ÜLEINE
BIBLIOTHEK
DES
WISSENS
LUX-LESEBOGEN NATUR-
UND
KULTURKUNDLICHE
JAMES
HEFTE
CALVERT
AM DACH DER WELT D...
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ÜLEINE
BIBLIOTHEK
DES
WISSENS
LUX-LESEBOGEN NATUR-
UND
KULTURKUNDLICHE
JAMES
HEFTE
CALVERT
AM DACH DER WELT D I E „SKATE" T A U C H T A M P O L A U F
VE R LAG S E B A S T I A N L U X MURNAU • MÜNCHEN - I N N S B R U C K -BASEL
Der Drillbohrer war schuld i-J ir Hubert Wilkins war einer der einfallsreichsten und furchtlosesten Männer unter den Polarforschern unseres Jahrhunderts: Er war der erste Mensch, der im Flugzeug das gesamte Nordpolarmeer auf dem Kurs Alaska-Pol-Spitzbergen überquerte. Das war mit den Maschinen von 1928 eine ungeheure Leistung, und sein Flug diente in erster Linie nicht einmal dem Abenteuer, sondern der Erkundung der Wetterverhältnisse am Dach der Welt. Doch schon zwölf Jahre vorher hatte der bekannte Polarmann Stefansson erklärt, daß es mit der Erforschung der Arktis aus der Luft so ähnlich sei, wie wenn man mit einem Flugzeug feststellen wolle, was in einem Garten wachse, und er überzeugte Wilkins davon, daß man den riesigen Eisozean, der das Dach der Erde bedeckt, am besten kennenlernen könne, indem man mit einem U-Boot unter das Eis taucht. 1930 begann Wilkins sich ernstlich darum zu bemühen, ein Boot für eine solche Arktisfahrt zu bekommen. Und er bekam ein Boot, die alte „O 12" — ein abgetakeltes, veraltetes U-Boot der amerikanischen Marine; es wurde innerhalb eines Jahres so völlig für seine neue Aufgabe umgebaut, daß es kaum noch wiederzuerkennen war. Der Bug war hydraulisch abgefedert und das Sehrohr mit einer Eissäge versehen. Ein ebenfalls abgefederter Führungsarm, der oben herausschaute, sollte das Boot wie der Stromlenkungsbügel einer Straßenbahn an der Eisdecke entlangführen. Auch drei Drillbohrer waren anmontiert, die Luftlöcher in die Eisdecke bohren sollten, während die „O 12" darunter vor Anker lag. Und noch etwas war neu an diesem U-Boot: Seine Oberseite war der Schlittenform angeglichen. Wie mit Schlittenkufen wollte Wilkins ständig unter der Eisdecke entlanggleiten, und die Abrundung des Bootskörpers sollte ihm helfen, die Unebenheiten der Eispressungen zu überwinden. 2
Im Jahre 1931 fuhr Wilkins aus, um unter dem Polareis zu kreuzen, nach offenen Stellen zu suchen und Methoden für eine exakte und iangdauernde Wetterbeobachtung im Packeis zu entwickeln. Wilkins wollte beweisen, daß eine ständige Wetterstation auf dem Eis errichtet und daß sie am besten von U-Booten versorgt werden könnte. Er wollte auch Echolotungen anstellen, Wasserproben sammeln, die Strömungen unter dem Eis beobachten, Temperaturen messen, Funkverbindungen mit der bewohnten Welt herstellen, die Formation des Packeises studieren und den Grad der Filterung des Lichtes im Eis erfassen. Aber all die ausgeklügelten Kniffe an seinem Boot reichten damals für eine Unterfahrung des Arktis-Eises noch nicht aus. Ein einziger Drillbohrer, der sich hoffnungslos verklemmt hatte, verhinderte nach kurzer Fahrt unter dem Eis ein weiteres Vordringen. So ließ Wilkins das Unternehmen abbrechen und die „O 12" in einem norwegischen Fjord versenken. Im Jahre 1958 erlag dieser mutige und unermüdliche Mann einer Herzattacke.
Sir Hubert Wilkins' letzter Wunsch Einige Monate nach Wilkins Tod wurde James Calvert, der Commander des kleinen Atom-U-Bootes ,Skate', in das Büro von Admiral Warder gerufen, dem die neuentwickelten atomgetriebenen Boote der USA unterstellt worden waren. Warder begrüßte den erfahrenen Seemann mit der gewohnten Herzlichkeit und erklärte ihm, daß er ihm einen Vorschlag zu machen habe. „Jim", sagte er, „ich weiß, daß Sie große Stücke von Sir Hubert Wilkins gehalten haben. Würden Sie bereit sein, ihm einen letzten Dienst zu erweisen?" James Calvert war überrascht: „Ich fürchte, ich verstehe nicht". Der Admiral berichtete ihm dann, Wilkins habe auf dem Sterbebett die Hoffnung geäußert, daß nach seinem Tode ein Unterseeboot seine Asche zum Nordpol bringen möchte, wo sie ausgestreut werden sollte, es sei sein letzter Wunsch gewesen, daß' seine letzte Reise unter dem Polareis zum Pol führe . . . „Das wäre eine große Ehre für die ,Skate', Herr Admiral", erwiderte Calvert. „Die Order, direkt am Pol aufzutauchen, ist allerdings ein recht harter Befehl. Sie wissen, daß Kapitän Anderson letztes Jahr nicht gewagt hat, bei seiner Unterquerung des Polareises mit der ,Nautilus":") das Eis am Pol zu durchstoßen. Und auch die ,Skate' versuchte in diesem Sommer vergebens, am Pol über •) Vgl. LUX-LESEBOGEN 291, „Nautilus".
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das Eis zu tauchen. Ich habe nicht viel Hoffnung, daß es uns im I nächsten Frühjahr gelingen wird." Der Admiral erklärte ihm, daß man es auf jeden Fall versuchen müsse, Wilkins' Wunsch zu erfüllen, und sagte: „Sollte es nicht möglich sein, so bringen Sie die Urne zurück, und wir werden dann irgend jemandem zu einem günstigeren Zeitpunkt mit diesem Auftrag betrauen." So endete das Gespräch, aber Calverts Gedanken darüber kamen nicht so schnell zur Ruhe. Auf irgendeine Weise mußte sich dieser Auftrag durchführen lassen, dachte er . . .
* „Vor meinem geistigen Auge", so berichtet James Calvert über diese entscheidenden Stunden, „sah ich die kleine ,Skate' bereits schweigend durch die Dunkelheit dahintasten und mit Scheinwerfern und der Fernsehkamera eine Stelle suchen, an der sie das Eis i durchbrechen konnte. Der Turm der ,Skate', das war mir klar, mußte als Rammbock dienen. Nun ist dieser Turm vollgestopft mit nahezu einem Dutzend hydraulich auszufahrender Masten, Antennen, Sehrohre und Entlüftungsrohre, von denen die meisten für das sichere Operieren eines Unterseebootes von lebenswichtiger Bedeutung sind. Würden sie den splitternden Stoß aushalten, wenn sich das 3000 Tonnen schwere Boot in das Eis hineinbohrte? Es mußte möglich sein. Eine Schar von Werftarbeitern des Bostoner Hafens stürzte sich auf die ,Skate'. Die Turmkuppel, die bereits für die Sommerexpedition verstärkt worden war, wurde noch besser für die vor uns liegende Aufgabe geschützt. Scheinwerfer wurden auf dem Oberdeck eingebaut, damit das Eis im Dunkel der Winternacht von unten her angestrahlt werden konnte. Hinzu kam eine Fernsehanlage, um die Beobachtung der Unterseite des Eises zu erleichtern; die Kamera wurde in wasserdichten Behältern im Oberdeck eingebettet, und zwar so, daß sie durch Fernsteuerung nach verschiedenen Seiten 4 zu schwenken war. Mein arktiserfahrener Gefährte, Dr. Waldo Lyon, J der uns auf der Fahrt begleiten sollte, installierte einen wirk- i sameren Eisanzeiger. Der große freundliche Rotkopf Guy Shaffer 1 erhielt das Amt des Tauchoffiziers, Dave Boyd die Stellung des 1 Leitenden Ingenieurs. Unser alter Freund Zane Sandusky begann | die notwendigen Versuche mit dem Trägheitsnavigator, wobei ihm *1 Bob Wadell zur Seite stand. Die Fernsehanlage wurde Cramer •
Bacque unterstellt, einem rundlichen, fröhlichen, sehr befähigten jungen Ingenieur. Da Dave Boyd meinte, daß wir Taucheranzüge mitnehmen sollten, damit wir das Eis genau in Augenschein nehmen könnten, machten er, Dr. Arnest, Richard Browe und der Seemann Sam Hall noch schnell einen Taucherkursus an der Taucherschule von Washington mit. Die Männer wurden dort zwei Wochen lang einem harten Training unterworfen. Die vier kamen zurück mit dicken schwarzen Schwammgummi-Anzügen, die, bis auf das Gesicht, ihren ganzen Körper bedeckten. Stiegen sie in die eiskalte Tiefe hinab, dann füllte sich der Schwammgummi mit Wasser, das sich durch die Berührung mit dem Körper erwärmte und ihn so gegen die entkräftende Eiseskälte des Wassers schützte. Man erwartete, daß die Taucher ohne nachteilige Folgen etwa eine halbe Stunde in einem Wasser bleiben konnten, dessen Temperatur dem Gefrierpunkt nicht allzu nahe kam.
Die „Skate" — auf Deutsch „Rochen" — ist eines der kleineren AtomUnterseeboote, aber sie ist von großer Seeausdauer und besitzt eine überraschend hohe Geschwindigkeit. Daß sie besonders stabil gebaut ist, bewies sie am Nordpol beim Durchstoßen der Eisdecke. Am Turm sieht man den ausgefahrenen Antennen- und Radarmast und die beiden Sehrohre. 5
Wenige Tage vor der Ausreise, die für den 3. März 1959 angesetzt war, stieß noch einer unserer alten Gefährten wieder zu uns: Walt Wittmann. Er hatte viel Zeit darauf verwendet, Informationen über den arktischen Winter auszugraben, und kam mit einem Berg von Schriften darüber an Bord, genug Lektüre für uns auf dem ganzen Weg hinauf zum Nordpol.
Dr. Lyon hält einen Vortrag Endlich war alles zum Auslaufen fertig, es war ein kalter, stiller Tag. Der Lärm in den Docks von Boston schlief für kurze Zeit ein, als die Arbeiter unser Ablegen beobachteten. Mein Assistent, AI Kelln, und ich waren auf dem Turm und sahen auf die Pier neben uns herab. Nur eine einzige Leine verband sie noch mit dem Bug des Bootes. „Beide Maschinen langsame Fahrt zurück", rief Kelln gedämpft durch das Bordtelefon hinab. Das Boot erzitterte leicht, und am Heck schäumte das Wasser auf. Der schwarze Rumpf der ,Skate' schwang in den Thames-Fluß hinaus. Wir zogen der hohen See zu. Die vertrauten Umrisse der Küste verschwammen, so daß ich kaum noch die weißen Häuser der Stadt ausmachen konnte, als ich durchs Glas zurückblickte. Bald hob und senkte sich der Bug mit dem langsamen Rhythmus der atlantischen Dünung. Zum zweitenmal in sieben Monaten zog die ,Skate' dem Nordpol entgegen und darüber hinaus. Ich blieb auf dem Turm, bis wir so tiefes Wasser erreicht hatten, daß wir tauchen konnten, dann stieg ich die Leiter zur Zentrale hinab. Wenige Augenblicke später gab Kelln vom Turm aus Tauchalarm und folgte mir. Der Bug schnitt in die grauen Fluten des noch winterlichen Atlantik, wir glitten hinunter unter die unruhige Oberfläche der See, in die Ruhe der Tiefe. Wir setzten Kurs auf die Nantucket-Bank und auf das 4000 Meilen entfernte Prinz-Karl-Vorland. Die ,Skate' eilte nach Norden, und die Besatzung verrichtete ihren Dienst mit bewährtem Eifer und voll Zutrauen zu ihrem Boot. An einem Nachmittag, als wir uns Spitzbergen näherten, hielt Dr. Lyon, der unterwegs unsere Erziehung zu Arktisexperten in die Hand genommen hatte, in der Mannschaftsmesse einen sehr interessanten Vortrag über ein Thema, das uns noch fremd war: War das Nördliche Polarmeer immer mit Eis bedeckt? Um die Diskussion anzuregen, bat er uns, einmal anzunehmen, daß der Arktische Ozean eisfrei sei, und darüber nachzudenken, welchen Unterschied das für unsere Erde bedeuten würde? Einen sehr
beträchtlichen! Statt einer fünf Millionen Quadratmeilen großen Eiswüste auf dem Dach der Welt würde dort dann ein eisfreier, stürmischer Ozean sein. Die eisigen Flächen, die als Isolierschicht und Reflektor für die Sonnenstrahlen wirken und das Ausmaß der an der Wasseroberfläche verdampfenden Feuchtigkeit begrenzen, wären dann nicht mehr vorhanden. Statt dessen würde das offene Wasser der Arktis Niederschläge, Regen, Schnee und Hagel hervorrufen; vieles davon würde auf die Landmassen im Norden fallen — auf Grönland, Kanada, Alaska, Sibirien und Nordeuropa. Jahr um Jahr würden sich Schnee und Eis immer höher türmen, und die riesigen Mengen Wassers müßten sich in gewaltige Gletscher verwandeln. Wenn diese Ströme von Eis im Norden keinen Platz mehr fänden, würden sie nach Süden vorstoßen — über Norwegen nach Europa hinein, über Kanada in die Vereinigten Staaten, über Sibirien in das Herz Rußlands. Ein neues Eiszeitalter wäre dann angebrochen. Möglicherweise, so erklärte Dr. Lyon, hätten Geschehnisse solcher Art den rätselhaften Vormarsch der Eiszeitalter bewirkt, deren letztes vor etwa zwölftausend Jahren zu Ende gegangen war. Was hatte nun bewirkt, daß sich das Eis wieder zurückzog? Dai Ausmaß an Feuchtigkeit, das in solchen Gletschern eingeschlossen war, mußte enorm groß sein, jedenfalls groß genug, um zu bewirken, daß sich der Spiegel der Weltmeere beträchtlich senkte. Da» hatte bedeutende Folgen für den Arktischen Ozean. Die warmen Wasser des Golfstroms") ziehen an der norwegischen Küste und dann an der Nordküste Rußlands entlang, bis sie sich mit den Wassern des Arktischen Ozeans vermischen. Um ins Polarbecken zu gelangen, muß der Golfstrom verhältnismäßig flache Gewässer im Norden Norwegens passieren. Fiel also der Spiegel des Atlantik weit genug, dann würde der Zufluß warmen Golfstrom-Wassers in die Arkti* abgeschnitten, und der Arktische Ozean fror erneut zu. Das wiederum hatte zur Folge, daß die Gletscher ihrer Zufuhr an Feuchtigkeit beraubt wurden und anfingen, sich langsam zurückzuziehen: das Eiszeitalter war zu Ende. Möglicherweise fand dann genug Schmelzwasser von den Gletschern den Weg zurück in die anderen Ozeane, so daß der Wasserspiegel sich langsam wieder hob. Der Golfstrom war erneut imstande, sich seinen Weg in den Arktischen Ozean zu bahnen, und der Kreislauf begann von neuem. Stehen wir jetzt in diesem Abschnitt des Kreislaufes — einer sich langsam erwärmenden Arktis, die mit der Zeit ihre weiße Decke *) Vgl. LUX-LESEBOGEN 351, „Golfstrom". 7
verlieren und ein offener Ozean werden wird? Dr. Lyon meinte, daß manches darauf hindeutet.
* Es war am Nachmittag des 14. März 1959, eines Samstags. Ich fühlte, wie sich unter meinen Füßen das Deck hob. Die ,Skate' stieß zur Wasseroberfläche hinauf. Das Sehrohr stach durch das unruhige Wasser. Es war nahezu dunkel, obwohl es erst 14 Uhr war. Unsere Navigationsgeräte zeigten uns, daß wir uns direkt vor dem Prinz-Karl-Vorland befanden, aber ich konnte das Land nicht sehen. „Radar-Mast ausfahren", rief ich. Das öl der Hydraulik zischte, als sich der Mast aus dem Wasser hob. Bald strichen die Impulse unseres Radargerätes über die öde Küste hin, die unseren Augen verborgen
blieb. „Da ist sie, genau dort, wo sie sein sollte!" rief Bill Layman. Ich fuhr das Sehrohr ein und sah selbst nach. Ja, das war die Insel, scharf hoben sich ihre Umrisse auf dem Leuchtschirm ab. Ich dachte zurück an einen anderen Samstagnachmittag sieben Monate zuvor, als wir genau am gleichen Fleck genau das gleiche getan hatten. Dann erinnerte ich mich eines weiteren Augustnachmittags 27 Jahre zuvor, an dem das U-Boot von Wilkins auf seiner Fahrt zum Packeis das Prinz-Karl-Vorland passiert hatte. Es war über Wasser dahingekrochen, einer der so viel Ärger bereitenden Dieselmotoren lief zwar, doch der andere war abgestellt, weil er repariert werden mußte. Die Besatzung hatte gejammert, man möge umkehren, bevor es zu spät sei. Aber die Männer hatten sich dann doch dem stählernen Willen Wilkins' gebeugt. Sie waren weiter gen Norden gefahren. All das, was von diesem eisernen Willen und diesem großen Geist auf Erden zurückgeblieben war, befand sich in einer kleinen Bronze-Urne in meiner Kammer. Sir Hubert fuhr noch einmal am Prinz-Karl-Vorland vorbei.
Wieder unter der Eisdecke Sobald wir unsere Position durch Radar festgestellt hatten, gingen wir auf 120 Meter Tiefe und steuerten nordwärts. Wenige Stunden später begann Dr. Lyons neuer Eisanzeiger in die glatte Linie, die offenes Wasser ankündigte, leichte Kerben einzuzeichnen. Das Packeis — seine Grenze war viel südlicher als im letzten Sommer — lag vor uns. Dr. Lyon beugte sich gespannt über seinen Apparat und stimmte ihn sorgfältig ab, worauf sich das Profil der 8
Zu d e n Offiziersräumen
Sonarraum
,i
Niedergang von der Brücke Tiefenrudergänger
• Zum Reaktorraum Schematischer Grundriß der Zentrale im Polar-U-Boot „Skate"
dünnen Decke von Block- und losem Eis, unter die wir hinabgetaucht waren, noch schärfer abzeichnete. Der Eisanzeiger war für unsere neugierige Besatzung nicht mehr die Hauptattraktion. Viele Männer drängten sich statt dessen um den Bildschirm des Fernsehgerätes, ebenso fasziniert, als sähen sie einem Fußballpokalspiel zu. Auch im armseligen Schimmer des arktischen Zwielichtes zeigten sich deutlich die schattenhaften Umrisse der über uns treibenden Eisblöcke. Wir waren nicht mehr länger auf Instrumente angewiesen — endlich hatten wir Augen! Die Tatsache blieb jedoch bestehen, daß wir uns wieder unter dem' Eis befanden, und dies hatte, wie während unserer Sommerreise, eine unmittelbare Wirkung auf uns alle. Gegen 21 Uhr hatte sich das Eis über unseren Köpfen fest zusammengeschlossen; der Fernsehschirm zeigte nichts als solides Schwarz. Die Männer, die eben noch um das Gerät gestanden hatten, schlichen einer nach dem anderen davon, keiner sprach ein Wort. Die erste Nachtfahrt unter dem Eis begann . .. Bevor ich mich am nächsten Morgen an den Frühstückstisch setzte, ging ich zur Zentrale, um einen Blick auf den Eisanzeiger zu werfen. Wittmann stand vor dem Apparat und schrieb geschäftig. „Wie sieht's aus, Walt?" fragte ich. „Das ist wirklich allerhand", sagte Wittmann und schüttelte den Kopf. „Die ganze Nacht hindurch nicht ein einziges Geviert offenes Wasser. Über 190 Meilen sind wir weitergekommen und nichts als Eis, Eis, Eis." Ich pfiff vor Erstaunen: „Ich habe fest daran geglaubt, daß wir so weit südlich sogar im März ein wenig offenes Wasser finden würden." Wittman zuckte die Achseln: „Hier und da gab es einige dünne Stellen, aber nicht die geringste Spur offenen Wassers." Ich wandte mich dem Fernsehschirm zu. Über uns wurde es jetzt hell, und das Eis wurde wieder sichtbar. Allerdings sah es erheblich anders aus als die treibenden Blöcke von gestern. Nun war riesiges schwarzes Scholleneis sichtbar; seine Umrisse hoben sich deutlich in dem schwachen Licht ab, das durch das dünnere Eis rings um diese Stücke hindurchfilterte. Es sah aus, als säße man unter einer riesigen Glasschüssel mit Fruchtsalat. In diesem durchscheinenden Baldachin zeigte sich nicht ein einziger Riß. Wir waren sehr darauf aus, in offenem Wasser aufzutauchen, bevor wir so weit nach Norden kamen, daß wir überhaupt keines mehr fanden. Guy Shaffer hatte noch nicht ein einzigesmal Ge10
Manni Hesse
Digital unterschrieben von Manni Hesse DN: cn=Manni Hesse, c=DE Datum: 2007.01.01 07:44:44 +01'00'
legenlieit gehabt, sich an dem schwierigen Manöver zu versuchen, das Boot aus völliger Ruhelage langsam nach oben zu bringen. Wie ein Echo auf meine Gedanken meldete in dieser Minute Pat Garner, der Wachoffizier, daß er das Boot gleich drehen werde: „Möglicherweise offenes Wasser!" Das klang recht seltsam — im letzten Sommer war es entweder vorhanden oder eben nicht vorhanden gewesen. Ich versuchte, die Zeichen auf dem Eisanzeiger zu entziffern, und erblickte nun genau das, was die anderen in Verwirrung gebracht hatte. Stunde auf Stunde hatte der Griffel eine von keinem Riß unterbrochene Eisdecke aufgezeichnet — Meile um Meile nichts als dickes Scholleneis und hin und wieder ein weit herabhängender Preßrücken. Jetzt aber war der Griffel nach oben gesprungen und zog eine lange, dünne Linie aufs Papier. Hin und wieder verwischten sich ihre Konturen — die Linie war nicht klar und scharf wie die im vergangenen Sommer. Funktionierte unser neuer Eisanzeiger nicht richtig oder war dies das Anzeichen für dünnes Eis? Wir drehten und stoppten dann unter der verdächtig erscheinenden Öffnung. Die Fernsehkamera zeigte nichts als verschwommenes Grau, das Sehrohr war ebenfalls keine große Hilfe. Das einzige, was ich ausmachen konnte, war ein leichter aquamarinfarbener Schimmer, der von oben einfiel. Das sah nicht eben nach offenem Wasser aus, doch ich machte mir klar, daß die Sonne gegen 9 Uhr morgens erst ganz niedrig über dem Horizont stand. Dort oben war es so hell wie früh am Morgen in der ersten Dämmerung. Ich befahl Shaffer, das Boot auf 30 Meter zu bringen, damit wir uns die Sache näher ansehen konnten. Sorgfältig setzte er die Preßluftpumpen in Gang, wir stiegen. Vergeblich hielt ich Ausschau nach den dicken Blöcken und den scharf gezackten Rändern, die für uns das vertraute Kennzeichen einer Rinne geworden waren. So weit mein Auge reichte, sah ich nichts anderes als einen schwachen grünlichblauen Schimmer von oben herabkommen. „Ich vermute, wir sind unter einer großen, zugefrorenen Rinne", kündigte ich an. „Ich glaube nicht, daß dieses Eis dick ist — ich kann sehen, daß einiges Licht hindurchschimmert." Ich wandte mich AI Kelln zu, der vor dem Eisanzeiger stand. „Wie dick, glauben Sie, ist es?" „Das kann ich nicht genau sagen. Die Skala da ist leider nicht klein genug", antwortete er. 11
Wir durchstoßen das Eis Trotzdem, mein Entschluß stand fest. „Klar zum Auftauchen, wir werden das Eis durchstoßen!" rief ich. „Bringen Sie das Boot hinauf", befahl ich Shaffer. Das Sirren der Lenzpumpen füllte den Raum, als die ,Skate' sich sachte aus den dunklen Tiefen zu heben begann. „Scheinwerfer einschalten, Sehrohr ausfahren!" Zu meiner Enttäuschung stellte ich fest, daß uns die Scheinwerfer wenig halfen. Es war, als ob man im Nebel Autoscheinwerfer anstellte. Wir waren in dicken gelben Nebel getaucht, doch selbst in diesem dunstigen Schimmer sah ich unsere gute Freundin vom Sommer, die Qualle. Ihre zarten, regenbogenfarbenen Greifarme winkten matt, als wir vorbeitrieben. Wo immer ein Meer ist — sogar hier, im dunkelsten, kältesten Winkel unserer Erde — da ist auch Leben.
Selbstverständlich befindet sich ein kleineres Atom-Laboratorium an Bord. Hier wird ständig geprüft, welcher Strahlungsmenge die Männer ausgesetzt sind. 12
Schließlich schaltete ich die Scheinwerfer ab. Wir waren nun so nahe an der Oberfläche, daß das Sehrohr aus Sicherheitsgründen eingefahren werden mußte. Jetzt sah ich überhaupt nichts mehr. Wir schwenkten das Zyklopenauge der Fernsehkamera rundum in der Hoffnung, daß es uns helfen würde. Nichts geschah. Darauf entschlossen wir uns, die Fernsehkamera auf den Teil des Bootes zu richten, den der erste Stoß treffen würde — den Turm. „Turmscheinwerfer anschalten!" befahl ich. Ein geisterhafter Lichtkegel erschien auf dem obersten Teil des Bildschirmes. Hoch darüber erkannten wir die schwachen Umrisse einer Scheibe, dort wo der Scheinwerfer das Eis anstrahlte. Der Lichtkegel wurde kleiner und heller — wir stiegen weiter. Jeder wappnete sich instinktiv gegen den Stoß, der nun kommen mußte. Plötzlich hatte jeder von uns das Gefühl, in einem Lift zu sein, der zu schnell angehalten wird. Meine Magennerven krampften sich zusammen. Das Krachen des Zusammenstoßes blieb aus, aber auch das Gefühl der Fortbewegung war auf einmal verschwunden. Auf dem Fernsehschirm aber wurde die Lichtscheibe auf dem Eis größer, der Lichtkegel wurde länger — wir fielen wieder nach unten! Ich warf einan Blick auf den Tiefenmesser. Wir hatten bereits die Dreißigmetermarke passiert und fielen immer weiter. Verzweifelt pumpte Shaffer Wasser aus den Ballasttanks, damit das Boot seine Stabilität zurückgewann. Die Ballasttanks auszublasen wäre schneller gegangen, doch mit dem Eis über unseren Köpfen war nicht daran zu denken. Wir mußten uns auf die langsamer arbeitenden Pumpen verlassen. Shaffer hatte unsere Fallbewegung auf 46 Meter Tiefe gestoppt. Mit der Fernsehkamera tasteten wir unseren Turm nach Beschädigungen ab — nichts. „Wir werden erneut zustoßen, diesmal aber härter", sagte ich entschlossen. Wiederum zeigte das Schwirren der Lenzpumpen unsere Fortschritte an, wiederum wurde der Lichtkegel schmaler, als wir uns dem Eis näherten. Ich hielt den Atem an, preßte den Rükken gegen den Sehrohrbock und starrte hypnotisiert auf den Fernsehschirm. Wieder dieses krankmachende Taumeln, als wir aufs Eis stießen — doch diesmal zeigten sich auf dem Fernsehschirm spritzendes Wasser und zersplitternde Eisbrocken. Ein dumpfes, schabendes Knirschen drang durch die Zentrale. Der Oberteil des Turmes verschwand vom Schirm. Wir waren durch! „Sehrohr raus!" 13
Ich faßte nach den Handgriffen und preßte mein Gesicht gegen das Okular. Es kam mir vor, als blickte ich auf frischgewaschene Kissenbezüge. Totes Weiß ringsum. Ich schwenkte die Prismen der Optik in der Hoffnung, sie klar zu bekommen. Nichts. Dann begriff ich, was geschehen war. Sobald das nasse Sehrohr mit der eiskalten Luft in Berührung gekommen war, hatten sich seine Linsen mit einem Eisfilm überzogen. Ich klappte die Handgriffe des nun nutzlos gewordenen Sehrohrs zusammen und blickte auf den Tiefenmesser. Wir waren auf etwa 13 Meter zum Stillstand gekommen. Ich nahm an, daß unser Turm über dem Eis stand und daß der Rest des Bootes sich noch unter Wasser befand. Die im Hauptdeck eingebettete Fernsehkamera war noch immer unter Wasser und konnte uns nicht mehr helfen. Einen Augenblick zögerte ich. Was war jetzt zu tun? Die Tanks auszublasen, um das Boot ganz auf die Oberfläche zu bringen, konnte gefährlich sein, vor allem, wenn das leicht zu beschädigende Ruder unter dickem Eis lag. Ich hatte aber gar keine andere Wahl, wir mußten diese Chance ergreifen. Bevor ich nicht auf dem Turm war, wußten wir nicht, wie es um uns aussah. „Hauptballasttank ausblasen, Shaffer, aber sachte!" Die Ventile, die Luft in die Hauptballasttanks pressen, wurden vorsichtig geöffnet, das Zischen und Knattern der unter äußerstem Druck in die Tanks gepreßten Luft erfüllte den Raum. Ein paar Augenblicke geschah gar nichts, dann begann die ,Skate' erneut langsam zu steigen. Wir lauschten gespannt auf das Geräusch splitternden Eises oder knirschenden Metalls, vernahmen aber nichts wegen des Lärms, den die Preßluft machte. Endlich ragte die ,Skate' so hoch heraus, daß sich das Turmluck über dem Wasser befinden mußte. Das Boot hing zwar noch ziemlich weit unter der normalen Überwasserlage, schien aber seine Trimmlage so gut einzuhalten, daß ich Shaffer befehlen konnte, mit dem Ausblasen aufzuhören. Steuermann John Medaglia kletterte die zum Turmluk führende Leiter hinauf. „öffnen Sie das Luk!" rief ich ihm zu. Meine Ohren fühlten die leichte Veränderung im Luftdruck, als der schwere Lukendeckel zurückklappte und gegen seine Halterungen schlug. Sobald Medaglia die Luke geöffnet hatte, stieg er weiter. Für gewöhnlich kreuzt er dort oben das Deck und steigt auf einer zweiten Leiter zum Turm hinauf. Doch jetzt sah ich, wie er mit in die Seite gestemm14
ten Armen stehenblieb und auf die kleine Öffnung für die Leiter starrte. Sie war von riesigen Eisbrocken versperrt. Ich rief in die Zentrale hinab, daß ein Mann mit einem schweren Brecheisen heraufkommen solle. Das war wahrscheinlich das Letzte, was man erwartet hatte, doch schon ein paar Minuten später hieb ein strammer Heizer auf das Hindernis los. Das kleine Gehäuse dröhnte, und die Eisstücke stürzten rings um uns herab. Endlich war die Öffnung so groß, daß ich auf den Turm steigen konnte. Ich kletterte die Leiter hinauf, schob noch ein paar Eisblöcke beiseite und stieg schließlich auf einen hinauf, um einen besseren Überblick zu haben.
Der Durchbruch ist gelungen Ich sah auf eine in grelles Weiß getauchte Welt. Der schwarze Turm der ,Skate' erhob sich mitten in einer riesig großen Ebene — die zugefrorene Rinne erstreckte sich bis zum fernen Horizont. Es wehte kein Wind, doch die Luft war beißend kalt. Im Südosten, wo die Morgensonne über den Rand dieser gefrorenen Welt zu uns herüberblinzelte, erhob sich über dem schneebedeckten Eis ein in Rosenrot und Lavendelblau getauchter Himmel. Zu dieser Jahreszeit, das wußte ich, erhob sich die Sonne nicht sehr weit über den Horizont, den ganzen Tag über herrschte Zwielicht. Kein Zeichen von Leben zeigte sich, die Stille der Luft verschmolz mit der Pracht dieser Szenerie in eins. Medaglia kam zu mir auf den Turm, und sogar dieser zungenfertige junge Mann stand sprachlos und starrte. Keiner von uns beiden sprach ein Wort; wir wußten, daß nichts das Wunder zu beschreiben vermochte, das sich vor unseren Augen ausbreitete. Endlich beugte ich mich zum Bordtelefon hinab, um mit der Zentrale zu sprechen. Aber es war eingefroren und nutzlos. Die ,Skate' befand sich noch immer in einer gefährlichen Lage, sie balancierte nur so eben auf dem Wasser und konnte jeden Augenblick zu sinken beginnen Der Turm lag sehr niedrig — Medaglia und ich standen nur etwa drei Meter über dem Wasser. Es war unbedingt erforderlich, schnellstens eine gute Verbindung zur Zentrale herzustellen. Medaglia kletterte daher nach unten, um unsere Situation zu melden, und bald war ein Hilfstelefon installiert, über das ich Guy Shaffer befahl, mit dem Ausblasen der Tanks fortzufahren. Nach und nach begann sich der Rumpf der ,Skate' gegen die Unterseite 15
des Eises zu pressen. Das Eis wölbte sich schwach nach oben, dann aber ereignete sich nichts mehr, obwohl weiter Luft in die Tanks gepreßt wurde. Das Boot stieg nicht mehr weiter. Vielleicht war das der Augenblick, lieber innezuhalten, dachte ich; wir konnten das Boot so liegenlassen. Nein — wir waren hierhergekommen, um herauszufinden, ob wir auftauchen konnten —, und eben das wollten wir tun. Dann aber brach die ,Skate' ohne jede Warnung wie ein riesenlanges Küchenmesser durch das Eis. Als sie nach oben kam, taumelte sie unter der gewaltigen Last der auf ihrem Oberdeck liegenden Brocken. Am Heck stieß das Ruder sich ein sauberes Loch heraus; nun ragte es über das Eis empor und glich der Rückenflosse eines riesigen Haies,
In der kleinen, aber gemütlichen „Messe" der „Skate" hält der Kommandant eine Besprechung ab. Obwohl man unter der Eisdecke des Polarmeers einherfährt, ist es anheimelnd warm im Boot. Erst beim Auftauchen wird die schwere, schützende Polarkleidung angelegt, droben über dem Eis herrschen 30 bis 40 Grad Kälte. 16
An den Flanken des Bootes zeigte sich kein offenes Wasser. Die ,Skate' war sicher in das Eis eingepackt — wir brauchten keine Sorge zu haben, daß sie ins Treiben geriet. Wir wollten dort bleiben, wo wir waren. Layman kam zu mir herauf und schlug nach einem Augenblick atemlosen Staunens vor, meinen Platz einzunehmen, damit ich nach unten gehen und wärmere Sachen anziehen konnte. Erst jetzt bemerkte ich, daß ich in meiner Aufregung lediglich mit einer leichten Jacke angetan auf den Turm geklettert war und daß ich mit jeder Minute mehr fror. Medaglia maß die Temperatur: 30 Grad unter Null. Kurze Zeit später war ich in die dicke Bekleidung gehüllt, die für diese Reise ausgegeben worden war: unförmige Hosen und eine Jacke aus olivfarbenem Nylon, das über Schaumgummi gesteppt war, dazu ein helmartiger Kopfschutz. Dann kehrte ich auf den Turm zurück; ich mußte unbedingt feststellen, ob das Boot beschädigt worden war, als es das Eis durchbrach. Einige Leute waren eifrig dabei, mit Brechstangen die Eisblöcke vom Oberdeck zu entfernen. Es war eine einfache Sache, die schrägen Flanken des Oberdecks der ,Skate' hinab aufs Eis zu rutschen. Ich eilte sofort nach achtern, um mir das Ruder anzusehen. Es schien, wie das gesamte Boot, nicht beschädigt zu sein. Der Walrücken des Turmes hatte den ersten Stoß ohne Schaden überstanden, und dann war es nur noch darauf angekommen den Rest des Bootes sorgsam nach oben zu schieben, um das Loch zu vergrößern, das der Turm bereits geschlagen hatte. Freudigen Herzens wanderte ich vom Boot hinweg, um mir einen Überblick über seine Lage zu verschaffen. Schließlich haben nicht sehr viele Kommandanten Gelegenheit, so weit vom Festland entfernt herumzubummeln und sich aus einiger Entfernung ihr Schiff anzuschauen. Der schwarze Rumpf der ,Skate' sah aus, als habe ihn jemand sanft auf die glatte Oberfläche des Eises fallen lassen, wie eine Konditordekoration auf einer Schlagrahmtorte. Es schien unmöglich, daß sie sich jemals wieder von der Stelle bewegen würde. Sogar in meiner Spezialausrüstung begann ich bald die Kälte zu fühlen und entschloß mich, zum Boot zurückzukehren. Seine Flanken hinaufzuklettern fiel nicht so leicht, wie an ihnen herabzurutschen, doch inzwischen hatte man ein Tau ausgeworfen, an dem ich mich emporziehen konnte. Oberleutnant Bruce Meader, unser offizieller Fotograf, machte sich eben fertig, aufs Eis hinauszugehen. In seiner schweren Arktiskleidung glich er einem wohlge17
nährten Teddybären. Über beide Schultern hatte er Kameras gehängt und versuchte vorsichtig an der Flanke des Bootes herabzugleiten, um die kostspieligen Apparate nicht zu beschädigen. „Es wäre gut, wenn Sie möglichst viele Fotos mitbrächten, Meader", rief ich ihm zu. „Kein Mensch wird uns das glauben, wenn wir keine Beweise haben!" „Ich weiß, was Sie meinen", sagte er, als er mit dem gleichen Staunen, das uns alle erfüllt hatte, seine Umgebung betrachtete. Als Meader später seine eiskalten Kameras in das warme Boot zurückbrachte, kondensierte sich die Luftfeuchtigkeit auf ihnen und überzog sie mit einer Eiskruste. In Minutenschnelle waren seine eleganten Leicas und Nikons in weiße Bänder gewickelt, die den Schlangen in altmodischen Kühlschränken glichen.
Bruce Meaders Mißgeschick Während des Mittagessens meinte Dr. Lyon, daß er sehr gern Filmaufnahmen von der ,Skate' beim Durchstoßen des Eises machen wolle, um diese Vorgänge später genau studieren zu können. Wir lachten, und jemand meinte, das wäre ebenso, als wolle man Bilder von der ersten Landung auf dem Mond aufnehmen. Nach dem Mittagessen dachte ich, als ich auf dem Turm mit Shaffer sprach und auf die zugefrorene Wasserrinne blickte, über Dr. Lyons Vorschlag nach. Hatten wir eine bessere Chance, das zu tun? Wir konnten Bruce Meader auf dem Eis zurücklassen, tauchen, ein paar Meter weiterfahren und erneut auftauchen. „Wie wäre das Shaffer? Meinen Sie, wir könnten es wagen?" „Ganz bestimmt, falls Meader bereit ist, allein aufs Eis zu gehen. Ich bin nicht einmal sicher, ob ich das tun möchte." Es schien mir besser, Meader eine Begleitung mitzugeben und alle miteinander auf den Weg zu schicken, bevor sie Zeit hatten, lange darüber nachzudenken. Ich befahl unserem Mechanikermeister Dornberg, eine Gruppe, bestehend aus ihm selbst, Dr. Arnest, Bruce Meader und einem Bootsmann, zu bilden, die vom Eis aus das Boot fotografieren sollten. Ich sagte ihm nicht, unter welchen Umständen sich das abspielen würde, aber die Kunde verbreitete sich sehr schnell durch das Boot. Boyd und Garner übergaben Meader ein Paket mit Notverpflegung, einen Pfadfinderkompaß und eine Karte des Gebietes in einer wasserdichten Umhüllung und erklärten ihm trocken, daß wir zwar jede Anstrengung unternehmen würden, sie wieder an Bord 18
zu bringen, daß wir vielleicht aber nicht imstande sein würden dies zu tun. Sie gaben ihm den guten Rat, sich auf den Marsch' nach Süden zu machen, falls wir nach zwei Stunden nicht wieder auftauchten. Meader schien die Expedition nicht so leicht zu nehmen wie seine schadenfrohen Kameraden, die auf dem Boot bleiben durften. Die Fotografengruppe versammelte sich auf dem Turm und ich gab ihnen kurze Anweisungen. Bootsmann Martin, der in letzter Minute die Leiter hinaufschnaufte, bekam einige meiner Anweisungen nicht mehr mit. Ich war unbesorgt, die anderen würden sie ihm schon weitergeben. Sobald die Gruppe vom Schiff frei war, kletterten Shaffer und ich nach unten und begannen mit dem Tauchmanöver. Die Ventile der Hauptballasttanks klirrten laut in der eisigen Stille, die ,Skate' verschwand langsam im Wasser. Das Sehrohr war von seinem Eisfilm befreit worden, und ich konnte recht gut sehen. Dampfwolken erhoben sich an beiden Enden des Bootes, als die Warmluft aus den Tanks mit der eisigen Luft draußen in Berührung kam. Durch das Sehrohr sah es so aus, als ob die ,Skate' langsam in festen Erdgrund hinabrutschte. Dann kam das Sehrohr unter Wasser. Auf dem Fernsehschirm sahen wir ein langes zigarrenförmiges Loch im Eis über uns — ein perfekter Umriß der ,Skate'. • Dieses Loch auf dem Fernsehschirm war wie eine Landmarke. Wir benutzten es als Meßpunkt und konnten ausrechnen, wie weit wir uns davon entfernt hatten. Dampf brauste in die Turbinen, die ,Skate' schob sich sachte vorwärts; dann schlugen die Schrauben rückwärts und stoppten das Boot. Wir begannen wieder aufzutauchen. Diesmal gelang uns ein völlig glatter Durchbruch. Ein Migtlied der Besatzung kletterte sofort nach oben, um das Eis vom Luk zu entfernen, bald stand ich auf dem Turm und winkte zu der verloren aussehenden Gruppe auf dem Eis hinüber. Sie hatte sich für die Aufnahmen ausgezeichnet postiert. „Habt ihr ein paar gute Bilder gemacht?" rief ich hoffnungsvoll. Keine Antwort. Sichtlich war da etwas schiefgegangen. Endlich rief Meader herüber: „Meine Kamera ist eingefroren, ich habe nicht eine einzige Aufnahme machen können." Die vier Männer waren recht geknickt, als sie aufs Boot kamen, vor allem Martin sah traurig drein. 19
„Das habt ihr vielleicht eilig zusammengebraut", klagte er. „Ich hatte keine Ahnung, was eigentlich los war, bis ich sah, daß das Boot zu tauchen begann. Wenn ich das nächste Mal zu einem dieser Eispicknicks gehe, möchte ich doch gern vorher etwas mehr darüber wissen!"
Wir suchen ein „Oberlicht" Nach dem Mittagessen tauchten wir und machten uns wieder auf den Weg zu dem jetzt weniger als 250 Meilen entfernten Pol. In einer Nachtfahrt legten wir diese Entfernung zurück, und am Morgen des 17. März näherten wir uns unserem Bestimmungsort, dem Dach der Welt. In der Stunde zuvor studierte ich die Zeichen auf der Schreibrolle des Eisanzeigers sehr genau. Wir fuhren unter einem Gebiet dicht zusammengepreßten Eises dahin und fanden nicht das geringste Anzeichen dafür, daß wir hier durchbrechen konnten. Walt Wittmann stand neben dem Gerät und meinte, daß unsere Chancen, nahe dem Pol aufzutauchen, sehr gering seien. War uns dieser Ort eigentlich immer böse gesinnt? Ich hatte der Besatzung bisher wenig über die Ehrung erzählt, die wir Sir Hubert Wilkins erweisen wollten, vor allem deshalb, weil ich sehr daran zweifelte, ob sie überhaupt möglich sein würde. An diesem Morgen aber berichtete ich den Männern über die Bordlautsprecher, was unsere Aufgabe war und wie wir sie zu bewältigen hofften. Wenn wir den Pol erreichten, wollten wir in einem langsamen Zickzackkurs seine unmittelbare Nachbarschaft untersuchen. Zeigte sich zuerst nichts, mußten wir geduldig weitersuchen. Die Eisdecke war in ständiger Bewegung, und neues Eis, das herangeschoben wurde, bot vielleicht bessere Aussichten. Wenn man annahm, daß es sich am Tag zweieinhalb Meilen — das war die Durchschnittsgeschwindigkeit — von der Stelle bewegte, mußten in 24 Stunden rund viereinhalbtausend Meter Eis über den Nordpol hinwegtreiben. Auf dieser Strecke fanden wir vielleicht das, was wir zu finden hofften. Am Frühstückstisch wurde wie üblich über das Eis gesprochen. Wir debattierten darüber, daß unsere Bezeichnungen für die Bereiche dünnen Eises, die für uns von so großer Bedeutung waren, unbeholfen und falsch klangen. Der Sache nach waren es eben zugefrorene Eisrinnen, aber das schien uns eine unpassende Benennung zu sein. Wir brauchten einen neuen Namen für sie. Viele wurden vorgeschlagen, aber keiner schien uns der richtige zu sein. 20
Das Packeis des Arktischen Ozeans Mitte 0 150 300 August, aufgenommen aus 6000 Meter l l i Höhe. Die schwarzen Flächen zwischen I I I I I I I I I I \ den riesigen Eisschollen sind offenes Was*.» 0 + „ ^ ser. In der Mitte eine unregelmäßig geIvlcTer spaltete große offene Stelle, wo die „Skate"
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Endlich meinte Dr. Lyon, der sich an meine erste Beschreibung am Sehrohr erinnerte: „Warum nennen wir sie eigentlich nicht ,Skylights', Oberlichter?" Richtig, genauso sahen sie aus. Sie glichen einem in eine sonst schwarze Decke eingelassenen Streifen blaugrünen Glases. Die Stellen, an denen das Eis dünn genug war, um Licht von oben durch das dunkle Wasser dringen zu lassen — das war genau das, wonach wir Ausschau hielten, um ans Licht und an die freie Luft dort oben zu gelangen. „Skylights" — jawohl, das war das Wort. Wir fanden nicht ein einziges „Skylight", als wir uns nun dem Pol näherten. Wir kreuzten gemächlich herum und paßten unseren Kurs den Instruktionen Bill Laymans an. Zane Sandusky und Bob Wadell schrieben methodisch die von ihren grünen Röhren abgelesenen Zahlen auf orangefarbenes Papier nieder. Langsam aber stetig wurde das Boot unter äußerster Sorgfalt an den Ort gebracht, wo in jeder Richtung Süden liegt. Die ,Skate' war zum Nordpol zurückgekehrt. Unsere Aufgabe aber lag noch immer vor uns. Dank der Wunder der Trägheitsnavigation hatten wir den Pol ohne große Schwierigkeiten erreicht. An die Welt da oben zu gelangen, war eine andere Sache — das mußten wir allein fertigbringen. Nicht ein einziges „Skylight" zeigte sich. Als das Boot etwa auf 60 Meter Tiefe direkt über dem Pol gestoppt lag, fuhr ich in der Hoffnung, irgend etwas zu erblicken, das Sehrohr aus. Das Meer um uns war schwarz — gänzlich und überall schwarz. Nicht der schwächste Lichtschimmer drang durch das Eis da oben — wir waren von der Außenwelt abgeriegelt. Wir begannen von neuem, das Gebiet rund um den Pol kreuz und quer zu durchsuchen, fuhren langsam und benutzten dabei das Sehrohr ebenso oft wie den Eisanzeiger und das Fernsehgerät. Das Glück blieb uns versagt. Hier oben am Pol mußte die Sonne noch unter dem Horizont stehen; war der Himmel so dicht bedeckt wie am Tag zuvor, war es auch keinesfalls sehr hell. Dann mußten wir eben warten und zusehen. Einige Stunden gingen vorbei, nichts ereignete sich. Dann sahen wir es. Zuerst war es nur ein schwaches, smaragdgrünes Glitzern, durchs Sehrohr wahrzunehmen. Der Platz schien zu klein für unser Boot zu sein, war es aber wert, daß wir ihn uns näher ansahen. Sorgfältig manövrierten wir die ,Skate' darunter und blickten auf unseren Eisanzeiger. Die Linie auf der Rolle zeigte dünnes Eis an. 22
Wir schoben uns bis auf 30 Meter nach oben. Das „Skylight" glich einem Hundebein und war gefährlich klein; wir hatten uns noch nie an so etwas herangewagt. Die Sache hatte aber auch ihr Gutes: Wenn wir das Eis durchbrochen hatten, würden seine harten Fäuste die ,Skate' umklammern. Dann war keine Gefahr, daß das Boot unter die Ränder der kleinen Öffnung trieb und beschädigt wurde. „Klar zum Auftauchen! Wir stoßen durchs Eis! Bringt das Boot nach oben", sagte ich. Wir hatten kaum damit angefangen, als AI KeJln, der vor dem Eisanzeiger stand, rief: „Dickes Eis über uns — mehr als dreieinhalb Meter!" Ich sah, was da vor sich ging. Das Eis war in Bewegung, unser „Skylight" trieb ganz einfach vom Boot weg. „Fluten, runter mit dem Boot, Shaffer!" Zögernd begann das 3000 Tonnen schwere Boot in die schwarze Tiefe hinabzusinken. Geduldig brachten wir es erneut unter die kleine Öffnung. Der zweite Versuch verlief nicht besser als der erste; wieder trieben wir von der Stelle weg, an der allein wir das Eis durchbrechen konnten. „Wir sollten es auf eine andere Art versuchen", meinte Layman. Schnell rechnete er aus, wie weit wir uns auf der Seite, auf die unsere Öffnung zutrieb, aufstellen mußten, um mit unserem Auftrieb aus 30 Meter Tiefe genau im richtigen Augenblick auf das „Skylight" zu stoßen. Sorgsam wurde die ,Skate' in die neue Position manövriert. Als wir diesmal stiegen, berichtete AI Kelln, daß dickes Eis über uns hing. Es war kein angenehmes Gefühl, mit dem Turmoberteil nur etwa 15 Meter unter dem Eis zu liegen. Wir mußten uns ganz auf die Eisdrift verlassen. Weiter ging es nach oben. Ich war gezwungen, das Sehrohr einzufahren. Nun waren wir nahezu blind, nur die Fernsehkamera zeigte uns die zerfurchten Ränder des dicken Eises. Jetzt war das Turmoberteil nur noch etwa sieben Meter unter dem Eis. „Dickes Eis, immer noch dickes Eis", meldete AI Kelln; man merkte seiner Stimme die Besorgnis an. Wie lange konnten wir noch warten? „Alarmtauchen! Runter!" brüllte ich. Wir durften keine Sekunde länger warten. Die Luftdruckwelle traf schmerzhaft meine Ohren; Shaffer hatte sofort die Ventile des Negativtanks geöffnet und ließ das Wasser tonnenweise ins Boot brausen, um es auf Tiefe zu brin23
gen. Schnell fielen wir von den unheilbringenden Eisklippen weg nach unten. „Negativtank lenzen!" befahl Shaffer, um die Kontrolle über die nun schnell fallende ,Skate' wieder zu erlangen. Das Brüllen des Druckluftgebläses machte uns beinahe taub. „Lenzen gestoppt, Negativtank ist ausgeblasen", meldete Dornberg, der neben Kelln stand. „Flutventile schließen!" befahl Shaffer. Mit zusammengekniffenen Augen betrachtete er die Tiefenmanometer. Das Boot fiel jetzt nicht mehr so schnell und lag endlich bewegungslos — viel tiefer als wir hatten gehen wollen. Mir standen dicke Schweißtropfen auf der Stirn. Ich fühlte den Druck, der auf mir wie auf jedem von uns lastete. Grimmig entschlossen machten wir uns erneut ans Werk. „An allen Seiten des ,Skylights', mit Ausnahme des hundebeinförmigen Ecks, hängen dicke Preßrücken. Ich kann sie auf dem Eisanzeiger sehen", berichtete AI Kelln. Wieder rechnete Bill Layman den Abstand aus, diesmal mit einer etwas geringeren Abdrift. Ich versuchte, das Boot ganz nahe an die Hundebeinecke heranzubringen, um den von Kelln gemeldeten Preßrücken aus dem Weg zu gehen. Das Schwirren der Lenzpumpen zeigte an, daß das Boot wieder stieg. „Dickes Eis, immer noch dickes Eis", kam es von Kelln. In seiner Stimme schwang die Drohung der Katastrophe. Es war Zeit, das Sehrohr einzufahren. „Dünnes Eis! Da ist es! Sieht gut aus!" rief Kelln. Der Fernsehschirm zeigte uns, daß wir sehr dicht heran waren. Wir spannten die Muskeln, das Boot stieß mit Übelkeit erregendem Krachen gegen das Eis und — zerbrach es in tausend Stücke! „Lassen Sie das Boot jetzt nicht fallen, Shaffer!" warnte ich. Wieder hatte ich das Gefühl, daß ich nur mit den Zehenspitzen an einem unglaublich hohen Berggipfel Halt fand. Shaffer ließ Luft in die Ballasttanks; im Augenblick behielten wir unsere Lage bei. Ich fuhr das Sehrohr aus — ich mußte etwas sehen können! Ich konnte doch nicht blindlings auftauchen, wenn links und rechts die dicken Preßrücken waren! Das Sehrohr schob sich nach oben, ich sah aber nichts als blankes Weiß. Das Okular war zugefroren. Jetzt warf ich einen Blick auf die Tiefenmesser; wir hielten unsere Position gut ein. Brachten wir es fertig, durchzubrechen, dann machten wir Geschichte. 24
Der Eisanzeiger hat eine Öffnung im Packeis gemeldet: Der Kurs des Bootes unter der Öffnung wird auf der Karte genau eingetragen. Gespannt verfolgen die Männer die Maßeintragungen: Ob die Öffnung groß genug zum Auftauchen ist?
„Klar zum Auftaudien am Pol!" kündigte ich über die Lautsprecher an. Rasch wurden alle Vorbereitungen getroffen, dann wandte sich Shaffer lächelnd zu mir. „Boot ist klar zum Auftauchen. — Am Pol!" sagte er.
Aufgetaucht am Pol Langsam bliesen wir die Tanks aus, die ,Skate' schob sich zögernd nach oben. Es zeigte sich, daß wir unter dickerem Eis steckten, als wir es jemals zuvor angetroffen hatten. Nach einer Verzögerung, die ewig zu währen schien, waren wir weit genug über dem Eis, um das Turmluk öffnen zu können. Der winzige Halt für unseren Fuß auf dem Gipfel wurde breiter. „Luk öffnen!" rief ich und hastete die Leiter hinauf. Das Eis über uns war so dick, daß es nicht in die Turmwanne gefallen war; es war in Stücken zu beiden Seiten des Bootes herabgestürzt. Ich sprang auf die Brücke und wurde sofort von dem heftigsten Wind gepackt, den ich bis jetzt in der Arktis erlebt hatte. Er heulte und pfiff um den Turm und trieb scharfrandige Schneeteilchen vor sich her, die wie fliegender Sand in die Haut schnitten. Dicke, graue Wolken hingen am Himmel; man hatte den Eindruck, als wolle sich das düstere, sturmdurchtobte Zwielicht jeden Augenblick im Schwarz der Nacht auflösen. Wir waren fast genau an der Krümmung des „Hundebeins" durchgebrochen. Die Rinne war eng und an beiden Seiten von hohen Eishügeln umgeben; so weit ich in dem fegenden Schnee zu sehen vermochte, zog sie sich wie ein schlängelnder Bach über eine Viertelmeile hin. Diese Hügel waren die höchsten, die wir bis jetzt in der Arktis gesehen hatten — wir schätzten ihre Höhe auf etwa 13 Meter. Das Telefon zur Kommandozentrale wurde installiert, die Tanks mit Druckluft ausgeblasen. Mit einem Krachen, das wie Kanonenschüsse klang, begann das Oberdeck durchzubrechen. In der zugefrorenen Eisrinne hatten sich viele große Eisbrocken angesammelt und lagen im dünneren Eis wie Haselnüsse in Schokolade. Endlich war die ,Skate' oben — das erste Schiff der Weltgeschichte, das genau auf dem Dach der Erde saß. In jeder Richtung — über den Bug, übers Heck, nach Backbord und nach Steuerbord — war Süden. Schwerfällig drehte sich unser Planet unter uns hindurch. Wenn sich die Sonne am 19. März — nur zwei Tage später — von 26
ihrem Lager erhob, mußte sie sich alle 24 Stunden lang in einem ständigen Aufgang rings um den Horizont schwingen. Die ,Skate' war an ihrem Ziel angelangt. Als wir im Sommer zuvor am Pol waren, hatten wir wenig Genugtuung empfunden, weil wir gezwungen gewesen waren, unter Wasser zu bleiben. Wir hätten damals ebenso gut an irgendeiner anderen Stelle in irgendeinem der Ozeane unserer Erde sein können. Nur unsere Instrumente hatten uns gesagt, wo wir uns befanden. Diesmal aber — mit fegendem Schnee und tief herabhängendem Himmel —, diesmal war es wirklich der Nordpol. Der große Magnet der Arktis, der über ein ganzes Jahrhundert hinweg tapfere Männer in den Tod gelockt hatte, den zu finden sogar dem stahlharten Nansen verwehrt worden war, war nun die Beute eines modernen Unterseebootes geworden.
Wilkins' Wunsch ist erfüllt Nach einem Spaziergang auf dem Eis teilte mir Walt Wittmann mit, daß ihm unsere Umgebung gar nicht gefalle. Das Eis war noch vor kurzem in sehr starker Bewegung gewesen und mit einem Wind, der so heftig blies wie dieser — etwa 30 Knoten, also ein ganz ansehnlicher Sturm — mußte man durchaus auf mehr gefaßt sein. Wittmann~ riet uns, nicht länger hier zu bleiben als notwendig. Wir machten uns sofort an die Vorbereitungen für die Totenehrung. Sir Hubert war in Australien geboren und hatte viele seiner schönsten Taten im Dienst des Vereinigten Königreichs von Großbritannien getan; seine letzte Heimat waren die Vereinigten Staaten gewesen. In Anerkennung dessen hißten wir die Flaggen dieser drei Nationen an den Masten und Sehrohren unserer ,Skate'. Es sah prächtig aus, als sie knatternd in dem heftigen Wind auswehten. Aus ein paar Kisten bauten wir einen kleinen Tisch auf dem Eis neben dem Boot auf, bedeckten ihn mit einem grünen Tuch und stellten die bronzene Urne darauf. 30 Mann der Besatzung stellten sich in Reihen zu beiden Seiten des Tisches auf. Die Kälte betrug etwa 40 Grad unter Null. Der Atem gefror an unseren Kinnladen und den Rändern unserer Kapuzen und gab uns das Aussehen von Weißbärten. Der Sturm peitschte uns Schnee in Augen, Nase und Mund; es fiel schwer, zu sprechen, ja sogar zu atmen. Es war zu dunkel, um ohne ein Licht leicht lesen zu können. Einige Männer hielten daher an beiden Seiten des Tisches rote 27
Flackerfeuer. Ihr Licht geisterte durch den fegenden Schnee und gab der Szene ein unwirkliches Aussehen. Der rote Glanz reichte bis zu den drei Flaggen über dem Turm und hob sie aus der Düsternis, als würden gerade sie besonders hell angestrahlt. Die restliche Besatzung reihte sich auf dem Oberdeck der ,Skate' auf, eine Ehrenwache mit Gewehr nahe dem Bug. Der Wind und die bittere Kälte machten es beinahe unmöglich, das Gebetbuch zu halten und darin zu lesen, doch ich begann: „Ich bin die Auferstehung und das Leben, sagt der Herr; der da glaubet an mich, und sei er auch tot, der soll leben; und der lebet und glaubet an mich, wird niemals sterben . . . " Mit ein paar Worten versuchte ich dann auf meine eigene Weise den Geist dieses Mannes zu erfassen: „An diesem Tag zollen wir einem der großen Männer unseres Jahrhunderts ehrerbietigen Tribut. Sein unbeugsamer Wille, sein kühner Geist, seine Einfachheit und sein Mut haben all denen unter uns, die ihm folgen wollen, ein hohes Ziel vor Augen gestellt. Er verbrachte sein Leben damit, höchsten Ansprüchen gerecht zu werden in dem Versuch, den Horizont des menschlichen Geistes zu erweitern. Einiges von seiner Persönlichkeit drückt sich aus in einem Gebet, das er selbst einmal niederschrieb: ,Unser himmlischer Vater, gib uns Freiheit ohne Zügellosigkeit und die Kraft, der Menschheit Gutes zu tun, mit der Selbstbeherrschung, die verhütet, daß wir diese Kraft zur Selbsterhöhung mißbrauchen . ..' " Oberleutnant Boyd hob jetzt die Bronze-Urne auf und stapfte, gefolgt von mir und den beiden Fackelträgern, etwa 30 Meter vom Boot weg. Im düsteren Schein der Flackerfeuer las ich das Totengebet: „Dem Allmächtigen Gott empfehlen wir die Seele unseres dahingegangenen B r u d e r s . . . " Boyd hob die Urne und streute die Asche in den Wind. Die Flocken verschwanden schnell im Halbdunkel und dem wirbelnden Schnee. Dreimal krachten die Gewehre zum letzten Salut. Sir Hubert Wilkins hatte seine letzte Ruhestätte gefunden. Während des Abendessens war jeder in sich gekehrt — uns alle hatte der feierliche Gottesdienst angerührt. Er schien uns ein Tribut nicht nur an Wilkins, sondern an alle Männer gewesen zu sein, die ihr Leben im Kampf um den Nordpol hingegeben hatten. In dieser Nacht errichteten wir ein kleines Monument aus Eisblöcken, stießen einen Stahlmast hinein und hißten daran die Flagge 28
150
3 0 0 Das Packeis des Polarmeeres, Mitte März, Luftaufnahme aus 6000 Meter Höhe. Das schrägstehende Licht hebt die zahllosen Preßstellen im Eis plastisch hervor. Die auch jetzt noch vorhandenen Seen und Rinnen sind im Gegensatz zum Sommer leicht zugefroren (unter dem Bild Maßstab und darunter zum Vergleich die Größe der „Skate").
I I I I I I I I I Meter
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der Vereinigten Staaten. In einem wasserdichten Behälter, den wir in das Monument einfügten, hinterließen wir folgende Botschaft: 17. März 1959 An diesem Datum in einem Monument am geographischen Nordpol von dem Unterseeboot Skate der Vereinigten Staaten niedergelegt. Die Skate ist am 17. März 1959 am Nordpol aufgetaucht und hat einen Gedächtnisgottesdienst für den verstorbenen Sir Hubert Wükins gehalten. Die Rückgabe dieses Behälters an den Kommandanten der Skate zusammen mit einem Hinweis über Datum und Ort der Bergung wird ein Beitrag zur Sache der internationalen Wissenschaft sein. James F. Calvert, Kommandant Nach Ablauf einer bestimmten Zeit kann diese Botschaft vom Treibeis möglicherweise bis an die Küsten Grönlands weit im Süden getragen werden. Es war kein Anzeichen der von Walt Wittmann befürchteten Eisbewegung zu beobachten, doch der Sturm wurde immer heftiger, und die Temperatur sank weiter. Wir entschieden, daß es Zeit war, in die wärmere Tiefe des Meeres zurückzukehren.
In den nächsten Tagen entfernten wir uns, unterwegs nochmals auftauchend, über die andere Seite der Erde vom Dach der Welt. Bald fuhren wir wieder in etwa 120 Meter Tiefe mit 16 Knoten dahin und kreuzten nun die Routen einiger Treibeis-Expeditionen, darunter die der ,Fram'. Am Sonntagmorgen hatten wir einen Punkt erreicht, der nur rund 100 Meilen von den Neusibirischen Inseln entfernt war. Hier machten wir eine scharfe Schwenkung um mehr als 90 Grad nach rechts, um die Erforschung des Polarbeckens fortzusetzen. Wir legten unseren Kurs sehr genau fest, um weit genug innerhalb der internationalen Gewässer des großen Ozeans zu bleiben, den wir nun erkundeten. 30
Es gab noch mancherlei Zwischenfälle. Als wir einen Ausweg aus dem Packeis gefunden hatten, tauchten wir bei Prinz-Karl-Vorland wieder aus dem Wasser und richteten den Bug wieder der Heimat zu. Wir waren innerlich glücklich, daß wir Wilkins' letzten Wunsch hatten erfüllen können. Wir waren über unsere kühnsten Hoffnungen erfolgreich gewesen.
Umschlaggestaltung: Karlheinz Dobsky. Fotos: National Geographie Society und Official US Navy L u x - L e s e b o g e n 3 5 6 (Erdkunde) H e f t p r e i s 3 0 P f g . Natur- und kulturkundliehe Hefte. —Bestellungen (vierteljährl. 6 Hefte DM 1,80) durch jede Buchhandlung und jede Postanstalt. — Alle früher erschienenen Lux-Lesebogen sind in jeder guten Buchhandlung vorratig. — Druck: Hieronymus Mühlberger, Augsburg. — Verlag: Sebastian Lux, Murnau vor München. — Herausgeber: Antonius Lux.
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