Volker Ferkau und Michael Marcus Thurner
SunQuest Band 5
Am Rande der Hoffnung
Fabylon
Die Gemeinschaft ist zerfal...
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Volker Ferkau und Michael Marcus Thurner
SunQuest Band 5
Am Rande der Hoffnung
Fabylon
Die Gemeinschaft ist zerfallen, und die Passage, eine besondere Sternenkonstellation, steht kurz bevor, was gewaltige, lebensbedrohliche Veränderungen auf Less auslöst. Anhänger der Sekten der Warner, Wiedergänger und Erlöser bereiten sich auf den großen – oder letzten – Tag vor, wenn der Ewige Zutritt erhält, und für Shanija Ran scheint es endgültig kein Entkommen mehr zu geben. Der fünfte Band des sechsbändigen Zyklus um die DreiSonnen-Welt im Sternbild Schwan. Eine Welt, in der es keine elektronische Technik gibt, aber Psimagie – und tausende Völker der Milchstraße, denn wer hier einmal gestrandet ist, kommt nie mehr weg.
Die Beteiligten Volker Ferkau Der 1955 geborene gelernte Schriftsetzer arbeitete im mittleren und gehobenen Management im Zeitungsverlagswesen und ist seit 10 Jahren zusammen mit seiner Frau Inhaber des bundesweit vertretenen Lehrkonzeptes LINGOSTAR. Mit dem Schreiben begann er bereits als Jugendlicher und veröffentlichte in Wochenendbeilagen von Tageszeitungen Storys, die er teilweise auch selbst illustrierte. Professionell publizierte Volker Ferkau unter verschiedenen Pseudonymen zahlreiche Phantastik-Heftromane für Bastei und Kelter sowie Storys für Frauenzeitschriften. Neben SunQuest arbeitet er derzeit auch an eigenen Romanprojekten. Malen und Musik gehört zu seinen Hobbys. Michael Marcus Thurner Geboren 1963 in Wien, verheiratet, zwei Töchter. Seit 2002 arbeitet er als freiberuflicher Schriftsteller für Serien wie BAD EARTH, MADDRAX, ATLAN und PERRY RHODAN. Dazu kommen diverse Exposé-Arbeiten, die Mitarbeit an zwei Kabarett-Programmen von Leo Lukas, das Entwerfen von Szenarien für Comics und Planungen für ein eigenes Buchprojekt. Kurt Neubauer Der 1956 in Wien geborene Künstler studierte Malerei mit akademischem Abschluss und gründete erfolgreiche Grafik- und DesignAgenturen. Er ist Spezialist für 3D-Animation und Computergrafik und gibt gelegentlich an einer Wiener Privatschule hierüber Unterricht. Trotzdem vernachlässigt er nicht das Arbeiten mit Pinsel, Kreiden und Stiften. Nur bei der Arbeit mit so grundlegenden Werkzeugen kann sich wahre Kreativität entfalten.
Neunter Teil Volker Ferkau
Traumata
Für Silvia
1. Sie starben. Die Frau klagte wie ein ageischer Jasminvogel im Regen. Über dem Mann lag der Geruch von verrottendem Aas. Seiya bäumte sich auf, krallte die Finger in den Staub und stöhnte. In ihren aufgerissenen Augen spiegelte sich der grellfarbige Himmel. Ihre Lippen bewegten sich in lautlosen Worten, sie riss die Hände abwehrend hoch, als könne sie so den Alptraum verscheuchen, der sie hierher geschleudert hatte. Vage registrierte sie, ohne richtig zu begreifen, dass Darren neben ihr auf dem Bauch lag. Er versuchte vergeblich, sich hochzustemmen und winselte dabei wie ein waidwundes Tier. Langsam rutschte er zurück und atmete schwer in den heißen Sand. Der Alptraum war noch nicht vorüber.
* Yimak Groom schob das Fernrohr zusammen. Er hatte genug gesehen. »Mehr Höhe!«, befahl er durch das Sprechrohr. Alles Weitere würde sich ergeben. Bald, sehr bald schon. Wind spielte mit seinen feinen Haaren, Licht brach sich im Alulonium seines Handrückens. Er war zufrieden. Der Kontakt ließ keinen Zweifel offen. Nun würde er Groom nie wieder entkommen, zumindest solange der Kontakt bestand. Manchmal verriet ihn die Gabe, je nach Sonnenkonstellation und Mondstand. Nun, Verrat war ein Postulat seines Lebens. Warum sollte es sich mit der Psimagie anders verhalten? Groom musterte den Horizont. Dort bildeten sich Wolkenformationen wie gerissenes Papier. Befremdend, selbst für Less, wo sich die Gegebenheiten täglich ändern konnten. Ein gezackter Lichtriss schob sich hinter den Wolken hervor und komponierte Farbtöne, deren Dramaturgie auf Groom fast anstößig wirkte. Etwas dort oben,
weit weg im All schien seinen warnenden Finger auszustrecken. Groom blinzelte das beklemmende Gefühl weg und konzentrierte sich wieder auf den Kontakt, der in seinem Geiste analog zur Vielfarbigkeit des Himmelsgewölbes flackerte wie eine Gaslaterne im Wind. Die beiden Menschen dort unten versprachen in den nächsten Tagen Abwechslung und einen schönen Zeitvertreib. Die Frau war Groom fremd. Den Mann jedoch kannte er sehr gut. Der Zufall hatte es gewollt. Er hatte ihn endlich gefunden: Darren Hag. Vor vielen Jahren hatte Groom seine Suche nach Darren Hag aufgegeben, das Schicksal verflucht und es im gleichen Atemzug angefleht, ihm ein Zeichen zu geben. Dann hatte er geträumt und entschieden, jener Starke zu sein, der das Schicksal bezwingt. Daraufhin hatte ihm das Schicksal ein besonderes Geschenk überlassen: den Zufall! Heute Morgen hatte die Pollux die Region Arakal erreicht, wo es sonst keine Menschen gab – und ausgerechnet hierher war Darren Hag gekommen. Yimak Groom war für seine langjährige Ausdauer und Unerschütterlichkeit belohnt worden, und das war nur gerecht, denn Gerechtigkeit war eine Tugend, die jedem gab, was ihm gehörte. Und Darren Hag gehörte ihm! Während er sich ausmalte, was in Kürze geschehen würde, fauchte Groom vor Glück, und Dampf strömte aus seinen Gelenken. Gut gelaunt befahl er den Reinigungsgehilfen von Deck 3, Brock, zu sich. Groom erinnerte sich daran, dass dieser Mann ihm vor ein oder zwei Jahren auf die blank geputzten Schuhe gerotzt hatte. Versehentlich, wie der Idiot sich heulend entschuldigt hatte. Groom hatte ihm das Leben geschenkt. Seitdem war dieser Narr ihm hündisch ergeben. Brock erschien vor Groom. Er stand stramm, die Hände an die Seiten gedrückt. Der fette Bauch schwabbelte über dem Gürtel, das feiste Kinn legte sich in mehrfache Falten. Schweiß rann Brock in die Augen und brachte seine Stirn zum Glänzen. »Hallo, Brock«, säuselte Groom. »Geht es dir gut?« »Ja, Meister Groom! Ja, mir geht es gut, sehr gut«, antwortete der Mann unterwürfig und dienerte.
»Liebst du dein Leben?« »Ja, Meister Groom. Mein Leben ist ein schönes Leben, Meister!« Die Verbeugungen nahmen kein Ende. »Das weiß ich, mein Freund. Also …« Groom lächelte und wies über die Reling nach unten. »Spring!« Brock riss die Augen auf. Sein Körper bebte vor Angst. Feiger Wackelpudding!, dachte Groom verächtlich und wiederholte seinen Befehl. »Spring!« Das Gesicht des Mannes wurde von Röte überzogen, zwischen seinen Beinen färbte sich die Uniform dunkel. »Aller Tod ist Geburt«, schnurrte Groom. »Und Tod bedeutet Freiheit.« Brocks Jacke war von Angst durchtränkt, als habe man einen Eimer Wasser über ihm ausgegossen. Ein Klagelaut quälte sich aus dem mächtigen Brustkorb. »Nein, Meister, bitte nicht!« »Spring«, befahl Groom sanft, wie ein Kätzchen. Wie immer wehrten diese Narren sich vor dem Unausweichlichen. Wie immer hatten sie nicht den Hauch einer Chance. »Du hast dein Leben lang auf etwas gehofft, mein lieber Brock! Nun knüpfe neue Hoffnungen an den Tod.« Brock stakste schlotternd zur Reling. Die Pollux flog mehrere hundert Meter hoch. »Ha, wie er mundet. Der Geschmack des Todes auf meiner Zunge …«, flüsterte Groom. »Ich fühle etwas, das nicht von dieser Welt ist.« Brock hob ein Bein über die Reling. Eine Bö erfasste seine Jacke und riss sie hinten hoch. »Nein … bitte, nein …«, winselte der massige Mann. Warum nur kommt es ihnen nie in den Sinn, sich zu wehren? Warum lassen sie es zu?, fragte sich Groom nicht zum ersten Mal. Immer wieder ließ er Untergebene auf diese Weise in den Tod springen. Das war wichtig, um seine Position als Meister der Pollux zu festigen. Nur, solange er stark war, würden sie ihm gehorchen, vor allem die Söldner. Nie hatte jemand ernsthaft aufbegehrt oder eine Meuterei angezettelt. »Noch keinen sah ich fröhlich enden«, sinnierte Groom. »Könnte es bei dir nicht anders sein?«
»Meister, verlangt es nicht von mir! Nicht das!« »Das Leben ist nur ein Moment, und ebenso der Tod«, lächelte Groom. Brock weinte wie ein kleines Kind und bettelte um sein Leben. »Es ist wie schlafen, mein Großer«, sagte Groom freundlich. »Wie schlafen, glaub mir!« Gerade wollte er sich großherzig geben und seinen Befehl widerrufen, um zu genießen, wie Brock dankbar vor ihm auf die Knie sank. Er wollte sich feiern lassen als gnädiger Meister, doch da gab Brock auf und ließ sich fallen. Ohne einen Laut verschwand er in die Tiefe. Idiot, dachte Groom und wandte sich seinem neuen Ziel zu. Darren Hag würde ohne Zweifel länger durchhalten. Und seine Schuld bezahlen. Wie hatte Epistol, jener Philosoph, der von sich behauptete, der geistige Vater aller Lumini zu sein, gesagt? Wehe dem, der durch die Schuld zur Wahrheit geht! Sie wird ihn nicht erfreuen. Groom kicherte in steigender Vorfreude. Ich bin der Vater der Gewissheit! Ich bin die Hoffnung der Rechtschaffenheit! Ich zeige dir die Wahrheit, Darren Hag, bevor auch du stirbst.
* Über der Ebene verdunkelten sich die Sonnen. Der in ferner Vergangenheit an manchen Stellen geschmolzene Sand reflektierte wie Glas, in dem sich die Baumreihen spiegelten. Rote Wolkenfinger zeigten vom Himmel auf den Boden, gigantische Formationen glühten wie Kaminfeuer, derbe Farbschichten, als habe ein wirrer Geist mit den Fingern in Farbpfützen gerührt. Der Himmel schien den Geruch von Fäulnis anzunehmen. Wasser rauschte irgendwo, und der Duft holziger Gewürze überlagerte optimistisch das Dunstbild des Unnatürlichen. Etwas war anders – lag es an den bizarren Farben, die sich am Himmel bildeten, an dem scharfen Leuchten, das über den Himmel irrlichterte wie ein unhörbares Gewitter? Das nahm Seiya wahr. Ihre Muskeln schmerzten, der Schädel
pochte, und sie fror. Der Traum war unheimlich gewesen. Folter, Schmerz, Tod! Etwas Glitschiges, das sie umfasst hielt. Es war ihr gewesen, als müsse sie Schleim würgen. Das Gesicht eines Insektoiden. Tausend Tentakel, die sich in ihre Haut bohrten. Und dann das Ende. Es war dunkel um sie herum geworden. Nur noch Leere. Sagte man nicht, dass der Tod im Traum gleichzeitig den realen Tod nach sich zog? War dies schon die nächste Welt? Hatte sie das letzte Tor durchschritten? Die Prinzessin setzte sich stöhnend auf und fuhr sich durch das strähnige schwarze Haar. Nein, tot war sie nicht, stellte sie nüchtern fest. Sie war schlichtweg aufgewacht. Sie erkannte die drei Sonnen, und den dunkel glühenden Fathom über sich, auch wenn der Himmel selbst seltsam … verrückt wirkte. Aber warum sollte sie nach ihrem Tod ausgerechnet nach Less zurückkehren, wenn es so viele andere Möglichkeiten gab? Das wäre unsinnig. Also war es tatsächlich nur ein intensiver, sehr erschreckender Traum gewesen, verbunden mit Schmerzen, die von ihrem Körper Besitz ergriffen hatten wie hungrige Tiere; Schmerzen, die ihr seltsam vertraut waren. Ich bin Prinzessin Seiya! Ich lebe in einem Schloss. Es geht mir gut. Nein. Ich lebte in einem Schloss. Sie schüttelte den letzten Rest Schlaf ab. Das war Vergangenheit. Die Gegenwart bedrängte sie nun erbarmungslos und sie zerbrach sich den Kopf, suchte nach Erinnerungsfetzen, wie sie hierher gekommen waren – Darren und sie. Es hatte einen Streit gegeben, kroch es düster aus der Tiefe nach oben. As'mala war verschwunden, Shanija aber wollte sofort weiter zum Meer, zur Urmutter, um Less zu verlassen. Man lässt einen Freund nicht im Stich!, hatte Darren gesagt. Darren, der sich in Shanija verliebt hatte. Es geht um Milliarden Menschen, hatte Shanija entgegnet. Wütend und ohne Abschied waren Darren und Seiya aufgebrochen, um nach der Freundin zu suchen. Mun war an Shanijas Seite geblieben. Das hatte Seiya mehr als alles andere verletzt, weil sie dachte, dem Adepten näher gekommen zu sein.
Dummes, romantisches Prinzesschen! Durst und Erschöpfung mischten sich mit Trauer. Seiya ermahnte sich zur Ruhe. Darren! Wo ist Darren? Er hatte eben noch neben ihr gelegen, und nun … »Mpf«, hörte sie ein Grunzen hinter sich. Sie fuhr herum. Darren hatte sich auf die Beine gekämpft. Die blonden Haare fielen ihm ins markante Gesicht. Die grauen Augen waren verhangen, der Rücken gebeugt. Als trage er den Boten des nahenden Todes auf seinen Schultern. Ein Schatten lag über seiner Aura. Seiya hatte schon Männer mit dieser Ausstrahlung gesehen. Männer, die in der Mandiranei zu langen Strafen verurteilt worden waren. Männer, die bei Vaters Archno-Spielen sterben würden. Sie fröstelte und rieb sich die Unterarme. »Ich bin ein freier Mann«, hatte er kürzlich gesagt. »Für mich gibt es nur eine Philosophie: Die des freien Willens. Ich habe die Macht der Entscheidung. Ich nutze sie und stehe verantwortlich dazu.« Seine Augen blitzten dabei, ein Mundwinkel war spöttisch hochgezogen. »Konventionen sind etwas für Kleingeister.« »Verdammt!«, knurrte Darren jetzt. »Wo sind wir?« Seiya seufzte. »Keine Ahnung.« »Und wie sind wir hierher gekommen? Ich kann mich kaum erinnern …« Seine Stirn legte sich grübelnd in Falten. »Wir waren in irgendeiner Stadt, dann gab es eine Explosion … und etwas zerriss mich, schleuderte mich weg …« »Ich bin im Traum gestorben«, sagte Seiya. Darren fuhr sich mit den Fingern durch das Haar. »Ja …« »Was meinst du mit: ›ja‹?« »Mir ging es ebenso. Was ist nur passiert? Auf einmal bin ich hier, kotze in den Sand wie ein Besoffener, meine Knochen schmerzen und der Himmel über uns ist durchgedreht. So ein Farbgewitter habe ich noch nie gesehen.« »Ich glaube, wir sind in eine Teleport-Explosion geraten, Darren. Ich erinnere mich jetzt, wir wollten einen psibiomechanischen Transport wagen, aber irgendetwas ging schief … und die Schmerzen waren unerträglich.« »Das kannst du laut sagen. Immerhin sind wir nicht nackt, wie es bei einem reinen Bioteleport passiert wäre …«
Ein heller Schrei unterbrach sie. Zwischen den gigantischen Bäumen huschten Schatten. »Wir müssen das Rätselraten auf später verschieben«, sagte Darren. Der Schrei wurde so laut, dass im rötlichen Licht ein erschreckter Schwarm Vögel über die Baumwipfel aufstieg.
* Sie schlichen über den flachen Sand, weg von den kristallisierten Formationen auf die monotone Baumreihe zu. Eine Wand aus Holz. Bäume, groß wie Türme, und völlig gerade gewachsen. Nur ganz oben gab es Blätter. Ein grünes, dichtes Dach ruhte auf hohen aufrechten Stelzen. Die beiden Menschen gingen hinter einem Baumstamm in Deckung und schauten sich vorsichtig um. Seiya stockte der Atem. Zwischen den Bäumen bewegte sich ein Crocker. Er sah genauso aus wie im Lehrbuch. Schneller als ein Legispanther, die Zähne bissen durch jedes Material, die lange Zunge fasste Beute, ohne dass der Räuber seine Deckung verlassen musste. Aus faustgroßen Poren quoll ununterbrochen süßlich stinkender Schleim. Das dreiäugige Tier war doppelt so hoch wie ein Pferd und trug etwas zwischen den blitzenden Zähnen – ein Bein. An dem Bein hing kopfunter ein dickliches Kind, das zappelte und jämmerlich schrie. Schleim tropfte über die breite kantige Nase hinunter auf die Latzhose des Kindes, in die Hosenbeine. Der Crocker hockte sich auf das schwanzlose Hinterteil und ließ seine Beute fallen. Zuerst rollte das Kind sich zusammen, dann sprang es auf und wollte weglaufen. Das Raubtier hielt es mit einer Pranke fest und stupste es mit der Schnauze an. Die herausragenden Zähne waren halb so lang wie das heulende Kind, das versuchte, sich zu befreien. Darren rannte an Seiya vorbei, in der Hand eine kurze Klinge aus Kreischerstahl.
Der massige Schädel des Crocker drehte sich zu dem Mann um. Grunzend erhob sich das Tier, wackelte mit dem Hinterteil und offenbarte plötzlich eine erschreckende Kraft und Geschwindigkeit. Blätter und Waldboden spritzten hoch, als es herumwirbelte; Seiya konnte den Bewegungen des Raubtiers kaum folgen. Auf der Brust des Crocker schwoll der Kampfkamm, ein grüner Fächer, der gleichsam als Schild wirkte, auch gegen Pistolenkugeln. Darren duckte sich. »Lauf!«, schrie er dem Kind zu. Das dachte jetzt allerdings nicht mehr daran, und hob, augenscheinlich durch die unerwartete Verstärkung tollkühn geworden, einen dicken Ast auf und schleuderte ihn auf den Crocker. Der Wurf war präzise und hart ausgeführt. Das Tier schnellte herum und seine Zunge rollte sich aus. Sie zischte wie eine Peitsche nach vorn, schnalzte wieder zurück zwischen die Zähne und schoss erneut hervor. Das Kind rannte im Zickzack vor ihm her, was Seiya ihm wegen seiner Leibesfülle gar nicht zugetraut hätte, und trat dann mit aller Kraft auf die Zunge. Der Crocker spie klebrige Fäden und zog die Zunge zurück. Das Kind verlor das Gleichgewicht, fing sich jedoch schnell. Inzwischen war Darren heran und stieß dem Tier das Messer in die Ferse. Der Crocker brüllte vor Schmerz auf und griff Darren an, der hakenschlagend vor ihm herlief. Seiya entschloss sich, einzugreifen. Wir müssen es verunsichern, damit das Mistvieh sich auf keinen von uns konzentrieren kann! Sie sprang lärmend zwischen den Bäumen hervor, um den Crocker abzulenken. Der Waldboden bebte unter den dreikralligen Füßen, als das Raubtier sich tatsächlich der Prinzessin zuwandte, und sie ging hastig in Deckung. Nur eine Handbreit über ihr klatschte die Zunge gegen die Rinde und wickelte sich um den Stamm. Ein widerlicher Gestank ging von dem mit Widerhaken übersäten Greiforgan aus. Darren hechtete hinterher und rammte erneut das Messer in die Fußsehne des Raubtiers. Die Zunge fräste Baumrinde vom Stamm, die in alle Richtungen splitterte, als der Crocker schmerzgepeinigt einknickte. Zornig brummend nahm er gegen Darren Angriffsposition ein. Darren machte sich bereit, das Messer in der rechten Hand.
Sein Gesicht war konzentriert. Eine falsche Bewegung, eine unachtsame Reaktion, und die Zunge spießte ihn auf. Aus ihrer Deckung sah Seiya, wie sich das Kind von rechts anschlich. Entsetzt wollte sie es aufhalten, zu sich rufen, aber das hätte den Crocker nur auf sie beide gelenkt. Der Crocker atmete schwer. Aus seiner Ferse strömte Blut, das verletzte Bein zitterte. Seiya wagte es, sich hinter dem Baum vorzuschieben, und winkte warnend. Das Kind schlich weiter auf das Raubtier zu, hielt mühelos einen Stein in der Hand, größer als sein eigener Kopf. Die Prinzessin stockte verwundert. Der Crocker beobachtete Darren lauernd. Seine Muskeln spannten sich unter der grünen Haut. Für einen kurzen Moment schien alles erstarrt und lautlos. Dann explodierte die Stille. Die Zunge des Crockers schoss knallend vor. Im selben Moment wich Darren zur Seite und hieb die Klinge in das rote Fleisch, riss eine tiefe Wunde. Das Kind holte weit aus und schleuderte den Stein in das mittlere Auge des Raubtiers. Der Crocker bäumte sich brüllend auf, Blut spritzte an die Bäume. Der klobige Schädel pendelte hin und her. Keuchend durchtrennte Darren mit dem dritten Hieb die Sehne. Das riesige Tier knickte ein, zog sich jedoch mit den Vorderbeinen vorwärts, das Maul schnappte auf und zu, die zerfetzte Zunge baumelte nutzlos. Während das Kind den schweren Stein ein weiteres Mal auf den Crocker schleuderte, sprang ihm Darren in den Nacken und trieb ihm das Messer hinein. Der Crocker schüttelte sich stöhnend, sein Kampfkamm faltete sich zusammen. Er knickte vorne ein, Blätter und Staub wirbelten auf. Blut ergoss sich wie ein Sturzbach aus dem Maul, dann brach er tot zusammen. Seiya lief auf Darren zu, der leicht gebückt dastand, erschöpft die Hände auf die Oberschenkel gestützt. »Alles in Ordnung?« Er nickte schwer atmend und wandte den Kopf, als das Kind auf sie zukam. Die Prinzessin riss die Augen auf, als sie sah, wie sehr sie sich getäuscht hatte.
Ein runder Kopf, ein stämmiger Hals, breite Schultern, muskulöse Arme, ausgeprägte Brüste. Es war eine zwergenwüchsige Frau! Sie war fast so breit wie hoch, die Haut rosarot. Sie fuhr sich durch die schwarzen Haare, wobei ihre abstehenden Ohren leicht wackelten. Ihre Nase war kurz und stumpf, mit ausgeprägten Öffnungen. Die Mundwinkel der Zwergenwüchsigen zogen sich nach oben. »Danke! Das war knapp!« »Kann man wohl sagen«, sagte Seiya verdutzt. »Du bist ziemlich stark, Kleine«, stellte Darren fest, der sich sichtlich erholte und sich aufrichtete. Die kleine Frau musterte den großen Mann eindringlich und stemmte die Arme in die Seiten. »Und ihr seid ziemlich schnell. Wo kommt ihr auf einmal her? Wer seid ihr?« »Ich bin Darren, und ich habe keine Ahnung, wie wir hierher gekommen sind«, antwortete er und wies auf seine Begleiterin. »Das ist Prinzessin Seiya aus der Mandiranei. Wir sind gerade hier eingetroffen und auf der Suche nach einer Freundin von uns – blond, mit seltsamer Zopffrisur, eine gute Kämpferin. Sie heißt As'mala.« »Tut mir leid, es ist kein weiterer Mensch hier durchgekommen«, antwortete die stämmige Kleinwüchsige. Seiya machte ein enttäuschtes Gesicht. »Das wäre auch zu einfach gewesen.« »Wo befinden wir uns?«, wollte Darren wissen. »Das hier ist die Ebene von Arakal. Ich heiße übrigens B-ama.« Sie sprach ihren Namen mit einem seltsamen Schnalz- und Klicklaut aus, der für die beiden Menschen unaussprechlich war. B-ama amüsierte sich über ihre vergeblichen Versuche, bevor sie fortfuhr: »Zum Glück verirren sich Crocker sehr selten hierher, es gibt nicht viele von ihnen. Wenn unsere Männer die Wareiken pflücken, haben sie trotzdem immer Waffen dabei.« »Und warum bist du allein hier unterwegs?«, fragte Darren. »Ich wollte meinen ungezogenen Sohn treffen.« Im selben Moment surrte es über ihren Köpfen. Die Luft vibrierte, öliger Dampf senkte sich herab. Ein riesiger Schatten verdunkelte den Wald.
Und er verdunkelte die Seelen von Seiya und Darren. Sie fielen schlafend zu Boden und träumten den Tod.
2. Seitdem Yimak Groom die Gabe des Kontaktes beherrschte, war es ihm ein Leichtes, in die innersten Gedanken anderer Wesen einzudringen. Er erinnerte sich an das erste Mal, an den Schrecken, den er empfunden hatte, als er durch die Augen eines Wolfes geträumt hatte. Er hatte den süßen Geschmack des Todes auf seiner Zunge gespürt, seine Zähne in den Rücken einer Riddelschlange geschlagen, hatte das süße, für ihn ungefährliche Gift der Kreatur geschluckt, genossen, gerissen und gefressen. Später, als er sich mit seiner Zunge die blutige Schnauze sauber leckte, konnte er, Groom, den Traum bereits kontrollieren. Er fühlte sich satt und euphorisch. Trabte auf weichen Pfoten über die Felsen. Es war ein guter Körper. Voller Kraft und Energie. Besser als sein eigener, geschundener Maschinenleib. Der Groomwolf war zu seiner Höhle gelaufen, ein guter Platz für viele Welpen. Dort bestieg er die Wölfin und wollte nicht mehr aufhören zu stoßen, und ihr geiles Heulen bereitete den Monden von Less soviel Furcht, dass sie sich hinter schwarzen Wolken versteckten. Groom machte es sich in seinem Sessel bequem. Im Kamin züngelten kleine Flammen, obwohl draußen Temperaturen um die 20 Grad herrschten. Die Flammen warfen zitternde Schatten auf die Rücken der vielen Bücher, die die ganze rechte Wand bedeckten wie ein Mosaik des Wissens. Auf dem Schreibpult lag Papier, eine Feder steckte im Tintenfass. Der weiche Teppich dämmte die Geräusche des Dampfkessels, der die Pollux fortwährend in der Luft hielt, abgesehen von jenen wenigen Tagen, an denen sie Nachschub an Brennholz aufnahm. Früher, als Groom noch Kohle benutzte, hatte er einmal in der Woche Nachschub gebraucht. Seitdem in den Kesseln der Pollux das harte Holz der Wareiken verbrannt wurde, mussten sie nur noch alle vier bis sechs Wochen landen.
Groom hasste Landungen. Er verabscheute den Erdboden. Dort unten lauerte das Böse, da gab es nur Drangsal und Schmutz. Warum sollte er also hinunter? Um mit irgendjemandem Worthülsen zu tauschen? Seitdem er in Träumen hauste, kam ihm das gesprochene Wort sinnlos vor. Wer redete, dachte zu wenig und machte Fehler! Mich dünkt, ich seh einen Chor von hunderttausend Narren sprechen!, zitierte er im Geiste Asogal, den Weisen aus der Höhle. Groom liebte die innere Sprache. Er wusste, wie dunkel die Seelen nicht nur der Menschen, sondern aller Wesen waren, und empfand ein Lächeln als zähnefletschenden Angriff. Er hatte diesen finsteren Kosmos betreten und wähnte sich als Entdecker der Wahrheit, als jemand, der erkannt hatte, wie die Innenwelt beschaffen war. Im Grunde waren sie doch alle dort unten auf dem Boden eine verlogene Masse Fleisch, nur darauf aus, dem anderen zu schaden und daraus Vorteile für sich zu ziehen. Groom wusste, dass es Menschen gab, die nur deshalb logen, um zu lügen. Besonders genoss Yimak Groom es, wenn sie von ihm träumten. Sie stellten sich ihn in allen möglichen Variationen und Formen vor und fürchteten sich vor ihm. Einmal hatte ein Träumender ihm die Gestalt eines Feuer speienden Drachen erträumt. Es hatte Groom eine morbide Form sexueller Lust bereitet, diesen Traum zu beeinflussen, zu verlängern, und bis zu dessen schmerzendem Ende zu führen. Im Äther wehte immerfort eine frische Brise, die Luft war sauber, und alle Gedanken waren klar. Der Geruch anderer Wesen, ihr Schweiß, ihre Ausscheidungen, die intensiven Dünste der Lust – all das existierte in der Höhe nicht. Lediglich der Geruch von Blut lag manchmal wie ein süßer Odem über der Pollux – aber der störte Groom nicht, im Gegenteil. Manchmal genoss er ihn geradezu. Auf seinem Flugschiff fühlte Groom sich sicher. Hier war er Herr seiner selbst. Nur hin und wieder sank er soweit ab, dass seine Schergen, die Groomer mit den knatternden Dampern, den Boden erreichten. Groom hatte selbst die Damper konstruiert, und zusammen mit den Groomern verbreiteten sie Angst und Schrecken, im
Auftrag des Meisters. Sie brachten ihm die neuen Hymnen des Dichters Asogal, der unten in der Höhle lebte, und andere Dinge, die der Despot neben dem Holz von den kleinwüchsigen Dorfbewohnern mit der unaussprechlichen Eigenbezeichnung B-arbs forderte. Groom liebte vor allem die Literatur und großen Texte des Einsiedlers, dessen Ziel es war, den Grund dafür zu suchen, was die Welt im Innersten zusammenhielt. War es der Schmerz? Die Liebe? Schmerz kannte Groom, die Liebe nicht. Nicht mehr … Was also hielt die Welt zusammen? Bisweilen wäre Groom gern selbst in die Höhle gegangen und hätte sich mit Asogal zusammengesetzt. Mit ihm diskutiert. Ihn ausgefragt. Mehr erfahren über jenen anderen Besucher, über den Asogal in seinen Texten sprach, eine mysteriöse Gestalt mit Hörnern, mittels deren Hilfe der Dichter absonderliche Gedankenreisen unternahm. Der Gehörnte sei, so beschrieb ihn Asogal, ein Geist, der stets verneinte! Eine wunderbare Charakterisierung, fand Groom. Vielleicht würde er in diesem Gehörnten einen Seelenverwandten finden? Stets verneinte auch er. Er sollte sich endlich überwinden und Asogal in den nächsten Tagen zwingen, in der Höhle ein Treffen mit dem Gehörnten zu arrangieren. Er schloss seine Augen, um sich an den Alpträumen derer da unten zu ergötzen, allen voran von Darren und der jungen, edel aussehenden Frau, die sich im Traum selbst als Seiya bezeichnete. Er schickte ihnen puren Horror in die Träume und verwandelte sie in zuckende, winselnde, schwitzende Wesen. Armselige Kreaturen im Taumel der Verständnislosigkeit mit einem unumstößlichen Finale – dem Tod! Immer wieder starben sie. Starben und starben und fürchteten sich und starben. Leider gab es in letzter Zeit häufiger als sonst Schwankungen im Kontakt. Grooms Gabe wurde unberechenbar, ebenso wie der Himmel über ihm. Als habe ein unkontrollierter Wahnsinn sich des Kontaktes bedient. War es etwa seine eigene Umnachtung, die sich in den Störungen spiegelte? Welch grotesker Gedanke!
Der Sinn des Denkens ist die Frage hinter der Antwort, manchmal auch die Frage hinter der Frage. Genug gefragt für heute! Schluss mit diesem Selbstgespräch der Seele! Groom bändigte seinen Zorn, indem er sich Darren Hags Tod vorstellte. Wenn es soweit ist, wenn du weißt, dass du nicht mehr träumst, wird dich die Furcht wahnsinnig machen, Darren Hag! Und du hast es verdient! Asogal schrieb: Ach neige, du Schmerzensreicher, dein Antlitz gnädig meiner Not. Groom schloss die Augen und sog die Worte des Dichters ein wie ein gutes Getränk, wie einen herben Duft, eine streichelnde Hand. Dampf stieg aus seiner Nackenhydraulik. Er beugte seinen Kopf nach unten und legte den Überrest seiner Nase zwischen die Seiten in den Bund eines Buches. Keines, in dem er las, sondern eines, das er inhalierte. Farbe und Papier, Alter und Staub, Leder und Geschichte. Die richtige Stelle im Bund, wenn das Buch noch halb geschlossen war, ein warmer Hauch über die Unterlippe, die Strömung in die Sinneshaare der Nasenwand gesogen, wieder eingefangen – das war der Duft von kluger Literatur. Dummes Geschwätz stank. Im Kamin knackte ein Scheit. Hatte nicht Epistol vorausgesetzt, es seien jene die Mutigsten, die bei weitem die schmerzhaftesten Tragödien erlebten? O ja – eine schmerzhafte Tragödie hatte Groom erlebt. In dieser Hinsicht hatte Epistol recht gehabt. Der Dichter hatte außerdem gesagt, dass genau jene Menschen deshalb das Leben ehrten, weil es ihnen seine größte Gegnerschaft entgegenstellte. Das gefiel Groom. Aber ehrte er denn das Leben? Oder gehörte er der Spezies der Lebenden nur noch marginal an, als bizarre Karikatur? Nein. Solange seine Suche einen Sinn hatte, ehrte er seinen Gegner, das Leben. Solange er die letzten Antworten noch nicht hatte, hatte alles seine Richtigkeit. Er musste Darren Hag jene Frage stellen, die ihn seit langer Zeit umtrieb. Nur der Sohn von Earl Hag kannte die Antwort. Dann
würde er sich entscheiden. Den Schuldigen zu schonen war Grausamkeit gegenüber dem Unschuldigen. Yimak Groom würde dieses eine Mal nicht grausam sein.
* Als Seiya erwachte, schmerzte ihr ganzer Körper. Ihre verkrampften Muskeln hatten sich verhärtet. Die Augen brannten. Das federweiche Oberbett duftete nach frischem Heu und spendete Trost. Das Fenster der Kammer war geöffnet. Vögel zwitscherten. Die Prinzessin hob den Kopf und ihr Blick wanderte über die blitzsaubere Inneneinrichtung. Einfache Möbel aus dunklem Holz. Handgewebte Teppiche, auf der Kommode eine Wasserschüssel und ein Krug. Vor dem Fernster bewegten sich bunte Vorhänge in der Brise, die einen milden Tag verhieß. Auf dem Fensterbrett stand ein Strauß mit gelben Blumen. Ein schöner Tag! Seiya seufzte und ließ den Kopf zurück ins weiche Kissen sinken. Hier drin war es himmlisch. Nichts deutete auf den grausigen Traum hin, der sie im Griff gehabt hatte. Der zweite innerhalb kurzer Zeit. Wieso geschah das mit ihr? Was hatte dazu geführt, dass sie aus heiterem Himmel bewusstlos geworden war, in einen Alptraum geschleudert wurde wie ein abgenagter Hühnerschenkel in ein Kaminfeuer? Sie erinnerte sich an das Surren über sich, an den Schatten, der sich über den Wald gelegt hatte, an den Geruch von verbranntem Holz. Dann hatten die Beine unter ihr nachgegeben und weiches Moos ihren Fall gedämpft. Das Aroma faulender Blätter drang in ihre Nase. Danach war alles wie ausgelöscht. Nur das unvorstellbar grauenhafte Erleben ihres eigenen Todes war noch präsent. In ihrem Hinterkopf meinte sie, eine höhnische Stimme zu hören. Seiya träumte, zu töten. Badete in Blut. Irgendetwas in ihr wisperte, dies sei mehr Erinnerung als Traum. Manchmal hatte sie das Gefühl, jemand habe sie durch den Traum geleitet, ihre Hand genommen und
sie gegen ihren Willen an die düstersten Stellen geführt. Wie ein Kind war sie sich vorgekommen, das sich im Wald verlaufen hatte. Dann war alles schwarz geworden und hämisches Lachen hallte aus der Dunkelheit. Kein Trost, keine Wärme, keine Hoffnung. Ein Todestraum.
Tentakel, die sich in ihre Haut bohren. Große Insektenaugen, die sie anstarren und zu verschlingen scheinen, aushöhlen und leeren, bis sie greint wie eine Irre. Und in der Nähe der Schlund, dem Seiya nicht entgehen kann. Krallen, die sich in ihr Fleisch schlagen, Schmerzen, und dann … das Gesicht von Mun. Sein haarloser Kopf, die gütigen Augen. Er will sie festhalten, streckt die Finger nach ihr aus; und dann, sein nackter Körper, sein Geschlecht, groß und fordernd. Erneut wird Seiya vorwärtsgetrieben, weg von Mun, und Hautfetzen reißen von ihrem Rücken, hastig gefressen von Kreaturen, die dankbar schmatzend über ihr Fleisch herfallen, und dann auf knochigen Beinen, taumelnd wie Tote, es sind Tote, hinter ihr herjagen, mehr Fleisch! Mehr!, und ihr Atem geht schwer, ihre Brust ist wie eingeschnürt. Brennende, kreischende Schmerzen, überall in ihrem Körper, besonders dort, wo die Wirbelsäule weißknochig und schutzlos den fransigen Klauen der Verfolger ausgeliefert ist, Tränen fließen ihr in den Mund wie ein salziger Bach, und ihre Stimme ist nur noch ein trockenes Röcheln helft mir! Helft mir! Dabei dringt kein Wort über ihre rissigen Lippen. Der Schlund ist vor ihr, während ihre Füße in schleimigen Gedärmen versinken, die sich wie lüsterne Schlangen um ihre Fesseln schlingen, an ihren Beinen emporzüngeln wollen, immer höher, um einzutauschen und sich zu laben … Beim Monolithen – wann nimmt dieser Traum ein Ende? Dies ist kein Traum … … sondern Wirklichkeit!,
und sie stürzt und fällt … stirbt … und erwacht.
Genug erinnert! Der Traum war vorüber. Die Sonne schien und das Bett war gemütlich. Dennoch klopfte Seiyas Herz wie ein Schmiedehammer. Die Tür wurde einen Spalt weit geöffnet. Ein schwarzer Haarschopf schob sich zaghaft herein, eine knackige Nase, über der helle Äuglein blitzten wie Edelsteine. Der breite Mund öffnete sich zu einem herzlichen Lächeln. »Oh, wie schön!« B-ama klatschte in die Hände und stieß die Tür vollends auf. Ihre blaue Latzhose bildete einen fröhlichen Kontrast zu Sonnenschein, Blumen und poliertem Holz. »Du bist wach!« »Grmmpf!«, war alles, was Seiya von sich geben konnte. Ihre Zunge klebte am Gaumen. B-ama ging durch die Kammer zur Kommode. »Zum Waschen und Trinken! Kristallklar. Das beste Wasser.« Sie schüttete einen Becher voll und reichte ihn Seiya. Endlich – sie war am verdursten! Seufzend richtete sie sich auf und leerte den Becher in einem Zug. »Noch einen?« »Ja, bitte, B-ama!« Seiya musste selbst lachen, als sie versuchte, den Namen richtig auszusprechen. Die Zwergenwüchsige schenkte nach. »Willkommen bei den Barbs, meine Liebe. Das Morgenmahl ist fertig. Du und dein Gefährte, ihr habt lange geschlafen.« »Er ist nicht mein Gefährte«, sagte Seiya irritiert. B-ama legte den Kopf schief und grinste. »Doch, sicher. Sonst würdet ihr schließlich nicht vereint reisen und euch gemeinsam verlaufen, oder?« »Nein, bei uns Menschen ist das anders. Dass Mann und Frau zusammen reisen, muss nicht bedeuten, dass sie auch zusammengehören. Wir sind nur Freunde. Darren hat eine andere Gefährtin.«
»Nur eine?« B-ama verdrehte die Äuglein und wackelte mit den Ohren. »Er sieht interessant aus, so groß und die breiten Schultern … ah, aber ich verstehe: Die Frau, die ihr sucht, das ist seine Gefährtin?« »Nein. Das ist eine andere Freundin.« »Das verstehe ich nicht.« Seiya schwieg. Sie verstand auch nicht, was geschehen war. Der Streit und alles Weitere. Sie vermisste Shanija und Mun und empfand Schuld. So hätten sie niemals auseinandergehen dürfen. »Ich habe deine Sachen repariert. Ich hoffe, du bist nicht böse, dass man die Nähte sieht, aber der Stoff ist sehr fein und meine Nadeln grob.« B-ama schlug schuldbewusst die Augen nieder. »Aber nein!« Seiya sprang aus dem Bett. Sie musste sich ducken, um nicht mit dem Kopf an die Zimmerdecke zu stoßen. »Wo kann ich mich waschen?« »Es ist alles bereit. Deine Kleidung liegt dort auf dem Stuhl.« B-ama musterte die nackte Prinzessin unverhohlen neugierig. Ihr Gesichtsausdruck war leicht zweifelnd; anscheinend war sie nicht sicher, ob ihr das Aussehen eines Menschen gefiel. »Ich warte unten auf dich.« Sie grinste und verließ die Kammer. Behutsam schloss sie die Tür hinter sich. Seiya reinigte sich ausgiebig und schlüpfte dann in die eng sitzende, dreiviertel lange Hose und die weichen Halbschuhe, schloss das tief ausgeschnittene Oberteil, das ihren zierlichen Bauchnabel frei ließ, und zog die Jacke aus Lederseide an. Staunend betrachtete sie sich im Spiegel. B-ama hatte schamlos übertrieben. Selbst Zwirnt, der Hofschneider der Mandiranei, hätte die Reparatur nicht besser hinbekommen. Der Duft von gebratenen Eiern lockte die Prinzessin die Treppe hinunter. Darren nuschelte ihr mit vollem Mund einen Gruß zu und lächelte. Obwohl sie ein gutes Stück kleiner als der Freund war, kam Seiya sich in diesem Haus und den kleinen Möbeln vor wie eine Riesin. Bama trug die Eier auf. Milch wartete in einem Krug. Honig und frisch gebackenes Brot verbreiteten einen betörenden Geruch.
Erst essen, dann reden, entschied Seiya. Sollte Darren die Unterhaltung beginnen, er war ihr schließlich schon mindestens einen Teller voraus und nicht mehr so hungrig. Gesättigt lehnte er sich kurz darauf zurück und wäre um Haaresbreite auf seinem Stühlchen umgekippt. B-ama lachte breit und hielt sich dabei den Bauch. Ihre Wangen glühten vor Begeisterung. Darren fing sich und zwinkerte. »Also gut«, begann er. »Was ist hier los? Was ist mit uns geschehen, und was war das für ein riesiges Luftschiff?« »Ich werde euch unsere Geschichte erzählen«, antwortete B-ama und setzte sich zu ihnen.
* »Einst lebten wir als glückliches Volk von der Zucht der Wardonks«, begann die zwergenwüchsige Frau. »Wardonks?«, warf Darren ein. »Flugfähige Reittiere. Betuchte Bürger von Less kauften die Wardonks zu einem hohen Preis von uns, um schnell und bequem zu reisen. Es gibt nie viele von ihnen, denn sie vermehren sich langsam und nur unter bester Behandlung. Hinzu kommt, dass man sie nur dressieren kann, wenn man ihre Sprache beherrscht. Viele versuchten, die Sprache zu lernen und den Preis zu drücken, indem sie einen unausgebildeten Wardonk kaufen wollten. Niemandem gelang es, denn die Sprache kommt nicht von der Zunge, sondern …« B-ama schlug sich mit ihrer breiten Hand auf die Brust. »Von hier!« Ihr Gesicht zog sich traurig in die Länge. »Eines Tages kam Yimak Groom mit seinem Flugschiff. Er sandte seine Schergen aus, die Groomer. Brutale, dumme Burschen vom Volk der Marganer. Groom verbot uns die Zucht der Wardonks und ließ ihnen die Flugsehnen durchschneiden. Viele Tage und Nächte lang schrien die gequälten Tiere, und wir konnten nichts tun. Manchmal höre ich sie noch heute im Schlaf.« B-amas Augen schimmerten feucht. Sie zog geräuschvoll die Nase hoch. »Der Despot wusste, dass wir B-arbs
noch eine weitere Fähigkeit haben. Wir sind zwar kleinwüchsig, aber außerordentlich stark. Dadurch sind allein wir in der Lage, die Wareiken zu pflücken.« »Wareiken, das Wort hast du schon im Wald erwähnt«, sagte Seiya. »Ja, das sind die Riesenbäume. Unsere Männer reißen die Wareiken mit einer speziellen Technik aus dem Erdreich. Nur so sondern diese Bäume ein Sekret ab, das über Nacht schnell wachsende Schösslinge aus dem Boden hervorbringt. Man darf sie niemals fällen, denn sie würden nicht nachwachsen. Das Sekret ist ihr einziges Fortpflanzungsmittel. Früher pflückten wir nur, wenn wir Holz zum Bau und Beheizen benötigten. Wir haben das Holz nie verkauft, aus guten Gründen. Trotzdem hat Groom irgendwie von unserer Fähigkeit erfahren und zwingt uns jetzt dazu.« »Er schickt euch Träume, richtig?«, murmelte Darren. Seiya fuhr zusammen und starrte ihn an. »Du meinst …« »Überleg doch mal«, sagte er. »Als das Flugschiff über uns erschien, wurden wir ohnmächtig, und Todesträume suchten uns heim, schon zum zweiten Mal. Der Zusammenhang liegt nahe. Der Kerl hat uns entdeckt und benutzt, aus welchem Grund auch immer.« »So ist es«, bestätigte B-ama. »Groom schleicht sich in unsere Träume, verängstigt die Kinder, verwandelt sanfte Familienväter in gewalttätige Trinker, treibt Frauen in den selbstmörderischen Wahnsinn. Um unser Volk vor dem Untergang zu bewahren, haben wir uns verpflichtet, ihm das Holz zu beschaffen. Wareikenholz brennt länger und besser als jedes andere Holz in weitem Umkreis. Es ist dabei fast so hart wie Stahl. Wir vermuten, dass er den Großteil für sein Schiff verbraucht und den Rest teuer verkauft. Uns gibt er von seinem Ertrag nichts ab, gibt sich aber großzügig durch seine Zusicherung, unsere Träume in Ruhe zu lassen, solange wir ihm gehorsam sind.« »Kann man denn gar nichts gegen diesen Groom unternehmen?«, fragte Seiya. »Es scheint Momente zu geben, in denen seine Gabe erlischt«, sagte B-ama.
»Wie bei jedem von uns«, bemerkte Darren. »Und an diesem Ort wohl ganz besonders, denn ich kann meine Fähigkeit nicht spüren.« »Ich auch nicht«, gab Seiya zu. »Zum Teil liegt das an den Nachwirkungen der Träume«, erklärte B-ama, »zum anderen aber an der großen Veränderung.« Sie deutete zur Zimmerdecke. »Der Himmel wird anders. Unsere Alten wissen von einer Legende, dass eines Tages alles endet, und sehen dies als drohendes Zeichen an.« Darren und Seiya wechselten einen Blick. »Die Passage«, murmelte die Prinzessin. »Es fängt an.« Und sie war nicht bei Shanija, der Frau mit der Sonnenkraft, die vielleicht Hilfe benötigte. Die Anhänger von drei Sekten waren hinter ihr her, um sie zu benutzen oder umzubringen, und Shanija selbst war auf der Suche nach der Urmutter, um Less verlassen zu können. Weil die Existenz des Urplaneten der Menschen auf dem Spiel stand. Eine Situation, wie sie verworrener nicht sein könnte. Ich habe Shanija im Stich gelassen. Seiya war ihr eine Menge schuldig, denn schließlich verdankte sie der Frau von der Erde ihr Leben. Die junge Frau bereute ihr Handeln zutiefst und zuckte zusammen, als Darren unerwartet seine Hand auf ihren Arm legte. »Wir finden sie wieder«, sagte er leise, er hatte ihre Gedanken vermutlich von ihrem Gesicht abgelesen. »Denkst du, ich mache mir keine Vorwürfe? Ich dachte, wenn wir beide gehen, wird sie es sich anders überlegen. Aber ich habe ihren Sturschädel unterschätzt, und dann war es zu spät umzukehren. Trotzdem gebe ich nicht auf, dass das Schicksal uns wieder zusammenführen wird, denn wir sind aneinander gebunden und die Mission noch nicht beendet. Wenigstens ist Mun bei Shanija.« Seiya wischte verstohlen eine Träne aus dem Augenwinkel. »Sie wollte uns ja gar nicht mehr bei sich haben, das hat sie selbst gesagt. Deswegen … war ich so wütend.« »Sie wollte uns schützen, Kleines. Shanija fühlt sich verantwortlich. Aber Selbstvorwürfe bringen uns nicht weiter. Konzentrieren wir uns jetzt darauf, As'mala zu finden, und dann sehen wir zu, dass wir zum Meer kommen, zur Stele von Majakar.«
B-ama beobachtete sie neugierig, zeigte aber enorme Feinfühligkeit, indem sie keine Fragen stellte. Darren wandte sich ihr zu. »Wenn ich das richtig verstehe, sitzen wir hier fest, solange Grooms Luftschiff über uns kreist, weil er uns jedes Mal mit Alpträumen außer Gefecht setzt. Im Moment jedenfalls scheint seine Gabe ausgezeichnet zu funktionieren.« »Aber worin liegt der Sinn?«, fragte Seiya ratlos. »Wir können ihm keine Wareiken pflücken.« Darren richtete kurz den Blick auf sie, und ein unheilvolles Glühen lag in seinen grauen Augen. »Es bereitet ihm Freude«, knurrte er. »Er genießt die Abwechslung. Ich kenne Leute wie ihn zur Genüge. Und deshalb«, richtete er das Wort wieder an B-ama, »weil ich äußerst ungehalten bin über diese Art der Freiheitsberaubung und … ja, nennen wir es ruhig Vergewaltigung, werde ich ihn vom Himmel holen. So etwas nehme ich nicht hin. Der Schweinehund muss bestraft werden.« »Daran solltest du nicht mal denken!«, wehrte die Zwergenwüchsige erschrocken ab. »Wenn er von deinen Plänen erfährt, wird er dir im Schlaf den Verstand rauben.« Darrens Augen brannten. Sein athletischer Körper war gespannt wie eine Feder. »Dann muss ich eben dafür sorgen, dass er es nicht erfährt, und werde keine Zeit verlieren.« »Ihr seid doch sehr stark«, sagte Seiya. »Warum geht ihr nicht gemeinsam gegen die Groomer vor?« »Weil Groom uns dann die Träume schickt«, wisperte B-ama beschämt. »Und die B-arbs sind ein sehr friedliches Volk, das noch nie gegen ein anderes Volk gekämpft hat. Höchstens vielleicht einmal gegen einen Crocker, wenn wir keine andere Wahl hatten. Es ist so, wir verabscheuen Gewalt … es ist schrecklich genug, was aus denjenigen geworden ist, die Grooms Grausamkeit erlagen. Wir … haben es nicht geschafft, uns gegen den Despoten zu erheben, unsere Hemmungen sind zu groß.« Darren kratzte sich den Nacken. »Ist er ein Mensch?« B-ama hob die Schultern. »Das wissen wir nicht. Er zeigt sich nur selten und wenn, dann trägt er eine metallische Rüstung, die zischt
und dampft.« »Wir werden euch helfen«, sagte die Prinzessin und ballte energisch die zierliche Hand. »Ich weiß, wie es ist, einem anderen hilflos ausgeliefert zu sein, und ich weiß, was Unterdrückung bedeutet. Und ich will auch nicht benutzt werden. Wir lassen uns etwas einfallen, nicht wahr, Darren?« Er nickte langsam. Sein Gesicht zeigte einen abwesenden Ausdruck. »Kommt mit.« B-ama sprang plötzlich auf. »Ich möchte euch etwas zeigen.«
* Die Sonnen blendeten Seiya. Alle Farben waren klar akzentuiert. Sogar der sonst herrschende Rotton wirkte heute gefälliger, unterhielt ein quellfrisches Blau. Es war, als habe der Himmel beschlossen, fröhliche Farben und Formen zu bilden. Samt und Seide. Schäfchenwolken trieben fröhlich über den Himmel. Nichts mehr von der düsterbunten Verwirrung gestern. Passend zum Himmel erwartete sie Idylle. Seiya erblickte kleine Häuser mit begrünten Dächern und Wege, die von Steinen gerahmt waren. Eine Entenfamilie watschelte aus dem naheliegenden Teich, die Küken in einer schnurgeraden Reihe hinter der quakenden Mama. Blumenbeete, sehr sauber und gepflegt. Schneeweiße Zäunchen. Ein Dorfplatz, dessen Zentrum eine Grillstelle zierte. Daneben Steinbänke mit Holzauflage. Eine Bühne, flankiert von bunten Wimpeln. Der lehmige Boden fest getrampelt, makellos, wie abgefegt. Einige Frauen, wie B-ama in Latzhosen, aber mit unterschiedlich farbigen Halstüchern, standen tratschend zusammen. Ihre Blicke folgten den Fremden. Bei einem Brettspiel vergnügten sich die Alten und hoben die Köpfe, zogen an ihren Pfeifen, die einen süßen Duft verbreiteten, und nickten ihnen freundlich zu. »Sie spielen darum, wer das Seil ganz vorne ziehen darf«, erklärte B-ama. »Wenn sie die Wareiken pflücken. Das wohlduftende Kraut
ist Tannabster, davon werden diese alten Stiesel recht lustig.« Eine Wand baute sich vor ihnen auf und warf einen gewaltigen Schatten. Seiya legte den Kopf in den Nacken und traute ihren Augen nicht. »Wareikenstämme«, sagte B-ama. »Viele hundert Stämme aufeinandergeschichtet. In ein paar Wochen werden sie von Grooms Leuten abgeholt.« Darren sah sich um. »Wo sind die Männer und die Kinder?« »Alle im Wald. Die Kinder lernen früh das Wareikenpflücken, und wovon wir uns ernähren, lauschen dem Wissen, und dergleichen mehr.« Seiya fand es an der Zeit, B-ama nach dem Erlebnis im Wald zu fragen. »Weswegen hast du deinen Sohn im Wald gesucht?« »Wir waren verabredet, aber der ungezogene Bengel ist nicht gekommen.« Das war alles, was B-ama dazu sagte, doch gewiss war es nur ein Teil der Wahrheit. Bevor Seiya nachfragen konnte, zog B-ama sie am Ärmel weiter. »Da – schaut. Sind sie nicht schön?« Sie verhielten vor einem Gatter. Ja, sie waren schön. Vierbeinige Drachenvögel. Ihre schuppigen Körper strahlten eine ungewöhnliche Grazie aus. Ihre fein geschwungenen Leiber wirkten zerbrechlich wie Glas. Von der Schwanzspitze bis zum Schädel verlief eine Höckerbarriere, zwischen denen man einen sicheren Sitz finden konnte. Sie besaßen große, feuchte Augen mit handlangen Wimpern und Nüstern, die sich weit aufblähen konnten. »Sie haben nur winzige Zähne und fressen ausschließlich Blattwerk.« »Ganz gewiss rühren wir keine Menschen an«, erklang eine sonore Stimme. Seiya fuhr herum und blickte direkt in die handtellergroßen Augen eines Wardonk. »Fürchte dich nicht«, sagte das Flugwesen. »Ich bin Himmelstürmer. Die Einzige, die noch fliegen kann.« »Dann solltest du vorsichtig sein, wem du dich anvertraust«, flüsterte die Prinzessin.
Darren stieß einen irritierten Laut aus. B-ama kicherte und kraulte den Wardonk hinter den zitternden Ohren. »Habt keine Angst! Dieses Knurren ist ihre Sprache.« »Knurren?«, stieß Darren hervor. »Oder Schnauben, wie du willst«, meinte B-ama. »Du meinst, sprechen«, brummte Darren. Seiya nickte. »Sie kann fliegen. Das hat sie mir gerade gesagt.« »Was sagst du da?« B-ama hob die Hand zu ihrem Mund. »Sie verstehen unsere Sprache, B-ama«, schnarrte der Wardonk. »Das Leid in ihren Herzen öffnet ihre Sinne. Wir alle sind Leidende.« Nun wirkte B-ama sichtlich erschüttert. Ihr Mund klappte auf und zu. Sie zog die Nase hoch, setzte Daumen und Zeigefinger an und rotzte einen gelben Schleimbatzen aus. »Das darf nicht sein!«, murmelte sie. »Nur wir B-arbs kennen die Sprache der Wardonks.« Himmelstürmer stupste B-ama in den Rücken. »Ihre Gesinnung ist es, die ihnen das gute Gehör gibt. Diesen beiden Menschen kannst du vertrauen. Dein Geheimnis ist bei ihnen sicher. Sie sind daran gewöhnt, Geheimnisse zu bewahren, denn sie haben hinlänglich eigene.« B-ama warf einen schnellen Blick um sich. Dann flüsterte sie: »Dass sie fliegen kann, ist nicht ihr einziges Geheimnis. Himmelstürmer ist trächtig.« Das Flugwesen nickte. »Darauf bin ich stolz.« »Ein paar von uns haben sich entschlossen, die Wardonkzucht an geheimer Stelle fortzuführen«, fuhr B-ama fort. Andere Wardonks drängten sich hinter ihr an das Gatter. Sie brummelten wild durcheinander. Ihre gazeleicht wirkenden Flügel hingen schlaff herab. Dennoch schienen sie bemüht, ihre Würde zu bewahren. Traurigkeit legte sich über Seiya. Sie strich Himmelstürmer über die warmen Nüstern. B-ama drückte sich an sie und legte ihr die Arme um die Hüften. Himmelstürmer stupste Seiya sanft an. Ihre Zungenspitze tupfte vorsichtig über ihre Wangen. »Erledigen wir den Mistkerl und machen wir, dass wir weiterkom-
men«, knurrte Darren. »Wer weiß, wo As'mala inzwischen ist, und in welchen Schwierigkeiten sie steckt.« Seine weiteren Worte gingen im ohrenbetäubenden Lärm dröhnender Motoren unter. Eine Sandwolke rollte heran. B-ama stieß einen quiekenden Laut aus, ihre Ohren zuckten wild. Die Wardonks liefen erschrocken durcheinander. Himmelstürmer machte einen Sprung vom Gatter weg, ließ den Kopf sinken, ihre Flügel hingen schlaff herunter, die großen Augen schlossen sich halb. Sie unterschied sich in nichts mehr von den anderen. »Das sind Damper!«, rief B-ama. »Die Groomer kommen!«
3. Es roch nach feuchtem Stroh. Darren kniete neben Seiya nieder und blickte wie sie durch einen Schlitz zwischen den Holzbalken. Sonnenstrahlen wiesen ihnen den Weg. Im Licht tanzten Staub und Heu. Zwei Maschinen mit zwei dick bereiften Rädern rasten durch den Staub heran. Der Sitz befand sich knapp hinter dem Lenker. Hinten ragten vier knatternde Rohre nach oben, aus denen schwarzer Qualm quoll. »Sie verfügen über Alulonium! Sieh, wie es glänzt!«, wisperte Darren, vergaß die Gefahr und betrachtete die Maschinen fasziniert. »Daraus kann man fast alles formen. Ein sehr widerstandsfähiges Metall.« B-ama stand draußen und erwartete die Groomer, die dicht vor ihr anhielten. Die Männer stiegen ab und bauten sich breitbeinig vor der Zwergenwüchsigen auf. Einer trug eine Waffe. »Die Armbrust ist ja fast größer als der Kerl selbst!«, bemerkte Darren trocken. Tatsächlich war derjenige mit der Waffe nur etwa halb so groß wie sein Partner. Die dichten Haare waren eingefettet und im Nacken mit einem Ring aus Metall zusammengefasst. Eine dunkle Brille nahm mehr als die Hälfte des runden Gesichts ein. »Ein B-arb …«, hauchte Seiya. »Quergelegte Pfeilspitzen! Perfekt für die Menschenjagd! Gehen durch menschliche Rippen wie durch Butter. Eine dreifache Puicantinny-Schiene, das Zielfernrohr mit Strichplatte …«, analysierte Darren. »Da braucht es keine Körpergröße, um perfekt zu töten.« Die Groomer waren in glänzendes schwarzes Leder gekleidet. Die kragenlosen Jacken waren zugeknöpft. Die eng anliegende Hosen steckten in Schnürstiefeln mit Metallspitzen. »He, B-arb-Frau!«, sagte der Große, der einen flachen schwarzen
Helm mit einem roten Motiv darauf trug, das Seiya irgendwie bekannt vorkam. »Ein Ox-Zeichen«, flüsterte Darren, als habe er Seiyas Gedanken gelesen. Ja, dieses Zeichen kannte sie. Ihr Bruder hatte ein Lieblingsbuch gehabt (Tainon, der einst liebe Bruder, bis sein Wahnsinn ausbrach), dessen Titelbild ein Knochenmotiv zeigte, das Os. Darren wisperte weiter: »Die Legende sagt, dass die Warner ihrem Herrn Corundur nach dem Tod ihre Gebeine an ihn verehren. Aus Stolz und Überzeugung zeigen sie oftmals dieses Motiv. Sogar hier gibt es Anhänger der Sekten.« »Das Holz liegt bereit, wenn ihr es holen wollt«, sagte B-ama und wies auf die hohe Mauer aus Stämmen. »Deswegen sind wir nicht hier. Ihr beherbergt Fremde«, erklärte der Große und nahm die dunkle Brille ab. Er blinzelte nicht eine Sekunde. Seine Augen leuchteten im grellen Sonnenlicht wie gefrorene Murmeln. Er lächelte scheinbar sanft. »Ich weiß nicht, wovon du sprichst«, erwiderte B-ama. »Mutige kleine Frau«, grinste der Mann. »Aber bedenke: Mut ist nur daran zu messen, wen man und wen man nicht auf seiner Seite hat. Wir können auf deiner Seite sein. Meister Groom wird sich gnädig zeigen.« »Also, wo sind sie? Wo hast du die Fremden versteckt?« Der Kleine rieb sich mit der Spitze des Zeigefingers über die Lippen. »Wir können das Dorf befragen. Und du weißt, was dann geschieht. Man wird dich verraten.« »Es gibt nichts zu verraten«, schnappte B-ama. »Doch ihr kennt den Verrat, er geschah schon einmal!«, sagte der Kleine. »Damals zeigte sich, dass die B-arbs ein Volk von Feiglingen sind …« »Dies geschah nur einmal und wird nie wieder geschehen. Das Dorf leidet heute noch deswegen und tut Buße. Und ich werde es gewiss nie vergessen, denn es war mein Sohn, den ich dadurch verlor!«, rief B-ama. Darren und Seiya tauschten einen kurzen Blick.
»Möglich, möglich«, sagte draußen der Kleine und ging auf B-ama zu. Mit einer blitzschnellen Bewegung packte er die Frau am Hosenlatz und riss sie zu sich heran. »Überlegst du, ob du deine Kräfte einsetzt?«, säuselte er. »Vergiss nicht: Auch ich habe diese Kraft!« Sein Griff wirkte unerbittlich. Der große Mann putzte sich derweil umständlich die Brille, sein erstarrtes Lächeln war wie gemeißelt. Er blickte plötzlich dorthin, wo sich die beiden Menschen versteckten. Seiya hatte das Gefühl, sein Blick habe sie getroffen, und wich zurück. »Psst!«, zischte Darren. »Das glaubst du nur. Er kann uns nicht sehen.« »Und wenn doch?« Darrens Atem ging schwer. »Was soll's! Ich gehe sowieso gleich raus und haue den beiden Typen die Birne runter.« Es ging ihm alles zu langsam, er wollte etwas unternehmen. Darren strömte Hitze aus. Die Adern auf seiner Stirn pulsierten. Der große Mann legte den Kopf schräg. Er nickte, dann grinste er breit. »Lass die Kurze in Ruhe. Wir haben sie.« Er deutete auf das Versteck. Darren sprang auf. »In Ordnung! Jetzt geht es los.« »HALT!«, scholl es von draußen herein. Darren kehrte zur Wand zurück, und Seiya spähte ebenso wie er angestrengt durch die Schlitze. »Passt auf!«, rief B-ama. »Da drin ist ein kranker Wardonk. Es ist lebensgefährlich, sich ihm zu nähern!« Sie riss sich von dem Kleinen los. Ihre schwarzen Haare standen wie Drähte von ihrem Kopf ab. Ein Träger der Latzhose war gerissen. »Was du nicht sagst.« Der Große spuckte aus und ging auf die Scheune zu. »Dann werde ich das dumme Vieh mal von seinem Leid erlösen.« Darren zog das Messer aus Kreischerstahl. Seiya packte seinen Arm. »Noch nicht«, zischelte sie. »Gib ihnen die Chance, ihren Mut zu finden. Ich glaube, das ist der entscheidende Moment …« »Warte!«, sagte draußen jetzt auch der Kleine. Er rieb sich die Finger. Offenbar hatte es ihm einige Schmerzen bereitet, B-ama loslas-
sen zu müssen. Außerdem schwitzte er. »Das kannst du nicht tun, Valdoo! Die Wardonks sind einzigartig und von hohem Nutzen und Wert! Meister Groom hat sie deswegen am Leben gelassen!« Die Wardonks drängelten sich ans Gatter. Ihre großen Augen schimmerten feucht. Himmelstürmer rief: »Kehre zurück, böser Junge!« Der B-arb nahm nun ebenfalls seine dunkle Brille ab und trat an das Gatter. Er kletterte auf die mildere Strebe und beugte sich vor. Seine Fingerspitzen glitten über das rote Gebein der Wardonk, strich sanft über ihre Nüstern. »Du bist das Elend deiner Mutter!«, schmetterte Himmelstürmer über den Platz. »Du solltest deinen Brüdern und Schwestern verzeihen. Komm zurück zu uns! Was war, wird nie wieder geschehen! Dein Leid lässt dich meine Sprache wieder verstehen!« »Bist du übergeschnappt?«, fauchte der andere. Er ging auf den Barb zu. »Wir müssen Grooms Auftrag erledigen. Also los jetzt, oder du wirst es bereuen.« Wie von der Feder geschnellt, fuhr der Kleine herum, sprang vor und schlug zu. Der Groomer taumelte rückwärts, rieb sich das Kinn. Seine Augen weiteten sich ungläubig. »Du wirst es bereuen!« Der Zwergenwüchsige setzte nach, schlug blitzschnell ein zweites Mal zu, und die Nase des Großen brach, Blut spritzte. Doch der Angegriffene gab sich nicht lang dem Schmerz hin, sondern griff mit einer fließenden Bewegung in die Lederjacke und zückte ein Messer. In diesem Augenblick kam B-ama heran, eine Ladung geballte Kraft. Sie riss den großen Mann von den Füßen, trat ihm kraftvoll in den Unterleib und knallte ihre Hacke in seinen Nacken. Der Groomer krümmte sich wimmernd. »Meinem Sohn drohst du nicht ungestraft«, knurrte sie. Dann blickte sie den jungen B-arb streng an. »Kehrst du zu uns zurück?« »Ja …«, nickte der Kleine. »Aber zuerst muss ich etwas erledigen. Daran wirst du mich nicht hindern.« B-ama atmete einmal tief durch. »Also gut«, gab sie nach. »Ich will dir vertrauen. Aber komm zurück! Dann werde ich dir auch verzei-
hen, wie du mich festgehalten hast.« »Und ich werde dir vielleicht verzeihen, was geschehen ist.« B-amas Sohn packte den Großen und riss ihn hoch. »Gehen wir.« Der Mann war viel zu sehr von Schmerzen geplagt, um sich zu wehren. »Ich werde Meister Groom alles berichten, und du wirst büßen«, keuchte er. »Ich habe ihm auch einiges zu sagen, und den Rest werden wir sehen«, erwiderte der junge B-arb und setzte den Großen auf den Damper. Kurz darauf waren beide in einer Staubwolke verschwunden.
* Die Männer kehrten aus dem Wald zurück, aufgeschreckt von den Motoren der Damper. Alte und junge B-arbs umringten B-ama. Stimmen schwirrten durch die Luft. Darren und Seiya, die hinzukamen, wurden neugierig beäugt und von B-ama in die Geschichte mit einbezogen. Lange Zeit ging es durcheinander, immer wieder musste von vorn begonnen werden. Die B-arbs waren aufgeregt und völlig durcheinander über die unerwartete Wendung ihres Lebens und die unglaubliche Tat B-amas und ihres Sohns. Allgemein wurde vermutet, dass die beiden Menschen die Änderung verursacht hatten, wohingegen B-ama darauf beharrte, sie habe nur ihren Sohn schützen wollen, und dieser umgekehrt endlich erkannt hatte, wie irregeleitet er war. Weinflaschen wurden geöffnet. Seiya und Darren lernten B-ohlo kennen, den Mann der gefeierten Heldin. Ein Kerl wie ein Quaderstein. Das Gesicht stoppelbärtig, die schwarzen Haare buschig wie die Augenbrauen, ein voluminöser Bauch. Die augenscheinliche Fettleibigkeit täuschte nur kurz über die gewaltigen Muskeln der Schultern, Arme und Beine hinweg. Zwei Reihen weißer Zähne, Apfelwangen, fröhliche Augen, die im Stolz auf seine starke Frau glänzten. »Ist sie nicht …«, setzte er immerfort an. »Ist sie nicht …« Dann
fehlten ihm die Worte. »Einzigartig!«, meinte ein anderer, dem die Haare vom Kopf geflohen waren und sich am Kinn niedergelassen hatten. Die Glatze war braungebrannt, der Bart hellblond, was einen interessanten Kontrast zum strahlenden Blau der Latzhose bildete.»Ein prächtiges Weib, mein Lieber!« Er haute B-ohlo auf den Rücken. Dann lachten die Männer dröhnend und weitere Weinflaschen wurden entkorkt und geleert: Ein gezielter Schlag mit der Hand unter den Flaschenboden, und schon ploppte oben der Korken heraus. Speisen wurden zum Grillplatz gebracht, Männer schleppten – einige von ihnen ziemlich torkelnd – Holzbalken zum Sitzen heran. Honig, Pudding, Hühnerkeulen, eingelegtes Fleisch und weitere Leckereien wurden in Schalen und Schüsseln herumgereicht; Seiya wusste bei den meisten Spezialitäten nicht, worum es sich dabei handelte, doch sie verzehrte alles mit Begeisterung. »Ist B-awig immer noch so hübsch, wie er als Kind war?«, fragte eine B-arb-Frau B-ama. »Hübscher!«, antwortete B-ama stolz. »Ich habe gehört, dass er dein Sohn ist«, sagte Seiya, die neben ihr saß. »Was ist geschehen?« Diesmal bekam sie die ausführliche Antwort. »Groom hat unseren Sohn beeinflusst«, erklärte B-ama. »B-awig war ein so lieber Junge. Bis er anfing zu träumen. Im Gegensatz zu uns schien Groom bei Bawig keine Alpträume, sondern das genaue Gegenteil zu bewirken. Unser Sohn konnte von diesen Träumen nicht genug kriegen. Irgendwann begann er, von Groom zu schwärmen. War richtiggehend versessen nach diesem Kerl. Versuchte, uns zu bekehren! Groom meint es nur gut! Groom ist klüger ab alle! Groom wird für eine neue Blütezeit sorgen! Und noch mehr Unsinn. Einige hielten ihn für verrückt, andere für einen Verräter. Unfrieden breitete sich aus, und B-awig wurde ins Abseits gedrängt … schließlich lief er weg und trat in Grooms Dienste.« »Einfach so?«, hakte Darren nach. »Nein – nicht einfach so …« B-ama schlug die Augen nieder. B-ohlo stieß einen knurrenden Laut aus und knallte den leeren Be-
cher auf das Holz. »Wir alle haben Fehler gemacht, und das kostete uns unseren Sohn!« Darren schwieg. Seiya ermunterte B-ama, weiterzuerzählen. »Sprecht darüber, nur so könnt ihr euer Leid eines Tages verkraften.« »Eines Tages kamen sie in unser Dorf, die Groomer, und holten unseren B-awig …«, setzte B-ama an. »›Sollen wir ihn zu uns nehmen?‹, haben sie gefragt. ›Ist das auch euer Wille? Meister Groom möchte diesen Jungen bei sich haben, aber nur dann, wenn ihr alle einverstanden seid. Teilt auch ihr Meister Grooms Meinung, dieser B-arb wäre ein guter Jünger für ihn? Wollt auch ihr Meister Groom gefällig sein? Seid ihr dankbar, dass dieser Junge euer Dorf verlässt?‹« »Und da haben wir ihn ziehen lassen«, gestand B-ohlo mit Tränen in den Augen. »Wir haben geglaubt, er wäre unrettbar in Grooms Träumen verloren und wollten, dass er wenigstens am Leben bleibt! Außerdem war es sein Wunsch, er wollte zu Groom!« B-ama fuhr voller Scham fort: »Ich verabredete mit B-awig, dass er bei der nächsten Rückkehr in den Wald geht, damit wir reden können. Zweimal ist er gekommen und wieder gegangen, er wollte nicht mehr zu uns zurück, beschimpfte uns … mich … als Verräter. Und gestern … kam er nicht …« »Aber heute«, unterbrach Darren. »Und das war der entscheidende Moment, der ihn zur Vernunft brachte …« In diesem Moment fiel ein Schatten über das Dorf, und ein Luftschiff schob sich über die Baumwipfel heran. »Verdammt«, fluchte Darren neben Seiya und erhob sich mit einem Ruck. Dabei riss er seinen Weinbecher um. Der Inhalt ergoss sich rot auf das Holz. Die B-arbs gerieten in Panik, Frauen packten ihre Kinder und zerrten sie in die Häuser, Türen schlugen zu. Männer rannten verwirrt durcheinander, ratlos, was sie tun sollten. B-ohlo blieb sitzen. »Die Strafe«, murmelte er. »Nun kommt die Strafe! Groom verzeiht nie.« »Das ist die Pollux«, sagte B-ama zu ihren Gästen, seltsam ruhig.
»Ihr habt sie schon kennengelernt.« Zum ersten Mal konnte Seiya das Luftschiff mit klaren Sinnen in Augenschein nehmen. Ein gigantischer Ballon, mit einem Schiff darunter, das mit mächtigen Ketten und Tauen verankert war. Es erinnerte Seiya an die romantischen Geschichten mit Seeräubern. Der Rumpf war mit Gold verziert, die Luken an den Seiten waren geöffnet. Die menschlich gestaltete Galionsfigur reckte eine Faust drohend empor. Ein Podest war neben der Galionsfigur angebracht, auf dem eine Gestalt stand, die in der Nachmittagssonne glühte, als würde sie brennen. Kleine Rauchwolken stiegen von ihr auf. »Groom«, sagte B-ama. »Der Mann aus Metall.« »Er dampft wirklich«, murmelte Seiya. »Und er ist ein Mensch«, äußerte Darren. »Die Form des Schiffes, die Galionsfigur … nur ein Mensch baut so. Das Schiff ist eine Dschunke, man erkennt es an der Kastenbauweise. Ein flacher Boden, kein Kiel. Auf dem Wasser ein sehr leicht zu steuerndes Schiff. Ich habe einmal ein dreißig Meter langes Exemplar ganz allein gewendet. Das geht, weil die Segel nicht durch Wanten und Stage verspannt sind, sondern von selbst in die richtige Position springen. Eine so große Dschunke wie die Pollux habe ich allerdings noch nie gesehen. Sie muss mehr als eintausend Passagiere fassen können. Ein ideales Schiff für das Meer …« »… und für den Himmel«, fügte Seiya lakonisch hinzu. »Groom hat nicht mehr als fünfzig Männer dort oben. Das weiß ich von B-awig«, versetzte B-ama. Schnaubend und dampfend schob sich die Pollux über das Dorf und verdunkelte die Sonnen. Die Schrauben und Holzpflöcke am Heckruder waren inzwischen deutlich erkennbar, so tief war das Schiff gesunken. B-ohlo richtete sich auf und wirkte nun fast einen Kopf größer. Er zog die Wampe ein und spannte seine Muskeln. Seine Lippen waren ein schmaler Strich, das Kinn energisch nach vorne gereckt. Trotzig stieß er hervor: »Ich will meinen Sohn zurück. Zu den Crockern mit Groom! Ich ertrage ihn nicht mehr. Ich will meine Freiheit und wieder Wardonks züchten. Keine Alpträume und Unterdrückung
mehr!« Wein, Zorn und Verzweiflung ließen ihn jede Angst vergessen. Bohlo legte den Kopf in den Nacken und brüllte seine Herausforderung nach oben. B-ama sprang zu ihm und klammerte sich an ihn. »Hör auf, B-ohlo! Er wird dich sehen, und dann …« »Ist mir egal!« B-ohlo riss sich los. Sein Gesicht war knallrot, seine Augen glühten. »Ich bin ein Mann, der einen Wareiken-Baum pflücken kann. Ich kann einem Hakenschnapper mit bloßen Händen das Rückgrat brechen! Ich wandere drei Tage und Nächte ohne Pause auf der Suche nach dem Grönipilz. Ich bin nicht mehr bereit, mich diesem Monstrum zu unterwerfen!« In diesem Moment brach die Hölle los.
4. Asogal der Dichter hielt die Hand vor das Licht der Kerze, um seine empfindlichen Augen zu schützen. Die Reflexion der Augengläser war unerträglich. Sie waren trübe, alt und verbraucht, genau wie er. Asogal liebte die Erinnerung. Doch sie fiel ihm schwer und schwerer, seitdem er in Lakara bei den Lumini gewesen war. Lumini? Richtig. Geheimnisvolle Frauen, die einige Tagesmärsche entfernt in der Schwimmenden Stadt lebten. Heute war ein guter Tag. Noch eine Erinnerung fand sich ein, wie eine gute alte Freundin. Asogal kostete sie wie eine süße Frucht, ließ ihren Geschmack auf seiner mentalen Zunge zergehen. Die Dienste der Lumini waren teuer gewesen. Aber die Frauen hatten ihm seine Fragen beantwortet. Welcher Geschäftszweig wird mich reich machen? Wie muss ich das bewerkstelligen? Was bringt mehr Gold? Wardonk- oder Orgavogelhandel? Kann ich wagen, mehr zu wollen? Ist es mit meiner Philosophie vereinbar, mein Kapital zu mehren? Lumini waren in der Lage, sich in den Informationsstrom des Zentralarchivs einzuklinken und dort Daten abzuzapfen. So konnten sie ihren Kunden alle Antworten geben, die jene wünschten. Was Asogal unterschätzt hatte, war, dass die neuen Informationen einige seiner alten ersetzt hatten. Er hatte gewusst, dass dies geschehen konnte, es aber ignoriert, weil es nicht zwangsläufig geschehen musste. In seiner Gier hatte er geglaubt, den Preis nicht zahlen zu müssen. Tophel hatte sich mehr als einmal köstlich über seinen damaligen Größenwahn amüsiert. Asogal hatte die Antworten auf seine Fragen erhalten, aber dabei geistigen Schaden genommen. Es begann damit, dass er sich nicht mehr an seine Familie erinnerte und vergessen hatte, wo seine Heimat lag. Aber es war auch etwas hinzugekommen: die Gabe der
Weissagung. Diese Gabe, wegen der nun er aufgesucht wurde. Wegen der man ihm Fragen stellte. Kalte Seelen haben ein Gedächtnis, fühlende Seelen eine Erinnerung, resümierte Asogal, kurz, bevor ihn dieser Gedanke wieder verließ wie ein flüchtig vorbeischauender Gast. Trauer blieb. Darüber, dass das Fühlen zerronnen war. Er fühlte sich schwach wie nie zuvor. Müde und ausgezehrt. Er ahnte, dass er an der Schwelle der allergrößten Absurdität stand. War das Leben bereits eine, so war der Tod eine noch größere. Die Lumini! Was waren sie doch gleich? Ein seltsames Wort, wieso fiel es ihm jetzt ein? Und wie kam er nur auf den Gedanken, sein Verstand könne irgendwann Schaden genommen haben? Das musste an dem schlechten Licht liegen. An den Kopfschmerzen, unter denen Asogal litt. Nicht an Geistesverwirrung. Denn wie könnte ein ungesunder Geist so kluge Dinge schreiben, wie der Dichter es tat? Das war ein Paradoxon, eine widersprüchliche Aussage, eine – Antinomie! Richtig: Könnte er solche Wörter wissen, wenn er nicht gesund wäre? Würde Tophel ihn sonst besuchen, um mit ihm zu diskutieren? Asogal gluckste und zündete eine weitere Kerze an. Seine Augen verlangten nun im Gegensatz zu vorher nach mehr Licht. Er beugte sich über das Papier und tauchte die Feder in die Tinte. Dann wartete er. Was geschehen sollte, würde geschehen. Die Sätze würden aus seiner Feder strömen, und seine Erinnerungen, Wünsche und Philosophien wären festgehalten für die Nachwelt. Vor allem für diesen sonderbaren, Mitleid erregenden Mann, der auf einem fliegenden Schiff lebte. Der Asogals sämtliche Texte las und bewunderte. Yimak Groom, so hieß er doch? Er musste ein trauriger Mensch gewesen sein, damals, als er noch ein Wesen aus Fleisch und Blut war. Asogal versuchte, sich Groom als Kind vorzustellen, als Tophel in den zuckenden Schatten trat, den die Kerze an die Höhlenwand warf. »Sei gegrüßt!« Asogal nickte dem Gehörnten zu. »Und berichte mir, wo ich neue Augengläser her bekomme!«
»Vielleicht, mein Lieber, verlierst du nicht nur deine Sehkraft, sondern auch deinen Verstand?« »Gut so«, schmunzelte Asogal. »Das wäre wenigstens ein Beweis!« Der Gehörnte legte fragend den kahlen Schädel schief. Asogal lachte leise. »Viele verlieren den Verstand deshalb nicht, weil sie keinen haben.« »Aha.« Eine Weile warfen sie sich Bälle aus Worten zu, bis Schweigen eintrat und jeder in eigenen Gedanken versank. So war es oft. Sie reizten sich auf eine Art, die ein Außenstehender als Streit aufgefasst hätte, spannen ihre intellektuellen Fäden, bewegten ihre Ideen hin und her, wie der Wind die Blätter auf einem See, sonderten aus, resümierten und fingen nach einer Pause erneut an, über dieses oder jenes zu exkursieren. Asogal hielt sich an die Pflicht des Philosophen, zuerst zu denken, dann zu reden. Das Leben bot zu wenig Zeit für dumme Sätze. »Da gibt es einen Mann …«, begann Asogal. schließlich wieder und starrte an Tophel vorbei in die Dunkelheit. »Er hat eine Gefährtin. Sie besitzt die Sonnenkraft. Damit ist sie das Zünglein an der Waage. Sie ist jene, die …« »Weilst du wieder in der Zukunft?«, wollte der Gehörnte wissen. »Sprichst du vom Erscheinen des ewigen Dur, dieses abstrakten Gottes, der nicht bewiesen ist? Ich, lieber Asogal, bin! Ich bin beweisbar. Ich frage dich: Warum eine Welt in Schutt und Asche legen, warum Menschen und sich mit Ideen quälen, wenn nichts, außer einer Annahme, dahinter steckt? Wegen der romantischen Idee eines übergeordneten Wesens, welches einen Spalt im Universum öffnet? Pah!« Asogal antwortete heftig: »Es wird geschehen! Ich habe es gesehen! Es wird unvorstellbares Grauen über Less und das Universum kommen, das nichts ist gegen deine Gabe der Düsternis.« »Das ist sicher?« »Nein!« »Nein? Was nützt deine Weissagung dann?« »Es ist ein Strang der Zukunft, es ist eine Möglichkeit!« Asogal lä-
chelte knapp. »Und nun schweig, Gehörnter! Du hast unterbrochen, was über mich kommt! Gedulde dich eine Weile. Wir werden unser Gespräch fortführen, wenn die Weissagung beendet ist. Ich kann sie nicht aufhalten …« Asogal hielt seine Stirn zwischen den Handflächen, die Ellenbogen auf die Tischplatte gestützt. Auf seinem asketischen Gesicht reflektierten Kerzenschatten. »Ein Mann. Ein Mann, der viel erlebt hat. Und da ist … ein Problem mit seinem Vater. Ein Problem mit seinem Freund. Ein Problem mit sich selbst. Er hat eine wichtige Aufgabe. Und er wird … er wird … oh, er wird … sterben!« Tophel kicherte im Hintergrund. »Gut, sehr gut … tut ihr das nicht alle irgendwann? Es ist eine Ferne, die war, von der ihr kommt«, flüsterte er. Seine Stimme klang wie das Klicken von aufbrechendem Eis. »Es ist eine Ferne, die sein wird, zu der ihr geht. Ihr alle – ohne Ausnahme.« »Der Mann ist nicht allein. Eine Frau ist bei ihm. Eine Prinzessin. Sie ist bezaubernd, doch sie hat Schreckliches durchgemacht. Das meiste davon weiß sie nicht mehr, aber es wird immer bei ihr sein, ganz tief in ihr verborgen. Sie leidet! Leidet an dem, was sie erlebte. Und sie fühlt sich schuldig! Beide fühlen sich schuldig. Auch das ist es, was sie verbindet. Ein Mann und eine Frau, inmitten des Chaos. Sie suchen … sie suchen … ah, ich sehe schon … und da ist die Verbindung … alles fügt sich zusammen.« Asogal zog die Feder aus der Tinte und schrieb wie besessen, mit völlig ausdrucksloser Miene. Oft endeten seine Weissagungen in einem Wust an Wörtern, die er eilig hinkritzelte. Schließlich steckte er erschöpft die Feder zurück und legte die Handflächen auf die Tischkante. Seine Augen waren trüb und leer. »Werden sie finden, was sie suchen?«, fragte Tophel. Der Kopf des Alten fuhr hoch, sein Blick klärte sich. »Über was haben wir geredet?« Tophel setzte sich zu ihm und legte dem Alten die Hand auf den Arm. »Es ging darum, ob man findet, was man sucht!« Asogals Augen verschwammen. »Es ist immer beides in uns: Leben und Tod, Wachen und Schlaf, Jugend und Alter. Wie also sollte
ich diese Frage beantworten?« Der Dichter runzelte die Stirn, als lausche er seinen eigenen Worten nach. »Was gibt es noch zu sehen, Tophel? Welches Bild wartet? Welcher Sonnenaufgang? Welche Frage ist ungestellt?« Der Gehörnte bewegte die Lippen, als wolle er etwas entgegnen, schwieg jedoch, dann zog ein verstehendes Lächeln über sein Gesicht. »Du begreifst mich, Verneiner! Hast dies schon immer getan.« Asogal seufzte. »Du warst ein guter Freund …« Sein Kopf sank vornüber auf den Tisch, und er starb. Tophel strich dem Alten sanft über das schüttere Haar und lächelte.
* B-awig klammerte sich an die Reling. Seine schwarzen strohigen Haare hatten sich gesträubt wie die einer zornigen Maukatze. Der Mann aus Metall, der auf dem Podest stand, lachte so laut, dass man es weithin hören konnte. B-ama war verzweifelt. »Ich hätte ihn nicht gehen lassen sollen! Ich habe es geahnt! Was hat er sich nur wieder dabei gedacht?« »Hört zu!«, dröhnte Grooms Stimme. »Ihr habt es gewagt, gegen unsere Vereinbarung zu verstoßen. Und nicht nur das – ihr habt mich angegriffen! Ihr habt mich verraten, und ihr habt euren eigenen Artgenossen verraten, indem ihr ihn dazu gebracht habt, die Schmutzarbeit für euch zu erledigen! Dachtet ihr, das ließe ich euch durchgehen? Die Strafe darauf lautet: Tod dem Schuldigen!« Darrens starrte mit zusammengepressten Lippen nach oben. Seiyas Finger krallten sich in seinen Arm, als sie das schreckliche Urteil hörte. Die beiden Menschen versteckten sich nicht mehr, wozu auch. Der Kampf stand kurz bevor. Groom würde nicht mehr lange zaudern. Er würde den Widerstand seines ehemaligen Jüngers brechen. Und B-awig würde springen müssen.
»Verdammt!«, zischte Darren und schloss die Augen. Sein Gesicht wurde hart und bleich vor Konzentration. Seiya ahnte, dass er versuchte, B-awig telekinetisch von der Pollux zu holen. Doch er musste erschöpft aufgeben. »Ich bin immer noch blockiert«, sagte er resigniert. »Irgendetwas hindert mich …« Seiya konzentrierte sich darauf, ihren Eisatem auszustoßen, doch sie brachte es nicht zustande. Es war, als würde sie gegen eine Mauer rennen. Sie glaubte nicht, dass es an der Veränderung des Himmels lag, sondern an Grooms Einfluss. Seine Alpträume hatten die Blockade aufgebaut, damit er leichteren Zutritt bekam. B-ama rang die Hände und rief: »Bitte, Groom! Nimm mich! Ich habe deinen Groomer geschlagen, B-awig ist unschuldig! Bitte lass meinen Sohn leben! Ich unterwerfe mich deinem Urteil, denn ich bin schuldig, nicht er!« Sie fiel auf die Knie. Der kantige B-ohlo neben ihr stöhnte in ohnmächtiger Wut. »Der Kleine hat mir etwas ganz anderes erzählt!«, gab Groom kalt zurück. »Er will nicht mehr bei mir bleiben. Nun gut, also werde ich seinem Wunsch entsprechen …« »Verflucht sollst du sein …«, knurrte Darren. »Bitte! Nein! Verschone ihn!«, scholl es aus jetzt vielen Kehlen nach oben. Grooms Lachen hallte aus der Luft über das Dorf wie der Schrei eines Raubvogels, bevor er auf seine Beute herabstürzt und sie mit scharfem Schnabel tötet. B-awig hielt mühsam die Balance. Er sagte etwas zu Groom, das hier unten nicht mehr verständlich war. Und Groom lachte erneut. Der Junge klammerte sich an das Holz, seine Haltung drückte Widerstand aus. Er weigerte sich, zu springen. »Groom! He, Yimak Groom!« Darren machte durch wildes Gestikulieren auf sich aufmerksam. »Kann ich dich mal was über Gastfreundschaft fragen? Ist es hier so üblich, ungefragt in die Träume seiner Gäste zu schleichen und ihnen harmlose Zwerge vor die Füße zu werfen?« Groom lachte heiser. »Ein Komiker, wie? Komm rauf zu mir, und ich werde dir alles erklären!« Die Stimme klang nun fast sanft, dun-
kel und angenehm. Die Pollux sank noch tiefer und B-awigs trotziges Gesicht wurde deutlich erkennbar, der sich nach wie vor krampfhaft festhielt. Ein überwältigender Gestank nach Öl, modrigem Holz und Verwesung senkte sich auf das Dorf herab. Yimak Groom trug keine Rüstung aus Metall – er bestand zum Großteil daraus, einem Biomechanoiden nicht unähnlich. Die Nase war durch eine Metalltülle ersetzt worden, eine Gesichtshälfte wirkte wie von einer ungeschickten Hand aus einem Stück Blech geformt. Gelockte braune Strähnen verdeckten einen Teil des verunstalteten Gesichts. Die Arme waren ebenfalls teils mechanisch, die Gelenke in Rollen gelagert. Aus dem Kragen entwichen kleine Dampfwolken. Grooms Unterkörper bestand aus grauem Rohr, das am linken Oberschenkel befestigt war, mit einer vollständigen Beinprothese. Erstaunlich behände sprang Groom auf die Reling und wies einen Helfer an, eine Strickleiter auszurollen. Er machte eine auffordernde Geste. »Na los, Darren Hag! Wir haben viel zu bereden. Ich habe lange auf dich gewartet.« »Woher kennst du meinen Namen?«, fragte Darren verdutzt. »Du sollst alles erfahren. Nimm meine Einladung an, die übrigens auch für deine liebreizende Begleiterin gilt. Entscheidet euch! Entweder, der Kleine springt, oder ihr kommt an Bord.« Darren schüttelte den Kopf. »Ich komme, aber allein.« »Das war keine Option, mein Freund, sondern eine Bedingung. Ich verhandle nicht.« Groom streckte die Hand aus, als wolle er B-awig jeden Moment herunterstoßen. »Ich gehe mit!«, sagte Seiya hastig. »Aber halte dich an deine Vereinbarung!« Darren zögerte, doch Seiya hob die Hand. »Meine Entscheidung, nicht deine Verantwortung.« Bevor er etwas sagen konnte, griff sie nach der Strickleiter und fing an, sich hochzuhangeln. Kaum hatte Darren seinen Fuß hineingesetzt, ging die Pollux wieder in die Höhe. Seiya hatte keine Schwierigkeiten, in luftiger Höhe und bei Fahrt eine Strickleiter hinaufzuklettern. Sie war in einem durchlöcherten
Monolithen aufgewachsen, und auch wenn es verboten gewesen war, über die äußeren Steilhänge zu klettern, waren solche Spiele das größte Vergnügen der Kinder gewesen. Erst recht wegen des Verbots. Die Prinzessin war absolut schwindelfrei, sie konnte über schwankende schmale Stege balancieren, sich sogar mit einem Tau über einen Abgrund schwingen. Die Bewegungsmöglichkeiten im Monolithen waren selten horizontal, und ein guter Gleichgewichtssinn und Geschicklichkeit in den Genen der Einwohner verankert. Seiya kam flink und schnell nach oben und schmunzelte unwillkürlich, weil Darren unter ihr schwitzte und fluchte; nun gut, er war natürlich auch etwa fünfzehn Jahre älter als sie und sehr viel größer und schwerer. Plötzlich packte sie jemand am Kragen, und sie wurde emporgerissen und auf Holzplanken abgestellt. Die Prinzessin starrte in die Augen eines Hünen. Flach, plump, grinsend mit Zahnlücken. »Willkommen an Bord!«, hörte Seiya eine Stimme hinter sich. Sie fuhr herum. Aus der Nähe wirkte Groom nicht weniger bizarr. Sie konnte jede einzelne Niete und Schraube sehen, die ihn zusammenhielt. Der Qualm, der aus zwei Rohren hinter seinem Nacken stieg, stank nach Schweiß und heißem Öl. Inzwischen war auch Darren angekommen und schüttelte sich wie ein Hund. Seine Haare standen wirr vom Kopf, Schweiß rann ihm über das Gesicht. Er musste es hinnehmen, dass sie ihm die Waffen abnahmen; Seiya zweifelte allerdings nicht daran, dass er irgendwo in den unergründlichen Tiefen seiner Kleidung noch mindestens ein Messer verborgen hatte. Groom deutete über das Hüftgelenk eine schwache, steife Verbeugung an. »Willkommen an Bord! Beginnen wir euren Aufenthalt mit einer vergnüglichen Vorführung.« Er wandte sich B-awig zu, der noch immer an der Reling kauerte, die Knöchel blutleer verkrampft um eine Strebe. Seine Beine zitterten, die Ohren wackelten unbeherrscht. »Spring!«, befahl Groom. Seiya stieß einen Schrei aus. »Nein!« »Nein!«, rief auch B-awig. »Ich werde nicht springen!«
»Deine Eltern warten dort unten, gesell dich zu ihnen«, säuselte Groom. Darren wollte Groom angreifen, aber der Hüne ließ seine Hand schwer auf die Schulter des Mannes fallen und hielt ihn fest. »Wir haben eine Vereinbarung!«, schleuderte Darren dem Mann aus Metall in den Rücken. »Halte dich gefälligst an dein Wort! Du hast uns beide, was willst du noch mit dem Jungen?« Groom fuhr zu ihm herum. Die Überreste seines Gesichts zuckten wie im Krampf. Er spuckte über die Reling. »Die da unten haben sich schuldig gemacht! Feiglinge sind sie. Niemand hatte den Mut, zu B-awig zu stehen. Er verehrte mich, deshalb verriet man ihn. Sie haben vergessen, dass nur dann das Glück am Ende des Weges, am Ende des Handelns wartet, wenn der Mut am Anfang ist. Deshalb müssen sie bestraft werden.« Groom puffte eine große Wolke Dampf aus seinem Nacken und fuhr sich mit Metallfingern über die kalten Augen. Sein Blick krallte sich in Darren und mit eindringlicher Stimme sagte er: »Glaub mir, Darren und merk dir gut: An allem Unrecht, das passiert, sind nicht etwa nur diejenigen schuld, die es tun, sondern auch die, die es nicht verhindern!« »Wer bist du, dass du dir so ein Urteil anmaßen kannst?«, fauchte Darren. »Ich bin Yimak Groom. Ich habe jedes Recht der Welt auf meine Auffassung, mehr als jeder andere!« Er gab dem Hünen ein Zeichen, woraufhin er zu B-awig trat. Groom sah Seiya tief in die Augen. »Der Junge ist ein mutiger Barb. Ein echter Gegner. Er wird sich noch lange wehren. Soll ich ihn verschonen?« Die Prinzessin nickte. Der Blick bohrte sich tief in sie hinein. Ein grauer See, an dessen Grund Monster hausten, die auf Opfer warteten. Jedoch auch Schmerz erkannte sie, und Leid. »Er ist dein Gefolgsmann!«, sagte sie. »Du solltest stolz auf ihn sein!« »Er stellte sich gegen mich. Und er griff seinen eigenen Kameraden an!«, erwiderte Groom. »Natürlich hatte er Ausreden, aber ich frage dich, Darren: Soll man jemanden verschonen, der einen Freund verrät?«
In Darrens Gesicht arbeitete es. Er schwieg. Man lässt nie einen Freund im Stich!, erinnerte sich Seiya an seine Worte. Niemals! Groom nickte dem Hünen zu. Ein Schubs – der junge B-arb rutschte über den Rand, krallte sich an einem Seil fest, seine Beine zappelten über dem Abgrund. Die Todesangst in seinen Augen war für Seiya nicht zu ertragen. Mit einem Aufschrei sprang sie nach vorn, doch der Hüne schlug dem Jungen soeben mit brutaler Kraft auf die verkrampften Finger. B-awig fiel. Ohne einen Laut. Seiya wandte sich mit einem trockenen, mühsam unterdrückten Aufschluchzen ab, und Darren legte seine Arme um sie, drückte sie kurz fest an sich, gab ihr Halt. »Du Monster!«, zischte er, heiser vor Wut. Er ließ die Prinzessin los und zog aus irgendeiner versteckten Falte seines Anzugs ein Messer, das Funken warf, mit sehr schmaler Klinge aus blauem Metall. Er hechtete an dem überraschten Groom vorbei auf den Hünen zu und zog ihm die Schneide quer über das Gesicht. Blut spritzte, der Mann schrie, aber nicht aus Schmerz, sondern Wut. Ein Auge löste sich langsam aus der Höhle und rollte auf die Wange. Gleich darauf wimmelte das Deck von bewaffneten Männern, die einen Halbkreis um Groom, Seiya, Darren und den Verwundeten bildeten. Groom gebot ihnen, zu warten. Mit gierig glitzernden Augen und lüsternem Grinsen beobachtete er das blutige Schauspiel. Der Hüne wischte das Auge mit einer heftigen Bewegung ab, dabei verzog er keine Miene. Offensichtlich konnte er keinen Schmerz empfinden. Er grollte etwas in einer Sprache, die Seiya nicht verstand. Darren machte einen Ausfallschritt, wobei er die lange Klinge aus dem Gürtel des Hünen an sich brachte, und schlug ein zweites Mal in horizontaler Linie zu. Der Hüne stand bewegungslos und grinste einfältig. Aus seiner Augenhöhle strömte Blut über Wange und Kinn, tropfte auf die Uniform. Seine Lippen bewegten sich, er wollte etwas sagen, das verbliebene Auge zuerst fragend, bestürzt und endlich begreifend auf seinen Gegner gerichtet, dann kippte der Kopf ganz langsam, sauber abgetrennt zur Seite, polterte dumpf auf das Deck und rollte vor Grooms Füße. Der Maschinenmann stellte
seinen Stiefel auf den Schädel, bleckte die Zähne zu einem teuflischen Grinsen und nickte Darren anerkennend zu. Der massige Körper des Toten knickte ein wie eine Marionette, der man die Fäden gekappt hatte, und krachte aufs Holz. Groom flüsterte: »Kompliment, mein lieber Darren Hag! Der Zorn verdirbt auch die Besten, nicht wahr?« Darren ließ die blutige Klinge fallen und atmete schwer. Seiya, deren Herz raste, konnte sich denken, was in ihm vorging. Er hätte lieber Yimak Groom den Schädel gespalten, doch das war wegen des Metalls nicht so einfach. Sie versuchte erneut, ihre Psimagie einzusetzen; Groom wäre nicht der Erste gewesen, den sie vereist hätte. Im Labyrinth unter dem Monolithen stand wahrscheinlich heute noch die Eisstatue eines anderen sadistischen Dreckskerls. Doch sie war nach wie vor blockiert. »Aber man muss immer aufpassen, dass der Verstand nicht mit dem Zorn davonrennt!« Darren knurrte leise, mit einem klirrenden Unterton: »Auch deine Zeit kommt, Groom! Das verspreche ich dir, und im Gegensatz zu dir halte ich mein Wort.«
5. Yimak Groom warf einen Scheit Wareikenholz ins Kaminfeuer. Nun war es also soweit. Er war am Ursprung seiner Erinnerung angelangt. Nachdem er so lange geglaubt hatte, dieses Ziel habe sein Leben verlassen, war es jetzt umso stärker erblüht, hatte ihn mit seinem betäubenden Duft umgarnt und schließlich zur Erfüllung seines Traums geführt. Darren und die junge Frau waren abgeführt worden und harrten der Dinge in einer komfortablen Kabine auf dem Vorderdeck. Sie wurden von den besten Männern bewacht, die an Bord der Pollux Dienst taten. Derzeit schliefen sie, betäubt von einer Spritze aus der Ledertasche Doktor Shots. Doktor Shot war an Grooms Seite, seitdem er an ihm sein Meisterstück der Chirurgie vollbracht hatte. Der hagere Arzt war stets in der Nähe seines Lebenswerks, daran gebunden bis an sein Ende. Langeweile gab es für ihn nie, denn die Inspektionsarbeiten waren aufwendig und mussten in kurzen Abständen an Groom vollzogen werden. Jederzeit konnte der Dampfapparat ausfallen, allen Sicherheitsvorkehrungen zum Trotz. Ein winziges verstopftes Ventil konnte zu Grooms Tod führen. Da Abhängigkeit immer eine große Gefahr barg, hatte Groom seine Führungsoffiziere angewiesen, den Doc in derselben Sekunde zu töten, in der ihm etwas geschah. Solange es Groom gut ging, hatte Doktor Shot ein einträgliches Leben und war zufrieden. Warum der Arzt so fatalistisch war, konnte Groom nur vermuten. Anscheinend schmeckte ihm der Schatten der Macht. Was die Zukunft brachte, würde man bald gemeinsam beratschlagen. Möglicherweise einen medizinischen Nachfolger ausbilden. Denn Groom würde seinen Schöpfer vermutlich um viele Jahre überleben. Grooms Männer steuerten die Pollux gegen den Wind über die Ebene. Die Träume der B-arbs interessierten ihn derzeit nicht, da sie
von sich aus mit Leid und Trauer angefüllt waren. Es würde keinen Spaß machen, hindurchzuschreiten. Groom würde bald viel bessere, erbaulichere Träume erleben. Die junge Prinzessin mit ihrem dunklen Geheimnis, an das sie sich nicht mehr erinnerte, und natürlich die Krönung von allem – Darren Hag. Dafür war eine gute Vorbereitung notwendig. Ein Treffen mit dem Gehörnten, dem Freund Asogals des Dichters, war nun unabdingbar. Jemand, der stets verneinte, war ihm nahe und würde ihm die notwendige intellektuelle Stärke verleihen, den schrecklichsten Alptraum von allen zu erschaffen. Groom verließ sein Studierzimmer und schritt mit metallisch klackenden Gelenken hinaus an Deck. Die Besatzungsmitglieder senkten die Blicke oder verbeugten sich vor ihm, bevor sie weiter ihren Dienst verrichteten. Groom befahl, den Gleiter aus dem Rumpf zu holen. Eilends wurde dieser gebracht und aufgeklappt. Der Drachenflieger befestigte den Meister fachgerecht mit Haken, Ösen und einer weichen Unterlage, und wenige Augenblicke später glitten sie über die Ebene durch die Dämmerung. Groom war ein Vogel. Ein Vogel aus Metall. Bereit, den Horizont zu überfliegen, weit hinaus, hin zu einem Ort, der alle Fragen beantwortete, der den Schmerz vergessen machte. Sentimentaler Quatsch, entschied er und orientierte sich neu. »Dorthin!«, dirigierte er den jungen Flieger. »Tiefer!« Unter ihnen erstreckten sich die mit einer Mischung aus Lehm und Holz gedeckten Dächer der B-arbs. Niemand war zu sehen. Die kleinen Fenster schimmerten im Licht der Öllampen. Die Trauer hielt vermutlich alle im Inneren gefangen. Der junge B-arb war ein vielversprechender Novize gewesen. Es schmerzte Groom, diesen netten Bengel eingebüßt zu haben. Zugegeben – die Konsequenz der Strafe war die Mutter des Erfolges, aber vielleicht hätte er dieses eine Mal, nur dieses eine Mal etwas … duldsamer? großmütiger? toleranter? sein sollen? Verdammt, was war los mit ihm? Wurde er weich, nur weil er
Darren Hag dingfest gemacht hatte? Wenn die Zwergenwüchsigen auf dumme Ideen kamen, mussten sie in ihre Schranken gewiesen werden, und zwar mit aller Eindringlichkeit. Endlich! Dort drüben erhob sich der Hügel, der wie eine weiche Kappe die Höhlenöffnung beschirmte, hinter der Asogal seinen Gedanken nachhing und kluge Sätze schrieb. Geschickt landete der Gleiterpilot und binnen weniger Augenblicke war Groom aus dem Geschirr befreit. Die zunehmende Dämmerung schützte Groom und den Piloten vor neugierigen Blicken. Fathom hing dunkel glimmend über dem westlichen Himmel, Meat und Meadow zogen hastig ihre Bahn unter ihm entlang, im Gespann mit den Brudermonden Hades und Orcus. Groom betrat Asogals Höhle und erstarrte.
* Seiya lief um den kleinen Teich. Bunte Blumen erhoben sich zwischen Seerosenblättern, feinsilbrig glitzernde Fischchen sprangen ins Sonnenlicht und versprühten eine hauchfeine Gischt, in der sich ein winziger Regenbogen bildete. Über das Wasser beugte sich eine Blumenesche, die ellenlangen Blätter federten in der weichen Brise, erste weiße Blüten trieben an den Blattstängeln in die Helligkeit hinaus. Ein Schwarm Babyfische gönnte sich im Schatten der Esche eine Ruhepause, faul und träge nach Wasserläufern schnappend, die ihren Spaziergang unerschütterlich fortsetzten. Es duftete nach Blauglöckchen und Rholien, ähnlich wie das Parfüm, das Mama sich vor einem Fest anzulegen pflegte. Seiya mochte das weiße Kleid, das die Mutter ihr angezogen hatte. Heute aber hätte sie lieber ein buntes Kleid angehabt, denn sie wollte mit ihrem Bruder zusammen spielen. Eine kleine Unaufmerksamkeit, und Seiya stürzte, schlug sich das Knie auf und riss ein Loch ins Kleid. Sie weinte. Da war es geschehen, so, wie sie es geahnt hatte! Heute war ihr Pechtag! Trotzig
wischte sie sich die Nase am Rocksaum sauber. Jetzt war das auch egal! Hinter ihr ertönte ein Lachen. Seiya fuhr herum und sah dankbar, dass ihr Bruder da war. Der Schmerz über das aufgeschrammte Knie und das verschmutzte Kleid war vergessen. Wie gut Tainon aussah! Schon ein richtiger junger Mann war er. Dunkle, verwegen vom Kopf stehende Haare, ebenso dunkle Augen, schneeweiße Zähne, die Hände in die Hüften gestemmt. Sie tollten herum und spielten Fangen. Tainon verwandelte sich im Spiel wieder in einen kleinen Jungen, fröhlich und unbeschwert. Seiya liebte ihren Bruder, der zwei Jahre älter war als sie und doch manchmal so viel jünger wirkte. Später, wenn er König wäre, würde sie sich gut um ihn kümmern. Kopfüber sprang er in den Teich. Egal, dass die wertvollen Lederschuhe dabei nass wurden, denn die hatte er selbstverständlich vorher nicht ausgezogen. Er stand bis zum Bauchnabel im Wasser und hielt einen Fisch in Händen. Seiya lobte ihn für seine Geschicklichkeit. »Jetzt lass ihn wieder zurück ins Wasser!«, rief sie. Ihr Bruder lachte nur. Ein herzliches Lachen. Und doch eines, bei dem Seiya jählings eine Gänsehaut bekam. Der kleine Fisch riss das Maul auf, seine Augen quollen hervor. »Bitte, Tainon, quäl ihn nicht! Siehst du nicht, wie er leidet?«, bat Seiya eindringlich. »Ich beiß ihm den Kopf ab!«, kicherte er. »Oder, noch besser, du beißt ihm den Kopf ab! Na los, komm her! Tu, was dein älterer Bruder, der künftige König, befiehlt!« »Nein …«, jammerte Seiya. Schon wieder ist er wütend! So oft ist er wütend! »Lass ihn endlich frei!« »Heulsuse! Bist viel zu feig.« Bitte, Tainon, sei der liebe, nette Junge, der du sein kannst! »Bin ich nicht! Aber ich quäl keine Tiere!« Tainon lachte und schob sich den Kopf des Fisches in den Mund. Er biss zu, zerrte den Fisch hin und her, dessen Körper wild zuckte. Blut rann aus Tainons Mundwinkel, dann spuckte er den Fischkopf
aus wie einen Pflaumenkern und warf den Kadaver zurück ins Wasser. »Na, bin ich mutig?«, rief er stolz und herablassend gleichermaßen, die Hände erhoben wie der Sieger einer Schlacht. »So was bringst du nie fertig, du bist schwach!« Seiya weinte. Sie atmete schwer, drehte sich um und lief ins Schloss. König Leeon und Königin Randra wollten wissen, was geschehen war, aber die Geschwister hielten immer zusammen. Sie waren Freunde! Seiya verriet nicht, was Tainon mit dem Fisch gemacht hatte, aber die Eltern waren furchtbar wütend über das zerrissene Kleid und schimpften ihn trotzdem, weil er nicht besser auf die kleine Schwester geachtet hatte. »Du bist der Ältere und Vernünftigere!« Das ist er doch nie! Weißt du das nicht, Vater?, dachte Seiya. Tainon erhielt eine »gerechte Prügelstrafe«. Wie ein getretener Hund schlich er dann durch die Gänge, die Hände am Hosenboden, das Gesicht eine starre Maske. Die Augen kalt und blitzend. Das war nicht neu für Seiya und sie war traurig, dass wieder einmal er die Strafe erhielt, die sie herausgefordert hatte. Sie fühlte sich schuldig und bekümmert. Wie immer würde Tainon später grinsen und eine Schnute ziehen, als sei nichts geschehen. Dann würden sie sich anblinzeln. Sie hielten zusammen. Das würde für immer so sein! Und wenn er König wäre, würde Seiya ihm alles zurückgeben, was er in seiner Kindheit verloren hatte. »Wir werden bald wieder ein Spiel spielen!« Tainon blieb stehen und starrte Seiya an. »Ja, ich freue mich schon drauf«, sagte Seiya. »Willst du wissen, wie es heißt?«, grinste Tainon und seine Stimme hatte etwas Lauerndes. »Ja!« »Es heißt: Wer nicht aufpasst, der muss sterben!« Damit ließ er sie stehen. Seiya biss sich auf die Unterlippe. Und Düsternis an Wänden, die vertraut und doch nicht vertraut waren, deren Struktur verwirbelte … »Auf wen wartest du?«, fragte Darren und trat hinter dem Kerzen-
leuchter hervor. Er kam auf sie zu und legte die Hand auf ihre Schulter. »Wo kommst du her?« Seiya fuhr zurück und schlug seine Hand impulsiv weg. Der Schreck steckte ihr in den Knochen. »Gegenfrage: Wo kommst du her?«, entgegnete Darren. »Wir sind am selben Ort!«, schlussfolgerte die Prinzessin. »Obwohl ich doch erst sechs Jahre alt bin …« Darren lachte heiser. »Sechs?« »Etwa nicht?« Dann wusste Seiya es. »Nein … nein, natürlich nicht. Gorelus ist nicht dabei, der Schattenspieler, mein Zwillingsbruder. Ich war nie von ihm getrennt, auch wenn ich mit Tainon gespielt habe. Tainon hat ihn gehasst …« Mit geweiteten Augen starrte sie zu Darren hoch. »Es ist Groom, ja? Sein Traum, mit dem er versucht, uns in den Wahnsinn zu treiben. Aber er weiß nichts von Gorelus, weil mein armer, toter Bruder sich in den Schatten verbirgt … selbst jetzt noch …« Darren musterte sie mitfühlend, dann grinste er auf seine vertraute verwegene Art, vielleicht, um sie zu trösten. »Willkommen im Alptraum der Vergangenheit!«
* »Wer bist du?«, war Grooms erste Frage, obwohl sich die Antwort erübrigte. Diese Gestalt war der Gehörnte. In eine rote Robe gekleidet, den Klumpfuß maliziös vorgestreckt, unter dem eng am Schädel anliegenden, mittig gescheitelten Haar zwei weiche Ausbuchtungen an der Stirn, darunter stechende Augen und eine scharf geschnittene Nase. Die Lippen dünn wie Rasierklingen. »Du weißt es, Metallmann!« Die Stimme klang wie ein defektes Ventil im Bugsprit der Pollux. »Aber Namen sind Schall und Rauch.« Hinter der Gestalt lag die Höhle im Schattenlicht verendender Kerzen. Groom entging nicht die Silhouette der Person, die vornüber gesunken am Tisch lehnte.
»Wie heißt du?«, fragte Groom, um Zeit zu gewinnen. Was ging hier vor? Was war mit Asogal geschehen? Schlief er dort hinten am Tisch, oder …? »Such dir etwas aus. Nenne mich Geist, nenne mich Was-ich-bin!« Die Stimme war nun weich und melodiös. »Na also …« Groom beruhigte sich. Die Einleitung klang gut. »Viele Worte für nichts!« »Nenne mich Tophel.« Das war nun äußerst prosaisch. Was mochte Tophel bedeuten? Hatte der Name überhaupt eine Bedeutung? »Was ist mit Asogal?«, knurrte Groom. »Der Alte? Der Dichter? Der Verrückte? Der Suchende und Vergessende?« »Asogal.« »Er ist tot! Gestorben, als er prüfte, erwog, überdachte. Alles Warten ist Warten auf den Tod! Das wusste Asogal. Wusste es alle Zeit, die ich ihn kannte. Er fürchtete sich nicht davor. Er fürchtete sich vor dem Verfall, dem Vergessen. Ich versichere dir, Metallmann: Sein größter Wunsch wurde Wahrheit! Er starb denkend und fühlend!« Tophel stapfte einen Schritt auf Groom zu. Er blieb abrupt stehen, musterte sein Gegenüber und lächelte sanft. Er legte seinen Kopf schief und zog die Nase kraus. Dann schnüffelte er, beugte sich herab, seine Nase fuhr an Grooms Uniform empor. »Du stinkst!« »Was soll das?«, ächzte Groom. Noch niemand hatte ihn in den letzten Jahren so respektlos behandelt. »Du stinkst nach Tragödie! Tod! Rache! Und du stinkst nach Einsamkeit!« Tophels Kopf fuhr hoch, er hüpfte geckenhaft, stemmte die Hände in die Hüften und sagte grinsend, als begutachte er einen Kauf: »Du bist ebenso tot wie Asogal!« »Ich lebe!«, schrie Groom, dem jetzt unheimlich zumute wurde. »Und ich bin der Geist der Zeit.« »Der stets verneint?« So hatte Asogal ihn bezeichnet. »Der weiß und ahnt, mein lieber Metallmann! Drum bin ich derjenige, der dich zu deiner Bestimmung begleitet.«
»Wohin?« Ohne es zu wollen, fragte Groom. Das anschließende Lachen ließ ihn schaudern. »Dorthin, wo du wohnst … Freund Yimak Groom!«
* Seiya folgte Darren. Die Wände waren feucht und es roch nach Schimmel. »Still …«, wisperte Darren. »Hörst du die Stimmen?« »Ja!« Sie stutzte, traute ihren Ohren nicht. »Sie kommen mir bekannt vor …« Sie drückte sich an die Wand. Auf Zehenspitzen schlichen sie noch ein paar Schritte vorwärts. Rechts schimmerte Licht in den Gang. Schemen, lang gestreckt vom Kerzenlicht, bewegten sich über den Boden. Jemand brüllte so laut, dass Seiya zusammenzuckte und Darren sich schützend vor sie schob. »Er wird unser Königreich zerstören!« Vater! König Leeon! Seiya fror plötzlich. »In ein paar Jahren bin ich Fünfzig und habe keinen Nachfolger, wie es das Gesetz vorsieht!« Seiyas Mutter antwortete: »Also gibst du ihm tatsächlich keine Chance?« »Er ist geisteskrank. Das weißt du ganz genau. Dies zu begreifen, zu akzeptieren, hat uns Nächte gekostet und unzählige Worte. Wenn ich mir auch noch so viel Mühe geben würde, ihn in sein Amt als König einzuweisen – er würde versagen! Das ist der Fluch der verdammten Isoliertheit hier in diesem Monolithen!« »Leeon …« »Uns fehlt die Auffrischung von draußen! Wir vererben unser Erbgut untereinander und wundern uns, wenn dabei kranke Erben gezeugt werden. Tainon mag rechtmäßiger Thronfolger sein, aber er ist degeneriert!« »Und wenn …«
»Entschuldige, Randra – wir haben alles miteinander besprochen und vereinbart. Ich folge nur unserem gemeinsamen Plan. Du weißt ganz genau, Tainons Wut hat zerstörerische Kraft. Dafür kann er nichts, aber das entbindet uns nicht von der Verantwortung. Tainon kann seine Psimagie immer seltener kontrollieren. Er ist launisch, wankelmütig und denkt, jeder wolle ihm nur Böses. Wer weiß, wann er das erste Mal jemanden tötet, nur weil er mit ihm nicht … einverstanden ist. Er hat keinerlei Fähigkeit zur Selbstreflexion – er ist … auf seine Art …« König Leeons Stimme wurde leiser. »… ein Monster.« Die Königin weinte. Dann sagte der König mit Worten, die wie Hammerköpfe auf Metall schlugen: »Ich habe den Rat einberufen. Wir haben beschlossen, Tainon von der gesetzlichen Erbfolge auszuschließen und diese auf Seiya zu übertragen.« Darren drehte sich zu Seiya. »Erhielt dein Bruder davon Kenntnis?« Sie nickte traurig. »Das führte letztendlich zum Umsturz …«
* »Wie endet diese Geschichte?«, fragte Groom. Tophel lächelte. »Wenn man sie früh genug enden lässt, gibt es ein gutes Ende.« »Das ist undenkbar!« »Wartet man zu lange, endet sie, wie alle Geschichten, mit dem Tod.« »Mit dem Tod? Und wer wird sterben?« »Wie kommst du darauf, dass ich die Antwort kenne?« »Weil du Tophel bist!« »Das sagt nichts aus.« »Wie konnte es Asogal nur mit dir aushalten, du Klugscheißer?« »Ich hielt es mit ihm aus!« »Ich dachte, er sei dein Freund gewesen.«
»Ich liebte ihn, den alten Vergesslichen. Ich liebte ihn sehr. Ich war sein Freund.« »Das ist schön, denn es ist die Freundschaft, die einen bei Verstand bleiben lässt.« »Das ist wahr und klingt aus deinem Mund nach Resignation. Hast du Freunde, Yimak Groom?« »Nein.« »Dann sage mir, wo sie kauert, Yimak.« »Wen meinst du?« »Nicht wen, sondern was. Ich meine deine Furcht!« »Ich kenne keine Furcht.« »Und deine Trauer?« »Trauer?« »Trauer, Yimak Groom! Trauer und Furcht! Vielleicht auch Schmerz …« »Sie ist im …« »Im …?« »Sie liegt im weichen Erdboden, vergessen und verfault!« »Eine schöne Metapher.« »Ich liebte die Natur! Ich liebte alles, was grünt. Du fragst mich aus, obwohl du meine Antworten kennst. Und? Reicht dir das? Weißt du jetzt alles? Ich hingegen weiß gar nicht, warum ich dir das erzähle.« »Mmmh …« »Du schweigst? Willst nichts dazu sagen? Soweit reicht deine Fantasie wohl nicht? Kannst du dir nicht vorstellen, dass ich, ein Mann mit Gelenken aus Metall und Öl, mit einem Herzen aus dampfgeregelten Ventilen und Stößeln, den Duft des taubenetzten Grases genieße? Nein, das kannst du nicht, stimmt's? Ich war ein argloser Jüngling. Ich kannte jedoch den Wert der Verantwortung. Ich vertrat hin und wieder meinen Vater und wollte ihm gemäß sein.« »Hat er dich nicht geliebt?« »Wie kommst du darauf?« »Dein letzter Satz klang wie: Ich wollte nur, dass er mich in den Arm nimmt und lieb hat.«
»Mein Vater hatte mich dazu ausersehen, dass ich die Ehre des Hauses rette. Ich sollte sein würdiger Nachfolger werden. Meine Mutter drehte mir den Rücken zu und schwieg – oder sie schimpfte. Nur eines von beiden, nie etwas dazwischen. Nie war sie zärtlich, und wenn sie mir mitteilte, wie sie mich wieder einmal in der Schule aus Situationen gerettet hatte, in die kleine Jungen ab und zu geraten, dann tat sie es mit Vorwurf in der Stimme. Schau mich arme Frau an, die nun leidet! Ich leide, weil ich dir geholfen habe! So sprach sie. Und ich büßte mit Scham. Sie hielten sich für gute Eltern. Aber niemals, nicht ein einziges Mal, nahmen sie mich in den Arm, drückten mich an sich. Nur, wenn ich funktionierte, nur, wenn ich sie zufrieden stellte, bekam ich die allumfassende Belohnung, nach der ich lechzte. Ihre Beachtung! Alles, was ich tat, geschah nur, um ihre Gunst zu erheischen. Habe ich zu viel verlangt, Tophel? Habe ich deshalb andauernd das Gefühl, schuldig zu sein? Schuldig, weil ich den Erwartungen meiner Eltern nicht entsprach? Schuldig, weil ich mir die Liebe nicht holen konnte, die ich verdient hatte, weil ich nichts weiter war als ein Kind? Ist das meine Strafe? Die mein Vater mir angedeihen ließ? Eine Strafe, dass selbst ein Gorgul aus der Unterwelt erschauert wäre, hätte er es gesehen …« »Dein Selbstmitleid rührt mich.« »Spar dir deinen Sarkasmus!« »Tränen lassen nichts gelingen, Yimak – wer schaffen will, muss fröhlich sein. Schmerz und Freude liegen in einer einzigen Schale. Ihre Mischung ist der Wesen Los. Wenn du das annimmst, wirst du mehr wissen als zuvor. Aber es wird dir schwerfallen, das weiß ich, denn du fürchtest deine eigenen Schatten. Du fürchtest, ein böser Geist wolle dich holen! Du fürchtest die Dunkelheit, das Ende.« »Wie kommst du darauf, Tophel?« »Ich beobachte. Ich sehe, wie du leidest und gleichzeitig gierig die Träume deiner Opfer begleitest. Ich sehe, dass du andere mit deinem Schmerz quälst. Andere, die nichts damit zu tun haben. Du folterst deine Opfer in deren Träumen. Und du mordest.« »Derzeit unterhalte ich mich nur mit dir.« »Dennoch gibt es zwei, die träumen.«
»Darren Hag und die Frau? Doktor Shots Spritze ist sehr wirksam. Ich möchte keine Zeit verlieren und mich anschließend in die unterhaltsamen Träume einklinken.« »Doktor Shot! Welch treffender Name für einen Arzt. Und seine Spritze hat diese Wirkung?« »Ja, sie ist eine Art konzentrierter Psimagie. Wir haben lange daran geforscht …« »Du bist ein kluger böser, bemitleidenswerter Mann!« »Ja, das bin ich! Und nun lass mich eine Weile in Ruhe, damit ich mich von meinem Schmerz erholen kann.« »Du gefällst mir, Yimak Groom. Dein Charakter wird dein Schicksal sein. Ich freue mich, dich auf diesem Weg begleiten zu dürfen, jetzt, wo Asogal tot ist. Deshalb sollten wir auch unverzüglich aufbrechen.« »Gut, gut! Wenn du es so eilig hast, fliegen wir zurück.« »Bringt dich dein Diener denn nach oben, oder geht es mit diesem Gerät nicht nur abwärts?« »Die Gleiter steigen auch aufwärts.« »Und wie?« »Mit Dampf, Tophel, mit Dampf!«
* »Seiya, warum hast du das getan?« Seiya und Darren wirbelten herum. Der Gang hatte sich verändert, vor ihnen erstreckten sich die Pflastersteine eines Schlosshofes. »Du hast das unseren Eltern eingeredet! Du hast dir ihr Vertrauen erschlichen, um mich anschließend in den Abgrund zu stoßen und selbst den Thron zu besteigen!« »Moment mal, junger Mann …«, wollte Darren sich einmischen, aber Seiya hielt ihn am Ärmel fest. »Mein Traum, nicht deiner«, flüsterte sie. Tainon, nun um einige Jahre gealtert, schien Darren tatsächlich nicht wahrzunehmen. Seine Augen funkelten. Sein Körper war ge-
spannt vor Hass, seine Halsadern pulsierten, er hatte die Hände zu Fäusten geballt. »Ich werde nicht zulassen, dass du an meiner Statt den Thron besteigst.« »Tainon, bitte«, versuchte Seiya ihren Bruder zu beruhigen. »Ich würde so etwas niemals tun, das weißt du. Ich kümmere mich um dich. Lass uns gemeinsam unseren Eltern beweisen, dass du der richtige Mann für den Thron bist!« Tainon lachte grell. »Du erdreistest dich, mir Ratschläge zu geben? Pah! Dafür brauche ich dich nicht! Ich habe viele Freunde …« »Ja, Einflüsterer sind das. Graue Eminenzen, die dich leiten und lenken. Sie werden alles tun, um dich auf den Thron zu bringen. Allein dieser Gedanke macht mir Angst. Aber noch mehr Angst macht mir, was dann geschehen wird. Dann beseitigen sie dich und kommen selbst an die Macht! Jeder weiß davon, jedermann kennt diese Kerle, mit denen du dich die ganze Zeit umgibst, nur du – du nimmst nicht wahr, wie man dich ausnutzt!« »Geh mir aus dem Weg, sonst …« »Was sonst?« Seiya stand breitbeinig da, bereit, ihre Meinung zu verteidigen. Ob Traum oder nicht, sie würde sich von ihrem Bruder nicht so einfach wegschicken lassen. »Verräterin!«, zischte Tainon und öffnete blitzartig beide Fäuste. Es donnerte still, ein Blitz zuckte unsichtbar, ein heißer Hauch streifte Seiya und sie stürzte auf die Knie. Der Schlag war plötzlich gekommen, ein graues Tier, das seine Zähne in ihren Leib schlug.
Gelähmt vor Schreck lag Seiya auf dem Rücken. Über ihr ein bleicher Himmel. Es roch nach feuchtem Stein und Regen. Darren kniete neben ihr. Tainon war verschwunden. »Du liebe Güte«, murmelte Darren. »So viel Zorn. So viel Verblendung!« »DAS GANZE LEBEN BIRGT GEFAHREN, DARREN HAG!«, lachte es aus einem Torweg hervor. Dort stand eine Gestalt in einer schwarzen Robe, die Kapuze über den Kopf gezogen, die Arme verschränkt.
»Bist du der Traumsuggestor?«, fragte Darren, während er Seiya auf die Beine zog. »Bist du Groom? Du siehst nicht aus wie er!« Der Dunkle kam ein paar Schritte über den Schlosshof. Auf der Mauer sammelten sich graue Vögel, die ihre Schnäbel aneinander wetzten wie Rasierklingen. Der Kapuzenmann sagte: »Ihr seid entspannt. Ihr träumt und wartet darauf, aufzuwachen und nehmt hin, was ihr erlebt. Ihr seid nicht mit dem notwendigen Ernst bei der Sache. Das ist ein Fehler!« Darren lachte hart. »Wir wissen, dass wir nur Erinnerungen träumen, die nicht real sind! Wir werden wieder erwachen und uns in der Wirklichkeit wiederfinden.« »Ein Dummkopf bist du, Darren Hag. Du denkst, Träume sind nicht real, weil sie nicht aus Materie und Partikeln bestehen. Träume sind jedoch wirklich, sie bestehen aus Blickwinkeln, Bildern, Erinnerungen, Witzen und zerronnenen Hoffnungen.« »Ich pfeife auf die Witze und den Rest!«, höhnte Darren. »Nein, mein Freund. Das tust du nicht!« Der dunkle Mann löste sich auf, ebenso wie die Vögel und der Schlosshof, und ferne Kinderstimmen sangen einen Kehrreim. Lalala – lalala – lalala – la – lalala! Schattenmann – Schattenmann – Schattenmann – Zeigt was er kann! Schattenmann -– zerreißt das Herz – Zeigt was er kann – Und bringt den Schmerz! Aus einem modrigen Tümpel stiegen faulige Blasen, Gase platzten über dem Schilf und tote Fische tanzten einen beschwingten Reigen in den Augenhöhlen von ausharrenden Sumpfleichen. Es stank nach süßem Fleisch und stählernem Blut und ein warmer
Wind strich über verfaultes Gras.
* Groom beobachtete interessiert, wie die Flüssigkeit aus der Spritze in seinen Arm sickerte. Doktor Shot verzog das hagere Gesicht. Ein aufmunterndes Grinsen war das, wusste Groom. Tophel hatte es sich bequem gemacht, die Beine übereinandergeschlagen. »Viel Spaß, Yimak Groom!«, säuselte er und schloss seine Augen. Groom tat es ihm nach.
6. Es brach mit Gewalt über Seiya und Darren herein. Die Zeit verlor sich in wirbelnden Bildern, veränderte sich stetig. Scheinbilder, Trugschlüsse, das Innenleben eines gemarterten Hirns. Schreiende Mäuler, Männer mit Schusswaffen, zerplatzende Schädel, aus Gewässern erhoben sich von Schleim entstellte Wesen, mehräugig, mit ellenlangen Zähnen. Dolche blitzen auf, Gliedmaßen flogen umher wie Blätter im Wind. Seiya schlidderte über stinkenden Morast, hielt sich stumm vor Entsetzen an Darren fest, der ebenso versuchte, nicht den Boden unter den Füßen zu verlieren. Sie hangelten durch Pfützen aus Blut, schwebten übergangslos über Baumwipfeln, unter sich trostlose Ebenen, verbrannte Erde und weinende Wesen, die, aus der Ferne betrachtet, den liebenswerten Barbs ähnelten, sich aber bei genauerer Betrachtung in glutäugige Halbtote verwandelten, denen Fleisch von den Knochen hing. Aus fauligen Mündern strömte der Odem der Verwesung. In blicklosen Augen wimmelten Maden. Unendlich schien der Weg, ohne Unterlass metamorphte alles um Seiya und Darren herum, ein Garant für den Wahnsinn, dem sie anheimfallen würden, wenn nicht … Wenn nicht was? Es war real, was hier geschah! So real wie saure Milch und Verbitterung und Furcht und Einsamkeit. Es war alles, was Schuld ausmachte, alles, was die Dämonen der inneren Düsternis zustande brachten. Zeit! Eine Metapher nur noch, das Tor zu einem unendlichen Alptraum, der faulig schmeckte und widerlich stank. Dann stockte das Bild, der irrationale Eindruck verlief sich und Seiya und Darren hockten hinter einem Busch. Zwei Kaninchen. Zwei kleine Tiere, zitternd zusammengekauert. Deren zuckende Nasen sie gegenseitig als ihre eigenen erkannten, dass es keinen Spiegel brauchte, um die Verwandlung zu erfassen.
»Es wird vorübergehen …«, mümmelte Darren. Seine großen Ohren zuckten, er sicherte flink. »Träume enden immer irgendwann.« Drüben am Teich, einem klaren Gewässer, das friedlich im Schatten eines Spätnachmittags lag, spielten zwei Jungen. Halbwüchsige, einer von ihnen schlank und dunkelhaarig, der andere etwas kleiner, ein zartes Bürschchen mit großen Augen und wirren Haaren. Ein Stück entfernt schlug ein hinter Bäumen verstecktes Tor im Wind auf und zu. »Götter der Eiszeit … nicht das …«, stöhnte der Kaninchenmann neben Seiya. »Nein, nein …« Seiya versuchte, bei Verstand zu bleiben, doch es fiel ihr schwer, sich zu konzentrieren, solange ihre Lampe wie verrückt zuckte, ihr Nackenfell sich sträubte und es in ihren Löffeln juckte. Nervös trommelte sie mit der Hinterpfote auf den Boden, was ein dumpfes Geräusch erzeugte. Eine Eidechse verharrte vor ihr, richtete sich auf und spie einen feinen Feuerstrahl, dann huschte sie schutzsuchend unter einen Stein. »Das da hinten bin ich«, hauchte Darren. »Das bin ich als Junge …«
Unvermittelt sagte Tainon: »Ich werde meine Schwester töten!« Seiya fand sich wieder in menschlicher Gestalt, Darren war fort. Sie saß im Pavillon und stickte ein Tuch für Mutters Geburtstag. Sie hörte ihren Bruder reden, sah ihn jedoch nicht. Tainon kicherte, dass Seiya eine Gänsehaut bekam. »Sie hat meine Eltern gegen mich aufgehetzt!« »Du bist ein kluger Mann«, kam die Antwort. Einer von den Grauen Eminenzen. »Nur so wirst du auf den Thron kommen. Erst deine Schwester, dann deine Eltern. Sie werden sich dir in den Weg stellen.« Tainon sagte: »Schauen wir, was wird! Seiya muss auf jeden Fall weg!« Er wollte sie töten, plante ein Attentat auf seine Schwester. Er, der Bruder, den sie über alles liebte. Er, der früher so freundlich und
lustig gewesen war. Ihr Tainon, dem sie alles zu geben bereit gewesen war, was eine Schwester vermochte. Diese verdammten Kerle hatten sich seiner Seele bemächtigt. Sie führten ihn am Halsband spazieren und er merkte es nicht. Tainon war nicht mehr als eine willenlose Marionette. Er würde das Volk nicht eine Woche lang regieren können. Und das wussten die Grauen Eminenzen auch. Sie würden Tainon töten, sobald er sich zum König erklärt hatte und einen der Ihren auf den Thron setzen. Was kann ich tun? Wie soll ich dir helfen? Wie mag es mir gelingen, dich wieder zu dem zu machen, was du einst warst? Habe ich wirklich alles falsch gemacht? Habe ich nicht genug zu dir gestanden? Sie spürte Tränen auf ihren Wangen und Hilflosigkeit schüttelte sie so sehr, dass der Stickrahmen auf den Boden fiel. Es echote dumpf und viel zu laut. Dornenhacker stiegen erschrocken aus den Rosenbüschen. Ihre Flügel brummten wie Rotoren. Tainon und seine Mitwisser verstummten. Nur einen Herzschlag später stand er vor ihr. »Was hast du gehört?«, fragte er. Sein Gesicht glühte wie im Fieber. Wahnsinn loderte hinter seinen Pupillen. »Mir … mir ist der Stickrahmen …« Sie wischte sich das Gesicht trocken. »Was hast du gehört?« »Nichts. Was sollte ich denn gehört haben?« »Du lügst! Du hast uns belauscht!« »Du willst die Wahrheit? Gut, ich sage sie dir: Ein Bruder will seine jüngere Schwester töten, die ihn liebt, und der er gesagt hat, dass sie immer zusammen sein werden!« Tainon riss die Augen auf, das Kinn sank ihm herunter, er richtete sich abrupt auf und stemmte die Arme in die Seiten. Er glotzte Seiya an, als sehe er sie zum ersten Mal, dann grunzte er und schob sich neben sie auf die Bank. Er rückte eng an sie heran und zückte ein Messer.
»ACHTUNG!«, brüllte Darren. »Passt auf!« Sofort erkannte Seiya, dass nicht sie gemeint war, sondern die beiden Jungen, die verschwörerisch die Köpfe zusammengesteckt hatten, dann auseinander fuhren und schallend lachten. Das harmonische Bild zweier Freunde, denen der Ernst des Erwachsenenlebens noch fremd war. Der See, das Tor. Seiya war zurück bei Darren. Sie standen am Seeufer, offensichtlich unsichtbar für die Halbwüchsigen auf der anderen Seite. Unsichtbar, und keine Kaninchen mehr. Der Größere der beiden – nun erkannte Seiya, wie sehr der junge dem erwachsenen Darren ähnelte – sprang weg und suchte etwas hinter den Bäumen. Der andere Junge ging in die Hocke, nahm eine Schaufel aus der Umhängetasche und fing an, damit im Waldboden zu graben. Darren sank neben ihr auf die Knie, die Hände vors Gesicht geschlagen. Er schluchzte. Drei Männer sprangen aus den Büschen. Sie hatten Messer gezückt und ohne viel Federlesens ergriffen sie den Jungen. »Schau hin, Seiya – da, hinter dem Baum, kauere ich! Ich schaue zu, was man meinem Freund antut!« Tatsächlich sah Seiya hinter einem dicken Baumstamm den jungen Darren kauern. Der Junge mit der Schaufel sträubte sich, zappelte wie ein kleines Tier, entglitt den rohen Händen der Kerle, wurde jedoch am Kragen gepackt und schrie: »Darren! Darren! Hilf mir! Bitte – die wollen mir was tun! Bitte! Darren!« Seiyas Blick schnellte zum erwachsenen Darren, der die Hände vom Gesicht sinken ließ, Tränen rannen aus seinen Augen. »Er – er …«, stammelte er und seine Schultern zuckten, »… er hat Angst! Er will seinem Freund helfen. Glaub mir. Er will helfen! Aber er weiß, dass er keine Chance hat. Er … ich weiß, dass man auch mir dann etwas antun wird. Ich hatte keine Chance … Ich war doch noch so … so … jung! Zwölf Jahre alt! Was hätte ich gegen diese Männer ausrichten sollen?«
»Darren!«, kreischte der Junge, während die Männer ihn fortschleppten. »Du bist mein Freund! Lass mich nicht im Stich!« Der junge Darren sprang auf die Füße. Er stolperte ein paar Schritte nach vorne, stand bis zu den Hüften im Wasser, die Arme ausgestreckt. »Ich bin hier, Kayim! Ich werde dich retten!« Die Rufe des Entführten wurden leiser. »Kayim!« Der erwachsene Darren fiel vornüber ins Wasser, mischte seine Tränen mit denen des Sees, und Seiya fasste sich ein Herz. Sie sprang hinter Darren her, riss ihn am Kragen hoch und zu sich herum. »Nein, nein …«, stammelte er und spuckte Wasser aus. »Lass mich! Ich habe versagt und meinen besten Freund im Stich gelassen!« Und wieder schüttelte ihn ein Weinkrampf. Seiya stemmte Darren hoch und nahm ihn in den Arm. Sein schwerer Oberkörper lehnte sich an sie, seine Arme hingen schlaff herunter. »Komm …«, flüsterte Seiya. »Komm mit ans Ufer. Es ist vorbei. Es ist Vergangenheit. Nur ein Traum!« Er stolperte hinter ihr her, gebeugt wie ein alter Mann, die tropfnassen Haare hingen ihm ins Gesicht. »Nein, Seiya – es ist nicht vorbei. Das ist es niemals.« »Aber Darren …« »Genauso habe ich auch Shanija im Stich gelassen. Ich bin kein guter Freund. Niemand, auf den man sich verlassen kann. Ich vermisse sie so sehr.« Er legte seine Arme um Seiya, seine Weggefährtin und Freundin. Ihre Hände hielten seinen muskulösen Rücken, sie atmete seinen Kummer, seine Schuldgefühle und wartete darauf, dass die Traurigkeit verging. Über seine Schulter hinweg sah Seiya, wie der Junge, drüben am anderen Ufer, sich hinter dem Baum hervorstahl, in den Büschen verschwand und das Tor hinter sich klirrend ins Schloss warf. Man lässt einen Freund nie im Stich! Niemals! Armer Darren. So viel Qual. Bevor Seiya weitere Gedanken formen konnte, war Tainons Messer an ihrer Kehle.
* »Du bist mein Bruder …«, flüsterte Seiya erstickt. »Das würdest du niemals tun. Ich habe immer zu dir gestanden …« »Ja, Schwesterherz. Das hast du. Du hast weggeschaut, wenn der König mir mal wieder den Arsch versohlt hat. Du hast weggehört, wenn ich brüllte und schrie, weil es war, als fetzte er mir die Haut von den Oberschenkeln. Wenn alles vorüber war, hast du auf mein Grinsen gewartet, das dir die Absolution erteilte. Damit, meintest du, sei alles wieder in Ordnung. Dann konnten wir zur Tagesordnung übergehen.« »Es tut mir leid, Tainon. Es tut mir wirklich leid. Ich habe mich nicht genug um dich gekümmert. Hätte ich das getan, wäre das alles hier nicht so weit gekommen.« »Sie sagen, ich sei verrückt! Sie sagen, ich habe einen genetischen Defekt! Siehst du das auch so?« Die Frage schwebte wie ein Fallbeil über den Geschwistern. Ja, irgendetwas stimmt nicht mit deinem Geist. »Nein, selbstverständlich glaube ich das nicht. Du bist nur traurig, weil Vater und Mutter dich verraten haben.« »Verraten! Ja, das haben sie.« »Aber warum willst du dann den einzigen Menschen töten, der noch zu dir hält?« »Töten?« Tainon zuckte zurück. Er nahm das Messer herunter, starrte auf die Klinge. »Warum …« Er … er hat es vergessen … »Das frage ich dich! Du wolltest mich töten, Tainon!« Der junge Mann lachte krächzend. Er schüttelte wild den Kopf. »So ein Unsinn, Seiya. Was für ein ausgemachter Unsinn. Ich …« Sein Blick glitt ruhelos durch den Pavillon, in den Garten hinaus, wieder zurück zu ihr, zu dem Messer, das seinen Fingern entglitt und mit einem singenden Klang auf den Kies schlug. Dann legte er seinen Arm um ihre Schultern. Er zog sie an sich. Glühend, schwitzend. Verzweifelt. »Ich würde dir doch nie etwas antun, Kleines!«
Dieser letzte Satz brach Seiyas Herz. Es ist meine Schuld! Ich habe mich nicht genug um ihn gekümmert. Ich hätte es früher merken müssen. Niemand war ihm so nah wie ich. Vielleicht wäre dann alles anders gekommen … »Nein«, sagte Darren von irgendwoher. »Niemand kann diesem armen kranken Wesen helfen. So sehr du dich bemüht hättest: Gegen seine Geisteskrankheit hättest du immer vergeblich gekämpft!« »Aber …«, schluchzte Seiya und wusste dann nicht mehr weiter. Sie wusste, dass Darren recht hatte. Dennoch schmerzte sie die Hilflosigkeit, mit der sie den Verfall ihres Bruders miterleben musste. »Mit wem sprichst du?«, fragte Tainon, und seine Stimme klang auf einmal hilflos und jung, schwenkte völlig um. Er kicherte und kitzelte sie. »Mir scheint, du bist es, die hier verrückt ist!« Seiya legte ihren Kopf an seinen. Oh, wie sie ihn bemitleidete, diesen armen Jungen. »Ja, Tainon. Vielleicht bin ich verrückt.« »Oh-oh, das sollten wir aber als unser Geheimnis betrachten, nicht wahr?« »Ja, Tainon, das sollten wir.« Tainon sprang auf. »Es ist ein schöner Tag. Wollen wir etwas anstellen?« »Später, Tainon. Ich muss erst die Stickerei …« »Sie ist für Mutter?« »Ja, für ihren Geburtstag.« »Ein schönes Geschenk …« Tainon entblößte die Zähne. »… für diese abtrünnige Schlampe!« »Komm, weg von ihm!«, erklang Darrens eindringliche Stimme. Er erschien aus dem Nichts wie ein düsterer Geist hinter ihrem Bruder, weitaus größer als in der Realität. Ein Riese, bereit, einen Wurm zu zertreten. »Du solltest das Tuch mit Gift tränken. Damit Mutter daran schnuppert und von Krämpfen gequält krepiert!«, sagte Tainon. Dabei lächelte er, als habe er einen guten Witz erzählt. »Lass ihn, Darren«, sagte Seiya ruhig. »Er ist krank.« »Es ist nur ein Traum, Seiya. In Wirklichkeit hat er tatsächlich versucht, dich zu töten, um den Thron zu bekommen. Deshalb musstest
du fliehen. Deshalb sind wir uns begegnet!« Darren griff Tainon an den Hals und drückte zu. Im grauen Rauch löste sich die Gestalt des Jungen auf.
»Bravo!« Hinter Darren, der auf seine normale Größe geschrumpft war, erschien Yimak Groom. Diesmal in seiner Maschinengestalt. Er klatschte in die Hände. »Der Verräter wird im Traum zerstört und lebt in der Realität weiter. Auftritt Groom!« Er klatschte erneut. »Ein schönes Theaterstück, nicht wahr? Wir könnten es Das große Aufräumen nennen!« Darren saß plötzlich neben Seiya auf der Bank, Groom stand vor ihnen im Eingang des Pavillons und verdeckte die letzten Sonnenstrahlen mit seiner unheimlichen Gestalt. »Warum das alles?«, fragte Darren. Groom antwortete: »Ich weiß, was mit deinem Freund – Kayim hieß er, nicht wahr? – geschah. Ich bin es gewohnt, düsterer Schuld beizuwohnen. In den Träumen, die ich begleite, geht es kaum um etwas anderes. Um Verdrängung und Lust!« Die beiden Gefährten schwiegen. »Ihr glaubt, alles gesehen zu haben? Ihr hofft, der Traum sei zu Ende? Ihr nehmt an, alle Schrecken erlebt zu haben? Meine lieben Gäste: Lasst mich euer Zeremonienmeister sein. Ich verspreche euch: Die wahre Hölle wartet noch auf euch!« Er lachte und entführte sie an einen anderen Ort.
* Tophel fuhr auf. Er hatte den letzten Sequenzen von Grooms Traum beigewohnt, ohne sediert zu sein. Er brauchte weder Spritze noch indirekte Aufforderung – er träumte, wann und wie er es wollte und besaß stets die Kontrolle. Alles, was man vergessen hat, schreit im Traum um Hilfe, stellte er fest. Und das würde sich nie ändern. Diese Wesen erlebten das soeben
auf brutale Weise. Er war neugierig, was nun geschah. Groom hatte das Spielfeld betreten. Er hatte einen Grund dafür. Tophel war neugierig, wie Darren Hag darauf reagieren würde. Aber zuvor musste er sich um Weltliches kümmern. Etwas hatte sich verändert. Das Motorengeräusch der Pollux. Das regelmäßige Stampfen und Stößeln war hustenden Aussetzern gewichen, so, als habe das große Luftschiff sich verschluckt und ringe nach Luft. Tophel war klar, dass Beständigkeit die Mutter der Sicherheit war, zumindest wenn es um Maschinen und Geräte ging. Wenn von einem Damper die Kette absprang, konnte der Fahrer stürzen. Wenn die Motoren eines Luftschiffes ausfielen, bedeutete das den Absturz und Tod aller an Bord. Um sich selbst hatte Tophel keine Angst. Der Tod ging ihn nichts an. Aber ein Absturz würde vorzeitig zum Ende eines der interessantesten Spiele führen, dem er je beigewohnt hatte. Hier ging es um Verdrängung, Schuld und Qual. Ein Quell der Inspiration. Pure Verneinung! Im Gegensatz zu sonst war ihm diesmal in keiner Weise klar, wie dies alles enden würde. Lediglich Asogals Weissagung hatte er im Ohr, und den kleinen Zettel in der Hosentasche, den der prophetische Dichter kurz vor seinem Tod geschrieben hatte. Ein Zettel mit einer wichtigen Mitteilung, nahm Tophel an, denn er hatte die hellsichtigen Zeilen noch nicht gelesen. Alles zu seiner Zeit. Erst einmal hieß es, das Schiff zu inspizieren. Wieder setzten die Motoren aus.
7. »Schaut genau hin!«, befahl Groom. »Schaut, was man diesem armen Jungen antat!« Sie saßen in einem kleinen Amphitheater, das Platz für gut fünfhundert Zuschauer bot. In der runden Arena, die mit Sand aufgefüllt war, lag der entführte Junge auf dem Rücken, an den Armen und Beinen angepflockt. Die drei Entführer redeten miteinander, aber man konnte die Worte hier oben nicht verstehen. »Die Worte sind nicht wichtig. Die Taten sind es«, murmelte Groom, der neben Seiya saß. Er verströmte den Gestank von Öl, Dampf und Schweiß. Darren beugte sich vor. Sein Gesicht war eine wächserne Maske. Seiya vermutete, dass er denselben Gedanken wie sie verfolgte, nämlich, was Groom plante. Er wollte Darren mit den Konsequenzen seiner Schuld konfrontieren, und zwar gnadenlos. Sie schrie auf, als es begann. Mit einer blitzschnellen Bewegung zog ein Mann sein Schwert und schlug dem Jungen kaltblütig mit einem schwirrenden Streich die Hand ab. Kayim brüllte auf und wand sich in den Fesseln. Aus dem wild zuckenden Armstumpf sprudelte Blut und färbte den Sand rot, durchtränkte das Seil. »Er ist ein unschuldiger Junge …«, flüsterte Groom. Er starrte wie hypnotisiert in die Arena. »Hör auf damit«, stöhnte Darren. »Warum tust du mir das an?« »Dir? Ich tue es uns an!«, zischte Groom, und sein Kopf schnellte zu Darren herum. »Und es geht noch weiter, Darren Hag. Diese Männer verstehen ihr Handwerk.« Der zweite Mann zückte ein kleines Messer und schnitt dem hilflosen Knaben die Ohren ab. Seiya schloss die Augen, sie konnte es nicht mehr ertragen. Tränen drückten sich unter ihren Lidern hervor. Wie konnten Menschen so
grausam sein? »Schau hin, Prinzessin«, forderte Groom. »Du kannst alle Aufzeichnungen der letzten einhunderttausend Jahre im Zentralarchiv lesen. Die raumfahrenden Völker bilden auf Less einen großen Reichtum intelligenter Wesen und Tierarten. Viele sind mutiert, haben neue Arten gebildet. Die ganze Galaxis ist hier versammelt. Es gibt Gilden, Kulturen mit Sklavenhaltung, Diktaturen, Könige und Stadtverwalter. Alles ist denkbar unter den drei Sonnen. Dennoch haben sie alle bis heute kein gemeinsames Gesetz entwickelt, keine Zentralregierung eingeführt, keine gemeinsame Ethik, keinen philosophischen Begriff der Moral. Sie alle sind in ihrer Grundstruktur Wilde geblieben. Deshalb, Prinzessin, tun sie sich das an!« Seiya spürte einen schmerzhaften Druck im Kopf; sie war gezwungen, die Augen wieder zu öffnen. Kayims Schreie übertönten alles, doch sein Martyrium war noch lange nicht zu Ende. Der dritte Mann hob seine Armbrust. Gezielt setzte er einen Pfeil erst in den Oberarm, dann in die Schulter des Jungen. Dann wurden ihm die Finger der anderen Hand genommen. Aus Kayims Mund drangen Laute, die nichts Menschliches mehr an sich hatten, sein blutüberströmter Körper zuckte krampfartig. »Mach dem ein Ende!«, schrie Darren und sprang auf. Er packte Groom an der Schulter, riss den Maschinenmann zu sich herum – und wurde von einer unsichtbaren Gewalt weggeschleudert. Er stürzte auf den Rücken, schlug sich den Arm an einer Steinbank und rappelte sich stöhnend auf. Schweiß strömte über sein Gesicht. Groom lachte. »Wage es nie wieder, mich zu berühren, Darren Hag, oder du wirst es bereuen. Die Show ist noch nicht zu Ende!« Endlich, endlich hört er auf zu schreien! Seiya zitterte am ganzen Leib, ihr Magen war ein einziger verkrampfter Klumpen. »Er ist über den Schmerz hinaus, weil er zu groß geworden ist«, erklärte Groom. »Eine kleine Weile zumindest.« Die drei Männer lachten. Sie hörten nicht auf das Betteln und Winseln des Jungen, sondern taten sich weiter an ihm gütlich. Kayim begann bald selbst zu kichern, das sich zu einem hysteri-
schen Kreischen steigerte. Das war schlimmer als alles andere zuvor. Es waren Laute des Wahnsinns, die ein Lachen vortäuschten, aber pures Grauen waren. Seiya schlug die Hände vor Augen und krümmte sich zusammen, als wolle sie sich in sich selbst verstecken. Die Laute, die nun folgten, erzählten mehr als Bilder. Als unvermittelt Stille in der Arena eintrat, hörte Seiya nur noch ihr eigenes Schluchzen. Dann veränderte sich der Geruch von Blut und Schweiß, und weicher Wind bewegte ihr Haar. Langsam gab sie ihre Augen frei. Darren saß auf einem Baumstamm und starrte vor sich hin. Groom lehnte an einem Baum und machte eine verächtliche Geste. Seiya hockte im Gras. Es war nur ein Atemzug. Nur ein Herzschlag Ruhe. Eine winzige Erholung. Dann ging es weiter, an einem anderen Ort. Einer der drei Männer hatte sich den verstümmelten Körper des Jungen über die Schulter geworfen. Ein anderer führte ein Behältnis mit sich. Der Dritte folgte als Nachhut. Es war Dämmerung. Der Himmel über Less war rot. Vögel, die ihre Köpfe zum Ruhen unter das Gefieder geschoben hatten, hoben die Köpfe und versteinerten. Seiya merkte, dass sie lief, dass sie, Darren und Groom die Männer verfolgten. Die Silhouette eines großen Hauses, eine Villa, erhob sich vor ihnen. Der Träger vorn warf seine Last wie ein Stück Müll auf die obere Eingangsstufe, und der zweite Mann stellte den Behälter daneben. Der Dritte holte einen Umschlag aus der Jackentasche und ließ ihn auf den reglosen Körper des Jungen fallen. Sie gingen weg, so still, wie sie gekommen waren. Und das Bild wechselte erneut, Darren saß wieder auf dem Baumstamm, und Groom lehnte am Baum wie zuvor. Seiya stand als Beobachterin abseits und versuchte zu begreifen. »Armer Junge«, flüsterte Groom. Dann blickte er auf. »Schaut euch diesen Jungen an und merkt euch das Bild. Seht, was noch von ihm übrig blieb, nachdem man ihn entführt hatte. Die drei Männer quälten ihn aus purem Vergnügen, er war ihnen hilflos ausgeliefert, und
das nutzten sie aus. Und das …« Grooms metallener Finger zeigte auf Darren. »… das ist ganz allein deine Schuld, Darren Hag! Du hast deinen Freund im Stich gelassen. Du hattest bereits die Gabe der Telekinese entdeckt. Du hättest dir etwas ausdenken können, deine Gabe nutzen können. Stattdessen bist du heulend zu Kayims Vater gelaufen und hast ihm die Entführung berichtet. Kannst du dich erinnern, wie der Vater reagierte?« Darren nickte stumm und kaute an seiner Unterlippe. »Er lachte.« »Und was dachtest du, als du sein Lachen gehört hast?« »Ich habe es vergessen.« »Feigling!« »Feig ist nur, wer sich vor seinen Erinnerungen fürchtet. Und das tue ich nicht!« »Tatsächlich? Warum durchleben wir dann all das hier?« »Halt's Maul, Groom! Ich habe es vergessen.« »Lügner! Du hast nichts vergessen. Du weißt es noch! Was dachtest du?« Darren atmete schwer und kapitulierte. »Also gut. Ich dachte, dass Kayims Vater auf seine Art nicht besser war als meiner. Earl Hag brauchte mehr als zehn Jahre, um mich als seinen Sohn zu akzeptieren. Heute sind wir Konkurrenten.« »Liebst du deinen Vater?« »Er ist mir gleichgültig. Er gehört nicht in meine Welt. Jahrelang buhlte ich um seine Anerkennung, bis ich spürte, dass wir beide die Mauern, die sich zwischen uns aufgebaut hatten, nicht niederreißen konnten.« »Interessant …« Groom verzog den Mund. »Die Sucht nach Anerkennung, das Buhlen um Liebe, Bestätigung und Applaus, und als Resultat: Gunst und Gewogenheit, stimmt's?« »Ja«, nickte Darren. Er starrte vor sich ins Gras. Groom stieß sich vom Baum ab, trat zu Darren und ließ sich neben ihm auf dem Baumstamm nieder. Seiya beobachtete gebannt diese bizarre Form der Vertrautheit. Erschüttert begriff sie. Kayim! Darren musterte Groom mit einem schnellen Seitenblick, rückte
aber nicht zur Seite. Er musste es spätestens in diesem Moment ebenfalls erkannt haben. Vielleicht wusste er es schon die ganze Zeit. »Ich habe Kayim gern gehabt«, sagte Darren. »Sein Vater und meiner waren Geschäftspartner. Wir waren mit zwölf Jahren Freunde fürs Leben und haben jede Menge angestellt. Was geschah, hat mich mein Leben lang verfolgt. Ich habe gelernt, dass eine richtige Entscheidung nie für alle Seiten richtig ist.« »Nie für alle Seiten?« »War es die richtige Entscheidung, Kayim im Stich zu lassen und dafür zu überleben? Diese Kerle hätten auch mich verstümmelt oder getötet …« »Echte Verantwortung gibt es nur da, wo es Antworten gibt. Und da alles Denkende diese Antworten sucht, so wie du, übernimmt niemand konsequente Verantwortung. An allem Unrecht, das passiert, sind nicht etwa nur die Schuld, die es tun, sondern auch die, die es nicht verhindern. Aber diese unbequeme Wahrheit wird vergessen. Deshalb holen wir uns die Freisprechung, indem wir unser eigenes Leben über das der anderen stellen!« Zu Unrecht, dachte Seiya verbittert. Dieser Mistkerl macht alle für sein Unglück verantwortlich und bringt deshalb Kinder wie B-awig einfach so um. Was macht ihn besser als die drei Männer, die ihn verstümmelten? Für eine Weile trat Schweigen ein. Süßer Wind rauschte über die grüne Ebene. Es war idyllisch. Der Himmel ähnelte in diesem Traum seltsamerweise jenem, von dem Shanija Ran erzählt hatte, ein himmelblaues Firmament über der weit entfernten Erde. »Was geschah mit Kayim? Überlebte er diese schreckliche Folter?«, fragte Darren. Sicherlich kannte er die Antwort, doch er wollte sie von Yimak-Kayim hören. Groom sagte nichts. In seinen roten Augen flackerten Tranen. Er legte eine Hand schwer auf Darrens Oberschenkel. »Darren Hag …« Er sah Darren direkt an und machte keine Anstalten, die Feuchtigkeit aus seinen kranken Augen zu wischen. Die Metallplatten seines Schädels glühten im Sonnenschein, aus den
Rohren in seinem Nacken dampfte weicher Rauch. »Ich werde dich nun töten. Ich muss dich töten!« »Darren …«, flüsterte Seiya. Ein schrilles Geräusch durchbrach die Stille. Der Himmel verdunkelte sich, Blitze zuckten, Regen und Donner brachen los …
* … und Seiya erwachte. Chaos herrschte um sie herum, Stimmen schrien durcheinander, Stiefel trampelten übers Deck, Türen wurden geschlagen. Seiya lag in einem schräg gestellten Sessel, nun kippte der Sitz seitwärts, so schnell, dass sie sich nicht rechtzeitig festhalten konnte. Mit den Knien schlug sie auf die Holzdielen. Wo sind Darren und Groom? Warum bin ich ganz allein hier? Sie rappelte sich auf. Erneut verlor sie das Gleichgewicht. In den Wänden ächzte es, das Luftschiff stöhnte und knarrte in wechselnder Schieflage. Etwas Schreckliches musste geschehen sein. Etwas, das sie aus dem tiefen Traum gerissen hatte. Das riesige Schiff tanzte, hob und senkte sich, Motoren stotterten, grell kreischte Metall auf Holz. Seiya gelangte schwankend, stolpernd zur Tür, doch sie war verschlossen. Verzweifelt trommelte die Prinzessin gegen die Tür, rüttelte an der Klinke und schrie um Hilfe. Krachend wurde die Tür aufgerissen. Holz splitterte aus dem Rahmen. Das Schloss polterte vor Seiyas Füße. Ein Fremder stand vor ihr, breit wie ein Ochse, der Kopf kugelrund, haar- und konturlos, ein Marganer. Männer dieses Volkes wurden gern als Söldner verpflichtet, weil sie kaum Schmerz empfanden und völlig bedenkenlos töteten. Neben dem Marganer schob sich ein winziger Schmorl in den Raum, blickte sich um und schnatterte etwas in seiner Sprache, die Seiya nicht verstand. Der Marganer schnaufte und packte Seiya um die Hüfte.
»Ruhig sein!«, befahl er und Seiya wurde hochgehoben wie ein Paket. Der Marganer, dessen Körper nach altem Fett und Leder stank, stolperte den Gang runter, stieß sich dabei von Wand zu Wand vorwärts. Über ihnen wurden Befehle geschrien, und viele Schritte trampelten über quietschende Bohlen. Seilwinden kreischten, Kolben rieben gegeneinander, kreischend, zischend, und ein erschütternder Knall ließ alle Angst verstummen – – um die Panik zu gebären! »Der Kessel«, knurrte der Marganer und ließ Seiya fallen. Hastig machte er sich auf dem Weg nach oben, gefolgt von dem Schmorl. Oben schrien die Leute durcheinander, vermutlich versuchte jeder nur noch, die eigene Haut zu retten. Widersinnig, wenn sie abstürzten, außer es gab Drachengleiter. Von Wut und Verzweiflung getrieben, rappelte Seiya sich auf und rannte den schwankenden Gang entlang. Wo war Darren? Sie waren gemeinsam in dem Raum von dem widerlichen hageren Arzt betäubt worden; hatte Groom den Freund etwa geholt, bevor er sich in den Traum eingeklinkt hatte? Die Prinzessin hastete die Stufen hoch. Ihr Atem stockte, als ein Sturm sie draußen empfing. Kalter Regen klatschte ihr ins Gesicht. Holz knarrte über ihr, und Befestigungstaue rissen schnappend und schnalzend. Der Motor sprang wieder an, dröhnte los – und verstummte. Das Schiff schüttelte sich wie ein nasser Hund, bebte in allen Fasern und legte sich seufzend in den Sturm. Etwa dreißig Menschen, Marganer und Schmorls hasteten hin und her, ein beleibter Markländer versuchte, das Chaos zu überbrüllen. Sein pockennarbiges Gesicht war wie in Stein gemeißelt. Die Augen wie Glassplitter. Sein Blick streifte Seiya nur kurz, dann schrie er weitere Befehle. Der Wind stemmte sich Seiya entgegen, und als das Schiff bockte und sich anschließend nach vorn beugte, befürchtete sie, aus der kippenden Nussschale in die Tiefe zu stürzen. Die Pollux stabilisierte sich jedoch rechtzeitig, setzte den wilden Tanz allerdings nach ei-
ner Schrecksekunde fort. In den Wanten verlor ein Mann den Halt und fiel schreiend in die Tiefe. Andere waren so panisch, dass sie freiwillig sprangen. Darren! Wo bist du? Seiya hetzte zurück, die Treppe hinunter durch die leeren Gänge. Sie riss Tür um Tür auf. Ein Schwall stickiger Luft raubte ihr den Atem, beim nächsten Raum sprang sie gerade noch rechtzeitig zur Seite, als ein Bettgestell auf sie zuraste. Weitere Türen, hinter denen sie Verwüstung und die Leichen Verunglückter fand, doch nirgends eine Spur von Darren. Seiyas Knöchel waren aufgerissen und bluteten, ihr Körper war mit blauen Flecken übersät. Jedes Mal, wenn sie glaubte, sich an das Schwanken und Gieren gewöhnt zu haben, schleuderte das Schiff sie mit einem Bocksprung gegen die nächste Wand, als wäre sie ein Spielball. Eine weitere Tür wurde aufgerissen, und sie sah Doktor Shot, auf einem Drehstuhl, die Spritze in der Hand, die im Gegenlicht der Öllampe schimmerte. Mit gebleckten Zähnen nickte er Seiya aufmunternd zu und winkte sie mit der freien Hand herein. »Schönes Mädchen, du – bist ein schönes Mädchen … Sehr fragil! Lange dunkle Haare, große Augen und sehr – jung! Frisch!« Und aus der Nadel spritzte Flüssigkeit. Die Erektion, die seine weiße Hose beulte, war nur schwer zu übersehen. Seiya drehte sich der Magen um. »Wo – wo ist er? Wo ist Darren?«, ächzte Seiya. Dieser ekelerregende Kerl ging fast über ihre Kraft, und sie hätte ihn am liebsten vereist, doch die Psimagie ließ sie weiterhin im Stich. Das war genauso unnatürlich wie der Sturm dort draußen. Vielleicht war es doch nicht Grooms Einfluss, sondern die beginnende Passage. Erleichtert nahm die Prinzessin wahr, dass in diesem Moment der Motor stotternd ansprang, und diesmal hielt er länger durch. Die Pollux kehrte schlagartig zur ruhigen Lage zurück und nahm Fahrt auf. Oben vom Deck drangen gedämpft überraschte, aber auch zaghaft jubelnde Laute herab. Wie es aussah, hatten sie gerade noch einmal Glück gehabt. Umso dringender musste Seiya jetzt Darren finden. Sie sprang den feixenden, schmierigen Arzt an, um die Ant-
wort aus ihm herauszuprügeln, egal wie. Unerwartet schnell und geschmeidig wich er zur Seite und stand plötzlich neben ihr, packte sie. Seine Brillengläser reflektierten das Kerzenlicht. »Du schläfst nicht? Bist schon erwacht? Das ist gut so – wir sind allein. Nur du und ich, schönes Kind …« Er tastete nach der Spritze. »Lass mich los«, zischte Seiya. Der Doktor kicherte. »Nein, nein! Gönn uns ein bisschen Spaß.« »Leg die Spritze weg!«, donnerte es hinter Seiya. »Darren! Endlich!«, rief Seiya und befreite sich mit einem Ruck aus dem Griff des hageren Mannes. Sie wich zur Seite und sah Darren wie einen finsteren Rachegott im Türrahmen stehen. Er war blass, die blonden Haare hingen ihm strähnig ins Gesicht, aber in seinen grauen Augen lag eiskalte Wut. »Leg die Spritze weg, Mann, oder ich töte dich auf der Stelle!« Der Doktor platzierte die Spritze zurück auf das Tablett. Er wandte sich Darren mit theatralischer Geste zu und hob die Hände. Dabei verließ das Grinsen keine Sekunde sein Gesicht. »Vergebliche Liebesmüh. Wie wollt ihr entkommen? Ihr seid beide Gefangene des Meisters. Wir werden den Traum erneut einspritzen und dann wird der Meister …« »Geschwätz!«, fauchte Darren. Er bückte sich und hob ein zerbrochenes Stuhlbein auf. »Es muss einen Weg geben, um die Pollux zu verlassen. Yimak Groom setzt sich gewiss nicht dem Risiko des Absturzes aus.« Langsam, drohend ging er auf den Arzt zu. Doktor Shot setzte sich und schlug lasziv die Beine übereinander. Er lehnte sich zurück, spreizte die Finger unter das Kinn und legte den Schädel schräg, als betrachte er eine seltene Insektenrasse. »Mutiger junger Mann. Bei diesem Sturm dürfte es euch schwerfallen, die Gleiter zu benutzen.« »Gleiter?« »Warum soll ich es euch nicht sagen, ich bin viel zu sehr interessiert, wie es weitergeht. Auf dem Oberdeck, im Heckbereich. Man braucht eine lange Lehrzeit, um den Umgang zu lernen. Im Sturm unmöglich zu fliegen. Der sichere Tod!«
»Na schön, unmöglich ist gerade gut genug.« Darren sah Seiya auffordernd an, die nickte und zu ihm ging. Lieber stürzte sie ab, als länger hier an Bord zu bleiben. »Ich habe ähnliche Fluggeräte schon in der Mandiranei geflogen, und da waren die Windbedingungen auch nicht immer günstig«, erklärte sie. Darrens Augen blitzten anerkennend auf. Drohend sagte er zu Shot: »Du bleibst hier, du perverses Schwein.« »Keine Sorge, ich bewege mich nicht, das brauche ich gar nicht. Wir können euch überall erreichen, selbst wenn euch eine glückliche Landung gelingen sollte.« Der hagere Mann lächelte und leckte sich lüstern mit der Zungenspitze über die Lippen, den Blick auf Seiya gerichtet. »Verlängert die Vorfreude und versüßt das Spiel.« »Was macht dich so sicher, dass Groom noch lebt?«, fragte Darren mit glitzernden Augen, und nun hatte er es doch geschafft, den Arzt zu verunsichern. »Wo ist der Meister?«, wollte der Doktor wissen und seine Augen rundeten sich besorgt hinter den Brillengläsern. »Gehen wir«, sagte Darren zu Seiya, und sie verbarrikadierten halbwegs den Raum von außen und liefen den Gang entlang. Ein Ruck ging durch das Schiff. Die Wände knirschten, als würde eine riesige Faust versuchen, sich hindurchzubohren. Seiyas Eingeweide verknoteten sich. »Nicht noch einmal«, flüsterte sie. Darren ergriff ihre Hand und zog sie mit sich. »Wir schaffen es!«, rief er durch den Lärm. »Das Chaos hilft uns bei der Flucht, und das Fluggerät ist noch nicht konstruiert worden, das ich nicht fliegen kann!« »Wo bist du gewesen, Darren?«, fragte Seiya unterwegs. »Die haben mich in einen anderen Raum gebracht. Als ich aufwachte, war ich allein, und ich suchte nach dir und Groom.« Ein Marganer kam den Deckaufgang herunter und stellte sich ihnen in den Weg. Darren fackelte nicht lange. Er sprang den Riesen an, rammte ihm das zersplitterte Ende des Stuhlbeins in den Bauch und zog sofort zu einem zweiten Schlag durch. Ein kraftvoller Hieb aufwärts brach
dem Marganer den Kiefer. Der Söldner taumelte leicht, ging aber nicht in die Knie, sondern in Kampfposition. Darren wich einen Schritt zurück, schlug in einer Drehung mit der Stiefelferse zu und zertrümmerte dem Marganer die Nase. Als der sich vorbeugte, um Darren mit den Fäusten anzugreifen und dabei die Deckung vernachlässigte, setzte der Abenteurer noch einen zweiten gezielten, tödlichen Schlag nach und trieb dem Angreifer die Trümmer des Nasenbeins ins Gehirn. Der Marganer sackte zu Boden. Seiya schüttelte es. So viel Blut, so viel Gewalt! Sie begann, Darren zu fürchten. »Weiter! Wir haben keine Zeit!« Darren riss die Prinzessin mit sich, sie sprangen über den Toten und rannten die Treppe hoch. Auf Deck herrschte immer noch Durcheinander. Nachdem das Schiff sich wieder gefangen hatte, waren nun alle dabei, die Schäden zu beseitigen. Vor allem hatte sich die Dschunke noch nicht ganz erholt, durch die Überbeanspruchung hatte sich das Gebälk verzogen, und völlig unvermittelt knallten Holzschrauben aus den Halterungen, und Wind pfiff durch die Löcher. Die beiden Gefährten wählten einen Umweg, um nicht zu sehr aufzufallen; allerdings war die Sicht durch den andauernden Sturm auch entsprechend schlecht, und jeder hatte genug damit zu tun, nicht den Halt zu verlieren. Schließlich hatten sie die Ankerstelle der Gleiter im Heck erreicht. Sie mussten einen Vorraum passieren, der vollgestopft war mit Ersatzteilen und technischen Geräten, um von dort aus nach oben zu gelangen. Darren sprang auf den sturmumtosten Ausleger, hielt sich an einem Tau fest und zog Seiya mit einem Ruck nach, als würde sie nicht mehr wiegen als ein Kind. Hinter den beiden Fluggeräten mit den weit ausladenden bunten Flügeln befand sich die Startrampe. »Mist, es ist dampfgetrieben!«, rief Seiya. »Tut mir leid, Darren, damit kenne ich mich nicht aus.« »Die Dinger sind für zwei Personen ausgelegt.« Darren zuckte mit den Achseln. »Das Gerät kann ich leicht fliegen, reiner Standard.«
»Noch immer ein Lügner!«, hallte es hinter ihnen vom Hauptdeck unterhalb, durch das Rauschen des Regens. »Diese Gleiter gibt es nur an Bord der Pollux, ich habe sie selbst erfunden!« Seiya erstarrte und spähte nach unten. Groom war eingetroffen. Zwei bullige Marganer begleiteten ihn. Groom hob theatralisch die Hände. »Nun sind wir also am Ende angekommen, Darren Hag. Es geht nicht mehr weiter. Flucht in letzter Sekunde klappt nur in Büchern, mein Lieber! Im wirklichen Leben sieht es anders aus. Das habe ich am eigenen Leib erlebt.« Auf seinen Wink hin richteten die Marganer schwere Armbrüste auf die Gefährten. Darren schwieg. Seine Wangenmuskeln zuckten. »Solltest du den Helden spielen wollen, wird deine hübsche Begleiterin zuerst sterben.« Grooms Atem dampfte. »Meine Männer werden euch nun fesseln. Morgen früh, wenn sich das Wetter aufgeklart hat, werden wir unsere kleine Unterhaltung fortsetzen. Es gibt da noch etwas, das ich dir sagen möchte. Und anschließend …« Groom kicherte. »Anschließend werden wir ein Fest feiern. Wir alle werden ein großes Vergnügen daran haben mitzuerleben, wie weit ihr ohne Gleiter fliegen könnt.« Zwei Schmorls kamen herauf und fesselten Seiya und Darren. Groom blickte sich forschend um. »Wo steckt bloß dieser Gehörnte? Scheint sich vor Angst in die Hosen zu machen und sich versteckt zu haben. Macht euch auf die Suche nach ihm! Ich glaube kaum, dass er die Show verpassen will!«
* Nicht weit weg vom Maschinenraum saß Tophel in einem Sessel, die Beine gemütlich von sich gestreckt. »Der Verstand kann mir sagen, was ich unterlassen soll. Aber das Herz kann mir sagen, was ich tun muss«, murmelte er. Niemand an Bord ahnte, was er getan hatte, er, der seinem Herzen gefolgt war. Ihm war es nämlich zu verdanken, dass die Dampfturbine der Pol-
lux wieder tadellos funktionierte. Er, Tophel, hatte den Absturz verhindert. Weil er es so wollte! Zumal das Spiel noch nicht beendet war, dieses Duell zwischen Groom und Hag. Um nichts in dieser Welt würde er sich das Finale entgehen lassen. Aus seiner Position sah er, wie die Pollux sich fing und vor dem Sturm kreuzte, und wie die beiden Gefangenen abgeführt wurden. Immer waren es die Schwächeren, die nach Recht und Gleichheit suchen – die Stärkeren aber kümmerten sich nicht darum. So hatte Tophel es in den letzten einhunderttausend Jahren erlebt. Wie sonst konnte ein einziger Mann ein ganzes Dorf unterdrücken, konnten Herrscher große Völker okkupieren? War dies ein Grund, warum es den Sternenreisenden, allesamt Gestrandete auf Less, verschlossen blieb, eine gemeinsame Basis zu finden? Freiheit bedeutete Verantwortlichkeit. Tophel wäre jede Wette eingegangen, dass dies ein Grund dafür war, warum sich die meisten Bewohner von Less vor ihr fürchteten. Sie hatten es mit Wissen und Bildung versucht, aber die Selbsterkenntnis nicht gefunden. Stattdessen hechelten einige diesem Gott Dur, den sie den Ewigen nannten, hinterher. Ein Zerstörer des Universums? Sekten, wohin man schaute, Verkünder, Erlöser, alle richteten ihren Glauben auf ein übermächtiges Wesen, das sie ihrer Verantwortung enthob. »Einmal kommt der Tag«, hatte Asogal gesagt, »da glaubt man, mit allem fertig zu sein, doch dann geht es erst richtig los!« Auch er hatte sich einem Götterglauben unterworfen. Vielleicht, vermutete Tophel, mussten diese Wesen so denken, um überleben zu können. Zu gering war das Vertrauen in die eigenen Fähigkeiten, zu tief die Wurzel der Bosheit, der Missgunst und des Neides. Sie träumten und ihr Geist plante eine neue Wirklichkeit. Sie waren wach, und ihr Geist schlief. So erlebte es Tophel. Er spürte, wie sehr er seinen intellektuellen Freund vermisste, diesen Vergesslichen, zugleich irregeleiteten Geschäftsmann, großartigen Dichter und seltsamen Propheten. »Der Mann wird sterben«, hatte Asogal kurz vor seinem Tod geweissagt. »Und die anderen …« Dann hatte er wie ein Besessener angefangen, zu schreiben, ohne sich dessen be-
wusst zu sein. Über das Schicksal fremder Menschen, denen er nie begegnen würde. Eine schaurige Gabe, die schon so manchen ins Unglück gestürzt hatte, der Asogals Rat und Gabe der Hellsichtigkeit erbeten hatte. Traurig zog Tophel den Zettel aus der Tasche und las endlich jene letzten Worte, die ihm von Asogal geblieben waren, und suchte hinter diesen nach einem Sinn. Verdutzt sah er, dass es nur drei Worte waren, ungefähr ein Dutzend mal wiederholt. Es war verwunderlich – aber mit diesen drei Worten konnte er nichts anfangen.
8. B-ama hatte sich entschieden. Sie ging noch vor Tagesanbruch zu Himmelstürmers Gehege und streichelte ihre Samtnüstern. »Bist du bereit, meine Schöne? Wollen wir es riskieren?« »Wir setzen uns großer Gefahr aus«, sagte der große Drachenvogel sanft. »Es muss beendet werden«, erwiderte B-ama. »Und ich habe nichts mehr zu verlieren.« »Ich schon.« »Und was ist, wenn Groom es herausfindet? Diese Gefahr besteht immer. Er ist jetzt misstrauischer denn je. Willst du wirklich so weiterleben, Himmelstürmer? Gefangen am Boden?« »Also gut«, gab die Wardonk nach. »Du hast recht.« B-ama deutete zu dem dunklen Abriss des Flugschiffes in einiger Entfernung. »Wenn wir uns geschickt von unten annähern, können sie uns nicht sehen. Das haben wir früher schon gemacht. Es besteht eine kleine Chance …« »Dann lass uns handeln, bevor es zu hell wird«, unterbrach Himmelstürmer. B-ama nickte. »Ich hole meine Sachen. Und du sei leise, ich will nicht, dass irgendjemand aufwacht. B-ohlo würde mich nie gehen lassen, oder mich am Ende begleiten wollen. Aber das ist allein meine Sache.«
* Obwohl ihr Magen knurrte, brachte Seiya nichts von dem Fraß hinunter, der ihnen hingestellt wurde. Endlich, als sich die Sonnen wieder über den Horizont hinauf stahlen, hatten Darren und sie etwas Schlaf gefunden. Einige Zeitlang hatten sie geredet, über ihre Träu-
me, die Furcht und Schuldgefühle gesprochen. Sie hatten auch darüber gesprochen, wie sinnlos der Streit mit Shanija nunmehr war, da sie vermutlich nicht mehr nach As'mala suchen konnten. Beide beobachteten die Himmelszeichen voller Sorge und fragten sich, wie es mit Shanija weitergehen würde. Konnte die Erdenfrau ihr Ziel erreichen? Noch niemandem war es je gelungen, Less zu verlassen. Und was mochte geschehen, wenn die Passage begann? Die bisherigen Veränderungen ließen auf nichts Gutes schließen. Die beiden Menschen waren hin- und hergerissen zwischen Hoffnung und Verzagen. Sie wollten nicht glauben, dass sie tatsächlich sterben würden. Doch sie hatten Angst vor der Zukunft. Und sie waren beschämt über die Abgründe ihrer Seelen, die sich voreinander aufgetan hatten, und ihren mangelnden Glauben, dass Shanija ihr Ziel erreichen konnte und sie sie deshalb verlassen hatten. Als sie merkten, dass ihre Unterhaltung sich im Kreis drehte, gingen sie zum Schweigen über, hingen still düsteren Gedanken nach und bereiteten sich auf den Morgen vor. Seiya trank umständlich mit gefesselten Händen ein wenig Wasser und fing Darrens Blick auf, der ebenfalls erwacht war. »Hast du Angst?«, fragte sie. »Ja«, antwortete Darren dumpf. »Jeder hätte Angst in so einer Lage.« Er lächelte Seiya zu. »Aber ich habe nicht aufgegeben. Der Kerl kriegt mich nicht klein. Ich boxe uns beide da raus, du wirst es sehen, Seiya. Ich bin nicht das erste Mal in einer scheinbar ausweglosen Situation, manchmal war es sogar weitaus trostloser.« Seiya glaubte ihm und war froh, dass er jetzt bei ihr war. Darren war ein guter Mann, und sie wünschte ihm und Shanija, dass sie wieder zusammenkamen und eine Lösung fanden, wie es weitergehen konnte. Dann dachte sie an Mun und wurde für einen Moment traurig. »He«, sagte er sanft. »Wir werden sie alle wiedersehen. Es kann gar nicht anders sein. Ausgerechnet zu diesem Zeitpunkt, wenn die Passage naht, sind wir zusammengetroffen. Ich meine, Leute wie wir treffen nicht alle Tage in solcher Vielzahl aufeinander. Ich bin schon sehr viel herumgekommen und habe das noch nie erlebt. Vor
allem, weil Shanija … gerade erst vom Himmel gefallen ist. Das muss etwas zu bedeuten haben und kann nicht einfach so mit unserem demütigenden Tod auf dem Flugschiff eines Wahnsinnigen enden.« Die Tür wurde aufgerissen. Drei Marganer bedeuteten ihnen wortlos, ihnen zu folgen. Seiya hatte manches über den letzten Weg gehört. Auch in der Mandiranei war die Todesstrafe ein Bestandteil des Rechtssystems. Sie wusste, dass manche Delinquenten in den wenigen Minuten, die sie zum Richtplatz gehen mussten, wahnsinnig wurden. Andere versanken in stumpfes Schweigen. Bei den meisten versagten spätestens, wenn sie den Hinrichtungsort sahen, die Beine den Dienst. Manche sträubten sich, kämpften um jede Sekunde, brüllten und schimpften. Andere weinten und winselten um ihr Leben. Nur ganz wenige waren mutig und bewahrten Haltung! Seiya hatte das Gefühl, als drehe sich alles um sie. Ihre Beine zitterten, Schweiß drang aus allen Poren. Ihr Herz pochte wild, ihr Magen fühlte sich an wie ein tiefes Loch, in das sie hineinstürzte. Ihre Zähne schlugen aufeinander, doch sie reckte stolz den Kopf und stellte sich aufrecht hin. Sie würde Groom keine Genugtuung geben. Er war ein Mörder, und Seiya keine Verurteilte. Er konnte ihr das Leben nehmen, aber nicht die Würde. Langsam traten sie auf den Gang hinaus, und dort stand Yimak Groom. »Wolltest du nicht vorher mit mir reden?«, fragte Darren herausfordernd. »Du enttäuschst mich, Darren«, versetzte Groom höhnisch. »Ich dachte, du wolltest mir noch etwas entgegenschleudern!« »Du meinst, die Wahrheit über dich?«, sagte Darren trocken. »Ich bitte dich. Woher solltest du meinen Namen kennen und solches Interesse an mir haben, wenn du nicht jemand aus meiner unrühmlichen Vergangenheit wärst? Dein vertrauter Umgang mit mir, und ausgerechnet die Szene mit Kayim … und du versteckst deine Identität ja nicht einmal, sondern hast lediglich ein Anagramm benutzt, als du zu Yimak wurdest.«
Groom wandte sich ab. Die Männer stießen Seiya und Darren vor sich her durch die Tür, ein paar Stufen hoch, an den Gleitern vorbei, deren farbige Schwingen fröhlich im Sonnenlicht leuchteten. Vom gestrigen Sturm war nichts mehr geblieben. Die ausgefahrene Startrampe führte ins Rot des Himmels hinein. Seiya musste schlucken. Das also war das Letzte, was sie sehen würde. Den Himmel, und dann kam der Sturz. Ein Atemzug, vielleicht zwei, und ihr Körper würde auf dem Boden zerschmettern. Sie hatte es erst gestern miterlebt, wie B-amas Sohn von der Reling gestoßen worden war. »Das Anagramm«, setzte Groom nun zur Erklärung an, »soll die Verwirrung meines Lebens ausdrücken, Darren Hag! Wie durcheinandergewirbelte Buchstaben hat sich der Fokus meiner Empfindungen verändert. Nichts ist mehr so, wie es war.« Darren versuchte, sich zu wehren, zerrte an seinen Fesseln, aber er war er viel zu unbeweglich, um sich ernsthaft gegen die Hünen durchsetzen zu können. Sie stießen ihn auf die Rampe, und Darren stolperte vorwärts. Groom begleitete ihn ein Stück mit stampfenden Schritten. Dampf umwölkte ihn. »Lass mich dir eine Frage stellen, die mir seit siebzehn Jahren auf dem Herzen liegt …«, murmelte Yimak-Kayim. »Warum, Darren, warum hast du mir nicht geholfen?« Darrens Zunge fuhr über die spröden Lippen. »Ich habe es dir schon gesagt, Kayim, und ich kann es nur wiederholen. Weil ich Angst hatte. Weil ich dir nicht helfen konnte. Man hätte auch mich verschleppt. Ich war nur ein Junge, genauso wie du!« »Und deine Telekinese? Du hättest sie einsetzen können!« Darren seufzte. »Ich fing gerade an, meine Psimagie kennenzulernen, ich beherrschte sie ja noch nicht einmal. Ich hätte es niemals mit allen Dreien aufnehmen können. Und ich konnte dich damit auch nicht befreien, indem ich dich von ihnen wegzog, soviel Kraft hatte ich damals nicht.« Groom schwieg. »Jetzt bin ich dran mit einer Frage«, sagte Darren. »Warum haben sie dich wieder zu Hause abgeliefert?«
»Ich werde es dir erklären, aber zuvor muss endlich einer diesen Tophel finden! Ich will, dass er dabei ist! Irgendwo muss er sich doch …« Groom stutzte, dann zog ein Lächeln über sein entstelltes Gesicht. »Da bist du ja, Gehörnter! Zeit wird es.« Er blickte zur anderen Seite der Rampe. So sehr Seiya sich auch anstrengte: Sie konnte dort niemanden entdecken.
* Kayim trat neben Darren. »Nun beenden wir endlich das Drama.« Seiya konnte sich kaum mehr aufrecht halten. Sie hatte nicht gewusst, dass es eine derart allumfassende Angst gab. Alle Geräusche waren lauter als sonst, die Farben intensiver, Gerüche übermächtig. Ihr Körper fühlte sich an wie ein Schwamm, ihre Beine zitterten. Ihre Fingerspitzen schmerzten, denn sie nahmen den Flugwind wahr, als sei es die Hitze eines Höllenfeuers. Jede Vibration der Pollux setzte sich in ihren glühenden Nerven fort wie ein heimtückisches Fieber. Kayim fuhr fort: »Sie brachten mich zurück zu meinem Vater, wie du gesehen hast. Er hatte sich auf einige krumme Geschäfte eingelassen und jemanden schwer übers Ohr gehauen. Der ehemalige Geschäftspartner nahm das ziemlich übel und hetzte ihm die Drei auf den Hals. Sie waren nicht nur Schuldeneintreiber, sondern auch Sadisten, die ihren Auftrag manchmal nur allzu gern und gut ausführten. Nachdem sie ihren Spaß mit mir hatten, legten sie mich als Warnung bei meinem Vater ab. Und was tat mein geliebter Erzeuger? Er überließ mich dem chirurgischen Feingefühl des genialen Doktor Shot. Er wusste, dass ich im Grunde genommen tot war. Allerdings hatte er schon seit geraumer Zeit mit Ersatzteilen und Prothesen experimentiert. So kam ich ihm und seinem Forscherdrang gerade recht. Als ich irgendwann zu Bewusstsein kam, erlebte ich den wahren, den definitiven Schmerz. Meine Wunden waren entzündet, mein Körper ein fiebernder Haufen Fleisch. Ich flehte meinen Vater an, mich sterben zu lassen. Er lachte und meinte, dass er sich vor nie-
mandem beugen würde. Mein Tod würde seine Niederlage bedeuten – eine Niederlage, die er niemals hinnehmen würde!« Seiya schauderte es. Angesichts dessen, was dieser Junge erlitten hatte, vergaß sie ihre Angst. Kayim atmete tief ein. »Doktor Shot flickte mich wieder zusammen und ersetzte, was mir inzwischen fehlte – Organe und Gliedmaßen. Kein Medikament konnte meine Schmerzen stillen, keine Droge mich länger als ein paar Minuten aus dem Inferno befreien. Immer wieder bettelte ich um mehr Betäubung, deren Wirkung zusehends nachließ. Natürlich erflehte ich auch meinen Tod, aber mein Vater war unerbittlich. Wer kann sich das Lied einer pumpenden Beatmungsmaschine vorstellen? Ein immergleicher Klang des Grauens!« Groom rollte mit den Augen, und Seiya vermutete, dass er sich an einem anderen Ort befand: In der Finsternis der Erinnerung, dort wo sein Vater der Jäger und die Kindheit die Beute war. »In dieser Zeit wuchs meine Psimagie. Ich erlernte den Kontakt. Ich konnte mich in die Träume anderer schleichen und mit ihnen meine Schmerzen teilen. Was ich dort erlebte, würde viele Bücher füllen. Viele Lunarien lag ich wie ein Versuchstier in Streckverbänden, verschraubt, mit künstlichen Aggregaten am Leben erhalten, mein Kopf in Metallspangen gezwängt, mein Kiefer von Spangen gestreckt, Metallplatten wurden mit den Wangenknochen vernietet, das Gebiss ersetzt, Nägel ins Fleisch getrieben. Das Erste, was ich nach meiner … Errettung tat, war logisch.« Kayim machte eine Pause und starrte Darren an, der den Blick fast gelassen erwiderte. Seiya bewunderte ihn für seine Haltung; wer weiß, wie oft er tatsächlich schon in solchen Situationen gewesen war! »Ich tötete meinen Vater«, fuhr Kayim fort. »Ich begleitete ihn in seinen Träumen in den Wahnsinn. Er schnitt sich die Kehle durch und lachte dabei. Bis er tot war, lachte er, und ich – ich lachte mit ihm! Endlich hatten wir etwas Gemeinsames!« Seine Augen blitzten wie polierte rote Edelsteine. »Es verging kein Tag, an dem ich nicht deinen Tod wünschte. Und deswegen wirst du jetzt springen. Aber vorher möchte ich, dass du dich dagegen wehrst! Dass du immer
daran denkst, dass nur ich dich retten kann! Bettle und winsle!« Darren schüttelte den Kopf. »Niemals«, keuchte er. »Ich bin frei!« Er sah Kayim an. »Lass wenigstens Seiya gehen. Sie hat nichts damit zu tun, und noch eine wichtige Mission zu erfüllen.« Sein Blick glitt zu ihr. »Du musst As'mala finden, und … sag Shanija, dass …« »Weg mit ihm!«, schrie Groom. Ein Marganer stieß Darren weiter. Wind wehte durch sein Haar. Es ging abwärts, die Rampe schwankte. »Nimm ihm wenigstens die Fesseln ab!«, rief Seiya. »Was meinst du, Tophel? Soll ich ihm die Fesseln lösen?«, fragte Kayim seinen imaginären Gesprächspartner. Dann sah er wieder zu Darren und grinste. »Also gut. Es spielt keine Rolle mehr. Für einen Moment sollt ihr beide euch der trügerischen Hoffnung hingeben, dass ihr frei seid.« Er gab dem Marganer einen Wink, der zuerst Darrens Verschnürung durchschnitt, dann Seiyas. »Die Hauptsache ist, du verschwindest endlich aus meinem Leben, Darren. Spring!« »Bitte«, schluchzte Seiya, »übe Gnade! Du musst das nicht tun. Zeig, dass du über dich hinausgewachsen bist, dass aus dir etwas Besseres als dein Vater wurde …« Kayim aber lachte nur. »Zu spät, meine Hübsche.« Darren warf Seiya einen letzten Blick zu. Dann verschwand er im Nichts.
Seiya fragte sich, warum sie noch stand, nicht zusammenbrach, nicht weinte oder jammerte. Die Angst verließ sie. Darren war fort, und nun war sie an der Reihe. Groom würde sie nicht gehen lassen, daran glaubte sie keine Sekunde. Wenigstens starb sie nicht allein. Sie bedauerte nur, dass so viele Dinge ungesagt geblieben waren. Oh Mun, warum bist du nicht bei mir? Ich werde dich nie wiedersehen! Vielleicht hätten wir – vielleicht – es gibt doch immer eine Möglichkeit, nicht wahr? Ich dachte, ich bin jung und habe so viel Zeit, ich könnte alles abwarten. Stumm betrat sie die Rampe, ohne dazu aufgefordert worden zu sein, innerlich bereits tot. Ich werde mutig sein. Und frei, genau wie Darren.
Und sie war es.
* Tophel amüsierte sich. Was hier geschah, zählte zu jenen unprosaischen Begegnungen mit der rauen Wirklichkeit, die er so sehr schätzte. Hier gab es die Möglichkeit, die Seele zu studieren, ohne dass kluge Philosophen sich vorweg darüber Gedanken gemacht hätten. Unverfälschte Bosheit, auf ihre Art rein und sauber. Vielleicht wäre es keine schlechte Idee, wenn Dur, der Ewige, das Universum endlich erlöste. Was Tophel in den hunderttausend Jahren seiner Existenz erlebt hatte, war nicht dazu angetan, eine positive Sichtweise zu vertreten. Dennoch – da gab es jene klugen Geister, deren Bekanntschaft Tophel genoss, deren Worte er hinterfragte, deren Sichtweisen er verinnerlichte, bei denen er weder Abneigung noch Sarkasmus empfand, sondern vielmehr Humor und Optimismus. Klugheit galt es zu erkämpfen. Man bekam sie nie geschenkt, sondern musste sie sich erarbeiten. Er hatte gelernt, zu lernen. Und kannte das Geheimnis der schicksalhaften Dramaturgie. Deshalb wusste er, dass es in diesem Spiel noch eine unbekannte Komponente gab, geben musste. Er wunderte sich nicht, als seine Voraussage zutraf.
* Ein Brausen erklang, schweres Flügelschlagen. Dann stieg ein riesiger Wardonk vor der Rampe hoch, mit B-ama auf dem Rücken. Sie presste die Schenkel an das rote Flugtier, ihr gedrungener Oberkörper war leicht nach hinten gelehnt, die kraftvollen Hände hielten eine Armbrust. Sie zielte direkt auf den Maschinenmann. »Himmelstürmer!«, schrie Seiya fassungslos. Der Wardonk gelang es, sich fast auf der Stelle zu halten, sodass sich die Mündung der Armbrust kaum verschob. Seiya ließ sich auf
die Rampe fallen und rollte sich herum. Ein schnalzender Laut, der Pfeil surrte aus B-amas Armbrust und prallte gegen Grooms metallene Brust. Die Wucht des Aufpralls riss ihn von den Beinen, offensichtlich aber war er nicht verletzt, denn er kämpfte sich sofort wieder hoch. Aus den Augenwinkeln sah Seiya, dass B-ama nachlud. Da krachte ein Schuss. Himmelstürmer zog die Flügel an den Körper und verschwand aus Seiyas Blickfeld. Ein Marganer sprang mit weiten Schritten auf die Rampe, trat nach Seiya, die sich noch enger zusammenrollte. »Stoß sie runter!«, brüllte Groom. »Nun mach schon!« Der Marganer holte aus. Seiya zog hingegen die Füße an die Brust und stieß sie dann mit aller Kraft gegen seine ungeschützte Kniescheibe. Es knackte bedenklich und aus dem runden Mund des Kriegers drang ein Laut der Überraschung. Er verlor das Gleichgewicht, stolperte, taumelte an den Rand, ruderte mit den Armen. Natürlich, wer würde schon annehmen, dass eine zierliche Prinzessin einen mehr als doppelt so schweren Söldner angreifen würde. Seiya stieß einen wilden Schrei aus, schleuderte die Beine ein zweites Mal nach vorn und trat zu. Die Augen panisch aufgerissen, seine Arme suchten Halt, hing der Marganer für einen Augenblick im Nichts und fiel dann seitlich über die Rampe. Seiya schrie immer noch, während sie sich aufrichtete, dann fegte ein Windstoß heran, und das beschädigte Schiff neigte sich. Sie konnte sich nicht mehr halten, ihre Finger krallten sich ins Holz, Fingernägel splitterten, ihr Körper rollte seitlich weg, der Neigung des Schiffes nach, dann fühlte sie unter sich Leere … … und stürzte.
Schlagartig, viel zu schnell, endete der Fall. Mit einem ächzenden Laut prallte Seiya auf Himmelstürmers breiten Rücken und krallte sich instinktiv an den Rückenschild, umklammerte ihn mit beiden Armen und presste sich daran. Ihr Herz raste, und der Wind riss ihre langen schwarzen Haare nach hinten, während die Wardonk
stieg und eine Schleife flog. »Schön, dass du wieder bei uns bist!«, rief B-ama und drehte sich lächelnd zu ihr. »Jetzt treten wir Groom in den Arsch!«, rief die Zwergenwüchsige und brachte die Armbrust in Position. Ich habe es geschafft! Ich habe überlebt! Für einen Moment war es zu viel für Seiya. Ja, sie hatte es überlebt, für den Moment, und war vielleicht sogar frei. Aber Darren … Darren ist tot! Ein guter Kerl, etwas schwierig, nicht immer angenehm, aber eine ehrliche Haut. Ein Freund, der für sie gekämpft hatte, für sie gesorgt. Gemeinsam hatten sie den schlimmsten Alptraum ihres Lebens durchwandert. Wie sollte die Prinzessin Shanija jemals wieder unter die Augen treten und ihr gestehen, was geschehen war? Wie konnte die Erdenfrau ihr das verzeihen? Himmelstürmer steuerte das Heck der Pollux an. Die Flügel der Gleiter leuchteten in der Sonne. Groom fuchtelte erregt in ihre Richtung, aus allen Rohren dampfend, und schrille Klänge drangen bis zu ihnen. Kugeln und Bolzen pfiffen knapp an ihnen vorbei, doch Himmelstürmer manövrierte so halsbrecherisch, dass sie nicht getroffen wurde. Der Wardonk schien dieser Kampf Spaß zu bereiten, denn mehr als einmal meinte Seiya, so etwas wie Gelächter aus ihrer grollenden Kehle zu vernehmen. Aus dieser Perspektive wirkte die Pollux noch größer, der Ballon über der Dschunke war prall gebläht. Die durch den Sturm verursachten Schäden waren noch nicht ganz beseitigt, an den Seiten und unter dem Rumpf der Dschunke pendelten zersplitterte Holzteile, Vertäuungen und Ketten. Seiya glaubte kurz, etwas dort unten zu sehen, das sich verfangen hatte, wie eine Fliege im Spinnennetz; etwas, das menschlich aussah, doch dann waren sie schon zu nah am Schiff, und sie musste sich auf die Vorgänge auf dem Deck konzentrieren. B-ama schoss und ein Marganer griff sich an die Brust. Entsprechend seiner Art versuchte er, den Schmerz zu ignorieren und brauchte zwei Sekunden, bis er erkannte, dass er tot war. Aus dem Loch, das der Bolzen geschlagen hatte, sprudelte das Blut seines zer-
fetzten Herzens. Zwei Artgenossen packten die Leiche und warfen sie über Bord. Der Maschinenmann kam an den Rand der Rampe gestampft und hob zornig seine Fäuste. »Ich werde dein ganzes Volk töten!«, brüllte er. »Vorher springst du in einen Vulkan«, gab B-ama zurück. Sie lenkte Himmelstürmer nach unten, und Seiya hielt den Atem an. »Ich habe nur eine Armbrust, aber hier, wenigstens ein Messer!« B-ama reichte der Prinzessin eine kurze, scharfe Klinge. Eine scharfe Kurve. Seiya hielt sich krampfhaft fest, dann stoppte Himmelstürmer eine Armbreit vor der Rampe. B-ama sprang ab und ging mit der Armbrust in Anschlag. Ohne nachzudenken, sprang Seiya ebenfalls ab und war wieder auf die Pollux zurückgekehrt, an den Ort, an dem sie zuletzt sein wollte. Doch sie konnte B-ama unmöglich allein lassen. Himmelstürmer rief. »Ich hole ihn jetzt!«, und verschwand mit einem sausenden Flügelschlag nach unten. »Wen holt sie?«, rief Seiya B-ama zu, obwohl sie es längst ahnte, und ihr Herz schlug wild. Ihre Augen hatten sie also doch nicht getrogen! Darren lebte, er hatte im Sturz irgendwie eine Kette oder Tau greifen und sich daran festhalten können. Und seither wahrscheinlich auf ein Wunder gewartet, das ihn von dort wegholte. »Rate mal«, grinste B-ama ihr zwinkernd zu, dann wandte sie sich dem Maschinenmann zu. Groom erwartete sie, die Hände in die Hüften gestemmt. Hinter ihm und an seinen Seiten bauten sich Marganer auf. Der Maschinenmann wirkte siegessicher. »Ihr seid ja vollkommen verrückt. Anstatt zu flüchten, wollt ausgerechnet ihr beiden unfähigen Weiber euch mit mir anlegen?« Sein Lachen kratzte wie Schmirgelpapier auf Metall. B-ama zögerte keine Sekunde. Ihr Pfeil zerfetzte den Kopf eines Marganers, blitzschnell lud sie nach und brachte den nächsten Söldner zu Fall, bevor die anderen sich in Bewegung gesetzt hatten. Groom wirkte für einen Moment erstaunt, weil B-ama nicht auf ihn angelegt hatte. Und da zielte sie auch schon auf ihn. »Nur damit
dir klar wird, wie ernst es mir ist, und dass ich nicht zögern werde«, sagte sie scharf. »Du bist mir einmal entkommen, aber das wird dir auf diese kurze Entfernung nicht noch einmal gelingen!« Groom verlor die Fassung, anstatt seine Schergen vorzuschicken, stürzte er sich mit einem Schrei auf die Frauen. In diesem Augenblick schoss B-ama. Der Bolzen traf den Maschinenmann in die Schulter, er stürzte nach vorn, rutschte auf dem Bauch die sich neigende Rampe hinab und fing sich gerade noch vor dem Absturz ab, pendelte halb über dem Abgrund. Ein panischer Ausdruck trat in seine Augen. In diesem Augenblick drehten sich die Marganer um und überließen Groom seinem Schicksal. »Wagt es nicht, euch abzuwenden!«, schrie der Maschinenmann den Söldnern hinterher. »Bringt die beiden Frauen um! Ich befehle es euch!« Doch die Marganer kümmerten sich nicht um ihn. So schnell konnte sich das Schicksal wenden. »Sieht so aus, als geben sie dich verloren«, bemerkte Seiya. »Marganer halten nur einem starken Auftraggeber die Treue, sie verabscheuen Schwäche. Für sie sind deshalb wir jetzt die Starken, denn wir haben dich zu Fall gebracht.« B-ama ging auf Groom zu, der nächste Pfeil war eingelegt. Langsam zielte sie auf seine Stirn. »Das kannst du nicht tun!«, kreischte Groom und versuchte verzweifelt, seinen schweren Maschinenkörper über den Rand zu ziehen. Immer wieder schwang er das Bein nach oben, aber er schaffte es nicht. Die Metallfinger krallten sich ins Holz. Schweiß rann ihm von der Stirn, aus seinen kranken roten Augen lief Blut, ebenso aus der Schulterwunde. »Ich kann«, sagte B-ama, »und ich werde.« Seiya blinzelte und schwankte, sie hatte plötzlich das Gefühl, als würde sich die Sicht verschieben. Und etwas drängte aus ihrem Inneren hoch, eine dunkle Erinnerung, die Flammen barg, und die Schreie Sterbender, und einen weißen Raum. Da kam Himmelstürmer wieder nach oben, landete am Rand des Decks, dicht bei der Rampe, und Darren sprang von ihrem Rücken.
9. Darren ging langsam auf den Maschinenmann zu, sein Gesicht eine kalte, starre Maske. Er schien weder Seiya noch B-ama zu bemerken. B-ama schulterte die Armbrust und trat zurück, neben die Prinzessin. »B-awig sollte nicht umsonst gestorben sein. Deswegen bin ich hierher aufgebrochen, um noch mehr Leid zu verhindern und alles zu beenden.« Die Prinzessin schloss kurz die Augen und schluckte die aufsteigenden Tränen hinunter. »Tut mir leid«, flüsterte sie. »Ihm«, zischte B-ama und deutete auf Groom, »muss es leidtun. Und das wird es auch.« Der Maschinenmann sah zu Darren hoch. »Was nun?«, keuchte er. »Bist du ein Geist? Der Geist der Rache?« Darren verharrte und blickte auf den einstigen Spielgefährten herab. »Hilf mir, Darren!«, bettelte Groom mit kindlich hoher Stimme. Seiya sah, wie die Kraft in seinen Metallfingern nachließ, die ihren Griff allmählich lösten. »Warum sollte ich das tun?«, fragte Darren. »Immerhin hast du mich in den Tod geschickt. Damit sind wir quitt.« Grooms Griff verstärkte sich wieder. »Ich … ich kann … alles ändern …« »Du willst sagen, du bist geläutert? Sei nicht albern, Groom. Kayim ist tot, er starb damals unter der Folter. Aus seinen Überresten wurde Groom geboren, das verzerrte Abbild Kayims, ein Monster, geboren und genährt von Hass und Rachsucht. Und vermutlich steckte die Anlage zur Grausamkeit von Anfang an schon tief in Kayim, denn welchen Grund sonst solltest du haben, Unschuldige zu unterdrücken, mit Alpträumen zu quälen und zu ermorden? Du bist längst tot, Kayim-Yimak, du willst nur einfach nicht loslassen.« »Ich will leben«, schluchzte der Maschinenmann.
Da griff Darren mit einer unerwarteten, blitzschnellen Bewegung zu und legte seine Hände um Grooms Unterarme. »Ich bin nicht wie du«, sagte er. »Ich richte nicht über dich.« Seiyas Hände verkrampften sich, unwillkürlich tastete sie nach dem Messer. Neben ihr ging auch B-ama mit der Armbrust in Anschlag. Groom würde keine Dankbarkeit zeigen, wahrscheinlich würde er Darren in dem Moment angreifen, sobald der Maschinenmann wieder festen Boden unter den Füßen hatte. Doch das würde die Prinzessin nicht zulassen, auch wenn sie Darren für seine Entscheidung hohe Anerkennung zollen musste. Aber es war zu viel geschehen, sie würde Groom niemals verzeihen. B-ama hatte recht. Es war Zeit, endlich das Leid so vieler zu beenden. In diesem Augenblick materialisierte neben Darren eine mächtige Gestalt. Ein Mann in roter Robe, mit scharfen Gesichtszügen, messerscharfen Lippen, die Stirn mit zwei Wölbungen verunstaltet, angedeuteten Hörnern ähnlich. Er lächelte selbstgefällig. Seine Stimme war sanft und angenehm. »Du hast keine Verpflichtung mehr ihm gegenüber.« Er beugte sich vor und legte eine Hand auf Darrens Schulter. »Erfahrungen sind die Sporen, die uns das Schicksal gibt, um uns auf den richtigen Weg zu bringen, Darren. Dein Weg ist die Hoffnung, und diese liegt nicht in der Vergangenheit, sondern in der Zukunft.« »Tophel, du verdammter Schweinehund!«, brüllte Groom. »Was flüsterst du ihm ein?« Der Gehörnte löste Darrens Hände und zog ihn zurück. Seiya kam es so vor, als würde er etwas in Darrens Brusttasche stecken, aber vielleicht hielt er den Mann auch nur fest. Darren starrte mit weit aufgerissenen Augen zu dem missgestalteten, riesigen Wesen hoch. »Ich soll ihm Gnade verweigern?« Der Gehörnte lächelte. »Niemand kann den Morgen erreichen, ohne den Weg der Nacht zu durchschreiten. Dein Weg der Nacht endet hier, Darren Hag. Dies ist nicht mehr deine Entscheidung.« Groom lachte hysterisch. »Scheißdreck! Was quatschst du da, Gehörnter? Zieh mich endlich hoch!« Der Gehörnte schwieg, und Darren blickte auf seinen Jugend-
freund herab. Dann wandte er sich B-ama zu und nickte langsam. »Ja. Es ist eure Entscheidung.« »Bravo, Darren Hag!«, sagte der Gehörnte und trat zurück. »War diese Reise also doch zu etwas gut.« B-ama keuchte und zielte auf Groom. Der Mann in der roten Robe gab ihr jedoch ein Zeichen, und wie auf Befehl ließ die Frau die Waffe sinken. Seiya spürte plötzlich einen sanften Druck im Kopf, und sie blinzelte träge, als drei Marganer sich unerwartet näherten, mit gemessenen Schritten. Folgte nun wieder Kampf? »Das wird auch Zeit!«, schrie Groom, der sofort Hoffnung schöpfte. »Los, zieht mich nach oben!« Einer der Marganer ging vor dem Maschinenmann in die Knie. »Manche Dinge kommen, manche Dinge vergehen, Meister.« »Was soll dieser Schwachsinn? Seit wann seid ihr hirnlosen Schlächter Philosophen? Gehorche meinem Befehl!« Der Marganer legte seine Handflächen auf die Metallfinger seines Herrn. Eine fast schon intime Geste. Liebe und Trauer gleichermaßen zeichneten sein Gesicht, eine Regung, die Seiya diesen stumpfsinnigen Wesen niemals zugetraut hätte. »Meister, erinnerst du dich an unser erstes Gespräch, bevor ich und die anderen in deine Dienste traten? Du musst stärker sein als wir. Wenn du das nicht mehr sein kannst und allein vor dem Abgrund stehst, ohne Hilfe und Freunde, werden wir dich von deinem Leid erlösen, in Erfüllung unseres letzten Dienstes. Es ist eine große Ehre, die wir dir angedeihen lassen, die wir nicht immer gewähren. Ich gebe dir Zeit, dich vorzubereiten.« Groom begriff. Sein Mund war weit aufgerissen, doch kein Laut drang mehr heraus. Seine Hydraulik pumpte und ächzte. Der Maschinenkörper knirschte metallisch, der Kopf wurde von Rauch umnebelt. Der Marganer nahm Grooms Hand und bog einen Finger nach dem anderen hoch. Der somit zum Tode Verurteilte stieß einen letzten winselnden Laut aus. Die erste Hand löste sich, versuchte erneut den Rand zu greifen, wurde jedoch von dem Marganer weggeschlagen. Panisch krallten sich die verbliebenen fünf Finger tiefer ins
Holz. Der Marganer setzte sein Spiel in aller Gemütsruhe fort, während Groom hin- und herpendelte, versuchte, Halt zu finden, sich auf die Rampe zu stemmen. Es knackte, als die Hydraulik außer Kraft gesetzt wurde. Ein letztes Verweilen, und für eine Sekunde sah Seiya hinter den aufgerissenen Augen Grooms den gequälten Blick des jungen Kayim. Dann fiel er.
Der Marganer richtete sich auf. Der Gehörnte verschwand, löste sich einfach in Luft auf, und sein Lachen hallte im Dunst des Morgens nach. B-ama, Seiya und Darren standen reglos da. B-ama rutschte die Armbrust aus der Hand und polterte auf die Rampe. Der Marganer wandte sich ihnen zu. »Wir haben dies gemeinsam beschlossen: Der Kampf ist beendet. Unser Herr ist tot. Wir ziehen weiter. Der Himmel ist weit und Less groß. Wir verlassen diese Region für immer und nehmen die Pollux mit uns. Ihr könnt gehen, wir haben nichts mehr miteinander zu schaffen. Nehmt das Flugtier und verschwindet, augenblicklich.« »Eine Bitte«, entfuhr es Seiya, und sie begegnete dem kalten Blick des Hünen furchtlos. »Könnt ihr uns Doktor Shot zur Verfügung stellen? Wir hätten eine Aufgabe für ihn.« Der Marganer nickte, ohne zu zögern. »Wir haben keine Verwendung für ihn und würden ihn ohnehin töten. Macht mit ihm, was ihr wollt.« Himmelstürmer krächzte ein wenig unglücklich, als Darren und Seiya auf ihren Rücken kletterten, der gefesselte Doktor dazu kam und zuletzt B-ama vorn im Nacken Platz nahm. Ohne Abschied verließen sie die Pollux. Seiya hoffte, das Flugschiff nie wiederzusehen.
* Seiya und Darren waren unterwegs nach Osten.
Schweigsam. Müde. Verändert. Die Gedanken hingen noch bei den letzten Momenten mit den B-arbs. Seiya hatte Darren aufgefordert, in seiner Brusttasche nachzusehen, denn das seltsame Wesen Tophel mit seinem merkwürdigen Gebaren ging ihr nicht aus dem Kopf. Darren steckte die Finger in die Tasche, stutzte und zog verdutzt einen zerknitterten Zettel hervor. Darauf standen nur drei Worte, in vielen Zeilen wiederholt, zittrig hingeworfen: As'mala in Choc. B-ohlo erkannte die Handschrift als die des verschrobenen Dichters Asogal, der ganz in der Nähe in einer Höhle lebte. Die B-arbs führten Darren und Seiya dorthin, doch sie konnten nur noch den toten Dichter bergen. Es fanden sich keine weiteren Spuren, außer Hunderten ähnlicher Zettel, auf denen unverständliche Worte standen. Weissagungen, die nicht mehr erklärt werden konnten. Asogal hatte sein Wissen mit in den Tod genommen. »As'mala«, sagte B-ama, »ist das nicht der Name eurer Freundin, die ihr sucht?« »Ja«, sagte Darren verwirrt. »Aber was bedeutet Choc? Davon habe ich noch nie gehört.« »Oh, das ist eine Stadt, nicht weit von hier entfernt, Richtung Osten. Wir können euch den Weg beschreiben. Eine merkwürdige Stadt, heißt es.« »Dann hätten wir endlich eine Spur«, flüsterte Seiya. »Und es geht nach Osten, vielleicht … finden wir unterwegs auch Shanija und Mun …« »Leider kann Himmelstürmer euch nicht fliegen, sie ist nach den Anstrengungen völlig erschöpft, und wir wollen ihr Ungeborenes nicht gefährden.« »Natürlich nicht«, stimmten Darren und Seiya zu. »Wir gehen zu Fuß weiter.« Doktor Shot wurde von B-ohlo unter Aufsicht genommen und erhielt den Auftrag, die Flugsehnen der Wardonks wieder herzustellen. Mit sanfter Überredungsgewalt und zwei Flaschen Wein war er schließlich so weit, einen Handel mit den B-arbs zu schließen, und
machte sich an die Arbeit, die ihn bald voll und ganz in Anspruch nahm und zusehends begeisterte. Er war ein Meister seines Handwerks, und die Zukunft der Wardonks konnte sich wahrscheinlich zum Guten wenden. Als Unterkunft stellten die B-arbs dem Arzt die leer geräumte Höhle Asogals zur Verfügung. Der Abenteurer und die Prinzessin nahmen noch an der Trauerfeier für B-awig und Asogal teil, doch dann wollten sie aufbrechen. Sie wussten nun, wo As'mala zu finden war. Falls man den wirren Worten eines Sterbenden trauen konnte – andererseits war es der beste Hinweis, den sie bisher erhalten hatten. Bald würde Himmelstürmer ihr Junges bekommen. Ein niedlicher kleiner Wardonk, der mit einem großen Fest begrüßt würde, nahm Seiya an, die ein wenig traurig war. Ein paar Tage Erholung bei den fröhlichen Zwergenwüchsigen hätten gut getan. Doch sie mussten weiter, es gab kein Verweilen, und alle düsteren Gedanken mussten verdrängt werden. Zum Abschied gab es Wein und Umarmungen, und auch die eine oder andere verstohlene Träne. Seiya und Darren wurden als Freunde verabschiedet und bis zur Waldgrenze begleitet, bevor sie weiter über die Ebenen wanderten. Still gingen sie dahin, immer Richtung Choc. Und nichts würde je wieder so sein wie zuvor.
Zehnter Teil Michael Marcus Thurner
Der Erhabene Prophet
1. Gen Osten! »Tickets!«, schrie der Marketender. »Eine Fahrt Richtung Osten bietet Altim der Zarte für zwei Passagiere in der sonst ausgebuchten Kutsche. Durch die Wallwach-Ebene, über den wildromantischen Golgan-Pass, durch das bezaubernde Hochland Amendur. Nach einem eintägigen Aufenthalt in der Stadt Choc geht es weiter, der Meeresluft entgegen.« Der sechsarmige Qualloide holte tief Luft, blähte seinen Körper weiter auf und trötete mit lauter Stimme quer über den Handelsplatz: »Noch niemals zuvor wurde ein derart großzügiges Angebot gemacht, noch niemals zuvor war Altim bereit, jemanden zu besonders günstigen Konditionen in der Kutsche mitzunehmen.« »Halt besser dein eitriges Maul!«, brüllte ein anderer Krämer mit dem ungefähren Aussehen eines feisten Mastochsen dagegen an. Mit einem langen Augenrüssel deutete er auf den Qualloiden: »Dieser Schlurf, dessen Gegenwart ich seit nunmehr elf Jahren erdulden muss, fabriziert heiße Luft, sonst nichts! Ich allein besitze das verbriefte Recht, Altims Tickets anzubieten. Hört nicht auf meinen keineswegs geschätzten Vorredner und bucht bei mir! Eine Fahrkarte, dazu ein Gläschen Schaumwein und ein Handtuch zum Abtrocknen nach dem Entrichten der Fahrtaxe – wer könnte da noch widerstehen? Sagt selbst, werte Interessenten, ist dieses Angebot noch zu toppen?« »Selbstverständlich ist es das, du Auswurf eines stinkenden Gedärms«, ergriff nun wieder das Quallenwesen mit nochmals erhöhter Lautstärke das Wort. »Ein einziger Schluck von deinem Schlabberwasser führt zu stundenlangem Erbrechen, und deine Handtücher sind von Legionen an Flöhen durchsetzt. Mir hingegen ist es gelungen, Altim eine weitere Gunst abzuringen: Der Zarte ist bereit, seine persönlichen Lieblingsplätze zu räumen! Die geneigten Interessenten werden gebeten, sich den Luxus dieser Reise bildlich vor-
zustellen: die friedliche Landschaft zieht draußen still vorbei, ein Bänkelsänger erzählt von der guten alten Zeit, und von der bezaubernden Reisehostess werden die begehrtesten Delikatessen serviert, die auf Less zu bekommen sind …« »Das hört sich zu gut an, um wahr zu sein«, sagte Shanija leise zu Mun. »Trotzdem: die Reise mit einer Kutsche bedeutet Zeitgewinn und weniger Unannehmlichkeiten.« Der Adept sah sie blicklos an. Er überlegte lange, bevor er antwortete, mit einem verstohlenen Blick auf einen aufgequollenen Uriani, der neben ihnen stand und mit weit aus dem Gesicht hängender Zunge Notizen auf einem Wachsblock anfertigte. »Zeitgewinn – ja«, flüsterte er. »Weniger Unannehmlichkeiten – nein. Diese beiden Agenten sehen mir keinesfalls vertrauenerweckend aus. Und von Altim dem Zarten habe ich während meiner Reisen nur das Schlechteste gehört. Keiner der beiden Anbieter hat bislang gesagt, welche Gegenleistung man für die Tickets erbringen muss. Ich kann's mir allerdings vorstellen …« Sie steckten im Gewirr fest, das sich rings um den Rufplatz im Zentrum des Marktes gebildet hatte. Stummelfüßige Laufschrecksen drängten sich neben Kuntar, Menschen neben zottelige Voiden. Ungewohnte Gerüche vermengten sich, eine seltsame Stimmung hatte die schätzungsweise mehr als zweihundert Neugierigen und Interessenten erfasst. »Ich habe keine Angst vor irgendeinem feisten Krämer.« Shanija zuckte mit den Achseln. »Ich kann mir den Kerl sicherlich vom Leib halten, sollte es notwendig sein.« »Bei Altim handelt es sich um einen Samti. Um einen mit der Kutsche verwachsenen Schleimbatzen, dessen Einflüsterungen dich selbst in deinen Träumen verfolgen. Er sitzt seit Jahrzehnten in dem Gefährt und schließt dort seine Geschäfte mit den anderen Reisenden ab. Er suggeriert Dinge, bezirzt dich, beherrscht alle Arten der Überredungskunst. Ein Samti ist selbst für meine Willenskraft eine bemerkenswerte Herausforderung.« Shanija überlegte. Muns Beharrlichkeit rang ihr immer wieder Bewunderung ab. Der Adept verfolgte seine Ziele konsequent und vol-
ler Hingabe. Er war ihr zum verlässlichen Freund und Partner geworden. »Ich verlasse mich auf dich, wenn etwas schiefgehen sollte«, sagte sie. »Du weißt, wie sehr es mich drängt, zur Urmutter zu gelangen. Ich bin die Ritte auf stinkenden und spuckenden Tieren allmählich leid. Der Komfort einer Kutsche bedeutet gesparte Kraft, die wir sicherlich später benötigen werden.« Qualloide und Mastochse stritten indes auf ihrem Podest munter weiter. Abwechselnd warfen sie sich Beleidigungen an den Kopf, die für Gelächter oder hochrote Köpfe im Publikum sorgten. »Sieh dir die Frucht-, Wein- und Fleischhändler ringsum an«, sagte Mun. »Sie kümmern sich nicht weiter um das Spektakel. Wahrscheinlich müssen sie es jeden Tag über sich ergehen lassen. Ich vermute auch, dass die beiden vermeintlichen Kontrahenten in Wirklichkeit zusammenarbeiten. Das ist eine abgekartete Sache, sage ich dir. Es ist vollkommen egal, wer von ihnen tatsächlich ein Ticket an den Mann bringt. Sie kommen auf jeden Fall auf ihre Kosten.« »Mag sein«, sagte Shanija leichthin. »Ich habe mich dennoch entschlossen. Wir nehmen diese Kutsche. Ich erkundige mich, wie viel die Fahrt kostet …« Mun hielt sie fest, bevor sie näher zum Podest vorrücken konnte. »Es ist anzunehmen, dass dir das Geschäft nicht besonders gefallen wird.« »Ich verstehe nicht …« »Altim ist dafür bekannt, einen Gegenwert in Ovarien und Spermien zu fordern. Möchtest du deine Beine vor einem Pflanzenwesen breitmachen und darauf warten, dass es dich penetriert?«
* »Oh.« Shanija ließ sich von Mun ohne weitere Gegenwehr aus der wogenden Masse der Zuhörer ziehen. Nur nicht rot werden, dachte sie – und wechselte prompt die Farbe. »Samti wie Altim schenken beim Geschlechtsakt mit Fremdrassi-
gen Träume voll Ekstase«, erklärte der Adept, wie immer mit ausdruckslosem Gesicht. »Über ihre natürlichen Fähigkeiten, Orgasmen bei jedwedem Sexualpartner herbeizuführen, werden landauf, landab die wildesten Zoten verbreitet. Egal, ob Männlein oder Weiblein – jedermann kommt auf seine Kosten.« »Und was hat nun Altim von einem derartigen Handel?« »Der Sexualakt ist für ihn nicht nur ein kindliches Vergnügen. Er entnimmt das, was er benötigt. Der Geschlechtsakt stimuliert sein Wachstum, und bei ausreichend angesammelter Masse an Spermien und Ovarien jedweder Herkunft ist er in der Lage, einen Ableger zu formen und von sich abzuspalten. Ein Kind, das eine Zeitlang als Teil von ihm heranwächst und irgendwann, wahrscheinlich in einem anderen Gefährt, eingesetzt wird, um dort im Namen seines Elters Handel zu treiben. Das merkantile Geschick der Samti ist, wie gesagt, durchaus bemerkenswert …« »Mag sein. Aber ich werde mich keinesfalls mit einem Ding, das wie ein Nasenpopel aussieht, ins Bett legen. Oder wohin auch immer.« Obwohl der Gedanke, unglaubliche Höhen zu erklimmen, durchaus seinen Reiz hatte. Aber … nein. Sie ließen den Trubel des Marktplatzes hinter sich und marschierten durch eine der engen Gassen des kleinen Städtchens Stondal, dessen Tore sie gestern durchschritten hatten. »Dann also doch auf zu den Stallungen«, sagte Shanija. Sie seufzte. »Irgendein Tierchen mit halbwegs guten Manieren und akzeptabler Verdauung wird schon dabei sein.« »Ich habe diese Hoffnung längst aufgeben.« Mun atmete tief durch. »Und ich bin, wie du weißt, schon dreißig Jahre unterwegs.« »Scheiße.« »Im wahrsten Sinne des Wortes.« Ein Knall wie von einem Sektkorken ertönte. Shanija drehte sich um, das Schwert aus Kreischerstahl fest in der Hand. Mun war ebenfalls schnell; der Wanderstock lag neben der Schwertspitze dicht an den Halsfalten eines Uriani. »Ich erkenne dich«, sagte der Adept mit leiser Stimme. »Du bist am Handelsplatz neben uns gestanden. Folgst du uns etwa?«
»In der Tat, Hoher Herr«, krächzte der Krötenähnliche, »aber ich tat es mit gesetzeskonformen Intentionen.« Shanija ließ das Schwert sinken, trat einen Schritt näher und beäugte das Wesen, das ihr knapp bis zur Brust reichte. Es sonderte fischigen Gestank ab. Aus Drüsen unterhalb seiner Arme drang faulige Flüssigkeit und tropfte zäh zu Boden. »Dann sag, was du zu sagen hast«, forderte sie den ängstlich vor sich hinmümmelnden Uriani auf. »Mein Name ist Grochtoch, Hohe Herrin, und ich bin erstens ein bescheidener Diener der hiesigen Stadtverwaltung, der zweitens seinen ersten Außendiensteinsatz zu erledigen hat. Anmerkung A Strich Eins: Ich bin bei meiner Aufgabe auf Hilfe eines/mehrerer Außenstehenden angewiesen. Anmerkung A Strich Zwei: Ich verfüge über die notwendigen Mittel und Befugnisse, meine Helfer – Klammer auf, steuerfrei, Klammer zu – zu entlohnen. Präambel zu Anmerkung A: Ihr, die potenziellen Vertragspartner X und Y, könntet diese Entlohnungswürdigen sein. Ihr könntet euch die Kutschenpassage verdienen, indem ihr euch in Kollaboration mit mir, potenzieller Vertragspartner Z, begebt.« »Ich habe nicht all zu viel von dem verstanden, was du gesagt hast«, meinte Shanija verwirrt. »Das war das übliche Beamtengebrabbel.« Mun lockerte den Griff um den Stab und stellte sich entspannt, vor den Uriani. »Grochtoch bietet uns Arbeit als Kollaborateure an.« »… und, Schrägstrich, oder Zeugen«, ergänzte das Krötenwesen. »Welche Schweinerei erwartest du von uns, mein Freund?« Shanija musste grinsen. Irgendwie fand sie Gefallen an Grochtoch. Der Uriani bat sie einen Schritt beiseite, ins Dunkel eines Weges, der in einen Hinterhof führte. »Das Transportkontor Transless-Express, das die Kutschenlinie Richtung Choc betreibt, ist der Stadtregierung Stondals ein Dorn im Auge«, flüsterte er. »Entweder suchen wir, Punkt Eins, nach Beweisen, um die Herrschaften der Steuerhinterziehung aufgrund der getätigten beziehungsweise zu tätigenden Geschäfte zu überführen, um Punkt Zwei, Variante A, eine Anklage zu erheben …«
»Oder?«, fragte Shanija. »… oder, um gemäß Variante Zwei B, ein mir genehmes Bestechungsgeld bestimmen zu können. Gezeichnet, in Anwesenheit, Grochtoch, Hilfshäscher.« »Ich bin ein Adept«, wandte Mun ein. »Ich werte nicht, ich betrüge nicht. Ich beobachte, ohne mir ein Urteil zu erlauben …« »Wir sind dabei«, überstimmte Shanija ihren Mitreisenden, ohne lange zu überlegen. »Du besorgst uns die beiden Tickets, ohne dass wir mit Altim irgendwelche … Dinge anstellen müssen, und ich liefere dir die notwendigen Informationen, die Mun in seiner unbestechlichen Art bestätigen wird. Ist das ein für dich gangbarer Weg, Grochtoch?« »Selbstverständlich, Hohe Frau!« Der Uriani verbeugte sich höflich ein ums andere Mal. Seine schlabbrige Zunge berührte den Boden. »Der Ruf eines Adepten steht erstens ohnehin außer Frage, und wer mit Mun, dem einzigen Menschen im Dienst des Zentralarchivs reist, ist zweitens glaubwürdig. Text Ende, kein Kleingedrucktes als integrer Bestandteil des Vertrages erforderlich.« Er spuckte in eines seiner dünnen Händchen und reichte es Shanija. »Hiermit akkordiert, mit vorzüglicher Hochachtung, versehen mit Datum und Ort der Unterzeichnung, et cetera und so weiter?« Widerwillig ergriff die Frau die Hand und schüttelte sie mit wenig Begeisterung. Sie war zwar wenig zimperlich, aber was Händeschütteln betraf, hatte sie schon bei ihren Einsätzen stets Handschuhe getragen. »Dann sehen wir uns morgen zu Sonnenaufgang in den Stallungen des Reiseveranstalters Transless-Express, woselbst ich euch die Tickets überreichen werde. Erschreckt nicht ob meiner Verkleidung. Täuschung und Tarnung scheinen mir in vorliegendem Fall unabdinglich. Protokollarische Aufzeichnung Ende.« Abrupt drehte sich der Uriani um und hetzte in weiten Froschsprüngen davon. Die Geräusche des schwerfällig landenden Körpers hallten von den Wänden der Häuser noch für einige Sekunden wider. Dann kehrte Stille ein. »Hast du denn eine Ahnung, auf was du dich da einlässt?«, fragte
Mun. »Ein Steuereintreiber in Ausbildung, ein notgeiler Händler, und wir genau dazwischen?« »Sehe ich da Zornesfalten auf der Stirn entstehen, lieber Mun?« Shanija grinste. »Ich liebe es, zumindest die Ansätze von Emotionen aus dir herauszukitzeln.«
* Der Flagellant Er griff nach der Dreischwänzigen mit den schweren, goldglänzenden Nieten. Die frühen Morgenstunden mussten mit einer körperlichen und seelischen Reinigung beginnen. Ein anstrengendes Tagwerk wartete auf ihn. Gespräche mit den wenigen Mitarbeitern, denen er vertraute. Pläne, die geschmiedet oder verfeinert werden mussten. Schriftrollen, die über die Befindlichkeit wichtiger Persönlichkeiten in vielen Reichen des Lebensmondes Zeugnis ablegten. Und dazwischen immer wieder reinigende Gebete und weitere Exerzitien. Sie allein halfen ihm, seine Bürde mit dem notwendigen Anstand zu tragen. Raban zog die Bänder glatt und legte sie sich dann mit der linken Hand über die rechte Schulter. Die Lederknoten streichelten über seine vernarbte Haut. Die Berührung erzeugte ein wohliges Schaudern. Sein Glied wurde steif. Seine Gedanken waren also von Sünde getragen, und der Körper verlangte nach Bestrafung. Also begann er zuzuschlagen. Sanft und langsam zuerst, dann immer rascher und heftiger. Er fühlte das Blut. Es rann seinen Rücken hinab und tropfte auf den Büßerstuhl. Platsch. Platsch. Platsch. Immer weiter. »Du sollst nicht begehren!«, rief er aus. »Du bist ein Diener des Einen Gottes. Dein ist das Reich des Wiedergängers, wenn du dich in Demut übst. Wenn du die Wolllust aus deinen Gliedern vertreibst
und alle sündigen Gedanken aus deinem Kopf bannst.« Drei Wiederholungen. Dann die nächste Strophe, die von den Übeln der Nichtgläubigen handelte. Gefolgt von den Gedanken an die Passage, die wiederum mit dem unendlichen Glauben an den Einen Gott verbunden wurde. Jeweils drei Wiederholungen. Kein Schmerz. Kein Gedanke an seinen Körper. Nichts. Er wurde zur Peitsche, und die Peitsche wurde zum integren Bestandteil seines Seins. So lange, bis die morgendlichen Exerzitien zu Ende waren. Raban richtete sich auf, mit erschreckender Plötzlichkeit aus dem Einssein erwachend. Er wurde wieder zur Person, und er fühlte den Schmerz. »Bringt die Parasiten!«, befahl er. Aus der Dunkelheit des Büßerraums kam ein Jüngling herbeigeeilt. Demütig warf er sich vor ihm, dem Erhabenen Propheten, auf die Knie und reichte ihm das Gefäß mit den hektisch umherflatternden Flugwürmern, ohne den Blick auf ihn zu richten. Raban nahm das Glas, öffnete den Drehverschluss und nahm mit der Geschicklichkeit jahrelanger Übung eine Handvoll der wundersamen Geschöpfe heraus. Er ließ sie vom Blut kosten, das an seinen Fingern klebte, und streifte sie dann am hinteren Halsansatz ab. Der Erhabene Prophet, Diener des Einen Schöpfergottes, fühlte, wie sie hinabkrochen und sich, Stück für Stück, im Schorf verbissen. Die Parasiten würden sich an ihm laben, ihm ein oder zwei Eier unter die zerplatzte Haut seines Rückens pflanzen, und dann die Narben mithilfe ihrer Spinndrüsen verschließen. Binnen zweier Stunden würden sie ihr Werk erledigt haben. Wenn Raban die mittäglichen Exerzitien vollführte, würde die Haut bereits wieder verwachsen sein. Die neuerlichen Hiebe würden die abgelegten Eier vernichten, und der Kreislauf begann von vorn. »Bringt mir mein Gewand!«, befahl er anderen Jüngern, die im Hintergrund des Saals warteten und sich in seiner Erhabenheit sonnten. Sie sollten sehen, welche Bürde er ihretwegen auf sich nahm. Mit einem nassen Tuch wischte er das sämige Produkt seiner Wollust vom Unterbauch. Er hatte gesündigt und sich dafür be-
straft. So, wie er es morgens, mittags und abends tat.
2. »Alles einsteigen, bitte!« Die Kutsche schien riesig; doch keinesfalls groß genug, um die mehr als dreißig Wesen aufzunehmen, die davor standen und auf die Abreise warteten. Das Chassis war perlmuttfarben. Gänge, Treppen und Wege zeichneten sich auf dem ersten Blick ins Innere des Gefährts ab; alles wirkte so klein, dass lediglich Zwerge hineinzupassen schienen. Die Strahlen der frühen Sonne strichen über die Kutsche und erzeugten seltsame Lichtreflexe. Gemurmel war zu hören; hohl und wie von vielfältigen Echos verzerrt. »Die Vertragsbestandteile Eins und Zwei werden hiermit in Form von auf unbestimmte Zeit gültige Reisetickets beigebracht«, ertönte Gequake hinter Shanijas Rücken. »Die Vertragspartner X und Y werden gebeten, sich nicht umzudrehen, um das äußerst Kleingedruckte im Schriftstück nicht zu offensichtlich werden zu lassen. Ich als Vertragspartner Z bleibe bis auf Weiteres inkognito und erwarte mir dementsprechende Diskretion von meinen werten Mitarbeitern. Bitte reicht nun die Hände nach hinten und übernehmt die Tickets.« Gehorsam streckte Shanija die linke Hand aus. Sie fühlte etwas Weiches, Ledriges zwischen ihren Fingern. »Womit hast du die Händler vom Marktplatz überredet, dir die Fahrkarten zu geben?«, fragte sie, während sie die Lederfetzen in einem Hosenbeutel verstaute. »Auch als Hilfshäscher stehen mir wichtige Mittel zur Verfügung, um meinen Wünschen Nachdruck zu verleihen.« Grochtochs Stimme klang belegt, als hätte Shanija ihn beleidigt. »Es gelang mir, die beiden mit dem notwendigen Nachdruck von der Wichtigkeit meiner Mission zu überzeugen.« »… und damit sie Altim vor der Abreise keinen Hinweis mehr geben können, hast du sie vermutlich in schwere Eisen legen lassen?«, fragte Mun.
»Wo denkst du hin, Vertragspartner Y? So etwas ist unter meiner Würde und nicht durch die Regularien des Kleinen Steuerhandbuchs für Anfänger gedeckt! Ich ließ sie – selbstverständlich völlig gesetzeskonform! – mit ein paar Stockschlägen aus der Stadt treiben …« »Dann sind wir ja beruhigt …« Shanija bereute nun doch, dieses Bündnis mit Grochtoch eingegangen zu sein. Der Uriani hing Vorstellungen von Moral und Skrupel nach, die nicht die ihren waren. »Alles einsteigen!«, rief ein kleiner, kaum mehr als einen Meter messender Menschenähnlicher mit dröhnender Stimme über den Platz. »Die Soloppen werden nunmehr angeschirrt. Die Passagiere sind aufgefordert, ihre Plätze einzunehmen!« Eine feiste Gestalt, in einen weiten Mantel gehüllt, hüpfte quakend an Shanija und Mun vorbei. Sie drängelte sich durch die Massen der anderen Passagiere und schob sich in die vorderste Reihe, aufgeregt mit dem Ticket winkend. »Grochtoch trägt einen Zwicker«, sagte Shanija. »Und schreiend bunte Strumpfhalter«, ergänzte Mun. »Daraus besteht also seine Tarnung.« Er seufzte. »Ich befürchte, uns erwartet eine … lustige Fahrt.«
* Die Soloppen waren dicht behaarte Monstren mit langen Kopfhörnern und Zungen, die immer wieder über den Boden leckten. Sie fraßen alles, was sie erwischen konnten. Morast, Gräser, Ausscheidungen, Abfälle. Myriaden von Fliegen umschwirrten sie und den Kleinen, der sich als »Primpot, stets zu Diensten« vorstellte. Eines der beiden Tiere schlabberte über den haarlosen Kopf des Kutschers; er ließ es ohne Regung geschehen und knallte lediglich mit seiner übermannsgroßen Peitsche. Shanija stieg über feuchte, moosbedeckte Stufen in das Gefährt. Irritiert wischte sie sich über die Augen. Für einen Moment glaubte sie, dass sich die Proportionen im Inneren der Kutsche verschöben. Unterlag sie einem Irrtum, oder erfasste sie irgendein psimagischer
Zauber? »Das erste Mal mit einer Kutsche des Transless-Express unterwegs?«, fragte ein trollähnliches Geschöpf und nahm ihr Ticket entgegen. »Ja.« »Unsere Transportmittel werden aus Sicherheitsgründen von einem Tortoiden begleitet, der im Oberen Bullauge Dienst tut.« »Manche Tortoiden sind in der Lage, die psimagischen Kräfte anderer Wesen in einem eng beschränkten Raum zu neutralisieren«, erklärte Mun, der neben sie getreten war und sich aufmerksam umblickte. »Ganz recht, Adept.« Der Troll zog sich eine fingergroße Wanze aus dem Haar, zerdrückte sie in seiner Hand und schlürfte genüsslich den weichen Schleim auf, der zwischen den Chitinsplittern hervorquoll. »Ich, euer Reisebegleiter Fullmanzwulf, bin als Einziger von diesem Bann ausgenommen. Mir obliegt es, die Größe der Kutsche den Gegebenheiten anzupassen, euer Essen zu kochen und generell für eure Zufriedenheit zu sorgen.« »Du bist also die angekündigte hinreißende Reisehostess? Und du kochst auch noch?« »Schönheit ist immer relativ und liegt im Auge des Betrachters, nicht wahr?« Der Troll spuckte Reste der Wanzenschale auf den Boden. »Und was die Essensfrage angeht: Es gibt Bohnen und Speck zu Mittag, sowie Speck und Bohnen am Abend. Alles Weitere später, meine lieben Gäste. Eure Plätze befinden sich oben, in Trakt Eins, rechte Seite.« Mun schob Shanija weiter ins Innere der Kutsche, auf einen schlecht beleuchteten Treppenabsatz zu. »Du wolltest es so haben, meine Liebe«, sagte er leise. »Ist schon gut.« Shanija seufzte. »Es schadet nie, ein wenig auf die Linie zu achten.« Vorsichtig stieg sie die Wendeltreppe hinauf. Auch das Innere der Kutsche war mit perlmuttfarbenen Mosaiksteinchen ausgelegt. Dazwischen zogen sich Ranken, die wie kunstvoll drapiert wirkten. Sie sonderten grünliches Licht ab, welches das Gesicht ihres Begleiters wie in eine Schüssel Spinat getaucht wirken ließ.
»Was meinte Fullmanzwulf mit: ›Die Größe der Kutsche den Gegebenheiten anpassen‹?«, fragte sie, während sie sich, im Obergeschoss angekommen, einen schmalen Gang entlang tastete. »Manche Wesen auf Less verfügen über die psimagische Fähigkeit, Dinge vergrößern oder verkleinern zu können. Wir nennen sie Mikromakros. Ich nehme an, dass Fullmanzwulf das Innere des Gefährts je nach Bedarf verändert.« »Du meinst: Wir sind jetzt nur noch halb so groß?« Shanija blieb erschrocken stehen und drehte sich zu Mun um. »Ich schätze, dass er uns auf ein Drittel unserer Masse reduziert hat. Aber keine Angst: Sobald wir die Kutsche verlassen, erlangen wir sicherlich unsere tatsächliche Körpergröße wieder.« »Das will ich hoffen!« Shanija konnte ihren Ärger kaum verhehlen. »Vor allem bedeutet das, dass ohnehin ausreichend Tickets für Reise zur Verfügung standen. Die Marktschreier wollten uns und alle anderen Interessenten hereinlegen und den Preis in die Höhe treiben.« »Was zu erwarten gewesen war.« Mun zuckte mit den Achseln. »Ich nehme an, dass die Steuerhäscher der jeweiligen Station mit einem derartigen Vorgehen von Transless-Express nicht all zu viel anfangen können. Es können augenscheinlich beliebig viele Tickets verkauft und dementsprechend viele Passagiere in den Tiefen der Kutschen untergebracht werden …« »Fullmanzwulfs Begabung sind Grenzen gesetzt«, dröhnte eine Stimme aus dem Nirgendwo. »Mehr als sechzig Passagiere bekommt er hier nicht unter.« Shanija drehte sich rasch im Kreis, auf das Schlimmste gefasst. »Nur keine Angst, meine Hübsche, ich tu dir nichts.« Ein geschwungenes Blumenrelief fiel aus der Fassung zwischen all den Perlmuttsteinen; ein Blütenkelch entfaltete sich und eine warzige Zunge schob sich daraus hervor. »Ich bin Altim der Zarte, und ich freue mich ganz besonders, dich und den Adepten an Bord begrüßen zu dürfen.« Eine zweite Ranke fiel aus der Decke herab. Das darin befindliche Auge zwinkerte Shanija vergnügt zu. Den dritten Austrieb des pflanzlichen Händlers konnte sie lediglich spüren: Er rieb sich mit deutlich hörbaren Tönen der Erregung zwischen ihren
Pobacken.
* Die Versammlung Raban verließ den Büßerraum und streifte sich noch im Gehen das einfache Arbeitsgewand über. Das grobe Gewebe scheuerte über die gerade erst heilenden Wunden, doch schon in wenigen Minuten würde er nichts mehr spüren. Er betrat den Denkerraum. Seine zwölf Jünger warteten bereits. Alle trugen ihre langen Gebetsketten um den Hals. Manch einem tropfte Blut vom Kopf. Von Zeit zu Zeit setzten die Jünger sich Dornenkronen auf, um so wie der Erhabene Prophet Buße zu tun. »Mir wurde zugetragen, dass die Trägerin der Sonnenkraft nicht mehr all zu weit von uns entfernt ist«, begann Raban die morgendliche Sitzung. »Sie befindet sich in einer der nächsten Kutschen, die das Hochland Amendur durchqueren wird.« »Es wird uns ein Leichtes sein, sie zu fassen«, sagte Syptus rechts von ihm, der eben erst von einer längeren Reise zurückgekehrt war. »Unsere Informanten werden sie ab dem Pass weg nicht mehr aus den Augen verlieren. Einer der Passagiere ist sicherlich bereit, unsere Ziele zu unterstützen.« Der hagergesichtige Mensch wiegte seinen Oberkörper vor und zurück, vor und zurück. Er war ein Fanatiker, der nur ein Ziel kannte: der Sekte zu dienen. »Es könnte Schwierigkeiten geben«, sagte der Erhabene Prophet »Der Weiße Adept Mun befindet sich bei der Trägerin. Er ist von fast ebenso großer Bedeutung wie sie. Mun ist nicht nur ein Wissender, er versteht auch sein Handwerk, wenn es darum geht, die Trägerin der Sonnenkraft zu beschützen.« Er achtete nicht auf das Raunen, das durch den Raum ging. »Ich erwarte mit von euch allen, dass ihr mit größtmöglicher Vorsicht an die Sache herangeht. Die Dinge spitzen sich zu. Die Passage ist bereits so nahe, dass Tiere und
Pflanzen ihr Verhalten ändern, und ihr seht es an der Veränderung des Himmels. Wir benötigen die Frau, und wir müssen sie unbedingt von unseren lauteren Absichten überzeugen.« Die Jünger nickten Raban ergeben zu. Sie alle waren von der Heiligkeit ihrer Mission durchdrungen. Nichts und niemand würde sie vom einzig wahren Glauben abbringen können. Raban wechselte das Thema. »Gibt es etwas Neues von unseren … Gegnern zu berichten?«, fragte er in die Runde. Siirikit, ein hündisch ergebener Speichellecker mit vernarbtem Gesicht, antwortete: »Nein, Erhabener. Weder Aliandur der Verkünder noch Corundur der Warner wurden während der letzten Tage gesichtet. Auch die fehlgeleiteten Kretins, die ihren jeweiligen Anführern nacheifern, halten sich derzeit zurück.« »Auffällig deutlich zurück«, ergänzte Syptus. »Es scheint fast so, als sei dies die Ruhe vor dem Sturm.« »Jedermann ist auf dem Weg, um das Wo der Passage ausfindig zu machen«, meinte Raban nachdenklich. »Die Anhänger der ErlöserSekte, um sich vom lachhaften Irrglauben zu überzeugen, dass der Eine Gott zwei Universen zusammenführen wollte; jene, die dem Warner hinterherhecheln, tun dies, um den Übertritt des Einen Gottes schändlicherweise zu verhindern.« Rabans Jünger schwiegen betroffen. Die Dinge waren kurz davor, aus dem Ruder zu laufen. Seit Jahrhunderten belauerte man sich gegenseitig oder schadete einander, wo es nur ging. Nicht immer war mit der feinen Klinge gekämpft worden. Doch nun, da die Passage kurz bevorstand, wurde mit besonders harten Bandagen gearbeitet. Allerorts kam es zu Zusammenrottungen und Ausschreitungen, die nicht nur die Gläubigen der drei Sekten betrafen. Immer öfter wurden Unschuldige in die Konflikte mit einbezogen. Aber wer, bitteschön, darf sich heutzutage noch unschuldig nennen?, fragte sich Raban grimmig. Das Schicksal von Less steht auf dem Spiel. Es darf unter keinen Umständen verhindert werden, dass der Eine Gott zu uns zurückkehrt! »Seid wachsam!«, sagte der Erhabene bedächtig. »Vielleicht sitzt gar ein Verräter unter uns. Nichts ist so, wie es scheint. Wir müssen
damit rechnen, dass sich die Passage in allen möglichen Dingen niederschlägt. Freund wird zu Feind, das Wetter spielt verrückt, der Erdboden beginnt zu beben, die psimagischen Komponenten, die in uns allen stecken, verändern sich.« Raban erhob sich aus dem Schneidersitz und entließ seine Jünger mit einem Wink seiner Hand. »Der Erhabene Prophet sei stets mit uns!«, murmelten sie einer nach dem anderen und verließen den Raum. Keiner von ihnen sprach ein weiteres Wort Sie beäugten einander misstrauisch und gingen getrennter Wege. Gut so. Interne Grabenkämpfe waren stets Bestandteil seiner Existenz gewesen, und stets hatte Raban sie unbeschadet überstanden. Diese Generation an Jüngern – die fünfte oder sechste, mit der er es zu tun hatte? – machte da keine Ausnahme. Syptus mochte sein erbittertster Feind werden, wenn Raban seine Augen nicht offen hielt. Schließlich ging es darum, sich einen Platz ganz nah am Thron des Einen Gottes zu sichern. Raban würde sich die Rolle des Stellvertreters ganz gewiss nicht mehr nehmen lassen.
3. Das Hospiz Shanija flüchtete gemeinsam mit Mun in die ihnen zugedachte Reisekabine – ohne dem Händler entgehen zu können. Auch in dem großzügig angelegten Raum zogen sich Ranken und Blattwerk durch Decke und Wände. Drei, vier Dutzend weit aufgerissene Stielaugen waren auf sie ausgerichtet, und aus mehreren Mündern tropfte Sabber. »Stör dich nicht an Altims Pseudo-Geilheit«, sagte eine groß gewachsene Menschenfrau, die ihre nackten Beine übereinandergeschlagen und sich lässig in einen Liegestuhl in der Mitte des Raums gefläzt hatte. Fünf weitere Stühle waren noch leer. Die Frau lächelte müde. »Der Händler versucht seine Spielchen bei allen und jedem. Das ist auch Teil seiner Verkaufstaktik.« »Du kennst ihn gut?« Shanija sah die tief eingegrabenen Falten, die trotz deutlicher Bemühungen unter der dicken Schminkschicht zum Vorschein kamen. Die Frau hatte die 50 längst hinter sich gelassen. »Er ist ein Faktotum an Bord; so wie auch Fullmanzwulf, der Kutscher Primpot und N'Gazz, der Tortoide. Alles in allem bilden sie ein eingespieltes Team, das mit den größten Schwierigkeiten fertig werden sollte.« »Und du bist …?« »Matlin die Wanderhure, mein schönes Kind. Manchmal auch Goldmaul genannt.« Sie grinste und zeigte Lücken, die alle oberen und unteren Schneidezähne umfasste. Das Zahnfleisch war golden und silbern glänzend lackiert. An der Zungenspitze hingen kurze, noppenähnliche Würmchen, die sich verlangend nach Shanija ausstreckten. »Du … arbeitest hier an Bord?«, fragte Shanija. »Ja. Die Kutsche bietet Sicherheit. Altim und Fullmanzwulf wachen gegen einen geringen Obulus über mich. Ein Freier, der zu aufdringlich wird, findet sich entweder zwischen hunderten Pflanzen-
fingern wieder, die ihn mit scheußlich stinkendem Pulver bestäuben, oder er wird von unserem Reisebegleiter hochkant aus der Kutsche befördert.« »Ich verstehe …« »Die anderen Kabinengäste kommen«, flüsterte Altim aus mehreren Mündern. Er schien sich nicht weiter an Matlins Worten zu stören. »Wir fahren in wenigen Minuten ab.« Wie auf Kommando wurde die Tür nach innen aufgeschlagen. Mun konnte sich gerade noch in Sicherheit bringen, bevor er von einem Wesen beiseitegeräumt wurde, dessen Rumpf von drei Köpfen auf schlangenähnlichen Schuppenhälsen geziert wurde. »Und ich sage dir, dass es hier drin stinkt!«, maulte der linke Kopf. »Wenn hier einer stinkt, dann bist es du mit deinen andauernden verbalen Flatulenzen«, zischelte der Mittlere. »Wenn ihr nicht augenblicklich das Maul haltet, verlasse ich euch!«, sagte der Dritte und zog seinen Kopf so weit es ging vom Rest des gemeinsamen Körpers zurück. »Darf ich vorstellen: Smoot, Smaat und Smiit, die Kaliken«, sagte Altim wiederum mehrstimmig. »Drei sehr geschätzte Kollegen meiner Zunft. Leider sind sie sich nicht immer einig, und so kann es durchaus vorkommen, dass sie sich über einen Preis nicht einig werden und einander mit Mord – oder Selbstmord – bedrohen.« »Halt deine Mäuler, Altim!«, fauchten die drei Kaliken unisono und ausnahmsweise mal einer Meinung. Ein weiteres Wesen betrat auf allen Vieren die Kabine. Es ähnelte einem übergroßen irdischen Molosserhund. In seinem weit aufgerissenen Maul, zwischen fingerlangen Reißzähnen, lagen zwei faustgroße Eier. »Losotim von Norno«, stellte Altim den Neuankömmling vor. »Ein professioneller Spieler, der schon seit langer Zeit die Ebenen von Less auf der Suche nach dem großen Glück durchreist. Leider hat er es bis jetzt noch nicht gefunden.« »Irgendwann ist es soweit«, sagte Losotim mit überraschend klarer Stimme. Er machte sich seitlich neben die Wanderhure breit und wälzte sich behaglich auf seinem Rücken hin und her. »Irgendwann
werden mir die Götter hold sein …« Sein Gemurmel verlor sich; seine Bewegungen ließen nach, und er glitt in einen Schlaf, der von gelegentlichem Grunzen unterbrochen wurde. »Damit wären wir fast komplett«, sagte Altim. »Der letzte Gast dieses Raums betritt soeben die Kutsche, wie ich mit den Augen hundertzwölf bis hundertneunzehn beobachten kann.« Shanija stieg über die Beine Matlins hinweg und nahm am kreisrunden Fenster Platz. Mun folgte ihr, still und leise wie ein Schatten. Er setzte sich ihr gegenüber in ein breites, gut gepolstertes Sofa. Staubflitter stob hoch, gut sichtbar im Licht der erwachenden Morgensonnen. »Fast drei Dianocten dauert also die Fahrt«, murmelte Shanija. Mehr wusste sie nicht zu sagen. Die Mischung der Gäste erschien ihr mit einem Mal abstrus, surreal. Ihr war, als befände sie sich wieder an Bord ihres Schiffs und hätte sich in einem verrückten Traum verfangen. War dies hier die Realität? Reiste sie tatsächlich kreuz und quer über die Oberfläche eines Mondes namens Less? Auf der Suche nach der Stele von Majakar und der sogenannten Urmutter; einem mystisch verbrämten Wesen, dessen Existenz Shanija als letzten Strohhalm sah, um die Erde zu erreichen und die Menschheit vor den Plänen der Quinternen zu warnen. Psimagie. Märchenhafte Königreiche und Prinzessinnen. Monster aus Müll. Fanatische Sektenanhänger. Biologische Reisezüge. Greife. Würmer, die als Wissenspool dienten … Darren. Der erste Mann seit langem, der ihr wirklich etwas bedeutet hatte, und der ihr den Glauben an das männliche Geschlecht zurückgeben hätte können. Wenn nicht … Wenn sich ihre Wege nicht getrennt hätten. Wenn Shanija nicht dieses entsetzliche Pflichtgefühl in sich gespürt hätte. Wenn nicht sie allein die Möglichkeit besäße, all die auf diesem stinkenden, aus allen Fugen krachenden Planeten namens Erde zusammengepferchten Menschen zu retten. »Du sorgst dich?«, fragte Mun leise.
»Ich habe jeden Grund dazu.« Shanija versuchte ein Lächeln. Es verrutschte. »Es gibt immer Hoffnung.« Ja. Die gab es. Insofern unterschied sich das Leben auf Less durch nichts von dem auf der Erde. Gier, Machtkämpfe, persönliche Eitelkeiten begegneten ihr da wie dort. Es gab aber auch Liebe, Vertrauen und Zuversicht. Und Freundschaft … »Unser letzter Passagier ist soeben hier angekommen«, unterbrach Altim ihre Gedanken, um sich gleich darauf zu korrigieren: »Eigentlich handelt es sich um zwei Gäste, aber – nun, seht selbst …« Zwei ineinander verschlungene Wesen kugelten in den Raum. Sie waren halbmannsgroß und ähnelten Hirschkäfern. Ihre Scheren klapperten aufgeregt, die dünnen Armchen tasteten einander in unglaublich schneller Folge ab. Die halbrunden Chitinschalen zeigten wunderschöne, aber auch sinnesverwirrende Tätowierungen. »Sokkoden«, seufzte Matlin, die Wanderhure. »Das ist schlecht fürs Geschäft, ganz schlecht …« Sie drehte sich angewidert beiseite und zog die Beine an. Die beiden Käferwesen schoben und drückten sich gegenseitig auf den letzten verbliebenen Platz. Dünne Vorhänge fielen von allen Seiten herab und umhüllten das Pärchen. Kratzende, schabende Geräusche drangen weiterhin hinter der Gazeschicht hervor, unterbrochen von Klacklauten, die wohl eine Art Sprache darstellten. »Sokkoden sind selten auf Less«, sagte Mun. »Keiner weiß, wo sie herkommen und warum sie verteilt über den ganzen Mond umherlaufen. Meist durchwandern sie die unterschiedlichen Lebensräume von Less und sammeln Wissen, das sie gewinnbringend weiterverkaufen. Treffen sie aber auf einen der ihren, beginnt ein aufwendiger Liebesakt, der gut und gern dreißig Lunarien andauert. Unser Pärchen hier« – er deutete auf die verschlossenen Vorhänge – »dürfte gerade mal fünf bis sechs Lunarien beisammen sein. Sie haben noch nicht richtig zu müffeln begonnen …« »Ich bitte um die geschätzte Aufmerksamkeit aller Mitreisenden«, tönte eine Stimme durch den Raum. Sie drang aus mehreren trich-
terförmigen Muschelgehäusen hervor, die neben den Fenstern angebracht waren. »Ich heiße alle Passagiere herzlich an Bord des Transless-Express 343 willkommen. Wir bitten euch, Platz zu nehmen; uns erwartet eine dreitägige Reise durch abwechslungsreiche Gegenden, unterbrochen von einem mehrstündigen Aufenthalt im Hospiz. Die Wettervorhersage ist ausgezeichnet, lediglich im Anstieg zum Golgan-Pass mag es zu Stürmen und sogar Schneefällen kommen, was sicher in nicht mehr als fünf Regionen dieser Welt erlebt werden kann, und geringfügigen Irritationen infolge von Auseinandersetzungen mit den hiesigen Bestien kommen.« Fullmanzwulf räusperte sich lautstark, bevor er fortfuhr. Man konnte seiner Stimme anhören, dass er den Text schon hunderte Male gesprochen hatte. »Und nun zu den Sicherheitsinstruktionen. Transless rät seinen Passagieren, während der Reise angeschnallt zu bleiben. Altim der Händler wird diesen – kostenpflichtigen – Service übernehmen und euch auf Wunsch mit seinen Handranken an die Stühle binden. Für den unwahrscheinlichen Fall, dass Probleme auftreten, findet ihr durch einen menschlichen Totenkopf gekennzeichnete Notausgänge am Ende jedes Kabinenganges. Bitte achtet dann auf die Anweisungen des Bordpersonals. Des weiteren möchte ich darauf aufmerksam machen, dass in Fahrzeugen der Transless-Linie gegen einen geringen Obulus On-Coach-Verköstigung angeboten wird. Im Kopfteil des unteren Stockwerks befindet sich der Speiseraum, in dem Kleinigkeiten zum Essen und allerlei Getränke zu ordern sind. Im Namen von Transless-Express bedanke ich mich für euer Vertrauen und wünsche allen Passagieren eine gute Reise!« »Das kommt mir irgendwie bekannt vor«, murmelte Shanija. »Transless ist bekannt für seinen guten Service«, sagte Matlin. »Andere Transportfirmen beginnen erst allmählich, ähnliche Standards anzubieten. Auch was die Qualität des Personals betrifft, ist Transless seinen Konkurrenten kilometerweit voraus.« Ein Pfeifen und Quietschen drang aus den Sprachmuscheln. Fullmanzwulf kämpfte, gut hörbar, mit dem Kommunikationssystem. »Scheiß-Arbeit!«, fluchte er und pfefferte irgendetwas so heftig zu Boden, dass die Kutschenwände erzitterten. »Scheiß-Passagiere.
Scheiß-Leben.« »Selbst im bestgeführten Betrieb gibt es Dinge zu verbessern«, sagte Altim mehrstimmig.
* Shanija genoss eine Weile die Aussicht auf die schier endlosen Weiten einer Savannenlandschaft, die als Wallwach-Ebene bezeichnet wurde. Gestreifte Vierbeiner, Zebras nicht unähnlich, kümmerten sich nicht weiter um die Kutsche, die von den Soloppen mit unvermutet eleganten Schritten einen kaum erkennbaren Weg entlang gezogen wurde. Die gestreiften Tiere, Konkoluzzis genannt, fraßen und käuten wieder. Kräftige Bullen sicherten die Herdengrenzen gegen Räuber ab. Ihre fleischigen Köpfe ragten weit über die Gräser hinweg. Dann und wann gaben sie Laut; dann geriet die Herde in Unruhe und zog ein Stückchen weiter. Der Blick auf die Landschaft wirkte seltsam verzerrt. Shanija machte sich bewusst, dass sie psimagisch verkleinert worden war, um in die Kutsche zu passen. Sie nahm ihre Umgebung aus der Perspektive eines Fisches wahr, der durch ein gebogenes Wasserglas nach »draußen« sah. Die Räder der Kutsche rollten gleichmäßig. Die Federung des Gefährts war weitaus besser, als Shanija es befürchtet hatte. Ab und zu durchbrach einer der beiden Soloppen die Beschaulichkeit der Reise mit knalligen Rülpsern und zufriedenem Grunzen. Dann konnte man einen Fluch des Kutschers Primpot hören. In der Ferne ragten schneebedeckte Gebirgsstöcke hoch, die nie ein Sonnenstrahl erreichte, obwohl es in diesem System mehr als genug Sonnen gab. Mehrere Gletscherzungen fanden in breiten Trogtälern zueinander. Das Eis rieb sich an den nackten Felswänden. Es hatte eine Gerölllandschaft hinterlassen, in der nichts zu leben schien. Weitere Details verloren sich im Flirren der mittäglichen Hitze in der Tieflandebene. Wolken von Vögeln, die sich gerade noch erahnen ließen, deuteten darauf hin, dass sich am Ende der Gletschermoränen ein See ausbreitete.
Shanija rutschte unruhig hin und her. Sie rückte ihr Kreischerschwert so zurecht, dass jedermann es sehen konnte. Sie fühlte sich unbehaglich. Mindestens einer der drei Schlangenköpfe behielt sie stets im Blickfeld. Die starren Blicke des Kaliken hatten etwas Obszönes an sich. Speichelfäden zogen sich von allen drei Mündern hinab. Sie wirkten wie Klebstoff, der sich mit dem Boden und den Sitzkissen verband, um ein unappetitliches Wirrwarr zu schaffen, das an ein schlecht gewebtes Spinnennetz erinnerte. Shanija mochte dieses Wesen nicht. Altim der Händler nervte mit seinen ständigen Kommentaren. Er bot nützliche und weniger nützliche Dinge an. Greifranken schafften Hosen, Seifen, Nahrungsmittel, zeremonielle Reliquien, Verhütungsmittel und tausend Sachen mehr herbei. Er schwafelte ohne Punkt und Komma. Wenn er für einen Moment darauf verzichtete, die Qualität seines Warensortiments anzupreisen, machte er schlüpfrige Bemerkungen über Matlin. Die Wanderhure war vor einer halben Stunde verschwunden. Ein bärbeißiger Mensch war in die Kabine gestürmt und hatte sie aufgefordert mitzukommen. Stöhnen und Ächzen bewiesen seitdem, dass er in der vorderen Kabine seiner Lust frönte. Matlin gab in regelmäßigen Abständen spitze, mehr oder wenig gelangweilte Töne von sich, die nur all zu deutlich machten, wie wenig Interesse sie an ihrer Arbeit fand. Die beiden Käferwesen rammelten indes mit unverminderter Hingabe. Losotim von Norno versuchte sich auf dem kleinen Rundtisch in der Mitte des Raums an Taschenspielertricks. Gedankenverloren knabberte er an einem rohen Stück Fleisch. »Sollen wir etwas trinken gehen?«, fragte Mun. Seit ihrer Abfahrt hatte er die Augen geschlossen, als meditierte er. Doch nun schlug er sie auf und richtete den dunklen Blick auf seine Begleiterin. »Gern. Ich möchte mir mal die anderen Passagiere ansehen.« Sie drückten sich an ihren Reisebegleitern vorbei und verließen die Kabine. Shanija empfand Erleichterung. Die Erkenntnis, wie fremd die Lebensumstände auf Less wirklich waren, traf sie immer wieder, und in dieser Kutsche einmal mehr. Nichts hier schien real zu sein
und in irgendeiner Form zu ihrem bisherigen Leben zu passen. Alles roch, schmeckte, fühlte sich bedrohlich anders an. Dinge, die einem Außenstehenden amüsant vorkommen mochten, irritierten oder beunruhigten. Werte, die ihr lebenslang mit militärischer Prägnanz vermittelt worden waren, besaßen auf Less keine Gültigkeit mehr. Selbst der Menschenabkömmling Mun erschien ihr mit einem Mal fremd. Shanija fühlte sich … einsam. Nur all zu gern hätte sie sich an Darrens Schulter gelehnt und für ein paar Minuten alles ringsum vergessen. Für ein kurzes Weilchen wollte sie sich sammeln und ihre Gedanken neu sortieren … »Es muss schwer für dich sein«, sagte Mun, als hätte er ihre Gedanken gelesen. Sie marschierten die Treppe hinab und hielten sich rechts, auf das Vorderteil der Kutsche zu. »Nicht viel schwerer als für dich.« Shanija zuckte mit den Achseln. »Beide sind wir in unseren Rollen ziemlich einzigartig.« »Ich kämpfte lediglich gegen Vorurteile. Niemand traute einem Menschen zu, dass er sich zum Adepten ausbilden lassen könne. Ich kannte stets meine Gegner. Sie hießen Ignoranz und Hochmut. Du aber beginnst vollkommen von vorn, musst dich in einer völlig ungewohnten Umgebung zurechtfinden, ohne die Zeit zu haben, ein Verständnis für die hiesigen Zustände zu entwickeln.« Altims dornige Hände deuteten auf ein kaum erkennbares Tor in einer steinern wirkenden Wand, die von Moosen und Flechten bewachsen war. Shanija trat darauf zu und zog an einer Art Klinke. Knarrend öffnete sich die Tür. Grelles, phosphoreszierendes Licht empfing sie. Und eine Versammlung an Wesen, die mindestens ebenso fremdartig wirkte wie jene, die sie in der Kabine hinter sich gelassen hatten.
* Da war der unterarmlange Wurm, dessen Kopf aus einem Holzblock herausragte und der von einem livrierten Menschendiener ge-
halten wurde. »Ein immens reiches Wesen namens Goglock«, murmelte Altim, »das sein Glück mit Spekulationen gemacht hat und die Lande stets auf der Suche nach neuen Investitionsmöglichkeiten bereist. Ihm gehört eine speziell angepasste Einzelkabine.« Dann gab es eine Frau mit meterlangem Hals, um den sie gegeneinander klackernde Holzringe trug. Ein Känguru-Geschöpf, von einem sackähnlichen Gewand verhüllt, das immerfort hoch und nieder sprang und dabei guttural klingende Mantras vor sich hin murmelte. Ein Kefir-Pilz, den Altim Spirk nannte, und der in einem mannshohen Milchglas auf Rädern umherzog. Er emittierte winzige elektrostatische Blitze, mit deren Hilfe er sich mit unglaublicher Geschicklichkeit vorwärtsbewegte. Altim bescheinigte ihm starke illusionistische Psimagie, die er in der Kutsche allerdings nicht anwenden konnte … »Etwas zu trinken?«, fragte Fullmanzwulf, der Reisebegleiter. Er knallte Shanija eine handgeschriebene Karte aus pergamentenem Papier auf die Theke und kümmerte sich dann um seine anderen Gäste. »Ich empfehle den Grünwein«, ließ sich Altim vernehmen. Ein Mundblütenblatt fiel herab. »Der Rebensaft stammt aus meiner eigenen Kelterung.« »Dementsprechend unverschämt ist der Preis.« Mun schüttelte gelassen den Kopf. »Acht Sichel für einen Becher – das ist Mundraub.« »Ignorant! Kostverächter! Asketischer Warmduscher!«, zeterte Altim von oben herab. »Es handelt sich um den besten Grünwein-Verschnitt, den du je auf Less finden wirst.« »Wir nehmen dennoch Wasser«, sagte der Adept abweisend. Er winkte Fullmanzwulf zu sich und bestellte für sich und Shanija. Shanija mochte es normalerweise nicht, wenn andere über sie bestimmten. In diesem Fall jedoch war sie heilfroh. Ihre Unsicherheit dauerte an. War es die Umgebung, waren es die Umstände – oder gar der Einfluss eines Passagiers, der sie so furchtsam machte? Nein. Fullmanzwulf hatte ihr versichert, dass an Bord der Kutsche der Einsatz psimagischer Fähigkeiten unmöglich gemacht wurde. Was sie spürte, war der Beginn einer Krise, die sie schon längst hatte
kommen sehen. Bislang hatte sie ihre Probleme verdrängt. Das bedrohliche Bild der Quinternen, die die Erde angriffen, war abstrakt geblieben. In ihrem Hinterkopf hatte sie es abgespeichert und lediglich in seltenen Momenten darüber reflektiert. Nun aber kam es Shanija so vor, als würden die Sekunden rasen, als würde die Zeit zu knapp werden … »Dein aufgeregter Herzschlag stört meinen Schönheitsschlaf!«, meldete sich Pong mit leisem Fauchen. Ein Rauchwölkchen bildete sich vor Shanijas Brust. Der Kopf des Flugdrachen hatte sich ein wenig von ihrem Körper gelöst. Er blickte zu Shanija hoch, gerade noch im Relief erkennbar. Die Narbe unterhalb seiner Wohnstätte war fast zur Gänze verheilt. »Kannst du nicht ein wenig ruhiger atmen?« »Sei still!«, zischte Shanija. Es schien ihr nicht ratsam, die Aufmerksamkeit der Anwesenden noch mehr auf sich zu ziehen. Ihre Mitreisenden brauchten keinesfalls zu wissen, wer sie eigentlich war. »Zu Befehl, Eure miesepetrige Durchlaucht!« Pong zog sich beleidigt wieder zurück, verschmolz mit Shanijas Haut und wurde neuerlich zum Bild eines Drachen, der sich wie eine Tätowierung in ihr Dekolleté schmiegte. Dann maulte er doch noch nach: »Ich bin ja nur ein kleiner, unbedeutender Datenspeicher, den man herumkommandieren darf, wie man will. Man legt ohnehin keinen Wert auf meine Meinung. Man achtet nicht auf mein Seelenleben, meine Selbstzweifel, mein fragiles, von Existenzfragen beherrschtes Gemüt …« Pong murmelte vor sich hin, immer leiser werdend, um schließlich mit einem rauchigen Furz, der zwischen Shanijas Brüsten hoch quoll, in den Schlaf zu gleiten. »Ist das da zu kaufen?«, fragte Altim neugierig. Er schob zwei Stielaugen tief zu Shanija herab. Sie pendelten vor ihrem Kopf hin und her, wie Schlangen, die Giftzähne in ihr Fleisch schlagen wollten. »Verschwinde gefälligst!«, herrschte Shanija den Händler an. »Ich mache keine Geschäfte mit dir.« »Dieses Ding über deinen – übrigens äußerst wohlgeformten –
Brüsten könnte dich zu einer reichen Frau machen«, fuhr der Händler unbeirrt fort. »Es handelt sich um einen mit dir verwachsenen Drachen, der sich zur Gänze aus deinem Fleisch trennen kann, nicht wahr? Bist du dir dessen bewusst, dass gewisse Leute für so etwas ein Vermögen zahlen würden? Ich könnte mich als dein Agent betätigen und einen Preis rausschlagen, der dir alle Annehmlichkeiten für den Rest deines Lebens garantiert …« »Ich bin nicht interessiert, danke«, unterbrach Shanija das Pflanzenwesen mit den letzten Resten an Höflichkeit, die sie noch aufbrachte. »Andererseits könnte ich dich Fullmanzwulf melden«, sagte Altim. Weitere Rankenglieder wuchsen aus der Decke herab. Sie umkreisten sie, bildeten eine Art Vorhang, der sie von den anderen Passagieren abtrennte. »Ihr habt Reisetickets für nur zwei Personen gekauft. Wenn man die Richtlinien von Transless streng auslegt, könnte man diesen Drachen als dritten Reisenden bezeichnen und euer Verhalten als Beihilfe zur Schwarzfahrt deuten. Was wiederum deinen Rausschmiss aus der Kutsche bedeuten würde. Sehr unangenehm, sehr unangenehm. Wenn ich daran denke, dass wir allmählich die Wallwach-Ebene verlassen und in die hoch gelegenen, eiskalten und einsamen Regionen des Golgan-Gebirges vordringen …« Ein Geräusch, als reiße ein Zippverschluss. Ein vielhundertstimmiger Schmerzensschrei. Die anwesenden Passagiere drehten sich wie auf Kommando zu Shanija und Altim um. Mun hielt zwei abgerissene Ranken des Händlers in Händen. Sie verfaulten so rasch, dass man dabei zusehen konnte. Weiße Flüssigkeit tropfte wie Eiter aus den Wunden. »Du wirst von weiteren widerlichen Angeboten absehen«, sagte der Adept mit ruhiger, monotoner Stimme. »Du wirst die Frau von nun an in Ruhe lassen. Sie steht unter meinem persönlichen Schutz. Du kennst den Ruf des Zentralarchivs als moralische und unbestechliche Instanz. Als deren Vertreter untersage ich dir, irgendetwas zu unternehmen, das Shanija an Geist und Körper schaden könnte. Haben wir uns verstanden?«
»Ich wollte doch nur ein kleines Geschäft …« »Haben wir uns verstanden?« Mun ließ die Pflanzenreste zu Boden gleiten und trat wie beiläufig darauf. In allen Ecken und Enden des Raums raschelte es unruhig. »J… ja.« Ein einziger Mund antwortete, um sich gleich darauf mit allen anderen Auslegern in die Decke zurückzuziehen. Der Händler verwuchs mit der Bausubstanz, schien zu einem Teil des Zimmers zu werden. Für lange Sekunden herrschte Ruhe. Nur ganz allmählich setzten die anderen Passagiere ihre Unterhaltungen dort fort, wo sie sie unterbrochen hatten. »Danke«, flüsterte Shanija. Sie hob ihr Glas und nippte ein wenig Wasser. Ihre Hand zitterte. Der Adept verzog keine Miene. Lediglich mit einem kurzen Nicken gab er zu verstehen, dass er ihre Dankesbezeugung zur Kenntnis nahm. Mehr darf ich von diesem so selbstbeherrschten Burschen wohl auch nicht erwarten, sagte sie sich. Es hatte Momente gegeben, da hatte Mun aufgeschlossener und zugänglicher gewirkt und ab und zu auch gelächelt. Doch seit seiner Entbürdung im Zentralarchiv war er in sich gekehrter denn je. Sie hatten noch nicht einmal über die Trennung von den anderen gesprochen, obwohl Shanija sicher war, dass Mun sich um As'mala sorgte und Seiya vermisste. Dennoch: Einen besseren Partner konnte sie sich in diesen Stunden gar nicht vorstellen.
* Die Nachtstunden nahten. Hades erschien als kleiner, unbedeutender Punkt am Horizont. Fathom tauchte die nackten Felsspitzen des Golgon-Gebirges in rötlich-braunes Licht. »Die Fenster werden nunmehr, mit Ausnahme des Oberen Bullauges, geschlossen«, kündigte Fullmanzwulf über sein Sprachmuschelsystem an. »Wir weisen die geneigten Passagiere darauf hin, dass
die Bulleröfen in den nächsten Minuten befeuert werden. Schlafdecken werden auf Wunsch ausgeteilt. In knapp zwei Stunden erreichen wir fahrplangemäß das Hospiz am Golgon-Pass …« Wie bereits zuvor rasselte der Troll die Informationen mit der Routine jahrelanger Übung herab. Seine Stimme klang müde und gereizt; kein Wunder. Hatte er doch ganz allein die Wünsche von dutzenden Passagieren, deren Herkunft unterschiedlicher nicht sein konnte, zu berücksichtigen und, wenn möglich, zu erfüllen. Altims Rankenfühler hatten sich weitläufig zurückgezogen. Es war zwar nicht auszuschließen, dass der Händler sie nach wie vor belauschte. Dennoch fühlte sich Shanija erstmals seit Beginn der Reise unbeobachtet. Matlin hatte mittlerweile das Aufenthaltszimmer betreten. Sie war mit großem Hallo empfangen worden und flirtete ungeniert mit jedermann; selbst mit dem Holzwurm. »Was erwartet uns am Pass?«, fragte Shanija. Sie zog sich mit Mun an einen Tisch in der dunkelsten Ecke des Raums zurück. »Schönheit«, antwortete der Adept kurz angebunden. »Bizarre Szenerien. Kälte und Schnee. Ein Hospiz mit einer einzigartigen Atmosphäre. Ein noch bunteres Völkergemisch als hier in der Kutsche. Und vielleicht Gefahr.« »Du kennst die Gegend?« »Ich bin bereits mehrmals auf meinen Reisen durchgekommen. Der Golgon-Pass ist das Nadelöhr in einer der höchst frequentierten Ost-West-Routen. Viele Reisende, vor allem Sektierer, meistern den schwierigen Anstieg zu Fuß. Nicht wenige von ihnen fallen der Kälte und wilden Tieren zum Opfer.« Wie auf Befehl war ein lautes, durchdringendes Heulen zu hören. Eine eisige Windbö fuhr durch die zugigen Holzklappen vor den Fenstern. Eine der beiden Soloppen kam aus dem Tritt; die Kutsche zog spürbar nach links. Der Kutscher fluchte durchdringend und ausdauernd, bis er sein Gefährt wieder in die Spur gebracht hatte. »Wie hält es Primpot bei diesen Temperaturen bloß im Freien aus?«, fragte Shanija. Sie deutete auf die Rückwand des Aufenthaltsraumes, hinter der sie den Kutscher auf seinem Bock wusste.
»Transless engagiert hauptsächlich Fahrer, die sich mithilfe ihrer psimagischen Fähigkeiten gegen die Unbilden des Wetters wehren können. Manche von ihnen erzeugen ein Hitzefeld rings um sich, andere denken sich in eine magische Trance oder sind Gestaltwandler, die mit den Bedingungen gut zurechtkommen.« »Mit der dringenden Bitte um Kenntnisnahme!«, tönte es leise vom Nebentisch. Eine bucklige, in sich gekehrte Gestalt nahm dort soeben Platz. »Auftraggeber Z bittet die Hilfssubjekte X und Y um einen a) kurzen, b) prägnanten und c) mündlichen Bericht, ob sich bereits Verdachtsmomente bezüglich eines fiskalischen Hinterziehungsprozessgebarens ergeben haben.« »Grochtoch, alter Freund«, erwiderte Shanija ebenso leise. »Dich habe ich vollkommen vergessen.« »Eine diesbezügliche Konnotation ist höchst unerfreulich, angesichts des rechtsfreien Raums, durch den wir derzeit reisen, jedoch nicht sofort zu ahnden.« Grochtoch kratzte sich mit einem seiner dünnen, strumpfhalterbesetzten Beinchen hinter der linken Ohrmuschel. »Dennoch möchte ich den p.t. Mitarbeitern hiermit meinen stillen Protest zum Ausdruck bringen. Ihr sollt Beweise für ein steuerliches Fehlverhalten der Transless Transportgesellschaft beibringen. Stattdessen sehe ich euch bei arbeitsangelegenheitlich irrelevanter Tagesgestaltung, die im Übrigen nicht steuermildernd in der Einnahmen-/Ausgabenrechnung verbucht werden kann.« »Wir haben bereits mehrere wichtige Gespräche geführt«, log Shanija ungeniert. »Bis jetzt gibt es allerdings keinerlei Verdachtsmomente, dass an Bord der Kutsche Unrechtes passiert.« Um Muns Mundwinkel zuckte es. Kämpfte der Adept denn tatsächlich gegen ein Lächeln an? »Auch mir, so muss ich zu meinem Leidwesen zugeben, ist es bislang nicht gelungen, straftatbezogene Daten beizubringen. Man meidet meine Gegenwart, so scheint mir. Auch verweigert man mir ausreichend präzise Auskünfte. Die Wortwahl der Reisenden ist, ganz abgesehen von einer despektierlichen Beinote, nicht mit formulierungstreuer Notwendigkeit versehen. Man evaluiert in sinnentleerten Gesprächsfolgen hauptsächlich den Sinn und Zweck intersexuel-
ler Beziehungen, die im Leben eines gesetzestreuen Bürgers nun wirklich keine gesteigerte Bedeutung haben sollten.« »Ich habe wiederum nicht ganz genau verstanden, was du eigentlich sagen willst, Grochtoch.« Shanija griff zu einem Brothäppchen aus einem Korb, den Fullmanzwulf von Zeit zu Zeit auffüllte. »Aber du musst verstehen, dass die meisten Passagiere diese Reise aus einem bestimmten Zweck machen. Die Umstände sind ihnen wohl reichlich egal. Es scheint mir nicht so zu sein, als wäre jedermann hier an Bord so sehr wie du darauf erpicht, hm … Steuersicherheit herzustellen.« »Deswegen geht diese ganze Welt auch vor die Konkoluzzis.« Er beugte sich ein wenig zu ihr und Mun herüber. »Habt ihr schon von dieser sagenhaften Passage gehört?« Shanija zuckte zusammen. Hoffentlich konnte Grochtoch ihre Reaktion in der Dunkelheit nicht erkennen. »In meiner Fiskalabteilung redet man davon, dass mit der Passage ein Riss im raumzeitlichen Kontinuum einhergeht. Ein gar fürchterliches Wesen soll dann in unsere Welt gespuckt werden.« Die warzige Haut Grochtochs zuckte wie unter großen Qualen. »Man sagte mir, dass es sich um ein Geschöpf namens Oberster Revisor handle, das bei jedermann eine unbarmherzige Soll- und Habenrechnung anstellen würde. Brr …« »Dann wollen wir hoffen, dass diese Geschichte lediglich dazu gedacht ist, jungen Kollegen einen Schrecken einzujagen.« »Hoffen wir, hoffen wir …« Grochtoch wuchtete sich abrupt aus seiner kauernden Stellung hoch. »Ich werde euch, die Hilfssubjekte X und Y, im Hospiz des Golgoch-Passes angelegentlich unseres informellen Steuerfahndungsverfahrens ein weiteres Mal kontaktieren. Bis dahin verbleibe ich mit freundlichen Grüßen und hochachtungsvoll …« Grochtoch zog sich seinen Mantel weit übers Gesicht und drückte sich an den anderen Gästen vorbei. Sie beäugten ihn misstrauisch, als er den Aufenthaltsraum verließ. »Scheiß-Steuerfahnder«, sagte ein Menschenähnlicher verächtlich, nachdem Grochtoch gegangen war. »Die Kerle riecht man tausend
Schritte gegen den Wind, und sie wissen's noch nicht einmal.« Matlin trat zu ihm. Sie nahm einen tiefen Schluck aus ihrem Trinkhorn. »Was soll's. Von irgendwas muss selbst ein Froschlaich wie der da leben. – Was ist nun, Mann? Lust auf eine scharfe Nummer? Mami hätte da was für dich, das dir gefallen könnte. Für drei Halbmonde gebe ich dir alles, was ich habe, und noch ein bisschen mehr …« Sie schob sich näher an den Reisenden heran und legte ein entblößtes Bein über seine Knie. Shanija verfolgte das Gespräch nicht weiter. Es stand ihr nicht zu, den Lebenswandel der Wanderhure zu bewerten. Auf andere Menschen mochte ihre eigene Lebensgeschichte, die von militärischen Zwängen, Disziplin und dem Kampf gegen jene Traumata, die ihre desolaten Familienverhältnisse ausgelöst hatten, ebenso ungewöhnlich wirken. »Was ist mit dir, Mun?«, fragte sie ihr Gegenüber, um sich von ihren eigenen Gedanken abzulenken. »Findest du diesen Steuerhäscher nicht auch zum Lachen? Sei doch nicht so, und zeig einmal eine freundlichere Miene!« Der Adept blickte sie unverändert ernst und mit starrem Gesicht an. »Innerlich bin ich ein lachendes Inferno«, sagte er und trank sein Glas aus.
* Wenig später bat Fullmanzwulf seine Gäste mit der bereits bekannten Misslaunigkeit hoch zum Oberen Bullauge. Altim bildete eine Art Hängeleiter aus, über die man hinter der Bar über die mit Schnitzereien verzierte Holzvertäfelung klettern konnte. Der Händler konnte es sich nicht verkneifen, seine Waren in den höchsten Tönen zu preisen, während ein gutes Dutzend der Passagiere den mühseligen Aufstieg auf sich nahm. Ein schmaler und enger Verschlag, von Fullmanzwulf Promenade genannt, erwartete sie. Es war kalt hier oben. Ein faustgroßes Kriechtier, dessen Mandibel aggressiv gegeneinander klapperten,
wich dem Licht der mitgebrachten Petroleumlampen aus. Grüne Stacheln ragten aus seiner ledrigen Rückenhaut. An der Längsseite der Promenade öffnete ein ovales, verglastes Bullauge den Blick ins Freie. Shanija sah auf den Rücken Primpots, der seinen speckig glänzenden Ledermantel bis weit über die Ohren gezogen hatte. Auf seiner Stirn trug er Nachtlichter, die die Dunkelheit durchdrangen. Die beiden Strahlenfinger langten wie suchend über Weg, Geröllfelder, Abhänge, unerwartete Hindernisse. Immer wieder fanden sie reflektierende Augenpaare und verscheuchten sie. Primpot ließ die Peitsche mit ungewöhnlichem Geschick nach links und rechts knallen; meist antwortete heftiges Gejaule und Gewimmer. Der Kutscher wandte sich ein wenig zur Seite. Er wirkte größer als Shanija, auch wenn er nicht mehr als einen Meter maß. Seine Hände, schwielige Pranken, kamen kaum zur Ruhe. Die beiden Lichtstrahlen wiesen für einen Moment in den bodenlosen Abgrund rechts von ihnen. »Wir haben es bald geschafft!«, rief der Kutscher den Passagieren zu. »Die Dondeloeven benehmen sich heute ein wenig ungebührlich. Scheint fast so, als hätten sie bald wieder mal einen Angriff auf das Hospiz vor.« »Dondeloeven?«, fragte Shanija leise. »Wolfsähnliche Geschöpfe, die sich in ihren Opfern verbeißen und ihnen das Gehirn ausschlürfen«, antwortete Mun. »Für kurze Zeit können sie deren psimagische Fähigkeit in sich speichern. Wenn ihnen das in größerer Zahl gelingt, stellen sie selbst für das Hospiz eine Gefahr dar. Während der letzten sieben Jahre haben sie es drei Mal erobert. Die Arbeit als Pächter ist zwar sehr beliebt und einträglich, birgt aber andererseits gehörige Risiken.« »Hü, Igor! Hü, Blücher!«, feuerte Primpot seine Soloppen an und ließ die Peitsche knallen. Die Tiere schreckten hoch, stiegen auf die Hinterläufe und arbeiteten dann um so angestrengter, als wäre der Teufel hinter ihnen her. Schaum stand vor ihren breiten Mäulern und spritzte nach allen Richtungen davon. »Wie weit ist es noch bis zum Hospiz?«, ließ der Holzwurm seinen menschlichen Diener fragen.
»Eine knappe Stunde, wenn alles glatt läuft«, antwortete Fullmanzwulf. »Wenn die Dondeloeven allzu wild werden, mag es jedoch sein, dass wir in einer Parklücke auf den Anbruch des neuen Tages warten und uns gegen diese Räuber verteidigen müssen.« Er hob die Schultern. »Ich hab dieses Theater schon ein paar Mal mitgemacht. Wenn wir unsere psimagischen Kräfte bündeln und einen Abwehrkreis bilden, kann uns nicht viel passieren.« »Wo ist eigentlich dieser ominöse Tortoide namens N'Gazz?«, fragte Shanija. »Sollte er sich nicht hier oben befinden und unsere Kräfte neutralisieren?« »Natürlich ist er da.« Fullmanzwulf verzerrte das Gesicht zu einer Fratze. »Er mag keine Gesellschaft und hat sich deswegen in seine Einzelbestandteile zerfallen lassen. Er hat sich in die hohlen Zwischenwände der Kutsche zurückgezogen. Dort befindet sich sein eigentliches Zuhause.« »Du meinst: dieses Stachelinsekt, das vorhin über den Boden gehuscht ist …« »Ja. Das war ein kleiner Teil des Tortoiden.«
* Die Lichtschimmer, die vom Hospiz ausgingen, wurden vom wolkenverhangenen Himmel reflektiert. Dieser Hort der Sicherheit schien zum Greifen nah; doch die Dondeloeven drängten die Kutsche ein ums andere Mal vom ausgefahrenen Weg, immer näher hin zum Abgrund, in eine knietiefe Mischung aus Kies, Schlamm und matschigem Schnee. Die Soloppen ächzten und jammerten unter der erschwerten Zuglast. Primpot hieb wie ein Wilder auf seine Tiere und die Angreifer ein. Ein besonders mutiger Dondeloeve näherte sich von der Seite. Shanija zuckte erschrocken zurück, als das struwwelige Geschöpf auf den Kutschbock sprang, seine Fußkrallen wie Waffen ausstreckte und mit unglaublich langen Fangzähnen nach Primpot schnappte. Der kleine Mann zeigte sich ungerührt. Mit einer Hand hielt er die
Zügel fest, mit der anderen, von schwerem Leder umhüllt, wehrte er den Angriff ab. Er stieß dem Dondeloeven den Griff seiner Peitsche so tief in den Rachen, dass er am Halsansatz wieder durchdrückte. Das Wolfsgeschöpf jaulte schmerzerfüllt auf und fiel zurück auf die Straße. »Primpot benötigt Hilfe«, sagte Shanija. »Wir können doch nicht einfach zusehen, während er um sein Leben kämpft …« »Nur die Ruhe!«, meinte Fullmanzwulf. »Unser Kutscher hat vorerst alles unter Kontrolle. Bisher ist dies eine Fahrt wie jede andere. Wenn er Unterstützung benötigt, sagt er es mir. Dennoch möchte ich die werten Fahrgäste bitten, mir mitzuteilen, über welche psimagischen Fähigkeiten sie verfügen. Die Anonymität bleibt selbstverständlich gewahrt, wenn dies die Herrschaften wünschen. Es geht lediglich darum, die Möglichkeit der Erschaffung eines Abwehrschirms abzuschätzen.« Der Troll trippelte von einem zum nächsten Passagier, ohne weiter auf den Kampf zu achten, den Primpot jenseits des ovalen Fensters austrug. Er schien dem Kutscher über alle Maße zu. vertrauen. Manch einer der Fahrgäste gab in normaler Lautstärke seine besondere Fähigkeit kund; andere wiederum flüsterten. Der Holzwurm bat Primpot in eine dunkle Ecke, ein fladenförmiges Kriechgeschöpf hüllte ihn mehrere Sekunden lang ein. Schließlich stand Primpot vor Shanija und blickte sie mit der üblichen Interesselosigkeit an. Sie beugte sich zu ihm hinab, aber nicht all zu weit. Ein Käfer labte sich soeben an einem dicken Propfen Ohrenschmalz, der mit seinem Backenbart verklebt war. Shanija zögerte. Sie hatte sich während der kurzen Zeit ihres Aufenthalts auf Less bereits eine beachtliche Anzahl von Feinden gemacht. Fullmanzwulf erschien vertrauenswürdig, und nur im Fall des Falles würde sie ihre psimagische Gabe einbringen – so sie denn überhaupt funktionierte. Bisher war das erst ein einziges Mal gewesen. »Ich bin mir meiner Fähigkeit nicht ganz sicher«, flüsterte Shanija. »Man sagt, ich besäße die Sonnenkraft.« Der Troll begann zu schreiben, stutzte jedoch gleich wieder. »Zweifelsohne«, murmelte er und rollte wild mit den Augen. Er
strich die ersten Buchstaben durch. »Ich notiere dann mal: Keine besonderen Fähigkeiten. War ja klar. Ihr Menschen bringt selten etwas Anständiges zustande …« Für einen Moment gewann Shanijas Eitelkeit die Oberhand. Sie wollte Primpot festhalten und ihn darüber aufklären, dass sie wahrscheinlich wirklich die einzige, einzigartige Trägerin der Sonnenkraft war … Mun, der sie wie immer aufmerksam beobachtete, hielt sie zurück. »Lass ihn«, warnte er. »Hier haben die Wände Ohren. Du hast ohnehin schon zu viel verraten.« Shanija atmete tief durch. Selbstverständlich hatte der Adept Recht. Vor allem die Sektierer des Wiedergängers und des Erlösers hätten größte Freude daran gehabt, sie in ihre Hände zu bekommen. Deren Schnüffler mochten überall sitzen. Selbst hier, inmitten dieses kunterbunten Gemischs an Wesen aus unterschiedlichsten Kulturkreisen. Die Angriffe der Dondeloeven ließen in jenem Ausmaß nach, in dem ein böiger Wind Wolken voll Eis über die Kutsche peitschte. Die Soloppen fanden endlich wieder in die Spur zurück und beschleunigten, das Gejaule des Rudels blieb zurück. Primpot hieb mit der Peitsche ein letztes Mal zur Seite. Die Lederriemen drangen tief in den Körper eines Dondeloeven ein und schickten ihn blutüberströmt zu Boden. »Es ist alles wieder in bester Ordnung«, sagte Fullmanzwulf. Er zerriss das Pergament mit der Liste der psimagischen Fähigkeiten und ließ die Fitzel achtlos zu Boden fallen. »Die Ankunft im Hospiz erfolgt plangemäß. Der Transless-Express bittet die werten Fahrgäste, die zwischenzeitlichen Unannehmlichkeiten zu entschuldigen. Als kleine Entschädigung möchte ich euch gerne ein Tässchen Bohnen-Tee kredenzen. Ich bitte euch, mir zu folgen. Bitte Vorsicht beim Abstieg; Altims Ranken sind mitunter etwas glitschig …«
*
Eine halbe Stunde später war es geschafft. Shanija verließ die Kutsche als eine der Letzten. Primpot war längst mit dem Abschirren seiner Soloppen beschäftigt. Er wirkte unbeeindruckt, als wäre dies eine ganz normale Fahrt gewesen; vielleicht war dies auch so. Mun nahm Shanija sachte am Arm und führte sie einen schmalen Trampelweg entlang auf das Hauptgebäude des Hospizes zu. Lediglich die Spitzen des Gebäudes waren hier, nahe der etwas abseits gelegenen Stallungen, zu erkennen. Shanija reckte und streckte den Körper, der sich nach dem Verlassen der Kutsche wieder auf die ursprüngliche Größe ausgewachsen hatte. Ihr Atem erzeugte weiße Wolken, der Wind pfiff weiterhin über sie hinweg. Sie empfand die Kälte als angenehm, nur die Luft wirkte reichlich dünn. »Wie hoch sind wir denn hier eigentlich?« »Fast dreitausend Meter. Fühlst du dich unwohl? Manche Wesen kämpfen mit Kopfschmerzen und Desorientierung.« »Nein. Mir geht es bestens.« Das Schneetreiben ließ allmählich nach. Fathom leuchtete freundlich auf sie herab, Hades blieb hinter einer dünnen Wolkenbank verschwunden. »Was ist das?«, fragte Shanija. Sie spitzte die Ohren. »Hörst du dieses Weinen? Hört sich so an, als würden Totenweiber einen Verstorbenen beklagen.« »Das ist das Moos«, sagte Mun und zog sie weiter. »Wie bitte?« »Schluchzermoos. Es kommt fast überall auf Less vor; hauptsächlich aber in höher gelegenen Teilen des Kontinents.« »Ich verstehe nicht …« »Du wirst es gleich sehen.« Der Fußweg zum Hospiz wand sich durch eine Almwiese mit langen, saftlos wirkenden Halmen. Ponygroße Geschöpfe, deren Halsglocken von Zeit zu Zeit hell bimmelten, verkrochen sich im Schutz erdiger Suhlen. Je weiter sie wanderten, desto mehr wurde vom Hospiz sichtbar. Das Gebäude war am exakten Scheitelpunkt der Straße errichtet worden. Der Weg, der bislang stets bergauf geführt hatte, wand sich nun in engen Serpentinen in ein nebelumfangenes Tal hinab. Das
Hospiz hing direkt über dem Abgrund. Schwere Seile, in die Seitenmauern des Gebäudes geschlagen, fixierten es. Mächtige Metalltrossen und Pflöcke, fast mannsgroß, zeugten von den Wettergewalten, die hier oben toben mochten. »Ein schnuckeliges Gebäude«, sagte Shanija. »Ich hätte es mir allerdings nicht so groß vorgestellt.« »Meist halten sich mehrere tausend Wesen hier auf. Pilger, Gläubige aller Richtungen, Händler, Abenteurer, Geschichtenerzähler. Einfache Menschen aus den Dörfern oder Großstädter. Solche, die unermesslichen Reichtum in ihren Händen halten und sich die luxuriösesten Appartements leisten können, aber auch jene, die von der Hand in den Mund leben müssen und mit einem Strohlager vorlieb nehmen. Hier bekommt jeder, was er benötigt.« Shanija zuckte zusammen. Neuerlich hob das Schluchzen an. Intensiver und lauter diesmal. Es drang aus den das Hospiz umgebenden Wiesenflächen. »Das Schluchzermoos beklagt sich über die Trossen und Spannmasten. Es ist sehr empfindlich, um nicht zu sagen: wehleidig. Seine Schreie tun besonders bei Frauen ihre Wirkung und strahlen eine fast hypnotische Wirkung aus. Nimm dich also bitte in Acht. Die Vertäuung des Gebäudes wird Tag und Nacht bewacht, um zu verhindern, dass sich jemand daran zu schaffen macht. Das Hospiz hängt gefährlich nahe über dem Abgrund. Wären diese Spannvorrichtungen nicht, bestünde die Gefahr, dass das Gebäude binnen kürzester Zeit ins Tal abrutscht.« Der Haupteingang des Hospizes wollte und wollte nicht näherkommen. Der Bau wuchs immer höher vor ihnen empor. Hier wirkte jedoch kein Zauber wie in der Reisekutsche. Vielfältigen Zubauten gaben ihm ein uneinheitliches Aussehen; dennoch wirkte das Gesamtbild … nett und heimelig. »Der Aufenthalt dauert zehn Stunden«, schrie Fullmanzwulf gegen den Wind an. Er bewegte sich wenige Meter vor ihnen und führte die kleine Karawane der Reisegäste an. Lustlos führte er weiter aus: »Ihr könnt euch in den unterirdischen Spielhöhlen amüsieren, einige der reizenden Nachtshows ansehen, ein Zimmer anmie-
ten, um gründlich auszuschlafen, oder aber auch ein Dinner mit romantischem Ausblick auf Amendur genießen, sofern sich die Nebel rechtzeitig verziehen. Alle Dienste sind selbstverständlich zu bezahlen. Dem Verhandlungsgeschick von Transless-Express ist es zu verdanken, dass wir euch bei einigen Vergnügungen enorme Preisvorteile bescheren können …« »Mein Herr möchte lieber die versprochene Portion Bohnen mit Speck aus der Kutschenküche genießen«, sagte der livrierte Diener des Wurmwesens, »so, wie es im Reisevertrag vermerkt ist.« »PS: Ich ebenfalls!«, quakte Grochtoch. »… all diejenigen, die bevorzugt auf dem Service von TranslessExpress bestehen, können nach einer Reinigung unseres Gefährts aus dem reichhaltigen Angebot unserer erlesenen Küche bestehen«, ergänzte Fullmanzwulf missmutig. »Bohnen mit Speck, oder Speck mit Bohnen«, flüsterte Shanija. »Ich bin zwar Militärfraß gewöhnt, aber: Nein, danke. Ich würde mich gern ein wenig im Hospiz umsehen.« Sie kramte ein paar Sicheln und Halbmonde hervor, die sie noch von Darren übrig hatte. »Gönnen wir uns doch etwas Gutes. Immerhin sieht es so aus, als würden wir in diesen Stunden von Grochtochs Gegenwart verschont bleiben.« »Einverstanden. Ich bin zwar asketische Lebensumstände gewohnt, aber Speck mit Bohnen muss nun wirklich nicht sein.« Mun verzog wie immer keine Miene, doch Shanija sah trotzdem, wie in seinen schwarzen Augen etwas für den Bruchteil einer Sekunde aufblitzte.
* Matlin schloss sich ihnen an. Die Wanderhure wirkte gut gelaunt. Sie rückte ihr freizügiges Oberteil zurecht und übte den Hüftschwung. »Ich lade euch auf ein Glas ein«, sagte sie. »Die Reise ist für mich bislang gut verlaufen. Den Kunden stehen die Geldkatzen weit offen.« Sie legte ihren Arm auf Shanijas Schultern. Sie roch
nach Sex und kaltem, abgestandenen Rauch. »Du kennst dich aus im Hospiz?« Shanija atmete so flach wie möglich. »Ein wenig. Ich kann euch zeigen, wo ihr gut und ausreichend zu essen bekommt, und wo das Personal nicht allzu sehr betrügt.« Sie traten durch das Haupttor und nahmen mehrere Gutscheine vom griesgrämig dreinblickenden Fullmanzwulf entgegen. Der Reisebegleiter drehte sich sogleich wieder um, mit Grochtoch und dem Holzwurm in seiner Begleitung. Zwei nachlässig gekleidete Wächter begutachteten die Neuankömmlinge und winkten sie desinteressiert durch. Sie betraten die Haupthalle. Augenblicklich umfing sie babylonisches Stimmenwirrwarr. Überall standen Händler und boten ihre Waren feil. Marktschreier übertönten einander, Huren taxierten lautstark potenzielle Kunden, vermummte Gestalten sangen eintönige Choräle, die vor allen möglichen Gefahren warnten. Exotische Gerüche ergänzten das Potpourri. »Wir müssen eine Etage höher«, sagte Matlin. »Erschreckt euch nicht vor der Levo-Treppe.« Shanija und Mun wurden vorwärtsgeschoben, auf eine Plattform zu. Ein Wesen mit dem Aussehen eines Ameisenbärs saß daneben. Der bewegliche Nasenrüssel ragte weit nach oben. Der Vierbeiner vollführte damit seltsame, faszinierende Bewegungen. Sie stiegen auf die Plattform. Bullige Wesen zogen hinter ihnen Ketten in Trennsteher und schoben die Nachdrängenden ein wenig zurück. »Zeig, was du kannst, Nosdrum!«, rief Matlin dem Ameisenbär zu. »Für dich mach ich alles, mein Schatz!«, erwiderte das seltsame Wesen. Seine Augen glänzten. »Sehen wir uns nach dem Ende meiner Schicht?« »Wenn du dir mich leisten kannst – warum nicht?« Matlin lachte aufreizend. Nosdrum hob seine Nase weit in die Höhe. Der mächtige Riechkolben zitterte ein wenig. Für einen Moment wurde es ruhig. Dann hob sich die Plattform und glitt in einem ruhigen, gleichmäßigen
Lauf nach oben. »Nosdrum ist ein Levitator«, erklärte Matlin. »Er ist ein feiner Kerl, aber er denkt nicht an morgen. In zwei, drei Jahren hat ihn diese Arbeit ausgebrannt. – Sieh mich nicht so erstaunt an, Shanija! Wusstest du etwa nicht, dass man die psimagischen Fähigkeiten regelrecht überhitzen kann? Wo bist du denn aufgewachsen, Mädchen?« Sie lachte glockenhell. »Welche besondere Fähigkeit ist eigentlich dir zueigen?«, fragte Mun. »Ich bringe Männer dazu, mich zu mögen«, antwortete die Wanderhure leichthin. »Und du hast keine Angst, dass du eines Tages … versagst?« »Was geht dich das eigentlich an, Adept?«, fauchte Matlin. Sie zog ihre Stirn kraus. »Wenn ich wollte, könnte ich dich dazu bringen, dass du vor mir auf den Knien rutschst und um einen Kuss oder eine einzige Berührung bettelst.« »Mag sein.« Mun blieb gelassen. »Aber hast du dir jemals überlegt, wie sehr du deine Talente verschwendest? Liebe gilt nicht umsonst als das fünfte Element der Schöpfung. Du könntest Tyrannen zähmen. Väter, die ihre Kinder zu Tode prügeln, bändigen. Eine neue Form der Zusammenarbeit zwischen den Geschlechtern erschaffen.« Matlin senkte den Kopf. »Ich weiß. Aber … aber vielleicht fühle ich mich dieser Aufgabe nicht gewachsen. Vielleicht bin ich zu schwach.« »Wir alle sind offenbar zu schwach, um Less so zu gestalten, wie es eigentlich sein sollte.« Mun blickte Shanija tief in die Augen. »Es muss schon jemand ganz Besonderer kommen, um die Dinge wieder ins Lot zu rücken.« Die Plattform hielt mit einem leichten Ruck an. Nacheinander gingen die anderen Passagiere. Niemand schien auf die leise geführte Unterhaltung der drei Reisegefährten geachtet zu haben. Matlin atmete tief durch und setzte dann ein berufsmäßiges Lächeln auf. »Wollt ihr nun einen ordentlichen Happen essen und das Hospiz ein wenig besser kennenlernen?« »Gern.« Shanija stellte sich neben die Frau, hakte sich bei ihr unter
und ließ sich bereitwillig mitziehen. In gewisser Weise erinnerte sie die Wanderhure an As'mala, deren Flatterhaftigkeit sie gleichermaßen bewundert, wie auch verachtet hatte. Und die sie ganz gehörig vermisste.
* Es gab Andachtsräume und Gebetszimmer. Fluchten, in denen jeglicher Form sexueller Ausgelassenheit gefrönt wurde. Casinos und Spielhallen, in denen um jeden Einsatz gewürfelt, gewettet und gesetzt werden konnte. Exklusiv ausgestattete Speisesäle, Ausschänke, Restaurants mit Spezialitäten aus allen Teilen von Less. Kulturtheater. Leseveranstaltungen. Gesangskünstler, Possenreißer, Kabarettisten, Zauberer und Imaginisten buhlten um die Aufmerksamkeit des Publikums. Altgediente, mitunter auch verkrüppelte Krieger und junge, noch bartlose Möchtegern-Abenteurer verkauften ihre Dienste in eigens dafür geschaffenen Auktionsräumen. Selbst für die geringsten Randgruppen fanden sich im Hospiz Plätze und Nischen zur Selbstverwirklichung. Sie ließen sich treiben. Lauschten, rochen, fühlten. Sie schnappten Gespräche auf, wandten sich – mit geringer Hoffnung – an die drei konkurrierenden Auskunfteien des Hospizes, um weitere Details über die Urmutter zu erhalten. Niemand wusste etwas, oder niemand wollte etwas sagen. Man lächelte sie an oder lachte sie aus; Shanija vermochte nicht zu sagen, wo die Grenze lag. »Das hier ist das wahre Leben!«, rief Matlin begeistert aus, die sie nunmehr schon seit einer Stunde begleitete. »Könntet ihr euch irgendwo sonst auf Less eine derartige Vielfalt vorstellen, ohne dass irgendeine Autorität einschreitet?« »Nein«, gab Shanija unumwunden zu. »Das Hospiz ist in der Tat etwas Besonderes.« Sie marschierten einen Wandelgang entlang. Im riesigen Saal unterhalb wurde getäfelt, gescherzt und gelacht. Die Ausgelassenheit,
der sie begegneten, wirkte ansteckend. »Wenn du uns nun entschuldigst«, sagte Mun, »Shanija und ich sind müde. Wir werden uns Betten suchen und bis zur Weiterfahrt der Kutsche ein wenig ruhen.« »Alter Langweiler! Aber mir soll's Recht sein; ich muss mich ohnehin ums Geschäft kümmern.« Matlin hieb ihm auf den Rücken. »Also dann: Gehabt euch wohl! Wir sehen uns bei der Abfahrt.« Der Adept ließ den Schlag mit der flachen Hand reglos geschehen. Nur die Fältchen in seinen Augenwinkeln traten etwas deutlicher zum Vorschein. Er atmete gut hörbar durch, als die Wanderhure um die nächste Ecke bog. »Du magst sie nicht«, sagte ihm Shanija auf den Kopf zu. »Es steht mir nicht zu, andere Wesen zu bewerten. Ich beklage lediglich ihr verschwendetes Talent.« »Ist das der einzige Grund, warum du sie loswerden wolltest?« Shanija trat zu einem Stand und kaufte kandierte Früchte. Sie teilte die Süßigkeit mit dem Adepten. »Ich war, wie gesagt, schon mehrmals hier im Hospiz. Selbst wenn ich wollte, könnte ich die damaligen Stimmungsbilder nicht vergessen.« »Deine psimagische Fähigkeit, die Dinge haargenau im Gedächtnis zu behalten …« »So ist es. Wenn ich diese vergangenen Tage mit heute vergleiche, ergeben sich deutliche Unterschiede. Die Ausgelassenheit, die ich früher spürte, war trotz allem von Ernsthaftigkeit oder Melancholie geprägt. Man wusste, dass jeder Tag der letzte sein konnte, und verhielt sich dementsprechend. Aber heute …« »Ja?« »Es scheint keine Grenzen mehr zu geben. Als fühlten die Leute, dass etwas ganz Besonderes auf sie zukäme, dem sie sich nicht entziehen können.« »Die Passage?« »Möglicherweise. Die Dondeloeven agieren mit verstärkter Aggressivität, das Schluchzermoos jammert wie selten zuvor. Der Geruch nach Kampf liegt in der Luft. Wir Intelligenzwesen, die wir
glauben, Instinktverhalten längst hinter uns gelassen zu haben, müssen einsehen, dass dem nicht so ist. Wir alle ahnen die beginnende Veränderung.«
* Das Quartier erwies sich als überraschend sauber, und das Personal legte weitaus mehr Höflichkeit an den Tag, als es Shanija während der letzten Wochen erlebt hatte. Sie schlief so gut wie schon lange nicht mehr. Fast hätte sie meinen können, sich in einem beliebigen Mittelklassehotel im Washington-York State zu befinden. Wäre da nicht das servile Zimmerpersonal gewesen; handgroße Schweinswesen mit Hauern so spitz wie Zahnstocher, die Schmutz in jeglicher erdenklicher Form erschnüffelten und durch ihre überdimensionierten Nasenlöcher einsaugten. Und der Weckdienst, der in Form eines Vogelwesens ohne anzuklopfen in ihr Zimmer trat, mit seinem harten Schnabel gegen ihr Bettgestell hackte und dann, als Shanija halbwegs bei sich war, Klatsch und Tratsch der Vorgänge aus dem Hospiz zu erzählen begann. Mun klopfte mit dem verabredeten Zeichen an die Verbindungstür. Shanija schlüpfte verschlafen aus dem Bett und öffnete ihm. »Du bist nackt«, stellte der Adept mit einem kurzen Blick fest. »Nur oben herum. Und du bist Mun. Der Mensch, der angeblich keine Gefühle kennt.« Shanija streckte sich ausführlich und gähnte. »Ich kenne sie sehr wohl«, erwiderte der Adept. Rötlicher Schimmer bedeckte seine Wangen. »Meine Arbeit erfordert, dass ich sie aus meinen Gedanken ausspare. Was mir zugegebenermaßen nicht immer leicht fällt.« »Dann bist du ja doch noch ein Mann. Und jetzt komm schon rein, es zieht.« Shanija warf dem Weckdienst und dem Zimmerpersonal ein paar Münzen vor Schnabel und Schnauze und forderte sie auf, zu gehen. »Und keine Sorge, zwischen uns wird es sowieso nichts.« Sie räusperte sich. »Tut mir leid, wenn ich dich in Verlegenheit gebracht habe. In unserem Militär gibt es kaum Unterschiede zwischen
den Geschlechtern. Keine getrennten Duschen und gemeinsame Schlafsäle. Während diverser Einsätze schliefen wir oftmals zusammengedrängt, unter zusammengeknüpften Decken, Körper an Körper. Glaub mir: Ich kann dir Details über unterschiedliche Penisgrößen, Schnarchintervalle und Furzverhalten erzählen, die du in keinem Lehrbuch findest.« »Sehr interessant.« Mun, der ihr bislang starr in die Augen geschaut hatte, wandte seinen Blick beiseite. »In einer Stunde fährt die Kutsche ab, bald danach erwartet uns die morgendliche Dämmerung. Wir sollten zusehen, dass wir vor der Abreise noch etwas Anständiges zu essen bekommen. Fullmanzwulfs Speck und Bohnen – nun ja …« »Ich weiß. Du magst das Zeugs nicht besonders.« Shanija grinste. »Ich möchte mir, bevor wir uns auf den Weg machen, noch den Luxus einer Dusche gönnen. Würdest du mir bitte den Rücken einseifen?«
* Shanija wunderte sich über sich selbst. Sie veränderte sich immer mehr und zeigte ungewohnte Verhaltensweisen. Zu Hause hatte man sie als »Cold Angel« bezeichnet, und sie hatte als prüde gegolten. Seit sie auf Less gestrandet war, entdeckte sie vollkommen neue Seiten an sich. Möglicherweise förderte die nahende Passage zusätzlich seltsame Stimmungen. Losotim von Norno gesellte sich zu ihrem Frühstückstisch. Er nahm von einem teeähnlichen Getränk, das gratis ausgeschenkt wurde. Der Hundsköpfige hielt sein Maul geschlossen. Er wirkte verbittert, die Schultern seines pelzigen Körpers hingen weit nach vorn. Die Augen waren blutunterlaufen. »Na, kein Glück am Spieltisch gehabt?«, fragte Shanija. »Ich bin einem Betrüger aufgesessen«, maulte Losotim. »Einem besseren als mir. Bevor ich wusste, wie mir geschah, hatte er mich um fast meine ganze Barschaft gebracht. Für den Rest der Reise wer-
de ich wohl Primpot auf dem Kutschbock Gesellschaft leisten und mich mit meinem grummelnden Magen unterhalten müssen.« »Es werden auch wieder bessere Tage kommen«, sagte Shanija ohne besonderen Nachdruck. Sie hatte noch keine fünf Sätze mit Losotim gewechselt und wusste nicht, wie sie ihn einschätzen sollte. »Mag sein. Aber meine Pechsträhne hält sich nun schon über ein ganzes Lunarium. Am liebsten würde ich meine Kinder verkaufen, so verzweifelt bin ich inzwischen.« »Deine Kinder?«, fragte Shanija irritiert. Der Zerberus öffnete sein Maul und zeigte die beiden Eier her, die er unter seiner breiten Zunge warm hielt. »Es wird nicht mehr lange dauern, bis sie schlüpfen. Bis dahin muss ich ausreichend Barmittel erspielt haben, um sie ernähren zu können. Kindererziehung und Berufsleben vertragen sich nun mal nicht miteinander.« »Und die Mutter?« Shanija stellte den Frühstücksteller vor ihren Reisebegleiter und bot ihm an, Fleisch und Brot mit ihr zu teilen. »Hat mich sofort nach der Eiablage verlassen.« Er blickte sie verwirrt, aber auch empört an. »Denkst du, ich bin auf ihre Hilfe angewiesen? Ich habe mich längst emanzipiert.« Losotim griff zuerst zögernd nach dem Angebotenen, und aß dann mit Heißhunger. »Ich bin Proponent in der Liga für Männerrechte, und stolz darauf! Glaubst du etwa, ich komme beim ersten sich auftürmenden Hindernis zu ihr zurückgekrochen und bettle darum, dass sie mir hilft? Nein, danke! Sie mag zwar dem so genannten stärkeren Geschlecht angehören, aber sie hat mich nicht gekauft, dieses Wechselbalg.« »Gesellschaftliche Bilder und Vorstellungen können sich mitunter sehr voneinander unterscheiden«, flüsterte Mun Shanija zu. »Less ist nun einmal eine Welt der Gegensätze.« »Ich … verstehe.« Shanija legte ihre Gabel beiseite und sah zu, wie Losotim die letzten Reste von ihrem Teller leckte.
* Der Abschied vom Hospiz fiel der Erdenfrau schwer. Nur zu gerne
wäre sie noch ein Dianoctum oder länger hier geblieben. Es gab so viel zu sehen und zu erleben; nicht allein die unterschiedlichen Erlebniswelten faszinierten sie, nein! Vielmehr imponierte das Miteinander. Angehörige unterschiedlichster Kulturen fanden an einem Tisch zusammen, tauschten sich aus, lachten und weinten, feierten und trauerten. Sie alle waren Reisende, die ihre Geschichte und Geschichten zu erzählen hatten. Für eine Stunde oder mehr schnitten sich ihre Lebenswege; dann trennten sie sich wieder, um sich möglicherweise andernorts als Feinde gegenüberzustehen. »Du spürst den Zauber, der vom Hospiz ausgeht?«, fragte Mun wissend. »Ich bin beeindruckt.« Shanija atmete die frische, viel zu dünne Luft des kommenden Morgens ein. »Aber ich nehme an, dass wir es nun wieder mit der alltäglichen Mischung aus Neid, Missgunst, Streitigkeiten und Eifersüchteleien zu tun bekommen werden?« »So ist es.« Mun nickte. »Wir müssen uns noch mehr in Acht nehmen als gestern. Je näher wir uns dem Ziel der Reise, der Urmutter, nähern, desto größer die Gefahren.« Unerwartete Hektik herrschte im Freien. Kleine und größere Gefährte umlagerten das Hospiz. Menschen und andere Wesen umarmten sich oder tauschten letzte Informationen aus, bevor sie sich endgültig trennten. Geschäfte wurden hastig zum Abschluss gebracht, Söldner taxierten einander misstrauisch. Auffällig viele kapuzenbedeckte Gläubige der einen oder anderen Sekte wandten sich vom Hospiz ab und begannen den mühseligen Abstieg ins Hochland Amendur. Der Weg in die Gegenrichtung war über Nacht gesperrt worden. Gewaltige Metallbolzen staken wie überdimensionierte Zaunlatten in den Straßen und Wegen rings um diesen wichtigen Kreuzungspunkt. Düstere Gesellen arbeiteten an den Befestigungen. Sie taten es stumm oder erzählten sich schmutzige Zoten. Einige Wenige diktierten mit einfachen Worten Briefe an einen Schreiber, der dann an eine längst vergessen geglaubte Liebe auf den Weg gesandt wurde. Im Angesicht des möglichen Todes schwirrten den Soldaten die Geister der Erinnerungen durch den Kopf.
Kampf lag in der Luft. Kampf gegen die Dondeloeven, die sich in der Nacht formiert hatten und bald angreifen würden. Das Schluchzermoos sang ein grausiges Lied, das von drei Seiten auf die scheidenden Gäste eindrang und die Nervosität noch weiter verstärkte. Muskelbepackte Knechte kümmerten sich um die Trossen. Mit ihren stämmigen Beinen stampfen sie auf dem Moos umher, das im Morgennebel grau und weiß wirkte. Wellenförmige Bewegungen in den Wiesen, die vom Hospiz weggingen, zeigten, dass der Bewuchs tatsächlich auf die Behandlung durch die Trossenwächter reagierte. Die Kutsche des Transless-Express kam herangerauscht. Primpot stand auf dem Bock. Mit wippenden Knien glich er die wilden Galoppbewegungen der Soloppen aus. Er blieb stumm; trotz der geringen Körpergröße wirkte er auf Shanija wie ein Mann, dessen Kräfte man niemals unterschätzen durfte. Mit einem sanften Zupfen an den schweren Lederriemen zwang Primpot die Soloppen in eine breite Nische nahe des Hospiz-Haupteingangs. Die Tiere wirkten ausgeruht und munter; ihre Augen glühten, als freuten sie sich auf die Weiterreise. Der Eingang öffnete sich, die metallene Konstruktion dreier Klappstufen fiel heraus, Metallspitzen bohrten sich wuchtig in den Boden. Das mürrische Gesicht Fullmanzwulfs lugte aus der Kutsche hervor. »Beeilung, Herrschaften!«, rief er. »Dies hier ist eine Kurzparkzone. Transless-Express freut sich, euch wieder an Bord begrüßen zu dürfen. Gibt es irgendwelche Abgänge, Vermisste, Tote? Hm …« Er begann, seine Passagiere durchzuzählen. Shanija und Mun waren unter den Ersten, die die Kutsche betraten und den Schrumpfungsprozess auf sich nahmen. Hinter ihnen bildete sich eine Schlange, in der sich auch Losotim, Matlin sowie die Kaliken Smoot, Smaat und Smiit einfanden. Shanija drehte sich ein letztes Mal um und warf einen Blick über das Hochland des Golgoch-Passes. Weit hinten, in der Richtung, aus der sie gekommen waren, sammelten sich unheilvolle Gestalten. Die Dondeloeven bereiteten sich nun auf den direkten Angriff vor.
»Das geht uns nichts mehr an«, flüsterte Mun ihr zu. »Die Besitzer des Hospizes haben kräftig aufgerüstet. Siehst du all die Söldner, die ihre Schwerter schärfen und Munition bunkern? Heute noch oder vielleicht erst morgen gibt es eine weitere Schlacht um die Passhöhe. Viel Blut wird fließen, und viele Tote werden zur Nahrung für das Schluchzermoos werden. So war es hier, seitdem es Aufzeichnungen gab. Und so wird es immer bleiben.« »Es ist barbarisch. Ich werde diese Dinge nie verstehen.« »Das sagt ausgerechnet eine Kriegerin der Erde?« Mun atmete tief durch, als fiele es ihm schwer, seine eigene Meinung zurückzuhalten. »Es ist, wie es ist«, sagte er schließlich, drehte sich um und betrat die Kutsche, unter den Ranken Altims hindurch.
4. Der Verräter Raban zog sich in sein Quartier zurück. Es war kalt und zugig in diesem Raum; das störte ihn nicht. Schmerz, Leid und Unannehmlichkeiten waren so sehr Bestandteil seines Lebens geworden, dass er kaum mehr auf sie achtete. In seinem Kopf pochte es seit einigen Stunden. Einer seiner Informanten wollte ihm mit Hilfe von Psimagie eine Nachricht senden. Raban begab sich in den Schneidersitz und atmete tief durch. Er zupfte ein paar Härchen von den Oberarmen, legte sie in einen bronzenen Mörser, spuckte darauf und presste Blutstropfen aus der nur mangelhaft verkrusteten Dauerwunde am rechten Handgelenk. »Ich bin da«, murmelte der Erhabene Prophet, während er Myrrhe sowie Santlass-Kraut hinzumischte und mit einem schweren Stößel zerstieß. »Wer will mich sprechen?« Ich. Ziunvort. Dein ergebener Diener, Herr. Die Gedanken kamen zart und verschwommen. Fanatismus und Fatalismus hielten sich im Kopf des anderen in einem seltsamen Gleichgewicht. Die Frau war diese Nacht hier. Sie ist soeben im Schutz des Weißen Adepten in der Kutsche weitergereist. Triumph glomm in Ziunvorts Gedankenbildern auf. Sie waren nicht rein; keinesfalls von jener Klarheit geprägt, die sich Raban in endlosen Exerzitien anerzogen hatte. Du konntest jemanden anheuern, der den Verrat begehen wird? Es war nicht schwer, Herr. Viele Wesen meinen, verzweifeln zu müssen, wenn sie sich nicht des zweifelhaften Glücks von Besitz und Haben sicher sind. Wo soll es geschehen? Im gelben Meer. Am Stein des Zweifels. Eine gute Wahl, lobte Raban. Wir werden der Kutsche dort auflauern. Ich bin sehr zufrieden mit dir. Das Ewige Reich ist dir gewiss. Der Erhabene Prophet unterbrach das Rühren und Stoßen der ver-
mengten Körpersubstanzen. Augenblicklich brach der Kontakt ab, die Kopfschmerzen ließen nach. Er wusste, dass dieses zeremonielle Tun ohne jeglichen Zweck war. Es diente lediglich als Vehikel und gewährleistete die notwendige Konzentration auf den gedanklichen Übertragungsvorgang. Raban griff nach der Handglocke und bimmelte. Gläubige Diener strömten herbei. Sie hoben ihn hoch, wischten ihm den Schweiß aus dem Gesicht, halfen ihm aus dem Gewand. »Es ist Zeit für die nächsten Exerzitien«, sagte Raban, sich der Bedeutung des Augenblicks vollauf bewusst. »Zuvor jedoch möchte ich, dass die frohe Kunde an unsere Anhänger hinausgetragen wird: Die Frau mit der Sonnenkraft befindet sich auf dem Weg hierher. Wir werden sie in wenigen Stunden übernehmen. Es müssen gewisse Vorbereitungen getroffen werden …«
* Der Nebel dünnte allmählich aus. Primpot lenkte die Kutsche mit unglaublichem Geschick durch die engen Serpentinen, die mühsam in das Gestein gehauen worden waren. Die Landschaft wirkte wildromantisch. Schroffe, bizarre Szenerien wurden vom Grün der Nadelbäume eingerahmt. Scheinbar von überall her stürzte Wasser herab. Dünne Fäden und breite Fälle schwappten über die Straße, die mit zementartigem Schüttwerk gegen Unterspülung geschützt worden war. Sie überholten scharenweise Pilger, die sich entlang des Weges aufreihten und stumm die Schönheiten, die sich vor ihnen auftaten, betrachteten oder im Gänsemarsch am Wegerand entlang bergab marschierten. Die Gläubigen wirkten wie Geister aus einer anderen Welt. Flavor und Rubin durchbrachen endgültig die Kälte der so lange andauernden Nachtstunden. Zögerlich wanderten rote und gelbe Strahlen über das karstige Gestein. Manchmal als Verbündete, die letzte Nachttiere zurück in die Dunkelheit vertrieben, manchmal als Gegner, die sich darum stritten, steile Wiesenhänge aus verschiedenen Winkeln auszuleuchten.
Verwirrte Glockenblumen wandten ihre Blüten in die eine oder die andere Richtung. Ein Springbock mit stark befellten Hinterläufen hüpfte von Stein zu Stein. Die vielfältigen Lichtreflexe beeinflussten für einen Augenblick seine Sicherheit. Er hetzte weiter, elegant und beherrscht. Er stieß sich ab, kaum dass er am Fels aufgekommen war, in rasendem Tempo, mit der Sicherheit hunderter Generationen in seinen Genen. Shanija revidierte ihr Urteil. Der Bock mochte von der Kutsche und den vielen Pilgern irritiert worden sein, aber unter keinen Umständen vom Licht der Sonnen. »Atemberaubend«, sagte sie und blickte durch das Bullauge ihres Abteils hinaus ins Freie. »In wenigen Minuten haben wir freie Aussicht auf das Hochland«, teilte Fullmanzwulf über den Ohrmuschelsprecher mit. »Unser verehrter Altim der Zarte ist unter anderem ein begnadeter Minutenmaler. Gegen einen geringen Obulus steht er gerne zur Verfügung, um Portraits der Reisenden vor der malerischen Kulisse Amendurs zu gestalten.« Altims Pflanzenarme fielen aus den Wandfresken herab. Sie hielten Papier und Stifte. Mehrere Münder begannen Preisverhandlungen mit den Gästen des Abteils. Um Shanija und Mun kümmerten sie sich allerdings nicht. Wie auf Kommando verzogen sich die letzten Wolkendecken. Sie enthüllten den Blick auf ein gelbes, wogendes Meer, aus dem sich Stein- und Geröllhügel wie Inseln emporhoben. Ockerfarben dominierten. Dazwischen fanden sich seltsame Flecken von Braun und Schwarz. Windböen fächelten über die Oberfläche. Sie formten Wellen, die gegeneinander ankämpften, sich überschnitten und an manchen stillen Orten gar aufhoben. Der Blick reichte schier endlos weit. Am Rand des östlichen Horizonts ließen sich einige wenige dunkle Schatten ausnehmen. »Unser nächstes Ziel liegt dort hinten«, sagte Mun. »Die Stadt Choc. Doch zuerst müssen wir das Meer durchqueren.« »Ist die Kutsche etwa wasserdicht?«, fragte Shanija verblüfft. »Oder wartet am Ufer ein anderes Fortbewegungsmittel auf uns?
Was ist für die Farbe des Ozeans verantwortlich? Plankton oder Algen? Und wieso nennt man das Meer Hochland?« Irritiert bemühte sie sich, auf die Wasseroberfläche zu fokussieren. Sie musste immer wieder blinzeln, konnte keinerlei Details erkennen. Sie waren noch viel zu hoch. Mindestens dreißig Serpentinenstreifen ging es noch bergab, die in den Kehren teilweise untertunnelt waren. »In der Ebene selbst gibt es kaum Wasser«, sagte Mun lächelnd. »Was du siehst, sind wild wachsende Getreidepflanzen, Cylin genannt, die im Wind wogen. Zu dieser Jahreszeit sprießt das Zeugs wie Unkraut. Die Halme können drei bis vier Meter hoch werden. Manche von ihnen werden hart wie Holz. Ich befürchte, dass Primpot diesmal einige Arbeit haben wird, um das Land zu durchqueren.« Wie auf Befehl hörten sie die Flüche des klein gewachsenen Kutschers durch die Kutsche hallen.
* Die Wassermassen, die vom Berg herab regneten, sammelten sich in einem Becken, das sich Richtung Süden zu einem stark mäandernden Fluss verengte. Dies war nicht die Richtung, die sie ansteuerten. Die Kutsche musste den Weg quer durch das Hochland nehmen. Ältere, eingetrocknete Spuren führten von der Tränkestelle am Fuß des Gebirges weg ins Nirgendwo. Rote Bänder, an hölzerne Pfahle gebunden, zeigten Fußgängern die Richtung, die sie wählen mussten. Heere von Zikaden krochen über den dunklen Boden und taten sich an den riesigen Halmen gütlich, ohne deren Menge auch nur irgendwie reduzieren zu können. »Die Cylinhalme wachsen bis zu dreißig Zentimeter innerhalb eines Dianoctums«, führte Fullmanzwulf aus, der seine Passagiere gebeten hatte, sich ein letztes Mal die Beine zu vertreten, bevor sie in das Getreidemeer eintauchten. »Dies geschieht allerdings nur jedes sechste Lunarium. Primpot und ich hatten gehofft, die Stadt Choc vor dem Beginn der größten Wachstumsphase zu erreichen.«
Primpot stand am kieselbedeckten Ufer des Wasserbeckens und füllte Wasserschläuche. Rastlos grummelte er vor sich hin; der Ärger über die erschwerte Weiterreise war ihm ins knallrote Gesicht geschrieben. Shanija trat zu ihm. Sie schleuderte einen flachen, runden Stein mit geübtem Schwung über die Wasseroberfläche. Er hüpfte mehrmals auf, bevor er versank. »Du wirkst beunruhigt«, sagte sie zu dem Kleinen. »Die Unterhaltung mit dem Fahrpersonal hat während der Fahrt unbedingt zu unterbleiben«, murmelte er griesgrämig. Shanija ließ sich nicht irritieren, und schon gar nicht durch das schroffe Verhalten des Kutschers vertreiben. »Wir fahren nicht. Wir befinden uns an einer Haltestation. Ich denke schon, dass wir miteinander sprechen können.« »Meinetwegen.« Primpot warf einen weiteren gefüllten Wasserschlauch ans Ufer. Seine Augen wanderten immer wieder zu den beiden Soloppen, die in einer Entfernung von zwanzig Schritten knietief im Teich standen und mit kräftigen Schlucken soffen. »Was willst du wissen?« »Sag du mir, warum du so unruhig bist. Die Cylinhalme alleine können's kaum sein. Du befährst diese Strecke schon … wie lange?« »Fast zwei Quartennien.« Der Kleine warf sich stolz in die Brust. »Noch niemals ist etwas Ärgeres passiert. Gut: Einen oder zwei Passagiere kann man schon mal während einer Reise verlieren, das ist der rein statistische Abgang. Aber ich habe den Dondeloeven und allen Widrigkeiten des Wetters getrotzt, bei Regen wie bei Sonnenschein. Meuchelmörder, Bombenleger, Banditen – das alles waren keine Hindernisse. Aber jetzt …« »Ja?« Primpot zögerte, bevor er weitersprach. »Ich mag diese verhüllten Maden nicht. Sie erschrecken mich. Sie erzeugen ein mächtig flaues Gefühl im Magen.« »Du meinst die Sektierer?«, hakte Shanija nach. Sie nickte in Richtung eines kleinen Pilgerzuges, der soeben den Abstieg beendete und über die letzte Serpentine hinab auf die Wasserstelle zustrebte.
»Warum fürchtest du dich vor ihnen?« »Sie sind Fanatiker. Egal, welchem Glauben sie nachhängen. Diese Passage, vor der jedermann zu quasseln scheint, scheucht sie aus ihren Löchern und macht sie ganz kirre. Um so mehr, als man weiß, dass Raban ein befestigtes Lager im Hochland unterhält. Es handelt sich um einen Wallfahrtsort für alle Anhänger des Wiedergängers.« Shanija fühlte, wie sich eine Gänsehaut vom Nacken über ihren Rücken hinab zog. Sie hatte bereits ungute Erfahrungen mit diversen Sektierern gemacht. Sie wusste, dass mit ihnen nicht zu spaßen war. Um so mehr, da jedermann ihre Sonnenkraft für seine eigenen Zwecke nützen wollte. »Was weißt du über Raban?«, fragte sie. »Es gibt Gerüchte. Es ist aber keines darunter, das mich irgendwie erfreut hätte.« Der Kutscher spuckte ins Wasser. »Im Übrigen meine ich, dass wir genug geplaudert haben. Mir tun schon die Kiefer weh.« Primpot nickte ihr kurz zu, warf sich vier gefüllte Säcke über die Schulter und schlurfte davon. Shanija blieb, wo sie war. Das Wasser umspülte ihre Füße. Kleine, rote Krebse sammelten sich um ihr Schuhwerk und versuchten, sich durch das Leder zu beißen. Gefühle. Ahnungen. Vermutungen. Hörensagen. Gerüchte. So viele Gespräche, so viele Eindrücke. Doch nichts und niemand konnte ihr jene Informationen liefern, die sie so dringend benötigte. Mit Verstand allein konnte man auf Less nur wenig ausrichten. Diese Welt der Psimagie, in der buchstäblich alles möglich war, verwirrte Shanija von Tag zu Tag mehr. Es gab Momente, da halfen ihre sonst so gut geschulten analytischen Fähigkeiten gar nichts. Ganz besonders machte ihr zu schaffen, dass sie sich selbst nicht von jener Unruhe befreien konnte, die so viele Wesen auf Less gepackt hatte. Sie durfte unter keinen Umständen den Fehler machen, sich in dieser Welt scheinbarer Primitivität überlegen zu fühlen. Ihre Ausbildung mochte besser, ihr Intellekt schärfer ausgebildet sein. Doch dies hier war nicht ihr Terrain. Alle potenziellen Gegner besaßen einen nicht zu unterschätzenden Heimvorteil. Shanija sog die frische, kühle Morgenluft ein, stieg aus dem Was-
ser und kehrte zur Kutsche zurück. Sie nahm Primpots Worte durchaus ernst. Less steuerte auf Ereignisse zu, deren lange Schatten bereits zu spüren waren. Und sie fühlte, dass sie – einmal mehr – im Mittelpunkt alles Geschehens stehen würde.
* Die Cylinhalme schlugen über die Außenwände der Kutsche. Das Klappern wirkte eine Zeitlang eintönig, fast einschläfernd, um dann, durch einen besonders heftigen Schlag, die Fahrgäste aus ihrer Ruhe zu schrecken. Die Geräuschkulisse unterlag permanenter Veränderung; langgezogene Töne entstanden, wurden durch kurzes, abruptes Rattern abgelöst, um schließlich von nachhaltigen Hall gefolgt zu werden, der in Shanija die Erinnerung an einen Schmerzensschrei heraufbeschwor. In der Kabine herrschte gedrückte Stimmung. Mun saß am Fenster und starrte blicklos vor sich hin. Ab und zu fielen Lichtreflexe, die das gelbe Meer der Cylinhalme durchdrangen, über sein Gesicht. Die Kutsche war fast zur Oberkante in das gewaltige Getreidefeld eingetaucht. Feiner Staub wirbelte umher; immer wieder verfing sich ein Halm zwischen den Fensterrahmen und wehte ins Innere. Matlin hatte sich in einer Embryonalstellung zusammengekauert. Sie wiegte vor und zurück, vor und zurück. Die Wanderhure zeigte, warum auch immer, panische Angst. Mit jedem festeren Schlag eines Halms gegen das Kutschengehäuse zuckte sie zusammen. Überraschenderweise kümmerten sich Smoot und Smaat mit rührender Fürsorge um die Frau, während Smiit reserviert blieb und die anderen Anwesenden mit kalten Blicken taxierte. Die Persönlichkeit des Dreiköpfigen blieb gespalten – und angsteinflößend. Die beiden Sokkoden verhielten sich ruhig. Sie lagen nebeneinander und hatten ihre Saugmünder ungeniert über die Geschlechtsteile des jeweils Anderen gestülpt. Seit Stunden verharrten sie in dieser Position, als biete sie ihnen besonders viel Sicherheit.
Losotim von Norno bohrte mit seinen spitzen Fingern im Zahnfleisch umher. Die Schalen seiner beiden Kinder-Eier lugten unter der Zunge hervor. Seine Finger zitterten mehr, als dies bei einem Spieler der Fall sein sollte. Fullmanzwulf hatte seltsamerweise Mitgefühl gezeigt und ihm erlaubt, die Reise im Inneren der Kutsche fortzusetzen. »Mir reicht's!«, sagte Shanija schließlich. »Ich gehe runter und genehmige mir einen kleinen Schluck. Kommst du mit, Mun?« »Nein, danke. Ich möchte die Dinge überdenken. Ich habe viel zu verarbeiten.« Kein Wunder. Mun sammelte Eindrücke von seinen Reisen, um sie irgendwann einmal dem Zentralarchiv zu übermitteln. In der Kutsche war seine psimagische Fähigkeit, Beobachtungen in seinem Kopf abzuspeichern und in einem perfekten System zu kategorisieren, ausgeschaltet. Also benötigte er mehr Zeit für die Selbstreflexion. Der Adept nickte Shanija zu. Seine Blicke warnten sie, unter keinen Umständen in ihrer Aufmerksamkeit nachzulassen. Shanija lächelte. Sie wusste das Kreischerschwert an ihrer rechten Seite, ebenso die Schusswaffe. Und selbst wenn sie beides nicht gehabt hätte, so war ihr Körper eine nicht zu unterschätzende Waffe. Sie hatte die Hölle der Quinternen überlebt. Es gab nichts mehr, das sie noch erschrecken oder aufhalten konnte. Sie stieg die knarrenden Stufen ins Untergeschoss hinab und betrat den Aufenthaltsraum. Er war spärlich besetzt. Altim unterhielt sich flüsternd mit einem Menschenpärchen; dem Holzwurm wurde soeben von seinem Menschendiener ein Gläschen Hochprozentiger über den fahlen Leib geschüttet. Neben ihm räkelte sich Spirk, der Kefir-Pilz, auf der Theke. Seine kohlröschenartigen Körperglieder griffen nach Bohnen, die Fullmanzwulf zur Nahrungsaufnahme über dem Holz verteilt hatte. Flüssigkeit blubberte unter dem Leib des Kefirs hervor und erzeugte eine Art Sprache. »Wie sieht's aus?«, fragte Shanija den Fahrtbegleiter. »Wie immer«, antwortete er griesgrämig. Mit einem schmutzigen Tuch wischte er Spirks Schleimspur von einem Teil des Tresens. Er
zerdrückte dabei ein paar übriggebliebene Bohnen und verschmierte den Brei gleichmäßig über das Holz. »Hast du irgendwelche Fruchtsäfte an Bord?« »Was glaubst du von mir? Ich will meine Gäste doch nicht vergiften! Ich kann dir Wasser, vergorene Yukk-Milch, Alkotee, Alkoffee, zweiundvierzig verschiedene Schnäpse aus den Brennereien Altims, einige Weinsorten und die kutschereigene Spezialität Bohnenschnaps anbieten.« »Dann bring mir ein Wasser, bitte.« Fullmanzwulf knallte wortlos einen Becher auf den Tresen und füllte mit einem Schöpflöffel Flüssigkeit aus einem bereitstehenden Bottich. Ungeniert zog er mit zwei seiner dreckumrandeten Fingernägel einen der feuerroten Krebse aus dem Gefäß, wie sie sie Shanija im Gewässer am Fuß des Golgoch-Gebirges kennen gelernt hatte. »Danke.« Shanija legte eine Sichel-Münze auf die Bar und nippte am Wasser. »Wie lange bist du schon auf dieser Strecke unterwegs?«, fragte sie. »Zu lange«, antwortete Fullmanzwulf wortkarg. Shanijas Unwohlsein wuchs von Minute zu Minute. In ihrer Brust wurde es immer enger. Ein unbestimmtes Gefühl der Gefahr nagte an ihr. Das Klappergeräusch der Cylinhalme war hier unten noch viel deutlicher zu hören als im oberen Abteil. Es wirkte härter, intensiver. »Wie bist du zu dieser Arbeit gekommen?« Sie lehnte sich über den Tresen und betrachtete den Troll eingehend. Er drehte sich nach links und rechts, als müsse er überprüfen, ob es ungebetene Zuhörer gab, beugte sich dann ebenfalls vor und sagte, gerade noch verständlich: »Hör mir jetzt gut zu, Weib: Gib dich gefälligst mit deinesgleichen ab und lass mich in Ruhe meine Arbeit machen, verstanden? Ich hasse diese Kutsche, und ich hasse euch Passagiere …« »Wie ich bereits bei einer deiner Ansprachen über die Ohrmuscheln hören durfte«, sagte Shanija unbeeindruckt. Sie zwang sich, zu grinsen. Es bereitete ihr Spaß, sich an Fullmanzwulf zu reiben. Das Nichtstun, das Knattern und Schlagen, das Gefühl des Einge-
schlossenseins – dies alles steigerte ihre Aggressivität und Nervosität. »In Hinsicht auf deine Arbeit glaube ich dir nicht. Ich vermute vielmehr, dass das genaue Gegenteil zutrifft: Du liebst deine Arbeit, und du tust sie mit mehr Hingabe, als eigentlich notwendig wäre.« Die Hände des Trolls begannen leicht zu zittern, die mehrfach gebrochene Nase verfärbte sich weiß vor Schreck. »Auf solch eine verrückte Idee kann auch nur eine Menschenfrau kommen.« Schweißtropfen bildeten sich auf seiner Stirn. Sie spülten Schmutz und Sand weg, zogen helle Bahnen durch das zerfurchte Gesicht. Er wandte sich ab, ganz offensichtlich peinlich berührt. »Stört es dich, wenn ich ins Große Bullauge hinaufsteige?«, rief sie dem Troll hinterher. Neugierde erwachte in ihr. Sie wollte die Fahrt aus der Perspektive des Kutschers verfolgen. »Tu, was du nicht lassen kannst!« Fullmanzwulf nahm seine Geldkatze an sich und verließ den Aufenthaltsraum. Sein Abgang ähnelte einer Flucht. »Achte aber darauf, dass du dem Tortoiden nicht im Weg stehst. N'Gazz ist sehr sensibel.« Shanija griff nach ihrem Glas und hantelte sich die von Altim widerwillig ausgebildete Strickleiter hinauf. Die Luft im Verschlag war stickig und von gelben Staubwolken durchzogen. Sie hangelte sich an einem seitlichen Halteseil in den schmalen Raum und stellte sich auf die Beine. Der Ausblick wirkte … verängstigend. Vor ihr, nur durch die Glaswand getrennt, kämpften die Soloppen und Primpot gegen die Fährnisse des Hochlands an. Der Kutscher ließ die Peitsche weit vor sich knallen. Mit bemerkenswerter Geschicklichkeit durchschnitt er damit die strohgelben Garben. Seine Zugtiere stampften in die vorgegebene Richtung, verbreiterten die Gasse mit ihren mächtigen Körpern. Ab und zu waren jene roten Stoffbänder zu erkennen, die den eigentlichen Wegerand markierten. Wie es Primpot schaffte, bei den wenigen, kaum erkennbaren Hinweisen auf Kurs zu bleiben, blieb Shanija allerdings ein Rätsel. »Sss!«, fauchte etwas. Shanija zuckte zusammen, blickte sich alarmiert nach links und rechts um.
Der Tortoide. Er stand seitlich von ihr, im Halbdunkel. Fast so groß wie sie selbst. Hunderte, vielleicht tausende Handfasern, Greifzangen, Fingerpodien, Tastlamellen richteten sich wie verlangend auf sie aus. N'Gazz wirkte wie das abstrakte Kunstwerk eines Geisteskranken. Die vielfältigen Körperteile, aus denen der Tortoide bestand, gruppierten sich immer wieder um, verwirrten sie. Das Durcheinander drückte Aggressivität, aber auch Angst aus. »Ganz ruhig«, sagte Shanija. Sie hielt die offenen Hände vor sich und hoffte, dass ihr Gegenüber die Symbolik der Geste verstand. »Ich tue dir nichts. Ich möchte lediglich ein wenig zusehen, wenn du erlaubst.« »Dein Atem schtingt!«, drang es gepresst aus dem oberen Teil des Wesens. »Atme flach und dreh disch nischt in meine Rischtung, dann darfscht du bleiben.« Shanija trat ein wenig zur Seite und lenkte ihren Blick bemüht vom Tortoiden ab. N'Gazz faszinierte und erschreckte gleichermaßen. Verlor er an Intelligenz, wenn er sich in seine Einzelteile auflöste, oder war jeder Teil seines Körpers ebenso zu vernünftigen Handlungen fähig wie der Gesamtkörper? Was geschah in diesem Gewirr aus an- und ineinander geklammerten Insektoiden? Pflanzten sich die Teilgeschöpfe fort, vermehrten sie sich, um irgendwann einmal eine neue, selbstständige Persönlichkeit auszubilden? Der Pflanzenwald vor den Soloppen wurde immer dichter. Gelbe Farbe war überall. Wenige schwarze, verdorbene Halme durchbrachen das farbliche Einerlei. Breite Cylinhalme schnalzten von mehreren Seiten her auf Primpot zu, als besäßen sie ein Eigenleben. Der Kutscher ließ ein ums andere Mal die Peitsche kreisen. Das schwere Leder, mit unglaublicher Kraft geschwungen, durchteilte die Halme wie Butter. Meterlange abgetrennte Pflanzenteile prasselten auf das Fenster nieder. Giftgrüne Flüssigkeit verteilte sich in Schlieren über dem Glas. Teile von armlangen Zikaden und Heuschrecken blieben ebenso kleben wie Staub und eine zähe Substanz, die wie Blut aussah.
»Nischt gut!«, zischelte N'Gazz, »gar nischt gut.« Primpot gab den Soloppen Signal, anzuhalten. Nur allzu gern gehorchten die Tiere. Sie wanden sich in ihren Gürtungen, schreckten immer wieder zur Seite hin weg. Der Kutscher hatte alle Mühe, die Zugtiere unter Kontrolle zu behalten. »Musch Fullmanschwulf alarmieren!«, nuschelte der Tortoide. Ein armähnliches Etwas seines seltsamen Körpers zog an einem langen Hebel, der unter dem Fenster verborgen gewesen war. Ein schrilles Läuten ertönte, versetzte die Kutsche in sanftes Vibrieren. »Was geschieht dort draußen?«, fragte Shanija. Sie empfand die Gegenwart N'Gazz mit einem Mal als lähmend und belastend. Seine Psimagie befähigte ihn angeblich dazu, andere Lebewesen in der Kutsche ihrer Fähigkeiten zu berauben. Schaffte er es darüber hinaus gar, ihre Geistes- und Körperkräfte zu schwächen? Sie fühlte sich erschöpft, konnte keinen klaren Gedanken fassen … »Da ischt wasch! Böschesch. Mascht mir Angscht.« Der Tortoide zerfiel. Teile seines Körpers verschwanden in Ritzen und Spalten. Reste des merkwürdigen Wesens taumelten verwirrt umher. Käfer, Krebse, Schrecken und Schnecken stießen gegen Shanijas Schuhwerk, bissen sich darin fest, wollten ihr Bein hoch krabbeln. Shanija atmete tief durch. Sie durfte sich unter keinen Umständen dazu hinreißen lassen, Körperteile des Tortoiden zu verletzen oder gar zu töten. Mit aller Vorsicht streifte sie die Insektenkörper ab und schob sie beiseite. Ein Schnauben ertönte hinter ihr. Alarmiert fuhr Shanija herum. »Hast du das angestellt?«, fuhr Fullmanzwulf sie empört an und deutete auf die Teilwesen des Tortoiden. Mit einem kräftigen Körperzug stemmte er sich in den Verschlag hoch und stieß Shanija wütend beiseite. »Ich sagte doch, du sollst N'Gazz nicht stören! ScheißMensch!« Shanija ballte die Fäuste, wollte auf den Troll einschlagen. Wie konnte er es bloß wagen … Gerade noch hielt sie sich zurück. Es bereitete ihr Mühe, ruhig zu bleiben und den Verstand arbeiten zu lassen. Einfach zuzuschlagen – das war nicht ihr Stil, nicht ihr Charakter. Beeinflusste sie irgendjemand?
»Bleib ruhig, Mann!«, sagte sie beherrscht. »Sieh nach draußen. Irgendetwas geschieht dort, das den Tortoiden dazu gebracht hat, sich aufzulösen. Kannst du es denn nicht auch spüren?« Fullmanzwulf beruhigte sich und folgte ihren Blicken. Die Glasscheibe war mittlerweile so verschmutzt, dass man kaum noch erkennen konnte, was im Freien geschah. Dinge näherten sich von allen Seiten. Es waren weitere Halme und Teile davon. Sie flatterten umher, wie von einer Windhose eingefangen und mit immer größerer Wucht gegen den Vorderbau der Kutsche geschleudert. Ein Soloppe schrie auf. Schrill, enervierend, in Todesangst. »Primpot!«, schrie der Troll, »komm rein! Wir müssen sofort dicht machen!« »Geht nicht!«, antwortete der Kutscher. Seine Stimme drang dumpf durch das Glas des Bullauges. »Igor und Blücher; ich muss sie retten …« »Die Tiere sind es nicht wert!« Fullmanzwulf trommelte kräftig gegen das Glas. »Rein mit dir! Ich muss die Kutsche versiegeln …« Keine Antwort. Lediglich ein langgezogener Fluch. Das Knallen der Peitsche, die Schreie der Soloppen, von Schmerz geprägt, die allmählich leiser wurden und in ein Schluchzen übergingen. »Dieser verdammte Dickkopf!« Fullmanzwulf sprang wie ein Rumpelstilzchen auf und ab, achtete nicht weiter auf die Teilkörper des Tortoiden. »Ich kann ihn doch nicht im Stich lassen …« »Was geschieht dort draußen?«, fragte Shanija. »Woher soll ich das wissen?« Der Troll ließ sich kaum beruhigen. »Ich habe so etwas noch nie erlebt.« Ein gurgelndes Geräusch. Ein letzter Peitschenknall, der unvermittelt abbrach. Fullmanzwulf griff zu einem langen Messer, das er unter seinem Röckchen verborgen gehalten hatte. Wie ein Wahnsinniger stach er auf die perlmuttverzierte Holztäfelung unter dem Fenster ein, als wollte er eine Bresche schlagen und derart den Kutscher retten … »Lass es bleiben!« Shanija zog den Troll zurück. »Es hat keinen Sinn mehr.« Fullmanzwulf stieß ihre Arme beiseite, machte sich neuerlich an
die Arbeit, ohne irgendetwas mit seiner Stichwaffe bewirken zu können. Shanija packte zu, diesmal an Oberarmen und Schultern des Trolls. Gewaltige Muskelpakete waren unter dem einfachen Gewand Fullmanzwulfs verborgen. »Primpot hat es hinter sich«, sagte sie so ruhig wie möglich. »Die Tiere wohl ebenso. Denk nach, Mann! Du trägst die alleinige Verantwortung für uns. Du hast dafür zu sorgen, dass wir nicht dasselbe Schicksal wie der Kutscher erleiden. Also tu, was du tun musst!« Fullmanzwulfs Blick klärte sich. Mit einer fahrigen Bewegung wischte er sich die wenigen dünnen Haare aus der Stirn. »Du hast Recht, Menschenfrau«, sagte er leise. »Wir müssen die Kutsche sichern. Der Eingang …« Er drehte sich um, tauchte ins Zwielicht und ließ sich die Hängeleiter hinabgleiten. Shanija blieb allein zurück. Das Fenster war nun vollends mit grüngelbem Schleim bedeckt. Schmatzende Geräusche drangen an ihr Ohr. N'Gazz' Einzelteile waren im Inneren der Kutsche verschwunden. Leises Rascheln da und dort kündete davon, wie sie sich zwischen den Trennwänden verkrochen. Für einen Augenblick wogte urtümliche Angst in ihr hoch. Shanija schloss die Augen und konzentrierte sich. Sie fühlte und wusste, dass es sich um eine außenbestimmte Gefühlsregung handelte. Dort draußen hockte möglicherweise ein psimagischer Imaginist, der auf der Klaviatur ihrer Emotionen spielte. Noch hatte er sich nicht auf sie eingependelt, noch konnte er die Verteidigungslinie, die durch Logik und Verstand gebildet wurden, nicht durchbrechen. Doch je länger sie hier untätig blieb und bloß nachdachte, desto verletzlicher wurde sie. Shanijas Blick richtete sich auf den Boden. Dort, wo soeben die letzten Körperteile des Tortoiden verschwanden, lag etwas. Ein Stück Pergament. Sie trat näher, hob es auf. Es war jene Liste, die Fullmanzwulf kurz vor Erreichen des Golgoch-Passes erstellt hatte. Jemand hatte sich die Mühe gemacht, die
zerrissenen Einzelteile mithilfe eines Klebstoffs wieder zusammenzufügen. In der letzten Zeile des Textes, der mit »Begabungen« überschrieben war, stand: »Grose, dürre, hässlieche Menschnfrau: Sonnenkraft«. Shanija fluchte. Irgendjemand an Bord hatte sich über sie schlaugemacht.
* Schaurige Geräusche drangen durch die Ritzen. Von überall her hieben unbekannte Gegner auf die Kutsche ein. Holz splitterte. Fullmanzwulf sprang von einem Ende des Gefährts zum anderen, machte sich an seltsamen Waffensystemen zu schaffen, die im Freien Donner, Blitz und Gewitter auslösten. Dann gewannen sie ein paar Sekunden Ruhepause, bevor das Kreischen und Heulen wieder anhob, dünne Nebelarme ins Innere vordrangen und das Heer der Angreifer mit verstärkter Wut gegen die Kutsche anbrandete. »Wir benötigen einen psimagischen Ring«, sagte Mun, »jetzt sofort. Wir haben keine Ahnung, wer dort draußen auf uns lauert. Tatsache ist, dass er oder es semitransparente Geschöpfe gegen uns vorschicken kann, die uns verletzen können. Wollen wir uns dem entgegen stemmen, müssen wir gemeinsam handeln.« Fullmanzwulf huschte vorbei, rief ein beiläufiges »Ja, ja!«, und war schon wieder weg, um in einem anderen Bereich des Gefährts irgendetwas zu unternehmen. Er handelte irrational, als hätte ihn der Tod Primpots völlig aus der Bahn geworfen. »Ich bin bereit«, sagte Shanija und stellte sich demonstrativ neben den Adepten. »Wir müssen es zumindest versuchen.« Weitere Reisebegleiter gesellten sich zu ihnen. Matlin, Losotim von Norno, der Kefir namens Spirk, die beiden Sokkoden, der ungetarnte Grochtoch, drei Menschen, das Känguru-Wesen. Von überall her kamen die Fahrgäste, fanden sich zu einer Runde.
»Wir wissen, dass es funktionieren kann«, sagte Mun mit jener Ruhe in Stimme und Verhalten, die ihn so sehr auszeichnete. »Wir müssen dies alles hier aussparen. Schieben es beiseite. Vergessen. Finden zu uns selbst. So lange, bis wir uns gegenseitig spüren. Schließt nun die Augen, gebt euch die Hand und konzentriert euch. Lasst es geschehen …« Das Krachen, Heulen und Scheppern, das die Angreifer verursachten, geriet immer weiter in den Hintergrund. Das Wackeln der Kutsche und das Splittern des Holzes besaßen keinerlei Bedeutung mehr. All das wurde zum Hintergrundrauschen in einem Äther, der von so vielen wunderbaren Dingen erfüllt wurde: Bilder, Gerüche und scheinbar greifbaren Gegenständen, die die psimagischen Fähigkeiten der Reisegesellschaft darstellten … »Zu viel, zu viel!«, ächzte etwas neben/in/auf Shanija. »Das halte ich nicht aus!« Ein winziger Leuchtklecks löste sich aus dem zusammenwachsenden Gefüge. Er war blutrot, und in ihm schimmerten kristallähnliche Weisheiten. Pong. »Lass mich gehen!«, forderte der Schmuckdrache. »Das hier ist nicht gut für mich!« Shanija verstand die Biomechanismen ihres ehemaligen Kampfgefährten nicht, und sie durfte seine »Gesundheit« unter keinen Umständen gefährden. »Ja, bring dich in Sicherheit«, stimmte sie zu. Im nächsten Atemzug konnte sie fühlen, wie Pong sich aus ihr löste. »Nicht ohne meinen Schatz!«, zischelte er, griff in ihre Brusttasche und fingerte die drei Kristalle aus der Mandiranei heraus, raffte sie an sich. »Alles ist wichtig … darf nicht gefährdet werden …« »Verschwinde«, sagte Shanija, die plötzlich eine düstere Vorahnung hatte. »Schnell!« Pongs Bild dünnte aus, wurde zu einem kaum wahrnehmbaren Schimmern, das in eine unbestimmbare Richtung davon flatterte. Übernimm du!, hörte Shanija plötzlich eine kräftige, stechende Stimme. Wir alle sind bereit. Ja, das waren sie. Mun hatte die Gruppe von dreißig oder mehr In-
dividuen auf sie, Shanija, eingeschworen. All die psimagischen Impressionen umschwirrten sie, blickten zu ihr auf wie zur Sonne, die sie wärmte. Eine Sonne, die sie auch war, wie sie in diesem phantastischen Moment wusste. Die Kraft wuchs in ihr. Wurde drängend, fordernd, wütend. Wollte freigelassen werden. Sehnte sich danach, hervorzubrechen und die kruden Gestalten, die am Rande ihres geistigen Wahrnehmungshorizonts tobten, zu zerstören. Gazevorhänge waren es, gesponnen aus Bösartigkeit. Ohne Geist und wahres Leben, dennoch voll unbändiger Kraft. Shanija pumpte sich auf. Immer weiter, immer höher, immer stärker. So sehr, dass die mit ihr verbundenen Geister stöhnten und schrien und sie darum baten, endlich das Inferno auszulösen. Sie wartete weiter, zögerte den Moment hinaus, bis genug Kraft gesammelt war. Sie wollte ihren Gegnern alles entgegenschleudern, das in ihr und den anderen Wesen des psimagischen Rings steckte. Drei oder vier Ewigkeiten vergingen. Dann erst ließ Shanija los. Die Sonne ging auf.
* Ein magischer Hitzesturm breitete sich aus. Er erleuchtete die Dunkelheit, verschleuderte Myriaden von Partikel, Strahlenteilchen und psimagischer Substanz, wie sie nur hier auf Less entstehen konnten. Nichts und niemand widerstand Shanijas Kraft. Die Gazeschleier wirbelten beiseite. Sie verfingen sich ineinander. Das Geschrei der Wesen wurde nebensächlich im Brüllen der Sonnenkraft. Gierige Klauen, die sich in Richtung des psimagischen Verteidigungskreises ausstreckten, brachen weg oder diffundierten. Shanija wollte es sehen. Wollte die Augen öffnen und die Konsequenzen ihres Tuns beobachten. Doch sie konnte, durfte es nicht. Die Verbindung würde brechen, bevor der Orkan ihrer Sonnenkraft sein verderbliches Werk vollendet hatte. Sie spuckte Psimagie aus, ohne zu wissen, wo denn diese Reserven eigentlich lagerten. Viel-
leicht erwachte sie mit geplatztem Gehirn, vielleicht würde sie vor Erschöpfung sterben; sie hatte keinen Einfluss mehr auf die Geschehnisse. Zu sehr war sie in diesem Mahlstrom der Macht gefangen und musste ihr Werk zu Ende führen. Der Kraftstrahl wurde schmäler, die Euphorie schwand. Völlig entkräftet fielen die Geister ihrer Gefährten weg, einer nach dem anderen. Matlin, der Kefir und Mun hielten am längsten durch, hielten die Energien am Fließen. Bis auch sie aufgaben und Shanija allein übrig war. Leer, des letzten Tropfens psimagischer Substanz beraubt. Sie begann ihren Körper wieder zu spüren. Sie war zu Boden gesunken und zitterte. Blut verklebte die Nase und Krämpfe plagten die Oberschenkel, doch sie fühlte sich so an, als wäre sie noch am Leben. Sie hatten gesiegt. Oder? Die Gazevorhänge waren vernichtet worden, gewiss. Aber schon kamen die Nachfolger heran, die vielleicht als Nachhut zurückgehalten worden waren. In ihnen steckte neue, bösartige Wut. Sie umflatterten Shanija in einem wilden Tanz, um sich schließlich in einem gesammelten Angriff auf sie zu stürzen und sie aufzufressen.
5. Der Triumph Raban frohlockte. Alles kam so, wie er es sich wünschte. Seine Truppen stießen auf den erwartet starken Widerstand. Aber die Vorbereitungen auf den Überfall machten sich bezahlt. Seine mächtigsten Jünger fanden zu einem perfekt synchronisierten psimagischen Kreis zusammen und umfingen die Kutsche mit jenen Schleiertüchern, die durch keine Macht der Welt zu greifen oder zu durchdringen waren. Mit Ausnahme der Sonnenkraft, selbstverständlich. Doch der Verräter an Bord der Kutsche hatte für Irritationen gesorgt und die ungeübte Frau daran gehindert, all ihre Kraft in den Abwehrversuch zu stecken. Aber wenn es noch einen Beweis erfordert hätte, dass die erst vor kurzer Zeit gestrandete Erdenfrau die Sonnenkraft in sich trug, so war er jetzt eindeutig erbracht.
* Besuch bei Freunden Shanija träumte: Sie lag am Boden der Kutsche. Ein schlangenähnliches Geschöpf mit einem nahezu transparenten Leib kroch durch zähe Luft, stülpte sich über sie und verschlang sie. Hakenbewehrte Lamellen schoben sie weiter, vorbei am ausgerenkten Kiefer, tauchten sie immer weiter hinab in den Schlauch des Körpers. An den Seitenwänden klebten Fleisch- und Knochenreste früherer Opfer. Shanija fühlte den unwiderstehlichen Sog, dem sie ausgesetzt war, konnte ihm allerdings nichts entgegen setzen. Sie war wie paralysiert; selbst die einfachsten Gedanken trieben zäh und widerspenstig durch ihren Kopf. Der Schlangenwurm durchbrach die Wandung der Kutsche. Durch den
halbdurchsichtigen Leib sah sie rundum ein Gelb, das sie kannte. Die … Halme. Das Untier schob die Cylinhalme beiseite, als stellten sie kein Hindernis dar, wälzte sich rücksichtslos durch den unheimlichen Pflanzenwald. Im Körperinneren des Geschöpfes war kaum ein Laut zu hören. Lediglich das Gluckern von Verdauungssäften und von Zeit zu Zeit das Krachen eines knorpeligen Skelettringes, der den Leib des monströsen Geschöpfes abstützte. Die Reise dauerte an, wollte einfach nicht enden. Ab und zu erhaschte Shanija den Blick auf ein anderes Schlangengeschöpf, das mit seltsamen Seitwärtsbewegungen nebenher eilte. Ein anderer Gefangener ruhte in dessen Körper. Eng umfangen, so wie sie zu keiner Bewegung fähig. Mit seltsamer Intensität fühlte Shanija den Magenschleim des Monstrums an ihren Fingern. Er war klebrig und zäh, und die Berührung schmerzte an ihrer Haut. Faulig riechende Luft umgab Shanija. Ab und zu kam aus den tiefsten Tiefen des Geschöpfs ein weiterer Schwall des widerlichen Gestanks hochgeweht. Sie musste Schmerz und Übelkeit hinnehmen. Es wurde heller. Das Gelb außerhalb ihres Schlangengefängnisses wurde von freundlichem Blau und Weiß abgelöst. Dumpfe Töne drangen mit einem Mal zu ihr durch. Sie waren tief, kaum noch hörbar, und sie folgten einer suggestiv wirkenden Melodie. Etwas änderte sich; die Wurmschlange bewegte sich kaum mehr. Der Körper verengte sich, umfasste Shanija nun an allen Seiten. Das widerliche Geschöpf presste wertvolle Atemluft aus ihr, packte sie stattdessen in eine Blase aus Körpersäften und schlecht aufgelösten Verdauungsresten. Jene Wurmfortsätze, die sie hier herab in den Magen geschoben und gestopft hatten, bewegten sie nun mit verstärkter Vehemenz in die entgegengesetzte Richtung. Sie streichelten kitzelnd über ihren Leib, wurden zu unangenehmen und lebenden Noppen, die sie ringsum betasteten. Shanija drehte sich um die eigene Achse. Sie fühlte sich gestoßen und geschubst und eingebeult. Ihre Empfindungen verwischten, wurden zu einem unbestimmbaren Einerlei. Ein Ton, mächtig und von weiter unten kommend, trug sie nun. Schob sie vorwärts, irgendwohin. Shanija hätte gerne geschrien und geweint, ihren Emotionen Luft gemacht. Doch sie war zu nichts, gar nichts fähig. Der Ton trug und begleitete sie auf ihrer seltsamen Reise. Ihre Schwäche
nahm indes zu. Die Luftvorräte waren längst aufgebraucht, das Herz arbeitete wie rasend. Ihr Kreislauf drohte zusammenzubrechen. Ja: Sie würde sterben, und sie würde den Tod in diesem Alptraum mit offenen Armen empfangen. Gemeinsam mit einem Schwall an Flüssigkeit fühlte sich Shanija ausgespuckt. Ein röhrender Rülpser begleitete das Erbrechen des Schlangenwesens. Die Frau lag da, kämpfte mit dem Schleim, der sie umgab, rang inmitten des Suds verzweifelt nach Atem und begriff, dass dies alles kein Traum, sondern die Realität ihres Lebens war.
* Shanija zerriss mit letzter Kraft den Schleimvorhang vor ihrem Mund und sog den dringend benötigten Sauerstoff ein. Ihre Lungen, zu kleinen Klumpen verkommen, entfalteten sich laut rasselnd. Sie ächzte und schluchzte. Sie krächzte und hustete, sobald sie die Kraft dafür fand. Sie fluchte und schrie, jammerte und brüllte. Dann kam sie auf die Beine, vom Instinkt getrieben, der laut Gefahr! Gefahr! schrie, rutschte weg und fiel bäuchlings zurück in den Schlangenschleim. Alles an ihr war Schmerz. Brennender, ätzender Schmerz … Eine Berührung an ihrer Schulter. So sanft wie die eines Schmetterlings. Shanija wusste, dass sie sich umdrehen musste, um in Erfahrung zu bringen, wer auf die perverse Idee kam, sie inmitten einer Lache Kotze zu streicheln und zu liebkosen. Sie fühlte sich selbst dafür zu schwach. Ein Abgrund aus Schwärze tat sich vor ihr auf, wollte sie verschlucken. »Es ist alles in Ordnung«, sagte eine wohlbekannte, nienienie erwartete Stimme. »Mach dir keine Sorgen mehr. Ich kümmere mich ab jetzt um dich. Es wird dir bald wieder besser gehen …« Shanija entspannte sich. Verwirrt, aber erleichtert. Ja. Alles war gut. As'mala war hier und würde sich um sie sorgen. Ohnmacht umfing sie.
* Sie schreckte aus traumlosem Schlaf hoch. In einem Augenblick waren die Erinnerungen wieder da. Das Ziel. Die Aufgabe. Die gefühlten und erahnten Geschehnisse, die sie hierher geführt hatten. Wo war hierher? Shanija blickte sich um. Rasch und prüfend, mit in endlosen Trainingseinheiten anerzogenen Reflexen. Der Raum war hell. Eine Sonne lachte durch das große Fenster. Rotbäuchige Vögel saßen in den Ästen eines knorrigen Baumes und wetteiferten in ihrem Zwitschern. Frische, angenehm kühle Luft strömte herein. Eine Tür, ein Stuhl, ein Tisch. Saubere Kleidung, für sie sorgsam bereitgelegt. Die wenigen privaten Sachen, die sie besaß. Das Kreischerschwert, und auch die Schusswaffe samt Munition. Aber wo war Pong abgeblieben? Shanija tastete über ihre Brust. Das Relief war leer. Der Schmuckdrache blieb verschwunden. »Ich bin mir sicher, es geht ihm gut.« As'mala stand in der Tür. Sie hielt die Hände vor der Brust verschränkt, ihr Gesicht drückte ungewohnte Ernsthaftigkeit aus. Ihre körperlichen Vorteile blieben unter dem groben Leinen einer Kutte verborgen. Shanija schob die Beine aus dem Bett und trat vorsichtig auf. Der Boden, sauber und glänzend, fühlte sich warm an. Die Beine trugen ihr Gewicht. Sie fühlte sich besser, als sie befürchtet hatte. Mit zögernden Schritten ging sie auf die Freundin zu. As'mala kam ihr entgegen. Die Umarmung der Diebin, die Shanija längst zur Freundin geworden war, war herzlich und innig. Das Zittern ihrer Arme unterstrich die Intensität, mit der sie diesen Augenblick empfand. »Wie kommt das?«, fragte Shanija nach einer Weile. Und: »Was ist geschehen?« Sie schob As'mala ein Stückchen von sich. Tränen standen in ihren Augenwinkeln, derer sie sich nicht schämte. Tausend und mehr Fragen wirbelten durch ihren Kopf. Die Bruchstücke des
Erlebten, die ihr in Erinnerung geblieben waren, passten keineswegs zu diesem überraschenden Wiedersehen. »Wir sollten es ruhig angehen«, sagte As'mala ernst. »Du fühlst dich sicherlich noch schwach …« »Unsinn! Ich könnte drei oder vier Soloppen-Steaks wegmachen und das eine oder andere Bier vertragen, aber sonst fühle ich mich ausgezeichnet.« Sie zog die Diebin mit sich zum Bett und schob sie neben sich. Mit einem halben Auge behielt sie die Waffen am nahen Tisch im Blickfeld. Zur Sicherheit. »Jetzt erzähl schon!«, forderte Shanija ein zweites Mal. »Wo sind wir, und wie kommt es, dass wir uns so unerwartet wieder sehen? Bist du Seiya und Darren begegnet? Sind sie ebenfalls hier?« As'mala setzte sich kerzengerade hin, die Beine eng beieinander. Sie wirkte ungewöhnlich ruhig. »Alles der Reihe nach«, sagte die Diebin und zeigte ein knappes Lächeln. »Du erinnerst dich an Burundun und die Schwimmende Stadt Lakara?« »Schön, dass du dich noch daran erinnerst, denn das Wichtigste weißt du noch gar nicht, weil du … unterwegs warst.« Für einen kurzen Moment empfand Shanija Wut, denn As'malas offensichtliche Unversehrtheit ließ den Streit nur noch sinnloser werden. »Ich bekam vom Zentralarchiv entscheidende Hinweise auf die Urmutter und die Stele von Majakar. Aber … ich verlor meine Freunde.« Deinetwegen, wollte sie hinzufügen, aber sie verbiss es sich. As'malas Blicke forderten sie auf, weiterzureden. In knappen Worten erzählte Shanija vom Streit, der die einstigen Gefährten auseinandergebracht hatte. Von Darrens Abschied, den sie hingenommen, aber bis jetzt nicht verkraftet hatte. Von Mun, der sie in ergebener Nibelungentreue unbedingt begleiten wollte, und von den Worten des sterbenden Selachen Legetar, der ihr wichtige Hinweise über den Aufenthaltsort der Urmutter gegeben hatte … »Und jetzt du!« Shanija atmete tief durch. Ihr Geist war doch noch nicht ganz klar. Sie stellte die falschen Fragen und setzte die falschen Prioritäten. Die Erzählung über ihr eigenes Schicksal war nachrangig. Auch As'malas Schicksal verblasste angesichts der Aufgabe, der sie sich eigentlich zu stellen hatte. Sie benötigte jene Infor-
mationen, die es ihr gestatteten, den Weg nach Osten so rasch wie möglich wieder aufzunehmen. »Ich wollte mich in Burundun umsehen«, begann As'mala mit ruhiger, tragender Stimme. »Hummeln steckten in meinem Hintern. Ich war auf Abenteuer und Abwechslung aus. Ich wollte mir den Schmutz der Reise aus dem Körper fick… ich meine: schwitzen.« »So oder ähnlich haben wir es uns gedacht, nachdem wir deine Nachricht fanden.« Shanija wollte sich missbilligend anhören, dabei aber musste sie plötzlich grinsen. Ihre Wut war verraucht, und Erleichterung machte sich breit. »Ich vergnügte mich also da und dort, im Spiel und in der Liebe, ließ mich treiben. Bis ich in einer dunklen Kaschemme landete. Irgendwie, irgendwo, irgendwann. Ich hatte möglicherweise einen kleinen Schwips, und ich war der Dinge müde. Eigentlich wollte ich nur noch zurück in unser Quartier, als ich diesem Kerl begegnete.« »Und an dem war etwas anderes als an den anderen?« »Zuerst nicht. Ich nuckelte also soeben an einem Muntermacher in besagtem Lokal. Mein Kopf brummte, meine gute Laune machte einem gewaltigen Kater Platz. Da setzte sich dieser Mann namens Syptus zu mir und begann eine Unterhaltung. Ich wollte ihn eigentlich so rasch wie möglich loswerden; er schien mir einer zu sein, der auf eine flotte Nummer aus war, und davon hatte ich wahrlich genug gehabt. Also ließ ich ihn reden und hoffte, dass er irgendwann das Interesse an mir verlöre, wenn ich lange genug schwieg.« »Du musst wirklich völlig durch den Wind gewesen sein. Normalerweise hustest du solche Typen doch vom Tisch, nicht wahr?« »Mag sein.« As'mala blickte sie verlegen an. Und dann schlug sie plötzlich einen anderen Tonfall an, der … pathetisch klang. Von einer Minute zur nächsten veränderte die Freundin sich. »Syptus hatte etwas an sich, das mich interessierte. Er zeigte Anteilnahme und brachte mich dazu, aus meiner Jugend zu erzählen. Dinge, die ich niemals erwähne. Die ganz, ganz tief da drin vergraben sind und keinesfalls für das Ohr eines anderen bestimmt sind.« Sie presste beide Hände gegen ihr Herz. Shanija nickte. Sie vermutete längst, dass die Diebin einige Leichen
in ihrem Keller begraben liegen hatte. Solche, die sie in seltenen, ganz bestimmten Situationen melancholisch werden ließen – und die wahrscheinlich den wahren Grund für ihre überbordende Lebenslust darstellten. Nur zu gerne hätte sie gewusst, was As'mala mit sich herumtrug … »Einerlei«, schnitt As'mala ihren Gedankengang ab. »Es reicht für dich zu wissen, dass mir Syptus neue Wege wies. Solche, an die ich niemals zuvor gedacht hatte, und die mir erst seit unserer Begegnung zugänglich sind. Ich konnte nicht anders; ich musste ihm folgen. Hierher, an diesen Ort der Ruhe und Zufriedenheit.« Shanijas Unwohlsein nahm zu. As'mala redete auf einmal ganz anders, als sie es von ihr gewohnt war. Ihre Körpersprache wirkte … aufgesetzt. Nichts in ihrem Auftreten wies mehr auf die tatkräftige Draufgängerin hin, die Shanija kennengelernt hatte. Es war, als besäße As'mala eine neue Persönlichkeit. »In den Tagen, die ich hier verbringen durfte, habe ich vieles durchdacht«, fuhr die junge Frau fort. »Ich bin zu dem Entschluss gekommen, mein Leben umzukrempeln.« Sie zog die Kapuze über ihr Haar. Nur noch ihre blauen Augen leuchteten darunter hervor. »Ich habe bei den Wiedergängern mein neues Zuhause gefunden.«
* »Das … freut mich«, sagte Shanija stockend. Sie rückte ein wenig von ihrer Freundin ab. »Bist du dir dessen aber auch ganz sicher? Ich kann mich gut daran erinnern, wie wenig du früher von Sektierern hieltest.« »Ich habe mich geirrt«, sagte As'mala schlicht. »Syptus brachte mich zu Raban. Ich sah ihn, und ich wusste, dass ich richtig gehandelt hatte, indem ich dem Jünger hierher folgte.« Sie nahm Shanijas Hand. »Um so mehr freut es mich, dass du nun ebenfalls hier bist. Der Erhabene Prophet will dich empfangen.« Um mir dieselbe Gehirnwäsche wie dir angedeihen zu lassen?, fragte sich Shanija im Stillen, während As'mala fortfuhr: »Er weiß, dass du
die Angekündigte bist, dass du die Sonnenkraft besitzt. Er wird dir sagen, welche wichtige Rolle du einnimmst, und du wirst ihm glauben. Es ist wichtig, dass du die Passage offen hältst, sodass der Eine Gott hierher überwechseln kann. Er wird dank dir erscheinen, uns von Sünden, Elend und Unglück erlösen.« As'mala lächelte selig. »Du musst nicht mehr auf die Erde zurückkehren! Der Eine Gott wird dafür sorgen, dass überall im Universum Frieden einkehrt. Die Quinternen, vor denen du dich so fürchtest, werden ebenso den Atem des Schöpfers verspüren und augenblicklich jeglichen Gedanken an Krieg vergessen. Es … es wird wunderbar werden …« Shanija nickte. Nach außen hin blieb sie so entspannt wie möglich, während sie sich innerlich immer mehr verkrampfte. Der so freundlich wirkende Raum kam ihr mit einem Mal eng und schmuddelig vor. Die Wände rückten näher, von überall her schien Gefahr zu drohen. Zu nahe waren die Erinnerungen an ihre Verschleppung. Die Bilder vom Überfall auf die Kutsche, der Tod Primpots, der psimagische Verteidigungsring, die grauen Schatten, die Schlange – dies alles konnte keine Einbildung gewesen sein … Im gemütlichen Plauderton tauschten sie weitere Erinnerungen aus. Shanija musste die Freundin einlullen, um ihr dann, so abrupt wie möglich, einen Schlag zu versetzen. »Ich war unterwegs zur Urmutter, als meine Transportkutsche überfallen wurde. Man verschleppte mich und die anderen Passagiere hierher …« »Ich vermutete, dass du dies alles noch nicht verdaut haben würdest.« As'mala schob die Kapuze ein wenig zurück und lächelte. »Pilger des Wiedergängers haben dich am Straßenrand des Weges nach Choc gefunden und hierher gebracht. Du wurdest von Unbekannten überfallen und ausgeraubt. Du hattest ein paar riesige Beulen, Prellungen – und vor allem eine riesige Portion Glück. Es ist sicherlich besser, wenn du dich noch ein wenig ausruhst.« Sie stand auf. »Ich komme in zwei Stunden wieder und bringe dir dann ein kräftigendes Süppchen. Du wirst sehen: In wenigen Tagen bist du wieder vollends auf dem Damm. Rechtzeitig zur Passage. Ich verspreche es dir.«
»Sicherlich.« Shanija zog die Beine an und deckte sich zu. Sie gab sich den Anschein, verwirrt und erschöpft zu sein – und sie musste sich für dieses kleine Schauspiel nicht einmal sonderlich anstrengen. Die Müdigkeit steckte ihr in der Tat noch in den Knochen. As'mala beugte sich zu ihr herab und drückte ihr einen freundschaftlichen Kuss auf die Stirn. Shanija packte die Diebin am Oberarm, drückte ihr den Nagel des Zeigefingers durch die Kutte so kräftig wie möglich ins Fleisch und flüsterte ihr ins Ohr: »Wusstest du, dass Mun bei mir war? Haben ihn diese … Pilger ebenfalls gefunden? Bearbeiten sie ihn, weil sie von seinem Wissen über die Urmutter wissen? Hat man dir das etwa verheimlicht? Denk nach, Mädchen, denk nach …« Lächelnd schob sie die blass werdende As'mala von sich. Für einen Moment zeigten sich Schmerz und Wut in den Augen der Diebin. Dann verließ die neu gewonnene Wiedergängerin den Raum, als wäre nichts geschehen.
6. Die Wahrheit? Shanija war offensichtlich verwirrt, und sie war krank. Kränker, als es As'mala befürchtet hatte. Ihre Wahnvorstellungen ließen sie die Dinge vollkommen verzerrt sehen. Die Wiedergängerin verließ das Heilerhaus und marschierte vorbei an einer Gruppe von Jüngern, die zwischen den blühenden Bäumen stumm und ergeben ihre Exerzitien vollzogen. Schamhaft schlug sie die Augen nieder. So, wie es Raban und die Gesetze der Sekte wünschten. Reliefförmig angeordnete Blumenbeete dufteten herrlich. Die Blüten richteten ihre Kelche nach dem Stand der eng beieinanderstehenden Sonnen am Horizont aus. Sie schillerten rot, blau, violett. Ihre Anmut erzeugte Wohlbefinden, Glückseligkeit und Zufriedenheit. As'mala betrat den Wohntrakt der Frauen, zog sich in ihre kleine Kemenate zurück und schob das einfache Gewand von ihrem Körper. Der Oberarm schmerzte. Blut rann aus der Wunde, die ihr Shanija beigebracht hatte. Es sammelte sich am Ellbogen und tropfte von dort zu Boden. As'mala wusch sich gründlich und legte saubere Tücher über die Verletzung. Sie schloss die Augen und überlegte. Nichts in diesem Leben war ohne Sinn. Ihr bisheriges Dasein war ein einziger langer Anlauf gewesen, den sie benötigt hatte, um im Kreis der Wiedergänger Frieden zu finden. Wirkung und Ursache wurden Eins. Auch der Wert dieser kleinen Verletzung, die ihr die Freundin bereitet hatte, würde irgendwann einmal in den großen Plan des Einen Gottes passen. Die Erfüllung war ohnehin so nah; es war nicht mehr notwendig, nach Verständnis zu suchen. Die Passage würde sich öffnen, und jedes einzelne Ding, vom geringsten Staubkörbchen bis zum größten Planeten, würde seinen Platz finden.
Es klopfte. Hastig zog As'mala ihre Kutte über und öffnete. Syptus stand in der Tür. Seine stechenden Blicke faszinierten sie immer noch. »Du hast mit der Frau gesprochen?«, fragte er. »Ja. Sie benötigt nach wie vor Ruhe. Sie ist noch nicht bereit, um mit dem Erhabenen Propheten zu sprechen.« »Die Zeit wird knapp.« »Ich weiß.« Demütig senkte As'mala den Kopf. »Aber Shanija benötigt alle ihre Kräfte, soll sie den Wiedergängern von Nutzen sein. Ihre Verwirrung …« »Darum kümmern wir uns.« Syptus lächelte hintergründig. »Es wäre Raban gar nicht so unrecht, wenn er mit ihr sprechen könnte, bevor sie sich erholt hat. Man sagte mir, dass Shanija sehr … starrköpfig ist?« »Sie besitzt einen starken Willen.« Syptus legte ihr eine Hand schwer auf die rechte Schulter. Dort, wo Shanija sie verletzt hatte. »Wir brauchen diese Frau mehr als alles andere«, sagte er. »Sie darf unter keinen Umständen auf falsche Gedanken kommen.« »Ja, Syptus.« As'mala nickte. Ihr Oberarm schmerzte, und sie konnte fühlen, wie das Blut zwischen den frischen Tüchern hervordrang. »Ich werde tun, was ich kann.« »Dann ist es gut.« Der Gläubige trat zurück und zog die Kemenatentür hinter sich zu. Schmerz. Blut. Bilder überlagerten einander. Lüge. Wahrheit. Syptus, der hagere und so gut aussehende Mann, wurde für einen Moment zu einem buckligen Gesellen, dessen Zähne verfault und dessen Arme von schwärenden Wunden befallen waren. Der Augenblick verging, die Tür fiel ins Schloss. Die Unsicherheit blieb. Alles, was ihr in diesen Tagen und Wochen so viel Halt und Selbstsicherheit gegeben hatte, schien mit einem Mal wie weggeblasen. Zweifel und Angst kehrten zurück.
Wo, so fragte sich As'mala, könnte sich Mun befinden? Sie vergaß den Gedanken so schnell wieder, wie er gekommen war.
* Selbstzufriedenheit Ein Getreuer übermittelte Raban die letzten Neuigkeiten. Er beglückwünschte sich im Nachhinein, mehrere Leute auf dieses billige, kleine Flittchen namens As'mala angesetzt zu haben. Die Frau fraß ihm mittlerweile aus der Hand. Eine tief in ihr steckende Sehnsucht nach Ruhe und Geborgenheit vor den Unbilden, denen sie zeitlebens ausgesetzt gewesen war, hatte sie in die Arme der Wiedergänger getrieben. Mithilfe As'malas würde es Raban wesentlich leichter gelingen, den Widerstand der Trägerin der Sonnenkraft zu brechen. Schon jetzt taten die Engelszungen ihre Arbeit. Bald schon würden Shanijas Zweifel schwinden. Und dann war da noch der Weiße Adept, dessen Gefangennahme ebenfalls einen Glücksfall für den Orden der Wiedergänger darstellte … Zwei nackte Diener ölten seinen zernarbten Rücken ein. Er atmete tief durch und genoss das Gefühl. Es war schade, dass so viele seiner Jünger besonderer Hilfe bedurften, um die Wege des Einen Herrn in all seiner Pracht zu erkennen. Er hatte niemals gezweifelt. In ihm steckte alles, was notwendig war, um den Hohepriester Seiner Herrlichkeit zu repräsentieren. In seinen Adern floss das Blut eines Propheten. Eines Mannes, der dazu auserkoren war, das Wort des Einen Gottes zu künden. Zufrieden schloss er die Augen. Einer der beiden jungen Gläubigen hockte mit den Knien auf ihm. Mit seinen langen, schlanken Fingern glitt er über sein Fleisch, holte verdorrte Symbionten aus den narbigen Falten hervor und trug Heilsalbe auf. »In dir steckt der Frevel, mein Sohn«, sagte Raban, »ich kann es
fühlen.« »Ja, Herr.« Der Gläubige verstärkte den Druck. Sein süßer Atem streifte Rabans Nacken, das erigierte Glied des Jünglings berührte ihn dort, wo der Ort der Sünde war. »Ich erteile dir für deine schmutzigen Gedanken die Absolution«, murmelte der Erhabene Prophet und reckte sein Becken erwartungsvoll nach hinten. »Du darfst nun tun, wonach es dir gelüstet.« Raban genoss die Lust, doch er weinte blutige Tränen der Schande.
* Das Erwachen Shanija unternahm nichts, das etwaigen Beobachtern Grund gegeben hätte, sie in ihrem Zimmer aufzusuchen. Dass sie überwacht wurde, stand außer Frage. Was auch immer hier vorging – man war hinter ihren Fähigkeiten her. Die Sonnenkraft galt den Wiedergängern als erlösendes Mittel, um die so sehr herbeigesehnte Gottheit während der Passage für alle Zeiten nach Less zu holen. Shanija gab sich in Selbstzweifel verhangen. Sie warf sich im Bett hin und her, raufte die Haare und murmelte vor sich hin, als suchte sie nach Gründen für ihre Verwirrtheit; als könnte sie die Auskünfte As'malas mit ihren eigenen Erfahrungen während der Verschleppung nicht in Einklang bringen. Sie musste Zeit gewinnen. Einen Schlachtplan schmieden. Überlegen, wie sie As'mala aus ihrer Trance erwecken konnte. Herausfinden, was mit Mun und den anderen Passagieren der Kutsche geschehen war. In Erfahrung bringen, warum die Sonnenkraft versagt hatte, und was, beim Henker von Schastar, diese Schlangenwesen für eine Bedeutung hatten … »Wach auf«, sagte As'mala mit sanfter Stimme. War sie also doch noch eingeschlafen, in einen flachen Halb-
schlummer gefallen? Shanija verbarg ihren Ärger über sich selbst, zog die Knie an und richtete sich auf. »Der Tag neigt sich dem Ende zu«, fuhr die Diebin fort. »Wenn Hades über den Horizont steigt, möchte Raban dich sehen.« Sie hielt Shanija eine hölzerne Schüssel mit einer dicken, sämigen Brühe unter die Nase. Die Suppe roch gut. Shanija warf ein paar Bröckchen weißen Brotes in den Sud und löffelte ihn mit gesundem Appetit aus. Niemand würde sie nach all der Mühe, die man sich mit ihr gemacht hatte, vergiften wollen. »Fühlst du dich besser?«, fragte As'mala. »Ausgezeichnet.« Shanija stand auf und umfasste die beiden Oberarme der Weggefährtin freundschaftlich, als wollte sie ihr danken – und drückte lächelnd mit aller Kraft zu. As'mala wurde blass. Ein Schweißfilm bildete sich binnen weniger Sekunden auf ihrer Stirn – aber sie sagte kein Wort. Gut so. Ihre Trance reichte also nicht so weit, dass sie Shanija verriet. Und sie akzeptierte den Schmerz als Botschaft. Doch da geschah Beunruhigendes; in As'malas Blicken zeigte sich plötzlich panische Angst. Als sähe sie etwas, das Shanija verborgen blieb. Als erwachte sie aus einem Alptraum und verstünde mit einem Mal die Brisanz der Situation. »Zieh dich bitte an«, sagte die Diebin und löste sich sachte aus Shanijas Griff. Ihre Hände zitterten. »Man wird dich bald abholen und zu Raban bringen. Vertraue ihm, und vertraue mir …« Den letzten Halbsatz sprach sie überdeutlich aus, und ihr Blickkontakt hielt unnatürlich lange an. Dann drehte sie sich um und verließ den Raum. Die Vögel vor dem Fenster zwitscherten empört gegen das beginnende Noctum an. Shanija wusste nicht, inwieweit As'mala vertrauenswürdig war. Sie konnte nichts anderes tun, als ihren Rat zu befolgen – und zu hoffen.
7. Auf der Suche Beinahe wäre As'mala wieder in diese Wolke aus Zufriedenheit und sektiererischem Sendungsbewusstsein zurückgesunken. Shanijas energischer Druck am Arm riss sie im letzten Moment zurück an die Oberfläche und zeigte ihr, was hier wirklich vor sich ging. Es war schrecklich. Und bedurfte keines weiteren Beweises. Raban hatte sie belogen und betrogen. Die Fassade des Erhabenen Propheten bröckelte. Er mochte zwar voll und ganz hinter den Zielen der WiedergängerSekte stehen, aber er verwendete mehr als unlautere Mittel. Die Bilder der Wahrheit verschwammen vor ihren Augen. As'mala drückte neuerlich gegen die Oberarmwunde. Der Schmerz kehrte zurück, die Realität kehrte zurück. Mun. Wenn es stimmte, was Shanija sagte, war der Adept ebenfalls hier im Sektenhort gelandet. Man würde ihn unter Verschluss halten. Fand As'mala ihn, besaß sie den endgültigen Beweis für Rabans verruchtes Tun. Aber wo konnte man ihn hingebracht haben? Es gab Räumlichkeiten, die dem inneren Ring der Gläubigen vorbehalten waren. Sie befanden sich im sogenannten Zisternium, tief unter dem Hauptgebäude der Sektierer. As'mala schlug den Weg zurück zu ihrem Zimmer ein. Dort angekommen, griff sie nach dem Wenigen, das ihr irgendwie von Hilfe sein konnte, und verließ den Raum wieder. Während der nächsten Stunden würde Rabans Aufmerksamkeit vollends auf das Zusammentreffen mit Shanija gerichtet sein. Fast alle Gläubigen würden sich im Großen Hauptsaal einfinden. Der Erhabene Prophet pokerte hoch. Er plante, seinen Anhängern eine Frau mit der Gabe der Sonnenkraft zu präsentieren, die den Zielen der Wiedergänger zustimmte. Um das zu schaffen, musste er seine
gesamte Überzeugungskraft auf dieses eine Ziel fokussieren. Alles andere würde er vernachlässigen. Besaß Raban psimagische Suggestivkräfte? Wahrscheinlich. Aber wie konnte ein einziger Mann so stark sein und eine Illusion aufrechterhalten, die mehrere hundert Gläubige im Bann hielt?
* Von überallher strömten die Wiedergänger. Stumm, in ihre Kutten gehüllt, mit ins Gesicht gezogenen Kapuzen, monotone Gebete vor sich hinmurmelnd. Für einen Augenblick fühlte As'mala die Versuchung, sich den Sektierern anzuschließen. Wiederum riss sie selbst beigebrachter Schmerz zurück in die schreckliche Wahrheit. Die Abenteurerin huschte über den Hof. Das Blumenmeer hatte etwas ganz, ganz anderem Platz gemacht, über dessen Sinn und Zweck sie derzeit nicht nachdenken wollte. Leise stieg sie die Treppen zum Zisternium hinab. Einige wenige Gläubige versahen hier Dienst. Stumm hockten sie da und stierten dumpf vor sich hin. Sie rechneten nicht mit einem Eindringling, und schon gar nicht mit einer Diebin von As'malas Schlag. Sie verschmolz mit den Schatten. Geräuschlos wie eine Katze schlich sie von einer Deckung zur nächsten, huschte durch die wenigen von Fackellicht erhellten Flecken. Sie stieß auf ein erstes Hindernis, das ihre besonderen Fähigkeiten erforderte: Ein schweres Tor, das das Innerste des Zisterniums von den äußeren Bereichen trennte. Gesichert durch ein üppig verziertes Dreifach-Schloss von der Größe eines Waffenschilds. Davor marschierten zwei Wiedergänger gemessenen Schrittes auf und ab. As'mala nahm sich die Zeit, sie zu beobachten. Die beiden Männer liefen aneinander vorbei, bis zur jeweils nächsten Wegkreuzung, nickten dort Wächtern zu, die um die Ecke Dienst taten, kehrten dann um und nahmen den Weg in die entgegengesetzte Richtung auf. As'mala überlegte: Gegenüber dem Eingang befand sich eine Ni-
sche, in der sie sich verbergen konnte. Wenn sie dort wartete, kehrten ihr beide Wachen für fünfzehn Sekunden während ihres Marsches vom Tor zur nächsten Ecke den Rücken zu. Dieses Zeitfenster musste sie nutzen, um ein Schloss nach dem anderen zu knacken. Die Diebin atmete tief durch und ging in Position. Hier drin im Dunklen war es unangenehm feucht. Dinge, von denen sie nicht wissen wollte, wer oder was sie waren, glitten über ihren Körper. As'mala konzentrierte sich auf den gleichmäßigen Tritt der beiden Männer. Jetzt! Auf Samtpfoten huschte sie zum Tor, ließ die Hände über das schwere Metall gleiten. Oh, wie es sie in den Fingern juckte! Wie hatte sie nur jemals auf den Gedanken kommen können, dieses einmalige Psimagie-Talent verkümmern zu lassen und diesem seltsamen Verein beizutreten! As'mala ertastete den ersten Mechanismus. Ein Bild entstand in ihrem Kopf. Zapfen, Schläge, Federn, Kolben, Arretierungen gewannen an Gestalt. Rasch eilte sie zurück in Deckung, keine Sekunde zu spät. Soeben drehten die beiden Wachen um und kehrten zum Tor zurück. As'mala konzentrierte sich darauf, was zu tun war. Das Innenleben des Schlosses besaß mehrere Schwachstellen und war in seinem Aufbau an Primitivität kaum mehr zu überbieten. Ein gezielter kurzer Schlag mit einem mitgebrachten Eisennagel, und die Arretierung würde sich öffnen … Fünf Mal musste sie hin und her eilen, bis alle Hindernisse beseitigt waren. Beim sechsten Mal hob sie den Bügel des Schlosses aus der Führung und schob ihn auf den Haltebalken. So, dass er sich bei der nächsten Gelegenheit herabnehmen ließ. Ein letztes Mal ging sie in Deckung. Nur mühsam unterdrückte sie das Kitzeln in ihrer Nase. Ein Niesen wäre fatal gewesen. Sicherlich konnte sie mit diesen beiden Trauergestalten fertig werden und ins Land der Träume schicken. Doch ihre Kollegen um die Ecken würden augenblicklich Verdacht schöpfen und Alarm schlagen. Nein; sie musste mit aller gebotenen Vorsicht vorgehen. Hinter dem Rücken der Wächter huschte As'mala zurück zum Tor,
hob das Schloss herab, unterdrückte ein Ächzen. Es wog gut und gern dreißig Kilogramm. Sie zog am Verschlag, öffnete die Pforte einen Spaltbreit. Leises, kaum wahrnehmbares Quietschen. Nur nicht nachdenken!, sagte sie sich. Weitermachen nach Plan, keine Zeit verlieren, nicht umdrehen … As'mala schob sich durch den Spalt, wuchtete den Schlossbügel zurück in Position und zog das schwere Tor von der anderen Seite zu. Hier herrschte fast vollkommene Finsternis. Ein Luftzug wehte von unten her zu ihr hoch. Sie ging unendlich vorsichtig mit der eisenbewehrten Pforte um. Eine zu hastige Bewegung hätte den Schlossbügel zu Boden oder zurück in die Arretierung fallen lassen. Fünfzehn Sekunden, sechzehn, siebzehn … Geschafft! Die Tür glitt zurück in die Fassung. Auf den ersten Blick würde niemand die Manipulation erkennen, die sie vorgenommen hatte. Oder? As'mala lauschte. Sie hörte, wie sich die Schritte der Wächter an der anderen Seite des Tors im Gleichschritt näherten. Hielten sie inne? Nein. Möglicherweise waren die Wiedergänger in irgendwelche Litaneien versunken und achteten nicht sonderlich auf ihre Umgebung. As'mala sollte es Recht sein. Sie atmete tief durch. Ihre Augen hatten sich mittlerweile an die Dunkelheit gewöhnt. Vor ihr befand sich ein weiteres, schmiedeeisernes Gitter, dessen einfältige Schlossgestaltung eine offenkundige Beleidigung für die Diebeszunft darstellte. Mit ein paar Handgriffen öffnete sie das einfache Teil, griff nach zwei bereitliegenden Fackeln, entzündete eine davon und machte sich an den Abstieg. Fingerdicke Insekten flohen aus dem Licht. Rattenähnliche Geschöpfe piepsten und fauchten empört, während sie sich in die Dunkelheit verdrückten. Tiefer ins Zisternium ging es, eine steinerne Wendeltreppe hinab. Schaurige Geräusche drangen an As'malas Ohr. Solche, die ihr bekannt vorkamen. Solche, die sie während der letzten Nocten in
Alpträumen verfolgt hatten. Der Treppenabsatz war erreicht. Es stank bestialisch. Eine breite Rinne des Gangs vor ihren Füßen stellte wohl die Kloake dieses … Kerkers dar. Von jeder der vielen vergitterten Türen führte eine Spülrinne in den etwas niedriger liegenden Gang hinab. Die Zellentüren waren ebenso ungenügend gesichert wie das obere Eisentor, stellte As'mala zu ihrer Freude fest. Nun ging es darum, festzustellen, ob sich Mun tatsächlich hier unten befand. Sie öffnete ein Sichtfenster nach dem anderen, leuchtete mit der Fackel in die Verliese und ließ die Bilder der Gefangenen auf sich wirken. Es war grauenvoll. Am liebsten wäre As'mala davongerannt, ganz weit weg, so weit und so lange, bis die Erinnerung an diesen Kerker verblasste. Doch sie fühlte die Last der Verantwortung auf ihren Schultern. Und sie hatte Shanija gegenüber etwas gutzumachen. Es war unentschuldbar, dass sie sich von den Sektierern hatte einlullen lassen und sogar daran gedacht hatte, ihre Freundin dem Erhabenen Propheten auf dem Silbertablett zu präsentieren. As'mala atmete tief durch. Wenn etwas geschehen sollte, dann jetzt. Shanija befand sich in höchster Gefahr. In der letzten Zelle zur linken Hand fand sie endlich Mun. Er hockte in der hintersten Ecke, die Augen weit aufgerissen, blicklos vor sich hinstarrend. Etwas umlagerte ihn, so wie es As'mala auch in den anderen Zellen gesehen hatte, und sog an seinem Verstand. Sie öffnete das Schloss, betrat den Raum und stellte sich zum Kampf.
8. Entscheidung Shanija wurde in den großen Saal geleitet. Jünger richteten ihre Blicke bewundernd auf sie. Einige von ihnen fielen auf die Knie, andere murmelten Lobpreisungen vor sich hin. »Willkommen, Trägerin der Sonnenkraft!«, tönte eine kräftige Stimme durch den Saal. »Wir freuen uns, dich bei uns, deinen ergebenen Dienern, begrüßen zu dürfen.« Ein Mann erhob sich an der Kopfseite des Saals. Er wurde von einem Dutzend Jünger umringt. Dies war die Elite des Ordens der Wiedergänger, keine Frage. Der Vergleich mit den Zwölf Aposteln der christlichen Glaubenslehre war sicherlich angebracht. Hier wurden Versatzstücke irdischer Glaubensrichtungen verwendet, um archaische, tief sitzende Erinnerungen der hiesigen Menschenvölker anzustacheln. »Tritt näher, Shanija! Ich bin Raban, der Erhabene Prophet des Einen Gottes, des Schöpfers unseres Universums. Ich bitte dich um die Gnade, dich heute an meiner Seite zu wissen.« Eine Verlockung ging von dem Mann aus. Nicht aufdringlich und kaum als solche zu erkennen. Sie kroch ihr über den Nacken und wollte sich in ihrem Kopf einnisten. Langsam und leicht wie ein Gespinst. Shanija machte ein paar Schritte vorwärts. Raban war eine prachtvolle Erscheinung. Er maß gut und gern 1,90 Meter. Sein Körper wirkte muskulös und geschmeidig, die Bewegungen waren beherrscht und von tiefer Intensität geprägt. In der Stimme lag ein ganz besonderes Timbre, das ihr ein ums andere Mal kalte Schauder über den Rücken jagte. An der Leiste befand sich ein großes Loch in der Kutte, das etwas zeigen sollte, das auch die unbedeckten Handgelenke, Knöchel und die Augenwinkel aufwiesen. Überall sickerte Blut heraus. Raban war stigmatisiert. Ein von Gott Berührter.
* Glaube hatte in Shanija Rans Befindlichkeit keine besondere Rolle gespielt. Im Gegenteil: Islam, Christentum, Talmud, das Fliegende Spaghettimonster oder Scientology hatten ihr niemals Antworten auf Fragen geben können, die entstanden waren, nachdem sie den Charakter ihres Vaters und dessen religiösen Wahnvorstellungen verinnerlicht hatte. Wunderheilungen, die Worte von Propheten und Gebete, die Erfolg zeitigten, gehörten in dieselbe Kategorie wie eben jene Stigmata, von deren Existenz Shanija sich an Raban leibhaftig überzeugen konnte. Langsam, unablässig pumpte Blut aus den offenen und sauberen Wunden. Es rann nach oben, entgegen der Schwerkraft, und trat an den Schultern, an denen die Kutte ebenfalls ausgeschnitten war, wieder zum Vorschein, um sich dort zu sammeln und eine breite Krustenschicht zu bilden. »Ich glaube, und der Glaube ist in mir!«, rief Raban mit erhobenen Händen. »Uns ist geweissagt, dass die Frau mit der Sonnenkraft kommen und uns ins Licht führen wird. Die Feinde der Wiedergänger werden vom Antlitz des Erdbodens hinweggefegt. Nur denjenigen, die wahrhaft glauben, ist es erlaubt, den Weg in die Vollendung zu beschreiten …« Die Worte zogen Shanija in ihren Bann. Es war nicht nur die Stimme, nein! Jede von Rabans Bewegungen drückte puren Sinn aus. Die tiefe Überzeugung, die aus ihm sprach, sein entrücktes Lächeln, die Ruhe und die Ausgeglichenheit, Selbstsicherheit – das Gesamtpaket seiner Ausstrahlung beeindruckte die Erdenfrau mehr, als sie geglaubt hätte. »Setz dich neben mich«, forderte Raban Shanija auf. Nur all zu gern folgte sie der Einladung. Sie ließ sich auf dem einfachen Stuhl nieder und blickte auf die erwartungsvollen Mienen der Gläubigen. Sie fühlte Stolz. Sie war die Frau mit der Sonnenkraft.
Diejenige, die das Schicksal des gesamten Universums zu ändern vermochte. Nur sie konnte tun, was notwendig war, um all diese Frauen und Männer ihrer Erlösung näher zu bringen. Dank ihrer würden sie ins Elysium eintauchen und dem Einen Gott, dem großen Schöpfer nahe kommen, ohne zu verbrennen … Shanija schreckte vor ihren eigenen Gedanken zurück. Sie schüttelte den Kopf, als könnte sie dadurch die Ideen, die ein anderer ihr aufzwang, loswerden. »Es stand in den Prophezeiungen, dass die Frau mit der Sonnenkraft kommen würde, sobald es notwendig werde«, sagte Raban mit tragender Stimme. Seine Hand tastete über die ihre, verschränkte sich mit ihren Fingern. »Unser Gott ist ein gütiger Gott, denn er gewährt uns nach all dem Elend, das seit unzähligen Quartennien die Länder von Less durchzieht, die Gnade der Erlösung. Uns allein bleibt es vorbehalten, dafür zu sorgen. Die Wiedergänger werden von nun an in aller Demut an der Seite des Einen Gottes herrschen und Seinen Wünschen entsprechen.« Raban holte tief Atem. »Die Zeiten, da gefährliche Irrgänger wie Corundur Verwirrung über das gemeine Volk bringen, sind Vergangenheit. Er hat sich an Shanija versucht, wie wir in Erfahrung bringen konnten, und er ist an ihr gescheitert. Denn die Sonnenkraft kann und darf nur dem einen Zweck dienen …« Woher wusste Raban, dass Shanija dem gesichtslosen Anführer der Warner in einer Vision begegnet war, die die Fioren erzeugt hatten? Hatte sie etwa im Schlaf davon erzählt, oder hatte man das Wissen aus ihrem Kopf extrahiert? Shanija fand keine Gelegenheit, darüber zu reflektieren; Raban fuhr nach einer künstlich gesetzten Pause in seiner Ansprache fort. »Erhebt euch mit mir, meine Freunde!«, appellierte er an die Jünger. »Beweisen wir Shanija unsere Ehrerbietung! Lauschen wir ihren Worten, mit denen sie uns ihre Zuneigung kundtun wird!« Ihre Beine gehorchten ihr nicht mehr. Shanija stand auf und stellte sich breitbeinig hin. Gedanken entstanden in ihrem Kopf, die nie und nimmer ihre eigenen waren. Mühsam drehte sie sich beiseite. Rabans Augen strahlten. Sie zeigten Fanatismus und Wahn, und sie
weinten blutige Tränen. Dieser Mann hier glaubte wahrhaftig. Nichts und niemand würde ihn von seinen kruden Ideen abbringen können. Und er beherrschte seine Jünger. Mit einem Fingerschnippen brachte er die Massen dazu, für ihn zu tanzen und seine Wünsche zu erfüllen. Worte wollten über Shanijas Lippen dringen. Mit aller Beherrschung, derer sie fähig war, hielt sie den Mund geschlossen. Sie durfte hier auf keinen Fall nachgeben, musste ihre Sinne beisammenhalten und sorgfältig abwägen, was sie sagen konnte oder durfte. Widersprach sie Raban, würde man sie möglicherweise aus Enttäuschung in der Luft zerreißen. Gab sie ihm Recht und erfüllte die Prophezeiung der Wiedergänger, dann sorgte sie für einen Flächenbrand unter ihnen, der wohl nicht mehr zu löschen war. Die Unruhe unter den Zuhörern wuchs und wuchs. Jedermann erwartete, dass sie sprach. Ein drückender Schmerz entstand an Shanijas Schläfen. Raban stand der Schweiß im Gesicht, um seine Mundwinkel zuckte es. Er wandte wohl all seine psimagischen Kräfte auf, um die erlösenden Worte aus ihr zu pressen. Oder? Shanija blickte an ihm vorbei, auf die anderen »Apostel«. Zwei Dreiergruppen hielten sich jeweils an den Händen. Die Mitglieder einer Gruppe wirkten in sich gekehrt und konzentriert, die anderen verwirrt und angestrengt. Waren sie es, gegen deren Geisteskräfte sie ankämpfte? »Sag es!«, forderte Raban mit leiser Stimme, »sag es endlich!« Der Zwang in ihr wuchs. Ihre Widerstandskraft ließ nach, konnte dem Drängen dieses geistigen Gegners nicht mehr länger widerstehen. – Warum denn auch? Die Wiedergänger wollten nur Gutes, und der Eine Gott würde sie bis in alle Ewigkeit entlohnen, wenn sie ihm half. Denn sie würde die Rolle einer Geburtshelferin ausfüllen, wenn Sein Kommen anstand. »Ich …« »Ja, Shanija?« Raban lächelte sie an. Er wusste, dass er gewonnen hatte.
Sie gab auf. »Ich … ich …« Poltern. Rumoren. Schwerter, die aufeinander klirrten. Das Haupttor öffnete sich. As'mala stürmte an der Spitze einer kleinen Gruppe blutüberströmter Kämpfer in den Saal. Unter ihnen Mun, Matlin die Wanderhure sowie die drei Kaliken Smoot, Smaat und Smiit. As'malas Kutte hing in Fetzen an ihrem Leib. Sie blutete aus mehreren oberflächlichen Kratzern an den Oberarmen und Beinen. »Halt!«, rief die Diebin. Um nach einer kurzen Weile hinzuzufügen: »Es ist vorbei, glaubt mir.« Sie schleuderte ein Messer. Es traf einen von Rabans Apostel im Hals. Röchelnd ging der Mann zu Boden, und der mentale Druck in Shanija erlosch. Die anderen erwachten aus ihrer Trance und stürzten sich mit wutverzerrten Gesichtern in den Kampf.
* Da war der Wunsch in ihr, die Sonnenkraft zu erwecken, um die Situation in einem Rundumschlag zu bereinigen, um alles auszulöschen, was von ihr Besitz ergriffen hatte. Shanija widerstand. Sie beherrschte diese Kraft viel zu wenig, um sie inmitten dieses Chaos auszulösen. In der Kutsche hatte sie die Hilfe des psimagischen Zirkels um sich gewusst. Hier jedoch mochte sie Freund und Feind gleichermaßen töten. Und sich selbst wahrscheinlich dazu. Besinne dich endlich wieder auf dich selbst. Sie hatte keine Waffen bei sich; natürlich hatte man ihr nicht erlaubt, sie mitzunehmen, als sie zu Raban gebracht wurde. Aber die brauchte sie auch nicht. Shanija wirbelte zu dem Erhabenen Propheten herum, schlug ihm ein Bein weg und gab ihm zusätzlich einen heftigen Stoß gegen die Schulter. Er landete rücklings, zeigte dabei einen völlig überraschten Gesichtsausdruck. Drei Apostel stellten sich Shanija in den Weg, bevor sie sich weiter dem Propheten widmen konnte, wollten sie gemeinsam angreifen. Sie ließ ihnen keinen Augenblick Zeit. Mit einem kurzen Blick erfasste sie die Lage; die Drei waren zu allem entschlossen, aber keine geübten Kämpfer und dementsprechend lang-
sam. Weit unterlegen. Blitzschnell griff Shanija den Ersten an, zertrümmerte mit einem Hieb seinen Kehlkopf und wandte sich schon dem Zweiten zu, noch bevor der erste zu Boden ging. Der Zweite war ein groß gewachsener Insektoide, mit denen Shanija seit der Bruchlandung nur schlechte Erfahrungen gemacht hatte, und daher ihrer eiskalten Wut hemmungslosen Lauf ließ. Mit aller Wucht zertrat sie eine Kniescheibe, und während der Insektoide einknickte, kickte sie ihm mit der Stiefelferse genau zwischen die Mandibeln; es knackte hörbar, eine zähe grüne Flüssigkeit sprudelte hervor, und der Insektoide brach zusammen. Der dritte Apostel, der soeben einen Angriff starten wollte, hielt mit entsetzten Augen inne und ergriff dann die Flucht. Shanija stockte und schüttelte den Kopf. Blut und Tod? Das ging zu weit. Sie hatte sich noch nie in einen Kampf so sehr hineingesteigert, dass sie hemmungslos tötete, wenn sie ebenso den Gegner mit einem einzigen Hieb oder Tritt außer Gefecht setzen konnte. Die Gläubigen flüchteten inzwischen großteils. Nur wenige von ihnen wagten es, dem Erhabenen Propheten beizustehen. As'mala und ihre Begleiter machten kurzen Prozess. Sie töteten, was sich ihnen in den Weg stellte. »Halt!«, rief Shanija über die Köpfe der Flüchtenden hinweg. »Lasst sie am Leben!« Niemand hörte auf sie. Auch Mun hieb mit dem Stab wie ein Rasender um sich. In seinem verschwollenen Gesicht standen Emotionen, die Shanija niemals zuvor an dem Adepten gesehen hatte. Alle hatte dieselbe Raserei befallen. Ein letzter, weiblicher Apostel sprang Shanija von der Seite her an. Sie ließ den Angriff der Frau, die im Gesicht über und über tätowiert war, geschickt ins Leere gleiten und hieb ihr über den Hinterkopf. Noch bevor die Angreiferin den Boden berührte, war sie bewusstlos. »Es ist vorbei!«, rief Shanija erneut. Sie lief As'mala entgegen, fiel der Diebin in die Arme, bevor sie ihr Kurzschwert auf einen wehrlosen Jünger herabsausen ließ. »Wir haben gewonnen.« Ja, das hatten sie. Ruhe kehrte ein. Und mit ihr kam die Wahrheit ans Tageslicht.
* Sie durchwanderten die Ruinen des kleinen Dorfes. Nichts war mehr von der Pracht und der Herrlichkeit der Bauten übrig geblieben. Alles hatte sich gewandelt und präsentierte sich nun so, wie es in Wirklichkeit war. Shanija betrat das Zimmer, in dem sie geruht hatte. Sie gewahrte das verfallene Bettlager, in dem sich Wanzen, Würmer und andere Kriechtiere tummelten. Der Boden war von schleimartigem Moos überzogen. In jener Schüssel, von der sie getrunken hatte, stand brackiges Wasser. An den Wänden klebten Feuchtigkeit und Schimmel, vor dem Fenster ließ ein Baum seine toten Äste hängen. Eine Eidechse hielt sich am Stamm fest und zischelte wütend. »Warst du das?«, fragte Shanija und stieß Raban vor sich her. »Bist du der Illusionist?« »Nein«, antwortete der Erhabene Prophet. Er taumelte. Das Blut an seinen Wunden gerann. »Ich … ich …« »Du besitzt gar keine psimagische Gabe, nicht wahr?«, sagte As'mala. Sie hieb Raban ins Kreuz. »Du bist leer. Du besitzt nichts anderes als deine Überzeugung.« Der Prophet schwieg. Das war ihnen Antwort genug. Mun trat neben Shanija. »Hingabe ist in vielen Fällen mächtiger als die stärkste Waffe«, sagte er. »Raban ist ein begnadeter Selbstdarsteller, und es gelang ihm wohl, die richtigen Gläubigen in einem Kreis um sich zu scharen. Er trainierte sie so lange, bis sie in Dreieroder Vierergruppen ihre Begabungen aneinander anglichen und ihre Kräfte dadurch potenzierten. Sie schufen die gazeähnlichen Monster, die die Kutsche überfielen. Sie beherrschten die Schlangen, die uns hierher brachten. Sie hetzten uns in den Kerkern des Zisterniums alptraumhafte Geschöpfe an den Hals, um letzte Tropfen an Wissen aus uns heraus zu pressen. Sie schufen die Illusion dieses Dorfs …« »Nein«, widersprach Raban mit zittriger Stimme. Er wirkte völlig
gebrochen. Er trug kein Leben, keinen Widerstandsgeist mehr in sich. Sein Traum war zerplatzt, seine Jünger tot oder geflohen. »Ganz so war es nicht. Diese wunderbaren Illusionen hielten die Kefir-Pilze von Nontro aufrecht. Sie erschufen für uns Bilder, die zeigten, wie es einmal sein könnte, wenn der Eine Gott Less betritt …« »Kefir-Pilze?«, fragte Shanija. »Etwa solche wie Spirk, der mit uns in der Kutsche reiste?« »So ist es«, bestätigte Raban. Willenlos führte er Shanija und ihre Begleiter zu den ehemals blühenden Blumenbeeten, die sich zwischen zwei der größten Gebäude hingezogen hatten. Sie zeigten sich nun als Gewächskomplexe fahl leuchtender Kefire, deren Rosetten sich um Steine und verfaulende Holzlatten schlangen. Sie sonderten milchige Flüssigkeit ab, die blubbernd im Erdreich versickerte. »Die Illusionisten sind bewusstlos oder tot«, sagte Mun gedankenverloren, bevor er fortfuhr: »Die Kefire von Nontro bilden auf Less insofern eine Ausnahme, als sie alle dieselben psimagischen Kräfte entwickeln. Sie sind in der Lage, Intelligenzwesen in ihren Bann zu ziehen und ihnen Bilder der Schönheit vorzugaukeln.« Er räusperte sich. »Ich war froh, als ich Spirk bei uns wusste, als wir im Feld der Cylinhalme rings um Shanija einen Verteidigungskreis bildeten. Die psimagischen Kräfte der Kefire gehören mithin zu den stärksten, die bekannt sind. Aber ich unterlag einem Denkfehler; denn sie selbst sind schwach und unterliegen nur all zu rasch dem Einfluss anderer. Diesen Vorteil wusste Raban auszunutzen. Ist es nicht so?« Der Erhabene Prophet nickte apathisch. »Drei oder vier seiner Jünger kümmerten sich rund um die Uhr um die Wesen von Nontro und befehligten sie. Diese wiederum waren in der Lage, das gesamte Camp der Wiedergänger in einem Scheinbild gefangen zu halten.« Muns Stimme wurde seltsam brüchig. »Einer oder zwei andere Wiedergänger sorgten sich um die Gefangenen im Zisternium. Um uns. Sie waren dafür zuständig, uns mithilfe der Angstschleier, die wir bereits beim Angriff auf die Kutsche kennenlernten, alle Geheimnisse zu entreißen, den Willen zu brechen und festzustellen, für welche Zwecke uns die Sekte am besten verwenden könnte.«
»Syptus und Siirikit«, murmelte Raban. »Die Engelszungen. Sie zählten zu meinen engsten Vertrauten …« »Siirikit kenne ich nicht, aber Syptus ist entkommen.« As'mala fuhr sich mit den Fingern prüfend über ihre Klinge. »Aber ich werde ihn schon finden, eines Tages. Zwischen uns ist noch eine Rechnung offen.« »Was soll mit den Kefiren von Nontro geschehen?«, fragte Shanija. »Sie sehen nicht allzu gesund aus. Wir müssen sie aus den Beeten graben und ihnen helfen. Sie tragen wohl keinerlei Schuld an den Vorgängen hier.« »Sie sind sehr empfindlich.« Mun legte ihr eine Hand auf die Schulter. »Die Kefire werden sich das Unglück, das sie anrichteten, niemals verzeihen. Was du hier siehst, Shanija, ist ihr letzter Kampf.« Laute des Bedauerns drangen aus den Kefir-Feldern. Die Glieder der seltsamen Wesen verfärbten sich allmählich braun und wurden runzlig. Irgendwo, in diesem Wirrwarr an Körpern, steckte Spirk, der mit seinen Artgenossen sterben würde. Shanija wandte sich erschüttert ab.
* »Hey, endlich finde ich euch! Wo habt ihr bloß gesteckt?« Eine helle, dünne Stimme aus der Luft. »Mich interessiert eher, wo warst du?«, gab Shanija zurück. Sie fühlte Ärger, aber auch Erleichterung. »In Sicherheit«, antwortete Pong. Er kam aus dem trüben Himmel, der von grellroten Blitzen durchzogen wurde, herangeflattert. Er fauchte unwillig und zog verschämt den Schwanz eng an den Körper. »Aber leg mir das ja nicht als Feigheit aus. Immerhin trage ich Einiges an Verantwortung …« »Hast du noch den Speicher?« »Klar, auch die Kristalle.« Er ließ die Steine in Shanijas Brusttasche zurückgleiten. »Ist alles in Ordnung mit dir, Chef? Du siehst nicht
gut aus.« »Es ist nichts«, sagte Shanija müde. »Aber gut, dass du zurück bist.« »Ich konnte nicht bleiben. Die psimagischen Strömungen haben mich beinahe gezwungen, zu … zerfallen. Ich fing an, mich selbst zu verlieren. Und diesmal nicht nur eine Erinnerung wie bei den Lumini von Lakara. Und jetzt bin ich völlig erschöpft, ich muss ruhen.« Pong verschmolz mit Shanijas Brust und verstummte. Die Reisegefährten sammelten sich. Sie mussten die Weiterreise nach Choc zu Fuß antreten. Sie hatten abseits des Camps der Wiedergänger eine Reihe von Gräbern angelegt. Mit Bedauern erinnerte sich Shanija an all die Wesen, die ihretwegen gestorben waren. Shanijas Ankunft auf Less schlug immer größere Wellen. Es schien ihr, als entwickle sie sich zum Mittelpunkt alles Seins und lüde immer größere Schuld auf sich, ohne es zu wollen. Die Kefire von Nontro waren ebenso verscharrt worden wie dutzende Wiedergänger. Das Känguru-Wesen, dessen Namen Shanija niemals in Erfahrung gebracht hatte. Die dauerkopulierenden Sokkoden, die sich selbst im Tod umklammert hielten. Losotim von Norno, der auch mit seinem letzten Blatt eine Niete gezogen hatte. Grochtoch, der nun wohl dem Obersten Revisor gegenübertrat. Das Kutschenpersonal; Fullmanzwulf, N'Gazz und Altim, dessen völlig verrottete Reste sie aus den Decken und Wänden des Gefährts gelöst hatten. Primpots Leichnam hingegen blieb verschwunden. Zu zwölft waren sie nur noch. Der Tod hatte reichlich Ernte gehalten. »Was soll mit Raban geschehen?«, fragte Matlin die Wanderhure. Sie wirkte um Jahre gealtert. Ihr Fleisch war runzlig und grau. Es schien, als wäre sie ihrer psimagischen Fähigkeit verlustig gegangen. »Er wird seinen Jüngern Rechenschaft ablegen müssen«, antwortete Shanija. Noch bevor jemand protestieren konnte, fuhr sie fort: »Ich weiß, dass ihr alle selbst ein Urteil über den … Erhabenen Propheten sprechen wollt. Aber dort, wo ich herkomme, erhält jedermann eine Gerichtsverhandlung. Raban soll sich in erster Linie denjenigen stellen, deren Leben er teilweise über Jahrzehnte hinweg bestimmt hat. Die Wiedergänger werden über sein weiteres Schicksal entscheiden.
Ich bin mir sicher, er wird seine gerechte Strafe erhalten.« Schreie und Jammern hallten aus den Ruinen des Camps zu ihnen herüber. Die Gesetze auf Less waren den einfachen Lebensumständen angepasst. Vielerorts kannte man keine vernünftige Rechtsprechung, Advokaten und Winkelzüge. »Ich höre, dass soeben ein Urteil gefällt wurde«, sagte die Wanderhure befriedigt. Sie wischte sich eine grau gewordene Haarsträhne aus dem Gesicht. »Dann können wir meinetwegen los.« Schweigend machten sie sich auf den langen Fußweg, der sie quer durch die Cylinfelder in die Stadt Choc bringen würde. Die übermannsgroßen Halme blieben ruhig. »Du weißt, dass damit längst nicht alle Dinge geklärt sind, die rings um unsere Entführung geschahen«, flüsterte Shanija Mun zu. »Aus gutem Grund«, murmelte der Weiße Adept. »Möchtest du die Geschehnisse nochmals aufwärmen? Willst du, dass wir uns an die Schrecken erinnern müssen, die wir in den Verliesen durchmachten?« Er griff sich an den Kopf. Er wirkte wie von unendlicher Müdigkeit durchdrungen. »Du machst dir keine Vorstellung, was in den Verliesen vor sich ging.« »Darauf wollte ich nicht hinaus. Ein anderer Punkt bereitet mir Sorgen.« »Und zwar?« »Es gab einen Verräter in der Kutsche. Einen, der den Verteidigungskreis löchrig machte und verhinderte, dass ich die Sonnenkraft mit aller Gewalt entfalten konnte.« »Stimmt.« »Ich möchte nicht das Gefühl haben, mit jemandem nach Choc zu marschieren, der mich in die Falle lockte.« »Das musst du nicht. Der Denunziant ist tot. Man zeigte ihn mir, als ich in den Verliesen … verhört wurde.« »Wer war es?« »Es gibt tausend Ursachen für Verrat«, sagte Mun ausweichend. »Die meisten unserer Begleiter hätten ausreichend Gründe gehabt. Denke an Matlin, die einem bitteren Lebensabend entgegenzittert. Oder an Losotim von Norno, der zwei Kinder zu versorgen hatte.
An Primpot, der sein Leben hasste und alles daran gesetzt hätte, ihm zu entkommen. Armut, Verzweiflung, Vaterliebe, Angst vor der Zukunft – sie bringen dich oftmals dazu, Dinge zu tun, die du nicht willst. Du kannst Wesen kaum verurteilen, die ihren Instinkten folgen.« Mun seufzte. »Aber es gibt auch noch andere Beweggründe. Einer davon ist die Gier.« Mun wandte sich ab und beschleunigte seine Schritte. »Der Verräter war Goglock. Der Wurm, der stets auf der Suche nach guten Investitionen war. Ich nehme, dass er nunmehr mit seinesgleichen Bekanntschaft macht, einen halben Meter unter der Erdoberfläche.«
9. Choc Die semiorganische Flüssigkeit troff in der mittäglichen Hitze von den Dächern. Unzählige Arbeiter leiteten sie über breite Regenrinnen in Becken, die sich in den Kavernen der Stadt befanden. In der Kühle der Dunkelheit wurde sie zu Platten verarbeitet, die des Nachts neuerlich auf den Dächern der Stadt befestigt werden musste. Ihre zähe, melasseartige Konsistenz hatte der Flüssigkeit ebenso wie der Stadt den Namen Schokolade oder Choc gegeben. Sie nährte die Psyche von mehr als zwanzigtausend Einwohnern. Sie emittierte positive, fröhlich machende Strahlungen. Nirgendwo auf Less fand man Menschen, Uriani, Kuntar, die glücklicher waren. Niemand wusste, wie die Wirkung der Schokolade entstand, und niemand scherte sich darum. Es war einfach so … Mun kannte die Eckdaten. Er wusste auch, dass die Stadträte dafür sorgten, dass die Einwohnerzahl stabil blieb. Nur den reichsten Bewohnern war es erlaubt, sich im Zentrum anzusiedeln. Normale Reisende wurden in den Außenbezirken verköstigt, besser Gestellte in den luxuriösen Hotels in der Nähe des Stadtinneren. Shanija, As'mala und der Adept verabschiedeten sich von den anderen Reisegefährten. Es wurde nicht viel geredet, während sie sich die Hände schüttelten oder umarmten. Sie alle trugen Erinnerungen in ihren Herzen, die sie für ihre Lebenszeit aneinander ketten würde. Mun ließ die Freundschaftsbekundungen so unberührt wie möglich über sich ergehen. Da waren zwar Emotionen, aber sie störten derzeit noch mehr als sonst. Shanija und As'mala marschierten mit ihm tiefer in die Stadt hinein. Muns Status als Adept würde ihm Tore öffnen, die anderen Reisenden verschlossen blieben. Sie würden eine gute Unterkunft finden und Kraft schöpfen, bevor es weiterging zur Stele nach Majakar. Das Meer im Osten mit dem Vulkangebirge davor war nicht mehr weit.
Die Frau mit der Sonnenkraft wirkte abwesend und in sich gekehrt. Es schien so, als akzeptiere sie endlich die Bürde, die ihr das Schicksal auferlegt hatte. Mun blickte in den Himmel. Flavor, Rubin, Arausio, Fathom und die Monde würden bald zu dieser einen bestimmten Konstellation finden, die die Passage erlaubten. Er atmete tief durch. Er konnte bereits spüren, wie die Änderungen um sich griffen. Der Tag war nah. Shanija blieb stehen. Sie streckte eine Hand aus, blass geworden, und deutete auf zwei Reisende, die wie sie die Straßen der Stadt auf der Suche nach einer Unterkunft durchwanderten. Darren und Seiya! Müde, abgerissen und abgemagert. Auch sie blieben stehen, starrten zuerst ungläubig, dann mit beginnendem Erkennen und wachsender Freude. As'mala stieß einen Schrei aus und rannte los. Mun nickte zufrieden. Er hatte es so kommen sehen. In diesen Tagen der psimagischen … Hochkonjunktur gab es keine Zufälle, sondern nur noch schicksalhafte Begegnungen. Die Mitglieder der Gruppe waren aneinander gekettet, auch wenn sie es nicht wahrhaben wollten. Mun wandte sich ab und überließ die Gefährten ihrer Wiedersehensfreude. Er hingegen musste mit einem Problem fertig werden, das ihn seit seinem Aufenthalt im Zisternium quälte. Er hatte der Folter nicht widerstanden. Die Bilder und Ideen, mit denen man ihn gequält und in die schrecklichsten Tiefen seines Unterbewusstseins gestoßen hatte, waren zu viel gewesen. Er hatte einem Jünger der Wiedergänger alles erzählt, was er über die Urmutter und die Stele von Majakar wusste. Und dieser Mann hatte sich weder unter den Toten, noch unter jenen gefunden, die über Raban gerichtet hatten. Möglicherweise spielte hier jemand sein eigenes, böses Spiel. ENDE
Vorschau Tenebrae von Uwe Anton und Susan Schwartz
Die Passage steht unmittelbar bevor, und Shanija Ran muss sich beeilen, um ihren Auftrag zu erfüllen. Attentäter und Fanatiker wollen unter allen Umständen verhindern, dass die Frau von der Erde das nahe Ziel erreicht. Doch so kurz vor dem Ende ist Shanija nicht bereit, aufzugeben. Und auch ihre Gefährten nehmen den Kampf auf, um Shanija den Weg freizuräumen. Dann öffnet sich das Universum, und das Licht der Drei Sonnen erlischt … Und die Trägerin der Sonnenkraft muss die Entscheidung fällen …