Uwe von Seltmann
An einem Tag im August
Roman
Ein Westberliner im Osten, eine Geliebte in der Oberlausitz und eine Eh...
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Uwe von Seltmann
An einem Tag im August
Roman
Ein Westberliner im Osten, eine Geliebte in der Oberlausitz und eine Ehefrau in Aachen, ein ehemaliger IM und ein Glatzkopf in Springerstiefel und Bomberjacke: Am 13. August, dem Tag des Mauerbaus in Berlin, aber zehn Jahre nach dem Fall der Mauer, stellt das Schicksal eine Verbindung zwischen diesen verschiedenen Menschen her. Es geht um das plötzliche Verschwinden von Alexander Bromberg, dem Wessi im Osten.
Uwe von Seltmann
An einem Tag im August
Roman
Bleicher Verlag
Die Deutsche Bibliothek - CIP-Einheitsaufnahme Seltmann, Uwe /von: An einem Tag im August : Roman / Uwe von Seltmann. 1. Aufl. - Gerlingen : Bleicher, 2001 ISBN 3-88350-117-4 © 2001 Bleicher Verlag GmbH, Gerlingen Alle Rechte vorbehalten Umschlag: Buchgestaltung Reichert, Stuttgart Herstellung: MZ-Verlagsdruckerei, Memmingen ISBN 3-88350-117-4
Die Personen
Bresan verleiht seinen Toyota, kann sich keinen Anwalt leisten und windet sich wie ein Aal in der Reuse. Alexander Bromberg hat seinen Beruf verfehlt, kann nicht immer gewinnen und verliert seine Seele. Marlene Bromberg verirrt sich zwischen Deutschbaselitz und Piskowitz, macht ein unerwartetes Geständnis und glaubt unverdrossen an das Gute. Mutter Bromberg versteht ihren Sohn nicht, sitzt auf dem Geld und wacht über die Moral. Heinz Coschütz hat dem Tod ins Auge gesehen, wird den Winter nicht überleben und gönnt sich eine schöne Nacht. Danilo Duffke hütet einen Schatz, trinkt einen Schnaps zu viel und muss über sieben Brücken gehen. Hannelore Einhäuser isst Gemüselasagne, sieht ihren Einfluss schwinden und sorgt mit einem Anruf für Enttäuschung. Kurt Einhäuser kann seine Augen nicht von einer rätselhaften Frau lassen, sitzt im Dunkeln und macht eine niederschmetternde Erfahrung. Giovanni steht auf Frauen mit großer Oberweite, blickt aufs Meer und wähnt sich kurz vor dem Ziel. Hans, der Däne gewinnt neue Freunde, spendiert einen
Manhattan und wagt einen Tipp. Adam-Raphael Herzberger ist der Boss, lässt sich im Opel Kadett chauffieren und gibt einer Blumenverkäuferin Rätsel auf Rudi Kossatz hat noch nie eine Frau gehabt, sucht nach Buchstaben und ahnt das drohende Unheil. Marion trägt T-Shirts mit der Aufschrift Kampfgeschwader Germania, besitzt die größte Oberweite und schmückt sich mit fremden Federn. Klaus Matiebe ist wieder wer, steigt gerne bergauf und wird auf unliebsame Weise mit der Vergangenheit konfrontiert. Evchen Michalke war bei Aldi im Westen, hat eine Vorliebe für Kirsch-Whisky und verschmäht einen Blumenstrauß. Micha Michalke tritt im Fernsehen auf, wird von seinem schlechten Gewissen geplagt und hängt an Strippen und Schläuchen. Ewald Otterbein will nicht in Rimini sterben, hat eine seltsame Erscheinung und begibt sich auf eine wundersame Reise. Jaqueline Otterbein raucht Kette, schmiedet Mordpläne und fällt auf dem Sommerfest in die Hände eines Kavaliers. Margot Otterbein war noch niemals in New York, steigt den Männern nach und tappt in jedes Fettnäpfchen.
Willi Otterbein hat die Seiten gewechselt, rast nachts über italienische Autobahnen und hat das Pech, dass man im Leben nicht immer auf die Füße fällt. Renate besitzt ein Dieselaggregat, hört Radio und will zum ersten Mal ihre Gaststätte mitten im Sommer zusperren.
Prolog »Niemand hat die Absicht, eine Mauer zu errichten.« SED-Chef Walter Ulbricht am 15. Juni 1961
»Zur Unterbindung der feindlichen Tätigkeit der revanchistischen und militärischen Kräfte West-Berlins wird eine solche Kontrolle an den Grenzen der Deutschen Demokratischen Republik einschließlich der Grenze zu den Westsektoren von Groß-Berlin eingeführt, wie sie an den Grenzen jedes souveränen Staates üblich ist. Es ist an den Westberliner Grenzen eine verlässliche Bewachung und eine wirksame Kontrolle zu gewährleisten, um der Wühltätigkeit den Weg zu verlegen. Diese Grenzen dürfen von Bürgern der DDR nur noch mit besonderer Genehmigung passiert werden.« DDR-Ministerratsbeschluss vom 12. August 1961, gemeldet von der DDR-Nachrichtenagentur ADN am 13. August kurz nach ein Uhr
»Um Mitternacht hieß es: Erhöhte Gefechtsbereitschaft. Mit unseren Panzern sind wir gleich los in Richtung Stadtmitte. Unser Gefechtsstandort war der Magerviehhof in Friedrichsfelde. Hab keine Angst, Mutter, hier ist alles ruhig. Ich bin stolz, unsere Republik und die Errungenschaften des Sozialismus schützen zu dürfen.« Willi Otterbein, 8. motorisierte Schützendivision, am 14. August 1961 in einem Brief an seine Mutter
»Das war wie im Krieg. Panzer, schweres Gerät, überall Bewaffnete. Gott, bin ich froh, dass ich da wieder raus bin.« Der Aachener Unternehmer Wilhelm Bromberg am 15. August 1961 nach seiner Rückkehr von einer Geschäftsreise nach Berlin »Die Mauer wird in 50 und auch in 100 Jahren noch bestehen.« SED-Generalsekretär Erich Honecker am 18. Januar 1989 »Die Mauer wird nicht niedergelegt, solange die Bedingungen weiter bestehen, die zu ihrer Errichtung führten, und solche Bedingungen bestehen weiter.« Das SED-Zentralorgan Neues Deutschland zum 28. Jahrestag des Mauerbaus am 13. August 1989 »Wir fluten jetzt! Wir machen alles auf!« Der Leiter der DDR-Passkontrolle am Berliner Grenzübergang Bornholmer Straße am 9. November 1989 um 22.30 Uhr »Das ist das Ende.« Stasi-Major Willi Otterbein am 9. November 1989 kurz vor Mitternacht »Die Mauer ist auf? Ist mir doch egal.« Der Aachener Jungmillionär und Fabrikantensohn Alexander Bromberg am 10. November 1989 »Wahnsinn! Jetzt geht's los.« Baggerfahrer Adam-Raphael November 1989
Herzberger
am
10.
1 »In jedem Glück, und ist es noch so klein, steckt ein Kern der Katastrophe.« Obgleich diese Worte nicht zur guten Laune meines Gegenübers passen wollten, hatte ich ihnen zunächst keine Bedeutung zugemessen. Erst als ich einige Wochen später das Foto meines Gesprächspartners in der Zeitung entdeckte, verstand ich ihren Gehalt. Und mit einem Mal hatten diese Worte etwas Prophetisches.
Es war am Freitag, dem 13. August, gegen sechs Uhr nachmittags, als Alexander Bromberg aus seinen italienischen Schuhen schlüpfte, sich die Socken auszog und barfuss das Gaspedal seines silbergrauen BMW betätigte. Er ließ den Motor kurz aufheulen, öffnete das Schiebedach und rollte langsam über den Firmenparkplatz, seiner Sekretärin noch eine Kusshand zuwerfend. Dem Pförtner, der nicht wusste, wie ihm geschah, überreichte er in einem Anflug von Übermut die Krawatte, die ihm seine Frau zum Siebenunddreißigsten geschenkt hatte. Zum Geburtstag eine Krawatte, zu Weihnachten eine Krawatte, zum Geburtstag eine Krawatte, zu Weihnachten eine Krawatte. Dazu das passende Hemd. Seit Jahren nichts anderes. Krawatte statt Sex. Alexander Bromberg fädelte sich in den Feierabendverkehr ein, rauchte eine Mentholzigarette, stoppte an der Tankstelle und schlüpfte wieder in seine Schuhe. Wie an jedem Freitag, wenn er nicht nach Aachen flog. Einmal Volltanken, zwei Flaschen Champagner, eine Tüte Kartoffelchips, dazu ein Sixpack und ein belegtes Salamibrötchen für die Fahrt. Er zahlte
mit seiner Kreditkarte, spendierte der Kassiererin einen Schokoriegel und schritt zu seinem Wagen. Mit der Schuhspitze schob er eine Dose beiseite, die neben der Zapfsäule in einer Bierpfütze lag, und entfernte die Spritzer und Schlieren von der Wagentür. Bromberg schaute zu den Jungs von der Opel-Gang hinüber, die ihre tiefergelegten Kadett' zwischen Staubsauger und Mülltonnen geparkt hatten und mit verschränkten Armen an ihren Fahrzeugen leimten. Er würdigte sie keines weiteren Blickes, als er an ihnen vorbeifuhr, und grinste über die Staubwolke, die er bei seinem Start aufgewirbelt hatte. Bromberg wählte die Landstraße, ließ die Plattenbauten, den Gewerbepark, das Einkaufszentrum hinter sich und biss in das Salamibrötchen. Er freute sich auf Jaqueline. In weniger als zwei Stunden würde er ihren Erdbeermund küssen und auf dem Steg, der von der Datsche ihrer Eltern in den See führt, Sex haben. Er war in Wochenendstimmung und tuckerte gleichmütig hinter zwei polnischen Lastwagen her. Er überholte nicht, obwohl er es hätte tun können. Das war für ihn Freiheit. Etwas zu tun, wenn er es wollte, und nicht, wenn jemand es von ihm erwartete oder verlangte. Macht. Er hatte Macht - als Chef einer prosperierenden Firma, die zweihundertsiebenundachtzig Leuten einen Arbeitsplatz gab. Sie waren ihm dankbar dafür, dass sie nicht von der Stütze leben mussten wie ihre Nachbarn. Also arbeiteten sie. Das hatte er ihnen gleich deutlich gemacht: Wer nicht spurt, fliegt raus. Erst wollten es einige nicht begreifen. So wie Michalke, der es wagte, gegen ihn zu agitieren und unverschämte Forderungen stellte. Tariflohn, Betriebsrat, bezahlte Überstunden, Freizeitausgleich. Der sich als verdienstvoller Bürgerrechtler aufspielte. Welch eine Hybris! Gott sei Dank war nach einem Jahr alles durchgestanden. Jemand hatte ihm eine Akte zugesteckt. Eine Zusammenarbeit mit IM
Ingenieur? Es dauerte keine zwei Wochen, da reichte Michalke die Kündigung ein. Von sich aus. Eine saubere Lösung, er brauchte nicht einmal nachzuhelfen. Das taten die anderen, die verstanden, woher der Wind wehte. Dann waren sie sich zufällig wiederbegegnet. Am Kiosk. Michalke schon am Vormittag mit der Flasche in der Hand. Er habe niemandem geschadet, winselte Michalke. Er sei abgeschöpft worden. Ob er nicht wieder bei Bromberg anfangen könne. Egal was. Nur Arbeit. Das Nichtstun mache ihn fertig. Haben Sie doch Mitleid mit mir, Herr Bromberg. Ich mache alles, was Sie verlangen, Herr Bromberg. Geben Sie mir noch eine Chance, Herr Bromberg, bitte! Ich verspreche Ihnen, ich werde arbeiten bis zum Umfallen. Hätte er Jaqueline doch nie von dem Gespräch erzählt. Der ganze Abend war verdorben, weil sie ihn überreden wollte, Michalke wieder einzustellen. Vati sei auch drei Jahre arbeitslos gewesen, gleich nach dem Mauerfall. Eine fürchterliche Zeit. Er solle sich mal in Michalkes Lage versetzen. Der arme Mensch! Komm mir nicht auf diese Tour, hatte er entgegnet. Michalke hatte seine Chance, aber er hat sie nicht genutzt. Wer sich nicht an die neuen Spielregeln halten will, muss eben sehen, wo er bleibt. Jeder ist für sich selbst verantwortlich. Daraufhin zog sich Jaqueline heulend an und verließ ohne jedes weitere Wort seine Wohnung. Zwei Tage später erhielt er einen Brief, in dem sie ihm vorwarf, er sei ein gewissenloser Unmensch. Genau der, vor dem sie damals in der Schule immer gewarnt wurden. Ein Kapitalist ohne Herz und Seele. Ein Schwein. Bin ich ein Schwein, hatte er abends seine Sekretärin gefragt, als sie zu zweit einen Auftrag begossen und nicht mehr ganz nüchtern waren. Dafür kenne ich Sie zu wenig, Herr Bromberg. Das kann ich nicht beurteilen. Möchten Sie mich kennen lernen? - Wenn Sie es wünschen. - Ich wünsche es. - Am nächsten Morgen
bereute er, wozu er sich in der Nacht hatte hinreißen lassen. Und sein Gefühl sollte ihn nicht trügen. Sie bildete sich auf jene Nacht etwas ein. Stellte plötzlich Ansprüche, duzte ihn während einer wichtigen Besprechung. Aber wie immer hatte er auch für dieses Problem eine Lösung. Er beförderte sie. Und schickte sie, da niemand so perfekt Russisch sprach wie sie, in das neue Außenbüro nach Moskau. Eine kostspielige, aber effektive Lösung. Seit sich Wassilij um sie kümmerte, hatten die täglichen Anrufe aufgehört. Alexander Bromberg nahm den schwarzen Kadett zum ersten Mal wahr, als er kurz vor Niesky - mit dem Öffnen der zweiten Bierflasche beschäftigt - falsch abgebogen war. Er überlegte kurz, ob sich der Weg über Mitten anbieten würde, verwarf den Gedanken aber und wendete auf einem Feldweg. Da tauchte der Kadett, der eben noch geradeaus an ihm vorbeigefahren war, wieder hinter ihm auf. Bromberg drosselte die Geschwindigkeit, um im Rückspiegel das Autokennzeichen zu entziffern, aber der Fahrer des Wagens hielt den Abstand. Alexander Bromberg gab kurz Gas, beschleunigte auf einhundertdreißig Stundenkilometer und lehnte sich beruhigt in seinen Ledersitz. Der Kadett war abgehängt. Im Radio verkündete eine aufgedrehte Moderatorin, dass am Wochenende ein neuer Temperaturrekord zu erwarten sei. Örtlich gebe es unter Umständen schwere Wärmegewitter, aber die seien nur von kurzer Dauer. Danach werde es wieder heiß. Fünfunddreißig Grad im Schatten. Das war das Wetter, das Alexander Bromberg liebte. Von seiner ersten Million hatte er sich gleich eine Finca in Andalusien erworben. Ein Glücksgriff. Auf das Wetter konnte er sich verlassen und auf den Verwalter ebenfalls. Seit zehn Jahren schon. Was hatte sein Vater ihn belächelt, als er ihm nach dem Abitur prophezeite, dass er bis zu seinem dreißigsten Lebensjahr Millionär sein werde. Und zwar ohne dessen Hilfe. Du wirst es nie zu
etwas bringen, hatte ihn der Vater verhöhnt. Du nicht. Dein Bruder ja, aber du nicht. Sieben Jahre war er nicht mehr nach Hause gefahren, sieben Jahre hatte er nicht auf die Briefe seiner Mutter geantwortet. Sieben Jahre hatte er geschuftet und geackert. Keine Frauen, keine Freunde, keine Freizeit. Nichts hatte er sich gegönnt. Und dann war der große Tag gekommen, die magische Grenze war überschritten. Alexander Bromberg hatte sein Ziel erreicht. Er war Millionär - mit siebenundzwanzig Jahren. Er kaufte sich einen Porsche und fuhr nach Aachen zu seinen Eltern. Als er vor der Villa stoppte, trugen die Bestatter gerade einen Sarg aus dem Haus. In dem Sarg lag sein Vater. Alexander Bromberg war außer sich vor Wut. Er schrie, tobte und fluchte. Als er auf der Beerdigung sturzbetrunken, mit zwei Prostituierten im Arm, den Sarg seines Vaters anspuckte, ließ ihn die Mutter in ein Sanatorium einweisen. Sechs Monate verbrachte er zwischen Irren und Süchtigen, sechs Monate, in denen sich sein Vermögen vermehrte. Dann wurde er von seiner Pflegerin geheiratet und sie siedelten in die Finca nach Andalusien. Als der erste Sohn unterwegs war, kehrten sie - auf Wunsch seiner Frau nach Aachen zurück und zogen in die elterliche Villa. Seine Mutter hatte ihm verziehen und sorgte sich rührend um den Enkel. Seine Frau, die ehemalige Psychiatriepflegerin, gewöhnte sich rasch an das neue Leben einer Dame der Gesellschaft und veranstaltete Wohltätigkeitsbälle zu Gunsten Kranker und Schwacher. Sein Junge gedieh und Bromberg war unglücklich untätig. Er wartete auf ein neues Ziel, suchte nach einem Sinn und fand ihn, als er den Tipp bekam, von der Treuhand ein marodes Unternehmen an der polnischen Grenze zu erwerben. Dass seine Frau kurz vor der Niederkunft des zweiten Kindes stand, interessierte ihn nicht. Alexander Bromberg zuckelte wieder hinter einem polnischen Lastwagen her, betrachtete den azurblauen
Himmel und wünschte sich, mit Jaqueline an der Costa del Sol zu liegen. Ich ein gewissenloser Unmensch! Ha! Er lachte. Sieben Jahre waren sie schon zusammen. Sieben Jahre. Selbstverständlich hatte er Michalke wieder eingestellt. Jaqueline wollte er nicht verlieren, also gab er Michalke eine neue Chance. Bereut hatte er es nicht. Michalke war ihm nun hörig, ein verachtenswerter Dackel. Der Mann fürs Grobe. Michalke erledigte die Drecksarbeit für ihn und war der Buhmann im Betrieb. Alle hassten Michalke, und Michalke wusste es. Immerhin, für einen ehemaligen IM verdiente er nicht schlecht. Schmerzensgeld. Alexander Bromberg öffnete erst die Tüte Kartoffelchips, die er in Griffweite auf dem Beifahrersitz platzierte, dann eine weitere Flasche Bier. Es war Feierabend, Wochenende, und in dieser gottverlassenen Gegend war die Polizei so selten wie ein Regentag in Andalusien. Alexander klemmte die Bierflasche zwischen seine Schenkel und ließ sich von einem roten Kadett überholen. Jaqueline. Von dieser Frau kam er nicht los. Er brauchte sie. Ihren Sex und ihre Informationen. Sie hatte Karriere gemacht. Damals, in den wilden Anfangsjahren war sie zunächst seine Praktikantin, dann seine Assistentin, erst bieder und hausbacken, später forscher und frecher, jetzt Chefsekretärin bei der Industrie- und Handelskammer. Nicht schlecht für eine ehemalige FDJ-Funktionärin und Tochter eines SED-Kreisleiters. Aber so waren sie eben, die jungen Menschen. Ehrgeizig, pragmatisch und immer bereit, sich unterzuordnen, wenn es denn der Karriere diente. Gott, er nannte Jaqueline einen jungen Menschen, obwohl er nicht mal zehn Jahre älter war als sie. Jaqueline. Ganz anders als seine Frau. Es schüttelte ihn, als er an sie dachte. Diese parfümierte Übermutterfrau. Hochgeschlossene Bluse, hochgesteckte Haare, hochanständig. Chronisches Helfersyndrom. Gutmensch. Immer auf der Seite der Mühseligen und Beladenen. Seit
einem Jahr im Kirchenvorstand. Widerlich. Fünfhunderttausend wollte sie von ihm. Als Spende für ein Frauenhaus, in dem Schwangere ihre Kinder austragen könnten, damit sie ihre Bälger nicht abtreiben ließen. Scheidung war nicht drin, dafür hatte seine Mutter gesorgt. Scheidung hatte es bei den Brombergs nie gegeben und es würde sie auch nie geben. Zwanzig Millionen Familienvermögen. Die Mutter hatte sie erpresst, seinen Bruder und ihn. Alexander Bromberg nahm einen tiefen Schluck Bier und überholte den roten Kadett. Anders konnte man es nicht bezeichnen: Erpressung. Und sie fügten sich, sein Bruder und er. Sein Bruder, sein stockschwuler Bruder, hatte geheiratet und sogar einen Sohn gezeugt. Er, Alexander, ließ sich nicht scheiden, flog alle vierzehn Tage für ein Wochenende nach Aachen und machte einen auf heile Familie. Und einmal im Jahr drei Wochen Andalusien. Gut, die beiden Jungs mochte er. Manchmal vermisste er sie sogar. Aber man konnte nicht alles haben. Verflucht, diese Baustelle vor Rietschen. Die Ampel stand ständig auf Rot, seit Monaten schon. Mindestens zehn Minuten Wartezeit. Alexander stellte den Motor ab, stieg aus und sprang im letzten Moment zur Seite. Drei Opel Kadett, zwei schwarze und ein roter, rasten an ihm vorbei, ohne sich um die rote Ampel zu scheren. Alexander schleuderte die leere Bierflasche in eine Baggerschaufel und drohte ihnen mit der Faust. Sein Handy läutete. Schatz, ich bin mitten in der Arbeit, sagte er. Ein Großauftrag... Probleme, nichts als Probleme... Ja, ich werde morgen einen Spaziergang machen... Ich denke an meine Gesundheit... Nächstes Wochenende?... Ich kann's wirklich nicht versprechen... Grüß die Kinder... Ja, ich vermisse dich... Und grüß die Mutter... Ja, ich denke an dich, ehrlich Marlene... Es ist jetzt wirklich ungünstig... Ich melde mich... Bis zu deinem Geburtstag sind es noch acht Wochen... Ich kümmere mich darum... Die Familienministerin habe
ich angeschrieben... Ja, ja, ihr Büro hat mir mitgeteilt, dass sie sich den Termin vorgemerkt hat... Nun bleib mal ruhig, das klappt schon... Also Schatz, die Akten warten... Ich habe kein Verhältnis mit meiner Sekretärin, das habe ich dir schon oft gesagt... Mit Michalke... Willst du ihn sprechen? Soll ich den Hörer weiter reichen?... Wir haben das Fenster offen, bei der Hitze... Okay? Okay!... Also bis dann, bis morgen... Er schaltete das Mobiltelefon aus, warf es auf den Rücksitz und fuhr, die rote Ampel missachtend, mit hoher Geschwindigkeit durch die Baustelle. Etwa auf halber Strecke - gerade noch rechtzeitig vor einem entgegenkommenden Traktor - bog er nach Reichwalde ab. Noch fünfunddreißig Kilometer freie Fahrt, am Braunkohlekraftwerk Boxberg vorbei, den Tagebau rechts liegen lassend, dann wäre er am Ziel. Letzten Freitag hatte er die Strecke in achtzehn Minuten und neunundvierzig Sekunden geschafft, heute war er in der Stimmung, diese Zeit zu unterbieten. Freitagabends war in dieser menschenleeren, von riesigen Erdlöchern zerfressenen Gegend niemand unterwegs. Die braven Arbeiter und Familienväter waren bereits zu Hause, die Arbeitslosen und Abgewickelten sowieso, die nächste Disco war zwanzig Kilometer entfernt. Er spielte mit dem Gaspedal und hatte schon vor dem Ortsausgangsschild von Rietschen die HundertKilometer-Marke überschritten. Alexander Bromberg zog an einem Trabant vorbei, bremste am Ortseingang von Neuliebel auf etwa achtzig Stundenkilometer ab, nahm lässig die beiden Dorfkurven, dann ging's durch Altliebel. In Reichwalde, gleich bei der Gaststätte Friedenseiche, geriet er wegen einer alten Frau, die eine Schubkarre über die Straße schob, leicht ins Schleudern, dann endlich raste er auf der Allee über freies Feld. Die Augustsonne verschwand hinter den Bäumen, es war viertel vor acht. Nun konnte Alexander seinen Traum
ausleben. Rallyefahrer wollte er als Kind werden. Rallye Monte Carlo. Die Rallye der tausend Seen durch Finnland. Kenia-Rallye. Paris-Dakar. Einmal, da war er schon fast zwanzig, hatte er Walter Röhrl getroffen. Sein Idol. Kindisch, hätte sein Vater gesagt. Du bist und bleibst ein Kindskopf. Du bist zu nichts nütze. Rallyefahrer. Du spinnst. Das Autogramm von Walter Röhrl besaß er heute noch. Es lag im Handschuhfach, über der grünen Versicherungskarte. Jaqueline hatte es irgendwann entdeckt, aber sie konnte mit dem Namen nichts anfangen, hatte ihn noch nie gehört. Sie lachte, als er ihr von seinem Traum erzählte. Manchmal bist du wie ein kleines Kind, sagte sie. Das hatte ihn getroffen, zornig gemacht. Er war nie ein Kind gewesen. Nie. Er war immer der Große, der Vernünftige. Für seine Mutter. Nicht für seinen Vater. Der hatte ihn gehasst, verachtet. Seit seiner Geburt. Warum eigentlich? Das fragte er sich, seit er denken konnte. Bromberg steuerte, von einem dringenden Bedürfnis geplagt, in die Einfahrt eines verfallenen Gehöfts und testete die Bremsen seines Wagens. Wenige Zentimeter vor dem verrosteten Tor, an dem ein Plakat mit der Aufschrift Silvester mit der Schrotholz-Hausband hing, kam er zum Stehen. Die Räder hatten eine meterlange Spur in den Sand gezogen. Schitt, dachte Bromberg, während er seinen Strahl zwischen die Gitterstäbe hindurchlenkte und ein Jott in den Sand zeichnete. Es wurde nichts mit dem neuen Rekord. Bromberg betrachtete den Ziegelbau hinter dem Zaun. Die Haustür stand offen, so wie damals, als er sich hier mit Jaqueline getroffen hatte und sie ein Paar wurden. Damals hatte sie noch einen Freund, die Hochzeitsreise war schon gebucht. Das war lange her. Sieben Jahre. Ein Trottel, ihr Macker. Wie hieß er noch? Rico, Rocco, Enrico... Keine Ahnung, irgendwas typisch Ostdeutsches. Danilo! Richtig. Danilo. Danilo Duffke. Alexander lachte
lauthals. Danilo Duffke. Er schüttelte den Kopf. Wie konnte man nur Danilo Duffke heißen? Duffke war damals ziemlich sauer auf ihn, aber Duffke war ein Verlierer. Also hatte er schnell den Schwanz eingezogen und sich getrollt. Und sich nie wieder bei Jaqueline blicken lassen. Jaqueline war Brombergs erste Eroberung in den neuen Bundesländern. Seither ging es auch geschäftlich mit ihm bergauf. Alexander Bromberg überlegte, ob er sich noch ein Bier öffnen sollte, weil er, da er sowieso keinen neuen Rekord mehr aufstellen würde, auch gemütlich weiter fahren und die Landschaft genießen konnte: Die wunderbar eintönige stille Oberlausitz. Das Spiel der Federwölkchen vor der untergehenden Sonne betrachten, nach Störchen Ausschau halten, den Geruch der abgeernteten Getreidefelder einsaugen. Und sich von Mücken stechen lassen. Er fluchte. Immer wenn er sich ein paar romantische Gefühle gönnte, wurde er von einer Mücke gestochen. Er verfolgte mit aufmerksamen Blicken eines der Biester, das über seinem linken Handrücken Kreise zog und den geeigneten Platz zum Zustechen auskundschaftete. Aber Alexander Bromberg war wach. Hellwach. Er nahm die rechte Hand vom Lenkrad und rüstete seinerseits zum entscheidenden Schlag. Man musste nur den richtigen Zeitpunkt abpassen. Nicht voreilig handeln, nicht zu lange warten. Die Mücke surrte nur noch wenige Millimeter über ihrem Opfer, berührte schon die ersten Härchen unterhalb des Knöchels vom Zeigefinger. Er holte noch einmal Luft, dann schlug er so fest zu, dass es ihn schmerzte. Aber die Mücke war tot. Er legte das blutgetränkte Tier wie eine Trophäe in die Mittelkonsole, erlaubte sich, gewissermaßen als Siegestrunk, das Bier und startete den Motor. Die Räder drehten durch, als er auf die Straße schoss. Es war kurz hinter der Ortsumgehung von Boxberg, das mächtige Kraftwerk war noch im Rückspiegel zu sehen,
als sich die drei Opel Kadett hinter Brombergs silbergrauen BMW setzten. Bromberg war zu sehr mit seiner Vorfreude auf Jaqueline beschäftigt, als dass er sie sogleich gewahrt hätte. Sie wollte ihn unbedingt heiraten. Er solle sich endlich scheiden lassen, forderte sie. Aber er gab ihrem Drängen nicht nach. Noch nicht. Aber seine Abwehr wurde von Monat zu Monat schwächer. Eigentlich gab es nur einen Grund, sich nicht scheiden zu lassen, aber dieser eine Grund war so gewichtig, dass er nicht von der Hand zu weisen war. Das sah auch Jaqueline ein. Zumindest manchmal. Sobald seine Mutter tot sei, werde er den Scheidungsanwalt aufsuchen, vertröstete er sie. Aber seine Mutter war erst sechsundsechzig. Kerngesund. Sie könnte locker noch zwanzig Jahre leben. Dann wäre er über fünfzig und Jaqueline längst verblüht. Aber auf ein Erbe von mindestens zehn, wenn nicht zwanzig Millionen Mark zu verzichten? Dafür war Alexander Bromberg zu sehr Geschäftsmann. Diesen Betrag war keine Frau wert, nicht einmal Jaqueline. Also müssten sie Geduld haben. Oder seine Mutter umbringen. Das war Jaquelines Idee gewesen, nicht seine. Er wäre nie auf solch einen Gedanken gekommen. Niemals. Ein Unfall in Andalusien. Diesen September noch. Kein Problem, hatte Jaqueline gesagt. Ein herabstürzender Felsbrocken - in den Bergdörfern keine Seltenheit. Niemand würde Verdacht schöpfen. Die spanische Polizei hätte Besseres zu tun, als den tragischen Unfalltod einer deutschen Touristin zu untersuchen. Er müsse nur den verzweifelten und erschütterten Sohn mimen, alles Weitere werde sie in die Hand nehmen. Todsicher, dieser Plan. Seit Wochen schon redete Jaqueline von nichts anderem als von diesem Mordkomplott. Alexander Bromberg geriet in Zorn. Er war kein Verbrecher. Und er wollte auch kein Verbrecher werden. Schon gar nicht ein Mörder. Das müsste sie endlich einsehen. Ein paar Mark
Schmiergeld verteilt, das ja, ein paar Mark Gewinn nicht versteuert, das auch, ein Konto in der Schweiz, aber das war nichts Kriminelles, das machten alle. Entweder sie liebte ihn auch ohne Trauschein, so wie in den vergangenen sieben Jahren, oder er werde die Konsequenzen ziehen. Und gehen. So ein Blödsinn! Seine Mutter umzubringen! Auf so eine Idee konnte nur eine Frau wie Jaqueline kommen. Jetzt überholten ihn die drei Opel Kadett, zwei schwarze und ein roter, und einer der kurzgeschorenen Idioten zeigte ihm den Mittelfinger. Der rote Kadett bremste leicht ab, die beiden anderen jagten um die nächste Kurve. Alexander setzte zum Überholen an, war jetzt auf hundertzwanzig, da beschleunigte der rote Opel. Aus dem Seitenfenster warf jemand, breit grinsend, eine leere Bierbüchse. Sie schlug auf der Motorhaube des BMW auf, tänzelte hin und her und wurde dann vom Fahrtwind davon geweht. Seltsam, das Gesicht kam ihm bekannt vor, das Pferdegebiss... Bromberg schaltete herunter, gab Vollgas und zog mit hundertvierzig an dem Opel vorbei. Kurz vor dem Einscheren schleuderte er die noch halb volle Bierflasche aus dem Fenster, aber sie verfehlte ihr Ziel und zersprang auf der Betonpiste. Der rote Kadett verschwand aus Brombergs Rückspiegel, da tauchte vor ihm ein schwarzer auf. Wem gehörte das Pferdegebiss? Verflucht, warum hatte er so ein schlechtes Gedächtnis. Bromberg war schon fast neben dem schwarzen Kadett, da zog der Fahrer nach links. Bromberg bremste, ließ sich zurückfallen, riss das Steuer herum, drückte das Gaspedal durch und raste rechts, die Siegesfaust ballend, an dem Kadett vorbei. Hundertfünfundsechzig. Brombergs Finger verkrampften sich um das Lenkrad, Schweiß trat ihm auf die Stirn, die Knöchel färbten sich weiß. Willi kam ihm in den Sinn. Willi! Sie müssten sich mal wieder treffen, er und Willi. So wie in den ersten Jahren. Bis um acht gearbeitet, bis um zwei gesoffen, und
morgens um neun wieder am Schreibtisch. Ohne ihn hätte er es nie gepackt. Ich kenn die Russen, hatte Willi gesagt, lass mich das machen. Drei Tage Wodka ohne Ende, Stunden in der Sauna. Nachts die schärfsten Weiber Moskaus. Zehntausende unterm Tisch verschoben. Deutsche Mark, nicht Rubel. Und dann musste er, Alexander Bromberg, der Chef, zusammenklappen. Kreislaufkollaps. Eine peinliche Geschichte. Unentschuldbar. Das Gesicht verloren. Aber Willi hielt durch. Soff die Russen unter den Tisch. Und zog sie über den Tisch. Danach hatten sie den Großauftrag. Gegen alle Prognosen der Wirtschaftsfachleute. Über zweihundert Arbeitsplätze in strukturschwacher Region gerettet. Plötzlich war Alexander Bromberg ein Held, Manager des Monats. Sie ernannten ihn zum Ehrenbürger. Nur Willi wollte sich nicht feiern lassen, auf keinem Foto erscheinen, ließ sich verleugnen. Drei Monate später war Willi weg, zur Konkurrenz in den Westen. Jetzt noch der dritte Kadett, dann hätte Bromberg diesem Lumpenpack gezeigt, wer Herr der Straße ist. Hundertsiebzig. Die Betonstraße verlief schnurgerade bis zum Horizont. Links und rechts Sand und Kiefern, hinter denen sich die Abgründe des Tagebaus Nochten auftaten. Vielleicht solle er die Firma verkaufen. Sie fraß ihn auf. Die Firma fraß ihn auf und Jaqueline fraß ihn auf. Alle fraßen ihn auf. Die Firma und Jaqueline, Michalke, der Alk und die Einsamkeit, sein Vater und seine Mutter. Und diese düsteren Ahnungen, diese schrecklichen Gedanken, die mehr und mehr von ihm Besitz ergriffen. Der dritte Kadett war vielleicht noch zweihundert Meter entfernt. Hundertachtzig. Noch hundert Meter. Hundertfünfundachtzig. Noch fünfzig Meter, noch zwanzig, noch zehn, jetzt... und Alexander Bromberg war vorbei. Ein leichter
Sieg, ein geschenkter Sieg. Der Kadett hatte ihn passieren lassen. Kampflos. Ohne Widerstand. Ein Sieg mit Beigeschmack. Kein Triumph. Nichts. Bromberg nahm den Fuß vom Gas und ließ den Wagen rollen. Er lockerte die Schultern, schüttelte die Arme und dehnte die Finger. Er zündete sich eine Zigarette an. Zur Entspannung. Zehn Minuten vor acht. Noch fünf Minuten bis Lohsa. Noch acht Minuten bis Jaqueline. Und Alexander Bromberg musste wieder pinkeln.
2 Die Worte Alexander Brombergs, dass in jedem Glück der Kern einer Katastrophe steckt, sollten mein Leben verändern. Ich wurde, ohne dass ich es zunächst beabsichtigte, zum Chronisten. Das Ergebnis meiner Nachforschungen ist eine Geschichte, die von unerfüllten Sehnsüchten und Träumen handelt, von erwiderter und verschmähter Liebe, von Bewunderung und Verachtung, Erfolgen und Niederlagen, Hass und Rache, von unbewältigter Vergangenheit und ungewisser Zukunft, vom Glück und von Katastrophen.
Jaqueline Otterbein schaute auf das Muster, das sich auf dem Filter ihrer Zigarette zeigte. Sie saß auf der Terrasse tut der Datsche, die ihre Eltern sich in dem Jahr gekauft hatten, als Vati überraschend SED-Kreisleiter und Mutti als Delegierte auf den Parteitag geschickt wurde. Das war vor dreizehn Jahren. Vati wurde Kreisleiter, Mutti Delegierte und Jaqueline feierte Jugendweihe. Kind, jetzt haben wir es geschafft, hatten sie damals gesagt. Jetzt kann uns nichts mehr passieren. Und dir auch nicht, Schaggi. Wir haben ausgesorgt. Wir kämpfen für die Partei und die Partei sorgt für uns. Du machst dein Abitur und dann gehst du auf die Parteischule. Jaqueline blickte mit zusammengekniffenen Augen in die Sonne, die über den Bäumen am anderen Ufer des Sees langsam versank. Zu kitschig, um wahr zu sein. Vom Campingplatz, der immer noch durch einen Zaun von der Datschensiedlung getrennt war, drang Musik auf die Terrasse. Jaqueline summte das Lied leise mit. Ich war noch niemals in New York, ich war noch niemals auf Hawaii... Das stimmte. Sie war noch nicht in New York
und auch noch nicht auf Hawaii, aber dafür fünf Mal am Balaton, drei Mal am Schwarzen Meer und zwei Mal auf Kuba. Vor der Wende. Und nach der Wende... sie zählte an ihren Fingern... zwei Mal mit ihren Eltern in Mallorca und elf Mal in Andalusien, stets mit Alexander. Aber immer nur für ein paar Tage, nie richtig lang. Im Westen war sie erst zwei Mal gewesen, bei Onkel Willi in Stuttgart. »Kommt dein Schatz heute nicht, Schaggi?« »Wir haben noch keine sieben, Rudi. Um acht ist er da.« »Schade eigentlich. Ich hätte dich gern zum Essen eingeladen. Hüftsteak, frisch vom Grill.« »Nee, lass mal, Rudi. Heute nicht.« »Das sagst du schon seit Jahren: Heute nicht. Gut siehst du aus.« »Danke, Rudi.« »Ist der Bikini neu?« »Sommerschlussverkauf. Schnäppchen.« »Steht dir gut.« »Danke, Rudi.« »Schön heute, nicht?« »Ja, Rudi. Ein wunderschöner Abend. Herrlich.« »Liebst du ihn eigentlich?« »Was geht dich das an?« »Na ja, man wird doch mal fragen dürfen... Die Eltern gesund und wohlauf?« »Bestens. Sind gerade im Urlaub.« »Weiß ich. Sind schon zwei Wochen nicht hier gewesen. Ich hab die Blumen gegossen.« »Danke, Rudi.« »Hab jeden Tag nach dem Rechten gesehen. Muss man ja, bei dem Gesindel, das sich hier rumtreibt. Wird ja immer schlimmer.« »Danke, Rudi.« »Jedes Jahr schlimmer. Früher hätt's das nicht gegeben. Wir haben auch gesoffen. Aber so was hätten wir uns
nicht erlaubt. Wir kannten unsere Grenzen. Aber die arbeiten ja nicht. Wir mussten montags um viertel vier aufstehen, da konnten wir uns so was nicht erlauben. Haben unseren Mann gestanden, geschuftet, die ganze Woche, Tag für Tag. Freitagabend Betriebssportgruppe, sonnabends freiwilliger Einsatz, sonntags das Spiel. Wir hatten gar keine Zeit...« »...ja, ja, Rudi, ja, ja, ja...« »Und frech sind die! Ha, keinen Respekt mehr. Hätten wir uns nie getraut damals. Kommt doch gestern so ein jungscher Knilch auf mich zu und. pöbelt mich an. Ich beim Bier bei Renate. Friedlich am Tresen wie jeden Abend. Zwei, drei Bier, dann ist Schluss, du kennst mich, Schaggi. Ich kenn meine Grenzen. Ich weiß, wann ich aufhörn muss.« »Na, na Rudi... mit Vati und Onkel Willi... Wenn du deinen Kumpeltod mitgebracht hast...« »Schaggi... Das war was anderes... Da gab's ja auch noch was zu feiern... Also, da kommt dieser jungsche Knilch und pöbelt mich an...« »Rudi... dich hat doch schon vor zwei Wochen so ein jungscher Knilch angepöbelt...« »Schaggi, da siehst du mal, wie schlimm es geworden ist. Man kann nicht mal mehr bei Renate am Tresen ein Bier trinken...« »Rudi, hier riecht was. Dein Hüftsteak brennt an.« »Ja, wenn du's sagst, riech ich's auch. Dann schönes Wochenende mit deinem Liebsten. Ich bin da, wenn du was brauchst. Du weißt, Schaggi, du kannst dich auf mich verlassen. Auf den Rudi ist Verlass.« »Danke, Rudi.« »Nichts zu danken. Kenn dich ja schon, als du noch lange Zöpfe hattest. Und später, als du die Kaltwelle mit den kleinen Löckchen...« »Rudi, dir auch ein schönes Wochenende.« »Ja, ich geh dann wohl besser.«
»Ja, Rudi, mach's gut.« »Schaggi, wir sehn uns.« Jaqueline Otterbein erhob sich aus dem Liegestuhl und drückte ihre Zigarette an dem Stamm einer Birke aus, die unmittelbar neben der Terrasse gewachsen war. Sie warf die Kippe achtlos auf den Boden und begab sich ins Bad, dessen Fenster der gegenüberliegenden Datsche zugewandt lag. Rudi beugte sich über den Grill und versuchte, sein Hüftsteak zu retten. Er spritzte Bier über das Fleisch und eine mächtige Rauchwolke nebelte ihn ein. Jaqueline ließ ihr Bikini-Oberteil fallen, zog das Höschen aus und stieg unter die Dusche. Rudi und das Hüftsteak waren nicht zu sehen, als sie später vor dem Spiegel ihre Brüste massierte. Sie kämmte und föhnte ihre Haare, zupfte die Augenbrauen, trug ein wenig Lidschatten auf, zog die Lippen nach, schlüpfte schließlich in eine ärmellose Bluse und schloss zuletzt das Fenster. Dann ging sie auf die Terrasse zurück und wartete auf Alexander Bromberg.
3 Auf dem Campingplatz am Silbersee bei Lohsa hatte ich. mich einquartiert, um mich von einer längeren Krankheit zu erholen. Abends suchte ich Zerstreuung in der kleinen Gaststätte, in der ich auch Alexander Bromberg begegnet war. Mit der Zeit freundete ich mich mit einem der Stammgäste an: mit Rudi. Und wenn ich zurückdenke, war es Rudi, der den Anstoß zu dem Unterfangen gegeben hat, den Ereignissen an jenem Tag im August nachzuspüren.
Rudi Kossatz pfefferte das verbrannte Hüftsteak in die Mülltonne und hockte sich an den Küchentisch. Die Gardine vor dem offenen Fenster hing träge herab. Die Ruhe vor dem Sturm. Rudi spürte es. Das vernarbte Gewebe, das sich vom linken Ohr bis zum Mundwinkel herabzog und sein Gesicht verunstaltete, schmerzte. Rudi setzte sich die Brille auf und spähte in das Fenster der gegenüberliegenden Datsche. Es stand offen. Es war zwanzig Minuten nach sieben. Der Wetterbericht in seinem Schwarz-Weiß-Fernseher zeigte eine Sonne, die ihre Strahlen über ganz Deutschland ausbreitete. Nur im äußersten Osten könne es zu vereinzelten Wärmegewittern kommen, schränkte die Meteorologin ein. In Ostbrandenburg und in der Lausitz. Schuld daran sei eine äußerst seltene Wetterkonstellation. Von Polen ziehe eine Kaltfront heran, die... Rudi stand auf, schaltete den Fernseher aus und hockte sich wieder an den Küchentisch. Es wird auch Zeit, dass es endlich regnet, sagte er zu sich selbst, weil er niemanden hatte, mit dem er reden konnte. Jeden Tag Blumengießen und Rasensprengen. Seit sechs
Wochen schon. Bei sich und bei den Otterbeins. Die Otterbeins waren seit Juni bloß zwei Mal in ihrer Datsche aufgetaucht und gleich wieder gefahren. Als Selbstständige haben wir keine Zeit mehr für die Datsche, hatten sie gesagt. Aber wir haben ja dich Rudi, du kümmerst dich. Und sie hatten ihm einen HundertMark-Schein in die Hand gedrückt. Jaqueline kam nur, wenn sie sich mit ihrem Liebsten traf. Alle vierzehn Tage. Rudi war von Anfang März, wenn das Wasser angestellt wurde, bis Mitte November, wenn das Wasser abgestellt wurde, in seiner Datsche. Sie war sein Zuhause, seine Heimat. Manchmal kam er auch im Winter, dann gönnte er sich ein Taxi, das ihn mit drei Zwanzigliterkanistern Wasser hinausbrachte. Über Weihnachten und Silvester war er immer hier, dann hatte auch Renate geöffnet, wegen der Betriebs- und Vereinsfeiern. Rudi durfte sich an den Tresen hocken, auch wenn geschlossene Gesellschaft war. Er half Renate, wie er immer half, wenn Not am Mann war. Auf Rudi konnte man sich verlassen. Auf Rudi war Verlass. Wenn ich dich nicht hätte, sagte Renate immer. Rudi sagte nichts und packte an. Auch im Sommer, bei Hochbetrieb. Ein Wort, Renate, und ich bin da. Wie neulich, als der Kegelklub einkehrte. Bis auf den letzten Platz war Renates Raststätte besetzt, im Schankraum und im Biergarten. Und Norbert nicht da. Nicht von Montage in Berlin heimgekehrt - seine Frau im Stich gelassen. Aber Rudi war zur Stelle. Bis morgens um vier hatten sie geschuftet, er und Renate. Dann hatte sie in seiner Datsche übernachtet, weil es sich nicht mehr lohnte, nach Hoyerswerda zu fahren. Nebeneinander hatten sie gelegen, in seinem schmalen Bett, waren vor Erschöpfung sofort eingeschlafen. Um acht hatten sie gefrühstückt, er und Renate. Als sie ging, hatte sie ihn gedrückt. Danke, Rudi, danke. Und Rudi war glücklich.
Rudi lehnte sich zurück, als Jaqueline ihre Brüste massierte. Ich war noch niemals in New York... Das Lied ging ihm nicht aus dem Kopf. Sie war eine schöne Frau. Eine wunderschöne Frau. Ich war noch niemals auf Hawaii... Er liebte sie, seit er sie zum ersten Mal gesehen hatte. Damals war sie noch fast ein Kind, ein Mädchen mit langen Zöpfen und FDJ-Bluse. Ich war noch niemals richtig frei... Es war ein Sommertag, als die Otterbeins einzogen. Verdiente Parteigenossen, hieß es in der Siedlung. Rudi wurde vorgeschickt, um mit ihnen Bekanntschaft zu schließen. Kann ich Ihnen helfen?, bot er seine Dienste an. Er hämmerte und sägte, tapezierte und flieste, organisierte einen Kasten Radeberger. Die Otterbeins und er schlossen Freundschaft, saßen nächtelang um den Grill. Und immer war Jaqueline dabei. Von Mai bis September jedes Wochenende, außer wenn die Otterbeins am Schwarzen Meer oder in Kuba waren oder sich für die Partei einsetzten. Manchmal war Willi mit dabei, oder Danilo, Jaquelines Freund. Und dann fiel die Mauer und alles wurde anders. Rudi beugte sich vor und beobachtete, wie Jaqueline ihre Haare föhnte. Sie hatte den Kopf in den Nacken geworfen und streckte ihre Brüste nach vorne. Schöne Brüste. Wunderschöne Brüste. Rudi hatte noch nie eine Frau gehabt. Seine Mutter war zweiundvierzig, als er geboren wurde, im Dezember 45. Vater unbekannt. Ein russischer Soldat, erzählten sie ihm später. Die Mutter war oft krank, wirr im Kopf. Die Vergewaltigungen habe sie nicht verkraftet, sagten die Nachbarn. Als er sechs war, goss sie einen Kübel kochenden Wassers über Rudis Kopf. Die linke Gesichtshälfte, Schulter und Arm waren verbrüht. Monatelang lag er im Krankenhaus. Es tue ihr Leid, sagte sie, und er blieb bei ihr. Und kümmerte sich um sie, bis sie starb. Im September 73 hatte sie es endlich überstanden. Und Rudi war alleine. Nur die Kumpel von Schwarze Pumpe, Siegfried, Werner, Peter, Helmut,
Erhard und die anderen, die Jungs vom Fußball. Dann trat ihm jemand von hinten in die Knochen, gerade als er zum Torschuss angesetzt hatte. Der Ball wäre drin gewesen, ganz sicher. Das wäre der Sieg gewesen, die Bezirksmeisterschaft. Sie haben Glück gehabt, sagte der Arzt im Krankenhaus. Es wird einige Zeit dauern. aber Sie werden wieder laufen können. Ein paar Operationen noch, dann kriegen wir den Fuß wieder hin. Als Rudi fragte, wann er wieder spielen könne, schaute der Arzt in seine Akten. Herr Kossatz, sagte er, wir müssen froh sein, wenn wir den Fuß hinkriegen. Das mit dem Fußball, das schlagen sie sich aus dem Kopf. Sie werden wieder laufen können, das ist die Hauptsache. Und arbeiten, das ist noch wichtiger. Nie wieder Fußball? Herr Kossatz, sie müssen jetzt tapfer sein. Mit dem Fußball ist es vorbei. Da kann ich Ihnen keine Hoffnung machen. Nie wieder Fußball? Herr Kossatz, ich weiß, was Ihnen der Fußball bedeutet. Glauben Sie mir, ich weiß, dass der Fußball Ihr Leben ist. Sie haben immer Ihr Letztes gegeben, Sie waren ein Kämpfer. Ohne Sie hätte es die Mannschaft niemals so weit gebracht. Ich war im Stadion, als Sie drei Tore gegen Energie geschossen haben. Und der Elfmeter gegen Rotation. In der neunzigsten Minute. Die anderen haben sich gedrückt. Da haben Sie sich das Leder geschnappt. Verantwortung getragen. Und den Ball reingesemmelt. Oben ins Eck. Keine Chance für den Torwart. Herr Kossatz, ich habe großen Respekt vor Ihnen. Keine Hoffnung mehr, Herr Doktor? Herr Kossatz, ich könnte Ihnen jetzt ein Märchen erzählen: Dass Sie wieder fit werden, vielleicht bis zur neuen Saison. Aber ich spiele mit offenen Karten. Glauben Sie mir, wir haben alles getan, was in unserer
Macht stand. Nein, Sie werden nie mehr Fußball spielen können. Rudi starrte auf den Körper von Jaqueline, die sich vorbeugte, um ihre Lippen nachzuziehen. Sie hatte etwas zugenommen in letzter Zeit, ein paar Kilo mehr. Aber es stand ihr gut. Die Brüste waren größer geworden, der Hintern wölbte sich. Eine Frau. Rudi seufzte und fluchte zugleich. Beide Frauen, die er liebte, waren für ihn unerreichbar. Renate und Jaqueline. Renate, weil sie nur an ihre Arbeit dachte, und Jaqueline, weil sie nur an das Geld dachte, das sie von ihrem Liebsten erhoffte. Bei schönem Wetter trieben sie es auf dem Steg, der von Otterbeins Grundstück direkt in den See führt. Sie glaubten wohl, dort seien sie ungestört. Aber er, Rudi, kannte jeden Zentimeter am Ufer. Mitten im Schilf lagerte ein altes Floß, das er und sein Kumpel Helmut einst gebaut hatten. Jetzt schwamm er dorthin, wenn die Nacht mild war. Von dort konnte er sie beobachten, Jaqueline und ihren Liebsten. Dabei spürte er sofort, obwohl er noch nie eine Frau hatte, dass sie ihn nicht liebte. Dass sie nur sein Geld wollte. Rudi sah, wie sich Jaqueline eine Bluse überzog, ihre Arme aus dem Fenster streckte, dann die Bluse zuknöpfte und schließlich das Fenster schloss. Rudi schenkte sich einen Klaren ein und humpelte zum Kühlschrank. Er schmierte sich eine Scheibe Brot mit Leberwurst und aß dazu Spreewälder Senfgurken.
4 Gibt es ein groteskeres und absurderes Unternehmen, als mitten durch eine Stadt eine Sperre aus Betonplatten und Stacheldraht zu errichten? Familien auseinander zu reißen, Liebende zu trennen, Handelswege zu verbauen, Werktätigen ihren Arbeitsplatz zu nehmen und anständige Menschen, die sich nichts zu Schulden hatten kommen lassen, einzusperren? Wenn man - sagen wir: einen Monat vorher - angekündigt hätte: »Am Sonntag, dem 13. August, bauen wir eine Mauer quer durch die Stadt. Wer gehen will, dem legen wir keinen Stein in den Weg«, dann hätten sich die Menschen frei entscheiden können. Aber so waren sie von dieser Katastrophe überrascht worden und sie hatten keine Wahl mehr. Das widerspricht der menschlichen Natur, und so war es nur eine Frage der Zeit, bis sich Widerstand regte. Einer der Widerständler war Michalke. Er tauchte einige Male ich glaube, es war im Frühjahr 89 - in unserer kleinen Friedens- und Umweltgruppe auf und ich war nicht wenig überrascht, ihm im Umfeld von Alexander Bromberg wiederzubegegnen.
Als Michalke von der Arbeit nach Hause kam, räkelte sich seine Frau auf dem Sofa und schaute Fernsehen. Sie trug ein geblümtes Hauskleid, das sie einst im CentrumWarenhaus am Berliner Alexanderplatz erstanden hatte. Die Jalousien waren heruntergelassen. Im Zimmer stauten sich die Hitze des Spätsommers und der Rauch polnischer Zigaretten. Michalke summte die Melodie eines Schlagers, den er im Autoradio gehört hatte: Ich war noch niemals in New York, ich war noch niemals auf Hawaii...
»Du warst im Fernsehen«, sagte seine Frau. »Und du bist wieder besoffen«, sagte Michalke. »Ich bin nicht betrunken«, entgegnete sie. »Ich habe die Flasche gerade erst geöffnet. Zur Feier des Tages. Weil du im Fernsehen warst.« »Als was im Fernsehen? Als Bürgerrechtler oder als IM?« »Weißt du, was heute für ein Tag ist?« »Ich weiß nur, dass jetzt Wochenende ist.« »Heute ist der 13. August.« »Ja und?« »Der Tag des Mauerbaus.« »Ja und?« »Du warst im Fernsehen, um fünf in der Tagesschau. Mit einem Plakat.« »Mit welchem Plakat?« »Na, mit dem du damals verhaftet worden bist: Die Mauer muss weg!« Sie betonte jede Silbe: »Die Mauer muss weg!« »Hör endlich auf! Du bist besoffen!« »Zwei, drei Kirsch-Whisky. Da bin ich nicht betrunken. Gehst du noch mal fort?« »Wo sind die Kinder?« »Wenn du dich öfter zu Hause blicken ließest, wüsstest du, wo deine Kinder sind... Im Ferienlager, falls es dich überhaupt interessiert. Seit gestern schon. An der Ostsee.« »Hab ich nicht mehr dran gedacht.« »Weil es dich nicht interessiert. Du hast nur deine Arbeit im Kopf. Nichts als deine Arbeit. Du merkst gar nicht, wie dieser Bromberg dich aussaugt. Und du gehorchst ihm aufs Wort. Du bist ihm hörig, du hast ihm deine Seele verkauft.« »Der Kühlschrank ist leer. Warum warst du nicht einkaufen?« »Tut mir Leid... Muss ich wohl vergessen haben... Gehst du noch mal fort... Bitte, bleib hier.«
»Was soll ich hier, wenn der Kühlschrank leer ist?« Michalkes Frau erhob sich vom Sofa und schlang die Arme um seinen Hals. Sie drückte ihn an sich. »Wir könnten es uns gemütlich machen. So wie früher. Fernsehen, kuscheln, uns unterhalten. Uns eine Pizza kommen lassen.« Michalke stieß seine Frau weg. »Danke, kein Bedarf. Ich geh lieber was essen.« »Wir könnten ja zusammen was essen gehen. Ins Kartoffelhaus. Das ist doch eine gute Idee, oder? Lass uns was essen gehen.« »Mit einer Schlampe wie dir essen gehen? Du spinnst.« »Bitte, dann gehst du eben alleine. Ist mir doch egal. Scheißegal, wenn du es wissen willst. Aber das interessiert dich wahrscheinlich auch nicht, wie scheißegal du mir bist. Wenn die Kinder nicht wären, hätte ich dich längst verlassen.« »Wo willst du denn hin, he? Wer nimmt denn eine Schlampe wie dich? Sei froh, dass ich dich nicht rauswerfe.« »Du mich rauswerfen? Ha, ich glaub, ich spinne. Du willst mich rauswerfen? Du?« »Ja, ich.« »Dann tu's doch. Aber dazu bist du zu feige, du Schlappschwanz, du.« »Ich mach's. Ich schmeiß dich raus.« »Und was wird aus den Kindern? Die sind dir wohl auch egal.« »Die bring ich bei Mutter unter.« »Das könnte dir so passen. Die Kinder zu deiner Mutter.« »Als du im Westen warst, war dir Mutter gut genug.« »Und warum war ich im Westen? Weil ich das Geld verdienen musste.« »Ach, hör doch auf!« »Wer hat denn die Familie ernährt, all die Jahre?« »Dir ging es doch gut im Westen.« »Mir gut? Bei Aldi an der Kasse? Ich glaub, ich spinne.«
»Hör doch auf mit der alten Leier!« »Du hättest ja mitkommen können. Aber dazu warst du zu feige. Du hast lieber am Kiosk große Reden geschwungen und dich bemitleiden lassen. Von deinen Stasi-Kumpeln. Der arme IM Ingenieur, der vom bösen Kapitalisten gefeuert wird.« »Das sind keine Stasi-Kumpel.« »Was sonst, IM Ingenieur?« »Was willst du denn? Wer hat denn heute einen guten Job? Fünfacht brutto. Den musst du mir erst Mal zeigen, der Fünfacht brutto verdient.« »Dafür hast du deine Seele verkauft. So wie damals. Nur dass du damals keine Fünfacht brutto bekommen hast, sondern zweihundert Mark Ost, IM Ingenieur.« »Halt endlich deinen Mund, du Schlampe! Du widerst mich an!« »Ja, ja, immer wenn die Schlampe die Wahrheit sagt, soll sie ihr Maul halten. Das könnte dir so passen, IM Ingenieur. Ich will dir mal was sagen: Du bist ein elender Feigling und Schlappschwanz. Das warst du schon immer. Den Helden spielen und Plakate tragen, das kann jeder, wenn er weiß, ihm kann nichts passieren.« »Ich bin verhaftet worden.« »Und zwei Stunden später warst du wieder frei. Als sie bemerkten, wen sie vor sich hatten.« »Jetzt reicht's! Ich gehe.« Michalke schritt ins Schlafzimmer und warf seinen Anzug aufs Bett. Aus dem Fenster sah er, dass sich Klaus Matiebe von seiner Frau verabschiedete und ihr einen Kuss gab. »Kommst du mit?« rief Matiebe hinauf. Er reckte seinen Daumen nach oben und grinste. Michalke streckte seinen Daumen ebenfalls, schlüpfte in Jeans und T-Shirt, steckte seine Geldbörse in die Gesäßtasche und befahl seiner Frau, endlich zu waschen, weil er Montag ein sauberes Hemd brauche.
5 Die Erlebnisse Ewald Otterbeins muten merkwürdig an. Auch mir scheinen sie eher phantastisch als wahr zu sein. Dennoch habe ich mich entschieden, sie an dieser Stelle wiederzugeben. Einmal um meiner Chronistenpflicht zu genügen, denn als objektiver und neutraler Erzähler der Ereignisse an jenem Tag im August, als der ich mich sehe, habe ich nicht darüber zu entscheiden, ob das mir Berichtete wahr oder gelogen ist. Und außerdem: Warum sollte es nicht auch in unserer Zeit noch so etwas wie Wunder geben?
»Wie viel Uhr ist es jetzt in Deutschland?« Margot Otterbein klappte den Liegestuhl zusammen und band sich ein Tuch um den Kopf. Sie betrachtete zufrieden ihre Urlaubsbräune, dann zog sie eine Bluse über, die ihr bis knapp zum Knie reichte. »Ich hab dich was gefragt, Ewald.« »Hä?« »Siehst du! Du hörst mir nie zu. Ich habe dich gefragt: Wie viel Uhr ist es jetzt in Deutschland?« »Ich hab keene Uhr dabei.« »Hier ist es jetzt zwanzig Minuten nach sechs.« »Dann ist's daheeme ooch zwanzsch Minuden nach sechse.« »Wieso denn das? Letztes Jahr mussten wir die Uhr doch eine Stunde vorstellen. Oder nachstellen? Oder waren es sogar zwei Stunden?« »Letztes Jahr warn mir ja ooch in der Dürkei. Jetzt sin' mer in Idalien. Da müss' mer de Uhr ni umstelln.« »Aber die Einhäusers haben doch gestern gesagt...« »Die Einhäusers sachen viel, wenn der Daach lang is.«
»Mir sind die Einhäusers sympathisch. Wir sollten sie heute Abend einladen.« »Bist du närr'sch? Ohne mich. Du kannst se gerne einladen. Aber ohne mich.« »Ich weiß nicht, was du gegen die Einhäusers hast. Das sind doch nette Leute. So bescheiden, so zuvorkommend. Immer freundlich und anständig. Hättest du gedacht, dass die aus dem Westen sind?« Ewald Otterbein erhob sich stirnrunzelnd von seinem Handtuch, faltete es zusammen und fuhr in eine kurze Jeans. Dann hockte er sich wieder in den Sand, zog sich seine weißen Tennissocken an und schlüpfte in die Sandaletten. Er stopfte das Handtuch und seine Illustrierte in einen Beutel, stoppte sein Vorhaben, als er den vorwurfsvollen Blick seiner Frau bemerkte, und kramte sein Hemd heraus. »Knöpf es richtig zu!« »Das musst gerade du sachn. Dir kann man doch bis offn Bauchnabel gucken.« Margot Otterbein lupfte ihre Bluse. »Ich kann mich ja auch sehen lassen. Haben die Einhäusers gestern Abend auch gesagt. Dass Sie nächstes Jahr fünfzig werden, Frau Otterbein, hätten wir nicht gedacht. Sie haben sich sehr gut gehalten. Wie machen Sie das bloß? Aber das hast du ja wieder nicht mitbekommen, weil du nicht zugehört hast.« »Das hab'sch genau gesehen, wie dir der Einhäuser in den Ausschnitt gestarrt hat. Dem sin doch fast de Oochn ausm Kopp gefalln.« »Er weiß eben was Gutes zu schätzen. Im Gegensatz zu dir. Sogar der Giovanni schaut mir hinterher.« »Der Dschovanni schaut allen Fraun hinderher. Fast kricht mer den Eindruck, du...« »Nun pack endlich zusammen! Ich will mich vor dem Essen noch frisch machen. Und dann laden wir die Einhäusers ein. Was haben wir heute für einen Tag?«
»Freidach. Freidach n'dreizehnt'n.« »Oh Gott! Das sagst du mir jetzt erst! Heute ist Freitag der 13.? Oh Gott... Wenn ich das gewusst hätte... Was da alles hätte passieren können... Wir müssen sofort bei der Schaggi anrufen... Ob der Alexander schon bei ihr ist?... Ogottogott, Ewald, ich habe plötzlich so ein komisches Gefühl. Beeil dich endlich, Ewald. Wir müssen ins Hotel und telefonieren. Dahinten sind die Einhäusers. Soll ich sie rufen?« Ewald Otterbein zwängte sein Hemd in die Hose, hob mit der linken Hand den Bauch an und zog mit der rechten den Gürtel zu. Er schnaufte, wischte sich über die Stirn und gebot seiner Frau Einhalt. Ihm war heiß und schwindelig. Er musste sich auf einer Mülltonne abstützen und verbrannte sich am Deckel die Finger. Ich vertrage die Hitze nicht mehr, hatte er schon letztes Jahr seiner Frau gesagt. Nächsten Sommer fahren wir in die Berge. Oder nach Skandinavien. Da soll es auch schön sein. Dann fahre ich alleine, hatte sie entgegnet. Ich brauche die Sonne und das Meer. Wenn du nicht mitkommst, fahre ich alleine. Und er hatte sich wieder überreden lassen, so wie jedes Jahr. Wie schon zu DDRZeiten. Erst jedes Jahr an den Balaton, dann Schwarzes Meer und sogar zwei Mal nach Kuba. Im Sommer 90 zum ersten Mal Mallorca. Immer nur in die Hitze. Ich will noch nach Rimini, hatte seine Frau gesagt. Wer weiß, wie lange wir uns das noch leisten können. In den Thüringer Wald können wir auch, wenn wir alt sind. Ewald Otterbein fühlte sich schon lange alt. »Hast du deine Tabletten genommen?« Otterbein schüttelte den Kopf und rang nach Luft. »Ewald, verdirb mir nicht den Abend! Wo sind deine Tabletten?« Otterbein deutete auf den Beutel und lehnte sich mit dem Rücken an die Mülltonne. Seine Schläfen pochten, der Schädel schien kurz vor dem Platzen. Das war der Tod,
er spürte es. Mit dem Blick aufs Meer zu sterben, das hatte er sich nicht gewünscht. So weit weg von zu Hause, so weit weg von Bad Gottleuba. Er wollte immer in Bad Gottleuba sterben. Dort war es kühl und die Luft war frisch. Außer wenn die Tschechen die Kraftwerke auf Hochtouren laufen ließen, dann stank es nach Katzenpisse. Aber Katzenpisse war immer noch besser als ein Strand in Rimini. Hier stank es nach Fisch, verbranntem Fett, verfaulendem Obst und Sonnenöl. Und nach Schweiß. Und nach Margots Parfüm. Ihm wurde schlecht. »Ewald, warum kannst du nie Ordnung halten? Ich finde deine Tabletten nicht. Ewald, hör auf zu würgen! Du kotzt hier sonst noch alles voll. Was sollen die Leute denn von uns denken? Denk doch mal an die Leute.« Otterbein dachte an gar nichts mehr. Er hatte schon viel zu viel gedacht in seinem Leben. Immer für andere gedacht. Vor allem als Kreissekretär. Viel Verantwortung. Zu viel Verantwortung. Andere genossen die Verantwortung, er litt darunter. Natürlich hatte er sich darüber gefreut, als ihn die Genossen zum Kreissekretär bestimmt hatten. Was war das für eine Woche! Er Kreissekretär, Margot Delegierte und Schaggi Jugendweihe. Eine Woche nur gefeiert. Aber schon im Herbst kam der große Katzenjammer. Er war zu weich, zu gutmütig. Genosse, du musst härter durchgreifen. Genosse, in deinem Verantwortungsbereich mehren sich die Probleme. Genosse, du musst endlich Maßnahmen ergreifen. Genosse, zu viele Ausreisegenehmigungen, Genosse, zu wenig Planerfüllung, Genosse, Genosse, Genosse... Jeden Tag einen auf den Deckel. Der Arzt verschrieb ihm diese kleinen Pillen, dann griff der Erste Sekretär Ewald Otterbein durch. Kannte keine Gnade und kein Erbarmen mehr. Er wurde gelobt, aber besser fühlte er sich nicht. »Ewald, nimm einen Schluck Wasser!«
Vielleicht hatte er auch viel zu wenig gedacht. Ja, das war's. Er hatte viel zu wenig gedacht. Sein ganzes Leben. Komisch, wieso kam er erst jetzt darauf? So einfach, so einleuchtend. Die plötzliche Erkenntnis erfüllte ihn mit einem nicht gekannten Hochgefühl. Er grunzte. Er hatte nie selber gedacht, immer für sich denken lassen. Erst hatte seine Mutter für ihn gedacht, dann der Lehrer, dann die Freie Deutsche Jugend, dann die Partei, dann seine Frau. Nein, Margot hatte schon immer für ihn gedacht, seit jenem Abend, als sie sich auf dem Parteifest das erste Mal begegneten. Wie blöd er doch war. Er grunzte. »Ewald, du hast einen Sonnenstich! Du spinnst! Hör mit dem Grunzen auf, du bist ja völlig wirr. Wo sind bloß deine Tabletten?« Ewald grunzte weiter. Ein heiseres, bellendes Grunzen. Er war nicht mehr Herr seiner Sinne. Aber dem Herrgott dankbar. Es gab ihn wohl doch, diesen gnädigen und gerechten Gott, von dem der Pfarrer erzählt hatte, bevor er ihn zuführen lassen musste. Es hatte ihm ja auch Leid getan, den Pfarrer verhaften zu lassen, weil der im Grunde kein schlechter Mensch war. Aber Pflicht war Pflicht. Partei- und staatsschädigendes Verhalten. Und die Beweise, die dieser IM - wie hieß er gleich noch? War es dieser Ingenieur, dieser Michalke? - geliefert hatte, waren lückenlos. Und dieser Gott schenkte ihm, dem ungläubigen Sünder Ewald Otterbein, kurz vor dem Tod die Erkenntnis, dass er sein ganzes Leben nicht gedacht hatte. Otterbein begann ein Lied zu singen, das ihm seit der Wende immer mal wieder in den Sinn kam: »Nun danket alle Gott... mit Herzen, Mund und Händen...« »Bist du still, Ewald! Du bist ja total übergeschnappt! Sag mir endlich, wo deine Tabletten sind! Hast du sie in die Hosentasche gesteckt?« »Nun danket alle Gott... mit Herzen, Mund und Händen...« Ewald wiederholte die Worte, weil ihm der Rest
der Strophe entfallen war. Er sang falsch, die Melodie ähnelte eher dem vertrauteren Auferstanden aus Ruinen. Wie wohl seine Auferstehung sein würde? Ob er überhaupt auferstehen würde? Die Auferstehung der Ruine Ewald Otterbein... »Herr Einhäuser... Gott sei Dank, dass Sie kommen... Sie schickt der Himmel... Mein Mann dreht durch, er hat seine Tabletten vergessen... » Giovanni, un dottore! Presto!« »Herr Einhäuser, was bin ich froh, dass Sie da sind...« »Alles klar, Frau Otterbein. Wir haben die Lage voll im Griff. Der Arzt kommt gleich. Der Strand gehört ja zum Hotel, da ist ein Arzt sofort zur Stelle. Sogar in Italien.« »Unsere Heimat... sind nicht nur Städte und Dörfer... sind die Berge und Täler... »Was singt er da?« »Eben hat er sogar Nun danket alle Gott gesungen...« »Ihr Mann ist religiös?« »Der Sachse liebt das Reis'n sehr...« »Er spinnt, Herr Einhäuser. Das hat er noch nie getan. So kenne ich ihn gar nicht. Glauben Sie, dass er stirbt?« »Sing, mei Sachse sing... « »Ich glaube nur, was ich sehe.« »...Vöglein singen Lieder...« »Was mach ich denn, wenn, wenn er hier stirbt? Das wäre ja furchtbar... Im Ausland sterben... was mach ich denn da...« »Keine Sorge, Frau Otterbein. Sind Sie im ADAC?« »...Sag mir wo du stehst... sag mir wo du stehst... und welchen Weg du gehst...« »Ja. Gleich nach der Wende sind wir da Mitglied geworden.« »Dann geht alles klar. Die kümmern sich um alles. Da kommt der Doktor, Frau Otterbein. Jetzt wird alles wieder gut...«
6 Der Boss machte auf mich keinen unsympathischen Eindruck. Er war angenehm im Umgang, höflich und zuvorkommend, verbindlich im Gespräch, von gepflegtem Äußeren - der Typ netter Schwiegersohn. Nach unserer ersten Begegnung hielt ich die Gerüchte, die über ihn im Umlauf waren, für maßlos übertrieben. Und doch irritierte mich etwas an ihm, je öfter ich ihn traf desto mehr.
»He Pferd, mach uns noch mal den Hengst!« Der Fahrer des roten Opel Kadett GSI grinste in den Rückspiegel und wieherte, der Glatzkopf hinten rechts grölte. »Halt an, ich muss mal raus!«, befahl der Boss. »Dann ist er weg«, maulte der Fahrer. »Wer ist hier der Boss?« »Okay, okay, ich halt ja schon an. Jungs, Pinkelpause!« Der Fahrer stoppte, sprang heraus und öffnete dem Boss die Tür. Dann schob Danilo Duffke, genannt das Pferd, den Fahrersitz nach vorne und quälte sich von der Rückbank. Er stellte sich neben den Boss und pinkelte an den Pfahl eines Weidezauns, während sich die beiden anderen mit Bier bespritzten. Der Boss und Duffke schwiegen und starrten in die Ferne. Am Horizont drehte ein Mähdrescher, eine riesige Staubwolke hinter sich herziehend, einsam seine Runden. Das Laub der Birken hatte sich schon - wegen der lang anhaltenden Trockenheit weit vor der Zeit - herbstlich gefärbt. Über dem Feld kreisten zwei Bussarde, einige Schwalben flogen eilig auf und nieder. Duffke standen Schweißperlen auf der Stirn, dem Boss ebenfalls. »Hörst du es?«, fragte der Boss. Duffke hielt den Atem an. »Die Vögel?«
»Quatsch.« »Den Mähdrescher?« »Nein.« »Ich höre nichts.« »Und deine Füße?« »Boss...« »Der Boden vibriert.« »Jetzt, wo du es sagst, spür ich es auch.« »Gar nichts spürst du, Duffke. Du hast nie im Tagebau gearbeitet, du hast nie auf einem Bagger gesessen... Unaufhaltsam vorwärts... Niemand hält dich auf... Kein Hindernis, das du nicht überwinden kannst... Das ist Freiheit... Macht... Das Vibrieren und Rotieren... Aber das kann ein Sesselfurzer wie du nicht verstehen, Duffke.« »Zigarette, Boss?« »Lenk nicht ab, Duffke. Die Erde fressen und Kohle ausspucken. Energie, Duffke, Energie. Ohne die Baggerfahrer würdet ihr Sesselfurzer euch den Arsch abfrieren. Und im Sommer hättet ihr kein kühles Bier.« »Da kommen Ronnie und Jens, Boss.« »Duffke, ich wollte mich gerade mit dir unterhalten.« Der Boss gab ihm einen leichten Stoß, der Duffke das Gleichgewicht verlieren und in einen Haselnussstrauch taumeln ließ. Der Boss grinste und half Duffke, sich aus dem Geäst zu befreien. Dann schritt er, Duffke an der Hand hinter sich her ziehend, über den staubigen Platz. »Was ist? Habt ihr ihn erwischt?« »Ne, Boss, der fährt wie ein Irrer. Keine Chance.« »Memmen.« Der Boss zündete sich einen Zigarillo an und lehnte seine Arme auf das Dach des roten Kadetts. Er blies ein paar Rauchwolken in die Luft. »Dann drehen wir um.« »Boss, wir könnten ihn am See vernaschen. Und die Kleine gleich mit.« »Morgen ist auch noch ein Tag, Alter. Ich hab noch was Besseres vor heute Abend. Timo, du fährst mich nach
Görlitz! Ihr anderen habt frei. Aber macht keinen Scheiß, die Bullen sind unterwegs!« Der Boss schwang sich auf den Beifahrersitz des roten Kadett, die anderen schlenderten unschlüssig zu ihren Fahrzeugen. »Was ist, Duffke? Willst du hier Wurzeln schlagen?« Duffke kletterte eilig auf die Rückbank des roten Kadett, der Boss gab dem Fahrer ein Zeichen und das Trio fuhr los. »Über Klitten«, befahl der Boss. »Wieso denn das?« »Bullenkontrolle auf der B 115. Zwischen Stannewisch und der Abbiegung nach Trebus.« Duffke lehnte sich zurück. Er bewunderte den Boss. Woher der Boss wieder diese Information hatte! Der Boss wusste alles, ihm blieb nichts verborgen. Der Boss war der Boss. Er war zum Boss geboren. Ein Führer. Schade, dass er sich nicht Führer nennen ließ. Der Titel Führer gebührt nur einem, hatte der Boss entschieden. Das ist Gesetz, heiliges Gesetz. Duffke beugte sich vor und blickte verstohlen zum Boss hinüber, der sich mit einem schwarzen Kamm den Scheitel nachzog. Die gerade Nase, das mächtige, nach vorn geschobene Kinn, die Furchen auf seiner Stirn, der starke, ausrasierte Nacken. Die beige Hose mit den steilen Bügelfalten, das dunkelgrüne T-Shirt mit der Aufschrift Polizei, die muskulösen Arme. »Is was, Duffke? Was glotzt du mich so an?« Diese stahlgrauen Augen, die einen sofort zum Verstummen brachten, aber zugleich so viel Wärme verströmten. Duffke ließ sich in den Sitz zurückfallen und schloss die Lider. Er fühlte sich geborgen. Wenn der Boss in seiner Nähe war, brauchte er keine Angst zu haben. Diese verdammte sinnlose Angst, die eiskalt die Beine emporkroch, sich im Bauch ausbreitete, den Brustkorb zusammenschnürte und schließlich den ganzen Duffke in Besitz nahm. Seit ihm Jaqueline, seine Schaggi, seine
über alles geliebte Schaggi, sein Halt und Felsen, genommen wurde, seit jenem Tag war Duffke in den Fängen der Angst. Sie kam, wann sie wollte, und sie ging, wann sie wollte. Blitzartig und schleichend, tückisch und hinterhältig. Am Tag und in der Nacht, im Sommer und im Winter, im Büro und im Bett. Manchmal verschwand sie in Sekunden, manchmal blieb sie Minuten und Stunden. Quälend lange Minuten und Stunden, in denen er sich in den Schoß seiner Mutter oder an Schaggis Brust wünschte. Oder sterben wollte, nur tot sein, nichts mehr spüren. Du brauchst wieder einen Sinn im Leben, hatte ihm der Boss gesagt. Es war ein Mittwoch - damals arbeiteten sie im gleichen Betrieb -, als er wieder mal heulend auf dem Firmenklo niedergesunken war und nach Luft rang. Du bist nicht krank, Duffke, ich hab dich schon lange beobachtet, du bist nur schwach, dir fehlt was: Orientierung, ein Ziel. Du musst die Leere in dir füllen, du brauchst einen Halt, jemanden, dem du folgen kannst, der dir sagt, wo es langgeht, dem du dich anvertrauen kannst. Komm zu uns, Duffke, wir brauchen dich. Du bist intelligent, du denkst nach, du bist ein kluger Kopf. Komm zu uns, Duffke, ich suche einen, mit dem ich mich austauschen kann. Meinst du nicht, dass es einsam macht, nur von Trotteln und Idioten umgeben zu sein? Von diesen Dumpfbacken, die nicht bis drei zählen können? Duffke, ich brauch' einen echten Kameraden, einen Freund. Komm zu uns! Der Boss war der geborene Führer, kein Zweifel. Duffke hatte es keinen Moment bereut, ihm zu folgen. Die Dankbarkeit der alten Leute, wenn sie in den Seniorenheimen der Volkssolidarität ihre Lieder vortrugen. Der Boss spielte Gitarre und Duffke Akkordeon, Marion und Maik sangen: Am Brunnen vor dem Tore, das Rennsteiglied, Ich hatt einen Kameraden oder das Schlesierlied, in das der Boss nach der Zeile Wir sehn uns wieder am
Oderstrand ein lautes »auf alle Fälle« einstreute... Da schimmerte es in den Augen der Ömchens und Opis, wie der Boss sie nannte, da wurden die Geldbörsen geöffnet. Nein, diese jungen Leute, dass es so was noch gibt, so anständig angezogen, so ordentlich frisiert, so freundlich, so nett. Einmal hatte sie sogar ein Pfarrer eingeladen, zum Sommerfest der Gemeinde. Sie waren gut angekommen, die Kirche stellte ihnen danach einen Raum zur Verfügung. Es ist schön, dass ihr die jungen Leute von der Straße holt, freute sich der Pfarrer. Jemand muss sich ja um die kümmern, ist ja alles zusammengebrochen hier nach der Wende. Ich hab jetzt drei Gemeinden zu betreuen, muss Religionsunterricht geben, bin nur noch unterwegs. Ich weiß nicht mehr, wo mir der Kopf steht. Macht mal, Jungs, ich vertraue euch. Der Boss sorgte dafür, dass sie das leer stehende Pfarrhaus renovierten und den Garten in Ordnung brachten. Alles ehrenamtlich, selbstverständlich, keinen Pfennig nahmen sie. Die Rechnungen für das Material wurden von der Gemeinde übernommen, auch diejenigen, die Duffke und der Boss selber ausgestellt hatten. Hier zwei Sack Zement mehr, da drei Eimer Farbe, dort eine Fuhre Sand. Es reichte, um die Faltblätter drucken zu lassen und den Bus zur Kundgebung in Chemnitz zu bezahlen. Es hätte noch lange so weitergehen können, wenn nicht die Idioten aus Cottbus den Neger geklatscht hätten. Duffke hallte die Faust, als er daran dachte. Der Boss war nicht da, als die Cottbuser kamen, Duffke hatte die Verantwortung. Aber keine Autorität. Sie hörten nicht auf ihn, als er sie zurückhalten wollte. Die eigenen Kameraden verhöhnten ihn - »Mach uns den Hengst, Pferd!« - und sperrten ihn in den Abstellraum. Dann stürmten sie zur Deutschen Eiche, wo der Neger saß. In wenigen Minuten war alles vorbei, die Wirtschaft war zertrümmert und der Neger lag im Koma. Der Boss
sprach kein Wort mit Duffke. Doch, einen Satz sagte er: Du hast versagt, Duffke. Und plötzlich war die Angst wieder da, diese Angst, deren Macht über Monate gebannt gewesen war. Jäh und unvermittelt hatte sie ihn überfallen, grausamer als je zuvor. Duffke wurde ins Krankenhaus eingeliefert. Außer dem Pfarrer, der fürchterlich zerknirscht war und alles nicht fassen konnte, besuchte ihn niemand, keiner der Kameraden, kein Boss, keine Schaggi. Duffke ertrug die Einsamkeit und die Angst nicht länger und bat den Pfarrer, ihm eine Schachtel Schlaftabletten mitzubringen. Nach zwei Wochen, am Abend, als er sich umbringen wollte, kam der Boss. Mit Marion. Ich habe mich erkundigt, begann er, die Ärzte sagen, du bist organisch gesund. Herz, Leber, Hirn, alles in Ordnung. Psychosomatische Geschichte. Halb so wild. Dann zog er Duffke aus dem Bett und stellte ihn auf die Beine. Die beiden Männer, die mit Duffke das Zimmer teilten, der eine Prostata, der andere Hämorrhoiden, schickte er für eine halbe Stunde in den Garten. Der Boss kehrte Duffke den Rücken zu, öffnete das Fenster und lehnte sich, einen Zigarillo rauchend, hinaus. Marion stieß Duffke sanft aufs Bett und beugte sich über ihn. Am nächsten Morgen bat Duffke um die - wie die Ärzte sagten - längst überfällige Entlassung.
7 Eine eifrige Bibelleserin wie Marlene Bromberg weiß, dass der Mensch im Grunde seines Herzens nicht gut, sondern böse ist. Neid und Intrigen, Mord und Totschlag durchziehen seit Adam und Eva die Menschheitsgeschichte. Alle Versuche zur Besserung des Menschengeschlechts sind bekanntlich gescheitert, und derzeit sind - für den nüchternen Betrachter zumindest - keine hoffnungsvollen Ansätze in Sicht. Marlene Bromberg müsste also stets mit dem Bösen rechnen. Aber seltsam: sie glaubt unverdrossen an das Gute.
Marlene Bromberg hörte die Fanfare, die aus dem Nebenzimmer herüberschallte, wischte sich mit einer Serviette über den Mund, legte Messer und Gabel auf den goldgerandeten Teller und sprach ein stilles Dankgebet. »Philipp! Johannes!«, rief sie, während sie sich neben ihrer Schwiegermutter vor der Tagesschau niederließ, »Acht Uhr! Waschen und Zähneputzen!« »Hast du schon mit Alexander telefoniert?« Marlene Bromberg rückte ein Deckchen auf dem Tisch zurecht und strich es glatt. »Von unterwegs...« »Und?« Marlene nahm ein Blatt des Affenbrotbaumes zwischen die Finger, schaute es sich an, zerkrümelte ein wenig Erde und holte die Gießkanne vom Teewagen. »Du willst mir nicht antworten?« »Er war bei der Arbeit.« »Alleine?« »Mit Michalke.« »Er hätte diesen Stasimann nicht wieder einstellen dürfen. Das spürt eine Mutter. Hier drin.« Sie legte die
Hand auf ihre linke Brust. »Der hat einen schlechten Einfluss auf ihn.« »Wie willst du das beurteilen, Mutter? Du hast ihn nur ein Mal gesehen.« »Das hat mir gereicht. Dieser hinterhältige Blick. Falsch. Einfach nur falsch.« »In jedem Menschen steckt etwas Gutes.« »Einmal Kommunist, immer Kommunist. Wilhelm hat schon gewusst, warum er nie mit denen Geschäfte gemacht hat.« »Michalke war Bürgerrechtler. Denen haben wir zu verdanken, dass die Mauer gefallen ist... Da schau... Der mit dem Plakat, das ist doch Michalke! Siehst du, das ist der Michalke, der mit dem Vollbart und den langen Haaren, damals sah er anders aus als heute. Da... jetzt verhaften sie ihn... Da steht's: Amateuraufnahme vom Oktober 89... Wenn der Michalke in der Tagesschau gezeigt wird, dann ist er ein guter Mensch.« »Er war bei der Stasi, Kind. Vergiss das nicht.« »Sie haben ihn gezwungen. Er hat keinem geschadet. Immer nur Unverfängliches berichtet. Das hat er mir selber gesagt.« »Und ich sag dir: Der Michalke schadet unserem Alexander. Er wird ihn ruinieren. Der arbeitet immer noch für die. Ich hab jetzt erst in der Zeitung gelesen, dass es die noch immer gibt. Die versammeln sich im Verborgenen und ziehen im Hintergrund die Fäden. Die haben Mittel und Wege, das glaubst du nicht.« »Zehn Jahre nach der Wende? Mutter, ich hab dir schon oft gesagt, du darfst nicht alles glauben, was in der Zeitung steht.« »Trotzdem, der Michalke ist ein Gauner... Ich mache mir Sorgen um unseren Alexander. Der Michalke zieht den in irgendwas rein, das weiß ich.«
»Mutter, ich will mich nicht mit dir über Michalke streiten. Es ist ein so schöner Sommerabend, da will ich mich nicht zanken.« »Ich mache mir wirklich Sorgen um unseren Alexander.« »Er arbeitet zu viel.« »Überlegst du nicht manchmal, ob er drüben eine Freundin hat?« »Mutter! So was darf man nicht denken.« »Männer sind Männer. Sogar mein Wilhelm hat mich betrogen. Er hat immer gedacht, ich merke es nicht...« »Alexander würde so etwas nie tun.« »Woher willst du das wissen?« »Ich habe ihn gefragt. Erst heute Abend. Ob er ein Verhältnis mit seiner Sekretärin hat. Und da hat er nein gesagt.« Die Schwiegermutter griff nach einem Buch auf der Sofalehne, setzte sich ihre Lesebrille auf und schnaufte durch die Nase. »Dann wollen wir es mal glauben, mein Kind.« »Meinst du, die Ministerin kommt auf die Gala zu meinem Geburtstag?... Es haben schon so viele abgesagt, da muss sie kommen. Sonst berichten die Medien nicht und keiner spendet was. Dann wäre alles umsonst. Ich mache es doch nicht für mich, sondern für das Frauenhaus.« »Ach, Kindchen... Du und dein Frauenhaus...« »Siebenhundertfünfzigtausend Mark fehlen noch... Warum ist bloß der Alexander so halsstarrig? Er hat das Geld und rückt es nicht raus.« »Da ist er ganz der Vater. Der hat auch immer alles beisammen behalten. Es sei denn...« Marlenes Schwiegermutter schaute über die Ränder ihrer Brille. »Es sei denn, der Wilhelm hatte einen Vorteil davon. Dann konnte er spendabel sein, dann war er großzügig. Ha, ich weiß noch...« »Du könntest auch was beisteuern, Mutter.«
»Haben wir das nicht längst geklärt? Also fang bitte nicht wieder damit an! Der Wilhelm hätte auch...« »Ich brauche das Geld!« Marlene schaltete das Fernsehgerät aus und öffnete ihre hochgesteckten Haare. »Und ich werde es bekommen, das verspreche ich dir. Ich werde das Geld bekommen, egal wie.« Sie lockerte und verteilte das Haar, während die Kinder in den Raum stürmten und sich aufs Sofa warfen. Dann fasste sie ihr Haar mit einer Spange zu einem Pferdeschwanz zusammen. »Wir sind fertig, Mama. Erzählst du uns noch eine Geschichte?« Die Kinder hüpften noch auf dein Sofa auf und nieder, gaben der Oma einen Kuss und ließen sich dann von ihrer Mutter ins Bett schleifen. Marlene Brombach hockte sich auf Philipps Bettkante und erzählte die Geschichte vom reichen Kornbauern. Und als sie mit dem Satz schloss: Diese Nacht wird man deine Seele von dir fordern; und wem wird dann gehören, was du angehäuft hast?, waren die Kinder bereits eingeschlafen.
8 Wenn im Leben eines Gewohnheitsmenschen wie Jaqueline Otterbein. in dem für etwas Unvorhergesehenes kein Raum ist, eben dieses Unvorhergesehene geschieht. dann wird schon eine Banalität zur Katastrophe. Man reagiert kopflos, gerät in Panik und lässt sich von Gefühlen übermannen. Von Gefühlen, die in einem durchgeplanten, zielstrebigen Leben gewöhnlich nicht vorkommen wie Angst, Zweifel, Misstrauen oder das Empfinden, ausgeliefert zu sein. Vielleicht ist sie mir deshalb zunächst etwas fremd geblieben. Zunächst...
Jaqueline Otterbein falzte zum dritten Mal die Servietten und rückte wieder Messer und Gabel zurecht. Die Dekoration gefiel ihr: der Strauß Sommerblumen, den ihr Rudi noch über den Zaun gereicht hatte, bevor er zu Renate ging, das blaue Geschirr auf dem weißen Tischtuch, die Platte mit Mozzarella, Tomaten und selbstgezogenem Basilikum, ein Schälchen mit Oliven, dazu Weißbrot und Schinken. Hoffentlich brachte Alexander genügend Appetit mit. Wo er nur blieb? Sie blickte auf die Uhr am Küchenherd. Sieben Minuten nach acht, in zehn Minuten wäre die Lasagne fertig. Ob sie ihn anrufen sollte? Jaqueline war sich nicht schlüssig. Wahrscheinlich raste Alexander gerade wieder mit zweihundert über die Betonpiste und fühlte sich wie dieser Walter Dingsbums, wie dieser Rallyefahrer, und hatte das Telefon abgestellt, um sich nicht von der Ideallinie abbringen zu lassen. Einmal hatte sie ihn um kurz nach acht angerufen, weil sie sich um ihn sorgte. Alexander hatte sie später zusammengebrüllt. Sie habe ihm seinen Rekord verdorben. Elf Sekunden über seiner Bestzeit, elf Sekunden zu langsam, wegen ihr, weil ihn
das Handyklingeln in seiner Konzentration gestört habe. Mach das nicht noch mal! Hörst du, Schaggi, ruf mich nie wieder an, wenn ich zwischen Rietschen und Lohsa unterwegs bin! Solch optimale Bedingungen bekomme ich in diesem Jahr nicht wieder, jetzt kommt der Herbst, das Laub, die tief stehende Sonne, das sind Sekunden, die sich summieren. Wegen dir, Schaggi, muss ich bis zum nächsten Sommer warten, das erste Jahr ohne neue Bestzeit. Dann dozierte er den ganzen Abend über die Philosophie des Rallyefahrens, die Bedeutung der Ideallinie und die Erotik der Geschwindigkeit und bemerkte nicht, dass sie sich eine Rose auf den linken Knöchel hatte tätowieren lassen. Das war vor zwei Jahren gewesen. Seitdem hatte Jaqueline ihn nicht wieder von der Ideallinie abgebracht und Alexander hatte drei neue Bestzeiten aufgestellt, zuletzt im Juni. Jaqueline schaute auf die Herduhr, zwölf Minuten nach acht. Sie schlenderte wieder auf die Veranda, setzte sich an den Tisch und naschte eine Olive. Als sie sich noch eine schnelle Zigarette ansteckte, läutete ihr Handy. Sie sprang auf und ließ sich enttäuscht auf den Stuhl zurückfallen. Es war nicht Alexander, sondern ihre Mutter. Um zwei Minuten vor halb neun signalisierte ihr Telefon, dass der Akku leer war. In diesem Augenblick erinnerte sie sich an die Lasagne, die sie so liebevoll zubereitet hatte. Sie beendete die Verbindung, ohne sich von ihrer Mutter zu verabschieden, stürzte in die Küche und riss die Herdklappe auf. Dichter, übel riechender Qualm waberte ihr ins Gesicht, sie zog die Glasform heraus, verbrannte sich die Finger und fluchte. Ein typischer Freitag der 13. Ihre Mutter hatte Recht, an einem solchen Tag sollte man erst gar nicht aufstehen. Dann begann sie zu heulen. Mutti am Rand des Nervenzusammenbruchs, die Lasagne verbrannt und Alexander stellte wohl einen neuen Rekord in Sachen Langsamkeit auf.
Und erst Vati, dieser Trottel. Jaqueline genehmigte sich einen Grappa, den sie eigentlich erst nach dem Essen servieren wollte. Es gab keinen größeren Trottel als Vati. Dieser Auftritt war wieder typisch für ihn. Und peinlich für Mutti. So peinlich. Mit Vati kann man sich nicht mehr sehen lassen, das hatte sie Mutti schon letzten Silvester gesagt, als Vati plötzlich Zschätzschens Wellensittich den Hals umdrehte. Mitten beim Essen hatte er sich erhoben, ganz normal, als ob ihn ein Bedürfnis zur Toilette ziehe, war erst am Vogelkäfig vorbei geschlendert, noch immer völlig normal, nicht einmal betrunken, hatte dann kehrtgemacht, als ob er sich an etwas erinnert hätte, hatte sich das Tier angeschaut, Grimassen geschnitten, piep piep piep gesagt, dann blitzschnell die Käfigtür aufgerissen, den armen Vogel, der auf den Namen Erich hörte, gepackt und schließlich, ehe jemand reagieren konnte, das Köpfchen zwischen seine Pranken genommen und herumgedreht. Dann tunkte Vati Erichs Köpfchen in die Wassertränke, schloss die Käfigtür und schlenderte, als ob nichts geschehen wäre, an die festlich gedeckte Tafel zurück. Jetzt kann das neue Jahr beginnen, sagte er und lobte den Lammbraten von Frau Zschätzsch. Das war nicht das erste Mal, dass Vati verrückte Sachen angestellt hatte. Aber das erste Mal in der Öffentlichkeit. Gott sei Dank war Alexander nicht dabei, sie hatte ihm nie von dieser furchtbaren Peinlichkeit erzählt. Die Tochter eines Bekloppten zu heiraten, wer weiß, ob so etwas nicht erblich ist, das könnte sich eine Persönlichkeit wie Alexander nicht erlauben. Mutti und Jaqueline hatten sich Vati gegriffen und sich sofort, mit unzähligen Entschuldigungen auf den Lippen und der Versicherung, selbstverständlich umgehend einen neuen Wellensittich zu besorgen, von der Silvestergesellschaft verabschiedet. Tags darauf hatten sie Vati zu Doktor Wunderlich geschickt, der ihn von früher gut kannte und
viele Gutachten für den Kreisleiter ausgestellt hatte und sogar am Neujahrstag zu sprechen war. Aber Doktor Wunderlich konnte nichts feststellen, nur das Übliche: Vati sei zu dick, schlechte Leberwerte, zu hoher Blutdruck. Er sei vielleicht ein bisschen überreizt, die Nerven, aber das sei nicht ungewöhnlich, das komme häufig vor bei alten Genossen, die noch nicht in der neuen Zeit angekommen seien. Vati solle sich ein paar Tage Urlaub gönnen, sich in Bad Gottleuba oder im Kurort Rathen erholen. Mutti hatte gleich die Initiative ergriffen: Schaggi hat noch Urlaub und vertritt uns im Laden. Das machst du doch, Schaggi, oder? Dann eilte sie ins Reisebüro, und am nächsten Tag flogen sie - »die Sonne wird dir gut tun, Vati« - für eine Woche nach Gran Canaria. Schaggi schenkte sich einen zweiten Grappa ein. Drei viertel neun. Sie schluchzte wieder und sehnte sich nach Alexander. Ihm war etwas passiert, das wusste sie. An einem Tag wie diesem, an dem Vati verrückt spielte und die Lasagne verbrannte, da würde Alexander nicht plötzlich erscheinen, sie in den Arm nehmen, auf den Mund küssen und sagen: Entschuldige, Schaggi, es ist heute etwas später geworden, ich musste noch den neuen Millionenauftrag abzeichnen. An einem Tag wie heute, da würde Alexander bei der Jagd nach einem neuen Rekord gegen einen Baum rasen und sich den Hals brechen. Oder mit einem Wildschwein kollidieren. Es stand gestern erst in der Zeitung, dass die Wildschweine unterwegs sind und die Straßen kreuzen. Drei Unfälle allein in der letzten Woche, ein Toter und vier Schwerverletzte. Jaqueline Otterbein nahm sich die letzte Zigarette und zerknüllte die Packung. Hastig rauchend lief sie auf der Veranda auf und ab, ging mal in den Garten, mal ins Haus und hockte sich schließlich an die Kante des Bootsstegs. die Beine ins Wasser baumelnd. Es wurde
schon dunkel, und Alexander war immer noch nicht da. Sie lehnte sich zurück, auf ihre Ellbogen gestützt, und starrte über den trägen See. Die Scheinwerfer der Disco schwenkten Strahlen in den Himmel, die sich irgendwo im Unendlichen verloren. Auf dem Campingplatz hatte das Sommerfest begonnen. Letztes Jahr hatte sie bis morgens um vier mit Alexander getanzt. War glücklich, bis zu jenem Moment, als Danilo auftauchte und sie anquatschte. Wäre nicht sein vorstehender Oberkiefer gewesen, sie hätte ihn nicht wieder erkannt. Sechs Jahre waren eine lange Zeit. Neue Frisur, anderer Stil, neue Freunde wie dieser große Blonde mit den stahlgrauen Augen und dem Polizeihemd. Ein sympathischer Mensch. Sie hatte ihn nicht wieder gesehen, aber auch nicht vergessen. Und eine neue Freundin hatte Danilo auch. Ganz anderer Typ als sie: Klein, pummelig, blond, kurze Haare, an den Schläfen lange Strähnen. Auf dem T-Shirt, das über Brust und Bauch spannte, waren um einen Adler herum zwei Worte geschrieben, in altdeutscher Schrift, die sie nicht genau entziffern konnte, weil sie nicht zu offensichtlich hingucken wollte. Alexander hatte die Worte entschlüsselt und sich auf dem Heimweg über sie lustig gemacht: Kampfgeschwader Germania. Hat er ja wirklich eine tolle Freundin, dein Duffke, eine wahre Germania. Eine Germania mit Riesentitten zum Kämpfen. Kampfgeschwader Germania, ich lach mich tot. Bei dem Anblick haut jeder Feind ab. Oder lacht sich tot. Riesentitten, die neue Geheimwaffe. Das müsste man Willi erzählen, der war doch bei der Armee. Da wird jeder Soldat schwach. Das musst du dir mal vorstellen, Schaggi... Die Germania lüftet ihr Hemd und schleudert ihre Dinger um sich... He, Schaggi, du lachst ja gar nicht... Und Duffke spielt den Wotan... Zum Schießen! Der Wind trug die Glockenschläge der Kirche über den See. Vier helle Schläge, neun dumpfe. Die Kirchenuhr
ging seit Jahren fünf Minuten nach. Jaqueline begab sich ins Haus zurück und entsorgte die Lasagne in der Mülltonne. Was wäre, kam es ihr in den Sinn, während sie mit einem Schaber die Glasform säuberte, was wäre, wenn Alexander eine andere hätte? Was wäre, wenn Alexander sie betrog? Würde er das tun? Jaqueline richtete sich auf und füllte die Form mit heißem Wasser. Noch eine Zigarette, dann würde sie ihn anrufen, egal ob es ihm passte oder nicht. Sie musste mit ihm reden, musste Gewissheit haben. Alexander mit einer anderen Frau, in die er sich womöglich noch verliebte, dieser Gedanke machte ihr Angst. Sie kramte erst in ihrer Handtasche nach einer Packung Zigaretten, dann suchte sie im Schlafzimmer, dann hastete sie zum Auto. Aber auch dort fand sie lediglich eine zerknüllte Schachtel. Bei Renate in der Kneipe hing ein Automat, dort könnte sie sich welche ziehen. Dort war auch Rudi, der zu ihr sagen würde: Kind, mach dir keine Sorgen, dein Liebster hat eine Firma, der muss noch arbeiten, der denkt an dich, während er über den Bilanzen sitzt. Oder sollte sie erst anrufen und dann Zigaretten holen? Vielleicht wollte Alexander sie auf die Probe stellen? Vielleicht wartete er schon seit fünf nach acht sehnsüchtig auf den Anruf? Aber vielleicht war er gerade zwischen Rietschen und Lohsa unterwegs und versuchte, die verlorene Zeit aufzuholen? Dann dürfte sie ihn nicht von der Ideallinie abbringen. Jaqueline schlüpfte in einen leichten Pullover und in eine Leggins. Die Herduhr zeigte einundzwanzig Uhr dreizehn. In fünf Minuten wäre sie zurück, dann würde sie Alexander anrufen. Noch fünf Minuten, dann würde sie die Stimme ihres Liebsten hören, noch fünf Minuten, dann hätte sie Gewissheit. Oder auch nicht. Jaqueline eilte durch den Garten. Als sie das Gartentor gerade geschlossen hatte, läutete ihr Handy. Verflucht, das Türchen klemmte. Es läutete zum zweiten Mal. Dieses
verdammte Türchen! Wie oft hatte sie Vati gesagt, er solle es endlich in Ordnung bringen. Es läutete zum dritten Mal. Aber Vati hatte nur entgegnet, dann lass es doch offen, wenn es klemmt. Sie kletterte über den Zaun, es läutete zum vierten Mal. Sie rannte mitten durch das Blumenbeet. Es läutete zum fünften Mal. Wo lag das Handy? Da, auf dem Tisch. Hallo, keuchte sie atemlos. In diesem Augenblick brach die Verbindung zusammen. Der Akku war leer. Und Jaqueline Otterbein hatte das Ladegerät auf dem Küchentisch ihrer Dachwohnung im Haus der Eltern vergessen.
9 Bis zu meiner Reise zum Ehepaar Einhäuser nach Aachen kannte ich den Rhein nur aus dem Fernsehen und von Ansichtskarten der Westverwandtschaft meiner Mutter. Auch nach dem Fall der Mauer blieb er für mich mindestens ebenso weit entfernt wie der Mississippi oder der Jangtse Kiang. Mich zog es, als ich endlich reisen durfte, eher in den Süden als in den Westen. Ich erinnere mich zum Beispiel noch genau daran, wie ich im Sommer 90 zum ersten Mal den Po überquerte. als Anhalter eingezwängt in einen Fiat Cinquecento. Es war ein erhebendes Gefühl, das wohl nur ein gelernter DDRBürger so empfinden kann. Damals machte ich übrigens auch Station in Rimini. Dieser Ferienort war für mich ein Mythos, ein Symbol für Freiheit, Glück und Westgeld. Da ich Letzteres jedoch nur in einer sehr beschränkten Summe besaß, fühlte ich mich dort rasch fehl am Platz. Doch zurück zu den Ereignissen am 13. August, zurück zum Rhein und zum Ehepaar Einhäuser. Ich will mich kurz fassen: Das Überqueren des Rheins habe ich verschlafen, Aachen empfand ich als belanglos und das Ehepaar Einhäuser entsprach meinen Erwartungen: Wer in Rimini Urlaub machte, musste einfach unerträglich spießig sein.
»Sie glauben gar nicht, wie dankbar ich Ihnen bin, Herr Einhäuser.« Margot Otterbein beugte sich vor und berührte mit den Fingerspitzen den Arm ihres Gegenübers. Sie zog ihre Hand wieder zurück und straffte lächelnd ihre Bluse, als Frau Einhäuser vom Salatbüffett zurückkehrte. »Ich habe Ihrem Mann gerade noch mal gesagt, wie dankbar ich ihm bin. Und Ihnen
natürlich auch, Frau Einhäuser. Dass ich bei Ihnen mit am Tisch sitzen darf, wo mein Mann... wo ich mich doch so schämen muss... für meinen Mann... Es ist mir so peinlich, wissen Sie... Was die Leute wohl denken...« »Frau Otterbein, das Wichtigste ist doch, dass es Ihrem Mann wieder besser geht. Lassen Sie uns das Glas auf seine Gesundheit trinken. Salute, Frau Otterbein.« »Salute, Herr Einhäuser, Salute, Frau Einhäuser.« Margot Otterbein hob das Proseccoglas und spreizte beim Anstoßen den kleinen Finger so weit ab, dass er wie zufällig über Herrn Einhäusers Handrücken strich. Für Sekunden trafen sich ihre Blicke, dann hüstelte Frau Einhäuser, und Margot Otterbein errötete. »Sie sind selbstverständlich unser Gast«, beeilte sich Herr Einhäuser zu versichern. »Das kann ich doch nicht annehmen. Sie haben mir so viel geholfen... Ich lade Sie ein.« Frau Einhäuser schüttelte den Kopf. »Sie sind doch... äh... von drüben. Wir haben auch Verwandte drüben gehabt, wissen Sie, wir haben ihnen Päckchen geschickt, drei Mal im Jahr, zu Ostern, zu Weihnachten und zum Geburtstag vom Onkel meines Mannes... Das kommt nicht in Frage, dass Sie uns einladen. Nein, Sie sind unser Gast.« Margot Otterbein nestelte an ihrer Serviette und schaute unter sich. Gestern Abend hatten sie nicht erwähnt, dass sie aus dem Osten waren. Die Einhäusers hatten auch nicht danach gefragt. Sie waren zwei deutsche Ehepaare, die sich zufällig im Ausland begegneten und einen gemeinsamen Abend verbrachten. An ihr konnte es nicht liegen, dass sie erkannt wurden. Sie kleidete sich modisch, hielt auf ihr Äußeres und trug eine Frisur, die sie zehn Jahre jünger erscheinen ließ. Außerdem redete sie Hochdeutsch, das hatte sie lange genug geübt. Ewald! Wie oft hatte sie ihm schon gesagt, er solle sich mehr Mühe geben. Erst sagte er stundenlang gar nichts, und
wenn er nach dem dritten Bier endlich das Maul aufsperrte, kam nichts als Schwachsinn und Sächsisch heraus. Mit Ewald war sie gestraft. Schaggi hatte Recht: Vati gehörte in die Klapse. Wenn sie alleine wäre, würde sie niemand für von drüben halten. Sie sind doch von drüben! Wenn sie das hörte, dann... Sie spürte eine zarte Berührung auf ihrem Unterarm und sah wieder auf. »Entschuldigen Sie bitte, Frau Otterbein, meine Frau hat es nicht so gemeint. Sie hat nur gedacht,...« »Wie willst du wissen, was ich gedacht habe?« »...dass es Sie vielleicht... dass Ihnen möglicherweise... ach, Schwamm drüber... Wir sollten froh sein, dass wir hier in Frieden und Freiheit einen schönen Abend miteinander verbringen dürfen, nicht wahr?« Er hob das Glas und räusperte sich. »Ich bin der Kurt.« Margot Otterbein setzte beide Füße fest auf den Boden und richtete sich auf. Sie wusste, dass ihre zwar üppige, aber wohlgeformte Figur so am besten zur Geltung kam. Kurt hieß er, Kurt Einhäuser. Das war ein Mann! Schlank, gepflegt, dichtes graues Haar. Nicht so ein aufgeschwemmter Waschlappen wie Ewald. »Ich bin die Margot«, antwortete sie mit belegter Stimme. Ihr war etwas schwindelig. »Margot? Wie die Frau vom Honecker? Ich bin die Hannelore. Wie die Frau vom Kohl.« Als sie die Gläser wieder absetzten, breitete sich eine verlegene Stille über Tisch Nummer 13. Kurt Einhäuser studierte die Karte, Hannelore Einhäuser stocherte in ihrem Salat, aber Margot Otterbein war frohgemut. Vielleicht würde dieser Freitag der 13. noch zu ihrem Glückstag. Sie beschloss, das Ihrige dazu beizutragen und verschwand schwebend auf der Toilette. Vor dem Spiegel zog sie die Lippen nach, dann befeuchtete sie Schläfen und Wangen mit einem Gesichtswasser, dass sie im Winter auf Gran Canaria erworben hatte und um das sie von ihrer Freundin Irene Zschätzsch beneidet wurde.
Irene müsste jetzt hier sein und nicht in Marotta. Gott sei Dank waren sie Freundinnen geblieben. Trotz Silvester. Ich weiß, was du mitmachst, Margot, mir geht es nicht anders. Wir konnten beide nicht ahnen, was für Trottel wir geheiratet haben. Noch ein wenig Wimperntusche, etwas Parfüm, dann packte sie ihre Utensilien in die Handtasche und betrachtete zufrieden ihr Antlitz im Spiegel. Noch immer schwebend kehrte sie an Tisch Nummer 13 zurück, an dem die Kellnerin gerade die Bestellung aufnahm. »Wenn ich dir etwas empfehlen darf, Margot: Die Frutti di Mare sind hervorragend. Als Vorspeise etwas Schinken.« Kurt schloss die Speisekarte. »Dazu einen...« Er geriet ins Stocken, als er Margot erblickte. »Dazu einen...« »Einen Orvieto Classico«, half ihm seine Frau. »Ich hätte gerne eine Gemüselasagne.« »Ich vertraue dir, Kurt«, sagte Margot und lächelte. Als die Kellnerin gegangen war, schwiegen sie wieder. Margots Blick wanderte durch das Restaurant, Kurts verharrte auf Margots Dekolleté, und Hannelores verweilte mal auf Margot, mal auf Kurt. »Du hast uns noch gar nicht erzählt, Margot, was du früher beruflich gemacht hast«, sagte sie dann. »Ich? Ich war in einem Betrieb für Miederwaren. Vorzimmer des Direktors, Chefsekretärin. Alles lief über meinen Schreibtisch. Ohne mich wäre der Direktor aufgeschmissen gewesen. Ich hab ihm den Rücken frei gehalten. In der DDR einen Betrieb zu leiten, das war ja nicht so einfach wie bei euch im Westen, da musste man erfinderisch sein und improvisieren können. Die haben oft zu mir gesagt: Frau Otterbein, haben sie gesagt, die eigentliche Direktorin, das sind ja Sie. Wir haben viel für den Export produziert, fürs nichtsozialistische Wirtschaftsgebiet, also vor allem für die BRD. Die waren sehr zufrieden mit uns, wir konnten uns gar nicht retten
vor Aufträgen. Und wir haben immer unseren Plan erfüllt. Übererfüllt sogar, manchmal hundertdreißig, hundertvierzig Prozent, einmal sogar einhundertfünfundsiebzig Prozent. Da war was los, kann ich euch sagen.« »Ah ja... und dein Mann?« »Mein Mann? Der... äh... der war... äh... Sekretär.« »Sekretär?« »Den gibt's nicht mehr, den Beruf. Das ist heute vergleichbar mit einem höheren Beamten in der Verwaltung.« »Etwa Parteisekretär?« »I wo! Wo denkst du hin, Hannelore?« Margot lächelte sie an. »Wir waren beide nicht in der Partei. Das wäre für uns nie in Frage gekommen. Da waren wir uns einig, der Ewald und ich.« »Und heute haben Sie - ich meine: habt ihr - ein Geschäft für Miederwaren?« »Underwearfashion und Dessous. Für alle Größen, auch für Damen, die mit etwas mehr gesegnet sind. Ihr glaubt nicht, wie vielen Frauen ich schon geholfen habe, wie viele Beziehungen gerettet. Manche ahnen gar nicht, wie toll sie aussehen, wenn sie ein bissel was Erotisches drunter tragen. Die kommen mit Feinripp rein und gehen mit Seide raus. Letzten Freitag erst wieder. Das Mädel war richtig glücklich nach meiner Beratung. Das bereitet mir am meisten Freude, wenn ich anderen Menschen helfen kann. Gesegnete Frauen haben ja oft Komplexe. Ist auch verständlich, wenn ihnen in der Werbung ständig diese dürren Dinger vorgehalten werden. Aber ich sage denen immer: Es gibt mehr Männer, die auf mollige Frauen stehen, als man denkt. Ihr dürft mit euren Reizen nicht geizen! Oder siehst du das nicht so, Kurt?« Kurt Einhäuser hüstelte und fragte rasch, wann die Otterbeins denn ihren Laden eröffnet hätten. »Gleich nach der Wende haben wir uns selbstständig gemacht. Wir waren ja so froh, dass wir endlich das tun
durften, was wir schon immer wollten. Davon hatten wir ewig geträumt: Ein eigenes Geschäft zu besitzen.« »Also, wir fanden es immer ganz schrecklich in der DDR, nicht wahr, Kurt? Später sind wir dann ja nicht mehr nach drüben. Kurts Onkel wurde Rentner und durfte reisen, da mussten wir nicht mehr rüber.« »Wart ihr nach der Wende noch mal dort?« Hannelore Einhäuser lachte. »Die kamen ja plötzlich alle zu uns, die ganze Bagage...« Als Kurt etwas erwidern wollte, erlosch das Licht im Restaurant. Es dauerte eine Weile, bis sich die Augen an die Dunkelheit gewöhnt hatten. Einzelne Feuerzeuge leuchteten auf, dann zündeten die Kellner Kerzen an. In dem Zwielicht konnte Hannelore Einhäuser erkennen, dass Margot Otterbein nach Kurts Hand, ihres Mannes Hand, gegriffen hatte. Die Kellner wieselten aufgeregt hin und her und eilten von Tisch zu Tisch. Nummer 13 war der letzte, der an die Reihe kam. Margot zog die Hand wieder zurück. Dann trat der Restaurantchef in die Mitte und verkündete erst auf Italienisch, dann auf Deutsch, dass ein Kurzschluss zu einem Stromausfall geführt habe. Ein Elektriker werde den Schaden umgehend beheben. Die Küche müsse voraussichtlich leider an diesem Abend kalt bleiben. Das Personal stehe den geschätzten Gästen jedoch gerne zur Verfügung. Schinken, Oliven und andere kalte Speisen gebe es, solange der Vorrat reiche. Auch Wein werde weiterhin serviert. Für alle auf Kosten des Hauses. »Was ist? Gehen wir?«, fragte Hannelore Einhäuser. »Ich würde gerne bleiben«, antwortete Margot Otterbein. »Das ist doch so romantisch, bei Wein und Kerzenlicht, das habe ich schon lange nicht mehr erlebt. Mein Ewald ist ja für so was nicht zu haben, der gammelt lieber vor der Glotze. Also, ich bleibe hier.« »Ich auch«, sagte Kurt Einhäuser.
»Gut, dann bleiben wir eben. Und machen uns bei Wein und Kerzenlicht einen schönen Abend. Zu dritt. Oder möchtet ihr lieber alleine sein?« »Hannelore, was soll das? Margots Mann ist heute zusammengebrochen. Wenn ihm der Arzt nicht so schnell geholfen hätte, wer weiß, wie es ausgegangen wäre... Wir sollten uns nicht streiten, sondern uns freuen und feiern, dass Ewald überlebt hat. Auf deinen Mann, Margot!« »Auf Ewald!« »Na schön... Auf deinen Mann!« Die Kellner, eifrig und freundlich, servierten eine Karaffe mit Wein des Hauses, eine kleine Flasche Grappa und Antipasti aller Art. Ein Kassettenrekorder dudelte italienische Schlager, mal wehmütige Weisen, mal fröhliche, der Restaurantbesitzer erkundigte sich nach dem Wohlbefinden und Margot Otterbein fühlte sich immer besser. Behaglich und beseligt, fast wonnetrunken. Einen solchen Abend hatte sie lange nicht erlebt. Und das an einem Freitag dem 13. am Tisch Nummer 13. Schade nur, dass Kurts Frau noch am Tisch saß... Jetzt mit Kurt alleine, bei dieser Stimmung, noch einen Spaziergang mit ihm ans Meer und dann ins Hotelzimmer, nein, nicht ins Zimmer, gleich am Strand, zwischen zwei Fischerbooten, egal, was die Leute dächten... Jetzt hatten sie eine Kassette mit deutschen Liedern eingelegt. Udo Jürgens, ach, wie sie Udo Jürgens liebte. Das Konzert im Kulturpalast, sie und Irene in der ersten Reihe. Ohne Männer. Udo hatte ihnen tief in die Augen geschaut und Irene sogar auf die Wange geküsst, als sie ihm den Blumenstrauß überreichte. Ich war noch niemals in Neu, York, ich war noch niemals auf Hawaii... Margot stimmte in den Refrain ein: Ich war noch niemals in New York, ich war noch niemals auf Hawaii... Kurt sang mit... ging nie durch San Francisco in zerrissnen Jeans... Sie tastete unter dem Tisch nach Kurts Bein,
kroch mit ihrem dicken Zeh unter seine Hose und fuhr so weit es ging die Waden hinauf. Dabei saß sie kerzengerade, die Brust vorgestreckt, die Bluse mit den Daumen leicht nach unten ziehend... Ich war noch niemals richtig frei... Sie konnte sich sehen lassen, obwohl sie nächstes Jahr fünfzig wurde, das wusste sie nie klarer, als an diesem Abend.... Einmal verrückt sein und aus allen Zwängen fliehn... Sie war eine begehrenswerte Frau, Kurt lechzte nach ihr, nach ihren weichen, runden Formen, er hatte diese Bohnenstange, dieses Klappergestell an seiner Seite satt, das spürte sie. Ich war noch niemals in New York, ich war noch niemals auf Hawaii... »Macht euch doch nicht lächerlich«, sagte die Bohnenstange, »du in zerrissnen Jeans, Kurt, dass ich nicht lache.« Margot Otterbein, die intrigenerprobte Delegierte auf dem XI. Parteitag der Sozialistischen Einheitspartei Deutschlands, lächelte und sann darüber nach - mit ihrem Zeh weiter Kurts Waden auf und ab streichelnd -, wie sie das Klappergestell verscheuchen könne. Sie musste Jaqueline ins Spiel bringen, Schaggi war ihr ganzer Stolz, und die Einhäusers hatten keine Kinder. Kurt hatte ihr offenbart, dass er welche gewollt hatte, aber sie nicht, wegen ihrer Karriere. Immerhin hatte sie es bis zur stellvertretenden Direktorin eines renommierten Aachener Gymnasiums gebracht. »Ich hab eine Idee«, begann Margot Otterbein. »Ihr kommt uns mal besuchen. Und ich weiß auch schon, wann!« Hannelore Einhäuser presste spöttisch ihre Lippen zusammen, so dass diese noch schmaler wirkten als sonst, ihr Mann lehnte sich in seinem Stuhl zurück. Margot freute sich, dass Kurt seinen rechten Schuh ausgezogen hatte und mit dem Fuß ihren Rock hochschob. Sie schloss kurz die Augen und bedauerte, dass er Socken trug.
»Der Termin steht noch nicht fest, aber ich denke, nächstes Frühjahr ist es so weit. Dann feiern wir Hochzeit. Unsere Jaqueline heiratet. Und ihr seid unsere Gäste.« »So?« »Das wird ein großes Fest, ein rauschendes Fest.« Margot leerte ihr Glas, ließ sich von Kurt nachschenken und genoss die erwartungsvollen Blicke. »Unsere Jaqueline heiratet nämlich einen Millionär.« »Ach?!« »Er besitzt eine Firma und hat über tausend Arbeitsplätze gerettet. Die Leute sind ihm dankbar, sie lieben ihn. Der Ministerpräsident ist sein Freund, und auch der Bundeskanzler hat sich bei ihm bedankt.« Sie beugte sich vor und gewährte Kurt einen Blick bis an die Spitzen ihres schwarzen Büstenhalters. »Ihr kommt doch?« Kurt wandte sich an seine Frau: »Ich denke, wir sollten zusagen, Hannelore. Oder was meinst du? Wir sind noch nie in Dresden gewesen. Da könnten wir beides verbinden, die Hochzeit und ein paar Tage Urlaub.« »Reisende soll man nicht aufhalten... Ich weiß noch nicht, ob ich mitfahre.« »Sie müssten ihn vielleicht kennen, meinen zukünftigen Schwiegersohn.« Margot Otterbein hatte sich diese Trumpfkarte bis zuletzt aufbewahrt. »Jetzt wird's ja spannend.« Kurt setzte seine Fußspitze auf Margots Stuhl und streckte sein Bein aus, Margot presste ihre Schenkel zusammen, Kurt legte den linken Arm um die Schulter seiner Frau und zog sie an sich, Margot gönnte sich noch einen Schluck vom Wein des Hauses. »Er kommt aus derselben Stadt wie ihr. Aus Aachen.« »Aachen ist groß.« Hannelore Einhäuser entzog sich dem Griff ihres Mannes. »Er stammt aus einer der bedeutendsten und reichsten Familien der Stadt.«
»In Dresden mag es ja noch etwas Besonderes sein, wenn jemand reich und bedeutend ist, meine liebe Margot. Aber in Aachen...« »Mein zukünftiger Schwiegersohn ist sogar in Aachen etwas Besonderes. Wenn ich euch jetzt seinen Namen verrate, werdet ihr den Mund nicht mehr zukriegen.« In ihrer Aufregung rutschte sie ins Sächsische. »Ich bin jetzt richtsch offgeregt... Meine Schaggi wird eine Bromberg werden. Ihr Mann heißt... Alexander Bromberg.« In diesem Augenblick, es war eine Minute vor Mitternacht, hatte der Elektriker den Kurzschluss behoben. Der Raum erstrahlte im gleißenden Licht und Margot Otterbein blickte in zwei aschfahle Gesichter.
10 Alles, was ich über Klaus Matiebe weiß, stammt aus zweiter Hand. Ich bin ihm nie persönlich begegnet. Man mag mir daher eine unlautere Vorgehensweise vorwerfen. Über jemanden zu schreiben, den man nicht kennt, gehört sich nicht. Aber ich denke doch, die Einwände entkräften zu können. Erstens habe ich - auf zugegebenermaßen nicht ganz legalem Weg - Einblick in seine Täterakte erhalten, zweitens sind meine Informanten von unzweifelhaftem Leumund und drittens haben ihre Angaben zu Matiebe einen verblüffend hohen Grad an Übereinstimmung. Man könnte fast den Verdacht hegen, sie hätten sich untereinander abgesprochen. Aber da sie es nachweisbar nicht getan haben, ergibt sich für mich nur eine Schlussfolgerung: Matiebe ist wirklich ein äußerst unangenehmer Mensch. Und daher ein weiteres Geständnis: Ich lege keinen Wert darauf diesem Kunstlederjackenträger jemals persönlich zu begegnen.
»Mensch, Matiebe, gut siehste aus. Hast abgespeckt bei den Hungerleidern, wa?« »Du aber ooch, Michalke. Bist wieder im Jeschäft, hab ick jehört. Rechte Hand vom Bromberg - Respekt!« »Kann nicht klagen.« »Weeßte wat, heut machen wir noch mal richtig einen drauf. Ick lass den Wagen stehen und wir chartern 'ne Taxe.« »Nee, du, lass mal, hab aufgehört mit der Sauferei.« »Du, ick ooch. Aber heute is wat Besonderes.«
Matiebe tippte eine Nummer in sein Mobiltelefon und grüßte Michalkes Frau, die am Schlafzimmerfenster eine Zigarette rauchte, Michalke winkte Matiebes Frau, die sich aus dem Küchenfenster lehnte. Ob Matiebe wusste, dass seine Frau mit Günter schlief? »Treibt's nicht so doll!«, rief sie hinunter. Matiebe reckte zur Antwort seinen Daumen und Michalke versicherte, dass er schon aufpassen werde. »Glaub denen kein Wort, Brigitte!«, rief die Alte von Gegenüber, während ihr Dackel namens General neben Matiebes Hyundai einen Haufen machte. »Die ham nur Saufen und Weiber im Kopp, die Männer. Fremde Weiber!« Sie reichte Michalke die Hundeleine, bückte sich, fuhr mit einem Schäufelchen unter den Haufen und kippte ihn in eine Plastiktüte. Dann zog sie einen Dederonbeutel aus ihrer Dederonschürze und stopfte die Plastiktüte hinein. »Frau Opitz, aber wir doch nich...«, sagte Matiebe und steckte das Mobiltelefon in die Innentasche seiner Kunstlederjacke. »Ihr Männer seid alle gleich. Ob unter Hitler, unter Honecker oder unter heute dem. Stimmt's General?« Dann schlurfte sie über die Straße und hatte gerade den Hauseingang erreicht, als das Taxi heranbrauste. »Ging ja schnell, Meester«, sagte Matiebe und fläzte sich auf den Rücksitz. »Zum Untermarkt, Michalke?... Zum Untermarkt, Meester! Wie lange ham wa uns nich jesehen, Michalke?« »Bist lange nicht hier gewesen. Drei Jahre?« »Mindestens. Warst heute im Fernsehen, Michalke. Hab dich jenau erkannt, Vollbart, lange Loden, grüner Kittel, Hirschbeutel. Und mit 'nem Transparent: Die Mauer muss weg. Haste noch Kontakt zu den anderen?« »Nee, hat sich verloren. Willi ist im Westen und Lothar wieder nach Leipzig.« »Und Günter?«
»Von dem hörste und siehste nix. Hängt nur noch bei seiner Alten rum.« »Und Dieter?« »Haste nicht mitgekriegt? Hat sich umgebracht. Vor vier Wochen erst. Erschossen, mit seiner Dienstpistole.« »Hab ick nich jewusst. Schade, war keen übler Kerl. Weiß man, weshalb?« »Hat Pech gehabt, Pleite gemacht mit seiner Firma. Wachschutz und Security.« »Und deshalb bringt er sich um? Gloob ick nich. Nee, du, Dieter nich, der nich. Der lässt sich nich von 'ner Pleite unterkriejen. Also, wat war wirklich?« »Ich weiß auch nichts Genaues.« »Du willst also nich drüber reden?« »Er soll erpresst worden sein.« »Nu lass dir doch nich jedes Wort aus der Neese zielen!« »Kannst du dich noch an den Pfaffen erinnern, der damals die Bluesmessen veranstaltet hat?« »Bin ja oft jenug da jewesen.« »Sein Sohn - der Boss, wie sie ihn nennen - hat irgendwann rausgekriegt, dass Dieter seinen Alten auf dem Gewissen hatte.« »Auf dem Jewissen hatte, wenn ick det schon höre. So'n Kirchenjeschwätz. Der Dieter hat nur seinen Auftrag erfüllt, seine Pflicht jetan. Wenn der Pfaffe so'n schwaches Herz hat, det er dabei krepiert. kann der Dieter ooch nischt dafür. Betriebsunfall. Hätte jedem von uns passieren können.« »Und ist auch oft genug passiert. Zu häufig...« »Mensch, Michalke, lass doch det fromme Jesülze. Wir ham alle jebüßt, du und icke, Lothar und Günter. Wir standen alle vor dem Nichts nach der Wende, alle ham se auf uns rumjehackt. Aber damit is et vorbei, ein für alle Mal. Du bist Assistent der Jeschäftsleitung bei Bromberg und ick bin Chef einer Reiseagentur. Wir sind wieder
wer. Ehrbare und jeachtete Bürger. Jawoll! Uns kann keener.« »Und Dieter? Warum hat er sich umgebracht, wenn alles vorbei ist?« »Wat weeß icke... Vielleicht hat er Liebeskummer jehabt... Die Liebe is blind auf beede Oogen... Meester, halt an! Jeht auf meine Rechnung, Michalke.« Michalke und Matiebe schritten über den Untermarkt und entschieden sich für den Schwarzen Adler. Obwohl das Thermometer neben dem Eingang noch dreiundzwanzig Grad anzeigte, war die Gaststätte fast gefüllt. Auf der Bühne im hinteren Teil des Saales, der gewöhnlich durch eine Schiebetür abgetrennt war, bauten zwei junge Männer eine Musikanlage auf. Quer durch den Raum war ein Plakat gespannt mit der Aufschrift: Jeden Freitag ab 22 Uhr Karaoke. Michalke und Matiebe hockten sich an den Tresen und bestellten zwei Eibauer und Schnitzel mit Kartoffelsalat. Seit der Taxifahrt hatten sie kein Wort gewechselt. »Biste noch oft hier?«, beendete Matiebe das Schweigen. »Ab und an mit Dieter, als er noch lebte. Es ist einsam geworden...« »Nu werd mal nich weinerlich, Michalke. Du hast doch alles: Familie, Wohnung, Auto, mindestens sieben oder acht brutto... Wat willste mehr?« »Familie, Wohnung; Auto... Und außerdem sind es nicht acht brutto, sondern nur Fünfacht.« »Michalke, ick kenn dich doch... Du hast wat aufm Herzen.« Matiebe legte den Arm um Michalkes Schulter. »Sprich dich aus... Ick war früher für dich da und ick bin heute für dich da.« »Is nix, Matiebe.« »Wie alt biste, Michalke?« »Sechsunddreißig.« »Midlife-Crisis. Kenn ick. Hab ick in dem Alter ooch jehabt. Aber jeht wieder vorbei. Nischt Ernstes. Musst dir
verändern, raus aus dem alten Trott, wat Neues anfangen. So wie icke. Seit ick in Afrika bin, is alles blendend. Hab mir nie besser jefühlt als heute. Ick bin wieder wer. Jawoll, mir kann keener.« Die Wirtin stellte die Schnitzel mit Kartoffelsalat auf den Tresen, dazu zwei frisch gezapfte Eibauer. Matiebe machte sich über das Essen her, als ob er wochenlang gehungert hätte, Michalke rückte angewidert ein Stück beiseite. »Det einzige, wat ick in Afrika vermisse, is 'n richtiges Schnitzel mit Kartoffelsalat«, nuschelte Matiebe. »Det kriejen die Neger nich hin.« »Hast du nicht manchmal auch ein schlechtes Gewissen?« »Michalke, willste mir den Appetit verderben?« »Nie ein schlechtes Gewissen? Nie Alpträume?« »Mach dir doch nich ins Hemd... So'n Quatsch mit Soße. Schlechtes Jewissen... Isst du nich fertig? Dann gib's mir Ick hab ja Verständnis, dass dich dem Dieter sein Tod mitjenommen hat, du standest enger zu ihm als icke... Bin ja schon fast sieben Jahre in Afrika... Is immer Mist, wenn sich jemand umbringt, klar, versteh ick, aber det du dir jetzt deswegen ins Hemd machst, det versteh ick nich mehr.« »Und wenn wirklich der Boss dahintersteckt?« »Wat schwafelste denn ständig von dem Boss? Wer is'n det?« »Na, der Sohn von dem Pfaffen. Den darf man nicht unterschätzen, der is 'ne Lokalgröße hier. Der hat was vor, das weiß ich. Den müsstest du eigentlich...« »Jetzt pass ma uff! Lass dir wat sagen, Michalke, von 'nem alten Fahrensmann wie mir: Du siehst Jespenster.« Matiebe kaute auf einem Stück zähen Fleisch, zog es hinter vorgehaltener Hand zwischen den Zähnen hervor und ließ es auf den Boden fallen. »Wat tippste denn bei Hansa morjen?«
»Eins eins. Oder null null. Gewinnen werden sie nicht.« »Hängste immer noch die Fahne raus?« »Am letzten Spieltag in der vergangenen Saison bin ich sogar mit der Fahne durch die Stadt gefahren.« »Ick hab det im Weltempfänger jehört. Und über det Mikro in die Bar übertragen. So 'ne Dramatik, det hab ick noch nich erlebt. Einmalig, die Konferenzschaltung. War 'n grandioser Abend, wie im Film! War 'ne Gruppe ausm Osten da und 'ne Gruppe aus Nürnberg. Besser konnte det nich kommen: Die Ossis, die ham sich die Kante jegeben, weil Hansa drin jeblieben is, und die Nürnberger, weil der Club abjestiegen is. Und weeßte, wat ick mir jesacht hab?« »Keine Ahnung.« »Ick hab mir jesacht: Matiebe, bleib neutral und halt dich da raus, dann machste'n größten Umsatz! Und det war jenau richtig. Ick hab jezapft, bis ick nich mehr konnte. Bis morjens um sechse. Und der Matiebe hat sich die Hände jerieben und 'n Tag freijenommen. So läuft det, Michalke: Im Zweifelsfall immer neutral. Dann haste den wenigsten Ärger und machst det dickste Jeschäft. Und jetzt will ick dir noch wat sagen... Hörste mir überhaupt zu?... Mensch, Michalke, zieh nich so 'ne Flunsch... Also, wat ick dir sagen wollte: So'n richtiges Schnitzel mit Kartoffelsalat, det is wat Feines. Det lernst du erst schätzen, wenn du mal in der Fremde warst.«
11 In Renate sehe ich meine Mutter vor mir. Eine Frau mit Dauerwelle, Kittelschürze und unbestimmtem Alter. Ohne Rast und Ruh, doch niemals gehetzt. Immer ein offenes Ohr für Sorgen und Fragen, stets ein aufmunterndes Wort auf den Lippen. Ihr Schicksal erträgt sie mit bewundernswerter Gelassenheit. Wahrscheinlich habe ich mich deshalb in ihrer bescheidenen Gaststätte gleich wie zu Hause gefühlt. Einmal habe ich Renate ein Foto meiner Mutter gezeigt. Sie fühlte sich wesensverwandt und adoptierte mich als ihren Sohn. Eine Mahlzeit am Tag erhielt ich nun kostenlos - wie bei Muttern.
»Rudi, packste mal eben an? Das Fass ist leer.« »Bin zur Stelle, Renate.« Rudi legte seinen Kugelschreiber beiseite, glitt vom Hocker und humpelte in den Kühlraum. Er atmete tief durch und rieb seine Narbe. Er sollte Renate und Schaggi warnen, es würde ein Unwetter geben. Wenn nicht heute Nacht, dann in der kommenden. Rudi rollte das Fass vor sich her und stellte es unter die Zapfanlage. Dann schloss er die Schläuche an, prüfte den Druck, zapfte sich ein halbes Bier und begab sich auf seinen Hocker zurück. »Danke, Rudi. Nächstes Jahr stell ich dich ein. Ehrenwort!« Rudi beugte sich zufrieden über das Kreuzworträtsel. Himmelsrichtung mit fünf Buchstaben? Osten... Vorname von Schöbel? Frank... Erster deutscher Bundeskanzler. Erster deutscher Bundeskanzler? A-de-nau-er? Passte... Stadt in Westdeutschland mit sechs Buchstaben. Aachen. Stimmte auch... Beliebte Künstlerin in der DDR. Hah-nemann... Ach Gott, die Henne... Nun noch einen Urlaubsort an der Adria, dann hätte er das Lösungswort.
Wo waren doch gleich die Otterbeins? Ri-mi-ni. Fertig. Rudi Kossatz schrieb den letzten Buchstaben in das Kästchen: Sommergewitter. Das war das Lösungswort. Dann hinkte er hinter die Theke, nahm sich die Schere vom Regal, schnitt die Buchstabenreihe aus und klebte sie auf eine Postkarte, die er in seiner Datsche schon frankiert und mit Absender und Anschrift versehen hatte. »Wirfst du sie morgen noch ein, Renate? Bin spät dran.« »Mach ich, Rudi.« Rudi schlurfte zur Ablage mit den Zeitungen. Reise nach Mallorca zu gewinnen, las er. Auf Mallorca war er noch nie. Und gewonnen hatte er auch noch nicht. Noch nie. Der Einsendeschluss war Montag, das war noch zu schaffen. Kanzler der Einheit. Kohl... Fluss in Italien. Po... Größte Stadt auf Mallorca... Größte Stadt auf Mallorca?... Wie sollte er das wissen, wenn er noch nie dort war? Rudi kaute an seinem Kugelschreiber. »Renate, wie heißt die größte Stadt auf Mallorca?« »Weiß ich nicht. Bin noch nie dort gewesen. Keine Zeit gehabt.« »Wenn ich gewinne, kommste dann mit? Reise für zwei Personen, steht hier.« »Und wer macht dann die Kneipe, Rudi? Ich würd ja gerne. Hab seit der Wende noch keinen Urlaub gemacht.« »Ich auch nicht, Renate.« »Du bist doch Dauerurlauber, Rudi. Tust du mir noch 'nen Gefallen? Die Cola ist alle. Und bring auch Bockwürste mit.« Rudi hatte gerade die Tür zum Kühlraum aufgesperrt, als Renate hinter ihm herrief, er solle schnell zurückkommen. »Rudi, du hast doch Ahnung vom Fußball! Eben im Radio, ich hab die Telefonnummer notiert: In welchem ostdeutschen Stadion schoss Fritz Walter sein berühmtestes Tor? Und für welchen Verein spielte er?« »Weiß ich, Renate, weiß ich. Wo ist die Nummer?«
»Hier, Rudi, hier, ich hab sie schon eingegeben. Ich weiß doch, dass du alles im Fußball weißt.« Rudi hüpfte aufgeregt von einem Bein auf das andere, den Telefonhörer an das Ohr gepresst. »Es ist frei, Renate«, jubelte er, »das Freizeichen!« Renate drückte sich an Rudis Schulter. »Hallo... hallo... ja, Kossatz hier, Rudi Kossatz... ich ruf an, wegen der Quizfrage...« Er wandte sich zu Renate, die an ihrem Daumennagel knabberte: »Sie stellen mich durch... Ja, hier ist der Herr Kossatz, Rudi Kossatz... aus... äh... aus Lohsa.« Renate nickte aufmunternd. Rudis Stimme war im Radio zu hören. »Herr Kossatz aus Lohsa? Aber kein Loser aus Lohsa, oder?... Kleiner Scherz, hahaha... Sie müssen Ihr Radio leiser stellen, Herr Kossatz. Hier pfeift's!« Renate rannte zum Radio. »Jetzt ist es besser, Herr Kossatz. Also, Herr Kossatz, in welchem Stadion schoss Fritz Walter sein berühmtestes Tor?« »Das weiß ich noch genau, Herr Moderator. Ich war nämlich dabei, als kleiner Bub, wissen Sie, das werd ich nie vergessen, ich hab's genau gesehen, mit der Hacke hat er den Ball genommen und dann waagerecht in der Luft liegend über den Kopf drüber, das war sensationell, wir Buben...« »Herr Kossatz, in welchem Stadion?« »Das war am 6. Oktober 56. Vor über hunderttausend Zuschauern. Und ich durfte dabei sein. Fünf zu drei ist das Spiel ausgegangen. Aber die Jungs von Wismut Aue, die waren ja DDR-Meister damals, die...« »Herr Kossatz...« »Das war im Leipziger Zentralstadion.« »Richtig, Herr Kossatz!« Renate sprang in die Höhe. »Und für welchen Verein spielte Fritz Walter?« »Für den Verein, dem er immer die Treue gehalten hat, über dreißig Jahre lang. Der Fritz hatte Angebote aus ganz Europa, aus Mailand, aus Madrid, von überall. Er
hätte Millionen verdienen können. Aber der Fritz hat gesagt...« »Herr Kossatz, spannen Sie uns nicht auf die Folter!« »Der Fritz, der war mein Idol. Ehrenspielführer der Nationalmannschaft. Bis heute ist er mein Vorbild...« »Herr Kossatz...« »War ja selber aktiv. Bis sie mir den Fuß kaputt getreten haben. Da musste ich aufhören. Der Fritz hat mir sogar...« »Wir freuen uns mit Ihnen, dass der Fritz ihr Freund ist, Herr Kossatz. Aber wenn Sie mir nicht bald den Verein nennen...« »1. FC Kaiserslautern.« »Na endlich, Herr Kossatz. Herzlichen Glückwunsch, Sie haben gewonnen! Hör ich da Jubel im Hintergrund?« »Das ist die Renate, Herr Moderator...« »Und die freut sich mit Ihnen, Herr Kossatz! Das ist ja schön, geteilte Freude ist immer doppelte Freude. Herr Kossatz, wissen Sie, was Sie gewonnen haben?« »Nein, äh, wissen Sie, ich war gerade im Kühlraum, als...« »Liebe Hörer, der Herr Kossatz, der hat's gut, der kommt gerade aus dem Kühlraum. Bei der Hitze, ist er nicht zu beneiden? Herr Kossatz: Sie werden reisen! Und Sie dürfen jemanden mitnehmen. Ich nehme an, es ist die Renate?« »Äh ja, Herr Moderator, ich hab ja sonst niemanden, die Renate, ja, die nehm ich mit.« »Herr Kossatz, was ist Ihr Lieblingsverein?« »Aktivist Schwarze Pumpe, da war ich nämlich...« »Hahaha, ein Spaßvogel ist der Herr Kossatz auch noch. Aktivist Schwarze Pumpe, hahaha. Aber nun im Ernst: Ihr Lieblingsverein, Herr Kossatz.« Rudi verkrampfte sich um den Telefonhörer. »Bayern München«, raunte ihm Renate zu, »Bayern München.« »Bayern München«, sagte Rudi.
»Ein Bayern-Fan aus Lohsa! Herr Kossatz: Renate und Sie reisen für ein verlängertes Wochenende nach München. Herzlichen Glückwunsch! Bleiben Sie dran, Rudi, und wir machen weiter mit Musik.« Als Rudi schweißtriefend zu seinem Hocker humpelte, busselte Renate ihn ab: »Rudi, ich freu mich so für dich.« »Ich auch, Renate. Ich freu mich für uns. Ich bin noch nie in München gewesen. Ich wär beinahe mal hingekommen, als der Jens Jeremies von Dynamo Dresden nach München gewechselt ist. Aber zu 1860, das ist der andere Verein. Da hat der Schaggi ihr Liebster für seine Belegschaft eine Fahrt organisiert, weil der Jeremies ja aus Görlitz stammt. Mit drei Bussen sind sie runter. Der Bromberg hat mir persönlich die Fahrkarte überreicht, extra an den Zaun ist er gekommen. Aber dann bin ich doch nicht gefahren.« »Aber jetzt wirst du fahren, Rudi. Du hast es verdient.« »Du kommst doch mit, Renate?« »Holst du mir jetzt die Cola und die Bockwürste?«
12 Das Schlesische Haus war eine Zeit lang wie eine Heimat für mich. Aber das ist lange her. Als es das Hinterstübchen noch gab, traf sich unsere Friedens- und Umweltgruppe hier, getarnt als Familien- oder Geburtstagsfeier. Der alte Bresan wusste Bescheid und ließ uns gewähren. Es wussten auch noch andere Bescheid, wie zum Beispiel Michalke. Und wenn Michalke Bescheid wusste, dann wussten mit Sicherheit... Na ja, diese Zeiten sind vorbei, der alte Bresan ist gleich nach dem Mauerfall gestorben - Wirte werden eben nicht alt - und sein Sohn übernahm die Gaststätte. Ich hatte die Stadt im Dezember 89 verlassen und war seitdem nicht mehr im Schlesischen Haus gewesen. Erst die Ereignisse an jenem Tag im August führten mich nach über zehn Jahren wieder dorthin.
Es war kurz vor zehn, als der Boss frisch rasiert und gescheitelt vorm Schlesischen Haus stand und mit wachsendem Zorn den kleinen Zettel anstarrte, der mit einem Klebestreifen auf dem Schild Tanz für Alleinstehende befestigt war. Jemand hatte mit krakeliger Schrift geschrieben: »Veranstaltung wegen Überfühlung geschloßen.« Der Boss drängte sich durch die Wartenden und drückte die Klinke. Die Tür ließ sich wirklich nicht öffnen. Unter den Wir-haben-es-auch-schon-probiertBlicken der anderen presste er den Klingelknopf. Keine Reaktion. Der Boss läutete wieder, zwei Mal kurz, drei Mal lang. Irgendeiner gab eine hämische Bemerkung von sich, versteckte sich aber sogleich in der Menge, als ihn der Boss mit seinen eisgrauen Augen fixierte. Der Boss läutete erneut, mehrfach nacheinander zwei Mal kurz,
drei Mal lang. Die Tür wurde einen Spalt geöffnet und ein grauhaariger Alter spähte heraus. Der Boss nickte ihm zu, zwängte sich hinein, stieg die Treppe hinauf, betrat den Tanzsaal und peilte die Lage. Schweißperlen bildeten sich auf seiner Stirn. Er zog das Jackett aus und hängte es über den Arm. Am Tresen lehnten etwa zehn, zwölf Männer, alle mit dem Gesicht zur Tanzfläche, auf der sich zwei Frauenpaare an einem Foxtrott versuchten. An der Bar standen sieben Männer, ebenfalls auf die Tanzfläche spähend, und drei Frauen um die vierzig, die an einem Cocktail nippten. Typ Sekretärin oder Sachbearbeiterin, blonde Dauerwelle, rote Lippen, weiße Blusen, sich an ihre Handtaschen klammernd. Albern kichernd. Nichts für ihn. Er ging drei Schritte vor und hatte nun den ganzen Saal im Blick. An den Tischen auf der linken Seite, auf denen meist eine Weinflasche oder ein Sektkühler standen, war kein Stuhl mehr frei, die dicke Rita saß dort, Janine mit ihrer Mutter, Elke mit einer Freundin, drei Verkäuferinnen vom Karstadt, die Riege aus dem Altenheim, die ihre Gläser hoben und ihm zuwinkten, Thomas, Bernd und Matze von Kiefer's Security-Service, einige Vietnamesen und Südländer, und Angela mit Birgit vom Bundesgrenzschutz. Stammgäste. Auch nichts für ihn. Rechts sah es nicht besser aus. Außer vielleicht die Rothaarige, die sich hinter der großen Palme versteckte und einen Kirsch-Whisky trank. Das Gesicht kam ihm bekannt vor, aber er wusste nicht, wo er es einordnen sollte. Im Schlesischen Haus hatte er sie noch nicht gesehen. Sie schaute meist unter sich und drehte ihr Glas in den Fingern. Die Blicke, die sie traten, ließen sie verlegen lächeln. Nichts deutete darauf hin, dass sie eine routinierte Besucherin von Tanzveranstaltungen für Alleinstehende war. Der Boss überlegte, ob er sie ansprechen sollte, da legte ihm jemand von hinten die Hand auf die Schulter. Er spannte blitzartig die
Muskeln an und schnellte, jederzeit auf einen Angriff gefasst und zur Abwehr bereit, herum. »Komm mir nicht noch Mal so von hinten«, schimpfte er. »Und mach die Fenster auf! Die Luft ist schlimmer als früher in Schwarze Pumpe.« »Das müsste dir doch gefallen, Boss, als alter Kumpel.« »Halt's Maul, Bresan. Ich bin heute nicht zu Späßen aufgelegt.« »Was willst du trinken? Wie immer?« Der Barkeeper sprang hinter die Theke und beeilte sich, dem Boss eine große Cola mit Zitrone und Eiswürfeln einzuschenken. Dann rief er den grauhaarigen Alten herbei und befahl ihm, ein paar Fenster zu öffnen. Der Boss beobachtete die Rothaarige, die sich von einem Schnauzbartträger zu einem Glas Sekt einladen ließ. »Als Deutscher wirst du an der Tür abgewiesen, und hier wimmelt's von Kanaken und Fitschis, Bresan. Das stinkt mir.« »Mir auch, Boss, mir auch. Aber was soll ich machen? Die zahlen gut, die haben Kohle, die halten sich nicht den ganzen Abend an einem Bier fest wie deine deutschen Männer am Tresen. Die laden die Frauen ein.« »Deutsche Frauen.« »Fitschifrauen sind ja nicht hier.« »Trotzdem. Mir gefällt es nicht, wenn anständige deutsche Frauen von Kanaken angebaggert werden.« »Nennst du das, was sich hier rumtreibt, anständige deutsche Frauen?« »Mach mir noch 'ne Cola, Bresan!« Der Barkeeper gab der Bedienung ein Zeichen und zog den Boss in den Aufenthaltsraum. Als das Mädchen die Cola auf den Tisch gestellt hatte, schenkte er sich einen Klaren ein, stürzte ihn hinunter und rieb sich übers Gesicht. »Ich muss mit dir reden, Boss.«
Der Boss öffnete das Fenster. »Wenn es nicht zu lange dauert. Ich hab keine Lust, den Abend in diesem Kabuff zu verbringen.« »Hier sind wenigstens keine Kanaken und Fitschis.« »Ich hab's dir schon gesagt: Ich bin nicht zu Späßen aufgelegt.« »Schon gut, schon gut.« Bresan bot dem Boss einen Zigarillo an und reichte ihm Feuer. »Also hör zu, Boss. Wie lange gibt es das Schlesische Haus schon?« »Hundertfünf Jahre. Was soll das?« »Hundertfünf Jahre im Besitz der Familie Bresan. Kaiserzeit, Weimarer Republik, Drittes Reich, sogar in der DDR - immer im Besitz der Familie Bresan. Mein Urgroßvater, mein Großvater, mein Vater und jetzt ich.« »Ja und?« »Es läuft nicht mehr so gut. Freitags und sonnabends ist die Hütte voll, manchmal auch sonntags. Aber den Rest der Woche bräuchte ich gar nicht aufsperren, wenn die paar treuen Stammgäste nicht wären. Keine Laufkundschaft, wir sind zu weit draußen. Und die Alten sterben weg.« »Dann müsst ihr euch was einfallen lassen, damit die Leute zu euch rauskommen.« »Wollen wir ja auch. Ich hab ein tolles Konzept entwickelt, Konzerte und Kabarett, Kulturprogramm mit Niveau. So wie zu DDR-Zeiten, nur ohne Sozialismus.« »Dann mach hin. Meinen Segen hast du. War's das?« »Wir haben kein Geld mehr. Wir sind praktisch pleite.« »Dann nehmt einen Kredit auf!« »Warte, Boss. Es gibt noch ein Problem.« Der Boss erhob sich und stützte sich auf die Stuhllehne. »Wo ein Problem ist, gibt's auch eine Lösung.« Er wandte sich zur Tür. »Ich kann das ewige Gejammer nicht mehr hören. Jeder jammert rum, wie schlecht es ihm geht.«
Bresan sprang auf und hielt den Boss zurück. »Ich hatte diese Woche Besuch. Es dürfte dich interessieren, von wem. Er weiß, dass wir in finanziellen Schwierigkeiten stecken. Ein alter Bekannter. Du kennst ihn«, flüsterte er. »Michalke.« »Was wollte Michalke bei dir?« »Pscht! Die anderen wissen von nichts.« Bresan freute sich, dass er die Neugier des Bosses geweckt hatte. »Michalke war im Auftrag von Bromberg hier. Bromberg will bei uns einsteigen.« »Bromberg will bei euch einsteigen?« »Ja, so wie er es schon beim Chez nous getan hat und beim Adler und in der Marktschenke. Weißt du, was das bedeutet?« »Dann nimm dir den besten Anwalt!« »Boss, ich hab nicht mal Geld für den schlechtesten.« Der Boss hängte sich das Jackett über die Schultern. »Ich will mich amüsieren heute Abend, Bresan. Such dir einen anderen.« »Boss, wir haben schon alles probiert. Wenn du uns nicht hilfst, wer soll uns dann noch helfen?« Bresan war den Tränen nahe. »Einhundertundfünf Jahre Tradition, im Sozialismus privat geblieben, nach der Wende renoviert, und dann kommt so ein Wessi und nimmt uns alles weg.« Er kippte noch einen Klaren. »Was ist denn aus dem Chez nous geworden? Ein Bürogebäude. Steht leer. Spekulationsobjekt. Boss, für unsere Stammgäste ist das Schlesische Haus eine Heimat, verstehst du, die haben nichts anderes mehr. Boss...« »Hör endlich auf zu heulen! Sag mir lieber, wer die Rothaarige ist, die hinter der Palme sitzt.« Bresan schüttelte den Kopf und öffnete dem Boss die Tür. Eine Wolke aus Zigarettenrauch, Alkohol, Schweiß und Parfüm nahm ihnen den Atem. Bresan begleitete den Boss bis an den Tresen. »Ich seh keine Rothaarige hinter der Palme.«
»Dann guck auf die Tanzfläche.« »Die mit dem Schnauzbart tanzt?« »Treffer, Bresan.« »Ist zum ersten Mal hier, Boss. Aber ich kenne sie. Und du auch!« »So?« »Fünfzehn Jahre her, Boss. Wir haben sie geliebt. Und nachts von ihr geträumt.« »Vor fünfzehn Jahren waren wir bei der Armee, Bresan. In diesem gottverdammten Kaff in Mecklenburg, dessen Namen ich...« »Genau, Boss...« »Evchen? Bresan, du spinnst!« »Evchen aus'm Konsum.« »Die nie was drunter hatte?« »Die nie was drunter hatte.«
13 Warum ist das Leben mancher Menschen eine einzige Abfolge von Katastrophen? Sie scheinen das fleischgewordene Murphy´sche Gesetz zu sein: Alles was schief gehen kann, geht auch schief. Danilo Duffke ist einer dieser Menschen, die es niemals bis auf die Sonnenseite des Lebens schaffen werden. Irgendwann arrangieren sie sich mit dem Misserfolg, um ihr klägliches Dasein einigermaßen erträglich zu gestalten. Das Verlieren wird zu ihrem Lebensinhalt. Sie sind nur glücklich, wenn sie unglücklich sind. Gewinnen können sie nicht mehr, sie wollen es auch nicht, denn ein plötzlicher Gewinn würde für sie die Umkehrung ihrer bisherigen Lebensweise bedeuten. Ein Sieg wäre für sie das, was für andere eine Niederlage ist: eine Katastrophe.
Danilo Duffke hatte sich vor dem Spiegel im Flur seiner Zwei-Raum-Wohnung aufgebaut und pustete in das Mikrofon seines Kassettenrekorders. Er schlug mit dem Fuß den Takt und zählte mit geschlossenen Augen von zehn an rückwärts. Bei eins begannen die beiden Deckenstrahler zu flackern und die Musik setzte ein. Duffkes Hand schloss sich um das Mikrofon, tief Luft holen, dann den Einsatz erwischen. Und singen. Geklappt. Perfekt. Duffke klatschte in die Hände und schaltete mit der Fernbedienung den Rekorder aus. Heute war sein Tag. Der Boss hatte ihm so viel Kraft geschenkt, dass er es endlich wagen würde. Heute würde es nur einen Sieger geben: Danilo Duffke. Noch einmal ins Bad, Deo auftragen, Haare nach hinten, Zähne putzen. Der Wecker neben seinem Bett rasselte. Drei viertel zehn. Duffke zog sich einen schwarzen Blousson über sein
weißes Hemd, fuhr sich abermals durch die Haare, rückte seine Krawatte zurecht, spuckte in die Hände, verschloss die Wohnungstür und machte sich auf den Weg in den Schwarzen Adler. Seine Schritte schallten durch die Gassen der Altstadt, das Klacken der Absätze hallte von den Gemäuern wieder und verdichtete sich zu einem rhythmischen Klatschen. Duff-ke, Duff-ke, Duff-ke! Zuga-be, Zu-ga-be, Zu-ga-be! Und hier ist der Sieger des heutigen Abends: Daniloooo Duffffkeee. Duff-ke, Duffke, Duff-ke! The winner is: Danilooo Duffffkeee. Duffke atmete tief ein und wieder aus, er sog die Luft bis in die kleinsten Verästelungen seiner Lungen. Vor einem leeren Schaufenster, über dem eine verblasste Aufschrift Obst und Gemüse versprach, probte er ein letztes Mal seine Posen. Er nickte dem Nachtwächter zu, der mit einer Gruppe Touristen um die Ecke bog, spuckte wieder in die Hände und betrat den Schwarzen Adler. Niemand nahm Notiz von ihm. Duffke durchquerte rasch den Saal und reichte dem Ansager einen Zettel. Er bekam die Startnummer siebzehn. Etwa um Mitternacht würde seine Stunde schlagen, dann würde Danilo Duffke endlich im Rampenlicht stehen und begeistert gefeiert werden. Ein Held sein. Duffke schlenderte zurück und spähte nach einem freien Platz. Schade, dass keiner von den Jungs gekommen war, nicht einmal Marion war zu entdecken. Vielleicht tauchten sie später auf, vertröstete er sich und hockte sich an den Tresen. »'nabend«, begrüßte er seinen braun gebrannten, durchtrainierten Thekennachbarn, der trotz der Hitze seine Kunstlederjacke nicht abgelegt hatte. »Wann sind Sie dran?« »Ick singen, junger Mann? Det is nischt für einen Matiebe. Nee, du... Frag meine Musiklehrerin, die is heulend rausjerannt, wenn ick det Maul aufjemacht hab.« Duffke lachte und bestellte sich ein Mineralwasser. »Sind Sie auch alleine hier?«
»Nee. Mit meinem Kumpel. Is mal auf'm Pott.« »Sie sind Berliner?« »Icke? Afrikaner bin ick. Kenianer, jenau jenommen.« »Das ist ja interessant. Sie arbeiten wohl dort?« »Reisebranche. Hab mir selbstständig jemacht. Eigenes Unternehmen. Kleenes Hotel am Meer, Safaris in die Savanne und so weiter. Und zwei Mal im Monat auf den Kili hoch.« »Auf den Kili?« »Auf den Kilimandscharo. Der höchste Berg Afrikas. Anderes Kaliber als die Landeskrone, sach ick dir.« Duffkes Lachen erstarb, als ihm jemand von hinten um den Bauch fasste. Seine Siegesgewissheit schmolz dahin. Warum war nur der Boss nicht hier? »Duffke, machste uns heute den Hengst?« Michalke grinste. »Du kennst den jungen Mann?« fragte Matiebe. »Und ob. Alter Bekannter. Hat ein bisschen Pech gehabt im Leben, der junge Mann. Ist der Ex von der Jaqueline Otterbein.« »Von der Jaqueline? Sieh an... War wohl 'ne Nummer zu groß für dich, det Mädel... Na ja, gejen den Bromberg... Wat solls, Junge. Et jibt jenug Weiber auf der Welt.« Duffke bemühte sich um einen gleichgültigen Gesichtsausdruck, während die Angst an seinen Beinen emporkroch und sich zum Angriff bereitmachte. Startnummer eins, ein blondes Mädchen, sang Alt wie ein Baum möchte ich werden. Duffkes Erwiderung ging im kollektiven Gesang des Publikums unter. Matiebe schob ihm einen Schnaps zu. »Bist janz blass, Junge«, brüllte er Duffke ins Ohr. »Ich trinke nicht«, schrie Duffke zurück und griff dann doch, gegen seinen Willen, zum Glas. Er leerte es in einem Zug. Es brannte fürchterlich, er musste würgen, husten, Tränen stiegen ihm in die Augen, aber seltsam, die Angst kroch nicht weiter. Sie wurde in Schach
gehalten. Startnummer eins kletterte unter johlendem Beifall von der Bühne. Matiebe reichte ihm ein weiteres Glas. »Gejen det Lampenfieber.« Duffke kippte es rasch hinunter, hustete und würgte erneut, aber nahm mit Freude die wohlige Wärme wahr, die von seinem Bauch in die Beine strömte und die Angst zurück drängte. Matiebe war ein Freund, er meinte es gut mit ihm. Fast wie der Boss. »Wat machste denn beruflich?« »Bin Betriebswirt. Finanzbuchhalter.« Matiebe reckte den Daumen und wandte sich Michalke zu. Duffke stellte mit Genugtuung fest, dass Startnummer zwei sich vergebens bemühte, den richtigen Ton zu treffen und gnadenlos ausgebuht wurde. Auch die Startnummern drei bis sieben hatten keine Chance beim Publikum. Startnummer acht war der Elvis von Zodel, der wieder seinen Fanclub mitgebracht hatte, Nummer neun ein Flop und Nummer zehn eine Schwarze, die einen Schmusesong zum Besten gab und von einigen ausgepfiffen, von Matiebe jedoch mit lauten BravoRufen bedacht wurde. »Die Schwarzen sind die geilsten Weiber, sach ick dir«, raunte er Duffke vertraulich zu. »Ick weeß, wovon ick rede. Die Liebe is nämlich blind auf beeden Oogen.« Er hielt den Daumen wieder in die Höhe und bestellte eine weitere Runde. Duffke bedankte sich und prostete seinem neuen Freund zu. Auch mit Michalke, der zunehmend Mühe hatte, sich auf seinem Hocker zu halten, stieß er an. Duffkes Angst war nun völlig verflogen. Er fühlte sich leicht, federleicht. Er würde gewinnen, strahlender Sieger sein. Und Michalke würde es Bromberg erzählen, und Bromberg Jaqueline, du, deinen Duffke dürfen wir nicht unterschätzen, aus dem wird noch was, hätte ich nicht gedacht, dass der so gut singen kann, und Jaqueline würde zum nächsten Karaoke
kommen und in der ersten Reihe sitzen und ihm Beifall zollen, und nach der Vorstellung würde sie auf ihn warten und zu ihm sagen: Danilo, wollen wir es nicht wieder miteinander versuchen, Danilo, bitte, lass uns heiraten und eine Familie gründen, drei Kinder, so wie wir es damals wollten, weißt du noch, wie wir uns kennen gelernt haben, wir kannten uns ja eigentlich schon ewig, Jungpioniere, Thälmann-Pioniere, FDJ, du warst der Kassenwart, ich die Gruppenleiterin, aber zusammen waren wir erst seit dem Joe-Cocker-Konzert in Dresden danke, Matiebe, ich trink sonst nie Alkohol, das ist jetzt der letzte Schnaps, na gut, einen noch - Hunderttausend um uns herum, und doch nur wir zwei, du hast deinen Pullover ausgezogen und das Bier abgewischt, das dieser Idiot über meinen Kopf gekippt hatte, bei With a little help from my friends hast du mich das erste Mal geküsst, ich werde es nie vergessen, Danilo, ich liebe nur dich, nur dich allein, wirklich nur dich, Danilo, und er würde sie in den Arm nehmen und sagen, Schaggi, ich liebe dich auch, ich hab all die Jahre nur dich geliebt, mit der Marion, das war nie was Richtiges, letztes Jahr auf dem Sommerfest am See, das war nichts Echtes, das hat der Boss so gewollt, dass die Marion und ich zusammen sind, und dann würden sie kuscheln, den ganzen Tag nichts als kuscheln, und sie würden ihr Lied hören, er würde es ihr singen, vor dem Einschlafen und nach dem Aufstehen, den ganzen Tag, sie würden gemeinsam singen... »Träum nicht, Alter! Startnummer siebzehn! Du bist dran!« Matiebe klopfte Duffke auf die Schulter und streckte beide Daumen. »Du schaffst es!« Duffke rutschte vom Hocker, Matiebe klatschte ihn noch ab, dann schleppte er sich zur Bühne. Verflucht, war ihm schlecht. Und alles drehte sich. Wie auf einem Karussell. Damals mit Schaggi im Großen Garten, da war ihm auch so übel. Die Bockwurst hatte er in hohem Bogen ausgekotzt. Er lachte. Das war kurz vor der Wende, im
Sommer 89, einem Vopo von oben auf den Kopf. Die ganze Uniform war besudelt. Wäre Schaggis Vati nicht Kreisleiter gewesen, hätte er Ärger bekommen. Und was für einen Ärger. Duffke wankte auf die Bühne. »Und jetzt, liebe Freunde, Startnummer siebzehn, ein neues Gesicht. Mit dem Lied Bier her, Bier her, oder ich fall um!« Der Saal tobte, Duffke sah nichts als fratzenhafte Monster, die Mäuler weit aufgerissen, um ihn zu verschlingen. Er griff nach dem Mikrofonständer und hielt ihn wie eine Lanze den Fratzen entgegen. »Nein, er singt Da steht ein Pferd auf dem Flur...« Der Saal raste. »Kleiner Scherz am Rande, liebes Publikum, nichts für Ungut. Hier ist Danilo Duffke mit Über sieben Brücken musst du gehen!« Vereinzelter Beifall, einer gröhlte: Duffke!, die meisten lachten noch immer, andere unterhielten sich. Duffke suchte Matiebe. Rechts am Tresen, da musste er doch sein. Und er war dort, Gott sei Dank. Matiebe gab ihm Kraft. So wie der Boss. Sicherheit, Geborgenheit, Halt. Das Piano spielte die ersten Takte. Duffke summte leise mit, räusperte sich, blickte nach unten, der Boden schwankte, Duffke schaute nach oben, die Decke wackelte, Duffke schloss die Augen, alles wankte und schwankte. Jetzt! Sein Einsatz! Manchmal geh ich meine Straße ohne Blick... Duffke hauchte die Worte ins Mikrofon, die Menge tobte... Manchmal wünsch ich mir mein Schaukelpferd zurück... »Mach uns den Hengst, Duffke!« Das war Michalke, dieses Schwein. Der Saal wieherte... manchmal bin ich ohne Rast und Ruh... Duffke umklammerte das Mikrofon mit beiden Händen... manchmal schließ ich alle Türen nach mir zu... »Tür zu, es zieht!« Michalke, ich bring dich um!... manchmal ist mir kalt und manchmal heiß... »Aufhörn!« Verdammt, warum stopfte Matiebe dem Schwein nicht das Maul. Er
könnte es doch... nicht denken, Duffke, nicht denken, verflucht, Einsatz verpasst... nicht mehr was ich weiß... nicht denken, Duffke, singen... manchmal bin ich schon am Morgen müd... Duffke richtete sich auf, legte den Kopf zurück und breitete die Arme aus... und dann such ich Trost in einem Lied... nun das Schlagzeug, oh Gott, war ihm schlecht... Über sieben Brücken musst du gehen... »Dann geh doch, Duffke, geh doch endlich!« Er würde Michalke umbringen, er würde es tun... sieben dunkle Jahre überstehn.... vor sieben Jahren hatte ihn Jaqueline verlassen, heute vor sieben Jahren, vier Wochen vor der Hochzeit, Bromberg, das Schwein... sieben Mal wirst du die Asche sein... er würde sie umbringen, beide, Bromberg und Michalke, der Boss würde ihm helfen, das hatte ihm der Boss versprochen, und der Boss hielt Wort... aber einmal auch der helle Schein... Es war hell, ja es war hell. Duffke starrte in die Scheinwerfer. Es war hell wie nie. So hell wie der Schnaps in seinem Magen. Pfiffe und Buhrufe. Da waren sie wieder, die Fratzen, die Monster, die Michalkes und Brombergs. Er würde sie töten. Alle. Duffke riss die Augen auf, ballte die Faust, fletschte seine Pferdezähne. Der Saal verstummte. Es war plötzlich still. Gefährlich still. Totenstill. Wo blieb die Orgel? Verdammt, welcher Idiot hatte die Musik abgedreht? Wo war die Musik? Wieso nahm ihm jemand das Mikrofon weg? Das Mikrofon, das brauchte er doch noch. Das Lied war noch nicht zu Ende, ihr Lied, Jaquelines und sein Lied. Da war noch so viel Text, die zweite Strophe... ManchmalscheintdieUhrdesLebensstillzustehnmanchmal scheintmanimmernurimKreiszugehn... Warum ließen sie ihn nicht weitersingen, diese Schweine? Weshalb schoben sie ihn von der Bühne? Er war doch noch mitten im Lied, es war doch ihr Lied, Jaquelines und sein Lied, und die Liebe war nicht blind auf beiden Augen. Duffke riss sich los und sprang auf die Bühne zurück. Er griff
den Mikrofonständer und hielt sich die Angreifer vom Leib. Ich mach euch fertig, brüllte er, ich bring euch um, ich werde euch töten, alle werde ich töten. Dann wurde es um ihn dunkel.
14 Das Leben des alten Coschütz war im Grunde mit der Währungsreform 48 beendet. Die fünfzig Jahre danach waren nur noch ein Nachspiel, ein allmähliches Ausklingen. Obwohl man ihn durchaus geschwätzig nennen könnte, waren ihm diese Jahre keine Rede wert. Kein Wort über seine Frauen und Freundinnen, seine Kinder, den Einsatz im Verband der Kleingärtner, Siedler und Kleintierzüchter, die Zeit als Schichtleiter im Braunkohlekraftwerk Schwarze Pumpe, die Auszeichnung für den besten Schützen in der Betriebskampfgruppe. Drei Viertel seines Lebens waren für ihn ohne Bedeutung. Coschütz war ein lebender Leichnam.
Die Kirchturmuhr schickte vier helle und elf dumpfe Schläge über den See, am Himmel leuchteten die Sterne. Im Schilf raschelte es, und der laue Wind ließ das Wasser kräuseln. Vom Campingplatz klangen gedämpftes Lachen und das Wummern der Disco herüber. Jaqueline Otterbein kauerte in eine Decke gehüllt auf dem Steg und zählte die Zigarettenkippen, die sie nebeneinander aufgereiht hatte. Fünf Zigaretten in einer Stunde. Zum Glück war Rudi gerade im Kühlhaus, als sie sich bei Renate die Schachtel gezogen hatte. Du rauchst zu viel, Schaggi, hätte ihr Rudi gesagt. Wenn ich aufhöre, nehme ich noch mehr zu, hätte sie geantwortet. Und Rudi hätte gesagt: Die Rundungen stehen dir. Das ist Vererbung. Deine Mutter war auch nie schlank. Und von deinem Vater wollen wir gar nicht reden. So hätten sie am Tresen gehockt, Rudi hätte sie wieder gefragt, ob sie Alexander wirklich liebe, sie hätte mit Ja geantwortet, und dann wären sie in Schweigen verfallen, bis Rudi sich ein
Kreuzworträtsel gegriffen und sich bei ihr nach einem russischen Dichter mit elf Buchstaben erkundigt hätte. Die Stunden wären verronnen, sie hätten Renate beim Aufräumen geholfen, den alten Coschütz hinauskomplimentiert und sich zum Schluss eine gute Nacht gewünscht. Wie ein altes Ehepaar. Nur dass sie nicht das Bett miteinander teilten. Alexander hatte sein Telefon abgeschaltet. Der gewünschte Gesprächspartner ist vorübergehend nicht erreichbar. Sie musste Alexander dazu bringen, endlich die Scheidung einzureichen. Aber für einen solchen Schritt war er zu feige. So lange seine Mutter noch lebte, würde er es nicht wagen, etwas gegen deren Willen zu tun. Die Aussicht auf das Erbe war zu verführerisch. Dabei warf seine Firma so viel Gewinn ab, dass sie auch ohne die zehn Millionen gut leben konnten. Jaqueline musste die Initiative ergreifen. Ein tragischer Unfall in Andalusien und alle Probleme wären gelöst. Und sie wäre eine Mörderin. - Hast du schon mal einen totgeschossen, Onkel Willi? Darüber spricht man nicht, Schaggi, war ihr Mutti über den Mund gefahren. - Ich will es aber wissen. Sag's mir, Onkel Willi. - Kind, da bist du noch zu klein, um das zu verstehen. - Macht Totschießen Spaß? - Nein, Schaggi. Warum tust du es dann? - Es gibt einfach Dinge, die man tun muss, auch wenn sie keinen Spaß machen. Aus Liebe. Aus Liebe zu einer höheren Idee oder aus Liebe zu Volk und Vaterland zum Beispiel. - Wenn ich jemanden lieb habe, darf ich ihn dann totschießen? - Nein, Schaggi, man schießt niemanden tot, den man lieb hat. Den schützt man. Den verteidigt man. So wie ich an der Grenze. Ich darf nur unsere Feinde totschießen, ich muss es sogar, auch wenn es mir keinen Spaß macht. - Bist du dann ein Mörder? - Nein. - Warum nicht? - Weil ich es aus Liebe getan habe. Aus Liebe zu euch.
Nach Onkel Willis Logik wäre sie folglich keine Mörderin, wenn sie Alexanders Mutter umbrächte. Also musste sie es tun. Aber ob Alexander sie dann noch lieben würde? Vielleicht hatte er schon längst eine andere? Vergnügte sich gerade mit ihr, während sie sehnsüchtig auf ihn wartete. Jaqueline sammelte die Zigarettenkippen auf - sieben waren es mittlerweile - und warf sie in einen Joghurtbecher, den sie aus dem Wasser fischte. Sie musste sich ablenken, sonst würde sie noch wahnsinnig. Fernsehen? Bei Renate mit Rudi Kreuzworträtsel lösen? Den Tisch abräumen? Auf den See hinausrudern? Aufs Sommerfest gehen? Aufs Sommerfest gehen. Wenn Alexander mit einer anderen im Bett lag, durfte sie sich auch amüsieren. Vielleicht traf sie ja jemand Bekanntes auf dem Sommerfest. Den großen Blonden mit den grauen Augen zum Beispiel. Den würde sie gerne wiedertreffen. Was heißt wiedertreffen, sie waren sich ja eigentlich nie richtig begegnet, nur indirekt damals. Aber sie konnte ihn nicht vergessen. Diese Ausstrahlung! Vor zwei Wochen meinte sie, ihn gesehen zu haben, als Alexander bei Renate hockte, weil er sich ihr Scheidungsgeschwätz nicht länger anhören wollte. In einem Ruderboot. Als sie endlich das Fernrohr gefunden hatte, war er aus ihrem Sichtfeld verschwunden. Ob er sie fotografiert hatte? Sie war noch am Ufer entlang spaziert, bis zur Anlegestelle. Sie kam jedoch zu spät, er stieg gerade in einen roten Opel Kadett. Seltsam, sie hätte ihm einen anderen Wagen zugetraut. Einen BMW oder einen Mercedes, die passten zu ihm, nicht ein solches Proletenauto. Jaqueline schrieb Alexander einen Zettel, dass sie auf dem Sommerfest sei und er sich bedienen solle. Sie heftete den Zettel an die Tür, kleidete sich im Bad um bei Rudi war alles dunkel - und suchte nach den Schuhen mit den hohen Absätzen. Zum Tanzen ungeeignet, aber sie machten schlanker, und tanzen könnte sie ja auch
barfuss. Jaqueline betrachtete sich im Spiegel. Abgesehen von ihren verheulten Augen war sie zufrieden mit sich. Ob sie nicht doch lieber Rudi einladen sollte mitzukommen? Als Beschützer gewissermaßen, falls sie dumm angemacht würde. Ach wo, die meisten waren sowieso besoffen, und mit denen würde sie fertig. Für alle Fälle packte sie das Tränengas in die Handtasche, genehmigte sich noch einen Grappa, dann stöckelte sie los. Zehn Minuten vor zwölf stand sie an der Kasse des Festzeltes und bemerkte, dass sie ihre Geldbörse vergessen hatte. Doch sie brauchte sich nicht lange Hilfe suchend umzuschauen, bis sich ein Gönner ihrer annahm. Es war der alte Coschütz aus der Datschensiedlung, Rudis Nachbar, nicht mehr ganz nüchtern, aber in bester Stimmung. »Es ist mir so peinlich, Herr Coschütz.« »Kein Problem, Frolln Otterbein. Wo steckt denn Ihr Liebster?« »Ist heute nicht gekommen.« »Ne Flasche Sekt, Frolln Otterbein?« Ohne eine Antwort abzuwarten, legte der alte Coschütz, den Bauch einziehend, seinen Arm um Jaquelines Schulter und führte sie ins Zelt. Sie ließen sich an einem Tisch gleich neben der Tanzfläche nieder, Coschütz bestellte an der Bar einen Sekt. Er war noch nicht wieder zurück, da war sein Platz neben Jaqueline schon besetzt. »Junger Mann«, baute sich Coschütz auf, in der einen Hand die Flasche, in der anderen zwei Gläser. »Die Dame gehört zu mir.« »Verpiss dich, Opa. Die Dame hat sich anders entschieden.« »Werd nicht frech, Jungchen. Wenn du nicht bald verschwindest, ruf ich den Ordnungsdienst.« »Mach dich nicht wichtig, Opa. Ne halbe Stunde geb ich dir. Dann gehört die Braut mir.«
»Das werden wir ja sehen, Jungchen, wem die Dame in einer halben Stunde gehört.« »Das werden wir sehen, Opa, das versprech ich dir.« Coschütz stellte die Gläser ab und rückte dicht an Jaqueline. »Wollen wir nicht lieber gehen, Herr Coschütz?« »Machen Se sich mal keine Sorgen, Frolln Otterbein. Beim alten Coschütz sind Sie in Sicherheit. War alter Nahkämpfer. Eliteeinheit. Das verlernt man nicht. Kennen Sie den Bengel?« Jaqueline blickte in das feixende Gesicht am Nebentisch. Zahnspange, millimeterkurze Haare, Tätowierung auf dem Unterarm, ein Opel-Emblem auf dem T-Shirt. Höchstens zwanzig. Sie schüttelte den Kopf. »Reichlich frech, die jungen Leute. Gab's früher nicht. Ihr Vater hätte die auch nicht geduldet, der hätte die gleich in den Jugendwerkhof verfrachtet. Na, dann Prost, Fräulein. Otterbein.« »Prost, Herr Coschütz.« »Wir sind nun schon so lange miteinander bekannt, Schaggi, wir sind ja quasi Nachbarn. Ich bin der Heinz.« Coschütz küsste Jaqueline auf die Lippen. »Meinen Namen kennst du ja.« »Weißte Schaggi, meine Frau is ja nu auch schon acht Jahre tot. Die Kinder sind im Westen und kennen ihren Vater nicht mehr, die Enkel, da weiß ich gar nicht, wie die aussehen. Da bin ich froh, dass wir heute miteinander ausgehen.« Er fasste um ihre Taille und tastete nach ihrem Slip. »Nicht doch, Heinz.« Coschütz zog die Hand zurück und legte sie auf ihr Knie. »Heinz, bitte.« »Na gut, Schaggi, der Coschütz ist ein Kavalier alter Schule. Der akzeptiert die Grenzen. Wenn du nicht willst, Schaggi, dann halte ich mich zurück. Prost Schaggi.« »Prost Heinz.«
»Weißte Schaggi, is ja heute alles nich mehr wie früher. Ihr seid noch gut erzogen worden. Du auch, Schaggi. Hast gute Eltern. Hat meine Frau auch immer gesagt. Weißte Heinz, die Otterbeins, das sind anständige Leute. Das sieht man an der Schaggi.« Coschütz legte seinen Arm um Jaquelines Schultern. »Haste geweint heute Abend?« »Fühl mich nicht so gut.« »Dann lass uns tanzen, Schaggi. Kann dir noch was beibringen. War früher der beste Tänzer weit und breit. Muss ich dir erzählen, Schaggi. Nach dem Krieg, in Berlin, als das Leben wieder anfing, da ham sich die Frauen um mich gerissen, die einsamen Kriegerwitwen, die Trümmerfrauen. Jeden Abend war ich unterwegs. Hatte ja kein Zuhause mehr, die Eltern tot, der Hof vom Russen platt gemacht. Bin von einem kleinen Dorf in Pommern, da konnte ich nicht mehr zurück. Hab mich auf abenteuerlichen Wegen nach Berlin durchgeschlagen, ging ja alles drunter und drüber damals, das könnt ihr jungen Leute euch gar nicht vorstellen. Und mit einem Mal war ich Portier in einem Nachtclub, im amerikanischen Sektor. Ich sach dir, Schaggi, hab wie die Made im Speck gelebt, hatte die besten Kontakte und die schärfsten Weiber. Mit den Amis konnte man Geschäfte machen, die waren nicht übel, hab geschmuggelt und gehandelt mit allem, was es eigentlich nicht gab. Ich...« »Heinz...« »Das muss ich dir noch erzählen, Schaggi. Der Rudi und die Renate wollen die Geschichten nicht mehr hören, und mit den anderen in der Siedlung kann man sich nicht unterhalten. Die sind nicht mein Niveau. Aber du, Schaggi, wenn ich dreißig Jahre jünger wäre, wir gäben eine gute Partie. Ich hatte mal 'n Mädel, die war genau so ein Typ wie du, die wusste, was sie wollte, die ließ sich von keinem was sagen. Auch von mir nicht. War Tänzerin im Lucky Strike, so hieß der Laden, wo ich Portier war. Und
mich hatte sie zu ihrem Freund und Beschützer erwählt. Wir hatten uns gerade über dem Nachtclub 'ne Wohnung eingerichtet, da ist sie plötzlich verschwunden, im Frühjahr 48, kurz vor der Währungsreform. Von jetzt auf gleich, ohne ein Wort des Abschieds. Ich hab sie noch überall gesucht, aber sie blieb unauffindbar. Später hab ich erfahren, dass sie nach Amerika durchgebrannt ist. Ja, und dann kam die Währungsreform, plötzlich waren die Läden voll, und das süße Leben war vorbei. Und ich Blödmann bin in die Sowjetische Besatzungszone. Und weißt Du weshalb?« »Heinz, bitte...« »Weil so ein dummes Weib mich reingelegt hat...« »Lass uns bitte gehen, Heinz. Die werden immer mehr.« Coschütz drehte sich um. »Noch fünf Minuten, Opa, dann gehört die Kleine uns.« »Hast Recht, Schaggi. Tanzen können wir auch ein anders Mal. Wir nehmen die Flasche mit und trinken sie daheim aus. Von diesen Idioten lassen wir uns doch nicht den Abend verderben.« Sie leerten die Gläser und eilten zum Ausgang. Jaqueline hängte sich bei Heinz ein, der in der linken Hand die halb volle Sektflasche trug und wieder von den glorreichen Nachkriegsjahren im zerstörten Berlin zu erzählen begann. »Ihr kommt nicht weit, Opa!« rief ihnen die Zahnspange nach.
15 Man sieht sich immer zwei Mal im Leben. Bei meinen Recherchen im Umfeld Alexander Brombergs stieß ich nicht nur auf den Bürgerrechtler und IM Micha Michalke, der einst unsere kleine Friedens- und Umweltgruppe aufsuchte, sondern auch auf Willi Otterbein. Mir war überraschend ein Foto von Willi Otterbein in die Hände gefallen und ich hatte ihn sofort wiedererkannt. Otterbein ist einer jener Menschen, deren Gesicht sich ins Gedächtnis einprägt, ob man es will oder nicht. Es war ein regnerischer Morgen im Dezember 88, als wir uns am Grenzübergang Friedrichstraße in Berlin begegneten. Otterbein trug eine Uniform der Grenztruppen. Das war jedoch - wie ich jetzt herausgefunden habe - eine Verkleidung, denn er gehörte zur Passkontrolleinheit, die direkt der Hauptabteilung VI in der Zentrale des Ministeriums für Staatssicherheit unterstand. Die HA VI war im gesamten Staatsgebiet der DDR für die Passkontrolle, den Reise- und Transitverkehr sowie den Fahndungsprozess zuständig. Major Otterbein war immer im Dienst, Tag und Nacht, auch an seinen freien Tagen, egal ob an der Grenze oder im Hinterland. Er war ein ordengeschmückter Hundertfuffzigprozentiger, der sich mit Leib und Seele dem System verschrieben hatte. Aber zurück zu unserer kurzen Begegnung: Meine damals schon kränkelnde Mutter (sie war auf den Rollstuhl angewiesen) und ich hatten zum ersten Mal die Erlaubnis für eine Reise in die Bundesrepublik bekommen. Wir wollten zum neunzigsten Geburtstag ihres Onkels fahren und den Besuch nutzen, um nach meinem Vater zu suchen. Doch dazu kam es nicht, denn Major Otterbein verweigerte uns die Ausreise, ohne Angabe von Gründen. Meine Mutter hat
den Westen niemals gesehen, sie ist wenige Tage vor dem Fall der Mauer verstorben. Ewald Otterbein traf siebenundzwanzig Minuten vor der Zeit am verabredeten Treffpunkt ein. Er ließ sich vom Taxifahrer die Reisetasche an den Tisch tragen, gab ein großzügiges Trinkgeld und bestellte, stolz auf jedes Wort Italienisch, das er beherrschte, un latte macchiato, una bottiglia aqua minerale gassata e un - er formte mit den Händen einen Teller - prosciutto, grande, per favore. Die Kellnerin erwiderte Otterbeins Lächeln, und der Erste Sekretär im Ruhestand schlug, sich zufrieden zurücklehnend, die Beine übereinander. Bella ragazza. Mamma mia, war die hübsch. Bella Italia. Wenn nur die Hitze nicht wäre... Mille grazie, Signora. Ewald Otterbein stellte mit einer Mischung aus Freude und Erstaunen fest, dass er wieder lächeln konnte. Dass sich seine Mundwinkel nicht zu einem hämischen Grinsen oder einem weinerlichen Grienen verzerrten, sondern ein klares und reines Lächeln formten, dass er seinem Gesicht wieder einen offenen und freundlichen Ausdruck zu verleihen vermochte. Und dass jemand ihm ein Lächeln zurückschenkte. Ewald Otterbein lächelte wieder. Dreizehn lange Jahre, wenn er es sich genau überlegte, seit seiner Ernennung zum Ersten Kreissekretär der Sozialistischen Einheitspartei Deutschlands, hatte er bestenfalls das Gesicht verzogen oder gefeixt. An guten Tagen. An den schlechten war ihm noch nicht mal das gelungen, geschweige denn zu lachen. Nur heisere, bellende Laute waren seiner Kehle entkrochen. Ein Grölen und Brüllen, ein Quieken und Quietschen. Aber kein Lachen. Seltsam, dass es niemand bemerkt hatte. Weder Margot noch Schaggi, weder die Partei noch die Gesellschaft. Nur Rudi, der sagte manchmal, wenn er ihm von den geschwollenen Gelenken der Arbeiterinnen im Textil-
kombinat erzählte oder von den Müttern, die ihre Kinder nachts baden mussten, weil niemand sich in der Lage sah, die Trinkwasserleitung zu reparieren, oder von den sinnlosen Parteibeschlüssen, Wohnungen dort zu errichten, wo sie nicht benötigt wurden, oder von dem Besuch hei dem tüchtigen Genossen, dessen Sohn wegen versuchter Republikflucht verhaftet wurde, oder von den Gesprächen mit dem Pfarrer, der kein übler Kerl war, aber sich nicht davon abbringen ließ, in Bluesmessen die Mühseligen und Beladenen um sich zu scharen, um ihnen die Wahrheit, die der Partei widersprechende Wahrheit, zu verkündigen - an diesen seltenen Abenden am Grill, wenn die Glut erloschen war und Schaggi und Margot schon im Bett lagen, und er, der Erste Sekretär, endlich jemanden gefunden hatte, dem er vertrauen konnte, in diesen Sommernächten, in denen er sich mit Sicherheit darauf verlassen konnte, dass seine Worte nicht am nächsten Tag als Notiz an einem aufgeräumten Schreibtisch gelesen wurden, da sagte Rudi manchmal: »Ewald, du hast dich verändert. Du hast dein Lachen verloren.« Heute, es war der 14. August um null Uhr dreizehn, hatte Ewald Otterbein sein Lachen wieder gefunden. Nicht nur sein Lächeln, sondern auch sein Lachen. Er lachte, bis ihm die Tränen die Wangen herunterliefen und sein Zwerchfell zu bersten drohte, er lachte, bis sich die Fernfahrer an die Stirn tippten und schließlich doch einstimmten, er lachte noch, als um null Uhr einundzwanzig, sechs Minuten über der Zeit, sein Bruder Willi die Autobahnraststätte betrat und sich zu ihm setzte. »Wie ich sehe, hat alles geklappt«, sagte er. »Besdens«, lachte Ewald. »Besdens.« »Dann mach hin! Iss deinen Schinken auf, wir müssen los.« Ewald wurde ernst. »Wo ist Zschätzsch?«
»Hat gekniffen, die Memme. Deshalb bin ich so spät dran. Hab mit Engelszungen auf ihn eingeredet. Die Sache ist ihm zu heiß, hat er gesagt. Macht nicht mit. Steigt aus.« »Klappt das eene ni, klappts andre, Willi.« Er winkte der Kellnerin zum Zahlen und reichte ihr, selbstverständlich mit einem Lächeln, alle Lira, die er noch besaß. Auf ihr verwundertes »No, signore, no« drückte er ihr einen dicken Kuss auf die Wange. »Was ist los mit dir, Ewald?«, fragte Willi am Getränkeautomaten im Vorraum. »So kenn ich dich ja gar nicht. Hast dich irgendwie verändert.« Ewald schmunzelte und trug seine Tasche zu Willis Wagen. Er warf sie auf die Rückbank, ließ sich auf den Beifahrersitz des Daimlers fallen und streckte die Beine von sich. Willi bog auf die Autostrada und nahm das Gaspedal erst zurück, als der Tachometer einhundertachtzig anzeigte. »Hast du dich verliebt, Ewald?« Ewald lächelte. »Du, Willi, ich will dich ma was frachn: Gloobst du eigntlich an Gott?« »Bist du betrunken, Ewald?« »Ne, Willi. Vollkommen nüchdern.« »Glaub ich dir sogar, Ewald. Wenn du besoffen wärst, hättest du geflennt, aber nicht gelacht. Du hast uns ja in den letzten Jahren einiges zugemutet. Ich will gar nicht wieder mit den ganzen Geschichten anfangen. Ich mein, du musst froh sein, dass Margot dich nicht in die Klapse gesteckt hat.« »Du häldst mich ooch für meschugge, Willi, das weeß'sch, das mussde mir gar ni sachn. Aber lass dir von diesm Beklobbdn die Frache stelln, ob du an Gott gloobst.« »Bist du in eine Sekte eingetreten?« »Früher durft'sch das ja ni frachn, aus idjelogischn Gründen gewissermaßen. Und späder wolld ich's ni mehr wissen, weil's mich ni indressierde.«
»Ewald, du kennst meinen Standpunkt, den brauch ich dir nicht zu erläutern. Der hat sich nicht geändert.« »Also nein?« »Ja.« »Ja?« »Nein, natürlich nein. Ich glaube nicht an Gott. Ich habe nie an ihn geglaubt und werde nie an ihn glauben.« »Warum denn ni?« »Weil es ihn nicht gibt, Ewald. Du warst doch Agitator in jungen Jahren. Da muss ich dir wohl nicht erklären, dass es keinen Gott gibt. Der Mensch hat sich Gott erschaffen. Gott ist ein Geschöpf des Menschen, eine Hilfskonstruktion.« »Heude is se mir erschienen, Willi, deine Hilfskonschtruktion.« »Jetzt drehst du völlig durch. Wie konnte ich mich bloß auf das Unternehmen einlassen?« »Gott hat mir enne Erkenntnis geschenkt, Willi.« »Ach ja?« »Heude Abend am Strand. Erst ma hab'ch mich genau an unsern Blan gehalden und 'n doodn Mann markiert. Wie mersch besprochen hadden. Aber dann is mir alles aus'm Ruder geloofen. Plötzlich war'ch in Gottleuba. Sah unsre Mudder vor mir, de Kirche, den Konsum, de Feriengäsde, de Dannen im Schnee. Sogar de Katznpisse von den Tschechen hab'sch gerochen. Da hab'sch gedacht, ich sterbe wirklich. Mir is schwarz vor den Oochen geworden. Und mit eem Mal, ich war schon fast dood, kommt mir Gott entgechen und schenkt mir de Erkenntnis.« »Du spinnst, Ewald.« »Gott sachde mir: Ewald Otterbein, du hast dei ganzes Leben lang nie selber gedacht, sondern immer andre für dich denken lassen.« »Das hätte ich dir auch sagen können, Ewald.«
»Aber du hasd's mir nie gesachd, Willi. Keener hat's mir gesachd. Du ni. Margot ni, Schaggi ni... Bind dir die Krawatte um, Ewald. Du hast dein Parteiabzeichen falsch rum angesteckt, Ewald. Du musst härter durchgreifen, Ewald. Du bist zu weich, Ewald. Mach kurzen Prozess, Ewald. Der Pfarrer muss verschwinden, Ewald. Genosse Otterbein, du hast es deinem Bruder zu verdanken, dass wir kein Parteiverfahren gegen dich eröffnen... Ich war doch nur eure Marionedde, Willi. Du und Margot, ihr habt mich an euren Fäden baumeln lassen.« »Du hast wirklich einen Schaden, Ewald. Hab nicht gedacht, dass es so schlimm um dich steht. Seit ich in Stuttgart bin, haben wir uns ja nur noch selten gesehen. Lass dich endlich behandeln, Ewald. Du bist krank.« »Nee, Genosse Major, nee.« »Du spinnst, Ewald.« »Ich hab immer geschwiegen, Willi. All die Jahre. Jahrzehnte. Heude is Schluss damit. Und deshalb sag'sch dir jetzt, was ich dir immer schon sachen wollde.« »Da bin ich aber neugierig.« »Du bist ein Schwein, Willi.« Willi Otterbein lachte und nahm den Fuß vom Gas. Er drehte den Kopf zu Ewald. »Mein kleiner Bruder sagt zu mir, ich bin ein Schwein. Wenn ich's nicht mit eigenen Ohren gehört hätte...« »Du hast mich mit Margot bedroogen. Dreiß'sch Jahre lang. Und du dusd es heude noch.« »Sei vernünftig, Ewald. Ich hab eine harte Woche hinter mir. Ich hin Vertriebsleiter einer international operierenden Firma. Du weißt ja nicht, was das für ein Stress ist.« »Du hast Rudi alles genommen, was ihm geblieben war, Genosse Major.« »Ewald, ich bin heute Abend in Mailand losgerast. Hab einen wichtigen Termin abgesagt. Hab mich in Marotta mit Zschätzsch getroffen. Hab dich mitten in der Nacht
an der Raststätte abgeholt. Ich hab mich an unsere Absprache gehalten... »Du hast dich immer an deine Absprachen gehalten.« »Aber, verdammt noch mal, nicht um mir anhören zu müssen, dass ich ein Schwein bin!« »Jetzt musst du es aber...« »Ewald, du bist nicht ganz bei Trost.« »Ihr wussdet, dass Rudi der eenz'che war, mit dem ich reden konnte. Als er sich weigerde, für euch zu arbeiden, habbd ihr seine Vögl vergifdet. Neunundvierz'sch Wellensiddiche und Kanarienvögl. Alle vergifdet.« »Der Einzige, der hier einen Vogel hat, bist du.« »Lass mich an der Raststädde raus, Willi.« »Ich kann dich doch nicht an der Raststätte rauslassen, Ewald. Mitten in der Nacht. Du alleine in Italien. Du! Wer kümmert sich denn um dich?« »Dreiundfuffz'sch Jahre ham sich andre um mich gekümmert. Jetzt due ich es selber. Halt an, Genosse Major. Das ist ein Befehl!« »Und Margot? Was ist mit Margot?« »Du kannst es ihr ja saachn.« »Du hast einen Knall, Ewald. Ich dreh um und bring dich zurück. Das war eine Schnapsidee, ich hätte mich gar nicht drauf einlassen sollen. Wandern in den Bergen. Für ein Wochenende in die Dolomiten. Bei Sonnenaufgang auf dem Gipfel. Da, wo es kühl ist. Du, Zschätzsch und ich. Wie damals im Thüringer Wald. Oder im Zittauer Gebirge. Hast du das alles vergessen?« »Nischd hab'ch vergessn, Willi, nischd.« »Du bist paranoid, schizophren, wahnsinnig, was weiß ich.« Ewald begann zu lachen. Ein herzhaftes befreites Lachen. »Noch was hat mir Gott geschenkt, Willi«, sagte er, als er sich die Reisetasche nahm. »Das Lachen. Ich kann wieder lachen.« Ewald Otterbein öffnete die Wagentür, stieg grußlos aus und drehte sich nicht einmal mehr um. Er hörte, wie sein
Bruder, der ehemalige Genosse Major beim Ministerium für Staatssicherheit und jetzige Vertriebsleiter einer renommierten Firma, der damals wie heute für seine guten Kontakte und effektiven Methoden geschätzt wurde, seinen Daimler beschleunigte und davonraste. Ewald schlenderte über den Parkplatz, erfrischte sich auf einer Bank mit einer Cola und erblickte kurz vor halb drei einen schwarzen Porsche mit Dresdner Kennzeichen.
16 Mutter Bromberg hatte es vom ersten Augenblick an gewusst. Anders kann ich mir - im Nachhinein betrachtet - ihr Verhalten nicht erklären. Damals freilich, bei meinem Besuch in der Aachener Fabrikantenvilla, konnte ich es nicht einordnen. Mir war zwar aufgefallen, dass sie mich unentwegt musterte und mich mit Fragen löcherte. Wo und wann ich geboren sei, wo und wie aufgewachsen, wie es meinen Eltern ergehe, ob ich Geschwister habe, ob ich etwa mit dieser Familie Otterbein befreundet sei und so weiter. Aber ich maß dem keine größere Bedeutung bei. Wahrscheinlich war es in diesen besseren Kreisen so üblich, einem Fremden zunächst mit einer gehörigen Portion Misstrauen zu begegnen. Außerdem war sie von einer derart distanzierten Höflichkeit, dass ich es kaum wagte, selber Fragen zu stellen.
Marlene Bromberg schreckte vom Sofa hoch, als sie das Telefon hörte. Es dauerte eine Weile, bis sie zu sich kam. Es war kein Traum, und es war auch kein Fernsehtelefon. Es war das Telefon auf der Kommode in der Diele. Wer rief sie jetzt an, um kurz nach Mitternacht? Alexander! Es konnte nur Alexander sein. Ihm war was passiert. »Hannelore, du bist's? Um diese Zeit?... Was ist los?... Ich soll mich setzen?... Gut, ich sitze.« Eine Ewigkeit später, die Standuhr im Wohnzimmer schlug zur halben Stunde, ließ Marlene Bromberg den Hörer fallen und brach zusammen. Ihre Schwiegermutter, ebenso bleich und fassungslos, holte sie mit einem kalten Tuch ins Leben zurück.
»Ich habe alles mitgehört«, sagte Alexanders Mutter, als sie nebeneinander auf dem Sofa kauerten. »Warum tut er das? Wieso betrügt er mich?« »Mit dieser Otterbein, dieser ordinären Nutte. Das hab ich schon damals gewusst, dass die es auf ihn abgesehen hat. Aber dass Alexander auf sie reinfallen würde, das hätte ich nicht gedacht.« »Seit sieben Jahren, Mutter. Und ich ahne nichts.« »Die ist doch unter seinem Niveau, die Otterbein. Blond, schön und blöd, die Otterbein.« »Ich habe nichts geahnt, Mutter... Seit sieben Jahren...« »Dieses Flittchen! Mein Alexander mit diesem Flittchen. Wenn er jetzt hier wäre, würde ich ihm eine knallen, dass ihm Hören und Sehen vergeht.« »Und die Kinder... Sie dürfen es nicht erfahren, hörst du?« »Wirst du die Scheidung einreichen?« »Nein. Wir haben vor Gott unseren Bund der Ehe geschlossen. Bis dass der Tod uns scheidet.« »Gut so, Kind, gut so.« »Aber was ist, wenn er es tut? Hannelore sagt, sie wollen heiraten. Im Frühjahr schon.« »Das behauptet die alte Otterbein, die ist genau so ordinär und nuttig. Mit ihren fünfzig Jahren läuft die rum wie ein junges Ding. Weißt du noch, als sie uns mal besucht hat in Andalusien, mit ihrem Schwager, diesem Willi? Vor fünf Jahren war das, als Alexander den Großauftrag von den Russen bekommen und seinen Betrieb gerettet hatte. So billig und gewöhnlich. Ekelhaft. Alexander wird die Scheidung niemals einreichen. Niemals.« »Was macht dich so sicher, Mutter?« »Weil ich dafür gesorgt habe, Kind.« »Du hast dafür gesorgt?« »Ich habe eine Klausel in mein Testament eingebaut. Gleich nach eurer Hochzeit. Wenn Alexander sich
scheiden lässt, wird er nichts als den Pflichtanteil bekommen.« »Davon hast du mir nie etwas gesagt... Weiß Alexander davon?« »Sicher. Für seinen Bruder gilt das Gleiche. Beide wissen es, und sie halten sich an die Bedingung. Jetzt beträgt unser Vermögen ungefähr zwanzig Millionen Mark. Sagen wir, so Gott will, lebe ich noch zwanzig Jahre, dann sind es gut und gerne fünfunddreißig, vielleicht vierzig Millionen. Das Geld ist gut angelegt und arbeitet für uns.« »Mutter...« »Auf Alexander warten also mindestens fünfzehn Millionen. Dieses Sümmchen wird er sich nicht entgehen lassen.« »Mutter...« »Dafür hat Alexander viel zu hart geschuftet, als dass er darauf verzichten würde. Er hat es ja auch verdient, er soll es sich schön machen im Ruhestand. Dann können die Kinder sich um die Firmen kümmern. Der Philipp, aus dem wird mal was, der ist aus dem gleichen Holz geschnitzt wie mein Wilhelm. Der Johannes schlägt mehr nach dir, der ist ein Schöngeist. Aber dass sich Alexander ausgerechnet mit dieser Otterbein...« Marlene Bromberg verbarg das Gesicht hinter den Händen. Sie hatte sich in Jaqueline Otterbein getäuscht. Sie hatten doch so nett miteinander geplaudert, erst letztes Jahr auf der Weihnachtsfeier. Da war die junge Frau Otterbein schon zur Industrie- und Handelskammer gewechselt. Ich finde Ihre Idee mit dem Frauenhaus ganz toll, Frau Bromberg. Und dass der Alexander, ich meine, dass Ihr Mann auf Weihnachtsgeschenke für die Kunden verzichtet und den Betrag für Ihr Projekt spendet, das ist doch auch ganz toll. Ich wünsche Ihnen viel Erfolg, Frau Bromberg, bei uns hier im Osten wird das ja nicht so eng gesehen mit den Abtreibungen, das war ja normal, da
hätte so ein Projekt sicher keine Zukunft, aber bei Ihnen im Westen, da wird es gewiss gut angenommen. Ich bin ja auch gegen Abtreibung, Frau Bromberg, ich könnte das nicht. Ich war auch mal schwanger, mit siebzehn, von meinem damaligen Freund. Im dritten Monat hab ich das Kind verloren, das war schrecklich. Na ja, heute denke ich manchmal, es war gar nicht schlecht, dass ich das Kind verloren hab, es war schon gut so, im Nachhinein betrachtet. Nicht dass Sie einen falschen Eindruck von mir bekommen, Frau Bromberg, aber seit der Wende hat man als Mutter mit Kind keine Chance mehr. Gibt's ja alles nicht mehr, die Betreuung, die Kinderkrippen. Da muss man sich entscheiden als Frau, entweder Karriere oder Kind. »... betrügen tun ja alle Männer, Marlene, auch mein Wilhelm. Aber seine Konkubinen hatten Niveau, das waren Frauen...« Alexander war also all die Jahre nur bei ihr geblieben, weil er das Erbe nicht verlieren wollte. Marlene Bromberg wollte es nicht glauben. Er hatte nur das Erbe im Sinn. Liebte er sie gar nicht mehr? Verspürte er keine Dankbarkeit für sie? Wer war es denn, der ihm neuen Lebensmut vermittelt hatte, als er in der Klinik vor sich hin dämmerte? Wer hatte ihm denn zwei prächtige Jungs geschenkt? Sie blickte auf den Spruch über ihrem Sekretär, den sie eigenhändig gestickt hatte: Was hülfe es dem Menschen, wenn er die ganze Welt gewönne und verlöre doch seine Seele? »...also Kind, was mir nicht in den Kopf will, ist...« Liebte sie ihn eigentlich noch? Verspürte sie noch ein Verlangen nach ihm? Gut, miteinander geschlafen hatten sie schon seit Jahren nicht mehr, aber die Einhäusers auch nicht, und die hatten sogar noch ein gemeinsames Schlafzimmer, außerdem, diese furchtbare Unterleibsoperation nach der Geburt des Kleinen - »Das war allerhöchste Zeit, Frau Bromberg« -, da konnte es
Alexander nicht von ihr verlangen, bei den Schmerzen, die sie dabei hatte. Nein, wenn sie so darüber nachdachte - zum ersten Mal in ihrer Ehe -, wenn sie ehrlich zu sich selber war, nein, sie liebte Alexander nicht mehr. Schon lange nicht mehr. Sie war nicht unglücklich darüber, dass er siebenhundert Kilometer von ihr entfernt lebte und arbeitete. Sie hatte auch ohne ihn ein ausgefülltes Leben... Sie brauchte ihn nicht. Ihn nicht, aber sein Geld. »... ich verstehe den Alexander nicht, er hätte...« »Mutter!« »Ja?« »Was wäre denn, wenn ich doch die Scheidung einreiche?« »Du würdest alles verlieren.« »Wir haben keine Gütertrennung vereinbart.« »Aber Alexander könnte sich die besten Anwälte leisten. Du nicht.« »Du würdest mich nicht unterstützen?« »Ich würde nie jemanden unterstützen, der eine Scheidung einreicht. Dich nicht und Alexander nicht. Eine Scheidung hat es in der Geschichte der Brombergs noch nie gegeben. Und so lange ich lebe, wird es auch keine geben.« »Aber nach dem Trennungsjahr wäre Alexander frei?« »Ich kenn mich in den Gesetzen nicht aus... Was machst du? Was hast du vor?« »Ich fahre.« »Wohin?« »Zu Alexander.« »Wann?« »Jetzt.«
17 Evchen Michalke hatte ein ganzes Regal mit Fotoalben angelegt, in dem ihr Leben lückenlos dokumentiert war, von der Wiege bis zur... Nein, auch wenn Evchen mehrfach vom Sterben und vom Tod sprach, hatte ich dennoch nicht den Eindruck, dass sie mit ihrem Leben abgeschlossen hatte. Sie wollte leben, aber wie, das wusste sie nicht.
»Gestatten Sie, werte Dame?« Der Boss schob den Schnauzbart, der rasch erkannt hatte, dass jeder Widerstand sinnlos war, von der Rothaarigen weg und führte diese, noch ehe sie protestieren konnte, zu den Klängen eines langsamen Walzers über das Tanzparkett. »Ich glaub, ich spinne«, sagte sie. »Adam-Raphael Herzberger, der Pfarrerssohn.« »Hallo Evchen. Lang nicht mehr gesehen. Hast dich prima gehalten, siehst gut aus.« »Danke, Raphi. Wir werden ja alle nicht jünger.« »Nee, du, Evchen, nee.« Dann schwiegen sie bis zum Ende des Tanzes und begaben sich an den Tisch hinter der Palme. »Warum versteckst du dich? Kannst dich doch sehen lassen.« »Danke, Raphi.« »Was machst'n so? Biste öfter hier?« »Zum ersten Mal heute. Ich geh eigentlich nie fort. Bin seit mindestens fünf Jahren nicht mehr ausgegangen.« »Evchen... Hast doch früher allen Männern den Kopf verdreht. Für uns Armisten warst du der einzige Lichtblick.« »Is lange her, Raphi.« »Biste immer noch mit diesem Traktoristen verheiratet?«
»Is'n halbes Jahr nach der Hochzeit verunglückt. Vom eigenen Traktor überrollt.« »Das tut mir Leid, Evchen.« »Wär eh nichts geworden. Wir ham nicht zusammen gepasst.« »Haste Kinder?« »Drei. Elf, neun und sieben. Sind grad im Ferienlager.« »Und dein Mann?« »Weiß nicht.« »Mensch, Evchen... Hast nicht viel Glück gehabt im Leben?« »Du?« »Wie man's nimmt. Hab'n kleines Geschäft. An- und Verkauf. Second Hand, wie man heute sagt. Läuft nicht schlecht.« »Im Handeln warste ja schon immer der Größte. Konntest immer alles besorgen, hattest überall deine Leute. Sogar bei der Armee. Ich weiß noch, wie du mir die Westseife organisiert hast. Und immer Blumen mitgebracht, zu jeder Jahreszeit. Der schönste Strauß zum Frauentag, der war von dir. Und das als Armist. Den Boss haben sie dich damals genannt.« »So nennen sie mich heute noch.« »Wolltest du nicht mal Pfarrer werden?« »Bin lieber in den Tagebau, als Baggerfahrer. Bis sie mich abgewickelt haben. 93 war's. Bist ja noch jung, Herzberger. Findest sicher bald was anderes. Leute wie du werden immer gebraucht. Nichts war, Scheiße war's. Hier und da ein paar Gelegenheitsarbeiten, sonst nichts. Bis ich mir gesagt hab: Jetzt wirst du dein eigener Chef! Mir sagt jetzt keiner mehr, was ich tun und lassen soll. Mir nicht mehr. Hab meine Jungs...« »Spielst du noch Gitarre?« »Hab nicht mehr so viel Zeit.« »Weißt du noch, als wir bei deinem Vater in der Bluesmesse waren? Du in der Armistenuniform vorm Altar,
mit der Klampfe in der Hand, und wir haben We shall overcome gesungen. Das vergesse ich nie.« »Ich auch nicht. Zwei Wochen Bau, das vergisst man nicht.« »Und dein Vater? Noch immer Pfarrer in...« »...liegt zwei Meter unter der Erde. Am 7. Oktober 89, am vierzigsten Jahrestag der DDR, haben sie ihn umgebracht.« »Umgebracht?« »Herzinfarkt beim Verhör. Sie haben ihn in seiner Zelle verrecken lassen.« »Weißt du, wer die Verantwortlichen waren? Bei deinen Beziehungen wirst du es sicher erfahren haben...« »Ich hab ihre Namen schwarz auf weiß. Der eine hat schon gebüßt, und die anderen... Ich hab keine Eile, ich lass mir Zeit. Ich kann warten... Was is'n los, Evchen?« »Es ist schon nach eins, Raphi. Ich muss jetzt gehen.« »Evchen... Wir haben doch noch gar nicht richtig miteinander getanzt. Hörst du? Karat! Über sieben Brücken. Komm, Evchen, komm...« Dreizehn Tänze später, bei denen sie sich enger und enger umfasst und schließlich innig geküsst hatten, sank Evchen erschöpft auf ihrem Platz hinter der Palme nieder und der Boss verschwand mit Bresan in dem Kabuff hinter der Theke. »Gib mir deinen Wagen, Bresan!«, befahl der Boss. »Boss, du hast keine Fahrerlaubnis... Ich will keinen Ärger...« »Mach dir nicht in die Hose, Bresan. Gib mir die Autoschlüssel.« Bresan wand sich unter dem eisgrauen Blick des Bosses wie ein Aal in der Reuse und schlurfte seufzend zur Garderobe. »Aber ich habe von nichts gewusst«, jammerte er, als er dem Boss die Schlüssel reichte.
Der Boss lächelte und versicherte ihm, dass er sich um Michalke kümmern werde. Dann führte er das wartende Evchen zu Bresans Wagen, einem unauffälligen Toyota, und chauffierte sie munter plaudernd durch das nächtliche Görlitz, die Altstadt umfahrend, an einem Wachmann vorbei, der vor Alexander Brombergs Firma patrouillierte. An der Kreuzung zu den Plattenbauten gerieten sie in eine Polizeikontrolle. Der Boss sagte, er heiße Manfred Bresan und sei Inhaber der traditionsreichen Tanzgaststätte Schlesisches Haus. Er habe seine Brieftasche in der Garderobe vergessen, weil ihn plötzlich ein Stammgast - die neben ihm sitzende Dame - gebeten habe, sie nach Hause zu bringen, da sie sich unwohl fühlte. Die Dame werde selbstverständlich seine Angaben bestätigen, was Evchen, während der Boss ihre Hand zusammenpresste, mit einem eilfertigen Nicken sogleich tat. Natürlich könne der Beamte auch im Schlesischen Haus anrufen und sich den Sachverhalt bestätigen lassen. Der Beamte besprach sich mit seinem Kollegen, dann schritt der eine zum Streifenwagen, während der andere den Boss fragte, ob er Alkohol getrunken habe. Der Boss antwortete, er trinke nie Alkohol, und hauchte den Beamten an. Es dauerte eine Weile, bis der eine Beamte zurückkehrte und dem Boss mitteilte, dass Polizisten keine Unmenschen seien und auch mal ein Auge zudrückten. Allerdings müsse der Herr Bresan umgehend die linke Bremsleuchte reparieren lassen. Dann tippte er sich mit Zeige- und Mittelfinger an die Mütze und wünschte der Dame gute Besserung. Zwei Straßen weiter bat Evchen den Boss anzuhalten. Den Rest wolle sie zu Fuß gehen. »Kommt gar nicht in Frage«, sagte der Boss. »Ich bring dich nach Hause.« »Aber vor der Wohnungstür ist Schluss!«, sagte Evchen. Der Boss nickte und ließ sich von ihr den Weg weisen. Vor dem Plattenbau, der im milchigen Licht der
Straßenleuchte fast anheimelnd wirkte, umarmten sie sich noch einmal. Evchen trat von einem Fuß auf den anderen, während der Boss ihre Haare zurückstrich. Sie blickte sich wieder und wieder um und bekräftigte: »Aber nur bis zur Wohnungstür.« »Nach fünfzehn Jahren kommt es auf eine Nacht früher oder später nicht an.« »Ich will gar nicht mit dir ins Bett«, sagte Evchen, als sie den Fahrstuhl in den vierten Stock schickte. »Heute nicht und morgen auch nicht.« »Bist du dir da so sicher, Evchen?« Der Boss versuchte sie zu küssen, aber sie entzog sich seinen Zuneigungen. »Ganz sicher«, lächelte sie. »Aber vielleicht auch nicht.« »Nächsten Freitag im Schlesischen. Haus?« »Vielleicht. Vielleicht aber auch nicht.« Sie drückte dem Boss noch einen Kuss auf die Wange, dann verschwand sie in der Wohnung. Der Boss überlegte, ob sie vielleicht auf ein Klopfen wartete, dann fiel sein Blick auf das Türschild. Sein Magen krampfte sich zusammen, und die Wut, diese ohnmächtige Wut, die ihn blind und rasend werden ließ, dieser Hass, der unbändige Hass, der ihn in ein Monstrum verwandeln konnte, diese Wut und dieser Hass bemächtigten sich seiner.
18 Als ich Margot Otterbein das erste Mal in ihrem Geschäft zwischen all den Büstenhaltern, Unterhosen und Stützstrümpfen herumwieseln sah, kam mir unwillkürlich ein Gedanke des Philosophen Blaise Pascal in den Sinn: »Wenn ich es mitunter unternommen habe, die mannigfaltige Unruhe der Menschen zu betrachten, sowohl die Gefahren wie die Mühsale, denen sie sich, sei es bei Hofe oder im Krieg, aussetzen, woraus so vielerlei Streit, Leidenschaften, kühne und oft böse Handlungen usw. entspringen, so habe ich oft gesagt, dass alles Unglück der Menschen einem entstammt, nämlich dass sie unfähig sind, in Ruhe allein in ihrem Zimmer bleiben zu können. Kein Mensch, der genug zum Leben hat, würde sich, wenn er es nur verstünde, zufrieden zu Haus zu bleiben, aufmachen, um die Meere zu befahren oder eine Festung zu belagern.«
Der Schöpfer von Himmel und Erde war am Morgen des 14. August, einem Sonnabend, in besonders guter Stimmung. Er ließ das Licht mit allen seinen Farben spielen, die Sonne, die aus den Wassern der Adria emporstieg, hell und rein erstrahlen und Margot Otterbein unversehrt und unverletzt zwischen zwei Fischerbooten erwachen. Er hatte während der Nacht seine Hand über sie gehalten und sie geschützt - vor Kälte, denn er ließ sie eine Decke finden, und vor Nässe, denn er ließ die Wellen wenige Zentimeter vor ihren Füßen im Sande verlaufen. Er ließ die wilden Hunde an ihr vorüberstreunen, hielt den Strandwächtern die Augen zu und schickte einem unbefriedigten Heimkehrer noch rechtzeitig eine Hure
über den Weg. Er hatte Margot Otterbein vor Leid und Unglück bewahrt und ihr einen neuen Tag geschenkt. Und dennoch war Dankbarkeit das letzte Gefühl, das Margot Otterbein am Morgen des 14. August verspürte. Ogottogottogott, alles war futsch. Ihre Träume waren zerplatzt wie die bunten Ballons in der Diskothek, in die es sie hineingetrieben hatte, nachdem Frau Einhäuser ihr mitgeteilt hatte, dass ihr künftiger Schwiegersohn, den sie sich schon wie eine Trophäe, wie das Parteiabzeichen - denn sie könne ja wohl nicht leugnen, in der Partei gewesen zu sein, das sehe man ihr einfach an - ans eigene Revers geheftet habe, dass dieser Alexander Bromberg, dieser Held der Arbeit, dass Alexander der Ehemann ihrer besten Freundin Marlene sei. Und Kurt solle nicht so dämlich sein und denken, dass sie nicht mitbekomme, dass er unter dem Tisch mit dieser Aufschneiderin rumfummele. Und Kurt hatte seinen Fuß blitzartig zurückgezogen und so getan, als ob er sie nicht kenne, als ob sie eine Fremde für ihn sei, obwohl sie sich doch schon so nahe waren. Das müsse doch alles ein Missverständnis sein, hatte sie noch zu entgegnen versucht, das werde sich doch klären lassen, in einer so großen Stadt wie Aachen lebten doch gewiss mehrere Alexander Brombergs, sie meinten sicher zwei verschiedene Alexander Brombergs, ja genau, so müsse es sein: zwei völlig andere Menschen, die nur zufällig den gleichen Namen tragen, das komme ja öfter vor, sie kenne zum Beispiel gleich drei Helga Müllers, und der Witz an der Sache sei, dass die eine Helga den Bruder der anderen Helga geheiratet habe und dass plötzlich in einem Haus, unter einem Dach, zwei Helga Müllers wohnten, das sei doch lustig, nicht wahr? Nein, Frau Otterbein, das finde ich gar nicht lustig. Es gibt nur einen Alexander Bromberg, der aus Aachen stammt und in Görlitz einen Betrieb besitzt. Lass uns
gehen, Kurt, mit dieser Hochstaplerin möchte ich nicht länger am Tisch sitzen. Und Kurt hatte hin und her überlegt, sie hatte ihn schon fast auf ihre Seite gezogen, da sagte dieses Klappergestell: Kurt, du weißt, was das für Konsequenzen hat, ohne mich bist du ein. Nichts, du bist auf mich angewiesen, ohne mein Geld kannst du deinen Laden schließen, vergiss das nicht. Und Kurt stand auf und ging mit. Sie hatte ihm noch zugeflüstert: Bei den Fischerbooten, unten am Strand, in zwei Stunden, du weißt wo, Kurt, ich warte auf dich. Bitte komm, Kurt! Aber Kurt hatte sie im Stich gelassen. Margot Otterbein zwang sich, die Augen zu öffnen. Sie richtete sich auf und schüttelte den Sand aus den Haaren. Ihre Lippen waren trocken, aufgerissen fast, und der widerliche Geschmack im Mund ekelte sie an. Sie griff nach der Flasche, die am Rumpf des Bootes lehnte, trank gierig und spuckte die Brühe gleich wieder aus. Der Grappa sabberte an ihrem Kinn herunter, troff auf ihre Bluse und verspritzte im Sand. Sie ließ sich wieder auf' den Rücken fallen, die Beine angewinkelt, der Rock bis zur Hüfte hochgerutscht. Ogottogottogott, alles war futsch, ihr ganzes Leben ruiniert. Schaggi! Warum hatte Schaggi sie belogen, ihre eigene Mutter belogen? Warum heiratet ihr nicht, Schaggi? Ihr seid nun schon so lange zusammen, da könnt ihr doch heiraten. Du liebst ihn, er liebt dich, er ist eine gute Partie, du bist eine schöne Frau, ihr passt zueinander, du und Alexander, ihr seid ein tolles Paar, und dann baut ihr euch ein Haus, bekommt Kinder, wir werden endlich Großeltern. Ich werde eine gute Oma sein, Schaggi, so wie ich auch immer eine gute Mutti für dich war, ich bin immer für dich da, wenn du mich brauchst, ruf mich nur an, dann kommt die Oma, ich nehm auch die Kinder, dann kannst du wieder arbeiten, Alexander unterstützen, ihm eine Hilfe sein. Alexander ist der richtige Mann für dich, glaub mir, so
etwas sieht eine Mutter, nicht so wie Danilo, der war ja nett, aber keiner, an den du dich mal anlehnen konntest, kein richtiger Mann, der war eine Memme. Deshalb hat er sich auch mit Vati so gut, verstanden, die beiden waren ja ein Herz und eine Seele, zwei Doofe, die sich gefunden hatten. Ach Schaggi, wenn ich zwanzig Jahre jünger wäre, ich würde Alexander sofort heiraten, ich würde keine Sekunde zögern, ich würde noch heute Ja sagen... An wem liegt es denn, dass ihr nicht heiratet? Willst du nicht, oder will er nicht? Schaggi, er ist doch nicht etwa verheiratet?... Nein?... Wirklich nicht?... Dann ist ja gut, Schaggi, das hab ich manchmal befürchtet, dass er vielleicht verheiratet ist, weil ihr euch so selten trefft, eine Mutter macht sich da eben ihre Gedanken, das kannst du einer Mutter nicht verwehren... Wenn du mal Mutter bist, Schaggi, wirst du dir auch Sorgen machen, ehrlich, Schaggi, eine Mutter will stets nur das Beste für ihr Kind, ich auch, ich hab immer nur das Beste für dich gewollt... In Vati habe ich keine Stütze, das weißt du, hab ja nie eine Stütze in ihm gehabt, mit ihm kann man nicht reden, er hört nie zu, da musste ich alles alleine entscheiden. Ohne mich wäre er nie Erster Sekretär geworden, ohne mich wäre er nie auf die Parteischule gegangen, ohne mich wäre er sein ganzes Leben der kleine Maschinist im Schichtdienst geblieben, ohne mich wäre er gar nichts, ein Niemand. Manchmal frag ich mich, wie ich das alles durchgestanden habe, all die Jahre. Der Betrieb, die Partei, du, nach der Wende das Geschäft, um Vati kümmern... Ohne Onkel Willi hätte ich das nicht geschafft, Schaggi, wenn Willi nicht gewesen wäre, hätte ich durchgedreht... Ich ein Verhältnis mit Willi? Sag mal, Schaggi, spinnst du? Das hätte ich nicht erwartet, dass du so etwas denkst. Traust du das deiner Mutter zu, Schaggi, ein Verhältnis mit dem Bruder des eigenen Mannes zu haben? Schaggi, ich bin wirklich enttäuscht, dass du das für möglich hältst. Wer sagt denn so was?... Du hast es
gehört? Von wem?... Die Leute reden viel, wenn sie nichts zu sagen haben. Vor allem der Zschätzsch, der Schwätzer, der will nur ablenken, weil Irene... Nichts, Schaggi, ich will nichts gesagt haben, ich habe nichts gesagt, ich weiß von nichts... Aber Schaggi, dass ihr bald heiratet, du und der Alexander, das versprichst du mir, ja, mein Kind? Margot Otterbein drehte sich auf die Seite und übergab sich. Oh Gott, war das peinlich. Hoffentlich beobachtete sie niemand. Wenn sie jemand sehen würde, in ihrem Zustand, oh Gott, wäre ihr das peinlich. Sie versuchte, sich an der Planke des Fischerboots hochzustemmen, aber ihre Arme gehorchten ihr nicht. Sie sank wieder in sich zusammen. Wenn nur Irene hier wäre, die hätte Verständnis, die hatte manchmal auch solche Schwindelanfälle. Das sind die Wechseljahre, Margot, da müssen wir durch. Die eine trifft's mehr, die andere weniger, ich nehm jetzt Johanniskraut, da geht's mir besser. Solltest du auch nehmen, Margot, immer zwei mehr, als auf der Packung steht. Das ist die Natur, die hilft am besten. Oder Willi... Lieber Gott, bitte tu ein Wunder und lass den Willi kommen. Ich hab ja noch nie gebetet, lieber Gott, aber bitte schick den Willi her, bitte, lieber Gott, bitte lass den Willi kommen. Der Willi würde sie jetzt in seine Arme nehmen, bei ihm würde sie Geborgenheit finden, bei ihm könnte sie sich ausweinen. Willi würde ihr all das schenken, was sie brauchte, Willi war stark und mutig, Willi hatte keine Angst, Willi hatte alles im Griff. Sie hätte Willi heiraten sollen und nicht Ewald. Willi war wie ihr Vater, ein Mann, ein richtiger Mann. So wie Alexander Bromberg. Willi und Alexander, das waren Männer... Margot Otterbein robbte ein Stück vorwärts, der Sonne entgegen. Dieser Durst, dieser unerträgliche Durst. Sie dörrte aus, von innen heraus, vertrocknete. Wasser, nur
ein Schluck Wasser. Ein Tropfen Wasser. Auf die Lippen, auf die Stirn, auf die Schläfen. Oh Gott, sie hatte alles verdorben, sie war an allem Schuld. Lieber Gott, bitte lass Willi kommen. Oder Irene. Oder Kurt. Oder Giovanni. Egal, irgend einen. Wenn bloß die Leute sie nicht sähen, oh Gott, war ihr das peinlich. Nur einen Schluck Wasser, lieber Gott, nur einen Schluck Wasser.
19 Rudi kenne ich jetzt seit bald zwei Jahren. Wie gesagt, zwischen uns hat sich eine Art Freundschaft entwickelt, ein gewisses stilles Übereinstimmen. Wir brauchen nicht viele Worte, um uns zu verstehen. Ich habe mich, als ich die Ereignisse des 13. Augusts niederschrieb, natürlich gefragt, ob ich ihn vielleicht nicht zu positiv darstelle. Rudi würde es sicher so empfinden, bescheiden wie er ist. Und ich habe mich gefragt, was uns allen Gegensätzen zum Trotz miteinander verbindet. Ist es der Fußball? Ja, gewiss. Ist es die Liebe zur Natur? Das auch. Ist es das Schicksal, ohne Vater aufgewachsen zu sein? Bestimmt. Aber es ist noch mehr, es ist etwas Tieferes: Es ist das Wissen, das in jedem Glück, und sei es noch so klein, schon der Kern der Katastrophe innewohnt.
Jaqueline Otterbein presste ihr Gesicht in das Kopfkissen, das ein erster Sonnenstrahl mit Licht überzog. Im Garten tschilpten die Spatzen, ein Specht hämmerte, die Enten quakten und es duftete nach Sommer, nach Ferien und Urlaub. Das angekündigte Unwetter war ausgeblieben, ein wunderbarer Tag kündigte sich an. Jaqueline streckte den rechten Arm aus, der Platz neben ihr war leer. Wieder leer. Aber das Laken war noch warm, körperwarm, nicht von der Sonne erwärmt. Sie hörte den Bäckerwagen hupen, gleich würde das Gartentor quietschen und Rudi würde »Schaggi, bis du schon wach?« rufen, auf sie warten, ihr einen guten Morgen wünschen, ihr versichern, dass sie, wenn sie frisch aus dein Bett krieche und noch verschlafen sei, besonders bezaubernd aussehe - ja, er sagte tatsächlich: bezaubernd - und ihr den Beutel mit
den frischen Brötchen in die Hand drücken. Jaqueline hörte das Gartentor quietschen, Rudi ihren Namen rufen, aber sie blieb liegen, Rudi rief noch ein Mal, sie rührte sich nicht, Rudi klopfte gegen die Scheibe der Terrassentür, dann knarzte die Treppe, dann quietschte das Gartentor, die Schritte wurden wieder leiser, dann war es still. Nur die Vögel zwitscherten und erinnerten Jaqueline daran, dass ein herrlicher Sommertag bevorstand. Jaqueline Otterbein fühlte sich elend. Sie hatte das Gespräch aufgeschnappt, als er ging, obwohl sie sich unter der Bettdecke verkroch: Rudi, so zeitig schon auf? Bin doch Frühaufsteher, Heinz, kannste nichts gegen machen, einmal Tagebau, immer Tagebau. Schöner Tag heute, Rudi, was? Braut sich was zusammen, Heinz, spür's in meiner Narbe. Rudi, du bist und bleibst ein Pessimist. Wirst sehn, das Wetter hält sich. Nee, Heinz, heute nicht. Außerdem ist Sommerfest, da passiert immer was. Mir hat's schon gestern gereicht, Rudi. Die jungschen Kerle, das hat's früher nicht gegeben, nur auf Kloppe aus. Muss ich dir erzähln, Rudi: Treff ich doch vor dem Festzelt die Schaggi. Ihr Liebster is nich gekommen und sie hatte ihren Geldbeutel vergessen. Bin ja Kavalier alter Schule, Rudi, das weißt du. Also lad ich die Schaggi selbstverständlich ein und hol für uns 'ne Flasche Sekt, da hockt sich so ein Jungscher neben die Schaggi und sagt: Die Braut gehört mir. Ich sag: Die Dame gehört zu mir, und hab ihn verscheucht. Wie wir so miteinander plaudern, die Schaggi und ich, da kommen immer mehr von denen. Die Schaggi kriegt Angst und wir gehen. Und jetzt, Rudi, wir waren gerade über die Brücke, so ungefähr beim FKK, hinter den Krüppelkiefern, da stehen plötzlich drei von den Jungs vor uns. Ham
wahrscheinlich die Abkürzung am See genommen. He Opa, verpiss dich, sagen die und machen sich an die Schaggi ran. Die Schaggi schlottert vor Angst, aber da hättste mal den alten Coschütz sehn sollen. War ja Nahkämpfer, Eliteeinheit, beim Adolf damals, 44 gezogen. Hart wie Kruppstahl, flink wie'n Windhund, zäh wie Leder. Ich die Sektflasche gegriffen und dem einen übern Kopp gehauen, dann dem Anderen mit der Faust in den Magen und dem Dritten mit der Handkante... guck, Rudi, so... an die Kehle. Und alle drei lagen flach, wie tot. Denen hab ich eine Lektion erteilt, Rudi, die wagen sich nicht mehr an den Coschütz ran. Und die Schaggi? Ist wohlauf. Na, Gott sei Dank. Hab die Schaggi natürlich nicht mehr aus den Augen gelassen. Man weiß ja nie, Rudi, die Kerle sind hart im Nehmen. Ich bleib besser hei dir, hab ich der Schaggi gesagt, damit du einen Beschützer hast, wenn die uns folgen. Und? Sind die gekommen? Hab die ganze Nacht gewacht, Rudi. Da hat sich keiner getraut. Na, Gott sei Dank, Heinz. Also, Rudi, muss heim. Die Karnickel füttern. Mach's gut, Heinz, mach's gut. Jaqueline Otterbein winkelte die Beine an und rollte sich wie ein Embryo zusammen. Sie zog sich die Decke über den Kopf und zitterte, fror trotz der Wärme. Sie fand keine Ruhe, schreckte hoch, sprang aus dem Bett, schleuderte das Bettzeug auf den Teppich, riss das Laken herunter, knüllte es zusammen und stopfte es in die Waschmaschine. Alles roch nach Coschütz, nach altem Körper und Arznei, nach Verwesung und Fäulnis. Nach Coschütz, nicht nach Alexander. Jaqueline rannte mit einem Raumspray durch die Küche, durchs
Wohnzimmer, ins Bad und zuletzt ins Schlafzimmer. Sie kniete auf den Boden und stieg auf die Stühle, sie reckte sich und streckte sich, unaufhörlich den Fliederduft in jeden Winkel versprühend, und ließ nicht eher ab, bis sie die Dose geleert hatte. Anschließend schleppte sie die Matratze, auf der Coschütz die Nacht über Wache geschoben hatte, auf die Terrasse und spritzte sie mit dem Gartenschlauch ab. Das Wasser sammelte sich und bildete kleine Rinnsale. Sie flossen unter dem Tisch hindurch, der noch zum Abendessen gedeckt war, an der kleinen Steinmauer hinunter ins Rosenbeet. Jaqueline schnüffelte an der Matratze, sie stank immer noch, verpestete die Luft, raubte ihr den Atem. Die Matratze musste weg, weit weg. Jaqueline zerrte sie die Treppe hinunter, schleifte sie durch den Garten, hastete mit ihr über den Steg und warf sie ins Boot. Dann ruderte sie auf den See hinaus und stieß die Matratze endlich ins Wasser. Mit Befriedigung sah sie, wie die Matratze allmählich versank. Und mit ihr die Erinnerung an die Nacht mit Coschütz, seiner welken Haut, seinem modrigen Atem und seiner fauligen Ausdünstung. Oh Gott, worauf hatte sie sich da bloß eingelassen! Als sie zurückkehrte und sah, wie Rudi mit seinem Reisigbesen die Zufahrt fegte, merkte sie, dass sie nur mit einem Negligé bekleidet war. Und dass ihre Hoffnung trog, die Nacht mit Coschütz vergessen zu können. »Na, Schaggi, machste Hausputz? Muss auch mal sein, wa.« Jaqueline hüllte sich in den Strickpullover, der noch vom gestrigen Abend über der Stuhllehne hing, und zündete sich eine Zigarette an. Sie brachte kein Wort heraus. Rudis Augen, diese tieftraurigen, sehnsüchtigen Augen. »Hast wohl 'ne scheußliche Nacht hinter dir, Schaggi?... Ich sag ja, mit den jungen Leuten, das kann so nicht weiter gehen, das wird von Jahr zu Jahr schlimmer.«
»Ach Rudi...« »Aber der alte Coschütz hat ja auf dich aufgepasst. Ich bin so froh, dass dir nichts passiert ist, Schaggi. Du glaubst gar nicht, wie froh ich bin.« »Rudi, bitte... Hör auf...« »Du weißt, Schaggi, ich bin immer für dich da. Wenn noch mal was is... Auf den Rudi ist Verlass.« »Rudi...« »Ich bin vielleicht kein Elitesoldat, Schaggi, so wie der Heinz, aber ich kann auch kämpfen. Ich bin ein Kämpfer, Schaggi, auch wenn man es mir nicht ansieht. Hab immer gekämpft, mein ganzes Leben lang. Hab mich nie unterkriegen lassen. Als ich mit dem Fußball aufhören musste, nicht, und auch nicht, als sie meine Vögel vergifteten. Hab nie aufgegeben...« »Ich weiß, Rudi.« »Wenn dir jemand was antut, Schaggi, das wär schrecklich für mich. Da würde ich mein eigenes Leben...« »Wenn du willst, Rudi, können wir reingehen. Oder wir tun's bei dir... dann haben wir's hinter uns.« »Schaggi...« »Ja, Rudi, das ist mein Ernst. Das ist es doch, was du willst. Du wartest doch seit Jahren auf nichts anderes, als dass ich sage: Komm Rudi und...« »Schaggi, was ist bloß los mit dir?« »Meinst du, ich weiß nicht, wie gierig du hinter der Gardine lauerst, wenn ich im Bad bin? Glaubst du, ich merk es nicht?« »Schaggi, manchmal versteh ich dich nicht...« »Nimm mich, Rudi, ich bin bereit, ich besorg's dir. Ob der stinkende Coschütz über mich herfällt oder du, das ist doch egal. Scheißegal, Rudi, Scheißegal.« »Du tust mir Leid, Schaggi.« »Ich tu dir Leid? Na toll, na wunderbar...« Sie sprang von der Treppe und warf ihm den Pullover zu. Dann hob sie
ihr Negligé. »Schau es dir an, Rudi, sieh genau hin... Und ich tu dir Leid?« »Schaggi, bitte, mach uns nicht unglücklich.« »Komm, Rudi, oder hast du Angst? Bist du ein Feigling, Rudi?« »Schaggi, hör endlich auf damit!« »Na komm schon, du Feigling... du Schlappschwanz...« »Nein, Schaggi, nein. Das kann ich nicht, das will ich nicht. Nicht so.« »Du willst nicht, Rudi? Du stößt mich zurück?« »Ich liebe dich, Schaggi, seit dreizehn Jahren, seit dem ersten Tag. Und weil ich dich liebe...« »Du liebst mich, Rudi.? Ha! Ich lache!« »Ja, Schaggi...« »Und ich hasse dich, Rudi! Ich hasse euch alle! Dich! Coschütz! Alexander! Ich hasse euch alle!«
20
Frau Opitz, die alte Frau in der Dederonschürze, hat in der Schilderung der Ereignisse um den 13. August gewiss nicht den Raum gefunden, der ihr gebührt. Ihr verdanke ich die wertvollsten Informationen. Nicht nur, dass sie die hier geschilderten Ereignisse minutiös beobachtet hat, sie war auch bestens über die Familien Matiebe und Michalke im Bilde. Und noch mehr: Sie überließ mir die Aufzeichnungen ihres verstorbenen Mannes. In dreiundfünfzig Kladden hatte er von seiner Ankunft in Görlitz bis zu seinem Tod akribisch festgehalten, was ihm privat und beruflich widerfahren war. Viel Banales, Alltägliches und Ermüdendes, aber auch Gewinnbringendes: Herr Opitz war nämlich fünfundvierzig Jahre, von 1946 bis 1990, als Buchhalter in dem Betrieb beschäftigt, den Alexander Bromberg ein Jahr später erwerben sollte. Auf den Erfahrungsschatz dieser lebenslangen Buchhalterexistenz wollte Bromberg nicht verzichten: Er zog Opitz, vor allem in der Anfangszeit, mehrfach bei Entscheidungen zurate. Zum Dank durfte Opitz seine Rente mit Pförtnerdiensten in Brombergs Firma aufbessern. Ihm blieb offensichtlich nichts verborgen, denn am 13. August 1992 verzeichnete er in seiner Kladde: »Chef verlässt Betrieb mit Praktikantin Otterbein. Da bahnt sich was an...«
Der Boss hockte auf den Stuten zur Eingangstür des sanierten Plattenbaus, die Ellbogen auf die Knie gestützt, und rieb seine schmerzende Hand, die er mit einem Taschentuch verbunden hatte. Eine alte Frau in einer Dederonschürze schlurfte an ihm vorüber und ließ ihren
Hund auf den schmalen Grünstreifen zwischen Parkbucht und Hauseingang sein Geschäft verrichten. »Gucken Sie nicht so, junger Mann, mach ich gleich weg«, sagte sie. Der Boss nickte großmütig. »Haben Sie'n Schlüssel vergessen, junger Mann?« »Nee«, antwortete der Boss. »Warte noch auf jemanden.« »Ist das Ihr Auto, das mit dem Aufkleber?« »Nee.« »Schade, ich dachte, Sie sind vom Schlesischen Haus. Sind wir nämlich oft tanzen gewesen früher, nach'm Krieg, mein Mann und ich. Wir stammen aus Breslau.« »Wie schön. für Sie.« »Haben Sie sich verletzt?« »Nichts Ernstes. Beim Apfelschälen geschnitten.« »Sie Ärmster! Haben Sie kein Mädel, das Ihnen die Äpfel schält?« »Nee.« »Wissen Sie, heut Nacht haben sie hier wieder 'ne Scheibe eingeschlagen. Hab ich genau gehört. Bin ja nachts oft wach. Die sind wieder unterwegs, hab ich zu meinem General gesagt, da müssen wir aufpassen.« »Ja, ja, die jungen Leute. Wissen nicht, wohin mit ihrer Kraft.« »Genau, junger Mann, sag ich immer zu meinem General: Wenn die arbeiten würden, hätten die nicht so viel Unsinn im Kopp.« »Einen schönen Tag noch, junge Frau.« »Junge Frau, das hat schon lang niemand mehr zu mir gesagt. Sie sind mir ein Scharmör, junger Mann!« Der Boss schaute ihr nach, bis sie im gegenüberliegenden Haus verschwand, dessen obere Stockwerke von den ersten Sonnenstrahlen gestreift wurden. Er hatte Evchen wiedergetroffen, Evchen aus dem Konsum. Und Evchen Ristock war arbeitslos, hatte drei Kinder, ging nie aus und hieß jetzt Eva Michalke. Eva und Michael Michalke,
stand auf dem Türschild. Michalke hatte Evchen geheiratet und ihr drei Kinder gemacht. Michalke, der IM Ingenieur, der mit ihm zusammen vor dem Altar in der Kirche seines Vaters We shall overcome gesungen hatte. Und heute als Assistent der Geschäftsleitung die Drecksarbeit für Alexander Bromberg erledigte. Ein Taxi brauste heran und stoppte vor dem Eingang. Der Fahrer sprang heraus und half einem braun gebrannten Lederjackenträger, einen Besinnungslosen vom Rücksitz zu ziehen und ihn auf dem Gehsteig abzulegen. Dann verhandelten sie miteinander, der Fahrer steckte sich einen Geldschein in die Hemdtasche und fuhr davon, die Lederjacke winkte, bemüht das Gleichgewicht zu halten, den Boss herbei. »He, junger Mann, kannste mal anpacken?« Der Boss beugte sich über den Besinnungslosen, der nach Alkohol und Erbrochenem stank und sich vollgepinkelt hatte. Er klopfte ihm auf die Wange, hob den Arm, der sogleich schlaff herunterfiel, und fühlte seinen Puls. »Sieht nicht gut aus.« »Ham jefeiert heute, mein Kolleje und icke. Ham uns lang nich jesehn. Wohnste hier?« »Hm.« »Matiebe, Klaus Matiebe. Bin aus Afrika. Hab da'n Reisebüro. Und zwee Hotels. Biste schon mal uffn Kilimandscharo hoch:... Musste unbedingt machen, kriegst ooch 'n Sonderpreis... Haste dir verletzt?« Matiebe, Offizier im besonderen Einsatz, seit über fünf Jahren von der Bildfläche verschwunden. Neue Frisur und schlanker. Aber immer noch dieselbe Kunstlederjacke. Dieter Kiefer war die Nummer eins, die Nummer zwei lag auf dem Gehsteig und die Nummer drei stand schwankend vor ihm. »Nichts Ernstes.« »Bin ja schon früher jeklettert. Sächsische Schweiz und so, Hohe Tatra, Ural... Aber ick sach dir, det sin alles
kleene Fische gejen den Kilimandscharo. Musst nur aufpassen, det du nich höhenkrank wirst, sonst is det keen Problem. Schafft jeder... Dann pack ma an! Is janz schön schwer, der Michalke. Du die Beene, ick die Arme. Erstmal von der Straße weg.« Der Boss sah, wie sich die Alte neugierig aus dem Fenster beugte. »Wo seid ihr denn gewesen?« »Wat?« »Wo ihr gesoffen habt, du und Michalke.« »Im Schwarzen Adler. War früher unsere Stammkneipe. Heute kennste da niemand mehr. War aber trotzdem lustig, hab schon lang nich mehr so jelacht. Karaoke. Weeßte, wat det is? Da läuft die Musik vom Band, und auf der Bühne singt jemand dazu. Det Beste war so'n Trottel mit 'nem Pferdejebiss. Hab ihm 'n Paar Schnäpse spendiert gejen det Lampenfieber. Hat er wohl nich vertragen. War total blau, als er auf die Bühne is. Ick lach mir jetzt noch tot... Über sieben Brücken musst du gehen, sieben dunkle Jahre überstehn... Det musste dir vorstellen, der steht da oben und dreht völlig durch. Jeht mit dem Mikroständer auf die Leute los. Und brüllt, det er alle umbringen will. Total durchjeknallt. Hat erst gar nicht so'n Eindruck jemacht, det er 'n Bekloppter is. Mit drei Mann mussten se ihn bändigen. Hat erst Ruhe jegeben, als sie ihm die Fresse poliert ham. Ick sach dir, so wat Ulkiges hab ick noch nie erlebt... Ham uns dann rausjeschmissen... Verträgt ja nichts mehr, der Michalke. Hat früher jesoffen wie ein Loch, war der Letzte, der noch stand. Aber heute... Hat erst rumkrakeelt und den Bekloppten, den mit dem Pferdegebiss, fertig jemacht und dann 'nen Moralischen jekriegt. Hab ick dir det erzählt von dem Karaoke?... Ja?... Nur jeflennt un jejammert zum Schluss, hat keenen Spaß mehr jemacht. Wien Pfaffe hat der jeredet. Schuld und Vergebung und so'n Kram. Det er'n schlechtes Jewissen hat und gerne
mal beichten tät... Hätt ich nich jedacht, det der Michalke so 'ne Probleme hat. Ick hab ihm ja damals schon jesacht, als er am Kiosk rumjehangen is, det er mit mir nach Afrika kommen soll. Da fragt dich niemand, wat du für 'ne Verjangenheit hast. Det is denen egal, Hauptsache, du... Aber er wollte ja nich auf mich hören. Kann doch mein Evchen nich im Stich lassen... wenn ick det schon höre... ick hab ja meine Olle ooch nich im Stich jelassen. Die kriegt jeden Monat 'ne Überweisung von mir, da braucht die gar nich mehr zu arbeiten... Ja, dann is er plötzlich umjekippt, hat sich ans Herz jepackt und jesacht: Mir is schlecht. Hör uff, hab ick jesacht, mach keen Scheiß... Hat er dann ooch nich. Det wär noch wat jewesen, wenn der auch noch det Taxi volljekotzt hätte. Hat mir schon im Adler jereicht. War voll peinlich. Eigentlich hätt ick jehn sollen, aber 'nen alten Kumpel lässt man ja nich im Stich... Also, heb an!« »Nee.« »Wat heißt hier: Nee?« »Will mich nicht schmutzig machen.« »Kumpel... Nur von der Straße weg, rin in'n Aufzug.« »Ich bin nicht dein Kumpel, Matiebe.« Der Boss verschränkte die Arme vor der Brust und nickte der Alten zu. »Nur von der Straße runter... Will doch keenen Ärjer, Mann. Der hat Frau und Kinder, der Michalke... Sach mal, ick gloob, ick kenn dich... du kommst mir bekannt vor...« Der Boss grinste und bewegte sich nicht vom Fleck. Matiebe fluchte und griff Michalkes Arme. Er schleifte ihn ein Stück vorwärts und lehnte ihn ans Geländer. »Also, wat is? Willste mir det wirklich alleene machen lassen?« »Ja, Matiebe.« »Ick kenn dich... deine Oogen... Wat machst'n so?« »Willst du mich verhören, Matiebe?«
»Um Jottes Willen... is ja jut, is ja jut... Man wird doch mal fragen dürfen... Wusste ja nich, det du so empfindlich bist... Also, wenn man den Michalke so sieht, könnt man fast meinen, er wär tot... Aber dann würd er nich so stinken... Am Besten, wir legen ihn gleich in die Badewanne, oder wat meenst du?... Evchen wird nich begeistert sein, wenn wir ihn ins Bett packen und zu ihr legen... Nu lass dir doch nich ewig bitten!« Matiebe zückte seine Geldbörse und fingerte einen ZehnMark-Schein heraus. »Reicht det?... Nee?... Zwanzig?... Dreißig is mein letztes Anjebot, mehr hab ick eich mehr... Also, du bist mir 'ne Marke... Na jut, dann zeigt dir eben jetzt der Matiebe, wie er den Michalke ooch alleene von der Straße räumt.« Matiebe beugte die Knie, streckte die Arme, spuckte in die Hände, reckte den Daumen in die Höhe und hievte Michalke über seine Schulter. Er ächzte und stöhnte, machte einem Gewichtheber gleich einen Ausfallschritt, stemmte sich und Michalke in die Höhe und wankte die Treppe hinauf. »Da kiekste, wa! Det hätteste nich jedacht, det der Matiebe det ooch alleene schafft!« Auf der vierten Stufe verlor Matiebe, wie es der Boss vorausgeahnt hatte, das Gleichgewicht. Er taumelte und torkelte, suchte nach einem Halt, trat ins Leere, rutschte ab und ruderte mit den Armen. Michalke glitt ihm aus den Händen und schlug mit dem Kopf auf den Steinboden, Matiebe umklammerte das Geländer und erkannte schlagartig, welches Spiel mit ihm getrieben wurde. »Herzberger, du Schwein!«, stieß er hervor. »Jetzt erkenn ick dich... Det wirst du mir büßen, det schwör ick dir!« »Ich schick dir ein Foto vom Kilimandscharo, Matiebe. In die Zelle.« Der Boss schlenderte, als ob nichts geschehen wäre, zu Bresans Wagen, wendete, fuhr gemächlich der aufgehen-
den Sonne entgegen und gewährte an der Kreuzung einem Streifenwagen die Vorfahrt.
21 Autobahnraststätten sind ein Symbol des Lebens, Orte der Vergänglichkeit und des Vergessens, des Kommen und Gehens. Hier ist nichts von Dauer, nichts, was Bestand hätte, alles ist oberflächlich und flüchtig. Es sei denn, es geschieht ein Wunder, das dieses Gesetz außer Kraft setzt.
Der Verkehrsflieger des Mitteldeutschen Rundfunks, der gerade über der Autobahn Eisenach-Görlitz kreiste, meldete den lieben Hörerinnen und Hörern eine Vollsperrung vor der Abfahrt Dresden-Neustadt. Auf der Elbbrücke habe sich ein schwerer Unfall ereignet. Nach Angaben der Polizei sei der Fahrer eines schwarzen Porsches ungebremst auf einen polnischen Kleintransporter geprallt. Vermutlich sei der Fahrer am Steuer eingeschlafen. Aus der Luft biete sich ein Bild des Grauens. Die Sperrung werde noch mindestens zwei Stunden dauern. Es habe sich ein kilometerlanger Rückstau gebildet. Die Polizei bitte alle Verkehrsteilnehmer in Richtung Görlitz, Dresden weiträumig zu umfahren, da das innerstädtische Straßennetz hoffnungslos überlastet sei. Marlene Bromberg, den Wunsch nach allzeit guter Fahrt noch im Ohr, setzte den Blinker und bog auf die Ausfahrt zur Raststätte Dresdner Tor. Sie hatte eine Pause bitter nötig. Sie war fast siebenhundert Kilometer an einem Stück durchgefahren, eine stolze Leistung, besonders für eine Frau wie sie, die weite Strecken gewöhnlich nicht mit dem Auto zurücklegte. Sie erkundigte sich bei der Kassiererin nach einer Umleitung, aber die konnte ihr nicht weiterhelfen, weil sie jeden Tag aus dem Erzgebirge pendele und sich in der Gegend nicht auskenne.
Marlene Bromberg nahm den Autoatlas mit ins Restaurant und bestellte sich eine Portion Kaffee und einen Salatteller. Als sie gerade den Atlas von hinten nach vorne durchblätterte und sich darüber ärgerte, dass sie die Seite mit Dresden nicht fand, bot ihr ein älterer Herr seine Hilfe an. Er trug weiße Socken in Sandaletten und eine kurze Jeanshose, über die sich ein mächtiger Bauch wölbte. Obwohl sein schwabbeliges Gesicht mit grauen Bartstoppeln überzogen war und sich auf seinem rosafarbenen Hemd dunkel-rote Schweißflecken abzeichneten, machte er keinen unsympathischen Eindruck. Obendrein hatte er ein offenes und freundliches Lächeln, das ihm den Ausdruck eines Marlene zögerte, ob sie so urteilen durfte - etwas einfältigen, aber gutmütigen Ochsen verlieh. Wahrscheinlich Lasterfahrer, der wie sie vor dem Stau in die Raststätte geflüchtet war. Marlene nahm sein Angebot an und bedeutete ihm mit einer Handbewegung. sich zu setzen. »Nu, wo woll'n Se denn hin, guude Frau?«, fragte er. »Nach Görlitz.« »Ach, nu kee Broblem. Immer gradeaus, bisses ni mehr weidergehd. Könn Se gar ni verfehlen.« »Haben Sie denn nicht gehört? Die Autobahn ist gesperrt.« »So? Nu, dann isses was andres, dann wird's ganz kombliziert. Das is gar ni so einfach. Lass'n Se ma sehn...« Marlene reichte ihm den Atlas. »Sie sinn also garni von hier?« »Komme aus Aachen.« »Also, Sie fahren am besd'n... Jetzt muss'sch erschd ma selber guggn... Sie sehn ziemlich fert'sch aus.« »Bin um vier in der Früh los. Bin ich ja nicht gewohnt, so eine weite Strecke alleine zu fahren.« »Ich komm grade aus Idalien. Ich hab seid gesdern so viel Klügg, wie in mei'm ganzn Lehn ni. Mensch, das
muss ich Ihn' erzähln: Nachds um halb dreie steh ich an der Raststädde und weeß eichntlich ni wohin. Off eenma seh ich en Borsche mit Dresdner Kennzeichn. Wenn Sie keine Angst haben, nehme ich Sie mit, hadd der junge Mann gesachd, ich muss um elf in Dresden sein. Ich hab keene Angst, hab'ch gesachd. Ich hab mei ganzes Leben nur Angst gehabt. Aber seit gesdern ni mehr. Das werden wir ja sehen, meinde er, und mir los. Über dausend Kilomeder in acht Stunden. So was hab'ch nor ni erlebt. Mit zweehunderdfuffz'sch über de Bisde gebügeld. War ja Goddseidank alles frei. De Berge, de Felder, de Landschaft, alles nur so vorbeigerauscht. Und keene Angst gehabt, ni eene Sekunde. Obwohl der junge Mann manchma e bissl eingeniggd is am Steuer. Kurz hinter Plauen, da war's richt'ch brenzlig, da konnt'sch grade noch brülln: Vorsicht, e Lasder! Hui, meine Fresse, das war knapp! Aber wissen Se, was das Seltsame is? Kurz vor Wilsdruff spricht ene innere Stimme zu mir: Ewald, steig aus! Ich: Hä? Sachd die Stimme wieder: Ewald, steig aus! Ich: So kurz vor'm Ziel aussteigen? Spricht die Stimme e drittes Mal: Ewald Otterbein, steig aus! Da hab'ch also den jungen Mann gebeden, mich hier rauszulassen. Und jetzt sitz'sch hier. Komisch, ni?... Was guggn Sie'n mich blötzlich so an?« »Ich glaub, ich kenne Sie. Wir sind uns schon Mal begegnet.« »Wenn'ch mir Sie so angugge... Wissen Se, seit gestern erleb ich so viele ungewöhnliche Dinge, dass ich middlerweile alles für möglich halde.« »Otterbein heißen Sie?« »Ewald Otterbein. Bis gesdern Angeschdellder in ein Dresdner Geschäft für Miederwaren und...« - er verzog das Gesicht - »Undorwierfäschn.« »Der Vater von Jaqueline Otterbein?« »Was, Sie kenn die Schaggi? Das is meine Dochder. Die lieb ich doch über alles... Freilich, die hält mich für e
bissl meschugge, aber ich lieb se trotzdem. Ich werd ni wieder, dass Sie die Schaggi kenn!« »Dann ist Ihnen vielleicht ein gewisser Alexander Bromberg bekannt?« »Und ob... der Undernehmer. De Schaggi hat ma bei dem gearbeidet. Und jetzt is er ihre Beziehung, saachd de Schaggi. Obwohl ich mich manchma frache, ob der wirklich der Richt´che für de Schaggi is.« »Warum sollte er nicht der Richtige für sie sein?« »Ach, wissen Se... das weeß ich doch ooch ni... das is nur so e Gefühl... Ich hab mich doch nie eingemischt, wenn's um Schaggis Beziehungen ging.« »Seit wann sind die beiden denn zusammen?« »Schon lange. Wie die bei ihm gearbeided hadd, da hat's wahrscheinlich geschnaggelt. Hab ich ja erst viel späder erfahrn, viel späder, vor een oder zwee Jahren erst.« »Und was findet er an ihr?« »Nu, das weeß ich ni, da hammer uns nie drüber underhaldn. Mir ham sowieso kaum mit'nander geredet, haddn uns ni so viel zu sachn.« »Heiraten wollen die beiden nicht?« »Ni dass ich wüssde. Aber das muss gar nischd heeßn, wie gesachd, ich misch mich ni ein in Schaggis Liebesleben. Da müssn Se meine Frau frachn, die weeß bestimmt was... Aber jetzt müssn Se mir ma verraden, wer Sie sind!« »Marlene Bromberg.« »Ach, dann sind Sie gewiss seine Schwesder! Ich wussde gar ni, dass der ne Schwesder hat. Der hat ooch nie von Ihnen erzählt. Hab ich ja schon gesacht, mir ham eigendlich nie mitnander geredet... Aber wo sin wir'dn uns dann begegnet? Helfen Se mir doch ma off de Sprünge!« »Das muss 93 oder 94 gewesen sein. In Görlitz. Bei der Einweihung der neuen Werkshalle.«
»Nu, genau, jetzt erinnre ich mich. Da war de Schaggi Braktikantin, nee, schon Sekretärin, bei Ihrem Bruder und hat uns off das Fest mitgenomm. War ja tüchtch beeindruckend. Also, vor der undernehmerischen Leistung Ihres Bruders hab ich Resbekt. Was der aus der maroden Klitsche gemacht hat - Resbekt! Das hätt niemand für möglich gehalten.« »Mein Bruder hat schon immer ein goldenes Händchen gehabt. Zumindest was die geschäftlichen Dinge betrifft.« »Da könn Se ja stolz auf den Alexander sein... Mit dem muss ich mich doch, glaub ich, ma underhalten, so von Mensch zu Mensch. Den kenn ich eigentlich gar ni, was der so denkt und so... Sind Sie ooch Geschäftsfrau? Der soll doch aus so ener Fabrikantendynastie stamm'...« »Ich bin die Sozialtante, hat der Alexander mal gesagt, ich hab ein Helfersyndrom... Also, wie muss ich nun fahren?« »Nach Görlitz wolln Sie? Zu ihrem Bruder?« »Warum fragen Sie?« »Weeß der, dass Sie komm'?« »Ich will ihn überraschen.« »Da würd ich Ihn aber radn, es erscht ma woanders zu versuchn. Alle vierz'n Daache vorbringt der das Wochenende mit der Schaggi. Mir ham nämlich ne Datsche, wissen Se, so e Färienhäusl, wie Sie im Westen dazu sachn, da treffn die sich im Sommer.« »Und wo steht diese Datsche?« »Nu, direkt am See. Wunderschön gelegn. Bei Lohsa... das is... hier... Wie soll ich'n das erklärn?... Jetzt wird's wirklich verzwickt... Also für Fremde... Am günstichstn, Sie fahrn hinder der Raststädde den Wirtschaftsweg nunter... der ist zwar gesperrt, aber de nächste Ausfahrt is dann erscht in Dresden-Altstadt, da brauchen Se Stundn, wenn de Bahn gesperrt is. Also, Sie fahrn den Wirtschaftsweg nunter und biegn off die Straße, under
der Bahn durch Richtung Sachsendorf, dann Rörsdorf, dann machen Se weiter nach Coswig... Ach, nee, ich Droddl, geht doch gar ni... Da is doch de Elbe dazwischen, und bis Meißen gibt's keene Brücke... Also, da müssen Se off jeden Fall bis Meißen... und dort...« »Wissen Sie was, Herr Otterbein, wenn es so kompliziert ist, dann führen Sie mich doch hin.« »Ich soll mit Ihnen nach Lohsa fahrn, Frau Bromberg?« »Natürlich nur, wenn es Ihre Zeit erlaubt. Ich werde mich selbstverständlich erkenntlich zeigen.« »Das brauchn Sie dor ni, äh, wirklich ni. Wie gesaacht, seit gesdern bassiern so viele seltsame Sachn... Hab ich Ihnen schon erzählt, wie mir Gott erschienen is?« »Bitte, Herr Otterbein, verstehen Sie mich nicht falsch, ich bin froh, dass ich Sie hier getroffen habe. Aber ich habe schon genug Zeit verloren, ich möchte jetzt gerne weiterfahren. Wenn Sie mir vielleicht Ihre Geschichte unterwegs erzählen könnten? Und noch eine Bitte: Setzen Sie sich ans Steuer, ja?« Ewald Otterbein versicherte, dass es ihm eine Ehre sei, die Frau Bromberg nach Lohsa chauffieren zu dürfen, aber er müsse noch rasch etwas erledigen. Es werde höchstens zehn Minuten dauern, er werde sich sputen. Ewald schnappte seine Reisetasche und eilte in die Herrentoilette. Er ließ sich den Schlüssel der Duschkabine für die Fernfahrer aushändigen und war eine Viertelstunde später nicht mehr wieder zu erkennen.
22 Nach meinem ersten Aufenthalt in Rimini im Sommer 90 hatte ich mir eigentlich geschworen, diesen ungastlichen Ort nie wieder zu betreten. Doch um meiner Chronistenpflicht zu genügen, ließ sich eine weitere Reise an die Adria nicht vermeiden. Rimini hatte sich bei meinen Recherchen mehr und mehr als Schlüsselort für die Ereignisse an jenem Tag im August herauskristallisiert. Also setzte ich mich eines sonnigen Oktobernachmittags in meinen Trabant und zuckelte in den Süden. Dass sich in dieser Woche mein Urteil über Rimini geändert hätte, kann ich nicht behaupten: Es regnete in Strömen, mein Trabi wurde geklaut und ich steckte einem Bettler - mit der heimischen Währung nicht vertraut - statt eines Tausend- einen HunderttausendLire-Schein in den Hut. Einziger Lichtblick war Giovanni. Als ich ihm ein Päckchen von Margot Otterbein überreichte, hatte ich sein Herz gewonnen. Und so werde ich wohl noch ein weiteres Mal nach Rimini reisen.
Giovanni, Geschäftsführer und hoffentlich bald auch Eigentümer der Ferienanlage Bella vista sul mare im italienischen Ferienort Rimini, plauderte an der Rezeption seines Hotels mit einem grauhaarigen Deutschen, der ihn - er konnte nicht begründen weshalb an einen dieser Wehrmachtsoffiziere in einem SchwarzWeiß-Film der fünfziger Jahre erinnerte. Der Deutsche, der sich als Generalvertreter eines renommierten Stuttgarter Unternehmens vorstellte, beruflich in Italien unterwegs sei und zufällig gerade an der Adria zu tun habe, fragte nach seiner Schwester, einer gewissen
Margot Otterbein. Giovanni suchte im Meldebuch nach der Zimmernummer, als ihn ein Gast, ebenfalls grau meliert und deutsch, am Ärmel zupfte und ihm flüsternd mitteilte, dass am Strand eine hilflose Person liege, die ihm persönlich bekannt sei. Er wolle jedes Aufsehen vermeiden und der Dame die peinlichen Blicke der schon recht zahlreichen Badegäste ersparen, weshalb er sich nun diskret an ihn wende und ihn um Hilfe ersuche. Die Dame sei etwas indisponiert und müsse dringend auf ihr Zimmer geschafft werden. Giovanni bat den Bruder der Frau Otterbein um einen Moment Geduld und telefonierte zwei Kellner herbei, die wenige Augenblicke später mit einem Verbandskasten und einer Trage in der Eingangshalle des Hotels erschienen. Ein Notfall, rief er dem Wehrmachtsoffizier zu, dann eilte er mit seinen Kellnern dem anderen Deutschen nach, der schon am Swimmingpool entlanglief und eifrig winkte. Sie hasteten an der Bar vorbei, an der trotz der Vormittagsstunde bereits der eine oder andere Cocktail geschlürft wurde, übersprangen das Mäuerchen, das den Strand begrenzte, hüpften über im Wege liegende Sonnenanbeter und erreichten die Fischerboote, die Giovanni dem Vater eines Zimmermädchens abgekauft und im Frühjahr dort aufgestellt hatte. Die hilflose Person - es war diese Deutsche, die ihn stets freundlich anlächelte und deren Mann gestern einen Sonnenstich erlitt - lehnte am Rumpf des Bootes und sah trotz ihres offensichtlich bedauernswerten Zustandes wesentlich jünger aus, als es der Eintrag in ihrem Personalausweis amtlich und also unzweifelhaft bekundete. Giovanni ergriff ihren Arm, prüfte den Puls und tätschelte ihre Wangen. »Ach, Giovanni, ich hin ja so froh, dass Sie da sind. Der Fisch... es war der Fisch... Ich habe ihn nicht vertragen.«
»Aber den haben Sie net bei uns gegesse.« Giovanni sprach, da er in Sindelfingen geboren und aufgewachsen war, Deutsch mit schwäbischen Zungenschlag. »Nein, Giovanni, woanders. Bei Ihnen wäre der Fisch in Ordnung gewesen.« »Das will ich auch meine, Signora Otterbein. Aber was solled wir denn jetzt mit Ihne mache?« »Es geht mir ja schon viel besser, seitdem Sie hier sind, Giovanni. Es ist bloß, wenn ich aufsteh... Mein Knöchel tut so weh. Wahrscheinlich hab ich mir den Fuß verknackst.« »Kein Problem. Wir schaffed Sie auf Ihr Zimmer.« »Aber die Leute... Was sollen denn die Leute denken... Es ist mir ja so peinlich... Und dass ich Ihnen so viele Umstände bereite... Sie sind doch ein so beschäftigter Mann. Ich bin Ihnen so dankbar, Giovanni.« »Sie sollted dem Herrn danken, der mich gerufen hat.« »Dem danken? Nein. Giovanni, der hat erst zwei Stunden mit mir diskutiert, bevor er Sie geholt hat... Kurt, du kannst jetzt gehen. Deine Frau wartet auf dich, wir brauchen dich nicht mehr... Nicht wahr, Giovanni, Sie haben doch alles im Griff.« Margot sog den letzten Schluck Wasser aus der Zwei-Liter-Flasche. die ihr Kurt Einhäuser gebracht hatte, und reichte ihm das Leergut. »Und die Schaggi wird den Alexander heiraten, da könnt ihr Gift drauf nehmen!« »Arrivederci. Herr Kurt«, sagte Giovanni und befahl auf Italienisch - dem einen Kellner. den Fuß der Signora Otterbein zu verbinden. Dem Anderen trug er auf, Herrn Kurt ins Hotel zu begleiten, und Kurt Einhäuser, dem eine solche Unverfrorenheit in seinen dreiundfünfzig Lebensjahren noch nicht widerfahren war, fügte sich fassungslos. »Nicht wahr, Giovanni, Sie kümmern sich doch um mich.«
»Signora Otterbein, ich muss Ihne was sage. Ihr Mann...« »Was ist mit meinem Mann? Ist er etwa tot?« »Nein. Signora Otterbein. Der isch quicklebendig. Sein Pass isch nicht mehr an der Rezeption. Wie ich erfahren hab, isch er diese Nacht abgereist. Um kurz vor zwölf.« »Aber... Der kann doch nicht abgehauen sein!« »Es tut mir Leid, Signora Otterbein.« »Ich wein' ihm keine Träne nach. Wenn Sie sich um mich kümmern, Giovanni... Bei Ihnen bin ich in besten Händen, das spürt eine erfahrene Frau wie ich.« »Da isch noch was... Im Hotel wartet Ihr Bruder auf Sie.« »Mein Bruder? Ich hab keinen Bruder.« »Er hat gesagt, er isch Ihr Bruder.« »Wie sieht er denn aus?« »Wie ein deutscher Offizier in einem Kriegsfilm. Groß, schlank, immer in Haltung.« »Dann ist es der Willi. Mein Schwager. Man glaubt es nicht, aber er ist der Bruder meines Mannes. Was will denn der hier?« »Er hat gesagt, dass er Generalvertreter einer Schtuttgarter Firma isch und zufällig an der Adria zu tun hat. Und dann hat er nach seiner Schweschter gefragt.« »Du musst mir jetzt helfen, Giovanni. Die beiden stecken unter einer Decke, die haben was vor mit mir. Mein Mann und der Willi, die halten zusammen, die führen was im Schilde. Bitte, Giovanni, lass mich nicht im Stich!« »Wie soll ich Ihne helfe könne?« »Lass dir was einfallen. Du bist nicht auf den Kopf gefallen, das hab ich gleich bemerkt.« Margot Otterbein legte ihre Hand auf sein Knie und zupfte an seinem Hosenbein. »Ich werde mich selbstverständlich erkenntlich zeigen.« »Aber er hat sehr besorgt ausgeschaut. Als ob was passiert isch.«
»Dem Willi darf man nicht trauen. Der ist ein ganz Gefährlicher, der war früher bei der Stasi. Weißt du, bei der Geheimpolizei. Der hat alle Tricks auf Lager. Der guckt wie ein Engel und schießt dich tot. Was ich unter dem gelitten habe in der DDR! Der hat mir das Leben zur Hölle gemacht, Giovanni. Schmeiß ihn raus! Mir zuliebe. Bitte! »Das isch sehr viel, was Sie von mir verlanged.« »Giovanni, es soll dein Schaden nicht sein.« Giovanni, der seit drei Jahren bei seiner Mutter lebte - sie war nach dem Tod ihres Mannes von Sindelfingen nach Rimini zurückgekehrt und hatte ihrem einzigen Sohn die Stelle in der Ferienanlage Bella vista sul mare vermittelt und sich seit seiner Jugend zu älteren Frauen hingezogen fühlte, vor allem wenn sie - wie seine Mutter - von üppiger Figur waren, suchte verzweifelt nach einer Lösung des Problems. Er musste der Signora helfen, um jeden Preis. Für jeden Preis. »Da hinten steht der Willi«, jammerte plötzlich die Signora. »Du musst was unternehmen! Er kommt hierher... Giovanni, bitte... Wenn er mich entdeckt... Tu doch endlich was!« Giovanni sprang auf und schritt lächelnd, mit ausgebreiteten Armen auf Willi Otterbein zu. Er fasste ihn am Arm und lenkte seine Schritte, kaum merklich, von den Fischerbooten weg in Richtung Hotel. »Schön haben Sie es hier«, sagte Willi Otterbein. »Und immer ausgebucht. Von Mai bis Oktober ausgebucht. Und jetzt schaued mir, welches Zimmer Ihre Schweschter hat.« »Was kostet denn die Übernachtung bei Ihnen?« »Da kann ich Ihne keine Hoffnung mache. sie sehen ja, alles voll. Hochsaison. Im Auguscht kommed auch die Italiener. Die wolled auch mal Ferien mache. Manche sogar in Rimini. Verschteh ich zwar nicht, aber bitte... Skandinavier, Engländer, Österreicher, alle buched bei
uns. Aber die meischte sind Deutsche... Hauptsach, der Rubel rollt... Russe habe mir übrigens jetzt auch, die falled ein wie die Wandalen... Und jetzt sind wir schon wieder im Hotel... Wie isch der Name Ihrer werten Schweschter?« Giovanni beugte sich über eine in Leder gebundene Mappe, die er auf einen Tisch legte, den Willi Otterbein nicht einsehen konnte. »Otterbein. Margot Otterbein.« »Die kann ich hier net finde.« »Dann schauen Sie unter Ewald Otterbein.« »Kann ich auch net finde.« »Aber sie müssen hier sein. Zumindest die Frau Otterbein.« »Vielleicht sind sie bereits abgereist? Da steht's... Haben geschtern Abend das Hotel verlassen.« »Und wohin?« »Das fraged wir unsere Gäste nicht.« »Dann ist ja ein Zimmer frei. Das buche ich für zwei Nächte.« »Bedaure. Schon wieder belegt... Heut isch Samstag, Anreisetag, da krieged wir auch die Überkapazitäte aus den anderen Hotels. Das isch so. Wenn wir zu viel habed, schicked wir die rüber, und wenn die zu viel habed, schicked die ihre Überkapazitäte zu uns. Da wäscht eine Hand die andere.« »Na schön...«, schnaufte Willi Otterbein und ließ einen Fünfzigtausend-Lire-Schein auf die Theke flattern. »Also, wenn Ihne die Übernachtung in unserem Haus so viel wert isch... Aber ich kann Ihne trotzdem...« Willi Otterbein schob einen weiteren Schein hinüber. »Ehrlich...« »Wenn jemand einen Satz mit ehrlich beginnt, dann weiß ich gleich, dass eine Lüge rauskommt.« »Sono italiano, non sono tedesco... Ich immer die Wahrheit sagen, ich nicht lügen...«
»Du lügst, dass sich die Balken biegen. Wo ist meine Schwester?« »Ich nicht wissen, ich nix sprechen Deutsch. Rufen Chefe?« »Spiel hier nicht den Trottel!« Giovanni zuckte zusammen und schrumpfte auf Zwergengröße. Die Signora Otterbein hatte nicht übertrieben, dieser Mann war gefährlich. Sehr gefährlich. Der kannte kein Erbarmen, der würde ihn zwischen seinen Fingern zermalmen, der war vom Geheimdienst. Und Giovanni, von klein auf gedrillt, sich Autoritäten und Obrigkeiten zu fügen, griff die beiden Scheine und wies Willi Otterbein eine Unterkunft im vierten Stock zu. Die müsse aber erst gerichtet werden, weil dort der Koch schlafe, wenn es zum Heimfahren zu spät geworden sei. Außerdem sei es mehr eine Kammer denn ein Zimmer, nicht besonders gemütlich, und der werte Gast müsse sich obendrein Toilette und Dusche mit zwei Kellnern teilen, die in dem Doppelzimmer gegenüber wohnten. Wenn er das alles in Kauf nehmen wolle, werde er auf der Stelle dem Stubenmädle Bescheid geben. Willi Otterbein sagte: »Warum denn nicht gleich so?«, ließ sich den Schlüssel aushändigen und betonte, schon beim Gehen, dass er an der Cocktailbar auf seine Schwester warten werde. Und Giovanni möge ihr das ausrichten, aber dalli.
23 Ich wollte es erst nicht glauben, aber das Kampfgeschwader Germania-T-Shirt existiert wirklich. Marion besaß sogar vier Stück davon. Sie hatte sie in Thüringen erstanden, als der Boss sie zum ersten Mal zu einem Kameradschaftstreffen, zu dem auch Frauen zugelassen waren, mitnahm. Marion habe ich den Einblick in eine unangenehme, ja unappetitliche Gesellschaft gespenstischer Gestalten zu verdanken. Es war nicht ungefährlich, für uns beide nicht. Marion hatte sich - ich muss hier etwas vorgreifen - eigentlich schon von dieser braunen Pampe befreit. Sie habe sowieso nie an die Sprüche geglaubt, sagte sie, und habe sich nur wegen des Bosses seiner Truppe angeschlossen. Nun suchte sie nach der Gelegenheit zum Aussteigen, und ich verhehle meinen Stolz nicht, ihr dabei geholfen zu haben. Aber noch war es nicht soweit.
Es war wenige Minuten vor zwölf, als Danilo Duffke vom Dauerläuten der Klingel erwachte. Er quälte sich aus dem Bett, schlurfte am Flurspiegel vorbei, aus dem ihn ein fremdes Wesen anglotzte, und fragte mit krächzender Stimme, wer vor der Tür stehe. »Ich bin's, Marion. Der Boss schickt mich. Mach endlich auf!« Duffke öffnete einen Spalt, Marion drängte sich herein. »Gott, Danilo! Wie siehst du denn aus? Was haben sie denn mit dir gemacht?« Duffke wich zurück und versuchte, am Garderobenständer einen Halt zu finden. Er kippte, mitsamt Ständer, der Länge nach auf den Boden.
»Gott, Danilo, du Ärmster!« Marion zerrte ihn hoch, führte ihn ins Schlafzimmer und legte ihn aufs Bett. Dann lief sie ins Bad und kehrte mit Jodtinktur, Pflaster und einem nassen Lappen zurück. Sie wischte ihm das Blut aus dem Gesicht und säuberte die Wunden. Das linke Auge war veilchenblau, die Braue aufgeplatzt und die Oberlippe so geschwollen, dass sie sein Pferdegebiss bedeckte und ihn eher einem Kamel ähneln ließ. »Das muss genäht werden, Danilo. Ich fahr dich zum Arzt. Und dann zur Polizei. Du musst die Schweine anzeigen.« Duffke nuschelte, er brauche keinen Arzt und auch keine Polizei und verlangte ein Glas Wasser. Marion füllte einen Halbliterkrug, löste drei Kopfwehtabletten darin auf, und Duffke leerte den Krug in einem Zug. Er richtete sich auf und befahl Marion, ihn unter die Dusche zu führen. »Nun erzähl doch endlich!« forderte sie ihn auf, während sie ihm aus dem Hemd half, dessen Weiß sich in ein buntes Farbenkaleidoskop verwandelt hatte. »Was ist passiert?« »Geht dich gar nichts an, Marion.« »Der Boss hat gesagt, du warst beim Karaoke.« »Woher will der Boss das wissen?« »Er weiß es eben. Der Boss weiß immer alles. Er hat mich angerufen, ich soll mich um dich kümmern.« Duffke schleuderte mit dem Fuß seine Unterhose unter das Waschbecken. »Nichts war.« »Du stinkst nach Schnaps, Danilo, du hast gesoffen. Das tust du doch sonst nicht.« »Ich war beim Karaoke. Zufrieden?« Marion schob Duffke in die Kabine, sammelte seine Klamotten zusammen und warf sie auf einen Berg Schmutzwäsche. Dann zog sie das Badehandtuch mit der Reichskriegsflagge aus dem Schrank und wartete vor dem Duschvorhang, hinter dem Duffke jaulte und fluchte. Sie empfing ihn mit ausgebreiteten Armen, rubbelte ihn von oben bis unten ab, hüllte ihn in den
Bademantel und platzierte ihn schließlich am Küchentisch. »Ich hab Brötchen mitgebracht, Danilo.« »Hab keinen Hunger.« »Du musst was essen. Der Boss hat gesagt, ich soll alles tun, damit du bis heute Abend fit bist.« »Was is'n heute Abend?« »Das hat er mir nicht verraten. Er hat nur gesagt: Um vier am Treffpunkt Mücka. Und ich soll dir ausrichten: Heute ist der Tag X. Was meint er denn damit?« »Geht dich 'n feuchten Kehricht an.« »Mensch, Danilo, lass bitte nicht deine schlechte Laune an mir aus! Haste verloren gestern?« »Bin knapp geschlagen worden.« »Du bist nicht nur knapp geschlagen worden, du bist verprügelt worden, Danilo.« Duffke ließ sich ein Honigbrötchen reichen und kniff das rechte Auge zu. Mit dem linken konnte er nur hell und dunkel unterscheiden. Als er das Auge wieder öffnete, hatte sich Marion das T-Shirt ausgezogen. »Hab keinen Hunger«, sagte er, nachdem er vergeblich versucht hatte. schmerzfrei einen Bissen zu sich zu nehmen. »Du willst nur nicht sagen, dass dir die Lippe wehtut.« »Quatsch.« »Ich mach dir einen Quark. Oder ich pürier dir was. Wie für die Ömchens bei der Volkssolidarität. Das schmeckt. Die Ömchens sind auch begeistert von meinem Brei.« »Mach was du willst und sei endlich still! Und zieh dein T-Shirt wieder an!« Marion zerdrückte eine Banane, zerschnibbelte einen Apfel, zerteilte das Brötchen in kleine Brocken und verrührte den Brei mit Quark und Frischkäse. »Gefällt dir mein neuer BH nicht? Hab ich vorige Woche aus Dresden mitgebracht. War ein Tipp vom Boss. Underwearfashion Otterbein, BHs und Dessous in allen
Größen, auch für Frauen mit üppigen Proportionen. Geiler Laden. Und 'ne nette Chefin. Da fahr ich jetzt immer hin, Danilo, die hat mich gut beraten, die Frau Otterbein. Sie müssen was tun, junge Frau, wer mit so viel gesegnet ist wie Sie... Mach seitdem jeden Tag Gymnastik... Hier ist dein Brei, Danilo, und den isst du jetzt! Ich will keinen Ärger mit dem Boss.« Danilo gehorchte. »Du, die Frau Otterbein ist voll nett, Danilo. Und sieht blendend aus. Als die sagte, dass sie nächstes Jahr fünfzig wird, hab ich gedacht, mich tritt ein Pferd... Tschuldige, Danilo... Wir haben uns gleich prima verstanden, weil ich ja auch eigentlich vom Fach bin. Immerhin war ich zwei Jahre bei Karstadt in der Damenunterbekleidung. Die haben eine Datsche am See bei Lohsa, die Otterbeins. Sie hat mich eingeladen, wenn ich in der Gegend bin, soll ich mal vorbeischauen. Als Dankeschön, weil ich ihr noch geholfen hab beim Aufräumen und beim Auszeichnen der Ware. Ihr Mann ist ja der volle Trottel, der hat einen Mist gebaut an dem Nachmittag, das stellst du dir nicht vor. Also ich an ihrer Stelle hätte mich längst scheiden gelassen. Die hat was Besseres verdient, die Frau Otterbein... Und, Danilo, hab ich dir zu viel versprochen? Schmeckt's?« »Geht so... Und hör endlich auf zu quatschen!« »Ich bin gleich still. Weißt du, was mir die Frau Otterbein noch erzählt hat?« »Interessiert mich nicht.« »Also, die Frau Otterbein hat eine Tochter. Sie hat mir ein Foto von ihr gezeigt. In einem Ruderboot, in der Abendsonne. Bildhübsch, echt! Müsste dein Geschmack sein, Danilo: dunkle Augen, dunkle Haare, nicht so blond wie ich. Und ihre Tochter - Jaqueline heißt sie -, die...« »Halt's Maul!« »Reg dich doch nicht so auf, Danilo. Ich hab doch gesagt, wenn ich das erzählt habe, bin ich still.«
»Du sollst dein Maul halten!« »Was ist denn los mit dir?« »Wenn du noch ein Wort von der Schaggi redest, dann polier ich dir die Fresse, dass du nicht mehr durch die Tür passt!« »Is ja gut, Danilo, beruhig dich wieder.« Marion räumte den Tisch ab und stapelte das Geschirr in der Spüle, Danilo tastete über seine schmerzenden Wunden. Er war es, der Schaggi im Ruderboot fotografiert hatte, Schaggi, von der milden Abendsonne in ein geheimnisvolles Licht gehüllt, einer Madonna gleich, von einer überirdisch anmutenden Schönheit. Es war das letzte Bild, das er von ihr gemacht hatte. In ihrem letzten glücklichen, gemeinsamen Sommer. Er trug das Foto immer bei sich, im Geldbeutel, in der Hosentasche, es stand im Büro und lag im Handschuhfach seines Wagens, er hütete es unter seinem Kopfkissen. Er schlief keine Nacht ohne seine Schaggi, stand keinen Morgen ohne sie auf und legte sich keinen Abend ohne sie zu Bett. Keine Minute verging, ohne dass er an Schaggi dachte. Nur bei den Kameradschaftstreffen mit den Jungs aus Thüringen und aus Brandenburg, dann, wenn sie unter sich waren, die geistige Elite, die für eine moralische und völkische Erneuerung der Nation kämpfte, wenn sie ihre Lieder sangen und seinen Reden lauschten, wenn ihre Herzen mit neuer Hoffnung und Zuversicht gefüllt wurden, an diesen Wochenenden vergaß Danilo Duffke sogar Jaqueline Otterbein. »Sagtest du eben: Schaggi?« »Halt's Maul und scher dich in die Küche zurück!« Duffke zeigte ihr den gestreckten Mittelfinger, schlurfte zum Sessel, presste sich einen kalten Lappen auf die Stirn und schaltete den Fernseher ein. Er blieb bei einem DEFA-Film im Dritten Programm hängen. Die Legende von Paul und Paula. Duffke sah noch, wie Paul und Paula von einer gemeinsamen Zukunft träumten, dann döste er
ein. Wirre Gestalten tanzten vor seinen Augen, nackte Frauen mit Pferdeköpfen und drei Brüsten, Teufelsfratzen und Kobolde, Hexen und Gnome, Monster und Mutanten, Paul und Paula, Bromberg und Michalke. Sie umringten Danilo und zerrten ihn auf die Bühne, drückten ihm einen Kuhschwanz in die Hand und befahlen ihm zu singen, sie krochen näher und näher, schlossen den Ring enger und enger, sie ließen ihm kein Entrinnen, sie verhöhnten und verspotteten ihn, verlachten und veralberten ihn: Mach uns den Hengst, Duffke, mach uns den Hengst! Bromberg setzte ihm eine Narrenkappe auf, hüllte ihn in ein Clownskostüm und lachte wiehernd. Schaggi schwebte vom Himmel herab und flatterte als Rauschgoldengel gerade so weit über seinem Kopf, dass er nicht einmal den Zipfel ihres Gewandes greifen konnte. Sie streckte ihm die Zunge raus und landete in Brombergs Armen. Dann wirbelten sie ihn im Kreis, immer schneller und schneller, bis er sich in einen Brummkreisel verwandelte, dazu verdammt, sich bis in alle Ewigkeit zu drehen, sich auf der Stelle zu drehen, ohne Hoffnung, entfliehen zu können, immer schneller und schneller, ohne Hoffnung... schneller und schneller... ohne Hoffnung... schneller und schneller... Bitte, Boss... schneller und schneller... Komm, rette mich, Boss!... ohne Hoffnung... Hilf mir, Boss!... Boss!!... Boss!!!... Duffke kippte aus dem Sessel. »Was schreist du denn so, Danilo? Wach endlich auf!« »Sie sind hinter mir her, Marion, sie bringen mich um.« »Niemand ist hinter dir her, mein Schatz.« »Sie sind überall, in der ganzen Wohnung.« »Du hast schlecht geträumt. mein Danilochen.« »Wo ist mein Messer? Ich will mein Messer!« »Du brauchst kein Messer, Danilo... Was du brauchst, ist ein bisschen Liebe... Von deiner Marion... Von deiner süßen, schnuckeligen Marion, die dich über alles liebt... Entspann dich, du armer kleiner Junge... Bei deiner
Marion musst du keine Angst haben... Gleich wirst du dich besser fühlen... Leg deinen Kopf an meinen Busen... Jetzt wird alles wieder gut... Spür mich... Ich lieb dich doch so, mein Schatz... Niemand liebt dich so wie ich... Auch die Schaggi nicht...« »Hör endlich auf, du Miststück! Sonst bring ich dich um!« Er stieß Marion zurück und schnellte hoch. »Danilo, bitte...« »Hör auf zu flennen!« »Danilo, ich liebe dich doch...« »Bring mir sofort meine Klamotten! Kampfanzug! Heute ist der Tag X! Der Tag der Rache!« »Ich hab dein Bett frisch bezogen.« »Was hast du?« »Dein Bett bezogen. Es hat schon gemüffelt.« »Du hast mein Bett bezogen? Mein Bett?« »Und unter dem Kopfkissen ein Foto gefunden. Von Jaqueline Otterbein.« »Gib sofort das Foto her!« Marion verbarg die Arme hinter ihrem Rücken und baute sich breitbeinig, mit den Hüften kreisend, vor Danilo auf. »Hol´s dir doch! Komm, Danilo... komm... zu deiner Marion... komm, Danilo... und hol's dir...« »Du wirst es mir geben! Auf der Stelle!« »Hol's dir. Danilochen... Du musst es dir holen...« Danilo Duffke schnellte vor und schlug Marion ins Gesicht. Sie ließ das Foto aus ihren Händen gleiten, drehte sich wortlos herum und spuckte auf das Bild. »Marion... Das wollte ich nicht...« »Das wirst du bereuen, Duffke...« »Marion... bitte...« »Du hast gegen die Regeln verstoßen... Das wird den Boss gar nicht freuen, wenn er es erfährt. Und er wird es erfahren, das schwör ich dir!« »Marion, hör mir zu...«
»Und ohne den Boss bist du ein Niemand. Ein Nichts. Du bist eine armselige Kreatur, Duffke, eine Null.« »Hör mir doch zu, Marion. Bitte!« »Zieh endlich deinen Kampfanzug an, Duffke! Wir müssen los.«
24 Wie gesagt, Jaqueline Otterbein war mir anfangs fremd geblieben. Vermutlich war es mein Neid, der mich keinen Zugang zu ihr finden ließ. Denn während ihr Leben geradlinig in eine Richtung verlaufen war, nämlich nach oben, so war mein Leben ein stetiges Auf und Ab mit Tendenz nach unten. Ein Schritt vor und zwei zurück. Immer am Rand einer Katastrophe. Mit meinen bald vierzig Jahren hatte ich noch nichts erreicht. Weder eine Familie gegründet, noch ein Haus gebaut, geschweige denn einen ordentlichen Beruf erlernt. Ich war Friedhofsgärtner, Geschirrspüler, Kellner, Kraftfahrer und Küster und schrieb Gedichte, die keiner lesen wollte. Vor dem Fall der Mauer war ich wenigstens noch für gewisse Kreise ein Sicherheitsrisiko, aber im vereinigten Deutschland hatte sogar die Kirche ihr Interesse an mir verloren. Ich war ein Niemand. Umso erstaunter war ich, dass sich Jaqueline mehr und mehr für diese NiemandExistenz erwärmte. Sie lud mich zum Essen ein, wir gingen ins Theater und sie vermittelte mir sogar einen Leseabend im Kreis kunstinteressierter Freunde. Als ich sie einmal fragte. warum sie den Kontakt zu mir suche, antwortete sie, ich sei wie eine Negativfolie von Alexander Bromberg: So gleich und doch so anders.
»Du, Rudi...« »Hm.« »Haste schon was gegessen?« »Nee.« »Hab noch was übrig von gestern. Salat und Schinken.« »Kommt dein Liebster nicht?« »Oliven und Peperoni magst du ja nicht so gerne.«
»Nee.« »Du, Rudi... Wollte mich entschuldigen... für heute Morgen...« »Is schon gut, Schaggi.« »Ich fühl' mich grad nicht so besonders... Hab die Nerven verloren.« »Schon gut, Schaggi.« »Bleiben wir Freunde, Rudi?« »Wir werden immer Freunde bleiben, Schaggi.« Jaqueline Otterbein umhalste Rudi und küsste ihn auf die Stirn. »Danke, Rudi, danke. Ich wusste, dass ich mich auf dich verlassen kann.« »Auf den Rudi ist immer Verlass, Schaggi.« Sie sprang in Rudis Datsche, trug Teller und Besteck herbei und deckte den Tisch. »Afrikanische Stadt mit eins, zwei... acht Buchstaben? Der erste is'n T, der letzte 'n U.« »Timbuktu.« »Timbuktu? Passt. Wo liegt'n das?« »Irgendwo in Afrika, Rudi. Weit weg. Du, Rudi... hast du manchmal auch so 'ne Sehnsucht? Ich meine so 'n Gefühl, dass du dich irgendwo hin wünschst, ganz weit weg, an einen Ort, da wo alles gut ist?« »Den gibt's nicht Schaggi, diesen Ort, den gibt's nicht.« »Als Kind, wenn ich traurig war, hab ich mich immer nach Timbuktu gewünscht. Ich hab mir die Augen ganz fest zugehalten und mir dann vorgestellt, ich werde wach und bin in Timbuktu. Und dort wartet jemand auf mich und nimmt mich in die Arme und drückt mich ganz doll lieb. Und lässt mich nie wieder los. Nie wieder.« »So einen Ort wünschen sich alle Menschen, Schaggi. Für die einen ist es Timbuktu, für die anderen der Himmel. Aber das Paradies auf Erden, Schaggi, das gibt's wirklich nicht.« »Denkst du manchmal an den Tod, Rudi?«
»In meinem Alter denkt man jeden Tag an den Tod.« »Hast du Angst vorm Tod?« »Vorm Tod nicht. Aber vorm Sterben.« »Ich hab eine Scheißangst, Rudi, vorm Sterben und vorm Tod. Ich stelle mir das grauenvoll vor: zu sterben. Wie das ist... Und dann in einem feuchten dunklen Grab zu vermodern und von den Würmern gefressen zu werden... Schrecklich, Rudi...« »Dann spürst du nichts mehr, wenn du unter der Erde liegst...« »Wer bläst denn bei so einem schönen Wetter Trübsal?« Heinz Coschütz brach durch das Gebüsch, das die Grenze zwischen seinem und Rudis Grundstück bildete, und stellte zwei Flaschen Bier auf den Tisch. »Wie kann man sich nur an einem so herrlichen Tag über den Tod unterhalten?« »Man soll den Tag nicht vor dem Abend loben«, sagte Rudi. »Ich hab dem Tod ins Auge gesehen, Leute... Direkt gegenüber ist er mir gestanden, der Sensenmann... In russischer Uniform... Bei der Schlacht auf den Seelower Höhen... Alle Kameraden hingemetzelt... Nur der Heinz Coschütz übrig geblieben, von der ganzen Truppe... Hatte mich in einem Kuhstall verbunkert, plötzlich der Russe vor mir, mit der Kalaschnikow im Anschlag... Er schaut mich an, ich ihn... He, Towarisch, sag ich, warte... Dann bin ich vor und hab ihm mein Messer zwischen die Rippen gerammt... direkt ins Herz... War ja Nahkämpfer... Eliteeinheit... Der Russ hat mich auch noch erwischt... Ich hab dir die Narbe gezeigt, Schaggi, letzte Nacht... Aber der Heinz hat sich durchgekämpft und dem Tod ein Schnippchen geschlagen... He, Schaggi, wo willst du hin?« »Hab keinen Hunger mehr.« Jaqueline rannte davon. »Die Frauen soll einer verstehen, was Rudi? Aber lieb, dass sie uns den Tisch gedeckt hat.« »Kannst alleine essen, Heinz.«
»Rudi, ich hab extra ein Bier mitgebracht. Das sieht doch lecker aus, was uns die Schaggi zubereitet hat. Hau rein, Kumpel!« Rudi Kossatz fuhr sich mit dem Zeigefinger über die Stirn, als ob er prüfen wollte, ob etwas von Jaquelines Kuss übrig geblieben sei, schaute zum Himmel, der noch immer nichts von dem herannahenden Unwetter ahnen ließ, und humpelte über den schmalen Kiesweg, unter der von Efeu umschlungenen Gartenpforte hindurch, in Richtung des Grundstücks der Familie Otterbein. Als er Jaqueline weder auf der Terrasse noch im Haus fand, begab er sich zum Steg. Er blickte kurz zurück, nach Osten, und sah, dass sich über dem Wäldchen, das die Datschensiedlung von der Zufahrt zum Zeltplatz trennte, eine mächtige Wolkenwand auftürmte. Rudi hockte sich neben Jaqueline und schwieg mit ihr. Es dauerte zwei Zigarettenlängen, ehe er das Wort ergriff. »Schaggi, mir kannste doch sagen, was dich bedrückt.« »Ach, Rudi...« Sie lehnte den Kopf an seine Schulter. »Ist es wegen deinem Liebsten? Hat er dich verlassen? Oder wegen den jungschen Kerlen? Oder wegen Coschütz?« »Ich weiß es auch nicht, Rudi... Es ist bloß... Ich fühl mich so leer... Eigentlich hab ich ja alles... Ich hab Geld, Arbeit, eine gute Arbeit sogar, ich hab Erfolg, ich seh gut aus, ich könnte mir die Männer aussuchen... Aber trotzdem: Es ist alles so sinnlos, so hohl... Bist du eigentlich glücklich, Rudi?« »Na ja... ich hab meine Invalidenrente, meinen Garten, hab Renate und dich... ich hab keinen Krebs wie Coschütz...« »Coschütz hat Krebs?« »Der Heinz... der macht's nicht mehr lange... das ist sein letzter Sommer... Möchte nich mit ihm tauschen, mit dem Heinz. Is 'n armes Schwein, der Heinz.«
»Das arme Schwein hat sich letzte Nacht...« »Vielleicht hast du ihm die letzte schöne Nacht seines Lebens bereitet, Schaggi.« »Du spinnst, Rudi. Alles hat gestunken, nach Arznei, nach Tod und Verwesung. Es kotzt mich an.« »Aber der Heinz ist glücklich, Schaggi.« »Der Heinz vielleicht... Aber wer fragt nach mir? Wen interessiert es, ob ich glücklich bin?« »Deinen Liebsten zum Beispiel.« »Ha!« »Warum haste den Heinz denn überhaupt mitgenommen?« Jaqueline blieb Rudi eine Antwort schuldig. Stattdessen sagte sie: »Meine Zigaretten sind alle. Muss mir neue holen.« »Ich geh mit«, sagte Rudi. »Es ist gleich eins. Die Renate wird Hilfe brauchen.«
25 Der Boss ist mir ein Rätsel. Warum ist er so geworden, wie er ist? Warum wird ein intelligenter Pfarrerssohn, der einst zur Klampfe die Hymne der Friedensbewegung gesungen hat, zum Neonazi? Hatte er nicht noch wenige Monate vor dem Fall der Mauer versucht, einen DDRSkinhead zu bekehren? Warum fährt er einige Jahre später auf Kameradschaftstreffen und schart selber einen Jungsturm um sich? Warum beginnt jemand, der im Geist der Liebe und Toleranz erzogen wurde, Ausländer, Fremde und Andersdenkende zu verachten? Warum stachelt er zum Hass an, verbreitet Furcht und Angst und schreckt auch vor Gewalt nicht zurück? Ist es Langeweile und Perspektivlosigkeit? Ich glaube nicht, denn er war zwar lange arbeitslos, aber ist nun beruflich erfolgreich. Leidet er an einem Minderwertigkeitskomplex? Nein, er war schon immer selbstbewusst. Will er provozieren und auf sich aufmerksam machen? Das hat er gar nicht nötig. Ist es eine verspätete Rebellion gegen das Elternhaus? Nein, wenn DDR-Pfarrerskinder ihre Eltern treffen wollten, sind sie in die SED eingetreten. Will er Macht ausüben und herrschen? Gewiss, aber das könnte er - bei seinen Fähigkeiten auch an anderer Stelle. Aber was ist es dann? Zumal der Boss, wie die folgende Geschichte zeigt, auch ein sehr netter, ja fürsorglicher Mensch sein kann.
Der Boss schritt unschlüssig vor dem Blumenladen auf und ab und betrachtete, die Arme auf dem Rücken verschränkt, durch das Schaufenster die Fülle an Pflanzen und Gewächsen. Er trug einen dunklen Anzug, ein weißes Hemd, eine schwarze Krawatte und eine
ernste und nachdenkliche Miene. Es war zwei Minuten vor zwölf. »Sie wünschen?«, fragte die Verkäuferin Der Boss räusperte sich. »Ich suche etwas für einen Anlass, der traurig ist und freudig zugleich.« »Also etwas Neutrales sozusagen?« »Nein. Ich suche einen Strauß, der Trauer und Glück ausdrückt. Beides gleichzeitig.« »Das wird nicht einfach sein. Also, ich würde Lilien empfehlen... Wie viel darf es denn sein?« »Für dreißig Mark Freude und für zwanzig Mark Trauer.« »Wissen Sie, das ist etwas ungewöhnlich, da muss ich erst selber überlegen... Für fünfzig Mark, sagen Sie...« »Es kommt auf den Pfennig nicht an. Kann auch fünfunddreißig Mark Glück und fünfzehn Trauer sein.« »Dann stell ich Ihnen jetzt was zusammen... Ich würde Ihnen Sonnenblumen für die Freude vorschlagen. An einem Tag wie heute leuchten die besonders schön. Hübsch, nicht? Und für die Trauer... den Eisenhut. Das Blau hat so etwas Melancholisches. Aber passen Sie auf! Eisenhut ist giftig, sehr gefährlich. Darf nicht in Kinderhände gelangen. Aber ich nehme nicht an, dass Sie auf einen Kindergeburtstag wollen, oder?... In Papier oder in Folie?« Sieben Minuten später stieg der Boss in das wartende Taxi und ließ sich in das Plattenbauviertel chauffieren, das er sechs Stunden zuvor in Bresans Toyota verlassen hatte. Er ließ sich an dem Schaukasten der evangelischen Kirchengemeinde vorbeikutschieren, an dem er neun Stunden zuvor seine Wut ausgelassen und seine Hand verletzt hatte. Vor dem sanierten Hochhaus, auf dessen Eingangsstiege er drei Stunden ausgeharrt hatte, befahl er dem Fahrer anzuhalten. Der Boss sprang die Stufen hinauf, stockte auf der fünften, grinste, als er den roten Fleck gewahrte, und nahm den Fahrstuhl in den vierten
Stock. Er läutete an der Wohnung, in der laut Türschild das Ehepaar Eva und Michael Michalke lebte, und wickelte den Strauß aus Sonnenblumen und Eisenhut aus dem Papier. Als sich die Tür einen Spalt öffnete, drückte er sie auf und betrat den Flur. Oh Gott, Evchen sah ja furchtbar aus. Wie sie so da stand in ihrem geblümten Kittel, mit den strähnigen, fettigen Haaren, den Tränensäcken und Falten, den herunterhängenden Mundwinkeln und Brüsten, so bleich und aufgedunsen, da sah sie aus wie eine der Schlampen, die in seinem An- und Verkauf nach und nach ihre Wohnungseinrichtung verhökerten, um sich wieder einen Tag ihren Likör leisten zu können. Verhärmt, verheult und verlottert. Das war nicht das Evchen, mit dem er im Schlesischen Haus innig getanzt hatte, nicht das Evchen, das ihm die düstere Armeezeit aufgehellt hatte, nicht das Evchen, neben dem er gerne an diesem Morgen aufgewacht wäre. Das konnte nicht Evchen sein, das durfte nicht Evchen sein, das musste jemand anders sein, vielleicht Evchens Mutter, vielleicht Michalkes Mutter, vielleicht eine Nachbarin. »Was willst du?«, fragte die Fremde. Der Boss trat zögernd ein, Sonnenblumen und Eisenfuß an sich gepresst, schreckte zurück, als ihm die von ungezählten Zigaretten geschwängerte Luft den Atem raubte, und ließ sich doch von dieser Fremden, die niemand anders als Evchen sein konnte - sein Evchen, auf das er sich so gefreut hatte -, ins Wohnzimmer führen. Im Halbdunkeln, das lediglich von einigen Sonnenstrahlen, die durch die Ritzen der heruntergelassenen Rollläden fielen, und durch das bläuliche Licht des Fernsehschirms erhellt wurde, sah er eine fast geleerte Flasche Kirsch-Whisky auf dem Glastisch stehen. Daneben einen überquellenden Aschenbecher, auf dem Boden eine Rotweinflasche. Der Boss hockte sich auf einen Sessel, über dessen Lehne das Kleid hing, das Evchen gestern Abend im Schlesischen Haus getragen
hatte. Die Fremde, die ihm gegenüber saß, war wirklich Evchen, geborene Ristock, die einst im Konsum nie was drunter trug und sich einen Spaß daraus machte, jungen Armisten den Kopf zu verdrehen, die auf keinem Tanzfest fehlen durfte, die keine Einladung ausschlug und doch mehr als wählerisch war, wenn es darum ging, wer sie nach Hause begleiten durfte, die ihn, in der Nacht, nachdem sie die Bluesmesse in der Kirche seines Vaters besucht hatten, entjungferte, Evchen, seine erste große Liebe, die plötzlich - keiner konnte es verstehen, niemand wollte es begreifen - ihre Verlobung mit dem Traktoristen der LPG bekannt gab. Evchen, seine erste große Liebe. Und einzige große Liebe. »Was willst'n mit den Blumen?« »Sind für dich, Evchen.« »Leg sie auf den Schrank.« »Hast du keine Vase? Die müssen ins Wasser.« »Dann bring sie ins Waschbecken.« Der Boss hielt den Blumenstrauß in den Armen wie eine Mutter ihr Neugeborenes, und trug ihn ins Bad. Er öffnete das Fenster, ließ Wasser ins Becken und bettete den Strauß hinein. »Ich geh dann wohl besser«, sagte er, als er zurückkehrte. »Nein, Raphi, bleib. Bitte geh nicht.« Der Boss hockte sich auf die Sesselkante, rieb sich seine verbundene Hand und fragte schließlich, da ihm nichts anderes einfiel, ob er sich eine Zigarette nehmen dürfe. Evchen bejahte und reichte ihm Feuer. Der Boss beugte sich vor, die Ellbogen auf den Tisch gestützt, und starrte an die Zimmerdecke, Evchen fragte ihn, ob er einen Kirsch-Whisky mittrinke, der Boss verneinte, dann schwiegen sie. Im Fernsehen lief Die Legende von Paul und Paula. »Hab noch was vor, Evchen«, sagte endlich der Boss. »Muss jetzt wirklich gehen.«
»Bitte bleib bei mir, Raphi. Kann jetzt nicht alleine sein.« »Ist was passiert?« »Mein Mann ist im Krankenhaus. Liegt im Koma.« »Und du bist nicht bei ihm?« »Kann nichts für ihn tun, haben die Ärzte gesagt.« »Wird er durchkommen?« »Wer weiß... Sie wollten mit der Operation bis heute Nachmittag warten. Wegen seiner Alkoholvergiftung. Das sieht nicht gut aus, haben sie gesagt. Ich durfte ihn nicht mal sehen. Sie haben ihm den Magen ausgepumpt. Wahrscheinlich behält er was zurück. Da ist was mit dem Gehirn.« »Das tut mir Leid, Evchen.« »Er hätte nicht mitgehen dürfen, mit Matiebe. Der ist ein Teufel. Immer wenn Micha mit Matiebe zusammen war, dann... dann... war er nicht mehr derselbe, dann war er unausstehlich. Aggressiv und aufgehetzt. Ich hab ihn ja nie gefragt, was er an Matiebe findet, dass er sich ihm so ausliefert. Er war ihm hörig. Aber er hat auch nie darüber gesprochen. Der Micha braucht das wahrscheinlich, sich einem Stärkeren unterzuordnen. Leute wie Matiebe oder Bromberg. Ich war so froh, als Matiebe sich nach Afrika abgesetzt hatte, damals, als er enttarnt wurde. Da dachte ich, jetzt haben wir Ruhe.« »Die Vergangenheit lässt uns nie ruhen, Evchen. Die rumort weiter, tief in uns drin. Erst müssen wir Herr über sie werden, dann gibt sie Ruhe.« »Micha war IM.« »Seit wann weißt du es?« »Seit diese Zettel in unserem Haus auftauchten. Per Hand geschrieben und dann fotokopiert. Sie steckten in jedem Briefkasten. Und hingen im Fahrstuhl. Sie haben die Zettel auch im Betrieb verteilt: An alle Hausbewohner! Der angebliche Bürgerrechtler Michael Michalke aus dem dritten Stock hat von Juni 1987 bis November 1989 für das Ministerium für
Staatssicherheit gearbeitet. Sein Tarnname war IM Ingenieur. Er hat anständige und ehrenwerte Bürger der DDR verraten. Er ist für den Tod eines Menschen mitverantwortlich. Der Lügner und Heuchler Michalke hat auch mir großen Schaden zugefügt. Wenn er die Schrift sieht, wird er wissen, wer ich bin. Ich habe vier Jahre darauf gewartet, dass er sich entschuldigt. Weil er es nicht getan hat, mache ich es hiermit öffentlich. Keine Unterschrift. Keine Ahnung, von wem. Ich habe die Sätze so oft gelesen, dass sie sich mir eingebrannt haben. Aber das Schlimmste war, dass er nie darüber geredet hat. Auch nicht, als er von Bromberg entlassen wurde. Er hat kein Wort darüber verloren. Nicht, warum er es getan hat, nicht, für wen er es getan hat, nicht, wem er geschadet hat. Er hat alles in sich reingefressen. Und gesoffen. Zwei Jahre lang. Bis Bromberg ihn wieder eingestellt hat.« »Wahrscheinlich haben sie ihn dazu gezwungen. Er hätte so etwas nie aus freien Stücken getan.« »Meinst du, Raphi? Das tut mir jetzt so gut, dass du das sagst. Weißt du, ich hab's ja nicht einfach gehabt mit ihm all die Jahre. Und er mit mir auch nicht. Ich war zwei Jahre im Westen, bei Aldi an der Kasse, als er arbeitslos war. Da sind wir uns fremd geworden. Konnte mich nicht mehr eingewöhnen hier. Komm mir vor wie eine Ausländerin. Wir haben oft über Scheidung geredet. Aber als Frau mit drei Kindern... Wer nimmt eine Frau mit drei Kindern? Bei ihm könnte ich sie nicht lassen, er kümmert sich nicht um sie. Da bin ich an ihn gebunden, schon wegen der Kinder kann ich nicht von ihm fort.« »Und wenn dich jemand mitsamt den Kindern nimmt?« »Wer sollte das denn sein, Raphi?« »Jemand, der dich liebt.« »Schau mich an, Raphi, ich bin eine Schlampe, die den ganzen Tag nichts anderes tut als eine Kippe nach der anderen zu rauchen und Kirsch-Whisky zu saufen. Und
wenn ich nicht rauche und saufe, weil vor den Kindern hat man ja Verantwortung, dann stopfe ich Schokolade und Pralinen in mich rein, bis dass ich kotze. Wer sollte mich lieben, Raphi?« »Gestern Abend hast du nicht gesoffen oder Schokolade gefressen.« »Da war ich auch glücklich, Raphi. Zum ersten Mal seit Jahren glücklich. Ein paar Stunden nur, aber es waren schöne Stunden, wunderschöne Stunden. Da war ich noch einmal das Evchen Ristock aus'm Konsum, das du in Erinnerung hast.« »Möchtest du nicht jeden Tag das Evchen aus'm Konsum sein?« »Das ist eine Ewigkeit her, Raphi, das war eine andere Zeit. Und die lässt sich nicht zurückholen.« »Wir könnten sie gemeinsam zurückholen. Du und ich.« »Was vergangen ist, ist vergangen. Vorbei ist vorbei.« »Ich hab eine Wohnung mit viel Platz. Für mich allein zu groß, ich verliere mich darin. Ich könnte euch ein neues Zuhause bieten. Ihr hättet es gut bei mir.« »Danke, Raphi, du bist so nett. Aber ich kann dein Angebot nicht annehmen, das wäre zu viel verlangt.« »Ich würde dich glücklich machen, Evchen, dich und die Kinder. Ich wäre ihnen ein guter Vater. Und vielleicht... Du bist erst fünfunddreißig, du bist noch nicht zu alt...« »Hör auf, Raphi...« »Was spricht dagegen? Ich verdiene gut, hab einiges angespart. Hundertfünfzigtausend in Aktien und Wertpapieren, das Geschäft ist eine Goldgrube. Wir könnten...« »Ach, Raphi...« »Ich habe dich nie vergessen, Evchen. All die Jahre nicht. Aus den Augen verloren, ja, aber nicht aus meinem Herzen. Wir leben seit Jahren in derselben Stadt, ohne voneinander zu wissen. Und jetzt sind wir uns wiederbegegnet. Dein Mann liegt im Koma. Das sind
Fingerzeige, das ist Vorsehung. Wir dürfen das Schicksal nicht noch mehr herausfordern.« »Das ist es ja, Raphi. Micha liegt im Koma, da kann ich ihn doch nicht verlassen, da muss ich mich um ihn kümmern.« »Red kein Unsinn, Evchen! Liebt er dich noch? Nein. Liebst du ihn noch? Nein. Also was schwafelst du jetzt von Hilfe und Kümmern?« »Ich weiß es nicht... Vielleicht liebe ich ihn ja doch noch. So ein ganz kleines bisschen...« »Du hast Angst, Evchen, das ist es. Du willst den Schritt ins Neue nicht wagen. Weil es so, in diesen Verhältnissen, ganz bequem ist für dich.« Evchen erhob sich vom Sofa, schwankte, stützte sich auf der Schulter des Bosses ab und wankte in die Küche. Im Fernsehen sang eine Band: Geh zu ihr und lass deinen Drachen steigen... Der Boss klopfte mit den Fingern dazu im Takt, Evchen kehrte mit einer Flasche Kirsch-Whisky zurück und schenkte ihr Glas so voll, das der Likör auf ihren Kittel floss und das Blumenmuster mit einer weiteren Verzierung schmückte. Mit zitternder Hand, dabei kichernd, führte sie das Glas zum Mund und kippte den Likör in einem Zug hinunter. Der Boss sah sie mit seinen eisgrauen Augen unverwandt an. »Paul und Paula, die haben sich gefunden. Und dann stirbt die Paula. Traurig, nicht wahr? Ich muss immer heulen bei dem Film.« Sie schaltete den Fernseher aus. »Du hast es dir in diesem Zustand eingerichtet, Evchen. Du willst es gar nicht anders. So hast du immer einen Grund zum Jammern. Und kannst im Selbstmitleid versinken.« »Willst du jetzt den großen Therapeuten spielen, Raphi?« »Du kannst saufen und rauchen und fressen bis zum Erbrechen. Das ist es doch, was du willst, oder?« »Ich glaub, ich spinne. Du bist ja noch schlimmer als Michalke.«
»Also, was ist? Nimmst du mein Angebot an?« »Was soll sich denn ändern, wenn ich es annehme? Ein paar Wochen vielleicht, ein paar Monate, vielleicht sogar ein paar Jahre, wenn es gut geht, aber dann wird alles wieder so sein wie früher. Nichts wird sich ändern, Raphi, nichts. Wir werden vier, fünf Jahre älter sein, unseren vierzigsten Geburtstag feiern und uns nichts mehr zu sagen haben. Du wirst unterwegs sein und nicht mehr jede Nacht nach Hause kommen, weil du längst eine Geliebte hast. Und ich werde den ganzen Tag daheim sein, Fernsehgucken, Schokolade fressen und abends, wenn die Kinder im Bett sind, Kirsch-Whisky saufen und eine nach der anderen qualmen. Sollten wir uns das wirklich antun? Ist es das, was du willst?« »Du brauchst Hilfe, Evchen. Wenn du hier bleibst, wirst du vor die Hunde gehen.« »Damit ich mir von dir das gleiche Geschwätz anhören muss wie von Michalke? Bist du schon wieder besoffen? Wasch endlich meine Klamotten! Wieso ist der Kühlschrank leer? Wie kann man sich nur so gehen lassen! Was warst du früher für eine schöne Frau, Evchen!« »Das konntest du wieder werden, Evchen, eine schöne Frau. So wie gestern Abend, da warst du wunderschön. Aber wenn du nicht willst... Evchen, komm mit! Du wirst es nicht bereuen.« »Es ist zu spät, Raphi. Ich weiß es, und du weißt es auch. Es gibt für uns kein Zurück. Der Konsum is nich mehr. Und das Evchen is auch nich mehr das Evchen, das es mal war. Und du bist nich mehr der Armist, der mit Westseife und Pralinen bei den Mädels Eindruck schindet. Wir sind beide unseren Weg gegangen und sind uns zufällig noch einmal begegnet. Das war's.« »Dein letztes Wort?« »Ich glaube... Ja!« »Na dann... Dann mach's mal gut.«
Evchen stützte sich vom Sofa hoch, fegte mit dem Saum ihres Kittels das Likörglas vom Tisch, eilte dem Boss nach und schlang die Arme um seinen Hals. Sie drückte ihn an sich. »Raphi, bitte bleib noch. Nur ein paar Minuten. Bis sie angerufen haben. Lass mich jetzt nicht alleine, Raphi.« »Hab leider noch was vor, Evchen.« Der Boss lockerte ihre Arme und wand sich aus der Umarmung. Ihr Geruch nach billigen polnischen Zigaretten und Kirsch-Whisky ekelte ihn an. Widerlich, wie sich eine Frau so gehen lassen konnte, abstoßend, wie sie ihr Leben verschenkte. Fünfzehn Jahre hatte er nichts mehr ersehnt, als sie wiederzusehen, sein Evchen aus'm Konsum, das ihn in jener Nacht nach der Bluesmesse zum Mann gemacht hatte. Der Boss verfluchte das Schicksal, das ihn an diesem 13. August in das Schlesische Haus geführt und ihm das Trugbild seines Evchens vor Augen gemalt hatte. Er geriet außer sich, zum zweiten Mal innerhalb weniger Stunden. Voller Groll und Grimm, Abscheu und Verbitterung. Trauer und Verzweiflung. »Raphi, wenn du mich wirklich liebst...« Er stürzte an Evchen vorbei, die ihn ein letztes Mal aufzuhalten versuchte, riss die Wohnungstür auf und rannte das Treppenhaus hinab, eilte die Stufen vor dem Eingang hinunter, übersprang die Blutflecken und warf sich auf den Beifahrersitz des roten Opel Kadett, der mit laufendem Motor vor dem sanierten Plattenbau auf ihn wartete.
26 Wenn das erste Klötzchen in einer Reihe von Dominosteinen fällt, wird eine Kettenreaktion in Gang gesetzt, in der nichts dem Zufall überlassen ist. Fällt jedoch eine Mauer, ist die Entwicklung nicht absehbar. Die Steine purzeln in alle Richtungen. So ist es nicht überraschend, dass eine an sich gute Sache auch negative Folgen zeitigt. Das Dubringer Moor zum Beispiel sollte dem Kohleabbau geopfert werden und wurde erst durch den Fall der Mauer gerettet. Das ist das Positive. Doch auch hier gibt es eine Kehrseite der Medaille: Nur weil das Moor gerettet wurde, kann ein unvorsichtiger Mensch in ihm versinken. Womit wieder einmal bewiesen wäre: In jedem Glück steckt bereits ein Kern der Katastrophe.
Während Marlene Bromberg und Ewald Otterbein zwischen Deutschbaselitz und Piskowitz, zwischen Wendischbaselitz und Nebelschütz umherirrten, schoben sich von Osten schwere Wolken vor die Sonne. Die bizarr geformten, sich auftürmenden Ungetüme waren Vorboten des Unwetters, das sowohl die Meteorologen wie auch der vernarbte Rudi Kossatz seit nunmehr knapp vierundzwanzig Stunden ankündigten. Eine Windböe, die den Staub von den abgeernteten Feldern ins Wageninnere wehte, ließ Marlene Bromberg das Fenster schließen, ungeachtet aller Proteste ihres Fahrers, auf dessen Stirnglatze die Schweißperlen glänzten. Ewald Otterbein, der schon seit Stunden - so kam es ihm vor - hinter einem Mähdrescher herzuckelte und vergebens zum Überholen ansetzte, war kurz davor, seine gute Laune. die er doch gerade erst wiedergefunden hatte und nun für alle Zeiten festhalten wollte, wieder zu verlieren. Er lächelte unaufhörlich, zuckte dann und wann verlegen mit den
Schultern, rieb sich das frischrasierte doppeltgewölbte Kinn und erzählte seiner anfangs noch interessiert, aber nunmehr nur noch aus Höflichkeit lauschenden Zuhörerin allerlei Amüsantes aus der Geschichte der Pulsnitzer Lebkuchen, über die Lessingstadt Kamenz und vergaß auch nicht, den sagenhaften Schatz im Zisterzienserkloster Marienstern zu erwähnen. Als sie den Marktplatz von Kamenz querten, was Marlene Bromberg zu der Bemerkung veranlasste, hier seien sie doch schon vor zwei Stunden gewesen, versprach Ewald Otterbein, er werde nun keine Experimente mehr wagen und den direkten Weg über Wittichenau nach Lohsa nehmen. Allerdings müsse ihm die werte Frau Bromberg zugestehen, dass niemand mit den zahlreichen, noch dazu schlecht ausgeschilderten Umleitungen habe rechnen können. Auf der Landstraße nach Wittichenau kamen sie zügig voran, die Gewitterwand ließen sie hinter sich. Nahe Oßling, beim Abzweig nach Dubrig, musste Marlene Bromberg mal kurz in den Büschen verschwinden. Ewald Otterbein lenkte in einen Feldweg und vertrat sich ebenfalls die Beine. Es war gegen fünfzehn Uhr, als ein Streifenwagen neben ihm anhielt. Der Beamte winkte Ewald heran und fragte, ob er aus Aachen sei. Nee, sagte Ewald. Der Wagen gehöre einer Bekannten, die mal eben austreten sei. Er sei in Bad Gottleuba geboren und aufgewachsen, seit vielen Jahren wohnhaft in Dresden. Ewald nannte seinen Namen. Das sei nicht zu überhören, entgegnete der Beamte. Er frage aus dem Grund, weil am Rande des Dubringer Moores - in Scheckthal, auf einer Wiese gleich hinter dem Gasthof - seit gestern Abend ein silbergrauer BMW mit Aachener Kennzeichen stehe. Der Jagdpächter habe einen etwa vierzigjährigen Mann beobachtet, der dort spazieren gegangen sei. Und ihn noch gewarnt, das Moor bei Dunkelheit nicht zu betreten, weil Ortsunkundige in
den gefährlichen Tümpeln und Morastlöchern versinken könnten. Als der BMW heute Morgen noch dort stand, habe der Jagdpächter die Polizei informiert. Die Polizei habe mit der Suche längst beginnen wollen, aber dann hätten sie einen anonymen Anruf bekommen, dass die Rechten sich irgendwo in der Gegend zu einem illegalen Konzert treffen. Jetzt seien alle Beamten ausgeschwirrt, um die verdammten Rechten zu finden. Es könne also sein, dass der Herr Otterbein und seine Bekannte in eine Fahrzeugkontrolle geraten. Ob der Herr Otterbein zufällig etwas mit dein Miederwaren- und Anderwährfäschngeschäft in der Dresdner Neustadt zu tun habe? Ewald bejahte, und der Beamte bat ihn erfreut, seiner Gattin, der werten Frau Margot Otterbein, herzliche Grüße auszurichten. Seit seine Frau den Otterbein'schen Laden aufgesucht habe, sei sie wie verwandelt. Sie trage plötzlich Sachen... Junge, Junge... das habe er früher nie zu träumen gewagt. Ihm könne er das sagen, er sei ja vom Fach, so eine Wäsche, die bewirke einfach Wunder. Der Lobpreis des Polizisten auf Margot Otterbein wurde jäh von einem Funkspruch gestoppt, er tippte sich noch zum Gruß an die Mütze und brauste, gerade als Marlene Bromberg aus den Büschen zurückkehrte, mit quietschenden Reifen davon. »War was?«, fragte sie. »De Rechdn sin wieder underwegs«, antwortete Ewald. »Und außerdem wird eener im Moor vermisst.« »Da habe ich mich als Kind immer am meisten vor gefürchtet: Im Moor zu versinken«, sagte Marlene, als sie sich Wittichenau näherten. »Das stelle ich mir schrecklich vor. Du trittst, nichts Böses ahnend, irgendwo hin, und plötzlich gibt der Boden unter dir nach. Und ehe du erkennst, was mir dir geschieht, steckst du schon bis über die Knöchel im Sumpf. Du willst das Bein rausziehen, aber es geht nicht. Und je mehr du dich bemühst, desto tiefer versinkst du. Du strampelst und
zappelst, du gerätst in Panik, und schon wabert der Morast bis zum Bauch. Du ruckst hin und her. ruderst mit den Armen, schreist um Hilfe, flehst zu Gott, schwörst, ein neues Leben zu beginnen - es hilft nichts. Der Schlamm hat jetzt den Brustkorb erreicht, dir fällt das Atmen schwerer und schwerer. Dann steht er bis zum Kinn, der Modder, du keuchst und jappst, schnaufst und fauchst, du willst es nicht wahr haben, du willst aufgeben, du resignierst und verzweifelst, dann kämpfst du weiter, kämpfst um dein Leben, klammerst dich an den berühmten Strohhalm, eine Binse vielleicht, ein Ast, ein Zweig, ein Grashalm, du bildest dir ein, festen Boden unter den Füßen zu ertasten, du schöpfst neue Hoffnung, fasst Mut und Zuversicht, und dann macht's noch blubb blubb, und du bist weg. Ist das nicht schrecklich?« »Hörn Se off, Frau Bromberg, Sie machen mir Angst.« »Das muss ein fürchterlicher Tod sein, wenn du sehenden Auges ins Verderben gezogen wirst.« »Mir ham uns grad erscht kenngelernt, und da woll mer uns doch ni übern Dot underhaltn... Wie lange woll'n denn Sie eigntlich bleibn? Ich meine... Wenn Ihr Bruder wieder arbeidn muss, am Mondach, dann wird der dor ni viel Zeit haben. Ich würd mich freun, wenn... Sie würdn mir en großen Gefalln dun... Also, dort am See is es wunderschön und Sie könntn e paar Daache Erholung verdrachn... Also, wenn Se Lust haben, dann könn Se gerne noch in unsrer Datsche bleibn. Blatz hammer genuch, das is überhaupt kee Broblem. Und mei Kumpel Rudi, der mit der Narbe, der is wirklich e guuder Kerl.« »Und was wird Ihre Frau dazu sagen?« »Die is weit weg... Und außerdem is mir das egal. Dreiß'ch Jahre hat se mir gesacht, was ich dun soll. Seit mir Gott erschienen is, hat se keene Macht mehr über mich.« »Hm.«
»Sie sind ja ni verheiradet, Frau Bromberg. Aber is'n das ne Ehe, wenn man seit mindestens fünfzehn Jahren ni mehr mitnander schläft, seit zwanz'ch Jahren nur noch das Nödigste mitnander redet und seine Frau seit dreiß'ch Jahren mit diversen Liebhabern teilt? Is'n das ne Ehe?« »Eine schlechte Ehe. Aber eine Ehe.« »Aber Frau Bromberg, ich bidde Sie! Und ich wollde Ihnen eben sagen, dass ich... dass Sie... dass wir... also, dass Sie und ich... ach, machen se mir's doch ni so schwer!« »Ich mache es Ihnen schwer?« »Nu klar. Verdammt noch ma, ja!« Ewald Otterbein bremste und nickte nachsichtig dem Polizisten zu, der am Ortseingang von Groß Särchen die Fahrzeuge kontrollierte und bei dem jungen Paar, wie er sagte, um Verständnis für die Überprüfung warb. Der Beamte erkundigte sich, ob dem jungen Paar etwas aufgefallen sei, zum Beispiel mehrere Fahrzeuge in Kolonne mit kurzgeschorenen Jugendlichen, und wünschte ihm, als Ewald und Marlene verneinten, ein schönes Wochenende mit viel Sonnenschein. »Sehn Se«, begann Ewald Otterbein, als sie die Sperre verlassen hatten, »sogar der Bolizist hat's bemerkt.« »Ich verstehe nicht, was Sie meinen.« »Frau Bromberg... Dass wir... ich meine, dass Sie und ich... ach Gottchn... dass wir e guudes Baar abgeben würden, dass wir zusamm bassn.« »Sie haben es aber eilig.« »Gleich als wir uns in der Raststädde begegnet sind, hab ich gewusst: Mir gehörn zusamm! Es muss doch en Sinn ham, dass die innere Stimme mir befohlen hat: Ewald steig aus! Und ich hör off die Stimme, steig aus und treff Sie. Eens und eens macht zwee, da beißt de Maus keen Faden ab.« Ewald Otterbein wandte seinen Kopf nach rechts. Marlene Bromberg hatte die Augen geschlossen und die
Hände auf dem Schoß gefaltet. In ihrem Gesicht war nicht zu lesen, was sie dachte. Sie war eine stolze, vielleicht etwas hochmütige, auf jeden Fall tugendsame Frau. Und hatte ein Herz für die Mühseligen und Beladenen, für Menschen wie Ewald Otterbein, die ein Leben lang gesucht und doch nicht gefunden hatten. Ihre Haare wurden von einer Spange gehalten, eine wie sie Margot bei einem andalusischen Trödler erstanden hatte. Marlene strahlte etwas Mütterliches aus, Wärme und Geborgenheit, nicht diese berechnende Kälte wie Margot. Was Margot wohl in diesem Augenblick machte? Ewald schaute auf Marlenes Uhr, es war gleich vier. Wahrscheinlich war Willi bei ihr, oder dieser Italiener, Giuseppe oder Giovanni oder wie auch immer er hieß. Ob sie ihn vermisste? Vermutlich nicht. Warum hatte sie sich eigentlich nicht von ihm getrennt? Seit er nicht mehr Erster Sekretär war, brauchte sie ihn doch nicht länger. Damals, ja damals war sie auf ihn angewiesen. Obwohl ihre Ehe längst tot war. Aber Scheidung, in deiner Position, Genosse Otterbein, als Erster Sekretär, in deiner Position, Genossin Otterbein, als Delegierte für den Parteitag... Einmal hatte er sich getraut und sich seinem Stellvertreter offenbart, eine Flasche Wurzelpeter intus und die Zunge gelockert, schon zwei Tage später tauchten sie in seinem Büro auf. Genosse Otterbein, die Familie ist die kleinste Zelle der Gesellschaft, als Genosse, noch dazu in hervorgehobener Funktion, da bist du Vorbild, also eine Scheidung, das kommt nicht in Frage, reiß dich zusammen, Genosse Otterbein! Wenn du familiäre Probleme hast, dann sind wir dir selbstverständlich bei der Lösung behilflich. Aber eine Scheidung, Genosse Otterbein, das sehen wir nicht gerne. Gar nicht gerne. Das verstößt gegen die sozialistische Moral. Und Ewald hatte noch weniger gesagt, noch mehr geschwiegen, sich tiefer und tiefer zurückgezogen. Nur Rudi wusste Bescheid, Rudi, sein einziger Freund, dem
sie wegen seiner Treue und Verschwiegenheit alle Vögel umbrachten. Oh Gott, hatte er sich miserabel gefühlt, schäbig und mies. Aber er hatte kein Wort des Protests gefunden, keinen Einspruch erhoben. Er hatte kein Rückgrat, er war ein Duckmäuser und Drückeberger, ein Feigling und Angsthase. Und als sie ihn informierten, dass der Pfarrer in der Haft unter ungeklärten Umständen zu Tode gekommen war, hatte er wieder das Maul gehalten. Im Oktober 89 noch. Der Sohn des Pfarrers... Sie standen sich gegenüber, in seinem Büro, Auge in Auge. Er würde seinen Blick nie vergessen, voller Wut und Verzweiflung, Trotz und Hass. Die Augen, diese eisgrauen Augen... Was wohl aus ihm geworden war? Er hatte ihn nie wieder gesehen... Der Schnaps und die Tabletten, wenn er die nicht gehabt hätte, dann wäre er wahnsinnig geworden. Aber so hatte er durchgehalten, bis zum bitteren Ende, bis sie ihn von einem Tag auf den anderen abservierten. Die Verhältnisse haben sich geändert, Genosse Otterbein, du stehst für das alte System, es tut uns Leid, aber wenn du für die Partei noch etwas Gutes tun willst, dann erkläre deinen Rücktritt. Wenn unsere Republik noch eine Zukunft haben soll, dann müssen wir neue Leute einsetzen, frische und unverbrauchte. Oder willst du etwa dem Fortschritt im Wege stehen? Du hast Jahrzehnte der Partei treu gedient. Ewald, du hast deine Verdienste, du hast viel geleistet, dafür sind wir dir dankbar, das werden wir nicht vergessen, wir werden dich nicht im Stich lassen... Wann soll ich zurücktreten? Zum Quartalsende?... Nein?... Zum Monatsende?... Nein?... Am Freitag?... Heute bis sechzehn Uhr?... Und er hatte seinen Schreibtisch geräumt, sich von der Sekretärin und seinem Fahrer verabschiedet und war nach Hause gegangen. Und Margot hatte ihn wortlos empfangen, ihn nicht einmal in den Arm genommen oder eines Blickes gewürdigt, und erst beim Abendessen gesagt: Das wurde auch langsam
Zeit, Ewald. Ich dachte, du schaffst den Absprung gar nicht mehr. Dann war er arbeitslos, drei lange Jahre, nicht mehr vermittelbar, bei der Vergangenheit, und keine Freunde, keine Seilschaften aufgebaut, sich nicht unentbehrlich gemacht, so wie Willi, der immer dicke im Geschäft war, bei der Treuhand, bei Bromberg und jetzt im Westen. Willi, sein kleiner Bruder, war ein Gewinner, und er, der Ältere war der Verlierer. Stets der Verlierer geblieben, auch als Margot ihn in ihrem Geschäft einstellte und ihm ein regelmäßiges Gehalt überwies. Immer nur geduldet, mitgeschleift, und er hatte sich ergeben gefügt. Er war der Trottel, der Narr, reif für die Klapse, nicht mehr ganz bei Trost. Bis gestern. Bis ihm der Gott, an den er nie geglaubt hatte, erschienen war. Seit gestern... »Pass auf, Ewald! Der Traktor!« Ewald Otterbein spürte, wie ihm eine unsichtbare Hand das Lenkrad herumriss und den Wagen um Millimeter am Hänger des Traktors vorbei in die Wiese lenkte, genau an der Stelle, wo der Graben von einer schmalen Brücke überquert wurde, über die der Traktorfahrer, ohne auf den Verkehr zu achten, auf die Landstraße gebogen war. Der Wagen durchbrach ein morsches Holzgatter, zerriss den dünnen Draht eines Elektrozauns und kam inmitten einer Kuhherde zum Stehen. Die Viecher, die eben noch zur Seite gesprungen waren, glotzten nun in das Fahrzeug. Sie sahen einen älteren Herrn, der die Arme über das Lenkrad gelegt und sein Gesicht verborgen hatte, und eine reife, wohlsituierte Dame, die dem Fahrer um den Hals fiel und seinen Nacken küsste. Das war gleich hinter Mortka, nur wenige Kilometer vom See bei Lohsa entfernt, über dem sich ein gewaltiges, Furcht erregendes Monstrum aus weißen, grauen und schwarzen Wolkenbergen auftürmte.
27 Meine Großtante, bei der ich als Kind häufig meine Ferien verbrachte, lebt in einem diakonischen Altenheim in der Nähe von Dresden und teilt sich das Zimmer mit einer alten Dame, die fast blind ist, aber hellwach im Geist. Bei einem meiner Besuche - meine Großtante war noch nicht von einem Spaziergang zurückgekehrt - bat die alte Dame mich, ihr den Brief ihres Enkels vorzulesen. Der Inhalt war nicht von Bedeutung, der Absender jedoch umso mehr: Adam-Raphael Herzberger.
Der Boss hatte Mühe, mit seiner Stimme den stürmischen Wind zu übertönen, der seine Worte über den Parkplatz am Rande von Mücka davonwehte. Er trug eine khakifarbene Hose mit aufgesetzten Taschen, schwarze hochgeschnürte Stiefel, am rechten braune Bändel, am linken weiße, und das dunkelgrüne T-Shirt mit der Aufschrift Polizei. Er lehnte auf der Motorhaube des tiefergelegten roten Opel Kadett und ließ, während er die Namen seiner Jungs ausrief, seinen Baseball-Schläger in die linke Hand klatschen. Jeder Name ein Klatscher, jeder Klatscher ein Name. Er war der Boss, ohne Zweifel, gefürchtet und verehrt, geliebt und verhasst. Aber unangefochten der Boss. »Ronnie?« »Ja, Boss!« »Jens?« »Ja, Boss!« »Michi?« »Ja, Boss!« »Maiki?« »Ja, Boss!«
»Tommie?« »Ja, Boss!« »Chrissie?« »Ja, Boss!« »Fiffi?« »Ja, Boss!« »Timo?« »Ja, Boss!« »Atze?« »Ja, Boss!« »Duffke?« »...« »Duffke?« »Ja, Boss!« »Marion?« »Ich muss mit dir reden, Boss.« »Marion?« »Ja, Boss!« »Ronnie, Jens und Michi vortreten! Ich verlange eine Erklärung.« »Boss, ehrlich... ein Unfall... Die waren in der Überzahl... und bewaffnet... Ehrlich, Boss, wir ham uns nur gewehrt, die ham angefangen... Wir mussten uns wehren...« »Was habe ich euch gesagt?« »Keine Randale, Boss.« »Und?« »Der war in der Überzahl... (Halt's Maul, du Idiot)... Ich war von Anfang an dagegen... (du Arschloch)... Jens und Michi ham... (das wirst du büßen)... Ehrlich,... Boss...« »Hat euch jemand erkannt?« »Nein, Boss!« »Zurücktreten!... Ich geb euch noch eine Chance. Wenn ihr euch heute bewährt, vergess ich die Geschichte, wenn nicht... Duffke, alles klar?« »Ja, Boss, bin bereit, Boss!«, presste er zwischen seinen geschwollenen Lippen heraus.
»Dann ist ja gut. Dachte schon, du hättest deinen Ausflug in die Künstlerszene nicht heil überstanden... Also, hört zu...« »Boss, ich muss mit dir reden.« »Unterbrich mich nicht, Marion!« »Bitte, Boss... der Duffke...« »Hast du nicht kapiert? Du sollst mich nicht unterbrechen! Ist das klar?« »Ja, Boss!« »Uhrenvergleich! Es ist jetzt genau sieben Minuten nach vier.« »Ja, Boss!« »Dann hört zu...« Duffke tastete nach seinem Springmesser in der Hosentasche. Er fühlte sich stark. Sollten die anderen doch über ihn lachen, sich über sein zerschundenes Gesicht lustig machen. Der Boss hatte ihn jede Schmach vergessen lassen, die Demütigung im Schwarzen Adler, die Erniedrigung durch Marion. Der Boss war sein Führer, sein Gott. Er betete ihn an. Heute war der Tag X. Das war die Idee des Bosses, seine Einfühlung, seine Liebe. Heute, am 14. August, auf den Tag genau sieben Jahre danach, durfte er, Danilo Duffke, Rache an Alexander Bromberg nehmen... Über sieben Brücken musst du gehen, sieben dunkle Jahre überstehn... Heute waren die sieben dunklen Jahre vorbei, heute waren sie Vergangenheit, in weniger als zwei Stunden würde er Alexander Bromberg eine Lektion erteilen dürfen, die der sein Leben lang nicht vergessen würde. Der Plan des Bosses war perfekt. Ab morgen würde für Danilo Duffke ein neues Leben beginnen, ein Leben ohne Alexander Bromberg, aber ein Leben mit Jaqueline Otterbein. »Hast du kapiert, Duffke?« »Ja, Boss!« Was hatte der Boss gesagt? Der Sturm war jetzt so heftig, dass er den Boss nicht mehr verstehen konnte. Aber
sollte er nachfragen? Durfte er das? Der Boss ließ sich nicht gerne unterbrechen, das hatte er eben erst Marion gezeigt. Ha, wie sie abgeblitzt war! Wie der Boss sie hatte auflaufen lassen! Das geschah ihr Recht, dieser dämlichen Ziege. Sie würde es nicht noch einmal wagen, sich zwischen den Boss und ihn zu drängen, ihre Freundschaft zu gefährden. Er und der Boss waren ein Herz und eine Seele. Das müsste auch Jaqueline akzeptieren, wenn sie wieder zusammen wären. Verdammt, warum war nur der Wind so laut? Und der Staub kitzelte ihn in der Nase. Er musste niesen. Verflucht, alles tat weh! Sollte er nun von links oder von rechts zuschlagen? Oder mit dem Boss über den See rudern und den Steg entern? Oder sich mit Ronnie und Jens über das Grundstück von diesem Kossatz heranpirschen, die Terrassentür eintreten und Alexander Bromberg umnieten? Oh, oh... Ronnie, Jens und Michi würden noch Ärger kriegen... Das lässt sich der Boss nicht gefallen, wenn jemand gegen seine Anweisungen handelt... O weh, hoffentlich gewährte er Marion nicht doch noch eine Audienz. Wenn der Boss erfuhr, dass er sie geschlagen hatte, dann würde er sogar ihn, seinen besten Freund, strafen. Duffke, du hast gegen die Regeln verstoßen? - Boss, ich kann es dir erklären. - Ich will keine Erklärung, ich will eine Antwort auf meine Frage. Hast du verstanden:? - Ja, Boss. - Hast du sie geschlagen? - Ja, Boss. - Marion, ziehst du deine Anklage zurück? - Nein, Boss, Duffke muss bestraft werden... doch, ich ziehe die Anklage zurück. - Dann ist ja gut, dann gehen wir wieder zur Tagesordnung über... Marion würde ihn nicht verraten, niemals, dafür liebte sie ihn zu sehr. Schade eigentlich, für sie, dass es für ihn keine andere Frau als Schaggi gab. Duffke prüfte die Gesäßtasche und tastete erleichtert sein Foto von Schaggi, seinen Talisman, seinen Glücksbringer. Manchmal, wenn er sich schlaflos im Bett wälzte oder
aus einem Alptraum aufschreckte, dann malte er sich aus, wie Alexander Bromberg ihm gegenüberstünde, die Pistole auf sein Herz gerichtet, Jaqueline würde schreien: Nein, Alexander, tu es nicht!, aber Bromberg, kaltschnäuzig wie er war, würde abdrücken, sich als Held und Sieger fühlen, Schaggi würde ohnmächtig niedersinken, während er, Danilo Duffke, zu Boden fiel. Aber dann würde er sich erheben, auferstehen, das Foto aus der Brusttasche ziehen und dem fassungslosen Bromberg die Kugel in die Hand drücken. Und Schaggi auf Händen tragen und mit ihr... Duffke fingerte das Foto aus der Gesäßtasche und steckte es in die Hemdtasche. Nichts könnte ihm geschehen, er wäre unverwundbar. Er wäre nicht nur unverwundbar, er war es. Mit dem Boss an seiner Seite und dem Foto auf dem Herzen war er unverwundbar. Unschlagbar und unbesiegbar. »Alles klar, Jungs?« »Alles klar, Boss!« Der Himmel hatte sich verdunkelt, als sie in ihre Opel Kadett sprangen, Marion in ihrem Ford Fiesta hinter ihnen her. Der Boss saß in Gedanken versunken, die olivgrüne Kappe tief in sein Gesicht gezogen. Kreba, Klitten, Uhyst, dann Lohsa. Und während um Wittichenau und Groß Särchen jedes Fahrzeug überprüft wurde, hatten sie freie Fahrt. Dafür hatte der Boss gesorgt. Duffke fühlte sich stolz und erhaben wie nie zuvor in seinem Leben. Es war der Tag X, sein Tag, der Tag der Rache.
28 Hans, der Däne hätte sicher ein prächtiger Freund werden können. Er ist zweifelsohne ein äußerst sympathischer und wertvoller Mensch. Aber es hat nicht sein sollen. Die Liebe ist eben blind auf beiden Augen um einen der wenigen vernünftigen Sprüche Matiebes zu zitieren. Und die Liebe hat sich für Hans entschieden, nicht für mich. So bleibt mir nur, dem jungen Paar alles Gute zu wünschen... Aber ich greife den Ereignissen vor.
Während sich über den Oberlausitzer Teichen und Seen die Gewitterwolken auftürmten und erste fette Regentropfen in den Sand der trostlosen Tagebaurestlöcher platschten, sich drei Opel Kadett und ein Ford Fiesta auf dem Weg von Mücka nach Lohsa befanden und sich Ewald Otterbein und Margot Bromberg über ihre wunderbare Bewahrung freuten, da strahlte über den Gästen an der Cocktailbar der italienischen Ferienanlage Bella vista sul mare unentwegt die Sonne. Sechs oder sieben Alte Herren einer mecklenburgischen Kreisligamannschaft, die mit den Kameraden ihres schleswig-holsteinischen Partnervereins - als Vorbereitung auf die neue Spielzeit - ein einwöchiges so genanntes Trainingslager absolvieren wollten, erfrischten sich nach ihrer strapaziösen Anreise mit dem einen oder anderen Pils vom Fass, zwei russische Pärchen feilschten mit einem afrikanischen Strandverkäufer um den Preis eines Ledergürtels, eine Gruppe tätowierter Schotten schmetterte, begleitet von Bandoneon und Dudelsack, wehmütige Weisen von Hochmoor und Einsamkeit, ein vollbärtiger Däne, der seit dem Vormittag seinen Hocker nur zum Pinkeln verlassen hatte, richtete seinen Blick auf
eine attraktive Dame, die sich erst eine Weile von einem Typen namens Willi und später einige Zeit von einem Typen namens Kurt einladen und aushalten ließ und nun - so viel hatte er, als deutsch-stämmiger Süddäne zweisprachig aufgewachsen, mitbekommen - auf den Geschäftsführer der Ferienanlage wartete. Der Däne, trotz seiner hünenhaften, fast verwegenen Erscheinung eher schüchtern, leerte sein drittes Pils und hatte nun endlich genügend Mut gesammelt, die Dame, die Margot hieß, anzusprechen. Er war gerade von seinem Hocker geglitten und wollte sich zu ihr begeben, als dieser Willi unvermittelt wieder an der Bar erschien, sich an ihm vorbeidrängte, auf dem Absatz kehrtmachte, sich seinen Hocker griff und diesen neben Margot rückte. Der Däne brach sein Vorhaben ab, und kauerte sich ans äußerste Ende der halbkreisförmigen Theke, zwar nun gleich unterhalb des Abluftventilators der Küche, aber dafür mit freier Sicht. Man könne eben nicht alles haben im Leben, tröstete ihn ein Alter Herr, der sich augenblicklich als begeisterter Anhänger der unbeschwerten und lockeren Spielweise der dänischen Fußballer offenbarte und damit begann, die Mitglieder der Europameistermannschaft von 1992 aufzuzählen, die unseren Jungs, also den Deutschen, eine verdiente Packung verabreicht hätten. Der Däne ließ sich ein viertes Bier spendieren, den Alten Herrn reden, hin und wieder mit einem Nicken oder Grunzen Zustimmung oder Ablehnung signalisierend, und verfolgte das Gespräch der beiden Deutschen. Bei ihrem ersten Zusammentreffen waren die beiden in Streit geraten, sie hatten sich angeschrien und angebrüllt, bis dieser Willi - er würde seine letzte Krone darauf verwetten, dass der ein Major war - wutentbrannt die Bar verließ. Gleich darauf war dieser Kurt erschienen - Typ Buchhalter, vielleicht aber auch Besitzer eines Geschäfts für Herrenmode - und hatte ihr schön getan und
geschmeichelt. Er war um sie herumscharwenzelt und hatte sich zum Affen gemacht, er hatte sich demütigen und erniedrigen lassen, knechtisch, ja hündisch hatte er sich verhalten, Margot vollkommen untertan. Und sie hatte ihn eiskalt abgefertigt, ohne Skrupel, rücksichtslos. Du hast deine Chance gehabt, fauchte sie, und du hast sie verpasst. Eine Margot Otterbein lässt man nicht warten, eine Margot. Otterbein lässt sich nicht abservieren. Ein solches Verhalten sei sie nicht gewohnt, das brauche sie sich nicht bieten zu lassen. Sie könne sich ihre Liebhaber aussuchen, sie habe es nicht nötig - so wie er offensichtlich - jemandem nachzurennen. Vor allem nicht einem Langweiler wie ihm. Er solle - husch, husch heim ins Körbchen zu seiner Frau, dieser klapperdürren Bohnenstange. Dann hatte sie den Kellner gewunken und ihm gesagt, dass der Herr zahlen wolle, und Kurt hatte die Rechnung beglichen und war davon geschlichen. Der Däne wandte sich kurz seinem Nachbarn zu und würzte die Unterhaltung mit der Bemerkung, dass der Fußball nicht mehr das sei, was er mal war, worauf der Alte Herr seinen Kameraden den neuen Freund vorstellte, ihm einen ausgewiesenen Sachverstand bescheinigte, eine neue Runde bestellte und den Niedergang des ostdeutschen Fußballs, insbesondere solcher traditionsreichen Vereine wie Dynamo Dresden oder Sachsenring Zwickau, beklagte. Der Däne - »ich bin der Hans« - ließ ihn lamentieren und richtete seine Aufmerksamkeit wieder auf Margot und Willi. Sie begegneten sich wie alte Eheleute - sparsame Gesten, kurze Blicke reichten aus, um sich zu verständigen. Wenn er die Augenbrauen hob, schwieg sie, wenn sie die Hände aneinander presste, die Finger spreizte und sich vorbeugte, wich er zurück. Aber sie waren weder verheiratet noch ein festes Paar, wahrscheinlich hatten sie seit Jahren ein Verhältnis miteinander. Und jetzt hatte er sie erneut vor die Entscheidung gestellt, vor ein
Entweder-Oder. Wie bereits vor vier oder fünf Stunden. Er warnte sie vor einem Schritt, den sie später gewiss bereuen werde. Erst forderte er sie auf, nötigte sie beinahe, dann bat er sie, flehte sie an, zu ihm nach Stuttgart zu ziehen. Er habe Geld im Überfluss, sei in einer einflussreichen Position, besitze einen hervorragenden Leumund, könne ihr alles bieten, aber das wisse sie ja. Doch Margot wies ihn ab, zum zweiten Mal. Sie wolle ihr Geschäft nicht aufgeben, in das sie so viel Zeit und Kapital investiert habe. Ob sie denn vergessen habe, fragte er, wem sie alles zu verdanken habe, wessen Beziehungen ihr den günstigen Standort verschafft hätten, wer ihr Tür und Tor geöffnet habe? Und vor allem, wer ihr, als der Laden pleite und sie nicht mehr kreditwürdig war, den Kontakt zu Alexander Bromberg vermittelt und ihr ein zinsloses Darlehen ausgehandelt hatte? Das sie im Übrigen bis heute noch nicht abgezahlt habe. Er bemühte sich, die Contenance zu wahren. Ohne ihn, ohne seine Beziehungen, säße sie im vierten Stock eines Plattenbaus mit einer Schrankwand aus dem VEB Möbelkombinat Hellerau im Wohnzimmer. Und sie würde noch den beigefarbenen Präsent 20-Hosenanzug aus hundertprozentiger Polyesterseide tragen, den sie übrigens gemeinsam, falls sie sich erinnere - im Modehaus Honetta am Altmarkt erstanden hätten. Sie würde in ihrem Lada 1500 durch die Gegend zuckeln, Tempo-Erbsen futtern und Kosta-Kaffee schlürfen. Davon hätten sie ja Vorräte für Jahrzehnte in der Datsche gebunkert, ein Magazin mit Konserven, Büchsen und Einmachgläsern, für schlechte Zeiten, Kleinbürgers Halt und Sicherheit. Und abends würde sie eine Dederonschürze tragen und aus dem Kumpeltod, den sie Rudi abgeschwatzt habe, Himbeerschnaps oder Kirschlikör brauen. Weil sie sich nichts anderes leisten könne. Ohne ihn wäre aus ihr nämlich eine verhärmte
Schlampe geworden, die von der Stütze lebe und beim Konsum Rabattmarken sammele. Hans verabschiedete sich von dem Alten Herrn, der die soeben aus Schleswig-Holstein eingetroffenen Sportkameraden begrüßen wollte. Der Alte Herr lud ihn noch zu einem Spiel ein, dass die beiden Mannschaften am Sonntag etwa gegen sieben Uhr auf einem Sportplatz am Rand von Rimini austragen würden. Es werde sich lohnen, wegen der vielen Tore und den technischen Kabinettstückchen. Letztes Jahr hätten sie mit fünf zu neun verloren, das schreie nach Rache. Aber dieses Jahr seien alle hundertprozentig fit, alle Verletzungen seien auskuriert. Das verspreche einen Kampf auf höchstem Niveau, Spannung garantiert, sie würden gewiss gewinnen. Er könne bei Giovanni noch einen Tipp abgeben. Wer das Ergebnis richtig voraussage, gewinne einen Bootsausflug zu einer einsamen Bucht, Wein und Grappa frei, nur das Essen in einem Fischrestaurant müsse bezahlt werden. Hans eilte an der Theke entlang, nahm zu seiner Freude mit den Augenwinkeln wahr, dass Margots Blicke ihm folgten, und füllte bei Giovanni, der an der Rezeption über den Büchern fluchte, den Tippschein aus. Er ließ die Mecklenburger mit sieben zu drei gewinnen, was bei Giovanni ein spöttisches Grinsen hervorrief. Die Mecklenburger hätten noch nie gesiegt, einmal seien sie sogar mit zwei zu dreizehn untergegangen. Ob er ihn geschwind was fragen dürfe? Hans nickte, und Giovanni erkundigte sich, ob die gut aussehende Dame aus Deutschland, die mit den... Giovanni formte mit den Händen zwei Bälle -... er wisse schon..., ob die noch in Gesellschaft sei. Er sei nämlich schon seit einer Stunde mit ihr verabredet, aber eine Aushilfe habe die Eingänge mit den Ausgängen verwechselt und im Hotel sei die Hölle los. Und er müsse nun das Chaos ausbügeln. Er werde sicher nicht vor Mitternacht Feierabend machen
können. Ob der verehrte Gast vielleicht ein Auge auf die Dame werfen könne und ihr etwas ausrichten? Giovanni kritzelte rasch einige Worte nieder und reichte dem Dänen den Zettel. Er werde sich selbstverständlich erkenntlich zeigen und die Rechnung übernehmen. Hans grinste, steckte die Nachricht in seine Hemdtasche und kehrte an die Cocktail-Bar zurück. Auf seinem Platz unter dem Küchenventilator saß inzwischen eine sehr schlanke Frau mit blonden Strähnen in ihrer grauen Kurzhaarfrisur. Hans nahm sich sein Glas, gewährte ihr großmütig seinen Platz und platzierte sich auf den eben frei gewordenen Hocker neben Margot. Unterdessen besangen die Schotten die Nebel von Avalon und behandelten ihre Sonnenbrände mit Eiswürfeln aus einem Sektkühler, die Alten Herren aus Schleswig-Holstein und Mecklenburg begossen ihr Wiedersehen und die beiden russischen Pärchen ließen sich von dem Strandverkäufer dessen gesamte Kollektion gefälschter Markenjeans ausbreiten. Ein Bild sommerlichen Urlaubsfriedens, wenn nicht dieser deutsche Major eine solche Kälte ausgestrahlt hätte, dass einem das Blut in den Adern gefror. Hans wagte weder ihn noch Margot anzuschauen, und sei es noch so flüchtig, und starrte stattdessen auf die Wassertropfen, die an seinem Glas perlten. Hin und wieder, wenn sich Margot empört aufrichtete, stieß sie mit ihrem Ellbogen an seinen Unterarm. Millimeter um Millimeter, fast unmerklich, schob er sich an sie heran, bis sich ihre Arme beständig berührten. Sie ließ es sich gefallen, was Hans noch mehr zum Schwitzen brachte. Hoffentlich hörten sie sein Herzklopfen nicht, der Major durfte keinen Verdacht schöpfen. Der Major wäre zu allem fähig, wahrscheinlich besaß er eine Pistole. Warum trug jemand bei dieser Hitze und dazu an einer Strandbar ein Jackett? Doch nur, wenn er etwas verbergen wollte. Hans verfluchte die schottischen Sänger, die ihn allenfalls
Wortfetzen aus dem Gespräch zwischen Margot und dem Major verstehen ließen. Ob er die dürre Grauhaarige bitten sollte, mit ihm den Platz zu tauschen? Dann könnte er wieder von den Lippen lesen. Aber er würde Margot nicht mehr spüren, diese rätselhafte und schöne Frau, die keinem Mann nachlief und sich ihre Liebhaber auswählte. Hans entschied sich, neben Margot hocken zu bleiben und abzuwarten. Es würde etwas geschehen, die Frage war nur, wann. Entweder die beiden versöhnten sich, wofür es allerdings keinen Hinweis gab, oder sie würden sich gegenseitig die Augen auskratzen. Nein, das wäre unter dem Niveau des Majors, der würde nie eine Frau in der Öffentlichkeit schlagen, der hätte andere Methoden, der würde seine Angelegenheiten im Verborgenen regeln. Hans war geduldig, er hatte Zeit, er konnte ausharren. Irgendwann würde der Major aufstehen und gehen, und Margot würde sich ihm zuwenden und Hans würde ihr sagen, dass sie nicht auf Giovanni warten solle, weil der bedauerlicherweise bis tief in die Nacht arbeiten müsse. Die Schotten grölten die zweite Strophe von Mull of Kintyre, als der Major, der eine große Flasche San Pellegrino naturale zu sich genommen hatte, seinen Platz in Richtung Toilette verließ. Hans beugte sich, nachdem er sich vergewissert hatte, dass der Major außer Sichtweite war, zu Margot und lächelte sie an. Von nahem betrachtet sah sie nicht ganz so frisch aus wie aus der Entfernung. Ihre Augen, die sie meist hinter einer Sonnenbrille verbarg, waren gerötet, die Fältchen hatte sie mit Schminke kaschiert und trotz der Bräune wirkte sie blass. Ihre Lippen waren vom gleichen Rot wie die Fingernägel, am linken Handgelenk trug sie einen goldenen Armreif, den sie unablässig drehte. Er wollte gerade die Worte loswerden, um die er seit Stunden gerungen hatte, da zwängte sich die dürre Grauhaarige von Gegenüber zwischen ihn und Margot. Erst sagte sie
etwas zu Margot, das er wegen der Schotten leider nicht verstehen konnte, dann raunte sie ihm zu, wenn er noch einen Funken Verstand besitze, solle er die Finger von dieser Frau lassen. Die sei eine armselige Hure, deren einziges Vergnügen es sei, anderen Männern den Kopf zu verdrehen. Dann schritt sie davon. Hans wollte erneut zu einem Lächeln ansetzen, da kehrte der Major zurück, drängte ihn beiseite, baute sich neben Margot auf und verlangte die Rechnung. »Das wirst du noch bereuen, Margot«, hörte Hans ihn sagen. »Du vergisst, dass ich in Dresden einflussreiche Freunde habe. Und nicht nur in Dresden...« Hans glitt, einem Instinkt gehorchend, von seinem Hocker. Ihn fröstelte trotz der Hitze. Dieser Mann war gerade dabei, seine Schwägerin und langjährige Geliebte zu ruinieren. Kaltblütig und erbarmungslos. Er sah, wie der Major das Wechselgeld einsteckte, Münze für Münze, Schein für Schein, ganz langsam, Margot unverwandt anschauend. Sie hielt seinem Blick nicht stand und nestelte an ihrem Armband. Dann nahm er ihr Kinn zwischen Daumen und Zeigefinger, sagte noch: »Man soll nie die Kuh schlachten, die man melkt«, und schritt davon, ohne sich noch einmal umzudrehen. Er wusste, dass der Major Willi Otterbein nicht wieder an der Cocktailbar der Ferienanlage Bella vista sul mare erscheinen würde. Auch Margot wusste es, das schimmerte in ihren Augen. Es war ein endgültiger Abschied, ohne Hoffnung auf ein Wiedersehen. Wehmut und Trauer spiegelten sich in ihrem Antlitz, die Erinnerung an viele gemeinsame Jahre, die nun jäh beendet wurden, aber vielleicht auch etwas Angst... Hans lud sie zu einem Cocktail ihrer Wahl ein und sie bestellte sich einen Manhattan.
29 Auch Schweigen kann eine Lüge sein. Und mit einer Lüge kann eine fromme Frau wie Marlene Bromberg nicht lange leben. Dass sie Ewald Otternbein in der Autobahnraststätte nicht widersprach, als er sie für Alexander Brombergs Schwester hielt, ließ sie nicht zur Ruhe kommen. Irgendwann musste die Wahrheit ans Licht. Doch die Wahrheit kann verletzend sein, sogar tödlich. Ein wahres Wort an falscher Stelle kann eine Katastrophe heraufbeschwören. Das weiß auch Marlene Bromberg. Und so verweigerte sie mir eine Antwort auf meine Frage, ob sie wisse, wer mein Vater sei. Sie wusste es - wie auch, ihre Schwiegermutter - seit unserer ersten Begegnung. Aber sie wollte mir wohl - im Gegensatz zu Ewald Otterbein - die Wahrheit nicht zumuten.
»Na, meine Guudsde, is das ni herrlich? Das is doch wie e bissl e Baradies, hä?« »Hoffentlich ist das Dach dicht. Es dauert nicht mehr lange...« »Keene Bange, Marlene. Hab ich eigenhändig mit meim Kumpel Rudi gedeckt. War ne tüchtche Bruchbude, wie mir die gekooft ham... So... das Gardendürchn, nu ja, das klemmt e bissl, das müsst'sch ma repariern... Und nu, herzlich willkommen in Otterbeins Ferienbaradies... Schaggi!... Schaggi?!... Die muss da sein, das sieht man doch am Aschenbecher. Dabei ham mir der so oft gesacht, dass se zu viel raucht. Zwee Schachteln, weg wie nüscht. Aber sie hat Angst, dass se dick wird, wenn se offhört. Mir dun nämlich alle e bissl zur Korbulenz neign in der Familie, de Mudder hunderddreiß'ch Kilo, der Vader drei Zentner, ich zweenhalb. Bloß der Willi is
e bissl aus der Art, geschlachn... Ich hab oft gedacht, vielleicht is die Schaggi gar ni von mir, weil doch die Margot immer e Verhältnis mit dem hadde... Aber in den letztn Wochn hat se zugenomm, obwohl se raucht, da wird se wohl schon von mir sein... Schaggi!... Vielleicht hat se Brobleme, dass se so viel raucht... Ich muss ma mit der redn... Schaggi? De Derrassendür off... Hereinspaziert!... Mensch, wonach riecht's denn hier?« »Flieder. Das ist Flieder.« »Wächst doch hier gar ni.« »Und Arznei. Den Geruch kenn ich noch aus der Klinik. Herztropfen. Ganz eindeutig Herztropfen.« »De Schaggi braucht keene Herzdrobbn. Dei Bruder?« »Nicht dass ich wüsste.« »Und hier im Schlafzimmer fehlt 'ne Matratze. Das wundert mich nu aber doch e bissl...« »Alexander scheint auf jeden Fall nicht hier zu sein. Soll ich uns einen Kaffee kochen?« »E Dässel Bohnkaffee offm Balkong... das is e Draum. Du, ich gugge ma, ob der Rudi da is, der ward sicher e Dässel mit drinkn... Nee, is ni zu sehn... Der hockt sicher bei der Renate.« »Die Kaffeemaschine funktioniert nicht. Kein Strom.« »Das Licht ooch ni. Vielleicht is e Blitz in den Drafo eingeschlagn. Das kommt öfter ma vor bei Gewidder. Gehen mer nüber zur Renate? Die hat e Dieslaggregat.« Ewald Otterbein und Marlene Bromberg eilten über den Kiesweg und stemmten sich gegen den Sturm, der Staub, Blätter und Papierfetzen aufwirbelte und die Deutschlandflagge von Coschützens Fahnenmast riss. Ewald fing sie im Fluge auf und steckte seinen Kopf durch das kreisrunde Loch, das Coschütz nach dem Fall der Mauer hineingeschnitten hatte. Er grinste. Dann faltete er die Fahne mit Marlenes Hilfe zusammen und schob sie in das Geäst der Buchsbaumhecke, die Grundstück und Weg trennte. Obwohl es erst kurz nach
fünf war, hatte sich der Himmel verdunkelt. Blitze zuckten aus grauschwarzen Wolken, gefolgt von krachenden Donnerschlägen. Nur der ersehnte Regen ließ auf sich warten. »De Derassenmöbel hätt mer festzurrn sonn«, sagte Ewald, als sie Renate's Raststätte erreichten. Renate schleppte gerade den letzten Sonnenschirm in den Holzverschlag neben dem Eingang. Unter ihrem weißen Kittel, der mit Senf-, Ketchup- und Fettspritzern übersät war, zeichnete sich die günstig von der Chefin erworbene Zweite-Wahl-Unterwäsche aus Otterbeins Underwearfashion-Geschäft ab. »Nu, Renate, wie geht's denne?«, fragte Ewald. »Muss, Ewald, muss. Nichts als Arbeit. Wenn ich den Rudi nicht hätte...« Ewald half Renate, die Plastikstühle zu stapeln und die Tische zusammenzustellen, Marlene hielt sich unschlüssig im Hintergrund und studierte die Speisekarte, auf der Brat- und Bockwürste, Bouletten und Broiler angeboten wurden, wahlweise mit Brot oder Kartoffelsalat, alles nicht mal halb so teuer wie in Aachen. »Is der Norbert ni da?« »Der ist schon seit sechs Wochen nicht heimgekommen. Ist endgültig aus mit uns. Die Schaggi und der Rudi sind drinnen. Und der alte Coschütz. War die Hölle los heute. Und dann noch Stromausfall. Zum Glück hab ich den Diesel. Jetzt ist die Hütte leer, weil alle noch trocken nach Hause wollten. Ich denk, ihr seid im Urlaub. Wo ist denn Margot?« »Die is in Rimini gebliebn. Ich hab das Klima ni verdragn. Die Demse macht mich krank.« »Hier hättest du auch keine Freud gehabt, Ewald. Fünfunddreißig Grad. Die ganze Woche. Aber für's Geschäft war's gut. Sitz ja immer noch auf
hundertsiebzigtausend Mark Schulden. Noch so eine Woche, dann kann ich in vierzehn Tagen das Wochenende zusperren. Der Rudi hat nämlich eine Reise nach München gewonnen, und er will mich mitnehmen. Eigentlich könnte ich's mir nicht leisten, aber der Rudi hat sich so gefreut, da darf ich ihn nicht enttäuschen.« »Wenn de mich einlernst, Renate, mach'sch dir de Kneipe.« »Ewald...!? So kenn ich dich gar nicht... Das haut mich jetzt um... Das würdest du wirklich tun?« »Wenn ich's dir sach, Renate.« »Du hast dich verändert, Ewald. Weißt du, woran es mir aufgefallen ist?« »Hm?« »Du hast gelächelt.« Renate rückte dicht an Ewald und fragte, auf den Blechkasten mit der Speisekarte weisend, ob er etwa eine Freundin habe. Ewald lachte und sagte, dass die Dame die Schwester von Alexander Bromberg sei. »Ist was passiert? Der Herr Bromberg ist nicht gekommen an diesem Wochenende. Die Schaggi ist völlig aufgelöst.« »Dann wolln mer se ma offmundern. Marlene, kommst de?« »Ewald... bitte warte... Ich muss dir noch was sagen.« Marlene Bromberg zog ihn von der Eingangstür weg. »Ich verrate nicht, dass ihr da seid«, sagte Renate. »Das wird eine Überraschung für sie sein.« Ewald Otterbein und Marlene Bromberg standen unter der Linde, deren mächtige Krone sie vor Staub und Sturm schützte. Von der Musikbox in Renate's Raststätte trug der Wind ein Lied herbei, das Ewald an manchen Tagen fünf, sechs, sieben Mal in Margots Geschäft hörte. Er kannte den Text auswendig und brummte leise mit: Ich war noch niemals in New York, ich war noch niemals auf Hawaii... ging nie durch San Francisco in zerrissnen
Jeans... Ich, war noch niemals richtig frei.... Einmal verrückt sein und aus allen Zwängen fliehn... Wahrscheinlich würde Schaggi jetzt mit Rudi tanzen, und Coschütz mit Renate. Es war das erste Mal, dass Ewald Otterbein bedauerte, nicht tanzen zu können. Aber vielleicht, wenn er Marlene bat, ihn zu führen, vielleicht würde sie ein Tänzchen mit ihm wagen. Heute Abend noch, wenn sie unter sich waren... Ich war noch niemals in New York. ich war noch niemals auf Hawaii... Ewald griff nach Marlenes Hand. Ganz gewiss würde sie mit ihm tanzen. Sie waren füreinander bestimmt. Der Porschefahrer, den er in tiefer Nacht an der italienischen Autobahnraststätte getroffen hatte, die innere Stimme, die ihn am Dresdner Tor aussteigen ließ - ihn damit vor dem Tod auf der Elbbrücke bewahrend - und ihm die Begegnung mit Marlene Bromberg schenkte, die unsichtbare Hand, die hinter Mortka das Steuer herumriss und ihm zum zweiten Mal binnen weniger Stunden das Leben rettete - es war kein Zufall: Der ehemalige Parteifunktionär und elende Feigling Ewald Otterbein, der sich, seit ihm am Strand von Rimini Gott erschienen war, wie neugeboren fühlte, und die brave und anständige Schwester des Unternehmers Alexander Bromberg, der vielleicht in absehbarer Zeit sein Schwiegersohn würde und mit dem er endlich mal ein vernünftiges Gespräch führen wollte - es gab keinen Zweifel: Marlene und er gehörten zusammen. »Marlene... Ich würd dich gerne zu em Dänschen einladn. Aber du musst mich führn.« Es dauerte drei Blitze und ebenso viele Donnerschläge, bis Marlene den Mut zum Reden fand. »Ewald, ich habe dir was vorgemacht. Ich bin gar nicht die Schwester von Alexander.« »Nu bin ich aber gespannt wie e Flitzeboochn...« »Ich bin... seine Frau.«
30 Meine Schilderung der Ereignisse an jenem Tag im August neigt sich dem Ende zu. Monatelang habe ich recherchiert, um diese vierundzwanzig Stunden nachzuzeichnen. Ich bin bis nach Rimini und Aachen gereist, habe Briefe und Aufzeichnungen gelesen, Akten und Protokolle eingesehen. Vor allem jedoch habe ich mit Menschen geredet - und sie gewährten mir einen Einblick in ihr Leben. Ich habe einundzwanzig Personen kennen gelernt, wenngleich ich sie auch nicht immer verstehen konnte. Daraus ist eine Momentaufnahme des Lebens im Osten und Westen Deutschlands entstanden. Eine subjektive Momentaufnahme, aber nach bestem Wissen und Gewissen verfasst.
Es war Sonnabend, der 14. August. Überall in Mitteleuropa, ob in Aachen, an der italienischen Adriaküste oder in der schlesischen Oberlausitz, standen kleiner und großer Zeiger - sofern die Uhren richtig gingen - in einer senkrechten Linie zueinander. Wenn an jenem Sonnabend um sechs der ehemalige Bürgerrechtler und Inoffizielle Mitarbeiter des Ministeriums für Staatssicherheit der DDR, der zeitweilige Arbeitslose und Trinker und heutige leitende Angestellte im Betrieb des Aachener Kapitalisten Alexander Bromberg, Micha Michalke, bei Bewusstsein gewesen wäre, hätte er - wie es seine Gewohnheit war - seine Frau aus dem Zimmer geschickt, die Fenster aufgesperrt, den Fernseher eingeschaltet und mit seinen Jungs darauf gehofft, dass Hansa Rostock nicht schon zu Saisonbeginn die Rote Laterne übernehmen musste. Aber da er in einem künstlichen Koma lag, bekam er weder mit, dass sich die
dunklen Ahnungen, die ihn seit geraumer Zeit plagten, so rasch erfüllt hatten, noch dass Hansa das Spiel mit null zu drei verloren geben musste, noch dass seine Frau Eva für wenige Minuten auf das Gewirr an Schläuchen, Drähten und Geräten blicken durfte, das ihn am Leben hielt. Wenn Eva Michalke, geborene Ristock, verwitwete Kulow, nicht für einen Augenblick, der ihr dennoch wie eine Ewigkeit vorkam, auf das Gewirr von Schläuchen, Drähten und Geräten gestarrt hätte, das ihrem Mann, dem sie drei Kinder geboren hatte, für eine ungewisse Zeit das Leben schenkte, wäre sie - wie an jedem Sonnabend - ins Schlafzimmer geschlichen, hätte den Stuhl ans Fenster gerückt, die Flasche Kirsch-Whisky geöffnet und von längst vergangenen Zeiten geträumt: Sie als Verkäuferin im Konsum, schlank und hübsch, nie was drunter, begehrt und verwöhnt von den Armisten, immer frische Blumen und Westseife, mit Jungs wie Raphi getanzt und bis nach Sachsen getrampt, die Ostsee so nah, das Meer, der Wind, die Weite, laue Sommernächte am Strand, Lagerfeuer und Gitarren, stets eine Schulter zum Anlehnen. Wenn Klaus Matiebe - von Juni 1974 bis Januar 1990 in Diensten des Ministeriums für Staatssicherheit der DDR, Führungsoffizier von IM Ingenieur alias Micha Michalke - nicht von einem alten Kumpel vernommen worden wäre, hätte er vermutlich das Polizeipräsidium nicht so bald verlassen dürfen. Es müsse zwar ein Ermittlungsverfahren eingeleitet werden, weil zwei Zeugen übereinstimmend ausgesagt hatten, Matiebe sei mit dem volltrunkenen Michalke in Streit geraten und habe diesen die Treppe hinunter gestürzt. Aber da Matiebe mit einskommasieben Promille vermindert schuldfähig war, sei es offen, ob die Staatsanwaltschaft Anklage erheben werde. lm schlimmsten Falle - wenn Michalke den Sturz nicht überlebe - drohe ihm eine Anklage wegen fahrlässiger Tötung. Matiebe solle sich
keine Sorgen machen, die Angelegenheit werde schon irgendwie geregelt. Der zuständige Staatsanwalt stehe kurz vor der Pensionierung und wolle seinem Nachfolger einen leeren Schreibtisch hinterlassen. Matiebe solle Montag auf der Wache vorbeischauen, dann wisse man Näheres. Matiebe - schon immer misstrauisch und voller Argwohn - verließ sich jedoch nicht auf das Wort seines alten Kumpel und eröffnete seiner Frau, dass er bedauerlicherweise wegen dringender Geschäfte seinen Heimaturlaub abbrechen und morgen nach Afrika fliegen müsse. Den Flug habe er bereits umgebucht. Vor lächerlichen vierundzwanzig Stunden hätte die ehemalige Parteitagsdelegierte und jetzige Inhaberin eines Geschäfts für Miederwaren, Dessous und Underwearfashion, Margot Otterbein, nicht im Traum daran gedacht, dass ihr Ewald, den sie vor dreißig Jahren geehelicht und eine eben so lange Zeit mit seinem Bruder Willi betrogen hatte, dass dieser Trottel, der eigentlich in die Klapse gehörte, jemals den Mut fassen würde, sie zu verlassen. Sie hätte im Traum nicht daran gedacht, dass ihr Schwager Willi, den sie all die Jahre geliebt und verehrt hatte, dass ihr der stets höfliche und zuvorkommende Willi einmal mit seinen guten Beziehungen drohen würde. Vor vierundzwanzig Stunden hatte Kurt Einhäuser, der Besitzer eines bescheidenen Aachener Kaufhauses für Herrenmode, das Jahr für Jahr weniger Gewinn abwarf und zuletzt gar rote Zahlen schrieb, nicht zu hoffen gewagt, dass sein eintöniges Leben noch irgendeine Überraschung für ihn bereit hielt. Er hatte nicht damit gerechnet, von einer so rätselhaften und faszinierenden Frau wie Margot Otterbein bei einem romantischen Abendessen das Gefühl vermittelt. zu bekommen, er sei ein Herr von Welt, ein Galan, ein begehrenswerter Mann, der die unterdrückten Wünsche einer vernachlässigten Frau erfüllen könnte. Noch weniger hatte er damit
gerechnet, von eben dieser Dame abgefertigt zu werden wie ein dummer Schulbub, von ihr misshandelt zu werden wie ein Straßenköter, der sogar von einer läufigen Hündin abgewiesen wurde. Vor genau einem Tag hatte es Hannelore Einhäuser zwar geahnt, dass ihr Gatte Kurt, der ohne ihr ererbtes Vermögen sein Herrenmodegeschäft schon lange hätte schließen müssen, auf diese Ostdeutsche reinfallen würde weshalb sie sich auch gegen das von ihm vorgeschlagene gemeinsame Abendessen gesträubt hatte -, aber nicht, dass er sich - als Dreiundfünfzigjähriger! - wie ein Oberstufenschüler Hals über Kopf in diese aufgetakelte Person verknallen würde. Etwas mehr Verstand hatte sie ihm doch zugetraut. Aber da war sie wohl einem Irrtum aufgesessen. So wie ihre beste Freundin Marlene, die sieben Jahre ohne Argwohn war und ihrem Mann vertraut hatte, obwohl der immer seltener nach Hause kam. Vierundzwanzig Stunden zuvor hatte sich Giovanni, der Geschäftsführer der Ferienanlage Bella vista sul mare, in seinen Sehnsüchten, die ihn regelmäßig heimsuchten, wenn er nach dem Dienst auf dem Sofa in der kleinen Wohnung - die er mit seiner Mutter teilte - niedersank, eine Frau wie Margot Otterbein ausgemalt. Und jetzt, wo seine Phantasie endlich Gestalt angenommen hatte, verwechselte die Aushilfe Eingänge mit Ausgängen, und er musste sich von dem Oberhaupt einer siebenköpfigen Familie aus Finsterwalde vorhalten lassen, er habe sein Hotel nicht im Griff und bestätige alle Vorurteile, die der Deutsche gegen den Italiener habe. Wenn sie nicht binnen zehn Minuten ihr Familienappartement beziehen könnten, würden sie auf der Stelle den ADAC anrufen, dort seien sie nämlich im Rechtsschutz. Vor vierundzwanzig Stunden hatte sich Willi Otterbein, ehemaliger Major der Staatssicherheit der DDR und nun in der baden-württembergischen Landeshauptstadt
Stuttgart wohnhaft, von seinem Mailänder Geschäftspartner verabschiedet, um mit seinem Bruder Ewald und dem gemeinsamen Jugendfreund Zschätzsch die alten Zeiten aufleben zu lassen. Er war erst nach Marotta gerast, um Zschätzsch abzuholen, und dann trotz schier endloser Diskussionen - nur mit sechsminütiger Verspätung an der Autobahnraststätte erschienen. Aber es war anders verlaufen als geplant. Erst hatte Zschätzsch gekniffen, später hatte ihn sein eigener Bruder - offensichtlich einem religiösen Wahn verfallen beschimpft und beleidigt, dann hatte Margot sein Angebot abgelehnt, was er nie für möglich gehalten hätte, weil sie ihm stets das Gefühl vermittelt hatte, ihn zu lieben und Ewald allein aus ideologischen, parteitaktischen und gesellschaftspolitischen (damals) und aus finanziellen und steuertechnischen Gründen (heute) nicht zu verlassen. Und jetzt befand er sich auf einem kurzentschlossen gemieteten Motorboot, das weiter und weiter aufs offene Meer hinausraste, weil sich der Gashebel verklemmt hatte. Willis Hemd klebte an seinem gestählten Körper, die Hände umklammerten das Steuerrad, die Gischt raubte ihm die Sicht. Noch stand er fest, noch hielt er das Gleichgewicht, doch er spürte, wie seine Kräfte allmählich schwanden. Aber Willi geriet nicht in Panik, er hatte schon weitaus gefährlichere Situationen bewältigt. Der Treibstoff würde bei diesem Tempo nicht mehr lange reichen, fünf Minuten vielleicht noch, und dann würde er gemütlich auf dem Wasser dümpeln und irgendwann gerettet werden. Es gelang Willi, das Boot mit einer langgezogenen Kurve wieder Richtung Küste zu lenken, der Sonne entgegen. Er atmete tief durch, das Gröbste war überstanden, er hatte die Lage wieder im Griff. Da baute sich plötzlich, wie aus dem Nichts, eine schwarzes Monstrum vor ihm auf. Willi, von der Sonne geblendet, nahm es zu spät war. Schade, er hatte es sich immer gewünscht, in Bad Gottleuba zu
sterben, dort, wo er geboren und aufgewachsen war, die klare und frische Erzgebirgsluft, die satten Wiesen, die Stille, die Heimat, die Mutter... Und keiner würde ihn vermissen. Hans, der Däne, hatte vor vierundzwanzig Stunden nichts anderes getan als in jedem Urlaub: Bier getrunken. Drei Wochen lang trank er nichts als Bier. Ob in Griechenland oder in der Türkei, ob in Portugal oder Italien: Morgens schwamm er im Meer, ab elf hockte er an irgendeiner Bar, und abends um elf oder zwölf lag er in der Kiste. Unterhielt sich mal mit diesem, mal mit jenem, schloss ab und an eine Bekanntschaft, trank sein Bier und blieb allein. Wie zu Hause so im Urlaub. Nur dass er zu Hause nicht trank. Aber hier und heute in Rimini hatte ihn das Schicksal an die Seite einer geheimnisvollen Frau geführt, die - obgleich vielleicht zwei, drei Jahre älter als er, aber höchstens vierundvierzig - auf ihn wirkte wie eines der jungen Dinger, die samstags in der HiphopNacht ihre Plüschtiere auf die Bühne seines kleinen Jazzclubs warfen, um die Gunst der gut aussehenden Tänzer zu gewinnen. Hans hätte nicht erwartet, dass sie seine Einladung auf einen Cocktail annehmen würde. Aber als er ihr von Giovanni ausrichtete, dass der arme Kerl mindestens bis Mitternacht über den Büchern knechten müsse und bedauerlicherweise an diesem Abend keine Zeit für die Signora habe, zögerte sie nicht länger. Hans und Margot hoben ihre Gläser und prosteten sich zu.
31 Der Boss ist für mich eine schillernde und widersprüchliche Figur: Warum nur ist er so geworden, wie er ist? Vielleicht stimmt ja die Antwort seiner Großmutter auf diese Frage, die mich nächtelang nicht schlafen ließ. Die alte Dame meint, ihr Enkel sei nach dem Fall der Mauer in eine Art Vakuum gestürzt. Der tragische Tod seines von ihm verehrten Vaters habe ihn in die Verzweiflung getrieben. Es gab nichts mehr, an das er zu glauben vermochte, keine Werte mehr, die er vertreten konnte. Und als er erleben musste, dass im neuen Deutschland die Mörder seines Vaters nicht zur Rechenschaft gezogen wurden., da verlor er auch das Vertrauen in Demokratie und Rechtsstaat, da wuchs seine Wut auf Wessis, auf Besatzer wie Bromberg. Der Boss befand sich nun in einer Art Niemandsland, denn eine Flucht in nostalgische Erinnerungen an selige DDRZeiten stand für ihn außer Frage. Also musste er noch weiter in die Vergangenheit zurück, um eine ideologische Heimat zu finden: ins Dritte Reich. Ich müsste den Boss hassen, aber ich kann es nicht. Ja, manchmal verstehe ich ihn sogar, auch wenn ich seinen Rachefeldzug nicht gutheißen kann. Wenn ich plötzlich diesem Wendehals Willi Otterbein gegenüber gestanden wäre - hätte ich dann nicht auch am liebsten zugeschlagen? Ich hätte es nicht getan, aber in meinen Gedanken habe ich den Stasi Major Otterbein x-mal gerädert und gevierteilt. Bisweilen kann ich mich des Eindrucks nicht erwehren, dass der Boss gar kein wirklicher Nazi ist, dass sein Führer-Gehabe nur Tarnung ist, Mittel zum Zweck - um den Tod seines Vaters zu rächen. Aber wer schaut schon in das Innere eines Menschen?
Am 14. August um Schlag sechs Uhr öffneten sich über der Datschensiedlung am See bei Lohsa die Schleusen des Himmels. Hagelkörner, groß wie Taubeneier, prasselten auf die Erde nieder und machten den Plan des Bosses zunichte. Er pfiff seine Jungs zurück, und sie rannten zu ihren Autos; Marion hatte ihren Wagen erst gar nicht verlassen. Der Boss zog grübelnd an einem Zigarillo, während sein Fahrer den Scheibenwischer laufen ließ, Duffke sich wieder um sein Augenlicht sorgte, zwei Aspirin hinunterwürgte und wie alle anderen auf einen Befehl wartete. Keiner sagte ein Wort. Die Scheiben der Fahrzeuge beschlugen, hin und wieder wurde ein Wagenfenster runtergekurbelt, um eine Bierdose zu entsorgen. Einer der beiden schwarzen Kadett vibrierte unter dem dumpfen Hämmern aus den 120-Watt-Boxen auf der Hutablage. Als der Boss das Zigarillo aufgeraucht hatte und der Hagel in Regen überging, gab er das Zeichen zum Aufbruch. Sie stürmten durch den Matsch und machten erst vor Renate's Raststätte Halt, in der - durch die Milchglasscheiben nur schemenhaft wahrnehmbar - vier Personen um einen Tisch saßen. Ein Paar tanzte zu einem Schlager, dessen Melodie durch die verschlossene Tür drang. »Das Lied kenn ich«, sagte Duffke. »Ich war noch niemals in New York, ich war noch niemals auf Hawaii...« »Halt's Maul!«, fuhr ihn der Boss an. »Wir sind nicht beim Karaoke.« Der Boss öffnete die Tür. Er schritt, seine Jungs und Marion im Schlepptau, zum Tresen und verlangte neun Halbe, zwei Wasser und eine Flasche Cola, eisgekühlt. Aber zackig! Renate und Rudi sprangen auf und eilten an den Zapfhahn, Jaqueline Otterbein verbarg ihr Gesicht in den Händen, Heinz Coschütz richtete sich auf und spannte seine Muskeln, Marlene Bromberg brach den Tanz ab und führte Ewald Otterbein an den Tisch. Der Boss zog das Kabel der Musikbox aus
der Steckdose und baute sich breitbeinig in der Mitte des Raums auf. Seine Jungs hatten sich an den Tischen verteilt, Marion verschwand auf dem Klo, und Duffke starrte Jaqueline an, die zwischen den Fingern hindurch zurückblinzelte. Renate und Rudi beeilten sich, den Jungs die neun Halben zu servieren, dem Boss die Cola und Duffke das Wasser. Ein Wasser blieb übrig, und Rudi stellte das Glas auf Geheiß des Bosses neben Duffkes. Marlene Bromberg ergriff Ewald Otterbeins Hand und presste sie zusammen, Ewald erwiderte den Händedruck und lächelte ihr aufmunternd zu. »Fehlt nicht jemand auf Eurer Feier?«, fragte der Boss. Niemand wagte zu antworten. »Ich warte...« Renate und Rudi zapften eifrig neun frische Halbe, Jaqueline schluchzte, Coschütz hüstelte, Marlene blickte Hilfe suchend nach Ewald, und Ewald räusperte sich. »Ich warte... nicht gerne.« »Sag doch was, Vati.« »Hier fehlt niemand, Mir sin komplett. Wenn Se mit uns feiern wollen, sind Sie gerne eingeladen, wenn nicht... da is de Dür.« »He, he, Dickerchen... Wer wird denn gleich aggressiv? Duffke, sag uns, wer in der Runde fehlt... Duffke...« »Das Schwein, Boss«, krächzte Duffke. »Lauter, Duffke! Ich glaube nicht, dass dich alle verstanden haben.« »Das Schwein, Boss!« »Und... hat das Schwein auch einen Namen, Duffke?« »Ja, Boss.« »Dann sag uns den Namen, Duffke.« »Alexander Bromberg!« »Brav, Duffke... Also, wer kann uns sagen, wo das Schwein Alexander Bromberg steckt?... Niemand?... Das ist aber schade... Duffke, dann frag deine Süße!« »Schaggi... ähem...«
»Lauter, Duffke, lauter!« »Schaggi, wo steckt das Schwein?« »Nun, Schaggi... dein alter Freund Danilo hat dich was gefragt... Gib ihm doch eine Antwort, Süße, damit er sich freuen kann.« »Ich weiß es nicht. Ich weiß es wirklich nicht.« »Du weißt es nicht, Jaqueline Otterbein?... Dann fragen wir doch mal die Chefin... die weiß es auch nicht... und du, Klumpfuß?« »Ist an diesem Wochenende nicht gekommen.« »Was hat uns der Scheintote zu sagen?« »Nimm dich in acht, Jungchen, war Nahkämpfer, Eliteeinheit, hab dem Tod ins Auge gesehen, da werd ich mit euch noch lange fertig.« »Reg dich doch nicht auf, Alter... Die feine Dame?« »Ich weiß es auch nicht.« »Und unser Dickerchen?« »Niemand von uns weiß, wo Alexander Bromberg ist. Das müssen Se uns glauben. Und jetzt lassen Se uns in Frieden!« »He, Dickerchen... ich glaub, ich kenn dich...« Der Boss schritt vor und hievte Ewald Otterbein vom Stuhl. »Ist lange her... Bist fett geworden... Zehn Jahre... Oktober 89... Erinnerst du dich?... Da saß ich vor dir... Du konntest nichts machen, du feiges Arschloch, dir waren die Hände gebunden... Ewald Otterbein, Erster Sekretär, Bruder von Willi Otterbein, dem Stasimajor... Dachte, du bist im Urlaub, Dickerchen.« »Herr Herzberger...« »Habt ihr das gehört? Er sagt Herr Herzberger zu mir... He Dickerchen, weißt du was aus Dieter Kiefer geworden ist?... Nein?... Der hat sich vor ein paar Wochen umgebracht... Und Michalke, IM Ingenieur, der muss froh sein, wenn er die nächsten Stunden überlebt... Und Klaus Matiebe?... Na, Dickerchen, dämmert's?... Der wird wegen fahrlässiger Tötung eingebuchtet... Bleiben
nur noch dein Bruder und du, du Fettsack... Du glaubst gar nicht, wie ich mich freue, dich so unerwartet wiederzusehen.« »Herr Herzberger, ich kann mich nur in aller Form entschuldichen. Ich weiß, dass ich e Feigling war. Ich bin mitschuldig am Tod Ihres Vaters, auch wenn ich damals ni viel zu sagen hatte. Es duut mir Leid. Wenn ich könnte, würde ich alles rückgängig machen.« »Du bist doch nicht etwa fromm geworden, Dickerchen? Aber für ein solches Gesülze ist es leider, leider zu spät... Was machen wir nur mit dir?... Duffke, willst du ihn übernehmen?« »Boss, bitte...« »Entschuldige, Duffke, ich vergaß, dass er beinahe dein Schwiegerpapa geworden wäre. Jens und Michi, was ist mit euch?« »Wir hätten lieber den Scheintoten.« »Den könnt ihr haben... aber erst das Dickerchen...« »Auf welche Rechnung gehen die Getränke? Getrennt oder zusammen?« »Hinkebein... wir betrachten uns als eingeladen... Kapiert?« »Die Renate muss noch Schulden abtragen. Da wäre es freundlich von euch, wenn ihr bezahlt.« »Wir sind also nicht eingeladen?... Nein?... Ronnie! Atze!« Ronnie sprang auf, stieß die kreischende Renate zur Seite und fuhr mit seinem Baseballschläger über das Regal mit den Biergläsern, Atze zertrümmerte einen Stuhl. »Wir sind wirklich nicht eingeladen?« Ronnie zerlegte die Kaffeemaschine, Atze zerschmetterte einen weiteren Stuhl, die Jungs feixten und grölten, Marion lachte, Duffke starrte seine Schaggi an, der Boss grinste, Jaqueline, Renate und Marlene schluchzten, Coschütz drohte mit der Faust, Ewald und Rudi
überlegten, wie sie die Jungs besänftigen konnten, da wurde die Tür aufgerissen. »Tach Renate... Was ist denn hier los?... Tach Rudi, grüß dich Heinz, Tach Ewald, Tach Boss... Mach mir 'n Pils, Renate.« »Budich, du musst uns helfen«, flüsterte Renate, »die machen uns fertig.« »Bei so 'nem Scheißwetter raus. Hätte nie Vopo werden solln... Werde sehen, was sich machen lässt... Renate, du kennst doch jeden hier in der Siedlung. Ich suche die Jaqueline Otterbein.« »Die sitzt da drüben am Tisch... Budich, du musst was unternehmen.« »Schon gut, Renate... Fräulein Otterbein, hab Sie das letzte Mal gesehen, da trugen Sie noch ein FDJ-Hemd... Polizeimeister Budich mein Name, kann Ihr Vater bezeugen... Muss Ihnen eine Frage stellen: Ist Ihnen ein gewisser Alexander Bromberg bekannt?« »Ja... äh... ja.« »Sind Sie eine Angehörige?« »Er ist... er war... wir sind gute Bekannte.« »In seinem Wagen wurde ein Brief mit Ihrem Namen gefunden. Da haben mich die Kollegen angerufen, dass ich mich umhöre.« »Was ist mit Alexander? Was ist passiert?« »Ich fürchte, ich hab keine guten Nachrichten für Sie. Der Wagen von Bromberg steht am Dubringer Moor, in Scheckthal, auf einer Wiese hinterm Gasthof. Seit gestern Abend. Der Förster hat uns informiert. Mitten im Moor hat er ein goldenes Feuerzeug gefunden. Wilhelm Bromberg, Aachen stand darauf. War sein verstorbener Vater, hat die Mutter gesagt. Bevor sie in Ohnmacht gefallen ist. Seine Frau ist wahrscheinlich in Görlitz. Also, Fräulein Otterbein...« »Ist er... ist er tot?«
»Wissen wir nicht... Bei dem Wetter ist schlecht suchen... Mach mir noch 'n Pils, Renate... Eine Leiche haben sie noch nicht entdeckt... Außerdem ist Wochenende, und die Rechten sind unterwegs, da sind alle Kollegen im Einsatz... Was wollte er denn im Moor?« »Keine Ahnung.« »Ja, dann... Falls er auftaucht, geben Sie uns Bescheid, damit die Kollegen nicht umsonst das Gelände durchkämmen... Sie müssen sich mal vorstellen, was so ein Einsatz kostet... Die vielen Überstunden... und die armen Frauen und Kinder, die alleine zu Hause sitzen... Ist keine Freude, heutzutage Polizist zu sein... Schreib's an, Renate! Ab Montag hab ich Urlaub, dann komm ich mit den Enkeln vorbei... Wetter soll ja wieder besser werden... Also, wie gesagt, wenn der Bromberg sich meldet, dann rufen Sie an... Schönen Abend allerseits.« Renate geleitete Budich zur Tür und flehte leise, er solle sich um Verstärkung bemühen, die jungschen Kerle würden ihr sonst die ganze Einrichtung demolieren. Budich wandte sich um und sagte: »Boss, halt deine Jungs im Zaum. Will mir nicht das Wochenende verderben lassen und vorm Urlaub noch Ärger kriegen. Haben wir uns verstanden?« Der Boss deutete auf sein grünes T-Shirt mit der Aufschrift Polizei und grinste. Budich zog sich seine Mütze tief ins Gesicht und trat in den Regen hinaus.
32 Die Chronik jenes 13. Augusts wäre ohne die Schilderung von Alexander Brombergs Ende ein Fragment geblieben. Mit diesem Kapitel schließt sich also der Reigen.. Obwohl ich Alexander nur ein einziges Mal - an einem Samstagabend in Renates Raststätte - begegnet bin, ist er mir bei meinen Nachforschungen mehr und mehr ans Herz gewachsen. Ja, er ist mir wie ein Bruder geworden.
Genau vierundzwanzig Stunden vor dem Unwetter hatte der Unternehmer Alexander Bromberg seinen Betrieb verlassen und sich auf den Weg in die Datsche am See bei Lohsa gemacht, in der seine Geliebte Jaqueline Otterbein für sie beide das Abendessen zubereitete. Er hatte sich an der Tankstelle mit dem Nötigsten versorgt, war kurz vor Niesky falsch abgebogen, hatte vor der roten Ampel in Rietschen mit seiner Frau Marlene telefoniert, sich auf der Landstraße mit zwei schwarzen und einem roten Opel Kadett ein Rennen geliefert und sich schließlich nur wenige Kilometer von Jaqueline entfernt zum Pinkeln in ein Kiefernwäldchen begeben. Dann war er wieder in seinen Wagen gestiegen - und an der Biegung zum See vorbei gefahren. Zunächst ziellos, dann - wie von unsichtbarer Hand geführt - über Knappenrode, Maukendorf und Wittichenau zum Dubringer Moor, am Steinbruch entlang über den unbefestigten Fahrweg bis Scheckthal. Unweit der Waldgaststätte hatte er gewendet und seinen Wagen abgestellt. Die Mahnung eines Jagdpächters, nach Einbruch der Dunkelkeit das Moor nicht zu betreten, tat er als dummes Geschwätz ab - »Nach dieser langen
Trockenheit im Sumpf versinken? Machen Sie sich doch nicht lächerlich!« -, er rief bei Jaqueline an, dass er später komme, weil er noch über etwas nachdenken müsse, aber ehe er seinen Namen nennen konnte, war die Verbindung zusammengebrochen. Es war schon dämmrig, als Alexander Bromberg über den gekennzeichneten Weg das Moor betrat. An einem Ast im Unterholz baumelte ein rotes Gießkännchen, wie es auch seine Söhne besaßen, aus dem Morast lugte ein himmelblaues Kindertöpfchen, ein paar Schritte weiter lag das verrostete Gestell eines Kinderwagens. Ach Gott, seine Jungs. Bromberg scheuchte einen Kolkraben auf, der sich krächzend in die Lüfte schwang, und bog in einen schmalen Pfad, um sich eine Ritterburg anzuschauen, die jemand an einen Baumstumpf gelehnt hatte. Bromberg klaubte ein paar Figuren aus dem Schlamm, stellte sie in die Burg und erinnerte sich daran, dass ihm Michalke, der sich damals wegen der Umweltschützer gewissermaßen dienstlich mit dem Moor beschäftigen musste, einmal eine alte Sage erzählt hatte: Vor langer, langer Zeit befand sich am Südrand des Moores eine Handelsstraße, die von Breslau nach Leipzig führte. Kaufmänner zogen über diese Straße, ihre Wagen beladen mit wertvoller Ware. Eine leichte Beute für die Raubritter, die sich im unzugänglichen Gelände des Moores versteckten. Mitten im Sumpf hatten sie sich ein Schloss errichtet, von dem aus sie ihre Raubzüge starteten. Über Jahre hinweg war es ihnen nicht schwer, die Kaufleute auszuplündern. Die Raubritter schwelgten in Saus und Braus, niemand wagte sich in das Moor hinein, sie horteten Goldschätze und nahmen sich die schönsten Weiber. So hätte es eine Ewigkeit zugehen können, doch eines Tages belegte sie ein gottesfürchtiges Opfer, das sie mitsamt seiner Dienerschaft meuchlings umbrachten, mit einem Fluch. Die Ritter höhnten und spotteten und zogen mit der Beute in ihr Schloss. Sie
hatten kaum Pferde genug, um das feine Tuch, die edlen Gewürze, den Silber- und Goldschmuck, die prall gefüllten Geldsäcke heimzutragen, kaum Platz in ihren Schatzkammern, um das Diebesgut unterzubringen. Der Wein floss in Strömen, die Mägde und Weiber kredenzten köstliche Speisen. Da plötzlich, um Mitternacht, wurden die Hunde unruhig, die Pferde scheuten, die Wächter eilten mit den Laternen ins Freie. Der Mond färbte sich erst rötlich, dann rot, dann blutrot. Ein Käuzchen schrie, der Wind bog die Äste, aus dem Moor ertönten Stimmen. Dann war es still, totenstill. Und noch ehe die Wächter einen Fuß vor den anderen setzen konnten, tat sich die Erde auf. Es grollte und donnerte, es krachte und brodelte und das mächtige, unbezwingbare Schloss wurde verschlungen. Niemand konnte entrinnen. Und all die Schätze waren dahin. Alexander Bromberg verscheuchte ein paar Mücken, während er in das Moor hineinwanderte. Und mit den Mücken wollte er die Gedanken vertreiben, die ihm Angst einflößten, ihn in Schrecken versetzten. An Kiefern und Birken vorbei, an Sumpfwurz und Knabenkraut, über Rosmarinheide und Moosbeere, weder Fischotter noch Rotwild, weder Waldschnepfe noch Rohrdommel wahrnehmend. Es war ihm ein längst vergessener Vers aus dem Konfirmandenunterricht in den Sinn gekommen: Du Narr! Diese Nacht wird man deine Seele von dir fordern; und wem wird dann gehören, was du angehäuft hast? Und dann dieser Spruch, den sich Marlene - eigenhändig gestickt und gerahmt - über ihren Sekretär gehängt hatte: Was hülfe es dem Menschen, wenn er die ganze Welt gewönne, und verlöre doch seine Seele... Verflucht, er wollte ihm nicht mehr aus dem Kopf gehen, er hatte sich eingenistet in seinem Hirn, dieser Vers: Was hülfe es dem Menschen, wenn er die ganze Welt gewönne, und verlöre doch seine Seele? Alexander Bromberg beschleunigte seinen Schritt. Sein
gemächliches Tempo, das er anfangs eingeschlagen hatte, war gegen seinen Willen einem Eilen und Hetzen gewichen. Niemand hielt ihn zurück, keiner stoppte ihn. Die Füße trugen ihn vorwärts, irgendwo hin, ins Ungewisse. Alexander Bromberg hatte längst die Orientierung verloren, die Sterne konnten ihm den Weg nicht weisen. Hier raschelte es, dort quakte es, hier ein Rauschen, dort ein Zirpen, Gluckern und Röhren. Sollte er weiter laufen oder umkehren? Wo war die surrende und knisternde Hochspannungsleitung, wo der umgestürzte Hochstand, wo der Bach, der unvermittelt sein Wasser in einem Sog verlor? Wohin lenkten ihn seine Füße? Wo fand der Weg ein Ende? Gab es ein Zurück? Ein Zurück wohin? Zu wem? Zu Jaqueline, die so lange drängen und Liebe heucheln würde, bis sie ihr Ziel erreicht hätte, die nicht eher Ruhe gäbe, bis er sich scheiden ließ und sie zu seiner Frau nähme? Die sich von seinem Geld, an der Seite des erfolgreichen Unternehmers, ein bequemes Leben einzurichten gedachte? Die nach der Geburt der Kinder die Oma ins Haus holen würde? Für Jaqueline auf fünfzehn Millionen zu verzichten? Mit Margot Otterbein unter einem Dach zu leben? Mit Margot Otterbein, die nichts anderes im Sinn hatte, als Schwiegermutter des bedeutenden Fabrikanten Alexander Bromberg zu werden? Zu Marlene, deren Zuneigung sich in gestreiften Oberhemden und dazu passenden Krawatten erschöpfte? Deren Interesse an ihm, seit es ihr gelungen war, ihn vor dem Absturz zu bewahren, nach und nach erloschen war? Die sich mit ihrem Frauenhaus ein Denkmal setzen wollte? Deren Freude es war, auf der Klatschseite der Zeitung als Wohltäterin und Engel der Mühseligen und Beladenen gefeiert zu werden? Die sich stundenlang die Sorgen und Nöte der Penner anhörte, ihnen in einer kalten Nacht die Liege im Gartenhaus anbot, sich jedoch
auf die Seite drehte, wenn er - was selten genug vorkam jemanden zum Reden brauchte? Zu seiner Mutter, die ihn abgöttisch liebte, ihn trotz seiner siebenunddreißig Jahre umhegte und umsorgte, ihn verzärtelte und mit ihrer Fürsorge erdrückte? Die keinen Widerspruch duldete? Die einer misstrauischen Glucke gleich darüber wachte, dass niemand das Ansehen der Familie befleckte? Die mit eiserner Hand die Hinterlassenschaft ihres Mannes, seines Vaters, zusammenhielt und über jeden Pfennig Rechenschaft verlangte? Die ihm noch immer seine Frühstücksbrote schmierte? Zu seinem Vater, der, obwohl seit zwölf Jahren tot, wie ein Schatten über ihm schwebte? Der ihn zeit seines Lebens verachtet hatte? Du bist zu dumm, einen Eimer Wasser umzukippen. Du wirst es nie zu etwas bringen. Nimm dir ein Beispiel an deinem Bruder. Mit deinem Abitur hast du das Glück für den Rest deines Lebens aufgebraucht. Du willst mit dreißig Millionär sein? Aus eigener Kraft? Das war der schlechteste Witz, den ich je gehört habe. Niemals hatte ihn sein Vater umarmt oder war ihm über das Haar gestrichen. Er hatte ihn weggestoßen, wenn er sich ihm näherte, hatte ihn wie einen Aussätzigen behandelt. Manchmal hatte er sich danach gesehnt, von seinem Vater Schläge zu bekommen, nur um von ihm berührt zu werden. Wenn er nur wüsste, warum ihn sein Vater hasste. Seit er denken konnte, hatte er nichts anderes ergründen wollen. Er hätte sein Vermögen dafür geopfert, um eine Antwort zu finden. Aber sie war ihm versagt geblieben. Und sie würde ihm versagt bleiben. Alexander Bromberg lehnte sich erschöpft an den Stamm einer mächtigen Eiche, die seit Jahrhunderten Wind und Wetter trotzte. Sein Herz pochte und stolperte, kalter Schweiß trat ihm auf die Stirn.
Zurück in sein Unternehmen, für das er vierzehn Stunden am Tag schuftete, das ihn nachts nicht schlafen und an den Rand eines Herzinfarkts trieb? Das ihm mehr und mehr Verdruss bereitete? Herr Bromberg, Sie müssen sich unbedingt Ruhe gönnen. Ihre Werte sind eine Katastrophe. Die Herz-RhythmusStörungen dürfen Sie nicht auf die leichte Schulter nehmen. Und hören Sie mit dem Rauchen auf! Und mit dem Trinken! Wovor laufen Sie davon, Herr Bromberg? Wenn Sie weiter so durchs Leben hetzen, werden Sie nicht alt. Gönnen Sie sich eine Auszeit. Ich würde Ihnen eine Privatklinik in der Schweiz empfehlen - Geld spielt für Sie ja keine Rolle -, dort werden Sie an Leib und Seele gesund. Lachen Sie nicht. Herr Bromberg, es steht nicht gut um Sie. Wenn Sie nicht umgehend Ihr Leben ändern, kann ich für nichts garantieren. Wann haben Sie den letzten Urlaub gemacht? Ich meine nicht das, was Sie als Urlaub bezeichnen: zwei Koffer voll Akten mitnehmen, pausenlos am Handy hängen und zwischendurch mal schnell für eine Sitzung heimfliegen. Ohne Sie läuft nichts? Sie haben in Ihrem Betrieb niemanden, dem Sie vertrauen können? Sie wollen lieber alles alleine regeln? Sie können einfach nicht abschalten? Lieber Herr Bromberg, Sie müssen sich entscheiden, noch haben Sie die Wahl, siebenunddreißig ist kein Alter... Es geht, offen gesagt, um Leben und Tod. Das war an diesem Morgen, als ihm der Arzt eröffnete, wie es wirklich um ihn stand. Alexander Bromberg stützte sich am Stamm der Eiche ab und schnaufte. Er hätte Rallyefahrer werden sollen statt Geschäftsmann. Er hätte niemals Marlene heiraten dürfen, nicht das Verhältnis mit Jaqueline beginnen, nicht den maroden Betrieb im Osten übernehmen. Er hätte hätte hätte... Alexander Bromberg suchte nach einem Punkt, an dem er sich orientieren konnte. Die Leuchtziffern seiner Armbanduhr zeigten zehn Minuten nach Mitternacht.
Was hülfe es dem Menschen, wenn er die ganze Welt gewönne und verlöre doch seine Seele? Alexander Bromberg richtete sich auf und versuchte, mit Hilfe seines Feuerzeugs den Knüppelpfad zu finden. Aber er sah nichts als Büsche und Sträucher, die sich wie Totengerippe aus dem Gras erhoben. Nach links oder nach rechts, vor oder zurück? Er setzte vorsichtig einen Fuß vor den anderen und fühlte, wie der Boden schwankte, wie ihm das Wasser in den Schuh schwappte. Und ehe er erkannte, was mit ihm geschah, steckte er bis über die Knöchel im Sumpf. Er wollte das Bein rausziehen, aber es ging nicht. Und je mehr er sich bemühte, desto tiefer sank er. Alexander Bromberg strampelte und zappelte, geriet in Panik, und schon waberte der Morast bis zum Bauch. Er ruckte hin und her, ruderte mit den Armen, schrie um Hilfe, flehte zu Gott, schwor, ein neues Leben zu beginnen - es half nichts. Der Schlamm hatte jetzt den Brustkorb erreicht, ihm fiel das Atmen schwerer und schwerer, der Moder stand bis zum Kinn, Alexander keuchte und japste, er wollte es nicht wahr haben, er verzweifelte, dann kämpfte er weiter, kämpfte um sein Leben, klammerte sich an einen Ast und vermeinte endlich, festen Boden unter den Füßen zu ertasten.
Epilog Diese Zeilen schreibe ich an einem Ort., den ich niemals zu erreichen geglaubt hätte. Ich sitze auf der Terrasse eines herrschaftlichen Anwesens und blicke auf eine traumhafte Bergwelt. Bevor ich zum Flughafen fahre, um meinen Freund Rudi abzuholen, möchte ich doch noch kurz erzählen, was mich zur Schilderung der Ereignisse an jenem Tag im August bewogen hat. Begonnen hatte es mit einem unbestimmten Gefühl, mit einer absurden Ahnung. Diese Ahnung ließ mich. nicht mehr los, hielt mich gefangen, wurde zunächst von Rudi, dann von Jaqueline, später von Marlene Bromberg und ihrer Schwiegermutter verstärkt. Um Gewissheit zu erlangen, musste ich mich auf Spurensuche begeben. Und mehr und mehr wurde diese Spurensuche zu einer Reise in die Vergangenheit, in meine Vergangenheit. Sie reicht zurück bis in die Nacht des 13. August 1961, in die Nacht des Mauerbaus. Mein Vater, den ich nie in meinem Leben gesehen habe, war in dieser Nacht einer der Letzten, der den Berliner Grenzübergang Bornholmer Straße von Ost nach West passieren konnte. In den Abendstunden zuvor hatte er sich amüsiert - und mich gezeugt. Mein Vater war ein Aachener Fabrikant auf Geschäftsreise. Er hieß Wilhelm Bromberg. Mit dem Untergang meines Halbbruders Alexander Bromberg wollte ich meine Aufzeichnungen nicht enden lassen. Also habe ich alle Personen ein Jahr später noch einmal aufgesucht - ich wollte sehen, was aus ihnen geworden ist. Ich bin nämlich - trotz allem - der Ansicht, dass für den Satz »In jedem Glück steckt ein Kern der Katastrophe« auch die Umkehrung gilt: In jeder Katastrophe steckt der Kern für ein neues Glück. Es geht also immer weiter, irgendwie zumindest.
Ein Jahr später lachte über ganz Europa die Sonne. Es war ein 13. August wie aus einem Ferienprospekt, nicht zu heiß, nicht zu schwül, das Tief über Skandinavien war endlich einem stabilen Hoch gewichen, die Luft klar und rein, die Menschen heiter gestimmt, und Hans der Däne war zum ersten Mal in seinem Leben an einen Urlaubsort zurückgekehrt. Es war ein Sonntag, und Hans schwitzte auf der Holztribüne eines Sportplatzes am Rande der italienischen Adriastadt Rimini. Er hatte wie im Vorjahr, als er als einziger das richtige Ergebnis voraussagte und eine Bootsfahrt zu einem Fischrestaurant gewann, auf einen Sieg der Alten Herren aus Mecklenburg gesetzt, und wenige Minuten vor Ende des Spiels lagen die Schleswig-Holsteiner mit vier zu sechs hinten. Noch ein Tor der Mecklenburger und er dürfte abermals einen kostenlosen Ausflug genießen. Er hielt die Hand einer jungen Frau mit halblangen dunklen Haaren, die vor Aufregung eine Zigarette nach der anderen rauchte und ebenfalls die Mecklenburger anfeuerte. Er hätte es nicht zu hoffen gewagt, sie jemals wieder zu sehen. Acht Monate war es her, als sie sich begegneten, an einem Adventssonntag im Dezember, auf dem Dresdner Weihnachtsmarkt. Die Alten Herren aus Mecklenburg hatten ihn eingeladen, die Mannschaft zu einem Hallenturnier zu begleiten, als Maskottchen. Er brachte ihnen diesmal kein Glück, sie gewannen kein einziges Spiel. Aber er fand das Glück, zufällig, wie man auf der Straße einen Geldschein findet, vor einem Stand mit Nussknackern, Räuchermännchen und Lichterbögen. Dort verteilte sie eine Broschüre, die den Unterschied zwischen echter Volkskunst aus dem Erzgebirge und asiatischen Fälschungen erklärte und dazu aufrief, die heimische Wirtschaft zu unterstützen. Hans ließ sich von ihr zu einem Glühwein einladen und über das Blaue
Wunder führen, sie bummelten durch den Zwinger und küssten sich im Grünen Gewölbe. Seit jenem Dezembertag war er in sie verliebt, acht unendliche Monate lang mit dem Schicksal hadernd, weil er wahrscheinlich beim Einsteigen in den Bus - seine Geldbörse mit ihrer Adresse und damit das Glück wieder verloren hatte. Und gestern Nachmittag - sie war gerade erst eingetroffen, alleine reisend, weil sich ihre Mutter beim Dekorieren des Schaufensters den Knöchel gebrochen hatte - hockte sie sich neben ihn an die Cocktailbar, und es war so, als ob sie sich seit ewigen Zeiten kannten. Die junge Frau konnte sich nicht daran erinnern, jemals einem Fußballspiel zugesehen zu haben. Auch nicht, wenn Vati und Rudi, Onkel Willi und Mutti sich um den kleinen Fernseher versammelten, um - egal ob vor oder nach der Wende - unseren Jungs die Daumen zu drücken. Manchmal hörte sie Mutti fragen, wer denn die Unseren seien und in welche Richtung sie spielten, dann schwärmte Mutti für die in Nahaufnahme gezeigten strammen Waden eines Fußballers, dann bewunderte sie die Lockenpracht eines Spielers, dann himmelte sie den gesamtdeutschen Kaiser an und klatschte in die Hände, wenn sein hocherhobenes Haupt auf dem Bildschirm erschien. Und nach der Halbzeitpause fragte sie wieder, wer denn die Unseren seien und in welche Richtung sie laufen müssten. Dass sie ein Fußballspiel so begeistern könne, hätte Jaqueline Otterbein nicht erwartet. Aber vielleicht lag es auch an ihrem Nachbarn, an Hans, dem Dänen, dass sie so aufgeregt war und sich wieder eine Zigarette an der anderen ansteckte. Wo sie es doch letztes Jahr im Oktober fast geschafft hatte aufzuhören, als sie zum zweiten Mal ein Kind verlor, in der sechsundzwanzigsten Woche. Es war ein Junge, er lebte einige Minuten lang, aber er war zu schwach, zu krank. Sie hätte ihn Alexander genannt, wenn die Ärzte ihn
durchgebracht hätten. Zum Andenken an seinen Vater, der sieben Jahre ihr Geliebter war und sich von einer Minute auf die andere, ohne sich zu verabschieden, an einem Samstag im August aus ihrem Leben gestohlen hatte. Vier Todesfälle in wenigen Monaten, der Streit mit Mutti, das war zu viel für sie, das war nicht zu bewältigen. Und dass sie die Adresse von Hans mit ihrer Jeans in die Waschmaschine gesteckt hatte, später nur noch seinen Vornamen entziffern konnte, sich nicht einmal seinen Nachnamen gemerkt hatte, das wollte sie sich nicht verzeihen. Hans, mit dem sie nur einen Nachmittag und einen Abend verbrachte, der ihr in diesen wenigen kostbaren Stunden zum ersten Mal das Gefühl vermittelte, wirklich zu lieben, nicht kalt und berechnend Liebe zu heucheln, der ihre Liebe erwiderte und anfachte - er war ebenso plötzlich verschwunden wie er erschienen war. Sie wurde schwermütig, und wenn sich Vati nicht so viel Zeit für sie genommen hätte, wer weiß, was sie sich angetan hätte. Und Vati war es auch, der sie ermunterte, ohne Mutti, mit der sie ihre Versöhnung feiern wollte, nach Rimini zu fahren und sich in Giovannis Ferienanlage einzumieten. Gott sei Dank hatte sie auf Vati gehört. Schade nur, dass er nicht Muttis Platz einnehmen wollte. Der ehemalige Geschäftsführer und inzwischen stolze Besitzer der Ferienanlage Bella vista sul mare, Giovanni, fehlte in diesem Jahr auf dem Sportplatz am Rande von Rimini. Er würde auch nicht die Siegerehrung vornehmen und den Pokal überreichen. Stattdessen lag er auf dem Sofa in der kleinen Wohnung seiner Mutter und starrte auf das Foto, das ihm die Frau seiner Träume mit den Worten In ewiger Liebe verbunden gewidmet hatte. Heute hätten sie Jahrestag feiern wollen, er hatte extra für diesen Freudentag eine Yacht gemietet. Sie wären aufs offene Meer hinausgesegelt, er hätte den Anker geworfen, eine Flasche Champagner geöffnet und ihr mit
feierlichen Worten den Brillantring - ein Erbstück seiner Großmutter - überreicht. Heute war es genau ein Jahr her, dass er ihr aus einer Verlegenheit geholfen und sie vor diesem widerlichen Major und dem aufdringlichen Herrn Kurt bewahrt hatte. Fast wäre er zu spät gekommen, aber dann hatte er Fehlbuchungen Fehlbuchungen sein lassen und sich an die Bar begeben. Gerade noch rechtzeitig, denn der Däne, der erfreulicherweise für diesen Sommer wieder ein Zimmer reserviert hatte, war nicht ohne Eindruck auf sie geblieben. Aber der Däne war ein friedfertiger Mensch, und er brauchte ihn nicht einmal zu überreden, das Feld zu räumen. Ob der Däne überhaupt wusste, dass die hübsche junge Frau, die ihm gestern an der Bar um den Hals gefallen war und mit der er sich nun das Spiel anschaute, ihre Tochter war? Giovanni küsste das Foto und legte die Kassette mit ihrem Lieblingslied in den Rekorder. Ich war noch niemals in New York... Giovanni war stattdessen sieben Mal nach Dresden gereist... Ich war noch niemals richtig frei... und nur wenige Stunden vor der Abreise, an ihrem letzten Arbeitstag brach sie sich beim Dekorieren des Schaufensters den Knöchel. Er wünschte sich, an ihrem Bett zu sitzen und ihre Hand zu halten. Aber vor Ende Oktober würde er seine Ferienanlage nicht verlassen können. Die ehemalige Parteitagsdelegierte und langjährige Inhaberin eines Geschäftes für Miederwaren, Dessous und Underwearfashion, Margot Otterbein, lag im Bett eines Dresdner Krankenhauses und starrte auf das Foto, dass ihr der Mann ihrer Träume mit den Worten Ti amo, bella ragazza gewidmet hatte. Die Operation war erfolgreich verlaufen, es ging ihr den Umständen entsprechend gut. Aber es würde Wochen dauern, bis sie seine schwarze Lockenpracht verwuseln sein dürfte, Wochen, in denen sie von Sehnsucht verzehrt würde. Bis
Ende Oktober war er in seiner Ferienanlage unabkömmlich, ohne ihn lief nichts. So wie sie für ihr Geschäft unentbehrlich war. Das verband sie miteinander, die Verantwortung, die sie trugen, der gute Name, der zu verlieren war, das Geld, das sie verdienen mussten. Aber es war noch mehr, das sie zusammenfinden ließ: Er war ihre Stütze in all den dunklen Wochen gewesen, war sofort nach Dresden geflogen, wenn sie ihn brauchte. Er hatte sie durchgetragen, als Alexander Bromberg, ihr so ersehnter Schwiegersohn, auf so grausame Weise zu Tode gekommen war, als Schaggi im sechsten Monat ihr Kind verlor, als Ewald die Scheidung einreichte, als Willis Leiche an den Strand gespült wurde. Oh Gott, Willi, er hatte - trotz allem - ein besseres Ende verdient. Margot küsste das Foto. Ach, Giovanni, du fehlst mir. Zum Glück konnte sie sich wenigstens auf ihre neue Mitarbeiterin verlassen. Es hatte zwar eine Weile gedauert, bis sie ihr die nötigen Umgangsformen beigebracht hatte - neue Frisur, dezentes Make-Up, Rock statt Jeans, und vor allem nicht mehr diese T-Shirts mit dem Adler drauf und Kampfgeschwader-Sprüchen, aber jetzt lockte sie die Kundschaft in ihren Laden und steigerte den Umsatz. Seit Marion im Otterbein'schen Geschäft für Miederwaren, Dessous und Underwearfashion arbeitete, war sie glücklich wie nie zuvor. Margot war wie eine Mutter zu ihr, und seit sie Springerstiefel, Jeans und TShirts gegen Absatzschuhe, Röcke und Blusen getauscht hatte, die Haare wachsen ließ und sich schminkte, brauchte sie den Boss nicht mehr, um sich geliebt zu fühlen. Margot hatte ihr einen großzügigen Vorschuss gewährt, von dem sie sich ein neues Auto leistete, und ihr nach Jaquelines Auszug das Dachgeschoss in ihrem Haus vermietet. Aus dem Küchenfenster blickte sie auf die Elbe hinab und konnte den gemütlich schippernden Kähnen nachschauen, sie hörte das Pfeifen und Tuten der
Dampfschiffe, das Lachen und Singen der Ausflügler, und sommerabends sah sie den glutroten Sonnenball hinter dem Blauen Wunder versinken. Sie würde die Chefin nicht enttäuschen, sie würde in den nächsten Wochen Tag und Nacht schuften und den Umsatz steigern. Und eines Tages, wenn Margot in ihren wohlverdienten Ruhestand ging oder - vielleicht schon viel eher - zu ihrem Giovanni nach Rimini zog, dann würde sie das Geschäft übernehmen und ihre eigene Chefin sein. Schade nur, dass Danilo nicht mit nach Dresden gezogen war. Was er wohl heute Abend machte? Ob sie ihn nicht doch mal besuchen sollte? Ob er die Schaggi endlich vergessen konnte? Sie betrachtete das Bild über dem Sofa. Seltsam, das Leben. Jetzt wohnte sie in dem Appartement der Frau, nach der sich Danilo seit acht Jahren verzehrte. Die nicht einmal nach dem tragischen Tod ihres Geliebten Alexander Bromberg zu Danilo zurückgekehrt war, die ihm lediglich eine alte Amiga-Platte von Karat schickte, die sie beim Aufräumen gefunden habe. Auf der Hülle stand ein Liebesgedicht, das Danilo für Schaggi verfasst hatte. Marion stieg aufs Sofa und küsste das Foto. Sie würde auf ihn warten, auf ihr Danilochen hoffen. Auch wenn Margot ihr jeden Tag sagte, dass es kein Mann der Welt wert sei, dass eine Frau auf ihn warte. Danilo Duffke wartete derweil in der Schlange vor dem Eingang des Schlesischen Hauses und ließ seine Augen über die Reihe der Mädchen wandern, die ebenfalls Einlass begehrten. Seit der Boss das Schlesische Haus übernommen hatte, war endlich wieder was los in dem Schuppen. Nicht mehr so verstaubt und vermieft wie früher, der beste Sound in ganz Ostsachsen, die flippigsten Diskjockeys, die kreativsten Barmixer und samstags die schärfsten Tänzerinnen. Von Mittwoch bis Sonntag jeden Abend volles Haus, sogar aus Dresden und
Cottbus kamen sie. Duffke zahlte die siebzehn Mark Eintritt und ließ sich von einer Blondine im schwarzen Minikleid ein rotes Herz mit der Nummer siebenhundertsiebenundsiebzig auf sein Jackett kleben. Das sei eine Glückszahl, sagte die Blondine und hieß Duffke auf der Single-Flirt-Party willkommen. Duffke schlenderte an die Cocktailbar und hielt Ausschau nach dem Boss. Er schlürfte einen Tequila Sunrise, grüßte Bresan, der die Stehtische mit sauberen Aschenbechern versorgte, und hoffte, dass auf der Anzeigetafel über der Tanzfläche die Nummer siebenhundertsiebenundsiebzig aufblinkte. Ab und an eilte Bresan mit einem Stapel Aschenbecher oder einem Tablett leerer Gläser vorbei, hin und wieder schob ihn jemand beiseite, dann und wann wagte er ein schüchternes Lächeln. So verging der Abend und der achte Jahrestag seiner Trennung von Jaqueline neigte sich dem Ende zu. Duffke hatte den Boss immer noch nicht entdeckt, und auch Bresan wusste nicht, wo er steckte, im Büro sei er jedenfalls nicht. Duffke überlegte schon, ob er den Jahrestag nicht lieber alleine in seiner Zwei-Raum-Wohnung ausklingen lassen sollte, da blinkte seine Nummer und der Diskjockey rief aus, dass für die Siebenhundertsiebenundsiebzig eine Post bereit liege. Duffke bummelte betont lässig zur Kabine des Diskjockeys, als ob es für ihn nichts Alltäglicheres gebe als eine Botschaft auf einer SingleFlirt-Party. Eine Rothaarige im schwarzen Minikleid prüfte seine Nummer, reichte ihm den Zettel und schnauzte ihn an, dass er die Nachricht woanders lesen solle, denn er sei nicht der einzige, der Post bekomme. Duffke hastete auf die Toilette, schloss sich ein, faltete den Zettel auseinander und las begierig, dass eine Danuta aus Swientochlowice, einundzwanzig Jahre, mit ihm den neuen Tag beginnen wolle. Sie warte genau um Mitternacht unter der Anzeigetafel und sei an ihrem roten Lederrock erkennbar. Duffke stürmte die Treppe hoch,
rannte beinahe den Boss um, rief ihm zu, dass er leider in Eile sei, und verlangsamte seinen Gang erst, als er die Tafel erreichte. Dort stand sie: Danuta. Ein Traum. Dunkle, halblange Haare, die sich um einen schlanken Hals wellten, dunkle Augen, ebenmäßiges Gesicht, neben dem linken Nasenflügel, gleich unterhalb des Wangenknochens ein winziger Leberfleck. Das war nicht Danuta, das war Schaggi. Seine Schaggi, wie er sie einst in dem Boot auf dem See fotografiert hatte. Er zog das Foto aus seiner Hemdtasche und betrachtete es im Flicker-Flacker-Licht. Danilo Duffke sperrte den Mund auf und wollte etwas sagen. Aber er brachte keinen Ton heraus. Seine Stimme versagte, das Herz pochte, der Boden schwankte, die Hände zitterten, die Finger verkrampften sich um das Foto. Duffke geriet in Panik, jagte durch den Saal, wühlte sich durch die Menge, stieß erst einen Bistrotisch um, dann Bresan mit einem Tablett leerer Gläser, ließ sich auch vom Boss nicht aufhalten, er rannte ins Freie, sank an der Mauer nieder und küsste das Foto von seiner Schaggi. Er hörte, wie der Diskjockey eine Schmuserunde für alle Verliebten ankündigte, wie der Boss nach ihm rief, er hörte die wohl bekannte Melodie, die altvertrauten Worte: Manchmal geh ich meine Straße ohne Blick, manchmal wünsch ich mir mein Schaukelpferd zurück... Duffke zog sich an der Mauer empor und schleppte sich davon. Er wusste, dass er über weitere sieben Brücken gehen müsste, sieben weitere dunkle Jahre überstehen, dass er weitere sieben Mal die Asche sein würde. Aber niemals auch der helle Schein. Der Boss sah Duffke kopfschüttelnd nach und begab sich dann in sein Büro, wo Bresan auf ihn wartete. Er habe ihm ja gleich gesagt, dass es schief gehen werde, sagte Bresan, aber der Boss fuhr ihn unwirsch an, dass Bresans Meinung niemanden interessiere. Er schickte den
ehemaligen Eigentümer des Schlesischen Hauses, dessen Familie die ehrwürdige Gaststätte auch durch vierzig Jahre Sozialismus hindurchgerettet hatte, nach einer Cola und blätterte im Ordner mit den Rechnungen. Als ihm Bresan die Cola servierte, lehnte er sich zurück und fragte, ob Duffke die Diskette mitgebracht habe. Bresan zog sie aus der Seitentasche seiner Kellnerweste und reichte sie ihm, der Boss bedeutete Bresan zu verschwinden und beugte sich über den Computer. Er war zufrieden mit Duffke, hervorragende Arbeit, der Plan war aufgegangen, die Bilanzen stimmten, die Investitionen ins Schlesische Haus - der Anbau und die komplette Umgestaltung des alten Saales - hatten sich in wenigen Monaten amortisiert, nicht unbedingt auf legale Weise, aber wo kein Kläger war, da war auch kein Richter. Der Boss nahm sich zehn Hundertmarkscheine aus der Kasse, steckte sie in einen Briefumschlag und schrieb »Ronnie« auf das Kuvert. Ronnie war mit einer Jugendstrafe für schwere Brandstiftung davongekommen, einige Monate Knast, dann Bewährung. Der Boss hatte ihm zugesichert, ihn bei seinem Neuanfang zu unterstützen, wenn er sich vor Gericht schuldig bekenne und aussagte, dass er aus eigenem Antrieb gehandelt und dass ihn niemand zu dieser Tat angestiftet habe. Ronnie gehorchte, und der Boss hielt Wort. Erst hatte es gar nicht gut ausgesehen für den Boss, aber als Ewald Otterbein an seiner Aussage festhielt, dass der Boss die Brandstiftung habe verhindern wollen, als Polizeimeister Budich dem Boss ein hohes Verantwortungsbewusstsein bescheinigte und erklärte, dass der Boss - so fragwürdig seine politische Einstellung sei - seine Jungs stets im Griff habe, ihnen einen Lebenssinn biete und sie damit vor dem Absturz in die Kriminalität bewahre, als sich die anderen an nichts erinnern konnten oder wollten oder nichts gesehen hatten, als der Hauptzeuge der Anklage wenige Tage vor dem Gerichtstermin an Krebs verstarb -
da war der Boss aus dem Schneider. Und jetzt war er ein angesehener Geschäftsmann, der dem traditionsreichen Schlesischen Haus zu einer neuen Blüte verhalf. Zum 15. Oktober würde er offiziell Duffke als seinen Geschäftsführer einstellen und sich nach vielen Jahren zum ersten Mal einen ausgiebigen Urlaub gönnen. Wenn Duffke sich sogar durch Danuta, die Jaqueline Otterbein glich wie ein eineiiger Zwilling, nicht von seinem Schaggi-Syndrom kurieren ließ - nun, dann würde er Danuta bitten, ihn auf seine Reise zu begleiten. Zu Kenia würde sie gewiss nicht Nein sagen. Ein gemütliches Hotel am Meer, eine Safari, und als Höhepunkt eine Tour auf den ewig mit Schnee bedeckten Kilimandscharo. Und dort würde der Boss seine Mission erfüllen, sich anschließend endgültig ins Privatleben zurückziehen, eine Familie gründen und allenfalls gelegentlich mit Duffke ein Kameradschaftstreffen in Brandenburg oder Thüringen aufsuchen. Einige Tausend Kilometer südlich, in einem Liegestuhl an der afrikanischen Küste des Indischen Ozeans, erholte sich der Reiseveranstalter, Hotelbesitzer und Bergführer Klaus Matiebe von einer strapaziösen Tour auf den Kilimandscharo. Erneut hatte es Probleme gegeben - die Höhenkrankheit -, aber zum Glück war ein Arzt in der Gruppe. Matiebe beschloss, künftig in seinen Prospekten genauer auf die Gefahren des Bergsteigens hinzuweisen. Die schmerbäuchigen Touristen brachten zwar gutes Geld ein, aber eben auch eine Menge Ärger. Und da er seit einiger Zeit mehr Geld verdiente, als er ausgeben konnte, musste er nicht mehr auf jede Mark achten. Matiebe faltete die Dresdner Morgenpost auseinander, die ihm ein eben eingetroffener Gast zugesteckt hatte. Sie war von heute, vom 13. August. Matiebe, der sich auf seinen Touren nicht um Zeit und Stunde scherte, war überrascht, dass schon wieder ein Jahr vergangen war. Er reckte seinen Daumen und grinste in sich hinein. Das Verfahren gegen ihn war eingestellt worden, Herzberger
hatte sich zu früh gefreut, seine Rechnung war nicht aufgegangen. Pech für Herzberger, dass Michalke überlebt hatte. Wie wohl Hansa Rostock gespielt hatte? Zwei zu eins gewonnen, Tabellenplatz drei, tadellose Leistung. Wenn sie den Platz bis zum Ende der Saison halten könnten, wären sie in der Champions-League, Hansa gegen Real Madrid oder gegen Inter Mailand, das wäre ein Ding, da würde er sofort hinjetten, die Jungs beim Auswärtsspiel unterstützen, leisten könnte er es sich. Matiebe überflog die Zeitung. Deutschland war zu weit weg, als dass es ihn noch interessierte, ach Gott, übermorgen würde ja seine Frau mit den Kindern kommen, das hatte er völlig vergessen. 13. August - war da nicht mal was? Matiebe beugte sich über das Foto auf der Sonderseite zum Jahrestag des Mauerbaus, doch ehe er noch darüber nachsinnen konnte, ob der vollbärtige junge Mann mit dem Transparent vielleicht Michalke sei, hatte er sich schon von seiner afrikanischen Freundin, die sich an ihn herangeschlichen hatte und ihm die Augen zuhielt, ablenken lassen. Dass Hansa Rostock nach einem grandiosen Zwei-zueins-Sieg, der nach Auffassung aller Beobachter viel zu niedrig ausgefallen war, auf dem besten Tabellenplatz seit Jahren stand, hätte den ehemaligen IM-Ingenieur und ehemaligen Assistenten des Unternehmers Alexander Bromberg, Micha Michalke, noch vor einem Jahr dazu animiert, in Begeisterungsstürme auszubrechen und die Vereinsfahne aus dem Fenster zu hängen. Aber nun kauerte er in seinem Rollstuhl, dürr und zerbrechlich, ein Schatten seiner selbst, und starrte teilnahmslos auf den Bildschirm des Fernsehers, den der verständnisvolle Pfleger auf einen Sportsender eingestellt hatte, weil er meinte, beobachtet zu haben, dass sich Michalkes Pupillen beim Fußballgucken etwas weiteten. Aber das könne auch eine Täuschung sein. Niemand wusste, was
in Michalke vorging, keiner wusste, was er dachte, fühlte und empfand. Die Ärzte nicht, die stirnrunzelnd seine Akte studierten und über seinen Fall debattierten; die Krankengymnastinnen nicht, die täglich seine Arme und Beine bewegten; die Pflegerinnen und Pfleger nicht, die ihn nachts umbetteten - sofern es ihr dicht gedrängter Zeitplan erlaubte; die Kinder nicht, die jeden zweiten Samstag im Monat verlegen um ihren Vater herumstanden und froh waren, wenn sie bei schönem Wetter in den Park durften; seine Mutter nicht, die dienstags, donnerstags und sonntags mit dem Bus herausfuhr und ihm stundenlang Geschichten erzählte; die gepflegte, wohlhabende Dame nicht, die seit einiger Zeit monatlich einen Scheck überwies und somit für eine menschenwürdige Behandlung Michalkes sorgte; und seine Frau nicht, die an ihren freien Tagen stumm an seiner Seite hockte, Socken strickte, manchmal weinte, manchmal fluchte, am Fenster rauchte und je länger sie dort hockte desto mehr nach Likör roch. Michalke war ein Rätsel für die Ärzte, ein Ärgernis für die Krankenkasse, ein hoffnungsloser Fall, ein lebender Leichnam. Seltsam war nur, dass diesem Michalke an jedem 13. eines Monats ein Blumenstrauß geschickt wurde. Über einen Boten. Sonnenblumen und Eisenhut. Für fünfzig Mark. Keiner kannte den Auftraggeber, auch die Gärtnerei nicht. Nur Michalkes Frau schien eine Ahnung zu haben. Aber sie sagte nichts. Eva Michalke war froh, dass sie an diesem Sonntag Dienst hatte. Sie würde sich zwar am Abend kaum noch auf den Beinen halten können, aber ein sonniger Tag wie heute versprach ein sattes Trinkgeld. Und außerdem kam sie um den Besuch bei Micha herum, denn heute war der 13., und am 13. lieferte der Bote die Blumen. Was wollte Raphi nur mit den Blumen bezwecken? Sonnenblumen und Eisenhut - diese Kreation hatte ihr Raphi an jenem
Tag mitgebracht, als Matiebe ihren Mann umbringen wollte und sie von Raphi gebeten wurde, mit ihm ein gemeinsames Leben zu beginnen. Sie hatte ein neues Leben begonnen, aber nicht mit Raphi. Sie hatte auf die Zeitungsanzeige geantwortet und - was sie nie für möglich erachtet hätte - eine Zusage erhalten, sie war von einem Monat auf den anderen weggezogen, hatte die Kinder an der neuen Schule angemeldet und sich die Wohnung behaglich gestaltet. Außerdem hatte sie so viel Arbeit, dass sie kaum noch Zeit zum Trinken fand. Nur wenn sie bei Micha saß, an diesen endlosen Nachmittagen und Abenden, dann musste sie trinken, dann kam es über sie und sie konnte sich nicht dagegen wehren, auch wenn sie noch so heftig strickte und häkelte. Eva Michalke eilte mit ihrem Tablett zwischen den Biergartentischen hindurch, nahm die Bestellungen auf, säuberte die Aschenbecher, servierte Speisen und Getränke, empfahl Eltern den Kinderspielplatz hinterm Haus, lief während des Zapfens über den Tresen, dass der deutsche Literaturnobelpreisträger mit vier Buchstaben nicht Gras heiße, sondern Mann, schenkte allen Gästen insbesondere den Ungeduldigen - ein Lächeln und fühlte sich bisweilen wie Evchen Ristock, das vor vielen, vielen Jahren in einem mecklenburgischen. Dorfkonsum den Armisten den Kopf verdrehte. Ob Micha jemals wieder ins Leben zurückkehrte? Manchmal fragte sie sich, ob sie es sich eigentlich wünschte. Und ob sie es ihm wünschen sollte. Denn einen unglücklichen Eindruck machte er nicht auf sie. Sie konnte es beurteilen, sie war seine Frau und Mutter seiner Kinder, sie kannte ihn wie niemand sonst, auch wenn sie über Jahre kein vernünftiges Wort miteinander geredet hatten. Er lebte in einer fremden, fernen Welt, in seiner eigenen Welt, in einer Welt, in der es keine Matiebes und Brombergs gab, keine IMs und keine Stasikumpel, keine Schuldgefühle und keine Gewissensqualen. Nein, er musste nicht leiden, er fühlte
sich zuhause in seiner Welt. Bin gleich da, rief sie dem grau melierten Herrn zu, der seit Donnerstag jeden Nachmittag alleine im Biergarten hockte und sie unentwegt über den Rand seiner Zeitung hinweg beäugte. Eva Michalke fand, dass es Zeit sei, die Uhr um sechzehn Jahre zurück zu drehen und sich wieder in Evchen aus'm Konsum zu verwandeln. Der graumelierte Herr fühlte sich seit vier Tagen wie von einer schweren Last befreit. Er stand kurz vor seinem fünfundfünfzigsten Geburtstag und wusste, dass er sein Geschäft für Herrenmode, das sich unglücklicherweise in ungünstiger Lage befand, nicht länger als ein halbes Jahr halten konnte. Arbeit würde er in seinem Alter nicht mehr bekommen, Freunde hatte er keine, er müsste sich eine neue Wohnung suchen, den Wagen verkaufen, von der Stütze oder einer kargen Rente leben - die Zukunft sah alles andere als rosig aus. Und dennoch war der graumelierte Herr, dessen Frau am Donnerstag den gemeinsamen Urlaub im Oberlausitzer Teich- und Seengebiet wutentbrannt abgebrochen hatte, erstaunlich guter Stimmung. Er freute sich an den Kindern - eigene waren ihm nie vergönnt -, die auf dem Spielplatz schaukelten und wippten, turnten und kletterten, jauchzten und kreischten, sich in ihrem Spiel verloren. Er wäre ein guter Vater gewesen, wenn er nur Vater hätte werden dürfen. Aber dafür war es zu spät, in seinem Alter würde man nicht mehr Vater. Er war nicht einmal Onkel. Aber der graumelierte, etwas biedere und brave Herr freute sich noch über vieles Andere: Über die Linde, die ihm Schatten schenkte; über das Wetter, das ihm weder zu heiß noch zu schwül war; über die leichte Brise, die vom See her wehte; über die Spatzen, die sich auf seinem Tisch um die Reste seiner Brotzeit stritten; und er freute sich über die Kellnerin, die gewiss in ihrem Leben viel durchgemacht hatte, aber gleichwohl ein Lächeln auf
ihren Lippen trug, das in ihm ein Gefühl erweckte, das er nicht zu beschreiben vermochte. Es war nicht diese Lust auf ein Abenteuer, dieses Spiel mit dem Feuer, das er verspürte, als Margot - war es wirklich schon ein Jahr her? - mit ihren Zehen seine Waden empor kroch, nein, es war etwas Anderes, etwas Ehrlicheres und Tieferes. Bin gleich da, hatte sie ihm zugerufen und dabei gelächelt. Kurt Einhäuser überlegte sich, wie er der netten Kellnerin etwas Gutes tun könne, eilte zum Rosenbeet, brach einen Stiel ab, stach sich dabei in die Finger und war gerade rechtzeitig an seinem Platz zurück, um ihr mit der Bestellung die Rose zu überreichen. Ungefähr siebenhundert Kilometer von dem Biergarten entfernt, in dem sich Kurt Einhäuser von Evchen Michalke Daumen und Zeigefinger der rechten Hand verarzten ließ, im äußersten Westen Deutschlands, saß eine schmalbrüstige Studiendirektorin an ihrem Biedermeiersekretär und verfasste einen Brief. Sie schrieb hastig, ohne auch nur ein Mal abzusetzen, der goldene Füller flog über das Büttenpapier. Große, geschwungene, nach rechts umfallende Buchstaben füllten die mit dem Namen Hannelore Einhäuser versehenen Bögen. Einseitig beschrieben, exakt und peinlich genau aufeinander gestapelt erreichten sie fast die Höhe der Wochenendausgabe der Frankfurter Allgemeinen Zeitung, die Hannelore Einhäuser - gegen ihre Gewohnheit - noch nicht gelesen und auf dem Sekretär abgelegt hatte. Mit zusammengepressten Lippen, die einen nahezu waagerechten, nur an den Enden leicht nach unten gebogenen Strich bildeten, mit vor Aufregung und Ärger geröteter Stirn, auf der sich, wenn sie nach einer treffenden Formulierung suchte, tiefe Furchen eingruben, beklagte sie sich in bitteren Worten über das - wie sie es empfand - infame, obszöne, niederträchtige, hinterhältige und undankbare Verhalten
ihres Mannes. Ab und an lockerte sie die Hand, spreizte die Finger, massierte die Schläfen oder rieb sich die Augen. Sie überhörte das Läuten an der Haustür und ignorierte das Klingeln des Telefons, sie nahm weder die auf dem Verandageländer zwitschernde Amsel wahr noch die im Garten der Nachbarn lärmenden Kinder. Ihr Denken und Fühlen lenkte sie allein auf eines: ihren Mann zu richten. Seit ihrem Urlaub in Rimini sei er unausstehlich, aufsässig, widerborstig und bockig, ja geradezu bösartig. In dem Ferienhotel in Lohsa habe sich nun der Kreis geschlossen, der seinen Anfang vor einem Jahr mit der Affäre Margot Otterbein nahm. Sie habe sich damals gegen das Abendessen mit dieser primitiven Person gewehrt, und sie habe sich in diesem Sommer gegen den Urlaub in Lohsa gesträubt. Aber um des lieben Friedens willen habe sie Kurts Ansinnen nachgegeben. Und wie werde ihr nun ihre Großmütigkeit gedankt? Mit einer Beleidigung und Demütigung, die ohne Beispiel sei, für deren Schilderung sogar ihr als Oberstufenlehrerin für Deutsch, Geschichte und Latein die Worte fehlten. Liebe Marlene - das Wörtchen »liebe« strich sie gleich wieder durch -, Du hast ihm den Floh ins Ohr gesetzt, den Urlaub in Lohsa zu buchen, Du hast Dich auf seine Seite geschlagen und mich hintergangen. Du hast unsere langjährige Vertrautheit mit Füßen getreten. Ich hätte nie gedacht, dass ich mich in Dir so täuschen könnte. Hiermit kündige ich Dir also offiziell und in aller Form unsere Freundschaft. Aachen, den 13. August, Hannelore Einhäuser. Marlene Bromberg hörte die Fanfare, die aus dem Nebenzimmer herüberschallte, wischte sich mit einer Serviette über den Mund, legte Messer und Gabel auf den goldgerandeten Teller und sprach ein stilles Dankgebet. Sie rief den Kindern zu, während sie sich vor der Tagesschau niederließ, dass es acht Uhr sei und damit
Zeit für Waschen und Zähneputzen. Philipp und Johannes stürmten herbei, noch ehe die kurze Einspielung zum Jahrestag des Mauerbaus beendet war, und fragten, wann sie endlich wieder zu Onkel Ewald fahren dürften. Margot vertröstete sie auf die Herbstferien. Sie seien doch gerade erst bei ihm gewesen. »Dann kann doch der Onkel Ewald zu uns kommen. Oma kriegt es ja nicht mit, weil sie ja zwei Monate auf Kur ist.« »Onkel Ewald hat zu tun. Das wisst ihr doch.« »Warum kann denn die Oma den Onkel Ewald nicht leiden?« »Das müsst ihr die Oma schon selber fragen.« »Haben wir schon.« »Und? Was hat sie euch geantwortet?« »Weil er ein Otterbein ist, eine schmutzige Vergangenheit hat und ein Schmarotzer ist.« »Das hat die Oma gesagt?« »Und sie hat auch gesagt, dass sie dich rauswirft, wenn du ihn heiratest. Und dich enterbt.« »So?« »Mutti, was ist eigentlich eine Seele?« »Wie kommst du jetzt darauf, Johannes?« »Der Spruch über deinem Schreibtisch: Was hülfe es dem Menschen, wenn er die ganze Welt gewönne und verlöre doch seine Seele.« »Eine Seele... ja, hm... da muss ich mal überlegen...« »Hat jeder Mensch eine Seele?« »Ja, jeder Mensch hat eine Seele.« »Und wenn er sie verloren hat?« »Dann ist er tot.« »Hat Papa auch seine Seele verloren?« »Das entscheidet der liebe Gott.« »Und Onkel Ewald? Hat der auch eine Seele?« »Der Onkel Ewald hat nicht nur eine Seele, der ist eine Seele. Eine Seele von Mensch.«
Ewald Otterbein, über Jahre hinweg verabscheuter und ungeliebter Erster Sekretär, viele Jahre sich selbst verachtend und hassend, seit genau einem Jahr jedoch mehr und mehr eine Seele von Mensch, zwängte sich in sein Kostüm, setzte sich die Pappnase auf, stülpte sich die Perücke über und watschelte in übergroßen Schuhen über den Kiesweg zum Kinderspielplatz. Er hatte die Bühne noch nicht betreten, der Vorhang war noch nicht gefallen, da brandete ihm schon der Beifall entgegen. Ewald verbeugte sich, grüßte Kurt Einhäuser, der wie gestern und vorgestern in der ersten Reihe saß, warf Kusshände in alle Richtungen und verbeugte sich abermals. Wiewohl er noch nichts anderes getan hatte, als sich zu verbeugen und Kusshände zu verteilen, hatte er bereits die Herzen der Kinder gewonnen. Eine halbe Stunde war er nun Otti, der Clown. Er hampelte und strampelte, schnitt Grimassen, schüttelte seinen Bauch, stolperte und torkelte, tanzte und hopste, sang und pfiff und zauberte Handpuppen hervor, Frau Elster und Herrn Fuchs, Pittiplatsch und Schnatterinchen, und zum Ende der Vorstellung rief er das Sandmännchen herbei, hüpfte von der Bühne und watschelte Arm in Arm mit dem leicht hinkenden Sandmännchen durch die Reihen. Sie schüttelten Hände, tätschelten Wangen., klopften auf Schultern, piekten in Bäuche und stupsten Nasen. Der Sandmann öffnete sein Säckchen, und alle Kinder bekamen ein Betthupferl. Dann schritten Otti, der Clown und das Sandmännchen, unaufhörlich winkend, zur Bühne zurück und verschwanden hinter dem Vorhang. Kein Abend verging, ohne dass nach einer Zugabe verlangt wurde. Und so traten sie wieder vor und sangen ein Gute-Nacht-Lied, so schaurig-schön, dass Renates Hund zu jaulen begann.
Wenn der Hund unter ihrem Bürofenster zu jaulen begann, wusste Renate, dass die Vorstellung beendet war. Auf dem Weg in den Personalraum, wo sie gleich gemeinsam zu Abend essen würden, fiel ihr Blick auf das Kalenderblatt. Es war der 13. August, morgen wäre es ein Jahr her, dass Renate's Raststätte abgebrannt war. Sie schauderte noch immer, wenn sie an das schreckliche Geschehen dachte. Was hätte ihnen nicht alles zustoßen können... Doch wie durch ein Wunder, nein: durch ein Wunder waren sie unversehrt den Flammen entkommen, alle, die jungschen Rechten, dieses Pferdegebiss, dieser Boss, Schaggi, Ewald, Marlene, der alte Coschütz, zuletzt Rudi und sie. Es ging alles so rasend schnell, so rasch, dass niemand der Polizei eindeutige Angaben machen konnte. Nur Coschütz wollte es genau beobachtet haben: Der Boss habe diesem Ronnie ein Zeichen gegeben, und auf dieses Signal hin habe der Ronnie das Terpentin über die Zeitungen gekippt und ein Streichholz hineingeworfen. Ewald wollte gehört haben, dass der Boss »Mach keinen Scheiß!« gerufen habe, aber außer Ewald hatte niemand diese Worte vernommen. Das Feuer fand, angefacht durch den Sturm, leichte Beute, es gab eine Verpuffung, und im Nu loderten die Flammen zum Himmel empor und griffen auch auf die beiden benachbarten Datschen über. Budich, der sich noch in der Siedlung aufhielt, hatte gleich die Feuerwehr alarmiert, doch es war nichts mehr zu retten. Von Renate's Raststätte blieb nichts als ein rauchendes, stinkendes Trümmerfeld. Die Arbeit von Jahren war in wenigen Stunden vernichtet, ihr Lebenswerk war zerstört, sie hatte ihren Lebenssinn verloren. Und der Schuldenberg würde niemals abgebaut werden. Doch Wunder folgte auf Wunder. Ewald gab, als sich die erste Aufregung gelegt hatte, das Kommando zum Wiederaufbau, Rudi und Coschütz waren gleich mit dabei. Dann verkauften die Nachbarn ihre Grundstücke, und Rudi, Coschütz und
Ewald borgten ihr das Geld. Dann wurde der vermisste Alexander Bromberg für tot erklärt - seltsam, dass sein tragischer Tod außer Schaggi und Margot Otterbein niemanden wirklich betrübte - und Marlene veräußerte seine Firma an einen Investor, dem Bromberg - wie sich später herausstellte - bereits ein unterschriftsreifes Übernahmeangebot bereitet hatte. Schließlich hatte jemand die Idee mit der Pension. Es wurden Pläne entworfen, Baugenehmigungen beantragt, Kostenvoranschläge durchgerechnet: die Pläne passten, die Anträge wurden in Rekordzeit gebilligt und Marlene übernahm die Finanzierung. Anfang Dezember der erste Spatenstich, noch vor Weihnachten die Grundsteinlegung, der Winter war mild und ohne Frost, im März das Richtfest, zum 1. Mai die Eröffnung, Pfingsten waren die Außenanlagen fertig. Drei Doppelzimmer, zwei Einzelzimmer und vier Mehrbettzimmer für Familien, eine urige Gaststube, der Biergarten und der Spielplatz. Wunder über Wunder. Als Renate den Personalraum betrat, zwängte sich Otti, der Clown, unterstützt von Kurt Einhäuser, noch aus seinem Kostüm. Der Sandmann hatte sich bereits von Mütze, Gewand und Spitzbart entledigt und hockte über einem Kreuzworträtsel. »Mirakel. Fünf Buchstaben.« »Rudi, leg doch bitte wenigstens beim Essen dein Kreuzworträtsel beiseite.« »Bitte, Renate... Nur noch das Mirakel mit fünf Buchstaben. Dann hab ich das Lösungswort... Moment, ich weiß es schon jetzt... Urlaubsfreude... das passt. Gewinnen kann ich eine Reise nach Kenia, für zwei Personen.« »Du hast doch gar keine Zeit zum Reisen, Sandmann. Du wirst hier gebraucht, ich kann auf dich nicht verzichten. Weißt du eigentlich, dass ihr heute euren fünfundzwanzigsten Auftritt hattet?«
»Den vierundzwanzigsten, Renate, den vierundzwanzigsten. Hab genau gezählt... Aber Kenia, das wär doch was, oder Renate? Hier steht: Tour auf den Kilimandscharo, Safari und Badefreuden inklusive.« »Wir ham's doch nicht mal bis München geschafft, Rudi. Wie sollen wir da bis Kenia kommen?« »Rudi...?« Evchen steckte den Kopf in den Raum. »Rudi, jemand will ein Autogramm von dir. Sollst im Kostüm kommen, für'n Foto.« Rudi schlüpfte in das Gewand, zog sich die Mütze auf, klebte sich den Spitzbart ans Kinn, hinkte in den Biergarten und wurde sogleich von einer Schar Kinder umringt. Er plauderte, scherzte, ließ sich immer wieder aufhalten, und als er in den Personalraum zurückkehrte, war Renate schon wieder bei der Arbeit, waren Kurt und Ewald zu einem Spaziergang aufgebrochen und seine Bratkartoffeln mit Grützwurst kalt. Rudi hinkte - noch im Sandmannkostüm - in die Küche, schob den Teller in die Mikrowelle, und während er wartete, kam ihm unvermittelt der alte Coschütz in den Sinn. Rudi schämte sich, im Trubel der vergangenen Wochen hatte er nicht mehr an ihn gedacht. Heinz Coschütz, der Nahkämpfer und Kavalier alter Schule... Über zwei Jahrzehnte waren sie Nachbarn, und hatten doch so wenig voneinander gewusst. Manch ein Bier hatten sie gemeinsam getrunken, manch einen Kumpeltod, aber viel geredet hatten sie nicht, beide nicht. Sie hatten beide ihr Päckchen zu tragen, waren beide nicht vom Leben verwöhnt. Damals im Krieg, auf den Seelower Höhen, da hatte Heinz dem Tod ins Auge gesehen und ihm ein Schnippchen geschlagen, aber dann hatte ihn der Sensenmann doch geholt. Wochenlang hatte Heinz mit ihm gerungen, sich gesträubt und gewehrt. Der Winter war noch nicht vorbei, da musste Heinz Coschütz sein letztes Gefecht, seinen aussichtslosen und einsamen Kampf verloren geben. Alleine auf der Intensivstation
des Krankenhauses, ohne Kinder und Enkel, ohne Ewald, Renate und Rudi an seiner Seite. Man hatte vergessen, sie zu informieren. Und als sie es erfuhren, lag er bereits in der Totenhalle. Rudi zog den Teller aus der Mikrowelle und wollte ihn gerade in den Personalraum tragen, da rief Renate. »Rudi! Kannste mal zapfen? Evchen hat sich in den Finger gestochen.« Rudi schob den Teller mit den Bratkartoffeln und der Grützwurst beiseite und humpelte zum Tresen. Auf Rudi konnte sich Renate verlassen. Auf Rudi war Verlass. Die Sonne lachte über den Bergen, als eine Mutter, die angeblich zur Erholung in einen norditalienischen Kurort gereist war, die Hände ihres Sohnes ergriff, ihm lange in die Augen schaute und schließlich über die Haare strich. Der Sohn, der sich Wilhelm Schmitz nannte, ließ es sich eine Weile gefallen, doch dann schlenderte er zur Brüstung der Terrasse und blickte versonnen über sein Anwesen. Die Wintersonne war mild, eine wohlige Wärme durchströmte ihn. »Wie viel hat sie bekommen?«, fragte er, noch immer in die Ferne schauend. »Sie hat es mir nicht gesagt, mein Junge.« »Was macht sie mit dem Geld?« »Sie investiert es. In eine Pension zum Beispiel. Und im Oktober soll das Frauenhaus eröffnet werden. Mehr weiß ich nicht. Wir reden nicht mehr miteinander. Wenn Philipp und Johannes nicht wären, hätte ich sie schon lange rausgeworfen.« »Vermissen die Kinder mich?« »Manchmal fragen sie, wo der Papa ist. Aber du hast dich all die Jahre nicht um sie gekümmert, sie kennen dich kaum.« Wilhelm Schmitz wandte sich um.
»Das war eine schlimme Zeit«, sagte die Mutter, die ihm wieder in die Augen sah. »Du weißt gar nicht, was du mir angetan hast. Aber das Schlimmste war die Ungewissheit, ob du vielleicht doch noch lebst. Eine Leiche haben sie ja nie...« »Ich bin ja auch noch unter den Lebenden.« »Aber damals wusste ich es doch nicht, Junge! Eigentlich sollte ich dir links und rechts die Ohren lang ziehen, für das, was du mir angetan hast. Du solltest dich schämen. Und dass du sieben Jahre ein Verhältnis mit dieser Otterbein hattest, das werde ich dir nie verzeihen... Aber, Junge... dass du dir den Vornamen Wilhelm zugelegt hast... Wenn das dein Vater wüsste... Wilhelm... Wie dein Vater...« »Mutter, wir fahren noch in die Berge«, unterbrach er sie. »Eine traumhafte Straße, wie geschaffen für einen Rallyefahrer wie mich.« »Junge...« »Komm Mutter, ich zeig dir meinen neuen Wagen. Ein Traumauto. Lamborghini Diablo SV.« »Junge...« »Fünfhundertdreißig PS, macht über dreihundert. Nur drei Stundenkilometer langsamer als der Diablo GT, aber zweihunderttausend Mark billiger... Muss ja vernünftig sein... Von null auf hundert in weniger als vier Sekunden. Schneller als jeder Ferrari... Was ist, Mutter?« »Nein, Junge, der lange Flug, die Zeitumstellung, ich bin müde, lass uns bleiben.« »In einer halben Stunde sind wir zurück. Heute ist ein traumhafter Tag, die Bedingungen sind optimal, du wirst es nicht bereuen.« Wilhelm Schmitz, vor achtunddreißig Jahren in Aachen geboren, nahm seine Mutter bei der Hand und führte sie zu seinem feuerroten Lamborghini Diablo. »Na, Mutter, was sagst du? Früher hätte ich mir einen solchen Wagen nie gönnen dürfen. Die vielen Neider,
weißt du, da hätte ich mich nicht getraut, aber hier... Was hast du gesagt?... Ich habe dich nicht verstanden.« »Du Narr! Diese Nacht wird man deine Seele von dir fordern; und wem wird dann gehören, was du, angehäuft hast?« »Red kein Blech, Mutter. Du bist abgespannt von der anstrengenden Reise. Also, steig ein!« Es war am Sonntag, dem 13. August, gegen sechs Uhr nachmittags, als Wilhelm Schmitz aus seinen italienischen Schuhen schlüpfte, sich die Socken auszog und barfuss das Gaspedal seines feuerroten Lamborghini Diablo betätigte. Er ließ kurz den Motor aufheulen, öffnete das Schiebedach und rollte langsam, seiner Mutter, die sich nicht zur Mitfahrt hatte überreden lassen, noch eine Kusshand zuwerfend, die staubige Zufahrt hinunter. Dem Verwalter, der nicht wusste, wie ihm geschah, überreichte er in einem Anflug von Übermut die Krawatte, die ihm seine Mutter aus der alten Heimat mitgebracht hatte. Wilhelm Schmitz beschleunigte seinen Lamborghini Diablo, überholte einen schwarzen Opel Kadett, blickte im Rückspiegel der Staubwolke nach, raste die schmale Passstraße hinauf und freute sich auf Julia. In weniger als zwei Stunden würde er ihren Erdbeermund küssen und auf der Veranda, wenn sich seine Mutter von der weiten Reise erschöpft zurückgezogen hätte, Sex haben. Und als sich Alexander Bromberg zu seiner letzten Fahrt aufmachte, schlugen im fernen Europa die Glocken zur Mitternacht.
Danksagung
Mein Dank geht an Gisela Rumpp (Tübingen) für die Nachhilfe in Schwäbisch, an Tomas Gärtner (Dresden) fürs Sächsische und an Holger Spierig (Weimar) für seine konstruktive Kritik.
Uwe von Seltmann
ENDE
Inhalt Prolog...............................................................................7 1........................................................................................9 2......................................................................................23 3......................................................................................27 4......................................................................................32 5......................................................................................36 6......................................................................................42 7......................................................................................48 8......................................................................................52 9......................................................................................59 10....................................................................................69 11....................................................................................75 12....................................................................................80 13....................................................................................86 14....................................................................................94 15..................................................................................101 16..................................................................................109 17..................................................................................114 18..................................................................................119 19..................................................................................125 21..................................................................................138 22..................................................................................144 23..................................................................................151 24..................................................................................159 25..................................................................................164 26..................................................................................174 27..................................................................................182 28..................................................................................187 29..................................................................................195 30..................................................................................200 31..................................................................................206 32..................................................................................213 Epilog...........................................................................220