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John Christophers neueste Erzählung ist von besonderer Aktualität. Eine verheerende Energiekrise hat eine neue Welt entstehen lassen: Wohlstand und Sicherheit nur für die Reichen, Knechtschaft und Armut für die weniger Glücklichen. Die Städte sind von festen Mauern umgeben: Riesige Energietürme sorgen für das Wohlergehen, halten aber auch die Menschen in Abhängigkeit. Jenseits der Stadtmauern beginnt die Wildnis, bewohnt von »Wilden« und fremdartigen Wesen. Mit diesen muß sich Clive, der verwöhnte Sohn reicher Eltern, auseinandersetzen. Fälschlicherweise wird er beschuldigt, revolutionäre Gedanken geäußert zu haben, und daraufhin auf eine einsame Insel verbannt. Mit zwei Freunden kann er fliehen und erreicht nach einer riskanten Bootsfahrt das Festland. Dort werden die Jungen von dem gefürchteten »Wilden Hans« gefangengenommen. Clive sieht sich nun völlig neuen Lebensbedingungen gegenüber. Nach einer dramatischen Begegnung mit seiner früheren Welt trifft er eine unerwartete Entscheidung.
John Christopher Abenteuer zwischen zwei Welten
John Christopher Abenteuer zwischen zwei Welten Clive entdeckt das Leben hinter der großen Mauer Deutsch von Ulrike Killer
Die Originalausgabe erschien unter dem Titel Wild Jack bei Hamish Hamilton, London ©1974 by John Christopher Aus dem Englischen übertragen von Ulrike Killer
1. Auflage 1978 Alle Rechte der deutschsprachigen Ausgabe bei Arena-Verlag Georg Popp Würzburg e-Book by Brrazo 08/2010 Schutzumschlag, Einbandvignette und Gegentitel: Frantisek Chochola Gesamtherstellung: Richterdruck Würzburg ISBN 3 401 038 257
1 Ich wachte von einem summenden Geräusch auf, das von einer gewaltigen Biene zu kommen schien, deren Flügel – der Lautstärke nach – den ganzen Himmel bedecken mußten. Ohne auf die Uhr zu sehen, wußte ich, es war acht Uhr. Denn heute war Mittwoch, und was ich hörte, konnte nur das Luftschiff aus Rom sein, das gerade landete. Ich gähnte und reckte mich, stand aber nicht sofort auf. Die Fenster meines Zimmers erstreckten sich über die gesamte gegenüberliegende Wand, und ich hatte vom Bett aus einen guten Blick auf die Parkanlagen und Gebäude von London. Vorne lag unser Garten: mehr als hundert Quadratmeter weit Wiesen und Buschwerk, Blumenrabatten und kunstvoll angelegte Bäche und Tümpel. Die Gärtner waren bereits bei der Arbeit. Dahinter, von unserem Grundstück durch einen hohen Zaun getrennt, der mit wilden Rosen überwuchert war, lag der Park von St. James, um diese Tageszeit noch menschenleer und ruhig. In der Ferne konnte ich gerade noch ein Stück des Palastes sehen, den Sitz der Stadtregierung. Mein Vater war Mitglied des Rates, der regelmäßig dort zusammentrat. Im Moment aber waren er und meine Mutter nicht zu Hause; sie machten Urlaub am Mittelmeer. Auf der anderen Seite erhob sich das hohe, schornsteinähnliche Gebäude des Flughafens. Das Summen verstärkte sich nun, als das Luftschiff tiefer sank, und hörte ganz auf, als es zwischen die hohen Mauern glitt. Eigentlich hätte ich es überhaupt nicht hören dürfen, wä7
ren meine Fenster geschlossen – mein Zimmer war schließlich schalldicht und klimatisiert –, aber ich mochte das Geräusch. Ich mochte es auch, wenn ich aufwachte und den Geruch nach frisch gemähtem Gras und Blumen spürte. Zwar gab es einen Duftspender in der Klimaanlage, der dieselbe Wirkung haben sollte, doch war ich der Meinung, daß er nie genau das Richtige traf. Der Tag war herrlich: Die Sonne schien strahlend durch mein Fenster und ließ das Rot und Blau des Perserteppichs neben meinem Bett aufglühen. Das war eigentlich schon genug, um sich glücklich zu fühlen, aber ich war außerdem erfüllt von Vorfreude; denn ich erinnerte mich: Miranda. Sie war eine Cousine von mir, oder, um es genauer zu sagen: ihr und mein Vater waren Vettern. Die Sherrins wohnten jetzt in Southampton, hundert Kilometer von London entfernt. Noch vor einigen Jahren lebten sie ebenfalls in London. Herr Sherrin und mein Vater waren damals politische Gegner gewesen. Ich kannte den Grund ihrer Meinungsverschiedenheit nicht, doch mußte er schwerwiegend gewesen sein. Offenbar hatte es eine Menge Debatten und Auseinandersetzungen gegeben, auch Parteilichkeiten. Schließlich kam es zu einem Erlaß des Rates, den mein Vater für sich gewinnen konnte. Um es kurz zu machen: Herr Sherrin wurde von seinen Gegnern abgewählt und ins Exil geschickt. Vater hatte das nicht gewollt, und er bemühte sich seitdem, den Urteilsspruch durch ein neues Verfahren aufheben zu lassen. Vor einigen Monaten war ihm dies tatsächlich gelungen, doch die Sherrins hatten sich noch nicht entschieden, ob sie für ständig nach London zurückkehren wollten. Meine Eltern hatten ihnen deshalb vorgeschlagen, unser 8
Haus für die Dauer der Ferien zu benutzen. So waren sie also gekommen und hatten Miranda mitgebracht. Sie war einige Monate jünger als ich, und ich hatte sie als ein dünnes, häßliches Mädchen in Erinnerung, das nie viel erzählte. Aber sie hatte sich verändert. Zwar redete sie immer noch nicht viel, doch wenn sie etwas sagte, tat sie es mit einer leisen, sachlichen Stimme, die einen förmlich zum Zuhören zwang. Auch sonst war einiges an ihr anders: Sie trug die Haare länger, die seidiger und blonder waren, als ich in Erinnerung hatte, und ihr volles Gesicht gewann durch die hohen Backenknochen an Reiz. Ihr Lächeln zu beschreiben, fällt mir schwer: Es war leise und sonderbar. Sie zeigte es selten, doch lohnte es sich, darauf zu warten. Ich entschloß mich, aufzustehen und drückte einen Knopf am Bett, der ein Signallicht im Bedienstetenflügel aufleuchten ließ. Es war jetzt sehr still, da das Luftschiff gelandet war, und man hörte nur entfernt die Geräusche der Gärtner. Ich fragte mich, wie viele Leute wohl aus Rom gekommen waren? Wahrscheinlich nicht viele. Man reiste nicht häufig von einer Stadt zur anderen. Warum sollte man auch, wenn die Städte alle gleich waren? Es gab keinen Grund, seine Stadt zu verlassen, es sei denn man fuhr in Urlaub. Aber niemand würde Ferien in einer anderen Stadt machen wollen. Die Glocke an meiner Schlafzimmertür schlug leise an, und ich rief: »Komm herein.« Mein Diener Bobby trat ein und kam an mein Bett. »Guten Morgen, junger Herr, ich hoffe, Sie haben gut geschlafen. Was möchten Sie heute zum Frühstück?« Er nickte, als ich ihm die nötigen Anweisungen gab. 9
Dann ließ er das Badewasser ein und legte mir die Kleider zurecht, die ich heute tragen wollte. Bevor er ging, um sich um mein Frühstück zu kümmern, erkundigte er sich: »Wünschen Sie sonst noch etwas, junger Herr?« Ich schüttelte den Kopf. »Nein, Boy.« Bobby war mein Diener, seit ich aus den Babyschuhen herausgewachsen war. Er mußte dreimal so alt sein wie ich. Vom Westen her zogen weiße Wolken auf, doch blieb der Morgen sonnig. Nach dem Frühstück nahm ich Miranda mit zum Fluß. Unser Bootshaus an der Themse lag nahe dem Parlament, das früher Regierungssitz war, jetzt aber als Museum diente. Es war nie sehr besucht, und ich sah auch heute nur einige Dienstboten. Wir trafen Gary beim Bootshaus. Wir gingen in dieselbe Klasse und schliefen im selben Schlafsaal im Internat. Man konnte uns Freunde nennen, obwohl wir uns die meiste Zeit zu prügeln schienen. Gewöhnlich gewann ich. Zwar hatten wir ungefähr die gleiche Größe, doch war er dünner und nicht so stark wie ich. »Ihr seid sehr spät dran«, maulte er. Das stimmte. Miranda hatte ewig gebraucht, bis sie endlich fertig war. Ich gab keine Antwort und ging ins Bootshaus. Vier Boote lagen am Steg: unser Hausboot, Vaters Rennboot und eines, das meiner Mutter gehörte; das vierte war meines. Ich hatte es zum Geburtstag bekommen. Den Bestimmungen nach war ich noch nicht alt genug, um ein Motorboot zu steuern, doch Vater hatte das für mich geregelt. Es war ein zwei Meter fünfzig langes Boot, leuchtend rot gestrichen, mit einem kleinen, aber sehr leistungsfä10
higen Motor. Ein Diener machte es startklar, setzte die Batterien ein, die zum Aufladen an das Stromnetz angeschlossen waren, und übergab es mir dann. Ich hatte es »Seehexe« getauft, doch war ich nicht so recht mit dem Namen zufrieden und überlegte manchmal, ob ich ihn nicht ändern sollte. In den letzten zwei Tagen war mir der Gedanke gekommen, daß »Miranda« ein guter Name für ein Boot wäre. Ich lenkte das Boot in die Fahrrinne und aus dem Bootshaus hinaus in den Fluß. Miranda und Gary standen neben mir. Ich steuerte flußabwärts und gab Gas. Der Fluß war recht bevölkert mit kleinen Booten, und ich fragte Miranda über Southampton: benutzte man dort auch Boote? Sie schüttelte den Kopf, und der Wind zauste ihre blonden Haare. »Nicht so häufig wie bei euch. Wir haben eben nicht so viel Wasser innerhalb der Mauern, und die Wildnis liegt näher als bei euch hier.« »Die Wildnis« hieß alles, was außerhalb der Stadtgrenzen und den Ferieninseln lag. Einige Straßen führten hindurch und verbanden die Städte. Entlang den Straßen war ein zirka fünfzig Meter breiter Streifen, der ständig von Unterholz und Pflanzenwuchs gesäubert wurde. Jenseits dieser Rodungen konnte die Natur ungehindert wuchern. Meist war es Wald. In der Wildnis hausten primitive Barbaren. Bisweilen versuchten sie, Wagen auf der Straße zu überfallen, doch meist ohne Erfolg, denn die Wagen fuhren zu schnell, als daß die Steine der Wilden Schaden anrichten konnten. Wenn sie sich zusammenrotteten oder Straßensperren aufbauten, wurde die nächste Wacheinheit unverzüglich mittels eines elektronischen Spions gewarnt. Es war dann 11
kein Problem, ein Luftschiff zu schicken, das sich mit der Sache befaßte. Aber wir waren hier im Herzen von London, einer der größten Städte der Welt, und die Wildnis schien fern. An beiden Themseufern standen Häuser inmitten von Grünflächen. Ich erinnerte mich an ein Bild von Alt-London, das ich einmal gesehen hatte, mit den eng gedrängten Häusern, Reihen und Reihen von Häusern voller Menschen – Millionen Menschen, die wie Ameisen wimmelten. Heute waren wir nicht mehr als ein paar Tausend. Ich versuchte mir Millionen Menschen vorzustellen – tausend mal tausend –, aber das war unvorstellbar. In der Ferne, jenseits der unbebauten Fläche, konnte ich unser Haus sehen. Sogar das Türmchen war zu erkennen, in dem mein Vater sich sein Arbeitszimmer eingerichtet hatte. Rechts lag der Flughafenturm, hinter dem in diesem Moment ein Luftschiff aufstieg. Es würde Kurs nehmen nach Delhi. Ich kannte die Zeiten aller fahrplanmäßigen Flüge auswendig. Noch weiter rechts ragte der Energieturm empor, ein Mast, der sich hoch in den Himmel reckte. Er war mit Aluminium verkleidet, das das Sonnenlicht reflektierte, so daß er wie aus Gold schien. Im gewissen Sinn war das auch tatsächlich zutreffend, denn der Energieturm erzeugte und verteilte den Strom, der die Stadt am Leben hielt. Alles hing von ihm ab: mein kleines Boot genauso wie die Fabriken. Auch die Stromleitung in unserem Bootshaus lief zum Energieturm. Die Luftschiffe hatten zwar ihren eigenen Atommotor, doch alles andere wurde vom Energieturm gespeist. Die Wagen, die zwischen den Städten hin- und herfuhren, wurden angetrieben von Energiezellen, die regelmäßig aufgeladen werden muß12
ten. Jede Stadt hatte ihren eigenen Energieturm, aber der Londoner war der höchste von ganz England. Ich steuerte das Boot zwischen zwei Pfeilern hindurch – Überreste einer alten Brücke –, und wir erreichten nun die Londoner Hafenanlage. Sie war nutzlos, da die Waren von Luftschiffen transportiert wurden. Früher muß das ein sonderbarer Ort gewesen sein: riesige Schiffe erhoben sich hoch über die Wasseroberfläche, die Luft war erfüllt von den Schreien der Stauerleute, dem Klirren von Stahl, dem heiseren Kreischen von Dampfpfeifen. Wir hingegen fuhren durch stilles, leeres Gewässer. Das einzige, was wir sahen, war ein entferntes Rennboot. Nur selten kamen die Leute in diese Gegend des Flusses, da sie die Öde der weiten Wasserfläche nicht mochten. Auch Gary ging es so. Es langweilte ihn hier. Warum fuhren wir nicht zum Vergnügungspark am Südufer? Dort konnte man wenigstens etwas tun. Ich fragte Miranda: »Was meinst du? Willst du lieber in den Vergnügungspark gehen?« Sie schüttelte leicht den Kopf. »Es gefällt mir hier.« Ich lenkte das Boot unter hohe graue Steinwände, die die Sonne verbargen. Wir kamen an eine ausgetretene Treppe, und ich vertäute das Boot an einem rostigen Metallring. Dann half ich Miranda aus dem Boot, und wir stiegen die Stufen hoch. Oben schien die Sonne wieder, und wir setzten uns auf die warmen Steine – wir beide ziemlich achtlos, doch Miranda sehr vorsichtig, denn sie trug hellgrüne Hosen und dazu eine gelbe Bluse. Ich sagte: »Einmal bin ich ganz allein hierher gekommen und bis in die Nacht hinein geblieben. Es war ein 13
bißchen unheimlich: Der graue Himmel und der Fluß wurden immer finsterer, und ich hörte nichts als das Klatschen der Wellen und eine Möwe. Ich glaubte fast, ein Geisterschiff zu sehen, das vom Meer herkam.« »Du hast vielleicht eine blühende Fantasie«, grinste Gary. »Du spinnst doch!« Miranda sagte ruhig: »Ich kann es verstehen. Es ist eigenartig hier, sogar jetzt am Tag.« Sie lächelte. »Ich glaube nicht, daß ich Mut genug hätte, alleine im Dunkeln hier zu sein.« »Zwei Idioten«, knurrte Gary, doch das klang eher beeindruckt als beleidigend. Am Abend wartete ich im Wohnzimmer auf Miranda, als Herr Sherrin hereinkam. Ich legte das Magazin zur Seite, das ich durchgeblättert hatte. »Laß dich nicht stören, Clive«, sagte er. Ich schüttelte den Kopf. »Ich habe gar nicht gelesen, nur so geblättert, um die Zeit zu vertreiben.« Die Zeitschrift hieß »Das zwanzigste Jahrhundert« und enthielt Geschichten und Comics über die Zeit vor dem Untergang. Meist waren es grausige Berichte von Gewalt und Verbrechen. Früher war ich ganz versessen darauf gewesen, aber wenn man älter wurde, bekam man auch eine andere Einstellung. Außerdem waren die Geschichten für Kinder gedacht. Ich schämte mich ein wenig, weil ich mich ertappt fühlte. Herr Sherrin lächelte. »Wartest du auf Miranda? Du wirst ziemlich viel Beschäftigung brauchen, um dir die Zeit zu vertreiben, 14
wenn du es dir zur Gewohnheit machst, auf Miranda zu warten.« Er war groß und hatte graue Haare. Sein Gesicht war schmaler, doch sonst dem meines Vaters sehr ähnlich: Sie beide hatten buschige Augenbrauen und eine ziemlich lange Nase. Doch war ihr Gesichtsausdruck unterschiedlich. Man könnte sagen, Vater war ein lachender Mann und Herr Sherrin ein lächelnder. Sein Lächeln, ruhig und humorvoll, gehörte offenbar zu einem Menschen, der Leute und Situationen sachlich einschätzen konnte. Eigentlich ähnelte es dem Mirandas, wenn ich es recht bedachte. Vaters Lachen dagegen erschien mir lauter und vitaler. Herr Sherrin war still, doch Vater war eigentlich erst er selbst, wenn er etwas unternehmen konnte oder etwas lautstark und gestenreich sagte. Bisweilen fand ich das ein wenig störend. Nicht, daß ich mich meines Vaters geschämt hätte – im Gegenteil, ich war sehr stolz auf ihn –, doch gab es Augenblicke, in denen ich wünschte, er würde weniger laut sein. Ich murmelte eine Antwort. »Wohin geht ihr eigentlich heute abend?« fragte Herr Sherrin. »Ins Theater?« Ich schüttelte den Kopf. »Nur eine Party.« »Irgend jemand, den ich kenne?« Er lächelte wieder. »Freilich kenne ich mich in der Londoner Gesellschaft nicht mehr so gut aus.« Diese trockene Bemerkung war typisch für ihn, überlegte ich. »Brian Grantham«, antwortete ich. »Seine Eltern sind auch weg, auf den Hebriden, glaube ich.« 15
»Michael Grantham, ist das sein Vater?« Ich nickte. »Ja, ich erinnere mich an ihn.« Er verstummte. Ich fragte mich, ob Brians Vater ebenfalls in die Sache verwickelt war, die mit der Verbannung der Sherrins geendet hatte? Vielleicht war er einer von denen, die den Spruch nicht revidiert sehen wollten. Ich konnte allerdings schlecht danach fragen. Endlich kam auch Miranda, und wir brachen auf. Herr Sherrin schaltete Musik ein, als wir gingen – Mozart oder so etwas ähnliches. Mein Vater hätte Tschaikowski gehört oder eher noch Gilbert und Sullivan. Er hatte eine zum Wahnsinn treibende Vorliebe, Sullivan-Melodien zu pfeifen, falsch noch dazu. Wir nahmen ein Taxi – ein offenes, denn es war ein warmer Abend –, um zu den Granthams zu kommen. Das Haus lag ebenfalls am Nordufer, doch westlicher und sehr nahe an der Stadtmauer. Brian, der uns eingeladen hatte, besuchte dieselbe Schule wie Gary und ich, doch war er einige Jahre älter. Früher hatte er uns nie eingeladen, und ich war sicher, ich kannte den Grund, warum er es diesmal tat. Der Grund saß neben mir und sah hübsch aus in dem leuchtend roten Kleid. Es waren schon Leute da, alles Jungen und Mädchen in Brians Alter. Es gab die üblichen Sachen, zu essen, zu trinken, man tanzte und unterhielt sich. Wir waren im Garten, und als der Abend dämmerte, wurden farbige Lampen angezündet, die überall in den Zweigen hingen. Bisweilen sah man auch die Lichter eines vorbeifahrenden Bootes. Aus den Lautsprechern kam Musik, und wenn es einen Moment still war, konnte man den Fluß hören. 16
Wir tranken einen leichten, prickelnden Wein, der plötzlich ausging. Ein Diener, der aussah wie siebzig, schlurfte heran und brachte neuen. Irgendjemand schrie: »Nun mach nicht so langsam, Boy. Wir wollen nicht die ganze Nacht warten.« »Entschuldigen Sie, junger Herr.« Er versuchte mit seinen steifen Fingern die Flasche zu öffnen, aber der, der eben gesprochen hatte, Martin, sagte ungeduldig: »Hör auf damit und troll dich. Ich mach’s schon selber.« Der Diener zog sich mit einer weiteren Entschuldigung zurück, und Martin öffnete die Flasche. Als der Diener außer Hörweite war, fragte Brian: »War das wirklich notwendig?« Er sprach leise, doch schien er wütend. Martin sah ihn an. »Was?« »So mit ihm zu reden. Es ist schließlich nicht sein Fehler, daß er alt ist.« Martin lachte. »Vielleicht nicht. Vielleicht der Fehler deiner Eltern, daß sie ihn hier behalten. Habt ihr was gegen Altersheime?« Das Altersheim beherbergte alte und kranke Diener; es war eine Art Spital. Unterkunft und Verpflegung wurden gestellt, Sonderleistungen dagegen gab es nicht. Gewöhnlich waren viele Plätze frei, denn die Diener, die dorthin kamen, lebten nie sehr lange. »Wenn du es nicht selbst weißt«, entgegnete Brian, »dann kann ich es dir wahrscheinlich ohnehin nicht klarmachen.« Ich war überrascht, wie verärgert er reagierte. 17
»Außerdem ist er unser Diener, und ich sage ihm, was er tun soll. Ich mag es auch nicht, wenn er Boy genannt wird.« Martin sah ihn erstaunt an. »Was ist denn mit dir los? Alle Leute nennen sie Boy.« »Dann wird es langsam Zeit, daß sie es nicht mehr tun. Sie sind schließlich Menschen wie wir.« »Wie wir? Klar, warum nicht. Vielleicht sollten wir für sie hin und her laufen und Sachen erledigen. Oder ein, zwei von ihnen in den Rat berufen.« Einige lachten, aber Brian sagte: »Das ist vielleicht keine schlechte Idee. Welches Recht haben wir, sie zu zwingen, uns zu dienen?« Das Lachen hörte auf. Ich nehme an, die anderen waren ebenso schockiert wie ich. Die Trennung zwischen Herr und Diener war etwas, was wir unser ganzes Leben lang als selbstverständlich betrachteten – als etwas, über das man nicht nachzudenken brauchte. Oder wollte. Eine Bemerkung wie die eben ließ einen unbehaglich fühlen. Brian hatte wahrscheinlich zuviel Wein getrunken, doch das allein konnte als Erklärung nicht ausreichen. Martin wandte sich einfach ab. Niemand sagte ein Wort. Wir wollten alle das Thema wechseln, doch Brian fuhr fort: »Habt ihr denn jemals darüber nachgedacht, wie sie zu Dienern wurden?« Martin drehte sich zu ihm um und sah ihn entsetzt an. Er sagte abweisend: »Warum sollte man darüber nachdenken? Natürlich weil sie Abkömmlinge der Wilden sind, deshalb. Sie wollten in unsere Städte, weg aus ihrer Wildnis, und unsere Vorfahren haben es ihnen erlaubt. In der Wildnis würden sie ein entsetzliches Leben fristen, 18
wenn sie nicht überhaupt von den Bestien getötet würden. Bei uns haben sie was zu essen und ein Dach über dem Kopf. Also haben sie einen guten Tausch gemacht.« »Ihre Urgroßväter haben den Tausch gemacht«, widersprach Brian. »Ist das auch heute noch bindend für sie?« Die Frage war so absurd, daß sich jede Antwort erübrigte. Brian fuhr fort: »Und was ist mit den Zeiten vorher – früher, als es noch keine Wilden gab?« »Es gab immer Wilde.« »Nein, das stimmt nicht. Erst seit dem Untergang.« Martin zuckte mit den Schultern. Vor dem Untergang lagen die Finsteren Jahrhunderte – tausend Jahre Barbarei, zweihundert Jahre einer technischen Entwicklung, die ebenso schlimm waren, wenn nicht noch schlimmer. Wir alle wußten das. Zwei Jahrhunderte lang verschwendete die Menschheit, die sich plötzlich mit Maschinen und ungeheurer Macht ausgestattet sah, die Energiereserven, verbrannte Kohle und öl, ohne an eine Zukunft zu denken. Dann waren die Öllager erschöpft und die Kohlenflöze zu dünn, um wirtschaftlich abgebaut zu werden. Das Ergebnis war, daß die Strukturen des 21. Jahrhunderts in Kriegen und Revolutionen auseinanderfielen und die Menschen zwischen verrottenden Maschinen um eine Brotrinde kämpften. Die Menschen waren gestorben – Millionen und aber Millionen von ihnen. Nur eine Handvoll – unsere Vorfahren – hatten den Mut und die Entschlossenheit und die Intelligenz besessen, etwas Neues in den Trümmern aufzubauen. Die Organisation war von Wissenschaftlern in 19
die Hand genommen worden, die sich mit den Nuklearenergien auskannten. Sie wußten, daß die Energien zwar versagt hatten, um eine Welt mit Billionen von Menschen zu erhalten, doch daß sie durchaus einzelne Siedlungen mit Strom und Wärme versorgen konnten. So entstand eine Stadt nach der anderen. Es gab längst nicht mehr so viele und große Städte wie früher, und jede war um den Energieturm angelegt. Jenseits ihrer Mauern erstreckte sich die Wildnis, aufgegebenes Land, das man der mörderischen Natur überlassen hatte. Brian schien blind und taub gegenüber der Wirkung, die seine Bemerkungen hervorriefen. »Der Grund, weswegen die Menschen der Wildnis Barbaren wurden, war, daß man sie den Städten fernhielt«, erklärte er. »Hätte man sie eingelassen, so wären sie bereitwillig gekommen und hätten ein zivilisiertes Leben geführt. Aber die, die es versuchten, wurden verjagt und erschlagen.« »Aber wenn man sie hereingelassen hätte«, warf ein Mädchen ein, »wäre alles umsonst gewesen. Die Sache war riskant und der Ausgang unsicher. Die Bevölkerung durfte nicht vergrößert werden, weil sonst die Zivilisation wiederum zusammengebrochen und wir jetzt alle Wilde wären. Oder meinst du, daß genau das hätte passieren sollen?« »Natürlich gab es damals einen Grund«, räumte Brian ein. »Das bestreite ich doch gar nicht. Aber wie war es später? Wie ist es heute? Wir haben mehr Nahrung, mehr Energie, mehr von allem, als wir selbst brauchen. Die Städte können zehnmal soviel Menschen ernähren.« »Damit wir wieder in einer Menschenmasse leben wie im zwanzigsten Jahrhundert?« unterbrach ihn ein anderer 20
Junge, Roland. »Sollen wir die Wilden in die Stadt bringen und neben ihnen in Mietshäusern wohnen – willst du das?« »Nein, natürlich nicht«, Brian schien plötzlich zu bemerken, wohin ihn seine Argumente gebracht hatten, und blickte sich unsicher um. »Eigentlich sprach ich ja nur über Diener. Sie haben seit Generationen in den Städten gelebt. Wir nennen sie Diener, doch wären wir ehrlich, würden wir sie Sklaven nennen. Sie werden in Sklaverei geboren, leben in Sklaverei, sterben in Sklaverei. Im alten Rom hatten die Sklaven wenigstens die schwache Hoffnung, ihre Freiheit zu erlangen. Unsere Sklaven haben überhaupt keine Hoffnung.« Ein allgemeines, entsetztes Gemurmel erhob sich. Die Erwähnung des alten Rom war wohl der Hauptgrund, denn niemand interessierte sich für die Finsteren Jahrhunderte. Außerdem war das mit den Sklaven nicht richtig. Die Diener erhielten Geld für ihre Arbeit – nicht viel, das stimmte schon, aber doch zu viel, wie einige Leute sagten, für das bißchen Arbeit, das sie taten. Sklave war ein sehr unschöner Ausdruck, der in der zivilisierten Welt des 23. Jahrhunderts keinen Platz hatte. Martin sagte: »Du erzählst ganz schönen Unsinn, Brian. Den Dienern macht es nichts aus, daß sie Diener sind, genauso wenig wie es den Wilden etwas ausmacht, daß sie Wilde sind. Sie sind es gewohnt – ja, und eigentlich zufrieden.« »Wie willst du das wissen?« fragte Brian zurück. »Ich jedenfalls weiß eines«, erklärte Roland entschieden. »Ich habe genug von diesem Geschwätz. Es stört mich. Wir brauchen wieder ein bißchen Musik.« »Du willst eben nicht denken«, knurrte Brian. »Keiner 21
von euch will. Das ist die große Schwierigkeit – ihr verbietet euch selbst, zu denken.« »Ich sage dir, was ich denke«, entgegnete Martin. »Ich denke, du sollst endlich den Mund halten, Brian. Oder mach es richtig.« Das löste allgemeine Heiterkeit aus. Wir erinnerten uns alle an die Geschichten vom Wilden Hans, die man uns erzählt hatte, als wir klein waren: Der Wilde Hans, der Buhmann, der aus der Wildnis hereingeschlichen kam, heimlich des Nachts über die Mauer kletterte und ungezogene Kinder mitnahm zum Lager der Wilden. Martins Bemerkung löste die Unterhaltung ins Lächerliche auf, wie es auch angemessen war. Brian machte noch einen halbherzigen Versuch, zu protestieren, aber es hörte ihm niemand mehr zu. Was brachte es schließlich, über das Finstere Zeitalter oder über Wilde zu sprechen, beides so entfernt, sei es zeitlich oder räumlich? Diener trugen noch mehr zu essen und zu trinken auf. Der Himmel über uns war schwarz, aber die Lampen schimmerten heiter in den Bäumen. Es war immer noch warm, aber wenn es kälter werden sollte, würden Thermostate die Heizkörper einschalten. Ein langes Boot, festlich beleuchtet, trieb auf dem Fluß vorbei, und in der Ferne hörte ich den hohen Ton eines Rennbootes. Die Wildnis, das wußten wir, war unwegsam und gefährlich und wurde von hungrigen, mordlustigen Barbaren besiedelt. Aber all das lag weit jenseits der Mauer. Wir lebten geborgen in der Stadt. Hoch oben glomm ein Licht, das die Spitze des Energieturms bezeichnete. Irgend jemand hatte wiederum die Musik eingeschaltet, und einige Paare begannen zu tanzen. Brian gab sich 22
offensichtlich geschlagen. Er kam auf uns zu und bat Miranda um einen Tanz. Sie lächelte ihn kühl und abweisend an. »Tut mir leid. Clive hat mich eher gefragt.« Das stimmte zwar nicht, aber ich widersprach natürlich nicht, sondern führte sie zur Tanzfläche, die die Diener zwischen den Bäumen aufgebaut hatten. Und zum erstenmal wußte ich, daß doch ein Sinn hinter der Plackerei in der Tanzstunde steckte. Sie tanzte leichtfüßig und summte die Melodie leise mit. Es war schön, sie festzuhalten und ihr Gesicht so nahe bei meinem zu sehen. 2 Meine Eltern riefen am Tag vor der Abreise der Sherrins über das Visafon aus Rhodos an. Der Bildschirm war auf Halbtotale eingestellt, so daß sie beide zu sehen waren. Hinter ihnen konnte man verfallene Mauern und das blaue Mittelmeer erkennen. Sie fragten mich, wie es hier ginge, und ich antwortete: »Prima.« Meine Mutter sagte daraufhin: »Ich habe deinen Vater überredet, eine Yacht zu mieten und ein paar der kleineren Inseln zu erforschen. Wir werden also ungefähr eine Woche lang nicht zu erreichen sein. Kommst du allein zurecht?« Ich nickte. »Aber natürlich. Das ist eine prima Idee.« »Das heißt für dich, daß du allein zur Schule zurück mußt«, gab mein Vater zu bedenken. Es klang zwar ein wenig besorgt, doch war er das immer. Sie beide waren vom Temperament her sehr verschieden. Sie war ruhiger, reservierter und sehr bereit, 23
mir zuzutrauen, daß ich auch allein auf mich aufpassen konnte. Ich beruhigte sie. »Das ist schon in Ordnung. Bobby wird sich um alles kümmern. Er fängt schon an, meine Sachen zu packen.« Wir unterhielten uns ein bißchen – oder besser: Vater erzählte, was sie alles auf Rhodos gesehen und getan hatten. In der Hauptsache schienen sie Besichtigungstouren unternommen oder in ausgedehnten Erholungspausen die Sonne mit einem großen und kalten Drink genossen zu haben. Das entsprach sicher nicht meiner Vorstellung von Ferien, aber ihnen schien es sehr gefallen zu haben. Dann wollte mein Vater Herrn Sherrin sprechen, und ich ließ ihn holen. Ich mußte das Visafon neu einstellen, damit wir beide auf den Bildschirm kamen. Er bedankte sich bei Vater für das Haus, und Vater fragte ihn, wie es in London gewesen sei. »Ganz gut«, sagte er und lächelte. Ich vermutete, das bezog sich auf Politik. Dann sagten wir uns »Auf Wiedersehen« und unterbrachen die Verbindung. »Ich bin froh, daß dein Vater sich gut erholt«, sagte Herr Sherrin. »Er hat es auch dringend nötig. Er arbeitet hart.« »Ja, ich weiß.« »Nicht wie ich.« Herr Sherrin lächelte. »Ich nehme nichts sehr schwer. Übrigens, ich wollte, daß wir heute alle zusammen essen gehen – es ist ja der letzte Abend. Man sollte vielleicht dieses Lokal in der Nähe des alten Tower von London ausprobieren.« »Ja, prima«, stimmte ich zu.
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Die Sherrins waren von Southampton mit dem Luftschiff gekommen. Am nächsten Morgen begleitete ich sie zum Flughafen. Herr und Frau Sherrin tranken Kaffee, während sie auf ihren Flug warteten, und es gelang mir, Miranda mit einer Ausrede wegzulotsen. Ich gab vor, ich wollte uns was zu trinken aus dem Automaten holen. »Ich fand es sehr schön, daß du hier warst«, sagte ich zu ihr. »Schade, daß du schon wieder fahren mußt.« Sie lächelte und zuckte mit den Schultern. »Ja. Aber morgen ist eben wieder Schule.« »Für mich auch. Kann ich dich denn dort anrufen?« Sie schüttelte den Kopf. »Wir dürfen nur in ganz besonderen Fällen Ferngespräche führen. Und selbst dann ist immer ein Lehrer dabei.« »Kann ich dir dann schreiben?« »Wenn du magst.« »Ja, ich mag.« »Gut.« Sie lächelte wieder. »Ich werde dir antworten. Ich überlege …« »Was?« »Ob du vielleicht in den nächsten Ferien zu uns kommen könntest?« »Natürlich! Das heißt, wenn du das wirklich meinst, würde ich sehr gerne kommen.« »Ich bringe das schon in Ordnung. Schau mal, wer dort ist.« Ich drehte mich um und sah Gary auf uns zukommen. Er wußte natürlich, daß die Sherrins heute morgen fliegen würden, aber ich hatte ihm absichtlich nicht vorgeschlagen, mit zum Flughafen zu kommen. Ich begrüßte ihn sehr kühl. Er war ebenso kühl zu mir und sprach nur mit Miranda. Die letzten fünf Minuten, bevor ihr Flug 25
aufgerufen wurde, quälten wir uns mit einem sonderbaren Zweiergespräch ab. Doch Miranda löste die Sache hervorragend und lächelte uns beide abwechselnd an. Als wir uns dann verabschieden mußten, gab sie Gary die Hand, mir aber hielt sie die Wange hin. Ich küßte sie ein wenig unbeholfen, aber triumphierend. Dann stieg sie mit ihren Eltern die Rampe zum Luftschiff hinauf, verschwand im Innern und tauchte sofort wieder hinter einem der Panoramafenster auf. Wir winkten ihr zu, und sie winkte zurück. Dann begann die Maschine zu summen und hob langsam ab. Wir winkten immer noch, und plötzlich stach mich der Hafer, und ich sagte: »Miranda hat mich für die nächsten Ferien eingeladen.« Gary sagte zunächst nichts und dann: »Du hast etwas sehr bemerkenswertes an dir.« Was immer das auch bedeuten mochte: sein Ton machte klar, es war kein Kompliment. Ich antwortete daher ein wenig schrill: »Findest du?« »Du jedenfalls glaubst es, weiter nichts. Du glaubst allen Ernstes, daß du umwerfend bist. Seht mich an – ich bin Clive Anderson. Seht mein rotes Rennboot. Seht, ich darf es fahren, obwohl ich noch nicht alt genug bin, aber mein Vater hat die Sache geregelt. Seht meinen Vater, er sitzt im Rat. Seht meinen Diener. Seht mein neues Motorrad. Seht, wie viel Taschengeld ich kriege.« Ich war sauer, aber ich grinste. »Was schaust du mich an? Du solltest dich bei der eigenen Nase nehmen. Du bist pathetisch. Ja, das bist du.« Er holte plötzlich aus. Ich war darauf nicht gefaßt und verlor das Gleichgewicht. In letzter Sekunde versuchte ich, mich an einen Stuhl zu klammern, doch dieser fiel 26
um und riß auch noch einen Tisch mit. Ich rappelte mich hoch und ging auf ihn los. Wir prügelten uns, bis ein Uniformierter, ein Flughafenpolizist, uns trennte. Er war untersetzt, blond und sehr muskulös, und der Griff seiner Hand schmerzte. »Ihr kennt die Vorschriften über Prügeleien in der Öffentlichkeit«, sagte er. Er ließ mich los und hob den Stuhl auf, der kaputtgegangen war. »Ganz zu schweigen von Zerstörung städtischen Eigentums. Ich denke, wir werden euch beide am besten zur Vernehmung mitnehmen.« Er holte sein tragbares Tonbandgerät aus der Tasche. Schweigend sahen wir zu. Doch er stellte es nicht an, sondern sah mich aufmerksam an. »Bist du nicht Clive Anderson?« »Ja.« »Der Sohn des Stadtrats Anderson?« »Ja.« Er sah mich weiter unverwandt an. »Also gut. Wir wollen es diesmal gut sein lassen«, sagte er und steckte das Bandgerät wieder ein. »Paßt auf, daß es nicht noch einmal passiert.« Er warf Gary einen uninteressierten Blick zu und ging weiter. Wir liefen schweigend zum Ausgang. Er bedankte sich nicht, daß ich ihm eine Anzeige erspart hatte, doch das erwartete ich auch nicht. Draußen gingen wir in verschiedene Richtungen davon. Unsere Schule lag im nördlichen Stadtteil, am Rand von Regents Park, und während der Unterrichtszeit wohnten wir auch dort. In jedem Schlafsaal gab es elf Betten. Früher standen Garys und mein Bett nebeneinander, doch als 27
wir jetzt zurückkamen, nahm er sich eines, das ganz am Ende des Saals stand. Das war durchaus in meinem Sinn. Es herrschten die übliche Unruhe und das übliche Durcheinander wie immer nach den Ferien, und es gab genug, mit dem man die Zeit totschlagen konnte. Wir bekamen außerdem noch die Ergebnisse unserer letzten Prüfungen. Gewöhnlich war mir Gary weit überlegen, doch diesmal hatte ich mit Hilfe eines kleinen Schwindels erreicht, daß ich Zweitbester der Klasse wurde. Bei ihm reichte es nur zum vierten Platz. Unser Klassenlehrer lobte mich. »Sehr gut, Anderson. Herzlichen Glückwunsch. Wir werden sehen, ob du das Ergebnis halten kannst.« Gary saß ein paar Meter weiter. Ich beobachtete ihn aus den Augenwinkeln, wie er versuchte, normal und unbeteiligt auszusehen. Am dritten Tag des neuen Schuljahrs hatten wir gerade Englisch, als das Visafon des Lehrers summte. Er hob ab, und der Bildschirm auf seinem Pult wurde hell. Wir konnten nicht hören, was gesprochen wurde, denn er benutzte den Kopfhörer, aber er schien erstaunt. Er hängte ein. »Anderson!« rief er. Ich stand auf. »Du sollst zum Direktor kommen.« Das erstaunte mich nun doch sehr. Nie vorher hatte der Direktor jemanden mitten aus der Stunde geholt. »Heißt das, sofort?« fragte ich. »Ja, sofort.« Der Direktor hieß Weatherby und war ein großer, dünner Mann mit einem langen, mageren Gesicht. Freilich, die Disziplin hier an der Schule war streng, doch ge28
wöhnlich war dafür der Vize zuständig, ein kleiner, zäher, dunkler Mann mit Namen Williams. Williams saß ebenfalls im Zimmer und außerdem ein Mann, den ich noch nie gesehen hatte. Er war gedrungen wie Williams, aber dicker und trug Polizeiuniform. »Was hast du angestellt, Anderson?« fragte mich Weatherby. »Angestellt?« »Du mußt irgend etwas angestellt haben.« Er schien verwirrt. »Man will dich offenbar im Hauptrevier sehen, ohne daß man uns einen Grund angibt.« Er blickte auf den Mann in Uniform, doch der erwiderte den Blick nur schweigend. Ich versuchte mir eine Erklärung zu überlegen. Aber ich war nicht in Schwierigkeiten geraten – bis auf die Sache im Flughafen. Selbst wenn der Polizist es sich anders überlegt haben sollte und mich doch angezeigt hatte, rechtfertigte dies nicht die jetzige Situation. Und dann Gary. Der Polizist hätte mich nicht alleine anzeigen können. Ich schüttelte den Kopf. »Das muß ein Irrtum sein.« Auch Williams schien überrascht, allerdings auch ärgerlich. Er sagte zum Polizisten: »Wissen Sie, daß dieser Junge der Sohn des Stadtrats Anderson ist? Sie haben Ihnen doch sicher Andeutungen gemacht, weswegen man ihn sucht.« Der Angesprochene zuckte mit den Schultern. »Man hat mir nur gesagt, daß ich ihn holen soll.« Weatherby meinte schließlich: »Sie haben die Befugnis, also nehme ich an, daß es in Ordnung ist.« 29
Er sah mich niedergeschlagen an. »Du gehst besser mit ihm, Anderson. Ich hoffe, sie behalten dich nicht lange dort. Ich möchte wissen, warum man so etwas nicht außerhalb des Unterrichts regeln kann.« Im Auto versuchte ich mit meinem Bewacher ein Gespräch anzufangen, denn ich hoffte, ich würde einen Hinweis erhalten. Einige meiner Freunde hatten entsetzliche Angst vor der Polizei, mich aber machte sie nicht einmal nervös. Ich war schließlich gewohnt, sie ständig um meinen Vater zu sehen, das war natürlich der Grund. Mein Begleiter war freundlich, doch nicht sehr mitteilsam, so daß ich, als wir vor dem Polizeigebäude hielten, genauso wenig über die Anschuldigung wußte wie zu Beginn der Fahrt. Ich war ziemlich gut vertraut mit dem Grundriß des Gebäudes, aber mein Bewacher nahm den Fahrstuhl und brachte mich in den siebten Stock, also in ein, Gebiet, das für gewöhnlich nicht auf den Lageplänen eingezeichnet war. Dort überließ er mich dem diensthabenden Beamten, der daraufhin eine Nummer wählte, Instruktionen einholte und mir schließlich bedeutete, ihm zu folgen. Er führte mich in einen Raum, halbwegs in der Mitte des langen Korridors, von dem Dutzende völlig gleicher Türen abgingen. Zwei Männer saßen im Raum. Die Fenster blickten übrigens auf den Park von St. James. Die Männer trugen keine Uniformen, sondern völlig normale Zivilanzüge. Sie waren beide sehr jung, unter dreißig; einer war rothaarig und schmal, der andere dunkel und breit. Dieser wandte sich an mich. 30
»Clive Anderson – ist das richtig?« »Ja.« Er lehnte sich zurück und sah mich nachdenklich an. »Möchtest du uns alles erzählen?« »Was?« Er wippte mit seinem Stuhl und senkte den Kopf. »Komm, hör auf. Du weißt ganz genau Bescheid.« »Nein, ich weiß überhaupt nichts. Ich weiß nicht einmal, weswegen ich hier bin.« Sie beobachteten mich beide, doch keiner von ihnen sagte etwas. »Ich verstehe wirklich nicht, was das soll«, sagte ich schließlich. »Aber es wäre vielleicht gut, ich würde mit Herrn Richie sprechen. Er ist der Sekretär meines Vaters. Mein Vater ist übrigens Stadtrat Anderson.« Der Untersetzte machte ein bedauerndes Geräusch mit der Zunge, blieb aber so zusammengekrümmt sitzen. »Wir wissen, daß dein Vater Stadtrat Anderson ist«, sagte er. »Zur Zeit macht er eine Kreuzfahrt durch die griechischen Inseln, glaube ich. Sehr angenehm, doch wohlverdient, da bin ich sicher. Und was Herrn Richie betrifft, so wissen wir sehr gut, wie wir ihn erreichen können – falls wir ihn erreichen wollen. Aber das eilt nicht. Wir wollen erst unsere kleine Unterhaltung mit dir zu Ende führen.« Ich spürte eine Abneigung gegen ihn, aber ich war keineswegs beunruhigt. Die Aufgabe der Polizei war, der Stadt und vor allem dem Rat zu dienen. »Ich verstehe nicht, wie ich ihnen helfen kann, wenn ich nicht einmal die leiseste Ahnung habe, worüber wir uns unterhalten«, entgegnete ich. »Hör auf, so verstockt zu sein.« Ich erwiderte nichts. 31
»Du kennst Brian Grantham?« »Ja. Er geht in meine Schule.« Während ich das sagte, wurde mir plötzlich bewußt, daß ich ihn seit Schulbeginn nicht mehr gesehen hatte. Freilich brauchte das nichts zu bedeuten, denn er war weder in meiner Klasse noch in meinem Schlafsaal. »Warst du in seinem Haus am …« begann der Polizist und lehnte sich nach vorne. Er las von einem Notizblock ab. »… am Abend des 16.?« Das war der Tag der Party. »Ja.« »Wer war sonst noch anwesend?« Ich sah keinen Grund, weswegen ich ihnen das nicht sagen sollte, und rasselte alle Namen runter, die mir noch einfielen. Er nickte. »Worüber habt ihr gesprochen?« Plötzlich wurde ich wachsam. »Ich kann mich nicht erinnern.« Ich hielt inne, doch er wartete schweigend, daß ich weitersprach. »Nun, über alles mögliche. Fußball, Bootfahren – die neue Schau im Metrodrom.« Er nickte wieder. »Und über Diener? Und über die Wilden?« Ich schüttelte den Kopf. »Ich kann mich daran nicht erinnern.« »Nein? Das ist sehr schade. Wir wollen doch sehen, ob wir dein Gedächtnis nicht ein wenig auffrischen können. Das, was uns interessiert, begann damit, daß irgend jemand einen Diener mit Boy ansprach. Das ist nichts Ungewöhnliches, doch habe ich gehört, daß du dagegen protestiert hast.« »Nein! Das war …« 32
»Was?« Ich konnte nicht sagen, daß es Brian gewesen war. Offenbar nahm irgend jemand die Sache ernster, als man eigentlich erwarten konnte. Das wiederum bedeutete, jemand war in Schwierigkeiten. Ich dachte daran, daß ich Brian dieses Jahr noch nicht in der Schule gesehen hatte. Aber das Verrückte dabei war, daß man mich anklagte. Wer konnte ihnen das nur erzählt haben? Brian? Das schien nur unwahrscheinlich. »Es war eine große Party«, erklärte ich, »zwanzig oder mehr Leute, und wir waren alle im Garten. Ich habe nicht alles gehört, was gesprochen wurde. Ich kann Ihnen nur das eine sagen, daß ich nie und gegen nichts protestiert habe.« Der Polizist nahm den Notizblock auf und las. »Du hast daraufhin eine richtige kleine Rede gehalten, wie es scheint. In erster Linie über die Rechte von Dienern. Du hast gesagt, sie würden wie Sklaven behandelt, und man sollte etwas dagegen tun. Dann natürlich auch die Wilden. Sie hätten ebensoviel Anrecht auf den Energieturm wie wir auch. Wir sollten sie in die Städte holen – alles mit ihnen teilen.« Er hob den Blick. »Du scheinst mir ziemlich radikale Ideen zu haben für dein Alter.« Ich war schrecklich verwirrt. Das war die verstümmelte Version von dem, was Brian gesagt hatte. Irgend jemand hatte die Polizei davon informiert und alles umgedreht. Aber die Anklage galt nicht ihm – sondern mir. Mir wurde das alles angelastet. Der untersetzte Polizist sagte in etwas sachlicherem Ton: »Erzähle uns jetzt einfach alles. Wir werden uns bemühen, dir die Sache zu erleichtern.« 33
Es war lächerlich, aber es begann auch beunruhigend zu werden. Die Mehrheit der Diener war zufrieden und benahm sich gut. Nur hin und wieder gab es einen, der Schwierigkeiten machte, meist wahrscheinlich aus einem Anfall von Geistesgestörtheit heraus. Dieser wurde dann von der Polizei abgeführt und wahrscheinlich in ein Spital gebracht. Mich hatte das nie sehr interessiert, und ich wußte auch kam etwas darüber. Bei unseren Dienern jedenfalls war etwas Derartiges nie vorgefallen. Ich konnte mir denken, daß die Polizei befürchtete, solche Reden, wie Brian sie gehalten hatte, könnten unter den Dienern schlimme Folgen haben, wenn sie zufällig mitgehört hatten. Daher müßte man etwas dagegen unternehmen. Aber selbst wenn man dies als möglich einräumte, erklärte es doch nicht die Tatsache, daß gerade ich beschuldigt wurde. Ich hatte damals überhaupt nichts gesagt, und doch hatte ganz offensichtlich mich jemand angezeigt. Warum? Oder – was mich genauso interessierte – wer? Sicher nicht Brian. Er hätte sich nur selbst Ärger eingehandelt. Martin oder Roland? Aber sie waren wie Brian in der Schule über mir und älter. Mit ihnen hatte ich noch weniger Kontakt. Mir wurde klar, daß ich unbedingt Hilfe brauchte. »Ich möchte gern mit Herrn Richie sprechen«, erklärte ich. »Ja.« Der Polizist nickte. »Du wirst es bald können – sobald du eine vollständige und zutreffende Erklärung abgegeben hast.« »Ich habe nichts zu sagen.« Er starrte mich wortlos an. Auch der Rothaarige 34
sprach nicht, sondern rieb sich die Hände, was ich sehr irritierend fand. Ich versuchte klar zu denken. Nicht alles war fingiert, denn die Notizen auf dem Block entsprachen schon dem Gespräch damals, auch wenn man Brians Worte völlig verdreht hatte. Die Information war demnach von jemand gekommen, der am Abend anwesend war; offensichtlich auch von jemand, der mich in Schwierigkeiten bringen wollte. Das war nicht Brian. Auch nicht Martin oder Roland. Aber wer sonst? Plötzlich erinnerte ich mich, einen Blick von Gary aufgefangen zu haben, als ich vorhin die Klasse verließ. Konnte man den Blick als Triumph deuten? Es gab ständig Reibereien, doch waren sie erst kürzlich stärker geworden. Und obwohl er mit mir Bootfahren wollte, konnte er es sich nicht verkneifen, ab und zu einige spitze Bemerkungen zu machen. Und dann war da natürlich die Eifersucht. Konnte er sich das ausgedacht haben, um mir eins auszuwischen? Je mehr ich darüber nachdachte, desto sicherer wurde ich mir. »Gary Jones, nicht wahr?« schrie ich. Sie sahen mich schweigend an. »Gary Jones hat Ihnen das erzählt. Aber er lügt!« »Wir interessieren uns nicht für Gary Jones«, sagte der Dickere. »Wir sind an dir interessiert. Und es wäre sehr viel besser für dich, wenn du die Wahrheit sagen würdest.« Jetzt, wo ich wußte, es war Gary gewesen, fühlte ich mich besser. Wenn man den Feind kennt, kann man sich besser auf ihn einstellen. Und diese neue Sicherheit ließ alles in verändertem Licht erscheinen. Selbst wenn sie sich jetzt weigerten, Herrn Richie anzurufen, so konnten sie ihn schließlich nicht immer heraushalten. Zudem 35
würde Vater bald wieder hier sein. Ich konnte mir leicht seine Wut vorstellen, wenn er erfuhr, wie man mich behandelt hatte. Alles würde genau untersucht werden. Und nicht in einem kleinen Büro mit zwei schwachsinnigen Polizisten, sondern unter dem Schutz des Rates. Wenn das passierte, dann mußte die Wahrheit ans Licht kommen, denn die anderen, die damals auf der Party waren, würden als Zeugen aufgerufen werden. Sie würden beschwören, daß ich nichts gesagt hatte. Brian tat mir leid. Er würde bald in Schwierigkeiten geraten, falls er nicht schon drinsteckte. Aber das größte Donnerwetter würde auf Gary niedergehen: Er war dran, sobald die Wahrheit bekannt war. Leid tat er mir nicht, eher verachtete ich ihn, und ich war wütend. Er war nicht nur ein Narr, er war auch ein Verräter. Ich brauchte eigentlich nichts anderes zu tun als warten. »Ich sage nichts«, erklärte ich. »Rufen Sie Herrn Richie an. Ich werde reden, wenn er anwesend ist, sonst nicht.« Meine Verachtung – auch für diese beiden – muß in meiner Stimme mitgeklungen haben. Jetzt sprach auch der Rothaarige. Er hatte eine dünne, sarkastische Stimme. »Wir kriegen aus ihm jetzt nichts heraus.« Der andere sah ihn fragend an. Er nickte. Dann drückte er einen Knopf, und der Diensthabende trat ein. »Nehmen Sie ihn mit.« Unten im Erdgeschoß wurde ich wieder meinem Bewacher übergeben, der mich von der Schule geholt hatte. Es gab eine kurze Stockung – es hatte wohl etwas mit einem Polizeiwagen zu tun –, und ich bemerkte plötzlich ein 36
öffentliches Visafon nahe dem großen Schreibtisch. Ich ging darauf zu und kramte in meinen Taschen nach Münzen, aber mein Bewacher rief mich sofort zurück. »Was hast du vor?« »Ich will nur schnell mal anrufen.« »Das ist dir nicht erlaubt. Komm hierher zurück.« Ich zuckte die Achseln und gehorchte. Es gab Telefone in der Schule, die ich benutzen konnte, um Herrn Richie anzurufen. Die Verzögerung machte keinen Unterschied. Als der Polizeiwagen abfuhr, dachte ich über Gary nach. Freilich würde er dran sein, wenn die Angelegenheit untersucht wurde, aber ich hatte eigentlich nicht vor, so lange zu warten. Ich wollte ihn viel lieber verprügeln, sobald ich wieder in der Klasse war. Aber dann entschied ich mich doch anders – ich würde besser warten, bis der Unterricht vorbei war. Schließlich wollte ich keine Unterbrechung. Wir bogen um eine Ecke. »Sie nehmen den falschen Weg«, sagte ich. Er antwortete nicht, obwohl er mich deutlich gehört hatte. Ich war neugierig. Die Straße führte zum Büro meines Vaters, wo auch Herr Richie arbeitete. Vielleicht waren sie so vernünftig und hatten ihre Meinung geändert. Vielleicht wollten sie ihm jetzt doch die Sache vortragen. Doch vorher kamen wir am Flughafen vorbei, und dort bog der Polizeiwagen ein. Uniformiertes Aufsichtspersonal empfing uns und brachte uns in den Warteraum. An einer der Hauptrampen bestiegen gerade Passagiere ein Luftschiff. Ich aber wurde zu einer kleineren Rampe geführt, die weiter entfernt war. Dort wartete ein kleines graues Luftschiff, ein Luftschiff der Polizei. 37
»Wohin wollen Sie mich bringen?« fragte ich. Wieder gab er mir keine Antwort. Das Luftschiff hob fast unmittelbar ab, nachdem ich an Bord gekommen war, und stieg in den Himmel, vorbei an dem Passagierschiff, das immer noch beladen wurde. Automatisch hatte ich es erkannt: Es war die vier Uhr dreißig Maschine nach Paris. Wir stiegen erst ein paar hundert Meter, bevor wir Kurs nach Süden nahmen. Unter uns schlängelte sich der Fluß, gesprenkelt mit den schwarzen Flecken der Boote. Ich konnte den Energieturm erkennen, das Parlamentsmuseum und sogar ganz flüchtig mein Haus. Dann lag die Mauer unter uns und schließlich die wogende grüne Fläche von Baumwipfeln. Wir flogen Richtung Südwesten in einer Höhe von ungefähr fünfzehnhundert Metern. Ich hatte einen guten Überblick über den Wald: er dehnte sich endlos in alle Richtungen, dicht und eintönig. Selbst jetzt, wo die Sonne schien, machte er einen finstern Eindruck. Man konnte nicht einmal ahnen, was sich unter diesem grünen Dach verbergen mochte. Wilde wahrscheinlich und Bestien. Flora und Fauna der Wildnis waren unbekannt – es gab auch niemanden, der sich dafür interessierte. Bücher, die sich mit den Zuständen vor dem Untergang beschäftigten, wären auch keine große Hilfe. Es mußte sich alles ungeheuer geändert haben. Eine der Barbareien der Finsteren Jahrhunderte war die Haltung von wilden Tieren in Käfigen. Man nannte das Zoo. Während des Untergangs waren viele Bestien ausgebrochen und hatten sich in der Wildnis vermehrt. Es gab Geschichten, die die Diener erzählten und die sie wiederum von ihren Ur-Großvätern gehört hatten, die 38
noch Wilde waren, und die von Löwen, Affen und Wölfen handelten. Der Wald konnte alles bergen. Dann gab es natürlich die Wilden selbst. Wütend dachte ich an Brians dummes Gerede, das überhaupt den Anstoß für diese Sache gegeben hatte. So was Dummes. Die Wilden hatten ihren angemessenen Platz dort unten, wo sie ja auch hingehörten. Wir flogen weiter nach Südwesten, und ich fragte mich wieder und wieder, wohin wir wohl fliegen würden? Vielleicht nach Southampton? Ich konnte mir zwar nicht denken, warum gerade dorthin, aber es war die nächste Stadt, die auf unserer Route lag. In der Ferne konnte man schon den weißen Schimmer von Gebäuden erkennen, und ich faßte wieder Mut. Ich glaubte fest an Southampton, aus welchem Grund auch immer. Miranda war zwar in der Schule, aber vielleicht ergab sich die Gelegenheit, sie zu sehen. Sicher konnte ich mich auf Herrn Sherrin verlassen. Die Gebäude wurden ständig größer und nahmen Umrisse an. Ich erkannte die geschwungene Mauer und den Energieturm. Aber ich spürte nicht, daß wir an Höhe verloren, um zu landen. Das Luftschiff flog über den Turm und flog weiter, immer noch fünfzehnhundert Meter hoch. Statt des Waldes lag nun das Meer unter uns: tief blau, samtig anzusehen aus dieser Höhe und völlig leer. Es war noch entmutigender als der Wald. Wir flogen fort aus England, und nun machte ich mir wirklich Sorgen. Ich sagte mir, daß es egal sei, denn in jedem Land waren die Städte ein Teil der Zivilisation, die wie ein Netz fast die gesamte Erde umgab. Herr Richie würde also keine Schwierigkeit haben, den Sohn des Stadtrats Anderson zu finden und nach London zurückzubringen. 39
Alles, was ich tun konnte, so entschied ich, war, dies als eine interessante Unterbrechung der Schule zu betrachten. Und der Anblick des trostlosen Ozeans war immer noch besser als Brennstoffkunde bei Herrn Harper. Daran dachte ich gerade, als das Brummen des Motors dumpfer wurde: Wir gingen nieder. Aber doch sicher nicht hier mitten im Meer? Ich spähte genauer nach unten, und dann sah ich es: unter mir war – sehr, sehr klein, aber mit Sicherheit – ein Streifen Land. Eine Insel. 3 Wir standen in langen Reihen auf dem Übungsplatz und hatten Gänsehaut, denn obwohl die Sonne schien, wehte doch von Nordosten her ein frischer Wind. Es war überhaupt eine windige Insel. Wenn es stimmte, was Kelly sagte, dann hatte es in den sechs Monaten, die er schon hier war, kein einziges Mal aufgehört zu wehen. Kelly war Amerikaner und litt unter der Kälte; er stammte aus Jacksonville in Kalifornien. Die braunen Augen und die ebenfalls braunen Haare gaben ihm ein stets verträumtes, ja träges Aussehen. Tatsächlich zog er es vor, zu sitzen oder – wenn er die Wahl hatte – zu liegen, und immer wenn sich eine Gelegenheit ergab, tat er ein kleines Schläfchen. Doch war diese Einschätzung seiner Person völlig falsch, wie ich bereits an meinem ersten Abend im Lager herausgefunden hatte. Das Lager bestand aus Zelten, die man auf der festgestampften Erde – früher wohl ein Feld – aufgeschlagen hatte. In jedem Zelt hausten ungefähr zwanzig Jungen. Als ich ankam, teilte man mir ein paar Decken zu und 40
quartierte mich in einem der Zelte ein. Ich war entsetzlich schockiert, als ich merkte, daß ich dort schlafen sollte und daß es keine Betten gab, sondern nur den nackten Boden. Die anderen bestürmten mich förmlich mit Fragen, als die Bewacher uns allein gelassen hatten: wer ich sei, woher ich käme. Ich fühlte mich eigentlich nicht sehr nach einer Unterhaltung. Ich war verwirrt und unsicher. Die Absicht, das ganze als ungewohnte Abwechslung des Schulalltags zu betrachten, war erheblich getrübt von der Aussicht auf die kommende Nacht. Zuhause hatte ich ein Luftbett, seidene Laken, einen Thermostat und einen Fernseher am Fußende. Ich blickte mit wenig Begeisterung von meinen Decken zu dem harten Zeltboden. Ich beantwortete deshalb die Fragen recht knapp, wahrscheinlich auch unhöflich, was mir nicht gerade positiv ausgelegt wurde. Die Fragen hörten bald auf, und man begann, mein Aussehen und mein Verhalten mit spitzen Bemerkungen zu kommentieren. Ein spitzgesichtiger, blonder Junge äffte meine Stimme sehr übertrieben nach, und als ich ihn anfuhr, er sollte den Mund halten, äffte er mich wieder nach. Da habe ich ihm eine heruntergehauen. Er schoß durch das Zelt und taumelte gegen die anderen. Zwei seiner Freunde gingen sofort auf mich los, und er machte auch mit, sobald er wieder auf den Füßen stand. Es dauerte natürlich nicht lange, bis ich am Boden lag und schrecklich verprügelt wurde. Die ganze Zeit hatte Kelly, eingewickelt in eine Decke, in einer Ecke gelegen und schien zu schlafen. Als er dann eingriff, ging das so rasch, daß alles schon vorbei war, ehe ich überhaupt etwas begriff. Ich rappelte mich auf, und wir standen uns gegenüber. Die anderen starrten 41
uns einen Augenblick an und zogen sich dann zögernd und grollend zurück. Ich streckte die Hand aus. »Danke.« »Mach kein Theater.« Wir stellten uns vor und unterhielten uns. Nach der Prügelei fühlte ich mich besser, wenigstens war ich nicht mehr so nervös. Kelly ließ einen der anderen Jungen aufrücken, so daß ich meine Decke neben seiner ausbreiten konnte. Außerdem zeigte er mir, wie ich die Decken falten mußte, damit ich möglichst viel Wärme bekam. Er erklärte mir schaudernd, daß es in den frühen Morgenstunden erheblich kalt werden würde. Bis zu diesem Zeitpunkt wußte ich noch nicht, wie glücklich ich sein konnte, daß ich auf Kelly gestoßen und daß er mit mir befreundet war. Die Decken auf der anderen Seite gehörten seinem Freund Sunyo. Sie beide hatten eine starke Machtposition innerhalb des Zeltes aufgebaut. Niemand wollte sich so ohne weiteres mit ihnen einlassen; und da ich als drittes Mitglied aufgenommen war, hatte ich Anteil an ihrem Ruhm. Sunyo, so sagte Kelly, war Japaner und kam aus Kyoto. Ich sah mich um nach jemanden mit gelber Haut und Schlitzaugen, aber Kelly schüttelte den Kopf. »Er ist irgendwo draußen.« »Draußen?« Das Zelt war offensichtlich voll, und alles machte sich fertig zum Schlafen. »Ist das denn erlaubt?« Kelly zuckte mit den Schultern. »Sie nehmen sich nicht die Mühe, uns Vorschriften zu machen, wenn wir die Arbeit oder die Übungen beendet haben. Warum sollten sie auch? Schließlich sind wir auf 42
einer Insel. Es gibt Höhlen, in denen man sich verstecken könnte, man könnte auch versuchen, von Kaninchen und Möwen zu leben – roh natürlich –, wenn man sie fangen könnte. Aber das auch nicht lange. Das Essen hier im Lager ist miserabel, aber es hält dich am Leben. Du wärst also gezwungen, zurückzukommen, bevor du verhungerst. Und dann kommst du in den Käfig.« »In den Käfig?« Er verzog das Gesicht. »Vergiß es. Wir wollen nicht darüber sprechen, jedenfalls nicht jetzt. Nein, Sunyo ist irgendwo draußen und meditiert.« Wie ein Idiot wiederholte ich zum zweitenmal, was Kelly sagte. »Meditiert?« Er grinste. »Wir zwei setzen uns gern hin – man könnte das vielleicht Kameradschaft nennen. Sunyo aber meditiert für gewöhnlich über das höhere Leben, während ich nur überlege, wie man hier herauskommen kann, wie man endlich an etwas Gescheites zu essen kommt und wie man in eine Badewanne gelangt. Und dann schlafe ich ein paar Augenblicke. Das höhere Leben erfordert doch etwas mehr Stille.« Sunyo kam kurz darauf zurück, und Kelly machte uns bekannt. Ich hatte jemanden erwartet, der dünn, blaß und durchsichtig aussah; in Wirklichkeit aber war er klein und breit und recht muskulös. Sein Händedruck beeindruckte mich ziemlich. Seine Gesichtszüge waren grob, beim ersten Hinsehen häßlich, später aber eher interessant; und sein Ausdruck schwankte zwischen enormer Selbstbeherrschung und verborgener Energie. 43
Jetzt, einen Tag später, stand ich zwischen ihnen auf dem Übungsplatz und hörte dem Kommandanten zu. Er war ein sehr kräftiger Mann mit einem roten, feisten Gesicht. Die Bewacher trugen einheitlich graue Polizeiuniformen und unterschieden sich nur durch entsprechende Rangabzeichen. Die Uniform des Kommandanten war ebenfalls grau, doch üppig mit Goldlitze an Schulter, Ärmelaufschlägen und Mützenrand besetzt. Er hatte eine ölige Stimme, die zwischen einem Ton falscher Gutmütigkeit ohne Übergang zu plötzlichen Ausbrüchen von Wut und Entrüstung schalten konnte. Er begann zunächst: »Wir haben heute ein oder zwei Neue bei unseren Übungen.« Sein rotes Gesicht klaffte zu einem breiten Grinsen auseinander. »Ich glaube deshalb, daß es eine gute Idee ist, wenn wir über die Ziele dieser Schulungsinsel sprechen. Die meisten von euch kennen sie bereits, ich hoffe daher, daß ihr Geduld mit mir habt und mir noch einmal zuhört.« Einer der Jungen bewegte sich ein paar Zentimeter, und sofort stand ein Bewacher mit erhobenem Schlagstock neben ihm. Der Kommandant beachtete die Szene nicht weiter, sondern fuhr fort. »Schulungsinsel habe ich gesagt. Manche Leute nennen sie Strafinsel, aber ich ziehe die andere Benennung vor. Strafe ist eben negativ; Schulung positiv: Es gibt ein Ziel. Aber was ist dieses Ziel? Sehr einfach: gute Bürger hervorzubringen. Die Eigenschaft eines guten Bürgers ist das höchste Gut, das ein Mensch erwerben kann, denn die Gesellschaft selbst baut darauf auf. Denkt einen Moment an eure Vorväter. Er hielt inne, um uns die Gelegenheit zu geben, nachzudenken. In die Stille hinein bellte ein Bewacher: »Du dort hinten! Steh gerade!« 44
»Unsere Vorväter waren großartige Männer«, sagte der Kommandant. »In einer sterbenden und finsteren Zeit hüteten sie die Fackel der Zivilisation. Und während alles um sie herum in Trümmer sank, bauten sie die Städte, die wir heute noch bewohnen – die Städte, in denen wir alle geboren wurden. Wären sie halsstarrige Egoisten gewesen, hätten sie nichts erreichen können. Die gesamte Welt wäre in eine Barbarei der Wildnis gesunken. Aber sie waren keine halsstarrigen Egoisten, sie waren gute Bürger. Ihnen ist es zu danken, daß ihr, und zwar ihr alle, für ein anständiges und zivilisiertes Leben bestimmt ward und nicht für das primitive Leben eines Wilden, der ständig von Hunger, Krankheit und Tod in tausendfältiger Gestalt bedroht wird. Ihr braucht nur über eure Stadtmauern zu sehen, um zu erkennen, was auf euch hätte warten können. Das ist etwas, wofür man dankbar sein sollte.« Seine Stimme begann schrill zu werden – ein Wutausbruch kündigte sich an. »Die meisten jungen Leute sind dankbar. Sie gehorchen den gerechten und keineswegs harten Regeln, die zu ihrem Wohl von den Vorvätern aufgestellt wurden. Nur eine kleine, elende Minderheit macht Schwierigkeiten. Das sind diejenigen, die ihre eigene Person vor das Wohl der Stadtgemeinschaft stellen, ihre eigenen Wünsche vor die Notwendigkeiten der Gesellschaft. Es sind nur wenige, sage ich, doch bedeutet das nicht, daß sie deshalb unwichtig sind. Kleine Fäulnisherde können sich ausbreiten, wenn man nichts gegen sie unternimmt, alles andere infizieren und schließlich zerstören. Aber wir lassen nicht zu, daß dies passiert. Und wir verhindern es, indem wir die Fäulnis aus den einzelnen herausschneiden, bevor sie 45
auch auf die anderen in der Gemeinschaft übergreifen kann, übergreifen auf die, die noch gesund sind. Genau das ist der Grund, weswegen ihr hier seid. Alle hier haben durch ihr Verhalten gezeigt, daß sie zu diesen verdorbenen Individuen gehören, über die ich eben gesprochen habe, Ihre Krankheit muß vernichtet werden, bevor sie selbst das Leben vernichtet, das wir geerbt haben!« Er hatte lauter und lauter geschrien. Nun aber hielt er einen Moment inne und begann dann wieder mit ruhiger, falscher Stimme. »Aber wir wollen das Positive sehen. Ihr könnt gereinigt und gerettet werden, denn niemand ist rettungslos verloren. Es dauert vielleicht eine lange Zeit, eine sehr lange Zeit möglicherweise, aber wir können euch in anständige Bürger verwandeln. Das verspreche ich euch; und ich verspreche euch noch etwas anderes: Keiner von euch verläßt die Insel, bis wir dieses Ziel völlig erreicht haben. Wie wir das anstellen? Zunächst durch Entbehrung: indem wir euch alles nehmen – zum Beispiel Familie, reichliches Essen, Freizeit, Vergnügen –, also alles Dinge, die ihr besessen habt, ohne sie zu schätzen. Weiter durch Arbeit. Unsere Vorväter waren in dieser Beziehung nicht zimperlich, als sie die Städte nach dem Zusammenbruch neu aufbauten. Ihr werdet ebenso hart arbeiten oder noch härter. Und die Arbeit wird euch die Dummheiten und den Egoismus austreiben, der euch hierher gebracht hat. Ihr habt von dem harten und unbequemen Leben der Wilden einiges gehört: Euer Leben wird genauso hart und unbequem sein. In euren Köpfen wird nur ein einziger Gedanke Platz haben – wie ihr hier herauskommen 46
könnt, wie ihr in die Städte zurückkehren könnt, deren Wärme und Luxus und Sicherheit ihr so gering geachtet habt, als ihr sie noch hattet. Wie ihr das erreichen könnt? Das kann ich euch mit einem Wort sagen: Gehorsam – kein oberflächlicher Gehorsam, sondern ein Gehorsam, der aus dem Herzen kommt.« Er steigerte sich wieder in Wut. »Die Bewacher werden euch Gehorsam lehren. Und diejenigen von euch, die auch nur einen Funken Verstand haben, werden sich willig fügen; denn je schneller ihr lernt, desto schneller werdet ihr nach Hause zurückkehren. Ich rate euch, lernt diese Lektion sorgfältig. Wenn ihr nämlich glaubt, daß euer Leben im Augenblick unerfreulich ist, so kann ich euch versichern, daß es noch unerfreulicher werden kann. Viel unerfreulicher! Auf dieser Insel hier ist unsere Macht absolut; und wir werden nicht zögern, diese Macht zu gebrauchen! Entweder kehrt ihr nach Hause als gute Bürger zurück, die ihrer Vorväter wert sind, oder ihr kehrt nie mehr zurück! Nie!« Er endete mit einem schrillen Aufschrei. Dann gab er mit ruhigerer Stimme einem der Offiziere Anweisung. »Lassen Sie abtreten. Bilden Sie Arbeitsgruppen.« Erst nach dem Abendbrot, wässriger Eintopf und ein Brocken graues hartes Brot, ergab sich eine Gelegenheit, mit Kelly und Sunyo zu sprechen. Ich hatte mir Gedanken gemacht über die anderen Jungen – fünfhundert oder noch mehr an der Zahl. Wahrscheinlich waren sie zu Hause in Schwierigkeiten gekommen. Ich hatte auch über Kelly und Sunyo nachgedacht und fragte sie nun. Kelly hatte zunächst Probleme in der Schule gehabt. Er gab zu, nicht der eifrigste Schüler gewesen zu sein: 47
Arbeit allein um der Arbeit willen sagte ihm nicht zu. Er interessierte sich nur für Geschichte, speziell für die Geschichte des amerikanischen Staates, der im zwanzigsten Jahrhundert die maßgebliche Rolle in der Weltpolitik gespielt hatte. Doch lehrte man weder in Jacksonville noch in London Geschichte als Schulfach; ja, man gab sich überhaupt nicht viel Mühe, Interesse dafür zu wecken. Kelly zog sich bald den Ärger seines Lehrers zu, weil er den Schulfächern so wenig Aufmerksamkeit schenkte. Und er machte die ganze Sache nur noch schlimmer, weil er intelligent genug war, genug aufzuschnappen, so daß er gut bei den Prüfungen abschnitt. Das machte seinen Lehrer noch wütender. So entwickelte sich eine Feindschaft zwischen beiden, die allmählich schärfer wurde: Der Lehrer versuchte ständig, Kelly auf irgendeine Weise hereinzulegen, und Kelly wiederum tat alles, um seinerseits den Lehrer als Schwachkopf zu entlarven. So hätte es eigentlich ewig weitergehen können, jedenfalls so lange, bis Kelly einen anderen Lehrer bekam, wäre nicht ein anderer Junge in seiner Klasse gewesen, der ebenfalls in der Schule nichts lernte, jedoch bei weitem nicht so intelligent wie Kelly war. Zunächst behandelte ihn der Lehrer auf die gewohnte Weise, bis er merkte, daß er nicht nur Kellys Freund war, sondern daß Kelly wütend wurde, wenn ihm etwas geschah. Damit hatte der Lehrer Kellys schwachen Punkt entdeckt und nützte diese Erkenntnis voll aus. Er konzentrierte sich von nun ab nur noch auf den anderen und beachtete Kelly überhaupt nicht mehr. Die Sache kam erst richtig in Fluß, als der Junge ungewöhnlich schlecht bei einer schriftlichen Prüfung ab48
schnitt. Es gab eine Vorschrift, die untersagte, daß ein Junge wegen einer schlechten Arbeit geschlagen wurde; allerdings war es erlaubt, ihn wegen Aufsässigkeit zu züchtigen. Der Lehrer nahm nun an – er behauptete es jedenfalls –, daß die Arbeit mit voller Absicht verpatzt worden war, um ihn zu ärgern, und er verprügelte den Jungen vor der ganzen Klasse mit einem Stock. Kelly hielt es sechs Stockhiebe lang aus. Dann stand er auf und entwandt ihm den Stock. Es kam zu einem Kampf, der schließlich damit endete, daß Kelly den Lehrer verprügelte. Die Schulbehörde war der Ansicht, daß dieser Verstoß gegen die Disziplin zu schwerwiegend wäre, als daß sie selbst Maßnahmen dagegen unternehmen konnte. Kelly wurde also der Polizei übergeben, und diese schickte ihn auf die Insel. Die Geschichte von Sunyo hatte sich ganz anders abgespielt, und doch gab es einige Ähnlichkeiten. Er stammte aus einer japanischen Familie, die ihre Vorfahren bis vor dem Untergang auf ein uraltes Adelsgeschlecht zurückführte. Die Herren von Kyoto ließen zwar – wie die Herren anderer Städte auch – die Verehrung der Urväter des Wiederaufbaus zu, verboten jedoch jedes Interesse an Vorfahren, die im finsteren Zeitalter gelebt hatten. Sunyos Vater war Anhänger der alte Schinto-Religion. In seinem Garten hatte er einen Schrein errichtet, und im Haus standen die Abbilder seiner Urväter. Der Rat von Kyoto verurteilte dies und befahl, den Schrein abzureißen und die Bilder zu zerstören. Und als Sunyos Vater sich der Anordnung widersetzte, schickten sie ihm die Polizei ins Haus. Sunyos Vater beging Selbstmord nach den alten Ritualen des Harakiri. Sunyo selbst war zwar kein Schintoist 49
gewesen, doch verehrte und liebte er seinen Vater. Nun machte er die Polizei verantwortlich für dessen Tod. Er versammelte eine Bande von Jungen um sich, die sich Samurai nach den Rittern des alten Japan nannten, und begann eine Art Guerillakrieg gegen die Behörden. Den Höhepunkt bildete ein Überfall auf das Polizeigebäude, bei dem sie Fenster einschlugen und mit Farbe Parolen an die Wände schmierten. Einige von ihnen wurden verhaftet, und einer davon verriet Sunyo. Er sei der Anstifter gewesen. Alle anderen wurden an Ort und Stelle bestraft, nur Sunyo schickte man auf die Insel. Dann fragten sie auch mich, und ich erzählte ihnen alles. Sie waren sprachlos vor Erstaunen. »Nur wegen solchem Gerede?« fragte Kelly. »Und du hast nicht einmal ein Wort gesagt!« »Aber sie hätten doch eine ordentliche Untersuchung machen müssen«, warf Sunyo ein, »bevor sie dich hierher schicken durften!« Ich zuckte mit den Schultern. »Irgend jemand hat einen Fehler gemacht, denke ich.« »Und dein Vater ist ein Ratsmitglied?« »Ja, schon. Aber er ist im Moment nicht da. Und sie haben mir nicht erlaubt, mit seinem Sekretär zu visafonieren. Wenn er zurückkommt, wird er alles sofort in Ordnung bringen.« »Und dann wird ein gewisser Polizist Schwierigkeiten bekommen«, sagte Sunyo voller Befriedigung. »Wahrscheinlich nicht nur dieser eine.« »Immerhin sieht es nicht so aus, als ob du lange bei uns bleiben würdest«, stellte Kelly fest. »Ich hoffe nicht«, sagte ich gedankenlos; doch dann 50
bereute ich die Worte sofort. Keiner von den beiden hatte Aussicht, jemals von hier wegzukommen. Ich hatte mit zwei der Bewacher gesprochen und gefragt, ob ich nicht den Kommandanten sehen dürfte? Der erste legte meine Frage als Unverschämtheit aus und drohte mir, wenn ich noch einmal dergleichen Wünsche hätte, würde ich mich in einer Situation wiederfinden, die mir ganz und gar nicht behagen würde. Der andere war ein bißchen menschlicher und sagte, er wollte versuchen, was er tun könnte. Als nach zwei Tagen immer noch nichts geschehen war, vermutete ich, er habe es vergessen. Ich überlegte eben, ob es wohl gut sei, einen dritten daraufhin anzusprechen, als mein Name aufgerufen wurde. Wir hatten gerade eine der sieben oder acht Paraden, die wir jeden Tag abhalten mußten. Ein Bewacher begleitete mich zum Büro des Kommandanten. Die Wände des Raumes waren grau, doch war die Einrichtung ziemlich luxuriös. Ich bemerkte einen riesigen Fernsehschirm, eine reich verzierte Hausbar und eine weiche Liege, auf der der Kommandant sich ausruhen konnte, wenn ihn die Sorgen seiner Stellung übermannten. Auch sein Stuhl war eher ein Armsessel als ein Büromöbel, bespannt mit grünem Leder und offenbar luftgepolstert. Auf seinem grünen, mit Leder bezogenen Schreibtisch lagen nur ein Notizblock und eine goldene Schreibgarnitur. Er starrte mich an, als ich salutierte. »Du wolltest mich sprechen, Anderson. Ich hoffe, du hast auch einen guten Grund dafür.« »Ich habe gedacht, daß Sie mir sagen könnten, weswegen ich hier bin.« Er lachte unangenehm schrill. 51
»Deine Akte wird von der Stadtpolizei geführt. Aber wahrscheinlich aus demselben Grund wie alle anderen auch: außergewöhnlich aufsässiges Benehmen.« »Aber ich habe überhaupt nichts getan.« »Hierher kommt niemand ohne guten Grund. Dich hat ein Polizeiluftschiff hergebracht?« »Darf ich Ihnen erzählen, wie es dazu kam?« Er setzte eine verständnisvolle Miene auf. »Wenn du willst. Es wird ohnehin nichts ändern.« Ich erzählte also meine Geschichte. Als ich fertig war, sagte er: »Und weiter?« »Nichts weiter. Das ist passiert und sonst nichts.« Er sah mich wütend an. »Lüge mich nicht an, Anderson. Ich mag keine Jungen, die lügen. Und das ist etwas, was ich, wenn ich will, leicht nachprüfen kann.« »Dann prüfen Sie es nach«, sagte ich rasch. »Ich möchte, daß Sie es tun.« Er machte eine Pause. »Du bist hier entsprechend den Vorschriften abgeliefert worden«, sagte er dann. »Ich werde jedenfalls keine Behörden belästigen wegen eines verlogenen Jungen. Nehmen Sie ihn wieder mit, Sergeant.« Es schien mir, als verberge sein poltender Ausbruch so etwas wie Unsicherheit. Ich vermutete, er hatte Angst vor seinen Vorgesetzten. Und als der Bewacher auf mich zutrat, sagte ich rasch: »Es wird Ärger geben, wenn mein Vater wieder zurück ist.« »Dein Vater kann kein Polizeiurteil rückgängig machen.« »Ich denke schon. Er ist im Rat.« »Anderson.« Er sah mich durchdringend an. 52
»Dieser Anderson?« »Ja.« Jetzt konnte man seine Unsicherheit deutlich sehen; sie zeigte sich in seinem verkrampften Gesicht und in einem Zurückweichen in seinen gepolsterten Sessel. Nach einem Augenblick sagte er: »Ich werde mich darum kümmern. Geh jetzt zu deiner Arbeit zurück.« Unser Leben im Lager bestand aus einer harten und unbequemen Routine. Die erste Parade wurde um sechs Uhr morgens abgenommen, die letzte um acht Uhr abends. Zwischen den Paraden mußten wir marschieren, körperliche Übungen machen und exerzieren. Die übrige Zeit arbeiteten wir. Die meiste Arbeit aber war sinnlos. Wir luden zum Beispiel Steine auf Karren, die zum anderen Ende der Insel fuhren. Dort luden wir sie wieder aus. Manchmal brachten wir sie auch bis zum Ende der Wellenbrecher, die früher zum Hafen gehört hatten, und warfen sie ins Meer. Eine andere beliebte Beschäftigung war, Gruben und Gräben zu graben, die wir selbst oder eine andere Arbeitsgruppe am nächsten Tag wieder zuschütteten: Man kommandierte uns auch an den Strand, um Löcher in den Sand zu graben. Diese brauchten wir wenigstens nicht wieder zuzuschütten: Die Arbeit nahm uns das Meer ab. Das Essen war so scheußlich, daß man halb verhungert sein mußte, um es essen zu können – aber schließlich waren wir die ganze Zeit halb verhungert. Zudem war es nicht nur entsetzlich, sondern reichte bei weitem nicht aus. Die Jungen prügelten sich erbittert um Brotrinden – sehr zur Freude der Bewacher, die ihnen lachend zusahen, bis auch sie genug hatten und mit Schlagstöc53
ken dazwischenfuhren. Sie waren alle ohne Ausnahme sadistische Schläger. Wenn die letzte Parade vorüber war, waren wir meist zu müde, um etwas anderes zu tun, als zu schlafen. Nur Sunyo nicht, denn der ging gewöhnlich noch nach draußen, um zu meditieren. Oft bis zu einer Stunde lang. Eines Abends fragte er Kelly und mich – sehr zu unserem Erstaunen –, ob wir nicht mit ihm kommen wollten. Als wir genügend weit vom Zelt entfernt waren, fragte ihn Kelly: »Was soll das? Willst du eine Meditationsgruppe gründen? Mit mir brauchst du dann allerdings nicht zu rechnen. Ich bin viel zu müde, um auch nur von Steaks zu träumen.« Sunyo schüttelte den Kopf. »Ich habe heute etwas im Sand gefunden. Ich möchte, daß ihr mir helft, das Ding auszugraben.« Kelly stöhnte auf. »Wieder graben! Aber was ist es denn überhaupt?« »Ich bin nicht ganz sicher, aber ich habe so eine Idee.« Die Sonne war schon untergegangen, doch es war noch hell. Niemand sonst war zu sehen, aber man konnte Musik von den Behausungen der Bewacher herüberschallen hören. Teils neugierig, teils zögernd folgten wir Sunyo den Hügel hinunter, vorbei an den alten Ruinen zum Strand. Dann waren wir an der Stelle, an der er heute gearbeitet hatte. Die Flut hatte schon begonnen und hatte einige unserer Löcher wieder aufgefüllt, die wir heute gegraben hatten. Sunyo führte uns zu einer Stelle, die einige Meter von der letzten Grube entfernt war, und kratzte den Sand mit den Fingern fort. Eine glatte blaue Fläche kam zum Vorschein. Sunyo richtete sich auf. 54
»Los, holen wir die Schaufeln.« Wir hatten sie am Abend auf einen Haufen gelegt, oberhalb der Flutlinie. »Warte«, sagte Kelly. »Was?« »Ich fange auf keinen Fall schon wieder zu buddeln an, ohne überhaupt zu wissen, warum. Du hast gesagt, du hättest so eine Ahnung. Also, sag, was du glaubst.« »Ich glaube, das könnte ein Boot sein«, erklärte Sunyo. »Und?« »Wir könnten es benutzen, um von der Insel wegzukommen.« Wir starrten ihn an. »Wohin?« fragte ich. »Die nächste Stadt ist Cherburg, und die liegt mindestens fünfzig Kilometer weit weg. Das wirst du niemals schaffen. Und die näherliegenden Küsten sind Wildnis.« »Außerdem hat es jahrelang oder vielleicht jahrhundertelang im Sand gesteckt«, gab Kelly zu bedenken. »Es wird völlig verrottet sein.« »Es ist aus Plastik. Plastik verrottet nicht.« Sunyo ging zu den Schaufeln. Wir folgten ihm protestierend. »Das Ganze ist lächerlich«, erklärte ich ihm. »Selbst wenn das Boot seetüchtig ist und selbst wenn du durch ein Wunder bis nach Cherburg kommst – was würde das schon bringen? Man würde dich nur hierher zurückschicken.« Kelly versuchte ebenso wie ich, Sunyo zur Vernunft zu bringen, aber er achtete nicht auf uns. Ich hatte schon früher bemerkt, daß es schwierig, ja sogar unmöglich war, Sunyo von etwas abzubringen, das er sich in den Kopf gesetzt hatte. Er packte also eine 55
Schaufel und ging zurück zu dem bewußten Platz. Wir beobachteten ihn eine Weile, wie er grub, und dann holte sich Kelly mit verächtlichem Schnaufen ebenfalls eine Schaufel und begann zu graben. Irgendwie, obwohl ich Sunyo verfluchte wegen seiner Halsstarrigkeit und mich wegen meiner Feigheit, folgte ich trotzdem dem Beispiel Kellys. Der Sand schien schwerer und feuchter als am Nachmittag, und ich wollte eigentlich schon wieder aufhören, noch bevor ich richtig angefangen hatte. Aber Sunyo arbeitete verbissen weiter, ebenso Kelly, obwohl er stöhnte. Mein Stolz ließ es nicht zu, aufzuhören, und ich grub ebenfalls weiter. Es war bald klar, daß Sunyo mit seiner Behauptung recht hatte. Die Umrisse eines umgedrehten Schiffsrumpfes wurden langsam sichtbar. Sie gehörten einem kleinen Boot, das kaum drei Meter lang war. Als die Dämmerung vom Mondlicht abgelöst wurde und die letzten Möwen schon seit langem in ihre Nester zurückgekehrt waren, hatten wir auf der einen Seite das Boot bis zum Rand freigelegt. Kein Laut war zu hören außer dem Klatschen der Wellen und unserem keuchenden Atem. Wir versuchten, das Boot mit den Schaufeln emporzustemmen, doch es bewegte sich nicht. Sunyo begann, ohne ein Wort zu sagen, nun auch die andere Seite auszugraben, und wir folgten zögernd seinem Beispiel. Schließlich hatten wir es auf allen Seiten freigelegt und schafften es, es umzudrehen. Ich ließ meine Schaufel fallen und sank erschöpft und erleichtert auf den Boden. Kelly und Sunyo betrachteten unseren Fund. »Es sieht in Ordnung aus«, stellte Kelly fest. »Trotzdem ist die Idee verrückt. Wie Clive gesagt hat …« 56
Sunyo achtete überhaupt nicht auf ihn, sondern begann aufs neue zu graben, diesmal in dem Sandbuckel, der den Rumpf ausgefüllt hatte. »Was suchst du denn jetzt?« fragte Kelly. »Etwa einen Außenbordmotor aus Plastik?« »Ruder«, erklärte Sunyo und grub weiter. Kelly und ich sahen ihm zu. Wir hatten endgültig genug. Dann grunzte Sunyo zufrieden. »Das sieht aber nicht wie ein Ruder aus«, sagte ich skeptisch. Er hielt etwas hoch, eine Art Gewebe schien es, soweit man das bei dem geringen Licht ausmachen konnte. »Nein«, sagte er. »Aber ein Segel. Auch aus Plastik, es ist also auch nicht verrottet.« Wir starrten ihn wortlos an. Ich wußte nicht, wie es mit Kelly war, aber ich war beinahe zu müde, um zu sprechen. Die ganze Sache schien genauso sinnlos wie zu Anfang, wenn nicht noch sinnloser. Sunyo hatte also sein Boot gefunden und dazu ein Segel. Na und? Sunyo aber war offensichtlich sehr mit sich zufrieden. »Jetzt müssen wir nur noch eines tun«, sagte er strahlend. »Und das wäre?« »Helft mir, das Ding zu tragen. Es ist ziemlich leicht, aber ich glaube nicht, daß ich es allein schaffe.« »Bist du völlig verrückt geworden?« Kelly war entsetzt. »Wohin tragen? Zurück ins Zelt? Willst du den Vorschlag machen, wir sollen darin schlafen?« »Die Flut kommt.« Sunyo deutete auf die mondbeschienenen Wellen, die nur noch ein paar Meter von uns entfernt im Sand verliefen. 57
»Wir müssen es verstecken, damit die Wachen es nicht finden. Ich habe einen guten Platz dort hinter den Felsen entdeckt.« Kelly und ich sahen uns an. Verrückt war das richtige Wort, aber die Sache war von Anfang an verrückt gewesen. Wenn wir also so weit gegangen waren, dann konnten wir auch noch bis zu Ende gehen. Wir bückten uns und halfen Sunyo, das Boot emporzuheben. 4 Sunyo geriet am nächsten Tag in Schwierigkeiten. Er war bei fast allen Bewachern unbeliebt – wahrscheinlich, weil sie die tiefverwurzelte Abneigung gegen sich selbst als Schläger und hörige Untertanen spürten. Eine Abneigung, die, obwohl er sie nie zeigte, deutlich in seinen Augen zu lesen war. Einer von ihnen haßte ihn ganz besonders, und er verfolgte ihn auf jede erdenkliche Weise. Sunyos Reaktion hatte sich zunächst in schweigender Verachtung ausgedrückt: er ignorierte ganz einfach die ständigen Sticheleien. Doch dann hatte der Bewacher durch Zufall Sunyos schwache Stelle entdeckt: Er nannte ihn den Sohn eines Esels und bemerkte ein momentanes Aufflackern von Wut. Ich habe nie ganz verstanden, was Sunyo eigentlich für seine Ahnen empfand – eine Bemerkung wie diese hätte mir gar nichts bedeutet. Doch in diesem Punkt war er sehr sensibel und sehr verwundbar. So hatte der Bewacher die schwache Stelle entdeckt 58
und zögerte nun nicht, davon Gebrauch zu machen. Er nahm jede sich bietende Gelegenheit wahr, um derartige Beleidigungen auszusprechen. Kelly hatte beobachtet, was passierte, und bat Sunyo inständig, sich nicht wütend machen zu lassen. Sunyo hatte sich dann auch sehr zusammengenommen und die Bemerkungen überhört. Diesmal aber schien ihn die Übermüdung nervös gemacht zu haben – wir alle drei spürten die Folgen unserer Nachtschicht. Sicher trug die Müdigkeit dazu bei, daß sich etwas ereignete, was die Dinge in Bewegung brachte. Sunyo war sonst immer der Stärkste in unserer Arbeitsgruppe, aber heute ließ er das Ende eines schweren Balkens, der auf den Wagen geladen werden sollte, geräuschvoll fallen. Der Bewacher stand nur ein paar Schritte entfernt und lachte. »Der Abkömmling einer langen Reihe von Affen! Er ist zu nichts zu gebrauchen!« Ich sah, wie Sunyos Mund schmal wurde, doch bevor ich eingreifen konnte, um ihn zu beruhigen, hatte er den Bewacher angesprungen und zu Boden geworfen. Zwei andere Bewacher rissen sofort die Gewehre hoch. Sie trieben uns zurück und hoben ihren Genossen auf. Ein dünner roter Faden lief ihm aus dem Mundwinkel. »Sehr gut, Affensohn«, flüsterte er und schwang seinen Schlagstock. Die Schläge, die nun folgten, waren schlimm genug, doch es sollte noch schlimmer kommen. Der Kommandant erschien zur nächsten Parade. Neben ihm lief Sunyo, gefesselt an beiden Händen, bewacht von zwei Männern, die ihn in die Mitte genommen hatten. Sein Gesicht war schrecklich zugerichtet. »Gehorsam.« Der Kommandant ließ das Wort eine 59
Weile in der Luft hängen. »Gehorsam ist der Weg, der zum Wohlverhalten des Bürgers führt. Ihr seid hier, weil ihr euren Weg verloren habt; wir werden euch wieder auf den rechten Weg zurückbringen.« Weiße Wolken zogen über den blauen Himmel. Es war ein sehr windiger Tag, selbst für die Insel, über die ständig eine Brise wehte. »Gehorsam für euch bedeutet Gehorsam den Bewachern gegenüber.« Der Kommandant schwieg. »Was also soll man zu einem Jungen sagen, der einen Bewacher niederschlägt?« Er drehte sich zu Sunyo um. »Du wirst drei Tage im Käfig verbringen.« Ich spürte, wie Kelly neben mir erstarrte. »Und dann wirst du dich offiziell bei dem Bewacher entschuldigen, den du geschlagen hast. Du kommst nicht aus dem Käfig, bevor du das tust.« Der Käfig lag zwischen dem Paradeplatz und den Wohnungen der Bewacher. Er war quadratisch, ungefähr dreieinhalb Meter lang auf jeder Seite und mit einem Holzzaun von zwei oder drei Metern Höhe umgeben. Auf einer Seite öffnete sich eine kleine Tür. Im Innern gab es nichts – keinen Schutz vor dem Wetter, weder vor der Sonne noch vor der Kälte bei Nacht. Es gab kein Essen. Normalerweise betrug das Strafmaß einen Tag im Käfig. Nie vorher gab es eine Strafe von drei Tagen. Das Schlimmste aber habe ich noch nicht beschrieben. Der Boden des Käfigs war aus Zement, den man, bevor er erstarrt war, zu kleinen scharfen Spitzen und Kanten geformt hatte. Selbst wenn man aufrecht stand, war es qualvoll; niederlegen konnte man sich nicht, ohne sich zu verletzen. 60
Der Bewacher, den Sunyo geschlagen hatte, sah zu, wie er eingesperrt wurde. »Du wirst keine angenehme Zeit verbringen, gar keine angenehme«, höhnte er. »Und schließlich wirst du angekrochen kommen und zugeben, daß dein Vater ein Affe war. Darauf freue ich mich schon jetzt.« Sunyos Augen waren dunkel geworden. Er sah den Bewacher an und sagte: »Nie, nie zu einem Abschaum der Menschheit, wie Sie es sind.« Der Bewacher lachte. »Rede nur weiter. Das Ende wird dadurch nur noch besser.« Kelly und ich taten alles, um ihm die Strafe zu erleichtern. Tagsüber konnten wir nicht in seine Nähe kommen, doch nachts schlichen wir davon und sprachen mit ihm durch den Zaun. Wir hoben unser Brot auf und warfen es zu ihm hinein. Den wässrigen Eintopf und den Brei, der den Speisezettel vervollständigte, konnten wir ja nicht zurückbehalten oder verstecken. Es gelang uns auch, ein paar Decken zusammenzurollen und hinüberzuwerfen und sie am nächsten Morgen wieder zu holen, bevor die Bewacher aufstanden. Wasser war kein Problem. Die Vertiefungen im Zementboden fingen Wasser auf, und wenn es wie jetzt nicht regnete, schütteten die Bewacher jeden Tag einen Kübel Wasser über den Zaun. Doch wenn er trinken wollte, mußte sich Sunyo wie ein Tier niederbeugen und das Wasser mit der Zunge auflecken. Ich konnte mir vorstellen, wie demütigend er dies empfand. Die schlimmste Qual war die Unmöglichkeit zu schlafen. Wenn er die Decken in eine Ecke stopfte und sich mit dem Rücken an den Zaun lehnte, konnte er wenig61
stens ein bißchen ausruhen. Doch tagsüber war das völlig unmöglich. Er mußte entweder aufrecht stehen oder die Qualen des rauhen Bodens ertragen. Am ersten Abend war er sehr deprimiert, am zweiten völlig am Ende und am dritten verwirrt und rastlos. »Immerhin ist das die letzte Nacht«, tröstete ich ihn. »Morgen nachmittag kommst du raus.« Sunyo sagte eine Weile nichts. »Ich werde nicht zu seinen Füßen kriechen. Nie …« »Es bedeutet doch überhaupt nichts«, sagte Kelly. »Wir finden schon einen Weg, um es ihm heimzuzahlen. Wir drei.« »Du mußt es tun, Sunyo«, beschwor ich ihn. »Du mußt dir ja nur den Anschein geben.« »Nie«, flüsterte er wieder. »Eher sterbe ich.« Als wir ins Zelt zurückgingen, sagte ich zu Kelly: »Er wird anders darüber denken, wenn es soweit ist.« Kelly schüttelte den Kopf. »Ich wünschte, ich könnte davon überzeugt sein.« »Es wäre dumm, es nicht zu tun – und sinnlos.« »Du hast recht. Ich würde mich entschuldigen – kriechen, wenn es sein muß. Und dann würde ich ihn eines Tages töten. Ich denke, das werde ich ohnehin tun. Sunyo aber ist anders – er ist stolz …« Die verzweifelte Situation Sunyos war völlig anders als meine eigene. Seit meinem Gespräch mit dem Kommandanten glaubte ich bei den Bewachern eine Veränderung bemerkt zu haben. Ich wurde weniger als andere schikaniert, und ich hatte den Eindruck, mir wurden die leichtesten Arbeiten zugeteilt oder besser: ich wurde mit den schlimmsten verschont. Dieses Gefühl verstärkte sich am Morgen des dritten Tages, den Sunyo im Käfig 62
verbracht hatte. Wir arbeiteten zwischen den Ruinen der Stadt und luden Granitblöcke, die wir aus einer verfallenen Kirche brachen. Das meiste war ohnehin völlig zerfallen, nur der Glockenturm stand noch und reckte sich in den Himmel. Einer der Bewacher schrie: »Wir brauchen jemand, der mit einem Pickel dort hinaufsteigt, Anderson! Nein, laß bleiben. Der Sohn des Rats soll das nicht riskieren. Geh du hinauf, Trudillo.« Er sagte das zwar ironisch, aber es war bezeichnend genug. Ich hatte niemandem außer Kelly und Sunyo von meinem Vater erzählt – Sunyo und Kelly und dem Kommandanten. Er mußte Anweisungen gegeben haben, mich zu schonen. Es war nun schon fast eine Woche her, daß ich hierher gebracht wurde, und vier Tage, seit ich beim Kommandanten war. Der Befehl zu meiner Freilassung konnte jeden Moment kommen. Ich konnte vielleicht noch heute in London, zu Hause sein. Die Gedanken an Sunyo brachten mich aus meinem Tagtraum zurück. Aber endlich war für ihn auch das Ende greifbar: In wenigen Stunden würde er aus dem Käfig kommen. Am Nachmittag regnete es. Sunyos Bewacher öffnete zusammen mit zwei anderen Wächtern die Tür und sahen auf Sunyo, der gegen den Zaun gelehnt auf dem Boden kniete. »Wie gut du aussiehst«, spottete er. »Der Affensohn sieht eher wie eine ertrunkene Ratte aus. Nun, die Zeit ist um. Du kannst herauskommen.« Sunyo taumelte ein paar Schritte auf ihn zu. Er war 63
vom Regen durch und durch naß, während die Tropfen von den wetterfesten Umhängen der Bewacher herunterliefen. »Also komm«, sagte der Bewacher. »Komm her, gelber Affe. Eine Kleinigkeit fehlt noch. Runter auf die Knie und sag, es tut dir leid.« Nach ein paar weiteren Schritten stand Sunyo vor ihm. Er schwankte. »Also«, befahl der Bewacher. »Auf die Knie.« Sunyo schnellte sich nach vorne und griff nach dem Hals des Wächters. Doch es war ein armseliger Versuch. Mit einer einzigen Handbewegung schleuderte ihn der Bewacher in den Käfig zurück. Er lachte schallend. »Hast du deine Lektion noch immer nicht gelernt, Affe? Macht nichts. Du hast genug Zeit. Soviel Zeit, wie du willst.« In dieser Nacht gingen Kelly und ich zum Käfig zurück. Der Regen hatte aufgehört, und hinter den Wolken mußte es wohl hellen Mondschein geben. Doch es war noch sehr dunkel. Wir warfen Sunyo Brotstücke über den Zaun, aber es war zu finster für ihn, um sie zu finden. Er tat mir leid, aber ich war auch wütend auf ihn. Ich war selbst hungrig, und ich hätte das Brot haben können, das nun irgendwo auf dem nassen Boden im Käfig rumlag. Außerdem gab es keinen Grund für ihn, noch immer dort drin zu sein, keinen Grund, daß er diese sinnlose Sache fortsetzte. Und der Befehl vom Büro des Kommandanten, auf den ich wartete, war immer noch nicht gekommen. Kelly warf die Decken über den Zaun, und Sunyo gelang es auf irgendeine Weise, sie in der Dunkelheit zu finden. Kelly sprach auf ihn ein und versuchte ihn davon zu überzeugen, daß er aufgeben sollte. Er war 64
schon sehr geschwächt und würde ständig schwächer werden. Kelly sprach sehr ernst und „„überzeugend. Doch als er innehielt, hörten wir keinen Ton von der anderen Seite des Zauns. »Er hört dir nicht mal zu«, sagte ich unfreundlich. »Ich höre zu«, kam eine leise Antwort. »Aber es nützt nichts. Ich werde vor diesem Schwein nicht zu Kreuze kriechen. Ich kann nicht. Ich würde an meinen Worten ersticken.« »Was ist dir lieber«, fragte ich, »zu ersticken oder zu verhungern? Hier drinnen wirst du verhungern. Du kannst es ihm doch nur heimzahlen, wenn du am Leben bleibst. Und dafür wieder brauchst du Kräfte.« »Ich kann es nicht tun.« Wir redeten beide auf ihn ein, ohne Erfolg. Schließlich verließen wir ihn und gingen zurück zum Zelt. Die Wolken brachen auf. Der Mond war dreiviertel voll. Plötzlich sagte Kelly: »Es gibt nur eine Möglichkeit.« »Was?« »Wir müssen ihn da herausholen.« Ich lachte. »Klar. Das ist die Lösung.« »Ich meine es wirklich. Er wird eher sterben, als daß er klein beigibt. Ich bin sicher.« »Und was schlägst du vor? Sollen wir zu den Bewachern gehen und den Schlüssel für den Käfig verlangen?« »Decken«, entgegnete Kelly kurz. »Wir können sie zu einem Seil zusammenbinden und ihn herausziehen.« Ich war müde und hungrig und freute mich darauf, mich in meine einzige Decke, die mir noch geblieben war, zu wickeln. 65
»Und wenn wir ihn draußen haben, was passiert dann?« fragte ich. »Er ist immer noch auf der Insel. Dann kann er sich auch selbst gleich aufgeben. Sie wissen, wer ihm geholfen hat. Das bedeutet, wenn sie ihn zurück in den Käfig sperren, wird er uns beide schon drin finden.« »Er muß nicht unbedingt auf der Insel sein.« Ich sah ihn ungläubig an. »Wir haben das Boot.« »Du hast selbst gesagt, das sei lachhaft.« »Das dachte ich damals. Aber die Dinge haben sich geändert. Er wird sterben, wenn wir ihn nicht herausholen.« »Er wird im Boot sterben. Wir wissen nicht einmal, ob es seetüchtig ist. Außerdem gibt es keine Möglichkeit, es zu manövrieren. Und schließlich, wo willst du hinfahren? Kommst du in eine Stadt, bringt man dich hierher zurück. Kommst du in die Wildnis, töten dich die Barbaren.« »Paß auf«, sagte Kelly. »Ich bitte dich nur um Hilfe beim Käfig. Du brauchst nicht mit ins Boot zu kommen.« »Dein Plan ist völlig verrückt.« Kelly gab keine Antwort. Wir waren fast am Zelt. »Schon gut, ich helfe dir.« Wir holten rasch die beiden anderen Decken. Alle schienen zu schlafen; jedenfalls fragte uns niemand, was wir vorhatten. Die Wolken verzogen sich mehr und mehr, so daß wir den Weg zum Käfig gut erkennen konnten. Kelly erzählte Sunyo, was er vorgeschlagen hatte. Sunyo versuchte es mit Einwänden: es gäbe keinen Grund, weswegen noch andere mithineingezogen werden sollten; doch war er zu schwach und erschöpft, als daß er lange widersprochen hätte. 66
Kelly verknotete unsere beiden Decken und warf sie über den Zaun. Sunyo verknotete nun seinerseits seine beiden Decken, wenn es auch eine ganze Weile dauerte. Dann aber versagte er. Wir hatten vorgehabt, daß Kelly und ich die Decken festhielten und Sunyo hochklettern und auf diese Weise herauskommen würde. Er versuchte es – wir konnten hören, wie seine Füße am Zaun entlang schabten – aber er mußte aufgeben. »Es hat keinen Sinn. Ich habe keine Kraft in den Armen«, sagte er. »Geht zurück. Danke trotzdem, daß ihr es versucht habt. Aber es hat keinen Sinn.« Ich wollte sofort zustimmen, aber Kelly sagte: »Clive, bück dich, damit ich auf deinen Rücken steigen kann. Ich werde dann hinüberklettern.« Er kletterte auf meine Schultern, klammerte sich an den Rand des Zauns und zog sich nach oben. Er stöhnte vor Schmerz auf, weil er sich einen Splitter eingerannt hatte, doch dann sprang er hinein. Ich hörte die geflüsterten Anweisungen, die er Sunyo gab. »Hier, nimm das Ende und klettere auf meinen Rücken.« Dann rief er mir zu: »Clive, zieh an deinem Ende, wenn ich es dir sage.« Beim erstenmal glitt Sunyo wieder herunter, bevor Kelly mir den Befehl zurufen konnte. Dann hörte ich einen Ausruf von Kelly, als sie beide übereinanderfielen. Doch er zerrte Sunyo wieder hinauf und schob. »Jetzt, Clive!« Ich zog mit aller Kraft. Die Decke verhakte sich am Rand des Zauns, und dann war da natürlich noch das ganze Gewicht von Sunyo. Ich dachte, ich würde ihn überhaupt nicht bewegen können. Doch während ich 67
mich abmühte, hatte es Kelly auf irgendeine Weise geschafft, Sunyos Füße zu packen, und stemmte ihn nun in die Höhe. Ich zog wieder und spürte plötzlich, wie der Widerstand aufhörte. Undeutlich sah ich Sunyo über dem Zaun auftauchen. Er fiel mehr, als daß er sprang und landete neben mir. Nun mußten wir nur noch Kelly herausholen. Er zog sich mit Hilfe der Decken nach oben und fiel schwer auf unserer Seite herunter. Kelly und Sunyo hatten ziemlich viel Lärm gemacht, doch glücklicherweise kam laute Musik aus den Wohnhäusern der Bewacher. Trotzdem war es besser, so rasch wie möglich zu verschwinden. Sunyo war sehr schwach, und wir mußten auf dem Weg zum Strand mehrmals anhalten, damit er sich ausruhen konnte. Als wir endlich dort waren, brach er zusammen. Kelly und ich kletterten hinter die Felsen, wo wir das Boot versteckt hatten. Ich hatte halb gehofft, die Bewacher hätten es vielleicht gefunden und fortgeschafft. Das Meer, obwohl es reglos im Mondlicht dalag, sah unheimlich und unfreundlich aus. Aber wir fanden das Boot. »Hier, nimm dieses Ende«, sagte Kelly. »Alles klar? Dann hoch.« »Warte einen Moment.« »Was ist?« »Ich habe nachgedacht. Diese Höhlen auf der anderen Seite der Insel … Wir könnten ihn dort verbergen.« »Unmöglich«, erwiderte Kelly. »Die finden ihn innerhalb ein paar Stunden, wenn sie einen Suchtrupp ausschicken. Selbst wenn sie ihn nicht finden würden, was glaubst du, wie lange könnte es gutgehen? Ein paar Tage vielleicht, dann muß er wieder in den Käfig. Vergiß es.« »Tage könnten ausreichen. Es wird nicht mehr lange 68
dauern, bis mein Vater mich hier herausholt. Vielleicht morgen schon. Er könnte vielleicht etwas tun.« »Für dich schon, das glaube ich sicher, aber nicht für Sunyo. Dieser Ort untersteht der Internationalen Polizei. Dein Vater kann zwar Rat in London sein, in Kyoto aber hat er nicht den geringsten Einfluß.« Dagegen konnte ich nichts sagen. Ich zermarterte mir das Gehirn, um andere Argumente zu finden, die ihn überzeugen würden, daß sein wahnsinniger Plan nicht durchzuführen war. »Du hast uns sehr geholfen, Clive«, unterbrach Kelly meine Gedanken. »Und das meine ich wirklich. Ich hätte ihn allein nicht aus dem Käfig holen können. Hilf mir jetzt noch, das Boot zu tragen. Mehr will ich nicht. Nimm deine zwei Decken und geh zurück ins Zelt. Es wird nicht den geringsten Anhaltspunkt geben, daß du mit unserem Verschwinden in irgendeinem Zusammenhang stehst. Mach dir keine Sorgen – wir werden es schaffen.« »Schaffen wohin? In die Wildnis?« »Was uns betrifft, so ist die Wildnis immer noch besser für uns, als hierzubleiben. Das kann ich dir mit Sicherheit sagen.« Ich half ihm also das Boot hinunterzutragen. Neben dem Segel aus Plastik gab es Taue und einen beweglichen Mast. Er war mit Metall beschlagen gewesen, das nun völlig verrostet war, doch der Mast selbst schien einigermaßen in Ordnung zu sein. Ich half Kelly, ihn zu verankern und das Segel, so gut es ging, aufzuziehen. »Es gibt nicht viel Wind«, bemerkte ich. Kelly machte sich am Baum zu schaffen. »Nicht viel«, gab er zu. »Aber genug.« 69
»Und der weht noch landeinwärts.« »Schon, aber die Tide verläuft Richtung Nordwest. Wir werden schon aufs Meer hinauskommen.« Ich zuckte mit den Schultern: Alles, was ich sagte, war nutzlos. »Wenn wir das Boot flottkriegen, und wenn du mir mit Sunyo hilfst …« Wir zerrten das Boot über den Sand ins Wasser. Es gab immer noch die Möglichkeit, daß der Rumpf leckte. Und Kelly selbst würde nicht vorschlagen, mit einem lecken Boot loszufahren. Er kletterte hinein, und ich hielt das Boot fest. »Wie sieht es aus?« »Tip top in Ordnung.« Eine Welle schwappte über den Rand und durchnäßte mich bis zu den Oberschenkeln. »Ich warte jetzt hier, bis du Sunyo geholt hast.« Als ich Sunyo ansprach, antwortete er zunächst nicht. Ich glaubte, er sei eingeschlafen oder ohnmächtig geworden. Doch dann rappelte er sich hoch, setzte sich langsam und schmerzlich auf. Im Mondlicht sah er entsetzlich aus. »Stütz dich auf mich«, sagte ich. Er schüttelte den Kopf. »Ich kann laufen.« Er lief wirklich allein – mit großer Anstrengung, aber ohne meine Hilfe. Ich erinnerte mich, daß er seit drei Tagen nichts als ein paar Brotkrusten zu essen hatte – heute sogar nicht einmal die. Er watete ins Meer hinaus. Einmal schwankte er, als eine kleine Welle sich an ihm brach, doch er blieb aufrecht. Freilich brauchte er Hilfe, um ins Boot zu kommen. Kelly und ich zerrten und schoben ihn irgendwie über den Rand. Das Boot schau70
kelte bedenklich und drohte zu kentern. Kelly kletterte hinter ihm hinein. »Danke, Clive. Danke für alles«, verabschiedete er sich. »Ich glaube immer noch …« »Ja, ich weiß.« Seine Zähne leuchteten im Mondlicht, als er grinste. »Und du hast vielleicht recht. Es sieht aber anders von unserem Standpunkt aus. Alles Gute. Ich hoffe, du wirst bald entlassen werden.« »Viel Glück für euch. Ihr braucht es mehr als ich.« »Klar. Wenn du uns mit einem kleinen Schubs in Fahrt bringen könntest …« Ich watete weiter ins Meer hinaus und schob das Boot vor mir her. Der Boden senkte sich unter meinen Füßen. Eine Welle erfaßte das Boot und drohte es mir zu entreißen. Und dann, anstatt loszulassen, packte ich den Rand fester und schwang mich an Bord. Das Boot schaukelte, und Wasser schwappte über den Rand, doch es richtete sich wieder auf. »Was machst du denn da?« fragte Kelly überrascht. »Sieht so aus, als würde ich mit euch kommen.« Ich sah zurück zum Strand. »Frag nicht warum, denn ich weiß es selbst nicht.« 5 Diese Frage stellte ich mir immer wieder, als das kleine Boot mit der Ebbe hinausgerissen wurde und die Entfernung zum Strand sich mehr und mehr vergrößerte. Und die einzige Antwort darauf war, daß ich ein Idiot war. Ich schmeichelte mir keineswegs, daß ich Kelly oder Sunyo 71
auf irgendeine Weise behilflich sein könnte, wenn ich mitkam. Wenn überhaupt, dann traf höchstens das Gegenteil zu. Die größte Gefahr für das Boot war, daß es vollief – und eine dritte Person würde diese Gefahr auf keinen Fall verringern. Ich war aus einer momentanen Stimmung heraus an Bord geklettert. Die Stimmung war allerdings von kurzer Dauer und wurde verdrängt von einem anderen Wunsch: ins Wasser zu springen und zur Küste zurückzuschwimmen, solange das noch möglich war. Ich glaube, ich hätte das auch getan, wenn nicht Sunyo gestöhnt hätte und Kelly mich bat: »Clive, schau, ob du nicht Sunyo helfen kannst, daß er ein bißchen bequemer liegt. Ich muß mich im Moment um das Segel kümmern.« Ich versuchte mein Bestes mit Hilfe von Kellys Decken. Meine beiden lagen am Strand, wo ich sie zurückgelassen hatte. Ich hätte so gescheit sein sollen, sie mitzunehmen; oder besser, ich sollte so gescheit sein und zurückschwimmen, sie aufheben und mich auf den Weg zum Zelt machen. Wenn ich einmal drin war, konnte ich innerhalb von zehn Minuten auf dem festen Boden liegen und schlafen, anstatt in dieser Nußschale über ein sehr weites und sehr nasses Meer zu schaukeln. Als ich das nächste Mal zur Küste zurücksah, lag sie ungefähr hundert Meter hinter uns. Es war nicht einfach, jetzt noch zu schwimmen, denn die Tide schien sehr stark zu sein. Die Insel, beschienen vom Mondlicht, nahm langsam Umrisse an: die langgestreckte Kurve des Strandes und südlich davon die höhergelegenen Gebiete. In der anderen Richtung war nur Wasser, eintöniges Wasser. Nur der Mond warf eine breite glitzernde Bahn seines Lichtes darüber. 72
»Hast du vor, irgendeine Richtung anzusteuern, oder treiben wir ganz einfach?« fragte ich Kelly. Er deutete auf den Mond. »So lange er links von uns liegt, fahren wir ungefähr in östliche Richtung. Die französische Küste sollte fast im Osten liegen.« Ja, zwölf Kilometer entfernt, wie ich mich erinnerte. »Was glaubst du, wie schnell fahren wir?« erkundigte ich mich. »Keine Ahnung.« Kelly schüttelte den Kopf. Er schien sehr fröhlich, jedenfalls viel fröhlicher, als ich mich fühlte. So sehr ich auch das Lagerleben haßte, begann ich doch einige Vorteile zu erkennen – Sachen wie Essen und fester Boden unter den Füßen. Und dann die Möglichkeit, daß jeden Moment der Bewacher rufen konnte: »Anderson, komm zum Büro des Kommandanten!« Vielleicht schon bei der nächsten Parade am frühen Morgen … Doch das würde mir jetzt auch nicht weiterhelfen. Die Insel verschwand langsam im mondhellen Nebel zwischen See und Himmel. Mir wurde plötzlich bewußt, daß mein Magen leer war. Das Abendessen lag sechs oder mehr Stunden zurück, und es hatte ohnehin nur aus wässrigem Eintopf bestanden, da wir das Brot für Sunyo aufgehoben hatten. Dann dachte ich an etwas anderes. »Wasser …« »Ja«, lachte Kelly. »Man weiß überhaupt nicht, wieviel davon da ist.« »Trinkwasser. Wir haben kein Trinkwasser.« Er sagte eine Weile nichts. »Ja. Das war sehr dumm. Ich habe nicht daran gedacht.« 73
Ich blickte zu dem verschwommenen, weit entfernten Flecken zurück, der die Insel war. »Glaubst du, wir sollten zurückfahren, um welches zu holen?« »Unmöglich. Nicht nur die Ebbe, auch der Wind ist gegen uns.« Wir schwiegen wieder. »Kaum mehr als zehn Kilometer bis nach Frankreich«, sagte Kelly schließlich. »Wenn es die ganze Nacht dauert, wäre das hervorragend. Wir werden bis dahin nicht verdursten.« Er versuchte etwas aufmunterndes zu sagen, und ich glaube, ich hätte etwas entsprechendes antworten sollen. Mir fiel nur nichts mehr ein. Sunyo lag eingewickelt in seinen Decken, und Kelly und ich saßen still da und betrachteten das Meer. Es muß ungefähr eine halbe Stunde später gewesen sein, als ich zu Kelly sagte: »Sieh den Mond.« Er bewegte sich sehr langsam über den Himmel; war er zuerst zu unserer Linken gewesen, so war er nun genau vor uns. Das zumindest war der Eindruck. In Wirklichkeit war es das Boot, das sich nach Norden drehte. Wir waren in eine Strömung geraten, die stärker war als der Wind. »Ich habe es schon gesehen«, nickte Kelly. Seine Stimme klang entschlossen. »Die Tide muß hier zwischen der Insel und der französischen Küste sehr stark sein.« »Und was passiert nun?« »Die Strömung wird uns nach Norden führen, genau in den Ärmelkanal hinein. Dann wird sie wohl schwächer werden. Wir sollten genug Wind haben, um nach Frankreich zurückzukehren.« 74
»Und wenn es keinen Wind gibt?« »Im Norden gibt es schließlich auch Land, oder nicht? Die Südküste Englands.« »Aber keine zwölf Kilometer entfernt. Eher hundert.« »Ja, ja. Wir werden eben nicht rechtzeitig zum Frühstück anlegen können.« »Die Strömung trägt uns vielleicht gar nicht nach Norden. Vielleicht treibt sie uns nach Westen ab, hinaus in den Ozean?« »Du bist eine richtige herzerfrischende Gesellschaft.« Kellys Entschlossenheit hatte sich in unverhohlenen Ärger verwandelt. »Hast du noch ein paar andere erfreuliche Möglichkeiten auf Lager?« »Als ich dir gesagt habe, was für ein Wahnsinnsplan das ist, hast du mir nicht geglaubt«, gab ich zurück. »Außerdem hast du noch vergessen, Trinkwasser mitzunehmen. Bis jetzt hast du alles ganz prima gemacht.« »Halt den Mund«, knurrte Kelly. »Wir haben dich nicht gebeten, mitzukommen, Sohn des Stadtrates. Da, schwimm doch zurück, niemand wird dich aufhalten. Und wenn du das nicht willst, dann halt den Mund.« Er war verärgert und hatte Angst. So wie ich. Ich überlegte mir ein paar bissige Bemerkungen, aber ich sagte keinen Ton. Mein Mund war ausgetrocknet, und plötzlich war ich sehr durstig, obwohl die Nacht frisch war. Das Wetter verschlechterte sich. Zunächst frischte der Wind auf, und die Wellen kräuselten sich. Der Wind blies von der falschen Ecke her – von Südosten. Die Chancen, daß wir Frankreich erreichten, verringerten sich mehr und mehr. Sunyo wachte auf und übergab sich; das heißt, er 75
würgte nur, denn er hatte nichts im Magen. Dann erwischte es auch Kelly, denn die See wurde rauher, und das Boot schaukelte auf den Wellen wie ein Korken. Ich hielt es ein wenig länger aus, doch dann folgte ich ihrem Beispiel. Wolken fegten über den Mond; wenig anfangs, dann mehr und mehr, bis er völlig verdeckt war. Ich konnte kaum das Wasser erkennen; doch hörte ich es dafür wegen des Windes und der Wogen um so genauer; und ich konnte es fühlen, wenn eine Welle über den Rand schlug und mich völlig durchnäßte. Nach sehr langer Zeit wurde es im Osten hell. Langsam kam der Tag, doch der Himmel blieb grau und bedeckt, und auch das Meer war grau. Ich strengte meine Augen an, um nach Land Ausschau zu halten, aber es war nichts zu sehen, nicht einmal ein Seevogel, der die Monotonie der Wasserwüste unterbrochen hätte. Die anderen waren ebenfalls wach und sahen sich um. Kelly erkundigte sich bei Sunyo, wie es ihm ginge. Er sagte, es gehe ihm gut. Erstaunlicherweise sah er tatsächlich ein wenig besser aus. »Zum Frühstück gibt es leider nicht sehr viel«, sagte Kelly. Er lächelte auch mich an, und ich ergriff nur zu gern den Ölzweig. »Ich habe an Eier mit Speck gedacht«, verkündete ich. »Drei Eier, nein, vier. Und ein halbes Dutzend Speckscheiben. Dazu eine riesige Tasse Kaffee. Kaffee mit Milch.« »Schinken und Ei für mich«, sagte Kelly. »Weizenkuchen und Honig und frischen Orangensaft. Eine Menge frischen Orangensaft.« Der Gedanke daran machte mir bewußt, daß ich Durst hatte. Ich hatte keine Lust, dieses Spielchen weiterzutreiben; Kelly schien es ähnlich zu gehen. Wir blickten dü76
ster auf das Meer, das uns von allen Seiten umgab. Auch Sunyo blickte hinaus. Er redete mehr zu sich selbst als zu einem von uns, und ich dachte, ich hätte mich verhört. »Was hast du gesagt?« »Es ist wunderschön.« »Wunderschön?« Ich hatte mich also doch nicht verhört. »Was ist wunderschön?« »Die zwei Schattierungen von grau: der Himmel und das Meer. Sie sehen fast gleich aus, und doch gibt es einen Unterschied. Mein Vater besaß ein Bild, das ähnliche Farbeffekte wie dies hier hatte. Es war eines von den Bildern, die man mit der einen Hand festhielt und mit der anderen aufrollte. Dargestellt war eine Landschaft von den hohen Bergen bis hinab zum Meer. Und dort gab es auch das unterschiedlich getönte Grau.« Unglaublich, dachte ich. Er kann über Bilder reden, während wir in dieser Lage sind. Das hatte natürlich auch seine Vorteile, denn alles, was uns ablenkte, sollten wir begrüßen. Kelly schien dasselbe gedacht zu haben, denn er begann über seine Heimat zu sprechen. Aber ihn interessierten Hunde, nicht Bilder. Sein Vater hatte Spaniels gezüchtet als Hobby. Ich steuerte unser Tropenfischaquarium bei, das die gesamte Wand des Wohnzimmers einnahm. Sunyo blieb schweigsam, vielleicht meditierte er. Aber Kelly und ich versuchten alles, unsere Gedanken von dieser trostlosen Lage abzulenken. Er erzählte von den Rennbahnen, die sie in Jacksonville hatten; das war etwas, was London nicht aufzuweisen hatte. Ich dagegen beschrieb den Flußabschnitt, der innerhalb der Stadtmauern verlief. Man hatte ihn als Schwimmzentrum ausge77
baut mit kleineren Becken am nördlichen Ufer. Die Wassertemperatur wurde durch Wärmeelemente um mehr als zehn Grad erhöht. Und die Londoner waren sehr stolz, daß sie eine solche Menge Energie auf diese Weise verbrauchen konnten. »Ziemliche Vergeudung«, bemerkte Kelly. »Immerhin, einen ganzen Fluß aufzuheizen …« »Ihr verschwendet Land für Rennbahnen. Bei uns ist alles Land, das zum Gemeinbesitz gehört, für Parks verwendet worden.« Ich hatte ein wenig scharf geantwortet, und er gab in demselben Ton zurück: »Unsere Parks sind genauso gut wie eure in London, mit Weihnachtssternen und Jacarandabäumen und Orangen, die im Freien wachsen. In Jacksonville kannst du durch den Park laufen und Orangen von den Bäumen pflücken.« Die Vorstellung war sehr eindrucksvoll, und ich merkte wieder, wie ausgetrocknet meine Kehle war. Traurig sagte ich: »Jacksonville oder London – was ist schon der Unterschied? Wir sind weit von beiden entfernt.« Die Zeit verging überhaupt nicht. Die Wolkendecke war immer noch undurchdringlich: ein schweres Leichentuch, das sich vom Horizont zu düsterem Horizont erstreckte. Die Sonne oder auch nur ein heller Fleck hätte uns gezeigt, in welche Richtung wir eigentlich trieben. Doch in dieser eintönigen Wasserwüste konnten wir genauso gut nordwärts, Richtung England also, wie zurück nach Süden, Richtung Frankreich, schwimmen. Wir konnten aber auch genauso gut – ich begann es mehr und mehr zu befürchten – in die unermeßliche Leere des westlich gele78
genen Ozeans hinaustreiben. Kellys Florida lag dort, doch zweifelte ich stark, daß wir Begeisterung für die Idee aufbringen würden, auf diesem Weg nach Hause zu fahren. Sunyo sagte fast gar nichts. Kelly und ich hatten ab und zu gesprächige Phasen, meistens eher Streitereien, die von langen Pausen düsteren Schweigens unterbrochen wurden. Neben Hunger und Durst stellte sich Müdigkeit ein, und trotz der unbequemen Lage ertappte ich mich dabei, daß ich vor mich hindöste, nur um plötzlich hochzuschrecken und mir meiner elenden Lage noch bewußter zu werden. Je weiter der Tag fortschritt, desto intensiver wurde das Grau. Die Nacht brach herein, und der Himmel wurde schwarz, tief schwarz, ohne auch die Spur von Mondlicht. Ich schlief ein und wachte auf und schlief wieder ein. Unzusammenhängende Träume, die mehr Alpträume glichen, verfolgten mich, doch gab es da einen Traum, der anders war. Ich fuhr in meinem Rennboot auf dem Fluß. Miranda war ebenfalls da. Ich begann ihr zu erzählen, was sich seit unserer letzten Begegnung alles ereignet hatte – wie ich auf die Insel gebracht wurde und mit einem Boot entkam –, und alles spielte in der Vergangenheit, und es war aufregend, darüber zu berichten. Sie hörte mir zu und warf ihr Haar über die Schulter. Ich war sehr zufrieden, sie für mich allein zu haben; doch dann bemerkte ich, wie es oft in Träumen geschieht, plötzlich, daß es gar nicht stimmte, denn Gary war auch da. Ich sagte ihm, was für eine Meinung ich von ihm hatte, und da das noch lange nicht genug war, schlug ich ihn. Wir gingen aufeinander los, und im nächsten Augenblick lag ich im Wasser. Ich wachte auf und fühlte die Nässe. Sofort dachte ich, 79
der Traum wäre Wirklichkeit geworden. Doch die Nässe kam von Wassertropfen, die mir über Gesicht und Hände liefen. Dann wußte ich es: Es regnete. Ich rief die anderen an, und sie erwachten. Die nächste Zeit war ich damit beschäftigt, Regentropfen zu sammeln. Ich formte die Hände zu kleinen Schüsseln, preßte sie an das Gesicht und leckte begierig die Tropfen auf, die sich darin sammelten. Kein Orangensaft hätte köstlicher schmecken können. Es regnete ungefähr eine halbe Stunde, lange genug, um wenigstens den ärgsten Durst zu stillen; das Bedürfnis zu trinken aber blieb. Mit dem Regen war heftiger Wind aufgekommen, und immer häufiger schlugen Wellen über den Bootsrand. Um meine Füße hatte sich ein kleiner See gebildet – nicht sehr tief bisher, doch würde er größer werden. Wieder drohte die Gefahr, das Boot könnte sinken. Es wäre halb so schlimm gewesen, hätten wir ein Gefäß zum Schöpfen gehabt. Es gab zu viele »Wenns«. Wenn wir einen Vorrat an Trinkwasser mitgebracht hätten, wenn wir in der Küche nach Nahrung gesucht hätten, wenn Kelly meinen Vorschlag angenommen hätte, Sunyo in den Höhlen zu verstecken, anstatt diese hirnverbrannte Fahrt zu wagen … Wieder stieg Ärger in mir auf; doch dann kam mir ein anderes »Wenn« in Erinnerung. Ich war aus freien Stücken an Bord gekommen, dafür konnte ich schließlich niemandem einen Vorwurf machen. Wir versuchten, das Wasser mit den Händen aus dem Boot zu schöpfen, doch war der Erfolg minimal. Ich fühlte mich krank und kalt – die Decken lagen völlig durchnäßt am Boden – und müde, so daß ich schwindlig wurde. Die Nacht schien kein Ende zu nehmen, das Schlagen 80
der Böen und das Klatschen der Wellen ließ keinen Augenblick nach. Aber immerhin konnte es nicht schlimmer werden, dachte ich gerade, als der Mast mit lautem Krachen brach, auf die Seite fiel und das Segel mit sich riß. Der Mast tauchte ins Wasser und brachte das Boot fast zum Kentern. Wir liefen rasch voll und hatten nur einen Gedanken, das Ding unverzüglich loszuwerden. Wir mühten uns fieberhaft mit den Tauen ab, um die Knoten zu lösen. Endlich war der Mast frei, und wir konnten ihn über Bord werfen. Nun waren wir zwar sicher – im Augenblick jedenfalls –, doch das Wasser stand uns bis an die Knöchel. Wieder machten wir uns verbissen daran, das Wasser mit den Händen herauszuschöpfen. Allmählich hellte sich der Himmel auf. Die Dämmerung brach über unserem zweiten Tag auf dem Meer an. Und immer noch sahen wir nirgends Land. Ich blickte zu Sunyo hinüber, der im Heck zusammengekauert hockte, und zu Kelly, der wie ich zentimetertief im Wasser lag. Sie sahen nicht gerade gut aus; ich wußte, daß auch ich keine bessere Figur abgab. Und dann sah ich den abgebrochenen Maststumpf. Selbst wenn wir Land sichten würden, wie konnten wir – ohne Segel, ohne Ruder – jemals hingelangen? Wir waren Wind und Strömung völlig ausgeliefert. Es gab nur ein Ende. War es nicht der Tod durch Ertrinken, dann sicher der durch Erschöpfung oder Durst. Der erste würde wahrscheinlich angenehmer sein; und unser mühsames Schöpfen hatte unsere Qual nur verlängert. An diesem Morgen war der Wind weniger heftig und die See weniger rauh: die Wellen hoben und senkten sich gleichmäßig und in langsamem Rhythmus. 81
Keiner von uns hatte das Bedürfnis zu reden. Ich war erfüllt von tiefer Hoffnungslosigkeit, die nur gelegentlich von plötzlich aufbrechender Wut unterbrochen wurde – Wut auf Sunyo, daß er den Bewacher geschlagen hat, auf Kelly, der auf diesem Wahnsinnsplan bestanden hatte, auf den Kommandanten, die Londoner Polizei, Gary, selbst auf meinen Vater, daß er Ferien machte. Doch brachte mir dies auch keine Erleichterung, im Gegenteil, es machte mich nur noch elender. Aber ich konnte auch nichts dagegen tun. Wenigstens stritt ich mich nicht mehr mit Kelly. Wir waren wohl beide zu erschöpft. Minuten, Stunden vergingen, ohne Bedeutung in der Leere von Meer und Himmel. Ich glaube, es war ungefähr zu Mittag, als Sunyo plötzlich etwas sagte. »Hört.« Ich lauschte zwar, doch hörte ich nur das wohlvertraute Klatschen der Wellen gegen die Bootswand. »Worauf?« fragte Kelly. »Dieses Geräusch«, sagte Sunyo. »Es klingt wie der Motor eines Luftschiffs.« Daraufhin lauschte ich aufmerksamer. Zunächst hörte ich nichts bis auf die Wellen. Doch dann sagte Kelly: »Ich glaube, du hast recht.« Seine Stimme klang schon wieder ein wenig zuversichtlicher. Fast zur gleichen Zeit hörte ich es auch: ein feines, sehr entferntes Dröhnen, das aus den Wolken kam. Wir erhoben uns und strengten unsere Augen an. Wieder war Sunyo der erste, der es entdeckte und uns zeigte: ein schwarzer Fleck in den Wolken. Er war so winzig, und der Himmel war so weit. Genau wie das Meer, auf dem unser kleines Boot schaukelt, dachte ich. Wenn wir auch das Luftschiff sahen, so bedeutete das 82
keineswegs, daß es näher bei uns vorbeifliegen würde. Ich beobachtete es voller schmerzlicher Erwartung. Der Fleck schien sich nicht zu bewegen, und ich sagte das auch zu den anderen. »Das ist ein gutes Zeichen«, sagte Kelly. »Würde es sich bewegen, hieße das, es kreuzte unseren Weg. Es muß auf uns zukommen, denn es sieht jetzt größer aus.« Stimmte das? Mit plötzlicher Freude erkannte ich, er hatte recht: Es wurde größer. Und ich konnte das Brummen des Motors deutlicher hören. Ich stand auf und winkte wie verrückt. Kelly schrie mich an: »Vorsicht, du Idiot! Wir werden noch kentern.« Doch ich war zu glücklich, um darauf zu achten. Sunyo, wesentlich vernünftiger, sagte ruhig: »Es ist noch zu weit entfernt. Niemand kann uns sehen. Doch ich glaube, es hat denselben Kurs wie wir. Fast ganz genau.« Wir beobachteten wie das Luftschiff näher kam, und ich überlegte, was passieren würde, nachdem sie uns aufgefischt hatten. Zurück zur Insel, natürlich, vielleicht auch in den Käfig zurück. Und zwar nicht nur Sunyo allein, das war sicher. Kelly wäre auch dran. Doch zunächst würde es etwas zu essen und zu trinken geben und Betten. Und vielleicht würde das Erlebnis Sunyos Halsstarrigkeit brechen. Was mich betraf, so war ich sicher, daß meine Freilassung inzwischen bewilligt war. Ich hatte sogar die unsinnige Vision, mein Vater könnte in dem Luftschiff sein und die Suchexpedition leiten. Ich wußte, das war absurd, aber immerhin würden wir gerettet werden. Das andere war unwesentlich. Das Luftschiff, eine weiße Passagiermaschine, kam immer näher. Es flog nicht höher als ungefähr sechshun83
dert Meter. Seine Flugrichtung führte ein wenig links von uns vorbei, und wir konnten die Fenster des Speisesaal sehen und winzige Figuren, die an Tischen saßen. Wir standen nun alle winkend im Boot. Wir riefen und winkten, obwohl wir wußten, daß durch die versiegelten Fenster und Kabinenwände kein Laut dringen konnte. Aber sehen mußten sie uns. Wir konnten sie doch auch so deutlich sehen. Ein Kellner beugte sich über einen Tisch und goß Wein ein. Es war unmöglich, daß man uns übersehen konnte. Selbst als das Luftschiff bereits über uns hinweggeflogen war, war ich davon überzeugt. Irgend jemand mußte uns sehen, und dann würden sie umkehren. Schließlich sagte Sunyo mit kalter Stimme: »Sie haben uns nicht bemerkt. Und sie werden uns jetzt auch nicht mehr bemerken.« Er setzte sich, Kelly ebenfalls. Ich stand noch da und starrte auf das Luftschiff, das von Sekunde zu Sekunde kleiner wurde. Das Geräusch des Motors wurde leiser und verlor sich in dem monotonen Klatschen der Wellen. Ich setzte mich ebenfalls nieder und verkroch mich in den Bug. Der Rest des Tages war schrecklich. Bevor wir das Luftschiff gesehen hatten, hatten wir uns mit dem Gedanken an den Tod abgefunden. Jetzt hatte die Hoffnung unseren Lebenswillen erneut geschärft; die Aussichtslosigkeit quälte uns. Unsere Ohren waren ständig gespitzt, um Motorengeräusche wahrzunehmen, die Augen suchten gierig das Grau über uns nach dem Anzeichen einer Bewegung ab. Aber es war sinnlos, und wir wußten das genau. Wenn ein Luftschiff so niedrig über uns hinweggeflogen war, 84
ohne uns zu sehen, welche Chance bestand dann für ein zweites, uns zu entdecken? Und trotzdem beherrschte uns der Gedanke: Wir mußten einfach weiter beobachten und uns selbst mit unmöglichen Hoffnungen quälen. So war es einerseits eine Erlösung, als die Dämmerung herabsank und uns die Sicht unmöglich machte. Ich blickte hinaus, wie der Horizont sich langsam zusammenzuziehen schien, und überlegte, welche Wahrscheinlichkeit bestand, daß wir die Nacht überlebten. Der Wind begann wieder aufzufrischen. Wir hatten unsere ganzen Kraftreserven zusammengerafft, als wir dem Luftschiff winkten und schrien, und ich zweifelte, ob jetzt überhaupt noch ein Rest vorhanden war. Ich konnte mir nicht vorstellen, daß wir die Kraft hätten, noch einmal das Boot mit den Händen auszuschöpfen. Ertrinken wäre immerhin besser, als noch länger so hinzutreiben. Kelly und Sunyo hatten ihre Plätze getauscht, so daß nun Sunyo im Wasser auf dem Boden lag. Er schlief, und ich dachte, daß auch Kelly schlief. Doch dann sagte er etwas mit leiser Stimme, das ich nicht verstehen konnte. Nach einer Weile sprach er wieder, diesmal deutlicher. »Dort drüben …« Ich glaubte, etwas sagen zu müssen, doch war ich fast zu erschöpft dazu. Ich murmelte: »Was?« »Könnte das Land sein?« Er spricht im Schlaf, dachte ich, oder vielleicht schon im Delirium. Es gab nur das Meer. »Genau vor uns, also hinter dir. Könnte das sein?« fragte er. Ich drehte mich mühsam um. Das Meer erstreckte sich unendlich, bis es in den dunkel werdenden Saum des Himmels überging. Ich war plötzlich wütend auf ihn, doch war ich zu erschöpft, um etwas zu entgeg85
nen. Ich drehte mich schweigend wieder um, als Kelly, lauter nun, sagte: »Ich glaube, das ist Land!« Gab es tatsächlich eine dunklere Linie zwischen den beiden grauen Flächen? Ich glaubte, ich sah sie, verlor sie aus den Augen und sah sie wiederum. Quälende Unsicherheit. Sunyo hatte bessere Augen als Kelly oder ich. Ich lehnte mich nach vorne, um ihn zu wecken, doch Kelly bat mich, einzuhalten. »Nein. Es hat keinen Sinn, falsche Hoffnung zu wecken. Selbst wenn es Land ist, was können wir schon tun? Es muß einige Kilometer entfernt sein, und ich zweifle sehr, ob einer von uns die Kraft hätte, auch nur ein paar Meter zu schwimmen.« Ich sah das ein. So saßen wir schweigend und blickten hinaus. Sicherlich war es Land, eine Küste, die sich in der Dunkelheit verlor. Und nach einiger Zeit war kein Zweifel mehr möglich: Die Flut trug uns darauf zu. Doch langsam, sehr langsam, und es war mir nur zu bewußt, daß die Gezeiten wechseln konnten. Dann würden wir zurückgetragen werden in die Nacht, die rasch einfiel, in die Nacht, die die letzte sein würde. Schlechtere Sicht und kürzere Entfernung wetteiferten miteinander. Die Küste vor uns war nur ein undeutlicher Fleck, doch der Fleck kam näher. Wir weckten Sunyo schließlich doch, und einen Moment schaute auch er ungläubig nach vorne. Er begann mit den Armen zu rudern, und Kelly und ich machten dasselbe. Wir waren so geschwächt, daß unsere Hände nur die Oberfläche berührten, doch hatten wir immerhin die Illusion, etwas zu tun. Unter einem fast schwarzen Himmel trieben wir auf eine schwarze Küste zu. Ich hörte ein kratzendes Geräusch und fühlte mit wilder Freude etwas Festes unter uns. Wir hatten Land erreicht. 86
6 Ich kletterte über den Rand des Bootes. Steine rollten unter meinen Füßen. Das Wasser reichte mir bis zur Hüfte, und eine Welle schlug mir bis ins Gesicht, so daß ich nach Luft schnappte und fast den Halt verlor. Ich sah, wie Sunyo versuchte sich zu erheben, aber wieder zurückfiel. »Glaubst du, er kann alleine herauskommen?« fragte ich Kelly. »Oder kannst du ihn hinüberheben?« Sunyo protestierte schwach: »Ich bin ganz in Ordnung.« Trotzdem brauchte er Hilfe. Wir hoben ihn gemeinsam ins Wasser, und ich stützte ihn, als wir auf den Strand zutaumelten. Das Meer wurde seichter, und plötzlich fühlte ich trockenes Land. Und dann, ohne den Auftrieb des Wassers, spürte ich erst richtig, wie schwach ich war. Ich stolperte ein, zwei Schritte weiter und brach dann zusammen. Sunyo blieb noch einen Moment länger aufrecht, fiel dann aber ebenfalls hin. Hinter uns versuchte Kelly, das Boot aus dem Wasser zu ziehen. Er rief um Hilfe. Irgendwie schaffte ich es, sammelte genug Kräfte und ging zu ihm zurück. Wir zogen und zerrten am Bug und brachten das Boot schließlich an Land. Es schwamm, getrieben von der Flutwelle, noch ein Stück und saß dann auf. Kelly trieb mich an weiterzuziehen, und ich machte eine weitere Anstrengung mit meinen schmerzenden Armen. Knirschend und schabend bewegte sich das Boot noch vielleicht einen halben Meter und blieb dann stecken. »Das hätten wir«, sagte ich erleichtert. »Wir müssen es höher hinaufziehen.« 87
»Es ist hoch genug.« Ich glaube, ich hätte nicht einmal ein Kätzchen über einen glatten Boden ziehen können, so erschöpft war ich. »Ich sehe nach Sunyo.« Ich fiel fast über ihn in der Dunkelheit. Ich versuchte ihn hochzuheben, doch schaffte er es allein. Wir taumelten über die klickenden Kiesel, und ich war mir gar nicht sicher, wer nun wen stützte. Irgendwie schafften wir es ein Stück, bis eine kleine Böschung, nicht höher als unser Knie, uns den Weg versperrte. Oben war Sand, und Grasbüschel wuchsen dort. Ich zog mich hinauf, Sunyo plumpste neben mich, und Kelly, der zurückgeblieben war, kam ein paar Augenblicke später. Wir waren völlig erschöpft. Mein Geist war hell wach, doch mein Körper so zerschlagen, daß er hilflos war. Ich überlegte, ob ich eine Hand heben sollte, doch wäre die Anstrengung viel zu groß gewesen. Ich war mir meiner Umgebung genau bewußt, vor allem aber der Festigkeit des Bodens unter mir – und endlich des Fehlens jeder Bewegung. Ich konnte das Murmeln und Plätschern des Meeres hören, das die Kiesel den Strand hinaufrollte. Sollte es doch mit den Steinen spielen – wir jedenfalls waren, so unglaublich das auch schien, seinen Klauen entronnen. »Das Boot …« murmelte Kelly. »Was ist mit dem Boot?« »Wir sollten noch einmal versuchen, es höher auf den Strand zu ziehen.« Ich hörte, wie er sich aufrappelte, sah undeutlich seine aufragende Gestalt und bewunderte seine Leistung. Ich dachte wiederum daran, die Hand zu heben, versuchte es aber nicht. Kelly beugte sich zu mir und zupfte mich am Ärmel. 88
»Komm, Clive.« Ich wäre wohl wütend geworden, hätte ich noch die Kraft dazu gehabt. Und plötzlich überkam mich auch eine geistige Müdigkeit; und der Schlaf rollte in meinen Adern wie die Wogen der See. »Das Boot ist schon in Ordnung. Mach dir keine Sorgen.« Er sagte noch etwas, doch es interessierte mich nicht mehr. Ich hatte den undeutlichen Eindruck, daß Kelly sich wieder hinlegte, bevor die Welle über mir zusammenschlug. Als ich erwachte, dämmerte es. Meine Knochen schmerzten, und Mund und Kehle waren ausgetrocknet. Ich versuchte zu schlucken, aber es gelang mir nicht. Der Durst schien sich in meinem ganzen Körper ausgebreitet zu haben: trinken war alles, was ich denken konnte. Sunyo und Kelly lagen neben mir und schliefen. Hinter uns rauschte das Meer. Ich weckte sie nicht, sondern stand mühsam auf und torkelte ein paar Schritte nach vorn. Es war noch dunkel, doch sah ich die Umrisse von Bäumen in einiger Entfernung. Ich bewegte mich unbeholfen auf sie zu. Zwischen Strand und Waldessaum erstreckten sich ungefähr hundert Meter lang leichtgewellte, sandige Dünen, die spärlich mit Gras bewachsen waren. Der lockere Sand machte jeden Schritt zur Qual, doch der Gedanke an Wasser trieb mich unaufhörlich weiter. Jetzt konnte ich die Bäume viel klarer sehen, wie sie ihre Wipfel im Wind bewegten. Im Zwielicht schienen sie eher grau als grün zu sein. Ein Vogel stieß einen schrillen Schrei aus. Sonst rührte sich nichts; nur der Wind wehte, und das 89
Meer weit hinten rauschte, und meine Füße schlurften durch den Sand. Bald war ich so nahe, daß ich einzelne Bäume unterscheiden konnte, trotzdem war mir das finstere Unbekannte dahinter deutlich bewußt. Plötzlich hörte ich vor mir ein Geräusch – ein scharfes Knacken, wie wenn jemand einen Ast zerbricht. Oder etwas ähnliches. Ich blieb stehen. Und dann hörte ich in der Stille – der Wind hatte sich nun gelegt – etwas anderes: ein- leises, gleichmäßiges Gurgeln, das Geräusch von Wasser. Ich lief beinahe in den Wald hinein. Es hatte verwirrend nahe geklungen. Ich stürmte zwischen den Bäumen hindurch und achtete nicht auf das Gestrüpp, das sich in meinen Kleidern verhakte. Ich dachte schon, ich hätte es verloren, doch da war es wieder, lauter diesmal. Der Waldboden stieg vor mir an und fiel dann zu einem Flußlauf ab, genau vor mir. Der Bach floß zwischen hohen Ufern, war sehr schmal und führte starke Strömung. Halb kletternd, halb rutschend glitt ich die Böschung hinab und tauchte mein Gesicht ins Wasser. Zunächst trank ich gierig wie ein Tier, und dann trank ich tiefe Schlucke aus der hohlen Hand. Allmählich ließ der brennende Durst nach, und ich trank weiter, langsamer und benetzte auch mein Gesicht. Schließlich stand ich auf, kletterte wieder hinauf und suchte die anderen. Ich war zwar der Meinung, ich sei ziemlich an der gleichen Stelle aus dem Wald getreten, an der ich hineingelaufen war, aber trotzdem konnte ich keine Spur von Kelly oder Sunyo finden. Der Himmel war inzwischen hell geworden, und ich konnte die Böschung genau übersehen, doch es gab nur Sand und Gras. Konnte ich mich in der Richtung so sehr geirrt haben? Oder hatten sie 90
mich gesehen und waren mir gefolgt? Ich wandte mich zurück zum Wald, als ich aus der entgegengesetzten Richtung schwache Stimmen vernahm. Sie mußten am Strand sein. Ich rief und winkte, und sie kamen auf mich zu. Sunyo sah in dem grellen Morgenlicht sehr schlecht aus; seine Haut war gelb und spannte sich über den Wangenknochen. Auch Kelly sah sonderbar aus, doch ich bemerkte sofort, daß das weniger von seinem schlechten Zustand kam als von Ärger. »Mußt du unbedingt so schreien?« flüsterte er wütend. »Weißt du denn nicht, daß das die Wildnis ist? Willst eine ganze Horde Wilder anlocken?« »Der Strand ist völlig ausgestorben«, sagte ich. »Du kannst meilenweit sehen. Auf der anderen Seite ist auch nichts weiter als unbewohnter Wald. Was macht ihr überhaupt hier am Strand?« »Wir wollten nach dem Boot sehen. Aber wir haben es nicht gefunden. Wenn du dich letzte Nacht noch ein bißchen angestrengt hättest, hätten wir es weiter raufziehen können. So hat es die Strömung fortgetragen. Wahrscheinlich ist es schon fast in Frankreich.« »Was macht das für einen Unterschied?« »Den Unterschied zwischen Festsitzen auf diesem gottverlassenen Land oder einer Küstenfahrt, bei der wir vielleicht etwas Besseres gefunden hätten. Weiter nichts.« »Ein Boot«, knurrte ich, »ohne Ruder, mit einem abgebrochenen Mast und ohne Segel.« »Wir hätten Ruder anfertigen können.« Ich lachte. »Was für Werkzeuge willst du denn benutzen?« 91
»Oder wir hätten wenigstens einen Notmast aufrichten können und so etwas wie Segel – unsere Hemden vielleicht.« »Du mußt völlig verrückt sein.« Ich war so wütend, daß ich ihn am liebsten geschlagen hätte, doch hatte ich den Eindruck, ich würde dabei selbst umfallen. »Hört auf«, sagte Sunyo. »Das Boot ist eben fort, es ist sinnlos, jetzt noch darüber zu reden. Wir müssen an andere Dinge denken – an Nahrung und Wasser vor allem.« Seine Gelassenheit kühlte uns etwas ab. Kelly zuckte mit den Schultern. »Das Wasserproblem wenigstens ist gelöst«, sagte ich. »Ich habe einen Fluß gefunden, gleich dort im Wald.« Kellys Gesicht hellte sich auf. »Prima, Macduff. Zeig uns den Weg.« Ich führte sie über die Böschung und quer durch die Dünen zum Wald. Jetzt konnte ich ihn deutlicher erkennen und erahnen, wie groß und dicht er sein mußte. Etwas weiter entfernt hob sich bergiges Land, das ebenfalls dicht bewaldet war. Als ich nun alles so betrachtete und mein schlimmster Durst gestillt war, kam mir plötzlich mit aller Klarheit zum Bewußtsein, wo wir überhaupt waren und was dies alles bedeutete. Die Wildnis. Was hinter dem leise wogenden Blätterwald, in dem finsteren, undurchdringlichen Gestrüpp liegen mochte, konnte man nicht ahnen. Ich dachte an die Geschichten der Diener, die von wilden Bestien erzählten. In der Ferne erklang ein Geräusch, das anund abschwoll – der Wind in den Baumwipfeln oder das Heulen eines Wolfes? Ich blieb wie angewurzelt stehen. 92
»Was ist los?« fragte Kelly. »Hast du den Weg verloren?« Vielleicht waren es auch Wilde, die sich gegenseitig riefen – vielleicht hatten sie uns schon gesehen und bewegten sich nun leise auf uns zu, um uns zu umzingeln und anzugreifen. Auch Sunyo sah mich erstaunt an. Ich nahm mich zusammen. »Ich wußte im Moment nicht genau, wo wir waren. Es muß dort drüben sein.« Wir bahnten uns einen Weg durch das Unterholz, fanden den Fluß, und die beiden tranken sich satt. Obwohl ich nicht mehr durstig war, trank ich ebenfalls. Schließlich erhoben wir uns wieder, und Kelly sagte: »Das ist gut. Wir brauchen jetzt nur noch etwas zu essen. Siehst du irgendwo Kokospalmen oder Brotfruchtbäume?« Doch die Bäume um uns herum schienen nur Blätter zu tragen, dies allerdings im Überfluß. Sie waren mir völlig unbekannt; mit Sicherheit waren keine Platanen oder Zierkirschen oder Immergrünsträucher darunter, die in den Londoner Parks standen. Sie dienten dort allein dem Zweck einer dekorativen Kulisse. Diese Bäume aber waren echt und keineswegs dekorativ. Sie wuchsen wild, ungeordnet und im ständigen Kampf ums Überleben : Einige waren mächtig hoch mit einem dicken Stamm, andere dünn, kränklich, völlig im Schatten der großen Bäume. Es sah alles so sinnlos, durcheinander und deprimierend aus. »Hier gibt es nichts«, antwortete Sunyo auf Kellys Frage. »Wir sollten lieber weitergehen.« Kelly nickte. »Ja, folgen wir dem Flußlauf.« 93
»Nein«, widersprach ich. »Ich finde, wir sollten lieber wieder aus dem Wald herausgehen und dem Strand folgen.« »Warum?« fragte Kelly. »Wir wissen doch, was es dort gibt – nichts, nur Sand und Steine und Meer.« »Vielleicht können wir einen Fisch fangen.« »Womit denn? Und wie sollen wir ihn kochen?« »Immerhin aber würden wir sehen, wohin wir gehen. Hier kannst du nur ein paar Meter weit sehen, in diesem schrecklichen Dschungel.« Das irritierte mich am meisten: nichts sehen zu können. Dazu kam noch das Gefühl, jeden Moment könnte etwas aus dem nächsten Busch hervorspringen. »Ich jedenfalls bin dafür, daß wir dem Fluß folgen«, sagte Kelly. »Er muß uns irgendwohin führen – vielleicht zu einem größeren Fluß.« »Wahrscheinlich fließt er ins Meer«, sagte ich eigensinnig. »Wir vergeuden also nur Zeit und Kraft und sind am Ende doch nicht besser dran. Ich bin für den Strand.« Kelly blickte Sunyo an. »Ich denke, Kelly hat recht«, sagte der. »Auf diese Weise sind wir immer in der Nähe von frischem Wasser. Später wird das vielleicht mal wichtig sein.« »Also Clive?« ermunterte mich Kelly. Eigentlich wollte ich widersprechen, doch war ich zu müde und hungrig, außerdem hatte ich es langsam satt. Wieder dachte ich daran, daß ich, wäre er nicht gewesen, jetzt wahrscheinlich zu Hause sein würde – vielleicht würde ich das morgendliche Fernsehprogramm ansehen, und Bobby würde mir das Frühstück bringen. Ich zuckte mit den Schultern. »Wenn ihr wollt.« 94
Wir folgten also dem Flußlauf. Bisweilen waren wir gezwungen, uns etwas zu entfernen, da die Böschung stellenweise mit verfilzten!, undurchdringlichem Unterholz bewachsen war. Zunächst erwartete ich, daß wir ziemlich rasch zum Meer kommen würden – immerhin war der Fluß nicht mehr als ein paar hundert Meter vom Strand entfernt gewesen, als ich auf ihn stieß –, und es wäre natürlich eine große Befriedigung für mich gewesen, hätte sich meine Vorhersage als richtig erwiesen. Doch blieben wir im Wald und bewegten uns, nach der wachsenden Helligkeit zu schließen, genau ostwärts. Niemand sagte etwas. Während wir so liefen, durchdachte ich unsere Lage noch einmal gründlich und logisch. Die Küste, auf die wir zugetrieben waren, verlief offensichtlich in ungefährer Ost-West-Richtung. Wenn man nicht einen Fehler der Geographen annehmen wollte, so war es nur allzu wahrscheinlich, daß wir uns an der Südküste Englands befanden. Und entlang dieser Küste gab es drei Städte: Plymouth, Southampton und Dover. Wiederum am wahrscheinlichsten war, daß Southampton am nächsten lag und daß wir uns ungefähr in dieser Richtung bewegten. Meine gute Laune kam zurück, als ich mir das vorstellte. In wenigen Stunden – vielleicht sogar jeden Augenblick – konnten die Bäume den Blick auf Brachland freigeben und auf die Stadtmauer in der Ferne. Dann brauchte ich nur noch die Wachen am Tor anrufen. Herr Sherrin würde mich abholen, und ich könnte über Visafon mit meinem Vater sprechen. Er mußte jetzt schon wieder in London sein. Ich überlegte, ob ich wohl Miranda sehen könnte, bevor ich das Luftschiff nach Hause nehmen würde? 95
Kelly und Sunyo würden wahrscheinlich auf die Insel zurück müssen. Aber sicher würde Vater etwas tun können, um ihnen zu helfen, selbst wenn er sie nicht sofort freibekommen könnte. Eine Rückkehr zur Insel wäre immerhin besser, als in der Wildnis herumzuirren, ohne einen Weg und dem Hungertod ausgeliefert. Bisher hatten wir nur Bäume und Büsche gesehen, doch das beruhigte mich keineswegs. Und dann waren die Pflanzen auch so fremd. Ich dachte an die der Parks, die wundervolle Blüten hatten und von denen jede einzelne mit einem Namenschild gekennzeichnet war. Am Ufer wuchsen zwar auch Blumen, doch waren ihre Blüten klein und unscheinbar. Sie sahen nichtssagend aus, trist. Überhaupt war die Wildnis trist – trist und unwirtlich und abweisend. Kelly blieb bei einem Busch mit blauen Beeren stehen. »Sieht aus wie Brombeere«, stellte er fest. »Brombeeren?« »Ich habe sie in Boston in einem Park gesehen, als ich meine Tante besuchte. Man kann sie essen. Hast du eine Ahnung, ob Brombeeren in England wachsen?« Ich schüttelte den Kopf. »In London jedenfalls nicht. Ich würde sie an deiner Stelle nicht probieren.« Kelly gab keine Antwort, sondern riß eine Beere ab und steckte sie in den Mund. Er verzog das Gesicht und spuckte sie wieder aus. »Nein danke. So hungrig bin ich nun auch wieder nicht.« Gedankenverloren starrte er auf den Fluß, der wild über große Steinbrocken gurgelte. 96
»Meinst du, hier könnten Fische sein?« »Ich habe noch keine gesehen. Ich glaube auch, daß es zu seicht ist. Und wenn es welche gäbe, und wenn wir sie fangen könnten, hätten wir doch keine Möglichkeit, sie zu kochen, wie du selbst gesagt hast.« »Ich würde meinen roh essen.« Er grinste Sunyo an. »Eßt ihr keine rohen Fische in Japan?« »Ja, wenn sie auf bestimmte Weise zubereitet sind und dann mit Soße. Aber ich bin derselben Meinung: Ich brauchte keine Soße.« Ein heller Fleck bezeichnete den Stand der Sonne. Sie stand schon recht hoch. Allmählich schien auch die Wolkendecke dünner zu werden, denn wir sahen manchmal sogar die helle Scheibe. Es wurde langsam auch wärmer, und unsere nassen Hemden begannen zu trocknen. Wir waren sehr müde, und der Hunger wurde schlimmer und schlimmer. Hatte ich nicht in irgendeiner Geschichte über das Finstere Zeitalter gelesen, daß damals die Leute Rinde von den Bäumen nagten? Jetzt schien mir das nicht ganz so unwahrscheinlich. Manchmal waren wir auf Lichtungen gestoßen. Meist war der Boden steinig, so daß sich kein Pflanzenwuchs entwickeln konnte. Ich nahm also an, es sei bei dieser Lichtung ähnlich, auf die wir nun hinaustraten. Aber das stimmte nicht. Einmal war sie größer als gewöhnlich, vielleicht fünfzig Meter breit, und sie war fast quadratisch. Im Augenblick hatte ich allerdings mehr Aufmerksamkeit für die Tiere, die, kaum ein, zwei Meter von uns entfernt, in das Unterholz jagten. Sie hatten die Größe von Hunden, waren aber fetter, hatten graues Fell und kurze Beine, die sie aber erstaunlich schnell bewegen 97
konnten. Sie grunzten, und ich erkannte sie von Abbildungen: Es waren Schweine. Wildschweine also, und sie sahen schrecklich aus mit ihren gewaltigen weißen Hauern, die gefährlich blitzten. Ich war wie angewurzelt stehen geblieben, aber Kelly ging weiter. »Seht euch das an! Unser Frühstück!« Einen Augenblick dachte ich, er meinte die Schweine und sei übergeschnappt. Ich hatte nicht die mindeste Absicht, es mit ihnen aufzunehmen – es waren mehr als ein halbes Dutzend, und eines war besonders groß –, außerdem waren sie schon längst im Wald verschwunden. Aber er deutete auf die Lichtung. Und dann bemerkte ich noch einen Unterschied zu früheren Lichtungen, die wir gesehen hatten. Die Lichtung war bepflanzt worden. Ich bemerkte Reihen von Kohlköpfen – dort hatten die Wildschweine offensichtlich gewütet –, Furchen in denen grüne Pflanzen mit kleinen weißen und roten Blüten wuchsen, und Reihen anderer Pflanzen, die von Stöcken gestützt wurden. Lange grüne Bohnen hingen von einigen heraus, von anderen reife Tomaten. Es war ein Gemüsefeld. Die Wilden mußten es angelegt haben. Diese Erkenntnis war ein ziemlicher Schock für mich – zu sehen, daß die Wilden intelligent genug waren, Gärten anzulegen … Aber wo waren sie? Zwar konnten wir keine Spur von ihnen entdecken, doch mußten sie irgendwo in der Nähe hausen. Ich wollte gerade den Mund aufmachen, um meine Vermutung den anderen mitzuteilen, doch Kelly war bereits auf dem Weg zu den Tomatenstauden. Er pflückte eine Tomate und schlug seine Zähne in das weiche Fleisch. 98
»Herrlich! Einfach herrlich!« »Wir sollten lieber vorsichtig sein«, warnte Sunyo. Ich war derselben Meinung, doch der Anblick des essenden Kelly war zuviel für mich. Ich folgte seinem Beispiel und pflückte mir auch eine Frucht. Der Saft war süß und gut. Ich schlang die Tomate hinunter und biß in eine zweite. Sunyo hatte sich uns jetzt auch angeschlossen, und wir drei hatten nur Augen für die Dinge, die in unmittelbarer Greifnähe waren – für die Tomaten. Vielleicht war Sunyo nicht so gierig wie Kelly und ich, vielleicht war er auch von Natur aus wachsamer. Leise, mit ruhiger Stimme sagte er: »Wir werden beobachtet.« Er bewegte den Kopf langsam nach rechts, um uns die Stelle zu bezeichnen. Irgend etwas bewegte sich im Buschwerk – ich erkannte eine menschliche Gestalt, dann eine zweite. Kelly hatte sie auch gesehen. Ich zog die Hand zurück, die ich schon nach einer Tomate ausgestreckt hatte. »Wilde!« rief Kelly. »Lauft in die entgegengesetzte Richtung, wenn ich es euch sage.« »Jetzt.« Und wir rannten los. Weit hinter uns kamen Männer aus dem Unterholz gelaufen. Ich versuchte rascher zu rennen. Dann kamen weitere Männer, direkt aus den Büschen vor uns. Es waren sechs. Sie trugen nichts außer kurzen Hosen aus grobem Stoff und Sandalen. Aber sie hatten gefährlich aussehende Prügel bei sich und schienen nicht abgeneigt, diese auch zu gebrauchen. Wir blieben stehen, und bevor wir einen anderen Gedanken fassen konnten, hatte der Rest uns eingeholt. Einer von ihnen sagte etwas. Ich verstand ihn nicht, spürte aber, daß er uns drohte. Kelly 99
bewegte sich ein wenig, und sofort hoben sich die Prügel, die sie in den muskulösen Händen hielten. »Wehrt euch nicht«, riet Sunyo. »Ich glaube nicht, daß sie uns töten werden.« Ich fragte mich, woher er das wissen wollte, und hoffte sehr, er würde recht behalten. Mir schienen sie recht mordlustig. Aber Widerstand wäre ohnehin unmöglich gewesen. Sunyo hob die Arme hoch, um sich zu ergeben. Kelly und ich taten es ihm nach. Wieder sprach der Wilde. Seine Stimme klang zwar nicht freundlicher, doch drohte er nicht mehr mit erhobenem Knüppel. Das Dorf, das ganz in der Nähe lag, bestand aus primitiven Hütten. Wir sahen Frauen, Kinder und Männer, hatte aber keine Gelegenheit, sie genauer anzuschauen. Wir wurden in eine der Hütten gestoßen, und ich fiel der Länge nach auf den harten Boden. Unterwegs hatten die Wilden miteinander gesprochen. Allmählich hatte ich dabei das eine oder andere Wort verstanden. Sie sprachen eine Mundart, ähnlich wie sie die Diener untereinander sprachen, doch viel rauher und schwerer zu verstehen. Trotzdem konnte ich der Unterhaltung so weit folgen, um zu wissen, worum es ging. Offensichtlich plünderten die Wildschweine ihre Gemüsefelder; die Wilden wiederum benutzten diese als Köder, um sich auf diese Weise mit frischem Schweinefleisch zu versorgen. Die Leute, die die Felder bewachen mußten, hatten beobachtet, wie die Schweine einfielen, und waren ins Dorf zurückgekehrt, um die Männer zur Jagd zu versammeln. Doch wir hatten als erste die Schweine überrascht, und die Wilden fanden an ihrer Stelle uns, die sich über ihr Gemüse hergemacht hatten. 100
Es war schwer, zu entscheiden, ob sie wütender darüber waren oder über den Verlust an Frischfleisch. Sicher war nur, daß sie nicht erfreut waren. Wenn sie irgend etwas gesagt haben sollten, was uns betraf und ihre Absicht zum Ausdruck brachte, was mit uns geschehen würde, so hatte ich es nicht mitbekommen, so wenig wie Kelly oder Sunyo. Wir hockten in der Hütte und erwogen flüsternd Möglichkeiten und Aussichten. Es war sinnlos, darin waren wir einig, bei hellem Tag zu fliehen. Wir hörten nicht nur, daß das Dorf geschäftig sein mußte, sondern wußten auch, daß ein Wachtposten neben der Tür stand. Er hatte außerdem gute Ohren. Denn als Kelly die Wand untersuchte, ob man vielleicht ein Loch machen könnte, kam er sofort hereingestürzt und bedrohte uns mit seinem Knüppel. Als einzige Hoffnung blieb, bis zur Dunkelheit zu warten. Es gab zwar immer noch keinen Grund, weswegen unsere Chancen dann größer sein sollten, vor allem, weil wir durch den nachtdunklen Wald würden flüchten müssen, aber immerhin mußten sie ein wenig besser stehen. Es war ein langer, schrecklicher Tag. Man brachte uns weder Essen noch Trinken, und die paar Tomaten, die wir gegessen hatten, reichten bei weitem nicht aus, den Hunger zu stillen. Bald waren wir auch wieder durstig. Doch müde waren wir auch, so daß wir hin und wieder ein wenig einnickten. Ich erwachte aus so einem seichten Schlaf, weil jemand in die Hütte gekommen war. Ein Wilder sagte etwas Unverständliches zu uns und bedeutete uns durch Gesten, wir sollten hinauskommen. Ich folgte Kelly und Sunyo noch ganz benommen und leicht beunruhigt. 101
Draußen standen einige Wilde, die uns mit Stricken sehr unsanft die Hände auf den Rücken banden. Es war früh am Abend: Im Westen glühte der Himmel rot, im Zenit strahlte er noch dunkelblau. Das besiegelt also unseren Plan einer nächtlichen Flucht, dachte ich. Mit gebundenen Händen wurden wir aus dem Dorf geführt. Der Weg führte in entgegengesetzter Richtung zu dem Gemüsefeld. Er war eng und stellenweise überwuchert. Ein paar der Wilden liefen vor uns, ein halbes Dutzend folgte uns. Selbst mit freien Händen wäre es hoffnungslos gewesen, einen Fluchtversuch zu wagen. Bitter dachte ich an meinen Tagtraum – Southampton erreichen, Herrn Sherrin und Miranda. Im Moment wäre ich schon zufrieden gewesen, der Fesseln ledig zu sein und etwas zu essen zu bekommen. Es war eine lange Wanderung. Der Himmel wurde langsam dunkler, und der Wald schien sich näher an den Weg zu drängen. Ich stolperte einmal und fiel beinahe. Ein Keulenschlag traf mich über den Rücken, um mich anzutreiben. Ich fragte mich, was uns wohl am Ende des Weges erwarten würde, war aber zu müde und erschöpft, als daß es mich sehr beschäftigt hätte. Der beißende Hunger in meinen Eingeweiden wurde fast verdrängt von dem Wunsch, niederliegen zu dürfen und alles zu vergessen. Ich taumelte, und wieder traf mich die Keule. Als wir schließlich um eine Wegbiegung traten, tauchte vor uns ein Licht auf, das wesentlicher heller schien als der Mond, der uns die letzte Stunde lang begleitet hatte. Wir sahen ein Feuer, hohe Flammen, die sich knisternd vor der dunklen Wand des Waldes bewegten. Dann hörte ich auch Stimmen. Unsere Wilden riefen et102
was, ein Gruß wohl, und erhielten Antwort. Sie stießen uns vorwärts. Wir standen blinzelnd vor dem Feuer. Es war schwierig, genau festzustellen, wie viele zu dieser anderen Horde gehörten, mehr als sechzig sicher, überlegte ich. Sie trugen lange Hosen und Hemden aus grobem, grünem Stoff. Ihre Gesichter, die uns musterten, zeigten eher Verachtung als Neugier. Einer sagte irgend etwas, und die anderen lachten – das Lachen klang keineswegs fröhlich. Doch dann rief plötzlich eine andere Stimme: »Bringt sie hierher. Ich will sie sehen.« Die Stimme überraschte mich, denn sie sprach mit dem Akzent der Stadtbewohner. Man führte uns um das Lagerfeuer herum zu einem Mann, der mit gekreuzten Beinen auf dem Boden saß. Er stand auf. Er war sehr groß, über einen Meter achtzig, trug einen gekräuselten schwarzen Bart, der stellenweise schon ergraut war, und hatte eine mächtige, gebogene Nase. Er blickte uns an, so daß mir die Knie zu zittern begannen. »Stadtjungen«, schnaubte er. Er zeigte seine Verachtung deutlich. »Welche Stadt?« Er sah mich an, und ich sagte: »London. Aber die anderen …« »Was ist mit ihnen?« Ich zeigte auf sie. »Sunyo ist aus Kyoto, Kelly aus Jacksonville.« Er schien plötzlich interessiert. »Erkläre mir das.« Ich erzählte ihm kurz von der Insel und von unserer Flucht. Sein Gesicht blieb leer. Schließlich sagte er: »Ihr seid also fortgelaufen, weil euer Leben hart war. Das war aber nicht unbedingt klug von euch.« 103
Wir gaben keine Antwort, und er starrte uns an. Sein Gesicht glich dem eines Falken. »Ihr werdet es tatsächlich bereuen«, sagte er. »Die Wildnis ist kein Platz für Stadtjungen. Kennst du mich von London, Clive?« Ich schüttelte den Kopf. Der Mann sah mich finster an. »Die anderen zwei werden meinen Namen nie gehört haben, aber du kennst ihn wahrscheinlich. Man nennt mich den Wilden Hans.« 7 Wir wurden zu einer anderen Hütte geführt, wo man uns allein ließ. In diesem Dorf wie in dem ersten standen die Behausungen am Rande der Lichtung unter schützenden Bäumen, doch waren diese solider gebaut. Die Balken, aus denen die Wände bestanden, waren mächtiger und wesentlich haltbarer zusammengefügt. Außerdem hatte die Hütte eine richtige Tür. Wir hörten, wie ein eiserner Riegel vorgelegt wurde. Innen war es stockdunkel. Ich tastete mich vorsichtig vorwärts. »Also, wer ist denn nun der Wilde Hans?« fragte Kelly. Ich wußte selbst nicht, was ich von der ganzen Sache halten sollte. »Das ist ein Märchen, das die Diener erzählen – die Kindermädchen jedenfalls. Er ist so eine Art Buhmann. Sie erzählen vom Wilden Hans, daß er aus der Wildnis in die Städte kommt und Kinder stiehlt. Sie sagen das nur, damit die Kinder brav sind; das dachte ich wenigstens bisher.« »Wir haben etwas Ähnliches in Japan. Bei uns heißt er 104
aber der Behaarte Ainu. Einige der Geschichten sind sehr blutrünstig«, sagte Sunyo. »Die über den Wilden Hans sind das teilweise auch. Es gibt ein Lied, das er angeblich singen soll: »Fee fo fi fans, Ich rieche das Blut eines Stadtmanns.« »Unsere Diener erzählten von dem Blutigen Bill«, warf Kelly ein. »Ich glaube, überall gibt es die gleichen Geschichten.« »Aber der Wilde Hans existiert wirklich«, bemerkte Sunyo. »Er scheint der Anführer dieser Horde zu sein.« »Ernennt sich Wilder Hans«, berichtigte Kelly. »Er nimmt eben den Mund ein wenig voll. Sonst ist er nur ein gewöhnlicher Wilder.« »Nicht nur ein gewöhnlicher Wilder«, widersprach ich nachdenklich. »Er spricht reines Stadt-Englisch.« »Willst du damit sagen, daß du diesen Unsinn glaubst?« fragte Kelly ungläubig. »Kinderstehlen und das? Hast du jemals gehört, daß Kinder gestohlen wurden?« Ich brauste auf. »Natürlich glaube ich das nicht. Aber er ist kein gewöhnlicher Wilder. Er könnte vielleicht gefährlicher sein. Warum nennt er sich überhaupt Wilder Hans? Offensichtlich ist er eine Art Abtrünniger.« Kelly schien etwas sagen zu wollen, doch Sunyo kam ihm zuvor. »Wer immer er auch sein mag, er schaut jedenfalls nicht freundlich aus. Wir sollten lieber einen Fluchtplan machen, als unsere Zeit mit Diskussionen zu vergeuden.« »Schon, nur wie?« fragte Kelly. »Wir können nicht einmal die Wände sehen.« 105
»Wir können sie aber mit den Händen abtasten«, widersprach Sunyo. »In der anderen Hütte gab es eine schwache Stelle, und wir finden hier vielleicht auch eine.« Das würde uns wenigstens beschäftigen. Ich tastete mich also an der Wand entlang, die leider ziemlich solide wirkte, und stolperte schließlich über Kelly. Wir wechselten ein paar spitze Bemerkungen, bis Sunyo uns befahl, den Mund zu halten, denn der Riegel an der Tür bewegte sich kreischend. Die Tür wurde aufgestoßen. Das Licht des Lagerfeuers flutete herein, und dann noch ein anderes Licht, näher, das von einer Fackel stammte, die einer der Männer trug. Jemand drängte sich an ihm vorbei, und ich sah mit einigem Erstaunen, daß es ein Mädchen war. Sie war ungefähr in unserem Alter, so groß wie Sunyo, aber natürlich viel zierlicher. Sie trug wie die Männer grüne Kleidung: ein Hemd mit offenem Kragen und lange Hosen. Ihr Haar war schwarz und füllig, schulterlang, und ich bemerkte, daß sie eine sehr dunkle Gesichtsfarbe hatte – nie vorher hatte ich ein Mädchen mit einem ähnlich braunen Gesicht gesehen. Sie blickte hart und unfreundlich, doch waren ihre Gesichtszüge regelmäßig. »Der Wilde Hans schickt euch euer Abendessen«, sagte sie. Auch ihre Stimme war hart, obwohl sie StadtEnglisch sprach. Sie hatte blendend weiße Zähne. »Wenn ihr ein Festessen erwartet«, sagte sie, »werdet ihr enttäuscht sein. Wir vergeuden kein Essen hier in der Wildnis. Der Wilde Hans wird morgen entscheiden, was mit euch geschehen soll.« Sie reichte uns einen Topf und einen Laib Brot – ich griff nach dem Brot, Kelly nach dem Topf. Das Mädchen 106
zuckte nachlässig die Achseln und sagte dann verächtlich: »Schlaft, so gut ihr könnt, Stadtjungen.« Dann ging sie. Die Tür wurde zugeschlagen, der Riegel vorgelegt, und wir blieben wieder in der Dunkelheit allein. »Hier im Topf ist Wasser«, sagte Kelly. »Sie hatte recht, als sie sagte, das sei kein Festmahl.« Ich teilte das Brot, indem ich es in Stücke brach – sehr darauf bedacht, daß die Anteile gleich groß ausfielen, dann gab ich Kelly und Sunyo die Rationen, und Kelly reichte den Topf herum. »Geht sparsam damit um«, sagte er dabei. »Wir wissen nicht, wann wir wieder etwas bekommen.« »So dumm bin ich auch wieder nicht«, antwortete ich spitz und trank einen Schluck. Eigentlich war ich ganz und gar nicht von dieser Behauptung überzeugt, denn ich hatte das dumpfe Gefühl, daß ich Kelly das größte Stück Brot gegeben und für mich das kleinste behalten hatte. Er machte die Sache noch schlimmer, als er sich an Sunyo wandte. »Hier, nimm die Hälfte von mir. Du hast seit Tagen nichts mehr gegessen.« Beschämt wollte ich ebenfalls Sunyo einen Teil von mir anbieten, doch dieser wehrte ab. »Nein. Ich fühle mich ganz gut. Aber hört zu, ich habe mir die Wände angesehen vorhin, und ich habe eine Stelle entdeckt, wo die Wand möglicherweise schwächer ist. Eßt auf, und dann werden wir schauen, was wir machen können.« Ich schlang mein Brot gierig. Kelly war kurz nach mir fertig, nur Sunyo aß langsam weiter. Das Kaugeräusch war zum verrücktwerden: Ich war immer noch entsetz107
lich hungrig. Schließlich war er fertig, und wir untersuchten gemeinsam die schwache Stelle, die er angeblich gefunden hatte. Sie lag hoch oben, dort wo Wand und Dach zu einer Ecke zusammenstießen, und wir konnten nur hinaufreichen, wenn wir uns abwechselnd auf die Schultern des anderen stellten. Sunyo war der erste, und Kelly hielt ihn fest; dann war Kelly an der Reihe, und ich half ihm hinauf. Als ich dran war, ertastete ich ein Loch und begann an den Rändern zu zerren. Das Holz war verrottet, und man konnte die Öffnung erweitern, so weit jedenfalls, bis wir auf eines der Taue stießen, die die Balken zusammenhielten. »Wenn wir nur ein Messer hätten …« stöhnte ich. Ich hatte zu Sunyo gesprochen, auf dessen Schultern ich stand. »Wie wäre es mit einer Strahlerpistole?« bemerkte Kelly spöttisch. »Oder einem Hubschrauber auf dem Dach? Ist doch völlig sinnlos, sich solche Sachen auszumalen.« Ich achtete nicht auf ihn und sprach weiter mit Sunyo. »Ich glaube nicht, daß ich da mehr ausrichten kann.« »Laß es mich nochmals versuchen.« Wir tauschten die Plätze – es war mir ganz recht, und er arbeitete eine Ewigkeit – wie Stunden erschien es mir jedenfalls. »Soll ich dich ablösen?« fragte Kelly. »Nein.« Sunyos Stimme klang müde und resigniert. »Wir verschwenden nur Zeit. Es ist zu massiv, um durchzukommen.« »Du hast recht«, stimmte Kelly zu. »Versuchen wir ein wenig zu schlafen. Was immer auch auf uns morgen wartet, so sollten wir wenigstens ein wenig ausgeruht sein. Ich nehme das Bett mit der luftgepolsterten Matrat108
ze, dort neben dem großen Fenster. Ihr müßt euch selbst welche aussuchen.« Der Boden bestand auch hier aus festgestampfter Erde, doch ich schlief sofort ein, als ich mich niederlegte. Allerdings wachte ich ebenso rasch wieder auf: Ich krümmte mich vor Leibschmerzen. Das Brot war frisch gewesen, und ich hatte es zu gierig gegessen. Ruhelos warf ich mich hin und her, und es schienen Stunden vergangen zu sein, bevor ich endlich in einen Erschöpfungsschlaf fiel. Mir kam es vor, es wären erst ein paar Minuten vergangen, als ich erneut erwachte: Die Tür wurde geöffnet. Ich schaute benommen auf und merkte, daß es bereits heller Tag war. Zwei Gestalten standen im Türrahmen, und ich erkannte den krausen schwarzen Bart und die Hakennase des Mannes, der sich Wilder Hans nannte. Mühsam rappelte ich mich auf. Kelly und Sunyo hatten sich bereits erhoben. Der Wilde Hans trat in die Hütte. Er blickte abwechselnd auf uns und auf das Loch, das wir in die Wand gemacht hatten, und lachte. »Die Mäuse haben also versucht, aus der Mäusefalle zu entwischen! Sieht aber so aus, als seien ihre Zähne nicht scharf genug. Was soll man anderes von Stadtmäusen auch erwarten, oder was meint ihr? Er sprach zwar gutes Englisch, doch hatte seine Stimme einen rauhen Ton, der mir überhaupt nicht gefiel; sein Lachen war ebenfalls nicht angenehm. »Kommt raus!« befahl er. Wir traten blinzelnd ins Freie. Die Sonne stand über den Bäumen am jenseitigen Ende der Lichtung, und der Himmel stach mit seiner Bläue scharf gegen das Grün des Waldes ab. Die Gestalten, die uns beobachteten, sahen keineswegs freundlicher aus als ihr Anführer. 109
Aus der Richtung des Lagerfeuers hörten wir leise das Brutzeln von Schinkenstreifen, und ein Duft wehte zu uns, der mir vor Hunger fast die Sinne schwinden ließ. »Wir haben euch nicht eingeladen«, sagte der Wilde Hans. »Ihr hättet außerdem klüger sein müssen, nicht hierherzukommen. Da ihr aber nun mal da seid, habt ihr keine andere Wahl, als das Beste daraus zu machen – obgleich ich nicht sicher bin, ob euer Bestes tatsächlich ausreichend sein wird. Immerhin werden wir einige lustige Minuten haben, und da wir obendrein noch einen zweiten Kandidaten für die Probe haben, verschwenden wir nicht mal unsere Zeit.« Er wandte sich an einen Mann, der neben ihm stand und den ich schon vorher mit einiger Furcht wahrgenommen hatte. Neben ihm erschien selbst der Wilde Hans klein, denn er war viele Zentimeter größer und wesentlich breiter dazu, mit mächtigen Schultern und Bauchumfang. »Ist unser kleiner Verräter bereit für den Urteilsspruch, Daniel?« fragte der Wilde Hans. Der große Mann nickte wortlos und schnalzte mit den Fingern. Zwei Männer führten einen dritten heran. Er war genauso klein wie Daniel groß war, ein muskulöser Bursche, doch kaum mehr als einen Meter fünfzig lang mit roten Haaren und Bart und einem spitzen, angsterfüllten Gesicht. Man hatte ihm die Hände auf den Rücken gebunden, und seine Augen ruhten mit einem verzweifelten Ausdruck auf dem Wilden Hans. »Sie haben dir Lügen über mich erzählt, Hans.« Seine Stimme klang vor Angst dünn. »Du weißt doch, ich würde dich nie im Stich lassen. Ich würde dich nie verraten. Das weißt du doch.« 110
»Wenn das so ist«, entgegnete der Wilde Hans, »dann hast du doch auch keinen Grund, beunruhigt zu sein, oder?« Sein Ton war aber keineswegs so beruhigend wie seine Worte, und der kleine Mann sah noch verschreckter aus. Einige, die herumstanden, lachten, und dann hörte ich ein helleres Lachen: Ich blickte mich um und sah das Mädchen, das uns unser kärgliches Abendessen gebracht hatte. Sie bemerkte meinen Blick und lächelte mich an, so daß ich sie am liebsten umgebracht hätte. Sie und die anderen schienen sich offensichtlich sehr auf das bevorstehende Schauspiel zu freuen. Für sie war es vielleicht tatsächlich amüsant, sicher jedoch nicht für den kleinen rothaarigen Mann und sicher auch nicht für uns selbst. Man band uns wiederum die Hände: man würde uns also nicht einmal zu essen geben. Es mag sonderbar erscheinen, doch abgesehen von meinem Hunger war diese Tatsache das Entsetzlichste. Ich erinnerte mich an die Worte des Mädchens, als sie uns das Brot gebracht hatte. »Wir verschwenden keine Nahrung in der Wildnis.« Ich schauderte. Man verschwendete keine Nahrung an Leute, die nicht mehr lange zu leben hatten. Pferde wurden auf die Lichtung geführt. Ebenso wie die Schweine kannte ich sie nur von Bildern, denn wir hatten, im Gegensatz zu Kellys Heimat mit den Rennbahnen, keine Pferde in London. Der Wilde Hans und seine Männer saßen auf. Wir dagegen sowie der Rothaarige wurden an ein Seil gebunden, das am Sattel eines der Pferde verknotet wurde. Auf ein Kommando des Wilden Hans ritten sie auf einem Pfad in den Wald hinein, und wir mußten ihnen stolpernd folgen. Stellenweise war der Pfad unwegsam, und obwohl die 111
Pferde im Schritt gingen, war die Geschwindigkeit für uns, die wir zu Fuß laufen mußten, viel zu schnell. Ich war als zweiter direkt hinter dem rothaarigen Mann, der die meiste Zeit vor sich hinjammerte. Wie ich bemerkte, stand die Sonne rechts von uns. Das hieß, daß wir in nördlicher Richtung gingen. Aber das machte ohnehin keinen Unterschied, da sich das Reich des Wilden Hans auch dorthin erstreckte – jeder Ort war so gut wie irgendein anderer. In der Ferne hörte ich das Summen eines Motors, und ich blickte hinauf zu dem schmalen Streifen Himmel, der zwischen den Bäumen sichtbar war. Das Luftschiff konnte ich nicht sehen – doch das spielte ebenfalls keine Rolle. Es gab niemand, der uns helfen konnte. Der Pfad mündete schließlich in eine Lichtung. Sie war ungefähr zweihundert Meter breit, und in der Mitte fiel der Boden zu einer Schlucht ab. Der Wilde Hans und seine Männer saßen ab und banden die Pferde an ausladenden Ästen fest. Unbehagen stieg in mir auf, als man uns vier vorwärts stieß, doch fühlte ich Erleichterung, als ich, schließlich am felsigen Rand stehend, feststellte, daß der Abgrund nicht mehr als ungefähr drei Meter tief zu sein schien. Unten am Grund wuchs dichtes Buschwerk. Unweit von unserem Standort führte eine Seilbrücke über die Schlucht, die die beiden Seiten miteinander verband. Sie glich einer Leiter, bestehend aus kurzen Holzstücken, die an einem Doppelseil im Abstand von einigen Zentimetern befestigt waren. Darüber lief ein Seil, das hüben und drüben an einem Baum befestigt war und das wahrscheinlich als Halt gedacht war. Einer der Männer löste unsere Fesseln. 112
»Hier wollen wir unseren kleinen Test machen«, sagte der Wilde Hans. »Er ist recht einfach. Ihr müßt nur die Brücke überqueren und die andere Seite erreichen. Schafft ihr das, ihr Stadtjungen?« Die Brücke schwankte leicht im Wind. Wenn der Wilde Hans das als Prüfung verstand, dann mußte er tatsächlich eine schlechte Meinung von Stadtjungen haben. Aber der Rothaarige zitterte immer noch vor Furcht. »Ihr seht ja nicht gerade erschreckt aus«, stellte der Wilde Hans fest. »Das ist gut. Aber wir sollten es euch nicht zu leicht machen, nicht wahr? Thomas!« Ein Mann mit einem Messer trat vor. Es blitzte in der Sonne, als er das Seil über der Brücke kappte, so daß es in den Abgrund zwischen die Büsche fiel. »Wie stehen eure Chancen jetzt, glaubt ihr?« fragte der Wilde Hans. Ich hielt sie für wesentlich geringer, denn es blieb nur noch die schmale Leiter, und es würde viel Geschicklichkeit bedürfen, ohne den Halt des Seils hinüberzukommen. Doch, dachte ich, selbst wenn man hinunterstürzte, würde das nur bedeuten, zirka drei Meter zu fallen. Und dann dachte ich noch an etwas anderes: Der Wilde Hans und seine Männer waren alle hier auf dieser Seite. Wenn nun einer von uns hinuntersprang und zu fliehen versuchte … Es war eine Möglichkeit, die man vielleicht riskieren sollte. Ich sah zu Kelly und Sunyo und fragte mich, ob sie an dasselbe dachten. Der kleine rothaarige Mann atmete stoßweise, als sei er von panischer Angst erfüllt. »Nur noch eine kleine Einzelheit«, sagte der Wilde Hans. Er lächelte. »Dieser Abgrund hat einen Namen. Er heißt Taipan Schlucht.« 113
Ich hatte keine Ahnung, wovon er sprach, und es interessierte mich auch nicht. Ich hatte überlegt, daß es nicht möglich sein würde, daß wir alle drei durch den Abgrund fliehen konnten; denn in dem Augenblick, in dem einer von uns sprang, würden die Männer und der Wilde Hans den Plan erkennen und ihn vereiteln. Es sei denn, wir sprangen alle gleichzeitig, noch bevor man uns über die Brücke schickte. Ich fragte mich, wie ich den anderen meinen Plan mitteilen konnte. »Der Taipan«, erklärte der Wilde Hans, »war ursprünglich nicht in unserem Land zu Hause. Er kam von Australien. Wir hatten hier einige Exemplare im Zoo, und während des Untergangs entkamen ein paar von ihnen. Vielleicht nur ein Weibchen, das dann Eier legte. Und der Taipan, wie so viele andere Tiere auch, vermehrte sich in der Wildnis. In dieser Schlucht ganz besonders.« Wir blickten hinab. Erkennen konnten wir nichts, außer dem Hin- und Herschwanken der Büsche, die vom Wind bewegt wurden. Der Wilde Hans lächelte wieder. »Sehen könnt ihr keinen. Sie sind nicht sehr groß, und außerdem bleiben sie immer am Boden. Aber sie können sich außerordentlich rasch bewegen. Taipans, müßt ihr Stadtjungen wissen, sind Schlangen; um genau zu sein: die tödlichsten Schlangen, die es auf der Welt gibt. Gegen ihr Gift gibt es kein Gegengift, und ihr Biß tötet innerhalb weniger Minuten. Dazu kommt, daß sie nicht gerne gestört werden.« Wir sahen ihn an. Es hörte sich zwar überzeugend an, doch konnte es durchaus eine Geschichte sein, die uns nur einschüchtern sollte. Ich blickte wieder hinunter, sah aber nichts. 114
»Unser Verräter hat den Vortritt«, sagte der Wilde Hans. Der Rothaarige wurde auf die Brücke zugestoßen. Er schien vor Angst fast zu vergehen. Er öffnete den Mund, um etwas zu sagen, brachte aber keinen Ton heraus, schluckte und sagte schließlich mühsam: »Ich schwöre dir, ich bin kein Verräter, Hans! Ich schwöre es. Das sind lauter Lügen, lauter Lügen …« Der Mann, Thomas, hielt ihm das Messer vor die Brust. »Wenn das stimmt, dann wirst du auch die Prüfung bestehen, nicht wahr?« sagte der Wilde Hans. »Ein ehrlicher Mann fällt nicht.« Mir wurde übel. Konnte man so etwas Unsinniges und Primitives tatsächlich glauben? Doch wir waren hier in der Wildnis und nicht in der zivilisierten Welt, die wir kannten. Die Männer und, wie ich bemerkte, auch das Mädchen grinsten. Sie waren Wilde, ihnen konnte man alles zutrauen. Der Rothaarige fiel auf die Knie. »Bitte, Hans. Um der alten Zeiten willen …« flehte er. Mit kalter, abweisender Stimme antwortete der Wilde Hans: »Wir können nicht den ganzen Tag mit dir verschwenden. Wir haben schließlich noch andere Kandidaten. Mach, daß er auf die Brücke kommt, Thomas.« Der rothaarige Mann fühlte das Messer jetzt im Rücken, und er trat hastig einen Schritt nach vorne und setzte einen Fuß auf die Brücke. Sie schwankte, und er zog den Fuß wieder zurück. Die Männer lachten laut auf – es klang sehr bösartig –, und wieder fühlte er das Messer zwischen den Schulterblättern. Jetzt begann er, über die Brücke zu gehen. Die Brücke schwankte unter ihm, und er zögerte und begann unsicher zu werden. Auf seinem Gesicht stand 115
Todesangst, und ich konnte sehen, wie er unaufhörlich lautlose Worte formte. Doch je mehr er sich anstrengte, das Gleichgewicht zu halten, desto mehr schwankte die Brücke. Und dann fiel er mit einem wilden Schrei, wirbelte durch die Luft und landete mitten zwischen den Büschen. Die Männer in den grünen Hosen jubelten und schrien vor Begeisterung auf, als er sich aufrappelte und versuchte, rennend die andere Seite zu erreichen. Er hatte vielleicht einen halben Meter zurückgelegt, als er laut aufschreiend zusammenbrach. Er krümmte sich und umklammerte sein Bein. Kraftlos und verzweifelt klang seine Stimme, als er die Männer anflehte. »Helft mir …« Noch ein zweitesmal gelang es ihm, auf die Beine zu kommen und weiterzulaufen, doch litt er offensichtlich große Schmerzen. Er stolperte und fiel wieder hin. Diesmal stand er nicht mehr auf. Die Männer lachten, als er sich vergeblich bemüht hatte, zu fliehen, und sie klatschten Beifall, als er endlich reglos liegenblieb. Dann folgte Stille. »Er war also doch ein Verräter«, stellte der Wilde Hans voller Befriedigung fest. »Ich wußte es. Doch nun zu euch, Stadtjungen. Wer soll als erster gehen?« Ich versuchte gerade, mich selbst zu überreden und vorzutreten, als Kelly sich meldete. »Ich werde gehen.« Der Wilde Hans starrte ihn an. »Gut. Geh vorsichtig. Wenn du fällst, dann lauf, so schnell du kannst. Bisher ist noch niemand den Schlangen entkommen, aber du kannst es immerhin versuchen.« Kelly gab keine Antwort, sondern ging geradewegs 116
auf die Brücke zu. Sie schwankte, als er sie betrat, und er zögerte kurz. Dann ging er langsam weiter. Er war bereits zur Hälfte drüber, als die Brücke stärker zu schaukeln begann – vielleicht war der Wind schärfer geworden. Kelly beugte sich nieder und stützte sich mit den Händen ab. Dann hatte er das Gleichgewicht wieder erlangt, stand vorsichtig auf und ging langsam weiter bis zur gegenüberliegenden Seite. »Einer hat es geschafft.« Der Wilde Hans gab sich keine Mühe, seine Enttäuschung zu verbergen. »Wer kommt als nächster?« Diesmal war ich vorbereitet, aber Sunyo kam mir zuvor. Er blickte dem Wilden Hans gerade in die Augen, und an seinem Gesicht konnte man deutlich seine Verachtung und seine Wut ablesen. Der Wilde Hans nickte. Sunyo wandte sich ab und ging auf die Brücke zu. Er zögerte keinen Augenblick. Er lief völlig sicher, setzte Fuß vor Fuß und hielt erst an, als er die andere Seite erreicht hatte. Kelly streckte ihm die Hand entgegen, und Sunyo sprang neben ihn auf die Böschung. »Also gut.« Die Enttäuschung war nicht zu überhören, und die Männer schwiegen. »Es bleibt aber immer noch einer.« Die Brücke schien enger und unsicherer als vorher. Ich warf einen Blick hinunter auf das Gestrüpp und auf die gekrümmte Gestalt des rothaarigen kleinen Mannes. Er bewegte sich nicht mehr. Eine Brise wehte, und die Brücke schwankte. »Also?« ermunterte mich der Wilde Hans. »Brauchst du eine kleine Aufmunterung, Stadtjunge?« 117
Ich begann auf die Brücke zuzugehen, bevor der Mann mit dem Messer Zeit hatte, mich anzutreiben. Flüchtig sah ich den gespannten Ausdruck auf dem Gesicht des Mädchens und dachte einen Moment an Miranda, die so ganz anders war. Und dann dachte ich noch an etwas, wie ich so vor der Brücke stand. Kelly und Sunyo waren sicher auf der anderen Seite, und der Abgrund trennte sie von dem Wilden Hans und seinen Männern. Sie konnten jetzt fliehen, sie könnten tief im jenseitigen Wald untergetaucht sein, bevor sie irgend jemand hindern könnte. »Lauft! Macht daß ihr wegkommt!« brüllte ich. Aber sie bewegten sich nicht. »Wir warten auf dich, Clive«, rief Kelly zurück. Idioten, schimpfte ich leise, aber schließlich hatte ich mich auf anderes zu konzentrieren. Ich betrat die Brücke und fühlte sofort, wie sie sich unter mir bewegte. Automatisch blickte ich nach unten: die Leiter war ungefähr dreißig Zentimeter breit; das ist nicht viel, wenn sie über einem Abgrund schwebt, auf dessen Boden giftige Schlangen hausen. Hinter mir gab es höhnisches Gelächter. Und ich ging weiter, setzte vorsichtig einen Fuß vor den anderen. Ich hatte meine Augen auf die Füße geheftet, doch machte mich das schwindelig, vor allem, weil die Brücke stark schwankte. Ich holte also tief Luft, hob den Kopf, blickte geradeaus und konzentrierte meine Aufmerksamkeit ausschließlich auf Kelly und Sunyo, die auf der anderen Seite warteten. Ich tastete meinen Weg mit den Füßen, Schritt für Schritt. Ich mußte vorankommen, das wußte ich, aber die Entfernung schien überhaupt nicht zu schrumpfen. Als ich dreiviertel des Weges zurückgelegt hatte, frischte die Brise wieder auf, so daß die Brücke gefähr118
lich zu schaukeln begann. Irgendwie gelang es mir, wie vorher Kelly, mich mit den Händen festzuhalten. Ich fühlte, wie mir der Schweiß ausbrach, und es dauerte sehr lange, bis ich es wagte, wieder aufzustehen. Sehr langsam näherte ich mich dem Ende – noch vielleicht zehn Schritte, neun, acht … Die Brise war stärker geworden. Ich kämpfte um das Gleichgewicht, doch wußte ich sicher, diesmal würde ich es nicht schaffen. Verzweifelt ließ ich alle Vorsicht außer acht und lief auf dem schwankenden Steg. Einige Schritte ging das auch gut, doch dann schaukelte er so stark, daß ich wußte, ich würde den Halt verlieren – und bis zur Böschung war es noch ein ganzes Stück. In meiner Verzweiflung sprang ich; ich nahm noch wahr, daß Kelly und Sunyo mir die Hände entgegenstreckten, dann rutschten meine Füße am Rand der Böschung ab. Einen Moment hing ich in der Luft, aber dann spürte ich den festen Griff Kellys um meinen Arm. Gemeinsam zogen sie mich nach oben. »Macht, daß ihr wegkommt!« rief ich atemlos. »Rennt, solange es noch geht.« »Es hat keinen Sinn«, entgegnete Sunyo ruhig. Er deutete auf die Baumreihen auf unserer Seite. Grüngekleidete Männer kamen auf uns zu. Der Wilde Hans hatte also doch Vorkehrungen getroffen: Er hatte seine Leute auf beiden Seiten des Abgrundes aufgestellt. Ich zitterte immer noch vor Anspannung. Als ich mich umdrehte, sah ich den Wilden Hans herüberkommen – bei ihm sah es aus, als sei es die einfachste Sache der Welt. Er lachte, und meine Angst kehrte zurück. Wir hatten zwar die Prüfung überstanden, die dem rothaarigen Mann zum Verhängnis geworden war, doch würde das über119
haupt ins Gewicht fallen? Würde uns jemand, der sich solche sadistischen Dinge ausdenken konnte, laufen lassen, nur weil wir eine Probe bestanden hatten? Ich konnte es mir nicht vorstellen. Er sprang neben uns auf die Böschung. »Sehr gut, Stadtjungen.« Er blickte hinunter in den Abgrund. »Und sehr gut, Ben! Du kannst jetzt wieder raufkommen!« Ich folgte seinem Blick. Während ich den reglosen Mann im Unterholz ansah, bewegte sich der »Tote« plötzlich, stand auf und kletterte zu uns hinauf. Ein breites Grinsen lag auf seinem Gesicht. 8 »Dann gibt es also gar keine Schlangen dort unten?« fragte Kelly. »Das möchte ich allerdings nicht beschwören«, erwiderte der Wilde Hans. »Wahrscheinlich wird es Ringelnattern geben. Vielleicht auch die eine oder andere Natternart.« »Sind die giftig?« fragte ich. Inzwischen hatte man die Halteleine wieder über der Brücke befestigt, und wir waren zur anderen Seite zurückgekehrt. Neben mir stand das Mädchen. Sie lachte über meine Frage. »Ihr lernt aber nicht sehr viel in euren Städten!« »Sei nicht so streng mit ihnen, Joan«, ermahnte sie der Wilde Hans. »Sie haben nicht sehr viele Möglichkeiten.« Er wandte sich an mich. »Ringelnattern sind völlig harmlos. Die anderen Nat120
tern haben zwar Giftzähne, doch würden sie nie einen Menschen angreifen, außer wenn er dumm genug ist, auf sie zu treten. Daß jemand von ihrem Biß stirbt, ist ausgesprochen selten.« »Und das ganze Gerede über Taipans«, warf Kelly ein, »haben Sie sich das ausgedacht?« »Nein. Der Taipan ist tatsächlich eine australische Schlange, und sein Biß ist absolut tödlich, wie ich gesagt habe. Wahrscheinlich gab es auch einige Exemplare in den Zoos, vor dem Untergang. Und es mag zutreffen, daß einer oder auch zwei entkommen konnten, wenn es auch nicht gerade wahrscheinlich ist. Noch unwahrscheinlicher ist, daß sie überlebt haben. England ist viel zu verschieden von Australien.« Ben, der rothaarige kleine Mann, grinste. »Er hat also nur so getan, als wäre er gebissen worden?« fragte ich. »Das hat er prima hingekriegt.« »Das sollte er auch können«, sagte der Wilde Hans. »Als er noch in der Stadt lebte, war er Schauspieler.« Er legte seine Hand auf Bens Schulter. »Und ich denke, er vermißt die Schauspielerei ein wenig, um die Wahrheit zu sagen.« Die ganze Zeit schon hatte ich das Gefühl, er würde mir irgendwie bekannt vorkommen, doch hatte ich es als lächerlich abgetan. »Klar, ich erinnere mich!« rief ich nun. »Dieser Fernsehfilm über den Zweiten Weltkrieg – Sie haben diesen komischen Zivilisten gespielt!« »Ein Fan«, schwärmte er mit gespielter Begeisterung, »ein Fan, nach all den Jahren. Alles Vergangene kommt plötzlich wieder. Sattelt mir ein Pferd, Hans, und ich bin am Morgen in Philadelphia.« Kelly und ich lachten. Ich 121
war so erleichtert, daß ich über alles hätte lachen können. Sunyo aber schien sehr verärgert. Er sah den Wilden Hans an. »Die Prüfung war also nichts weiter als ein Witz, eine wohlgelungene Demonstration schauspielerischer Fähigkeiten. Warum? Nur damit Sie sich amüsieren?« Der Wilde Hans schüttelte den Kopf. »Nein. Wir haben zwar eine andere Vorstellung von Humor hier in der Wildnis, die sich ein wenig von eurem gewohnten Humor in den Städten unterscheiden mag, doch dazu gehört nicht, Menschen ohne gewichtigen Grund zu ängstigen.« »Also, was war der Grund?« wollte Sunyo wissen. »Ihr seid nicht die ersten, die von den Städten in die Wildnis kommen. Es gibt einige, die einen Blick auf den Wald werfen und dann sofort Fersengeld geben und in ihre schützenden Mauern zurückkehren. Andere bleiben, nehmen Kontakt mit uns auf oder jedenfalls mit Leuten wie wir. Gewöhnlich geben sie vor, unter uns leben zu wollen, doch meist verstehen sie überhaupt nicht, was das tatsächlich bedeutet. Es kann lange dauern, bis sie erkennen, daß sie für unser Leben nicht geeignet sind – und die ganze Zeit sind sie nur eine Last für uns – oder eher schlimmer. Wenn sie dann schließlich in ihre Städte zurückkehren, nehmen sie Informationen mit.« »Ist das so wichtig?« fragte Kelly. »Möglicherweise. Jedenfalls mußten wir einen Weg finden, die Ungeeigneten bereits zu Anfang zu erkennen. Das ist ganz einfach: Man kann in der Wildnis nicht ohne gewisse körperliche Voraussetzungen und einen starken Willen existieren. Die Brücke testet das erste, die Geschichte über die Taipans das letztere.« 122
»Wenn wir also versagt hätten …« sagte ich. »Southampton ist nicht weit entfernt. Wir hätten euch dorthin gebracht und freigelassen.« »Und wenn wir jetzt, obwohl wir die Prüfung bestanden haben, zurück wollten?« Der Wilde Hans zuckte die Achseln. »Niemand hindert euch daran. Wir brauchen nur Leute, die sich freiwillig melden. Wir sind frei hier in der Wildnis.« Kelly nickte begeistert. Sunyo war eher skeptisch. »Doch zunächst die wichtigsten Dinge«, sagte der Wilde Hans. »Ihr habt besseres verdient als nur Wasser und Brot, und ich glaube, ihr könnt es brauchen.« Man brachte uns zurück ins Lager – auf andere Weise allerdings jetzt, denn wir ritten zusammen mit den Männern. Ich klammerte mich an den mächtigen Daniel, der sehr viel freundlicher aussah, obgleich er mir immer noch ein wenig unheimlich schien. Auf der Lichtung erwarteten uns Männer, die ein Frühstück für uns bereithielten. Eigentlich war es eher ein Festmahl – der Schinken schmeckte genausogut wie er gerochen hatte, und es gab Berge würziger Würstchen, so viele Eier, wie man schaffen konnte, große Stücken Brot, grob und braun, doch lecker im Geruch und noch leckerer im Geschmack, Töpfe voll goldener Butter … Und Becher voll Buttermilch, um all die Sachen hinunterzuspülen. Wir schlangen uns voll, bis wir träge und satt waren und uns unter den Bäumen ausstrecken mußten. Später erkundeten wir die Umgebung des Lagers. Es war viel größer, als wir angenommen hatten, und bestand aus einer Anzahl kleinerer Lichtungen, die untereinander durch Pfade verbunden waren. Auf einer der Lichtungen 123
hatte man hölzerne Kästen an den Baumstämmen befestigt. Aus den runden Löchern an den Seiten sahen wir manchmal einen Schnabel, und auf den Kästen selbst und auf den Zweigen in der Nähe saßen Tauben. Der Wilde Hans schloß sich uns an. »Ihr habt also meine Boten gefunden«, lächelte er. »Wie gefallen sie euch?« »Boten?« fragte Kelly ungläubig. »Wir haben weder Fernsehen noch Radio, also müssen wir uns mit primitiveren Hilfsmitteln begnügen. Dies geht weit, weit zurück, bis zu den Römern, vielleicht auch noch weiter. Es sind Brieftauben. Für sie ist das hier ihre Heimat. Schafft man sie fort, selbst wenn es mehr als hundert Kilometer sind, finden sie zurück zu ihrem Nistplatz. Wenn man nun eine kleine Nachricht schreibt – vielleicht indem man bestimmte Zeichen in ein Blatt ritzt – und diese an ihren Füßen befestigt, nehmen sie sie mit.« »Das bringt die Nachrichten hierher«, sagte Kelly. »Aber wie ist es umgekehrt?« »Ganz einfach. Wir halten hier Tauben aus den verschiedenen Landesteilen in Käfigen. Sie nehmen dann die Botschaft zurück zu ihren eigenen Nistplätzen.« »Es gibt demnach noch andere Lager wie dieses hier«, fragte Sunyo. »Auch andere ‚Wilde Hans’?« »Ja – andere Lager schon. Aber nur einen Wilden Hans.« Er lächelte. »Sie und Ihre Männer sind ganz anders als die Wilden, nicht wahr?« fragte Sunyo weiter. »Wilde? Das ist ein Wort, das die Städter gebrauchen. Und es ist sicher keines, das ich sehr mag.« 124
»Wir meinen damit die Leute, die uns gefangen haben und zu Ihnen gebracht haben«, erklärte Kelly. »Sie nennen Sie wahrscheinlich anders.« »Ich nenne sie Menschen«, entgegnete der Wilde Hans ernst. »Menschen so wie wir.« »Wie die Menschen in den Städten?« warf ich ein. Der Wilde Hans sah mich an. »Ja. Sagen wir also, die Menschen der Wildnis sind freie Menschen.« »In der Stadt sind wir auch frei.« »So frei, daß ihr auf eine Strafinsel geschickt werdet, auch wenn ihr nichts getan habt?« »Das war ein Fehler. Fehler können überall vorkommen.« »Ja, du hast recht. Aber deine Freunde?« Er drehte sich nach Kelly und Sunyo um. »Warum hat man sie auf die Insel geschickt?« Sie erzählten ihre Geschichte, und er hörte aufmerksam zu. Schließlich sagte er: »Kelly wurde bestraft, weil er einen tyrannischen Lehrer daran hindern wollte, einen anderen Jungen zu schikanieren. Und Sunyos Vater wurden die Bilder seiner Ahnen – Bilder, die er liebte und die niemandem schadeten – von der Polizei zerschlagen. Freiheit?« »Einige Sachen sind sicher falsch«, gab ich zu. »Einige Sachen? Nehmen wir noch einmal deinen Fall. Vielleicht war es nur ein Fehler, daß man dich auf die Insel geschickt hat, doch wie steht es mit der Anschuldigung? Man warf dir vor, du hättest über die Rechte der Diener gesprochen. Das hattest du zwar nicht getan, doch nimm einmal an, es träfe zu. Findest du dies allein so schwerwiegend, daß es eine Verbannung auf 125
eine derartige Insel rechtfertigt – ganz egal, ob es deine Person betrifft oder nicht.« »Man hat es getan, um keinen gefährlichen Aufruhr entstehen zu lassen. Es gab Diener, früher, die Schwierigkeiten gemacht haben. Die Polizei will natürlich nicht, daß das wieder passiert.« »Du gibst demnach zu, daß die Diener in deiner Stadt nicht frei sind?« »Nein, aber …« »Aber was?« »Sie wollen keine Freiheit. Sie sind zufrieden, so wie es ist.« »Wirklich? Hast du sie gefragt?« »Das brauche ich gar nicht«, behauptete ich. Ich dachte an Bobby. »Man kann sehen, daß sie zufrieden sind.« »Selbst wenn du fragen würdest, kannst du wohl kaum eine ehrliche Antwort erwarten, oder? Du bist schließlich einer der Herren, von Geburt her dazu bestimmt, über die niederen Schichten zu herrschen. Glaubst du, daß das gerecht ist?« Sicher gab es eine Antwort auf diese Frage, doch konnte ich mich auf keine besinnen. »Gerechtigkeit hat damit nichts zu tun«, sagte ich deshalb nur ein wenig lahm. »Vielleicht sollte es das aber. Es geht immerhin nicht nur um die Diener. Wie steht es denn mit den armen, verachteten Barbaren in der Wildnis? Jede deiner Städte hat einen Energieturm, der die Einwohner mit Wärme und Energie versorgt, soviel sie auch wollen. Energie, die die Maschinen antreibt, die wieder das Stadtleben so angenehm machen. Hier in der Wildnis herrscht ein ständiger Kampf gegen die Natur. Wir haben keine Energie, keine 126
Maschinen. Wir sind gezwungen, allein von unserer Muskelkraft zu leben und von dem Schweiß auf unserer Stirn.« »Neidet ihr den Städtern das leichte Leben?« fragte Sunyo. »Wenn ja, warum haben Sie, selbst ein Stadtbewohner, dieses Leben mit der Wildnis vertauscht?« »Ich habe nicht gesagt, daß ich es freiwillig tat.« Der Wilde Hans lachte. »Aber du hast recht, mein Freund aus dem Fernen Osten. Dieses Leben liebe ich mehr als mein früheres, gerade wegen seiner Härte und seiner Gefahr. Vielleicht auch allein wegen dieser Freiheit, über die wir eben gesprochen haben. Denn selbst wenn die Stadtbewohner sich frei dünken, werden sie von Sklaven bedient. Ihr Wohlstand und ihre Bequemlichkeit ruht auf einer Überheblichkeit und Vermessenheit, die schlimmer ist als alles, was die Welt bisher gesehen hat.« »Es ist keine Vermessenheit«, widersprach ich, »wenn man sich selbst schützen will.« »Sich selbst oder eher seine Reichtümer? Aber das ist keine Frage, die man durch Argumentieren lösen könnte. Wir wollen uns lieber an greifbare Dinge halten – wie meine Vögel zum Beispiel, die gefüttert werden müssen.« Er steckte eine Hand in die Hosentasche und holte Körner heraus. »Kommt, meine Schönen. Kommt und eßt«, lockte er sie. Ein paar blaugraue Tauben flogen zu ihm, setzten sich auf das Handgelenk und die Finger und pickten das Futter aus seiner Hand. Er sah ihnen lächelnd zu. Ihre Schwingen glänzten im Sonnenlicht, und sie schienen noch heller und farbiger, als sie sich emporschwangen, flügelschlagend, um einer anderen Platz zu machen. Diese war rotbraun gefiedert. 127
Sie vertrieb alle anderen und ließ sich zutraulich auf dem Daumen des Wilden Hans nieder. Er kraulte ihr den Nackenflaum, und sie pickte ihn mit ihrem spitzen Schnabel, nicht verärgert oder erschreckt, sondern spielerisch und begann zu fressen. »Die Rote ist mein Liebling«, erklärte der Wilde Hans. Er hob die Hand zum Gesicht, und der Vogel zauste ihm den lockigen Bart. Es war kaum zu glauben: Aber das war dasselbe Gesicht, das wenige Stunden vorher so furchterregend ausgesehen hatte. »Das weißt du auch, nicht wahr?« Er lächelte. »Sie ist die einzige hier, die diese Farbe hat. Aber abgesehen davon war sie eine prächtige Brieftaube. Sie hat sehr oft Botschaften für mich gebracht.« »Warum heißt sie die Rote?« fragte Sunyo. »Sie hat fast rotes Gefieder. Schnell ist sie außerdem. Früher, als sie jünger war, gab es keinen Vogel, dem sie nicht davongeflogen wäre.« »Ob sie auch zu mir kommen würde?« fragte ich. »Versuch es.« Er legte mir Körner in die Hand. Der Vogel war aufgeflogen, weil er sich gestört fühlte, kam dann aber zurück und ließ sich auf meiner Hand nieder. Sein Schnabel kitzelte mich. »Selbst wenn Sie behaupten, daß die Wilden auch Menschen sind, gibt es nicht doch einen Unterschied zwischen Ihnen und Ihren Leuten und den anderen in der Wildnis?« fragte Sunyo. »Ich meine die, die die Städter Wilde nennen.« »Du bist sehr hartnäckig«, sagte der Wilde Hans. »Aber das ist gar nicht so schlecht. Die, die die Städter Wilde nennen, leben seit Generationen hier in der Wild128
nis. Einige unserer Leute gehören zu ihnen, und meist kommen wir auch gut miteinander aus.« Er lächelte. »Wenn sie Fremde überraschen, die gerade ihre Gemüsefelder plündern, bringen sie sie zu uns, damit wir sie uns vornehmen. Doch die meisten sind wie Ben oder Daniel oder ich selbst – Leute aus der Stadt, die den Wald aus Gründen gewählt haben, die ihnen wichtig schienen.« »Was war Ihr Grund?« wollte Kelly wissen. Der Wilde Hans schwieg. »Es ist vorbei«, sagte er dann. »Es war ein sehr guter Grund, wie ich glaubte. Ich habe bisher noch bessere Gründe gefunden. Nein, wir sind keine Wilden, was immer die Städter auch sagen mögen. Ausgestoßene wäre ein besserer Name, wir leben nicht unter ihrem Gesetz. Freilich haben wir eigene Gesetze – bessere, wie ich denke.« Die Rote pickte die letzten Körner auf. Ich versuchte vorsichtig, ob auch ich sie am Nacken kraulen durfte – sie ließ es sich gefallen und pickte zärtlich nach meinem Daumen. »Sie scheint dich zu mögen, Clive. Ich werde aufpassen müssen, sonst verliere ich sie noch.« Später zeigte man uns die Waffen, die die Männer hier benutzten. Es waren hauptsächlich Messer und schwere Stöcke, aber auch Pfeil und Bogen. Die Bogen hatten sie aus Eibenholz gefertigt, ein Holz, das sich leicht spalten läßt, wie uns der Wilde Hans erklärte, und trotzdem widerstandsfähiger war als andere Holzsorten hier im Wald. Gespannt wurden die Bogen von dünnen Hautstreifen. Der Bogen des Wilden Hans war genauso groß wie er selbst – und er maß mindestens einen Meter achtzig. Das 129
Holz war glatt und poliert, und die Saite zirpte, wenn er sie zupfte. Er nahm einen Pfeil aus dem Köcher, der an seinem Gürtel hing, und reichte mir beides. »Sollen wir prüfen, ob du das Zeug zu einem Bogenschützen hast?« fragte er. »Wohin soll ich schießen?« »Wohin du willst, solange du nur niemanden verletzt.« Ich legte den Pfeil ein und versuchte den Bogen zu krümmen. Er war stärker, als ich erwartet hatte. Mit äußerster Kraft gelang es mir, die Saite ein paar Zentimeter zu bewegen, und ich ließ den Pfeil los. Kraftlos flog er durch die Luft und fiel ein kurzes Stück entfernt auf den Boden. »Du brauchst Übung«, stellte der Wilde Hans fest. »Was ist mir dir, Kelly?« Kellys Anstrengungen hatten ein besseres Ergebnis, wenn auch nicht wesentlich. Dann kam Sunyo an die Reihe. Er nahm den Bogen und fuhr vorsichtig, beinahe zärtlich über das Holz, um seine Glätte zu spüren. Dann erst legte er den Pfeil ein und holte tief Luft; sein Gesicht nahm den gleichen Ausdruck an, als wenn er meditierte. Ganz langsam spannte er den Bogen und schoß. Der Pfeil flog mindestens zweimal so weit wie Kellys Pfeil. »Wir werden keine große Mühe haben, dich zu einem Bogenschützen zu machen«, sagte der Wilde Hans anerkennend. »Du besitzt Aufrichtigkeit und Stärke.« Er deutete auf den Wald jenseits der Lichtung. »Versuche diesen Baum dort zu treffen.« Der Baum, den er meinte, war eine alte Eiche mit mächtigem Umfang. Sunyo nahm einen zweiten Pfeil und schoß – aber er schoß mindestens einen Meter vorbei. Jetzt nahm der Wilde Hans selbst den Bogen. 130
»Dieser kleine Baum, der dort neben dem zerzausten Busch steht.« Er war wesentlich weiter entfernt als die Eiche, vielleicht zweihundert Meter. Seine Muskeln traten hervor, als er die Saite spannte. »In Kopfhöhe.« Der Pfeil zischte durch die Luft, und wir liefen ihm nach über die Lichtung. Der kleine Baum bot nicht mehr als einen Zentimeter Zielfläche, und doch stak der Pfeil genau in der Mitte. Der Schaft ragte in Augenhöhe heraus. Die nächsten Tage begannen wir, uns dem Leben unter den grüngekleideten Männern anzupassen. Dazu gehörte, daß wir lernten, auf Pferden zu reiten, was uns anfangs recht schlecht gelang. Wir fielen ständig herunter, und als der Tag zu Ende ging, schmerzten die Beine, und die Schenkel waren wund und aufgerieben. Ben gab uns eine Salbe, die entsetzlich stank, aber wenigstens den schlimmsten Schmerz dämpfte. Dann aber begannen wir den Dreh herauszufinden. Doch es war nicht Reiten allein. Es gab einen Fluß, nur wenige Minuten vom Lager entfernt, aus dem die Ausgestoßenen sich mit Trinkwasser versorgten. Er war fischreich, und Ben und Daniel zeigten uns, wie sie die Fische fingen, mit Stöcken und Schnüren und sinnvoll erdachten Ködern und Haken. Die Ruten waren lang und biegsam, und sie warfen die Leinen weit aus in das gurgelnde grüne Wasser. Die Fische häuften sich in dem Weidenkorb neben uns. An diesem Tag schien abwechselnd die Sonne und dicke Wolken zogen auf, und einmal ging ganz plötzlich ein heftiger Regenschauer nieder, der uns bis auf die Haut durchnäßte. Doch dann schien die Sonne wieder und trocknete und wärmte uns. 131
Kelly reichte Sunyo die Rute. »Junge, Junge, das ist das wahre Leben.« Daniel lächelte. Er war ein heiterer Mensch, der sich langsam bewegte und der damit angab, daß er faul sei. Er war sehr stark. Es gab eine Geschichte: Ein Freund hatte ein Bein gebrochen, und Daniel trug ihn fünfzehn Kilometer zum Lager zurück, ohne im mindesten erschöpft zu sein. »Es ist nicht immer so wie jetzt«, sagte er zu Kelly. »Nicht immer scheint die Sonne, und es ist nicht immer Sommer. Da sind der Herbst und der Winter, harte und kalte Zeiten. Und viel Arbeit, aber auch Spiel und Vergnügen. Selbst ich kann mich nicht ständig davor drücken.« »Klar, das verstehe ich. Aber es ist alles so anders, als man uns über die Wildnis erzählt hat. Sie erzählten uns von Barbaren und dem entsetzlichen Leben, das sie führen – daß sie ihr Futter aus dem Boden scharren und daß sie von wilden Tieren zerrissen werden, falls sie nicht verhungern.« Er sah auf den Korb, der bis oben mit Fisch gefüllt war. »Die werden prima schmecken. Zu Hause gab es nie so etwas Gutes zu essen wie hier bei euch.« Daniel lächelte weiter. »Appetit ist die beste Beilage«, sagte er. »Und Appetit ist etwas, das dir die Wildnis mit Sicherheit geben kann. Aber frischer Fisch aus dem Fluß ist viel besser als der, den man in den künstlichen Teichen, die vom Energieturm gekühlt werden, züchtet, das verspreche ich euch. Meint ihr, wir haben genug für das Abendessen?« Ich hatte einen an der Angel. Das Gefühl, daß plötzlich und überraschend etwas an der Leine zerrte, war unglaublich aufregend. »Wartet noch!« rief ich. 132
Ben lag faul in der Sonne, die Augen geschlossen. »Immer langsam«, sagte er schläfrig. »Wir haben genug Mäuler zu stopfen; ich meine auch, die drei letzten können mehr brauchen als nur ihren Anteil. Die werden dir Konkurrenz machen, Daniel.« Am nächsten Tag gingen die meisten Männer auf Hirschjagd. Wir hatten erwartet, wir würden mitkommen, aber der Wilde Hans sagte nein: Hirschjagd sei harte Arbeit, und wenn jemand noch so wenig Erfahrung hatte wie wir, wäre er nur im Wege und würde Dummheiten machen. Aber er versicherte, es würde noch andere Jagden geben. Das Lager wirkte ausgestorben und unheimlich, denn es waren nur wenige Leute zurückgeblieben – meist Männer, die verletzt oder sonst behindert waren, wie der eine, dessen Bein nach einem Bruch schlecht verwachsen war, so daß er nun heftig hinkte. Es war derjenige, den Daniel zurück zum Lager getragen hatte. Der Tag war heiß, und am frühen Nachmittag beratschlagten wir, was wir tun wollten. Kelly schlug vor, wir sollten hinunter zum Fluß gehen – nicht zum Fischen, sondern zum Schwimmen. Joan war ebenfalls zurückgeblieben. Bisher hatten wir uns kaum um sie gekümmert, und doch war meine Abneigung ihr gegenüber allmählich gewachsen. Manchmal hatte sie bissige Bemerkungen über unsere Fähigkeiten – oder eher unsere nichtvorhandenen Fähigkeiten – gemacht, und langsam haßte ich ihre Art zu lachen. Ich hörte es noch in den Ohren klingen, auch wenn sie überhaupt nicht da war. Sie hatte dagegen unser Gespräch gehört und wollte mit uns kommen. Ich war dagegen und sagte es auch 133
deutlich. Sie sah mich voller Verachtung an und wandte sich an Kelly. »Ich komme mit, ja?« Er zuckte die Achseln und nickte. Sie ging mit Sunyo voran; Kelly und ich folgten in einiger Entfernung, und ich sagte ihm flüsternd meine Meinung. »Ja, ja, ich weiß, was du findest«, sagte er. »Aber du mußt doch zugeben, daß sie für die Ausgestoßenen wichtig zu sein scheint. Sie machen ein ziemliches Getue um sie. Wahrscheinlich ist sie eine Art Maskottchen.« Sie bestand darauf, uns eine Stelle zu zeigen, die ihrer Meinung nach gut zum Schwimmen geeignet war und die etwa fünfhundert Meter stromaufwärts von unserem Angelplatz lag. Ich war erleichtert, daß sie wenigstens nicht vorschlug, mit uns zu kommen, sondern offensichtlich ganz zufrieden am Ufer saß und uns zusah. Das war irritierend genug. Wir anderen sprangen ins Wasser und tobten eine Weile herum. Es war ganz anders als die beheizten Schwimmbecken zu Hause in der Stadt. Lustiger, behauptete Kelly, doch ich war nicht so ganz seiner Meinung. Ich vermißte die Sprungbretter und die Rutschbahnen, außerdem fand ich es lästig, auf den Boden zu treten, der schlammig oder steinig war. Früher war Schwimmen mein Lieblingssport, und ich hatte als guter Schwimmer gegolten. Seit wir hier in der Wildnis waren, hatte sich Kelly als besserer Reiter und Sunyo als besserer Bogenschütze als ich erwiesen. Dazu hatte ich am schlechtesten bei der Überquerung des Abgrundes abgeschnitten. Es würde ganz gut sein, zur Abwechslung mal etwas zu tun, das ich tatsächlich gut – oder besser – konnte. 134
Ich forderte also Sunyo und Kelly zum Wettschwimmen auf. Der Fluß verlief hier gerade, und genau dort, wo er eine Biegung machte, stand eine Trauerweide. »Schwimmen wir bis zur Trauerweide um die Wette?« Gleich zu Beginn hatte ich einen Vorsprung, den ich mehr und mehr vergrößerte. Und als ich angekommen war und eine der Baumwurzeln, die aus dem Ufersand ragten, packte, lag Kelly noch fünf Meter zurück und Sunyo noch weiter. Joan war uns entlang der Uferböschung gefolgt. Sie sah zu mir hinunter. »Gar nicht schlecht für einen Stadtjungen.« Ich überhörte ihren Kommentar und kletterte ans Ufer. »Komm, wir schwimmen um die Wette zurück«, forderte sie mich auf. »Nein, nein.« »Ich gebe dir Zeit, dich ein bißchen zu erholen.« Das saß. »Ich brauche mich nicht auszuruhen.« »Also gut, dann fangen wir an.« Sie schleuderte die Sandalen von den Füßen, schlüpfte aus den langen Hosen und dem Hemd und stand schließlich in kurzen Hosen und einem Brusttuch da. Kelly war ebenfalls an Land geklettert, und an ihn wandte sie sich jetzt. »Gib das Startzeichen.« Ich war recht stolz über meinen Startsprung, doch als ich wieder auftauchte, bemerkte ich, daß sie führte. Ich fing an zu kraulen und strengte mich an. Eine Weile glaubte ich, ich würde aufholen, doch dann wurde sie schneller, und ihre braunen Arme durchschnitten das Wasser scheinbar leicht und mühelos. Sie schlug mich 135
mindestens um die Entfernung, um die ich Kelly geschlagen hatte, wenn nicht noch mehr. Ich war sauer auf mich und wütend auf sie. Die beiden anderen sagten etwas Anerkennendes zu ihr, aber ich konnte einfach keinen Ton herausbringen. Die Sonne brannte, und wir lagen alle am Ufer, um uns trocknen zu lassen. Ich schwieg, aber Kelly und Sunyo sprachen, meist über die grüngekleideten Männer. Kelly sprach immer wieder vom Wilden Hans und was für ein toller Bursche er doch sei. Ich hatte genug von allem, was mit der Wildnis zu tun hatte, einschließlich dem Wilden Hans. »Ja, toll – toll für einen Wilden«, sagte ich boshaft. Joan drehte sich blitzschnell zu mir um. »Halt den Mund, Stadtjunge. Oder ich werde dafür sorgen, daß du ruhig bist.« Ich lachte. »Los!« »Reiz mich nicht.« Ihre Stimme klang eisig, doch ihre Augen sprühten Funken. »Ich bin in der Wildnis aufgewachsen, nicht in einer eurer bequemen Städte. Ich kann ebensogut kämpfen wie schwimmen. Wenn du willst, daß ich dir deine feine Stadtnase poliere, dann brauchst du nur weiter über Wilde zu reden.« Ich erinnerte mich, wie leicht ihre Arme das Wasser geteilt hatten; sie war sehr schmal, doch schien sie stark und kräftig zu sein. Zwar hatte ich keine Angst, aber so ein Gefühl, daß ein Kampf mit ihr lang und zäh und möglicherweise auch unentschieden sein würde. Einmal hatte sie mich ohnehin schon als Narren hingestellt. 136
Ich zuckte die Achseln. »Eines jedenfalls tun wir in der Stadt nicht: gegen Mädchen kämpfen.« Sie lachte. »Gut! Hier brauchst du das auch nicht, solange du den Wilden Hans nicht beleidigst.« Ich sagte nichts; Sunyo, ungewöhnlich für ihn, zeigte plötzlich Interesse. »Du verteidigst den Wilden Hans aber sehr energisch.« »Eigentlich brauche ich das gar nicht.« Sie lachte und schüttelte den Kopf. »Wenn ich es trotzdem tue, warum nicht? Er ist schließlich mein Vater.« An diesem Abend brieten wir einen Hirsch über dem Lagerfeuer. Wir drehten abwechselnd den Spieß, der auf einem Holzbock auflag. Die Arbeit war heiß und ermüdend, doch wir hatten den köstlichen Duft gebratenen Fleisches in der Nase, der uns anfeuerte, und außerdem gab es Krüge von Bier, um unseren Durst zu löschen. Dann begann das Festmahl, und später sangen die Männer, gemeinsam oder auch einzeln. Ich kannte die Lieder nicht, doch eines schien mir auf sonderbare Weise – auf beinahe gespenstische Weise – vertraut. Jedenfalls war es angenehm zu lauschen; wir waren satt von dem gebratenen Fleisch, das Feuer flackerte vor der dunklen Wand der Bäume, und der Himmel über uns war tiefblau und ging über in ein Purpurrot. Ben erzählte eine lustige Geschichte in Reimen mit kleinen Gesangseinlagen. Sie handelte von einem Ausgestoßenen, der sich im Wald verirrte. Die anderen hatten sie offenbar 137
schon öfter gehört, schienen sie aber immer noch lustig zu finden. Wir verstanden zwar das meiste nicht, doch lachten wir mit den anderen. Der Wilde Hans trat zu uns, als das Feuer schon ganz niedergebrannt war. »Ist alles in Ordnung, Jungs?« fragte er. Satt und müde, wie wir waren, konnten wir dies nur bejahen. »Ihr seid lange genug bei uns geblieben, meine ich.« »Sie wollen uns doch nicht zurückschicken?« fragte Kelly rasch. »Ich dachte, wir könnten hierbleiben.« »Lange genug, um zu entscheiden, ob ihr hierbleiben wollt, das meine ich. Es gibt eine Stadt, nur ein paar Reitstunden entfernt. Wir könnten euch morgen dorthin bringen.« »Ich bleibe«, erklärte Kelly. »Falls Sie mich haben wollen, heißt es. Muß ich irgendeinen Eid schwören oder so?« Der Wilde Hans grinste. »Nein, keinen Eid. Ich habe euch gesagt, wir sind alles freie Menschen hier in der Wildnis. Was ist mit dir, Sunyo, der du aus dem Land der aufgehenden Sonne stammst?« »Ich möchte bleiben.« Der Wilde Hans wandte sich an mich. »Nun, Clive?« Vieles schoß mir durch den Kopf. Die Wildnis hatte sich anders herausgestellt, als ich erwartet hatte und viel angenehmer – was immer ich auch vorher am Flußufer gesagt haben mochte. Doch als ich an Joan dachte, kam mir Miranda wieder in den Sinn und all die Dinge, die ich zurückgelassen hatte. Ich dachte an mein Rennboot und alles, was so selbstverständlich gewesen war. Ich 138
dachte an meine Eltern – an meinen Vater, der mittlerweile sicher eine Suchexpedition zusammengestellt hatte. Und ich dachte an Garys Verrat: Das mußte gerächt werden. Für Kelly und Sunyo sah die Sache anders aus. Wenn sie in die Stadt gingen, würden sie nur auf die Insel zurückgeschickt werden, zurück in den Käfig. Mein Vater würde möglicherweise etwas für sie tun können, aber darauf sollte man sich besser nicht verlassen. Die Stadt, die so nahe lag, war Southampton. Morgen nachmittag könnte ich bei den Sherrins sein. Ich blickte weder zu Kelly noch zu Sunyo. Der Wilde Hans sah mich an, doch sein Gesicht lag im Schatten, und ich konnte seinen Gesichtsausdruck nicht erkennen. »Es ist deine Entscheidung, Junge. Freie Menschen können über ihre Zukunft selbst entscheiden.« Er legte seine Arme um Kelly und Sunyo. »Aber wir haben zwei neue Männer. Zwei sind immerhin besser als keiner.« 9 Mittlerweile hatte ich mich daran gewöhnt, hart zu schlafen, und die Anstrengungen des Tages machten mich stets müde; trotzdem schlief ich nicht gut. Lange lag ich wach und lauschte den regelmäßigen Atemzügen von Kelly und Sunyo. Am Morgen war ich dann schläfrig und träge und mürrisch. Zum letzten Mal frühstückte ich mit den Ausgestoßenen. Heute abend würde ich wieder das gewohnte Essen der Städter bekommen, aus Herrn Sherrins Gefrierschrank oder vielleicht auch in einem Lokal. Ich versuchte mir vorzustellen, was ich essen würde, während ich an 139
einem Stück Schinken kaute, doch irgendwie hatte ich kein rechtes Interesse. Dann stellte ich mir Miranda vor, wie sie mir gegenüber am Tisch saß, und fühlte mich sofort wieder besser. Dann brachen wir auf und folgten dem Pfad nach Südosten, in Richtung auf Southampton. Ich ritt das graue Pony Gibbon, auf dem ich reiten gelernt hatte. Es sah klein und unscheinbar aus neben dem schwarzen Hengst Captain, den der Wilde Hans ritt, doch hatte ich es liebgewonnen. Es hatte meine ungeschickten Anstrengungen sehr geduldig ertragen, war ein friedliches Pferdchen und setzte die Hufe sehr sicher. Der Wilde Hans, Daniel und Ben sowie Kelly, Sunyo und Joan waren mit von der Partie. Ich konnte mir nicht vorstellen, warum sie mitgekommen war, es sei denn, sie wollte ganz sicher sein, daß sie mich endlich los sein würde. Sie hatte sich zu meinem Entschluß zwar nicht geäußert, doch hatte ich eine ganz gute Vorstellung, was für Gedanken sie haben mochte. Ich sah verstohlen zu ihr hinüber. Sie sah eigentlich nicht wirklich häßlich aus, überlegte ich, doch durfte man sie natürlich nicht mit jemandem wie Miranda vergleichen. Schließlich kamen wir zum Waldrand und erblickten die Straße. Sie sah beängstigend leer und kahl aus für uns, da wir an das Gewirr der Bäume gewöhnt waren. Die verlassene Straße mündete in die riesige, gerodete Fläche, die die Stadt umgab, und jenseits davon erhob sich die graue hohe Mauer der Stadt Southampton. Die Atmosphäre schien unwirtlich und kalt. Ich konnte immer noch meine Entscheidung rückgängig machen. Kelly und Sunyo würden sich bestimmt freuen, davon war ich überzeugt, ebenso wie der Wilde 140
Hans. Jetzt, da der Abschied so nahegerückt war, kam mir voll zum Bewußtsein, wie sehr ich dieses Leben vermissen würde, das ich die letzte Zeit genossen hatte. Und doch wäre es töricht, sich von derartigen Gedanken beeinflussen zu lassen. Wenn man einen Entschluß gefaßt hat, dann sollte man ihn auch durchführen. Ein Luftschiff stieg jenseits der hohen Mauer in den Himmel, und ich dachte an das andere Luftschiff, das mich nach London bringen würde. Und ich dachte mit plötzlich aufflackernder Wut und Befriedigung daran, wie überrascht Gary sein würde, wenn er mich sah. Wir saßen ab, und ich sagte Kelly und Sunyo auf Wiedersehen und wünschte ihnen alles Gute. »Dir auch«, sagte Kelly. Sunyo drückte mir die Hand. »Wir werden an dich denken.« Ich dankte den grüngekleideten Männern für ihre Gastfreundschaft und Hilfe. »Du brauchst dich nicht zu bedanken«, wehrte der Wilde Hans ab. »Hier in der Wildnis sind wir alle wie Brüder.« Er lächelte mir zu. »Ich wünsche dir alles Gute für dein Stadtleben.« Ich nickte nur, unfähig zu sprechen. Er nahm Gibbon bei den Zügeln. »Du hättest ihn behalten können – wir haben genügend Pferde –, doch zweifle ich, ob du ihn in London überhaupt brauchen kannst. Er würde dieses Leben wahrscheinlich nicht angenehm finden, vermute ich, denn er ist in der Wildnis aufgewachsen. Aber ich habe etwas, was du mitnehmen kannst, damit du an uns denkst.« 141
Er band etwas von seinem Sattel los, das mit einem Stück Tuch bedeckt war. Es war ein kleiner Weidenkäfig mit einem Vogel, einer Taube mit rötlichbraunem Gefieder. »Die Rote!« Ich schüttelte den Kopf. »Ich kann sie nicht nehmen. Sie haben gesagt, das sei Ihr liebster Vogel und Ihr bester.« »Vögel leben nicht ewig. Sie hat gut für uns gearbeitet und verdient jetzt Ruhe und Pflege. Du kannst ihr einen hübschen Käfig machen, einen goldenen, wenn du willst, damit sie darin noch ihre letzte Zeit verbringen kann. Denke an deine Freunde in der Wildnis, wenn du sie fütterst.« Er gab mir die Hand. »Leb wohl, Junge.« Joan kam hinter seinem Rücken hervor. »Alles Gute, Clive.« Es war das erste Mal, daß sie mich mit Namen ansprach – sonst war ich nur der Stadtjunge gewesen. »Du wirst mir fehlen.« Ich war so erstaunt, daß ich ihr nur meine Hand hinstreckte. Sie achtete nicht darauf, sondern beugte sich vor und küßte mich. »Leb wohl.« Ich lief die Straße entlang, auf Southampton zu. Während der Viertelstunde, die ich brauchte, um die Entfernung zurückzulegen, begegnete mir kein einziges Auto, doch war das keineswegs ungewöhnlich. Jahr um Jahr wurden die Straßen weniger benutzt, manche Leute forderten sogar, daß man sie völlig aufgeben sollte, da die Luftschiffe für Passagiere wie für Ladungen ausreichen142
de Transportmöglichkeiten boten. Doch auch der Verkehr der Luftschiffe wurde weniger. Die Leute zogen es vor, in ihrer Geburtsstadt zu bleiben, anstatt die Strapazen einer Reise auf sich zu nehmen, die ohnehin nur in eine andere Stadt führte, die nicht besser war als die eigene und ihr auch noch bis aufs Haar glich. Die Wagen waren mit einem Radiosender ausgestattet, die ihre Ankunft den Wachtposten am Tor signalisierten, doch gab es außerdem eine Verbindung mit der Wachstube für Notfälle. Ich drückte auf den Knopf und wartete. Ich wußte, mein Bild würde innen auf einem Fernsehschirm erscheinen, damit die Wachen Gelegenheit hatten zu sehen, wer vor dem Tor stand. Schließlich öffnete sich das Tor, und ich schritt hinein. Der Diensthabende beäugte mich mißtrauisch. Und plötzlich kam mir zum Bewußtsein, wie ungewohnt ich für ihn aussehen mußte. Meine Kleider waren im Fluß gewaschen und in der Sonne getrocknet worden. Es gab keinen Bügelautomaten, der ihnen das gewohnte ordentliche Aussehen hätte geben können. Außerdem wiesen sie stellenweise Risse auf. Es war ein schwerer Mann, dicker, als gut für ihn war, mit einem aufgedunsenen Gesicht, doch schien er kaum über dreißig zu sein. Ein paar Wochen in der Wildnis, dachte ich bei mir, würden ihn schon die überflüssigen Pfunde verlieren lassen. Er zeigte das typische Polizistenverhalten, das jedem Ungewohnten zunächst einmal mißtraute. Er stellte sein Tonbandgerät ein. »Also. Name?« Ich nannte ihn. »Woher kommst du?« Ich wollte meine Geschichte jetzt noch nicht erzählen, 143
denn ich mußte zunächst mit meinem Vater Verbindung aufnehmen. Ich erzählte ihm also, ich hätte einen kleinen Ausflug in den Wald unternommen, um meinen Mut zu beweisen – die Jungen taten das manchmal, auch wenn es verboten war. Dann hätte ich mich verirrt. »Bist du aus dieser Stadt?« Wahrscheinlich kannte er die meisten der Jungen hier, deshalb schüttelte ich den Kopf. »Von London.« »Du bist hundert Kilometer durch die Wildnis gelaufen, und das ganz alleine?« Er war skeptisch. Mich hätte es auch nicht überzeugt. »Man hat mir geholfen.« »Geholfen? Wie? Willst du damit sagen, daß dir die Wilden geholfen haben?« Ausgestoßene, dachte ich, keine Wilden. Ich war aber klug genug, meinen Mund zu halten. Ich nickte also. »Sie haben mir zu essen gegeben. Und weil sie ohnehin in diese Richtung zogen, ließen sie mich mit ihnen kommen.« »Ich hätte eher gedacht, sie würden dir den Hals abschneiden.« Er stocherte mit einem Fingernagel zwischen den Zähnen herum. »Das ist eine ziemlich gewagte Geschichte. Ich nehme an, du kennst hier in Southampton niemanden, der für dich bürgen würde?« Darauf hatte ich gewartet. »Herr Sherrin. Er ist …« »Ich kenne Herrn Sherrin.« Er blickte mich weniger feindselig an, schien sogar ein wenig beeindruckt. Offenbar war Herr Sherrin bei der Polizei respektiert. 144
Er deutete auf das Visafon. »Ruf ihn von hier aus an.« Zu meiner Überraschung und Freude kam Miranda zusammen mit ihrem Vater, um mich abzuholen. Ich fragte sie, wieso sie nicht in der Schule sei, und sie sagte mir, daß heute ein Ferientag sei, der Jahrestag des Geburtstages des ersten Präsidenten des Southamptoner Stadtrates. Wir fuhren in ihrem Wagen zurück. Er war wesentlich größer, als ich vermutet hatte – kaum kleiner als die Limousine meines Vaters. Auch ihr Haus überraschte mich ein wenig: Es war ein richtiges Herrenhaus mitten in einem enormen Grundstück. Herr Sherrin sagte nicht viel, weil der Chauffeur anwesend war, und ich erzählte von mir aus ebenfalls nichts. Ich fragte nur nach meinen Eltern, ob sie sich große Sorgen gemacht hätten. Das hatten sie, und sie würden sich sehr freuen, von mir zu hören. Von Zeit zu Zeit sah ich verstohlen zu Miranda hinüber. Sie trug das Haar anders als früher, lockig und aufgetürmt. Es sah hübsch aus; aber zum erstenmal fragte ich mich, ob das Blond tatsächlich echt war. Dann aber schalt ich mich aus, daß ich so etwas überhaupt gedacht hatte. Der Butler der Sherrins hatte ungefähr die gleiche Größe wie der Wilde Hans und etwa sein Alter; doch um ihn war überhaupt nichts Wildes. Er ging leicht gebückt, als würde eine zwar kleine, dafür aber schwere Last auf seinem Nacken liegen. Als er die Tür öffnete, fragte ihn Herr Sherrin: »Irgendeine Nachricht, Boy?« Boy, dachte ich. Der Butler schüttelte den Kopf. »Nein, Herr, keine Nachricht.« »Komm in mein Arbeitszimmer, Clive«, sagte Herr 145
Sherrin. »Wir sollten uns vielleicht unterhalten. Nein, nicht du, Miranda. Ihr habt später noch genug Zeit zu erzählen.« Sie lächelte und zuckte mit den Schultern. Ich folgte Herrn Sherrin ins Arbeitszimmer, einem großen, üppig eingerichteten Raum mit Blick auf den weiten Rasen vor dem Haus, wo ein Gärtner mit einer Mähmaschine hantierte. Auf dem Schreibtisch stand ein Visafon. »Kann ich zuerst meinen Vater anrufen? Er hat sich doch Sorgen gemacht.« »Das hat keinen Sinn.« Er wies mich auf einen Stuhl und setzte sich selber nieder. »Ich habe ihn angerufen, bevor ich dich abholen kam. Er war nicht da. Ich habe eine Nachricht hinterlassen.« Sein Gesicht war grau, fiel mir auf, so wie sein Haar. Er schien sehr müde. »Ich könnte dann versuchen, meine Mutter zu erreichen.« »Das habe ich auch schon getan. Sie ist ausgegangen. Mach dir keine Sorgen. Sie rufen dich, sobald sie können, hier an. Erzähle mir lieber, was dir alles zugestoßen ist.« Ich erzählte, und er hörte zu, ohne mich ein einziges Mal zu unterbrechen. Er nickte voller Anteilnahme, als ich ihm wütend schilderte, wie man mich im Polizeigebäude behandelt hatte und dann später auf der Insel. Erst als ich erzählte, wie uns die Männer gefunden hatten und zum Wilden Hans brachten, begann er, Fragen zu stellen. Er schien ziemliches Interesse an den Ausgestoßenen zu haben. Ich berichtete, wie gut sie sich um uns gekümmert hät146
ten und wie anders die Wildnis wäre, als man sich hier erzählte. Ich erklärte, daß die Wilden gar keine Wilden wären, und die Ausgestoßenen auf eine Art ebenso zivilisiert wie wir auch. Herr Sherrin lächelte. »Du bist ja ganz begeistert.« »Es gibt überhaupt keinen Grund, warum die Welt so unterteilt ist wie jetzt, daß die einen in der Stadt und hinter Mauern leben und die anderen in der Wildnis, oder? Es muß doch nicht unbedingt so sein?« »Das ist eine schwierige Frage, aber in dem, was du sagst, steckt eine ganze Menge.« Er drückte einen Knopf auf seinem Schreibtisch. »Ein Bad und saubere Kleider werden dir guttun. Und etwas zu essen.« Ich schüttelte den Kopf. »Sie haben uns reichlich versorgt.« Der Butler trat ein. »Führe Herrn Clive auf sein Zimmer und sorge dafür, daß er alles hat, was er wünscht.« Er lächelte. »Wenn du dich umgezogen hast, kannst du mit Miranda Mittagessen. Ich muß fort, aber wir sehen uns später wieder.« Ich wurde in ein Zimmer im ersten Stock geführt. Der Butler wollte den Käfig tragen, aber ich gab ihn nicht her. Ich stellte ihn auf einen Tisch, nahe beim Fenster, von wo aus man einen Blick über die Stadt bis hin zu der grünen Wand der Wildnis hatte. Der Butler zeigte mir das Badezimmer und sagte, Kleider würden mir noch gebracht. Dann erkundigte er sich, ob ich noch etwas anderes wünschte. »Nein, danke, Boy.« 147
Das kam ganz natürlich: Ich war ohne zu denken in die alte Gewohnheit zurückgefallen. Er zeigte keine Reaktion, und natürlich gab es nicht den geringsten Grund, warum ich mir einbildete, er könnte es mir übelnehmen. Es hatte immer Herren und Diener gegeben, und so würde es auch bleiben. Es war ein Teil der natürlichen Ordnung und niemandes Fehler. Trotzdem war ich verwirrt. Ich starrte aus dem Fenster, hinüber zu der anderen Welt, die ich gerade verlassen hatte. Es war völlig sinnlos, solchen Gedanken nachzuhängen; wichtig war, ich würde bald zu Hause sein. Da fiel mir etwas ein. Herr Sherrin hatte gesagt, mein Vater und meine Mutter wären ausgegangen. Es gab verschiedene Möglichkeiten, wo mein Vater zu finden war, doch wenn meine Mutter nicht zu Hause war, würde sie wahrscheinlich in ihrem Damenklub in Blackfriars sein. Ich könnte sie dort anrufen. Also drehte ich die Wasserhähne wieder zu und lief nach unten. Niemand war in der Nähe. Die Tür zum Arbeitszimmer stand offen, und ich hörte Stimmen herausdringen. Ich zögerte, als ich meinen Namen hörte – Frau Sherrin. »Selbst wenn er nicht sehr intelligent ist, wird er früher oder später Verdacht schöpfen«, sagte sie. »Zum Beispiel, wenn er keinen Anruf von seinen Eltern bekommt.« »Wir können ihn eine Stunde oder so hinhalten«, sagte Herr Sherrin. »Ich will, daß Miranda mit ihm spricht, deswegen habe ich sie aus der Schule geholt. Dieser Wilde Hans interessiert mich. Ich wollte ihm vorhin nicht zu viele Fragen stellen, aber Miranda wird er alles erzählen.« 148
»Das ist nicht so wichtig wie der Ausgang überhaupt«, sagte Frau Sherrin. »Die Lage ist noch unsicher. Und da er jetzt so einfach aufgetaucht ist …« Es war zuerst unglaublich, und dann dachte ich, das müßte irgendein verrückter Witz sein. Doch als sie weitersprachen, ordnete sich alles logisch und überzeugend, und ich begann zu verstehen. Daß die Polizei mich mitnahm und auf die Insel steckte, war keineswegs ein Fehler gewesen. Es war Absicht. Trotzdem war meine Person eigentlich Nebensache: Die Verschwörung richtete sich gegen meinen Vater. Verschwörung und Verrat, das wußte ich, war in den Städten an der Tagesordnung: Auf diese Weise kam damals der Beschluß zustande, Herrn Sherrin nach Southampton in die Verbannung zu schicken. In diesem Fall aber wollte man mich in Verbindung mit einer geheimen Gruppe bringen, die sich für verbesserte Bedingungen der Diener einsetzte. Da ich der einzige Sohn war, würde das meines Vaters Position erheblich schwächen. Doch es gab noch ein weiteres versteckteres Motiv. Seine Impulsivität war bekannt und würde ihn, so hoffte man, zu einer unüberlegten Aktion hinreißen, die seinen Feinden die Möglichkeit geben würde, ihn zu Fall zu bringen. Das war die Erklärung für meinen Verrat und den Aufenthalt auf der Insel. Ich sollte dort, weit entfernt von London, bleiben, während man meinen Fall vorbereitete. Dann würde ich zusammen mit anderen verurteilt werden. Sie waren überzeugt, mein Vater würde ungesetzliche Schritte unternehmen, um mich zu befreien, und wenn er das tatsächlich versuchte, wären sie bereit, Gegenmaßnahmen einzuleiten, um ihn zu vernichten. Das 149
war genau der Ausdruck, den Herr Sherrin benutzte: »vernichten«. Ich hatte das Gefühl, er meinte es wörtlich. Vater war zu mächtig, als daß man ihn nur verbannen konnte. Ich versuchte, klar zu denken. Man nahm an, ich würde ein Bad nehmen und mich umziehen. Es würde nicht mehr lange dauern, und man käme, um nach mir zu sehen, also hatte ich keine Minute zu versäumen. Wenn ich nur bis zur Mauer gelangen könnte … Ich wollte wieder hinauf, doch da bemerkte ich, daß jemand auf mich zukam. Es war Miranda. Auf ihrem Gesicht sah ich einen unsicheren und wachsamen Ausdruck. Ein törichter, völlig unwichtiger Gedanke kam mir in den Sinn: Ich hatte recht, sie hatte sich die Haare gefärbt. Und zugleich wußte ich noch etwas anderes. Ich erinnerte mich an die Szene im Polizeigebäude in London – diese Anschuldigungen eines Denunzianten, der auf Brians Party gewesen sein mußte. Ich war überzeugt gewesen, daß es Gary war, aber jetzt war ich noch mehr davon überzeugt, daß ich falsch geraten hatte. Miranda war ebenfalls auf der Party gewesen. Miranda hatte ihnen diese Lügen erzählt. Der letzte Zweifel, den ich vielleicht noch gehabt haben mochte, verschwand sofort, als sie den Mund aufmachte. »Vater! Clive ist hier! Er hat an der Tür gelauscht.« Diesmal wurde ich von zwei Dienern bewacht, die mich auf mein Zimmer brachten und die Türe hinter mir verriegelten. Ich trat ans Fenster und blickte hinaus. Der Boden lag mehr als sechs Meter unter mir, und der Garten wimmelte von Dienern, die dort arbeiteten. Es gab keine Möglichkeit zu entkommen. Ich sah hinüber zur 150
Wildnis und dachte an Kelly und Sunyo und daran, was für ein Idiot ich doch gewesen war. Sie waren frei zusammen mit dem Wilden Hans, und ich war zurückgekommen zu Verrat und der Aussicht, ins Gefängnis geworfen zu werden – und mit der Aussicht, das Werkzeug zu sein, das meines Vaters Feinde gegen ihn verwenden wollten. Ich hatte Angst, und ich fühlte mich krank und wütend. Ich war wütend auf die Sherrins, aber mehr noch auf meine Dummheit. Einmal hatte ich Glück genug gehabt und war einer Falle entkommen, aber ich mußte gleich wieder voll hineintappen. Ich wußte, was passieren würde. Man würde mich zurück auf die Insel bringen, und diesmal würde man sichergehen, damit ich nicht wieder fliehen konnte. Sie würden mich so lange dort festhalten, bis ich für die Schau in London gebraucht wurde. Ein Wagen näherte sich dem Haus und hielt am Haupteingang. Zwei Polizisten stiegen aus. Herr Sherrin hatte sie wahrscheinlich gerufen, weil er mich so rasch wie möglich los sein und in sicherem Gewahrsam wissen wollte, jetzt, da ich die Wahrheit wußte. Er wollte das Risiko nicht eingehen, mich länger in seinem Haus zu behalten. Ich wandte mich vom Fenster ab, und mein Blick fiel auf den Käfig. Nie würden sie mir erlauben, die Rote mit auf die Insel zu nehmen. Was tut man mit einer überflüssigen Taube? Dreht man ihr den Hals um? Hatte ich auch meine eigene Freiheit leichtfertig aufs Spiel gesetzt, so konnte ich doch wenigstens der Roten die ihre wiedergeben. Ich nahm den Käfig, trug ihn zum Fenster und öffnete das Türchen. Die Rote wollte zunächst nicht herauskommen. Sie 151
pickte an meinem Finger, den ich ihr hinstreckte. Ich nahm sie also heraus und setzte sie auf meine Hand, wo sie zutraulich sitzen blieb – »Flieg fort«, sagte ich zu ihr. »Flieg zurück in den Wald.« Ich warf sie in die Luft, und sie flatterte in die Höhe. Einmal kreiste sie über dem Haus, dann aber flog sie geradewegs auf den Wald zu, über den Turm und über die Mauer hinweg. Ich sah ihr nach, bis sie verschwunden war. 10 Das Polizeigebäude in Southampton war kleiner als das in London, sonst aber hatte es durchaus Ähnlichkeit mit diesem. Das Zimmer, in das man mich brachte, glich fast ganz genau demjenigen, in dem man mich damals über die Party ausgefragt hatte. Auch jetzt waren zwei Polizisten anwesend, und auch jetzt hörte einer nur zu, während der andere das Verhör leitete. Sie fragten mich über den Wilden Hans und die Ausgestoßenen. Das bestätigte meine Vermutung, die mir während des Gesprächs der Sherrins gekommen war: daß nämlich die grüngekleideten Männer wesentlich wichtiger genommen wurden, als es die verächtlichen Bemerkungen über die »Wilden« vermuten ließen. Das bestärkte meinen Entschluß, den ich bereits gefaßt hatte, ihnen nichts zu berichten, was für sie möglicherweise von irgendeinem Nutzen sein konnte. Zunächst verlief das Verhör recht freundlich, was sich allerdings sehr rasch änderte, als sie sahen, daß ich ihnen nur unbefriedigende Antworten gab. Nein, ich hatte nicht die geringste Ahnung, welche Richtung wir eingeschlagen hatten, um nach Southampton zu kommen. Nein, ich 152
hatte keine Ahnung, wie viele Leute zur Bande des Wilden Hans gehörten. Mehr als zwanzig? Mehr als fünfzig? Hundert? Ich zuckte hilflos die Achseln. Der Polizist, der mich verhörte – übrigens ebenfalls ein wenig aufgedunsen, so wie der Wachtposten an dem Stadttor –, riet mir, etwas gesprächiger zu sein. Am nächsten Morgen sollte ich zur Insel zurückgebracht werden. Das ginge sie zwar nichts an – er zuckte nun seinerseits mit den Schultern –, doch hatten sie durchaus die Möglichkeit, mir zu helfen. Ich würde hart bestraft werden – der Käfig war mir sicher –, weil ich geflohen war. Doch würde es einen beträchtlichen Unterschied in meiner Behandlung machen, wenn ich dorthin mit einer Empfehlung von ihnen zurückkehren würde, die mir bestätigte, daß ich, obgleich verhaftet, meiner Bürgerpflicht entsprochen hätte. Eine völlig anderslautende Nachricht dagegen würde meine schlimme Lage nur noch schlimmer machen. Ich stellte mich weiterhin dumm, und schließlich verloren sie die Lust. Der Polizist, der mit mir gesprochen hatte, sagte, daß ich vielleicht nach einer Nacht in der Zelle vernünftiger sein würde – man würde mich noch einmal verhören, bevor man mich zum Flughafen brachte. Die Zelle befand sich im zweiten Stock – ein enges graues Zimmer mit einem eisernen Bett, das in der Wand festgemacht war, einem Waschbecken und einer Toilette auf der einen Seite. Sonst enthielt der Raum nichts. Ich kauerte unglücklich auf dem Bett. Langsam verging das Licht des Nachmittags, und die Dämmerung brach an. Das einzige Fenster ließ sich nicht öffnen, außerdem war es mindestens neun oder zehn Meter hoch über dem be153
tonierten Hof. Selbst wenn ich das Glas zerbrach und hinausgelangte, würde ich mir ein Bein brechen, wenn ich sprang, oder – was wahrscheinlicher war – ich würde mir den Hals brechen. Auch von diesem winzigen Fenster aus konnte ich den Wald jenseits der Stadtmauer erkennen. Er schien im Dämmerlicht grau – grau wie meine Zellenwände. Doch das neue Licht am Morgen würde ihn wieder grün erscheinen lassen – Kelly und Sunyo würden erwachen, die Sonne würde scheinen, und sie würden durch die Blätterwand laufen. Ich fragte mich, was sie morgen wohl tun mochten? Fischen vielleicht, oder Reiten. Es sei möglich, hatte der Wilde Hans gesagt, daß sie mit zur nächsten Hirschjagd gehen dürften. Dann dachte ich an Joan und an Miranda. Daß ich mich im Verhör dumm stellte, war eigentlich nur recht und billig: war es doch meine Dummheit, die mich hierher gebracht hatte. Man brachte mir mein Abendessen auf einem Tablett: irgendeines von diesen Konzentraten mit einer Scheibe geschmacklosen Brotes und einer synthetischen Flüssigkeit, um das Ganze hinunterzuspülen. Mir wäre es lieber gewesen, das Wasser und das Brot des Wilden Hans zu essen. Doch dann aß und trank ich, um die Zeit auf irgendeine Weise zu vertreiben, und legte mich aufs Bett. Unglückliche und verzweifelte Gedanken jagten sich und machten mich nur noch unglücklicher. Die Zelle wurde von einer einzigen Lampe beleuchtet, die mitten an der Decke befestigt war. Sie störte mich, denn sie leuchtete nur schwach, sie störte mich aber auch, weil man sie nicht abschalten konnte. Ich starrte abwechselnd hinauf und auf das schwarze Viereck des Fensters und 154
versuchte zu schlafen. Schließlich gab ich auch diese Hoffnung auf. Dann überwältigte mich aber doch die Müdigkeit. Mein Schlaf wurde von Träumen gestört. Ich wußte später nicht, was ich genau geträumt hatte, nur daß es Träume waren, an die man sich nicht besonders gerne erinnert. Ich erwachte aus einem besonders unangenehmen und hörte meinen Namen rufen. Das mußte noch ein Teil meines Traumes sein, vermutete ich. Ich spürte kalten Schweiß. Und dann, als ich tatsächlich wach war, hörte ich es wieder. Das Licht brannte immer noch, aber hinter der Fensterscheibe war jetzt der Mond aufgegangen. Die Stimme kam aus dieser Richtung. Wieder hörte ich es. »Clive …« Die Stimme gehörte dem Wilden Hans. Aber das war unmöglich. Ich sprang aus dem Bett und lief hinüber, um nachzusehen. Ein halbes Dutzend Reiter bewegte sich auf der Straße hin und her. Ich drückte mit dem Ellbogen das Fenster ein und hörte, wie das Glas klirrend hinunterfiel. Dann steckte ich den Kopf durch die gezackte Öffnung und schrie zurück. »Ich bin es, Hans. Hier bin ich!« Gesichter wandten sich nach oben, und ich erkannte den vertrauten schwarzen Bart. »Bist du glücklich dort oben?« fragte der Wilde Hans. »Oder willst du lieber mit uns kommen?« Seine Zähne blitzten, als er lachte. Ich fühlte mich plötzlich übermütig, aber es war noch ein weiter Weg bis zum Boden. »Ich bin eingesperrt«, rief ich hinunter. 155
Der Wilde Hans gab keine Antwort, sondern löste ein Seil vom Sattel und warf mir ein Ende zu. Er warf sehr genau, aber ich verfehlte das Seil beim erstenmal. Dann warf er es noch einmal, und ich packte es. »Bind es fest«, sagte er. Das Bett war das einzige Möbelstück, aber es war immerhin in der Wand verankert. Ich band das Seilende mit einem doppelten Seemannsknoten an ein Bettbein – das hatte ich bei den Ausgestoßenen gelernt. Dann trat ich wieder ans Fenster. »Ich bin soweit.« »Dann komm runter.« Ich entfernte den Rest des Glases aus dem Fensterrahmen und zwängte mich durch. Das Seil hielt ich fest umklammert. Ich rutschte hinunter und verbrannte mir dabei ein bißchen die Hände, weil ich es so eilig hatte. Der Wilde Hans hob mich mit einer Hand hinter sich aufs Pferd. »Fertig. Zurück zum Tor!« rief er seinen Leuten zu. Das Klappern der Hufe schallte laut durch die Straßen. Ein paar Köpfe spähten hinter den Fensterscheiben hinaus, doch niemand kam auf die Straße. Ich fragte mich, warum die Polizei im Gefängnisgebäude nicht etwas unternommen hatte. Wie war der Wilde Hans überhaupt in die Stadt gekommen – und wie wollte er sie wieder verlassen? Als wir uns dem Tor näherten, bemerkte ich vor uns einige Uniformierte, und eine Sekunde später krachten Schüsse. Als Antwort hörte ich ein anderes Geräusch: das leise Zischen eines Pfeils, der durch die Luft sauste. Einer der Polizisten brach zusammen und fiel genau in den Pfeilschaft, der seine Brust durchbohrte. Die anderen 156
zogen sich in den Schatten zurück. Irgend jemand schoß aus der offenen Tür der Wachstube. Aber ein Pfeil des Wilden Hans traf ihn, und er schoß kein zweites Mal. Wie er so fiel, hatte ich plötzlich eine Ahnung, was mit den Leuten des Polizeireviers geschehen war. Der Wilde Hans ritt zur Wachstube, deren Tür offenstand. »Mach auf«, befahl er dem Posten am Kontrollpult. Ein weiterer Pfeil lag auf der Sehne, und der Posten versuchte nicht erst zu widersprechen, sondern drückte einen Knopf, so daß die Tore mit leisem Summen aufschwangen. Der Wilde Hans machte eine Handbewegung. »Kommt raus.« Wir ritten aus der Stadt. Ein paar fruchtlose Schüsse folgten uns. Dann überquerten wir das Brachland vor der Stadtmauer. Ich blickte zurück und sah sie – hoch und schimmernd im Mondlicht. Es schien unmöglich, daß die Ausgestoßenen hineingekommen waren und mich herausgeholt hatten. Und doch war es geschehen. Das war kein Traum, das war Wirklichkeit. Ich hörte das Trappeln der Hufe, spürte die Bewegung des Pferdes unter mir. Wir waren nun fast am Waldrand und folgten der Straße, die nach Westen führte. »Warum seid ihr gekommen, um mich zu holen?« fragte ich den Wilden Hans. »Wir hatten einen Boten.« Ich war verwirrt. »Einen Boten?« »Die Rote ist zu ihrem Schlag zurückgekehrt.« »Sie hat keine Botschaft überbracht.« »Wir aber waren der Meinung, daß sie doch eine 157
brachte. Du konntest sie natürlich freigelassen haben, weil es dir zuviel Mühe war, für sie zu sorgen. Wahrscheinlicher war, daß du in Schwierigkeiten warst.« »Und nur deshalb sind Sie in die Stadt gekommen?« Der Wilde Hans lachte. »Deshalb, und weil wir uns amüsieren wollten. Das Leben ist in letzter Zeit recht ruhig geworden.« Ich konnte es immer noch nicht fassen. »Aber sie müssen die Tore für Sie geöffnet haben.« »Wir kennen ihre Gewohnheiten besser, als sie sich vorstellen. Ein Polizeiwagen kommt jeden Abend regelmäßig zur gleichen Zeit aus westlicher Richtung. Wir ritten also nahe an die Mauer, noch bevor er kam. Sie sahen uns nicht – teils weil es finster war, teils weil sie keine sorgfältigen Wachen aufgestellt haben.« Das stimmte. Man hatte mich auch nicht bemerkt, als ich mich näherte, und das war immerhin wahrend des Tages gewesen. »Als sie das Tor für den Wagen öffneten«, fuhr der Wilde Hans fort, »haben sie es gleichzeitig auch für uns geöffnet. Wir brauchten ihnen nur zu folgen.« Das erklärte eine der vielen Unmöglichkeiten. »Wie haben Sie gewußt, wo ich zu finden wäre?« fragte ich. »Wir wußten nicht, welche Zelle – deswegen mußten wir nach dir rufen. Aber das Polizeirevier war der einzige Platz, an dem man suchen mußte, wenn du schon in Schwierigkeiten warst.« »Aber wie wußten Sie, welches das Polizeigebäude war?« »Ich sage dir doch, wir wissen mehr über die Städte, als du dir träumen läßt.« 158
»Da haben Sie aber davon gesprochen, daß Sie von außen beobachtet haben – zum Beispiel, wann die Wagen kommen und so. Das ist nicht dasselbe.« »Vielleicht haben wir Freunde innerhalb der Mauern.« »Freunde?« Nach allem, was passiert war, schockierte mich diese Bemerkung doch ganz gehörig. »Sie meinen, Verräter in den Städten?« »Kann ein Sklave ein Verräter sein?« »Die Diener?« Selbst das verblüffte mich. »Sie schicken Ihnen Informationen?« Er lachte wieder. »Du bist noch zu neu bei uns, als daß ich dir alle unsere Geheimnisse erzählen könnte. Vielleicht verstehst du jetzt, warum wir die Neuen einem Test unterziehen. Eine Weile ritten wir schweigend. »Ich verstehe immer noch nicht, wie Sie das wagen konnten«, sagte ich schließlich, »so mit Pfeil und Bogen gegen Gewehre.« »Auf unserer Seite war immerhin das Überraschungsmoment. Und dann sind es eben Städter.« Er sagte dies verächtlich. »Sie halten nicht gut Wache, und sie sind nicht daran gewöhnt, überrascht zu werden. Es war Nacht, und sie schliefen oder waren doch im Halbschlaf und fürchteten sich vor ihren eigenen Schatten. Ja, natürlich haben sie Gewehre, aber wir können mit unseren Pfeilen besser schießen. Auf geringe Entfernung ist ein Pfeil außerdem einem Gewehr durchaus nicht unterlegen.« Er lenkte Captain in den Wald, und der Rest der kleinen Truppe folgte ihm. 159
»Sie sind verweichlicht«, sagte er. »Eine Zeitlang hatten sie die Kraft und die Macht – die Kraft der Maschinen und die Macht über ihre Diener. Ihr Leben verläuft gleichförmig und ohne Konflikte. Freilich wissen sie von den Barbaren, doch diese leben auf der anderen Seite der Mauer in der Wildnis. Sie haben also keinen Grund, sich vor ihnen zu fürchten. Und dann gibt es plötzlich einen Feind in ihrer Stadt – bei Nacht noch dazu. Zunächst sind sie überrascht, dann verwirrt und schließlich kopflos vor Furcht. Furchtsame Männer haben den Kampf bereits verloren, bevor er noch begonnen hat.« Das schien mir richtig zu sein – das Gegenteil übrigens ebenfalls: Ein tapferer Mann hatte den Kampf bereits halb gewonnen, bevor dieser begann, auch wenn es hart werden würde. Doch je härter der Kampf, desto tapferer mußte er sein. Ich dachte an meine Eltern, während wir dem Waldpfad folgten. Die Aufregung über meine Rettung verblaßte langsam, und ich erkannte, daß ich sie eine sehr lange Zeit nicht sehen würde – falls ich sie überhaupt nochmals wiedersehen würde. Der Gedanke war schrecklich, doch mir blieb als Trost, daß sie nun mich nicht als Waffe gegen meinen Vater gebrauchen könnten. Seine Feinde würden wahrscheinlich weiter versuchen, ihn zu vernichten, doch würde ihnen das nicht leichtfallen. Ich erinnerte mich an sein energisches Kinn und sein lautes Lachen. Nein, leicht würden sie es nicht haben. Wir erreichten das Lager, als das Mondlicht verblaßte und die Dämmerung heraufzog. Leute kamen aus ihren Hütten, als sie uns kommen hörten. Kelly und Sunyo grinsten und begrüßten mich. Ich glitt vom Pferd. Joan war auch da. Und der Wilde Hans rief zu ihr hin160
unter: »Hier ist er, meine Tochter. Ich habe ihn zurückgebracht, wie ich es versprochen habe. Mit ein bißchen Glück werden wir einen Ausgestoßenen aus ihm machen.«
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