrer Sicht darin, dass sie nun durchgehend auf der Straße lebt. Bei ihrer aktuellen wohnungslosen Lebenssituation angekommen, beendet sie diese Aufzählung mit einer evaluierenden Bemerkung, die an ihren anfänglichen Kommentar während der Eingangsfrage anknüpft. „J: Also ich find eigentlich alles ziemlich (.) Scheiße (.) äh im Moment. (3) Ja und jetzt durch meinen Freund, ja, hab ich überhaupt wieder Lust, irgendwas zu machen so. (.) Ich hab eigentlich die ganze Zeit so nur gedacht, ja, (.) schmeiß dir die Drogen inne Birne, (.) is egal; (2) interessiert eh kein Schwein, (.) ja und jetzt bin ich mit meinem Freund seit übern Monat zusammen, (2) und jetzt klappt dat. (2) I: S klappt? J: Ja: s geht, s geht seine Wege, sagen wirs mal so; (.) also ich bin (.) zum Beispiel meine ganzen Amtsgänge, hab ich mir jetzt eigentlich gemacht so, (2) wenn ich den nich gehabt hätte, glaub ich, hätt ich dat nich gemacht.“115
Jule schreibt ihrem Freund die Bedeutung zu, einen grundlegenden Wandel in ihrem Leben ermöglicht zu haben. Dies wird in weiteren Interviewausschnitten im Kontext ihrer Orientierung auf familiäre soziale Bezüge verständlich. Den Ausschluss aus normalen Lebensverhältnissen erfährt Jule durch den Verlust der Herkunftsfamilie als unterstützenden und sorgenden sozialen Zusammenhang, was sie als Grund für ihre verzweifelte Selbstaufgabe in Form des starken Drogenkonsums benennt. 114 Eine die Erzählaufforderung unterbrechende Bemerkung seitens der Interviewten kommt in keinem weiteren Interview vor. Ich bin davon als Interviewerin deshalb so irritiert, dass ich einen Teil der Erzählaufforderung weglasse. 115 „I“ steht für Interviewerin, „J“ für Jule.
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„J: Ich hab immer gesagt, irgendwann sterb ich durch die Teile116 auf jeden @Fall;@ I: mmh, (2) echt, so arg? (1) J: ach dat eigentlich weniger, so viel fress ich gar ni-, also so viel Teile nehm ich gar nich aber (1) weiß ich nich; da- hab ich mir immer gewünscht so; weil (.) das is halt einfach n total geiles Feeling, so und (3) ne, (3) und wirklich interessieren, tha-, interessiert hats ja auch keinen; (.) wat mit mir passiert so; I: mmh (.) J: also meine Mutter nich, meinen Vater nich, un- (.) keine Ahnung; (.) ja jetz hab halt schon wieder jemanden so; mein Freund, (.) dem seine Mutter, (.) dem seine Omma, (.) die sagt immer Kind der Liebe zu mir, (1) sag ich immer näh, dat kann nich sein; [@(1)@ I: [@(1)@ (2) J: aber ischon schön; I: °mmh° (.) J: is zum Beispiel auch (.) schön zu wissen so, (.) dat man (.) zu Weihnachten (.) gern gesehn is so; zum Beispiel jetz dieses Jahr so (1) meinte die Oma letztens so zu mir, und meinen Freund so, (1) ja ä (.) Heilig Abend machen wa dann schön Bescherung und nee du bist ja dann a- sowieso hier die über die Feiertage, woll ich will ich ja mal hoffen, sagt sie so; ich so ja toll, (.) korrekt so; also richtig schön; (1) I: mm, (3) J: ja; (1) ich freu mich auch drauf a; I: mmh (2) J: genauso wie gestern abend; dat fand ich total blöde; (.) wo ich so meinte, ja, vielleicht komm ich euch ja am am Heilig Abend mal kurz besuchen so; (.) ja wofür denn; um deine Geschenk-, um dein Geschenk abzuholen? Ich so wa- wofür soll ich mein Geschenk abholen, wenn ich ne supergeile Bescherung zu Hause hab so.“117
In der Vergangenheit beschäftigte sich Jule mit der Aussicht auf einen frühen Tod, der von ihr nicht als bedrohlicher Ausgang exzessiven Drogenkonsums, sondern als berauschendes Erlebnis beschrieben wird. Ihr Leben und ihre Unversehrtheit, für die sich ihre Eltern aus Jules Perspektive nicht interessierten und interessieren, stellten sich für sie deshalb als weitgehend wertlos dar, wodurch die Lebensbedrohung durch den unkontrollierten Drogenkonsum Attraktivität gewann. Den positiven Gegenhorizont, das familiäre Ideal, konstruiert Jule anhand der Herkunftsfamilie ihres Freundes.118 Die Beziehung zu ihrem Freund eröffnet 116 „Teile“ ist in den entsprechenden Szenen (Drogenszene, Technoszene) eine synonyme Bezeichnung für Ecstasy und andere synthetische aufputschende Drogen in Pillenform. 117 „I“ steht für Interviewerin, „J“ für Jule. 118 Die Brüchigkeit dieses familiären Zusammenhalts des Freundes zeigt sich, als Jule am nächsten Abend in die Notschlafstelle kommt und ankündigt, dass ihr Freund eventuell auch noch käme, da er nach einem Streit mit seiner Mutter von zu Hause abgehauen sei. Die Überra-
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Jule den Zugang zu familiärer Zugehörigkeit. In der Aufzählung, wen sie als sorgende Menschen in ihrem Leben dazugewonnen hat, erwähnt sie die Mutter und Großmutter119 in gleichwertiger Bedeutung mit ihrem Freund. Die Oma des Freundes bezeichnet Jule wertschätzend als „Kind der Liebe“, was Jule freut, obwohl sie dies, vermutlich in Bezug auf ihr Verhältnis zu ihren Eltern (und das der Eltern untereinander), verneint. In der Darstellung der Einladung der Großmutter an Jule, Heilig Abend mit ihnen zu verbringen, transportiert Jule eine Selbstverständlichkeit des Einschlusses, die ein konstitutives Element von Familie ist. Zugehörigkeit muss man sich hier nicht erkämpfen oder verdienen, sondern man gehört aufgrund einer liebevollen Verbindung unhinterfragt dazu. Den familiären Anschluss deutet Jule gleichzeitig als den Anschluss an normale Lebensverhältnisse und den Ausstieg aus der Lebenswelt Straße. Die weihnachtliche familiäre Zugehörigkeit konstituiert für Jule ein Zuhause und entfremdet sie von der Notschlafstelle als ein Zufluchtsort für Jugendliche ohne eigenes Zuhause, in der sie in naher Zukunft einen distanzierten Besucherstatus innehaben wird. Die aktuelle problematische Lebenswelt wird in dieser Konstruktion der Vergangenheit zugeordnet, Jule distanziert sich von den anderen jungen Menschen in der Notschlafstelle, die wie sie auf der Straße leben, und erreicht damit eine normalisierte Darstellung ihrer aktuellen Lebensverhältnisse. 5.2.3 Ela, 23 Jahre: „Ich werde irgendwann für immer daheim bleiben.“ Interviewsituation Ela treffe ich während der Öffnungszeit im Café Stern in C-stadt. Am ersten Tag meiner Feldphase in der Einrichtung erzähle ich einer Gruppe von Besucherinnen, die um einen Tisch sitzen und unter denen auch Ela ist, von meinem Forschungsvorhaben. Ela wirkt auf mich im Gespräch im Gegensatz zu vielen anderen Anwesenden eher ruhig, dabei aber durchaus präsent und selbstbewusst. Ihr Alter schätze ich auf Ende 20 oder Anfang 30, tatsächlich ist sie wesentlich jünger, nämlich 23 Jahre alt. Als Ela am nächsten Tag damit beschäftigt ist, ihre Kleidung in die Waschmaschine zu füllen, nutze ich diesen ruhigen Moment im separaten Raum und frage sie, ob sie bereit wäre, mit mir ein Interview zu führen. Sie stimmt spontan zu unter der Bedingung, dass wir sofort damit anfangen, schung, mit der ich auf diese Ankündigung reagierte, führte mir vor Augen, wie schlüssig und eindrücklich Jule im Interview das Ideal der sorgenden und intakten Familie gezeichnet hatte. 119 Interessant ist auch, dass Jule hier eine Familie ohne Vater gefunden hat, den sie ja in ihrer Herkunftsfamilie als gewalttätig erlebt hat.
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denn sie habe es aufgegeben, Termine zu vereinbaren, da sie diese erfahrungsgemäß nicht einhalte. Wir führen das Interview auf Elas Wunsch im betriebsamen Aufenthaltsraum des Café Stern. Ela antwortet offen auf meine Fragen und erzählt unter anderem in längeren narrativen Abschnitten, in denen sie thematisch über meine Fragestellung hinausgeht. Trotzdem hat das Interview an vielen Stellen aufgrund kurzer Nachfragen und einiger weniger Kommentare meinerseits dialogischen Charakter. Bei diesen Nachfragen geht es mir als Interviewerin darum, das Gesagte zu verstehen bzw. Ela aufzufordern, einzelne Bemerkungen vertiefend zu explizieren. Ela geht darauf zumeist bereitwillig ein. Mein Eindruck ist, dass sie diese konkreten Fragen als unterstützend beim eher ungewohnten Erzählen erlebt.120 Einen bemerkenswerten Verlauf nimmt das Interview, als Ela gerade unter Tränen das Verhältnis zu ihren Eltern erzählt und in dieser Situation ans Telefon gerufen wird, weil ihre Mutter am Apparat ist. Obwohl dies ein zufälliges Zusammentreffen zweier Ereignisse ist, wirkt es in der zeitlichen und thematischen Abstimmung wie inszeniert. Ela behauptet später, ihre Mutter habe noch nie zuvor im Café Stern angerufen. Dieser Anruf verändert die traurige Stimmung durch Elas Glücksgefühl, mit ihrer Mutter geredet zu haben, und sie erzählt wiederholt von ihren Plänen, zu ihren Eltern zurückzukehren. Besonders in Erinnerung bleibt mir auch die Situation, als Ela mir erzählt, ihr Freund habe sie geschlagen. Obwohl Ela bereits in den ersten Sätzen thematisch auf die Beziehung zu ihrem Freund Erkan fokussiert, erwähnt sie diesen Aspekt der Gewalt erst in der Mitte des Interviews. Ich frage nach, ob Erkan sie schon mehrmals geschlagen habe und bin überrascht zu hören, dass Gewalt alltäglich ist in dem siebenjährigen Verhältnis. Ela benennt eine Regelmäßigkeit von jedem zweiten Tag. Im Anschluss rechtfertigt sie wortreich seine Übergriffe, indem sie darlegt, ihr provokatives und wenig gehorsames Verhalten ihm gegenüber fordere seine gewalttätige Reaktion heraus. Ich habe im Interview Schwierigkeiten, dieses alltägliche Ertragen von Gewalt in Einklang zu bringen mit meinem Bild von Ela als durchsetzungsfähiger und selbstbewusster Frau – und lerne im weiteren Kontakt mit Ela während der Woche im Café Stern, dass das eine das andere durchaus nicht in Frage stellt.121
120 Dies unterscheidet sich von anderen Interviewsituationen, wie beispielsweise mit Lele (Kapitel 5.1.3) oder mit Katrin (Kapitel 5.2.5), bei denen ich als Interviewerin den Eindruck hatte, vor allem deshalb nachfragen zu müssen, weil die Interviewten nur zögerlich etwas von sich preisgeben. 121 Dabei wurde ich mit meinen Vorstellungen über Frauen, die in gewalttätigen Beziehungen leben, konfrontiert und war gefordert, mich damit kritisch auseinanderzusetzen.
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Biografische Informationen Zum Zeitpunkt des Interviews lebt Ela seit vier Jahren in D-stadt auf der Straße. Die biografischen Daten bis zu diesem Zeitpunkt lassen sich nur bruchstückhaft und zum Teil unter Vorbehalt rekonstruieren. Ela wird als jüngstes Kind türkischer Eltern geboren. Sie wächst auf in einer Kleinstadt in der Nähe von D-stadt. Eindrücke und Details aus ihrer Kindheit erzählt sie in einem Gespräch beim Mittagessen mit anderen Besucherinnen im Café Stern, das ich protokolliert habe und im Folgenden als Zitat wiedergeben werde. „Beim (Nach-)Mittagessen122 entsteht ein Gespräch über Essen und Religion. Ela erzählt, wie sie mit ihrer Familie bis 1996 gewohnt hat in einer ländlicheren Region in der Nähe von D-stadt. In einer Siedlung mit Flachbauten, reihenhausartig, in der Nähe Steinbrüche und sie vermutet, die Erschütterungen dort sind der Grund, warum sich die Wände in den Häusern stark verzogen haben. Die Familie ist dort ausgezogen, weil die Siedlung abgerissen wurde. Diese bestand aus 24 Häusern, zwei davon von deutschen Familien bewohnt, die restlichen von türkischen Familien, die aus derselben türkischen Stadt stammten. Dort haben sie Gemüse angebaut, Hühner und Puten gehalten. Es bestand ein enges nachbarschaftliches Verhältnis, die Türen wurden nicht abgeschlossen, wenn ihre Eltern bei der Arbeit waren, waren andere da, sie kommentiert das wie folgt: ‚man hatte nie Hunger‘.“123
Ela beendet die Schule mit 17 oder 18 Jahren mit dem Fachabitur und absolviert in der Folge eine zweijährige Lehre im Einzelhandel. In diesem Beruf ist sie auch danach noch weitere sechs Monate beschäftigt, bevor sie ihn aufgibt, um nach D-stadt zu ziehen. Bereits in der Schule konsumiert Ela Drogen. In der sechsten Klaase beginnt sie zu kiffen, später nimmt sie wie einige ihrer MitschülerInnen Amphetamine, auch als Unterstützung beim Lernen. Während ihrer Ausbildung lernt Ela Erkan kennen, mit dem sie zum Zeitpunkt des Interviews seit über sechs Jahren liiert ist. Erkan ist damals wie heute verheiratet, lebt mit seiner Frau und seinen Kindern in D-stadt und ist älter als Ela. Ihre FreundInnen haben keine gute Meinung von Erkan und wirken auf Ela ein, diese Beziehung zu beenden. Ela hingegen lässt keine Kritik an ihrem Freund gelten und verliert so den Kontakt zu ihren Freundinnen. Als Elas Eltern von der Beziehung ihrer Tochter zu Erkan erfahren, schlägt ihr Vater sie.
122 Hier ist das Mittagessen im Café Stern gemeint. 123 Aus dem Protokoll, Café Stern, D-stadt.
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Mit ca. 20 Jahren verlässt Ela ohne vorherige Ankündigung ihren Heimatort, um in D-stadt in der Nähe von Erkan zu leben. Einen konkreten Anlass benennt sie nicht. Ela wird dadurch wohnungslos und übernachtet bei Erkans Freunden, in seinem Keller und später in seinem Auto. Hier wird sie von Polizisten entdeckt, die sie auf Hilfsangebote sozialer Einrichtungen aufmerksam machen. In der Folge kommt sie in verschiedenen betreuten Einrichtungen sowie Notschlafstellen und Hotels unter. In drei verschiedenen betreuten Wohnheimen für Frauen, in denen Ela für mehrere Monate lebt, kommt es zu Schwierigkeiten aufgrund des Verhaltens von Elas Freund. Sie verlässt jede diese Einrichtungen, um Erkan wegen dieser Konflikte nicht zu verlieren. Für kurze Zeit lebt sie auch in einem eigenen Appartement, wird jedoch wegen Mietrückständen wieder gekündigt. Zurzeit des Interviews übernachtet Ela wechselweise in einer Notschlafstelle, die man lediglich eine begrenzte Zahl von Nächten im Monat nutzen darf, und in einem Hotelzimmer, in dem sie die restlichen Tage lebt. Auf der Straße hört Ela auf, aufputschende Drogen zu nehmen, raucht jedoch weiterhin Haschisch und fängt im Laufe der Zeit an, Heroin zu konsumieren, als „Ablenkung von allem“, wie sie sagt. Ela arbeitet als Prostituierte auf dem Straßenstrich und finanziert damit ihren Lebensunterhalt sowie die Drogen für sich und Erkan. Elas Alltag ist dominiert von dem kontrollierenden Verhalten des Freundes, der wissen und bestimmen will, wo sie sich aufhält und mit wem sie in Verbindung steht. Außer den Kontakten im Café Stern, das Ela regelmäßig besucht, hat sie kaum engere soziale Kontakte. Im letzten Jahr hatte sie für sechs Monate eine enge Freundschaft mit Alina, mit der sie Übernachtungsplätze teilte und die Tage verbrachte. Die Freundschaft endete, als Alinas Freund den Kontakt zwischen den Frauen mit Gewalt unterbindet. In unregelmäßigen Abständen besucht Ela ihre Eltern, die sie zu diesen Anlässen auffordern, wieder bei ihnen zu wohnen. Sie verspricht ihren Eltern dann, diesmal zu bleiben, bevor sie dann wieder ohne Ankündigung nach D-stadt zurückkehrt. Ela hat auch wieder Kontakt aufgenommen zu ihren Freundinnen aus ihrem Heimatort. Für ihre Zukunft wünscht sich Ela, dass sie es schafft, durch das in der Prostitution verdiente Geld ihre Schulden zu bezahlen, sich von ihrem Freund zu trennen, wieder zu ihren Eltern zu ziehen und an das Leben in ihrem Heimatort anzuknüpfen, das sie geführt hat, bevor sie nach D-stadt ging.
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Fallbezogene Interpretation Ela bezeichnet ihr mehrjähriges Leben auf der Straße, das ursächlich verknüpft ist mit ihrer Beziehung zu ihrem gewalttätigen Freund, als Fehler. Nach ihren Zukunftswünschen gefragt, äußert sie den Wunsch, in die Vergangenheit vor ihrem Leben auf der Straße zurückzukehren. Diese Zeit konstruiert sie als problemlos, eine Lebenswelt, in der sie wunschlos glücklich war und der sie eigentlich zugehörig ist. Diese Konstruktion der aktuellen Lebenssituation als Fehler, also einer Abweichung vom Richtigen, einerseits und der vergangenen Lebenssituation als der richtigen, in die sie jederzeit zurückkehren könnte, dient der Normalisierung und auch Stabilisierung ihrer aktuellen Lebenswelt. Nachdem Ela zuvor über ihren Einstieg in die Prostitution geredet hat, wechselt sie das Thema hin zu ihren Zukunftsvorstellungen. „E: Aber ich will dat auch nich Leben lang machen, (.)°ey°; (1) ich will dat so lange machen, (.) ich mein, ich hab ja in meinem Hinterkopf immer, (.) ich zahl meine Schulden, ich klär alles, und geh wieder zu meinen Eltern. (.) I: °mmh°, E: ((hustet)) Aber das wird immer (.) schlimmer und schlimmer, also die Zeit is immer länger, (.) dazwischen; (1) und jedes Mal, wenn ich zu meinen Eltern bin, (1) das sag ich eh, ich bin für immer da; (1) I: Was sagst du? E: meine Eltern, (.) die sagen immer, wann kommst du, wann kommst du; und wenn ich da bin, dann sag ich, ich bin da. (.) I: mmh, E: Un:d (.) dann geh ich wieder; (.) und jedes Mal wenn ich gehe, sag ich, ich komm heut abend wieder; (2) ja, und das hab ich jetz am ersten gemacht. Ich hab gesagt, ich hab Silvester da verbracht, (.) und am ersten bin ich hier hin, (.) und hab gesagt, ich komm heut abend wieder. Und seit dem (1) bin ich hier; (2) aber ich werd irgendwann (.) für immer °daheim bleiben°. I: °Mm°, (5)“ (Int. 5)124
Ela stellt ihre aktuelle Lebenssituation als eine vorübergehende Phase dar. Es gibt einerseits den Alltag, den sie lebt, mit Prostitution, Drogen, Schulden sowie ihrem Freund, und andererseits die Vorstellung von dem Leben, das sie eigentlich führen möchte. In ihrer Lebenswelt gibt es einen Plan, den sie immer im „Hinterkopf“ hat, den sie als das konstruiert, was sie eigentlich will. In dieser Konstruktion ist sie ihre eigene Gegenspielerin, die durch ihr Handeln diesen Plan boykottiert.
124 „E“ steht für Ela, „I“ für Interviewerin.
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Durch das Interview ziehen sich Erzählungen von dem, was sie sich wünscht, und stehen in einem antagonistischen Verhältnis zu dem, was sie tut und wie sie handelt. Gleichzeitig sind beide sich ausschließenden Kräfte eng miteinander verwoben. Diese paradoxe Verwicklung in Elas Lebenswelt wurde mir während der Interpretation des Materials deutlich. Bevor ich diese widersprüchliche Konstruktion explizieren konnte, war ich irritiert beim Versuch, sie zu einer kohärenten, „glatten“ Darstellung zu bearbeiten. Ela wünscht sich, die aktuelle Lebenssituation zu einem Abschluss zu bringen, indem sie ihre Schulden bezahlt und ihre Verhältnisse klärt, ohne dass sie an dieser Stelle näher benennt, was sie damit meint. An anderer Stelle im Interview bezieht sie diese Klärung auf die Beziehung mit Erkan, die sie erst mit einer ausgeglichenen Bilanz von Geben und Nehmen beenden möchte. Sie hat dann vor, zu ihren Eltern in ihren Heimatort zurückzukehren und damit an die vergangene Lebenswelt, die sie vor sieben Jahren plötzlich verlassen hat, anzuknüpfen. Die Erfahrung, dass sie diesen Plan bislang nicht umgesetzt hat, lässt sie an der Durchführbarkeit zweifeln, wodurch er jedoch seine Wirkmächtigkeit für sie nicht verliert. Im letzten Satz des oben zitierten Interviewausschnitts formuliert sie den Wunsch zurückzukehren nicht im Konjunktiv, sondern als sichere Zukunftsperspektive. Das Paradox der auf die Vergangenheit orientierten Zukunftswünsche zeigt sich auch im folgenden Interviewausschnitt. „I: Wenn du drei Wünsche frei hättest? (2) Dir irgendwas wünschen könntest, was würdest du dir dann wünschen? (1) E: Ah die Zeit rückgängig machen; I: mmh; E: auf jeden Fall; (1) ja und dann (.) bräucht ich mir eigentlich nich dann würd ich alles anders machen. (2) Und wenn ich heute so denke, damals war ich ja eigentlich wunschlos glücklich so. I: mmh E: Da hatt ich eigentlich alles, was ich haben könnte so; aber ich war ja (.) ich wollt ja meine Freiheit; (.) obwohl zu Hause hatt ich meine Freiheit so. (.) Aber keine Ahnung, was für ne Freiheit ich geschwebt hab so. (5)“ (Int. 5)125
Ela idealisiert ihre vergangene Lebenswelt zu einem Ort und einer Zeit, in der sie wunschlos glücklich war. Damit schafft sie sich einen problemlosen Ort, dem sie eigentlich zugehörig ist (weil sie dort herkommt und ihre Eltern sie einladen zurückzukehren) und der sich deutlich von der aktuellen Lebenssituation unterscheidet. Es handelt sich um einen gesellschaftlich anerkannten Ort, 125 „I“ steht für Interviewerin, „E“ für Ela.
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nämlich die Herkunftsfamilie, als Gegenhorizont zum Leben auf der Straße. Gleichzeitig handelt es sich um einen fiktiven Ort, da es nicht möglich ist, die Zeit zurückzudrehen, und der Drogenkonsum in der Jugend, der Wunsch nach Freiheit in D-stadt und das Abhauen aus ihrem Heimatort zudem nicht auf ein wunschlos glückliches Leben hinweisen. Ela distanziert sich damit von ihrer aktuellen Lebenswelt. Sie tut dies auch, indem sie ihr eigenes Handeln (also ihr Elternhaus zu verlassen, in D-stadt zu bleiben, sich nicht von ihrem Freund zu trennen) als für sich selbst unverständlich beschreibt. Diese Distanzierung hat nicht zur Folge, dass Ela ihre Lebenssituation verändert, sie dient vielmehr der Normalisierung und damit Stabilisierung ihrer Lebenswelt auf der Straße. Wie sich Ela von ihrem eigenen Handeln, von ihrem wohnungslosen Leben distanziert, so distanziert sie sich auch von jüngeren wohnungslosen Menschen, wie im folgenden Interviewausschnitt. „Also ich würd keinem empfehlen, auf der Straße zu leben; (3) ich mein, bei mir siehts ja alles noch jut aus; ich hab meinen Abschluss, ich hab meine Ausbildung, es gibt ja aber viele auf der Straße, die haben gar nichts; (.) un:d (.) und es sind ja so viele Kids auf der Straße so; (2) und ich versteh dat dann nich, (1) ich versteh dat nich, (.) ich weiß nich, (.) ich bin ja freiwillig auf die Straße so. (.) Selbstverschulden (.) sagen wa mal freiwillig nich, aber (.) aus Selbstverschulden; (.) aber so es gibt (.) wenn ich so Geschichten höre, was die alles so (.) erlebt haben, (1) die mit fuffzehn dreizehn so, (.) schon mit zwölf Jahren von zu Hause rausgeschmissen worden sind so; (1) versteh ich nich; (.) finden die haben dat noch schwieriger; (2) ja, keine Ahnung, ich hab (.) das ganze Familienleben ja gehabt; un:d ich kenn das ja und (1) und viele kennen das nich (.) und können das gar nich einschätzen; (.) wie sch- schön denn eigentlich (.) zu Hause eigentlich (.) gehen würde, als auf der Straße.“ (Ela, Int. 5)
Die Orientierung darauf, ihre aktuelle Lebenswelt zu normalisieren, zeigt sich hier nicht durch Elas vergleichende Gegenüberstellung verschiedener Bereiche ihrer Lebenswelt, wie oben ausgeführt wurde, sondern durch ihren Vergleich mit anderen wohnungslosen Menschen. Ela führt ihren Schulabschluss und ihre Ausbildung an, die sie positiv von denen abhebt, die „gar nichts“ haben, wie sie betont. Auch Elas Unverständnis gegenüber der Tatsache, dass eine (aus ihrer Sicht) große Zahl an jungen Menschen wohnungslos ist, konstruiert eine Zugehörigkeit zur Mehrheitsgesellschaft, die auf dieses Phänomen vor allem in den Medien ähnlich reagiert. Die Betonung der Freiwilligkeit, also aus eigenem Verschulden auf der Straße zu leben, konstruiert eine fiktive Handlungsfähigkeit, denn Umstände, die man selbstbestimmt gewählt hat, bergen auch die Möglichkeit, sie selbsttätig wieder zu ändern. Damit hat Ela sich in mehreren 161
Punkten von der Straßenszene, dem typischen wohnungslosen Leben distanziert und auch dadurch ihre aktuelle Lebenswelt normalisiert und stabilisiert. 5.2.4 Petra, 20 Jahre: „Ich würde mal ganz gerne so irgendwie auf der Bühne stehen.“ Interviewsituation Als ich Petra das erste Mal im Café Stern sehe, fällt sie mir auf, weil sie eher gut bürgerlich gekleidet ist mit einer beigen Stoffhose und einer hellblauen Bluse und sich damit von den anderen jungen Frauen unterscheidet. Ich bin mir nicht sicher, ob sie als Klientin oder vielleicht als Praktikantin in diese Einrichtung kommt. Sie bewegt sich eher unsicher durch den Raum, schaut sich um, so als sei sie dort fremd. Zudem wird sie auch von keiner der Anwesenden begrüßt, nur die Reaktion der Mitarbeiterin zeigt mir, dass Petra im Café keine Unbekannte ist. Während ich im Gespräch mit einem anderen Mädchen bin, kommt Petra auf mich zu und spricht mich an. Sie habe gehört, dass ich Interviews führe mit jungen Frauen, die auf der Straße leben. Petra erklärt mir, dass sie auch wohnungslos sei, allerdings nichts mit Drogen oder Prostitution zu tun habe und will wissen, ob ich sie trotzdem interviewen wolle. Ich bin überrascht und auch irritiert, weil Petra die einzige meiner Gesprächspartnerinnen ist, die auf eigene Initiative auf mich zukommt. Wir führen das Interview spontan eine gute Stunde lang über die Öffnungszeit der Einrichtung hinaus. Petras starkes Bedürfnis, über ihre belastende Lebenssituation zu reden, wird im Interviewverlauf deutlich. Die Eingangserzählung ist länger als in den meisten anderen Interviews. Über fast ein Drittel des Interviews erzählt Petra selbstläufig ihren Lebensverlauf der letzten 17 Monate. Sie redet mit ernstem Gesichtsausdruck und wirkt auf mich, als stehe sie unter Druck durch die Angst, in diesem Interview nicht alles erzählen zu können. Die Zugzwänge der Kondensierung im Erzählprozess (vgl. Lucius-Hoene/Deppermann 2002, 36) scheinen bei Petra die Befürchtung auszulösen, wichtige Momente im Interview aussparen zu müssen. Wenn sie sich im Interview zwischen zwei Erzählsträngen entscheiden muss, fügt sie mehrmals die Ankündigung ein: „Komme ich gleich zu“, quasi als Platzhalter, um sicherzustellen, dass sie ihre Geschichte vollständig erzählen kann. Ich fühle mich zunächst unwohl in der Interviewsituation. Diese wird dominiert von Petras Motivation und Drang, über sich zu erzählen. Bis zu diesem Zeitpunkt war ich es gewohnt, die Interviewten für mein Forschungsinteresse 162
gewinnen zu müssen, sie zum Interview zu motivieren. Erst in der Retrospektive ist mir klar geworden, dass mich diese veränderten Rollen irritiert haben. Petras Druck, Gehör finden zu wollen mit ihren Erfahrungen, drückt sich auch in ihrer Körperhaltung und Mimik sowie einer angespannt ernsten Gesprächsatmosphäre aus. Inhaltlich kommt Petra immer wieder auf Situationen zu sprechen, in denen ihr nicht zugehört wurde und in denen sie, auch unter Einsatz von Gewalt, versucht hat zu erzwingen, mit ihrer Sichtweise angehört zu werden. Als ich sie nach Dingen frage, die ihr Freude bereiten, entspannt sich ihr Gesichtsausdruck zum ersten Mal. Sie lacht und erzählt, für mich überraschend spontan, von ihren Hobbies und Wünschen und vorübergehend nicht mehr von Mängeln und Defiziten in ihrem Leben. Am Schluss des Interviews, als ich mich bei ihr wie bei allen Interviewten für das Gespräch bedanke, bedankt Petra sich ebenfalls, explizit mit den Worten „Danke schön fürs Zuhören“, was keine der anderen Interviewten in dieser Form tut. Biografische Informationen Petra ist zum Zeitpunkt des Interviews 20 Jahre alt. Da ihre Eltern geschieden sind, wächst Petra bei ihrer Mutter gemeinsam mit ihren drei Geschwistern auf. Sie hat einen älteren Bruder und zwei jüngere Schwestern. Der Vater hat mit seiner zweiten Frau eine neue Familie gegründet, so dass Petra noch einen Stiefbruder und eine Stiefschwester hat. Der Vater arbeitet als selbstständiger Bauingenieur. Petra erzählt, sie sei ein aggressives Kind gewesen. Bereits in der Grundschule habe sie Streit mit den Lehrerinnen und MitschülerInnen provoziert und sich „Eskapaden“ geleistet, die sie jedoch nicht konkret benennt. Im Alter von 11 bis 13 Jahren lebt Petra in einer stationären Jugendhilfeeinrichtung, in der nach ihren Angaben Gewalt zum Alltag gehört. Mit 14 Jahren – sie wohnt nun wieder bei ihrer Mutter – bedroht und verprügelt Petra eine Mitschülerin, weil sie sich durch deren Weigerung, mit ihr zu reden, provoziert fühlt. Es folgt eine Strafanzeige wegen Körperverletzung, in deren Folge sie zur Ableistung von Sozialstunden verurteilt wird. Mit 17 Jahren zieht Petra bei ihrer Mutter aus und lebt für kurze Zeit in einer Einrichtung der Jugendhilfe. In dieser Zeit absolviert sie ihren Hauptschulabschluss. Kurz darauf erhält Petra eine eigene Wohnung, wo sie weiterhin betreut wird. In den Belastungen dieses Umzugs sieht Petra den Grund dafür, dass sie den Schulbesuch zur Vorbereitung des Realschulabschlusses abbrechen
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muss. Die Einzelbetreuung durch das Jugendamt wird beendet, als Petra 19 Jahre alt ist. Ungefähr zu dieser Zeit zeigt Petra ihren Vater wegen körperlicher Misshandlung ihrer Stiefgeschwister an. Daraufhin stellt dieser die Unterhaltszahlungen für Petra ein. Sie wendet sich an das Sozialamt, von denen sie aus Gründen, die sie nicht benennt, keine finanzielle Unterstützung erhält. Petra gerät in eine existenzielle Notlage und weiß nicht, wovon sie sich ernähren soll. Ihre Wohnung wird ihr aufgrund von Mietrückständen gekündigt. Auch für die berufsbildende Maßnahme, an der sie zu dieser Zeit teilnimmt, erhält sie eine Kündigung. In der Folge zahlt Petras Vater ihre Mietrückstände, so dass sie vorübergehend in der Wohnung bleiben kann. Ihr Lebensunterhalt ist damit jedoch nach wie vor nicht gesichert und die daraus resultierenden Sorgen und Einschränkungen benennt Petra als Ursache für den Abbruch eines zweiten Lehrgangs, den sie inzwischen begonnen hatte. Zudem stellt ihr Vater nun endgültig seine Zahlungen ein. Petra nutzt die Chance einer weiteren dritten berufsbildenden Maßnahme, lebt jedoch weiterhin ohne regelmäßige finanzielle Zuwendungen. Sie erhält eine erneute Kündigung mit einer Räumungsklage für ihre Wohnung, die sie daraufhin verlässt und gemeinsam mit ihrer Mutter ausräumt. In dieser Zeit lernt Petra über das Internet eine Frau kennen, mit der sie über acht Wochen eine Liebesbeziehung hat und bei der sie in dieser Zeit auch wohnt. Petra schildert die Beziehung als gewaltförmig. Schließlich beendet sie diese Beziehung und kommt vorübergehend bei ihrer Mutter unter, bevor sie sich in die Psychiatrie einweisen lässt. Dort wird Petra nach einer Woche entlassen und pendelt nun zwischen einer Notschlafstelle für Mädchen und junge Frauen und einem Übergangswohnheim für Frauen, dem Maria-Brande-Haus. Nachdem sie drei Monate in diesem Wohnheim gelebt hat, muss sie aufgrund ihres aggressiven Verhaltens gegenüber den Mitarbeiterinnen gehen. Daraufhin wohnt sie wenige Wochen in einem Hotel. Zum Zeitpunkt des Interviews lebt Petra übergangsweise in einer Jugendhilfeeinrichtung, wo sie jedoch nur bleiben kann, wenn ihr Antrag auf Jugendhilfe, der zum Zeitpunkt des Interviews noch bearbeitet wird, positiv beschieden wird. Zu ihrer Familie hat Petra keinen Kontakt. Sie erzählt, dass sie keine Freunde, sondern nur ein paar Bekannte habe. Petra hat Freude an Musik und würde gerne Schlagzeug lernen. Außerdem bewegt sie sich in der linken politischen Szene von D-stadt und träumt davon, eines Tages als Journalistin zu arbeiten und/oder politisch etwas zu bewegen. In der nahen Zukunft möchte sie ihren Realschulabschluss nachholen, eine Ausbildung als Bürokauffrau machen und in einer eigenen Wohnung leben.
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Fallbezogene Interpretation Petra beschreibt in der Eingangserzählung ihre lebensgeschichtliche Entwicklung in die Wohnungslosigkeit. Die im nachfolgenden Interviewausschnitt erzählte Lebenssituation ist dabei von besonderer Bedeutung. Zuvor hatte Petra von ihrem endgültigen Wohnungsverlust erzählt. Nach einem darauffolgenden kurzen Aufenthalt in einer psychiatrischen Klinik, wird sie auf die Straße entlassen. „P: Ich war war erstmal bei ner (.) bei ner Beratungsstelle, für Wohnungslose in Xort, (.) I: mmh, (.) P: meine Mutter wohnt in W-ort, deswegen war ich in der Klinik Y-ort, bin von da aus nach X-ort gefahren, und (1) ähm (2) und ja dann war ich dann da, und die haben mich dann halt (.) wollten mich ins Maria-Brande-Haus vermitteln, da war aber kein Platz mehr frei. Deshalb bin ich also ins Sleep-In gegangen; (.) dann war ich ne Woche im Maria-Brande-Haus, dann haben die gesagt, nee, tut uns leid, wir brauchen hier die Betten; (2) I: mmh, P: ja, (.) ich hab (.) auch gesagt, ja ich brauch ja auch n Bett, aber @(1)@ @hat die nich interessiert,@ (.) und dann (.) musst ich da wieder raus, bin dann für zwei Wochen ins Sleep-In, und bin dann wieder zum ins Maria-Brande-Haus. War da drei Monate, hab mich (.) mit denen tierisch angelegt, bin dann da rausgeflogen, (.) ja, weil ich rumgeschrien habe, Türen geknallt, und denen den Mittelfinger rausgestreckt, weil (1) ichich konnt mit den Leuten einfach nicht reden; jedes Mal, wenn ich versucht hab, da im Büro irgendwie was: (.) zu klären oder so, (.) um zu sagen, was hier eigentlich los is, was ich eigentlich will, haben die immer gesagt, nee Frau Werner, sie tun das, was wir ihnen sagen; ich so mm hallo, öh ähm (.) hören se sich doch mal überhaupt an, was ich überhaupt möchte, aber das hat die gar nicht interessiert; (.) I: mm P: ich hab ich hätte da auch gegen die Wand reden können; ich hab den Leuten, auch schon vorher in der Klinik, hab ich Briefe geschrieben, (.) ohne Ende, und des des (.) des hat die aber alles nicht interessiert, und ich, ich wollte ja Hilfe ne? (.) Das is ja nich so, dass wärich (.) <<sehr schnell> in ne Klinik gegangen zum Spaß,> um ein @Dach übern Kopf zu haben@ oder nich weil w- (.) ich w- ich wollte nie auf die Straße, ich bin ja ähm (1) ich bin immer noch drauf und dran, schon seit den schon die ganze Zeit immer drauf und dran, (.) meine mein äh meinen (.) Kram zu regeln, in nen in nen Griff zu bekommen, ich hab ja Ziele, ich will jetzt meinen Realschulabschluss machen, ähm (1) äh (.) Bürokauffrau werden, und ja; (.) aber, dazu komm ich auch gleich noch mal“ (Int. 6)126 126 „P“ steht für Petra, „I“ für Interviewerin.
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Petra schildert in diesem Ausschnitt ihre Bemühungen, im Maria-Brande-Haus ein dauerhaftes Unterkommen zu finden sowie das Scheitern dieser Bemühungen. Eine hohe erzählerische Dichte und emotionale Beteiligung weisen die Textstellen auf, in denen sie von ihrem Kampf (und dessen Vergeblichkeit) erzählt, mit ihren Interessen und Motiven Beachtung und Anerkennung zu finden. Dabei erklärt sie nicht, um welche Interessen es sich handelt und worin der Konflikt mit den Mitarbeiterinnen inhaltlich besteht. Die Nicht-Beachtung ihrer Bedürfnisse und ihrer Perspektive und ihre verzweifelten Bemühungen um ein anerkennendes zuhörendes Gegenüber werden in Petras Erzählung in eindrücklicher Weise gegenwärtig. Ihr Gefühl der Ohnmacht wird im Text ersichtlich, ebenso wie ihre daraus resultierende Gewaltbereitschaft und Einsamkeit. In Petras Formulierungen wird deutlich, dass sie hier kein einmaliges Erlebnis schildert, sondern eine Erfahrung, die sich alltäglich wiederholt. „Jedes Mal, wenn“ benennt beispielsweise eine Routine im Ablauf von Ereignissen und die Wortwahl, sie habe „Briefe ohne Ende“ an die Klinik geschrieben, umschreibt ein Handeln, das in seiner zeitlichen Dimension grenzenlos ist. Die Nicht-Anerkennung ihrer Interessen und der damit verbundene Ausschluss aus dem Hilfesystem, der aus ihrer Sicht ihre Chance auf ein gelingenderes normales Leben verhindert, stellen alltägliche Erfahrungen dar, die für ihre Lebenswelt konstitutiv sind. Normalität meint hier vor allem die Beachtung ihrer Interessen und Bedürfnisse durch andere als Voraussetzung für Integration: die Integration in ein System finanzieller Sicherung, in Erwerbsarbeit und verbindliche soziale Bezüge, aber auch Integration im Sinne gesellschaftlich-kultureller Teilhabe.127 Diese Orientierung auf die Beachtung durch andere zeigt sich auch, diesmal in positiver Wendung, im folgenden Interviewausschnitt. „I: Gibts denn Sachen die dir Spaß machen, oder bei denen du (1) mal (.) kurz abschalten kannst, oder so? P: <<schwärmerisch> Ich liebe Musik;> hä ähm (.) ich singe supergerne, (.) I: mmh, P: bin jetzt erkältet, deshalb kann ich [jetzt nix I: [@(1)@ P: @(1)@ nee ähm ich singe gerne, ich würd auch selber gerne so ne Rockband oder so gründen, ich würde gerne Schlagzeug lernen, (.) und ähm (1) ansonsten (.) les ich halt viel, oder tanzen, (.) [mach I: [mmh P: ich auch @supergerne@ (.) ja: (.) also ich würd ich würd n (1) am liebsten (.) richtig professionell irgendwie so was in der Richtung machen. So mit Musik, und 127 Deutlich wird dies auch, als Petra später im Interview von ihrem Wunsch erzählt, als Politikerin oder Journalistin zu arbeiten, um Einfluss auf die öffentliche Meinungsbildung zu haben.
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singen, tanzen, (.) und (.) weiß ich nicht. Irgendwie: so (.) ich glaub, (.) ich würd mal ganz gerne so irgendwie auf der Bühne stehen, oder so (1) das is natürlich jetz n bisschen (.) @aus der Luft gegriffen,@ aber es is, ich würds halt gerne mal machen.“ (Int. 6)128
Das Thema „Dinge, die Spaß machen“ wird von mir als Interviewerin eingeführt. Wegen der vorherigen ausführlichen Erzählungen über das Leid und die Ungerechtigkeit, die Petra erfahren hat, schränke ich die Frage nach den freudigen Seiten in Petras Leben sofort ein, muss über die weitere Formulierung nachdenken und spreche dann in qualitativer und zeitlicher Relativierung der Frage von kurzen Zeiträumen, die sie von ihrer aktuellen Lebenssituation ablenken. Petra antwortet spontan, ohne überlegen zu müssen, ihr Tonfall verändert sich. Sie redet schwärmerisch und zeigt sich begeistert von Musik im Allgemeinen und dem Singen im Besonderen:129 Die Stimmung im Interview wird lockerer. Als sie die Option in den Raum stellt, etwas vorsingen zu können, stimmt sie in das kurze Lachen der Interviewerin fröhlich ein. Von den Dingen, die sie gerne tut, kommt Petra schnell auf ihre Pläne und Träume zu sprechen, nämlich eine Rockband zu gründen und Schlagzeug zu lernen. Im Folgenden nimmt Petra „Anlauf“, um ihren Wunsch, auf der Bühne zu stehen, auszusprechen. Sie benutzt Wiederholungen und Füllwörter und redet im Konjunktiv. Auf der Bühne zu stehen kann gesehen werden als positiver Gegenhorizont zum Nichtbeachtet-werden beispielsweise im Maria-Brande-Haus, als eine Möglichkeit, im Mittelpunkt der Aufmerksamkeit eine Plattform zum Selbstausdruck zu haben, sich mit Fähigkeiten und Stärken präsentieren zu können. Petra relativiert diesen Wunsch im nächsten Satz, indem sie ihm mit der Formulierung, der Wunsch sei „aus der Luft gegriffen“, den realistischen Bezug und die Relevanz für ihre aktuelle Lebenssituation abspricht.130 Eine hohe Relevanz hat dieser Wunsch jedoch in Bezug auf Petras Orientierung darauf, Beachtung zu finden. Hier dokumentiert sich ihre Vorstellung davon, wie sie in der Welt sein will. Diese Diskrepanz zwischen der Bedeutung einerseits, die dieser Wunsch, diese Orientierung für Petra hat, und seiner gleichzeitigen mangelnden Enaktierbarkeit stellt für sie eine zentrale Bewältigungsanforderung in ihrer 128 „P“ steht für Petra, „I“ für Interviewerin. 129 Auffällig ist, dass Petra das Thema nicht selbst anspricht, was meine methodische Annahme stützt, dass es Themen gibt, die durchaus eine hohe Relevanz in der Lebenswelt der Interviewten haben und die dennoch, um erzählt werden zu können, als eine Art Erzählerlaubnis von Seiten der/des Interviewenden angesprochen werden müssen (vgl. Kapitel 4.3). 130 Petras Formulierung „aus der Luft gegriffen“ ist auch deshalb interessant, weil sie neben der defizitären Beschreibung von etwas Realitätsfernem auch eine Leichtigkeit transportiert, die, wie ich finde, einen Kontrast zur Schwere weiter Teile des Interviews und von Petras Lebenswelt darstellt.
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Lebenswelt dar. Die Suche nach Zugang zu anerkannten Räumen, in denen sie beachtet wird, findet hier nicht Ausdruck in dem Wunsch nach Integration in nach gesellschaftlich dominanten Vorgaben normale Lebensverhältnisse, sondern in dem Wunsch nach künstlerischer Selbstdarstellung. 5.2.5 Katrin, 18 Jahre: „Ich hatte eigentlich nie so n festes Zuhause. Will ich auch gar nicht.“ Interviewsituation Katrin hatte ich schon Tage zuvor im Mädchencafé in A-stadt gesehen, wir hatten jedoch nicht miteinander geredet. An einem Tag, an dem nur wenige Besucherinnen anwesend sind, stelle ich mich Katrin kurz vor. Sie beugt sich daraufhin über den Tisch, der zwischen uns steht, und gibt mir zur Begrüßung die Hand. Ich erkläre ihr, dass ich in der Einrichtung bin, um Interviews zu führen, und bevor ich weiterreden kann, erwidert Katrin, sie habe bereits von mir gehört. Ihre Bewegungen wirken unkoordiniert und als ich sie darauf anspreche, erwidert sie mit einem Grinsen, sie sei „einfach nur breit“. Sie nimmt sich Essen vom Büffet, isst aber kaum etwas. Einer Mitarbeiterin erklärt Katrin, sie habe es mit der Hilfe eines Polizeibeamten von der Innenstadtwache geschafft, ihre Angelegenheiten beim Einwohnermeldeamt und dem Sozialamt zu erledigen. Für ihren Personalausweis habe sie ein Foto machen lassen, auf das sie stolz ist, weil es zeige, wie positiv sie sich verändert habe. Katrin erzählt von ihrem exzessiven Drogenkonsum der vergangenen Tage. Sie habe drei Nächte nicht geschlafen, weil sie gefeiert und LSD eingenommen habe. Als sie aus der Disko kam, sei sie so verstrahlt131 gewesen, dass sie „überall auf Sendung“ gewesen sei. Sie sei kurz darauf zusammengebrochen, habe 14 Stunden geschlafen und jetzt ginge es ihr wieder gut. Dieses Erlebnis erzählt sie mit Stolz und Überschwang und ohne die Besorgnis, die diese Erzählung bei mir auslöst. Später ruht sich Katrin auf dem Sofa vor dem Fernseher aus und ich spreche sie an, ob sie ein Interview mit mir führen will. Sie will wissen, warum ich gerade mit ihr reden will, und mir fällt spontan keine Antwort ein. Nachdem sie nach näheren Informationen gefragt hat, willigt sie ein mit der zeitlichen Einschränkung, dass sie gehen müsse, wenn ihre Freundin Verena wie verabredet ins Mädchencafé komme. 131 „Verstrahlt“ sein ist ein Szeneausdruck für das Gefühl nach starkem Drogenkonsum aufputschender Drogen, vor allem Ecstasy.
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Während des Interviews sitzt Katrin auf einem Sofa und ich auf einem Sessel ihr gegenüber. Sie schließt ab und zu die Augen, so dass ich befürchte, sie könnte einschlafen. Das Interview enthält kaum narrative Anteile, mit Ausnahme der Eingangserzählung mit der chronikartigen Erzählung ihres Lebensverlaufes bis zu dem Zeitpunkt, als sie sich entschließt, auf der Straße zu leben. Das weitere Interview verläuft weitgehend dialogisch und ist geprägt durch mein angestrengtes Bemühen, das Gespräch am Laufen zu halten. Es fällt mir während des Interviews schwer einzuschätzen, welche Themen erzählgenerierend wirken könnten und komme mir vor wie beim „Stochern im Dunkeln“, auf der Suche nach Glückstreffern. Katrin ist die einzige Interviewpartnerin, bei der ich kurz aus meinem Leben erzähle. Als sie ihren Hund erwähnt hat, bringe ich meine eigene Hündin ins Spiel und wecke damit tatsächlich kurzfristig ihr Interesse. Katrin wirkt die ganze Zeit auf mich, als sei sie auf dem Sprung – und tatsächlich springt sie später auch in einer plötzlichen Bewegung auf, als ihre Freundin Verena ins Café kommt und beendet damit abrupt das Interview. Das Interview mit Katrin ist mit knapp 30 Minuten das kürzeste meiner Erhebung. Katrins Gesprächsverhalten, vor allem ihre äußerst geringe Konzentrationsfähigkeit, ist meines Erachtens vor allem ihrer Drogenabhängigkeit geschuldet. Als Verena ins Café kommt, tauscht sie Spritzen132 und verlässt gemeinsam mit Katrin das Café. Es liegt nahe, dass sie dies tun, um intravenös Drogen zu konsumieren. Als sie zurückkommen, haben sie sich jeweils ein Wassereis, Esspapier und eine Waffenzeitschrift gekauft. Das nach meinem Empfinden schon fast bizarre Bild der beiden jungen Frauen, die auf sehr kindliche Weise an ihrem Wassereis lutschen und am Esspapier knabbern, gleichzeitig in der Waffenzeitschrift blättern und begeistert über die technischen Details von Pistolen reden, hat sich mir nachhaltig eingeprägt. Darin drückt sich meines Erachtens die Diskrepanz zwischen kindlicher Bedürftigkeit und gewaltförmigen erwachsenen Lebensverhältnissen in ihrer Biografie und ihrer aktuellen Lebenswelt aus, eine Diskrepanz, das ist zumindest mein Eindruck in diesem Moment, die Katrin aktuell keinen Halt finden lässt.
132 Der so genannte Spritzentausch ist ein Angebot, das vor allem Drogenhilfeeinrichtungen im Rahmen der Gesundheitsprophylaxe als „Safer Use“ anbieten. Gebrauchte Spritzen können hier kostenfrei gegen die gleiche Anzahl neuer, steriler Spritzen getauscht werden. Damit soll dem „Needle Sharing“, also dem gemeinsamen Benutzen von Spritzen durch mehrere Personen, entgegengewirkt werden, das eine gefährliche Ansteckungsweise für Krankheiten wie Aids oder Hepatitis darstellt.
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Biografische Informationen Katrins Eingangserzählung schildert in chronologischer Form ihren biografischen Werdegang bis zu dem Zeitpunkt, als sie sich entscheidet, auf der Straße zu leben. Im Gegensatz zu anderen Interviews, in denen lebensgeschichtliche Verläufe in der Eingangserzählung nur schwer rekonstruierbar sind und sich erst im weiteren Interviewverlauf erschließen lassen, ist hier der Ablauf gut nachvollziehbar. Ich werde deshalb an dieser Stelle, abweichend von den anderen Fallbeschreibungen, die Eingangserzählung im Zitat für sich sprechen lassen. Katrins Erzählung setzt deutlich früher an als bei allen anderen Interviewten. Sie beginnt damit, dass sie im Alter von sechs Jahren durch das Jugendamt von ihren Eltern getrennt wurde. „K: Ah also ich bin öh (.) mit sechs Jahren von zu Hause rausgenommen worden, (1) also wegen Verdacht Verdacht auf Missbrauch, (1) öhm (2) und ja dann bin ich mit sechs Jahren da rausgenommen worden; da hatt ich n amtlich Vormund, bin ich ins Heim gekommen; (.) da war ich dann zwei Wochen so dann da war ich über meinen Geburtstag drin; (.) und haben mich nach zwei drei Wochen haben mich dann Pflegeeltern aufgenommen, da hab ich sechs Jahre gewohnt, (1) mm da hab ich äh (.) nee sieben Jahre; da hatt ich ne Kontaktsperre zu meinen Eltern, mit meinen leiblichen, (.) und dann hab ich irgendwann nach sieben Jahre hab ich dann rausgefunden, wer meine Eltern wirklich waren, (.) und hab die dann wiedergefunden heimlich, (.) hinterm Rücken, dann so über meine Schwester, (.) mm (1) ja und dann bin ich irgendwann abgehauen. Und das hat sich dann hat sich dann so über zwei Jahre gezogen, (.) bin ich immer wieder von zu Hause abgehauen, zu meinen leiblichen Eltern, (1) hab mich versteckt vor den Bullen, (2) ja (.) und (.) irgendwann hatten die die Schnauze voll, ja dann bin ich ins Heim gekommen; (.) mit drei- also bin ich einen Tag vor meinem dreizehnten Geburtstag ins Heim gekommen. (2) Ja, und äh (3) °was° im Heim bis fünfzehn, war ich dann äh in verschiedenen Heimen, (1) bin ich noch von einem Heim in das nächste reingewandert, immer auf Obhutnahme, nie als Festaufnahme, (.) war nie länger als n halbes Jahr in ähm einem Heim, (2) eigentlich wars nie länger als als vier Monate oder; (.) I: mm K: bin immer rausgeschmissen worden. I: mmh, (2) K: Ja: (1) nee bin ich mit fünfzehn, Ende fünfzehn, nee (.) doch Ende fünfzehn, Anfang sechzehn, (2) hab ich mich dann auf die Straße begeben so. (.) Hab ich gesagt ich hab kein Bock mehr auf euch ey, ich hab (.) ich will mein eigenes Leben. I: mm (.) K: Ja, und bis jetz fühl ich mich eigentlich wohl.“ (Int. 9)133
133 „I“ steht für Interviewerin, „K“ für Katrin.
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Nachdem Katrin von ihrem Entschluss berichtet hat, auf die Straße zu gehen und ihr „eigenes Leben“ zu führen, vollzieht ihre Erzählung einen Sprung in die Gegenwart, in der sie noch immer auf der Straße lebt. Die biografischen Informationen sind ab diesem Punkt nur noch schwer und bruchstückhaft rekonstruierbar. Katrin berichtet, dass sie heroinsüchtig war und nach wie vor durch Prostitution ihr Geld verdient. Zu Beginn ihrer Wohnungslosigkeit übernachtet sie in einem Zeltlager, das Berber134 aufgeschlagen haben. Diese Männer verkaufen Welpen und schenken Katrin einen davon. Ihren Hund bezeichnet Katrin als ihren besten Freund, mit dem sie seit zwei Jahren zusammenlebt135. Ein weiterer wichtiger Bezugspunkt ist ihre Freundin Verena, die einen Hund aus demselben Wurf besitzt. Katrin hat Verena vor mehreren Jahren in der Altstadt kennengelernt. Seitdem teilen sie ihr Leben in vielen Bereichen, wie beispielsweise ihre Übernachtungs- und Aufenthaltsorte, den Drogenkonsum oder auch die Entgiftung in einer Klinik. Katrin hat keinen Kontakt mehr zu ihrer Pflegemutter. Diese will Katrin nicht mehr sehen mit der Begründung, ein Treffen täte ihr zu sehr weh. Von den Mitarbeiterinnen des Mädchencafés in A-stadt habe ich die Information, dass Katrin noch in Kontakt mit ihrer Schwester steht. Katrin sagt, dass sie zukünftig weiter auf der Straße leben und kein festes Zuhause haben möchte. Gleichzeitig äußert sie, dass ihr das wohnungslose Leben langweilig geworden sei und sie im kommenden Sommer eine Wohnung beziehen und eine Ausbildung im Heilpädagogischen Reiten beginnen wolle. Fallbezogene Interpretation Die Normalisierung ihrer aktuellen Lebenssituation wie auch ihrer Biografie ist eine grundlegende Orientierung für Katrins Lebenswelt. Dies werde ich anhand des folgenden Interviewausschnitts ausführen. Hier spricht Katrin über das Leben auf der Straße und ihre sozialen Bezüge. „K: Ich hatte eigentlich nie so n festes Zuhause; (1) will ich auch gar nich; (2) und ne Wohnung eh, da bin ich auch ganz selten. ((Lele kommt und bittet Katrin um eine Zigarette.)) 134 „Berber“ ist eine Selbstbeschreibung von wohnungslosen erwachsenen Männern, die das nicht ortsgebundene obdachlose Leben als ihre vorübergehende oder dauerhafte gewählte Lebensform begreifen. 135 Dieser Hund ist allerdings während des Interviews nicht bei ihr und sie erzählt auch nicht, wo er sich derzeit aufhält.
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K: Hä? (.) Ja Mann. (.) Die hab ich auch auf der Straße kennengelernt, (.) auch so ne enge Freundin. I: Lele? (.) Cool, K: Ja. ((Lele fragt Katrin, was wir da machen und als Katrin es ihr sagt, entschuldigt Lele sich und geht.)) I: Und deine beste Freundin haste auch auf der Straße kennengelernt? K: Ja, (.) in der Altstadt, saß die aufm Boden Mann. (.) Hat geschnorrt @(.)@ und die hat auch die Schwester von meinem Hund; (1) I: Oh, K: die Layla, die siehste gleich, die kommt auch gleich hier rein. I: aha, (2) wie lang kennt ihr euch? K: Drei Jahre, vier Jahre, (.) I: Is ja echt lang. (1) Und was macht ihr so zusammen? K: ((räuspert sich zwei Mal)) ja ach wir machen alles zusammen; (2) wir sind immer füreinander da, das weiß ich; @hä@ oh mit der bin ich abgestürzt auf Shore136; mit der zusammen bin ich richtig drauf gekommen, (.) mit der zusammen war ich in der Entgiftung, (1) mit der zusammen hatt ich meine Wohnung ey, (1) mit der zusammen hatten wir irgendwie die Hunde, (1) sie die Schwester, ich der Bruder, (.) die (.) diedie vertraut mir, und (.) weiß ich nich, würd der mein Leben schenken eh. (1) I: mmh, (1) K: Aber so so is das mit mir auch. (2) I: Sie vertraut dir auch, K: Ja, (.) klar, I: mm (6) K: jetz im Moment, wos mir so gut geht ey, hab ich gar kein Bock mehr auf n normales Leben. (1) I: mmh; (2) und was is besser als am normalen Leben? K: Weiß ich nich; (.) man hat immer, man hat immer Zeit (.) so für jemanden den man gern hat. Man hat irgendwo keine Verpflichtungen so.“ (Int. 9)137
Der Interviewausschnitt ist gerahmt von Katrins Distanzierung von dem, was sie ein normales Leben nennt und was auch dem allgemeinen Verständnis nach, zumindest in Bezug auf den festen Wohnsitz, als ein solches anerkannt wird. Katrin stellt zu Beginn fest, sie habe schon immer ohne ein festes Zuhause gelebt. Was zunächst als Mangel gedeutet werden kann, wendet Katrin im nächsten Satz zu einem gewollten Bestandteil ihres Lebens, eine identitätsstiftende Kontinuität, die sie auch in Zukunft nicht durchbrechen will. Selbst wenn ihr Wohnraum zur Verfügung stünde, würde sie ihn kaum nutzen, sagt Katrin. So 136 „Shore“ ist ein Szeneausdruck für Heroin. 137 „K“ steht für Katrin, „I“ für Interviewerin.
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erscheint dieser Zustand, nämlich keine Wohnung zu haben, eher sinnvoll und ihren Bedürfnissen angepasst als defizitär. Diese Kontinuität, diesen roten Faden in ihrer von Brüchen durchzogenen Biografie, konstruiert Katrin hier als ihre Normalität. Ohne ein festes Zuhause zu leben konstituiert damit in ihrer Lebenswelt ein Zuhause, eine Art von Heimat. In der Begegnung mit Lele zeigt Katrin mir als Interviewerin, dass sie auf der Straße eine Vielzahl positiver und verbindlicher sozialer Bezüge hat: Lele bezeichnet sie als „auch so ne enge Freundin“. Das im Folgenden in einem längeren erzählenden Absatz beschriebene Verhältnis zu Verena weist familiäre Qualitäten auf. Die Freundin ist Katrins allumfassende Begleiterin, sie teilen ihr Leben und machen zudem auch alle Entwicklungen gemeinsam durch. Sie stehen unbedingt füreinander ein und sind verbunden durch eine Beziehung bedingungslosen Rückhalts und Vertrauens. Das Bild von Zwillingsschwestern bietet sich hier an, auch durch den Hinweis symbolisiert, dass ihre beiden Hunde Geschwister sind. In der Konklusion konstatiert Katrin, dass es ihr in ihrer aktuellen Lebenswelt so gut ginge, dass sie keine Veranlassung habe, daran etwas zu ändern. Dieses Wohlbefinden bezieht sich auf die zuvor geschilderte soziale Gemeinschaft, in der sie meines Erachtens das Zuhause zeichnet, das sie in ihrer Kindheit und Jugend nicht hatte. Der frühe und dauerhafte Verlust familiärer Zugehörigkeit bedeutete für Katrin den Verlust des Zuhauses als sozialen Ort. Es war für sie gleichzeitig eine Erfahrung von völliger Fremdbestimmung, die sie aus ihrer Perspektive aktiv durchbricht, indem sie den Entschluss fasst, auf der Straße zu leben, wie in der oben zitierten Eingangserzählung deutlich wird. In der Antwort auf meine Frage nach den Vorteilen des nicht normalen Lebens greift Katrin diese beiden Aspekte auf: die Möglichkeit, mit den Menschen zu leben, die ihr nahestehen, und die Selbstbestimmung, ohne äußere Vorgaben handlungsfähig zu sein. Was zunächst wie eine Verweigerung der Zugehörigkeit zu einem gesellschaftlich als normal anerkannten Lebens klingt, zeigt meines Erachtens Katrins Orientierung, ihre Lebensverhältnisse auf der Straße normalisierend darzustellen, und zielt damit auf die Herstellung von Zugehörigkeit ab. Die Wohnungslosigkeit als gewählte Lebensform erscheint vor dem Hintergrund der Konstruktion des intakten sozialen Zusammenhaltes dort, des selbstbestimmten Lebens und Katrins problemlosen Wohlbefindens nicht defizitär, sondern höchstens noch ungewöhnlich. Katrins abschließende Beteuerung, in naher Zukunft eine Ausbildung zu beginnen, soll diese Lebensform zudem als vorübergehende Phase erscheinen lassen.
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Auch an diesem Fall wird deutlich – in einigen Aspekten vergleichbar mit der Falldarstellung von Lele (vgl. Kapitel 5.1.3) –, wie die Orientierung an Normalisierung zur Stabilisierung der aktuellen Lebenswelt dient. 5.2.6 Jasmin, 19 Jahre: „Ist eigentlich ganz easy gewesen mein Leben.“ Interviewsituation Jasmin lerne ich in der Notschlafstelle für Jugendliche, dem Schlafplatz in C-stadt kennen. Sie hatte zwei Tage zuvor die Jugendwohngruppe in G-stadt, in der sie im letzten halben Jahr gelebt hatte, verlassen und war seitdem erneut wohnungslos. Diese Informationen erhalte ich, bevor ich selbst mit Jasmin gesprochen habe. Weil die anwesende studentische Mitarbeiterin Jasmin auch noch nicht kennt, befragt sie sie nach ihrer Lebenssituation und ich höre dabei zu. Jasmin ist mittelgroß, sie hat glatte schulterlange und rötlich gefärbte Haare, eine füllige Figur und wirkt sehr lebendig, quirlig und redefreudig. Während der zwei Nächte, die ich sie in der Einrichtung antreffe, ist sie sehr präsent, redet viel und deutlich hörbar und dominiert über längere Zeiträume gemeinsam mit einer anderen Besucherin die Gesprächsthemen im Aufenthaltsraum der Notübernachtungsstelle. Jasmin steckt an beiden Abenden einen Großteil der Kleidung, die sie dabei hat und am Körper trägt, in die Waschmaschine der Einrichtung. Sie verbringt den Abend bekleidet mit einem T-Shirt, Boxershorts und Strümpfen, auf denen Disney-Motive abgebildet sind. Damit unterscheidet sie sich von den anderen Jugendlichen, die vollständig bekleidet sind. Jasmin wird von einem jungen Mann aufgefordert, sich mehr anzuziehen, worauf sie jedoch nicht reagiert. Auf mich wirkt ihr Verhalten trotz der Sonderrolle, die sie damit einnimmt, nicht deplaziert oder unangemessen. Vielmehr verbreitet sie durch die Selbstverständlichkeit, mit der sie sich derart häuslich bekleidet bewegt, für mein Empfinden eine private und gemütliche Atmosphäre in dem eher funktional eingerichteten Aufenthaltsraum der Notschlafstelle. Ich stelle mich und mein Forschungsanliegen Jasmin am ersten Abend zu Beginn der Öffnungszeit vor und frage sie, ob sie zu einem Interview bereit wäre. Sie lehnt spontan ab und fängt darauf jedoch an, mir aus ihrer Biografie zu erzählen, wobei sie auf ihr Verhältnis zu ihrer Herkunftsfamilie fokussiert. Im Laufe des Abends zeigt sie immer wieder Interesse am Thema und an der Fragestellung meiner Arbeit. Bevor sie ins Bett geht, erklärt sie auf meine erneute Nachfrage, dass sie am nächsten Tag wahrscheinlich ein Interview mit mir 174
führen werde, weil sie „so was lustig“ fände. Am folgenden Abend bleibe ich hartnäckig und spreche sie immer wieder an. Sie scheint sich an meiner Beharrlichkeit nicht zu stören, sondern vielmehr die Aufmerksamkeit zu genießen. Schließlich willigt sie nach dem Abendessen gegen halb elf ein und wir ziehen uns ins MitarbeiterInnenbüro zurück. Ich platziere mich auf dem dortigen Sofa. Jasmin setzt sich mir gegenüber rittlings auf einen Bürostuhl, auf dem sie im Laufe des etwa einstündigen Gesprächs häufig vor- und zurückrollt. Im Gegensatz zu den meisten anderen Interviews spüre ich nach dem Interview mit Jasmin kein bedrückendes Gefühl oder eine unbestimmte Schwere als Reaktion auf das Erzählte. Die Gesprächssituation ist von einer leichteren Atmosphäre geprägt, als ich dies in meiner Untersuchung gewohnt war. Jasmin lacht viel und erzählt mehrere Erlebnisse, die ihr Spaß gemacht haben und die positive Erfahrungen für sie darstellen. Auch ich habe zunächst das Gefühl eines nicht ganz so problematischen Lebensverlaufs – ein Eindruck, der sich bei der Interpretation des Materials als trügerisch und in der Analyse auch als erkenntnisleitend erweist. Biografische Informationen Jasmin ist zum Zeitpunkt des Interviews 19 Jahre alt. Zunächst wächst sie mit beiden Elternteilen auf, bis diese sich zu einem nicht benannten Zeitpunkt trennen. Bevor Jasmin von zu Hause auf die Straße flüchtet, lebt sie in einer Wohnung mit ihrer Mutter, ihrem Stiefvater sowie ihrem älteren Bruder, mit dem sie ein Zimmer teilt. Zudem hat sie jüngere Geschwister, deren Anzahl unklar bleibt. Jasmin beginnt ihre Erzählung mit dem biografischen Zeitraum, als sie 16 Jahre alt ist. Im Ganzen fällt es schwer, die Ereignisse, die sie im Folgenden erzählt, in eine chronologische Darstellung zu bringen. Jasmins zeitliche biografische Angaben im Interview überschreiten den Rahmen der drei Jahre, die zwischen dem 17. Lebensjahr und dem Zeitpunkt des Interviews liegen. Mit 16 Jahren beginnt der „Stress“, wie Jasmin es nennt, mit dem Stiefvater und dem älteren Bruder. Jasmin wird Opfer von gewalttätigen Übergriffen der beiden, die darin eskalieren, dass sie gewürgt wird und schwerere Verletzungen davonträgt. Sie sucht vorübergehend Zuflucht bei ihrem leiblichen Vater, der im selben Haus in einer eigenen Wohnung lebt. Als ihr Bruder sie eines Tages mit einem Messer bedroht, flüchtet Jasmin endgültig aus der elterlichen Wohnung zu ihrem damaligen Freund, der sie dann in die Notschlafstelle
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Schlafplatz mitnimmt.138 Welchem biografischen Zeitraum dies genau zuzuordnen ist, wird im Interview nicht deutlich. Obwohl Jasmin ein konkretes Ereignis benennt, seitdem sie das Elternhaus verlassen hat und auf der Straße lebt, stellt es sich in weiteren Erzählungen aus der Jugendzeit eher so dar, als sei der Wechsel vom Leben zu Hause in die Wohnungslosigkeit ein sukzessiver Übergang gewesen. Während Jasmin noch zu Hause wohnt, nehmen auch die Auseinandersetzungen mit ihrer Mutter zu. Das Geld, das sie in ihrer Ausbildung verdient, muss Jasmin bei ihrer Mutter abgeben. Zudem fällt der Mutter der Drogenkonsum ihrer Tochter auf, die jedoch ihrerseits alles abstreitet. Jasmin berichtet, dass sie sich im Laufe der Zeit nur noch selten zu Hause aufhält, vermehrt „feiern“ geht und exzessiv Drogen zu sich nimmt. In der Disko „Nachtwerk“ im nahe gelegenen F-stadt beginnt Jasmin mit dem Drogenkonsum. Sie und ihre FreundInnen feiern häufig über das Wochenende von donnerstags bis montags früh, manchmal auch über die gesamte Woche. Jasmin nimmt aufputschende Drogen wie Ecstasy oder Speed zu sich, aber auch Tabletten sowie Alkohol und Haschisch. Über ihren damaligen Freund findet Jasmin Zugang zum Dealen, womit sie sich in dieser Zeit ihren Lebensunterhalt verdient. Wegen des Dealens wird sie später zu einer kurzen Gefängnisstrafe und mehreren Sozialstunden verurteilt, die sie bei der L-städter Tafel139 ableistet. Die Schule schließt Jasmin mit 16 Jahren ab. Im letzten Jahr unternimmt die Klasse einen Skiurlaub in Österreich, von dem Jasmin im Interview ausführlich und begeistert erzählt. Auch andere Aktivitäten im Rahmen der Schule, wie die Organisation einer Anti-Drogen-Disko hat sie in positiver Erinnerung. Detailliert erzählt Jasmin auch von ihrem 18. Geburtstag, den sie gemeinsam mit ihrer Familie und ihren Freunden in angemieteten Räumen feiert sowie von einem Kurzurlaub mit der besten Freundin in einer deutschen Großstadt, beides verbunden mit starkem Alkoholkonsum. Nach der Schule nimmt Jasmin für ein Jahr an einer beruflichen Maßnahme im hauswirtschaftlichen Bereich teil, in deren Anschluss sie mit 17 Jahren eine Ausbildung im gleichen Berufsfeld beginnt, die sie jedoch vor Ablauf eines Jahres wieder abbricht.
138 Unklar bleibt, ob der Freund selbst wohnungslos ist und also auch in der Notschlafstelle übernachtet oder ob er Jasmin lediglich diese Einrichtung zeigt. Auf jeden Fall kennt er das Angebot und bewegt sich auch in der Drogenszene. 139 „Tafel“ nennen sich in vielen bundesdeutschen Städten Projekte, die durch das Engagement freiwilliger MitarbeiterInnen gespendete Lebensmittel vor allem aus Supermärkten an bedürftige Menschen verteilen.
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Etwa ein halbes Jahr nach Beginn der Ausbildung stirbt Jasmins Vater, wenige Monate darauf ihre Großmutter. Jasmin erzählt, dass sie mit diesen Todesfällen, vor allem dem Verlust ihres Vaters, nicht zurechtkam und sich ihr Drogenkonsum in der Folge deutlich steigerte. Im Dezember desselben Jahres verlässt Jasmin C-stadt, weil sie einen vehementen Streit mit ihren FreundInnen hat. Diese unterstellen Jasmin, sie sei für eine Wohnungsdurchsuchung bei Bekannten aus der Drogenszene verantwortlich, weil sie Informationen an die Polizei gegeben habe. Jasmin streitet dies ab, ihr wird jedoch erst geglaubt, als bei der Gerichtsverhandlung 10 Monate später ihre Angaben bestätigt werden. Während dieses Zerwürfnisses hält sich Jasmin vorwiegend im nahen G-stadt auf, wo sie sieben Monate vor dem Interview über die dortige Notschlafstelle in eine betreute Jugendwohngemeinschaft vermittelt wird. Dort lebt Jasmin, bis sie am Tag vor dem Interview wieder in der Notschlafstelle in A-stadt auftaucht. Sie hatte sich geweigert, den Anforderungen und Vorgaben seitens des Sozialamtes und der betreuenden Sozialarbeiterinnen nachzukommen. Sie begründet dieses Verhalten damit, dass sie genau deshalb zu Hause ausgezogen sei, nämlich damit ihr niemand Vorschriften machen könne. Jasmin berichtet im Interview von psychischen Problemen, die sie in der Vergangenheit gehabt und die sie jedoch gegenwärtig mit der Unterstützung und der Fürsorge ihres Freundes und ihres Freundeskreises überwunden habe. Ein Selbstmordversuch mit Tabletten liege hinter ihr, genauso wie das selbstverletzende Verhalten, bei dem sie sich Schnittwunden an Armen und Beinen zufügte. Aktuell möchte Jasmin ihre „Ämterangelegenheiten“ erledigen und sich um einen Ausbildungsplatz bemühen. Sie hält sich nachts in der Notschlafstelle und tagsüber bei ihrem Freund auf, mit dem sie seit wenigen Monaten zusammen ist und der bei seinem Vater lebt. Jasmin betont, sie nehme kaum noch Drogen – eine Ausnahme stelle Haschisch dar und die Zeiten, in denen sie in der Disko feiere. Sie habe einen guten Kontakt zu ihrer Familie, auch zu ihrem Bruder und dem Stiefvater, der mittlerweile nicht mehr mit der Mutter zusammenlebt. Über die vergangenen Gewalttätigkeiten haben sie nie geredet. Für die Zukunft wünscht sich Jasmin, gemeinsam mit ihrem Freund in einer Eigentumswohnung mit ausreichend Geld zu leben und ein harmonisches Verhältnis zu ihren Herkunftsfamilien und den Freunden zu unterhalten.
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Fallbezogene Interpretation Im Interview mit Jasmin zeigt sich die Orientierung auf die Normalisierung in der Konstruktion ihres Lebensverlaufs als adoleszente Normalbiografie. Der folgende Interviewausschnitt verdeutlicht dies. „I: Magst noch was von der Schule erzählen? J: Gibt es eigentlich nichts zu erzählen; (.) I: Aber du hast aumal (.) gearbeitet, oder ? (.) J: < ach, war alles Scheiße.> @(1)@ (.) Ausbildung war Scheiße, (.) I: [Was J: [das die Arbeit war auch Scheiße. (.) Hauswirtschaft. Alles beides Hauswirtschaft. I: äha, J: Und das is nich das Wahre; (1) immer nur bügeln, bügeln, bügeln. (.) Bügeln und bügeln. (.) I: wie alt warste da? J: Mm, (.) von 2001 am ersten aus der Schule, (.) von 2001 auf 2002 hab ich die Maßnahme gemacht, (1) von 2002 auf 2003 hab ich die Ausbildung gemacht da war ich, (2) siebzehn. (1) Ja. Siebzehn. ((hustet)) Weil meine Mama musste nämlich noch mit hin den Ausbildungsvertrag unterschreiben. (1) Aber nur für n paar Monate. @(.)@ Dann wurde ich achtzehn. (1) Mein achtzehnter Geburtstag war voll cool; (.) I: Mmh, J: wir ham groß gefeiert, bei in der Eishalle hier in C-stadt, (.) I: mmh, J: die haben da so n (.) Raum, (.) unten, (1) da hab ich dann gefeiert mit Kollegen, und meiner ganzen Family, und (.) viel Alkohol und ich hab alles nach und nach reingeschüttet; war mir egal wat das war; ob es (.) Jim Beam pur war, oder, (.) oder, ach wat ich hab alles durcheinander getrunken. (2) Ja, und dann (1) bin ich mit mein damaligen Freund, bin ich dann da aufs Klo gegangen, (.) dann hat mein Opa geklopft, wir wollten einfach nur unsere Ruhe haben, für n paar Minuten weil (.) ich konnte die laute Musik nich mehr hören, ich mir gings voll Scheiße, @weil ich hatte voll den Schädel@ vom Alkohol, (.) da sagt mein Opa, boah seid ihr denn langsam fertig da drin? (.) Ich sag Opa, wir machen doch gar nix; wir sind uns normal am Unterhalten, (1) schließ ich die Tür auf, guckt der mich an und grinst. (.) @(.)@ Auch voll cool. (.) Und aufgeräumt ham die alles; I: [deine J: [weil ich zu besoffen war; ich hab [geschlafen. I: [dein Opa? J: ((hustet)) (.) Ja, wir ham da gesessen, (.) ich lag mit dem Kopf bei meinen Exfreund auf dem Schoß und war am Schlafen; @hehe@, (1) und die ham alles aufgeräumt. (.) Und dann bin ich irgendwann nach Hause getorkelt mit so nem Kopf, @(.)@ (.) ich dachte jeden Moment p- platzt mein Kopf, (.) und dann war ich froh,
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als ich in meinem Bett lach. (.) Und dann aber als nich schlafen konnte mit nem Eimer neben sich; [@(.)@ I: [@(.)@ J: zur @Sicherheit; könnte ja noch@ schief gehen; (2) ja. (2) °War zwar (1) voll behämmert; (1) Schwank aus meiner Jugend; (1) gibt es eigentlich nich viel zu erzählen.° (1) Eigentlich alles normal gelaufen; (1) eigentlich Schule alles normal, (2) I: Ja? (.) J: Eigentlich schon. @(.)@“ (Int. 10)140
Zu Beginn des Interviewausschnittes bringe ich als Interviewerin das Thema Schule ein, das Jasmin sofort wieder beendet, indem sie feststellt, dass es darüber nichts zu erzählen gibt. Auf mehrere Nachfragen hin erhalte ich im Folgenden lediglich bruchstückhafte Informationen zu Jasmins Ausbildung. Sie berichtet in diesem Zusammenhang von einer durchgehend schlechten Erfahrung, die von Monotonie und Lustlosigkeit geprägt war, von der sie nicht bereit ist zu erzählen. Jasmin wechselt dann das von mir initiierte Thema hin zur Feier ihres 18. Geburtstags, die sie begeistert als „voll cool“ bezeichnet, und generiert hier im Unterschied zum vorherigen Absatz eine zum Teil sehr detaillierte Erzählung, die Szenen dieses Ereignisses mit hoher emotionaler Beteiligung und wörtlicher Rede reinszeniert. Diese Erzählung konstruiert eine harmonische generationsübergreifende soziale Gemeinschaft, bestehend aus Jasmins vollständiger Herkunftsfamilie und ihren Freunden und Freundinnen, die zusammen dafür sorgen, dass dieser wichtige Geburtstag, der den Übergang in die Volljährigkeit bedeutet, eine angemessene Würdigung erhält und dementsprechend gefeiert wird. Dazu gehört auch der exzessive Alkoholkonsum, die Art von Drogenkonsum also, die als Übergangsritual ins Erwachsenenalter eine gesellschaftlich akzeptierte Grenzerfahrung darstellt. Illegale Drogen wie Speed oder Ecstacy hingegen, die Jasmin in dieser Lebensphase auch einnimmt, finden in dieser Erzählung keine Erwähnung. Dieses Erlebnis bezeichnet Jasmin abschließend als „Schwank“ aus ihrer Jugend. „Einen Schwank aus der Jugend erzählen“ ist eine feststehende Redewendung, die einen weitgehend unproblematischen, amüsanten Rückblick umschreibt und eine gesellschaftlich übliche Art der Präsentation der eigenen Biografie darstellt. Mit der Erzählen von „Schwänken“ distanziert sich Jasmin vom räumlichen und sozialen Kontext und der Fragestellung des Interviews. Im Mittelpunkt steht nun nicht mehr, dass sie sich als erneut wohnungslose junge Frau in einer Notschlafstelle befindet, sondern sie stellt sich als eine junge Frau vor, die mit Leichtigkeit über ihr ereignisreiches, relativ normales Leben plaudert. 140 „I“ steht für Interviewerin, „J“ für Jasmin.
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Jasmin schlägt schließlich den Bogen zurück zu meiner Frage nach der Schule und erklärt, warum sie darüber nichts erzählen kann. Ihr Leben habe einen normalen Verlauf genommen. Damit impliziert Jasmin, dass es keine besonderen Ereignisse gab und ihre Biografie vergleichbar ist mit der anderer Jugendlicher. Als erzählenswert gilt aus dieser Perspektive, was den normalen Alltag in positiver oder negativer Form unterbricht. Jasmin bietet mir positive Erzählungen (eben vom 18. Geburtstag, aber beispielsweise auch von Kurzurlauben und der Klassenfahrt) und impliziert mit ihrer Konstruktion einer nicht weiter erzählenswerten Biografie, dass sie keine nachhaltigen, das gesellschaftlich Übliche überschreitenden negativen Erfahrungen gemacht habe. Die Widersprüche in Jasmins Konstruktion einer normalen Biografie, die ich als Interviewerin auffällig finde vor dem Hintergrund der zuvor geschilderten lebensbedrohlichen Gewaltattacken des Bruders gegen Jasmin, ihrem Selbstmordversuch und dem selbstverletzenden Verhalten, dem Drogenkonsum und ihrer materiellen Notlage, werden von ihr selbst nicht als solche benannt, sondern zu einer kohärenten, wenn auch in sich fragilen Erzählung geschlossen. Auf meine erstaunte Nachfrage („Ja?“), die einen Zweifel an der Normalität ihres Lebensverlaufs transportiert, gibt Jasmin eine ihre Darstellung relativierende Antwort („eigentlich schon“) und auch durch das anschließende kurze Lachen wird die Brüchigkeit der Konstruktion mit dem Ziel der Normalisierung sichtbar. 5.2.7 Anja, 18 Jahre: „Ich hab ja immer gesagt, ich wünsche meinem Kind nie so was, ich wünsche meinem Kind ne Zukunft.“ Interviewsituation Anja kommt an einem Abend während meiner zweiten Erhebungsphase im Oktober 2004 in die Notschlafstelle Schlafplatz in C-stadt. Sie ist mit einem grauen T-Shirt und Jeans eher unauffällig gekleidet. Ihre Haare sind zu einem Pferdeschwanz gebunden, der ihr bis über die Schultern fällt. Den MitarbeiterInnen ist Anja bekannt, die vergangenen drei Monate hat sie jedoch nicht hier übernachtet. Sie gibt an, sich in dieser Zeit im benachbarten F-stadt aufgehalten zu haben. Den erneuten Ortswechsel begründet Anja damit, dass sie inzwischen zu viele Menschen in F-stadt kenne und ihr das langweilig geworden sei. Zurück in C-stadt sei sie nun erstaunt, dass sie auch hier viele Leute kenne und zählt dann mit einem freudigen Unterton die Namen derjenigen auf, die sie bislang wiedergetroffen habe.
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Zu mir nimmt Anja keinen Kontakt auf. Im Gegensatz zu vielen anderen spricht sie mich nicht an, in welcher Funktion ich in der Einrichtung bin und auch ich stelle mich ihr zunächst nicht vor. Wir kommen in Kontakt miteinander, weil sich Anja in der Notschlafstelle eng an Jasmin (vgl. Kapitel 5.2.6) orientiert und dadurch am ersten Abend miterlebt, wie ich Jasmin immer wieder wegen eines Interviews anspreche. Am nächsten Abend frage ich Anja, ob auch sie mir ein Interview geben wolle, und sie ist nach kurzen skeptischen Nachfragen dazu bereit. Anja erhält ausnahmsweise die Erlaubnis, im Mädchenschlafraum rauchen zu dürfen, und so stimmt sie zu, das Interview in diesem separaten Zimmer zu führen. Anja sitzt auf einem der beiden Betten, während ich auf einem Stuhl Platz nehme. Während des Gesprächs wirkt sie aufgeregt auf mich und auch sehr bedrückt. Thematisch wird das Interview dominiert von der Erzählung, wie es dazu kam, dass Anja ihren wenige Monate alten Sohn Carlos in eine Pflegefamilie geben musste. Während sie im Zusammensein mit den anderen BesucherInnen munter wirkte und auch ihre Lebenssituation eher positiv schilderte, hinterlässt die Interviewsituation einen sehr trostlosen Eindruck bei mir. Markant dafür ist Anjas Reaktion, als ich sie auf Dinge anspreche, die ihr Spaß machen im Leben. Die Frage nach freudigen Erlebnissen löst eine bedrückende Stimmung aus. Anja schaut mich zunächst mit einem ratlosen Gesichtsausdruck an, bevor sie kurz in zwei Sätzen und ohne in ihrer Sprache oder Mimik Freude zu transportieren, von einem Erlebnis aus ihrer Kindheit berichtet, aus der Zeit, als die Familie bestehend aus Vater, Stiefmutter und den Brüdern noch zusammenlebte. Damit thematisiert sie vielmehr den Verlust der familiären Gemeinschaft als eine positive Erfahrung.141 Biografische Informationen Anja ist zurzeit des Interviews 18 Jahre alt und Mutter des einjährigen Carlos. Als Anja etwa vier Jahre alt ist, verlässt ihre leibliche Mutter die Familie, weil sie einen neuen Freund hat. Anja wächst zusammen mit ihrem Vater und dessen Lebensgefährtin auf, die sie im Interview als ihre Mutter bezeichnet. Sie erwähnt zudem, dass sie Brüder hat, zu denen sie jedoch keine näheren Angaben macht. Im Alter von etwa zehn Jahren reißt Anja nach einem Streit mit ihrem Vater das erste Mal von zu Hause aus. In den folgenden Jahren fällt Anja durch 141 Auch bei anderen Interviewten fiel die Antwort auf diese Frage eher knapp aus – eine bedrückende Atmosphäre wie beim Interview mit Anja wurde dadurch jedoch sonst nicht verstärkt oder ausgelöst.
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Schuleschwänzen und Diebstähle auf. Es folgt ein dreimonatiger Psychiatrieaufenthalt, als sie 13 Jahre alt ist. In dieser Zeit erfährt Anja eine weitere Trennung in ihrer Familie. Der Vater verlässt die gemeinsame Wohnung und zieht um in ein anderes Bundesland, nach Hessen. Dort lebt er zusammen mit seiner neuen Freundin, die Anjas Patentante ist, und deren Tochter. Auch in Anjas Interview fällt auf, dass die Dauer der im Folgenden beschriebenen Lebensabschnitte den biografischen Zeitraum vom 14. Lebensjahr bis zum Zeitpunkt des Interviews deutlich überschreitet. Ich werde Anjas Zeitangaben trotzdem, relativiert zu ungefähren Angaben, übernehmen. In den Jahren nach dem Auszug des Vaters wechselt Anja häufig den Wohnsitz. Sie bleibt zunächst für ein Jahr bei der Stiefmutter, um dann zu ihrem Vater nach Hessen zu ziehen. Dort kommt sie mit der neuen Lebensgefährtin ihres Vaters nicht zurecht und reißt deshalb mehrmals gemeinsam mit deren Tochter aus. Anschließend lebt Anja über etwa zwei Jahre in mehreren Jugendhilfeeinrichtungen, bis sie beschließt, wieder bei ihrer Mutter zu wohnen. Danach zieht sie erneut zu ihrem Vater. Anja besucht die Hauptschule, wo sie mehrere Schuljahre wiederholt, bevor sie sie ohne Abschluss verlässt. Die Berufsschule beendet Anja, weil sie mit 16 Jahren schwanger wird. Als ihr Sohn Carlos geboren wird, ist sie 17 Jahre alt. Mit dem Vater ihres Kindes verbindet sie lediglich ein kurzes Verhältnis, sie hat aktuell keinen Kontakt zu ihm. In diesem Zeitraum lebt sie bei ihrer Stiefmutter, bis Anja von Seiten des Jugendamts gezwungen wird, ihren drei Monate alten Sohn in eine Pflegefamilie zu geben. Die Gründe hierfür werden im Interview nicht deutlich. Das Jugendamt einzuschalten geht auf die Initiative der Stiefmutter zurück, die Anja vorwirft, ihr Kind zu vernachlässigen, und sich dabei durch Aussagen von Nachbarinnen unterstützt sieht. Der Verlust ihres Kindes und das Zerwürfnis mit der Stiefmutter sind der Beginn von Anjas wohnungslosem Leben. Seit etwa neun Monaten übernachtet Anja bei FreundInnen und in den Notschlafstellen verschiedener Städte. In diesem Zeitraum lebt sie zudem in einer Einrichtung, die Betreutes Wohnen anbietet, was jedoch nach wenigen Wochen beendet wird.142 Anja geht „Feiern“ in Diskotheken, seit sie 14 Jahre alt ist. In diesem Zusammenhang beginnt sie mit dem Drogenkonsum, der sich stark gesteigert hat, seit sie auf der Straße lebt. Von der letzten Woche berichtet Anja, sie habe fünf Tage lang große Mengen unterschiedlicher Drogen zu sich genommen und könne sich an längere Zeiträume nicht mehr erinnern. Mit ihrem aktuellen Freund ist Anja seit zwei Monaten zusammen. Er ist fünf Jahre älter als sie und gehört auch der Drogenszene an. 142 Die Gründe hierfür benennt Anja nicht im Interview.
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Anja leidet darunter, in der Notschlafstelle lediglich nachts eine Unterkunft zu haben und sich deshalb tagsüber draußen aufhalten zu müssen. Für die Zukunft wünscht sie sich, wieder mit ihrem Sohn zusammenleben zu können, drogenfrei und gemeinsam mit ihrem Freund in einer eigenen Wohnung. Fallbezogene Interpretation Der Verlust zentraler Bezugspersonen in der Herkunftsfamilie und der Verlust des eigenen Sohnes an eine Pflegefamilie durch den Verrat der Stiefmutter, wie Anja es darstellt, ist das vordergründige Thema im Interview. Die Orientierung, die sich im Interview mit Anja zeigt, lässt sich zusammenfassend als Verlust der familiären Zugehörigkeit benennen. Dadurch zeigt sich auch hier der übergeordnete Orientierungsrahmen, den die Interviews durchgehend zeigen: die Bewältigung des Verlusts von Normalität, des Ausschlusses aus als normal anerkannten Lebensverhältnissen (vgl. Kapitel 6.1). „Verlust“ als eine Orientierung im Sinne eines Um-zu-Motivs zu bezeichnen, wirkt paradox, da es sich hier nicht um einen Entwurf, eine Orientierung an einem durch Handeln zu erwirkenden Zustand handelt, sondern sich der Verlust vielmehr auf vergangene Erfahrungen bezieht. Der Aspekt der Bewältigung dieser Erfahrung, der sich in den anderen Interviews in der Analyse der funktional auf diese Bewältigung ausgerichteten Orientierungen zeigt, ist im Falle von Anja auch zu finden, jedoch nur äußerst marginal. Die Eingangserzählung beginnt und endet mit einem berichtenden chronikartigen Erzählstil, der den Rahmen bildet für die kleinschrittige, emotional sehr engagierte Erzählung der Ereignisse weniger Tage, die zum Verlust ihres Sohnes und in die Wohnungslosigkeit führten. Nachdem Anja nur zögerlich zugestimmt hatte, ein Interview mit mir zu führen, überrascht es zunächst, dass die selbstläufige Eingangserzählung im Vergleich zu den meisten anderen Interviews sehr lang ist und nahezu ein Viertel des gesamten Textes einnimmt. Im Folgenden werde ich aus dem Beginn des Interviews zitieren, jedoch nicht die gesamte lange Eingangserzählung. Es geht vielmehr darum, die Übergänge aus der Rahmung in die Erzählung und umgekehrt vorzustellen und zu analysieren. „I: Ähm (1) also die Frage, (.) is ja eigentlich keine Frage. Sondern ne Aufforderung (.) zu erzählen, wies so (.) mit deinem Leben so auf der Straße oder au nich auf der Straße in den letzten Jahren war, (.) wies jetzt is, und wies dir so dabei geht. Und du kannst dir einfach aussuchen (.) [was A: [Also ich würd mal sagen man man sollte damit anfangen, (.) wie man auf die Straße gekommen is oder so. Oder wie, I: wenn wenn du willst, kannst du das machen.
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A: Also, (.) ähm mein Vatter hat sich getrennt von meiner Mutter da war ich warte, (.) ich glaub dreizehn oder vierzehn war ich damals. (1) Ja da is mein Vater vor fünf Jahren isser nach Hessen gezogen, dann hab ich n Jahr lang noch bei Mutter mit gewohnt, meine Mutter hat n neuen Freund gehabt, mit dem kam ich nich so wirklich klar, (.) bin ich zu meinem Vatter nachgezogen, (1) ja und (.) da ging dat glaub ich n halbes Jahr lang gut oder so; dann komm ich mit der neuen Freundin von meinem Vatter auch nich klar, dann bin ich mit meiner Cousine, (.) also mit der (.) Tochter von der jetzigen Freundin von meinem Vatter abgehauen, (.) n paar Mal, (.) so dann war ich (.) wenn ich alles zusammen rechne, zweieinhalb Jahre da oben im Heim, (.) ich war inna WG, (.) ich war in zwei verschiedenen Heimen, (.) so und dann bin ich da irgendwann auch abgehauen, weil mir das zu blöd wurde, war ich wieder bei meiner Mama, (1) und dann war ich wieder bei meinem Papa, (1) ja dann bin ich schwanger geworden, (.) bin ich wieder runter zu meiner Mutter, vor (1) zwei Jahren oder so, (1) joh (.) dann gab das da erst mal ne ganze Weile lang ging dat gut mit meiner Mutter, ungefähr n dreiviertel Jahr oder so, hab ich meinen Sohn gekriegt, (.) joh und dann (.) weiß ich nich. Wollt ich mal feiern gehn, hat die Nachbarin von meiner Mudda, der ihre Tochter is ein Monat älter als mein Sohn, (.) ähm hat (.) gesagt gehabt, dass sie mal auf den Kleinen aufpasst, so damit ich mal feiern gehen kann, (.) dann warn wir in J-stadt mit ner Freundin, (.) und dann hab ich die Bahn verpasst gehabt, (.) irgendwie so, (.) ja als ich auf jeden Fall ich sollte um elf zu Hause sein so. Das konnt ich nich schaffen, (.) hab ich meiner Mutter um Viertel vor elf, (.) hab ich ihr ne sms geschrieben, (.) dat drei Mal, ob sie den Kleinen geholt hätte und so, weil ich das halt nich (.) schaff, weil ich die Bahn verpasst hab, da hat sie nich zurück geschrieben, und dann um kurz vor halb zwölf, oder kurz vor (.) kurz nach halb zwölf hab ich se dann angerufen, ob se den Kleinen geholt hätte, (.) meint se so ja den Kleinen hab ich geholt, und dat Jugendamt weiß auch schon Bescheid. Hab ich gesagt wieso das Jugendamt; ja, dat klärn wir wenn du zuhause bist. (…)“ „(…) Dann warn wa montags beim Jugendamt, (.) so und dann hat sie irgendwie n Schreiben gehabt (1) von der Familie und Nachbarn und ach überhaupt alle Leute, mit denen ich nich so gut klar kam, ich würd den Kleinen immer überall abgeben, und hab ich nich gesehn und ach (.) keine Ahnung. Ja, und dann auf jeden Fall meinte sie so, bevor der Kleine noch mal rü- zurück geht zu Anja, geben Sie ihn doch bitte mir. Hab ich gesagt, (1) nee bevor der (.) zu meiner Mutter geht, weil die hatten gesagt, entweder (.) zu meiner Mutter oder Pflegefamilie, I: mmh, A: hab ich gesagt, bevor der zu meiner Mutter geht, (.) geht er Pflegefamilie. Weil mein Vatter und ich, wir haben uns nachher so gedacht, sie kann selber keine Kinder kriegen mehr der Kö- sie war zwei Mal schwanger, (.) der Körper hat die Kinder abgestoßen, (.) so und dann mein Vatter und ich, (.) nachher so gedacht, (.) weil sie hat sich ne ganze Zeit lang drüber gefreut < ja, ich werd Oma, und haste nich gesehn,> hat auch immer gesagt, (.) ja dir hil- dir helf ich, dir wird man dein Kind nich wegnehmen und so. Und auf einmal wollt se den Kleinen selber behalten.
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I: mm. A: Mein Vatter und ich so gedacht, (.) vielleicht will sen doch selber als ihr eigenes Kind, weiß man ja nich. I: Mm. A: ((hustet)) Ja, (.) so hat das alles angefangen. Hab ich erst bei ner Freundin gewohnt, (.) aber da hat meine Mutter dann auch Stress gemacht, (.) dann war ich ungefähr (1) zwei Monate bei ner Freundin in J-stadt, (.) hab dann mal hier in C-stadt gepennt, oder in G-stadt in der Notschlafstelle, ja. Und dat geht jetz bestimmt schon (.) n dreiviertel Jahr oder so schon (.) so. I: Mm. (1) A: Ja, und zwischendurch (.) penn ich bei Kollegen, (2) im Moment bei meinem Freund, eigentlich in F-stadt, (.) aber da geht das im Moment auch nich, weil da der Nachbar Stress gemacht hat, (1) ja, und jetz bin ich wieder hier. (.) War ich zwischendurch (.) für zwei oder drei Wochen im Elisabethhaus, (2) I: [Was is das? A: aber hat auch nich geklappt; is ähm (.) Frauenhaus; so ähnlich wie Frauenhaus. I: Mmh, A: Also ich war hier, hatte da mit (.) Susanne, (1) irgendwie abgesprochen so dass wir ähm (.) irgendwie erst mal was anderes weil (.) ich halt (.) nich mehr konnte, so irgendwie (.) morgens hier raus, um neun, dann (.) abends (.) um neun hier wieder rein, weil ich nich wusste, was ich den ganzen Tag über machen sollte so. (.) Weil ich halt in J-stadt dann Stress hatte, durch die ganze Scheiße, (.) hab viel Scheiße gebaut, mit Kollegen zusammen, joh (2) ja und jetzt bin ich wieder hier. (2)“ (Int. 11)143
Anja konkretisiert die offen gehaltene Erzählaufforderung der Interviewerin thematisch. Mit der Formulierung „man sollte“ schafft sie über die konkrete Interviewsituation hinaus verbindliche Regeln, die einen sichereren Rahmen bilden, als ich dies mit der ungewohnten Erzählaufforderung biete. Anja formuliert damit zugleich eine Art Überschrift für die folgende Erzählung, nämlich wie sie „auf die Straße gekommen is“. Anja beginnt mit dem Ereignis der Trennung ihres Vaters von ihrer Stiefmutter144. Zu diesem Zeitpunkt verliert Anja ihr Zuhause im Sinne einer eindeutigen räumlichen und sozialen Zugehörigkeit. Das Pendeln zwischen den Wohnorten konstituiert eine Form der Nichtsesshaftigkeit145. Es gelingt Anja nicht, 143 „I“ steht für Interviewerin, „A“ für Anja. 144 Anja nennt die zweite Frau ihres Vaters im Interview meistens „Mutter“, aber auch „Stiefmutter“. Um Verwirrungen zu vermeiden, verwende ich durchgehend den Begriff der „Stiefmutter“ und meine mit „Mutter“ dagegen Anjas biologische Mutter. 145 Ich bin mir der Problematik des Begriffs „Nichtsesshaftigkeit“ bewusst, der in stigmatisierender Form dazu benutzt wurde, wohnungslosen Menschen zu unterstellen, ihre Lebenssituation sei auf individuelle defizitäre Wesensmerkmale zurückzuführen. Trotzdem verwende ich ihn hier, weil er auf Anjas Lebenslage insofern zutrifft, dass sie zwar nicht wohnungslos war, je-
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wieder einen festen Wohn- und Lebensort für sich zu finden – weder bei der Stiefmutter, noch beim Vater oder in einer Jugendhilfeeinrichtung. Diesen biografischen Verlauf seit dem Auszug des Vaters schildert Anja in einem chronikartigen Überblick über die Jahre bis zur Geburt ihres Sohnes. Diese Erzählform unterbricht sie mit den Worten „joh und dann (.) weiß ich nich“, die den Übergang darstellen zur folgenden detaillierten Erzählung der Erfahrung des Verlusts ihres Sohnes Carlos an eine Pflegefamilie. Inhaltlich geht es dabei jedoch vor allem um die Auseinandersetzung zwischen Anja und ihrer Stiefmutter. Anjas Erzählung stellt diese Auseinandersetzung als die Geschichte eines Verrats dar: Die Stiefmutter, die Anja ein familiäres Zuhause bietet, um sie mit dem Kind zu unterstützen, intrigiert gegen Anja, indem sie dafür Sorge trägt, dass das Kind aus der Obhut ihrer Stieftochter genommen wird. Anja beschreibt eine Wandlung ihrer Stiefmutter von einer fürsorglichen, mütterlichen Bezugsperson zur Gegnerin. Der Verlust, den Anja im Laufe dieser Auseinandersetzung erfährt, ist der des familiären Zusammenhalts, der familiären Zugehörigkeit. Die Gründung eines neuen Zuhauses mit dem neu geborenen Sohn bei der Stiefmutter und damit der Versuch der Bewältigung des vergangenen Verlusts des familiären Zusammenlebens scheitert und setzt sich zudem mit Carlos Aufwachsen in der Pflegefamilie fort. Das Zitat von Anja im Titel des Kapitels („Ich hab ja immer gesagt, ich wünsche meinem Kind nie so was, ich wünsche meinem Kind ne Zukunft“) verweist darauf, dass für sie mit dieser Erfahrung eine gelingende Zukunft nur schwer vorstellbar ist. Diese kleinschrittige Erzählung schließt Anja, indem sie konstatiert: „Ja, so hat das alles angefangen.“ An dieser Stelle des Interviews erschließt es sich der Zuhörenden nicht sofort, worauf sich Anja dabei bezieht. Erst bei näherer Interpretation wird deutlich, dass sie sich mit dieser Erzählcoda auf das eingangs benannte Thema ihrer Erzählung bezieht, nämlich die biografischen Gründe für ihre Wohnungslosigkeit auszuführen. Der soziale Verlust der familiären Zugehörigkeit ist verknüpft mit dem Verlust der räumlichen Zugehörigkeit. Anja hat keinen Ort mehr, zu dem sie gehören kann und ist seit dem Auszug bei der Stiefmutter wohnungslos. Nach dieser Erzählcoda geht Anja wieder kurz zur chronikartigen, längere Zeiträume zusammenfassenden Erzählung über, in der sie die letzten neun Monate der Wohnungslosigkeit bis zum Zeitpunkt des Interviews schildert. Diese kausale Verknüpfung der Verlusterfahrung mit der aktuellen Lebenssituation auf der Straße verweist auf deren existenzielle Bedeutung in Anjas Lebenswelt. Auch andere Interviewte, wie zum Beispiel Jule (vgl. Kapitel doch keinen Ort hatte, zu dem sie fest, nämlich sesshaft, zugehörig war und zwischen verschiedenen Aufenthaltsorten wechselte bzw. pendelte.
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5.2.2), thematisieren den Verlust der familiären Zugehörigkeit und orientieren sich an der Herstellung sozialer Zusammenhänge nach familiären Prinzipien innerhalb der Szene oder an der Gründung einer eigenen Kleinfamilie. Die Möglichkeit der Bewältigung des Verlusts durch einen auf die Zukunft gerichteten Handlungsentwurf ist Anja in ihrer Erfahrung mit dem Sohn jedoch genommen worden. Als ich sie später im Interview nach Dingen frage, die ihr Spaß machen, berichtet Anja kurz von gemeinsamen Familienausflügen in ihrer Kindheit. „I: Gibts denn Sachen, die du gerne machst? (.) Die dir Spaß machen? (2) A: Ich bin früher gerne schwimmen gefahren oder so; (.) also ich war (.) früher jede (.) alle zwei Tage in der Woche war ich mit meiner (.) Stiefmutter schwimmen, (.) mit meinen Brüdern und so, und mit meinem Papa, (.) war schon ganz lustig immer; (.) joh. (1) Ich hab ja immer gesagt, ich wünsch meinem Kind nie so was; ich wünsch meinem Kind ne Zukunft. (.) Irgendwie (.) wat weiß ich (1) ich weiß jetz nich wie man dat nennt. (.) I: °Mmh, (.) ich weiß schon was du meinst.° A: Also ich möchte ihm schon was bieten in der Zukunft so. Irgendwie so; (.) ja (.) jetz hab ich den Sohn, (.) jetz inner Pflegefamilie.“ (Int. 11)146
Auch wenn es von der Logik der Syntax irritierenderweise so scheint, als wolle Anja ihr Kind vor einem Familienausflug ins Schwimmbad bewahren, wird im Weiteren deutlich, was hier eigentlich thematisiert wird. Die Erinnerung an das spaßige, angenehme Kindheitserlebnis mit der gesamten Familie ist für Anja unmittelbar verknüpft mit der Erfahrung des Verlusts der Familie. Es geht hier um weit mehr als um das Zerbrechen eines sozialen Zusammenhangs, es geht um den Verlust bzw. die mögliche Schaffung einer Zukunft, also einer Lebensperspektive. Anja bezieht sich in diesem Ausschnitt auf das antizipierte potenzielle Kind, das in der Vergangenheit für sie eine Orientierung auf eine gelingendere Zukunft war und setzt dem gegenüber das Scheitern dieses Handlungsentwurfs, indem sie in knappen Worten benennt, was stattdessen passierte, nämlich dass ihr Sohn Carlos getrennt von ihr in einer Pflegefamilie aufwächst. Hier wird deutlich, dass der Verlust des Sohns in Anjas Lebenswelt den Verlust einer Orientierung bedeutet, die auf die Bewältigung des Zerbrechens der Herkunftsfamilie gerichtet war.
146 „I“ steht für Interviewerin, „A“ für Anja.
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6. „Und seitdem bin ich ganz draußen …“ – Orientierungen wohnungsloser Mädchen und junger Frauen
In den Fallbeschreibungen ist deutlich geworden, dass in allen Interviews Konstruktionen von Zugehörigkeit bzw. Nicht-Zugehörigkeit auffallen, die sich einer eindeutigen Zuordnung entziehen. Dies wirkt bei der Analyse der Texte zunächst irritierend. In Kolloquien, in denen ich Interviewmaterial zur gemeinsamen Interpretation vorgestellt habe, wurde diese Irritation deutlich, wenn ich wiederholt gefragt wurde, ob ich denn die richtigen Mädchen und jungen Frauen interviewt hätte, wenn sich diese nicht der Szene zugehörig fühlten und eigentlich schon wieder im Begriff seien, eine eigene Wohnung oder auch Ausbildungsstelle zu erhalten. In diesen Fragen werden implizite Vorstellungen und Kriterien sichtbar, die für die einwertige und „echte“ Zuordnung zum Phänomen „wohnungslose Frau“ oder „Straßenkind“ konstitutiv sind und denen die Interviewten in ihrer Selbstdarstellung nicht weitgehend genug entsprechen. Gleichzeitig wird in den Interviews auch deutlich, dass das Leben auf der Straße ein wesentlicher Teil der Lebenswelten der betreffenden Mädchen und jungen Frauen ist und die sozialen und räumlichen Bezüge dort von existenzieller Bedeutung für sie sind. Diese Gleichzeitigkeit von Zugehörigkeit und Nicht-Zugehörigkeit und auch von Mehrfachzugehörigkeit wird als widersprüchlich und dadurch verwirrend erlebt, weil sie eine eindeutige Zuordnung zu gesellschaftlich verfügbaren sozialen und kulturellen Kategorien unmöglich macht, die von sinnstiftender Bedeutung in der Interaktion mit anderen ist, sei es in der unmittelbaren individuellen Begegnung oder im anonymen sozialen Kontext (vgl. Mecheril 2003, 25). Was zunächst verwirrend und widersprüchlich wirkt, lässt sich vor dem Erfahrungshintergrund wohnungsloser Mädchen und Frauen als lebensweltliche Orientierungen sinnhaft rekonstruieren. Zunächst werde ich in Kapitel 6.1 ausführen, was mit dem im Folgenden zentralen Begriff „anerkannte Räume“ gemeint ist. In Kapitel 6.2 werde ich den Verlust von Normalität als konjunktive Erfahrung der von mir beforschten Mädchen und jungen Frauen vorstellen und den auf die Bewältigung dieser Erfahrung gerichteten Orientierungsrahmen als Basistypik beschreiben. In 6.1.1 189
und 6.1.2 wird unterschieden in verschiedene Orientierungen, die sich innerhalb dieser Basistypik zeigen. Gewaltverhältnisse sind in sämtlichen Interviews präsent. In Kapitel 6.2 werde ich dieses Thema vor dem Hintergrund der zuvor in 6.1 elaborierten Typiken vertiefen. Auf Geschlechterkonstruktionen, die in den Erzählungen der Interviewten erkennbar sind, werde ich in 6.3 eingehen. Dies geschieht nicht im Sinne einer soziogenetischen Typenbildung, zum Beispiel als Geschlechtstypik nach der dokumentarischen Methode (vgl. Kapitel 4.4). Vielmehr führe ich an dieser Stelle, der Fragestellung meiner Arbeit folgend, im Rahmen der Orientierungen diesen Geschlechteraspekt vertiefend aus. 6.1 Anerkannte Räume Die Zugehörigkeit zu als normal anerkannten Lebensverhältnissen ist für die interviewten Mädchen und jungen Frauen überwiegend bereits prekär geworden, bevor sie wohnungslos wurden. Dennoch erfahren sie den Beginn der Wohnungslosigkeit als Einschnitt, der bisherige lebensweltliche Routinen, Sicherheiten und Selbstverständlichkeiten, die Normalität ausmachen, fraglich werden lässt oder außer Kraft setzt. Normalität meint innerhalb gesellschaftlicher Normen lebend und bezieht sich auf gesellschaftliche und persönliche Verhältnisse, die im Rahmen allgemein anerkannter Regeln und Werte Sicherheit, Anerkennung und Handlungsfähigkeit versprechen. Die Mädchen und jungen Frauen rekurrieren damit auf die Konstruktion von Normalität als ein gesellschaftlicher Ort, dem man unter bestimmten festgelegten Vorzeichen entweder zugehörig oder von dem man, wie sie es aktuell erfahren, ausgeschlossen ist. Um den allgemeinen Begriff der Normalität, wie ihn die Interviewten benutzen, im Kontext der Darstellung der fallübergreifenden Ergebnisse konkreter und anschaulicher zu fassen, werde ich im Folgenden auch von „anerkannten Räumen“ sprechen. Zunächst werde ich an dieser Stelle erörtern, was damit gemeint ist. Sprachbilder und Vorstellungen von Normalität sind häufig räumlich konnotiert, zum Beispiel, wenn von „innen“ und „außen“ die Rede ist. Besonders auffällig ist dies bei der Zielgruppe dieser Untersuchung, die vielfach als am Rand oder gar außerhalb der Gesellschaft lebend verortet wird. Als Lebenslage bedeutet Wohnungslosigkeit den Ausschluss aus privatem Wohnraum und damit ein erschwerter Zugang zu den mit der privaten Sphäre147 konnotierten Lebensbereichen. Es handelt sich um eine Bewegung von „drinnen“ nach „draußen“, 147 Auf die Begriffe der öffentlichen und privaten Sphäre geht Barbara Holland-Cunz (1993) in ihrem bemerkenswerten Aufsatz „Öffentlichkeit und Privatheit – Gegenthesen zu einer klassischen Polarisierung“ vertiefend ein (vgl. ebd., 36ff.).
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aus dem Privaten ins Öffentliche. Für das Phänomen der Wohnungslosigkeit ist der räumliche Ausschluss also konstitutiv und zwar im baulich-materiellen wie auch im sozialen und gesellschaftlich-kulturellen Sinn. Diese drei Dimensionen spricht das Zitat „Und seitdem bin ich ganz draußen …“ an und auf diese drei Dimensionen von Raum bezieht sich auch der von mir gewählte Begriff der anerkannten Räume. Anerkannte Räume finden sich in Verhältnissen, Zusammenhängen und Institutionen, die die Vorgaben gesellschaftlich vorherrschender Regeln, Normen und Werte erfüllen. Die Grenzen dieser anerkannten Räume und die Bedingungen für die Zugehörigkeit hierzu sind weder starr, unveränderbar noch eindeutig und widerspruchsfrei festgelegt. Trotzdem sind sie so selbstverständlich als gesellschaftlich dominante Vorgaben verfügbar, dass sie vielfach kaum explizierbar sind und erst vor der Folie dessen, was als Abweichung erkannt wird, benennbar werden. Den Begriff der Anerkennung definiert Paul Mecheril (2003) wie folgt: „Allgemein zielt Anerkennung unter Bedingungen von Differenz auf Verhältnisse, in denen einander Fremde für Bedingungen der Möglichkeit zur Selbstdarstellung der je anderen eintreten. Bei diesen Verhältnissen handelt es sich um solche, die den Status der je anderen als Subjekt ernst nehmen.“ (ebd., 44)
Damit meint er nicht ausschließlich Beziehungen zwischen Individuen, sondern auch komplexere gesellschaftliche Verhältnisse. Es wird deutlich, dass Anerkennung eine Voraussetzung darstellt für die Integration in soziale Kontexte (vgl. ebd.). Mecheril konstatiert weiter: „Anerkennung umfasst immer zwei Momente, das der Identifikation und das der Achtung. An-Erkennung beschreibt eine Art der Achtung, die auf einem ZurKenntnis-nehmen gründet. Um jemanden zu achten, ist es notwendig, ihn und sie zunächst erkannt zu haben.“ (ebd., 45)
Diese Anerkennung von außen verwehrt zu bekommen, hat Auswirkungen auf das Verhältnis eines Menschen zu sich selbst. Das heißt, Selbstanerkennung kann sich letztlich nur in Strukturen der Fremdanerkennung entwickeln (vgl ebd.). In diesem Sinne spricht Axel Honneth (1994) auch von wechselseitiger oder reziproker Anerkennung und konstatiert, dass „die Subjekte zu einem praktischen Selbstverhältnis nur gelangen können, wenn sie sich aus der normativen Perspektive ihrer Interaktionspartner als deren soziale Adressaten zu begreifen lernen“ (ebd., 148). Von anderen anerkannt zu werden ermöglicht also eine positive Selbstbeziehung, wie andererseits Missachtung und der Entzug von 191
Anerkennung die Selbstbeziehung einer Person erschüttern können (vgl. ebd., 213). Die Zugehörigkeit zu anerkannten Räumen verspricht den wohnungslosen Mädchen und jungen Frauen diese Anerkennung durch andere in Form von Wertschätzung, Existenzsicherung sowie sozialer und kultureller Teilhabe, auch als Voraussetzung, um ein positives Verhältnis zu sich selbst entwickeln zu können. 6.2 Verlust von Normalität und Ausschluss aus anerkannten Räumen Das Zitat im Titel dieses Kapitels lautet: „Und seitdem bin ich ganz draußen …“ und bezieht sich auf den konjunktiven Erfahrungsraum, den die von mir interviewten wohnungslosen Mädchen und jungen Frauen teilen. Dieser liegt in der Erfahrung des Verlusts von Normalität und des Ausschlusses aus als normal anerkannten Lebensverhältnissen begründet. Unabhängig davon, ob sie sich bereits viel in der Straßenszene aufhielten oder diese ihnen fremd war, benennen alle Interviewten eine deutliche qualitative Veränderung ihrer Lebenswelt mit dem Beginn der Wohnungslosigkeit. Diese Veränderung lässt Routinen und Sicherheiten des bisherigen Alltags krisenhaft148 werden. Der Begriff der Krise ist hier nicht ausschließlich negativ konnotiert, etwa als kritische Störung, sondern wird vielmehr im Sinne einer tiefgreifenden Wendung benutzt. Der Zusammenbruch wesentlicher Bereiche des bisherigen Alltags ist sicherlich als Krise zu bezeichnen, wird von den Mädchen und jungen Frauen jedoch nicht nur als schrecklich oder unangenehm erfahren, sondern durchaus auch als attraktiv und (vorübergehend) befreiend. Wie tiefgreifend die Interviewten diese Veränderung erleben, wird auch an den Interviewausschnitten erkennbar, in denen die Mädchen und jungen Frauen die Wohnungslosigkeit als eine nicht antizipierbare Erfahrung darstellen. „Ich hab ja auch nich daran gedacht, dass es mal so kommen könnte“, äußert sich Lele (Int. 7), obwohl sie bereits vor der Wohnungslosigkeit länger in die Straßenszene involviert war. „Irgendwann bin ich dann halt doch gegangen; hab dann gedacht, ja, bist jetz auf der Straße, musst halt gucken, was de tust so“, so beschreibt Lisa (Int. 2) den Moment, als sie wohnungslos wurde und die Anforderung, sich in der neuen Situation zurechtzufinden. Eindrücklich ist hierzu beispielsweise auch die Erzählung von Sam (Int. 8), in der sie auf fast kafkaeske 148 Alfred Schütz und Thomas Luckmann (2003) sprechen in diesem Zusammenhang von einer „radikalen Krise“ (ebd, 39) der Lebenswelt, wenn die Diskrepanz zwischen den bisherigen und den aktuellen Erfahrungen den eigenen Wissensvorrat grundlegend in Frage stellt (vgl. ebd., 39). Vgl. dazu auch Kapitel 3.1.2.
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Weise ihre Ankunft am unbekannten Bahnhof in D-stadt zu Beginn ihrer Wohnungslosigkeit beschreibt. Die Stadt ist Sam völlig unbekannt, sie kann sich zunächst nicht orientieren und dieser Befremdung verleiht sie durch die Art und Weise, in der sie vom Zustand des Bahnhofs erzählt, auf für mich als Zuhörende fast spürbare Weise Ausdruck (vgl. dazu ausführlich Kapitel 5.1.4). Alle Interviewten erfahren die Wohnungslosigkeit als einen Ausschluss. Dieser Ausschluss wird als fremdbestimmt und selbstgewählt dargestellt, als plötzliche Veränderung und kontinuierlicher Prozess. Neben dem räumlichen Verlust von Zugehörigkeit wird gesellschaftlicher und privater sozialer Ausschluss unter anderem erfahren durch den Verlust der Herkunftsfamilie als unterstützenden oder überhaupt nur verfügbaren sozialen Zusammenhang, durch das Zerbrechen von Freundschaften, durch Unverständnis von Seiten der Ämter und des Hilfesystems der Sozialen Arbeit und der Vertreibung aus öffentlichen und halböffentlichen Räumen. Sich außerhalb normaler Verhältnisse zu bewegen (bzw. bewegen zu müssen) ist zum Teil aber auch verknüpft mit der Erwartung und der Hoffnung, die Freiheit erlangt zu haben, im gedachten Freiraum außerhalb der Norm ein eigensinniges Leben entfalten zu können. Viele der Interviewten verweisen explizit darauf, dass ihre Lebenswelt als wohnungslose Mädchen und junge Frauen durch erklärende Worte und Beschreibungen nur schwer oder gar nicht vermittelbar ist. Nadine (Int. 7) zweifelt daran, ob ihre Lebenswelt durch ihre Erzählungen für mich als Zuhörende nachvollziehbar wird: „Ich weiß nich ob ich das so, ob man sich das richtig so alles vorstellen kann, wenn man das selber nich mitgemacht hat, also ich weiß ja nich.“ Die Aussage, dass die Lebenswelt Straße nur für die vorstellbar ist, die es selbst erlebt haben, verweist auf die Erfahrung, wesentliche Aspekte der eigenen Lebenswelt mit den meisten anderen Menschen nicht teilen zu können. Schütz und Luckmann (2003) bezeichnen es als einen konstitutiven Bestandteil von Lebenswelt, den eigenen Wissensvorrat mit den Mitmenschen bis zu einem gewissen Grad unhinterfragt teilen zu können (vgl. ebd., 30). Die wohnungslosen Mädchen und jungen Frauen haben dadurch das Gefühl, in einer anderen, fremden und nicht der „eigentlichen“ normalen Welt zu leben.149 Diese Wahrnehmung, die zugleich Selbst- und Fremdwahrnehmung ist, konstituiert einen Ausschluss und ist gleichzeitig dessen Folge.
149 Diese dichotome Trennung in das Normale einerseits und das Abweichende andererseits bzw. das „Eigentliche“ und das „Andere“ ist eine Denkstruktur und ein Deutungsmuster, das konstitutiv ist für gesellschaftliche Machtverhältnisse und Diskriminierungen, zum Beispiel auch in Bezug auf Geschlecht, ethnische Zugehörigkeit, sexuelle Orientierung oder körperliche und geistige Fähigkeiten.
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Vergleichbare Aussagen finden sich in mehreren Interviews und sind auch als Hinweis auf die Erfahrung der Fremdheit der Lebenswelt auf der Straße zu interpretieren.150 Die Mädchen und jungen Frauen sind mit dieser fremden Lebenswelt konfrontiert, in der sie sich neu zurechtfinden müssen, die ihnen vertrauter oder zumindest soweit bekannt werden muss, dass sie überleben können. Wie dieser Verlust von und Ausschluss aus als normal anerkannten Verhältnissen konkret erfahren wird, ist für diejenigen, die es nicht erlebt haben, insofern tatsächlich kaum vorstellbar, als dabei nicht reflektierte alltägliche Wirklichkeiten brüchig werden bzw. ihre Wirksamkeit verlieren. Der Ausschluss aus gesellschaftlich anerkannten Räumen und also auch sozialen Kontexten wird vor allem interaktiv hergestellt (vgl. Goffman 1975, 9ff.). Diese interaktive Herstellung von Ausschluss lässt sich im Folgenden anhand zweier Interviewausschnitte rekonstruieren. Dabei handelt es sich im ersten Ausschnitt aus dem Interview mit Sam (Int. 8) um eine soziale Situation mit einem konkreten Gegenüber. Im zweiten Ausschnitt aus dem Interview mit Ela (Int. 5) werden gesellschaftliche Normierungen ohne direkte persönliche Kommunikation verhandelt. Sam erzählt von Erfahrungen mit dem medizinischen Versorgungssystem. „S: Die Ärztin, bei der ich dann: damals gewesen war, öhm die wollte mir kein Mittel gegen den Durchfall verschreiben; (.) öhm m und dann hat se mir halt (.) einfach bloß Bettruhe verordnet, @die@ ich ja nich einhalten konnte; und ich hatte ihr davon erzählt. Da meint se ja, is nich mein Problem; I: mmh S: so, und das fand ich schon ziemlich heftig. I: mm (3) S: und ich (.) hab äh damals auch so das (.) Gefühl gehabt, dass die mir nich ein Wort geglaubt hat, von dem, was ich ihr gesagt hab; (.) mir weder geglaubt hat, dass ich Durchfall hab, noch dass ich aufer Straße wirklich bin. (1) I: mmh (.) S: So dass das so (.) hatt ich so n (.) irgendwie so n Gefühl, weiß nich; (2) das fand ich schon ziemlich beschissen so.“ (Int. 8)151
Der Rat der Ärztin zu Bettruhe ist nicht ungewöhnlich und angesichts der Art der Erkrankung angemessen. Als wohnungslose Frau empfindet Sam ihn jedoch als absurd, wie ihr Lachen mitten im Satz zeigt. Was die Ärztin als selbstverständlich voraussetzt, nämlich tagsüber ein Bett verfügbar zu haben, verweist 150 Darüber hinaus konstruiert diese Aussage auch eine Zugehörigkeit zu einer Gruppe mit einem speziellen Wissen, das die Interviewte mir als Interviewerin gegenüber zur Expertin macht, ein Expertentum, zu dem die Interviewerin keinen Zugang haben kann. 151 „S“ steht für Sam, „I“ für Interviewerin.
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auf einen existenziellen Mangel, der von konstitutivem Charakter für Sams Lebenswelt ist. Sie erfährt die Haltung der Ärztin als Zurückweisung in einer Situation, in der sie auf deren Hilfe angewiesen ist. Sam fühlt sich gleichgültig behandelt, was sie diffus als „heftig“ und „ziemlich beschissen“ bezeichnet. Sams Lebenslage weicht, in diesem Fall durch das Fehlen des Bettes, markant von als normal anerkannten Verhältnissen ab. Ihre Lebenswelt ist der Ärztin anscheinend fremd, im Sinne von anders als das, was sie als normal annimmt. Sie weigert sich, Sams Situation zur Kenntnis und ernst zu nehmen, ihre Lebenswelt als „normal“ im Sinne von alltäglich gelebter Wirklichkeit anzuerkennen. Die Verweigerung dieser Anerkennung begründet in dieser Situation den Ausschluss aus als normal anerkannten Verhältnissen. Die Haltung, mit der sich Sam konfrontiert sieht, wirkt desintegrativ. Sie erhält keine adäquate medizinische Versorgung, die eigentlich als grundlegendes Recht für jeden Menschen gewertet wird. Und Sam macht die Erfahrung, in ihrer als abweichend bewerteten Lebenslage nicht wahrgenommen und geachtet und damit ausgeschlossen zu werden. Im folgenden Interviewausschnitt erzählt Ela, wie sie die Tage mit ihrer Freundin Alina verbracht hat. „E: Und dann nach der Notschlafstelle sind wir dann noch (.) uns sonnen, auf die Wiese, (.) dann ham wir immer (1) bei den Türken so (.) paar Kleinigkeiten, und dann haben wir immer (.) Frühstück so als Picknick, (1) im Sommer is dat nich so schlimm wie im Winter halt; weil im Winter, wo sollste dich einfach (.) ((holt Luft)) und im W- Sommer fällt dat auch nich auf, du bist obdachlos @so@, haben wir n Schlafsack gehabt so, haben wir uns denn hingelegt, die Leute haben gedacht, wir sonnen oder so; I: °mmh,° E: aber wir haben uns dann halt @ausgeruht@; (.) aber im Winter, kannste dich nich einfach irgendwo hinlegen; (.) das fällt dann auch auf, dann bist du @obdachlos@.“ (Int. 5)152
Nachts kommen Alina und Ela in einer Notschlafstelle unter, doch tagsüber müssen sie, wie auch Sam im vorherigen Beispiel, damit zurechtkommen, keinen privaten Rückzugsraum zu haben. Auffällig ist, dass Ela den Aufenthalt im Freien während des Sommers nicht wegen der wärmeren Temperaturen als angenehmer bezeichnet als im Winter. Auf der Wiese zu liegen ist im Sommer ein unauffälliges Verhalten, das von Außenstehenden als „sich sonnen“ gedeutet wird, wodurch die besondere Notwendigkeit der wohnungslosen Frauen, sich im öffentlichen Raum ausruhen zu müssen, nicht als Abweichung auffällt. Im Win152 „E“ steht für Ela, „I“ für Interviewerin.
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ter hingegen sticht ihr Verhalten als nicht normal hervor, weil es den impliziten Nutzungsvorgaben im öffentlichen Raum widerspricht und gilt als soziale Information (vgl. Goffman 1975, 58f.), die auf ihre Obdachlosigkeit153 verweist: „dann bist du obdachlos." Den Begriff „obdachlos“ benutzt Ela hier nicht nur in der gebräuchlichen Weise als Bezeichnung ihres Wohnstatus, sondern zudem im Sinne einer Zuschreibung, durch die ihr Verhalten als abweichend gedeutet und sie als nicht normal und nicht zugehörig diskriminiert wird. In Elas Formulierung wird man „obdachlos“ durch diese Zuschreibung ihrer Mitmenschen. Sie lacht, während sie dies ausspricht, weil sie weiß, dass sich die Lebenslage, ohne eigene Wohnung zu sein, weder durch die Jahreszeiten noch die gesellschaftlich vorherrschenden Deutungen ändert. Der Ausschluss jedoch, als nicht normal und dadurch nicht zugehörig abgewertet zu werden, vollzieht sich in einem interaktiven Prozess vor dem Hintergrund gesellschaftlich vorherrschender Normierungen und Zuschreibungen. Vor dem Hintergrund der hier elaborierten konjunktiven Erfahrung ist der übergeordnete Orientierungsrahmen, also die Basistypik, die die Interviews durchgehend zeigen, auf die Bewältigung154 dieses Verlusts und dieses Ausschlusses ausgerichtet. Innerhalb dieser Basistypik lassen sich zwei fallübergreifende Orientierungen differenzieren, die darauf ausgerichtet sind, diese Bewältigung gelingen zu lassen. Ich bezeichne sie als „Zugang zu anerkannten Räumen“ einerseits und „Normalisierung nicht anerkannter Räume“ andererseits. Diese Bezeichnungen der beiden Orientierungen weisen eine begriffliche Nähe auf und sind trotzdem deutlich zu unterscheiden, was ich in den folgenden beiden Abschnitten ausführen werde. 6.2.1 Zugang zu anerkannten Räumen Mit „Zugang zu anerkannten Räumen“ ist eine Orientierung gemeint, in der das Handeln auf die Veränderung der aktuellen Lebenswelt, die als fremd erfahren wird, gerichtet ist, und zwar durch die Integration in als normal anerkannte Lebensverhältnisse. Normalität findet innerhalb dieser Orientierung nicht auf der Straße statt. Die Suche nach Zugang zu anerkannten Räumen hat zum Ziel, in normale Lebensverhältnisse jenseits der Straße integriert zu werden und durch diese Zuge153 Ich weiche an dieser Stelle kurz von meiner in Kapitel 2.2 begründeten Terminologie ab, weil ich mich auf Elas Wortwahl beziehe und ohne Obdach zu sein in diesem Zusammenhang sehr passend ist. 154 Zum Begriff der Bewältigung vgl. ausführlicher Kapitel 3.1.2.
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hörigkeit Wertschätzung und Anerkennung zu erfahren. Das wohnungslose Leben stellt hier einen länger andauernden Ausnahmezustand dar, dessen Überwindung von existenzieller Notwendigkeit ist. Sam, 19 Jahre (Int. 8) beschreibt das wie folgt: „Ja; ich wollt ja schnell mö- schnell möglichst wieder weg und ich wollt ja nich eigentlich auf Straße sein; weil es ha- also ich fands schon krass so auf der einen Seite, ich war nie so der Typ, der jetz sich so vorgestellt hatte, ich wollt mal auf Straße sein und so; überhaupt nich. Ich mein ich hatte eher ge- ja ich werd immer ne Wohnung haben, ich werd immer irgendwas haben, wo ich wieder hin zurück kann, dann war das plötzlich gar nich mehr so.“
Die Orientierung auf den Zugang zu anerkannten Räumen zeigt sich vor dem Hintergrund der Erfahrung des Lebens auf der Straße als eine Art Schock. Wohnungslosigkeit wird erfahren als ein nicht antizipierbarer Wechsel der Lebenswelt und des Wegbrechens von bisher unhinterfragten Sicherheiten und Routinen. Erzählungen von der Lebenswelt Straße wirken hier inhaltlich und atmosphärisch befremdlich bis hin zu alptraumhaft. Dies geschieht vor allem durch eine stark fragmentierte Erzählweise, in der Erfahrungen vielfach ohne Konkretisierung des räumlichen oder zeitlichen Kontextes geschildert werden. Sie beschreiben Gewalt, Hunger, Kälte, gesundheitliche Probleme, Leiden, Einsamkeit und einen existenziellen Mangel an Schutz und Sicherheit. Diese Erzählungen wirken auf Zuhörende, die nicht auf der Straße leben, befremdlich, weil die geschilderten Lebensverhältnisse unfassbar sind, für die Betreffenden jedoch vorübergehend oder auch für längere Zeit alltäglich sind und alltäglich bewältigt werden müssen. Anschaulich wird dies beispielsweise bei Nadine (Int. 7), die von einem „Alptraum“ spricht, als sie vom Beginn ihrer Wohnungslosigkeit erzählt: „Da hat ich zwei oder drei Monate gar nichts gehabt und so, (1) ich hatte gar nix zu essen, und so, nix zu trinken, gar kein Geld, von niemanden; (.) keine Wohnung, (4) ja (.) das wo ich das irgendwie im Moment sehe, das kam mir alles vor wie ein Alptraum; (.) weil ich alles auf einmal verloren hab, irgendwie; (.) und gar keiner hat mir geholfen, so, das is jetzt zum Beispiel; das geht doch nich, dass man einfach irgendjemanden auf (.) in Deutschland auf der Straße sitzen lässt; das geht ja gar nicht; (.) und dann (.) ich weiß nicht erst sagt Sozialamt, ich krieg keine Hilfe, Jugendamt lehnt dann meinen Antrag ab, und, (.) die merken ja, wenn ich nicht mit Geld umgehen kann, oder dies oder jenes, dass (.) die mir irgendwie helfen müssen oder so, (1) aber das ham die nich gemacht.“
Das Alptraumhafte und Befremdliche liegt in dieser Erzählung darin, dass grundlegende Annahmen über Fürsorge und Sicherheit im individuellen, aber 197
auch gesamtgesellschaftlichen sozialen Zusammenhang enttäuscht werden und zu einer existenziellen Bedrohung werden. Was als normal angenommen wird, gilt in Nadines Lebenswelt nicht mehr. Sie erfährt das, was sie als unmöglich antizipiert hatte. Was innerhalb der Orientierung auf den Zugang zu anerkannten Räumen fehlt, sind Erzählungen, in denen das Leben auf der Straße als Alltag mit wiederkehrenden Routinen vorstellbar wird. Sozialen Kontakten zu Peers auf der Straße oder Erzählungen von entsprechenden Szenen kommt eine marginale Rolle zu. Hingegen werden Einsamkeit und fehlende soziale Kontakte zu Gleichaltrigen implizit deutlich und auch explizit thematisiert. Sam (Int. 8) sagt von sich, sie sei auf der Straße zur „Einzelgängerin“ geworden, Petra (Int. 6) resümiert, sie habe in ihrem ganzen Leben noch keine wirklichen Freunde gehabt. Und Hanna (Int. 1) äußert sich wie folgt: „Auf der Straße irgendwie, (1) biste alleine auf dich gestellt, und da hilft dir niemand irgendwie wenn dir was passiert, da musste dich irgendwie selber zur Wehr setzen, (.) und das kann ich halt nich immer °so gut°.“ Das Ziel ist, diesen Ausnahmezustand des existenziellen materiellen Mangels, der unzureichenden Sicherheit und des gesellschaftlichen oder auch privaten Ausschlusses zu beenden, zu überwinden und ein normales Leben zu führen. Nadine (Int. 4) fasst das wie folgt zusammen: „Wenn ich mir das jetz aussuchen möchte, ich will einfach nur n normales Leben haben wie jeder andere. (.) Dass ich auch des machen kann, was jeder andere macht so. Dass ich meine Sachen durchziehe und so, (.) das is vielleicht am Anfang jetz noch schwer für mich, aber egal; ich muss des einfach machen; so will ich mein Leben.“
Die Orientierung auf dieses Ziel dokumentiert sich unter anderem in Erzählungen über den direkten Kontakt zu bzw. den Auseinandersetzungen mit öffentlichen Institutionen (Schule, Sozialamt, Jugendamt, Polizei) und Hilfeeinrichtungen (Psychiatrie, Übernachtungseinrichtungen). Es finden sich Erzählungen, in denen diese Kontakte und Begegnungen detailliert und häufig mit hoher emotionaler Beteiligung wiedergegeben werden, wobei Dialoge zum Teil in wörtlicher Rede reinszeniert werden. Die betreffenden Mädchen und jungen Frauen setzen sich für die Anerkennung ihrer Hilfsbedürftigkeit und die Gewährung von Unterstützung in ihren existenziellen Notlagen ein. Dabei fungieren die Institutionen und Einrichtungen, zumeist verkörpert durch ihre MitarbeiterInnen, in diesen Erzählungen als eine Art TürsteherInnen zum gesellschaftlich anerkannten Raum. Anschaulich wird dies in der Fallbeschreibung von Petra (Kapitel 5.2.4) in der Interpretation ihrer Erzählungen über die Auseinanderset198
zungen mit Sozial- und Jugendamt und den Sozialarbeiterinnen der Übernachtungseinrichtung. Petra fühlt sich mit ihren Motiven und Bedürfnissen nicht beachtet und beschreibt die daraus folgenden Aggressionen und das Gefühl der Einsamkeit. Aber auch positive Erfahrungen werden thematisiert. Hanna (Int. 1) konnotiert die Wende zum Besseren im Laufe ihrer Straßenkarriere kausal mit dem Verständnis, das sie in der Notschlafstelle Home in A-stadt von den Mitarbeiterinnen erfährt. „I: Wie ham die dir geholfen? H: Ja, indem dass se für mich auch Möglichkeiten gesucht haben, dass ich mal zu ner Beratung geh, wie halt zum SKS; (.) mich dort mal mit jemand unterhalte, spreche, erzähle, (.) damit ich n anderes Leben führen kann, (.) weil (.) ich hab denen das erzählt, unter Tränen, und (.) dann ham die gesagt so geht das nich weiter; daran gehst du kaputt. (2) Sind wir froh dass du nicht von Drogen am Hut hast, ham die gesagt. (1) °Hab ich auch nich;° (2) seitdem geht’s mir jetzt wieder besser; I: mmh (3) Seitdem du dahin gegangen bist, (.) H: Ja:, weil die ham mir zugehört, die ham mich besser155 verstanden; (.) wirklich, (.) viel besser. (7)“156
Die Suche nach dem Zugang zu anerkannten Räumen ist Hanna in ihrer Wahrnehmung in der Notschlafstelle Home in einem ersten Schritt geglückt. Dieser Zugang wird ihr ermöglicht, indem sie dort von den Mitarbeiterinnen mit ihrer Lebenssituation und ihrem Leiden gehört und anerkannt wird. Bei dem Bemühen um die Integration in normale Lebensverhältnisse kommt der Institution Schule eine besondere Bedeutung zu. Auch ohne vorherige auffällige Schwierigkeiten in der Schule bedeutet spätestens der Beginn der Wohnungslosigkeit für alle Interviewten das Ende des Schulbesuchs.157 In der Orientierung auf den Zugang zu anerkannten Räumen wird die Rückkehr in diese Institution sehr konkret und nachvollziehbar158 thematisiert und das Handeln ist vielfach darauf ausgerichtet.159 Ein eindrückliches Beispiel hierfür wurde 155 Mit diesem Komparativ bezieht sich Hanna auf ihre Schilderungen der negativen Erfahrungen in einer anderen Hilfeeinrichtung, die sie zuvor aufgesucht hatte. 156 „H“ steht für Hanna, „I“ für Interviewerin. 157 Eine Ausnahme stellt Ela (Int. 5) dar, deren Wohnungslosigkeit erst nach erfolgreichem Schulbesuch und abgeschlossener Ausbildung begann. 158 Ein Gegenbeispiel dazu, nämlich wie der Plan, den Schulbesuch wieder aufzunehmen, sehr vage bleibt, zeigt sich bei Lele (Kapitel 5.1.3). 159 Die Probleme, die mit einem Schulbesuch gerade als Volljährige verbunden sind, zeigen sich eindrücklich bei Nadine (Kapitel 5.1.2), die sich entgegen der Vorgaben des Sozialamtes, als Voraussetzung für Sozialgeld einen Schneiderinnenlehrgang zu absolvieren, in der Abendhauptschule anmeldet. Wegen des Schulbesuchs werden Nadine in der Folge alle Leistungen gestrichen, bis es zu einer Einigung kommt und Nadine die Hauptschule wieder besuchen darf.
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in der Fallbeschreibung des Interviews mit Sam (vgl. Kapitel 5.1.4) ausgeführt. Sam beschreibt an verschiedenen Stellen die Wichtigkeit, die der Schulbesuch für sie hat, und betont in Bezug auf ihr Selbstwertgefühl: „Nur wenn man Schule macht, is man halt auch n bisschen mehr wert, als wenn man jetz gar nix macht so, scheint so n Wertesystem in dieser Gesellschaft zu geben.“ (Sam, Int. 8) Aber auch andere dominante gesellschaftliche Vorgaben, die konstitutiv sein können für anerkannte Räume, finden sich in den Erzählungen. Gesellschaftlich verfügbare, eher konventionelle Konstruktionen wie Ehe, Partnerschaft mit einem Mann und Familie thematisiert Hanna als Garanten für die Integration in als normal angesehene Verhältnisse und als Institutionen, die Anerkennung versprechen und sich dadurch klar von der Lebenswelt Straße abheben. Dies geschieht sehr zugespitzt und damit deutlich in ihren Vorstellungen einer Wohnung im städtischen Vorort, dem „richtigen“ Mann und einer ruhigen Tochter und einem etwas wilderen Jungen. Hannas Beschreibungen vom „richtigen“ Mann und die Orientierung, die sich dort dokumentiert, habe ich bereits eingehend in Kapitel 5.1.1 analysiert. So unterschiedlich die Themen sind, an denen sich die Orientierung im Einzelnen zeigt, gemeinsam ist ihnen, dass die Überwindung der aktuellen Lebenswelt auf der Straße ein wesentliches Motiv darstellt.160 6.2.2 Normalisierung nicht anerkannter Räume Die Orientierung auf die Normalisierung nicht anerkannter Räume meint in Abgrenzung zur oben beschriebenen Orientierung das Motiv der Interviewten, die eigene Lebensgeschichte und Lebenswelt auf der Straße als normal und gesellschaftlich integriert darzustellen. Dies geschieht mit unterschiedlichen thematischen Fokussierungen. Auf besonders anschauliche Weise dokumentiert sich diese Orientierung in der Aussage von Katrin (Int. 9), die ich bereits in der Fallbeschreibung (vgl. Kapitel 5.2.5) zitiert habe: „Ich hatte eigentlich nie so n festes Zuhause; (1) will ich auch gar nich; (2) und ne Wohnung eh, da bin ich auch ganz selten.“ Kein Zuhause zu haben, den Ausschluss also aus als normal anerkannten baulichmateriellen und sozialen Räumen, benennt Katrin hier nicht als einen Mangel, sondern als eine für ihre Bedürfnisse passende Lebenslage. Katrin konstruiert Die rechtliche Grundlage bildete zum Interviewzeitpunkt noch das BSHG, das seit dem 1.01.2005 in seiner Relevanz für die Wohnungslosenhilfe vor allem durch das SGB II und XII ersetzt wird. 160 Interessant ist dabei auch, dass unter dieser Orientierung eine Rückkehr in die Herkunftsfamilie nicht angestrebt wird, sondern die eigenständige Lebensführung im Mittelpunkt steht.
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ihre eigene Normalität, ein Zuhause nämlich, dass sie jenseits gesellschaftlich als normal anerkannter Räume auf der Straße gefunden hat. Eine andere thematische Fokussierung findet sich bei Jasmin (Int. 10), die im Interview die Gewaltattacken ihres Vaters, ihre Selbstmordversuche und ihren exzessiven Drogenkonsum erwähnt hat. Jasmin konstatiert: „J: „Is eigentlich ganz easy gewesen mein Leben. (…) gibt es eigentlich nich viel zu erzählen.° (1) Eigentlich alles normal gelaufen; (1) eigentlich Schule alles normal, (2) I: Ja? (.) J: Eigentlich schon; @(.)@“ (Int. 10)161
Jasmin erzählt „Schwänke aus ihrer Jugend“, wie sie es nennt, Erlebnisse von Klassenfahrten und Familiengeschichten, während sie problematische Aspekte, auch auf Nachfragen hin, nur kurz benennt oder umgeht. Normalisierung ist bei Jasmin fokussiert auf die Konstruktion einer adoleszenten Normalbiografie. Lele (Int. 7) hingegen entwirft eine unproblematische aktuelle Lebenswelt auf der Straße:162 „Eigentlich würd ich sagen, isses auf der Straße gar nich so schwer, das einzigste Problem is halt immer das Finanzielle; (.) ansonsten is eigentlich ganz okay. Ich meine, ich krieg mein Essen jeden Tag, (.) ich kann jeden Tag duschen gehen, (2) der Ratte gehts sowieso gut, und (1) ja (.) is eigentlich ganz okay; also es is jetz nich, dass ich (.) große Schwierigkeiten hab; (1) nein.“
Normalisierung geschieht unter anderem durch die Distanzierung von gesellschaftlich virulenten Bildern über wohnungslose Menschen und über die Straßenszene. Es geht dabei auch um die Inanspruchnahme der Deutungs- und Definitionsmacht der eigenen Lebenswelt. Diese Distanzierung dokumentiert sich in vielen Fällen in Erzählungen über das Thema Drogenkonsum. Anja (Kapitel 5.1.7) erzählt beispielsweise zunächst von ihrem exzessiven Drogenkonsum in der vergangenen Woche, an die sie sich wegen des andauernden Rauschzustands kaum erinnert. Später äußert sie sich wie folgt: „A: Also ich hab (.) ne exbeste Freundin von mir, (.) die dreht richtig durch, wenn die keine Drogen kriegt oder so, die fängt an, irgendwelche Leute am Bahnhof zusammen zu kloppen, (.) nur um an Geld zu kommen. (1) I: °Mmh.° 161 „J“ steht für Jasmin, „I“ für Interviewerin. 162 Vgl. dazu ausführlich Kapitel 5.1.3.
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A: Andere, die machen dat halt nur (1) weil dat die Kollegen163 auch machen so. Da denken se, ja, machen wir auch mal, is cool, (4) I: °Mm.° A: N anderer Kollege von mir, der is sechzehn Jahre alt, der war schon anderthalb Jahre im Knast, (.) der is jetz seit (.) zwei oder drei Wochen is der in Entgiftung für (.) drei Monate, also bis Dezember; (.) und der is auch schon richtig übel gesunken, da denk ich mir manchmal auch, (.) kann froh sein, dat ich nich so früh damit angefangen hab. Weil ich (.) komm davon noch weg; dat weiß ich; so. Aber wenn man Drogen nimmt so, (.) vergisst man alle Sorgen, (1) und man fühlt sich gut. (.) Denkt halt (.) an die Sorgen erst mal nich, die man so hat, (.) I: °Mm.° A: und aber, wenn ich mir den dann so anguck, (.) denk ich so, Junge, bist grad mal sechzehn, (2) °und dann bin ich froh, dat ich noch nich so drauf bin.°“ (Int. 11)164
Jule erweitert das Thema Drogenabhängigkeit um den Aspekt der Prostitution: „J: Kokser, die ham kein Schmerzempfinden, weil: weil die betäubt (.) die Droge betäubt ja. (.) Genauso wie Shore; (1) die ganzen Idioten. (1) Bin ich froh, dat ich keinen mehr kenn ey davon; (4) I: (Und) was is mit denen? (2) J: ja, wat soll mit denen sein, dat sind einfach (.) Leute die (1) ja (.) Shorejunkies sind Leute die auf n Strich gehen; und ich will mit Leuten die auf den Strich nicht nix zu tun haben; (2) weil die gehen auf n Strich, um ihre Scheiß Droge zu finanzieren und anders können ses nich finanzieren. (3) Das is auch eigentlich schon ziemlich krass so zu wissen, dat man so eine der weni- eine der (.) fast der einzige is, (.) die nich auf n Strich geht. (3) Weil (.) hier in C-stadt am Bahnhof (.) kann man eigentlich, (.) keine Ahnung, man kann auch keinem vertrauen so.“ (Int. 3)165
In diesen Interviewausschnitten ist zunächst das Sich-fremd-machen von den eigenen alltäglichen sozialen und räumlichen Bezügen auffällig. Dies wirkt irritierend und widersprüchlich im Vergleich zu anderen Textpassagen und Gesprächsprotokollen, in denen die zum Teil existenzielle Eingebundenheit der Interviewten in diese Zusammenhänge deutlich wird. Die Konstruktion von Nicht-Zugehörigkeit erschließt sich als sinnhaft, wenn man sie als Orientierung an der Zugehörigkeit zur Mehrheitsgesellschaft (in der Interviewsituation vertreten durch mich als Interviewerin) und an als normal anerkannten Lebensverhältnissen interpretiert. Diese Zugehörigkeit wird hergestellt, indem die Zuordnung zu einer gesellschaftlichen Randgruppe negiert wird.
163 Als „Kollegen“ werden FreundInnen und Bekannte aus der Szene bezeichnet. 164 „A“ steht für Anja, „I“ für Interviewerin. 165 „J“ steht für Jule, „I“ für Interviewerin.
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Problematische oder gewaltvolle Erfahrungen und Lebensbedingungen werden, soweit sie überhaupt erzählt werden, einer überwundenen und abgeschlossenen Vergangenheit zugeordnet, drohende Gefährdungen deuten die Interviewten als für sie kalkulierbar oder nicht relevant. Auffällig sind bei dieser Orientierung die Diskrepanzen zwischen Inhalt und Deutung des Erzählten sowie Dissonanzen zwischen Inhalt und emotionalem Ausdruck bzw. der Erzählweise. Diese Widersprüche werden von den Mädchen und jungen Frauen nicht als solche benannt, sondern von ihnen dissoziativ in einer fragilen und brüchigen Konstruktion zu einer kohärenten Erzählung im Sinne der Orientierung an Normalisierung geglättet. Erzählungen von existenzieller Not sowie dem Ringen um die Anerkennung der eigenen Hilfebedürftigkeit und Unterstützung fallen in der Orientierung auf die Normalisierung nicht anerkannter Räume sehr marginal aus. Das Thema der Sicherung des Lebensunterhalts wurde zumeist von mir als Interviewerin initiiert. Als Beispiel dafür folgt hier ein Ausschnitt aus dem Interview mit Jasmin: „I: Wovon hast du gelebt? J: Gar nichts. (1) I: Von nichts? J: Kein bisschen. Kein Geld gehabt; gar nichts. (.) I: Aha, J: Musste alles beantragen, (.) musste (.) mich mit meiner Mutter kurzschließen wegen mein Kindergeld, (1) aber bei der hat dat au ne ganze Zeit gedauert, (.) da hab ich quasi von, (.) Dezember an bis März (.) ohne Geld (.) gelebt. (1) Ja? (.) Aber es klappte, (1) I: wie das? (.) J: Keine Ahnung. (.) Ich weiß es nich; @hö@ (1) ich kann auch ohne Geld leben; also ich brauch nich unbedingt Geld um (.) zu überleben. (1) Ich finde immer irgendwas; (.) irgendwie hab ich immer Geld. Ich weiß nich. (.) Und wenn ich mir dat leih von andern Leuten, (da hab ich Geld) gekriegt. (1) Oder ich bin zu meiner Cousine gegangen, (.) hab mir bei der Geld geliehen.“ (Int. 10)166
Über Geld zu verfügen, wird hier von Jasmin keine besondere Relevanz zugeschrieben, obwohl dies als eine Grundvoraussetzung des Überlebens in unserer Gesellschaft gilt. Was gemeinhin als extreme Ausnahme- und vor allem Notsituation gewertet wird, deutet Jasmin zuversichtlich als routiniert167 zu bewälti166 „I“ steht für Interviewerin, „J“ für Jasmin. 167 Mit „routiniert“ ist gemeint, dass Jasmin es hier so darstellt, als habe sie für das Zurechtkommen in dieser Mangelsituation keine bewusste Strategie gebraucht, sondern habe dies ohne zu reflektieren eben mit einer gewissen Routine bewältigt.
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genden Alltag. Auseinandersetzungen mit Autoritäten wie der Mutter und zuständigen Ämtern werden nur vage angedeutet und nicht weiter elaboriert. Das Thema behandelt sie mit relativer Leichtigkeit, vor allem verglichen mit den in Kapitel 6.1.1 angeführten dramatischen Erzählungen anderer Interviewter von lebensbedrohlichen Notsituationen. Diese Leichtigkeit ist auch an dem kurzen Lachen erkennbar. Direkt nach dem oben zitierten Interviewausschnitt wechselt Jasmin das Thema hin zu einem Kurzurlaub in M-stadt, den sie wenige Wochen vor dem Interview unternommen hatte. Jasmin erzählt nicht von einem Mangel, sondern von ihrer besonderen Kompetenz, ohne eigenes Geld zurechtzukommen. Sie deklariert sich damit auch als weitgehend unabhängig von gesellschaftlich vorgegebenen materiellen Zwängen. Die Bewältigung der Notsituation stellt Jasmin stolz als eine persönliche Fähigkeit dar, die Fähigkeit, unabhängig und selbstständig zu überleben. Jasmin erreicht in dieser Erzählung die Normalisierung eines offensichtlichen Mangelzustandes auf der Straße, indem sie sich von dem, was als existenziell notwendig gilt, als unabhängig konstruiert. Das Potenzial zur Veränderung der eigenen Lebenssituation, das der Orientierung auf den Zugang zu anerkannten Räumen immanent ist, findet sich hier nicht. Die Orientierung auf Normalisierung dient vielmehr der Stabilisierung der aktuellen Lebenswelt in gesellschaftlich nicht anerkannten Räumen. 6.3 Gewaltverhältnisse Erzählungen von gewalttätigen Situationen und Beziehungen finden sich in allen Interviews. Gewalterfahrungen werden zum Teil explizit erzählt oder benannt oder auch durch implizite Hinweise angedeutet. Das Thema Gewalt tauchte in den Interviews einerseits sehr direkt und für mich als Zuhörende mit zum Teil recht unvermittelter Wucht auf. Andererseits wurde das Thema aber auch durch die alltägliche Normalität, die Gewaltverhältnisse in der Lebenswelt der betreffenden Mädchen und Frauen ausmachen, zu einem stillen Begleiter, der ein unangenehmes Gefühl und einen nur schwer benennbaren Eindruck hinterlässt.168 Die Gliederung des Kapitels 6.3 in die Lebensbereiche (und damit zum Teil auch die Lebensphasen) des Herkunftsmilieus (6.3.1) einerseits und der Wohnungslosigkeit andererseits (6.3.2) folgt der Unterscheidung der Interviewten, die, wie in 6.1 ausgeführt, den Beginn der Wohnungslosigkeit als deutliche qualitative Veränderung ihrer Lebenswelt erfahren. 168 Vgl. dazu auch Kapitel 4.2.2, Schwierigkeiten im Feld.
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Bei der Bestimmung des Gewaltbegriffs stellt sich die Frage, wie weit oder eng dieser gefasst werden soll. So ist es einerseits wichtig, in die Definition von Gewalt auch solche Handlungen und Verletzungen einzubeziehen, die in ihrer Alltäglichkeit in der Regel verdeckt oder bagatellisiert werden. Ein sehr weit gefasster Gewaltbegriff jedoch, der neben körperlichen und psychischen Verletzungen auch strukturelle Verhältnisse wie soziopolitische Benachteiligung einbezieht, läuft Gefahr, dadurch unklar zu werden, und kann, überspitzt ausgedrückt, zu der Aussage führen: „Alles ist Gewalt und jeder Mensch ist ein Opfer.“ (Forschungsverbund 2004, 19). Gerade bei der Zielgruppe dieser Untersuchung, den wohnungslosen Mädchen und jungen Frauen, ist die Versuchung groß, ihre Lebenslage im Ganzen als gewaltförmig zu bezeichnen: also nicht nur körperliche oder auch psychische Übergriffe einzubeziehen, sondern auch im umfassenden Sinne die gesellschaftlichen und politischen Verhältnisse und marginalisierenden Diskurse als gewaltförmig zu skandalisieren, in deren Kontext die Wohnungslosigkeit junger Menschen soziale Realität ist. Damit wird den betreffenden Mädchen und jungen Frauen jedoch auch in umfassendem Maße eine Opferrolle zugeschrieben, die ihre Handlungsoptionen und ihren Eigensinn ausblendet. Zudem werden Unterschiede in der Art der Gewalttaten dadurch begrifflich kaum noch fassbar und in der Folge nivelliert. Carol Hagemann-White (1997) betont die Notwendigkeit, Gewalt als Handlung aufzufassen, „für die eine Person verantwortlich ist und die eingreifende Wirkungen auf konkret benennbare Opfer hat. Im Handlungsbegriff ist auch die Verantwortung des Opfers für das eigene Tun und Lassen angesichts der Gewalt mitgedacht.“ (ebd., 27)
Von Gewalt wird in dieser Arbeit gesprochen, wenn es um Verletzungen körperlicher oder seelischer Art geht, die einem Menschen durch einen anderen zugefügt werden. Damit ist mit Gewalt beispielsweise nicht die bloße Einschränkung von Entfaltungsmöglichkeiten gemeint. Gesellschaftspolitische Strukturen und Verhältnisse sind in diese Gewaltdefinition nicht einbezogen, gleichwohl sie als eine Ursache oder als förderlich für Gewaltverhältnisse begriffen werden können. Unter Gewalt gegen Minderjährige wird im speziellen neben körperlicher Gewalt wie Schläge auch Verwahrlosung und Vernachlässigung im weiteren Sinne verstanden, die das Überleben, die Gesundheit, die Entwicklung und die Würde eines Kindes oder Jugendlichen gefährden können (vgl. Helming/Blüml/ Schattner 2001, 414).
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6.3.1 Gewaltverhältnisse im Herkunftsmilieu169 Ohne einzelne Gründe benennen zu können, verlassen die Mädchen und jungen Frauen ihr Herkunftsmilieu, weil ihnen die Verhältnisse dort unerträglich geworden sind oder sie aus diesen sozialen Zusammenhängen (in der Regel Familie, aber auch Jugendhilfeeinrichtungen) ausgeschlossen werden. Diese Verhältnisse, aus denen die Mädchen und jungen Frauen auf die Straße kommen, sind gewaltförmig im Sinne von körperlichen Angriffen, sexueller Misshandlung, Verwahrlosung, Ausbeutung, seelischer Misshandlung170 und Vernachlässigung. Der Verlust der selbstverständlichen Zugehörigkeit zur Herkunftsfamilie ist eng konnotiert mit den genannten Gewalterfahrungen und stellt einen Prozess von Ausschluss dar, der für die betroffenen Mädchen und jungen Frauen bereits vor dem Verlust von Normalität durch den Beginn der Wohnungslosigkeit anfängt. Vor dem Hintergrund der in Kapitel 6.1 beschriebenen Basistypik werde ich im Folgenden diesen Ausschluss näher beschreiben und die Orientierungen aufzeigen, die sich in den Erzählungen zum Thema Gewalt und Herkunftsfamilie zeigen. Bei Jasmin (Int. 10) findet sich ein Beispiel dafür, in welcher Weise Gewalterfahrungen innerhalb der Familie explizit erzählt werden, was ich im Folgenden ausführen werde. Hanna (Int. 1) hingegen, von der später die Rede sein wird, deutet die Unerträglichkeit des häuslichen Zusammenlebens lediglich an. Jasmin hatte in der Eingangserzählung in knapper Form bemerkt, dass der „Stress“ mit dem Stiefvater ein Grund war, weshalb sie später auf der Straße lebte. Im folgenden Interviewausschnitt beziehe ich mich als Interviewerin mit meiner Frage auf diese Bemerkung. „I: Kannst du noch mal erzählen, was das (.) wie das war, der Stress mit deinem Stiefvater? (.) J: Das war ähm (1) dat fing damals an, (.) ich weiß gar nich mehr worum es da ging oder sonst irgendwat, (.) hat der mir normal nur eine geschmiert. Und dann vor, (.) vor wann war dat (1) wann dat genau war weiß ich jetz nich sei- (1) hat der dann mit meinem Bruder zusammen auf mich eingeschlagen, (1) dass ich keine Luft mehr gekriegt hab, (.) dass ich meinen Arm nich mehr bewegen konnte gar nichts. (.) Bin dann heu- hab a- musste mich dann irgendwie aus der Wohnung schleichen, hab dann so getan als ob ich auf Toilette geh, (.) die Tür aufgemacht, (.) die Tür nur 169 Mit Herkunftsmilieu ist hier in der Regel die Herkunftsfamilie der Interviewten gemeint. Der weiter gefasste Begriff des Milieus schließt jedoch auch das weitere soziale Umfeld der Heranwachsenden und Jugendhilfeeinrichtungen ein und ist deshalb für die Zielgruppe dieser Untersuchung besser geeignet. 170 Zur Definition seelischer Misshandlung vgl. Helming/Blüml/Schattner 2001, 415f.
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angelehnt, (.) und ähm (.) bin dann rüber zu meinem Papa gegangen. Weil der hat da neben uns noch gewohnt. So unmittelbar neben uns; (.) da hab ich noch ne Bekannte getroffen, da hat die mich gefragt, wat los wär, (.) ich da so nix nix, ich möcht zu meinem Papa, (.) und dann hat mein Papa meinen Stiefvater angerufen, und hat du packst noch einmal meine Tochter an, dann (.) bringt er ihn um. Irgendwie so in der Art. (.) Und er wusste ja gar nicht, wat (.) dass ich raus überhaupt abgehauen bin. Weil der hat dat gar nich mitgekriegt. (.) I: [Der hat gedacht du bist J: [Und ja meine kleinen Geschwister, die sind jetz (.) mittlerweile sieben, (.) die ham das alles mitgekriegt wie der mich zusammengebimst hat mit meinem Bruder. (1) Ja und damals hat mein großer Bruder mir auch n Messer unter die Kehle gehalten, (.) n Brotmesser, (1) ja und der letzte Vorfall war, (.) weswegen ich eigentlich von zuhause abgehauen bin, (1) weil mein Bruder hat mich wieder zusammengeschlagen, (.) und ich hab mir mit dem n Zimmer geteilt, weil er wieder nach meiner Mutter gezogen is, (.) und da hat ich die ganze Gesichtshälfte (.) blau ((zeigt auf ihre linke Gesichtshälfte)) (1) und hab auch (unverständlich) auf gecrasht und (.) bin dann daraufhin zu meinem Exfreund gegangen. (.) I: mm, J: Mit dem war ich zu dem Zeitpunkt auch noch zusammen.“ (Int. 10)171
Was Jasmin zuvor mit dem Begriff „Stress“ angedeutet hat, entpuppt sich als eskalierendes gewaltförmiges Verhalten des Stiefvaters und des älteren Bruders, das in lebensbedrohlicher Körperverletzung gipfelt. Sie erinnert sich nicht mehr an die Anlässe oder Auslöser der Übergriffe, was auch als Hinweis darauf gedeutet werden kann, dass die Anlässe der Gewaltausbrüche wechselten und eher beliebig waren. Dass Gewalt eine, anscheinend auch von der Mutter, geduldete Normalität im Familienalltag darstellt, zeigt Jasmins Bemerkung, dass sie „normal nur eine geschmiert“ bekam. Die Ohrfeigen stellen alltägliche Handlungen dar, die nicht weiter beachtet werden. Gewalt wird nicht als Regel- oder Normverletzung innerhalb der Familie bewertet, sondern konstituiert normale Verhältnisse. Jasmin flüchtet nach einem der Angriffe heimlich aus der Wohnung zu ihrem leiblichen Vater, der in direkter Nachbarschaft lebt. Der leibliche Vater erscheint in dieser Erzählung als starke Vertrauensperson, der vorbehaltlos zu seiner Tochter hält und sich schützend vor sie und gegen den Stiefvater stellt. Jasmin gibt der Erzählung von einer dramatischen Erfahrung damit eine positive Wendung, die hilft, das Erzählte weniger belastend und vielleicht auch erst aussprechbar zu machen.
171 „I“ steht für Interviewerin, „J“ für Jasmin.
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Konkrete Hilfe in der Notsituation erhält Jasmin von ihrem Vater jedoch nicht.172 Um den andauernden Attacken seitens der Täter zu entkommen, muss sie die Familie verlassen und kommt bei ihrem Freund unter. Erkenntnisreich ist in dieser Interviewpassage vor allem auch das, was nicht gesagt wird. Jasmin beklagt sich weder hier noch an einer anderen Stelle, auch nicht in Andeutungen, darüber, dass sie gehen musste und ihr Zuhause verloren hat, während die Täter weiterhin in der familiären Gemeinschaft leben. Weder Jasmin selbst noch ihre für sie verantwortlichen leiblichen Eltern schalten Institutionen wie das Jugendamt oder die Polizei ein, um die Gewalt gegen die Tochter als Missstand öffentlich anzuzeigen und den Stiefvater und Bruder zur Verantwortung zu ziehen. Jasmin stellt im Interview auch keinen Zusammenhang her zwischen ihrem selbstverletzenden Verhalten, ihren Selbstmordversuchen, dem Drogenkonsum und den früheren Gewalterfahrungen. Die Belastung durch die Gewalterfahrung wird dadurch potenziert, dass Jasmin nicht nur mit den Folgen ohne Unterstützung klarkommen muss, sondern dass sie als Opfer dieser Gewalt zudem ausgegrenzt wird. Dadurch muss sie zusätzlich den Ausschluss aus ihrer Familie, den für Minderjährige existenziell wichtigen sozialen Zusammenhang, bewältigen. Die Gewaltereignisse in der Familie werden unter anderem dadurch tabuisiert, dass sie nicht als Taten mit Folgen benannt werden, für die einzelne Personen, nämlich der Bruder und der Stiefvater, verantwortlich sind. Indem die Gewalt tabuisiert wird, wird die Tatsache, dass Jasmin ihre Familie verlässt, auf der Straße lebt und Drogen konsumiert, als ihr persönliches Versagen gedeutet, mit dem sie klarkommen muss. Der Normalität der Gewalt zu entkommen ist hier eng verknüpft mit dem Ausschluss aus als normal anerkannten sozialen Räumen.173 Jasmins Erzählungen sind geprägt durch das Bemühen, ihre aktuellen familiären Verhältnisse als normal und unproblematisch darzustellen. Das Bemühen um Zugehörigkeit beinhaltet das konsequente Ausblenden der gewaltförmigen ausgrenzenden Verhältnisse. Dies wird auf eindrückliche Weise in einer späteren Interviewpassage deutlich: „J: Ah und jetz bin ich auch froh, dat dat alles wieder in Ordnung is. (1) Die (die Mutter, C.S.) hat auch gesagt, ich kann auch bei ihr schlafen und so, aber mach ich nich, (.) wegen meinem großen Bruder und äh; ich schlaf zwar zwischendurch da; 172 Jasmin erzählt, ihr Vater habe Morddrohungen gegen den Stiefvater ausgesprochen. Sie führt nicht aus, ob ihr Vater darüber hinaus noch etwas zum Schutz seiner Tochter unternommen hat. Es wird jedoch deutlich, dass Jasmin auch weiterhin der häuslichen Gewalt ausgesetzt ist. 173 Dabei hat die gesellschaftlich dominante Deutung von Familie als harmonischer und schutzbietender Gemeinschaft sicherlich auch Einfluss. Unicef (2006) konstatiert, dass die Familie für Kinder der Zusammenhang ist, wo sie am glücklichsten und am besten geschützt sind und die gleichzeitig für Millionen Kinder weltweit aber auch der gefährlichste Ort ist (ebd., 4).
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(1) im Moment geht dat auch wieder zwischen mir und meinem Bruder, (.) wir ham uns auch wieder vertragen; (1) is ganz cool eigentlich. (1) Nich so wie die meisten hier die auf der Straße leben, (1) die versuchen erst gar nich, Kontakt mit den Eltern aufzunehmen, oder sonst irgendwas;' I: [Mm; J: [also ich kenn viele, (1) die da kein (.) gar kein Interesse daran haben, wat die Eltern machen oder so. (2) Weiß ich nich. Dafür is mir meine Familie viel zu wichtig.“ (Int. 10)174
Die Bemerkung, dass sie wegen ihres Bruders nicht bei ihrer Mutter schläft (sondern lieber draußen oder in einer Notschlafstelle) glättet Jasmin nach einem kurzen stockenden „äh“ wieder zu der Erzählung über die harmonische Wiedergewinnung der Zugehörigkeit zum normalen Familienzusammenhang. Deutlich wird dies auch in der Formulierung „wir ham uns auch wieder vertragen“, die eine normale Geschwisterbeziehung impliziert und nicht ein Verhältnis zwischen Täter und Opfer, das der Bruder durch seine Übergriffe geschaffen hat. Von besonderer Relevanz ist, dass diese Tabuisierung von Gewaltverhältnissen innerhalb der Familie, die Annahme von gewalttätigem Verhalten als normales soziales Miteinander keine ausschließlich individuelle Deutungsleistung von Jasmin (und ihrer Familie) darstellt, sondern sich in gesellschaftliche Verhältnisse eingebettet findet, in denen der Schutz des Privatraums Familie im herrschenden Diskurs vielfach gleichgesetzt wird mit dem Schutz des Leitbildes der Familie als harmonische Keimzelle der Gesellschaft, der Vorrang hat vor dem öffentlichen Benennen von Missständen und Einmischen in diesen Privatraum.175 Als Orientierung auf die Zugehörigkeit zu als normal anerkannten Lebensverhältnissen ist für Jasmin die gesellschaftliche Norm des familiären Zusammenlebens eher verfügbar und leitend als die Norm eines gewaltfreien Miteinanders. Im Interview mit Hanna finden sich keine so konkreten Erzählungen über ihr Zusammenleben mit den Eltern, bevor sie von dort auf die Straße ging. Auffällig ist in ihren Erzählungen hingegen, was sie als eine derjenigen, die die Straße als unwirtlichen und gefährlichen Ort erlebt, an Leiden auf sich nimmt, ohne dass ihr dabei die Rückkehr ins Elternhaus als eine akzeptable Alternative 174 „J“ steht für Jasmin, „I“ für Interviewerin. 175 Das Recht von Kindern auf eine gewaltfreie Erziehung (§ 1631 Abs. 2 BGB) wurde gesetzlich erst im November 2000 eingeführt. Die Diskussionen, die im Vorfeld um die Frage geführt wurden, ob diese Gesetzgebung eine zu große Einmischung des Staates, also der Öffentlichkeit, in die Privatsache Erziehung der Eltern sei, und die Tatsache, dass das Bundesjustizministerium es für notwendig hielt, hierzu eine Öffentlichkeitskampagne mit dem Ziel eines Bewusstseinswandels in der Bevölkerung zu initiieren, ist Ausdruck einer gesellschaftlichen Haltung, in der ein gewaltfreier Umgang längst keine jederzeit einklagbare Selbstverständlichkeit ist (vgl. BmFSFJ/ BmJ 2003, 3).
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erscheint. Nach den Erzählungen über Hunger, Kälte und Gewalterfahrungen frage ich als Interviewerin nach, ob ihr Elternhaus angesichts dessen keine Alternative gewesen wäre. „I: Und du wolltest, (.) hast ja erzählt dass es wie schlimm es war auf der Straße, (.) mmh hast du dir zwischendrin überlegt zu deinen Eltern zurückzugehn? H: So ich wusst ja nich, eher nich, ich hatte einfach Angst, (.) < manchmal dacht ich schon,> ah vielleicht wärs besser gewesen, du wärst zu Hause geblieben, (.) aber (1) auf der andern Seite wollt ich auch nich °zurück°. (.) Weil ich irgendwie Angst hatte, (3) weil wir uns zu Hause heftig (.) inna Wolle hatten; (1) wusst ich halt nich, wie meine Eltern drauf reagieren, wenn ich jetzt wieder vor der Tür steh, (2) <<seufzend> wieder zurück möchte>; (9) war nich so toll. (9)“ (Int. 1)176
Hanna redet durchgehend nur in kurzen Andeutungen von heftigem Streit und Stress oder „in der Wolle haben“, ohne zu benennen, worum es dabei ging oder in welcher Form die Streitigkeiten ausgetragen wurden. Sie benennt „Angst“ als Hinderungsgrund, nach Hause zurückzukehren, bleibt aber auch hier unkonkret. Als Hanna aus einer bedrohlichen Situation verzweifelt zu ihren Eltern flüchtet, erhält sie hier keine Unterstützung: „H: Ich hab von meinen Eltern noch einen, noch richtig volle Kanne eins drauf gekriegt und so, (.) echt; (2) I: Von deinen Eltern auch noch, H: Ja, weil mit dem Scheiß, weil die sind au noch bedroht worden von diesen Leuten, (.) weil ich ganz ganz kurze Zeit au mal n Kontakt zu meinen Eltern hatte. da war ich au kurze Zeit bei denen, besuchen, (.) da ham wir uns auch immer in die Wolle gekriegt; immer nur gestritten, (.) ich wars dann schuld.“ (Int. 1)177
Hanna klagt wie Jasmin ihre Eltern nicht an. Vielmehr leidet sie unter der Kontaktlosigkeit zu ihnen. In ihren Zukunftsplänen beschreibt Hanna wiederholt, dass sie vorhabe, ihren Eltern einen Brief zu schreiben, um ihnen in Ruhe alles erklären zu können. Der Orientierung auf die Bewältigung des Ausschlusses aus der Herkunftsfamilie ist der Versuch immanent, geschehene Gewalterfahrungen zu bewältigen, ohne sich mit deren Ausmaß und Ungeheuerlichkeit konfrontieren zu müssen. Und umgekehrt: Das Verschweigen des Ausmaßes und der Ungeheuerlichkeit der erlittenen Gewalt ist wichtig für die Herstellung einer noch so fragilen Zugehörigkeit zur Herkunftsfamilie.
176 „I“ steht für Interviewerin, „H“ für Hanna. 177 „H“ steht für Hanna, „I“ für Interviewerin.
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Wie alltäglich und durch ihre Alltäglichkeit normal Gewalterfahrungen178 für die interviewten Mädchen und Frauen sind, zeigt sich auch in der Beiläufigkeit, in der gewaltförmige Ereignisse aus der Kindheit und Jugend, zum Teil eingebettet in andere Erzählungen, erwähnt werden. Nadine (Int. 4) erzählt beispielsweise davon, wie unangenehm sie es findet, draußen zu übernachten, und führt die folgende Erfahrung an: „Aber meine Mutter hat früher zum Beispiel, wenn ich zu spät kam, hat die Schlüssel in die Tür gesteckt, (.) und dann hab ich draußen gewartet, dann: (.) irgendwie hab ich dann, (.) an Rolladen geklopft, oder so, weil (1) ich weiß nich, die hat immer gesagt, wenn ich um die und die Uhrzeit nich komme, dann hab ich Pech gehabt; (1) dann will die mich auch nich mehr rein lassen, oder so; (1) mmh; (.) und dann hab ich einmal draußen gesessen, und dann war mir so kalt gewesen.“
Nadine kommentiert dieses Verhalten ihrer Mutter im Weiteren nicht. Ihre Erzählweise transportiert für die Zuhörenden die Hilflosigkeit der Jugendlichen gegenüber der Mutter, die ihre Maßnahmen als erzieherisch notwendig rechtfertigt und die Nadine hinnimmt und hinnehmen muss. Gewalterfahrungen als erlittenes Unrecht zu benennen und auch anzuklagen geschieht in den Interviews vereinzelt und eher zögerlich. Lisa beispielsweise wird schon als Kind von ihrer drogenkonsumierenden Mutter aufgefordert, Geld zu besorgen. Obwohl sie mehrfach betont, dass sie sich heute wieder gut mit ihrer Mutter verstehe, stellt Lisa deren Verhalten in Frage. „L: Weil ich mich halt auch früher immer gefragt hab, wieso muss ich für meine Mutter Kohle klarmachen, eigentlich müsste das doch umgekehrt sein ne, I: mmh, L: und, (.) meine Mutter hat immer gesagt, ja, (.) <<mit verstellter Stimme> Kind, mach du mach du doch mal,> und dann hab ich halt Autos geknackt, und so.“ (Int. 2)179
Mit dem „ne“ am Ende des Satzes, in dem sie zögerlich den Missstand benennt, fordert Lisa mich als Interviewerin zu einer Bestätigung zur Unterstützung ihrer Wahrnehmung auf. Später im Interview spricht sie aus ihrer heutigen Perspektive klarere Worte: 178 Diese Normalität von Gewalterfahrungen ist auch als Bewältigungsstrategie zu verstehen. Um die eigene Handlungsfähigkeit herzustellen und zu sichern, müssen Erfahrungen, die sich zerstörerisch auf die Lebenswelt auswirken können, als pragmatisches Motiv des Überlebens lebensweltlich integriert werden. 179 „L“ steht für Lisa, „I“ für Interviewerin.
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„Da hab ich halt auch n tierischen Hass dann auf meine Mutter (.) geschoben so. Immer echt < haste Gras? Haste Gras? Geh, mach mal Kohle klar;> da war das halt da hab ich echt gedacht, die hat doch n Knall, die Alte. (2) Aber mittlerweile is das ja eigentlich immer noch so ne; (.) meine Mutter kriegt irgendwie eigentlich verdient sie normal; also so um die tausend Euro, das is zwar jetz nich (.) superviel, aber is halt Kohle ne; und die lebt jetz alleine, (1) und ähm trotzdem ey, Anfang des Monats so, also die (.) die kriegt eigentlich immer am fünfzehnten Kohle so, (.) achtzehnter hat se nix mehr; (1) < och Kind, haste noch Geld, uäh?> Find ich immer krass, also wenn ich dann extra mit m Kollegen nach T-stadt fahren muss, der dann das Gras irgendwie (.) < ja Mama, hier haste n bisschen Gras, ach, musste nich bezahlen> also da komm ich mir manchmal echt schon bescheuert vor.“
Den von der Mutter hergestellten Umgang, der alltägliche Normalität im Verhältnis zwischen Mutter und Tochter darstellt, kritisiert Lisa hier sehr deutlich. Sie geht jedoch nicht so weit, dass sie sich ihm verweigert. Das im Sinne von Ausbeutung und grober Vernachlässigung gewaltförmige Verhalten der Mutter gegenüber Lisa setzt sich in der Praxis fort. Solche klaren Worte wie „Hass zu schieben“ auf die eigene Mutter finden sich in den Interviews sonst nicht. Vielmehr beklagen die wohnungslosen Mädchen und jungen Frauen in unterschiedlicher Weise den Ausschluss aus der Familie. Manfred Kappeler (1999) bezeichnet das Leben auf der Straße als Notlösung für die betreffenden Jugendlichen, die für sie eben „eine Lösung aus Not“ (ebd., 382) sei. Dies trifft für die interviewten Mädchen und jungen Frauen auch zu. Diese Notlösung bedeutet für sie aber gleichzeitig auch den Verlust von und Ausschluss aus einem sozialen Zusammenhang, der in der individuellen und gesellschaftlichen Deutung als notwendiger Bestandteil für die Zugehörigkeit zu normalen Lebensverhältnissen gilt. 6.3.2 Gewalterfahrungen während der Wohnungslosigkeit Erzählungen oder Schilderungen von Gewalterfahrungen während der Wohnungslosigkeit finden sich vorwiegend unter der Orientierung auf den Zugang zu anerkannten Räumen. Im Kontext der Darstellung der Lebenswelt Straße als einem befremdlichen und gefährlichen Ort erscheint dies schlüssig. Sexuelle Übergriffe bis hin zu Vergewaltigungen von männlichen Gleichaltrigen, vor allem auf Partys, aber auch in Notschlafstellen und Jugendwohngruppen, sowie Gewalterfahrungen während des Mitwohnens bei fremden oder bekannten Männern und auch Frauen sind Erlebnisse, von denen die Interviewten erzählen. 212
Gewalt auf der Straße wird in ihrer Wirkmächtigkeit und ihren Auswirkungen in der Regel verdeckt. Sie erscheint dadurch folgenlos und verliert an offensichtlicher Bedeutung und Relevanz in der Lebenswelt der Betroffenen. Diese Verdeckungen zeigen sich in geschlossenerer Gestalt unter der Orientierung auf die Normalisierung nicht anerkannter Räume. In der Orientierung auf den Zugang zu anerkannten Räumen hingegen wird diese Form der Darstellung von Gewalterfahrungen im Geschlechterverhältnis auch vereinzelt durchbrochen. Hanna erzählt beispielsweise von den Männern, bei denen sie eine Zeit lang übernachtete und die ihr „ohne Ende Scheiße“ (Int. 1) zugefügt hätten. Ihr Leiden an der Situation wird dabei ebenso deutlich wie später im Interview, als sie von einem weiteren Mann erzählt, der sie einsperrte und schlug (vgl. Kapitel 5.2.1). Im Interview mit Ela (Int. 5) wird hingegen die oben beschriebene Verdeckung auf eklatante Weise deutlich. Ela hatte im Laufe des Interviews erzählt, dass ihr Freund sie einmal so sehr verprügelt hatte, dass sie Blutergüsse am Körper, vor allem im Gesicht hatte. Gegen Ende des Interviews nehme ich darauf Bezug und stelle die folgende Frage. „I: Is das öfters passiert, dass er dich geschlagen hat? (2) E: ah ja, das sind alle zwei (.) Tage; (.) I: Echt? E: mmh; (.) ich mein, heute isses (.) der hat versucht sich s- zu- ähm (.) zurückzuhalten; er sagt immer, ich provozier okay, ich provozier ihn dann auch; wenn ich dem jetz was sage, ich weiß (.) dat ich dann dafür ne Ohrfeige kriege, (.) oder wenn ich dann jetz nich gehorche, dass ich dann doch die Schläge kriege; (.) aber (2) ich mach es dann trotzdem. (6) Ja, (1) aber angezeigt hab ich den dann (.) wollt ich doch nich; (1) die Polizei, (.) und die Stadt hat ihn selbst angezeigt so; weil ich keine Anzeige mache; (2) weil: (.) die Polizei kennt uns ja, (.) wegen unsrer Streitigkeiten; (1) die haben uns ja öfters auseinander genommen, (.) auch damals in der Wohnung, kam ja alle zwei drei (.) Tage die Polizei, (1) wir wurden ja sogar verhaftet; weil wir Streit hatten so wir hatten (1) fünfhundert Gramm Haschisch zu Hause, (.) und haben uns gestritten, die Nachbarn haben die Bullen gerufen, (.) wir ha- wurden beide verhaftet so. Eigentlich alles (.) wegen n blöde Streiterei so. Hab ich vierzehn Monate gekriegt (.) auf Bewährung; (1) weil er hatte schon Bewährung, (.) ich hab dann alles auf mich genommen sonst (.) wär der für n halbes Jahr in die Kitsche gekommen. (2) So hat er ver- er hat Bewährung verlängert gekriegt, (.) und ich hab (1) nur ne Vorstrafe gekriegt; (2) das war sogar an nem dreizehnten Freitag; [@(.)@ I: [@(.)@ (4) E: ja, und dann hat die Stadt ihn (.) selbst angezeigt, I: mmh,
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E: wegen (1) wegen Schlagen und mehrerer Sachen; auch wegen Zuhälterei und so. (.) Da musst ich (.) zur Wache; (.) ne Aussage machen; (.) u:nd ja ich hab alles abgestritten. (2) Weil, ich will dem ja auch nichts; ich will ja (.) gar nicht dass der (3) bestraft wird; (.) will ich nicht; I: mm E: der is doch mit sich selber genug gestraft; (2) I: °mmh,° E: ich mein, er (1) er denkt ja nich mal da dran, okay (.) er gibt manchmal zu, dass der mich dann (1) schlägt, dass ihm das leid tut; (.) aber das (.) glaubt er auch da dran, dass ich (.) halt (.) vieles verdient habe so. (.) Er sieht ja auch immer dieses (.) Fremdgehen im Hintergrund; weißt du? I: °mm,° (.) E: Das was (.) vor Jahren war so. (.) Das is immer noch heute aktuell so. (.) Und ich hab nun mal den Fehler180 gemacht und (.) ich bin nun mal die Schuldige so.“ (Int. 5)181
Ela stellt, ähnlich wie Jasmin bei der Beschreibung der Verhältnisse in ihrer Herkunftsfamilie, ihre Beziehung nicht als ein Gewaltverhältnis dar, in dem ihr Freund der Täter ist und sie das Gewalt erleidende Opfer. Vielmehr spricht sie von „Streitigkeiten“ in der Beziehung zu ihrem Freund, die durch das Verschulden beider Seiten gewaltförmig eskalieren. Sie redet von ihren eigenen Provokationen und der Verweigerung von Gehorsam wider besseres Wissen, die ihren Freund dazu veranlassen, Gewalt gegen Ela auszuüben. Sie verdeckt dabei den Umstand, dass das Einfordern von Gehorsam bereits ein Gewaltverhältnis konstituiert. Gewalt wird hier nicht verharmlost, indem sie verschwiegen wird, sondern indem sie als ein Aspekt des Beziehungsalltags normalisierend erzählt wird. Ela bezeichnet sich als Schuldige. Die Schuldige zu sein bedeutet, auch in dieser Beziehung nicht ohnmächtig, sondern handlungsfähig zu sein und damit mächtig, also potenziell in der Lage, die Situation zu verändern.182 Diese Konstruktion einer mächtigen Position ermöglicht zugleich das Aushalten in der gewaltförmigen Beziehung zu dem Freund. Hier zeigt sich die Orientierung auf Normalisierung, in der das Potenzial auf Veränderung durch eben diese normalisierenden Deutungen sehr eingeschränkt wird. 180 Ela bezieht sich darauf, dass sie mir zuvor erzählt hatte, dass sie einmal vor mehreren Jahren eine Affäre mit einem anderen Mann hatte, wovon ihr Freund weiß. 181 „I“ steht für Interviewerin, „E“ für Ela. 182 Diese Konstruktion von Mächtigkeit zeigt sich auch, als Ela davon erzählt, dass sie in der Position war zu entscheiden, ob sie ihren Freund anzeigt, also quasi über sein Schicksal zu entscheiden und dann davon absieht mit den Worten: „der is doch mit sich selber genug gestraft“, womit sie sich als ihm deutlich überlegen positioniert.
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Erzählungen von gewaltförmigen Erfahrungen innerhalb der Peer Group finden sich vor allem eingebettet in die Konstruktion einer jugendlichen Spaßund Erlebniskultur. Hier geht es vor allem um selbst- und auch fremdgefährdendes Risikoverhalten183, zumeist in Verbindung mit Drogenkonsum. Als ein kurzes und eindrückliches Beispiel sei hier Jules Erzählung von ihrer Fahrt zur Love Parade angeführt: „Dat war auch nich so unbedingt so dat reine (.) dat wahre, (1) dat wahre Wunder so, (1) das war n wahres Wunder, dass ich den Tag lebend überstanden hab weil (1) wir sind na- wir sind am neunten, (.) siebten damals losgefahren, (.) von Z-stadt nach S-stadt; (1) und ich hab (.) wir ham den ganzen Tag am No- (.) den ganzen Tag ham wa gesoffen gehabt. (.) Und ich natürlich abends dann hingegangen und hab (.) ich hab zwei Pullen, (.) Amaretto, (1) also so Colaflaschen Amaretto (.) Cola, (.) und dann Amaretto Apfelsaft, hab ich alleine weggetrunken. (.) Und ne halbe Flasche ähm (1) äh wie heißt dat (.) Campari Osaft, (.) un- all so ne Schoten; und dann haben die Wichser mir alles mögliche zusammen gemixt; (.) die sind hingegangen zu Macces, und ham (.) son Milchshake geholt, Vanille, (1) und ne Cola, und dat ham se dann zusammen gemixt, mit mit äh (.) mit Amaretto noch dazu, und all son (.) also n wirklich n superekliges Getränk (am Ende) ich hab dat natürlich getrunken, weil ich so blau war, ich hat das schon nich mehr gemerkt; (1) ja ich weiß nur, dat ich irgendwann:, (.) ja im in der Bahn saß; nach (.) nach Berlin so.“ (Jule, Int. 3)
Auffällig sind in dieser Erzählung die Details, die angeführt werden, damit die Zuhörende genau nachvollziehen kann, in welchem Ausmaß Jule Alkohol konsumierte. Jule konstruiert sich hier als Teil einer jugendlichen Erlebniskultur, an deren Ritualen sie partizipiert. „Die Wichser“ ist hier kein ernst gemeintes Schimpfwort gegen die Mitreisenden. Jule beschreibt die Bemühungen der Peer Group, ihr ein hochprozentiges Getränk zuzubereiten, bei denen sie im Zentrum der Aufmerksamkeit steht, und stellt sich dadurch als integriert in diese Kultur dar. Der Kontrollverlust, den Jule erleidet und den die anderen ausnutzen, indem sie ihr noch mehr Schaden zufügen, wird hier nicht als leidvoll beschrieben – anders als beispielsweise Nadine Situationen von Kontrollverlust durch exzessiven Drogenkonsum als alptraumhaft beschreibt und in ihrer Erzählung reinszeniert (vgl. Kapitel 5.2.2). Vielmehr konstatiert Jule, nachdem sie im Weiteren geschildert hat, wie sie mit der Eigendiagnose „Alkoholvergiftung“ sich mehrfach übergebend und aus Mangel an alkoholfreien Getränken dehydriert den Tag übersteht, am Schluss der Erzählung: „Das war schon witzig; eigentlich hab ich auch ne witzig- hab ich ne witzige Zeit hinter mir schon; ich hab einfa183 Auf das Phänomen jugendlichen Risikoverhaltens kann ich im Rahmen dieser Untersuchung nicht vertiefend eingehen und verweise auf Jürgen Raithel (2004).
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schon viel schöne Sachen er- (.) erlebt.“ (Jule, Int. 3) Dieser Prozess der Normalisierung mit dem Ziel der Stabilisierung gelingt auch in der Interaktion während der Interviews. Die Lebenswelt der Interviewten erscheint atmosphärisch leicht und spaßig. Die Gefährdung wird eher als abenteuerlich denn als bedrohlich dargestellt und zeigt Momente dessen, was gemeinhin als typisch für Jugend und Adoleszenz begriffen wird. Unter der Orientierung auf den Zugang zu anerkannten Räumen hingegen wirkt die Lebenswelt der Betreffenden eher bedrückend und existenziell gefährdend angesichts der zum Teil direkten und auch anklagenden Schilderung von existenzieller Not, Leiden und Gewalt auf der Straße. 6.4 Orientierungen im Geschlechterverhältnis Wie in Kapitel 3.3 bereits ausgeführt, werden in dieser Arbeit die Merkmale (und zugleich Zuschreibungen), wohnungslos und Mädchen bzw. Frau zu sein, nicht bloß additiv, sondern in ihrer gegenseitigen Verknüpfung betrachtet. Im Folgenden wird also analysiert, inwiefern sich wohnungslose Mädchen und junge Frauen auf geschlechtlich konnotierte Diskurse und Praxen zur Bewältigung des Lebens auf der Straße beziehen – und umgekehrt: welcher Umgang mit geschlechtlichen Zuschreibungen auf der Straße möglich ist. Orientierungen im Geschlechterverhältnis lassen sich auf der Grundlage der in Kapitel 6.1 beschriebenen Basistypik analysieren. Die Geschlechterkonstruktionen, die sich in den Aussagen der Mädchen und jungen Frauen finden, sind darauf ausgerichtet, den beschriebenen Ausschluss aus anerkannten Räumen zu bewältigen. Das bedeutet, die Kategorie Geschlecht stellt für die Betreffenden eine Ressource dar, um unter den besonderen Bedingungen der Wohnungslosigkeit Normalität herzustellen und dadurch Anerkennung zu erlangen. Die Bewältigung des Verlustes von bzw. des Ausschlusses aus als normal anerkannten Lebensverhältnissen ist hier zum einen ausgerichtet auf die Vermeidung von Abhängigkeit und damit auf Eigenständigkeit und zum anderen auf die Teilhabe an heterosexueller Normalität. Beide Aspekte werde ich im Folgenden ausführen. Dabei wird auch die Bedeutung der Ausblendung von geschlechtshierarchischen Gewaltverhältnissen sowie der Bewältigung von Gewalterfahrungen als Voraussetzung und Motiv der Geschlechterkonstruktionen der betreffenden Mädchen und jungen Frauen sichtbar.
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6.4.1
„Guck, dass du ganz schnell Land gewinnst!“ – Eigenständigkeit und Unabhängigkeit
„Guck, dass du ganz schnell Land gewinnst!“, setzt Hanna einem Mann entgegen, der ihr Drogen aufdrängen will (vgl. Kapitel 5.1.1). Das selbstbewusste, den eigenen Raum schützende Auftreten, das Hanna im Interview mit lauter Stimme demonstriert, klingt wie ein Platzverweis an ihr Gegenüber, also an den Mann, von dem sie sich belästigt fühlt. Ich führe es an dieser Stelle an als ein markantes Beispiel für die Selbstdarstellung der von mir interviewten Mädchen und Frauen, wobei ein selbstbehauptendes Auftreten sowie ein offensives raumgreifendes Verhalten auffallen. Dieses im öffentlichen wie auch im fachlichen Diskurs vielfach als männlich bezeichnete Verhalten (vgl. Nissen 1997, 159ff.) thematisieren sie nicht als widersprüchlich zu ihrer Geschlechtszugehörigkeit. Wie in den Fallbeschreibungen an verschiedenen Stellen deutlich wurde, ermöglicht die Konstruktion eines mit Eigenständigkeit und Durchsetzungsvermögen konnotierten Selbstverständnisses die Distanzierung von einem Weiblichkeitskonzept, dem Abhängigkeit, sexuelle Verfügbarkeit und mangelnde Selbstbehauptung immanent ist. Ein anschauliches Beispiel dafür ist Lisas Erzählung aus der HipHopSzene, das ich in Kapitel 5.1.1 ausgeführt habe und deshalb an dieser Stelle nur kurz aufgreife. Lisa beschreibt die erheblichen Schwierigkeiten mit den Jungen und Männern beim Musikmachen und erzählt von den erfolgreichen Strategien, die sie gemeinsam mit Freundinnen entwickelt, um von den Jungen nicht ausgegrenzt zu werden. Sie nehmen sich, im übertragenen wie im wörtlichen Sinn, in der Szene und auf der Bühne den Raum für ihren Selbstausdruck und ihre Teilhabe. „Den HipHop emanzipieren“, nennt Lisa das. Die im HipHop hingegen gängige Weiblichkeitskonstruktion als negativen Gegenhorizont beschreibt Lisa wie folgt: „Das sind bei HipHop halt so die Tussis, die stylen sich auf, lassen sich poppen, und bei denen (den Jungen, C.S.) halten die die Schnauze so.“ Der positive Gegenhorizont, den Lisa im Laufe des Interviews auch elaboriert, meint hingegen ein Selbstverständnis, das sich nicht an der Zustimmung des anderen Geschlechts, der Jungen, orientiert und sich in sexueller Selbstbestimmung und einer eigenen Meinung ausdrückt. Die Konnotation von sexueller Selbstbestimmung mit Eigenständigkeit und Unabhängigkeit als positiver Gegenhorizont – in der Distanzierung von sexueller Verfügbarkeit in Verknüpfung mit Abhängigkeit vom anderen Geschlecht – stellt eine grundlegende Orientierung im Geschlechterverhältnis der interviewten Mädchen und jungen Frauen dar. Die Tatsache, dass sie sich immer wieder mit dem Stigma der Prostitution konfrontiert sehen, ist in diesem Zusammenhang sicherlich auch von Bedeutung. Mit Prostitution ist dabei weniger eine 217
berufliche Tätigkeit als ein deklassiertes Weiblichkeitskonzept gemeint. Die Auseinandersetzung mit diesem Stigma findet sich zum Beispiel in expliziter Form bei Hanna (vgl. Kapitel 5.2.1) oder implizit bei Nadine (vgl. Kapitel 5.1.2), wie in den Fallbeschreibungen deutlich wurde. Abhängigkeiten zu überwinden und Selbstbestimmung zu erlangen und damit Handlungsfähigkeit herzustellen, stellt für die von mir interviewten Mädchen und jungen Frauen einen Weg dar, den erfahrenen Verlust von Normalität und den Ausschluss aus als normal anerkannten Lebensverhältnissen zu überwinden. Dieser Verlust ist eng verbunden mit der existenziellen materiellen und emotionalen Abhängigkeit von der Unterstützung der Eltern oder der Jugendhilfe, in der die Mädchen und jungen Frauen als Minderjährige lebten.184 Problematisch und unter Umständen auch gefährlich wurde diese Abhängigkeit für sie, weil sie den Bedingungen der Unterstützung nicht ausreichend genügen konnten und/oder wollten.185 Die Freiheit, über Raum, Zeit und ihre sozialen Kontakte selbst zu bestimmen, wird von den wohnungslosen Mädchen und jungen Frauen als ein Vorteil des Lebens auf der Straße gegenüber dem Elternhaus oder auch der Jugendhilfe benannt. Der Wunsch nach Unabhängigkeit von Drogen und von den Zwängen des alltäglichen Überlebens sowie die mangelnden Perspektiven sind das Motiv, die Straße wieder verlassen zu wollen. Die Aussage „Guck, dass du ganz schnell Land gewinnst!“ könnte, in einen anderen Kontext gesetzt, durch die räumliche Metapher auch verstanden werden als ein auffordernder Leitspruch der betreffenden Mädchen und jungen Frauen an sich selbst, nämlich als Aufforderung zur offensiven Raumaneignung und Selbstbehauptung auf der Straße. Nicht über eigenen privaten Raum verfügen zu können, ist ein wesentliches Merkmal von Wohnungslosigkeit. Zu den besonderen Bedingungen der Lebenswelt Straße gehört deshalb die Notwendigkeit, für das eigene Überleben und die eigene Sicherheit Raumansprüche gegenüber anderen durchzusetzen, in geschlechtshomogenen Zusammenhängen (wie zum Beispiel auf dem Straßenstrich) wie in der gemischtgeschlechtlichen Szene. Sich an einer Konstruktion von Weiblichkeit zu orientieren, die sich in der Abhängigkeit von anderen (männlichen) Menschen konstituiert und keine eigenen Raumansprüche stellen darf, kann für sie eine Gefährdung bedeuten. 184 Die Abhängigkeit junger volljähriger Menschen unter 25 Jahren von ihrer Herkunftsfamilie ist durch die Änderung des § 22, Abs. 2a, SGB II vom 1.07.2006 verschärft worden, was für die jungen Menschen im Konfliktfall eine äußerst prekäre Situation verursachen kann, die auch mit Unterstützung der Sozialen Arbeit in der Wohnungslosenhilfe häufig kaum aufgefangen werden kann. Vgl. dazu ausführlich Sandermann/Urban/Schruth 2007. 185 Wie in den Fallbeschreibungen in Kapitel 5 zu sehen ist, umfassen diese Bedingungen die Bandbreite von der Forderung, das Zimmer aufzuräumen, bis hin zum Ertragen von zum Teil lebensbedrohlicher physischer und psychischer Gewalt.
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Sich als eigenständig und unabhängig darzustellen, impliziert hingegen, nicht so stark wie andere in die Straßenszene involviert und keinesfalls von diesem sozialen Zusammenhang abhängig zu sein. Diese Eigenständigkeit meint zudem eine Handlungsfähigkeit, die es potenziell ermöglichen soll, die Straße zu verlassen und damit die Zugehörigkeit zu als normal anerkannten Verhältnissen herzustellen. Neben der Vermeidung von Gefährdung wird also durch die Konstruktion eines eigenständigen und selbstbestimmten Weiblichkeitsbildes ein handlungsfähiges Selbstbild entworfen, das sinnhaft ist vor dem Hintergrund der Anforderungen des Überlebens auf der Straße. Im Kontext der Basistypik ist dieses Selbstbild ausgerichtet auf die Bewältigung des Verlustes von als normal geltenden Lebensbezügen. 6.4.2
Gleichberechtigt und gewaltfrei? – Teilhabe an heterosexueller Normalität
Die Zugehörigkeit zu und Teilhabe an heterosexueller Normalität stellt den zweiten Aspekt der Orientierungen im Geschlechterverhältnis der wohnungslosen Mädchen und jungen Frauen dar. Damit unterscheiden sie sich nicht von vielen anderen adoleszenten jungen Menschen. Interessant ist vielmehr, wie diese Zugehörigkeit und Teilhabe in der Lebenswelt Straße hergestellt wird und was sie ausmacht. In den Erzählungen der wohnungslosen Mädchen und jungen Frauen werden die Geschlechterbeziehungen als weitgehend gleichberechtigt, emanzipiert, gewaltfrei und heterosexuell ausgerichtet dargestellt. Diese Darstellung relativieren sie auch nicht in Anbetracht der Gewalterfahrungen durch Jungen und Männer, von denen die Interviewten berichten. Vielmehr dient die Konstruktion von harmonischen und ausgewogenen Geschlechterbeziehungen unter anderem der Bewältigung dieser Gewalterfahrungen. Wohnungslose Mädchen und junge Frauen beziehen sich damit auf einen gesellschaftlich vorherrschenden Diskurs zum Geschlechterverhältnis, in dem sich die emanzipatorische Veränderung ehemals starrer Geschlechterrollen wiederfindet und Gleichberechtigung zu einem Leitgedanken geworden ist. Gleichzeitig ist diesem Diskurs die Verdeckung geschlechtshierarchischer Machtverhältnisse immanent.186 Die Teilhabe an heterosexuellen Geschlechterbeziehungen gilt gemäß den gesellschaftlich dominanten Vorgaben als Voraussetzung für die gesellschaftliche Anerkennung
186 Vgl. dazu auch Kapitel 3.2.2 zum Konzept des Verdeckungszusammenhangs.
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von sozialen Zusammenhängen und damit auch für eine gelingende soziale Integration. Im Interview mit Jasmin findet sich ein anschauliches Beispiel für die Deutung hierarchischer Geschlechterverhältnisse. Sie vergleicht die Fähigkeiten von Mädchen und Jungen, auf der Straße zurechtzukommen, und konstatiert: „Aber ich find, (.) Mädchen kommen damit besser klar. (.) Weil Mädchen ham mehr Ehrgeiz als die Jungs. Die Jungs sind sensibler. Die tun immer auf hart, aber im ehrlichen Teil (.) sind die dann voll (.) ich weiß nich, voll (1) traurig; entsetzt; (3) kommen damit gar nich klar eigentlich dat die auf der Straße leben.“ (Jasmin, Int. 10)
Jasmin spricht von den Jungen, die sich nach außen hin als „hart“ geben, aber in Wirklichkeit („im ehrlichen Teil“) „sensibel“ und „traurig“ sind. Sie bezieht sich damit auf eine Männlichkeitskonstruktion, die sich mit der Redensart „harte Schale, weicher Kern“ umreißen lässt. Diese Konstruktion ermöglicht es, unsensibles, unsoziales oder auch gewalttätiges Handeln von Männern, vor allem innerhalb der Geschlechterhierarchie, zu relativieren, indem es als emotionales Defizit gedeutet wird. Damit wird es gleichzeitig ermöglicht, die Unterlegenheit von Frauen in diesem geschlechterhierarchischen Verhältnis zu verdecken, indem die mit Weiblichkeit konnotierte emotionale und soziale Kompetenz zur überlegenen Fähigkeit bei der Lebensbewältigung erklärt wird.187 Die Fähigkeit, das Leben im öffentlichen Raum, auf der Straße zu bewältigen, wird im öffentlichen wie zum Teil auch im fachlichen Diskurs als eher männliche Eigenschaft benannt. Damit ist auch gemeint, Härte zu zeigen und stark zu sein. Jasmin hingegen beschreibt diese Bewältigungsleistung nicht als die Fähigkeit oder das Abenteuer, im öffentlichen Raum überleben zu können, sondern als die emotionale Kompetenz, mit einem massiven Missstand, einem Defizit im Leben zurechtzukommen. Jasmin konstruiert hier ein Geschlechterverhältnis, in dem es männliche Überlegenheit nicht gibt. Analog zu ihrer Trennung zwischen dem, was die Jungen tun und dem, was sie sind, kann man auch sagen, Jasmin konstruiert ein Geschlechterverhältnis, in dem die männliche Überlegenheit Schein, aber nicht Sein ist. Es gelingt ihr damit zugleich eine Konstruktion der Straße als ein Lebensort, in dem die mit weiblicher Geschlechtszugehörigkeit konnotierten Ei-
187 Jasmins Äußerung sollte jedoch auch dazu Anlass geben, über die vorherrschende Perspektive auf Jungen und junge Männer auf der Straße nachzudenken, vor allem in Bezug auf ihre Möglichkeiten, Opfererfahrungen und Stigmatisierungen in der Lebenswelt Straße und in ihrer Biografie zu bewältigen.
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genschaften nicht hinderlich und defizitär, sondern passend und funktional für das alltägliche Überleben sind. Ähnliche Konstruktionen finden sich auch in anderen Interviews. Keine der Mädchen und jungen Frauen stellt die Straße als eine Lebenswelt dar, in der ihre Geschlechtszugehörigkeit problematisch geworden ist. Wie Jasmins Beispiel zeigt, bedeutet dies nicht, dass ihnen die Zuordnung von Straße als männliches Territorium fremd oder für sie nicht wirkmächtig ist. Heterosexualität stellt eine gesellschaftlich dominante Kategorie dar, die Zugehörigkeit verspricht durch Teilhabe an einem normalen Geschlechterverhältnis und damit die Integration in anerkannte und stabile soziale Bezüge ermöglicht. Heterosexuelle Geschlechterbeziehungen werden in den Interviews von den Mädchen und jungen Frauen vielfach im Zusammenhang mit den Plänen, ihren Freund zu heiraten und eine Familie zu gründen, thematisiert. Diese Pläne sind jedoch vor allem auf die Stabilisierung der sozialen Dimension ihrer Lebenswelt ausgerichtet und nicht vorrangig durch ein romantisches Liebesideal motiviert. Anja (Int. 11) sagt beispielsweise zu ihren Zukunftswünschen: „A: Mit meinem Freund und so; (2) also, dat dat schon alles klappt, wie man sich dat so manchmal vorstellt. (.) Halt muss nich gleich wie im Traum sein, sondern einfach nur weg von der Straße, eigene Wohnung, (1) so weg von den Drogen, Kind, (.) also eigene Familie würd ich sagen. I: Mmh, (3) A: Weil ich guck mir dat manchmal an, manche Leute in meinem Alter, ja die werden (.) gerade achtzehn, wollen heiraten, haben schon zusammen n Kind, haben schon n Partner, mit dem sind se schon zwei oder drei Jahre zusammen, (1) sind schon verheiratet manchmal mit achtzehn; (.) haben ihr Leben ganz schön gut inner (.) im Griff; also (.) schon zu beneiden manchmal.“ (Int. 11)188
In einer stabilen heterosexuellen Beziehung zu leben, bedeutet für Anja, das Leben „im Griff“ zu haben. Zu ihrem Wunsch, ein drogenfreies Leben in eigener Wohnung mit ihrem Kind zu führen, gehört der Freund. Er ist in dieser Erzählung quasi der Ausgangspunkt, eine wichtige Voraussetzung zur Verwirklichung ihrer Vorstellungen. In Anjas Vorstellung muss nicht alles „wie im Traum“ sein, vielmehr geht es um die Stabilisierung der Lebenssituation, um soziale Integration. Der Freund wirkt auch in den Erzählungen in anderen Interviews eher wie ein notwendiger Bestandteil zur Realisierung dieser Lebensform als der Partner für eine romantische heterosexuelle Beziehung. Im Interview mit Jule bei188 „A“ steht für Anja, „I“ für Interviewerin.
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spielsweise erscheint der Freund vor allem als Türöffner zur Einbindung in eine Familie, in diesem Fall seine Herkunftsfamilie.189 Der Zusammenhang zwischen der Bewältigung von Gewalterfahrungen und der Konstruktion von Teilhabe an heterosexueller Normalität wird im Interview mit Lisa exemplarisch deutlich.190 Lisa wurde in ihrem Leben mehrfach Opfer von sexueller Gewalt durch Jungen und Männer. Sie sieht hier eine Parallele zur Biografie ihrer Mutter, die vergleichbare Gewalterfahrungen machen musste. Lisa unterscheidet hingegen zwischen ihrer Mutter und sich selbst hinsichtlich der Folgen und der Bedeutung, die diese Gewalterfahrungen für beide hatten. Mit Bezug auf ihre Mutter sagt Lisa: „Deswegen hat sie auch so ne (1) hach so n komisches Verhältnis zu Männern, und jetzt is sie halt (1) @ich würd jetzt einfach mal behaupten lesbisch@, kann auch sein dass sie doch bi is oder so.“ (Lisa, Int. 2) Dass ihre Mutter lesbisch oder bisexuell und damit nicht die heterosexuelle Normalität lebt, erklärt Lisa damit, dass ihre Mutter durch die vergangenen Gewalterfahrungen ein gestörtes Verhältnis zu Männern habe. Lisa hingegen konstatiert nach der Erzählung ihrer eigenen Gewalterfahrungen kurz: „Aber sonst, (.) jetzt geht’s mir ja gut.“ (Lisa, Int. 2) Sich selbst stellt sie in Unterscheidung zu ihrer Mutter an mehreren Stellen im Interview als in weitgehend gleichberechtigte heterosexuelle Geschlechterbeziehungen integriert dar, unter anderem in der Art, wie sie ihr sexuelles Interesse an Männern äußert. So sagt sie beispielsweise über einen „Typen“, den sie in einem Club kennengelernt hat: „Außerdem war der Typ geil; @(.)@ doch war echt schon n leckerer Typ.“ (Lisa, Int. 2) Im Interviewkontext erscheint diese Äußerung recht unvermittelt innerhalb der längeren Erzählung über einen Bekannten, der sie belästigt und kontrollieren will. Die Darstellung des aktiven und offensiven sexuellen Interesses an Männern wirkt wie ein Korrektiv, das Lisa in dieser Erzählung nicht als Opfer des Bekannten, sondern als aktiv Handelnde in normalen Geschlechterbeziehungen darstellt. Die Teilhabe an heterosexuellen Geschlechterbeziehungen erscheint unabhängig von der eigenen sexuellen Orientierung auch für diejenige der Interviewten wichtig, die ausschließlich gleichgeschlechtliche Beziehungen lebt. Petra erzählt von ihrer Sehnsucht nach einer neuen Liebesbeziehung wie folgt: „Ich hätte auch gerne mal wieder irgendwas Liebesmäßiges so aber ((seufzt)) @(2)@, ich weiß auch nicht; bei Männern hab ich so viele Chancen, aber (.) keine einzige Frau guckt mal mich da mich mit der Arschbacke an.“ (Petra, Int. 6) Die Zugehörigkeit zu heterosexueller Normalität geschieht hier durch die Anerkennung durch Dritte, also die Männer, die sie als heterosexuelle Frau und 189 Vgl. dazu ausführlich Kapitel 5.2.2. 190 Vgl. dazu ausführlich Kapitel 5.1.1.
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potenzielle Partnerin wahrnehmen und behandeln. Gleichzeitig wertet Petra hier ihre als abweichend geltende sexuelle Orientierung gegenüber der heterosexuellen auf, indem sie es als mühelos darstellt, einen interessierten Mann zu finden, während es anspruchsvoller ist, das Interesse einer Frau auf sich zu ziehen. Eine homosexuelle Orientierung schließt in Petras Konstruktion die Integration in heterosexuelle Geschlechterbeziehungen nicht aus, sondern wirkt vielmehr wie eine Ergänzung. Die Zugehörigkeit zur heterosexuellen Normalität erhält in der Lebenslage Wohnungslosigkeit eine über die Kategorie Geschlecht hinausweisende Bedeutung. Der Verlust von und der Ausschluss aus gesellschaftlich anerkannten Lebensverhältnissen stellen die Lebenswelt strukturierende Erfahrungen dar. Als selbstverständlich angenommene Zugehörigkeiten sind brüchig geworden und massive, über biografische Phasen hinweg alltägliche Gewalterfahrungen müssen bewältigt werden. Die Integration in eine wie in diesem Kapitel beschriebene Konstruktion von Geschlechterverhältnissen mit den ihr immanenten Verdeckungen erscheint den betroffenen Mädchen und jungen Frauen als eine Ressource zur Überwindung dieser Erfahrungen.
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7. Lebenswelten weiterdenken: Konsequenzen für die Soziale Arbeit
Das Erkenntnisinteresse dieser Arbeit ist, wie in der Einleitung dargelegt, nicht primär auf die Anwendbarkeit der Ergebnisse in der Praxis Sozialer Arbeit ausgerichtet. Vielmehr leitete eine offene Fragestellung den Blick auf die Lebenswelten wohnungsloser Mädchen und Frauen. Zudem wurde methodisch und methodologisch ein lebensweltorientierter Ansatz für die qualitative Forschung mit dieser Zielgruppe entwickelt, der meines Erachtens auch übertragbar ist auf die Forschung mit Menschen in prekären Lebensverhältnissen191 im Allgemeinen. Je länger ich mich mit dem Thema dieser Arbeit beschäftigt habe, desto mehr Themen sind daraus entstanden und desto mehr weiterführende Gedanken haben sich entwickelt. Dies ist sicherlich keine neue Erkenntnis und trotzdem eine signifikante Erfahrung im Forschungsprozess. Die Bedeutung der in den letzten Kapiteln ausgeführten Ergebnisse für die Soziale Arbeit wie vielleicht auch für andere Fachdisziplinen und Diskurse kann und sollte nicht ausschließlich von mir allein reflektiert werden, sondern sich im besten Fall in der Rezeption der Untersuchung in weiterführenden Diskussionen in ihren unterschiedlichen Dimensionen entfalten. Dennoch möchte ich abschließend weiterführende Gedanken und Konsequenzen für die Theorie und Praxis Sozialer Arbeit aufzeigen. Dabei beziehe ich mich zum einen auf die Ergebnisse hinsichtlich der methodischen Vorgehensweise und der Haltung gegenüber den Beforschten und reflektiere deren Relevanz und Gehalt für eine lebensweltorientierte Gesprächsführung in der Sozialen Arbeit. Zum anderen werde ich die in den Orientierungen und damit den Lebenswelten der wohnungslosen Mädchen und jungen Frauen wichtigen Be191 Der Ausdruck „prekäre Lebensverhältnisse“ meint das Leben ohne stabile Existenzsicherung in Bezug auf Wohnen, Lebensunterhalt, aber auch hinsichtlich der psychischen und physischen Unversehrtheit. Menschen in prekären Lebensverhältnissen sind gefordert, krisenhafte Wendungen und Brüche in ihrer Biografie zu bewältigen und in stark belastenden und belasteten Lebenssituationen zurechtzukommen. Sie werden häufig marginalisierten gesellschaftlichen Gruppen, so genannten Randgruppen, zugeordnet. Gemeint sind also Lebensverhältnisse, die für eine nicht unerhebliche Zahl der AdressatInnen Sozialer Arbeit alltäglich und somit von besonderer Relevanz für die Sozialarbeitsforschung sind.
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griffe der Normalität und Zugehörigkeit aufgreifen und in Bezug setzen zur Diskussion um Integration als eine Handlungsorientierung in der Sozialen Arbeit mit dieser Zielgruppe. Mit der Bildungs- und Kulturarbeit im Kontext niedrigschwelliger Angebote wird abschließend ein konkreter Handlungsansatz erarbeitet. 7.1 Verbindungslinien lebensweltorientierter Forschungs- und Beratungsarbeit Der Verlust von und der Ausschluss aus als normal anerkannten Lebensverhältnissen, also aus anerkannten Räumen, sind, wie in den vorherigen Kapiteln in den verschiedenen Dimensionen deutlich wurde, Erfahrungen der Mädchen und jungen Frauen auf der Straße, die für ihre Orientierungen, ihre Perspektive und damit für ihre Lebenswelten grundlegend sind. Dazu gehört auch, als das Fremde, das Andere, das nicht Normale betrachtet und behandelt zu werden. Als normal und damit zugehörig anerkannt zu werden, also Anerkennung durch andere in Form von Wertschätzung, sozialer und kultureller Teilhabe sowie von Existenzsicherung zu erhalten, ist jedoch unabdingbare Voraussetzung für Selbstanerkennung, um ein positives Verhältnis zu sich selbst entwickeln und erhalten zu können. Das heißt, um es nochmals zu verdeutlichen: Wohnungslos zu sein bedeutet nicht nur unter besonderen räumlichen Bedingungen zu leben, sondern es bedeutet vor allem einen Ausschluss, der im Rahmen gesellschaftlich vorherrschender Normierungen und Zuschreibungen interaktiv hergestellt wird. Vor diesem Hintergrund gilt es, in methodischer und methodologischer Hinsicht eine Vorgehensweise und Haltung zu entwickeln, die diesen Hintergrund kritisch reflektiert und sich der Gefahr bewusst ist, in der Forschung und durch die Forschung diese Ausschlussprozesse und die Bedingungen von Ausschluss zu reproduzieren. Das methodische Postulat, sich im Forschungsprozess fremd zu machen gegenüber den eigenen selbstverständlichen Annahmen192, darf nicht bedeuten, das Gegenüber, die Beforschten also, als fremd im Sinne von anders anzunehmen. Es bedeutet für die Forschenden vielmehr, sich zu verdeutlichen, dass das Gegenüber trotz des eigenen Vorwissens und der Vorannahmen fremd im Sinne von nicht bekannt ist. Die ethnografische Haltung, das Fremde in der eigenen 192 In der dokumentarischen Methode spricht Ralf Bohnsack (2000) von der Standortgebundenheit, die für einen methodisch kontrollierten Forschungsprozess die Reflexion eben dieses Standortes nötig macht (ebd., 178).
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Kultur erforschen zu wollen, darf sich nicht an der ausgrenzenden Logik des Eigentlichen und Normalen einerseits und des Anderen und Fremden andererseits orientieren. Mit dem Fremden in der eigenen Kultur sind nicht bestimmte soziale Gruppen oder Subkulturen gemeint. Vielmehr geht es um eine Haltung, die durch die innere Distanzierung von dem als normal angenommenen einen offenen und kritischen Blick eröffnet. Das Forschen mit marginalisierten gesellschaftlichen Gruppen sollte nicht assoziiert werden mit dem „Eintauchen“ in eine oder dem Erkunden einer Subkultur. Unter den Bedingungen von Wohnungslosigkeit zu leben bedeutet nicht zwangsläufig, einer Subkultur zugehörig zu sein. Unter den Bedingungen von Wohnungslosigkeit zu leben bedeutet vielmehr, im öffentlichen und auch fachlichen Diskurs einer bestimmten sozialen Gruppe zugehörig gemacht zu werden. Eine große Herausforderung liegt für die Forschende darin, die Wirkmächtigkeit dieser normativen Logik immer wieder zu hinterfragen. Ähnliches gilt, wie ich in Kapitel 3.3 ausgeführt habe, für die Vorannahmen und stereotypen Vorstellungen, die mit der Geschlechtszugehörigkeit eines Menschen verknüpft werden. Wie in Kapitel 4 in der Darstellung der methodischen Vorgehensweise deutlich wurde, habe ich bei der Interviewführung die Vorgaben und Kategorien bereits existierender Methoden modifiziert, um eine lebensweltorientierte Forschung mit der Zielgruppe der wohnungslosen Mädchen und jungen Frauen umzusetzen. Dabei war es unter anderem wichtig, reflektiert und flexibel ein breites Spektrum an Gesprächsformen einzusetzen, vom vornehmlich erzählgenerierenden Verhalten der Interviewerin über eine dialogische Gesprächsform bis hin zu einem intervenierenden Verhalten, bei dem ich als Interviewerin in Ausnahmefällen Position zum Gesagten beziehe. Ich plädiere nicht dafür, zielgruppenspezifisch unterschiedliche Interviewformen zu entwickeln, weil damit der als kritisch zu bewertenden Tendenz zugearbeitet wird, verschiedene Zielgruppen durch spezifische Eigenschaften und Bedarfe zu definieren. Vielmehr ist ein offener Ansatz sinnvoll, dem eine methodisch reflektierte und dadurch kontrollierte Form der Improvisation oder Flexibilität immanent ist. Zudem, und das war ein zweiter wichtiger Aspekt in der Interviewführung, war diese darauf ausgerichtet, einen Raum zu eröffnen, in dem verdeckte Relevanzstrukturen der Interviewten sichtbar werden können (vgl. Kapitel 4.3). Sowohl die oben beschriebene Haltung im Forschungsprozess wie auch die beiden genannten Aspekte der Interviewführung sind von Bedeutung für die Beratungsarbeit, vor allem im Kontext niedrigschwelliger Angebote wie der Straßensozialarbeit. Unter Rahmenbedingungen, die mit dem Beratungssetting aus dem Lehrbuch nur wenig gemein haben, gilt es Methoden zu entwickeln, die
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im Sinne lebensweltorientierten professionellen Handelns diesen Rahmenbedingungen gerecht werden. So banal es klingt: Von zentraler Bedeutung ist es, den betreffenden Mädchen und jungen Frauen in einer Form zuzuhören, die nicht, wie in Beratungssituationen häufig üblich, in erster Linie auf die Ermittlung des Hilfebedarfs ausgerichtet ist, und damit biografisches und/oder lebensweltliches Erzählen zu ermöglichen. Während der Erhebungsphasen in den Einrichtungen habe ich von Interviewten und auch von Mitarbeiterinnen die Rückmeldung erhalten, dass die Interviews, also Gespräche mit einer weitgehend fremden Person ohne pädagogische oder therapeutische Ausrichtung, für die wohnungslosen Mädchen und jungen Frauen eine gute Erfahrung waren, über die sie positiv berichteten. An dieser Stelle könnte man weiter überlegen, welche Funktion, welche Rolle ich als „die Interviewerin“, wie ich von den Mädchen und jungen Frauen genannt wurde, während der Erhebungsphase eingenommen habe und in welcher Form es sinnvoll sein könnte, eine Person mit dieser Funktion oder Rolle in niedrigschwellige Einrichtungen einzubinden. Ein wichtiges theoretisches Konzept, das in der Praxis und praxisnahen Theoriebildung Sozialer Arbeit meines Erachtens bislang zu wenig rezipiert wird, stellt der Verdeckungszusammenhang dar, den ich in Kapitel 3.2.2 als eine der methodologischen Grundlagen dieser Arbeit ausführlicher vorgestellt habe. Als theoretische Klammer zwischen subjektorientierter und struktureller Perspektive bietet dieses Konzept Ansatzpunkte für eine lebensweltorientierte Praxis Sozialer Arbeit. Lebenswelt als Schnittstelle zwischen Subjektivem und Objektivem, zwischen individueller Biografie und gesellschaftlichen Verhältnissen zu begreifen, kann für die Soziale Arbeit nicht nur bedeuten, sich neben der Einzelfallhilfe auch gesellschafts- und kommunalpolitisch einzumischen. Vielmehr muss diese Schnittstelle mit den Wirkungsweisen der Verdeckungen im professionellen Handeln immer mitgedacht und reflektiert werden. Was dies in der konkreten Umsetzung bedeutet, ist ein Thema, das aufbauend auf den Ergebnissen dieser Arbeit weiter diskutiert werden muss und das Fragestellungen für weitere Forschungsarbeiten in sich birgt. 7.2 Normalität – Zugehörigkeit – Integration Auf die Diskussion unterschiedlicher Experten um die Frage, wie sozialintegrativ die pädagogische Arbeit mit wohnungslosen jungen Menschen ausgerichtet sein sollte, bin ich in Kapitel 2.3 eingegangen. Dabei ging es vor allem um die Frage, inwieweit der öffentliche Raum, die Straße als Lebensmittelpunkt für junge Menschen ein wichtiger, akzeptabler und im pädagogischen sowie öffent228
lichen Diskurs lediglich abwertend gedeuteter adoleszenter Lebensort ist. Oder, und das ist die andere Argumentationslinie, ob das Leben auf der Straße vor allem als gefährlich anzusehen und damit pädagogisches Handeln auf die Integration in normale im Sinne von sesshafte Lebensverhältnisse auszurichten sei (vgl. u. a. Hansbauer 1998, 10/Kappeler 1999, 80). Mit Bezug auf die Ergebnisse dieser Arbeit lautet meine These, dass die Diskussion darüber, wie integrativ Soziale Arbeit ausgerichtet sein sollte, in dieser Form nicht sinnvoll ist. Vielmehr sollte der Begriff der Integration überdacht und die dahinterstehenden Vorstellungen von normalen und gelingenden Lebensverhältnissen reflektiert werden, damit eine differenzierte und präzisierte Definition von Integration im Rahmen lebensweltorientierten Handelns entstehen kann. Ausschluss und Zugehörigkeit und damit zusammenhängende Vorstellungen und Bilder von Normalität stellen zentrale Aspekte des Orientierungsrahmens der wohnungslosen Mädchen und jungen Frauen dar. Ihre Orientierungen, die Suche nach Zugang zu anerkannten Räumen einerseits und die Normalisierung des Lebens auf der Straße andererseits zeigen Parallelen zu den unterschiedlichen Sichtweisen und Strategien im Fachdiskurs der Sozialen Arbeit. Beiden liegt, wie ich bereits in Kapitel 6 ausgeführt habe, eine Vorstellung von normalen Lebensverhältnissen als ein Raum zugrunde, dem man unter bestimmten Bedingungen und Voraussetzungen zugehörig ist oder eben nicht. Ich werde im Folgenden den Begriff der Normalität, dem in den Ergebnissen dieser Untersuchung eine herausragende Bedeutung zukommt, in zwei Bedeutungsdimensionen unterscheiden, um daraus mit Blick auf die Integration Schlussfolgerungen für die Diskussion um die Handlungsausrichtung der Sozialen Arbeit zu ziehen. Normalität meint zum einen die hegemoniale Konstruktion von Wirklichkeit entlang gesellschaftlich anerkannter Normen (vgl. Maihofer 1995, 81). Die gesellschaftlich vorherrschenden Werte und Normen sind auch für die Orientierungen der Mädchen und jungen Frauen auf der Straße bedeutsam – dass Integration vielfach nicht gelingt, liegt, wie in dieser Untersuchung sehr deutlich geworden ist, nicht daran, dass die betreffenden Mädchen und jungen Frauen diese Werte und die damit verbundenen gesellschaftlich dominanten Vorgaben für ein gelingendes Leben ablehnen. In ihren Erzählungen dokumentiert sich vielmehr, dass gesellschaftliche Institutionen wie Familie, Partnerschaft, Schule oder Beruf auch von den wohnungslosen Mädchen und jungen Frauen als bedeutsam für ein gelingendes Leben angesehen werden. Zum anderen sind mit dem Begriff der Normalität auch die alltäglich wiederkehrenden und zum Teil unhinterfragten Erfahrungen gemeint, die die Lebenswelten von Menschen konstituieren. Den hegemonialen Konstruktionen von Wirklichkeit ist immanent, dass sie bestimmte Aspekte gelebter und erfah229
rener alltäglicher Wirklichkeit von Menschen verdecken, wie es die Theorie des Verdeckungszusammenhangs aufzeigt (vgl. Bitzan/Daigler 2001, 26). Diese alltäglichen Erfahrungen, die die wohnungslosen Mädchen und jungen Frauen aktuell auf der Straße wie auch im Laufe ihrer Biografie gemacht haben und noch machen, weichen von dem ab, was nach dominanten gesellschaftlichen Vorgaben als normal gilt. Die Untersuchungsergebnisse haben gezeigt, dass diese Diskrepanz in den Lebenswelten der Beforschten wirkmächtig ist. Damit entstehen Widersprüche und Spannungsfelder in den Lebenswelten der wohnungslosen Mädchen und jungen Frauen, die sie bewältigen müssen. Denn die Integration in eine gesellschaftliche Normalität bedeutet für sie zumeist eine Integration in einen gesellschaftlichen Raum, in dem ihre Erfahrungen und ihre Biografie nicht als gelebte Realität anerkannt oder wertgeschätzt werden. Dies wird unter anderem deutlich an dem in Kapitel 6.2.1 ausgeführten Beispiel von Jasmin und ihren Erzählungen von den gewalttätigen Übergriffen ihres Stiefvaters und Bruders. Die Alltäglichkeit der Gewalterfahrungen in der Familie findet keine Entsprechung in der gesellschaftlichen Norm von Familie als elementarem sozialen Zusammenhang, der weitgehend bedingungslose Zugehörigkeit und Sicherheit verspricht. Ein anderes Beispiel findet sich bei Sam (vgl. Kapitel 5.1.4), die aus Angst vor Diskriminierungen und Kontaktabbrüchen am Ausbildungsplatz und gegenüber neuen FreundInnen nicht von ihren Erfahrungen auf der Straße erzählt. Was meine Gesprächspartnerinnen vor und während der Interviews mit sich selbst und mit mir verhandelt haben, nämlich ob sie und ich das Erzählte aushalten und ertragen können, ist auch relevant im öffentlichen und pädagogischen Diskurs über „Straßenkinder“ sowie in der Praxis der Jugend- und Wohnungslosenhilfe. Es gilt, die Mädchen und jungen Frauen mit ihren Lebensgeschichten und ihren Erfahrungen auszuhalten, was auch bedeuten kann, das Unerträgliche wie auch das Unverständliche und Unerklärliche zu ertragen. Das heißt auch, mit einer gesellschaftlichen Wirklichkeit konfrontiert zu werden, in der Gewalt, Missachtung, Vernachlässigung und Stigmatisierung in nicht unerheblichem Ausmaß alltägliche Normalität konstituieren können. Individualisierende und pathologisierende Zuschreibungen und pädagogische Konzepte, die allzu eng auf Reintegration abzielen, können auch als Strategien begriffen werden – Strategien, die darauf abzielen, angesichts der Konfrontation mit dem Unerträglichen (oder durch die Vermeidung dieser Konfrontation) die eigene Handlungsfähigkeit zu sichern, sowohl individuell als auch institutionell. Ein Handeln im Sinne der betreffenden Mädchen und jungen Frauen setzt meines Erachtens jedoch eine reflektierende Haltung der Anerkennung voraus. Integration kann nur gelingen in Verbindung mit Anerkennung. Und: Integration kann nicht nur einseitig stattfinden, sondern ist notwendigerweise stets 230
ein interaktiver Prozess. Das heißt, dass Soziale Arbeit – wie auch andere gesellschaftliche Institutionen – gefordert ist, gesellschaftliche Räume zu schaffen, die den wohnungslosen Mädchen und Frauen Fremdanerkennung und damit Selbstanerkennung ermöglichen. Wie das in der Umsetzung aussehen kann, werde ich im Folgenden ausführen. 7.3. Bildungs- und Kulturarbeit als Überlebenshilfen im Kontext niedrigschwelliger Arbeit Niedrigschwellige Angebote zeichnen sich aus durch ihren akzeptierenden Ansatz, der ohne vordergründige Veränderungserwartungen an die AdressatInnen herantritt. Bislang liegen die Schwerpunkte dieses Ansatzes der Sozialen Arbeit in der materiellen Grundversorgung mit Essen, Kleidung und Übernachtungsmöglichkeiten sowie einem Beratungsangebot. Damit ist das Potenzial, das niedrigschwellige Arbeit birgt, meines Erachtens noch längst nicht umfassend entwickelt worden. Es gilt, niedrigschwellige Angebote nicht mehr als unterstes Glied eines mehrstufigen Hilfesystems anzusehen, sondern als einen eigenständigen Ansatz, der auch mittel- und langfristige Angebote einschließt. Dafür spricht auch die Beobachtung aus der Praxis, dass viele wohnungslose junge Menschen diese Einrichtungen auch entgegen den konzeptionellen Vorgaben dauerhaft nutzen möchten, worin sich der hohe Bedarf nach Orten des „vorbehaltlosen Daseinkönnens“ ausdrückt. Ich erachte es nicht als ausreichend, den Begriff der Überlebenshilfen, wie sie in niedrigschwelligen Einrichtungen angeboten werden, auf die oben genannten Bereiche der Grundversorgung und Beratung zu beschränken. Bildungs- und Kulturarbeit, auch verstanden als Überlebenshilfen, sollte in niedrigschwellige Angebote integriert werden. Das wohnungslose Leben ist für Mädchen und junge Frauen nicht nur gefährlich, weil die Befriedigung der körperlichen Grundbedürfnisse nicht sichergestellt ist. Viele von ihnen sehen keinen Sinn darin, sich um ihre aktuelle Lebenssituation oder ihre Zukunft zu kümmern, weil sie den Eindruck haben, dass es, wie Jule (Int. 3) sagt, „ja eh kein Schwein interessiert, wie es mir geht“. Bildungs- und Kulturarbeit auf der Basis eines akzeptierenden und anerkennenden Ansatzes bedient meines Erachtens ganz wesentlich Grundbedürfnisse junger Menschen auf der Straße und sollten als fester Bestandteil niedrigschwelliger Arbeit etabliert werden. Albert Scherr hat 2002 zentrale Elemente eines Bildungsbegriffs für die Jugendarbeit formuliert, der meines Erachtens wertvolle Hinweise auch für eine
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gelingende anerkennende Bildungsarbeit mit wohnungslosen Jugendlichen beinhaltet (vgl. ebd., 316–317). Zwei Elemente sind dabei besonders wichtig: Bildung wird unter anderem verstanden als die „subjektive Aneignung, das aktive Sich-zu-eigen-Machen von verfügbarem Wissen, von Denkmöglichkeiten, Werten und Normen“ (ebd., 316). Wohnungslose Mädchen und junge Frauen eignen sich, freiwillig oder notwendigerweise, aufgrund ihrer spezifischen Lebensbedingungen und Bedürfnisse ihre Umwelt anders an als die Mehrheitsgesellschaft und verstoßen dabei vielfach gegen implizite oder rechtlich festgelegte Nutzungsvorgaben. Es gilt, diese Aneignungsformen und damit die Perspektiven von Mädchen und jungen Frauen auf der Straße kennenzulernen und anzuerkennen. Gleichzeitig müssen sie darin unterstützt werden, Zugang zu erhalten zu solchen materiellen und gesellschaftlichen Räumen, die ihnen in ihrer Lebenslage verschlossen bleiben. Gelingende Bildungsprozesse müssen die bewusste Auseinandersetzung mit der eigenen Lebenssituation und Lebensgeschichte sowie den hierfür relevanten politisch-kulturellen Rahmenbedingungen einbeziehen (vgl. ebd., 317). Die Biografien wohnungsloser Mädchen und junger Frauen sind in signifikanter Weise durchzogen von Diskontinuitäten und Brüchen. Ihnen ist bewusst, dass sich ihre Lebensgeschichten deutlich von dem unterscheiden, was als normale Kindheit und Jugendphase gilt. Lebensumstände, die für andere AltersgenossInnen weitgehend unhinterfragt gelten, wie zum Beispiel verlässliche erwachsene Bezugspersonen, Versorgung mit Kleidung, Unterkunft und Nahrung sowie das Recht auf physische und psychische Unversehrtheit, sind für sie keineswegs selbstverständlich und alltäglich verfügbar. Die bewusste Auseinandersetzung mit den Erfahrungen, die wohnungslose Mädchen und junge Frauen biografisch und aktuell machen, erfordert zunächst ein zuhörendes Gegenüber. Darüber hinaus können diesen Erfahrungen in unterschiedlichen künstlerischen oder anderen sichtbaren Formen zum Ausdruck gebracht werden. Dieser Selbstausdruck ist sinnstiftend und bildet das Verständnis für die eigene Lebenssituation und das eigene Handeln und fördert damit die Handlungsfähigkeit. Das Sichtbarwerden vor dem Hintergrund eigener Erfahrungen ermöglicht zudem kulturelle Teilhabe als ein wichtiges Element von Integration. Und: Hier werden auch Bildungsprozesse für die Mehrheitsgesellschaft angestoßen, die sich mit alltäglichen Erfahrungen und Biografien jenseits gängiger Normalitätsvorstellungen beschäftigen darf. Im Ganzen sollte Bildungs- und Kulturarbeit mit wohnungslosen Mädchen und jungen Frauen darauf abzielen, sinnstiftend zu wirken. Das (weitgehend) sichere Gefühl, dass die eigenen Erfahrungen bedeutsam sind und einen anerkannten Platz in der Welt haben, bildet die Grundlage dafür, Ziele für das eigene Leben zu entwickeln. Erst dann ist es möglich, zum Erreichen dieser Ziele auch 232
die räumlichen und zeitlichen Einschränkungen und Vorgaben zu akzeptieren, die mit institutioneller Bildung, wie Schule und Ausbildung, und Erwerbsarbeit einhergehen. Vor dem Hintergrund der Ergebnisse dieser Arbeit sollten dabei zwei Aspekte im Besonderen thematisiert werden. Das Leben in Gewaltverhältnissen stellt eine alltägliche Erfahrung wohnungsloser Mädchen und Frauen dar, die sie jedoch vielmehr als Normalität ihrer Lebenswelten hinnehmen anstatt sie zu thematisieren oder zu beklagen. Das Thematisieren von Gewalt und damit auch der Gewalterfahrungen wohnungsloser Mädchen und Frauen sollte nicht ausschließlich in einen therapeutischen Kontext verwiesen werden, wie es meiner Erfahrung nach häufig der Fall ist. Es muss im eigentlichen wie übertragenen Sinn ein Raum geschaffen werden, in dem das Reden über Gewalt in reflektierter Form möglich ist. Dabei geht es nicht nur um eine individuelle Verarbeitung der Erfahrungen, sondern um eine Thematisierung des gesellschaftlichen Kontextes, in dem die Alltäglichkeit und das Verschweigen von Gewalt möglich sind. Die Erfahrungen und Perspektiven der betreffenden Mädchen und jungen Frauen sollten in ihrer Alltäglichkeit sichtbar werden und vor dem Hintergrund einer Norm des gewaltfreien Miteinanders auch nach und nach skandalisiert werden können. In Kapitel 6.4 ist deutlich geworden, dass die Zugehörigkeit zu einer geschlechtlichen Normalität zur Bewältigung der Erfahrung von Wohnungslosigkeit bedeutsam ist für die Mädchen und jungen Frauen. Vor diesem Hintergrund sind geschlechtsreflektierende Ansätze dringend notwendig, um normative Vorgaben und Zumutungen, das Bild der „richtigen“ Frau, gemeinsam mit den Mädchen zu entschlüsseln. Zur Begründung dieser Angebote vor allem auf die besondere Benachteiligung der Mädchen zu rekurrieren, greift zu kurz. In der Reflexion der geschlechtlichen Normalität, individuell sowie kollektiv, kann die Erweiterung der gesellschaftlichen Räume, in denen wohnungslose Mädchen und junge Frauen Selbst- und Fremdanerkennung finden, gelingen. Dies könnte auch bedeuten, im Team die eigenen expliziten und impliziten Annahmen über das Geschlechterverhältnis, über das, was Männlichkeit und Weiblichkeit ausmacht, zu thematisieren und diese Reflexion zur Konkretisierung der Zielsetzung geschlechtsspezifischer Angebote für wohnungslose Mädchen und junge Frauen zu nutzen. 7.4 Ausblick Einige der Mädchen und jungen Frauen, denen ich während der Erhebungsphase begegnet bin, zeigten Interesse, bei Fertigstellung der Untersuchung etwas von 233
den Ergebnissen zu erfahren. Wie die Rückkopplung der Forschungsergebnisse an die Beforschten sinnvoll gelingen kann, habe ich beim Abschluss dieser Arbeit noch nicht geklärt. Es bleibt die Frage offen, in welcher Form (also ob schriftlich, als Vortrag, in persönlichen Gesprächen oder durch andere Vorgehensweisen) ich den Mädchen und jungen Frauen die Ergebnisse in einer für sie verständlichen Weise vermitteln kann. Dabei ist zu bezweifeln, dass es mir gelingen wird, mit den interviewten Mädchen und jungen Frauen nochmals Kontakt aufzunehmen. Es ist daher notwendig, mein Anliegen der Rückkopplung weiter zu fassen. Wichtig ist es meines Erachtens, die Ergebnisse dieser Arbeit nicht nur im wissenschaftlichen Kontext vorzustellen, sondern diese auch im Dialog mit der Praxis Sozialer Arbeit und anderen relevanten Institutionen zu diskutieren und darüber hinaus Wege zu finden, mit der Zielgruppe der wohnungslosen Mädchen und jungen Frauen in einer sinnvollen Form über einzelne Aspekte ins Gespräch zu kommen.
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Anhang
Transkriptionszeichen (.) Pause bis zu einer Sekunde (2) Anzahl der Sekunden, die die Pause dauert nein betont °nein° sehr leise (in Relation zur üblichen Lautstärke der Sprecherin) ; sinkende Intonation . stark sinkende Intonation , steigende Intonation ? stark steigende Intonation vielleiAbbruch eines Wortes nei:n Dehnung eines Wortes (nein) Unsicherheit bei der Transkription ( ) unverständliche Äußerung; die Länge der Klammer entspricht etwa der Dauer der Äußerung ((hustet)) Para- und außersprachliche Handlungen und Ereignisse <> Sprachbegleitende para- und außersprachliche Handlungen und Ereignisse mit Reichweite @nein@ lachend gesprochen @(.)@ kurzes Auflachen @(3)@ Anzahl der Sekunden, die das Lachen dauert [ Überlappung beim Sprechen
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