Till Bastian
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Till Bastian
55 Grü nde, mit den USA nicht solidarisch zu sein und schon gar nicht bedingungslos
Pendo Zürich München
Dieses Buch widme ich meinem toten Freund Holger Hagen, geboren in Deutschland, in die USA ausgewandert, als Soldat der US-Army an der Befreiung Deutschlands vom Hitlerregime beteiligt - und später ein scharfer Kritiker der US-Außenpolitik. Mein Engagement gegen eine deutsche Beteiligung am »Golfkrieg« 1991 hatte uns zusammengeführt ...
Inhalt L Vorwort Die Torheit des Anti-Amerikanismus-Vorwurfs 7 II. 55 Argumente, weshalb wir mit der Außenpolitik der USA nicht solidarisch sein sollten 1 3 III. Nachwort 11 5
I. Vorwort Die Torheit des Anti-Amerikanismus-Vorwurfs In den Vereinigten Staaten von Amerika ist zu Beginn dieses Jahres das Buch »1001 Ways to Celebrate Being American« des dort sehr bekannten Bestsellerautors Gregory J. P. Godek erschienen. Wie immer man zu derartigen Ratschlägen stehen mag - es hat den Anschein, als gäbe es auch diesseits des Atlantik genügend Politiker, die bei einer derartigen Feier des American way of life liebend gerne mit von der Partie wären, und »in diesem unserem Land« allemal. Denn hier in der Bundesrepublik Deutschland gerät jeder, der sich der vom politischen Establishment unisono geforderten Solidarität mit »Amerika« lieber verweigert, sofort in den Verdacht, »antiamerikanisch« zu sein. Was immer damit gemeint sein mag, dieser Vorwurf hat die Wirkung eines Keulenschlages, der jeder ernsthaften Diskussion sofort ein linde setzt. Wer so gebrandmarkt wird, ist - so der Tenor der veröffentlichten Meinung - als Gesprächspartner nicht mehr ernst zu nehmen, er hat sich gewissermaßen selbst einen politischen Totenschein ausgestellt. Entsprechend vielfältig (und oft auch lächerlich) sind die Rituale, mit denen sich Deutsche jedweder politischen Couleur in Interviews und Talkshows von diesem Bannfluch befreien möchten - nachzufragen, was mit dieser Unterstellung eigentlich gemeint sein soll oder gar mit einer Gegenkritik zu antworten, 7
kommt nur den wenigsten in den Sinn, so groß ist die Angst, sich selber ins Abseits zu manövrieren, wenn der vermeintliche Makel nicht sofort getilgt werden kann. Und, obwohl sich leicht zeigen läßt, daß das Wort vom »Antiamerikanismus« ohne Zweifel zu den dümmsten Schlagworten gehört, die je in die öffentliche Diskussion Eingang gefunden haben - es entfaltet ganz offensichtlich seine Wirkung, man muß sich mit der darin enthaltenen Unterstellung auseinandersetzen, ob man will oder nicht. Einen guten Ansatzpunkt dazu hat der Fraktionsvorsitzende der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands, Peter Struck, geliefert, der seine Rede vor dem Deutschen Bundestag unmittelbar nach den Terroranschlägen in New York und Washington am 11. September 2001 mit einem von ihm selbst wohl als eindrucksvolle »Solidaritätsadresse« empfundenden Satz gekrönt hat: »In dieser Stunde sind wir alle Amerikaner!« Nun gibt es gewiß allen Grund, über die Entführung zweier Verkehrsflugzeuge, die dann kurz nacheinander gezielt in die beiden Türme des höchsten Gebäudes der Stadt New York gesteuert wurden, wobei über 3000 Menschen umkamen, Entsetzen und Schrecken in einem Ausmaß zu empfinden, das zunächst einmal sprachlos macht. Wenn dann die Abgeordneten eines demokratisch gewählten Parlamentes versuchen, ihre eigenen Gedanken und Empfindungen in Worte zu fassen, fällt ihnen dies vermutlich ebenso schwer wie vielen anderen Menschen auch. Als Ausdruck einer mehr oder minder hilflosen Mitleidsbekundung mögen solche Worte (die ja bewußt an John F. Kennedys Satz »Ich bin ein Berliner« anknüpfen) allenfalls hingehen - als politische Aussage jedoch sind sie fatal. Denn alle Befangenheit, alle Betroffenheit darf nicht dazu verleiten, daß Ohnmacht, Trauer und möglicherweise auch Abscheu sofort mit politi8
sehen Phrasen überdeckt werden, die nicht nur in eine politisch verhängnisvolle Richtung weisen - nämlich in die einer »uneingeschränkten Solidarität« -, sondern obendrein noch von sachlichen Fehlern strotzen. Die Fehlerhaftigkeit beginnt mit simplen Tatsachen aus dem Gebiet der Geographie. Was wir »Amerika« nennen, ist ein Kontinent, der seinen Namen dem deutschen Kartographen Martin Waldseemüller verdankt - dieser gebürtige Freiburger hatte ihn anno 1507 als »America« auf einer von ihm gezeichneten Weltkarte als erster verwendet, da er den italienischen Seefahrer Amerigo Vespucci irrtümlicherweise für den »Entdecker« jener sagenumwobenen »Neuen Welt« gehalten hatte. Es gehört offenkundig zu den unausrottbaren, die Wirklichkeit aber leider über jedes erträgliche Maß hinaus vereinfachenden - und gerade deshalb bezeichnenden - Mystifikationen der in Deutschland zur Gewohnheit gewordenen Politrhetorik, daß nahezu immer die Konföderation der »United States of America«, die USA, gemeint sind, wenn umgangssprachlich von »Amerika« gesprochen wird. Es scheint, als würde dieser Kontinent im Weltbild vieler Mitbürger am Grenzfluß Rio Grande enden, der - wie jeder »Westernfreund« weiß - die USA und Mexiko voneinander trennt! Und so, wie jenes »Amerika« eben nicht nur aus den USA besteht, ist umgekehrt jene Einstellung, die in der Perspektive von Peter Struck, seinem CDU-Kollegen Friedrich Merz und vielen anderen deutschen Politikern als »Antiamerikanismus« gelten mag, nämlich ein kritisches, möglicherweise sogar vorurteilsbehaftetes Verhältnis zu den politischen Aktivitäten der USA und ihrer Regierungen, in wenigen Regionen der Welt derart stark ausgeprägt wie ausgerechnet in Amerika südlich des bereits erwähnten Rio Grande, also in Mexiko, in Nicaragua, in Brasilien, Argentinien und so fort - in amerikanischen Staaten also, in 9
denen die Politik der »Yankees« im Norden des Kontinents aus verschiedenen, zum Teil historisch durchaus nachvollziehbaren Gründen von einem Großteil der Bevölkerung nicht eben positiv bewertet wird. Oder haben die Leserinnen und Leser dieses Buches schon davon gehört, daß sich beispielsweise - in Mexiko die Regierung danach gedrängt hätte, Einheiten des eigenen Militärs nach Übersee abzukommandieren, um so den Anti-Terror-Feldzug der USA in Afghanistan zu unterstützen? Das politische Establishment in der Bundesrepublik Deutschland, das, besorgt um die eigene Rolle als bündnispolitischer Musterknabe, eben dies so überaus eilfertig getan hat, bedarf ganz offensichtlich des Nachhilfeunterrichtes nicht nur im Fach Geographie, sondern auch in Geschichte, speziell in der Geschichte jener Teile Amerikas, die nicht zu den USA gehören (und das ist flächen- und bevölkerungsmäßig die Mehrheit des Kontinents!). In Wahrheit verhält es sich wohl genau anders herum: Eben jenes deutsche politische Establishment leidet an einem geradezu krankhaften, oft äußerst duckmäuserisch-peinlich ausgeprägten Amerikanismus - soll heißen: an einer Neigung zum vorauseilenden Gehorsam, ja geradezu zur Liebedienerei gegenüber dem »großen Partner« jenseits des Atlantischen Ozeans. Ähnliches gilt übrigens auch für weite Teile der deutschen Presse- und Medienlandschaft. Daß im vorliegenden Buch deshalb sehr viele Zeitungen aus anderen Ländern zitiert werden, hat eben darin seinen guten, allerdings auch unerfreulichen Grund. Um all dies abschließend noch einmal zu verdeutlichen, möchte ich jetzt einen Parteifreund des ganz besonders »amerikanistischen« CDU-Politikers Friedrich Merz zitieren, nämlich Jürgen Todenhöfer, der immerhin achtzehn Jahre lang - nämlich von 1972 bis 1990 - entwicklungspoliti10
scher Sprecher der CDU/CSU im Deutschen Bundestag gewesen ist. Er hat einen ganz hervorragenden Artikel mit dem Titel »Der Flop. Über den Umgang mit der Wahrheit im Antiterrorkrieg« verfaßt, erschienen in der Süddeutschen Zeitung vom 11. Februar 2002 (und nebenbei bemerkt: solche im besten Sinne des Wortes »radikalen« Gedanken hätte ich gar zu gerne irgendwann im Winter 2001/2002 irgendwo von einem führenden Politiker der GRÜNEN gelesen - aber bei dieser einst aus der Friedensbewegung heraus entstandenen, heute so überaus staatstragenden Partei herrschte in dieser Frage ja nur noch betretenes Schweigen ...). Am Ende des bemerkenswerten Essays von Todenhöfer heißt es: »Selten ist in der westlichen Welt ein so zentrales Thema so uncouragiert behandelt worden. Aus >uneingeschränkter Solidarität< ist uneingeschränkte Unterwürfigkeit geworden, und das ist uneingeschränkt traurig. Merkt niemand, daß wir dabei sind, die militärische Führung der Welt zu gewinnen, die moralische Glaubwürdigkeit aber zu verspielen, ohne die der Terrorismus nicht zu besiegen ist?« Diesen Sätzen habe ich nichts hinzuzufügen - außer vielleicht der vagen Hoffnung, daß mein Buch eine Debatte anstoßen möge, die schon längst überfällig ist, die aber in der veröffentlichten Meinung bisher nicht den ihr gebührenden Platz gefunden hat. Sie wird sich diesen Platz erkämpfen müssen, auch gegen den Widerwillen der Unterwürfigen, die in blinder Gefügigkeit der US-Regierung durch alle politischen Winkelzüge und Abenteuer folgen. Denn nach den glaubwürdigen - Äußerungen des gegenwärtigen US-Präsidenten George W. Bush war jener Krieg in Afghanistan, den Jürgen Todenhöfer sehr zu Recht als »völkerrechtswidrig« bezeichnet hat, nur die erste Schlacht im groß angelegten Feldzug gegen den Terrorismus, und er ist gewiß nicht die letzte gewesen. Höchste Zeit also für alle mündigen Bürge11
rinnen und Bürger, sich selbst eine Meinung zu bilden, bevor im Deutschen Bundestag abermals verkündet wird, wir seien alle Amerikaner und insofern, der gemeinsamen Werte wegen, auch in bedingungsloser Solidarität vereint. Und ich bin kühn genug, auch eine zweite Hoffnung noch nicht aufzugeben - nämlich die, daß gegen den Willen der Parlamentsmehrheit die Mehrheit der Bevölkerung wieder in einer Haltung zusammenfindet, die die außerordentlich couragierte, im März 2002 verstorbene politische Publizistin Marion Gräfin Dönhoff bereits beim antiirakischen »Golfkrieg« Januar/Februar 1991 kurz und bündig mit den folgenden Worten zusammengefaßt hat: »Lieber Drückeberger als Mittäter« (Die Zeit, 15. März 1991). Es wäre sehr zu wünschen, daß auch elf Jahre später viele Deutsche diese Mahnung beherzigen. Isny im Allgäu, im Frühjahr 2002 Till Bastian
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II. 55 Argumente, weshalb wir mit der Auß enpolitik der USA nicht solidarisch sein sollten
1 Jener irakische Diktator Saddam Hussein, den der 43. USPräsident George W. Bush in seiner »Botschaft zur Lage der Nation« vom Januar 2002 als Teil einer »Achse des Bösen« bezeichnet hat (und gegen den ein Militärschlag der USA allem Anschein nach unmittelbar bevorsteht), hat erst durch US-Militärhilfe und durch kräftige Unterstützung der USGeheimdienste zu dem werden können, was er heute ist. Noch Anfang 1990, kurz vor der Annektierung Kuwaits, bezeichnete eine Expertise der US-Army Saddam Hussein ausdrücklich als »Stabilitätsfaktor im Mittleren Osten« (Quelle: D. V. Johnson, St. C. Pelletiere, L. R. Rosenberger: Iraqi Power and U.S. Security in the Middle East, US Army War College, Pennsylvania 1990). Ein Mann, der heute als Personifikation des Bösen gilt, ist also einst ein umworbener Bündnispartner gewesen. Eine Politik, die solche Windungen und Wendungen möglich macht - und auf den folgenden Seiten wird noch von etlichen ähnlichen Beispielen die Rede sein - bedarf sorgfältiger Überprüfung, insbesondere durch den, der sich mit ihr verbünden will. Dies gilt auch für die Bundesrepublik Deutschland. Ein Bündnis mit einem Land, das sich selbst in der Wahl seiner Verbündeten von Erwägungen leiten läßt, die - vorsichtig gesprochen - diskussionsbedürftig sind, wird gründlich abgewogen werden müssen.
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2 Es gibt noch etliche andere Facetten dieses viel zu selten diskutierten Bündnis-Problems. Denn der von Diktator Saddam Hussein geführten Regierung des Irak sind, als dieses Land noch nicht zu den »Schurkenstaaten«, sondern zu den Bundesgenossen der von den USA geführten »freien Welt« zählte, eklatante Menschen- und Völkerrechtsbrüche immer wieder stillschweigend gestattet worden. Dazu gehörte etwa der militärische Überfall auf das Nachbarland Iran im September 1980, ein eindeutiger Angriffskrieg (Saddam Hussein hatte kurz zuvor das den Grenzverlauf zwischen beiden Staaten regelnde Abkommen von Algier vor laufenden Fernsehkameras zerrissen); dazu gehörte auch der Einsatz von Giftgas gegen die kurdische Zivilbevölkerung im eigenen Land am 16. März 1988, der mehr als 10 000 Opfer forderte. Nicht etwa diese und etliche andere Verbrechen ließen Saddam Hussein in den Augen der vom 41. Präsidenten, George Bush senior, geführten US-Regierung zum »Schurken« werden, sondern einzig und allein die gewaltsame Annektierung des Emirates Kuwait (2. August 1990) und die damit möglicherweise verbundene Gefährdung der Ölversorgung der westlichen Welt. Eindeutige Beweise dafür, daß Saddams Regime gegenwärtig, rund zehn Jahre nach seiner Niederlage im Golfkrieg Anfang 1991, terroristische Anschläge gegen US-Einrichtungen im Ausland oder gegen die USA plant bzw. unterstützt, sind der Weltöffentlichkeit 16
von der US-Regierung bis heute nicht vorgelegt worden (eine gute Übersicht dazu unter dem Titel »Die Spur ins Labyrinth« in der Süddeutschen Zeitung vom 27. März 2002). Wären diese Hinweise wirklich derartig eindeutig und erdrückend, wie dies von der US-Regierung immer wieder behauptet wird, so wäre es ja eigentlich nicht falsch, sie in angemessener Form zu präsentieren - gemäß den »14 Punkten«, die der 28. US-Präsident Thomas Woodrow Wilson am 8. Januar 1918 verlas, um nach dem Ende des Weltkrieges eine neue, demokratische Weltordnung in die Wege zu leiten und in denen es heißt, daß »Diplomatie immer offen und vor aller Welt getrieben werden« soll.
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3 Wie sich an den zunächst freundschaftlichen, dann feindlichen Beziehungen zum Irak exemplarisch zeigen läßt, gehört es zu einer ebenso bedauerlichen wie verhängnisvollen Traditionslinie in der US-Außenpolitik, durch bedenkenloses, aber »entschlossenes« Vorgehen Probleme zu schaffen, die mit einer klügeren Politik möglicherweise hätten vermieden werden können - Probleme, die jedoch dann, wenn sie entstanden sind, mit großem Aufwand und mitunter schrecklichen Folgen auch für Unbeteiligte, gewaltsam wieder beseitigt werden. Weitere Beispiele sind leicht zu finden. So hatte der US-Geheimdienst CIA maßgeblich dazu beigetragen, im Iran die bürgerlich-nationale Regierung des Ministerpräsidenten Mohammed Mossadegh zu stürzen (19. August 1953), nachdem diese 1951 die größte Ölraffinerie der Welt in Abadan verstaatlicht hatte. An die Stelle dieser gewählten Regierung trat dann das autokratische Regime des »Schah von Persien« Rezah Pahlevi, das beim iranischen Volk im Verlauf von über dreißig Jahren allmählich jeden Rückhalt verlor und schließlich Anfang 1979 von einer durch schiitische Geistliche geführten Revolution gestürzt wurde. Daß in der neu entstandenen »Islamischen Republik Iran« die USA kein großes Ansehen genoß, kann angesichts dieser Vorgeschichte kaum verwundern. Dennoch unterstützten die USA den völkerrechtswidrigen Angriffskrieg des irakischen Diktators Saddam Hussein gegen den Iran, der - unter anderem durch Giftgaseinsatz - in den acht Jah18
ren von 1980 bis 1988 rund eine Million Todesopfer forderte, mit Waffenlieferungen und Geldmitteln, mit Informationen ihrer Nachrichtendienste (beispielsweise durch Satellitenbilder) und sogar mit Militärberatern. Das Problem liegt also nicht nur darin, daß in einer weitverbreiteten US-amerikanischen Weltsicht, die leider auch die Sicht der gegenwärtigen US-Regierung ist, die Welt in »Gut« und »Böse«, in »Helden« und »Schurken« aufgeteilt ist - es besteht auch in der Neigung, gegen die vermeintlich »größten Schurken« bereitwillig auf die Hilfe »kleiner Schurken« zu bauen, die dann freilich rasch selbst in die Rolle des »Schurken Nr. 1« aufrücken können. Dieses unerfreuliche Spiel läßt sich im Grunde unbegrenzt fortsetzen - an ein Ende käme es erst, wenn die ganze Welt total unter US-Kontrolle geraten wäre (eine Vision, die tatsächlich den Zielen des gegenwärtigen Präsidenten George W. Bush recht nahe zu kommen scheint). Der Rest der Welt kann allerdings an der Verwirklichung dieses Zieles kein Interesse haben. Und auch schon jetzt gibt es keinen Grund, sich mit einer Politik, die sich immer wieder in derartige Probleme verstrickt, »uneingeschränkt solidarisch« zu fühlen.
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4 Die fatale Neigung zu einer vor allem am kurzfristigen eigenen Vorteil interessierten Außenpolitik, die so ständig neue Probleme schafft und trotz etlicher bitterer Erfahrungen an einer vorbeugenden Verhinderung von Konflikten erstaunlich geringes Interesse zeigt, ist auch für den Dauerkrieg in Afghanistan zumindest mitverantwortlich. Dort wurden zunächst diverse islamische Freiheitskämpfer (die sogenannten »Mudschaheddin«, denen am 16. April 1992 mit der Eroberung Kabuls der Sturz der einst von der Sowjetunion gestützten Zentralregierung gelang) und schließlich sogar die sich durch besondere Radikalität auszeichnenden Taliban von den USA nachhaltig unterstützt - auch nach der Machtübernahme der Taliban in Kabul im März 1995 (erst 1998 kam es zum endgültigen Bruch). Diese Unterstützung wurde gewährt, weil die wechselnden US-Regierungen stets großen Wert darauf legten, erstens die Sowjetunion aus dem Land zu drängen, das diese seit 1945 als Teil der eigenen »Einflußsphäre« verstanden hatte (die Militärintervention der UdSSR in Afghanistan hatte am 27. Dezember 1979 begonnen und dauerte bis zum 15. Februar 1989), und sich zweitens auf diese Weise ein möglichst großes Maß an Kontrolle über die Erdölvorkommen der Region zu verschaffen (Quelle: J.-C. Brisard u. G. Dasquié: Die verbotene Wahrheit. Die Verstrickungen der USA mit Osama bin Laden, Zürich-München 2002). Auch hier wurde also - wie zehn Jahre zuvor Saddam Hussein im Nahen Osten - eine Bewegung 20
bzw. Regierung als »stabilisierender Faktor« mit großem Aufwand und auf vielfältigen diplomatischen Wegen unterstützt, die später brüsk fallen gelassen wurde, nachdem sie plötzlich in jene Hand gebissen hatte, von der sie zuvor über lange Jahre hinweg gefüttert worden war. Mit einer längerfristig ausgerichteten, stärker an politischen Prinzipien (etwa der Achtung der Menschenrechte) orientierten Politik hätte dieses »Auf und Ab«, das je nach Bedarf den anderen eine rein tagespolitisch orientierte, interessenbestimmte »Solidarität« abverlangt, möglicherweise vermieden werden können.
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Bei diesen und bei etlichen anderen Irrungen und Wirrungen, wie sie für die US-Außenpolitik seit 1945 kennzeichnend sind, waren offenbar nur selten Ziele wie das friedliche Zusammenleben der Völker, die Schaffung einer gerechten Weltwirtschaftsordnung oder die Durchsetzung der Menschenrechte und des Völkerrechts maßgeblich für die Politik der wechselnden US-Regierungen unter den zehn Präsidenten von Harry S. Truman (33. Präsident der USA, 1945-1953) bis hin zu George W. Bush (43. und derzeitiger Präsident). Entscheidend war offenbar stets vor allem der eigene nationale Vorteil, insbesondere die Verfolgung wirtschaftlicher Interessen und darunter wiederum besonders die Versorgung mit fossiler Energie, wie sie für die extrem energielastige US-Volkswirtschaft außerordentlich wichtig ist. Die Verfolgung derartiger Interessen ist nun keineswegs von vorneherein oder grundsätzlich illegitim. Sie stellt aber in jedem Fall eine eigennützliche Handlungsmaxime dar, die nicht automatisch mit den Interessen aller anderen Menschen dieser Welt identisch ist. Was die US-Wirtschaftsinteressen betrifft, deren lokale Vorteile mit hohen globalen Schäden bezahlt werden müssen (siehe unten, die Abschnitte 9, 10 und 11), so werden diese Ziele ganz offensichtlich auch auf Kosten vieler anderer Bürger der Erde angestrebt. Selbstverständlich folgt auch die Außenpolitik anderer Staaten - auch die der Bundesrepublik Deutschland - einem ähnlichen Muster. Bei den USA herrscht aber seit dem 22
u. September 2001 die deutlich erkennbare Neigung vor, den Rest der Welt in eine »Für uns oder gegen uns«-Entscheidung zu zwingen, die der Lage der Dinge in keiner Weise angemessen ist. Denn auch nach den Terroranschlägen vom 11. September 2001 sind die Gegensätze in den Interessen und in den strategischen Zielen nicht vom Tisch. Vielmehr sind Konflikte auf den verschiedensten Ebenen nach wie vor möglich und sogar wahrscheinlich. Daraus ergibt sich zwangsläufig, daß das außenpolitische Handeln der jeweiligen US-Regierung von den Verbündeten der USA, aber auch von der gesamten Weltöffentlichkeit in jedem Einzelfall kritisch überprüft werden muß und keine Blankovollmacht für eine Forderung nach bedingungsloser »Solidarität« beinhaltet.
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6 Auch gegenwärtig ist es noch so, daß die USA mit etlichen diktatorisch regierten Staaten freundschaftlich verbunden sind, so zum Beispiel mit dem konservativsten aller islamischen Länder, dem von einer wahabitisch orientierten Dynastie geführten Königreich Saudi-Arabien oder - ein aktueller Fall - mit dem diktatorisch regierten Usbekistan, das seit dem 11. September 2001 als einer der wichtigsten neuen Verbündeten gilt. Die Situation in Zentralasien könnte durch diese Politik auf Dauer ähnlich entgleisen wie zuvor im Nahen Osten (»Stabilitätsfaktor Saddam Hussein«) oder in Afghanistan (»Stabilitätsfaktor Taliban«). Bezeichnenderweise sind gerade die USA dabei, hier »in ihrer uninformierten Überheblichkeit ein neues islamistisches Monster zu schaffen. In Zentralasien unterstützen sie brutalste Diktatoren, nur weil sie ihnen Stützpunkte zur Verfügung stellen und den Weg zum Öl ebnen ... Demokratie und Menschenrechte spielen keine Rolle« - so Die Zeit vom 27. März 2002 (Quelle: A. Raschid: Heiliger Krieg am Hindukusch. Der Kampf um Macht und Glauben in Zentralasien, München 2002). Es hängt offensichtlich stark von den bereits erwähnten »nationalen Interessen« der USA ab - und diese werden wiederum von der jeweiligen US-Regierung mehr oder weniger »elastisch« interpretiert-, ob solche »Diktaturen« als Freunde oder als Feinde, als Verbündete oder als »Schurkenstaaten« gewertet werden (und wie sich im Falle des Iraks gezeigt 24
hat, kann diese Wertung rasch und unter oft fragwürdigen Bedingungen wechseln). Auch die Forderung der US-Regierung an andere Staaten, Resolutionen der Vereinten Nationen (UN) zu befolgen, passen häufig in das Schema, Nützlichkeitserwägungen über politische Grundsätze zu stellen. Eine derartige Forderung wird gegenwärtig - und das durchaus mit Recht - wegen der von den UN wiederholt geforderten Waffeninspektionen an den Irak gerichtet, während andererseits alle UN-Resolutionen, die Israel zum Rückzug aus den seit 1967 besetzten Gebieten aufgefordert bzw. deren völkerrechtswidrige Besiedlung verurteilt haben, keineswegs ähnliche Konsequenzen nach sich ziehen. Als Israels Ministerpräsident Scharon Ende April 2002 erklärte, über eine Auflösung israelischer Siedlungen in den besetzten Gebieten nicht einmal diskutieren zu wollen, hatte auch das keinerlei Sanktionsdrohungen der USA zur Folge.
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7 Summa summarum gibt es in der gegenwärtigen weltpolitischen Lage (das heißt: im Mai 2002) zwar etliche Gründe, das autokratische Regime de« irakischen Diktators Saddam Hussein abzulehnen - diese Gründe existierten allerdings schon zu Zeiten, als eben jener Saddam Hussein als wichtiger Verbündeter der USA und »des Westens« galt. Aus diesen Gründen kann aber keineswegs das Recht auf eine Militärintervention der USA abgeleitet werden. »Ungeachtet all des Schreckens der Regierung Saddam wäre ein präventiver Schlag gegen eine nicht näher bezeichnete potentielle Drohung, selbst wenn man das beflissen in einer UN-Resolution formuliert, ein Aggressionskrieg« - so die britische Sonntagszeitung Observer (10. März 2002). Für eine konkrete Bedrohung der USA durch den Irak, die im Sommer 2002 eine andere Qualität erreicht hat als im Frühjahr 2001, fehlen, wie schon an anderer Stelle erwähnt worden ist, auch heute noch alle eindeutigen Beweise. Deshalb kann und darf es keine »Solidarität« geben, wenn dem Krieg in Afghanistan ein Angriff auf den Irak folgt, so verabscheuungswürdig das Regime des Saddam Hussein auch sein mag, den die USA und ihre Bundesgenossen freilich allzu lange nach Kräften unterstützt haben.
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8 Es ist nicht ohne Interesse, sich den bisherigen Verlauf des US-Feldzuges gegen den Terrorismus vor Augen zu halten, in dem der Irak möglicherweise das nächste Teilziel darstellt, nachdem die Terroranschläge vom 11. September 2001 zunächst mit einem Militärschlag gegen die afghanische Regierung beantwortet worden waren. Erklärtes Ziel dieser US-Intervention in Afghanistan war es zunächst gewesen, ein nach Überzeugung der US-Regierung von dem 1957 in Riad geborenen saudi-arabischen Geschäftsmann Osama bin Laden geleitetes »Terrornetzwerk« zu zerschlagen, dem unter anderem ein Anschlag auf ein Hotel in der jemenitischen Hafenstadt Aden (1992), auf das World Trade Center in New York (1993), auf eine US-Militäreinrichtung in Dharan (1996), auf die US-Botschaften in Kenya und Tanzania (1998), auf den Zerstörer USS Cole im jemenitischen Hafen von Aden (2000) und abermals auf das World Trade Center in New York und auf das Pentagon in Washington (2001) vorgeworfen werden. Insbesondere die beiden letztgenannten Anschläge, die über 3000 Todesopfer forderten, haben in den seit dem Bürgerkrieg 1861-1865 von Kriegshandlungen auf dem eigenen Staatsgebiet verschonten USA ein außerordentlich starkes Gefühl der Bedrohung und Verletzbarkeit hinterlassen. Dieses Gefühl mündete in das Empfinden, sich im Krieg zu befinden, in den Wunsch nach Vergeltung und in das sehr verständliche Bemühen, ähnliche Attacken künftig unmöglich zu machen. Die einst 27
durchaus umworbenen Taliban wurden jetzt zum Feind erklärt, weil sie im Verdacht standen, Osama bin Laden Zuflucht zu gewähren (bin Laden hatte 1994 die saudiarabische Staatsbürgerschaft verloren, war 1996 aus dem Sudan ausgewiesen worden und hatte sich danach in Afghanistan - vermutlich allerdings nicht nur in Afghanistan aufgehalten). Die Taliban-Regierung erklärte jedoch, seinen Aufenthaltsort nicht zu kennen, und auch von den in das Land eingedrungenen US-Truppen konnte bin Laden trotz aller Bemühungen nicht gefunden werden. Dieser Krieg hatte am 7. Oktober 2001 mit starken US-Luftangriffen begonnen und führte relativ rasch zum Sturz des Taliban-Regimes und zur Einsetzung einer neuen, international anerkannten Regierung, über deren Stabilität sich im Frühjahr 2002 noch keine Einschätzung treffen läßt. In seinem »Bericht zur Lage der Nation« im Januar 2002 erwähnte Präsident George W. Bush den verschwundenen Osama bin Laden (der in den USA seit dem 8. Juni 1998 wegen des »verschwörerischen Angriffes auf US-Militäreinrichtungen« angeklagt ist) mit keinem Wort und betonte statt dessen, daß der Feldzug gegen den Terrorismus noch längst nicht beendet sei. Konkrete nächste Ziele nannte er nicht, erwähnte aber Irak, Iran und Nordkorea, die er als »Achse des Bösen« bezeichnete - ein bewußter Bezug auf seinen Amtsvorgänger Ronald Reagan, der zu seiner Zeit die Sowjetunion ein »Reich des Bösen« genannt hatte. Die hier gerafft geschilderten Vorgänge umfassen mehrere Monate; seit dem »Schicksalstag« des 11. September 2001 ist mittlerweile über ein halbes Jahr vergangen. Man sollte meinen, dies sei genug Zeit gewesen, von der Regierung der USA eine überzeugende und umfassende Antwort auf die Frage zu verlangen, wie und mit welchen Mitteln sie denn den internationalen Terrorismus bekämpfen oder gar aus28
rotten wollen. Dies um so mehr, als die Militäroperation »Enduring freedom« in Afghanistan nach eigenem Bekunden der US-Regierung nur ein »erster Schritt« gewesen ist oder aber, in der martialischen Sprache des US-Präsidenten, eine »erste Schlacht«. Aber wie sieht der Plan für den gesamten Feldzug aus? Ist die Bekämpfung terroristischer Aktivitäten eine rein militärische Angelegenheit? Wenn nein, welche anderen Initiativen stehen an? Alle diese - und viele andere - Fragen sind derzeit noch völlig ungeklärt. Sie sind es zum einen, weil die Regierung der USA offenkundig kein Interesse daran hat, über die eigenen Absichten Auskunft zu geben, und zum anderen, weil viele Regierungen in den mit den USA verbündeten Ländern (auch in der Bundesrepublik Deutschland) keine Veranlassung sehen, auf einer Antwort zu bestehen, bevor sie sich solidarisch erklären. Mündige Bürger sollten sich dies nicht gefallen lassen.
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9 Jeder Außenpolitik wohnen jedoch noch ganz andere Facetten inne als die derzeit in den Vordergrund gerückte Debatte um terroristische Bedrohungen und um die Berechtigung präventiver Militärschläge. Die Welt wird ja nicht nur durch Diktatoren und Terroristen gefährdet, sondern mit auf lange Sicht möglicherweise gravierenderen Folgen durch eine globale Umweltkrise mit einer Erwärmung des Weltklimas, einem Anstieg des Meeresspiegels, einer Verknappung der Süßwasservorräte, einer Vermehrung von Wüsten und Ödland und einer Verringerung der kultivierbaren Fläche als höchst problematischen Folgeerscheinungen. Die Außenpolitik der gegenwärtigen US-Regierung nimmt auf all dies so gut wie keine Rücksicht. Im Gegenteil: Die USA sind eine Nation, die derzeit von einem Präsidenten regiert wird, der im März 2001 das auf der Konferenz von Kyoto 1997 beschlossene Abkommen zum Schutz des Weltklimas als für sein Land irrelevant bezeichnet und somit alle Solidarität mit jenen Menschen aufgekündigt hat, die von den Folgen der globalen Umwelt- und Klimakatastrophe besonders betroffen sind. »Der zum Präsidenten gewordene Ölmann gibt nun zu erkennen, was er immer gewesen ist: Ein zuverlässiger Verbündeter des großen Geldes im Allgemeinen und der Energie-Wirtschaft im Besonderen.« (The lndependent, London, 16. März 2001)
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10 Diese gefährliche Entwicklung wird auch dadurch verdeutlicht, daß der gegenwärtige US-Präsident anläßlich seines Besuches in Deutschland im Sommer 2001 seinem Gast geber, Bundeskanzler Gerhard Schröder, unverblümt ins Gesicht gesagt hat, er werde einer Reduzierung der aus USQuellen stammenden klimawirksamen Schadstoffe (der sogenannten Treibhausgase) nur dann zustimmen, wenn dies der US-Wirtschaft nicht schade. Diese Schadstoffe, unter deren Folgeerscheinungen der gesamte Planet und die gesamte Menschheit zu leiden haben, werden in der Hauptsache in Nordamerika, insbesondere in den USA, produziert und in die sich erwärmende Erdatmosphäre geblasen (siehe die folgende Tabelle). »Allem Anschein nach werden die USA, die nur vier Prozent der Weltbevölkerung ausmachen, aber rund ein Viertel aller Treibhausgase ausstoßen, wohl auch in den kommenden Jahren an ihrer egoistischen und rücksichtslosen Verschwendungspolitik festhalten.« (Tages-Anzeiger, Zürich, 31. März 2001)
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11 Die offensichtliche urnweltpolitische Unbekümmertheit, die Präsident George W. Bush und seine Regierung in Sachen Klimaschutz an den Tag gelegt haben, ist kein Einzelfall. Und es ist in diesem Zusammenhang alles andere als ein nebensächliches Detail, daß führende US-Politiker, so Präsident Bush, als Rechtfertigung für ihren nach dem Muster »Angriff ist die beste Verteidigung« organisierten »Feldzug gegen den Terrorismus« meist nicht - oder jedenfalls nicht in erster Linie - Verstöße gegen Menschenrechte oder gegen das Völkerrecht anführen (was mit ihrer früheren, höchst intensiven Unterstützung Saddam Husseins bis zum 2. August 1990 - und der Mudschaheddin und Taliban - bis zum 11. September 2001 - denn auch kaum vereinbar wäre), sondern drohende Gefahren für das »nationale Interesse« der USA, für »die Werte der westlichen Zivilisation« oder, noch schwammiger, für den US-»way of life«, also für die in den USA heute übliche »Lebensform«. Just so drückte sich Bush in einer Rede in Milwaukee am 12. März 2002 aus. Was soll mit dieser »Lebensform« gemeint sein, und inwiefern ist sie durch terroristische Attacken bedroht? Die mit solchen Worten umschriebene Position - dies läßt sich ohne große geistige Mühe schlußfolgern - ist allzu erklärungsbedürftig, als daß sie zur Erklärung politischer Handlungen taugen würde, und die benutzten Worte und Begriffe sind in jedem Fall viel zu allgemein und unbestimmt, um den mit 33
den USA verbündeten Regierungen demokratischer Länder, etwa der Bundesrepublik Deutschland, als Maxime des eigenen Handelns (einschließlich möglicher Bündnisverpflichtungen) dienen zu können. Im Gegenteil sollte sie uns zu kritischen Rückfragen Anlaß geben - Rückfragen, für die jener famose »American way of life« in der Tat genügend Ansatzpunkte liefert.
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12 Dieser typische »way of life«, den das politische Establishment der USA derzeit durch terroristische Attacken gefährdet sieht, ist mit seinem hohen Verbrauch an natürlichen Ressourcen und Rohstoffen, insbesondere an fossilen Brennstoffen (Erdöl, Erdgas und Kohle) und mit dem damit zwangsläufig verbundenen massiven Ausstoß von Schadstoffen (insbesondere von CO2) in die Erdatmosphäre höchst problematisch. Wie kein anderer Staat der Erde tragen gerade die USA durch eben jene typische »Lebensart« ihrer Einwohner zur menschengemachten Verstärkung des Treibhauseffektes und zur Erwärmung des Weltklimas samt allen Folgeerscheinungen massiv bei. Um es mit einem Bild plastisch auszudrücken: Das in vielen Ländern begeistert gefeierte »Millennium« (also das neue Jahr 2000) wurde am 31. Dezember 1999 um Mitternacht vor den Augen der Weltöffentlichkeit von Trommlern auf den Kiribati-Inseln im Pazifik musikalisch begrüßt - hundert Jahre später, am Ende des 21. Jahrhunderts, werden eben jene Kiribati-Inseln infolge des Meeresspiegelanstieges überflutet und ihre Bewohner somit heimatlos geworden sein. Gerade der in den USA übliche »way of life« wird dazu in nicht unerheblichem Umfang beigetragen haben, denn jenes Land ist ohne jeden Zweifel der größte Umweltverschmutzer der Welt. Die dortige Lebensweise müßte also zum Wohl der gesamten Menschheit in Frage gestellt, und nicht in bedenkenloser Weise »verteidigt« werden. 35
Selbstverständlich rechtfertigt der in den USA mittlerweile zur Gewohnheit gewordene, auf höchst umweltschädliche Art bewerkstelligte Lebensstandard keinesfalls einen terroristischen Angriff auf die Zivilbevölkerung dieses Landes. Dieser Lebensstandard, der - auch daran kann kein vernunftbegründeter Zweifel bestehen - durch seine ökologischen Fernwirkungen anderen Menschen auf dieser Erde schadet, kann aber ebensowenig als »Wert an sich« verherrlicht werden, für dessen gemeinsame Verteidigung sich die Menschen überall auf der Welt in die Pflicht nehmen lassen müßten. Der US-amerikanische »way of life« ist seinem Wesen nach aus ökologischen Gründen, die sich klar und eindeutig benennen lassen, gegenüber den Menschen in den verarmten Regionen der Welt unsolidarisch; wer für ihn Solidarität fordert (oder verspricht), setzt sich doppelt ins Unrecht.
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13 Die derzeitige US-Regierung, die jenen so überaus problematischen »way of life« offenkundig hartnäckig verteidigen will - und dies nötigenfalls auch mit dem militärischen Mittel eines Präventivkrieges - ist eigenartigerweise zugleich mit der Ölindustrie und der Energiewirtschaft des eigenen Landes in einem derartig hohen Maß verbunden und verflochten, daß eine von diesen Gemeinsamkeiten unabhängige politische Entscheidungsfindung nach aller menschlichen Lebenserfahrung kaum noch erwartet werden kann. Nicht nur Präsident George W. Bush ist wie sein Vater George Bush vor der Übernahme politischer Ämter als Ölmanager im US-Bundesstaat Texas tätig gewesen. George Bush senior, früher unter anderem Direktor des Geheimdienstes CIA (1975-1976), später Mitbewerber um die republikanische Präsidentschaftskandidatur 1980 und unter dem erfolgreichen republikanischen Kandidaten Ronald Reagan 1981-1989 US-Vizepräsident, hatte in seinem Heimatstaat Texas die Harken Energy Corp, gegründet, die zunächst von ihm selbst und dann von 1986 bis 1993 von seinem Sohn George W. Bush geleitet worden ist (es zählt zu den seltsamen Wechselfällen der Geschichte, daß es offenkundig auch Geschäftsbeziehungen zwischen dem BushImperium und dem weitläufigen Geflecht der bin LadenSippe aus Saudi-Arabien gegeben hat). Der gegenwärtige US-Vize-Präsident Richard Cheney, der unter George Bush senior Verteidigungsminister gewesen ist, hatte jahrelang die 37
Funktion des Vorstandsvorsitzenden von Halliburton Inc., der größten US-Dienstleistungsfirma im Erdölgeschäft, inne. George W. Bushs Sicherheitsberaterin Condoleeza Rice ist von 1991 bis 2000 Vorstandsmitglied des Erdölkonzerns Chevron gewesen und war dort auch mit Fragen der Geschäftspolitik in Zentralasien befaßt. Und auch der von der Bonner »Petersberg-Konferenz« zum neuen Präsidenten des vom Taliban-Regime befreiten Afghanistan bestimmte, im Dezember 2001 vereidigte Hamid Karsai ist vor der Übernahme semer neuen politischen Funktion jahrelang im internationalen Ölgeschäft tätig gewesen - als Berater der Firma Unocal, die eine Pipeline von Turkmenistan über Afghanistan nach Pakistan geplant hatte, um Südostasien mit Erdöl zu versorgen. Nach dem 11. September 2001 wurde das ehrgeizige Projekt aufgegeben - jedenfalls vorläufig ...
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14 Die enge Verbindung der gegenwärtigen US-Regierung mit dem Erdöl- und Energiegeschäft scheint auch die Wahl von Zielen und Kriegsschauplätzen in erheblichem Umfang zu beeinflussen. Als im Februar 2002 Gerüchte laut geworden waren, Osama bin Laden, dessen die US-Truppen in Afghanistan bislang nicht hatten habhaft werden können (wiewohl ja gerade dies nach ihrem eigenen Bekunden das »Kriegsziel Nummer 1« gewesen ist - und keineswegs der Sturz des einst geförderten Taliban-Regimes), halte sich jetzt in der Kaukasus-Republik Georgien auf, schickte die US-Regierung sofort - und in Absprache mit dem georgischen Präsidenten Eduard Schewardnadse (dem früheren Außenminister der Sowjetunion) - die Soldaten einer Anti-TerrorEinheit in das Land. Die erhebliche Verstimmung, die dies bei der russischen Regierung, mit der man dieses Vorgehen nicht abgestimmt hat, zwangsläufig hervorrufen muß, wird offenbar billigend in Kauf genommen. An einen lediglich kurzfristigen Einsatz ist allem Anschein nach nicht gedacht. »Daß es bei 200 Mann bleiben soll, wie angekündigt, denkt kaum jemand in Tiflis ... Der georgische Staatschef will den Amerikanern auch etwas bieten: Nämlich eine sichere Trasse für Gas- und Erdölleitungen aus dem Kaspischen Raum in Richtung Türkei. Der Kommentator der Zeitung Resonanzi stellte deswegen auch fest: >Nun sind wir mit dabei beim großen Spiel um Öl und Gas. Passen wir auf, daß wir uns die Finger nicht noch mehr verbrennen<...« (Süddeutsche Zei39
tung, 6. März 2002). Ob diese Hoffnung in Erfüllung geht, läßt sich derzeit nicht beurteilen; die Einschätzung, daß die USA nun auch in Georgien ihr »großes Spiel um Öl und Gas« beginnen, trifft freilich mit Gewißheit zu. So läßt sich mutmaßen, daß sich der »Feldzug gegen den Terror« bereits jetzt mit anderen politischen Motiven innig verbunden hat und je länger er dauert, desto stärker wird diese Verquickung in den Vordergrund treten. Mag sein, daß sie am Ende den Gang der Dinge völlig dominiert. Es sollte allerdings niemand sagen, dies sei nicht absehbar gewesen.
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15 Offensichtlich um einen Kontrapunkt zu der von der Weltöffentlichkeit zunehmend skeptisch beurteilten Neigung der US-Regierung zu militärischen Präventivschlägen zu setzen, hat der derzeitige US-Außenminister Colin Powell auf dem Weltwirtschaftsforum in New York (Februar 2002) öffentlich angekündigt, man müsse auch Not und Elend bekämpfen, weil sie mögliche Teilursachen des weltweiten Terrorismus seien. Eine solche Initiative wäre in der Tat dringend erforderlich, denn erst im Dezember 2001, zwei Monate zuvor, hatte die Weltbank bekannt gegeben, daß die Kluft zwischen Arm und Reich immer größer wird und daß es für über 50 Länder mit rund 20 Prozent der Weltbevölkerung kaum noch eine Chance gibt, aus eigener Kraft der drohenden Verelendung zu entrinnen. In den 111 Tagen zwischen jenem Datum, »das die Welt veränderte«, dem n. September 2001, und dem Ende des Kalenderjahres 2001 am 31. Dezember, sind - den offiziellen Zahlen der UN zufolge - weltweit 2,7 Millionen Menschen verhungert; an dieser traurigen Realität hat sich durch das Attentat auf das Zentrum des Welthandels und durch den militärischen Gegenschlag der USA nicht das Geringste geändert. Doch Powells bemerkenswerter Appell verhallte folgenlos jedenfalls in den USA. Schon am Tag darauf wurde von Präsident Bush eine gewaltige Steigerung des Militärhaushaltes (und nicht etwa der Entwicklungshilfe!) angekündigt. Ernsthafte politische Initiativen der USA für eine gerechtere 4l
Weltwirtschaftsordnung und für eine Beseitigung des weltweiten Massenelends sind hingegen seit Februar 2002 nicht bekannt geworden; vielmehr trägt die extrem umweltschädigende US-Wirtschaftsweise weiterhin in erheblichem Ausmaß zur Verschärfung der globalen Umweltkrise bei. Auch auf diesem Feld sind ernsthafte US-Initiativen zu einer wirksamen vorbeugenden Konfliktverhütung bisher leider nicht registriert worden. Die Vorschläge des US-Präsidenten zur Begrenzung des klimarelevanten Schadstoffausstoßes beschränken sich fast ausschließlich auf »freiwillige Maßnahmen« und wurden überall mit großer Enttäuschung kommentiert. Die fünf Milliarden Dollar wiederum, die Präsident Bush gemäß einer Ankündigung vom 16. März 2002 als zusätzliche Entwicklungshilfe zur Verfügung stellen will - allerdings über drei Kalenderjahre gestreckt - können nicht darüber hinwegtäuschen, daß gerade die USA das »entwicklungspolitische Schlußlicht« darstellen (siehe Tabelle) - und auf ihren massiven Druck hin wurde bei der UN-Entwicklungshilfekonferenz im mexikanischen Monterrey »die Forderung fallengelassen, die weltweite Entwicklungshilfe um 50 Milliarden Dollar pro Jahr aufzustocken« (Süddeutsche Zeitung, 16. März 2002). 42
Aus all diesen bisher eher schlaglichtartig aufgeführten Einzelfakten und Sachzusammenhängen läßt sich, wie aus den Teilen eines Puzzlespieles, durchaus ein Gesamtbild zusammenfügen. Leider ist es nicht sonderlich erfreulich. Auf diesem Bild kann man nämlich ohne große Mühe erkennen, daß das politische Establishment der USA (von einigen wenigen Ausnahmen abgesehen, die es selbstverständlich gibt) die Zukunft der Erde und der Menschheit nicht als ein Projekt begreift, das in einer koordinierten Anstrengung zusammen mit anderen Völkern und Staaten angepackt werden müßte und für dessen Erfolg oder Mißerfolg es auch eine gemeinsame Verantwortung gibt (was ja Konflikte auf den verschiedensten Ebenen keineswegs ausschließt). Weit eher scheint, aus diesem Blickwinkel, der Rest der Welt als eine Art »Hinterhof« des eigenen Landes zu gelten: als ein Außenbezirk, der zur Genüge Rohstoffe und Energie zu liefern hat, in dem nach Belieben Schadstoffe entsorgt werden können und in dem Bundesgenossen wie Gegner weitgehend nach eigenem Gutdünken behandelt werden - alles nach dem Motto »America first«, was Präsident George W. Bush in den wenigen Monaten seiner bisherigen Amtszeit schon oft genug bekräftigt hat. Die Richtung, in die diese Politik sich weiterentwickelt, gibt zu großer Skepsis Anlaß. Sie sollte zu Diskussionen über die gegenwärtige ökologische Krise, über die in dieser Lage vertretbare Wirtschaftspolitik, über die wachsende Kluft 43
zwischen Arm und Reich, zwischen Nord und Süd Anstöße liefern. Es geht nicht, daß eine derartige Diskussion mit dem politischen Vorschlaghammer des Anti-Amerikanismus-Vorwurfes weiterhin zielstrebig behindert wird. Die Zukunft der Menschheit muß, soll sie trotz aller Schwierigkeiten gemeistert werden, zum gemeinsamen Interesse werden. Großmachtinteressen behindern diesen Gang der Dinge und die vordergründige Solidarität mit ihnen auch.
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17 Die Frage bleibt einstweilen offen, warum sich Politiker anderer Länder - und insbesondere in der Bundesrepublik Deutschland - auch angesichts einer »unilateralistischen« (soll heißen: eigennützigen, sich um den Rest der Welt nur in sehr begrenztem Maße kümmernden) Außenpolitik der USA geradezu dazu drängen, sich in Krisen und Konfliktfällen mit dieser auf weiten Strecken unsolidarischen Politik ihrerseits in einer Art von vorauseilendem Gehorsam möglichst rasch und umfassend »solidarisch« zu erklären (zum Thema »Solidarität« vergleiche auch weiter unten die Abschnitte 53 und 54). Es ist nicht Aufgabe dieses Buches, die dabei möglicherweise wesentlichen seelischen Dispositionen zu erörtern. Auffällig ist jedoch, daß ein unbefangener und kritischer Blick auf die Geschichte der Weltpolitik seit 1945 genug Anlässe erkennen läßt, mit derartigen Solidaritätsbekundungen so zurückhaltend wie möglich umzugehen.
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Kehrt man aus der Geschichte der US-Außenpolitik wieder zur Gegenwart zurück, so fällt sofort auf, mit welcher Intensität die Regierung der USA immer wieder betont, sich in einem Krieg mit einem heimtückischen Gegner zu befinden, einen »Feldzug gegen den Terror« führen zu müssen und so im »Kampf der Zivilisation gegen die Mächte des Bösen« die Werte der »westlichen Welt« und ihrer »Lebensart« verteidigen zu wollen. Doch Verständnis für ein nach den Ereignissen des n. September 2001 entstandenes diffuses Bedrohungsgefühl ist eine Sache - Kritik an den seither geplanten bzw. bereits begonnenen Aktionen eine ganz andere. Und allem Anschein nach ist diese Kritik bitter notwendig. Dies gilt nicht nur für das, was es nach Meinung vieler zu verteidigen gilt - dies gilt auch für jenen Gegner, von dem man sich bzw. die eigene Lebensform und ihre Grundwerte bedroht fühlt. Gemeinhin wird hier von »terroristischen« Angriffen gesprochen. Doch der Begriff »Terrorismus«, mit dem das Ziel in diesem als Gegenangriff verstandenen Feldzug gebrandmarkt werden soll, ist viel zu unscharf, um für ein möglichst konkret umrissenes Projekt der Gefahrenabwehr die politische und militärische Solidarität der Verbündeten einfordern zu können. Gerade angesichts der eigenen Geschichte sollte in den USA mehr Sensibilität erwartet werden dürfen. Auch die »Sons of Liberty«, die in den damaligen britischen Kolonien in Nordamerika einen Krieg um die 1776 erreichte Unabhän46
gigkeit des eigenen Landes begannen, galten in den Augen der damaligen britischen Regierung als »Terroristen«, und vielen nationalen Befreiungsbewegungen ist es bis zum heutigen Tag nicht besser ergangen: Jomo Kenyatta, der erste Präsident der unabhängigen Republik Kenya, hat als »Terrorist« Jahre in britischer Haft verbracht, und die jüdische Untergrundorganisation »Irgun Zwai Leumi«, die von 1943 bis 1948 vom späteren israelischen Ministerpräsidenten Menachem Begin geleitet wurde, galt nicht nur aus britischer Sicht als »Tcrrororganisation« 1946 sprengte sie einen Flügel des Hotels King David in Jerusalem in die Luft. 32 Jahre danach, 1978, erhielt Begin den Friedensnobelpreis (wie wenig später auch sein Gegenspieler Yassir Arafat). In der Gegenwart ist der noch immer anhaltende blutige Kampf zwischen Israelis und Palästinensern - in dem beide Seiten einander wechselseitig des »Terrorismus« bezichtigen - kein »Krieg der Zivilisationen«, sondern ein Konflikt um dicht besiedeltes Land, das von zwei verschiedenen Volksgruppen für sich beansprucht wird. Schlagworte wie das vom »Terrorismus« entheben nicht der Pflicht, die ökonomischen, sozialen und politischen Wurzeln gewalttätiger Konflikte sorgfältig zu untersuchen, bevor für eine Lösung dieser Konflikte als »ultima ratio« militärische Mittel eingesetzt werden. Dies gilt selbstverständlich auch für den gewaltsamen Angriff auf die USA am 11. September 2001. Die geläufige Floskel vom »Krieg gegen den Terror« ist bei der Suche nach einer langfristig orientierten politischen Strategie eher schädlich denn hilfreich, weil sie die Verhältnisse über Gebühr vereinfacht. »Wir werden heute von einem neuen Simplizissimus bedroht, der darin besteht, alles auf den Terrorismus zu reduzieren« - so der französische Außenminister Hubert Védrine (Süddeutsche Zeitung, 7. Februar 2002). Von deutschen Politikern hat man solche Worte bisher leider nicht vernehmen können. 47
19 Auch über die leichtfertige Verwendung des Begriffes »Terrorismus« hinaus ist die Wortwahl führender US-Politiker, insbesondere des gegenwärtigen Präsidenten, äußerst erschreckend. Sie läßt befürchten, daß an einer sorgfältigen Analyse der Konfliktursachen - die eine unbedingte Notwendigkeit darstellt, um über kurzfristig orientierte Militäraktionen hinaus ähnliche Konflikte künftig vorbeugend vermeiden zu können -, gar kein Interesse besteht. So hat Präsident Bush zum Schrecken seiner eigenen Berater vom »Kreuzzug« gesprochen, vom »Ausräuchern« der Terroristen und zuletzt, am 11. März 2002, sogar von »terroristischen Parasiten«. Ähnliche Beispiele ließen sich in langer Reihe zitieren. Besonders drastisch war die Wortwahl des Präsidenten am 11. Oktober 2001, als Bush nach viertägigen Bombenangriffen auf Afghanistan seine Forderung an das Taliban-Regime wiederholte, den »Top-Terroristen« Osama bin Laden an die USA auszuliefern. Bush damals wörtlich: »Wenn ihr ihn und seine Leute ausspuckt, dann werden wir uns noch einmal überlegen, was wir mit eurem Land machen.« Wenig später, im März 2002, als sich die Weltöffentlichkeit die Frage stellte, was auf den Krieg in Afghanistan folgen werde, sagte Bush: »Diese Killer, die Amerika, seine Freiheiten und alle seine Ideale hassen, sind erbarmungslos. Wir sind es auch, und wir werden noch erbarmungsloser sein als sie.« (Süddeutsche Zeitung, 20. März 2002) Ulrich Wickert hatte so unrecht nicht, als er bei Präsident 48
Bush und seinen »fundamentalistischen« Widersachern ähnliche Denkstrukturen ortete (was ja noch nicht bedeutet, daß auch ihre Taten vergleichbar wären). Wie immer man darüber denken mag - eine derartige rhetorische Kraftmeierei, wie sie der derzeitige Präsident der USA zu schätzen scheint, ist das genaue Gegenteil dessen, was in einer gefährlichen Situation notwendig ist und sollte allen Beobachtern des Geschehens nicht zur »Solidarität«, sondern zur Kritik Anlaß geben.
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20 Es muß nach alledem befürchtet werden, daß der so leichtfertig und ohne fundierte politische Analyse verkündete weltweite »Feldzug gegen den Terrorismus« sich auf eine interessenbestimmte und damit beliebige Definition von »Terrorismus« stützt (»Was Terrorismus ist, bestimmen wir« - man vergleiche hierzu das ausgezeichnete Buch des USSprachwissenschaftlers und politischen Publizisten Noam Chomsky: The Attack. Hintergründe und Folgen, Hamburg 2002). Auch hierfür gibt es Beispiele genug - etwa den Fall des panamesischen Diktators Manuel Noriega, der jahrelang auf der Gehaltsliste der CIA stand und von dem US-Geheimdienst mit 200 000 Dollar jährlich alimentiert wurde, bis die US-Regierung sich dazu entschloß, ihn im Dezember 1989 mit einer für die Zivilbevölkerung des Landes recht verlustreichen Militärintervention zu stürzen. Aus dieser historischen Beliebigkeit des Terrorismusvorwurfs heraus können sich in die von Präsident George W. Bush und seiner Administration propagierte »Koalition gegen den Terrorismus« ohne weiteres auch Kräfte, Gruppen und Regierungen einreihen, die sich selbst in einem vorgeblichen »Kampf gegen den Terrorismus« massive Kriegsverbrechen und Menschenrechtsverletzungen haben zuschulden kommen lassen, wie etwa die russische Regierung unter Präsident Wladimir Putin bei ihrem Feldzug in Tschetschenien. Ähnliches gilt für den derzeitigen israelischen Ministerpräsidenten Ariel Scharon. Dessen Fall ist - aus traurigen Gründen 50
besonders lehrreich. Denn es zeigt sich quasi wie unter Laborbedingungen, daß die monoton auf militärische Eskalation mit höchst fragwürdigen Mitteln setzende Politik Scharons, der vor seiner Wahl den Bürgern Israels ein Leben in Sicherheit und Frieden versprochen hat, ganz im Gegenteil die Sicherheitslage Israels rapide verschlechtert hat. Die Amtsführung Scharons (Spitzname: »Bulldozer«) hat nach einem Jahr Hunderten von Israelis und Palästinensern das Leben gekostet und einen riesigen politischen Scherbenhaufen aufgeschüttet — am 13. März 2002 wurde es selbst Präsident Bush zu bunt: »Offen gesagt, es ist nicht hilfreich, was die Israelis hier tun«, sagte er nach der israelischen Besetzung der palästinensischen Stadt Ramallah in die Mikrophone der Weltmedien. Typischerweise folgte daraus jedoch nichts - insbesondere nicht der Versuch, Israel zur Respektierung völkerrechtlich verbindlicher Normen zu bewegen. Dies führte zu der grotesken Situation, daß der UN-Sicherheitsrat mit der Stimme des dortigen Repräsentanten der USA am Osterwochenende 2002 den Rückzug der israelischen Truppen aus Ramallah forderte - während Präsident George W. Bush am selben Tag öffentlich sein »Verständnis« für die israelischen »Verteidigungsmaßnahmen« bekundete, ohne die vom Weltsicherheitsrat mit US-Unterstützung soeben formulierte Rückzugsforderung dabei überhaupt zu erwähnen! In der souveränen Mißachtung aller Versuche zu einem Krisenmanagement der Vereinten Nationen sind sich die politischen Führungen Israels und der USA eben oft genug einig. Erst am 4. April verlangte Präsident Bush, Israel solle die palästinensischen Autonomiegebiete wieder räumen - aber es blieb bei einer leeren Drohung. »Solange den Worten keine Taten folgen - etwa durch Druck auf Scharon, der immerhin drei Milliarden US-Dollar Militärhilfe im Jahr erhält - dürfte es wenig Motivation für 5l
Israels Ministerpräsidenten geben, seinen provokanten Kurs zu korrigieren.« (Schwäbische Zeitung, 10. April 2002) Unabhängig von allen ethischen Bewertungsmaßstäben zeigt sich jedoch gerade am Fall Scharon, daß eine Politik, die Sicherheit und Frieden mit rein militärischen Mitteln erzwingen will, auch das genaue Gegenteil bewirken kann. Dies gilt erst recht für den »Endkampf« gegen seinen »Erzfeind« Yassir Arafat, den Scharon Ende März 2002 militärisch ausfechten zu müssen wähnte. »Selbst wenn Scharon, im Legitimation spendenden Schatten des amerikanischen Anti-Terror-Feldzuges, Arafat physisch isoliert, wird die israelische Militäroffensive weitere Selbstmordanschläge nicht unterbinden. Diesen Krieg wird Israel nicht gewinnen können, dafür wird es aber am Ende um so einsamer sein.« (Frankfurter Allgemeine Zeitung, 2. April 2002) Eine vernunftorientierte US-Außenpolitik würde sich durch das Beispiel Israel wachrütteln lassen. Sie würde erkennen, daß sie ihren Alliierten eine Begründung dafür schuldig ist, wieso eine eigene Militäroffensive erfolgversprechender ist als der moralisch fragwürdige und auch pragmatisch scheiternde israelische »Anti-Terror-Kampf«. Aber nichts davon ist derzeit erkennbar - nicht einmal Ansätze dazu.
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21 Es läßt sich weiterhin nicht verleugnen, daß es sich bei dem, was die derzeitige US-Regierung unter »Terrorismus« versteht und mit zum Teil äußerst drastischen Mitteln bekämpfen will - nämlich Angriffe auf US-Bürger und US-Einrichtungen, teils in Übersee, teils im eigenen Land, die nicht von regulären Streitkräften im Sinne des Kriegsvölkerrechts durchgeführt werden - um Verhaltensweisen handelt, die rundweg verabscheuungswürdig sind, in denen sich aber gerade die US-Geheimdienste und mit ihnen verbündete Gruppen teilweise äußerst fragwürdiger Art seit Jahrzehnten selbst versucht haben. Diese Aktivitäten hatten teilweise Erfolg, teilweise blieben sie erfolglos - in jedem Fall aber waren sie unter rechtlichen und völkerrechtlichen Aspekten außerordentlich problematisch. So haben US-Geheimdienste und verschiedene mit ihnen verbündete Gruppen versucht, den Ministerpräsidenten des in die Unabhängigkeit entlassenen Kongo, Patrice Lumumba, zu ermorden (1960). Nicht besser sollte es nach dem Willen der CIA dem kubanischen Diktator Fidel Castro ergehen (die Attentatsversuche waren in diesem Fall so zahlreich, daß sie hier nicht einzeln erwähnt werden können). US-Geheimagenten und ihre Vertrauensleute und Bundesgenossen waren an der bereits erwähnten Absetzung des persischen Ministerpräsidenten Mohammed Mossadegh im Jahr 1953 ebenso beteiligt wie am Sturz und an der Ermordung des ebenfalls demokratisch gewählten chilenischen Präsidenten Salvator Allende 53
zwanzig Jahre später. Dieser von der CIA unterstützte Militärputsch in Chile, der später in die äußerst blutige Diktatur des Generals Augusto Pinochet mündete, fand ebenfalls an einem 11. September statt, aber daß dieser traurige Tag die Welt verändert hätte, hat bezeichnenderweise kein deutscher Publizist behauptet (was die Zahl der Todesopfer betrifft, hat der 11. September 1973 gewiß nicht weniger Menschen das Leben gekostet als der 11. September 2001). Immerhin hat die kaum verhüllte US-Intervention gegen die Regierung der chilenischen »Unidad Popular« dazu geführt, daß die »Solidarität mit Amerika« (gemeint sind mit dieser Floskel immer die USA!) nirgendwo - von der islamischen Welt einmal abgesehen - so gering ausgeprägt ist wie auf dem südlichen Teil des Kontinents. So hat, beispielweise, das mexikanische Parlament am 10. April 2002 dem Präsidenten des Landes, Vincente Fox, eine Reise in die USA untersagt - man befürchtete eine allzu nachgiebige Haltung des Präsidenten gegenüber Interessen des Nachbarn nördlich des Rio Grande.
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22 Bei alledem stellt sich natürlich die Frage, ob es nicht so etwas wie »Staatsterrorismus« gibt. Wir Deutsche haben unsere Erfahrungen damit, denn Adolf Hitler, zwölf Jahre »Führer« des Deutschen Reiches, war ein Meister in dieser Spielart der politischen Gewalt. Ist es nicht eine Spielart von solchem »Staatsterrorismus«, ein ganzes Volk - das der Afghanen -, das ohnehin unter den Folgen langjähriger, meist von auswärtigen Mächten zumindest mitverantworteter Kriege schwer zu leiden hat, in »Geiselhaft« zu nehmen, um die Inhaftierung eines gesuchten mutmaßlichen Schwerverbrechers zu erzwingen? Ist das von der US-Regierung initiierte UN-Embargo gegen den Irak, in dessen Folge zwar nicht der einst unterstützte Diktator sein Amt verloren hat, jedoch die Kindersterblichkeit im Land um unerhörte Dimensionen gestiegen ist, eine ähnliche, höchst fragwürdige politische Initiative? Haben die US-Bombenangriffe auf Libyen (1986), auf den Irak (1991 und seither immer wieder), auf den Sudan und auf Afghanistan (1998) denn wirkliche Erfolge im »Kampf gegen den Terrorismus« bewirken können? Oder hatte nicht eher der damalige deutsche Bundeskanzler Helmut Kohl recht, als er im Jahr 1986 - angesichts jener Angriffe der US-Luftwaffe, die das Ziel hatten, den libyschen Diktator Muhammar al Gaddafi zu töten - unter dem Beifall aller Fraktionen des Deutschen Bundestages erklärte, daß man »auf Dauer der Hydra des Terrorismus mit militärischen Mitteln nicht begegnen kann«? 55
Die politische Praxis, Regime zu fördern und zu unterstützen, die sich schwere Menschenrechts- und Völkerrechtsverstöße zu schulden kommen lassen (von Schah Reza Pahlevi über Saddam Hussein bis hin zum Taliban-Regime und der gegenwärtigen diktatorischen Regierung in Usbekistan), dann aber, wenn der »Spitzenschurke« in Ungnade fällt, das gesamte Land zum »Schurkenstaat« zu erklären und durch ökonomische oder militärische »Strafmaßnahmen« die gesamte Zivilbevölkerung jenes Landes dafür abzustrafen, daß jener »Schurke«, den man einst selbst hofiert hatte, immer noch an der Spitze des Landes steht - diese Praxis trägt eindeutig staatsterroristische Züge. Alle wohlmeinenden Verbündeten müßten die Regierung der USA dazu drängen, Konzeption und Konturen der eigenen Außenpolitik grundsätzlich zu ändern, statt sich in Ergebenheitsadressen zu üben.
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Offensichtlich ist auch, daß die in eine derartige politische Praxis eingebettete Militärstrategie der USA in der Alltagsrealität zu einer völkerrechtswidrigen (weil unangemessenen) Kriegsführung geführt hat, die schwere Schäden unter der Zivilbevölkerung leichtfertig in Kauf nimmt. So sind an den Folgen der US-Bombenangriffe auf Afghanistan nach dem 7. Oktober 2001 inzwischen wohl mehr Frauen und Kinder gestorben als am 11. September 2001 in den Trümmern des World Trade Center in New York. Selbst der Planungsminister der afghanischen Übergangsregierung, Mohammed Mohakekka, sprach Anfang April 2002 von mindestens 3000 zivilen Kriegsopfern in seinem Land. »Ich war sehr besorgt über die Art der Intervention in Afghanistan, die so angelegt war, daß es zu unangemessen vielen Opfern unter der Zivilbevölkerung kommen konnte. Nicht, daß ich eine nachgiebige Haltung gegenüber dem Terrorismus hätte. Ich glaube aber an die Würde und den Wert jedes einzelnen Menschen und akzeptiere nicht, daß man in Dörfern sogenannte >Kollateralschäden< verursacht und nicht mal nach der Zahl und dem Namen der Toten fragt« - so kommentiert dies die irische UN-Menschenrechtskommissarin Mary Robertson (Die Zeit, 7. März 2002), die dieses Amt leider nicht über das Jahr 2002 hinaus ausüben wird (und zwar offensichtlich wegen politischen Drucks aus den USA). Es läßt sich somit kaum noch bestreiten, daß die in diesem von der US-Regierung angeführten »Feldzug gegen den 57
Terrorismus« außen- wie innenpolitisch eingesetzten Mittel gegen das Gebot der »Verhältnismäßigkeit der Mittel« verstoßen, das dem Rechtsverständnis des Grundgesetzes der Bundesrepublik Deutschland maßgeblich zugrunde liegt. Unser deutsches Grundgesetz regelt nun gewiß nicht das, was die Regierung der USA tun und lassen darf - wohl aber legt es fest, wie die Regierung der Bundesrepublik Deutschland sich zu verhalten hat. Dieses aus den entsetzlichen Erfahrungen der Hitlerdiktatur entstandene Grundgesetz erklärt die allgemeinen Regeln des Völkerrechts zu einem Bestandteil der deutschen Verfassung und stellt fest, daß diese Regeln höher stehen als Bundesgesetze (wörtlich: diese Regeln »gehen den Gesetzen vor«) und »unmittelbar« Rechte und Pflichten für die »Bewohner des Bundesgebietes« erzeugen (Art. 25 GG). Der folgende Grundgesetzartikel 26 verbietet ausdrücklich nicht nur jeden Angriffskrieg, sondern darüber hinaus auch alle Maßnahmen zu dessen Vorbereitung. Schon von daher werden einem politischen und militärischen Bündnis mit den in Rechtsfragen - und leider auch in Fragen des Völkerrechts - seit jeher oft sehr »robust« agierenden US-Regierungen auch durch unsere Verfassung enge Schranken gesetzt. Auch ein »Feldzug gegen den Terror« muß das vom Kriegsvölkerrecht festgeschriebene Verbot der »unterschiedslosen Kriegsführung« (und damit die Pflicht zur Schonung der Zivilbevölkerung, wo immer möglich), wahren. Es ist die politische Pflicht der Bundesregierung, diesen Gesichtspunkt auch international zur Geltung zu bringen. Aber just dies ist offenbar nicht so einfach wie das Drechseln vermeintlich publikumswirksamer Sätze wie »In dieser Stunde sind wir alle Amerikaner«.
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24 Äußerst bedenklich muß in diesem Zusammenhang auch die derzeitige innenpolitische Lage in den USA stimmen. Dazu gehört unter anderem, daß seit dem n. September 2001 in US-Zeitschriften wie in anderen Massenmedien ernsthaft darüber diskutiert wird, ob die Anwendung der Folter wieder gerechtfertigt sein könnte. Schlimmer noch als derartige gespenstisch anmutende Debatten ist freilich, daß die Haftbedingungen der von der US-Regierung auf Kuba völkerrechtswidrig inhaftierten Gefangenen der Anwendung von Folter offensichtlich recht nahe kommen (siehe dazu auch den Abschnitt 26).
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25 Zu den besonders traurigen Entwicklungen gehört, daß der US-Rechtsstaat nach dem 11. September 2001 von den Politikern der Bush-Regierung, insbesondere durch Justizminister John Ashcroft, in einer Art und Weise systematisch umgestaltet worden ist, die - beispielsweise, weil sie die zeitlich unbegrenzte Inhaftierung von Verdächtigen ohne reguläre Gerichtsverfahren erlaubt - in ihrer rechtspolitischen Bedeutung mit der »Verordnung zum Schutz von Volk und Staat« im Hitlerdeutschland des Jahres 1933 verglichen werden muß. »Die Bush-Administration steckt voller Reaktionäre, die in nie dagewesener Weise in die Verfassung eingreifen, weil wir uns angeblich im Krieg befinden gegen einen unsichtbaren allgegenwärtigen Feind ...« - so die USPublizistin Susan Sontag (Die Zeit, 13. März 2002). Und der aus Deutschland stammende, in den USA lebende und lehrende Historiker Fritz Stern kommentierte den Vorgang wie folgt: »Dieses Land hatte die Illusion der Unverwundbarkeit. Nun ist die Illusion zerplatzt und hat tiefe Verstörung nach sich gezogen, und diese Situation der Verstörung wird auch von einzelnen Kräften innerhalb der Regierung ausgenutzt, um Einschränkungen der Bürgerrechte, die man schon vorher im Auge hatte, durchzusetzen« (Süddeutsche Zeitung, 20. März 2002).
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26 Leider muß darüber hinaus festgestellt werden, daß die USRegierung die in ihrem »Krieg gegen den Terrorismus« in Afghanistan und andernorts unter zum Teil rechtlich bedenklichen Umständen gefangengenommenen Kämpfer der Gegenseite in einer Art und Weise behandelt, die eindeutig gegen die rechtlichen Normen der in diesem Krieg vermeintlich verteidigten »westlichen Zivilisation« verstößt. »Die US-Regierung stellt sich damit außerhalb des Völkerrechts. Denn nach den - auch für Amerika verbindlichen Genfer Regeln darf nur ein Gericht darüber entscheiden, ob einem Kämpfer der Kriegsgefangenen-Status zukommt oder nicht. Bis zu einem solchen Beschluß muß der Inhaftierte wie ein Kriegsgefangener behandelt werden. Genau das verweigert Washington hartnäckig.« (Süddeutsche Zeitung, 9. Februar 2002)
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27 Weiterhin sollte uns nachdenklich stimmen, daß die von der Regierung der USA immer wieder zitierten, angeblich bereits heute vorliegenden »klaren Beweise« zur Urheberschaft bei den gegen die USA gerichteten terroristischen Aktivitäten bisher nicht einmal in Ansätzen der Weltöffentlichkeit präsentiert worden sind. Gerade die Bundesrepublik Deutschland ist infolge der deutschen Geschichte und unseres gegenwärtigen Verfassungs- und Rechtsverständnisses verpflichtet, diesbezüglich strenge Maßstäbe selbst anzulegen und auch von anderen einzufordern. Die gegenwärtige Lage kann solchen Maßstäben nicht genügen, wie sich an vielen Einzelheiten zeigt. Als ein Gericht in Mailand am 22. Februar 2002 erstmals in Europa vier mutmaßliche Mitglieder des al Quaida-Netzwerkes zu Gefängnisstrafen verurteilte, fielen die dabei verhängten Haftstrafen vergleichsweise gering aus: Eine Beteiligung an den Anschlägen vom 11. September 2001 konnte den vier Tunesiern nicht nachgewiesen werden, entsprechendes Beweismaterial aus den USA fehlte (Süddeutsche Zeitung, 23. Februar 2002). Rund eine Woche zuvor hatte ein Londoner Gericht den algerischen Piloten Lotfi Raissi nach fünfmonatiger Untersuchungshaft wieder auf freien Fuß gesetzt - Raissi war von US-Behörden der Mittäterschaft bei den Anschlägen vom 11. September 2001 bezichtigt worden, jedoch hatten sie weder einen Auslieferungsantrag gestellt noch Beweismaterial nach London übermittelt. Erheblich schlechter als 62
Raissi erging es sechs seit Oktober 2001 in Bosnien festgehaltenen Arabern, gegen die US-Behörden ähnliche Beschuldigungen erhoben hatten; Beweise wollten sie dem Gericht in Sarajevo jedoch nicht übergeben. Die dortigen Richter ließen daraufhin die Beschuldigten frei. »Trotzdem befanden sich die Verdächtigen wenige Stunden später hinter Schloß und Riegel. US-Soldaten hatten sie geschnappt und vermutlich nach Guantanamo ausgeflogen. Hunderte Menschen demonstrierten in Sarajevo gegen dieses Vorgehen. Selbst die höchste rechtliche Autorität des Landes, die Menschenrechtskammer, protestierte. Es half nichts. Die bosnischen Behörden drückten bei dem fragwürdigen Vorgehen beide Augen zu. Vor die Wahl zwischen Recht und Macht gestellt, entschieden sie sich für die Macht. Der USA.« (Die Zeit, 31. Januar 2002)
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28 Es bedeutet nicht, den insbesondere in den USA selbst außerordentlich beliebten Verschwörungstheorien anzuhängen, von denen es in der Tat höchst unappetitliche Varianten gibt*, wenn man konstatiert, daß in den bisher veröffentlichten Theorien über Ablauf und Hintermänner der Attentate vom 11. September 2001 etliche Erklärungslücken klaffen. Einer der mutmaßlichen Anführer, Mohammed Atta, der in Hamburg-Marburg studiert hat, ist am Morgen des 11. September von Portland nach Boston geflogen, um dort jenes Flugzeug zu besteigen, das wenig später - angeblich von Atta gesteuert - in einen der Türme des World Trade Center raste. Hätte der Flug Portland-Boston nur einige Minuten Verspätung gehabt (bei Inlandsflügen in den USA ist dies keineswegs unüblich), Atta hätte jene Maschine, die er entführt haben soll, nicht mehr erreicht. Daß ein überaus kaltblütiger Attentäter ein derartiges Risiko auf sich nimmt, wirkt verwunderlich. Auch ist bis heute ungeklärt, wieso die Aktien der beiden Fluggesellschaften, deren Maschinen am 11. September entführt worden sind, American Airlines und United Airlines, in der 36. Kalenderwoche des Jahres 2001, also unmittelbar vor diesen Anschlägen, so gewaltig an Wert zugelegt haben. * In einer mir vorliegenden, aus der Schweiz stammenden, anonymen Flugschrift werden die Attentate vom 11.9.2001 als »zionistisch-freimaurerisches Komplott« bezeichnet, das die Menschheit in den Dritten Weltkrieg treiben solle.
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Was Mohammed Attas angebliche Reise nach Tschechien betrifft, bei der dieser im Juni 2000 und im April 2001 mit Mittelsmännern des irakischen Geheimdienstes zusammengetroffen sein soll, so haben sich die entsprechenden Meldungen bisher nicht verifizieren lassen. Ein besonders bizarres Detail: Zunächst hatte es allgemein geheißen, Atta seien bei diesem Treffen Kulturen von Milzbranderregern ausgehändigt worden. Offenbar handelt es sich bei dieser Nachricht um ein Produkt überhitzter politischer Phantasie (wenn nicht um Schlimmeres), denn mittlerweile gilt als nahezu sicher, daß die im Anschluß an die Septemberattentate des Jahres 2001 in den USA verübten terroristischen Aktivitäten mit auf dem Postweg versandten Milzbrandbakterien von ehemaligen Mitarbeitern aus US-Forschungslabors ausgeführt worden sind. Aus der Fülle solcher und vieler anderer Ungereimtheiten sollte man gewiß keine voreiligen Schlüsse ziehen. Außer vielleicht diesen, daß nicht alles so klar und eindeutig zu Tage liegt, wie es vielerorts behauptet wird. Die bisher präsentierten Beweise würden in einem Rechtsstaat vermutlich nicht zu einer Verurteilung der Angeklagten ausreichen - jeder geschickte Verteidiger könnte sie nach Strich und Faden zerpflücken. Zur Rechtfertigung eines Krieges haben sie genügen müssen - die Verbündeten haben sich damit zufrieden gegeben. Wahr bleibt allerdings auch, was der frühere SPD-Politiker und einstige Staatsminister Andreas von Bülow - nach eigenem Bekenntnis heute ein »politischer Außenseiter« - in einem Interview gesagt hat: »Die Planung der Attentate war eine technische wie organisatorische Meisterleistung. In wenigen Minuten vier Großraumflugzeuge zu entführen und binnen einer Stunde in komplizierten Flugbewegungen ins Ziel zu steuern! Das ist ohne langjährigen Rückhalt aus den geheimen Apparaten von Staat und 65
Industrie undenkbar... Ich habe wirklich Schwierigkeiten damit, mir vorzustellen, daß das alles ein einzelner böser Mann in seiner Höhle ausgeheckt hat.« (Der Tagesspiegel, 13. Januar 2002)
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29 Wer auch immer hinter den Attentaten vom 11. September 2001 stecken mag, es darf und muß auch gefragt werden, ob der gegenwärtige »Anti-Terror-Feldzug«, der laut Präsident Bush mit dem Afghanistan-Krieg nur eine erste Teiletappe bewältigt hat, nicht in umfassendere politisch-militärische Planungen der einzigen verbliebenen Supermacht einzuordnen ist. Jedenfalls hat Bush nach den Terroranschlägen vom September 2001 - oder möglicherweise sogar schon zuvor? - von den Militärexperten des Pentagon Pläne für den Einsatz von atomaren Massenvernichtungsmitteln ausarbeiten lassen. Damit hat er das Konzept des »führbaren und gewinnbaren« Atomkriegs wiederbelebt, das in Fortführung der die Welt des Kalten Krieges prägenden Doktrin von der »atomaren Abschreckung« (»Mutual Assured Destruction« = MAD: »Wer zuerst schießt, stirbt als zweiter ...«) erstmals kurz vor der Amtsübernahme durch Ronald Reagan (US-Präsident 1981-1989) offen vorgetragen worden ist. Diese Pläne finden sich in einem 56 Seiten starken Bericht mit dem Titel »Überblick über die atomare Position (im Original: Nuclear Posture Review)«. Er wurde bereits im Januar 2002 dem US-Kongreß vorgelegt, aber erst zwei Monate später gelangten Einzelheiten an die Öffentlichkeit (vergleiche Süddeutsche Zeitung, 11. März 2002). Und sie erregten sofort erhebliche Bedenken. »Wenn sie das ernst meinen, dann deutet das auf eine gestiegene Bereitschaft der US-Regierung hin, Atomwaffen einzusetzen. Das gibt ande67
ren wie Indien oder Pakistan, die erst seit kürzerem im Besitz solcher Waffen sind, sehr Besorgnis erregende Signale. Als einzige Supermacht besitzen die USA ein gewaltiges militärisches Arsenal einschließlich eigener Massenvernichtungswaffen. Keine andere Macht kann damit konkurrieren. Aber ein so gewaltiges Potential zu besitzen, bringt auch eine gewaltige Verantwortung zur Selbstbeherrschung mit sich« (Financial Times, London, n. März 2002). Aber leider spricht vieles dafür, daß es der gegenwärtigen US-Regierung gerade an einer solchen Selbstbeherrschung maugelt. »Das Pentagon hebt die Grenze zwischen Atomkraft und konventionellen Waffen auf. Das Dokument ist Zeichen eines Staates in Panik und nicht einer Großmacht im Bewußtsein ihrer Verantwortung. Das macht Angst« (Le Monde, 13. März 2002). Eine »bedingungslose« - was ja auch heißt: kritiklose - Solidarität der Verbündeten wäre in einer solchen Lage allerdings genau das falsche Signal.
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30 Daß in dem bereits erwähnten Geheimbericht »Überblick über die atomare Position« sieben mögliche Ziele für den Einsatz atomarer Massenvernichtungswaffen konkret benannt werden, und zwar neben den altbekannten »Schurkenstaaten« Iran, Irak, Libyen, Nordkorea und Syrien auch China und Rußland, von denen ja »terroristische Attacken« gegen die USA schwerlich zu erwarten sind, stützt die Vermutung, daß es sich hier um Planungen mit Tradition handelt, die freilich im Windschatten des »Anti-Terror-Feldzuges« auf ein günstiges Meinungsklima hoffen dürfen. In der Tat hatte der Sicherheitsexperte und Präsidentenberater Colin S. Gray bereits 1980 im Air Force Magazine einen Aufsatz mit dem programmatischen Titel Victory is possible veröffentlicht - »Sieg ist möglich«, und zwar auch im Atomkrieg. »Die amerikanische Regierung muß versuchen«, so hieß es seinerzeit bei Colin S. Gray, »die Freiheit zu einem offensiven Atomschlag und die Glaubwürdigkeit ihrer offensiven Atomkriegsdrohung mit dem Schutz amerikanischen Territoriums zu verbinden.« Unter der Regierung Reagan erfreuten sich solche Ideen großer Beliebtheit, verschwanden aber nach dem Abschluß des INF-Abkommens zur Verschrottung landgestützter atomarer Mittelstreckenraketen im Dezember 1987 und nach dem Ende des »Kalten Krieges« (feierlich verkündet auf der Konferenz für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa im November 1990) erst einmal in der Versenkung bzw. fristeten ein militärpolitisches Küm69
merdasein. Der Terroranschlag vom 11. September 2001 jedoch hat Präsident Bush offensichtlich die notwendigen Spielräume eröffnet, um das zu verwirklichen, was er vermutlich schon vorher beabsichtigt hatte, nämlich sich eine Option für den Einsatz von Atomwaffen in einem »konventionellen« Krieg auch gegen Länder zu sichern, die selber gar nicht über Atomwaffen verfügen. Im zitierten Bericht heißt es deshalb auch lapidar, die Rüstungskontrollvereinbarungen aus der Zeit des Kalten Krieges paßten nicht mehr »zu der Beweglichkeit, welche die Planung und die Streitkräfte der USA heute benötigen«. Bleibt der Verdacht, daß hier ein Rahmen abgesteckt wird, der weit über all das hinausreicht, was zur Abwehr terroristischer Gefahren tatsächlich geboten ist.
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31 Die bereits in den frühen achtziger Jahren in den USA zunehmend populäre Wendung vom »führbaren und gewinnbaren« Atomkrieg wurde also in der »Entspannungseuphorie« nach 1990 offenbar voreilig als überkommene politische Folklore aus der Zeit des »Kalten Krieges« zu den Akten gelegt. Wie schnell das Wiederaufleben solcher Pläne und Konzeptionen die allgemeine politische Situation verändert, ließ sich im März 2002 beobachten, als - von der Weltöffentlichkeit weitgehend unbeachtet - der britische Verteidigungsminister Geoff Hoon kurz nach der Ankündigung, sich mit einem ungewöhnlich großen Militärkontingent (1700 Elite-Soldaten) außerhalb der UNO-Friedenstruppe am angeblich schon fast beendeten US-Bodenkrieg in Afghanistan beteiligen zu wollen, auch von einem etwaigen Einsatz britischer Atomwaffen sprach. Es ging um das mögliche Ziel Irak. »Sie können ganz sicher sein, daß wir unter den richtigen Voraussetzungen bereit sind, unsere Nuklearwaffen zu nutzen«, sagte Hoon am 21. März vor dem Verteidigungsausschuß des britischen Parlaments (Süddeutsche Zeitung, 22. März 2002). Was diese »richtigen Voraussetzungen« sind, sagte Hoon nicht. In der Nuclear Posture Review wurden allerdings auch »Ziele, die konventionellen Waffen standhalten« als Objekte des Atomwaffeneinsatzes genannt. Diese unscheinbar anmutende, in Wahrheit aber außerordentlich bedeutsame Episode zeigt, welch tiefgreifende Ver71
wilderung der politischen Sitten der kaum noch grundsätzlich diskutierte »Anti-Terror-Feldzug« seit dem 7. Oktober des Jahres 2001, seit dem Beginn der US-Militäroperationen gegen Afghanistan, bereits angerichtet hat. Denn Atomwaffen gelten nach allgemeiner Ansicht als Massenvernichtungsivaffen, die in extremer Form die - im Grundsatz völkerrechtswidrige - unterschiedslose Kriegsführung praktizieren, also (wie schon in Hiroshima und Nagasaki im August 1945) mit besonderer Härte die Zivilbevölkerung treffen (dies nicht zuletzt wegen der räumlich und zeitlich schwer eingrenzbaren Strahlenschäden). Wenn der Einsatz solcher Waffen zur Bekämpfung terroristischer Aktivitäten ernsthaft erwogen wird, ist von jeder »Verhältnismäßigkeit der Mittel« bereits Abstand genommen worden. Auch im weltpolitischen Maßstab kann diese Eskalation nur »die tödliche Umarmung zwischen Terrorismus und Repressalien verstärken, die schon seit einiger Zeit außer Kontrolle geraten ist« (so der Corriere della Sera, Mailand, am 2. April 2002 über den israelisch-palästinensischen Krieg der Ostertage). Es liegt nicht zuletzt an einer völlig falsch verstandenen, vom politischen Establishment verkündeten »Solidarität«, wenn solche Entwicklungen sich vollziehen können, ohne von einer kritischen Öffentlichkeit schon im Ansatz gestoppt zu werden.
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32 Die allem Anschein nach durchaus beabsichtigte Verwischung der Grenze zwischen atomarer und konventioneller Kriegsführung (letztere ist mit modernen Waffen allerdings schon schrecklich genug) ist kein Einzelfall. Offenkundig ist sie gepaart mit der Bereitschaft, Atomwaffen auch als erster und gegen Staaten, die selbst keine Atomwaffen besitzen, einzusetzen. Dies und etliche andere Symptome deuten auf eine sehr weitgehende Militarisierung der US-Außenpolitik hin, die auch entsprechende Tendenzen bei anderen Atommächten nach sich ziehen kann. Eine derartige Politik verstößt klar und eindeutig gegen die Charta der UN, die jede Gewaltandrohung zwischen souveränen Staaten als Mittel der Politik verbietet - wie so viele andere Initiativen und Resolutionen der Vereinten Nationen dürfte dies dem politischen Establishment der USA allerdings herzlich gleichgültig sein. Die Verbündeten der USA hingegen dürfen sich von dieser ostentativen Gleichgültigkeit keinesfalls anstecken lassen - im Gegenteil, sie müßten ihr entgegenarbeiten, und nicht nur in stiller Diplomatie. Auf jeden Fall ist Krieg, mit welchen Waffen er auch immer geführt wird - diese Frage nach den »erforderlichen« Waffen scheint in den Augen führender US-Militärstrategen freilich nur noch eine rein technische Frage zu sein - aus einer solchen politischen Perspektive nicht mehr das »letzte« oder »äußerste« Mittel (die »ultima ratio regis«), sondern eine gleichberechtigte politische Option unter vie73
len anderen. Diese Option darf immer dann eingesetzt werden, wenn sie einen Erfolg verspricht, sei dieser auch nur kurzfristig. Die in diesem Buch schon mehrfach bedauerte Unwilligkeit der US-Regierung, sich an langfristig orientierten Projekten zur vorbeugenden Konfliktvermeidung zu beteiligen oder gar selbst zu initiieren, ist sozusagen die andere Seite dieser fragwürdigen Tapferkeitsmedaille. »Nach den Anschlägen vom 11. September hatte US-Präsident George W. Bush noch eine bemerkenswerte Mäßigung an den Tag gelegt. Damit ist es vorbei. Nun setzt er in zunehmendem Maße auf einen militärischen Expansionismus in aller Welt. Die Kriegsmaschinerie drängt die Arbeit der Diplomaten in den Hintergrund. Die Alliierten hat Bush nicht einmal konsultiert. Viel gefährlicher als dieser Unilateralismus sind die US-Pläne, Irak anzugreifen und Saddam Hussein zu stürzen. Mit seiner militärischen Eskalation wird Bush die zahlreichen Feinde der USA nicht abschrecken. Er vergrößert vielmehr die Gefahr neuer Konflikte in aller Welt« - so die Madrider Zeitung El Mundo (11. März 2002). Einer solchen folgenschweren Hinwendung zur Kriegsführungspolitik müßten die Verbündeten der USA schon aus ihren eigenen Interessen heraus energisch entgegentreten. Allerdings läßt sich ein derart eindeutiges Verhalten bislang leider nicht beobachten.
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33 Nimmt man zu den erwähnten Planungen für einen Einsatz atomarer Massenvernichtungsmittel noch die US-Konzepte für eine militärische Nutzung des Weltraums hinzu, so zeigt sich für jeden Beobachter, der nicht bereits der Gefahr eines blinden »Amerikanismus« erlegen ist, daß die dahinter liegende Leitidee schlicht und einfach in dem Bestreben besteht, ohne Rücksicht auf Verbündete, auf kollektive Sicherheitssysteme oder auf Weltorganisationen wie die UN jederzeit und auf jedem Fleck der Erde gegebenenfalls militärisch eingreifen zu können, wenn die USA selbst oder schon weit fragwürdiger - US-Interessen bedroht sind. Die militärtechnischen Konzepte hierfür sind bereits außerordentlich weit gereift und werden in den offiziellen Dokumenten des US-Verteidigungsministeriums in aller Klarheit vertreten. Dies übrigens nicht erst seit dem 11. September 2001. Die »Dominanz über das gesamte Konfliktspektrum hinweg« (Full Spectrum Dominance) wurde vom Generalstab der US-Streitkräfte bereits im Jahr 1995 zum obersten Ziel der Militärpolitik erhoben. Kontrolle auch über den Weltraum, so hieß es damals in dem Papier Joint Vision for 2010, sei angesichts wachsender Verteilungskämpfe auf der Erde dringend geboten, um den USA alle erforderlichen Handelsoptionen offenzuhalten. Die logischen Konsequenzen aus solchen Ideen - die, das muß noch einmal betont werden, nicht erst als »Nachhall« der Terroranschläge vom 11. September 2001 entstanden 75
sind - sind nicht nur eine Militarisierung der Welt (bereits im Haushaltsjahr 2003 werden fast 40 Prozent der weltweit getätigten Ausgaben für Militär und Rüstung auf die USA entfallen), sondern vor allem deren militärische Dominierung durch die einzige verbliebene »Supermacht«, um deren ökonomisch und ökologisch privilegierte Position abzusichern. Damit wäre das »Ende der Geschichte«, das der US-Wissenschaftler Frances Fukuyama seit dem Ende des »Kalten Krieges« 1990 immer wieder verkündet, in gewisser Weise tatsächlich erreicht: ob zum Vorteil der Welt, darf bezweifelt werden.
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34 Es darf auch nicht in Vergessenheit geraten, daß parallel zu der oben beschriebenen militärischen Expansion, die offenkundig danach strebt, die gesamte Well der eigenen Kontrolle zu unterwerfen, durch die Wirtschaftspolitik der US-Regierung auch eine ökonomische Extraktion von Finanzmitteln aus der restlichen Welt stattfindet, die schon für die nahe Zukunft eine krisenhafte Entwicklung mit möglicherweise unabsehbaren Folgen befürchten läßt. Konkreter gesprochen: Seit Anfang der achtziger Jahre nämlich seit der Amtsübernahme von Präsident Ronald Reagan und Vizepräsident George Bush und seit dem Beginn der von ihnen initiierten »Reaganomics« - geben die US-Bürger erheblich mehr Geld aus, als im eigenen Land erwirtschaftet wird. Diese »Ausgabenlücke« (in der Sprache der Ökonomen heißt sie »Leistungsbilanzdefizit«) wächst beständig an. Sie belief sich im Jahr 2000 auf 450 Milliarden US-Dollar und soll allen Vorhersagen zufolge noch weiter ansteigen (siehe die folgende Tabelle). Dies wird um so mehr der Fall sein, als der jetzige Präsident George W. Bush die Reagansche Politik des großherzigen »deficite spending« (zu Deutsch: Schuldenmachen) erneut intensiviert hat - wofür ihm der »Feldzug gegen den Terrorismus« und die damit verbundene gewaltige Steigerung der Militärausgaben einen willkommenen Anlaß liefern. Erst im Jahr 2005 will Bush - im Falle seiner Wiederwahl - ein ausgeglichenes Haushaltsbudget vorlegen (was ihm jedoch kaum gelingen dürfte). 77
»Den Rest der Welt müßten diese amerikanischen Probleme nicht sonderlich interessieren, ginge es nicht um sein Geld. Nach einer Schätzung des Institute for International Economics in Washington halten ausländische Kapitalgeber inzwischen 36 Prozent der US-Staatsanleihen, 18 Prozent der Unternehmensanleihen und 7 Prozent der amerikanischen Aktien. Und diese Anteile steigen weiter. Nach traditioneller ökonomischer Lehre kann das nicht lange so weitergehen ... Die Krise der Reagan-Ära könnte noch harmlos gewesen sein im Vergleich zu dem, was dann drohen würde.« (Die Zeit, 14. Februar 2002) Aber dieser Bedrohung läßt sich nur durch kritische Distanz, nicht durch bedingunglose Solidarität entgegenarbeiten.
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35 Es sollte an dieser Stelle auch mitbedacht werden, daß viele - nicht alle! - US-Regierungen geneigt sind, mit den von ihnen selbst immer wieder geforderten Regelungen und Vereinbarungen für einen möglichst ungehinderten Welthandel gegebenenfalls ebenso »elastisch« umzugehen wie mit Bestimmungen des Völkerrechts. Dies gilt insbesondere für die gegenwärtige Regierung - die am 6. März 2002 verhängten Strafzölle auf Stahleinfuhren in die USA folgen genau diesem Muster, und ebenso die drei Wochen später verkündeten 29 Prozent Strafzoll auf Bauholz-Importe aus Kanada, von denen der kanadische Premierminister Jean Chretien erklärte, sie setzten ein »großes Fragezeichen« hinter die US-Forderung nach weltweitem Freihandel. »Wenn es darum geht, den Abbau von Handelsschranken zu fordern, stehen die USA an vorderster Front... Dabei berufen sie sich stets auf die Grundsätze des Freihandels, der nach der neoliberalen Theorie für die >optimale Allokation der Ressourcen sorgt - also dafür, daß es letztlich allen besser geht. Soweit die Theorie. In der Praxis geht es den Amerikanern vor allem um ihren eigenen Vorteil.« (Schwäbische Zeitung, 7. März 2002) Ähnliches geschah auch schon im Herbst 2001, als die USRegierung, die in den Jahren zuvor alle Versuche der brasilianischen und der südafrikanischen Regierung, die zahlreichen AIDS-Kranken im eigenen Land mit Billigpräparaten zu versorgen, als schweren Verstoß gegen Patentschutz und 79
Handelsrecht wütend gebrandmarkt hat, den Bayer-Konzern dazu zwang, das gegen eine Milzbrand-Infektion einsetzbare Antibiotikum Ciprobay dem US-Markt zu einem Niedrigpreis von 95 US-Cent pro Tablette massenweise zur Verfügung zu stellen, andernfalls werde man das Medikament ohne Rücksicht auf geltende Patente selber herstellen (also genau das, was den AIDS-Kranken in Brasilien und Südafrika nach Meinung der US-Regierung hätte verwehrt bleiben sollen). »Die Amerikaner messen mit zweierlei Maß: Geht es um die Gesundheit der eigenen Bevölkerung, ist der Patentschutz nebensächlich. Doch halten sie ihn hoch, wenn es um Medikamente gegen AIDS geht... Daß jährlich zwei Millionen Afrikaner an AIDS sterben, reicht nicht als Rechtfertigung aus, um den Patentschutz aufzuheben. Die Panik im eigenen Lande aber wäre den Amerikanern Grund genug gewesen, dies zu tun ...« (Schwäbische Zeitung, 26. Oktober 2001)
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36 Es muß über solche Einzelfälle hinaus - die freilich einen sehr prinzipienlosen Umgang mit eigenen, dem Rest der Welt oft genug drohend entgegengehaltenen Prinzipien belegen - noch ganz grundsätzlich darauf verwiesen werden, daß die insbesondere vom politischen Establishment der USA geforderte und geförderte »Globalisierung der Weltwirtschaft« keineswegs jene Wohltätigkeitsveranstaltung darstellt, als die sie vielfach in den Massenmedien gefeiert wird. Der US-amerikanische Wirtschaftswissenschaftler Joseph Stiglitz, Nobelpreisträger des Jahres 2001 und Autor des Buches »Schatten der Globalisierung« (München 2002) hat dies bündig so zusammengefaßt, wobei er nicht zuletzt die Regierung seines eigenen Landes meint: »Die Industrieländer und ihre Regierungen sind mit dafür verantwortlich, daß die weltweite Armut zugenommen hat. Durch die Globalisierung ist ihr Einfluß auf die Weltwirtschaft gestiegen, und sie nutzen diesen Einfluß aus. Es ist heuchlerisch, von ärmeren Staaten und Ländern, die in einer politischen Transformation stecken, die sofortige Öffnung ihrer Wirtschaft zu fordern und davon zu profitieren, während man die eigenen Märkte gegen Produkte aus Entwicklungsländern abschottet. Diese Politik vergrößert den Abstand zwischen Arm und Reich ... Außerdem fehlt es bei wichtigen Akteuren an einem grundlegenden Sinn für Gerechtigkeit und für die entscheidende Bedeutung demokratischer Prozesse.« (Süddeutsche Zeitung, 7. März 2002) Es ist wohl nicht 8l
übertrieben, zu behaupten, daß gerade der letzte Satz auf die Regierung Bush in besonderem Maße zutrifft. Es läßt sich somit bei ökologischen wie bei ökonomischen Problemen ein ähnliches Grundmuster erkennen - es fußt darauf, sich selber von den Regeln zu dispensieren, die anderen gegenüber geltend gemacht werden. Soziologen ist dieses Muster vom Individualverhalten her wohlvertraut (»Es muß weniger Auto gefahren werden - Ich selber brauche das Auto allerdings unbedingt, weil ich XYZ zu erledigen habe ...«). Für ein friedliches Zusammenleben der Völker und Staaten liefert es freilich kein geeignetes Paradigma.
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37 Ob nun auf ökologischem oder ökonomischem, auf politischem oder militärischem Gebiet: Es läßt sich nicht übersehen, daß jener »Unilateralismus« (also das Handeln nach eigenem Gutdünken ohne Rücksicht auf den Rest der Welt), der seit jeher eine traditionelle, mehr oder weniger stark ausgeprägte Konstante der US-Außenpolitik dargestellt hat, unter der Ägide des derzeitigen Präsidenten extreme Form anzunehmen scheint. Kein anderer US-Präsident hat bisher in so kurzer Zeit derartig viele von seinen Vorgängern langwierig ausgehandelte, international gültige Verträge einseitig aufgekündigt wie George W. Bush - vom ABM-Vertrag gegen die Militarisierung des Weltraums (1972, modifiziert 1974) bis hin zum Kyoto-Protokoll zum Schutz des Weltklimas (1997). Auch bei der internationalen Konferenz für die Fortschreibung des im Jahr 1975 in Kraft getretenen Abkommens zur Ächtung biologischer Waffen im Herbst 2001 haben die Vertreter der USA durchgesetzt, daß internationale Kontrollen zur Überprüfung dieser Vereinbarung unterbleiben - wiewohl ihr Land just zur selben Zeit unter mysteriösen Anschlägen mit Milzbrand-Erregern zu leiden hatte, von denen mittlerweile auch nach Aussage der zuständigen FBI-Ermittler angenommen werden darf, daß sie nicht von »fundamentalistischen Islamisten«, sondern von ehemaligen Mitarbeitern des landeseigenen B-Waffen-Entwicklungsprogrammes verübt worden sind, dessen wissenschaftliche Heimstatt während der Epoche des Kalten Krie83
ges in Fort Detrick/Maryland angesiedelt war. Dieses bizarre Ereignis läßt es allerdings als möglich erscheinen, daß gerade die USA jahrelang gegen die von ihr selbst 1972 unterzeichnete, drei Jahre später in Kraft getretene Biowaffenkonvention verstoßen haben, und dessen effektive Überwachung bislang erfolgreich verhindern konnten. Denn gerade die USA haben unabhängige Inspektionen ihrer eigenen Waffenprogramme bisher stets abgelehnt (also genau das, was sie beispielsweise vom Irak fordern). Vielleicht, so mutmaßte die Suddeutsche Zeitung am 22. März 2002, wisse gerade der einheimische Anthrax-Terrorist sehr gut, was die USA zu verbergen habe.
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38 Jener rücksichtlose »Unilateralismus« in der US-Außenpolitik ist nun nicht etwa die mehr oder minder zufällige Konsequenz aus der etwas bizarren Persönlichkeit des gegenwärtigen US-Präsidenten. Wie der USA-Korrespondent der Süddeutschen Zeitung, Wolfgang Koydl, in einem Leitartikel vom 23. Februar 2002 so bündig wie treffend festgestellt hat, ist diese selbstzentrierte Weltsicht »nicht an Bush, Ronald Reagan oder irgend eine andere Regierung gekoppelt, sondern seit jeher ein Grundzug amerikanischer Politik gewesen. In ihr drückt sich die Überzeugung aus, in der neuen Welt die beste aller Welten geschaffen zu haben. Glücklich, wer Amerikaner ist. Gottesfürchtige Menschen aber haben die Pflicht, auch ihrem Nächsten in den Stand der Gnade zu verhelfen, notfalls auch gegen dessen Willen. Amerikas auftrumpfendes und als ärgerlich empfundenes Auftreten speist sich aus diesem Sendungsbewußtsein, das übrigens machtpolitische und missionarische Ambitionen problemlos miteinander vereint.« Das ideologische Fundament dieser Haltung läßt sich auf jeder Dollarnote finden: Auf einer gemauerten, von einem strahlenden Dreieck und einem geöffneten Auge gekrönten Pyramide ist die Jahreszahl 1776 eingemeißelt, Datum der Unabhängigkeitserklärung der »United States«, aber auch Beginn einer neuen Epoche, eines »novus ordo seclorum«, und all dies selbstverständlich mit Gottes Segen, denn auch »annuit coeptis« ist auf dem grünen Dollar zu lesen: Er, der 85
Herr, stimmte dem zu, was da neu begonnen worden war... Es ist dieses Gefühl der eigenen Bedeutung - sozusagen ein demokratisiertes Gottesgnadentum -, das Bücher wie »1001 Ways to Celebrate Being American« (siehe Vorwort) überhaupt erst möglich macht und zu Bestsellern werden läßt und das vielen US-Amerikanern auf die Frage »Warum sind wir in so vielen Ländern der Erde derart verhaßt?« als erste Antwort einen Verweis auf die Großartigkeit des eigenen Landes in den Sinn kommen läßt. Nun mag jeder Staat sich nach Belieben seine eigene Gründungsmythologie schaffen, solange er den Rest der Welt nicht in allzu aufdringlicher Weise damit behelligt. Partner und Verbündete hingegen sind gut beraten, sich einem derart massiven Sendungsbewußtsein suaviter in modo, fortiter in re zu widersetzen und darauf zu verweisen, daß sie ihre eigenen Interessen vertreten, die der Überzeugung von der eigenen Sonderrolle möglicherweise entgegenstehen.
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39 Es paßt mit den Anmerkungen des letzten Abschnittes auch gut zusammen, daß viele führende Politiker der USA, aber auch der mit ihnen verbündeten Staaten zwar den religiösen »Fundamentalismus« der islamischen Welt anprangern (und ihn bisweilen sogar zum Gegner im »Krieg der Zivilisationen« erklären wollen), während doch andererseits ein solcher religiöser »Fundamentalismus« nicht zuletzt in den USA selber weit verbreitet ist. Er prägt auch das Denken vieler Politiker, nicht zuletzt das des gegenwärtigen Präsidenten. Man sollte in diesem Zusammenhang auch nicht vergessen, daß der Begriff »Fundamentalismus« zunächst zur Kennzeichnung »bibeltreuer« protestantischer Christen in den USA geprägt worden ist. Ein wenig boshaft, aber nicht völlig unzutreffend, könnte noch angeführt werden, daß das von Präsident Bush und seinem Team zur Richtschnur des eigenen politischen Handelns gewählte Motto »America first« im Grunde nichts anderes darstellt als eine diesseitig-weltliche Spielart des religiösen Fundamentalismus.
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40 In die etwas wirre Gefühls- und Motivationsgemengelage dieses fundamentalistischen Denkens gehört auch die zweifellos religiös fundierte Neigung vieler Amerikaner, ganz besonders aber des gegenwärtigen Präsidenten, die Welt formelhaft und strikt in »Gut« und »Böse« aufzuteilen. Dieses Weltbild wird nach dem persischen Religionsstifter Mani (geboren im Jahr 216, Märtyrertod 277) auch als »manichäisch« bezeichnet - es speist sich aus vorchristlichen und außerchristlichen (vor allem orientalischen) Quellen und hat in der Geschichte des Abendlandes eine sehr verhängnisvolle Rolle gespielt, insbesondere bei der Rechtfertigung »gerechter« oder gar »heiliger« Kriege, die im Namen Christi bereits lange vor der Geburt des Propheten Mohammed mit aller Härte ausgefochten worden sind. Wenn nach der so erschütternden wie einschneidenden Erfahrung des 11. September 2001 sowohl der Protestant George W. Bush wie der Katholik Jacques Chirac und der russisch-orthodoxe Christ Wladimir Putin unisono von einem »Kampf gegen das Böse« gesprochen haben, den es jetzt zu führen gelte, so werden die dunklen Seiten des Christentums ausgerechnet zu einem Zeitpunkt wiederbelebt, an dem weltbürgerlich-aufgeklärte Vernunft vermutlich weit besser geeignet wäre, das Zusammenleben der Völker auf eine terrorarme Grundlage zu stellen. Die Floskel vom »Kampf gegen das Böse«, der in seiner Konsequenz irgendwo zwischen Kreuzzug und Exorzis88
mus angesiedelt ist, ist nicht zuletzt deshalb verhängnisvoll, weil sie es in geradezu idealer Weise ermöglicht, von »Eigenanteilen« an den Ereignissen, also auch von eigener Verantwortung für das Geschehene abzulenken - denn »böse« sind selbstverständlich immer nur die anderen. Daß die wirklichen Verhältnisse keineswegs derart simpel gestrickt sind - darüber geben die an anderer Stelle bereits erörterten Beispiele vom Aufstieg Saddam Husseins im Irak bzw. der Taliban in Afghanistan in eindrucksvoller Weise Zeugnis. Staatsmänner, die sich in einem laizistischen Rechtsstaat nicht der Gedankenwelt des Mittelalters, sondern der Tradition der Aufklärung verpflichtet fühlen sollten, sind schlecht beraten, wenn sie kritiklos mit solchen pseudoreligiösen Welterklärungsmodellen paktieren.
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41 Aus dem oben kurz skizzierten, in seinen Konsequenzen oft verhängnisvollen einzelgängerischen Sendungsbewußtsein des US-amerikanischen Selbstverständnisses, das bis heute das Denken und Handeln des politischen Establishments in den USA prägt, folgt auch der offenkundige Unwille vieler US-Regierungen (insbesondere der gegenwärtigen), sich wirklich auf eine partnerschaftliche Mitarbeit in den 1945 in San Francisco gegründeten Vereinten Nationen (UN) einzulassen (deren Vorläuferorganisation, dem von US-Präsident Woodrow Wilson in seinem berühmten »14 Punkten« aus dem Jahr 1918 geforderten und 1919 gegründeten »Völkerbund« waren die USA erst gar nicht beigetreten). Jahrelang haben die USA durch Nichtbezahlung fälliger Beiträge die Weltorganisation, deren größter Schuldner sie auch heute noch sind, an den Rand des Bankrotts gebracht, bis heute torpedieren sie diverse Projekte der UN oder nehmen deren Resolutionen - wenn überhaupt - nur sehr selektiv zur Kenntnis. Militäraktionen werden von den USA immer wieder begonnen, ohne daß ein Mandat der UN dafür vorläge, ja auch ohne daß ein entsprechender Beschluß des UN-Sicherheitsrates überhaupt angestrebt wird. Der UN-Generalsekretär Perez de Cuellar hat den Golfkrieg von 1991 als die größte Niederlage der damals von ihm geführten Weltorganisation bezeichnet, die von seinem Nachfolger Butros Ghali vorgelegte, auch heute noch lesenswerte »Agenda für den Frieden« aus dem Jahre 1992 (die zum Beispiel ein ständiges 90
Kontingent an einsatzbereiten Truppen unter dem Oberbefehl des UN-Generalsekretärs gefordert hatte), wurde von der US-Regierung unter Präsident George Bush senior postwendend und pauschal abgelehnt, eine Wiederwahl Ghalis von den USA 1996 verhindert. Beispiele für die Neigung der USA, die Weltorganisation zu desavouieren, sind in Hülle und Fülle zu finden. So wurde im Jahr 1998, als der Irak die UNO-Waffeninspektoren des Landes verwies, weil er ihnen vorwarf, für die CIA gearbeitet, zu haben (was sich später als richtig herausstellte), von den USA und ihrem bedingungslos solidarischen Bundesgenossen Großbritannien in einer »Operation Wüstenfuchs« vier Tage lang mit Luftangriffen »bestraft« - und dies, noch bevor der UN-Sicherheitsrat den Bericht der UN-Inspektoren überhaupt diskutiert oder gar Beschlüsse dazu gefaßt hätte.
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42 Die allenthalben zu beobachtende Neigung vieler US-Politiker und vor allem der gegenwärtigen US-Regierung zu einer verächtlichen, ja geradezu feindseligen Haltung gegenüber der internationalen Völkergemeinschaft und der von ihnen geschaffenen Institutionen - vom Internationalen Olympischen Komitee bis zu den Vereinten Nationen zeigt sich nicht zuletzt an der Blockade des gemäß Beschluß der UN-Vollversammlung zu schaffenden Welt-Strafgerichtshofes. Das Statut für diesen Strafgerichtshof wurde auf einer Konferenz der Vereinten Nationen mit 160 Teilnehmerstaaten im Juli 1998 mit einer Zwei-Drittel-Mehrheit beschlossen - bei sieben Gegenstimmen, unter anderem von China, Israel und den USA. Dieses Statut mußte von 60 Staaten ratifiziert werden (in der Bundesrepublik Deutschland ist das am 11. Dezember 2000 geschehen), um in Kraft treten zu können - am 11. April 2002 wurde diese Schwelle erreicht. Doch gerade die gegenwärtige Regierung der USA unternimmt alles, um das Wirksamwerden der Statuten und das Zustandekommen der von ihnen entworfenen Institution zu verhindern, da sie von ihr die eigene nationale Souveränität bedroht sieht. Der Haupteinwand der US-Behörden war immer gewesen, daß es niemals gestattet werden könnte, daß US-Soldaten sich vor einem derartigen Tribunal zu verantworten hätten (das Statut von 1998 trägt diesem Bedenken sehr weitgehend Rechnung) - eine Befürchtung, die leider 92
nur allzu gut mit der Neigung von US-Politikern und Militärs zusammenpaßt, sich bei eigenen Operationen nur in sehr geringem Maße um die Bestimmungen des Kriegsvölkerrechtes zu kümmern. Es ist allerdings sehr die Frage, wie der Rest der Welt damit umgehen soll, daß die verbliebene Supermacht für sich selbst einen exklusiven Umgang mit völkerrechtlichen Normen und Regeln in Anspruch nimmt (wie zum Beispiel auch im Falle des Abkommens zur Ächtung biologischer Waffen). Die bisherige Politik treuer Bundesgenossen wie etwa der Bundesrepublik Deutschland hat offenkundig kaum Erfolge zu verzeichnen.
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43 Auch im Umgang der US-Regierung mit der von ihr dominierten NATO (North Atlantic Treaty Organization) zeigen sich ähnliche Dissonanzen. So haben die zuständigen Gremien der NATO, die ihre Verpflichtungen schon lange nicht mehr auf das ursprüngliche Vertragsgebiet, nämlich den Nordatlantik, begrenzen möchte, zwar im Herbst 2001 den in Artikel 5 des Nordatlantik-Vertrages beschriebenen »Bündnisfall« festgestellt, da sie glaubte, einen Angriff auf ein NATO-Mitglied konstatieren zu müssen, der gemäß Artikel 9 des selben Vertrages für jenen Bündnisfall »unverzüglich« einzurichtende »Verteidigungsauschuß«, der alle weiteren Maßnahmen zu beraten hat, existiert nicht einmal auf dem Papier und von gemeinsamen Beratungen über das weitere Vorgehen kann erst recht nicht die Rede sein.
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44 Es kann nicht verkehrt sein, an dieser Stelle ganz grundsätzlich zu fragen, inwieweit eine Gesellschaft wie die der USA gegenwärtig selbst zu dem befähigt ist, was die Regierungen anderer Staaten ihr nach dem 11. September 2001 als »Solidarität« meinen entgegenbringen zu müssen. In Deutschland wird an dieser Stelle meist an die Befreiung Europas vom Hitlerfaschismus 1941-1945 verwiesen. Diese historische Leistung - die freilich in nicht geringerem Maße auch der Sowjetunion und ihrer »Roten Armee« zu danken wäre - wird in ihrem Ergebnis keineswegs geschmälert, wenn man nicht vergißt, wo ihre Ursachen liegen: nicht zur Befreiung der Konzentrationslager und der von den Nationalsozialisten unterdrückten »Fremdvölker« sind die USA in den Zweiten Weltkrieg eingetreten (der zum »Weltkrieg« eigentlich bereits ein halbes Jahr vorher geworden ist, durch Hitlers Überfall auf die Sowjetunion im Sommer 1941), sondern weil Hitler unmittelbar nach dem Überfall japanischer Flugzeuge auf Pearl Harbour im Dezember 1941 den USA den Krieg erklärt hatte. Die Bündnisfähigkeit der USA erreichte jedenfalls in vielen Fällen rasch eine kritische Grenze: Eine wirkliche Verfügungsgewalt über US-Atomwaffen wurde den Bündnispartnern auch im NATO-Verbund niemals eingeräumt, und bei UN-Friedensmissionen beteiligten sich die USA wenn überhaupt - nur dann, wenn ihre Truppenkontingente unter eigenem Kommando standen. Dieser Mangel offen95
bart sich mit großer Deutlichkeit - eventuell sogar in verhängnisvoller Weise - eben jetzt, wo die USA einen Angriff fremder oder jedenfalls als fremd erlebter Mächte auf Kerngebiete des eigenen Landes haben hinnehmen müssen (also ein Ereignis, wie es nicht wenigen der heutigen US-Verbündeten aus der eigenen Geschichte schmerzlich bekannt ist). Der Beistand anderer Staaten in einer weltweiten »Anti-Terror-Koalition« wird diesen von den USA nach dem Motto »Wer nicht für uns ist, ist gegen uns« regelrecht abgepreßt, so daß von einem auf Freiwilligkeit basierenden Bündnis im eigentlichen Sinn des Wortes kaum noch die Rede sein kann. Was den vorauseilenden Gehorsam etlicher Politiker, nicht zuletzt auch in der Bundesrepublik Deutschland, noch lange nicht sympathisch macht.
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Möglicherweise spielt es auch keine geringe Rolle, daß die USA mit George W. Bush von einem Präsidenten regiert werden, den die Mehrheit der Wähler bei den letzten Präsidentschaftswahlen nicht gewählt hat und der seinen Amtsantritt nur einem seltsam antiquiert anmutenden »Wahlmännersystem« verdankt. Das patriotische Zusammenrücken der Bevölkerungsmehrheit hinter einem sich immer militanter darstellenden Präsidenten kann diesem wohl kaum unwillkommen gewesen sein, im Gegenteil - er wird nach Mitteln und Wegen gesucht haben, sich eines solchen Rückhaltes weiterhin zu versichern.
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Nicht bloß lächerlich, sondern bezeichnend und besorgniserregend zugleich ist auch, daß US-Präsident Bush seinen Geltungdrang und sein Sendungsbewußtsein auch dadurch glaubte unterstreichen zu müssen, daß er - unter Mißachtung der seit Jahrzehnten von allen Staatsmännern der Welt respektierten Regeln - die olympischen Winterspiele in Salt Lake City in einem bedenkenlosen Bruch mit der weltbürgerlichen olympischen Tradition mit einem militanten Selbstlob des Gastgeberlandes beginnen ließ: »Im Namen einer stolzen, entschlossenen und dankbaren Nation«, so der Originalton Bush, erkläre er die olympischen Winterspiele für eröffnet... 98
47 Man mag bei alledem versucht sein, die derzeit hohe Wellen schlagende patriotische Strömung in den USA als eine historische Kuriosität zu betrachten und darauf zu hoffen, daß sie möglichst schnell wieder abklingen möge. Genau das wäre jedoch der falsche Weg - ein Weg, der inbesondere für alle Deutschen, die sich ihren Freunden in den USA verpflichtet fühlen, politisch inakzeptabel sein sollte. Gerade weil die Bürger Deutschlands in ihrer Landesgeschichte schreckliche Erfahrungen mit der Ideologie des Nationalismus haben machen müssen, gerade weil diese Ideologie in ihrer spezifisch deutschen Spielart Europa in eine Epoche mit zwei blutigen Weltkriegen gestürzt hat, können, ja dürfen sie den als Reaktion auf ein tiefgreifendes Bedrohungsgefühl entstandenen patriotischen Taumel in den USA nicht kritiklos zur Kenntnis nehmen. Wer freundschaftliche Gefühle für die Bevölkerung der USA hegt (was etwas ganz anderes ist als bedingungslose Vasallentreue zur jeweiligen Regierung dieses Landes), wird jene Menschen in einfühlsamer, aber eindringlicher Art und Weise vor einem sich steigernden eigenen Nationalismus warnen müssen, statt eine solche Fehlentwicklung tatenlos und schweigend hinzunehmen. Es ist sicher richtig, daß derartige Warnungen in den USA derzeit nicht sonderlich populär sind und nicht eben auf offene Ohren stoßen. Genau das ist jedoch kein hinreichendes Argument, um sie zu unterlassen. Wer auf diese War99
nung von vorneherein verzichtet hat, wird sich nicht darauf berufen können, daß sie ohnehin fruchtlos gewesen wäre. Dies trifft auch im Verhältnis zwischen befreundeten oder jedenfalls verbündeten Staaten zu. Die Folgerung liegt nahe, daß es vielen deutschen Politikern an einem wirklich freundschaftlichen Umgang mit ihren Partnern in den USA mangelt. Denn ein solcher Umgang schlösse das offene Gespräch auch, ja gerade über kritische Punkte von vorneherein ein - nicht aus.
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48 Die Bedrohung der Menschheit durch den internationalen Terrorismus soll keineswegs geleugnet werden - wichtig wäre allerdings, sich darüber klar zu sein, auf welchem Nährboden dieser Terrorismus wächst. Ebenso wichtig wäre auch die Einsicht, daß dieser Boden durch militärische Rachefeldzüge nicht abgetragen, sondern eher gedüngt wird - auf Dauer wird die Zukunft der Menschheit vor allem durch das Wachstum der Weltbevölkerung und durch das Wachstum einer umweltschädlichen, nicht auf Nachhaltigkeit ausgerichteten industriellen Produktion gefährdet. Wie sich schon am Beispiel des Klimaschutzes zeigt, bei dem bislang nur sehr langsame und noch vollkommen unzureichende Fortschritte zu erzielen sind, sind Weltprobleme nur durch eine länderübergreifende Kooperation dauerhaft zu bewältigen. Zu diesen Weltproblemen zählen der Schutz der Erdatmosphäre, die Bereitstellung einer ausreichenden Wasserversorgung und der Schutz vor alten und neuen Seuchen, die sich - wie AIDS, in einer US-Fachzeitschrift im Juli 1981 erstmals beschrieben -, blitzschnell und unter erheblichen Opfern über den gesamten Erdball ausbreiten können. Nimmt eine Großmacht wie die USA am Geflecht kooperierender Staaten und Staatensysteme gar nicht erst teil oder schert sie, nach eher zögerlichen Versuchen der Zusammenarbeit, wieder aus ihm aus, so werden dadurch die Zukunftsperspektiven der gesamten Menschheit verdüstert, langfristig auch der Bürger der USA, so sehr 101
sie sich darüber gegenwärtig auch hinwegtäuschen mögen. In dieser zugegebenermaßen schwierigen Lage kommt es offenkundig auf einen ehrlichen Dialog an, in dem alle Seiten ihre Positionen genau benennen. Daß in den USA derzeit wenig Interesse an einem solchen Dialog vorhanden ist, trifft zu, ändert aber nichts an seiner Notwendigkeit. Durch beflissen-unterwürfige Solidaritätsadressen, die Politiker anderer Staaten an den überheblichen Eigenbrötler USA richten, wird indes mit Sicherheit nichts zum Besseren verändert. Vielmehr verhall es sich so, wie es Wolfgang Koydl in seinem oben bereits zitierten Artikel vom 23. Februar 2002 geschrieben hat: »Europa darf sich nicht einschüchtern lassen ... Ein selbstbewußtes Europa wäre kein Rivale, sondern eine Ergänzung. Und ein Korrektiv.« Gerade daran mangelt es jedoch, nicht zuletzt durch ein kollektives Versagen unserer eigenen deutschen politischen Führungsschicht.
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49 Da es in den fast zwölf Jahren, die seit dem Ende des Kalten Krieges verstrichen sind, ein »selbstbewußtes Europa«, das als Korrektiv der Entwicklung in den USA hätte wirken können, nicht gegeben hat, sind diese mehr als zehn Jahre unter friedenspolitischen Gesichtspunkten eine »Dekade der verpaßten Chancen« gewesen. Dies ist nicht zuletzt am politischen Schattendasein wichtiger Instanzen abzulesen wie etwa die »Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa« (OSZE), die aus der »Konferenz für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa« (KSZE) hervorgegangen ist, die von 1973 bis 1975 in Helksinki und Genf getagt hatte und diverse Folgetreffen nach sich zog, etwa jene Konferenz in Paris, die 1990 den Kalten Krieg für beendet erklärte und die »Charta für ein neues Europa« verabschiedete. KSZE und OSZE haben sich während der diversen Krisen und Kriege auf dem Balkan, die auf den Zerfall des ehemaligen Jugoslawien folgten, mit einer immer bescheideneren Rolle abgefunden, während die politische Initiative mehr und mehr an die NATO überging und insbesondere während der Präsidentschaft von Bill Clinton (1993-2001) stark von den USA für sich in Anspruch genommen wurde (Friedensabkommen von Dayton, Verhandlungen in Rambouillet vor dem NATO-Luftkrieg gegen Serbien von März bis Juni 1999). Diese Entwicklung war nur möglich, weil die USA die Ereignisse dominieren wollten, die Europäer sie andererseits gewähren ließen bzw. durch eigene Untätigkeit und 103
Zerstrittenheit solcher Dominanz überhaupt erst den Boden bereiteten. Das Schlimme an dieser Entwicklung ist nicht zuletzt, daß alle langfristig orientierten Initiativen für ein System kollektiver Sicherheit - wie etwa der KSZE-Prozeß nahezu vollständig von der politischen Agenda verschwunden sind. Dieses Versäumnis kann nun keineswegs der Politik der USA angelastet werden - sehr wohl aber den europäischen Politikern und ihrer chronischen Unfähigkeit, zu einer eigenständigen weltpolitischen Rolle zu finden.
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Viele der in diesem Buch zusammengestellten Überlegungen laufen auf die grundsätzliche Frage nach dem politischen Umgang mit der Großmacht USA hinaus - also mit einer Weltmacht, die in ihrem Rang und ihrer Bedeutung einzigartig ist. Eine Weltmacht zudem, die sich aufgrund dieser Einzigartigkeit Privilegien vorbehält, die keinem anderen Staat zugebilligt werden. Selbst das notorisch erhebliche (auch völkerrechtlich bedenkliche) Spielräume genießende Israel fällt unter dieses Verdikt: Niemals wäre es diesem Staat, beispielsweise, gestattet worden, Argentinien zu bombadieren, weil jenes Land dem Kriegsverbrecher Josef Mengele Unterschlupf gewährte. Just eben diese Freiheit haben sich die USA im Fall bin Laden/Afghanistan geradezu selbstverständlich zugebilligt. Und dies auch deshalb, weil viele verbündete Staaten - darunter auch die Bundesrepublik Deutschland - den USA, statt sich in solidarischer Kritik zu üben, in den Unfug einer vermeintlich bedingungslosen Solidarität geflüchtet haben. Natürlich hatte - und hat - kein anderer Staat die Macht, den USA in den Arm zu fallen. Ich bin mir aber sicher, daß ein weltweiter Protest gegen eine Strategie der Rache - der ja Mitgefühl für die Verwundungen des 11. September 2001 keineswegs ausschließt - in den USA nicht auf taube Ohren gestoßen wäre. Letztlich ist es ja die weltweite Protestbewegung gewesen - von den Blockaden diverser Militärdepots im Stationierungsland Deutschland bis hin zu den Beschlüs105
sen der Gipfelkonferenz blockfreier Staaten in Harare - die die gefährliche Eskalation des atomaren Wettrüstens 1979 (Nato-Doppelbeschluß zur Stationierung neuer Mittelstrekkenraketen) bis zum INF-Abkommen 1987 (dem Vertrag zur Abschaffung eben dieser landgestützten Mittelstreckenraketen) hat stoppen können. Es gibt keinen vernünftigen Grund, warum eine ähnliche Einflußnahme auf das weltpolitische Geschehen 15 Jahre später nicht möglich sein sollte. Sie ist allerdings von vorneherein unmöglich, wenn man sie gar nicht erst versucht.
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51 Offensichtlich hängt sehr viel davon ab, wie die derzeitige weltpolitische Situation generell bewertet wird. Menschen mit großer Zuversicht in die Selbstheilungskräfte der Zukunft mögen sich an die Hoffnung klammern, es werde sich ohnehin alles zum Guten entwickeln. Eine kritische Analyse der gegenwärtigen Lage läßt dieser Erlösungshoffnung allerdings nur wenig Raum. In einer zerfallenden und bedrohten Welt mag es für viele Mitmenschen naheliegen, sich dort »anzukuscheln«, wo sie Macht, Stärke und vielleicht sogar die Neigung zu »hartem Durchgreifen« vermuten - der Erfolg rechtsextremer Parteien, der sich derzeit quer durch Europa beobachten läßt, spricht in dieser Hinsicht eine eindeutige Sprache. Und die Neigung zur »uneingeschränkten Solidarität«, also zur Opportunismus und Unterwürfigkeit gegenüber der einzigen verbliebenen Weltmacht, leider auch. Mag eine solche Neigung auch verständlich sein, sie weist dennoch den Weg in die falsche Richtung. Die blutige Entgleisung des Nahost-Konfliktes zum israelisch-palästinensischen Krieg und die gescheiterte Vermittlungsmission des US-Außenministers Colin S. Powell im April 2002 belegen nur zu deutlich, daß die militärische Stärke der USA und die von ihrem derzeitigen Präsidenten immer wieder demonstrierte Bereitschaft, dieses Potential gegebenfalls auch einzusetzen, noch lange nicht in politische »Führungsqualitäten« münden. Warum dies so ist (und wohl auch auf ab107
sehbare Zeit so bleiben wird) - dafür sind in diesem Buch etliche Gründe in geraffter Form zusammengestellt worden. In einer Welt, die von Zerfall und Auflösung geprägt wird, ist zwar Integration gefragt - und hierfür bietet sich eine Stärkung jener Organisationen an, die staatenübergreifend tätig sind, insbesondere der Vereinten Nationen - nicht aber der Hang zu einem vereinfachenden Weltbild und der auf ihm fußende Wille, die »gordischen Knoten« der Weltpolitik mit Schwerthieben »aufzulösen«. Ein »solidarisches« Zusammenrücken hinter der Position der gegenwärtigen USRegierung, die außer dem Motto »America first« kaum klare Konturen zeigt, ist kein Schritt vorwärts, sondern ein Irrweg.
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52 Um nun, am Ende dieser kritischen Betrachtungen, noch etwas ausführlicher das Thema »Solidarität« anzuschneiden: Hier ist oft schon die Wortwahl der Politiker verräterisch. So wird in der Begründung solcher Solidaritätsbekundungen die oft über jedes Maß hinausgehen, das dem »Durchschnittsbürger« als angemessen und akzeptabel erscheint - häufig darauf hingewiesen, daß Deutschland keinen »Sonderweg« gehen und sich nicht von der Politik der USA »abkoppeln« dürfe. Was nun den Weg betrifft, den ein Mensch, möglicherweise auch die Bevölkerung eines Landes, zu gehen beabsichtigt, so zeigt jede vernünftige Überlegung, daß zunächst einmal das Ziel dieses Weges über Wohl und Wehe entscheidet: führt der Weg direkt auf den Abgrund zu, so ist das Einschlagen eines abweichenden »Sonderweges« möglicherweise lebensrettend. Und auch bei der Warnung vor dem Manöver des »Abkoppeins« fragt man sich irritiert, was damit eigentlich gesagt werden soll. Abkoppeln läßt sich ja eigentlich nur ein Anhänger, also ein Gefährt, das zur selbständigen Fortbewegung nicht in der Lage ist, sondern für diese eine Zugmaschine benötigt (freilich kann auch das unter Umständen sinnvoll sein) - es handelt sich also um eine Metapher, die zur Beschreibung der Beziehungen zwischen zwei miteinander verbündeten souveränen Staaten nicht recht taugt, auch wenn es sich um Staaten von höchst ungleicher Größe handelt. Die »Angst vor der Souveränität« scheint beim deutschen politischen Establishment derart 109
groß und tiefsitzend zu sein, daß man nicht einmal den Versuch unternimmt, herauszufinden, wieviel Spielraum der eigenen Bewegungsfreiheit zur Verfügung steht. Die Vorstellung, daß es zwischen den USA und europäischen Staaten, auch Deutschland, Interessengegensätze, möglicherweise sogar -konflikte geben könne, wird allenfalls bei ökonomischen Themen akzeptiert, in der Politik aber von vorneherein ausgeblendet. Dabei gäbe es gerade hier von US-amerikanischer Streitkultur einiges zu lernen. Der US-Psychoanalytiker John Gedo hat einmal berichtet, wie er als junger Akademiker dem berühmten Wissenschaftler Franz Alexander ein Manuskript zukommen ließ. Alexander und er trafen sich später bei einem Kongreß, und Alexander rief mit lauter Stimme quer durch den Raum: »Hallo Gedo, herzlichen Dank für Ihren ausgezeichneten Aufsatz! Ich bin in fast allen Punkten anderer Meinung!« - Wie lange wird es dauern, bis ein deutscher Außenminister den Mut findet, zu seinem US-Kollegen zu sagen: »Ich schätze ihr wundervolles Land als eine der ältesten und wichtigsten Demokratien dieser Erde. Aber was die Vorschläge Ihrer Regierung für einen >weltweiten Feldzug gegen den Terror< betrifft, so bin ich in nahezu jedem Punkt anderer Meinung ...«
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53 Was das Thema »Solidarität« noch weiterhin betrifft, so weiß jeder des kritischen Nachdenkens mächtige Mensch nur allzu gut, daß eine »uneingeschränkte« Solidarität niemals vernünftig und verantwortungsbewußt sein kann. Hinter dem Namen »Solidarität« kann sich - wie hinter dem Begriff »Terror« - viel verbergen. Die konkrete Hilfe für betroffene New Yorker Bürger ist eine (gute und richtige) Sache - die Teilnahme an einer fragwürdigen Militäraktion eine ganz andere. Und alles hat seine Grenzen. Auch jeder Gemeinsamkeit sind Grenzen gesetzt, zum Beispiel durch Rechte Dritter, wie sie sich aus normativen Ordnungen ableiten, denen sich die gemeinsam und solidarisch handeln wollenden Partner je einzeln oder miteinander unterworfen haben. Jeder Akt der Solidarität, zu dem die Bundesrepublik Deutschland aus politischem Verpflichtungsgefühl heraus greifen darf wem gegenüber auch immer - muß die Vorschriften des Völkerrechts und des Grundgesetzes achten und wahren.
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54 Aber nicht nur geltendes Recht setzt jeder Solidarität Schranken und Bedingungen, sondern auch die historische Erfahrung - und zwar ganz besonders in Deutschland. Die »Nibelungentreue«, zu der sich das Kaiserreich der Hohenzollern gegenüber der verbündeten österreichisch-ungarischen Habsburgermonarchie 1914 verpflichtet fühlte, als man in Wien zum Krieg gegen Serbien rüstete, hat nicht nur zum Untergang beider Herrscherhäuser geführt, sondern weit schlimmer - auch zum Tod von Millionen Menschen auf den Schlachtfeldern des Ersten Weltkrieges. Und das vielstimmige »Führer, befiehl - wir folgen dir!«, das nicht einmal zwanzig Jahre später aus Tausenden von deutschen Kehlen ertönte, hat 1945 zur Katastrophe eines Volkes geführt, dessen blindes Vertrauen auf die Weisheit seines »Führers« letztlich in einen Krieg mündete, der in den sechs Jahren bis zur bedingungslosen Kapitulation Hitlerdeutschlands eine schreckliche Blutspur quer durch Europa gezogen hatte. Zwar sind die Zeiten lange vorbei, in denen ein CSU-Politiker namens Franz Josef Strauß laut verkündet hatte, es möge jedem Deutschen der Arm abfallen, wenn er noch einmal ein Gewehr anfasse. Die im mittlerweile wieder in einem einheitlichen Staat zusammengeführten Deutschland immer noch weit verbreitete Skepsis gegenüber Kriegen als Mittel der Politik ist auch heute nicht der schlechteste Beitrag, den dieses einst so gewaltbereite Land zur Zivilisie112
rung einer noch weitgehend friedlosen Welt leisten könnte und zwar ohne jedes Sendungsbewußtsein, sondern schlicht und einfach gestützt auf die Kraft der eigenen schlechten Erfahrungen... Deutschen Politikern, die trotzdem leichtfertig solche vorbelasteten Worte wie »bedingungslos« oder »uneingeschränkt« aussprechen zu müssen glauben, sollte doch wenigstens die unbedachte Zunge stocken, wenn sie in nachdenklichen Momenten einmal selbstkritisch überprüfen, welche Rhetorik sie den »Menschen draußen im Lande« damit eigentlich zugemutet haben.
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55 Zuguterletzt noch dies: Die Deutschen wären manchmal gut beraten, wenn sie wieder öfter auf den Dichter ihrer Nationalhymne hörten: »Seht, was ein Kalbfell kann: Wohl Tausende lockt es zusammen; auf den Ruf der Vernunft stellt sich kein einziger ein.« So Hoffmann von Fallersleben (1798-1874)
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III. Nachwort Ich danke allen, die mich in der Arbeit an diesem Buch unlerstützt haben, insbesondere meinen Freunden in den USA. Vielen von ihnen bin ich seit vielen Jahren verbunden - seit meiner Zeit bei den »Internationalen Ärzten für die Verhütung des Atomkrieges (IPPNW)«, jener Weltföderation, für die ich etliche Jahre als deutscher Geschäftsführer tätig gewesen bin. Die Föderation hat im Jahr 1985 den Friedensnobelpreis erhalten. 1990 habe ich im Auftrag eben jener IPPNW eine wissenschaftliche Studie mit dem Titel »Naturzerstörung: Die Quelle der künftigen Kriege« erarbeitet. Darin hieß es: »Zeiten wachsender Not und Verelendung und offenkundiger Ausweglosigkeit für Millionen von Menschen in einer immer ungerechteren Welt sind ein idealer Nährboden für Schwarmgeister, Eiferer, Fanatiker und Terroristen. Wer sich allerdings bloß vordergründig über deren Worte und Taten empört, ohne sich Rechenschaft darüber abzulegen, inwieweit er selber die Entstehung eines solchen gewaltschwangeren Klimas herbeigeführt oder zumindest geduldet hat der setzt sich vor der Geschichte doppelt ins Unrecht.« Lese ich heute diese zwölf Jahre alten, aber immer noch äußerst aktuellen Zeilen, so ergreift mich Wut - Wut über mehr als zehn verlorene Jahre nach dem Ende des Kalten Krieges, in denen entscheidende Möglichkeiten, die Entste115
hung oder jedenfalls die Zuspitzung friedensgefährdender Konflikte vorbeugend zu vermeiden, vertan worden sind durch eine Mischung aus Leichtsinn, Trägheit und Arroganz. Dazu gehörte, nebenbei bemerkt, auch, daß diejenigen jahrelang verlacht oder als »Schwarzseher« oder »Panikmacher« verspottet worden sind, die - wie die Ärztinnen und Ärzte in der IPPNW - immer wieder vor terroristischen Aktivitäten gewarnt haben, die sich durchaus auch atomarer, biologischer oder chemischer Massenvernichtungswaffen bedienen könnten. Und weiterhin kommen mir, allerdings mit bitterem Unterton, jene Sätze in den Sinn, die der deutsche Dichter Bertolt Brecht vor exakt fünfzig Jahren in einer Friedensrede formuliert hat: »Laßt uns die Warnungen erneuern, und wenn sie schon wie Asche in unserem Mund sind. Denn der Menschheit drohen Kriege, gegen welche die vergangenen wie armselige Versuche sind, und sie werden kommen ohne jeden Zweifel, wenn denen, die sie vorbereiten, nicht die Hände gebunden werden.«
Anmerkung: Zu Holger Hagen, dem dieses Buch gewidmet ist, vgl. Till Bastian, Niemanszeit, München 1999.
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