Das neue Abenteuer Emilijan Stanew
An einem stillen
B iS nw P !
Emilijan Stanew
An einem stillen Abend
Verlag Neu...
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Das neue Abenteuer Emilijan Stanew
An einem stillen
B iS nw P !
Emilijan Stanew
An einem stillen Abend
Verlag Neues Leben Berlin
Aus dem Bulgarischen von Egon H artm ann Diese Erzählung wurde mit freundlicher G enehm igung dem Band „N ächtliche Lichter“, Verlag Philipp Reclam jun., 1975, entnommen. Illustrationen von Rainer Schwalme
F ür A utoren- und Ü bersetzungsrechte © Verlag P hilip p R eclam ju n . Für Illu stratio n srech te © Verlag N eues L eben, Berlin 1983 Lizenz N r. 303 (3 0 5 /1 0 2 /8 3 ) LSV 7713 U m schlag: R ain er Schw alm e T ypografie: W alter L eipold Schrift: 9 p Tim es G esam th erstellu n g : (140) D ruckerei N eu es D e u tsc h la n d , Berlin B estell-N r. 643 548 0 00025
1 Er lag au f seiner Pritsche und stellte sich vor, was morgen geschehen würde: Wie er den Eimer nach dem Polizisten werfen und aus Leibeskräf ten über das von der D ürre versengte Feld zu dem rettenden blaßgrünen Streifen M ais rennen würde, der vier- oder fünfhundert M eter vom Brun nen entfernt lag. U nd als dieses Bild deutlich in seiner Vorstellung herauf stieg, spannten sich seine M uskeln, und der Atem erstarb in der Brust, als liefe er schon unter den Schüssen und spürte den Tod hinter sich. Vielleicht schon zum zehntenm al hatte er sich dies Bild vergegenwär tigt. Er lag in seiner engen Zelle und starrte an die Decke, wo das Licht der mit Spinnennetzen um w obenen elektrischen Birne ein zartes Spitzen muster zeichnete. Er hatte sich eingeredet, er werde alles um so leichter überstehen und um so m ehr K raft zur D urchführung seines Planes finden, je lebhafter er sich alles vorstellte. Das W ichtigste blieb die Zeit —eine ge naue Berechnung der Sekunden und der Schnelligkeit seiner Beine. Er glaubte, daß ihm die Flucht gelingen werde, und lauschte in sich hin ein, um zu prüfen, ob ihn seine Überzeugung nicht trog. Er mußte diese Überzeugung unbedingt bew ahren, und er stellte sich kein einziges Mal vor, er könnte getötet werden, als läge dies außerhalb des W ahrscheinli chen. Er schloß auch die M öglichkeit aus, verw undet oder - was das Schlimmste wäre - gefaßt zu werden, weil man in diesem Falle seine Identität feststellen würde und ein kleines, aber wertvolles W affenlager verlorenginge. Er konnte es sich nicht verzeihen, daß er von einem kleinen Spitzel ver haftet w orden war. Die Sache schien einfach lächerlich. Er stand au f dem W ochenmarkt, wo man Plinsen buk, und betrachtete die Bauern und Ver kaufsbuden, als der Agent au f einm al vor ihm stand. Er forderte ihn au f mitzukommen, und Anton fügte sich, nachdem er sich überzeugt hatte, daß es keine Fluchtm öglichkeit gab. Aber der hauptsächliche G rund für sein w iderstandsloses M itgehen w ar seine Überzeugung gewesen, daß man ihn nur als verdächtig festnahm und daß seine Papiere in O rdnung waren. Mit einem ironischen, liebenswürdigen Lächeln folgte er dem Agenten friedlich und aß au f dem Wege zum Kreisam t an seinen Plinsen weiter, die er sich gekauft hatte. D ennoch war er erschrocken und voll M iß trauen. Er hatte falsche Papiere, mit denen er sich m ehr als einmal aus der Klemme gezogen hatte. A ußerdem besaß er einen Passierschein, a u f dem zu lesen stand, daß Anton Achtarow, Student, geboren in Sofia und in ir gendein D o rf bei Pewen evakuiert, in einer wichtigen Fam ilienangelegen heit in das Städtchen kam. Aber er hatte die Provinzpolizei unterschätzt, wenn er geglaubt hatte, seine Intelligenz und gute K leidung könnten sie so leicht hinters Licht führen. D er Polizeichef erwies sich als argw öhnisch und m ißtrauisch. Er hörte sich seine Erklärungen schweigend an, sah die Papiere durch und musterte, mit zwei Fingern seine ungewöhnlich große und unförmige Nase betastend, Anton eine ganze M inute lang halb verächtlich, halb gleichgültig. Eine Fliege setzte dieser M usterung ein Ende. Der Offizier 3
wurde ärgerlich, sah den Verhafteten böse an und befahl, ihn festzuhalten, ohne auf seinen Protest zu hören. Seit diesem Augenblick hatte sich in Anton der bohrende Zweifel ein geschlichen, daß wieder ein Verrat stattgefunden hatte und daß vielleicht auch der M ann verhaftet war, mit dem er sich hier treffen sollte. In ohn mächtigem Z orn au f sich selbst biß er sich auf die Lippen, wütend über seine Unvorsichtigkeit und die dumme Art, auf die er sich hatte fangen lassen. Nie hätte er es für möglich gehalten, so ruhm los in die H ände der Polizei zu fallen, ohne zu töten oder getötet zu werden. Denn er kannte den Preis, der au f seinen K opf stand, und fürchtete, den Qualen beim Ver h ö r nicht standzuhalten. Alles endete mit einemmal so einfach, so uner wartet und würdelos! G ott sei D ank, daß im Kragen seines M antels Gift eingenäht war, dessen er sich bedienen würde, wenn jede H offnung dahin war. Er befühlte es mit der H and und spürte dabei, wie sich sein Herz schmerzlich zusammenzog. Oft schon hatte er an den Tod gedacht, ohne sich dabei sentim entalen G efühlen hinzugeben. D enn er sagte sich, daß der Schmerz das W esentliche sei und die Angst vor dem Tode von der Angst vor dem Schmerz komme. Konnte der Schmerz denn ewig w ähren? Das Bewußtsein w ürde erlöschen und mit ihm auch der Schmerz. Er hatte im stillen längst die Bilanz seines Lebens gezogen. Sein Leben war der Partei geweiht. W enn die Partei in ihrem K am pf siegte und er bis zu ihrem Sieg am Leben blieb, würde er leben. W enn die Partei den K am pf verlor, würde er weiterkäm pfen und früher oder später in diesem K am pf um kommen. Von den Freuden des Lebens hatte er nichts erfahren, obwohl er schon achtundzwanzig Jahre alt war und in der Blüte seiner Ju gend und K raft stand. N icht ein einziges Mal hatte er sich verliebt, nicht ein einziges Mal hatte er G efühlsanw andlungen nachgegeben. Er hattestets den Büchern vor den M ädchen, dem K am pf vor den Vergnügungen und der Säche vor allem anderen den Vorzug gegeben. Als Sohn eines M e tallarbeiters hatte er es mit viel Fleiß zuwege gebracht, sich durch Selbst studium auf den schweren, gefährlichen Weg vorzubereiten. Für ihn war die Welt eine feindliche Welt, in der er nur wenige Freunde hatte — seine Genossen, die er selten sah und die wie er stets voller Sorgen und Unruhe waren. Bevor er in die Partisanenkam pfgruppe eintrat, war er ein wichti ger F unktionär gewesen, dem m an schwierige Aufgaben bei der O rganisie rung des W iderstands anvertraut hatte. Zu der W ut au f sich selbst gesellte sich noch der Zweifel, ob man ihn morgen w ieder zum Brunnen führen würde, um das W asserfaß zu füllen. W enn m an ihn nicht hinausbrachte, war alles verloren, und die M öglich keit zur Flucht bestand nicht mehr. Er wußte, daß man ihn festhalten würde, bis seine Identität überprüft war. Sicherlich holte man Auskünfte über ihn ein. Anders hätte er sich nicht erklären können, warum sie ihn fotografiert hatten. A uf dem Polizei revier w ar ein hagerer ungarischer Jude erschienen, der, den K opf unter das schwarze Tuch gesteckt, hinter seinem altm odischen A pparat bukkelte. Und w ährend er selbst aufrecht an der W and stand, schauten der Polizeichef und der Spitzel abw echselnd au f ihn und a u f eine Fotografie, die sie in der H and hielten. D ann sah er, daß sich au f ihren Gesichtern 4
U nzufriedenheit malte, und schloß daraus erleichtert, daß es nicht seine Fotografie war. Der Spitzel brachte ihn wieder in die Zelle, und als er aberm als protestierte und sogar wegen seiner willkürlichen Festnahme drohte, m einte der Offizier betreten: „Vielleicht haben Sie recht, aber wir m üssen überprüfen, wer Sie sind und was Sie in der Stadt suchen.“ Er gab ihm sogar eine Decke und w ar ihm offensichtlich wohlgesonnen. Das war gestern vorm ittag gewesen. U nd am N achm ittag hatten sie ihn nach Was ser geschickt, als er verlangt hatte, hinausgelassen zu werden, um frische Luft zu schöpfen. M an hatte ihn in den hinteren H o f geführt, wo ein angeschirrtes schwarzes Pferdchen stand. Ein anderer Häftling - ein junger, kraushaari ger und braungebrannter Bursche, der stark hinkte — lief eifrig um das W asserfaß herum . Als A nton ihn erblickte, stockte ihm der Atem. W ar die ser Bursche nicht der Verbindungsm ann, der ihm die sechs K arabiner und die M unition übergeben sollte? Er starrte ihn wie hypnotisiert an, erstaunt, ihn hier zu sehen, dazu ge sund und m unter und nicht grün und blau geschlagen! Wenn dieser Bur sche tatsächlich der V erbindungsm ann war, dann w ar er bestim m t erst vor ganz kurzer Zeit hierhergeraten. Vielleicht hatte m an ihn absichtlich her ausgelassen, um ihn zu provozieren... Er schaute auf den Polizisten, um in dessen G esicht eine Bestätigung seines Verdachtes zu finden. D ann blickte er sich um, weil er annahm , m an werde ihn beobachten. Aber der große, schwarzhaarige Polizist m achte sich an dem Pferdchen zu schaffen. Sonst war niem and im Hof. Stark beunruhigt trat Anton hinzu, wobei er den Burschen weiter im Auge behielt. Allmählich nahm sein Gesicht einen ruhigen und verärgerten Aus druck an. Er m ußte die Rolle des beleidigten Intellektuellen weiterspie len, den m an eigenmächtig festgenommen hatte und nun zum W asserkar ren schickte! In den H of schien die nachm ittägliche Augustsonne. Der langgezogene Schatten des alten, blaßrosa getünchten Fachw erkgebäudes lag auf dem Schuppen, in dem ein offener E inspänner mit schlam m verkrusteten R ä dern stand. Ein p aar Betten mit M atratzen d arau f schm orten in der sonni gen Hälfte des Hofes und warfen ihre Schatten auf die grasbewachsenen Steinplatten unter einer versiegten W asserleitung, die nur aus einem Zink rohr mit M essinghahn bestand. Steinm auern schlossen den H of zur Rück w and des G ebäudes ab, nach der Straße zu lagen Beete mit welken Blu men. Anton ging neben dem Pferdchen her, das nervös au f die K andare biß. H inter dem zweiflügeligen Tor erschien eine schmale, steile Gasse, hinter deren M auern m an Pflaum engärten und niedrige H äuschen sah. A nton trug Eim er und Trichter. Das G äßchen w ar steinig, das W asserfaß dröhnte betäubend, und das Pferd gab au f der abschüssigen Bahn dem D ruck nach. D er schmächtige, lahm e Bursche konnte es kaum zurückhal ten. Anton lief zu ihm und griff in die Zügel. „D a, halt den Eimer!“ sagte er, und bevor ihn der Bursche nehmen konnte, flüsterte er ihm ein seltsames W ort ins Ohr. Die braunen Augen des Burschen wurden groß, sein breiter M und öffnete sich halb vor Stau nen, und seine Zähne w urden sichtbar.
„Welch ein Glück!“ antw ortete er und stöhnte dann fast „G en o sse...“ „Ssst!“ flüsterte Anton. „N im m den Eimer. Bleib nicht stehen.“ Und leise fügte er hinzu: „Kom m au f meine linke Seite.“ Gefolgt von dem Polizisten, gingen sie nebeneinander weiter. Als der Polizist an einer scharfen Biegung zurückblieb, fragte Anton, ohne sich um zudrehen: „H aben sie dich gestern abend gefaßt?“ „Ja“, erwiderte der Bursche besorgt. „Bei der M ühle?“ „N ein, zu Hause, als ich gerade losgehn wollte.“ „W arum ?“ „Haussuchung. H aben Literatur gefunden.“ „Die G ew ehre?“ „Sind dort.“ „W o?“ fragte Anton begierig. „ln der M ühle. U nter den D ielen.“ Anton atm ete erleichtert auf. „H aben sie dich geschlagen?“ „Ein bißchen. Ich hab ihnen die Stiefel geflickt. Ich glaube nicht, daß sie mich sehr schlagen w erden.“ „Leugne alles.“ „Ich weiß.“ Der Polizist holte sie ein, und sie verstummten. Sie verließen mit dem Karren die Stadt, und das D röhnen des Wasserfasses w urde au f dem wei chen Weg gedämpfter. Eine M inute später langten sie beim Brunnen an. Es war ein alter Stein6
brunnen, hoch und massiv, mit einem langen Trog. Rundum roch es nach Schlamm. Wegen der Trockenheit floß das W asser nur spärlich, so daß das Füllen des Fasses sehr langsam voranging. Vor dem Brunnen lag ein kahles, flaches Stück Land mit einer Vieh weide. An die Weide grenzte ein Stoppelfeld, und dahinter wuchs M ais... 2 W enn er schätzungsweise für je hundert M eter reichlich zehn Sekunden brauchte, könnte er die E ntfernung in fünfunddreißig oder vierzig Sekun den, höchstens in einer M inute zurücklegen... Plötzlich stand er auf, ging zur Tür und lauschte. Im G ang war das Schnarchen der schlafenden Polizisten zu hören. Eine M aus nagte ir gendw o an einem Brett. In der N achbarzelle w ar der Bursche eingesperrt. Vor kurzem hatte er versucht, sich mit ihm durch Klopfzeichen zu verstän digen, aber der Schusterjunge verstand nichts vom Morsen. Als er sich überzeugt hatte, daß niem and hinter der Tür war, blieb er mit hängenden Schultern stehen und setzte den linken Fuß vor. D ann w arf er jä h den K örper zurück und riß die Arme zur Brust, als wolle er ei nen G egenstand abwehren, der a u f ihn zugeflogen kam. Seine linke H and stieß den eingebildeten G egenstand zurück, die rechte fuhr an die Hüfte. D ort verweilte sie, w ährend der Vorgesetzte Fuß zwei Takte abzählte, und stieß dann w aagerecht vor. Er überlegte. A uf seinem scharfgeschnittenen G esicht mit dem breiten K inn und der dünnen, ein wenig krum m en Nase m alten sich U nzufrieden heit und Sorge. W ährend der Ü bung hatte der Fuß nur fünf Takte abge m essen. D araus ergab sich, daß der Polizist fü n f Sekunden brauchte, um zu schießen, falls er den Eim er nach ihm w arf und davonrannte. Er verzog mißm utig das G esicht und schüttelte besorgt den Kopf. Bes ser wäre es, wenn er dem Polizisten statt m it dem Eim er mit dem schwe ren, kupferbeschlagenen Trichter au f den K o p f schlagen könnte. W enn d er Polizist au f dem hohen Brunnen stand, konnte er von unten nicht zu schlagen. Alles hing vom Zufall ab. Vielleicht w ar es dieses Mal nicht der selbe Polizist, vielleicht stellte er sich nicht au f den Brunnen? Er legte sich erneut a u f die Pritsche und versuchte einzuschlafen. M or gen m ußte er ruhige Nerven haben, m ußte frisch u nd kräftig sein. Er wikkelte sich in die Decke und nahm w ieder den scharfen G eruch von W af fenöl und Schweiß wahr. In seiner erregten Phantasie erschien das Lager so, wie er es in der vergangenen N acht verlassen hatte. Am niedergebrann ten Feuer berieten der K om m andeur der Partisanengruppe, G etm an, der politische Komm issar und er selbst den Auftrag - das Herbeischaffen der G ew ehre und der dazugehörigen M unition. Diese Gewehre waren für eine neue Partisaneneinheit bestim m t gewesen; aber ein unerw arteter Verrat hatte die zehn jungen A rbeiter aus der Stadt der Polizei in die H ände ge liefert. Die K arabiner w urden nicht entdeckt, und nur der lahme Schuster junge, der wie durch ein W under au f freiem Fuße geblieben war, wußte, wo sie versteckt lagen. 7
Dann dachte er an die dunklen Felder mit dem in der N acht m attglän zenden Stroh der Stoppeläcker, über die er gegangen war, die m enschen leeren, mit samtweichem Staub bedeckten Wege, einen m ächtigen Baum, einen vom Regen ausgewaschenen Hang und schließlich die dunklen Um risse der alten, verlassenen M ühle, wo die Mücken summten und Frösche quakten. Er schlich näher, legte sich flach a u f die Erde, richtete die schwere, mit einem Kolben versehene M auserpistole nach vorn und spähte lange zu der dunklen Silhouette der Mühle hinüber. Von dort kam kein Laut. N achdem er die Parole gerufen hatte, kroch er bis zum grasumwucherten M ühlgraben, um sich zu überzeugen, daß in der Mühle tatsäch lich niem and w ar... Er sah den an die Tür gelehnten Stecken und beruhigte sich. Der Stekken bedeutete, daß der T reff in der Stadt stattfand. Dennoch durchsuchte er die Umgebung der M ühle genau und beschloß dann, sich ein Stück hin ter der M ühle hinzulegen. Die M ücken stachen ihn unbarm herzig, in gan zen Schwärmen surrten sie um seinen Kopf, so daß er genötigt war, sich das Taschentuch um den Hals zu binden und die Beine der Golfhose her unterzulassen. Dort blieb er, bis es hell wurde und die Sonne die Stoppeln auf den abgeernteten Feldern und die Kronen der Bäume rötete. Nun be schloß er, die Pistole bei der M ühle zu vergraben und im Bach zu baden. Da er sich au f seine Papiere verließ, verfuhr er immer so. Er entledigte sich der W affen und wanderte in das D orf oder die Stadt, wo der Treff stattfinden sollte. U nbefangen begegnete er den Polizisten und legte sich glaubwürdige Begründungen für seinen Besuch zurecht. D ann übernach tete er ruhig im Hotel, w ährend seine K ennkarte, vom Hotelwirt zur Po lizei gebracht, von irgendeinem W achtmeister geprüft wurde. Er machte sich auf den Weg zum Städtchen. Eine endlos lange, mit an geschlagenem K opfsteinpflaster bedeckte Straße, die von der M orgen sonne erwärmt war, führte ihn an einstöckigen alten Häusern mit breit krempigen D ächern, kleinen G eschäften und windschiefen M auern vor bei. Jedes Haus hatte an der Rückseite einen H of und vorn ein breites Tor. Die Gehsteige waren sauber gefegt. Er war noch nie in dem Städtchen gewesen, und so bestand seine erste Aufgabe darin, sich mit dessen Lage vertraut zu machen. Er fand heraus, daß hinter der Straße ein Bach floß - derselbe, in dem er gebadet hatte - , daß das Städtchen langgezogen, verfallen und still war. Einzelne Pappeln mit dürren W ipfeln ragten in den blaßgrauen Himmel und zeigten den Lauf des Baches an. Auf einem kleinen Platz standen zwei Lastautos ohne Reifen; sie waren au f großen Steinen aufgebockt. Er verspürte das Verlan gen, sich zu rasieren. Die schlaflose N acht und der lange Weg hatten ihn erm üdet und seinem G esicht ein nicht eben vertrauenswürdiges Aussehen verliehen. Er trat in eine kleine Rasierstube mit frisch gesprengtem Boden und ließ sich rasieren, wobei er sein Gesicht mit halbgeschlossenen Augen betrachtete. Fast hätte er sich bei den Fragen des liebenswürdigen und neugierigen Barbiers verraten. D anach schlenderte er zum W ochenmarkt, indem er unterwegs die Schilder der Schuster musterte, denn er mußte die Schuhm acherwerkstatt „Vorwärts“ finden und darum bitten, daß man ihm seinen eigens aufgetrennten Sportschuh nähte.
A uf dem M arktplatz w urden Plinsen gebacken. Er war hungrig wie ein W olf und wollte etwas frühstücken, bevor er die Schusterwerkstatt auf suchte. U nd gerade da kam der A gent... Vielleicht war diese N acht die letzte N acht in seinem Leben. Wie es der Zufall wollte. Ein Schicksal gab es nicht — es gab den K am pf und im K am pf tausend Z ufälle... In den ersten zehn Sekunden würde er hundert M eter von dem Polizi sten entfernt sein. Einen m enschlichen Umriß auf hundert M eter mit der Pistole zu treffen ist nicht leicht. D er kurze L auf springt vom Rückstoß in die H öhe, und die Kugel verfehlt das Ziel. A ußerdem würde er im Zick zack laufen. Ein weiterer U m stand war die A ufregung des Polizisten. Seine H and würde bestim m t zittern. Er kann mich nur durch Zufall treffen, entschied er, bem üht, sich von seiner Angst zu befreien. Seine G edanken, gewohnt, sich dem Willen un terzuordnen, wandten sich sofort der H auptsache zu, und er führte im G eist alle Bewegungen des Polizisten aus, wobei er die Sekunden mit dem Fuß unter der Decke abzählte. In G edanken sah er sich mit dem schwe ren, kupferbeschlagenen Trichter in den H änden dastehen. Er zog die Decke über den K opf und winkelte die Knie an, dann stand er plötzlich au f und zog sich die Schuhe aus. W ährend des Partisanenle bens hatte er sich’s abgew öhnt, ohne Schuhe zu schlafen. D anach faltete er seinen M antel zu einem Kopfkissen. Als er sich wieder hinlegte, spürte er einen Schmerz in den Schläfen. Ich m uß einschlafen, ging es ihm durch den Kopf. 9
Aber er war so erregt, daß ihm das Einschlafen unmöglich schien. Die stets w iederkehrenden Vorstellungen, der nächtliche M arsch, die unerw ar tete Verhaftung, die Vorbereitung der Flucht und seine ständigen Zweifel hielten seine Nerven in Spannung. Jetzt richtete sich seine Aufmerksam keit wieder auf das Fachwerkgebäude, in dem er eingesperrt war. Es bestand aus Unter- und Obergeschoß. U nten befand sich die Stadt verwaltung, oben die Kreis- und Polizeibehörde. U nter diesen Umständen konnten sie tagsüber unm öglich schlafen. Also fanden die Verhöre nur nachts statt. O der gab es vielleicht unten einen Keller? Sicherlich waren dort die zehn K am eraden von der Arbeiterjugend gefoltert worden. Um sich zu beruhigen, nahm er zu einem alten, bewährten Mittel Z u flucht wie an jenen Regentagen, an denen er mit seinen Kam eraden aus der Partisanengruppe au f dem nassen Reisig im W ald geschlafen hatte: Er dachte an etwas Schönes, zum Beispiel an das bevorstehende Ende des Krieges und den Sieg der Roten Armee. Die Russen standen in Bessarabien. ln zwei, drei W ochen w ürden sie in Bulgarien einm arschieren. Selbst wenn man herausfand, wer er war und was er in der Stadt wollte, konnte er hoffen, am Leben zu bleiben, bis die Rotarm isten da w a re n ..., Dieser G edanke erregte ihn noch stärker und erfüllte ihn mit jubelnder Freude, aber er unterdrückte ihn au f der Stelle, denn er konnte seinen Wil len lähm en und ihn von seinem Auftrag ablenken. Kinderei! verurteilte er sich selbst, drehte sich au f die andere Seite und nahm sich vor, an nichts zu denken. Ringsum lastete tödliche Stille. Es m utete unglaublich an, daß es in die sem G ebäude eine lebende M enschenseele geben sollte. Dieselbe Stille preßte die Stadt in ihre dunkle Um armung. Es w ar nur das drohende Brummen eines Lastautos zu hören, das das Fachwerkgebäude erzittern ließ und sich entfernte. Ob nicht ein Zug G endarm erie darin saß? Er w un derte sich, daß er hier keine G endarm en angetroffen hatte. Er wußte, daß ihr Stützpunkt im nächsten großen D o rf war, etwa zwanzig Kilometer von der Stadt entfernt. ...E in m al war er in einem kleinen Bergdorf gewesen. Er war Salz holen gegangen - das Salz war außerordentlich wichtig und immer knapp. Er hatte sich mit den Zubringern getroffen, die den K lum pen außerhalb des Dorfes hingelegt hatten, von wo er ihn au f dem Rückweg m itnehmen sollte. Da hatten sie ihm gesagt, daß im G em eindeam t ein gefangener Par tisan saß, irgendein junges Bürschchen, ein Lehrer. Anton hatte sich tags über in einer G artenlaube versteckt. Als die N acht anbrach, hatte er sei nen Sack mit dem Salz geschultert und sich au f den Weg in die Berge gemacht. Er ging leise querfeldein, geradewegs au f den nahe gelegenen W ald zu. Als er den D orfkirchhof erreichte, der au f einer kleinen Anhöhe lag, hörte er M enschenstim men und blieb stehen. Er vernahm Schläge ei ner Hacke und das Klirren einer Schaufel. Von N eugier gepackt, wartete er noch ein paar M inuten. Ein gräßlicher Schrei hallte durch die stille, dunkle N acht, gefolgt von dum pfen Schlägen und F lüchen... Später erfuhr er, daß er Zeuge des Todes des jungen Lehrers gewesen war. Am Abend w aren die G endarm en ins D orf gekommen. Nein, so würde er nie einschlafen! 10
Er verweilte in G edanken bei seiner K indheit und dachte an seine M ut ter, die er schon lange verloren hatte. Sie war eine große, hagere Frau ge wesen mit einem m ännlichen Gesicht und hoher Stirn. Ihr Bild schien ihn zu beruhigen, und er spürte, wie sich seine Nerven entspannten. In G e danken sah er das kleine H aus in Losenez mit dem Bauernhof, wo seiner zeit anspruchslose Blumen blühten und der an der hinteren M auer sich rankende Kürbis von ein p aar M aisstengeln überragt wurde. So kehrten seine G edanken in die Vergangenheit zurück - zuerst zum Elternhaus, dann zu den heimlichen Zusam m enkünften au f dem W itoscha oder in ver schiedenen W ohnungen seiner G enossen, in jene Welt, in der er gewach sen w ar und die ihn geform t hatte: die Welt d es K lassenkam pfes und der Partei. Sowie er mit ihr in Berührung kam, fühlte er sich geborgen und war bereit zur Selbstaufopferung. D a gab es weniger Ü berlebende als Tote, im K am pf G efallene, zu deren Schatten sich vielleicht morgen auch der seine gesellte... Bevor er einschlief, dachte er mit Bedauern an seine Uhr, die jetzt im Schreibtisch des Polizeioffiziers tickte, und es tat ihm leid, daß er sich von ihr wie auch von den Papieren trennen m ußte. Letztere waren wirklich ein großer Verlust. Er hatte sie sich durch einen G enossen besorgt, der Ange stellter in einer G em eindeverw altung war. Die alte U hr aus der Türkenzeit schlug eins, als er einschlief.
3 Die Zelle — falls man das enge, dunkle G elaß, das für einen vorüberge henden A ufenthalt von A rrestanten bestim m t war, so nennen konnte — hatte nur ein Fensterchen, das a u f den hinteren H of hinausführte. Die seit Jahren nicht geputzten Scheiben waren derart verschmutzt, daß sie trübe wie Zelluloid aussahen. Das in die M auer eingelassene Eisengitter war d a hinter kaum zu sehen. Das Tageslicht sickerte nur ganz schwach hindurch, und wenn die Lampe nicht brannte, konnte m an seine Sachen nur mit M ühe finden. Als er erwachte, hatte er keine Vorstellung von der Zeit, und er horchte, um die Stunde nach den G eräuschen in den Amtszimmern annähernd zu bestim men. Ü ber den G ang stam pften Polizeistiefel, au f der Treppe hörte er G epolter, Stimmen und das K nallen von Koppeln. Die Polizisten wu schen sich im H of und jagten einander. Also w ar es sehr früh. Er wartete, bis der Lärm ein wenig nachließ und die Stadtuhr sieben schlug. D ann begann er an die Tür zu pochen. N ach ein paar M inuten fragte eine grobe Stimme, weshalb er klopfe. Er wurde au f den H of ge führt, um sich zu waschen. Die Polizisten betrachteten ihn mit düsterer Neugier. Im m erhin erfreute er sich einer gewissen Aufmerksamkeit, denn der Polizist, der ihn begleitete - ein junger, blonder Bauernbursche - , goß ihm W aschwasser ein. Das erm utigte ihn. Er bat, daß man ihm Zigaretten kaufte, und wartete au f dem Gang. Dabei betrachtete er die Polizisten und dachte: W elcher von ihnen wird heute wohl au f mich schießen? Den gro ßen Schwarzhaarigen sah er nirgends, und er hätte ihn sich so gern genau 11
angeschaut. Diejenigen, die sich jetzt in der Stube anzogen, waren schwer fällige, träge Bauern. Sie waren es gewohnt, den Dienst unwillig zu ertra gen, sorgten sich m ehr um ihre Bauernwirtschaften und Familien als um die Sicherheit des Regimes. Er verhielt sich ihnen gegenüber finster, blickte zur Seite, wahrte Zu rückhaltung und spielte w eiterhin die Rolle des beleidigten Intellektuel len, der genötigt ist, die W illkür ihrer Vorgesetzten zu erdulden. Als sie ihn auszufragen versuchten, weshalb er verhaftet sei, antwortete er böse: „Fragt euren Vorgesetzten, der w ird’s wissen!“ Es war kurz vor halb acht. „Ich möchte frühstücken“, erklärte er, „kauft mir etwas.“ D er Polizist willigte ein, nahm den Geldschein und brachte ihm nach ein paar M inuten in Öl gebackene Pastetchen mit Quark. Er aß sie gierig, setzte sich dann au f die Pritsche und rauchte. Er war kein Raucher und rauchte nur selten. D ennoch hatte er sich an das N ikotin gewöhnt. In die• sen schweren M inuten beruhigte es die Nerven. Er hätte gern erfahren, ob außer ihm und dem Jungen noch andere Häftlinge da waren. Eine diesbezügliche Frage zu stellen, wagte er indes nicht. Doch war er überzeugt, daß es keine anderen Arrestanten gab. Sonst hätte er sie sehen müssen und wäre in seiner Zelle nicht allein gewe sen. Das beruhigte ihn, weil es dann keinen gab, der an seiner Stelle zum W asserholen geschickt werden konnte. Trotzdem blieb die Frage offen, ob und um welche Zeit sie ihn losschicken würden. Heute mußte er fliehen. Er konnte es nicht aufschieben. Am Abend würden zwei K am eraden von der Einheit au f ihn warten, sieben Kilome ter von der Stadt, bei einer der zeitweiligen Lagerstellen. Er mußte dort sein, ihnen erzählen, was geschehen war, dann mit ihnen zusammen um kehren und die Gewehre aus der M ühle holen. In der Einheit gab es Parti sanen ohne Waffe. Und jeden Tag kamen neue Kämpfer. Gern hätte er den Spitzel gesehen. Er hätte aberm als wegen seiner Fest nahm e protestieren und in Erfahrung bringen können, ob man ihn nach W asser schicken werde und was der Polizeichef mit ihm vorhatte. Er lauschte, um dessen Stimme zu hören, aber in dem allgemeinen Lärm aufund zuklappender Türen, dem Stimmengewirr und dem G epolter auf der Treppe w ar eine kaum bekannte Stimme schwer zu unterscheiden. Auch aus dem G elaß des Jungen kam keinerlei Geräusch. Ob sie ihn in der Nacht, w ährend er, Anton, schlief, irgendwohin gebracht hatten? Er trat an die W and und klopfte. D er Junge antw ortete, und das beru higte ihn. Sicherlich lag er da, dachte über seine Lage nach und wartete darauf, daß man sich seiner erinnerte und ihn hinausließ. Gereizt und wütend dachte A nton: Was mußte er auch die Literatur zu Hause aufbew ahren? Das Schloß knirschte, und in der Tür erschien der Spitzel. Sein dichtes, schmutzigblondes H aar war angefeuchtet und frisch nach hinten ge kämmt, sein Kinn glänzte - sicherlich hatte er au f dem M arkt Plinsen gefrühstückt. Sein pockennarbiges Gesicht war ernst, und die milchgrauen Augen, in denen Hochm ut zu lesen stand, blickten streng. „Zum Chef!“ sagte er und bedeutete Anton herauszukommen. 12
Er trat au f den Gang und von dort in ein kleines Vorzimmer mit abge tretenen, schmutzigen Dielen, wo eine M enge Bauern warteten, die sich Reisegenehmigungen holen wollten. D er Spitzel klopfte an die Tür und stieß den A rrestanten hinein. Ein blauer Läufer, abgewetzt und verstaubt, bedeckte die Mitte des Bü ros und führte zu einem altm odischen Schreibtisch. Dahinter, unter den Bildern des Zaren und Hitlers, blickten ihm kalte, scharfe Augen entge gen. U nter der großen, am Ende lächerlich verdickten Nase saß ein klei ner Schnurrbart. D er Polizeichef hielt ein M etallineal in beiden H änden, das er zu einem Bogen zusam m engedrückt hatte. Seine Augen m aßen die hohe G estalt Antons, verweilten auf seinem sonnverbrannten, hageren G e sicht, au f den leicht geröteten H aarspitzen, m usterten dann aufmerksam seine Kleidung und kehrten unverfroren zum G esicht zurück. Bevor der Offizier den M und aufm achen konnte, sagte Anton grob: „Wie lange gedenken Sie, mich wie einen Taschendieb in Haft zu halten?“ D er Offizier beugte sich, von dem Ton überrascht, vor. W eder „guten Tag“ noch „H err H auptm ann“. Seine Augen wurden böse. „Zuerst rede ich, dann bist du dran!“ sagte er und klatschte mit dem Li neal au f den Schreibtisch. „Ich werde mich an zuständiger Stelle beschweren!“ erklärte Anton energisch. D er Offizier maß ihn mit einem langen Blick. „Du wirst mir ein paar Fragen beantw orten, dann werden wir sehn, wer 13
sich über wen beschw ert!“ Er kniff geringschätzig die Augen zu, und seine blonden Brauen zogen sich drohend herab. A nton antw ortete ihm mit einem Blick voller Empörung. Seine Absicht war, den Offizier herauszufordern und au f diese Weise die Lage zu son dieren. Er wußte, was für eine Rolle er spielen mußte. Viele M ale hatte er sie überdacht, fast vor jedem Auftrag. Es kam darau f an, sie richtig zu spielen. Er sagte mit W ürde: „Ich bin der Sohn eines Obersten der Re serve und habe keinen G rund, Ihnen zu drohen. Um so mehr habe ich das Recht zu protestieren.“ Der Offizier zog die eine Braue hoch und musterte ihn aberm als, als su che er in A ntons äußerer Erscheinung die Bestätigung seiner Worte. „Das interessiert mich w enig..., ich meine, was Sie über sich selbst sagen“, be merkte er in verändertem Ton und redete ihn diesmal mit Sie an. „W er Sie sind, wird sich herausstellen. Mich interessiert, wie Sie in die Stadt gekommen sind.“ Anton hatte diese Frage erwartet und antwortete einfach: „M it einem Fuhrw erk.“ „W ann sind Sie angekom m en?“ „Gestern früh.“ „Wie hieß d er Fuhrm ann?“ „Irgendein Bai Petko.“ „Sein ganzer N am e?“ Er schrieb die Antworten, über den Schreibtisch gebeugt, auf. „Weiß ich nicht. Ein älterer Bauer!“ ,„Ich weiß nicht’ ist kein schönes W ort, es führt geradewegs ins G efäng nis.“ „W enn es ein Lügner sagt“, betonte Anton. „ H m ... Wo haben Sie das Fuhrw erk getroffen?“ „Auf dem B ahnhof G orna O rjachow iza.“ „Haben Sie es gemietet?“ „Nein, ich bat ihn, mich m itzunehm en.“ „Aus welchem D orf war der Fuhrm ann?“ „Er sagte mir, er sei aus irgendeinem Außenviertel hier. Wie es hieß, habe ich vergessen.“ „Hm, soso, vergessen: Sie wissen nicht und haben vergessen.“ Der Offizier legte den Bleistift weg, lehnte sich im Stuhl zurück und sah Anton spöttisch an. „Versuchen Sie mal, sich zu erinnern“, sagte er spöttisch. „Sicherlich fällt es mir wieder ein, aber nicht gleich. M ir ist, als wär’s das M ijkowaviertel.“ Er wußte sehr gut, daß es so ein Viertel nicht gab. „Sind Sie sicher?“ fragte der Offizier, indem er den Bleistift wieder zur H and nahm. „Nicht völlig... So was Ähnliches w ar’s.“ D er Offizier schrieb die Antwort in sein Notizbuch. „H ören Sie m al“, sagte er streng, „wo sind Sie von dem Fuhrwerk abgestiegen?“ „Am Stadtrand.“ „W arum gerade dort und nicht in der Stadt?“ Anton lächelte seinerseits spöttisch. „W ar so ein Einfall“, sagte er. 14
„Aha, ein E in fall... Sie sind also am S tadtrand abgestiegen?“ „An m einer Stelle hätten Sie es genauso gem acht.“ „Was wollen Sie dam it sagen?“ „Ich will dam it sagen, daß ein M ensch, der dreißig Kilometer in einem Fuhrw erk gefahren ist, mit Vergnügen abspringt, wenn er den Stadtrand erreicht hat. Überlegen Sie doch, daß man eine ganze N acht lang durchge schüttelt w orden ist.“ „W arum haben Sie nicht au f den Autobus gew artet?“ „Ich h ab ’s versucht. Aber das Hotel, in dem ich ein Zimmer gefunden hatte, w ar so schmutzig, daß ich es vorzog, zu Fuß vom B ahnhof aus loszum arschieren, als dort zu übernachten. Und wenn ich nicht diesen Bauern getroffen hätte, wäre ich zu Fuß hier angekom m en. Ich kann nicht schla fen, wo sich’s gerade trifft.“ Schweigen trat ein. D er Polizeioffizier schaute in irgendeine Ecke und strich sich mit dem Lineal über die Wange. D ann sagte er leise, ohne An ton anzuschauen: „Was wollen Sie in der Stadt?“ „Ich habe hier zu tu n “, entgegnete Anton obenhin. „W as?“ „Das kann ich nicht sagen.“ „Sie sind verpflichtet, es m ir zu sagen. W enn Sie wollen, daß ich Sie frei la sse ...“ „Im Passierschein steht es.“ „D er Passierschein ist v erfallen... Das D atum ist über einen M onat alt. Er gilt nicht mehr. Sagen Sie mir, was Sie in der Stadt wollen.“ Anton zog die Schachtel mit den Zigaretten heraus und steckte sich ge lassen eine an, als sei er bei sich zu Hause. Er stieß die Zigarette au f dem Schachteldeckel auf,bevor er sie anzündete. D er Offizier sah ihn verblüfft an, runzelte die Stirn, sagte aber nichts. „Beantw orten Sie meine Frage, was Sie hier wollen!“ beharrte er, schon gereizt wie ein Mensch, der die G eduld verliert. „N ein, das sage ich Ihnen nicht. Es betrifft mein privatestes Leben.“ „D ann halte ich Sie fest, bis Sie es sagen!“ brauste der Offizier auf. „Sie haben kein Recht, mich auch nur eine Stunde länger festzuhalten.“ D er Offizier sprang auf. „Sie unverschäm ter K erl!“ schrie er ihm ins Gesicht. „W enn Sie mir eine Frage nicht beantw orten, stecke ich Sie in den Keller. Was bilden Sie sich denn ein, wo Sie sind? Im K affeehaus?“ Anton schwieg. „Ich gebe Ihnen eine M inute, mir zu sagen, was Sie hier in der Stadt w ollen“, sagte der Offizier, drehte ihm den Rücken zu und ging zum Fen ster. Von draußen drangen gedäm pft die eintönigen G eräusche des Städt chens herein. A uf der Straße knarrte ein Fuhrwerk, man hörte Stimmen und Schritte von Passanten. Irgendwo wurden Reifen au f ein Faß geschla gen, und das Echo w arf die Ham m erschläge von den H äuserw änden zu rück. Durch das Fenster war die blaugrüne, von der M orgensonne be 15
schienene Kette der Berge mit dem reinen, wolkenlosen Himmel darüber zu sehen. „Das ist eine N ötigung“, sagte A nton niedergeschlagen wie ein Mensch, der gezwungen wird, sein Geheimnis zu verraten. Er wandte den K opf zur Seite, sah den Spitzel an u n d sagte leise: „Ich bin wegen einer Frau hier.“ D er Offizier drehte sich um u nd sah ihn neugierig an. D er Spitzel schmunzelte und strich sich mit der H and über das nasse, glänzende Haar. In dem Büro wurde es still. A nton stand mit gesenktem K opf da, er sah finster und zornig aus. D er Offizier kam auf ihn zu. „W er ist diese Frau?“ fragte er. In diesem Augenblick klingelte das Telefon. Der Offizier beugte sich vor und nahm den H örer ab. Irgendeine Stimme berichtete aufgeregt et was. Das G esicht des Offiziers w urde besorgt. „Wo hat man ihn gefunden?“ fragte er, und die Stimme antw ortete et was. „W ann? Ist er schon unterw egs...? Das versteht sich... Er soll ihn be gleiten... A uf keinen Fall allein herschicken... Warte einen M o m en t...“ Er legte die H and auf die Sprechm uschel und sagte zu dem Spitzel, ohne Anton anzusehen: „Für ihn hinaus. U nd sag dem W achtmeister, er soll seine Identität feststellen. Er soll in Pordim anfragen. Bring ihn in die W achstube.“ Er winkte mit der H and - eine unbestim m te Geste, die ebensogut „A uf W iedersehen“ wie „Scher dich jetzt hinaus“ bedeuten konnte - und setzte das Telefongespräch fort. Der Spitzel führte Anton in das Vorzimmer. „Lassen Sie mich bitte in m einer bisherigen Zelle“, sagte Anton. „W arum? H ier ist es schöner.“ „Ich möchte nicht, daß mich die Polizisten ausfragen und mich die Leute sehen, die hier zu tun haben.“ D er Spitzel überlegte, sagte dann gleichgültig: „W enn Sie’s so w ollen“ und führte ihn in die Zelle. 4 Von dieser M inute an zählte er die Stunden, die langsam en Schläge der Stadtuhr. Die M inuten zogen sich qualvoll hin. Sein dum pf und abge hackt schlagendes Herz schien sie mit großem K raftaufw and eine nach der anderen fortzustoßen. Er wartete, daß man ihm M ittagessen brachte, wie der Spitzel versprochen hatte, daß m an ihn danach zum W asserholen herausließ oder ihn abermals zum Polizeichef rief. Angespannt, mit ange haltenem Atem lauschte er auf die G eräusche im Gang. Vielleicht ver suchte der W achtmeister, sich telefonisch mit der Polizeiverwaltung in Pordim in Verbindung zu setzen, wo der Passierschein ausgestellt war. Von dort würde ihm der Reviervorsteher antw orten, daß es eine solche evakuierte Person nicht gebe und daß der Passierschein gefälscht sei. Er legte sich vor Erregung auf das Bett, stand dann w ieder au f und ging in der engen Zelle hin und her. Seine G edanken verweilten bald hier, bald 16
da. Er dachte an seine K am eraden, die am Abend au f ihn warten würden und sich jetzt vielleicht dem Lager näherten. D ann befiel ihn Angst vor dem Tod, und er richtete seine G edanken in die Vergangenheit, um dort M ut und Trost zu suchen. Auch an die M ühle dachte er, wo die sechs G e wehre unter dem Fußboden lagen. Die Berührung mit dem friedlichen Le ben des Städtchens, das draußen summte, belastete sein Bewußtsein und entfernte ihn gleichsam von seiner mit M ühen und Käm pfen erfüllten Welt. Fortw ährend versuchte er das Bild der Flucht neu erstehen zu las sen. U nd da es Einzelheiten gab, die er jetzt noch nicht wissen konnte, dachte er sich Dutzende Zw ischenfälle aus. Vergebens versuchte er, sich zu beruhigen. Um zwölf U hr öffnete d er Spitzel die Tür, die, wie sich erwies, nicht zu gesperrt war. Anton wartete au f die ersten Worte. „Ich bringe Ihnen M ittagessen“, sagte der Agent, und ein Polizist trat ein, der ungeschickt einen Teller Essen balancierte. „Wir haben noch nicht anrufen können: Es wird gleich ein verw undeter roter Bandit gebracht. D er W achtm eister war beschäftigt.“ Anton atm ete erleichtert auf, aber der zweite Satz ließ ihn erstarren. D er Spitzel nahm diesen Seufzer für einen A usdruck von U nzufriedenheit und Ärger. „Sie haben Pech“, sagte er deshalb tröstend. „Die Telefonleitungen sind besetzt. G estern abend hat die G endarm erie die Banditen entdeckt. Es soll ein Gefecht gegeben haben, und jetzt sind sie hinter ihnen her.“ Der Polizist brachte einen Stuhl, stellte den Teller darauf und legte ein Stück Brot und eine G abel dazu. Um seine Aufregung zu verbergen, setzte sich Anton auf die Pritsche und begann zu essen. Seine Knie zitterten, aber er beherrschte sich und fragte nebenhin: „Wo haben sie sie gefun den?“ „Östlich der Stadt.“ Das kann nicht sein, dachte er, unser A bschnitt ist im Westen. Es muß eine andere Abteilung sein. U nd er sagte gleichmütig, als interessiere ihn die Neuigkeit nicht: „Schicken Sie mich bitte wieder nach Wasser, dam it ich ein bißchen frische Luft schnappen kann.“ „Wir lassen Sie auf dem H of Spazierengehen“, schlug der Spitzel vor. „Ich gehe lieber W asser holen, als daß ich wie ein Häftling im H of her um laufe. Ich ziehe es vor, mir mit dem Pferdchen ein bißchen Bewegung zu m achen.“ „Schön“, sagte der Spitzel. „Sowie m an das Pferd bringt, schicken wir Sie los. Gegen d re i...“ Anton schlang das Essen hastig hinunter, ohne seinen Geschm ack wahrzunehm en. Er m ußte essen, um bei K räften zu sein. Ein paar M inuten später wurde die Tür des Nachbargelasses aufge sperrt. Deir Junge wurde herausgeholt. Ob sie ihn zum Verhör führten? Änton lauschte beunruhigt. Ob sie ihm wirklich nicht so viel Beachtung schenkten, wie er sich das einbildete? W enn sie ihn den G endarm en über gaben, war es um ihn geschehen. Anton ging leise in der Zelle au f und ab, trat zur Tür und legte das O hr daran. A ußer den gewöhnlichen G eräu schen in den Büros w ar nichts zu hören. D a rum pelte ein Fuhrwerk auf 17
den Hof, und er hörte das Tram peln von Stiefeln au f der Treppe. Er drückte die rostige Klinke nieder und öffnete langsam die Tür. Der Gang war leer. Sein Herz begann heftig zu klopfen. W arum sollte er nicht versuchen, gleich zu entkom m en? Schnell die Treppe hinunterzuschleichen und auf die Straße zu huschen? W enn ihn jem and anhielt, konnte er ja sagen, er habe es satt gehabt, in dem engen Käfig zu sitzen. Da sie ihn nicht ein schlossen, hieß das doch, daß sie ihm vertrauten. Hatte nicht der Offizier angeordnet, ihn in die W achstube zu bringen? Er ging geräuschlos den halbdunklen G ang entlang und erreichte die Tür der W achstube. Sie war offen, Tageslicht fiel wie ein heller Schein auf den Gang. Er schlich näher und spähte hinein. Ein Polizist nähte einen K nopf an seinen blauen Uniform rock, der über dem Stuhl hing. Das G e sicht hatte er der Tür zugewandt. Anton wich zurück, und die Diele, au f die er getreten war, knarrte. Der Polizist stand auf und kam zur Tür. Anton m achte einen geräuschvollen Schritt nach vorn und stieß beinahe mit dem Polizisten zusammen. Die beiden m usterten sich kalt. D er Polizist war ein untersetzter, breit schultriger Bauer mit einem breiten, klugen Gesicht, in dem Katzenaugen funkelten. Anton lächelte. „Wo willst du hin?“ fragte der Polizist. „W er hat dir das erlaubt?“ „Zu dir“, sagte Anton. „Wieso zu mir? Wie hast du aufgem acht?“ Die Augen des Polizisten w urden unruhig. „Ich bin nicht eingesperrt“, erklärte Anton. „Ich hab’s satt, in dem dunk len Loch zu hocken.“ „Geh zurück.“ Der Bauer sah ihn ernst und m ißtrauisch an. „D er C hef hat mir erlaubt, mich in der W achstube au fz u h alte n ...“ „Los! Erzähl keine langen G eschichten, geh zurück!“ Anton fügte sich. D er Polizist folgte ihm. D er Schlüssel schnappte. Der W achhabende wollte seinen K nopf in Ruhe annähen. Anton packte ohnm ächtige W ut au f den Polizisten, diesen feisten Bau ern. Er fand ihn gefährlich und sah immer noch den schweren, m ißtrau ischen Blick der bernsteingelben.A ugen vor sich. Mit zusam m engepreßten Z ähnen setzte er sich au f die Pritsche. D aß er es nicht geschafft hatte, ins Freie zu kommen, daß diese verräterische Diele knarren mußte! A uf dem G ang näherten sich ungleichmäßige Schritte. M an brachte den Jungen zurück. Wo m ochten sie ihn hinge schleppt haben? Zum Verhör? Es w ar kaum anzunehm en, daß ein Verhör so kurz war. Er hörte, wie das Schloß schnappte und die Stimme des Spitzels sagte: „Überleg dir’s genau, ob du ihn nicht kennst, bevor ich dich Leutnant Ditschewski übergebe. Bei dem spuckst du alles aus.“ Der Junge antwortete etwas, und der Spitzel brum m te, als er mit schnellen Schritten an Antons Zelle vorbeiging: „Wir werden ja sehen.“ Die Stadtuhr schlug zwei. W ieder begannen Polizeistiefel im Gang zu poltern, die Beamten kamen zurück. In einem der Zim m er klapperte eine Schreibmaschine, und eine Frauenstim me fragte etwas. 18
„G estorben“, antw ortete jem and. „Vor kurzem. Vielleicht schon unter wegs.“ Anton fiel ein, daß sie den verwundeten Partisanen erwarteten, und er begriff, daß der Unglückliche gestorben war. Ü ber seine Knöchel lief ein Kribbeln. Ihm war, als berührten seine Füße kaum den Boden. A uf der Straße fuhr ein schw erbeladenes Lastauto vorbei. Das Fachwerkgebäude erbebte, von der Decke fiel ein Stückchen Putz. Dieses Geräusch ließ Anton wie elektrisiert zusam m enfahren. Seine Nerven waren ge spannt, seine H ände zitterten. Noch eine ganze Stunde m ußte er hier vor Aufregung fast vergehen. Seine G edanken w ürden einmal zu dem toten G enossen w andern, dann wieder zum Brunnen, der ihm greifbar nahe vor Augen stand, und zu dem Polizisten, der ihn begleiten würde. Die Zeit verging furchtbar langsam. Es war, als laste sie auf seinen G e hörgängen, in denen das Blut aufgeregt pulste. Im m er noch ein W eilchen, immer noch ein Weilchen. Jetzt sind sie mit dem Toten beschäftigt, telefo nieren nach allen Richtungen, holen Erkundigungen ein, stellen F allen... Sie haben keine Zeit für mich. Von Zeit zu Zeit stieß er die angehaltene Luft aus und seufzte tief aus. Endlich schlug die U hr drei. Er setzte sich au f die Pritsche und wartete. N iem and kam, obwohl die M inuten verrannen. Die Spannung begann an seinen Nerven zu zerren. Jeden Augenblick erw artete er, daß die Tür auf ging und er von einem Polizisten ins Büro des Offiziers geführt würde. Was hätte er au f die A nschuldigung erw idern können, daß es in Pordim so einen Evakuierten nicht gab? D aß einer solchen Person kein Passierschein ausgestellt worden war? D aß im Hotel am B ahnhof in G orna Orjachowiza 19
kein Anton Achtarow abgestiegen w a r...? M an würde ihn dem Leutnant Ditschewski übergeben. D ann würde er sich vergiften. Er legte sich hin, um die Antworten au f diese Fragen und sein Verhal ten zu durchdenken. Dabei wurde er ruhiger, und sein Herzklopfen ließ nach. Es w ar bald vier, und immer noch kam niem and. Er hatte bereits die H offnung aufgegeben, als der Schlüssel schnappte und in der Tür derselbe W achhabende erschien, der ihn eingesperrt hatte. „Los, komm raus!“ sagte er von der Schwelle aus. „W ohin?“ fragte Anton. „In den H of.“ Augenblicklich befiel ihn Erregung, und er spürte, wie ihn die Kräfte verließen. Er stand auf, zog den M antel an, schnallte den Riemen der Golfhose enger und ging vor dem Polizisten her. Sie stiegen die Treppe hinunter und traten au f den Hof. Das Pferd stand bereits angeschirrt, aber der Schusterjunge w ar nicht zu sehen. Ein Polizist hielt das Pferdchen am Zügel und rief etwas zu den Beamten und Polizisten hinüber, die sich u n ter dem Vordach drängten. D er kleine M enschenauflauf stand mit dem Rücken zum H of; offenbar lag unter dem Vordach die Leiche des Partisa nen, und jetzt waren alle herbeigekom m en, um ihn zu sehen. „W arum hast du den Schusterjungen nicht m itgebracht?“ fragte zornig der Polizist, der das Pferd hielt. „Ich habe keinen Befehl“, antw ortete der Polizist hinter A ntons Rücken. „Und wer soll das Pferd führen?“ „D er da.“ „Es müssen zwei sein. He, Paschtrapanow , geh, laß den Schusterbur schen heraus, er soll W asser holen gehen.“ Aus der M enschenmenge löste sich eine G estalt, und Anton erkannte den Spitzel. „Was ist?“ fragte er. „M it einem einzigen Häftling kann man kein W asser holen. Wer soll die ses bockige Biest führen?“ fragte der Polizist ärgerlich und hob die H and, um dem Pferd eins zu versetzen, das seinen Ärmel mit Geifer beträufelte. „D ann gehst du m it“, sagte der Spitzel. „Ich hab D ien st... D er C hef hat gesagt, daß sich niem and vom Revier entfernen darf. Es kann sein, daß wir zur U nterstützung der G endarm erie ausrücken m üssen.“ „Kliment, da hast du den Schlüssel, geh, hol ihn heraus!“ sagte der Spit zel zu dem feisten Polizisten u nd gab ihm den Schlüssel. Der Polizist entfernte sich. Anton betrachtete seinen breiten Rücken, den kurzen, untersetzten Leib, der von einem Koppel um spannt w ar wie ein Faß von einem Reifen. D er große K opf ging in einen ungewöhnlich langen, widerwärtigen Nacken über, und obendrauf saß lächerlich und häßlich zugleich die Uniformmütze. „W arum drängen sie sich unter dem V ordach?“ fragte Anton. „Sie haben den B anditen gebracht. Versuchen herauszufinden, wer er ist. Er ist nicht aus unserer G egend“, sagte der Spitzel bedauernd. „K ann ich ihn sehen?“ „W arum nicht.“ 20
„Paschtrapanow , ich halte das Pferd nicht länger“, drohte der Polizist, aber der Agent beachtete ihn nicht. Er ging mit A n to n zum Vordach, wo bei die Schöße seines um gehängten Jacketts flatterten. „Sie haben einen großen Fehler gemacht, daß sie ihn nicht sofort gefes selt h aben“, brumm te er. „W as soll man jetzt von einem Toten erfahren? Leutnant Ditschewski wird ihnen wie jungen H ühnern die Hälse umdrehn.“ A nton ging kreidebleich neben ihm her. Seine Beine knickten ein,, und die W aden begannen zu schmerzen. Die Aufregung erschwerte ihm das Atmen, und er vernahm n u r undeutlich die W orte des Spitzels. Sie langten unter dem Vordach an. D er kleine M enschenauflauf teilte sich, um ihnen den Weg zu dem Toten freizugeben. Es w ar ein hochgew achsener blonder M ann, etwa fünfunddreißig Jahre alt, mit groben nackten Füßen und kräftigen Armen. Er trug braune grobe W ollkleidung, auf der m an rostfarbene Blutflecke sah. Die Beine ge spreizt, lag er auf dem Rücken, den K opf au f die Schulter geneigt. Sein m askenhaft erstarrtes, unrasiertes Gesicht schien in eine Betrachtung ver tieft. D er blonde, ungestutzte Schnurrbart und die halbgeschlossenen, glasblauen Augen, die wie lebend wirkten, verstärkten diesen Eindruck. ' Anton trat schnell w ieder zurück. D er Partisan war ihm unbekannt. Vielleicht ein Genosse von der Einheit aus Schum en? Er wollte ihn jetzt, da er fliehen mußte, nicht länger ansehn. Wer weiß, ob er nicht in einer halben Stunde, noch warm und zerfetzt, in derselben Stellung neben ihm lag? A ntons Schultern zuckten. In diesem Augenblick sah er sich mit ihm durch eine seltsame Solidarität verbunden, die sie von der Welt der Le benden trennte. Es war, als berühre sein ganzes Wesen etwas Rätselhaftes und G räßliches. U nruhe und Trauer erfaßten ihn. „K ennen Sie ihn?“ fragte der Spitzel, überrascht von dem sorgenvollen Ausdruck auf Antons Gesicht. „W oher denn?“ „Sie könnten ihn ja irgendw o gesehen h a b e n ..., zufällig. Sie sind ja ganz gelb gew orden“, fügte er hinzu und m usterte ihn. „Ich habe zum erstenm al einen getöteten M enschen gesehen“, sagte An ton. „Sie haben schwache Nerven. Ich kann alles mit a n se h n ..., wie die Ärzte. G ehen Sie, Sie w erden gerufen.“ D er Schusterjunge hielt schon das Pferdchen, und der dicke Polizist winkte Anton finster und böse, wobei er au f das Faß und den Trichter zeigte. Die braunen Augen des Jungen waren vor Qual dunkel geworden und hatten ihren lebensfrohen G lanz verloren. Sein Gesicht war ängstlich und verwirrt. „H e, M onka“, rief ein Polizist, der gerade am G espann vorbeiging, „hast du gesehn, wie der unter dem Vordach die Beine von sich gestreckt hat? Dich w erden wir noch dazulegen. Küm m erst dich nicht um deine Flick schusterei, sondern liest staatsfeindliche Bücher.“ Er zog den Jungen an den H aaren, daß er taum elte. „F ahr zu! Was glotzt du!“ rief der dicke Po lizist. 21
Anton ergriff die Zügel, und das Fuhrwerk setzte sich in Bewegung. Der Junge trug Eimer und Trichter. Sie fuhren au f die schmale, krum me Gasse hinaus, die vom Dröhnen des leeren W asserfasses erfüllt wurde. Das Pferdchen drängte vorwärts, aber Antons H and hielt es mit solcher K raft zurück, daß das Tier ver suchte, sich au f die H interbeine zu stellen. Er spürte, wie seine Muskeln sich spannten und wie ihn verzweifelte Entschlossenheit packte. Das G e sicht des Erm ordeten stand vor seinen Augen und erfüllte ihn mit Leid und Zorn. Ohne sich um zudrehen, ging er schnell, gesenkten Kopfes, in einer Art Benom m enheit, die ihn die Umwelt nicht wahrnehm en ließ, als sei er vom D röhnen des Fasses und der R äder taub geworden. Als sie das G äßchen verließen, lockerte er die Zügel, und das Pferdchen fiel in Trab. Er w andte sich um und sah den Polizisten an. Die Pistolentasche war zugeknöpft. In der linken H and hielt der Polizist ein kurzes Stöckchen. Er wird m indestens drei Sekunden verlieren, bis er die Pistole gezogen hat, und eine Sekunde zum D urchladen, wenn sie nicht schußbereit ist, überlegte Anton. In diesem Augenblick haßte er den fetten Kerl vom Dorfe wie den leibhaftigen Tod. Er hob den K opf und sah die in leichten Dunst gehüllten, bläulichgrü nen Berge. Sie stiegen wie eine W and au f und glichen einem riesigen hingeworfenen Kleidungsstück. Ein leidenschaftliches Verlangen ergriff ihn, die Berge zu erreichen. In dieser m eerblauen Weite waren seine Kam era den. Er sandte ihnen in G edanken G rüße. W ürde er sie wohl noch einmal sehen, würden sie seine letzten G edanken erfahren? Oh, wie teuer sie ihm jetzt waren und wie verbunden er sich ihnen fühlte! Er wandte sich um und suchte die Augen des Jungen, dieses hinkenden Kam eraden, den er in seiner ohnm ächtigen Wut im stillen beschuldigt hatte, an seiner Festnahm e schuld zu sein. Der Bursche würde unbeteilig ter Zeuge seines Todes sein, wenn es ihm nicht gelang zu fliehen. Die bei den wechselten einen jener langen Blicke, die man zeit seines Lebens nicht vergißt. Sie hatten den Brunnen erreicht. Das Pferdchen beugte den K opf über den Trog, und der Polizist befahl, ihm den Zaum abzunehm en. Antons H ände zitterten, seine Nasenflügel bebten, in seinen Augen funkelten kurze Blitze. Aus den Augenwinkeln verfolgte er, wo sich der Polizist auf stellen würde. Dieser blieb fünf, sechs Schritte von ihm entfernt stehen. W enn Anton sich auf ihn warf, würde er kaum die Pistole ziehen können. Anton stieg auf den Trog, stellte den Eimer au f den steinernen Brun nensockel und nahm den schweren Trichter fest in die H and. Der Schu sterjunge starrte ihn mit erschrockenen Augen an, so daß Anton fürchtete, dieser Blick könne seine Absicht verraten. Gerade als er darau f wartete, daß der Polizist näher käme, dam it er sich au f ihn stürzen konnte, stieg dieser au f den Brunnen. Anton folgte seinen Beinen mit den Augen. Als hätte der Polizist diesen Blick bemerkt, trat er ein Stück zurück und klopfte mit dem Stöckchen an den Stiefelschaft. Anton beugte sich vor und stellte den Eimer zum Füllen unter. D ann steckte er den Trichter in 22
das Loch des Fasses und kehrte, den Blick a u f das M aisfeld gerichtet, dem Polizisten den Rücken zu. Alle drei schwiegen. Das Pferd schnaufte und wehrte die Fliegen ab, wobei es mit dem Schwänz an das leere Faß klatschte, das einen dünnen, w ohltönenden W iderhall von sich gab. Das W asser lief mit fröhlichem G luckern in den Eimer, der Karren rückte je desm al vor u nd zurück, wenn das Pferdchen aufstam pfte und mit den H u fen in den schwarzen Schlamm beim Trog trat. D er erste Eim er w ar voll, und Anton goß ihn in das Faß. D er Junge hielt das Pferd am Zügel. Das Faß würde im Wege sein, falls er den Polizi sten nicht sofort unschädlich m achen konnte u nd erst um das Faß herumlatifen m ußte. Das W asser plätscherte wieder in den Eimer. Als sich Anton aufrich tete, bemerkte er, daß sich der Polizist hinter die Steinplatte au f den Brun nen gesetzt hatte. Aus solcher Entfernung konnte ihm der Überfall un möglich gelingen. Er hätte au f den B runnen klettern oder um ihn herum gehen müssen. Inzwischen hätte der Polizist Vorbereitungen zu seiner Ver teidigung treffen können. Blieb nur die zweite M öglichkeit. Er akzeptierte sie als die einzige, vielleicht, weil er den Bauern, der bestimmt Frau und kleine K inder hatte, trotz allem nicht töten wollte. Als der Eim er voll war, beugte er sich vor und sah den Burschen zum letztenm al an. Die Augen des Schusterjungen w urden weit, sein M und öff nete sich halb. D er volle Eim er beschrieb einen kurzen Bogen und flog ge gen den Polizisten. Bevor dieser begriffen hatte, was geschah, überschüt tete ihn das Wasser, und der schwere Trichter tra f ihn au f die Brust. M it gesenktem K opf u nd eingezogenem Hals rannte Anton über die kahle Viehweide. Die Luft pfiff in den O hren wie noch nie in seinem Le ben. Sein K örper w ar so weit nach vorn geneigt, daß die vorwärts stür m enden Beine gerade noch das Gleichgewicht halten konnten, w ährend seine Arme mit der gleichen Schnelligkeit ruderten, ähnlich den Flügeln eines fliegenden Vogels. Er rannte geradeaus, ohne daran zu denken, daß er H aken schlagen m ußte, um den Kugeln auszuweichen. Jede Faser sei nes K örpers w ar in Erw artung der Schüsse gespannt. Die ersten p aar Sekunden kam en ihm wie eine Ewigkeit vor, und er w underte sich, daß er nur die Rufe des Polizisten und keinen Schuß hörte. Er hatte bereits die M itte der W eide erreicht, als links vor ihm ein kleines Staubw ölkchen erschien und er den ersten Knall der Neunm illim eterparabellum vernahm . Das zweite Staubwölkchen stiebte zwischen seinen Bei nen auf, und ihm war, als springe er über die Kugel hinw eg... Ein vierter Knall - die Kugel pfiff hoch über das Feld, ein fünfter, ein sechster... Er zählte sie, soweit sein Bewußtsein dies erlaubte — vielmehr das G edächt nis, das jetzt in diesem Bewußtsein unterging, wo die G edanken blitz schnell und n u r halb zu Ende gedacht aufeinanderfolgten. Die Schüsse verstum m ten. Vielleicht hatte der Polizist seine Patronen verschossen? O der die Pistole hatte Ladehem m ung? W ilde Freude packte ihn, er verringerte die Schnelligkeit seines tollen Laufs, hob den K opf und sah zu dem M aisfeld. Bis dorthin mußte er noch eine beträchtliche E ntfernung zurücklegen. M it neuen Kräften rannte er über die kahle Viehweide und hatte die Stoppeläcker fast erreicht, als ein 23
heftiger Schlag au f den Rücken ihn nach vorn taum eln ließ. Vor seinen Augen wurde es dunkel, die Erde gab gleichsam unter seinen Füßen nach. Doch er bew ahrte das Gleichgewicht und lief mit derselben Schnelligkeit weiter, w ährend sein ganzes Wesen angstvoll lauschte, um zu ergründen, was geschehen war. Da hörte er noch einen Schuß und sah, wie die Kugel im Stoppelfeld Staub aufwirbelte. Er wartete immerzu darauf, daß er den Schmerz spürte oder daß der Tod käme. Aber er spürte keinen Schmerz, sondern nur eine dum pfe G e fühllosigkeit in der rechten Rückenhälfte und ein leichtes Brennen, wor aus er schloß, daß er nur leicht verw undet war. Im Laufen hörte er, wie sein erschöpfter Atem ging und seine Füße über die trockene Erde stam pf ten. A uf seine Seele Fiel ein dunkler, unheim licher Schatten. Das gelbe Stroh auf den Stoppelfeldern raschelte trocken und glitt an seinen Augen vorüber, w ährend die grüne M aiswand näher kam. Sein Herz schlug laut, aus dem ausgedörrten M und drang geräuschvoll der Atem. Unversehens blieb er stehen und blickte zurück. Er sah, wie der Po lizist beim Brunnen mit der leergeschossenen Pistole fuchtelte. Der Dicke hatte sich nicht entschließen können, ihn zu verfolgen, weil er fürchtete, daß inzwischen der Junge weglaufen könnte. Antons G edächtnis prägte sich dieses Bild ein — das schwarze Panjepferdchen mit dem Wasserfaß, das von weitem einem großen K äfer glich, und der schräge Hang hinter dem Brunnen mit den weißen H äusern. Ihm fiel ein, daß die Verfolger nicht lange au f sich warten lassen würden. D aher beeilte er sich, den Mais zu erreichen. Jetzt hatte er unter der getroffenen Stelle ein Gefühl der Schwere und fuhr mit der H and über die rechte Seite der Brust, dort, wo sich die Rippen wölbten. Seine H and wurde naß vom warmen Blut, mit dem das Hemd durchtränkt war. Da begriff er, daß er einen Durchschuß hatte. Angst befiel ihn, Entsetzen, Mitleid mit sich selbst, und er schluchzte wie ein hilfloses Kind, das noch nicht ganz begriffen hat, was geschehen ist. Dann kehrte sein Wille zurück, und eine dum pfe Verzweif lung packte ihn beim G edanken an seine Kameraden. Lebendig oder tot, er mußte sich zu ihnen schleppen. N ur dort konnte er auf Hilfe rechnen. N ur dort und nirgends sonst! Seine Aufm erksamkeit richtete sich au f die W unde, und er sagte sich, daß er Kräfte sparen müsse. Die rechte Hand lag noch immer au f der Ausschußstelle. Er nahm sie von der W unde und sah sie an. Sie war ganz von hellrotem Blut überstrom t. Bei ihrem Anblick wurde ihm übel. Er schwankte, schloß die Augen und wäre beinah ge stürzt. Noch ein paar Schritte blieben ihm bis zu dem grünen M aisfeld, in dem er sich verstecken würde. Er erreichte es und brach hinein, aber im nächsten Augenblick stand er vor einem freien, welligen G elände mit um gepflügten Stoppelfeldern, Ackerrainen und vereinzelten Sträuchern. Das Maisfeld bestand nur aus einem langen, schmalen Streifen, nicht breiter als drei Schritt... Er blieb stehen wie ein Mensch, der in eine Falle geraten ist. Er wußte, daß er immer geradeaus laufen mußte. Jedes Abbiegen, jede Abweichung zur Seite würde den Abstand zwischen ihm und seinen Verfolgern verkür zen. Aber er w'agte nicht, über das offene G elände zu laufen, wo er leicht bemerkt und abgeschossen werden konnte. Deshalb machte er eine Wen24
düng und lief parallel zu den M aisstauden weiter. Ein Knick im G elände am anderen Ende des M aisstreifens zeigte an, daß dort eine Senke sein mußte,' in der er untertauchen konnte. Als er die Senke erreichte, sah er, daß sie in ein Tal mündete, in dem Bäume standen. Er lief in das Tal hinunter, das weiter und flacher wurde. Niedriges G e büsch und vereinzelte W eiden wuchsen hier. D ann verbreiterte sich das Tal wie ein Kessel, und au f seinem G rund erschien ein Bächlein. Anton sprang hinüber, da er sich hinter den Bäumen verstecken wollte, und b e fand sich unerw artet au f einem schwarzen feuchten Feldweg, der hier und da mit weißen Flußkieseln bestreut war. Hier blieb er stehen, knöpfte das Hemd au f und untersuchte seine Brust. Er sah die W unde, die einem dunkelroten M und glich, aus dem ein dünner Blutstrahl quoll. Ihn schauderte. Als er bemerkte, daß Bauch und Leisten blutbeschm iert waren, wurde er erneut von Entsetzen und dum p fer Verzweiflung gepackt. Ich werde sterben, sagte er sich und starrte weiter auf seine Brust, die sich müde hob und senkte. Diese kühle Feststellung stärkte seinen Willen wieder. Laut sagte er, als wolle er sich überzeugen, daß er lebte: „Ich muß die K raft haben, mich bis zum Lager zu schlep p en... Sonst n ic h ts...“ Er hörte seine Stimme wie die Stimme eines frem den Wesens, das in ihm lebte. Und doch war es, als sei dieses Wesen, das sterben würde, nicht er selbst. W ieder besann er sich darauf, daß er Kräfte sparen und „vernünf tig“ sein mußte. Mit langen Schritten folgte er dem Weg. Doch ein bren nendes Durstgefühl veranlaßte ihn, um zukehren und aus dem Bächlein zu trinken. Als er sich aufrichtete und zurückblickte, sah er genau dort, wo er in die Senke hinuntergestiegen war, auf der H ügelkuppe einen Reiter. Man verfolgte ihn also. Die einzige M öglichkeit zum Entkom m en war, sich irgendwo zu verstecken und wie ein Hase stillzuhalten. Das Bächlein verschwand hinter einem G em üsegarten, der von einem schwarzen, dornigen Flechtzaun eingefaßt war. Anton ging au f einem Fußpfad d arau f zu und gelangte zu einer schm alen hölzernen Stiege, die der Besitzer statt eines D urchschlupfs über den Zaun gebaut hatte, damit das Vieh nicht hineinkonnte. Er kletterte hinüber, überzeugt, daß niem and in dem G arten war. Zwischen den hohen Stangen, an denen Bohnen rankr ten, stieß er jedoch unerw artet au f eine Frau. Sie stand gebückt dicht am Zaun. Als er hereinsprang, richtete sie sich auf und stieß einen leisen Schrei aus. Anton sah ihre erschrockenen Augen. Es war eine junge Bäue rin mit einem runden, dunklen, sanften Gesicht. Schwer atm end, sagte er, fast flüsternd: „H ab keine Angst, G ev atterin ..., es ist n ich ts... Ich bin zufällig... Ich tu dir nichts.“ Sie schaute ihn verw undert mit halboffenem M und an, nahe daran zu schreien. Da sah sie zwei Tränen über seine eingefallenen W angen rollen. Er blickte sie unverw andt an, als wolle er ihr mit aller Kraft seiner Seele suggerieren, daß sie nicht schreien, nicht erschrecken sollte. Die Frau verstand nichts, und er sagte m ühsam : „Sie sind hinter mir h e r ...“ „W er?” fragte sie. 25
„Die Polizei.“ In ihren Augen erschien ein Schatten, und er beeilte sich hinzuzufügen: „Ich bin Student.“ „O G ott!“ sagte sie. „Was willst du von m ir?“ „Verrat mich nicht!“ Sie sah ihn immer noch verständnislos an. „Ich werde mich hier verstecken“, erklärte er bittend. „W enn sie mich finden, sage ich, ich hätte mich hereingeschlichen, ohne daß du mich gesehen hast.“ Die Frau blickte das Tal h inauf u nd entfernte sich wortlos zum anderen Ende des Gartens. Anton ging zum Z aun und legte sich zwischen die Bohnen. Aus seinem M und lief Blut, und sein K örper w ar schlaff. Er lag au f dem G esicht und spürte, wie das Blut seinen Bauch wärmte. A uf dem Weg erscholl Pferdegetrappel. Die Frau pflückte etwa zwanzig Schritt von ihm entfernt Bohnen. Sie hockte da, die Schürze hochgeschla gen, und legte die Hülsen hinein. Das W asser des Bächleins m urmelte leise. Eine Amsel raschelte in der N ähe. Die feuchte Erde roch nach Fäul nis. Das G etrappel kam näher. Anton hörte das K narren des Sattels und das Schnauben des Pferdes. Der berittene Polizist näherte sich von der ande ren Talseite und ritt an die Frau heran. Das Pferd blieb stehen. Die Frau richtete sich auf. M an hörte die etwas m üde Stimme des Polizisten fragen: „Ist hier ein M ann vorbeigekommen?“ 26
Mit angehaltenem Atem w artete Anton, was die Frau sagen würde. Ihm kam es vor, als zögere sie mit der Antwort eine ganze Minute. „W as für ein M ann?“ „Ein junger. In städtischer K leidung.“ W ieder zögerte sie mit der Antwort, und A nton erstarrte. „H ier ist niem and vorbeigekom m en“, sagte sie. „Bist du sicher?“ „Ich habe niem anden gesehen.“ „Seit wann bist du hier?“ „Schon lange. Vor zwei Stunden bin ich gekom m en.“ Eine Pause trat ein. D er Polizist überlegte etwas, dann sagte er: „W enn du einen M ann sieh st..., groß, in städtischer K leidung und m it langen Haaren, ohne Kopfbedeckung, dann ruf!“ Er trieb das Pferd weiter. D er Sattel begann zu knarren, und das dum pfe K lappern der Pferdehufe verklang im Tal. Anton sah die Frau an. Sie stand immer noch gebückt und pflückte Bohnen. M an hörte das hastige, nervöse Rascheln der Ranken. Die b rau nen H ände der Frau rissen die H ülsen ab, u nd die Stangen schwankten. Sie sah nicht zu- ihm herüber, als hätte sie ihn vergessen. Er hätte bleiben müssen, bis die Suchstreifen vorüber waren oder bis es dunkel wurde. Aber die Angst, daß er dann keine K raft m ehr zum Aufstehen finden würde, m achte ihn ungeduldig. M it jed er M inute verlor er Blut. Er preßte die H and a u f die W unde und spürte die zunehm ende Schwere in der Brust. Zweimal schaute die Frau zu den H ängen des kleinen Tals hinüber, wo die Polizisten nach ihm suchten. D ann hörte Anton einen fernen Schuß und schloß daraus, daß seine Verfolger ins Gebirge weitergeritten waren. ■ Bevor er sich aufrichtete, stemmte er sich a u f die Knie, da ihn heftig schwindelte, hielt sich am Z aun fest und erhob sich. D er G arten drehte sich vor seinen Augen: in schw indelerregenden Kreisen wirbelten die lan gen Bohnenstangen an ihm vorbei, und die blaugrünen K ohlköpfe ver schmolzen zu einem bläulichen Nebel. Er taum elte und lehnte sich an den Zaun, der knackte. Die K räfte verließen ihn. W enn er seine K am eraden Wiedersehen wolle, m ußte er so schnell wie möglich zum Treffpunkt ge langen, selbst unter der G efahr, gefaßt oder erschossen zu werden. Er machte ein paar Schritte und sah, daß die Frau ihn mitleidig anschaute. „Ich danke dir“, brachte er mühsam hervor. Sie sah sich unruhig um und kam au f ihn zu. Ihre sanften Augen waren voller M itgefühl. Plötzlich band sie wortlos ihr weißes K opftuch ab und gab es ihm. „Wickle es dir um die H an d “, sagte sie, und ihre Schultern zuckten. Anton nahm das K opftuch u nd preßte es gegen die W unde. „Leb wohl!“ sagte er. „G ott behüte dich!“ erwiderte sie. A nton kletterte über die Stiege und stolperte talaufw ärts. Er wollte ei nen kleinen Bogen schlagen und zu den Bergen zurückkehren, wohin die Polizisten geritten waren. Die H offnung, sich zu retten, und das Verlan gen, seine K am eraden zu sehen, vereinigten sich zu einem einzigen Drang
zur Flucht, und dieser Drang trieb ihn vorwärts und gab ihm Kraft. Er blickte nicht einmal zurück und sah sich nicht um. E rg in g schnell, vorn übergebeugt, die H and auf die W unde gepreßt, und als das Tal einen langen, schrägen Bogen m achte und ihn au f die kahle Ebene führte, be rührte ihn das gar nicht. M ochten sie ihn erschießen, wenn sie ihn sahen. Er würde gehen und gehen, solange ihn die Kugel nicht endgültig zu Bo den streckte. Von Zeit zu Zeit schlugen seine Zähne aufeinander, Brust und Bauch schmerzten immer heftiger, und der Schmerz kam jetzt bereits von innen, wo die durchschossene Lunge bei jedem Atemzug röchelte. Er bem ühte sich, nicht tief zu atmen. Er meinte, nur mit einer Lunge at men zu können, und versuchte sich einzureden, daß ihm das tatsächlich gelang. Sein Bewußtsein konzentrierte sich immer m ehr au f sich selbst, während seine Aufm erksam keit und alle seine Sinne immer stum pfer und unem pfindlicher für die Umwelt wurden. Er überquerte ein W iesengelände und m arschierte au f die Berge zu. Vor ihm erschienen M aisfelder, in denen er sich verbarg, dahinter lagen kleine Gehölze und Lichtungen mit hohen Buchen und schmalen Äckern. Hier begann das Gebirge. Er sah den Kamm, der wie eine gewaltige W and in die Höhe ragte, die Ausläufer, die sich wie riesige Raupen in die N iede rungen senkten, und spürte die Kühle der W älder. Seine Augen suchten den kegelförmigen Hügel, wo seine K am eraden au f ihn warten würden. Er erblickte ihn ein Stück rechts von sich und erkannte, daß er seitwärts ab gekommen war. Einen Augenblick blieb er stehen, um sich in G edanken den Weg dahin vorzuzeichnen. Aber als er in den Hochwald kam, konnte er sich nur noch au f seinen O rientierungssinn verlassen. Der Wald wirkte beruhigend au f ihn und erfüllte ihn mit einer unklaren Hoffnung. Als er jedoch den steilen Hang hinaufkletterte und ihm das At men schwer wurde, so daß er genötigt war, langsamer zu gehen, befiel ihn abermals die Angst, seine Kräfte w ürden nicht reichen. Er mußte dennoch rasten und setzte sich auf einen mit Flechten und Moos bewachsenen Baumstumpf. Neben ihm strebten die weißen, glatten Stämme der hohen Buchen em por, reglosen Riesen gleich. Das leise Rauschen der Blätter drang wie G e flüster Tausender Wesen an sein Ohr, die von seinem bevorstehenden Ende sprachen. Er spürte den G eruch von faulendem Laub und feuchter Erde und nahm das alles in einer Art Erstarrung wahr, als lausche er in seine jammervolle Einsamkeit hinein. Im nähen Tal hörte er W asser plät schern, und er spürte wieder, wie der unerträgliche Durst in seinem ausge dörrten, blutigen M und brannte. Aber er konnte sich nicht entschließen umzukehren. So saß er unschlüssig, von Durst gequält, der vom leisen Plätschern des Wassers immer unerträglicher wurde. Endlich stand er auf und begann langsam die Anhöhe hinanzusteigen. Das vorjährige Buchen laub raschelte laut unter seinen Schritten. Dieses Rascheln konnte ihn ver raten, wenn jem and von seinen Verfolgern in der N ähe war. Aber daran dachte er nicht, sondern schleppte sich weiter, indem er sich an den Bäu men festhielt und immer schwerer atmete. Mit unw ahrscheinlicher G e duld gelang es ihm, eine Höhe zu erklimmen, auf der sich eine kleine, von der untergehenden Sonne warm beschienene Lichtung hinzog. Hier blieb 28
er stehen, da seine Schmerzen Zunahmen und die Schwere im Bauch uner träglich wurde. In seinem M und m achte sich ein unangenehm er G e schm ack bem erkbar; ihm wurde übel vom G eruch des eigenen Bluts, die Beine zitterten heftig, und ka'te Schw eißtröpfchen traten au f seine Stirn. Er stöhnte auf, faßte nach einem Baum und ließ sich langsam auf das wei che goldgrüne Moos um den Buchenstamm niedergleiten. Sein Herz schien in den Schläfen zu sitzen, so schnell und stark schlug es dort, seine feuchten H ände zitterten, und in seiner Brust rasselte es. Er kniete hin und erbrach hellrotes Blut, das wie ein Strahl aus seinem M und quoll. Warm und dam pfend sah er es über das grüne Moos fließen, aber das er schreckte ihn nicht, weil der Schmerz und die Schwere in der Brust ver schw anden und das Atmen leichter wurde. D och augenblicklich fühlte er sich beängstigend schwach, und er versuchte aufzustehen. Das führte zu einem Schwindelanfall. Er m ußte seinen ganzen Willen anspannen, um sich a u f die Beine zu stellen. Seine Augen suchten die Anhöhe, die nicht m ehr weit war. Zum G lück lief ein verw ilderter Waldweg über den Sattel, und er torkelte au f ihm wie betrunken weiter. Ihm kam der G edanke, sich einen Stock zu nehm en, um sich aufzustützen. Er fand einen Knüppel, aber er erwies sich als zu schwer für ihn. O hnedies war eine H and nicht frei, weil er mit ihr das Blut zurückhielt, und mit der anderen H and allein konnte er sich nicht stützen. So legte er ungefähr hundert Schritte zurück, und der Weg führte ihn genau in eine Gebirgsfalte unter der H ügelkuppe, wo ein enges, feuchtes Tal begann. Die Kühle ließ ihn erschauern. K alter Schweiß brach auf sei nem K örper aus. Er blieb stehen und sah zu den K ronen der Bäume auf 29
der Anhöhe, die von der untergehenden Sonne beschienen waren. Die K uppe schien in die H öhe zu steigen, der W ald begann zu schwanken, als erschüttere ein gewaltiges Erdbeben das Gebirge und hebe es in die Höhe, während der Himmel wie ein Abgrund zu seinen Füßen glänzte... Er war hintenüber au f den Weg gefallen und hatte die Besinnung verlo ren. Als er w ieder zu sich kam, war ihm leicht, fast froh zumute. Ü ber ihm hing der goldfarbene Abendhim m el, und ihm war, als schwimme er in ei nem warmen, ruhigen M eer voll G lück und Wohligkeit. Es war, als ob er noch einmal einen Tag seiner K indheit erlebte, als er krank gewesen und allm ählich wieder genas. Er lag in dem ärm lich eingerichteten Stübchen, wo allm orgendlich an der W and genauso ein goldig-warmer Strahl er schien und ihn heiter stimmte. Er tastete über die rauhe W and und ver suchte ihn mit seinen kleinen H änden zu fassen. Jetzt war er dasselbe K ind mit seiner Qual, die aber nicht von der K rankheit herrührte, sondern von den vielen Leiden, die der K am pf erforderte. Wie gern hätte er ausge ruht, wäre er mit geschlossenen Augen für immer in diesem warmen, strahlenden Licht versunken! Er dachte an seine K am eraden und sah sie weit, weit entfernt in einem W ald liegen und mit erschöpften, sorgenvollen, abgemagerten Gesichtern in die Stille des W aldes horchen. Seine Ohren waren von leisem Geflüster erfüllt, als höre er den A bendw ind über die W ipfel des W aldes streichen. Er vernahm viele Stimmen, die abgerissene Worte flüsterten und erstarben, doch er verstand jedes der nicht zu Ende gesprochenen Worte. Eine Stimme sprach von all den Dingen, an die er glaubte und die eines Tages W irklichkeit sein würden. Allmählich übertönte diese Stimme alles wie Glockenklang. Einm al besorgt, dann voll froher Verheißung, schwang sie durch den sonnig vergoldeten Himmel und brauste wie ein Wasserfall von M illionen Stim m en... E r schloß die Augen, und seine Sinne schwanden. A uf dem blassen, blutleeren Gesicht erstrahlte ein stilles Lächeln. Das dürre Laub au f dem Weg raschelte. Zwei scheue G estalten in abge schabten braunen Jacken und Soldatenkäppis erschienen an der Biegung und kamen mit zögernden Schritten au f ihn zu. Sie näherten sich langsam und vorsichtig, die kurzen Läufe ihrer M aschinenpistolen nach vorn ge richtet. D a erblickten sie ihn und stürzten vorwärts. Jem and zog ihm den M antel aus und knöpfte das Hem d auf. Behutsam schlang sich etwas um seine Brust und wärmte sie. Er wollte die Augen öffnen, aber es gelang ihm nicht, und er lächelte. Eine schwielige H and drückte zart die se in e ... U nter seinen Lidern stand immer noch das goldfarbene Meer, und seine Seele badete noch in diesem strahlenden Licht. D ann spürte er, wie ihn vorsichtige H ände aufhoben. Er vertraute sich ihnen an, wie er sich einst mals den H änden seiner M utter anvertraut hatte. D anach hörte er leise, besorgte Stimmen, die ihn mit Ruhe und Sicherheit erfüllten. Sie trugen ihn der untergehenden Sonne entgegen, und die schrägen Strahlen fielen an der W egbiegung auf sein totenblasses Gesicht, den zur Seite gesunkenen K o p f mit dem schweißnassen schwarzen Haar, der auf der Schulter seines K am eraden leicht hin und her rollte. In diesem Augen30
blick fiel ihm die Frau ein. D a war sie, sie trat zu ihm, braun und sanft, mit einem runden Gesicht und guten Augen. Sie nahm das weiße K opf tuch ab und gab es ih m ... U nten, in den N iederungen, füllte sich das Gebirge mit bläulichem Däm m erlicht. Die alten Buchen rauschten leise, als seufzten sie dem ver gehenden Tag nach. Das Licht erlosch langsam von Gipfel zu Gipfel, und irgendwo fern, hinter dem dicken, olivgrünen Teppich der W älder, wo die M enschen und Städte zurückgeblieben waren, brachen rote Sturzbäche aus dem Himmel, als flam m ten dort in einer ungeheuren Feuersbrunst M illionen M enschenseelen.
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Angela und Karlheinz Steinmüller
Korallen des Alls Wissenschaftlich-phantastische Erzählung Durch Zufall gelangt Yarbro M artell in den Besitz der Aufzeichnungen des einzigen Überlebenden der „lnterplanetic"-K atastrophe. Nach lan gem Mühen e rm itte lt er, wo sich das R aum schiffw rack befinden könnte, das viele w ertvolle Gegenstände bergen soll. Nun g ilt es nur noch, eine alte Raumjolle zu chartern und dafür zu sorgen, daß nie mand ihm bei der Schatzsuche zuvorkom m t.
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Horst Szeponik
Ho Chi Minh
Ein Leben für Vietnam ■
A ls Küchenjunge Ba fuhr er zur See. Er w ar in S p a nien und Portugal, in Algerien, Ägypten, M a d a ga ska r und Senegal, in Frankreich und den U SA . A ls Heizer arbeitete er in einem englischen M ietshaus, als Tel lerw äscher im Hotel „Carlton", als Hilfskoch in der Pastetenbäckerei. Er w urde Wguyen Ai Quoc, Her ausgeber und Chefredakteur der Zeitschrift „Le Pa ria" („Der Geächtete"). Er konnte nie lange an einem Ort bleiben, da ihn die Geheimpolizei ständig beob achtete. So wechselte er auch häufig seine Tätigkei ten - w ar Student, Dolmetscher, Lehrer, Kaufmann, trug auch manchmal die safrangelbe Robe eines buddhistischen Mönches - nannte sich Ly Thuy, Vuong, Chin, bis er - von seinen Eltern Nguyen Sinh C un g genannt - sich einen Namen zulegte, der um den Erdball ging: H o Chi Minh. Aus seinem unge w öhnlichen Leben erzählt dieses Buch.
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M it Fotos ■288 Seiten • Ganzleinen 12,80 M
V E R L A G N E U E S LE B E N B E R L IN
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M anfred Gebhardt
MAX HOELZ
W ege und Irrmrege eines Revolutionärs W o im m er sein Name fiel, blieb niemand gleichgül tig. Die einen nannten ihn in einem Atem zug mit Karl Liebknecht und Rosa Luxemburg» fü r die anderen w a r er ein fläuberhauptmann» Schänderhannes und Kebellentyp. W ieder andere sahen in ihm eine A rt Ftobin Hood oder Karl M oor. Er nim m t w o den Rei chen und gibt den Arm en m it vollen Händen. Sein Name geht von M und zu Mund» flö ß t den Herrschen den A n g st ein«, verleiht den U nterdrückten Kraft. In siebenjähriger K erkerhaft w ird er zum Symbol des W iderstandes. Heinrich ZilSe und Arnold Zweig, Käthe Kollwwitz und ÄSbert Einstein» Heinrich und Thomas IVlann» Becher und Brecht» Kingelnatz, Ro wohlt» Tucholsky und viele andere setzen sich für seine Befreiung ein. Hunderttausend Berliner emp fangen ihn nach seiner Entlassung aus der Haft im Lustgarten. Schon zu Lebzeiten» erst recht aber nach seinem Tode im Jahre 1933 beginnen sich Legenden um ihn und seine Taten zu ranken. W er w ar Max Hoelz w irklich? Der S tre it um seine Person ist nie ver stum m t. M it F o to s und A bbildungen 336 S e ite n ■ G anzleinen 13,80 M
VERLAG NEUES LEBEM BERLIN 32706