Franz-Josef Kretz · Frank Teufel (Hrsg.) Anästhesie und Intensivmedizin
Franz-Josef Kretz · Frank Teufel (Hrsg.)
Anä...
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Franz-Josef Kretz · Frank Teufel (Hrsg.) Anästhesie und Intensivmedizin
Franz-Josef Kretz · Frank Teufel (Hrsg.)
Anästhesie und Intensivmedizin Mit 88 Abbildungen und 137 Tabellen
13
Prof. Dr. med. Franz-Josef Kretz Klinik für Anästhesiologie und Intensivmedizin Pädiatrisches Zentrum Olgahospital Klinikum Stuttgart Bismarckstr. 8 70176 Stuttgart Dr. Frank Teufel Klinik für Anästhesiologie und Intensivmedizin Krankenhaus Bad Cannstatt Klinikum Stuttgart Prießnitzweg 24 70374 Stuttgart
ISBN-10 ISBN-13
3-540-62739-1 Springer Medizin Verlag Heidelberg 978-3-540-62739-5 Springer Medizin Verlag Heidelberg
Bibliografische Information der Deutschen Bibliothek Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.ddb.de abrufbar. Dieses Werk ist urheberrechtlich geschützt. Die dadurch begründeten Rechte, insbesondere die der Übersetzung, des Nachdrucks, des Vortrags, der Entnahme von Abbildungen und Tabellen, der Funksendung, der Mikroverfilmung oder der Vervielfältigung auf anderen Wegen und der Speicherung in Datenverarbeitungsanlagen, bleiben, auch bei nur auszugsweiser Verwertung, vorbehalten. Eine Vervielfältigung dieses Werkes oder von Teilen dieses Werkes ist auch im Einzelfall nur in den Grenzen der gesetzlichen Bestimmungen des Urheberrechtsgesetzes der Bundesrepublik Deutschland vom 9. September 1965 in der jeweils geltenden Fassung zulässig. Sie ist grundsätzlich vergütungspflichtig. Zuwiderhandlungen unterliegen den Strafbestimmungen des Urheberrechtsgesetzes. Springer Medizin Verlag springer.de © Springer Medizin Verlag Heidelberg 2006 Printed in Germany Die Wiedergabe von Gebrauchsnamen, Handelsnamen, Warenbezeichnungen usw. in diesem Werk berechtigt auch ohne besondere Kennzeichnung nicht zu der Annahme, dass solche Namen im Sinne der Warenzeichen- und Markenschutz-Gesetzgebung als frei zu betrachten wären und daher von jedermann benutzt werden dürften. Produkthaftung: Für Angaben über Dosierungsanweisungen und Applikationsformen kann vom Verlag keine Gewähr übernommen werden. Derartige Angaben müssen vom jeweiligen Anwender im Einzelfall anhand anderer Literaturstellen auf ihre Richtigkeit überprüft werden.
Planung: Ulrike Hartmann, Heidelberg Projektmanagement: Gisela Schmitt, Heidelberg Design: deblik Berlin Lektorat/Copy-editing: mpm Fachmedien, Pohlheim SPIN 1054 1383 Satz u. Druck: Stürtz GmbH, Würzburg Gedruckt auf säurefreiem Papier
22/2122 – 5 4 3 2 1 0
V
Statt eines Vorwortes Vor einiger Zeit hatte mich der Springer-Verlag angesprochen, ob ich dem erfolgreichen Studentenbuch Anästhesie, Intensivmedizin, Notfallmedizin und Schmerztherapie im Springer-Verlag, das bald die 5. Auflage erreichen wird, nicht ein Buch für die Kolleginnen und Kollegen, die sich in Weiterbildung zu unserem Fachgebiet befinden, folgen lassen könnte. Ein Werk, das sich vertiefend mit allen Themen von Anästhesie und Intensivmedizin beschäftigen sollte, ohne das Niveau von Lehrbüchern zu Facharztprüfungen erreichen zu wollen. Natürlich fühlt man sich bei einer solchen Anfrage geehrt. Selbstverständlich ist man dabei. Ein Konzept war rasch entworfen, Autoren mit ausgewiesener Kompetenz waren schnell gefunden. Die Bereitschaft an dem Gemeinschaftswerk teilzunehmen, war überwältigend. Aber dann ... Die gravierenden Veränderungen der deutschen Krankenhauslandschaft gehen auch an einer so wohlsituierten Stadt wie Stuttgart nicht spurlos vorüber. Und so wusste ich mich als Ärztlicher Direktor des Olgahospitals, Pädiatrisches Zentrum des Klinikums Stuttgart, in den letzten Jahren nicht zu retten vor Sitzungen, in denen es nur noch um Defizitreduktion, Synergieeffekte, DRG-Optimierung, Marktpositionierung, Zusammenfassung von Abteilungen etc. ging. Dann wurde ich darüber hinaus gebeten, die Leitung einer weiteren Anästhesieabteilung im Klinikum Stuttgart, nämlich jener des Krankenhauses Bad Cannstatts zu übernehmen. Das Buchprojekt kam ins Stocken .... Um so erfreuter war ich, als ich in Dr. Frank Teufel im Krankenhaus Bad Cannstatt nicht nur einen äußerst loyalen und engagierten Mitarbeiter, sondern auch einen überragenden Kliniker vorgefunden habe, der – um Mithilfe gebeten – die Fertigstellung des Buches zu seiner eigenen Aufgabe gemacht hat. Er trat nicht nur in engen Kontakt zu den säumigen Autoren – offensichtlich sind viele Kliniken in Deutschland in ebenso schwere Wasser geraten – , er erarbeitete auch ganze Kapitel um, schrieb einzelne Kapitel neu, konnte neue Mitarbeiter gewinnen. Und nur seinem großen Einsatz ist es zu verdanken, dass aus der Buchidee Realität wurde. Dieses Buch möchte ich Kollegen widmen, die in meinem Leben bei beruflichen Entscheidungsfindungen eine wesentliche, wegweisende Hilfe waren. Zunächst war dies Prof. Klaus Eyrich, der uns 1978 als PJ-Studenten in der Universitätsklinik in Würzburg sehr warmherzig aufgenommen und uns bereits viel – aus heutiger Sicht eher zu viel – Verantwortung übertragen hat. Er förderte nicht nur eine hervorragende klinische Ausbildung, sondern war auch damals schon die Vertrauensperson, an die man sich wandte, wenn es einmal Probleme gegeben hatte. 1980 folgte ich Prof. Eyrich an das Universitätsklinikum in Berlin-Steglitz, wo er zwei Jahre zuvor zum Ordinarius gewählt wurde und unter schwierigen Bedingungen ein sehr engagiertes Anästhesieteam aufbaute. Dort konnte ich nicht nur meine klinische Ausbildung vertiefen, Prof. Eyrich gab mir auch die Gelegenheit zu einer engagierten wissenschaftlichen Arbeit, die 1992 in die Habilitation mündete. Zwischen dem Praktischen Jahr in Würzburg und der dann über 10-jährigen Tätigkeit im Universitätsklinikum Berlin-Steglitz war ich im zivilen Ersatzdienst im ärztlichen Bereich der Anästhesieabteilung des Kreiskrankenhauses Ochsenfurt tätig. Ich lernte dort in einem kleinen Haus, fernab aller großen Kliniken, in meinem Chef, Herrn Dr. Wolfgang Göpfert, einen Anästhesisten kennen, den eine selten gesehene Souveränität auszeichnete. Immer wieder habe ich scherzend davon gesprochen, er – Göpfert – habe noch Patienten nachts auf der Flucht von hinten intubieren können. Ihm verdanke ich die Sicherheit in den Grundtechniken der Anästhesie. Last but not least möchte ich dieses Buch auch Dr. Helmut Krause widmen. Er ist damals 1998 mit mir als leitender Oberarzt von Berlin-Steglitz nach Stuttgart gekommen. Für jeden neuen Chef ist es gut, wenn er in der Anfangsphase seiner Tätigkeit an einer neuen Stelle einen Vertrauten im ärztlichen Team haben kann. Er hilft neue Situationen besser einzuschätzen und möglicherweise Korrekturen anzubringen im dynamischen Prozess der Veränderungen, die mit einem Chefwechsel verbunden sind. In dieser Situation war Helmut Krause
geradezu der ideale Partner. Überaus loyal, ein hervorragender Kliniker, ein Kollege, der die Kinderanästhesie Schritt für Schritt vorangebracht hat und ein Freund, auf dessen Wort es sich zu hören lohnte. Allen drei Kollegen, die auf sehr unterschiedliche Weise meinen Lebensweg mitgeprägt haben, wollte ich auf diesem Wege herzlich danken. Den Kolleginnen und Kollegen, die sich in unser Lehrbuch vertiefen, möchte ich viel Freude und Informationsgewinn bei der Lektüre wünschen. Dass wir die Literatur auf ein Minimum reduzierten, half uns, die vorgegebene Seitenzahl zu retten und damit auch den Preis zu halten. Wir wären Ihnen sehr verbunden, wenn sie uns auf Fehler hinweisen und kritische Kommentare zusenden könnten.
Prof. Dr. Franz-Josef Kretz
VII
Inhaltsverzeichnis 1
1.1 1.2
2
2.1 2.2 2.3 2.4
3
3.1 3.2 3.3 3.4 3.5 3.6 3.7 3.8 3.9 3.10
4
4.1 4.2 4.3 4.4 4.6 4.7 4.8
Pharmakologisches Wissen – Pharmakodynamik und Pharmakokinetik .......
1
Achim Röper, Peter Michael Lauven Pharmakodynamik............................................................. Pharmakokinetik ................................................................ Literatur .................................................................................
2 3 7
Pharmakologisches Wissen – Intravenöse Narkotika ..........................................
9
Susanne Toussaint Intravenöse Anästhesie .................................................... Hypnotika ............................................................................. Opioidanalgetika ................................................................ Opiatantagonisten............................................................. Literatur .................................................................................
10 10 15 18 18
Pharmakologisches Wissen – Inhalationsanästhetikatika ................................. 19 Karsten Michael Physikalisch-chemische Eigenschaften ..................... 20 Pharmakologische Grundlagen .................................... 20 Aufnahme der Inhalationsanästhetika ....................... 21 Verteilung der Inhalationsanästhetika ....................... 23 Elimination der Inhalationsanästhetika ..................... 23 Metabolismus der Inhalationsanästhetika ............... 24 Wirkungsstärke von Inhalationsanästhetika (MAC-Wert) ............................................................................. 24 Wirkungen auf den Organismus ................................... 25 Unterschiedliche Inhalationsanästhetika .................. 26 Welche Eigenschaften hat das ideale Inhalationsanästhetikum? .............................................. 28 Literatur ................................................................................. 28
Pharmakologisches Wissen – Muskelrelaxanzien ..................................................29 Friedrich K. Pühringer Anatomie und Physiologie der neuromuskulären Synapse .................................................................................... 30 Die neuromuskuläre Blockade ...................................... 30 Pharmakologie der Muskelrelaxanzien ...................... 31 Depolarisierende Muskelrelaxanzien.......................... 31 Wissenschaftliche Grundlagen verschiedener Anwendungstechniken.................................................... 34 Neuromuskuläres Monitoring ....................................... 35 Neuromuskuläre Restblockade ..................................... 36
4.9
Antagonisierung der neuromuskulären Blockade . 37 Literatur ................................................................................. 38
5
Pharmakologisches Wissen – Lokalanästhetika ................................................... 39
5.1 5.2 5.3 5.4
6
6.1 6.2 6.3 6.4 6.5 6.6 6.7 6.8 6.9 6.10
7
7.1 7.2 7.3
8
8.1 8.2 8.3 8.4
René Waurick Pharmakologie .................................................................... Einzelsubstanzen................................................................ Systemisch-toxische Wirkungen ................................... Adjuvanzien ......................................................................... Literatur .................................................................................
40 43 44 45 46
Pharmakologisches Wissen – Kardial wirksame Medikamente ......................................................... 47 Samir G. Sakka Sympathomimetika ........................................................... 48 Phosphodiesterasehemmer (PDE-Hemmer) ............ 51 Nitrokörper (Nitroglyzerin und Nitroprussid-Natrium)................... 52 ACE-Hemmer ....................................................................... 52 Vasodilatatoren ................................................................... 53 β-Sympatholytika (»β-Blocker«) .................................... 54 Parasympatholytika ........................................................... 55 Herzglykoside ...................................................................... 55 Adenosin ............................................................................... 55 Antiarrhythmika.................................................................. 55 Literatur ................................................................................. 56
Pharmakologisches Wissen – Pharmakologie der Infusionstherapie .............. 59 Karsten Michael Infusionslösungen im Überblick ................................... Pharmakologie der kristalloiden Infusionslösungen ............................................................. Pharmakologie der kolloidalen Infusionslösungen ............................................................. Literatur .................................................................................
60 60 61 64
Physiologisches Wissen – Kreislauf und Narkose .......................................... 67 André Heinen, Wolfgang Schlack Herzmechanik ..................................................................... Herzdynamik ........................................................................ Steuerung der Herzfunktion .......................................... Gefäßsystem ........................................................................
68 68 70 71
VIII
Inhaltsverzeichnis
8.5 8.6 8.7
Blutdruck ............................................................................... Blutdruckregulation .......................................................... Organdurchblutung .......................................................... Literatur .................................................................................
9
Physiologisches Wissen – Atmung und Narkose ........................................... 77
9.1 9.2 9.3 9.4 9.5
10
10.1 10.2
11
11.1 11.2 11.3
12 12.2 12.3 12.4 12.5 12.6
13
13.1 13.2
Andreas Manger Einleitung .............................................................................. Atmungssystem .................................................................. Physiologische Aspekte der Atmung .......................... Atmung und Beatmung unter Allgemeinanästhesie ........................................................ Atmung und Regionalanästhesie................................. Literatur .................................................................................
72 73 74 75
13.3 13.4 13.5 13.6 13.7 13.8 13.9
78 78 79 83 85 86
Physiologisches Wissen – Leber und Narkose ................................................ 87 Daniela Zitzelsberger Anatomische und physiologische Grundlagen der Leber ............................................................................... 88 Leber und Narkose............................................................. 89 Literatur ................................................................................. 92
14
14.1 14.2 14.3 14.4 14.5 14.6 14.7 14.8
Physiologisches Wissen – Niere und Narkose ................................................. 93
15
Mathias Haller Anatomie und Physiologie ............................................. 94 Nierenfunktion und Narkose ......................................... 97 Zusammenfassung ............................................................ 98
15.1 15.2 15.3
Narkosesysteme .................................................... 99 Jan Baum Differenzierung der Narkosesysteme nach funktionellen Kriterien ..........................................104 Narkosesysteme unter technischen und funktionellen Aspekten ..........................................104 Funktion der Narkosesysteme in Abhängigkeit vom Frischgasflow .............................................................106 Kohlendioxidabsorption..................................................106 Vor- und Nachteile unterschiedlicher Narkosesysteme..................................................................109 Literatur .................................................................................110
Präoperative Untersuchung und Prämedikation .............................................. 111 Andreas Meißner Anamnese .............................................................................112 Laboruntersuchungen .....................................................113
15.4 15.5 15.6 15.7
Kardiale Risikoabschätzung / EKG ................................114 Röntgenthorax ....................................................................114 Lungenfunktion ..................................................................115 Medikamente ......................................................................116 Grundlegende juristische Aspekte ..............................118 Anästhesieverfahren und Information des Patienten .......................................................................118 Umsetzung in die klinische Praxis ................................119 Literatur .................................................................................119
Praktische Durchführung der Allgemeinanästhesie .................................... 121 Paul Reinhold, Egbert Schlüter Begriffsbestimmungen ....................................................122 Durchführung einer Allgemeinnarkose .....................122 Wärmemanagement .........................................................133 Perioperative Analgesie ...................................................134 Ausleitung der Narkose ...................................................134 Postoperative Überwachung, Analgesie und Symptomkontrolle....................................................135 Dokumentation des Narkoseverlaufs .........................135 Narkoseeinleitung bei Aspirationsgefährdung .......136 Literatur .................................................................................137
Atemwegsmanagement ..................................... 139 Ansgar Brambrink, Sandra Kurz Verfahren zur Einschätzung der Schwierigkeit der Atemwegssicherung .................................................140 Basismaßnahmen zur Atemwegssicherung .............141 Auswahl des richtigen Verfahrens zur Atemwegssicherung während der Allgemeinanästhesie ........................................................142 Endotracheale Intubation ...............................................143 Extratracheale/supraglottische Hilfsmittel ...............146 Fiberoptische Intubation .................................................148 Maßnahmen bei schwieriger Atemwegssicherung in der Anästhesie .....................149 Literatur .................................................................................156
16
Regionalanästhesie .............................................. 157
16.1 16.2 16.3 16.4
Rüdiger Lott Vorbereitung des Patienten ...........................................158 Rückenmarknahe Regionalanästhesiever fahren....158 Periphere Nervenblockaden ..........................................163 Intravenöse Regionalanästhesie...................................166 Literatur .................................................................................167
IX Inhaltsverzeichnis
17
Monitoring ............................................................. 169
17.1 17.2
Bernd Schmitz Standardmonitoring .........................................................170 Erweitertes Monitoring ....................................................173 Literatur .................................................................................178
18 18.1 18.2 18.3 18.4
Intraoperative Infusionstherapie ...................... 179 Karsten Michael Physiologische Verteilung des Wassers im Organismus ....................................................................180 Flüssigkeitsbedarf ..............................................................180 Möglichkeiten des Flüssigkeitsersatzes .....................181 Gefahren der Flüssigkeitstherapie ...............................183 Literatur .................................................................................183
21.3 21.4 21.5 21.6
22
Atemweg- und Lungenerkrankungen ............. 231
22.1 22.2 22.3 22.4
Wolfgang Reikow Diagnostische Möglichkeiten ........................................232 Obstruktive Lungenerkrankungen ..............................234 Restriktive Lungenerkrankungen .................................237 Schlaf-Apnoe-Syndrom ...................................................238 Literatur .................................................................................239
23 19
19.1 19.2 19.3 19.4 19.5 19.6 19.7 19.8 19.9
20
20.1 20.2 20.3 20.4 20.5 20.6 20.7 20.8
Perioperative Therapie mit Blutprodukten und fremdblutsparende Verfahren ............................................................... 185 Albrecht Henn-Beilharz Einführung ............................................................................186 Blutprodukte ........................................................................186 Indikationen für EK ............................................................188 Transfusionsvorgang ........................................................189 Nebenwirkungen der Transfusion................................192 Rechtliche Bestimmungen .............................................196 Fremdblutsparende Verfahren ......................................197 Hämoglobinlösungen/Perfluorocarbone .................204 Therapie mit Gerinnungsfaktoren ...............................204 Literatur .................................................................................207
23.1 23.2 23.3 23.4 23.5 23.6
24 24.1 24.2
Schmerztherapie in der postoperativen Phase ....................................................................... 209 Christoph Donath Anatomische und physiologische Grundlagen.......210 Organisation der postoperativen Schmerztherapie ................................................................210 Schmerzmessung ...............................................................211 Medikamente zur Schmerztherapie ............................212 Katheterverfahren..............................................................216 Patientenkontrollierte Analgesie (PCA) .....................216 Stufenplan zur postoperativen Schmerztherapie ................................................................217 Praktische Schmerztherapie...........................................217 Literatur .................................................................................218
Herzklappenfehler .............................................................224 Herzinsuffizienz ..................................................................226 Rhythmusstörungen .........................................................228 Patienten mit Schrittmacher .........................................229 Literatur .................................................................................230
25 25.1 25.2 25.3 25.4
26
21
Herz-Kreislauf-Erkrankungen ............................ 219
26.1
21.1 21.2
Waheedullah Karzai Arterielle Hypertonie ........................................................220 Koronare Herzkrankheit (KHK) ......................................221
26.2 26.3
Perioperatives Management von Diabetespatienten in der Anästhesie ............... 241 Sabine Remppis Definition Diabetes............................................................242 Klassifikationen ...................................................................242 Physiologie des Insulins ...................................................243 Orale Antidiabetika ...........................................................244 Folgeerkrankungen und Komplikationen des Diabetes mellitus .......................................................245 Perioperatives Management ..........................................245 Literatur .................................................................................248
Nierenerkrankungen ........................................... 249 Mathias Haller Ursachen der Nierenfunktionsstörung.......................250 Perioperative Behandlung des Patienten mit Niereninsuffizienz.......................................................252 Literatur .................................................................................256
Lebererkrankungen ............................................. 257 Daniela Zitzelsberger Anästhesierelevante, patho-physiologische Veränderungen bei Lebererkrankungen ...................258 Medikamentenclearance.................................................259 Prämedikation, Narkosevorbereitung und -durchführung............................................................260 Einzelne Erkrankungen ....................................................261 Literatur .................................................................................262
Endokrine Erkrankungen .................................... 263 Iris Kraus, Dirk Pappert Erkrankung der Schilddrüse und Nebenschilddrüse ..............................................................264 Erkrankungen der Nebenniere ......................................267 Erkrankungen der Hypophyse ......................................272
X
Inhaltsverzeichnis
26.4
Endokrine Tumore des gastroenteropankreatischen Systems ........................274 Literatur
27
Hämatologische Erkrankungen ........................ 277
27.1 27.2 27.3 27.4 27.5 27.6
Sabine Haag Einleitung ..............................................................................278 Anämien ................................................................................278 Hämorrhagische Diathesen............................................281 Hyperkoagulabilität – Thrombophilie ........................285 Hämatoonkologische Erkrankungen ..........................286 Hämatoonkologische Notfälle ......................................286 Literatur .................................................................................287
28
Suchterkrankungen ............................................. 289
28.1 28.2 28.3 28.4
Jörg Helge Junge Pathophysiologie der Sucht ...........................................290 Besonderheiten der perioperativen Therapie .........290 Sucht bei Anästhesie- und Intensivpersonal ...........295 Zusammenfassung ............................................................295 Literatur .................................................................................295
29
Neurologische Erkrankungen ............................ 297
29.1 29.2
Elisabeth Breucking Erkrankungen des zentralen Nervensystems ..........298 Neuromuskuläre Erkrankungen....................................301 Literatur .................................................................................305
30
Anästhesie bei Adipositas................................... 307
30.1 30.2 30.3 30.4 30.5 30.6
Karsten Michael, Frank Hoffmann Einführung ............................................................................309 Genetische Faktoren der Adipositas ...........................309 Begleiterkrankungen und erhöhte Risiken ...............309 Präoperative Maßnahmen ..............................................310 Anästhesiever fahren bei Adipositas ........................ 311 Postoperative Betreuung ................................................312 Literatur .................................................................................312
31
Ambulante Anästhesien...................................... 313
31.1 31.2 31.3 31.4 31.5 31.6 31.7 31.8
Beatrix Canji Geeignete Operationen ...................................................314 Patientenauswahl...............................................................314 Anästhesiologisches Vorgehen .....................................314 Medikamentöse Prämedikation ..................................315 Auswahl des Narkoseverfahrens ..................................316 Narkoseeinleitung und Aufrechterhaltung ..............316 Postoperative Überwachung und Schmerztherapie 316 Entlassungskriterien..........................................................317 Literatur .................................................................................318
32
Anästhesie in der Abdominalchirurgie ............ 319
32.1 32.2 32.3 32.4
Christoph Donath Anatomische und physiologische Grundlagen.......320 Präoperative Phase ............................................................320 Anästhesie bei laparoskopischen Eingriffen ............322 Anästhesie bei speziellen Operationen .....................323 Literatur .................................................................................328
33
33.1 33.2 33.3
34
34.1 34.2 34.3 34.4
35 35.1 35.2
36 36.1 36.2 36.3 36.4 36.5 36.6
37
37.1
Anästhesie in Orthopädie und Unfallchirurgie ...................................................... 329 Wolfgang Ullrich Anästhesie in der Orthopädie .......................................330 Anästhesie in der Unfallchirurgie .................................338 Besonderheiten in Orthopädie und Unfallchirurgie ...........................................................340 Literatur .................................................................................344
Anästhesie bei polytraumatisierten Patienten ................................................................ 345 Jörg Beneker Phasen der Polytraumaversorgung .............................346 Präklinische Versorgung und Transport .....................346 Rettungsstelle und Erstdiagnostik ...............................351 Erste operative Phase .......................................................352 Literatur .................................................................................353
Kardioanästhesie .................................................. 355 Alfred Schild, Tilmann Röhl Anästhesie zu herzchirurgischen Eingriffen beim Erwachsenen ............................................................356 Kardioanästhesie bei angeborenen Herzfehlern ....362 Literatur .................................................................................368
Anästhesie in der Thoraxchirurgie .................... 369 Christoph K. Hofer, Andreas Zollinger Patientengut ........................................................................370 Präoperative Abklärungen, Vorbehandlung und Prämedikation ............................................................370 Anästhesieverfahren .........................................................372 Besonderheiten thoraxchirurgischer Eingriffe ........373 Postoperative Probleme und Komplikationen ........377 Diagnostische Eingriffe im Rahmen der Thoraxchirurgie ...........................................................378 Literatur .................................................................................379
Anästhesie in der Gynäkologie und Geburtshilfe................................................... 381 Daniela Zitzelsberger, Franz-Josef Kretz Spezielle Eingriffe ...............................................................382
XI Inhaltsverzeichnis
37.2 37.3 37.4 37.5 37.6 37.7
38 38.1 38.2 38.3 38.4 38.5 38.6 38.7
39
39.1 39.2 39.3 39.4 39.5
40 40.1 40.2 40.3 40.4 40.5 40.6 40.7
Physiologische Veränderungen in der Schwangerschaft ...................................................383 Pathophysiologische Veränderungen in der Schwangerschaft ...................................................384 Anästhesie in der Schwangerschaft ............................384 Anästhesie rund um die Geburt ...................................385 Spezielle Komplikationen ...............................................389 Pharmakologische Besonderheiten während Schwangerschaft und Stillzeit ....................391 Literatur .................................................................................393
Erstversorgung von Neugeborenen ................. 395 Martin Kroll Organisatorische Voraussetzungen .............................396 Kreislaufverhältnisse, Atmung und Thermoregulation .....................................................397 Zustandsbeurteilung ........................................................398 Durchführung der Erstversorgung ..............................399 Dokumentationspflicht ....................................................403 Spezielle Probleme ............................................................404 Offene Fragen ......................................................................406 Literatur .................................................................................406
Anästhesie in der Neurochirurgie und Neuroradiologie ........................................... 407 Jürgen Schäffer, Michael Zumkeller Physiologie und Pathophysiologie ..............................408 Einfluss der Anästhesie auf das Gehirn ......................409 Monitoring ............................................................................409 Anästhesie bei neurochirurgischen Operationen ..410 Neuroradiologie..................................................................413 Literatur .................................................................................414
41.2 41.3 41.4 41.5
42
Anästhesie in der HNO ........................................ 425
42.1 42.2 42.3 42.4 42.5 42.6
Jürgen Schäffer Allgemeines .........................................................................426 Adenotomie, Tonsillektomie, Paukenröhrchen .......427 Tracheotomie.......................................................................427 Operationen am Ohr .........................................................428 Eingriffe am Larynx ............................................................428 Tumorchirurgie ...................................................................430 Literatur .................................................................................430
43 43.1 43.2 43.3 43.4
44 44.1 44.2 44.3 44.4 44.5 44.6
Anästhesie in der Augenheilkunde .................. 415 Jürgen Schäffer Anatomie und Physiologie des Auges ........................416 Anästhesie und intraokularer Druck ...........................416 Allgemeine Aspekte der Anästhesie in der Augenheilkunde ....................................................417 Operationen im vorderen Augenabschnitt ..............418 Chirurgie der Hinterkammer ..........................................418 Extraokulare Eingriffe .......................................................418 Per forierende Augenverletzungen ..............................419 Literatur .................................................................................419
41
Anästhesie in der Kiefer- und Mundchirurgie 421
41.1
Jürgen Schäffer Abszess...................................................................................422
Tumorchirurgie ...................................................................422 Lippen-Gaumen-Spalten .................................................422 Gesichtsschädeltrauma....................................................423 Zahnbehandlung ...............................................................423 Literatur .................................................................................423
45 45.1 45.2 45.3 45.4 45.5
Anästhesie in der Urologie ................................. 431 Christoph Wachter Einführung und Besonderheiten ..................................432 Narkoseverfahren...............................................................432 Lagerungsverfahren..........................................................433 Anästhesiologische Besonderheiten bei speziellen Eingriffen...................................................434 Literatur .................................................................................437
Anästhesie bei Kindern ....................................... 439 Daniela Zitzelsberger, Franz-Josef Kretz Anatomische und physiologische Besonderheiten von Kindern .........................................440 Pharmakologische Besonderheiten ............................444 Präoperative Visite .............................................................446 Narkoseverfahren...............................................................447 Postoperative Schmerztherapie ...................................450 Komplikationen ..................................................................452 Literatur .................................................................................454
Anästhesie bei alten Patienten .......................... 457 Andreas Sielenkämper Altersbedingte Änderungen der Organfunktionen ........................................................458 Präoperative Vorbereitung .............................................459 Wahl des Anästhesieverfahrens ....................................460 Anästhetika und Anästhesiologisches Management .......................................................................460 Konzepte zur Aufrechterhaltung der funktionellen Reserve ...............................................461 Literatur .................................................................................463
XII
Inhaltsverzeichnis
46
Anästhesiologisches Stand-by .......................... 465
46.1 46.2 46.3 46.4
Sinikka Münte, Hans-Anton Adams Definitionen, Patienten und Eingriffe .........................466 Rechtliche und organisatorische Grundlagen .........466 Allgemeine Vorbereitungen und Überwachung ....467 Anästhetika ..........................................................................467 Literatur .................................................................................470
47
47.1 47.2 47.3 47.4 47.5 47.6 47.7 47.8 47.9
Sedierung und Narkose bei diagnostischen Maßnahmen .......................................................... 471 Joachim Stelzner Gründe für Analgosedierungsverfahren ...................472 Sedierungsstadien .............................................................472 Personelle Voraussetzungen ..........................................473 Apparative Voraussetzungen .........................................473 Magnetresonanztomographie ......................................473 Patientenvorbereitung .....................................................474 Sedierung versus Narkose ..............................................475 Allgemeine Aspekte zur Durchführung von Sedierungen ................................................................475 Medikamentenauswahl ...................................................475 Literatur .................................................................................477
48
Aspiration ............................................................... 479
48.1 48.2 48.3 48.4 48.5
Birgit Pfeiffer Inzidenz der Aspiration ....................................................480 Pathophysiologie der Aspiration ..................................480 Ätiologie ................................................................................481 Maßnahmen zur Reduktion des Aspirationsrisikos ..481 Therapie .................................................................................484 Literatur .................................................................................485
49
Maligne Hyperthermie ........................................ 487
49.1 49.2 49.3 49.4 49.5 49.6 49.7 49.8 49.9 49.10
Frank Wappler Einleitung ..............................................................................488 Epidemiologie .....................................................................488 Pathophysiologie ...............................................................488 Trigger der MH ....................................................................489 Klinische Symptomatik ....................................................490 Therapie .................................................................................494 Postanästhesiologisches Management .....................494 Präanästhesiologische Evaluierung.............................495 Anästhesie bei Patienten mit MH-Veranlagung .....496 MH und andere Erkrankungen ......................................496 Literatur .................................................................................497
50.2 50.3 50.4 50.5
Pulmonaler Gasaustausch...............................................501 Basisdiagnostik ...................................................................501 Spezifische Diagnostik .....................................................501 Therapie .................................................................................503 Literatur .................................................................................505
51
Übelkeit und Erbrechen in der postoperativen Phase .............................. 507
51.1 51.2 51.3 51.4 51.5
52 52.1 52.2 52.3 52.4 52.5 52.6 52.7 52.8 52.9
53
53.1 53.2
54 54.1 54.2
50
Diagnostik und Therapie der Lungenembolie . 499
54.3 54.4 54.5
50.1
Maria Breulmann Pathophysiologie ...............................................................500
54.6
Daniel Guber Definitionen und physiologische Grundlagen ........508 Würgen und Erbrechen....................................................508 Physiologische Grundlagen ...........................................508 Risikofaktoren ......................................................................509 Antiemetische Therapie und perioperative Strategie ................................................................................511 Literatur .................................................................................513
Beatmung auf der operativen Intensivstation 515 Albert Benzing, Frank Teufel Indikationen zum Einsatz einer maschinellen Beatmung ......................................516 Aufgaben eines Respiratorsystems .............................516 Respiratortechnik ...............................................................517 Beatmungsformen .............................................................518 Nicht-invasive Beatmung ................................................519 Beatmungsmonitoring.....................................................519 Nebenwirkungen der Beatmung .................................520 Spezielle Beatmungsindikationen auf der operativen Intensivstation...............................520 Respiratorentwöhnung (Weaning) ..............................525 Literatur .................................................................................526
Herz-Kreislauf-Funktionsstörungen und ihre Therapie ................................................. 527 Samir G. Sakka Schock ....................................................................................528 Perioperative Herz-Kreislauf-Funktionsstörungen.532 Literatur .................................................................................535
Reanimation .......................................................... 537 Ansgar M. Brambrink Einleitung ..............................................................................538 Pathophysiologie des Kreislaufs unter Reanimation .............................................................538 Die Leitsymptome des Herzkreislaufstillstands ......540 Basismaßnahmen der Reanimation (BLS) .................541 Erweiterte Maßnahmen der Reanimation (ACLS, PALS)..........................................................................545 Komplikationen der Reanimation ................................550
XIII Inhaltsverzeichnis
54.7
Abbruch der Reanimation...............................................551 Literatur .................................................................................552
55
Sepsis ...................................................................... 553
55.1 55.2 55.3 55.4 55.5 55.6
Andreas Meier-Hellmann Definition und Diagnose der Sepsis ............................554 Pathophysiologische Aspekte .......................................555 Therapeutische Strategien..............................................555 Supportive Therapie der Sepsis ....................................556 Adjuvante Therapie ...........................................................560 Zusammenfassung ............................................................561 Literatur .................................................................................562
56
56.1 56.2 56.3 56.4 56.5
57
57.1 57.2 57.3
Nierenfunktionsstörung und Nierenersatztherapie................................... 563 Mathias Haller, Ines Kaufmann, Gustav Schelling Definition des akuten Nierenversagens .....................564 Pathophysiologie des akuten Nierenversagens ......565 Klinische Beurteilung ........................................................565 Therapie .................................................................................567 Nierenersatzverfahren .....................................................567 Literatur .................................................................................570
61
Intensivtherapie bei Gestose ............................. 613
61.1 61.2 61.3 61.4 61.5 61.6 61.7 61.8
Stephan Rapp Einleitung ..............................................................................614 Inzidenz und Prognose ....................................................614 Ätiologie ................................................................................615 Diagnose ...............................................................................615 Überwachung......................................................................616 Therapie .................................................................................616 Zeitpunkt der Entbindung ..............................................618 Anästhesiologisches Management .............................619 Literatur .................................................................................620
Verbrennungen und Verbrühungen................. 621
Karsten Michael Entgleisung des Wasserhaushalts ................................572 Entgleisung des Elektrolythaushalts ...........................573 Entgleisung des Säure-Basen-Haushalts ...................575 Literatur .................................................................................576
62.1 62.2 62.3 62.4 62.5 62.6
Helmut Krause Epidemiologie und Ätiologie .........................................622 Pathophysiologie ...............................................................622 Einteilung ..............................................................................623 Erstversorgung ....................................................................624 Intensivtherapie..................................................................626 Zusammenfassung ............................................................629 Literatur .................................................................................630
Gerinnungsstörungen ......................................... 579
58.1 58.2 58.3 58.4
59.4 59.5
60.1 60.2 60.3 60.4 60.5 60.6 60.7 60.8
62
Karl Heinz Kopp Bestandteile des Gerinnungsprozesses .....................580 Diagnostik .............................................................................582 Hämorrhagische Diathese ..............................................583 Spezielle Krankheitsbilder ..............................................585 Literatur .................................................................................588
59.1 59.2 59.3
Analgosedierung auf der Intensivstation........ 599 Thomas Wagner Zielsetzung der Analgosedierung................................600 Pharmakologische Grundlagen ....................................600 Analgetika .............................................................................603 Sedativa .................................................................................605 Adjuvante Substanzen .....................................................606 Monitoring der Analgosedierung ................................607 Konzeption der Analgosedierung ................................608 Kriterien zur Medikamentenauswahl..........................610 Literatur .................................................................................611
Entgleisungen des Wasser-, Elektrolytund Säure-Basen-Haushalts ............................... 571
58
59
60
Zerebrale Funktionsstörungen .......................... 589 Matthias Hansen Untersuchungsmethoden ..............................................590 Bewusstseinsstörungen ...................................................591 Intrakranielle Ursachen der zerebralen Funktionsstörung .................................593 Nicht primär zerebral ausgelöste Störungen ...........595 Zusammenfassung ............................................................596 Literatur .................................................................................597
63
63.1 63.2 63.3 63.4 63.5 63.6 63.7
Prophylaxe und Therapie nosokomialer Infektionen auf der Intensivstation .................. 631 Philipp M. Lepper, Matthias Trautmann Definition nosokomialer Infektionen ..........................632 »Surveillance« von Infektionen auf der Intensivstation .....................................................632 Nosokomiale Pneumonie ................................................632 Gefäßkatheterassoziierte Infektionen ........................637 Harnwegsinfektionen .......................................................639 Postoperative Infektionen auf der Intensivstation ..641 Umgang mit resistenten Erregern ...............................642 Literatur .................................................................................643
XIV
Inhaltsverzeichnis
64
Parenterale und enterale Ernährung ................ 645
64.1 64.2 64.3 64.4 64.5
65 65.1 65.2 65.3 65.4 65.5 65.6
66
66.1 66.2 66.3
Markus Apin Physiologie und Pathophysiologie des Stoffwechsels beim Intensivkranken ..................646 Parenterale Ernährung .....................................................647 Enterale Ernährung............................................................650 Spezielle Krankheitsbilder des Intensivpatienten ..652 Immunonutrition ...............................................................653 Literatur .................................................................................653
Mediko-legale Probleme..................................... 655 Elmar Biermann Einleitung ..............................................................................656 Zivilrechtliche Haftung und strafrechtliche Verantwortung ...................................................................656 Rechtliche Szenarien nach einem Anästhesiezwischenfall ...........................656 Zivilrechtliche Schadenersatzansprüche...................657 Strafrechtliches Ermittlungsverfahren .......................659 Zwischenfallsmanagement aus rechtlicher Sicht ..661 Literatur .................................................................................663
Datenmanagementsysteme in der Anästhesie und Intensivmedizin ........... 665 Joerg Martin Datenmanagement in der Anästhesie .......................666 Intensivmedizinische Informationssysteme .............668 Zusammenfassung ............................................................669 Literatur .................................................................................669
Stichwortverzeichnis ........................................... 671
XV
Autorenverzeichnis Prof. Dr. Hans-Anton Adams Zentrum für Anästhesiologie Medizinische Hochschule Hannover Carl-Neuberg-Str. 1 20625 Hannover
Dr. Maria Breulmann Städtische Kliniken Neuss – Lukaskrankenhaus GmbH Preußenstr. 84 41464 Neuss
Dr. Markus Apin Anästhesieabteilung Klinik am Eichert Eichertstr. 3 73035 Göppingen
Dr. Beatrix Canji Anästhesieabteilung Städtisches Krankenhaus Arthur-Gruber-Str. 70 71065 Sindelfingen
Prof. Dr. Jan Baum Abteilung für Anästhesie Krankenhaus St. Elisabeth-Stift Lindenstr. 3–7 49401 Damme
Christoph Donath Klinik für Anästhesiologie und Intensivmedizin Krankenhaus Bad Cannstatt Klinikum Stuttgart Prießnitzweg 24 70374 Stuttgart
Dr. Jörg Beneker Unfallkrankenhaus Berlin Warener Str. 7 12683 Berlin Prof. Dr. Albert Benzing Schwarzwald-Baar-Klinikum Villingen-Schwenningen GmbH Vöhrenbacher Str. 23 78050 Villingen-Schwenningen Dr. Elmar Biermann Berufsverband der Deutschen Anästhesisten Roritzer Str. 27 90419 Nürnberg PD Dr. Ansgar Brambrink Associate Professor Department of Anesthesiology and Perioperative Medicine Oregon Health and Science University Mail Code: UHS-2 3181 SW Sam Jackson Park Road Portland, Oregon 97239-3098, USA Dr. Elisabeth Breucking Institut für Anästhesiologie Klinikum Wuppertal Hausnerstr. 40 42283 Wuppertal
Daniel Guber Gutenbergstr. 3 89073 Ulm Dr. Sabine Haag Klinik für Anästhesie und Intensivmedizin Olgahospital – Klinikum Stuttgart Bismarckstr. 8 70176 Stuttgart Prof. Dr. Mathias Haller Abt. für Anästhesie und Operative Intensivmedizin Klinikum Kempten-Oberallgäu gGmbH Robert-Weixler-Str. 50 87439 Kempten Dr. Matthias Hansen Abteilung Anästhesie Robert-Bosch-Krankenhaus Auerbachstr. 110 70376 Stuttgart André Heinen MD Department of Anesthesiology, MEB Medical College of Wisconsin 8701 Watertown Plank Road Milwaukee, I 53226, USA Dr. Albrecht Henn-Beilharz Klinik für Anästhesiologie Katharinenhospital – Klinikum Stuttgart Kriegsbergstr. 60 70174 Stuttgart
Dr. Christoph K. Hofer Institut für Anästhesiologie und Intensivmedizin Stadtspital Triemli Zürich Birmensdorferstr. 497 CH-8063 Zürich, Schweiz Dr. Frank Hoffmann Klinik für Anästhesie und Intensivmedizin Olgahospital Klinikum Stuttgart Bismarckstr. 8 70176 Stuttgart Dr. Jörg Helge Junge Rätisches Kantons- u. Regionalspital Loestr. 170 CH-7000 Chur PD Dr. Waheedullah Karzai Klinik für Anästhesiologie u. Intensivmedizin Zentralklinik Bad Berka Robert-Koch-Allee 9 99437 Bad Berka Dr. Ines Kaufmann Klinik für Anästhesiologie der Universität München Klinikum Großhadern Marchioninistr. 15 81377 München Prof. Dr. Karl Heinz Kopp Klinik für Anästhesiologie Universitätsklinik Freiburg Hugstetter Str. 55 79106 Freiburg Dr. Iris Kraus Abt. für Anästhesie u. Intensivmedizin Dominikus-Krankenhaus Kurhausstr. 30 13467 Berlin Dr. Helmut Krause Abteilung für Anästhesie Krankenhaus Waldfriede Argentinische Allee 40 14163 Berlin
XVI
Autorenverzeichnis
Dr. Martin Kroll Pädiatrie 4 – Neonatologie Olgahospital Klinikum Stuttgart Bismarckstr. 8 70176 Stuttgart Dr. Sandra Kurz Klinik für Anästhesiologie Klinikum der Johannes Gutenberg-Universität Langenbeckstr. 1 D-55131 Mainz Prof. Dr. Dr. Peter Michael Lauven Klinik für Anästhesiologie Städt. Kliniken Bielefeld gem. GmbH Teutoburger Str. 50 33604 Bielefeld Dr. Philipp M. Lepper Medizinische Klinik Abt. II Universitätsklinikum Ulm Robert-Koch-Str. 8 89081 Ulm Dr. Rüdiger Lott Abt. für Anästhesie u. Intensivmedizin Kreiskrankenhaus Sigmaringen Hohenzollernstr. 40 72468 Sigmaringen Dr. Andreas Manger Abt. für Anästhesiologie und Intensivmedizin Arbeitsgruppe Katastrophenmedizin Universitätsklinikum Tübingen Hoppe-Seyler-Str. 3 72076 Tübingen Dr. Jörg Martin Anästhesieabteilung Klinik am Eichert Eichertstr. 3 73035 Göppingen Dr. Andreas Meier-Hellmann Intensivmedizin u. Schmerztherapie Helios Klinikum Erfurt GmbH Klinik für Anästhesie, Nordhäuser Str. 74 99089 Erfurt Dr. Andreas Meißner Klinik und Poliklinik für Anästhesiologie und operative Intensivmedizin Universität Münster Domagkstr. 5 48149 Münster
Dr. Karsten Michael Klinik für Anästhesiologie und Intensivmedizin Krankenhaus Bad Cannstatt Klinikum Stuttgart Prießnitzweg 24 70374 Stuttgart
Dr. Sabine Remppis Klinik für Anästhesie und Intensivmedizin Krankenhaus Bad Cannstatt Klinikum Stuttgart Prießnitzweg 24 70374 Stuttgart
PD Dr. Sinikka Münte Zentrum für Anästhesiologie Medizinische Hochschule Hannover Carl-Neuberg-Str. 1 30625 Hannover
Dr. Tilmann Röhl Abteilung Anästhesie Sana Herzchirurgische Klinik Stuttgart GmbH Herdweg 2 70174 Stuttgart
PD Dr. Dirk Pappert Klinik für Anästhesiologie und Intensivtherapie Klinikum Ernst von Bergmann Charlottenstr. 72 14467 Potsdam
Achim Röper Klinik für Anästhesie und operative Intensivmedizin Städtische Kliniken Bielefeld gem. GmbH Teutoburger Str. 50 33604 Bielefeld
Dr. Birgit Pfeiffer Otto-von-Guericke-Universität Magdeburg Universitätsklinik für Anästhesiologie und Intensivtherapie Leipziger Str. 44 39120 Magdeburg
PD Dr. Samir G. Sakka Klinik für Anästhesiologie und Intensivtherapie Universitätsklinikum Jena Erlanger Allee 101 07747 Jena
Prof. Dr. Friedrich K. Pühringer Klinik für Anästhesiologie und operative Intensivmedizin Klinikum am Steinenberg Steinenbergstr. 31 72764 Reutlingen
Prof. Dr. Jürgen Schäffer Klinik für Anästhesiologie und operative Intensivmedizin Henriettenstiftung Krankenhaus Marienstr. 72–90 30171 Hannover
Dr. Stephan Rapp Anästhesiologie Kreiskrankenhaus Kitzingen Keltenstr. 67 97318 Kitzingen
Prof. Dr. Gustav Schelling Klinik für Anästhesiologie der Universität München Klinikum Großhadern Marchioninistr. 15 81377 München
Dr. Wolfgang Reikow Klinik für Anästhesie und Intensivmedizin Krankenhaus Bad Cannstatt Klinikum Stuttgart Prießnitzweg 24 70374 Stuttgart Prof. Dr. Paul Reinhold Klinik für Anästhesiologie, operative Intensivmedizin, Schmerztherapie Klinikum Herford Schwarzenmoorstr. 70 32049 Herford
Dr. Alfred Schild Abteilung Anästhesie Sana Herzchirurgische Klinik Stuttgart GmbH Herdweg 2 70174 Stuttgart Dr. Wolfgang Schlack Klinik für Anästhesiologie Universitätsklinikum Düsseldorf Moorenstr. 5 40225 Düsseldorf
XVII Autorenverzeichnis
Dr. Egbert Schlüter Klinik für Anästhesiologie, operative Intensivmedizin, Schmerztherapie Klinikum Herford Schwarzenmoorstr. 80 32049 Herford PD Dr. Bernd Schmitz 15 rue du Genêt L-8023 Strassen PD Dr. A. Sielenkämper Klinik u. Poliklinik für Anästhesiologie und operative Intensivmedizin Albert-Schweitzer-Str. 33 48129 Münster Dr. Joachim Stelzner Klinik für Anästhesiologie und operative Intensivmedizin Olgahospital Klinikum Stuttgart Bismarckstr. 8 70176 Stuttgart Dr. Susanne Toussaint Klinik für Anästhesie und operative Intensivmedizin Vivantes Klinikum Neukölln Rudower Straße 48 12351 Berlin
Prof. Dr. Matthias Trautmann Institut für Krankenhaushygiene Katharinenhospital – Klinikum Stuttgart Kriegsbergstr. 60 70174 Stuttgart Dr. Wolfgang Ullrich Anästhesieabteilung Diakoniekrankenhaus Diakoniestr. 10 74523 Schwäbisch Hall Dr. Christoph Wachter Gemeinschaftspraxis Fellbacher Str. 16 70736 Fellbach Dr. Thomas Wagner Abt. für Anästhesiologie und Intensivmedizin Universitätsklinikum Tübingen Hoppe-Seyler-Str. 3 72076 Tübingen Prof. Dr. Frank Wappler Klinik für Anästhesiologie Kliniken der Stadt Köln – Krankenhaus Merheim Ostmerheimer Str. 260 51109 Köln
Dr. René Waurick Klinik und Poliklinik für Anästhesiologie u. operative Intensivmedizin Universität Münster Albert-Schweitzer-Str. 33 48149 Münster Dr. Daniela Zitzelsberger Klinik für Anästhesiologie und Intensivmedizin Krankenhaus Bad Cannstatt Klinikum Stuttgart Prießnitzweg 24 70374 Stuttgart Prof. Dr. Andreas Zollinger Institut für Anästhesiologie u. Intensivmedizin Stadtspital Triemli Biermensdorfer Str. 497 CH–8063 Zürich Dr. Michael Zumkeller Neurochirurgische Klinik Klinikum Minden Friedrichstr. 10 32427 Minden
1 Pharmakologisches Wissen – Pharmakodynamik und Pharmakokinetik Achim Röper, Peter Michael Lauven 1.1
Pharmakodynamik –2
1.1.1 Pharmakologische Interaktionen –2 1.1.2 Dosis-Wirkungs-Beziehung –2
1.2
Pharmakokinetik –3
1.2.1 Grundlegende pharmakokinetische Prozesse –3 1.2.2 Pharmakokinetische Grundbegriffe –4 1.2.3 Pharmakokinetische Modelle –6
Literatur –7
2
1
Kapitel 1 · Pharmakologisches Wissen – Pharmakodynamik und Pharmakokinetik
)) Die klinische Pharmakologie befasst sich mit der Wirkung und dem Schicksal von Medikamenten im menschlichen Körper. Sie setzt sich zusammen aus den Teilbereichen Pharmakodynamik und Pharmakokinetik. Dabei beschreibt die Pharmakodynamik die quantitative und die qualitative Einflussnahme der Medikamente auf den Körper, somit die eigentliche pharmakologische Wirkung. Bildlich gesprochen liefert sie eine Antwort auf die Frage: »Was macht das Pharmakon mit dem Organismus?« Hingegen beantwortet die Pharmakokinetik die Frage: »Was macht der Organismus mit dem Pharmakon?« Sie beschreibt den zeitabhängigen Verlauf der Konzentration von Substanzen im menschlichen Körper. Die Kombination beider Teilaspekte in einem klinisch-pharmakologischen Gesamtmodell ermöglicht die Darstellung des komplexen Zusammenhangs zwischen der Gabe eines Medikaments und dem zeitlichem Verlauf seiner Wirkung.
1.1
Pharmakodynamik
Die Pharmakodynamik beschäftigt sich mit der Einflussnahme eines Pharmakons auf den Organismus. Hierbei wird die Wirkung eines Medikaments in Beziehung zu dessen Dosis oder dessen Konzentration z. B. im Blut gesetzt.
1.1.1 Pharmakologische Interaktionen Die Interaktion eines Pharmakons mit dem Organismus kann auf vielfältige Weise erfolgen. Zum einen gibt es unspezifische Wirkungen, die z. B. durch Beeinflussung von Enzymen, durch Interferenzen mit Transportvorgängen oder durch die physikochemischen Eigenschaften der Substanzen hervorgerufen werden. Im Bereich der Anästhesie gilt dieser Wirkmechanismus für die Inhalationsanästhetika, die ihre Wirkung größtenteils aufgrund ihrer physikochemischen Eigenschaften an den Zellmembranen bestimmter ZNS-Strukturen entfalten. Wesentlich häufiger als die unspezifische Wirkung ist die Bindung eines Pharmakons an einen spezifischen körpereigenen Reaktionspartner, einen Rezeptor. Hierbei handelt es sich um Makromoleküle (zumeist Proteine) in Zellmembranen oder im Zytoplasma. Die Rezeptoren binden körpereigene Überträgerstoffe, die als Liganden bezeichnet werden. An deren Stelle treten nun exogen zugeführte Substanzen, die sich an die spezifischen Bindungsstellen anlagern. Führt diese Anlagerung eines Moleküls zur gleichen Reaktion wie die des endogenen Liganden, so bezeichnet
man diese Substanz als Agonist. Verhindert ein exogen zugeführtes Pharmakon die Bindung des eigentlichen Transmitters, so wirkt dieses antagonistisch. Rezeptoren weisen zwei wesentliche Eigenschaften auf: Zum einen verfügen sie über spezielle Bindungsstellen, die eine Anlagerung nur ganz spezifischer Liganden ermöglichen. Zum anderen führt die Anlagerung an diese Bindungsstellen zu einer Änderung der Konfiguration und/ oder des Funktionszustandes des Rezeptors. Die Anlagerung eines agonistisch wirkenden Medikaments führt zu eben dieser Konformationsänderung mit der resultierenden Reaktion, die Wirkung des Pharmakons basiert also auf einem physiologischen Vorgang. Aus der klinischen Praxis ist eine verminderte Wirkung von Medikamenten nach längerer Anwendung bekannt. Dieses als Tachyphylaxie bezeichnete Phänomen beruht darauf, dass eine kontinuierliche Stimulation eines Rezeptors durch einen Agonisten zu einer Desensibilisierung führt. Die zugrunde liegenden Mechanismen sind vielfältig und umfassen u. a. die Verminderung der Rezeptordichte an der Zelloberfläche, die Hemmung der Rezeptorneogenese oder die Beeinträchtigung der Rezeptoren durch biochemische Prozesse. Auf der anderen Seite kann die plötzliche Beendigung der Zufuhr eines Medikaments zu einer überschießenden gegenteiligen Reaktion führen. Beispiele für dieses so genannte Reboundphänomen ist der erhöhte Blutdruck nach Absetzen eines E-Rezeptoren-Blockers oder eine Bronchokonstriktion nach Beendigung der Gabe von E2-Sympathomimetika.
1.1.2 Dosis-Wirkungs-Beziehung In der klinischen Praxis ist die Beziehung zwischen der verabreichten Dosis eines Medikaments und der erwünschten oder unerwünschten Wirkung im Allgemeinen von besonderem Interesse. Diese zu beschreiben, ist Aufgabe der Pharmakodynamik, wobei hier zumeist eine Korrelation zwischen der Konzentration eines Pharmakons und der Wirkung hergestellt wird. Entscheidend für den Effekt einer Substanz ist dessen Konzentration am eigentlichen Wirkort, dem pharmakologischen Rezeptor. Da diese Konzentration zumeist nicht messbar ist, bedient man sich leichter zugänglichen Materialien wie Blut, Liquor oder Urin. In . Abb. 1.1 ist diese Konzentrations-Wirkungs-Beziehung einer imaginären Substanz grafisch dargestellt. Die lineare Darstellung im oberen Teil der Abbildung lässt erkennen, dass es mit ansteigender Konzentration zu einer zunehmend stärkeren Wirkung, angegeben in Prozent des maximalen Effekts, kommt. Allerdings nimmt die An-
3 1.2 · Pharmakokinetik
. Abb. 1.1. Konzentrations-Wirkungs-Beziehung; oben: lineare Darstellung, unten: halblogarithmische Darstellung
stiegssteilheit der Kurve mit zunehmender Konzentration ab. Eine Erhöhung der Konzentration führt also nur noch zu einer geringeren Zunahme der Wirkung bis schließlich der maximale Effekt erreicht ist. Es handelt sich somit um eine nichtlineare Beziehung. In halblogarithmischer Darstellung findet man eine sigmoide Kurve. Diese verdeutlicht, dass v. a. im mittleren Konzentrationsbereich nur geringe Änderungen ausreichen, um eine ausgeprägte Veränderung des Effekts zu bewirken. Mit dem Begriff EC 50 wird die Konzentration bezeichnet, die den halbmaximalen Effekt hervorruft. Sie ist ein Maß für die Potenz oder Wirkstärke einer Substanz. Die Effektivität eines Pharmakons wird hingegen durch das Ausmaß der Maximalwirkung beschrieben. Beide Parameter sind relative Größen, die sich auf Referenzsubstanzen beziehen und zudem zeitunabhängig sind.
1.2
Pharmakokinetik
Die Pharmakokinetik beschreibt den zeitlichen Verlauf der Konzentration von Medikamenten im Organismus. Dieser wird bestimmt durch die Prozesse der Resorption, der Verteilung in verschiedene Gewebe, der Biotransformation und schließlich der Elimination des Pharmakons.
1.2.1 Grundlegende pharmakokinetische
Prozesse Resorption Hierunter versteht man die Aufnahme eines Stoffs aus dem äußeren Milieu oder aus umschriebenen Körperregionen
in den Blutkreislauf. Grundsätzlich unterscheidet man zwischen der enteralen und der parenteralen Resorption. Zu letzterer gehören z. B. rektale, vaginale, sublinguale, nasale oder pulmonale Resorptionsvorgänge. Ausmaß und Geschwindigkeit der Aufnahme hängen von verschiedenen Faktoren ab. Diese sind einerseits substanzspezifisch (physikochemische Eigenschaften, Galenik, Löslichkeit etc.) andererseits bedingt durch physiologische Faktoren am Applikationsort wie pH-Wert, Organperfusion, Art und Fläche der zu durchdringenden Membran usw. Die eigentliche Aufnahme des Pharmakons ins Blut geschieht zumeist durch passive Diffusion entsprechend dem Konzentrationsgradienten, aber auch aktive Transportprozesse oder die Pinozytose spielen eine Rolle. Enteral resorbierte Substanzen gelangen über das Pfortadersystem zur Leber und unterliegen dort bereits einer hepatischen Metabolisierung. Dieser Vorgang wird als First-pass-Effekt oder präsystemische Elimination bezeichnet und bewirkt, dass nur ein Teil des resorbierten Pharmakons tatsächlich systemisch zur Verfügung steht. Für die Anästhesie spielen die Prozesse der Resorption mit den daraus resultierenden Folgen nur eine untergeordnete Rolle, da hier zumeist andere Applikationswege wie die intravenöse oder inhalative Anwendung von Medikamenten genutzt werden.
Verteilung Die im Blut zirkulierenden Pharmaka werden im gesamten Organismus verteilt. Abhängig von der Organperfusion und den physikochemischen Eigenschaften wie Molekülgröße oder Ionisierungsgrad der Substanzen kommt es u. U. zu einer vermehrten Anreicherung in bestimmten Geweben. Der Stoffaustausch zwischen Blut und Geweben über Membranbarrieren hinweg verläuft dabei vorwiegend per diffusionem, sodass Konzentrationsgradienten eine entscheidende Rolle spielen. Einige Medikamente werden im Blut zu einem gewissen Teil an Transportproteine wie Albumin, saures D1-Glykoprotein oder Lipoproteine gebunden. Dies beeinflusst die Distributionseigenschaften des Pharmakons, da nur der ungebundene, freie Anteil ungehindert Zellmembranen passieren kann. Die Plasmaproteinbindung limitiert allerdings nicht nur die Konzentration des Wirkstoffs im Gewebe, sondern beeinflusst auch dessen Metabolisierung und Elimination. Nur der ungebundene Anteil gelangt in die Leberzellen bzw. wird glomerulär filtriert oder tubulär sezerniert. Klinisch relevant ist eine Bindungsrate an Transportproteine von mehr als 85–90 %.
1
4
Kapitel 1 · Pharmakologisches Wissen – Pharmakodynamik und Pharmakokinetik
c
1 c
c = c 0 × e – kel × t c0
2
c0 4 c0
t
8
} } } t1 2
t1 2
t1 2
log c lgc 0 log c = – k el × log e × t + log c 0
drolyse werden als sog. Phase-I-Reaktionen bezeichnet. Hierdurch werden ungeladene, lipophile Substanzen in polare, hydrophile Moleküle, die zumeist keine pharmakologische Wirkung mehr aufweisen, umgewandelt. In einer nachfolgenden Phase-II-Reaktion findet eine Konjugation an Glucuronsäure, Sulfate oder D-Aminosäuren statt, die eine bessere Exkretion der entstandenen Metabolite durch Urin oder Gallenflüssigkeit ermöglicht. Die eigentliche Elimination aus dem Körper geschieht vorwiegend über die Niere und in geringerem Ausmaß über die Leber. Für gasförmige Stoffe wie die Inhalationsanästhetika stellt die pulmonale Ausscheidung den entscheidenden Weg dar. Bei der renalen Elimination spielen Vorgänge wie glomeruläre Filtration, tubuläre Sekretion und tubuläre Reabsorption eine Rolle.
1.2.2 Pharmakokinetische Grundbegriffe
Lineare und nichtlineare Kinetik t
vel
vel = kel × c c . Abb. 1.2. Plasmaspiegel-Verlauf nach Bolusinjektion; oben: lineare Darstellung, mitte: halblogarithmische Darstellung, unten: lineare Darstellung von Eliminationsgeschwindigkeit vs. Plasmakonzentration
Biotransformation und Elimination Einige Pharmaka werden unverändert aus dem Körper ausgeschieden, die weitaus meisten aber werden vorher metabolisiert. Diese Metabolisierung findet vorwiegend in der Leber statt, aber auch andere Organe wie Niere, Lunge oder die Haut verstoffwechseln Arzneimittel. Darüber hinaus sind auch organunabhängige Abbauwege wie z. B. die enzymatische Spaltung von Mivacurium oder Remifentanil bekannt. Die hepatische Metabolisierung von Arzneimitteln geschieht überwiegend durch das Cytochrom-P450System. Die durch verschiedene Isoenzyme dieses Systems katalysierten Prozesse wie Oxidation, Reduktion oder Hy-
Der Blut- oder Plasmaspiegel eines Pharmakons nimmt eine zentrale Rolle für pharmakokinetische Analysen ein. Anhand des zeitlichen Verlaufes der Konzentration können pharmakokinetische Berechnungen angestellt und entsprechende Modelle erarbeitet werden. . Abb. 1.2 zeigt einen Konzentrations-Zeit-Verlauf, wie man ihn nach rascher Bolusinjektion eines Pharmakons sieht. In der linearen Darstellung erkennt man einen raschen initialen Konzentrationsabfall, der im Laufe der Zeit immer geringer ausfällt. Mit abnehmendem Plasmaspiegel wird auch der Konzentrationsabfall geringer. Besonders deutlich wird dies in der halblogarithmischen Darstellung. Mathematisch lässt sich dies mittels einer Exponentialfunktion, in die die Anfangskonzentration C0 und die Eliminationskonstante kel als Maß für die Eliminationsgeschwindigkeit einfließen, beschreiben. Die Eliminationsgeschwindigkeit ist proportional der Konzentration der Substanz. (Die resultierende Gerade dieser Korrelation ist ebenfalls in . Abb. 1.2 zu sehen.) Man spricht daher von einer linearen Kinetik oder Kinetik 1. Ordnung. Diese gilt für nahezu alle in der Anästhesie verwendeten Medikamente in klinisch üblicher Dosierung. Dem gegenüber steht die nichtlineare Kinetik oder Kinetik 0. Ordnung. Hier strebt die Eliminationsgeschwindigkeit einem Maximum entgegen, d. h. ein weiterer Konzentrationsanstieg führt zu keiner Steigerung der Elimination. Grund hierfür ist die Sättigung der für die Metabolisierung verantwortlichen Enzymsysteme, weshalb man hier auch von einer Sättigungskinetik spricht. Die weitere Zufuhr
5 1.2 · Pharmakokinetik
des Medikaments führt dabei zu einem überproportionalen Anstieg der Plasmakonzentration. Ein bekanntes Beispiel für diese Form der Kinetik ist der Abbau von Ethanol durch die Alkoholdehydrogenase.
Verteilungsvolumen Das Verteilungsvolumen Vd stellt einen virtuellen Raum ohne direktes morphologisches Korrelat dar. Es handelt sich dabei um einen Proportionalitätsfaktor, der rechnerisch die Dosis eines Medikaments ins Verhältnis zu dessen Konzentration setzt. Zur Berechnung des initialen Verteilungsvolumens wird dabei die interpolierte, real nicht messbare Anfangskonzentration C0 zum Zeitpunkt t = 0 zugrunde gelegt.
Vd =
D C0
Das Verteilungsvolumen im Steady state VdSS kennzeichnet das Volumen zu dem Zeitpunkt, an dem die Distribution zwischen Blut und Gewebe abgeschlossen ist und somit kein Nettotransfer mehr stattfindet. Außerdem ist sie unbeeinflusst von Biotransformations- und Eliminationsvorgängen. Viele Pharmaka weisen große Verteilungsvolumina, die die Größe des Gesamtkörperwassers z. T. deutlich überschreiten, auf. Dies deutet auf eine Anreicherung dieser Substanzen an bestimmten Strukturen des Organismus hin. Zudem ist das Verteilungsvolumen u. a. abhängig von der Plasmaprotein- sowie der unspezifischen Gewebsbindung des Arzneistoffes.
Totale Clearance Die totale Clearance Cltot ist ein Maß für die Eliminationsleistung des Organismus. Sie gibt an, welches Volumen pro Zeiteinheit von dem Arzneimittel gereinigt wird. Die Fläche unterhalb der Konzentrations-Zeit-Kurve, die mittels einer Integralfunktion berechnet werden kann, wird als »Area under the Curve« (AUC) bezeichnet. Sie ist proportional der Gesamtmenge des Pharmakons. Das Verhältnis der applizierten Dosis zur AUC gibt mathematisch die totale Clearance an.
Cl tot =
D AUC
Die totale Clearance ist im Rahmen der linearen Kinetik eine dosis- bzw. konzentrationsunabhängige Größe, da sich bei Veränderung der Dosis entsprechend auch die AUC ändert. Sie setzt sich aus der Summe aller am Eliminationsprozess beteiligten organspezifischen Clearances zusammen (z. B. Cltot = Clhepatisch + Clrenal +Clbiliär).
Die Eliminationskonstante kel ist ebenfalls ein Maß für die Metabolisierungs- und Ausscheidungsleistung des Organismus. Die von dem Pharmakon zu reinigende Menge wird durch das Verteilungsvolumen Vd definiert, sodass sich die totale Clearance auch aus dem Produkt dieser beiden Größen errechnen lässt. Cltot = Vd u kel
Halbwertszeit Die Halbwertszeit t½ repräsentiert den Zeitraum, in dem die Konzentration einer Substanz auf die Hälfte ihres Ausgangswertes gesunken ist. Ähnlich wie die totale Clearance und die Eliminationskonstante stellt sie ein Maß für die Pharmakonelimination dar und ist ebenfalls konzentrationsunabhängig. Die Berechnung erfolgt entweder mittels der Eliminationskonstanten oder mittels totaler Clearance und Verteilungsvolumen.
t 12 =
V ln2 t 12 =ln2 d Cl tot k el
Die sog. terminale Halbwertszeit t½E oder t½J kennzeichnet den Zeitraum, in dem der Plasmaspiegel in der sog. Eliminationsphase auf jeweils die Hälfte absinkt. Sie ist somit ein Maß für die terminale Elimination eines Pharmakons, die von Metabolisierungs- und Ausscheidungssowie von Umverteilungsprozessen abhängig ist. Eine der Halbwertszeit verwandte Größe ist die mittlere Verweildauer (»mean residence time«, MRT), die ein Maß für die Aufenthaltsdauer eines Medikaments im Organismus ist. Sie entspricht in etwa der Zeit, in der zwei Drittel der Substanz den Körper verlassen haben.
Kontextsensitive Halbwertszeit Neben Metabolisierungs- und Ausscheidungsvorgängen spielen Umverteilungsprozesse eine wesentliche Rolle für den Verlauf des Plasmaspiegels eines Pharmakons. Dies wird besonders deutlich bei längerer Anwendung eines Arzneimittels per infusionem. Verschiedene Organe weisen unterschiedliche Perfusionsraten, Speicherkapazitäten und -geschwindigkeiten auf, sodass die Aufnahme bzw. Rückverteilung einer Substanz sehr unterschiedlich vonstatten gehen kann. Der Anwendung der Eliminationshalbwertszeit t½J als Maß für den Konzentrationsabfall kommt hier nur eine untergeordnete Bedeutung zu. Um dieser Situation Rechnung zu tragen, führten Hughes und Mitarbeiter den Begriff der kontextsensitiven Halbwertszeit ein. Diese ist definiert als die Zeitspanne, innerhalb derer der Plasmaspiegel nach Beendigung einer kontinuierlichen Infusion,
1
6
Kapitel 1 · Pharmakologisches Wissen – Pharmakodynamik und Pharmakokinetik
deutlich davon abweichen. Sowohl die Eliminations- als auch die kontextsensitive Halbwertszeit dürfen nicht mit der Wirkdauer verwechselt werden, da der Plasmaspiegel nur eine Determinante zur Beschreibung des Wirkverlustes eines Medikaments ist. Hier müssen zusätzlich pharmakodynamische Prozesse berücksichtigt werden.
300
Kontextsensitive HWZ (min)
1
250
Fentanyl
200
Thiopental 150
1.2.3 Pharmakokinetische Modelle 100
Midazolam
50
Real gemessene Plasmaspiegel zeigen zumeist einen anderen als den in . Abb. 1.2 gezeigten Verlauf. In halblogarithmischer Darstellung findet man eine bi- oder triphasische Kurve mit einem anfangs steilen und dann zunehmend flacher verlaufenden Konzentrationsabfall . Abb. 1.4. Zur Beschreibung dieser Kurvenverläufe und der zugrunde liegenden pharmakokinetischen Vorgänge bedient man sich sog. pharmakokinetischer Modelle.
Alfentanil
Sufentanil
Propofol 0 0
1
2
3
4
5
6
7
8
9
Infusionsdauer (h) . Abb. 1.3. Kontextsensitive Halbwertszeit
die einen konstanten Plasmaspiegel anstrebt, auf die Hälfte absinkt. Die Halbwertszeit wird hier in Relation zu einem Kontext, nämlich der Applikationsdauer, gesetzt. Abhängig von der Dauer der Infusion kommt es bei einigen der in der Anästhesie verwendeten Medikamente zu einer deutlichen Verlängerung der Halbwertszeit (. Abb. 1.3). Klinisch ist die Angabe der Konzentrationsabnahme auf die Hälfte nicht immer sinnvoll. Die prozentuale Abnahme, die für die Veränderung des pharmakologischen Effektes (z. B. Erwachen des Patienten) notwendig ist, kann
Kompartimentmodell Im etablierten Kompartimentmodell wird der Organismus in mehrere imaginäre Räume unterteilt. Beim sog. mammillären Drei-Kompartiment-Modell sind dies das zentrale und zwei gleichrangige periphere Kompartimente (tiefes und flaches peripheres K.) (. Abb. 1.4). Diesen Räumen wird kein eindeutiges morphologisch-anatomisches Korrelat zugeordnet, näherungsweise wird das zentrale
Konzentration D peripheres Kompartiment c3´ V3
A
k13 k31
zentrales Kompartiment c1´ V1
k12 k21
peripheres Kompartiment c2´ V2
kel Elimination inkl. Biotransformation
B
C β
c(t) = A × e–α × t + B × e–β × t + C × e–γ × t
γ
α Zeit
. Abb. 1.4. Offenes mammilläres Drei-Kompartiment-Modell; oben: schematisches Blockdiagramm, unten: triphasischer Plasmaspiegel-Verlauf in halblogarithmischer Darstellung
7 Literatur
Kompartiment mit dem Blut und den Organen mit hohem HZV-Anteil, das flache periphere Kompartiment mit den gut durchbluteten Organen (Niere, Muskulatur etc.) und das tiefe periphere Kompartiment mit den schlecht perfundierten Organen wie z. B. Fettgewebe assoziiert. Nach Bolusgabe eines Medikaments ins Blut (= zentrales K.) setzen unmittelbar nicht nur Biotransformationsund Eliminationsvorgänge, sondern auch Verteilungsprozesse in die Gewebe ein. Deren Ausmaße werden durch die Konstanten kel für die Elimination, die definitionsgemäß kein eigenes Kompartiment darstellt und aus dem zentralen Kompartiment heraus geschieht, und k12 bzw. k13 für den Stoffaustausch in die peripheren Kompartimente beschrieben. Diese Prozesse führen zu einem raschen initialen Konzentrationsabfall, der so genannten D- oder Verteilungsphase. Nach Absinken der Konzentration im zentralen Kompartiment unter die in den peripheren Kompartimenten resultiert entsprechend dem Konzentrationsgradienten ein Stoffaustausch in Richtung des zentralen Kompartimentes, definiert durch die Konstanten k21 und k31. Dies führt zu einer Teilkompensation des weiteren Konzentrationsabfalls im zentralen Kompartiment und zeigt sich im flacheren Verlauf der KonzentrationsZeit-Kurve. Dieser Abschnitt der Kurve wird als E- oder Rückverteilungsphase bezeichnet. Im dargestellten DreiKompartiment-Modell sorgt eine zeitversetzte Rückdiffusion aus dem Fettgewebe für ein nochmaliges Abflachen der Kurve, die J- oder Eliminationsphase. In Analogie zur eingangs beschriebenen Exponentialgleichung kann die Konzentration in diesem Modell mit Hilfe einer triexponentiellen Gleichung berechnet werden. Auch können die verschiedenen pharmakokinetischen Parameter für die einzelnen Phasen errechnet werden.
Effektkompartiment Für die klinische Praxis ist die Arzneimittelkonzentration am eigentlichen Wirkort, dem pharmakologischen Rezeptor, von Bedeutung. Diese ist für den gewünschten Effekt verantwortlich. Diese Konzentration bestimmt Wirkeintritt, Wirkungsintensität und Wirkdauer. Von einigen Medikamenten in der Anästhesie ist auch nach i.v.-Gabe ein verzögerter Wirkeintritt bekannt. Andererseits kann es vorkommen, dass der Effekt einer Substanz noch ansteigt, obwohl die Plasmakonzentration bereits wieder abfällt. Durch die Definition eines weiteren Kompartimentes, dem Effekt- oder Wirkortkompartiment, lassen sich der als Hysterese bezeichnete verzögerte Wirkeintritt und -abfall pharmakologisch erklären. Das Effektkompartiment enthält den eigentlichen Wirkort einer Substanz (z. B. an-
tinozizeptive Rezeptoren, GABA-Rezeptoren, motorische Endplatten). Hier ist die Wirkung eines Pharmakons proportional zu seiner Konzentration. Es stellt ebenso wie die anderen Kompartimente einen virtuellen Raum dar. Besitzt eine Substanz eine nennenswerte Hysterese, so ist dies ein Indiz dafür, dass ihr pharmakologischer Rezeptor nicht im zentralen Kompartiment lokalisiert ist. In der pharmakokinetischen Analyse werden aus der Zeitverzögerung zwischen Konzentrationsverlauf und Effekt Äquilibrierungskonstanten ermittelt, die eine entsprechende zeitversetzte Konzentration im Effektkompartiment generieren. Allerdings können, da der Stoffaustausch zwischen zentralem und Effektkompartiment quantitativ sehr gering ist, weder die Transferkonstanten noch das Verteilungsvolumen des Effektkompartimentes exakt errechnet werden. Mit der Äquilibrierungskonstanten ke0 wird genau genommen die Elimination aus diesem Kompartiment angegeben, da diese über den Wirkverlauf bestimmt werden kann. Im so genannten steady state sind die Konzentration im zentralen und im Effektkompartiment identisch. Dies ist bei konstantem Plasmaspiegel in etwa nach 3–4 Äquilibrierungshalbwertszeiten (t½ ke0 = log2 u ke0) erreicht.
Literatur Heidegger T, Minto CF, Schnider TW (2004) Moderne Konzepte der Pharmakokinetik intravenöser Anästhetika. Anästhesist 53: 97– 110 Hull CJ (1991) Pharmacokinetics for anaesthesia. Butterworth-Heinemann, Oxford Hughes MA, Glass PS, Jacobs JR (1992) Context-sensitive half-times in multicompartment pharmacokinetic models for intravenous anesthetic drugs. Anesthesiology 76: 334–341 Lauven PM, Röper A (1995) Grundlagen der Pharmakokinetik. Anästhesist 44: 663–676 Preiß R (2003) Grundlagen der klinischen Pharmakologie. In: Olthoff D (Hrsg) Arzneimittelanwendungen in der Anästhesie. Wiss. Verlagsges., Stuttgart, S 37–96
1
2
–
Pharmakologisches Wissen – Intravenöse Narkotika Susanne Toussaint 2.1
Intravenöse Anästhesie –10
2.2
Hypnotika –10
2.3
Opioidanalgetika –15
2.3.1 2.3.2 2.3.3 2.3.4
Opiatrezeptoren –15 Opioidwirkungen –15 Indikationen für intravenöse Opioidanalgetika –17 Kontraindikationen für intravenöse Opioidanalgetika –18
2.4
Opiatantagonisten –18
Literatur –18
10
Kapitel 2 · Pharmakologisches Wissen – Intravenöse Narkotika
)) Intravenöse Narkotika dienen der zuverlässigen und schnellen Narkoseeinleitung im Rahmen einer Allgemeinanästhesie. Das Wort »narkotisieren« kommt aus der griechischen Sprache und bedeutet »betäuben« und »schlaff machen«. Zu den intravenösen Narkotika zählen die Hypnotika und die starken Opioidanalgetika. Als erstes Hypnotikum von klinischer Bedeutung wurde 1932 von Helmuth Weese Hexobarbital (Evipan) eingeführt. Zwei Jahre später folgte Thiopental, das noch heute eine wichtige Position unter den Hypnotika einnimmt. Die Hypnotika sind in Bezug auf ihre chemische Struktur eine sehr heterogene Gruppe von Medikamenten. Die allen Hypnotika gemeinsame Wirkung ist der Bewusstseinsverlust, der dosisabhängig mit Atemdepression verbunden ist. Die starken Opioidanalgetika sind sich dagegen untereinander chemisch ähnlich.
2
2.1
Intravenöse Anästhesie
In der Allgemeinanästhesie werden die Inhalationsanästhesie, die intravenöse Anästhesie und die balanzierte Anästhesie unterschieden. Oft wird eine balanzierte Anästhesie durchgeführt. Dabei wird zunächst die Narkose mit einem Hypnotikum eingeleitet. Danach wird der Patient mit einem Gemisch aus Sauerstoff und Lachgas beatmet, dem aus einem Verdampfer ein volatiles Anästhetikum beigemischt wird. Zusätzlich erhält er intravenöse Bolusdosen eines Opioidanalgetikums. Bei der intravenösen Anästhesie wird auf das volatile Anästhetikum verzichtet. Stattdessen wird kontinuierlich ein Hypnotikum verabreicht. Ein Opioidanalgetikum wird entweder intermittierend als intravenöser Bolus oder kontinuierlich als intravenöse Dauerinfusion verabreicht. Bei der totalen intravenösen Anästhesie (TIVA) wird auch auf das Lachgas verzichtet. Die gesamte narkotische Wirkung geht von den intravenös verabreichten Medikamenten aus. Diese müssen dementsprechend höher dosiert werden als bei einer balanzierten Anästhesie. Das Hypnotikum und das Opioidanalgetikum sollten ähnliche pharmakokinetische Eigenschaften haben, damit sich die intravenöse Anästhesie gut steuern lässt.
2.2
Hypnotika
Thiopental Physikochemische Eigenschaften. Thiopental-Natrium (z. B. Trapanal) ist ein gelbes Pulver, das zur intravenösen Injektion in Wasser für Injektionszwecke aufgelöst werden
. Abb. 2.1. GABAA-Rezeptor. Der transmembranale Rezeptorkomplex besteht aus 5 Untereinheiten. Gammaaminobuttersäure, Benzodiazepine, Barbiturate und vermutlich auch Propofol und Etomidate binden an den Rezeptor und bewirken einen Einstrom von Chlorid in die Zelle. Dadurch nimmt die Erregbarkeit der Zellmembran ab. (Aus Rossaint, Werner, Zwißler [2004] Die Anästhesiologie. Springer, Heidelberg)
muss. Die 2,5 %ige Lösung (25 mg/ml) ist stark alkalisch (pH >10). Die Substanz gehört zu den Barbituraten. Wirkmechanismus. Barbiturate hemmen an allen erregba-
ren Membranen die Erregungsübertragung, weil sie die Aktivierung und die Öffnungszeit des Na+-Kanals beeinflussen. Im Gehirn wirken Barbiturate zusätzlich über GABAA-Rezeptoren (GABA: gamma-aminobutyric acid). Aktivierung der GABAA-Rezeptoren führt zu einer verlängerten Öffnungszeit der Cl–-Kanäle und damit zur Hyperpolarisation an der Zellmembran (. Abb. 2.1). Dadurch wird die Erregbarkeit herabgesetzt. Alle Barbiturate wirken antikonvulsiv. Dosierung Zur Narkoseeinleitung wird Thiopental in einer Dosis von 3–5 mg/kg KG intravenös gegeben. Bei Kleinkindern kann eine höhere Dosis (bis 7 mg/kg KG) erforderlich sein.
! Cave Bei älteren Menschen, bei Patienten mit Herzinsuffizienz, Volumenmangel oder Hypoproteinämie sollte Thiopental sehr vorsichtig dosiert werden, da sonst mit einem starken Blutdruckabfall zu rechnen ist.
Pharmakokinetik. Thiopental führt bereits nach einer
Kreislaufzeit vom Injektionsort zum Kopf zur Bewusst-
11 2.2 · Hypnotika
losigkeit. Die Dauer der Bewusstlosigkeit wird durch die innerhalb weniger Minuten stattfindende Umverteilung der Substanz aus dem Gehirn in andere Gewebe bestimmt (. Abb. 2.2). Die starke Umverteilung in weniger durchblutete Organe und die niedrige Clearance (. Tab. 2.1) sind Ursachen für die lange Eliminationshalbwertszeit (12 h). Thiopental wird in der Leber metabolisiert. Dabei ist ein entscheidender Schritt die Oxidation, die im endoplasmatischen Retikulum der Leberzellen am Cytochrom P450 stattfindet. Die Metaboliten werden renal ausgeschieden. Nebenwirkungen. Die wichtigsten kardiovaskulären Nebenwirkungen von Thiopental sind venöses Pooling, Reduktion des Schlagvolumens und Anstieg der Herzfrequenz. Der Blutdruckabfall kann zu einer verminderten Koronarperfusion führen. Wenige Sekunden nach Injektion der Einleitungsdosis setzt ein Atemstillstand ein, der mehrere Minuten dauert. Der zerebrale Sauerstoffverbrauch wird durch Thiopental reduziert. Dadurch nimmt der zerebrale Blutfluss ab, und der intrakranielle Druck sinkt. Thiopental setzt Histamin frei und sollte bei Patienten mit allergischer Diathese vermieden werden. Wenn Thiopental paravenös injiziert wird, kann eine tiefe Gewebenekrose entstehen. ! Cave Thiopental ist kontraindiziert bei akuter intermittierender Porphyrie und Porphyria variegata. Die durch Thiopental ausgelöste Enzyminduktion kann bei Patienten mit diesen Krankheiten schwere neurologische Schäden bis zum irreversiblen Koma auslösen.
Methohexital Physikochemische Eigenschaften. Methohexital ist wie
Thiopental ein kurzwirksames Barbiturat. Das Handelspräparat Brevimytal ist ein Pulver, das mit Wasser für Injektionszwecke zu einer klaren, 1 %igen Lösung verdünnt wird. Die Lösung ist stark alkalisch. Methohexital ist in Deutschland nicht mehr auf dem Markt angeboten und muß, wenn erforderlich über die internationale Apotheke bestellt werden. Wirkmechanismus. Siehe Thiopental. Dosierung 1–1,5 mg/kg KG
Pharmakokinetik. Die nur wenige Minuten dauernde Bewusstlosigkeit nach Methohexitalinjektion ist auf eine rasche Umverteilung der Substanz aus dem Gehirn zurück-
. Abb. 2.2. Umverteilung von Thiopental nach i.v.-Injektion (Aus Rossaint, Werner, Zwißler [2004] Die Anästhesiologie. Springer, Heidelberg)
zuführen. Die hepatische Extraktionsrate ist höher als bei Thiopental, und die Eliminationshalbwertszeit dementsprechend kürzer (. Tab. 2.1). Nebenwirkungen. Methohexital führt häufig zu exzitatorischen Symptomen wie unkontrollierten Muskelbewegungen und Schluckauf. Die anderen unerwünschten Wirkungen sind ähnlich wie bei Thiopental. Kontraindikationen. Siehe Thiopental.
Etomidate Physikochemische Eigenschaften. Etomidat ist ein kar-
boxyliertes Imidazolderivat, das chemisch mit keinem anderen intravenösem Hypnotikum verwandt ist. Das Handelspräparat Etomidat Lipuro enthält Etomidat 10 mg/ml in einer Emulsion aus Sojabohnenöl und Triglyzeriden. Wirkmechanismus. Etomidat wirkt über GABAA-Rezepto-
ren in der Formatio reticularis. Dosierung 0,2–0,3 mg/kg KG i.v.
Pharmakokinetik. Nach i.v.-Injektion einer Einleitungsdosis werden maximale Gewebespiegel im Gehirn innerhalb von einer Minute erreicht. Die hypnotische Wirkung wird durch Umverteilung aus dem Gehirn innerhalb weniger Minuten beendet. Etomidat wird durch Esterhydrolyse seiner Seitenkette im Plasma und in der Leber metabolisiert. Die totale Clearance beträgt 10–20 ml/kg/min; die Eliminationshalbwertszeit ca. 3 h.
2
12
Kapitel 2 · Pharmakologisches Wissen – Intravenöse Narkotika
. Tabelle 2.1. Pharmakokinetische Daten der Hypnotika
2
Wirkstoff
Dosis [mg/kg KG]
Proteinbindung [%]
Verteilungsvolumen (Vdss) [l/kg]
Clearance [ml/min/kg]
Thiopental
3–6
70–90
2,5
Methohexital
1,5
ca. 70
2
10
4
Propofol
1,5–2,5
98
2–4
20–40
0,5–1,5
Etomidat
0,2–0,3
94
3
10–20
3
Midazolam
0,1–0,2
95
1,5
6–8
2–4
Ketamin
1–2
12
2–3
16–18
2–3
3,5
t½β [h] 12
Nebenwirkungen auf ZNS. Während der Narkoseeinlei-
Propofol
tung können unwillkürliche Muskelbewegungen (Myokloni) auftreten. Die Inzidenz dieser Nebenwirkung kann dadurch verringert werden, dass vor Etomidat ein Opioidanalgetikum niedrig dosiert gegeben wird. Die Myokloni können auch durch Prämedikation mit einem Benzodiazepin oder durch Vorabinjektion einer kleinen Dosis (so genannte priming dose) von 2–3 mg Etomidat unterdrückt werden. Etomidat reduziert den zerebralen Sauerstoffbedarf und erniedrigt über einen verminderten zerebralen Blutfluss den intrakraniellen Druck. Ob durch Etomidat eine erhöhte Krampfbereitschaft bei Epileptikern ausgelöst werden kann, ist umstritten. Etomidat wirkt atemdepressiv.
Physikochemische Eigenschaften. Propofol liegt als
Nebenwirkungen auf Herz und Kreislaufsystem. Am
Kreislaufsystem bewirkt Etomidat nur minimale Veränderungen. Arterieller Blutdruck, peripherer Widerstand und Herzfrequenz bleiben nahezu unverändert. Auch bei Patienten mit myokardialen oder kardiovaskulären Vorerkrankungen bleibt das Herzminutenvolumen weitgehend konstant. Für die Narkoseeinleitung sollte Etomidat bei Patienten mit kardiovaskulären Risikofaktoren mit einem Opioid (z. B. Fentanyl 2–3 Pg/kg) kombiniert werden um eine Tachykardie bei der Intubation zu vermeiden. Endokrinologische Nebenwirkungen. Etomidat hemmt
die Kortisolsynthese in der Nebennnierenrinde. Weil niedrige Kortisol-Plasmakonzenrationen in einen Zusammenhang mit erhöhter Sterblichkeit von Intensivpatienten, die mit Etomidat sediert wurden, gebracht wurden, wird Etomidat nicht mehr zur Langzeitsedierung auf Intensivstationen eingesetzt. Der Einfluss von Etomidat auf die Kortisolsynthese ist bei Verwendung des Medikaments zur Narkoseeinleitung nicht relevant.
1 %ige oder 2 %ige Lösung in einer Fettemulsion aus Triglyzeriden und Sojabohnenöl vor. Die Fettlösung ist ein guter Nährboden für Bakterien. Vorbereitete Spritzen können nur wenige Stunden und nur im Kühlschrank aufbewahrt werden, da sonst mit einer bakteriellen Kontamination gerechnet werden muss. Wirkmechanismus. Der anästhetische Wirkmechanismus
von Propofol ist nicht sicher aufgeklärt. Wahrscheinlich ist auch für die Propofolwirkung ein Einfluss auf den GABAARezeptor verantwortlich. Dosierung Zur Narkoseeinleitung werden 1,5–2,5 mg/kg KG Propofol gegeben. Die Kombination von Propofol mit einem Opioidanalgetikum reduziert die er forderliche Propofoldosis. Bei der intravenösen Anästhesie mit Propofol werden 80–150 Pg/kg KG/min infundiert. Ein besonderes Konzept liegt der so genannten »target-controlled infusion« (TCI) von Propofol zugrunde. Eine Plasmakonzentration von ca. 3–6 Pg/ml ist für eine ausreichende Narkosetiefe er forderlich. Aufgrund von pharmakokinetischen Untersuchungen ist bekannt, mit welcher Infusionsrate bei einem Patient bestimmten Alters und bestimmten Gewichts die angestrebte Plasmakonzentration erreicht und aufrechterhalten wird. Anstelle der aufgrund der klinischen Erfahrung gewählten Infusionsrate kann bei der TCI mithilfe einer Mikroprozessor-gesteuerten Infusionspumpe die angestrebte Plasmakonzentration angewählt werden. Von der Infusionspumpe wird 6
13 2.2 · Hypnotika
die Infusionsrate errechnet und eingestellt, die zur Aufrechterhaltung der gewünschten Plasmakonzentration erforderlich ist.
! Cave Wird Propofol unterdosiert, kann es sein, dass der Patient intraoperativ zu Bewusstsein kommt.
Pharmakokinetik. Propofol verteilt sich schnell aus dem
Blut und den gut durchbluteten Organen in schlechter durchblutete Organe um. Gleichzeitig setzt die Metabolisierung ein. Propofol wird glukuronidiert und sulfatiert. Die totale Clearance beträgt 20–30 ml/kg/min und ist damit größer als der hepatische Blutfluss. Die Abbauprodukte sind pharmakologisch nicht aktiv und werden mit dem Urin ausgeschieden. Die Eliminationshalbwertszeit (t½E) von Propofol beträgt 0,5–1,5 h nach einer Bolusinjektion oder kurzen Infusion. Nach längerer Dauerinfusion, z. B. im Rahmen der Sedierung auf der Intensivstation, verlängert sich die Eliminationshalbwertszeit (sog. kontextsensitive Halbwertszeit). Wegen der hohen Clearance ist aber auch nach mehrtägiger kontinuierlicher Infusion von Propofol das Aufwachverhalten des Patienten besser vorhersagbar als nach der Sedierung mit anderen Substanzen.
führen der Kehlkopfmaske von Vorteil ist. Eine mehrtägige Propofol-Dauerinfusion kann zur Hypertriglyzeridämie führen. Propofolmetaboliten können den Urin grün färben. Metabolische Azidose und andere schwerwiegende Komplikationen nach mehrtägiger Propofolinfusion wurden ebenfalls in Einzelfällen beschrieben. ! Cave Kontraindikationen. Propofol sollte mit Vorsicht bei Patienten mit manifester Herzinsuffizienz oder generalisierter arterieller Verschlusskrankheit eingesetzt werden. Sollten wichtige Gründe für den Einsatz von Propofol sprechen, so muss ein Vasopressor vorbereitet sein, um dem von diesen Patienten schlecht tolerierten Blutdruckabfall entgegenzuwirken.
Midazolam Physikochemische Eigenschaften. Midazolam ist ein Imida-
zolderivat. Im sauren Milieu ist der Imidazolring offen, und die Substanz ist wasserlöslich (so im Handelspräparat Dormicum: pH 3,5). Im physiologischen pH-Bereich schließt sich der Imidazolring, und Midazolam wird stark fettlöslich, was eine Voraussetzung für schnellen Wirkungseintritt ist. Wirkmechanismus. Midazolam wirkt über den Benzodia-
Nebenwirkungen. Brennender Schmerz am Injektionsort
ist eine sehr häufige unangenehme Nebenwirkung. Sie kann vermieden werden, indem 20 s vor der Propofolinjektion eine kleine Menge eines Lokalanästhetikums in die gestaute Vene injiziert wird (z. B. 2 ml Lidocain 1 %). Die zur Intubation oder zum Einsetzen einer Larynxmaske erforderliche Propofoldosis führt meist zum Atemstillstand. Wenn eine intravenöse Anästhesie mit Propofol durchgeführt wird, kann aber die Narkosetiefe intraoperativ so gesteuert werden, dass eine assistierte Spontanatmung zur Normoventilation ausreichend ist. Propofol senkt den totalen peripheren Gefäßwiderstand und den arteriellen Blutdruck (Abnahme um ca. 20 %). Der Blutdruckabfall ist besonders ausgeprägt bei älteren Patienten und bei Patienten mit Linksherzinsuffizienz. Propofol senkt den zerebralen Sauerstoffbedarf, den zerebralen Blutfluss und den zerebralen Perfusionsdruck. Der intrakranielle Druck (ICP) bleibt bei hirngesunden Patienten unverändert, während bei Patienten mit erhöhtem ICP Propofol den intrakraniellen Druck senken kann. Offensichtlich bleiben die zerebrale Autoregulation und die Reagibilität der Hirngefäße auf CO2 auch unter einer Propofolinfusion unbeeinflusst. Erwünschte Nebenwirkungen von Propofol sind sein antiemetischer Effekt und die Unterdrückung pharyngealer Reflexe, was besonders beim Ein-
zepinrezeptor, der in den GABAA-Rezeptor integriert ist. Anders als bei den Barbituraten ist für die Benzodiazepinwirkung die Anwesenheit von GABA erforderlich. Die Bindungsaffinität von Benzodiazepinen an ihren Rezeptor wird durch Etomidat gesteigert. Wie alle Benzodiazepine wirkt auch Midazolam sedierend, antikonvulsiv und in höheren Dosen hypnotisch. Darüber hinaus wirken Benzodiazepine anxiolytisch und haben eine anterograde Amnesie zur Folge. Dieser Effekt ist bei der Verwendung von Midazolam zur Sedierung bei unangenehmen Prozeduren, wie z. B. der fiberoptischen Intubation, nützlich. Midazolam wirkt zentral muskelrelaxierend. Nach einer Sedierung mit Midazolam müssen die Patienten so lange überwacht werden, bis sie wach sind und auf Aufforderung den Kopf anheben und die Zunge herausstrecken können. ! Cave Sedierung, Atemdepression und zentrale Muskelrelaxation durch Midazolam können zur bedrohlichen Ateminsuffizienz führen.
Alle Wirkungen von Midazolam sind durch i.v.-Injektion von Flumazenil (Anexate), einem spezifischen Benzodiazepinantagonisten, umkehrbar. Flumazenil wird nach Wirkung in Schritten von 0,2–0,5 mg titriert. Die Wirkung
2
14
Kapitel 2 · Pharmakologisches Wissen – Intravenöse Narkotika
setzt nach 5–8 min ein. Die Halbwertszeit von Flumazenil beträgt nur 60–90 min und ist damit die kürzeste aller Benzodiazepine.
2
Dosierung Für die Narkoseeinleitung mit Midazolam als einzigem Hypnotikum werden 0,1–0,2 mg/kg KG benötigt. Im Rahmen der sog. Koinduktion, d. h. der Kombination von Midazolam mit einem anderen Einleitungshypnotikum (z. B. Etomidat) werden 1–2 mg gegeben. Der Vorteil der Koinduktion liegt in der Dosisreduktion der einzelnen Substanzen bei der Kombination zweier Einleitungshypnotika. Ein möglicher Nachteil dabei ist die Unüberschaubarkeit des weiteren Narkoseverlaufs. Zur Sedierung wird Midazolam nach Wirkung in Schritten von 1–2 mg dosiert.
Pharmakokinetik. Von allen Benzodiazepinen hat Midazolam mit 6–8 ml/kg die höchste Clearance. Die Halbwertszeit beträgt 2–4 h und liegt damit im Bereich der von anderen Einleitungshypnotika. Midazolam wird in der Leber hydroxyliert und glukuronidiert. Nach einer Midazolam-Dauerinfusion verlängert sich die Halbwertszeit. Dies ist eine Ursache für die längere Aufwachzeit nach Midazolam-Dauerinfusion im Vergleich zur Langzeitsedierung mit Propofol. Nebenwirkungen. Bei schneller Bolusinjektion verursacht Midazolam einen Blutdruckabfall, vergleichbar dem nach einer Einleitungsdosis von Thiopental. Vorsichtige Dosistitration oder kontinuierliche intravenöse Gabe erhalten dagegen die hämodynamische Stabilität auch bei kritisch kranken Patienten. Midazolam wirkt atemdepressiv. Besonders empfindlich reagieren Patienten mit pulmonalen Funktionseinschränkungen und ältere Menschen. Kontraindikationen. Wegen der atemdepressiven Wirkung sollte Midazolam nicht als Sedativum bei respiratorisch insuffizienten Patienten eingesetzt werden. Wird es als Hypnotikum zur Narkoseeinleitung verwendet, so muss damit gerechnet werden, dass die Atemdepression nach Operationsende noch anhält und eine über die Operationsdauer hinausgehende Beatmung des Patienten erforderlich wird.
Ketamin Physikochemische Eigenschaften. Ketamin ist ein razemisches Gemisch aus zwei optisch aktiven Isomeren, von denen S(+)-Ketamin ca. doppelt so stark wirksam ist wie R-Ketamin. Sowohl das Razemat (Ketanest) als auch das
linksdrehende Isomer (Ketanest S) sind als Handelspräparat verfügbar. Die Substanz ist als Hydrochloridsalz in wässriger Lösung mit saurem pH-Wert gelöst. Wirkmechanismus. Ketamin ist ein NMDA-Rezeptorant-
agonist. NMDA (N-Methyl-D-Aspartat) ist im Gegensatz zu GABA ein exzitatorischer Neurotransmitter. Über NMDARezeptoren werden vielfältigste Wirkungen auf zerebraler und spinaler Ebene vermittelt. Sie spielen u. a. eine wichtige Rolle bei der Verarbeitung sensorischer Informationen, bei der Nozizeption, bei Bewegungsabläufen und bei der Regulierung von Gefäßtonus und Blutdruck. Darüber hinaus bindet Ketamin auch an P- und V-Opioidrezeptoren. ! Ketamin ist das einzige Hypnotikum, das auch analgetisch wirksam ist. Einzigartig unter den klinisch gebräuchlichen Hypnotika ist auch seine starke halluzinogene Wirkung.
Dosierung Das Ketamin-Razemat wirkt in einer Dosis von 0,25–0,5 mg/kg KG i.v. stark analgetisch und ab 1–2 mg/kg KG i.v. hypnotisch. Es kann auch intramuskulär appliziert werden; um den gleichen Effekt zu erreichen, ist dann eine ca. 5fach höhere Dosis als intravenös erforderlich.
Pharmakokinetik. Die Verteilung von Ketamin erfolgt zu-
nächst in die stark durchbluteten Organe; die zentralnervöse Wirkung beginnt ½ bis 1 min nach i.v.-Injektion und endet nach 10–15 min durch Umverteilung. Nach intramuskulärer Gabe werden – sofern keine Zentralisation vorliegt – maximale Plasmaspiegel nach 5 min erreicht. In der Leber wird Ketamin am Cytochrom P450 zu Norketamin demethyliert. Norketamin hat ähnliche pharmakodynamische Eigenschaften wie Ketamin, ist aber schwächer wirksam. Norketamin wird weiter zu unwirksamen Metaboliten verstoffwechselt. Diazepam verzögert den Metabolismus von Ketamin. Nebenwirkungen. Die wichtigste unerwünschte Wirkung von Ketamin, die seinen klinischen Gebrauch stark einschränkt, ist die halluzinogene Wirkung. Beim Abklingen der Ketamin-Anästhesie halluziniert der Patient mit offenen Augen und bewegt sich unkontrolliert. Später berichten viele Patienten über entsetzliche Albträume, manche aber auch über angenehme Träume. Sehstörungen und ein verändertes Körperempfinden (z. B. Schwebegefühl) kommen in dieser Phase ebenfalls vor. Die Inzidenz der psychomimetischen Wirkungen kann durch die Applikation eines Benzodiazepins vor der Ketamingabe deutlich (auf unter
15 2.3 · Opioidanalgetika
20 %) reduziert werden. Ketamin steigert den zerebralen Blutfluss. Bei Patienten mit intrakraniellen Raumforderungen erhöht Ketamin auch den intrakraniellen Druck. ! Ketamin steigert den Sympathikotonus. Blutdruck und Herzfrequenz nehmen zu. Auch der pulmonalarterielle Druck steigt an.
Ketamin wirkt bronchodilatatorisch und kann bei Asthmatikern von Vorteil sein. Es steigert den Tonus des schwangeren Uterus. Hypersalivation ist eine weitere unerwünschte Ketaminwirkung. Die atemdepressive Wirkung ist nur gering. Allerdings kann bei tiefer Sedierung nach Repetitionsdosen auch bei diesem Medikament eine Atemdepression auftreten.
. Tabelle 2.2. Opiatrezeptoren und typische Wirkungen Rezeptor
Lokalisation
Wirkungen
μ
Hirnstamm: 5 periaquäduktales Grau Rückenmark: 5 Hinterhorn (Lamina II, III, IV, V, VIII) Cortex Corpus striatum Hypothalamus
5 5 5 5
Das Isomer S(+)-Ketamin vereinigt gegenüber dem Razemat mehrere Vorteile auf sich: S(+)-Ketamin ist doppelt so stark hypnotisch wirksam, wird schneller metabolisiert und hat eine kürzere Aufwachphase. Die Inzidenz unerwünschter Nebenwirkungen ist aber genauso hoch wie bei der Muttersubstanz.
2.3
Opioidanalgetika
Opioide sind synthetische Analgetika, die an Opiatrezeptoren wirken. Als Opiate werden die natürlichen Alkaloide bezeichnet, die im Opium vorkommen (Morphin, Codein, Thebain u. a.). Morphin wurde 1803 von Friedrich Wilhelm Sertürner aus Opium isoliert, und seitdem wird es als Analgetikum zu vielfältigen Zwecken eingesetzt. Auf der Suche nach einem gleich starken Analgetikum mit weniger Nebenwirkungen wurde in den dreißiger Jahren des 20. Jahrhunderts als erstes Opioid Pethidin synthetisiert. Ihm folgten – und folgen – immer neuere Opioidanalgetika. Im Jahre 1973 wurden die Opiatrezeptoren entdeckt.
2.3.1 Opiatrezeptoren Opiatrezeptoren sind transmembranale Makromoleküle, die an G-Proteine gebunden sind. Es werden P-, N-, G-, H-, und VRezeptoren unterschieden. Die P-, N- und G-Rezeptoren vermitteln Opioidwirkungen. Der V-Rezeptor und der H-Rezeptor binden auch andere Substanzen und werden nicht mehr
Sedierung Analgesie Dysphorie Halluzinationen Diurese
5 5
κ
Cortex Rückenmark: 5 Hinterhorn (Lamina II) Thalamus Hirnstamm: 5 periaquäduktales Grau
5 5 5 5 5
δ
Supraspinal und spinal
5 Analgesie
! Kontraindikationen: Hypertonus, Herzinsuffizienz, koronare Herzkrankheit, Rechtsherzinsuffizienz, pulmonale Hypertonie, erhöhter intrakranieller Druck, Psychosen.
S(+)-Ketamin
5 5 5
Analgesie Atemdepression Euphorie Physische Abhängigkeit Miosis Übelkeit, Erbrechen Juckreiz Obstipation Harnretention
als Opiatrezeptoren im engeren Sinne klassifiziert. Opiatrezeptoren sind im zentralen und im peripheren Nervensystem isoliert worden. Ihre Besetzung mit Opioiden bewirkt eine Modulation der Schmerzweiterleitung und Schmerzempfindung. Darüber hinaus haben sie noch weitere pharmakodynamische Wirkungen. Eine Übersicht über die Lokalisation der P-, N-, und G-Opiatrezeptoren gibt . Tab. 2.2. Die Wirkstärke der Opioidanalgetika resultiert aus der Rezeptoraffinität und der intrinsischen Aktivität. Die Affinität zum Rezeptor hängt von der Größe und sterischen Konfiguration des Opioidmoleküls ab. Unter der intrinsischen Aktivität versteht man die Fähigkeit einer Substanz, die rezeptorspezifische Wirkung auszulösen. Es werden Agonisten, Antagonisten und Partialagonisten unterschieden. Agonisten haben eine hohe intrinsische Aktivität, Partialantoganisten eine geringe und Antagonisten keine intrinsische Aktivität. Sufentanil ist ein Beispiel für ein wirkstarkes Opioid mit sehr hoher P-Rezeptoraffinität und starker intrinsischer Wirkung. Naloxon dagegen hat zwar auch eine hohe Affinität zum P-Rezeptor, aber keine intrinsische Aktivität. Da es den Rezeptor besetzt hält, ohne eine Wirkung auszulösen, ist es ein Antagonist.
2.3.2 Opioidwirkungen Die Opioidanalgetika unterscheiden sich in erster Linie in ihrer Wirkstärke und ihren pharmakokinetischen Eigen-
2
16
2
Kapitel 2 · Pharmakologisches Wissen – Intravenöse Narkotika
schaften. Die erwünschten und unerwünschten Wirkungen ergeben sich aus der Spezifität für die Rezeptorsubtypen; so sind z. B. alle P-Agonisten in dem Maße, in dem sie analgetisch wirken, auch atemdepressiv wirksam.
Emetische Wirkung. Opioidanalgetika stimulieren über
Analgesie. Die Stimulation der P-Rezeptoren bewirkt eine
eine Erregung der Chemorezeptortriggerzone das Brechzentrum im Hirnstamm.
periphere Schmerzmodulation sowie eine zentrale Analgesie auf spinaler und supraspinaler Ebene. Es kommt zur Hemmung der Schmerzweiterleitung und Modifikation der Schmerzverarbeitung. Die Mechanismen dafür sind eine präsynaptische Aktivierung von Neurotransmittersystemen, eine Beeinflussung der Ionenkanäle (Erleichterung des K+-Einstroms, Hemmung des Ca2+-Ausstroms und damit Hyperpolarisation an der Zellmembran) und auf intrazellulärer Ebene die Beeinflussung von Enzymsystemen (u. a. Adenylatzyklase, Proteinkinase C). Atemdepression. Opioidanalgetika hemmen die CO2Ansprechbarkeit des Atemzentrums im Hirnstamm. Die Atemfrequenz nimmt ab, und das Atemzugvolumen nimmt kompensatorisch etwas zu, jedoch nicht genug, um eine ausreichende CO2-Elimination zu gewährleisten. Es kommt zur Hypoventilation mit Hyperkapnie und Hypoxie, ohne dass der Patient Atemnot verspürt. Solange das Bewusstsein erhalten ist, atmet der Patient auf Aufforderung tief durch (sog. Kommandoatmung). Bei sehr hoher Opioiddosierung, bei besonderer Opioidempfindlichkeit (z. B. bei älteren Patienten oder bei Patienten mit zerebralen oder pulmonalen Vorerkrankungen) oder bei Kombination von Opioiden mit Sedativa kann unter Umständen keine Kommandoatmung mehr ausgelöst werden, und die Atemdepression kann lebensbedrohlich werden, wenn der Patient nicht beatmet wird. Die atemdepressive und die analgetische Wirkung sind bei den Opioidanalgetika untrennbar miteinander verbunden; das therapeutische Fenster ist eng. Opioide wirken antitussiv und hemmen die Ziliarfunktion der Atemwegsschleimhaut. Badykardie, Hypotension. Opioide stimulieren den Ncl.
ambiguus in der Medulla oblongata (Ursprungskern des N. vagus) und bewirken dadurch eine Bradykardie, die mit Atropin antagonisierbar ist. Die Bradykardie ist weniger ausgeprägt, wenn bei intravenöser Gabe das Opioid langsam oder fraktioniert injiziert wird. Opioidanalgetika senken den zentralen Sympathikotonus. Im Falle einer Hypovolämie kann dies zum Blutdruckabfall führen. Im Vergleich zu intravenösen oder inhalativ verabreichten Narkotika sind die hämodynamischen Wirkungen der Opioide aber gering. Deshalb sind sie gerade bei kardio-
vaskulären Risikopatienten ein sehr wichtiger Bestandteil der Narkose.
Miosis. Die Stimulation des Edinger-Westphal-Kerns löst
eine für Opioide typische Pupillenkontraktion aus. Euphorie, Suchtpotenzial. Die durch Opioidanalgetika
ausgelöste Euphorie kann zu Missbrauch, psychischer Abhängigkeit und Sucht führen. Um Missbrauch vorzubeugen unterliegen Opioidanalgetika der Betäubungsmittelverschreibungsverordnung. Bei Schmerzpatienten stellt das Suchtpotential in der Regel kein Problem dar. Gewöhnung, Entzugsproblematik. Eine Toleranz tritt bereits nach nur wenige Tage dauernder kontinuierlicher Opioidgabe auf und ist ein normaler pharmakologischer Vorgang. Sie kommt unter anderem dadurch zustande, dass die Opiatrezeptoren durch permanente Stimulation unempfindlicher werden (so genannte »desensitization« oder auch »down-regulation«). Deshalb werden ganz allmählich immer höhere Dosen erforderlich, um den gleichen Effekt zu erzielen. ! Wenn eine lang dauernde Opioidzufuhr plötzlich beendet wird, hat dies eine Überempfindlichkeit des opioidergen Systems zur Folge. Diese kann sich in massiven sympathotonen und psychischen Reaktionen äußern. Erste Symptome sind Tachykardie, Schwitzen, Blutdruckanstieg und Unruhe. Ein Entzugssyndrom ist im Extremfall lebensbedrohlich. Deshalb muss eine kontinuierliche Opioidzufuhr langsam ausgeschlichen werden.
Weitere Opioidwirkungen. Nach schneller i.v.-Injektion kann es zur – vermutlich extrapyramidal bedingten – Versteifung der Thorax- und Bauchmuskeln kommen, wodurch die Beatmung erschwert wird. Gegebenenfalls muss ein Muskelrelaxanz appliziert werden. Opioide hemmen die Temperaturregulation; bei ungenügender Isolation (Wärmedecke!) fällt die Körpertemperatur ab. Juckreiz ist eine weitere zentral ausgelöste Opioidwirkung. Betroffen ist vor allem die Region um Mund und Nase Der Juckreiz ist häufiger bei rückenmarknaher als bei intravenöser Opioidgabe. Harnretention macht sich oft in der postoperativen Phase bemerkbar. Auslösend ist die opioidbedingte Tonuszunahme der Blasenschließmuskulatur. Opioide hemmen die Darmmotilität. Dadurch kann ein postoperativer Ileus verstärkt werden.
17 2.3 · Opioidanalgetika
rationsende oder aber unmittelbar postoperativ ein länger wirksames Analgetikum appliziert werden.
2.3.3 Indikationen für intravenöse
Opioidanalgetika Narkoseführung
. Abb. 2.3. Kontextsensitive Halbwertszeiten intravenöser Opioidanalgetika. Die Eliminationshalbwertszeit der meisten Opioidanalgetika nimmt unter einer Dauerinfusion zu. Ausnahme: Remifentanil. (N. aus Albrecht S, Hering W, Schüttler J, Schwilden H: Neue intravenöse Anästhetika. Anaesthesist 1996; 45:1129–1141)
Pharmakokinetik starker Opioide nach intravenöser Gabe Die Verteilung von Fentanyl, Alfentanil und Sufentanil nach intravenöser Gabe wird mit Hilfe eines Dreikompartimentmodells beschrieben. Das zentrale Kompartiment wird im hohen Lebensalter kleiner; deshalb sollte bei älteren Menschen die Dosis reduziert werden. Maximale Konzentrationen im Gehirn und die stärkste analgetische Wirkung treten bei Sufentanil und Fentanyl 4 bzw. 5 min nach einem intravenösen Bolus auf, bei Alfentanil und Remifentanil bereits nach einer Minute. Remifentanil und Alfentanil haben einen niedrigeren pKa-Wert als Fentanyl und Sufentanil und liegen deshalb im physiologischen Blut überwiegend in der nicht-ionisierten Form vor, die die Blut-Hirn-Schranke schneller durchdringen kann als die ionisierte Form. Die Metabolisierung von Fentanyl, Alfentanil und Sufentanil erfolgt überwiegend in der Leber. Die Metaboliten werden renal eliminiert. Einschränkungen der Leberfunktion oder Reduktion des hepatischen Blutflusses verlängern die Wirkung. Nach kontinuierlicher intravenöser Gabe nimmt die Eliminationshalbwertszeit zu (so genannte kontextsensitive Halbwertszeit, vgl. . Abb. 2.3). ! Remifentanil ist das einzige klinisch gebräuchliche Opioidanalgetikum, das durch unspezifische Esterasen im Gewebe und im Plasma hydrolisiert wird. Seine Wirkdauer beschränkt sich auf wenige Minuten.
Die kontextsensitive Halbwertszeit von Remifentanil ist extrem kurz: selbst nach einer mehrstündigen Dauerinfusion setzt bereits wenige Minuten nach Infusionsende die Spontanatmung wieder ein. Die analgetische Wirkung lässt genauso schnell nach; deshalb muss bereits bei Ope-
In der Regel wird schon bei der Narkoseeinleitung das Hypnotikum mit einem Opioid kombiniert, um einerseits die Dosis des Hypnotikums reduzieren zu können (Blutdruckabfall vermeiden), und andererseits eine ausreichende Narkosetiefe bei der Intubation zu erreichen (Blutdruckanstieg und Tachykardie vermeiden). Bei der Aufrechterhaltung der Narkose wird das Opioid entweder intermittierend als Bolus injiziert oder kontinuierlich über eine Spritzenpumpe infundiert (Dosierung . Tab. 2.3). Bei intermittierenden Bolusgaben sollten die Abstände zwischen den Injektionen von Sufentanil und Fentanyl ca. 30 min, bei Alfentanil ca. 15 min. betragen. Bei repetitiven Bolusgaben und bei der Dauerinfusion muss die Kumulationsneigung berücksichtigt werden (vgl. . Abb. 2.3). Postoperative Schmerztherapie
Hier wird bevorzugt Piritramid wegen seiner guten Wirksamkeit und langen Wirkdauer (4–8 h) eingesetzt. Der häufigste Applikationsmodus im Aufwachraum ist die intravenöse Dosistitration in Schritten von 2–3 mg bis zur deutlichen Schmerzlinderung. Eine Alternative, die auch auf der Normalstation gut anwendbar ist, ist die i.v.-Injektion über eine PCA-Pumpe (PCA: patient controlled analgesia), bei der der Patient sich über eine programmierbare Spritzenpumpe so oft kleine Boli appliziert, bis er das für ihn akzeptable Analgesieniveau erreicht hat. Die Bolusgröße, das Dosierungsintervall und die Maximaldosis innerhalb einer bestimmten Zeit (z. B. 4 h) werden vom Arzt festgelegt. Das PCA-Prinzip hat den Vorteil, dass es dem interindividuell sehr unterschiedlichen Opioidbedarf eher gerecht wird als eine schematische Dosisverordnung. Pethidin wird ebenfalls zur postoperativen Analgesie eingesetzt. Es hat allerdings den Nachteil, dass es Histamin freisetzt und seine Wirkdauer von 2–4 h kürzer ist als die von Piritramid. Ein Vorteil von Pethidin ist seine Wirksamkeit gegen postoperatives Shivering. Weitere Indikationen für intravenöse Opioidanalgetika sind die Analgosedierung auf der Intensivstation und in der Notfallmedizin. Bei schweren Verletzungen kann z. B. Fentanyl in Schritten von 0,1–0,2 mg intravenös titriert werden. Voraussetzung ist, dass der Patient bereits intubiert und beatmet ist oder jederzeit intubiert und beatmet
2
18
Kapitel 2 · Pharmakologisches Wissen – Intravenöse Narkotika
. Tabelle 2.3. Pharmakokinetische Daten und Dosierungsbereiche der Opioidanalgetika
2
Opioid
pKa
% nicht ionisiert bei pH 7,4
Morphin
7,9
23
Fentanyl
8,4
< 10
Sufentanil
8,0
Alfentanil Remifentanil
VK Oktanol/ Wasser
Plasmaproteinbindung [%]
Vdss [l/kg]
Clearance [ml/min/ kg]
t½β [h]
Bolusdosis [μg/kg KG]
Erhaltungsdosis [μg/kg KG /min]
25
3–5
15–20
2
–
–
813
84
3–5
10–20
2–4
1,5–15
0,01–0,1
20
1778
93
2,5–3,0
10–15
2–3
0,15–2
0,002–0,02
6,5
90
129
92
0,4–1,0
4–9
1–2
10–150
7,1
67
18
70
0,3–0,4
40–60
0,1–0,6
1,4
werden kann. Zur Schmerzbehandlung beim akuten Myokardinfarkt wird Morphin (Vorlast- und Nachlastsenkung stärker ausgeprägt als bei anderen Opioidanalgetika) vorsichtig in 2-mg-Schritten titriert.
2.3.4 Kontraindikationen für intravenöse
Opioidanalgetika Eine Kontraindikation für intravenöse Opioidanalgetika ist die extrem seltene Opioidallergie, die sich in Hautquaddeln, Bronchospasmus, Angstgefühl, Erbrechen und Juckreiz äußert. Stark wirksame Opioidanalgetika sollten nur dann intravenös gegeben werden, wenn die Möglichkeit zur Beatmung besteht.
2.4
Opiatantagonisten
Opiatantagonisten besetzen Opiatrezeptoren, ohne rezeptorspezifische Wirkungen auszulösen. Die Rezeptorbesetzung mit Opioiden und Opiatantagonisten ist kompetitiv. Der wichtigste klinisch gebräuchliche Opiatantagonist ist Naloxon (Narcanti). Naloxon besetzt P-, N-, und G-Rezeptoren. Naloxon ist indiziert bei opioidbedingter Atemdepression. Die Substanz muss vorsichtig titrierend dosiert werden (z. B. in 40-PgSchritten, Gesamtdosis bei Erwachsenen in der Regel 1–4 Pg/ kg). Wenn Naloxon überdosiert wird, kann eine bedrohliche Entzugssymptomatik ausgelöst werden. Naloxon hat eine kürzere Halbwertszeit (ca. 1 h) als die meisten stark wirksamen Opioidanalgetika (Ausnahme: Remifentanil). Deshalb muss ein Patient, der wegen einer opioidbedingten Atemdepression mit Naloxon behandelt wurde, mehrere Stunden überwacht werden, damit eine eventuell erneut auftretende Atemdepression rechtzeitig erkannt und behandelt werden kann.
1–2
0,25–3 0,025–0,4
Literatur Albrecht S, Hering W, Schüttler J, Schwilden H (1996) Neue intravenöse Anästhetika. Anaesthesist 45: 1129–1141 Freye E (2004) Opioide in der Medizin. Wirkung und Einsatzgebiete zentraler Analgetika. 6. Aufl. Springer, Heidelberg Miller RD (Hrsg) (2004) Anesthesia. 6th edn. Churchill Livingstone, New York Rossaint R, Werner C, Zwißler B (2004) Die Anästhesiologie. SpringerVerlag Berlin Heidelberg Waldvogel HH (2001) Analgetika, Antinozizeptiva, Adjuvanzien. Handbuch für die Schmerzpraxis, 2. Aufl. Springer, Heidelberg White PF (Hrsg) (1997) Textbook of Intravenous anesthesia. Wiiliams & Wilkins, Baltimore
3 Pharmakologisches Wissen – Inhalationsanästhetika Karsten Michael 3.1
Physikalisch-chemische Eigenschaften –20
3.2
Pharmakologische Grundlagen –20
3.3
Aufnahme der Inhalationsanästhetika –21
3.3.1 3.3.2 3.3.3 3.3.4 3.3.5
Alveoläre Konzentration –21 Diffusionsparameter –22 Blutlöslichkeit –22 Herzzeitvolumen –22 Alveolo-pulmonalvenöser Partialdruckgradient –22
3.4
Verteilung der Inhalationsanästhetika –23
3.4.1 Gewebelöslichkeit –23 3.4.2 Durchblutung der Organe und Gewebe –23 3.4.3 Partialdruckdifferenz zwischen Blut und Gewebe –23
3.5
Elimination der Inhalationsanästhetika –23
3.6
Metabolismus der Inhalationsanästhetika –24
3.7
Wirkungsstärke von Inhalationsanästhetika (MAC-Wert) –24
3.8
Wirkungen auf den Organismus –25
3.8.1 3.8.2 3.8.3 3.8.4 3.8.5 3.8.6 3.8.7
Zentrales Nervensystem –25 Herz-Kreislauf-System –25 Respiratorisches System –25 Niere –25 Leber –25 Wechselwirkungen mit dem CO2-Absorber –26 Kohlenmonoxidbildungim CO2-Absorber –26
3.9
Unterschiedliche Inhalationsanästhetika –26
3.9.1 3.9.2 3.9.3 3.9.4 3.9.5 3.9.6
Halothan –26 Isofluran –26 Enfluran –27 Sevofluran –27 Desfluran –27 Lachgas (Stickoxydul, Distickstoffoxid) –27
3.10 Welche Eigenschaften hat das ideale Inhalationsanästhetikum? –28 Literatur –28
20
Kapitel 3 · Pharmakologisches Wissen – Inhalationsanästhetikatika
)) Im klinischen Alltag ist die Verwendung von Narkosegasen eine häufig genutzte Anästhesieform zur Durchführung einer Narkose. Bei der Anwendung von Narkosegasen müssen einige physikalische Eigenschaften und Regeln bekannt sein, die Einfluss auf das Verhalten des Narkosegases im Organismus haben. Zu beachten sind die Aufnahme, die Verteilung sowie die Elimination der Narkosegase im Körper.
3
Sevofluran ist ein fluorierter Isopropylether und mit Fluor halogeniert. Isofluran und Enfluran sind chlorierte und fluorierte Methylethylether. Desfluran ist ein ausschließlich mit Fluor halogenierter Methylethylether. Halothan wird im klinischen Alltag nur noch selten verwendet, Enfluran ist in Deutschland nicht mehr erhältlich. Die physikalisch-chemischen Eigenschaften der genannten Inhalationsanästhetika sind in . Tab. 3.1 zusammengestellt.
3.2
Physikalisch-chemische Eigenschaften
3.1
Inhalationsanästhetika liegen bei Raumtemperatur entweder als Gas oder als Flüssigkeit vor. Gasförmige Inhalationsanästhetika können über geeignete maschinelle Einrichtungen direkt zum Patienten geleitet werden. Flüssige Inhalationsanästhetika müssen zuerst mit Hilfe eines Verdampfers vom flüssigen in den dampfförmigen (volatilen) Zustand überführt werden. In welchem Zustand sich ein Inhalationsanästhetikum bei Raumtemperatur befindet, hängt von seinem Siedepunkt ab. Bei Raumtemperatur flüssige Inhalationsanästhetika 5 5 5 5 5
Sevofluran Desfluran Isofluran Enfluran Halothan
Bei Raumtemperatur gasförmiges Inhalationsanästhetikum 5 Lachgas
Pharmakologische Grundlagen
Durch die Verwendung von Inhalationsanästhetika lässt sich eine reversible Bewusstlosigkeit erzeugen. Bis heute ist der genaue Wirkmechanismus nicht vollständig bekannt. Wahrscheinlich werden durch die Inhalationsanästhetika spezifische Membranproteine beeinflusst. Man vermutet eine direkte Bindung der Anästhetika an die Membranproteine sowie eine indirekte Wirkung auf umliegende Lipide und Ionenkanäle. Ebenso gibt es Hinweise auf eine Interaktion mit lipophilen Membranbestandteilen der Lipidmembranen und eine Beeinflussung der Membranpermeabilität über eine unspezifische Membranlipidwirkung. Weiterhin wirken Inhalationsanästhetika auf die axonale Nervenleitung und die synaptische Weiterleitung von Aktionspotenzialen. Man vermutet eine Beeinflussung der präsynaptischen Neurotransmitterfreisetzung sowie der Wiederaufnahme der Transmitterstoffe. Es werden sowohl die postsynaptische Rezeptorbindung der Transmitter als auch die Rezeptoraktivierung beeinflusst. Am GABA-Rezeptor wird eine inhibierende Wirkung der J-Amino-Buttersäure verstärkt. Hier vermutet man einen der zentralen Angriffspunkte der Inhalationsanästhetika. ! Meyer-Overton-Regel: Die Potenz eines Inhalationsanästhetikums ist proportional zu seiner Lipophilie.
. Tabelle 3.1. Physikalisch-chemische Eigenschaften gängiger Inhalationsanästhetika Desfluran
Sevofluran
Isofluran
Enfluran
Halothan
Lachgas
Chemische Formel
C3H2OF6
C4H3OF7
C3H2OCIF5
C3H2OCIF5
CF3CHCIBr
N2O
Siedepunkt (°C)
22,8
58,5
48,5
56,5
50,2
– 88,5
Dampfdruck (kPa/mmHg)
88,5/669
21,3/160
31,9/240
22,9/175
243
39000
Geruch
Unangenehm
Angenehm
Unangenehm
Unangenehm
Angenehm
Inert
Atemwegsirritation
Ja
Nein
Ja
Ja
Nein
Nein
3
21 3.3 · Aufnahme der Inhalationsanästhetika
. Tabelle 3.2. Blut-Gas-Verteilungskoeffizienten gängiger Inhalationsanästhetika
Blut-Gas-VK
Desfluran
Lachgas
Sevofluran
Isofluran
Enfluran
Halothan
0,42
0,47
0,7
1,43
1,8
2,3
Aufnahme der Inhalationsanästhetika
3.3
Zur Aufnahme eines Inhalationsanästhetikums muss dieses im gasförmigen Aggregatzustand vorliegen. Flüssige Substanzen müssen zunächst in einem Verdampfer in den dampfförmigen (volatilen) Zustand überführt werden. Analog dem Wasser verdampfen sie nicht erst an ihrem Siedepunkt, sondern anteilig auch schon bei Raumtemperatur. Jedes Inhalationsanästhetikum besitzt einen spezifischen Dampfdruck, der für die Aufnahme des Gases in den Organismus von großer Bedeutung ist. Je höher die Temperatur ist, desto höher ist der Dampfdruck. ! Dalton-Gesetz: Die Summe aller Partialdrücke eines Gasgemisches ergeben den Gesamtdruck. Ferguson-Regel: Der Dampfdruck ist umgekehrt proportional zur biologischen Wirksamkeit.
Dieser Dampfdruck ist von der Temperatur abhängig und ist proportional zur Dichte des Inhalationsanästhetikums sowie der Umgebungstemperatur. Je höher der Dampfdruck, desto schneller kann ein Konzentrationsausgleich zwischen Blut und Alveolarluft erreicht werden. Ziel ist das Erreichen eines steady state zwischen flüssiger und gasförmiger Phase. Wichtig für den vorliegenden Aggregatzustand des Inhalationsanästhetikums sind das Volumen, der Druck sowie die Temperatur. Die Aufnahme des Inhalationsanästhetikums in den Organismus hängt von verschiedenen Parametern ab. Aufnahme von Inhalationsanästhetika – Einflussfaktoren 5 5 5 5 5
Alveoläre Konzentration Diffusionsparameter Blutlöslichkeit Herzzeitvolumen Alveolo-pulmonalvenöser Partialdruckgradient
Wichtig für die Aufnahme und Verteilung eines volatilen Anästhetikums ist der Blut-Gas-Verteilungskoeffizient. Besitzt ein Gas einen hohen Blut-Gas-Verteilungskoeffizienten, kann viel Gas im Blut gelöst werden und das Erreichen eines Gleichgewichtes zwischen zerebralem und alveolärem Partialdruck dauert länger. ! Blut-Gas-Verteilungskoeffizient: Mit zunehmender Blutlöslichkeit eines volatilen Anästhetikums wird die Narkoseeinleitung verlangsamt.
Sevofluran hat beispielsweise einen vergleichsweise niedrigen Blut-Gas-Verteilungskoeffizienten und flutet daher schneller an als Halothan mit einem relativ hohen BlutGas-Verteilungskoeffizienten (. Tab. 3.2).
3.3.1 Alveoläre Konzentration Die alveoläre Konzentration wird durch die inspiratorische Konzentration und die alveoläre Ventilation beeinflusst und stellt eine entscheidende Größe für die Geschwindigkeit der Narkoseeinleitung sowie für die Narkosetiefe dar. Der alveoläre Partialdruck bestimmt die Partialdrücke im Blut sowie im Gewebe. Er ist abhängig vom Partialdruck des Inhalationsanästhetikums in der Inspirationsluft. Durch die Aufnahme des Gases oder Dampfs in das Blut und die darauf folgende Verteilung in den Geweben wird die alveoläre Konzentration vermindert. Wird in der Inspirationsluft durch einen Verdampfer eine konstante Konzentration eines Inhalationsanästhetikums aufrechterhalten, stellt sich ein Gleichgewicht zwischen alveolärer Ventilation und Aufnahme des Gases ins Blut ein. ! Durch Veränderung der Ventilation sowie der inspiratorischen Konzentration kann die alveoläre Konzentration eines Inhalationsanästhetikums schnell variiert werden. Durch die Veränderung der inspiratorischen Konzentration sowie der Beatmungsparameter nimmt der Anästhesist direkten Einfluss auf die alveoläre Konzentration einer Substanz.
Second-gas-Effekt. Wird ein volatiles Anästhetikum mit Lachgas kombiniert, steigt die alveoläre Konzentration
22
3
Kapitel 3 · Pharmakologisches Wissen – Inhalationsanästhetikatika
(des Anästhetikums) rascher an als ohne Lachgas. Die initial rasche Diffusion des Lachgases führt zu einem Volumenverlust in den Alveolen mit Anstieg der Anästhetikumkonzentration im verbleibenden Volumen. Durch kompensatorisch nachströmendes Gas wird die alveoläre Anästhetikumkonzentration erhöht. Klinisch wird dadurch eine schnellere Narkoseinduktion erreicht. Konzentrationseffekt. Bei starker Erhöhung einer inspirato-
rischen Gaskonzentration erfolgt ein rascher (überproportionaler) Anstieg der alveolären Konzentration und somit eine schnelle Diffusion ins Blut. Dies führt zum schnelleren Nachströmen von »neuem« Inhalationsanästhetikum. Bei hoher Konzentration eines Anästhetikums bestimmt vor allem die Ventilation die alveoläre Konzentration, und nur in geringem Maße dessen Löslichkeit.
3.3.2 Diffusionsparameter Diffusion bezeichnet hier den Übertritt von Narkosegasen aus der alveolaren Luft ins Kapillarblut über die alveolokapillare Membran. Pro Zeiteinheit wird eine definierte Menge Narkosegas über diese Membran ausgetauscht. Die größtmögliche Menge bezeichnet man als Diffusionskapazität und wird durch die Dichte und das Molekulargewicht des Narkosegases beeinflusst (Grahamsches Gesetz). Weiterhin wird die Diffusion von Narkosegasen in das Blut durch die Diffusionsstrecke und die Alveolarmembranoberfläche bestimmt. Diffusionstrecke: Alveolarzelle – Basalmembran – Endothelzelle: 0,2–0,6 Pm. Die Diffusionsstrecke (s) beeinflusst die Diffusionskapazität mit dem Reziproken des Quadrats der Strecke (1/s2). Dies bedeutet, dass sich bei einer Verdopplung der Diffusionsstrecke (z. B. beim Lungenödem) die Diffusionsrate um den Faktor 4 verringert. Alveolaroberfläche: Die Alveolaroberfläche beträgt beim
Erwachsenen 80–100 m2. Bei einer Verminderung der Alveolaroberfläche (z. B. Atelektasen) vermindert sich die Diffusionsrate. ! Diffusionsstörungen der Lunge beeinträchtigen die Aufnahme volatiler Anästhetika und verzögern die Narkoseeinleitung.
tem im Blut lösen. Dies geschieht so lange, bis zwischen Alveolarraum und Blut ein Partialdruckausgleich erreicht ist. Der Blut-Gas-Verteilungskoeffizient beschreibt das Verhältnis der Konzentrationen des Anästhetikums in der Gasphase und im Blut. Beim Erreichen eines Gleichgewichts sind die Partialdrucke gleich, die Konzentrationen aber unterschiedlich. Die Lösung des Anästhetikums im Blut unterliegt dem Henryschen Gesetz. Dabei ist die gelöste Menge eines Gases (Anästhetikums) seinem Partialdruck über dem Flüssigkeitsspiegel proportional. Die Blutlöslichkeit ist ebenfalls von der Bluttemperatur abhängig. Eine hohe Löslichkeit (bzw. ein hoher Blut-Gas-Verteilungskoeffizient) geht mit einer erhöhten Aufnahme der verwendeten Substanz im Blut einher. Das Verhältnis zwischen alveolärer und inspiratorischer Konzentration ist dabei jedoch erniedrigt. ! Der Partialdruck steigt bei schlecht löslichen Inhalationsanästhetika (Sevofluran, Desfluran) schnell an, da nur wenig Substanz im Blut gelöst werden kann. Hier ist eine schnelle Narkoseeinleitung zu erwarten. Bei gut löslichen Inhalationsanästhetika (Halothan, Enfluran, Isofluran) steigt der Partialdruck langsam an. Hier ist eine langsamere Narkoseeinleitung zu erwarten.
3.3.4 Herzzeitvolumen Das Herzzeitvolumen ist das Produkt aus Herzfrequenz und Schlagvolumen (HZV = HF u SV). Der Normalwert bei Erwachsenen in Ruhe beträgt 4–8 l/min (7 Kap. 8). Ein Anstieg des HZV führt zu einem schnelleren Abtransport des eingesetzten Inhalationsanästhetikums mit dem Blut aus dem Alveolarraum. Es wird eine größere Menge in das Blut aufgenommen. Hierdurch fällt die alveoläre Konzentration ab und der Partialdruck im Blut wird verringert. Dieser Effekt ist umso ausgeprägter, je höher die Blutlöslichkeit des Inhalationsanästhetikums ist. Insgesamt ist der Effekt des HZV aber im klinischen Alltag bei Verwendung moderner Inhalationsanästhetika gering ausgeprägt. ! Ein hohes Herzzeitvolumen führt zu einer verzögerten Narkoseeinleitung und umgekehrt.
3.3.5 Alveolo-pulmonalvenöser
Par tialdruckgradient 3.3.3 Blutlöslichkeit Wenn ein Narkosegas über die alveolokapillare Membran diffundiert ist, muss es sich im pulmokapillären Gefäßsys-
Durch Aufnahme eines Inhalationsanästhetikums in die Gewebe entsteht zwischen Alveolen und pulmonalvenösem Blut eine Partialdruckdifferenz.
23 3.5 · Elimination der Inhalationsanästhetika
! Je größer die Partialdruckdifferenz eines Inhalationsanästhetikums zwischen Alveolen und pulmonalvenösem Blut ist, desto größer ist die ins Blut aufgenommene Menge: Die alveolo-pulmonalvenöse Partialdruckdifferenz ist für die pro Zeiteinheit transportierte Menge an Narkosegas ausschlaggebend.
3.4
. Tabelle 3.3. Äquilibriumzeit für Sevofluran in unterschiedlichen Geweben
Ver teilung der Inhalationsanästhetika
Nach der Aufnahme des Inhalationsanästhetikums ins Blut muss nun die Verteilung der Wirkstoffe im Organismus erfolgen. Diese ist von folgenden Parametern abhängig: 4 Gewebelöslichkeit 4 Durchblutung der Organe und Gewebe 4 Partialdruckdifferenz zwischen Blut und Gewebe Inhalationsanästhetika verteilen sich in drei virtuelle Körperkompartimente. Das erste Kompartiment besteht aus Gehirn, Leber und Niere. Das zweite Kompartiment ist die Muskulatur und das dritte Kompartiment wird durch das Fettgewebe gebildet. Aufnahme, Verteilung sowie Rückverteilung sind durch die jeweils unterschiedliche Durchblutung in diesen drei Gewebekompartimenten unterschiedlich, was das Verhalten der Inhalationsanästhetika beeinflusst.
3.4.1 Gewebelöslichkeit Die Gewebelöslichkeit wird durch einen Gewebe-BlutVerteilungskoeffizienten definiert. Dieser ist gewebespezifisch. Für fettfreie Gewebe beträgt sein Wert 1. Hier ist die Löslichkeit eines Inhalationsanästhetikums in Blut und Gewebe annähernd gleich. Je fettreicher ein Gewebe ist, desto mehr Narkosegase können gelöst werden. Hier ist der Gewebe-Blut-Verteilungskoeffizient 30–60fach höher als in fettfreiem Gewebe. Zur Aufrechterhaltung einer Narkose sind daher größere Mengen eines Inhalationsanästhetikums notwendig. Nach einer langen Narkosedauer ist bei der Ausleitung mit einer verlängerten Aufwachphase zu rechnen, da das im Fettgewebe angesammelte Narkosegas erst langsam wieder rückverteilt wird. Klinisch sichtbar ist dies an lange anhaltenden unterschiedlichen Inspirations- und Exspirationsgaskonzentrationen im Atemgas bei veränderten Einstellungen der Narkosegaskonzentration. ! Bei der Durchführung einer Inhalationsanästhesie bei adipösen Patienten ist mit einer hohen Dosis des Inhalationsanästhetikums zur Einleitung der Narkose sowie mit einer verlängerten Ausleitungszeit zu rechnen.
Gewebe
Äquilibriumzeit (min)
Gehirn, Leber, Niere
5–8
Muskulatur
80–160
Haut
1100–2200
3.4.2 Durchblutung der Organe
und Gewebe Je besser ein Gewebe durchblutet ist, desto schneller flutet ein Inhalationsanästhetikum in diesem Bereich an. Somit steigen dort der Partialdruck und die Konzentration rasch an. Gehirn, Leber und Niere sind gut durchblutete Organe. Sie beanspruchen etwa 75 % des Herzzeitvolumens. Hier stellt sich nach etwa 5–15 min ein Gleichgewicht der Partialdrücke ein. An nächster Stelle steht die Muskulatur. Sie beansprucht ca. 18 % des HZV, hier dauert die Aufsättigung ca. 90 min. Das Fettgewebe ist am schlechtesten durchblutet. Der Anteil am HZV beträgt hier nur 5 %. Die vollständige Aufsättigung beträgt hier mehrere Stunden und ist im Rahmen üblicher Narkosezeiten nur selten zu erreichen (. Tab. 3.3).
3.4.3 Par tialdruckdifferenz zwischen
Blut und Gewebe Das zwischen Blut und Gewebe herrschende Partialdruckgefälle ist verantwortlich für die Menge und die Geschwindigkeit des in das Gewebe diffundierenden Inhalationsanästhetikums. Je höher die Partialdruckdifferenz zwischen Blut und Gewebe ist, desto schneller diffundiert das Inhalationsanästhetikum in das Gewebe. Daher kommt es zu Beginn einer Narkose zu einer raschen Aufnahme, die sich im Narkoseverlauf bis zum Erreichen eines steady states einpendelt.
3.5
Elimination der Inhalationsanästhetika
Ein Großteil der Inhalationsanästhetika wird unverändert pulmonal eliminiert und über die Atmung aus dem Organismus entfernt. Die Elimination ist von den identischen Parametern abhängig wie die Aufnahme in den Organismus:
3
24
4 4 4 4 4
3
Kapitel 3 · Pharmakologisches Wissen – Inhalationsanästhetikatika
Alveoläre Ventilation Herzzeitvolumen Blutlöslichkeit Narkosedauer Gewebelöslichkeit
Halothan. Halothan wird zu etwa 20 % metabolisiert. Der
Hauptmetabolit ist Trifluoressigsäure. Etwa 80 % werden unverändert über die Lunge abgeatmet. Lachgas. Die Elimination erfolgt ausschließlich über die
Lunge, Lachgas wird nicht metabolisiert. Am Ende einer Narkose wird die Zufuhr des Inhalationsanästhetikums reduziert bzw. gestoppt. In nun umgekehrter Richtung entsteht ein neues Partialdruckgefälle zwischen der Blutkonzentration im Gefäßsystem und dem Alveolarraum. Die alveoläre Ventilation sowie das HZV haben einen wesentlichen Anteil am Abtransport der Narkosegase. Eine Hypoventilation oder ein verringertes HZV verursachen daher eine Verzögerung der Narkosegaselimination aus dem Organismus. Weiterhin wird die Elimination der Narkosegase durch deren Blut- und Gewebelöslichkeit sowie die Narkosedauer beeinflusst. Je länger eine Narkose gedauert hat und je mehr schlecht durchblutetes Gewebe (Fettgewebe) vorhanden ist, desto länger dauert die Narkoseausleitung.
3.6
Metabolismus der Inhalationsanästhetika
Halogenierte Inhalationsanästhetika werden nahezu unverändert wieder abgeatmet. Ein geringer Anteil wird jedoch im Organismus metabolisiert. Dieser ist jedoch je nach verwendetem Inhalationsanästhetikum unterschiedlich. Sevofluran. Metabolite können im Urin nachgewiesen wer-
den. Die Biotransformationsrate beträgt 3–5 %. Sevofluran wird hepatisch über Zytochrom P 450 anteilig zu Hexafluoroisopropanol, zu anorganischem Fluorid und zu CO2 metabolisiert. Das Hexafluoroisopropanol wird glukuronidiert und im Urin ausgeschieden. Isofluran. Isofluran wird durch Oxidation zu Trifluoressig-
säure, Kohlendioxid, Fluorid und Chlorid abgebaut. Die Biotransformationsrate beträgt nur 0,2 %. Desfluran. Bei der Verstoffwechselung von Desfluran ent-
stehen ebenfalls Fluorid, Kohlendioxid und Trifluoressigsäure. Die Konzentrationen sind hier im Vergleich zum Isofluranabbau stark vermindert. Enfluran. Enfluran wird zu etwa 5 % hepatisch metaboli-
siert. Durch oxidative Dehalogenierung entstehen Fluorid, Chlorid und Difluormethoxydifluoressigsäure. Diese kann im Urin nachgewiesen werden.
Wirkungsstärke von Inhalationsanästhetika (MAC-Wert)
3.7
Um die Narkosetiefe für ein verwendetes Inhalationsanästhetikum messen zu können, müsste man die Konzentration und den Partialdruck des verwendeten Anästhetikums im Gehirn messen können, was nicht möglich ist. Um trotzdem ein indirektes Maß für die Wirkung eines Inhalationsanästhetikums zu haben, verwendet man den so genannten MAC-Wert (minimale alveoläre Konzentration): Zum Erreichen einer definierten Narkosetiefe (z. B. Toleranz einer Hautinzision) wird eine bestimmte minimale Konzentration eines Narkotikums in der Alveolarluft benötigt. Diese Konzentration wird als minimale alveoläre Konzentration bezeichnet. ! MAC-Wert: Die Konzentration (Vol%) des Inhalationsanästhetikums in der Alveolarluft, bei der 50 % der Patienten auf eine Hautinzision nicht mehr mit Abwehrbewegungen reagieren.
Der MAC-Wert ist für jedes Inhalationsanästhetika unterschiedlich (. Tab. 3.4) und zusätzlich von verschiedenen Faktoren (z.B. Patientenalter) abhängig. Faktoren, die den MAC-Wert verringern können: 5 5 5 5 5 5 5 5
Hohes Alter Schwangerschaft Verwendung zentral wirksamer Medikamente Hypoxie Hypothermie Hypotension Hyponatriämie Anämie
Faktoren, die den MAC-Wert erhöhen können: 5 5 5 5
Säuglings- bzw. Kleinkindalter Fieber Alkohohlabusus Hypernatriämie
3
25 3.8 · Wirkungen auf den Organismus
. Tabelle 3.4. Durchschnittliche MAC-Werte gängiger Inhalationsanästhetika für Erwachsene in O2
MAC-Wert (Vol%)
Halothan
Isofluran
Enfluran
Sevofluran
Desfluran
Lachgas
0,7–0,8
1,15
1,7
2,05
6–7
104
! Je niedriger der MAC-Wert eines Inhalationsanästhetikums, desto größer die Wirkungsstärke.
3.8
Wirkungen auf den Organismus
3.8.1 Zentrales Ner vensystem Bewusstsein In bestimmen Konzentrationen können halogenierte Inhalationsanästhetika EEG-Veränderungen hervorrufen. Bei der Anwendung hoher Konzentrationen von Enfluran wurden Krampfpotenziale beobachtet. ! Bei Patienten mit bekannter Epilepsie sollte deshalb auf Enfluran verzichtet werden.
Stoffwechsel Inhalationsanästhetika können die Stoffwechselabläufe des ZNS reduzieren. Hiermit kann der zerebrale Sauerstoffverbrauch gesenkt werden. Bei der Verwendung von Enfluran kann die Autoregulation des zerebralen Blutflusses aufgehoben werden.
Durchblutung Viele Inhalationsanästhetika bewirken eine zerebrale Vasodilatation, obwohl der Sauerstoffverbrauch des Gehirns gesenkt wird. Das Blutvolumen im ZNS-Bereich nimmt zu. Durch die zerebrale Vasodilatation kann es zu einem Anstieg des intrakraniellen Druckes kommen. ! Bei bekanntem erhöhtem Hirndruck sollten Inhalationsanästhetika nur in geringer Konzentration und ggf. unter Monitoring des Hirndrucks verwendet werden.
Myokardiale Effekte und arterieller Blutdruck Durch Hemmung des Kalziumeinstroms durch die Zellmembran sowie durch eine Hemmung der Funktion des sarkoplasmatischen Retikulums wird die Myokardkontraktiliät reversibel vermindert. Bei Enfluran ist diese negative Inotropie stark ausgeprägt. Weiterhin kommt es neben den negativ inotropen Effekten zu einer peripheren Vasodilatation mit resultierendem reversiblen Absinken des arteriellen Blutdrucks. Durch die Reduktion der Inotropie sowie des peripheren Widerstands vermindert sich auch der myokardiale Sauerstoffverbrauch. Den volatilen Anästhetika (untersucht vor allem bei Sevofluran) werden bei Einsatz vor einer kardialen Ischämie myokardprotektive Effekte zugeschrieben.
3.8.3 Respiratorisches System Inhalationsanästhetika können das Atemzugvolumen vermindern und die Atemfrequenz erhöhen. Weiterhin lässt sich bei Patienten mit obstruktiven Lungenerkrankungen ein erhöhter Atemwegwiderstand vermindern. Dies kann auch bei einem Bronchospasmus hilfreich sein. Beim Anfluten z. B. während einer Narkoseeinleitung über Maske können Isofluran und Desfluran durch ihren stechenden Geruch eine Reizung der Atemwege auslösen.
3.8.4 Niere Die Anwendung von Fluoriden in hohen Dosen kann nephrotoxisch wirken. Bei der ordnungsgemäßen Anwendung von Sevofluran fanden sich bei Gesunden sowie bei Patienten mit Niereninsuffizienz keine Hinweise auf eine Beeinflussung der Nierenfunktion.
3.8.5 Leber 3.8.2 Herz-Kreislauf-System Herzfrequenz Isofluran und Desfluran können zu einer Steigerung der Herzfrequenz führen. Bei Enfluran sowie bei Sevofluran ist dieser Effekt nur gering ausgeprägt.
Die Anwendung halogenierter Inhalationsanästhetika kann die Durchblutung im Splanchnikusgebiet reduzieren und somit den hepatischen Blutfluss herabsetzen. Fällt beim Abbau von Inhalationsanästhetika das Produkt Trifluoressigsäure an (z. B. bei Halothan, Isofluran und Des-
26
3
Kapitel 3 · Pharmakologisches Wissen – Inhalationsanästhetikatika
fluran) sind Leberschädigungen möglich. Beim Abbau von Sevofluran entsteht dieses Stoffwechselprodukt nicht. Zum heutigen Zeitpunkt ist die Anwendung von Sevofluran diesbezüglich unbedenklich. Halothan kann schwere, teilweise letal verlaufende Lebernekrosen hervorrufen (Halothanhepatitis).
3.8.6 Wechselwirkungen mit dem
CO2-Absorber Bei Inhalationsnarkosen wird bei Rückatmungssystemen zur Entfernung von Kohlendioxid ein so genannter Atemkalk (in Deutschland üblicherweise eine Mischung von Kalziumhydroxid und Natriumhydroxid) verwendet. Bei Verwendung eines Narkosegeräts mit Kreisteil wird das Narkosegas zur CO2-Elimination über diesen Atemkalk geleitet. Da Sevofluran im Gegensatz zu z. B. Desfluran im Atemkalk nicht stabil ist, entsteht durch eine Abspaltung von Fluorwasserstoffen ein Haloalken, das als Compound A bezeichnet wird. Dieses gilt als nephrotoxisch. ! Sevofluran bildet bei Kontakt mit dem Atemkalk von Rückatmungssystemen das nephrotoxische Compound A.
Im klinischen Alltag werden bei Low-flow-Bedingungen ebenso wie unter Minimal-flow-Bedingungen Konzentrationen des Compound A erreicht, die unterhalb des Schwellenwertes zur Nephrotoxizität im Tierversuch liegen.
3.9
Unterschiedliche Inhalationsanästhetika
3.9.1 Halothan Halothan ist ein fluorierter halogenierter Kohlenwasserstoff. Es zeichnet sich durch eine gute narkotische und eine schlechte analgetische Wirkung aus. Es ist in Deutschland vom Markt genommen. Halothan im Überblick 5 Blut-Gas-Verteilungskoeffizient: 2,3 5 MAC-Wert: 0,7–0,8 Vol% 5 Metabolisierungsrate ca. 20 % Nebenwirkungen 5 Katecholaminsensibilisierung des Myokards 5 Atemdepression 5 Uterusrelaxation 5 Steigerung des intrakraniellen Drucks 5 Schwere Lebernekrosen in seltenen Fällen (1:20000) Kontraindikationen 5 Erhöhter Hirndruck 5 Maligne Hyperthermie 5 Schwere Lebererkrankungen 5 Wiederholungsnarkosen im Abstand von weniger als 6 Wochen
! Je niedriger der Frischgasflow, desto mehr Compound A entsteht im Absorber.
3.9.2 Isofluran 3.8.7 Kohlenmonoxidbildung
im CO2-Absorber Bei der Verwendung von Inhalationsanästhetika kommt es in Abhängigkeit vom verwendeten Narkosegas sowie der Temperatur und des Wassergehalts im Atemkalk zu einer CO-Bildung. Je trockener und je wärmer der Atemkalk, desto höher die CO-Bildung. Die CO-Bildung kann durch die Verwendung von frischem und feuchtem Atemkalk verringert werden. Ebenso trägt die Anwendung eines Minimal- oder Low-flow durch verminderte Austrocknung zu einer reduzierten CO-Bildung bei. ! Bei Ver färbung, Erwärmung oder Austrocknung des Atemkalks muss dieser unverzüglich gewechselt werden. Sonst kann es durch die Rückatmung von Kohlenmonoxid zu einer lebensgefährlichen Erhöhung der Kohlenmonoxidkonzentration kommen.
Isofluran ist ein fluorierter Methylethylether. Es besitzt eine gute narkotische aber eine schlechte analgetische Wirkung. Aufgrund starker Reizung der Atemwege und des unangenehmen Geruchs ist Isofluran für eine Maskeneinleitung nur bedingt geeignet. Es wirkt stark atemdepressiv. Die Metabolisierungsrate ist gering. Es entstehen Fluoridionen und Trifluoressigsäure. Isofluran im Überblick 5 Blut-Gas-Verteilungskoeffizient: 1,43 5 MAC-Wert: 1,15 Vol% 5 Metbolisierungsrate gering (ca. 1 %) Nebenwirkungen 5 Vasodilatation mit Blutdruckabfall 5 Tachykardieneigung 6
27 3.9 · Unterschiedliche Inhalationsanästhetika
5 Atemdepression 5 Steigerung des intrakraniellen Druckes Kontraindikationen 5 Erhöhter Hirndruck 5 Maligne Hyperthermie)
3.9.3 Enfluran Enfluran ist ein fluorierter Methylethylether. Bei der Metabolisierung entstehen Fluoridionen und Chlordifluorazetat. Enfluran im Überblick 5 Blut-Gas-Verteilungskoeffizient: 1,8 5 MAC-Wert: 1,7 Vol% 5 Metabolisierungsrate ca. 5 % Nebenwirkungen 5 Negativ inotrop 5 Muskelrelaxation 5 Uterusrelaxation 5 Erhöhung der Krampfneigung Kontraindikationen 5 Erhöhter Hirndruck 5 Zerebrales Krampfleiden 5 Maligne Hyperthermie
3.9.4 Sevofluran Sevofluran ist ein fluorierter Methylisopropylether. Es ist nicht entflammbar und hat einen niedrigen Blut-GasLöslichkeitskoeffizienten. Damit ist bei der Verwendung von Sevofluran eine schnelle Narkoseeinleitung bei einer Maskeneinleitung möglich. Weiterhin ist Sevofluran nicht schleimhautreizend. Bei der Metabolisierung entstehen Fluoridionen und Hexafluorisopropanol. Sevofluran kann über die Öffnung ATP-abhängiger Kaliumkanäle bei einer Ischämie zu einer Kardioprotektion führen; für diese Substanz liegen die meisten Daten zu dieser Wirkung vor.
Nebenwirkungen 5 Reaktion mit Atemkalk zu Compound A 5 Keine Sensibilisierung auf Katecholamine 5 Selten kardiale Nebenwirkungen (gilt als kardioprotektiv) Kontraindikationen 5 Erhöhter Hirndruck 5 Maligne Hyperthermie
3.9.5 Desfluran Desfluran ist ein fluorierter Methylethylether. Trotz niedrigem Blut-Gas-Verteilungskoeffizienten eignet sich Desfluran aufgrund seines stechenden Geruches nicht zu einer Maskeneinleitung. Desfluran im Überblick 5 Blut-Gas-Verteilungskoeffizient: 0,42 5 MAC-Wert: 6–7 Vol% 5 Metabolisierungsrate sehr gering Nebenwirkungen 5 Negativ inotrop 5 Muskelrelaxation 5 Uterusrelaxation 5 Erhöhung der Krampfneigung Kontraindikationen 5 Erhöhter Hirndruck 5 Zerebrales Krampfleiden 5 Maligne Hyperthermie
3.9.6 Lachgas (Stickoxydul, Distickstoffoxid) Lachgas ist bei Raumtemperatur gasförmig. Es ist ein inertes Gas und somit vollkommen geruchs- und geschmacklos. Es kommt zu keiner Schleimhautirritation. Lachgas zeichnet sich durch eine Analgesiewirkung und eine geringe Sedierung aus. Eine Mononarkose ist mit Lachgas nicht möglich. Es besteht so gut wie keine Biotransformation.
Sevofluran im Überblick
Lachgas im Überblick
5 Blut-Gas-Verteilungskoeffizient: 0,7 5 MAC-Wert: 2,05 Vol% 5 Metabolisierungsrate 3–5 % 6
5 Blut-Gas-Verteilungskoeffizient: 0,47 5 MAC-Wert: 104 Vol% 5 Keine Metabolisierung 6
3
28
3
Kapitel 3 · Pharmakologisches Wissen – Inhalationsanästhetikatika
Nebenwirkungen 5 Sympathikusstimulation 5 Negative Inotropie 5 Steigerung des intrakraniellen Druckes 5 Diffusion in gasgefüllte Räume 5 Diffusionshypoxie 5 Störung des Vitamin B12-Stoffwechsels Kontraindikationen 5 Pneumothorax 5 Ileus 5 Erhöhter Hirndruck ! Der MAC-Wert von Lachgas beträgt 104 Vol%. Dies bedeutet, dass bei 80 Vol% noch keine ausreichende Narkosetiefe erreicht wird. Hier besteht die Gefahr der Hypoxie! Im klinischen Alltag sind 50–70 Vol% üblich.
Bei der Narkoseausleitung kann es zu einer Diffusionshypoxie kommen. Wird zum Ende der Narkose die Lachgaszufuhr beendet, kann es durch den niedrigen Blut-GasLöslichkeitskoeffizienten zu einer raschen Abatmung des Lachgases kommen. Es wird sehr rasch vom Blut in die Alveolen abgegeben. Dort kann es zu einer Verdrängung des Sauerstoffs kommen und somit eine hypoxische Situation (Diffusionshypoxie) ausgelöst werden. Aus diesem Grund sollte der Patient in diesem Zeitraum nie nur Raumluft sondern immer zusätzlich Sauerstoff einatmen. So kann eine Lachgashypoxie in den ersten Minuten der Narkoseausleitung verhindert werden. Nach Ablauf von 5–10 min ist das Lachgas fast vollständig abgeatmet und kann keine Hypoxie mehr hervorrufen. Lachgas ist 35fach besser in Blut löslich als Stickstoff. Lachgas kann sehr rasch in dehnbare (Pleura, Darmlumen) und nicht dehnbare Körperhöhlen (z. B. Mittelohr) diffundieren und rascher anfluten als der dort befindliche Stickstoff hinaus diffundieren kann. Daher kann es zu einer Steigerung des Innendruckes in gasgefüllten Arealen kommen.
3.10
Welche Eigenschaften hat das ideale Inhalationsanästhetikum?
Es existiert zurzeit im klinischen Alltag kein ideales und nebenwirkungsfreies Inhalationsanästhetikum. An ein ideales Inhalationsanästhetikum lassen sich die nachfolgenden Anforderungen stellen. Diese Anforderungen können alle (zurzeit) verwendeten Inhalationsanästhetika nur teilweise erfüllen.
Eigenschaften des idealen Inhalationsanästhetikums 5 Keine Toxizität 5 Keine Explosivität 5 Einfache Dosierung ohne großen technischen Aufwand 5 Keine Biotransformation 5 Keine Nebenwirkungen auf andere Organe 5 Kein unangenehmer Geruch 5 Geringe Blutlöslichkeit 5 Schnelles An- und Abfluten 5 Gute Steuerbarkeit 5 Gute analgetische Eigenschaften 5 Keine Umweltschädigung 5 Keine Reaktion mit Absorberkalk
Literatur Dudziak R, Behne M (1998) Aufnahme und Ver teilung von Sevofluran, Anästhesist (Suppl 1) 47: 51–56 Förster H, Warnken UH, Asskali F (1997) Unterschiedliche Reaktion von Sevofluran mit einzelnen Komponenten von Atemkalk, Anästhesist 46: 1071–1075 Henze D (2001) Physikalische Grundlagen der Inhalationsanästhesie, Anästhesiologie & Intensivmedizin 42: 791–800 Kirson ED, Yaari Y, Perouansky M (2003) Presynaptic und postsynaptic actions of halothane at glutamatergic synapses in the mouse hippocampus, Br J Pharmacol 124: 1607–1614 Loscar M, Conzen P (2004) Volatile Anästhetika, Anästhesist 53: 183– 197 Max M, Dembinski R (2000) Pulmonaler Gasaustausch in Narkose, Anästhesist, 49: 771–783 Mihic SJ, Ye Q, Wick MJ et al. (1997) Sites of alcohol and volatile anesthetic action on GABA (A) and glycine receptors, Nature 389: 385–389 Nuscheler M, Conzen P, Peter K (1999) Sevofluran: Metabolismus und Toxizität, Anästhesist (Suppl 1) 47: 24–32 Opderbecke HW, Weissauer W (1999) Atemkalk: Hinweise zum korrekten Umgang und fachgerechter Nutzung. Anästh. Intensivmed 40: 507–509 Scholz J, Tonner PH (1997) Kritische Bewer tung der neuen Inhalationsanästhetika Desfluran und Sevofluran, Anästhiol Reanimat 22: 15–20
4 Pharmakologisches Wissen – Muskelrelaxanzien Friedrich K. Pühringer 4.1
Anatomie und Physiologie der neuromuskulären Synapse –30
4.2
Die neuromuskuläre Blockade –30
4.2.1 Nichtdepolarisationsblock –30 4.2.2 Depolarisationsblock –30 4.2.3 Dualblock (Phase-II-Block)) –30
4.3
Pharmakologie der Muskelrelaxanzien –31
4.3.1 Definition der Begriffe –31
4.4
Depolarisierende Muskelrelaxanzien –31
4.5.1 Benzylisochinoline –32 4.5.2 Aminosteroide –33
4.6
Wissenschaftliche Grundlagen verschiedener Anwendungstechniken –34
4.6.1 4.6.2 4.6.3 4.6.4 4.6.5
Priming –34 Timing –34 Präkurarisieren –34 Konsekutive Gabe verschieden lang wirksamer Relaxanzien –34 Wahl der Größe der Erhaltungsdosis –34
4.7
Neuromuskuläres Monitoring –35
4.7.1 Stimulationsmuster –35
4.8
Neuromuskuläre Restblockade –36
4.8.1 Häufigkeit –36 4.8.2 Klinische Auswirkungen der neuromuskulären Restblockade –36 4.8.3 Strategie zur Vermeidung –36
4.9
Antagonisierung der neuromuskulären Blockade –37
4.9.1 Cholinesterasehemmer – Neostigmin –37 4.9.2 Cyclodextrine – ORG 25969 –37
Literatur –38
30
Kapitel 4 · Pharmakologisches Wissen – Muskelrelaxanzien
)) Muskelrelaxanzien sind Substanzen, die eine reversible Lähmung der Skelettmuskulatur bewirken. Ihre Anwendung erfolgt in der Anästhesie und Notfallmedizin vor allem, um die endotracheale Intubation zu ermöglichen und um bei bestimmten Operationen eine vollständige Erschlaffung der Muskulatur zur Verbesserung der Operationsbedingungen zu erzielen. In deutlich geringem Maße werden Muskelrelaxanzien in der Intensivmedizin eingesetzt, um die Beatmung zu erleichtern und bei Bedarf eine völlig Ruhigstellung des Patienten zu erzielen.
4
4.1
Anatomie und Physiologie der neuromuskulären Synapse
Die neuromuskuläre Synapse wird durch die nicht myelinisierten Fasern der innervierenden Nerven (präsynaptische Membran) und der Membran des Muskels (postsynaptische Membran) begrenzt. Dazwischen liegt der synaptische Spalt. Seine Breite beträgt etwa 50 nm. Die Erregung tritt nicht direkt vom Nerv auf den Muskel über, sondern erfolgt über den Transmitter Azetylcholin. Die postsynaptische Membran imponiert durch tiefe Einstülpungen (postsynaptische Falten). An den Schultern dieser Einstülpungen sind die cholinergen Rezeptoren lokalisiert, die in spezifischer Weise mit dem Transmitter Azetylcholin reagieren. Azetylcholin wird präsynaptisch in den Nervenendigungen synthetisiert und in Vesikeln gespeichert. Ein ankommendes Aktionspotenzial bewirkt die Freisetzung von Azetylcholin aus den Vesikeln in den synaptischen Spalt. Dieses diffundiert zu den Rezeptoren an der postsynaptischen Membran, setzt an 2 der 5 Untereinheiten des Rezeptors an und bewirkt dadurch eine Veränderung der Konfiguration des Rezeptors mit anschließender Ionenkonzentrationsänderung. Wird eine größere Anzahl von Rezeptoren besetzt, entsteht ein entsprechendes Aktionspotenzial, das zu einer Depolarisation der Muskelzelle führt. Azetylcholin wird danach extrem rasch (nach etwa 1 ms) durch die im synaptischen Spalt vorhandene Azetylcholinesterase gespalten. Die Metaboliten Azetat und Cholin werden wiederum von der präsynaptischen Nervenendigung aufgenommen und dort der erneuten Synthese von Azetylcholin zugeführt.
4.2
Die neuromuskuläre Blockade
Muskelrelaxanzien bewirken eine reversible Lähmung der Muskulatur. Wenn mehr als 70 % der cholinergen Re-
zeptoren durch das Relaxans besetzt sind, beginnt die Lähmung einzutreten. Eine vollständige Blockade wird durch Besetzung von mehr als 95 % der Rezeptoren erzielt. Drei Typen der neuromuskulären Blockade werden unterschieden:
4.2.1 Nichtdepolarisationsblock Nichtdepolarisierende Muskelrelaxanzien binden sich reversibel an die cholinergen Rezeptoren der postsynaptischen Membran. Dadurch wird verhindert, dass Azetylcholin eine Aktivierung der rezeptorassoziierten Ionenkanäle bewirken kann. Dieser kompetitive Block beruht auf einem dynamischen Gleichgewicht, bei dem Azetylcholin- und Relaxansmoleküle um die Bindungsstellen an den Rezeptoren konkurrieren. Mit steigender Relaxanskonzentration kann Azetylcholin nicht mehr genügend Rezeptoren besetzen um ein Schwellenpotenzial zur Depolarisation der Muskelzelle zu bewirken (ab ca. 70 % Rezeptorokkupanz). Es bildet sich eine nicht depolarisierende oder kompetitive neuromuskuläre Blockade aus.
4.2.2 Depolarisationsblock Ein Depolarisationsblock wird durch Succinylcholin hervorgerufen, das Azetylcholin imitiert. Es führt wie Azetylcholin zu einer Depolarisation der motorischen Endplatte und eine Muskelkontraktion entsteht. Allerdings kann Succinylcholin nicht durch Azetylcholinesterase gespalten und inaktiviert werden. Hierdurch tritt eine Dauerdepolarisation ein. Succinylcholin unterliegt dem deutlich langsameren Metabolismus durch die unspezifische Plasmacholinesterase; in der Zeit bis zur Spaltung ist die neuromuskuläre Übertragung im Sinne einer Dauerdepolarisation (Depolarisationsblock) unterbrochen.
4.2.3 Dualblock (Phase-II-Block)) Bei mehrfacher Repetition oder unter kontinuierlicher Gabe von Succinylcholin ändert sich dessen Blockeigenschaft. Die postsynaptische Membran muss immer weniger depolarisiert werden, damit ein lang anhaltender Block eintritt. Letztendlich besteht der Block auch ohne Depolarisation. Bei voller Ausprägung liegt eine kompetitive Hemmung vor. Diese Situation wird als Dualblock bezeichnet und kann partiell durch Cholinesteraseinhibitoren antagonisiert werden.
31 4.4 · Depolarisierende Muskelrelaxanzien
Pharmakologie der Muskelrelaxanzien
4.3
Trotz intensiver Bemühungen ist es bisher nicht gelungen, das ideale Muskelrelaxans zu entwickeln. Saverese und Kitz haben bereits 1975 das erforderliche Profil eines idealen Muskelrelaxans beschrieben (Übersicht). Stan Feldman hat 1996 diese Definition geringfügig ergänzt, indem er eine kurze Wirkdauer oder eine leichte Möglichkeit der raschen Antagonisierung zu jedem Zeitpunkt forderte. Im Folgenden werden die bedeutendsten Substanzen, die sich gegenwärtig im klinischen Einsatz befinden, dargestellt. Wünschenswerte Eigenschaften des idealen Muskelrelaxans 5 5 5 5 5 5 5 5 5 5
Nichtdepolarisierender Wirkmodus Rasche Anschlagzeit Kurze, vorhersehbare Wirkdauer Rasche spontane Erholung Keine Kumulation Frei von aktiven Metaboliten Hohe Rezeptorspezifität Keine kardiovaskulären Nebenwirkungen Keine Histaminfreisetzung Leicht und jederzeit zu antagonisieren
nischen Untersuchungen und Selbstversuchen beschrieben. Heute ist Succinylcholin das einzige in Verwendung befindliche depolarisierende Relaxans. Es zeichnet sich in einer Dosis von 1,0 mg/kg KG durch eine sehr rasche Anschlagzeit (50–70 s), kurze Wirkdauer (8–12 min) und rasche Erholung (3–4 min) aus. Aktuelle Untersuchungen zeigen, dass die Intubationsdosis problemlos auf 0,6 mg/kg KG reduziert werden kann, da die Anschlagzeit unverändert bleibt, allerdings die Wirkdauer nochmals deutlich abnimmt. Dennoch ist die Substanz seit vielen Jahren sehr umstritten. Vor allem aufgrund seiner zahlreichen, teilweise lebensbedrohlichen Nebenwirkungen (7 Übersicht) wurde sein Indikationsgebiet deutlich kleiner. So sollte Succinylcholin nur mehr in der Notfallsituation, beim nicht nüchternen Patienten (Ileuseinleitung) und bei der Sectio caesarea eingesetzt werden. Von einer Anwendung bei elektiven Patienten ist auch aufgrund von Empfehlungen verschiedener Fachgesellschaften Abstand zu nehmen. Aktuelle Untersuchungsergebnisse zeigen, dass das Präkurarisieren (Verabreichung einer kleinen Dosis eines nichtdepolarisienden Relaxans vor der Succinylcholingabe) keinerlei Verbesserung bezüglich der postoperativen Myalgien bewirkt, lediglich die Inzidenz der Faszikulationen wird damit leicht reduziert, bei allerdings evident höherer Gefährdung des Patienten bezüglich Regurgitation und Aspiration. ! Auf das Präkurarisieren von Succinylcholin sollte im Sinne der Patientensicherheit verzichtet werden.
4.3.1 Definition der Begriffe Die ED 95 (Erhaltungsdosis 95 %) stellt jene Dosis eines Muskelrelaxans dar, die eine 95 %ige neuromuskuläre Blockade bewirkt. Als Intubationsdosis wird die doppelte ED 95 (2 u ED 95) einer Substanz empfohlen. Unter der Anschlagzeit (Onset-time) eines Muskelrelaxans versteht man jene Zeit nach Verabreichung eines Relaxans bis der maximale Block erreicht ist. Die klinische Wirkdauer (Duration 25 %, Dur 25 %, clinical duration) ist jene Zeit nach Gabe eines Relaxans bis zu einer spontanen Einzelreizerholung von 25 % der Ausgangshöhe. Die Erholungszeit (recovery time) stellt die Zeitspanne zwischen 25 % und 75 % Einzelreizerholung dar.
4.4
Depolarisierende Muskelrelaxanzien
Succinylcholin Die neuromuskulär blockierenden Effekte von Succinylcholin wurden 1951 von Brücke und Mayrhofer erstmals in kli-
Die wichtigsten Nebenwirkungen von Succinylcholin 5 Trigger für maligne Hyperthermie 5 Hyperkaliämie, Gefahr von Asystolie 5 Herzrhythmusstörungen (Bradykardie, Knotenrhythmus, ventrikuläre Rhythmusstörungen) 5 Bradykardie 5 Anstieg des intrakraniellen Druckes 5 Anstieg des intragastralen Druckes (cave: Erbrechen, Regurgitation) 5 Anstieg des Augeninnendrucks 5 Faszikulationen 5 Myalgien, Muskelkater 5 Rhabdomyolyse 5 Myoglobinurie 5 Histaminfreisetzung 5 »Stone heart« (systolischer Herzstillstand) 5 Zunahme der Speichel- und Bronchialsekretion
4
32
Kapitel 4 · Pharmakologisches Wissen – Muskelrelaxanzien
Kontraindikationen. Die wichtigsten Kontraindikationen
Cis-Atracurium
für Succinylcholin sind: Verbrennungstrauma (vom 2. bis zum 60. posttraumatischen Tag), Hemi- und Tetraplegie, nahezu alle neuromuskulären Erkrankungen, Hyperkaliämie (Niereninsuffizienz), Disposition zur malignen Hypertonie, eine bekannte atypische Plasmacholinesterase sowie Allergie gegen Succinylcholin.
Cis-Atracurium ist ein reines Cis-Cis-Stereoisomer von Atracurium. Es unterscheidet sich von Atracurium vor allem durch eine etwa 5fach höhere neuromuskulär blockierende Potenz sowie das Fehlen von Histaminfreisetzung und kardiovaskulären Nebenwirkungen. Die Pharmakodynamik von Cis-Atracurium ist deutlich langsamer als jene von Atracurium. Die Anschlagzeit nach einer Intubationsdosis von 0,1 mg/kg KG beträgt 4–5 min Es resultiert eine klinische Wirkdauer von etwa 60 min sowie ein spontaner Erholungsindex von 15 min. Die Vorteile von Cis-Atracurium sind in der Nebenwirkungsarmut und der guten Anwendbarkeit bei geriatrischen und leberinsuffizienten Patienten zu sehen. Der langsame Wirkeintritt und die sehr lange Wirkdauer stellen allerdings einen deutlichen Nachteil dar.
4
Dosierung Intubationsdosis: 4 Erwachsene: 0,6–1,0 mg/kg KG 4 Kleinkinder, Schulkinder: 1,5 mg/kg KG 4 Neugeborene, Säuglinge: 2,0 mg/kg KG 4 Keine Präkurarisierung (kein Benefit – nur Gefährdung des Patienten!)
4.5
Nicht depolarisierende Muskelrelaxanzien
! – Intubationsdosis: 0,15 mg/kg KG – Keine Histaminfreisetzung – Keine kardiovaskulären Nebenwirkungen
4.5.1 Benzylisochinoline Mivacurium Strukturell bestehen diese Substanzen aus zwei Benzylisochinolingruppen die durch eine aliphatische Kette verbunden sind. Dort erfolgt die weitgehend organunabhängige Inaktivierung mittels Esterhydrolyse (Mivacurium) und Hoffmann-Elimination (Atracurium, Cis-Atracurium).
Atracurium Atracurium ist ein mittellang wirksames Muskelrelaxans, das sich aus 10 Stereoisomeren zusammensetzt. Seine Anschlagzeit beträgt 3–4 min, seine klinische Wirkdauer 35–45 min, der spontane Erholungsindex 12–15 min. Die Elimination der Substanz erfolgt weitgehend organunabhängig mittels Hofmann-Elimination (zu 35–50 %) und unspezifische Plasmacholinesterasen (zu 50–60 %). Als Abbauprodukte fallen dabei Akrylate und Laudanosin an. Atracurium kann – abhängig von der Injektionsgeschwindigkeit – in nicht unbedeutendem Maße Histamin freisetzten und klinisch relevante kardiovaskuläre und pulmonale Nebenwirkungen verursachen (Hypotension, Tachykardie, Bronchospasmus, Laryngospasmus). Die Anwendung von Atracurium bei Patienten mit Leberinsuffizienz, aber auch bei alten Patienten, erscheint aufgrund der organunabhängigen Elimination vorteilhaft. ! – Intubationsdosis: 0,5 mg/kg KG – Langsame Injektion (Cave: Histaminfreisetzung) – Cave: Asthmatiker, Allergiker
Mivacurium ist ein Gemisch aus drei Isomeren. Es wird zügig durch die Plasmacholinesterase hydrolysiert, wodurch die rasche Erholung bedingt ist. Die empfohlene Intubationsdosis beträgt 0,2 mg/kg KG. Daraus resultiert eine Anschlagzeit von etwa 2,5–3 min und eine klinische Wirkdauer (Dur 25 %) von 20–25 min sowie eine spontane Erholungszeit von 8–10 min. Mivacurium kann in bedeutendem Maße Histamin freisetzen. Dabei werden Blutdruckabfälle bis zu 30 % und Frequenzanstiege bis 25 % beobachtet. Die Histaminkonzentrationen im Plasma sind bis zu 347 % erhöht. Durch langsame Injektion der Substanz können diese unerwünschten Effekte abgemildert werden. Bei reduzierter oder fehlender Aktivität der Plasmacholinesterase kann die Wirkdauer von Mivacurium dramatisch (8–10 h) verlängert sein. Dabei lässt sich auch durch Antagonisierung mit Neostigmin keine Beschleunigung der Erholung erzielen. In diesen Fällen muss die Spontanerholung unter Analgosedierung und Beatmung abgewartet werden. ! – Intubationsdosis: Erwachsene : 0,15–0,2 mg/kg KG Kinder: 0,2–0,3 mg/kg KG – Mivacurium ist aufgrund seiner raschen Erholung vor allem für kürzere Eingriffe geeignet – Langsame Injektion (Cave: Histaminliberation)
33 4.5 · Nicht depolarisierende Muskelrelaxanzien
4.5.2 Aminosteroide Alle Relaxanzien dieser Substanzklasse basieren pharmakologisch auf einer 2,16-diamino-Steroidstruktur.
Vecuronium Vecuronium stellt unter allen Muskelrelaxanzien den »golden standard« bezüglich der Nebenwirkungsfreiheit dar. Seine empfohlene Intubationsdosis (2 u ED 95) beträgt 0,1 mg/kg KG. Die klinische Wirkdauer (Dur 25 %) 30– 35 min, der spontane Erholungsindex liegt bei 10–15 min. Der Abbau von Vecuronium erfolgt in der Leber. Dabei wird Vecuronium zu 3-Hydroxy-Vecuronium metabolisiert. Da dieser Metabolit ebenfalls neuromuskulär blockierende Aktivität besitzt, kann es bei gehäufter Repetition zu einer Kumulation mit nachfolgend verlängerter Relaxierung kommen. Dadurch sind bei reduzierter Leberfunktion und eingeschränkter Nierenfunktion die klinische Wirkdauer und der Erholungsindex deutlich verlängert. ! – Intubationsdosis: 0,1 mg/kg KG – Keine kardiovaskulären Nebenwirkungen – Cave: Leberinsuffizienz, Niereninsuffizienz – Cave: Langzeitapplikation wegen Kumulation aktiver Metaboliten
Rocuronium Rocuronium ist chemisch dem Vecuronium sehr verwandt, allerdings ist es 6-mal weniger potent als Vecuronium und zeichnet sich durch einen sehr raschen Wirkeintritt (Rapid onset Vecuronium) aus. Rocuronium hat bei einer Dosierung von 0,6 mg/kg KG eine Anschlagzeit von 60–90 s. Die klinische Wirkdauer beträgt 25–30 min und der spontane Erholungsindex liegt bei 10–12 min. Rocuronium wird in toto durch die Leber biliär eliminiert. Es erfolgt keinerlei Metabolisierung, weshalb auch keine Abbauprodukte entstehen. Erst bei ausgeprägten Leberschädigungen kann die Wirkdauer von Rocuronium geringgradig verlängert sein. Rocuronium ist bei niereninsuffizienten Patienten als Relaxans der Wahl anzusehen, da eine rasche Intubation möglich ist und die klinische Wirkdauer unverändert ist. Für kurze Eingriffe kann mit »Low Dose Rocuronium« (0,4 mg/kg KG) eine klinische Wirkdauer von 18–22 min erzielt werden. Bei Kindern ist die Wirkdauer von Rocuronium stets kürzer, in der Dosierung von 0,4 mg/kg KG beträgt die Wirkdauer nur noch 15–18 min. Rocuronium ist das einzige nichtdepolarisierende Muskelrelaxans, das für eine RSI (Rapid sequence induction, Crasheinleitung) geeignet ist. Die Dosierung muss für die RSI auf 1,0 mg/kg KG erhöht werden. Dabei können ver-
gleichbare Intubationsbedingungen wie unter Succinylcholin erzielt werden, allerdings ist zu beachten, dass sich die klinische Wirkdauer auf 60–70 min verlängert. Rocuronium ist ein ähnlich sicheres Relaxans wie Vecuronium, einzig milde vagolytische Effekte (HF +5 %) und ein möglicher Induktionsschmerz (pH = 3,14) sind zu erwähnen. ! – Intubationsdosis: 0,6 mg/kg KG – Keine Histaminausschüttung – Milde Vagolyse (HF + 5 %) – Hepatische Elimination – keine Metaboliten – Gut geeignet bei Niereninsuffizienz (Rascher Onset – unveränderte Wirkdauer) – Crash-Intubation (RSI): 1,0 mg/kg KG – EBM: Alternative zu Succinylcholin – Kurze Eingriffe: »Low Dose«: 0,4 mg/kg KG Wirkdauer = 15–18 min – Zukunftsausblick: In Kombination mit dem Cyclodextrin ORG 25969 kann Rocuronium alle Er fordernisse des idealen Muskelrelaxans er füllen!
Pancuronium Pancuromium ist das älteste der aminosteroidalen Muskelrelaxanzien. Seine empfohlene Intubationsdosis beträgt 0,1 mg/kg KG. Es hat einen langsamen Wirkeintritt und eine lange Wirkdauer, ist deutlich schlechter antagonisierbar als mittellang wirksame Relaxanzien und entspricht daher nicht mehr den modernen Anforderungen an ein zeitgemäßes Muskelrelaxans. Neben der sehr langsamen Anschlagzeit (4–7 min), einer langen Wirkdauer (100 min), sowie der sehr zögerlichen spontanen Erholung (50 min) imponiert es vor allem durch eine Zunahme der Herzfrequenz um etwa 20 % sowie einer Blutdrucksteigerung um 10 %. Diese Nebenwirkungen sind auf eine indirekte sympathomimetische Wirkung durch Hemmung des Noradrenalin-Re-uptakes und einer Vagolyse zurückzuführen. In der Kardioanästhesie werden diese Nebenwirkungen bei einigen wenigen Indikation als Vorteil angesehen. Wegen der schlechten Steuerbarkeit aufgrund der langsamen Pharmakodynamik, der nur mäßigen Antagonisierbarkeit und des deutlich höheren Risikos von neuromuskulären Restblockaden sollte Pancuronium nicht mehr routinemäßig in der täglichen Praxis verwendet werden. ! – Intubationsdosis: 0,07–0,1 mg/kg KG – Abbauprodukte haben neuromuskulär blockierende Aktivität, dadurch besteht eine große interindividuelle Streubreite in der Wirkdauer 6
4
34
Kapitel 4 · Pharmakologisches Wissen – Muskelrelaxanzien
– Nur für lang dauernde Eingriffe anwenden, wenn keine Extubation am Operationsende angestrebt wird – Stets neuromuskuläres Monitoring durchführen!
4.6
Wissenschaftliche Grundlagen verschiedener Anwendungstechniken
4
die Anästhesie eingeleitet. Damit kann die Anschlagzeit scheinbar verkürzt werden, allerdings kann die einsetzende neuromuskuläre Blockade für den wachen Patienten sehr unangenehm sein. ! Auf die Anwendung des Timing-Prinzips sollte aufgrund seiner Nebenwirkungen verzichtet und bessere Alternativen angewendet werden!
4.6.3 Präkurarisieren 4.6.1 Priming Das Priming-Prinzip wurde Mitte der 1980er Jahre, in Ermangelung eines nichtdepolariserenden Muskelrelaxans mit raschem Wirkeintritt, entwickelt, um die Anschlagzeit von nichtdepolarisierenden Muskelrelaxanzien zu verkürzen und deren Einsatz zur RSI im Notfall, wenn Succinylcholin kontraindiziert ist, zu ermöglichen. Dabei wird etwa 10 % der Intubationsdosis dem wachen Patienten vorab verabreicht. Danach erfolgt die Einleitung und nach ca. 3 min die Gabe der restlichen 90 % der Intubationsdosis. Durch die Priming-Dosis erfolgt eine weitestgehende Besetzung der Rezeptoren an der neuromuskulären Endplatte, ohne jedoch einen klinischen Effekt zu erzielen, sodass durch die Hauptdosis 3 min später deutlich rascher eine neuromuskuläre Blockade einritt. Die Anschlagzeiten von Vecuronium und Atracurium konnten mit dieser Technik auf 2 min reduziert werden. Allerdings birgt das Priming-Prinzip deutliche Gefahren: Durch die extrem unterschiedliche Sensibilität der einzelnen Patienten gegenüber Muskelrelaxanzien kann durch die Priming-Dosis bereits eine signifikante Lähmung eintreten, welche zum Auftreten von Doppelbildern und vor allem zu passiver Regurgitation mit nachfolgender Aspiration führen kann. ! Die Inzidenz der Nebenwirkungen von Priming ist sehr hoch! Da mit Rocuronium nunmehr ein nichtdepolarisierendes Relaxans mir rascher Anschlagzeit zur Verfügung steht, sollte auf die Anwendung des Priming-Prinzips sowohl für den elektiven Patienten als auch für den Notfall aufgrund der nicht unwesentlichen Gefährdung des Patienten verzichtet werden.
Das Präkurarisieren ist ein weit verbreitetes Vorgehen. Dabei wird eine kleine Dosis eines nichtdepolarisierenden Relaxans vor der Succinylcholin-Gabe verabreicht. Damit kann allerdings keinerlei Reduktion postoperativer Myalgien erzielt werden. Lediglich das Auftreten der Faszikulationen wird in geringem Maße reduziert. Dem steht eine deutlich höherer Gefährdung des Patienten bezüglich passiver Regurgitation und nachfolgender Aspiration gegenüber. ! Auf das Präkurarisieren von Succinylcholin sollte mangels wirklicher Vorteile für den Patienten im Sinne der Sicherheit verzichtet werden!
4.6.4 Konsekutive Gabe verschieden lang
wirksamer Relaxanzien Die Verabreichung von kürzer wirksamen Relaxanzien (Mivacurium, Rocuronium) gegen Ende einer Operation, nachdem initial ein lang wirksames Relaxans (Pancuronium) verabreicht wurde, ist nicht sinnvoll. Damit kann keine raschere Erholung erzielt werden, da die Mehrzahl der Rezeptoren an der neuromuskulären Endplatte immer noch mit dem lang wirksamen Relaxans besetzt sind und das kürzer wirksame Relaxans nur die wenigen freien Rezeptoren besetzen kann. Es dominiert daher weiterhin die Pharmakodynamik des lang wirksamen Relaxans mit seiner langsamen Erholung. ! Auf die Anwendung von lang wirksamen Relaxanzien sollte grundsätzlich verzichtet werden, ebenso auf eine Kombination mit einem kurz wirksamen Relaxans am Ende der Operation!
4.6.2 Timing 4.6.5 Wahl der Größe der Erhaltungsdosis Das Timing-Prinzip dient zum Erzielen eines früheren Intubationszeitpunktes. Dazu wird dem noch wachen Patienten die volle Intubationsdosis appliziert und erst beim Auftreten erster Anzeichen der neuromuskulären Ermüdung
In der anästhesiologischen Literatur findet sich stets die Empfehlung, etwa 25 % der Intubationsdosis als Erhaltungsdosis zu applizieren. Angesichts der Tatsache, dass
35 4.7 · Neuromuskuläres Monitoring
zum Zeitpunkt einer Erholung von 25 % der Einzelreizhöhe (T1 = 25 %, Wirkdauer 25 %) immer noch zwischen 85 und 90 % der Rezeptoren mit dem Muskelrelaxans besetzt sind, ist diese bisher empfohlene Menge sehr kritisch zu betrachten. Da die Inzidenz von Relaxansüberhängen bis zu 70 % beträgt, sollte bei den Erhaltungsdosierungen viel mehr Zurückhaltung geübt werden. Kleinere Dosierungen von nur 5–15 % der Intubationsdosis bewirken deutlich kürzere neuromuskuläre Blockaden, wodurch eine bedeutend bessere Steuerung der neuromuskulären Blockade erzielt wird und zudem die Gefahr an Relaxansüberhängen reduziert werden kann. Die Menge an Relaxans zur Aufrechterhaltung der neuromuskulären Blockade sollte nicht grundsätzlich 25 % der Intubationsdosis betragen. Deutlich kleinere Dosierungen (zwischen 5 und15 % der Intubationsdosis) erzielen rasch einen ausreichenden neuromuskulären Block, allerdings resultiert eine deutlich kürzere Wirkdauer und damit eine bessere Steuerbarkeit.
4.7
Neuromuskuläres Monitoring
4.7.1 Stimulationsmuster Zur Nervenstimulation werden gegenwärtig folgende Stimulationsmuster verwendet: die Einzelstimuli (Einzelreiz), Serienstimuli (Train-of-Four, Double-Burst) oder tetanische Stimuli. Die Charakteristika und Anwendungsbereiche der in der klinischen Praxis bedeutenden Stimulationsmuster werden nachfolgend beschrieben.
neuromuskulären Blockade dar. Der TOF besteht aus einer Serie von 4 Einzelreizen, die mit einer Frequenz von 2 Hz aufeinander folgen. Bei einem Intervall von mindestens 10 s zwischen den Viererserien ist die erste Reizantwort als Einzelreiz (0,1 Hz) anzusehen. Der Train of Four ist wichtig für die klinische Beurteilung des Relaxationsgrades in der Erholungsphase, da er die Ausprägung der neuromuskulären Ermüdung anzeigt. Dabei ist das Verhältnis der 4. Reizantwort zur 1. Reizantwort (Train-of-Four-Ratio, TOF-Ratio oder T4/T1) ausschlaggebend. Lange Zeit wurde eine taktile Evaluierung der TOF-Ratio als ausreichend erachtet. Dies ist mittlerweile klar widerlegt: Da ab einer TOF-Ratio von mehr als 0,4 keine weitere taktile Differenzierung getroffen werden kann, ist eine ausreichende Erholung (TOF > 0,9) taktil nicht zu evaluieren. Fazit Eine exakte Evaluierung der neuromuskulären Erholung kann nur durch eine quantitative Messung der TOF-Ratio er folgen (NMT-Modul, ToF-Watch). Diese einfache, sehr sichere und leicht anzuwendende Monitoringtechnik stellt gegenwärtig den »golden standard« für die tägliche klinische Praxis dar.
Double-Burst-Stimulation (DBS)
Train of Four (TOF)
Zur Erleichterung der taktilen Wahrnehmung des Ermüdungsphänomens einer neuromuskulären Restblockade wurde die »Double-Burst«-Stimulation (DBS) entwickelt. Dabei werden zwei 50-Hz-Salven (»Bursts«), die aus 2–4 Einzelreizen bestehen können, in einem Abstand von 0,75 s appliziert. Jede der beiden Salven führt zu einer Muskelkontraktion, die stärker ist als nach einem Einzelreiz. Das Ermüdungsphänomen nach der DBS-Stimulation ist deutlicher ausgeprägt und taktil besser zu erfassen als nach der TOF-Stimulation. Der Zeitabstand zwischen zwei aufeinander folgenden DBSStimulationen sollte 20 s nicht unterschreiten. Die DBS3,3-Stimulation, bei der jede Salve aus 3 Einzelreizen besteht, wurde als optimal zur taktilen Überwachung einer abklingenden Muskelrelaxation erachtet. Allerdings zeigen sehr aktuelle Daten, dass auch durch eine taktile DBS-Evaluierung ein hoher Prozentsatz an Restblockaden nicht erkannt wird.
Die Train-of-Four-Stimulation (Vierfachreiz, TOF) ist das mit Abstand klinisch bedeutendste Stimulationsmuster und stellt gegenwärtig das Standardreizmuster zur intraoperativen Über wachung einer nichtdepolarisierenden
! Die taktile Evaluation des DBS ist kein adäquates Verfahren, um neuromuskuläre Restblockaden sicher ausschließen zu können.
Einzelreiz Die einfachste Form der Nervenstimulation ist die niederfrequente Applikation supramaximaler Einzelreize. Diese Stimulation, mit einer Frequenz von höchstens 0,1 Hz (d. h. ein Stimulus alle 10 s), führt sowohl bei unblockierter als auch bei partiell blockierter neuromuskulärer Übertragung zu einer gleich bleibenden Reizantwort. Die Einzelreizung mit 0,1 Hz ist Standard für die Erstellung von Dosis-Wirkungs-Beziehungen der Muskelrelaxanzien sowie zur Bestimmung der Anschlagzeit in der täglichen Routine.
4
36
Kapitel 4 · Pharmakologisches Wissen – Muskelrelaxanzien
Post tetanic count (PTC)
4
Der »post tetanic count« (PTC) nutzt die posttetanische Erleichterung zur Einschätzung einer tiefen, nicht depolarisierenden neuromuskulären Blockade. Das Reizmuster besteht aus mehreren Einzelreizen (1 Hz), gefolgt von einer tetanischen Reizung mit 50 Hz über 5 s. Nach einer Pause von 3 s werden wieder 15 Einzelreize mit 1 Hz appliziert. Die Antwort auf Einzelreize ist fast vollständig unterdrückt, erst nach der tetanischen Stimulation führt die posttetanische Erleichterung wieder zu einer wahrnehmbaren Muskelantwort. Aus der Anzahl der posttetanisch beantworteten Einzelreize (PTC) lässt sich, je nach verwendetem Relaxans, die Dauer bis zum Auftreten einer Muskelantwort bei Einzel- oder Train-of-Four-Reizung grob abschätzen. So betrugen die Zeitintervalle zwischen dem Auftreten der ersten posttetanischen Reizantwort (PTC = 1) und dem Auftreten der ersten Muskelantwort bei TOF-Reizung für die mittellang wirkenden Muskelrelaxanzien Atracurium und Vecuronium 8–9 min und für Pancuronium etwa 40 min. ! Der PTC erlaubt die Einschätzung der Dauer eines tieferen Blocks, wenn andere Stimulationsmuster keine Reizantworten auslösen.
4.8
Neuromuskuläre Restblockade
Wenn nach einer Muskelrelaxation die volle Muskelkraft zurückgekehrt ist, sind immer noch etwa 70 % der neuromuskulären Rezeptoren durch das Relaxans besetzt. Die gesamte klinische Erholung spielt sich in einer sehr schmalen Bandbreite zwischen 99% und 70 % Rezeptorbesetzung ab. Dies verdeutlicht, warum eine exakte Evaluierung der neuromuskulären Erholung von so großer Bedeutung ist.
4.8.1 Häufigkeit Die Inzidenz der neuromuskulären Restblockade wird erfahrungsgemäß drastisch unterschätzt. Unerkannte Restblockaden findet man in Abhängigkeit vom Relaxans bei bis zu 7 von 10 Patienten (70 %). Dabei sind lang wirksame Relaxanzien (Pancuronium, Alcuronium) wesentlich stärker betroffen als mittellang wirksame (Rocuronium, Atracurium, Vecuronium, Mivacurium).
4.8.2 Klinische Auswirkungen
der neuromuskulären Restblockade Nicht alle Muskelgruppen reagieren gleich sensibel auf Muskelrelaxanzien. Das Zwerchfell ist die resistenteste Mus-
kulatur. Danach folgen die Larynxmuskulatur, der Musculus adductor pollicis und die Kopf-Hals-Muskulatur. Am sensibelsten, mit der langsamsten Erholung nach Relaxansgabe, ist die Pharynxmuskulatur. Dies bedeutet, dass am Pharynx noch eine stärkere Paralyse vorherrscht, obwohl das Zwerchfell und die Daumenmuskulatur bereits vollständig erholt sind. Das Ausmaß und die klinische Bedeutung dieser größeren Sensibilität der Pharynxmuskulatur gegenüber Muskelrelaxanzien wurden bei wachen gesunden Probanden erhoben. Bei einer TOF-Ratio von 0,6, 0,7 und 0,8 (am M. adductor pollicis) war der obere Ösophagusshinktertonus um bis zu 50 % reduziert. Damit bestand kein effektiver Schutz vor passiver Regurgitation, und Aspiration von Flüssigkeit konnte erfolgen. Erst beim Erreichen einer TOF-Ratio von 0,9 ist diese Gefahr gebannt. Auch die Chemorezeptoren des Glomus caroticum reagieren, da sie nicotinerge und muskarinartige Rezeptoren beinhalten, auf Azetylcholin und Muskelrelaxanzien. Unter Hypoxie ist der Rezeptor-Output des Glomus caroticum nach Gabe von Relaxanzien nahezu vollständig unterdrückt. Die normale physiologische Reaktion auf Hypoxie (bei SaO2 = 85 %) besteht in einer Zunahme der Atemfrequenz, des Tidalvolumens (TV) um +30 % als auch des Atemminutenvolumens (AMV) um 50 %. Bei einer vorhandenen Restblockade (TOF-Ratio = 0,7) ist nur eine inadäquate Zunahme des TV (+6 %) und des AMV (+22 %) zu beobachten. Erst ab einer TOF-Ratio von 0,9 zeigen sich wieder normalisierte Hypoxie-Reizantworten. ! Es ist gesicherter Stand der Wissenschaft, dass eine TOF-Ratio von 0,9 erreicht sein muss, ehe ein Patient als ausreichend erholt eingestuft werden kann.
Es ist daher zu fordern, dass jeder Patient, der ein Relaxans erhält, bis zu einer neuromuskulären Erholung von einer TOF-Ratio = 0,9 exakt überwacht wird. Nur so können die enormen Gefahren einer inadäquaten Hypoxiereizantwort, einer passive Regurgitation oder Aspiration minimiert werden.
4.8.3 Strategie zur Vermeidung Sowohl die klinische Beurteilung als auch die taktile Evaluierung von DBS und TOF-Ratio gehen mit einer hohen Anzahl an nicht erkannten Restblockaden einher (. Tab. 4.1). Nur durch Anwendung von quantiativem Monitoring (NMT-Modul, ToF-Watch) ist eine exakte Erfassung der neuromuskulären Erholung gewährleistet. In der täglichen klinischen Praxis sollten daher diese einfachen, sicheren
37 4.9 · Antagonisierung der neuromuskulären Blockade
. Tabelle 4.1. Häufigkeit von unerkannten Restblockaden in Abhängigkeit von unterschiedlichen Evaluierungstechniken Autor
Monitoringverfahren
Unerkannte Restblockaden [%]
5 Manuelle TOF-Evaluierung 5 Klinische Beurteilung
15
5 Manuelle DBS-Evaluierung 5 Klinische Beurteilung
24
Mortensen (1995)
5 Akzelerographie 5 Klinische Beurteilung
0 15
Debaene (2003)
5 Manuelle TOF-Evaluierung 5 Manuelle DBS-Evaluierung 5 Klinische Beurteilung 5 Akzelerographie
89
Shorten (1995)
Fruergard (1998)
45
Dosierung Dosis in Abhängigkeit der bestehenden Blockadetiefe: TOF 0 % (1–2 Antworten): 50 Pg /kg KG TOF 0 % (3 Antworten): 40 Pg/kg KG TOF (4 Antworten): 30 Pg/kg KG TOF > 30 %: 20 Pg/kg KG Immer in Kombination mit Atropin (7–15 Pg/kg KG)
57
! Nebenwirkungen – Bradykardie – Speichel- und Bronchialsekretion steigt – Bronchokonstriktion – Erbrechen und Übelkeit – Darmmotorik gesteigert
86 89 0
und leicht durchzuführenden Techniken bei jedem Patienten, der ein Relaxans erhalten hat, angewendet werden.
4.9
aufgehoben werden. Vor der Gabe von Cholinerstase-Inhibitoren muss daher immer eine Spontanerholung des Einzelreizes von mindestens 10 % Einzelreizhöhe oder 2 Reizantworten bei der TOF-Messung abgewartet werden.
Antagonisierung der neuromuskulären Blockade
Die pharmakologische Antagonisierung der neuromuskulären Blockade dient einer rascheren Erholung der neuromuskulären Funktion, als dies beim spontanen Abklingen der Relaxanswirkung der Fall wäre.
4.9.1 Cholinesterasehemmer – Neostigmin Neostigmin ist ein Azetylcholinesterasehemmer, der die Spaltung von Azetylcholin im synaptischen Spalt verhindert. Dadurch kommt es in der Synapse zu einer Erhöhung der Azetylcholin-Konzentration, sodass die nichtdepolarisierenden Relaxanzien kompetitiv aus der Rezeptor-Bindung verdrängt werden. Die Dosierung von Neostigmin sollte entsprechend dem Grad der noch bestehenden Relaxation angepasst werden. Eine tiefe, vollständige neuromuskuläre Blockade kann durch Neostigmin nicht sicher und vor allem nicht rasch
4.9.2 Cyclodextrine – ORG 25969 Diese Form der Antagonisierung eines Medikamentes durch Inkapsulierung in ein anderes Molekül, weit abseits des Wirkortes, stellt ein völlig neuartiges Vorgehen dar. Cyclodextrine sind ringförmige, hydrophile Zuckermoleküle, die in ihrem hydrophoben Innenraum Moleküle aufnehmen können. ORG 25969 ist ein exakt auf Rocuronium zugeschnittenes Cyclodextrin, welches in ersten klinischen Untersuchungen in der Lage war, vollständige (100 %) neuromuskuläre Blockaden bereits 3 min nach verschiedenen Intubationsdosierungen von Rocuronium (0,6, 1,0 und 1,2 mg/kg) innerhalb von nur 2 min bis zur vollständigen Erholung (T0F-Ratio > 0,9) aufzuheben. Die Wirkung des Relaxans wird also nicht mehr in der neuromuskulären Synapse antagonisiert, sondern das Relaxans in der Blutbahn eingefangen und dadurch inaktiviert. Durch den rasanten Abfall der Konzentration von freiem Relaxans in der Blutbahn entsteht ein hoher Gradient, durch den weiteres Relaxans aus dem Gewebe in die Blutbahn zurückströmt. Dieses viel versprechende neuartige Konzept der Inaktivierung eines Muskelrelaxans in der Blutbahn ermöglicht erstmals auch tiefe Blockaden rasch (2 min) und vollständig (TOF > 0,9) zu antagonisieren.
4
38
Kapitel 4 · Pharmakologisches Wissen – Muskelrelaxanzien
Literatur
4
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5 Pharmakologisches Wissen – Lokalanästhetika René Waurick 5.1
Pharmakologie –40
5.1.1 Physikochemische Eigenschaften –40 5.1.2 Pharmakokinetik –41 5.1.3 Pharmakodynamik –41
5.2
Einzelsubstanzen –43
5.2.1 5.2.2 5.2.3 5.2.4 5.2.5 5.2.6
Lidocain –43 Prilocain –43 Mepivacain –43 Bupivacain und Levobupivacain –44 Ropivacain –44 EMLA –44
5.3
Systemisch-toxische Wirkungen –44
5.3.1 Zentralnervöse Komplikationen –44 5.3.2 Kardiale Komplikationen –45 5.3.3 Allergische Reaktionen –45
5.4
Adjuvanzien –45
Literatur –46
5
40
Kapitel 5 · Pharmakologisches Wissen – Lokalanästhetika
5.1
Pharmakologie
(LA)H + Cl- + Na+HCO3- o LA + NaCl + CO2 + H2O
Nach ihrem chemischen Aufbau lassen sich die Lokalanästhetika in zwei Gruppen unterteilen, die Substanzen vom Estertyp (z. B. Kokain, Procain, Tetracain) und die vom Amidtyp (z. B. Lidocain, Mepivacain, Bupivacain, Ropivacain). Beiden Gruppen gemeinsam ist der Aufbau der Moleküle aus drei Abschnitten: dem lipophilen aromatischen Rest, einer Zwischenkette, die durch die enthaltene Ester(C=O)- oder Amid(C–NH)-bindung über die Gruppenzugehörigkeit entscheidet, und dem hydrophilen tertiären Amid. Die chemische Struktur des aromatischen Rests und der Aminogruppe bestimmt die physikochemischen Eigenschaften der Substanz und damit die lokalanästhetische Wirksamkeit. Der Aufbau der Zwischenkette entscheidet über den Abbauort (Plasmaesterasen beim Estertyp, Mikrosomen der Leber beim Amidtyp).
! Je höher der pKa-Wert eines Lokalanästhetikums ist, desto niedriger ist bei physiologischem Gewebe-pH der Anteil der ungeladenen Moleküle. Nur die ungeladene Form kann aber durch die Lipidbarriere der Zellmembran in den Nerv eindringen, deshalb ist die Anschlagzeit umso länger, je höher der pKa-Wert des Lokalanästhetikums ist.
Die schlechte Wirkung von Lokalanästhetika in entzündetem Gewebe erklärt sich aus der entzündungsbedingten lokalen Azidose und dem dadurch bedingten geringen Anteil ungeladener Moleküle. ! Beim Einsatz von Lokalanästhetika in der Geburtshilfe muss beachtet werden, dass es bei fetaler Azidose durch die Einschränkung der plazentaren Rückdiffusion zu einer Anreicherung des Lokalanästhetikums im fetalen Blut kommen kann.
5.1.1 Physikochemische Eigenschaften Proteinbindung pKa-Wert In Lösung liegen Lokalanästhetika in einem chemischen Gleichgewicht zwischen der basischen ungeladenen Form und der geladenen kationischen Form vor. Die ungeladene Form wirkt dabei als Säure (N + H+), die kationische Form als Base (NH+). Bei einem substanzspezifischen pH-Wert, der als pKa-Wert bezeichnet wird, liegen 50 % der Moleküle als ungeladene Base und 50 % als geladenes Kation vor. Wegen der Lagerungsstabilität der Lokalanästhetika werden meist Hydrochloridlösungen mit pH-Werten zwischen 4 und 7 verwendet; der normale Gewebe-pH liegt hingegen bei 7,4 (. Tab. 5.1). Nach der Injektion findet somit zunächst eine Neutralisation durch die Puffersysteme des Gewebes statt, am wichtigsten ist dabei der Bikarbonatpuffer:
. Tabelle 5.1. pKa-Wert häufig verwendeter Lokalanästhetika Lokalanästhetikum
pKa-Wert
Der Wirkort der Lokalanästhetika, der Natriumkanal, ist eine transmembranöse Proteinstruktur aus 4 so genannten Domänen, die zentral einen Kanalporus bilden. Die Fähigkeit des Lokalanästhetikums, an diesen Natriumkanal zu binden, ist für die Wirksamkeit von entscheidender Bedeutung. Die wirksamsten Lokalanästhetika (Bupivacain, Ropivacain) verfügen daher über eine hohe Proteinbindung, pharmakologisch als Plasmaeiweißbindung beschrieben (. Tab. 5.2). Die Proteinbindung hat aber außer auf die lokalanästhetische Wirksamkeit auch Einfluss auf die Wirkdauer. Eine hohe Proteinbindung resultiert in einer langsamen Freisetzung aus dem »Speicher« der proteingebundenen Substanz und so zu einer verlängerten Wirkdauer des Lokalanästhetikums. Lokalanästhetika binden primär an saures D1-Gly-
. Tabelle 5.2. Proteinbindung häufig verwendeter Lokalanästhetika
undissoziierter Anteil bei pH 7,4 [%]
Lokalanästhetika
Proteinbindung [%]
Mepivacain
7,6
39
Prilocain
55
Lidocain
7,9
25
Lidocain
64
Prilocain
7,9
24
Mepivacain
77
Bupivacain
8,1
15
Ropivacain
94
Ropivacain
8,1
15
Bupivacain
96
41 5.1 · Pharmakologie
. Tabelle 5.3. Oktanol-Puffer-Koeffizient häufig verwendeter Lokalanästhetika Lokalanästhetikum
Oktanol-Puffer-Koeffizient
Mepivacain
0,8:1
Prilocain
0,9:1
Lidocain
2,9:1
Ropivacain
6,1:1
Bupivacain
27,5:1
koprotein, ein Akutphaseprotein, dessen Konzentration physiologischerweise starken Schwankungen unterliegen kann, sodass auch die Plasmaspiegel des ungebundenen Lokalanästhetikums erheblich schwanken können, was Auswirkungen auf die Toxizität der Substanz haben kann. Albumin hat nur eine geringe Bindungsaffinität zu Lokalanästhetika, kann aber größere Mengen binden. Die Bindung der Lokalanästhetika wird durch den pH-Wert des Plasmas beeinflusst. Bei niedrigem pH-Wert wird weniger Lokalanästhetikum gebunden; bei einer Azidose liegt also eine größere Menge des Lokalanästhetikums in der freien, ungebundenen Form vor, was die Toxizität der Substanz beeinflusst.
säure, die für ihre allergische Potenz bekannt ist. Die dadurch bedingten häufigeren allergischen Reaktionen sind ein Grund für die Verdrängung der Lokalanästhetika vom Estertyp durch solche vom Amidtyp. Letztere werden hepatisch metabolisiert und haben eine geringe allergische Potenz. Für die verschiedenen Substanzen vom Amidtyp besteht allerdings eine große Varianz der Geschwindigkeit der hepatischen Elimination, für die folgende Reihenfolge gilt: Prilocain > Lidocain > Mepivacain > Ropivacain > Bupivacain. Eine Besonderheit stellt die Metabolisierung von Lidocain dar, das bei der Leberpassage fast vollständig aus dem Blut extrahiert wird, sodass die Leberperfusion und die intrahepatischen Enzymsysteme die limitierenden Faktoren für den Metabolismus darstellen. Der hepatische Metabolismus des Lidocains kann somit als Funktionstest der Leberperfusion bzw. -funktion herangezogen werden (MEG-X-Test).
5.1.3 Pharmakodynamik
Die Potenz eines Lokalanästhetikums korreliert mit seiner Lipophilie, pharmakologisch beschrieben durch den Verteilungskoeffizienten zwischen einem organischen Lösungsmittel (z. B. Oktanol) und einem Puffer (. Tab. 5.3). Lipophilere Lokalanästhetika (z. B. Bupivacain) haben eine verzögerte Anschlagzeit, dringen aber leichter in die Myelinschicht von Nervenfasern ein und führen über ihre Wirkung an AD-Fasern schneller zu einer Motorblockade (zumindest in niedrigen Konzentration). Je lipophiler ein Lokalanästhetikum ist, desto höher ist seine anästhetische Potenz und desto länger seine Wirkdauer. Die Lipophilie der Lokalanästhetika hat aber auch großen Einfluss auf ihre Toxizität, da in das Blut gelangte lipophile Lokalanästhetika sehr schnell in gut durchblutete Gewebe wie Gehirn und Herz diffundieren.
Lokalanästhetika verhindern die Erregungsbildung und Erregungsleitung auf neuronaler Ebene. Für den Wirkmechanismus gibt es verschiedene Theorien, wobei die Rezeptortheorie heute favorisiert wird (. Abb. 5.1). Danach beruht der Effekt der Lokalanästhetika auf der reversiblen Blockade schneller, spannungskontrollierter Natriumkanäle des Axons, wodurch die Ausbildung von Aktionspotenzialen verhindert wird. Der Natriumkanal kann nur von der Membraninnenseite blockiert werden. Das Durchdringen der Phospholipid-Doppelschicht der Zellmembran ist nur für die ungeladene Form des Lokalanästhetikums möglich. Im Intrazellulärraum folgt entsprechend des pKa-Werts der Substanz und des intrazellulären pH-Wertes der teilweise Übergang in die geladene Form. Nur diese wiederum kann an die intrazellulär gelegene Bindungsstelle des Natriumkanals binden und diesen durch elektrochemische Veränderungen blockieren. Natriumkanäle kommen nicht nur an Nervenzellen vor, sondern sind Teil eines ubiquitären Informationssystems, sodass bei systemischer Anreicherung von Lokalanästhetika überall im Körper mit deren blockierender Wirkung gerechnet werden muss, wobei die Effekte auf das Gehirn und das Herz von größter klinischer Bedeutung sein können.
5.1.2 Pharmakokinetik
Differenzialblockade
Lokalanästhetika vom Estertyp werden von der Plasmacholinesterase metabolisiert, dabei entsteht Paraaminobenzoe-
Ein Nerv besteht aus verschiedenen Typen von Nervenfasern. Dabei werden A-, B- und C-Fasern unterschieden und die A-Fasern in die AD-, AE-, AJ- und AG-Fasern diffe-
Lipophilie
5
42
Kapitel 5 · Pharmakologisches Wissen – Lokalanästhetika
5
. Abb. 5.1. Blockade des Natriumkanals durch Lokalanästhetika (B = ungeladenes Lokalanästhetikum, Base; BH+ = kationische Form) (Aus Larsen: Anästhesie, 7. Aufl., S. 164 © 2002 Urban & Fischer Verlag München)
. Tabelle 5.4. Wirkung von Lokalanästhetika auf die verschiedenen Nervenfasern Lokalanästhetikum
Sympathischer Block
Sensorischer Block
Motorischer Block
Prilocain
0,5 %
1%
2%
Lidocain
0,5 %
1%
2%
Mepivacain
0,5 %
1%
2%
Ropivacain
0,125%
0,2 %
0,5–0,75 %
Bupivacain
0,125 %
0,125–0,2 %
0,5 %
renziert. AD-Fasern vermitteln die Motorik, AE-Fasern die Berührung, AJ-Fasern den Muskeltonus und AG-Fasern den »schnellen« Schmerz. B-Fasern sind sympathische Nerven und vermitteln u. a. die Vasomotorik und C-Fasern leiten Informationen über »langsamen« Schmerz und Temperatur weiter. Durchmesser und Leitungsgeschwindigkeit nehmen von den A- zu den C-Fasern hin ab. Lokalanästhetika wirken unterschiedlich auf die verschiedenen Ner venfasern (. Tab. 5.4), was sich aus dem Zusammenwirken der physikochemischen Eigenschaften der jeweiligen Substanz und dem neuroanatomischen Aufbau der Nervenfasern ergibt. Grundsätzlich werden dicke, myelinisierte Fasern langsamer blockiert als dünne, unmyelinisierte. Eine Ausnahme stellen die B-Fasern (präganglionäre autonome Nerven) dar, die myelinisiert sind, aber schneller blockiert werden als die unmyelinisierten C-Fasern. Es ergibt sich hieraus eine typische Reihenfolge des Wirkungseintritts (zumindest bei rückenmarknaher
Anwendung). Aufgehoben werden nacheinander: Vasokonstriktion, Temperatur, Schmerz, Kälte, Berührung, Druck und Motorik. Für die Blockade eines Nervs mit einem bestimmten Durchmesser ist eine bestimmte minimale Konzentration (Cm) eines Lokalanästhetikums notwendig. Die Cm ist definiert als die Konzentration mit der der Nerv innerhalb einer gegebenen Zeit, meist 10 min, blockiert werden kann. Allgemein gilt, je dicker der Nerv ist, desto höher ist die erforderliche Konzentration. Lipophile Lokalanästhetika reichern sich bevorzugt in den stärker myelinisierten (motorischen) Fasern an und erreichen hier früher die Cm als weniger lipophile Substanzen. Die differenzielle Blockade und das Wissen um die Cm können therapeutisch genutzt werden, wenn keine vollständige Unterbrechung der Reizleitung erforderlich ist, sondern z. B. bei einer Epiduralanalgesie die Schmerzfreiheit bei erhaltener Motorik er wünscht ist (z. B. in der Geburtshilfe). Bevorzugt werden hier lang wirksame, lipophile Lokalan-
43 5.2 · Einzelsubstanzen
5.2.1 Lidocain
ästhetika wie das Ropivacain in einer (analgetischen) Konzentration von 0,2 %. Weiterhin von Bedeutung ist, dass das Lokalanästhetikum von außen nach innen in den Nervenfaszikel diffundiert, sodass in den äußeren Anteilen (Mantelfasern) eher die Cm erreicht wird als in den zentral gelegenen Kernfasern. Die Mantelfasern versorgen üblicherweise die proximalen Anteile einer Extremität, die Kernfasern die distalen. Die Anästhesie breitet sich also von proximal nach distal aus und klingt auch von proximal nach distal wieder ab, da die Cm an den Kernfasern später erreicht wird, dann aber länger erhalten bleibt. Eine Ausnahme stellt hier die intravenöse Regionalanästhesie dar, bei der das Lokalanästhetikum über die Blutgefäße verteilt wird und die Kernfasern zuerst erreicht. Hier breitet sich die Blockade von distal nach proximal aus und klingt auch in dieser Reihenfolge wieder ab.
Lidocain ist das weltweit am häufigsten benutzte und am besten untersuchte Lokalanästhetikum. Die Substanz verfügt über eine große Potenz, eine kurze Anschlagzeit und eine mittellange Wirkdauer. Lidocain kann für Infiltrationsanästhesien, periphere Nervenblockaden, Spinal- und Epiduralanästhesien eingesetzt werden. Intravenös appliziert ist es auf Grund seiner direkten Wirkung im ZNS ein systemisches Analgetikum und am Herzen ein Antiarrhythmikum der Klasse 1c. Die antiarrhythmische Wirkung resultiert aus einer kurzfristigen Blockade der kardialen Natriumkanäle (»fast in, fast out«). Dadurch können untergeordnete ventrikuläre Erregungszentren synchronisiert werden. Die übrigen Lokalanästhetika haben eine länger dauernde Natriumkanal-blockierende Wirkung und sind deshalb als Antiarrhythmika ungeeignet.
Wedensky-Block
5.2.2 Prilocain
Von einen Wedensky-Block wird gesprochen, wenn der Patient bei einer Regionalanästhesie einzelne Nadelstiche nicht spürt, das Schneiden mit dem Skalpell hingegen als Schmerz empfindet, jedoch nicht so stark wie ohne Regionalanästhesie. Ursächlich ist eine unzureichende Blockade des Nerven, bei der Einzelreize nicht mehr fortgeleitet, jedoch bei andauernder Stimulation jedes 2. oder 3. Aktionspotenzial den unzureichend blockierten Bereich überspringt. Dieses »Überspringen« ist möglich, wenn an myelinisierten Nerven nicht mindestens drei hintereinander liegende Ranviersche Schnürringe blockiert sind und die Aktionspotenziale bei saltatorischer Erregungsleitung einen blockierten Ranvierschen Schnürring auslassen können.
Prilocain ist äquipotent mit Lidocain, die Anschlagzeit ist kurz und die Wirkdauer mittellang. Prilocain wird für Infiltrationsanästhesien, periphere Nervenblockaden und die Epiduralanästhesie eingesetzt. Die Toxizität des Prilocains ist geringer als die aller anderen Amidlokalanästhetika, weil es von allen Geweben schnell aufgenommen wird und sein Plasmaspiegel deshalb niedrig bleibt. Dieser Umstand prädestiniert Prilocain für den Einsatz zur intravenösen Regionalanästhesie (IVR, Bierscher Block). Prilocain wird überwiegend in der Leber abgebaut, dabei entsteht o-Toluidin, ein Methämoglobinbildner. Bei Patienten mit intaktem Glukose-6-Phosphat-Dehydrogenase-Enzymsystem sollte eine Dosis von 8 mg/kg KG nicht überschritten werden. ! Cave
5.2
Einzelsubstanzen
! Im Folgenden werden keine maximalen Einzeldosen für die einzelnen Lokalanästhetika, wie sie teilweise in anderen Lehrbüchern aufgeführt sind, angegeben. Diese maximalen Einzeldosen beziehen sich immer auf einen 70 kg schweren gesunden Menschen und müssen somit bei leichteren und/oder in ihrem Allgemeinzustand beeinträchtigten Patienten erheblich reduziert werden. Des Weiteren variieren mögliche Höchstdosierungen in Abhängigkeit von dem durchzuführenden Regionalanästhesiever fahren. Es wird daher empfohlen, die Dosierungsempfehlungen der Hersteller für die einzelnen Anwendungsgebiete einzuhalten.
In der Geburtshilfe und bei Säuglingen darf Prilocain nicht eingesetzt werden, bei kardiovaskulär oder pulmonal eingeschränkten Patienten sollte es vermieden werden.
! Kommt es bei der Anwendung von Prilocain zu einer Methämoglobinämie (vom Pulsoxymeter nicht erfassbar!) kann Methylenblau (1 mg/kg KG) als Antidot eingesetzt werden.
5.2.3 Mepivacain Mepivacain ist hinsichtlich Anschlagzeit, Potenz und Wirkdauer dem Lidocain vergleichbar. Es wird für Infiltrationsanästhesien, periphere Nervenblockaden, Spinal- und
5
44
Kapitel 5 · Pharmakologisches Wissen – Lokalanästhetika
Epiduralanästhesien eingesetzt. Da es von Feten und Neugeborenen schlechter metabolisiert werden kann (Ringhydroxylierung nicht ausgereift), wird es in der Geburtshilfe kaum verwendet. Vorteil des Mepivacain ist, dass es bei subkutaner Infiltration im Vergleich mit anderen Lokalanästhetika kaum einen Brennschmerz verursacht und deshalb für die Lokalanästhesie vor Gefäßpunktionen o. ä. besonders geeignet erscheint.
5.2.4 Bupivacain und Levobupivacain
5
Bupivacain war in den vergangenen 30 Jahren das am häufigsten verwendete lang wirksame Lokalanästhetikum. Es wirkt zwei- bis dreimal länger als die mittellang wirkenden Lokalanästhetika und wird für Infiltrationsanästhesien, periphere Nervenblockaden, Spinal- und Epiduralanästhesien eingesetzt. Die hohe Lipophilie, die hohe Proteinbindung und der hohe pKa-Wert der Substanz erklären den verzögerten Wirkungseintritt, die hohe Potenz und die lange Wirkdauer. Mit Bupivacain können hervorragend Differenzialblockaden durchgeführt werden, sodass die Substanz häufig in der Geburtshilfe und für die kontinuierliche Zufuhr bei der Therapie postoperativer Schmerzen eingesetzt wird. Bupivacain ist deutlich toxischer (drei- bis fünfmal) als die übrigen gebräuchlichen Lokalanästhetika, wobei dieser Effekt insbesondere hinsichtlich der kardialen Toxizität von Bedeutung ist. Bupivacain dringt rasch in den kardialen Natriumkanal ein und blockiert ihn, verlässt in aber nur langsam (»fast in, slow out«). Hypoxie, Hyperkapnie, Azidose und Hyperkaliämie verstärken die Kardiotoxizität von Bupivacain. Levobupivacain ist das linksdrehende Isomer des Razemats Bupivacain und wird mit identischen Indikationen klinisch eingesetzt. Das Isomer hat eine verminderte Affinität zum kardialen Natriumkanal und weist somit eine geringere kardiale Toxizität auf.
5.2.6 EMLA EMLA steht für »eutectic mixture of local anaesthetics« und bezeichnet die Mischung aus 2,5 % Lidocain und 2,5 % Prilocain. Ein Eutektikum ist eine Mischung aus zwei Substanzen, deren Schmelzpunkt geringer ist als der der Einzelsubstanzen. Die Schmelzpunkte von Lidocain (67 °C) und Prilocain (37 °C) sinken in der Mischung auf 18 °C, was die Penetration des freien Basenabteils durch die Haut ermöglicht. Dieses Eutektikum in einer Öl-in-Wasser-Emulsion wird zur EMLA-Creme. Die Lokalanästhetika dringen innerhalb einer Stunde etwa 3 mm in die Haut ein, innerhalb von 90 min etwa 5 mm. Die Einwirkungszeit sollte daher mindestens 45 min betragen. Nach Entfernen des EMLAPflasters klingt die lokale Vasokonstriktion nach etwa 10 min ab, die Wirkung hält 1–2 h an. Die Lokalanästhesie der Haut mit EMLA wird bevorzugt vor der Punktion peripherer Venen bei Kindern eingesetzt.
5.3
Systemisch-toxische Wirkungen
Lokalanästhetika werden vom Injektionsort in das Blut aufgenommen und mit dem Kreislauf zu den verschiedenen Organen transportiert. Bei korrekter Dosis und richtig durchgeführter Regionalanästhesie werden dabei keine toxischen Plasmaspiegel erreicht. Hingegen können Überdosierungen und intravasale Injektionen systemisch-toxische Reaktionen hervorrufen. Sie manifestieren sich klinisch als Funktionsstörungen des Gehirns und des Herzens, wobei im Allgemeinen die zerebralen Störungen bei niedrigeren Plasmaspiegeln auftreten als die kardialen. Das Dosisverhältnis zwischen dem Auslösen zentralnervöser und kardialer Symptome wird nach tierexperimentellen Untersuchungen z. B. für Lidocain mit 7 : 1 und für Bupivacain mit 4 : 1 angegeben.
5.3.1 Zentralner vöse Komplikationen
5.2.5 Ropivacain Ropivacain besitzt ein dem Bupivacain vergleichbares Wirkungsprofil, die motorische Blockade ist allerdings (konzentrationsabhängig!) durch die geringere Lipophilie schwächer ausgeprägt. Die Substanz wird bei den gleichen Indikationen eingesetzt wie Bupivacain. Ropivacain hat eine geringere kardiale Toxizität als Bupivacain, ursächlich scheint zu sein, dass das Handelspräparat nur das linksdrehende Isomer mit geringer Affinität zu kardialen Natriumkanälen enthält. Auf Grund der substanzeigenen vasokonstriktorischen Wirkung ist ein Zusatz von Adrenalin nicht sinnvoll.
In Abhängigkeit von der Höhe des Plasmaspiegels und der Geschwindigkeit seines Anstiegs können unterschiedliche Symptome auftreten. ! Die präkonvulsiven Warnzeichen bestehen in der Reihenfolge ihres Auftretens in einem tauben Gefühl von Lippen und Zunge, einem metallischen Geschmack, Schläfrigkeit, Schwindel, Ohrenklingeln, verwaschener Sprache, Muskelzittern, Nystagmus und Sehstörungen. Als pathognomonisch gilt die Taubheit von Lippen und Zunge, während die übrigen Zeichen unspezifisch sind.
45 5.4 · Adjuvanzien
Bei höheren Plasmaspiegeln können generalisierte Krämpfe auftreten, gefolgt von Koma und zentraler Atemlähmung. Ursächlich ist zunächst die Dämpfung höherer kortikaler Zentren, die zu einer unkontrollierten Aktivität untergeordneter Zentren führt, später eine generalisierte Dämpfung der Hirnfunktion. Präkonvulsive Warnzeichen treten bei etwa 1,5 % aller Patienten auf, Krämpfe nur bei 0,07–0,4 %. Von klinischer Bedeutung ist, dass die zentralnervösen Symptome »sofort«, d. h. während der (intravasalen) Injektion, oder nach 20–30 min (Resorption des Lokalanästhetikums) auftreten können. ! Cave Der Patient muss nach Injektion des Lokalanästhetikums sorgfältig überwacht werden und darf keinesfalls allein gelassen werden.
In subkonvulsiver Dosierung sind für Lokalanästhetika antikonvulsive Effekte beschrieben worden, sodass bei bestehender Epilepsie die Durchführung von Regionalanästhesien nicht kontraindiziert ist, sondern empfohlen werden muss.
Prophylaxe und Therapie Die Prämedikation sollte mit einem antikonvulsiv wirkenden Pharmakon durchgeführt werden, z. B. mit Benzodiazepinen. Beim Auftreten präkonvulsiver Warnzeichen sollte die Injektion des Lokalanästhetikums sofort unterbrochen, der Patient zur Hyperventilation aufgefordert, immer schnellstmöglich Sauerstoff appliziert und Diazepam 2,5–5 mg i.v. injiziert werden. Auch generalisierte Krämpfe lassen sich im Allgemeinen mit Diazepam unterbrechen. Sollte dies nicht möglich sein, empfiehlt sich die Einleitung einer Allgemeinanästhesie, bevorzugt mit einem Barbiturat. Bei Atemstillstand erfolgt selbstverständlich die Beatmung mit Sauerstoff über eine Maske oder einen endotrachealen Tubus, bei Kreislaufstillstand die kardiopulmonale Wiederbelebung.
5.3.2 Kardiale Komplikationen Auch für die kardiale Wirkung von Lokalanästhetika sind verschiedene Stadien beschrieben worden. Zuerst tritt durch die Dämpfung zentralnervöser Zentren eine initiale Stimulation mit Hypertension und Tachykardie auf, es folgt das primäre Stadium der Dämpfung mit negativer Inotropie, Abfall des Herzzeitvolumens und leichter bis mäßiger Hypotension. Im sekundären Stadium der Dämpfung kommt es zu einem starken Abfall des Herzzeitvolumens, peripherer Vasodilatation und einem ausgeprägten Blut-
druckabfall. Das terminale Stadium ist geprägt von einer Bradykardie, intrakardialen Leitungsstörungen, evtl. ventrikulären Arrhythmien und kann bis zum Herzstillstand reichen. Diese Reihenfolge der Stadien kann in Abhängigkeit von der Geschwindigkeit des Anstiegs der Plasmaspiegel durchlaufen werden, bei massiver intravasaler Injektion ist aber auch das unmittelbare Auftreten des terminalen Stadiums möglich.
Therapie Die Therapie ist symptomatisch und richtet sich nach dem Schweregrad der Symptome. Im primären Stadium Anheben der Beine, Volumenzufuhr und Applikation von Sauerstoff. Bei schwereren Störungen müssen Vasopressoren und Inotropika intravenös verabreicht werden, bei schnellen Herzrhythmusstörungen die Kardioversion oder Defibrillation und bei Herzstillstand die kardiopulmonale Wiederbelebung erfolgen.
5.3.3 Allergische Reaktionen Allergische Reaktionen sind bei den heute üblicherweise verwendeten Amidlokalanästhetika extrem selten, meist ist es der Stabilisator Methylenparaben, der wegen seines Metabolismus zu Paraaminobenzoesäure zu allergischen Reaktionen führt. Die Symptomatik der allergischen Reaktion kann von einer Urtikaria über einen Bronchospasmus bis zum anaphylaktischen Schock reichen und wird den internationalen Empfehlungen folgend behandelt. Aus forensischen Gründen ist es wichtig, dass der Patient über die Möglichkeit einer allergischen Reaktion aufgeklärt wird.
5.4
Adjuvanzien
In Abhängigkeit von dem durchzuführenden Regionalanästhesieverfahren werden den Lokalanästhetika mitunter Adjuvanzien zugefügt, die die Anschlagzeit verkürzen, die Resorption verzögern oder die Wirkung verstärken bzw. verlängern sollen. Die meisten der Adjuvanzien konnten sich international zur standardmäßigen Anwendung nicht durchsetzen. Wärme. Empfehlenswert, risikolos und nützlich erscheint die Erwärmung des Lokalanästhetikums auf 37 °C, da so die Anschlagzeit aufgrund der besseren Diffusion signifikant verkürzt werden kann. Alkalisierung. Alkalisierung mit Bikarbonat führt am Ort der Injektion primär zu einer Zunahme der ungeladenen Lokalanästhetikamoleküle, die die Zellmembran auf dem
5
46
Kapitel 5 · Pharmakologisches Wissen – Lokalanästhetika
Weg zum Natriumkanal überwinden können. Zusätzlich kommt es kompensatorisch zu einer intrazellulären Ansäuerung, sodass die geladenen Lokalanästhetikamoleküle intrazellulär vermehrt für die Natriumkanalblockade verfügbar sind. Diese Effekte sollen zu einer Verkürzung der Anschlagzeit und zu einer stärker ausgeprägten Blockade führen, allerdings gibt es in der Literatur auch widersprüchliche Berichte. Zu beachten ist, dass die Alkalisierung der Lösung zu einer Präzipitation der Lokalanästhetika führen kann, insbesondere Ropivacain ist hier sehr empfindlich.
5
Vasokonstriktoren. Adrenalin, Noradrenalin oder Vasopressin wird den Lokalanästhetika zugesetzt, um durch die Vasokonstriktion am Injektionsort die Resorption zu verzögern, sodass die zu applizierende Dosis vermindert werden kann und die Wirkdauer verlängert wird. In Abhängigkeit von der applizierten Vasokonstriktordosis muss jedoch auch mit systemischen Reaktionen gerechnet werden. Opioide. Der Zusatz von Opioiden (Sufentanil) zum Lokal-
anästhetikum ist bei der Epiduralanästhesie weit verbreitet. Durch die verbesserte Analgesie kann die Konzentration des Lokalanästhetikums vermindert werden und insbesondere in der postoperativen Schmerztherapie eine stärker ausgeprägte differenzierte Blockade mit erhaltener Motorik erzielt werden. Seltener werden Opioide zur Supplementierung der Spinalanästhesie eingesetzt, zumeist aus Furcht vor einem Aufstieg nach rostral mit folgender Atemdepression. Die Erfahrungen bei peripheren Nervenblockaden sind widersprüchlich, sodass der Zusatz von Opioiden bei diesen Verfahren nicht empfohlen werden kann. Clonidin. Der D2-Agonist Clonidin wird insbesondere zur
Supplementierung peripherer Nervenblockaden eingesetzt. In unterschiedlichen Untersuchungen konnte gezeigt werden, dass Clonidin die Anschlagzeit verkürzt, die Erfolgsrate der Blockade steigert und die Analgesie verlängert.
Literatur Auroy Y, Narchi P, Messiah A et al. (1997) Serious complications related to regional anesthesia. Anesthesiology 87: 479–486 Covino BG (1986) Pharmacology of local anaesthetic agents. Br J Anaesth 58:701–716 Dullenkopf A, Borgeat A (2003) Lokalanästhetika. Anästhesist 52: 329–340 Graf BM, Mar tin E (2001) Periphere Ner venblockaden. Anästhesist 50: 312–322 Larsen (2001) Anästhesie. Urban & Fischer, 7. Aufl. Niesel HC, Van Aken H (2003) Lokalanästhesie, Regionalanästhesie, Regionale Schmerztherapie. Thieme, 2. Aufl.
6 Pharmakologisches Wissen – Kardial wirksame Medikamente Samir G. Sakka 6.1
Sympathomimetika –48
6.1.1 6.1.2 6.1.3 6.1.4 6.1.5 6.1.6 6.1.7
Dobutamin –48 Adrenalin –49 Noradrenalin –49 Dopamin –50 Dopexamin –50 Katecholamintherapie in der Sepsis –50 Isoproterenol und Orciprenalin –51
6.2
Phosphodiesterasehemmer (PDE-Hemmer) –51
6.3
Nitrokörper (Nitroglyzerin und Nitroprussid-Natrium) –52
6.4
ACE-Hemmer –52
6.5
Vasodilatatoren –53
6.5.1 Kalzium-Antagonisten –53 6.5.2 Periphere Vasodilatatoren (Dihydralazin, Diazoxid und Minoxidil) –53 6.5.3 Weitere Vasodilatatoren (Urapidil, Phentolamin und Clonidin) –54
6.6
β-Sympatholytika (»β-Blocker«) –54
6.7
Parasympatholytika –55
6.8
Herzglykoside –55
6.9
Adenosin –55
6.10 Antiarrhythmika –55 Literatur –56
48
Kapitel 6 · Pharmakologisches Wissen – Kardial wirksame Medikamente
)) Eine in der Anästhesie und Intensivmedizin auftretende Kreislaufinsuffizienz kann auf verschiedenen Pathomechanismen beruhen. Mit Ausnahme des kardiogenen Schocks besteht die primäre Therapiemaßnahme zumeist in einer suffizienten Volumentherapie. Sollten trotz eines adäquaten Volumenersatzes keine ausreichenden Kreislaufverhältnisse zu erzielen sein, ist zur Aufrechterhaltung eines suffizienten Kreislaufes und Vermeidung von Gewebehypoxien mit nachfolgender Organdysfunktion, der Einsatz positiv inotroper Substanzen und/oder Vasopressoren angezeigt. Da eine Minderperfusion speziell der Splanchnikusorgane als primäre aber auch sekundäre Ursache eines Multiorganversagens oder septischen Verlaufes gilt, wird in der Beschreibung der einzelnen Substanzen jeweils auch der Einfluss auf die intestinale Durchblutung angesprochen. Aufgrund der speziellen Bedingungen wird die Katecholamintherapie in der Sepsis in einem separaten Abschnitt behandelt (7 Kap. 6.1.6).
6
6.1
Sympathomimetika
Sympathomimetika (»first messenger«) stimulieren zellmembranständige D- und E-Rezeptoren (. Tab. 6.1) und erhöhen den intrazellulären Kalzium-Gehalt über einen »second messenger««(z. B. zyklo-Adenosin-Monophosphat, c-AMP). Aufgrund der physiologisch unterschiedlichen Rezeptorentypen bzw. -dichte und ihrer Wirkmechanis-
men lassen sich grundsätzlich unterschiedliche Effekte auf die Durchblutung der einzelnen Organsysteme ableiten (. Tab. 6.2). ! Für den längerfristigen Einsatz bleibt zu beachten, dass es mit zunehmender Therapiedauer (> 72 h) oder bei primärer Herzinsuffizienz zu einer so genannten DownRegulation der E1-Rezeptoren kommt und im Rahmen einer Sepsis auch D-Rezeptoren nur eingeschränkt ansprechbar sind. Da eine Reihe von Faktoren (u. a. pH-Wert, Temperatur) die Sensitivität der adrenergen Rezeptoren beeinflusst, sind allgemeingültige Dosierungsempfehlungen nicht möglich.
6.1.1 Dobutamin Dobutamin ist ein synthetisches Sympathomimetikum, das ganz überwiegend E1-Rezeptoren stimuliert und daher relativ herzspezifisch wirksam ist. Die Hauptindikation für Dobutamin liegt in einer Steigerung der Inotropie, d. h. Zunahme von Schlagvolumen, Herzzeitvolumen und O2-Angebot. Aufgrund der geringen E2-mimetischen Wirkung wird die Organdurchblutung zusätzlich positiv beeinflusst. Als Folge einer peripheren Vasodilatation (E2-Effekt) kann ein Blutdruckabfall eintreten, der jedoch zumeist durch Volumengabe zu kompensieren ist. Dobutamin wird überwiegend zur Behandlung der Herzinsuffizienz eingesetzt, insbesondere bei normalem Blutdruck und erhöhtem peripherem Widerstand sind günstige Wirkun-
. Tabelle 6.1. Bindungsaffinität verschiedener Sympathomimetika zu spezifischen Rezeptoren Rezeptortyp α1
α2
β1
β2
DA1
DA2
Dobutamin
++
0
+++
++
0
0
Adrenalin
+++
+++
++
+++
0
0
Noradrenalin
+++
+++
++
+
0
0
Dopamin 0–3 µg/kg/min 2–10 µg/kg/min > 10 µg/kg/min
0 + ++
+ + ++
0 ++ ++
0 + +
+++ ++ +
++ ++ +
Dopexamin
0
0
+
+++
++
+
α2, α1, β1, β2: adrenerge α- bzw. β-Rezeptoren; DA1, DA2: dopaminerge Rezeptoren. Die quantitative Wirkung ist von stark (+++) bis nicht vorhanden (0) angegeben. [Modifiziert n. Meier-Hellmann, 1994]
6
49 6.1 · Sympathomimetika
. Tabelle 6.2. Wirkung der einzelnen Sympathomimetika auf die Organdurchblutung Nieren
Gehirn
Herz
Intestinaltrakt
Muskulatur
Haut
Dobutamin
+
+
+
+
++
+
Adrenalin
–/+
+
+
–/+
+/0
–
Noradrenalin
–/+
+
+
–/+
–/0
0
Dopamin 0–3 µg/kg/min 2–10 µg/kg/min > 10 µg/kg/min
+++ ++/+ –/+
+ + +
0 + +
+++ ++/+ –/+
0 0 –
0 0 –
Dopexamin
+++
+
+
+++
+
+
Die quantitative Wirkung wird von starker Zunahme (+++) bis nicht vorhanden (0) bzw. Abnahme der Organdurchblutung (–) angegeben. –/+ bedeutet, dass sowohl eine Ab- als auch eine Zunahme möglich sind [Modifiziert n. Meier-Hellmann, 1994]
gen zu erwarten. Dosislimitierend kann eine ausgeprägte Tachykardie sein, die in Einzelfällen den Einsatz von Dobutamin unmöglich macht. In der Praxis übliche Dosierungen liegen bei 5–15 Pg/kg/min. Allerdings können intensivmedizinisch – speziell bei der Sepsis – aufgrund einer verminderten Rezeptorempfindlichkeit höhere Dosierungen von > 20 Pg/kg/min notwendig sein. Die Kombination von Dobutamin mit Noradrenalin führt im Vergleich zur alleinigen Noradrenalingabe zu einem höheren Herzzeitvolumen und Zunahme der Durchblutung der inneren Organe.
Zusätzlich werden Energieträger aus den Fett- sowie Glykogenvorräten mobilisiert. Adrenalin ist das Notfallmedikament in der Behandlung eines akuten Kreislaufstillstandes oder Schocks. Es wird genauso endogen, z. B. im Rahmen einer massiven Blutung, reflektorisch ausgeschüttet. Bei ausgeprägter Schocksymptomatik (z. B. septischer Schock) führt Adrenalin zu einer Zunahme des Herzzeitvolumens und Organperfusionsdrucks, selbst dann, wenn der Kreislauf mit hoch dosiertem Dopamin bzw. Noradrenalin nicht stabilisiert werden kann.
6.1.2 Adrenalin
! Es gibt jedoch Hinweise, dass Adrenalin zu einer selektiven Verschlechterung der Splanchnikusperfusion führt. Daher sollte die kontinuierliche Gabe möglichst auf Situationen beschränkt werden, in denen mit anderen Substanzen keine Kreislaufstabilisierung erreicht werden kann.
Adrenalin (synthetisch: Suprarenin) wird im Nebennierenmark und in postganglionären Neuronen des Sympathikus gebildet. In niedrigen Dosierungen von 0,01–0,02 Pg/kg/ min wirkt Adrenalin vorwiegend auf periphere E1- und E2-Rezeptoren und kann aufgrund einer Vasodilatation zu einem Blutdruckabfall führen. Bei Dosierungen zwischen 2 und 10 Pg/kg beobachtet man eine gemischte D- und E-Stimulation, bei höheren Dosen (> 10 Pg/kg) hingegen dominiert die durch D1-Rezeptoren vermittelte Vasokonstriktion. Über kardiale E1-Rezeptoren vermittelt Adrenalin die Zunahme von Herzfrequenz und Kontraktilität. Die Stimulation der D-Rezeptoren führt zu einer Umverteilung der Durchblutung zu den lebenswichtigen Organen (Herz und Gehirn), während sich die Vasokonstriktion in erster Linie auf Haut, Muskulatur und Verdauungsorgane beschränkt. Durch Stimulation der E2-Rezeptoren werden die Bronchien erweitert, um eine verstärkte Atmung zu ermöglichen.
6.1.3 Noradrenalin Noradrenalin (synthetisch: Arterenol) wird physiologisch an den postganglionären sympathischen Nervenendigungen freigesetzt. Es bewirkt aufgrund der überwiegend αagonistischen Wirkung (nur geringer β-mimetischer Effekt) eine ausgeprägte arterioläre Vasokonstriktion. Infolge des Blutdruckanstiegs kommt es über die Stimulation der Barorezeptoren (N. vagus) oftmals zu einer Reflexbradykardie. Durch die Bradykardie und Zunahme der kardialen Nachlast kann Noradrenalin zu einer Abnahme des Herzzeitvolumens führen. Noradrenalin sollte daher spe-
50
Kapitel 6 · Pharmakologisches Wissen – Kardial wirksame Medikamente
ziell im kardiogenen Schock nur mit Vorsicht eingesetzt werden, vielfach wird Dobutamin (z. T. in Kombination mit Dopamin) wegen der positiv-inotropen Wirkung der Vorzug gegeben. Bei anderen Schockzuständen, z. B. beim anaphylaktischen Schock, hat Noradrenalin seine Bedeutung neben Adrenalin. In der Intensivmedizin wird der Einsatz von Noradrenalin vielfach erst dann für gerechtfertigt gehalten, wenn mit Volumengabe und Dobutamin ein arterieller Mitteldruck ≥ 70 mmHg nicht aufrechterhalten werden kann.
6
! Bei Patienten mit einem septischen Schock kann die angegebene Höchstdosierung (8 Pg/kg/min) durchaus überschritten werden.
Noradrenalin erhöht zwar den Perfusionsdruck, doch besteht aufgrund der Vasokonstriktion die Gefahr der Minderperfusion und Organdysfunktion (z. B. Nierenversagen). Bei septischen Patienten führt Noradrenalin zu einer Verbesserung der Nierenfunktion infolge Optimierung des Perfusionsdrucks. Aus diesem Grund erscheint der Einsatz von Noradrenalin – ein ausreichender Volumenstatus vorausgesetzt – im septischen Schock gerechtfertigt.
6.1.4 Dopamin Dopamin tritt physiologisch als Vorstufe in der Biosynthese von Noradrenalin und Adrenalin auf und ist Neurotransmitter im extrapyramidalen Nervensystem. Am Gefäßsystem wirkt es sowohl über D- und E-adrenerge als auch über dopaminerge Rezeptoren. Während die Stimulation der präsynaptischen DA1-Rezeptoren eine Vasodilatation im mesenterialen und renalen Stromgebiet zur Folge hat, hemmt die Stimulation postsynaptischer DA2-Rezeptoren die Freisetzung von Noradrenalin an sympathischen Nervenfasern. Dopamin wird sowohl in der sog. »Nierendosis« (bis 3 Pg/kg/min) eingesetzt als auch primär in einer Dosierung, in der neben der dopaminergen auch die E1-mimetischen und vor allem die D-agonistischen Eigenschaften zum Tragen kommen. Dopamin wird nach wie vor – ggf. in Kombination mit Dobutamin – in der Therapie des kardiogenen Schocks eingesetzt. Als Monosubstanz sind bis 20 Pg/kg/min – im schweren septischen Schock sogar ein Mehrfaches dieser Dosierung – nötig, um einen ausreichenden arteriellen Mitteldruck zu erzielen. Im Vergleich zur Kombination von Noradrenalin mit Dobutamin besteht im Allgemeinen unter der Monotherapie mit Dopamin eine höhere Herzfrequenz und ein größerer pulmonaler Shuntanteil mit Abfall des arteriellen O2-Partialdrucks.
Nebenwirkungen. Sowohl für niedrig als auch für hoch dosiertes Dopamin konnten ungünstige Effekte auf die Durchblutung der Darmschleimhaut nachgewiesen werden und die Kombination von Dobutamin und Noradrenalin erwies sich als überlegen. Dopamin verfügt zudem über eine Reihe unerwünschter Effekte, u. a. kommt es zu einer Einschränkung der Lymphozyten- und Makrophagenfunktion. Aufgrund der endokrinologischen Beeinflussung von Schilddrüsen- und Wachstumshormon kann eine Verstärkung der Katabolie bei kritisch kranken Patienten resultieren.
Fazit Aufgrund der vielfältigen Nebenwirkungen wird Dopamin heute nicht mehr als Katecholamin der ersten Wahl angesehen.
6.1.5 Dopexamin Dopexamin ist ein relativ neues synthetisches Katecholamin, das überwiegend an dopaminerge (DA1) und E2-adrenerge Rezeptoren bindet. Im Gegensatz zu Dopamin stimuliert es keine D-Rezeptoren und verfügt daher nicht über gefäßverengende Eigenschaften. Dopexamin ist geeignet zur Behandlung der Herzinsuffizienz, es führt zu einer Zunahme von Herzfrequenz und Schlagvolumen. Dopexamin wird ein positiver Effekt auf die Nieren- und Splanchnikusperfusion zugesprochen, wobei dieser Mechanismus nicht selektiv sondern Resultat der veränderten globalen Hämodynamik ist. ! Für Dopexamin wurden sowohl eine Zunahme als auch eine Abnahme der Splanchnikusdurchblutung beschrieben.
Die Datenlage ist insgesamt widersprüchlich. Zusammenfassend können derzeit keine eindeutigen Empfehlungen zum Einsatz von Dopexamin ausgesprochen werden.
6.1.6 Katecholamintherapie in der Sepsis Speziell in der Sepsis muss davon ausgegangen werden, dass die Empfindlichkeit der Adrenorezeptoren gegenüber endogenen und exogenen Katecholaminen vermindert ist. Die Wirkung der Katecholamine kann zusätzlich aufgrund von myokarddepressiven Faktoren, Vorlasterniedrigung und peripherer Vasodilatation im Bereich der Widerstandsgefäße verändert sein.
51 6.1 · Sympathomimetika
Tipps
Katecholamintherapie – so machen wir es: Sollte trotz einer suffizienten Flüssigkeitssubstitution dennoch eine Therapie mit Katecholaminen notwendig sein, so halten wir derzeit die Kombination von Dobutamin und Noradrenalin für geeigneter als die Monotherapie mit Dopamin. Nach ausreichender Volumentherapie, die nach wie vor die primäre Kreislauftherapie im septischen Schock darstellt, verabreichen wir zunächst Dobutamin und ergänzen, falls er forderlich, Noradrenalin.
: Beispiel Ein 60-jähriger Mann, der sich vor einigen Jahren einer Cholezystektomie bei Cholezystolithiasis unterzogen hatte, entwickelt erneut heftige Oberbauchschmerzen und Fieber. Sonographisch zeigen sich erweiterte intrahepatische Gallenwege, laborchemisch sind die Cholestase anzeigenden Enzyme deutlich erhöht. Der Versuch der endoskopischen Darstellung der Gallenwege (ERCP) bleibt er folglos. Der Patient wird mit einem akuten Abdomen zugewiesen. Bei Übernahme ist der Patient im manifesten Schock, es besteht eine Tachykardie (140 Schläge/min) und der Blutdruck beträgt 70/50 mmHg. Durch eine differenzierte Volumentherapie (je 2000 ml Kristalloide und Kolloide) und Einsatz von Noradrenalin (0,4 μg/kg KG/ min) sowie Dobutamin (4 μg/kg KG/min) kann der Kreislauf stabilisiert und ein arterieller Mitteldruck > 70 mmHg aufrechterhalten werden. Die Laparotomie erbringt eine schwere diffuse Peritonitis bei Steinverschluss des Ductus choledochus mit nekrotisierender Pankreatitis und Abszessbildung. Es erfolgt eine retroperitoneale Nekrektomie, Abdominallavage und Drainage. Es wird eine antibiotische Therapie mit Imipenem/Cilastatin begonnen. Der Patient wird postoperativ auf die Intensivstation verlegt. Eine Hyperkaliämie bei Oligo-Anurie macht vorübergehend den Einsatz einer Nierenersatztherapie notwendig. Das Peritoneum wurde primär nicht verschlossen. Am Folgetag erfolgte eine »Second look«-Operation, in deren Rahmen bei zufrieden stellendem Befund der Bauchverschluss vorgenommen wird. Im weiteren Verlauf fallen die Entzündungsparameter ab, die Nierenfunktion und die Kreislaufsituation erholen sich. Die Katecholamingabe kann in den folgenden Tagen unter einer Negativbilanzierung beendet und der Patient nach einigen Tagen extubiert werden.
6.1.7 Isoproterenol und Orciprenalin Isoproterenol und das Isomer Orciprenalin, beides synthetisch hergestellte Sympathomimetika, wirken ausschließlich über E-Rezeptoren. Die Substanzen wirken etwa gleich stark auf E1 und E2-Rezeptoren. Durch Stimulation der E1-Rezeptoren kommt es zur Zunahme von Herzfrequenz, Kontraktilität und Leitungsgeschwindigkeit. Der E2-Effekt führt zu einer Vasodilatation, sodass die Kreislaufeffekte neben einem Blutdruckabfall in erster Linie in einer Zunahme von Herzfrequenz und Herzzeitvolumen bestehen. Die fördernde Wirkung auf Erregungsbildung und -leitung wird therapeutisch bei bradykarden Herzrhythmusstörungen (z. B. AV-Blockierungen) genutzt. Die Indikation besteht oftmals darin, die Zeit zu überbrücken, während der eine Schrittmachertherapie vorbereitet wird oder nicht möglich ist. Zur Therapie stehen Ampullen à 0,5 mg oder Tabletten à 20 mg zur Verfügung. Allerdings sollten zwei Effekte bei Patienten mit einer koronaren Herzkrankheit bedacht werden: ! 1. Abfall des diastolischen Blutdrucks (Koronarperfusionsdruck) (E2-Effekt) 2. Zunahme des myokardialen O2-Verbrauches aufgrund des positiv chronotropen Effektes Beide Substanzen steigern aufgrund der E2-Stimulation die Organdurchblutung, jedoch kann es zu einer regionalen Umverteilung (Steal-Phänomen) kommen.
6.2
Phosphodiesterasehemmer (PDE-Hemmer)
Phosphodiesterasehemmer (Amrinon, Enoximon oder Milrinon) hemmen selektiv die Phosphodiesterase IV (PDE IV, nach früherer Nomenklatur Phosphodiesterase III). Der positiv-inotrope Effekt wird über einen Anstieg des myokardialen cAMP vermittelt. Zusätzlich bewirken die Substanzen eine periphere Vasodilatation, sodass sie auch als Inodilatoren bezeichnet werden. Die Effekte der PDE-Hemmer sind vollständig unabhängig von Adrenorezeptoren und ein wesentlicher Vorteil liegt in der fehlenden Tachyphylaxie. Der pulmonale und der systemische Gefäßwiderstand sinken, Herzzeitvolumen und systemisches O2-Angebot nehmen zu. Aufgrund der Vasodilatation ist allerdings in der Regel eine ausreichende Volumensubstitution notwendig. Darüber hinaus beeinflussen PDE-Hemmer die diastolische Herzfunktion günstig: die Relaxation des Myokards und die Ventrikelfüllung werden verbessert, die Wandspannung (eine Determinante des O2-Verbrauchs) sinkt.
6
52
Kapitel 6 · Pharmakologisches Wissen – Kardial wirksame Medikamente
Prinzipiell sind PDE-Hemmer nach herzchirurgischen Eingriffen und bei schwerer Herzinsuffizienz indiziert, wenn die Therapie mit Herzglykosiden, Diuretika, Vasodilatatoren und ACE-Hemmern refraktär ist (NYHA IV). Insbesondere ist der Einsatz gerechtfertigt, wenn aufgrund einer verminderten Sensitivität adrenerger Rezeptoren eine Therapie mit Sympathomimetika nicht mehr effektiv ist. ! Im septischen Schock ist der Einsatz von PDE-Hemmern insofern kritisch zu betrachten, als es zu einer weiteren Abnahme eines bereits reduzierten peripheren Gefäßwiderstands kommen kann.
6
Nebenwirkung. Eine mögliche wesentliche unerwünschte
Nebenwirkung der PDE-Hemmer ist eine Thrombozytopenie. Im Vergleich zu Sympathomimetika ist die Steuerbarkeit aufgrund der längeren Halbwertzeiten als gering anzusehen. ! – Im Anschluss an eine initiale Bolusinjektion (Amrinon 0,75–1,5 mg/kg KG, Enoximon 0,5 mg/kg KG) erfolgt die kontinuierliche Gabe (5–20 Pg/kg KG/min bzw. 2,5–10 Pg/kg KG/min). – Milrinon ist 12–15-mal stärker wirksam als Amrinon und hat eine kürzere Halbwertszeit von ca. 50 min. Im Low-output verabreicht man 50 Pg/kg KG als Bolus i.v. und schließt eine kontinuierliche Infusion von 0,5 Pg/kg KG/min an.
6.3
Nitrokörper (Nitroglyzerin und Nitroprussid-Natrium)
Das Wirkprinzip der Nitrokörper ist die Freisetzung des potenten Vasodilatators Stickstoffmonoxid (NO•) und die Hemmung der Freisetzung vasokonstringierender Substanzen wie Endothelin-1. Während Nitroglyzerin vermehrt auf das venöse Gefäßsystem wirkt, führt NitroprussidNatrium zu einer venösen und arteriellen Vasodilatation. Nitroprussid-Natrium (Dosierung 0,5–3 Pg/kg/min) ist aufgrund seiner nachlastsenkenden Eigenschaften besonders zur Therapie der Herzinsuffizienz geeignet. Häufig ist jedoch eine vorsichtige Volumensubstitution notwendig, um den durch die gleichzeitige Vorlastsenkung hervorgerufenen Abfall des Herzzeitvolumens zu kompensieren. Die gute Steuerbarkeit und der schnelle Wirkeintritt des Nitroprussid-Natriums begründen auch den Einsatz in der Therapie einer kurzfristigen arteriellen Hypertonie. Nitroglyzerin gilt als das Notfallmedikament in der Therapie der Angina pectoris, es wird im Sinne eines diagnos-
tischen Tests sublingual als Spray (0,8–1,6 mg) verabreicht. Im Gegensatz zur Myokardischämie lassen die Beschwerden beim akuten Myokardinfarkt nach Nitroglyzerin nicht innerhalb weniger Minuten nach. ! Aufgrund seiner primär venodilatierenden Wirkung ist Nitroglyzerin in der Therapie der arteriellen Hypertonie (Dosierung 1–10 mg/h) oftmals nicht effektiv genug.
Nitropräparate sind neben der koronaren Herzerkrankung auch Bestandteil der Herzinsuffizienztherapie, da sie den rechts- und linksventrikulären Füllungsdruck reduzieren. Während Nitroprussid-Natrium die Durchblutung ischämischer Myokardareale weiter verschlechtern kann, konnte für Nitroglycerin eine Verbesserung gezeigt werden. Die regionale (intestinale) Durchblutung erscheint bei Patienten mit einer chronischen Herzinsuffizienz durch beide Substanzen unbeeinflusst. ! Bei längerer Anwendung von Nitroprussid-Natrium ist die Freisetzung von Zyanidionen zu beachten, deren Eliminierung eine Therapie mit Natriumthiosulfat erforderlich machen kann.
6.4
ACE-Hemmer
Angiotensin-Converting-Enzym(ACE)-Hemmer führen über die spezifische Hemmung der Umwandlung von Angiotensin I in Angiotensin II, dem potentesten endogenen Vasokonstriktor, zu einer Abnahme des arteriellen Blutdrucks. Über den Einfluss auf das Renin-Angiotensin-Aldosteron-System senken ACE-Hemmer den Aldosteronspiegel, was zu einer verminderten Natrium- und Wasserretention führt. Ein zusätzlicher blutdrucksenkender Effekt besteht durch den Eingriff in das Kallikrein-Kinin-System, da das Angiotensin-Converting-Enzym das gefäßerweiternde Bradykinin in inaktive Peptide spaltet (Kininase II). Im Gegensatz zu den an der glatten Gefäßmuskulatur angreifenden Vasodilatatoren besitzen ACE-Hemmer keine direkt vasodilatatorische Wirkung. Das Ausbleiben einer Reflextachykardie wird der Beeinflussung des sympathischen Nervensystems zugeschrieben. Eine Indikation der ACE-Hemmer ist die Therapie der arteriellen Hypertonie. Da vor allem die Nachlast und nur in geringem Ausmaß die kardiale Vorlast reduziert wird, sind ACE-Hemmer fester Bestandteil in der Behandlung einer Herzinsuffizienz. Kontraindiziert sind ACE-Hemmer bei beidseitigen Nierenarterienstenosen, Aorten- und Mitralklappenstenosen oder der hypertrophischen obstruktiven Kardiomyopathie. Einflüsse auf die regionale Durch-
53 6.5 · Vasodilatatoren
. Tabelle 6.3. Wirkprofil der verschiedenen Kalzium-Antagonisten Nifedipin (Dihydropyridine)
Verapamil (Phenylalkylamine)
Diltiazem (Benzothiazepine)
Koronarer Widerstand
cc
c
c
Peripherer Widerstand
cc
c
c
Blutdruck
c
c
c
Herzfrequenz
d
c
c
AV-Überleitung
0
cc
c
Kontraktilität
0
c
c
blutung sind kaum untersucht, ein selektiver Effekt scheint nicht vorzuliegen.
6.5
Vasodilatatoren
Eine Therapie mit Vasodilatatoren (Syn.: Vasodilatanzien) erfolgt zumeist bei der akuten Herzinsuffizienz, vor allem der Linksherzinsuffizienz mit pulmonaler Stauung. Über die Vorlastsenkung (venöses »Pooling«) sinkt der Füllungsdruck (enddiastolischer intraventrikulärer Druck), was über eine Erhöhung des Druckgradienten zwischen Subepikard und Subendokard zur Verbesserung der Myokarddurchblutung führt. Eine Dilatation im arteriellen System (Nachlastsenkung) erniedrigt die Wandspannung und damit den myokardialen O2-Verbrauch bei gleichzeitiger Zunahme des Schlagvolumens.
Reizbildung und -leitung (. Tab. 6.3). Beide Substanzen verfügen über ausgeprägte antiarrhythmische (Antiarrhythmika Klasse IV) und negativ inotrope Eigenschaften, sodass ihr Einsatz bei Patienten mit einer Herzinsuffizienz nur mit Vorsicht erfolgen sollte. ! Cave Aufgrund der Gefahr eines totalen AV-Blocks verbietet sich eine gleichzeitige Therapie mit Kalzium-Antagonisten vom Verapamil- und Diltiazem-Typ zusammen mit β-Blockern. ! Zur antiarrhythmischen Therapie (z. B. tachykardes Vorhofflimmern) werden 5–10 mg Verapamil unter EKG-Kontrolle langsam intravenös injiziert.
6.5.2 Periphere Vasodilatatoren
(Dihydralazin, Diazoxid und Minoxidil)
6.5.1 Kalzium-Antagonisten Kalzium-Antagonisten (besser: Kalzium-Kanalhemmstoffe) bewirken eine Hemmung des langsamen Ca++Einstroms durch Kanäle vom L-Typ und führen zu einer weitgehend auf das arterielle System beschränkten Vasodilatation. Vor allem Nifedipin, als Vertreter der Dihydropyridin-Derivate, verbessert die poststenotische Myokarddurchblutung und hat nur geringe negativ inotrope Effekte. Die Dosierung von Nifedipin in der akut antihypertensiven Therapie liegt bei 5–10 mg sublingual. Aufgrund der ausgeprägten lipophilen Eigenschaften und der Passage der Blut-Hirn-Schranke werden Substanzen dieser Klasse (z. B. Nimodipin, Nicardipin) zur Therapie bzw. Prophylaxe zerebraler Gefäßspasmen eingesetzt. Substanzen vom Verapamil- und Diltiazem-Typ hemmen zusätzlich die kardiale
Dihydralazin (12,5–25 mg i.v.), Diazoxid (150–300 mg i.v.) und Minoxidil (2,5–10 mg p.o.) wirken direkt auf die glatte Gefäßmuskulatur ohne wesentlichen Einfluss auf das venöse System. Die blutdrucksenkende Wirkung beruht auf der Öffnung von K+-Kanälen und somit auf einer zellulären Hyperpolarisation, was zur Relaxation der glatten Muskulatur und Abnahme des peripheren Gefäßwiderstandes führt. In der Akuttherapie einer Hypertonie empfiehlt sich aufgrund der zumeist ausgeprägten Reflextachykardie der Einsatz eines E-Blockers. ! Aufgrund der Stimulierung des Renin-Angiotensin-Aldosteron-Systems kommt es zu einer Wasser- und Natriumretention, sodass in der Dauertherapie in der Regel ein 6
6
54
Kapitel 6 · Pharmakologisches Wissen – Kardial wirksame Medikamente
Diuretikum verabreicht wird. Aufgrund der relativ langen Wirkdauer ist bei kreislaufinstabilen Patienten im Umgang mit diesen Substanzen Vorsicht geboten (Gefahr: lang anhaltende, ausgeprägte Hypotonie).
6.5.3 Weitere Vasodilatatoren (Urapidil,
Phentolamin und Clonidin) Urapidil
6
Urapidil hemmt periphere D1-Rezeptoren und stimuliert zentrale D2- und Serotonin (5-HT1A)-Rezeptoren. Der antihypertensive Effekt beruht auf einer peripheren Gefäßdilatation und zentraler Hemmung der Sympathikusaktivität, sodass eine zu erwartende Reflextachykardie ausbleibt. Neben der Behandlung akuter Hypertonien hat sich die Substanz insbesondere für den Einsatz bei neurochirurgischen (kontrollierte Hypotension) und neurotraumatologischen Patienten als geeignet erwiesen, da sie keinen Effekt auf den intrakraniellen Druck hat. Initial verabreicht man langsam 10–25 (–50 ) mg i.v., bei der anschließenden kontinuierlichen Gabe werden Dosierungen von bis zu 10 mg/min verwendet.
in den synaptischen Spalt vermindert und das zentrale Vasomotorenzentrum gehemmt, der periphere Sympathikotonus nimmt ab. Clonidin führt demnach zu einer arteriellen Gefäßdilatation mit Unterdrückung einer ausgeprägten Sympathikusaktivierung. Über die Erhöhung der Empfindlichkeit des Barorezeptorreflexes nimmt der Vagotonus zu und bedingt eine Abnahme von Herzfrequenz und Herzzeitvolumen. Clonidin verfügt darüber hinaus über analgetische Effekte und hat einen Stellenwert in der Therapie von Entzugssyndromen. Aus anästhesiologischer Sicht sollte perioperativ ein abruptes Absetzen einer Dauermedikation ausbleiben, da es zu einer hypertensiven Krise kommen kann. ! Bei rascher intravenöser Applikation werden kurzfristig periphere D-Rezeptoren stimuliert, die für den passageren Blutdruckanstieg verantwortlich sind.
Dosierung Die übliche Dosierung liegt bei 0,15–0,3 mg i.v. und die Wirkung hält für ca. 2–5 h an.
6.6
β-Sympatholytika (»β-Blocker«)
Phentolamin Phentolamin verfügt neben einer direkt vasodilatatorischen Wirkung über D1- und D2-blockierende Eigenschaften. Ein wesentlicher Effekt besteht in der Nachlastsenkung, die mit einer Zunahme des Herzzeitvolumens einhergeht. Die häufig zu beobachtende Herzfrequenzzunahme beruht auf einer reflektorischen Sympathikusaktivierung und vermehrten neuronalen Noradrenalinfreisetzung aufgrund einer präsynaptischen D2-Blockierung. Hypertensive Krisen bei Phäochromozytom stellen eine häufige Indikation dar. Nach einer Bolusinjektion von 1–3 (–20) mg tritt die Wirkung innerhalb von 3 min ein und hält etwa 15–30 min an. Zur Aufrechterhaltung der antihypertensiven Wirkung werden 50–500 Pg/min empfohlen. ! Cave Bei Patienten mit einer koronaren Herzerkrankung ist aufgrund von Tachykardie und/oder Blutdruckabfall Vorsicht geboten.
Clonidin Clonidin stimuliert selektiv postsynaptische D2-Rezeptoren inhibitorischer Neurone im Hypothalamus und der Medulla oblongata. Über einen Rückkopplungsmechanismus wird hierdurch die Freisetzung von Noradrenalin
Entgegen der Bezeichnung besteht ihr Wirkmechanismus nicht in einer Blockade sondern in der reversiblen kompetitiven Hemmung der Rezeptoren. Wegen der uner wünschten Nebenwirkungen (bronchiale Obstruktion u. a.) wurden »kardioselektive« E1-betonte E-Blocker entwickelt. Einige E-Blocker verfügen über eine so genannte intrinsische Aktivität, d. h. sogar E-stimulierende Eigenschaften, die jedoch in der Praxis zumeist ohne Bedeutung sind. In der Anästhesie werden E-Blocker aufgrund der Effekte auf Sinusknoten und Reizleitungssytem zur Behandlung tachykarder Rhythmusstörungen eingesetzt (Antiarrhythmika Klasse II). Einzige Ausnahme stellt die Substanz Sotalol dar, die über E-blockierende Eigenschaften (Antiarrhythmika Klasse II) verfügt und als Repolarisationsantagonist (Antiarrhythmika Klasse III) gilt. Darüber hinaus erfolgt der Einsatz von E-Blockern bei der Koronarinsuffizienz mit Angina pectoris, da über die Abnahme von Herzfrequenz und Kontraktilität eine Zunahme des Wirkungsgrades der Herzarbeit erzielt wird. Für den intravenösen Einsatz haben sich besonders Esmolol (100 mg i.v.) wegen seiner kurzen Halbwertszeit und Metoprolol (5 mg über 5– 10 min i.v.) in der Therapie der Angina pectoris bzw. beim akuten Myokardinfarkt bewährt.
55 6.10 · Antiarrhythmika
! Cave Ein plötzliches Absetzen einer längerfristigen Therapie sollte aufgrund eines Reboundphänomens unterlassen werden, da es aufgrund einer »Up-Regulation« der E-Rezeptoren zu hypertensiven Krisen und sogar zum Myokardinfarkt mit Todesfolge kommen kann.
6.7
Parasympatholytika
Das parasympathische Nervensystem betreffend haben im Rahmen der Kreislauftherapie nur parasympatholytisch wirkende Substanzen einen Stellenwert. Der anticholinerge Effekt, der über eine reversible Hemmung muskarinerger Rezeptoren am postganglionären Neuron vermittelt wird, bedingt, dass die sympathische Innervierung am Herzen stärker zur Geltung kommt. Als klassische Vertreter stehen Atropinsulfat und Ipratropiumbromid zur intravenösen Injektion zur Verfügung, die neben diagnostischen Indikationen aufgrund ihrer positiv-chronotropen Wirkung überwiegend zur Behandlung von Bradykardien/Bradyarrhythmien eingesetzt werden.
6.8
Herzglykoside
Herzglykoside zählen zu den Pharmaka mit direkt positiv-inotroper Wirkung. Hauptsächlich eingesetzt werden Digitoxin und Digoxin, die beide an die gefäßseitige K+Bindungsstelle der membranständigen Na+-K+-ATPase binden. Durch die Hemmung des Kaliumeinstroms in die Zelle akkumulieren intrazellulär Na+-Ionen aufgrund des unterbrochenen Auswärtstransportes. Das überschüssige Na+ wird über einen anderen Ionenkanal (Na+-Ca++-Antiporter) aus der Zelle geschleust, was zu einer Erhöhung des intrazellulären Kalziumspiegels führt. Da hierdurch das sarkoplasmatische Retikulum vermehrt mit Kalzium gefüllt wird, kann es bei jeder Depolarisation eine größere Menge Kalzium freisetzen, sodass Kontraktilität und Schlagvolumen zunehmen. Der Einsatz von Herzglykosiden ist indiziert in der Therapie der Herzinsuffizienz, wobei der Effekt im Vergleich zu Katecholaminen weniger rasch eintritt. Daher sind in der Notfallmedizin vielmehr die negativ-chronotrope Wirkung am Sinusknoten und der negativ-dromotrope Effekt am AV-Knoten von Bedeutung. Herzglykoside werden zur Therapie von supraventrikulären Tachykardien (Vorhofflattern und -flimmern) eingesetzt (Digoxin 0,2–0,4 mg i.v.). Eine strikte Kontraindikation besteht beim Vorhofflimmern und bekanntem Präexitationssyndrom (z. B. WolffParkinson-White), da es zu einer Zunahme der Überlei-
tungsfrequenz über das akzessorische Bündel kommen kann. ! Aufgrund des engen therapeutischen Bereiches treten relativ häufig Intoxikationen ein, die sich in neurologischen Symptomen und Herzrhythmusstörungen bis hin zum Kammerflimmern äußern können. In einzelnen Fällen kann sogar eine Therapie mit Antikörpern notwendig werden.
6.9
Adenosin
Adenosin ist Agonist an spezifischen A1- und A2-Rezeptoren. A1-Rezeptoren sind hauptsächlich am Sinus- und AVKnoten lokalisiert, ihre Aktivierung hat eine negativ dromotrope und chronotrope Wirkung. Adenosin (6–18 mg) dient zur Akuttherapie der paroxysmalen supraventrikulären Tachykardie. Es verlangsamt die Reizüberleitung im Vorhof und unterbricht den Erregungskreislauf. A2-Rezeptoren vermitteln die Relaxation der glatten Gefäßmuskulatur (Vasodilatation). Die Substanz verfügt über eine extrem kurze Halbwertszeit (< 1,5 s) und wird aus den genannten Gründen u. a. auch zur kontrollierten Hypotension eingesetzt. Die Nebenwirkungen umfassen Flush, Blutdruckabfall, AV-Block und Bronchospasmus.
6.10
Antiarrhythmika
Die Einteilung der Antiarrhythmika orientiert sich an dem zellulären Angriffspunkt, in Anlehnung an die Klassifikation von Vaughan-Williams werden vier Klassen (I–IV) unterteilt (. Tab. 6.4).
Natrium-Antagonisten Natrium-Antagonisten (Klasse I) unterdrücken den schnellen Na+-Einstrom während der Depolarisation und führen zur Abnahme der Aufstrichgeschwindigkeit. Während Natrium-Antagonisten der Gruppe IA und IC sowohl bei supraventrikulären als auch ventrikulären Rhythmusstörungen effektiv sind, wirken Natrium-Antagonisten der Gruppe IB nur auf das Ventrikelmyokard und werden daher nur bei ventrikulären Rhythmusstörungen eingesetzt.
β-Blocker Die Wirkung der E-Blocker (Klasse II) wird in erster Linie über eine spezifische antiadrenerge Wirkung der durch einen erhöhten Sympathikotonus hervorgerufenen Rhythmusstörungen vermittelt. Die E-Blocker hemmen darüber hinaus den schnellen Na+-Einstrom während der Depola-
6
56
Kapitel 6 · Pharmakologisches Wissen – Kardial wirksame Medikamente
. Tabelle 6.4. Wirkungsort der verschiedenen Antiarrhythmika
6
Klasse
Substanzen (Beispiele)
Vorhof
Ventrikel
AV-Knoten
Akzessorische Bahnen
IA
Chinidin, Ajmalin, Disopyramid
++
+++
(+)
+++
IB
Lidocain, Mexiletin, Diphenylhydantoin
-
++
-
+
IC
Propafenon, Flecainid
++
+++
++
++
II
β-Blocker
++
+
++
+
III
Amiodaron, Sotalol
+++
+++
+
+++
IV
Verapamil, Diltiazem
(+)
(+)
+++
(+)
Die quantitative Wirkung ist von stark (+++) bis nicht vorhanden (–) angegeben
risation und führen dadurch zu einer Abnahme der maximalen Aufstrichgeschwindigkeit im Aktionspotenzial, sodass es zu einer Abnahme der Leitungsgeschwindigkeit kommt.
Repolarisationsantagonisten Zu den Repolarisationsantagonisten (Klasse III) zählen Substanzen, welche die Repolarisationsphase und somit die Dauer des Aktionspotenzials verlängern (Amiodaron, Sotalol). Die Zunahme der effektiven Refraktärphase bewirkt, dass über einen längeren Zeitraum auch durch noch so starke Impulse keine Erregungsbildung ausgelöst werden kann. Aufgrund seiner vielfältigen unerwünschten Nebenwirkungen (Leberfunktionsstörungen, Hypo- bzw. Hyperthyreose, Neuromyopathie, Lungenfibrose) bleibt Amiodaron ein Reservemedikament und sollte nur bei therapierefraktären Rhythmusstörungen eingesetzt werden.
Kalzium-Antagonisten Kalzium-Antagonisten (Klasse IV) wie Verapamil und in geringerem Maße Diltiazem üben ihre antiarrhythmische Wirkung durch die Hemmung des langsamen Ca++-Einstroms während der Depolarisation vorwiegend in den Zellen des Sinus- und des AV-Knotens aus. Ihr Einsatz beruht zumeist auf einer Reduktion der Anzahl übergeleiteter Erregungen im AV-Knoten.
notropen und dromotropen Effekte sind bei den tachykarden Rhythmusstörungen er wünscht, allerdings können auch bradykarde Herzrhythmusstörungen (z. B. AVBlockierungen) ausgelöst werden. Gelegentlich werden ventrikuläre Tachykardien anstatt verhindert sogar erst her vorgerufen. : Beispiel Der Notarzt wird zu einem 55-jährigen Mann gerufen, der plötzlich über heftige Brustschmerzen klagt. Der Blutdruck beträgt 150/90 mmHg, die Herzfrequenz 110/min. Im EKG zeigen sich Senkungen der ST-Strecke in den Ableitungen II, III und aVF. Die sublinguale Gabe von Nitroglycerin führt kurzfristig zu einer Besserung der Symptomatik, ohne dass eine Änderung der EKG-Zeichen nachzuweisen ist. Der Patient erhält 500 mg Azetylsalizylsäure sowie 5000 IE Heparin i.v. und wird unter dem Bild einer Hinterwandischämie ins Krankenhaus gebracht. Während des Transports tritt plötzlich Kammer flimmern ein und der Patient verliert kurz das Bewusstsein. Durch sofortige elektrische Defibrillation (360 J) kann wieder ein Sinusrhythmus etabliert werden. Zur Prophylaxe weiterer maligner Rhythmusstörungen werden 300 mg Amiodaron i.v. verabreicht. Der wache Patient wird mit stabilen Kreislaufverhältnissen in der kardiologischen Notaufnahme übergeben.
Nebenwirkungen. Sämtliche Antiarrhythmika verfügen
Literatur
in unterschiedlichem Maße über kardiovaskuläre Nebenwirkungen, zu denen insbesondere negativ inotrope Effekte zählen. Aus einer zuvor latenten kann sich eine manifeste Herzinsuffizienz entwickeln. Die negativ chro-
Asfar P, De Backer D, Meier-Hellmann A, Radermacher P, Sakka SG (2004) Clinical review: Influence of vasoactive and other therapies on intestinal and hepatic circulations in patients with septic shock. Crit Care 8: 170–179
57 Literatur
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6
7 Pharmakologisches Wissen – Pharmakologie der Infusionstherapie Karsten Michael 7.1
Infusionslösungen im Überblick –60
7.2
Pharmakologie der kristalloiden Infusionslösungen –60
7.2.1 Vollelektrolytlösungen –60 7.2.2 Weitere Elektrolytlösungen –61
7.3
Pharmakologie der kolloidalen Infusionslösungen –61
7.3.1 7.3.2 7.3.3 7.3.4 7.3.5 7.3.6
Plasmaexpander –61 Plasmaersatzmittel –61 Dextrane –61 Hydroxyethylstärke –62 Gelatine –63 Hypertone hyperonkotische Infusionslösungen –64
Literatur –64
60
Kapitel 7 · Pharmakologisches Wissen – Pharmakologie der Infusionstherapie
)) Zur Aufrechterhaltung einer normalen Kreislauf- und Organfunktion ist eine ausreichende Füllung des Gefäßsystems lebenswichtig. Nimmt die Menge des im Gefäßsystem zirkulierenden Bluts ab, erniedrigen sich der venöse Rückfluss zum Herzen sowie das Herzeitvolumen. Dies geschieht beispielsweise bei einer starken Blutung mit einem großen Blutvolumenverlust. Um einen Volumenmangelschock zu vermeiden, ist das adäquate Auffüllen des Gefäßsystems sowie die Aufrechterhaltung eines adäquaten Füllungszustands eine der zentralen therapeutischen Maßnahmen. Die jeweils eingesetzte Flüssigkeitstherapie soll den normalen Erhaltungsbedarf und den durch ein akutes Ereignis (Operation, Unfall) hervorgerufenen Verlust ausgleichen. Zur intravenösen Infusionstherapie stehen unterschiedliche Infusionslösungen mit unterschiedlicher Wirkung zur Verfügung (7 Kap. 18).
7
7.1
Infusionslösungen im Überblick
Zur intravenösen Infusionstherapie stehen verschiedene Infusionslösungen zur Verfügung, die je nach Bedarf und Indikation einzeln oder in Kombination dem Patienten zugeführt werden. Wichtig hierfür ist die Kenntnis von Art und Wirksamkeit der einzelnen Lösungen. So können diese in der jeweiligen Situation als optimale Volumenersatzflüssigkeit eingesetzt werden. Infusionslösungen werden unterteilt in 5 Kristalloide Infusionslösungen 5 Kolloidale Infusionslösungen 5 Blutkomponenten und Plasmaderivate
Natriumchlorid-Konzentration wie das Plasma. Gebräuchliche Lösungen sind beispielsweise die isotone Kochsalzlösung sowie die Ringer-Laktat-Lösung. Sie verlassen den intravasalen Raum rasch durch die Gefäßkapillare und sind somit nicht für den Ausgleich großer Mengen intravasaler Flüssigkeit geeignet. Vollelektrolytlösungen werden vorwiegend renal ausgeschieden.
Isotone Kochsalzlösung Die isotone Kochsalzlösung ist plasmaisoton aber nicht physiologisch da der Na+-Wert 154 mmol/l beträgt und somit höher als der Na+-Wert im Plasma liegt. Die Osmolalität beträgt 308 mmol/l. Indikationen für isotone Kochsalzlösung 5 5 5 5 5
Basis-Flüssigkeitsbedarf Ersatz von geringen Volumenverlusten Flüssigkeitsersatz bei Nierenerkrankungen Plasmaisotoner Flüssigkeitsersatz Flüssigkeitsersatz bei extrazellulärem Volumendefizit (Hyponatriämie, Hypochlorämie, metabolische Alkalose)
! Cave Bei zu hoher Zufuhr besteht die Gefahr einer Hypervolämie sowie einer hyperchlorämischen Azidose.
Ringer-Laktat-Lösung Die Ringer-Laktat-Lösung besitzt einen Na+-Gehalt von 130 mmol/l. Somit liegt sie näher am physiologischen Na+-Wert des Blutplasmas. Die Halbwertszeit beträgt 20– 30 min. Die Osmolalität liegt bei 308 mmol/l. Indikationen für Ringer-Laktat-Lösung
7.2
Pharmakologie der kristalloiden Infusionslösungen
7.2.1 Vollelektrolytlösungen ! Na-Molarität von Vollelektrolytlösungen: Na+ > 120 mmol/l
In Vollelektrolytlösungen sind die wichtigsten Elektrolyte enthalten. Sie entsprechen näherungsweise der Plasmaosmolalität. Sie enthalten somit annähernd die gleiche
5 Basis-Flüssigkeitsbedarf 5 Ersatz von geringen Volumenverlusten 5 Flüssigkeitsersatz bei isotoner und hypotoner Dehydratation 5 Plasmaisotoner Flüssigkeitsersatz 5 Flüssigkeitsersatz bei extrazellulärem Volumendefizit
! Cave Bei zu großer Zufuhr besteht die Gefahr einer Hypervolämie sowie einer Hyperkaliämie und Hyperkalzämie.
61 7.3 · Pharmakologie der kolloidalen Infusionslösungen
7.2.2 Weitere Elektrolytlösungen
Neben den Vollelektrolytlösungen unterscheidet man noch 5 2/3-Elektrolytlösungen: Na+-Wert: 91–120 mmol/l 5 Halbelektrolytlösungen: Na+-Wert: 61–90 mmol/l 5 1/3–Elektrolytlösungen: Na+-Wert: < 60 mmol/l
7.3.1 Plasmaexpander Bei dieser Kolloidgruppe liegt der kolloidosmotische Druck höher als der des Plasmas. So kommt es entlang des osmotischen Gradienten zu einem Flüssigkeitseinstrom aus dem Interstitium in das Gefäßsystem. Es wird rasch ein großer Volumeneffekt erzielt. Vertreter dieser Gruppe sind Hydroxyethylstärke und Dextrane.
7.3.2 Plasmaersatzmittel 7.3
Pharmakologie der kolloidalen Infusionslösungen
Kolloidale Infusionslösungen enthalten hochmolekulare Substanzen und können schnell große Mengen intravasaler Flüssigkeitsverluste ersetzen. Man unterscheidet Plasmaexpander und Plasmaersatzmittel. Durch eine entsprechende Bindungskapazität für Wasser können kolloidale Lösungen einen hohen onkotischen Druck aufbauen. Da sie kaum durch die Kapillarmembranen der Gefäßwände nach extravasal gelangen können, haben kolloidale Infusionslösungen eine lange Ver weildauer im Gefäßsystem. ! Kolloidale Infusionslösungen sind das Mittel der Wahl für den raschen Ersatz von intravasalem Volumen.
Einflussgrößen auf die Verweildauer im Intravasalraum 5 Molekülgröße 5 Kolloidosmotischer Druck 5 Verstoffwechselung (Abbau oder Ausscheidung)
Kolloidale Infusionslösungen unterscheiden sich in ihrer Zusammensetzung wie folgt 5 Volumeneffekt (Plasmaexpander, Plasmaersatzmittel) 5 Substitutionsgrad (Hydroxyethylstärke) 5 Molekülgröße 5 Konzentration
Bei dieser Kolloidgruppe ist der kolloidosmotische Druck der infundierten Lösung gleich dem kolloidosmotischen Druck des Plasmas. Da somit kein osmotischer Druckunterschied besteht, kommt es zu keiner Volumenverschiebung vom Extrazellulärraum in das Gefäßsystem. Daher entspricht der Volumeneffekt in etwa der infundierten Menge.
7.3.3 Dextrane Dextrane sind hochmolekulare Polysaccharide und werden durch Bakterien aus Zuckerrohr, Natriumsulfat und Melasse gebildet. Nach chemischer Aufbereitung (Hydrolyse, Fraktionierung und Reinigung) entstehen Dextrane mit unterschiedlichem Molekulargewicht und unterschiedlichen pharmakologischen Eigenschaften . Tab. 7.1. Die intravasale Verweildauer liegt bei Dextran 40 zwischen 2 und 4 h, bei Dextran 70 zwischen 4 und 6 h. Dextrane werden mittels spezieller Enzyme (Dextranasen) aufgespalten und renal ausgeschieden. Es kommt zu keiner Speicherung von Dextranen im Körper. Dextrane sind hyperonkotisch. Daher ist die Volumenwirkung größer als die Menge des infundierten Volumens (Dextrane sind Plasmaexpander). Der initiale Volumeneffekt beträgt 100–130 %. Im Normalfall steigen nach Dextraninfusion das Herzzeitvolumen, das Schlagvolumen sowie der zentralvenöse Druck. Ebenso wird über den Volumeneffekt die Diurese gesteigert. ! Um eine ausgeprägte Dehydrierung des Extrazellulärraums bei Dextrangabe durch die Volumenverschiebung von extrazellulär nach intravasal zu vermeiden, sollten gleichzeitig Vollelektrolytlösungen infundiert werden.
Indikationen für Dextranlösungen Nach Inhaltsstoffen werden unterschieden 5 Dextrane 5 Hydroxyethylstärke 5 Gelatine
5 Volumenersatz 5 Thromboseprophylaxe 5 Hämodilution 6
7
62
Kapitel 7 · Pharmakologisches Wissen – Pharmakologie der Infusionstherapie
. Tabelle 7.1. Eigenschaften der unterschiedlichen Dextranlösungen Konzentration [%]
Mittleres MG
Volumeneffekt [%]
Intravasale Verweildauer [h]
Maximale Tagesdosis [g/kg]
Dextran 70 (hochmolekular)
6
70
130
4–6
1,5
Dextran 40 (niedermolekular)
10
40
175
2–4
1,5
! Cave
7
5 Mikrozirkulationsstörung (niedermolekulare Dextrane) 5 Dosierung von Dextranen: max. 1,5 g/kg KG/Tag
Nebenwirkungen Allergische Reaktionen. Anaphylaktische Reaktionen ent-
stehen durch Antikörper gegen bakterielle Polysaccharide, die mit Dextran eine Kreuzreaktion auslösen können. Dextranantikörper gehören der IgG-Klasse an. Dies kann schon nach nur einem geringen Infusionsvolumen zur Ausbildung von Dextran-Antidextran-Antikörperkomplexen führen und eine schwere anaphylaktische Reaktion nach sich ziehen. Die Häufigkeit für das Auftreten schwerer allergischer Reaktionen liegt bei 1:70000–1:200000. Aufgrund der schon auf den Polysacchariden präformierten Antikörper ist eine schwere allergische Reaktion schon bei der Erstgabe möglich. Diese schwere Nebenwirkung kann durch die Vorgabe von Haptenen gemindert werden. Haptene binden die präformierten Antikörper und verhindern somit die Ausbildung der zur Anaphylaxie führenden Antidextran-Antikörperkomplexe. ! Vor der Erstgabe von Dextranen ist die Gabe eines Dextranhaptens (Promit) zur Neutralisation präformierter Antikörper indiziert.
Patienten mit bekannten Blutgerinnungsstörungen sollten keine Dextranlösungen infundiert werden.
Nierenfunktionsstörungen. Dextrane können zu einer starken Erhöhung der Urinviskosität führen. In diesem Fall kann die glomeruläre Filtrationsrate bis zur Anurie vermindert werden. Es können sich ausgeprägte Nierenfunktionsstörungen entwickeln. ! Cave Patienten mit schon eingeschränkter Nierenfunktion (chronische Niereninsuffizienz) sollten keine Dextranlösungen infundiert werden.
Aufgrund des beschriebenen erheblichen Nebenwirkungsspektrums werden Dextrane im klinischen Alltag nur noch sehr selten verwendet.
7.3.4 Hydroxyethylstärke Hydroxyethylstärke (HAES) wird aus Kartoffel- und Getreidestärke gewonnen. HAES ist ein Derivat des Amylopektins und ist ein glykosidisch vernetztes Polysaccharid. Hydroxyethylstärkelösungen liegen in unterschiedlicher Zusammensetzung vor. Sie unterscheiden sich in ihrem pharmakologischen Verhalten und ihrer klinischen Wirkung:
Blutgerinnungsstörungen. Bei der Gabe von Dextranen
Charakteristika von Hydroxyethylstärke
kommt es zu einer Umhüllung (Coating) von Thrombozyten und Erythrozyten. Hierdurch werden die Fähigkeit der Thrombozyten zur Adhäsion sowie die Fähigkeit der Erythrozyten zur Aggregation gemindert. Ebenso wird die Plättchenfreisetzung vermindert. Es kann zu einer ausgeprägten Blutungsneigung kommen. Weiterhin kann die Aktivität der für die Blutgerinnungskaskade wichtigen Faktoren II, V und VIII stark vermindert werden.
Substitutionsgrad: Anteil der mit Hydroxyethylgruppen besetzten Glukoseeinheiten (ca. 50–70 %) Substitutionsmuster: Verhältnis von C2/C6-substituierten Glukoseeinheiten (bedeutsam für die Verstoffwechselung) Molekulargewichtgröße: zwischen 70000 und 450000 Intravasale Verweildauer: abhängig von Substitutionsgrad, Substitutionsmuster, Molekulargewicht und Molekülgröße
7
63 7.3 · Pharmakologie der kolloidalen Infusionslösungen
. Tabelle 7.2. Eigenschaften der unterschiedlichen Hydroxyethylstärkelösungen (HAES) Konzentration [%]
Mittleres MG
Volumeneffekt [%]
Intravasale Verweildauer [h]
Maximale Tagesdosis [ml/kg]
HAES 450/0,7
6
450000
145
6–8
20
HAES 200/0,5
6
200000
100
3–4
33
HAES 200/0,5
10
200000
145
3
20
HAES 130/0,4
6
130000
100
3
33
Hydroxyethylstärke wird auf zwei unterschiedliche Arten verstoffwechselt. Lösungen mit Hydroxyethylstärke von geringerem Molekulargewicht (MG 50000–70000) werden primär durch Enzyme gespalten und danach renal ausgeschieden. Lösungen mit hochmolekularen Anteilen (MG > 130000) können über lange Zeit im retikuloendothelialen System gespeichert werden. Anteile hochmolekularer Lösungen werden zusätzlich über die Gallenflüssigkeit ausgeschieden. Das Molekulargewicht hat auch entscheidenden Einfluss auf die Volumenwirkung und die Verweildauer im Intravasalraum (Wirkung als Plasmaexpander). Da die Anzahl der kolloidosmotischen Moleküle für die Volumenwirkung verantwortlich ist, hängt die Volumenwirkung von der Konzentration der Lösung ab. ! Ein hohes Molekulargewicht erhöht die Viskosität der Lösungen.
Nach den oben aufgezeigten Parametern werden folgende gebräuchliche Arten der Hydroxyethylstärke unterschieden (. Tab. 7.2). Indikationen für Hydroxyethylstärke sind Volumenersatz und Hämodilution. Dosierung Dosierung von Hydroxyethylstärke: max. 1,2–2,0 g/kg KG/Tag
Nebenwirkungen Allergische Reaktionen. Allergische Reaktionen bei Gabe von Hydroxyethylstärke werden selten beobachtet. Klinische anaphylaktische Reaktionen sind im Vergleich zu den Dextranen selten. Blutgerinnungsstörungen. Hydroxyethylstärkelösungen führen analog zu den Dextranen zu einer Störung der Thrombo-
zytenadhäsion (Coating). Ebenso wird durch einen Verdünnungseffekt eine Verminderung des Faktor-VIII-Komplexes beobachtet. Diese Blutgerinnungsstörungen kommen aber erst bei Infusion größerer Mengen (> 1,5 Liter/Tag) hochmolekularer Lösungen zur Geltung. Vorher sind keine klinischen Zeichen einer Blutgerinnungsstörung zu erwarten. Häufig wird ein Anstieg der D-Amylase im Serum beobachtet. ! Falsch positiv veränderte D-Amylase-Werte im Serum sind ein häufiger Effekt nach Gaben von Hydroxyethylstärkelösungen.
Nierenfunktionsstörungen. Es gibt derzeit keine relevan-
ten Hinweise auf wesentliche klinische Störungen der Nierenfunktion beim Einsatz von Hydroxyethylstärkelösungen. Trotzdem ist bei einem vorbestehenden Nierenschaden (chronische Niereninsuffizienz) ein regelmäßiges Monitoring der Nierenfunktionswerte zu empfehlen. ! Hydroxyethylstärke (HAES) ist ein im klinischen Alltag häufig eingesetzter Plasmaexpander, um einen großen intravasalen Volumenmangel rasch und wirkungsvoll auszugleichen.
7.3.5 Gelatine Gelatinelösungen werden aus bovinem Kollagen (Knorpel und Sehnen) hergestellt. Um eine optimale Löslichkeit zu erreichen, werden die Kollagene durch chemische Prozesse und Zusätze verarbeitet. Gelatinelösungen werden vollständig metabolisiert und renal ausgeschieden. Eine Speicherung von Abbauprodukten wie bei der Hydroxyethylstärke findet nicht statt. Gelatinelösungen haben ein niedriges mittleres Molekulargewicht von 30000–35000. Hierdurch sowie aufgrund der niedrigen Konzentration zeigen sie einen im Vergleich zur Hydroxyethylstärke geringeren Volumeneffekt sowie eine geringere intravasale Verweildauer.
64
Kapitel 7 · Pharmakologisches Wissen – Pharmakologie der Infusionstherapie
Die intravasale Verweildauer beträgt bei der Gelatinelösung 2–3 h. Der initiale Volumeneffekt der applizierten Menge beträgt 70–80 %. Indikationen für Gelatinelösungen sind der kurzfristige Volumenersatz und die Hämodilution. Dosierung Derzeit existiert keine Dosislimitierung für Gelatinelösungen.
Nebenwirkungen
7
Allergische Reaktionen. Sie treten selten auf und sind wahrscheinlich durch eine Histaminfreisetzung bedingt. Die Häufigkeit des Auftretens schwerer anaphylaktischer Reaktionen ist im Vergleich zu den Dextranen gering. Bei bekannter allergischer Vorerkrankung (multifaktorielle Allergie) sollte aber auch hier mit dem Auftreten allergischer Reaktionen gerechnet werden. Blutgerinnungsstörungen. Es gibt derzeit keinen Hinweis auf eine klinisch manifeste Beeinflussung der Blutgerinnung durch Gelatinelösungen. Ein Einfluss auf die Thrombozytenadhäsion besteht nicht. Bei Gabe größerer Mengen kann es durch Verdünnungseffekte zu einer Verminderung der Gerinnungsfaktorenkonzentration kommen. Weiterhin wird der Fibronektinspiegel (Immunkompetenz) möglicherweise beeinflusst. Nierenfunktionsstörung. Gelatinelösungen haben keinen störenden Einfluss auf die Nierenfunktion. Sie eignen sich daher auch zur Anwendung bei Patienten mit Nierenfunktionsstörungen oder bei Patienten nach Nierentransplantation. Sie bewirken eine Steigerung der Diurese. ! – Gelatinelösungen enthalten einen hohen Kalziumanteil. Bei gleichzeitiger Digitalistherapie ist daher ein engmaschiges Monitoring des Kalziumspiegels anzuraten. – Gelatinelösungen sind im klinischen Alltag häufig eingesetzte Plasmaersatzmittel um einen großen intravasalen Volumenmangel rasch und wirkungsvoll auszugleichen. Da Gelatine aufgrund seiner onkotischen Eigenschaften nicht als Plasmaexpander wirkt, muss die Menge des Volumenverlustes in ca. 2facher Menge ersetzt werden.
7.3.6 Hyper tone Hyperonkotische
Infusionslösungen Neuerdings werden zur raschen Normalisierung eines akuten intravasalen Volumendefizites auch hypertone hyperonkotische Lösungen eingesetzt. Hiermit ist man in der Lage, durch die Gabe kleiner Volumina hochmolekularer Lösungen eine große Menge interstitieller Flüssigkeit zu mobilisieren und somit in sehr kurzer Zeit eine wirkungsvolle Zunahme des intravasalen Volumens zu erzielen. Ebenso kommt es zu einer raschen und wirkungsvollen Zunahme der Mikro- und Makrozirkulation, da ein eventuell bestehendes Endothelödem entlastet wird. Diese Effekte werden auch als »small volume resuscitation« bezeichnet. Im klinischen Alltag wird hierzu häufig eine Lösung aus 7,5 % NaCl + 6 % Hydroxyethylstärke (MG 200000) verwendet. Diese Lösung steht im entsprechenden Mischungsverhältnis als HyperHAES® zur Verfügung. Indikationen 5 Rasche und großvolumige Blutverluste (traumatisch, hämorrhagischer Schock) 5 Sepsis (akute Hypotension durch Vasodilatation) 5 Schädel-Hirn-Trauma (Reduktion des Hirndrucks) ! Patienten mit Schädel-Hirn-Trauma und ausgeprägter Hypotension profitieren durch die Anwendung von hypertonen, hyperonkotischen Infusionslösungen, da der Hirndruck reduziert werden kann.
Bei der Gabe hypertoner, hyperonkotischer Lösungen kann es bei häufiger Anwendung zur Hypernatriämie sowie zur Hyperosmolarität kommen. Daher besteht in der Anwendung eine Dosislimitierung: ! Maximale Dosis für hypertone, hyperonkotische Lösungen: 3–4 ml/kg KG.
Literatur Dieterich H-J (2001) Kolloide in der Intensivmedizin. Anästhesist 50: 54–68 Dieterich H-J, Perioperative Flüssigkeitstherapie. In: Krier C, Hempelmann G, Schmucker P (Hrsg) Anästhesiologie. Thieme, Stuttgart Dieterich H-J, Kraft D, Sirtl C et al. (1998) Hydroxyethyl starch antibodies in human – incidence and clinical relevance. Anesth Analg 86: 1123–1126
65 Literatur
Entholzner EK, Mielke LL, Calatzis AN, Feyh J, Hipp R, Hargasser SR (2000) Coagulation effects of a recently developed hydroxyethyl starch (Hes 130/0,4) compared to hydrohyethyl starches with higher molecular weight. Acta Anaesthesiologica Scandinavica 44: 1116–1121 Laxenaire MC, Charpentier C, Feldmann L (1994) Anaphylactoid reactions to colloid plasma substitutes: frequency, risk factors, mechanisms. Ann Fr Anesth Reanim 13: 301–310 Tabuchi N, De Haan J, Huet RCGG, Boonstra PW, Van Oeveren W (1995) Gelatin use impairs platet adhesion during cardiac surgery. Thromb Haemist 74: 1447–1451
7
8 Physiologisches Wissen – Kreislauf und Narkose André Heinen, Wolfgang Schlack 8.1
Herzmechanik –68
8.2
Herzdynamik –68
8.2.1 8.2.2 8.2.3 8.2.4
Vorlast (Preload) –69 Nachlast (Afterload) –70 Kontraktilität (Inotropie) –70 Myokardialer Synchronismus –70
8.3
Steuerung der Herzfunktion –70
8.4
Gefäßsystem –71
8.5
Blutdruck –72
8.6
Blutdruckregulation –73
8.6.1 Kurzfristige Blutdruckregulation –73 8.6.2 Mittelfristige Blutdruckregulation –73 8.6.3 Langfristige Blutdruckregulation –74
8.7
Organdurchblutung –74
8.7.1 Steuerung der Organdurchblutung –74
Literatur –75
68
Kapitel 8 · Physiologisches Wissen – Kreislauf und Narkose
)) . Tabelle 8.1. Beeinflussung der kardiovaskulären Funktion durch Anästhetika und Pharmaka
Die Aufgabe des kardiovaskulären Systems besteht im Transport von Sauerstoff, Nährstoffen und Botenstoffen zu den verschiedenen Geweben des Körpers und dem Abtransport metabolischer Abbauprodukte aus diesen Geweben. Aus anatomischer Sicht ist das kardiovaskuläre System ein kontinuierlicher, geschlossener, flüssigkeitsgefüllter und elastischer Kreislauf (Gefäßsystem), welcher mit dem Herzen als Pumpe ausgestattet ist. Sowohl das Herz als auch das Gefäßsystem unterliegen Regulationsmechanismen. Hierdurch wird eine Anpassung der Herz-Kreislauf-Funktion an die sich verändernden Versorgungsanforderungen der verschiedenen Gewebe gewährleistet. Sowohl Allgemeinanästhesie als auch regionale Anästhesieverfahren haben über direkte und/oder indirekte Wirkungen Einfluss auf das kardiovaskuläre System . Tab. 8.1. In den folgenden Abschnitten werden jeweils in Form kurzer Beispiele einige Einflüsse anästhesiologischer Pharmaka bzw. Techniken auf die beschriebenen physiologischen Mechanismen geschildert.
8
8.1
Herzmechanik
Der Herzzyklus wird in zwei Phasen unterteilt; die Systole, während der sich der Herzmuskel kontrahiert, und die Diastole, welche die Erschlaffungsphase des Herzmuskels darstellt (. Abb. 8.1). Die Kammersystole beginnt mit der Anspannungsphase (1). Sowohl Atrioventrikular(AV)- als auch Arterienklappen sind zu diesem Zeitpunkt geschlossen, der intraventrikuläre Druck steigt bei beginnender Muskelkontraktion (isovolumetrische Anspannung) rasch an. Übersteigt der Ventrikeldruck den Druck in der Aorta bzw. der Pulmonalarterie, so öffnen sich die Arterienklappen druckpassiv und die zweite Phase der Systole, die Austreibungsphase (2) beginnt (isotonische Anspannung). Die Ventrikel werfen in dieser Phase etwa die Hälfte ihres enddiastolischen Blutvolumens, das Schlagvolumen, aus. Der prozentuale Anteil des Schlagvolumens am enddiastolischen Ventrikelvolumen wird als Auswurffraktion oder Ejektionsfraktion (EF) bezeichnet. Im klinischen Alltag wird die Ejektionsfraktion im Rahmen einer Ventrikulographie oder echokardiographisch ermittelt; sie erlaubt eine Beurteilung der Herzfunktion bzw. der Kontraktionsfähigkeit des Herzens. Fällt zum Ende der Systole der Ventrikeldruck unter den Aorten- bzw. Pulmonalarteriendruck, schließen sich die Ar-
HF
MAP
HZV
SVR
Thiopental
–
–
–
–/–
Propofol
–
–
–
–
Ketamin
–
–
–
–/–
Opioide
–
–
–
–
Enfluran
–
–
–
–
Isofluran
–
–
–
–
Sevofluran
–
–
–
–
Adrenalin
–
–
–
–/–
Noradrenalin
–/–
–
–
HF = Herzfrequenz, MAP = arterieller Mitteldruck, HZV = Herzzeitvolumen, SVR = totaler peripherer Widerstand (Erläuterung der Begriffe im Text)
terienklappen. Dieser Klappenschluss markiert das Ende der Systole. Bei nun geschlossenen Klappen und sich entspannendem Herzmuskel fällt der intraventrikuläre Druck rasch ab (isovolumetrische Relaxation). Dieser erste Teil der Diastole wird als Entspannungsphase (3) bezeichnet. Unterschreitet der Druck in den Ventrikeln den Druck in den Vorhöfen, so öffnen sich die AV-Klappen, und Blut strömt aus den Vorhöfen in die Ventrikel. Im Verlauf dieser Füllungsphase (4) nimmt das intraventrikuläre Blutvolumen zu, welches ein Maß der Vordehnung der ventrikulären Muskelfasern (Vorlast) ist und dadurch die Kontraktionskraft und das Schlagvolumen der folgenden Systole beeinflusst (vgl. folgende Abschnitte).
8.2
Herzdynamik
Ein Maß für die Pumpleistung des Herzens ist das Herzzeitvolumen (HZV). Es beschreibt die vom Herzen pro Zeiteinheit ausgeworfene Blutmenge und errechnet sich als Produkt aus Schlagvolumen (SV) und Herzfrequenz (HF). HZV = SV u HF Das physiologische Herzzeitvolumen beim Erwachsenen in Ruhe beträgt 4,5–6 l/min. Bei einem Schlagvolumen von 70 ml und einer Herzfrequenz von 80/min ergibt sich ein Herzzeitvolumen von 5,6 l/min.
69 8.2 · Herzdynamik
Der Herzindex (Cardiac index, CI) berücksichtigt die Abhängigkeit des Herzzeitvolumens von der Körperoberfläche. Physiologisch beträgt der Herzindex 2,5–4,2 l/min u m2. Unter körperlicher Belastung kann das Herzzeitvolumen des Herzgesunden auf 25 l/min ansteigen. Neben der Herzfrequenz und dem Schlagvolumen gibt es vier weitere Faktoren, welche Einfluss auf das Herzzeitvolumen haben.
8.2.1 Vorlast (Preload)
. Abb. 8.1. Zeitliche Zuordnung wichtiger Funktionsparameter zu den Aktionsphasen des Herzens: 1 = Anspannungsphase, 2 = Austreibungsphase, 3 = Entspannungsphase, 4 = Füllungsphase. Die schraffierten Querbalken markieren die Verschlussdauer der jeweiligen Klappen. SV = Schlagvolumen, RV = Restblutvolumen (Aus Thews G, Vaupel P [2001] Vegetative Physiologie. Springer-Verlag, Berlin Heidelberg New York, S. 137)
Die Vorlast beschreibt den enddiastolischen Dehnungszustand der Herzmuskelfasern (Wandspannung), welcher vom enddiastolischen Ventrikelvolumen abhängig ist. Nach dem Frank-Starling-Mechanismus stehen die Auswurfleistung der Ventrikel und die enddiastolischen Ventrikelvolumina in direktem Zusammenhang. Bei zunehmender Vorlast und somit zunehmender Vordehnung der Herzmuskelfasern nimmt die Kontraktionskraft der Ventrikel zu. Nach Überschreiten der optimalen Vorlast nimmt die Kontraktionskraft wieder ab (»Überdehnung«). Die meisten klinischen Messgrößen bilden die Vorlast nur ungenügend ab und müssen vor allem in ihrem Verlauf interpretiert werden. . Abb. 8.2 stellt schematisiert die wechselseitigen Beziehungen verschiedener, mit der Vorlast in Verbindung stehender Messgrößen, dar. Klinisch eingesetzte Untersuchungen zur Abschätzung der Vorlast, wie die Messung des linksventrikulären enddiastolischen Volumens mit Hilfe der Echokardiographie, des pulmonalkapillären Verschlussdrucks (PCWP) mittels Pulmonalarterienkatheter oder des zentralen Venendrucks (ZVD) über einen zentralen Venenkatheter ermöglichen nur die Erhebung isolierter Befunde. Bei der Interpretation dieser
. Abb. 8.2. Schematisierte Darstellung die Vorlast beeinflussender Größen und ihrer gegenseitigen Wechselwirkungen.
8
70
Kapitel 8 · Physiologisches Wissen – Kreislauf und Narkose
Befunde sind weniger Abweichungen von den Normwerten als die Beurteilung der individuellen Situation (z. B. Erkrankungen der Herzklappen, Lungenerkrankungen, Beatmung etc.) und des individuellen Verlaufs von Bedeutung. ! Verschiebungen des Blutvolumens, z. B. eine Abnahme des zentralen Blutvolumens im Rahmen einer Spinal- oder Periduralanästhesie oder bei Lageveränderungen, führen zu einer Abnahme der Vorlast und damit des HZV. Bei maschineller Beatmung kommt es durch einen Wegfall des inspiratorischen intrathorakalen Unterdruckes und der dadurch bedingten fehlenden Sogwirkung zu einer Abnahme der Vorlast. Dieser Effekt wird bei Einsatz einer PEEP-Beatmung (positive endexpiratory pressure) noch verstärkt.
8.2.2 Nachlast (Afterload)
8
Unter der Nachlast versteht man die mittlere systolische Wandspannung der Ventrikel, welche diese zur Überwindung des Aorten- bzw. Pulmonalarteriendrucks entwickeln müssen. Die Nachlast des linken Ventrikels kann klinisch anhand des aortalen Mitteldrucks abgeschätzt werden. Sie ist vom totalen peripheren Gefäßwiderstand und der Pumpleistung des Herzens abhängig. Eine Zunahme der Nachlast führt zu einer Verringerung des Schlagvolumens und des HZV. ! Inhalationsanästhetika senken die Kontraktionskraft des Herzens und den peripheren Gefäßwiderstand und führen somit zu einer Abnahme des Blutdrucks (Nachlastsenkung). Ketamin führt über eine Sympathikusaktivierung zu einer Nachlaststeigerung.
8.2.3 Kontraktilität (Inotropie) Unter der Kontraktilität versteht man die Kraft und Geschwindigkeit der Herzmuskelfaser verkürzung, welche unabhängig von Vor- und Nachlast ist. Diese Unabhängigkeit ist jedoch nur unter experimentellen Bedingungen gegeben, deshalb wird im klinischen Alltag diese Einschränkung vernachlässigt. Drei wesentliche Faktoren steigern die Kontraktilität des Myokards: 5 Katecholamine führen über eine sympathoadrenerge Aktivierung zu einer Steigerung der Kontraktilität (Kraft und Geschwindigkeit der Muskelkontraktion). 6
5 Ein Anstieg der Herzfrequenz führt ebenfalls zu einem Anstieg der Kontraktilität. Hierbei spricht man von Kraft-Frequenz-Beziehung (Bowditch-Effekt). 5 Eine Zunahme der Vorlast führt über eine KraftSpannungs-Beziehung (Frank-Starling-Mechanismus) zu einer Zunahme der Kontraktionskraft, allerdings bleibt hierbei die Geschwindigkeit der Muskelkontraktion unbeeinflusst.
Ein Maß für die Kontraktilität ist die maximale Druckanstiegsgeschwindigkeit dP/dtmax. ! Positv inotrope Substanzen wie Katecholamine oder Phosphodiesterasehemmer werden zur Unterstützung der kardiovaskulären Funktion regelmäßig eingesetzt.
8.2.4 Myokardialer Synchronismus Eine effiziente systolische Entleerung des Ventrikels setzt eine gleichmäßige, koordinierte Bewegung der Ventrikelmuskulatur voraus. Eine Reihe von Erkrankungen, wie z. B. Erregungsleitungsstörungen, Rhythmusstörungen, Herzinfarkt oder Herzwandaneurysmen, beeinflussen die physiologischen Bewegungsmuster der Ventrikel und reduzieren damit die Pumpleistung des Herzens.
8.3
Steuerung der Herzfunktion
Die Herzfunktion unterliegt der Kontrolle des vegetativen Nervensystems, wobei sympathische Fasern aus den oberen Thorakalsegmenten als Nn. cardiaci und parasympathische Fasern aus dem rechten und linken N. vagus das Herz efferent versorgen. Eine sympathische Stimulation bewirkt am Herzen eine Zunahme der Herzfrequenz (positiv chronotrop), der Leitungsgeschwindigkeit des AV-Knotens (positiv dromotrop) und der Kontraktilität (positiv inotrop). Diese Wirkungen werden durch die Transmitter Noradrenalin aus den sympathischen Nervenendigungen und Adrenalin (und Noradrenalin) aus dem Nebennierenmark über eine Aktivierung von E1-Rezeptoren vermittelt. Der Parasympathikus vermittelt seine jeweils antagonistische Wirkung durch den Transmitter Azetylcholin, wobei er auf die Inotropie keinen Einfluss hat, da er das Ventrikelmyokard nicht innerviert. ! In Ruhe überwiegt am Herzen eine parasympathische Aktivierung: Die Grundfrequenz eines pharmakologisch denervierten Herzens liegt mit ca. 100 Schlägen/min über der physiologischen Herzfrequenz.
71 8.4 · Gefäßsystem
Über afferente Fasern kardialer Rezeptoren vermittelte Reflexe zur Steuerung der kardiovaskulären Funktion 5 Bainbridge-Reflex: Eine Dehnung der Wände des rechten Herzens (plötzliche Vorlasterhöhung) führt zu einem Anstieg der Herzfrequenz. 5 Bezold-Jarisch-Reflex: Eine Aktivierung von Chemo- und Dehnungsrezeptoren durch Hypoxie, Pharmaka oder Dehnung führt zu Bradykardie und Hypotonie. 5 Gauer-Henry-Reflex: Eine verminderte Vorhofdehnung führt zu einer Freisetzung von Adiuretin (ADH) und somit zu einer Wasserretention. 5 Vorhofdehnungsreflex: Eine gesteigerte Vorhofdehnung führt zu einer Freisetzung von atrialem natriuretischem Peptid (ANP) und somit zur verstärkten Wasserausscheidung.
Ein weiterer wichtiger Reflex mit Auswirkungen auf die Herzfunktion ist der Barorezeptorreflex (Karotissinusreflex). Ein Blutdruckanstieg führt zu einer Aktivierung von in der Karotiswand und im Aortenbogen gelegenen Dehnungsrezeptoren und somit zu einer über vagale Fasern vermittelten Herzfrequenzsenkung und zu einer Blutdruckabnahme. Eine Aktivierung dieses Reflexbogens durch Massage des Karotissinus kann z. B. bei verschiedenen tachykarden Rhythmusstörungen (z. B. Sinus- oder AV-Knoten-Reentry-Tachykardien) therapeutisch eingesetzt werden. ! – Im Rahmen von Spinal- oder Periduralanästhesien kommt es zur Sympathikolyse in den Segmenten der Lokalanästhetikaausdehnung. Sind hohe thorakale Segmente (Nn. cardiaci) betroffen, so sind Bradykardie, Blutdruck abfall und das Ausbleiben sympathisch vermittelter Kompensationsmechanismen die Folge. – Opioide bewirken eine Verminderung der Herzfrequenz über eine Hemmung sympathischer und eine Stimulation vagaler (parasympathischer) Efferenzen. – E1-Rezeptoren sind Angriffspunkte therapeutischer Maßnahmen: – E-Blocker zur Frequenzsenkung – Katecholamine zur Steigerung der Inotropie
. Abb. 8.3. Drücke, mittlere lineare Strömungsgeschwindigkeiten und Gesamtquerschnitte der Strombahnen in den verschiedenen Abschnitten des kardiovaskulären Systems (aus Thews G, Vaupel P [2001] Vegetative Physiologie. Springer-Verlag, Berlin Heidelberg New York, S. 179)
8.4
Gefäßsystem
Das Gefäßsystem ist ein kontinuierliches, geschlossenes, flüssigkeitsgefülltes (Blut-) System und unterliegt verschiedenen Regulationsmechanismen. Der linke Ventrikel wirft mit jedem Herzschlag das Schlagvolumen in den großen (systemischen) Kreislauf aus. Über Aorta, Arterien und Arteriolen – das Hochdrucksystem – gelangt das Blut in die Kapillaren und Venolen (Mikrozirkulation) der peripheren Gewebe. Venen führen das Blut zum rechten Herzen zurück, von wo aus es den kleinen (Lungen-) Kreislauf durchströmt und wieder das linke Herz erreicht. Dieser Gefäßabschnitt von den Venen über das rechte Herz, die Lunge bis zum linken Vorhof und den linken Ventrikel in der Diastole wird als Niederdrucksystem bezeichnet. Im gesamten Gefäßsystem eines Erwachsenen befindet sich ein Blutvolumen von etwa 4,5–5,5l. Dies entspricht ca.
8
72
Kapitel 8 · Physiologisches Wissen – Kreislauf und Narkose
70 ml Blut pro kg Körpergewicht. Der Anteil des zirkulierenden Blutvolumens, der sich im Niederdrucksystem befindet, liegt bei ca. 80 %. . Abb. 8.3 zeigt schematisch die Drücke in den jeweiligen Abschnitten des Gefäßsystems. Die hier dargestellten Druckdifferenzen ('P) stellen die treibende Kraft der Blutströmung dar. Im großen Kreislauf beträgt diese Druckdifferenz ca. 97 mmHg (aortaler Mitteldruck ca. 100 mmHg, zentralvenöser Druck ca. 2–5 mmHg), im Lungenkreislauf ca. 8–10 mmHg. Der Zusammenhang zwischen der Druckdifferenz ('P), der Stromstärke (Q, entspricht dem HZV) und dem Widerstand (R) kann mit dem Ohmschen Gesetz beschrieben werden: Q = 'P/R
8
Es ist zu erkennen, dass das HZV neben der arteriovenösen Druckdifferenz auch vom Gefäßwiderstand abhängig ist. Zur genauen Berechnung der Stromstärke und des Widerstandes sei auf Lehrbücher der Physiologie bzw. der Physik ver wiesen; wesentliche Determinante des Widerstandes ist aber der Gesamtquerschnitt des Gefäßsystems, welcher größtenteils über den Tonus und den Querschnitt der Arteriolen (Widerstandsgefäße) bestimmt wird. Von klinischer Bedeutung sind der Gefäßwiderstand des Körperkreislaufs, der totale periphere Widerstand (»systemic vascular resistance«, SVR) und der pulmonale Gefäßwiderstand (»pulmonary vascular resistance«, PVR). SVR = (MAP – RAP)/HZV u 80 (MAP = aortaler Mitteldruck, RAP = rechtsatrialer Druck # ZVD) Der Normwert des SVR beträgt 770–1500 dyn/s/cm5. PVR = (PAP – LAP)/HZV u 80 (PAP = pulmonalarterieller Mitteldruck, LAP = linksatrialer Druck) Der Normwert des PVR liegt bei 20–120 dyn/s/cm5. ! Der Einfluss in der Anästhesie ver wendeter Medikamente auf die kardiovaskuläre Funktion spielt sich häufig indirekt über eine Beeinflussung der sympathischen Aktivität an den Widerstandsgefäßen (am Herzen s. o.) ab. Eine Abnahme des SVR (auch durch Sympathikolyse bei Regionalanästhesien) führt zu einer Umver teilung des Blutvolumens in venöse Kapazitätsgefäße und zu einer Verringerung des Volumenangebotes an das Herz.
Blutdruck
8.5
Der Druck in der Aorta und den arteriellen Gefäßen ist abhängig von der Pumpleistung des Herzens und dem Gefäßwiderstand. Er unterliegt einer Pulsation und wird danach eingeteilt in einen systolischen und einen diastolischen Blutdruck. Die Höhe des systolischen Blutdrucks ist vorwiegend durch das Schlagvolumen bestimmt, die des diastolischen Blutdrucks vorwiegend durch den peripheren Gefäßwiderstand. Bei Auswurf des Schlagvolumens aus dem linken Ventrikel kommt es zum raschen Druckanstieg in der Aorta. Fällt der linksventrikuläre Druck unter den Aortendruck, so schließt sich die Aortenklappe (Inzisur in der Druckkurve). Der darauf folgende, leichtgradige Druckanstieg (Dikrotie) wird durch Reflexion der Druckwelle in der Kreislaufperipherie verursacht. Der arterielle Blutdruck fällt nun in Abhängigkeit vom peripheren Gefäßwiderstand auf das Niveau des diastolischen Blutdrucks ab. Der systolische Blutdruck beträgt ca. 120 mmHg, der diastolische ca. 80 mmHg. Die Differenz wird als Blutdruckamplitude bezeichnet und beträgt in Ruhe ca. 40 mmHg, wobei sie aufgrund von Druckwellenreflexionen zur Körperperipherie hin ansteigt. Der arterielle Mitteldruck (annäherungsweise in der Aorta diastolischer Blutdruck plus 1/2 Amplitude, peripher plus 1/3 Amplitude) ist definiert als der zeitliche Mittelwert der Drücke am jeweiligen Ort. ! Eine sich während der Narkose verringernde Amplitude in der Pulsoxymetrie (bedingt durch eine Abnahme der Blutdruckamplitude) kann Hinweis auf einen erhöhten Sympathikotonus (Schmerz!) und einen damit einhergehenden erhöhten Gefäßwiderstand sein.
Der zentrale Venendruck (ZVD) ist definiert als der Druck im intrathorakal gelegenen (zentralen) Hohlvenensystem. Er beträgt ca. 2–5 mmHg und erlaubt eine Beurteilung des intravasalen Volumenstatus und der rechtsventrikulären Funktion. Er zeigt atemabhängige Schwankungen und eine durch die Herzaktion bedingte Pulsation.
Drei wesentliche Mechanismen fördern den venösen Rückstrom zum Herzen: 5 Muskelpumpe: Bei Muskelkontraktionen wird das in den Muskelvenen befindliche Blut verdrängt. Durch suffiziente Venenklappen ist ein Abfluss nur in Richtung des Herzens möglich. 6
73 8.6 · Blutdruckregulation
5 Atmung: Der bei Inspiration negative intrathorakale Druck übt einen Sog auf das Blut in benachbarten Gefäßabschnitten aus. 5 Herzaktion: Die Senkung der Ventilebene des Herzens während der Systole bewirkt ebenfalls eine Sogwirkung auf das Blut in benachbarten Gefäßabschnitten.
! Da der zentrale Venendruck unter Spontanatmung negativ sein kann, besteht nach Läsionen des Venensystems durch das »Ansaugen« von Luft die Gefahr von Luftembolien.
8.6
Blutdruckregulation
Der Blutdruck ist vom Herzzeitvolumen und vom peripheren Widerstand abhängig (siehe oben). Die Regulation des Blutdrucks an die sich verändernden Bedürfnisse des Organismus findet über eine Steuerung von HZV und peripherem Widerstand und der sie bestimmenden Größen statt. Bei der Blutdruckregulation werden kurzfristige, mittelfristige und langfristige Regulationsmechanismen unterschieden.
8.6.1 Kurzfristige Blutdruckregulation Die Mechanismen der kurzfristigen Blutdruckregulation zeichnen sich durch einen schnellen Wirkungseintritt, eine hohe Intensität der Reaktion und eine schnelle Abschwächung aus. Zu ihnen werden die Pressorezeptorenreflexe, kardiale Reflexe, Chemorezeptorenreflexe, Ischämie-Reaktionen des zentralen Nervensystems und hormonale Mechanismen gezählt. Mechanismen der kurzfristigen Blutdruckregulation 5 Die in den Wänden der großen thorakalen und zervikalen Arterien gelegenen Pressorezeptoren reagieren nicht nur auf die Höhe des arteriellen Mitteldruckes sondern auch auf Herzfrequenz und Blutdruckamplitude. Ihre Erregung führt in den Kreislaufzentren der Medulla oblongata zur Hemmung des Sympathikotonus und zur Aktivierung des Vagotonus. 5 Die kardialen Reflexe und ihre Auswirkungen sind unter 7 Abschnitt 8.3. »Steuerung der Herzfunktion« beschrieben. 6
5 Eine Erregung von Chemorezeptoren im Glomus aorticum und im Glomus caroticum durch Hypoxie, Hyperkapnie und/oder Azidose führt neben einer Stimulation der Atmung auch zur Sympathikusaktivierung. 5 Eine Ischämie von Neuronen im Bereich der Medulla oblongata bewirkt eine ausgeprägte Sympathikusaktivierung.
Der Sympathikus vermittelt seine Wirkung am Gefäßsystem – unabhängig von der Ursache der Aktivierung – über die Wirkung von Noradrenalin und Adrenalin, welche u. a. zu einer Vasokonstriktion und somit zu einer Erhöhung des peripheren Widerstandes führen.
8.6.2 Mittelfristige Blutdruckregulation Zu den Mechanismen der mittelfristigen Blutdruckregulation werden transkapilläre Volumenverschiebungen, StressRelaxation der Gefäßwände und das Renin-AngiotensinSystem gezählt. Mechanismen der mittelfristigen Blutdruckregulation 5 Durch eine Steigerung des Blutdrucks kommt es über eine Zunahme des Filtrationsdrucks im Kapillarsystem zu einem »Abpressen« von Flüssigkeit aus dem Intravasalraum ins Interstitium. Die Abnahme des zirkulierenden Volumens führt zu einem Blutdruckabfall. Bei niedrigem Blutdruck (Filtrationsdruck p) kommt es zu einer Volumenverschiebung in umgekehrter Richtung, d. h. nach intravasal (Resorption). 5 Bei Erhöhung des intravasalen Volumens nimmt die Dehnung des Gefäßsystems (Stress-Relaxation,»delayed compliance«) zu. Somit führt eine Volumenzunahme nur initial zur Blutdrucksteigerung. 5 Eine renale Minderper fusion führt zu einer ReninFreisetzung aus dem juxtaglomerulären Apparat der Nieren. Freigesetztes Renin bewirkt eine Umwandlung von Angiotensinogen zu Angiotensin I, welches durch das Angiotensin-konvertierende Enzym (ACE) zu Angiotensin II umgebaut wird. Angiotensin II wirkt stark vasokonstriktorisch (peripherer Widerstand n), erhöht den Sympathikotonus und stimuliert die Sekretion von Aldosteron (7 Kap. 8.6.3, langfristige Blutdruckregulation).
8
74
Kapitel 8 · Physiologisches Wissen – Kreislauf und Narkose
. Abb. 8.4. Aufteilung des HZV auf die Organsysteme und die Anpassungsmöglichkeiten bei sich verändernden metabolischen Anforderungen (modifiziert n. Arndt JO, Lipfert P aus: Doenicke et al. [Hrsg.] Anaesthesiologie, Springer-Verlag 1995 S. 1115)
8
Organdurchblutung
8.6.3 Langfristige Blutdruckregulation
8.7
Langfristig wird der Blutdruck durch die Niere über eine Anpassung des extrazellulären Volumens reguliert. Hierbei spielen vor allem das Adiuretin(ADH)-System und das Aldosteron-System eine Rolle.
Die Durchblutung der Organe passt sich den veränderlichen metabolischen Anforderungen der jeweiligen Organe an und unterliegt daher großen Schwankungen. . Abb. 8.4 zeigt die Verteilung des HZV auf die verschiedenen Organsysteme und die Anpassungsspielräume bei der Durchblutung.
Mechanismen der langfristigen Blutdruckkontrolle 5 Steigerungen des intravasalen Volumens bewirken eine verminderte Freisetzung von ADH aus der Neurohypophyse. Somit kommt es zu einer gesteigerten Wasserauscheidung (ADH wirkt an der Niere antidiuretisch) und einem verminderten Volumenangebot (Preload) an das Herz. Über eine zusätzliche vasokonstriktorische Wirkung (peripherer Widerstand n) von ADH wird der Blutdruck beeinflusst. 5 Aldosteron führt zu einer Steigerung der renalen Na+- und Wasserrückresorption. Stärkster Stimulator des Aldosteron-Systems ist Angiotensin II.
8.7.1 Steuerung der Organdurchblutung Diese »Aufteilung« des HZV wird durch zahlreiche Faktoren gesteuert (7 Übersicht; zur genaueren Darstellung der Mechanismen sei auf Lehrbücher der Physiologie verwiesen). Steuernde Faktoren der Organdurchblutung 5 Das Gefäßsystem unterliegt einer myogenen Autoregulation; hierdurch können Flussraten unabhängig vom Blutdruck konstant gehalten werden, und es besteht ein gewisser Schutz vor exzessiv hohen Blutdruckwerten. 6
75 Literatur
5 Die regionale Durchblutung unterliegt einer metabolischen Kontrolle. Verschiedene metabolische Veränderungen (z. B. Änderung des O2-Partialdruckes, der H+-Ionen-Konzentration) regulieren den Gefäßtonus und damit die Gefäßwiderstände der einzelnen Organsysteme. 5 Das vegetative Nervensystem reguliert nicht nur den peripheren Widerstand des gesamten Gefäßsystems, sondern auch den Gefäßwiderstand einzelner Organe. 5 Humorale Faktoren wie Histamin, Bradykinin, Prostaglandine, Serotonin, Endothelium-derived-relaxing-factor (EDRF = chemisch gesehen Stickstoffmonoxid, NO•) und auch Adrenalin und Noradrenalin aus dem Nebennierenmark sind Bestandteile der Regulation der regionalen Durchblutung.
Literatur Darovic GO, Franklin CM (1999) Handbook of Hemodynamik Monitoring. W.B. Saunders Company, Philadelphia London New York St. Louis Sydney Toronto Doenicke A, Kettler D, List F, Radke J, Tarnow J (Hrsg) (1995) Anaesthesiologie. Springer-Verlag, Berlin Heidelberg New York Forth W (Hrsg) (1998) Pharmakologie und Toxikologie. Spektrum Akademischer Verlag, Heidelberg Berlin Oxford Klinke R, Silbernagel S (2001) Lehrbuch der Physiologie. Thieme Stuttgart Kretz FJ, Schäffer J (2000) Anästhesie Intensivmedizin Notfallmedizin Schmerztherapie. Springer-Verlag, Berlin Heidelberg New York Schmidt RF (Hrsg) (2000) Physiologie des Menschen. Springer-Verlag, Berlin Heidelberg New York Thews G, Vaupel P (2001) Vegetative Physiologie. Springer-Verlag, Berlin Heidelberg New York
8
9 Physiologisches Wissen – Atmung und Narkose Andreas Manger 9.1
Einleitung –78
9.2
Atmungssystem –78
9.2.1 Oberer Atemweg: Nase, Mund, Rachen, Kehlkopf –78 9.2.2 Untere Atemwege: Trachea, Bronchien, Alveolen –79
9.3
Physiologische Aspekte der Atmung –79
9.3.1 Lungenvolumina, Luftströmung und Gasaustausch –79 9.3.2 Blutströmung –82 9.3.3 Störungen bei Atmung und Beatmung –83
9.4
Atmung und Beatmung unter Allgemeinanästhesie –83
9.4.1 Künstliche Beatmung –83 9.4.2 Effekte der Allgemeinanästhesie –84
9.5
Atmung und Regionalanästhesie –85
9.5.1 Allgemein –85 9.5.2 Spinalanästhesie –85 9.5.3 Periduralanästhesie –85
Literatur –86
9
78
Kapitel 9 · Physiologisches Wissen – Atmung und Narkose
9.1
Einleitung
Innerhalb der Körperzellen mehrzelliger Organismen müssen zur Aufrechterhaltung der Lebensfunktionen große Mengen von Energie in Form energiereicher Moleküle bereitgestellt werden. Die Herstellung dieser Moleküle (Adenosintriphosphat ATP) erfolgt durch die Verstoffwechselung von Nährstoffen (Glukose, Aminosäuren und Fette) ohne (anaerob) und mit Sauerstoff (aerob) . Abb. 9.1. Der aerobe Stoffwechsel ist um ein vielfaches effektiver und damit korreliert der Energiegewinn mit dem Angebot von Sauerstoff in der Zelle. Unter Atmung versteht man alle Vorgänge zum Umsatz und Transport von O2 und CO2 in einem Organismus. Dies umfasst die spezifischen Systeme zum Transport sowie Bildungs- bzw. Verbrauchsprozesse. Man unterscheidet in der Regel zwischen einer »äußeren Atmung«(der Lungenatmung) und einer »inneren Atmung«(der Zellatmung). Die Lungenatmung beinhaltet alle Prozesse, bei denen O2 und CO2 zwischen Körper und Umgebungsluft ausgetauscht werden. O2 gelangt aus der Luft mit der Atmung über die Bronchien in die Lunge, diffundiert dort in die Lungenkapillaren und wird durch Bindung an Hämoglobin in den Erythrozyten weiter zu den Körperzellen transportiert. Hier gelangt er wiederum durch Diffusion in die Mitochondrien zur Nährstoffoxidation. Das dort entstehende CO2 gelangt auf dem umgekehrten Wege wieder in die Umgebung. Die Zellatmung umfasst alle intrazellulären Reaktionen, bei denen Sauerstoff verbraucht und CO2 gebildet wird. Während bei Einzellern die Zellflüssigkeit in direktem Kontakt mit der Umgebung steht und der Gasaustausch damit unmittelbar durch die Zellmembran erfolgen kann, besteht bei größeren, vielzelligen Organismen – wegen der großen Entfernung zwischen Zelle und Umgebung – die Notwendigkeit, diese Entfernung zu überbrücken und die lebensnotwendigen Gase über den Respirationstrakt und das Kreislaufsystem zu transportieren. Hierzu sind die für den Gastransport notwendigen Prozesse wie die Ventilation (Belüftung der Lunge), die Diffusion (Gasübertritt) an der alveolo-kapillären Membran, die Perfusion (Durchblutung) der Lungengefäße, die Zirkulation (Weitertransport) der Gase im Blut in Serie geschaltet. Das Ausmaß des Gastransportes, d. h. die Anzahl der transportierten Menge von Sauerstoff und Kohlensäure pro Zeiteinheit, hängt unmittelbar vom Verbrauch im Rahmen des Gewebestoffwechsels ab. Dieses Kapitel gibt einen Überblick über verschiedene Aspekte der Atmung unter Allgemeinanästhesie, über deren klinische Relevanz sowie über mögliche Strategien zur Vermeidung und Therapie von Komplikationen.
. Abb. 9.1. Bereitstellungsprozesse energiereicher Moleküle in der Zelle
9.2
Atmungssystem
9.2.1 Oberer Atemweg: Nase, Mund,
Rachen, Kehlkopf Zu den Atemwegen werden all diejenigen Teile des Körpers gezählt, die beim Ein- oder Ausatmen zwischen Lunge und Außenwelt von Luft durchströmt werden. Dabei wird durch Nase, Mund oder beide Luft ein- und ausgeatmet. Die Nasenatmung ist insgesamt gesünder, da die Nase ein besserer Filter als der Mund ist. Sie reduziert mit ihrem dünnen Flimmerepithel den Gehalt an Reizstoffen, die der Lunge beim Atmen zugeführt werden, und gleichzeitig wird die Atemluft erwärmt bzw. angefeuchtet. Werden bei körperlicher Belastung große Mengen Luft benötigt, wird die Atmung durch den Mund vermehrt, da die Nasenatmung dann nicht mehr ausreicht. Nach Eintritt in die Nase bzw. den Mund strömt die Luft durch den Rachenraum in die Luftröhre (Trachea) abwärts. Der Rachenraum wird aus drei untereinander liegenden Etagen gebildet: Nasenrachen (Epipharynx), Mundrachen (Meso- oder Oropharynx) und Kehlkopfrachen (Hypopharynx). Im Epipharynx befindet sich an der hinteren oberen Pharynxwand die Rachenmandel und seitlich jeweils links und rechts Tubenöffnungen.
79 9.3 · Physiologische Aspekte der Atmung
Der Oropharynx reicht vom Zäpfchen (Uvula) bis zum Rand des Kehldeckels und beinhaltet die beiden Gaumenmandeln (Tonsilla palatina). Der Hypopharynx umfasst den Raum vom Kehldeckel (Epiglottis) bis hinunter zur hinteren Ringknorpelfläche. Der bis hierhin gemeinsame Weg von Luft und Speisebrei wird durch den Kehldeckel kontrolliert – eine Sperre, die mit Hilfe der Schluckreflexe verhindern soll, dass Speisebrei in die Trachea gelangt. Gelegentlich kommt es aber im Rahmen von Verschlucken oder Zuständen mit fehlenden Schutzreflexen vor, dass doch Speisebrei oder Flüssigkeit in die Trachea eintritt (Aspiration), was dann akut zu Erstickungsgefühl und Hustenanfällen führt und sekundär schwere Lungenentzündungen auslösen kann.
9.2.2 Untere Atemwege: Trachea,
. Abb. 9.2. Schematische Struktur der Alveolen
Bronchien, Alveolen Die Trachea teilt sich im Brustkorb (Thorax) in einen linken und einen rechten Hauptbronchus. Diese beiden Atemwege verzweigen sich in der Lunge in immer kleinere Röhren (Bronchiolen). Die Bronchiolen enden in winzigen Luftsäckchen (Alveolen, . Abb. 9.2). Nicht alle Alveolen sind immer gleichzeitig aktiv und gleichmäßig mit Luft gefüllt. Somit verfügt die Lunge im Falle einer Schädigung durch Krankheit, Infektion oder Operation über einen großen Reservebestand an Alveolen. Um die Bewegung von Zwerchfell und Thorax für die Ventilation nutzbar zu machen, muss die Lunge diesen Bewegungen trotz ihrer Fixierung folgen können. Dies ist dadurch möglich, dass sich im Thorax zwei dünne Blätter von Brustfell (Pleura) befinden, die einerseits direkt mit der Außenseite der Lunge verbunden sind und andererseits die Innenseite der Brust überziehen. Zwischen diesen beiden Blättern befindet sich ein dünner Flüssigkeitsfilm, der das Gleiten der beiden Schichten erleichtert. Im Thorax sind die beiden mit Pleura überzogenen Lungen von Rippen umschlossen und nach unten durch das Zwerchfell – eine ca. 5 mm dünne Muskelplatte – von den darunter liegenden Organen wie Magen, Darm, Leber usw. getrennt. Die Rippen sind über Gelenke mit den Wirbeln und mit dem Brustbein über hyalinen Knorpel verbunden. Zum Einatmen werden viele verschiedene Muskeln gebraucht. Der Hauptanteil (2/3) der Atemarbeit wird durch Zwerchfellbewegungen bewerkstelligt. Wenn sich das Zwerchfell nach unten bewegt oder flacher wird, werden die Phrenikokostalwinkel erweitert, wodurch sich der Innenraum des Brustkorbs vergrößert. Dabei biegen sich die Rippen nach außen, die Lunge dehnt sich aus, und die Luft
wird eingezogen (Inspiration). In der Ausatmung (Exspiration) kommt es mit Hilfe der Bauchpresse zu einer Aufwärtsbewegung (Bauchatmung). Erschlafft das Zwerchfell, weicht aufgrund der Eigenelastizität und dem Bestreben der Alveolen, die Oberflächenspannung zu verkleinern, die Luft aus den Lungen und diese nehmen wieder ihre ursprüngliche Position ein. Die Innervation erfolgt durch den Nervus phrenicus (C3–C4). Bei einem Zwerchfellhochstand oder einem gesteigerten Zwerchfelltonus (z. B. bei Asthma) kann die Zwerchfellbeweglichkeit extrem vermindert sein.
9.3
Physiologische Aspekte der Atmung
9.3.1 Lungenvolumina, Luftströmung
und Gasaustausch Bei der Einatmung werden mit einem normalen Atemzug ca. 8–10 ml/kg KG Luft aufgenommen (Atemzugvolumen bzw. Tidalvolumen). Zu diesem Volumen können bei Bedarf mit maximaler Anstrengung und zusätzlicher Aktivierung der Atemhilfsmuskulatur noch zusätzlich 2,5 l als inspiratorisches Reservevolumen aufgenommen werden. Wird dieses Volumen maximal ausgeatmet (exspiratorisches Reservevolumen), verbleibt in der Lunge ein Rest Gas, das so genannte Residualvolumen. Als Vitalkapazität wird das Volumen von maximaler Einatmung und maximaler Ausatmung – also Atemzugvolumen + inspiratorisches Reservevolumen + exspiratorisches Reservevolumen bezeichnet (. Abb. 9.3).
9
80
Kapitel 9 · Physiologisches Wissen – Atmung und Narkose
A = p u 'V ' V = V2 – V1 Die zugrunde liegende Atemmechanik lässt sich mittels zweier Kriterien beurteilen: Die so genannte Compliance C dient als Maß für die Volumendehnbarkeit von Lunge bzw. Thorax pro Einheit Druckänderung. CThorax+Lunge = 'V/'ppulmo(l/cm H2O)
9
'V 'p pulmo
. Abb. 9.3. Lungenvolumina
CThorax+Lunge =
Klinisch bedeutsam ist die funktionelle Residualkapazität (FRC), die definiert ist als das Gasvolumen, das nach normaler Exspiration und in Atemruhelage in der Lunge verbleibt, also die Summe aus dem exspiratorischen Reservevolumen und dem Residualvolumen. Beim gesunden, wachen Individuum entspricht die FRC bei Spontanatmung etwa 50 % der totalen Lungenkapazität und resultiert aus den gegensätzlich wirkenden elastischen Rückstellkräften der Lunge und der Thoraxwand. Des Weiteren ist die FRC abhängig von der der Lagerung des Patienten und der Schwerkraft. In Rückenlage kommt es durch den zunehmenden Druck der Baucheingeweide zu einer weiteren Verminderung der FRC um etwa 20 % im Vergleich zur aufrechten Position. Im Wachzustand besteht auch endexspiratorisch ein Tonus der Atemmuskulatur, der eine weitere Verlagerung der intraabdominalen Organe in den Thoraxraum verhindert und somit ca. 600 ml zur funktionellen Residualkapazität beiträgt. Bei Kindern, insbesondere bei Säuglingen und Kleinkindern ist der Sauerstoffverbrauch deutlich höher (ca. 7 ml/kg/min) und die FRC vermindert. Dies verdeutlichen unterschiedliche Apnoetoleranzen: Die intrapulmonale Sauerstoffspeicherung reicht ohne Präoxygenierung bei Erwachsenen ca. 60 s, bei Schwangeren ca. 35 s und bei Kleinkindern ca. 20 s.
CThorax+Lunge = Compliance von Thorax und Lunge 'V = Lungenvolumenänderung = intrapulmonale Druckänderung 'ppulmo [l/cm H2O]
! Aus diesem Grund ist eine Präoxygenierung bei erwarteter schwieriger Intubation sowie bei Schwangeren und Kindern ein absolutes »Muss«!
Zur Atmung ist die Arbeit der Atemmuskulatur für die Überwindung verschiedener Widerstände notwendig. Diese Widerstände umfassen die elastischen Widerstände von Lunge und Thorax, die viskösen Widerstände aufgrund von Luftströmungen sowie die Gesamtheit der Gewebswiderstände. Die Atemarbeit ist das Produkt aus dem Pleuradruck p, der notwendig ist, um eine Volumenänderung zu bewirken, und der Volumenänderung ' V:
Bei der Atmung tritt der Luftströmung in den oberen und unteren Atemwegen ein Widerstand entgegen. Die Resistance R ist ein Maß für diesen Atemwegswiderstand, der zum größten Teil (ca. 80 %) in den oberen Luftwegen und den oberen Verzweigungen des Tracheobronchialbaumes > 2 mm entsteht. R
= pMund – pAlveole / V cm H2O /l/s
R
=
pMund -pAlveole V
R = Resistance pMund = Munddruck pAlveole = Alveolardruck V = Atemstromstärke [cmH2O/l/s] Bei laminaren Luftströmungen ist der Atemwegswiderstand direkt proportional zur Viskosität des Gases und der Länge der Atemwege und umgekehrt proportional zur 4. Potenz des Radius. Bei turbulenten Luftströmungen, wie sie an den Verzweigungen der Atemwege auftreten, sind größere Druckdifferenzen notwendig, um die Strömungswiderstände zu überwinden. Der Gasaustausch im Respirationstrakt ist weitgehend auf die Alveolen begrenzt. Den Rest des Atemwegs, der nicht am Gasaustausch beteiligt ist, bezeichnet man deshalb als Totraum (ca. 150 ml + nicht belüftete Alveolen). Jede Lunge besitzt ca. 300 Mio. Alveolen mit einer Gesamtgasaustauschfläche von 70–140 m2. Jede Alveole ist von einem Netz aus winzigen Kapillaren umgeben. Die Kapillaren sind in Septen gelagert, welche die eigentliche Gren-
9
81 9.3 · Physiologische Aspekte der Atmung
ze zwischen Blut und Luft darstellen. Dies sind die dünnsten Stellen (ca. 1 Pm), an denen die Gase durch Diffusion ausgetauscht werden. Hier tritt der Sauerstoff, der mit der Atemluft in den Atemwegen bis hinunter zu den Alveolen transportiert wird, ins Blut und Kohlendioxid aus dem Blut in die Alveolen über. Beim Gasaustausch müssen nacheinander verschiedene Barrieren überwunden werden: 1. 2. 3. 4. 5. 6. 7. 8. 9.
Surfactant der Alveolen Zytoplasma der Alveolarepithelien Basalmembranen von Alveolarepithel und Kapillare Zytoplasma der Kapillarendothelzelle Blutplasma zwischen Endothelzelle und Erythrozyt Erythrozytenmembran Blutplasma zwischen Endothelzelle und Erythrozyt Zytoplasma der Kapillarendothelzelle Zellmembran der Körperzelle
Sowohl Sauerstoff als auch Kohlendioxid sind im Blut nur wenig physikalisch gelöst, sie werden hauptsächlich chemisch gebunden im Blut transportiert. Jedes Gasmolekül muss aber die Phase der physikalischen Lösung passieren, um überhaupt zu den jeweiligen Reaktionspartnern zu gelangen. Die Konzentration der physikalisch gelösten Gase hängt proportional von ihrem jeweiligen Partialdruck (p) und einem spezifischen Löslichkeitskoeffizienten ab. Der Partialdruck wiederum hängt von verschiedenen Faktoren ab (Alter, FiO2, Barometerdruck, alveoläre Ventilation, Sauerstoffverbrauch, Herzzeitvolumen etc.). Der Sauerstoffgehalt des Blutes ergibt sich also aus der Summe des an Hämoglobin chemisch gebundenen Sauerstoffs (Sauerstoffsättigung SO2 in %) und dem physikalisch gelösten O2. Die Bewegung des Sauerstoffs vom oberen Atemweg zu den Mitochondrien erfolgt aufgrund seines Partialdruckgefälles – vielfach auch Kaskade genannt. Dabei nimmt der Partialdruck auf dem Weg zur Zelle kontinuierlich ab (. Tab. 9.1). Der arterielle Sauerstoffpartialdruck (paO2 in mmHG) ist altersabhängig und kann z. B. über die Formel von Murray abgeschätzt werden: paO2 = 100,1 – (0,323 u Alter [Jahre]) Dieser Partialdruck bestimmt den prozentualen Anteil des mit Sauerstoff gesättigten Hämoglobins (oxygeniertes Hämoglobin) und damit die Sauerstoffsättigung (sO2) des
. Tabelle 9.1. O2- und CO2-Partialdruck auf verschiedenen Stufen des Transportsystems pO2 (mmHg)
pCO2 (mmHg)
Atmosphäre
150–160
0
Inspirationsluft
140–150
0
Alveolarluft
100
40
Arterielles Blut
85
40
Gemischtvenöses Blut
40
>45
Zelle
<5
>45
Angaben aus Kilian (1994) Grundzüge der Beatmung, Springer Verlag
arteriellen Bluts. Der Zusammenhang zwischen Sauerstoffpartialdruck und O2-Sättigung wird durch die Sauerstoffbindungskurve grafisch dargestellt (. Abb. 9.4). Die Beziehung zwischen Sauerstoffsättigung und der Höhe des arteriellen pO2 ist nicht linear, sondern sigmoid, was für die Transportfunktion des Blutes von großer Bedeutung ist. Im Bereich hoher pO2-Werte verläuft die Kurve flach: eine Zu- oder Abnahme in diesem Bereich bedeutet nur geringe Veränderungen der O2-Sättigung. Im Bereich niedriger pO2-Werte verläuft die Kurve sehr steil. Hier bedeuten bereits geringe Abfälle der pO2-Werte eine starke Abnahme der O2-Sättigung, d. h. dass durch die starke Entsättigung des Hämoglobins entsprechend mehr Sauerstoff für die Abgabe ins Gewebe frei wird. Je nach Änderung der O2-Affinität des Hämoglobins kommt es zu einer Rechtsbzw. Linksverschiebung der Sauerstoffbindungskurve. Bei der Rechtsverschiebung (bei gleichem pO2 wird weniger O2 vom Hämoglobin gebunden) liegt eine verringerte Affinität des Sauerstoffs zum Hämoglobin vor. Hierdurch wird die Abgabe von O2 ins Gewebe erleichtert. Eine Rechtsverschiebung wird durch Azidose, Hyperkapnie, Temperaturerhöhung, Anämie, Hyperkaliämie, Hypernatriämie verursacht. Die Linksverschiebung bedeutet eine höhere O2-Affinität des Hämoglobins, sodass bei gleichem pO2 mehr O2 gebunden werden kann. Dadurch wird allerdings der O2 auch schlechter ins Gewebe abgegeben. Ursachen hierfür sind Alkalose, Hypokapnie, Hypothermie, Hypokaliämie, Sepsis, Schwangerschaft, abnorme Hämoglobine und 2,3Diphosphoglyzerat(DPG)-Mangel.
82
Kapitel 9 · Physiologisches Wissen – Atmung und Narkose
. Abb. 9.4. Sauerstoffbindungskurve des Bluts
9 Die Verschiebungen der Sauerstoffbindungskur ve durch Veränderungen der H+-Konzentration und des CO2 wird als Bohr-Effekt bezeichnet. Dieser Effekt begünstigt eine Sauerstoffabgabe an azidotische Gewebe und die Steigerung der Sauerstoffaufnahme in der Lunge bei großem Anfall von CO2.
9.3.2 Blutströmung Der menschliche Organismus kann keinen Sauerstoff bevorraten wie andere Spezies. Daher sind die Sauerstoffreserven im Vergleich zum Verbrauch relativ klein, mit dem Effekt, dass Sauerstoffmangel nur sehr kurz vertragen wird. Anaerobe Kompensation kann ein akut aufgetretenes Defizit nicht sofort und nur in begrenztem Ausmaß für kurze Zeit ausgleichen. Den Körperzellen bleibt also nur die zusammen mit dem arteriellen Blutstrom mitströmende Sauerstoffmenge, die unmittelbar vorher über die Lungen aufgenommen wurde. Diese umfasst in Ruhe etwa 25 % der Gesamtmenge, sodass bei einer Unterbrechung der Sauerstoffzufuhr innerhalb weniger Minuten die Versorgung der Zelle nicht mehr gewährleistet ist. Das Herz pumpt in Ruhe pro Minute ca. 5 l Blut (Herzzeitvolumen, 7 Kap. 8) nacheinander durch den Körper- und Lungenkreislauf. Mit diesem Strom werden in Ruhe ca. 300 ml O2/min von der Lunge in die Peripherie gebracht und umgekehrt ca. 250 ml CO2/min zurück in die Lunge transportiert. Um diese Gasvolumina
ein- bzw. ausatmen zu können ist ein Atemzeitvolumen von ca. 7,5 l/min notwendig. Dies wird in der Regel mittels einer Atemfrequenz von 15/min Minute mit einem Atemzugvolumen von ca. 8–10 ml/kg KG erreicht. Bei großer körperlicher Anstrengung ist der Sauerstoffverbrauch pro Minute größer als der Gesamtvorrat und muss durch eine Steigerung sowohl des Atemzeit- als auch des Herzzeitvolumens kompensiert werden. ! Bei einer Unterbrechung der Sauerstoffzufuhr ist innerhalb weniger Minuten die Versorgung der Zelle nicht mehr gewährleistet.
Die Lunge erreicht das Blut über zwei Wege: 4 Über die Pulmonalarterien gelangt venöses Blut aus dem Körper in die Lunge und wird dort mit Sauerstoff angereichert, kehrt zur linken Herzseite zurück, wird ausgepumpt und gelangt als sauerstoffreiches (arterielles Blut) in den Körper. 4 Über Bronchialarterien wird eine relativ kleine Menge arterialisiertes Blut aus dem Körperkreislauf herangeführt, welches die Lungenalveolen selbst versorgt. Der Abfluss erfolgt gemeinsam in den Pulmonalvenen. 4 Nachdem das Blut den Sauerstoff an die Zellen des Körpers (Haut, Organe usw.) abgegeben hat, fließt es als venöses Blut zur rechten Herzseite zurück. Dieses venöse Blut enthält reichlich Kohlendioxid mit wenig Sauerstoff und fließt zurück in die Lungen, um Kohlendioxid abzuladen und erneut Sauerstoff aufzunehmen.
83 9.4 · Atmung und Beatmung unter Allgemeinanästhesie
9.3.3 Störungen bei Atmung und Beatmung
9.4
Atmung und Beatmung unter Allgemeinanästhesie
Störung der Ventilation Ventilationsstörungen bewirken eine Abfall des alveolären Sauerstoffpartialdrucks und sekundär einen Abfall des Sauerstoffpartialdrucks im Blut, was zu einer Unterversorgung der angegliederten Gewebe führt. Ursachen hierfür können Störungen der Atemmechanik, Parenchymschäden, Störungen der Atemregulation und ein Anstieg der Totraumventilation sein. Führt eine unzureichende Spontanatmung zu einer anhaltend mangelhaften O2-Versorgung des Hirngewebes, entstehen in Bruchteilen von Sekunden Bewusstlosigkeit und nach wenigen Minuten irreversible Schädigungen des Gehirns und anderer Organe.
Störung des alveolaren Gasaustauschs Als alveolare Austauschstörungen kommen im Wesentlichen zwei Mechanismen in Betracht: ein erhöhter Diffusionswiderstand an der alveo-kapillären Membran sowie Inhomogenitäten des Ventilations-Perfusions-Verhältnisses mit den beiden Extremen der intrapulmonalen Umgehungskreisläufe (shunt) bzw. der alveolären Totraumventilation.
Störung der Durchblutung Bei Veränderungen, die zu einem reduzierten Herzminutenvolumen führen (z. B. die akute Herzinsuffizienz oder die Lungenembolie) resultieren niedrige Sauerstoffspannungen in dem zum Gewebe fließenden Blut. Dabei gelingt es meist nicht mehr, eine ausreichende Gewebeoxygenierung über eine gesteigerte Ventilation zu erreichen, sondern nur noch über kompensatorische Steigerungen der Zirkulation – soweit dies dem Herzen überhaupt möglich ist.
Kompensationsmechanismen Zur physiologischen Kompensation von Atmungsstörungen stehen dem Organismus mehrere Mechanismen zur Verfügung: 4 Akute Steigerung der Ventilation und Zirkulation mit der Folge einer sekundären Verbesserung des Sauerstoffpartialdrucks, 4 Veränderung der Sauerstoffaffinität des Hämoglobins und langfristige Steigerung des Hämoglobingehaltes des Bluts. ! Reichen diese physiologischen Kompensationsmechanismen nicht aus, kommt es durch die Sauerstoffmangelversorgung des Gehirns zum Atemstillstand.
9.4.1 Künstliche Beatmung Im Zusammenhang mit der Narkose erfordert die Atmung eine besondere Aufmerksamkeit, da viele Anästhetika Einfluss auf das Atemzentrum nehmen, die Schutzreflexe erlöschen lassen und teilweise erhebliche Auswirkungen auf das Kreislaufsystem haben. Damit erlangt die Sicherung der Atemwege vitale Bedeutung. Eine künstliche Beatmung wird immer dann notwendig, wenn die Spontanatmung unzureichend ist oder völlig ausfällt. Die künstliche Beatmung wird bei operativen Eingriffen nach der Sicherung der Atemwege (z. B. über einen Tubus in der Luftröhre) mittels ventilgesteuerter Respiratoren durchgeführt. In diese sind häufig Narkosesysteme integriert, über die man den Patienten Narkosegemische zuführen kann, die je nach benötigtem Bedarf in Menge und Konzentration variabel sind. Die Respiratoren übernehmen die Ventilation: hierzu wird Respiratorluft periodisch mit Überdruck in die Lunge gepresst (Inspiration). Am Ende einer jeden Inspirationsphase wird der Luftstrom unterbrochen. Jetzt drücken die elastischen Rückstellkräfte die Luft wieder aus der Lunge heraus (Exspiration). ! Künstliche Beatmung kann kontrolliert, assistiert oder intermittierend durchgeführt werden.
Eine kontrollierte Beatmung (kontinuierliche Überdruckbeatmung, continous positive pressure ventilation, CPPV oder intermittierende Überdruckbeatmung, intermittent positive pressure ventialation, IPPV) bei der keine Spontanatmung zugelassen wird und alle Atemphasen automatisch ohne Mithilfe des Patienten durchgeführt werden, benötigt eine komplette Ausschaltung des natürlichen Atemantriebs (Anästhesie, Relaxation, Ventilation). Die respiratorischen Parameter wie Atem- bzw. Beatmungsfrequenz, Atemzug- bzw. Atemminutenvolumen oder Druckniveau und das Verhältnis von Inspirations- zu Exspirationszeit sowie der Sauerstoffanteil am inspiratorischen Gasgemisch können am Respirator eingestellt werden. Bei der assistierten Beatmung ist das Atemzentrum aktiv und der Patient weist spontane Atembewegungen auf. Im Gefolge einer aktiven Inspiration des Patienten setzt der Respirator auf einen solchen Atemzug einen Überdruckstoß und die Ausatmung erfolgt passiv. Die intermittierende Beatmung (intermittierend mandatorisch, IMV
9
84
9
Kapitel 9 · Physiologisches Wissen – Atmung und Narkose
oder synchronisiert intermittierend mandatorisch, SIMV) kombiniert bei erhaltener bzw. zurückkehrender Spontanatmung des Patienten spontane Atemzüge mit maschinellen Beatmungsstößen: d. h. primär wird die Spontanatmung des Patienten unterstützt, bei Bedarf kann sie aber auch ganz ersetzt werden. Bei der SIMV-Beatmung wird innerhalb eines bestimmten Zeitraums der Respirator synchronisiert mit den Inspirationsbewegungen des Patienten. Bleibt der spontane Atemzug aus, wird ein Atemstoß maschinengetriggert ausgelöst. Zwischen diesen vom Anästhesisten vorab eingestellten mandatorischen Atemzügen kann der Patient spontan und frei atmen. Weitere Überwachungssysteme verhindern bzw. melden durch akustische und/oder optische Warnsignale für den Patienten gefährliche Situationen wie z. B. Diskonnektion vom Respirator oder zu hoher Beatmungsdruck. Teilweise können Respiratoren auch auf diese Zwischenfälle reagieren. So besteht die Möglichkeit, bei Überschreiten der oberen Beatmungsdruckgrenze die Inspiration zu unterbrechen und die Exspiration einzuleiten. Entspricht der endexspiratorische Druck dem Atmosphärendruck, können bei länger andauernder Beatmung Atelektasen entstehen. Daher besitzen die Respiratoren die Möglichkeit, einen externen positiv-endexspiratorischen Druck (PEEP) einzustellen, der das Kollabieren der Alveolen verhindert.
9.4.2 Effekte der Allgemeinanästhesie Atmungssystem Respiratorische Komplikationen bei einer Narkose zählen zu den häufigsten Ursachen der perioperativen Morbidität (ca. 28 % [Cheney 1999]). Hiervon beruhen ca. 28 % auf inadäquater Ventilation bzw. Oxygenierung, 21 % auf »schwieriger Intubation« und doch immerhin 19 % auf unbemerkter ösophagealer Fehlintubation. Respiratorische Gasaustauschstörungen werden aber auch bei Patienten ohne vorbestehende Lungenerkrankungen beobachtet. ! Nach Einleitung einer Allgemeinanästhesie kommt es regelmäßig zu einer Tonusänderung der inspiratorischen Muskulatur. Die dadurch verursachte Verlagerung des Zwerchfells nach kranial führt zu einer Reduktion der funktionellen Residualkapazität bis zu 20 % gegenüber dem wachen, spontan atmenden Individuum.
Die Reduktion der funktionellen Residualkapazität ist bereits unmittelbar nach der Einleitung nachweisbar, zeigt dann im Verlauf meist keine weitere Zunahme und erreicht häufig erst Stunden nach Beendigung einer Narkose wieder normale Werte. Mit Abnahme der Compliance des respira-
torischen Systems und der Minderventilation der abhängigen Lungenbezirke kommt es in den betroffenen Bereichen zur Ausbildung von Atelektasen und konsekutiv zur Ausbildung intrapulmonaler Umgehungskreisläufe, d. h. zur Perfusion nicht ventilierter Lungenareale (shunts). Des Weiteren tritt eine Vergrößerung des alveolären Totraums, d. h. die Ventilation nicht perfundierter Alveolen auf. Die Summe dieser Veränderungen führt zur Zunahme der venösen Beimischung, nämlich dem Anteil des Herzzeitvolumens, der bei der Passage durch die Lunge nicht mit Sauerstoff suffizient aufgesättigt wird. Insbesondere bei älteren, übergewichtigen (z.B. body mass index BMI [Körpergewicht/Körpergröße2] > 40 kg/m2) und Patienten mit vorbestehenden chronisch obstruktiven Atemwegserkrankungen ist dies häufiger und ausgeprägter, da diese bereits vor der Narkoseeinleitung eine reduzierte funktionelle Residualkapazität aufweisen. Nach Narkoseeinleitung wird durch eine weitere Abnahme der FRC das Missverhältnis aus Ventilation und Perfusion zusätzlich verstärkt. Diese Phänomene treten unabhängig von den eingesetzten Medikamenten und Narkoseverfahren (TIVA, Inhalationsanästhesie) beim intubierten Patienten auf, und zwar sowohl unter erhaltener Spontanatmung als auch unter kontrollierter Beatmung. Auch die Präoxygenierung und Beatmung der Patienten mit hohen Sauerstoffkonzentrationen kann durch Resorption des Sauerstoffs im Atemgas zur Entstehung von Resorptionsatelektasen führen, die eine weitere Verschlechterung der alveolo-arteriellen Sauerstoffdruckdifferenz verursachen. Aktuell besteht das Hauptkonzept zur Vermeidung oder Behandlung dieser Störungen in einer »Rekrutierung« und »Stabilisierung« der durch die zunehmende Kompression kollabierten atelektatischer Bereiche. ! Durch die Anwendung eines positiven endexspiratorischen Drucks (PEEP) lassen sich kollabierte Alveolen eröffnen und vor allem offen halten.
Bei normgewichtigen Individuen führt dies – im Gegensatz zu stark übergewichtigen Patienten – nicht immer auch zu einer Verbesserung des pulmonalen Gasaustauschs. Die Übergewichtigen profitieren von der Anwendung eines PEEP, da hier die Folgen der Rekrutierung von Gasaustauschfläche die negativen Auswirkungen des PEEP auf das Herzzeitvolumen übersteigen. Weitere Strategien sind das kurzzeitige Blähen der Lunge mit bis zu 40 cm H2O hohen, intermittierenden Atemwegsdrücken und die Vermeidung hoher inspiratorischer Sauerstoffkonzentrationen mit einem präventiven Effekt auf die Entstehung von Resorptionsatelektasen.
85 9.5 · Atmung und Regionalanästhesie
Kreislaufsystem Beatmung darf nie isoliert betrachtet werden, da sie Auswirkungen auf verschiedene Körpersysteme hat. So verursacht z. B. maschinelle Beatmung im Unterschied zur Spontanatmung einen größeren Überdruck in den Luftwegen, was wiederum zu einem Anstieg des intrathorakalen Drucks führt. Dieser verringert den venösen Rückstrom zum Herzen und führt zu einer Abnahme des Herzzeitvolumens. Je höher dieser intrathorakale Druck ist, desto stärker ist auch die Beeinträchtigung, zumal eine behinderte Lungenkapillardurchblutung zusätzlich zu einer Rechtsherzbelastung führt. Durch eine vermehrt geblähte Lunge kommt es je nach Atemzeitverhältnis auch zu einer direkten Tamponade des Herzens. Gleichzeitig bestehen durch die eingesetzten Anästhetika eine Herabsetzung des Venentonus und ein relativer intravasaler Volumenmangel, der durch Nüchternheit oft noch verstärkt wird. Diese Auswirkungen auf das Kreislaufsystem können beim Herzkranken zu vitalen Gefährdungen führen.
Lunge Die maschinelle Beatmung gewährleistet keine gleichmäßige Beatmung der Lunge, sondern verursacht häufig Störungen der Belüftungs- und Durchblutungsverhältnisse. Je nach Ausprägung muss mit erheblichen Einschränkungen des pulmonalen Gasaustauschs gerechnet werden. In direkter Abhängigkeit von der Höhe des Beatmungsdrucks können Alveolen zerreißen und folgende Komplikationen auftreten: interstitielles Lungenemphysem, Pneumothorax, Pneumoperikard, Pneumomediastinum.
Niere Mit der Reduzierung des Herzzeitvolumens durch die Überdruckbeatmung kommt es auch zu einer Minderung der Nierendurchblutung, die insbesondere bei Langzeitbeatmeten klinisch in Erscheinung tritt.
Gehirn Bei Patienten mit erhöhtem intrakraniellem Druck kommt es durch eine Beatmung mit PEEP zu einer Behinderung des venösen Abstroms aus dem Hirn, sodass mit einer weiteren Steigerung des intrakraniellen Druckes gerechnet werden muss. Werden Patienten hyperventiliert, so kann dies durch die Vasokonstriktion der Hirngefäße zu einer Abnahme der Hirndurchblutung führen und insbesondere bei arteriosklerotisch veränderten Patienten eine zerebrale Ischämie auslösen.
9.5
Atmung und Regionalanästhesie
9.5.1 Allgemein Die Verwendung von Lokalanästhetika zur Regionalanästhesie führt in der Regel zu einer gewünschten örtlich umschriebenen neuralen Blockade mit anschließender Anästhesie im zugehörigen Innervationsgebiet der Nerven. Vereinzelt treten aber auch in Abhängigkeit von der Ausdehnung der Anästhesie indirekte und systemische Wirkungen auf, die klinisch schnell auch von vitaler Bedeutung sein können. Hierbei stehen vor allem bei der Spinal- und Periduralanästhesie die Auswirkungen auf das Herz-Kreislauf-, Atmungs- und Zentrale Nervensystem im Vordergrund.
9.5.2 Spinalanästhesie Bei der Spinalanästhesie können sich gelegentlich erheblichen Auswirkungen auf die Atemfunktion ergeben. ! Cave Kommt es zu einer »totalen Spinalanästhesie«, ist der Sympathikus vollständig blockiert und das Zwerchfell gelähmt. Dies verläuft nicht selten hochdramatisch und stellt immer eine lebensbedrohliche Situation dar.
In der Regel sollte in einem solchen Fall schnell endotracheal intubiert und mit 100 % Sauerstoff beatmet werden, außerdem müssen Volumen zugeführt und Vasopressoren verwendet werden. Solange die Ausdehnung der Spinalanästhesie nicht auch eine Ausschaltung des N. phrenicus (C3–C5) bedingt, tritt bei Lungengesunden selten eine respiratorische Insuffizienz auf. Eine vollständige motorische Blockade aller thorakalen Spinalnerven vermindert die Vitalkapazität um ca. 20 %. Werden abdominale Eingriffe in Spinalanästhesie durchgeführt, muss eine Beeinträchtigung der Zwerchfellbeweglichkeit durch Manipulationen bzw. eingebrachte Tücher etc. berücksichtigt werden.
9.5.3 Periduralanästhesie Die Auswirkungen einer Periduralanästhesie können weitgehend denen einer Spinalanästhesie entsprechen, insbesondere wenn bei der Punktion die Dura verletzt wurde. Bei regelrechter Punktion tritt gelegentlich bei einer hohen Ausbreitung der Periduralanästhesie Luftnot durch Deafferenzierung der Thorax- und Bauchwand auf. Zusätzlich kann durch die Lähmung der Interkostalmuskulatur der
9
86
Kapitel 9 · Physiologisches Wissen – Atmung und Narkose
Hustenreflex eingeschränkt sein, wodurch die Aspirationsgefahr steigt. Bei thorakalen Periduralkathetern liegt die Hauptgefahr in der traumatischen Punktion des Rückenmarks. Die Lungenfunktion lungengesunder Patienten wird in der Regel nicht wesentlich beeinträchtigt.
Literatur Cheney, FW (1999) The American Society of Anaesthesiologists Closed Claims Project: What have we learned, how has it affected practice, and how will it affect practice in the future? Guttmann J (1999) Grundlagen der Lungenmechanik unter Beatmung. Intensivmed 36: Suppl 1, I/1 – I/8, Steinkopff Verlag Klinke R, Silbernagl S (2001) Lehrbuch der Physiologie. 3. Aufl., Thieme Larsen R, Ziegenfuß T (1999) Beatmung. Grundlagen und Praxis. 2. Aufl. Springer, Berlin Heidelberg New York West JB (1999) Respiratory physiology.6. Aufl. Lippincott Williams & Willkins West JB (2000) Pulmonary physiology and pathophysiology. 1. Aufl. Lippincott Williams & Willkins
9
10 Physiologisches Wissen – Leber und Narkose Daniela Zitzelsberger 10.1 Anatomische und physiologische Grundlagen der Leber –88 10.1.1 Anatomie –88 10.1.2 Perfusion –88 10.1.3 Bedeutung im Stoffwechsel –89
10.2 Leber und Narkose –89 10.2.1 Anamnese und präanästhesiologische Untersuchung –89 10.2.2 Narkosemedikamente und Leberfunktion –91 10.2.3 Narkoseführung, Operation und Leberdurchblutung –92
Literatur –92
88
10.1
Kapitel 10 · Physiologisches Wissen – Leber und Narkose
Anatomische und physiologische Grundlagen der Leber
. Abb. 10.1. Histologie der Leber (Aus Springer Lexikon Medizin, Springer-Verlag, Berlin, Heidelberg, New York 2004)
10.1.1 Anatomie
10
Die Leber ist unser größtes parenchymatöses Organ. Sie wiegt beim Erwachsenen 1200–1500 g und untergliedert sich anatomisch in 4 Lappen. Die chirurgische Unterteilung erfolgt aufgrund der Blutversorgung in 8 Segmente. Mikroskopisch betrachtet besteht die Leber aus den Leberläppchen, in deren Zentrum die so genannte Zentralvene liegt. Die einzelnen, polygonalen Leberläppchen sind bindegewebig voneinander getrennt. Am Treffpunkt mehrerer Läppchen befindet sich das periportale Feld, aufgebaut aus Interlobularvene (aus der V. portae), Interlobulararterie (aus der A. hepatica propria) und Gallengang (. Abb. 10.1). Zusammen bilden sie die Glissonsche Trias. Aus der Interlobulararterie fließt das Blut zwischen den Leberzellsträngen in den Lebersinusoiden zur Zentralvene. In den Lebersinusoiden befinden sich die von Kupfferschen Sternzellen, amöboid bewegliche Makrophagen, die zum retikuloendothelialen System (RES) gehören. Der Fluss der von den Hepatozyten sezernierten Galle läuft dem Blutfluss entgegengesetzt. In den Gallenkapillaren fließt die Galle (ca. 600–1000 ml/Tag) vom Läppchenzentrum zum periportalen Feld in den Gallengang. Die Gallengänge verlaufen mit den Blutgefäßen und münden in den Ductus hepaticus dexter bzw. sinister. Diese vereinigen sich zum Ductus hepaticus communis, der mit dem Ductus cysticus der Gallenblase den Ductus choledochus bildet.
10.1.2 Per fusion
det die Durchmischung von portalvenösem und arteriellem Blut statt. Von hier fließt das Blut ins Zentrum des Leberläppchens und mündet in die Zentralvene. Der weitere venöse Abfluss erfolgt über die Lebervenen in die V. cava inferior. Der Blutfluss in den Leberläppchen erfolgt also unidirektional vom periportalen Feld in Richtung Zentralvene. Dadurch entsteht ein Sauerstoff- und Substratgradient vom periportalen in den perivenösen Bereich, der einen Stoffaustausch ermöglicht. Außerdem finden hierdurch in der periportalen Region mehr oxidative Prozesse statt: die Hepatozyten enthalten hier viele Mitochondrien. Perivenös nimmt die Sauerstoffsättigung und die Zahl aerober Stoffwechselwege ab, die Hepatozyten haben hier die Aufgabe der Metabolisierung von Pharmaka und toxischen Zwischenprodukten. ! Eine Sauerstoffminderversorgung der Leber führt primär zu einem hypoxischen Schaden der perivenösen Hepatozyten, in denen vor allem auch die Entgiftung von Pharmaka und toxischen Stoffwechselprodukten stattfindet.
Blutversorgung und Blutfluss Die Leber erhält etwa 25 % des Herzzeitvolumens. Dies entspricht ungefähr 1500 ml Blut/min. Das Blut erreicht die Leber über die A. hepatica propria (ca. 25 %) und zum größten Teil über die V. portae (ca. 75 %). Die Pfortader enthält nährstoffreiches, aber sauerstoffarmes Blut (Sauerstoffsättigung 70 %), daher beträgt der Anteil der A. hepatica propria an der gesamten Sauerstoffversorgung der Leber etwa 50 %. Pfortader und Leberarterie teilen sich nach ihrem Eintritt an der Leberpforte bis zu ihren kleinsten Endaufzweigungen, den terminalen portalen Venolen und terminalen Arteriolen in den periportalen Feldern, auf. Das Blut gelangt von dort in die Lebersinusoide der Leberläppchen. Hier fin-
Steuerung der Per fusion Die Durchblutung der Leber unterliegt einem komplexen Zusammenspiel mehrerer Faktoren. Am einflussreichsten ist dabei der Strömungswiderstand in der A. hepatica. Dieser wiederum ist abhängig von extrinsischen und intrinsischen Mechanismen (. Tab. 10.1). Zu den intrinsischen Faktoren gehört die Autoregulation der arteriellen Durchblutung. Dies bedeutet, dass der Blutfluss in der A. hepatica unabhängig von systemischen Butdruckschwankungen ist. Allerdings wurde diese DruckFluss-Autoregulation nur im metabolisch aktiven Zustand der Leber nachgewiesen. Bei Nahru ngskarenz hingegen hat ein systemischer Blutdruckabfall auch eine Minder-
89 10.2 · Leber und Narkose
durchblutung der Leber zur Folge. Mit dem Begriff der »hepatic arterial buffer response« wird der Zusammenhang zwischen Durchblutung der Pfortader und der A. hepatica beschrieben: Bei einer Abnahme der Pfortaderdurchblutung kommt es kompensatorisch zu einer Zunahme der Durchblutung in der Arterie (durch Abnahme des Strömungswiderstands). Umgekehrt kann eine Minderdurchblutung der Arterie nicht durch eine Erhöhung des Blutflusses in der Pfortader ausgeglichen werden. Veränderungen in der Blutzusammensetzung der beiden Gefäße bewirken ebenfalls Perfusionsschwankungen. Eine metabolische Azidose beispielsweise führt zur Vasokonstriktion der A. hepatica. Zu den extrinsichen Regulationsmechanismen gehören der Einfluss des vegetativen Nervensystems und humoraler Faktoren. Glukagon beispielsweise führt zur arteriellen Vasodilatation, Angiotensin II hingegen zur arteriellen und portalvenösen Vasokonstriktion.
10.1.3 Bedeutung im Stoffwechsel Die Leber ist das zentrale Stoffwechselorgan. Sie ist zuständig für die Aufrechterhaltung der Energieversorgung des Körpers und trägt so zur Funktionsfähigkeit aller anderen Organe bei. In der Leber werden die aus dem Pfortaderkreislauf aufgenommenen Nährstoffe abgebaut, gespeichert oder nach Metabolisierung wieder abgegeben. Aus Glukose beispielsweise wird Glykogen synthetisiert, gespeichert, in Hungerzeiten wieder in Glukose umgewandelt und zur Aufrechterhaltung der Glukosehomöostase in den Kreislauf abgegeben. Die Aufgaben der Leber sind also Synthese, Metabolismus und Exkretion von Stoffen nicht nur aus dem Kohlehydrat-, sondern auch aus dem Protein- und Fettstoffwechsel. Die Hepatozyten synthetisieren Albumin, Globuline, Fibrinogen und Gerinnungsfaktoren. Stickstoff und Ammonium aus dem Proteinstoffwechsel werden durch den Umbau zu Harnstoff entgiftet und können über die Nieren ausgeschieden werden. Darüber hinaus ist die Leber hauptsächlich verantwortlich für die Clearance von exogenen und endogenen Toxinen, Viren, Bakterien und aktivierten Gerinnungs- und Fibrinolyseprodukten. Die meisten Medikamente werden in der Leber transformiert. Für diese Biotransformation stehen zwei unterschiedliche Reaktionstypen zur Verfügung: In Phase-I-Reaktionen werden Stoffe durch das Zytochrom-P450-System mittels Oxidation/Reduktion verstoffwechselt. Häufig sind Phase-II-Reaktionen daran angeschlossen, bei denen die Stoffwechselprodukte an wasserlösliche Verbindungen gekoppelt werden, um über Urin oder Galle ausgeschieden
. Tabelle 10.1. Steuerung der Leberperfusion Extrinsische Faktoren
Intrinsische Faktoren
Vegetatives Nervensystem
Autoregulation der A. hepatica
Humorale Substanzen: Katecholamine, Glukagon, Angiotensin, vasoaktive intestinale Polypeptide
»hepatic-arterial-bufferresponse«
Physikochemische Veränderungen im Gesamtkreislauf: pCO2, pO2, Hb, pH
Veränderung der Blutzusammensetzung von V. portae und A. hepatica
. Tabelle 10.2. Aufgaben der Leber Aufgaben
Beispiele
Synthese
Proteine (Albumin, Gerinnungsfaktoren, AT III, Pseudocholinesterasen, Komplementfaktoren, Akute-Phase-Proteine, Lipoproteine), Glykogen, Glukose, Harnstoff, Gallensäuren
Metabolisierung
Proteine, Fettsäuren, Häm-Abbau, Bilirubinkonjugation, Pharmaka-Biotransformation, Vitaminstoffwechsel (Vitamine A, D, E, K)
Exkretion
Bilirubin, Steroide, Pharmaka, Fibrinspaltprodukte, Plasminogenaktivatoren, Bakterien, Toxine
zu werden. Dabei finden nicht alle Aufgaben in jeder Leberzelle statt: Die Hepatozyten sind metabolisch heterogen. Periportal steht ein hohes Sauerstoff- und Substratangebot zur Verfügung. Hier finden Glukoneogenese, Glykogenabbau, Fettsäureoxidation und Aminosäureabbau statt. Perivenös herrscht Sauerstoff- und Substratarmut, hier erfolgen Glykolyse, Glykogensynthese, Liponeogenese und die Biotransformation. Die Hauptaufgaben der Leber sind in . Tab. 10.2 zusammengefasst.
10.2
Leber und Narkose
10.2.1 Anamnese und präanästhesiologische
Untersuchung Ziel der Prämedikationsvisite ist es, sich einen Eindruck von der psychischen und physischen Situation des Patien-
10
90
Kapitel 10 · Physiologisches Wissen – Leber und Narkose
ten zu machen. Hinsichtlich des Organs Leber bedeutet dies, ihre Funktion und das Ausmaß einer möglicherweise bestehenden Schädigung abzuschätzen. Anamnese und körperliche Untersuchung
10
Im Gespräch mit dem Patienten klären: 5 Bestand oder besteht – eine Hepatitis? – ein Ikterus? – Medikamentenabusus? – Alkoholabusus? – Leberzirrhose? 5 Hat der Patient schon einmal Bluttransfusionen erhalten? 5 Bestehen Erkrankungen mit Leberbeteiligung (z.B. M. Wilson, Lebermetastasen u. ä.)? Zeichen einer Lebererkrankung bei der körperlichen Untersuchung: 5 Spider naevi 5 Palmarerythem 5 Gynäkomastie 5 Ikterus 5 Aszites 5 Enzephalopathie ! Bei vorbestehender Leberschädigung sind das perioperative Risiko und das Risiko postoperativer, leberspezifischer Komplikationen erhöht.
Ikterus Ursache eines Ikterus ist die Zunahme von Bilirubin im Blut (Normalwert: 0,2–1,0 mg/dl = 3,4–17,1 Pmol/l) und dessen Übertritt ins Gewebe (Verfärbung von Haut und Schleimhäuten, inneren Organen, Körperflüssigkeiten). Bilirubin entsteht beim Häm-Abbau. Zuerst liegt es als unkonjugiertes, indirektes, wasserunlösliches Bilirubin vor. In der Leber erfolgt die Konjugation mit Glukuronsäure zu konjugiertem, direktem Bilirubin, das wasserlöslich ist. Das direkte Bilirubin wird in die Gallengänge abgegeben und mit der Galle über den Darm ausgeschieden. Bei verschiedenen Lebererkrankungen kann als Symptom ein Ikterus auftreten: Hepatitis, Leberzirrhose, Cholestase wegen Tumor oder Cholelithiasis. Durch eine Störung der Bilirubinabgabe in die Gallengänge kommt es zum vermehrten Übertritt von konjugiertem Bilirubin ins Blut (Normalwert: 0,05–0,3 mg/dl = 0,8–5,1 Pmol/l), das nun renal ausgeschieden wird und den Urin braun verfärbt. Eine Zunahme
des unkonjugierten Bilirubins im Blut ist durch eine ausgeprägte Hämolyse möglich oder durch eine Störung der Konjugationsfunktion der Leber. Je nach Ort der Störung spricht man von einem prä- (z. B. Hämolyse), intra- (z. B. Hepatitis) oder posthepatischen (z. B. Cholelithiasis) Ikterus.
Laborchemische Untersuchung Je nach Art und Ausmaß der Schädigung sind durch bestimmte Laborbildkonstellationen Rückschlüsse auf die jeweilige Erkrankung möglich: Durch eine Schädigung der Hepatozyten kommt es zu einer Freisetzung intrazellulärer Enzyme ins Blut. Ist die Syntheseleistung der Leber (akut) eingeschränkt, kommt es zu einem Mangel an Gerinnungsfaktoren. Besteht eine chronische Schädigung, so kann zusätzlich die Albuminkonzentration erniedrigt sein. Ist die Exkretionsleistung der Leber gestört, z.B. durch einen stenosierenden Tumor, kommt es zu einem Anstieg der Cholestaseparameter (Bilirubin, alkalische Phosphatase, J-GT). Eine Übersicht gibt . Tab. 10.3. Vorgehen bei präoperativ erhöhten Leberenzymen ohne bekannte Lebererkrankung 5 Wiederholung der Bestimmung (labortechnischer Fehler?) 5 Leberenzyme > 100U/l: kein elektiver Eingriff, Ausschluss einer akuten Hepatitis 5 Leberenzyme > 500U/l: kein elektiver Eingriff, Diagnostik eines schweren Leberzellschadens
Leichte Transaminasenerhöhung, wie sie beispielsweise bei einer Fettleber auftreten, stellen keine Kontraindikation für Narkose und Operation dar. Im Endstadium einer Lebererkrankung dagegen können die Transaminasen wieder auf Normalwerte zurückgehen. Man spricht dann von einer so genannten »Burn-out-Leber«, die Mehrzahl der Hepatozyten ist bereits zerstört. Bei Verdacht auf eine Virushepatitis ist die entsprechende Virusserologie zu überprüfen, nicht zuletzt, um bei Infektiosität im OP die nötigen Schutzmaßnahmen für Personal und andere Patienten zu ergreifen.
Spezielle Leber funktionstests Zur Beurteilung der metabolischen und exkretorischen Leistungsfähigkeit können verschiedene Tests herangezogen werden: Beim MEGX-Test (Mono-Ethyl-Glycin-Xylidid-Test) wird die Funktion der Cytochrom-P450-Enzymaktivität überprüft (MEGX ist ein Abbauprodukt von
91 10.2 · Leber und Narkose
. Tabelle 10.3. Leberenzyme – laborchemische Parameter und ihre Bedeutung Parameter
Lokalisation
Ursachen
GPT = ALAT
Zytoplasma der Leberzelle
z. B. Virushepatitis (GPT > GOT)
GOT = ASAT
Zytoplasma (auch in extrahepat. Zellen)
z. B. Zirrhose, Hypoxie (GOT > GPT), Hepatitis
Leberzellschaden
LDH
Zytoplasma (auch in extrahepat. Zellen)
Störung der Exkretion γ-GT
Membrangebunden
Bilirubin
Alkohol, Medikamente, Cholestase Leberinsuffizienz, intra- oder extrahepatische Cholestase, Defekt der Konjugation, Hämolyse
Alkalische Phosphatase (AP)
Membran der Sinusoide (u. a.)
Cholestase, Hepatitis
Parameter
Halbwertszeit
Zeitlicher Verlauf der Störung
! Allerdings ist bei eingeschränkter Leber funktion die Dosierung bei einigen Medikamenten anzupassen bzw. eine verlängerte Wirkdauer zu beachten! (7 Kap. 25)
Für inhalative Anästhetika sind aufgrund ihrer zwar geringen, aber dennoch in der Leber stattfindenden Metabolisierung toxische Effekte nicht ganz auszuschließen. Vor allem für Halothan sind Leberzellschäden bis hin zum Leberversagen bekannt.
Halothan Die Ursache für die so genannte Halothanhepatitis ist nicht genau bekannt, sowohl toxische Metabolite als auch autoimmunologische oder allergische Prozesse werden diskutiert. Die Häufigkeit beträgt etwa 1 : 10000 bis 1 : 36000. Die Letalität liegt bei 1 : 210000. Man unterscheidet eine milde und eine schwere Form, letztere kann zum fulminanten Leberversagen führen. Risikofaktoren für die Ausbildung einer Halothanhepatitis
Störung der Synthese Prä-Albumin
1,5 Tage
Akut
Albumin
14–21 Tage
Chronisch
Cholinesterase
14–20 Tage
Chronisch
Quick-Wert
Einflüsse spielen jedoch in der Praxis eine untergeordnete Rolle, solange ein ausreichend hohes Herzzeitvolumen, das ja auch für die Durchblutung anderer lebenswichtiger Organe notwendig ist, aufrechterhalten wird. Davon zu unterscheiden sind direkte hepatotoxische Einflüsse. Für die intravenösen Anästhetika Propofol, Thiopental, Etomidate, Midazolam und Ketamin sind keine toxischen Wirkungen auf die Hepatozytenfunktion bekannt. Dies gilt auch für alle gängigen Opioide und Muskelrelaxanzien.
Akut und chronisch
Lidocain). Weitere Tests überprüfen die IndozyaningrünClearance (ICG-Test) oder die Galaktose-Eliminations-Kapazität und erlauben Rückschlüsse auf die Leberfunktion.
10.2.2 Narkosemedikamente
und Leber funktion Nahezu alle Narkosemedikamente beeinflussen vorübergehend die Leberdurchblutung und damit auch die Leberfunktion durch eine Erniedrigung des Herzzeitvolumens. Diese
5 5 5 5 5 5
Mehr fache Halothannarkosen Adipositas Familiäre genetische Prädisposition Mittleres Lebensalter (35–40 Jahre) Weibliches Geschlecht Nebenwirkungen bei vorhergehenden Narkosen mit Inhalationsanästhetika
Klinisch findet man bei der leichten Form innerhalb von etwa 1 Woche nach der Narkose Symptome wie Gelenkschmerzen, Exanthem, Fieber, Schüttelfrost, Eosionophilie, Leukozytose, Bilirubinanstieg. Da die Symptome zum Teil kurz dauernd und unspezifisch sind, wird diese Form häufig gar nicht bemerkt. Bei der schweren Form der Halothanhepatitis kommt es zusätzlich zu einem ausgeprägten Ikterus mit Bilirubinwerten über 20 mg%. Alle Symptome des akuten Leberkomas können auftreten: zunehmende Be-
10
92
Kapitel 10 · Physiologisches Wissen – Leber und Narkose
wusstlosigkeit, schwere Gerinnungsstörungen, ausgeprägte Immunschwäche, schwere Störungen des Wasser- und Elektrolythaushalts, Mitbeteiligung anderer Organe in Form von Nieren- und Lungenversagen. Die Diagnosestellung ist nur als Ausschlussdiagnose möglich. Da eine Kreuzsensitivität auf andere volatile Anästhetika nicht auszuschließen ist, gilt:
Daneben ist zu bedenken, dass es vor allem bei Oberbaucheingriffen allein durch die chirurgische Manipulation zu einer Verminderung der Leberdurchblutung kommt. Vermittelt wird die Vasokonstriktion durch eine endogene Katecholaminfreisetzung. Bei Eingriffen an der Leber selbst kommt es auch reflektorisch zu einer Vasokonstriktion mit Perfusionsreduktion.
! Bei Verdacht auf eine frühere »Halothanhepatitis« sollten grundsätzlich auch keine anderen Inhalationsanästhetika für Narkosen eingesetzt werden.
Literatur
Enfluran Enfluran sollte wie Halothan als halogeniertes Inhalationsanästhetikum bei entsprechender Symptomatik bei Halothanoder Enfluranvornarkosen nicht angewendet werden.
Isofluran
10
Isofluran gilt aufgrund seiner geringen Metabolisierungsrate (ca. 0,2–1 %) als sicher. Außerdem hat es den geringsten reduzierenden Effekt auf die Leberdurchblutung. Aufgrund gleicher Abbauwege wie Halothan kann es in extrem seltenen Fällen zum Leberversagen kommen.
Sevofluran Auch bei Anwendung von Sevofluran ist hinsichtlich der Leberfunktion sieht man von gelegentlichen Transaminasenerhöhungen ab, kein negativer Effekt zu erwarten.
Desfluran Desfluran hat die geringste Metabolisierungsrate von allen Inhalationsanästhetika (ca. 0,02 %). Eine Hepatotoxizität ist wie bei Isofluran nicht ausgeschlossen aber extrem selten.
10.2.3 Narkoseführung, Operation und
Leberdurchblutung Grundsätzlich ist das Ziel der Narkoseführung die Aufrechterhaltung einer adäquaten Sauerstoffversorgung der Leber. Darum ist auf die Faktoren, die die hepatische Durchblutung beeinflussen, zu achten. Kurz zusammengefasst bedeutet dies: 4 Vermeidung von Hypoxie und Hypokapnie 4 Vermeidung von starken Blutdruckabfällen 4 Vermeidung von Hypovolämie 4 Vermeidung von schwerer Anämie 4 Normoventilation, PEEP bei Leberinsuffizienz so gering wie möglich 4 Vermeidung einer metabolischen Azidose
Bleyl JU, Koch T, List WF (2003) Lebererkrankungen und Anästhesie. In: List W, Osswald PM, Hornke I (Hrsg) Komplikationen und Gefahren in der Anästhesie, 4. Aufl., Springer, Berlin Heidelberg New York, S. 233–49 Löffler G, Petrides PE (1988) Physiologische Chemie, 4. Aufl., Springer, Berlin Heidelberg New York Puccini M, Nöldge-Schomburg G (2001) Anästhesie und Leber. In: Anästhesiologie & Intensivmedizin, 42: S. 895–907 Reuter P (2004) Springer Lexikon Medizin, 1. Aufl., Springer, Berlin Heidelberg New York Striebel HW (2003) Die Anästhesie, 1. Aufl., Schattauer, Stuttgart
11 Physiologisches Wissen – Niere und Narkose Mathias Haller 11.1 Anatomie und Physiologie –94 11.1.1 Glomeruläre Filtration –94 11.1.2 Tubuläre Transportvorgänge –96 11.1.3 Regulation der Nierenfunktion –97
11.2 Nierenfunktion und Narkose –97 11.2.1 Allgemeinanästhesie –97 11.2.2 Rückenmarknahe Leitungsanästhesie (Spinalanästhesie, Periduralanästhesie) –98 11.2.3 Operationen mit speziellen Risiken für die Nierenfunktion –98
11.3 Zusammenfassung –98
94
Kapitel 11 · Physiologisches Wissen – Niere und Narkose
)) Die Aufgabe der Nieren ist es, den Flüssigkeits- und Elektrolythaushalt des Körpers zu regeln. Außerdem werden über die Nieren Abbauprodukte ausgeschieden, die im Körperstoffwechsel anfallen. Daneben haben die Nieren endokrine Funktionen: Erythropoetin steigert (durch Hypoxie und Anämie stimuliert) die Bildung roter Blutkörperchen. Das Renin-Angiotensin-System spielt bei der Regulation der Nierenfunktion selbst sowie bei der Regulation von Blutdruck und Volumenstatus des Körpers eine wichtige Rolle. »Gewebshormone« wie Eicosanoide (Produkte des Arachidonsäuremetabolismus z. B. Prostaglandine und Thromboxan) sind an der Regulation der Nierenfunktion beteiligt. In den Mitochondrien der Niere wird 25-(OH)Cholecalciferol (Vitamin D3) zur wirksamsten Vitamin-DForm 1,25-(OH)2-Cholecalciferol hydroxyliert.
11.1
11
Anatomie und Physiologie
Die funktionelle Einheit der Niere ist das Nephron. Jede Niere hat ca. eine Million Nephrone. Ein Nephron besteht aus dem Glomerulus, der Bowmanschen Kapsel, in der der Primärharn (= Ultrafiltrat) aufgefangen wird, und dem Tubulus mit seinen verschiedenen Abschnitten. Mehrere Nephrone drainieren in jeweils ein gemeinsames Sammelrohr (. Abb. 11.1). Der Glomerulus ist ein Kapillarknäuel (Durchmesser ca. 200 Pm), der von je einer Arteriole gespeist (Vas afferens) und von einer Arteriole drainiert wird (Vas efferens). Dieser »Filter« ist der Ort der Primärharnbildung, der glomerulären Filtration. Er besteht aus dem Kapillarendothel, der Basalmembran und den Podozyten des inneren Blatts der Bowmanschen Kapsel. Die Porengröße erlaubt Molekülen mit einem Durchmesser < 2 nm oder mit einem Molekulargewicht < 10 000 Dalton die freie Passage, Moleküle > 4 nm bzw. > 50 000 Dalton werden zurückgehalten. Moleküle, deren Größe bzw. Molekulargewicht zwischen diesen Werten liegt, werden je nach elektrischem Ladungszustand mehr oder weniger filtriert. Da die Kapillarwände der Glomeruli mit negativen Ladungen besetzt sind, passieren positiv geladene Moleküle den Filter leichter als negativ geladene. Zellen und die meisten Eiweiße können den glomerulären Filter nicht passieren. ! In der täglichen Routine meinen wir, wenn wir von »Nierenfunktion« sprechen, die Ausscheidungsfunktion der Nieren. Für klinische Zwecke kann diese in zwei Komponenten unterteilt werden: 1. die Bildung des Primärharns 6
durch glomeruläre Filtration und 2. die Weiterverarbeitung des Filtrats im Tubulus-Sammelrohr-System.
11.1.1 Glomeruläre Filtration Die Niere wird von 20–25 % des Herzzeitvolumens (7 Kap. 8) durchblutet, das entspricht ca. 1 l/min. Der renale Plasmafluss liegt entsprechend bei ca. 600 ml/min. Die Nierenrinde erhält im Vergleich zum Nierenmark den größeren Anteil vom Herzzeitvolumen. Pro Tag werden etwa 180 l Primärharn durch glomeruläre Filtration gebildet. Das pro Minute gebildete Primärharnvolumen (= glomeruläre Filtrationsrate, GFR) liegt damit bei etwa 120 ml und die Filtrationsfraktion (das Verhältnis von GFR zu renalem Plasmafluss) beträgt ca. 20 %. Die treibende Kraft der glomerulären Filtration ist die Druckdifferenz zwischen Glomerulus-Kapillare und Bowmanscher Kapsel, der effektive Filtrationsdruck (pfilt). Am Anfang der Glomerulus-Kapillare gilt: ! pfilt = pkap – Skap – pBow | 60 mmHg – 25 mmHg – 15 mmHg = 20 mmHg
In Richtung Bowmansche Kapsel wirkt der hydrostatische Druck in der Kapillare (pkap), entgegengesetzt in Richtung Blut wirkt einerseits der hydrostatische Druck in der Bowmanschen Kapsel (pBow) und andererseits der kolloidosmotische Druck des Blutes (Skap). Der Primärharn hat normalerweise keinen kolloidosmotischen Druck, da er eiweißfrei ist. Im Verlauf der Glomerulus-Kapillare wird Ultrafiltrat abgepresst. Dadurch nimmt die Eiweißkonzentration im Kapillarblut des Glomerulus zu und der kolloidosmotische Druck (Skap) steigt. Dies führt zu einer Verminderung des effektiven Filtrationsdruckes (pfilt) im Verlauf der Blutpassage durch den Glomerulus. Wenn sich im Verlauf der Glomeruluspassage die Summe aus hydrostatischem Druck in der Bowmanschen Kapsel und kolloidosmotischem Druck im Plasma dem Wert des hydrostatischen Drucks in der Glomerulus-Kapillare angleicht, wird das Filtrationsgleichgewicht erreicht, d. h. es wird ab dieser Stelle der Glomerulus-Kapillare kein Ultrafiltrat mehr gebildet. ! Die glomeruläre Filtrationsrate (GFR) entspricht dem Produkt aus effektivem Filtrationsdruck (pfilt) und Filtrationskoeffizient der Glomerulus-Kapillare (Kf ): GFR= Kf u pfilt = Kf u (pkap – Skap – pBow)
Der Filtrationskoeffizient als Maß für die Durchlässigkeit der Glomerulus-Kapillaren für Wasser ist 50- bis 100-mal größer als in anderen Kapillargebieten. Der glomeruläre Filtrationskoeffizient ist keine konstante Größe, sondern wird durch Hormone und vasoaktive Substanzen beeinflusst.
95 11.1 · Anatomie und Physiologie
. Abb. 11.1. Nephron, bestehend aus Glomerulus, Bowmannscher Kapsel und Tubulus mit verschiedenen Abschnitten (proximaler Tubulus, Henlesche Schleife, distaler Tubulus). Mehrere Nephrone drainieren jeweils in ein gemeinsames Sammelrohr (aus Schmidt, RF: Physiologie kompakt, 3. Aufl. 1999, Springer Verlag Berlin – Heidelberg – New York).
Die glomeruläre Filtrationsrate hängt ab von (vgl. . Abb. 11.2): 5 Veränderungen des effektiven Filtrationsdrucks, in der Regel durch Änderungen des hydrostatischen Drucks in der Glomerulus-Kapillare. Dieser wird durch Veränderungen des Gefäßquerschnitts von Vas afferens und Vas efferens gesteuert: Konstriktion des Vas afferens und/oder Dilatation des Vas efferens reduzieren den kapillären hydrostatischen Druck, Dilatation des Vas afferens und/oder Konstriktion des Vas efferens erhöhen ihn. 5 Änderungen der Nierendurchblutung: Sinkt der renale Blutfluss, wird das Filtrationsgleichgewicht während der Blutpassage durch den Glomerulus früher erreicht, d. h. mehr in Richtung Vas afferens. Dadurch vermindert sich die Kapillar fläche, an der das Filtrationsgleichgewicht noch nicht erreicht ist und somit Ultrafiltrat gebildet wird. Bei Erhöhung des renalen Blutflusses gilt das Gegenteil: die Kapillarober fläche, an der ein positiver effektiver Filtrationsdruck herrscht, vergrößert sich und es wird mehr Ultrafiltrat gebildet. Die glomeruläre Filtrationsrate ist proportional dem renalen Plasmafluss. 5 Änderungen des Filtrationskoeffizienten, z. B. durch Kontraktion der die Kapillaren umgebenden Mesangiumzellen.
! Nierendurchblutung und GFR unterliegen über einen weiten Bereich des arteriellen Blutdrucks einer Autoregulation. Sie bleiben bei mittleren arteriellen Blutdruckwerten zwischen 80 mmHg und 180 mmHg relativ konstant. Ober- und unterhalb dieses Blutdruckbereichs ändern sich Nierendurchblutung und GFR gleichsinnig mit dem arteriellen Blutdruck.
Zur Messung der GFR werden Clearance-Methoden verwendet. Unter »Clearance« wird die »Klärung« einer Substanz aus einem definierten Plasmavolumen verstanden.
11
96
Kapitel 11 · Physiologisches Wissen – Niere und Narkose
. Abb. 11.2. Renaler Blutfluss (RBF) und glomeruläre Filtrationsrate (GFR) aufgetragen über dem arteriellen Blutdruck (AP). Bei Blutduckwerten zwischen ca. 80 mmHg und 180 mmHg bleiben RBF und GFR konstant. Ober- und unterhalb dieser Werte ändern sich RBF und GFR gleichsinnig mit dem Blutdruck.
11
Der Wert der Clearance (z. B. 120 ml/min) entspricht demjenigen Plasmavolumen, das pro Zeiteinheit vollständig von der Indikatorsubstanz befreit wird. Die klassische Indikatorsubstanz zur Messung der GFR ist Inulin, da es nur durch glomeruläre Filtration aus dem Plasma entfernt wird und weder extrarenal ausgeschieden noch tubulär reabsorbiert oder sezerniert wird. In der klinischen Praxis hat sich die weniger aufwändige Kreatinin-Clearance bewährt, die nur mehrstündiges Urin-Sammeln und die Bestimmung der Kreatininkonzentration in Serum und Urin erfordert. ! Die Serumkreatininkonzentration ist der am häufigsten verwendete Parameter zur Abschätzung der Nierenfunktion. Allerdings ändert sich das Serumkreatinin bei Verminderung der GFR zunächst kaum. Erst bei höhergradiger Einschränkung der GFR steigt es nennenswert über die Norm an.
An der Regulation der Nierenfunktion beteiligte Hormonsysteme Vasokonstriktion → Senkung von renalem Blutfluss, GFR, Diurese, Na-Ausscheidung: 5 Sympathoadrenerges System 5 Renin-Angiotensin-System 5 Antidiuretisches Hormon Vasodilatation → Steigerung von renalem Blutfluss, GFR, Diurese, Na-Ausscheidung: 5 Atriales natriuretisches Peptid 5 Prostaglandine (z. B. Prostazyklin) 5 Kinine (z. B. Bradykinin)
. Abb. 11.3. Harnkonzentrierung durch Gegenstromaustausch. Schwarze Zahlen: Osmolalität [mosm/l]; grau: Harn; Pfeile: Richtung des Stoffaustauschs (aus Schmidt RF: Physiologie kompakt, 3. Aufl. 1999, Springer Verlag Berlin – Heidelberg – New York).
11.1.2 Tubuläre Transportvorgänge Im Gegensatz zum einfach zu verstehenden Vorgang der Bildung des Primärharns durch Filtration finden im Tubulus-Sammelrohr-System viele komplizierte aktive und passive Transportvorgänge statt. Hier entstehen aus den 180 l Primärharn die letztlich ausgeschiedenen ca. 1,5 l Urin. Damit beträgt die ausgeschiedene Flüssigkeitsmenge < 1 % des Ultrafiltrats. Substanzen werden je nach Bedarf des Gesamtorganismus aus dem Primärharn rückresorbiert oder sezerniert. So werden z. B. über 99 % des im Glomerulus filtrierten Natriums und die gesamten ca. 180 g täglich filtrierter Glukose rückresorbiert. Die Natriumrückresorption verbraucht 90 % des Sauerstoffangebots an die Nieren. Dabei ist der Sauerstoffverbrauch direkt proportional der Natriumrückresorption. Aus dem Blut in das Tubuluslumen sezerniert werden vor allem organische Säuren und Basen.
97 11.2 · Nierenfunktion und Narkose
Damit die Nieren ihre Funktion zur Aufrechterhaltung der Homöostase des Flüssigkeitshaushalts und des Stoffwechsels wahrnehmen können, ist die Wasserausscheidung unabhängig von der Ausscheidung anderer Substanzen geregelt. Die Fähigkeit der Nieren, den Harn zu konzentrieren (Antidiurese, normaler Zustand der Nieren) bzw. zu verdünnen wird durch die Gliederung des Tubulus-Sammelrohr-Systems in verschiedene Abschnitte (proximaler Tubulus, Henlesche Schleife, distaler Tubulus und Sammelrohr) mit unterschiedlicher Durchlässigkeit für Wasser und Natrium ermöglicht. Die treibende Kraft ist der aktive Transport von Natrium-Ionen aus dem dicken aufsteigenden Teil der Henleschen Schleife und im proximalen Anteil des distalen Tubulus, wobei diese Tubulusanteile wasserundurchlässig sind und so das Wasser nicht dem Natrium-Ionenausstrom folgen kann. Damit nimmt an dieser Stelle die Harnkonzentrierung ab und das Gewebe im Nierenmark zwischen den Schenkeln der Henleschen Schleife wird hyperton. Dadurch wird aus dem für Wasser durchlässigen absteigenden Teil der Henleschen Schleife Wasser aus dem Tubuluslumen entlang des osmotischen Gefälles ins umgebende hypertone Gewebe verschoben. Auf dem Weg ins Nierenmark verstärkt sich die Tonizität zunehmend durch Gegenstromaustausch (. Abb. 11.3).
11.1.3 Regulation der Nierenfunktion An der Regulation der Nierenfunktion sind verschiedene Hormonsysteme und das vegetative Nervensystem beteiligt. Vereinfachend gilt: vasokonstriktorisch wirken das sympathoadrenerge System, das Renin-Angiotensin-System und das antidiuretische Hormon (ADH/Vasopressin). Gefäßerweiternd wirken atriales natriuretisches Peptid (ANP), Prostaglandine (z. B. Prostazyklin und PGE2) und Kinine (z. B. Bradykinin). Die Niere ist über den Plexus coeliacus mit einem sympathischen Nervengeflecht durchsetzt. Aktivierung des Sympathikus durch Stress (z. B. Operationsreiz) oder arterielle Hypotension führt zur Natrium- und Wasser Rückresorption und zur Aktivierung des Renin-Angiotensin-Systems. Das wirksame Agens des Renin-Angiotensin-Systems ist Angiotensin II. Es entsteht aus dem in der Leber gebildeten Angiotensinogen durch Einwirkung von Renin und ACE (angiotensinIconverting enzyme). Die Reninaktivität ist der limitierende Faktor in der Angiotensin-Synthese. Angiotensin II ist eine der am stärksten vasokonstriktorisch wirkenden Substanzen. Damit wird der glomeruläre Filtrationsdruck in Phasen einer verminderten Nieren-
durchblutung bzw. eines verminderten renalen Perfusionsdrucks erhöht. Die Verminderung der AngiotensinII-Wirkung durch ACE-Inhibitoren kann bei arterieller Hypotension und fortgeschrittener Niereninsuffizienz zu einer Verschlechterung der Nierenfunktion führen. Angiotensin II stimuliert außerdem die Aldosteronsekretion in der Nebennierenrinde. Aldosteron führt zur Rückresorption von Natrium und konsekutiv Wasser im Tubulus-Sammelrohr-System.
11.2
Nierenfunktion und Narkose
Über den Einfluss der Anästhesie alleine auf die Nierenfunktion ist wenig bekannt. Der Anteil des Anästhesieverfahrens an einer perioperativen Veränderung der Nierenfunktion ist schwer vom Einfluss des operativen Eingriffs, der sonstigen perioperativen Behandlung und der zur Operation führenden Grundkrankheit zu trennen. Hier spielen Faktoren wie Art der Operation, Volumentherapie, Blutverlust und Begleitmedikationen (z. B. nephrotoxische Substanzen) eine Rolle. ! Ein für die Nierenfunktion ideales Anästhesieverfahren sollte den renalen Perfusionsdruck und den renalen Blutfluss nicht beeinträchtigen und sollte eine gute Abschirmung gegen den perioperativen Stress durch Schmerzen bieten.
11.2.1 Allgemeinanästhesie Alle Methoden der Allgemeinanästhesie scheinen die GFR und das Harnzeitvolumen reversibel zu vermindern. Die Autoregulation der Nieren bleibt während einer Allgemeinanästhesie weitgehend erhalten. Systemische Effekte der volatilen Anästhetika, wie negativ inotrope Wirkung und periphere Vasodilatation mit konsekutivem Abfall des arteriellen Blutdrucks, können zu vorübergehenden Einschränkungen der Nierendurchblutung und der GFR führen. Diese Effekte sind bei intravenösen Anästhetika weniger ausgeprägt. Ketamin erhöht die Nierendurchblutung. Vorwiegend Opioid-basierte Anästhesietechniken beeinflussen die Nierenfunktion kaum. Bei der Verstoffwechselung der Anästhesiegase Sevofluran und Enfluran entsteht Fluorid, welches in höheren Konzentrationen nephrotoxisch ist und zunächst zum Verlust der Konzentrierungsfähigkeit der Nieren führt. Klinisch relevante Fluoridkonzentrationen werden jedoch nur unter Ausnahmebedingungen erreicht, z. B. bei lang dauernden Enfluran-Narkosen bei Patienten, die wegen einer Tuber-
11
98
Kapitel 11 · Physiologisches Wissen – Niere und Narkose
kulose mit Isoniazid behandelt werden, oder bei extrem adipösen Patienten. Bei Narkosen mit Sevofluran bildet sich durch Interaktion mit dem Atemkalk Compound A, das im Tierversuch nephrotoxisch ist. Die Konzentration von Compound A ist höher bei trockenem Atemkalk, bei niedrigem Frischgasfluss und bei hoher Sevoflurankonzentration. Eine klinisch relevante Nephrotoxizität von Sevofluran konnte beim Menschen allerdings selbst bei Patienten mit vorbestehender Niereninsuffizienz nicht nachgewiesen werden. Insgesamt ist das nephrotoxische Risiko durch Fluoridbildung oder Compound A klinisch weitgehend zu vernachlässigen. Die maschinelle Beatmung mit positiven Atemwegsdrücken während Allgemeinanästhesie führt zu einer Abnahme von Nierendurchblutung und GFR, die von der Höhe des Beatmungsdruckes abhängt. Diese Veränderungen der Nierenfunktion sind Folge der Kreislaufwirkung der Beatmung mit positiven Drücken (erhöhter intrathorakaler Druck führt zu vermindertem venösem Rückstrom zum Herzen und zu vermindertem Herzzeitvolumen). Die negativen Effekte der maschinellen Beatmung auf HerzKreislauf- und Nierenfunktion können durch Volumengabe vermieden werden.
11
11.2.2 Rückenmarknahe Leitungsanäs-
thesie (Spinalanästhesie, Periduralanästhesie) Spinal- und Periduralanästhesie haben wenig Einfluss auf die Nierenfunktion, wenn der systemische Blutdruck auf annähernd normalen Werten gehalten wird. Dies erfordert eine erhöhte Flüssigkeitszufuhr und eventuell den Einsatz kreislaufstützender Medikamente.
11.2.3 Operationen mit speziellen Risiken
für die Nierenfunktion Es gibt Eingriffe, die typischerweise mit einem erhöhten Risiko für eine perioperative Nierenfunktionsstörung einhergehen. Dazu gehören Eingriffe an der Aorta und Herzoperationen. Die Abklemmung der Aorta, auch unterhalb der Nierenarterien, führt zu einer Reduktion der Nierendurchblutung und der GFR. Ursache für die Verminderung von renalem Blutfluss und GFR bei infrarenalem Abklemmen ist die Veränderung der systemischen Hämodynamik: der durch das Abklemmen akut erhöhte systemische Gefäßwiderstand und der verminderte venöse Rückstrom zum Herzen (ein Teil des Körpers ist durch das Abklemmen von der Zirkulation ausgeschlossen) führen zu einer Erniedrigung
des Herzzeitvolumens und damit auch der Nierendurchblutung. Während Herzoperationen unter extrakorporaler Zirkulation (»Herz-Lungen-Maschine«) ist die Nierendurchblutung durch die besondere Art der Perfusion (nicht-pulsatiler Blutfluss) und den relativ niedrigen systemischen Blutdruck ebenfalls vermindert. Ob Herzoperationen ohne extrakorporale Zirkulation hinsichtlich des Auftretens postoperativer Nierenfunktionsstörungen Vorteile bringen, ist nicht geklärt.
11.3
Zusammenfassung
Die Ausscheidungsfunktion der Nieren kann in zwei Teilprozesse gegliedert werden: die Bildung des Primärharns durch glomeruläre Filtration und die Weiterverarbeitung des Harns durch tubuläre Transportvorgänge. Der klinisch gebräuchlichste Laborwert zur Abschätzung der Nierenfunktion ist die Serumkonzentration von Kreatinin. Kreatinin wird fast ausschließlich glomerulär filtriert und unterliegt keiner wesentlichen tubulären Resorption oder Sekretion. Deshalb ist die Serumkreatininkonzentration ein Maß für die glomeruläre Filtrationsrate. ! Aufgrund des hyperbolischen Zusammenhangs zwischen Serumkreatininkonzentration und glomerulärer Filtrationsrate (SKr ~ 1/GFR) muss die glomeruläre Filtrationsrate auf ca. die Hälfte des Normwertes fallen, bevor die Serumkreatininkonzentration über die Norm ansteigt.
Der Einfluss der Anästhesie auf die Nierenfunktion ist gering. Während Allgemeinanästhesie sind Nierendurchblutung und glomeruläre Filtrationsrate zwar vermindert, die Autoregulation der Nierendurchblutung bleibt aber erhalten und postoperative Nierenfunktionsstörungen als Folge der Anästhesie treten nicht auf. Mehr Einfluss auf die Nierenfunktion haben die Operation und deren Begleitumstände wie Blutverlust etc. Operationen, die mit einer Minderdurchblutung der Nieren einhergehen wie Eingriffe an der Aorta oder Herzoperationen unter extrakorporaler Zirkulation, sind die häufigsten Ursachen eines postoperativen Nierenversagens.
12 Narkosesysteme Jan Baum 12.1 Differenzierung der Narkosesysteme entsprechend der technisch-konstruktiven Konzeption –100 12.1.1 Systeme ohne Reservoir –100 12.1.2 Nicht-Rückatemsysteme –100 12.1.3 Rückatemsysteme –102
12.2 Differenzierung der Narkosesysteme nach funktionellen Kriterien –104 12.2.1 12.2.2 12.2.3 12.2.4
Offene Systeme –104 Halboffene Systeme –104 Halbgeschlossene Systeme –104 Geschlossene Systeme –104
12.3 Narkosesysteme unter technischen und funktionellen Aspekten –104 12.3.1 Rückatemsysteme –104 12.3.2 Nicht-Rückatemsysteme –105 12.3.3 Systeme ohne Reservoir –106
12.4 Funktion der Narkosesysteme in Abhängigkeit vom Frischgasflow –106 12.5 Kohlendioxidabsorption –106 12.5.1 12.5.2 12.5.3 12.5.4 12.5.5
Atemkalk –106 Atemkalkbehälter –107 Nutzungsdauer des Atemkalks –107 Reaktionen der Kohlendioxidabsorbenzien mit Inhalationsanästhetika –108 Korrekter Umgang mit Atemkalk in der klinischen Praxis –108
12.6 Vor- und Nachteile unterschiedlicher Narkosesysteme –109 Literatur –110
100
Kapitel 12 · Narkosesysteme
)) Narkosesysteme sind die apparativen Bindeglieder zwischen den Geräten zur Bereitung des Frischgases, dem eigentlichen Narkosgerät, und den Patienten. Als interaktive Schnittstellen er füllen sie, abhängig von ihrer konstruktiv-technischen Grundkonzeption, folgende Aufgaben: – Bereitung der Narkosegase durch Mischung von Sauerstoff, Lachgas oder Luft, Inhalationsanästhetika und Ausatemluft – Zuleitung der Narkosegase zum Patienten – Entfernung des ausgeatmeten Kohlendioxids – Trennung der Narkosegase von der umgebenden Atmosphäre – Anfeuchtung und Anwärmung der Narkosegase
12.1
12
Differenzierung der Narkosesysteme entsprechend der technischkonstruktiven Konzeption
Bislang gibt es keine einheitliche, international verbindlich anerkannte terminologische Klassifizierung der Narkosesysteme. In Anlehnung an E. A. Ernst sollte grundsätzlich der Klassifizierung der Narkosesysteme entsprechend der zugrunde liegenden technisch-konstruktiven Konzeption der Vorzug gegeben werden.
12.1.1 Systeme ohne Reser voir Die Systeme ohne Reservoir sind durch einfachsten technischen Aufbau gekennzeichnet. Zu ihnen gehören die Insufflationssysteme wie z. B. der Davis-Meyer-Insufflationsspatel und die Narkosemasken zur Tropfnarkose mit Chloroform und Ether wie etwa die Schimmelbuschmaske (. Abb. 12.1). Alle Systeme ohne Reservoir haben einen sehr geringen Atemwiderstand. Bei tiefer Einatmung kann es aber durch unkontrollierten Zustrom von Luft zur Dilution des Narkosemittels kommen. ! Systeme ohne Reser voir gewährleisten keine sichere Trennung der Narkosegase von der Umgebungsatmosphäre. Gegebenfalls kann Außenluft in nicht zu kontrollierender Menge zusammen mit dem Narkosegas vom Patienten eingeatmet werden. Eine exakte Kontrolle der applizier ten Narkosegaskonzentrationen ist nicht möglich.
. Abb. 12.1. Narkosesysteme ohne Reservoir: Schimmelbuschmaske und Insufflationsspatel (aus Minnitt RJ, Gillies J. Textbook of Anaesthetics. 6th ed. Edinburgh: Livingstone; 1945. 213, und Herden HN, Lawin P. Anästhesie Fibel. Stuttgart: Thieme; 1973. 311)
12.1.2 Nicht-Rückatemsysteme Den Nicht-Rückatemsystemen fehlt die apparative Vorrichtung zur Absorption des in der Ausatemluft enthaltenen Kohlendioxids. Sie sind nicht mit einem Kohlendioxidabsorber ausgestattet, dem mit Atemkalk gefüllten Behälter zur chemischen Absorption von Kohlendioxid. Vom technischen Konzept her sind diese Systeme somit nicht auf die Wiederverwendung der in der Ausatemluft enthaltenen unverbrauchten Narkosegase ausgelegt.
Flowgesteuerte Nicht-Rückatemsysteme Die flowgesteuerten Nicht-Rückatemsysteme haben übereinstimmend einen überaus einfachen technischen Aufbau und nur geringen Atemwiderstand. Ihre terminologische Einteilung erfolgt nach der von Mapleson 1954 vorgegebenen Klassifizierung (. Abb. 12.2).
101 12.1 · Differenzierung der Narkosesysteme entsprechend der technisch-konstruktiven Konzeption
Überschussgas über ein patientenfernes Ausatemventil abströmen, das in unmittelbarer Nähe zum Reservoirbeutel angebracht ist. Während der Ausatmung sind der Frischgasstrom und der Strom der Ausatemluft gleichgerichtet. Das Bain-System (UK) und das Penlon coaxial system (USA) sind die koaxialen Varianten des Mapleson-D-Systems. Mapleson Typ E. Funktionell ist dieses System dem Mapleson-D-System ähnlich, es fehlt aber ein Reservoirbeutel. Der als Reservoir dienende, die Ausatemluft und das Überschussgas ableitende Schlauch muss deshalb zumindest so lang sein, dass sein Füllungsvolumen zusammen mit dem während der Inspiration zuströmenden Frischgasvolumen dem Inspirationsvolumen entspricht. Sonst wird Außenluft in den Reservoirschlauch angesaugt und mit dem Narkosegas vermischt. Das Mapleson-E-System entspricht dem Ayreschen T-Stück. Mapleson Typ F. Das Jackson-Rees-System wurde erst 1975 als System F der Klassifizierung nach Mapleson zugeordnet. Entsprechend der erweiterten Klassifizierung nach Mapleson ist auch das Kuhn-System ein System des Typs Mapleson F.
. Abb. 12.2. Klassifizierung der flowgesteuerten Nicht-Rückatemsysteme nach Mapleson (Typ A–F, Erläuterungen im Text). (Mit freundlicher Genehmigung von Elsevier aus Ehrenwert J, Eisenkraft JB. Anesthesia Equipment: Principles and Application. St. Louis: MosbyYear Book; 1993. 103)
Mapleson Typ A. Während der Ausatmung ist der Frischgasstrom dem Strom der Atemluft entgegengerichtet. Die Ausatemluft strömt über ein patientennahes Ausatemventil, das APL-Ventil (Adjustable pressure limiting valve), aus dem System ab. Zu den Mapleson-A-Systemen gehören das Magill-System und dessen koaxiale Variante, das Lack-System. Mapleson Typ B und C. Sowohl die Frischgaszuleitung als
auch das Ausatemventil sind patientennah positioniert, das Reservoir enthält eine Mischung von Ausatemluft und Frischgas. Mapleson Typ D. Bei diesem Typ erfolgt die Frischgaseinleitung patientennah, wohingegen die Ausatemluft und das
! Die Elimination der kohlendioxidhaltigen Ausatemluft erfolgt bei den flowgesteuerten Nicht-Rückatemsystemen durch einen ausreichend hohen Frischgasstrom: dieser kann dem Strom der Ausatemluft gleichgerichtet (= Spülgassysteme) oder entgegengerichtet sein (= Systeme mit Ausatemventil) (. Abb. 12.3).
Die Effektivität flowgesteuerter Nicht-Rückatemsysteme wird mit dem niedrigsten Frischgasfluss beschrieben, mit dem eine Rückatmung kohlendioxidhaltiger Ausatemluft sicher verhindert wird. Dabei hängt die Effizienz der Auswaschung der Atemgase nicht nur vom Frischgasfluss, sondern von weiteren Faktoren ab. Diese sind: 4 Systemgeometrie (Anordnung von Frischgaseinlass, Reservoirbeutel und Ausatemventil sowie die Dimensionierung des Systems) 4 Atemmuster (Tidalvolumen, Atemzeitverhältnis, Atemfrequenz, Dauer der exspiratorischen Pause und Totraum) 4 Art der Atmung (Spontanatmung oder Beatmung) Berechnet wird die Effektivität dieser Systeme durch die Division des Atemminutenvolumens durch den minimalen Frischgasfluss, bei dem gerade noch keine Rückatmung auftritt:
12
102
Kapitel 12 · Narkosesysteme
. Abb. 12.3. Unterschiedliche technische Konzeptionen der Nicht-Rückatemsysteme zur Elimination der Ausatemluft. a: Schematische Darstellung eines Nicht-Rückatemventils (ventilgesteuertes Nicht-Rückatemsystem), b: flowgesteuerte Elimination der Ausatemluft über das Reservoir (flowgesteuertes Nicht-Rückatemsystem, Mapleson Typ E), c: flowgesteuerte Elimination der Ausatemluft über ein patientennahes Ausatemventil (flowgesteuertes Nicht-Rückatemsystem, Mapleson Typ A) (aus Baum J. Die Inhalationsnarkose mit niedrigem Frischgasfluß. 3. Aufl. Stuttgart: Thieme; 1998; 3)
12
! Effektivität des Nicht-Rückatemsystems = AMV/minimaler Frischgasfluss(Nicht-Rückatmung)
Sie nimmt bei Spontanatmung in der Reihenfolge der Mapleson-Klassifizierung A, D, F, E, C und B ab, bei kontrollierter Beatmung in der Reihenfolge: D, F, E, B, C und A. So gibt es für die verschiedenen Systeme verbindliche Angaben über den Frischgasflow, mit dem eine nennenswerte Rückatmung sicher verhindert wird (. Tab. 12.1).
keit eines ausreichenden Gasvolumens auch bei tiefer Einatmung. ! Bei den ventilgesteuerten Nicht-Rückatemsystemen ist von der technischen Konzeption her eine Rückatmung völlig unmöglich, da die gesamte Ausatemluft über das Nicht-Rückatemventil zwangsweise in die Umgebung abgeleitet wird.
12.1.3 Rückatemsysteme
Ventilgesteuerte Nicht-Rückatemsyteme Bei den ventilgesteuerten Nicht-Rückatemsystemen wird die Inspirations- von der Ausatemluft durch ein patientennah angebrachtes Nicht-Rückatemventil getrennt (. Abb. 12.3). Der Patient wird mit reinem Frischgas beatmet, der Frischgasfluss muss deshalb exakt dem Atemminutenvolumen entsprechen. Ein in den Inspirationsschenkel des Systems eingefügtes Reservoir sichert die Verfügbar-
Unter dem Begriff Rückatmung ist in der Anästhesie die Wiederverwendung der in der Ausatemluft eines Patienten noch enthaltenen unverbrauchten Gase und Narkosemittel während der folgenden Einatmung zu verstehen. Dazu ist die Entfernung des in der Ausatemluft enthaltenen Kohlendioxids erforderlich. Das technische Kennzeichen der Rückatemsysteme ist deshalb der Kohlendioxidabsorber,
103 12.1 · Differenzierung der Narkosesysteme entsprechend der technisch-konstruktiven Konzeption
Kreissysteme . Tabelle 12.1. Flowgesteuerte Nicht-Rückatemsysteme: Empfohlener Frischgasflow zur sicheren Elimination kohlendioxidhaltiger Ausatemluft Spontanatmung
Beatmung
Mapleson A = ˆ. Magill-System
56–82 ml/kg/min 0,7–1,0 × AMV
2–3 × AMV
Lack-System
51–85 ml/kg/min 0,6–0,9 × AMV
2–3 × AMV
Mapleson B
1,5–2 × AMV
2–2,5 × AMV
Mapleson C
1,5–3 × AMV
2–2,5 × AMV
Mapleson D
150–300 ml/kg/min 4000–4700 ml/m2/min 1,5–3 × AMV
0,7–1,5 × AMV
Bain-System
200–300 ml/kg/min 2×V
70 ml/kg/min 2 × AMV
Mapleson E = ˆ. Ayresches T-Stück
2–4 × AMV
2–3 × AMV
Mapleson F = ˆ. Jackson-ReesSystem
2–4 × AMV
1–2 × AMV
Bei den Kreissystemen zirkuliert das Narkosegas – gesteuert durch die Funktion der in den Gasstrom eingefügten unidirektionalen Ein- und Ausatemventile – in einem Zwangskreislauf vom Ex- zum Inspirationsschenkel des Systems (. Abb. 12.4). Ein- und Ausatemweg gehen am Y-Stück des Patientenschlauchsystems wiederum ineinander über, sodass der Kreislauf der Atemgase geschlossen ist. Aus dem unidirektionalen Strom der Gase resultiert die zwangsweise Trennung der Aus- von der Einatemluft. Der Anteil der Ausatemluft, der nicht als Überschussgas aus dem System abgeleitet wird, wird durch die von der Ventilfunktion vorgegebenen Richtung der Gasströmung zwangsläufig über den Kohlendioxidabsorber geleitet. In der überwiegenden Mehrzahl aller Kreissysteme wird die unidirektionale Zirkulation des Gasstroms mittels Ventilsteuerung realisiert. Bei Kreissystemen ohne Ventilsteuerung wird mit dem Ziel der Verminderung des Strömungswiderstands auf solche unidirektionalen Ventile verzichtet. Das Narkosegas zirkuliert, etwa von einem Ventilator angetrieben, kontinuierlich unidirektional im Kreissystem, wodurch ebenfalls
ein Behälter, der mit Atemkalk zur chemischen Absorption des Kohlendioxids gefüllt ist. In vielen angloamerikanischen Publikationen werden jedoch auch die flowgesteuerten Nicht-Rückatemsysteme den Rückatemsystemen zugeordnet, da vom technischen Design her prinzipiell eine Rückatmung der Ausatemluft ja auch möglich ist. Bezeichnenderweise wird die Effektivität dieser Systeme aber immer am minimalen Frischgasfluss bemessen, mit dem eine Rückatmung – zumindest eine Rückatmung kohlendioxidhaltiger Ausatemluft – sicher auszuschließen ist.
Pendelsysteme Bei den Pendelsystemen handelt es sich wiederum um technisch wenig aufwändige Systeme (. Abb. 12.4). Der Kohlendioxidabsorber, über den der Patient sowohl einals auch ausatmet, ist in unmittelbarer Nachbarschaft zum Kopf des Patienten angebracht, was die Handhabung dieser Systeme in der klinischen Praxis erschwert. Nach längerem Gebrauch und zunehmender Erschöpfung des Atemkalks vergrößert sich darüber hinaus der apparative Totraum.
. Abb. 12.4. Rückatemsysteme: Pendel- und Kreissystem. A: Überschussgasabström- und Druckbegrenzungsventil; B: Handbeatmungsbeutel; C: Absorberkanister; D: Druckentlastung; E: unidirektionales Exspirationsventil; F: Frischgasanschluss; I: unidirektionales Inspirationsventil; P: Patient (aus Barth L, Meyer M. Moderne Narkose. 2. Aufl. Stuttgart: Gustav Fischer; 1965. 178)
12
104
Kapitel 12 · Narkosesysteme
eine sichere Kohlendioxidabsorption und die kontinuierliche Durchmischung der Ausatemluft mit dem Frischgas gewährleistet ist.
12.2
Differenzierung der Narkosesysteme nach funktionellen Kriterien
! Die Begriffe »offenes«, »halboffenes«, »halbgeschlossenes« und »geschlossenes« Narkosesystem sollten nicht länger zur technisch-konstruktiven Differenzierung von Narkosesystemen gebraucht werden, da sie weder eindeutig sind, noch in irgendeiner Weise technisch-konstruktive Details definieren. Trotzdem bleiben diese Begriffe zur exakten Beschreibung der Funktion von Narkosesystemen unverzichtbar.
12.2.1 Offene Systeme
12
Das gemeinsame Kennzeichen der unter funktionellem Aspekt »offenen« Systeme ist die Unmöglichkeit, die Zusammensetzung des vom Patienten eingeatmeten Narkosegases exakt zu kontrollieren. Bei offenen Systemen fehlt ein adäquates Frischgasreservoir, sodass es in Abhängigkeit vom Atemzugvolumen zu einem unkontrollierten Zustrom von Raumluft mit konsekutiven unkontrollierbaren Veränderungen der Narkosegaskonzentrationen kommen kann.
12.2.2 Halboffene Systeme Als »halboffen« wird ein Narkosesystem bezeichnet, bei dem die gesamte Ausatemluft vollständig aus dem System entfernt und dem Patienten während der folgenden Inspiration reines Frischgas zugeleitet wird. Der Frischgasflow muss also mindestens ebenso groß oder, falls es der technische Aufbau des Systems erfordert, um ein Vielfaches größer als das Atemminutenvolumen sein. Das Überschussgasvolumen, d. h. die unverbraucht mit der Ausatemluft aus dem System abströmende Menge an Sauerstoff, Lachgas und Inhalationsanästhetika, verhält sich proportional zum Frischgasfluss. Die Narkosegaszusammensetzung entspricht der Zusammensetzung des Frischgases.
12.2.3 Halbgeschlossene Systeme Bei »halbgeschlossenen« Systemen wird nur ein Teil der Ausatemluft dem Patienten erneut zugeleitet (= partielle Rückatmung) der Rest jedoch als Überschussgas aus dem System abgeleitet. Das in das Narkosesystem eingespeiste
Frischgasvolumen ist also größer als die vom Patienten wirklich aufgenommene Gasmenge, der Gesamtgasuptake, kleiner jedoch als das Atemminutenvolumen. Das Rückatmungsvolumen verhält sich umgekehrt proportional, das Überschussgasvolumen hingegen direkt proportional zum Frischgasflow. Mit zunehmendem Rückatemanteil nimmt der Unterschied zwischen der Zusammensetzung des Narkosegases und der des Frischgases zu. Wenn der Rückatmungsanteil größer als das kohlendioxidfreie Totraumvolumen aus den oberen Atemwegen ist, so ist eine suffiziente Entfernung des in der Ausatemluft enthaltenen Kohlendioxids erforderlich.
12.2.4 Geschlossene Systeme Wenn aber dem Patienten die gesamte Ausatemluft nach Kohlendioxidelimination in der folgenden Inspiration erneut zugeleitet wird, so wird das Narkosesystem als »geschlossen« bezeichnet. Das in das System eingespeiste Frischgasvolumen muss exakt dem Gesamtgasuptake entsprechen, dem Gasvolumen also, das vom Patienten zum jeweiligen Zeitpunkt aufgenommen wird. Nur wenn das Überschussgasabströmventil geschlossen und das System vollkommen dicht ist, kann eine ausreichende Gasfüllung des Narkosesystems gewährleistet werden. Von quantitativer Narkose mit geschlossenem System sollte nur dann gesprochen werden, wenn die Zusammensetzung und das Volumen des Frischgases zu jedem Zeitpunkt der Narkose exakt den Mengen an Sauerstoff, Lachgas und Inhalationsanästhetikum entsprechen, die der Patient gerade aufnimmt. Wenn aber nur das Volumen, nicht jedoch die Zusammensetzung des Frischgases dem Uptake entspricht, so liegt eine nicht-quantitative Narkose mit geschlossenem System vor.
12.3
Narkosesysteme unter technischen und funktionellen Aspekten (. Tab. 12.2)
12.3.1 Rückatemsysteme Rückatemsysteme sind in ihrem technischen Konzept auf die Rückatmung ausgelegt. Sie werden als geschlossene Systeme genutzt, wenn das Frischgasvolumen dem Uptake entspricht und die Ausatemluft nach Kohlendioxidabsorption vollständig vom Patienten zurückgeatmet wird. Funktionell sind sie halbgeschlossene Systeme, wenn der Frischgasflow größer als der Uptake, aber kleiner als
105 12.2 · Differenzierung der Narkosesysteme nach funktionellen Kriterien
. Tabelle 12.2. Nutzungsmöglichkeiten verschiedener Narkosesysteme Offen
Halboffen
Halbgeschlossen
Geschlossen
Rückatemsysteme
Ø
+
+
+
Flowgesteuerte Nicht-Rückatemsysteme
(+)1
+
(+)2
Ø
Ventilgesteuerte Nicht-Rückatemsysteme
(+)1
+
Ø
Ø
Systeme ohne Reservoir
+
(+)3
Ø
Ø
+: adäquate Nutzungsmöglichkeit, (+): problematischer, unsicherer Grenzbereich der Nutzung, Ø: Nutzung vom technischen Konzept her unmöglich. 1 Übergang zum offenen System ist möglich bei unzureichender Dimensionierung des Reser voirs, zu geringem Frischgasflow, sehr großem Inspirationsvolumen und daraus resultierendem Eintritt von Luft in den Inspirationsschenkel des Systems. 2 Nutzung als halbgeschlossenes System nur begrenzt möglich, da eine Rückatmung CO -haltiger Ausatemluft durch Einstellung eines 2 adäquat hohen Frischgasflows ausgeschlossen werden muss; eine partielle Rückatmung der CO2-freien Ausatemluft aus der Totraumventilation ist aber vertretbar. 3 Übergang zum halboffenen System ist möglich, wenn die Atemwege oder ein ar tefizieller Kamin als Gasreser voir bei kontinuierlicher Zuleitung von Frischgas mit hohem Flow (Insufflationssysteme) dienen. Wenn der Flow unter diesen Voraussetzungen zu niedrig ist, ist sogar ein Übergang zum halbgeschlossenen System mit unkontrollierbarer CO2-Rückatmung möglich.
das Atemminutenvolumen, die Rückatmung also partiell ist. Je höher der Frischgasfluss ist, desto geringer ist das Rückatmungs- und desto größer das aus dem System abströmende Überschussgasvolumen. Bei günstiger Geometrie des Rückatemsystems und optimaler Frischgasausnutzung wird bei einem Frischgasflow, der annähernd dem Atemminutenvolumen entspricht, der Rückatemanteil auf ein vernachlässigbares Minimum reduziert. Die Zusammensetzung der Inspirationsluft ist dann nahezu identisch mit der des Frischgases, das Rückatemsystem wird also als halboffenes System genutzt. Funktionell können Rückatemsysteme keine offenen Systeme sein, da der in sich geschlossene apparative Aufbau dieser Systeme den freien Zutritt von Luft unmöglich macht.
12.3.2 Nicht-Rückatemsysteme
Flowgesteuerte Nicht-Rückatemsysteme In ihrer technischen Konzeption sind flowgesteuerte NichtRückatemsysteme nicht auf die Rückatmung, sondern auf die Elimination der Ausatemluft und die inspiratorische Zufuhr von Frischgas ausgelegt. Die Effektivität der Elimination des Exspirationsvolumens hängt im Wesentlichen vom Frischgasflow, aber auch von der Geometrie des Systems, dem Atemmuster und den Druckverhältnissen im System bei eventueller Beatmung ab. So gibt es für die ver-
schiedenen flowgesteuerten Nicht-Rückatemsysteme – differenziert für Spontanatmung und Beatmung – exakte Angaben darüber, welcher Frischgasflow zur Vermeidung der Rückatmung gewählt werden muss. Diese Empfehlungen sind meistens am Atemminutenvolumen orientiert. Bei optimaler Effektivität dieser Systeme muss, wenn die gesamte Ausatemluft aus dem System abgeleitet werden soll, das in das System eingespeiste Frischgasvolumen zumindest dem Atemminutenvolumen entsprechen. Flowgesteuerte NichtRückatemsysteme sind also als halboffene Systeme konzipiert. Wird für einzelne Systeme ein niedrigerer Frischgasflow – bis minimal 70 % des AMV – angegeben, so kommt es zur partiellen Rückatmung ohne Kohlendioxidabsorption. Diese kann nur dann als vertretbar erachtet werden, wenn daraus keine nennenswerte Anreicherung von Kohlendioxid resultiert. Der Rückatemanteil sollte in diesem Falle aus dem Totraum-, nicht aber aus dem kohlendioxidhaltigen alveolären Ventilationsvolumen bestehen. Es ergibt sich hier ein fließender, aber recht begrenzter Übergang zur halbgeschlossenen Nutzung flowgesteuerter Nicht-Rückatemsysteme. Wenn das Reservoirvolumen eines flowgesteuerten Nicht-Rückatemsystems im Vergleich zum Atemzugvolumen eher groß ist, so führt eine darüber hinaus gehende Reduzierung des Frischgasvolumens zu relevanter Kohlendioxidanreicherung. Ist das Reservoirvolumen hingegen vergleichsweise klein, so kann unter dem inspiratorischen
12
106
Kapitel 12 · Narkosesysteme
. Tabelle 12.3. Nutzung verschiedener Narkosesysteme in Abhängigkeit vom Frischgasflow Halboffen
Halbgeschlossen
Geschlossen
Rückatemsysteme
V·F ≥ AMV
AMV > V·F > Uptake
V·F = Uptake
Flowgesteuerte Nicht-Rückatemsysteme
V·F >> AMV
V·F ≈ AMV
Ø
Ventilgesteuerte Nicht-Rückatemsysteme
V·F = AMV
Ø
Ø
V·F: Frischgasflow, AMV: Atemminutenvolumen, Uptake: Gesamtgasuptake des Patienten
Sog Außenluft in das Reservoir einströmen, was funktionell dem Übergang zu einem offenen Narkosesystem entspricht.
Ventilgesteuerte Nicht-Rückatemsysteme
12
Bei ventilgesteuerten Nicht-Rückatemsystemen ist eine Rückatmung der Ausatemluft, die ja zwangsweise vollständig über das Nichtrückatemventil aus dem System abgeleitet wird, unmöglich. Eine Nutzung dieser Systeme als geschlossene oder halbgeschlossene Systeme ist somit technisch nicht möglich. Dem Patienten wird inspiratorisch reines Frischgas zugeleitet, der Frischgasflow muss dem Atemminutenvolumen entsprechen. Eine weitere Steigerung des Frischgasflows wäre unsinnig, da der daraus resultierende Überdruck im Inspirationsschenkel des Systems gegebenenfalls die Funktion des Nichtrückatemventils stören, und überschüssiges Frischgas direkt über das Ausatemventil aus dem System abgeblasen werden könnte. Ventilgesteuerte Nichtrückatemsysteme sind also entsprechend ihrem technischen Konzept halboffene Systeme. Ein Übergang zum offenen System ist dann möglich, wenn der Inspirationsschenkel zur Atmosphäre hin geöffnet, und gleichzeitig das Reservoirvolumen im Vergleich zum Atemzugvolumen klein, oder der Frischgasflow zu niedrig ist. In diesem Fall kann unter dem inspiratorischen Sog unkontrolliert Raumluft in das System einströmen.
12.3.3 Systeme ohne Reser voir Es soll hier nur exemplarisch auf die Funktion der DavisMeyer-Insufflationsspatels eingegangen werden: Ist der Frischgasfluss niedrig, so wird mit jeder Inspiration außer dem Frischgas auch Außenluft inhaliert. Dies entspricht qua definitionem einer Narkoseführung mit offenem System. Sind hingegen der Frischgasfluss hoch und das Atemzugvolumen klein, so wirkt der in der exspiratorischen Pause mit Frischgas gefüllte Mund- und Rachenraum als
Frischgasreservoir, sodass der Patient reines Frischgas inhaliert. Hier besteht ein gleitender Übergang vom offenen zum halboffenen System. Prinzipiell können alle Narkosesysteme dann die Charakteristik eines offenen Systems annehmen, wenn Raumluft unkontrolliert in das System einströmen kann und Reservoir- und Frischgasvolumen zusammen kleiner als das Inspirationsvolumen sind.
12.4
Funktion der Narkosesysteme in Abhängigkeit vom Frischgasflow (. Tab. 12.3)
! In ganz entscheidendem Maße wird die Funktion eines jeden Narkosesystems durch die Wahl des Frischgasflows bestimmt. In Abhängigkeit vom Frischgasflow wird in einem dynamischen Prozess aus variablen Anteilen von Frischgas, Ausatem- und gegebenenfalls Raumluft das Gasgemisch bereitet, das der Patient während der Inspiration einatmet.
12.5
Kohlendioxidabsorption
12.5.1 Atemkalk Zur chemischen Absorption des in der Ausatemluft enthaltenen Kohlendioxids wird ein Granulat aus einer Mischung von Alkali- und Erdalkalimetallhydroxid – undifferenziert auch Atemkalk genannt – verwandt. Dieses Granulat wird in einem Kanister, dem Kohlendioxidabsorber, in den Strom der Atemgase eingebracht. Aktuell können zwei verschiedene Kohlendioxidabsorbenzien zum Einsatz kommen: Kaliumhydroxidfreier Natriumkalk (identisch mit dem angloamerikanischen Begriff soda lime) besteht aus: 2–4 %
107 12.5 · Kohlendioxidabsorption
NaOH, etwa 80 % Ca(OH)2 sowie 14–19 % H2O. Wegen seines Alkalimetallhydroxidanteils wird dieses Absorbens Natriumkalk genannt. 100 g Atemkalk können stöchiometrisch 26 l Kohlendioxid entsprechend folgender chemischer Reaktionen absorbieren: CO2 + H2O o H2CO3 H2CO3 + 2 NaOH o Na2CO3 + 2 H2O 3. Schritt: Na2CO3 + Ca(OH)2 o CaCO3 + 2 NaOH Zusammenfassend: CO2 + Ca(OH)2 o CaCO3 + H2O 1. Schritt: 2. Schritt:
Bei dieser exothermen Reaktion entstehen pro Mol absorbierten Kohlendioxids ein Mol Wasser und 13,7 kcal Energie. Kalziumhydroxidkalk. Bei diesem Kohlendioxidabsorbens wird auf die Beimischung von Alkalimetallhydroxiden als Reaktionsbeschleuniger ganz verzichtet. Es besteht im Wesentlichen aus Kalziumhydroxid mit geringen Beimischungen von Kalziumchlorid, Kalziumphosphat und Zeoliten sowie Wasser. Der Hauptbestandteil von Atemkalk ist somit Kalziumhydroxid, Wasser ist als Reaktionsvermittler bei der Kohlendioxidabsorption unverzichtbar, Natriumhydroxid wirkt als Reaktionsbeschleuniger. Geringe Anteile von Silikaten und Kieselgur dienen der Stabilisierung des Atemkalks in Granulatform und der Verhinderung von Staubbildung. Pelletierter Atemkalk hat eine höhere CO2-Absorptionskapazität als granulierter Atemkalk. Den meisten Atemkalksorten ist ein Farbindikator beigemischt, der die Erschöpfung des Atemkalks durch Farbumschlag anzeigt. Wird z. B. Ethyl-Violett zugesetzt, so schlägt die Farbe des Atemkalks von Weiß auf Blau um. Allerdings ist Vorsicht geboten: ! Farbindikatoren zeigen die Erschöpfung des Atemkalks nicht verlässlich an!
12.5.2 Atemkalkbehälter Das Volumen älterer, konventioneller Absorberkanister beträgt 1 l, aus Sicherheitsgründen werden oft zwei solcher Kanister übereinander gesetzt und als Doppelabsorber genutzt. Neuere Narkosegeräte werden in der Regel mit größeren Jumbo-Absorbern ausgerüstet, deren Füllungsvolumen zwischen 1,5 und 2 l beträgt. Für den klinischen Einsatz wird die Absorptionskapazität von 1 l Atemkalk mit 120 l Kohlendioxid angegeben. Unter der Voraussetzung, dass die ganze Ausatemluft über den Absorber geleitet
wird, ergibt sich rechnerisch bei einem Atemminutenvolumen von 10 l/min und einer exspiratorischen Kohlendioxid-Konzentration von 4 Vol% für einen mit 1 l Atemkalk befüllten Absorberkanister eine Gebrauchsdauer von 5 h. Dieser Wert entspricht auch der Absorptionskapazität des Atemkalks, wie er unter Laboratoriumsbedingungen gemessen wird.
12.5.3 Nutzungsdauer des Atemkalks Die im klinischen Alltag erreichte Nutzungsdauer des Atemkalks ist jedoch abhängig von: 4 der Oberfläche und der Konfektionierung des Atemkalks (pelletierter Atemkalk oder Granulat), 4 dem Füllungsvolumen des Absorberkanisters, 4 dem Frischgasfluss und 4 der individuellen Kohlendioxidproduktion des Patienten. Ganz wesentlich wird die Belastung des Atemkalks mit Kohlendioxid – und damit dessen Nutzungsdauer – vom Maß der Rückatmung bestimmt, die sich umgekehrt proportional zum Frischgasfluss verhält. Die Gebrauchsdauer eines mit frischem Atemkalk befüllten Absorberkanisters kann deshalb bei hohem Frischgasfluss erheblich länger als dessen stöchiometrisch kalkulierte Absorptionskapazität sein. So wird bei kontinuierlicher Einstellung eines Frischgasflows von 4,4 l/min im klinischen Routinebetrieb eine Gebrauchsdauer zwischen 40–60 h für einen 1-Liter-Absorber gemessen. Wird hingegen während 80 % der Gesamtnutzungsdauer mit einem Frischgasfluss von nur 0,5 l/min gearbeitet, so nimmt die Nutzungsdauer eines 1-Liter-Absorbers auf 10–15 h ab. Aus ökonomischen Gründen sollte der Kohlendioxidabsorber in den Inspirationsschenkel des Atemsystems eingefügt sein, damit nur der rezirkulierende, nicht aber der als Überschussgas aus dem System abströmende Anteil der Ausatemluft über den Absorber geleitet wird. Da der chemische Prozess der Kohlendioxidabsorption mit der Freisetzung von Wärme und Wasser einhergeht, trägt der inspiratorisch platzierte Absorber darüber hinaus zur Klimatisierung der Inspirationsluft bei. ! Steht ein Messgerät zur kontinuierlichen Überwachung der in- und exspiratorischen Kohlendioxidkonzentration am Anästhesiearbeitsplatz zur Verfügung, so kann der Atemkalk bis zu seiner Erschöpfung gebraucht werden. Jedoch ist ein routinemäßiger Wechsel des Atemkalks zumindest nach Wochenfrist dringend anzuraten. Steht die Messung der inspiratorischen Kohlendioxidkonzentration nicht zur Verfügung, so sollte der Atemkalk routinemäßig nach Ab-
12
108
Kapitel 12 · Narkosesysteme
schluss eines jeden Arbeitstags gewechselt werden.
12.5.5 Korrekter Umgang mit Atemkalk in
der klinischen Praxis 12.5.4 Reaktionen der Kohlendioxidabsor-
benzien mit Inhalationsanästhetika Inhalationsanästhetika können in komplexer Weise mit den Absorbenzien reagieren: in Form von Adsorption oder einer chemischen Reaktion. Halothan und Sevofluran reagieren mit dem Atemkalk unter Bildung von Haloalkenen wie BCDFE (Bromo-Chloro-Difluoro-Ethylen) oder Compound A bis E, Desfluran, Enfluran, Isofluran, aber in sehr geringem Maße wohl auch Halothan und Sevofluran unter Bildung von Kohlenmonoxid. Die Beimischung von Alkalimetallhydroxiden, vor allem aber von Kaliumhydroxid, begünstigte diese Reaktion. Deshalb ist kaliumhydroxidhaltiger Natriumkalk – zumindest in Deutschland – nicht mehr im Einsatz. ! Beim Einsatz von frischem Atemkalk mit normalem Wassergehalt ist in der Regel die chemische Umsetzung der Inhalationsanästhetika mit dem Kalk und dementsprechend die Konzentration der Reaktionsprodukte im Atemgas klinisch nicht relevant.
12
Eine Austrocknung des Atemkalks hingegen begünstigt sowohl die Adsorption als auch die chemische Reaktion aller Inhalationsanästhetika am Atemkalk. Halothan und Sevofluran werden an trockenem Atemkalk unter starker Wärmeentwicklung vollständig absorbiert und chemisch abgebaut. Auch die Reaktion von Desfluran, Enfluran und Isofluran mit dem Atemkalk unter Bildung von Kohlenmonoxid ist entscheidend vom Wassergehalt des Atemkalks abhängig. Während diese Inhalationsanästhetika überaus heftig mit ganz trockenem Atemkalk reagieren, nimmt die Kohlenmonoxidbildung schon bei geringer partieller Befeuchtung des Absorbens drastisch ab. Wenn Natriumkalk nur 4,8 % Wasser enthält, so wird diese chemische Reaktion völlig unterbunden. Kalziumhydroxidkalk reagiert weder in normal feuchtem noch in ausgetrocknetem Zustand mit den Inhalationsanästhetika, sodass die Bildung von Compound A und Kohlenmonoxid sicher verhindert wird. Die Fälle von Intoxikationen oder Atemwegsreizungen durch Reaktionsprodukte des Atemkalks mit Inhalationsanästhetika sind immer nur dann aufgetreten, wenn Narkosegeräte mit akzidentell ausgetrocknetem Atemkalk zum Einsatz kamen. So sind diese Komplikationen im Wesentlichen auf den unsachgemäßen Umgang mit Narkosegeräten oder die unzureichende Pflege des Atemkalks zurückzuführen.
Der Pflege des Atemkalkes durch kontrollierten, routinemäßigen Wechsel der Absorberfüllung und Vermeidung aller Maßnahmen, die zu akzidenteller Austrocknung des Atemkalks führen können, muss im Interesse der Patientensicherheit besondere Sorgfalt gewidmet werden. ! Auch bei kontinuierlicher Benutzung der Geräte und Überwachung der inspiratorischen Kohlendioxidkonzentration ist der Atemkalk routinemäßig zumindest in wöchentlichem Intervall zu wechseln. Tipps
Umgang mit Atemkalk – so machen wir es: 5 Das Datum der Neubefüllung auf einem Pflasterstreifen auf dem Absorbergehäuse vermerken. 5 Das Trocknen der Atemsysteme und Narkosebeatmungsgeräte durch Einstellung eines kontinuierlichen Gasstroms an der Gasdosiereinrichtung, durch Einschalten des Ventilators oder durch den Anschluss der zentralen Gasabsaugung an das Atemsystem während Zeiten der Nichtbenutzung der Geräte unbedingt unterlassen – zumindest aber, wenn ein mit Atemkalk befüllter Absorber im System eingesetzt ist. 5 Wann immer über einen längeren Zeitraum ein kontinuierlicher Gasstrom mit hohem Flow den Absorber durchströmt, den Atemkalkbehälter aus dem System herausnehmen und in verschlossenem Zustand auf dem Narkosegerät separat bereitstellen. 5 Nach jeder Narkose sorgfältig die Feinnadelventile an der Gasdosiereinrichtung verschließen und am Ende eines jeden Arbeitstages die Stecker zur zentralen Gasversorgung und zur zentralen Gasabsaugung in die Parkposition bringen. So ist ein versehentliches Belassen eines kontinuierlichen, den Atemkalk austrocknenden Gasflusses während der Zeiten der Nichtbenutzung sicher auszuschließen. 5 Besondere Vorsicht ist beim Einsatz von fertig befüllten Einmalabsorbern geboten: Wenn die Behälter nicht einzeln luftdicht verpackt oder versiegelt und mit dem Befülldatum versehen sind, kann die Atemkalkfüllung dieser Absorber, ohne dass der Anwender dies bemerken oder gar überprüfen kann, gegebenenfalls allein durch längere Lagerung schon ausgetrocknet sein. 6
109 12.6 · Vor- und Nachteile unterschiedlicher Narkosesysteme
. Tabelle 12.4. Charakteristika verschiedener Narkosesysteme Nicht-Rückatemsysteme
Rückatemsysteme
Technischer Aufbau
Einfach
Komplex
Steuerbarkeit der Narkosegaszusammensetzung
Veränderung der Frischgaszusammensetzung führt sofort zu entsprechender Veränderung der Gaszusammensetzung im System
Veränderung der Frischgaszusammensetzung führt erst mit zeitlicher Verzögerung zu entsprechender Veränderung der Gaszusammensetzung im System
Kenntnis der Narkosegaszusammensetzung
Narkosegaszusammensetzung entspricht Frischgaszusammensetzung
Differenz zwischen der Gaszusammensetzung im System und der Frischgaszusammensetzung umso größer, je größer der Rückatemanteil
Klimatisierung der Narkosegase
Keine bzw. gering bei koaxialen Systemen
Abhängig vom Frischgasfluss: ausreichend bis optimal
Narkosegasverbrauch
Hoch bis sehr hoch
Niedrig, wenn die Möglichkeiten der Rückatmung genutzt werden
Narkosegasemission
Umso höher, je höher der Frischgasflow
Umso geringer, je niedriger der Frischgasflow
Kosten für Narkosegase
Umso höher, je höher der Frischgasflow
Umso geringer, je niedriger der Frischgasflow
Nutzungsmöglichkeiten
Halboffen, in sehr geringem Maße halbgeschlossen
In Abhängigkeit vom Frischgasflow: halboffen, halbgeschlossen, geschlossen
5 Bei Narkosegeräten, die über einen längeren Zeitraum nicht gebraucht werden, den Absorber nach Abschluss der Gerätewartung unbefüllt lassen, und den Atemkalk neben dem Gerät im verschlossenen Originalgebinde zur Befüllung bei Bedarf bereitstellen. Muss das Gerät im Notfall so dringlich eingesetzt werden, dass eine Befüllung des Absorbers nicht mehr möglich ist, so genügt die Einstellung eines Frischgasflusses in der Größenordnung des ein- oder mehrfachen des Atemminutenvolumens, um die Rückatmung auf ein vernachlässigbares Maß zu vermindern. 5 Schon bei dem Verdacht, der Atemkalk könne ausgetrocknet sein, muss der Absorberkanister neu befüllt werden. 5 Im Falle plötzlicher, unerwartet starker Erwärmung des Absorberkanisters, bei plötzlichem Farbumschlag des Indikators oder außergewöhnlich verzögertem Konzentrationsanstieg des Inhalationsanästhetikums 6
während der Einwaschphase den Atemkalkbehälter sofort austauschen und gegebenenfalls auf ein Narkoseverfahren mit intravenös zu applizierenden Narkosemitteln wechseln. 5 Beim Einsatz von Rückatemsystemen routinemäßig – wann immer möglich – mit niedrigem Frischgasflow arbeiten. Die konsequente Nutzung der Rückatmung ist eine der einfachsten Maßnahmen zum Erhalt der Feuchte im Atemkalk.
12.6
Vor- und Nachteile unterschiedlicher Narkosesysteme (. Tab. 12.4)
Systeme ohne Reservoir. Ihr Vorteil ist in ihrem wirklich äußerst simplen technischen Aufbau zu sehen. Diese Systeme können unter den widrigsten Gegebenheiten und Infrastrukturbedingungen eingesetzt werden. Nachteilig sind das Fehlen der exakten Kontrolle der Narkosegaszu-
12
110
Kapitel 12 · Narkosesysteme
sammensetzung und die Möglichkeit eines unkontrollierten Zustroms von Luft. Systeme ohne Reservoir werden in den Industrie- aber auch in den Schwellenländern kaum mehr eingesetzt. Nicht-Rückatemsysteme. Klare Vorteile sind ihr einfacher technischer Aufbau, die rasche Steuerbarkeit der Narkosegaszusammensetzung und die Möglichkeit für den Anästhesisten, die Narkosegaszusammensetzung unmittelbar aus der Zusammensetzung des Frischgases einschätzen zu können. Als Nachteile gelten die geringe Ausnutzung der Narkosegase, der hohe Narkosegasverbrauch, die daraus resultierenden hohen Kosten für Narkosegase, die hohe Narkosegasemission und das Fehlen der Narkosegasklimatisierung.
12
Rückatemsysteme. Ihre Vorteile liegen in der weitaus besseren Ausnutzung der Narkosegase, dem niedrigen Narkosegasverbrauch, der daraus resultierenden Kostenminderung, der Verminderung der Narkosegasemission und der weitaus besseren Narkosegasklimatisierung. Je höher der Rückatmungsanteil, desto besser werden diese Vorteile genutzt. Als Nachteile gelten die schlechtere Steuerbarkeit der Narkosegaszusammensetzung und die unzureichend genaue Kenntnis der Zusammensetzung der Narkosegase. Während jedoch die Nachteile der Nicht-Rückatemsysteme durch die technische Konzeption vorgegeben sind, können die Nachteile der Rückatemsysteme durch Variation der Nutzung dieser Systeme ausgeglichen werden: Die spezifischen Charakteristika der Rückatemsysteme – lange Zeitkonstanten und große Differenzen zwischen der Frischgaszusammensetzung und der Zusammensetzung der Narkosegase – werden nur bei niedrigem Frischgasflow manifest, also bei Durchführung von Niedrigflussnarkosen. Durch Erhöhung des Frischgasflows kann ohne zeitlichen Verzug die Steuerungscharakteristik eines Nicht-Rückatemsystems realisiert werden. ! Der Einsatz von Rückatemsystemen entspricht der Forderung nach ökologisch vertretbarem und wirtschaftlichem Gebrauch der Narkosegase. Darüber hinaus sprechen die bessere Klimatisierung der Atemgase und die Vielfalt der Nutzungsmöglichkeiten für diese Systeme, mit denen die überwiegende Mehrzahl der Narkosegeräte ausgerüstet ist.
Literatur Baum J (2001) Geräte zur Durchführung der Anästhesie: Sicherheitsanforderungen, Geräte und Systeme. In: Kochs E, Krier C, Buzello W, Adams HA (Hrsg.) Anästhesiologie. Thieme, Stuttgart; 422–448 Baum JA, Woehlck HJ (2003) Interaction of inhalational anaesthetics with CO2 absorbents. In: Conzen P (ed.) Toxicity of Anaesthetics. Baillière´s Best Practice & Research. Clinical Anaesthesiology Vol. 17, No. 1: 63–76 Dorsch JA, Dorsch SE. Understanding anesthetic equipment: construction, care and complications. 3rd ed.: Williams & Wilkins, Baltimore, 1994 Ehrenwerth J, Eisenkraft JB. Anesthesia equipment: principles and applications. Mosby, St. Louis, 1993 Moyle JTB, Davey A, Ward CS. Ward´s Anaesthetic Equipment. 4th edn. WB Saunders, London, 1998.
13 Präoperative Untersuchung und Prämedikation Andreas Meißner 13.1 Anamnese –112 13.2 Laboruntersuchungen –113 13.2.1 13.2.2 13.2.3 13.2.4
Elektrolyte und Nierenfunktionsparameter –113 Glukose –113 Hämoglobin –113 Bestimmung der Thrombozytenkonzentration und Gerinnungsanalysen –114
13.3 Kardiale Risikoabschätzung / EKG –114 13.4 Röntgenthorax –114 13.5 Lungenfunktion –115 13.6 Medikamente –116 13.6.1 13.6.2 13.6.3 13.6.4
Umgang mit der medikamentösen Dauertherapie –116 Prämedikation –116 Besonderheiten bei Kindern –117 Erhöhte Aspirationsgefahr –117
13.7 Grundlegende juristische Aspekte –118 13.8 Anästhesieverfahren und Information des Patienten –118 13.9 Umsetzung in die klinische Praxis –119 Literatur –119
112
Kapitel 13 · Präoperative Untersuchung und Prämedikation
)) Die präoperative anästhesiologische Vorbereitung des Patienten für einen operativen Eingriff liegt in der Verantwortung des Anästhesisten und besteht aus mehreren Bausteinen: der präoperativen Diagnostik, der Aufklärung und der Planung des perioperativen Vorgehens. Der Zweck präoperativer Diagnostik ist die Definition des individuellen Risikos und die Optimierung des angestrebten operativen und anästhesiologischen Verfahrens. Die perioperative Mortalität soll durch möglicherweise einzuleitende Maßnahmen gesenkt, der Gesundheitszustand des Patienten gegebenenfalls verbessert werden. Präoperative Untersuchungen dienen der Entdeckung oder Identifikation von Erkrankungen, die möglicherweise das perioperative anästhesiologische Vorgehen beeinflussen. Desgleichen müssen der Schweregrad einer bekannten Erkrankung oder Einschränkung in ihrem Ausmaß abgeschätzt und damit ihre perioperative Relevanz bestimmt werden. Evtl. notwendige spezielle Vorgehensweisen sollten im Vorfeld geplant werden.
13.1
13
Anamnese
Zentrales und wesentliches Element der präoperativen Vorbereitung ist die Anamnese. Sie dient der Zusammenstellung der aktuellen Diagnosen, medikamentöser Behandlungen und des Allgemeinzustands des Patienten. Das Ziel ist die Identifikation von Patienten, die präoperativ weiterer Diagnostik oder Therapie bedürfen. Die Anamnese sollte mindestens den Umfang und Inhalt des vom Berufsverband Deutscher Anästhesisten empfohlenen Aufklärungsund Anamnesebogens umfassen. Dieser Fragebogen dient lediglich als Gesprächsbasis, da Fragebögen alleine bei zahlreichen Erkrankungen zu weniger als 60 % sensitiv sind. In der Bundesrepublik wird die Befragung in der Regel durch den Anästhesisten durchgeführt bzw. die Fragen werden durch den Anästhesisten mit dem Patienten besprochen. Die Anamnese sollte neben Erfassung von »Eckdaten« wie Größe und Gewicht die Aspekte Dauermedikation, Allergien, eventuelle frühere Problemen bei Anästhesien, Bluttransfusionen (Reaktionen?), Rauch- und Trinkgewohnheiten umfassen. Danach sollte sie auf die Organsysteme im Einzelnen eingehen. An die Anamnese soll sich eine körperliche Untersuchung anschließen. Als Minimalumfang sind eine Inspektion der Luftwege, eine Auskultation der Lungen und eine kardiovaskuläre Untersuchung zu fordern. Bei der Untersuchung der Luftwege sind die Halsbeweglichkeit, Mundöff-
nung und der Zahnstatus zu erfassen – geplante schwierige Intubationen sind leichter zu beherrschen als unvorhergesehene Probleme bei der Intubation, evtl. mit erschwerter oder gar unmöglicher Beatmung. Die Untersuchung des Kreislaufs sollte neben der Auskultation des Herzens die Messung von Puls und Blutdruck umfassen. Die Lunge sollte mindestens auskultiert werden. Empfehlenswert ist die Inspektion aller geplanten Punktionsorte hinsichtlich Beschaffenheit der Venen, möglicher Infektionen oder durch den Patienten nicht erwähnter Operationen. Für rückenmarknahe Verfahren ist eine Untersuchung auf Infektionen der Haut sowie zu erwartende Punktionsprobleme bei Skoliosen notwendig. Weitere klinische Untersuchungen müssen der Anamnese und der Situation angepasst werden. Das Vorgehen bei der präoperativen Risikoerfassung ist nicht allgemein gültig definiert. Die Deutsche Gesellschaft für Anästhesiologie und Intensivmedizin hält in ihren Entschließungen zur anästhesiologischen Voruntersuchung fest: Der »Umfang der dazu erforderlichen Untersuchungen bestimmt sich nach den Erfordernissen des Einzelfalles, insbesondere also in Abhängigkeit von Alter und Allgemeinzustand des Patienten, Art und Schwere des Eingriffs sowie Art und Dauer des Anästhesieverfahrens«. Auf jeder Niederschrift der Prämedikation sollte zum Abschluss der präoperativen Untersuchung die ASA-Klassifikation eingetragen werden. Diese bereits 1941 eingeführte Klassifikation hat inzwischen eine hohe Akzeptanz. ! Eine Korrelation von ASA-Status und perioperativer Morbidität und Mortalität ist nachgewiesen.
ASA-Risikogruppen I. Keine organischen, biochemischen oder psychiatrischen Erkrankungen; lokalisierter operativer Eingriff ohne systemische Störungen II. Milde systemische Erkrankung, entweder durch die zu operierende Pathologie ausgelöst oder begleitend (z. B. gut eingestellter Hypertonus, Status post-CABG ohne Symptome, Asthmaanamnese, Anämie, Zigarettenrauchen, gut eingestellter Diabetes mellitus, milde Adipositas, Alter < 1 Jahr oder > 70 Jahre, Schwangerschaft) III. Schwere systemische Störung oder Erkrankung gleich welcher Ursache, auch wenn man den Grad der Beeinträchtigung nicht mit Sicherheit festlegen kann (z. B. Angina, schlecht eingestellter Hypertonus, symptomatische Lungenerkrankung, wie Asthma oder COPD, massive Adipositas) 6
113 13.2 · Laboruntersuchungen
IV. Schwere, lebensbedrohliche systemische Störungen, nicht immer durch eine Operation behebbar (z. B. instabile Angina, kongestive Herzerkrankung, behindernde Lungenerkrankung, hepatorenales Versagen) V. Moribunder Patient mit geringer Überlebenschance trotz Operation E. Emergency operation, risikoerhöhender Zusatzfaktor
13.2
Laboruntersuchungen
Für die Durchführung präoperativer Laboruntersuchungen sind eine Reihe von Leitlinien verfasst worden, deren Umfang sich in den vergangenen Jahren erheblich reduziert hat. Bei einem Lebensalter von unter 40 Jahren wird in der Regel davon ausgegangen, dass bei leerer Anamnese Routineuntersuchungen nicht erforderlich sind. Für die über 40-jährigen wurde ein altersabhängiges Stufenschema vorgeschlagen, welches ab dem 65. Lebensjahr in ein »Screening-Labor« mündet. Zahlreiche Abweichungen vom Normalbereich sind bereits aus der Anamnese vorherzusagen, zu Änderungen des anästhesiologischen Managements führt die Erhebung der Laborwerte in den seltensten Fällen. Untersuchungen ergaben unabhängig von der Durchführung oder dem Unterlassen von routinemäßigen Laboruntersuchungen keinen Unterschied hinsichtlich perioperativer Morbidität oder Mortalität. Eine Durchführung von Laboruntersuchungen allein auf Basis des Lebensalters macht keinen Sinn: die Indikationsstellung sollte erst nach Anamneseerhebung und körperlicher Untersuchung erfolgen. Eine häufig diskutierte Frage dreht sich um das Intervall zwischen der Erhebung der Laborwerte und dem eigentlichen Eingriff. Bei älteren Personen konnte bei vorliegenden Normalbefunden innerhalb eines Jahres keine relevante Abweichung von den zuvor erhobenen Laborwerten festgestellt werden, die nicht auch durch die Anamnese hätte vermutet werden können.
13.2.1 Elektrolyte und
Nierenfunktionsparameter Die häufigsten Laborbestimmungen gelten der Analyse von Serumelektrolyten und Kreatinin. Begründet werden diese Untersuchungen mit Befürchtungen hinsichtlich renaler
Funktionseinschränkungen und unerkannter präoperativer Hypokaliämien mit einer Disposition zu lebensbedrohlichen Arrhythmien. Untersuchungen zeigten, dass nur bei 1,4 % der Patienten der Wert des Serumkaliums außerhalb der Norm lag. Davon erfuhren 0,4 % einen Wechsel des perioperativen Managements. Zirka 5 % der 70- bis 100-jährigen Patienten hatten erniedrigte Kaliumwerte. Diese waren jedoch nicht mit einer erhöhten Morbidität oder Mortalität assoziiert. ! Lediglich bei herzchirurgischen Patienten ist ein Serumkaliumgehalt von unter 3,5 mmol/l ein Prädiktor für perioperative Rhythmusstörungen.
Zu fordern ist die Messung bei iatrogener Elektrolythaushaltveränderung, z. B. im Rahmen einer parenteralen Ernährung.
13.2.2 Glukose Die Bedeutung einer Aufrechterhaltung der Glukosehomöostase in der Intensivmedizin ist eindrucksvoll belegt. Für Diabetiker ist die Notwendigkeit zur Bestimmung des präoperativen Blutzuckergehaltes unumstritten. Die Chancen, einen bisher nicht erkannten Diabetes zu finden, sind allerdings gering. Postoperativ ist bei notwendiger Intensivtherapie eine enge Überwachung erforderlich.
13.2.3 Hämoglobin Das Ziel präoperativer Hämoglobinbestimmungen ist die Entdeckung einer klinisch nicht offensichtlichen Anämie. Nachvollziehbar ist die Hämoglobinbestimmung bei Operationen mit der Wahrscheinlichkeit höherer Blutverluste hinsichtlich Planung und Verfügbarkeit von Blutkonserven. Bei Operationen mit Blutverlusten unter 10 % des geschätzten Blutvolumens ist diese Planung jedoch nicht erforderlich. Bisher wird in den meisten Studien die untere Grenze für einen Hämoglobingehalt von 10 g/dl angegeben. Da auch bei kardiochirurgischen Patienten keine Erhöhung von Mortalität und Morbidität bei einem Transfusionstrigger mit einer Hämoglobinkonzentration von 8 g/dl besteht, ist die Grenze von 10 g/dl eher zu hoch angesetzt. Keine Studie aller Altersklassen berichtet präoperativ über niedrigere Werte als 8,5 g/dl. Die Messung des Hämoglobins dürfte nur in wenigen Fällen zu Änderungen des Managements führen.
13
114
Kapitel 13 · Präoperative Untersuchung und Prämedikation
13.2.4 Bestimmung der
Thrombozytenkonzentration und Gerinnungsanalysen Die Bestimmung reduzierter Thrombozytenkonzentrationen hat zum Ziel, mögliche Blutungsrisiken präoperativ zu erkennen. Auch bei Werten außerhalb des Normbereichs ergibt sich allerdings nur selten eine Änderung des klinischen Vorgehens. Für größere Operationen erscheint die Durchführung von präoperativen Gerinnungsanalysen sinnvoll, um gegebenenfalls präoperative Korrekturen vorzunehmen bzw. das geplante operative Verfahren zu modifizieren. Allerdings wird in Frage gestellt, ob Patienten von einer präoperativen Gerinnungsanalyse profitieren. Relevante Abweichungen sind auch nach Anamnese und körperlicher Untersuchung meist vorhersagbar. Die Bestimmung der Blutungszeit ist klinisch ohne Nutzen.
13.3
13
Kardiale Risikoabschätzung / EKG
Das Ziel eines EKG ist die mögliche Entdeckung von kurz zurückliegenden Myokardinfarkten, kardialer Ischämie bzw. Erkrankungen des Reizleitungssystems, die eine Änderung des geplanten perioperativen Vorgehens erfordern. Die Häufigkeit von EKG-Veränderung ist altersassoziiert und nimmt ab dem 40.–50. Lebensjahr zu. Daher ist in vielen Krankenhäusern die Ableitung eines 12-Kanal-EKG fester Bestandteil der präoperativen Untersuchungen bei über 50-jährigen Patienten. Das EKG dient auch der Vorhersage des perioperativen Infarktrisikos sowie der Dokumentation des präoperativen Status. Patienten, die sich in den zurückliegenden Monaten einer perkutanen koronaren Angioplastie oder Stent-Implantation unterzogen haben, sind hinsichtlich einer kardialen Komplikation stark gefährdet. Der Grund liegt in einer Aktivierung des Gerinnungssystems und der Blutplättchen, die zu einer Thrombusformation führen kann. Bisher kann kein »sicheres Intervall« zwischen Stent-Implantation und chirurgischem Eingriff angegeben werden. Perioperativ sollten Patienten mit präoperativer Stent-Implantation als Hoch-Risiko-Patienten angesehen werden und die Dringlichkeit des Eingriffs kritisch abgewogen werden. ! Als Mindestzeitabstand zwischen einer Stent-Implantation und einer elektiven Operation gelten etwa vier Wochen.
In den ersten 30 Tagen nach einer Stent-Implantation wird die Antikoagulation mit Aspirin durch Clopidogrel
ergänzt. Das Absetzen bzw. die Wiederaufnahme ist interdisziplinär aus chirurgischer, kardiologischer und anästhesiologischer Sicht zu prüfen. Patienten-Prädiktoren für hohes Risiko 5 Instabile Angina/Myokardinfarkt innerhalb der vergangenen 30 Tage 5 PTCA/Stent innerhalb der vergangenen 4 Wochen 5 Dekompensierte Herzinsuffizienz 5 Rhythmusstörungen (Höhergrad. AV-Blockierung, Tachykardien mit unkontrollierter Kammerfrequenz, ventrikuläre Salven oder Tachykardien 5 Klappenfehler (z. B. Aorten-/Mitralstenose) 5 Pulmonale Hypertonie 5 Nicht korrigierte Shuntvitien (bevorzugt RechtsLinks-Shunt = zentrale Zyanose)
Patienten-Prädiktoren für mittleres Risiko 5 Stabile Angina pectoris 5 Stabile Herzinsuffizienz 5 Frühere Herzinfarkte, länger als 30 Tage zurückliegend 5 Kreatinin > 2 mg/dl 5 Diabetes mellitus
Patienten-Prädiktoren für niedriges Risiko 5 5 5 5 5
Höheres Lebensalter Abnormes Ruhe-EKG Kein Sinusrhythmus im Ruhe-EKG Anamnese von Schlaganfall Schlecht eingestellter Hypertonus
Bei schlechter Belastbarkeit und hohem OP-Risiko (. Tab. 13.1) sind hingegen eine weitere Diagnostik und gegebenenfalls die therapeutische Intervention mit PTCA/ ACVB und ein Aufschieben des geplanten Eingriffs zu erwägen. ! Ist von minimalen bis mittlerem OP-Risiko auszugehen, besteht bei Patienten mit akzeptabler Belastbarkeit keine Veranlassung, präoperativ eine invasive Diagnostik anzustreben.
13.4
Röntgenthorax
Bei »routinemäßig« durchgeführten Aufnahmen des Thorax ergeben sich lediglich bei etwa 4 % der Patienten Befunde, die nicht nach der Anamnese zu erwarten sind. Eine
115 13.5 · Lungenfunktion
. Tabelle 13.1. Eingruppierung des operativen Risikos (Beispiele) Hohes Risiko
Mittleres Risiko
Niedriges Risiko
Notfalleingriffe, insbesondere bei alten Patienten
Karotisendarteriektomie
Endoskopische Eingriffe
Eingriffe an Aorta oder großen Gefäßen
Eingriffe im Kopf-/Halsbereich
Eingriffe an der Haut/Hautanhangsgebilden
Eingriffe mit großen Flüssigkeitsverschiebungen
Intraperitoneale/intrathorakale OPs Orthopädische OPs Prostata-OPs
Augen-OPs Mamma-Chirurgie
. Tabelle 13.2. Präoperative Untersuchungen Untersuchung
Immer
Sonst
12-Kanal-EKG
ab 50 Jahre
Endoskopische Eingriffe
Röntgen-Thorax
vor Thorakotomie
bei klinischer/anamnestischer Indikation
Hb/Hk
Transfusionswahrscheinlichkeit > 10 %
bei klinischer/anamnestischer Indikation (z. B. akute pulmonale Symptome, auffälliger klinischer Befund, Herz- oder Lungenerkrankung mit klinischer Funktionseinschränkung
Blutgruppe
Transfusionswahrscheinlichkeit > 10 %
bei klinischer/anamnestischer Indikation
Gerinnung (Quick, PTT, Thrombozytenkonzentration)
Transfusionswahrscheinlichkeit > 10 %, Blutungsanamnese, Anti-Koagulanzienmedikation, zentrale Nervenblockade bei Verdacht auf Gerinnungsstörung, Subklaviapunktion
bei klinischer/anamnestischer Indikation
Elektrolyte (Na, K, Ca)
bei Niereninsuffizienz, IDDM, Blutverlust > 30%
–
Kreatinin/Harnstoff
–
bei klinischer/anamnestischer Indikation, (z. B. instabile arterielle Hypertonie, Herzinsuffizienz NYHA IV, Aszites, Dehydratation, Hyperemesis, Diarrhö, parenterale Ernährung, Digitalismedikation)
GOT/GPT/γ-GT
Blutverlust > 30%
bei klinischer/anamnestischer Indikation
Änderung des geplanten Vorgehens findet dabei nur in seltenen Fällen statt. Ob diese Änderung dann das Outcome der Patienten positiv beeinflussen kann, bleibt offen. ! Die Aufnahme des Röntgenthorax als reine Routinevorbereitung für eine Operation ist obsolet: der informative Nutzen ist gering, die Strahlenbelastung unnötig und die Kosten sind immens. Die Anordnung des Röntgenthorax sollte vielmehr individuell getroffen werden bzw. nach anamnestischen Hinweisen auf eine Pathologie von Thoraxorganen erfolgen.
13.5
Lungenfunktion
Für die Vorhersage pulmonaler Komplikationen ist die Spirometrie bei Eingriffen des oberen Abdomens von begrenzter Aussagekraft. Bei Patienten mit milder thorakaler Skoliose ergibt sich kein Zusammenhang zwischen präoperativer Lungenfunktion und postoperativen pulmonalen Komplikationen. Zur Vorhersage des postoperativen Ergebnisses ist die Lungenfunktionstestung bei kardiochirurgischen Patienten hingegen von Nutzen. Dies gilt ebenfalls für gefäßchirurgische Patienten.
13
116
Kapitel 13 · Präoperative Untersuchung und Prämedikation
Bei Patienten mit abdominothorakaler Ösophagusresektion, einer Gruppe mit häufigen pulmonalen Begleiterkrankungen und bekannter hoher Rate an postoperativen pulmonalen Komplikationen, lässt sich kein Zusammenhang zwischen der präoperativen Lungenfunktion und dem postoperativen Ergebnis herstellen. Die Messung bleibt daher abhängig vom Typ und der Invasivität des Eingriffs und kann bei behandeltem oder symptomatischem Asthma bronchiale, symptomatischer COPD und Skoliosen mit restriktiver Komponente erwogen werden. Fazit Für eine routinemäßige Anforderung von Laborwerten oder technischen Untersuchungen gibt es keine stichhaltige wissenschaftliche Begründung. Eine differenzierte Anforderung nach gründlicher Anamneseerhebung führt zu einer sinnvollen und kostenbewussten Erhebung relevanter Befunde. Einen Überblick gibt . Tab. 13.2.
13.6
Medikamente
13.6.1 Umgang mit der medikamentösen
Dauer therapie
in den Angiotensinhaushalt ein Vasopressin-Analogon im OP bereitstehen, um einer möglichen schweren Hypotonie durch Vasodilatation im Rahmen einer Allgemeinanästhesie – besonders in Kombination mit einer rückenmarknahen Regionalanästhesie – entgegenwirken zu können. Trizyklische Antidepressiva werden bis zum Vortag gegeben, auf Hypotonien und Herzrhythmusstörungen ist zu achten. Antikonvulsiva sollten weiter gegeben werden. MAO-Hemmer können, sofern es sich um Präparate mit kurzer Halbwertszeit handelt, ebenfalls weiter gegeben werden. Dabei sollte aber auf Pethidin verzichtet werden, da es in Kombination mit MAO-Hemmern zu exzitatorischen Reaktionen kommen kann. Bei Diabetikern sollte auf einen möglichst frühen Termin im OP-Programm geachtet werden. Die antidiabetische Medikation soll am OP-Tag ausgesetzt werden, regelmäßige Blutzucker-Kontrollen sind obligat. Insulinpflichtige Diabetiker sollten möglichst eng zwischen Werten von 80 und 150 mg/dl gehalten werden. Bei Patienten mit einer Steroid-Dauermedikation ist auf eine mögliche Suppression der Nebennierenrinde und einen perioperativ erhöhten Kortisolbedarf zu achten. Hier kann Hydrokortison zur perioperativen Substitution verwendet werden. Für die wichtigsten Substanzen ist die Medikation im Umfeld der OP in . Tab. 13.3 zusammengefasst.
13.6.2 Prämedikation
13
Mit zunehmendem Lebensalter steigt auch die Häufigkeit einer medikamentösen Dauertherapie. Dabei machen den größten Anteil kardiovaskuläre Medikamente aus, gefolgt von Medikationen für das ZNS und den Gastrointestinaltrakt. Besonderheiten einer Dauermedikation und mögliche Interaktionen mit den Anästhetika müssen berücksichtigt werden. Für bestimmte Medikamente sind bei der Planung bestimmter Anästhesieverfahren (z. B. Antikoagulanzien/neuraxiale Blockaden) Mindestkarenzzeiten gefordert. ! Das Absetzen eines Medikaments zur Vermeidung einer Interaktion ist stets gegen das Risiko durch das Absetzen abzuwägen.
Zu den kardiovaskulären Medikamenten, die perioperativ weiter gegeben werden sollten, zählen die E-Blocker, Kalzium-Antagonisten, D2-Agonisten und Antiarrhythmika. Die Gabe von Glykosiden und Diuretika sollte am OP-Tag nicht fortgesetzt werden. Bei den ACE-Hemmern ist die Frage umstritten; AT1-Rezeptorantagonisten sollten abgesetzt werden. Auf jeden Fall sollte bei Patienten mit Eingriff
Der Begriff der Prämedikation umfasst die medikamentöse Vorbereitung des Patienten auf Anästhesie und Operation. Die Prämedikation dient der Angstreduktion vor dem als belastend empfundenen Eingriff. Sie soll dazu beitragen, die Nacht und die Zeit vor dem Einleiten der Anästhesie erträglicher und auch sicherer zu gestalten. Die Angst vor einem operativen Eingriff ist nicht nur ein negatives Erlebnis, sie hat auch negative Einflüsse auf verschiedene physiologisch relevante Funktionen: 4 Angst führt zu Tachykardie, Hypertension und kann pektanginöse Beschwerden und ein akutes Koronarsyndrom auslösen. 4 Angst führt zu einer Steigerung von Stoffwechsel und Sauerstoffverbrauch 4 Angst führt zu einer Erhöhung der Magensaftsekretion und Senkung des Magen-pH-Werts 4 Angst senkt die Fähigkeit zur Kooperation 4 Angst führt zu einer erhöhten Schmerzempfindlichkeit
117 13.6 · Medikamente
. Tabelle 13.3. Perioperative Medikation Substanz
Medikation am OP-Tag bzw. im Umfeld der OP
β-Blocker
ja
Ca-Antagonisten
ja
α2-Agonisten
ja
Nitrate/Molsidomin
ja
Antiarrhythmika
ja
ACE-Hemmer
bis zum Vortag
AT1-Rezeptor-Agonisten
bis Vortag, Vasopressin-Analogon bereithalten
Digitalis
bis Vortag
Diuretika
bis Vortag
D-Rezeptorenblocker
bis Vortag
Antikonvulsiva
ja
Anti-Parkinson-Mittel
ja
Biguanide
bis Vortag
Sulfonylharnstoffe
höchstens bis Vortag (?)
Metformin
höchstens bis Vortag (?)
Theophyllin
ja
Schilddrüsenhormone
bis Vortag
Thyreostatika
ja
ASS
3 Tage vorher absetzen
Clopidogrel
>7 Tage vorher absetzen
NSAR
24 h vorher absetzen
Vitamin-KAntagonisten
3–5 Tage vorher absetzen, Umstellung auf niedermolekulare Heparine
Kortikoide über CushingSchwelle
Hydrokortison perioperativ
Lithium
Lithium-Spiegel <1,2 mmol
MAO-Hemmer
bis Vortag (?), kein Pethidin, cave Sympathomimetika
Trizyklische Antidepressiva
bis Vortag
Neuroleptika
bis Vortag
(?) = Datenlage unklar/Gegenstand aktueller Diskussion
Die heute am häufigsten zur Prämedikation verwendeten Substanzen sind die Benzodiazepine. Sie erfüllen mit ihrem Wirkprofil aus Anxiolyse, Sedierung, Schlafbahnung, antikonvulsiven Effekten, zentral muskelrelaxierender Wirkung und Amnesie die Anforderungen an eine Prämedikationssubstanz am besten. Benzodiazepine haben eine große therapeutische Breite, sie verfügen über eine gute Verträglichkeit und geringe Toxizität ohne bedeutsame Interaktionen. Als Kontraindikationen sind eine schwere chronisch-obstruktive Atemwegerkrankungen und neuromuskuläre Erkrankungen wie die Myasthenie zu berücksichtigen. Bei geriatrischen Patienten, in Kombination mit Alkohol und/oder zentral dämpfenden Substanzen kann es zu Ateminsuffizienzen kommen. Die Substanzen entfalten ihre Wirkung vorwiegend über den GABAA-Rezeptor. In der Regel wird die Substanz zur Prämedikation am Vorabend und am Morgen des Operationstages verabreicht. Die Halbwertszeit erlaubt eine Steuerung der Wirkung für eine effiziente Prämedikation bis zum Eingriff, die kurz wirksamen Substanzen ermöglichen auch eine Anwendung im ambulanten Bereich (. Tab. 13.4).
13.6.3 Besonderheiten bei Kindern Bei Kindern bis zum Lebensalter von sechs Monaten kann in der Regel auf eine medikamentöse Prämedikation verzichtet werden. Bei älteren Kindern ist sie für das Handeln und Denken in der ihnen eigenen psychischen Welt von großer Bedeutung. Die medikamentöse Distanzierung hat eine größere Relevanz als bei Erwachsenen. Die Prämedikation wird bevorzugt oral als Saft gegeben, möglich ist auch die rektale Gabe. Bewährt hat sich Midazolam in einer Dosis von 0,4 mg/kg KG bei oraler bzw. 0,5–1 mg/kg KG bei rektaler Gabe. Bei Kindern mit Krampfanamnese bietet sich die Gabe von Luminal in einer Dosierung von 10 mg/ kg KG rektal an. EMLA-Pflaster ermöglichen eine schmerzfreie Venenpunktion. Dabei ist jedoch darauf zu achten, diese Creme einige Minuten vor der geplanten Punktion zu entfernen, um die »Betäubungscreme« nicht zur »Venenverschwindcreme« werden zu lassen.
13.6.4 Erhöhte Aspirationsgefahr Für Patienten mit erhöhtem Aspirationsrisiko wird eine Anhebung des Magen-pH-Werts, eine Reduktion der Magensaft-Produktion und eine beschleunigte Entleerung empfohlen. Zu dieser Risikogruppe zählen Notfallpatienten, Patienten mit intraabdomineller Druckerhöhung,
13
118
Kapitel 13 · Präoperative Untersuchung und Prämedikation
. Tabelle 13.4. Eliminationshalbwertszeiten und Dosierung zur Prämedikation gebräuchlicher Benzodiazepine Substanz
Halbwertszeit [h]
Metabolitenhalbwertszeit [h]
Dosierung [mg p. o.]
Lang wirkend
Diazepam Dikaliumchlorazepat
32 (14–61) 2±2
42–120 65 ± 36
5–20 10–50
Mittellang wirkend
Flunitrazepam Lorazepam
15 (9–25) 14 (8–24)
23 –
1–2 0,5–4
Kurz wirkend
Midazolam Triazolam
2,5 (1–3) 2,3 (1,4–3,3)
wie HWZ wie HWZ
5–10 0,25–0,5
Inkompetenz des Ösophagus-Sphinkters, Patienten mit intrathorakalem Magenhochzug und Patienten mit einem BMI (Body mass index ) über 30. Eine Reduktion des Risikos ist unter Beachtung der Kontraindikationen durch eine Applikation von Cimetidin, Ranitidin oder Famotidin am Vorabend und am OP-Tag möglich. Eine akute Anhebung unmittelbar vor dem Beginn der Anästhesie kann mit der oralen Gabe von 30 ml Natriumzitrat erreicht werden.
13.7
13
Grundlegende juristische Aspekte
Die Rechtsprechung hat sich wiederholt zum Zeitpunkt der Aufklärung geäußert, ohne jedoch dem Arzt einen endgültigen Verhaltenscodex an die Hand zu geben. Grundsätzlich muss die Aufklärung möglichst frühzeitig erfolgen, damit der Patient die Gelegenheit hat, »zwischen der Aufklärung und dem Eingriff das Für und Wider abzuwägen«. Nur so könne das Selbstbestimmungsrecht des Patienten gewahrt werden. Die Aufklärung ist grundsätzlich ärztliche Aufgabe. Der/die Aufklärende muss in der Lage sein, die Verfahren zu erklären und Alternativen zu erörtern. Die Rechtsprechung unterscheidet weiter zwischen ambulantem und stationären Eingriff und der Aufklärung über den operativen Eingriff und das Anästhesieverfahren. Im Allgemeinen gilt für die Durchführung stationärer Eingriffe die Aufklärung am Vorabend des Eingriffs für das Anästhesieverfahren als ausreichend. Der Patient wird zu diesem Zeitpunkt noch normale Narkoserisiken abschätzen und zwischen den unterschiedlichen Risiken ihm alternativ vorgeschlagener Narkoserisiken abwägen können. Dieser Zeitpunkt gilt aber nicht als der regelhafte, sondern spätest mögliche Zeitpunkt der Aufklärung. Bei normalen ambulanten Eingriffen – ohne genauere Definition dieses Begriffs – kann die Aufklärung noch am Tag der Operation erfolgen. Der Patient muss allerdings, je
nach Ausmaß der Risiken, ausreichend Zeit haben, die für oder gegen den Eingriff sprechenden Gründe zu bedenken, um sich für oder gegen den Eingriff zu entscheiden. Dabei darf der Patient sich keinem automatisierten Handlungsablauf gegenübersehen. ! Die Patientenaufklärung darf keinesfalls im OP-Bereich oder gar in der Einleitung erfolgen.
Sieht man von Noteingriffen ab, ist eine Einwilligung des Patienten auf dem Operationstisch unwirksam. Das gleiche wird nach der jüngsten Rechtsprechung gelten müssen, wenn der Patient den Eindruck gewinnt, dass er sich dem ambulanten Eingriff nicht mehr entziehen kann. Bei ambulanten Eingriffen mit beträchtlichem Risiko ist die Einwilligung am Operationstag verspätet, sie hat ebenso am Vortag zu erfolgen. Bei der Aufklärung sind auch die ausdrücklichen Wünsche des Patienten zu berücksichtigen. Es kann einem Arzt nicht zugemutet werden, einen zu dem Eingriff nach freier Willensbildung entschlossenen Patienten wegzuschicken, nur um einen abstrakten Zeitraum einzuhalten. Die Bereitschaft des Patienten zum Eingriff ist im Zweifel sorgfältig zu dokumentieren. Wo immer möglich, sollte so früh wie möglich aufgeklärt werden, etwa in Form einer speziellen Anästhesiesprechstunde vor dem Eingriff, in der nicht nur die Aufklärung durchgeführt, sondern auch die Anamnese erhoben, die körperliche Voruntersuchung durchgeführt werden kann und noch Zeit bleibt, um evtl. fehlende Befunde nachträglich zu erheben.
13.8
Anästhesiever fahren und Information des Patienten
Zum Abschluss des Prämedikationsgesprächs soll mit dem Patienten das Anästhesieverfahren erörtert werden.
119 Literatur
Dabei wird möglichst einvernehmlich mit dem Patienten die Wahl des Verfahrens festgelegt. Zur Verfügung stehen verschiedene Formen der Allgemein- und Regionalanästhesie sowie Kombinationsverfahren. Für die Regionalanästhesieverfahren ist es notwendig, dass der Patient ihnen nicht strikt ablehnend gegenüber steht. Bei medizinischer Indikation (z. B. schweres Asthma bronchiale, schwieriger Atemweg) kann eine Beeinflussung zugunsten eines Regionalanästhesieverfahrens jedoch sinnvoll sein. Das Verfahren soll während der Operation optimale Bedingungen für den Operateur bieten. Soweit möglich, können die Wünsche des Patienten berücksichtigt werden. Kontraindikationen sind selbstverständlich zu berücksichtigen, so z. B. Gerinnungsstörungen bei einem geplanten Regionalanästhesieverfahren. Auch ist bei der Planung die begrenzte Wirkdauer bei Single-shot-Techniken zu berücksichtigen. ! Unkooperative, debile oder uneinsichtige Patienten scheiden für eine Regionalanästhesie aus.
Die Wahl des Verfahrens wird auch durch die Frage beeinflusst, ob es sich um einen ambulant oder stationär durchgeführten Eingriff handelt. Bei ambulant durchzuführenden Eingriffen sind periphere Nervenblockaden ohne Gefährdung vitaler Strukturen oder kurz wirksame Substanzen zur Allgemeinanästhesie zu bevorzugen. Der Patient wird auf die im Operationssaal geplanten Maßnahmen vorbereitet. Vor allem die im Wachzustand geplanten Maßnahmen bedürfen besonderer Erklärung. Neben dem üblichen Monitoring und intravenösen Zugang wird die Benutzung eines Nervenstimulators am Vortag erläutert. Ebenso sollten postoperativ geplante Maßnahmen wie z. B. ein Aufenthalt auf der Intensivstation oder ein postoperatives Konzept zur Schmerztherapie besprochen werden. Im Rahmen dieses Gespräches wird auch das unter Berücksichtigung des Eingriffs und der Grunderkrankung maximal notwendige Monitoring erläutert. Ein Aufenthalt auf der Intensivstation wird eingeplant, wenn der Patient postoperativ nicht stressfrei extubiert werden kann oder ein erhöhtes Risiko für kardiorespiratorischer Insuffizienz besteht. Ebenso ist bei erwarteter Hypothermie oder hohem Blutverlust an eine postoperative Betreuung auf der Intensivstation zu denken.
13.9
Umsetzung in die klinische Praxis
Die Ableitung verpflichtender Zusatzuntersuchungen in Abhängigkeit vom Alter fällt bei Betrachtung der oben genannten Daten schwer. Im Vordergrund steht die Anam-
nese und gründliche körperliche Untersuchung. Die Einschätzung der Notwendigkeit zusätzlicher Untersuchungen bedarf dabei einiger klinischer Erfahrung. Die in . Tab. 13.1 zusammengefassten Indikationen für präoperative Untersuchungen können zur Orientierung herangezogen werden. Bei der Indikationsstellung sollte er wogen werden, ob der Test das mögliche Vorgehen ändern oder mit rechtfertigender Wahrscheinlichkeit relevante Informationen hinzufügen würde. Die alleinige Anordnung zu dokumentarischen Zwecken erscheint selten sinnvoll. Im begründeten Zweifel sollte die Untersuchung durchgeführt werden, wobei auch in Expertengremien bisher kein Konsens über den Umfang der Untersuchungen besteht. Bei der Durchführung rückenmarknaher Regionalanästhesien sollte ebenso evident sein, dass Laborwerte innerhalb der Norm nur begrenzten Aussagewert haben. Wichtige Ziele sind ein optimaler Einsatz der zur Verfügung stehenden Ressourcen und eine Reduktion potenziell schädlicher Untersuchungen (Strahlenbelastung). Die Etablierung einer Anästhesie-Ambulanz ist sinnvoll. Hier bietet sich bereits im Vorfeld die Gelegenheit, notwendige Untersuchungen zu veranlassen und den Patienten vor der Krankenhausaufnahme zu untersuchen. Kostspielige Verzögerungen des Operationsprogramms können dadurch vermieden werden.
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13
120
Kapitel 13 · Präoperative Untersuchung und Prämedikation
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13
14 Praktische Durchführung der Allgemeinanästhesie Paul Reinhold, Egbert Schlüter 14.1 Begriffsbestimmungen –122 14.2 Durchführung einer Allgemeinnarkose –122 14.2.1 14.2.2 14.2.3 14.2.4 14.2.5 14.2.6 14.2.7 14.2.8 14.2.9
Vorbereitung –122 Narkoseeinleitung und -aufrechterhaltung –123 Überwachung und Erfassung der Vitalparameter –123 Intravenöser Zugang –125 Narkoseeinleitung –125 Narkoseunterhaltung –129 Intraoperative Ventilation –132 Intraoperative Infusionstherapie –132 Intraoperative Relaxierung –133
14.3 Wärmemanagement –133 14.4 Perioperative Analgesie –134 14.5 Ausleitung der Narkose –134 14.5.1 Inhalationsanästhesie –134 14.5.2 Balancierte Anästhesie –134 14.5.3 Totalintravenöse Anästhesie –134
14.6 Postoperative Überwachung, Analgesie und Symptomkontrolle –135 14.6.1 14.6.2 14.6.3 14.6.4 14.6.5
Analgesie –135 PONV –135 Shivering –135 Agitation –135 Verzögertes Erwachen –135
14.7 Dokumentation des Narkoseverlaufs –135 14.8 Narkoseeinleitung bei Aspirationsgefährdung –136 Literatur –137
122
Kapitel 14 · Praktische Durchführung der Allgemeinanästhesie
))
Kombinationsanästhesie. Die Allgemeinnarkose wird
Der Begriff Anästhesie leitet sich vom griechischen DQDLVTLVLD ab und bedeutet so viel wie Unempfindlichkeit. In Abhängigkeit davon, ob sich die Unempfindlichkeit auf einen Körperteil, -bereich oder auf den Gesamtkörper bezieht, spricht man von Lokal- bzw. Regionalanästhesie oder von Allgemeinanästhesie. Als Synonym für Letzteres wird auch der Begriff Narkose, von griechisch QDUNR9 = Schlaf verwendet.
14.1
Begriffsbestimmungen
heutzutage nur noch selten als Mononarkose, d. h. unter Verwendung nur eines Pharmakons wie zum Beispiel eines volatilen Anästhetikums, sondern vielmehr als Kombinationsanästhesie durchgeführt, indem die einzelnen Qualitäten einer Anästhesie durch Kombination von Hypnotika, Analgetika und Relaxanzien erreicht werden. Der Vorteil der Kombination besteht darin, dass die Einzelpharmaka niedriger dosiert und gezielter eingesetzt werden können, wodurch sich das Ausmaß unerwünschter Wirkungen reduzieren lässt.
14.2 Eine Allgemeinnarkose hat mehrere Bedingungen zu erfüllen: Obligat sind Schlaf (Hypnose), Amnesie und Schmerzlosigkeit (Analgesie). Fakultativ sind vegetative Stabilität und ggf. Muskelerschlaffung (Relaxierung).Die pharmakologisch induzierte, reversible Funktionsminderung des Zentralen Nervensystems während der Anästhesie hat zum Ziel, optimale Interventionsbedingungen für Patient und Operateur zu schaffen. Nach den verwendeten Anästhetika lassen sich verschiedene Anästhesietypen unterscheiden.
Durchführung einer Allgemeinnarkose
Der Prozess einer Allgemeinnarkose besteht aus mehreren Modulen: Vorbereitung, Narkoseeinleitung und -aufrechterhaltung, Wärmemanagement, perioperative Analgesie, Narkoseausleitung, postoperative Überwachung, Dokumentation, postoperative Visite.
14.2.1 Vorbereitung Präoperative Visite und Prämedikation
Inhalationsnarkose. Bei dieser Narkoseform werden Hyp-
nose und Analgesie sowie teilweise auch die Relaxierung ausschließlich durch gasförmige Anästhetika und Stickoxydul durchgeführt.
14
Totalintravenöse Anästhesie (TIVA). Bei der TIVA wird die Narkose unter völligem Verzicht auf volatile Anästhetika und Stickoxydul durchgeführt. Eine absolute Indikation stellt – sofern eine Allgemeinanästhesie durchgeführt werden muss – die Disposition zur Malignen Hyperthermie dar. Relative Indikationen sind u. a. gesteigerter Hirndruck, Organtoxizität volatiler Anästhetika, Aufrechterhaltung der hypoxisch-pulmonalen Vasokonstriktion, PONV-Inzidenz, endoskopische Eingriffe an den Atemwegen, Jet-Ventilation.
Diese besteht aus der Erhebung der anästhesierelevanten Anamnese und der körperlichen Untersuchung. Zusätzliche Diagnostik ist nötig, sofern sie zur Einschätzung des Narkoserisikos oder dessen Minderung beitragen kann. Zur Reduktion des präoperativen Stresses infolge von Angst und Aufregung werden heutzutage in aller Regel peroral zu applizierende Anxiolytika, z. B. Benzodiazepine eingesetzt. Weitergehende Prämedikationsnotwendigkeiten ergeben sich in Abhängigkeit von den vorbestehenden Begleiterkrankungen, aber auch von der vorbestehenden Medikation und ihrer Interaktion mit den einzusetzenden Narkotika, Analgetika und Relaxanzien (7 Kap. 13).
Vorbereitung des Patienten zur Einleitung Balancierte Anästhesie. Der Begriff bezeichnet jede Misch-
form von Inhalations- und intravenöser Anästhesie. Sie ist die gebräuchlichste und individuell meist modifizierte Narkoseart. Dabei werden volatile Anästhetika mit oder ohne Stickoxydul vornehmlich für die Hypnose und injizierbare Analgetika zur Schmerzausschaltung verabreicht. Abhängig von der Gewichtung der Einzelkomponenten können opioid-supplementierte Inhalationsnarkosen von inhalations-supplementierten intravenösen Anästhesien unterschieden werden.
Der obligate Check des Patienten umfasst die Überprüfung der Patientenidentität und der adäquaten Patientenvorbereitung: Dazu gehören bei Erwachsenen zur Aspirationsprophylaxe eine mindestens 6-stündige Karenz für Nahrungsmittel und eine 1- bis 2-stündige Karenz für klare Flüssigkeiten, eine möglichst lange Nikotinpause zur Minimierung des Carboxyhämoglobinspiegels, präoperatives Urinlassen, Entfernung von herausnehmbarem Zahnersatz, Schmuck und ggf. Hörgerät sowie Kontrolle der Patientenakte auf Vollständigkeit inklusive des Prämedi-
123 14.2 · Durchführung einer Allgemeinnarkose
kationsprotokolls, der Einwilligungen und evtl. noch ausstehender Befunde. Außerdem muss die medikamentöse Vorbreitung des Patienten überprüft werden, dies gilt dem Effekt der Anxiolyse, der Weiterführung der präinterventionellen Medikamenteneinnahme, evtl. der Endokarditisprophylaxe sowie der Blutzuckerkontrolle bei Diabetes mellitus.
Bereitstellung des Equipments Vor jeder Narkoseeinleitung hat die Kontrolle des nach EN 740 ausgerüsteten Anästhesiearbeitsplatzes mit Narkosegerät und erforderlichem Monitoring inkl. Überprüfung auf Funktion und Vollständigkeit des bereitzuhaltenden Zubehörs für Infusion und Intubation, der Narkosemittel und des Reanimationsequipments zu erfolgen. Checkliste Anästhesiearbeitsplatz 5 5 5 5 5 5 5 5 5 5 5 5 5 5 5 5 5 5 5 5 5 5 5
Narkosegerät Maske zur Präoxygenierung Intubationszubehör Laryngoskop mit altersentsprechenden Spateln Magillzange Endotrachealtuben; ggf. Larynxmasken Führungsstäbe Cuff-Blockerspritze mit Klemme Gleitmittel für Tubus und Führungsstab Oropharyngealtuben/Nasopharyngealtuben Absauggerät Venenpunktionsbesteck nebst Zubehör Infusionslösung (kristalloid, kolloidal) nebst Infusionssystem Monitoring Stethoskop Blutdruckmessgerät mit adäquaten RR-Manschetten Elektrokardiographie SpO2-Messung etCO2-Messung Reanimationsequipment O2-Reserve Ambubeutel mit O2-Reservoir Defibrillationsgerät (erreichbar)
Das Zusatzmonitoring erfolgt neuromuskulär, neurozerebral bzw. invasivhämodynamisch. Als Notfallmedikamente sollten zur Verfügung stehen: Katecholamin, Antiarrhythmika, Vagolytika, Antiepileptika und Dantrolen (erreichbar).
Als Narkosemedikamente werden benötigt: Hypnotika zur Induktion, Hypnosedativa zur Narkoseunterhaltung, volatile Anästhetika, Opioidanalgetika und Muskelrelaxanzien.
14.2.2 Narkoseeinleitung und
-aufrechterhaltung Die Einleitung der Narkose sollte in einer ruhigen Atmosphäre erfolgen, in der der Patient Zuwendung und Ansprache erfährt. Grelles Licht und Kälte sind zu vermeiden. Abgesehen von speziellen Situationen in der Kinderanästhesie und der reinen Gasnarkose geht jede Kombinationsnarkose mit den in . Tab. 14.1 genannten Schritten einher.
14.2.3 Über wachung und Er fassung
der Vitalparameter Die Patienten bedürfen noch vor Beginn invasiver Maßnahmen und vor Verabreichung jeglicher Medikamente eines Checks der Vitalparameter. Neben der klinischen Überwachung (Ansprechbarkeit, Hautkolorit, Hautdurchblutung, Kapillarpuls, Atemfrequenz und -tiefe, Schwitzen, Pupillenfunktion, Tränenfluss) umfasst das obligatorische Monitoring unter der Narkose folgende Schritte: EKG-Ableitung. Modifizierte Standardableitungen nach Einthoven als Minimum und evtl. zusätzlich V5-Ableitung beim kardialen Risikopatienten. Blutdruckmessung. Messung nach Riva-Rocci oder automatische oszillometrische Erfassung von systolischem, diastolischem und mittlerem arteriellem Druck. Pulsoxymetrie. Die Sauerstoffsättigung lässt sich rasch nichtinvasiv mittels Infrarotspektrometrie erfassen; die Darstellung der Plethysmographiekurve erlaubt darüber hinaus eine Aussage über die Pulsfrequenz, die Durchblutung sowie den Volumenstatus. Kapnometrie. Messung der endexspiratorischen Kohlen-
dioxidwerte zur Ventilationskontrolle. Bei patientennaher Messung gestattet der Kapnometriekurvenverlauf zudem eine frühzeitige Erkennung von Störungen im Gasfluss. Respiratorisches Monitoring. Messung von Atemfrequenz,
ggf. exspiratorischem Atemminutenvolumen sowie Atemwegsdruckverlauf während des respiratorischen Zyklus. Relaxometrie. Bei Einsatz von Relaxanzien.
14
124
Kapitel 14 · Praktische Durchführung der Allgemeinanästhesie
. Tabelle 14.1. Synoptische tabellarische Auflistung der wichtigsten Einzelschritte bei der Durchführung der einzelnen Narkoseformen Inhalationsanästhesie
Einleitung
i.v.-Einleitung
i.v.-Einleitung
i.v.-Einleitung
Monitoring anlegen
Monitoring anlegen
Monitoring anlegen
Monitoring anlegen
Maske anpassen
i.v.-Zugang legen
i.v.-Zugang legen
i.v.-Zugang legen
Maske anpassen
Maske anpassen
Maske anpassen
Denitrogenisierung
Denitrogenisierung
Denitrogenisierung
Priming
Priming
Priming
Vol. Anästhetika beimischen bis 1-fach MAC
Vol. Anästhetika beimischen bis 1-fach MAC
i.v.-Induktion
i.v.-Induktion
i.v.-Induktion
i.v.-Analgesie
i.v.-Analgesie
i.v.-Relaxierung
i.v.-Relaxierung
i.v.-Relaxierung
Intubation
Intubation
Intubation
Intubation
Kontrolle der Tubuslage
Kontrolle der Tubuslage
Kontrolle der Tubuslage
Kontrolle der Tubuslage
Lagerung
Lagerung
Lagerung
Lagerung
Adäquate Ventilation
Adäquate Ventilation
Adäquate Ventilation
Adäquate Ventilation
Vol. Anästhetika MAC 90
Vol. Anästhetika MAC 90
Vol. Anästhetika MAC 50–90
Hypnotikum
Opioid
Opioid
Vol. Anästhetika beimischen bis 3-fach MAC
i.v.-Zugang legen
14
Ausleitung
Totalintravenöse Anästhesie
Maskeneinleitung
Denitrogenisierung
Unterhaltung
Balancierte Anästhesie
Klinisches Monitoring
Klinisches Monitoring
Klinisches Monitoring
Klinisches Monitoring
Technisches Monitoring
Technisches Monitoring
Technisches Monitoring
Technisches Monitoring
Evtl. Relaxierung
Relaxierung
Relaxierung
Infusionstherapie
Infusionstherapie
Infusionstherapie
Infusionstherapie
Perioperative Analgesie
Perioperative Analgesie
Perioperative Analgesie
Perioperative Analgesie
Anästhetikareduktion
Anästhetikareduktion
Anästhetikareduktion Kein Opioid in den letzten 30 min
Reduktion Narkotika
Absaugen
Absaugen
Absaugen
Überprüfung der Relaxierung
Überprüfung der Relaxierung
Überprüfung der Relaxierung
Spontanatmung
Spontanatmung
Spontanatmung
Spontanatmung
Extubation
Extubation
Extubation
Extubation
Absaugen
125 14.2 · Durchführung einer Allgemeinnarkose
Fakultativ: Zerebromonitoring, Messung der Körpertemperatur, Blutgasanalyse und Laboruntersuchung, zentralvenöser Druck und Sättigung, pulmonalarterieller Verschlussdruck und Herzzeitvolumen, transösophageale Echokardiographie.
14.2.4 Intravenöser Zugang
überstreckt auf einem 8–10 cm hohen Polster liegt. In dieser Position ergeben sich günstige Achsenverhältnisse von Pharynx, Larynx und Trachea: Sie liegen fast auf einer Geraden. Dadurch ist bei Verwendung eines Macintosh-Spatels meist eine freie Sicht auf die Glottis gegeben und die Intubation so erleichtert.
Präoxygenierung Entsprechend der Maxime keine Narkoseeinleitung ohne i.v.-Zugang (Ausnahme: spezielle Situationen in der Kinderanästhesie) wird eine Venenverweilkanüle gelegt. Sie wird so platziert, dass sie während des Eingriffs für den Anästhesisten gut zugänglich ist. Die Größe der gut zu fixierenden Venenverweilkanüle richtet sich nach den zu erwartenden intravasalen Volumenverschiebungen. Über den Zugang werden schon vor Narkotikaapplikation beim kardial gesunden Patienten 500 ml einer Vollelektrolytlösung infundiert, um ein präoperatives Defizit zu mindern oder auszugleichen.
14.2.5 Narkoseeinleitung Vagolyse In früheren Jahren wurde die Vorgabe eines Vagolytikums als obligat angesehen. Heutzutage werden überwiegend nur noch die prophylaktische Reduktion des Speichelflusses vor Ketamingabe oder vor Eingriffen im oro-pharyngo-trachealen Bereich als Indikationen angesehen sowie die Vorbeugung unerwünschter kardialer vagaler Reaktionen bei entsprechend disponierten Personen und vor Applikation von Induktionsmitteln mit erheblicher vagotoner Potenz. Dazu werden die Vagolytika unter EKG-Kontrolle i.v. appliziert. Kontraindikationen: Tachykardie, Tachyarrhythmie, Hyperthyreose, Mukoviszidose, Koronare Herzkrankheit, Phäochromozytom und Herzklappenstenose. Atropin ist in einer intravenösen Dosierung von 0,01 mg/kg KG in erster Linie dann angezeigt, wenn die Herzfrequenz angehoben werden soll; beim Einsatz von Glykopyrrolat in einer intravenösen Dosierung von 0,002 mg/kg KG steht dagegen die Salivationshemmung im Vordergrund.
Lagerung des Patienten Neben der Lagerung des Patienten unter Beachtung der physiologischen Haltung der Extremitäten in leichter Abduktion und ihrer Gelenke in Beugestellung ist für das weitere Procedere eine optimale Kopfpositionierung wichtig. Bewährt hat sich die so genannte verbesserte Jackson-Position oder Schnüffelstellung, bei der der Kopf im Nacken
Man lässt den Patienten zur Denitrogenisierung mittels dicht vorgehaltener Maske über 5 min 100 % Sauerstoff bei einem Flow von 5 l/min atmen: So wird durch Füllung der Lungenvolumina der intrapulmonale Sauerstoffvorrat und damit die apnoische Toleranzzeit erhöht, um die für die Intubation verfügbare Zeit zu verlängern, ohne einen kritischen O2-Sättigungsabfall zu riskieren. Bei lungengesunden Patienten beträgt dieser Zeitraum bei adäquatem Vorgehen ungefähr 10 min; bei pulmonal eingeschränkten Patienten deutlich weniger. Ob die Größe der Maske und auch das ausgewählte Modell ausreichend abdichten, ist zuvor beim spontan atmenden Patienten individuell zu testen. Bewährt haben sich Silikon-Gesichtsmasken mit luftgefülltem Randwulst; vielfach wird zwecks besserer Beobachtbarkeit und frühzeitiger Erkennung einer sich anbahnenden Regurgitation auch Wert auf die Durchsichtigkeit des Maskenmaterials gelegt. Bei erwachsenen Frauen kommen primär Gesichtsmasken der Größe 3 und bei erwachsenen Männern der Größe 5 zum Einsatz. Insbesondere bei sehr hageren, zahnlosen oder Bart tragenden Patienten bzw. solchen mit Kieferatrophie sind Probleme zu erwarten; deshalb sind Masken unterschiedlicher Größe und Form bereitzuhalten.
Präkurarisierung bzw. Priming Die »Präkurarisierung«, also die Blockierung von bis zu 70 % der muskulären Endplatten durch Vorgabe von kompetitiven Muskelrelaxanzien mindestens 3 min vor Succinylcholingabe, dient der Minderung der Depolarisationsfolgen dieses Blockers. Das »Priming«, ebenfalls eine Teilblockierung der Endplatten durch Vorgabe kompetitiver Relaxanzien, kann beim schlafenden Patienten die Anschlagzeit der zur Intubation notwendigen Relaxanzien verkürzen. In der Regel werden 20 % der zur Vollrelaxierung erforderlichen Dosis des jeweiligen Muskelrelaxanzes verabreicht.
Opiatgabe Zur Stressminderung bei der Intubation und zur intraoperativen Analgesie werden heutzutage im Rahmen der Kombinationsanästhesie Opioide eingesetzt. Dabei erfolgt die
14
126
Kapitel 14 · Praktische Durchführung der Allgemeinanästhesie
Auswahl in erster Linie anhand pharmakokinetischer Eigenschaften in Abhängigkeit von der Dauer des operativen Vorgehens und eventueller Metabolisierungseinschränkungen seitens des Patienten. Bei der balancierten Anästhesie zu Kurzeingriffen greift man auf Alfentanil (20 Pg/kg KG), zu längeren Operationen auf Fentanyl (3 Pg/kg KG) oder Sufentanil (0,2–0,5 Pg/kg KG) zurück. Im Rahmen der TIVA bietet sich Remifentanil (0,2 Pg/kg KG u min nach einer Loading dose von 1,0 Pg/kg KG) an.
Narkoseinduktion Einleitung per inhalationem
14
Die Narkoseinduktion erfolgt durch die hoch dosierte Inhalation volatiler Anästhetika. Zur Senkung der minimalen alveolären Konzentration (MAC) sowie zur Beschleunigung der Anflutung wird zur Ausnutzug des »Second gas effect« auch heute noch Lachgas eingesetzt. Auf Grund pharmakokinetischer und -dynamischer Basisdaten kommt für diese Einleitungsform nur Sevoflurane zum Einsatz. Desfluran eignet sich wegen seines stechenden Geruches und seiner luftwegsreizenden Eigenschaften nicht zur Maskeneinleitung. Nach Spülung des Kreisteils mit einem FrischgasFlow von 2 l O2/N2O im Verhältnis 1 : 2 unter Beimischung von 8 Vol% Sevoflurane atmet der Patient dieses Gasgemisch über die dicht aufgesetzte Gesichtsmaske ein. Unter »Kommandoatmung« ist der Patient bei begleitender kurzfristiger Exzitation nach etwa 2 min eingeschlafen. Sobald die Schutzreflexe erloschen und die Monitoringwerte kontrolliert worden sind, wird spätestens jetzt ein Zugang gelegt. Anschließend kann die Anästhesie als Gesichtsmasken-, Larynxmasken- oder Intubationsnarkose weitergeführt werden. Die Einleitung per inhalationem findet nur in seltenen Situationen und im Rahmen der Kinderanästhesie regelhaft statt. Eine absolute Kontraindikation der Einleitung per inhalationem ist neben der Disposition zur malignen Hyperthermie eine drohende Aspiration. Als weitere Kontraindikationen gelten auf Grund der negativ inotropen sowie vasodilatatorischen Effekte des Sevofluranes eine erhebliche kardiozirkulatorische Instabilität sowie ein gesteigerter Hirndruck.
i.v-Einleitung Allgemein wird heute die Narkose intravenös eingeleitet. Diese Form wird vom Patienten als angenehm empfunden, weil dadurch die Induktion beschleunigt und Exzitationsphänomene minimiert werden. Als Induktionsmittel sind etabliert: Thiopental (Trapanal), Methohexital (Brevi-
mytal), Etomidate (Hypnomidate), Propofol (Disoprivan) und S-Ketamin. Barbiturate waren lange Zeit Standard in der Narkoseeinleitung. Auf Grund ihres antikonvulsiven und Hirndruck senkenden Effekts sind sie auch heute noch bei Patienten mit epileptiformen Krankheitsbildern sowie bei Patienten mit Hirndruckerhöhung indiziert. Ein weiterer Vorteil ist der günstige Preis. Die Barbiturate sind jedoch kreislaufdepressiv, führen zu einer Histaminfreisetzung, dämpfen nur unzureichend laryngopharyngeale Reflexe und triggern die Porphyrie. Die Dosierung der Barbiturate erfolgt wie bei allen Narkoseinduktionsmitteln nach Wirkung; als Anhaltsdosis können für Thiopental 3–5 mg/kg KG und für das pharmakokinetisch etwas vorteilhaftere Methohexital 1–2 mg/kg KG angesehen werden. Bei langsamer Injektion ist nach etwa 2–3 min das Wirkmaximum erreicht und nach 5–7 min wieder abgeklungen. Etomidate in Lipidemulgierung ist auf Grund der geringeren Beeinträchtigung des kardiovaskulären und pulmonalen Systems das Einleitungshypnotikum der Wahl beim hämodynamisch instabilen und pulmonal eingeschränkten Patienten. Die gelegentlich auftretenden auf spinaler Ebene ausgelösten Myoklonien lassen sich durch vorhergehende Opioidgabe gut unterdrücken. Die Dosierung für Etomidate beträgt 0,3–0,4 mg/kg KG, wobei die Maximalwirkung nach 2 min erreicht wird und nach 5 min bereits wieder abgeklungen ist. Propofol etabliert sich auf Grund seiner guten Steuerbarkeit und seiner ausgeprägten Dämpfung der laryngopharyngealen Reflexe zunehmend als Einleitungshypnotikum auch außerhalb der TIVA. Wegen der ausgeprägten sympathikolytischen Wirkung sollte Propofol zur Einleitung bei hämodynamisch instabilen Patienten nur sehr langsam injiziert werden. Induktionsdosis ist 1,5–2 mg/kg KG, die Wirkung setzt nach 20–30 s ein und hält ca. 10 min an. Eine langsame Applikationsgeschwindigkeit erlaubt eine geringere Dosierung und verursacht auch weniger hämodynamische Nebenwirkungen. Wird – wie bei TIVA üblich – mittels Motorspritzen eingeleitet, sollte daher aus pharmakodynamischen Gründen die Pumpgeschwindigkeit der Motorspritze bei Bolusfunktion auf etwa 200–400 ml/h eingestellt werden, sodass der Patient dann mit einer Gesamtdosis von 1,5 mg/kg KG nach etwa 3 min eingeschlafen ist. Der durch Propofol ausgelöste Injektionsschmerz lässt sich durch Beimischung von Lidocain im Verhältnis 1 : 10 lindern. S-Ketamin ist wegen der sympathikomimetischen Wirkung vor allem bei Hypovolämie und Hypotonie in-
127 14.2 · Durchführung einer Allgemeinnarkose
diziert. Als Anhaltsdosierung gilt 1,0 mg/kg KG, die Wirkung tritt nach etwa 60 s ein und hält ca. 10 min an. Nebenwirkungen wie erhöhter Hirndruck, durch Ketamin gesteigerter Sauerstoffverbrauch sowie eine arterielle Hypertension limitieren die Anwendung. Die Ketaminvermittelten psychomimetischen Effekte sollten mit Midazolam (0,05 mg/kg KG) oder mit Propofol (1,0 mg/ kg KG) unterdrückt werden. Zur Minderung der Hypersalivation empfiehlt sich die Vorgabe von Glykopyrrolat (2 Pg/kg KG). Die Narkoseinduktionsmittel sollten generell nicht zu schnell injiziert werden und in Abhängigkeit vom individuellen Eintritt des Bewusstseinsverlusts titriert werden. Am einfachsten ist es, sich während der Narkoseeinleitung mit dem Patienten zu unterhalten, während man das Induktionsmittel langsam injiziert, bis der Patient nicht mehr reagiert und nach Abwarten der Kreislaufzeit auch der Lidreflex erloschen ist. Bei unzureichendem intravasalen Volumenstatus treten nach zu rascher Injektion der Narkoseinduktionsmittel (Ausnahme: S-Ketamin) nicht selten arterielle Hypotensionen auf, die sich durch die rasche Infusion von Volumenersatzmitteln und fraktionierte Gabe von Akrinor (Mischung aus Theodrenalin- und Theophyllinhydrochlorid), schnell beheben lassen. Die genannten Dosierungen gelten für kreislaufstabile Erwachsene und sind bei Kindern zu erhöhen sowie bei alten Menschen eher zu reduzieren. Darüber hinaus ist eine beträchtliche Schwankungsbreite auch in Abhängigkeit von den Prämedikationseffekten zu beachten.
Maskenbeatmung Sobald der Patient eingeschlafen und die Atmung flacher geworden ist, wird der Patient, abgesehen von der Rapid sequence induction bei Aspirationsgefährdung, zunächst per Maske assistierend und anschließend kontrolliert beatmet. Speziell bei älteren Patienten mit Kieferatrophie sowie bei Patienten mit großer Zunge und engem Mund hat sich zur Freihaltung der Atemwege der Einsatz oropharyngealer (Guedel-) oder nasopharyngealer (Wendl-) Tuben bewährt, zumal dadurch hoher Beatmungsdruck mit der Gefahr der Magenaufblähung vermieden werden kann. Prinzipiell können Kurznarkosen auch mit Beatmung über Masken durchgeführt werden. Kontraindizierend sind atypische Lagerung, Aspirationsgefährdung, Adipositas, Operationslokalisation im Kopf-Halsbereich und suboptimale Abdichtung. Die Larynxmasken mit ihren Modifikationen nehmen in puncto anatomischer Lokalisation, Grad der Invasivi-
tät und Sicherheit in der Anwendung eine Mittelstellung zwischen Gesichtsmaske und Endotrachealtubus ein. Die Einführung der Larynxmasken in die Anästhesie hat viele Intubationen überflüssig gemacht: Bei erheblich leichterer Positionierung ohne Relaxierung ist die Standard-Larynxmaske als künstlicher Luftweg in all den Fällen geeignet, in denen kein Atemwegsdruck > 25 mbar erforderlich ist bzw. keine Aspirationsgefahr droht. Nach Einführung mittels Kreuzgriff bei retroflektiertem Kopf wird die Larynxmaske soweit geblockt, bis sie gerade einen dichten Sitz aufweist (so genanntes just seal), um Mukosaschäden und Aryknorpelirritationen zu vermeiden. Eine Weiterentwicklung ist die Larynxmaske »Proseal«, die Atem- und Speiseweg besser trennt, sodass auch eine Beatmung mit höheren Drücken möglich ist. Für Jugendliche und Erwachsene mit einem Körpergewicht von bis zu 50 kg hat sich die Größe 3, von 50–70 kg die Größe 4 und oberhalb von 70 kg die Größe 5 der Standard-Larynxmaske bewährt. Bei Aspirationsgefährdung und respiratorischer Insuffizienz, bei intraabdominalen, intrathorakalen, intrakraniellen Eingriffen und solchen im Hals-Kopf-Bereich, aber auch bei jeder atypischen Lagerung sowie bei langer Eingriffsdauer und operativem Bedarf einer kompletten Relaxation ist auch weiterhin die Indikation zur endotrachealen Intubation gegeben.
Relaxierung Die Indikation der Relaxierung wird einerseits zur Intubation und andererseits zur Muskelerschlaffung aus operativer Notwendigkeit gestellt. Die Auswahl der Relaxanzien richtet sich nach der Anschlagzeit und der gewünschten Relaxierungsdauer (7 Kap. 4). Das Relaxans mit der kürzesten Anschlagzeit (< 1 min bei 2facher ED95) ist das depolarisierende Muskelrelaxans Succinylbischolin. Wegen gravierender Nebenwirkungen (Hyperkaliämie, Muskeldystrophie) ist heute höchstens noch der Einsatz im Rahmen der Rapid sequence induction bei akuter Aspirationsgefährdung zu rechtfertigen, sofern keine Disposition zur Malignen Hyperthermie vorliegt. Eine Alternative mit vergleichbar kurzer Anschlagzeit stellt die Rocuronium in einer Dosierung von 3 u ED95 dar, wodurch jedoch eine Wirkdauer von etwa 90 min resultiert. Ansonsten werden vornehmlich das kurz wirksame Mivacurium, die mittellang wirkenden, infolge Esterspaltung organunabhängig metabolisierten Muskelrelaxanzien Atracurium und Cis-Atracurium – letzteres besonders bei Atopie – oder das lang wirkende Steroidrelaxans Pancuronium mit einer Anschlagzeit von 2–4 min in doppelter ED95 zur Intubation eingesetzt:
14
128
Kapitel 14 · Praktische Durchführung der Allgemeinanästhesie
Tubusauswahl ED95 wichtiger Muskelrelaxanzien 5 5 5 5 5 5
Succinylbischolin Mivacurium Atracurium Cis-Atracurium Rocuronium Pancuronium
0,75 mg/kg KG 0,08 mg/kg KG 0,25 mg/kg KG 0,05 mg/kg KG 0,3 mg/kg KG 0,06 mg/kg KG
Frühestens 3 min nach Gabe der »Priming dose« und sobald der Patient schläft, der Lidreflex erloschen sowie eine suffiziente Beatmung über Maske sichergestellt und durch die etCO2-Kurve bestätigt ist, wird das Muskelrelaxans injiziert. Nachdem unter Beatmung mit Sauerstoff die Anschlagzeit überbrückt worden ist, wird der Patient intubiert.
Intubation Einstellen der Glottisebene
14
Durch die verbesserte Jackson-Position, lässt sich in aller Regel bei Ver wendung der gebogenen Macintosh-Spatel die Glottisebene gut darstellen: Mit dem von Esmarchschen Handgriff wird der Mund weit geöffnet und mit der rechten Hand offen gehalten, sodann lässt man das Spatelblatt (Größe 3 oder 4 bei Frauen, bzw. 4 oder 5 bei Männern) in der rechten Mundseite auf der Zunge heruntergleiten, bis die Vorderkante des Blattes die Spitze der Plica glossoepiglottica erreicht. Durch leichtes Vorschieben der Spatelspitze und paralleles Anheben des Laryngoskopblatts nach ventral richtet sich die Epiglottis auf und gibt normalerweise die Sicht auf die Glottis frei. Ist die Glottisebene nicht einsehbar, lässt sich in aller Regel durch äußerlichen Druck auf den Kehlkopf in dorsaler Richtung die Glottis ins Blickfeld schieben. Ist die Sicht auf die Glottis versperrt, weil die Epiglottis sich nicht aufrichtet, dann hilft häufig ein Wechsel auf einen geraden Laryngoskopspatel vom Typ »Miller« oder »Wisconsin«, mit dem die Epiglottis unterfahren und aufgeladen werden kann. Ein Berühren der Zähne mit dem Spatel muss ebenso vermieden werden wie ein Hebeln, da ersteres zu einem Zahnschaden führen kann und Letzteres zusätzlich noch die Sicht auf die Glottisebene versperrt. Neben den genannten existiert eine Vielzahl von Spatelmodifikationen für anatomisch schwierige Intubationsverhältnisse. Gelingt ein direktes Einführen des Tubus nicht, muss auf spezielle Techniken wie z. B. das fiberoptische Verfahren ausgewichen werden.
Für die Routine werden durchsichtige, thermolabile, dünnwandige und mit einer Niederdruckblockermanschette versehene Magill-Tuben, für enorale Eingriffe vorgeformte RAE-Tuben und für atypische Lagerung hochflexible metallspiralverstärkte Tuben (so genannte Woodbridge-Tuben) verwandt. Die Tuben werden soweit durch die Glottisebene geschoben, bis die Blockermanschette vollständig in der Trachea verschwunden ist; der proximale Rand der Blockermanschette sollte 1,0 cm unterhalb der Glottisebene liegen. Ist die Glottis nur teilweise einsehbar, können die Tuben durch Verwendung von Führungsstäben besser platziert werden. Bei Frauen werden Magill-Tuben mit einen Innendurchmesser von 7,5 mm und bei Männern von 8,5 mm eingesetzt (bei Kindern 7 Kap. 44).
Blocken des Tubus Sobald der Tubus eingeführt ist, wird die NiederdruckBlockermanschette mit Luft gefüllt, um eine gut abgedichtete Trennung zwischen intra- und extrapulmonalem Gasraum herbeizuführen. Unter Beatmung sollte der Cuff gerade soweit aufgefüllt werden, dass eine Abdichtung gewährleistet wird, ohne die Mikrozirkulation der Trachealschleimhaut zu gefährden. Dabei sollte für »high volumelow pressure Cuffs« bei der Cuffmanometrie ein Druck von 20 mbar nicht überschritten werden.
Lagekontrolle Nach jeder Intubation ist die ordnungsgemäße Lage des Endotrachealtubus zu kontrollieren. Unter Beatmung lässt sich durch einen atemsynchronen Auskultationsbefund und durch die Kapnometrie eine ösophageale Tubuslage ausschließen. Ein zusätzlicher seitengleicher Auskultationsbefund in der Axillarlinie belegt, dass keine einseitige Lungenbeatmung durch einen zu tief bis in den Hauptbronchus eingeführten Tubus vorliegt.
Fixierung des Tubus Damit die ordnungsgemäße Tubuslage auch bestehen bleibt, ist der Tubus unter Beachtung seiner Längenmarkierung zu fixieren.
Erneute Lagekontrolle Nach Lagerungsmaßnahmen und nach jeder Manipulation am Tubus, aber auch bei jeder Änderung der Kopflage hat eine erneute auskultatorische Tubuslagekontrolle zu erfolgen und die Längenmarkierung ist zu überprüfen.
129 14.2 · Durchführung einer Allgemeinnarkose
. Tabelle 14.2. Kriterien zur Differenzialindikation volatiler Anästhetika Auswahlkriterium
Isofluran
Sevofluran
Desfluran
MAC95 (in O2/Luft)
1,6 Vol%
2,1 Vol%
6,5 Vol%
Steuerbarkeit
±
++
++
Sympathikoadrenerge Stabilität
±
++
–
Kreislaufstabilität
++
–
–
Koronarinsuffizienz
++
++
±
Hochgradige Herzinsuffizienz
–
–
–
Kardioprotektion
–
++
–
Leberintegrität
±
++
±
Nierenintegrität
±
–
++
COPD
±
++
±
Kosten
++
–
–
(++ = vorteilhaft), – = weniger vorteilhaft, ± = indifferent)
14.2.6 Narkoseunterhaltung Zur Weiterführung der Narkose ist die Sicherstellung einer ausreichenden Narkosetiefe in Abhängigkeit vom eingriffsbedingten Stressniveau notwendig. Die Anästhesiefortführung unterscheidet sich bei der Inhalationsanästhesie, der balancierten Anästhesie sowie der totalintravenösen Anästhesie.
Inhalationsanästhesie Heutzutage werden volatile Anästhetika aus physiologischen, ökologischen und insbesondere aus ökonomischen Gründen grundsätzlich mittels Rückatmungssystemen und hier wiederum vorzugsweise als Niedrigflussnarkosen, also mit einem Rückatmungsanteil von mehr als 50 %, genutzt. Zur Minderung der erforderlichen minimalen Anästhetikakonzentration wird bei Inhalationsanästhesien vielfach noch Stickoxydul in einer Beimischung von maximal 70 % eingesetzt, um dessen analgetische und sedierende Wirkung zu nutzen. Dies führt zu einer etwa 20 %igen Reduktion der klinisch notwendigen Dosis des volatilen Anästhetikums. Die reine Inhalationsanästhesie wird mit Ausnahme der Sectio-Narkose, dann aber in Kombination mit der Ra-
pid sequence induction kaum noch eingesetzt und wurde zur »Balanced Anaesthesia« fortentwickelt.
Balanced Anaesthesia Hierbei wird die Narkose durch die Kombination eines volatilen Anästhetikums mit einem Opioid aufrechterhalten. Prinzipiell können zur balancierten Anästhesie alle volatilen Anästhetika verwandt werden. Steht der finanzielle Aspekt im Vordergrund, wird vornehmlich Isoflurane eingesetzt; wird jedoch der besseren Steuerbarkeit der Vorzug gegeben, fällt die Wahl unter Berücksichtigung der jeweiligen Nebenwirkungen auf Sevoflurane oder Desflurane. In Anbetracht der zahlreichen unerwünschten Effekte des Lachgases rechtfertigt die geringfügige analgetisch/anästhetische Wirksamkeit den Einsatz nicht mehr, weil bei diesem Narkosekonzept mit den Opioiden eine ausreichende Analgesie gewährleistet werden kann. Die Dosierung der volatilen Anästhetika hängt im Wesentlichen vom Ausmaß der Opioidsupplementierung und der Schmerzhaftigkeit des Eingriffs ab. Bei guter Analgesie benötigt man zur Ausschaltung des Bewusstseins weniger als 0,5 MAC 95 in O2. Diese hypnotisch wirksame Dosis sollte nicht unterschritten werden und eine Adaptation an den intraoperativ wechselnden Stresslevel im Wesentlichen mittels der Analgetika erfolgen. Nach i.v.-Einleitung und der Opioidgabe werden die volatilen Anästhetika bei hohem Frischgasflow angeflutet, bis sich ein endtidaler Wert equilibriert hat. Dann wird auf Low-Flow bzw. Minimal-Flow umgestellt. Durch Erhöhung der Vaporeinstellung um 0,5 bzw. 1,0 Vol% können so die endtidalen Konzentrationen konstant gehalten werden. Erfahrungsgemäß liegen die erforderlichen Konzentrationen für die jüngeren erwachsenen Patienten ca. 10 % über und für die älteren Patienten 10 % unter den mittleren MAC-Werten. Die Wahl des Opioids richtet sich im Wesentlichen nach der Länge des Eingriffs. Für Kurzeingriffe eignen sich Alfentanil (20 Pg/kg KG initial, Repetition 10 Pg/kg KG) und Remifentanil (0,1–0,2 Pg/kg KG u min). Bei längeren Eingriffen kommen Sufentanil (0,2 Pg/kg KG u h) oder Fentanyl (3 Pg/kg KG) zum Einsatz. Es sind aber auch alle anderen P-Rezeptor-Opioide möglich. In Abhängigkeit von Alter, Komorbidität und einer damit einhergehenden Medikamenteneinnahme sind unter Umständen erhebliche interindividuelle Dosismodifikationen notwendig, sodass eine Feinjustierung von Analgesie und Hypnose anhand der Kriterien einer ausreichender Narkosetiefe zu erfolgen hat (. Tab. 14.2 und 7 Kap. 17). Eine unzureichende Muskelerschlaffung sollte immer Anlass sein, primär eine ausreichende Narkosetiefe sicher zu stellen, bevor man zum Muskelrelaxans greift.
14
130
Kapitel 14 · Praktische Durchführung der Allgemeinanästhesie
. Tabelle 14.3. Kriterien zur Differenzialindikation der Narkoseführung mit injizierbaren Anästhetika (TIVA) und mit volatilen Anästhetika
14
Auswahlkriterium
Totalintravenöse Anästhesie (TIVA)
Narkose mit volatilen Anästhetika
MH-Disposition
++
absolute Kontraindikation
Porphyrie
++
±
Leberschädigung
++
–
Leberinsuffizienz
++
±
Nierenschädigung
++
±
Hämodynamik
±
±
Kardioprotektion
–
++
Hirndruck
++
–
Epileptogenes Potenzial
±
–
Lungenfunktion
++
++
Hypox. Vasokonstriktion
++
–
Pharyng. Reflexdämpfung
++
–
PONV-Triggerung
++
–
Awareness
±
±
Drug Monitoring
–
++
Steuerbarkeit
++
++
Arbeitsplatzbelastung
++
–
Anwendung im offenen Beatmungssystem
++
–
Equipmentanforderung
++
–
Einsatz außerhalb OP
++
–
(++ = vorteilhaft, – = weniger vorteilhaft, ± = indifferent)
Totalintravenöse Anästhesie (TIVA) Die totalintravenöse Anästhesie gewinnt wegen ihrer vielen Vorteile (. Tab. 14.3) gegenüber den Narkosen unter Verwendung volatiler Anästhetika eine immer größere Verbreitung. Die TIVA wird derzeit in erster Linie mit
Propofol als hypnotischer Komponente und Remifentanil, Alfentanil, Sufentanil oder Fentanyl als analgetischen Komponenten durchgeführt. Bei der TIVA sind die synergistischen pharmakodynamischen und -kinetischen Interaktionen zu beachten: Die Kombinationen erlauben nicht nur eine Reduzierung der (Standard-)Dosierungen, sondern durch eine stärkere Gewichtung des Kombinationspartners mit der kürzeren kontextsensitiven Halbwertszeit auch eine Verbesserung der Narkosesteuerbarkeit, wodurch eine raschere Ausleitung erreicht werden kann. Fentanyl, Sufentanil und Alfentanil haben eine deutlich längere, Remifentanil hingegen eine wesentliche kürzere kontextsensitive Halbwertszeit als Propofol. Propofol soll in einer Plasmakonzentration von 3–4 Pg/ml eine ausreichende Hypnose sicherstellen. Entsprechend einem pharmakokinetisch orientierten Regime wird versucht, möglichst schnell eine Aufsättigung und anschließend einen konstanten ausreichenden hypnotischen Wirkspiegel zu erreichen. Dazu kann man sich einer manuell geregelten intravenösen Propofolapplikation mit »stepdown-regime« bedienen. Hierbei werden unmittelbar nach einem Bolus von 1 mg/kg KG für einen Zeitraum von 10 min 10 mg/kg KG u h, für weitere 10 min 8 mg/kg KGu h und dann weiter mit 6 mg/kg KG u h bis etwa 5 min vor Operationsende intravenös appliziert. Eleganter ist das TCI (Target controlled infusion)-Verfahren, bei dem eine mikroprozessorgesteuerte Pumpe entsprechend der eingestellten individuellen Patientendaten auf der Grundlage eines pharmakokinetischen Modells die Zielkonzentration erreichen und aufrechterhalten soll. Einschränkend muss konstatiert werden, dass unter TCI Abweichungen von bis zu 30 % zwischen errechneter und tatsächlich gemessener Propofolkonzentration gefunden wurden. Auf Grund der interindividuellen biologischen Variabilität ist allerdings zusätzlich auch noch mit einer erheblichen Streubreite der erforderlichen adäquaten Zielkonzentration zu rechnen. Wie schon ausgeführt, wird Propofol praktischerweise zur Narkoseinduktion in einer Dosierung von 1,5–2 mg/ kg KG als Bolus langsam appliziert. Dann wird die Zufuhr in einer Dosierung von 5–6 mg/kg KG u h kontinuierlich über Spritzenpumpe mit Bolusfunktion appliziert. Für die Dosierung ist zu beachten, dass 4 bei längeren Eingriffen aufgrund der kontextsensitiven Halbwertszeit die Dosierung nach etwa 1 h etwas zurückgenommen werden kann, 4 Frauen eher 10–20 % mehr als Männer benötigen und 4 der Propofolverbrauch bei älteren Menschen eher geringer zu sein scheint.
131 14.2 · Durchführung einer Allgemeinnarkose
Eine Zufuhr von 4 mg/kg KG u h bei älteren und 5 mg/ kg KG u h bei den übrigen Erwachsenen sollte nicht unterschritten werden. Dabei ist die individuelle Vorhersage sehr schwierig, sodass der Beurteilung einer ausreichenden Narkosetiefe bei der TIVA besondere Bedeutung zukommt. Im Rahmen der TIVA bietet sich als Analgetikum insbesondere Remifentanil an, welches als Esterase-metabolisiertes Medikament mit einer kontextsensitiven Halbwertszeit von nur 7 min und einer sehr geringen Hysterese sehr gut steuerbar ist. Auf Grund seiner sehr raschen Metabolisierung wird es nach einer Loading dose von 1,0 Pg/kg KG nahezu ausschließlich kontinuierlich appliziert. Dabei beträgt die Dosis 0,2 Pg/kg KG u min und wird bei Bedarf auf bis zu 1,0 Pg/kg KG u min gesteigert. Der besondere Reiz der Propofol/Remifentanil-Kombination liegt in der guten Steuerbarkeit. Wegen des fehlenden Analgetikaüberhangs in der direkten postoperativen Phase ist eine schon intraoperativ begonnene Schmerzprävention obligat. Neben lokoregionalen Analgesieverfahren bietet sich die intravenöse Applikation eines potenten Nichtopioids oder – bei entsprechenden Eingriffen – eines zusätzlichen Opioids an. Sufentanil kann aufgrund seiner guten Kinetik sowohl in Bolusform (0,2–0,5 mg/kg KG) als auch bei längeren Eingriffen kontinuierlich (0,5 Pg/ kg KG u h) eingesetzt werden. Die sehr lange kontextsensitive Halbwertzeit des Fentanyl lässt für dieses Opiat im Rahmen der Anästhesie eigentlich nur die Bolusapplikation (3 Pg/kg KG) mit 30-minütiger Repetition in halber Initialdosis bis 30 min vor OP-Ende zu, sofern keine Nachbeatmung geplant ist. Für Kurznarkosen (< 10–15 min) bedient man sich des Alfentanil mit einer Bolusdosis von 20 Pg/kg KG in Kombination mit Propofol in einer Bolusdosierung von 3 mg/kg KG. Eine Sonderform der TIVA stellt die Ataranalgesie, eine Kombination von Ketamin mit Midazolam oder Propofol dar. Für Kurznarkosen werden Midazolam in einer Dosis von 0,05 mg/kg KG oder Propofol in einer Dosis von 1 mg/ kg KG mit 1 mg/kg KG S(+)-Ketamin kombiniert und der Patient wird mit einer FiO2 von 0,5 in Luft augmentierend über Maske beatmet. Bei Bedarf kann nach 10 min die halbe Ketamin-Initialdosis repetiert werden. : Beispiel In der eigenen Klinik werden etwa 90 % aller Allgemeinnarkosen unabhängig vom Alter als TIVA durchgeführt. Dabei wird bei jugendlichen und erwachsenen Patienten folgendes Vorgehen praktiziert: Nach Injektion von 6
0,1 mg/kg KG Atracurium als »Priming dose« wird mit Beginn der kontinuierlichen intravenösen Gabe von 5–6 mg/kg KG u h Propofol und der kontinuierlichen Gabe von 0,2 Pg/kg KG u min Remifentanil ein Initialbolus von 1,5–2,0 mg/kg KG Propofol über 2 min verabreicht. Nach Verschwinden des Lidreflexes und Sicherstellung einer Beatmung über Maske er folgt die Relaxierung mit 0,4 mg/kg KG Atracurium und nach weiteren 2 min die Intubation. Die anschließende Ventilation er folgt mit einer FiO2 von 0,5 in einem Sauerstoff-Luft-Gemisch. Im weiteren Verlauf wird die Propofoldosierung beibehalten, sofern sich keine Zeichen unzureichender Hypnose zeigen, während die Analgetikadosierung dem wechselnden Schmerzniveau angepasst wird. Aus Kostengründen kann insbesondere bei längerem und gleichmäßig konstantem Analgesiebedarf auch mit Fentanyl als Bolus von 3 Pg/kg KG und Repetition etwa alle 30–40 min gestartet werden und erst später zu Remifentanil gewechselt werden. Um auf keinen Fall eine unzureichende Narkosetiefe zu übersehen, wird auf eine Relaxierung verzichtet, wo immer möglich. Eine schon intraoperativ durchgeführte präventive Analgetikainjektion von Nichtopioiden (z. B. Metamizol 15 mg/kg KG) und ggf. Opioiden (z. B. Dipidolor 0,1 mg/kg KG) bilden die Basis der postoperativen Schmerztherapie, sofern keine lokoregionalen Analgesieverfahren eingesetzt werden.
Gewährleistung einer ausreichenden Narkosetiefe Da »Awareness« in der Allgemeinnarkose eine Katastrophe darstellt, genießt die Sicherstellung einer ausreichenden Hypnose oberste Priorität. Bei der TIVA und der balancierten Anästhesie ist die Gefahr der intraoperativen Wachheit wegen der pharmakologischen Entkopplung von Hypnose und Analgesie größer als bei der reinen Inhalationsanästhesie. Die Steuerung der Narkosetiefe erfolgt primär anhand klinischer Parameter. So deuten sympathisch vermittelte Effekte wie Schwitzen, Mydriasis, Tränenfluss, Herzfrequenzund Blutdruckanstieg, gesteigerte Kohlendioxidproduktion bzw. -abatmung, aber auch die Zunahme von Muskeltonus, Lidreflexaktivität und Abwehrbewegungen bei nicht relaxierten Patienten auf eine dem jeweiligen Operationsstress nicht angepasste Narkosetiefe hin. Umgekehrt sind ausgeprägte Bradykardie, arterielle Hypotension, fallende Kapnometriewerte Hinweise auf eine möglicherweise zu tiefe Narkose. So findet eine Anpassung an den operativen Stress im Wesentlichen nur über eine Alteration der Analgetikadosierung statt, wohingegen die Hypnotika während des
14
132
Kapitel 14 · Praktische Durchführung der Allgemeinanästhesie
gesamten Eingriffs unverändert hoch dosiert bleiben, sei es nun die Applikation volatiler Anästhetika im Rahmen der balancierten Anästhesie oder von Propofol bei der TIVA. ! Auf Grund der biologischen Variabilität gibt es keine absolut sichere Dosis zur Vermeidung einer Awareness.
Deshalb bedient man sich zusätzlich prozessierter EEG-Analysen in Form der spektralen Eckfrequenz, der Medianfrequenz bzw. eines daraus abgeleiteten Narkosetiefeindexes, wie er z. B. beim Narcotrend oder durch Verrechnung der EEG-Daten mit statistisch-mathematischen Korrekturfaktoren als bispektraler Index (BIS) realisiert wurde. Zur Aufrechterhaltung einer adäquaten Narkosetiefe werden Narcotrend-Stadien zwischen E0 und D2 sowie ein Bis-Index zwischen 40 und 60 angestrebt. Diese Verfahren stellen zwar ebenso wie die Auswertung akustisch evozierter Potenziale eine große Hilfe dar, doch als alleinige Parameter bieten diese Überwachungsparameter trotz Validierung bis dato keine sichere Gewähr zum Ausschluss eines Awarenessphänomens. Erst in der Kombination des »klinischen Blickes« und der Interpretation der beschriebenen Monitor-Parameter ist eine Kombinationsanästhesie sicher und optimal steuerbar
14.2.7 Intraoperative Ventilation
14
Wegen der depressiven Wirkung der Narkotika auf das Atemzentrum und wegen der zentral muskelrelaxierenden Effekte der volatilen Anästhetika sollte selbst bei Kurzeingriffen eine alleinige Spontanatmung unterbleiben; es muss zumindest assistierend beatmet werden.Für länger dauernde Eingriffe ist in jedem Fall eine maschinelle Beatmung angezeigt. Mit einem Tidalvolumen von 8–10 ml/kg KG bei einer Minutenfrequenz von 6–8, einem Inspirations-/Exspirationsverhältnis von 1 : 2 und einem endexspiratorischen Beatmungsdruck (PEEP) von etwa 3–5 mbar wird eine alveoläre Ventilation angestrebt, die einem nicht atemantriebssteigernden PaCO2 von 32–34 mmHg entspricht und bei kardiopulmonal gesunden Patienten kapnographisch kontinuierlich erfasst werden kann. Abhängig von der Stoffwechselsituation oder bei externer CO2-Zufuhr, z. B. bei endoskopischen Eingriffen, muss das Atemminutenvolumen entsprechend angepasst werden. Eine adäquate Oxygenierung entsprechend einem PaO2 von etwa 80 mmHg sollte durch Wahl einer ausreichenden FiO2 sichergestellt werden. Die Oxygenierung lässt sich – gute Perfusionsverhältnisse vorausgesetzt – sehr gut pulsoxymetrisch erfassen; es ist eine Sättigung von mindestens 95 % anzustreben.Wegen der physikalischen Einflüsse des Frischgasflows auf den Patien-
ten, aber auch aus Kosten- und Umweltgründen werden, abgesehen von Ein- und Ausleitung, routinemäßig keine »High«-Frischgasflow-Narkosen (> 1 l/min), sondern nur noch »Low«-Frischgasflow- (0,5–1 l/min) und, sofern bei ausreichender Dichtigkeit des gasführenden Systems vertretbar, »Minimal«-Frischgasflow-Narkosen (< 0,5 l/min) durchgeführt. In Abhängigkeit vom Frischgasflow kann die erforderliche FiO2 zwischen 0,3 und 1,0 betragen. Bei der balancierten Anästhesie und der TIVA kann reiner Sauerstoff als Trägergas eingesetzt werden. Dies verbessert die Patientensicherheit infolge Vergrößerung des intrakorporalen Sauerstoffspeichers bei geplanten oder akzidentiellen Apnoephasen. Weiterhin gibt es keine Probleme mit der Entwicklung hypoxischer Gasgemische im Rahmen der Low- bzw. Minimal-Flow-Anästhesie. Außerdem lassen sich erhebliche technische und ökonomische Vorteile durch den Verzicht auf Lachgas realisieren. Als Kontraindikation einer Narkosebeatmung mit FiO2 von 1,0 gelten, sofern nicht für die Sicherstellung einer ausreichenden Oxygenierung notwendig, schwere entzündliche Lungenveränderungen, Narkose bei Patienten unter Mitomycin- und Bleomycin-Chemotherapie, Interventionen mit Laserlicht in Tubusnähe sowie Narkosen in der Neonatalphase. Wegen der Atelektasenbildung unter Ventilation mit 100 % Sauerstoff ist jedoch eine Beatmung mit einem PEEP von 5 mbar geboten. Intermittierend sind Rekruitierungsmanöver mit Atemwegsdrucken von 30–40 mbar für 7–10 s erforderlich, zumal zusätzlich bei Verwendung volatiler Anästhetika und Relaxierung die funktionelle Residualkapazität (FRC) abnimmt. ! Bei beeinträchtigten und unklaren kardiopulmonalen Verhältnissen ist die Aussagekraft der Kapnometrie erheblich geschmälert. Gestörte periphere Per fusionsverhältnisse können die Interpretation der Pulsoxymetriewerte unmöglich machen. Dann ist es sinnvoll, Ventilation und Oxygenierung an den Ergebnissen einer arteriellen Blutgasanalyse auszurichten.
14.2.8 Intraoperative Infusionstherapie Die intraoperative Infusionstherapie dient der Offenhaltung des Venenzugangs und dem Ausgleich des präoperativen Defizits an Flüssigkeit (Bedarf 1,5 ml/kg KG u h), des laufenden intraoperativen Basisbedarfs sowie der intraoperativen Verluste durch Verdunstung (pro °C ca. 3 ml/kg KG u h). Eingesetzt werden so genannte Vollelektrolytlösungen bzw. Ringer-Lakat-Lösungen. Sofern keine diabetische Komorbidität vorliegt und der Patient nicht direkt präoperativ
133 14.3 · Wärmemanagement
hochkalorisch intravenös ernährt wurde, sollte wegen des Postaggressions-Syndroms auf eine Infusion von Glukoselösungen verzichtet werden (7 Kap. 18 und Kap. 64). Der Ausgleich von Blutverlusten geringen Ausmaßes geschieht durch Infusion von Vollelektrolytlösungen. Zum Ausgleich größerer Volumendefizite sind kolloidale Lösungen unverzichtbar: Bis zu einem Verlust von 30 ml/kg KG bzw. bis zum Erreichen der kritischen Sauerstofftransportkapazität werden Plasmaersatzmittel auf Gelatine- bzw. Hydroxyethylstärke-Basis eingesetzt (7 Kap. 18). Die Indikation zur Bluttransfusion wird bei kardiopulmonal gesunden Patienten derzeit bei einem Hb-Wert von etwa 7,0 g/100 ml gesehen, sofern keine Symptome eines Sauerstoffmangels wie Herzfrequenzanstieg, Ischämiezeichen im EKG oder negativer Basenüberschuss in der BGA vorliegen. Im Zweifelsfall kann man sich – sofern ein zentralvenöser Katheter liegt – bei der Indikation zur Transfusion auch noch durch die zentralvenöse Sauerstoffsättigung leiten lassen. Diese entspricht unter klinischen Aspekten näherungsweise der gemischvenösen Sauerstoffsättigung und sollte 70 % keinesfalls unterschreiten. Eine Bilanzierung von Infusions- und Transfusionsmengen sowie von Blut und Sekretverlusten ist obligat. Liegt ein Urinkatheter, wie bei großen Eingriffen üblich, wird die Diurese ebenfalls überwacht; sie sollte 1,0 ml/kg KG u h nicht unterschreiten.
14.2.9 Intraoperative Relaxierung Die muskuläre Entspannung während eines Eingriffs kann das operative Vorgehen sehr erleichtern. Dies trifft insbesondere für intraabdominale Eingriffe und orthopädische/unfallchirurgische Maßnahmen mit Repositionsmanövern zu. Bei Anlage eines Kapnoperitoneums hilft die Relaxierung außerdem, dass Risiko kohlendioxydbedingter Komplikationen wie erhöhte CO2-Aufnahme ins Blut bis hin zur CO2-Embolisation zu minimieren und die aus einem erhöhten intraabdominalen Druck resultierenden Probleme wie Splanchnikusminderperfusion und erhöhter Beatmungsdruck mit den intrapulmonalen und hämodynamischen Konsequenzen zu reduzieren. Voraussetzung jeder Relaxierung ist jedoch immer eine ausreichende Narkosetiefe. Mit Mivacurium lässt sich durch kontinuierliche Zufuhr von ~ 6 Pg/kg KG u min im Anschluss an den Bolus zur Intubation eine 95 %ige Blockade der neuromuskulären Übertragung aufrechterhalten. Die anderen kompetitiven Blocker werden bolusweise repetiert. Die dazu erforderlichen Dosierungen entsprechen etwa der halben ED95 und die Repetitionsintervalle orientieren sich an klinischer Wirkdauer und dem Erholungsindex. Wegen einer
durch die volatilen Anästhetika vermittelten zentralen Muskelrelaxierung und Reflexminderung führt eine zusätzliche Muskelrelaxansgabe auf Grund der unterschiedlichen Ansatzpunkte zu einem Wirksynergismus, der eine Dosisreduzierung erlaubt. Hochdosierte Opioidgaben erhöhen eher den Muskeltonus. Zur adäquaten Steuerung der Relaxierung, insbesondere auch zur Sicherstellung einer genügenden Muskelaktivität am Ende der Narkose bedient man sich des neuromuskulären Monitorings. Klinisch kommt meist der Train of four (TOF) zur Anwendung. Der geeignete Extubationszeitpunkt ist erreicht, wenn die TOF-Ratio größer als 0,7 ist. ! Wird kein neuromuskuläres Monitoring eingesetzt, können unzureichende Atmung, Tachypnoe mit kleinen Tidalvolumen, aber auch Blinzeln, ungerichtete Extremitätenbewegung bei der Ausleitung, erste Hinweise auf einen Relaxansüberhang sein, der einer Antagonisierung mit einem Cholinesterasehemmer nach Vorgabe eines Vagolytikums bedarf: z. B. Atropin 0,01 mg/kg KG und Neostigmin 0,02 mg/kg KG.
14.3
Wärmemanagement
Inhalationsanästhetika verändern ebenso wie andere zentral wirkende Pharmaka die physiologischen Grenzwerte der Thermoregulation im Hypothalamus, weshalb es infolge ausbleibender Vasokonstriktion zum intraoperativen Verlust von Wärme kommt. Durch die den volatilen Anästhetika eigene Vasodilatation wird dieser Prozess noch verstärkt. Weiterhin wird die Wärmeproduktion durch die Allgemeinanästhesie intraoperativ um 10 % unter den Grundumsatz gesenkt. Als weitere Faktoren des Wärmeentzugs müssen noch Entblößung und Verdunstung angesehen werden. Eine Hypothermie führt zur Beeinträchtigung des kardiovaskulären und des Gerinnungssystems sowie zu erhöhter Inzidenz von Wundinfektionen. Daher kommt dem Wärmemanagement zur Aufrechterhaltung der Körpertemperatur eine ganz erhebliche Bedeutung zu. Durch Einschränkung des Wärmeverlusts mittels Isolierung der Körperoberfläche, durch Minderung des kalten Frischgasflusses im Narkosesystem, durch tubusnahe Zwischenschaltung von HME(Heat and moisture exchanger)-Filtern im Beatmungsschlauch sowie durch konvektive Wärmezufuhr kann die Körpertemperatur bei den meisten Patienten weitestgehend konstant gehalten werden. Die konvektive Wärmezufuhr ist das effektivste Verfahren. Operativ nicht tangierte Körperoberflächenbezirke werden mit einer Wärmedecke, die ein Luftpolster auf
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134
Kapitel 14 · Praktische Durchführung der Allgemeinanästhesie
der Körperoberfläche generiert, abgedeckt. Primär wird das Luftpolster auf 42° Grad Temperatur hochgefahren, anschließend wird die Wärmezufuhr entsprechend der gemessenen Körpertemperatur adaptiert. Dies setzt natürlich die Erfassung der Körperkerntemperatur voraus, die am genauesten durch Infrarotmessung am Trommelfell, als Ösophagustemperaturmessung oder als rektale Temperaturmessung durchgeführt werden kann.
14.4
14
Perioperative Analgesie
Nach jeder operativen Intervention ist aufgrund der Gewebstraumatisierung von postoperativen Schmerzen auszugehen. Diese werden am besten durch eine präventive Analgesie bereits prä- oder intraoperativ angegangen. Neben den verschiedenen Formen der lokoregionalen Analgesie durch Wundinstillation, Nerven- und Plexus- sowie neuroaxiale Blockaden, die oberste Priorität genießen, bietet sich die systemische Applikation von Nichtopioiden und Opioiden in Anlehnung an das WHO-Stufenschema an. Die Auswahl richtet sich zum einen nach der Art und Intensität der zu erwarteten Schmerzen und zum anderen nach den Begleiterkrankungen des Patienten. Sofern keine Kontraindikationen bestehen, kann man z. B. bei Bauchoperationen oder bei Eingriffen an den Hohlorganen eine Basisanalgesie mit Metamizol in einer Dosierung von 15 mg/ kg KG in Kombination mit Piritramid in einer Dosierung von 0,1 mg/kg KG intravenös, spätestens 30 min vor Operationsende einsetzen. Bei orthopädischen Eingriffen kann man den antiphlogistischen Effekt der nichtsteroidalen Antirheumatika ausnutzen, die schon mit der Prämedikation verabreicht werden. Bei Atopie bietet sich ein Ausweichen auf injizierbares Paracetamol an.
14.5
Ausleitung der Narkose
In aller Regel ist es das Ziel einer modernen Narkoseführung, die Patienten mit Ende der Operation aus der Allgemeinanästhesie spontanatmend extubiert und schmerzfrei erwachen zulassen, sofern nicht aus operativen und/oder morbiditätsbedingten Gründen bzw. weil die anvisierten Extubationskriterien nicht erreicht werden können, eine Nachbeatmung geplant ist.
14.5.1 Inhalationsanästhesie
tanatmung die Mundhöhle mit einem Absaugkatheter gesäubert, bei Bedarf auch endotracheal abgesaugt, die Tubusfixierung gelöst und beim ersten Hustenstoß der Tubus entfernt. Bei enoraler Blutung und Aspirationsgefahr erfolgt die Extubation erst, wenn die Schutzreflexe vollständig zurückgekehrt sind.
14.5.2 Balancier te Anästhesie Es ist notwendig, die verwendeten Substanzen in Abhängigkeit von ihrer Wirkkinetik zeitgerecht abzustellen, ohne dass ein klinisch apparenter Hypnotika-, Opioid- und/oder Relaxansüberhang auftritt. Ansonsten drohen Atemdepression, unzureichender Gasaustausch mit konsekutiver Hypoxie und Hyperkapnie sowie fehlender Schutzreflexaktivität. Auf Bolusgaben von Opioiden und Relaxanzien wird deshalb in den letzten 30 min vor dem erwarteten Operationsende verzichtet. Nach pharyngealer und ggf. endobronchialer Absaugung in noch ausreichend tiefer Narkose werden die volatilen bzw. intravenösen Anästhetika schrittweise reduziert, die FiO2 auf 1,0 erhöht, und sofern keine spezielle Aspirationsgefahr droht, bei ausreichender Spontanatmung (Tidalvolumen > 5ml/kg KG, Atemfrequenz > 7 < 15/min, SpO2 > 95 %) extubiert. Dazu wird unter Blähung der Lungen die Tubusfixierung gelöst, die Blockermanschette entleert und anschließend der Tubus herausgezogen. Werden die Extubationskriterien nicht erreicht, da der Patient frequent flach atmet, ist von einem Relaxanzienüberhang auszugehen, der einer Antagonisierung mit einem Cholinesterasehemmer bedarf. Ein solcher Relaxanzienüberhang lässt sich zuverlässig durch konsequenten Einsatz des neuromuskulären Monitorings verhindern. Im Falle eines Hypnotika- bzw. Opioidüberhangs wird der Patient nachbeatmet, bis die obigen Extubationskriterien erreicht sind, eine Antagonisierung ist nur selten angezeigt. Entschließt man sich jedoch ausnahmsweise zur Antagonisierung, wird Naloxon langsam intravenös bis zum Erwachen titriert und anschließend in gleicher Dosis subkutan appliziert. Im weiteren Verlauf ist dann eine intensive Überwachung indiziert, weil der Antagonist erheblich kürzer wirken kann als die Effektorsubstanz und dann ein »silent death«, eine unbemerkte Atemdepression droht. Eine annähernd normale Körpertemperatur ist eine weitere Voraussetzung zur erfolgreichen Extubation.
14.5.3 Totalintravenöse Anästhesie Zur Ausleitung wird unter reduzierter Gaskonzentration mit hohem Flow und einer inspiratorischen Sauerstofffraktion (FiO2) von 1,0 unter wieder einsetzender Spon-
Das Procedere ist im Wesentlichen das gleiche wie bei der balancierten Anästhesie beschrieben. Auch hier wird auf
135 14.6 · Postoperative Überwachung, Analgesie und Symptomkontrolle
Bolusgaben von Fentanyl resp. Sufentanil und Relaxanzien in den letzten 30 Minuten vor dem erwarteten Operationsende verzichtet. Nach pharyngealer und ggf. endobronchialer Absaugung in noch ausreichend tiefer Narkose werden Propofol etwa 15 min vor dem beabsichtigten Extubationszeitpunkt auf 3 mg/kg KG u h reduziert und bei Operationsende der Propofolperfusor ebenso wie die Remifentabilzufuhr abgestellt, nachdem zuvor die FiO2 auf 1,0 erhöht. Bei ausreichender Spontanatmung wird der Patient extubiert.
in Anlehnung an das »Apfel-Schema«, eine antiemetische Therapie eingeleitet. Neben Vermeidung von volatilen Anästhetika, Stickoxydul und alternativem Einsatz von Propofol haben sich 5-HT3-Rezeptorantagonisten (z. B. Dolasetron in einer Dosis von 1 mg/kg KG i.v.) oder Kortikoide (z. B. Dexamethason in einer Dosis von 0,1 mg/kg KG i.v.) bewährt.
Postoperative Überwachung, Analgesie und Symptomkontrolle
Infolge Auskühlens insbesondere nach Einsatz von Inhalationsanästhetika ist häufig ein postoperatives Kältezittern zu beobachten, häufiger bei jungen als bei älteren Patienten. Da dies nicht nur subjektiv unangenehm ist, sondern auch in einer Phase potenziell noch gestörten Gasaustauschs mit einem deutlich gesteigerten Sauerstoffverbrauch einhergeht, sollte dieser Temperaturregulationsstörung umgehend begegnet werden: Entweder durch intravenöse Applikation von 1 Pg/kg KG Clonidin (bei Inkaufnahme eines Blutdrucksabfalls) sowie einer sedierenden Komponente oder durch 0,5–1,0 mg/kg KG Pethidin; parallel dazu wird der Patient aktiv gewärmt.
14.6
Die operations- und anästhesietypischen pathophysiologischen Veränderungen in der postoperativen Phase, aber auch ihre Interferenz mit den vorbestehenden Komorbiditäten können zu typischen Komplikationen führen, die zu ihrer Erkennung und Verhinderung einer vorübergehenden kurzfristigen intensiven klinischen und apparativen Überwachung bedürfen. Dazu sind im so genannten Aufwachraum alle personellen und technischen Voraussetzungen bis hin zur eventuellen Notfallbehandlung vorzuhalten. Eine weitere Bedingung, um dieser Aufgabe gerecht zu werden, ist eine präzise und vollständige Informationsweitergabe bei der Übernahme des Patienten aus dem Operationssaal. Jeder Patient wird postoperativ im Aufwachraum solange betreut und hinsichtlich Hämodynamik, Gasaustausch, Sensorik, Körpertemperatur, Blut- und Sekretverlusten überwacht, bis sich stabile Verhältnisse eingestellt haben und der Patient zeitlich und örtlich voll orientiert ist. Bei Problemen bzw. Nichterreichen der schriftlich fixierten Zielvorgaben, z. B. nach dem Aldrete Score, wird entsprechend reagiert und der Anästhesist und/oder der Operateur informiert. Sind die Probleme nicht nachhaltig im Aufwachraum zu lösen, wird der Patient auf die Intensivstation verlegt.
14.6.1 Analgesie Außerdem dient der Aufwachraum auch der Weiterführung, ggf. Optimierung einer schon intraoperativ begonnenen Analgesie möglichst anhand feststehender Regime und unter Zuhilfenahme von Schmerzerfassungssystemen wie z. B. VAS (visuelle Analogskala).
14.6.3 Shivering
14.6.4 Agitation Ist der Patient agitiert, ist primär eine Hypoxämie auszuschließen. Schmerzen, aber auch Dehydratation, Harnverhalt, zerebrale Perfusionsstörung und Medikamentenentzug können dieses Symptom ebenfalls hervorrufen. Sind die kausalen Behandlungsmöglichkeiten ausgeschöpft, so kann die fraktionierte Gabe von Clonidin hilfreich sein.
14.6.5 Verzöger tes Er wachen Neben einem Narkoseüberhang ist hier insbesondere eine Hypoglykämie auszuschließen. Ein »Zentrales anticholinerges Syndrom« (ZAS) führt durch den zentralen Mangel an Azetylcholin zu Desorientiertheit, Somnolenz, aber auch Tachykardie, Mydriasis und Hautrötung. Durch titrierende intravenöse Applikation von Physostigmin lässt sich die Azetylcholinkonzentration im synaptischen Spalt erhöhen und das ZAS aufheben. Weiterhin müssen in diesem Zusammenhang auch hirnorganische Schädigungen erwogen werden.
14.7 14.6.2 PONV Zur Behandlung der postoperativen Übelkeit und des Erbrechens wird bei entsprechender Risikokonstellation, z. B.
Dokumentation des Narkoseverlaufs
Alle während der Narkose erhobenen Messdaten, alle applizierten Medikamente inklusive Dosierung sowie alle
14
136
Kapitel 14 · Praktische Durchführung der Allgemeinanästhesie
am Patienten vorgenommenen Maßnahmen sind in einen 5-minütigen Zeitraster zu protokollieren, inklusive der »Anästhesiologischen Verlaufsbeobachtungen« (AVB) mit ihren Schweregraden. Dabei ist es gleichgültig, ob dies manuell oder automatisch elektronisch erfolgt. Die schriftliche Erfassung erstreckt sich auch auf die Verlaufsbeobachtung nebst durchgeführter Maßnahmen im Aufwachraum. Jedes Dokument ist in Kopie der Patientenakte beizulegen, während das Original beim Anästhesisten verbleibt und den Vorschriften entsprechend aufbewahrt werden muss. Die Dokumentation muss sorgfältig und vollständig erfolgen, denn am Narkoseprotokoll orientiert sich nicht nur der weitere Behandlungsverlauf im Aufwachraum und auf der Station, sondern an diesen Aufzeichnungen muss sich der Anästhesist im Rahmen forensischer Auseinandersetzungen messen lassen und seine Vorgehensweise rechtfertigen.
14.8
Narkoseeinleitung bei Aspirationsgefährdung
Von einer erhöhten Aspirationsgefährdung ist auszugehen bei 4 fehlender Nüchternheit, 4 mechanischer und funktioneller Magenentleerungsstörung (Ileus, Subileus, diabetische Polyneuropathie), 4 erhöhtem intraabdominalen Druck auf Grund von Adipositas, Tumor, Aszites, Schwangerschaft ab II. Trimenon, 4 gastroösophagealem Reflux, 4 Emesisneigung, gesteigertem Hirndruck, 4 Intoxikation.
14
Wegen der hohen Morbidität nach Aspiration werden elektive Operationen bei fehlender Nüchternheit verschoben. Hier ist zu beachten, dass Stress die Magenentleerungszeit erheblich verlängern kann. Ist der Eingriff unaufschiebbar bzw. lässt sich die Aspirationsgefährdung nicht kausal beheben, dann wird eine so genannte »Blitz-Intubation«, vielfach auch als Rapid sequence induction bezeichnet, notwendig. Diese spezielle Modifikation der oben beschriebenen Anästhesieeinleitung besteht aus folgenden Schritten: Bei mechanischen Störungen wird präanästhesiologisch im Wachzustand eine Magensonde gelegt, um den Mageninhalt zu entfernen. Diese ist jedoch nur für die Absaugung dünnflüssiger Sekrete geeignet. Wegen der Minderung des unteren Ösophagusverschlussdrucks durch die einliegende Magensonde wird diese nach Ableiten der Sekrete vor Narkoseeinleitung wieder entfernt. Effektiver ist
eine so genannte Ballon-Magensonde, denn sie verhindert durch Okklusion der Kardia ein Aufsteigen des Mageninhalts und somit eine Aspiration. Die Ballon-Magensonde ist kontraindiziert bei kardianahen Tumoren und bei Hiatusgleithernie. Relative Kontraindikationen bestehen bei Ösophagusperforation, Ösophagusvarizen sowie ösophagogastraler Tumorokklusion. Die Ballon-Magensonde bleibt liegen, der Ballon wird intragastral aufgebläht und während der Narkoseeinleitung in geblähtem Zustand gegen die Kardia gezogen, sodass es zu einem mechanischen Verschluss des gastroösophagealen Übergangs kommt. Bei Wahleingriffen werden zur Minderung der Magensaftazidität und der Magensaftmenge H2-Blocker, jeweils 12 h und 1 h präoperativ verabreicht, z. B. Cimetidin 200 mg/75 kg KG intravenös. Kontrovers wird die Applikation von Natriumcitricum (z. B. 30 ml 0,3 molar) zur Anhebung des Magensaft-pH-Werts diskutiert, da es auf der einen Seite zu einer Erhöhung des intragastralen Volumens führt, aber auf der anderen Seite keine volle Abpufferung des Mageninhalts garantiert. Durch Applikation von Metoclopramid können rasch der untere Ösophagussphinktertonus erhöht und mit einem gewissen Zeitverzug auch ein propulsiver Effekt im Gastrointestinaltrakt erzielt werden. Bei Emesisneigung, z. B. durch zentrale Stimulation des Brechzentrums oder bei gesteigertem Hirndruck, ist die Applikation eines Antiemetikums (z. B. Dexamethason 0,2 mg/kg KG) oder eines 5-HT3-Serotoninantagonisten hilfreich. Vor Einleitung der Narkose ist zusätzlich zur Überprüfung des gesamten Equipments die Bereitstellung eines leistungsstarken großlumigen Saugers sowie von zusätzlichen Intubationshilfen notwendig; ebenso sollte ein Volumenund Elektrolytausgleich stattgefunden haben. Der Patient wird mit um 40° erhöhtem Oberkörper und dem Kopf in verbesserter Jackson-Position gelagert. Nach Präkurarisierung wie oben beschrieben wird mit dicht aufgesetzter Maske und einer FiO2 von 1,0 präoxygeniert. Frühestens 3 min später werden 5 mg/kg KG Thiopental appliziert. Parallel dazu wird Succinylcholin in einer Dosierung von 1,5 mg/ kg KG verabreicht. Eine Ventilation findet nicht statt, die weitere Oxygenierung erfolgt durch apnoische Ventilation. Durch eine Hilfskraft wird der Sellick-Handgriff, also die Kompression des Ösophagus durch Druck des Krikoids in Richtung Halswirbelkörper, ausgeführt. Nach Erlöschen des Lidreflexes wird mit einsetzender Relaxierung intubiert und umgehend der Cuff geblockt. Danach erfolgt die Lagekontrolle des Tubus. Anschließend werden der Patient beatmet, eine neue Magensonde gelegt und der Cuffdruck kontrolliert. Bei Kontraindikationen für Succinylcholin
137 Literatur
kann bei nur unwesentlich längerer Anschlagzeit auch Rocuronium in dreifacher ED 95 eingesetzt werden. Sollte es trotz dieser Maßnahmen zu einer Aspiration kommen, sind Bronchoskopie und Beatmung mit erhöhtem endexspiratorischem Druck sowie postoperative Röntgenkontrolle der Lunge obligat.
Literatur Baum J, von Bormann B, Meier J, van Aken H (2004) Sauerstoff als Trägergas in der klinischen Anästhesie, Anaesth Intensivmed 45: 124–135 Diefenbach C (1999) Neuromuskuläres Monitoring während Anästhesie und Operation, Urban und Schwarzenberg München Ghoneim MM (2001) Awareness during anesthesia, Butter worth/Heinemann Oxford Auckland Holas A (1996) Intravenöse und totalintravenöse Anästhesie, Thieme Stuttgart, New York Loscar M, Conzen P (2004) Volatile Anästhetika, Anaesthesist 53: 183–197 Wilhelm W, Kreuer S (2003) Das interpretier te EEG als Über wachungsver fahren in der Anästhesiologie, Anästh Intensivmed 44: 8–15
14
15 Atemwegsmanagement Ansgar Brambrink, Sandra Kurz 15.1 Verfahren zur Einschätzung der Schwierigkeit der Atemwegssicherung –140 15.2 Basismaßnahmen zur Atemwegssicherung –141 15.3 Auswahl des richtigen Verfahrens zur Atemwegssicherung während der Allgemeinanästhesie –142 15.4 Endotracheale Intubation –143 15.4.1 Rapid sequence induction –145 15.4.2 Besonderheiten der endotrachealen Intubation im Kindesalter –145
15.5 Extratracheale/supraglottische Hilfsmittel –146 15.5.1 Larynxmaske –146 15.5.2 Larynxtubus –147 15.5.3 Combitube und Easytube –147
15.6 Fiberoptische Intubation –148 15.7 Maßnahmen bei schwieriger Atemwegssicherung in der Anästhesie –149 Literatur –156
140
Kapitel 15 · Atemwegsmanagement
15.1
)) Die Sicherung der Atemwege ist eine der wichtigsten Aufgaben des klinisch tätigen Anästhesisten. Der deutsche Chirurg Friedrich Trendelenburg führte 1869 die erste bekannte Narkose durch, bei der ein Patient endotracheal intubiert wurde. Im Jahre 1900 publizierte Franz Kuhn seine Aufzeichnungen über eine Reihe von Endotrachealintubationen. Kuhn platzierte den Beatmungstubus schon damals unter direkter Sicht auf den Larynx mittels eines »Autoskops«. Dieses Autoskop wurde später von Chevalier Jackson verbessert und in Laryngoskop umbenannt. Die Weiterentwicklung und Verfeinerung der Intubationsmethoden führten J. W. Magill und Robert R. Macintosh während des Ersten Weltkriegs fort. Im deutschsprachigen Raum hingegen setzte sich die Intubationsnarkose erst etwa 50 Jahre später durch [n. Brand 1997]. Im perioperativen Bereich, ebenso wie in der Intensivmedizin und bei der Versorgung von Notfallpatienten gilt auch derzeit die endotracheale Intubation als »golden standard« zur Atemwegssicherung. Allerdings stehen neben dem Endotrachealtubus heute weitere Instrumente zur Atemwegssicherung zur Verfügung, die insbesondere als Alternative im Notfall oder bei kurzdauernden chirurgischen Eingriffen in der klinischen Anästhesie Anwendung finden (z. B. die Larynxmaske), oder für den Einsatz bei Schwierigkeiten mit der Atemwegssicherung konzipiert sind, wie beispielsweise Fiberendoskope oder der Kombitubus.
Ver fahren zur Einschätzung der Schwierigkeit der Atemwegssicherung
Intubationsschwierigkeiten sind unter klinischen Bedingungen zwar relativ selten, kommt es jedoch zu Schwierigkeiten bei der Sicherung der Atemwege (»can’t intubate«) und ist gleichzeitig eine Maskenbeatmung nicht möglich (»can’t ventilate«), kann es zur Hypoxie, ggf. mit resultierenden neurologischen Schäden – im schlimmsten Fall sogar mit Kreislaufversagen und Tod – kommen. In 1–4 % der Fälle sind mehrere Versuche bis zur erfolgreichen Intubation nötig. Oftmals ist ein Wechsel des Laryngoskopspatels (andere Spatelgröße bzw. andere Spatelform) hilfreich. Bei durchschnittlich einer von 2 000 Narkoseeinleitungen ist weder eine Intubation noch eine Maskenbeatmung möglich (»can’t ventilate, can’t intubate«). ! Präoperativ muss daher stets aufgrund von Anamnese und körperlicher Untersuchung beurteilt werden, ob eine schwierige Intubation zu erwarten ist. 7 Kap. 13
Im Rahmen der anästhesiologischen Voruntersuchung wird bei jedem Patienten überprüft, ob Hinweise für einen schwierig zu intubierenden Atemweg vorliegen (. Abb. 15.1). Von besonderer Bedeutung ist die sorgfältige Erhebung einer diesbezüglichen Anamnese (z. B. frühere Intubationsschwierigkeiten, familiäre Besonderheiten, zurückliegende Operationen bzw. akute Erkrankungen im Mund-Halsbereich, spezielle Zahn-Mund-Kieferprobleme
Grad 2
Grad 1
Nur hintere Kommissur sichtbar.
Der größte Teil der Glottis ist sichtbar.
15
→ vermutlich keine Intubationsschwierigkeiten, Erleichterung ggf. durch externe Manipulation am Larynx
→ keine Intubationsschwierigkeiten zu erwarten
Grad 4
Grad 3 Nur Epiglottis sichtbar. → endotracheale Intubation unter direkter Sicht nicht möglich
Nur weicher Gaumen einsehbar. Epiglottis nicht sichtbar. → schwierige Intubation, zu erwartende Zusatzinstrumente bereitstellen
. Abb. 15.1. Beschreibung der Intubationsbedingungen nach Cormack und Lehane (1984) mit Konsequenzen für zukünftige Intubationsversuche unter Narkose
141 15.1 · Verfahren zur Einschätzung der Schwierigkeit der Atemwegssicherung
Mallampati I
Mallampati II
weicher Gaumen, Uvula, vorderes und hinteres Tonsillenbett sichtbar
weicher Gaumen und Uvula sichtbar
Mallampati III
Mallampati IV
weicher Gaumen und Basis der Uvula sichtbar
weicher Gaumen nicht sichtbar
etc.). Kam es bei früheren Intubationen zu Schwierigkeiten, sind die Patienten in der Regel darüber informiert. In einigen Kliniken werden diesen Patienten nach Intubationsschwierigkeiten Ausweise mit detaillierter Beschreibung ausgehändigt. Viele Narkoseprotokolle fordern, die während der Laryngoskopie sichtbaren anatomischen Leitlinien mittels des Cormack/Lehane-Scores zu dokumentieren. Mithilfe dieser Information kann vor einer erneuten Narkose die Schwierigkeit nachfolgender Intubationen recht gut eingeschätzt werden. ! Besondere Vorsicht ist allerdings bei tumorösen Neubildungen oder nach rekonstruktiven Operationen im Bereich der Mund- und Halsregion geboten.
Der Test nach Mallampati kann helfen, das Risiko für unvorhergesehene Probleme bei der endotrachealen Intubation zu reduzieren (. Abb. 15.2). Zusätzlich kann die Bestimmung des Abstands zwischen der Prominentia laryngica des Schildknorpels und der Kinnspitze (< 6,5 cm: direkte Laryngoskopie schwierig) und der Messung des Sterum-Kinn-Abstands (< 12 cm: vermutlich schwierige Laryngoskopie) die Vorhersagekraft für eine schwierige Intubation erhöhen. Selbstverständlich stellen eine eingeschränkte Mundöffnung (< 5 cm) oder stark vorstehende obere Schneidezähne ein ernstzunehmendes Hindernis für eine konventionelle Laryngoskopie dar. Beachtet werden sollte darüber hinaus, ob eine Mikrognathie (proportional zu kleiner Unterkiefer), ein ausgeprägter Halsumfang (> 60 cm) oder eine Einschränkung der Halswirbelsäulenbeweglichkeit (< 80°) auffallen. Intubationsschwierigkeiten können auch durch intrathorakale Verlegung der Atemwege (z. B. durch Schilddrüsenhyperplasie, Thymus-Tumore, Lymphome) resultieren, die mit den beschriebenen Tests nicht erfasst werden. Auch Veränderungen der Trachea wie
. Abb. 15.2. Durchführung und Beurteilung des Tests nach Mallampati (1983)
z. B. Trachealstenosen, Tracheomalazien, gefäßbedingte Engen sowie ggf. eine schwere Tracheobronchitis können eine Intubation erschweren und entgehen den oben genannten Tests. Keiner der Tests kann Probleme bei der Maskenbeatmung voraussagen. Als grundsätzlich schwierig gilt diese bei bärtigen Patienten. Schließlich gelten Patienten mit einem BMI > 30 kg/m2 auch in Bezug auf das Atemwegsmanagement als Risikopatienten. Ergeben sich klare Hinweise auf mögliche Schwierigkeiten bei der Intubation, sollte abgeschätzt werden, ob der geplante Eingriff in Regionalanästhesie durchführbar ist. Ist dies der Fall, sollte dem Patienten ein geeignetes regionales Betäubungsverfahren nahe gelegt werden. Dennoch müssen Vorbereitungen für ein »schwieriges Atemwegsmanagement« im Notfall oder falls die Regionalanästhesie nicht ausreicht, getroffen werden. Sollte der Patient trotz ausführlicher Aufklärung ein regionales Narkoseverfahren ablehnen oder ein solches aus operationstechnischen Gründen nicht möglich sein, gilt eine elektive fiberoptische Intubation des wachen Patienten als Methode der Wahl. ! Bei einem vermuteten schwierigen Atemweg sollte, soweit möglich, ein regionales Betäubungsver fahren gewählt bzw. eine elektive fiberoptische Intubation des wachen Patienten durchgeführt werden.
15.2
Basismaßnahmen zur Atemwegssicherung
Das einfachste Hilfsmittel zur Beatmung ist die Gesichtsmaske. Sie wird ohnehin in der Regel vor allen weiteren Maßnahmen zur Atemwegssicherung eingesetzt (Ausnahme: Rapid sequence induction) und ist in Notfallsituationen
15
142
Kapitel 15 · Atemwegsmanagement
. Abb. 15.3. Verbesserte Jackson-Position. Durch Anheben des Kopfes und Streckung im Atlantookzipitalgelenk kommen Mundhöhle, Pharynx und Glottis auf einer Ebene zu liegen (siehe rote Linie), dadurch wird eine direkte Sicht auf den Kehlkopf erreicht.
nen Oropharyngealtubus (Guedel-Tubus) oder Nasopharyngealtubus (Wendel-Tubus) eine Verbesserung erreicht werden (. Abb. 15.4). Allerdings ist die Maskenbeatmung kein sicheres Verfahren des Atemwegsmanagements. Bei Verwendung erhöhter Atemwegsdrücke besteht die Gefahr der Mageninsufflation mit dem Risiko einer Aspiration, ggf. auch eines Laryngospasmus. Voraussetzung für eine suffiziente Maskenbeatmung ist eine freie Mundhöhle. Unter klinisch-anästhesiologischen Bedingungen ist in der Regel davon auszugehen, dass der Mund-Rachenraum frei von Fremdkörpern ist. Bei Notfallpatienten sowie bei nicht nüchternen Patienten muss unter Umständen Sekret aus dem Mund-Rachenraum abgesaugt werden, bevor eine Maskenbeatmung initiiert werden kann (Absauganlage, wann immer möglich unter laryngoskopischer Sicht). ! Trägt der Patient bewegliche Zahnprothesen, so sollten diese stets vor Narkoseeinleitung herausgenommen werden.
15.3
. Abb. 15.4. Guedel-Tuben (rechts) und Wendeltuben (links)
15
geeignet, die Zeit bis zur Verfügbarkeit weiterer Hilfsmittel zu überbrücken. Um eine suffiziente Beatmung zu gewährleisten, muss die verwendete Maske optimal an das Gesicht des Patienten angepasst sein. Sie sollte so gewählt werden, dass Mund und Nase umschlossen werden. Sowohl zu große, als auch zu kleine Beatmungsmasken erlauben keinen dichten Abschluss zur Anatomie des Gesichts, woraus häufig eine insuffiziente Ventilation resultiert. Für den Erfolg einer Maskenbeatmung ist auch die Position des Patientenkopfs von großer Bedeutung. Durch die Lagerung auf einem leicht erhöhten Kissen (»Schnüffelstellung« bzw. »verbesserte Jackson-Position«, . Abb. 15.3) werden die Atemwege gestreckt. Die Halswirbelsäule wird dabei leicht anteflekiert und der Kopf im Atlantookzipitalgelenk nach dorsal geneigt (= Reklination). Der Zungengrund wird so angehoben und die Beatmungsluft kann sich frei zwischen Mund und Larynx bewegen. Gelingt eine Beatmung trotz optimaler Kopfposition und richtig gewählter Maskengröße nicht, kann durch ei-
Auswahl des richtigen Ver fahrens zur Atemwegssicherung während der Allgemeinanästhesie
Bei aspirationsgefährdeten Patienten besteht eine absolute Indikation zur endotrachealen Intubation nach Einleitung der Narkose. Grundsätzlich sollten nicht nüchterne Patienten, Schwangere ab der 12. Schwangerschaftswoche sowie Patienten mit akuten intraabdominellen Prozessen (Ileus, Appendizitis etc.) endotracheal intubiert werden. Aus demselben Grund ist bei allen Oberbauch- und Thoraxeingriffen sowie bei Patienten mit gastro-ösophagealem Reflux, Niereninsuffizienz und verzögerter Magenentleerung (z. B. Zustand nach Trauma oder Intoxikation) die endotracheale Intubation zur Atemwegssicherung indiziert. Bei akuten oder chronischen Lungenkrankheiten (z. B. COPD) ist perioperativ typischerweise eine Intubation der Trachea indiziert, da unter Umständen erhöhte Beatmungsdrücke über 20–25 cm H2O erforderlich werden und ohne Endotrachealtubus die Gefahr besteht, dass Luft in den Magen insuffliert wird. Als Alternative zur endotrachealen Intubation gibt es seit einigen Jahren auch extratracheale Hilfsmittel zur Sicherung der Atemwege in der Anästhesie. Eine herausragende Rolle spielt die seit Anfang der 90er Jahre des letzten Jahrhunderts auch in Deutschland verfügbare Larynxmaske (LMA; . Abb. 15.5). Heute ist die LMA in vier verschie-
143 15.4 · Endotracheale Intubation
. Abb. 15.5. ProSeal-Larynxmaske mit Einführhilfe und Cuff-Deflator
vorragend für den Einsatz bei Atemwegsnotfällen geeignet sind. Voraussetzung für den elektiven Einsatz von Larynxmaske und Larynxtubus ist, dass der Patient nüchtern ist. Sowohl die Larynxmaske als auch der Larynxtubus schützen nicht sicher vor einer Aspiration. Die klassische Larynxmaske ist für kurze operative Eingriffe in Rückenlage geeignet. Sie kann so z. B. in der Allgemeinchirurgie bei Leisten- und Narbenhernien-Operationen, Entfernung von Hauttumoren, Varizen-Operationen und Amputationen eingesetzt werden. In der unfallchirurgischen Anästhesie hat sie ihr Einsatzgebiet bei Repositionen, Osteosynthesen, Bandrekonstruktionen und Arthroskopien. Auch bei kurzdauernden Eingriffen in der Gynäkologie ohne Kontakt zum Peritoneum (z. B. kleine Operationen an Brust oder Vagina, u. a. auch bei Zerklage in der Frühschwangerschaft) können Larynxmaske oder Larynxtubus zur Atemwegssicherung eingesetzt werden. In der Urologie sind ESWL, transurethrale Resektion (TUR) von Blase oder Prostata, Zirkumzision, sowie Hodenoperationen unter Verwendung von Larynxmaske oder Larynxtubus durchführbar. Weiterhin sind auch radiologische Untersuchungen bzw. strahlentherapeutische Behandlungen in Narkose sehr gut mit einer Larynxmaske zur Atemwegssicherung möglich. Als Vorteil der LMA, insbesondere für den ambulanten Operationssektor gilt, dass die LMA ohne Verwendung von Muskelrelaxanzien platziert werden. Es können auf diese Weise ggf. kürzere Wechselzeiten erreicht werden. In Notfallsituationen, in denen weder eine Intubation noch eine Maskenbeatmung möglich ist, kann die LMA eine Option zur Oxygenierung darstellen, bis schließlich eine endgültige Atemwegssicherung beispielsweise unter Einsatz einer Fiberoptik gelingt.
15.4
. Abb. 15.6. Combitube mit Blockerspritzen für den Oropharyngealballon (groß) und distalen Ballon (klein)
denen Ausführungen (LMA classic, LMA fast trach, LMA proseal, LMA flexible) für unterschiedliche Anwendungssituationen erhältlich. Seit kurzem wird auch der Larynxtubus (VBM Medizintechnik GmbH, Sulz, Deutschland) für vergleichbare Situationen beworben. Weitere Hilfsmittel zur Atemwegssicherung stellen z. B. der Combitube (. Abb. 15.6) und der Easytube dar, die her-
Endotracheale Intubation
Der Beatmungstubus kann grundsätzlich durch den Mund oder durch die Nase platziert werden. Vor dem Einsatz muss stets das komplette Instrumentarium zur endotrachealen Intubation überprüft werden. Am anästhesiologischen Arbeitsplatz schließt dieser Gerätecheck immer auch die Kontrolle der regelgerechten Funktion von Beatmungsund Absaugvorrichtung ein. Für Frauen werden in der Regel Endotrachealtuben mit einem Innendurchmesser (ID) von 7,0–8,0 mm, für Männer solche mit einem ID von 7,5–8,5 mm vorbereitet. Vor Narkoseeinleitung ist eine ausreichende Präoxygenierung mit reinem Sauerstoff über eine dicht sitzende Gesichtsmaske unbedingt zu empfehlen, um die tolerable
15
144
15
Kapitel 15 · Atemwegsmanagement
Apnoezeit zu verlängern. Zur endotrachealen Intubation sollte der Patientenkopf auf einem Intubationskissen gelagert werden (verbesserte Jackson-Position, 7 Abschnitt 2 – Basismaßnahmen zur Atemwegssicherung). Des Weiteren muss eine ausreichende Narkosetiefe zur Durchführung der endotrachealen Intubation gewährleistet sein. Nach Narkoseeinleitung und vor der Gabe von Muskelrelaxanzien muss überprüft werden, ob der Patient gut über eine Gesichtsmaske zu beatmen ist. Nur wenn eine suffiziente Maskenbeatmung möglich ist, darf ein Muskelrelaxans verabreicht werden. Bis zu dessen Wirkungseintritt wird die Maskenbeatmung weitergeführt, bis schließlich die Laryngoskopie vorgenommen werden kann. Zur Laryngoskopie stehen verschiedene Spateltypen zur Verfügung. Im Erwachsenenalter wird hauptsächlich der gebogene Spatel (nach Macintosh), im Kindesalter auch der gerade Spatel (nach Miller) verwendet. Der gerade Spatel hat besonders im Kindesalter den Vorteil, dass die Epiglottis mit aufgeladen werden kann und dadurch ggf. die Intubation erleichtert wird. Die Laryngoskopspatel sind in den Größen 0 (Frühgeborene) bis 5 (sehr große Erwachsene) erhältlich. Die Laryngoskopie eines Erwachsenen wird in der Regel mit Hilfe eines Macintosh-Spatels der Größe 3 durchgeführt. Lassen sich die anatomischen Strukturen nicht gut darstellen, sollte eine größere oder kleinere Spatelgröße verwendet werden bzw. auf eine andere Spatelform (z. B. Miller-Spatel) zurückgegriffen werden. Bei der Laryngoskopie mittels eines Macintosh-Spatels wird dieser mit der linken Hand geführt, während der Endotrachealtubus mit der rechten Hand platziert wird. Der Spatel wird unter ständiger Sichtkontrolle vom rechten Rand der Mundöffnung an der Zunge entlang in Richtung Epiglottis geführt. Die Zunge wird dabei durch den Spatel nach links gedrängt. Die Spitze eines gebogenen Spatels sollte zwischen Zungengrund und Epiglottis platziert werden. Jetzt erfolgt ein Zug am Laryngoskopgriff in Richtung Mundboden, dadurch kommt es zum Aufrichten der Epiglottis und es kann der dahinter liegende Kehlkopfeingang dargestellt werden. Bei Verwendung von geraden Spateln (Miller-Spatel) wird die Epiglottis üblicherweise von der Spatelspitze aufgeladen und angehoben. Beim Zug am Laryngoskopgriff ist unbedingt darauf zu achten, dass keine Hebelbewegung ausgeführt wird. Nur so können Verletzungen und Schäden an den Schneidezähnen des Oberkiefers vermieden werden. Unter normalen anatomischen Bedingungen wird durch das dargestellte Manöver die komplette Glottis sichtbar und der Endotrachealtubus kann unter Sicht durch die Stimmritze eingeführt werden. Nach Blocken des Cuffs erfolgt die beidseitige Auskultation über der rechten und linken Lungenspitze sowie über
den basalen Lungenarealen. Zum Ausschluss einer Fehlintubation in den Ösophagus kann zusätzlich eine Auskultation über dem Epigastrium erfolgen, bei der keine Beatmungsgeräusche zu hören sein sollten. ! Cave Fehlinterpretationen der Lungenauskultationen sind durch Fortleitung eines ösophagealen Geräuschs bei Kindern und sehr schlanken Erwachsenen möglich.
Besteht der Verdacht auf eine endobronchiale Intubation (Tubus zu tief, einseitiges Atemgeräusch), so wird der Tubus nach Entblocken zentimeterweise vorsichtig zurückgezogen und die Auskultation wiederholt. Nach korrekter Lage des Tubus wird dieser zur Vermeidung von Dislokationen mit einem speziellen Fixierband, einer Mullbinde bzw. mit Pflasterstreifen fixiert. Die seitliche Markierung des Tubus dient zur Feststellung, wie weit der Tubus in die Trachea vorgeschoben wurde. Idealerweise soll die Tubusspitze etwa in der Mitte der Trachea zu liegen kommen. Bei Männern beträgt der Abstand zwischen Tracheamitte und oberen Zahnreihe typischerweise 23, bei Frauen 21 cm. Dennoch: Nur die direkte Inspektion des Tubusverlaufs durch die Stimmbänder und die Kontrolle mittels fiberoptischer Bronchoskopie sind sichere Verfahren zur Überprüfung der richtigen Tubuslage. Die endexspiratorische CO2-Messung wird als nahezu sicheres Intubationszeichen gewertet, während die Auskultation der Lunge, die Thoraxexkursion sowie das Beschlagen der Tubusinnenwand mit Atemfeuchtigkeit als indirekte und somit unsichere Verfahren zur Überprüfung der Tubuslage gelten (. Tab. 15.1). Typische Risiken der endotrachealen Intubation sind Verletzungen der Stimmbänder mit Granulom- und Ulzerationsbildung. Darüber hinaus werden nicht selten Zahnschäden (häufig durch Hebelbewegungen), Verletzungen der Aryknorpel, Glottisödem sowie Blutungen und Schwellungen im Oropharyngealraum und der Glottis beobachtet. Bei Verwendung eines Führungsstabs (in der Regel bei jeder Rapid sequence induction) besteht das Risiko für eine Verletzung der Trachea. Die Spitze des Führungsstabs sollte daher nicht über das Tubusende hinaus ragen. ! Eine einseitige Intubation erfordert unmittelbare Korrektur, da sonst eine Totalatelektase der nicht belüfteten Lungenseite resultieren kann. Bei versehentlicher ösophagealer Intubation besteht die Gefahr der Regurgitation von Magensaft, unter Umständen mit tracheopulmonaler Aspiration. Eine sofortige Korrektur dieser Situation ist notwendig.
145 15.4 · Endotracheale Intubation
. Tabelle 15.1. Sichere, nahezu sichere und unsichere Intubationszeichen Sicher
Nahezu sicher
Unsicher
Direkte Laryngoskopie und Inspektion des Tubusverlaufs durch die Stimmbänder
Detektion von endexspiratorischem Kohlendioxid mittels 5 Kapnographie 5 Kapnometrie 5 Farbindikatoren
Auskultatorisches Atemgeräusch
Verwendung eines flexiblen Intubationsfiberskops zur Darstellung typischer Strukturen
Thoraxexkursion
Beschlagen der Tubusinnenwand
15.4.1 Rapid sequence induction Ziel der Rapid sequence induction (RSI) ist die Vermeidung der trachealen Aspiration von Magensekret bei der Narkoseeinleitung entsprechend gefährdeter Patienten. Die RSI unterscheidet sich von der normalen Narkoseeinleitung insoweit, dass nach mindestens fünfminütiger Präoxygenierung und anschließender intravenöser Narkoseeinleitung keine Maskenbeatmung durchgeführt wird. Während der RSI wird der Patient mit erhöhtem Oberkörper gelagert und es muss eine ständige Absaugbereitschaft (großer Absaugschlauch) gewährleistet sein. Mit Beginn der Wirkung der Einleitungsmedikation (Bewusstseinsverlust) übt ein Helfer zur Reduktion des Regurgitationsrisikos Druck auf das Krikoid aus und komprimiert so den Ösophagus (Sellick-Handgriff ). Nach Gabe des Opioids und des Hypnotikums erfolgt unmittelbar im Anschluss die Gabe des depolarisierenden Muskelrelaxans Succinylcholin. Bestehen Kontraindikationen gegen die Gabe von Succinylcholin, so kann alternativ das schnell wirksame, nicht-depolarisierende Muskelrelaxans Rocuronium (Esmeron) verwendet werden. Dabei ist zu beachten, dass Rocuronium im Vergleich zu Succinylcholin eine längere Anschlagzeit (1,5 min bei Gabe von 0,9 mg/kg KG i.v. versus 45–60 s bei Succinylcholin) hat. Die endotracheale Intubation wird bei der RSI mit Führungsstab und Krikoiddruck (Sellick-Handgriff ) durchgeführt. Nach Intubation wird der Endotrachealtubus umgehend geblockt und erst nach Blockung und Sicherstellung der richtigen Tubuslage darf die Ösophaguskompression beendet werden, um bei einer möglichen Tubusfehllage eine sofortige Korrektur unter bestehendem Aspirationsschutz vornehmen zu können. Die RSI wird bei nicht nüchternen Patienten, die endotracheal intubiert werden müssen, angewendet (z. B. bei
Verdacht auf akutes Abdomen bei traumatisierten Patienten, um das deutlich erhöhte Aspirationsrisiko zu minimieren). Weiterhin besteht die Indikation zur RSI bei Ileus, oberer gastrointestinaler Blutung, Magenatonie, Pylorusstenose, Hiatushernie, Refluxösophagitis, Ösophagusdivertikeln, Ösophagusatresie sowie bei Schwangeren ab dem 2. Trimenon. Auch bei Patienten mit dekompensierter Niereninsuffizienz, alkoholisierten und komatösen Patienten sowie bei Patienten mit erhöhtem Hirndruck sollte eine RSI durchgeführt werden.
15.4.2 Besonderheiten der
endotrachealen Intubation im Kindesalter Je kleiner ein Endotrachealtubus ist, umso höher ist der resultierende Atemwegswiderstand. Daher besteht insbesondere bei kleinen Kindern und Säuglingen das Ziel, bei einer notwendigen Beatmung einen Tubus mit möglichst großem Innendurchmesser einzusetzen. Derzeit werden bei kleinen Kindern Tuben ohne Cuff empfohlen, da sie bei gleichem Außendurchmesser einen größeren Innendurchmesser und damit einen höheren Luftfluss bieten. Zur Bestimmung der richtigen Tubusgröße bei Verwendung von Endotrachealtuben ohne Cuff eignet sich die nachfolgende Formel:
Innerer Durchmesser in mm =44+
Alter >Jahre @ 4
Zu beachten ist, dass stets der nächst kleinere Tubus bereitliegen sollte, falls der nach der Formel berechnete zu groß ist und sich nicht vorschieben lässt. Bei Kindern ist, anders als beim Erwachsenen, der Ringknorpel die engste Stelle der Atemwege, sodass der Tubus in manchen Fällen
15
146
Kapitel 15 · Atemwegsmanagement
die Stimmritze passieren kann, dann aber vor dem Ringknorpel (nicht sichtbar) stecken bleibt. Die geeignete Größe von Endotrachealtuben mit Cuff kann mit einer entsprechend modifizierten Formel ermittelt werden (nach Khine et al. 1997):
Innerer Durchmesser in mm = 3+
Alter >Jahre @ 4
Neben der Berechnung der Tubusgröße empfiehlt sich zusätzlich die orientierende Kontrolle durch Vergleich des Tubusdurchmessers mit dem Durchmesser des kleinen Fingers des Kindes. Beide sollten in etwa übereinstimmen.
15.5
Extratracheale/supraglottische Hilfsmittel
15.5.1 Larynxmaske
15
Die Larynxmaske (LMA) ist seit 1991 in Deutschland eingeführt. Die Standard-Larynxmaske ist derzeit in acht verschiedenen Größen verfügbar. Sie kann daher in allen Altersgruppen (Neugeborene bis hin zum großen Erwachsenen) eingesetzt werden. Neben der Standard-Larynxmaske (LMA classic) sind derzeit drei weitere Varianten der Larynxmaske erhältlich. Die flexible Larynxmaske findet derzeit aufgrund eines drahtverstärkten Spiraltubus hauptsächlich in der HNO und Zahn-Mund-Kiefer-Chirurgie ihre Anwendung. Die Fastrach-Larynxmaske erlaubt eine endotracheale Intubation durch die Larynxmaske hindurch und ist daher in Notfallsituationen ein gut geeignetes Hilfsmittel zur Atemwegssicherung. Die ProSeal-Larynxmaske gewährleistet eine verbesserte pharyngeale Abdichtung zur Trachea und ermöglicht so einen Beatmungsdruck bis zu 40 cm H20. Darüber hinaus verfügt sie über einen zusätzlichen Kanal, durch den das Absaugen von Mageninhalt möglich ist. Wie alle Hilfsmittel zur Atemwegssicherung sollte auch die Larynxmaske vor ihrem Einsatz auf äußere Beschädigungen und auf Dichtigkeit des Cuffs überprüft werden. Für die entsprechenden Altersgruppen gibt es spezielle Larynxmasken in den Größen 1 (bis 5 kg Körpergewicht) bis Größe 5 (über 100 kg Körpergewicht; . Tab. 15.2). Der Patient sollte vor Einsetzen einer Larynxmaske ebenfalls ausreichend präoxygeniert werden. Die Narkoseeinleitung erfolgt typischerweise mit einem Opioid und einem Hypnotikum. Als Hypnotikum hat sich insbesondere Propofol als vorteilhaft erwiesen, da es neben der hypnotischen Wirkung auch eine Reflexdämpfung im Mund- und
. Tabelle 15.2. Zur Verfügung stehende LMA-Größen und korrespondierendes Körpergewicht sowie das jeweils maximale Füllvolumen des Cuffs LMA-Größe
Patientengewicht
Maximales Füllvolumen des Cuffs
1
bis 5 kg
bis 4 ml
1,5
5–20 kg
bis 7 ml
2
10–20 kg
bis 10 ml
2,5
20–30 kg
bis 14 ml
3
30–50 kg
bis 20 ml
4
50–70 kg
bis 30 ml
5
70–100 kg
bis 40 ml
6
über 100 kg
bis 50 ml
Rachenraum bewirkt. Eine Muskelrelaxierung ist nicht kontraindiziert, aber zum Einsatz der Larynxmaske nicht erforderlich. Der Kopf des Patienten sollte, wie bei der endotrachealen Intubation, leicht erhöht gelagert werden. Nach vorsichtiger Reklination des Patientenkopfs wird der Mund geöffnet und die Larynxmaske eingeführt. Zur Erleichterung kann auch ein Helfer den Patientenmund öffnen (z. B. durch »Esmarch«-Handgriff ). Die Larynxmaske wird unter Kontakt zum Gaumen an der Rachenwand entlang in den Hypopharynx vorgeschoben. Der Zeigefinger des Anwenders dient dabei als Führungshilfe. Die Larynxmaske ist richtig platziert, wenn die Spitze im oberen Ösophagussphinkter und die Seitenteile in den Recessi piriformes liegen. Zum Einsetzen der Larynxmaske wird vom Hersteller empfohlen, die Luft im Cuff vollständig zu entfernen. Manche Anwender haben jedoch auch mit leicht »vorgeblockten« Larynxmasken gute Erfahrungen gemacht. Nachdem die LMA platziert ist, wird der Cuff mit Luft gefüllt. Beim Füllen des Cuffs richtet sich die Larynxmaske meist etwas auf, passt sich dabei den anatomischen Strukturen im Rachenraum des Patienten besser an und schließt diese praktisch vollständig luftdicht gegenüber der Trachea ab. Die Überprüfung der richtigen Maskenlage erfolgt über einen Nachweis einer adäquaten Beatmung bzw. durch Ausschluss eines Luftlecks. Wichtig sind auch hier die CO2Messung sowie die Auskultation über beiden Lungen. Die LMA kann bei Spontanatmung, aber auch bei assistierter oder kontrollierter Beatmung verwendet werden.
147 15.5 · Extratracheale/supraglottische Hilfsmittel
. Tabelle 15.3. Farbcodierungen der Larynxtubengrößen mit korrespondierenden Patientengewichten und Füllungsvolumina der Cuffs LarynxtubusGröße
Farbe
Patientengewicht
Füllvolumen des Cuffs
0
natur
bis 6 kg
6 ml
1
weiß
6–15 kg
7 ml
2
grün
15–30 kg
7 ml
3
gelb
30–60 kg
10 ml
4
rot
50–90 kg
10 ml
5
violett
über 85 kg
10 ml
(»can’t intubate – can’t ventilate«) eine bedeutende Rolle spielen. Der Larynxtubus ist ein Einzellumentubus. Er ist am distalen Ende verschlossen und trägt an der Spitze einen kleinen Niederdruckcuff, mit dem der Ösophagus verschlossen wird. Am mittleren Teil besitzt er einen größeren Cuff, der den Pharynx nach proximal abdichtet. Beide Cuffs sind über einen gemeinsamen Pilotschlauch verbunden. Die Ventilation des Patienten erfolgt durch eine ventrale Öffnung zwischen den beiden Cuffs in den Pharynx, von wo die Atemluft durch die geöffnete Stimmritze in die Trachea gelangt. Der aus Silikon bestehende Larynxtubus ist wiederverwendbar (ca. 50-mal autoklavierbar) und steht derzeit in sechs Größen zur Verfügung (. Tab. 15.3).
15.5.3 Combitube und Easytube
. Abb. 15.7. Larynxtubus der Größe 4 (rot) mit einer Blockerspritze für den Oropharyngealballon und den distalen Ballon. Das benötigte Blockvolumen ist bei dieser speziellen Spritze an der farbigen Markierung ablesbar.
Der Beatmungsdruck sollte dabei so gering wie möglich sein (< 20 cm H20, Öffnungsdruck des distalen Ösophagussphinkter), um das Risiko einer Mageninsufflation (ggf. Regurgitation) so weit wie möglich zu reduzieren.
15.5.2 Larynxtubus Der Larynxtubus (VBM Medizintechnik GmbH, Sulz, Deutschland; . Abb. 15.7) stellt eine mögliche Alternative zur Verwendung der LMA als Atemwegssicherung bei kurz dauernden operativen Eingriffen dar. Aufgrund seiner ausgesprochen einfachen Handhabung könnte er in Zukunft insbesondere bei der Bewältigung von Atemwegsnotfällen
Combitube (Tyco-Kendall, Neustadt) und Easytube (Fa. Rüsch, Kernen) sind ebenfalls Instrumente zur Sicherung der Atemwege in Notfallsituationen. Beide sind Doppellumentuben und können nach Platzierung in der Trachea oder im Ösophagus zu liegen kommen. Sowohl nach ösophagealer als auch nach trachealer Platzierung ist eine Beatmung möglich. Beide sollten – wenn unmittelbar verfügbar – mittels Laryngoskop eingeführt werden, grundsätzlich ist aber auch eine »blinde« Platzierung möglich. Der Combitube steht in zwei Größen zur Verfügung (37 F für Erwachsene mit einer Körpergröße zwischen 120 cm und 185 cm; 41 F für Patienten über 185 cm). Er ist damit für kleine Kinder ungeeignet. Der Combitube wird beim Einführen entlang der Zunge vorgeschoben, bis die Ringmarke zwischen den Zähnen zu liegen kommt. Der blaue Schlauch dient der Blockung des Oropharyngealballons, während der weiße Schlauch mit dem distalen Ballon verbunden ist. Bei blinder Intubation kommt der Combitube in der Regel im Ösophagus zu liegen. Daher sollte die erste Beatmung über den längeren blauen Konnektor erfolgen. Bei positiver Auskultation über beiden Lungen und endexspiratorischem CO2-Nachweis wird die Beatmung fortgesetzt. Die Luft gelangt in diesem Fall über eine Perforation im Schlauchsystem in den Hypopharynx und durch Cuffblockung gegenüber dem Ösophagus und dem Mundrachenraum weiter durch die offene Epiglottis in die Trachea. Der weitere Kanal dient im Falle der ösophagealen Lage der Dekompression des Magens und ermöglicht das Absaugen von Magensaft. Bei negativer Auskultation über der Lunge und fehlendem endexspiratorischem CO2 wird über den kürzeren
15
148
Kapitel 15 · Atemwegsmanagement
15.6
. Abb. 15.8. Abb. Easytube mit Blockerspritzen für den Oropharyngealballon (farbiges Ventil) und distalen Ballon (farbloses Ventil)
15
Konnektor beatmet. Sind Auskultation und endexspiratorische CO2-Messung jetzt positiv, ist der Combitube mit der Spitze in der Trachea positioniert. Ist über beide Konnektoren keine Beatmung möglich, so ist der Combitube in der Regel zu tief eingeführt und sollte etwas zurückgezogen werden und der Thorax anschließend erneut auskultiert werden. Der Easytube (. Abb. 15.8) kann als Weiterentwicklung des Combitube verstanden werden. Detailverbesserungen (z. B. distale Öffnungen beider Lumen, daher Instrumentierung der Trachea möglich) lassen ihn vorteilhaft erscheinen. Allerdings ist er derzeit noch wenig untersucht. Sein Einsatzgebiet wird – ähnlich wie beim Combitube – anatomische Varianten, Frakturen des Gesichtsschädels sowie, im notfallmedizinischen Bereich, schwer zugängliche Patienten (z. B. eingeklemmte Patienten) umfassen. Auch der Easytube ist in zwei Größen (28 Ch, ID = 5,0 mm; 41 Ch, ID = 7,5 mm) für Patienten ab einer Körpergröße von 90 cm bzw. 130 cm erhältlich. Der Easytube sollte beim Einführen in einem flachen Winkel zur Frontalebene entlang der Zunge vorgeschoben werden. Die ringförmige Markierung (= Orientierungshilfe) sollte in Höhe der Zahnreihe bzw. des Alveolarkamms zu liegen kommen. Bei der blinden Einführung kommt – wie auch beim Combitube – die Spitze des Easytube mit hoher Wahrscheinlichkeit im Ösophagus zu liegen. Die Ventilation zur Lagekontrolle sollte daher bei der blinden Intubation (ohne Laryngoskop) initial über den farbig markierten Ansatz erfolgen. Die Lagekontrolle und Korrektur des Easytube erfolgt ähnlich wie beim Combitube sowie entsprechend grundsätzlicher Empfehlungen zur Atemwegssicherung (CO2Nachweis, Auskultation). Durch einen Kontraststreifen ist auch eine radiologische Lagekontrolle möglich.
Fiberoptische Intubation
Die fiberoptische Intubation ist das sicherste Verfahren zur Atemwegssicherung bei erwartet und unerwartet schwierigen Atemwegen. Es ist grundsätzlich möglich, einen nur gering sedierten Patienten mit erhaltenen Schutzreflexen und Spontanatmung fiberoptisch zu intubieren. Darüber hinaus kann die fiberoptische Intubation auch bei bereits narkotisierten bzw. bewusstlosen Patienten neben anderen alternativen Verfahren zur Notfall-Atemwegssicherung (wie z. B. Larynxmaske und Combitube) zum Einsatz kommen. Die Vermeidung von intubationsbedingten Zahnschäden ist eine weitere Indikation für den Einsatz einer Fiberoptik. Etwa 10 min vor Intubation sollte der Patient eine lokale Schleimhautanästhesie und abschwellende Nasentropfen (Blutungsprophylaxe durch Vasokonstriktion) erhalten. Wie vor jeder Intubation wird der Patient ausreichend präoxygeniert und erhält während der Intubationsmaßnahmen Sauerstoff über eine Nasensonde. Die Durchführung der Endoskopie erfolgt in der Regel erst nach Analgosedierung mit einem Opioid (z. B. bei Erwachsenen 0,05–0,1 mg Fentanyl i.v. sowie ein kurz wirksames Benzodiazepin), während der Patient spontan atmet. Die fiberoptische Intubation kann sowohl oral als auch nasal durchgeführt werden.
Nasale fiberoptische Intubation Bei nasaler fiberoptischer Intubation wird die Optik durch die Nasenöffnungen in den unteren Nasengang eingeführt und unter Sicht dann durch die Choane in den Oropharynx vorgeschoben. Nach Identifikation der Epiglottis wird die Spitze der Fiberoptik vorsichtig bis zum Larynxeingang manövriert und es erfolgt eine Lokalanästhetikagabe durch den Arbeitskanal (z. B. Lidocain 1–2 %; max. 4 mg/kg KG; »Spray-as-you-go«-Technik; Hustenreiz möglich; 1–2 min Einwirkzeit). Nach Erreichen des jetzt anästhesierten subglottischen Raums und weiterem Vorschieben des Instruments durch die Stimmritze, wird die Trachea anhand der charakteristischen Trachealringe identifiziert. Hier erfolgt die zweite Gabe des Lokalanästhetikums. Nach Wirkungseintritt wird der Endotrachealtubus (Spiraltuben sind besonders geeignet) über die liegende Fiberoptik in die Atemwege vorgeschoben. Nach Platzierung des Endotrachealtubus wird die Fiberoptik bis zur Karina vorgeschoben und der Abstand zwischen Karina und Tubusspitze ermittelt. Dieser sollte beim Erwachsenen 3–5 cm betragen. Nach Lagekontrolle (endtidales CO2, bilaterales Atemgeräusch) wird die Narkose mit einem schnell wirksamen
149 15.7 · Maßnahmen bei schwieriger Atemwegssicherung in der Anästhesie
Hypnotikum eingeleitet (z. B. 2 mg/kg KG Propofol oder 0,2 mg/kg KG Etomidate). Einige Kliniker verabreichen bereits während der Nasenpassage des Endotrachealtubus das Hypnotikum, um dem Patienten die Prozedur zu erleichtern. Dabei besteht jedoch das Risiko, die Kontrolle über die Atemwege zu verlieren, falls die Fiberoptik z. B. beim Vorschieben des Tubus aus der Trachea rutscht. Die Blockung des Endotrachealtubus sollte erst nach Narkoseeinleitung und Sistieren der Atmung erfolgen, um eine zusätzliche Atemwegswiderstandserhöhung durch den Cuff zu vermeiden. Bis zur abschließenden Fixierung muss der Tubus manuell fixiert werden, um eine Dislokation zu vermeiden.
Atemweg, wird nach ausreichender Präoxygenierung die Narkose in üblicher Weise eingeleitet. Ist eine Maskenbeatmung möglich (ggf. unter Ver wendung eines GuedelTubus und/oder mit Hilfe einer zweiten Person), erfolgt die Gabe eines Muskelrelaxans. Nach Abwarten der Anschlagzeit des Muskelrelaxans erfolgt die endotracheale Intubation unter laryngoskopischer Sicht. Sind die Maßnahmen erfolgreich, wird die Narkose wie geplant fortgesetzt. Liegen hingegen Hinweise auf mögliche Intubationsschwierigkeiten vor, sollte eine Regionalanästhesie bzw. – wenn dies nicht möglich ist – eine fiberoptische Intubation des wachen Patienten durchgeführt werden.
Orale fiberoptische Intubation
! Wenn nach Narkoseeinleitung mittels Opioid und Hypnotikum unerwartet keine Maskenbeatmung möglich und diese auch unter Verwendung geeigneter Hilfsmittel wie z. B. Guedel-Tubus bzw. mit Hilfe einer zweiten Person nicht gelingt, besteht eine akute Notfallsituation. Jetzt darf kein Muskelrelaxans verabreicht werden!
Die orale fiberoptische Intubation unterscheidet sich von der nasalen durch die zusätzliche Verabreichung von 3 Sprühstößen Lidocain 4 % in den Rachenraum. Zum Schutz der Fiberoptik sollte der Patient bei der oralen fiberoptischen Intubation stets einen Beißschutz erhalten (gut geeignet ist z. B. das Mundstück nach Ovapassian). Die Optik wird dann durch das Mundstück oral eingeführt und nach Identifikation der Epiglottis erfolgen alle weiteren Maßnahmen wie für die nasale Intubation beschrieben. Ein durch eine zweite Person durchgeführter Esmarchscher Handgriff kann den Mundrachenraum vergrößern und so die Übersicht auf die anatomische Struktur verbessern.
15.7
Maßnahmen bei schwieriger Atemwegssicherung in der Anästhesie
Im folgenden Abschnitt werden Lösungsansätze zur Bewältigung einer schwierigen Atemwegssicherung im Rahmen der klinischen Anästhesie vorgestellt. Treten nach der Narkoseeinleitung unerwartet Schwierigkeiten bei der Atemwegssicherung ein, so ist sicheres und unverzügliches Handeln indiziert. Dazu wurde an der Klinik für Anästhesiologie der Johannes-Gutenberg-Universität Mainz ein entsprechender Algorithmus entwickelt, der Maßnahmen und Techniken für einen situationsspezifischen Einsatz empfiehlt. Ausgehend vom Standardvorgehen der Atemwegssicherung (Basis-Algorithmus der Atemwegssicherung, . Abb. 15.9) beschreiben die Teilalgorithmen A–D (. Abb. 15.10, 15.11 und 15.12) das Vorgehen bei verschiedenen Problemen im Verlauf der Atemwegssicherung bis hin zur chirurgischen Intervention. Besteht nach sorgfältiger Anamnese und klinischer Untersuchung kein Verdacht auf einen schwierigen
An erster Stelle sollte ein Intubationsversuch ohne Muskelrelaxierung erfolgen und ein weiterer erfahrener Anästhesist zur Hilfe gerufen werden. Bei Misserfolg sollte entsprechend des Notfallalgorithmus eine Atemwegssicherung mittels Intubationslarynxmaske, Verwendung eines Combitube oder oraler Fiberoptik erfolgen. Die Wahl des entsprechenden supraglottischen Hilfsmittels erfolgt entsprechend der persönlichen Präferenz und Erfahrung des verantwortlichen Anästhesisten. Kommt es nach Narkoseeinleitung, erfolgreicher Maskenbeatmung und medikamentöser Muskelrelaxation dagegen unerwartet zu der Situation, dass keine laryngoskopische Intubation möglich ist, wird der Patient weiter über die Gesichtsmaske beatmet. Durch die Möglichkeit den Patienten kontinuierlich via Maskenbeatmung zu oxygenieren, besteht ausreichend Zeit, eine geeignete Maßnahme zur Lösung des Problems zu suchen. Ausgangspunkt des Teilalgorithmus A (. Abb. 15.10) ist die Situation, dass nach der Narkoseeinleitung der Patient unerwartet nicht mit der Maske beatmet werden kann. Für den Patienten ist diese Situation bedrohlich. Durch Präoxygenierung bleiben beim gesunden Patienten 3–5 min, um eine Atemwegssicherung zu versuchen (inkl. Verbesserung der Lagerung, Guedel-Tubus etc.), ohne dass es zu durch Hypoxämie bedingten Störungen von Organfunktionen (Nulllinien-EEG, Kreislaufdepression etc.) kommt. Stärker gefährdet sind in dieser Situation allerdings Patienten mit eingeschränktem Residualvolumen bzw. erhöhtem Sauerstoffbedarf.
15
150
Kapitel 15 · Atemwegsmanagement
. Abb. 15.9. Basis-Algorithmus Atemwegssicherung
15
Ist initial auch keine endotracheale Intubation möglich, besteht unmittelbarer Handlungsbedarf. Alternative Verfahren der Atemwegssicherung, wie z. B. der Combitube, die Intubationslarynxmaske (Fasttrach-LMA) oder ein Fiberendoskop müssen nun zum Einsatz kommen. Ist die Oxygenierung des Patienten durch die Larynxmaske oder den Combitube sichergestellt, kann entschieden werden, ob eine endotracheale Intubation für den vorgesehenen operativen Eingriff unbedingt notwendig ist (Teilalgorithmus C, . Abb. 15.12). Bei gelungener fiber-
optischer Intubation kann die Narkose wie üblich fortgesetzt werden. ! Cave Gelingt durch das gewählte Ausweichverfahren (LMA, Combitube, Fiberoptik) keine Oxygenierung, besteht akute Lebensgefahr für den Patienten. In dieser Situation sollte kein weiteres alternatives Atemwegshilfsmittel probiert werden, sondern es muss unmittelbar eine chirurgische Atemwegssicherung erfolgen.
151 15.7 · Maßnahmen bei schwieriger Atemwegssicherung in der Anästhesie
. Abb. 15.10. Atemwegssicherung, Teilalgorithmus A
Der Teilalgorithmus B (. Abb. 15.11) beginnt, falls nach Einleitung einer Allgemeinanästhesie und medikamentöser Muskelrelaxation unerwartet keine laryngoskopische Intubation möglich ist, der Patient jedoch über die Gesichtsmaske adäquat oxygeniert werden kann. In dieser Situation besteht durch die Möglichkeit der Maskenbeatmung ausreichend Zeit, um mittels unterschiedlicher Verfahren eine endotracheale Intubation zu versuchen. Zunächst sollte ein erfahrener Anästhesist hinzugezogen werden. Dieser kann einen weiteren Versuch unternehmen, die Trachea des Patienten konventionell laryngoskopisch zu intubieren. Gelingt dies nach 1–2 weiteren Versuchen nicht, können spezielle Laryngoskopspatel (z. B. der McCoy-Spatel) bzw. Führungshilfen (z. B. ein Bonfils-Endoskop, COOK-Airway exchange catheter), die fiberoptische Intubation oder eine Intubationslarynxmaske zum Einsatz kommen. Die verschiedenen Techniken können in dieser Situation unter Umständen hintereinander versucht werden. Zwischen den verschiedenen Intubationsversuchen muss jedoch intermittierend stets eine suffiziente Maskenbeatmung möglich sein. Primäres Ziel ist die suffizi-
ente Oxygenierung des Patienten und erst in zweiter Linie die endotracheale Intubation. Beachtet werden sollte auch, dass weitere erfolglose Versuche den Atemweg in der Regel zusätzlich traumatisieren, sodass weitere Lösungsversuche z. B. mittels Fiberoptik im Verlauf immer schwieriger werden. Bei erfolgreicher Sicherung des Atemwegs mittels Intubationslarynxmaske muss auch hier entschieden werden, ob der geplante operative Eingriff eine endotracheale Intubation erfordert. Ist dies notwendig, kann der Endotrachealtubus über die Larynxmaske direkt bzw. unter Zuhilfenahme eines Fiberendoskops platziert werden (Teilalgorithmus C; . Abb. 15.12). Ist keines der Verfahren erfolgreich und verlangt das operative Vorgehen eine längerfristige Atemwegssicherung, wird empfohlen, den Patienten zur Spontanatmung zurückkehren und aufwachen zu lassen. Gegebenenfalls muss in diesem Fall die Operation verschoben werden, alternativ kann eine elektive fiberoptische Intubation im Wachzustand zur Atemwegssicherung bei der nächsten Narkoseeinleitung versucht werden.
15
152
Kapitel 15 · Atemwegsmanagement
. Abb. 15.11. Atemwegssicherung, Teilalgorithmus B
15 Der Teilalgorithmus C (. Abb. 15.12) beschreibt das weitere Vorgehen in einer Situation, in der sich nach Einleitung einer Allgemeinanästhesie ein unerwartetes Problem bei der Sicherung der Atemwege ergab, das jedoch zunächst durch Platzierung einer Intubationslarynxmaske oder eines Kombitubus erfolgreich bewältigt werden konnte, sodass eine ausreichende Oxygenierung und Beatmung des Patienten möglich ist. Falls zur Durchführung der Operation eine definitive endotracheale Intubation notwendig ist (z. B. für einen Oberbaucheingriff oder einen neurochirurgischen Eingriff), sollte das weitere Atemwegsmanagement unter Verwendung eines Fiberendoskops versucht werden.
Patienten, die initial mittels Intubationslarynxmaske versorgt wurden, werden durch deren Lumen unter Verwendung einer Fiberoptik und eines entsprechend geeigneten, vom Hersteller mitgelieferten Tubus (passende Größe, ausreichende Biegsamkeit etc.) endotracheal intubiert. Ist die endotracheale Intubation abgeschlossen, kann die Intubationslarynxmaske über den liegenden Endotrachealtubus vorsichtig entfernt werden. Nach initialer Verwendung eines Combitube kann die fiberoptische Intubation nasal bzw. oral, vorbei am pharyngealen Ballon des Combitube erfolgen. Kann hingegen der geplante operative Eingriff auch unter Verwendung einer supraglottischen Atemwegssicherung für
153 15.7 · Maßnahmen bei schwieriger Atemwegssicherung in der Anästhesie
. Abb. 15.12. Atemwegssicherung, Teilalgorithmus C
den Patienten sicher durchgeführt werden (Art des Eingriffs, Lokalisation, Dauer etc.), sollte die Narkose unter Verwendung des bereits etablierten Atemwegs fortgesetzt werden. Der Teilalgorithmus D (. Abb. 15.13) beschreibt das Vorgehen für die »can´t ventilate – can´t intubate«-Situation, bei der eine Atemwegssicherung und Oxygenierung nicht mittels eines der im Teilalgorithmus A vorgeschlagenen Verfahren erreicht werden kann. ! Cave In dieser für den Patienten lebensbedrohlichen Situation ist eine sofortige chirurgische Intervention zur Sicherung der Atemwege und Wiederherstellung einer ausreichenden Oxygenierung indiziert. Es sollten keine weiteren alternativen Verfahren versucht werden. Die Hypoxiephase muss so schnell wie möglich beendet werden.
Bei Erwachsenen und Kindern ab dem 10. Lebensjahr wird eine Notfallkoniotomie vorgenommen. Die Inzision
erfolgt zwischen Schild- und Ringknorpel durch das Ligamentum cricothyoideum. Es kann entweder mittels Skalpell, Nasenspreitzer und geeignetem Endotrachealtubus vorgegangen oder ein kommerziell erhältliches Instrumentarium (z. B. Quicktrach, . Abb. 15.14) verwendet werden. Bei Kindern unter 10 Jahren wird eine transkutane transtracheale Ventilation angestrebt. Dazu wird bei größeren Kindern die Krikoidmembran, bei Säuglingen mit ausgesprochen schwierigen anatomischen Verhältnissen unter Umständen auch die Trachea an der bestmöglichen Stelle mit einer möglichst großlumigen Venenverweilkanüle punktiert. Tipps
Auf den Infusionsadapter einer Luer-Lock-Kanüle passt ein Tubusadapter eines 3,0 mm ID-Endotrachealtubus.
15
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Kapitel 15 · Atemwegsmanagement
. Abb. 15.13. Atemwegssicherung, Teilalgorithmus D
15
. Abb. 15.14. Quicktrach-Set zur Notfallkoniotomie. Die aufgesetzte Spritze dient zum Aspirieren von Luft. Der Stahlmandrin kann dann mit der Spritze entfernt werden.
Über einen altersgerechten Beatmungsbeutel kann das Kind nun oxygeniert werden bis weitere Maßnamen, z. B. eine konventionelle offene Tracheotomie, durch einen spezialisierten Chirurgen erfolgen kann. Unter Umständen kann eine erneute fiberoptische Intubation durch einen erfahrenen Anästhesisten versucht werden.
Der Teilalgorithmus E (. Abb. 15.15) beschreibt die Extubation eines Patienten nach schwieriger Atemwegssicherung. Unmittelbar nach einer schwierigen endotrachealen Intubation, bei der davon ausgegangen werden muss, dass es zur Reizung der Atemwege gekommen ist, wird eine antiödematöse Therapie (z. B. Fortecortin 0,2 mg/kg KG) empfohlen. Die Narkose sollte bis zum Abschluss aller operativen Maßnahmen ausreichend tief sein, um jegliche weitere Reizung der oberen Atemwege zu vermeiden. Vor der geplanten Extubation ist eine Blutgasanalyse zur Beurteilung des Gasaustauschs hilfreich. Ergeben sich eindeutige oder auch nur grenzwertig pathologische Befunde, empfiehlt es sich, die Extubation des Patienten nicht unmittelbar im OP sondern erst verzögert und unter geeigneten intensivmedizinischen Überwachungsbedingungen vorzunehmen. Die Extubation darf nur erfolgen, wenn bedrohliche Schwellungen im Verlauf der Atemwege ausgeschlossen sind, die Spontanatmung suffizient ist und die Schutzreflexe des Patienten wieder hergestellt sind. Zum Ausschluss von Atemwegsödemen oder -verletzung sollte ggf. eine fiberoptische Beurteilung erfolgen. Ratsam ist die Extubation zusammen mit einem weiteren erfahrenen Anästhesisten vorzunehmen und geeignetes Material, wie z. B. ein Fiberendoskop und ein COOKAirway exchange catheder für eine ggf. notwendig werdende Reintubation der Trachea vorzubereiten. Nach erfolgreicher Extubation im OP-Bereich ist es ratsam, den Patienten postoperativ länger als üblich im Aufwachraum zu beobachten, um eine Verschlechterung der Atemwegssituation nicht zu übersehen und ggf. rasch Gegenmaßnahmen einleiten zu können.
155 15.7 · Maßnahmen bei schwieriger Atemwegssicherung in der Anästhesie
. Abb. 15.15. Atemwegssicherung, Teilalgorithmus E: Extubation nach schwieriger Intubation.
Fazit
Grundsätzlich sollte nach jeder schwierigen Intubation eine detaillierte, schriftliche Dokumentation des Vorfalls erfolgen. Darüber hinaus sind der Patient bzw. dessen Angehörige zu informieren und über Risiken und mögliche Präventionsstrategien bei in Zukunft notwendigen Allgemeinanästhesien aufzuklären. Eine zusätzliche Sicherheit für den Patienten im Notfall kann durch die Ausstellung eines entsprechenden Atemwegsausweises erreicht werden.
Dem Anästhesisten stehen für das perioperative Management der Atemwege des Patienten neben der endotrachealen Intubation verschiedene andere Verfahren (z. B. Larynxmaske, Larynxtubus) zur Verfügung, die bei bestimmten Eingriffen und Indikationen (z. B. nüchterner Patient, kleiner operativer Eingriff an den Extremitäten) ebenfalls erfolgreich eingesetzt werden können. Bei länger dauernden Eingriffen, sowie bei Patienten mit Atemwegserkrankungen oder im Notfall (nicht nüchterner Patient) gilt aber nach wie vor die endotracheale Intubation als Mittel der Wahl. Das im Einzelfall geeignete Vorgehen zur Atemwegssicherung während der Narkose verlangt genaue Planung und Vorbereitung. Bereits während der präanästhesiologischen Visite muss herausgefunden werden, ob Atemwegsprobleme vorliegen könnten. Ist von einem schwierigen Atemweg auszugehen, sollte erörtert werden, ob auch ein Regionalanästhesieverfahren für den entsprechenden operativen Eingriff in Frage kommt. Jedoch muss auch für den Fall einer Regionalanästhesie stets ein ggf. notwendiger Übergang zur Vollnarkose besprochen und geeignet vorbereitet werden. Grundsätzlich sollte neben der 6
15
156
Kapitel 15 · Atemwegsmanagement
geplanten Methode zur Atemwegssicherung stets ein Ausweichplan formuliert werden. In jedem anästhesiologischen Bereich muss ein Ablaufplan für das Management des unerwartet schwierigen Atemwegs etabliert sein. Entsprechende alternative Techniken (z. B. fiberoptische Intubation, Larynxmaske, Intubationslarynxmaske, Combitube) sollten jederzeit zur Verfügung stehen. Das Management eines schwierigen Atemwegs ist erst mit der erfolgreichen Extubation abgeschlossen. Diese sollte daher ebenfalls in der perioperativen Phase geplant und unter optimalen Bedingungen durchgeführt werden. Um in einer Notfallsituation ein schnelles Handeln zu ermöglichen, ist es zu empfehlen, die geeigneten Abläufe (Algorithmen) in regelmäßigen Abständen zu üben.
Literatur
15
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16 Regionalanästhesie Rüdiger Lott 16.1 Vorbereitung des Patienten –158 16.2 Rückenmarknahe Regionalanästhesieverfahren –158 16.2.1 Spinalanästhesie –158 16.2.2 Periduralanästhesie (PDA) –161
16.3 Periphere Nervenblockaden –163 16.3.1 Technische und organisatorische Aspekte –163 16.3.2 Blockade der oberen Extremitäten –163 16.3.3 Nervenblockade der unteren Extremitäten –165
16.4 Intravenöse Regionalanästhesie –166 Literatur –167
158
Kapitel 16 · Regionalanästhesie
)) Die Regionalanästhesie hat in den letzten Jahren an Popularität gewonnen. Dies beruht vor allem darauf, dass die einzelnen Verfahren nicht nur perioperativ zum Einsatz kommen, sondern auch in zunehmendem Maße für die postoperative Schmerztherapie eingesetzt werden. Das Grundprinzip ist bei allen Ver fahren gleich: durch die Gabe eines Lokalanästhetikums kommt es zu einer Blockade der afferenten nozizeptiven Impulse des ZNS und zur Blockade efferenter Signale auf Blutgefäße, Muskulatur und innere Organe.
16.1
5 5 5 5
Nach Markierung der Punktionsstelle obligat: 5 Händedesinfektion (Arzt und Assistenzpersonal) 5 Haube, Mundschutz sowie sterile Handschuhe 5 Bei rückenmarksnahen Ver fahren empfiehlt sich zusätzlich ein steriler Mantel.
Vorbereitung des Patienten 16.2
Im Rahmen der präoperativen Visite (Prämedikationsgespräch, 7 Kap. 13) wird mit dem Patienten das entsprechende Regionalanästhesieverfahren besprochen und der Patient detailliert über den Ablauf aufgeklärt. Dies ist vor allem deshalb wichtig, da der Anästhesist bei der Durchführung der Regionalanästhesie auf die Kooperation des Patienten angewiesen ist. Weiterhin ist eine sorgfältige Anamnese von Bedeutung, um mögliche Kontraindikationen abzuklären. Bei den rückenmarknahen Anästhesieverfahren ist vor allem die Anamnese bezüglich einer verstärkten Blutungsneigung und der perioperativen Medikation wichtig. Insbesondere sollte bekannt sein, ob Medikamente zur Thrombozytenaggregationshemmung oder Blutdrucksenkung eingenommen werden. ! Ist der Patient nicht kooperativ oder lehnt er ein regionales Anästhesieverfahren ab, so muss eine Allgemeinanästhesie durchgeführt werden.
16
Legen eines intravenösen Zugangs EKG + nichtinvasive Blutdruckmessung Pulsoxymetrie Ggf. intravenöse Sedierung mit Midazolam oder Fentanyl
Die Vorbereitung unmittelbar vor Durchführung einer Regionalanästhesie ist bei allen angewendeten Verfahren gleich (7 Übersicht). Weitere spezielle Hinweise finden sich bei den einzelnen Verfahren. Wird ein Katheterverfahren durchgeführt, muss die lückenlose Nachsorge gewährleistet sein und entsprechend dokumentiert werden. Regionalanästhesie – Vorgehen nach Ankunft im OP: 5 Patientenidentifikation 5 Kontrolle der Laborparameter (vor allem Gerinnungsparameter) 5 Vollständigkeit der Patientenunterlagen (Einverständnis usw.) 6
Rückenmarknahe Regionalanästhesiever fahren
16.2.1 Spinalanästhesie
Indikation Prinzipiell können alle Eingriffe im Bereich der unteren Körperhälfte in Spinalanästhesie durchgeführt werden. Eingriffe an den unteren Extremitäten, im unteren Abdomen (Urologie, Chirurgie oder Gynäkologie), Geburtshilfe (Sectio) und in der Perianalregion sind in Spinalanästhesie möglich.
Punktion Die Punktion erfolgt im Allgemeinen im Sitzen, wobei der Patient einen Rundrücken machen soll. Aus anatomischen Gründen sollte in der Regel die Punktion in Höhe des Zwischenwirbelraums von L3 und L4 bzw. von L4 und L5 durchgeführt werden. Als Orientierungspunkte dienen hier vor allem die Cristae iliacae. Eine gedachte Linie zwischen den Cristae iliacae läuft über dem Dornfortsatz von L4; unmittelbar darüber ist der Zwischenwirbelraum zwischen L3 und L4. Höher als zwischen L2 und L3 sollte nicht punktiert werden, da sich das Rückenmark bis zur Oberkante von L2 erstrecken kann. ! Bei älteren Patienten kommt es häufig durch osteoporotische Umbauvorgänge zu einem Zusammensintern der Zwischenwirbelräume und dadurch zu einem relativen Tiefertreten der Wirbelsäule gegenüber den Cristae iliacae.
Nach deutlich erkennbarer Markierung der Punktionsstelle mit dem Fingernagel oder einem Stift erfolgen die erste Hautdesinfektion (Sprühdesinfektion) und das Aufkleben eines sterilen Lochtuchs. Es folgt eine zweima-
159 16.2 · Rückenmarknahe Regionalanästhesiever fahren
lige Wischdesinfektion unter Einhaltung der notwendigen Zeitintervalle. Solange die Desinfektion einwirkt, wird die Punktion weiter vorbereitet (steriles Aufziehen des Lokalanästhetikums mittels spezieller Nadel, steriler Wundverband etc.). Anschließend wird eine Hautquaddel mit ca. 1–2 ml Mepivacain (z. B. Scandicain 1 %) gesetzt. Durch die Hautquaddel hindurch wird eine Führungskanüle ca. 3–4 cm eingebracht. Durch diese wird eine 25-, 26- oder 29G-Nadel vorgeschoben. Die erste spürbare Resistenz ist das Ligamentum flavum nach insgesamt ca. 4–5 cm. Die Nadel wird dann nochmals langsam ca. 1 cm vorgeschoben, bis die Dura perforiert ist und der Liquor langsam abfließt. ! Bei der Spinalanästhesie gilt: Ohne Liquor keine Injektion!
Wenn der Liquor frei abtropft, wird das vorbereitete Lokalanästhetikum injiziert. Anschließend wird die Kanüle entfernt, ein steriler Wundverband angelegt und der Patient entsprechend gelagert. Die Vitalparameter (Blutdruck, Sauerstoffsättigung und Herzfrequenz) müssen vor allem während der ersten 30 min engmaschig kontrolliert werden, da die Wirkung der Spinalanästhesie schnell eintritt. Neben dem am häufigsten verwendeten medialen Zugangsweg gibt es noch die Möglichkeit der paramedianen Punktion. Dabei erfolgt die Punktion ca. 1–2 cm lateral der Mittellinie in einem Winkel von ca. 25° zur Mittellinie. Der paramediane Zugang bietet sich vor allem bei älteren Patienten an, bei denen durch degenerative Prozesse der mediale Zugang aufgrund von Verkalkungen nahezu unmöglich ist. Die kraniale Ausbreitung ist von zahlreichen Faktoren abhängig. Am wichtigsten sind die injizierte Gesamtdosis des verwendeten Lokalanästhetikums, das Alter und die Punktionshöhe. Welches Lokalanästhetikum verwendet wird, hängt von der zu erwartenden OP-Dauer ab. Für länger dauernde Eingriffe wird in der Regel Bupivacain 0,5 % isobar verwendet. Nach Injektion von 2,5–3,5 ml bleibt bei vollständigem Eintritt der Anästhesie die segmentale Blockade in jeder Lagerung relativ konstant. Verwendet man hyperbares Lokalanästhetikum (hierbei ist die Dichte der LokalanästhetikaLösung signifikant höher als die des Liquors), lässt sich die Ausbreitung durch entsprechende Lagerung beeinflussen. Das Ausmaß der Blockade kann hierbei je nach Lagerung sehr unterschiedlich sein. Der Einsatz von hyperbarem Lokalanästhetikum ermöglicht auch eine einseitige, unilaterale Spinalanästhesie. Hierbei wird der Patient nach Injektion des hyperbaren Lokalanästhetikums für 20–30 min auf die zu operierende Seite gedreht. Der so genannte Sattelblock wird bei Operationen in der Perianalregion verwendet. Nach Punktion injiziert
man ca. 1–1,5 ml hyperbares Lokalanästhetikum, lässt den Patienten ca. 10 min sitzen und lagert ihn dann mit leicht erhöhtem Oberkörper. Ist die Spinalanästhesie inkomplett, liegt dies meist an der ungenügenden rostralen Ausbreitung. Ursächlich hierfür sind meist eine zu niedrige Dosierung bzw. eine falsche Lagerung nach Injektion.
Komplikationen Bei sorgfältiger Vorbereitung und korrekt durchgeführter Punktion sind ernsthafte Komplikationen sehr selten. Man unterscheidet Früh- und Spätkomplikationen. Die häufigste Frühkomplikation ist der Blutdruckabfall; er entsteht durch eine Blockade präganglionärer Sympathikusfasern. Der Blutdruckabfall geht meist mit einer Bradykardie einher, die auf einer verminderten Dehnung des rechten Vorhofs aufgrund des verminderten venösen Rückflusses (Bainbrigde-Reflex) bzw. auf einer Blockade der Nn. accelerantes beruht. Die Therapie erfolgt durch die Gabe von Atropin bei Bradykardien bzw. fraktionierte Applikation von Cafedrin-Theoadrenalin (Akrinor). Bei der so genannten hohen Spinalanästhesie (Ausbreitung bis ca. C4) wird der Patient unruhig, klagt über ein Taubheitsgefühl der Arme und über Atemnot, da ihm die Rückmeldung über eine Atemexkursion fehlt. Normaler weise haben die Patienten eine ausreichende Spontanatmung, sodass meist eine leichte Sedierung und gegebenenfalls eine zusätzliche Maskenbeatmung ausreichend sind. ! Cave Im Gegensatz hierzu ist die totale Spinalanästhesie eine dramatische und lebensbedrohliche Komplikation, die sofortiges Handeln er fordert.
Zeichen der totalen Spinalanästhesie sind Unruhe, Aufgeregtheit nach Injektion des Lokalanästhetikums, Atemnot bis hin zum Atemstillstand, eine ausgeprägte Hypotonie, eine Pupillenerweiterung sowie der Bewusstseinsverlust. Die Therapie besteht in der sofortigen Intubation und Beatmung, Volumensubstitution, der Applikation von Vasopressoren (Noradrenalin oder Adrenalin) zur Blutdruckstabilisierung, die Trendelenburg-Lagerung sowie bei Schwangeren durch Linksseitenlagerung die Beseitigung des aortocavalen Kompressionssyndroms. Die häufigsten und schwersten Spätkomplikationen sind die Störung der Harnblasenfunktion, der postpunktionelle Kopfschmerz sowie neurologische Komplikationen durch die Injektion selbst oder durch eine Infektion und Blutungskomplikationen.
16
160
Kapitel 16 · Regionalanästhesie
Störung der Harnblasenfunktion. Besteht 6–8 h nach Punktion noch ein Harnverhalt, erfolgt die Gabe eines Parasympathikolytikums und/oder die Einmalkatheterisierung. Postpunktioneller Kopfschmerz. Dieser tritt meist erst
24–48 Stunden nach Punktion auf. Die Kopfschmerzen sind lageabhängig (stärker im Sitzen und Stehen) und sind occipital bzw. frontal betont. Ursächlich hierfür ist ein so genanntes Liquorverlustsyndrom. Die Inzidenz ist abhängig von der verwendeten Nadelart und der Dicke der Nadel. Die Inzidenz ist bei der versehentlichen Duraperforation mit der Periduralnadel am höchsten. Flachlagerung in den ersten 24 h hat keinerlei protektiven Effekt auf den postpunktionellen Kopfschmerz. Besteht der Kopfschmerz trotz vermehrter Bettruhe und medikamentöser Behandlung mit reichlich Flüssigkeitsgabe, Koffein und Schmerztherapie weiter, wird ein so genannter blood patch angelegt. Dabei werden 10–20 ml Eigenblut des Patienten, das unter sterilen Kautelen unmittelbar zuvor abgenommen wurde, peridural in Höhe der ursprünglichen Punktion bzw. einen Zwischenwirbelraum höher oder tiefer injiziert. Liegt noch ein Periduralkatheter, kann hierüber das Blut appliziert und anschließend der Katheter entfernt werden. Neurologische Komplikationen. Sie sind zwar insgesamt sehr
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selten, dafür aber umso gefürchteter. Man unterscheidet eine direkte, traumatische Schädigung des Rückenmarks durch die Punktionsnadel und durch die intraneurale Injektion des Lokalanästhetikums. Weiterhin kann eine Schädigung des Rückenmarks oder der Nervenwurzeln durch ein postpunktionelles Hämatom bei Gerinnungsstörungen oder Antikoagulanzientherapie erfolgen. Passagere Funktionsstörungen von Hirnnerven wie z. B. Hörverlust und Abduzensparese können durch ein Liquorverlustsyndrom hervorgerufen werden. Eine Meningitis oder Enzephalitis durch eine bakterielle Kontamination des Spinalkanals ist möglich. Bei klinischem Verdacht auf eine bakterielle Meningitis erfolgt nach durchgeführter Diagnostik (Liquorpunktion, Kernspin- oder Computertomographie) eine sofortige, kalkulierte antibiotische Dreifachtherapie mit Penicillin, einem Cephalosporin und einem Aminoglykosid, bis das Antibiogramm vorliegt. ! Cave Bei dem geringsten Anzeichen einer neurologischen Komplikation muss sofort ein Neurologe hinzugezogen werden, da hierbei der Zeitfaktor entscheidend ist. Ist kein Neurologe erreichbar oder ist keine bildgebende Diagnostik innerhalb kürzester Zeit möglich, muss der 6
Patient in ein Zentrum verlegt werden, wo eine bildgebende Diagnostik und eine eventuell notwendige Intervention durchgeführt werden kann. Tipps
Spinalanästhesie – so machen wir es: Vorbereitungen: Siehe Abschnitt 1 5 Lagerung: sitzend, Rundrücken 5 Markierung der Punktionsstelle 5 Sprühdesinfektion mit Cutasept (Einwirkzeit mindestens 2 min) 5 Mundschutz und Haube; Händedesinfektion, auch Assistenzpersonal 5 Sterile Handschuhe anziehen Steriles Punktionsset übernehmen und ausbreiten: 1 u Sprotte Kanüle 24G mit Introducer‚ Injektionskanüle 0,5 u 12 und 0,9 u 40 mm, Schaumstoffstieltupfer, 1 u 2-ml-Spritze, 1 u 5-ml-Spritze, Lochtuch 5 Lochtuch anbringen 5 2-malige Wischdesinfektion mit Cutasept (Einwirkzeit 2 min) 5 Anreichen der Lokalanästhetika 5 Mepivacain 1% in 2-ml-Spritze für Hautinfiltration 5 Nach Indikation: – Bupivacain 0,5 % isobar in 5-ml-Spritze (2,5–3ml) – Prilocain 2 % bei ambulanten oder kurzen Eingriffen 5 Bupivacain 0,5 % hyperbar in 5-ml-Spritze bei Sectio oder Sattelblock 5 Hautinfiltration mit Mepivacain 1 % 5 Punktion mit Einführhilfe – Einführen der Sprotte-Nadel durch die Einführhilfe, Punktion des Spinalkanals: Wenn Liquor klar zurückläuft und kein Blut oder Parästhesien vorhanden sind: Injektion des LA – Bei blutiger Punktion oder Parästhesien: erneute Punktion erforderlich – Nach zweimaliger erfolgloser Punktion: Rücksprache mit Chef- oder Oberarzt 5 Entfernung der Punktionsnadel; steriles Pflaster 5 Normale Rückenlage; bei Sectio: Linksseitenlage und Keil unter Oberkörper 5 Engmaschige Kontrolle der Vitalparameter; bei Blutdruckabfall: Akrinor fraktioniert 5 Anordnung für Station: auf Sensibilität, Motorik und Blasenfüllung achten; bei irgendwelchen Auffälligkeiten sofort Anästhesie benachrichtigen
161 16.2 · Rückenmarknahe Regionalanästhesiever fahren
16.2.2 Periduralanästhesie (PDA) Neben der Schmerzausschaltung bei Operationen besteht bei der Periduralanästhesie die Möglichkeit der postoperativen kontinuierlichen Schmerztherapie nach großen abdominal- bzw. thoraxchirurgischen Eingriffen sowie in der Geburtshilfe zur Linderung der Wehenschmerzen. Für Operationen an den unteren Extremitäten, für periphere gefäßchirurgische Eingriffe und die geburtshilfliche Schmerztherapie wird die Periduralanästhesie lumbal durchgeführt. Im Rahmen der Ausbildung beginnt der Weiterbildungsassistent zunächst mit der lumbalen Periduralanästhesie. Beherrscht er diese sicher, kann er unter Aufsicht thorakale Periduralkatheter legen. Thorakale Periduralkatheter kommen vor allem bei großen abdominalchirurgischen, gefäß- und thoraxchirurgischen sowie ausgedehnten urologischen Operationen zur Anwendung. Wie für die Spinalanästhesie werden auch für die Periduralanästhesien meist handelsübliche Sets verwendet, die entsprechend den Anforderungen der einzelnen Kliniken steril vorbereitet werden. Der bevorzugte lumbale Zugang befindet sich meist in Höhe L3/4 und L2/3. Der thorakale Zugang ist abhängig von der Lokalisation der Operation. Die Punktion erfolgt, wenn möglich, ebenfalls in sitzender Position mit größtmöglicher Beugung (Rundrücken). Nach Markierung der Punktionsstelle erfolgt nach Entfettung der Haut mittels Waschbenzin eine erste Sprühdesinfektion. Nach Händedesinfektion, Vorbereitung des sterilen Punktionssets und Anbringen des sterilen Lochtuchs folgt eine zweimalige Wischdesinfektion. Danach wird eine lokale Infiltration der Punktionsstelle mit einem Lokalanästhetikum durchgeführt. Nach Einführung der Touhy-Nadel bis ins Lig. interspinale wird der Mandrin entfernt und eine mit Kochsalz gefüllte Spritze aufgesetzt. Mit der Stempeldruckmethode wird soweit punktiert, bis es zu einer deutlichen Erhöhung des Widerstandes kommt. Wichtig ist, dass man während der Punktion nicht zuviel der Kochsalzlösung ins Gewebe spritzt, da hierdurch die Orientierung für eine eventuell notwendige zweite Punktion erschwert wird. Wird das Lig. flavum passiert, kommt es zu einem deutlichen Widerstandsverlust, dem so genannten loss of resistance. Durch die Touhy-Nadel wird noch etwas Kochsalz in den Periduralraum injiziert, um diesen ein wenig aufzudehnen. Durch die liegende Touhy-Nadel wird nun der Periduralkatheter ca. 5 cm in den Periduralraum geschoben und die Nadel entfernt. ! Kein Zurückziehen des Katheters durch die Touhy-Nadel!
Mit einer 2-ml-Spritze wird über den Katheter aspiriert, um eine intrathekale oder intravasale Lage zu detektieren. Ist die Aspiration negativ, erfolgt die Applikation der so genannten Testdosis, meist 3 ml Bupivacain 0,5 %. Falls nach 5 min keine typischen Zeichen einer Spinalanästhesie auftreten, kann in den Periduralkatheter nachinjiziert werden. Alternativ zur Widerstandsverlustmethode – vor allem im thorakalen Bereich – kann die Technik des hängenden Tropfens verwendet werden. Dabei wird, wenn die Periduralnadel im Lig. intraspinale liegt, der Mandrin entfernt und ein Tropfen NaCl in den Nadelansatz gebracht. In dem Augenblick, in dem man den Epiduralraum erreicht, verschwindet der hängende Tropfen, da im Periduralraum ein leicht negativer Druck herrscht. Weil aber im Periduralraum nicht immer ein Unterdruck besteht, ist die Widerstandsverlustmethode insgesamt zuverlässiger. War die Punktion nicht erfolgreich, sollte eine Verbesserung der Lagerung, eventuell ein lateraler Punktionszugang oder eine andere Punktionshöhe versucht werden. ! Kann der Katheter nicht platziert werden, so müssen Katheter und Nadel gemeinsam und in toto entfernt werden, da es sonst beim Zurückziehen des Katheters zu einer Abscherung kommen kann.
Komplikationen Mögliche Komplikationen sind Duraperforation, intravasale Lage, direkte Nervenverletzung, peridurale Hämatome und Abszesse (. Tab. 16.1 und 16.2). Die Nachsorge nach Anlage eines Periduralkatheters muss gewährleistet sein. Ab dem ersten postoperativen Tag müssen eine tägliche Kontrolle des Periduralkatheters und ein täglicher Verbandswechsel erfolgen. Am 3. bzw. 4. postoperativen Tag sollte der PDK möglichst entfernt werden, da ab dem 4. Tag die Infektionsrate deutlich ansteigt. Ausnahmen hiervon sind große abdominale oder thorako-abdominelle Operationen. Hier sollte jedoch täglich die weitere Indikation kritisch gestellt werden. Tipps
Periduralanästhesie – so machen wir es: Vorbereitung: Siehe Abschnitt 1 5 Nicht-Fachärzte: Chefarzt oder Oberarzt muss bei thorakaler PDA anwesend sein 5 Patienten in sitzende Position bringen 5 Bei gebeugtem Rücken Punktionsstelle tasten und markieren 6
16
162
Kapitel 16 · Regionalanästhesie
5 Eventuell i.v. Sedierung mit 0,1 mg Fentanyl 5 Haut um Punktionsstelle mit Waschbenzin entfetten 5 Mit Cutasept großzügig absprühen 5 Mundschutz und Haube 5 Hände waschen und desinfizieren (auch Assistenzpersonal) 5 Sterile Handschuhe anziehen 5 Steriles Tuch auf Beistelltisch legen PDK-Set übernehmen und ausbreiten: durchsichtiges Lochtuch, Schaumstoffstieltupfer, Touhy-Nadel, 5-ml-Spritze, 10-ml-Spritze, schwarze Kanüle für Lokalanästhesie, gelbe Kanüle zum Aufziehen von NaCl, Filter, Katheter Ansatzstück, Fixationspflaster 5 Durchsichtiges Lochtuch anbringen 5 Zweimalige Wischdesinfektion mit Cutasept 5 Mepivacain 1 % in 5-ml-Spritze; NaCl 0,9 % in 10-ml-Spritze aufziehen 5 Lokalanästhesie mit Mepivacain 1 % an der Punktionsstelle 6
5 Vorschieben der Nadel mit Mandrin ins Lig. interspinale 5 Entfernen des Mandrins und 10-ml-Spritze aufsetzen – Aufsuchen des Epiduralraums mittels Widerstandsverlustmethode – Vorschieben des Katheters durch die Nadel – Katheter frei nach unten hängen lassen: kommt Blut oder Liquor zurück? 5 Touhy-Nadel entfernen – Ansatzstück aufschrauben, Filter füllen und Testdosis verabreichen nach nochmaliger Aspiration 5 Katheter mit sterilem Pflaster und Pflasterzügeln verkleben und nach oben ableiten 5 Patienten wieder hinlegen lassen 5 Neurologie (Testdosis) überprüfen 5 Wenn Testdosis negativ: Katheter aufspritzen mit entsprechendem LA 5 Engmaschige Kontrolle der Vitalparameter
. Tabelle 16.1. Thromboseprophylaxe/Antikoagulanzien bei rückenmarknaher Regionalanästhesie: empfohlene Zeitintervalle vor und nach rückenmarknaher Punktion bzw. Katheterentfernung
16
Vor Punktion/ Katheterentfernung
Nach Punktion/ Katheterentfernung
Laborkontrolle
Unfraktionierte Heparine (low dose)
4h
1h
Thrombozyten bei Therapie > 5 Tage
Unfraktionierte Heparine (high dose)
4h
1h
aPTT (ACT), Thrombozyten
niedermolekulare Heparine (low dose)
10–12 h
2–4 h
Thrombozyten bei Therapie > 5 Tage
niedermolekulare Heparine (high dose)
24 h
2–4 h
Thrombozyten bei Therapie > 5 Tage
Fondoparinox*
20–22 h
2–4 h
Kumarine
INR < 1,4
nach Katheterentfernung
Hirudine (Lepirudin, Desidurin)
8–10 h
2–4 h
Melagatran
8–10 h
2–4 h
Azetylsalizylsäure
> 2 Tage
nach Katheterentfernung
Clopidogrel
> 7 Tage
nach Katheterentfernung
Ticlopidin
> 10 Tage
nach Katheterentfernung
* bei normaler Nierenfunktion; bei eingeschränkter Nierenfunktion (Kreatininclearance < 50 ml/min): 36–42 h. INR = internationalized normalized ratio
163 16.3 · Periphere Nervenblockaden
. Tabelle 16.2. Blutungen und Infektionen im Spinalkanal bzw. Periduralraum Abszess
Hämatom
Ischämie
Alter
jedes
jedes
Ältere
Anamnese
Infektion
Antikoagulanzien (z. B. ASS)
AVK, Hypotension, Anämie
Beginn
langsam
schnell
schnell
Symptome
Fieber, Schmerz
Schmerz
keine
Sensorik
Parästhesien
Parästhesien
keine
Motorik
Parese
Parese
Parese
Radiologie
Kompression
Kompression
initial o. B
Liquor
Zellen
o. B.
o. B.
Labor
BSG, Leukozyten, CRP
pathologische Gerinnung
o. B.
Bei geringstem Verdacht auf eine Blutung oder Infektion muss eine sofortige Diagnostik oder Therapie eingeleitet werden. In Absprache mit dem Neurologen und dem Radiologen muss ein CT bzw. eine Kernspintomographie durchgeführt werden. Bei einem Epiduralhämatom bzw. einem intraspinalen Hämatom sollte ein NMR durchgeführt werden. Ist dieses nicht sofort verfügbar kommt alternativ eine Myelographie in Frage. ! Cave Bei einem Abszess bzw. einem Hämatom muss eine operative Entlastung innerhalb 6 h nach Symptombeginn erfolgen, ansonsten sind bleibende neurologische Ausfälle bis hin zu einem Querschnitt zu befürchten.
16.3
Periphere Nervenblockaden
Ziel der peripheren Nervenblockaden ist die isolierte Anästhesie einer Extremität oder eines Teils von ihr, um dort Operationen durchzuführen bzw. einer Schmerz-Chronifizierung vorzubeugen.
16.3.1 Technische und organisatorische
Aspekte Prinzipiell sollte auf eine größtmögliche Asepsis geachtet werden; vor Punktion sollte eine lokale Infiltration mit einem schnell wirksamen Lokalanästhetikum durchgeführt werden. Verwendet man »stumpfe« Kanülen, sollte vorher die Hautinzision mit einer Lanzette durchgeführt
werden. Bei Verwendung eines Nervenstimulators erfolgt die Stimulation in einem Bereich von 0,1–1,0 mA; bei sichtbaren Muskelkontraktionen im Ausbreitungsbereich des Nerven wird die Stimulation auf einen Bereich zwischen 0,1–0,5 mA reduziert und das Lokalanästhetikum injiziert. Vor und während der Injektion sollte immer aspiriert werden, was jedoch eine intravasale Injektion nicht immer sicher ausschließt. Deshalb muss immer ein venöser Zugang gelegt werden und ein Basismonitoring (EKG, Pulsoxymetrie, nichtinvasive Blutdruckmessung) vorhanden sein.
16.3.2 Blockade der oberen Extremitäten Nervenwurzeln treten in der Interscalenuslücke zwischen dem M. scalenus anterior und dem M. scalenus medialis ein. Dabei bilden die Wurzeln von C5/C6 den Truncus superior, von C7 den Truncus medialis, die Wurzeln von C8 und Th1 den Truncus inferior. Die oberen und mittleren Trunci liegen oberhalb, der untere Truncus unterhalb der A. subclavia. Jeder Truncus teilt sich in einen anterioren und einen posterioren Ast. Die Äste teilen sich in einzelne Fasern und vereinigen sich dann zu Faszikeln. Der Faszikulus lateralis enthält die Äste des oberen und mittleren Truncus (lateraler Anteil des N. medianus, N. musculocutaneus); der Faszikulus medialis den vorderen Ast des unteren Truncus (med. Anteil des N. medianus, N. ulnaris, N. cutaneus brachii medialis); der Fasciculus posterior die hinteren Äste aller drei Trunci (N. radialis, N. axillaris). Dabei handelt es sich um eine multikomparti-
16
164
Kapitel 16 · Regionalanästhesie
mentelle Struktur, die der ungehinderten Ausbreitung des Lokalanästhetikums bindegewebige Septen entgegensetzt. Der Plexus brachialis ist auf verschiedenen Höhen der Blockade zugänglich, wobei in unserer Klinik vor allem die axilläre Blockade und die VIB-Technik verwendet wird. Wir führen alle peripheren Ner venblockaden und Plexusanästhesien mit der Technik der peripheren Nervenstimulation durch. Die Gefahr einer direkten Nervenverletzung ist dadurch minimal, außerdem ist der Blockadeerfolg nahezu weitgehend unabhängig vom Ausbildungszustand.
Axilläre Plexusanästhesie
16
Indikationen sind Operationen im Bereich des Arms (distaler Oberarm, Unterarm, Hand); spezielle Kontraindikationen gibt es keine. Der Patient befindet sich in Rückenlage. Der betroffene Arm ist maximal 90° abduziert, außenrotiert und der Ellbogen ca. 90° gebeugt. Nach einer ersten Sprühdesinfektion, erfolgt die Händedesinfektion. Dann wird ein steriles Lochtuch angebracht und eine zweite Sprühdesinfektion durchgeführt. Anschließend erfolgt die lokale Infiltration mit 0,5–1 ml Lokalanästhetikum und Anritzen der Punktionsstelle mit einer Lanzette. Die Punktionsstelle wird folgendermaßen aufgesucht: Palpation der A. axillaris unter dem lateralen Rand des M. pectoralis major und Fixierung der A. axillaris mit Zeige- und Mittelfinger. Die Punktion erfolgt im Winkel von 15–30° nach proximal, direkt oberhalb der A. axillaris. Die Punktionsnadel wird langsam unter kontinuierlicher Nervenstimulation vorgeschoben. Der Reizstrom beträgt 1 mA, 2 Hz, Reizdauer 0,1 ms. Nach erfolgter motorischer Reizantwort der Fingerbeugemuskulatur wird der Reizstrom bis auf 0,2–0,3 mA reduziert. Nach Optimierung der Nadelposition bis zur maximalen Reizantwort und negativer Aspiration erfolgt die Injektion des Lokalanästhetikums. Nach jeweils 10 ml des Lokalanästhetikums muss erneut aspiriert werden, um eine intravasale Lage aufzuzeigen. Nach Entfernung der Punktionskanüle und Anlage eines sterilen Wundverbands, erfolgt distal des Punktionsorts eine Druckkompression der Axilla von ca. 3–5 min. Danach muss eine Anschlagzeit von ca. 20– 30 min abgewartet werden; der paretische Arm muss dabei fixiert werden. Im Prinzip kann jedes Lokalanästhetikum zur Blockade verwendet werden. Wir benutzen 50 ml Mepivacain 1 % mit 0,15 mg Clonidin, um eine längere Wirkdauer zu erzielen. Bei einer Operationsdauer über 90 min empfiehlt sich eine Mischung von 40 ml Mepivacain 1 % und 10 ml Bupivacain 0,5 %.
Nebenwirkungen. Eine versehentliche intravasale Injektion des Lokalanästhetikums kann zu toxischen Blutspiegeln führen. Nervenschäden sind mit der Methode der Nervenstimulation extrem selten. Treten postoperativ neurologische Schäden oder Beschwerden auf, sollte immer ein Neurologe hinzugezogen werden.
Vertikale infraclavikuläre Blockade (VIB) Probleme bei der axillären Plexusblockade wie inkomplette Anästhesieausbreitung (N. radialis, N. musculocutaneus), Schmerzen durch die Blutsperre am Oberarm sowie Lagerungsschwierigkeiten treten bei der VIB nicht auf. Die Vorbereitung wird analog zur axillären Plexusanästhesie durchgeführt. Die Punktion erfolgt in Rückenlage, der Unterarm der betroffenen Seite wird bequem auf dem Bauch gelagert, sodass die Finger zur Beurteilung der peripheren Muskelkontraktionen gut sichtbar sind. Für die Bestimmung des Punktionsorts ist die Unterquerung des Plexus unter der Clavicula etwa in der Medioclavicularlinie von Bedeutung. Hier liegt der Plexus in einer Tiefe von maximal 4 cm lateral der A. und V. axillaris. Der Punktionsort liegt auf der Mitte der Strecke zwischen Fossa jugularis und Ende des ventralen Anteils des Akromions (Maßband!!). Das Tasten des Verlaufs der Clavicula von medial nach lateral führt zum Acromioclaviculargelenk; der ventrale Acromionfortsatz liegt ventral und ein wenig lateral davon. Tipps
Um auszuschließen, dass es sich um Anteile des Humeruskopfs handelt, bewegt man den Arm des Patienten im Schultergelenk bei gleichzeitiger Palpation des zuvor ermittelten Leitpunktes, der sich nicht mitbewegen darf.
Nach zweimaliger Sprühdesinfektion und sterilem Abdecken, lokaler Infiltration mit 0,5–1 ml Lokalanästhetikum, erfolgt die Punktion an der markierten Stelle streng vertikal zur Unterlage (maximal 4 cm tief!). Der Abstand zur Clavicula muss knapp gehalten werden, ein schmerzhafter Periostkontakt ist jedoch zu vermeiden. Danach wird unter kontinuierlicher Nervenstimulation langsam vertikal vorgeschoben (siehe Vorgehen bei Axillärer Plexusanästhesie). Nach erfolgter Reizantwort der Fingerbeugemuskulatur (Extensoren oder Flexoren DI–III, d. h. durch den N. radialis oder N. medianus versorgte Muskeln) wird der Reizstrom auf 0,2–0,3 mA reduziert und die Lage der Punk-
165 16.3 · Periphere Nervenblockaden
tionsnadel optimiert. Wird Blut aspiriert, war die Punktion zu weit medial. Die Optimierung der Nadel erfolgt in »Lawinentechnik« zunächst von der initialen Punktion nach lateral. Hierbei wird die Nadel bis in den subkutanen Bereich zurückgezogen, leicht nach lateral verschoben und erneut streng vertikal vorgeschoben. Führt die genannte Korrektur der Punktionsstelle nicht zum gewünschten Stimulationserfolg, korrigiert man um 0,5–1 cm nach medial. Nach maximaler Reizantwort wird das entsprechende Lokalanästhetikum injiziert. Wir verwenden normalerweise 50 ml Mepivacain 1 % mit 0,15 mg Clonidin. ! Ist die Punktionsstelle nicht sicher zu identifizieren, sollte schon primär auf ein anderes Verfahren ausgewichen werden. Keinesfalls darf gestochert oder die streng vertikale Punktionsrichtung verlassen werden.
Kontraindikationen. Thoraxdeformitäten, disloziert ver-
heilte Claviculafrakturen, Fremdkörper im Punktionsgebiet (Schrittmacher, Port etc.) und relativ: ambulante Eingriffe wegen der potenziellen Pneumothoraxgefahr.
Interscalenäre Plexusanästhesie Die interscalenären Blockaden stellen den am weitesten kranial gelegenen Zugang zum Plexus brachialis dar. Indikationen sind Operationen am Schlüsselbein, Schulter, Schultergelenk und Oberarm. Bei der modifizierten Technik nach Maier erfolgt die Punktion in Höhe der Incisura thyroidea superior. Dadurch besteht ein geringeres Risiko der Punktion der A. vertebralis oder hoher Spinal- oder Periduralanästhesie. Der Patient befindet sich in Rückenlage, der Kopf ist zur Gegenseite gedreht, der zu operierende Arm ist locker am Körper angelagert. Als anatomische Leitstrukturen markiert man sich das Cricoid, die Incisura thyroidea superior und den Verlauf des M. sternocleidomastoideus, der durch Anheben des Kopfes von der Unterlage gut identifiziert werden kann. Nach Hautdesinfektion und sterilem Abdecken erfolgt die Punktion in Höhe der Incisura thyroidea superior am Hinterrand des M. sternocleidomastoideus. Die Stichrichtung ist caudal im Verlauf der Scalenuslücke im Winkel von ca. 30° zur Haut. Nach ca. 3–4 cm erreicht man den Truncus superior, sichtbar durch Kontraktionen im Bereich des M. biceps brachii (N. musculocutaneus). Wir benutzen als Lokalanästhetikum Mepivacain 1 % 40– 50 ml, für länger dauernde Operationen 40 ml Mepivacain 1 % und 10 ml Bupivacain 0,5 %. Nebenwirkungen bzw. Komplikationen. Totale Spinalan-
ästhesie; Periduralanästhesie; intravasale Injektion mit ei-
nem sofortigen cerebralen Krampfanfall bei intraarterieller Injektion; Phrenicusparese; Hornersche Trias (Ganglion stellatum); Rekurrensparese und Pneumothorax. Kontraindikationen. Dementsprechend eine kontralaterale
Phrenikusparese und eine kontralaterale Rekurrensparese.
Nervus-suprascapularis-Blockade Diese Art der Blockade eignet sich sehr gut als Kathetertechnik zur postoperativen Schmerztherapie nach Schulteroperationen. Als Leitstrukturen dienen der hintere Anteil des Acromion und das mediale Ende der Spina scapulae. Der Patient sitzt, die Hand des betroffenen Arms wird auf die kontralaterale, nicht zu blockierende Schulter gelegt. Die Verbindungslinie zwischen dem hinteren Anteil des Acromions und dem medialen Rand der Spina scapulae wird halbiert. Von hier aus geht man 2 cm medial und 2 cm cranial. Die Stichrichtung ist lateral-caudal im Winkel von ca. 30° (in Richtung Humeruskopf); nach ca.4–5 cm gibt es Knochenkontakt zur Scapula und eine Reizantwort im M. infra- oder supraspinatus bzw. ein schmerzfreies Klopfen in der Schulter. Nach Aufdehnen mit 10 ml NaCl wird der Katheter ca. 3 cm über die Punktionsnadel hinausgeschoben. Über den Katheter werden 10 ml Ropivacain 0,2 % eingespritzt. Postoperativ erfolgt 2–3-mal täglich eine Bolusgabe von 20 ml Ropivacain 0,2 %.
16.3.3 Ner venblockade der unteren
Extremitäten Inguinale Nervus-femoralis-Blockade Diese Methode wird auch als 3-in-1-Technik (durch eine Injektion werden 3 Nerven blockiert: N. femoralis, N. obturatorius, N. cutaneus femoralis lateralis) nach Winnie bzw. als kontinuierliche Technik nach Rosenblatt bezeichnet. Sie wird vor allem als single-shot bei Schenkelhalsfrakturen verwendet und als kontinuierliches Verfahren nach Kniegelenksoperationen. In Kombination mit einer proximalen Ischiadicus-Blockade können alle Eingriffe am Bein durchgeführt werden. Als Leitstrukturen dienen das Leistenband und die Arteria femoralis. Der Patient liegt auf dem Rücken, das zu betäubende Bein ist leicht abduziert und außenrotiert. Der Punktionsort befindet sich 2–3 cm unterhalb des Leistenbandes 1,5 cm lateral der A. femoralis. Die Punktion erfolgt im 30°-Winkel nach kranial, bis es zu einem zweimaligen Widerstandsverlust (Doppelklick) kommt: dem Durchtritt
16
166
Kapitel 16 · Regionalanästhesie
durch die Fascia lata und Fascia iliaca. Die motorische Reizantwort des N. femoralis kommt nach etwa 2–4 cm. Entscheidend für den Blockadeerfolg ist jedoch die Stimulation des Musculus rectus femoris. Bei korrekter Stimulation, d. h. eine tanzende Patella bei 0,3 mA/0,1 ms, wird mit 10 ml NaCl aufgedehnt und der Katheter ca. 3–5 cm über das Kanülenende hinaus eingeführt. Wenn der Test auf eine intravasale Lage negativ ist, werden 40 ml Mepivacain 1 % injiziert, der Blockadeerfolg setzt innerhalb von 10–30 min ein. Anschließend kann entweder kontinuierlich Lokalanästhetikum injiziert werden oder 2–4-mal täglich als Bolusgabe 20 ml Ropivacain 0,2 %. Kontraindikationen. Neben den üblichen Kontraindika-
tionen wie Infektionen im Punktionsbereich, Lymphome usw. speziell vorhandene femorale Bypässe. Ist ein solcher Bypass vorhanden, sollte die Punktion, wenn überhaupt, dann nur unter sonographischer Kontrolle erfolgen.
Nervus-obturatorius-Blockade
16
Die Indikation besteht häufig bei transurethralen Resektionen (TUR) von Blasenseitenwandtumoren, bei denen die Reizantwort des N. obturatorius durch den Reizstrom durch eine Spinalanästhesie nur inkomplett ausgeschaltet werden kann. Die Punktion erfolgt in Rückenlage, das Bein ist leicht abduziert. Die Punktionsstelle wird rasiert; dann erfolgt die erste Sprühdesinfektion und das Abdecken der Punktionsstelle mit einem sterilen Lochtuch. Die Punktionsstelle befindet sich einfingerbreit lateral und kaudal vom Tuberculum pubicum (Ansatz vom Leistenband an der Symphyse). Die Punktion erfolgt senkrecht bis zum Knochenkontakt mit dem horizontalen Schambeinast. Die Nadel wird dann 1–2 cm zurückgezogen und auf das ipsilaterale Hüftgelenk bis zum Foramen obturatorium vorgeschoben. Die Punktionstiefe variiert zwischen 2 cm und 6 cm. Motorische Reizantworten der Adduktoren zeigen die Nähe zum N. obturatorius an. Nach Reduktion der Stimulation auf 0,3 mA/0,1 ms und weiterhin suffizienter Reizantwort werden ca. 15 ml Mepivacain 1 % injiziert. Spezielle Kontraindikationen für die Nervus-obturatorius-Blockade gibt es keine.
Blockaden im Fußbereich (Fußblock) Durch Blockade der fünf Nerven, die den Fuß versorgen, lassen sich Operationen am Fuß durchführen, die keine Blutsperre erfordern. Vier der fünf Nerven (N. fibularis superficialis und N. fibularis profundus, N. tibialis und
N. suralis) stammen aus dem N. ischiadicus. Der 5. Nerv (N. saphenus) aus dem N. femoralis. Die Punktion erfolgt in Rückenlage. Der N. tibialis wird hinter dem Innenknöchel, neben der A. tibialis posterior, mit 3–5ml Lokalanästhetikum blockiert, der N. suralis hinter dem Außenknöchel mit 5 ml Lokalanästhetikum. Die restlichen drei Nerven können von einer Punktionsstelle aus blockiert werden. Auf einer Verbindungslinie beider Knöchel wird die A. tibialis anterior lateral der Sehne des M. tibialis anterior getastet. Der N. fibularis profundus verläuft unmittelbar seitlich subfaszial. Vom gleichen Punktionsort aus werden subkutan zum Innenknöchel und zum Außenknöchel 3–5 ml bzw. 5–10 ml Lokalanästhetikum injiziert. Alternativ kann zunächst der N. fibularis superficialis durch einen subkutanen Hautwall mit 10 ml eines Lokalanästhetikums zwischen der Tibiavorderkante und dem oberen Rand des Außenknöchels durchgeführt werden. Anschließend wird der N. suralis durch einen subkutanen Hautwall zwischen Achillessehne und Außenknöchel mit 5 ml Lokalanästhetikum blockiert. Der N. saphenus wird blockiert, indem man von der Tibiavorderkante aus nach medial ca. 5–8 cm oberhalb dem Innenknöchel bis zur Achillessehne 10 ml Lokalanästhetikum injiziert. Wird mit diesen subkutanen Blockaden begonnen und eine ringförmige Anästhesie erreicht, ist die zusätzliche, gezielte Punktion zur Verbesserung des Blockadeerfolges schmerzfrei.
16.4
Intravenöse Regionalanästhesie
Die intravenöse Regionalanästhesie (so genannte Biersche Blockade) kann als Alternative zur axillären Plexusblockade betrachtet werden. Sie ist ein sehr zuverlässiges und sicheres Verfahren für Operationen an Hand und Unterarm. An den unteren Extremitäten wird sie nur sehr selten verwendet. Sie kann nur für Operationen verwendet werden, bei denen die Blutsperre erst am Ende der Operation geöffnet wird. An der betroffenen Extremität wird am Handrücken oder am distalen Unterarm eine intravenöse Kanüle gelegt; diese sollte sich nicht direkt im OP-Gebiet befinden. Am Oberarm wird eine Doppelkammermanschette angebracht. Die Extremität wird nun mit einer Esmarch-Binde von distal beginnend blutleer gewickelt und anschließend die proximale Kammer mindestens 100 mm Hg über den systolischen Blutdruck aufgepumpt. Nun wird ca. 1 ml/ kg KG Mepivacain 0,5 % injiziert. Die Wirkung tritt nach ca. 5–10 min ein. Dann kann die distale Kammer aufgeblasen und anschließend die proximale abgelassen werden.
167 Literatur
Am Ende der Operation, frühestens jedoch nach 20 min, darf der Tourniquet geöffnet werden. Wird dieser früher geöffnet, kann das Lokalanästhetikum in den Blutkreislauf gelangen und toxische Reaktionen hervorrufen.
Literatur Hahn/Mc Quillan (2001) Regionalanästhesie, Urban und Fischer Jankovic D (2003) Regionalblockaden und Infiltrationstherapie, 3. Aufl., ABW Wiss Verlagsges mbH Meier/Büttner (2001) Kompendium der peripheren Blockaden, 2. Aufl., Arcis-Verlag GmbH Meier/Büttner (2004) Atlas der peripheren Regionalanästhesie, Thieme Stuttgart Niesel/van Aken (2002) Lokalanästhesie, Regionalanästhesie, Regionale Schmerztherapie, 2. Aufl., Thieme Stuttgart Reich/Alexander (2004) Regionalanästhesien im Kindesalter, 1. Aufl., Uni-Med Verlag
16
17 Monitoring Bernd Schmitz 17.1
Standardmonitoring –170
17.1.1 17.1.2 17.1.3 17.1.4 17.1.5 17.1.6 17.1.7 17.1.8
EKG –170 Nichtinvasive Blutdruckmessung (NIBD) –170 Pulsoxymetrie –170 Beatmungsmonitoring –171 Kapnometrie und Kapnographie –171 Inspiratorische Sauerstoffkonzentration –172 Narkosegasmonitoring –172 Relaxometrie –172
17.2
Erweitertes Monitoring –173
17.2.1 17.2.2 17.2.3 17.2.4 17.2.5 17.2.6 17.2.7 17.2.8 17.2.9 17.2.10
Urinausscheidung –173 Temperaturmessung –174 Zentraler Venendruck –174 Invasive arterielle Blutdruckmessung –174 Pulmonalarterienkatheter (PAK) –174 Transkardiopulmonale Indikatordilution und Pulswellenkonturanalyse –176 Transösophageale Echokardiographie (TEE) –177 Elektroenzephalographie (EEG) –177 Evozierte Potenziale –177 Transkranielle Dopplersonographie (TCD) –178
Literatur –178
170
Kapitel 17 · Monitoring
)) Das Standardmonitoring wird bei jedem Patienten, abhängig vom gewählten Anästhesieverfahren, aber unabhängig von der Größe des chirurgischen Eingriffs oder etwaiger Vorerkrankungen des Patienten durchgeführt. Das erweiterte Monitoring wird in Abhängigkeit von den Bedürfnissen des individuellen Patienten oder Eingriffs ausgewählt.
! Bei Patienten mit erhöhtem Risiko für Knochenfrakturen (Osteoporose) nicht am Unterarm oder -schenkel messen.
Bei automatischer Blutdruckmessung über einen längeren Zeitraum sollte das Messintervall nicht kürzer als 3 min eingestellt sein (Beeinträchtigung der Kapillardurchblutung unter der Manschette!)
Messprinzipien 17.1
Standardmonitoring
17.1.1
EKG
Hinweise zum EKG im Rahmen des Standardmonitorings 5 Oberflächen-EKG; je nach OP-Gebiet werden die Elektroden, um Störeinflüsse zu minimieren, nicht an den Extremitäten angebracht (modifizierte Einthoven-Ableitung) 5 Üblicherweise Monitor-EKG (25 mm/s), Umschaltmöglichkeit auf Diagnose-EKG (50 mm/s) zur besseren Einordnung von Rhythmusstörungen und ST-Streckenveränderungen obligat 5 Immer Ableitung II (Ausnahme: herzgesunde Kinder im Aufwachraum, sofern das Pulsoxymeter zuverlässig misst 5 Zusätzlich Ableitung V sowie automatische ST-Segmentanalyse bei erhöhtem kardialen Ischämierisiko (KHK, Gefäß- sowie Herzchirurgie)
! Íntrakardiale EKG-Ableitungen zur Lagekontrolle von zentralen Venenkathetern sind nur mit dafür vorgesehenen, galvanisch isolierten Monitoren zulässig.
17.1.2 Nichtinvasive Blutdruckmessung
4 Auskultatorisch: Manschettendruck zum Zeitpunkt des Auftretens und Verschwindens der Korotkovtöne. 4 Palpatorisch: der systolische Druck entspricht dem Manschettendruck, bei dem die Pulswelle gerade detektiert werden kann (palpatorisch oder pulsoxymetrisch); der diastolische Druck ist nicht messbar. 4 Oszillometrisch: aus den kleinen pulsabhängigen Druckschwankungen in der Manschette beim langsamen Ablassen des Manschettendrucks können systolischer, diastolischer und Mitteldruck berechnet werden (der Mitteldruck entspricht dem Manschettendruck, bei dem die größten Druckschwankungen gemessen werden).
Fehlerquellen Bei einer zu kleinen Manschette werden falsch hohe Werte gemessen, bei zu großer Manschette falsch niedrige Werte. Die »zentrale Tendenz« bei oszillometrischer Messung bedeutet: sehr niedrige Werte werden falsch hoch; sehr hohe Werte falsch niedrig gemessen. Falsch niedrige Werte kommen bei palpatorischer Messung vor. Wie beim Pulsoxymeter liefert auch die automatische nichtinvasive Blutdruckmessung nur dann exakte Werte, wenn der Puls des Patienten sicher erkannt werden kann (Probleme bei Rhythmusstörungen und Zentralisation, Messung unmöglich an der Herz-Lungen-Maschine). ! Bei arteriosklerotischen Arterien kann es zur Messung falsch hoher Blutdruckwerte kommen.
(NIBD)
17 Hierbei werden der systolische und der diastolische Blutdruck mittels einer Blutdruckmanschette üblicherweise am Oberarm gemessen. Die Manschettenbreite sollte etwa 2/3 der Länge des Oberarmes betragen. Alternativ (z. B. bei Humerusfrakturen oder Dialyseshunt) bietet sich die Messung am Ober- oder Unterschenkel an. Der arterielle Mitteldruck (MAP) kann mit folgender Formel annähernd bestimmt werden: MAP = RRdia + (RRsys – RRdia)/3
17.1.3 Pulsoxymetrie Der Begriff arterielle Sauerstoffsättigung (SaO2, Normwert: 95–100 %) bezeichnet den Anteil des oxygenierten Hämoglobins am Gesamt-Hämoglobin. ! Sauerstoffangebot | Sauerstoffsättigung u Hämoglobinkonzentration u Herzzeitvolumen; d. h. eine hohe Sauerstoffsättigung beweist noch nicht ein ausreichendes Sauerstoffangebot!
171 17.1 · EKG
Messprinzip Die unterschiedliche Lichtabsorption von Oxyhämoglobin und reduziertem Hämoglobin bei verschiedenen Wellenlängen (660 nm und 940 nm) ist die Grundlage der Pulsoxymetrie. Die arterielle Oxyhämoglobinkonzentration wird mit Hilfe der arteriellen Pulsation identifiziert und kann so von der venösen Konzentration unterschieden werden.
Fehlerquellen Falsch hohe Sättigungswerte werden bei Dyshämoglobinämien (CO-Hb wird zu 100 %; Met-Hb zu ca. 50 % als oxygeniertes Hb gemessen) bestimmt. Eine rhythmische Verschiebung des Sensors (Muskelbewegungen des Patienten, Reanimation) führt dazu, dass der gemessene pulsatile Anteil der Extinktion nicht mehr allein durch Blutvolumenänderungen bedingt ist. Bei starken Rhythmusstörungen oder schlechter peripherer Durchblutung (z. B. im Schock) kann der pulsatile Anteil nicht mehr exakt bestimmt werden; der nicht pulsatile Blutfluss an der Herz-Lungen-Maschine macht die Pulsoxymetrie unmöglich. Bei sehr niedrigem Herzzeitvolumen können falsch niedrige Werte angezeigt werden (vermutlich durch Rückstrom venösen Bluts in die Arteriole, welches dann bei der nächsten Pulswelle mitgemessen wird). Mit dunklen Nagellacken lackierte Fingernägel können aufgrund der Einschränkung der Transmission des emmitierten Lichts zu Fehlmessungen führen! ! Die angezeigten Sättigungswerte sind nur dann verwertbar, wenn das Pulsoxymeter den Puls exakt erkennt (regelmäßiger Piepton, Frequenzanzeige stimmt mit dem EKG überein).
Aufgrund der zahlreichen Fehlermöglichkeiten ist dafür Sorge zu tragen, dass klinische Zeichen einer niedrigen Sauerstoffsättigung (z. B. Atemnot, Unruhe, Tachypnoe, Einsatz der Atemhilfsmuskulatur, Nasenflügeln bei Kindern, zunehmende Bewusstseinstrübung) nicht übersehen werden. ! Mindestens ein Körperteil des Patienten sollte während der Narkose für den Anästhesisten gut sichtbar und beleuchtet sein!
17.1.4 Beatmungsmonitoring Beatmungsfluss Bei volumenkontrollierter Beatmung besteht konstanter inspiratorischer Fluss, bei druckkontrollierter Beatmung kommt es zu abnehmendem Fluss (so genannter dezelerierender Flow).
Während der Ausatmung fällt der Fluss exponenziell ab. Ein endexspiratorischer Fluss spricht für Air trapping.
Beatmungsdruck Bei Kindern und Erwachsenen liegt der Beatmungsdruck im Normalfall ca. 15–20 mbar. Als Spitzendruck (Peak pressure) wird der maximale Beatmungsdruck, als Plateaudruck (Pausendruck) der Druck am Ende der inspiratorischen Pause bezeichnet (entspricht in etwa dem maximalen Druck in der Alveole). Der positive endexspiratorische Druck (PEEP) ist der Druck am Ende der Ausatmung.
Indikation/Alarme Wichtige Begriffe des Beatmungsmonitorings sind der Diskonnektionsalarm (bei jedem beatmeten Patienten), das ist die untere Alarmgrenze für Beatmungsdruck oder das Atemvolumen, der Stenosealarm (bei jedem beatmeten Patienten), die obere Alarmgrenze für den Beatmungsdruck sowie der Apnoealarm (bei jedem assistiert beatmeten Patienten), das ist die untere Alarmgrenze für Atemfrequenz oder exspiratorisches Atemvolumen.
Fehlerquellen Ältere Beatmungsgeräte können während der Exspiration einen Unterdruck erzeugen (z. B. durch die absinkende Bleiplatte in einem Bag-in-the-bottle-System). Die Messung des exspiratorischen Volumens ist bei diesen Geräten kein sicherer Diskonnektionsalarm, da durch Leckagen Umgebungsluft angesaugt würde.
17.1.5 Kapnometrie und Kapnographie Der endexspiratorische (= endtidale) Kohlendioxidpartialdruck (petCO2) ist beim lungengesunden Patienten (ohne erhöhte Totraumventilation) ca. 4–5 mmHg niedriger als der arterielle Kohlendioxidpartialdruck (paCO2, Normalwert: 40 ± 4 mmHg). Eine Totraumerhöhung (z. B. nach Lungenembolie, bei COPD) führt zu einer vermehrten Beimischung »unverbrauchten« Atemgases in der Exspirationsluft und damit zu einem niedrigeren petCO2. Die Messung des petCO2 ermöglicht die kontinuierliche, nichtinvasive Überwachung der Stoffwechselleistung (CO2-Produktion im Gewebe), des Kreislaufs (CO2-Transport in die Lunge), des Gasaustauschs (CO2-Diffusion) sowie der korrekten trachealen Lage des Tubus (CO2-Abatmung) und ist bei allen beatmeten Patienten indiziert. Messort ist üblicherweise die Konnektionsstelle zwischen Endotrachealtubus und Beatmungsschläuchen. Die Messung erfolgt mittels Extinktionsmessung im Haupt- oder Nebenstrom.
17
172
Kapitel 17 · Monitoring
Bei der Hauptstrommessung befindet sich der Sensor direkt zwischen Tubus und Y-Stück, wodurch eine verzögerungsfreie Messung gewährleistet wird. Allerdings ist die Sensorkalibrierung aufwändig und es können Druck- sowie Wärmeschäden auftreten. Bei der Nebenstrommessung werden die Atemgase über eine dünne Schlauchleitung vom Messgerät (50– 200 ml/min) angesaugt. Die Kalibration erfolgt automatisch im Monitor und die Messung weiterer Gase (z. B. volatile Anästhetika) ist technisch leicht realisierbar.
Fehlerquellen Bei extrem verminderter Lungendurchblutung (Herzstillstand, Reanimation, fulminante Lungenembolie) ist das exspiratorische CO2 sehr niedrig und kann somit eine ösophageale Intubation vortäuschen. CO2 im Magen (nach kohlensäurehaltigen Getränken, nach Mund-zu-Mund-Beatmung oder nach insuffizenter Maskenbeatmung) kann bei ösophagealer Intubation während der ersten Atemzüge zur Detektion von CO2 führen und so eine tracheale Intubation vortäuschen. Bei der Messung im Nebenstrom können falsch niedrige Werte gemessen werden, falls durch ein Leck Umgebungsluft angesaugt wird. Wenn eine deutliche Plateauphase fehlt, so ist der arterielle pCO2 in der Regel deutlich höher als der gemessene petCO2 (bei Bronchospasmus, Auswaschung der Exspirationsluft im Schlauchsystem oder niedriger Saugrate im Nebenstrom). ! Auskultation, Luftstrom aus dem Tubus nach Thoraxkompression und Pulsoxymetrie sind keine sicheren Zeichen einer trachealen Intubation! Daher ist unmittelbar nach erfolgter Intubation grundsätzlich ein endexspiratorisches CO2-Monitoring anzuschließen.
17.1.6 Inspiratorische
Sauerstoffkonzentration
17
17.1.7 Narkosegasmonitoring Bei jeder Narkose mit volatilen Anästhetika ist die Überwachung der in- und exspiratorischen Narkosegaskonzentration sinnvoll. Sie ermöglicht zum einen eine Funktionsüberwachung des Vapors und ist darüber hinaus bei Low- und Minimal-Flow-Anästhesien unverzichtbar, weil dann die am Vapor eingestellte Konzentration nicht mit der dem Patienten applizierten übereinstimmt. Die Messung erfolgt im Nebenstrom in der Regel mittels Infrarotspektroskopie, wobei anhand des typischen Spektrums eine Identifikation des Anästhesiegases möglich ist. ! Bei Monitoren ohne automatische Anästhesiegasidentifikation kann die Einstellung des falschen Anästhesiegases zu Messfehlern bis zum Faktor 6 führen.
17.1.8 Relaxometrie Gemessen wird die neuromuskuläre Übertragung an der motorischen Endplatte der quergestreiften Muskulatur. Zu beachten ist, dass auch bei maximaler Relaxation eine Muskelkontraktion durch direkt auf den Muskel einwirkende elektrische Reize möglich ist (Elektrokauter). Die Relaxometrie wird zur Überprüfung einer ausreichenden Relaxationstiefe eingesetzt, wenn der Patient sich auf keinen Fall bewegen darf (z. B. bei Eingriffen am offenen Auge oder Operationen am ZNS), ein verminderter Muskeltonus das operative Ergebnis verbessern kann, eine Relaxierung eine Maßnahme überhaupt erst durchführbar macht (z. B. Repositionen oder Fasziennaht nach Laparatomie) oder der Patient von einem reduzierten Sauerstoffverbrauch bei fehlendem Muskeltonus profitiert (z. B. beim Abgehen von der Herz-Lungen-Maschine). Eine weitere Indikation ist die Überprüfung einer ausreichenden neuromuskulären Übertragung vor der Extubation.
Messprinzip Die Messung der Sauerstoffkonzentration im Inspirationsschenkel des Beatmungsgeräts ist verbindlich vorgeschrieben, nachdem es in den Anfangszeiten der Anästhesie (z. B. durch Ausfall der zentralen Gasversorgung) zu Zwischenfällen mit unerkannt sauerstoffarmen Gasgemischen kam. ! Die untere Alarmgrenze für die inspiratorische Sauerstoffkonzentration sollte auf mindestens 30 % eingestellt sein (Ausnahme: bei Früh- und Neugeborenen können niedrigere Sauerstoffkonzentrationen erwünscht sein).
Zur Relaxometrie wird ein Nerv elektrisch stimuliert und die Kontraktion des entsprechenden Muskels gemessen. Hierbei ist die supramaximale Stimulation wichtig, d. h. die Stromstärke wird etwas höher eingestellt als für eine maximale Muskelkontraktion notwendig. Üblicherweise wird der N. ulnaris am Handgelenk (zwei Elektroden im Verlauf des N. ulnaris) stimuliert und die Kontraktion des M. adductor pollicis (Bewegung des Daumens zur Handfläche) beurteilt, wobei die manuelle Messung (Fühlen der Muskelbewegung) exakter ist als die visuelle. Alterna-
173 17.2 · Erweitertes Monitoring
tiv können der N. facialis (periorale Zuckungen) oder der N. peronaeus (Fußheben) stimuliert werden. Technische Messverfahren wie EMG, Messung der Muskelkraft oder Akzelerometrie werden auf Grund des erheblichen technischen Aufwands im klinischen Alltag nur selten eingesetzt. Die häufigsten Stimulationsformen sind:
Train of four (TOF) Hierbei werden vier Impulse im 500 ms-Intervall appliziert. Bei depolarisierenden Relaxanzien (Succinylcholin) sind alle Kontraktionen gleich stark bzw. gleich schwach (Ausnahme: Phase-II-Block) und bei nicht depolarisierenden Relaxanzien kommt es mit zunehmender Relaxation zu einem Fading, d. h. die letzten Ausschläge werden zunehmend schwächer, bis auch der erste Impuls zu keiner Muskelantwort mehr führt. Zur Abschätzung der Ausprägung der Muskelrelaxation wird der sog. T4/T1-Quotient, d. h. Verhältnis der Kontraktionsstärke des vierten und ersten Impulses, gebildet. Hierbei bedeutet ein T4/T1-Quotient von 100 % vier gleich starke Muskelkontraktionen, was einer Rezeptorbesetzung von unter 70 % entspricht und in der Regel eine problemlose Extubation erlaubt. Sollte keine Muskelkontraktion palpiert werden, ist der T4/T1-Quotient 0 %. Dies entspricht einer Rezeptorbesetzung durch das Muskelrelaxans von > 90 % und einer in aller Regel ausreichend profunden Relaxation.
Posttetanic count (PTC) Hierbei wird der Nerv mit 50 Hz Wechselstrom über 5 s gereizt (sehr schmerzhaft), dann erfolgen einzelne Impulse im Abstand von einer Sekunde. Als PTC bezeichnet man die Zahl der Impulse, die nach dem tetanischen Reiz noch zu einer Muskelkontraktion führen. Je kleiner der PTC ist, desto ausgeprägter ist die Relaxierung. Mit diesem Verfahren kann besonders eine starke Relaxation beurteilt werden (T4/T1-Quotient fast 0 %).
Double burst (DBS) Zwei kurze tetanische Reize werden im Abstand von 0,75 s verabreicht. Sie sind nicht sehr schmerzhaft und daher auch beim wachen Patienten anwendbar. Bei schwacher Relaxation (T4/T1-Quotient fast 100 %) spürt man das Fading besser als beim TOF. Somit kann mit dem DBS eine Restrelaxation besser beurteilt werden.
Fehlerquellen Bei Stimulation des N. ulnaris am Handgelenk kann eine Beugung von DIII–V durch direkte Erregung von Muskel-
fasern stattfinden; dies ist kein Zeichen für eine neuromuskuläre Erregungsübertragung. Bei hypothermen Patienten sind die Muskelkontraktionen schwächer (noch ausgeprägter, wenn die Stimulation nicht supramaximal ist). Stark innervierte Muskeln (Augenmuskeln, Handmuskeln) haben mehr Rezeptoren und werden stärker relaxiert als schwach innervierte Muskeln (z. B. Zwerchfell); d. h. Zwerchfellbewegungen sind möglich, selbst wenn am Handgelenk eine fast vollständige Relaxation gemessen wird. Ein tetanischer Reiz (beim PTC) sollte auch bei vollständiger Relaxation eine Muskelkontraktion bewirken, ansonsten ist ein Fehler im Messsystem wahrscheinlich (Relaxometer, Kabel, Elektroden, Elektrodenposition). ! Trotz lege artis durchgeführter Relaxometrie sollte immer auf folgende klinischen Zeichen geachtet werden: Nachlassende Relaxation: Bewegungen des Patienten, erhöhter Muskeltonus (z. B. an den Fingern), steigender Beatmungsdruck, Bauchpresse, inspiratorische Kerbe in der Kapnographiekurve, steigender petCO2. Noch bestehende Teilrelaxation: Unruhiger Patient, schnelle, aber flache Atemzüge, kein Hustenstoss möglich, Anheben des Kopfes unmöglich. Wenn der Patient fähig ist, länger als 7 s den Kopf zu heben, ist von einer ausreichend abgeklungenen Muskelrelaxation auszugehen.
17.2
Erweiter tes Monitoring
Das erweiterte Monitoring ist notwendig, wenn der Zustand des Patienten und die Dauer und Schwere der Operation eine ausgeprägte Beeinflussung der kardiopulmonalen Funktion erwarten lassen. Darüber hinaus kommen bei bestimmten Operationen (z. B. in der Kardio- oder Neurochirurgie) sowie bei ausgedehnten Eingriffen und schweren Traumen, die mit massiven Blutverlusten einhergehen, sehr spezielle Monitoringverfahren zum Einsatz. Auch im Rahmen der Intensivtherapie kann das spezielle Monitoring erforderlich sein.
17.2.1 Urinausscheidung Eine nachlassende Urinausscheidung (< 1 ml/kg/h) ist ein sensitives Zeichen für eine Verschlechterung der Kreislaufsituation (z. B. wegen Volumenmangel). Die Katheterisierung der Harnblase mittels transurethraler (kurzfristig) oder suprapubischer Drainage ist daher bei lang dauernden Eingriffen (Bilanzierung) und Eingriffe mit zu erwar-
17
174
Kapitel 17 · Monitoring
tendem hohen Volumenverlust indiziert. Eine weitere Indikation ist der akute Harnverhalt im Aufwachraum.
17.2.2 Temperaturmessung Zur Anwendung kommen entweder konventionelle Sensoren (Thermistoren, Thermoelemente) zur kontinuierlichen Messung oder es werden Einzelmessungen mittels Infrarotthermometrie im Gehörgang durchgeführt. Indiziert ist die Temperaturmessung bei lang dauernden Eingriffen, Eingriffen mit hohem Blut- oder Volumenverlust, bei Eröffnung großer Körperhöhlen, bei Kleinkindern und alten Patienten (schnellere Auskühlung, aber auch Gefahr des Wärmestaus), bei kontrollierter Hypothermie (Herz- und Neurochirurgie) sowie bei erhöhtem Risiko für maligne Hyperthermie. Die Messungen können ösophageal, rektal, intravasal, intravesikal oder im äußeren Gehörgang erfolgen.
17.2.3 Zentraler Venendruck Zentrale Venenkatheter sind zum Zwecke des hämodynamischen Monitorings bei Operationen mit absehbar großen Blutverlusten, ausgedehnten chirurgische Eingriffen mit großem Flüssigkeitsumsatz sowie bei Patienten mit eingeschränkter kardiozirkulatorischer und pulmonaler Reserve indiziert. Die erhaltenen Absolutwerte sind jedoch mit Vorsicht zu interpretieren, da lediglich der intravasale Druck gemessen wird, wobei jedoch für eine genaue Abschätzung der Volumensituation die Kenntnis des transmuralen Drucks notwendig ist (siehe Pulmonalarterienkatheter). ! Der Druck vor dem rechten Herzen erlaubt nur bei Herz- und Lungengesunden sowie spontan atmenden Patienten eine Abschätzung des Volumenstatus. Bei kritisch kranken Patienten kann diese mittels ZVD-Messung nur sehr ungenau erfolgen.
17
Die Messung des zentralen Venendrucks erfolgt mittels piezoelektrischer Druckwandler. Die abgeleitete Druckkurve (. Abb. 17.1) besteht aus den positiven Wellen a, c und v sowie den negativen Wellen x und y, wobei die a- und vWellen von besonderer klinischer Bedeutung sind. Die a-Welle entsteht durch Kontraktion des rechten Vorhofs und fehlt daher bei Vorhofflimmern. Überhöhte a-Wellen entstehen, wenn der Vorhof sich gegen eine ganz oder teilweise geschlossene Trikuspidalklappe kontrahiert (z. B. AV-Block, Trikuspidalstenose). Die v-Welle entsteht durch Füllung des Vorhofs bei geschlossener Trikuspidalklappe. Sie ist überhöht bei Regurgitation an der Trikuspid-
. Abb. 17.1. ZVD-Kurve
alklappe bei absoluter oder relativer Klappeninsuffizienz (z. B. pulmonale Hypertonie, Rechtsherzinsuffizienz).
17.2.4 Invasive ar terielle
Blutdruckmessung Der arterielle Blutdruck setzt sich zusammen aus 4 dem systolischen Druck, dieser korreliert mit dem myokardialen Sauerstoffverbrauch, 4 dem Mitteldruck, dieser bestimmt, zusammen mit dem totalen peripheren Widerstand (TPR), die Organdurchblutung und 4 dem diastolischen Druck, dieser bestimmt, zusammen mit dem linksventrikulären enddiastolischen Druck (LVEDP), den koronaren Perfusionsdruck.
Indikation Kardiovaskulär instabile Patienten (z. B. höher dosierte Katecholamintherapie), zu erwartende hohe Blutdruckschwankungen (z. B. aortales Cross-clamping) oder hoher Blutverlust, kontrollierte Hypotonie, Patienten an der Herz-Lungen-Maschine (nichtinvasive Messverfahren sind auf eine Pulswelle angewiesen), intrakranielle Eingriffe.
Fehlerquellen Zur Peripherie hin leichter Abfall der Mitteldrucks (wegen Strömungswiderstand) sowie deutliche Zunahme der Blutdruckamplitude (wegen Reflexionen der Pulswelle). Eine Luftblase oder ein Blutkoagel im Messschlauch oder in der Kanüle führt zur Dämpfung der Druckkurve und damit zur Annäherung der Maxima und Minima an den Mitteldruck. ! Gerade bei niedrigen Druckwerten ist die arterielle Druckmessung in der Regel genauer als die nichtinvasive Druckmessung.
17.2.5 Pulmonalar terienkatheter (PAK) Grundsätzliches Wie für viele andere bettseitige Monitoringverfahren gilt auch für den Pulmonalarterienkatheter, dass eine Out-
175 17.2 · Erweitertes Monitoring
come-Verbesserung im Sinne einer positiven Beeinflussung der Überlebenswahrscheinlichkeit bislang nicht schlüssig er wiesen wurde. So konnten die vorliegenden Studien zwar eine Verbesserung der hämodynamischen Situation mittels PAK-geführter Therapie aufzeigen, gemäß einer Meta-Analyse aus dem Jahr 2000 scheinen jedoch nur gewisse Subkollektive zu profitieren. Die Ursache liegt offensichtlich in dem Problem, dass mittels PAK Drücke gemessen, aber die Volumensituation des Patienten therapiert wird. Ein unmittelbarer Rückschluss von Drücken, die im Lungenkreislauf gemessen werden, auf den Bedarf an Volumen oder Katecholaminen ist jedoch nur sehr eingeschränkt möglich. Das Problem ist hierbei, dass nicht der transmurale Druck im entsprechenden Gefäß gemessen wird, sondern der intravasale, der von einer Vielzahl anderer Faktoren (z. B. abdominaler und intrathorakaler Druck) abhängig ist. Trotzdem kann der PAK bei einer Vielzahl schwer kranker Patienten in der operativen Medizin indiziert sein, weil die korrekte Interpretation der erhobenen Daten unter Berücksichtigung der o. g. Limitationen wegweisend für die Therapie und die Dokumentation des Therapieerfolges sein können. Weiterhin bieten moderne PA-Katheter die Möglichkeit der automatisierten, semi-kontinuierlichen Messung des Herz-Zeit-Volumens mittels Thermodilution sowie der gemischt-venösen Sauerstoffsättigung mittels Reflexionsspektralphotometrie.
. Tabelle 17.1. Normalwerte bei PAK-Mesung Parameter LAP
Normalwert 2–10 mmHg
PAP syst.
17–32 mmHg
PAP diast.
1–7 mmHg
PAP mitt.
9–19 mmHg
PCWP
5–12 mmHg
ZVD
0–8 mmHg
CO
5–6 l/min
CI
2,3–3,5 l/min/m2
SVR SVRI
900–1200 dyn × s × cm–5 1800–2400 dyn × s × cm–5/m2
PVR
150–250 dyn × s × cm–5
PVRI
50–200 dyn × s × cm–5
SV
70 ml/Schlag
SVI
35 ml/Schlag/m2
RVSWI
8–12 gm/m2
LVSWI
51–61 gm/m2
Indikation Perioperative Überwachung schwerkranker Patienten z. B. in der Herzchirurgie mit schlechter Ventrikelfunktion (EF < 40 %), pulmonaler Hypertonie, bei Rezidiv- und Kombinationseingriffen (Klappenersatz + Bypass, Doppelklappenersatz etc.) sowie beim Ascendensersatz bei thorakalen Aortenaneurysmen oder zur Herztransplantation und Kunstherzimplantation. In der Allgemeinchirurgie ist der PAK indiziert bei der Lebertransplantation, großen Eingriffen und schwer eingeschränkter Ventrikelfunktion oder schwerer pulmonaler Hypertonie sowie nach kürzlich aufgetretenem Myokardinfarkt und nicht aufschiebbarer, großer Operation.
Kontraindikationen Floride Endokarditis, Operationen im Bereich der Trikuspidalklappe sowie Shuntvitien (relativ, Fehllagen häufig).
Diagnostische Möglichkeiten Messung von 4 pulmonalarteriellem Druck (PAP; kontinuierlich)
4 Herz-Zeitvolumen (HZV) =cardiac output (CO; meist intermittierend, mit CCO-Katheter semi-kontinuierlich möglich) 4 pulmonal-kapillärer Verschlussdruck (PCWP) # linksatrialer Druck (LAP; intermittierend) 4 gemischt venöse Sauerstoffsättigung (intermittierend, mit Oximetriekatheter kontinuierlich) Berechnung von 4 CI (Herzindex) 4 SVR bzw. SVRI (systemischer Gefäßwiderstand bzw. -index) 4 PVR bzw. PVRI (pulmonaler Gefäßwiderstand bzw. -index) 4 SV bzw. SVI (Schlagvolumen bzw. -index) 4 RVSWI (rechtsventrikulärer Schlagarbeitsindex) 4 LVSWI (linksventrikulärer Schlagarbeitsindex) Die Normwerte für die bestimmbaren Parameter zeigt . Tab. 17.1.
17
176
Kapitel 17 · Monitoring
Diagnostische Aussagen Der diastolische Pulmonalisdruck bzw. der Wedge-Druck korrelieren in gewissen Grenzen mit dem linken Vorhofdruck und somit mit dem linksventrikulären enddiastolischen Druck (Füllungsdruck). Dieser hängt ab vom linksventrikulären Volumen und von der Compliance der linken Kammer. Der Füllungsdruck des linken Ventrikels kann indirekt als Maß für die linksventrikuläre Funktion herangezogen werden (wesentlich bei der Therapie des Low-output-Syndroms). Eine enge Korrelation zwischen Wedge-Druck und linksventrikulärem Füllungsdruck gilt nur bei regelrechter Funktion des linken Ventrikels, der Mitralklappe und der pulmonalen Strombahn. Bei Abnahme der linksventrikulären Compliance (Herzinsuffizienz, Z. n. Myokardinfarkt, Kammerhypertrophie, Perikarderkrankungen) und bei Aorteninsuffizienz übersteigt der linksventrikuläre enddiastolische Druck den mittleren linken Vorhofdruck und somit auch den Wedge-Druck. Bei Mitralvitien und Beatmung mit PEEP > 10 cm H2O liegt der Wedge-Druck über dem linksventrikulären Enddiastolendruck. Bei Zunahme der Compliance (dilatiertes Herz, offener Thorax!) führt der gemessene Wedge-Druck zur Unterschätzung des tatsächlichen Füllungsvolumens. Bei gleichzeitig erhöhtem Wedge-Druck gilt ein Herzindex < 2,2 (l/min/m2KOF) als Zeichen einer Herzinsuffizienz. Werte unter 2 können Ausdruck eines kardiogenen Schocks sein. Eine definitive Beurteilung der Kreislaufsituation schließt jedoch immer die Bestimmung von gemischt-venöser Sättigung, Laktat und Säure-Basen-Haushalt ein. Die gemischtvenöse Sauerstoffsättigung ergibt sich aus der Differenz zwischen Sauerstoffangebot und Sauerstoffverbrauch. Somit kann auf die Sauerstoffbilanz des Organismus geschlossen werden.
17
Aussagekraft der gemischvenösen Sauerstoffsättigung Normalwerte: 71–79 % 5 < 70 % – Zeichen einer Störung der Sauerstoffbilanz (z.B. Hypovolämie, Herzinsuffizienz) 5 < 50 % – schwere Störung der Sauerstoffbilanz (Schock, Laktazidose) 5 > 79 % – Zeichen eines hyperdynamen Kreislaufs (z. B. Sepsis), funktionellen L-R-Shunts oder Zeichen hyperdynamer Kreislaufsituation bei schwerer Leberinsuffizienz
Eine sorgfältige Erhebung der Messwerte ist extrem wichtig! Bei laufender Infusion sollte keine HZV-Messung erfolgen (führt zu Indikatorzugewinn und falsch niedrigem HZV). Zur Messung sollten 3 Injektionen von kalter physiologischer NaCl-Lösung schnell (binnen 4 s) und unabhängig vom Respiratorzyklus injiziert werden. Die Thermodilutionskurven sind auf Plausibilität zu untersuchen. Keine Infusionsfilter benutzen und überflüssige 3-Wege-Hähne entfernen. Unter bestimmten Bedingungen können trotz gestörter Sauerstoffbilanz normale oder erhöhte SvO2-Werte gemessen werden. Eine falsch hohe gemischtvenöse Sauerstoffsättigung kommt vor bei Abnahmefehlern (durch zu rasches Aspirieren über den distalen PAK-Schenkel wird teilweise schon oxygeniertes Blut aus den Lungenkapillaren gewonnen), Sepsis, Leberzirrhose oder Leberversagen, intrakardialem L-R-Shunt, peripheren Shunts (z. B. Hämofiltration, A-V-Fistel) oder Zyanidintoxikation.
17.2.6 Transkardiopulmonale
Indikatordilution und Pulswellenkonturanalyse Bei der transkardiopulmonalen Indikatordilution (TPID) wird über einen zentralvenösen Katheter eine Indikatorsubstanz (kalte Kochsalz- und/oder farbige Indikatorlösung [Indozyaningrün]) injiziert und mittels eines speziellen Katheters (in der A. femoralis) detektiert. Die dadurch erhaltene Indikatordilutionskurve ermöglicht die Berechnung des Herz-Zeit-Volumens sowie der sog. mittleren Transferzeit. Aus diesen beiden Parametern können volumetrische Größen wie z. B. intrathorakales Blutvolumen und extravaskuläres Lungenwasser abgeleitet werden. Die fehleranfällige Abschätzung der myokardialen Vorlast über die so genannten Füllungsdrücke entfällt. Weiterhin kann die Myokardkontraktilität abgeschätzt werden. Der systemische Gefäßwiderstand wird analog zur PAK-Methode berechnet. Durch die Kombination mit der Pulskonturanalyse nach Wesseling kann eine Schlag-für-Schlag-Herzzeitvolumenmessung durchgeführt werden.
Vorteile Die Methode ist weniger invasiv und rascher anwendbar als der PAK, hat eine große Benutzerakzeptanz und ermöglicht echtes Volumenmonitoring.
Fehlerquellen TPID misst im Vergleich zum PAK meist geringfügig zu hohe HZV-Werte durch transpulmonalen Indikatorver-
177 17.2 · Erweitertes Monitoring
lust. Andererseits kommt es durch Zufuhr kalter Infusionslösungen zu einem scheinbaren Indikatorzugewinn, wodurch ein falsch niedriges HZV gemessen wird. Darüber hinaus führen Fehllagen der Messsonde in der A. femoralis zu Fehlmessungen. Änderungen der physikalischen Eigenschaften des arteriellen Systems wie Aortenimpedanz und arterielle Compliance oder aber auch der Kontraktilität führen zu Fehlbestimmungen bei der Pulskonturanalyse, weshalb das System bei größeren Änderungen der Hämodynamik oder mindestens einmal täglich kalibriert werden muss. Eine weitere Fehlerquelle stellen gedämpfte arterielle Messungen oder Schleuderkurven dar.
17.2.7 Transösophageale
Echokardiographie (TEE) Die TEE ist ein semiinvasives Verfahren bei dem mit einer gastroskopähnlichen Sonde, an deren Spitze ein Schallkopf angebracht ist, das Herz vom Ösophagus aus in verschiedenen Schnittebenen untersucht werden kann. Mit modernen Sonden sind eine multiplane Darstellung sowie eine dopplersonographische Untersuchung möglich. Geräte der neuesten Generation ermöglichen eine dreidimensionale Darstellungen z. B. von Herzklappen. TEE-Untersuchungen können prä-, intra-, und postoperativ durchgeführt werden und sind indiziert bei Patienten mit hohem kardialen Risiko, in der Herzchirurgie, bei großen chirurgischen Eingriffen mit hohem Volumenumsatz, in der Neurochirurgie bei Operationen in sitzender Position zur Luftemboliedetektion sowie bei Patienten mit ungeklärter hämodynamischer Instabilität. Sowohl die Anwendung, vor allem aber die Interpretation der erhobenen Befunde bedürfen einer intensiven Ausbildung in entsprechenden Zentren und nachfolgend langer Erfahrung des Untersuchers. ! Cave Bei frischer Läsion des Ösophagus, Zenker-Divertikel, Ösophagustumoren, Barrett-Ösophagus, Z. n. Radiatio des Ösophagus, Ösophagusvarizen mit Blutung in den letzten drei Monaten sowie instabiler HWS-Verletzung sind TEE-Untersuchungen kontraindiziert.
17.2.8 Elektroenzephalographie (EEG) Das EEG registriert die Summe der exzitatorischen und inhibitorischen Potenziale kortikaler Nervenzellen von der Kopfoberfläche. Grundlage des Einsatzes zur Messung der Anästhesietiefe (genauer der Hypnosetiefe) sind spezi-
fische Effekte von Hypnotika auf das Frequenzspektrum und die Amplitude des abgeleiteten EEGs. In Narkose, aber auch bei Hypothermie und Hypoxie verschiebt sich das Frequenzspektrum des EEGs nach links (zu niedrigeren Frequenzen) und die Signalamplituden werden kleiner.
Indikationen In der operativen Medizin wird das EEG zur Ökonomisierung der Narkoseführung sowie zur Beurteilung der Narkosetiefe und somit zur Vermeidung von intraoperativem Erwachen eingesetzt. Darüber hinaus sind die Steuerung des Barbituratkomas bei intrakranieller Drucksteigerung sowie die Hirntoddiagnostik Indikationen. Zur Vereinfachung der Interpretation des EEGs sowie zur raschen quantitativen Beurteilung der Narkosetiefe werden mit Hilfe des computerbearbeiteten Roh-EEGs (Powerspektrum) verschiedene Daten errechnet. 4 Spektrale Eckfrequenz: Frequenz, bei der 95 % der Fläche des Powerspektrums auf der linken Seite liegen (in Narkose 8–12 Hz). 4 Median-Frequenz: Frequenz, bei der 50 % der Fläche des Powerspektrums auf der linken Seite liegen (in Narkose 1–3 Hz) 4 Bispektral-Index (BIS): komplizierte mathematische Verarbeitung des EEG-Signals, ermöglicht gute Einschätzung der Narkosetiefe (wach: > 80; tiefe Narkose: < 40).
Fehlerquellen Artefakte entstehen durch schlecht klebende Elektroden, Muskel- sowie Augenbewegungen und externe Störfelder (z. B. Diathermie). Anhand des EEGs kann nicht sicher zwischen Hypoxie oder Hypothermie und Änderung der Narkosetiefe differenziert werden. Bei Kindern existiert eine große altersabhängige und interindividuelle Variabilität des EEG. Burst-suppression-Muster kommen bei Frühund Neugeborenen physiologischerweise vor. Mittels EEG wird lediglich die hypnotische Komponente der Narkose erfasst, nicht jedoch die Analgesiequalität.
17.2.9 Evozier te Potenziale Sensorische Frühpotenziale sind relativ unabhängig von der Anästhetikakonzentration und eignen sich somit besonders für die Funktionskontrolle einer Nervenbahn. In der Anästhesie und in der operativen Intensivmedizin werden eingesetzt: 4 AEP (akustisch evozierte Potenziale) 4 BAEP (akustische Hirnstammpotenziale)
17
178
Kapitel 17 · Monitoring
4 MAEP (akustisch evozierte Potenziale mittlerer Latenz) 4 SSEP (somatosensorisch evozierte Potenziale)
Blutflussgeschwindigkeit näherungsweise bestimmt werden. Aus Flussgeschwindigkeit und Querschnitt wird der Blutfluss berechnet.
Indikation
Fehlerquellen
Messung der zerebralen oder spinalen Oxygenierung (Perfusion): Karotischirurgie (SSEP, Stimulation: N. medianus, Ableitung: Gyrus postcentralis), hohe Aortenabklemmung mit Risiko der spinalen Ischämie (Tibialis-SSEP). Operative Eingriffe in der Nähe wichtiger Nervenbahnen: Eingriffe an der hinteren Schädelgrube (AEP). Testung der Hirnstammfunktion (BAEP) und Beurteilung der Narkosetiefe (MAEP).
Eine hohe Blutflussgeschwindigkeit kann auf einen erhöhten Blutfluss, aber auch auf einen Vasospasmus mit verminderter Durchblutung hinweisen. Die Ermittlung der Querschnittsfläche ist artefaktanfällig. Die Positionierung der Dopplersonde ist oft problematisch.
Messprinzip Messung von Potenzialveränderungen im EEG als Antwort auf periphere Reize. Wegen der geringen Signalstärke (0,1– 20 PV) ist eine Mittelung notwendig, damit Störsignale in den Hintergrund treten.
Fehlerquellen Die EEG-Messung ist artefaktanfällig wegen der schwachen Signale.
17.2.10 Transkranielle Dopplersonographie
(TCD) Ein bettseitiges Messverfahren zur Bestimmung des zerebralen Blutflusses steht bislang nicht zur Verfügung. Mittels TCD kann die Blutflussgeschwindigkeit in der A. cerebri media nichtinvasiv bei ca. 80 % der Patienten gemessen und mittels des erhobenen Wertes unter der Annahme eines konstanten Gefäßquerschnitts auf den Blutfluss in diesem wichtigen Gefäß rückgeschlossen werden: Blutflussgeschwindigkeit (cm/s) = Blutfluss (ml/s) / Querschnittsfläche des Gefäßes
17
Indikation Erkennung von Vasospasmen z. B. nach Subarachnoidalblutung, Hirntoddiagnostik, in der Kardiochirurgie zur Erkennung von Mikroembolien (z. B. Luftbläschen nach Operationen am offenen Herzen).
Messprinzip Messung der Blutflussgeschwindigkeit in der A. cerebri media (normal: ca. 60 cm/s) durch eine temporalseitig aufgesetzte Dopplersonde. Die primär unbekannte Querschnittsfläche der Arterie kann durch Analyse der Kurvenform der
Literatur American Society of Anaesthesiologists Task Force on Pulmonary Artery Catheterization (2003) Practice guidelines for pulmonary ar tery catheterization: an updated report by the American Society of Anaesthesiologists Task Force on Pulmonary Ar tery Catheterization. Anaesthesiology 99: 988–1014 Buhre W, Rossaint R (2003) Perioperative management and monitoring in anaesthesia. Lancet 362: 1839–1846 Caplan RA, Poner KL, Ward RJ, Cheney FW (1990) Adverse respiratory events in anaesthesia: a closed claims analysis. Anaesthesiology 72: 828–833 Deutsche Ges. f. Anästhesiologie u. Intensivmedizin und Bundesverb. Deutscher Anästhesisten. Ausstattung des anästhesiologischen Arbeitsplatzes. Fortschreibung der Richtlinien der Deutschen Ges. f. Anästhesiologie u. Intensivmedizin und des Bundesverb. Deutscher Anästhesisten. http://www.dgai/06pdf/(_2.pdf Fuchs-Buder T, Mencke T (2001) Neuromuskuläres Monitoring. Der Anästhesist 50: 129–138 Greim CA, Roewer N. Transösophageale Echokardiographie. Thieme, Stuttgart Moyle JTB. Pulse Oximetry. 2nd edition 2002, BMJ Book Publishing Schmidt GN, Bischiff P (2004) Neuromonitoring für die Abschätzung der Narkosetiefe. Anaestesiol Intensivmed Notfallmed Schmerzther 39: 33–63 v. Spiegel T, Hoeft A (1998) Transpulmonale Indikator ver fahren in der Intensivmedizin. Der Anaesthesist 47: 220–228
18 Intraoperative Infusionstherapie Karsten Michael 18.1 Physiologische Verteilung des Wassers im Organismus –180 18.2 Flüssigkeitsbedarf –180 18.2.1 Physiologischer Flüssigkeitsbedarf –180 18.2.2 Intraoperativer Flüssigkeitsbedarf –180 18.2.3 Anzeichen des intraoperativen Flüssigkeitsverlusts –180
18.3 Möglichkeiten des Flüssigkeitsersatzes –181 18.3.1 Kristalloide Infusionslösungen –181 18.3.2 Kolloidale Plasmaersatzlösungen –181
18.4 Gefahren der Flüssigkeitstherapie –183 Literatur –183
180
Kapitel 18 · Intraoperative Infusionstherapie
)) Im Rahmen einer Operation kommt es durch Dehydratation oder Hämorrhagie zu Veränderungen des intra- und extravasalen Flüssigkeitsvolumens und konsekutiv zu einer Reduktion des Blutvolumens. Die hierdurch bedingte mangelnde Gewebeoxygenierung kann zur Reduktion oder zum Verlust einzelner oder mehrerer Organfunktionen führen. Während einer Narkose oder einer Notfallsituation muss daher die Normovolämie angestrebt werden. Zur Aufrechterhaltung einer adäquaten Kreislaufsituation und einer ausreichenden Sauerstoffversorgung der Organe während einer Operation ist eine adaptierte Flüssigkeitsersatztherapie notwendig. Hierzu stehen grundsätzlich kristalloide und kolloidale Volumenersatzlösungen zur Verfügung. Die intraoperative Infusionstherapie gewährleistet den individuellen Erhaltungsbedarf des Patienten während der Operation und ersetzt bereits bestehende Flüssigkeitsdefizite sowie Verluste an Körperflüssigkeiten.
18.1
Physiologische Ver teilung des Wassers im Organismus
Der Anteil des Gesamtkörperwassers am Körpergewicht liegt beim Erwachsenen zwischen 50 und 60 %. Der größere Anteil des Gesamtkörperwassers (ca. 40 % des KG) befindet sich dabei im intrazellulären Raum, der kleinere Anteil (ca. 20 % des KG) befindet sich im extrazellulären Raum. Der extrazelluläre Raum kann noch weiter in den interstitiellen, den intravasalen sowie den transzellulären Raum unterteilt werden. Die Kenntnis dieser physiologischen Verteilung des Körperwassers ist zur Einschätzung von intraoperativen Flüssigkeitsveränderungen und ihrer Therapie wichtig. : Beispiel
18
Verteilungsbeispiel. Ein Erwachsener wiegt 70 kg. Sein Gesamtkörperwasser beträgt ca. 42 l. Hiervon befinden sich 28 l im Intrazellulärraum und 14 l im Extrazellulärraum. Von diesen 14 l im Extrazellulärraum befinden sich 3 l im Intravasalraum. Diese 3 l Flüssigkeit bilden mit dem gleichen Volumen an zellulären Bestandteilen das Blutvolumen im Blutgefäßsystem.
Da der intravasale Raum das kleinste Flüssigkeitskompartiment darstellt, zeigen diese Verteilungsverhältnisse, wie wichtig eine adäquate Volumenersatztherapie zur Aufrechterhaltung einer Normovolämie ist.
! Ein Wasserverlust von 20 % des Körpergewichts kann vom Organismus auf längere Zeit nicht kompensiert werden und ist mit dem Leben nicht vereinbar.
18.2
Flüssigkeitsbedarf
18.2.1 Physiologischer Flüssigkeitsbedarf Der erwachsene Mensch verliert täglich ca. 2400 ml Flüssigkeit. Dieser physiologische Flüssigkeitsverlust (. Tab. 18.1) erfolgt durch die Abgabe von Urin (1500 ml), Fäzes (100 ml), Schweiß (100 ml) sowie durch Flüssigkeitsverlust über die Lunge (350 ml) und die Haut (350 ml). Dieser Flüssigkeitsverlust muss ersetzt werden. ! Der basale Flüssigkeitsbedarf ist unterschiedlich und vom Körpergewicht abhängig.
18.2.2 Intraoperativer Flüssigkeitsbedarf Zur Abschätzung des intraoperativen Flüssigkeitsbedarfs müssen folgende Punkte berücksichtigt werden: 4 präoperatives Flüssigkeitsdefizit (durch Nüchternheit) 4 intraoperativer Erhaltungsbedarf 4 spezifischer intraoperativer Flüssigkeitsverlust (durch Blut- und Plasmaverlust) 4 Art und Dauer der Operation Der Ausgleich des gesamten intraoperativen Flüssigkeitsdefizits sollte kontinuierlich und ohne Verzug erfolgen. Ein erhöhter intraoperativer Flüssigkeitsbedarf entsteht beispielsweise durch Sequestration von Flüssigkeit in ein Wundgebiet, durch Blutverlust sowie durch Flüssigkeitsverdunstung über dem OP-Gebiet. ! Der intraoperative Flüssigkeitsersatz lässt sich – zusätzlich zum basalen Bedarf – über Richtwerte abschätzen (. Tab. 18.2).
18.2.3 Anzeichen des intraoperativen
Flüssigkeitsverlusts Zur Erkennung eines intraoperativen Flüssigkeitsdefizits steht in der Praxis die Bewertung der routinemäßig abgeleiteten Kreislaufparameter im Vordergrund. ! Das wichtigste Zeichen einer Hypovolämie ist eine Tachykardie bei sinkendem arteriellen Blutdruck.
181 18.3 · Möglichkeiten des Flüssigkeitsersatzes
. Tabelle 18.1. Physiologischer Flüssigkeitsbedarf Altersgruppe
Flüssigkeitsbedarf [ml/kg KG/h]
Erwachsene
2
Kind
3
Kleinkind
4
Säugling
5
Frühgeborenes
6
. Tabelle 18.2. Intraoperativer Flüssigkeitsbedarf Operation
Flüssigkeitsbedarf [ml/kg KG/h]
Kleine OP (TE)
2
Mittlere OP (AE)
4–6
Große OP (Darmresektion)
8–10
Ileus, Peritonitis
10–15
Weitere Anzeichen sind das Sinken des zentralvenösen Drucks sowie – mit Einschränkungen – eine Reduktion der Urinausscheidung. Zur Abschätzung einer intraoperativen Veränderung des Blutvolumens (z. B. durch Blutverlust oder durch Verdünnung) ist die Messung des Hämoglobin- und des Hämatokritwerts geeignet. Um eine relative Abnahme des Hämoglobinwertes einschätzen zu können, sollte ein direkt präoperativ gemessener Vergleichswert vorliegen. ! Diese klinischen Zeichen können aber durch eine Reihe zusätzlicher Einflüsse verändert sein und müssen immer im Gesamtkontext (Anamnese, Vorerkrankungen, Medikation etc.) beurteilt werden.
18.3
Möglichkeiten des Flüssigkeitsersatzes
Infusionslösungen sind sterile, wässrige Lösungen. Sie werden parenteral appliziert und dienen der Erhaltung oder Wiederherstellung des normalen Wasser- und Elektrolytsowie des Säure-Basen-Haushalts. Zum Ausgleich des intraoperativen Flüssigkeitsverlusts stehen verschieden zusammengesetzte Infusionslösungen zur Verfügung. Grundsätzlich stehen kristalloide und kol-
loidale Volumenersatzlösungen zur Verfügung. Oft werden beide Lösungen kombiniert.
18.3.1 Kristalloide Infusionslösungen Kristalloide Infusionslösungen besitzen ein niedriges Molekulargewicht. Sie verteilen sich im gesamten extrazellulären Raum. Dies bedeutet, dass sie den Intravasalraum und das Interstitium erreichen. Das Plasmavolumen nimmt zu. Sie dienen zur Aufrechterhaltung des physiologischen Erhaltungsbedarfs. Eine oft bestehende perioperative Dehydratation (z. B. interstitielles Flüssigkeitsdefizit) sollte mit Kristalloiden ausgeglichen werden. Weitere Anwendungsgebiete sind der Flüssigkeitsersatz bei Niereninsuffizienz sowie die Verwendung als Lösungssubstanz zur Medikamentenverdünnung. Zusammensetzung kristalloider Infusionslösungen (7 Kap. 7)] 5 5 5 5
Vollelektrolytlösungen: Na+ > 120 mmol/l 2/3-Elektrolytlösungen: Na+ 91–120 mmol/l Halbelektrolytlösungen: Na+ 61–90 mmol/l 1/3-Elektrolytlösungen: Na+ < 60 mmol/l
! Um einen akuten Blutverlust schnell auszugleichen, eignen sich kristalloide Infusionslösungen nur bedingt.
Da sich kristalloide Infusionslösungen gleichmäßig auf das Plasmavolumen und das Interstitium verteilen, benötigt man für den identischen Volumeneffekt die 4-fache Volumenmenge im Vergleich zu kolloidalen Plasmaersatzmitteln. Dies bedeutet, dass ab einem bestimmten Zeitpunkt die Gefahr einer interstitiellen Überwässerung besteht. ! Nach 30 min befinden sich nur noch ca. 10 % der infundierten Menge isotoner kristalloider Lösungen (Halbelektrolytlösungen, Vollelektrolytlösungen) im Intravasalraum. Kristalloide Infusionslösungen erhalten den Basis-Flüssigkeitsbedarf und dienen als Ersatz von geringeren Volumenverlusten.
18.3.2 Kolloidale Plasmaersatzlösungen Kolloidale Infusionslösungen unterscheiden sich bezüglich ihres Volumeneffekts, ihres Substitutionsgrades (HAES), ihrer Molekülgröße sowie in ihrer Herstellung. Es gibt so-
18
182
Kapitel 18 · Intraoperative Infusionstherapie
wohl synthetische als auch natürliche Kolloide. Kolloidal wirksamer Volumenersatz mit Makromolekülen kann heute effektiv und preiswert durch Anwendung synthetischer Kolloide (z. B. Gelatine, Dextrane, Hydroxyethylstärke [HAES], Hyperhaes und Voluven) durchgeführt werden. Kolloidale Infusionslösungen besitzen ein hohes Molekulargewicht und bestehen aus Molekülen unterschiedlicher Größe. Dies bedeutet, dass sie den Intravasalraum durch die engen Kapillarwände nur sehr langsam verlassen. Durch ihre osmotische Kraft halten sie die Flüssigkeit lange im Intravasalraum. Bei notwendiger schneller Volumentherapie, beispielsweise im Rahmen einer lebensbedrohlichen Blutung, sind kolloidale Plasmaersatzlösungen zur Aufrechterhaltung des Blutdrucks sowie der Sauerstoffversorgung der Organe effektiver als kristalloide Infusionslösungen. Zum Abbau werden die verschiedenen Moleküle gespalten und bei Unterschreitung einer bestimmten Nierenschwelle renal eliminiert. ! Kolloidale Infusionslösungen dienen zur effektiven und schnellen Volumenersatztherapie.
Einteilung synthetischer kolloidaler Plasmaersatzlösungen Gelatinelösungen
18
Gelatinelösungen werden aus bovinem Knorpel- und Sehnenmaterial hergestellt. Sie haben eine kurze intravasale Verweildauer von 2–3 h. Aufgrund des niedrigen Molekulargewichts verlässt bei gesunden Patienten schon während der Infusion bis zu der Hälfte der infundierten Gelatinelösung den Intravasalraum. 80–90 % der infundierten Dosis werden nach 5–8 Stunden im Urin gefunden. Gelatinelösungen werden vollständig metabolisiert und renal eliminiert. Die Diurese wird gesteigert. Es besteht normalerweise kein Einfluss auf die Hämostase. Gelatinelösungen haben keine Dosisbegrenzung. Im Rahmen großer Blutungen und erfolgter Volumentherapie können aber ein kritischer Hämatokrit und eine kritische Verminderung der Konzentration von Gerinnungsfaktoren und Thrombozyten erreicht werden. Diese beruhen aber nicht auf einer Interaktion der Gelatinelösung mit dem Gerinnungssystem, sondern durch Erreichen eines kritischen Verdünnungseffekt. Eine klinisch relevante Gerinnungsstörung konnte nur im Rahmen der Herzchirurgie nachgewiesen werden. Hier vermutet man eine Störung der Fibrinbindungen. Gelatinelösungen beeinträchtigen nicht die Nierenfunktion und eignen sich somit auch zur Anwendung bei Patienten mit eingeschränkter Nierenfunktion.
Gelatinelösungen können bei entsprechend disponierten Patienten eine anaphylaktische Reaktion hervorrufen: sie zeigen die höchste Rate anaphylaktoider Reaktionen aller künstlichen Kolloide. ! Es besteht keine Dosisbegrenzung bei der Verwendung von Gelatinelösungen.
Hydroxyethylstärkelösungen (HAES) Hydroxyethylstärkelösungen sind Stärkepräparate aus Amylopektin, das im Pflanzenreich (Kartoffel- oder Getreidestärke) vorkommt. Sie haben eine lange intravasale Verweildauer von 4–12 Stunden. Es gibt unterschiedliche HAES-Lösungen, die sich durch ihren Substitutionsgrad, ihr Substitutionsmuster, die intravasale Verweildauer und ihre Molekülgröße unterscheiden. Hierdurch wird ihr intravasales Verhalten beeinflusst (7 Kap. 7). Hydroxyethylstärkelösungen sind integraler Bestandteile der Therapie eines Volumenmangels und haben sowohl in der intraoperativen Volumentherapie als auch in der Notfalltherapie einen festen Platz. Mit HAES-Lösungen kann eine ausreichend lange intravasale Verweildauer erzielt werden. HAES-Lösungen kumulieren nicht im Plasma, können aber Überempfindlichkeitsreaktionen bis hin zur manifesten allergischen Reaktion hervorrufen. Da HAES vorwiegend renal eliminiert wird und eine hohe Molekularmasse besitzt, ist die Indikation bei einer vorbestehenden Niereninsuffizienz zu prüfen. HAES-Lösungen mit einem Molekulargewicht von 70 000 werden primär durch die Serumamylase gespalten. Größere Moleküle werden erst gespalten und dann ausgeschieden. Hochmolekulare Lösungen können über mehrere Monate im Körper gespeichert werden. Ebenso beeinflussen hochmolekulare HAES-Lösungen die plasmatische und zelluläre Blutgerinnung. Hier besteht die Gefahr von Blutgerinnungsstörungen und daraus resultierenden Blutungen durch Verminderung der Faktor-VIII-Kofaktor-Aktivität. ! Aufgrund der Beeinflussung der plasmatischen und zellulären Blutgerinnung besteht bei der Gabe von Hydroxyethylstärke eine Dosierungsbegrenzung von 1,5 g/kg KG/d.
Dextranlösungen Dextranlösungen werden metabolisiert und renal eliminiert. Je nach Molekulargewicht erreichen Dextranlösungen eine intravasale Verweildauer von 3–4 h. Patienten mit Dehydratation und eingeschränkter Nierenfunktion sollten keine Dextrane erhalten. Bei prädisponierten Patienten kann es bei einer Dextrangabe zu anaphylaktischen
183 Literatur
Reaktionen kommen. Bis zu 70 % der Erwachsenen haben präformierte dextranreaktive Antikörper, die eine dextraninduzierte anaphylaktoide Reaktion auslösen können. Durch die Gabe von Promit (Hapten-Prophylaxe) vor einer Dextrangabe kann der Schweregrad anaphylaktischer Reaktionen vermindert werden. Bei Dextranen kann es ab einer Dosierung von über 1,5 g/kg KG/d zu einer Hämostasestörung kommen. Es wird hier eine Verminderung der Erythrozyten- und der Thrombozytenreagibilität (»Coating«) sowie eine Verminderung der Faktor VIII-Komplex-Aktivität vermutet. Dextrane finden heute im klinischen Alltag kaum noch Verwendung. ! Aufgrund möglicher Hämostasestörung besteht bei der Gabe von Dextranen eine Dosisbegrenzung von 1,5 g/kg KG/d. Alle drei künstlichen Kolloide beeinflussen die Blutgerinnung. Am geringsten ausgeprägt ist dieses bei Gelatine. Die niedrig- und mittelmolekularen HAES-Lösungen gelten klinisch heute als sicher. Eine klinisch relevant gesteigerte Blutungsneigung findet man bei Dextranen und hochmolekularem HAES. Hier sollte die Dosisbegrenzung von 1,5 g/kg KG/d eingehalten werden.
18.4
Gefahren der Flüssigkeitstherapie
Eine perioperative Volumenüberladung durch Volumenersatzmittel bei Patienten mit vorgeschädigter Organfunktion (Herzinsuffizienz, Niereninsuffizienz etc.) kann dieses Grundleiden verschlimmern und nachfolgend zu Komplikationen führen. So kann beispielsweise eine Volumenüberladung bei vorbestehender Herzinsuffizienz zu einem Lungenödem führen. ! Cave Patienten mit eingeschränkter myokardialer Kontraktilität sind durch Volumenüberlastung gefährdet.
Bei einer Volumenüberlastung mit kristalloiden Infusionslösungen kann es zu einem Verdünnungseffekt mit intrazellulärem Wassereinstrom kommen. Hierdurch kommt es zu Gewebeödemen und resultierend zu Organperfusionsstörungen (Darmwandödeme oder ZNS-Einschränkungen). Bei großen Blutverlusten unter Volumentherapie mit kristalloiden und kolloidalen Infusionslösungen kommt es nicht nur zu einem kritischen Hämatokritwert, sondern auch zu einer kritischen Konzentration an Gerinnungsfaktoren und einer Reduktion der Thrombozytenzahl. Zu
diesem Zeitpunkt sollte die weitere Volumensubstitution durch eine Substitution von Blutprodukten und Faktorenkonzentraten (z. B. Erythrozytenkonzentrate, FreshFrozen-Plama [FFP], PPSB, Fibrinogen, Novoseven und Thrombozytenkonzentrate) erfolgen (7 Kap. 18). ! Intraoperativ kommt der Volumentherapie eine wichtige Rolle zu. Der Volumenstatus wird durch akute Ereignisse (Blutung) und kontinuierliche Verluste (Urinproduktion, Perspiratio insensibilis etc.) sowie durch Volumenzufuhr ständig verändert. Die Volumentherapie sollte mit der Gabe von Kristalloiden beginnen. Zur Verlängerung der intravasalen Verweildauer sind kolloidale Volumenersatzmittel unverzichtbar. Auf Dextrane sollte heute verzichtet werden. Gelatinelösungen haben den geringsten Einfluss auf die Blutgerinnung aber die kürzeste Verweildauer und die höchste Rate an anaphylaktoiden Reaktionen. Neuere HAES-Lösungen haben bezüglich der Blutgerinnung und der Nierenfunktion eine große therapeutische Breite und eine gute Volumenwirkung.
Literatur Adams HA, Piepenbrock S, Hempelmann G (1998) Volumenersatzmittel – Pharmakologie und klinischer Einsatz. Anästhesiol Intensivmed Notfallmed Schmerzther, 33: 2–17 Boldt J, Volumenersatz beim schwerkranken Intensivpatienten (1998) Anästhesist 47: 778–785 Dieterich H-J, Kolloide in der Intensivmedizin (2001) Anästhesist 50: 54–68 Entholzner EK, Mielke LL, Calatzis AN, Feyh J, Hipp R, Hargasser SR (2000) Coagulation effects of a recently developed hydroxyethyl starch (Hes 130/0,4) compared to hydrohyethyl starches with higher molecular weight, Acta Anaesthesiologica Scandinavica 44: 1116–1121 Förster H (1998) Grundlagen zur Anwendung von Hydroxyethylstärke. J Anästh Intensivbehandlung (Suppl), 2: S51–S54 Kreimeier U, Rehm M (2003) Intensivtherapie im hypovolämisch-hämorrhagischen Schock. In Stein J, Jauch K-W (Hrsg) Praxishandbuch klinischer Ernährung und Infusionstherapie. Springer, Berlin Heidelberg New York Tabuchi N, De Haan J, Huet RCGG, Boonstra PW, Van Oeweren W (1995) Gelatin use impairs platelet adhesion during cardiac surgery. Thromb Haemost 74: 1447–1451
18
19 Perioperative Therapie mit Blutprodukten und fremdblutsparende Verfahren Albrecht Henn-Beilharz 19.1 Einführung –186 19.2 Blutprodukte –186 19.2.1 19.2.2 19.2.3 19.2.4 19.2.5
Erythrozytenkonzentrate (EK) –186 Besondere EK-Zubereitungen –187 Thrombozytenkonzentrate –187 Plasma –188 Plasmapräparate –188
19.3 Indikationen für EK –188 19.4 Transfusionsvorgang –189 19.5 Nebenwirkungen der Transfusion –192 19.5.1 Immunologisch ausgelöste Reaktionen –192 19.5.2 Nicht immunologisch ausgelöste Reaktionen –194
19.6 Rechtliche Bestimmungen –196 19.7 Fremdblutsparende Verfahren –197 19.7.1 19.7.2 19.7.3 19.7.4 19.7.5 19.7.6
Präoperative Eigenblutspende/Plasmapherese –198 Normovolämische Hämodilution –199 Maschinelle Autotransfusion (MAT) –199 Medikamentöse Verfahren –201 Anästhesiologische und operative Techniken –203 Homologe vs. autologe Transfusion –203
19.8 Hämoglobinlösungen/Perfluorocarbone –204 19.9 Therapie mit Gerinnungsfaktoren –204 19.9.1 Thrombozytenfunktionsstörungen –204 19.9.2 Störungen der plasmatischen Gerinnung –205
Literatur –207
186
Kapitel 19 · Perioperative Therapie mit Blutprodukten und fremdblutsparende Verfahren
19.1
Einführung
»Wir müssen uns noch im Können bescheiden, solange wir noch im Wissen zurückstehen.« E. Bergmann, 1836–1907 (evidence based medicine) : Beispiel Eine Assistenzärztin im 5. Monat ihrer Ausbildung führt intraoperativ eine Transfusion durch. Sie verzichtet auf die Kontrolle des Blutgruppenscheins und prüft nicht den Konservenbegleitschein. Nach Vorbereitung der Konserve wird diese über einen Dreiwegehahn mit dem Patienten verbunden. Sie entnimmt aus dem Dreiwegehahn Blut für den Bedside-Test und vergleicht somit Konserve mit Konserve. Da alle vorgeschriebenen Identitätskontrollen unterbleiben bzw. fehlerhaft ausgeführt werden, wird bei der Transfusion von 2 Konserven eine AB0-Inkompatibilität nicht bemerkt. Es kommt zum tödlichen Transfusionszwischenfall. Die Ärztin ist wegen besonders grober Fahrlässigkeit persönlich haftbar.
In der operativen Medizin hat die Anästhesie eine Schlüsselstellung im Bereich des Transfusionswesens, da die überwiegende Substitution perioperativ unter ihrer Verantwortung stattfindet. Der Anästhesist verursacht zwar nicht den Blutverlust, muss jedoch die Substitution mit allen Konsequenzen und Risiken vertreten. Der Operateur muss in der Regel die Aufklärung über die Bluttransfusion durchführen, da meist nur er den Patienten frühzeitig genug sieht, um eine korrekte zeitgerechte Information auch über autologe Verfahren (z. B. Eigenblutspende) geben zu können. Zusätzlich hat die Anästhesie eine große Bedeutung in der autologen Transfusion, da sie präoperative Verfahren ersatzweise für einen Blutspendedienst sowie intra- und postoperative Verfahren durchführt. Nur in enger Verzahnung zwischen
operativen Fächern und der Anästhesie ist ein optimales Vorgehen möglich, welches in jedem Krankenhaus in einer Dienstanordnung schriftlich niedergelegt werden muss.
19.2
Blutprodukte
Im Rahmen der Transfusion gibt es verschiedene Blutprodukte, welche in dem Konzept Hämotherapie nach Maß (H. Bergmann) eingesetzt werden sollen. Dabei erhält der Patient nur den Anteil aus dem Vollblut, den er tatsächlich benötigt.
19.2.1 Erythrozytenkonzentrate (EK) Die Erythrozytenkonzentrate (EK) werden aus dem frischen Vollblut einer Einzelspende gewonnen. Aus ca. 450–500 ml Vollblut können 200–300 ml EK und 250 ml Frischplasma (FFP = Fresh frozen plasma) gewonnen werden. Plasma und buffy coat (Leukozyten und Thrombozyten) werden durch Zentrifugation und Filtration im geschlossenen System weitgehend abgetrennt. Durch den Zusatz von Stabilisatoren (z. B. Zitrat, Phosphat, Dextrose und Adenin: CPDA-1) ist eine Lagerung über einen Zeitraum von 35 Tagen möglich. Durch eine Ergänzung mit additiver Lösung (z. B. PAGGS-Mannitol) kann die Lagerung auf 42–49 Tage verlängert werden. Die additive Lösung verbessert den Energiehaushalt und die Membranstabilität der Erythrozyten während der Lagerung. Standard ist heute ein buffy-coat-freies und leukozytenarmes EK in additiver Lösung. Die verschiedenen Erythrozytenpräparationen haben einen unterschiedlichen Anteil an Zellen sowie eine unterschiedliche Lagerungszeit (. Tab. 19.1). Auch unter optimalen Lagerungsbedingungen (erschütterungsfreier Kühlschrank, kontinuierliche Temperaturüberwachung, additive Lösung, + 4 °C ± 2 °C) kommt
. Tabelle 19.1. Erythrozytenkonzentrate Präparat
19
Volumen [ml]
HK [%]
Restanteil des Vollbluts Erythrozytenmasse [%]
Leukozyten [n × 106]
Plasma [%]
Leukozytendepletiertes EK
200–350
50–70
> 80
<1
< 25
Gewaschenes EK*
200–300
50–75
> 80
<1
<1
Kryokonserviertes EK
200–300
50–70
≈ 50
<1
<1
* Nach dem Waschvorgang muss unverzüglich (innerhalb von 6 h) transfundiert werden.
187 19.2 · Blutprodukte
es zu morphologischen Veränderungen (Auftreten von Kugelzellen, Stechapfelformen) sowie funktionellen Beeinträchtigungen (Abnahme des 2,3-DPG-Gehaltes mit Linksverschiebung der O2-Dissoziationskurve, Verminderung der osmotischen Resistenz, Hämolyse mit K+-, LDH- und Hämoglobinfreisetzung). Teilweise sind diese Veränderungen 24–48 h nach Transfusion reversibel (z.B. 2,3-DPGGehalt). Die Lagerungszeit ist bestimmt durch folgende Qualitätskriterien: Hämolyserate max. 0,8 %, Wiederauffindungsrate (recovery) nach 24 h: 75 %. Unabhängig von diesen Herstellungsrichtlinien sind aber Qualitätsverluste bei älteren Konserven feststellbar. So konnte bei kritischer Sauerstoffversorgung der O2-Verbrauch durch 3 Tage alte Konserven gesteigert werden, während nach Transfusion von 28 Tage alten Konserven die Laktatproduktion weiter anstieg. Durch die Leukozytenfiltration reduziert sich die Gefahr einer Infektionsübertragung intrazellulärer Keime. Zwar ist bei einer Leukozytenzahl von < 107, wie sie häufig bei buffy-coat-freien EK erreicht wurden, keine CMV-Infektion mehr nachgewiesen worden. Sicherer wird dies entweder durch die Auswahl CMV-negativer Spender oder durch die Leukozytenfiltration unter einen CILL-Wert (Conzentration of immunogenic leucozyte load) von 5 u 106 Leukozyten/Konserve erreicht. Neben der Reduktion von CMV werden auch Yersinien, Ebstein-Barr-Virus und HTLV-Viren eliminiert. Ebenso werden durch die Filtration die febrilen Transfusionsreaktionen reduziert.
19.2.2 Besondere EK-Zubereitungen Gewaschene EK Durch die generelle Einführung der leukozytendepletierten EK bleiben nur wenige Indikationen. Sie sind notwendig, wenn trotz Gabe von buffy-coat-freien leukozytendepletierten EK Unverträglichkeitsreaktionen auftreten, bzw. wenn AK gegen IgA oder andere Plasmaproteine vorhanden sind. Die EK werden unmittelbar vor Transfusion im Blutspendedienst/Transfusionsinstitut gewaschen und dürfen anschließend nicht mehr gelagert werden, sondern müssen innerhalb von 6 h transfundiert werden.
Bestrahlte Blutkonserven Die Bestrahlung mit 30 Gy ist indiziert bei allen Spenden, bei denen eine Graft-versus-Host-Reaktion (GvHD) verhindert werden muss (7 Übersicht). Durch die Verwendung leukozytenarmer gefilterter EK ist die Ausgangsmenge vermehrungsfähiger Lymphozyten klein. Durch die Bestrahlung wird jede Funktion aufgehoben. Da die Bestrahlung
bei längerer Lagerung zu Veränderungen der Konserve führt (z. B. K+-Anstieg), dürfen bestrahlte EK nur begrenzt gelagert werden. Gerichtete Blutspenden für Familienangehörige wurden zu Beginn der HIV-Diskussion häufiger gefordert. Da es sich aber um eine homologe Transfusion handelt, ist dies immunologisch kein Vorteil. Durch die Transfusion funktionsfähiger Leukozyten könnte es im Gegenteil zur GvHD kommen. Handelt es sich bei dem Spender um einen Erstspender, besteht zusätzlich ein deutlich höheres Risiko einer Infektionsübertragung. Bestrahlt werden müssen alle Blutprodukte mit Ausnahme der Stammzellpräparate. Indikation für bestrahlte Blutkonserven 5 Knochenmarktransplantation 5 Schweres Immundefektsyndrom 5 Hochdosis-Chemotherapie mit/ohne Ganzkörperbestrahlung bei Leukämien, malignen Lymphomen, soliden Tumoren 5 Intrauterine Transfusion 5 Frühgeborene 5 Alle gerichteten Blutspenden blutsverwandter Familienangehöriger
Kryokonservierte EK Kryokonservierte EK werden wegen des erheblichen Mehraufwands nur in Ausnahmefällen hergestellt. Zur Stabilisierung der Zellintegrität muss ein Gefrierschutzmittel (z. B. Glyzerin) zugesetzt werden, welches vor Retransfusion durch einen Waschvorgang entfernt werden muss. Bei Verwendung von Hydroxyethylstärke kann dieser Waschvorgang entfallen. Die Erythrozytenmasse wird durch den Herstellungsprozess deutlich vermindert, sodass der HbAnstieg bei Retransfusion reduziert ist. Eine Indikation zur Herstellung von kryokonservierten EK besteht bei sehr seltenen Blutgruppen sowie komplexen Antikörpermustern, bei denen man sonst keine kompatiblen Spender findet. Ebenso wurde das Verfahren angewendet, um bei kleinen Spendevolumina im Kindesalter eine autologe Spende zu ermöglichen.
19.2.3 Thrombozytenkonzentrate Durch eine Hämapherese können einzelne Blutkomponenten (Thrombozyten, Granulozyten, Lymphozyten, periphere Stammzellen oder Plasma) gewonnen werden. Nicht
19
188
Kapitel 19 · Perioperative Therapie mit Blutprodukten und fremdblutsparende Verfahren
. Tabelle 19.2. Thrombozytenpräparate Präparat
Thrombozytenzahl
Plasma [ml]
Leukozytenzahl
Erythrozytenzahl
Pool-TK*
2–6,5 × 1011
> 200
< 1 × 106
*
Thrombozytapherese-TK
2–4 × 1011
200–300
< 1 × 106
3 × 109
* Das Pool-TK wird aus 4–8 Einzelspender-TK gleicher Blutgruppe hergestellt. Entsprechend addieren sich die Erythrozytenzahlen.
benötigte Blutbestandteile werden dem Spender sofort retransfundiert. Leukozyten- und Stammzellpräparate werden bei leukopenischen Patienten bzw. in der Onkologie eingesetzt und für die autologe Retransfusion tiefgefroren gelagert. Thrombozytenpräparate werden entweder aus frisch abgenommenen Vollblutspenden oder durch maschinelle Thrombozytapherese hergestellt. Je nach Verfahren ergeben sich eine unterschiedliche Zellzahl und unterschiedliches Volumen (. Tab. 19.2). Durch die Zusammenführung von 4–8 Einzelspender-TK werden größere Zellzahlen erreicht, allerdings ist auch das immunologische Risiko größer. Demgegenüber ist das Zytaphereseverfahren aufwändiger. Die Thrombozytenpräparate können unter ständiger Bewegung max. 5 Tage (geschlossenes Herstellungsverfahren) bei + 22 °C gelagert werden. Nach Abgabe aus dem Transfusionsinstitut sind sie zur sofortigen Transfusion bestimmt. Thrombozyten müssen AB0-kompatibel transfundiert werden, und wegen der geringen Erythrozytenkontamination ist auch der Rh-Faktor zu berücksichtigen. Wenn bei Mehrfachtransfusionen die HLA-Kompatibilität zu beachten ist, muss ein Thrombozytapherese-Präparat gegeben werden.
19.2.4 Plasma
19
Während früher auch lyophilisiertes Plasma industriell gefertigt wurde, ist jetzt nur gefrorenes Frischplasma (Fresh frozen plasma, FFP) lieferbar. Durch die Schockgefrierung vorzugsweise innerhalb von 6 (max. 24) Stunden nach der Vollblutabnahme bleiben auch die labilen Gerinnungsfaktoren erhalten. Aus einer Vollblutspende werden ca. 270 ml, aus der Plasmapherese 600–900 ml Plasma gewonnen. Bei einer Lagerungstemperatur unter –40 °C ist das FFP 2 Jahre haltbar, bei einer Lagerungstemperatur zwischen –40 und –30 °C 1 Jahr. Zur Infektionsprophylaxe werden die Quarantänelagerung (4 Monate) oder Virusinaktivierungsverfahren angewandt.
19.2.5 Plasmapräparate Industriell werden einzelne Faktoren des Gerinnungs- oder Fibrinolysesystems hergestellt. Alle Präparate stammen aus einem großen Plasmapool, der auf Infektionsmarker getestet wird und einem oder mehreren Virusinaktivierungsbzw. Abreicherungsverfahren unterzogen wird. Lieferbar sind: Fibrinogen, F VII, F VIIa, F VIII, von-WillebrandFaktor, F IX, F XIII, FEIBA®, PPSB, AT III, Protein C, Protein S.
19.3
Indikationen für EK
Ein einzelner isolierter Transfusionstrigger kann angesichts des Risikos einer Transfusion nicht als ausreichend angesehen werden, sondern die Hb-Grenze ist individuell abhängig von Vorerkrankungen des Patienten (kardiovaskulär, pulmonal, zerebral), dem tatsächlichen Blutverlust (Geschwindigkeit, erwartete Entwicklung des Blutverlustes) und dem Sauerstoffverbrauch (Sepsis, Muskelaktivität, Kältezittern, Medikamentengabe) des Patienten. Zahlreiche Arbeiten befassen sich mit der Frage des optimalen bzw. des kritischen Hämoglobinwertes. Während früher 10 g/dl als Transfusionstrigger angesehen wurde, liegt dieser Wert derzeit bei 7,5 g/dl. Dabei ist es in jedem Fall eine individuelle Entscheidung in Abhängigkeit von den Begleiterkrankungen des Einzelpatienten. Jedoch konnte auch bei kritisch kranken Patienten einer Intensivstation bzw. nach koronarchirurgischen Eingriffen kein schlechteres Outcome festgestellt werden. Die Sauerstoffversorgung aller Organe ist von der ausreichenden Hämodynamik, der arteriellen Sauerstoffkonzentration (hier geht der HB-Wert mit ein) und der Sauerstoffausschöpfung abhängig. Grundsätzlich kann eine Hypoxämie durch die Oxygenierung (Lungenfunktionsstörung), eine verminderte Sauerstoffsättigung (MetHb, COHb) oder durch eine Anämie verursacht sein. Die anämische Hypoxämie ist dabei die günstigste, da die kapilläre Sauerstoffkonzentration noch im Normbereich liegt.
189 19.4 · Transfusionsvorgang
Im Rahmen der Kompensation kommt es primär zu einer Steigerung des Schlagvolumens (SV), sekundär zu einer Steigerung der Herzfrequenz (HF) und tertiär zu einer vermehrten Ausschöpfung des Sauerstoffangebots. Bei diesem Faktor ist das Myokard limitierend, da es unter Normalbedingungen die größte Sauerstoffausschöpfung aufweist und andererseits die HZV-Steigerung (SV und HF) einen höheren Sauerstoffbedarf verursachen. Bei etwas länger bestehender Anämie kann es noch zu einem Anstieg der 2,3-DPG-Konzentration und damit zu einer Rechtsverschiebung der Sauerstoffbindungskurve kommen. In der täglichen klinischen Praxis spielt bis zu einem Hb von 7,5 /dl unter normovolämischen Bedingungen nur die Steigerung des SV eine Rolle. Die Indikation zur Transfusion ist im Einzelfall zu prüfen unter Berücksichtigung der individuellen Vorerkrankungen und etwaiger Hinweiszeichen auf eine eingeschränkte Organperfusion (Tachykardie, Hypotension, ST-Veränderungen, gemischtvenöse bzw. zentralvenöse Sauerstoffsättigung SvO2 < 60 %, Laktatanstieg etc.). Zu beachten ist, dass dies bei kritisch Kranken einen erhöhten Monitoringaufwand erfordert und dass einzelne im Normbereich befindliche Parameter nur eine globale Aussage ermöglichen und somit eine Minderversorgung einzelner Organe nicht auszuschließen ist. Eine Transfusion führt zudem nicht unmittelbar zu einer komplett wirksamen Gabe von Sauerstoffträgern, da durch eine Linksverschiebung der O2-Bindungskurve bei niedrigem 2,3-DPG-Gehalt sowie erniedrigtem ATP die Sauerstoffabgabe im Gewebe erschwert ist. In den Guidelines der ASA (American Society of Anesthesiologists) wurde daher kein bestimmter HbWert als Tranfusionstrigger festgelegt, sondern festgestellt, dass bei einem Hb > 10 g/dl eine Transfusion selten indiziert ist, während bei einem Hb < 6 g/dl oft transfundiert werden muss.
19.4
Transfusionsvorgang
Die Bluttransfusion ist eine ärztliche Aufgabe, die nicht auf medizinisches Hilfspersonal delegiert werden kann. Während die Leitlinien und Richtlinien der Bundesärztekammer zunächst nur ein präformiertes Gutachten darstellten, an dem man sich bei Zwischenfällen und Komplikationen messen lassen musste, haben diese durch das Transfusionsgesetz eine rechtliche Aufwertung erfahren, die zwingend zu beachten ist. Die Indikation zur Transfusion ist sehr streng zu stellen. In der operativen Medizin muss durch hausinterne Dienstanweisung festgelegt sein, wer bei welchen Eingrif-
fen über das Risiko der Bluttransfusion und eventuelle autologe Alternativverfahren aufklären muss. Damit eine Möglichkeit zur Eigenspende auch genutzt werden kann, muss bei elektiven Operationen präoperativ beim ersten Patientenkontakt in der Ambulanz diese Aufklärung erfolgen. Damit liegt die Aufklärungspflicht beim Operateur, kann aber auch hilfsweise vom Anästhesisten übernommen werden (Anästhesieambulanz). In jedem Fall ist die Patientenaufklärung schriftlich zu dokumentieren. Nach den Richtlinien soll ab einer Transfusionswahrscheinlichkeit von 10 % aufgeklärt und auch Blut bereitgestellt werden. Es ist notwendig, die Transfusionswahrscheinlichkeit hausintern zu ermitteln, damit verbindliche Vorgaben gemacht werden können. Diese Organisationsabläufe bedürfen einer schriftlichen Dienstanweisung in Abstimmung zwischen den Ärztlichen Direktoren und dem Transfusionsverantwortlichen. In Grenzfällen kann es ausreichend sein, lediglich die Blutgruppe zu bestimmen und den Antikörpersuchtest durchzuführen, um dann bei einer ausnahmsweise notwendigen Notfalltransfusion mit geringerem Risiko transfundieren zu können. Vorbereitungen bei wahrscheinlicher Transfusion – so machen wir es: Mit jeder operativen Disziplin wird gemeinsam eine Indikationsliste erstellt. Bezüglich der Klinik für Allgemeinchirurgie ist z. B. folgendes festgelegt: 5 Bestimmung der Blutgruppe: Rezidivstruma, Schilddrüsen-Ca, Gallenblasen-Ca, Dickdarmeingriffe, Splenektomie, Nebennierenoperationen 5 Bereitstellung von Blutkonserven in der Blutbank: Magenresektion, Rektumexstirpation, Proktokolektomie (je 2 Konserven) 5 Bereitstellung im OP: ausgedehnte Lungenresektionen, Pleurektomie, Leberresektion (je 2–3 Konserven) Ösophagusresektion, Whipplesche Op (je 2 Konserven) Wenn in Gruppe 1 Antikörper vorhanden sind, wie in Gruppe 2 beschrieben ver fahren! Bei Anämie und Thrombozytopenie sind individuelle Anordnungen nötig.
Die Anforderung von Blut und Plasmaderivaten muss schriftlich erfolgen mit dem Hinweis auf die Dringlichkeit
der Transfusion. Die mitgelieferten Blutröhrchen müssen eineindeutig beschriftet sein (Beschriftung vor Blutabnahme) und auch im Notfall hinsichtlich ihrer Herkunft gesichert sein. Daher sind z. B. vom Unfallort vorausgeschickte
19
190
Kapitel 19 · Perioperative Therapie mit Blutprodukten und fremdblutsparende Verfahren
. Tabelle 19.3. Dringlichkeitsstufen der Transfusion Indikation
Zeitbedarf
EK-Blutgruppe
Immunhämatologische Tests
Vital
Sofort 10 min 30 min 60 min
0 Rh-negativ AB0- und Rh-gleich AB0- und Rh-gleich AB0-verträglich
Immer Bedside-Test Zusätzlich Blutgruppe Zusätzlich Schnellkreuzung Zusätzlich normale Kreuzprobe
Nicht dringlich
> 120 min
AB0-verträglich
Zusätzlich Antikörper-Suchtest
. Tabelle 19.4. »Wahl« der Blutgruppen – Erläuterungen im Text EmpfängerBlutgruppe
Spender-Blutgruppe Erythrozytenkonzentrat
Plasma
0
0
0/A/AB/B
A
A/0
A/AB
B
B/0
B/AB
AB
AB/A/0/B
AB
Blutröhrchen zur Vorbereitung der Transfusion nur verwertbar, wenn diese Bedingung zutrifft. ! Blutröhrchen müssen bei geringsten Identitätszweifeln verworfen werden!
Grundsätzlich muss bei allen Wahleingriffen verhindert werden, dass es zu unnötiger Dringlichkeit kommt. Vor Narkoseeinleitung ist zu klären, ob Blutkonserven entsprechend dem »Hausprotokoll« auch im OP vorrätig sind. Notfalltransfusionen, die durch Fehlorganisation zustande kommen, sind inakzeptabel und obsolet. Frühzeitige Blutbestellung und gegebenenfalls eine Verschiebung der Operation (z. B. bei irregulären Antikörpern) können das Risiko für den Patienten senken. Bei Notfalltransfusionen können verschiedene Dringlichkeitsstufen unterschieden werden (. Tab. 19.3).
19
! Da ca. 2 % der Patienten irreguläre Antikörper aufweisen, muss zur Transfusion ohne Ergebnis einer Kreuzprobe eine vitale Indikation vorliegen.
Bei Lieferung der Blutkonser ven durch Blutspendedienst, Transfusionsinstitut oder Labor ist sofort zu prüfen, ob die Konser ven auch für den vorgesehenen Empfänger bestimmt sind und ob alle Dokumente (Blut-
gruppenschein, Konservenbegleitschein) vollständig sind. Unmittelbar vor Transfusion sind vom transfundierenden Arzt diese Angaben erneut zu prüfen. Dabei sind das Verfallsdatum der Konserve, die Gültigkeit der Verträglichkeitsprobe (Kreuzprobe) sowie optisch die Qualität (Unversehrtheit des Blutbeutels, keine Koagelbildung, keine Verfärbungen) zu kontrollieren. Die Kreuzprobe besitzt nur eine begrenzte Gültigkeit. Wird eine Konserve transfundiert, ist die Kreuzprobe für die anderen nur noch 3 Tage gültig, da durch Boosterung primär nicht nachweisbare Antikörper (AK) relevant werden können. Nach diesen 3 Tagen müssen die anderen Konser ven mit neuem Empfängerblut gekreuzt werden. Der Antikörpersuchtest, der beim Empfänger zusammen mit der Blutgruppenbestimmung durchgeführt wird, hat eine Gültigkeit von maximal 4 Wochen (wenn nicht transfundiert wurde, sonst auch 3 Tage), da ca. 4 Wochen nach Antigenexposition AK auftreten können. Unmittelbar vor Transfusion muss ein AB0-Identitätstest (Bedside-Test) durchgeführt werden. Dies bedeutet jedoch nicht, dass immer AB0-gleich transfundiert werden muss. Bei seltenen Blutgruppen und hohem Blutbedarf muss gegebenenfalls auf andere Blutgruppen ausgewichen werden (. Tab. 19.4). Dabei sollten die seltenen Blutgruppen (B, AB und 0-RH negativ) möglichst nicht eingesetzt werden, um die Pools zu schonen. Bezüglich des Rhesusfaktors kann bei Massivtransfusion bei Rh-negativen Patienten auch auf Rh-positives Blut ausgewichen werden, wenn beim Empfänger ein Antikörper ausgeschlossen wurde. Der Bedside-Test ist im jedem Falle zwingend mit Blut des Empfängers der Konserve durchzuführen. Bezüglich der Konserve ist nach dem Vertrauensgrundsatz anzunehmen, dass diese vom Transfusionsinstitut korrekt getestet und beschriftet ist. Sie können, müssen aber nicht mit einem AB0-Identitätstest geprüft werden Die Richtlinien bezüglich autologer und homologer Transfusion sind unterschiedlich (. Tab.19.5).
191 19.4 · Transfusionsvorgang
. Tabelle 19.5. AB0-Bedside-Test: Wann ist eine AB0-Identitätskontrolle vorgeschrieben? Präparat
Empfänger
Konserve
Homologe Erythrozytenkonzentrate
Ja
Nein
Autologe Erythrozytenkonzentrate
Ja
Ja
Homologe/autologe Thrombozyten
Ja
–
Homologes/autologes Frischplasma
Ja
–
Hämodilutionsblut
Nein/Ja*
Nein/Ja*
MAT-Blut
Nein/Ja*
Nein/Ja*
* Erläuterungen im Text
Autologes Warmblut, welches im Rahmen der normovolämischen Hämodilution im OP-Bereich gewonnen wurde, muss nur dann nicht AB0-getestet werden, wenn die Konserven unmittelbar am Patienten verbleiben und weder ein räumlicher noch ein personeller Wechsel zwischen Entnahme und Rückgabe stattfindet. Wird das Blut erst im Aufwachraum transfundiert oder wechselt intraoperativ der Anästhesist, muss eine AB0-Testung durchgeführt werden. Das Ergebnis des AB0-Testes ist schriftlich zu dokumentieren, der Test selbst kann verworfen werden. Tipps
AB0-Test – so machen wir es: 5 AB0-Test mit der Medtro-Karte (vorbereitete Karte mit Antiseren in einer Vertiefung unter Zellophan): einen kleinen Tropfen Blut einspritzen 5 Ergebnis auf der Karte dokumentieren und abzeichnen, den Aufkleber von der Karte entfernen und auf das Narkoseprotokoll bzw. in die Intensivkurve einkleben, dazu einen Kleber mit der Konservennummer kleben 5 Achtung: nur wenig Blut (kleinen Tropfen) verwenden, da sonst das Ergebnis nicht beurteilbar ist. Das Blut für einen Test der Konserve aus einem Stück zugeschweißten Schlauchs entnehmen. Die Konser6
ve darf dazu nicht angestochen werden. Nur bei der ersten Konserve darf es vor Anschluss an den Patienten aus dem Transfusionsbesteck entnommen werden. 5 Das Ergebnis ebenfalls auf dem Konservenbegleitschein dokumentieren
Die Transfusion erfolgt über ein Filter (170–230 Pm), wobei über ein Transfusionsgerät mehrere Konserven verabreicht werden. Dieses Transfusionsgerät darf maximal 6 h im Einsatz sein. Ebenso muss eine »angestochene« Konserve innerhalb von 6 h transfundiert sein. Durch die Lagerung von Blutkonserven entstehen aus zerfallenden Zellprodukten Mikroaggregate, die insbesondere bei der Massivtransfusion für eine Lungenschädigung verantwortlich gemacht wurden. Zur Prophylaxe wurde die Mikrofiltration (Porengröße 40–10 Pm) empfohlen. Andererseits ist im Rahmen einer Schnelltransfusion der Fluss durch zu kleine Poren verzögert und durch hohen Druck kann es zur vermehrten Hämolyse kommen. Im derzeitigen Standardprodukt (buffy-coat-freies, leukozytenarmes Erythrozytenkonzentrat in additiver Lösung) ist die Mikroaggregatbildung nur noch sehr gering und somit ein Mikrofilter nicht mehr notwendig. Die Erwärmung der Konserven darf nur mit zertifizierten Aufwärmgeräten erfolgen. Zu unterscheiden ist zwischen der Inline-Erwärmung durch eine Heizspirale, in der nur die gerade laufende Einheit erwärmt wird, und einer Erwärmung vor Transfusion, wobei mehrere Bluteinheiten zwischen durchfluteten Wasserkissen, im Luftstrom oder durch Mikrowellen erwärmt werden. Im Gegensatz zur Inline-Erwärmung können in diesen Geräten auch gefrorene Frischplasmaeinheiten aufgetaut werden. Eine Erwärmung direkt im Wasserbad im Waschbecken ist nicht zulässig. Für Massivtransfusionen gibt es Spezialgeräte (z. B. R.I.S. = Rapid infusion system), die sehr große Volumina in sehr kurzer Zeit erwärmen können. Durch den erhöhten Aufwand und die damit verbundenen Kosten sind diese Geräte allerdings nur in wenigen Fällen sinnvoll einsetzbar (z. B. Lebertransplantation). Eine Erwärmung ist heute nur noch bei Kälteantikörpern, einer Massivtransfusion oder Neugeborenen erforderlich, bzw. kann zur Wärmeprotektion intraoperativ genutzt werden. Nach der Transfusion sind die leeren Blutbeutel für 24 h im Kühlschrank aufzubewahren, um ggf. bei Komplikationen auf die Konserve zurückgreifen zu können. Das Empfängerblut wird für 8 Tage, Serum des Spenders für 1 Jahr beim Blutspendedienst aufbewahrt. Abschließend muss nach der Transfusion der Erfolg kontrolliert (Hb-Bestimmung) und dokumentiert werden.
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Kapitel 19 · Perioperative Therapie mit Blutprodukten und fremdblutsparende Verfahren
. Tabelle 19.6. Nebenwirkungen der Bluttransfusion Immunologisch ausgelöste Reaktionen
Nicht immunologisch ausgelöste Reaktionen
5 Hämolytische Reaktionen 5 Febrile, nicht hämolytische Reaktionen 5 Posttransfusionspurpura 5 Allergische Reaktionen 5 Graft-vs.-Host-Krankheit 5 Lungeninfiltrate 5 Immunmodulation
5 5 5 5 5 5 5
Bakterielle Kontamination Hypervolämie Zitratintoxikation Embolie Hämolyse Hämosiderose Behälterbestandteile in Konserven
Analog sind nach Thrombozytentransfusion, Plasma- oder Faktorengabe entsprechende Laborkontrollen erforderlich.
19.5
Tipps
Verdacht auf AB0-Inkompatibilität – so machen wir es: 5 Sofortiger Abbruch der Transfusion 5 Registrieren, wie viel Blut bereits transfundiert wurde 5 i.v.-Zugang belassen 5 Erneute Identitätskontrolle 5 Blutabnahme (EDTA und nativ) zur Wiederholung von Kreuzprobe und Antikörpersuche 5 Schockbekämpfung 5 Stabilisierung der Gerinnung 5 Optimierung der Nierenfunktion
Nebenwirkungen der Transfusion
Nebenwirkungen (NW) der Transfusion können unter verschiedenen Gesichtspunkten (z. B. Zeitpunkt des Auftretens, klinische Symptomatik) behandelt werden. Ätiologisch lassen sich immunologische und nichtimmunologische NW unterscheiden (. Tab. 19.6).
19.5.1 Immunologisch ausgelöste
Reaktionen Hämolytische Reaktionen
19
zeitlichem Zusammenhang mit einer Transfusion muss die Transfusion sofort beendet werden (7 Übersicht). Eine Austauschtransfusion ist in Erwägung zu ziehen.
Hier ist zu unterscheiden zwischen der hämolytischen Sofortreaktion und der verzögerten hämolytischen Reaktion. Häufigste Ursache der hämolytischen Sofortreaktion ist eine AB0-Unverträglichkeit; sie muss durch sorgfältige Identitätsprüfung sowie den AB0-Bedside-Test vermieden werden. Die Hämolyse tritt nicht durch die Antikörper (AK) selbst auf, sondern ist Komplement vermittelt. Das klinische Bild zeigt Unwohlsein, Kreuzschmerzen und Frösteln. Während Fieber häufig auftritt, sind Hautrötung, Brechreiz und Kopfschmerzen eher seltener. Subjektive Symptome können unter der Narkose fehlen. Bronchospasmus, Tachykardie und Schockzustand treten häufig auf. Die Gerinnungsstörung führt zur Verbrauchskoagulopathie. Durch Schock, DIC und Hämolyse kann es zum Nierenversagen kommen. Über die Hälfte aller transfusionsbedingten Todesfälle waren durch eine AB0-Inkompatibilität verursacht. Das Risiko einer AB0-Verwechslung liegt bei 1 : 33000 mit einem Mortalitätsrisiko von 1 : 500000. Bei geringsten subjektiven oder objektiven Beschwerden in
! Cave Von der Verwechslung kann ein weiterer Patient betroffen sein!
Außer der AB0-Unverträglichkeit können auch andere AK selten hämolytische Reaktionen auslösen. Da diese AK jedoch nicht natürlich vorkommen, ist eine Immunisierung (z. B. Transfusion, Schwangerschaft) Voraussetzung. Verzögerte hämolytische Reaktionen treten im Laufe von Tagen nach der Transfusion auf. Ursache sind erythrozytäre Allo-Antikörper (z. B. Anti-Kidd: Anti-Jk), die in so niedriger Konzentration vorliegen, dass sie in der Kreuzprobe nicht bemerkt werden. Durch die Transfusion kommt es innerhalb von Tagen zur Boosterung, und dann zur Hämolyse. Neben einem sonst nicht erklärlichen Hb-Abfall tritt Fieber auf, Bilirubin und LDH steigen an. Ein Nierenversagen oder tödliche Verläufe sind selten. Eine Prävention ist nicht möglich. Allerdings sollten alle Antikörper sorgfältig dokumentiert werden (Notfallausweis), damit primär verträgliche Konserven gesucht werden können. Febrile nichthämolytische Transfusionsreaktionen
werden verursacht durch die Übertragung von Mediatoren aus Leukozyten und/oder Thrombozyten (z. B. Zytokine). Ebenso können Antikörper des Patienten gegen Leukozyten, Thrombozyten oder Plasmaeiweiße die Ursache sein. Eine Posttransfusionspurpura (PTP) ist sehr selten und wird durch plättchenspezifische Allo-Antikörper verursacht. Nach ca. 7–10 Tagen kommt es zur Thrombozytopenie mit Blutungsneigung. Betroffen sind meist Frauen im 6.–7. Lebensjahrzehnt. Die Mortalität beträgt 10–20 %.
193 19.5 · Nebenwirkungen der Transfusion
Therapie der Wahl ist die hoch dosierte Gabe von IgG. Der Wirkungsmechanismus ist nicht gesichert. Vermutet wird eine Blockade des Fc-Rezeptors. Nach 1–4 Wochen tritt die Spontanheilung ein. Eine Plasmapherese ist nicht mehr Standard. Urtikarielle Hautreaktionen durch AK gegen lösliche Bestandteile sind selten und meist harmlos. Die Fortführung der Transfusion ist abhängig vom Verlauf. Anaphylaktische Reaktionen treten fast ausschließlich bei angeborenem IgA-Mangel bzw. einer Immunisierung gegen IgA-Immunglobuline auf und sind extrem selten durch die Gabe von plasmaarmen EK. Bei IgA-Mangel müssen die EK vor Transfusion gewaschen werden, um Restmengen an Plasma zu entfernen. Die Therapie entspricht der allgemeinen Behandlung der Anaphylaxie. Die Graft-versus-Host-Disease (GvHD) ist Folge der Transfusion von immunkompetenten Zellen auf den Empfänger, die von diesem nicht als fremd erkannt und damit nicht sofort vernichtet werden. Betroffen sind fast ausschließlich immunkompromittierte Personen (M. Hodgkin, Leukämie, Lymphome, kongenitale Immundefizite) sowie Verwandtenspenden. Die Symptomatik (Fieber, Erythem, Blasenbildung, Hepatitis, Panzytopenie etc.) tritt ca. 4–30 Tage nach Transfusion auf. Prophylaktisch kann die mit hoher Mortalität behaftete Erkrankung durch Vorbestrahlung der Konserven mit 30 Gy verhindert werden. TRALI-Syndrom (Transfusionsassoziiertes akutes Lungenversagen): Früher wurde ein Lungenversagen infolge Bluttransfusion beschrieben, welches insbesondere bei Massivtransfusionen auftrat und durch die in den Konserven vorhandenen Mikroaggregate verursacht wurde. Bei der heutigen Qualität der Blutkonserven ist dies nicht mehr erklärbar. Ursache des TRALI-Syndroms ist eine größere Menge Plasma mit granulozytenspezifischen Antikörpern. Während alle Konserven auf erythrozytäre Antikörper getestet werden und außer den Isoagglutininen Anti-A und Anti-B keine Antikörper in der Konserven vorhanden sind, können routinemäßig HLA-Antikörper nicht ausgeschlossen werden. Klinisch finden sich beim TRALI-Syndrom Husten, Dyspnoe, Tachypnoe und Fieber während und bis 6 h nach der Transfusion. Typisch sind die fehlende Herzinsuffizienz und das Thoraxröntgenbild mit bilateralen Infiltraten. Die Diagnose kann durch den AK-Nachweis gesichert werden. Therapeutisch stehen die Beatmung und Kreislaufstabilisierung im Vordergrund. Meist normalisiert sich die Lungenfunktion innerhalb weniger Tage. Die Mortalität beträgt 6 %. Immunsuppressive Nebenwirkungen der Transfusion sind lange bekannt. Positiv wurden diese genutzt, um die
Transplantaterhaltung im Rahmen der Nierentransplantation in der Vor-Ciclosporin-Ära zu verbessern. Ebenso wurde der M. Crohn sowie die klinische Situation bei Rheumapatienten durch Transfusion verbessert. Nachteilig scheint sich die Immunsuppression bei Tumoroperationen auszuwirken. Die Überlebensrate bzw. Rezidiv- oder Metastasenrate war in den transfundierten Gruppen schlechter. Auch traten vermehrt bösartige Tumoren auf, wenn bei benignen Erkrankungen eine Transfusion notwendig wurde. Ebenso gibt es eine erhöhte Rate von postoperativen Wundinfektionen nach homologer Transfusion. Da viele Daten nur retrospektiv erhoben wurden, und die prospektiven Studien widersprüchliche Ergebnisse zeigten, gleichzeitig viele Kofaktoren bei diesen Operationen vorliegen sowie unterschiedliche Blutpräparationen zum Einsatz kamen, ist der Mechanismus noch nicht definitiv aufgeklärt. Nicht zuletzt haben auch Trauma und Blutverlust einen immunsuppressiven Effekt. Festzuhalten bleibt, dass die Transfusion einen immunmodulatorischen Effekt hat und dieser vermutlich durch Mediatoren von Leukozyten (z. B. ECP. EPX, MPO, PAI1, Histamin, Zytokine etc.) bewirkt wird. Diese werden im Laufe der Lagerung der Konserve freigesetzt. Die Effekte sind umso ausgeprägter, je länger die Konserven gelagert werden, da sich die Konzentration der Mediatoren im Laufe der Lagerungszeit erhöht. Ebenso findet man diese Reaktion in autologen Konserven, sodass auch hier bei längerer Lagerung ein immunmodulatorischer Effekt nachgewiesen werden kann. Die immunsuppressive Wirkung ließ sich insbesondere dann nachweisen, wenn mehr als 3 EK transfundiert wurden. Dies könnte auch erklären, dass in den Studien die autologe Transfusion keine immunsuppressive Wirkung zeigte, da weniger Konserven mit kürzerer Lagerungszeit zum Einsatz kamen. Durch die Leukozytenfiltration wird dieser immunsuppressive Effekt vermutlich deutlich reduziert. Da die Intensität der Immunmodulation von der Lagerungszeit der Konserve abhängig ist, wurde zusätzlich empfohlen, die Lagerungszeit auf 21 Tage zu beschränken, da so die Restkonzentration von Mediatoren niedrig bleibt. Dies würde allerdings ein logistisches Problem in der Blutversorgung darstellen, da in spendeschwachen Monaten (z. B. Urlaubszeit) die Versorgung nur durch ausreichend große Depots mit entsprechend langer Lagerungszeit aufrecht erhalten werden kann. Autologes Blut muss ebenso bei der Abnahme filtriert werden, wobei es im Sinne eines wirtschaftlichen Konzeptes möglich ist, 1 oder 2 Einheiten als Vollblut zu lagern, damit die aufwendige Separation entfallen kann und ein Teil
19
194
Kapitel 19 · Perioperative Therapie mit Blutprodukten und fremdblutsparende Verfahren
der Gerinnungsfaktoren erhalten bleibt. Die LeukozytenInline-Filtration unmittelbar nach der Blutspende verbessert auch andere Parameter der Blutkonserve. Die niedrigere Konzentration der Leukozyten und ihrer Mediatoren stabilisiert z. B. den pO50-Wert des EK sowie den Gehalt an Gerinnungsfaktoren im gelagerten Vollblut. ! Immunologisch bleibt festzustellen, dass die autologe Transfusion u. a. auf Grund der geringeren Menge vermutlich ein deutlich geringeres Risiko hat als die homologe Transfusion und dass beide Risiken durch Leukozytenfiltration weiter reduziert werden konnten.
19.5.2 Nicht immunologisch ausgelöste
Reaktionen
19
Selten, dann jedoch möglicherweise mit schwerem Verlauf können bakterielle Verkeimungen zu febrilen Reaktionen bis hin zum septischen Schock führen. Da bestimmte Keime sich auch bei 4 °C vermehren können (z. B. Yersinien, Pseudomonaden, Citrobacter, E. coli), kommt es in diesen Fällen bei der Transfusion zu einer Sepsis durch Endotoxine. Eine Hypervolämie kann besonders bei schneller Transfusion und Patienten mit kleinem Blutvolumen auftreten. Betroffen sind meist alte Patienten mit eingeschränkter Herz-Kreislauf- und/oder Nierenfunktion sowie Kleinkinder. Wenn möglich, sollte deshalb die Transfusionsgeschwindigkeit auf 1 ml/kg KG/h begrenzt werden. Die Zitratintoxikation spielt außer bei Früh- und Neugeborenen nur bei einer Massivtransfusion sowie bei ausgeprägter Leberfunktionsstörung eine Rolle. Durch Zitrat wird Kalzium gebunden, dies führt zur Hypokalzämie. Da Zitrat nur noch in den plasmahaltigen Konserven (Vollblut, FFP, Thrombozytenpräparate) in größeren Mengen vorhanden ist, ist die Zitratintoxikation heute selten. Die Hypokalzämie ist weniger vom Volumen als von der Geschwindigkeit der Transfusion abhängig. Eine Hyperkaliämie kann evtl. auftreten, wenn im Rahmen einer Massivtransfusion eine größere Menge alter Konserven schnell transfundiert wird, da bei längerer Lagerungszeit der Kaliumspiegel in der Konserve durch zerfallende Erythrozyten ansteigt. Daher sollten insbesondere bei Massivtransfusionen maximal 14 Tage alte Konserven verwendet werden, da auch der 2,3-DPG-Gehalt abfällt und dies eine schlechtere Sauerstoffversorgung bei diesen Patienten verursacht. Eine Luftembolie ist seit der Elimination der Blutflaschen extrem selten. Möglich wäre dies nur bei einigen
Geräten zur maschinellen Autotransfusion, da hier Luft in den Retransfusionsbeutel gelangen kann. Daher ist hier die Verwendung von Druckbeuteln zur schnelleren Retransfusion nicht zulässig. Eine nichtimmunologisch bedingte Hämolyse kann durch chemische und physikalische Einwirkungen (Einfrieren ohne Kälteschutzmittel, zu hohe Erwärmung, Medikamentenzusatz) entstehen. Ein Zuspritzen von Medikamenten in die Konserve ist verboten. Durch korrekte Lagerung sollte die Hämolyse vermeidbar sein. Ebenso sollen keine Mikrofilter bei der Massivtransfusion verwendet werden, da bei hohem Filtrationsdruck die Erythrozyten bei der Filterpassage geschädigt werden. Hämosiderose: Jedes EK enthält ca. 250 mg an Hämoglobin gebundenes Eisen (Fe). Die tägliche Fe-Elimination beträgt nur 1 mg. Somit sind Patienten gefährdet, die nicht wegen einer Blutung transfundiert werden müssen (Thalassaemia major, aplastische Anämie etc.). Die Fe-Ablagerung schädigt insbesondere Herz, Leber und endokrine Drüsen. Nach ca. 100 EK wird die Hämosiderose manifest. Die Fe-Ausscheidung kann durch Chelatbildner gesteigert werden. Behälterbestandteile: Aus den PVC-Materialien des Blutbeutels können sich Weichmacher lösen, deren toxikologische Bedeutung nicht geklärt ist. Neuere Weichmacher, die geringer im Beutel akkumulieren, sind in der Entwicklung.
Übertragbare Erkrankungen Alle Erreger, die während einer Erkrankung im Blut vor-
kommen, können durch die Transfusion auf den Empfänger übertragen werden. Um dieses Risiko zu minimieren, gibt es einerseits Spenderausschlusskriterien, andererseits wird das Spenderblut mit mehreren Testverfahren auf bestimmte Infektionen überprüft. Durch die Einführung der PCR konnten die Nachweisverfahren wesentlich verbessert und das Risiko einer Übertragung entscheidend verringert werden. Das Transfusionsrisiko ist für die einzelnen Viren unterschiedlich, je nachdem wie lange infektiöses Material in der Blutbahn verbleibt. Ob im Einzelfall eine Infektion transfusionsassoziiert ist, lässt sich nicht immer sicher beantworten und ist auch abhängig von anderen möglichen Infektionswegen (. Tab. 19.7).
Viren Die Hepatitisviren haben unter den übertragbaren Erkrankungen eine besondere Bedeutung, da je nach Virus eine
195 19.5 · Nebenwirkungen der Transfusion
. Tabelle 19.7. Risiko der Übertragung von Viren durch Transfusion in Deutschland Virus
Risiko
Inzidenz bei Blutspendern n/100000 Erstspender
Mehrfachspender
HIV
< 1 : 106
5,0–7,1
0,5–0,8
HBV
1 : 105–106
178–204
0,5–1,5
HCV
< 1 : 106
93–144
2,2–3,0
32,3
2,5
Luesa)
chronische Verlaufsform häufig ist. Da eine HIV-Infektion derzeit nicht kurativ behandelt werden kann, ist dieses Risiko ebenfalls besonders zu beachten. Die Hepatitis A und besonders die Hepatitis E werden sehr selten über eine Transfusion übertragen. Die HTLV I/II (Human-T-Zellleukämie)-Infektion und Erkrankung ist extrem selten und kann nur durch zelluläre Bestandteile übertragen werden. Ebenso können Herpes-Viren übertragen werden. Zu den E-Herpesviren gehört das CMV-Virus, zu den J-Herpesviren das Ebstein-Barr-Virus (EBV). Für CMV besteht in der Bevölkerung eine hohe Durchseuchung. Eine klinisch manifeste Erkrankung ist selten und äußert sich in subakuter oder chronischer Hepatitis, interstitieller Pneumonie, hämolytischer Anämie oder zeigt ein mononukleoseähnliches Bild. Gefürchtet sind pulmonale Infektionen bei immunsupprimierten Patienten. Über einen Antikörpertest kann CMV nachgewiesen werden. Da aber nicht sicher feststellbar ist, ob der Patient auch infektiös ist, wird im Zweifelsfall CMV-negatives Blut transfundiert. Dies gilt besonders für CMV-negative Schwangere, Frühgeborene CMV-negativer Mütter, CMV-negative Knochenmarksempfänger und AIDS-Patienten. Eine EBV-Infektion verläuft meist inapparent. In der Adoleszenz ist das Bild der infektiösen Mononukleose typisch. Bei immunsupprimierten Patienten können Lymphome auftreten. Transfusionsmedizinisch ist das EBV-Virus wegen der hohen Durchseuchung von geringer Bedeutung. Das Parovirus B-19 (Ringelröteln) spielt ebenso eine geringe Rolle, kann aber durch Virusinaktivierungsverfahren nicht eliminiert werden. Da die Virämie vor der Erkrankung eintritt, ist auch ein Spenderausschluss nicht möglich. Durch die Leukozytenfiltration werden zellständige Viren (z. B. CMV, HHV, HTLV-I/II) in ihrem Gehalt stark redu-
ziert, sodass diese Maßnahme z. B. bezüglich dem Risiko einer CMV-Infektion gleichwertig zu CMV-negativen EK zu sehen ist.
Bakterien Treponema pallidum wird durch den TPHA-Test geprüft.
Allerdings können frische Infektionen nicht ausgeschlossen werden. Da die Erreger jedoch in der Kälte nicht überleben, ist eine Übertragung durch Konserven, die mindestens 48 h bei 4 °C gelagert werden, sehr unwahrscheinlich. Anders liegt das Risiko bei Thrombozytenpräparaten, die bei Zimmertemperatur gelagert werden. Eine Übertragung von Yersinia enterocolica verläuft in hohem Maße tödlich, da die Bakterien sich auch bei 4 °C vermehren und dann durch die Endotoxinbildung zu einem septischen Schock führen können.
Parasiten Protozoonosen (Plasmodien, Trypanosomen, Toxoplas-
men, Leishmanien) werden durch Spenderausschluss vermieden, da alle Reisen, bei denen man sich eine Infektion zuziehen könnte, zu einem Ausschluss führen. Helminthen sind zwar übertragbar, erreichen aber ohne Insekten als Vektor nicht ihr adultes Stadium.
Infektionsmarker Zum Ausschluss von Infektionserkrankungen werden alle Spender auf folgende Infektionsmarker getestet: Hepatitis B (HBV), Hepatitis C (HCV), HIV und T. pallidum (TPHA). Die S-GPT ist nicht mehr vorgeschrieben, wird jedoch von vielen Labors noch als unspezifischer Marker geführt. Andere Tests werden nur bei besonderen Fragestellungen durchgeführt. Bei HCV und HIV werden nicht nur die AK nachgewiesen, sondern mittels PCR auch Virusbestandteile.
Prionen Eine Übertragung der Creutzfeldt-Jakob-Erkrankung galt bisher als sehr unwahrscheinlich. Ergebnisse zu einer neuen Variante, die zur BSE-Erkrankung im Tierversuch führt, liegen bisher noch nicht vor. Eine Übertragung ist theoretisch denkbar. Die Leukozytenfiltration führt auch zu einer Abreicherung der als ursächlich angesehenen Prionen. Diese Infektionsgefahr hat auch für gentechnologisch hergestellte Präparate Bedeutung, denn in vielen Produkten ist derzeit noch Rinderalbumin als Stabilisator enthalten.
Plasmapräparate Bei Plasmapräparaten bleibt trotz der Virusinaktivierungsverfahren ein Restrisiko für eine Hepatitis A sowie eine
19
196
Kapitel 19 · Perioperative Therapie mit Blutprodukten und fremdblutsparende Verfahren
Parovirus-B-19-Infektion. Ebenso gibt es Einzelfallberichte zur Parovirus-B-19-Infektion bei Gerinnungsprodukten, während eine Übertragung von HBV, HCV und HIV bei in Deutschland hergestellten Produkten in den letzten Jahren nicht bekannt wurde.
19.6
19
Rechtliche Bestimmungen
Die Richtlinien, die Leitlinien und das Transfusionsgesetz sind zu beachten (Hohlschuld eines jeden Arztes!). Während das Medizinrecht sich in der Regel nur von Urteilen ableitet, gehört das Transfusionsgesetz, welches am 7.7.1998 in Kraft trat (gültige Fassung vom 18.02.2005), zu den wenigen gesetzlichen Regelungen. Durch den Verweis auf die Richtlinien und Leitlinien im Gesetz haben diese »gesetzesähnliche« Bedeutung und können im Gegensatz zu einem Gesetz flexibler an den Stand der Wissenschaft angepasst werden. Daher müssen stets die neuesten Ausgaben beachtet werden. Zusätzlich sind weitere Bestimmungen (z. B. Arzneimittelgesetz, Heilmittelwerbegesetz, Apothekenbetriebsverordnung etc.) zu berücksichtigen. Soweit für den Anwender relevante Bestimmungen nicht in den einzelnen Abschnitten behandelt werden, sind sie hier zusammengefasst. § 15 – Qualitätssicherung – legt fest, dass alle Einrichtungen, die transfusionsmedizinische Aufgaben wahrnehmen (Blutbereitstellung und Bluttransfusion), einen verantwortlichen Arzt benennen müssen (Transfusionsverantwortlicher). In einem Krankenhaus mit transfusionsmedizinischer Einrichtung wird dies der Transfusionsmediziner sein. Zusätzlich muss jede transfusionsmedizinisch tätige Abteilung einen Transfusionsbeauftragten benennen, der in Zusammenarbeit mit dem Transfusionsverantwortlichen die Durchführung aller festgelegten Maßnahmen sicherstellt (transfusionsmedizinische Kommissionen). Seit dem 7. Juli 2000 muss in jeder Einrichtung, die Blutprodukte anwendet, ein System der Qualitätssicherung nach dem Stand der medizinischen Wissenschaft und Technik eingerichtet sein. Alle Blutprodukte müssen Produkt- und Patientenbezogen dokumentiert werden, damit sowohl von der Charge auf die Empfänger als auch vom Empfänger auf das Produkt geschlossen werden kann. In der Dokumentation beim Patienten muss die Uhrzeit der Gabe enthalten sein. Diese Dokumentation muss einen zeitlich kurzfristigen Zugriff auf die Daten ermöglichen, damit bei einer Rückverfolgung unmittelbar die beteiligten Produkte bzw. Patienten ermittelt werden können. Diese Daten sind bis zu 30 Jahre aufzubewahren.
Tipps
Dokumentation in der Transfusionsmedizin – so machen wir es: 5 Alle Blutprodukte des Instituts für Transfusionsmedizin (EK, FFP, TKZ etc.) werden dort er fasst, da sie ja für einen bestimmten Patienten ausgegeben werden. 5 Nicht transfundierte Einheiten müssen daher unbedingt zurückgegeben werden. 5 Ebenso muss FFP, wenn es für einen anderen Patienten mit der gleichen Blutgruppe verwendet wird, rückgemeldet werden. 5 Alle anderen Produkte (Alpha[1]-Proteinase-Inhibitor, AT III, F VII, F VIII, F IX, F XIII, C1-Inaktivator, Fibrinogen, Fibrinkleber, Humanserum, Immunglobuline, Interferon D, -E und -J, Plasmaproteinlösung, PPSB, FEIBA, Transfer-Faktor) werden im Klinikinformationssystem auf Station erfasst 5 Die patientenbezogene Dokumentation findet wie bisher in der Krankenakte (Narkoseprotokoll, Intensivtageskurvenblatt) mit Datum und Uhrzeit statt.
Dokumentationspflicht (nach Ziff. 1.7. Leitlinien) 5 Aufklärung des Patienten über Transfusion/Einwilligungserklärung 5 Ergebnis von Blutgruppenbestimmung/Antikörpersuchtest 5 Anforderungsformular 5 Bei zellulären Blutprodukten: Produktbezeichnung/ Präparatenummer, Hersteller (pharmazeutischen Unternehmer), Blutgruppenzugehörigkeit 5 Bei Erythrozytenpräparaten und ggf. bei Granulozytenpräparaten: Ergebnis der serologischen Verträglichkeitsprobe (Kreuzprobe), Ergebnis des AB0-Identitätstests, anwendungsbezogene Wirkungen (cHb, HK) 5 Bei Plasma (z. B. GFP, VIP): Blutgruppenzugehörigkeit, Hersteller (pharmazeutischen Unternehmer), Produktbezeichnung/Präparatenummer, Packungsgröße/Anzahl der verwendeten Packungen 5 Bei Plasmaderivaten und gentechnisch hergestellten Plasmaproteinen: Hersteller (pharmazeutischen Unternehmer), Produktbezeichnung, Chargennummer, Packungsgröße, Anzahl der verwendeten Packungen, 6
197 19.7 · Fremdblutsparende Ver fahren
5 Datum/Uhrzeit der Verabreichung der Blutprodukte 5 Unerwünschte Wirkungen: Datum/Uhrzeit im Krankenblatt dokumentieren. Die Meldung unerwünschter Wirkungen ist nach geltenden Vorschriften vorzunehmen.
Humanalbumin muss nur bei der reinen Applikation dokumentiert werden. Es gilt als Goldstandard in der Virussicherheit, ist aber in so zahlreichen Medikamenten als Zusatz enthalten, dass eine realistische Überwachung und Dokumentation dafür nicht möglich ist.
Zeugen Jehova Eine besondere rechtliche Situation besteht bei Zeugen Jehovas, die aus religiösen Gründen die Transfusion von jeglichen Blutprodukten ablehnen. Daher ist weder die homologe Transfusion noch die autologe Eigenblutspende durchführbar. Akzeptiert werden autologe Verfahren, wenn das Blut analog zum extrakorporalen Kreislauf in der Herzchirurgie den Kontakt zum Körper nicht verliert. So kann die normovolämische Hämodilution präoperativ besprochen werden. Allerdings kann nur eine Konserve gewonnen werden, die über den Abnahmeschlauch mit dem Patienten verbunden bleiben muss. Ebenso ist die maschinelle Autotransfusion möglich. Unterstützend können alle medikamentösen Verfahren (Aprotinin, EPO, rekombinanter Faktor VIIa) eingesetzt werden. Hinsichtlich der einzelnen Situationen sind folgende Vorgehensweisen denkbar: 1. Der Patient ist minderjährig. Hier sieht die Rechtsprechung in der Verweigerung der Bluttransfusion durch die Eltern einen Missbrauch des Sorgerechts. Wenn ausreichend Zeit besteht, kann das Vormundschaftsgericht angerufen werden, welches die Transfusion anordnet. Im Notfall muss das Gericht nach der Transfusion angerufen werden. 2. Der Patient ist volljährig, es handelt sich um einen Wahleingriff. Sollte bei dieser OP in jedem Fall Blut benötigt werden, kann der Anästhesist in Absprache mit dem Operateur die Operation ablehnen und der Patient wird auf ein spezialisiertes Zentrum verwiesen. Akzeptiert man jedoch unter der Annahme, dass eine Transfusion mit großer Wahrscheinlichkeit nicht notwendig wird, den Eingriff, so muss der Wille des Patienten mit allen Konsequenzen (mögliche Todesfolge) akzeptiert werden. 3. In einer Notfallsituation kann eine Operation nicht abgelehnt werden. Zwar muss man hier einen unzweifelhaf-
. Tabelle 19.8. Fremdblutsparende Ver fahren Autologe Blutbereitstellung
5 Präoperative Eigenblutspende (EK, FFP, VB, Thrombozyten) 5 Normovolämische Hämodilution 5 Intra- und postoperative maschinelle Autotransfusion
Medikamentöse Maßnahmen
5 5 5 5
Anästhesiologische Maßnahmen
5 Kontrollierte Hypotension 5 Normothermie 5 Anästhesieverfahren
Operative Ver fahren
5 Fibrinkleber, Laser, Ultraschallmesser etc.
Erythropoetin Aprotinin, Tranexamsäure DDAVP rekombinanter Faktor VIIa
ten Willen des Patienten (schriftliche Mitteilung, Bestätigung durch Angehörige etc.) ebenso akzeptieren. Liegen jedoch berechtigte Zweifel an dieser Entscheidung vor, wird man transfundieren. Zudem kann sich der Arzt in der Notfallsituation auf seine eigene Gewissensentscheidung berufen, die ihm verbietet, einen Menschen durch Unterlassung einer lebensrettenden Transfusion sterben zu lassen. Letztlich ist jedoch eine Gerichtsentscheidung nicht definitiv vorhersehbar. In jedem Fall sind alle Maßnahmen zu ergreifen, die das Leben des Patienten (auch ohne Bluttransfusion) sichern könnten (z. B. 100 % O2-Beatmung, Katecholamine etc.). Dies gilt auch für eine Intensivtherapie.
19.7
Fremdblutsparende Ver fahren
Gemäß der derzeitigen Rechtsprechung sind autologe Blutverfahren sicherer und risikoärmer als die homologe Transfusion, wobei jedoch durch Risikoreduktion (Leukozytenfiltration, PCR) der Risikounterschied zwischen den Verfahren deutlich abgenommen hat. Daher muss der Patient über die Eigenblutverfahren aufgeklärt werden (BGH 1991), wenn diese im konkreten Einzelfall in Betracht kommen. Korrekt sollte von Verfahren zur Einsparung von Fremdblut gesprochen werden, da nicht nur die Eigenblutspende den Fremdblutverbrauch senken kann (. Tab. 19.8). Besonders mit Blick auf die Kosten/Nutzen-Relation sowie das Risiko/Nutzen-Verhältnis ist es zwingend, ein Konzept der autologen Transfusion für das eigene Krankenhaus
19
198
Kapitel 19 · Perioperative Therapie mit Blutprodukten und fremdblutsparende Verfahren
Tage vor der Operation entnommen werden. Dabei ist Er-
. Abb. 19.1. Interdisziplinäre Zusammenarbeit bei autologen Blutverfahren
aufzustellen. Grundlage ist dabei der durchschnittliche tatsächliche Blutverbrauch bei der jeweiligen Operation. Grundsätzlich sind alle Eigenblutverfahren auch bei Kindern einsetzbar. Dies erfordert allerdings ein hohes Maß an Erfahrung im Umgang mit Kindern sowie in den einzelnen transfusionsmedizinischen Verfahren. ! Alle Verfahren zu Einsparung von Fremdblut erfordern in besonderem Maß eine Kooperation zwischen verschiedenen Fachgebieten in Klinik und Praxis!
19.7.1 Präoperative Eigenblutspende/
gebnisqualität im Sinne der Produktwirkung umso besser, je größer der Abstand von der letzten Spende zur Operation ist, da der Organismus eine bessere Nettoproduktion erreicht. Wenn EK mit Additiv hergestellt werden, können maximal 6 Konserven gewonnen werden. Jeder Patient muss ein Eisenpräparat erhalten, welches entweder oral (2 u 300 mg/Tag Fe2+ über mindestens 4 Wochen) oder intravenös (100–200 mg Fe3+/Spende i.v. per Kurzinfusion) verabreicht wird. Die Kontraindikationen sind in . Tab. 19.9 zusammengefasst. In den Leitlinien werden schwere pulmonale Erkrankungen nicht mehr erwähnt. Diese sind jedoch zu berücksichtigen, da unter der Toleranz eines niedrigen HbWerts eine ausreichende Kompensationsmöglichkeit gewährleistet sein muss. Bei Schwangeren kann ebenso eine EBS durchgeführt werden. Diese ist jedoch nur sinnvoll bei Plazenta praevia oder Mehrlingsschwangerschaften (2 Konserven), da allgemein die Transfusionspflicht nur sehr selten erreicht wird. Unklar sind dabei noch die möglichen Auswirkungen einer Eigenblutspende bei Patienten mit positiven Seromarkern (Hepatitis, HIV). Die EBS soll nur in Ausnahmefällen durchgeführt werden. Ob es durch die Retransfusion einer solchen Konserve zu einer Aktivierung einer »ruhenden« Infektion kommen kann, ist nicht geklärt. . Tabelle 19.9. Kontraindikationen zur autologen Spende/ normovolämischen Hämodilution Erythrozyten
Plasmapherese
19
Präoperativ kann dem Patient Eigenblut abgenommen werden. Dies kann sowohl in einem transfusionsmedizinischen Institut als auch in einer Anästhesieabteilung erfolgen, wobei der Anästhesist die Fachkunde haben muss. Während der Transfusionsmediziner das Eigenblut für jeden anderen Anwender bereitstellen kann, darf der Anästhesist dies nur für die Transfusion in der eigenen Anästhesieabteilung. Unterschieden werden muss die Erythrozyten- und Plasmabereitstellung. Derzeit wird überwiegend Vollblut abgenommen und in EK und FFP separiert. FFP kann alternativ auch mittels Plasmapherese isoliert gewonnen werden. Möglich ist auch die Abnahme über ein Zellseparationsgerät, bei der eine individuelle Menge EK bzw. FFP gewonnen werden (max. 2 EK und 3 FFP in einer Sitzung). Die einzelnen EK-Einheiten werden im Wochenabstand abgenommen, die letzte Einheit sollte maximal 3–7
Plasma absolut
5 Aortenstenose Grad III/IV 5 Instabile Angina pectoris, frischer MI (< 3 Monate) 5 Hochgradige Hauptstammstenose 5 Eingeschränkte linksventrikuläre Funktion
5 5 5 5
Hypoproteinämie Paraproteinämie Gerinnungsstörungen Immunkörper-Mangelsyndrom
5 Akute interkurrente Erkrankung(V.a. Magen-DarmErkrankung, fokale Infekte) 5 Akute Erkrankung unklarer Genese 5 Sepsis relativ 5 5 5 5
Anämie (Hb < 11,5 g/dl) Schlechte Venenverhältnisse Z.n. Hepatitis HIV-Infektion
199 19.7 · Fremdblutsparende Ver fahren
! Cave Eigenblut bei Patienten mit positiven Seromarkern darf nicht aufgetrennt werden und der transfundierende Arzt ist über das Infektionsrisiko für das Personal zu informieren. Dieses Blut muss getrennt von homologen und autologen Konserven gelagert werden, um so eine mögliche Verwechslung auszuschließen.
Eine weitere Problematik stellt die Eigenblutspende in der Tumorchirurgie dar. Einerseits ist bei Diagnosestellung eine zügige operative Therapie anzustreben, sodass die Zeit für eine EBS nicht ausreichend ist. Andererseits gibt es aber auch sehr langsam wachsende Tumoren, sowie in Einzelfällen länger dauernde Stagingverfahren, sodass hier präoperativ Konserven gewonnen werden können. Die Patienten haben häufig eine Tumoranämie und entleerte Eisenspeicher, weshalb sie eine längere Erholungszeit benötigen. Ohne EPO-Gabe lassen sich häufig nicht ausreichend Blutkonserven gewinnen. Durch mögliche nachteilige immunologische Effekte einer homologen Transfusion ist aber gerade hier die Vermeidung einer Fremdbluttransfusion wünschenswert. Bei der präoperativen Plasmapherese werden in einer Sitzung 900 ml Plasma gewonnen (in 3 Einheiten aufgetrennt gelagert). Wegen der längeren Lagerungsmöglichkeit besteht eine größere Unabhängigkeit vom Operationstermin. Außerdem können, wenn autologes Plasma zur Verfügung steht, die Grenzen der Hämodilution sicherer ausgeschöpft werden, da durch autologes Plasma eine Verdünnungskoagulopathie verhindert werden kann. Durch die Plasmagewinnung kann es zu einer Hämokonzentration kommen, wenn kein Volumen substituiert wird. Alle schweren Nebenwirkungen der präoperativen Blutspende traten ausschließlich in der Plasmapheresegruppe auf (< 1 : 10000 Spenden). Unter wirtschaftlichen Gesichtspunkten hat die Plasmapherese nur einen Stellenwert bei Operationen, bei denen ein größerer Blutverlust zu er war ten ist (> 2500 ml). ! Autologes oder homologes FFP ist kein Volumenersatzmittel!
Die Gewinnung autologer Thrombozyten (PRP: platelet rich plasma) unmittelbar präoperativ wurde empfohlen, um bei Operationen mit extrakorporalem Kreislauf Thrombozyten vor den Auswirkungen der EKZ zu bewahren. Damit kann zwar auch eine Bluteinsparung erzielt werden, das Verfahren ist aber maschinell aufwändig und wird heute kaum noch praktiziert.
19.7.2 Normovolämische Hämodilution Prinzip ist die Erkenntnis, dass bei einem Hk von ca. 30 % die Sauerstofftransportkapazität optimal ist. Auch wenn von einigen Autoren bezweifelt wird, dass der für die Sauerstofftransportkapazität optimale Hk von 30 % sich tatsächlich aus den vorgelegten Untersuchungen ableiten lässt, so waren diese allerdings grundlegende Voraussetzung für die Erforschung und Akzeptanz niedriger Hb-Werte. Durch die Abnahme von 10–20 ml/kg KG Blutvolumen vor oder nach Narkoseeinleitung und normovolämischem Ersatz mit kolloidalen Volumenersatzmitteln kommt es zur Blutverdünnung. Ein vermehrter Flüssigkeitsbedarf durch präoperative Nahrungskarenz muss berücksichtigt werden. Die verbesserte Rheologie führt bei verminderter kardialer Nachlast durch den Anstieg des SV zu einem größeren HZV. Dadurch kommt es zu einer besseren Blutversorgung im Gewebe. Durch eine ausreichende Menge Plasmaersatzmittel bleiben die Normovolämie erhalten und Herzfrequenz und Blutdruck konstant. Der Volumeneffekt und die intravasale Verweildauer der einzelnen Plasmaersatzmittel sind zu beachten. Am Ende der Blutstillung wird ein hochwertiges Produkt (Erythrozyten, Plasma und Thrombozyten) retransfundiert (Konserve bei Raumtemperatur zwischenlagern!). Über die Effektivität zur Bluteinsparung der Hämodilution gibt es unterschiedliche Auffassungen. Als Ergänzung in einem Konzept der autologen Transfusion kann es ein wichtiger Baustein sein.
19.7.3 Maschinelle Autotransfusion (MAT) Bei der intraoperativen Autotransfusion wird das Blut aus dem Operationsgebiet abgesaugt und dabei an der Saugerspitze mit einer Antikoagulanslösung (Heparin 30 IE/ml in NaCl, ca. 3000 IE auf 500 ml Blut) versetzt. Dieses Gemisch aus Blut, Antikoagulans, Zelldetritus, Spüllösung etc. wird in einem Reservoir gesammelt. Wenn dieses ausreichend gefüllt ist (abhängig von der Operation, Menge der Spülflüssigkeit, Glockengröße), wird es nach Grobfiltrierung (170-Pm-Filter) über eine Rollenpumpe in die Zentrifugenglocke (5600 U/min) geleitet. Die Erythrozyten sammeln sich am Glockenrand, während Spülflüssigkeit und Plasma in der Glockenmitte ausgeleitet und in einen Abfallbeutel geführt werden. Nach Konzentrierung auf einen HK von ca. 50 60 % (Erkennung über einen optischen Sensor) wird dieses Erythrozytenkonzentrat mit 1000–1500 ml NaCl-Lösung 0,9 % gewaschen und anschließend in den Transferbeutel zurückgepumpt. Somit steht nach 3–10 min (je nach
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200
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Kapitel 19 · Perioperative Therapie mit Blutprodukten und fremdblutsparende Verfahren
gewähltem Waschprogramm) ein in NaCl aufgeschwemmtes, autologes gewaschenes Erythrozytenkonzentrat (AGEK) zur Verfügung (225 ml bei der Standardglocke). Im Gegensatz zu dieser Aufbereitung im Intervall (mit kontinuierlicher Sammlung ins Reservoir) wird bei der CATS-Maschine durch eine andere Zentrifugationstechnik (gekammerter Ring) das Blut kontinuierlich aufbereitet, sodass schon bei sehr kleinen Volumina im Saugerreservoir mit der Aufbereitung begonnen werden kann. In einem Vergleich der unterschiedlichen Zentrifugationstechniken schnitt die kontinuierliche Technik insbesondere bei hohen Flussraten (Notfallwaschprogrammen) besser ab (höherer HK, bessere Auswaschung). Durch die Aufbereitung werden Medikamente reduziert (z. B. Anästhetika, in Spüllösung enthaltene Antibiotika). Ebenso werden Kalium, Heparin, freies Hb und Zelldetritus reduziert. Das AGEK hat eine bessere Qualität als gelagerte Blutkonserven, da sowohl der 2,3-DPG Gehalt als auch die osmotische Resistenz bessere Werte aufweisen. Je nach Saugtechnik können 50–70 % des intraoperativen Erythrozytenverlusts aufgefangen werden. Plasma mit allen Gerinnungsfaktoren sowie Thrombozyten gehen verloren und es kommt bei alleinigem Einsatz der MAT bei größerem Volumenumsatz zur Verdünnungskoagulopathie. Somit handelt es sich um eine wichtige Ergänzung im autologen Transfusionskonzept, das je nach Blutverlust mit anderen Verfahren kombiniert werden muss. Das AGEK darf nicht gelagert werden, da es ohne Stabilisator hergestellt wird und durch Raumluftansaugung eine geringe bakterielle Verkeimung vorkommen könnte. Es ist ebenso wie das Hämodilutionsblut innerhalb von 6 h zu transfundieren. Der Einsatz der maschinellen Autotransfusion (MAT) ist bei allen Operationen indiziert, bei denen der Blutverlust > 1500 ml (mit EBS) oder > 750 ml (ohne EBS) beträgt. Typische Einsatzgebiete liegen in der Hüft- und Wirbelsäulenchirurgie, in der Gefäßchirurgie (Aorta), in der Kardiochirurgie und bei Notfalleingriffen. Der Einsatz der MAT ist heute auch bei Tumoroperationen möglich. Da auch bei der Non-touch-Technik des Operateurs Tumorzellen im Wundblut nachweisbar sind, muss das AGEK zusätzlich bestrahlt werden. Die Dosis von 50 Gy ist in der Lage, 1012 Tumorzellen zu eliminieren. Da bei den untersuchten Tumoren max. 109 Zellen gefunden wurden, ist diese Reduktion ausreichend. Das AGEK muss zur Bestrahlung vom Patienten getrennt werden, die Konserven sind korrekt zu beschriften (Patientenaufkleber, Eigenblut) und nach der Bestrahlung muss analog zu den Regeln der NHD (räumliche Trennung) ein Bedside-Test vorgenommen werden.
Die MAT ist bei Operationen im infizierten Wundgebiet kontraindiziert, da zwar eine Keimreduktion stattfindet, Keime jedoch nicht vollständig eliminiert werden können. Auch der Zusatz von Antibiotikalösungen konnte keine Verbesserung erzielen. Aus diesem Grund ist die MAT z. B. bei eröffnetem Darm oder auch der transurethralen Prostataresektion abzulehnen. Unter dem Kosten/Nutzen-Aspekt ist eine MAT dann effizient einsetzbar, wenn mindestens 2 AGEK gewonnen werden. Bei Operationen, bei denen der Blutverlust präoperativ nicht sicher abschätzbar ist, kann zunächst steril gesammelt werden, und erst wenn der Blutverlust für eine Aufbereitung ausreichend ist, wird das Zentrifugensystem eingesetzt. Das intraoperativ verwendete Set kann ebenso zur postoperativen Blutaufbereitung benutzt werden. Der Saugschlauch wird mit den Redon-Drainagen verbunden. Somit kann im AWR oder auf der Intensivstation weiter Blut gesammelt und aufbereitet werden. Diese Vorgehensweise bietet sich in der orthopädischen Chirurgie an, da es hier nach Implantation von Gelenkprothesen im Hüft- und Kniegelenk auch postoperativ noch zu größeren Blutverlusten kommen kann. Da intraoperativ mit dem Wundblut auch Raumluft angesaugt wird, könnte es je nach Klimatisierung des Operationssaales zu einer Keimkontamination des AGEK kommen. Da das Blut aber nicht gelagert wird, sind diese geringen Keimzahlen für den Patienten unproblematisch. Die Dauer der Aufbereitung sollte 6 h nicht überschreiten. ! Cave Eine Druckinfusion sollte unterbleiben, da vor Beginn des Aufbereitungsprozesses das Zentrifungen-Einmalsystem mit steriler Luft gefüllt ist, die sich während der Aufbereitung im Retransfusionsbeutel sammelt und somit zur Luftembolie führen kann. Tipps
Maschinelle Autotransfuion (MAT) – so machen wir es: 5 Intraoperativer Einsatz: Indikationen sind Hüftprothesenwechsel, trabekuläre Hüftprothese (offener Markraum), Wirbelsäulenchirurgie (Osteosynthesen), Aortenchirurgie, radikale Prostatektomie und Zystektomie (mit Bestrahlung des AGEK) und das Polytrauma mit V.a. intraabdominelle Blutung (cave: Darmverletzung) 5 Postoperativer Einsatz: Hüftprothesenwechsel (Aufbereitung im AWR oder der operativen Intensivstation) 6
201 19.7 · Fremdblutsparende Ver fahren
5 Antikoagulation: 30000 IE Heparin auf 1000 ml NaCl 0,9 %, mit ca. 100 ml das System spülen, dann ca. 100 ml auf 500 ml Wundblut
Alternativ zur maschinellen Aufbereitung von Drainagenblut wurde von einigen Autoren die Retransfusion ohne Aufarbeitung als kostengünstige Maßnahme empfohlen, da es sich ja im Gegensatz zur intraoperativen Situation ausschließlich um Blut handelt. Den verschiedenen erhältlichen Drainagensystemen wird teilweise Heparin (5000 IE) zugesetzt, die dann dem Patienten auch retransfundiert werden. Andererseits wird mit dem Aufbrauchen des Gerinnungspotenzials (z. B. durch Pleurabewegungen bei Thoraxdrainagen oder durch Gewebe- und Fremdkontakt bei anderen Operationen) ein Verzicht auf Heparin begründet. In diesem Wundblut sind aktivierte Gerinnungsfaktoren enthalten, die im Einzelfall negative Auswirkungen beim Patienten haben können. Die Qualität, die von homologem wie autologen Blutkonserven gefordert wird, ist in keiner Weise gewährleistet. In einem Gesamtkonzept »Autologe Transfusion« sollte auf diese Technik verzichtet werden.
19.7.4 Medikamentöse Ver fahren Erythropoetin (EPO) EPO wird überwiegend in der Niere gebildet und bewirkt einen schnelle Proliferation und Differenzierung von Erythrozyten. In höherer Dosierung wirkt es auch auf die Megakaryozyten, sodass es zu einem Thrombozytenanstieg kommen kann. Reguliert wird die physiologische Ausschüttung von EPO über den Sauerstoffgehalt des Blutes (»O2«Sensor in der Niere). Der stärkste Stimulus für eine EPOAusschüttung ist die Anämie. Aber auch eine Hypoxämie (Höhenluft), sowie hormonelle (Schilddrüsenhormone, Androgene, cAMP) und medikamentöse Faktoren (Ca-Antagonisten, Prostaglandine, Katecholamine, E2-Agonisten) können den EPO-Spiegel anheben. Während EPO primär bei niereninsuffizienten Patienten eingesetzt wurde, ist durch die gentechnologische Verfügbarkeit der Einsatz bei anderen Indikationen (autologe Transfusion, Tumoranämie, Neugeborenenanämie) möglich geworden. Die anämische Hypoxie durch die Eigenblutspende allein ist nämlich zunächst so gering, dass die EPO-Ausschüttung nicht ausreichend stimuliert wird. Erst zum Operationszeitpunkt nach der Spende von mehreren Konserven ist die Erythrozytenproduktion gut stimuliert. Im Rahmen der autologen Transfusionskonzepte wurde EPO entweder eingesetzt, um präoperativ mehr Eigenblut-
konserven zu gewinnen oder um Patienten, die präoperativ eine milde bis moderate Anämie aufweisen, durch EPO in ihrem Blutvolumen zu steigern (Ziel-Hk 45 %), damit so der erwartete Blutverlust toleriert wird. Zahlreiche Dosisfindungsstudien sowie Effektivitätsprüfungen wurden durchgeführt. Besonders anämische Patienten profitieren von der EPO-Gabe. EPO-Einsatz wird empfohlen bei bzw nach: Patienten mit geringem Blutvolumen Patienten mit präoperativer Anämie (Hk < 39 %) Blutverlusten von 1000–3000 ml Akuten Blutverlusten zur schnelleren Rekonvaleszenz 5 mmunhämatologischen Sonderfällen (z. B. irreg. AK) 5 5 5 5
Die EPO-Gabe (400–600 U/kg KG) erfolgt in wöchentlichem Abstand subkutan, was effektiver ist als eine intravenöse Applikation. Die EPO-Gabe muss mit einer Eisensubstitution und gegebenenfalls mit einer Vitamin B12/Folsäuregabe kombiniert werden. Nach 3 Tagen lässt sich der Retikulozytenanstieg feststellen, nach ca. 7 Tagen ist ein Anstieg um 1 g/dl erreicht. Die Nebenwirkungen des EPO (Hypertonie, Hyperkaliämie, Krämpfe, Thrombose), die aus der Substitution bei niereninsuffizienten Patienten bekannt sind, treten bei Langzeitgabe auf und werden im Rahmen einer Kurzzeitsubstitution bei der EBS selten beobachtet. Anders ist das Risiko zu sehen, wenn man präoperativ das Blutvolumen zu sehr steigert (Hk > 45 %), um auf diese Weise einen größeren Spielraum für intraoperative Blutverluste zu haben. Hier ist gehäuft mit Hypertonie und Thrombosen zu rechnen. Auch im Rahmen der Intensivtherapie wurde die Gabe von Erythropoetin propagiert. Da hier aber häufig eine relative EPO-Resistenz vorliegt und somit 7fach höhere Dosen erforderlich waren, ist hier die Kosten-Nutzen-Relation sehr zweifelhaft. Offen war lange die Frage, ob sich die Stimulation der Erythropoese mit EPO und Eisensubstitution bei Tumorpatienten negativ auswirken könnte. Mittlerweile liegen eindeutige Studien vor, die gezeigt haben, dass die Tumorbehandlung effektiver ist, wenn das Tumorgewebe gut oxygeniert ist. Neben der Sauerstoffdiffusion und dem arteriellen O2Angebot ist die Hämoglobinkonzentration entscheidend. Durch Anhebung über EPO konnten die Überlebenszeiten bei vielen Tumorerkrankungen verbessert werden.
19
202
Kapitel 19 · Perioperative Therapie mit Blutprodukten und fremdblutsparende Verfahren
Aprotinin Der Kallikreininhibitor Aprotinin ist bereits ein altes Medikament, das sich bisher bei verschiedenen empfohlenen Indikationen (z. B. Pankreatitis, Schocklunge etc.) nicht durchsetzten konnte. Als bluteinsparendes Medikament ist Aprotinin aber in der Kardiochirurgie fest etabliert. Durch stabilisierende Einflüsse auf Blutgerinnung, Fibrinolyse und Thrombozytenfunktion konnte bei kardiochirurgischen Eingriffen der Blutverbrauch wesentlich gesenkt werden. Wegen des Risikos einer allergischen Reaktion (bis 10 % bei Reexposition) sollte der Einsatz dokumentiert und dem Patienten mitgeteilt werden (Aprotinin ist z. B. auch in Fibrinkleber enthalten). Dabei ist eine Sensibilisierung auch möglich, ohne dass anamnestisch eine Exposition bekannt ist. Bei Applikation sollte zunächst eine geringe Menge als Testdosis gegeben werden. Der Einsatz von Aprotinin in der Orthopädie sollte auf die blutreicheren Prothesen-Wechseloperationen sowie die Wirbelsäulenchirurgie (osteosynthetische Stabilisierung von vorne und hinten bei Fraktur oder Tumor) beschränkt werden. Ungeklärt ist das Risiko einer nicht sicher ausgeschlossenen erhöhten Thromboseneigung. In der Koronarchirurgie besteht die Gefahr von frühen Re-Verschlüssen. Im Rahmen der orthopädischen Chirurgie besteht durch die Operation eine hohe Thrombosegefährdung, von denen viele klinisch inapparent verlaufen. In jedem Fall ist die Aprotininapplikation auf eine Kurzzeitgabe zu beschränken. Da bei hoch dosierter Gabe die PTT verlängert ist, ohne dass dadurch das Blutungsrisiko erhöht ist, sollte keinesfalls eine Heparintherapie in dieser Situation reduziert werden. Dosierung Aprotinin 2 Mio Einheiten (= 280 mg) als Bolus zu Beginn der Operation, 50000 IE davon als Testdosis, anschließend 500000 IE/h (= 70 mg/h) während der gesamten Operationsdauer (Hammersmith-Schema).
Außer Aprotinin kommen noch die Antifibrinolytika H-Aminokapronsäure und Tranexamsäure zum Einsatz. Zwar sind beide Präparate kostengünstiger, allerdings auch nicht so effektiv in der Bluteinsparung.
19
Desmopressin Bei Desmopressin (DDAVP: 1-Deamino-8-D-Arginin-Vasopressin) handelt es sich um ein synthetisches Vasopressinanalogon, das selbst keine wesentlichen blutdrucksteigernden Effekte mehr besitzt, im Gegenteil muss bei zu
schneller Applikation mit einem Blutdruckabfall gerechnet werden. Der antidiuretische Effekt ist beibehalten und wird bei hypophysär bedingter Polyurie therapeutisch genutzt. Weiterhin führt DDAVP zur Freisetzung von F VIII, vonWillebrand-Faktor (vWF) und Plasminogenaktivator (tPA). Die Adhäsionseigenschaften der Thrombozyten werden verbessert. Damit ergeben sich für DDAVP folgende Indikationen: 1. von-Willebrand-Syndrom (vWS), Faktor-VIII-Mangel 2. Verbesserung der Thrombozytenfunktion nach Azetylsalizylsäure und anderen nichtsteroidalen Entzündungshemmern sowie bei Thrombozytopathien 3. Faktor-XI-Mangel Bei der Hämophilie A wird die Faktor-VIII-Konzentration für 3–6 h um das 3,6fache erhöht. Bereits nach 15 min zeigt sich der Wirkungsbeginn, nach 30–50 min ist das Wirkungsmaximum erreicht. Der vWF ist für 5–9 h auf den 3fachen Wert gesteigert. Die Wirkung ist zeitlich beschränkt und lässt nach ca. 10 Tagen nach. Auch kann der Effekt je nach Beanspruchung des Gerinnungspotenzials (große Knochen-OP, kleine Wundversorgung) unterschiedlich sein. Während bei den vWS Typ I und II A die Gabe von DDAVP indiziert ist, ist die Indikation bei Typ II B umstritten. Bei Typ III soll das Medikament nicht gegeben werden. Nach der Gabe von ASS, Diclofenac und Piroxicam verbessert DDAVP die Thrombozytenfunktion und kann so die Blutungsgefahr reduzieren. Dagegen kann es nicht die Funktionsstörungen nach Dextrangabe bessern, während der Blutverlust nach HAES-Gabe durch DDAVP reduziert sein soll. Ebenso wird die Funktion der Thrombozyten bei Thrombozytopathien im Rahmen einer Urämie oder bei myeloproliferativem Syndrom gebessert. Der Einsatz bei Thrombasthenie Glanzmann-Naegli ist hingegen wirkungslos. Dosierung DDAVP 0,3–0,4 μg/kg KG in 12-stündigen Intervallen
Als Nebenwirkung wird eine Wasserretention mit Hyponatriämie beschrieben, die sehr selten zu Krämpfen und Bewusstlosigkeit führen kann. Eine strenge Bilanzierung ist daher notwendig. Dies ist insbesondere bei Hypertonie und kardiovaskulären Erkrankungen zu beachten. Ebenso ist Vorsicht angezeigt, wenn es durch intraoperativen Einsatz hypotoner Spüllösung (z. B. transurethrale Prostataresektion) zu zusätzlicher Wasserbelastung kommen kann. Bei Patienten mit Angina pectoris und unbehandelter Hy-
203 19.7 · Fremdblutsparende Ver fahren
pertonie ist DDAVP kontraindiziert. Der antidiuretische Effekt lässt sich mit Furosemid aufheben.
19.7.5 Anästhesiologische und operative
Techniken Auch die anästhesiologische Technik kann zur Fremdbluteinsparung beitragen. Die kontrollierte Hypotension wird besonders dann durchgeführt, wenn ein blutarmes Operationsfeld gewünscht wird. Die Effektivität hinsichtlich der Einsparung von Fremdblut wird unterschiedlich bewertet. Sie ist in jedem Fall nicht sehr groß und nur als Ergänzung in einem Gesamtkonzept zu sehen. ! Cave Eine extreme Anämie mit gleichzeitiger Hypotension ist wegen der verminderten Sauerstofftransportkapazität in jedem Fall zu vermeiden.
Ein wichtiger Aspekt ist das Monitoring der Körpertemperatur. So konnte gezeigt werden, dass hypotherme Patienten einen höheren Blutverlust aufweisen als Patienten mit Normothermie. Durch die Hypothermie wird primär die Thrombozytenfunktion beeinträchtigt, bei ausgeprägter Hypothermie auch die plasmatische Gerinnung. Operative Techniken: Neben der Anästhesie sind auch die operativen Disziplinen im Konzept zur Einsparung von Fremdblut gefordert. Nicht nur die Optimierung der Saugtechnik und die Vermeidung des »Bluttupfens« bei Verwendung der MAT, sondern auch die Operationstechnik selbst kann den Blutverlust reduzieren. Durch Einsatz von Laser- und Ultraschalltechnik, Kollagenvlies und Fibrinkleber sowie Modifikationen des operativen Zugangs kann der Blutverlust reduziert werden. Der lokale Einsatz von Vasokonstriktoren ist besonders in der HNO-Heilkunde und Kieferchirurgie eine Routinemethode. Durch die Vasokonstriktion kommt es zur Verminderung der Blutung und durch das übersichtlichere Operationsfeld wird die Operationszeit verkürzt und so der Blutverlust reduziert.
19.7.6 Homologe vs. autologe Transfusion Ein wesentlicher Katalysator zur Verbreitung der autologen Transfusion war der »HIV-Skandal« und das BGH-Urteil vom 17. Dez. 1991 (Az VI ZR 40/91). Darin legte der BGH fest, dass auch bei geringem Infektionsrisiko der Patient über dieses Risiko aufgeklärt werden muss. Des Weiteren muss er, falls autologe Verfahren in Betracht kommen, über diese informiert werden.
Es ist jedoch zu vermeiden, dass durch die übermäßige Eigenblutspende zu viele Konserven verfallen (weil nicht benötigt) bzw. dadurch erst die Transfusionsnotwendigkeit bei niedrigem Hb intraoperativ ausgelöst wird. Bei der Prüfung der Kosten-Nutzen-Relation wurde auch die Frage diskutiert, ob die Indikation für ein autologes Erythrozytenkonzentrat identisch zu stellen ist wie für eine homologe Transfusion. Nach der Bundesärztekammer »[bedarf] die Eigenbluttransfusion ... wie jede andere Bluttransfusion der ärztlichen Indikation« [6. Fassung von 1996], zumal auch die autologe Transfusion nicht ohne Risiko ist. Die Indikationen unterscheiden sich damit in keinem Falle. Das Risiken der Transfusion sind unter folgenden Aspekten zu diskutieren: 1. Effektivität 2. Risiken der Blutabnahme 3. Risiken der Lagerung-/Aufbereitung 4. Retransfusionsrisiko – Verwechslungsrisiko – Infektionsrisiko – Immunologisches Risiko Eine homologe Transfusion ist immer effektiv, während die Effektivität der autologen Transfusion z. B. vom Spenderegime abhängig ist. Bei Männern kann die EBS effektiver durchgeführt werden als bei Frauen (niedrigerer Hb-Wert), während bei Anämie die EPO-Therapie effektiver ist. Bei guter Überwachung und Beachtung der Kontraindikationen ist das Spenderisiko bei autologen und homologen Spendern gleich. Die Risiken der Aufbereitung und Lagerung sind bei beiden Konserven grundsätzlich gleich. Autologe Konserven werden auch außerhalb der Blutspendedienste gewonnen. Durch die Herstellungsrichtlinien sollten sich beide Produkte nicht unterscheiden. Von verschiedenen Autoren wird für die autologe Transfusion ein höheres Verwechslungsrisiko postuliert, da ja keine Kreuzprobe durchgeführt werde. Da nach deutschen Richtlinien bei der autologen Transfusion ein Bedside-Test von dem Patienten und der autologen Konserve durchgeführt werden muss, dürfte sich dieses Risiko hinsichtlich der AB0-Inkompatibilität nicht von einer homologen Transfusion unterscheiden. Es ist jedoch insofern als sehr bedeutend zu sehen, da es sich bei den autologen Spendern nicht um gesunde homologe Spender handelt, und somit die Konsequenzen auch außerhalb einer AB0-Unverträglichkeit bedeutsam sein können. Das Infektionsrisiko der homologen Transfusion ist zwar durch vermehrte Testung deutlich gesunken. Eine
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204
Kapitel 19 · Perioperative Therapie mit Blutprodukten und fremdblutsparende Verfahren
Fremdinfektion durch HIV- oder Hepatitis-Virus ist jedoch durch eine autologe Konserve nicht möglich. Bezogen auf eine Infektionsübertragung durch bakterielle Kontamination ist das Risiko bei homologer und autologer Konservenherstellung gleich, sollte jedoch durch Erfüllung der Herstellungsrichtlinien möglichst vermieden werden. Das immunologische Risiko der Transfusion wurde bereits diskutiert. Hier hat die autologe Transfusion das geringere Risiko. Auch wenn das Risiko der homologen Transfusion in den letzten Jahren rückläufig ist, bleibt die autologe Transfusion das sicherere Verfahren.
19.8
Hämoglobinlösungen/ Per fluorocarbone
Alternativ werden derzeit 2 verschiedene Sauerstoffträger entwickelt: Hämoglobinlösungen und Perfluorocarbone (PFC). PFC hat eine 20fach höhere Löslichkeit für Sauerstoff im Vergleich zu Blut und benötigt eine hohe FiO2. Hämoglobinlösungen binden O2, haben jedoch eine höhere Affinität als Erythrozytenhämoglobin, sodass sie den Sauerstoff im Gewebe nur erschwert wieder abgeben. Nach bisherigen Studien lässt sich mit beiden Substanzen nur kurzzeitig die Sauerstoffversorgung der Gewebe wiederherstellen, bis definitiv Blut bereitgestellt werden kann. Weitere Indikationen werden diskutiert: Verbesserung der Sauerstoffversorgung in bestimmten Operationsphasen (z. B. in der Karotischirurgie während der Clampingphase), Stabilisierung der poststenotischen O2-Versorgung bei akutem Infarktgeschehen, Optimierung der Bestrahlungstherapie durch bessere Oxygenierung des Tumors.
19.9
19
Therapie mit Gerinnungsfaktoren
Nicht die gerinnungsanalytische Korrektur im Sinne einer Laborkosmetik soll Ziel der Therapie sein, sondern – je nach Ursache und Erkrankung – die Schaffung eines ausgewogenen und stabilen Gerinnungspotenzials. Da vielfach auch bei reduzierten Konzentrationen eine ausreichende Gerinnung besteht, können Transfusionsrisiken und Kosten vermieden werden. Am häufigsten sind Verlust- oder Verdünnungskoagulopathien in der operativen Medizin. Außerdem kann es bei Leberfunktionsstörungen zu einer Mangelsynthese kommen. Angeborene Koagulopathien sind eher selten. Mögliche chirurgische Ursachen einer Blutung müssen unbedingt operativ korrigiert werden. Durch gezielte Labor-
untersuchungen (Thrombozyten, Quick, PTT, D-Dimere, AT-III, FXII, Thrombelastometrie [Rotem], Faktorenanalyse) muss im Einzelfall die genaue quantitative oder qualitative Störung ermittelt werden.
19.9.1 Thrombozytenfunktionsstörungen Rein thrombozytär bedingte Störungen manifestieren sich durch Petechien an Haut und Schleimhäuten. Meist kommt es im Rahmen einer Massivtransfusion zum Thrombozytenmangel, wenn der Blutverlust das 1,5fache des Blutvolumens übersteigt. Daneben werden Thrombozytopathien durch Medikamente (Azetylsalizylsäure etc.) sowie Thrombozytopenien durch Gabe von Heparin beobachtet. Eine Indikation zur Transfusion besteht bei einer Thrombozytenzahl < 50000/Pl, wenn weiterhin eine Blutungssituation besteht. Bei intrakraniellen Operationen, bei Augenoperationen und Massivtransfusionen werden Werte > 80000/Pl angestrebt. Besteht keine akute Blutung, sollte spätestens bei 30000/Pl substituiert werden. In bestimmten Situationen ist die Gabe von DDAVP indiziert. Die Transfusion wird blutgruppengleich nach Bedside-Test über einen 170–230-Pm-Filter ausgeführt. Durch ein TK steigt die Thrombozytenzahl um 5–10 u 109/l. Die Dosis kann nach folgender Formel berechnet werden: Dosis [Thrombozytenzahl] = gewünschter Anstieg u 109/l u Blutvolumen [l] u 1,5 Der Faktor 1,5 korrigiert die Dosis nach oben, da ein Teil der transfundierten Thrombozyten (30–40 %) in der Milz verbleibt. Vereinfacht kann man 1 TK/10 kg KG bzw. 1–2 Pool-TK/Patient geben. Die heparininduzierte Thrombozytopenie (HIT) zeigt im Gegensatz zu anderen Mangelzuständen gehäuft thrombotische Komplikationen. Während der Typ I (Inzidenz bis 10 %) milde verläuft und keiner Therapie bedarf, kommt es bei Typ II (Inzidenz 1–3 %) zu einer immunologischen Thrombozytenaggregatbildung und durch diese Partikel zu Gefäßverschlüssen. Da diese Aggregate erythrozytenarm sind, wurde das Krankheitsbild auch als White-clotSyndrom bezeichnet. Therapeutisch muss Heparin sofort abgesetzt werden und gegebenenfalls eine weiter notwendige Antikoagulationstherapie durch andere Medikamente fortgeführt werden, z. B. Danaproid (Orgaran), Lepirudin (Refludan), Na-Zitrat oder Kumarinderivate. Kreuzreaktionen auf Danaproid müssen vorher laborchemisch ausgeschlossen werden. Statt der i.v.-Gabe kann auch das kostengünstigere Desirudin (Revasc) s.c. eingesetzt werden. Na-Zitrat ist nur eine Alternative für den extrakorporalen
205 19.9 · Therapie mit Gerinnungsfaktoren
Kreislauf, Kumarinderivate bieten sich bevorzugt in der nicht-operativen Medizin an.
. Tabelle 19.10. HWZ der Gerinnungsfaktoren
! Cave
Faktor
HWZ [h]
Fibrinogen
96–120
Prothrombin (II)
40–72
V
12–15
VII
1,5–6
VIII
8–12
IX
18–30
X
24–48
XI
10–20
XII
40–50
XIII
100–120
AT III
36
Protein S
24–58
Protein C
1,5–6
Auch Druckspülsysteme der invasiven Blutdruckmessung sowie Faktorenkonzentrate (z. B. PPSB, AT III) enthalten Heparin und können eine HIT verursachen!
Eine Indikation zur Thrombozytensubstitution besteht erst nach der Therapie der HIT. Eine relative Kontraindikation für eine Thrombozytentransfusion besteht bei der thrombotisch-thrombozytopenischen Purpura sowie bei Posttransfusionspurpura, da die Transfusion meist wirkungslos ist und es durch weiteren Thrombozytenabfall zu einer zunehmenden Blutungsneigung kommen kann. Bei IgA-Mangel sollte ein plasmaarmes gewaschenes Produkt verwendet werden.
19.9.2 Störungen der plasmatischen
Gerinnung In der Regel reichen 30 % der Faktorenkonzentration bei einem Fibrinogengehalt über 75 mg/dl für eine Gerinnung aus. Bei Mangel an einzelnen Faktoren wird die Dosierung immer nach folgender Formel berechnet: Menge (Einheiten) = gewünschter Anstieg in % u kg KG Dies gilt auch für die Substitution mit PPSB. Das Dosierungsinterwall bei Mangelzuständen ist von der Halbwertszeit des jeweiligen Faktors abhängig (. Tab. 19.10). Analog erhöht 1 ml Plasma/kg KG den Faktorenspiegel um 1–2 %, wobei die Konzentrationen im FFP zwischen 60 und 140% schwanken können. Neben seltenem angeborenem Mangel an einzelnen Faktoren gibt es häufig komplexe Störungen durch Massivtransfusionen, Lebererkrankungen oder eine Verbrauchskoagulopathie bei intensivmedizinischen Krankheitsbildern. Der Vorteil der FFP-Gabe liegt in der komplexen Substitution aller Gerinnungsfaktoren und Inhibitoren, der Nachteil in einer höheren Volumenbelastung, wenn ein einzelner Faktor (z. B. F V oder XI) substituiert werden muss. Im Rahmen einer Massivtransfusion treten Verdünnungskoagulopathien erst auf, wenn in kurzer Zeit (3–4 h) das ganze Blutvolumen (BV) ersetzt wird, bzw. in 24 h das 1,5–2fache BV. Die nachhinkende Substitution bei massiven Blutverlusten beinhaltet immer ein erhöhtes Blutungsrisiko. Daher sollte in diesen Situationen in festem Verhältnis zur Erythrozytengabe substituiert werden. Empfohlen wird primär ein Verhältnis 1 : 4 (FFP : EK), bei einem Verlust über 10 EK sollte FFP 1 : 2 ersetzt werden. Damit kann der Quickwert
um 50 % und die PTT um 50 s gehalten werden. Ziel ist eine Faktorenkonzentration von mindestens 30 %. Bei hämorrhagischem Schock sollen primär 4 FFP (15–20 ml/ kg KG) gegeben werden. Nur bei fehlender FFP-Substitutionsmöglichkeit kann ersatzweise mit PPSB-Konzentrat und Fibrinogen substituiert werden. AT III sollte in dieser Situation nur nach Laborkontrolle gegeben werden, da es normalerweise ohne disseminierte intravasale Gerinnung (DIC) durch dieses Verfahren ausreichend ersetzt wird. AT III ist nicht nur ein bedeutender Regulator des ex- und intrinsischen Gerinnungssystems, sondern besitzt auch ausgeprägte entzündungshemmende Eigenschaften (Wechselwirkung mit Glykosaminoglykanen und den Prostaglandinen). FFP muss in speziellen Geräten aufgetaut werden (ca. 20 min) und wird nach Durchführung eines AB0-Testes (beim Empfänger) AB0-gleich oder AB0-kompatibel (. Tab. 19.5) über ein 170–230 Pm Filter transfundiert. Da im Gegensatz zu den EK hier eine größere Menge Zitrat enthalten ist, sollte gegebenenfalls (> 50 ml/min) Kalzium substituiert werden. Eine besondere Therapieform ist die Gabe von rekombinantem Faktor VII a (NovoSeven). Dieser ist nicht nur zugelassen für die Behandlung von akuten Blutungen und
19
206
Kapitel 19 · Perioperative Therapie mit Blutprodukten und fremdblutsparende Verfahren
. Tabelle 19.11. Korrelation von PTT mit Faktor VIII
19
PTT [s]
F VIII Konzentration [%]
37–38
50
39–40
30
44
20
45
< 20
als Schutzhämostatikum für chirurgische Eingriffe bei Patienten mit kongenitaler oder erworbener HemmkörperHämophilie, sondern seine Wirksamkeit wurde auch bei anderen Gerinnungsstörungen nachgewiesen. In supraphysiologischer Dosis verabreicht, werden mehr als zehnfach normale Konzentrationen erreicht, die auch bei völliger Abwesenheit von F VIII und XI ausreichend Thrombin aktivieren und zu einem stabilen Fibringerinnsel führen. Ebenso bei Thrombozytopenie und Thrombozytopathien sowie bei gerinnungsgesunden Patienten mit schwerwiegenden akuten Blutungsereignissen konnte durch den aktivierten Faktor VII die Blutungssituation dramatisch gebessert werden. Indikationen sind neben der Hemmkörperphilie Traumapatienten, intrakranielle Blutungen, obere gastrointestinale Blutungen und Blutungen bei Leberzirrhose, wenn diese anders nicht gestillt werden können. Das Präparat ist sehr teuer, daher ist die Indikation streng zu stellen. Bei einer Verbrauchskoagulopathie kommt es durch verschiedene Mediatoren (Zytokine, Endotoxine etc.) zu einem vermehrten Verbrauch von Gerinnungsfaktoren. Parallel kann es zu einer gesteigerten Fibrinolyse kommen, die die Blutungsneigung weiter verstärkt. Im Vollbild dieser Gerinnungsstörung zeigt der Patient unstillbare Blutungen aus Einstichstellen, Wundgebieten und Schleimhäuten. Neben dem Abfall des Quickwerts und der stark verlängerten PTT kommt es zu Thrombozytopenie und dem Abfall von AT III sowie anderen Inhibitoren (z. B. Protein C). Die Fibrinmonomere steigen an, bei reaktiver Hyperfibrinolyse kommt es zu einem erhöhten Anfall von D-Dimeren. In der Therapie stehen einerseits die Behandlung der Grunderkrankung und die Stabilisierung der Vitalfunktionen im Vordergrund, andererseits müssen alle Faktoren (o FFP) substituiert werden. Während früher eine Heparintherapie empfohlen wurde, steht heute die AT-III-Substitution an erster Stelle. Niedrig dosiertes Heparin wird erst gegeben, wenn die Blutungssituation beherrscht wird. Ziel
sind AT-III-Werte > 80 %. Gegebenenfalls müssen nach Stabilisierung auch Thrombozyten ersetzt werden. Bei Störungen der Leberfunktion sind in der Regel die Faktoren II, VII, IX und X sowie Protein C und S (alle Vitamin-K-abhängig) betroffen. Besteht ausreichend Zeit, so kann versucht werden, mit Vitamin K (Konakion) die Gerinnungswerte zu verbessern. Besteht eine dringliche Operationsindikation, muss mittels PPSB der Quickwert angehoben werden. PPSB enthält alle Vitamin-K-abhängige Faktoren, wobei die Präparate nur hinsichtlich des Faktors IX standardisiert sind. Wegen möglicher Restmengen aktivierter Gerinnungsfaktoren, die eine DIC auslösen könnten, sind alle mit Heparin, viele Produkte auch mit AT III versetzt. Bei kumarinbedingten Blutungen kann ebenfalls mit PPSB sofort ein ausreichendes Gerinnungspotenzial wiederhergestellt werden. Bei Faktor-V- und Faktor-XI-Mangel kann nur mittels FFP substituiert werden (F V: 20 ml/ kg KG alle 12 h, F XI: 10–15 ml/kg KG alle 24–48 h, Ziel: Konzentration über 20 %). Die Therapie der Hämophilie kann mit Desmopressin oder durch Substitutionstherapie erfolgen. Ebenso wird das von-Willebrand-Syndrom behandelt. Bei diesem dürfen jedoch keine hochgereinigten Faktorenkonzentrate eingesetzt werden, da diese den von-Willebrand-Faktor nicht mehr enthalten. Die Therapie des Faktor-VIII-Mangels kann über eine PTT-Kontrolle überwacht werden (. Tab. 19.11). Da es Abweichungen im Sinne einer Rechtsoder Linksverschiebung der Korrelation gibt, sollte die Faktor-VIII-Konzentration 2–3-mal mit der PTT korreliert werden. Besonders bei Heparingabe sowie in Anwesenheit von Fibrinogenspaltprodukten zeigt die PTT nicht mehr die wahre Faktor-VIII-Konzentration an. Die Therapiesteuerung bei Hämophilie B kann ebenfalls über die PTT erfolgen. Dabei darf der hämostaseologisch qualifizierte Arzt im Rahmen der kontrollierten Selbstbehandlung Gerinnungskonzentrate direkt an den Patienten abgeben. Bei Faktor-VIII-Inhibitoren (6–13 % der Hämophiliepatienten) ist die Substitutionstherapie mit F VIII wirkungslos. Hier sollte man sich mit einem Hämophiliezentrum beraten bzw. den Patienten dorthin verlegen. In Betracht kommen Plasmapherese, die Gabe von hohen Konzentration F VIII oder von FEIBA (Factor eight bypassing activity). Patienten mit AT-III- oder Protein-C- bzw. ProteinS-Mangel stehen wegen thrombembolischen Komplikationen in der Regel unter Kumarintherapie. Perioperativ muss auf Heparin und Substitution umgestellt werden. Bei schwerer Leberzirrhose kann auch der Quickwert durch einen Faktor-V-Mangel erniedrigt sein. In diesem Fall ist die Vitamin-K-Gabe wirkungslos.
207 Literatur
Fibrinogen muss substituiert werden bei der seltenen angeborenen Afibrinogenämie bzw. Dysfibrinogenämie oder bei erworbenen Störungen (z. B. Hyperfibrinolyse bei Fruchtwasserembolie). ! Cave Bei einer DIC ist die Fibrinogengabe gefährlich, da bei weiter bestehender Fibrinbildung die Mikrozirkulationsstörung und damit das Organversagen verstärkt werden können!
Faktor XIII hat besondere Bedeutung, da ein erworbener Mangel bei Intensivpatienten häufiger vorkommt und zu späten Nachblutungen sowie Wundheilungsstörungen führt. Durch F XIII (fibrinstabilisierender Faktor) kommt es zur Vernetzung von Fibrin, zur Bindung von D2-Antiplasmin, Fibronektin und Kollagen. Außerdem fördert es die Fibroblasten- und Osteoblastenmigration und -proliferation.
Literatur Aitken MG (2004) Recombinant factor VIIa. Emerg Med Australas. 16: 446–55 Auer F von (1999) Das neue Transfusionsgesetz. Eine Darstellung der wesentlichen Aspekte. Bundesgesundheitsbl - Gesundheitsforsch - Gesundheitsschutz 42: 95–99 v.Bormann B, Weiler J, Wirtz St, vBormann C (2001) Profitiert die Gewebeoxigenierung von einer Erythrozytenransfusion Anästhesiol Intensivmed Notfallmed, Schmerzther 36 Suppl.: S34–S41 Bundesärztekammer: Leitlinie zur Therapie mit Blutkomponenten und Plasmaderivaten. Deutscher Ärzte-Verlag, Köln 1995, aktuelle Fassung: http://www.bundesaerztekammer.de/30/Richtlinien/ Leitidx/Blutkomponentenpdf.pdf Bundesärztekammer, Paul-Ehrlich-Institut: Richtlinien zur Blutgruppenbestimmung und Bluttransfusion. Mit Neufassungen und Kommentaren 2001, Deutscher Ärzte-Verlag, Köln 2002, aktuelle Fassung: http://www.bundesaerztekammer.de/30/Richtlinien/ Richtidx/Blutprodukte/Haemo.pdf Bundesgesetzblatt 1998 Teil I Nr. 42: Gesetz zur Regelung des Transfusionswesens (Transfusionsgesetz - TFG) vom 1. Juli 1998 Dinkelmann S, Nor thoff H (2003) Künstliche Sauerstoffträger – eine kritsiche aktuelle Analyse, Anästhesiol Intensivmed Notfallmed Schmerzther 38: 47–54 Dietrich KA, Conrad SA, Hebert CA, Levy GL, Romero MD (1990) Cardiovascular and metabolic response to red blood cell transfusion in critically ill volume-resuscitated nonsurgical patients Crit Care Med.18: 940–4. Hansen E, Bechmann V, Altmeppen J (2002) Maschinelle Autotransfusion mit Blutbestrahlung bei onkologischen Eingriffen – Antwor ten auf aktuelle Fragen Anästhesiol Intensivmed Notfallmed, Schmerzther 37: 740–744 Hébert PC, Wells G, Blajchman MA, Mar tin C, Pagliarello G, Tweeddale M, Schweitzer I, Yetisir E (1999) A multicenter, randomized, controlled clinical trial of transfusion requirements in critical care. Transfu-
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19
20 Schmerztherapie in der postoperativen Phase Christoph Donath 20.1 Anatomische und physiologische Grundlagen –210 20.2 Organisation der postoperativen Schmerztherapie –210 20.3 Schmerzmessung –211 20.3.1 Verbale Rating-Skala –211 20.3.2 Visuelle Analogskala (VAS) –211 20.3.3 Numerische Analogskala (NAS) –211
20.4 Medikamente zur Schmerztherapie –212 20.4.1 20.4.2 20.4.3 20.4.4
Opioide –212 Nichtopioidanalgetika (NSAID) –214 Lokalanästhetika –216 Ko-Analgetika –216
20.5 Katheterverfahren –216 20.6 Patientenkontrollierte Analgesie (PCA) –216 20.7 Stufenplan zur postoperativen Schmerztherapie –217 20.8 Praktische Schmerztherapie –217 Literatur –218
210
Kapitel 20 · Schmerztherapie in der postoperativen Phase
)) »Schmerz ist ein unangenehm empfundenes Sinnes- und Gefühlserlebnis, das mit oder ohne aktuelle Gewebeschädigung auftreten kann« – so der Definitionsversuch im Springer Lexikon Medizin. Schmerz wird als einer der am stärksten beängstigenden und unangenehmen Eindrücke während des perioperativen Krankenhausaufenthalts beschrieben, er hat negativen Einfluss auf die Heilung und erhöht die Rate an Komplikationen. Hieraus ergibt sich die Notwendigkeit, eine aktive, suffiziente Schmerztherapie durchzuführen, auf die der Patient auch juristisch im Rahmen der Erfüllung allgemeiner Qualitätsstandards Anspruch hat. Da sich der Schmerz dem Wunsch nach Objektivierbarkeit entzieht, muss das subjektive Schmerzempfinden des einzelnen Patienten die Zielgröße einer adäquaten Schmerztherapie sein.
20.1
20
Anatomische und physiologische Grundlagen
»Schmerz« wird durch Erregung von Nozizeptoren vermittelt. Nozizeptoren sind rezeptive Nervenendigungen, die sich lichtmikroskopisch als Aufzweigungen eines afferenten Axons darstellen, das von einer einschichtigen, jedoch lückenhaften Hülle Schwannscher Zellen ummantelt ist. Durch diese Lücken in der Axonhülle ist das Axon direkt für chemische Triggersubstanzen zugänglich. Nozizeptoren sind z. T. unimodal, d. h. entweder auf chemische oder thermische oder mechanische Reize spezialisiert. Die meisten Nozizeptoren sind jedoch polymodal, reagieren also auf verschiedene Auslöser. Im Vergleich zu anderen rezeptiven Nervenendigungen liegt die Reizschwelle der Nozizeptoren hoch. Normalerweise lösen erst gewebebedrohende Einflüsse einen Reiz aus. Die Reizleitung erfolgt größtenteils über schnell leitende A-delta-Fasern, teils über langsam leitende C-Fasern zum Rückenmark. Hier wird die Information zu motorischen und sympathischen Reflexen verarbeitet. Die Weiterleitung zum Gehirn erfolgt großenteils über den Tractus spinothalamicus (Vorderseitenstrang). Im Hirnstamm wird der Reiz in die Steuerung von Atmung und Kreislauf integriert und nimmt über das aufsteigende retikuläre aktivierende System (ARAS) Einfluss auf Wachheit und Aufmerksamkeit. Im medialen Thalamus wird die Information in das limbische System integriert, die lateralen Thalamusanteile stehen mit dem somatosensorischen Kortex in Verbindung. Vereinfachend lässt sich der Verarbeitung von Schmerzsensationen im limbischen System der affektiv-emotionale
Aspekt zuordnen. Die kortikale Verarbeitung dient dem Erkennen und Lokalisieren von Schmerz und dem zielgerichteten Vermeiden weiterer Schädigung. Auf allen Ebenen sind auch inhibitorische Faktoren am komplexen Wechselspiel der Schmerzinformation beteiligt. Auch beschränkt sich die integrative Leistung des nozizeptiven Systems vermutlich nicht auf die bewusste Schmerzwahrnehmung. Entsprechend gilt es, auch bei narkotisierten und bewusstlosen Patienten eine den Umständen angepasste Analgesie durchzuführen. Schmerzreize, die von der Körperoberfläche ausgehen, werden von Nozizeptoren der Haut vermittelt. Diese reagieren meist auf thermische, chemische oder mechanische Reize und werden über A-delta-Fasern und C-Fasern vermittelt. Viszerale Nozizeptoren werden am häufigsten durch Dehnung, Kontraktion oder Ischämie erregt, die Reizweiterleitung läuft über C-Fasern. Nozizeptoren in Muskeln, Sehnen, Knochen und Periost vermitteln eher Dehnungs- oder Ischämiereize, die über C-Fasern weitergeleitet werden. Die normalerweise hohe Reizschwelle der Nozizeptoren wird durch Einwirkung von Mediatoren wie Bradykinin, Serotonin und Prostaglandinen, aber auch durch ATP, H+-Ionen oder NGF (nerve growth factor) herabgesetzt (Sensibilisierung), sodass auch solche Reize ein Aktionspotenzial am Nozizeptor auslösen, die sonst nicht schmerzhaft sind (Bewegungsschmerz bei Muskelkater, Überempfindlichkeit bei Sonnenbrand u. ä.). Die Sensibilisierung ist ein komplexer Vorgang, der auch intrazelluläre Komponenten mit einschließt und wesentlichen Anteil an der Chronifizierung von Schmerzen hat.
20.2
Organisation der postoperativen Schmerztherapie
Da die postoperative Schmerztherapie eine interdisziplinäre Aufgabe ist, an der die operativen und die anästhesiologischen Fachbereiche beteiligt sind, haben die Fachgesellschaften eine Vereinbarung zur Organisation der postoperativen Schmerztherapie getroffen und die fachliche Zuständigkeit geregelt. ! Auf chirurgisch geleiteten Stationen ist der Chirurg, im Aufwachraum und auf anästhesiologisch geleiteten Intensivstationen der Anästhesist in Zusammenarbeit mit dem Operateur für die postoperative Schmerztherapie zuständig.
Weiter werden in den Fachvereinbarungen verschiedene Organisationsmodelle vorgeschlagen: 4 Konsiliarische Hinzuziehung des Anästhesisten im Einzelfall sowie zu definierten schmerztherapeutischen Maßnahmen
211 20.3 · Schmerzmessung
. Abb. 20.1. Visuelle Analogskala
4 Übernahme interdisziplinär definierter schmerztherapeutischer Leistungen durch den Anästhesisten 4 Übernahme der gesamten postoperativen Schmertherapie durch den Anästhesisten im Rahmen der Methoden des Fachgebiets 4 Einrichtung eines gemeinsamen, fachübergreifenden Schmerzdienstes mit Teilnahme aller beteiligten operativen Disziplinen unter Leitung eines zu bestimmenden Funktionsarztes Die konkrete Durchführung und Überwachung, ggf. mit Delegation einzelner Maßnahmen durch ärztliche Anordnung auf das Pflegepersonal ist in den operativen Einrichtungen zu regeln. Mitarbeiter müssen den Aufgaben entsprechend geschult werden. Die Einrichtung von Akut-Schmerzdiensten mit entsprechend ausgebildeten Ärzten kann die Qualität der Schmerztherapie meist verbessern. Dies ist jedoch personalintensiv und mangels gesonderter Vergütung dieser zusätzlichen Leistung in vielen operativen Einrichtungen nicht realisierbar.
20.3
Schmerzmessung
Schmerz ist nicht objektiv messbar. Zur Einschätzung des Schmerzerlebens und zur Kontrolle der Schmerztherapie stehen jedoch verschiedene Schmerzskalen zur Verfügung. Mit diesen sollte der operative Patient bereits präoperativ vertraut gemacht werden, um den Umgang damit in der postoperativen Situation zu erleichtern.
20.3.1 Verbale Rating-Skala Die verbale Rating-Skala ist eine ohne Hilfsmittel einfach zu erhebende Skalierung des Schmerzerlebens in fünf Abstufungen: 4 0 Kein Schmerz 4 1 Mäßiger Schmerz 4 2 Mittelstarker Schmerz 4 3 Starker Schmerz 4 4 Stärkster vorstellbarer Schmerz
20.3.2 Visuelle Analogskala (VAS) Bei der visuellen Analogskala stellt der Patient auf einem unskalierten Schieber sein Schmerzempfinden zwischen »kein Schmerz« und »maximal vorstellbarer Schmerz« ein, auf der Rückseite kann dann ein Wert zwischen 0 und 10 abgelesen werden (. Abb. 20.1).
20.3.3 Numerische Analogskala (NAS) Die NAS ist das numerisch skalierte Korrelat zur VAS. 4 0–1 Kein Schmerz 4 2–3 Mäßiger Schmerz 4 4–5 Mittelstarker Schmerz 4 5–7 Starker Schmerz 4 8–10 Stärkster vorstellbarer Schmerz ! Auch wenn die ermittelten Werte immer subjektiv das Erleben des Patienten widerspiegeln, sind sie aussagekräftig, da eben dieses subjektive Empfinden die Zielgröße der Therapie ist.
20
212
Kapitel 20 · Schmerztherapie in der postoperativen Phase
Schmerztherapeutischer Handlungsbedarf besteht immer ab einer Einschätzung als mittelstarker Schmerz. Bei mäßigen Schmerzen kann in Absprache mit dem Patienten ein Abwarten in Erwägung gezogen werden, hierbei sollte allerdings berücksichtigt werden, ob zu erwarten ist, dass die Schmerzen eher zunehmen (z. B. direkt postoperativ im Aufwachraum). In diesem Fall sollte trotz geringer Schmerzen bereits frühzeitig eine analgetische Behandlung begonnen werden.
20.4
Medikamente zur Schmerztherapie
In der perioperativen Schmerztherapie kommen Analgetika, Anästhetika und Ko-Analgetika verschiedener Wirkstoffgruppen und Wirkmechanismen zum Einsatz.
20.4.1 Opioide Opioide wirken an Opiatrezeptoren (P-, G- und N-Rezeptoren), und werden in Agonisten, Agonisten/Antagonisten, Antagonisten und Partialagonisten eingeteilt. Opiatrezeptoren sind auf allen Ebenen des Nervensystems vorhanden (supraspinal, spinal und peripher). Die Kenntnis der Einteilung in Agonisten, Antagonisten etc. ist insofern von Bedeutung, als sich bei der Kombination verschiedener Präparate die analgetische Wirkung teilweise oder ganz aufheben kann.
verändert renale Ausscheidung, max. Wirkung bei i.v.-Gabe nach 20 min, bei oraler Gabe nach 30 min, Wirkdauer 3–5 h (in retardierter Galenik länger), HWZ 120 min. Indikation: Starke bis stärkste Schmerzen Dosierung:
4 4 4 4 4 4
i.v.: p.o.: s.c.: i.m.: epidural: intrathekal:
5–10 mg verdünnt, langsam injizieren 2 u 10–30 mg retard p.o. 10–30 mg 10–30 mg 1–4 mg verdünnt, z. B. in 10 ml NaCl 0,5–1 mg verdünnt z. B. in 4 ml NaCl
Nebenwirkungen:
4 Zentrale Atemlähmung 4 Bradykardie, Miosis, Übelkeit 4 Vasodilatation durch Sympathikolyse und durch Histaminfreisetzung 4 Bronchospasmus durch Histaminfreisetzung 4 Kumulation aktiver Metaboliten bei Niereninsuffizienz 4 Bei epiduraler Gabe Atemdepression auch noch nach 24 h möglich Kontraindikationen: Schwangerschaft und Stillzeit nur bei strenger Indikation, Gallenkolik (Tonuserhöhung der glatten Muskulatur), Asthma bronchiale (relativ)
Fentanyl-Pflaster (Durogesic) Rezeptortypen und ihre Wirkung 5 μ-Rezeptor: Analgesie, Euphorie, Abhängigkeit, Miosis, Atemdepression, antitussive Wirkung, Erbrechen, Bradykardie, Obstipation, Pruritus 5 δ-Rezeptor: Analgesie, Verhaltensänderung 5 κ-Rezeptor: Analgesie, Sedation, Dysphorie
μ-Agonist. Pflaster mit 25, 50, 75 und 100 Pg/h Wirkstoff-
freisetzung Pharmakologie: 100fache Wirkung des Morphin, max. Wir-
kung nach 12–24 h, Wirkdauer 72 h (Pflaster wird alle drei Tage erneuert), HWZ 3–4 h, Metabolisierung in der Leber zu 90 %, 10 % unverändert renale Ausscheidung
Agonisten
Indikation: Starke bis stärkste Schmerzen
Morphin (Morphin Merck, MST, MSI Mundipharma u. a.)
Dosierung: Zum Beispiel mit 25 Pg beginnen, dann unter Beachtung der langen Anschlagzeit bedarfsweise steigern (. Tab. 20.1).
μ-Agonist. Amp. à 1 ml = 10 mg bzw. à 1 ml = 20 mg, Re-
tardtabl. à 10, 30, 60, 100 oder 200 mg
20
Pharmakologie: Großes Verteilungsvolumen, hydrophil, ho-
Nebenwirkungen: Wie Morphin, aber geringere Histaminliberation (geringere Bronchokonstriktion)
her First-pass-Effekt, Bioverfügbarkeit 20–40 %, bei oraler Applikation 3fache i.v.-Dosis nötig, 90 % Metabolisierung in der Leber mit z. T. lang wirksamen Metaboliten, 10 % un-
Kontraindikationen: Schwangerschaft und Stillzeit nur bei strenger Indikation, Asthma bronchiale (relativ)
213 20.4 · Medikamente zur Schmerztherapie
Pethidin (Dolantin) . Tabelle 20.1. Äquipotenz von Morphin und Durogesic-Pflaster Morphin i.v. (mg/d)
Morphin p.o. (mg/d)
µ-Agonist. 1 Amp. à 1 ml = 50 mg, 25 Tr. = 1 ml = 50 mg, 1
Supp. = 100 mg Durogesic (μg/h)
Pharmakologie: 0,15fache Wirkung des Morphin, max.
Wirkung nach 15 min, Wirkdauer 2–4 h, hepatische Metabolisierung mit aktivem Metabolit Norpethidin (konvulsive Wirkung, cave: Epileptiker). Norpethidin ist pH-abhängig an die renale Ausscheidung gebunden.
22
90
25
37
150
50
52
210
75
67
270
100
Dosierung: 25–100 mg i.v. (bis 150 mg p.o.), max. Tagesdo-
je weitere 25
sis 500 mg
je weitere 15
je weitere 60
Indikation: Starke Schmerzen, postoperatives »Shivering«
Sufentanil (Sufenta epidural) μ-Agonist. 1 Amp. à 2 ml = 10 Pg Sufentanil
Nebenwirkungen: Wie Morphin, starke Sedierung, gerin-
gere Spasmogenität als andere Opioide Pharmakologie: 500–1000fache Wirkung des Morphin,
derzeit stärkstes Opioid, sehr hohe Affinität zum P-Rezeptor, Wirkbeginn nach 5–10 min, HWZ 2,5 h, Metabolisierung zu 90 % hepatisch (10 % aktive Metaboliten), 10 % unverändert renale Ausscheidung, hohe Lipophilie (rasche ZNS-Gängigkeit)
Kontraindikationen: Schwangerschaft und Stillzeit nur bei
strenger Indikation
Tramadol (Tramal) µ-Agonist. 1 Amp à 1 ml = 50 mg, 20 Tr. = 50 mg, 1 Supp. =
100 mg, Tramal long = retardierte Tbl. = 100/150/200 mg Dosierung: 10–20 Pg epidural, Dosisanpassung nach Wir-
kung (s. a. PCEA) Indikation: Starke und stärkste Schmerzen zur Epidural-
analgesie (meist in Kombination mit Lokalanästhetika)
Pharmakologie: 0,1fache Wirkstärke des Morphin, max.
Wirkung bei i.v.-Gabe nach 10 min, auch bei oraler Gabe rasche Resorption, Wirkdauer 2–4 h, retardiert bis 12 h, Elimination weitgehend renal in metabolisierter Form, Ceiling-Effekt
Nebenwirkungen: Wie Morphin, frühe Atemdepression Dosierung: 50–100 mg i.v., 50–200 mg p.o., 100 mg Supp.
Piritramid (Dipidolor) µ-Agonist. 1 Amp. à 2 ml = 15 mg
Indikation: Mittelstarke Schmerzen
Pharmakologie: 0,8fache Wirkung des Morphin, 90 % hepatische Metabolisierung, 10 % unverändert renale Elimination, max. Wirkung nach 10 min, Wirkdauer 4–6 h
Nebenwirkungen: Wie Morphin, stärkere Übelkeit und Erbrechen als bei Morphin Kontraindikationen: Schwangerschaft und Stillzeit
Dosierung: Nach Wirkung, Beginn mit 3,75–7,5 mg i.v.,
ggf. als Kurzinfusion
Oxycodon (Oxygesic) µ-Agonist. Retardtabl. 10/20/40/80 mg
Indikation: Starke und stärkste Schmerzen Pharmakologie: Bioverfügbarkeit 60–80 %, bei 0,7facher Nebenwirkungen: Wie Morphin, geringere Übelkeit, weni-
ger Erbrechen Kontraindikationen: Schwangerschaft und Stillzeit nur bei
strenger Indikation
Wirkstärke des Morphin gilt daher eine Äquivalenzwirkdosis von Morphin : Oxycodon = 2 : 1 (d. h. 20 mg Morphin p.o. = 10 mg Oxycodon p.o.), Wirkbeginn nach 1 h, Wirkdauer 12 h, Metabolisierung in Darm und Leber, keine aktiven Metaboliten, geringe renale Elimination, kein Ceiling-Effekt
20
214
Kapitel 20 · Schmerztherapie in der postoperativen Phase
Dosierung: 2 u 1 Tbl. à 10/20/40/80 mg
Nebenwirkungen: Wie Morphin
Indikation: Starke und stärkste Schmerzen
Kontraindikationen: Schwangerschaft und Stillzeit nur bei
strenger Indikation Nebenwirkungen: Wie Morphin, geringere Übelkeit
Antagonisten Kontraindikationen: Kinder < 12 Jahre (nicht untersucht),
Schwangerschaft und Stillzeit
Naloxon (Narcanti) Reiner Antagonist. 1 Amp. à 1 ml = 0,4 mg
Agonisten/Antagonisten, Partialagonisten Pentazocin (Fortral) κ-Agonist und μ-Antagonist. 1 Amp. à 1 ml = 30 mg,
Pharmakologie: Wirkbeginn nach 30 s, Wirkdauer 30– 45 min, bei längerer HWZ der meisten Opiate Gefahr von Rebound-Effekten
1 Kps. = 50 mg, 1 Supp. = 50 mg Dosierung: Verdünnt auf 10 ml fraktioniert 0,2–1 mg i.v. Pharmakologie: 0,3fache Wirkstärke des Morphin, Biover-
fügbarkeit 20 %, max. Wirkung nach 10 min, Wirkdauer 2–3 h, Elimination durch Glukuronidierung, Ceiling-Effekt ab 90 mg
Indikation: Opiatüberdosierung
Dosierung: 15–30 mg i.v., 50 mg oral, rektal
Hierunter werden Analgetika zusammengefasst, die nicht mit den Opioidrezeptoren interagieren. Der gemeinsame Wirkmechanismus ist die Hemmung der Zyklooxygenase. Unterteilt wird diese Medikamentengruppe in saure und nicht-saure Zyklooxygenasehemmer, wobei der Wirkmechanismus der Zyklooxygenasehemmung für alle Substanzen unterschiedlich ist. In unterschiedlicher Ausprägung wirken die Medikamente antiphlogistisch und/oder antipyretisch.
Indikation: Starke Schmerzen Nebenwirkungen: Wie Morphin; Katecholaminfreisetzung
mit RR-Anstieg, erhöhtem myokardialem O2-Verbrauch, Dysphorie
20.4.2 Nichtopioidanalgetika (NSAID)
Kontraindikationen: Myokardinfarkt, Schädel-Hirn-Trau-
ma, hepatische Porphyrie
Buprenorphin (Temgesic) μ-Partialagonist, κ-Antagonist. 1 Amp. à 1 ml = 0,3 mg,
1 Tbl. = 0,2 mg Pharmakologie: 10–50fache Wirkstärke des Morphin, Wirkbeginn nach 5 min, max. Wirkung nach 60 min, Wirkdauer 6–8 h, Metabolisierung in der Leber, 10 % unverändert renale Ausscheidung, bei Kombination mit reinen Agonisten kann deren Wirkung ganz oder teilweise aufgehoben werden, da Buprenorphin eine sehr hohe Rezeptoraffinität und antagonistische Eigenschaften hat. Eine Antagonisierung mit Naloxon ist kaum möglich. Ceiling-Effekt ab 1,2 mg/Tag.
20
Dosierung: 0,15–0,3 mg i.v., 0,2–0,4 mg p.o. alle 6–8 h Indikation: Starke Schmerzen
Saure NSAID Die sauren NSAID wirken peripher und verhindern durch Hemmung der Zyklooxygenase die Bildung von Prostaglandinen und Prostazyklin, die am Nozizeptor die Reizschwelle herabsetzen ohne selbst schmerzauslösend zu wirken.
Azetylsalizylsäure (Aspirin, ASS u. a.) ! Azetylsalizylsäure hat aufgrund der irreversiblen Thrombozytenaggregationshemmung in der perioperativen Schmerztherapie keinen Platz.
Ibuprofen Tbl. à 200/400/600/800 mg Pharmakologie: Wirkbeginn nach 30 min, Wirkdauer 6– 8 h, hepatische Metabolisierung und renale Ausscheidung, dennoch geringe Veränderung der Kinetik bei Leber- und Nierenfunktionsstörungen, Hemmung der Plättchenfunktion mit Verlängerung der Blutungszeit
215 20.4 · Medikamente zur Schmerztherapie
Dosierung: 3 u 200–800 mg/d, max. 800 mg/Gabe, max.
Dosierung: 3–4 u 500–1000 mg, Kinder max. 80–100 mg/
2400 mg/d
kg/d, unter 3 Mon. max. 60 mg/kg/d
Indikation: Leichte bis mittlere Schmerzen (WHO Stufe 1)
Indikation: Leichte Schmerzen, Schmerzmittel der Wahl
Nebenwirkungen: Gastrointestinale Ulzera, Verlängerung
bei Säuglingen, Kindern, Schwangeren und in der Stillzeit, Fieber
der Blutungszeit, Nierenschädigung bei hypovolämischen Patienten
Nebenwirkungen: Bei Beachtung der Höchstdosierung na-
hezu keine Kontraindikationen: Gastrointestinale Ulzera, schwerste Leber- und Nierenfunktionsstörung (strenge Indikation)
Kontraindikation (relativ): Glucose-6-Phosphat-Dehydro-
genasemangel
Diclofenac (Voltaren u. a.) Tbl./Supp./Tbl. retard 25/50/100 mg
Metamizol (Novalgin u. a.) Tbl. und Brausetabl. à 500 mg, Supp. à 1 g, Amp. à 1 g
Pharmakologie: Rasche, nahezu vollständige Resorption,
First-pass-Metabolismus, Bioverfügbarkeit 30–80 %, renale und biliäre Ausscheidung, Wirkbeginn nach ca. 30 min, Wirkdauer 8–12 h
Pharmakologie: Rasche Resorption, Wirkbeginn nach 20 min (i.v.) bzw 30–60 min (oral), Wirkdauer 4–6 h, nach Ingestion Hydrolyse, renale Ausscheidung der aktiven Metabolite
Dosierung: 2–3 Gaben, Tageshöchstdosis 150–200 mg/d
Dosierung: 3–4 u 0,5–1 g/d, Tageshöchstdosis 5 g, max.
Einzeldosis 2 g Indikation: Mittelstarke Schmerzen Nebenwirkungen: Gastrointestinale Ulzera, Transamina-
senerhöhung, Verlängerung der Blutungszeit, Nierenschädigung bei hypovolämischen Patienten Kontraindikationen: Wie Ibuprofen
Nichtsaure NSAID Die nichtsauren NSAID haben ihren Hauptwirkort vermutlich im ZNS. Sie hemmen dort ebenfalls die Zyklooxygenase, entfalten keine oder nur geringe antiphlogistische, jedoch verstärkt antipyretische Wirkung.
Indikation: Leichte bis mittlere Schmerzen (WHO Stufe 1), postoperativ besonders in der Viszeralchirurgie, Kolikschmerzen, Fieber Nebenwirkungen: Agranulozytose, vermutlich durch Antikörperbildung, Inzidenz nach einer Behandlungswoche ca. 1 : 1000000; Blutdruckabfälle bis zum manifesten Schock bei zu schneller Injektion der hyperosmolaren Lösung; anaphylaktische Reaktionen Kontraindikationen: Granulozytopenie, bekannte Allergie
Coxibe (Dynastat, Celebrex) Paracetamol (Benuron, Per falgan u. a.) Tbl. à 500 mg, Supp. à 125/250/500/1000 mg, i.v. 1000 mg (Perfalgan) Pharmakologie: Rasche Resorption, orale Bioverfügbarkeit 65–90 %, fast vollständige hepatische Metabolisierung, max. Wirkung erst nach 1–2 h (frühe Gabe!), Wirkdauer 6–8 h, Metabolit N-Acetyl-p-benzochinonimin ist für die Leberzellnekrosen bei Überdosierung verantwortlich, Höchstdosis für Erwachsene 4 g/d, Antidot bei Überdosierung ist N-Azetylcystein
Kps. à 100/200 mg Celecoxib, Amp. à 40 mg Parecoxib Pharmakologie: Coxibe hemmen selektiv die Zyklooxygenase II, Wirkdauer 6–24 h Dosierung: 100–400 mg Celecoxib (Celebrex); 6–12-stdl.
20–40 mg Parecoxib (Dynastat), max. 80 mg/d Indikation: Leichte bis mittlere Schmerzen Nebenwirkungen:
4 Erhöhte Inzidenz thromboembolischer Ereignisse v. a. nach kardiochirurgischen Eingriffen
20
216
Kapitel 20 · Schmerztherapie in der postoperativen Phase
4 Schwerwiegende allergische Hautreaktionen besonders bei Patienten mit Sulfonamidallergien 4 Im Vergleich zu Diclofenac und Ibuprofen geringeres Risiko für gastrointestinale Ulzera 4 Gefahr des akuten Nierenversagens bei hypovolämischen Patienten Kontraindikationen: Patienten nach kardiochirurgischen
Eingriffen, gastrointestinale Ulzera, schwere Nierenfunktionsstörungen mit Hypovolämie
20.5
Katheterver fahren
Die Katheterverfahren werden in 7 Kap. 16 (Regionalanästhesie) besprochen. Grundsätzlich können alle verfügbaren Katheter zur postoperativen Schmerztherapie genutzt werden. Die gebräuchlichsten sind: Periduralkatheter, interskalenärer Plexuskatheter, vertikaler infraklavikulärer Plexuskatheter, axillärer Plexuskatheter, 3-in-1-Katheter, Psoas-Kompartment-Katheter, proximaler/distaler Ischiadikuskatheter.
Patientenkontrollier te Analgesie (PCA)
Tipps
20.6
Anmerkung zu den Coxiben: Das Präparat Vioxx wurde wegen erhöhter Inzidenz kardiovaskulärer und thromboembolischer Komplikationen 2004 vom Markt genommen. Bextra wurde 2005 wegen z. T. lebensbedrohlichen Hautreaktionen zurückgezogen. Die Anwendung der Coxibe wird derzeit kontrovers diskutiert, eine abschließende Beurteilung kann zum Zeitpunkt der Schriftlegung nicht abgegeben werden.
Hierbei handelt es sich um eine vom Patienten selbst gesteuerte Schmerztherapie mithilfe programmierbarer Pumpen, bei denen eine kontinuierliche Laufrate, eine auf Knopfdruck applizierbare Bolusinjektion und eine Sperrzeit für die Bolusinjektion eingestellt werden können. Die Pumpen sollten vor Einstellungsänderungen durch den Patienten geschützt sein (Verriegelung).
PCA 20.4.3 Lokalanästhetika Die Lokalanästhetika werden ausführlich in 7 Kap. 5 besprochen. Sie kommen in der postoperativen Schmerztherapie v. a. bei kontinuierlichen und diskontinuierlichen Katheterverfahren zum Einsatz.
20.4.4 Ko-Analgetika
20
Hierunter sind adjuvante Medikamente und Maßnahmen zusammengefasst, die besonders bei chronischen Schmerzen, Tumorschmerzen und neuropathischen Schmerzen zum Einsatz kommen können. Dazu gehören trizyklische Antidepressiva, Antikonvulsiva, Kortikosteroide, Butylskopolamin (als Spasmolytikum) und Clonidin. Diese Medikamente haben z. T. eine eigene analgetische Komponente. Auch die transkutane elektrische Ner venstimulation (TENS), Kälteanwendungen, intrakutane Reiztherapie durch Quaddelung und Akupunktur haben hier ihren Platz. In der akuten perioperativen Schmerztherapie spielen sie jedoch vor wiegend bei »Problempatienten« mit komplexer Schmerzsymptomatik eine Rolle.
Unter PCA versteht man im Allgemeinen die intravenöse patientenkontrollierte Analgesie. Hierbei wird ein Opiat – meist Piritramid – bolusweise auf Knopfdruck durch den Patienten selbst bedarfsabhängig verabreicht, wobei unterschiedliche Dosierungs- und Intervallregime praktizierbar sind: entweder häufig mögliche Applikation sehr kleiner Boli (z. B. 2 mg/10 min) oder größere Boli mit längerer Sperrzeit (z. B.3,5 ml/20 min, 5 ml/30 min). Je größer die Boli gewählt werden, umso langsamer muss die Injektionsgeschwindigkeit sein, um eine Atemdepression zu vermeiden. Kontinuierliche Laufraten sollten bei der PCA nicht verwendet werden, da Opiate kumulieren und nach längerer Applikation auch geringe Mengen zur Atemdepression führen können.
PCEA Bei der PCEA (patientenkontrollierte Epiduralanalgesie) wird meist ein Lokalanästhetikum mit einem Opiat gemischt (z. B. Ropivacain 0,2 % + Sufentanil 0,1–1 Pg/ml). Die Basalrate wird abhängig von der Katheterlokalisation (lumbal/thorakal) auf ca. 5 ml/h eingestellt, Boli 2 ml/ 20 min, bei Bedarf wird die Dosis in 2-ml-Schritten erhöht bzw. reduziert (je nach Schmerz und Anästhesieausbreitung – Thermoanästhesie austesten!).
217 20.8 · Praktische Schmerztherapie
. Abb. 20.2. Stufenschema der postoperativen Schmerztherapie
Periphere patientenkontrollierte Katheterver fahren Die meisten peripheren Regionalanästhesie-Katheter werden kontinuierlich beschickt. Als patientenkontrolliertes Analgesieverfahren wird häufig der 3-in-1-Katheter genutzt.
3-in-1-Katheter Das Verfahren eignet sich zur Analgesie des ventralen Oberschenkels, bei Femurschaftfrakturen und Synovektomien am Knie. Die häufigste Indikation ist die vordere Kreuzbandplastik. Bei Verwendung von Ropivacain 0,2 % wird eine Basalrate von 6–8 ml/h eingestellt, Boli 3–4 ml/20 min (halbe Laufrate). ! PCA-Patienten haben in der Regel keine kontinuierliche Überwachung. Eine regelmäßige Visite ist zur Überprüfung der Therapie und zur Erkennung und Vermeidung möglicher Komplikationen (Kreislaufkomplikationen, Unverträglichkeitsreaktionen, Atemdepression) unabdingbar. Der Einsteiger sei an dieser Stelle eindringlich aufgefordert, sich vor der eigenständigen Durchführung ihm nicht vertrauter Maßnahmen von erfahrenen Kollegen vor Ort einweisen zu lassen.
20.7
Stufenplan zur postoperativen Schmerztherapie
Die WHO hat zur Behandlung von Tumorschmerzen ein Stufenmodell zur Schmerztherapie eingeführt, das eskalie-
renden Charakter hat, d. h. die im Verlauf der Erkrankung zunehmenden Schmerzen werden analog mit immer potenteren Schmerzmitteln behandelt. Die Bedürfnisse in der perioperativen Schmerztherapie liegen aber genau entgegengesetzt: direkt postoperativ sind die Schmerzen in der Regel am stärksten und lassen im Verlauf nach. Daher wird in vielen Kliniken ein umgekehrtes WHO-Stufenmodell zur postoperativen Schmerztherapie angewandt (. Abb. 20.2).
20.8
Praktische Schmerztherapie
Die postoperative Schmerztherapie beginnt idealerweise bereits präoperativ mit der Prämedikation, bei der schon ein Analgetikum der Stufe 1 verordnet werden kann. Diese so genannte »pre-emptive analgesia« soll die Herabsetzung der Reizschwelle der Nozizeptoren vermindern. Hierzu sind antiphlogistisch wirkende Stufe-1-Analgetika die Mittel der Wahl, da diese die Entzündungsreaktion reduzieren. Ist die Anlage eines »Schmerzkatheters« indiziert und geplant, sollte dieser möglichst präoperativ gelegt und bereits zur Operation beschickt werden. Wenn der Aufwand gerechtfertigt ist, sollten regionalanästhesiologische Katheterverfahren wegen der großen Sicherheit, der fehlenden Sedierung und der minimalen Inzidenz für Übelkeit und systemische Nebenwirkungen bevorzugt eingesetzt werden. Eine kontinuierliche Beschickung der Katheter vermeidet Schmerzspitzen. Die postoperative Schmerztherapie beginnt mit Stufe 3 (. Abb. 20.2), d. h. mit einem regionalanästhesiologischen
20
218
Kapitel 20 · Schmerztherapie in der postoperativen Phase
Katheterverfahren oder einem starken oralen Opiat (möglichst in retardierter Galenik) oder einer i.v.-PCA (patientenkontrollierte Analgesie). Sind diese Verfahren nicht durchführbar (kein Katheter, mangelnde Compliance), kommt die regelmäßige Bolusgabe von Dipidolor zum Einsatz. ! Stufe 3 wird immer mit Stufe 1 des Schemas (. Abb. 20.2) kombiniert, da sich synergistische Effekte ergeben, die zur Dosisreduktion und somit zur Reduktion der Nebenwirkungen führen. Stufe 3 wird nicht mit Stufe 2 kombiniert, da die Kombination eines starken Opiats mit einem schwachen Opiat keine Wirkungsverbesserung im Sinne eines Synergismus bietet. Hierbei käme es lediglich zu einer Steigerung der Nebenwirkungen.
Die orale Therapie bietet Vorteile: sie ist nicht invasiv, langwirksame Retardpräparate können zum Einsatz kommen und der personelle Aufwand ist gering. Meist sind auch die Kosten für orale Medikamente günstiger als für die i.v.-Medikation. In der Regel lassen nach wenigen Tagen die postoperativen Schmerzen nach, sodass auf Stufe-2-Analgetika (leichte Opioide) umgestellt werden kann. Diese werden weiterhin mit Analgetika der Stufe 1 (Nichtopioidanalgetika) kombiniert. Wiederum nach wenigen Tagen kann meist ganz auf Opioidanalgetika verzichtet werden. Dann kommen noch Stufe-1-Analgetika zum Einsatz, wobei die Kombination von Novalgin und Paracetamol nicht sinnvoll ist, da beide Medikamente Ihre Wirkung großenteils auf spinaler Ebene entfalten. Ein Synergismus ist daher kaum zu verzeichnen. Die Kombination von Ibuprofen und Diclofenac ist ebenfalls nicht synergistisch. Hat ein Patient nach Herabstufung der Therapie wieder Schmerzen, kann problemlos erneut auf die nächst höhere Stufe umgestellt werden. ! Lange anhaltende oder zunehmende postoperative Schmerzen bedürfen der Abklärung, da sie häufig Ausdruck einer durch die Schmerztherapie verschleierten Komplikation sind.
20
Der Effekt der Schmerztherapie sollte bei täglichen Visiten überprüft werden, es wird mit Hilfe der Schmerzskalen die Qualität der Therapie dokumentiert und die Therapie entsprechend angepasst. Schmerzkatheter werden täglich verbunden, der Zustand der Einstichstelle muss ebenfalls dokumentiert werden. Bei infizierter Einstichstelle wird der Katheter entfernt.
Literatur Afflerbach, Krause, Leitlinie zur postoperativen Schmerztherapie der Klinik für Anästhesiologie und operative Intensivmedizin, St Josephsklinik, Offenburg Illes P, Allgaier C (2001) Analgetika, Schmerztherapie. In: ForthW, Henschler D, Rummel W, Förstermann U, Starke K, Allgemeine und spezielle Pharmakologie und Toxikologie, Urban und Fischer, München-Jena 241–264 Lukaschewski (2000) Postoperative Schmerztherapie. In: Kochs E, Krier C, Buzello W, Adams H A, AINS Bd 1 Anästhesiologie, Thieme, Stuttgart 742–757 Mense SS (2004) Funktionelle Neuroanatomie und Schmerzreize. Der Schmerz 18: 227–237
21 Herz-Kreislauf-Erkrankungen Waheedullah Karzai 21.1 Arterielle Hypertonie –220 21.1.1 Präoperative Vorbereitung –220 21.1.2 Intraoperatives Management –221 21.1.3 Postoperative Behandlung –221
21.2 Koronare Herzkrankheit (KHK) –221 21.2.1 Präoperative Vorbereitung –222 21.2.2 Intraoperatives Management –223 21.2.3 Postoperative Versorgung –224
21.3 Herzklappenfehler –224 21.3.1 Präoperative Vorbereitung –224 21.3.2 Intraoperatives Management –225
21.4 Herzinsuffizienz –226 21.4.1 Präoperative Vorbereitung –227 21.4.2 Intraoperatives Management –227 21.4.3 Postoperative Behandlung –227
21.5 Rhythmusstörungen –228 21.5.1 Präoperative Vorbereitung –228 21.5.2 Intraoperatives Management –228
21.6 Patienten mit Schrittmacher
–229
21.6.1 Präoperative Vorbereitung –229 21.6.2 Intraoperatives Management –230 21.6.3 Postoperative Versorgung –230
Literatur –230
220
Kapitel 21 · Herz-Kreislauf-Erkrankungen
)) Erkrankungen des Herz-Kreislauf-Systems, die zu relevanten perioperativen Problemen führen können, sind arterielle Hypertonie, koronare Herzkrankheit, Herzklappenerkrankungen, Herzinsuffizienz und Herzrhythmusstörungen. Die Beurteilung sollte immer in Anbetracht des Schweregrades der Erkrankung und der Art und der Größe des operativen Eingriffs erfolgen. Eine hohe Qualität der Behandlung zeichnet sich nicht allein durch die intraoperative Narkoseführung aus (vgl. 7 Kap. 35), sondern durch die optimale präoperative Vorbereitung und die Prävention bzw. prompte Behandlung postoperativer Probleme.
21.1
Ar terielle Hyper tonie
Ein sehr wesentlicher Anteil der zu narkotisierenden Patienten leidet an einer arteriellen Hypertonie. Eine arterielle Hypertonie wird angenommen, wenn der systolische Blutdruck über 140 mmHg und der diastolische über 90 mmHg liegt. Bei milder Hypertonie liegen die systolischen/diastolischen Blutdruckwerte zwischen 140–159/90–99, bei mittelgradiger zwischen 160–179/100–109 und bei schwerer > 180/ > 110 mmHg. Die optimale Langzeitbehandlung der arteriellen Hypertonie beugt direkten Komplikationen (z. B. maligne Hypertonie) und Folgekrankheiten (wie Koronare Herzkrankheit (KHK), hypertensive Herzkrankheit, zerebrale Durchblutungsstörung, Niereninsuffizienz, periphere Gefäßkrankheit) und der damit verbundenen Letalität vor.
21.1.1 Präoperative Vorbereitung
21
Mehrere Fragen sind im Rahmen der präoperativen Visite bei hypertensiven Patienten zu bedenken. Die erste Frage gilt der Güte der bisherigen antihypertensiven Therapie. Im Krankenhaus gemessene Blutdruckwerte können zu hoch sein, weil allein die Einweisung ins Krankenhaus und der damit verbundene psychologische Stress zu einer Erhöhung des Blutdrucks führen können. Hier kann eine Befragung über die im häuslichen Bereich regelmäßig gemessenen Blutdruckwerte Aufschluss geben. Bei Patienten mit gut eingestellter Hypertonie sollte der Blutdruck zwischen 110–140 mmHg systolisch und 60–90 mmHg diastolisch liegen. Die zweite Frage betrifft hypertonieassoziierte Erkrankungen wie z. B. KHK, Herzinsuffizienz, hypertensive Herzkrankheit, zerebrovaskuläre Erkrankungen, periphe-
re arterielle Gefäßkrankheit und Niereninsuffizienz. Da diese Erkrankungen für die anästhesiologische Betreuung relevant sind, müssen die Präsenz und der Schweregrad dieser Begleiterkrankungen durch gezieltes Befragen und ggf. durch weitere Untersuchungen erfasst werden. Die dritte Frage betrifft die medikamentöse Therapie. Die Patienten sind meist mit E-Blockern, Ca-Antagonisten, Angiotensinkonversionsenzym-Hemmern (ACE-Hemmern), Angiotensin-Rezeptorantagonisten (AT1-Blocker) und/oder Diuretika behandelt. Grundsätzlich sollen fast alle antihypertensiven Medikamente (E-Blocker, Ca-Antagonisten, Diuretika) am Morgen der Operation weitergegeben werden. Ausnahmen bilden die ACE-Hemmer und die AT1-Blocker, da die Weitergabe dieser Medikamente am Morgen der Operation zu gravierenden und gefährlichen Hypotonien während der Narkose führen kann. Zu beachten ist auch, dass Ca-Antagonisten wie Verapamil die Wirkung von Muskelrelaxanzien verlängern und Diuretika zu Elektrolyt- und – seltener – zu Säure-Basen-Entgleisungen führen. Die vierte Frage betrifft die Notwendigkeit von präoperativen Untersuchungen (7 Kap. 10). Ein präoperativ geschriebenes EKG ist empfehlenswert, da es Hinweise auf Hypertrophie des linken Ventrikels und des linken Vorhofs, KHK und vom Patienten nicht wahrgenommener Herzrhythmusstörungen gibt. Eine Röntgenthorax-Untersuchung sollte in Erwägung gezogen werden, aber nicht zur Routine gehören. Eine Untersuchung der Elektrolyte und die Bestimmung des Kreatinins sollte bei allen hypertensiven Patienten durchgeführt werden. Die Notwendigkeit weiterführender Diagnostik wie z. B. Ergometrie, Echokardiographie, Koronarangiographie und Duplexsonographie der Halsgefäße hängt von der Anamnese und den Befunden der körperlichen Untersuchung ab. Die letzte Frage betrifft Patienten mit nicht gut eingestellter arterieller Hypertonie. Eine präoperative mehrtägige Optimierung des Blutdrucks vor einem Elektiveingriff ist prinzipiell möglich, die Vorteile (gute Einstellung auch für die Zukunft) und Nachteile (ökonomischer Schaden für den Patienten und für das Krankenhaus) müssen gegeneinander abgewogen werden. Wenn eine hypertensive Krise vorliegt, d. h. eine schwere hypertone Reaktion (diastolische Werte > 140 mmHg), die von Zeichen der Herzinsuffizienz, der Niereninsuffizienz oder von zerebraler Symptomatik wie Kopfschmerzen oder Verwirrtheit begleitet ist, ist eine mehrtägige präoperative Optimierung unerlässlich. Bei Blutdruckwerten um 180/110 mmHg ohne Organsymptomatik ist eine präoperative Optimierung möglich, aber nicht unerlässlich, da die möglichen Komplikationen durch
221 21.2 · Koronare Herzkrankheit (KHK)
eine gute perioperative Anästhesieführung in Grenzen gehalten werden können. Hier müssen Art und Größe des operativen Eingriffs sowie Vorliegen und Schweregrad von Folgeerkrankungen mitberücksichtigt werden und dann die jeweiligen Einzelfallentscheidungen getroffen werden.
21.1.2 Intraoperatives Management Die wesentlichen intraoperativen Probleme sind ausgeprägte starke Abfälle des Blutdrucks während der Einleitung und bei Vertiefung der Narkose sowie der exorbitante Blutdruckanstieg während der Intubation und bei chirurgischen Reizen. Diese Reaktionen treten vor allem bei Patienten mit schlecht eingestellter Hypertonie auf. Medikamente, die zur Einleitung bzw. zur Vertiefung der Narkose benutzt werden, führen zu einer arteriellen und venösen Vasodilatation, sei es über eine direkte Wirkung auf die Gefäße oder durch Senkung des Sympathikotonus. Die Vasodilatation senkt den peripheren Widerstand, erweitert den Gefäßraum und führt zu einer Abnahme des venösen Rückstroms zum Herzen. Beide Mechanismen führen zu einem Abfall des arteriellen Blutdrucks. Obwohl diese Mechanismen auch bei normotensiven Patienten zu einem Blutdruckabfall führen, ist bei hypertensiven Patienten diese Reaktion meist viel ausgeprägter und kann zu einer behandlungsbedürftigen Hypotonie führen. Zwei pathophysiologische Mechanismen können zur Erklärung dieses Phänomens herangezogen werden: Erstens ist bei hypertensiven Patienten durch die allgemeine Gefäßkonstriktion der Intravasalraum kontrahiert und es besteht ein relativer Volumenmangel. Durch eine Vasodilatation wird das Missverhältnis zwischen Volumen und Gefäßraum deutlich. Zweitens führt eine lange bestehende Hypertonie zu einer konzentrischen Hypertrophie und einer Abnahme der Compliance des linken Ventrikels. Die Verminderung der Compliance bewirkt eine erschwerte Füllung des linken Ventrikels (diastolische Dysfunktion). Somit führt jede kleine Verminderung des Füllungsdrucks zu einer starken, großen Abnahme der Herzauswurffunktion. Eine adäquate Hypnose und Analgesie und ein ausgeglichener Volumenstatus sind die Basisbedingungen einer guten intraoperativen Versorgung. Bei zu hohen oder zu tiefen Blutdruckwerten soll zunächst die Narkosetiefe überprüft und dem chirurgischen Reiz angepasst werden. Für eine schnelle Regulierung des Blutdrucks sollten auch Lagerungsmöglichkeiten wie Trendelenburg- und Anti-Trendelenburglagerung genutzt werden. Notfalls muss medikamentös eingegriffen werden, um den Blutdruck innerhalb
für den Patienten akzeptabler Grenzen zu halten. Zur Blutdrucksteigerung sind u. a. Noradrenalin (1 : 100 oder 1 : 200 verdünnt, 5–10 Pg Boli; Wirkdauer 2–3 min) oder Akrinor (1 : 10 verdünnt, 1–2 ml Boli; Wirkdauer bis 5–10 min) und zur Blutdrucksenkung Nitroglyzerin (0,1–0,25 mg Boli; Wirkdauer 2–3 min) oder Urapidil (10–25 mg, Wirkdauer 30–120 min) intravenös zu geben. Die medikamentöse Therapie sollte jedoch nicht eine adäquate Narkoseführung oder eine adäquate Volumensubstitution ersetzen.
Welche Blutdruckwerte dür fen intraoperativ toleriert werden? Dies hängt im Wesentlichen von der Güte der präoperativen antihypertensiven Therapie ab. Bei gut eingestellten Patienten (präoperativer Blutdruck zwischen 110–140 mmHg systolisch und 60–90 mmHg diastolisch) sind intraoperative Werte zwischen 90–160 mmHg systolisch und 50– 90 mmHg diastolisch tolerabel. Bei schlecht eingestelltem Hypertonus müssen individuelle Grenzen bestimmt werden. Hier kann es hilfreich sein, den Patienten während der präoperativen Visite über die niedrigsten und höchsten von ihm tolerierten Blutdruckwerte zu befragen und dies während der Narkose zu berücksichtigen.
21.1.3 Postoperative Behandlung Eine optimale Schmerztherapie und die Weiterführung der Dauermedikation sind Grundlage der postoperativen Versorgung. Schwerer wiegende postoperative Probleme sind bei vorhandenen Folgeerkrankungen, insbesondere bei koronarer Herzkrankheit und zerebraler Durchblutungsstörung zu erwarten.
21.2
Koronare Herzkrankheit (KHK)
Nach Schätzungen leiden etwa 30 % der perioperativen Patienten an einer koronaren Herzkrankheit. In operativen Bereichen, wie z. B. in der Gefäßchirurgie, können bis zu 80 % der Patienten an einer KHK leiden. Patienten mit KHK sind gefährdet, während der perioperativen Phase einen Herzinfarkt, schwerwiegende Rhythmusstörungen oder eine kardiale Dekompensation zu erleiden und an deren Folgen zu versterben. Das perioperative Risiko ist vom Schweregrad der kardialen Beeinträchtigung und von Art und Größe der bevorstehenden Operation abhängig. Die Komplikationsrate kann durch die Identifizierung von gefährdeten Patienten, Optimierung der bestehenden Therapie und durch präventive Maßnahmen deutlich gesenkt werden.
21
222
Kapitel 21 · Herz-Kreislauf-Erkrankungen
. Tabelle 21.1. Identifikation von kardialen Risiken im Hinblick auf die Wahrscheinlichkeit von perioperativen Komplikationen wie Herzinfarkt, Herzinsuffizienz oder Tod Höchstes Risiko
Mittelgradiges Risiko
Geringes Risiko
instabile Angina pectoris
stabile Angina pectoris
hohes Alter
dekompensierte Herzinsuffizienz
früherer Myokardinfarkt
pathologisches EKG
symptomatische Arrhythmien
kompensierte Herzinsuffizienz
kein Sinusrhythmus
schwere valvuläre Dysfunktion
frühere Herzinsuffizienz
schlechte Belastbarkeit
Diabetes mellitus
früherer Schlaganfall
Niereninsuffizienz
schwere Hypertonie
21.2.1 Präoperative Vorbereitung Die koronare Durchblutungsstörung kann sehr unterschiedliche Formen annehmen. Bei einem Teil der Patienten kommen typische Angina-pectoris-Anfälle vor, bei anderen kommt es zur sog. stummen Ischämie, d. h. die Ischämie wird nicht von einer Angina-pectoris-Symptomatik begleitet. Manchmal ist der Herzinfarkt die Erstmanifestation der KHK. In der präoperativen Phase ist es deshalb wichtig, nicht nur Patienten mit manifester KHK, sondern auch gefährdete Patienten zu identifizieren (. Tab. 21.1). Zum Beispiel sind Patienten mit Diabetes mellitus, mit arterieller Hypertonie und mit peripheren Gefäßkrankheiten auch ohne eindeutige KHK-Symptomatik gefährdet, perioperativ einen Herzinfarkt zu erleiden. Hat man gefährdete Patienten identifiziert, wird in Anbetracht des Schwergrades der funktionellen Beeinträchtigung und der Größe der Operation entschieden, welche weiteren Untersuchungen und Interventionen vor der Operation ggf. noch notwendig sind. In Anlehnung an die Richtlinien der American Heart Association und des American College of Cardiology kann die folgende Vorgehensweise vorgeschlagen werden: Patienten mit den höchsten kardialen Risikofaktoren (. Tab. 21.1). Hier ist das perioperative Risiko, einen Herz-
21
infarkt oder eine kardiale Dekompensation mit Todesfolge zu erleiden, sehr hoch. Eine meist mehrwöchige präoperative Optimierung ist für den Patienten von vitaler Bedeutung. Die Optimierung kann medikamentös erfolgen, kann aber auch eine kardiochirugische Intervention notwendig machen. Man muss sich bewusst sein, dass diese schwer wiegenden kardialen Probleme an sich und wegen vitaler
Gefährdung behandlungsbedürftig sind und nicht (nur) als Vorbedingung für einen Elektiveingriff. Patienten mit mittelgradigem kardialen Risiko (. Tab. 21.1).
Auch hier muss dem funktionellen Status des Patienten (. Tab. 21.3) und der Größe und Art der Operation (. Tab. 21.2) Rechnung getragen werden. Bei gutem bis sehr gutem funktionellem Status der Patienten (z. B. mindestens eine Etage Treppensteigen ohne Probleme, sportliche Tätigkeit) sind Operationen mit geringen und mittelgradigen Risiken (z. B. allgemeinchirurgische oder thoraxchirurgische Operationen ohne großen Blutverlust oder hämodynamische Veränderungen, Oberflächenoperationen) ohne weitere kardiale Diagnostik durchführbar. Bei Patienten mit gutem bis sehr gutem funktionellem Status ist nur bei Operationen der höchsten Risikogruppe (z. B. Bauchaortenaneurysma, Zweihöhleneingriff) eine nicht-invasive (Belastungs-EKG, Stress-Echokardiographie) und, von deren Ergebnis abhängig, eine invasive kardiale Diagnostik (Koronarangiographie) sinnvoll. Patienten mit geringem kardialem Risiko (. Tab. 21.1).
Dem funktionellen Status des Patienten und der Größe der Operation muss Rechnung getragen werden. Bei gutem bis sehr gutem funktionellem Status sind Operationen aller Risikogruppen ohne weitere Diagnostik möglich. Bei schlechtem funktionellem Status sind Operationen der mittleren Risikogruppe ohne weitere Diagnostik möglich, lediglich bei Operationen der höchsten Risikogruppe werden nichtinvasive und, von deren Ergebnis abhängig, eine weiterführende invasive Diagnostik empfohlen. Zeigen diese weiterführenden kardialen Untersuchungen behandelbare Befunde, so kann eine kardiologische oder kardiochirurgische Intervention vor einem Elektivein-
223 21.2 · Koronare Herzkrankheit (KHK)
. Tabelle 21.2. Schweregrad des operativen Eingriffs im Hinblick auf die Wahrscheinlichkeit von perioperativen Komplikationen wie Herzinfarkt, Herzinsuffizienz oder Tod. Höchstes Risiko
Mittelgradiges Risiko
Geringes Risiko
Große Notoperation
Karotisoperation
Endoskopische Operationen
Operation an der Aorta bzw. Operation an großen Gefäßen
Operation am Kopf oder am Hals
Oberflächliche Operationen
Periphere Gefäßoperation
Abdominalchirurgie
Kataraktoperation
Große Operation mit großem Blutverlust bzw. Flüssigkeitsbedarf
Thoraxchirurgie
Brustoperationen
Orthopädische Operationen Prostataoperationen
. Tabelle 21.3. Funktioneller Status des kardialen Risikopatienten Sehr gut
Gut
Schlecht
anstrengende sportliche Tätigkeit (Schwimmen, Fußball, Skifahren, Joggen)
leichte sportliche Tätigkeit (kurze Strecke rennen, schneller Spaziergang, 1 Etage Treppensteigen)
langsam spazieren, leichte Hausarbeit, sich zu Hause bewegen
griff sinnvoll sein. Da nach kardiologischen oder kardiochirurgischen Eingriffen ein weiterer chirurgischer Eingriff erst nach 4–6 Wochen vorgenommen werden darf, soll das Vorgehen insbesondere bei tumorchirurgischen Eingriffen im interdisziplinären Konsil besprochen werden. Eine gute Prämedikation ist bei diesen Patienten mit Gabe eines Anxiolytikums, z. B. Midazolam 0,07–0,15 mg/ kg KG p.o. empfehlenswert. Alle antianginös wirksamen Medikamente sollen am Tag der Operation weiter verabreicht werden. Dies ist insbesondere bei E-Blockern wichtig, da die Nichtweiterführung der Therapie zu Tachykardie, Hypertonie, Erhöhung des myokardialen Energiebedarfs bis hin zu schwerer Angina pectoris und Herzinfarkt führen kann. Bei Patienten mit KHK, die noch keine E-Blocker in ihrer bisherigen Medikation haben, ist eine perioperative Einstellung sinnvoll. Ideal wäre es, die E-Blockade mehrere Tage vor der Operation einzuleiten. Dies ist jedoch selten möglich. Unter Beachtung der Kontraindikationen (manifeste Herzinsuffizienz, Bradykardie, atrioventrikuläre Blockaden, Asthma bronchiale) kann ein E-Blocker (z. B. Metroprolol 50 mg, 1–2 Tabletten/Tag) bei gefährdeten Patienten auch am Morgen der Operation p.o. begonnen und in der postoperativen Phase weitergeführt werden.
21.2.2 Intraoperatives Management Adäquates Monitoring, gute Narkoseführung und Vermeidung von Myokardischämien sind Grundprinzipien des intraoperativen Managements. Das EKG-Monitoring soll eine ST-Strecken-Analyse ermöglichen. Da die Analyse der ST-Strecken einer besonderen Bearbeitung des EKG-Signals bedarf, sind nicht alle Monitore dazu in der Lage. ! Die Beurteilung von ST-Strecken in Monitoren ohne ausdrückliches ST-Monitoringmodul kann irreführend sein.
Die Notwendigkeit eines arteriellen Katheters ergibt sich aus dem Grad der funktionellen Beeinträchtigung und der Größe und Art der Operation. Je mehr ein Patient durch hypertone oder hypotone Phasen gefährdet ist und je wahrscheinlicher solche Phasen während der Operation zu erwarten sind (großer Blutverlust, Operation an großen Gefäßen), desto großzügiger ist die Indikation zu einem invasiven arteriellen Blutdruckmonitoring zu stellen. Auch die Indikation zur Anlage eines zentralen Venenkatheters soll vom Umfang der zu erwartenden Volumenveränderungen während der Operation und der Notwendigkeit der
21
224
Kapitel 21 · Herz-Kreislauf-Erkrankungen
kontinuierlichen Gabe von vasoaktiven und inotropen Medikamenten abhängig gemacht werden. Eine Myokardischämie tritt auf, wenn ein Missverhältnis zwischen Energiebedarf und Energiezufuhr besteht. Der Energiebedarf des Herzens hängt von der Herzarbeit ab, die Energiezufuhr im Wesentlichen von der Myokarddurchblutung. Besonders ungünstig wirken sich hämodynamische Veränderungen aus, die die Durchblutung des Myokards senken und gleichzeitig die Herzarbeit steigern. Ischämie, Herzinfarkte und Dekompensationen betreffen in der Regel den linken Ventrikel, selten den rechten Ventrikel. Die Durchblutung des linken Ventrikels geschieht während der Diastole. Eine Tachykardie erhöht den Sauerstoffbedarf, verkürzt aber die Diastolenzeit und drosselt somit die Myokarddurchblutung. Aus diesem Grunde soll eine Tachykardie immer vermieden werden. Insbesondere, wenn eine Tachykardie mit Hypotonie vergesellschaftet ist, fällt die Durchblutung des Myokards zusätzlich, und die Folgen können gravierend sein. Andererseits ist auch eine Hypertonie schädlich, da hierbei die Herzarbeit und der Sauerstoffbedarf steigen und die Durchblutung des subendokardialen Myokards durch die gleichzeitig auftretende Erhöhung des linksventrikulären enddiastolischen Drucks vermindert wird. Es gilt also, während der Narkose Tachykardie, Hypotonie und Hypertonie zu vermeiden. Adäquate Narkoseführung und Einhaltung eines ausgeglichenen Volumenstatus sind die Basis einer guten intraoperativen Versorgung. Die Wahl der Narkosemittel ist weniger wichtig als ihre der Situation angepasste Dosierung. Den Inhalationsanästhetika werden im Rahmen von myokardialen Reperfusionszuständen besondere kardioprotektive Eigenschaften zugesprochen. ! Um das postanästhetische Zittern und die damit verbundene Zunahme der Herzarbeit zu vermeiden, ist es wichtig, den Patienten vor der Einleitung und während der Narkose aktiv zu erwärmen.
21.2.3 Postoperative Versorgung
21
Postoperativ ist der kardiale Risikopatient zu überwachen. Die Überwachung soll ein kontinuierliches EKG-Monitoring mit ST-Streckenanalyse und nichtinvasives Blutdruckmonitoring mit Zeitintervallen < 60 min beinhalten. Ggf. können kardiale Enzyme wie z. B. Troponin I bestimmt werden. Der Ort der Überwachung (Aufwachraum, Wachzimmer auf Normalstation, Intermediate Care Station oder Intensivstation) und die Dauer der Überwachung (12, 24, 48, > 48 h) ist von der Größe des operativen Eingriffs und
dem Schweregrad der funktionellen Beeinträchtigung des Patienten sowie von intra- und postoperativ vorkommender kardialer Symptomatik abhängig. Auch in der postoperativen Phase gilt es, Hypotonie, Hypertonie und Tachykardie zu vermeiden und sofern sie auftreten, sofort zu behandeln. ! Eine Fortführung der antianginösen und antihypertensiven Dauertherapie ist sehr wichtig, einschließlich einer adäquaten Schmerztherapie, um schmerzbedingte Tachykardien oder Hypertonien zu vermeiden.
21.3
Herzklappenfehler
Patienten mit Herzklappenfehler, die zu einem nicht kardiochirurgischen Eingriff vorstellig werden, stellen eine Herausforderung für den Anästhesisten dar (vgl. 7 Kap. 35). Herzklappenfehler führen zu veränderten Volumen- und Druckverhältnissen, aber auch zu strukturellen Veränderungen im Herz-Kreislauf-System. Diese Veränderungen bewirken ein neues (teil-)kompensiertes Gleichgewicht, welches durch den operativen Eingriff und die Narkose leicht in einen instabilen Zustand münden kann. In der perioperativen Phase kommen Gefahren wie Endokarditis oder embolische Ereignisse hinzu. Hier ist eine genaue Diagnose des Klappenfehlers, des Schweregrades der Funktionsstörung des Herzens und eine optimierte kardiologische Therapie die Grundlage für die anästhesiologische Versorgung. Die Kenntnis der Pathophysiologie des Klappenfehlers hilft, auf häufig auftretende intraoperative Probleme vorbereitet zu sein.
21.3.1 Präoperative Vorbereitung Nicht selten stellt ein Anästhesist während der präoperativen Visite und der körperlichen Untersuchung ein Herzgeräusch fest. Da ein Herzgeräusch potenziell auf einen Herzfehler hinweist, muss dieses kardiologisch abgeklärt werden. Bei Patienten mit bekannten Herzfehlern sollte ein kardiologisches Konsil angestrebt werden. Es dient der Optimierung der präoperativen Therapie und der Überprüfung, ob eine invasive kardiochirurgische oder – seltener – kardiologische Therapie des Klappenfehlers indiziert ist. Ist sie indiziert, so sollte überprüft werden, ob der Klappenfehler das vordringlichere, aber bisher nicht ausreichend beachtete gesundheitliche Problem des Patienten darstellt. Da nach einer herzchirugischen Operation ein erneuter operativer Eingriff frühestens in 4–6 Wochen durchgeführt werden kann, muss überprüft werden, ob diese Verzögerung des Primäreingriffs den Patienten keinen vitalen Gefahren
225 2.3 · Herzklappenfehler
aussetzt. Insbesondere in der Tumorchirurgie muss das Für und Wider besonders gut abgewogen werden.
diziert. Eine perioperative Endokarditisprophylaxe ist bei vielen operativen Eingriffen notwendig.
21.3.2 Intraoperatives Management
Aortenklappeninsuffizienz
Aortenklappenstenose, Aortenklappeninsuffizienz, Mitralklappenstenose und Mitralklappeninsuffizienz sind die am häufigsten vorkommenden Herzfehler bei erwachsenen Patienten. Die Grundsätze der intraoperativen Versorgung sind auch in diesen Fällen ein adäquates Monitoring und der Einsatz geeigneter Anästhetika. Je nach Schweregrad der Erkrankung und der Schwere des operativen Eingriffs ist ein arterieller Blutdruckkatheter, ein zentralvenöser Katheter (Druckmessung, Messung der venösen Sättigung), ein Pulmonalarterienkatheter oder auch die transösophageale Echokardiographie notwendig oder hilfreich. Obwohl häufig nicht die Wahl des Narkosemittels, sondern deren angemessene Anwendung wesentlich ist, sollten folgende allgemeine Richtlinien Beachtung finden: ! – Lachgas sollte vermieden werden. – Inhalationsanästhetika senken den peripheren Widerstand und die Kontraktilität und sollten daher in 0,5-MAC-Bereichen Anwendung finden. – Kurz wirksame Opiate werden gut toleriert und sollen angemessen dosiert werden.
Aortenklappenstenose Die valvuläre Aortenstenose als Folge einer Degeneration von kongenital vorkommenden bikuspidalen Klappen ist die häufigste Form der Aortenstenose. Eine Aortenklappenstenose verläuft lange symptomlos. Beim Auftreten von Symptomen ist die Prognose ohne Operation sehr schlecht und der Patient vital gefährdet. Bei Patienten mit Aortenklappenstenose sind Angina pectoris, Synkopen und Zeichen der Herzinsuffizienz sehr ernstzunehmende Spätsymptome. Der linke Ventrikel ist hypertrophiert, in seiner Compliance vermindert und ischämiegefährdet. Die Füllung des linken Ventrikels ist sehr stark von der Vorlast und von der Kontraktion des linken Vorhofs abhängig. Der Ausstrom in die Aorta ist verlangsamt und zeitabhängig. Eine lange Diastole ist für den erhöhten Bedarf an Koronardurchblutung erforderlich. Von daher ist es in der perioperativen Phase sehr wichtig, den Sinusrhythmus aufrecht zu erhalten, die Herzfrequenz im Normbereich (60–80/min) zu halten und die Vorlast nicht zu senken. Diastolische Hypotonie senkt die Durchblutung des linken Ventrikels und wird daher sehr schlecht toleriert. Eine prompte Behandlung (Trendelenburg-Lagerung oder Noradrenalin 5–10 Pg) ist hier in-
Patienten mit Aortenklappeninsuffizienz bleiben sehr lange symptomlos. Nach dem Auftreten von Symptomen ist eine raschere Progredienz zu beobachten. Zeichen der Herzinsuffizienz sind meist die ersten Symptome. Das Herz ist dilatiert, die Herzfrequenz meist erhöht und der periphere Widerstand erniedrigt. Der Blutdruck weist eine hohe Amplitude auf, wobei nur bei einem Teil der Patienten sehr niedrige diastolische Werte vorkommen. Das Regurgitationsvolumen nimmt mit der Zeitdauer der Diastole zu und somit ist es wichtig, eine Bradykardie zu vermeiden und prompt zu behandeln. Beim Abfall des Blutdrucks sollen reine oder stark alphamimetisch wirksame Medikamente (Phenylephrin, Noradrenalin) vermieden werden und eher kontraktilitätssteigernde Mittel (Akrinor 1 : 10 verdünnt, 1–2 ml oder Adrenalin 5–10 Pg in der Verdünnung 1 : 100 oder 1 : 200) verabreicht werden. Eine perioperative Endokarditisprophylaxe ist auch hier bei vielen operativen Eingriffen notwendig.
Mitralklappenstenose Die Ätiologie ist meist rheumatisch bedingt und Frauen sind häufiger betroffen als Männer. Zeichen der Herzinsuffizienz mit Lungenödem, Vorhofflimmern und in fortgeschrittenen Stadien die des Rechtsherzversagens (periphere Ödeme, Hepatomegalie) sind die führenden Symptome. Da die Füllung des linken Ventrikels bei Mitralstenose vom Vorhofdruck (Vorlast), von der Diastolendauer und vom Erhalt des Sinusrhythmus abhängig ist, ist es wichtig, während der Narkose eine Tachykardie zu vermeiden, die Vorlast nicht zu senken und den Sinusrhythmus aufrecht zu erhalten. Falls ein Sinusrhythmus besteht, müssen Elektrolytentgleisungen und arrhythmogene Medikamente vermieden werden. Bei diesen Patienten besteht häufig eine pulmonalarterielle Hypertonie, die bei alveolärer Hypoxie, bei Hyperkapnie, bei Azidose und bei Verwendung von Lachgas stark zunehmen kann. Eine Endokarditisprophylaxe ist obligat.
Mitralklappeninsuffizienz Die Ätiologie ist multifaktoriell. Die Krankheit zeigt eine langsame Progredienz. Es kommt zu einer Kardiomegalie, der linke Vorhof vergrößert sich und Vorhofflimmern setzt ein. Anfangs kann das Herzzeitvolumen über die exzentrische Hypertrophie und eine Zunahme des Schlagvolumens kompensiert werden. Bei einer Erhöhung des Regurgitationsvolumens auf über 50–60 % des Schlagvolumens wird die Mitralinsuffizienz symptomatisch.
21
226
Kapitel 21 · Herz-Kreislauf-Erkrankungen
! Es ist wichtig zu wissen, dass bei Mitralklappeninsuffizienz die Bestimmung der linksventrikulären Ejektionsfraktion mit der Echokardiographie keine verlässliche Information über die Funktion des linken Ventrikels liefert. Auch bei normaler Ejektionsfraktion können eine schwere Dekompensation der Herzfunktion und eine verminderte Organdurchblutung vorliegen.
Die Patienten zeigen Zeichen der Links- und Rechtsherzinsuffizienz (Dyspnoe bzw. Hepatomegalie und periphere Ödeme). In der perioperativen Phase soll der periphere Widerstand nicht gesteigert werden und die Herzfrequenz im oberen Normbereich gehalten werden. Da der pulmonalarterielle Widerstand erhöht ist, soll eine Hyperkapnie und eine alveoläre Hypoxie vermieden werden und auf Lachgas verzichtet werden. Positiv inotrope Substanzen mit peripherem vasodilatorischem Effekt wie z. B. Dobutamin oder Phosphodiesterasehemmer III können bei Dekompensation zur Anwendung kommen. Eine perioperative Endokarditisprophylaxe ist obligat.
Endokarditisprophylaxe bei Klappenfehler Bei bestimmten Operationen und Eingriffen kommt es zu einer vorübergehenden Bakteriämie. Patienten mit angeborenen oder erworbenen Klappenfehlern oder Klappenersatz sind gefährdet, infolge der Bakteriämie eine Endokarditis zu entwickeln. Es ist deshalb notwendig, bei operativen Eingriffen, welche mit einer Bakteriämie einhergehen können, den gefährdeten Patienten präoperativ eine Endokarditisprophylaxe zu verabreichen. Eine Endokarditisprophylaxe ist nach den Richtlinien der Paul-Ehrlich-Gesellschaft bei Eingriffen im Oropharynxbereich (z. B. Zahnextraktionen, Zahneingriff, Tonsillektomie), im Respirationstrakt (z. B. Lungenchirurgie, Bronchoskopie), bei urogenitalen Eingriffen, bei gastrointestinalen Eingriffen und bei Eingriffen in infiziertem Gewebe zu verabreichen. Vor dem Eingriff ist bei Penicillinverträglichkeit 60 min präoperativ 2 g Amoxycillin i.v. zu verabreichen. Bei besonders gefährdeten Patienten (frühere Endokarditis, Klappenprothesen) wird Amoxycillin mit Gentamycin 1,5 mg/kg KG kombiniert und 60 min präoperativ sowie 6 h postoperativ verabreicht. Bei Penicillinunverträglichkeit ist die Gabe von 600 mg Clindamycin oder 1 g Vancomycin möglich.
Postoperative Behandlung
21
Je nach Schweregrad des Herzfehlers und Größe der Operation ist eine Überwachung in einer postoperativen Wacheinheit (Aufwachraum, Intermediate Care Station)
oder auf einer Intensivstation notwendig. In der postoperativen Phase ist eine Überwachung des Volumenstatus (Einfuhr-Ausfuhr-Bilanz) notwendig. Präoperative Medikation soll postoperativ wieder aufgenommen werden.
21.4
Herzinsuffizienz
Bei einer Herzinsuffizienz ist das Herz nicht in der Lage, das Herzzeitvolumen den metabolischen Bedürfnissen des Körpers anzupassen. Die häufigsten Ursachen sind die koronare Herzkrankheit, Kardiomyopathien, hypertensive Herzkrankheit und Herzklappenfehler. Um ein zu niedriges Herzzeitvolumen zu kompensieren, steigt der Sympathikotonus und der Körper hält Wasser und Salz zurück. Der gesteigerte Sympathikotonus führt zu Tachykardie, zu gesteigerter Inotropie und zu einer Erhöhung des peripheren arteriellen Gefäßwiderstandes. Die Wasser- und Salzretention (gesteuert durch das Renin-Angiotensin-AldosteronSystem) bewirkt eine Steigerung der Vorlast. Diese kompensatorischen Maßnahmen führen zu einer Steigerung des Herzzeitvolumens und des Blutdrucks, den wesentlichen Regulatoren der Gewebeperfusion. Wenn durch diese kompensatorischen Mechanismen die metabolischen Bedürfnisse des Körpers ausgeglichen werden können und nur bei sehr schwerer körperlicher Aktivität Zeichen der Herzinsuffizienz manifest werden, kann von einer kompensierten Herzinsuffizienz ausgegangen werden. Reichen diese Kompensationsmechanismen jedoch nicht aus, zeigt der Patient sowohl die Symptome der Herzinsuffizienz, d. h. Minderversorgung der Körperorgane, als auch Symptome der unzureichenden kompensatorischen Mechanismen. Herzinsuffizienz – Symptome der Minderversorgung Müdigkeit bzw. schnelle Ermüdung
Herzinsuffizienz – Symptome ungenügender Kompensation 5 5 5 5
Dyspnoe Orthopnoe Tachykardie Periphere Ödeme und periphere Vasokonstriktion
Dyspnoe ist meist durch Volumenüberlastung des linken Ventrikels bedingt, welche zu einer pulmonalen Stauung und Mehrarbeit der Atemmuskulatur führen, sie kann aber durch Minderversorgung der Atemmuskulatur ver-
227 2.4 · Herzinsuffizienz
stärkt auftreten. Periphere Ödeme entstehen durch die Volumenretention und werden in fortgeschrittenen Phasen der Herzinsuffizienz durch ein zusätzliches Versagen des rechten Herzens verstärkt. Bei zunehmendem Versagen des rechten Herzens kommt es zu einer Hepatomegalie und durch die venöse Stauung im Gastrointestinalsystem zu entsprechenden Symptomen (Appetitlosigkeit, Übelkeit).
21.4.1 Präoperative Vorbereitung In der präoperativen Phase soll der Schweregrad der Herzinsuffizienz erfasst werden. Anamnese und körperliche Untersuchung geben hier die wertvollsten Hinweise. Anamnestisch ist der Grad der Belastbarkeit, das Vorhandensein von Symptomen wie Dyspnoe, Orthopnoe, Müdigkeit, Appetitlosigkeit und Übelkeit von den Patienten zu erfragen. Die körperliche Untersuchung erfasst Symptome wie Blutdruck, Größe des Herzens (Herzspitzenstoß), Herzgeräusche, Rhythmusstörungen, Lungengeräusche, Halsvenenstauung, Hepatomegalie, Aszites und periphere Ödeme. EKG, Röntgenthorax sowie eine komplette labormedizinische Untersuchung (Blutbild, Elektrolyte, Nierenwerte, Leberwerte, Gerinnung) sollten bei allen herzinsuffizienten Patienten durchgeführt werden. Ein kardiologisches Konsil und eine echokardiographische Untersuchung sind je nach Symptomatik und vermutetem Grund der Herzinsuffizienz anzustreben. Patienten mit manifester Herzinsuffizienz (NYHA III–IV) bedürfen vor einem Elektiveingriff einer mehrwöchigen kardiologischen Optimierung. Bei Patienten der NYHA-Klasse II sollte dies je nach Größe des Eingriffs und zugrunde liegender Herzkrankheit individuell beurteilt und erwogen werden.
21.4.2 Intraoperatives Management Intraoperativ ist ein adäquates Monitoring und eine sorgfältige Wahl und Dosierung der Anästhetika die Grundlage der Narkoseführung. Je nach Größe des operativen Eingriffs und dem Schweregrad der Erkrankung muss eine Erweiterung des Standardmonitorings erwogen werden. Eine invasive arterielle Blutdruckmessung ermöglicht eine zeitnahe Erfassung von Blutdruckveränderungen, ein zentralvenöser Katheter ermöglicht die Messung des zentralvenösen Drucks und der zentralvenösen Sauerstoffsättigung. Ein Pulmonalarterienkatheter ermöglicht die Messung des Herzzeitvolumens und der Drücke im kleinen Kreislauf sowie der gemischtvenösen Sättigung. Eine transösophageale Echokardiographie gibt relevante Hinweise auf Füllung und
Kontraktilität des Herzens sowie auf die Herzklappenfunktion während der Operation. Bei Operationen, die mehr als zwei Stunden dauern und/oder mit mehr als 500 ml Blutverlust verbunden sind, sollte ein Blasenkatheter gelegt werden. Bei der Wahl der Narkosemittel sollte auf Lachgas verzichtet werden, volatile Anästhetika sollten nur in geringer Dosierung (~ 0,5 MAC) benutzt werden. Die Narkose ist mit kurz wirksamen Opiaten und Hypnotika zu führen. Intraoperativ muss die Vorlast erhalten bleiben, und der periphere Widerstand darf nicht weiter steigen. Eine Hypotonie sollte bevorzugt mit positiv inotrop wirksamen Substanzen wie Akrinor (2 : 10 verdünnt,1–2 ml) oder Adrenalin (1 : 100 oder 1 : 200 verdünnt, 5–10 Pg) behandelt werden. Bei länger anhaltender Hypotonie muss unter Auswertung der Vorbefunde, der aktuellen Umstände, der Messung der Füllungsdrucke und der Bestimmung der zentralvenösen Sättigung eine medikamentöse oder eine Volumenersatztherapie angestrebt werden. Hier sollten bevorzugt kurz wirksame Substanzen kontinuierlich mit Hilfe pumpengestützter Perfusorspritzen gegeben werden (7 Übersicht). Vasodilatanzien 5 Nitrokörper (50 mg Nitroglyzerin in 50 ml per Perfusor, 0,5–5 Pg/kg KG/min, dies entspricht etwa 2–20 ml/h bei 70 kg KG) und 5 Natriumnitroprussid (60 mg in 50 ml per Perfusor, 0,5–2 Pg/kg KG/min, dies entspricht etwa 2–8 ml/h bei 70 kg KG)]
Inotropika 5 Dobutamin (250 mg in 50 ml per Perfusor, 3–6 µg/kg/min, dies entspricht etwa 4–8 ml/h bei 70 kg KG), 5 Dopamin (200 mg in 50 ml per Per fusor, 3–6 Pg/kg KG/min, dies entspricht etwa 3–6 ml/h) oder 5 Adrenalin (z. B. 3 mg in 50 ml per Perfusor, 0,05–0,1 Pg/kg KG/min, dies entspricht etwa 3–7 ml/h bei 70 kg KG)
21.4.3 Postoperative Behandlung Je nach Schweregrad der Herzinsuffizienz und Größe der Operation ist eine Überwachung in einer postoperativen Wacheinheit (Aufwachraum, Intermediate Care Station) oder auf einer Intensivstation notwendig. In der postope-
21
228
Kapitel 21 · Herz-Kreislauf-Erkrankungen
rativen Phase ist eine Überwachung des Volumenstatus (Einfuhr-Ausfuhr-Bilanz) notwendig. Da eine Verschlechterung der Herzfunktion häufig mit Funktionsstörungen der Lunge und Nieren einhergeht, ist eine Überwachung dieser Organe (Pulsoxymetrie, PaO2, Röntgenthorax bzw. Urinmenge, Plasmakreatinin) von Bedeutung. Die präoperative Medikation soll postoperativ wieder aufgenommen werden.
21.5
21
Rhythmusstörungen
Die rhythmische und normale Abfolge von elektrischen Ereignissen im Herzen ist Grundlage der geordneten Abfolge von Kontraktion und Erschlaffung. Störungen in Rhythmus und Rhythmusleitung führen zu Veränderungen der Füllung, der Drücke und der Beförderung von Blut. Rhythmusstörungen können Ausdruck von schweren Herzerkrankungen sein, die an sich zu perioperativen Störungen und Komplikationen führen können. Bestehende Rhythmusstörungen können durch Anästhetika oder durch intraoperative Veränderung des inneren Milieus (z. B. Elektrolytentgleisung, Katecholaminfreisetzung) in noch gefährlichere Formen übergehen und zu einem Rückgang der Herzleistung führen. Ein atrioventrikulärer Grad-I-Block liegt vor, wenn das PQ-Inter vall > 0,2 s beträgt. Ein alleiniger, nicht symptomatischer Grad-I-Block führt in der Regel zu keiner perioperativen Gefährdung und bedarf meist keiner therapeutischen oder präventiven Maßnahmen. Wenn hingegen ein Grad-I-Block mit einem bifaszikulären Block (Rechtsschenkelblock und Linkshemiblock) vergesellschaftet ist, ist die Anlage eines temporären Schrittmachers empfehlenswert. Ein atrioventrikulärer Block Grad II wird in Mobitz Typ I und Mobitz Typ II unterteilt. Beim Mobitz Typ I (Wenckebachblock) ist ein intraoperatives Pacing in der Regel nicht erforderlich. Beim Mobitz Typ II ist die Anlage eines temporären Schrittmachers empfehlenswert. Bei Vorhandensein eines atrioventrikulären Blocks Grad III (kompletter Herzblock) ist die Anlage eines Schrittmachers obligat. Vorhofflimmern kommt sehr oft bei bestehenden Herzerkrankungen wie z. B. der koronaren Herzkrankheit vor und ist deshalb von besonderem Interesse. Bei neu aufgetretenem Vorhofflimmern muss immer kardiologisch geklärt werden, ob eine medikamentöse oder elektrische Kardioversion durchgeführt werden kann. Ansonsten muss überprüft werden, ob die medikamentöse Therapie dahin gehend optimiert ist, dass die Pulswerte im Normbereich liegen und die Fortführung der Antikoagulation geregelt
ist. Eine antiarrhythmische Therapie sollte unbedingt weiter verabreicht werden. Ventrikuläre Arrhythmien in Form von monotopen oder polytopen ventrikulären Extrasystolen können das perioperative Risiko erhöhen. Die Suche nach der zugrunde liegenden Erkrankung ist erforderlich. Relativ unproblematisch sind monotope ventrikuläre Extrasystolen (VES) bis zu 30 pro Stunde (Lown I), da eine schwerwiegende Herzkrankheit in der Regel nicht vorliegt. Patienten mit VES > 30 /Stunde (Lown II), multiformen VES (Lown III), sog. Couplets (Lown IVa) oder kurzen ventrikulären Tachykardien ohne hämodynamische Auswirkung haben ein erhöhtes Risiko der intraoperativen Rhythmusstörung, diese sind aber selten lebensgefährlich. Patienten mit länger dauernden und hämodynamisch wirksamen ventrikulären Tachykardien und Patienten mit dem sog. R-auf-T-Phänomen sind stark gefährdet – auch intraoperativ – lebensgefährliche Rhythmusstörungen zu entwickeln. ! Je höher der Grad der ventrikulären Rhythmusstörung, desto wahrscheinlicher und schwerer wiegend ist die zugrunde liegende Herzerkrankung.
21.5.1 Präoperative Vorbereitung In der präoperativen Phase liefern Anamnese und körperliche Untersuchung die wertvollsten Informationen. Die Anamnese gibt Auskunft über Vorerkrankungen, die Ursache der Herzrhythmusstörungen sein können, aber auch über Symptome (z. B. das subjektive Gefühl des »Herzstolperns« oder der Synkope). Die Medikamentenanamnese ist sehr wichtig, da manche Medikamente eine arrhythmogene Wirkung haben (z. B. Theophyllin). Die körperliche Untersuchung kann das Vorhandensein von Herzrhythmusstörungen sowie Symptome wie Pulsdefizit aufdecken. Laboruntersuchungen (z. B. Blutbild und Elektrolyte) und eine EKG-Untersuchung sind obligat, ein Röntgenthorax sollte nach klinischen Gegebenheiten durchgeführt werden. Weitere Laboruntersuchungen (Schilddrüsenhormone, Herzenzyme) sollten nach klinischen Erfordernissen durchgeführt werden. Patienten mit symptomatischer Rhythmusstörung müssen vor einem Elektiveingriff zur präoperativen Optimierung der Therapie einem Kardiologen vorgestellt werden.
21.5.2 Intraoperatives Management Intraoperativ muss je nach Schweregrad der Rhythmusstörung und der zugrunde liegenden Herzkrankheit ein
229 21.6 · Patienten mit Schrittmacher
arterieller Katheter (erfasst zeitnah die hämodynamische Auswirkung von Rhythmusstörungen und ermöglicht die arterielle Blutgasanalyse) und ein zentralvenöser Katheter (zur Messung von Druck und zentral-venöser Sauerstoffsättigung sowie zur kontinuierlichen Gabe von Medikamenten) benutzt werden. Engmaschige Kontrollen und ggf. Optimierung der Elektrolyte sind wichtig, um eine arrhythmogene Auswirkung eines entgleisten Elektrolythaushalts zu vermeiden. Insbesondere sollte die Kaliumund Magnesiumkonzentration im oberen Normbereich liegen. Die Narkose soll nicht zu flach sein, da sonst die freigesetzten endogenen Katecholamine eine vorhandene Arrhythmieneigung verstärken können. Eine zu tiefe Narkose führt zu einer Hypotonie und kann die Gabe von arrhythmogen wirkenden Katecholaminen erforderlich machen. Die Narkose kann mit Inhalationsanästhetika in geringer Dosierung und kurz wirksamen Opiaten in ausreichender Dosierung aufrechterhalten werden. Ketamin, Succinylcholin und Pancuronium sollten nach Möglichkeit nicht angewendet werden. Medikamente, die eine arrhythmogene Auswirkung haben wie z. B. Katecholamine, Methylxanthine und Anticholinergika sollten mit Bedacht und in niedriger Dosierung verabreicht werden. ! Cave Bei Patienten mit Linksschenkelblock kann die Einführung eines Pulmonalarterienkatheters in seltenen Fällen zu einem totalen Herzblock führen.
21.6
Patienten mit Schrittmacher
Sehr oft werden Schrittmacher wegen Sinusknotenerkrankung (sog. Sick-Sinus-Syndrom), die zu wechselhaften Tachykardien, Bradykardien und Synkopen führen können, implantiert. Auch totale atrioventrikuläre Blockaden führen zu Schrittmacherimplantationen.
21.6.1 Präoperative Vorbereitung Bei Patienten mit Schrittmachern ist es bedeutsam, die Art des Schrittmachers und den Grund der Implantation festzustellen. Des Weiteren wird geprüft, ob der Patient absolut schrittmacherpflichtig ist oder ob es einen Eigenrhythmus gibt und ob sich der Schrittmacher in einem einwandfreien funktionellen Status befindet. Zur Kennzeichnung der Schrittmacher dient ein vierstelliger Buchstabencode:
Der erste Buchstabe gibt an, in welcher Herzkammer stimuliert wird: 5 V = Ventrikel 5 A = Vorhof 5 D = Dual (in beiden Ventrikeln)
Der zweite Buchstabe gibt den Ort des Sensing an: 5 V = Ventrikel 5 A = Vorhof 5 D = Dual (in beiden Ventrikeln)
Der dritte Buchstabe gibt an, wie der Schrittmacher auf die Sensing-Information antwortet: 5 5 5 5
T = Triggering I = Inhibition D = Dual, d. h. Triggering und Inhibition O = Asynchron.
Der letzte Buchstabe kennzeichnet die Programmierbarkeit: 5 P = programmierbar 5 M = multi-programmierbar 5 O = nicht programmierbar
: Beispiel Ein VVI-Schrittmacher stimuliert den Ventrikel und wird durch die Eigenaktionen des Ventrikels gehemmt (inhibiert). Ein DDD-Schrittmacher stimuliert beide Herzkammern (dual), »sensed« in beiden Herzkammern (dual), und kann durch die gewonnene Information getriggert oder inhibiert (dual) werden.
Eine präoperativ durchzuführende 12-Kanal-EKG-Ableitung und der Frequenzstreifen geben Information über Rhythmus und Herzfrequenz, können aber nicht immer eine Dysfunktion des Schrittmachers aufdecken. Früher sind Schrittmacher unter dem Einfluss eines Magneten in eine starre Frequenz übergegangen, was eine einfache Funktionsüberprüfung ermöglichte. Nicht alle modernen programmierbaren Herzschrittmacher reagieren derart auf Magneten. Bei manchen kann ein Magnet die Programmierung und somit die Funktion des Herzschrittmachers beeinträchtigen. Deswegen sollte eine zeitnahe Funktionsüberprüfung des Schrittmachers durch einen Kardiologen vorliegen (< 6 Monate) oder neu durchgeführt werden.
21
230
Kapitel 21 · Herz-Kreislauf-Erkrankungen
! Bei Patienten mit implantierbarem Kardioverter-Defibrillatoren-Schrittmacher (ICD-Schrittmacher), die intraoperativ mit Zuhilfenahme eines Elektrokauters operiert werden, muss der Schrittmacher präoperativ vom Kardiologen ausgeschaltet und postoperativ wieder eingeschaltet werden.
21.6.2 Intraoperatives Management Intraoperativ muss das EKG-Monitoring so eingestellt werden, dass die einzelnen Schrittmacherimpulse als solche deutlich zu erkennen sind. Die Pulsoxymetrie und ggf. die invasive arterielle Blutdruckmessung zeigt, ob auf einen elektrischen Impuls eine mechanische Kontraktion und Pulswelle folgen. Die Operateure müssen über das Vorhandensein des Schrittmachers informiert werden, sie sollen überprüfen, ob auf Elektrokauter gänzlich verzichtet werden kann, oder ob ein Bipol-Elektrokauter ausreichend ist. Falls ein Elektrokauter verwendet werden muss, sollte die Nullelektrode so weit entfernt wie möglich vom Schrittmacher geklebt werden. Das Schrittmacheraggregat darf keinesfalls zwischen OP-Gebiet und Nullelektrode liegen. Intraoperativ kann eine Schrittmacherdysfunktion die Gabe von Atropin (0,5-mg-Bolus) oder Orciprenalin (0,1–0,2 mg) notwendig machen. In besonderen Fällen kann die Implantation eines temporären Schrittmachers erforderlich sein.
21.6.3 Postoperative Versorgung ! Falls intraoperativ mit Elektrokauter gearbeitet wurde, ist eine zeitnahe postoperative Funktionsüberprüfung des Schrittmachers durch einen Kardiologen unbedingt notwendig.
Literatur Erdmann E (2000) Klinische Kardiologie, 5. Aufl. Springer, Berlin Heidelberg New York Hensley F, Mar tin D, Gravlee G (2003) A practical approach to cardiac anesthesia, 3rd Ed. Lippincott Williams and Wilkins, Philadelphia. Miller RD (2000) Anesthesia, 5th Ed. Churhill Livingstone, Philadelphia Stoelting R, Dierdorf SF (2002) Anesthesia and co-existing disease, 4th Ed. Churchill Livingstone, Philadelphia. Sweitzer BJ (2000) Handbook of preoperative assessment. Lippincott Williams and Wilkin, Philadelphia
21
22 Atemweg- und Lungenerkrankungen Wolfgang Reikow 22.1 Diagnostische Möglichkeiten –232 22.1.1 22.1.2 22.1.3 22.1.4 22.1.5 22.1.6
Anamnese und körperliche Untersuchung –232 Lungenfunktionsdiagnostik –232 Radiologische Untersuchungen –233 Laboruntersuchungen –233 Elektrokardiogramm –233 Endoskopische Verfahren –233
22.2 Obstruktive Lungenerkrankungen –234 22.2.1 Chronisch obstruktive Bronchitis/COPD –234 22.2.2 Asthma bronchiale –235
22.3 Restriktive Lungenerkrankungen –237 22.4 Schlaf-Apnoe-Syndrom –238 Literatur –239
232
Kapitel 22 · Atemweg- und Lungenerkrankungen
)) In der Anästhesie und Intensivmedizin haben Atemwegund Lungenerkrankungen einen hohen Stellenwert. Das pulmonale System wird bewusst oder auch unbewusst durch Allgemein- wie auch durch Regionalanästhesie zum Teil erheblich beeinflusst. Dies zeigt sich durch deutlich häufiger auftretende Komplikationen peri- und postoperativ bei pulmonalen Risikopatienten im Vergleich mit Lungengesunden. In der Mortalitätsstatistik 2002 stehen Lungenerkrankungen mit 10 % an dritter Stelle. Davon entfallen ungefähr 50 % auf maligne Erkrankungen und je etwa 25 % auf Pneumonien und obstruktive Lungenerkrankungen. Deshalb ist die Kenntnis der Erkrankungen sowie deren Diagnostik und Therapie für die Anästhesie von grundlegender Bedeutung.
22.1
Diagnostische Möglichkeiten
Da die verschiedenen Krankheitsbilder oft gleiche oder ähnliche Untersuchungen erfordern, erscheint es didaktisch sinnvoll, diese vorab zu besprechen.
22.1.1 Anamnese und körperliche
Untersuchung Bei der Prämedikationsvisite sind eine gründliche Anamneseerhebung und eine körperliche Untersuchung unabdingbare Grundvorrausetzung. Oft ist durch gezieltes Abfragen
von Beschwerden und Symptomen eine weiterführende oder routinemäßige Diagnostik verzichtbar. Klagt ein Patient jedoch über Dyspnoe, Husten, Auswurf oder Thoraxschmerzen, ist eine genauere Differenzierung erforderlich. ! Präoperatives Risikoprofil des Patienten abschätzen. Nach Möglichkeit eine Verbesserung der Erkrankung präoperativ anstreben.
Basis für alle planbaren Eingriffe ist es, den Patienten in den bestmöglichen Allgemeinzustand zu versetzen. Eine Allergie- und Medikamentenanamnese sowie Abklären von Nikotinabusus sind gerade im Hinblick auf Lungenerkrankungen oft wegweisend.
22.1.2 Lungenfunktionsdiagnostik Beim Verdacht auf eine Lungenerkrankung ist die Spirometrie (. Abb. 22.1) die erste weiterführende Untersuchung. Sie ist einfach durchzuführen und belastet den Patienten im Grunde nicht. Die Verwertbarkeit der Ergebnisse hängt jedoch stark von der Mitarbeit des Patienten ab. Die Summe aus Atemzugvolumen (AZV) sowie inspiratorischem (IRV) und exspiratorischem Reservevolumen (ERV) ergibt die Vitalkapazität (VC). Diese kann sowohl durch maximale Inspiration nach maximaler Exspiration wie auch umgekehrt gemessen werden. Das Residualvolumen (RV), also das nach maximaler Exspiration noch in der Lunge befindliche Volumen, ist mit der spirometrischen Messung nicht erfassbar. Es kann
. Abb. 22.1. Spirometrie. Schematischer Untersuchungsgang mit den zu messenden Volumina.
22
233 2.1 · Diagnostische Möglichkeiten
Bestimmung des Residualvolumens zusätzlich Atemwegwiderstände (Resistance), die Dehnbarkeit des LungenThorax-Systems (Compliance) und andere Werte wie die CO-Diffusionskapazität zur genaueren Differenzierung messen.
22.1.3 Radiologische Untersuchungen
. Abb. 22.2. Atemstromstärken. Normale Fluss-Volumen-Beziehung.
indirekt mit der Bodyplethysmographie oder durch Testgasverdünnungsverfahren gemessen werden. Bei bekanntem Residualvolumen lässt sich die totale Lungenkapazität (TLC) durch Addition der Vitalkapazität errechnen. Ferner kann auch die funktionelle Residualkapazität (FRC) aus der Summe des Residualvolumens und des exspiratorischen Reser vevolumens bestimmt werden. Wichtig bei den dynamischen Lungenvolumina ist der so genannte Tiffeneau-Test, bei dem das in der ersten Sekunde maximal ausatembare Volumen nach vorausgegangener maximaler Inspiration gemessen wird. Dieses forcierte exspiratorische Volumen in der ersten Sekunde wird als FEV1 bezeichnet (. Abb. 22.1). Häufig wird der Wert in Relation zur Vitalkapazität als FEV1/FVC wegen besserer Beurteilbarkeit in Prozent dargestellt. Dabei wird hier die VC als forcierte exspiratorische Vitalkapazität (FVC) gemessen, indem der Patient nach FEV1 weiter maximal ausatmet. ! FEV1/FVC ist der wichtigste präoperative Marker zur Verifizierung von Lungenerkrankungen.
Mit Hilfe eines Flow-Sensors lassen sich in der Spirometrie Atemstromstärken messen. Bei Lungengesunden ergibt sich das in . Abb. 22.2 dargestellte Bild unter maximaler Inspiration und Exspiration. Gemessen werden der maximale exspiratorische Spitzenfluss (PEF) sowie die maximalen exspiratorischen Flüsse (MEF) bei 25, 50 und 75 % der FVC. Die Flussraten spiegeln die Querschnitte der peripheren Atemwege wieder. Mit weiterführenden Untersuchungen wie der Bodyplethysmographie, lassen sich außer der schon erwähnten
Eine Röntgen-Thorax-Aufnahme in zwei Ebenen wird bei allen Patienten mit Verdacht auf eine Lungenerkrankung als Standard angesehen. Häufig ist jedoch das Röntgenbild bei pathologischer Spirometrie trotzdem unauffällig. Der Überblick über Veränderungen an Trachea, knöchernem Thorax und Zwerchfell ist aber meist hilfreich. Auch entzündliche Prozesse und Zeichen der Herzinsuffizienz können unter Umständen erkannt werden. Weiterführende radiologische Diagnostik wie Computertomographie, Magnetresonanztomographie, Szintigraphie oder Angiographie sollten speziellen Fragestellungen vorbehalten bleiben.
22.1.4 Laboruntersuchungen Bei Patienten mit Verdacht auf eine pulmonale Erkrankung sollten Standard-Laborwerte, wie sie meist schon von den operativen Disziplinen gewünscht werden, um ein Differenzial-Blutbild und eine Bestimmung des C-reaktiven Proteins (CRP) ergänzt werden. Bei manifester Lungenerkrankung mit der Frage von respiratorischen Insuffizienzzeichen ist eine arterielle Blutgasanalyse zur Bestimmung des PaO2 und PaCO2 sehr hilfreich. Weitergehende Diagnostik wie mikrobiologische Sputumuntersuchungen sollten allenfalls Einzelfällen vorbehalten bleiben, da die Wertigkeit eher fraglich ist.
22.1.5 Elektrokardiogramm Das EKG mit Extremitäten- und Brustwandableitungen (12-Kanal-EKG) ist präoperativ bei Verdacht auf Lungenerkrankung ebenfalls als Standard zu betrachten. Der unmittelbare Zusammenhang mit Lungenerkrankungen ist jedoch nur durch Zeichen der Rechtsherz-Belastung erkennbar. Diese Veränderungen sind aber meist nicht oder nur gering ausgeprägt vorhanden.
22.1.6 Endoskopische Ver fahren Bronchoskopie und Thorakoskopie sind diagnostisch wie therapeutisch einsetzbare Verfahren. Anwendung finden
22
234
Kapitel 22 · Atemweg- und Lungenerkrankungen
sie meist in der Gewinnung von Zellmaterial zur histologischen Diagnostik von Tumoren.
22.2
Obstruktive Lungenerkrankungen
Die chronisch obstruktive Bronchitis gehört wie auch das Asthma bronchiale zu den großen Volkskrankheiten der westlichen Welt mit steigender Prävalenz. Wie bereits erwähnt, ist eine strenge Unterteilung der Lungenerkrankungen meist nicht möglich, da häufig Mischformen auftreten. Die Behandlung der Erkrankungen ist im Wesentlichen aber ähnlich, da sie sich überwiegend an den Symptomen und eher selten an zusätzlichen z. B. histologischen Befunden orientiert.
22.2.1 Chronisch obstruktive Bronchitis/
COPD : Beispiel Ein 62-jähriger Patient wird von der Intensivstation der med. Klinik mit subakut aufgetretenem Ileus bei Sigmakarzinom auf die operative Intensivstation verlegt. Er war dort wegen einer akut dekompensierten Rechtsherzinsuffizienz behandelt worden. Vorbestehend ist eine schwere COPD Schweregrad IV mit chron. respiratorischer Insuffizienz (PaO2 55 mmHg, PaCO2 61 mmHg) und eine arterielle Hypertonie bekannt. Das Röntgenbild des Thorax zeigte einen mäßigen Emphysemthorax ohne Infiltrationen, keine Pleuraergüsse und allenfalls ein gering verbreitertes Herz mit weitgehend normaler Konfiguration. Unter bronchodilatatorischer und sekretomukolytischer Therapie mit intermittierender nonivasiver Respiratortherapie konnte der Patient in gebessertem Zustand einer Hemikolektomie links unterzogen werden. Es wurde eine Anästhesie in Vollnarkose kombiniert mit einer lumbalen Katheter-PDA durchgeführt. Die perioperative Narkoseführung war mit Propofol, Sevoflurane und PDA problemlos. Unmittelbar postoperativ wurde der Patient wieder extubiert auf die Intensivstation übernommen. Durch die fast vollständige Analgesie über den PDK mit kontinuierlicher Lokalanästhetikagabe war keine negative Beeinträchtigung der pulmonalen Situation zu beobachten. Durch konsequente bronchodilatatorische Maßnahmen und intensive Atemtherapie konnten wir den Patienten 1 Woche später in deutlich gebessertem Allgemeinzustand auf eine periphere Station verlegen. Das insgesamt komplexe und schwere Krankheitsbild bedarf einer stetigen Kontrolle.
22
Definitionen Eine chronische Bronchitis liegt entsprechend der WHODefinition dann vor, wenn über jeweils drei Monate hinweg Husten und Auswurf in zwei aufeinander folgenden Jahren bestehen. Die chronisch obstruktive Bronchitis ist durch eine andauernd bestehende Atemwegobstruktion definiert. Das Lungenemphysem ist ein rein pathologisch-anatomischer Begriff, unter dem man die irreversible Erweiterung des Alveolarraums distal der terminalen Bronchien versteht. Die COPD ist ein Sammelbegriff von Symptomen, bestehend aus chronischem Husten, gesteigerter Sekretproduktion, Dyspnoe und Obstruktion. Die Gabe von bronchodilatatorischen Medikamenten und Glukokortikoiden bewirkt nur eine teilweise oder keine Aufhebung der Obstruktion. Eine Unterteilung in Subgruppen mit und ohne Emphysem ist erst in fortgeschrittenem Stadium der Erkrankung sinnvoll, da dann gegebenenfalls zusätzliche Therapieoptionen bestehen.
Ätiologie Meist liegt einer COPD ein chronisch inhalativer Tabakkonsum zugrunde. Aber auch andere inhalative Noxen wie z. B. berufsbedingte Stäube und Gase, bronchiale Hyperreagibilität oder ein angeborener D1-Antitrypsinmangel können auslösende Faktoren sein. Ein Auftreten der Erkrankung ist häufig erst nach dem 45. Lebensjahr zu beobachten.
Pathogenese Durch eine deutlich gesteigerte Sekret- und dabei auch Proteaseproduktion bei gleichzeitig herabgesetzter mukoziliärer Clearance kommt es zum Sekretverhalt und progredienter Destruktion der Bronchial- und Alveolarwände. Die zunehmende Destruktion kann zum Lungenemphysem und/oder der Ausbildung von Bronchiektasen führen. Die pulmonale Infektanfälligkeit ist erhöht.
Diagnostik Die Diagnose wird mit Hilfe der Spirometrie gestellt, bei der sich eine nicht oder allenfalls gering reversible Obstruktion zeigt. Der beste Parameter zur Beurteilung ist die FEV1 bzw. die Relation FEV1/FVC. Bei Werten FEV1 < 70 % des Sollwerts muss von einer obstruktiven Ventilationsstörung ausgegangen werden (. Abb. 22.3). Bei höheren Schweregraden der Erkrankung (FEV1 < 50 %; . Tab. 22.1) ist zur weiteren Beurteilung der respiratorischen Insuffizienz eine arterielle Blutgasanalyse erforderlich. Hierbei ist die respiratorische Insuffizienz de-
235 22.2 · Obstruktive Lungenerkrankungen
dem Schweregrad ist ein Umstieg auf langwirksame oder dauerhaft mehrfach täglich angewandte kurzwirksame Bronchodilatatoren sinnvoll. Ab dem Schweregrad III ist eine additive Behandlung mit inhalativen Kortikoiden angezeigt. Eine Überprüfung der Indikation sollte aber nach dreimonatiger Behandlung erfolgen. Bei einer schweren, therapieresistenten Obstruktion wird der kombinierte Einsatz von langwirksamen E2-Adrenergika und langwirksamen Anticholinergika empfohlen. Zusätzlich kann ein Therapieversuch mit Theophyllin erfolgen. Der Einsatz systemischer Kortikoide zur Behandlung wird nicht empfohlen. Bei schwerer chronischer respiratorischer Insuffizienz kann der Einsatz von Sauerstoff zur Langzeittherapie die Lebensqualität und Lebenserwartung verbessern. . Abb. 22.3. Fluss-Volumen-Beziehung bei ausgeprägter COPD mit deutlich eingeschränktem FEV1
22.2.2 Asthma bronchiale Definition
finiert als PaO2 < 8,0 kPa (60 mmHg) mit oder ohne PaCO2 > 6,7 kPa (50 mmHg) unter Raumluft auf Meereshöhe.
Therapie Die primäre Therapie besteht natürlich im Vermeiden der auslösenden Noxen. Jedoch ist dieser Ansatz oft erfolglos, da vor allem bezüglich des Nikotinabusus eine schlechte Compliance besteht. Bei leichter, nicht symptomatischer Obstruktion sollten kurzwirksame E2-Adrenergika oder kurzwirksame Anticholinergika inhalativ eingesetzt werden. Mit zunehmen-
Unter Asthma versteht man eine entzündliche Erkrankung der Atemwege, die durch bronchiale Hyperreagibilität und ein wechselndes Ausmaß der Obstruktion zu wiederholten Atemnotanfällen führt. Typische Symptome sind Dyspnoe mit anfallartigem Charakter, Husten mit zähem, glasigem Auswurf sowie ein giemendes oder pfeifendes Atemgeräusch.
Ätiologie Grundlegend muss das Asthma bronchiale als eine immunologische Erkrankung angesehen werden. Bekannte den An-
. Tabelle 22.1. Schweregradeinteilung der COPD nach Gold (Stand Juli 2003) Schweregrad
Lungenfunktion
Klinische Symptome
0
Risikogruppe
Normal
Chron. Husten und Auswurf
I
Milde COPD
FEV1/FVC < 70 % FEV1 ≥ 80% d. Sollwerts
Mit/ohne Husten/Auswurf
II
Moderate COPD
FEV1/FVC < 70 % FEV1 50–80 % d. Sollwerts
Mit/ohne Husten/Auswurf
III
Schwere COPD
FEV1/FVC < 70% FEV1 50–80 % d. Sollwerts
Mit/ohne Husten/Auswurf
IV
Sehr schwere COPD
FEV1/FVC < 70% FEV1 ≤ 30 % d. Sollwerts oder FEV1/FVC < 70 % FEV1 < 50 % d. Sollwerts und chron. resp. Insuffizienz
22
236
Kapitel 22 · Atemweg- und Lungenerkrankungen
. Tabelle 22.2. Schweregradeinteilung des Asthma bronchiale nach Empfehlungen der Deutschen Gesellschaft für Pulmonologie DGP und der Deutschen Atemwegsliga (Stand 1998) Lungenfunktion (FEV1 bzw. PEF in % vom Sollwert)
Klinische Symptome
Leicht
≥ 80%
Tagsüber ≤ 2-mal/Woche, nachts ≤ 2-mal/Monat
III
Mittelgradig
60 – 80%
Tagsüber mehrmals, nachts > 1-mal/Woche
IV
Schwer
< 60%
Tagsüber ständig, nachts mehrmals
Schweregrad
I
Intermittierend
II
Persistierend
. Abb. 22.4. Flow-Volumen-Kurve eines Asthmatikers mit Atemnot und unter adäquater Therapie im Vergleich zum Lungengesunden
fall auslösende Ursachen sind inhalativer Tabakkonsum, Allergene unterschiedlichster chemischer Zusammensetzung wie z. B. Pollen, Tierhaare oder auch Nahrungsmittel. Ebenso existiert eine Vielzahl von Triggerfaktoren wie z. B. physikalische Reize, körperliche Belastung, Infekte der Atemwege und auch psychische Stresssituationen. Die Erkrankung tritt mit zunehmender Prävalenz bereits im Kindesalter auf.
Pathogenese Auf dem Boden einer überwiegend durch eosinophile Granulozyten unterhaltenen entzündlich veränderten Bronchialschleimhaut kommt es durch eine IgE-vermittelte Soforttyp-Reaktion nach Allergenkontakt zu einer akuten Bronchokonstriktion. Hierbei ist dem Akutgeschehen eine Sensibilisierung vorausgegangen. Man bezeichnet diesen Auslösemechanismus auch als exogenes oder extrinsisches Asthma. Bei der endogenen oder intrinsischen Form kann ein auslösendes Agens bereits bei Erstkontakt ohne erhöhte IgE-Konzentration einen Anfall auslösen. Durch die chronische Entzündung, das begleitende Ödem, die übermäßig kontrahierte Bronchialmuskulatur und die vermehrte Schleimproduktion kommt es zur Obstruktion. Folgen der chronischen Entzündung sind zunehmende degenerative Veränderungen des Alveolarepithels, Hypertrophie der Bronchialmuskulatur, Vermehrung der Schleim bildenden Drüsen und Fibrosierung der Bronchialschleimhaut. Dieser Prozess wird auch als Remodelling bezeichnet.
22
Diagnostik Eine ausführliche Anamnese, vor allem in Bezug auf Symptome und Allergien, sowie eine Spirometrie erlauben häufig eine sichere Diagnose. Hierbei sind das FEV1 und der PEF als Ausdruck der Obstruktion erniedrigt. Ein Anstieg des FEV1 im Bronchospasmolyse-Test um mehr als 15 % ist ein Hinweis für Asthma. Tageszeitliche Schwankungen der Messwerte um mehr als 15 % sind ebenfalls krankheitstypisch. Allgemein findet sich eine erniedrigte FEV1, FVC und PEF bei deutlich erhöhtem Residualvolumen (. Abb. 22.4; . Tab. 22.2).
Therapie ! Die Meidung der den Anfall auslösenden Faktoren hat oberste Priorität.
Die medikamentöse Therapie wird abgestuft durchgeführt: 4 Bei allen Schweregraden erfolgt eine Bedarfsmedikation mit einem E2-Adrenergikum oder Anticholinergikum. 4 In Stufe II werden zusätzlich inhalative Glukokortikoide oder auch Nedocromil als Dauertherapie eingesetzt.
237 22.3 · Restriktive Lungenerkrankungen
4 Bei Schweregrad III erfolgt eine Dosissteigerung der inhalativen Glukokortikoide in Kombination mit einem langwirksamen E2-Adrenergikum plus der Gabe von Theophyllin systemisch als Dauertherapie. 4 Stufe IV umfasst zusätzlich noch die Gabe oraler Glukokortikoide verbunden mit einer nochmaligen Dosissteigerung des inhalativen Kortikoids. Tipps
Anästhesie bei obstruktiven Lungenerkrankungen – so machen wir es: 5 Immer präoperative Optimierung (vor allem bei elektiven Eingriffen) anstreben (ggf. Erlernen atemtherapeutischer Übungen) 5 Fortführung der bestehenden Basistherapie bis unmittelbar präoperativ 5 Eher zurückhaltende Prämedikation, ggf. mit kürzer wirksamen Medikamenten wie z. B. Midazolam 5 Nach Möglichkeit ein regionalanästhesiologisches Ver fahren oder eine Kombination in Verbindung mit einer Vollnarkose wählen (z. B. thorakaler PDK) 5 Narkoseeinleitung mit Propofol oder bei fortgeschrittenen Erkrankungsstadien auch mit Ketamin, Analgesie mit Sufentanil und Muskelrelaxierung mit Cis-Atracurium 5 Aufrechterhaltung der Narkose mittels TIVA oder als Kombinationsnarkose mit Sevofluran als Inhalationsanästhetikum (kein Einsatz von Lachgas) 5 Beatmung mit Inspirations- Exspirationszeitverhältnis (I : E) 1 : 2 bis 1 : 3 entsprechend der bei obstruktiven Lungenerkrankungen verlängerten Ausatemzeit 5 Extubation eher frühzeitig anstreben, wenn keine Intubationsprobleme bestanden haben (Elimination des starken Trachealreizes als Auslöser einer akuten Obstruktion) 5 Verlängerte Beobachtungszeit im Aufwachraum und bei Bedenken bzgl. der Verlegung auf Normalstation großzügige Indikation für Wach-/Intensivstation stellen 5 Schmerztherapie mit vorsichtig titrierten Opioiden nichtsteroidalen Analgetika aufgrund der unter Umständen Asthma auslösenden Eigenschaften vorziehen 5 Postoperative Atemtherapie
22.3
Restriktive Lungenerkrankungen
Alle chronisch verlaufenden Entzündungen des Lungenparenchyms können durch eine Zunahme des Bindegewebes zu einer Fibrose führen. Ursächlich kommen hier Veränderungen an den Alveolen, den Gefäßen oder dem interstitiellen Gewebe infrage (intrinsische Form). Aber auch Veränderungen an der knöchernen oder muskulären Thoraxstruktur wie eine ausgeprägte Skoliose oder neuromuskuläre Erkrankungen können zu einer restriktiven Lungenfunktionsstörung führen (extrinsische Form). Hierzu zählen auch maligne raumfordernde Prozesse.
Diagnostik In der Spirometrie und Bodyplethysmographie findet man allgemein eine Abnahme der Lungenvolumina mit verminderter Compliance und erniedrigter Diffusionskapazität bei normaler bis überdurchschnittlicher FEV1. Im Röntgenbild des Thorax zeigen sich meist nur unspezifische Veränderungen. Mit Fortschreiten der Erkrankungen kann man häufig Begleitkomplikationen wie Pneumonien oder Atelektasen erkennen. Auch eine interstitielle retikuläre Zeichnungsvermehrung ist bei einigen restriktiven Lungenerkrankungen zu sehen. Im Rahmen der zunehmenden Fibrosierung kann es zu einem Zwerchfellhochstand kommen. . Tab. 22.3 gibt einen Überblick über die Vielfältigkeit der Erkrankungen.
Therapie Bei insgesamt sehr eingeschränkten Therapiemöglichkeiten steht das Vermeiden der evtl. auslösenden Noxe im Vordergrund. Optional werden bei entsprechender Erkrankung immunsuppressive Medikamente eingesetzt. Tipps
Anästhesie bei restriktiven Lungenerkrankungen – so machen wir es: 5 Fortführung der bestehenden Basistherapie bis unmittelbar präoperativ 5 Nach Möglichkeit ein regionalanästhesiologisches Verfahren oder eine Kombination in Verbindung mit einer Vollnarkose wählen (z. B. thorakaler PDK) 5 Aufrechterhaltung der Narkose mittels TIVA oder als balancierte Anästhesie mit Sevofluran als Inhalationsanästhetikum (kein Einsatz von Lachgas) 6
22
238
Kapitel 22 · Atemweg- und Lungenerkrankungen
. Tabelle 22.3. Restriktive Lungenerkrankungen Auslösende Ursachen
Beispiele
Erkrankung
Allergische Alveolitiden
Org./anorg. Stäube
Mikroorganismen, tierische Proteine, Pflanzenschutzmittel
Farmerlunge/ Obstspritzerlunge
Alveolitiden/Fibrosen
Anorg. Stäube
Quarzstaub, Asbest
Pneumokoniosen wie z. B. Silikose, Asbestose
Pharmaka
Zytostatika (z. B. Bleomycin)
Ionisierende Strahlung
Therapeutische Bestrahlung von Karzinomen
Strahlenfibrose
Idiopathisch
Autoimmunerkrankung (?), genetisch assoziiert (?) etc.
Sarkoidose, Vaskulitiden
Herzinsuffizienz
Kardiomyopathien
Stauungslunge
SIRS/Sepsis
Entzündungsmediatoren
ARDS
5 Während der Beatmung hohe Spitzendrücke vermeiden (kleines AZV, höhere Atemfrequenz) 5 Verlängerte Beobachtungszeit im Aufwachraum und bei Bedenken bzgl. der Verlegung auf Normalstation großzügige Indikation für Wach-/ Intensivstation stellen 5 Postoperative Atem- und ggf. Sauerstofftherapie
22.4
Schlaf-Apnoe-Syndrom
Pathogenese der häufigeren obstruktiven Form Durch einen übermäßigen Tonusverlust der pharyngealen Muskulatur während des Schlafs kommt es zu einer relativen Enge im Bereich der oberen Luftwege und damit zur Obstruktion. Der durch Hypoxie und Hyperkapnie gesteigerte Atemantrieb führt durch verstärkte Kontraktion der Atemmuskulatur zu einem negativen pharyngealen Atemwegdruck und damit zu einer Verstärkung der Obstruktion. Durch die darauf folgende Aufwachreaktion erhöht sich rasch der Tonus der oropharyngealen Muskulatur und beendet die Obstruktion und damit die Apnoe.
Definition Das Schlaf-Apnoe-Syndrom (OSAS) ist gekennzeichnet durch nächtliche Apnoephasen mit konsekutiver Hypoxämie. Hierbei beträgt die Apnoezeit mehr als 10 s und ist mit einem Abfall der Sauerstoffsättigung von mindestens 4 % verbunden. 30 oder mehr Ereignisse dieser Art während eines 7-stündigen nächtlichen Schlafs werden als Schlaf-Apnoe bezeichnet. 3 Formen der Schlaf-Apnoe können unterschieden werden: 1. Zentrale Schlaf-Apnoe (10 %): Ausfall des zentralnervösen Atemantriebs und der Atemkontrolle 2. Obstruktive Schlaf-Apnoe (85 %): Erfolglose Atemanstrengungen bei erhaltenem zentralnervösem Atemantrieb 3. Gemischte (zentr./obstrukt.) Schlaf-Apnoe (5 %): Zentral beginnende Schlaf-Apnoe, gefolgt von einer obstruktiven Phase
22
Diagnostik In erster Linie ist die Anamnese wegweisend. Berichtet ein Patient allgemein über »schlechten Schlaf« oder ausgeprägte Tagesmüdigkeit und Leistungsabfall, so ist eine genauere Anamnese unter Umständen mit beobachtenden Angehörigen erforderlich. In Zweifelsfällen ist eine Untersuchung in einem Schlaflabor zu erwägen.
Therapie In erster Linie ist von sedierenden Medikamenten und Alkohol abzuraten. Eine nächtliche Therapie mittels Continuous positive airway pressure (CPAP) ist ferner Mittel der Wahl. Durch den Überdruck kann wirksam dem Tonusverlust der pharyngealen Muskulatur und der damit verbundenen Obstruktion entgegengewirkt werden. Bei pathologisch-anatomischem Korrelat und Schlaf-Apnoe kann eine chirurgische Intervention Erfolg versprechend
239 Literatur
sein. Medikamentöse Therapien sind derzeit eher ohne relevante Bedeutung. Tipps
Anästhesie bei Schlaf-Apnoe-Syndrom – so machen wir es: 5 Patienten mit präoperativem Verdacht auf SchlafApnoe werden wie eine gesicherte Diagnose behandelt, falls keine Diagnostik mehr möglich ist 5 Prämedikation z. B. mit Clonidin (keine Benzodiazepine verwenden) 5 Nach Möglichkeit ein regionalanästhesiologisches Verfahrens oder eine Kombination in Verbindung mit einer Vollnarkose wählen (z. B. thorakaler PDK) 5 Zurückhaltende Gabe von sedierenden und muskelrelaxierenden Medikamenten während der Narkose (ggf. Monitoring der Narkosetiefe und Relaxometrie) 5 Intraoperativer Beginn der Schmerztherapie mit nichtsteroidalen Analgetika E Extubation erst bei adäquat reagierendem Patienten vornehmen 5 Verlängerte Beobachtungszeit im Aufwachraum und bei Bedenken bzgl. der Verlegung auf Normalstation großzügige Indikation für Wach-/ Intensivstation stellen 5 Postoperative Atemtherapie und – falls vorhanden – Einsatz des eigenen CPAP-Geräts sicherstellen
Literatur Astner ST, Huber RM (2001) Arzneimitteltherapie obstruktiver Lungenerkrankungen. Internist 42: 1040–1049 Bremerich DH (2000) Anästhesie bei Asthma bronchiale. Anästhesiol Intensivmed Notfallmed Schmerzther 35: 545–558 Dieterich HJ, Unertl K (2002) Was, wann , wie … Risikoabklärung und -aufklärung in der Anästhesie. Anaesthesist 51: 703 Kardos P (2004) Chronisch obstruktive Lungenerkrankung (COPD): Aktuelle Diagnostik und Therapie. Dtsch Med Wochenschr 129: 490–493 Kroegel C (2004) Die »Globale Initiative für chronisch-obstruktive Lungenerkrankungen« (GOLD). Aktualisierung der GOLD-Empfehlungen. Pneumologie 58: 65–68 Lingnau W, Strohmenger HU (2002) Die Verantwor tung des Anästhesisten in der präoperativen Risikoabklärung. Anaesthesist 51: 704–715 Max M, Dembinski R (2000) Pulmonaler Gasaustausch in Narkose. Anaesthesist 49: 771–783 Seeger W (1999) Pneumologie. Internist 40: 391–400
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22
23 Perioperatives Management von Diabetespatienten in der Anästhesie Sabine Remppis 23.1 Definition Diabetes –242 23.2 Klassifikationen –242 23.2.1 23.2.2 23.2.3 23.2.4
Diabetes mellitus Typ 1 –242 Diabetes mellitus Typ 2 –242 Andere spezifische Diabetestypen –242 Gestationsdiabetes –243
23.3 Physiologie des Insulins –243 23.3.1 23.3.2 23.3.3 23.3.4
Insulinwirkungen –243 Wechselwirkungen –243 Insulinpräparationen –243 Insulintherapieschemata –244
23.4 Orale Antidiabetika –244 23.4.1 23.4.2 23.4.3 23.4.4
Insulinsekretionsförderer (Agoga) –244 Biguanide –244 Verzögerung der Kohlenhydratresorption im Darm –244 Glitazone –245
23.5 Folgeerkrankungen und Komplikationen des Diabetes mellitus –245 23.6 Perioperatives Management –245 23.6.1 Allgemeine Übersicht über die verschiedenen intravenösen Insulinapplikationsschemata –246 23.6.2 Typ-1-Diabetiker –247 23.6.3 Typ-2-Diabetiker –248
Literatur –248
242
23
Kapitel 23 · Perioperatives Management von Diabetespatienten in der Anästhesie
23.2.1 Diabetes mellitus Typ 1
)) Diabetes mellitus ist die häufigste Endokrinopathie in den Industrienationen mit weltweit stetiger Zunahme in den letzten Jahrzehnten. Durch Verschärfung der Diagnosekriterien 1997 und durch früheres Screening ist von einer zusätzlichen Zunahme der Diagnosestellung eines Diabetes mellitus auszugehen. Bewegungsmangel, Fehl- und Überernährung sind inzwischen schon bei Kindern und Jugendlichen weit verbreitet, sodass mit einem Anstieg der Patientenzahl mit metabolischem Syndrom und Diabetes mellitus Typ 2 zu rechnen ist. Durch die vorhandenen Spätschäden und die Multimorbidität eines Diabetikers sind Operationsindikationen häufiger zu stellen als bei Nicht-Diabetikern, vor allem für bestimmte Eingriffe wie Gefäßbypässe, Gangränoperationen, Amputationen, Dialyseshunts, Nierentransplantationen, Augenoperationen etc. Aufgrund der diabetesbedingten Komplikationen sind die postoperative Mortalität und Morbidität erhöht. ! Diabetes mellitus Typ 1: Im Durchschnitt ca. 0,5 % der Bevölkerung, Erstdiagnose im 15.–24. Lebensjahr; F = M Diabetes mellitus Typ 2: Im Durchschnitt ca. 5 % der Bevölkerung Erstdiagnose 1 % im Alter < 50 Jahre, 10 % im Alter > 65 Jahre; F > M, zu 80 % sind die Patienten übergewichtig.
23.1
Definition Diabetes
Diabetes mellitus ist der Sammelbegriff für heterogene Störungen des Stoffwechsels mit chronischer Hyperglykämie. Ursache ist ein absoluter oder relativer Insulinmangel, d. h. eine gestörte Insulinsekretion oder eine gestörte Insulinwirkung oder auch beides.
23.2
Klassifikationen
1997 revidierte die Amerikanische Diabetes Gesellschaft (ADA) die Kriterien zur Diagnose des Diabetes mellitus und bestätigte diese 1999. Im Jahre 2000 wurden diese von der WHO und der Deutschen Gesellschaft für Diabetes (DDG) im Einverständnis übernommen. In dieser neuen Klassifikation wird Wert auf eine ätiologisch basierte Nomenklatur gelegt und deshalb bewusst auf die Begriffe Insulin-abhängiger Diabetes mellitus (IDDM) und nicht-Insulin-abhängiger Diabetes mellitus (NIDDM) verzichtet.
Dem Typ-1-Diabetes liegt ein absoluter Insulinmangel durch B-Zell-Destruktion zugrunde. Als Ursachen für die Zerstörung des B-Zell-Apparates kommen hauptsächlich immunologische Faktoren (Typ 1 A), aber auch unbekannte Ursachen (Typ 1 B) in Frage.
23.2.2 Diabetes mellitus Typ 2 Der Typ-2-Diabetes mellitus zeichnet sich durch einen relativen Insulinmangel bei Insulinresistenz aus, der durch einen sekretorischen Defekt aggraviert sein kann. Es liegen also zum einen eine gestörte Insulinsekretion und zum anderen eine Insulinresistenz als Pathomechanismus zugrunde. Eine genetische Determinierung mit hoher Penetranz ist vorhanden. Weiter spielen Risikofaktoren wie Übergewicht, mangelnde körperliche Bewegung, falsche Ernährung sowie höheres Lebensalter eine wichtige Rolle, welche die Entstehung eines Typ-2-Diabetes begünstigen. Dabei gilt die Stammfettsucht als unabhängiger Risikofaktor für die Manifestation eines Typ-2-Diabetes. Das metabolische Syndrom, auch Syndrom X, Wohlstandssyndrom oder Insulinresistenz-Syndrom genannt, benennt das Zusammentreffen von Glukoseintoleranz oder Typ-2-Diabetes, Stammfettsucht, Dyslipoproteinämie, essenzieller Hypertonie und Hyperurikämie.
23.2.3 Andere spezifische Diabetestypen Weitere Diabetestypen sind: 4 Genetische Defekte der B-Zell-Funktion (früher als MODY = maturity-onset diabetes of the young bezeichnet) 4 Genetischen Defekte der Insulinwirkung (selten, früher Typ-A-Insulinresistenz genannt) 4 Immunvermittelter Diabetes (selten, z. B. Antiinsulinrezeptor-AK) 4 Erkrankungen des exokrinen Pankreas (= pankreatopriver Diabetes z. B. Neoplasie, Pankreatitis, Trauma, Hämochromatose/»Bronzediabetes«, zystische Fibrose) 4 Andere genetische Syndrome, die gelegentlich mit Diabetes vergesellschaftet sind (z. B. Down-Syndrom, Turner-Syndrom, Friedreich Ataxie, Chorea Huntington, Klinefelter-Syndrom etc.) 4 Medikamenten- oder chemikalieninduziert (z. B. E-Adrenergika, Glukokortikoide (»Steroiddiabetes«), Wachstumshormon (STH), Thiazide, Schilddrüsenhormone, Östrogene, Glukagon)
243 23.3 · Klassifikationen
4 Spezifische virale Infektionen, die zu einer Zerstörung der B-Zellen führen können (CMV, Röteln, Coxsackie B, Mumps etc.) 4 Endokrinopathien (Akromegalie, Cushing-Syndrom, Hyperthyreose, Phäochromozytom etc.)
23.2.4 Gestationsdiabetes Unter Gestationsdiabetes versteht man eine unter Schwangerschaft erstmals aufgetretene Hyperglykämie. Er tritt bei ca. 4 % aller Schwangeren auf und verschwindet bei Beendigung der Schwangerschaft. Maternal erhöht sich das Risiko für Schnittentbindungen, Präeklampsie, Harnweginfekte und Hydramnion. Postpartal ist das Risiko für eine spätere Manifestation des Diabetes mellitus bei der Mutter erhöht. Die Neugeborenen sind einer erhöhten perinatalen Morbidität und Mortalität ausgesetzt. Es besteht bei ihnen neben der Embryopathia diabetica und Makrosomie eine erhöhte Inzidenz von Hypoglykämien, Atemnotsyndromen, Hyperbilirubinämien und Hypokalzämien.
23.3
Physiologie des Insulins
Die Eigeninsulinproduktion des Pankreas beträgt ca. 40–50 Einheiten Insulin pro Tag, der Tagesbedarf eines Erwachsenen liegt bei etwa 40 IE. Die Insulinsekretion wird in erster Linie durch den Blutzuckerspiegel reguliert. Zudem fördern bestimmte Hormone sowie Aminosäure- und Fruktosespiegel die Insulinfreisetzung. Die Insulinsekretion erfolgt in Form einer basalen Sekretion, die den Ruhestoffwechsel aufrechterhält, und einer prandialen Bolussekretion zur Verwertung und Speicherung der Glukose aus der Nahrung.
23.3.1 Insulinwirkungen Insulin ist das anabole Hormon des menschlichen Körpers. Es wirkt zum einen direkt anabol durch Steigerung von Glykogensynthese (Leber), Lipidsynthese (Lipozyten) und Proteinsynthese (Muskel), und zum anderen indirekt anabol durch Hemmung des katabolen Stoffwechsels durch Drosselung von Glykogenolyse, Proteinolyse, Glukoneogenese und Lipolyse. Allein Insulin ist bereits in kleinen Mengen in der Lage, eine unkontrollierte Lipolyse zu unterdrücken, die bei absolutem Insulinmangel über die vermehrte E-Oxidation freier Fettsäuren in der Leber zur Anhäufung von Ketonkörpern, und bei Erschöpfung der Puffersysteme zu einer Ketoazidose führt.
Zudem entfaltet Insulin eine direkte Membranwirkung und fördert die Aufnahme von Glukose und Aminosäuren in die Muskel- und Fettzellen. Es beeinflusst außerdem den Elektrolythaushalt insbesondere durch die Transportförderung von Kalium in Leber-, Muskelund Fettzellen. Dieser Effekt wird auch bei der Therapie einer Hyperkaliämie mittels Glukose-Insulin-Infusionen genutzt. Die Halbwertzeit von zirkulierendem Insulin beträgt 4–5 min, die biologische Halbwertzeit liegt bei ca. 20 min. Die Verstoffwechselung von Insulin findet hauptsächlich in Leber (60 %) und Niere (20 %) statt. Daher kann eine Dosisanpassung bei progredienter Leber- und Niereninsuffizienz erforderlich werden.
23.3.2 Wechselwirkungen
Substanzen, die durch Interaktionen den Insulinbedarf modifizieren können: Ein erhöhter Insulinbedarf tritt z. B. auf bei: 5 E-Sympathomimetika 5 Hormone: Kortikoide, Schilddrüsenhormone, Östrogene, Glukagon, STH 5 Diuretika: Thiazide, Schleifendiuretika (z. B. Furosemid) 5 Phenothiazine (z. B. Promethazin – Atosil, Hemmung der Insulinsekretion) 5 Stress, Infektion, Sepsis Ein verminderter Insulinbedarf tritt z. B. auf bei: 5 E-Blocker (Sympathikusblockade) 5 Prostaglandinhemmer (Azetylsalizylsäure; fördern die Insulinsekretion) 5 Alkohol (gehemmte Glukoneogenese) 5 Körperliche Aktivität (erhöhte Insulinsensitivität in den Muskeln) 5 Orales Antidiabetikum (Diabetes mellitus Typ 2)
23.3.3 Insulinpräparationen Es wird heute grundsätzlich mit Humaninsulin therapiert! Der Begriff Altinsulin sollte deshalb nicht mehr verwendet werden, da Altinsulin aus tierischem Insulin hergestellt wurde. Die Insulinpräparate werden je nach Länge ihrer Wirkungsdauer eingeteilt in kurzwirksame, Verzögerungs(Langzeit- oder Intermediärinsuline) und Misch-/Kombinationsinsuline.
23
244
23
Kapitel 23 · Perioperatives Management von Diabetespatienten in der Anästhesie
Kurz wirkende Insuline Normalinsulin: z. B.: Actrapid, Insuman Rapid; Intravenös:
Initialwirkung 5 min, Wirkungsmaximum nach 10 min, Wirkungsdauer 20 min. Subkutan: Initialwirkung 30 min, Wirkungsmaximum nach 1–4 h, Wirkungsdauer: 5–7 h.
Außerdem kommen zur Anwendung die kontinuierliche, subkutane Insulininfusion (CSII) und die kontinuierliche, intraperitoneale Insulininfusion (CIPII) als Insulinpumpentherapie ausschließlich mit Normalinsulin.
23.4
Orale Antidiabetika
Insulinanaloga: Insulin-Lispro (Humalog), Insulin-Aspart
(Novorapid). Raschere Resorption und kürzere Wirkung durch eine veränderte Aminosäurensequenz. Dadurch praktisch kein Spritz-Ess-Abstand, keine Zwischenmahlzeiten. Bei Gastroparese droht Hypoglykämiegefahr.
Verzögerungsinsuline Die verzögerte Insulinfreisetzung und damit die verlängerte Wirkdauer wird durch Koppelung an eine schwer lösliche Substanz (z. B. Zink, Protamin, Surfen etc.) erreicht. Daher keine i.v.-Gabe. Die Resorptionsquote ist abhängig von der Injektionsstelle.
Intermediärinsuline NPH-Insuline (Neutrale-Protamin-Hagedorn-Insuline): z. B. Huminsulin Basal, Insuman Basal. Initialwirkung: 45– 90 min, Wirkungsmaximum nach 4–10 h, Wirkungsdauer 10–20 h.
23.4.1 Insulinsekretionsförderer (Agoga) Sulfonylharnstoffe, z. B. Glibenclamid (Euglucon), Glime-
pirid (Amaryl), zeigen pankreatisch einen E-zytotropen Effekt im Sinne einer gesteigerten Insulinfreisetzung (nicht Synthese), extrapankreatisch eine Hemmung der hepatischen Glukoseproduktion, Verminderung der Insulinrezeptor-Downregulation und eine Erhöhung der Sensibilität der Insulinrezeptoren für Insulin. Die HWZ von Glibenclamid beträgt 10–16 h, bei hepatischer Metabolisierung und renaler Exkretion. Glinide, z. B. Repaglinide (Novonorm), Nateglinide (Starlix), bewirken bei Einnahme zu den Mahlzeiten durch Blockade der ATP-sensitiven Kaliumkanäle eine kurzfristige Insulinsekretion.
23.4.2 Biguanide
Langzeitinsuline Beispielsweise Ultratard HM (Insulin-Zink-Kristalle) oder das Insulinanalogon Glargin (Lantus). Initialwirkung 1– 4 h, Wirkungsmaximum 7–20 h, Wirkungsdauer 20–36 h, Steady state erst nach 3–5 Tagen.
Kombinationsinsuline Beispielsweise Actraphane 30/70 (Normal-/NPH-Insulin). Die Wirkung ist abhängig vom Normal- und Verzögerungsinsulinanteil, Initialwirkung 15–60 min, Wirkungsmaximum nach 2–12 h, Wirkungsdauer 20–30 h.
23.3.4 Insulintherapieschemata Konventionelle Insulintherapie (CT): 2–3 Injektionen pro
Hierzu gehört der Wirkstoff Metformin (Glucophage) mit einer HWZ von 1–4,5 h und renaler Elimination. Die Wirkungen liegen in einer erhöhten Insulinwirkung ohne Insulinplasmaspiegel-Erhöhung (daher bevorzugter Einsatz bei Insulinresistenz und Adipositas [UKPDS]), Lipidsenkung, Hemmung der hepatischen Glukoneogenese und der intestinalen Kohlenhydratresorption. Biguanide haben einen appetitsenkenden Effekt. Durch Anreicherung des Wirkstoffs in der Mitochondrienmembran besteht die Gefahr einer Laktatazidose. Daher wird derzeit empfohlen, Metformin 2 Tage vor und nach elektiven Eingriffen bzw. vor und nach Gabe von Röntgenkontrastmitteln abzusetzen. Absolute Kontraindikation: Niereninsuffizienz.
Tag mit Intermediär- oder Kombinationsinsulin bei starrem Mahlzeitenregime.
23.4.3 Verzögerung der
Intensivierte konventionelle Insulintherapie (ICT): Nach dem Basis-Bolus-Konzept (BBK) wird der Basalbedarf (40–50 % der Insulintagesdosis) über ein Intermediärinsulin abgedeckt und der prandiale Bedarf (die restlichen 50–60 % der Insulintagesdosis) über Bolusgaben mit Normalinsulin.
α-Glukosidase-Inhibitoren, z. B. Acarbose (Glucobay), verzögern die Glukoseresorption durch kompetitive Hemmung der intestinalen D-Glukosidasen. Es kommt zur Reduzierung postprandialer Blutzucker-Spitzen. Guargummi (z. B. Glucotard) quillt mit Wasser und führt dadurch zu einem hochviskösen Nahrungsbrei. Da-
Kohlenhydratresorption im Darm
245 23.5 · Folgeerkrankungen und Komplikationen des Diabetes mellitus
durch kommt es zu verzögerter Glukoseresorption und der Reduzierung postprandialer Blutzucker-Spitzen.
23.4.4 Glitazone Zu nennen sind hier Troglitazon (mittlerweile vom Markt genommen); Pioglitazon (Actos), Rosiglitazon (Avandia). Die Wirkung beruht auf einer Verbesserung der Insulinsensitivität der peripheren Zellen.
23.5
Folgeerkrankungen und Komplikationen des Diabetes mellitus
Der diabetische Patient hat gegenüber der Normalbevölkerung ein mindestens 10fach erhöhtes Risiko für kardiovaskuläre Erkrankungen. Darüber hinaus ist er – abhängig von der Natur des Eingriffs und nicht zuletzt durch eine Änderung seiner Diabetesbehandlungsroutine – perioperativ besonderen Risiken wie Blutzuckerentgleisungen und Störungen des Wasser-, Säure-/Basen- und Elektrolythaushalts ausgesetzt. Die Mikro- und Makroangiopathie des kardiovaskulären und renalen Systems, des Nervensystems sowie der Augen sind schwerwiegende Langzeitkomplikationen des Diabetes und verantwortlich für die erhöhte Morbidität und Mortalität. Außerdem bestehen eine gesteigerte Infektanfälligkeit und erhöhte Inzidenz von Wundheilungsstörungen, die neben der meist bestehenden pAVK durch eine gestörte zelluläre Infektabwehr begünstigt werden. Es ist daher eine perioperative Antibiose in Erwägung zu ziehen. Bei abdominalchirurgischen Eingriffen kommt es zur beeinträchtigten Anastomosenheilung. Weiterhin besteht bei 20–40 % der Diabetiker eine autonome Neuropathie, die zu verschiedenen klinischen, anästhesierelevanten Erscheinungsformen führt: 4 Ösophagus-Atonie und verminderter Druck im unteren Sphinkter, Gastroparese und verlangsamte MDP mit erhöhtem Regurgitations- und Aspirationsrisiko daher ggf. RSI 4 Herzfrequenzstarre mit reduziertem Herzfrequenzanstieg unter Belastung (Valsalvamanöver), Ruhetachykardie, orthostatische Hypotension, stumme Myokardischämien, Bradykardien, Herzstillstand 4 Reduzierte hormonelle Gegenregulation (Glukagon, Adrenalin) bei Hypoglykämiephasen mit fehlendem Hypoglykämieempfinden 4 Hinweise auf respiratorische Störungen mit zentraler Atemfehlregulation (fehlende physiologische reflektori-
sche Hyperventilation bei Hypoxie und Hyperkapnie, gehäuft Apnoephasen im Schlaf sowie Störungen des Atemmusters) 4 Blasenatonie, Blasenentleerungsstörungen Neben der autonomen Neuropathie gibt es auch noch die periphere Polyneuropathie (PNP), welche durch einen Verlust des Vibrationsempfindens und des Achillessehnenreflexes gekennzeichnet ist. Sie begünstigt trophische Störungen wie z. B. das diabetische Fußsyndrom. Durch die PNP kann die Beurteilung der Relaxometrie erschwert sein. Regionalanästhesien können bei bestehender PNP aus forensischer Sicht problematisch sein. Bis zu 60 % der erwachsenen Diabetiker haben eine koronare Herzerkrankung (KHK) und 30–60 % weisen einen arteriellen Hypertonus auf. Alle Diabetiker sollten deshalb als kardiale Risikopatienten gelten. Das Risiko eines postoperativen Nierenversagens ist bei diabetischen Patienten deutlich erhöht. Dieses wird durch die intrinsische diabetische Nephropathie (Kimmelstiel-Wilson-GN) begünstigt und kann durch aufsteigende Harnweginfekte, Volumenmangel oder labile Blutdruckverhältnisse aggraviert werden. Weitere, diabetesbedingte Risikofaktoren sind: 4 Ggf. erschwerte Intubation durch verminderte Beweglichkeit des Atlantookzipitalgelenks sowie der Larynxregion (»Stiff-joint-syndrome« oder »Limited joint mobility syndrome«) insbesondere bei lange bestehendem Diabetes. Als Ursache vermutet wird eine Glykosylierung von Gewebeproteinen, die zu abnormer Vernetzung von Kollagen führt. 4 Postoperativ veränderte Hypoglykämiewahrnehmung 4 Stoffwechselentgleisung durch Operationsstress oder durch postoperative parenterale Ernährung 4 Aktivierung der Blutgerinnung mit Thromboseneigung 4 Diabetische Retinopathie, begünstigte Kataraktbildung 4 Insgesamt erhöhte Komorbidität 4 Koma – Diabetes mellitus Typ 2: Hyperosmolares Koma – Diabetes mellitus Typ 1: Ketoazidotisches Koma
23.6
Perioperatives Management
Das Vorgehen richtet sich nach dem Diabetestyp, der aktuellen metabolischen Situation, dem zu erwartenden Operationstrauma, den evtl. bestehenden Organschäden und der Dauer der perioperativen Nahrungskarenz. Dabei steht
23
246
23
Kapitel 23 · Perioperatives Management von Diabetespatienten in der Anästhesie
die Gefahrenabwendung durch Stoffwechselentgleisungen im Vordergrund. Der Ziel-Blutzuckerwert liegt bei 100– 180 mg/dl. Die strengen Anforderungen der Dauertherapie sind von untergeordneter Bedeutung. Eine Ausnahme bildet hier der kritisch kranke Patient auf der Intensivstation. Hier kann eine straffe Blutzucker-Einstellung (80–110 mg/ dl) die Mortalität bei septischen Patienten senken. Trotz der Häufigkeit von Diabetikern als chirurgische Patienten gibt es kein allgemeingültiges Vorgehen bzw. keine anästhesiologischen Leitlinien. Grundsätzlich gilt, dass dem Typ-1-Diabetiker und auch dem insulinpflichtigen Typ-2-Diabetiker unabhängig vom Schweregrad des chirurgischen Vorgehens Insulin zugeführt werden sollte. ! Diabetiker sollten frühmorgens, an 1. Stelle des OP-Plans operiert werden, um eine unnötig lange Nahrungskarenz zu vermeiden und – soweit möglich – eine frühe Normalisierung der Nahrungsaufnahme (PONV-Prophylaxe!) erfahren, um ihr gewohntes Therapieregime wieder aufnehmen zu können.
Diabetiker müssen perioperativ engmaschig, d. h. in 1–2-stündlichen Intervallen blutzuckerkontrolliert werden. Vor Narkoseeinleitung muss ein aktueller BZ-Wert vorliegen. Intraoperativ muss der Blutzucker mindestens stündlich kontrolliert werden, da die klinischen Symptome einer Blutzuckerentgleisung je nach Narkoseform unterschiedlich stark unterdrückt sein können. Postoperativ (z. B. im Aufwachraum) ist die gewohnte Hypoglykämiewahrnehmung durch die Restsedierung eingeschränkt. Auf der Intensivstation erfolgt die Insulingabe intravenös mittels Perfusor. Auf Normalstation ist eine zügige Reoralisierung und Wiederaufnahme des gewohnten Diabetes-Therapieregimes unter Fortführung einer engmaschigen Blutzuckerkontrolle anzustreben.
23.6.1 Allgemeine Übersicht über
die verschiedenen intravenösen Insulinapplikationsschemata G(L)IK/Alberti-Regime Der Standardansatz für die perioperative Glukose-InsulinKalium-Infusion (GIK/GLIK) bzw. das so genannte Alberti Regime ist: 500 ml Gluc 10 % + 10 mmol KCl + 10 IE Normalinsulin bei einer Laufrate von 80–100 ml/h. Dieser Standardansatz muss an die Gegebenheiten des Patienten angepasst werden. Initial sollten Blutzucker, Elektrolyte, Nierenfunktion und täglicher Insulinbedarf bekannt sein. Darüber hinaus ist auf Zeichen einer Herzinsuffizienz zu achten.
Faustregeln zum Abschätzen des Insulinbedarfs sind: 4 Erhöhung des Insulinzusatzes, z. B. auf 20 IE Normalinsulin, bei adipösen Patienten mit einem BMI > 30. 4 Erniedrigung des Insulinzusatzes, z.B. auf 6–8 IE Normalinsulin, bei leptosomen Patienten mit einem BMI < 20, bei Patienten mit einem Insulinbedarf < 20 IE/ Tag sowie bei ausgeprägter Niereninsuffizienz (Insulin wird zu 20 % in Tubulusepithelzellen metabolisiert). ! Der Blutzucker muss stündlich kontrolliert werden und ggf. der Ansatz geändert werden: – BZ < 90 mg/dl oalten Ansatz verwerfen, neuer Ansatz mit 4 IE weniger Normalinsulin – BZ 90–200 mg/dl oTherapie fortsetzen – BZ > 200 mg/dl oalten Ansatz verwerfen, neuer Ansatz mit 4 IE mehr Normalinsulin ! Das Serumkalium sollte nach 4 und nach 8 h kontrolliert und der Ansatz ggf. korrigiert werden: – Serumkalium 3,5–5 mmol/l oAnsatz belassen – Serumkalium > 5 mmol/l oKaliumfreier Ansatz – Serumkalium < 3,5 mmol/l oAnsatz mit 20 mmol KCL
Liegt eine stabile Situation vor, so kann die nächste Kaliumkontrolle erst in 24 h erfolgen. Es empfiehlt sich ebenfalls, den Natriumspiegel mitzubestimmen, da sich durch die Zufuhr freien Wassers durch eine Glukoseinfusion eine Verdünnungshyponatriämie einstellen kann. Bei ausgeprägter Herzinsuffizienz mit der Gefahr der Volumenüberladung und der kardialen Dekompensation ist eine höher konzentrierte Glukoseinfusion (z. B. Glukose 50 %) über einen zentral venösen Zugang zu überlegen. Bei Patienten mit Hypovolämie oder Hyponatriämie kann zusätzlich Kochsalzlösung (z. B. NaCl 0,9 %) infundiert werden. Vorteile des GIK Schemas sind 4 eine hohe Patientensicherheit durch gleichzeitige Applikation von Insulin und Glukose, dadurch auf der Normalstation durchführbar (bei getrennter Infusion besteht eine höhere Gefahr der Blutzuckerentgleisung), 4 die leichte Umsetzbarkeit sowie der 4 geringe apparative Aufwand (Infusomat) Nachteile des GIK Schemas sind 4 hohe Kosten, da bei jeder Therapieänderung ein neuer Ansatz erforderlich ist, 4 Begrenzung der Therapie auf max. 48 h.
247 23.6 · Perioperatives Management
Getrenntes Infusionsregime für Glukose und Insulin Bei dem getrennten Infusionsregime für Glukose und Insulin handelt es sich um ein flexibleres Konzept als das GIK Regime. Der apparative Aufwand und damit die Fehleranfälligkeit sind gegenüber dem GIK Regime erhöht. Es werden neben dem Infusomaten mit der Glukoselösung (ggf. mit KCl im Ansatz) ein Insulinperfusor und ein 3-WegeHahn benötigt. Der Ansatz des Insulinperfusors sollte 1 IE Normalinsulin pro ml betragen (eine 50-ml-Perfusorspritze enthält dann 50 IE Normalinsulin, die übrige Flüssigkeit stellt NaCl 0,9% dar). Praktisches Vorgehen: Es gelten die gleichen Grundsätze bzgl. des Ansatzes, der Infusionsmenge und der Überwachungsfrequenz wie die bereits unter dem Punkt »G(L)IK/ Alberti-Regime” beschriebenen (Infusomat: 500 ml Glukose 10 % + 10 mmol KCl auf 80–100 ml/h, Perfusoransatz: s.o.). Die Insulinperfusor-Laufgeschwindigkeit beträgt i.d.R. in Abhängigkeit vom Blutzucker 0,5–6 ml/h [IE/h] ! Der Glukosebedarf eines Erwachsenen liegt bei 1,2– 2,4 mg/kg KG/min. Kinder benötigen ca. 5 mg Glukose/ kg KG/min.
Rechenbeispiel: Patient mit 70 kg KG, Ziel: 5–10 g Glukose/h = 100ml/h Glukose 5–10 %. Der Insulinbedarf liegt bei 0,3–0,4 IE Normalinsulin/g Glukose/h. Bei dem obigen Rechenbeispiel macht das 2–4 IE Normalinsulin/h. Vorteile des getrennten Infusionsregimes sind: 4 ein flexibles Konzept, 4 genaue Blutzuckereinstellung, 4 es müssen keine Ansätze vor Verbrauch verworfen werden und 4 das Konzept ist einfach zu bedienen. Nachteile des getrennten Infusionsregimes sind: 4 eine niedrigere Patientensicherheit durch deutlich erhöhte Fehleranfälligkeit (z. B. Glukoseinfusion ist zu Ende, Insulinperfusor läuft weiter; 3 Wegehahn steht falsch usw.), 4 ein erhöhter apparativer Aufwand, 4 das Konzept ist auf der Normalstation praktisch nicht anwendbar.
Übergang von intravenösem Glukose-/ Insulin Regime auf Nahrungsaufnahme und s.c. Insulingabe Das Infusionsschema muss bis zur ersten Nahrungsaufnahme beibehalten werden. 1/3 der sonst üblichen Tagesdosis
an Insulin soll 30 min vor der Mahlzeit subkutan appliziert werden.
23.6.2 Typ-1-Diabetiker Der Typ-1-Diabetiker birgt durch seine labile Stoffwechselsituation ein besonderes Gefahrenpotenzial der Blutzuckerentgleisung und des ketoazidotischen Komas. Schlecht eingestellte Typ-1-Diabetiker sollten möglichst 2–3 Tage vor der geplanten Operation stationär aufgenommen werden, um eine adäquate Blutzuckereinstellung vornehmen zu können. Bei gut eingestellten Typ-1-Diabetikern reicht eine stationäre Aufnahme am präoperativen Tag. Der Patient spritzt am Operationsvorabend seine gewohnte Menge Verzögerungsinsulin subkutan, nimmt sein Abendbrot ein und bleibt dann nüchtern für den Eingriff. Die bislang subkutan applizierte Menge Insulin wird am OP-Tag ggf. auf ein intravenöses Therapiekonzept (siehe GIK/Alberti-Regime) umgestellt. Subkutan appliziertes Insulin ist schwer steuerbar, da es intraoperativ einer nicht vorhersehbaren Resorption unterliegt. Typ-1-Diabetiker, die sich großen operativen Eingriffen (z. B. Darmteilresektionen) mit längerer Nahrungskarenz unterziehen müssen, bedürfen postoperativ eines parenteralen Ernährungsregimes über zentralvenöse Zugänge, das im Allgemeinen auf der Intensivstation durchgeführt wird. Hier werden über Spritzenpumpen (Perfusoren) bedarfsgerecht Insulin, Glukose und Kalium getrennt appliziert. : Beispiel 25-jährige Typ-1-Diabetikerin (ED 10/03), Größe 180 cm, Gewicht 63 kg, hat sich beim Snowboarden eine subkapitale Humerusfraktur zugezogen. Intensivierte Insulintherapie mit Novorapid und Lantus. Präoperativ erhält sie Diclofenac und Metamizol als Schmerztherapie. Zusätzlich Omeprazol, Cefuroxim und niedermolekulares Heparin. Bis zur OP am nächsten Tag Fortführung der gewohnten Insulintherapie einschließlich der vollen Lantus-Dosis am Abend. Ab 24:00 Uhr Nahrungskarenz. Vor Narkoseeinleitung um 11:30 Uhr gemessener Nü-BZ 110 mg/dl. TIVA-Narkose mit Propofol und Sufentanil, Cis-Atracurium zur Relaxation. Flüssigkeitszufuhr mit insgesamt 2000 ml NaCl. Intraoperativ um 12:30 Uhr gemessener BZ 100 mg/ dl. Narkoseende um 13:10 Uhr, um13:45 Uhr BZ 95 mg/dl, stündliche BZ-Kontrollen weiter im AWR und auf Station. 14:30 Uhr BZ 97 mg/dl, 16:10 Uhr BZ 75 mg/dl. 17:10 Uhr Beginn der Nahrungsaufnahme und der Insulintherapie nach Schema.
23
248
23
Kapitel 23 · Perioperatives Management von Diabetespatienten in der Anästhesie
23.6.3 Typ-2-Diabetiker
Mit Insulin eingestellter Typ-2-Diabetiker
Der Typ-2-Diabetiker ist von der Stoffwechsellage her als stabil einzuschätzen und im Gegensatz zum Typ-1-Diabetiker durch seine Restinsulinsekretion nur in Ausnahmefällen durch eine ketoazidotischen Entgleisung bedroht. Besteht der begründete Verdacht, dass es perioperativ zu Blutzuckerentgleisungen kommen wird, sei es durch die Größe des zu erwartenden Operationstraumas und der evtl. damit verbundenen Nahrungskarenz oder durch die bisher unzureichende Diabeteseinstellung, so ist bereits mehrere Tage vor dem geplanten Eingriff eine Blutzuckereinstellung mit Insulin durchzuführen.
Der mit Insulin eingestellte Typ-2-Diabetiker spritzt in gewohnter Weise seine abendliche Verzögerungsinsulindosis und nimmt sein Abendbrot ein. Die morgendliche Dosis an Verzögerungsinsulin wird halbiert und der Patient wird weiterhin mittels intravenösem Glukose/Insulin Schema behandelt. Andere Quellen empfehlen, die abendliche Verzögerungsinsulindosis auf 50–75 % zu reduzieren und morgens direkt, d. h. ohne Verzögerungsinsulingabe mit intravenöser Glukose/Insulin-Infusion zu beginnen. Dieses Vorgehen ist sonst nur bei großen operativen Eingriffen mit langer OP-Dauer und entsprechender Nahrungskarenz erforderlich.
Diätetisch eingestellter Typ-2-Diabetiker Der diätetisch eingestellte Typ-2-Diabetiker benötigt in aller Regel keine weitere besondere Therapie des Diabetes. Dennoch empfiehlt sich auch hier die Erstellung von perioperativen Blutzuckertagesprofilen.
Mit oralen Antidiabetika eingestellter Typ-2-Diabetiker Typ-2-Diabetiker mit oraler Antidiabetikamedikation bedürfen nach Art der Medikation und des geplanten Eingriffs einer differenzierten Vorgehensweise. Das Biguanid Metformin ist 48 h vor und nach operativen Eingriffen sowie einer Kontrastmittelgabe, abzusetzen. Letal verlaufende Laktatazidosen unter Biguaniden sind vor allem für die äußerst lipophile Vorläufersubstanz des Metformins, das Phenformin beschrieben. Da Metformin deutlich weniger lipophil ist, und daher eine geringere Bindung an die Mitochondrienmembran aufweist, ist nach ca. 12 h von keiner Wirkung auf die Atmungskette mehr auszugehen. Aus forensischer Sicht wird die oben genannte 48Stunden-Grenze derzeit jedoch noch empfohlen. Sulfonylharnstoffe wie z. B. das gängige Glibenclamid (Euglucon) sind mindestens am Operationsvortag abzusetzen. Durch die lange Halbwertszeit von Glibenclamid wird teilweise empfohlen, es 2 Tage präoperativ abzusetzen, um intraoperative Hypoglykämien zu vermeiden. Überlappend kann dann beispielsweise eine Therapie mit kurzwirksamen Sulfonylharnstoffen der ersten Generation, z. B. Tolbutamid (Artosin), durchgeführt werden. Bei schlechter Blutzuckerkontrolle ist ggf. ein subkutanes oder intravenöses Insulintherapiekonzept zu er wägen (siehe z. B. GIK Schema). Vor großen operativen Eingriffen mit langer Nahrungskarenz ist ohnehin eine Umstellung des bislang mit oralen Antidiabetika behandelten Diabetikers auf Insulin erforderlich.
! Wichtig sind regelmäßige Blutzuckerkontrollen, um Stoffwechselentgleisungen rechtzeitig zu bemerken und damit gar nicht erst entstehen zu lassen. Der Typ-1-Diabetiker und der mit Insulin eingestellte Typ-2-Diabetiker benötigen Insulin, um Glukose verwerten zu können. Kaliumkontrollen nicht vergessen!
Literatur Alber ti KGMM (1991) Diabetes and surgery, Anesthiology 74: 209– 211 Behlen-Wilm U, Wilm S (2003) Diabetische Gastropathie – viel mehr offene Fragen als Antwor ten, Z. Allg. Med. 79: 294–298 Bergmann A, Dietrich H, Schulze J: Die perioperative Diabetikerbetreuung, Ärzteblatt Sachsen 4/2001 Brüssel T (1994) Anästhesie und Diabetes mellitus, Anaesthesist 43: 333–346 Deutsche Diabetes-Gesellschaft (DDG), Definition, Klassifikation und Diagnostik des Diabetes mellitus, Stand Juli 2001 Dütsch M, Hilz MJ, Neundör fer B (2001) Klinik und Diagnose der diabetischen autonomen Neuropathie, Fortschr Neurol Psychiat 69: 423–438 Greet van den Berghe et al. (2001) Intensive insulin therapy in critically ill Patients, N Engl J Med Vol. 345, No. 19: 1359–1367 Herold G, Innere Medizin 2003, Selbstverlag McAnulty GR, Robertshaw HJ, Hall GM (2000) Anaesthetic management of patients with diabetes mellitus, Br J Anaesth 85: 80–90 Sajan PG, Jakob R (2003) Predictability of Air way evaluation indices in Diabetic Patients. Indian J Anaesth 47(6): 476–478 Schneider CA, Gallwitz B et al. (2004) Hyperglykämie und kardiovaskuläre Erkrankungen, Dtsch Med Wochenschr 129: 2553–2557
24 Nierenerkrankungen Mathias Haller 24.1 Ursachen der Nierenfunktionsstörung –250 24.1.1 Akutes Nierenversagen –250 24.1.2 Chronische Niereninsuffizienz –250
24.2 Perioperative Behandlung des Patienten mit Niereninsuffizienz –252 24.2.1 Präoperative Vorbereitung –252 24.2.2 Narkose –252
Literatur –256
250
Kapitel 24 · Nierenerkrankungen
))
24
Bei der anästhesiologischen Behandlung von Patienten mit Nierenerkrankungen spielen weniger die Art und Ursache der renalen Grundkrankheit eine Rolle als das Ausmaß der Nierenfunktionsstörung. Die Palette reicht von marginalen, kaum klinisch relevanten Störungen bis zur terminalen dialysepflichtigen Niereninsuffizienz. Im Rahmen der Narkose und der perioperativen Behandlung muss der Einfluss der Nierenfunktionseinschränkung auf die Pharmakologie der verwendeten Medikamente beachtet werden. Bei Patienten mit kompensierter Nierenfunktionsstörung muss eine weitere Verschlechterung der Nierenfunktion möglichst vermieden werden. Bei chronischen Dialysepatienten ohne Restausscheidung tritt dieses Therapieziel in den Hintergrund.
24.1
Ursachen der Nierenfunktionsstörung
24.1.1 Akutes Nierenversagen
Succinylcholin bei der Narkoseeinleitung verstärken die Hyperkaliämie. Serumkaliumkonzentrationen > 6 mmol/l sollten behandelt werden. Ist eine akute Dialyse nicht möglich, kann der Kaliumspiegel im Serum durch gleichzeitige Gabe von Glukose und Insulin (1 E Altinsulin pro 2 g Glukose), durch die Behandlung der Azidose (Natriumbikarbonat und/oder Hyperventilation) oder akut durch die Gabe von Kalziumglukonat gesenkt werden.
24.1.2 Chronische Niereninsuffizienz Patienten mit chronischen Nierenfunktionsstörungen werden jedem in der Anästhesie Tätigen häufig begegnen. Die Behandlung dieser Patienten ist eine Herausforderung, da sie meist neben ihrer Nierenfunktionsstörung an weiteren relevanten Erkrankungen leiden, entweder als Ursache der Niereninsuffizienz oder als deren Folge. So ist heute die häufigste Ursache der chronischen Niereninsuffizienz die diabetische Nephropathie, die zweithäufigste die arterielle Hypertonie, und erst an dritter Stelle folgen die verschiedenen Formen der Glomerulonephritis als Beispiel einer primär renalen Erkrankung (7 Übersicht).
Akutes Nierenversagen – Definition und Charakteristika
Ursachen der chronischen Niereninsuffizienz (nach abnehmender Häufigkeit geordnet)
5 Plötzlicher Beginn (Stunden bis Tage) 5 Verminderung der glomerulären Filtrationsrate 5 Retention harnpflichtiger Substanzen (Kreatinin, Harnstoff ) I5 Inzidenz: 100–200 pro 1 Mio. Einwohner/Jahr
5 5 5 5 5 5 5 5 5
Pathophysiologie, Ursachen und Therapie des akuten Nierenversagens werden an anderer Stelle näher beschrieben (7 Kap. 56, Nierenfunktionsstörung und -ersatztherapie). Neu auftretende Nierenerkrankungen können zum akuten Nierenversagen führen. In der Anästhesie dürften häufiger Patienten mit akutem Nierenversagen als Begleiterkrankung einer anderen schweren Erkrankung (z. B. einer schweren Infektion oder im Rahmen eines Schockzustands) sein. Bei der perioperativen Behandlung von Patienten mit akutem Nierenversagen muss mit Störungen des Elektrolytund Säure-Basen-Status, mit intravasaler Hypo- oder Hypervolämie und mit Störungen der Hämostase gerechnet werden. Bei den Elektrolytstörungen kann besonders eine Hyperkaliämie rasch lebensbedrohliche Ausmaße annehmen. Azidose und Bluttransfusionen oder der Einsatz von
Diabetische Nephropathie Arterielle Hypertonie Glomerulonephritis Interstitielle Nephritis Polyzystische Nephropathie Analgetika Kollagenose, Vaskulitis Amyloidose Multiples Myelom
Bei der Narkose für diese Patienten müssen daher nicht nur die spezifischen Probleme der Niereninsuffizienz, sondern auch die der Grundkrankheit wie Diabetes bzw. arterielle Hypertonie beachtet werden. In diesem Kapitel werden jedoch nur die durch die eingeschränkte Nierenfunktion bedingten Probleme behandelt. Entsprechend dem Schweregrad der chronischen Nierenfunktionsstörung und der Begleiterkrankungen muss die anästhesiologische perioperative Behandlung geplant werden. Das Spektrum reicht von Patienten, deren glomeruläre Filtrationsrate kaum vermindert ist bis zu solchen, die gar keine Harnausscheidung mehr haben. Selbst bei Pa-
251 24.1 · Ursachen der Nierenfunktionsstörung
. Tabelle 24.1. Folgen der Urämie und Organmanifestationen Betroffenes System
Symptomatik
Wasser-, Elektrolyt- und Säure-Basenhaushalt
5 Hyper- (»fluid lung«) oder Hypovolämie 5 Hyperkaliämie 5 Hypo- oder Hypernatriämie 5 Hyperphosphatämie 5 Hypokalzämie 5 Hypermagnesiämie 5 Metabolische Azidose
Herz-Kreislauf-System
5 5 5 5 5 5
Arterielle Hypertonie Urämische Kardiomyopathie Herzinsuffizienz Perikarditis, Pleuritis Atherosklerose Koronare Herzerkrankung
Endokrine Regulation
5 Sekundärer Hyperparathyreoidismus 5 Renale Osteopathie 5 Kohlenhydratintoleranz
Blut und Immunsystem
5 Anämie (normochrom, durch Erythropoetin-Mangel) 5 Hypoproteinämie 5 Blutungsneigung (Thrombozytenfunktionsstörung, Gerinnungsstörung) 5 Störungen des Immunsystems
Magen-Darm-Trakt
5 5 5 5 5
Appetitlosigkeit Übelkeit, Erbrechen Verzögerte Magenentleerung Ulcus ventriculi Gastroenteritis
Nervensystem
5 5 5 5 5
Kopfschmerzen Krämpfe Enzephalopathie, Koma Muskelzucken Polyneuropathie
tienten, die regelmäßig hämodialysiert werden, gibt es Unterschiede: bei Patienten mit Restausscheidung muss z. B. weniger penibel auf die Flüssigkeitszufuhr geachtet werden als bei solchen ohne Restausscheidung. Andererseits muss bei Patienten mit Restausscheidung darauf geachtet werden, dass diese Restfunktion der Nieren im Rahmen von Operation und Narkose möglichst nicht gestört wird, da sie dem Patienten zusätzliche Lebensqualität verschafft (keine stringente Flüssigkeitsrestriktion im Alltag, oft weniger Elektrolytstörungen).
. Tabelle 24.2. Bei chronisch Nierenkranken häufig eingesetzte Medikamente Indikation
Medikamente
Diabetische Nephropathie
5 Orale Antidiabetika 5 Insulin
Arterielle Hypertonie, Koronare Herzkrankheit
5 Antihypertensiva (ACE-Inhibitoren, AT1-Rezeptorantagonisten) 5 β-Rezeptoren-Blocker 5 Nitrate 5 Statine 5 Thrombozytenaggregationshemmer
Sonstige
5 Schleifendiuretika (z. B. Furosemid) 5 Bikarbonat 5 Vitamin-D-Präparate 5 Erythropoetin 5 Phosphatbinder
! Symptome der Niereninsuffizienz treten erst auf, wenn die glomeruläre Filtrationsrate (GFR) auf ca. die Hälfte bis ein Drittel vermindert ist.
Oberhalb einer GFR von 50 % der Norm sind die Nierenretentionswerte Kreatinin und Harnstoff im Referenzbereich. Oberhalb einer GFR von ca. 20 % der Norm sind die Patienten häufig asymptomatisch. Die funktionelle Reserve der Nieren ist dann jedoch so weit eingeschränkt, dass zusätzliche Belastungen wie z. B. Infektionen, Operationen oder die Applikation nephrotoxischer Substanzen zu einer weiteren Verschlechterung der Nierenfunktion und zum Auftreten urämischer Symptome führen können. Ist die Masse funktionierenden Nierenparenchyms so weit vermindert, dass die GFR unter 20 % der Norm sinkt, treten Symptome der Urämie auf. Das als Urämie bezeichnete Syndrom ist Folge der Ansammlung normalerweise durch die Nieren geklärter oder metabolisierter Substanzen, ohne dass diese im Einzelnen bekannt sind. Eine Rolle spielt auch die Antwort des Organismus auf die Nierenfunktionseinschränkung (z. B. sekundärer Hyperparathyreoidismus). Da die in der Urämie retinierten Substanzen die Funktion aller Körperzellen stören, erstrecken sich die Folgen der Nierenfunktionsstörung auf den gesamten Organismus. Symptome und Folgen der chronischen Niereninsuffizienz bzw. Urämie sind in . Tab. 24.1 dargestellt.
24
252
24
Kapitel 24 · Nierenerkrankungen
Einige Symptome bzw. Organbeteiligungen bessern sich unter Dialyse (z. B. Hypervolämie, Elektrolytstörungen, Enzephalopathie, Gastroenteritis), andere persistieren trotz regelmäßiger Dialyse (z. B. Atherosklerose, arterielle Hypertonie) oder werden durch die Dialyse erst verursacht (z. B. die Aluminium-induzierte Osteopathie, arterielle Hypotonie, das so genannte Dysäquilibrium-Syndrom: Kopfschmerzen, Übelkeit, Erbrechen, Sehstörungen, u. U. Vigilanzstörungen). Neben der Grundkrankheit, der Nierenfunktionsstörung und den Organkomplikationen muss im Rahmen der Anästhesie besonderes Augenmerk auf die Vormedikation der Patienten gerichtet werden (. Tab. 24.2).
24.2
Perioperative Behandlung des Patienten mit Niereninsuffizienz
Patienten mit Niereninsuffizienz haben ein erhöhtes Risiko perioperativer Morbidität. Die optimale Behandlung dieser Patienten bedarf daher eines erhöhten diagnostischen und therapeutischen Aufwands. Die höchste Herausforderung stellen dabei Patienten mit terminaler Niereninsuffizienz dar.
24.2.1 Präoperative Vorbereitung Im Gegensatz zu sonst gesunden operativen Patienten muss bei Patienten mit Niereninsuffizienz mit einem erhöhten zeitlichen und diagnostischen Aufwand im Rahmen der Prämedikationsvisite gerechnet werden. Beim Aufklärungsgespräch sollte man daran denken, dass Patienten mit Niereninsuffizienz, wie alle chronisch Kranken, eine andere psychische Verfassung haben als weitgehend gesunde Menschen. Die Stimmungslage ist oft depressiv und die Schmerztoleranz ist eingeschränkt. Der beinahe tägliche Kontakt mit medizinischem Personal macht die Patienten oft zu halben Fachleuten mit entsprechend kritischer Einstellung. Entsprechend klar und eindeutig, aber gerade auch einfühlsam sollte das Gespräch gestaltet werden. Im Rahmen der Anamnese müssen unter anderem Begleiterkrankungen abgeklärt, bei Dialysepatienten die Häufigkeit und Verträglichkeit der Dialysen, eine vorhandene Restdiurese und die erlaubte Trinkmenge erfragt und die körperliche Leistungsfähigkeit beurteilt werden. Oft ist ein kurzes Telefongespräch mit dem behandelnden Nephrologen aufschlussreich und ergänzt die Aussagen des Patienten. Bei der körperlichen Untersuchung soll neben der selbstverständlichen Auskultation von Herz und Lunge
(Hinweise auf pulmonale Stauung/Pleuraerguss/Arrhythmie?) auf Zeichen einer hämorrhagischen Diathese geachtet werden. Bei Dialysepatienten wird am besten bereits jetzt notiert, an welchem Arm der Dialyse-Shunt ist und dann am anderen Arm Blutdruck gemessen. Da langjährige Dialysepatienten unter Umständen schon Shunts an beiden Armen hatten, ist eine orientierende Untersuchung der Venenverhältnisse am Arm ohne Shunt für den Venenzugang zur Narkose empfehlenswert. Bei niereninsuffizienten Patienten müssen in zeitlich enger Beziehung zur Narkose präoperativ Laborwerte bestimmt werden. Unabdingbar sind Elektrolyte, Kreatinin und Harnstoff, Hämoglobin, Thrombozyten und – wenn eine Regionalanästhesie geplant ist – Blutgerinnungswerte. Die Prämedikation muss den Zustand des Patienten berücksichtigen. Bei Patienten mit nur mäßiggradig eingeschränkter Nierenfunktion und ohne sonstige Begleiterkrankungen gibt es keinen Unterschied zu Nierengesunden. Bei Patienten mit terminaler Niereninsuffizienz besteht häufig ein reduzierter Bedarf (z. B. Dikaliumclorazepat 10 mg oder Midazolam 3,75 mg oral). Wenn damit keine ausreichende Anxiolyse erreicht wird, kann vor der Narkoseeinleitung unter Überwachung eine weitere Dosis intravenös gegeben werden. Von den üblicherweise eingenommenen Medikamenten sollten E-Blocker nicht abgesetzt werden. Andere Antihypertensiva können ebenfalls weiter gegeben werden; ihre blutdrucksenkende Wirkung addiert sich dann aber zur Kreislaufwirkung der Anästhetika und kann zu drastischen Blutdruckabfällen führen. Diese Gefahr ist besonders groß bei Patienten, die kurz zuvor dialysiert wurden und dadurch eventuell intravasal relativ hypovoläm sind. Medikamente mit geringer therapeutischer Breite wie z. B. Digitalis-Präparate sollten am Operationstag eher nicht gegeben werden. Diuretikagabe bei Patienten mit Harnausscheidung erhöht die Gefahr einer intraoperativen Hypovolämie. ! Bei elektiven Eingriffen sollte bei dialysepflichtigen Patienten 12–24 h präoperativ eine Dialyse durchgeführt werden und präoperativ eine Kaliumkontrolle erfolgen. Auch bei Notfalleingriffen kann eine präoperative Dialyse bei gefährlich hohen Serumkaliumkonzentrationen oder massiver Hypervolämie er forderlich werden.
24.2.2 Narkose Für die Narkoseführung bei Nierenkrankheiten gilt das Gleiche, was für andere relevante Vorerkrankungen auch
253 24.2 · Perioperative Behandlung des Patienten mit Niereninsuffizienz
gilt: man kann Narkose »wie üblich« machen, allerdings noch vorsichtiger als beim organisch gesunden Patienten und unter Beachtung des Schweregrades der Niereninsuffizienz. Wie im weiter unten geschilderten Fallbeispiel addieren sich leider oft verschiedene Organfunktionsstörungen und machen die Behandlung des Patienten komplizierter. Bei nur geringgradig eingeschränkter Nierenfunktion unterscheidet sich die Narkoseführung nicht von der bei Nierengesunden. Je schlechter die Nierenfunktion ist, desto mehr muss die Anästhesie nach dieser Funktionsstörung ausgerichtet werden. Dabei muss die bei Nierenkranken veränderte Pharmakokinetik vieler Medikamente beachtet werden. Vorwiegend renal eliminierte Substanzen haben hier eine verlängerte Wirkungsdauer. Änderungen der Pharmakokinetik können aber z. B. auch durch Änderungen der Proteinbindung bei Hypoproteinämie verursacht sein. Im Folgenden werden Narkoseführung und Probleme bei Patienten mit hochgradiger Nierenfunktionsstörung bzw. bei dialyseabhängigen Patienten dargestellt, zunächst am Beispiel der Allgemeinanästhesie.
Allgemeinanästhesie bei Patienten mit Nierenfunktionsstörung Narkoseeinleitung Venenverweilkanüle und Blutdruckmanschette dürfen bei Dialysepatienten nicht am Shunt-Arm angelegt werden. Am besten ist es, den Shunt-Arm mit einer weichen Mullbinde o. ä. zu markieren. Als Basisinfusionslösung sollte bei Dialysepatienten und solchen mit Hyperkaliämieneigung eine kaliumfreie Infusionslösung (NaCl 0,9 %) eingesetzt werden. Beim urämischen Patienten (verzögerte Magenentleerung!) oder wenn sonstige Hinweise auf eine erhöhte Aspirationsgefahr bestehen (z.B. Übelkeit und Erbrechen, Gastritis, diabetische Gastroparese, gastroösophageale Refluxkrankheit), sollte eine Rapid sequence induction wie beim nicht nüchternen Patienten durchgeführt werden. Wegen der renalen Anämie (verminderte Sauerstofftransportkapazität), muss vor Narkoseeinleitung ausreichend lange präoxygeniert werden. Die Dauer der Präoxygenierung sollte 5 min betragen. Tipps
Dauer der Präoxygenierung: 5 min sind eine subjektiv als sehr lange empfundene Zeitspanne, die nur eingehalten wird, wenn sie nicht »nach Gefühl« geschätzt, sondern nach Uhr gemessen wird.
Monitoring. Die Intensität des Monitorings während der Narkose richtet sich nach dem Zustand des Patienten. Ein hohes perioperatives Risiko kann durch die zur Operation führende Erkrankung bedingt sein (z. B. Ileus), durch die Art des Eingriffs (große, evtl. blutreiche Operation, Notfalleingriff), durch relevante vorbestehende Erkrankungen (z. B. Diabetes mellitus, koronare Herzkrankheit, Karotisstenose) und/oder durch eine akute Dekompensation der Stoffwechsellage durch die Niereninsuffizienz (Hyperkaliämie, metabolische Azidose, Hypervolämie). Terminal niereninsuffiziente Patienten können vor allem in kürzerem Abstand zur letzten Hämodialyse relativ hypovoläm sein, was im Rahmen der Narkoseeinleitung zu dramatischen Blutdruckabfällen führen kann. Eine engmaschige (im einbis dreiminütigen Abstand durchgeführte) nichtinvasive Kontrolle des arteriellen Blutdrucks schadet keinem Patienten und lässt kritische Blutdruckabfälle rasch erkennen. Bei Dialysepatienten ist die Blutdruckmanschette allerdings in der Regel am Infusionsarm und verhindert so während der Messung die Applikation von Medikamenten. Bei hohem Risiko kann in Lokalanästhesie ein arterieller Katheter gelegt werden, der eine lückenlose Blutdrucküberwachung schon während der Narkoseeinleitung möglich macht und nicht durch Infusionslösungen kontaminierte Blutentnahmen für Laborkontrollen ermöglicht. Die A. radialis auch des Arms ohne Shunt sollte geschont werden, da bei Shuntverschluss oft der andere Arm zur Shuntanlage benötigt wird. Eine Alternative ist die Kanülierung der A. femoralis, die bei Patienten mit fortgeschrittener Arteriosklerose allerdings oft schwierig zu kanülieren ist. Ein zentraler Venenkatheter kann helfen, den intravasalen Volumenstatus abzuschätzen und gleichzeitig als sicherer venöser Zugang auch für mehrere Tage postoperativ dienen. Er sollte wenn möglich an der kontralateralen Seite zum Shunt-Arm gelegt werden. Leidet der chronisch Nierenkranke an einer renalen Osteopathie muss die Patientenlagerung mit noch mehr Vorsicht durchgeführt werden als bei knochengesunden Patienten. Hypnotika. Die Hypnotika, die zur Narkoseeinleitung ver-
wendet werden, muss man besonders beim niereninsuffizienten Patienten nach Wirkung dosieren. Problematisch ist hier nicht die Nierenfunktionsstörung an sich, da die Wirkungsbeendigung der Induktionshypnotika durch Umverteilung und nicht durch Elimination geschieht, sondern die Folgen der Niereninsuffizienz wie Hypoproteinämie und veränderte Proteinbindung. Diese können zu einer Wirkungsverstärkung führen.
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Kapitel 24 · Nierenerkrankungen
Etomidate zeigt von den zur Narkoseeinleitung gebräuchlichen Hypnotika die geringsten kardiovaskulären Veränderungen, führt aber zu keiner starken Dämpfung der Schutzreflexe und des vegetativen Nervensystems. Ohne Gabe eines Opioids kommt es deshalb zu z. T. ausgeprägten Blutdruck- und Herzfrequenzanstiegen, die vor allem bei Patienten mit koronarer Herzkrankheit gefährlich sind. Bei kreislaufinstabilen Patienten ist Etomidate nach vorheriger Gabe eines Opioids ein sicheres Einleitungshypnotikum. Barbiturate (Thiopental, Metohexital) oder Propofol sind vorsichtig (aber ausreichend!) dosiert für normovoläme kreislaufstabile Patienten sichere Induktionshypnotika. Bei kreislaufinstabilen Patienten können sie unter Beachtung ihrer Kreislaufeffekte verwendet werden, wenn Maßnahmen zur Therapie eines Blutdruckabfalls vorbereitet sind (bei Hypovolämie z. B. Kopftieflage, Vasokonstriktoren und/oder positiv inotrope Substanzen). Ketamin kann wie beim Nierengesunden dosiert werden. Seine kreislaufstimulierenden Wirkungen können jedoch unerwünscht sein. Opioide. Die Dosis des verwendeten Opioids hängt mehr vom Gesamtzustand des Patienten als von seiner Nierenfunktion ab. Fentanyl, Alfentanil, Sufentanil und Remifentanil zeigen klinisch wenig Wirkunterschiede zwischen Patienten mit normaler und solchen mit eingeschränkter Nierenfunktion. Anders bei Morphin und Pethidin: hier können wirksame Metabolite, die vorwiegend renal eliminiert werden, zu gefährlichen unerwünschten Wirkungen führen: Morphin-6-Glukuronid wirkt selbst morphinartig (Atemdepression!), Norpethidin ist neurotoxisch (Krampfanfälle!). Muskelrelaxanzien. Im Gegensatz zu den in der Anästhe-
sie meist verwendeten Opioiden gibt es bei den Muskelrelaxanzien deutliche Unterschiede in der Pharmakokinetik zwischen Patienten mit normaler und solchen mit eingeschränkter Nierenfunktion. Pancuronium, Alcuronium und Vecuronium zeigen eine deutliche Wirkungsverlängerung aufgrund der verzögerten renalen Ausscheidung. Rocuronium und Mivacurium werden zu einem weit geringeren Anteil über die Niere ausgeschieden. Ihre pharmakokinetischen Eigenschaften sind daher bei Niereninsuffizienz weniger verändert. Die Wirkung von Atracurium und Cis-Atracurium wird nicht durch organspezifische Ausscheidung der Substanz beendet. Die Wirkdauer beider Substanzen ist bei Niereninsuffizienz nicht verlängert. Succinylcholin wird unabhängig von der Nierenfunktion
durch Pseudocholinesterasen gespalten. Vorsicht ist bei Nierenkranken mit hohen Serum-Kaliumkonzentrationen geboten, da die Serum-Kaliumkonzentration durch Succinylcholin weiter ansteigen kann. Muskelrelaxanzien sollten bei Niereninsuffizienz nur unter relaxometrischer Überwachung eingesetzt werden, damit im Bedarfsfall rechtzeitig antagonisiert werden kann. Die Elimination und Wirkdauer der Antagonisten der Muskelrelaxanzien, Neostigmin und Pyridostigmin, ist bei Niereninsuffizienz verlängert, sodass eine »Recurarisierung« auch beim Einsatz länger wirkender Muskelrelaxanzien nicht auftritt. ! Cave Succinylcholin sollte bei Patienten mit einer Serum-Kaliumkonzentration > 5 mmol/l nicht angewendet werden.
Narkoseführung Zur Analgesie während der Operation können Opioide ähnlich wie bei Nierengesunden eingesetzt werden. Als sedierende Komponente können volatile Anästhetika (Halothan, Enfluran, Isofluran, Sevofluran, Desfluran) oder im Rahmen einer totalen intravenösen Anästhesie (TIVA) Propofol eingesetzt werden. Die Wirkdauer sowohl von Propofol als auch von volatilen Anästhetika hängt nicht von der Nierenfunktion ab. Volatile Anästhetika haben den Vorteil, dass ihre Konzentration im Narkosegerät gemessen werden kann (endtidale Narkosegaskonzentration) und somit kontinuierlich ein Parameter für ihre Konzentration im Körper zur Verfügung steht. Die Blutkonzentrationen intravenöser Hypnotika sind dagegen nicht unmittelbar während der Narkose zugänglich. Bei der Metabolisierung von Enfluran und Sevofluran entsteht Fluorid, bei Sevofluran auch das so genannte Compound A, beides Nephrotoxine. Nach heutigem Kenntnisstand kann Sevofluran jedoch auch bei Patienten mit Nierenfunktionsstörungen eingesetzt werden. Infusion. Als Infusion sollte, wie weiter oben bereits er-
wähnt, eine kaliumfreie Lösung (z. B. NaCl 0,9 %) verwendet werden. Bei Patienten ohne Urinausscheidung müssen intraoperative Volumenverluste (Blut, Magensaft und Darminhalt, Verluste durch Verdunstung, z. B. bei großen Darmeingriffen) und Volumenzufuhr sorgfältig bilanziert werden. Werden im Rahmen größerer Eingriffe erhebliche Volumenverschiebungen erwartet, empfiehlt sich ein erweitertes hämodynamisches Monitoring (ZVD, unter Umständen TEE). Künstliche Kolloide sollten bei Dialysepatienten nicht appliziert werden. Zur Aufrechterhaltung
255 24.2 · Perioperative Behandlung des Patienten mit Niereninsuffizienz
eines adäquaten Perfusionsdrucks der Organe ist während der Narkose unter Umständen die Applikation vasoaktiver Substanzen erforderlich. ! Chronisch Nierenkranke sind aufgrund ihrer renalen Anämie an niedrige Hämoglobinkonzentrationen adaptiert.
Viele terminal niereninsuffiziente Patienten haben jedoch Begleiterkrankungen (z. B. Herzinsuffizienz oder koronare Herzerkrankung), die die Kompensationsmechanismen zur Aufrechterhaltung eines adäquaten Sauerstofftransports (z. B. Steigerung des Herzzeitvolumens) beeinträchtigen. Bei diesen Patienten sollten extrem niedrige Hämoglobinkonzentrationen vermieden werden. Während der Narkose und im Aufwachraum oder auf der Intensivstation mit entsprechender Überwachung und unter Sauerstoffgabe sind diese Patienten wenig gefährdet. Auf der normalen Pflegestation und vor allem bei Belastung und damit verbundener Steigerung des myokardialen Sauerstoffverbrauchs kann es bei extremer Anämie jedoch zu Myokardischämien kommen. Den so genannten »optimalen Hämatokrit« für alle Patienten in allen Situationen gibt es nicht. Er muss unter Beachtung der individuellen Situation des einzelnen Patienten und seiner körperlichen Verfassung geschätzt werden. Bei metabolischer Azidose mit pH-Werten < 7,25 kann vorsichtig mit Natriumbikarbonat gepuffert werden. Eine Überkorrektur des pH in alkalische Werte (> 7,35) ist potenziell schädlich, z. B. wegen der dadurch induzierten Linksverschiebung der Sauerstoffdissoziationskurve des Hämoglobins: Alkalose führt zu einer erhöhten Affinität des Sauerstoffs zum Hämoglobin. Dadurch wird die Sauerstoffabgabe im Gewebe erschwert.
Postoperative Behandlung Unter Berücksichtigung der Begleiterkrankungen muss eine postoperative Behandlung auf der Intensivstation bei Patienten mit höhergradiger Niereninsuffizienz in Erwägung gezogen werden. Wenn keine Komplikationen auftreten, wird der Patient so lange im Aufwachraum behandelt, bis die Kriterien für eine Verlegung auf die Normalstation erfüllt sind. Die Entscheidung, ob der Patient postoperativ auf der Intensivstation weiterbehandelt werden muss, hängt neben dem perioperativen Verlauf auch entscheidend von den jeweiligen lokalen Gegebenheiten im einzelnen Krankenhaus ab. Eine situationsadaptierte Kontrolle der Laborwerte und entsprechende therapeutische Reaktionen auf postoperative Auffälligkeiten müssen gewährleistet sein (z. B. adäquate Einstellung der Blutzuckerwerte beim Diabetiker, evtl. erforderliche Erythrozytentransfusion,
rechtzeitige Reaktion auf Elektrolytentgleisungen, suffiziente Schmerztherapie).
Regionalanästhesie bei Patienten mit Nierenfunktionsstörung Regionale Anästhesieverfahren können beim nierenkranken Patienten sicher durchgeführt werden. Rückenmarknahe Verfahren setzen eine ungestörte Funktion der Blutgerinnung und der Thrombozyten voraus. Bei Urämie muss auch bei normalen gerinnungsrelevanten Laborwerten mit einer erhöhten Blutungsneigung gerechnet werden. Bei Patienten nach Dialyse muss die Wirkung der während der Dialyse applizierten Antikoagulanzien vollständig abgeklungen sein. Die Kreislaufwirkungen von Spinal- oder Periduralanästhesie sind unter Umständen massiver als bei einer Allgemeinanästhesie. Deshalb müssen Maßnahmen zur Therapie dieser Kreislaufreaktionen vorbereitet sein (Vasokonstriktoren und Volumengabe unter Berücksichtigung des intravasalen Volumenstatus vor Anästhesie bei Blutdruckabfall, Atropin bei hämodynamisch wirksamer Bradykardie). ! Cave Die alleinige Behandlung von Blutdruckabfällen mit Volumengabe kann bei Patienten ohne Restausscheidung zur Hypervolämie nach Abklingen der Anästhesie führen.
Periphere Leitungsanästhesien an den Extremitäten an Stellen, die einer Kompression zugänglich sind, können auch bei Störungen der Hämostase durchgeführt werden (z. B. axilläre Armplexus-Blockade zur Anlage eines Dialyse-Shunts). Blockaden im Kopf-Hals- oder Rumpfbereich (z. B. interskalenäre, supra- oder infraklavikuläre Blöcke, Psoas-Kompartmentblock, Interkostalblockaden) dürfen bei Gerinnungsstörungen nicht durchgeführt werden. : Beispiel Ein 53-jähriger insulinpflichtiger Diabetiker mit dialysepflichtiger Niereninsuffizienz soll wegen eines Kolonkarzinoms am Montag laparoskopisch hemikolektomiert werden. Der Patient kommt am Sonntagnachmittag in die Klinik. Er wird normalerweise montags, mittwochs und freitags dialysiert und hat keine Restausscheidung. An Komplikationen des Diabetes sind neben der Nephropathie eine koronare Herzkrankheit (Zustand nach Stentimplantation in den Ramus interventricularis anterior) und eine diabetische Neuropathie bekannt. Der Patient ist nach eigenen Angaben noch mäßig belastbar (er wohnt 6
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256
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Kapitel 24 · Nierenerkrankungen
im ersten Stock und kann dieses eine Stockwerk ohne anzuhalten meistern). Folgende Medikamente nimmt der Patient regelmäßig: subkutane Injektion eines Intermediärinsulins vor dem Frühstück und dem Abendessen, einen E-RezeptorenBlocker, einen ACE-Inhibitor, Azetylsalizylsäure, ein Statin (Cholesterolsyntheseinhibitor), Vitamin D (Calcitriol), Erythropoetin und Kalziumazetat (Phosphatbinder). Nach Aufnahme wird dem Patienten Blut zur Laboranalyse entnommen. Unter anderem zeigen sich folgende Werte: Hämoglobin 82 g/l, Bikarbonat 16 mmol/l, im Serum: Kalium 6,4 mmol/l, Glukose 219 mg/dl (12,2 mmol/l). Der gemessene arterielle Blutdruck beträgt 180/110 mmHg bei einer Herzfrequenz von 48 Schlägen pro Minute. Bei Raumluftatmung hat der Patient eine pulsoxymetrisch gemessene Sauerstoffsättigung von 89 % und bei der Auskultation der Lunge feinblasige Rasselgeräusche beidseits basal. Der zur Dialyse benötigte Shunt ist am linken Arm. Im Röntgenbild der Thoraxorgane zeigen sich ein grenzwertig großes Herz sowie die Zeichen der Überwässerung. Bereits zu diesem Zeitpunkt zeigen sich Mängel in der Organisation der vorgesehenen Operation: Der Patient soll am Montag elektiv operiert werden, müsste also am Sonntag dialysiert werden. Die Operation sollte also besser an einem Werktag er folgen, der auf einen anderen Werktag folgt, um eine Dialyse am Tag vor der Operation zu ermöglichen. Die Prämedikationsvisite und -untersuchung findet prästationär mit ausreichendem Abstand zum Operationstag statt, um eventuell erforderliche Zusatzuntersuchungen anordnen zu können. Im geschilderten Fall wird die Operation auf Dienstag verschoben und der Patient am Montag dialysiert, um die metabolische Situation zu bessern (Hyperkaliämie, metabolische Azidose) und die offensichtlich bestehende Hypervolämie (Hinweise: feinblasige Rasselgeräusche, hoher arterieller Blutdruck, Hypoxämie, Röntgenbild) zu behandeln. Zur medikamentösen Prämedikation erhält der Patient am Abend vor der Operation und um 7 Uhr am Operationstag jeweils eine Dosis eines Benzodiazepins oral (z. B. Dikaliumclorazepat). Dem Patienten wurde erklärt, dass er am Operationstag kein Insulin spritzen soll. Von den regelmäßig eingenommenen Medikamenten soll er zumindest den E-Rezeptoren-Blocker auf jeden Fall nehmen. Am Morgen des Operationstags werden der Blutzucker und die Serumkaliumkonzentration kontrolliert. Präoperativ werden die Laborwerte nach Dialyse begutachtet. Im Einleitungsraum wird am rechten Arm (ohne 6
Shunt) am Handrücken eine Venenverweilkanüle (wenn möglich der Größe 16 G oder größer) gelegt und isotone Kochsalzlösung infundiert (Infusionsgeschwindigkeit ca. 40–80 ml/h). Nach Installation des Monitorings (EKG, nichtinvasive oszillometrische Blutdruckmessung, Pulsoxymetrie) und ausreichender Präoxygenierung wird die Narkose eingeleitet mit Gabe eines Opioids (z. B. Fentanyl), eines Barbiturats oder von Propofol und – da der Patient nicht urämisch ist und keine Gastroparese hat – Cis-Atracurium als Muskelrelaxans. Da bei der laparoskopischen Hemikolektomie bei uns während der Operation keiner der Arme für den Anästhesisten zugänglich ist und der Hals durch die Schulterpolster verdeckt ist, legen wir präoperativ einen zentralen Venenkatheter. Auf eine arterielle Kanülierung wird wegen des potenziell schlechten Gefäßstatus des Patienten bei gut funktionierender nichtinvasiver Blutdruckmessung verzichtet. Im Einzelfall wird die A. femoralis kanüliert, wenn die Vorteile einer direkten kontinuierlichen Blutdruckmessung das Risiko überwiegen. Die Narkose wird aufrechterhalten mit einem volatilen Anästhetikum (Isofluran, Sevofluran oder Desfluran), intermittierenden Opioidgaben (z. B. Fentanyl) und bedarfsadaptierter Muskelrelaxierung unter Relaxometrie. Nach Operationsende wird der Patient bei komplikationslosem Verlauf extubiert, nachdem sichergestellt ist, dass keine Restwirkung der Muskelrelaxation mehr besteht und dass die Spontanatmung ausreichend ist. Bei komplikationslosem Verlauf wird der Patient nach einer längeren Überwachung und Behandlung im Aufwachraum auf die Normalstation verlegt, wenn er die entsprechenden Kriterien erfüllt. Im Zweifelsfall wird er auf der Intensivstation weiterbehandelt.
Literatur Cróinin DF, Shor ten GD (2002). Anesthesia and renal disease. Curr Opin Anaesthesiol 15: 359–363 Georgieff M, Schricker T, Geisser W (2001). Anästhesie bei Nierenerkrankungen. In: Anästhesiologie. Hrsg. Kochs E, Krier C, Buzello W, Adams HA. Thieme Stuttgart. S. 846–856 Nuscheler M (2004) An. Anästhesie bei Niereninsuffizienz und Nierenversagen. In: Die Anästhesiologie. Hrsg. Rossaint R, Werner C, Zwißler B. Springer Verlag Berlin – Heidelberg – NewYork S. 1359–1369 Palevsky PM (2004) Perioperative management of patients with chronic kidney disease or ESRD. Best Practice & research Clinical Anaesthesiology 18 (1):129–144
25 Lebererkrankungen Daniela Zitzelsberger 25.1 Anästhesierelevante, patho-physiologische Veränderungen bei Lebererkrankungen –258 25.1.1 25.1.2 25.1.3 25.1.4 25.1.5 25.1.6 25.1.7 25.1.8
Hypoproteinämie –258 Erhöhter Pfortaderdruck –258 Auswirkung auf Blut und Gerinnung –258 Kardiovaskuläres System –258 Pulmonales System –259 Renales System –259 Zentrales Nervensystem –259 Auswirkungen auf den Glukosestoffwechsel –259
25.2 Medikamentenclearance –259 25.3 Prämedikation, Narkosevorbereitung und -durchführung –260 25.3.1 Prämedikation und Vorbereitung –260 25.3.2 Narkosedurchführung –260
25.4 Einzelne Erkrankungen –261 25.4.1 Hepatitis –261 25.4.2 Leberzirrhose –261 25.4.3 Leberresektion –262
Literatur –262
258
Kapitel 25 · Lebererkrankungen
25.1.3 Auswirkung auf Blut und Gerinnung
))
25
Lebererkrankungen sind häufig schwierig zu diagnostizieren, da Leberfunktionsstörungen erst bei schon weit fortgeschrittener Erkrankung klinisch manifest werden. Aufgrund der hohen Regenerationsfähigkeit der Leberzellen zeigen selbst langjährige chronische Prozesse nur geringe Auswirkungen. Erst eine Zellzerstörung von > 90 % ist mit dem Leben nicht mehr vereinbar.
25.1
Anästhesierelevante, pathophysiologische Veränderungen bei Lebererkrankungen
Alle pathophysiologischen Veränderungen sind zurückzuführen auf eine Störung der Leber bei ihrer zentralen Aufgabe der Synthese, Metabolisierung und Exkretion von Stoffen (7 Kap. 10), weitgehend unabhängig von der primären Ursache der Erkrankung.
25.1.1 Hypoproteinämie Die Leber spielt eine wichtige Rolle bei der Proteinsynthese. Gerinnungsfaktoren, Transportproteine, Lipoproteine – alle werden von den Hepatozyten synthetisiert und ins Blut abgegeben. Bei einer hepatischen Funktionseinschränkung kommt es daher auch zu einer Hypalbuminämie. Durch den damit verbundenen Abfall des kolloidosmotischen Drucks kommt es zu einer generalisierten Ödembildung, zu Aszites und Pleuraergüssen. Zur veränderten Pharmakokinetik 7 Kap. 25.2.
25.1.2 Erhöhter Pfor taderdruck Im fortgeschrittenen Stadium von Lebererkrankungen unterschiedlicher Genese kommt es zum zirrhotischen Umbau der Leber mit Veränderung der Leber- und Gefäßarchitektur. Dadurch steigt der Druck in der V. portae an. Bei einem Druck von > 14 mmHg spricht man von portaler Hypertension. Dieser ist neben der Hypoproteinämie verantwortlich für die Ausbildung eines Aszites, für die Splenomegalie und für die Ausbildung von portocavalen Umgehungskreisläufen. Daraus wiederum ergibt sich die Gefahr lebensbedrohlicher Blutungen aus Ösophagusvarizen. Durch portale Hypertension und Aszites kann es zu Magenentleerungsstörungen mit dem Risiko der Aspiration kommen.
Gerinnungsfaktoren. Fast alle Gerinnungsfaktoren werden in der Leber synthetisiert. 20–30 % der normalen Faktorkonzentration reichen in der Regel für eine normale Blutgerinnung aus, sodass es erst bei einer schweren Störung zu einer Blutungsneigung kommt. Laborchemisch wird dies an einem erniedrigten Quick-Wert deutlich. Anamnestisch bestätigen die Patienten häufig eine erhöhte Blutungsneigung. Vitamin-K-Mangel. Bei cholestatischen Erkrankungen
kommt es aufgrund einer Malabsorption von Fetten und dem fettlöslichen Vitamin K aus dem Darm zu einem Vitamin-K-Mangel. Dies wiederum führt zu einer verminderten Synthese der Vitamin-K-abhängigen Gerinnungsfaktoren II, VII, IX, X und der Proteine C und S. Thrombozytopenie. Für die Thrombozytopenie bei fortge-
schrittener Lebererkrankung spielen zwei Mechanismen eine wichtige Rolle. Einerseits kommt es bei erhöhtem Pfortaderdruck durch zirrhotischen Umbau der Leber zu einem Rückstau in die Milz mit Splenomegalie. Hierdurch kommt es zum vermehrten Thrombozytenabbau. Andererseits kann eine verminderte Thrombozytensynthese vorliegen aufgrund einer Knochenmarkdepression, wie sie bei Patienten mit alkoholtoxischer Leberzirrhose häufig ist. Anämie. Eine Anämie bei bestehender Lebererkrankung
kann ebenfalls verschiedene Ursachen haben. Aufgrund der erhöhten Blutungsneigung kann es wiederholt zu Blutungen (schwere gastrointestinale Blutungen, Oesophagusvarizen!) mit der Folge einer Anämie kommen. Bei alkoholtoxischer Leberstörung liegt häufig gleichzeitig eine Mangelernährung mit Vitamin-B12-Mangel vor. Dies führt, allein oder kombiniert mit einem Folsäuremangel, zu einer megaloblastären Anämie.
25.1.4 Kardiovaskuläres System Durch eine mediatorvermittelte Vasodilatation kommt es zu einem erniedrigten peripheren Gefäßwiderstand. Kompensatorisch findet man ein erhöhtes intravasales Volumen und ein gesteigertes Herzzeitvolumen. Der Blutdruck ist unverändert, tendenziell besteht aber eine Hypotonieneigung. Darüber hinaus besteht eine verminderte Empfindlichkeit gegenüber Katecholaminen. Die Leberdurchblutung ist bei erhöhtem Pfortaderdruck insgesamt vermin-
259 25.2 · Medikamentenclearance
dert, auch wenn die A. hepatica kompensatorisch vermehrt durchblutet wird.
25.1.8 Auswirkungen auf den
25.1.5 Pulmonales System
Die Glukosehomöostase ist bei Lebererkrankungen beeinträchtigt. Etwa die Hälfte aller Patienten mit einer Leberzirrhose zeigt einen pathologischen Glukosetoleranztest. Bei etwa 10 % liegt ein Diabetes mellitus vor, der auf eine Insulinresistenz zurückzuführen ist. Hypoglykämien sind bereits Zeichen eines großen Leberparenchymverlusts, wie er beim fulminanten Leberversagen auftreten kann.
Durch Aszites, Zwerchfellhochstand und Pleuraergüsse, die bei fortgeschrittener Leberinsuffizienz auftreten können, verringert sich die funktionelle Residualkapazität. Außerdem kann ein so genanntes hepatopulmonales Syndrom entstehen: Lebererkrankungen sind häufig assoziiert mit pulmonalen arteriovenösen Shunts. Gleichzeitig kommt es zu einem Ventilations-Perfusions-Missverhältnis, da die hypoxisch bedingte Vasokonstriktion der Lunge gestört ist. Diese Faktoren verursachen eine arterielle Hypoxämie. Dazu trägt auch die erniedrigte Diffusionskapazität bei, die sich bei erhöhtem extrazellulärem Flüssigkeitsgehalt ergibt.
25.1.6 Renales System Eine Abnahme der Nierenperfusion kann hervorgerufen werden durch eine Hypotonie und/oder eine intravasale Hypovolämie (u. a. aufgrund der Hypalbuminämie mit Abnahme des kolloidosmotischen Drucks und Verlust von Flüssigkeit ins Gewebe). Der reduzierte renale Blutfluss wiederum führt zu einer Abnahme der glomerulären Filtrationsrate mit Oligurie und einem Anstieg der harnpflichtigen Substanzen. Die Aldosteronsekretion wird stimuliert mit der Folge einer Wasser- und Natriumretention. Elektrolytentgleisungen sind die Folge. Der Hyperaldosteronismus wird verstärkt durch den gestörten Abbau von Aldosteron in der Leber. Am Ende dieser Störungen steht das hepatorenale Syndrom, ein fortschreitendes Nierenversagen bei bekannter Leberzirrhose ohne Hinweis auf eine andere, primäre Nierenerkrankung. Es besteht eine Oligurie, eine verminderte Natriurese, und ein erhöhter Serumkreatininwert.
25.1.7 Zentrales Ner vensystem Ursache für die hepatische Enzephalopathie ist die mangelnde Entgiftung ZNS-toxischer Substanzen in der Leber (Ammoniak, Merkaptan, Fettsäuren, Phenole, GABA). Ausgelöst werden kann sie durch eine vermehrte Ammoniakbildung im Darm nach gastrointestinalen Blutungen, durch fieberhafte Infektionen oder durch Medikamente wie Benzodiazepine und andere Sedativa, gegenüber denen eine erhöhte zerebrale Sensibilität besteht.
Glukosestoffwechsel
25.2
Medikamentenclearance
In der Leber findet die Biotransformation von Medikamenten statt. Bei Lebererkrankungen sind dabei die Phase-I-Reaktionen vor den Phase-II-Reaktionen betroffen (7 Kap. 10). Daher ist bei vielen Medikamenten mit einer verlängerten Wirkdauer zu rechnen. Die verlängerte Wirkdauer gilt für alle Hypnotika, mit Ausnahme des Ketamin (. Tab. 25.1). Auch bei den Benzodiazepinen erhöht sich die Wirkdauer. Dazu kommt die bereits angesprochene erhöhte Sensibilität des ZNS auf Sedativa, die eine Dosisreduktion dieser Medikamente erforderlich macht. Ausnahmen bilden die beiden Medikamente Lorazepam und Oxazepam. Opioide werden ebenfalls in der Leber abgebaut, jedoch ist nur für Alfentanil eine Clearanceabnahme und damit Wirkungsverlängerung beschrieben. Für alle anderen gängigen Opioide ist keine Wirkungsverlängerung bekannt. Der Abbau der nichtdepolarisierenden Muskelrelaxanzien Vecuronium, Pancuronium, Rocuronium und Mivacurium ist verlängert. Mivacurium wird hauptsächlich über Plasmacholinesterasen abgebaut, die ebenfalls in der Leber
. Tabelle 25.1. Narkoserelevante Medikamente und deren Wirkdauer bei Leberinsuffizienz Medikament
Wirkdauer
Hypnotika (Ausnahme: Ketamin)
Verlängert (unverändert)
Opioide (Ausnahme: Alfentanil)
Unverändert (verlängert)
Muskelrelaxanzien (Ausnahme: Cis-/Atracurium)
Verlängert (unverändert)
Benzodiazepine (Ausnahme: Lorazepam, Oxazepam)
Verlängert (unverändert)
25
260
25
Kapitel 25 · Lebererkrankungen
gebildet werden und bei Leberinsuffizienz vermindert vorhanden sind. Der Abbau von Succinylcholin (Abbau durch Plasmacholinesterasen) kann verlängert sein; dies spielt jedoch im klinischen Alltag kaum eine Rolle. Eine Dosisanpassung ist nicht nur aufgrund eines verzögerten Medikamentenabbaus notwendig, sondern bei Arzneimitteln mit hoher Plasmaeiweißbindung auch aufgrund der Hypoproteinämie. Durch den Eiweißmangel kommt es im Blut zu einer Zunahme des freien, pharmakologisch aktiven Anteils eines Medikaments. Aus anästhesiologischer Sicht ist hier vor allem Thiopental zu erwähnen. Zur Narkoseeinleitung mit Thiopental ist eine Dosisanpassung erforderlich.
25.3
Prämedikation, Narkosevorbereitung und -durchführung
25.3.1 Prämedikation und Vorbereitung Im Rahmen der präanästhesiologischen Untersuchung (7 Kap. 10) soll der Schweregrad der Leberfunktionsstörung abgeschätzt werden. Darüber hinaus muss festgestellt werden, ob andere Organe bereits mitbetroffen sind bzw. welche Begleiterkrankungen bestehen. Dazu dienen 4 Anamnese 4 körperliche Untersuchung 4 laborchemische Untersuchungen (Hb, HK, Elektrolyte, Blutzucker, Harnstoff, Kreatinin, GOT, GPT, LDH, AP, Bilirubin, Säure-Basen-Status, Laktat, Quick, Thrombozytenzahl) 4 EKG 4 Rö-Thorax Je nach Begleiterkrankung oder/und Beschwerden des Patienten kann eine Echokardiographie (z. B. Kardiomyopathie bei chronischem Alkoholabusus) oder eine Blutgasanalyse (Dyspnoe bei ausgeprägtem Aszites, Ausmaß pulmonaler Shunts) sinnvoll sein. Die Dringlichkeit der Operation ist zu klären. In jedem Fall gilt: ! Keine elektiven Operationen bei akuter Hepatitis!
Darüber hinaus ist zu prüfen, inwieweit präoperativ eine Verbesserung der Ausgangssituation möglich ist; entsprechende Maßnahmen sind einzuleiten.
Maßnahmen zur präoperativen Verbesserung der Ausgangssituation bei Lebererkrankungen 5 Vitamin-K-Gabe bzw. GFP-Gabe bei niedrigem Quickwert 5 Erythrozytenkonzentrat bei ausgeprägter Anämie 5 Thrombozytenkonzentrat bei ausgeprägter Thrombozytopenie 5 Herstellung einer Normovolämie 5 Ausschwemmung von Aszites 5 Erreichen einer ausreichenden Diurese (t 1ml/kg/h) 5 Vermeidung von Hypo- oder Hyperglykämien
Medikamentös ist zur präoperativen Anxiolyse bei bewusstseinsklaren Patienten die Gabe von Oxazepam oder Lorazepam möglich. Andere Sedativa sollten bei eingeschränkter Leberfunktion nur dosisangepasst verordnet werden. Bei hepatischer Enzephalopathie ist aufgrund der erhöhten Sensibilität auf eine Benzodiazepingabe zu verzichten. Bei Refluxproblemen kann am Vorabend der OP und am OP-Morgen ein H2-Blocker als Aspirationsprophylaxe verordnet werden. Je nach vorgesehener Operation sind Erythrozyten-, Thrombozytenkonzentrate und Frischplasmen für den Zeitpunkt der Operation bereitzustellen. Eine verlängerte postoperative Überwachung, ggf. auf einer Intensivstation, muss eingeplant werden.
25.3.2 Narkosedurchführung ! Ziel ist die Aufrechterhaltung der Sauerstoffversorgung der Leber. Daher ist auf größtmögliche kardiozirkulatorische Stabilität, Normoventilation, Normovolämie und auf einen ausgeglichenen Säure-Basen-Status zu achten.
Medikamente. Wegen der erhöhten Aspirationsgefahr sollte bei fortgeschrittener Leberinsuffizienz eine RSI durchgeführt werden. Zur Narkoseeinleitung eignen sich Propofol, Etomidate, Thiopental in reduzierter Dosierung und auch Ketamin (falls es keine anderen Kontraindikationen hierzu gibt). Als Muskelrelaxans steht Succinylcholin zur Verfügung, auch Atracurium und cis-Atracurium sind geeignet, da sie leberunabhängig abgebaut werden. Zur Aufrechterhaltung der Narkose eignen sich Isofluran oder Sevofluran. Jedoch sollte bei Problemen bei vorangegangenen Narkosen mit Inhalationsanästhetika auf Narkosegase ganz verzichtet werden. Propofol stellt hier eine Alternative dar. Bei den Opioiden liegen die
261 25.4 · Einzelne Erkrankungen
meisten Erfahrungen mit Fentanyl vor. Auch Remifentanil zeigt aufgrund des leberunabhängigen Abbaus keine Kumulation. Jedoch gibt es auch für andere Opioide, wie beispielsweise Sufentanil, keine Kontraindikationen.
gen der Symptome bzw. bei Normalisierung der Leberwerte kann der Eingriff durchgeführt werden.
Monitoring. Neben dem üblichen Monitoring sind je nach
Bei Vorliegen einer Leberzirrhose oder einer chronisch-aggressiven Hepatitis ist für elektive Operationen die Indikationsstellung streng zu stellen. Aufgrund der angesprochenen Auswirkungen der Leberfunktionsstörung auf den gesamten Organismus besteht ein deutlich erhöhtes Risiko für peri- und postoperative Komplikationen.
Schwere der Vorerkrankung bzw. nach Art der Operation großvolumige Zugänge und ein invasives Monitoring (arterielle Blutdruckmessung, arterielle Blutgasanalysen, zentraler Venenkatheter) notwendig. Zur Überwachung der Nierenfunktion und des Volumenstatus ist das Legen eines Blasenkatheters sinnvoll. ! Bei vorhandenen Ösophagusvarizen muss unter Umständen auf eine Magensonde verzichtet werden.
Beatmung. Um die Auswirkung der Beatmung auf die Leberdurchblutung gering zu halten, sollte ein möglichst geringer PEEP verwendet werden. Durch einen positiven endexspiratorischen Druck wird der intrathorakale Druck erhöht, der den venösen Rückfluss aus dem Bauchraum erniedrigt. Dadurch kommt es zu einem weiteren Anstieg des Pfortaderdrucks mit einer Reduzierung des hepatischen Blutflusses. Allerdings kann ein PEEP bei Patienten mit Aszites, pulmonalen Atelektasen und intrapulmonalen Shunts die Oxygenierung verbessern. Hier müssen bei der Narkoseführung und Beatmung also verschiedene Faktoren beachtet werden. Insgesamt gilt: ! PEEP bei Leberinsuffizienz so gering wie möglich.
Regionalverfahren. Aufgrund der geringen Beeinflussung
von Kreislauf und Atmung sollten Regionalanästhesieverfahren wann immer möglich bevorzugt werden. Bei Spinal- und Periduralanästhesien ist eine Hypotension zu vermeiden. Bei großen Eingriffen ist die Kombination von Epiduralanästhesie und Vollnarkose vorteilhaft: Die Sympathikolyse verbessert die Leberdurchblutung, Narkosemedikamente können eingespart werden, ein Medikamentenüberhang ist selten. ! Voraussetzung für regionale Anästhesie ist eine intakte Gerinnung!
25.4
Einzelne Erkrankungen
25.4.1 Hepatitis Wie bereits erwähnt, sind elektive Eingriffe bei Vorliegen einer akuten Hepatitis (akute Virushepatitis, alkoholische Hepatitis) zu verschieben. Erst vier Wochen nach Abklin-
25.4.2 Leberzirrhose
: Beispiel Ein 66 Jahre alter Mann (175 cm/84 kg) wird zur Anlage eines Ileostomas bei mechanisch bedingtem Ileus vorgestellt. Vorgeschichte: Die Übernahme auf die chirurgische Station war direkt von der internistischen Station erfolgt, wo der Patient bereits wiederholt zur Behandlung einer dekompensierten Leberzirrhose aufgenommen worden war. Aktuell litt er an Inappetenz, diffusen Bauchschmerzen und einer erheblichen Zunahme des Bauchumfangs. Die Diagnostik in der inneren Abteilung hatte folgende Ergebnisse gebracht: Dünndarmileus bei stenosierendem Tumor am terminalen Ileum, Leberzirrhose, Aszites, Splenomegalie, beginnende hepatische Enzephalopathie, Ösophagusvarizen, Refluxösophagitis, hämorrhagische Erosionen im Magen, prärenale akute Niereninsuffizienz. Präoperativ kam es unter Nahrungskarenz und bilanzierter intravenöser Flüssigkeitszufuhr zu einer Besserung der Nierenfunktion und der Ileussymptomatik. Trotz diuretischer Therapie und wiederholter Parazentese konnte der massive Aszites längerfristig nicht reduziert werden, die Gerinnungswerte verschlechterten sich. Interdisziplinär wurde der Beschluss zur notwendigen Darmoperation gefasst. Bei der Untersuchung zeigt sich ein deutlich vorgealterter Mann in stark reduziertem Allgemeinzustand. Präoperative Laborwerte: Quick 45 %, PTT 47 s, Hb 12,0 mg%, HK 36,6 %, Thrombozyten 206000/Pl, Cholinesterase 2,5 kU/l (normal: 5,0–13,0 kU/l), GOT, GPT und J-GT nur leicht erhöht, Kreatinin 1,4 mg/dl, Harnstoffstickstoff 30 mg/dl, Natrium 138 mmol/l, Kalium 4,0 mmol/l. Vormedikation: Aldactone, Furosemid, Ciprofloxacin, Metronidazol, Omeprazol, Vitamin K. Der Patient wird parenteral über einen zentralen Venenkatheter ernährt. Die Röntgenthorax-Aufnahme ist unauffällig, das EKG normal. Im OP-Vorbereitungsraum hat der Patient eine Sauerstoffsättigung von 96 %, RR 120/70, Herzfrequenz 95/min. Nach Präoxygenierung wird eine RSI durchgeführt mit Pro6
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Kapitel 25 · Lebererkrankungen
pofol 180 mg, Succinylcholin 100 mg. Die Narkose wird aufrechterhalten mit Propofol und Bolusgaben von Sufentanil, als Relaxans wird cis-Atracurium verwendet. Auf eine Magensonde wird aufgrund der Ösophagusvarizen verzichtet. Eine arterielle Kanüle wird gelegt, die durchgeführten Blutgasanalysen zeigen Normalwerte. Die Ileozökalresektion wird durchgeführt und ein Ileostoma angelegt. Der Blutverlust beträgt etwa 500 ml. Bei diffuser Blutungsneigung müssen perioperativ 8 Frischplasmen und 2 Erythrozytenkonzentrate transfundiert werden. Postoperativ wird der Patient extubiert auf die Intensivstation verlegt. Es kommt postoperativ wiederum zu steigenden Retentionswerten. Unter bilanzierter Flüssigkeitstherapie und diuretischer Medikation bessern sich die Werte im weiteren Verlauf und die Rückverlegung auf die Normalstation er folgt am 3. postoperativen Tag. Bei der Rückverlagerung des Ileostomas einige Wochen später kommt es wiederum zu einem verlängerten Intensivaufenthalt aufgrund einer postoperativ dekompensierten Niereninsuffizienz bei hepatorenalem Syndrom.
: Beispiel Ein 50-jähriger Mann (178 cm, 97 kg) wird vorgestellt zur Billroth-I-Resektion bei Antrumtumor. Diagnosen: stenosierender Antrumtumor, KHK (Z.n. Stentimplantation), Diabetes mellitus Typ 2, ethyltoxische Hepatopathie mit Gerinnungsstörung und Thrombozytopenie, Ösophagusvarizen Grad I, Hypokaliämie. Medikation: Lisinopril, ASS (Pause), Glibenclamid, Bisoprolol. Echokardiographie: leicht eingeschränkte linksventrikuläre Funktion, sonst unauffällig. Sono Abdomen: erhöhter Pfortaderdruck, Splenomegalie. EKG: normal. Die Operation wird aus chirurgischer und anästhesiologischer Sicht ohne Komplikationen durchgeführt. Histologisch zeigt sich ein Magenkarzinom pT1N0pR0, G2. Postoperative Laborwerte: Hb 7,5 mg%, HK 23,3 %, Thrombozyten 38000/Pl, Quick 50 %, PTT 33 s, J-GT 162 U/l, Bilirubin 5,5 mg%, Gesamteiweiß 48g/l, Kalium 3,7 mmol/l, Kreatinin 0,6 Pmol/l, Ammoniak 85 Pmol/l. Postoperativ kommt es auf der Intensivstation zu einer schweren Vigilanzstörung bedingt durch die Exazerbation einer hepatischen Enzephalopathie. Der Patient ist nicht orientiert, nicht kooperativ. Wiederholt treten dann auch Grand-mal-Anfälle auf. Es erfolgt in Absprache mit den Neurologen eine antikonvulsive Therapie. Der Patient wird schließlich zunehmend somnolent, reagiert nur ungezielt auf Schmerzreize. Ein durchgeführtes NMR des Schädels zeigt eine globale Atrophie, am ehesten ethyltoxisch bedingt. Erst nach einigen Tagen Intensivtherapie
kommt es langsam zu einer Besserung des Allgemeinzustands und auch zu einer Verbesserung des neurologischen Zustandes. Der Patient kann schließlich 8 Wochen nach der Operation nach Hause entlassen werden.
25.4.3 Leberresektion Bei Operationen an der Leber ist immer mit großen Blutverlusten zu rechnen. Ausreichend großvolumige Zugänge, invasives Monitoring, Temperatursonde, Blasenkatheter und Wärmemaßnahmen sind notwendig. Blutkonserven sind ausreichend bereit zu stellen. Verbesserte chirurgische Techniken (Ultraschalldissektor, Argon-beam-Koagulation, vorübergehende Gefäßabklemmung) haben zu einer Verminderung des Blutverlusts geführt. Aus anästhesiologischer Sicht ist eine Volumenüberladung zu vermeiden. Um den Volumenstatus zu kontrollieren, sind die absoluten ZVD-Werte ungenügend. Bessere Aussagen erhält man durch Herzfrequenz, ZVD-Trends, arteriellen Blutdruck, Blutgasanalysen und Diurese. In manchen Fällen kann ein Nitroglyzerin-Perfusor niedrig dosiert durch venöses pooling eine Volumenüberladung vermeiden helfen. ! Flüssigkeitsrestriktion – unter Voraussetzung einer ausreichenden Nierenfunktion und eines stabilen Kreislaufs – ist bei Leberresektionen eine effektive Maßnahme zur Reduzierung des Blutverlustes!
Literatur Bleyl JU, Koch T, List WF (2003) Lebererkrankungen und Anästhesie. In: List W, Osswald PM, Hornke I (Hrsg) Komplikationen und Gefahren in der Anästhesie. Springer, 4. Aufl., Berlin Heidelberg New York, S. 233–249 Puccini M, Nöldge-Schomburg G (2001) Anästhesie und Leber. In: Anästhesiologie & Intensivmedizin, 42: S. 895–907 Roewer N, Thiel H (1999) Anästhesie compact. 2. Aufl., Thieme, Stuttgart Zalunardo MP (2003) Anästhesiologisches Management bei Leberresektion und Kryochirurige der Leber. In: Anaesthesist, 52: S 89–97
26 Endokrine Erkrankungen Iris Kraus, Dirk Pappert 26.1 Erkrankung der Schilddrüse und Nebenschilddrüse –264 26.1.1 26.1.2 26.1.3 26.1.4 26.1.5 26.1.6 26.1.7 26.1.8 26.1.9
Erkrankungen der Schilddrüse –264 Euthyreote Struma –264 Hypothyreose –264 Hyperthyreose –264 Morbus Basedow –265 Anästhesiologische Besonderheiten bei Schilddrüsenerkrankungen –265 Erkrankungen der Nebenschilddrüse –266 Hyperparathyreoidismus –266 Hypoparathyreoidismus –267
26.2 Erkrankungen der Nebenniere –267 26.2.1 26.2.2 26.2.3 26.2.4 26.2.5 26.2.6
Diagnostik –268 Nebennierenrindenüberfunktion( Morbus Cushing) –268 Nebennierenrindenunterfunktion (Morbus Addison) –270 Hyperaldosteronismus (Conn-Syndrom) –270 Hypoaldosteronismus –271 Phäochromozytom –271
26.3 Erkrankungen der Hypophyse –272 26.3.1 Akromegalie –273 26.3.2 Diabetes insipidus –273 26.3.3 Schwartz-Bartter-Syndrom (SIADH) –274
26.4 Endokrine Tumore des gastroenteropankreatischen Systems –274 26.4.1 Karzinoid –274
Literatur –275
264
Kapitel 26 · Endokrine Erkrankungen
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Das endokrine System ist die Gesamtheit aller hormonbildenden Organe und Zellen und besitzt eine wichtige Funktion in der Aufrechterhaltung der Homöostase der Körperfunktionen. Durch Störungen einzelner oder komplexer Hormonproduktionen oder -wirkungen entstehen unterschiedlichste Krankheitsbilder, mit denen sich der Anästhesist vor allem bei operativen Eingriffen konfrontiert sieht. In diesem Kapitel werden die einzelnen endokrinen Erkrankungen und das entsprechende anästhesiologische Management dargestellt.
26.1
Erkrankung der Schilddrüse und Nebenschilddrüse
tonome Knoten produzieren Schilddrüsenhormone unabhängig von einer Stimulation durch TSH. Zur Diagnose ist neben den klinischen Zeichen der Struma die Labordiagnostik mit Bestimmung des freien T3 und T4 sowie des TSH grundlegend. Die euthyreote Struma zeigt keine Veränderung der Laborwerte. Normale oder erhöhte Serumkonzentrationen an freiem T3 und T4 und ein erniedrigtes TSH weisen auf autonome Knoten hin. Therapie der Wahl ist die Substitution von Schilddrüsenhormon, vorzugsweise mit Levothyroxin (T4). Knotige Veränderungen mit Malignitätsverdacht oder Symptome durch Raumforderung sind eine Indikation zur chirurgischen Intervention.
26.1.3 Hypothyreose 26.1.1 Erkrankungen der Schilddrüse
Die Hypothyreose resultiert entweder aus einer primären Schilddrüsenunterfunktion oder entsteht sekundär nach Resektion der Schilddrüse oder nach Radiojodtherapie.
Allgemeines Schilddrüsenhormone werden in der Schilddrüse durch Jodierung von Thyrosin synthetisiert. Die Schilddrüse sezerniert das stoffwechselinaktivere T4 (3,5,3‘,5‘-Tetrajodthyronin) und das stoffwechselaktive T3 (3,5,3‘ Trijodthyronin), das auch durch periphere Dejodination aus T4 entstehen kann. Die Ausschüttung der Hormone wird über die Hypothalamus-Hypophysen-Achse durch Ausschüttung von TRH (thyreotropin releasing hormone) und TSH (Thyreotropin, thyreoidea stimulating hormone) gesteuert. Die physiologische Wirkung der Schilddrüsenhormone beinhaltet eine Steigerung der Katecholaminwirkung durch eine erhöhte Aktivierung der K+-Na+-ATPase sowie eine Induktion der Lipolyse und der Glykogenolyse. Die Folge ist eine Erhöhung des Gesamtmetabolismus mit gesteigertem O2Verbrauch.
26.1.2 Euthyreote Struma Die Jodmangelstruma infolge alimentären Jodmangels tritt bei Frauen mit einer 5fach höheren Inzidenz als bei Männern auf. Im Vordergrund stehen die Folgen der räumlichen Verdrängung wichtiger Strukturen des oberen Mediastinums und des Halses. Typische Symptome sind Schluckstörungen, Stridor und eine obere venöse Einflussstauung. In knotigen Bezirken kann es mit zunehmendem Alter zu Veränderungen mit autonomen Bezirken (so genannten heißen Knoten) oder kalten Knoten mit Malignitätsverdacht kommen. Au-
Anästhesiologisch relevante Symptome der Hypothyreose 5 5 5 5 5
Müdigkeit Adynamie Kälteintoleranz Low-voltage-EKG, AV-Block, Sinusbradykardie Hypovolämie (periphere Vasokonstriktion)
Diagnose: Die Laborwerte zeigen eine Erniedrigung aller
Schilddrüsenhormone. Die primäre Hypothyreose unterscheidet sich von der sekundären Form durch einen hohen TSH-Spiegel, der im Fall der sekundären Hypothyreose niedrig bis normal ist und durch TRH-Gabe ansteigt. Das Myxödemkoma als vital bedrohliche Entgleisung einer Hypothyreose ist durch den verminderten Atemantrieb, fehlende Schutzreflexe und daraus resultierende respiratorische Komplikationen sowie durch Bradykardie und Hypotonie gekennzeichnet und erfordert eine intensivmedizinische Therapie mit langsamer Substitution von Schilddrüsenhormonen.
26.1.4 Hyperthyreose Ausgelöst werden kann eine Hyperthyreose durch die unkontrollierte Sekretion von Schilddrüsenhormonen aus autonomen Schilddrüsenknoten. Eine exogene Jodzufuhr führt zu einem exzessiven Anstieg der Hormonsynthese,
265 26.1 · Erkrankung der Schilddrüse und Nebenschilddrüse
der auch noch mehrere Wochen nach Exposition auftreten kann. Die klinischen Symptome der Hyperthyreose spiegeln die gesteigerte Wirkung der Schilddrüsenhormone wider. Es liegt eine adrenerge Stoffwechselsituation bei nicht erhöhtem Katecholaminspiegel vor. Vermutlich beruhen die kardialen Symptome auf einer erhöhten, hormonbedingten Sensitivität des Herzens auf Katecholamine oder auf einer direkten Beeinflussung der myokardialen Kontraktilität durch T3. Es kommt zu Wärmeentwicklung und erhöhtem Energieumsatz. Infolge der peripheren Vasodilatation tritt eine relative Hypovolämie auf. Die thyreotoxische Krise ist ein lebensbedrohliches Krankheitsbild mit einer hohen Letalität. Im Vordergrund stehen Hyperthermie, Dehydratation, Rhabdomyolyse mit Vorhofflimmern und Herzversagen. Laborchemisch zeigen sich Hypokaliämie, Hypophosphatämie und Hyperkalzämie. Diagnose. Anästhesiologisch relevante Symptome der Hyperthyreose zeigt die Übersicht:
Anästhesiologisch relevante Symptome der Hyperthyreose 5 Tachykardie, Extrasystolen, Vorhofflimmern, Herzinsuffizienz 5 Schwitzen 5 Feinschlägiger Tremor 5 Muskelschwäche 5 Diarrhö 5 Katabolie
Bei der Therapie steht die Suppression der Hormonsynthese durch Thyreostatika im Vordergrund. Thiourazilderivate oder Thionamide verhindern die intrathyroidale Hormonsynthese, während Lithium und Jodid die Aufnahme von Jod in die Schilddrüse hemmen. β-Blocker können ergänzend zur Reduktion der katecholaminbedingten Symptome und zur Reduktion der peripheren Konversion der Schilddrüsenhormone eingesetzt werden. Die Thyreoidektomie ist bei Versagen der thyreostatischen Therapie auch in der nicht-euthyreoten Stoffwechsellage indiziert. ! Die Diagnose einer euthyreoten Stoffwechsellage orientiert sich unter anästhesiologischen Aspekten an den klinischen Symptomen und nicht an Laborparametern.
26.1.5 Morbus Basedow Der M. Basedow basiert auf einer Autoimmunerkrankung und kann mit einer Hyperthyreose verbunden sein. Charakteristisch ist die so genannte Merseburger Trias mit Struma, Hyperthyreose und Exophthalmus. Das diagnostisches Vorgehen sowie Klinik und Folgen entsprechen den Krankheitsbildern der Struma bzw. der Hyperthyreose.
26.1.6 Anästhesiologische Besonderheiten
bei Schilddrüsenerkrankungen Präoperativ sollte eine klinisch euthyreote Stoffwechselsituation vorliegen, diese ist aber keine unbedingte Voraussetzung zur Operation. Zu den präoperativen Untersuchungen gehören aktuelle Schilddrüsenwerte, Blutbild, Elektrolyte, EKG und ein Röntgenthorax. Röntgenuntersuchungen (Trachea-Zielaufnahme) sind bei Verdacht auf Trachealverlagerung oder Trachealkompression und eine Lungenfunktionsanalyse bei großen Strumen notwendig. Eine HNO-ärztliche Untersuchung dient zur Klärung einer präoperativen Rekurrensparese bei Stridor oder Heiserkeit. Die Prämedikation muss bei hyperthyreoter Stoffwechsellage im oberen Dosisbereich erfolgen, bei hypothyreoten Patienten sollte die Prämedikation aufgrund einer möglichen ausgeprägten Atemdepression im unteren Dosisbereich liegen. Bei euthyreoter Stoffwechsellage besteht kein erhöhtes Narkoserisiko, somit werden das Anästhesieverfahren und das Monitoring nach den Begleiterkrankungen ausgewählt. Neben Intubationsschwierigkeiten durch Verlagerung oder Kompression der Trachea während der Einleitung kann es bei großen retrosternalen Strumen durch Relaxierung zu einem »mediastinal mass syndrome« kommen. Aus diesem Grund sollte eine fiberoptische Wachintubation in Betracht gezogen werden. Bei der Lagerung ist auf die operationstechnisch bedingte Reklination des Kopfs (Kopf darf nicht frei hängen!) und die Armlagerung (Überdehnung des Plexus!) zur Vermeidung von Nervenschädigungen zu achten (Lagerung erfolgt durch den Operateur!). Der Einsatz von Spiraltuben reduziert die Gefahr des Abknickens, eine gute Fixierung das Risiko der Dislokation des Tubus. Zum Schutz vor Druckläsionen und Ulzerationen können Augensalbe und ein Augenschutz verwendet werden. Beim Einsatz eines intraoperativen Neuromonitorings des N. recurrens sollte ein kurz wirksames Muskelrelaxans gewählt und auf eine Nachrelaxierung verzichtet werden.
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Kapitel 26 · Endokrine Erkrankungen
Komplikationen. Erhöhte Blutverluste bei großen Strumen, Luftembolie bei leicht angehobenem Oberkörper, Bradykardien durch die Manipulation am Karotissinusknoten, Tachykardien und Hypertensionen durch die Freisetzung von Schilddrüsenhormonen können das Anästhesiemanagement erschweren. Eine gute postoperative Überwachung ist wichtig, da nach der Extubation mit einer Rekurrensparese oder einem Glottisödem mit Stridor gerechnet werden muss, welche ggf. eine Reintubation notwendig machen. Späte Komplikationen entstehen durch Nachblutungen im Wundbereich, die die Atemwege einengen können. Durch Entfernen der Epithelkörperchen kann postoperativ eine Hypokalzämie auftreten. Es besteht die Gefahr von Atemwegskomplikationen! Tipps
Operationen an der Schilddrüse – so machen wir es: Präoperativ 5 Aktuelle Schilddrüsenwerte, Blutbild, Elektrolyte, Gerinnungsparameter, EKG, Röntgenthorax (Trachealverlagerung) beurteilen 5 HNO-Konsil bei Heiserkeit/Stridor 5 Erythrozytenkonzentrate sind nur bei ausgedehnter retrosternaler Struma nötig 5 Die Prämedikation erfolgt unter Berücksichtigung der Stoffwechsellage 5 Bei einer Hyperthyreose erfolgt die thyreostatische Therapie und Medikation mit E-Blockern bis einschließlich OP Tag 5 Der hypothyreote Patient erhält eine Hormonsubstitution bis zum OP Tag; bei zusätzlicher Nebenniereninsuffizienz ist die präoperative Gabe von Hydrocortison (100–200 mg i.v.) er forderlich Anästhesie Die Intubationsnarkose ist das Ver fahren der Wahl. Bei der Einleitung wird auf Medikamente mit Katecholamin freisetzenden oder Arrhythmie induzierenden Eigenschaften verzichtet. Die Aufrechterhaltung der Narkose erfolgt mit balancierter Anästhesie oder alternativ als TIVA. Das Monitoring er folgt über EKG, nichtinvasive Blutdruckmessung, Pulsoxymetrie, Kapnometrie. Bei Rezidivstruma oder großer, retrosternaler Struma wird eine Magensonde zur besseren chirurgischen Orientierung gelegt. Evtl. kommen Temperaturmessung, Blasenkatheter und 2 periphere Zugänge zum Einsatz. Ein erweitertes Monitoring ist von den Begleiterkrankungen abhängig. 6
Postoperativ 5 Möglichkeit zur zügigen Reintubation muss gegeben sein! 5 Prüfung der Phonation 5 Ausschluss von Stridor nach Extubation 5 Aufwachraum, evtl. Wachstation 5 Kalziumkontrollen bei totaler oder subtotaler Thyreoidektomie (4–6 h)
Erweiterte Therapiemaßnahmen Manifeste Hyperthyreose oder thyreotoxische Krise: Er-
weitertes Monitoring durch invasive Druckmessung und Temperaturmessung, Therapie der Hyperthyreose mit EBlockern (z. B. Esmolol 0,5 mg/kg KG), Methimazol (80 mg i.v., anschl. 200 mg/24 h) und Glukokortikoiden. Postoperativ ist eine intensivmedizinische Betreuung nötig. Schwere Hypothyreose oder Myxödemkoma: Die Sensibi-
lität für Sedativa, Anästhetika und Muskelrelaxanzien ist erhöht. Bei intraoperativer kardiovaskulärer Instabilität ist eine intraoperative Substitution von Schilddrüsenhormonen (T3 25–50 Pg i.v. oder T4 100–500 Pg) und Kortison (100–200 mg i.v.) nötig.
26.1.7 Erkrankungen der Nebenschilddrüse Parathormon, ein in den 4 Epithelkörperchen (Nebenschilddrüsen) produziertes Polypeptid, reguliert im Wesentlichen den Kalzium- und Phosphat-Haushalt. Kalzium ist im Blut zu 45 % an Albumin, zu 10 % an Phosphat oder Zitrat gebunden. Die Albumin-Kalzium-Bindung ist pH-abhängig und kann daher durch eine Alkalose erhöht, durch eine Azidose gesenkt werden. Nur der ungebundene, ionisierte Anteil (ca. 45 %) ist physiologisch wirksam und kann renal eliminiert werden.
26.1.8 Hyperparathyreoidismus Eine primäre Überfunktion der Nebenschilddrüse ist meist die Folge eines Adenoms. Klinische Symptome sind neben einer Hyperkalzämie mit Muskelschwäche, Nephrolithiasis mit Nierenversagen, Magenulzera, Erbrechen und Übelkeit (»Stein, Bein, Magenpein«).
Anästhesiologische Besonderheiten Präoperativ ist aufgrund der erhöhte Magensäuresekretion und der häufig bestehenden Übelkeit mit Erbrechen
267 26.2 · Erkrankungen der Nebenniere
die Therapie mit H1–Blockern und Antiemetika indiziert. Eine mögliche präoperative Hyperkalzämie sollte durch eine forcierte Diurese (Volumengabe, Schleifendiuretika) therapiert werden. In schweren Fällen oder bei niereninsuffizienten Patienten muss eine Hämodialyse präoperativ durchgeführt werden. Bei der Prämedikationsvisite sind besonders der Elektrolythaushalt (Kalzium, Kalium, Magnesium, Phosphat), die Nierenfunktion, mögliche EKG-Veränderungen (Tachykardien, Rhythmusstörungen, verkürzte PQ-Zeit und QT-Intervall) und ein arterieller Hypertonus zu beachten. Das intraoperative anästhesiologische Management entspricht dem der Schilddrüsenoperationen. Postoperativ können wie bei der Schilddrüsenoperation eine Rekurrensparese mit Stridor, Nachblutungen, Weichteilschwellungen und ein durch Hypokalzämie hervorgerufener Laryngospasmus auftreten.
26.1.9 Hypoparathyreoidismus Die Insuffizienz der Nebenschilddrüse beruht in der Mehrzahl der Fälle auf einer therapeutisch bedingten Resektion oder Schädigung. Die Folge ist eine ausgeprägte Hypokalzämie mit Tetaniegefahr, Laryngospasmus und kardialen Blockbildern (verlängertes QT-Intervall und mögliche 2:1 Blockierung).
Anästhesiologische Besonderheiten Die Symptome der Hypokalzämie treten hier in den Vordergrund der präoperativen Evaluation. Präoperativ kann eine Kalziumsubstitution unter EKG-Kontrolle und engmaschigem Monitoring des ionisierten Serumkalziumspiegels notwendig sein. Es ist wichtig, auf eine mit dem Krankheitsbild häufig vergesellschaftete Hypomagnesämie (ionisiertes Magnesium < 0,45 mmol/l) mit Herzrhythmusstörungen und neuromuskulärer Übererregbarkeit sowie auf eine Hypophosphatämie (PO4 < 2,5 mg/dl) mit Kontraktilitätsstörungen des Herzens, Thrombozytenfunktionsstörungen, Hämolyse und Rhabdomyolyse zu achten. Die symptomatische Therapie erfolgt durch die Substitution von Kalzium, Magnesium und Phosphat. Ein invasives Monitoring ist bei entsprechenden Vorerkrankungen, Herzrhythmusstörungen oder instabiler Hämodynamik indiziert. Postoperativ sind engmaschige Kontrollen der Kalzium-, Magnesium- und Phosphatspiegel durchzuführen.
Tipps
Parathyreoidektomie – so machen wir es: Präoperativ (wie bei Schilddrüsenoperationen) 5 Kalzium- und Kaliumserumspiegel bestimmen 5 Bei Niereninsuffizienz evtl. präoperative Dialyse 5 Keine elektiven Eingriffe bei Hyperparathyreoidismus mit Hyperkalzämie! 5 Forcierte Diurese: Furosemid (10—20 mg i.v.) + NaCl 0,9 % 5 Anheben des Serumkaliums in hochnormale Bereiche 5 Hyperventilation Anästhesie (wie bei Schilddrüsenoperationen) 5 Bei Niereninsuffizienz wird Cis-Atracurium (0,1 mg/kg KG) als Relaxans eingesetzt 5 Notfalleingriffe mit Hyperkalzämie: 5 Forcierte Diurese: Furosemid (10 –20 mg i.v.) + NaCl 0,9 % 5 Anheben des Serumkaliums in hochnormale Bereiche 5 Hyperventilation 5 Intraoperative Hämodialyse 5 Cave: Digitalisgabe bei Hyperkalzämie Postoperativ (wie bei Schilddrüsenoperationen) 5 Zusätzlich regelmäßige Kontrolle der Kalzium-, Magnesium- und Phophatserumspiegel
26.2
Erkrankungen der Nebenniere
In der Nebenniere lassen sich histologisch und physiologisch Nebennierenrinde und Nebennierenmark abgrenzen. Die Blutversorgung erfolgt hauptsächlich über die Aorta, die A. mesenterica inferior und die A. renalis. In der Nebennierenrinde werden Gluko- und Mineralokortikoide sowie Androgene synthetisiert. Die Mineralokortikoide (hauptsächlich Aldosteron) spielen eine wesentliche Rolle bei der Homöostase des Wasser- und Elektrolythaushalts. Über den Renin-Angiotensin-Mechanismus wird bei einem Abfall des renalen Blutflusses in den afferenten Arteriolen zuerst Renin aus dem juxtaglomerulären Apparat freigesetzt. Danach wird Angiotensin I in Angiotensin II umgewandelt, dieses stimuliert dann im hohen Maße die Aldosteronsekretion. Aldosteron wiederum steigert die renale Natriumretention und die Ausscheidung von Kalium, Wasserstoffionen, Kalzium und Magnesium. Eine geringere Stimulation tritt bei einer Hyperkaliämie,
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Kapitel 26 · Endokrine Erkrankungen
Hyponatriämie und durch ACTH (adrenokortikotropes Hormon) auf. Die Produktion der Glukokortikoide wird über die hypothalamisch-hypophysäre Achse (Corticotropin releasing hormone CRH und ACTH) reguliert. Vor allem Kortisol und im geringeren Maße Kortison werden nach einem zirkadianen Rhythmus sezerniert. Das Maximum der Ausschüttung liegt am frühen Morgen, das Minimum um Mitternacht. Die tägliche Produktionsrate liegt zwischen 20–300 mg. Kortisol steigert die Glukoneogenese und damit den Blutzuckerspiegel. So können schnell verfügbare Energieträger bereitgestellt werden. Weiterhin erhöht Kortisol die Lipolyse und die Proteinolyse. Hieraus resultiert eine katabole Stoffwechsellage. Die geringe mineralokortikoide Wirkung des Kortisols (1/1000 der Wirkung von Aldosteron) führt zu renaler Kaliumausscheidung und Natriumretention. Ein über einen längeren Zeitraum bestehender Hyperkortisolismus führt zu einer arteriellen Hypertonie, zu Osteoporose und zu einer Umverteilung des Körperfetts mit Stammfettsucht. Durch erhöhte Kortisolspiegel werden über Feedbackmechanismen ACTH, FSH, LH, TSH und STH supprimiert. Extreme körperliche Anstrengung, Stress oder schwere Krankheitsbilder (z. B. Sepsis) führen zu einer erhöhten Kortisolausschüttung. Kortisol hat hier eine protektive Wirkung. Jedoch liegt bei der Sepsis häufig ein relativer oder absoluter Kortisolmangel vor. Die wichtigste therapeutische Wirkung von Glukokortikoiden ist die Verhinderung oder Unterdrückung einer Entzündungsreaktion. Die Wirkung von Katecholaminen am Herzen und v. a. von Noradrenalin an den Gefäßen wird durch Glukokortikoide und Mineralokortikoide verstärkt. ! Glukokortikoide wirken auf den Glukose-, Protein- und Fettstoffwechsel. Mineralokortikoide beeinflussen den Elektrolyt- und Wasserhaushalt.
Katecholamine werden im Nebennierenmark syntheti-
siert. Hier wird aus Tyrosin über die Zwischenstufen Dopa und Dopamin Noradrenalin synthetisiert. Durch das Enzym Noradrenalin-N-Methyltransferase wird Noradrenalin in Adrenalin umgewandelt. Die Aktivität des Enzyms wird direkt über die lokale Kortisolkonzentration im Nebennierenmark gesteuert. Die Ausschüttung der Katecholamine wird neuronal gesteuert.
26.2.1 Diagnostik Die Funktion des Nebennierenmarks wird über die Bestimmung der Katecholamine und deren Abbauprodukten im
Serum und Urin erfasst, z. B. durch die Bestimmung der Vanillinmandelsäure im 24-h-Urin. Eine Nebennierenmarkinsuffizienz wird klinisch über eine verminderte sympathikotone Reaktion auf Stimulation festgestellt. Die Funktion der Nebennierenrinde wird durch die Messung der Hormone einschließlich ACTH im Serum und durch drei Testverfahren zur Untersuchung der Hypothalamus-Hypophysen-Nebennierenrinden-Achse erfasst. Der ACTH-Test bestimmt die Ansprechbarkeit der Nebenniere auf zentrales ACTH – durch die Gabe von ACTH erfolgt im Normalfall ein Anstieg des Serumkortisols. Der CRH-Stimulationstest dient der Funktionsprüfung des hypophysären Anteils des Regelkreises – nach Gabe von CRH erfolgt die Messung des ACTH-Anstiegs. Der Dexamethason-Hemmtest dient dem Nachweis eines zentralen Hyperkortisolismus. Nach Gabe von 1–3 mg Dexamethason (gegen Mitternacht) wird morgens der Plasmakortisolspiegel bestimmt. Die adrenale Kortisolproduktion sollte supprimiert sein.
26.2.2 Nebennierenrindenüber funktion
(Morbus Cushing) Exogene Form. Durch die therapeutische Gabe von Gluko-
kortikosteroiden kann iatrogen ein M. Cushing entstehen. Endogene Form. Der Hyperkortisolismus wird hervorgerufen durch eine hypophysäre Überproduktion von ACTH (zentrales Cushing-Syndrom), durch ein paraneoplastisches Syndrom mit ACTH Ausschüttung (ektopes Cushing-Syndrom) oder durch einen Kortisol produzierenden Tumor der Nebennierenrinde (adrenales Cushing-Syndrom). Ab einer Sekretionsmenge von 30 mg/Tag Kortisol tritt das typische klinische Bild des M. Cushing auf (7 Übersicht). Symptome der Nebennierenrindenüberfunktion Arterieller Hypertonus Diabetische Stoffwechsellage Osteoporose mit schmerzlosen Spontanfrakturen Ischämische Herzerkrankung Hypokaliämie (selten < 3 mmol/l) Stammfettsucht mit Vollmondgesicht und Stiernacken Bei Frauen Virilisierung mit Hirsutismus, Störungen des Menstruationszyklus bis zur Amenorrhoe 5 Periphere Ödeme durch die mineralokortikoide Wirkung 5 Dünne, verletzliche Haut 5 5 5 5 5 5 5
269 26.2 · Erkrankungen der Nebenniere
Zur Diagnose des M. Cushing dienen der 4 Dexamethason-Suppressions-Test (niedrig dosiertes Dexamethason [1–3 mg] zum Nachweis des zentralen M. Cushing; hoch dosiertes Dexamethason [8 mg über 2 Tage] supprimiert die Kortisolproduktion bei hypophysärem M. Cushing) und der 4 CRH-Stimulationstest (die Gabe von 100 Pg CRH i.v. führt zum Anstieg der ACTH-Ausschüttung bei hypophysärem Hyperkortisolismus, bei einem adrenalen oder ektopen M. Cushing fehlt die ACTH-Ausschüttung) Von den radiologischen Untersuchungsverfahren werden die Computertomographie (CT) und die Magnetresonanztomographie (MRT) zur Lokalisation bei Tumorgenese eingesetzt. Zur Therapie dienen chirurgische und strahlentherapeutische Verfahren. Daneben kann die Kortisolsynthese bei ausgeprägtem M. Cushing und therapierefraktärer Überproduktion durch Ketoconazol (Nizoral) 1 u 200–400 mg/d oder Aminoglutethimid (Orimeten) 2–3 u 250 mg/d gehemmt werden. Tipps
Eingriffe bei Nebennierenrindenüberfunktion – so machen wir es: Präoperativ 5 Kontrolle des Volumen- und Elektrolythaushalts 5 EKG, evtl. Echokardiographie bei kardiovaskulären Symptomen 5 Einstellung des Hypertonus und des Diabetes mellitus Anästhesie Die Anästhetika werden nach den Begleiterkrankungen und der Operationsart gewählt. Bei manifesten Vorerkrankungen wird das Standardmonitoring durch invasive Druckmessung von ZVD und arteriellem Druck erweitert. Die Kontrolle der Elektrolyte, des Blutzuckers und des Säure-Base-Haushalts ist aufgrund der möglichen Begleiterkrankungen sinnvoll. Die potenziell mit einem M. Cushing vergesellschaftete Muskelschwäche erfordert bei Verwendung von Muskelrelaxanzien den Einsatz von neuromuskulärem Monitoring. Intraoperative Aspekte Die intraoperative und postoperative Kortisonsubstitution ist bei einer bilateralen Adrenalektomie essenziell, um einer Addison-Krise vorzubeugen (. Tab. 26.1 6
und 26.2). Ein Diabetes insipidus kann nach Hypophyseneingriffen auftreten. Postoperativ 5 Überwachungsstation 5 Adäquate Kortisonsubstitution 5 Kontrolle der Elektrolyte, des Blutzuckers und des Blutdrucks
. Tabelle 26.1. Substitutionsschema für Hydrokortison nach bilateraler Adrenalektomie Tag
Hydrokortison
Operationstag
250 mg i.v.
1. postoperativer Tag
100 mg i.v.
2. postoperativer Tag
100 mg i.v.
3. postoperativer Tag
50 mg i.v.
4. postoperativer Tag
50 mg i.v.
5. postoperativer Tag
morgens 25 mg p.o. abends 25 mg p.o.
6. postoperativer Tag
morgens 25 mg p.o. abends 25 mg p.o.
Dauertherapie
morgens 25 mg p.o. abends 12,5 mg p.o.
. Tabelle 26.2. Äquivalenztabelle für systemische Kortisonpräparate Substanz
Relative antiphlogistische Wirkung
Relative Mineralokortikoidwirkung
Kortisol
1
1
Kortison
8
0,8
Hydrokortison
1
1
Prednisolon
4
0,6
Prednison
4
0,6
Methylprednisolon
5
0
Dexamethason
30
0
Betamethason
30
0
26
270
Kapitel 26 · Endokrine Erkrankungen
! Pneumothorax und erhöhte Infektanfälligkeit sind häufige Komplikationen nach Adrenalektomie! Durch Stammfettsucht ist die Intubation häufig erschwert! Bei Osteoporose ist sorgfältige Lagerung wichtig!
26.2.3 Nebennierenrindenunter funktion
(Morbus Addison)
26
Primäre Nebennierenrindeninsuffizienz. Sie kann durch Ausfall oder die Minderung der Nebennierenrindenleistung durch Autoimmunprozesse, Einblutungen im Rahmen einer Sepsis (z. B. Waterhouse-Friedrich-Syndrom), Verbrennungen oder Durchblutungsstörungen bei einer heparininduzierten Thrombozytopenie Typ II auftreten.
Mineralokortikoidwirkung tritt das klinische Bild einer Addison-Krise auf. Symptome der Addison-Krise bei Nebennierenrindenunterfunktion 5 5 5 5 5 5 5
Hypotension Hypovolämie Hyponatriämie Hyperkaliämie Hypoglykämie Neuromuskulär bedingte Muskelschwäche Myokardinsuffizienz mit Pumpversagen durch verminderte Ansprechbarkeit des Myokards auf Katecholamine
Sekundäre oder tertiäre Nebennierenrindeninsuffizienz.
Diese Formen werden durch eine Störung der hypothalamischen oder hypophysären Hormonfreisetzung (CRH, ACTH) ausgelöst. Exogen verabreichtes Kortison ist eine Hauptursache für die sekundäre, iatrogene Nebennierenrindeninsuffizienz. Durch die Suppression der zentralen Nebennierenregulation kommt es zu einer Hypoplasie der Nebennierenrinde. Symptome der Nebennierenrindenunterfunktion 5 5 5 5
Müdigkeit, Adynamie Hyperpigmentierung Dehydratation, Elektrolytentgleisungen Koma
Primär wird die Diagnose aufgrund von Laborparametern gestellt (Hyponatriämie, Hyperkaliämie, erhöhter Harnstoffspiegel und erniedrigter Kortisolspiegel im Serum). ACTH im Serum ist bei der primären Form erhöht, bei der sekundären Form normal oder erniedrigt. ACTH-Gabe führt bei der primären Form nur zu einer unzureichendem Anstieg des Kortisolspiegels im Serum. Der Kortikotropin-Stimulationstest führt bei der Nebennierenrindeninsuffizienz zu keinem Anstieg des Kortisolspiegels. Zur Therapie ist bei der primären Form eine regelmäßige Substitution von Glukokortikosteroiden und Mineralokortikosteroiden (Astonin H 0,1–0,2 mg/d) notwendig. Der Substitutionsbedarf ist bei Infektionen, physischen oder psychischen Belastungen bis zum 5-fachen gesteigert. Addison-Krise. Durch Stresssituationen (z. B. Infektionen, Operationen) kann eine latente Nebennierenrindeninsuffizienz exazerbieren. Aufgrund der mangelnden Gluko- und
Zur Therapie der Addison-Krise ist schon bei Verdacht eine sofortige Gabe von 100 mg Hydrokortison i.v. indiziert. Eine Volumensubstitution erfolgt unter Berücksichtigung der Elektrolytentgleisung. Nicht empfohlen wird die Kaliumgabe, da nach Einsetzen der Kortisonwirkung eine Hyperkaliämie auftreten kann. Tipps
Nebennierenrindeninsuffizienz – so machen wir es: 5 Anästhesieverfahren und Monitoring hängen von den Begleiterkrankungen ab. 5 Ein präoperativer Ausgleich des Volumen- und Elektrolythaushalts ist notwendig. 5 Häufig vorliegende Übelkeit und Erbrechen werden durch H1-Blocker und Antiemetika therapiert.
26.2.4 Hyperaldosteronismus
(Conn-Syndrom) Primärer Hyperaldosteronismus. Diese Form wird meist durch ein Adenom, selten durch ein Karzinom der Nebennierenrinde hervorgerufen. Sekundärer Hyperaldosteronismus. Die sekundäre Form wird durch eine erhöhte Freisetzung von Renin aufgrund einer arteriellen Perfusionsstörung der Nieren ausgelöst. Die exogene Stimulation der Aldosteronsekretion führt zu einer Hyperplasie der Zona glomerulosa. Aldosteron führt zur renalen Natriumretention, Kalium- und Wasserstoffionensekretion mit einer Zunahme des zirkulierenden Blutvolumens.
271 26.2 · Erkrankungen der Nebenniere
Symptome des Hyperaldosteronismus 5 5 5 5 5 5
Hypertonie Hypokaliämie Alkalose Hyperglykämie möglich Verwirrtheitszustände Polydypsie, Polyurie
Die Diagnose wird durch Bestimmung der Aldosteronund Reninspiegel im Serum gesichert, jedoch sollten Medikamente mit Einfluss auf das Renin-Angiotensin-System (z. B. E-Blocker, Diuretika) vor der Bestimmung abgesetzt werden. Zur antihypertensiven Therapie kommen Aldosteronantagonisten zum Einsatz (z. B. Spironolakton 100– 200 mg/Tag für 3–6 Tage, bei Bedarf bis zu 400 mg, Erhaltungsdosis 50–100 mg). Bei einem Nebennierentumor ist die chirurgische Resektion die Therapie der Wahl.
26.2.5 Hypoaldosteronismus Es handelt sich um ein seltenes Krankheitsbild, das auf einem angeborenen Defekt der Aldosteron-Synthetase oder einer verminderten Reninfreisetzung beruhen kann. Ein sekundärer Hypoaldosteronismus kann iatrogen durch ACEHemmer, über eine verminderte Prostaglandinsynthese oder reversibel durch Indomethacin hervorgerufen werden.
tems. Noradrenalin wird sowohl im Nebennierenmark (NNM) als auch von postganglionären, sympathischen Nervenzellen gebildet. Zu 90 % sind die Tumore im NNM lokalisiert, können aber auch extramedullär entlang des Grenzstrangs liegen. Intraabdominal befinden sich 99 % der Tumore. Phäochromozytome können Noradrenalin und/oder Adrenalin produzieren, selten jedoch Dopamin. Die Inzidenz liegt bei 2 Fällen/1 Mio. Einwohner und ist bei 0,1–1 % der Hypertonien als Ursache zu sehen. Etwa 10 % der Tumore treten familiär auf und sind mit verschiedenen Syndromen familiärer Endokrinopathien vergesellschaftet, etwa 5 % sind maligne. Symptome des Phäochromzytoms 5 Symptomentrias: Passagerer Kopfschmerz, Schwitzen und Palpitationen 5 Arterielle Hypertonie, in 50 % der Fälle krisenhaft 5 Hypertensive Krisen mit zerebralen Blutungen, Herzinfarkt und -insuffizienz Herzrhythmusstörungen, Angina pectoris, Lungenödem 5 Flankenschmerz, abdominelle Beschwerden 5 Hautblässe, Tremor, Angstzustände 5 Gewichtsverlust Adrenalin produzierende Tumore: 5 Hypertonus mit niedriger Diastole und Tachykardie durch D- und E-Rezeptorenstimulation Noradrenalin produzierende Tumore: 5 Hypertonus mit kleiner Blutdruckamplitude und einer relativen Bradykardie durch D-Rezeptorenstimulation
Symptome des Hypoaldosteronismus 5 Hyperchlorämische Azidose bei normaler Nierenfunktion 5 Hyponatriämie 5 Orthostatische Hypotonie 5 Hyperkaliämie 5 Reizbildungs- und Reizleitungsstörungen im EKG
Die Therapie der Wahl besteht in der Gabe von Mineralokortikoiden (z. B. Fludrokortison 0,1–0,2 mg/Tag p.o.), Bestehende Elektrolytverschiebung sollten präoperativ durch Volumensubstitution und Steigerung der Diurese korrigiert werden.
26.2.6 Phäochromozytom Hierbei handelt es sich um Katecholamin produzierende Tumore chromaffiner Zellen des sympathoadrenalen Sys-
Die Diagnostik des Phäochromozytoms erfolgt über die Bestimmung von Adrenalin und Noradrenalin im 24Std.-Urin, der Katecholaminspiegel im Blut sowie über den Clonidin-Hemmtest (bei Vorliegen eines Phäochromozytoms werden die Katecholaminspiegel im Blut durch Clonidin nicht beeinflusst). An bildgebenden Verfahren kommen CT und MRT sowie zur Lokalisation des Tumors der Metajodbenzylguanidin-Scan (MIBG-Scan) zum Einsatz. Durch Speicherung des radioaktiven Substrates in chromaffinen Zellen gelingt die Darstellung extraadrenaler Tumore mit 95 % Spezifität. Die Therapie der Wahl ist die chirurgische Entfernung nach präoperativer Optimierung des kardiovaskulären Zustands. Diese präoperative Einstellung erfordert Tage bis Wochen und wird mit einer Kombination von D- und E-Rezeptorenblockern durchgeführt. Wichtig ist der Ausgleich des relativen Volumenmangels.
26
272
Kapitel 26 · Endokrine Erkrankungen
Dosierung
26
Phenoxybenzamin (Dibenzyran): Beginn 1–3 Wochen vor dem Operationstermin, initial bei Erwachsenen über den Tag verteilt 10 mg, auf bis zu 100 mg steigerbar. Prazosin (Minipress): Initial 0,5 mg/Tag abends, langsame Steigerung in Abständen von 7 Tagen bis zur durchschnittlichen Erhaltungsdosis von 4 mg. Die Gabe von β-Blockern darf erst nach vorheriger α-Blockertherapie erfolgen!
Anästhesiologische Besonderheiten bei Phäochromozytom Ziel der Narkoseführung ist es, eine Katecholaminfreisetzung zu vermeiden und stabile Kreislauf- und Volumenverhältnisse durch den Einsatz kurzwirksamer Medikamente mit geringer kardiovaskulärer Beeinträchtigung zu erreichen. Die anästhesiologisch kritischen Momente sind die Einleitung und Intubation, der Operationsbeginn und die Manipulationen am Tumor. Durch den Einsatz von kurz wirkenden Vasodilatatoren und E-Blockern können akut auftretenden Tachykardien und Hypertensionen abgefangen werden und somit die hohe Gefahr des Myokardinfarktes, der Herzinsuffizienz oder der intrazerebralen Blutung reduziert werden. Nach der chirurgischen Unterbindung der abführenden Gefäße können ausgeprägt hypotensive Phasen auftreten, die mit ausreichender Volumengabe und dem Einsatz vasoaktiver Substanzen therapiert werden müssen. Bei beidseitiger Adrenalektomie wird bereits intraoperativ mit der Substitution von Hydrokortison begonnen. Tipps
Operation bei Phäochromozytom – so machen wir es: Präoperativ 5 Blutbild, Elektrolyte mit Kalzium, Kreatinin, Blutzucker, Urinstatus, EKG, Röntgenthorax 5 Ausreichende Prämedikation (z. B. 7,5–15 mg Dormicum p.o.) Anästhesie 5 Zur Narkoseeinleitung dienen Anästhetika mit einer geringen Histamin freisetzenden Wirkung. 5 Die Narkoseaufrechterhaltung kann über eine balancierte Anästhesie oder TIVA erfolgen. Monitoring 5 EKG, Pulsoxymetrie 5 Invasive Blutdruckmessung (evtl. vor Einleitung) 6
5 Zentraler Venenkatheter (bei Herzinsuffizienz), evtl. Pulmonaliskatheter bei V. a. katecholamininduzierte Kardiomyopathie 5 Blasenkatheter 5 Temperaturmessung, 5 Neuromuskuläres Monitoring Intraoperative Komplikationen 5 Krisenhafte Blutdruckanstiege: – Vertiefung der Narkose – Vasodilatatoren, z. B. Nitroprussid-Natrium (0,5–10 Pg/kg KG/min), steigende Dosierung 5 Persistierende Tachykardie: – E-Blocker, z. B. Esmolol (Brevibloc) 0,5 mg/kg KG i.v. 5 Herzrhythmusstörungen: – E-Blocker, Lidocain 5 Hypotension: – Die Unterbindung der venösen Tumorgefäße führt zu einem rapiden Abfall der Katecholaminspiegel und zu einer nachfolgenden Hypotension, deshalb ist eine ausreichende und frühzeitige Volumensubstitution mit kolloidalen und kristalloiden Lösungen unter Berücksichtigung der kardialen Funktion notwendig – Gabe von Vasopressoren (Noradrenalin, Adrenalin) Postoperativ Die Überwachung des Patienten auf der Intensivstation oder Überwachungsstation unter invasivem Monitoring ist sinnvoll. Bei einer beidseitigen Adrenalektomie ist eine Hydrokortison-Substitution er forderlich (. Tab. 26.1 und 26.2). Postoperative Komplikationen: Die Plasmakatecholaminspiegel sind bis zu 10 Tagen postoperativ erhöht (Speicherentleerung), somit bleibt die Gefahr einer persistierenden Hypertonie. Weiterhin können hypotensive Phasen durch die Down-Regulation der Katecholaminrezeptoren und noch vorhandene D-Blockade auftreten. Ein Rebound-Hyperinsulinismus durch E-Blocker ist mit Hypoglykämien verbunden und er fordert eine regelmäßige Blutzuckerkontrolle.
26.3
Erkrankungen der Hypophyse
Die Hypophyse besteht aus dem Hypophysenvorderlappen (Adenohypophyse) und Hypophysenhinterlappen (Neuro-
273 26.3 · Erkrankungen der Hypophyse
hypophyse) und liegt im Bereich der Sella turcica. Ca. 10 % der Hirntumore betreffen die Hypophyse. Hormonaktive Tumore im Hypophysenvorderlappen können z. B. ACTH (adrenokortikotropes Hormon) oder STH (Wachstumshormon) produzieren. Eine partielle oder globale Hypophyseninsuffizienz kann durch verdrängendes Tumorwachstum entstehen.
26.3.1 Akromegalie Häufigste Ursache ist ein hormonaktiver Tumor (somatotropes Adenom) im Bereich des Hypophysenlappens mit einer Überproduktion von STH (Wachstumshormon). Symptome der Akromegalie 5 Akro-Vizeromegalie – Prognathie des Unterkiefers, Makroglossie, Verdickung der Stimmbänder, subglottische Stenosen 5 Periphere Insulinresistenz – Hyperglykämie, Kalium-Natrium-Retention, Hypertonie, Osteoporose – Atherosklerose mit Kardiomegalie, Herzrhythmusstörungen – Hypertrophie des Bindegewebes mit Gefäßund Nervenkompression
Anästhesiologische Besonderheiten Aufgrund der Akromegalie kann es zu erschwerter Maskenbeatmung und Intubation kommen. Daher sollte die Indikation zur fiberoptischen Wachintubation großzügig gestellt werden. Die aufgeführten möglichen Symptome sind präoperativ abzuklären. Die Narkoseführung entspricht dem Vorgehen bei neurochirurgischen Eingriffen.
26.3.2 Diabetes insipidus Der Diabetes insipidus (DI) entsteht durch einen Mangel an ADH (antidiuretisches Hormon, Arginin-Vasopressin) oder die fehlenden Wirkung von ADH im distalen Tubulus der Niere. Neben einer familiären Belastung für einen Diabetes insipidus kommen für den zentralen Diabetes insipidus ZNS-Tumore, neurochirurgische Eingriffe und ein Schädel-Hirn-Trauma als Ursache in Betracht. Im Falle eines renalen Diabetes insipidus fehlt die ADH-Wirkung durch eine tubuläre Schädigung der Niere.
ADH steuert über die Rückresorption von Wasser im tubulären System der Niere die Serumosmolarität und das Blutvolumen. Symptome des Diabetes insipidus 5 Polyurie und Polydypsie mit Asthenurie 5 Ausscheidungsmengen von 5–25 l/24h hypotonen Urins 5 Hypertone Dehydratation (Serumosmolalität > 295 mosm/l, Na > 145 mval/l) 5 Hypotonie mit Hypernatriämie
Zur Diagnostik dienen der Durstversuch (die Urinosmolalität von < 300 mosmol/l wird durch den Durstversuch nicht beeinflusst) und der ADH-Test (beim zentralen Diabetes insipidus steigt die Urin-Osmolarität nach ADHGabe an, bei der renalen Form bleibt diese unverändert). Die Therapie des zentralen Diabetes insipidus erfolgt mit Desmopressin (Minirin oder Deamino-D-Argininvasopressin) i.v, i.m. oder s.c. (Erwachsenendosis 2 u 10–20 Pg/ Tag nasal bzw. 1–4 Pg/Tag i.v.). Beim renalen Diabetes insipidus kommen Thiaziddiuretika oder nichtsteroidale, antiinflammatorische Substanzen zum Einsatz. Tipps
Eingriffe bei Diabetes insipidus – so machen wir es: Präoperativ 5 Neben den Standarduntersuchungen für den operativen Eingriff wird besonders auf Volumenstatus, Elektrolyte, Serumosmolalität und Nierenfunktion geachtet. 5 Renale Flüssigkeitsverluste werden mittels isotoner Lösung ersetzt. 5 Am Morgen des Op-Tages erhält der Patient die Erhaltungsdosis Vasopressin. Anästhesie 5 Ein spezifisches anästhesiologisches Vorgehen existiert nicht, die Wahl der Anästhetika ist abhängig von den Vorerkrankungen und dem operativen Vorgehen. Monitoring 5 Dieses orientiert sich an den Begleiterkrankungen und dem Operationsverfahren. 5 Ein Blasenkatheter zur Kontrolle des Volumenhaushaltes ist unverzichtbar. 6
26
274
Kapitel 26 · Endokrine Erkrankungen
5 Regelmäßige Kontrollen des Serumnatriumspiegels und der Serumosmolalität sind wichtig. Postoperativ: 5 Postoperative Maßnahmen beinhalten die genaue Überwachung des Flüssigkeitshaushaltes und der Serumelektrolytspiegel.
ake and decarboxylation«) die hormonell aktiven Formen relevant. Entsprechend der produzierten Hormone treten metabolische Veränderungen (bei Bildung von Insulin und Glukagon) und/oder Herz-Kreislauf-Veränderungen (bei Bildung von Serotonin, Kallikrein oder Arachidonsäurederivaten) auf.
26.4.1 Karzinoid
26
26.3.3 Schwartz-Bartter-Syndrom (SIADH) Durch eine unangemessen hohe ADH-Sekretion kommt es zur Wasserretention. In 80 % der Fälle kommen als Ursache ein paraneoplastisches Syndrom beim kleinzelligen Bronchialkarzinom oder zentralvenöse und inflammatorische Prozesse (Pneumonie, Menigitiden) in Frage. Symptome bei Schwartz-Bartter-Syndrom 5 Hypotone Hyperhydratation 5 Stark konzentrierter Urin 5 Hyponatriämie
Die Therapie des auslösenden Grundleidens steht im Vordergrund. Durch Flüssigkeitsrestriktion erreicht man eine symptomatische klinische Besserung.
26.4
Endokrine Tumore des gastroenteropankreatischen Systems
Das Karzinoid geht zu 90 % von den neuroendokrinen Zellen des Gastrointestinaltrakts (Dünndarm 75 %, Appendix, Magen) aus, gefolgt von einer Lokalisation in der Lunge. In seltenen Fällen befindet sich der Tumor in der Leber, im Pankreas oder im Thymus. Durch die seltene Metastasierung und ein langsames Wachstum weisen die Tumore eine gute Prognose auf. Die durch die produzierten aktiven Hormone hervorgerufenen Symptome werden unter dem Begriff Karzinoidsyndrom zusammengefasst. Diese typischen klinischen Symptome treten erst bei der Freisetzung vasoaktiver Substanzen in den Blutkreislauf auf. Aufgrund der meist intestinalen Lokalisation der Tumore verhindert die Clearance-Funktion der Leber eine systemische Wirkung. Erst bei Überschreitung der Clearance-Funktion, systemischer Metastasierung oder extraportaler Lokalisation treten die typischen klinischen Symptome in den Vordergrund (. Tab. 26.3).
Für den Anästhesisten sind bei diesen Tumoren ektodermaler Herkunft (APUD-Zellsystem, »amine precursor upt-
. Tabelle 26.3. Karzinoidsyndrom – die wichtigsten Hormone und ihre klinische Wirkung Hormon
Wirkung
Serotonin
5 5 5 5
Histamin
5 Bronchospasmus, Vasodilatation (Flush)
Kallikreine
5 Bewirken durch die Bildung von Bradykininen mit vasodilatorischer Wirkung Hypotension, Flush und Bronchospasmus bei Asthmatikern
Tachykinine
5 Unter anderem Neuropeptid K, Neurokinin A, VIP, Substanz P mit Flush und kardialer Wirkung bei lang bestehendem Karzinoid
Vasodilatation und Vasokonstriktion mit Hypo- und Hypertension Inotrope und chronotrope Wirkung durch indirekt freigesetztes Noradrenalin Erhöhte Darmmotilität, vermehrte Freisetzung von Natrium, Chlorid, Kalium und Wasser über den Dünndarm Bronchospasmus, Hyperglykämie, Erbrechen
275 Literatur
Symptome bei Karzinoid Meist asymptomatisch! Flush ist das Kardinalsymptom Diarrhö Dehydratation mit Hyponatriämie, Hypokaliämie und Hypochlorämie und kolikartigen Beschwerden 5 Asthmatische Beschwerden 5 Ileus, Blutungen 5 Herzklappenerkrankungen (Fibrosen) 5 5 5 5
Die Therapie besteht in einem Ausgleich des Flüssigkeit- und Elektrolyt-Haushaltes. H1- und H2-Blocker haben antagonistische Wirkung auf die peripheren Effekte von Histamin, Somatostatin oder Octreotid (Sandostatin 50–150 Pg/Tag s.c.) kommen zur Hemmung der Serotoninproduktion zum Einsatz.
Anästhesiologische Probleme Durch die Freisetzung vasoaktiver Substanzen können neben einem kutanen »Flush« auch Tachyarrhythmien, Hypotension, Hyperglykämie oder ein Bronchospasmus auftreten. Tipps
Eingriff bei Karzinoid – so machen wir es: Präoperativ Im Vordergrund steht der Ausgleich des Flüssigkeitshaushaltes. Die präoperativen Untersuchungen beinhalten neben der Labordiagnostik mit Blutbild, Gerinnung und Serumelektrolytspiegel ein EKG, eine Echokardiographie zum Ausschluss von Herzklappenerkrankung und eine Röntgenaufnahme des Thorax. Anästhesie 5 Aufgrund der Beeinträchtigung der Magen-DarmMotorik wird eine Ileuseinleitung durchgeführt. 5 Zur Narkose wird auf Medikamente mit potenzieller Histaminfreisetzung (z. B. Thiopental, Mivacurium) verzichtet. 5 Bei symptomatischem Karzinoid: H1- und H2Antihistaminika (Fenistil 0,1 mg/kg KG; Ranitidin 1,25 mg/kg KG i.v.) 5 Gabe von Octreotid (50–100 Pg i.v.) 5 Balancierte Anästhesie oder TIVA Monitoring Abhängig von der Symptomatik und den Vorerkrankungen 6
Postoperativ Intensivstation oder Überwachungsstation mit langsamer Reduktion der Octreotidgabe.
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26
27 Hämatologische Erkrankungen Sabine Haag 27.1 Einleitung –278 27.2 Anämien –278 27.2.1 Akute Anämien –279 27.2.2 Chronische Anämien –279
27.3 Hämorrhagische Diathesen –281 27.3.1 Angiopathien –281 27.3.2 Thrombozytäre Ursachen –282 27.3.3 Koagulopathien –283
27.4 Hyperkoagulabilität – Thrombophilie –285 27.4.1 27.4.2 27.4.3 27.4.4 27.4.5 27.4.6 27.4.7 27.4.8
Faktor-V-Leiden –285 Protein-C-Mangel –285 Protein-S-Mangel –285 Antithrombinmangel –285 Kongenitale Dysfibrinogenämien –285 Faktor-II-Leiden –286 Gerinnungsaktivierung durch proteolytische Enzyme –286 Polyzythämie –286
27.5 Hämato-onkologische Erkrankungen –286 27.6 Hämato-onkologische Notfälle –286 27.6.1 27.6.2 27.6.3 27.6.4
Vena-cava-superior-Syndrom –286 Rückenmarkkompression –286 Zerebrale Einklemmung –286 Hyperleukozytose –286
Literatur –287
278
Kapitel 27 · Hämatologische Erkrankungen
))
27
Patienten mit hämatologischen Problemen sind im Fachbereich der Anästhesie keine Seltenheit. Oft fallen Veränderungen des Blutbilds bzw. der Blutgerinnung erstmals im Rahmen einer Verletzung oder eines operativen Eingriffs auf. Insbesondere in der Kinderklinik werden häufig Erstdiagnosen einer hämatologischen Störung gestellt. Dessen ungeachtet kann manche angeborene Störung aber auch über Jahre klinisch stumm bleiben. Im Rahmen der gründlichen Anamneseerhebung können Angaben über den Verlauf von Voroperationen und Zahnbehandlungen Hinweise auf die Schwere und die klinische Relevanz einer Koagulopathie ergeben.
27.1
Einleitung
Die Krankheitsbilder aus der Gruppe hämatologischer Erkrankungen sind außerordentlich vielfältiger Natur. Sie können sowohl angeboren und vererbbar als auch erworben sein. Nach den klinischen Auswirkungen der jeweiligen hämatologischen Störung lassen sich unterscheiden: 4 Anämien 4 Hämorrhagische Diathesen 4 Hyperkoagulabilität und Thrombophilie 4 Hämato-onkologische Erkrankungen 4 Hämato-onkologische Notfälle Tipps
Hämatologische Erkrankungen – so machen wir es: Bei Patienten mit hämatologischen Erkrankungen ist routinemäßig ein Konsil mit dem behandelnden Hämatologen bezüglich des perioperativen Managements sowie einer möglicherweise notwendigen Faktorsubstitution er forderlich. Während der anästhesiologischen Anamneseerhebung ist auf folgende Einzelheiten zu achten: Familiengeschichte, Herkunftsland (Länder des Mittelmeerraums), Blutungskomplikationen bei Voroperationen oder beim Zahnarzt, Hämatome nach Bagatelltraumen, Gewichtsentwicklung, Hinweise auf Malabsorption (Vitamin K p), Lebererkrankungen (Ikterus), auffällige Infektanfälligkeit, Müdigkeit, Dyspnoe, pektanginöse Beschwerden, Kopfschmerzen, Erbrechen, Medikamenteneinnahme (ASS, NSAID, kardiotoxische Zytostatika). Oft muss ganz gezielt nach Notfallausweisen gefragt werden. 6
Klinische Untersuchung: Pathologische Strömungsgeräusche bei der Herzauskultation, Tachykardie, Hepatosplenomegalie, Einflussstauung, Umgehungskreisläufe, Varikosis, Blässe, ikterische Zeichen, Tachypnoe. Präoperative Untersuchungen: Abhängig vom aktuellen Zustand des Patienten und vom Umfang des geplanten Eingriffs: Röntgen-Thorax, EKG, Echokardiographie nach vorangegangener kardiotoxischer Medikation (z. B. Adriamycin) oder bei pathologischem Auskultationsbefund. Labordiagnostik: Differenzialblutbild, Retikulozyten, BGA, (fakultativ: Ferritin, Vitamin B12, Folsäure, Sichelzelltest, Faktoraktivitäten), BSG, Leberwerte, Nierenretentionswerte, Elektrolyte, Quick, PTT, Blutgruppe, Kreuzblut. Gegebenenfalls müssen präoperative Maßnahmen wie z. B. Vit.-B12-Substitution, Vit.-K-Gabe, orale Eisensubstitution, präoperative Transfusion von Blutpräparationen oder gentechnisch hergestellten Faktorpräparaten, Antibiotikaprophylaxe etc. angeordnet werden.
27.2
Anämien
Die Diagnose einer Anämie ist ein recht unspezifischer Befund, denn die zugrunde liegenden Ursachen sind vielfältig. Wichtig ist zu differenzieren, ob es sich bei dem Befund um eine akute Blutbildveränderung handelt, die sich im Verlauf der letzten Stunden entwickelt hat, oder ob die auslösende Ursache eine Erkrankung ist, die während Tagen, Wochen oder gar Jahren langsam zur Entwicklung einer chronischen Anämie geführt hat. Entsprechend aggressiv und ohne Zeitverzögerung im erstgenannten Fall und bedacht im chronischen Fall hat die Therapie zu erfolgen. Anamnese: Orientierende Fragen nach familiärer Disposition, Blutungsereignissen, Infektionskrankheiten, Ernährungsbesonderheiten, Herkunftsland, Ikterus. Klinik: Blässe an Haut und Schleimhäuten, verlängerte Rekapillarisierungszeit, verminderte Belastbarkeit, ggf. akzidentelles Systolikum, hypotone Kreislaufsituation. Labordiagnostik: Differenzialblutbild, Thrombozyten, Retikulozyten, BSG, CRP, Kreatinin, Harnstoff, Bilirubin, LDH, Ferritin, Transferrin, Urinstatus, Hämoccult.
279 27.2 · Anämien
27.2.1 Akute Anämien Akut einsetzende Blutverluste fordern im perioperativen und intensivmedizinischen Bereich oft ein zügiges und vorausplanendes anästhesiologisches Handeln. Die logistischen Abläufe bei der notfallmäßigen Bestellung von Blutprodukten müssen allen Beteiligten geläufig sein. NotfallkonservenDepots müssen zur Verfügung stehen. Die Möglichkeit des Cell-Saver-Einsatzes muss überprüft werden, denn bei fehlenden Kontraindikationen stellt dieses Verfahren bei massiven Blutungen schnell retransfundierbares Blut zur Verfügung. Die Plasmaverluste müssen separat ersetzt werden.
Blutungsanämie Akute Blutverluste von mehr als 10 % des Gesamtblutvolumens des Körpers werden durch zunehmende Kreislaufinsuffizienz klinisch relevant. Die Indikation zur Transfusion besteht ab einem Hb-Wert unter 7 g/dl, ist aber immer von der Blutungssituation abhängig. Neben perioperativen Blutverlusten sind im Neugeborenenalter auch die folgenden Ursachen für einen Blutverlust zu bedenken: Nabelschnur/Plazentablutung, intrakranielle Blutung, Riesenkephalhämatom, retroperitoneale Blutung, Leber/Milzeinriss.
Physikalische Hämolyse Abnorme Strömungsverhältnisse bei Herzklappenfehlern, künstlichen Herzklappen oder chronische Überbelastung bei sportlichen Aktivitäten (Jogging, Marsch-Anämie), können über mechanische Hämolyse zu Blutbildveränderungen führen. Ebenso sind Hitzeeinwirkung, Verbrennungen oder ionisierende Strahlen mögliche Ursachen einer hämolytischen Anämie.
27.2.2 Chronische Anämien Patienten mit einer chronischen Anämie sind an diesen Zustand adaptiert und bedürfen auch perioperativ keiner Substitution auf Normalwerte. Allerdings sollte bei elektiven Eingriffen die Anämieursache präoperativ abgeklärt sein, und es ist ein möglichst optimaler Zustand des Patienten anzustreben, d. h. Mangelzustände sind präoperativ auszugleichen (Fe, Vit. B12, Folsäure, Vit. K).
Eisenmangel-Anämie Sie ist die häufigste Anämieursache in Mitteleuropa und äußert sich als hypochrome, mikrozytäre Anämie. Vor allem bei Neugeborenen und im Alter zwischen 6 Monaten und 3 Jahren. Die Verminderung des verfügbaren Eisens führt zur Synthesestörung von Hämoglobin, Myoglobin und Enzymen.
Hämolytische Krise
Klinische Symptome: Gedächtnisstörung, Appetit p, Mü-
Eine akut einsetzende Hämolyse kann zu einer anämischen Gesamtsituation führen. Sie tritt beispielsweise bei einer hämolytischen Transfusionsreaktion auf oder im Rahmen einer Sichelzellkrise.
digkeit, Haut- und Schleimhautveränderungen. Labordiagnostische Hinweise: Retikulozyten normal bis
n, Fe p, Ferritin p, Transferrin im Serum n.
Megaloblastäre Anämie Klinische Anzeichen der Hämolyse 5 5 5 5 5
Blass-ikterisches (strohgelbes) Hautkolorit Rötlicher bis brauner Urin Belastungs-/Ruhedyspnoe Tachykardie Fieber, Hepato-/Splenomegalie
Labordiagnostische Anzeichen der Hämolyse 5 Hb ↓, Haptoglobin ↓, indirektes Bilirubin ↑, Urobilinogen ↑ 5 HbDH ↑, LDH ↑ 5 Hämoglobinurie, freies Hb im Urin
Autoimmunhämolyse Hierbei richten sich Antikörper gegen Antigene der Erythrozytenoberfläche. So können beim systemischen Lupus erythematodes oder durch Wärme-/Kälte-Antikörper akute Anämien entstehen und zu einer Transfusionsnotwendigkeit führen.
Durch Vitamin-B12- und Folsäure-Mangel verursachte hyperchrome Anämie mit typischen Megalozyten, oft mit Thrombozytopenie. Klinische Symptome: Anämiezeichen, Subikterus, Epistaxis, schlechter Allgemeinzustand, Muskelhypotonie, ggf. neurologische Symptome (Parästhesien).
Sichelzellanämie ! Die Sichelzellanämie ist die häufigste Hämoglobinopathie mit autosomal rezessiv vererbbarem Gendefekt in der Struktur des Hämoglobinmoleküls und sich daraus ergebender Funktionseinschränkung. 10–50% der farbigen Bevölkerung sind betroffen.
Klinische Symptome: Ab dem 4.–6. Lebensmonat kommt
es zu chronischer Hämolyse, Fieber und Anämie.
27
280
Kapitel 27 · Hämatologische Erkrankungen
Labordiagnostisch zeigen sich eine chronische normozytäre Anämie, Retikulozyten nn, Polychromasie, Anisozytose, Poikilozytose sowie die (namensgebenden) typisch sichelförmigen Erythrozyten. Anästhesierelevanz: Hypoxämien und Azidosen sind abso-
27
lut zu vermeiden, da hämolytische Krisen provoziert werden können. Sichelzellkrisen können mit einer massiven Schmerzsymptomatik einhergehen und bedürfen konsequenter schmerztherapeutischer Therapie. Heterozygote Patienten sind meist asymptomatisch, aber bei Hypoxämie und Azidose infarktgefährdet.
β-Thalassämien Thalassaemia major Eine angeborene HB-Synthesestörung mit quantitativ ungenügender Produktion von E-Ketten des HbA, die hauptsächlich die Mittelmeerbevölkerung betrifft. Die Manifestation erfolgt bereits im Säuglingsalter. Klinische Symptome sind schwere Hämolysen, Knochende-
formierungen besonders im Schädelbereich durch Ausweitung des hämatopoetisch aktiven Markraumes (»Bürstenschädel«), Ikterus und Hepatosplenomegalie.
Milzpassage führt und damit eine verstärkte Hämolyse verursacht. Klinisch und labordiagnostisch zeigt sich bereits im Neugeborenenalter ein schubweiser Verlauf mit hämolytischer Anämie, Hyperbilirubinämie mit Ikterus, Splenomegalie, Cholezystolithiasis. Anästhesierelevanz: Eine Splenektomie (nach dem 5. LJ) erfordert eine postoperative Penizillin-Dauerprophylaxe. ! Cave Verminderte osmotische Resistenz der Erythrozyten – hämolytische Krisen nicht übersehen.
Glucose-6-Phosphat-Dehydrogenase-Mangel, Favismus Ein X-chromosomal vererbter Defekt des Enzyms Glucose-6-Phosphat-Dehydrogenase (G6PDH) bewirkt eine Anfälligkeit der Erythrozyten gegen oxidative Schädigungen. Der Defekt tritt relativ häufig beim männlichen Geschlecht auf (Prävalenz in Deutschland 0,14–0,37 %, im Mittelmeerraum, Afrika und Asien 3,0–35%). Klinisch kommt es zu akuten hämolytischen Krisen durch
Labordiagnostisch zeigen sich eine hypochrome, mikro-
zytäre Anämie, Verminderung der osmotischen Resistenz mit Auftreten von Schießscheibenerythrozyten (target cells), HbF n, Serumferritin n.
chemische Substanzen, Infektionen, Azidose und Nahrungsmittel (Favabohnen); Stunden bis Tage nach einer Exposition kommt es zu Schmerzen, Fieber und Schockzuständen. Labordiagnostisch zeigt sich eine normochrome Anämie
Thalassaemia minor Die heterozygote Form der Thalassaemia major. Symptome treten erst mit 3–10 Jahren auf: leichte Anämie, verminderte osmotische Resistenz der Erythrozyten. Anästhesierelevanz: Patienten mit E-Thalassämie sind an einen niedrigen Hb-Wert adaptiert. Sie sind infektanfällig, häufig liegt eine (benigne) Perikarditis vor, Leberzirrhose und Herzinsuffizienz als Folge der Hämosiderose b sind möglich. Die therapeutische Splenektomie (nach dem 5. LJ) erfordert eine postoperative Penizillinprophylaxe um foudroyante Pneumokokkeninfektionen zu vermeiden.
Hereditäre Sphärozytose Die auch als Kugelzellanämie oder familiärer hämolytischer Ikterus bezeichnete Erkrankung kommt bei allen Rassen, vor allem in Nordeuropa (1 : 5 000) vor. Es handelt sich um einen Membrandefekt der Erythrozyten, der durch die Kugelzellbildung zu einer längeren Verweildauer bei der
mit typischen Heinz-Körperchen und Retikulozytose. Anästhesierelevanz: Es gilt, eine Provokation durch azidotische Stoffwechsellage zu vermeiden. Auslösende Medikamente können Antimalariamittel, Sulfonamide, Metamizol, Nitrofurantoin, Chloramphenicol oder Methylenblau sein. Die Auswirkung der Medikamente im Hinblick auf die Auslösung einer hämolytischen Krise ist dosisabhängig und je nach Genotypus des G6PDH-Mangels unterschiedlich stark ausgeprägt. Bei normaler Dosierung von Paracetamol, Azetylsalizylsäure, Vitamin K und Vitamin C scheint nur ein geringes Hämolyserisiko zu bestehen. Unproblematisch erscheinen: Fentanyl, Sufentanyl, Rapifen, Dipidolor, Propofol, Dormicum, Ketanest.
Fanconi-Anämie Eine kongenitale autosomal-rezessiv vererbte Panzytopenie (aplastische Anämie), ausgelöst durch einen Defekt in der DNA-Regeneration.
281 27.3 · Hämorrhagische Diathesen
Klinisch manifestiert sich die Fanconi-Anämie ab dem 4.–12. LJ mit Hyperpigmentation, multiplen Skelettmissbildungen, Mikrozephalie und Missbildungen der Nieren. Als Frühsymptom tritt Thrombozytopenie auf.
Klinisch kommt es zu akutem Oberbauchschmerz (durch
Anästhesierelevanz: Eine evtl. vorliegende Thrombozytopenie muss präoperativ abgeklärt werden, um keine Blutungskomplikationen perioperativ oder bei rückenmarknahen Anästhesieverfahren zu provozieren. Röntgenuntersuchungen sind möglichst zu vermeiden, da der Defekt in der DNA-Regeneration liegt. Die Gesichtsschädeldeformationen stellen nur selten ein Intubationsproblem dar.
Labordiagnostik: Transaminasen n, CHE p, Gerinnungs-
Anämien bei chronischen Erkrankungen Chronische Entzündungen aus dem rheumatoiden Formenkreis, Nierenerkrankungen, Lebererkrankungen, Alkoholismus, gastrointestinale Störungen (Entzündungen, MeckelDivertikel, Wurmbefall) und Endokrinopathien (Hypophyse, Schilddrüse, Nebenniere, Gonaden, Pankreas) führen über Beeinflussung der Hämatopoese zur Anämie. Ebenso können maligne Grunderkrankungen zu einer Knochenmarksdepression führen (Leukämien).
Infektiös bedingte Anämien
Leberschwellung), DIC, Kopfschmerzen, Sehstörungen und Verwirrtheit (durch zerebrale Vasospasmen und/oder Hirnödem).
störungen (DIC), Thrombozytopenie. Anästhesierelevanz: Bei ZNS-Symptomen drohen zerebrale Krampfanfälle. Intrazerebrale Blutungen stellen eine der Todesursachen der Prä-/Eklampsie dar (ggf. CT oder NMR bei Verdacht auf Hirndruck). Die plasmatischen Gerinnungsstörungen bei Leberfunktionseinschränkung und die Thrombozytopenie müssen beachtet werden und es dürfen keine Hinweise auf erhöhten Hirndruck bestehen, wenn ein rückenmarknahes Anästhesieverfahren in Erwägung gezogen wird. In der Regel ist eine schnelle Beendigung der Schwangerschaft ohne Zeitverzögerung indiziert. Die klinische Untersuchung muss einen neurologischen Status beinhalten. ! Cave Auf das Vorliegen eines Lungenödems muss geachtet werden.
Infektionserreger (Zytomegalieviren, EBV) und Toxineinwirkung können durch Zerstörung von Membranbestandteilen der Erythrozyten eine Schädigung von Enzymsystemen auslösen. Hepatitisviren können selektiv die Erythropoese stören und eine aplastische Krise auslösen. Auch Parvo-, Masern-, Herpes- und Röteln-Viren sowie Malaria können Ursache einer Anämie sein.
Bei der Volumensubstitution ist die Gefahr der pulmonalen Überwässerung stets zu bedenken. Invasives Monitoring besprechen, intensivmedizinische Betreuung sicherstellen, Blutprodukte ordern. Blutdrucksenkung mit Dihydralazin (Nepresol) 5 mg i.v., Perfusor: 2–20 mg/h (max. 200 mg/24 h). Ggf. Urapidil oder Metoprolol.
Medikamentenbedingte, toxische Anämie
Morbus Osler
Sulfonamide, ASS, Pyrazolone, Antidiabetika und Thyreostatika sind Medikamentengruppen, die eine Anämie verursachen können. Dies gilt auch für organische Lösungsmittel, Arsen, Blei und Kupfer.
Eine autosomal-dominant vererbte, allergische oder rheumatische Purpura mit hereditären Teleangiektasien an Lippen, Mund- und Nasenschleimhaut sowie im Gesicht. Möglich sind auch arteriovenöse Fisteln in der Lunge (Hämoptoe, Hypoxie), Leberhämangiome und gastrointestinale Blutungen.
27.3
Hämorrhagische Diathesen
27.3.1 Angiopathien HELLP-Syndrom Das HELLP-Syndrom (hemolysis, elevated liver enzymes, low platelets) beruht auf einer Mikroangiopathie mit Hämolyse und Thrombozytopenie. Es handelt sich um eine besonders schwere Form der Schwangerschaftsgestose, bei der die Perfusionsstörung der Leber im Vordergrund steht.
Anästhesiologische Relevanz: Es handelt sich um eine hä-
morrhagische Diathese infolge Gefäßwandveränderungen, die im Rahmen der anästhesiologischen Manipulationen (Intubation, Magensonde, nasale Temperaturmessung) zu Blutungsereignissen führen kann. Die Patienten stehen möglicherweise unter Kortison-Dauertherapie und bedürfen einer perioperativen Kortisonsubstitution (Hydrokortison 2 mg/kg KG i.v. zur Narkoseeinleitung und repetitiv nach 8 h postoperativ).
27
282
Kapitel 27 · Hämatologische Erkrankungen
27.3.2 Thrombozytäre Ursachen Thrombozytopenie Diverse Infektionskrankheiten, ionisierende Strahlen, Knochenmarkerkrankungen, endokrinologische Dysfunktionen (Hyperthyreoidismus) sowie einige Medikamente können Störungen der Thrombozytenbildung verursachen.
Heparininduzierte Thrombozytopenie (HIT I und HIT II)
27
Infolge des weit verbreiteten Einsatzes von Heparin werden heparinassoziierte Thrombozytopenien zunehmend diagnostiziert. HIT I. Die heparininduzierte Steigerung der Plättchenaggre-
gation führt wahrscheinlich zu einer verstärkten Thrombozytensequestration. HIT I tritt häufiger bei Gabe von unfraktioniertem Heparin, seltener bei Gabe von niedermolekularen Heparinen auf. Labordiagnostisch zeigt sich eine sofort oder nach 2–4 Tagen auftretende, meist milde, komplikationslose Thrombozytopenie (100–150/nl). Eine Therapie ist nicht erforderlich, oft kommt es zu spontaner Rückbildung, die weitere Gabe von Heparin ist jedoch kritisch zu prüfen. Engmaschige Thrombozytenkontrollen dienen zum Ausschluss einer HIT II. HIT II. Der Thrombozytenabfall tritt zwischen dem 3. und 15. Tag nach Beginn der Heparintherapie ein (Median 10. Tag).
Streptokinase. Bei vitaler Indikation ist eine Fibrinolyse noch vor der Bestätigung einer HIT II durch den HIT-Test möglich. Zur Thromboseprophylaxe kommt Danaparoidnatrium (Orgaran) mit einer HWZ von 24 h (!) 2–3 u tgl. 750 Anti-Xa-Einheiten s.c. zum Einsatz, zur Prophylaxe im arteriellen Gefäßsystem ASS 100–500 mg/Tag. Die Thrombosetherapie erfolgt durch rekombinantes Hirudin (Refludan): Initialdosis 0,4 mg/kg KG als Bolus i.v., Erhaltung mit 0,15 mg/kg KG/h i.v. Dauerinfusion, bis die PTT um das 1,5–3-fache des mittleren Ausgangswerts verlängert ist. Alternativ kommt Danaparoidnatrium (Orgaran) zum Einsatz: Initialdosis 2250 Anti-Xa-Einheiten (bei einem KG von 60–75 kg), Erhaltung mit 400 E/h in den ersten 4 Stunden und 300 E/h in den nächsten 4 Stunden, dann 150–200 E/h mit Dosisanpassung, sodass der Anti-Xa-Spiegel zwischen 0,5 und 0,8 E/ml Plasma liegt.
Morbus Werlhof (idiopathische thrombozytopenische Purpura) Eine Erkrankung aus dem immunologischen Formenkreis, die zu einem gesteigerten Thrombozytenabbau führt.
Verdünnungsthrombozytopenie Starke Blutverluste in Verbindung mit der notwendigen Volumensubstitution führen – wie der übernormale Verbrauch – zu einer so genannten Verdünnungsthrombozytopenie.
Thrombozytopathie Klinische Symptome: Akute venöse Thrombosen der un-
teren Extremitäten, Lungenembolien, zerebrale arterielle Verschlüsse, Verschlüsse der Extremitätenarterien. Blutungsneigung besteht nur bei Eintritt in die Verbrauchskoagulopathie. Diagnostik: Serotoninfreisetzungstest, heparininduzierte Plättchenaktivierung (HIPA-Test), Nachweis von heparinassoziierten antithrombozytären Antikörpern, Plättchenaggregationstest. Therapie: Sofortiges Absetzen des Heparins, ggf. auch des
niedermolekularen Heparins. Bei schwerem Verlauf evtl. Gabe von Immunglobulinen. ! Die Letalität bei HIT II nach sofortigem Absetzen von Heparin beträgt 12–23 %!
Bei Thromboembolien erfolgt eine Lysetherapie: Fibrinolytikum mit hoher Eigen-Antikoagulationswirkung, z. B.
Die Ursachen einer Thrombozytopathie sind recht vielfältig. So leiden Patienten mit einer Urämie oder Patienten mit einer Leberzirrhose unter thrombozytopathischen Symptomen. Das von-Willebrand-Jürgens-Syndrom stellt eine Kombination mit einer Defektkoagulopathie dar. Auch andere seltene, angeborene Syndrome gehen mit einer Thromboztoypathie einher. Darüber hinaus verursachen einige Medikamente eine Thrombozytenfunktionsstörung.
Medikamentenbedingte Thrombozytopathien Azetylsalizylsäure (Aspirin) bewirkt eine Hemmung der Zyklooxygenase und führt damit zu einer irreversiblen Aggregationshemmung der reifen Thrombozyten ab einer Dosis von 1–5 mg/kg KG/Tag. Wegen der erhöhten Blutungsneigung sollte daher diese Substanz ca. 5 Tage vor einem operativen Eingriff oder einem rückenmarknahen Anästhesieverfahren abgesetzt werden. Ibuprofen, Diclofenac und Indometazin führen zu einer reversiblen Hemmung der Zyklooxygenase und kön-
283 27.3 · Hämorrhagische Diathesen
nen, insbesondere in Kombination mit Antikoagulantien und Thrombozytenaggregationshemmern, die Blutungsneigung erhöhen.
May-Hegglin Syndrom (giant platelets) Die Krankheit verläuft oft klinisch asymptomatisch. Es treten Petechien auf, bei ca. 43 % der Patienten kommt es zu Blutungskomplikationen. Die Substitution von Thrombozytenkonzentraten ist bei schweren Blutungen erforderlich.
Wiskott-Aldrich Syndrom (small platelets) Zur Erstmanifestation mit Blutungen kommt es meist in den ersten 6 Lebensmonaten. Anästhesierelevanz: Im Rahmen der Prämedikationsvisite muss die klinische Relevanz der Erkrankung beurteilt werden. Die Patientenaufklärung, die Bereitstellung einer intensivmedizinischen Überwachung sowie die Anforderung von Blutprodukten erfolgt in Anbetracht der Größe des geplanten operativen Eingriffs.
genkonstanz zu achten. Daher sollte immer zunächst das Präparat und auch die Charge verwendet werden, die der Patient bereits angebrochen bzw. von zu Hause mitgebracht hat. Jede neue Charge ist ein neues Risiko. Faktoren sind sehr aufwändig hergestellte und teure Medikamente. Bei der Anwendung ist ein Produkt möglichst vollständig zu verbrauchen (z. B. kann man Faktor VIII nicht „übersubstituieren“!). Es gibt keine allgemein gültige Präferenz für rekombinant hergestellte Faktorprodukte gegenüber Humanplasmafaktoren. Die rekombinanten Faktorpräparate enthalten meist pro ml mehr Faktoren, die Volumenbelastung ist daher geringer, was bei Kleinkindern von Bedeutung sein kann. Auch rekombinant hergestellte Plasmaprodukte müssen Virusinaktivierungsverfahren durchlaufen, da sie aus tierischen Zellen gewonnen werden. Zudem ist das Risiko der Antikörperbildung bei rekombinant hergestellten Plasmafaktoren höher. Hämatologische Beratung bei der Substitutionsplanung ist obligatorisch.
Kongenitale Defektkoagulopathien 27.3.3 Koagulopathien (vgl. 7 Kap. 58)
In Abhängigkeit der Restaktivität werden bei der Hämophilie unterschiedliche Schweregrade unterschieden:
Verdünnungskoagulopathie Wenn Blutverluste allein durch Volumenersatzmittel kompensiert werden oder wenn beim Einsatz des Cell-Savers der kontinuierliche Plasmaverlust keine Berücksichtigung findet, kann es zur Koagulopathie aufgrund der »Verdünnung« des intravasalen Volumens kommen.
Verbrauchskoagulopathie Häufige Ursache für eine Verbrauchskoagulopathie ist die disseminierte, intravasale Koagulopathie (DIC) bei schwerem Trauma, Verbrennungskrankheit, geburtshilflichen Komplikationen, Sepsis und im Rahmen eines Schockgeschehens.
Defektkoagulopathie Defektkoagulopathien sind seltene Krankheitsbilder. Bei Blutungskomplikationen sind sie immer mit in die differenzialdiagnostischen Überlegungen einzubeziehen. Patienten mit bekannter Defektkoagulopathie sollten einen Notfallausweis mit sich führen. Für die Faktorensubstitution gilt grundsätzlich: ! Plasmafaktorenmangel soll spezifisch ersetzt werden, nur bei noch unbekanntem oder generellem Plasmafaktorendefizit kann mit Fresh frozen Plasma substituiert werden. Bei der Substitution ist auf Präparatekonstanz und Char6
Formen der Hämophilie – Einteilung nach Gerinnungsrestaktivität 5 5 5 5
Schwere Form: 0–1 % Mittelschwere Form: 2–5 % Leichte Form: 5–25 % Subhämophilie: 25–50 %
Auch bei leichteren Formen muss eine perioperative Substitution erfolgen (. Tab. 27.1). Eine prophylaktische Substitution kann indiziert sein bei mehr als 12 Blutungen innerhalb von 3 Monaten. ! 1 Einheit eines Gerinnungsfaktors ist die Menge, die in 1 ml Normalplasma enthalten ist. 1 Einheit eines Gerinnungsfaktors/kg KG bewirkt einen Faktorenanstieg im Plasma von 1–2 %.
Bei der Schmerztherapie dieser Patientengruppe muss auf Medikamente, die die Thrombozytenfunktion beeinträchtigen verzichtet werden (s.o.). Erlaubt sind Opiate, Paracetamol und Metamizol.
Hämophilie A (Faktor-VIII-Mangel) Eine angeborene plasmatische Gerinnungsstörung mit einer verminderten Aktivität des Faktors VIII bei normaler
27
284
Kapitel 27 · Hämatologische Erkrankungen
. Tabelle 27.1. Faktorsubstitution bei Hämophilie
27
Initial
Später
Leichte Blutung z.B. Nasenbluten
10–15 E/kg KG
–
Mittlere Blutung z. B. Hämarthrose, Zahnextraktion
15–35 E/kg KG
Hämophilie A: ½ Dosis nach 8–12 h Hämophilie B: ½ Dosis nach12–24 h
Schwere Blutung z. B. OP, Verletzung der Zunge, gastrointestinale Blutung
30–60 E/kg KG
Hämophilie A: ½ Dosis nach 8–12 h Hämophilie B: ½ Dosis nach12–24 h
Labordiagnostik: Verlängerte Blutungszeit, PTT verlängert, Faktoraktivität herabgesetzt. Selten kann eine Thrombozytopenie der erste Hinweis auf ein von-Willebrand-Syndrom sein. Anästhesierelevanz: Die Faktoraktivität sollte bekannt
sein. Die Substitution bei schweren Formen erfolgt mit 10–40 E/kg KG Haemate HS 250/500/1000 i.v. bereits 12– 24 h präoperativ. Minirin setzt Faktor VIII und vWF aus körpereigenen Depots frei (0,4 Pg/kg KG über 20 min; OP erst eine Stunde nach Infusionsende). Die Substitutionstherapie wird in Abstimmung mit dem Hämatologen am OP-Vortag festgelegt. Blutkonserven müssen der Größe des geplanten operativen Eingriffs entsprechend zur Verfügung stehen.
Erworbene Defektkoagulopathien bis erhöhter Konzentration des Willebrand-Faktors. Die Vererbung erfolgt rezessiv-geschlechtsgebunden (1 : 10000 männliche Neugeborene). Die Blutungsneigung wird durch den Schweregrad bestimmt, der lebenslang gleich bleibt, und führt bei der schweren unbehandelten Form zu dem klassischen Symptom der Verblutungsgefahr bei Bagatelltraumen sowie zu typischen Gelenkdeformationen durch wiederholte Gelenkeinblutungen.
Hämophilie B (Faktor-IX-Mangel) Eine angeborene plasmatische Gerinnungsstörung mit einer Aktivitätsverminderung des Faktors IX bei rezessiv geschlechtsgebundenem Vererbungsmodus, die ca. 5–10-mal seltener vorkommt, als die Hämophilie A.
von-Willebrand(-Jürgens-)Syndrom Dies ist das häufigste angeborene Blutungsleiden mit autosomal-dominanter Vererbung. Es handelt sich dabei um eine plasmatische Gerinnungsstörung, die auf quantitativen und/oder qualitativen Defekten des von-Willebrand-Faktors (vWF) basiert. Dieser Faktor schützt den Faktor VIII vor einem vorzeitigen proteolytischen Abbau und ist darüber hinaus Bindeglied zwischen aktivierten Thrombozyten und dem Subendothel. So wirkt sich ein Defekt des vonWillebrand-Faktors sowohl im plasmatischen als auch im thrombozytären Bereich aus. Sehr milde Formen können klinisch stumm sein, sofern keine Provokation erfolgt (z. B. Tonsillektomie, Zahnextraktionen, die mit mehrtägigen Nachblutungen einhergehen können). Bei schwereren Formen können Gelenkblutungen auftreten und bei Operationen, Zahnextraktionen oder auch bei der Menstruation besteht Verblutungsgefahr.
Vitamin-K-Mangel Ein funktionsfähiger Prothrombinkomplex (Vitamin-K-abhängige Gerinnungsfaktoren II, VII, IX und X) kann nur unter der Anwesenheit von Vitamin K entstehen. Auch die Bildung von Protein C und dessen Kofaktor Protein S sind Vitamin-K-abhängig. Ausbleibende Vitamin-K-Wirkung führt zu einer Aktivitätsabnahme des Prothrombinkomplexes im Plasma und einer damit verbundenen Koagulopathie.
Synthesestörung der Leber Auch bei einer eingeschränkten Syntheseleistung der Leber ist die Aktivität des Prothrombinkomplexes herabgesetzt. Bei einer Schädigung der Leberzelle werden selbst die Gerinnungsfaktor-Vorstufen nicht mehr gebildet und eine Substitution von Vitamin K bringt nur einen minimalen Effekt.
Faktor XIII Mangel Zu einem Mangel an Faktor XIII kommt es bei Leberzellschaden und infolge einer Asparaginasetherapie. Erworbene Mangelzustände können auch durch DIC, Verlustkoagulopathien bei massivem Blutverlust, im Rahmen einer Sepsis, bei Colitis ulcerosa und bei Leukämien auftreten.
Koagulopathie infolge einer Immunerkrankung Erworbene Inhibitoren der Gerinnung werden immer häufiger registriert. Autoimmunerkrankungen können über die Bildung von Isoantikörpern/Autoantikörpern zu erworbenen Defektkoagulopathien führen. Lupus-Antikoagulanzien sind die häufigsten erworbenen Inhibitoren. Es
285 27.4 · Hyperkoagulabilität – Thrombophilie
sind Immunglobuline (IgG), die zuerst beim systemischen Lupus erythematodes gefunden wurden, aber auch bei anderen Autoimmunkrankheiten auftreten.
Hyper fibrinolyse Hier besteht ein Ungleichgewicht zwischen Fibrinolyseaktivatoren und -inhibitoren, sodass es zu einer verstärkten fibrinolytischen Aktivität kommt. Die Folge ist ein vermehrter Abbau von Fibrin und Fibrinogen; es fallen also vermehrt Fibrinogenspaltprodukte an. Eine hyperfibrinolytische Aktivität kann im Rahmen einer Verbrauchskoagulopathie auftreten. Große operative Eingriffe an Prostata, Lunge und Gebärmutter neigen zu einer postoperativen Aktivierung des fibrinolytischen Systems. Auch sind tumorassoziierte Einflüsse auf die fibrinolytische Aktivität im Sinne einer Hyperfibrinolyse beschrieben. Fibrinolytische Blutungen werden durch so genannte Antifibrinolytika therapiert: Aprotinin, H-Aminokapronsäure, Tranexamsäure.
27.4
Hyperkoagulabilität – Thrombophilie
27.4.2 Protein-C-Mangel Protein C ist ein im Blut vorkommendes, Vitamin-Kabhängiges Proenzym, das in der Leberzelle gebildet wird. Angeborener Protein-C-Mangel. Die homozygote Form
zeigt bereits im Neugeborenenalter schwerste Thromboembolien und ist nur schwer mit dem Überleben vereinbar. Heterozygot besteht ein 8–10fach erhöhtes Thromboserisiko; auch asymptomatische Patienten sind bekannt. Es besteht die Gefahr der so genannten Kumarin-Nekrosen bei Einleitung einer Kumarin-Therapie. Erworbener Protein-C-Mangel. Diese Form kann durch Lebererkrankungen, Vitamin-K-Mangelzustände, chronische Darmerkrankungen und Verbrauchskoagulopathie auftreten.
27.4.3 Protein-S-Mangel
Die Thrombophilie beschreibt die »Tendenz zu Thrombosen«, deren Ursache unterschiedliche Genmutationen sind. Insbesondere die Kombination mehrer Defekte scheint das Thromboserisiko zu erhöhen.
Protein S ist ein Vitamin-K-abhängiges Plasmaprotein, das sowohl in der Leber als auch im Endothel gebildet wird. Der homozygote Protein-S-Mangel ist sehr selten, die heterozygote Form zeigt in der Klinik ein Bild mit vorwiegend venösen Thromboembolien und bei Frauen mit einem Gesamtprotein S um 20 % eine erhöhte Abortneigung.
27.4.1 Faktor-V-Leiden
27.4.4 Antithrombinmangel
Die Ursache familiärer jugendlicher Thromboseneigung liegt meist in einer Resistenz gegen aktiviertes Protein C (APC-Resistenz), die auf einer Punktmutation des Gerinnungsfaktor-V-Gens basiert. Heterozygote weisen ein ca. 7fach höheres Thromboserisiko auf als die Normalbevölkerung, homozygote Träger ein 50–100fach erhöhtes Risiko. Das Risiko verstärkt sich, wenn andere Risikofaktoren hinzutreten wie Ovulationshemmer, operative Eingriffe, Immobilisation. Es bleibt abzuwarten, ob prinzipiell vor der Verordnung von Ovulationshemmern oder vor operativen Eingriffen die APC-Resistenz bestimmt werden muss. Bei erwachsenen Patienten wird perioperativ eine antikoagulatorische Therapie mit niedermolekularem Heparin empfohlen. Auch während der Schwangerschaft empfiehlt sich die Gabe von z. B. Enoxaparine (40 mg/Tag). Bei Kindern ist es vom Ausmaß des geplanten operativen Eingriffs und der notwendigen Dauer einer Immobilisation abhängig, ob eine antikoagulatorische Prophylaxe angesetzt wird.
Zwei Formen werden unterschieden: Typ I (echter Mangel, alle Tests sind pathologisch) und Typ II (lediglich Dysfunktion mit verminderter Aktivität). Antithrombinmangel kann er worben werden, wobei Lebererkrankungen, Asparaginasetherapie, Verbrauch, Proteinverlust, große Wundflächen und Verbrennungen eine Rolle spielen. Beim angeborenen Antithrombin-III-Mangel treten zwischen dem 15. und 30. Lebensjahr venöse Thromboembolien auf, bis zum 40. Lebensjahr traten bei annähernd 80 % der Patienten thromboembolische Komplikationen auf.
27.4.5 Kongenitale Dysfibrinogenämien Angeborene Dysfibrinogenämien werden durch einen Gendefekt ausgelöst, der ein fehlstrukturiertes Fibrinmolekül bewirkt. Hierdurch kommt es häufiger zu venösen Thromboembolien.
27
286
Kapitel 27 · Hämatologische Erkrankungen
27.4.6 Faktor-II-Leiden Diese erst seit kurzem bekannte Genmutation bewirkt ein relativ geringes Thromboserisiko, wenn der Defekt isoliert auftritt. Die Prävalenz in der Normalbevölkerung liegt bei 2 %, bei Patienten mit Thrombosen 6 %.
27.4.7 Gerinnungsaktivierung durch
proteolytische Enzyme
27
Eine Modulation in der komplexen Gerinnungskaskade kann auch durch verschiedene proteolytische Enzyme erfolgen. Solche Enzyme sind in einigen Schlangengiften und Staphylokokkenprodukten enthalten. Auch das durch einige Pankreastumoren freigesetzte Trypsin ist ein proteolytisches Enzym, das gerinnungsaktivierende Eigenschaften hat.
27.4.8 Polyzythämie Die Polyzythaemia vera ist eine myeloproliferative Erkrankung, die die Fließeigenschaften des Bluts verändert und das Auftreten von Thrombosen begünstigen kann. Thrombozytosen treten im Rahmen multipler internistischer Erkrankungen auf (nephrotisches Syndrom, Kawasaki-Syndrom) und sind postoperativ nach Milzextirpationen zu erwarten.
27.5
Hämato-onkologische Erkrankungen
Myelodysplastische Erkrankungen wie die akute lymphatische Leukämie (ALL) und die akute myeloische Leukämie (AML), aber auch die myeloproliferativen Krankheitsbilder wie die chronisch myeloische Leukämie (CML) und das Non-Hodgkin-Lymphom (NHL) können durch rheologische Veränderungen Ursachen einer hämostaseologischen Komplikation sein. Analoges gilt für den onkologischen Bereich der Lymphome, wie dem Morbus Hodgkin oder der chronisch lymphatischen Leukämie (CLL). Maligne, muzinproduzierende Tumore des Gastrointestinaltrakts und das Pankreaskarzinom scheinen das Auftreten von Thrombosen zu begünstigen.
27.6
Hämato-onkologische Notfälle
Die Prognose bösartiger Erkrankungen auch im Kindesalter hat sich in den vergangenen Jahrzehnten ständig verbessert. Mit diesem Fortschritt nimmt aber auch die Zahl der
zu behandelnden Komplikationen zu. Notfälle, die unverzüglicher Intervention bedürfen, sind:
27.6.1 Vena-cava-superior-Syndrom Klinisch fällt hierbei eine massive obere Einflussstauung bei mediastinalen Tumormassen (Hodgkin-/Non-Hodgkin-Lymphom) auf, die zu einer respiratorischen Obstruktion führt. Der Patient leidet zunehmend unter Atemnot und Tachykardie. Die Röntgenuntersuchung des Thorax, ggf. CT, MRT sowie eine aktuelle Echokardiographie zeigen das Ausmaß der Obstruktion. Der Patient muss intensivmedizinisch überwacht uns notfalls umgehend analgosediert und beatmet werden.
27.6.2 Rückenmarkkompression Spinale Raumforderungen durch metastatische Prozesse können zu einem akuten Beginn der neurologischen Symptomatik führen. Bildgebende Diagnostik durch CT/MRT ist umgehend erforderlich, um neurochirurgische Interventionsmöglichkeiten abzuklären.
27.6.3 Zerebrale Einklemmung Bei onkologischen Erkrankungen, die mit erhöhtem Hirndruck einhergehen, ist immer auch die Gefahr der Zerebralen Einklemmung zu bedenken. Dies ist insbesondere dann wichtig, wenn diagnostische bzw. therapeutische Liquorpunktionen anstehen.
27.6.4 Hyperleukozytose Bei einer massiven Leukozytose (z. B. Leukozyten 80– 100000/Pl) treten vor allem die rheologischen Probleme in den Vordergrund. ! Bei hämatologisch-onkologischen Patienten treten außerdem möglicherweise folgende anästhesierelevanten Probleme auf, die bei der klinischen Untersuchung und bei der Sichtung der präoperativen Befunde nicht übersehen werden dürfen: – Massive Hepatomegalie/Splenomegalie (erhöhter intraabdomineller Druck, Aspirationsgefahr) – VOD (hepatic venae occlusive disease) nach Stammzelltransplantation (Lebersynthesestörungen mit Gerinnungsdefiziten und massiver Hepatomegalie) 6
287 Literatur
– Leukozytopenie (Infektionsproblematik) – Koagulopathie/DIC (unbedingt beachten, wenn invasives Monitoring zu installieren ist, sowie bei Katheterund Sondenplatzierung) – Tumorlysesyndrom – Hyperkalzämie – Uratnephropathie – GvHD (graft versus host disease) – Anämie/Hämolyse
Die diversen hämatologischen Krankheitsbilder bedingen entweder einen recht langen Behandlungszeitraum oder gar lebenslange Therapie. Wir haben es daher mit sehr krankenhauserfahrenen Patienten und Eltern zu tun. Dieser Umstand verlangt recht differenzierte Prämedikationsvisiten und Aufklärungsgespräche sowie eine besonders einfühlsame Planung des perioperativen Handlings. Tipps
Hämatologische Erkrankungen – so machen wir es: Das Prämedikationsgespräch sollte möglichst durch den Anästhesisten erfolgen, der die Narkose durchführt, denn so können sich Arzt und Patient kennen lernen, Ängste bei pädiatrischen Patienten und Eltern abgebaut und persönliche Vereinbarungen getroffen werden, die bei einem Personalwechsel möglicherweise nicht beachtet würden. Anästhesie: Für operative Eingriffe bei diesen Patienten wählen wir meist eine total intravenöse Anästhesie (TIVA) beispielsweise mit Propofol/Remifentanil und verzichten ganz bewusst auf Lachgas und Inhalationsanästhetika (cave: Vitamin-B12-Antagonismus, KM-Depression, Leberbelastung bei Wiederholungsexposition). Kleinere Prozeduren (KMP, KM-Stanze, LP) sind in einem Eingriffsraum der onkologischen Station durchführbar, so muss keine spürbare Trennung von den Bezugspersonen stattfinden. Notwendige Blutentnahmen und weitere unangenehme Prozeduren (Magensonden, Verbandwechsel etc.) sollten so geplant werden, dass diese Manipulationen während der Narkose durchgeführt werden können, um den Patienten nicht zusätzlich zu belasten. Als Narkoseform wird die Analgosedierung mit Midazolam, Atropin, Ketanest, ggf. Propofol in Spontanatmung gewählt. Postoperatives Erbrechen wird durch großzügige prophylaktische Antiemese (Odansetron i.v.) minimiert. 6
Für kurze Verweilzeiten im Aufwachraum sorgen, ggf. Eltern zulassen. Die Postoperative Schmerztherapie hat hier einen besonders hohen Stellenwert, um Ängste klein zu halten (ggf. PCA-Pumpe einsetzen).
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27
28 Suchterkrankungen Jörg Helge Junge 28.1 Pathophysiologie der Sucht –290 28.1.1 Biologische Sucht –290 28.1.2 Genetische Sucht –290
28.2 Besonderheiten der perioperativen Therapie –290 28.2.1 28.2.2 28.2.3 28.2.4
Alkohol –290 Medikamente –291 Opioide –291 Kokain und Amphetamine –293
28.3 Sucht bei Anästhesie- und Intensivpersonal –295 28.4 Zusammenfassung –295 Literatur –295
290
Kapitel 28 · Suchterkrankungen
))
28
Die Problematik der Suchterkrankungen in unserer Gesellschaft nimmt zu. Das zeigen die Zahlen des Bundeskriminalamts, des Verfassungsschutzberichts des Bundes und der Länder sowie der Deutschen Hauptstelle für Suchtfragen e.V. in Hamm. Bei der Zahl der Betroffenen ist davon auszugehen, dass auch Anästhesisten, als perioperativ tätige Ärzte, in zunehmendem Maße in ihrer täglichen Arbeit mit Suchtpatienten konfrontiert werden. Ein Verständnis für die pathophysiologischen Vorgänge ist dabei für das Begleiten dieser Patienten unabdingbar. Leider sind die meisten Suchtpatienten polytoxikoman, d. h. sie kombinieren zwei oder mehrere Stoffe, was die Betreuung dieser Patienten nicht vereinfacht. Die auffälligsten und sicher auch psychosozial am meisten beeinflussten Suchtpatienten sind die Opiatabhängigen. Ihnen wird daher im Verlauf des Beitrags die meiste Aufmerksamkeit zukommen. Denken Sie dabei immer daran: Süchtige sind kranke Menschen!
28.1
Pathophysiologie der Sucht
Vom so genannten Abhängigkeitssyndrom (also von Patienten, die eine Suchtproblematik aufweisen) spricht man, wenn 3 der folgenden Punkte erfüllt sind: 4 Toleranzentwicklung (körperlich oder psychisch) 4 Entzugssyndrom 4 Substanzgebrauch gegen Entzugssymptome 4 Starkes Verlangen (»Craving«) 4 Verminderte Kontrolle des eigenen Verhaltens 4 Eingeengter Umgang mit der Substanz (Kontrollverlust) 4 Vernachlässigung anderer Interessen 4 Schädlicher Gebrauch Für das Entstehen und Aufrechterhalten der Sucht werden heute, neben den psychosozialen Mechanismen, biologische und genetische Faktoren verantwortlich gemacht.
28.1.1 Biologische Sucht Das dopaminerge Belohnungssystem steuert und kontrolliert normalerweise unsere Grundbedürfnisse, veranlasst uns also zu Essen und zu Trinken, zur Sexualität und aktiviert das Pflegeverhalten der Mutter gegenüber dem Kind. Es ist also für alles verantwortlich, was unser Wohlbefinden steigert.
. Tabelle 28.1. Suchtstoffe, die über den dopaminergen Belohnungsmechanismus suchterzeugend wirken »Legale« Suchtstoffe
»Illegale« Suchtstoffe
Sedativa oder Hypnotika
Opioide
Alkohol
Cannabinoide
Nikotin
Halluzinogene
Andere Stimulanzien (einschließlich Koffein)
Kokain
Nahezu alle Suchtstoffe greifen in dieses biologisch sinnvolle Belohnungssystem ein und führen über eine Blockade des hemmenden GABA-vermittelten Transmittersystems zu einer erhöhten Dopaminfreisetzung. In . Tab. 28.1 sind diejenigen Stoffe aufgeführt, welche über diesen dopaminergen Mechanismus suchterzeugend wirken. Dabei gilt Nikotin, nach dem Heroin, als zweitstärkster Suchtstoff.
28.1.2 Genetische Sucht Die genetische Sucht ist durch eine zu geringe Dichte an Azetylcholinrezeptoren im Zentralnervensystem gekennzeichnet. Die hierdurch bedingte zu geringe endogene Dopaminfreisetzung kann durch die Zufuhr »dopaminerger« Drogen (. Tab. 28.1.) gesteigert werden. Vermutlich sind viele Raucher von diesem genetischen Mangel betroffen. ! Suchtpatienten haben eine 50-prozentige Komorbidität mit psychiatrischen Erkrankungen insbesondere des schizoiden Formenkreises.
28.2
Besonderheiten der perioperativen Therapie
28.2.1 Alkohol Die alkoholkranken Patienten stellen unter den Suchtpatienten wahrscheinlich die größte Gruppe. Das perioperative Management hängt in erster Linie vom Stadium der Erkrankung ab und bedarf daher einer genauen Anamnese und einiger Laboruntersuchungen. Im Vordergrund steht dabei die Leberfunktion. Der Patient kann das Stadium der Enzyminduktion erreicht haben, sodass alle Medikamente, die dem Leberstoffwechsel unterliegen, ebenfalls schneller metabolisiert werden.
291 28.2 · Besonderheiten der perioperativen Therapie
Entsprechend resultieren ein vermehrter Medikamentenbedarf und eine verkürzte Medikamentenwirkdauer. In einem späteren Stadium, in dem es zur Leberschädigung gekommen ist und die Syntheseleistung der Leber nachlässt, kann dies ins Gegenteil umschlagen, sodass leberstoffwechselabhängige Medikamente verlängert wirken können oder aber eine deutlich geringere Wirkstoffmenge notwendig wird. Zu achten ist deshalb besonders auf die Laborwerte, welche entweder die Leberleistung widerspiegeln oder die Verletzung der Integrität der Leberzelle anzeigen (z.B. Quick-Wert). Medikamente, die an Albumin gekoppelt transportiert werden, können einer veränderten Pharmakokinetik unterliegen.
Anästhesiologisches Management Prämedikation. Perioperativ besteht für diese Patienten die Möglichkeit, einen Alkoholentzug zu besprechen und auch durchzuführen. Dies wird in der Regel eine intensivmedizinische Betreuung der Patienten, insbesondere postoperativ erforderlich machen. Der oft einfachere und praktikablere Weg ist es, den Patienten so rasch wie möglich wieder mit Alkohol zu versorgen. Operative Phase. Vereinzelt können diese Risikopatienten anästhesiebedingt ein Leberversagen entwickeln. Prinzipiell sind deshalb regionale Anästhesieverfahren vorteilhaft. Übrigens sind alkoholabhängige Patienten immer als nicht nüchtern im anästhesiologischen Sinne zu betrachten. Postoperative Phase. Oft bedeuten Operationen bereits einen solch großen Eingriff in die Physiologie der Patienten, dass es gefährlich sein kann, zusätzlich eine Entzugstherapie einzuleiten. Keinesfalls sollte aber die Gelegenheit versäumt werden, im Anschluss an den Heilungsprozess eine Entzugstherapie anzustreben. ! Leberfunktion beachten! Entzugssyndrom vermeiden!
28.2.2 Medikamente Akute Medikamentenintoxikationen kommen in der Regel unbeabsichtigt, z. B. bei Kindern, oder im Rahmen eines suizidalen Geschehens vor. Die Therapie der Intoxikation ist in der Regel symptombezogen, sofern kein spezifischer Antagonist zur Verfügung steht. Chronisch medikamentenabhängige Patienten sind sehr zahlreich und stellen vermutlich die sozial unauffäl-
ligste Gruppe der Suchtpatienten dar. Die dabei am häufigsten missbrauchten Medikamente sind die Benzodiazepine, von denen ca. 2 % der Bevölkerung abhängig sind. Benzodiazepine und auch Barbiturate zeigen eine Kreuztoleranz mit Alkohol, sodass sie zur gegenseitigen Wirkungsverstärkung kombiniert werden. Die Intoxikations- und Entzugserscheinungen der Benzodiazepine sind ausschließlich zentralnervöser Art. Wichtig zu wissen ist, dass eine plötzliche Abstinenz lebensbedrohend sein kann. Eine ausschleichende Therapie – in der Regel über Wochen – ist insbesondere bei den Benzodiazepinen wichtig.
Anästhesiologisches Management Prämedikation. Ziel ist es, ein Entzugssyndrom so lange zu unterdrücken, bis gegebenenfalls postoperativ eine Entzugstherapie begonnen werden kann. Zur medikamentösen Prämedikation können die im Haus gängigen Medikamente eingesetzt werden. Operative Phase. Durch »Down-Regulation« der Benzodia-
zepinrezeptoren bei chronischer Benzodiazepineinnahme kommt es zur Abnahme der Wirksamkeit von Injektionsund Inhalationsanästhetika. Geeignet sind jedoch alle gängigen Anästhesieverfahren. Postoperative Phase. Auch postoperativ ist die größte Aufmerksamkeit auf das Vermeiden eines Entzugssyndroms zu richten, welches sich durch Kopfschmerzen, Zittern, Unruhe und Erbrechen ankündigt und über Desorientiertheit und Halluzinationen im epileptischen Anfall endet. ! Benzodiazepine nicht abrupt absetzen! Wirksamkeit der Anästhetika möglicherweise vermindert!
28.2.3 Opioide Die Opiatintoxikation ist durch die Symptomentrias Miosis, Bewusstseinstrübung bis Koma und Atemdepression gekennzeichnet. Neben der Sicherung der Vitalfunktionen, gegebenenfalls durch Intubation und Beatmung, steht ein spezifisches Antidot zur Verfügung. Naloxon (Narcanti) kann bei diesen Patienten ein Entzugssyndrom auslösen. Die Anwendung sollte daher unbedingt titrierend erfolgen. Bedenken Sie auch, dass z. B. Heroin eine Halbwertszeit von ca. 6 h besitzt, während die Halbwertszeit von Naloxon nur 30 min beträgt. Patienten, die bei einer Opiatintoxikation antagonisiert werden, müssen daher einer intensivmedizinischen Überwachung zugeführt werden. Exzitationszustände können mit Benzodiazepinen therapiert werden.
28
292
Kapitel 28 · Suchterkrankungen
. Abb. 28.1. Typische »Fixerstraße«
tension und Herzbeuteltamponaden sind ebenfalls beschrieben. All dies führt bei diesen Patienten zu einer erhöhten Inzidenz von Arrhythmien und Kreislaufinsuffizienz.
Pulmonale Begleiterkrankungen Wahrscheinlich durch pulmonale Vasodilatation ist beim Heroinabhängigen das Auftreten eines Lungenödems typisch. Herabgesetzte Vitalkapazität, Compliance und Störungen der pulmonalen Diffusion sind Folge von bakteriellen Pneumonien und Aspirationspneumonien.
Renale Begleiterkrankungen
28 Das für Heroin typische Lungenödem wird mit Diuretika, z. B. Furosemid (Lasix) behandelt. Das zweite akut auftretende Problem bei Opioidsüchtigen ist das Entzugssyndrom. Es tritt etwa 24 h nach der letzten Opioidzufuhr auf und kann mit Zeichen der Kreislaufinsuffizienz, generalisierten Krämpfen oder deliranten Zuständen bis zum Tod führen. Das Entzugssyndrom lässt sich in 4 Grade einteilen (. Tab. 28.2.). Chronisch Opioidabhängige können im Vergleich zur gesunden Vergleichspopulation verschiedene Grunderkrankungen mitbringen, die das anästhesiologische Management und Risikoprofil beeinflussen. Diese entstehen durch unreinen »Stoff«, durch nicht streng aseptische Applikation der Droge oder sind durch die Lebensweise der Patienten bedingt. . Abb. 28.1 zeigt eine typische »Fixerstraße«.
Das nephrotische Syndrom kommt bei Opioidabhängigen ca. 7fach häufiger als in der Vergleichspopulation vor. Typisch ist die Nebennierenrindenhypertrophie mit beeinträchtigter Kortikoidsekretion.
Infektiöse Begleiterkrankungen Hepatitiden (infektiös/nichtinfektiös) und andere virale Infektionen (z. B. HIV), Granulome und Abszesse (z. B. Spritzenabszesse), Osteomyelitis, Neuritiden sowie Enzephalitis mit zerebralen Abszessen sind häufig. Muskelschwund mit Rhabdomyolyse oder unspezifische Myopathien können bei nahezu allen Opioidabhängigen beobachtet werden. ! Begleiterkrankungen können den stationären Krankenhausaufenthalt bzw. Intensivaufenthalt komplizieren und müssen im Therapieplan berücksichtigt werden.
Anästhesiologisches Management Kardiovaskuläre Begleiterkrankungen
Prämedikation. Abgeklärt werden muss: Wann wurde wel-
Bakterielle Endokarditiden, mykotische Aneurysmen sowie septische, pulmonale und systemische Embolien sind bei Opioidabhängigen keine Seltenheit. Pulmonale Hyper-
che Droge in welcher Dosis zuletzt genommen und welche Medikamente wurden zusätzlich im Krankenhaus verabreicht? Das Schaffen einer Vertrauensbasis zwischen Arzt
. Tabelle 28.2. Grade des Entzugsyndroms Grad
Phase
Symptome
0
Winselphase
Flehendliche Bitte um „Stoff “ ohne körperliche Entzugserscheinungen
1
Laufende Nase
Angst, Gähnen, Schwitzen, laufende Nase
2
Cold turkey
Heiße und kalte Schauer, Appetitlosigkeit, diffuse Schmerzen
3
Tachykardie-Stadium
Blutdruckanstieg, Tachykardie, Schlaflosigkeit, beschleunigte tiefe Atmung, Hypersensibilität
4
Vitale Bedrohung
Erbrechen aller Nahrung und Flüssigkeit, Spontanabgang von Stuhl, Spontanejakulation, Gefahr des Kreislaufkollapses
293 28.2 · Besonderheiten der perioperativen Therapie
und Patient ist dabei entscheidend für die Verlässlichkeit der gewonnenen Informationen. Für die Prämedikation sollte dann bei »cleanen« Opiatabhängigen keine Opioide eingesetzt werden. Präoperative Entzugssymptome müssen unbedingt vermieden werden, d. h. Patienten mit bestehendem Opioidabusus können hierzu z. B. Methadon (max. 40 mg) oder Morphin i.v. (z. B. 10–20 mg) erhalten. Sinnvollerweise wird bei Patienten im Methadonprogramm die Methadontherapie in der üblichen Dosierung weitergeführt. 25 % der Patienten haben eine chronische Anämie. Gegebenfalls müssen Erythrozytenkonzentrate bereitgestellt werden. Operative Phase. Perioperative (insbesondere intraopera-
! Chronische Opioidzufuhr führt zur Toleranzentwicklung. Diese verhindert die atemdepressive Wirkung des Opioids. Während eines stationären Aufenthalts mit unzureichender Opioidzufuhr sinkt die Schwelle für die Atemdepression wieder. Nach Entlassung kann deshalb eine »normale« Opioiddosis wieder zur Atemdepression mit letalem Ausgang führen. Hierauf sollten Sie den Süchtigen hinweisen.
Postoperative Phase nach Opiatentzugstherapie. Die Basisanalgesie sollte durch regionale Blockaden und Nichtopioidanalgetika erfolgen. ! Opioidapplikation führt zum Rückfall in die Sucht!
tive) therapieresistente Hypotonien sind als Entzugssyndrom zu werten und müssen daher durch die Zufuhr von Opioiden therapiert werden. Gegebenenfalls liegt auch ein durch die schlechte Nebennierenfunktion verursachter Kortisonmangel vor. Die Inhalationsanästhesie gilt als Basisverfahren für die Allgemeinanästhesie. Für die Durchführung sind in der Regel höhere MAC-Werte nötig. Alternativ kann eine TIVA mit Ultiva als Opioid durchgeführt werden. Bei »cleanen« Patienten oder Patienten, die in einem Entzugsprogramm sind, kommen Opioide erst nach Einleitung der Hypnose zum Einsatz, damit sie keinen Flush erleben. Aus dem gleichen Grund sollte die Opioidzufuhr vor Rückkehr des Bewusstseins gestoppt werden. Auf den Einsatz von depolarisierenden Muskelrelaxanzien sollte insbesondere bei Heroinpatienten verzichtet werden. Heroin verursacht Störungen der neuromuskulären Funktion und könnte so den Weg für das Auslösen einer malignen Hyperthermie bahnen. Wann immer möglich sollte bei Suchtpatienten ein regionales Anästhesieverfahren gewählt werden.
Bei starken Schmerzen können Opioide in den üblichen Dosen eingesetzt werden, sie sollten jedoch nicht abrupt abgesetzt werden. Immer muss der Einsatz von Opioiden mit dem Patienten präoperativ besprochen werden und sollte dann auch nur mit seinem Einverständnis erfolgen. Keinesfalls darf es zu einem Belohnungsverhalten kommen, sodass (wie auch für Patienten mit bestehender Sucht) die PCA nicht geeignet ist. Auf jeden Fall ist beim Einsatz von Opioiden ein fixes Dosierungsschema anzuwenden.
Postoperative Phase bei Patienten mit bestehender Opiatabhängigkeit. Die Basisanalgesie sollte durch Nichto-
Kokain und Amphetamine gewinnen gegenüber den Opiaten zunehmend Marktanteile. Patienten mit Kokainabusus werden daher in zunehmenden Maß in unserer täglichen Praxis auftauchen. Bei der Kokain-/Amphetaminintoxikation herrschen zunächst sympathoadrenerge Symptome vor. Aufgrund einer ZNS-Stimulation kommt es zu Mydriasis, Angst, Unruhe, vertiefter Atmung, Übelkeit, Erbrechen, Tremor, generalisierten Krämpfen. Intoxikationserscheinungen am kardiovaskulären System zeigen sich durch Tachykardie, Hypertonie, Rhythmusstörungen bis Kammerflimmern aber auch durch Bradykardie und Hypotonie. Innerhalb von 24 h nach Kokaineinnahme können Koronarspasmen auftreten. Patienten mit Kokainabusus haben ein 24fach höheres Risiko, einen Myokardinfarkt zu erleiden als die
pioidanalgetika erfolgen. Zur Ergänzung kann z. B. Methadon eingesetzt werden. Opioidanalgetika dürfen nur im festen Schema verordnet werden. Unbedingt muss ein Belohnungsverhalten vermieden werden. Aus diesem Grund sind diese Patienten auch für eine PCA ungeeignet. Ferner kann der stationäre Aufenthalt genutzt werden, um die Möglichkeit eines Entzugs mit dem Patienten zu besprechen. Hier ist wiederum die Vertrauensbasis zwischen Arzt und Patient ein entscheidender Erfolgsparameter. Opiatabhängige haben eine erhöhte Inzidenz zur postoperativen Atelektasenbildung. Ein intraoperativer PEEP bei der Beatmung wird sich hier günstig auswirken. Auf eine intensive Atemtherapie nach dem Eingriff muss geachtet werden.
! – Genaue Drogenanamnese – Beim ehemaligen Abhängigen präoperativ keine Opiate einsetzen – Postoperativ möglichst keine Opiate, wenn doch, dann in fixem Schema – Häufig sind chronische Begleiterkrankungen – Auf Infektionskrankheiten achten
28.2.4 Kokain und Amphetamine
28
294
28
Kapitel 28 · Suchterkrankungen
Vergleichspopulation. Durch exzessive Blutdrucksteigerungen kann es zu Hirnblutungen oder zur Aortendissektion kommen. Die Patienten können auch durch eine ZNS-Dämpfung auffallen, bei der es zu Schwindel, Schwerhörigkeit, Verlust der Sprachfähigkeit, Bewusstlosigkeit, Myotonie, Vasomotorenlähmung oder Dyspnoe bis hin zur Atemlähmung kommen kann. Der »sympathische overdrive« entsteht durch Hemmung der Wiederaufnahme von Noradrenalin, Dopamin und Serotonin am synaptischen Spalt. Gleichzeitig wirkt Kokain über eine Blockade der Natriumkanäle negativ inotrop. Wichtig zu wissen ist, dass psychische Wirkungen beim Kokain einer raschen Toleranzentwicklung unterliegen, was zwangsläufig zu einer Dosissteigerung führt. Die somatischen Wirkungen sind jedoch dosisunabhängig, sodass die Gefahr der Überdosierung mit Zeichen einer somatischen Intoxikation mit der Dauer der Suchterkrankung steigt. Gleichzeitiger Alkoholkonsum verlängert die Kokainwirkung erheblich. Ein spezifisches Antidot für die Kokainintoxikation steht derzeit nicht zur Verfügung. Verschiedene Substanzen sind in der Entwicklung (Anti-Kokain-Antikörper). Die Therapie erfolgt daher rein symptombezogen. Vorsicht ist beim Einsatz von E-Blockern geboten, da eine E-Blockade die Noradrenalinwirkung des Kokains verstärkt und so zu einer zusätzlichen Blutdrucksteigerung beitragen kann. Sinnvoll ist, auf den Einsatz von kombinierten D- und EBlockern zurückzugreifen, z. B. Phentolaminmesilat (Regitin). Auch Nitroglyzerin kann eine sinnvolle Alternative sein. Bei supraventrikulärer Tachykardie wird über den sicheren Einsatz von Adenosin (Adrekar) berichtet. Ventrikuläre Tachykardien scheinen gut und sicher mit Lidocain behandelbar zu sein. Anaphylaktoide Reaktionen sind bei Gebrauch von Kokain oder dessen Zubereitungen wie z. B. Crack nicht ungewöhnlich.
Kardiovaskuläre Begleiterkrankungen Die überschießende Dopaminfreisetzung führt bei chronischem Gebrauch zur Dopaminverarmung, was ohne Kokainzufuhr zu einer erhöhten Kollapsneigung sowie zu einer verminderten Kompensationsfähigkeit sympathikolytischer Einflüsse führt. Nach Aufnahme des Stoffs herrscht eine adrenerge Stoffwechsellage mit Zunahme des peripheren Widerstands und Verminderung der Koronardurchblutung. Verbunden mit chronischem Gebrauch sind auch ventrikuläre Hypertrophien, dilatative Kardiomyopathien und Myokarditiden.
Pulmonale Begleiterkrankungen Insbesondere bei Crackrauchern sind chronische Bronchitiden möglich; diese Patienten haben auch häufig ein kokaininduziertes Asthma bronchiale. Das oft von Kokainrauchern durchgeführte Valsalvamanöver kann zu einem Spontanpneumothorax führen.
Anästhesiologisches Management Prämedikation. Patienten mit Kokain- oder Amphetaminmissbrauch sind nicht so augenfällig wie Opiatpatienten. Über die Hälfte der Patienten verneinen bei der Anamnese den Drogengebrauch. Nasenschleimhautläsionen können diagnostisch hilfreich sein. Um der adrenergen Stoffwechsellage bei Patienten mit Kokainmissbrauch entgegen zu wirken, ist für eine gute, ausreichende Sedierung mit Benzodiazepinen zu sorgen. Operative Phase. Kokain wird über die Pseudocholinesterase im Plasma und in der Leber hydrolysiert. Medikamente, die denselben Abbauweg nutzen wie z. B. Succinylcholin oder Lokalanästhetika vom Estertyp können verstärkt oder verlängert wirken. Bei noch bestehender Intoxikation kommt es zur Wirkungsverstärkung von Vasopressoren und Katecholaminen. Geeignet sind alle Anästhesieverfahren. Auf den Einsatz von Ketamin sollte verzichtet werden. Im Zusammenhang mit Kokain- oder Amphetaminabusus und einer Vollnarkose kann es zum Temperaturanstieg mit Rhabdomyolyse und akutem Nierenversagen kommen. Dies kann dem Bild einer malignen Hyperthermie gleichen. Bei Patienten mit Amphetaminabusus war der Einsatz von Dantrolen-Na (Dantrolen) erfolgreich. Bei diesen Patienten sind ebenfalls Hepatitiden und fulminante Leberversagen beschrieben. Zu beachten ist auch, dass Patienten mit Amphetaminabusus häufig exsikkiert sind und entsprechenden Volumenersatz benötigen. Postoperative Phase. Postoperativ ist auf eine engmaschige Überwachung, insbesondere der Kreislaufparameter zu achten. Dies bedingt in Einzelfällen eine verlängerte Aufwachraumphase oder einen Aufenthalt auf der Intensivstation. ! – Gute präoperative Sedation – Katecholamine, Lokalanästhetika und Succinylcholin können verstärkt wirken – Rhabdomyolyse und Hyperthermie sind möglich – Patienten sind oft exsikkiert
295 Literatur
28.3
Sucht bei Anästhesieund Intensivpersonal
Jährlich geraten 2,1 % der Ärzte in eine Abhängigkeit. Auf das Lebensalter hochgerechnet besteht eine Prävalenz von 7,9 %, als Arzt abhängig zu werden. Anästhesisten sind dabei mit 12–14 % der betroffenen Ärzte überrepräsentiert. Am häufigsten handelt es sich um eine Fentanyl- oder Sufentanilabhängigkeit, alle anderen Drogen inklusive Alkohol kommen jedoch ebenfalls vor. 50 % der Betroffenen sind jünger als 35 Jahre, die meisten männlich (67–88 %). Am häufigsten kommt es zum Missbrauch von Opiaten (76–90 %), im Durchschnitt werden dabei 2,5–5 mg Fentanyl pro Tag konsumiert. Häufig ist aber auch der Gebrauch mehrerer Substanzklassen. Bei 1/3 der Betroffenen liegt eine positive Familienanamnese vor. ! Betroffen sind also insbesondere die Kollegen, die als Zielgruppe dieses Buches genannt sind. Achten Sie auf ihre Kollegen und natürlich auch auf sich selbst, denn Sucht ist therapierbar. Suchen Sie den Kontakt zu Suchtberatungsstellen, um Hilfe im Umgang mit süchtigen Kollegen oder ihrer eigenen Gefährdung zu erhalten, glauben Sie nicht dem Versprechen, aus eigener Kraft wieder aufzuhören.
28.4
Zusammenfassung
Suchtpatienten stellen einen nicht unerheblichen Teil unseres Patientengutes dar. Eine genaue Anamnese ist unerlässlich, um sich im perioperativen Ablauf den »Fallen«, die diese Patienten mitbringen können, gegenüberzustellen. Nicht vergessen werden darf, dass die Sucht auch eine Krankheit ist, unter der diese Patienten leiden. Sie verdienen deshalb unseren ganzen Respekt als Menschen und auch unsere ungeteilte Aufmerksamkeit, damit es uns gelingt, sie sicher durch die perioperative Phase zu führen. Suchtmittelmissbrauch ist verbunden mit vielfältigen Organmanifestationen, kardiovaskulären, pulmonalen oder neurologischen Störungen. Der perioperativ tätige Arzt muss die daraus entstehenden Komplikationen kennen. Die perioperative Phase ist auch eine Chance des Patienten auf Therapie.
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28
29 Neurologische Erkrankungen Elisabeth Breucking 29.1 Erkrankungen des zentralen Nervensystems –298 29.1.1 29.1.2 29.1.3 29.1.4 29.1.5
Morbus Parkinson –298 Epilepsie –299 Multiple Sklerose –299 Querschnittslähmung –300 Apoplexie –301
29.2 Neuromuskuläre Erkrankungen –301 29.2.1 Transmissionsstörungen –301 29.2.2 Neurogene Erkrankungen –302 29.2.3 Muskelerkrankungen –302
Literatur –305
298
Kapitel 29 · Neurologische Erkrankungen
)) Da das zentrale und periphere Nervensystem Zielorgan der Anästhetika und verschiedener Adjuvanzien ist, sind neurologische Erkrankungen in der präoperativen Risikoeinschätzung zu berücksichtigen. Die wichtigsten anästhesierelevanten Erkrankungen sind Erkrankungen des zentralen Nervensystems (M. Parkinson, Epilepsie, multiple Sklerose, Querschnittslähmung und Apoplexie) sowie neuromuskuläre Erkrankungen (Motoneuronerkrankungen, Transmissionsstörungen und Muskelerkrankungen).
29.1
Erkrankungen des zentralen Nervensystems
29 Die häufigste Erkrankung des zentralen Nervensystems (ZNS) im höheren Lebensalter ist der M. Parkinson, im jüngeren Lebensalter die Epilepsie. Multiple Sklerose, Querschnittslähmung und Apoplexie erfordern ebenfalls Beachtung beim anästhesiologischen Vorgehen.
29.1.1 Morbus Parkinson Das Parkinson-Syndrom ist eine Erkrankung der Basalganglien mit Dopaminverarmung in der Substantia nigra. In 80 % der Fälle liegt die idiopathische Form mit unklarer Ätiologie vor (M. Parkinson). In 20 % der Fälle lassen sich Ursachen nachweisen, z. B. metabolische, medikamentöse, infektiöse, postenzephalitische, toxi-
sche, vaskuläre, posttraumatische oder tumorbedingte Einflüsse. Klinik. Die Kardinalsymptome sind Rigor, Tremor, Akinese
und Störung der Stell- und Haltungsreflexe, häufig begleitet von vegetativen Störungen (Salbengesicht, Hypersalivation, arterielle Hypotonie, Obstipation und Dysurie). Pathophysiologie. Die Nervenzelldegeneration in der Substantia nigra (nigrostriatale inhibitorische dopaminerge Bahnen) führt durch den Dopaminmangel zur Überaktivität der cholinergen Interneurone im Striatum und der glutamatergen Verbindung vom Nucleus subthalamicus zum Globus pallidus. Therapie. Therapieziel ist, durch die Unterstützung des dopaminergen Systems und Hemmung des glutamatergen und cholinergen Systems das gestörte Gleichgewicht beider Mechanismen wiederherzustellen (. Tab. 29.1). Anästhesie-Risiken
4 Verschlechterung der klinischen Symptome mit protrahierter Bettlägerigkeit 4 Ateminsuffizienz durch erhöhte Thoraxrigidität mit bronchialer Sekretretention, Atelektasen, Aspiration und Pneumonie 4 Arterielle Hypotonie und Herzrhythmusstörungen 4 Medikamenteninduzierte Symptomverschlimmerung, z. B. durch Metoclopramid (Paspertin, MCP), Neuroleptika (Phenothiazine, z. B. Atosil; Butyrophenone,
. Tabelle 29.1. Anti-Parkinson-Medikamente Substanzklasse
Wirkungsweise
Arzneistoff
Präparat
Anticholinergika
Hemmung cholinerger Neurone
Biperidin Metixen Trihexyphenidyl
Akineton Tremarit Artane
NMDA-Antagonisten
Hemmung glutamaterger Neurone
Amantadin Memantine
PK-Merz Akatinol
L-Dopa
Dopaminsubstitution
L-Dopa
L-Dopa
L-Dopa + DDC-Hemmer
Substitution + Hemmung von NW
L-Do/Benserazid L-Do/Carbidopa
Madopar Nacom
MAO-B-Hemmer
Abbau-Hemmung
Selegiline
Movergan
Dopamin-Agonisten
Substitution
Bromocriptin Lisurid
Pravidel Dopergin
299 29.1 · Erkrankungen des zentralen Nervensystems
Klinik. Neben dem typischen generalisierten tonisch-kloni. Tabelle 29.2. Antikonvulsiva
schen Anfall mit oder ohne Aura gibt es eine Vielzahl verschiedener fokaler Anfallstypen. Die meisten werden von einer Bewusstseinsstörung begleitet.
Substanz
Präparate
Carbamazepin
Tegretal, Timonil
Phenytoin
Phenhydan, Zentropil
Valproinsäure
Ergenyl, Orfiril
Phenobarbital
Luminal
Barbexaclon
Maliasin
Therapie. Die zum Einsatz kommenden Antikonvulsiva
Primidon
Liskantin, Mylepsin
sind in . Tab. 29.2 zusammengestellt.
Benzodiazepine:
Pathophysiologie. Der Krampfanfall wird durch paroxysmale, hochsynchronisierte elektrische Entladungen neuronaler Strukturen des Gehirns ausgelöst, die im EEG als »Krampfpotenziale« nachweisbar sind.
Anästhesie-Risiken
Clonazepam
Rivotril
Diazepam
Valium
Midazolam
Dormicum
z. B. DHB), Amiodaron (Cordarex) und Kalziumantagonisten (z. B. Flunarizin, Cinnarizin) Tipps
M. Parkinson – so machen wir es: Anästhesiologisches Vorgehen 5 Anti-Parkinson-Medikation bis zur Operation beibehalten 5 Anti-Parkinson-Medikation so früh wie möglich postoperativ weitergeben, eventuell per Magensonde oder PK-Merz als Infusion 5 Regionalanästhesie bevorzugen 5 Zur Allgemeinanästhesie möglichst kurz wirksame Substanzen verwenden 5 Kontraindikation für Neuroleptika und Metoclopramid beachten
29.1.2 Epilepsie Rund 0,5 % der Bevölkerung leidet an einer chronischen Epilepsie. Die Inzidenz ist bei Kindern und im höheren Alter deutlich größer als in den mittleren Lebensabschnitten. Ätiologisch können neben genetischen Faktoren Schäden durch Trauma, Hypoxie, Tumoren, Infektionen, vaskuläre, metabolische oder toxische Enzephalopathien nachgewiesen werden. Die konsequente antikonvulsive Therapie führt in vielen Fällen zur anhaltenden Anfallsfreiheit.
4 Anfallsprovokation durch Stress, insbesondere in der postoperativen Phase 4 Anfallsprovokation durch Hyperventilation Tipps
Epilepsie – so machen wir es: Anästhesiologisches Vorgehen 5 Orale Langzeittherapie bis zur Operation fortführen 5 Stabile Serumspiegel beibehalten, insbesondere falls postoperativ auf eine intravenöse Applikation umgestellt werden muss 5 Großzügige perioperative Anwendung von Benzodiazepinen als Sedativa 5 Alle regionalen und allgemeinen Anästhesieverfahren sind geeignet
29.1.3 Multiple Sklerose Die multiple Sklerose (MS) ist die häufigste entzündliche ZNS-Erkrankung unserer Breiten mit Erstmanifestation meist im frühen Erwachsenenalter. MS betrifft doppelt so häufig Frauen wie Männer. Die Ätiologie ist unklar, es werden Autoimmunprozesse oder eine Slow-Virus-Infektion diskutiert. Klinik. Die Erkrankung kann schubförmig mit kompletter
oder partieller Remission, sekundär progredient oder bereits primär chronisch-progredient verlaufen. Initialsymptome sind häufig Seh- und Sensibilitätsstörungen. In fortgeschrittenen Stadien können Hirnnervenläsionen, Sprachstörungen, spastische Paresen und Blasen-Mastdarm-Lähmungen zu permanenter Pflegebedürftigkeit und Bettlägerigkeit führen.
29
300
Kapitel 29 · Neurologische Erkrankungen
Pathophysiologie. Die Degeneration der Myelinscheiden
von Axonen des ZNS führt zur Abnahme der Nervenleitfähigkeit. Remyelinisierungsprozesse können eine verlangsamte Nervenleitung wiederherstellen. Es kann jedoch auch zum Untergang der Nervenfasern kommen. Die Entmarkungsherde können in allen Bereichen von Gehirn und Rückenmark auftreten. Therapie. Die Therapie versucht kausal und symptoma-
29
tisch anzugreifen: 4 Entzündungshemmung (Kortikosteroide) 4 Immunmodulation (Interferon-E) 4 Immunsuppression (Azathioprin, evtl. Methotrexat, Zyklophosphamid) 4 Symptomatisch (Baclofen [Lioresal], Dantrolen [Dantamacrin], Gabapentin [Neurontin] zur Minderung der Spastik) Anästhesie-Risiken
4 Exazerbation der Symptome durch Stress oder erhöhte Körpertemperatur 4 Differenzialdiagnostische Probleme bei neu auftretender Symptomatik nach rückenmarknahen Regionalanästhesien 4 Succinylcholin-induzierte Rhabdomyolyse bei permanenter Immobilisation 4 In Spätstadien technische Probleme bei der Lagerung und Intubation durch Kontrakturen und Ankylosen Tipps
Multiple Sklerose – so machen wir es: Anästhesiologisches Vorgehen 5 Prinzipiell sind alle Anästhesie-Verfahren einsetzbar. 5 Ein perioperatives Temperatur-Monitoring ist sinnvoll. 5 In Spätstadien sollte auf Succinylcholin zugunsten nichtdepolarisierender Muskelrelaxanzien verzichtet werden. 5 Individuell müssen Intubations- und Lagerungsbedingungen geprüft werden.
29.1.4 Querschnittslähmung Als Querschnittslähmung bezeichnet man ein Syndrom, bei dem alle Strukturen des Rückenmarks auf der Ebene der Läsion etwa gleichmäßig geschädigt sind.
Klinik, Pathogenese und Therapie. Bei der Querschnittslähmung handelt es sich um eine doppelseitige zentrale Lähmung mit Sensibilitätsstörung für alle Qualitäten und vegetativen Störungen wie Harn- und Stuhlverhalt sowie Verlust des spontanen Schwitzens bei Läsion des oberen Brustmarks. Bei akutem Beginn findet man im Initialstadium des spinalen Schocks eine schlaffe motorische Lähmung bei erloschenen Eigenreflexen, die später in eine spastische Parese übergeht. Bei langsamem Beginn entwickelt sich von Anfang an eine spastische Lähmung, begleitet von zunehmenden spinalen Automatismen, die reflektorisch durch sensible und vegetative Reize ausgelöst werden. Je nach Höhe des Querschnitts können die Atemhilfsmuskulatur oder auch das Zwerchfell betroffen sein. Im akuten und chronischen Stadium führt die Vasomotorenlähmung zu einer starken Beeinträchtigung der Kreislaufregulation mit Hypotonie. Bei Ausfall der kardialen Sympathikusbahnen besteht eine Tendenz zur Bradykardie. Neben traumatischen Ursachen kommt eine Kompression durch Tumore oder andere Raumforderungen in Frage. Anästhesie-Risiken
4 Kreislauf-Dysregulation durch Ausfall des Sympathikus – Gefahr des neurogenen Schocks 4 Ateminsuffizienz, falls nicht schon vorher Respiratorabhängigkeit besteht 4 Vegetative Reflexe sind auch im anästhetischen Bereich möglich, z. B. Bradykardie oder Spasmen bei Hautirritation. 4 »Denervierungssyndrom« mit Abnahme der Azetylcholin-Rezeptoren an der Muskelendplatte und Auftreten extrajunktionaler Azetylcholin-Rezeptoren auf der gesamten Muskelzellmembran 4 Akute Rhabdomyolyse mit hyperkaliämischem Herzstillstand durch Succinylcholin induzierbar Tipps
Querschnittslähmung – so machen wir es: Anästhesiologisches Vorgehen 5 Nervenblockaden im nicht betroffenen Bereich sind möglich. 5 Ober flächliche Eingriffe im anästhetischen Gebiet sind ohne zusätzliche Maßnahmen möglich, für alle anderen Operationen wird wegen der spastischen Paresen und der spinalen Automatismen eine Allgemeinanästhesie benötigt. 6
301 29.2 · Neuromuskuläre Erkrankungen
29.2 5 Succinylcholin ist absolut kontraindiziert (außer in den ersten 24 h nach dem Trauma). 5 Nichtdepolarisierende Muskelrelaxanzien im Bedarfsfall vorsichtig titrieren 5 Möglichst kurz wirksame Anästhetika (Hypnotika, Opioide, Inhalationsanästhetika) verwenden 5 Nachbeatmungsmöglichkeit sicherstellen 5 Katecholamine bereithalten
29.1.5 Apoplexie Residuen nach apoplektischem Insult findet man bei den geriatrischen Patienten vieler operativer Fachrichtungen recht häufig. Klinik, Pathogenese und Therapie. Die Symptomatik umfasst Halbseitenlähmung mit oder ohne Gehfähigkeit, Sprachstörung, Schluckstörung, rezidivierende Aspirationen, bronchialer Sekretverhalt, Störungen der Orientierung bis hin zur Multiinfarkt-Demenz. Häufigste Ursache ist der ischämische Infarkt bei zerebraler Arteriosklerose oder Hirnembolie neben der zerebralen Blutung, z. B. im Rahmen einer hypertonen Krise. Die Therapie des chronischen Stadiums ist in der Regel symptomatisch. Anästhesie-Risiken
4 Erneuter Apoplex durch kardiovaskuläre Instabilität oder intraoperative Embolisierung 4 Beatmungsprobleme infolge obstruktiver und restriktiver Ventilationsstörung 4 Postoperative Ateminsuffizienz
Neuromuskuläre Erkrankungen
Die neuromuskulären Erkrankungen (NME) werden in drei Hauptgruppen unterteilt: Neurogene Erkrankungen, Transmissionsstörungen und Myopathien. Bei den neurogenen und myogenen Erkrankungen können akut lebensbedrohliche Reaktionen mit Rhabdomyolyse und Herzstillstand auftreten, die der malignen Hyperthermie (MH) ähneln. Bei einigen Krankheitsbildern wird eine genetische Kopplung mit der MH vermutet (King-Denborough-Syndrom), bei der Central Core Disease (CCD) ist sie bewiesen. Die Transmissionsstörungen (Myasthenia gravis, Lambert-Eaton-Syndrom) sind durch diese Problematik nicht belastet und sollen deshalb zuerst besprochen werden.
29.2.1 Transmissionsstörungen Myasthenia gravis Der Krankheit liegt eine Störung an der Muskelendplatte zugrunde, die die neuromuskuläre Übertragung beeinträchtigt. Initial fallen Störungen der Augen-, Gaumensegel- und Schlundmuskulatur auf mit Ptose, Doppelbildern, Schluckund Sprachstörung. In Ruhe kehrt die Muskelkraft rasch zurück. Der Verlauf ist sehr variabel. Der Befall der Atemmuskulatur kann zur respiratorischen Insuffizienz führen. Der verminderte Hustenstoß und die Schluckstörung begünstigen Aspirationen. Bei etwa 80 % der Patienten können Antikörper gegen Azetylcholin-Rezeptoren (AChR) der Muskelendplatte nachgewiesen werden. Bei vielen findet man ein Thymom oder eine Thymushyperplasie. ! Kardinalsymptom der Myasthenia gravis ist die zunehmende Ermüdung einzelner Muskeln oder Muskelgruppen, besonders unter Belastung.
Tipps
Pathophysiologie. Die Autoantikörper gegen AChR zer-
Apoplexie – so machen wir es: Anästhesiologisches Vorgehen 5 Im Akutstadium nur vital indizierte Operationen zulassen 5 Engmaschiges Kreislauf-Monitoring, bei Instabilität auch invasiv 5 Intubation zur »Bronchialtoilette« nutzen und gründlich tracheobronchiales Sekret absaugen 5 Postoperative Nachbeatmungsmöglichkeit sicherstellen
stören die Rezeptoren und bewirken eine fortschreitende Abnahme der Gesamtzahl. Da die Sicherheitsbreite der neuromuskulären Übertragung beim Gesunden sehr groß ist, führt erst die Abnahme der Rezeptoren auf 25 % zur Transmissionsstörung. Bei repetitiver Stimulation, die zur Muskelkontraktion erforderlich ist, zeigt sich daher eine zunehmend geringere Reizantwort. Diese ist als »Fading« in der neurophysiologischen Untersuchung nachweisbar. Therapie
4 Azetylcholinesterase-Hemmer erhöhen die Zahl der Azetylcholin-Moleküle im synaptischen Spalt durch den verlangsamten Abbau und erleichtern so die Transmission. Therapeutisch eingesetzt werden Pyridostig-
29
302
Kapitel 29 · Neurologische Erkrankungen
min (Mestinon) und Neostigmin (Prostigmin) oral alle 3–6 Stunden. Diagnostisch kann Edrophonium i.v. verabreicht werden (Tensilon-Test). 4 Die Entfernung des Thymus kann die Produktion der Autoantikörper eliminieren oder reduzieren. 4 Zur Immunsuppression werden Kortikosteroide und Azathioprin eingesetzt. 4 Bei akutem und krisenhaftem Verlauf kann eine Plasmapherese oder Immunglobulinbehandlung eingesetzt werden.
29
! Myasthene Krise. Bei unzureichender Behandlung kann eine myasthene Krise auftreten, die durch Muskelschwäche, respiratorische Insuffizienz, Ptose, Schluckstörung, Unruhe, Benommenheit und Mydriasis gekennzeichnet ist. Cholinerge Krise. Nur schwer klinisch abgrenzbar ist die cholinerge Krise bei Überdosierung der Azetylcholinesterase-Hemmer. Auch hier treten Muskelschwäche, respiratorische Insuffizienz, Unruhe und Benommenheit auf in Kombination mit Hypersekretion und Miosis.
Anästhesie-Risiken
4 Myasthene oder cholinerge Krise in der postoperativen Phase 4 Erhöhte Empfindlichkeit auf Muskelrelaxanzien und Benzodiazepine 4 Ateminsuffizienz Tipps
Myasthenia gravis – so machen wir es: Anästhesiologisches Vorgehen 5 Cholinesterasehemmer im gewohnten Rhythmus bis zur Narkose weitergeben 5 Regionalanästhesie bevorzugen 5 Nur im Einzelfall eine sedierende Prämedikation (z. B. Midazolam) in reduzierter Dosis unter geschulter Überwachung erwägen 5 Zur Allgemeinanästhesie sind Inhalationsanästhetika ebenso geeignet wie intravenöse Substanzen, z. B. Remifentanil und Propofol. 5 Kein genereller Verzicht auf Muskelrelaxanzien 5 Succinylcholin ist prinzipiell anwendbar, Wirkstärke und Wirkdauer sind aber wegen der reduzier ten AChR-Zahl und der Inter ferenz mit dem Cholinesterasehemmer nicht vorhersehbar. 6
5 Die titrierte Applikation nichtdepolarisierender Muskelrelaxanzien unter neuromuskulärem Monitoring mit der Train-of-four-Stimulation (TOF) mit kleinsten Einzeldosen, z. B. von 5–10 mg Atracurium gewährleistet eine schonende Intubation. 5 Das TOF-Monitoring ermöglicht den Nachweis der neuromuskulären Erholung und erlaubt eine sichere Extubation (TOF > 90 %). 5 Sofortige postoperative Weiterführung der Cholinesterasehemmer-Therapie, falls nötig auch intravenös 5 Überwachung auf der Intensivstation unter neuromuskulärem Monitoring 5 Nachbeatmungsmöglichkeit muss gewährleistet sein
Das gleiche Vorgehen kann bei myasthenen Syndromen empfohlen werden, z. B. beim Lambert-Eaton-Syndrom. Hier führen Antikörper gegen präsynaptische AChR als paraneoplastisches Syndrom bei Malignomen, z. B. beim Bronchialkarzinom, zur Muskelschwäche, meist jedoch mit geringerem Ausmaß.
29.2.2 Neurogene Erkrankungen Bei den neurogenen Erkrankungen bewirkt die Denervierung eine umschriebene oder generalisierte Muskelatrophie. Bei progredientem Verlauf führen die Schluckstörung und die Lähmung der Atemmuskulatur über die respiratorische Insuffizienz zum Tod. Eine Kardiomyopathie oder kardiale Reizleitungsstörungen werden häufig gefunden. Eine Übersicht zeigt . Tab. 29.3.
29.2.3 Muskelerkrankungen Die Myopathien umfassen eine Vielzahl seltener Krankheitsbilder (. Tab. 29.4). Die größte Gruppe bilden die progressiven Muskeldystrophien. Bei der Duchenne-Form (DMD) beginnt der Muskelschwund proximal betont und schreitet schnell voran. Betroffene Säuglinge sind klinisch noch symptomlos. Um das zehnte Lebensjahr werden die Kinder rollstuhlbedürftig. Die zunehmende respiratorische Insuffizienz führt zum Tod in der zweiten bis dritten Lebensdekade. Der Typ Becker (BMD) verläuft nur langsam progredient. Bei den meisten Patienten mit DMD und BMD ist eine Kardiomyopathie nachweisbar. Der Erbgang ist x-chromosomal rezessiv. Der Gendefekt (Xp21) verursacht durch Dystrophinmangel Muskelfa-
303 29.2 · Neuromuskuläre Erkrankungen
. Tabelle 29.3. Neurogene Erkrankungen Defekt
Erkrankung
Ätiologie
Klinik
Verlauf
Motoneuron
Amyotrophische Lateralsklerose (ALS)
Degenerativ
Aufsteigende Lähmung, Bulbärparalyse
Rasch progredient
Motorische Vorderhornzellen
Spinale Muskelatrophien (SMA)
Degenerativ heterogenetisch
Schlaffe Lähmung, Areflexie
Rasch progrediente und chronische Formen
Nervenwurzeln
Guillain-BarréSyndrom
Entzündlich
Aufsteigende Lähmung, beatmungspflichtig
Reversibel
Periphere Nerven
Charcot-MarieTooth-Syndrom Friedreich-Ataxie
Degenerativ heterogenetisch
Umschriebene Lähmungen, kardiale Probleme
Chronisch progredient
Polyneuropathien
. Tabelle 29.4. Klassifizierung der Muskelerkrankungen Typ
Beispiele
Progressive Muskeldystrophien (MD)
Typ Duchenne (DMD)/Typ Becker (BMD); Emery-Dreifuss-MD; Fazioskapulohumerale MD; Gliedergürtel-MD; Myotonische MD
Kongenitale Myopathien
Nemaline Myopathie; Central Core Disease
Myositiden
Dermatomyositis; Polymyositis
Metabolische Myopathien
Glykogenosen; Lipidmyopathien; Mitochondriale Myopathien; Maligne Hyperthermie
Muskelmembranstörungen (Ionenkanalkrankheiten)
Myotonia congenita Typ Thomsen/Typ Becker; Paramyotonia congenita; hyperkaliämische und hypokaliämische periodische Paresen (Natriumkanal-, Chloridkanal-, Kalziumkanal-, Kaliumkanalstörungen)
sernekrosen, die durch Fett- und Bindegewebe ersetzt werden. Die CK-Erhöhung im Serum spiegelt die Aktivität des dystrophischen Prozesses. Die Ionenkanalerkrankungen weisen weder Muskelschwund noch Progredienz auf. Anästhesieprobleme
Anästhesieprobleme bei Patienten mit NME treten entweder in Folge der schweren Organveränderungen durch die Grunderkrankung oder als abnorme Reaktionen auf bestimmte Anästhetika auf.
Respiratorische Insuffizienz Muskelschwund und Muskelschwäche führen schon im Spontanverlauf der Krankheitsprogredienz zu respirato-
rischen Schwierigkeiten mit Schluckstörungen, mangelndem Hustenstoß, gefolgt von Sekretverhalt, Aspiration, Infektion und Hypoventilation. Eine präoperativ noch eben kompensierte Atemfunktion kann postoperativ dekompensieren. Eine Nachbeatmung muss daher immer einkalkuliert werden, auch wenn keine Muskelrelaxanzien verwendet wurden. Die Entwöhnung kann sehr schwierig sein. In einzelnen Fällen kann eine permanente Respiratorpflichtigkeit resultieren.
Herzinsuffizienz Bei einer Kardiomyopathie mit Herzinsuffizienz oder Reizleitungsstörungen können eine akute Dekompensation, höhergradige AV-Blockierungen und Asystolie als Narkosekomplikation auftreten.
29
304
29
Kapitel 29 · Neurologische Erkrankungen
! Succinylcholin ist absolut kontraindiziert! Wie bei allen Denervierungssyndromen führt Succinylcholin bei den neurogenen Erkrankungen aufgrund der Bildung extrajunktionaler Azetylcholinrezeptoren zu massiver extrazellulärer Hyperkaliämie und gegebenenfalls Asystolie. Die Anwendung von Succinylcholin bei Patienten mit Myotonien kann schwerste myotone Kontrakturen der Kiefer- und Atemmuskulatur auslösen, die eine Intubation und Beatmung sehr erschweren oder sogar unmöglich machen. Bei dieser Patientengruppe können auch Cholinesterasehemmer die gleichen myotonen Reaktionen bewirken und dürfen deshalb nicht eingesetzt werden. Bei den dyskaliämischen Lähmungen kann man nach Narkosen, insbesondere nach Succinylcholin, protrahierte Lähmungserscheinungen beobachten, die durch Auskühlung und Hypoglykämie verstärkt werden.
Maligne Hyperthermie Die genetische Kopplung der malignen Hyperthermie (MH) mit anderen Myopathien ist für die Central Core Disease im MHS1-Lokus nachgewiesen. Beim extrem seltenen King-Denborough-Syndrom wird die Korrelation vermutet. In einer Familie mit hyperkaliämischer periodischer Parese konnte eine Kopplung dieser Anlage mit der MH im MHS2-Lokus (Natriumkanal SCN4A) gefunden werden. Ob die MH-ähnlichen Narkosezwischenfälle bei den anderen Myopathien durch eine MH-Disposition oder eine unspezifische Reaktion der geschädigten Muskulatur bedingt sind, ist zurzeit noch Gegenstand der Diskussion. Eine sichere Anästhesieführung ist jedoch nicht von der endgültigen Klärung dieses Problems abhängig, da die gleichen Triggersubstanzen sowohl die MH als auch die schweren Rhabdomyolysen mit Asystolie bei den anderen NME auslösen und deshalb bei allen Muskelerkrankungen zu vermeiden sind.
Schwere Rhabdomyolyse mit Herzstillstand Besonders schwerwiegend und eindrucksvoll sind MHähnliche Reaktionen, die mit einer schweren Rhabdomyolyse und Herzstillstand einhergehen. Betroffen sind meistens Kinder mit bis dahin nicht erkannter Muskeldystrophie (DMD oder BMD), die Succinylcholin und Inhalationsanästhetika erhalten hatten. Diese Beobachtungen führten 1991 zu einer Warnung der FDA (Food and Drug Administration der USA) vor der routinemäßigen Anwendung von Succinylcholin im Kindesalter und weltweit zu einer Einschränkung der Indikation. Es sind jedoch schwere Rhabdomyolysen mit Herzstillstand bei DMD- und BMD-Kindern auch unter alleiniger Inhalationsanästhesie beobachtet worden. Obwohl durch die gleichen Trigger ausgelöst, lässt sich die schwere Rhabdomyolyse mit Herzstillstand klinisch und laborchemisch von einer MH-Krise abgrenzen. Die Kinder entwickeln sehr bald nach Narkosebeginn eine Bradykardie, die zur Asystolie überleitet. Es besteht in der Regel keine deutlich erhöhte Körpertemperatur. Es fehlen alle Zeichen eines Hypermetabolismus. Die schwere Rhabdomyolyse bewirkt eine exzessive Hyperkaliämie mit Werten um 10 mmol/l. Die Reanimation ist schwierig, sollte aber lange durchgeführt werden. Erfolge nach mehr als 90 min Dauer mit Restitutio ad integrum sind beschrieben. Neben der Therapie des Crush-Syndroms muss eine massive Behandlung der Hyperkaliämie mit forcierter Diurese, Kalziumgabe, Pufferung mit Natriumbikarbonat, Glucose-Insulin-Infusionen, Ionenaustauschern und eventuell auch Hämo- oder Peritonealdialyse durchgeführt werden.
Tipps
NME – so machen wir es: Anästhesiologisches Vorgehen 5 Gründliche Voruntersuchung bezüglich der Grundkrankheit, der Muskelkraftreserve sowie der kardialen und respiratorischen Funktion 5 Die Prämedikation muss individuell dem Schweregrad und Stadium der Erkrankung angepasst sein. Solange die Muskelkraft zu suffizienter Atmung ausreicht, profitieren die Patienten von der Sedierung mit Midazolam. Wenn schon präoperativ eine Atemdepression zu befürchten ist, kann die Anxiolyse durch eine gute Arzt-Patient-Beziehung sowie die intensive fürsorgliche Zuwendung des Anästhesiepersonals erreicht werden. 5 Die »trigger freie« Narkose ist das Standardver fahren, doch sollten Regionalanästhesiever fahren bevorzugt werden, falls diese möglich sind. 5 Die Meidung aller Triggersubstanzen der MH kann auch bei den Patienten mit NME die abnormen Reaktionen und schweren Zwischenfälle verhindern. Wir empfehlen die TIVA mit Propofol und einem Opiat. 5 Auf eine Relaxation kann man in vielen Fällen ganz verzichten. Andernfalls werden kompetitive Muskelrelaxanzien in reduzierter Dosis vorsichtig unter Relaxometrie titriert. 6
305 Literatur
5 Auf Maßnahmen zum Wärmeschutz ist zu achten und postoperatives »Shivering« muss vermieden werden, um einerseits myotone Reaktionen bei den disponier ten Patienten als spezifisches Risiko zu minimieren und andererseits den Sauerstoffverbrauch bei eingeschränkter kardio-pulmonaler Leistungsreser ve niedrig zu halten. 5 Das Monitoring muss neben den üblichen Maßnahmen EKG, Pulsoxymetrie, Blutdruckmessung, Kapnometrie und Temperaturmessung wiederholte Kontrollen der Blutgase, Elektrolyte und des Blutzuckers umfassen. 5 Die Behandlung der schweren respiratorischen und myokardialen Insuffizienz erfolgt nach den allgemein üblichen anästhesiologischen und intensivmedizinischen Kriterien. Die Indikation zum invasiven Monitoring und zur Nachbeatmung sollte großzügig gestellt werden, die Gefahr der kardialen und respiratorischen Dekompensation muss aber als ernstes und strenges Kriterium in die Indikationsstellung zu einer Operation einbezogen werden.
Literatur Baur CP, Schlecht R, Jurkatt-Rott K, Georgieff M, Lehmann-Horn F (2002) Anästhesie bei neuromuskulären Erkrankungen. Teil 1: Einführung. Anästhesiol Intensivmed Notfallmed Schmerzther 37: 77–83 Baur CP, Schara U, Schlecht R, Georgieff M, Lehmann-Horn F (2002) Anästhesie bei neuromuskulären Erkrankungen. Teil 2: Spezielle Krankheitsbilder. Anästhesiol Intensivmed Notfallmed Schmerzther 37: 125–137 Blobner M, Mann R (2001) Anästhesie bei Patienten mit Myasthenia gravis. Anaesthesist 50: 484–493 Breucking E (1989) Neurologische und neuromuskuläre Erkrankungen (Myasthenia gravis, M. Parkinson) und Cholinesterasemangel. Anästhesiologie & Intensivmedizin 30: 326–334 Breucking E, Mor tier W (2002) Maligne Hyper thermie und andere neuromuskuläre Erkrankungen (CME 12/02) Anästh Intensivmed 43: 810–824 Breuck ing E, Mor tier W (1999) Leserbrief zur Arbeit von Wappler F et al.: Inzidenz der Disposition zur malignen Hyper thermie bei Patienten mit neuromuskulären Erkrankungen. AINS 1998, 33: 373–380. Anästhesiol Intensivmed Notfallmed Schmerzther 34: 324–325 Breucking E, Reimnitz P, Schara U, Mor tier W (2000) Inzidenz schwerer Narkosezwischenfälle bei Patienten und in Familien mit progressiven Muskeldystrophien vom Typ Duchenne und Becker. Anaesthesist 49: 187–195
Mann R, Blobner M (2001) Neuromuskuläres Monitoring bei Myasthenia gravis. Anaesthesist 50: 526–528 Rosenkranz T (2003) Myopathien – Was muss der Anästhesist wissen? Anästhesiol Intensivmed Notfallmed Schmerzther 38: 483–488 Thiel M (2001) Myasthenia gravis: Anästhesie an der Spitze des Eisbergs. Anaesthesist 50: 481–483
29
30 Anästhesie bei Adipositas Karsten Michael und Frank Hoffmann 30.1 Einführung –309 30.2 Genetische Faktoren der Adipositas –309 30.3 Begleiterkrankungen und erhöhte Risiken –309 30.3.1 30.3.2 30.3.3 30.3.4 30.3.5 30.3.6 30.3.7 30.3.8 30.3.9
Arterielle Hypertonie –309 Diabetes mellitus Typ 2 –309 Kardiale Erkrankungen –310 Neurologische Folgeerkrankung (Apoplex) –310 Hyperurikämie –310 Respiratorische Veränderungen –310 Maligne Erkrankungen –310 Orthopädische Erkrankungen –310 Mortalität –310
30.4 Präoperative Maßnahmen –310 30.4.1 Prämedikation –311
30.5 Anästhesieverfahren bei Adipositas –311 30.5.1 Allgemeinanästhesie –311 30.5.2 Regionalanästhesie –312
30.6 Postoperative Betreuung –312 Literatur –312
308
Kapitel 30 · Anästhesie bei Adipositas
)) Adipöse Menschen sind Risikopatienten, die ein besonderes Handling benötigen. Schon präoperativ hat eine außergewöhnliche Vorbereitung zu er folgen; mit der Verwendung geeigneter Medikamente und dem Bewusstsein, dass der Patient viele Risiken in sich birgt, lässt sich auch bei Adipösen eine Narkose sicher führen. Intensive postoperative Betreuung ist notwendig, um Schäden von dem Patienten abzuwenden.
: Beispiel
30
In der Adipositas-Sprechstunde unseres Hauses stellt sich ein 33-jähriger männlicher Patient zur Durchführung eines laparoskopischen Gastric banding zur Gewichtsreduktion vor. Der Patient leidet an morbider, therapieresistenter Adipositas per magna (. Abb. 30.1). Er wiegt bei Vorstellung 245 kg bei einer Körpergröße von 189 cm. Dies entspricht einem BMI von 68,6 kg/m2. Es liegen damit bei diesem Patienten ein 200-prozentiges Übergewicht über dem »Idealgewicht« sowie ein regelwidriger Körperbau vor. Der Patient ist kein so genannter »sweeteater«, hormonelle Ursachen seines extremen Übergewichtes wurden im Rahmen entsprechender Untersuchungen ausgeschlossen. Anamnestisch ist der Patient schon seit der Kindheit übergewichtig. Schon während der Kindheit durchgeführte Kuren zur Gewichtsreduktion zeigten sich frustran. Auch später durchgeführte Versuche zur Gewichtsreduktion mit kommerziell erhältlichen Diäten, einem stationären Therapieaufenthalt sowie durch Selbsthilfegruppen konnten keine Gewichtsreduktion erwirken. Kurzfristig erzielte Gewichtsreduktionen wurden im Langzeitverlauf durch erneute Gewichtszunahme wieder relativiert. Die Teilnahme an Sportprogrammen ist zum jetzigen Zeitpunkt nicht mehr möglich. Bei Aufnahme zeigte sich ein extrem kurzatmiger und belastungsinsuffizienter Patient mit Schlaf-Apnoe-Syndrom. Sonographisch zeigt sich eine deutliche Fettleber. Laborchemisch fallen ein Hyperinsulinismus sowie eine Dyslipoproteinämie auf. Es droht das Auftreten eines metabolischen Syndroms. Nachgewiesen ist ebenso eine fortgeschrittene Herzinsuffizienz, die trotz bestehender diuretischer Therapie extreme Extremitätenödeme hervorruft. Subjektiv klagt der Patient über hygienische Probleme im Bereich der tiefen Hautfalten sowie über übergewichtsbedingte schwerste Probleme im Bereich der Wirbelsäule, des Rückens und der Sprunggelenke. Weiterhin bestehen schwere psychosoziale Probleme. Der 6
. Abb. 30.1. Patient mit Adipositas per magna
Patient ist arbeitslos. Aufgrund seines extremen Übergewichts droht die Langzeitarbeitslosigkeit. Da dem Patienten mit konservativen Maßnahmen nicht mehr geholfen werden kann, erfolgt die Indikationstellung zur operativen Intervention. Nach der Aufnahme in unsere Klinik erfolgte die Prämedikationsvisite durch den Anästhesisten. Die Lungenfunktionsprüfung zeigte eine kombinierte obstruktive und restriktive Ventilationsstörung. Neben dem vorbestehenden Schlaf-Apnoe-Syndrom bestand eine arterielle Hypertonie, eine Refluxösophagitis, eine vorbestehende Herzinsuffizienz mit Ruhedyspnoe, Extremitätenödeme sowie eine Pollinosis und ein Nikotinabusus von 40 Zigaretten pro Tag. Der Patient gab an, nur noch im Sitzen zu schlafen, da die Rückenlage nicht mehr toleriert wird. Weiterhin bestand aufgrund des adipösen Halses eine stark eingeschränkte Reklination des Kopfs. Wir mussten somit zusätzlich zu allen Risikofaktoren mit einer technisch erschwerten Intubation rechnen. Am Operationstag musste der Patient aufgrund nicht tolerierter Rückenlage und Ruhedyspnoe im Sitzen von der Station in den Einleitungsraum der Anästhesieabteilung gebracht werden. Die initiale periphere O2-Sättigung im Sitzen betrug 86 %. Es erfolgte die Ileuseinleitung (RSI-Einleitung) und rasche Intubation, das Legen einer arteriellen Kanüle sowie die sehr schwierige ZVK-Anlage bei extrem schlechten Venenverhältnissen. Zur Aufrechterhaltung einer adäquaten Oxygenation war unter kontrollierter Beatmung ein PEEP von 20 cm H2O erforderlich. Der Narkoseverlauf war unauffällig. Zur Narkoseaufrechterhaltung wurde eine balancierte Anästhesie durchgeführt. Im Rahmen der intraoperativen Volumensubstitution wurden Kristalloide und Kolloide eingesetzt. 6
309 30.3 · Begleiterkrankungen und erhöhte Risiken
Die Operation dauerte 276 min. Der Patient wurde nach Beendigung der Operation intubiert und beatmet auf die Intensivstation verlegt. Hier erfolgte am folgenden Tag die problemlose Extubation im Sitzen. Im weiteren Verlauf erfolgte eine intensive Atemtherapie zur Stabilisierung der pulmonalen Situation. Am 4. postoperativen Tag konnte der Patient auf die Normalstation verlegt werden. Am 7. postoperativen Tag wurde der Patient nach Hause entlassen.
30.1
Einführung
Die Vermehrung des Körpergewichts durch eine Zunahme des Körperfetts über die Norm wird als Übergewicht oder Adipositas bezeichnet. Eine Einteilung der Adipositas wird mithilfe des Körpermasseindex (Body mass index, BMI) durchgeführt. Der BMI berechnet sich aus dem Quotienten von Gewicht und dem Quadrat der Körpergröße. Die Klassifikation von Übergewicht und Adipositas wird von der WHO wie in . Tab. 30.1 gezeigt festgelegt. ! Patienten mit Übergewicht zeigen ein deutlich erhöhtes Risiko in Bezug auf perioperative Morbidität und Mortalität.
30.2
Genetische Faktoren der Adipositas
Im Rahmen der Zwillings- und Familienforschung konnte gezeigt werden, dass die erbliche Disposition eine erhebliche Rolle in der Entstehung der Adipositas spielt. Durch das Zusammenspiel von genetischer Disposition, mangelnder Bewegung und übermäßiger Zufuhr energiereicher Kost entsteht häufig eine Adipositas. Die Fähigkeit des Menschen zum Anlegen von Fettdepots – früher ein Selektionsvorteil – stellt heute, durch die fast unbegrenzte Verfügbarkeit von Nahrungsmitteln in der westlichen Welt, ein Problem dar. Zahlreiche verschiedene Gene sind für die Prävalenz der Adipositas verantwortlich. Durch das Zusammenwirken verschiedener Allele kommt es zur Ausprägung des entsprechenden Phänotyps ähnlich wie beim Diabetes mellitus Typ 2 oder bei der arteriellen Hypertonie. In den letzten Jahren wurden zunehmend neue Proteine identifiziert, die für Nahrungsaufnahme, Energieverbrauch und die Fettgewebsdifferenzierung verantwortlich gemacht werden. Die weitere Genforschung wird es unter Umständen ermöglichen, verschiedene Formen der Adipositas zu differenzieren und eine spezifische Therapie zu entwickeln.
. Tabelle 30.1. Body mass index und WHO-Klassifikation von Übergewicht und Adipositas Definition
BMI [kg/m2]
Normalgewicht
18,5–24,9
Übergewicht
25,0–29,9
Adipositas Grad I
30,0–34,9
Adipositas Grad II
35,0–40,0
Extreme Adipositas Grad III
> 40
30.3
Begleiterkrankungen und erhöhte Risiken
30.3.1 Ar terielle Hyper tonie Die arterielle Hypertonie ist die häufigste Begleiterkrankung bei vorliegender Adipositas. In verschiedenen Studien konnte eine enge Korrelation zwischen BMI und Hypertonieprävalenz nachgewiesen werden. Durch eine Gewichtsreduktion wird eine proportionale Senkung des Blutdrucks erreicht. Das Herzzeitvolumen (HZV) ist bei Patienten mit Adipositas infolge des erhöhten Sauerstoffbedarfs deutlich vergrößert. Eine relative Hypoxämie führt zur pulmonalen Vasokonstriktion, die wiederum zu einer zunehmenden Rechtsherzbelastung führt. Ungefähr 8 % aller sehr adipösen Patienten leiden unter einem Pickwick-Syndrom. Somnolenz und Hypoventilation erhöhen die arterielle CO2-Konzentration und führen zu einer respiratorischen Azidose, Hypoxämien, Polyzytämie und pulmonaler Hypertension. Aufgrund dieser Veränderungen kann es schließlich zum Rechtsherzversagen kommen.
30.3.2 Diabetes mellitus Typ 2 Adipöse Personen erkranken häufiger an Diabetes mellitus Typ 2 als Normalgewichtige; dies ist Folge einer Insulinresistenz, die oft mit einer Hypercholesterinämie, einer Hypertriglyzeridämie und einer Verfettung der Leber einhergeht. Die Leberfunktionsteste fallen oft pathologisch aus; ein pathologischer Cholesterinstoffwechsel führt zu einem erhöhten Risiko, an Gallensteinen zu erkranken.
30
310
Kapitel 30 · Anästhesie bei Adipositas
30.3.3 Kardiale Erkrankungen
30.3.7 Maligne Erkrankungen
Mit zunehmendem BMI steigt das Risiko, einen Myokardinfarkt zu erleiden. Ist der BMI > 29, so ist das Risiko einer koronaren Herzerkrankung mindestens 3-mal höher als bei Personen mit einem BMI < 21. Die Herzinsuffizienz stellt eine wesentliche Komplikation der Adipositas dar. Mit zunehmender Dauer der Fettleibigkeit kommt es zur myokardialen Hypertrophie und zur Myokard-Dilatation als Folge des erhöhten Herzzeitvolumens.
Im Rahmen verschiedenster Studien konnte gezeigt werden, dass Übergewicht eine positive Relation zu malignen Erkrankungen aufweist. Eine der Untersuchungen deutet darauf hin, dass adipöse Männer häufiger an Kolonkarzinomen erkranken als Normalgewichtige. Aber auch Gallengangskarzinome, Mammakarzinome und maligne Erkrankungen des Endometriums kommen bei Übergewichtigen häufiger vor. Ob die Tumoren durch das Übergewicht entstehen oder ob die Art der Ernährung für die Neubildungen verantwortlich ist, muss noch geklärt werden.
30.3.4 Neurologische Folgeerkrankung
(Apoplex)
30
30.3.8 Or thopädische Erkrankungen
Es liegen wenige Studien vor, die das Krankheitsbild der Adipositas in Bezug zum Apoplex bringen. In neueren Untersuchungen konnte gezeigt werden, dass Frauen mit einem BMI > 32 ein im Vergleich zu Normalgewichtigen um ein mehr als verdoppeltes Schlaganfallrisiko tragen.
Übergewicht führt zu einer Vielzahl von Erkrankungen des Bewegungsapparates. Vor allem Arthrosen im Kniegelenk, aber auch im Bereich der Hüfte schränken die Lebensqualität deutlich ein. Weitere Schädigungen betreffen auch die Fußgelenke und die Wirbelsäule.
30.3.5 Hyperurikämie
30.3.9 Mor talität
Erhöhtes Körpergewicht steigert das Risiko, eine Gicht zu entwickeln. Das Körpergewicht korreliert mit der Harnsäurekonzentration im Serum. Durch Gewichtsreduktion kommt es kurzfristig zu einer höheren Urikämie, langfristig sinkt die Harnsäurekonzentration jedoch deutlich ab.
Ab einem BMI > 30 steigt die Mortalität deutlich an. Vor allem Erkrankungen des Herz-Kreislauf-Systems sind hierfür verantwortlich.
30.3.6 Respiratorische Veränderungen
Aufgrund der Adipositas, häufig in Kombination mit den erwähnten Begleiterkrankungen, sind diese Patienten als Risikopatienten zu bezeichnen. Typische, mit der Adipositas assoziierte Erkrankungen sind arterielle Hypertonie, pulmonalarterielle Hypertonie, Links- und Rechtsherzinsuffizienz, gastroösophagealer Reflux, Diabetes mellitus und das Schlafapnoesyndrom. Eine Grundlage zur Risikoabschätzung bietet die ausführliche Anamnese. Sämtliche Begleiterkrankungen sind nicht einzeln sondern in ihrer Gesamtheit zu werten. Das Wirkungs- und Nebenwirkungsprofil der eingenommenen Medikamente muss präoperativ beachtet und gewertet werden (z. B. Azidose bei Metformin). Da durch die Leibesfülle die Möglichkeiten der körperlichen Untersuchung eingeschränkt sind, sollte die Indikation für weitergehende Untersuchungen großzügig gestellt werden. Das EKG zeigt häufig Hypertrophiezeichen, Links- und Rechtsherzbelastung. Gezielt sollte aber auch nach Ischämiezeichen gesucht werden. Im Thoraxröntgenbild sieht man oft eine Kardiomegalie und Atelektasen.
Respiratorische Veränderungen finden sich sowohl im Gasaustausch als auch in der Atemmechanik. Durch ein ausladendes Abdomen kommt es konsekutiv zu einer lumbalen Lordose und einer thorakalen Kyphose mit einer Einschränkung der Rippenbeweglichkeit. Zwerchfellhochstand, versteifte Thoraxwand und erhöhter intraabdomineller Druck führen zu einer Reduktion der gesamten Lungenvolumina, einem erhöhten Inspirationswiderstand und zu einer verminderten Compliance. Durch das hohe Gewicht des Oberkörpers ist das exspiratorische Reservevolumen (ERV) deutlich reduziert. Die verminderte Compliance erfordert eine deutlich erhöhte Atemarbeit. Häufig kommt es infolge des geringen Lungenvolumens zu einer Minderbelüftung von Lungenarealen mit der Ausbildung intrapulmonaler Shunts und entsprechenden Hypoxämien.
30.4
Präoperative Maßnahmen
311 30.5 · Anästhesieverfahren bei Adipositas
Restriktive Lungenveränderungen zeigen sich häufig in der Lungenfunktionsuntersuchung. Typischerweise sind in- und exspiratorisches Reservevolumen, die funktionelle Residualkapazität und die Vitalkapazität reduziert. Die präoperative Blutgasanalyse unter Raumluft ist auch im Hinblick auf die postoperative Phase von Bedeutung. In jedem Fall ist präoperativ eine intensive Atemtherapie zu fordern. Ebenso sollte für elektive Eingriffe eine optimale Einstellung der Blutdruck- und Blutzuckerwerte erfolgen. Zu lange Nüchternheit bzw. Fasten sollten jedoch vermieden werden. Ein präoperatives Fasten führt regelhaft zu einer metabolischen Azidose, welche nur bedingt respiratorisch kompensiert werden kann. Diese Abmagerungsbemühungen, eventuell in der Kombination mit Amphetaminen, können intraoperativ zu massiven metabolischen und kardialen Dekompensationen führen.
30.4.1 Prämedikation Zur Prämedikation haben sich kurz wirksame Benzodiazepine wie z. B. Midazolam bewährt. Bei Patienten mit bekanntem Schlafapnoesyndrom sollte auf die Gabe von sedierenden Medikamenten verzichtet oder diese nur sehr vorsichtig eingesetzt werden. Um das Risiko und die Folgen der Aspiration zu verringern, kann die präoperative Gabe von Ranitidin oder die Pufferung der Magensäure mit Natriumzitrat in Erwägung gezogen werden.
30.5
Anästhesiever fahren bei Adipositas
30.5.1 Allgemeinanästhesie Adipöse Patienten sind aufgrund ihrer außergewöhnlichen Körpermasse für Lagerungsschäden prädisponiert. Geeignete Lagerungshilfen wie Gelmatten und Kissen müssen in ausreichender Anzahl zur Verfügung stehen, um alle Körperpartien sicher zu lagern. Oft müssen spezielle Lagerungsmittel präoperativ angefertigt werden, um spezielle Lagerungsformen durchzuführen. Fast alle gebräuchlichen OP-Tische sind nur bis zu einem maximalen Gewicht von rund 180 kg zugelassen; zusätzliche, Gewicht aufnehmende Lagerungshilfen wie ein zusätzlicher Tisch sind unter Umständen von Nöten. Die Gewichtslimitierung des OP-Tischs ist vor dem Auflegen des Patienten zwingend zu prüfen. Die Anlage von venösen Zugängen sowohl peripher als auch zentral ist erschwert. Da die Blutdruckmessung mit
der Manschette häufig an ihre technischen Grenzen stößt, sollte die Indikation zur invasiven Druckmessung großzügig gestellt werden. Gesteigerter intragastraler Druck, Refluxkrankheit und erhöhtes Magensaftvolumen mit niedrigem pH-Wert erhöhen bei adipösen Patienten das Risiko einer Aspiration; eine endotracheale Intubation sollte zur Sicherung der Atemwege immer durchgeführt werden. Eine Rapid sequence induction (RSI) scheint bei diesen Patienten das Risiko einer Aspiration bei der Narkoseeinleitung zu verringern. Durch die Einschränkungen in Bezug auf den Respirationstrakt ist es sehr wichtig, eine lange Präoxygenierung mit dicht sitzender Maske durchzuführen. Mit Schwierigkeiten bei der Maskenbeatmung und der Intubation muss gerechnet werden. Da Fett und Knochen nicht relaxiert werden können, muss die Dosierung von Relaxanzien nach unten angepasst werden. Das Monitoring mit einem Nervenstimulator (z. B. Train of four, TOF) ermöglicht eine bedarfsgerechte Nachrelaxierung, eine Antagonisierung ist somit häufig nicht mehr notwendig. Adipöse Patienten zeigen postoperativ ein erhöhtes Risiko an Obstruktionen der oberen Atemwege und Aspirationen. Um ein schnelles Erwachen und eine zügige Rückkehr der Schutzreflexe zu erreichen, ist die Verwendung kurz wirksamer Anästhetika anzuraten. Volatile Narkotika führen zu einer arteriellen Hypotension durch Vasodilatation und einem negativen inotropen Effekt auf das Myokard mit der Reduktion des Herzzeitvolumens. Lachgas, Hypoxie und Hyperkapnie haben eine Erhöhung des pulmonalarteriellen Widerstandes zur Folge. Aus diesem Grund sollte auf Lachgas verzichtet werden, die Sauerstoffkonzentration ausreichend hoch und die CO2-Konzentration im Blut im Normbereich gehalten werden. Unter maschineller Beatmung kommt es häufig zu einer Zunahme von Atelektasen und des Shuntvolumens. Um diese Verhältnisse wenigstens teilweise zu kompensieren und einen guten Gasaustausch zu erreichen, werden ausreichend große Atemzugvolumina mit relativ hohem PEEP unter Toleranz eines großen Spitzendrucks benötigt. Durch die Anwendung von Remifentanil kann die intraoperative Analgetikadosierung ausreichend hoch gewählt werden, ohne dass mit einem Opiatüberhang gerechnet werden muss. Im Allgemeinen reicht die Dosierung in Bezug auf das Normalgewicht aus. Da mit Beendigung der Zufuhr des Remifentanyls die analgetische Wirkung sehr schnell nachlässt, muss schon etwa eine halbe Stunde vor Ende der Opiatzufuhr mit der postoperativen Schmerztherapie begonnen werden. Hierfür eignen sich besonders peripher wirksame Analgetika wie Metamizol und Paraceta-
30
312
Kapitel 30 · Anästhesie bei Adipositas
mol, ggf. in Kombination mit Opiaten wie Piritramid. Aber auch Kombinationsnarkosen mit Katheterregionalanästhesie erleichtern die Narkoseführung, die Aufwachphase und die postoperative Schmerztherapie.
30.5.2 Regionalanästhesie
30
Durch den Erhalt der Spontanatmung kommt es zu einer geringeren Ausbildung von Atelektasen und Shunts und somit zu einem besseren Gasaustausch als unter Beatmung. Regionalanästhesiologische Verfahren sind jedoch nur mit Einschränkungen möglich. Die Punktion gestaltet sich häufig schwierig, da typische anatomische Orientierungspunkte durch die Fettmassen verschwinden. Um den Peridural- bzw. Subarachnoidalraum zu punktieren, werden überlange Nadeln verwendet. Durch den erhöhten intraabdominellen Druck, größere Venengeflechte und Fett im Epiduralraum werden rund 20 % geringere Volumina an Lokalanästhetika benötigt. Auch die Plexusanästhesie, der 3-1-Block und die Ischiadikusblockade gestalten sich genauso schwierig wie die Anästhesie peripherer Nerven.
30.6
Postoperative Betreuung
Wenn möglich, sollte die Extubation angestrebt werden. Hierdurch werden die physiologischen Verhältnisse wiederhergestellt und mögliche schädigende Beatmungsmuster während einer Nachbeatmung vermieden. Intensive Atemtherapie und CPAP-Beatmung sind wesentliche Bestandteile der postoperativen Betreuung adipöser Patienten. Um eine ausreichend tiefe Inspiration zu erhalten (vor allem nach abdominalchirurgischen Eingriffen) müssen die Patienten weitgehend schmerzfrei sein. Es sollte primär das gesamte Spektrum der Nichtopiatanalgetika ausgeschöpft werden. Falls der Patient weiter Schmerzen hat, darf ihm ein Opiat nicht vorenthalten werden. Bei großen abdominal- und/oder thoraxchirurgischen Eingriffen hat sich die Schmerztherapie via Epiduralkatheter bewährt. Diese ist aber beim Krankheitsbild der Adipositas per magna in der Durchführung oft technisch schwierig bis unmöglich (7 Abschnitt 30.5.2). Zur Thromboseprophylaxe eignet sich die Gabe von niedermolekularen Heparinen. Weitere wichtige Maßnahmen sind die Bewegung und die Wickelung der Beine (Antithrombosestrümpfe sind häufig in der entsprechenden Größe nicht verfügbar). Den gleichen Effekt erzielen auch pneumatische Schienen.
Um Lagerungsschäden zu vermeiden muss die Indikation für Spezialbetten und Wechseldruckmatratzen großzügig gestellt werden. Ebenso wichtig ist die aktive Wechsellagerung, die hohe Ansprüche an das Pflegepersonal stellt. Im Rahmen von Mikrozirkulationsstörungen treten bei Adipösen häufiger Wundheilungsstörungen auf als bei Normalgewichtigen. Um metabolische Entgleisungen zu vermeiden, sollte auch beim adipösen Patienten frühzeitig mit der enteralen Ernährung begonnen werden; häufig ist eine passagere Insulintherapie notwendig. ! Um postoperative Komplikationen wie Thrombosen, Lagerungsschäden mit Dekubitusbildung oder pulmonale Schädigungen möglichst zu vermeiden, ist die Frühmobilisation unbedingt notwendig.
Literatur AWMF online: Therapie der Adipositas. www.uni-duesseldorf.de/ WWW/AWMF/II/adip-001.htm Miller RD.(Edt.) (2000) Anesthesia. 5th Edition. Churchill Livingstone Stölting RK, Dierdorf SF (2002) Anesthesia and co-existing disease. 4th Edition. Churchill Livingstone Stölting RK (1999) Pharmacology and physiology in anesthetic practice 3rd Edition Lippincott Comp
32 Anästhesie in der Abdominalchirurgie Christoph Donath 32.1
Anatomische und physiologische Grundlagen –320
32.1.1 Intraabdominale Organe –320 32.1.2 Blutversorgung –320 32.1.3 Innervation –320
32.2
Präoperative Phase –320
32.2.1 32.2.2 32.2.3 32.2.4 32.2.5 32.2.6 32.2.7
Nüchternheit –320 Lungenfunktion –321 Perioperative Ernährung und Flüssigkeitsbilanzierung –321 Arterielle Kanülierung und invasive Blutdruckmessung –321 Magensonde –321 PDK –321 Bluttransfusion –322
32.3
Anästhesie bei laparoskopischen Eingriffen –322
32.3.1 Veränderungen unter Pneumoperitoneum –322 32.3.2 Narkoseführung –323
32.4
Anästhesie bei speziellen Operationen –323
32.4.1 32.4.2 32.4.3 32.4.4 32.4.5 32.4.6 32.4.7 32.4.8 32.4.9 32.4.10 32.4.11
Laparoskopische Cholezystektomie –323 Laparoskopische/konventionelle Appendektomie –323 Laparoskopisches/konventionelles Gastric banding –324 Chirurgie des Dünndarmes –324 Entzündliche Dickdarmerkrankungen –324 Peritonitis –324 Tumorchirurgie des Darms –325 Ileus –325 Chirurgie des Magens –326 Chirurgie des Pankreas –326 Chirurgie der Leber –327
Literatur –328
320
Kapitel 32 · Anästhesie in der Abdominalchirurgie
)) Hinsichtlich der Indikation wie auch der Vor- und Begleiterkrankungen trifft der Anästhesist in der Abdominalchirurgie auf ein sehr heterogenes Patientenkollektiv. Einerseits sehen wir Patienten ohne Vorerkrankungen zu kleineren elektiven Eingriffen, auf der anderen Seite jedoch auch multimorbide, häufig ältere Patienten mit akutem Abdomen zur Notfalllaparotomie. Da eine umfassende Vorbereitung auf die Narkose bei Letzteren häufig wegen der Dringlichkeit der Operation nicht mehr durchführbar ist, haben wir es hier mit z. T. erheblichen Organdysfunktionen zu tun. Diese Situation fordert vom Anästhesisten entsprechende pathophysiologische und therapeutische Kenntnisse.
32.1
32
Anatomische und physiologische Grundlagen
4 Th6–10 o Magen, Leber, Gallenblase, Milz, Pankreas, Dünndarm Sympathikus:
4 4 4 4
Th5–9 o Magen, Leber, Gallenblase, Milz, Pankreas Th10–L1 o Dünndarm Th10–L4 o Dickdarm Th8–S4 o Urogenitalorgane
Parasympathikus:
4 N. vagus o Magen, Darm, li. Kolonflexur, Nieren, Leber 4 S2–4 o Kolon descendens, Blase, Genitale ! Die Kenntnis der nervalen Versorgung ist die Grundlage für die Anwendung rückenmarknaher Anästhesie- und Analgesieverfahren, insbesondere die kontinuierliche Periduralanästhesie ist hier von großer perioperativer Bedeutung.
Präoperative Phase
32.1.1 Intraabdominale Organe
32.2
(Ösophagus o) Magen o Duodenum o Jejunum o Ileum o Ileozökalpol mit Appendix o Kolon o Sigma o Rektum; Leber mit Gallenblase, Pankreas, Milz, Nieren mit Nebennieren, Ureteren, Harnblase, Uterus, Adnexen, Ovarien und das Netz.
In der anästhesiologischen Voruntersuchung sind neben der in 7 Kap. 13 dargestellten ausführlichen Anamneseerhebung mit körperlicher Untersuchung, wie sie für jede Anästhesie gefordert wird, einige weitere Besonderheiten zu beachten:
32.1.2 Blutversorgung
32.2.1 Nüchternheit
4 4 4 4 4
Truncus coeliacus o Magen, Milz und Leber Aa. mesenterica sup. + inf. o Darm A. lienalis o Milz Aa. renales o Nieren mit Nebennieren A. uterina o Uterus
Der Blutfluss im Splanchnikusgebiet beträgt ca. 25 % des Herzminutenvolumens. Er wird in weiten Bereichen über Autoregulationsmechanismen konstant gehalten. Hier können im Bedarfsfall (Schock) durch eine sympathoadrenerg bedingte Vasokonstriktion ca. 25 % des Blutvolumens zur Aufrechterhaltung eines zentralen Kreislaufs rekrutiert werden. Dies geschieht jedoch zu Lasten der Durchblutung der Abdominalorgane mit konsekutiver Minderperfusion von Leber, Nieren und Darm und kann schwerwiegende Organversagen nach sich ziehen.
32.1.3 Inner vation 4 Th6–L1 o Bauchwand 4 Th5–6 o Ösophagus
Als nüchtern gelten Patienten, deren letzte konsistente Mahlzeit mehr als 6 h zurückliegt. »Klare« Flüssigkeiten (H2O, Tee, schwarzer Kaffee) können bis 2 h präoperativ getrunken werden. Als nicht nüchtern gelten Patienten – auch wenn sie nichts gegessen haben – 4 mit akutem Abdomen (Appendizitis, Ileus, GI-Blutung, Darmperforation, Peritonitis) 4 mit Refluxkrankheit 4 mit stenosierenden GI-Tumoren und Subileus In diesen Fällen wird immer die Ileuseinleitung (Rapid sequence induction) durchgeführt! Tipps
Ileuseinleitung – so machen wir es: 5 Evtl. zunächst Anlage einer Magensonde und Absaugen des Mageninhalts (cave: feste Nah6
321 32.2 · Präoperative Phase
5
5 5 5
5 5 5 5 5
5
rungsbestandteile können meist nicht abgesaugt werden!) Magensonde vor Narkoseeinleitung wieder entfernen, da sie als »Leitschiene« für eine Regurgitation dienen kann Bereitstellung eines leistungsfähigen, großlumigen Saugers (OP-Sauger) Präoxygenierung mit FiO2 = 1 über 5 min Hypnotikum (z. B. Etomidate, Propofol), schnell wirkendes Muskelrelaxans (Succinylcholin, Esmeron, Opiatgabe erst nach Intubation) Sellick-Handgriff (Krikoiddruck zur mechanischen Kompression des Ösophagus) Keine Maskenbeatmung, um ein Aufblähen des Magens zu vermeiden Rasche Intubation durch einen erfahrenen Anästhesisten Unverzügliches Blocken des Cuffs durch Helfer (Anästhesiepflege) Kontrolle der korrekten Tubuslage durch Auskultation und Kapnographie, sichere Fixierung des Tubus Opiatgabe
! Bei Fehlintubation in den Ösophagus Tubus blocken und belassen (dient nun als Aspirationsschutz) und erneute Intubation mit einem zweiten Tubus.
ten kardiopulmonal gesunden Patienten wird dieser Volumenmangel leicht unterschätzt, da die Patienten über die physiologischen Kompensationsmechanismen lange in der Lage sind, relativ normale Kreislaufparameter aufrechtzuerhalten. Auch bei größeren operativen Abdominaleingriffen ist perioperativ jedoch mit hohen Flüssigkeits- und Elektrolytverschiebungen zu rechnen. Dies ist bei Narkoseeinleitung und -führung zu beachten, die perioperative Flüssigkeitstherapie wird in 7 Kap. 18 beschrieben. Da die Patienten postoperativ meist einige Tage Nahrungskarenz haben, wird postoperativ häufig eine parenterale Ernährung durchgeführt (7 Kap. 64). In aller Regel ist die Anlage eines zentralen Venenkatheters indiziert. Zur Flüssigkeitsbilanzierung wird die Urinausscheidung gemessen, eine Dauerkatheterisierung ist dementsprechend häufig notwendig.
32.2.4 Ar terielle Kanülierung
und invasive Blutdruckmessung Die Anlage einer arteriellen Kanüle ist indiziert, um eine lückenlose Kreislaufüberwachung bei Patienten mit akutem Abdomen (Volumenmangel + Elektrolytverschiebung) wie auch bei länger dauernden, größeren Eingriffen zu ermöglichen. Hierdurch können auch regelmäßige Blutgasanalysen zur Kontrolle der Elektrolyte, des Säure-Basen-Status und der Blutgase als Ausdruck der adäquaten Beatmung durchgeführt werden. Bei kritisch Kranken sollte die Anlage vor Narkoseeinleitung erfolgen.
32.2.2 Lungenfunktion
32.2.5 Magensonde
Bei Patienten mit pulmonalen Vorerkrankungen und geplanten größeren Oberbaucheingriffen (z. B. Leberchirurgie, Magenoperationen), besonders bei abdomino-thorakalen Eingriffen, sollten zur Abschätzung des perioperativen pulmonalen Risikos eine Lungenfunktionsprüfung sowie eine arterielle Blutgasanalyse durchgeführt werden. Grundsätzlich sollten die Patienten bereits präoperativ atemgymnastische Übungen erlernen, die postoperativ als Pneumonieprophylaxe und zur Aufrechterhaltung einer suffizienten Lungenfunktion von besonderer Bedeutung sind.
Bei Ileuspatienten kann die Absaugung des Magens vor Narkoseeinleitung indiziert sein, zur Ileuseinleitung wird die Magensonde jedoch wieder entfernt (s. oben). Nach Narkoseeinleitung wird bei größeren intraabdominalen Eingriffen eine Magensonde angelegt, um gestaute oder sich postoperativ stauende Sekrete ableiten zu können. Nach Narkoseeinleitung zu laparoskopischen Eingriffen dient die Magensonde zur Entlastung der bei Maskenbeatmung evtl. in den Magen geratenen Luft. Hierdurch soll das Risiko einer Trokarverletzung des Magens verringert werden.
32.2.3 Perioperative Ernährung
und Flüssigkeitsbilanzierung Patienten mit akutem Abdomen, insbesondere Ileuspatienten, haben häufig einen erheblichen Volumenmangel sowie ausgeprägte Elektrolytverschiebungen. Bei ansons-
32.2.6 PDK Bei größeren abdominalen Eingriffen sollte die Indikation zur Anlage eines Periduralkatheters (PDK) großzügig gestellt werden. Hierbei wird vorrangig ein thorakaler Zu-
32
322
Kapitel 32 · Anästhesie in der Abdominalchirurgie
gang gewählt. Dies gilt insbesondere für die »große« Oberbauchchirurgie. Die positiven perioperativen Auswirkungen sind vielfältig und tragen wesentlich zum verbesserten Outcome der Patienten bei.
(IAP) von 8–10 mmHg aufgebaut, aus hämodynamischen Gründen sollte der IAP 15 mmHg nicht überschreiten.
32.3.1 Veränderungen unter
Pneumoperitoneum
Einflüsse der thorakalen PDA 5 Segmentale Analgesie 5 Vermeidung der schmerzbedingten Schonatmung 5 Verminderung von Atelektasenbildung 5 Geringere Stressreaktion durch Sympathikusblockade reduziert bei KHK-Patienten die Rate perioperativer ischämischer Episoden 5 Durch Sympathikusblockade bessere Per fusion im Splanchnikusgebiet 5 Verbesserte Darmmotilität in der postoperativen Phase durch Überwiegen der parasympatischen Innervation 5 Geringere postoperative Übelkeit 5 Kürzere Verweildauer auf der Intensivstation
Kreislauf Durch den erhöhten IAP nimmt bis zu einem Druck von ca. 8 mmHg (abhängig vom Druck in der Vena cava inf.) der venöse Rückfluss zum Herzen zu. Bereits bei einem IAP von ca. 12 mmHg ist der femorale Rückfluss um ca. 50 % reduziert, bei Überschreiten des intrakavalen Drucks sistiert der venöse Rückfluss über die Vena cava inferior. Das Herzzeitvolumen ist unter Pneumoperitoneum vermindert, der periphere Gefäßwiderstand (SVR) ist erhöht, es kommt zur Zunahme der Plasmakonzentration von Vasopressin, Dopamin, Adrenalin, Noradrenalin und Kortisol. Diese Veränderungen folgen einem charakteristischen Verlauf, nach Entlastung des Abdomens sind sie voll reversibel.
Atmung
32
32.2.7 Bluttransfusion Abhängig von der Art des geplanten Eingriffs müssen in angemessenem Maße Erythrozytenkonzentrate und ggf. GFP bereitgestellt werden.
32.3
Anästhesie bei laparoskopischen Eingriffen
Das Spektrum der laparoskopischen Operationen hat sich in den letzten Jahren stetig erweitert. So wird die Cholezystektomie heute nur noch ausnahmsweise offen-chirurgisch durchgeführt. Auch die Fundoplikatio und das Gastric banding sind bereits klassische laparoskopische Operationen. Darmresektionen werden immer häufiger laparoskopisch durchgeführt, Resektate dann über Minilaparotomien geborgen. Die Vorteile für den Patienten liegen besonders in der postoperativen Phase. Die Schmerzintensität und somit der Analgetikabedarf ist meist geringer, die Lungenfunktion ist deutlich weniger eingeschränkt als nach Laparotomien. Besonderheiten für die Anästhesie ergeben sich hauptsächlich aus dem Pneumoperitoneum, das durch Insufflation von CO2 in die freie Bauchhöhle angelegt wird, um dem Operateur gute Sicht und ausreichend Platz im OP-Gebiet zu verschaffen. In der Regel wird ein intraabdominaler Druck
Durch die IAP-Erhöhung verlagert sich das Zwerchfell nach kranial, die funktionelle Residualkapazität (FRC) und die Compliance der Lunge nehmen ab. Durch Resorption von CO2 kommt es zum Anstieg des PaCO2, dieser kann durch Steigerung des Atemminutenvolumens (AMV) begrenzt werden, wobei die Steigerung des Atemzugvolumens effektiver ist als eine Frequenzsteigerung (Verringerung der Totraumventilation). Nach Entlastung des Pneumoperitoneums kommt es durch den gesteigerten Blutfluss infolge der IAP-Normalisierung zu einer verstärkten Resorption von CO2. Dies ist in der Ausleitungsphase zu beachten um eine Hyperkapnie zu vermeiden. Ist bei Patienten mit schwerer COPD die Aufrechterhaltung der CO2Homöostase bereits intraoperativ nicht möglich, sollte eine postoperative Nachbeatmung bis zur Normalisierung des PaCO2 erwogen werden.
Niere Unter dem erhöhten IAP nimmt die Nierenperfusion ab, was in der Regel kein Problem darstellt. Während und nach länger dauernden Eingriffen muss jedoch unbedingt auf eine adäquate Diurese geachtet werden.
Gehirn Der zerebrale Blutfluss nimmt im Rahmen des Pneumoperitoneums zu. Im Gefolge steigt der intrazerebrale Druck (ICB) an. Somit stellt eine vorbestehende Hirndrucksym-
323 32.4 · Anästhesie bei speziellen Operationen
ptomatik eine – relative – Kontraindikation für laparoskopische Eingriffe dar.
Komplikationen 4 Aspiration (deshalb Intubation der Trachea mit geblocktem Tubus und Anlage einer Magensonde intraoperativ) 4 Sekundär bronchiale Intubation durch Kranialverlagerung der Carina nach Anlage des Pneumoperitoneums 4 Passagere Gasaustauschstörung (meist infolge pulmonaler Perfusionsstörung) 4 Pneumothorax 4 Pneumomediastinum 4 Gasembolie (bei intravasaler Gasinsufflation) 4 Gefäßverletzungen mit Blutung 4 Hautemphysem Die postoperative Schmerzintensität ist gegenüber konventionellen Operationsverfahren deutlich geringer, nicht aber aufgehoben. So bedürfen die Patienten selbstverständlich auch einer adäquaten Schmerztherapie. Der Schmerz rührt meist nicht von den Trokareinstichstellen her, sondern ist eher viszeralen Ursprungs. Eine Besonderheit nach laparoskopischen Eingriffen ist ein in die Schultern ausstrahlender Schmerz, dem ein Dehnungsreiz des Zwerchfells mit Fortleitung über den N. phrenicus zugrunde liegen soll.
32.3.2 Narkoseführung Unter dem üblichen Monitoring mit EKG, NIBP und SpO2 wird nach üblicher Präoxygenierung die Intubationsnarkose intravenös eingeleitet. Nach Intubation und Auskultation wird der Tubus sicher fixiert, wobei zu berücksichtigen ist, dass die Carina nach Anlage des Pneumoperitoneums im Rahmen der Kranialverlagerung des Zwerchfells ebenfalls nach kranial verschoben werden und der Tubus bei tiefer Platzierung in eine bronchiale Lage geraten kann. Abhängig von Eingriff und Vorerkrankungen des Patienten werden ein zentraler Venenkatheter, eine arterielle Kanüle und/oder ein Dauerkatheter gelegt sowie eine Magensonde platziert. Die Narkose kann als TIVA oder balancierte Anästhesie weitergeführt werden. Kapnometrie während der gesamten Narkose sollte heutzutage – nicht nur bei laparoskopischen Eingriffen – eine Selbstverständlichkeit sein. Nach Anlage des Pneumoperitoneums und Lagerung des Patienten müssen die Beatmungsparameter den neuen Druckverhältnissen angepasst werden, die Steigerung des AMV ist meist unverzichtbar. Eine suffiziente Relaxierung
bietet dem Operateur die notwendigen Arbeitsbedingungen und trägt zum guten Ergebnis bei. Die Relaxometrie wird von den meisten Autoren empfohlen. Die Relaxierung sollte möglichst bis zum Operationsende aufrechterhalten werden, oft müssen noch Resektate geborgen werden. Nach Ablassen des Pneumoperitoneums wird häufig das Peritoneum genäht, die Spontanisierung der Atmung ist meist erst danach möglich. In dieser »Reperfusionsphase« wird verstärkt CO2 resorbiert, das abgeatmet werden muss. Vor einer zu frühen Extubation sei daher an dieser Stelle mit dem Hinweis auf die Gefahr der Hyperkapnie ausdrücklich gewarnt. Der Patient wird extubiert, wenn unter einer regelmäßigen Spontanatmung mit Atemzugvolumina > 300 ml keine Hyperkapnie vorliegt, das endexspiratorische CO2 nicht mehr ansteigt, keine Anzeichen für einen Relaxansüberhang vorliegen und die Schutzreflexe wiedergekehrt sind.
32.4
Anästhesie bei speziellen Operationen
32.4.1 Laparoskopische Cholezystektomie Präoperativ sind hier keine operationsspezifischen Untersuchungen erforderlich. Die Cholestaseparameter (alkalische Phosphatase, J-GT) werden als Verlaufsparameter bestimmt, meist liegt eine Transaminasenerhöhung vor. Es wird eine Intubationsnarkose als TIVA oder balancierte Anästhesie durchgeführt. Nach Narkoseeinleitung sollte eine Magensonde gelegt werden, die in Absprache mit dem Operateur nach Operationsende wieder entfernt werden kann. EKG, NIBP (nicht invasive Blutdruckmessung), SpO2, Kapnometrie und Atemgasmonitoring sind zur Überwachung ausreichend. Manche Autoren empfehlen grundsätzlich die Relaxometrie. Eine sichere Venenverweilkanüle ist in der Regel ausreichend. Weitergehendes Monitoring ist nur bei entsprechenden Vorerkrankungen des Patienten zu erwägen. Postoperativ wird der Patient unter suffizienter Spontanatmung nach Rückkehr der Schutzreflexe extubiert. Im Anschluss an die Aufwachraumphase erfolgt die Verlegung auf die Pflegestation.
32.4.2 Laparoskopische/konventionelle
Appendektomie Präoperativ sind keine operationsspezifischen Untersuchungen nötig, in der Regel zeigen die Laborwerte erhöhte
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Kapitel 32 · Anästhesie in der Abdominalchirurgie
Entzündungs- und Infektparameter (Leukozytose, CRPAnstieg). Da es sich um ein »akutes Abdomen« handelt, gilt der Patient als nicht nüchtern, hier ist die Ileuseinleitung (RSI – Rapid sequence induction) indiziert (7 Abschnitt 32.2). Narkoseführung, Monitoring und postoperative Phase entsprechen der der laparoskopischen CHE.
32.4.3 Laparoskopisches/konventionelles
Gastric banding
den die Patienten auf Wärmematten gelagert, Infusionen werden gewärmt verabreicht, eine Wärmedecke trägt zur Aufrechterhaltung einer ausreichenden Körpertemperatur bei. Intraoperatives Monitoring erfolgt mit EKG, NIBP, SpO2, Kapnometrie, Atemgasmessung, Temperatursonde. Die Narkose wird als TIVA oder balancierte Anästhesie aufrechterhalten. Nach Operationsende können die Patienten in der Regel unter den allgemeinen Extubationskriterien extubiert werden.
32.4.5 Entzündliche Neben den oben aufgeführten Grundlagen zu laparoskopischen Operationen sind hier die Besonderheiten der Anästhesie bei Adipositas zu beachten, die in 7 Kap. 30 näher dargestellt werden.
32.4.4 Chirurgie des Dünndarmes
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Den elektiven Dünndarmeingriffen liegt häufig eine chronisch-entzündliche Erkrankung (M. Crohn) mit Stenosen, Fistelbildungen und Abszessen zugrunde; das Karzinom ist hier eher selten. Oft finden sich eine moderate Anämie, Mangel an Spurenelementen und Vitaminen. Häufige Diarrhöen bringen einen Elektrolytmangel mit sich; die Patienten haben oft ein Flüssigkeitsdefizit. Viele dieser Patienten sind mit Glukokortikoiden behandelt. Bislang werden Dünndarmoperationen in der Regel konventionell operiert. Präoperativ wird den Entzündungsparametern und dem Elektrolytstatus besondere Aufmerksamkeit geschenkt. Wichtig ist das Abschätzen des Volumenstatus (trockene Schleimhäute, stehende Hautfalten, Durstgefühl, Kreislaufparameter), wobei der Volumenmangel besonders bei jüngeren, kardiopulmonal gesunden Patienten leicht unterschätzt wird. Defizite sollten hier wenn möglich präoperativ ausgeglichen werden. Bei erwartungsgemäß größerem operativem Eingriff ist die Anlage eines Periduralkatheters zur postoperativen Schmerztherapie zu erwägen. Die Kortikoidsubstitution erfolgt perioperativ nach einem Substitutionsschema (7 Kap. 26). Sofern nicht eine Subileus-/Ileussymptomatik vorliegt, wird eine konventionelle Narkoseeinleitung mit orotrachealer Intubation durchgeführt. Bei erwarteter postoperativer Nahrungskarenz für mehr als fünf Tage sollte ein ZVK zur parenteralen Ernährung angelegt werden, ebenso bei schweren Elektrolytstörungen. Eine Magensonde verhindert die Retention von Magensaft bei postoperativ häufig auftretenden Motilitätsstörungen. Da die Wärmeverluste durch Verdunstung bei offenem Abdomen besonders groß sind, wer-
Dickdarmerkrankungen Divertikulitiden von Kolon und Sigma werden im entzündungsfreien Intervall kurativ durch Resektion des betroffenen Darmabschnittes, die Colitis ulcerosa ggf. durch Proktokolektomie mit Anlage eines ileoanalen Pouch behandelt. Hierbei handelt es sich um elektive Eingriffe, sodass präoperative Elektrolytimbalancen und Flüssigkeitsdefizite problemlos ausgeglichen werden können. Bei tiefen Rektumresektionen muss mit z. T. erheblichen Blutungen gerechnet werden. Narkoseführung und Monitoring entsprechen im Wesentlichen der Anästhesie bei Dünndarmeingriffen. Bei ausgedehnten Resektionen im Rektumbereich ist die Anlage von ein bis zwei großlumigen venösen Zugängen zu empfehlen.
32.4.6 Peritonitis Gefürchtete Komplikationen der entzündlichen Darmerkrankungen sind die Perforation mit kotiger Peritonitis sowie das toxische Megakolon, bei dem es zur Dilatation der Darmwand mit Durchwanderungsperitonitis kommt. Die Patienten befinden sich meist in einer mehr oder weniger kompensierten Schocksituation. Schocksymptomatik im Rahmen der Peritonitis 5 Massive abdominale Schmerzen mit bretthartem Bauch 5 Hypovolämie, Tachykardie + Hypotonie 5 Kaltschweißig, blassgraues Hautkolorit 5 Gelegentlich Dyspnoe 5 Häufig Fieber 5 Leukozytose, CRP-Anstieg, Thrombozytopenie, Verbrauch von Gerinnungsfaktoren mit Abfall des 6
325 32.4 · Anästhesie bei speziellen Operationen
Quick-Werts und PTT-Anstieg, Elektrolytverschiebungen Bei älteren Patienten kann eine gering ausgeprägte Schmerzsymptomatik die Dramatik des akuten Abdomens verschleiern!
tener übernäht, aboral wird ein protektiver Anus praeter angelegt. Bei schweren Peritonitiden kann eine Spülung der Bauchhöhle alle ein bis zwei Tage erforderlich sein um den Infekt zum Abheilen zu bringen. Nach Abheilung der Peritonitis kann der AP ggf. wieder zurückverlegt werden.
32.4.7 Tumorchirurgie des Darms Es handelt sich um eine akute Notafallsituation, die Patienten bedürfen einer umgehenden Sanierung des intraabdominalen Befundes. Eine arterielle Druckmessung sowie ein ZVK und 1–2 großlumige Zugänge sollten präoperativ gelegt und großzügig Kolloide infundiert werden, da es bei vorbestehendem Volumenmangel durch den nach Einleitung der Narkose reduzierten Sympathikotonus zu erheblichen Blutdruckabfällen kommen kann. In manchen Fällen ist bereits zur Narkoseeinleitung eine Katecholamintherapie notwendig. Es werden eine Ileuseinleitung durchgeführt und ein Blasenkatheter angelegt. Die Narkose kann als TIVA oder balancierte Anästhesie aufrechterhalten werden. Häufig sind Transfusion von EK sowie die Substitution von Gerinnungsfaktoren (GFP, PPSB, AT III) notwendig. Die antibiotische Therapie wird umgehend und mit breitem Spektrum begonnen. Elektrolyte, insbesondere K+ und Ca2+ werden entsprechend den Laborwerten substituiert. Häufig liegt bei den Patienten eine Azidose vor. Schwere Azidosen werden mit Natriumbikarbonat ausgeglichen. Postoperativ wird der Patient bei schwerwiegendem Krankheitsbild intubiert und beatmet auf die Intensivstation verlegt. Häufige postoperative Komplikationen bei Peritonitis 5 Flüssigkeitsverschiebung in den »dritten Raum« mit ausgeprägter, generalisierter Ödembildung, intravasalem Volumenmangel und Kreislaufinstabilität 5 Mikrozirkulationsstörung 5 Ausbildung von Pleuraergüssen 5 Hypokaliämien 5 Akutes (oft passageres) Nierenversagen 5 Gerinnungsstörung, Verbrauchskoagulopathie, disseminierte intravasale Gerinnung 5 Critical Care Illness (Intensivpolyneuropathie)
Die operative Versorgung der Peritonitis erfolgt mehrzeitig: Perforierte Darmanteile werden meist reseziert, sel-
Die meisten Karzinome finden sich in Kolon, Sigma und Rektum; Karzinome des Dünndarms sind seltener. Meist wird eine definitive einzeitige operative Versorgung mit Resektion und Reanastomosierung bzw. endständigem AP angestrebt. Nur bei absehbar gefährdeten Anastomosen wird eine passagere Kunstafteranlage durchgeführt. Bei der Narkosevorbereitung ist neben dem gelegentlich reduzierten Allgemeinzustand der Patienten (besonders in fortgeschrittenen Tumorstadien) zu beachten, dass die Patienten präoperativ zur Darmreinigung mehrere Liter Lavagelösungen trinken und über den Darm ausscheiden. Dies bringt erhebliche Flüssigkeits- und Elektrolytverluste mit sich, die kontrolliert und ggf. ausgeglichen werden müssen. Zur Operation müssen (insbesondere bei tiefen Rektumoperationen) EK bereitgestellt werden. Die Intubationsnarkose ist das Verfahren der Wahl. Da meist eine mehrtägige postoperative Nahrungskarenz eingehalten werden muss, wird zur parenteralen Ernährung und zur Medikamentenapplikation ein ZVK gelegt. Bei größeren, blutverlustreichen Operationen (z. B. Rektumresektion, Rektumexstirpation) sollte die Indikation zur invasiven Blutdruckmessung großzügig gestellt werden. Der PDK zur intraoperativen Anästhesie und zur postoperativen Analgesie sollte bei größeren abdominalchirurgischen Eingriffen zum Standard gehören. Das Monitoring umfasst EKG, SpO2, NIBP/arterielle Blutdruckmessung, ZVD, Temperatur, Kapnometrie, Atemgasmonitoring und ggf. Relaxometrie.
32.4.8 Ileus Stenosierende Prozesse – intra-/extraluminale Tumoren oder Briden – führen zu einem prästenotischen Aufstau mit meist ausgeprägter Dilatation des Darms und flüssigen Stuhlmassen, die sich bis in den Ösophagus zurückstauen und leicht zur Aspiration führen können. Auch hier sind neben Schmerzen des Patienten Elektrolytverschiebungen und intravasaler Volumenmangel regelhaft zu erwarten. Die präoperative Anlage eines ZVK kann hier schwierig bis unmöglich sein, da eine Kopftieflage vom Patienten meist nicht toleriert wird, zudem wird hierdurch die Aspirationsgefahr gesteigert. Zwei großlumige Zugänge sollten
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Kapitel 32 · Anästhesie in der Abdominalchirurgie
gelegt werden, die invasive arterielle Druckmessung ist zumindest bei kreislaufinstabilen Patienten anzuraten. Über eine Magensonde wird möglichst viel des rückgestauten Stuhls abgesaugt. Großzügige Infusion von Flüssigkeit. Nach Entfernung der Magensonde erfolgt die Ileuseinleitung wie in 7 Abschnitt 32.2 beschrieben. Nach Narkoseeinleitung erfolgt erneute Anlage der Magensonde und eines ZVK. Intra- und postoperativ ist mit erheblichem Volumenbedarf zu rechnen. Das Monitoring umfasst EKG, NIBP/ arterielle Blutdruckmessung, SpO2, Kapnometrie, Atemgasmonitoring, Temperaturmessung und ggf. Relaxometrie. Postoperativ kann die Extubation erwogen werden, wenn der Darm durch die Operateure dekomprimiert (geleert) wurde, stabile Vitalfunktionen vorliegen und der Patient sichere Schutzreflexe hat. Die Indikation zur Nachbeatmung ist eher großzügig zu stellen.
werden in Intubationsnarkose durchgeführt, eine Ileuseinleitung ist bei Blutungen, Stenosen oder ausgeprägtem Reflux notwendig. ZVK zur postoperativen Ernährung und arterielle Blutdruckmessung müssen angelegt werden, dies kann jedoch nach Einleitung der Narkose geschehen. Sofern keine spezifischen Kontraindikationen vorliegen, ist ein thorakaler PDK indiziert. Die Narkose kann als TIVA oder balancierte Anästhesie durchgeführt werden. Das Monitoring umfasst EKG, arterielle Blutdruckmessung, SpO2, Kapnometrie, Atemgasmonitoring, Temperaturmessung und ggf. Relaxometrie. Bei stabilen Vitalfunktionen, T > 36 °C und mäßigem Blutverlust kann der Patient meist extubiert werden. Die Indikation zur Nachbeatmung ist eher großzügig zu stellen.
32.4.9 Chirurgie des Magens
32.4.10 Chirurgie des Pankreas
Indikationen für Magenoperationen sind: Ulcera ventriculi mit Perforation und/oder Blutung, Karzinom, Reflux, Hiatushernie. Bei Ulcera werden meist Teilresektionen des Magens z. B. nach Billroth durchgeführt, in der Chirurgie des Magenkarzinoms eher die subtotale/totale Gastrektomie unter Mitnahme des Omentum majus und der regionären Lymphknoten. Die Refluxchirurgie (Fundoplikatio) und die Hiatushernienoperation (Fundopexie) erfolgen heute meist laparoskopisch und stellen häufig nur noch eine geringe Belastung für den Patienten dar.
Verletzungen des Pankreas treten meist bei polytraumatisierten Patienten auf, isolierte Pankreasverletzungen sind selten. Operativ wird hier das Organ soweit wie möglich erhalten. Die häufigeren Indikationen zur Pankreaschirurgie sind Tumore sowie die nekrotisierende Pankreatitis.
Magenresektionen Diese sind noch die Domäne konventioneller Operationsverfahren. Da die perioperative kardiopulmonale Morbidität erhöht ist, sollte diesen Organsystemen präoperativ besondere Aufmerksamkeit geschenkt werden. Bei Patienten mit vorbestehender Herzinsuffizienz und KHK bzw. V.a. Klappenvitien sollte zur Risikoabschätzung präoperativ eine entsprechende Diagnostik (Belastungs-EKG und/ oder Echokardiographie, bei schwerwiegendem Befund Koronarangiographie) durchgeführt werden. Zumindest Patienten mit vorbestehenden obstruktiven oder restriktiven Lungenerkrankungen sollten einer Lungenfunktionsprüfung unterzogen werden. Bei Bedarf ist eine bronchospasmolytische Therapie bereits präoperativ einzuleiten. Alle Patienten sollten vor größeren Oberbaucheingriffen mit Hilfe der Physiotherapeuten atemgymnastische Übungen für die postoperative Phase erlernen. Die Operationen
! Im Zweifelsfall: Nachbeatmen bis warm, wach, Vitalfunktionen stabil!
Tumorchirurgie des Pankreas und nekrotisierende Pankreatitis Pankreasschwanztumore/-karzinome werden durch eine Pankreasschwanzresektion ggf. mit Splenektomie chirurgisch angegangen. Pankreaskopfkarzinome werden durch die mehrere Stunden dauernde und operationstechnisch anspruchsvolle Operation nach Whipple behandelt. Das anästhesiologische Vorgehen entspricht dem der größeren Magenoperationen. Zu beachten ist, dass bei evtl. bestehender Cholestase die hepatische Syntheseleistung vermindert sein kann, Blutgerinnungsstörungen sollten entsprechend präoperativ ausgeschlossen bzw. therapiert/substituiert werden. Eine mögliche Organinsuffizienz des Pankreas mit Insulinmangel führt zum Diabetes mellitus, Blutzuckerkontrollen sind daher perioperativ obligat. Muss das Pankreas komplett reseziert werden, bleibt der Patient insulinpflichtiger Diabetiker. Das Vorgehen bei nekrotisierender Pankreatitis entspricht dem des akuten Abdomens. Hier haben wir es häufig mit schwerkranken, septischen Patienten mit den bereits beschriebenen Komplikationen (Elektrolytverschiebungen, Volumenmangel, Gerinnungsstörungen) zu tun.
327 32.4 · Anästhesie bei speziellen Operationen
32.4.11 Chirurgie der Leber : Beispiel Anamnese: Patientin, 74 J., Z.n. Gallenblasen-Ca vor 4 Jahren, Z.n. Vorderwandinfarkt vor 25 J., Herzinsuffizienz NYHA II, mittelgradig obstruktive Lungenerkrankung, schwere Gonarthrose. Die Patientin wird mit Tumorrezidiv und Verschluss des li. Duct. hepaticus und konsekutiver Teilatrophie des li. Leberlappens zur geplanten Resektion des li. Leberlappens vorgestellt. Präoperativ: 5 Klinische Untersuchung: Patientin klinisch kardiopulmonal gut kompensiert, adipös (165 cm, 84 kg) 5 Laborwerte: Transaminasen, Kreatinin und CRP erhöht, sonst unauffällig, RR 140/80 5 Medikation: Metoprolol, Lisinopril, ISMN, Torasemid 5 Technische Untersuchungen: EKG: SR 76/min, LSB, Belastungs-EKG: max. Belastung 75W, Abbruch bei RR 210/97 mmHg und Kniegelenkschmerzen, hierbei keine signifikanten EKG-Veränderungen, Echokardiographie: Akinesie Vorderwandspitze, Klappen o.B., mittelgradig reduzierte LVF, Rö-Thorax: Normalbefund, Lufu: Mittelschwere Obstruktion FEV1 57 %, VC 84 %, FEV1/VCmax 70 %. 5 Es war kein Aszites nachweisbar. Bereitstellung von 6EK zur Operation, Erlernen von atemtherapeutischen Übungen. Anästhesie: Unter Weiterführung der antihypertensiven und antianginösen Therapie und Prämedikation mit 10 mg Dikaliumchlorazepat im Einleitungsraum unter NIBP, EKG und SpO2 –Überwachung und mit sicher laufendem periphervenösen Zugang zunächst Anlage eines thorakalen PDK zur perioperativen Analgesie, dann Narkoseeinleitung mit Sufentanil, Propofol und Cis-Atracurium und orotracheale Intubation mit einem Low-Pressure-Cuff-Tubus. Nach Anlage von ZVK (V.jug.int.re.) und arterieller Kanüle (A.rad.li.) sowie zweier großlumiger Zugänge OP-Freigabe und Lagerung der Patientin. Fortführung der Narkose mit Propofol 5–7 mg/kg KG/h, 0,5 % Sevofluran und repetitiven Gaben von Sufentanil und Cis-Atracurium. Bei einem Ausgangs-ZVD von 13 mmHg Nitroperfusor 0,5–1,5 mg/kg KG/h, darunter ZVD |8mmHg. PCV-Beatmung mit FiO2 0,5, PEEP 3–5 mmHg. Infusion von insgesamt 3000 ml Kristalloiden und 250 ml HES 6 % unter Verwendung von Infusionswärmern bei einer OP-Dauer von 5 h. Geringer Blutverlust, daher keine 6
Transfusion. Während der gesamten Operation stabiler RR |110/60 mmHg. Nach fünfstündiger OP Übernahme der intubierten Patientin auf die Intensivstation. RR 110/65 mmHg, SR 70/min, T 34,1 °C, Hb 11 g/dl, Hk 35,4 %. Postoperativ: Patientin kreislaufstabil, keine Katecholamintherapie, Fortführung der Nitro-Therapie, langsames Aufwärmen bis Normothermie, Nachbeatmung bis zum 1. postoperativen Tag, dann problemlose Extubation und Fortführen der präoperativ erlernten Atemtherapie. Kontinuierliche Schmerztherapie mit Naropin 0,5 % und Sufenta-epidural über PDK. Verlegung der Patientin auf die Pflegestation am 2. postoperativen Tag.
Die Indikation zur Teilresektion der Leber ist meist in Tumoren bzw. Metastasen begründet. Für den Anästhesisten sind einige physiologische und pathophysiologische Zusammenhänge von besonderer Bedeutung. Der häufigste Primärtumor der Leber ist das hepatozelluläre Karzinom, dem wiederum in 90 % der Fälle eine Leberzirrhose zugrunde liegt, die folgende anästhesierelevante Veränderungen mit sich bringen kann: 4 Aszites: Vergrößert das Verteilungsvolumen für Medikamente, die konsekutive Hypalbuminämie erfordert meist eine Dosisreduktion von Medikamenten mit hoher Plasmaeiweißbindung. Aszites sollte wenn möglich präoperativ ausgeschwemmt werden. 4 Blutgerinnungsstörungen: besonders die Vit.-Kabhängigen Gerinnungsfaktoren können erheblich vermindert sein, eine präoperative Substitution von Vit. K (Konakion) wird empfohlen, die Gabe von GFP und/oder Faktorenkonzentraten kann ebenfalls erforderlich sein. 4 Thrombozytopenien sind häufig, zur Operation ist eine Thrombozytenzahl > 80000/Pl anzustreben. 4 Ösophagusvarizen treten bei portaler Hypertension auf, Magensonden sind entsprechend nur mit größter Vorsicht zu platzieren, da die Gefahr ausgeprägter Blutungen besteht. 4 Bei Vorliegen deshepatorenalen Syndroms mit Oligurie, Hyponatriämie und Hypokaliämie (durch Diuretika bedingt) sollten entsprechende Elektrolytveränderungen korrigiert werden. Die Leber wird von |25 % des Herzminutenvolumens durchblutet, davon entfallen 75 % auf die Vena portae, der Rest auf die A. hepatica, die jedoch für 50 % des O2-Angebots verantwortlich ist. Von essenzieller Bedeutung für das Outcome ist die perioperative Aufrechterhaltung einer ausreichenden O2-Versorgung der Leber. Hierzu wird mit
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Kapitel 32 · Anästhesie in der Abdominalchirurgie
einer erhöhten FiO2 (> 0,5) beatmet. Durch eine geeignete Auswahl der Anästhetika kann ferner das Risiko einer verminderten Leberperfusion verringert werden. Fentanyl und Sufentanil beeinflussen die Leberperfusion nahezu nicht, trotz der hepatischen Metabolisierung von > 90 % findet sich nur bei repetitiven Gaben eine signifikante Wirkdauerverlängerung. Remifentanil wird zwar unabhängig von der Leberfunktion abgebaut, die ausgeprägteren kardialen Nebenwirkungen (Bradykardie/Hypotension) lassen den Einsatz in der Leberchirurgie aber zweifelhaft erscheinen. Etomidate ist als Einleitungshypnotikum wegen seiner geringen kardiovaskulären Nebenwirkungen bei gleichzeitig kaum beeinflusster hepatischer Perfusion besonders bei kardial schwer vorgeschädigten Patienten das Medikament der Wahl. Thiopental und Propofol beeinflussen die Leberperfusion ebenfalls nur gering, können aber in der Einleitungsphase zu erheblichen Blutdruckabfällen führen. Zur Aufrechterhaltung der Narkose können Propofol, Isofluran und Sevofluran zum Einsatz kommen, wobei die genannten Inhalationsanästhetika die Autoregulation der Leberdurchblutung nicht stören. Lachgas reduziert den hepatischen Blutfluss, ohne auf den O2-Verbrauch Einfluss zu nehmen. Bei Verwendung einer FiO2 von > 0,5 ist eine ausreichende analgetische Potenz allerdings nicht gegeben, sodass der effektive Einsatz fraglich ist. Vecuronium, Rocuronium und Pancuronium beeinflussen den hepatischen Blutfluss nicht, die Wirkdauer kann aber wegen der biliären Ausscheidung deutlich verlängert sein. Da Atracurium und Cis-Atracurium über die Hoffmann-Elimination unabhängig von der Leberfunktion inaktiviert werden, stellen sie die Relaxanzien der Wahl dar. Zu beachten ist eine verlängerte Anschlagzeit bei ausgeprägtem Aszites (Verteilungsvolumen). Neben der Aufrechterhaltung der Leberperfusion und O2-Versorgung ist die Vermeidung großer Blutverluste entscheidend für ein gutes Outcome. Bislang wird zur Resektion von Leberanteilen meist die V. portae und die A. hepatica in der Leberpforte zeitweise abgeklemmt (Pringle-Manöver). Neuere Techniken (Kryochirurgie, Laserchirurgie) lassen heute allerdings auch Resektionen ohne Abklemmen der zuführenden Gefäße zu. Um den retrograden Druck über die Lebervenen gering zu halten und somit die venöse Blutungsneigung zu minimieren, wird der ZVD während der Resektionsphase auf nur leicht positive Werte gesenkt (1–5 mmHg), da der Blutverlust mit der Höhe des ZVD nahezu linear korreliert. Diese Senkung des ZVD erfolgt zum einen durch ein restriktives Flüssigkeitsmanagement
(|75 ml/h + Bolusgaben bei Bedarf), zum anderen durch Titrierung von Nitroglyzerin über Perfusor. Auch PEEP sollte nur sehr moderat (bis ca. 5 mmHg) angewandt werden, da PEEP über die cavale Druckerhöhung den ZVD steigert. Limitiert wird das restriktive Flüssigkeitsregime v. a. bei kardial vorgeschädigten Patienten, bei denen selbst leichtere Hypovolämie zu Tachykardie und konsekutiv zu koronarer Minderperfusion führen kann. In der postoperativen Phase sollte der ZVD wieder auf Werte zwischen 5–10 mmHg angehoben werden. Die Überwachung der Patienten erfolgt zunächst auf der Intensivstation, um mögliche Komplikationen wie Blutung, Kreislaufinstabilität, respiratorische Insuffizienz, Blutgerinnungsstörungen und Nierenfunktionsstörungen rasch erkennen und therapieren zu können.
Literatur Brodner et al. (1997) Die thorakale Epiduralanästhesie – mehr als ein Anästhesiever fahren. Anästhesist 46: 751–762 Mittelstaedt und Kerger (2004) Perioperatives Management bei elektiven Leberresektionen. Anästh. Intensivmedizin 45: 403–413 Schulte-Steinberg et al. (1999) Anästhesie für laparaskopische Eingriffe. Anästhesist 48: 755-768 Scott DB (1998) Epiduralanästhesie. In: Scott DB, Techniken der Epiduralanästhesie. 3. Aufl. Thieme Stuttgart, S. 162–181 Staib et al. (2004) Abdominaltrauma. Chirurg 75: 447–467 Standl (2000) Viszeralchirurgie. In: Kochs E, Krier C, Buzello W, Adams H A, AINS Band 1 Anästhesiologie, Thieme, Stuttgart, Kap 11, S 990–1007 Zügel et al. 2002 Einfluß der thorakalen Epiduralanästhesie auf die frühe postoperative Phase nach Eingriffen am Gastrointestinaltrakt. Chirurg 2002;73:262-268 Zaluardo (2003) Anästhesiologisches Management bei Leberresektion und Kr yochirurgie der Leber. Anästhesist 52: 89–97
33 Anästhesie in Orthopädie und Unfallchirurgie Wolfgang Ullrich 33.1 Anästhesie in der Orthopädie –330 33.1.1 33.1.2 33.1.3 33.1.4 33.1.5
Perioperatives anästhesiologisches Management –330 Spezielle Eingriffe –332 Perioperative Komplikationen –333 Orthopädische Wirbelsäulenchirurgie –336 Tumorchirurgie –337
33.2 Anästhesie in der Unfallchirurgie –338 33.2.1 33.2.2 33.2.3 33.2.4
Perioperatives anästhesiologisches Management –338 Auswahl des Anästhesieverfahrens –338 Intraoperatives Monitoring –338 Spezielle unfallchirurgische Eingriffe –339
33.3 Besonderheiten in Orthopädie und Unfallchirurgie –340 33.3.1 Eingriffe in Blutsperre (Tourniquet) –340 33.3.2 Lagerung –341
Literatur –344
330
Kapitel 33 · Anästhesie in Orthopädie und Unfallchirurgie
Rheumatoide Arthritis
))
33
Die Orthopädie konfrontiert den Anästhesisten mit allen Altersgruppen. Operationsindikationen im Kleinkindalter sind kongenitale Missbildungen wie Klumpfuß und Hüftgelenkdysplasie. Tumoren der Knochen und Gelenke, sowie Wirbelsäulendeformitäten stellen weitere Operationsindikationen im Kindesalter dar. Ältere Patienten mit entsprechenden Begleiterkrankungen bilden in zunehmendem Maße den anderen Altersschwerpunkt. Der endoprothetische Ersatz großer degenerativ destruierter Gelenke ist zum Routineeingriff beim älteren Patienten geworden und die Behandlungsergebnisse sind meist gut. Die älteren Patienten sind in der Orthopädie und Unfallchirurgie in einem oft reduzierten präoperativen Allgemeinzustand, da einerseits degenerative Vorerkrankungen bestehen, andererseits häufig Dehydratationszustände und Elektrolytimbalancen vorliegen. In der Unfallchirurgie trifft der Anästhesist ebenfalls auf alle Altersgruppen. Bei Kindern über wiegen Frakturen. Schenkelhals- und Humerusfrakturen sind häufige Operationsindikationen beim alten Menschen. Die Versorgung des polytraumatisier ten Patienten stellt eine besondere Herausforderung dar. Sie wird in 7 Kap. 34 besprochen.
33.1
Anästhesie in der Or thopädie
33.1.1 Perioperatives anästhesiologisches
Management Das Risiko, dem sich der Patient im Rahmen eines Eingriffs aussetzt, hängt direkt mit der Sorgfalt bei der präoperativen Vorbereitung und Befunderhebung zusammen. Die Prämedikationsvisite sollte nach den üblichen Regeln erfolgen. Ziel muss es sein, sich ein Bild über den Gesamtzustand des Patienten zu machen, Begleiterkrankungen und Medikationen zu erfahren, das Narkoseverfahren gemeinsam festzulegen, eine Prämedikation anzuordnen und, insbesondere bei Kindern, ein Vertrauensverhältnis aufzubauen. Das Nichterkennen einer präoperativen Erkrankung kann für den Patienten eine größere Gefährdung als die eigentliche Operation bedeuten, weil dadurch keine Auswahl des geeigneten Narkoseverfahrens und des notwendigen intraoperativen Monitorings möglich ist. Bei elektiven Eingriffen muss sichergestellt sein, dass sich der Patient bezüglich seiner Vorerkrankungen in einem bestmöglichen Zustand befindet.
Die rheumatoide Arthritis stellt eine schwer wiegende Systemerkrankung dar, die über den Gelenkbefall hinaus die Lungenfunktion (interstitielle Fibrose, Entzündungsreaktionen mit Pleuraergüssen), die Herzfunktion (Peri-, Myokarditis, Klappendefekte, Störungen der Reizleitung, Arteriitis der Koronarien), sowie die Funktion der Nieren einschränkt. Darüber hinaus ist stets mit Nebenwirkungen der Dauermedikation (und Wechselwirkungen mit Anästhetika) zu rechnen. Die Dauermedikation dieser Patienten beinhaltet häufig nichtsteroidale Antiphlogistika, Goldsalze, Steroide und Methotrexat. Nebenwirkungen können in Form von Blutungsneigung, Nieren- und Nebenniereninsuffizienz sowie Blutgefäßschädigungen auftreten. ! Aufgrund eines möglichen Befalls der Halswirbelsäule, der Kiefergelenke und der Krikoarytenoide muss bei Patienten mit rheumatoiden Erkrankungen mit Intubationsschwierigkeiten gerechnet werden. Fusionen und Subluxationsstellungen der Halswirbelkörper können die Halswirbelsäule sowohl unbeweglich als auch instabil machen. Durch Veränderungen im temporomandibulären Gelenk ist oftmals die Mundöffnung eingeschränkt.
Spondylitis ankylopoetica (Morbus Bechterew) Auch diese Systemerkrankung besitzt anästhesiologische Relevanz. Fibrotische und amyloidotische Veränderungen der Lunge führen zu restriktiven Beeinträchtigungen von Ventilation und Oxygenation. Am Herzen treten Mitralund Aortenklappenveränderungen sowie Störungen der Reizleitung auf. Das periphere Nervensystem kann durch Kompression des Rückenmarks (Kauda-equina-Syndrom) geschädigt sein. ! Aufgrund einer Deformierung (bis Ankylose) der Halswirbelsäule muss mit Intubationsschwierigkeiten gerechnet werden.
Ambulante Eingriffe in der Orthopädie Eine Vielzahl von orthopädischen Eingriffen kann ambulant durchgeführt werden. Nicht zuletzt aufgrund des zunehmenden Kostendrucks wird diese Zahl weiter zunehmen. Der Auswahl des Narkoseverfahrens sowie den Entlassungskriterien kommt eine besondere Bedeutung zu. Ambulant operierte Patienten müssen genaue Instruktionen erhalten, wie sie sich nach der Narkose verhalten müssen und an wen sie sich beim Auftreten von Problemen wenden können. Die Besonderheiten ambulanter Narkosen werden in 7 Kap. 31 besprochen. Etliche Eingriffe, wie
331 33.1 · Anästhesie in der Orthopädie
Biopsien, diagnostische Arthroskopien, komplikationslose Metallentfernungen, Repositionen und Spickungen eignen sich für ambulante Narkosen. Für ambulante Eingriffe sind sowohl Narkosen, als auch regionale Verfahren geeignet. Die verwendeten Pharmaka müssen kurz wirksam und gut steuerbar sein. ! Plexus-brachialis-Blockaden sind für ambulante Eingriffe gut geeignet. Sicherheitshalber sollten aber Techniken ohne oder mit nur geringem Pneumothorax-Risiko (axillärer, infraklavikulärer oder interskalenärer Zugang) angewandt werden.
Auswahl des Anästhesiever fahrens Für eine Vielzahl orthopädischer Operationen sind regionale Verfahren ebenso geeignet wie Allgemeinnarkosen. Häufiger als in anderen operativen Gebieten können orthopädische Eingriffe prinzipiell in Regionalanästhesie ausgeführt werden. Anforderungen an das »ideale Narkoseverfahren« sind eine kreislaufschonende, sichere Anästhesie, die den Patienten in die Lage versetzt, auch lange dauernde und blutreiche Eingriffe in belastenden Positionen gut zu tolerieren, sowie eine suffiziente, postoperative Analgesie, die sich lückenlos an den Eingriff anschließt. Diesen Idealvorgaben nähern sich die gebräuchlichen Verfahren nur partiell. Bezüglich der Thromboserate, des perioperativen Blutverlusts und des postoperativen Gasaustauschs scheint kein fassbarer Unterschied zwischen regionalen Verfahren und Allgemeinanästhesien zu bestehen. Dieser Eindruck wird durch kontroverse Aussagen in der Literatur bestärkt. Der Vorteil von Allgemeinnarkosen besteht unter anderem darin, in kritischen Situationen erhöhter Kreislaufinstabilität »beide Hände frei zu haben«, des Weiteren ist es problemlos möglich, falls erforderlich, unverzüglich mit 100 % Sauerstoff zu beatmen. Unruhige und verwirrte Patienten haben keinen Operations- und Lagerungsstress. Auch längere Operationszeiten sind für den Patienten in Narkose psychisch unproblematischer. Regionalanästhesien haben demgegenüber andere Vorteile. Spinalanästhesien sind meist technisch einfach durchzuführen und in ihrer Wirkung zuverlässig. Epiduralanästhesien sind kreislaufschonend und können bei Anwendung von Kathetertechniken auch für die postoperative Schmerztherapie genutzt werden. Der thromboseprotektive Effekt von Regionalanästhesien wird kontrovers diskutiert. Längere Eingriffe in Regionalanästhesie können für den Patienten aufgrund der fixierten Zwangslage belastend werden. Hier empfiehlt sich eine zusätzliche Sedierung bzw. flache Allgemeinnarkose, wobei hypoxische und hyperkapnische
Zustände vermieden werden müssen. Postoperative Verwirrtheitszustände können nach allen Techniken auftreten. Bei kombinierter Anwendung von rückenmarknahen Anästhesien und Sedierungen stellt sich das Problem der respiratorischen Überwachung. Außerdem können aus der Kombination dieser Techniken ungewollte Hypotonien ebenso wie paradoxe Reaktionen auf Sedativa resultieren. Kommt es perioperativ – z. B. infolge größerer Blutverluste – zu Gerinnungsstörungen, so besteht bei liegendem Periduralkatheter die Gefahr des epiduralen Hämatoms, bei liegendem Spinalkatheter die Gefahr einer Einblutung in den Spinalkanal mit entsprechender neurologischer Symptomatik. In solchen Fällen muss der Katheter bis zur Normalisierung der Gerinnung belassen werden. Im Aufwachraum sind Patienten nach Regionalanästhesien häufig leichter zu führen. Tipps
Auswahl des Narkosever fahrens – so machen wir es: Die Anwendung regionaler Techniken hat sich bei kürzeren orthopädischen Operationen (z. B. zementierte Hüftprothesen, Knieprothesen) und bei geringem zu erwartenden Blutverlust gut bewährt. Bei großen, blutreichen Operationen wie Prothesenaus- und -umbauten sowie Becken- und Wirbelsäuleneingriffen sollten Allgemeinanästhesien bevorzugt werden, um für hämodynamische Instabilitäten besser gewappnet zu sein.
Für Eingriffe an der oberen Extremität sind Plexus-brachialis-Blockaden gut geeignet. Je nach der gewünschten Ausbreitung können verschiedene Techniken angewandt werden (. Tab. 33.1). Werden Plexus-Anästhesien mit einem Katheter durchgeführt, so kann dieser für die postoperative Schmerztherapie eingesetzt werden, und insbesondere für die Frühmobilisation der operierten Extremität (Schulter, Ellbogen) von großem Nutzen sein. Die letztendliche Entscheidung für ein Narkoseverfahren muss individuell und entsprechend der Erfahrung des jeweiligen Anästhesisten getroffen werden.
Intraoperatives Monitoring ! Das intraoperative Monitoring bei orthopädischen Eingriffen sollte in Abhängigkeit von der Größe des Eingriffs, des erwarteten Blutverlusts und dem Gesundheitszustand des Patienten nach einem steigerbaren Stufenplan erfolgen (. Tab. 33.2). 6
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332
Kapitel 33 · Anästhesie in Orthopädie und Unfallchirurgie
Obligates Monitoring bei allen orthopädischen Operationen sind nicht invasive Blutdruckmessung, EKG, Pulsoximetrie sowie bei Allgemeinanästhesien die Kapnometrie. Bei Risikopatienten, längeren OP-Zeiten und bei zu erwartenden größeren Blutverlusten muss das Monitoring erweitert werden. Abhängig vom zu erwartenden Blutverlust sind großlumige, sichere venöse Zugänge notwendig. Die Indikation zu blutiger arterieller Druckmessung sollte insbesondere bei Risikopatienten großzügig gestellt werden, da Hypotonien hierdurch schneller erkannt und therapiert werden können. . Tabelle 33.1. Techniken und Ausbreitung verschiedener Plexus-brachialis-Blockaden Plexus-brachialis-Zugang
Ausbreitungsgebiet
Interskalenär
Schulter + Oberarm
Infraklavikulär
Ellbogen + Unterarm + Hand
Axillär
Ellbogen + Unterarm + Hand
Somatosensorisch evozierte Potenziale können zur frühzeitigen Erkennung und somit zur Vermeidung bleibender neurologischer Schädigungen abgeleitet werden bei Wirbelsäuleneingriffen, bei schwierigen anatomischen Verhältnissen oder wenn bei orthopädischen Operationen eine Beinverlängerung angestrebt wird. Einzelne Autoren wenden motorisch evozierte Potenziale zum Monitoring der motorischen Leitungsbahnen des Rückenmarks an.
33.1.2 Spezielle Eingriffe Hüftgelenk-Endoprothese (H-TEP) Koxarthrosen unterschiedlicher Genese, Schenkelhalsfrakturen oder dysplastische Gelenksverhältnisse sind häufige Indikationen zur Hüft-TEP. Mit Akrylknochenzement implantierte Prothesen unterscheiden sich in Bezug auf anästhesiologische Besonderheiten wesentlich von unzementierten Systemen mit verschiedenen Verankerungsmodalitäten. Die Implantation von Hüft-Totalendoprothesen ist eine häufig durchgeführte Operation (> 60000/Jahr in Deutschland).
. Tabelle 33.2. Intraoperatives Monitoring
33
Verfahren
Indikationen
Ziele
RR, EKG, SaO2
Standard bei allen Eingriffen
5 Überwachung der Vitalfunktionen
Exspirat. CO2
Zusätzlich bei allen Allgemeinanästhesien
5 Hinweis auf MH, Lungenembolie
Temperatur
5 5 5 5
Invasive Blutdruckmessung
5 Kardiovask. Risikopatient 5 Thorakotomie (Wirbelsäulenchirurgie) 5 Erwarteter hoher Blutverlust
Kontinuierliche Kreislaufüberwachung
Zentralvenöser Katheter
5 Kardialer Risikopatient 5 Hoher Flüssigkeitsumsatz
Erhaltung der Normovolämie
Präkordialer Doppler
Eingriffe mit Emboliegefahr (z. B. zementierte Hüft-TEP, Wirbelsäulenchirurgie)
Zeitgewinn bei Diagnostik und Therapie einer Lungenembolie
Transösophagealer Ultraschall
5 Eingriffe mit Emboliegefahr 5 Kardialer Risikopatient
Wie präkord. Doppler + kontinuierliche Überwachung des rechten Vorhofes und damit Frühdiagnostik von myokardialen Dyskinesien
Somatosens. evoz. Potenziale/ Motorisch evozierte Potenziale
5 Wirbelsäuleneingriffe 5 Beinverlängerung
Vermeidung von Nervenschäden
MH = Maligne Hyperthermie
Lange Eingriffe Hoher Blutverlust Kind MH-Disposition
5 Aufrechterhaltung der Normothermie 5 Hinweis auf MH
333 33.1 · Anästhesie in der Orthopädie
Es kommen, abhängig von Lebensalter, Begleitumständen und individueller Einschätzung, zementierte, zementlose Prothesen sowie Hybridformen zum Einsatz. Verletzungen größerer Blutgefäße sind seltene schwere intraoperative Komplikationen, die ein rasches Erkennen und entschlossenes Handeln von Operateur und Anästhesist erfordern. Lockerungen, Implantatbrüche sowie Infektionen zwingen auch im hohen Alter zu großen Um- bzw. Ausbauoperationen mit hohem Blutumsatz. Bei diesen Eingriffen ist die Indikation zum erweiterten hämodynamischen Monitoring großzügig zu stellen. Fremdblutsparende Verfahren wie die präoperative Eigenblutspende und die intra- und postoperative maschinelle Autotransfusion (MAT) haben sich bei entsprechender Indikation bewährt. Andere Methoden wie die präoperative isovolämische Hämodilution und die perioperative Aprotininapplikation werden hinsichtich ihres Nutzens uneinheitlich beurteilt.
Die zur Beibehaltung der Lage unumgänglichen Fixierungen müssen gut abgepolstert sein.
Knie-Endoprothesen
! Unabhängig von der Genese ist es entscheidend, Hypoxämien, die durch kardiale Depression ebenso wie durch pulmonale Störungen bedingt sein können, rasch zu erkennen und entschlossen zu therapieren.
Das Durchschnittsalter der Patienten, die sich der Implantation einer Knie-Endoprothese unterziehen, ist höher als bei der Hüftgelenkprothese. Daher sind Begleiterkrankungen des kardio-pulmonalen Systems sowie Systemerkrankungen häufiger. Postoperativ sind nach Knie-Endoprothesen bei bis zu 80 % der Patienten Thrombosen nachweisbar, wobei nur ein Teil mit einer Klinik einhergeht. Zur Implantation einer Knieprothese wird meist ein Tourniquet angewandt. Dadurch sind intraoperativ die Blutverluste zwar gering, postoperativ können sie jedoch deutlich zunehmen. Für diese Patientengruppe ist die postoperative Betreuung im Aufwachraum mit Kreislaufmonitoring, und ggf. Volumentherapie von zentraler Bedeutung.
Schulter Schultereingriffe werden häufig in einer Liegestuhl-(LawnChair-)Lagerung durchgeführt. Diese Lagerung birgt einerseits alle Risiken der Rückenlage, andererseits die der Oberkörperhochlagerung. Bei dieser Lagerung wird bei überstreckter Schulter und kontralateral gedrehtem Kopf durch die Torsion der Halswirbelsäule der obere Teil des Plexus brachialis besonders gedehnt. Wird die Schulter intraoperativ bewegt, gerät der Plexus brachialis in seinem gesamten Verlauf in einen Dehnungszustand. Durch Dehnung der Fasern des Ganglion stellatum kann es zum Horner-Syndrom kommen. Der Nervus axillaris wird durch Subluxationsstellung oder Dislokation des Humeruskopfes gedehnt. Vorbeugend sollte darauf geachtet werden, dass das Schultergelenk neutral und der Nacken stabil gelagert sind.
33.1.3 Perioperative Komplikationen Kardiopulmonale Reaktion Insbesondere während der Prothesenimplantation zementierter Systeme in den Femur muss der Anästhesist auf eine multikausal bedingte kardiopulmonale Depression gefasst sein. Diese ist verursacht durch systemische Einschwemmung bzw. Embolisation von Fett, Knochenmark und Knochenzement. Operative Vorsichtsmaßnahmen wie die Druckentlastung der Femurmarkhöhle und anästhesiologische Maßnahmen wie z. B. Verzicht auf Lachgas, Gabe von Histaminblockern und Aprotininapplikation können die Häufigkeit und Schwere dieser Reaktionen möglicherweise senken, bieten jedoch keinen sicheren Schutz vor schweren kardiopulmonalen Depressionen.
Reaktionen auf Akrylknochenzement Kreislaufreaktionen auf Knochenzement sind häufig zu beobachten. Die Ätiologie ist multifaktoriell (. Tab. 33.3). Bei zementierten OP-Verfahren wird ein Gemisch aus flüssigem, zytotoxischem Monomer und pulverförmigem Polymer in teigiger Form in das Operationsgebiet eingebracht. Unter Wärmeentwicklung bis 63 °C polymerisiert und härtet der Zement in 4–8 min aus. Es werden Mediatoren (Prostaglandine u. a.) freigesetzt, die in Kombination mit traumabedingter Mediatorenfreisetzung das Operationsrisiko erhöhen können. Über die Thermotoxizität von Akrylknochenzement herrscht keine Einigkeit. Drittgradige Verbrennungen des Endosts, die ihrerseits zur Freisetzung von Mediatoren führen, sind beschrieben. Diese Mechanismen könnten eine der Ursachen für intraoperative Zwischenfälle, postoperative Infektionen und späte Prothesenlockerungen sein. Andere Autoren beurteilen die Hitzeentwicklung weniger problematisch. ! Zur Vermeidung der Reaktionen auf Knochenzement können verschiedene Vorsichtsmaßnahmen ergriffen werden. Von chirurgischer Seite muss sichergestellt werden, dass der Knochenzement retrograd unter geringstmöglichem Druck eingebracht wird. Der Markraum kann zur 6
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Kapitel 33 · Anästhesie in Orthopädie und Unfallchirurgie
. Tabelle 33.3. Kreislaufdepression in Verbindung mit Akrylknochenzement
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Komplikation
Auslöser/Bemerkungen
Symptome
Direkte Myokarddepression
Einschwemmung von Polymerresten
Hypotension, Arrhythmie, Asystolie
Lungenembolie
Einschwemmung von Knochenmark und intramedullärem Fett beim Einzementieren (v. a. des Hüftprothesenschafts)
5 Cardiac Output – 5 Pulmonalarterieller Verschlussdruck –
Luftembolien
Kleine Luftblasen zwischen Knochen und Zement werden durch exothermen Polymerisationsprozess vergrößert
Insbesondere bei offenem Foramen ovale (5–10 % der Bevölkerung) gefährlich: koronare und zerebrale Gefäßverschlüsse möglich
Histaminfreisetzung
Bei ¼ der Patienten nach Implantation von Knochenzement
Diese Patienten haben häufiger Blutdruckabfälle (durch Antihistaminika und Aprotinin ist kein sicherer Schutz möglich)
Vasodilatation
Direkte Wirkung von Polymeren des Akrylknochenzements
Hypotension
Druckentlastung mit einem Plastikkatheter oder einer Entlastungsbohrung versehen werden und distal mit Spongiosa abgeblockt werden. Der ideale Knochenzement besitzt eine niedrige Viskosität und erzeugt wenig Hitze bei der Aushärtung. Von anästhesiologischer Seite kann durch den Verzicht auf Lachgas (Diffusion in Gasblasen) und die Anwendung einer hohen inspiratorischen Sauerstoffkonzentration während der Prothesenimplantation die kardiopulmonale Stabilität verbessert werden. Pathophysiologische Überlegungen lassen die prophylaktische Anwendung von Antihistaminika und Aprotinin möglicherweise sinnvoll erscheinen. Die routinemäßige Applikation konnte sich aber aufgrund der mangelnden Zuverlässigkeit sowie eigener Risiken (Aprotinin) nicht durchsetzen.
Blutverlust Beim Einsatz unzementierter Systeme und bei Prothesenwechseln treten häufig größere Blutverluste auf. Bei diesen Eingriffen ist eine vorausschauende Einschätzung des zu erwartenden Blutverlusts sowie eine sinnvolle Anwendung gut durchdachter, abgestufter fremdblutsparender Maßnahmen erforderlich.
Thrombosegefahr Nach Hüft-TEP werden bei bis zu 55 % der Patienten Thrombosen diagnostiziert (viele subklinisch). Eine Reduktion dieser hohen Rate kann von operativer Seite durch Verkürzung der Operationszeit und die Anwendung einer geeigneten Thromboseprophylaxe, von anästhesiologi-
scher Seite durch Vermeidung hypovolämischer Zustände, möglicherweise auch durch Auswahl besonders geeigneter Narkoseverfahren, bewirkt werden ! Bei Hochrisikopatienten ist die Anwendung eines er weiter ten hämodynamischen Monitorings gerechtfer tigt. Bei großem Blutverlust und bei Patienten, die Hochrisikogruppen angehören, muss die postoperative Übernahme auf eine Intensivstation sichergestellt werden.
Gefäßverletzungen Die intraoperative Verletzung großer Gefäße ist eine seltene, aber immer schwerwiegende Komplikation. Verletzungsgefährdete Gefäße bei Hüft-TEP-Operationen sind (in abnehmender Häufigkeit): 4 A. iliaca externa 4 A. femoralis communis 4 V. iliaca externa Als Risikofaktoren für Gefäßverletzungen bei HüftTEP wurden die linke Seite, Revisionseingriffe, sowie eine Migration des Pfannenanteils nach intrapelvin identifiziert. Auch über Verschlüsse der A. femoralis, durch die Hitze des Polymerisationsprozesses während der Aushärtung des Knochenzementes wurden berichtet.
Nervenverletzungen Die Ursachen dieser Komplikation und prophylaktische Maßnahmen zeigt . Tab. 33.4.
335 33.1 · Anästhesie in der Orthopädie
. Tabelle 33.4. Perioperative Nervenverletzungen in der Orthopädie durch verschiedene Pathomechanismen Pathomechanismus
Prophylaxe
Operatives Vorgehen
Umsichtiges Operieren
Dehnung (insbes. bei geplanter Verlängerung einer Extremität)
Somatosensorische Potenziale
Kompression und Verbrennung durch Knochenzement
Umsichtiges Operieren
Lagerungsschäden
Behutsame Lagerung
Protheseninfektion Die tiefe Hüftprotheseninfektion ist eine gefürchtete Komplikation. Frühe postoperative Infektionen werden mit einer Häufigkeit von weniger als 0,2 % beobachtet. Die Mehrzahl der Infektionen ist hämatogen bedingt, wobei koagulase-negative Staphylokokken und Anaerobier zusammen für mehr als 50 % der Infektionen verantwortlich sind. Wird eine tiefe Protheseninfektion vermutet, muss zur Verhinderung eines septischen Verlaufs unverzüglich und entschlossen therapiert werden. Bei frühen Infektionen erfolgt Wunddebridement, Jet-Lavage und hoch dosierte systemische Antibiotikatherapie. Liegt eine Spül-/ Saugdrainage länger als 72 h, erhöht sich das Risiko einer Superinfektion. Gegebenenfalls ist ein frühzeitiger Prothesenausbau notwendig. Verbleibt beim Ausbau Knochenzement im Körper, so scheinen chronische Infektionsverläufe häufiger vorzukommen. Nach einem entsprechenden Intervall kann ein erneuter Protheseneinbau durchgeführt werden. Ist dies nicht möglich, erfolgt die Arthrodese. Bessere Durchblutungsverhältnisse im implantierten Bereich sprechen insbesondere bei Revisionsoperationen für den Einsatz von zementlosen Prothesen.
Intra- und postoperative Besonderheiten Intra- und postoperativ unterscheiden sich zementierte und zementfreie Prothesensysteme in erster Linie durch den unterschiedlichen Blutverlust aus den Spongiosaräumen des Knochens. Vorteile zementierter Systeme 5 Der Knochenzement tamponiert die spongiöse Blutung. Die Blutverluste sind meist geringer. 5 Antibiotikahaltige Knochenzemente können die Infektionsgefahr verringern. 6
5 Zementierte Endoprothesen erlauben eine sofortige Mobilisation des Patienten, sowie eine frühzeitige volle Belastung. Dies ist für die Rehabilitation von alten Patienten ein entscheidender Vorteil. Nachteile zementierter Systeme 5 Toxische Bestandteile des Polymethylmetacrylats verursachen zum Teil schwere Herz-, Kreislaufund Lungenreaktionen. 5 Durch das Einpressen des Knochenzements, vor allem in die Femurmarkhöhle, können Fettembolien ausgelöst werden. 5 Bei er forderlichen Prothesenwechseloperationen treten häufig Schwierigkeiten bei der Entfernung des Knochenzements auf. Der Knochen muss oft gefenstert oder nach Längsosteotomie aufgeklappt werden. Neben der Beeinträchtigung der Knochenstabilität kommt es auch regelmäßig zu stärkeren Blutungen. Besonderheiten zementfreier Endoprothesen 5 Der unterschiedlich große Kontakt des Implantats mit dem Knochen lässt größere spongiöse Flächen offen, aus denen es zu starken Blutungen kommen kann. Diese Blutungen können auch postoperativ mehrere Stunden anhalten. Der Transfusionsbedarf kann bei solchen Prothesensystemen erhöht sein. Die maschinelle Autotransfusion sollte bei zementfreien Hüftprothesen auch aufgrund des postoperativen Blutverlusts generell angewandt werden, soweit keine Kontraindikationen vorhanden sind. 5 Die primäre Stabilität dieser Endoprothesen ist geringer als bei den einzementierten Systemen. Dadurch werden die Mobilisierungsphase und die Rehabilitation des Patienten verzögert.
: Beispiel 96-jährige Pat., rezidivierende Hüftgelenksluxationen, Z.n. Hüft-TEP. Präoperativ: ASA 2, komp. Herzinsuff., RR 160/80 mmHg, Hf = 70/min, EKG: Überleitungsstörung, Rö-Thorax: Pathologika ohne klinische Relevanz, Medikation: Novodigal, Isoptin, L-Thyroxin. Laborwerte: Hb 10,5 mg/dl, Hk 33 %, Gerinnung, Thrombozyten und Elektrolyte normal. Intraoperativ: balancierte ITN, maschinelle Autotransfusion (MAT). Blutverlust ca. 1500 ml, vereinzelt VES. 6
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Kapitel 33 · Anästhesie in Orthopädie und Unfallchirurgie
Während des Einbringens des Knochenzements: RR 110/60 mmHg, Hf = 80/min, Therapie: Akrinor i.v., 500 ml EK, 650 ml MAT, 250 ml HES 6 %, 1000 ml Kristalloid. Postoperativ: bei zunehmender Kreislaufinstabilität und persistierender Drainageblutung Übernahme auf die Intensivstation. RR 65/50 mmHg, Hf =147, Laborwerte: Hb 10,3 mg/dl, Thrombozyten 57000, Antithrombin III 50 %, Quick 59 %, PTT 31 s. Therapie: 500 ml EK, 1500 ml FFP, Arterol/Dobutamin-Perfusor. Weiterer Verlauf: Stabilisierung innerhalb 4 h, am 1. postoperativen Tag Verlegung auf Normalstation, am 21. postoperativen Tag Entlassung in Reha-Klinik.
Bei TEP-Um- und -Ausbauten treten teils exzessive Blutverluste (> 3000 ml) auf. Das Risiko dieser Eingriffe
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steigt weiter dadurch, dass diese Patienten häufig älter sind und entsprechende kardiopulmonale Vorerkrankungen aufweisen. Die Blutungen können in den ersten postoperativen Stunden anhalten. Frühzeitige Substitution von Blutprodukten – ggf. rekombinanter Faktor VII a – und gerinnungsaktiven Substanzen können hämorrhagische Schockzustände und schwere Gerinnungsentgleisungen bei Hüft-TEP-Umbauoperationen vermeiden helfen. Bei Umbauoperationen sollte generell die maschinelle Autotransfusion zum Einsatz kommen, sofern keine Kontraindikationen vorliegen. Das Risiko von Gefäß- und Nervenverletzungen ist bei Revisionsoperationen größer. Ebenso steigt die Gefahr der Infektion des Wundgebietes. Die Dauer dieser Operationen hängt stark von der Routine des OP-Teams ab, d. h. von der Häufigkeit, mit der diese Eingriffe pro Jahr in den jeweiligen Kliniken durchgeführt werden. Aufgrund häufiger Kreislaufinstabilitäten sollten diese Eingriffe eher in Allgemeinanästhesie durchgeführt werden.
33.1.4 Or thopädische
Wirbelsäulenchirurgie Indikationen für orthopädische Wirbelsäuleneingriffe sind Deformitäten wie schwere Skoliosen, Tumore, Traumata, Spinalkanalstenosen und Bandscheibenvorfälle.
Skoliose Präoperatives Vorgehen Bei Skoliosepatienten müssen präoperativ weitest möglich kardiopulmonale Einschränkungen und Begleiterkrankun-
gen abgeklärt werden. Von Interesse sind insbesondere Zeichen der Belastungsinsuffizienz, Hyperkapnie, respiratorische Insuffizienz und Polyzytämie. Soweit möglich, muss der präoperative kardiopulmonale Ausgangszustand durch Physiotherapie, medikamentöse Therapie und Behandlung von Infektionen optimiert werden. Eine kurze orientierende neurologische Untersuchung sollte durchgeführt werden. Ist zur Beurteilung der neurologischen Funktion ein intraoperatives Aufwachen geplant, muss mit dem Patienten der intraoperative Aufwachtest besprochen werden. Dabei ist eine vertrauensbildende Gesprächsführung wichtig, insbesondere muss dem Patienten versichert werden, dass er kaum Schmerzen verspüren wird und dass die Aufwacherfahrung allgemein nicht als unangenehm erlebt wird. Die Bedeutung der Mitarbeit des Patienten für Diagnostik und Vermeidung von neurologischen Störungen muss betont werden. Zur Verhinderung unerwarteter Intubationsschwierigkeiten müssen die Beweglichkeit der Halswirbelsäule und die oberen Luftwege untersucht werden. Gegebenenfalls muss eine fiberoptische Wachintubation besprochen werden. Aufgrund häufiger Anomalien der Anatomie sollten potenzielle Lagerungsprobleme bereits präoperativ erkannt werden. Die Eigenblutspende muss besprochen und organisiert werden.
Anästhesiologisches Management bei Skoliose-Korrekturen Der Eingriff wird über einen posterioren, anterioren oder einen kombinierten Zugang durchgeführt. Wird der anteriore Zugang gewählt, so erfolgt der Zugang in Seitenlage thorakolumbal. Zur Verbesserung der operativen Übersicht wird die Ein-Lungen-Ventilation angewandt. Durch die kombinierte Manipulation an Lunge und Zwerchfell ist dieser Zugang möglicherweise postoperativ mit größeren respiratorischen Risiken behaftet. Der posteriore Zugang wird in Bauchlagerung durchgeführt. Zur Durchführung von Skoliose-Operationen sollte ein erweitertes Monitoring (invasive Blutdruckmessung, Blasenkatheter, Temperatur, zentralvenöser Katheter und evtl. präkordialer Doppler) angewandt werden. Bedingt durch die Länge der Eingriffe und den häufig großen Blutumsatz können hypotherme Zustände auftreten, denen mit geeigneten Mitteln (aktive Wärmezufuhr) zu begegnen ist. Besonders im Rahmen der Dekortikation der Wirbelkörper ist mit exzessiven Blutverlusten zu rechnen. Durch die operationsbedingte Kombination aus großer eröffneter Knochenfläche und einem häufig über Herzniveau liegenden Operationsgebiet muss mit Luftembolien gerechnet werden. Im Rahmen der Pleuraeröffnung bei anteriorem Zugang können Pneumo-
337 33.1 · Anästhesie in der Orthopädie
und Hämatothorazes auftreten. Bedingt durch die anatomische Nähe sind große Gefäße (Aorta, V. cava. und iliacale Gefäße) verletzungsgefährdet.
Monitoring des Rückenmarks Es ist prognostisch von entscheidender Bedeutung, dass eine intraoperativ neu aufgetretene Beeinträchtigung der Rückenmarksfunktion baldmöglichst entdeckt und rückgängig gemacht wird. Zum intraoperativen Monitoring des Rückenmarks sind zwei Verfahren etabliert: der Aufwachtest und somatosensorisch evozierte Potenziale. Einzelne Zentren wenden motorisch evozierte Potenziale zum Monitoring motorischer Leitungsbahnen an. Er wachen Patienten nach Skolioseoperationen in einem paraplegischen Zustand, so ist der Rückenmarkschaden meist irreversibel. Nur ein kleiner Teil der Rückenmarkverletzungen ist direkt auf ein chirurgisches Trauma zurückzuführen. Vermutlich wird die Schädigung meist durch eine Überdehnung des Rückenmarks beim Einbringen der Implantate, Unterbrechung der Gefäßversorgung oder kompressionsbedingt durch ein Hämatom ausgelöst.
Aufwachtest Vor dem geplanten Aufwachen werden die Opiatgaben vermindert und keine Muskelrelaxanzien mehr verabreicht. Volatile Anästhetika werden gegebenenfalls reduziert. Wird Lachgas verwendet, so wird die Zufuhr unmittelbar vor dem geplanten Aufwecken unterbrochen und zur manuellen Beatmung gewechselt. Die Operationswunde kann durch feuchte Tücher abgedeckt werden, um bei tiefer Inspiration die Gefahr einer venösen Luftembolie herabzusetzen. Der Patient wird zunächst aufgefordert, seine Arme, dann seine Beine zu bewegen. Bewegt der Patient die Arme, aber nicht die Beine, muss die Distraktion der Stäbe verringert werden. Diese Manipulation erfolgt erst nach Vertiefung der Narkose. Daraufhin wird der Aufwachtest wiederholt. Bei weiterbestehender Paraplegie muss eine Hämatomkompression in Erwägung gezogen werden. Bei zufrieden stellender Bewegung wird die Narkose vertieft und die Operation zu Ende geführt. Das Verfahren ist diskontinuierlich, einfach anzuwenden, erfordert jedoch eine gewisse Kooperation des Patienten. Mögliche Komplikationen sind Schmerzen, Luftembolie sowie die Dislokation der Stäbe bei Spontanbewegungen.
Somatosensorisch evozierte Potenziale (SSEP) Über die Messung von kortikalen und subkortikalen Antworten auf wiederholte periphere sensorische Stimuli erfolgt das Monitoring des Rückenmarks. Es ist notwendig,
Anästhetika zu verwenden, die die SSEP nicht wesentlich beeinflussen. Die Stimulation verläuft entlang der Nervenbahnen für Propriozeption und Vibration. Diese werden durch die A. spinalis posterior versorgt. Die von der A. spinalis anterior versorgte motorische Nervenbahn wird mit SSEP nicht überwacht. Daher besteht auch bei intraoperativ unauffälligen SSEP die Gefahr einer postoperativen Paraplegie. Das Verfahren ermöglicht eine kontinuierliche Überwachung. Eine Kooperation des Patienten ist nicht erforderlich.
Motorisch evozierte Potenziale (MEP) Über MEP kann die motorische Funktion, d. h. das Versorgungsgebiet der A. spinalis anterior kontinuierlich überwacht werden. Dazu muss proximal des Operationsgebiets eine Stimulationselektrode platziert werden.
33.1.5 Tumorchirurgie Orthopädische Tumoren variieren stark. Sie reichen von langsam wachsenden gutartigen bis zu schnell wachsenden malignen Tumoren. Daher ist auch das operative und anästhesiologische Vorgehen abgestuft. Diese Patienten müssen ausführlich präoperativ diagnostiziert werden, da verschiedenste Organsysteme beeinträchtigt sein können: 4 Nervensystem 4 Herz 4 Lunge 4 Niere 4 Leber 4 Hämatopoetisches System Diese Beeinträchtigungen können vom Tumorleiden selbst herrühren oder direkte Behandlungsfolgen sein (Chemotherapie, Bestrahlung). Hypernephrom-, Bronchialkarzinom- und Schilddrüsenkarzinommetastasen lassen besonders hohe Blutverluste erwarten. Dasselbe gilt für aneurysmatische Knochenzysten und Beckenteilresektionen. Werden große Blutverluste erwartet, müssen Erythrozytenkonzentrate und Frischplasmen in ausreichender Menge bereitstehen. Die Substitution sollte frühzeitig erfolgen. Großlumige Venenzugänge und eine invasive Blutdruckmessung bringen Zeitvorteile in der Erkennung und Therapie von Hypovolämien und Hypotonien. Wird in Positionen und Regionen operiert, die eine Luftembolie ermöglichen, sollte das Monitoring entsprechend erweitert werden. Insbesondere bei lange dauernden und blutigen Eingriffen kommt der Aufrechterhaltung der Normothermie eine wichtige Bedeutung zu.
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33.2
Kapitel 33 · Anästhesie in Orthopädie und Unfallchirurgie
Anästhesie in der Unfallchirurgie
33.2.1 Perioperatives anästhesiologisches
Management
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Die Prämedikationsvisite läuft im üblichen Rahmen ab, wobei bei akuten Verletzungen die Dringlichkeit des Eingriffs und Schmerzen das Aufklärungsgespräch verhindern können. Der Anästhesist muss den Gesamtzustand des Patienten betrachten, sich über Begleiterkrankungen und Medikation informieren, das Narkoseverfahren festlegen und ggf. die Prämedikation anordnen. Diese Befunde sind die Voraussetzung dafür, dass das am besten geeignete Narkoseverfahren und das erforderliche intraoperative Monitoring festgelegt werden können. Mit der Dringlichkeit des Eingriffs steigt auch das operative Risiko. Dies muss bei der Notfallversorgung von Risikopatienten bedacht werden. Bei diesen Patienten sollte, soweit möglich, eine präoperative Optimierung der Ausgangslage durch Infusionstherapie, Medikation und Transfusionen angestrebt werden, wobei der Anästhesist hier oftmals unter Zeitdruck steht. In solchen Situationen ist es erforderlich, den möglichen Nutzen einer Verbesserung der Ausgangslage und das Aspirationsrisiko kritisch gegen den chirurgischerseits bestehenden Zeitdruck abzuwägen. Vor unfallchirurgischen Eingriffen muss wegen der möglicherweise erheblichen perioperativen Blutverluste bei der Bestimmung präoperativer Laborwerte besonders auf eine bereits vorher bestehende Anämie, Gerinnungsstörungen und hypovolämische Anzeichen geachtet werden. Soweit möglich, sollten diese Störungen präoperativ therapiert werden. Eine ausreichende Menge von Blutkonserven und ggf. Frischplasma muss bereits zum Operationsbeginn von potenziell blutreichen Operationen bereit stehen. ! Ein »notfallmäßig« zu versorgender Traumapatient wird grundsätzlich als nicht nüchtern betrachtet (verzögerte Darmpassagezeit!). Die Narkoseeinleitung wird nach den Regeln der Rapid-Sequence-Induction durchgeführt.
33.2.2 Auswahl des Anästhesiever fahrens Häufig sind unfallchirurgische Eingriffe gleichermaßen in Regionalanästhesien wie in Allgemeinnarkosen durchführbar. Regionale Verfahren bieten sich oft aufgrund der Lokalisation des Operationsgebietes an. Die unterschiedlichen Verfahren haben spezifische Vor- und Nachteile. Das »ideale« Narkoseverfahren zeichnet sich durch eine kreislauf-
schonende, sichere Anästhesie aus, die lange dauernde und blutreiche Eingriffe in belastenden Positionen ermöglicht. Eine suffiziente postoperative Analgesie, die sich nahtlos an den Eingriff anschließt, vervollständigt das »ideale« Verfahren. Plexus-brachialis-Blockaden sind häufig für Eingriffe an der oberen Extremität gut geeignet, wobei je nach der gewünschten Ausbreitung verschiedene Blockadetechniken zur Verfügung stehen. Eingriffe an Schulter und Oberarm sind in der interskalenären oder in einer supraklavikulären Plexusblockade möglich. Für Operationen am Ellenbogen, Unterarm und an der Hand ist die supraklavikuläre, infraklavikuläre, interskalenäre oder axilläre Blockadetechnik geeignet. Bei Anwendung von Plexusanästhesien kann die postoperative Analgesie über einen liegenden Katheter erfolgen. Diese Technik ist vor allem bei der Frühmobilisation von Gelenken (Schulter, Ellenbogen) von Vorteil. Letztendlich muss die Auswahl des geeigneten Narkoseverfahrens vom jeweiligen Anästhesisten unter Abwägung der Vor- und Nachteile und in Beurteilung der Einzelsituation getroffen werden. ! Bei unfallchirurgischen Eingriffen kürzerer Dauer und bei geringem zu erwartenden Blutverlust haben sich Regionalanästhesien gut bewährt. Aufgrund der bei großen blutreichen Operationen bestehenden hämodynamischen Instabilität (Beckenfrakturen, Wirbelsäuleneingriffe, Polytraumata) sind bei diesen Eingriffen Allgemeinnarkosen vorzuziehen. Die Kombination regionaler Verfahren mit Allgemeinnarkosen/Sedierung stellt in der Regel ein schonendes Anästhesieverfahren dar, auf der anderen Seite können sich aber auch die spezifischen Risiken addieren.
33.2.3 Intraoperatives Monitoring Das intraoperative Monitoring bei unfallchirurgischen Eingriffen sollte in Abhängigkeit von der Größe des Eingriffes und dem Zustand des Patienten nach einem erweiterbaren Stufenplan erfolgen (. Tab. 33.2). ! Dem Anästhesisten müssen die Besonderheiten der jeweiligen OP-Techniken und besonders kritische OP-Phasen bekannt sein. Großlumige sichere venöse Zugänge in ausreichender Anzahl sind insbesondere bei Eingriffen mit großen Blutverlusten von entscheidender Bedeutung. Besonders bei Risikopatienten kann die invasive Blutdruckmessung einen wertvollen Zeitvorteil bei der Erkennung hypotoner Zustände liefern.
339 33.2 · Unfallchirurgie
33.2.4 Spezielle unfallchirurgische Eingriffe Schenkelhalsfraktur/Oberschenkelfraktur Im Gegensatz zu den Patienten, die sich einer elektiven Hüft-TEP-Operation unterziehen müssen, ist diese Patientengruppe meist präoperativ in einem dehydrierten, reduzierten Allgemeinzustand. Begleiterkrankungen und Störungen des kardiopulmonalen Systems sind aufgrund des meist hohen Alters eher die Regel als die Ausnahme. Blut-, Flüssigkeits- und Elektrolytdefizite sollten wann immer möglich vor der Operation ausgeglichen werden. Aufgrund häufiger Begleitverletzungen von Weichteilen und Gefäßen ist intraoperativ mit größeren Blutverlusten zu rechnen. Der Blutverlust einer Oberschenkel-/Oberschenkelhalsfraktur hängt von der genauen Lokalisation der Fraktur ab. Frakturen innerhalb der Gelenkkapsel haben meist einen geringeren Blutverlust als extrakapsuläre Frakturen, da die Kapsel die Blutung tamponiert.
Wirbelsäulenchirurgie Die »optimale« Versorgung des Patienten mit instabiler Wirbelsäulenverletzung erfordert ein geplantes und gut durchdachtes Vorgehen. Entscheidend ist es, diese Patienten durch geeignete Maßnahmen vor einer weiteren Sekundärschädigung zu schützen. Bestehen neurologisch Ausfälle, so erhalten diese Patienten eine hoch dosierte Kortisontherapie über die ersten 24 Stunden. : Beispiel 35 J. männl. Pat., Z.n. Sturz aus 3 m Höhe, traumat. BWK-10-Trümmerfraktur (keine neurolog. Ausfälle) RR 140/80 mmHg, Hf = 90/min, Hb 10,3 mg/dl (übrige Laborwerte im Normalbereich). Anästhesiolog. Vorgehensweise: Abwarten des Nüchternheitsintervalls; Crash-Induktion mit Thiopental, Succinylcholin, Sufenta, Rocuronium unter Verwendung eines linksläufigen Doppellumentubus Ch 41 (DLT); Fortführung der Narkose in balancierter Technik mit Sevofluran; Anlage einer arteriellen Druckmessung, Temperaturmessung, Dauerkatheter. Nach fiberoptischer Lagekontrolle des DLT vorsichtige Bauchlagerung des Patienten mit 4 Helfern, erneute auskult. Lagekontrolle, Installation des Cell Savers.
fern. Auskult. Kontrolle des DLT, re. Lunge nicht isoliert zu belüften: unter fiberoptischer Kontrolle Tubuslagekorrektur durch Zurückziehen, linksseitige Thorakotomie unter rechtsseitiger Einlungen-Ventilation, ventrale Stabilisierung der Fraktur mittels Platte. Blutverlust 1200 ml unter Retransfusion von 380 ml gewaschenem autologem EK, 500 ml Kolloide + 500 ml Kristalloide, bei Hb 7,8 (Hk 24) RR 80/60 und Hf = 110 Schläge/min Transfusion von 3 homologen EK und 2 GFP. Postoperativ: Temp. rektal 34,8 °C, Nachbeatmung auf der Intensivstation bis normotherm und stabil, problemlose Extubation 6 h postop., keine neurolog. Ausfälle. Verlegung auf Normalstation am 1. postop. Tag. in stabilem Zustand, Hb 10,8 mg/dl (übrige Laborwerte normal).
Die instabile Halswirbelsäule Im Rahmen eines Traumas ist die HWS aufgrund ihrer großen Beweglichkeit besonders verletzungsanfällig. Abhängig von der Art des Traumas muss an das Vorliegen kombinierter Verletzungen mit begleitenden Gesichts- und Schädelverletzungen, thorakalen- und lumbalen Verletzungen und Extremitätenfrakturen gedacht werden. Flexionstraumen der HWS sind am häufigsten und verursachen die schwersten Rückenmarktraumen. Sie werden durch einen Schlag auf den Hinterkopf verursacht. Dadurch kommt es zu einer Ruptur der hinteren Ligamente mit Dislokation der Gelenkflächen. Berstungsbrüche mit Verlagerung von posterioren Wirbelfragmenten in den Spinalkanal (z. B. Densfraktur) können daraus resultieren. ! Bis zum Ausschluss der Diagnose »instabile HWS« müssen Patienten mit einem Verdacht auf eine Instabilität mit immobilisiertem Hals gelagert werden, wobei eine Halskrawatte nur Schutz bietet, wenn sie exakt passt.
Die häufigste Todesursache der akuten Rückenmarkverletzung im HWS-Bereich ist die Ateminsuffizienz. Befindet sich die Läsion auf der Höhe von C4 oder darüber (Ausfall des Zwerchfells), so ist ein Überleben ohne Beatmung nicht möglich. Tipps
Intraoperativ: dorsales Einbringen eines Fixateur int.; Blutverlust von 1800 ml und Retransfusion von 500 ml gewaschenem autolog. EK + 1000 ml Kristalloide + 500 ml Kolloide; vorsichtige Rückenlagerung des Pat. mit 4 Hel-
Management des Patienten mit instabiler HWS – so machen wir es: In der Notfallsituation wird dieser Patient unter direkter Laryngoskopie oral intubiert. Dabei wird darauf geachtet, dass die Intubation unter geringstmöglichen
6
6
33
340
Kapitel 33 · Anästhesie in Orthopädie und Unfallchirurgie
Flexions- und Extensionsbewegungen der zervikalen Wirbelsäule erfolgt. Unter Uständen ist eine Intubations-Kehlkopfmaske (FastTrach) hilfreich. Ein Helfer stabilisiert den Hals unter manuellem Zug. Ver fügt der Patient noch über eine suffiziente Atmung, so sollte die fiberoptische Wachintubation unter manueller Fixierung der HWS, ggf. nach Anbringen einer Halo-Extension, durchgeführt werden. Sind anatomische oder traumatisch bedingte Intubationshindernisse zu er warten, so wird tracheotomiert. Vor der Verwendung von Muskelrelaxanzien zur Intubation wird von einzelnen Autoren gewarnt, da die Erschlaffung paraspinaler Muskulatur zur Dislokation einer Fraktur führen könnte.
! Ein hoher Manschettendruck führt schneller zu Gewebsschädigungen als eine Ischämie, daher wird empfohlen, sich eher an dem minimal notwendigen Druck zu orientieren. Dieser »ideale« Druck bewirkt einerseits die totale Blutsperre der Extremität, andererseits wird kein Gewebe druckgeschädigt.
Bereits ein Manschettendruck von 90–100 mmHg über dem präoperativ gemessenen systolischen Blutdruck soll ausreichen, um ein blutfreies Operationsfeld zu erhalten. Beim normal gebauten, normotensiven Erwachsenen sollen bereits Manschettendrücke von 200 mmHg für die obere und 250 mmHg für die untere Extremität genügen. Diese niedrigeren Manschettendrücke reichen aber möglicherweise nicht aus, um ein blutleeres Operationsfeld zu gewährleisten, wenn es intraoperativ zu hypertensiven Zuständen durch Wachheit, Stress oder Schmerz kommt.
Wirbelsäulen/Beckenfraktur
33
Wirbelsäulentraumata und Beckenfrakturen sind meist mit hohen Blutverlusten verbunden. Die Haupttodesursache der ausgedehnten Beckenfraktur ist der hämorrhagische Schock. Der therapeutische Erfolg hängt wesentlich von der frühzeitigen und aggressiven Substitution von Volumen und Blutprodukten ab. Soweit möglich sollte die maschinelle Autotransfusion angewandt werden.
33.3
Besonderheiten in Or thopädie und Unfallchirurgie
33.3.1 Eingriffe in Blutsperre (Tourniquet) Operationen im Bereich der Extremitäten können durch die Anwendung eines Tourniquets wesentlich übersichtlicher durchgeführt werden. Die Gefahren der Blutsperre hängen unmittelbar mit der Höhe des Manschettendrucks und der Dauer der Anwendung zusammen. Mikroprozessorgesteuerte automatische Systeme mit breiten, gut gepolsterten Manschetten bieten die größte Sicherheit, da nur durch sie Druckspitzen zuverlässig vermeidbar sind. Die maximale sichere Anwendungszeit wird kontrovers zwischen 30 min und 4 h angesiedelt, wobei allgemein für eine 2-Stunden-Grenze plädiert wird. Mit zunehmender Dauer der Blutsperre nehmen die Veränderungen im EMG ebenso zu wie die zur Erholung benötigte Zeit nach Wiedereröffnung.
Mögliche Komplikationen unter Anwendung des Tourniquet 5 Motorische Fasern werden eher geschädigt als die zentraler liegenden sensiblen Fasern 5 Arterielle Verschlüsse durch Dislokation atheromatöser Plaques 5 Lokale Hautschädigungen 5 Azidosen 5 Abfall von pO2 und pH-Wert an der ischämischen Extremität 5 Rhabdomyolyse 5 Kompartmentsyndrom 5 Druckschädigung peripherer Nerven 5 Blutdruckabfall und Tachykardie nach Öffnen des Tourniquet 5 Anstieg von paCO2, Kalium und Laktat nach Öffnen des Tourniquet
Diese Veränderungen werden von Gesunden im allgemeinen gut toleriert, können aber Ältere und Patienten mit eingeschränkter myokardialer Reserve ebenso wie Patienten mit erhöhtem intrakraniellem Druck aufgrund des ansteigenden paCO2 und der plötzlich einsetzenden Azidose in die akute Dekompensation treiben. Bei polytraumatisierten Patienten mit geschlossenen Schädel-Hirntraumen sind kritische Anstiege des intrakraniellen Drucks nach Eröffnung des Tourniquets beschrieben. Patienten mit geringer intrakranieller Compliance sind besonders gefährdet. Die Häufigkeit tiefer venöser Thrombosen steigt unter Tourniquetanwendung nicht an, da vermutlich eine
341 33.3 · Besonderheiten in Orthopädie und Unfallchirurgie
erhöhte fibrinolytische Aktivität während der Blutsperre vorherrscht.
33.3.2 Lagerung Die Lagerung des Patienten für einen orthopädischen oder unfallchirurgischen Eingriff stellt eine wichtige und verantwortungsvolle Tätigkeit dar. Die richtige Lagerung ermöglicht dem Chirurgen einen übersichtlichen operativen Zugang, minimiert den Blutverlust und schützt den Patienten vor Schädigungen der Nerven, Weichteile, Muskellogen und des kardiopulmonalen Systems. Jede spezielle Lagerung hat ihre spezifischen Risiken. Diese müssen gegen den zu erwartenden Nutzen kritisch abgewogen werden. Soweit möglich, sollte immer nahe der physiologischen Neutralstellung gelagert werden. Durch Lagerung besonders gefährdet sind der N. ulnaris sowie der Plexus brachialis. Eine Abduktion des Armes über 90° muss vermieden werden (Plexus brachialis), ebenso sollte der Arm eher in Supinationsstellung gelagert werden (N. ulnaris). Insbesondere Patienten mit einer peripheren Gefäßkrankheit werden durch eine erhöhte Lagerung einzelner Extremitäten, sowie aufgrund der Anwendung eines Tourniquets dem Risiko ausgesetzt, akute Ischämien, im Extremfall Rhabdomyolysen mit konsekutivem Kompartmentsyndrom, zu erleiden. Neben anderen Faktoren scheint der Operationsdauer hier eine besondere Wertigkeit zuzukommen. Liegt das Operationsgebiet oberhalb der Herzebene (Lawn-Chair-Position, Knie-Ellenbogenlage) besteht in allen Lagen das Risiko der venösen Luftembolie. Eine gute Lagerung erleichtert die Operation. Eine schlechte Lagerung gefährdet den Patienten.
Lagerung bei Wirbelsäuleneingriffen In Abhängigkeit von der Lokalisation und der Art des operativen Vorgehens werden Wirbelsäuleneingriffe in verschiedenen Lagerungen durchgeführt. Im Bereich der Brustwirbelsäule kann ein transthorakaler Zugang von Vorteil sein. Im Bereich der unteren thorakalen und lumbalen Wirbelsäule erfordern Eingriffe je nach operativen Bedürfnissen die Bauchlagerung oder die Knie-Ellenbogenlagerung. In der Knie-Ellenbogen Lage sind venöse Luftembolien mehrfach beschrieben. Während der Lagerung sollte die Drehung des Kopfes vorsichtig erfolgen. Die zerebrale Durchblutung kann durch Dehnung der Halswirbelsäule eingeschränkt, bzw. bei Lagerung des Kopfes unter Herzniveau gesteigert sein. Durch die Drehung des Patienten in die Bauchlage sind vor
allem der Kopf, die gesamte Wirbelsäule, der Schultergürtel und die Hüftgelenke gefährdet. Die durch Muskelrelaxanzien erschlaffte Muskulatur bietet dabei keinen Schutz mehr gegen eine Überdehnung oder abnorme Torsion der Bänder und Gelenke. ! Zur Vermeidung von zervikalen und lumbalen Torsionen der Wirbelsäule muss der Patient korrekt in einer Ebene gedreht werden. Dies ist nur mit einer ausreichenden Zahl von Helfern möglich.
Die Knie-Ellenbogen-Lagerung ist als Sonderfall der Bauchlagerung anzusehen. Hervorzuheben sind die besonderen Belastungen der Knie- und Hüftgelenke. Insbesondere arthrotische Gelenke bei Patienten mit hohem Körpergewicht können dadurch zu Schaden kommen und für lang anhaltende postoperative Schmerzen verantwortlich sein. Durch die Abknickung des Gefäß-Nervenbündels im Hüft- und Kniegelenkbereich sind ischämische Schädigungen bis hin zu Kompartmentsyndromen mit Rhabdomyolysen möglich. ! Verschlechterungen des Sehvermögens bis hin zur Blindheit nach Anästhesie sind eine seltene, aber dramatische Komplikation. Der Bauchlagerung und der Knie-Ellenbogenlagerung scheint bei dieser Komplikation eine besondere Rolle zuzukommen. Auf die Lagerung des Kopfes ist genauestens zu achten. Auf die Augen darf keinerlei Druck einwirken. Unerwartete intraoperative Bradyarrhythmien und Überleitungsstörung sind möglicherweise Warnsignale, die auf einen lagerungsbedingten überhöhten Augeninnendruck hindeuten können.
Blutsparende Ver fahren Obwohl in der Bevölkerung die Angst vorherrscht, sich im Rahmen einer Transfusion mit dem AIDS-Virus zu infizieren, ist das Problem transfusionsbedingter Hepatitisübertragungen objektiv relevanter. Verschiedene Verfahren zur Einsparung von Fremdblut stehen zur Verfügung. Diese sind, vor allem in Kombination angewandt, außerordentlich effektiv und ermöglichen oft auch große, blutreiche Operationen ohne Verwendung von Fremdblut. Voraussetzung für die zweckmäßige Anwendung blutsparender Verfahren ist die klinikbezogene Analyse des Blutbedarfs einzelner Operationen. Anhand dieses Bedarfs muss festgelegt werden, welche Verfahren angewandt werden. Zur Verfügung stehen (vgl. 7 Kap. 19): Präoperative Eigenblutspende. Voraussetzung ist ein ge-
naues Timing des Operationstermins, da die gewonnenen
33
342
Kapitel 33 · Anästhesie in Orthopädie und Unfallchirurgie
Konserven nur ca. fünf Wochen haltbar sind. Im wöchentlichen Abstand wird eine Einheit Vollblut abgenommen, die idealerweise aus Gründen der Haltbarkeit und zur Ermöglichung einer differenzierten Therapie mit Blutbestandteilen unmittelbar in Frischplasma und Erythrozytenkonzentrat (EK) aufgetrennt wird. Erythropoetin. Es wird in der Niere gebildet und wirkt stimulierend auf die Erythropoese. Durch präoperative Erythropoetingabe kann die Effektivität der Eigenblutspende erhöht werden. Limitierend für die Anwendung ist der hohe Preis. Plasmapherese. Autologes Frischplasma enthält alle physiologisch wichtigen Bestandteile des Plasmas. Dies sind u. a. Gerinnungsfaktoren wie AT III, Faktor XIII, Immunglobuline und Albumine. Ein weiterer Vorteil ist der langwirksame Volumeneffekt, der eine bis in die postoperative Phase reichende Normovolämie ermöglicht.
33
Akute präoperative Hämodilution. Unmittelbar präoperativ abgenommenes Blut wird unter Einhaltung der Isovolämie durch kolloidale Infusionslösungen ersetzt. Durch die Verdünnung des Bluts wird die Sauerstoffutilisation der Gewebe verbessert. Der rheologische und damit thromboseprotektive Effekt ist besonders bei polyglobulen Patienten ausgeprägt. Der blutsparende Effekt der Methode ist eher gering einzuschätzen. Maschinelle Autotransfusion. Die Retransfusion opera-
tiver Blutverluste über eine Zellwaschzentrifuge ist ein sicheres und effektives Verfahren. Unter Zusatz von Heparin wird antikoaguliertes Blut in einem Reservoir gesammelt. Durch Zentrifugation wird eine Auftrennung in Erythrozyten einerseits und Plasma, Spülflüssigkeit und Zelltrümmer andererseits vorgenommen. Unerwünschte Bestandteile (Kalium, freies Hb, Heparin) werden durch den Waschvorgang eliminiert. Es findet keine Gerinnungsaktivierung statt. Bei schonender Saugtechnik können intraoperativ etwa 50 % des Blutverlustes wieder zurückgewonnen werden. Postoperativ kann eine 70-prozentige Rückgewinnung der Drainageverluste erreicht werden. Durch die Möglichkeit, Drainageblut der ersten sechs postoperativen Stunden aufzuarbeiten, können oft zusätzlich erhebliche Mengen zurückgewonnen werden, da z. B. bei zementlosen Hüftprothesenimplantaten nach eigenen Untersuchungen 50 % des Blutverlustes postoperativ stattfinden. Kontrollierte Hypotension. Die intraoperative Durchfüh-
rung der kontrollierten Hypotension bietet theoretische
Vorteile im Hinblick auf eine Reduktion des Blutverlustes und verbesserte Sichtverhältnisse für den Operateur. Schwere Nachblutungen nach Wiedererreichen des Ausgangssblutdrucks sind möglich. Insbesondere bei Risikopatienten sind auch neurologische und myokardiale Minderperfusionen zu befürchten. Die kontrollierte Hypotension wird in einigen Kliniken in der Wirbelsäulen-, Beckenund Hüftgelenkschirurgie angewandt. Aprotinin. Der Wirkungsmechanismus von Aprotinin ist nur zum Teil bekannt. Es findet eine Reduktion der systemischen Fibrinolyse sowie eine Hemmung der Kontaktaktivierung statt, des Weiteren wird eine die Thrombozyten stabilisierende Wirkung angenommen. In mehreren Untersuchungen wurde ein blutsparender Effekt von Aprotinin beim Einsatz in der Hüftgelenkschirurgie nachgewiesen, ohne dass eine höhere Thromboserate zu beobachten war. Insbesondere bei orthopädischen Operationen mit hohem Blutverlust wie Prothesenausbau und -wechsel sowie bei trabekulär orientierten Hüftprothesen könnte die Anwendung sinnvoll sein. Die Häufigkeit einer kreislaufrelevanten allergischen Reaktion nach Zweit- oder Mehrfachexposition wird mit ca. 1 : 1000 angegeben. Die Vor- und Nachteile der Aprotininapplikation sollten daher kritisch abgewogen werden.
Hypothermie Im Rahmen großer orthopädischer und unfallchirurgischer Eingriffe können sich leicht hypotherme Zustände entwickeln. Die Gründe sind in den häufig langen Operationszeiten, in der medikamentenbedingten verzögerten Thermoregulation bei Narkose und Regionalanästhesie (mit verzögerter Vasokonstriktion und vermindertem Kältezittern). Temperaturverluste resultieren des Weiteren aus großen Blutverlusten, Massivtransfusionen und kalten Infusionslösungen sowie aus Verdunstung im Bereich des Operationsgebiets. ! Im Rahmen hypothermer Zustände steigt der Blutverlust, die Thrombozytenfunktion ist eingeschränkt und es kommt zu Koagulationsstörungen. Die Wundinfektionsrate steigt. Im Sinne einer Stressreaktion steigt der Katecholaminspiegel. Daraus resultiert eine Belastung des kardiozirkulatorischen Systems. Arrhythmien und gehäufte Myokardischämien können die Folge sein.
Die geschilderten Auswirkungen bewirken in der Summe einen verlängerten Krankenhausaufenthalt mit entsprechend erhöhten Kosten. Daher sollten Maßnahmen zur Aufrechterhaltung der Normothermie durchgeführt wer-
343 33.3 · Besonderheiten in Orthopädie und Unfallchirurgie
den. Als effektivste Methode hat sich dabei die aktive Wärmezufuhr mittels Warmluftgebläse erwiesen.
4 Frühe krankengymnastische Betreuung und Mobilisation
Thrombose
Ebenfalls unumstritten ist der günstige rheologische Effekt der Hämodilution. Der thromboseprotektive Effekt von Regionalanästhesien wird kontrovers diskutiert. Deutliche Hinweise bestehen auch dahingehend, dass eine lange Operationszeit die Thrombosegefahr erhöht. Medikamentöse Maßnahmen zur Thromboseprophylaxe werden in der Literatur teilweise unterschiedlich beurteilt. Die Anwendung einer subkutanen Low-dose-Heparingabe gilt als wirkungsvoll. Heparine niedrigen Molekulargewichts scheinen Vorteile bei der Thromboseprophylaxe zu bieten. Diese bestehen in weniger Blutungskomplikationen, größerer Bioverfügbarkeit, weniger Interaktionen mit Thrombozyten und längerer Wirkdauer. Dosisanpassung und Labormonitoring sind nicht erforderlich. Bedingt durch die längere Halbwertszeit müssen niedermolekulare Heparine in der Regel nur einmal täglich appliziert werden. Tiefe Beinvenenthrombosen nehmen ihren Ursprung oft bereits während der Operation, deshalb sollte der Beginn der Thromboseprophylaxe bereits präoperativ erfolgen.
Für das Entstehen einer tiefen Beinvenenthrombose sind Stase, verstärkte Koagulationsneigung und Intimaverletzungen der Venenwand die Hauptfaktoren (Virchow-Trias). Eine Stase kann operationstechnisch durch eine Hakenkompression oder Abknicken von Venen stattfinden. Auch Endothelverletzungen der Venenwand sind dadurch möglich. Da sich Thromben bereits intraoperativ bilden, sollte die Thromboseprophylaxe zum frühestmöglichen Zeitpunkt beginnen. Venöse Stase bewirkt eine Deoxygenierung des venösen Blutes. Die Kombination von venöser Stase und niedrigen venösen Sauerstoffpartialdrucken ist ein Stimulator der Bildung von Thromben auf der Oberfläche von venösen Endothelien. Laborchemisch zeigen sich im Rahmen einer erhöhten Koagulationsbereitschaft Anstiege von Faktor VIII und Fibrinogen, bei gleichzeitigem Abfall der Antithrombin-III-Konzentration und der fibrinolytischen Aktivität. Distale Beinvenenthrombosen müssen engmaschig kontrolliert werden, da in beinahe einem Viertel der Fälle eine Ausbreitung nach proximal erfolgt. Welche Faktoren thrombosebegünstigend wirken, ist in der Literatur noch nicht ausdiskutiert. Bei der Hüft-TEPOperation werden z. B. folgende Faktoren diskutiert: 4 OP-Zeit > 70 min 4 Rauchen 4 Phlebitiden, Z.n. tiefer Beinvenenthrombose 4 Hypothermie 4 Hypovolämie 4 Adipositas 4 Bettlägerigkeit 4 Frischer Apoplex 4 Kongestive Herzerkrankungen 4 Maligne Grunderkrankungen/-begleiterkrankungen 4 Zementierte Prothese 4 Allgemeinanästhesie 4 Aprotiningabe 4 Blutverlust > 1000 ml
Thromboembolieprophylaxe Die Thromboseprophylaxe setzt sich aus verschiedenen Faktoren zusammen, über deren Wertigkeit z. T. kontrovers diskutiert wird. Gesichert vorbeugende Maßnahmen sind: 4 Kompressionsstrümpfe, Kompressionsverbände 4 Vermeidung intra- und postoperativer hypovolämischer Zustände
Aufwachraum Ein effektiv betriebener Aufwachraum minimiert das Risiko, im Rahmen eines Eingriffes oder unmittelbar postoperativ eine Komplikation zu erleiden. Diagnostik und Therapie im Aufwachraum 5 5 5 5 5 5 5
Postoperative Schmerztherapie Laborkontrolle Infusionstherapie Substitution von Blutprodukten Maschinelle Autotransfusion Früherkennung von Lagerungsschäden Früherkennung einer möglichen spinalen/ epiduralen Blutung
In der Orthopädie und Unfallchirurgie gibt es einige Eingriffe, bei denen der Blutverlust in den ersten postoperativen Stunden anhält (z. B. zementfreie Hüft-TEP, Marknagelentfernung) oder erst postoperativ einsetzt (z. B. KnieEndoprothetik unter Anwendung eines Tourniquets). Diese Patienten profitieren von einer guten Überwachung und Therapie im Aufwachraum.
33
344
Kapitel 33 · Anästhesie in Orthopädie und Unfallchirurgie
Literatur Conroy JM, Dorman BH (Eds., 1994): Anesthesia for or thopedic surgery. Raven Press Ltd., New York, Kienzle F, Ullrich W, Krier C (1997) Lagerungsschäden in Anästhesie und operativer Medizin (Teil 2). Anästhesiol Intensivmed Notfallmed Schmerzther 32: 72–86 Ullrich W, Biermann E, Kienzle F, Krier C (1997) Lagerungsschäden in Anästhesie und operativer Medizin (Teil 1). Anästhesiol Intensivmed Notfallmed Schmerzther 32: 4–20 Ullrich W, Holz U, Krier C (1994) Hüft- Totalendoprothesen- Besonderheiten aus anästhesiologischer Sicht. Anästhesiol Intensivmed Notfallmed Schmerzther 29 (7): 385–399 Ullrich W, Krier C (2001) Or thopädie und Unfallchirurgie. In: Kochs E, Krier C, Buzello W, Adams HA (Hrsg.) Anästhesiologie. Thieme, Stuttgart, Kapitel 11: 1035–1046 Wedel DJ (Hrsg.; 1995): Or thopädische Anästhesie. Fischer, Stuttgart Wilhelm S, Standl Th. (2004) Anästhesie in der Or thopädie und Unfallchirurgie. Anästhesiol Intensivmed Notfallmed Schmerzther 39: 297–327
33
34 Anästhesie bei polytraumatisierten Patienten Jörg Beneker 34.1 Phasen der Polytraumaversorgung –346 34.2 Präklinische Versorgung und Transport –346 34.2.1 34.2.2 34.2.3 34.2.4
Präklinische Diagnostik –346 Rettung und Lagerung –347 Präklinische Therapie –348 Transport des Polytraumatisierten –350
34.3 Rettungsstelle und Erstdiagnostik –351 34.4 Erste operative Phase –352 Literatur –353
346
23
Kapitel 34 · Anästhesie bei polytraumatisierten Patienten
)) Das anästhesiologische Vorgehen bei polytraumatisierten Patienten unterscheidet sich grundlegend von der üblichen innerklinischen, perioperativen Narkoseführung. Anästhesie bei Polytrauma ist unmittelbar verknüpft mit dem Gesamtmanagement des Polytraumas. Dieses ist immer eine interdisziplinäre Aufgabe, die nur in jeweils gut kooperierenden Teams erfolgreich bewältigt werden kann.
34.1
Phasen der Polytraumaversorgung
Man unterscheidet verschiedene Phasen der Versorgung polytraumatisierter Patienten, die jeweils völlig unterschiedliche medizinische und organisatorische Schwerpunkte haben; deshalb variiert die Zusammensetzung des Traumateams in den verschiedenen Versorgungsphasen. Phasen der Polytraumaversorgung
34
5 5 5 5 5 5 5 5 5
Präklinische Versorgung und Transport Rettungsstelle Erstdiagnostik Erste operative Phase Intensivmedizin Weitere Operationen Zweite Intensivphase Normalstation Rehabilitation
Gegenstand dieses Kapitels ist die Versorgung bis zum Beginn der intensivmedizinischen Behandlung. In der Intensivmedizin wird spezifisch den einzelnen Organfunktionen und Organdysfunktionen Rechnung getragen. Dies geht über den Rahmen einer generellen Darstellung des anästhesiologischen Procedere hinaus.
34.2
Präklinische Versorgung und Transport
In vielen europäischen Ländern, so auch in Deutschland, ist das präklinische Rettungssystem zweireihig organisiert. Nach dem Notruf werden Rettungswagen alarmiert, besetzt mit Rettungsassistenten bzw. Rettungssanitätern; parallel dazu rücken bei potenziell lebensbedrohlichen Notfällen Notarzteinsatzfahrzeug (NEF), Notarztwagen (NAW) oder Rettungshubschrauber (RTH) aus. Die engmaschige Stationierung der preisgünstigen Rettungswagen
gewährleistet einerseits eine schnelle medizinische Grundversorgung, andererseits wird durch eine geringere Stationierungsdichte der arztbesetzten Fahrzeuge eine kosteneffiziente Vorhaltung erreicht. In der Regel trifft daher das notarztbesetzte Fahrzeug bzw. der Rettungshubschrauber nach dem Rettungswagen ein. Der Rettungswagenbesatzung obliegt daher primär die Sicherstellung der Vitalfunktionen sowie die Rettung und Befreiung aus der Unfallsituation. Nach Eintreffen des Notarztes sorgt das gemeinsame Team für 5 Überprüfung, Wiederherstellung und Aufrechterhaltung der Vitalfunktionen 5 Schmerzbekämpfung 5 Schockbekämpfung 5 Verhinderung intrakranieller Druckanstiege 5 Reponierung und Schienung von Extremitäten 5 Schonende Rettung und Lagerung 5 Schutz vor Wärmeverlust 5 Auswahl des geeigneten Krankenhauses
34.2.1 Präklinische Diagnostik Die präklinische Diagnostik sollte sich auf die Erkenntnisse beschränken, die auch unmittelbare therapeutische oder organisatorische Konsequenzen haben. Beim Polytrauma bedeutet das vor allem die Einschätzung des Verletzungsmusters. Tipps
Präklinische Diagnostik bei Polytrauma – so machen wir es: Noch in der Unfallposition, d. h. im Fahrzeugwrack, am Arbeitsgerät, an der Absturzstelle etc. wird eine erste Überprüfung der Vitalfunktionen Atmung, Kreislauf und Bewusstsein durchgeführt. Zur Überprüfung der Oxygenierung bedient man sich der Hilfe des Pulsoxymeters, bei der Kreislaufüberprüfung des drei- oder vierkanalig abgeleiteten EKGs sowie der Testung der Kapillarfüllungszeit des Nagelbetts. Die durchzuführende Blutdruckmessung wird regelmäßig wiederholt.
Die richtige präklinische Einschätzung der neurologischen Situation des Patienten bedarf vorwiegend der Erfahrung in der klinischen intensivmedizinischen Versorgung dieser Patienten. Als Hilfe bei der Einschätzung haben sich
347 34.2 · Präklinische Versorgung und Transport
. Tabelle 34.1. Glasgow coma scale Kriterium
Punkte
Augen öffnen 5 spontan 5 auf Anruf 5 auf Schmerz 5 gar nicht
4 3 2 1
Verbale Antwort 5 orientiert 5 verwirrt 5 ungezielte verbale Reaktion 5 unverständlich 5 keine
5 4 3 2 1
Motorische Antwort 5 befolgt Befehle 5 gezielte Abwehr 5 ungezielte Abwehr 5 Flexion 5 Extension 5 keine
6 5 4 3 2 1
3–8 Punkte: schweres SHT; 9–12 Punkte: mittelschweres SHT; 13–15 Punkte: leichtes SHT. Zusätzlich werden die Pupillen hinsichtlich Weite, Reaktion und Seitendifferenzen überprüft. . Abb. 34.1. Rettung und Lagerung
verschiedene Scoring-Systeme bewährt, vor allem der Glasgow coma scale (. Tab. 34.1). Anhand weniger Daten, die einfach und schnell zu erheben sind, lässt sich eine Aussage über die Prognose und damit auch den Schweregrad treffen. Die klinischen Daten werden erhoben, entsprechend Punkte verteilt und zusammengezählt. Die Summe ermöglicht eine prognostische Einschätzung des Schädel-Hirn-Traumas. Die folgende körperliche Untersuchung erfolgt in kraniokaudaler Richtung. In zwei Ebenen werden die Stabilität des Schädels, des Thorax und des Beckens untersucht, die Wirbelsäule wird abgetastet, die Extremitäten auf Frakturzeichen überprüft. Wichtig ist die Feststellung des Abdominalbefunds; ein härter werdender Bauch ist ein Alarmzeichen für eine mögliche Ruptur der großen Bauchorgane. Deshalb muss diese Untersuchung in regelmäßigen Abständen bis zum apparativ-diagnostischen Ausschluss einer solchen Verletzung wiederholt werden.
34.2.2 Rettung und Lagerung Ob die Primärdiagnostik vor Rettung, Befreiung und Lagerung erfolgen kann, hängt von der Unfallsituation ab.
. Abb. 34.2. Rettung und Lagerung durch Feuerwehr
Grundsätzlich soll gelten, dass bei instabilen Vitalfunktionen diese möglichst rasch, aber ohne weitere Gefährdung von Patient und Notfallteam gesichert werden müssen. Auch sollten die Rettung und Befreiung unter guter Analgesie erfolgen. Andererseits ist eine umfangreiche Versorgung mit Intubation, Zugängen, Schienung etc. oft erst nach der
34
348
Kapitel 34 · Anästhesie bei polytraumatisierten Patienten
Befreiung möglich. Zur technischen Rettung dienen Spreizer und Hebekissen, um den Zugang zum Patienten zu ermöglichen. Technische Rettung und Befreiung ist Aufgabe der Feuerwehr (. Abb. 34.1 und . Abb. 34.2).
34.2.3 Präklinische Therapie 4 Blutungen nach außen werden durch Druckverbände gestillt. 4 Frakturen werden durch Längszug reponiert und durch eine Luftkammerschiene oder eine Vakuumschiene stabilisiert. 4 Offene Frakturen werden zuvor steril abgedeckt. 4 Ein Halswirbelsäulen-Stabilisierungskragen wird jedem Polytraumatisierten angelegt und bis zum innerklinischen Ausschluss einer HWS-Verletzung am Patienten belassen.
34
. Abb. 34.3. Knochenpunktionstechnik
Mit Hilfe der Schaufeltrage erfolgt die Lagerung auf der Vakuummatratze. Diese wird evakuiert. Der Patient wird im Allgemeinen flach auf dem Rücken gelagert; eine 15–30°-Oberkörperhochlagerung ist bei SHT anzustreben. Bedingung hierfür sind aber stabile Kreislaufverhältnisse, um eine Verschlechterung des zerebralen Perfusionsdrucks zu vermeiden. Beim Polytrauma ist in allen Fällen eine Sicherung der Vitalfunktionen einschließlich der Intubation und Beatmung notfallmedizinischer Standard! . Abb. 34.4. Knochenpunktionsnadeln
Zugänge Als Zugang für den präklinischen Volumenersatz sollten je nach Verletzungsmuster 2–4 möglichst großlumige periphervenöse Verweilkanülen gelegt werden. Zentrale Venenkatheter haben ihre Indikation in der Notfallmedizin nur dort, wo das Anlegen peripherer Zugänge unmöglich ist. Die Vorteile von zentralen Venenkathetern, wie z. B. Möglichkeiten zur Messung des ZVD oder die Zufuhr hochprozentiger Lösungen zur parenteralen Ernährung sind hier nicht relevant. Eine Alternative bei Punktionsproblemen sind Knochenpunktionen: mit speziellen Nadeln wird die proximale Tibia (distal der Tuberositas tibiae) punktiert (. Abb. 34.3); hierüber ist ein fast ebenso effektiver Volumenersatz, wie über periphere Venen möglich. Knochenpunktionsnadeln stehen auch als federgespannte Nadelschießinstrumente (»bone injection gun«) zur Verfügung (. Abb. 34.4).
Narkoseführung Zur Schmerztherapie sind Opioide Mittel der Wahl, denn nur sie gewährleisten hier eine wirklich suffiziente Anal-
gesie. Ihre Nebeneffekte sind von untergeordneter Bedeutung: 4 Die Atemdepression spielt in Anbetracht der Beatmungsindikation keine Rolle. 4 Die sedierenden Nebeneffekte sind sogar erwünscht. Fentanyl wird als das derzeit beste Analgetikum für diese Indikation betrachtet, da es stark wirksam und gut steuerbar ist. Im Gegensatz zu anderen zentral wirksamen Analgetika führt Fentanyl nur in geringem Maße zu einer peripheren Vasodilatation, wodurch Blutdruckabfälle und damit Verschlechterungen des zerebralen Perfusionsdrucks vermieden werden können. Die Narkoseeinleitung erfolgt mit einem Hypnotikum. Dieses sollte 4 schnell wirken, da die Patienten nie nüchtern sind und deshalb eine Rapid sequence induction gewählt werden sollte, 4 kurz wirksam sein, damit die Narkose bei Intubationsproblemen limitiert werden kann,
349 34.2 · Präklinische Versorgung und Transport
4 möglichst geringe Auswirkungen auf den Kreislauf haben, 4 keine Steigerungen des intrakraniellen Drucks verursachen und 4 möglichst keine Histaminliberation auslösen. Zur Narkoseeinleitung in Kombination mit der analgosedierenden Wirkung von Fentanyl kommen folgende Hypnotika in Betracht: 4 Hypnomidate 0,2–0,3 (–0,5) mg/kg KG i.v. oder 4 Etomidat/Propofol 1–2 mg/ kg KG i.v. oder 4 Thiopental 3–5 mg/kg KG i.v. Obwohl Barbiturate einen senkenden Effekt auf den intrakraniellen Druck haben, ist Vorsicht bei der Anwendung von Thiopental bei Polytraumatisierten angezeigt: es kommt immer zu einer Senkung des systemischen Blutdrucks und bei dem oft bestehenden Volumenmangel kann es zu kritischen Kreislaufbelastungen kommen. Bei polytraumatisierten Patienten ist deshalb in der Einleitungsphase den beiden übrigen genannten Medikamenten der Vorzug zu geben. Zur Aufrechterhaltung der Sedierung nutzt man den sedierenden Effekt von Fentanyl, unterstützt durch Sedativa wie Diazepam oder Midazolam. Ketamin ist nach neueren Untersuchungen auch bei Schädel-Hirn-Trauma nicht mehr grundsätzlich kontraindiziert. Die Nebenwirkung eines erhöhten intrakraniellen Drucks tritt offensichtlich dann nicht auf, wenn der Patient ausreichend sediert wird und durch Beatmung die sedierungsbedingte Hypoventilation vermieden wird. Mittel der Wahl bei Polytrauma einschließlich eines (möglichen) Schädel-Hirn-Trauma bleiben die oben genannten Medikamente. Ketamin dagegen ist ideal zur Versorgung des eingeklemmten Patienten, wenn grenzwertige Intubationsbedingungen vorliegen oder auch nur zur Befreiung eine Analgesie notwendig ist und zentral wirksame Analgetika wegen der Gefahr der Atemdepression kontraindiziert sind. Nach Einführung des neuentwickelten S(+)-Isomers bedarf Ketamin einer neuen Bewertung; gerade in der präklinischen Traumaversorgung ergibt sich eine erweiterte Indikationsstellung für das Medikament. Dosierung – Diazepam 0,1 mg/kg KG i.v. oder – Midazolam 0,05 mg/kg KG i.v., ggf. repetierend – Ketamin S 0,25–0,5 mg/kg KG i.v., ggf. repetierend
Intubation In der Notfallmedizin verschieben sich die Problemstellungen bezüglich der Intubationstechnik ganz erheblich gegenüber den Bedingungen in der Klinik. An der Unfallstelle 4 ist der Patient nie optimal gelagert, 4 ist der Patient nie nüchtern, immer aspirationsgefährdet, 4 ist zumeist wenig Raum vorhanden, 4 ist es laut, 4 gibt es aufgeregte Umstehende, 4 drängt die Zeit. Zudem sind die Lichtverhältnisse immer ungünstig: nachts und bei Regen erkennt man kaum die klinischen Zeichen einer guten oder schlechten Oxygenierung, man ist in der körperlichen Untersuchung eingeschränkt. Bedeutung haben ganz andere Faktoren: Laryngoskoplichter, gedacht für den Einsatz in indirektem Neonlicht, verblassen an schönen Sommertagen für den sonnenlichtadaptierten Notfallmediziner zu einer insuffizienten Beleuchtung. Blut und Erbrochenes, nach Verletzungen veränderte anatomische Verhältnisse und ein oft schon hypoxischer Patient ohne weitere Sauerstoffreser ven erschweren die Technik. Die gewohnte Kontrolle der Tubuslage durch Auskultation ist unter der Lärmbelastung an einer Unfallstelle oft völlig unmöglich. Voraussetzung für die Intubation ist also vor allem viel Erfahrung und die Schaffung möglichst günstiger Intubationsbedingungen. Dazu gehören die Beseitigung hinderlicher Kleidung des Patienten und das fachgerechte Abnehmen des Motorradhelms. Anschließend sollte ein HWS-Stützkragen angelegt werden, ein wichtiger Schritt zur Protektion der Halswirbelsäule. ! Besonders beim Schädel-Hirn-Trauma ist es wichtig, die Intubation unter guter Sedierung bzw. Hypnose durchzuführen, denn sonst kommt es zu fatalen Spitzen des intrakraniellen Drucks. Relaxanzien erleichtern die Technik!
Beatmung Ein intubierter Patient muss immer beatmet werden. Lediglich in der Entwöhnungsphase nach langem Intensivstationsaufenthalt werden bestimmte Spontanatmungsformen am Tubus durchgeführt. Ein Verunfallter toleriert nur dann ohne Narkose einen Tubus, wenn er eine erhebliche Bewusstseinstrübung aufweist. Die Spontanatmung am Tubus bedingt immer eine insuffiziente Ventilation mit pathologisch hohem CO2-Wert; entsprechend verschlechtert sich der zerebrale Perfusionsdruck.
34
350
Kapitel 34 · Anästhesie bei polytraumatisierten Patienten
! Polytraumatisierte Patienten müssen immer kontrolliert ventiliert werden!
Eine kontrollierte Ventilation, die nicht nur beim Schädel-Hirn-Trauma Standard sein sollte, erfordert eine kontinuierliche Messung der exspiratorischen Kohlendioxydspannung. Deshalb sind Kapnometer oder besser noch Kapnographen auch präklinisch erforderlich. Falls kein Kapnometer zur Verfügung steht, bleibt die Einstellung des hierzu notwendigen Atemminutenvolumens eine grobe Schätzung, die großen Fehlern unterworfen ist. Man orientiert sich am normalen Atemminutenvolumen, das dann um ca. 50 % erhöht werden sollte. ! – Angestrebter arterieller PCO2 3,8–4,0 kPa – Normales Atemminutenvolumen des Erwachsenen: ca. 100 ml/kg KG – Normales Atemminutenvolumen des Kindes (bis 20 kg): ca. 200 ml/kg KG
tun haben, sind Verletzungen von Leber und Milz sowie Beckenfrakturen Hauptgründe lebensbedrohlicher Blutverluste. ! Gegebenenfalls als Druckinfusion sollte kolloidales Volumen bis zur Kreislaufstabilisierung infundiert werden. Sind die Kreislaufverhältnisse (noch) stabil, reicht der primäre Volumenersatz durch kristalline Lösungen aus. Diese werden auch für sehr kleine Kinder als primärer Volumenersatz gegenüber den Kolloiden bevorzugt. Es ist auch bei kurzen Versorgungszeiten durchaus möglich, ausreichend hohe Volumenmengen zuzuführen.
Ein neuerer Therapieansatz ist die Volumengabe hyperton-hyperonkotischer Lösungen (HAES oder Dextran plus hochprozentiges Kochsalz). Hiermit sind mit geringsten Volumenmengen (250 ml rasch infundiert) schneller primäre Kreislaufstabilisierungen zur Erzielung guter Perfusionsdrücke erreichbar.
Prioritäten
34
Bei Schädel-Hirn-Trauma spielt ein optimales Sauerstoffangebot eine wichtige Rolle. Da die Möglichkeit fehlt, über Blutgasanalysen ein situationsangepasstes inspiratorisches Gasgemisch zu steuern, sollte man als inspiratorische Sauerstoffkonzentration zunächst immer 100 % wählen. Unter Kontrolle der pulsoxymetrisch gemessenen Sauerstoffsättigung kann nach der Stabilisierung des Patienten die inspiratorische Sauerstoffkonzentration auf 50 % gesenkt werden. Auch bei Patienten mit Thoraxtraumata, bei denen die Atmung mechanisch oder schmerzbedingt eingeschränkt ist, ist eine Intubation und Beatmung unumgänglich. Verletzungen von Leber und Milz mit der Folge eines Zwerchfellhochstandes beeinträchtigen den Gasaustausch, Volumenverluste mit Blutdruckabfällen und Bewusstseinstrübung führen zur Einschränkung der Schutzreflexe vor Erbrechen und Aspiration. Bei allen Schwerverletzten wird zudem eine suffiziente Analgesie nur mit Opioiden in einer Dosierung erreicht, die eine Atemdepression mit sich bringt.
Volumenersatz Volumenverluste durch äußere Blutungen sind selten unmittelbar lebensbedrohlich, da sie bereits durch erstversorgende Rettungskräfte effizient unterbrochen werden können. Sie sollten durch Abdrücken zum Stehen gebracht werden, das Abbinden kommt nur in Ausnahmefällen, z. B. bei Amputationsverletzungen in Betracht. Nach stumpfen Traumata, mit denen wir es in Mitteleuropa aufgrund der Verkehrsunfälle als Hauptursache von Polytraumata zu
Die Reihenfolge der aufgeführten Maßnahmen hängt immer von der Unfallsituation und dem Zustand des Patienten in Bezug auf seine Vitalfunktionen ab. Erlaubt die Unfallsituation eine sofortige Intubation und Beatmung, so sollte diesen Maßnahmen Präferenz gegeben werde. Besteht eine Einklemmungssituation oder gar eine weitere Gefährdung von Patient und Helfern, so muss erst gelagert und technisch gerettet bzw. befreit werden. Eine suffiziente Analgesie muss immer primär erfolgen!
34.2.4 Transport des Polytraumatisier ten Die Phase des Transports stellt erneut eine Phase der erhöhten Gefährdung dar: Das Monitoring unterliegt Störungen durch Erschütterungen, die Beatmung ist durch Diskonnektionen bedroht, die klinische Beurteilbarkeit des Patienten eingeschränkt. Die Anästhesie während des präklinischen Transports unterscheidet sich grundlegend von der innerklinischen Situation! Vor dem Transport muss die Transportfähigkeit des Patienten gesichert werden, was bei bestimmten Verletzungsmustern kaum oder gar nicht komplett zu erzielen ist. Droht oder besteht ein hämorrhagischer Schock wegen weiter bestehender Blutungen innerer Organe oder im Bereich des Retroperitoneums, so ist die präklinische Versorgung zu begrenzen und mit Transportpriorität vorzugehen. Eine begrenzte, zügige Grundversorgung einschließlich Intubation, Beatmung und Volumenzufuhr unter kontinuierlicher Analgesie und Sedierung ist dennoch unverzichtbar.
351 34.3 · Rettungsstelle und Erstdiagnostik
Ist aufgrund der regionalen Krankenhausstruktur, d. h. inakzeptabel großer Entfernungen, keine direkte Einlieferung in ein geeignetes Unfallschwerpunktkrankenhaus mit bodengebundenen Rettungsmitteln möglich, muss über einen primären Lufttransport nachgedacht werden. Da die in der primären Luftrettung gebräuchlichen Rettungshubschrauber ein sehr eingegrenztes Raumangebot aufweisen, müssen die Indikationen für invasive Maßnahmen einschließlich der Intubation, der Anlage von Zugängen oder auch Thoraxdrainagen großzügiger als bei bodengebundenen Transporten gestellt werden. Im Gegensatz zum Notarztwagen lassen sich Rettungshubschrauber nicht jederzeit anhalten, um Überwachung und Therapie auszudehnen. Lufttransport sollte immer erwogen werden: 5 Bei größeren Entfernungen (ca. 30 km) zum geeigneten Krankenhaus 5 Bei ungünstigen Wege- oder Wetterbedingungen 5 Bei bestimmten Verletzungsmustern, z. B. Wirbelsäulenverletzungen 5 Bei Transportpriorität
Ist die unmittelbare Alarmierung eines Rettungshubschraubers zum Primäreinsatz nicht ohne Weiteres möglich, z. B. in manchen ländlichen Regionen, aber z. B. auch bei ungünstigen Wetterbedingungen, so sollte ein polytraumatisierter Patient im nächstliegenden Krankenhaus mit chirurgischer Interventionsmöglichkeit stabilisiert werden. Ein Sekundärtransport in ein Unfallschwerpunktkrankenhaus mittels Intensivtransporthubschrauber (ITH) muss dann allerdings ohne Zeitverzug organisiert werden. Dieses Verfahren ist vor allem während der Nachtstunden in vielen Regionen die einzige praktikable Lösung, da nachts nur an einzelnen Stationen Primärrettung geflogen wird. Die Anforderungen an die Ausstattung eines ITH zum Zwecke der Sekundärverlegung intensivpflichtiger Patienten sind ungleich größer und längere Entfernungen sind wegen der Verknappung geeigneter Intensivbetten teilweise unvermeidbar.
34.3
Rettungsstelle und Erstdiagnostik
Nach Voranmeldung über Funk bereitet sich die Rettungsstelle des Unfallschwerpunktkrankenhauses auf die Ankunft eines Polytraumatisierten vor. Da die Informationen praktisch immer inkomplett sind, falsch oder einfach unbekannt, muss diese Vorbereitung eine universelle Reaktion
auf die verschiedensten Bedrohlichkeitsgrade und Verletzungsmuster ermöglichen. Je nach Organisationsmodell muss entweder ein komplettes interdisziplinäres Traumateam oder ein Kernteam aus Unfallchirurgen und Anästhesisten (die übrigen Fächer dann in zeitlich unmittelbarer Rufnähe) neben erfahrenen Pflegekräften und Radiologieassistenten bereitstehen. Gemeinsam muss nun das Verletzungsmuster eruiert werden. Darunter fallen in der ersten Phase die 4 erneute Gesamtkörperuntersuchung einschließlich der neurologischen Untersuchung sowie die Ultraschallsonographie des Abdomens, 4 weitere Stabilisierung der Vitalfunktionen, 4 Erweiterung bzw. Komplettierung des Monitorings, 4 Vervollständigung der präklinisch begonnenen therapeutischen Maßnahmen, 4 Vorbereitung des Patienten auf Untersuchungen sowie drohende weitere Sekundärauswirkungen der Verletzungen. Tipps
Versorgung des Polytrauma-Patienten in der Rettungsstelle – so machen wir es: 5 Die Beatmung wird zunächst den nichtinvasiven Messwerten des CO2 und der pulsoxymetrischen Sauerstoffsättigung angepasst und mittels Blutgasanalyse kontrolliert. 5 Die Anzahl der peripheren Venenzugänge wird auf drei große Zugänge erhöht. 5 Ein Shaldon-Katheter wird für etwaige Massivtransfusionen angelegt, bevorzugt über die V. jugularis interna re. oder li. 5 Eine blutige arterielle Druckmessung wird über die A. radialis re. oder li. angelegt; sie ermöglicht eine lückenlosen Blutdrucküberwachung sowie häufige Blutgasanalysen und Hb-Kontrollen. 5 Eine erste Blutgasanalyse gibt Aufschluss über die Beatmung und die pulmonale Situation sowie den Hb- und Hk-Wert sowie über die wichtigsten Elektrolyte. 5 Der Volumenersatz wird mit kristallinen und kolloidalen Infusionen zügig fortgesetzt. 5 Besteht kein unmittelbarer Verdacht auf eine Beckenfraktur (mit möglicher Blasenverletzung), wird jetzt ein Blasenkatheter angelegt; besteht möglicherweise eine Beckenverletzung, erfolgt die Anlage nach weiterer Diagnostik ggf. suprapubisch. 6
34
352
Kapitel 34 · Anästhesie bei polytraumatisierten Patienten
5 Blutproben werden in das Labor gegeben. 5 Kreuzblut wird zur Blutgruppenbestimmung und zur Bereitstellung von mindestens 6 Konserven abgenommen. 5 Droht dem Patienten ein hämorrhagischer Schock, so werden unverzüglich nach Durchführung eines Bedside-Tests ständig bereitgehaltene Erythrozytenkonzentrate der Blutgruppe 0 Rhesus negativ und ggf. fresh frozen plasma appliziert.
insbesondere den 7. Halswirbelkörper, der aufgrund seiner anatomischen Lage durch konservative Röntgenaufnahmen häufig insuffizient dargestellt wird. Es folgt das Achsenskelett, insbesondere die Wirbelsäule, in zwei Ebenen. Röntgenaufnahmen der Extremitäten sollten nur gezielt bei klinischem Frakturverdacht durchgeführt werden. Ist der klinische Zustand des Patienten instabil, müssen entsprechend den vitalbedrohlichen Verletzungen Prioritäten gesetzt werden und ggf. eine Notoperation eingeschoben werden.
34.4 Apparative Diagnostik Nach dieser Basisversorgung, die bei einem erfahrenen Team nicht länger als 15 min dauern sollte, erfolgt die dem erwarteten und klinisch vermuteten Verletzungsmuster angepasste apparative Diagnostik. Tipps
34
Apparative Diagnostik bei Polytrauma – so machen wir es: 5 Nach der sofort parallel zur Versorgung durchgeführten abdominalen Ultraschalluntersuchung folgt mit dem existierenden Spiral-CT eine komplette Computertomogramm-Untersuchung vom Schädel-Hirn-Bereich bis zum Becken. 5 Erfasst und diagnostisch beurteilbar sind so der Schädel-Hirn-Bereich, die komplette knöcherne Wirbelsäule, das Thoraxskelett und das Becken, die thorakalen Organe und sonstigen mediastinalen Strukturen, wie z. B. Herz und Aorta, die Abdominalorgane und das Retroperitoneum. 5 Anschließend erfolgen bei klinischem Frakturverdacht gezielte Röntgenuntersuchungen der Extremitäten in 2 Ebenen.
Diese CT-Untersuchung erfordert mit notwendigen Lagerungsmodifikationen ca. 20 min. Ist kein schnelles Spiral-CT verfügbar, sollte zunächst die Röntgenuntersuchung des Thorax in zwei Ebenen vorangestellt werden, um die lebensbedrohlichen Hämato- oder Pneumothorazes auszuschließen. Aufgrund der hohen Prozentzahl der Schädel-Hirn-Traumata im Rahmen des Polytraumas sollte nur bei völlig blandem klinischem Befund auf das CCT verzichtet werden, es sollte fast immer in die Diagnostik eingeschlossen werden. Das CCT sollte auch bei älteren, langsamen CT-Anlagen die Untersuchung der Halswirbelsäule einschließen,
Erste operative Phase
Während der innerklinischen Notfallversorgung in der Rettungsstelle, während einer die Diagnostik unterbrechenden Notoperation und auch während einer dringlichen, der Stabilisierung beispielsweise von peripheren Frakturen dienenden Operation besteht das gleiche Anforderungsprofil wie auch im Bereich der präklinischen Notfallmedizin: 4 Kontrollierte Beatmung mit einer zu erzielenden hochnormalen arteriellen Sauerstoffspannung und einem CO2-Gehalt im unteren Normbereich 4 Aufrechterhaltung eines normalen Volumenstatus und ausreichenden Hämoglobingehalts 4 Suffiziente Analgesie und Sedierung 4 Vermeidung von intrakraniellen Druckspitzen und Verminderungen des zerebralen Perfusionsdrucks Zur Narkoseführung bedient man sich der intravenösen Narkoseführung mit einer Kombination von Fentanyl, Remifentanyl oder Alfentanyl mit Midazolam oder Disoprivan. Je nach Dringlichkeit der Versorgung und nach Stabilität der Vitalfunktionen des Patienten sind die Prioritäten der Versorgung zu setzen. Ebenso, wie ein im Vordergrund stehendes Schädel-Hirn-Trauma mit Hirnödem zunächst der reinen intensivmedizinischen Betreuung bedarf, periphere Verletzungsmuster also bei diesem Patienten in der Versorgungsreihenfolge hintanstehen und erst nach Tagen erfolgen können, kann ein drohendes pulmonales Versagen eine primäre reine Intensivtherapie erfordern. Selbst eine instabile Wirbelsäulenverletzung muss dann – entsprechend fachkundig gepflegt und gelagert – einige Tage operativ unversorgt bleiben. Andererseits muss ein auch schweres Schädel-HirnTrauma in der Versorgungsdringlichkeit der Milzruptur oder Leberruptur nachgeordnet werden, da sonst ein nicht beherrschbarer hämorrhagischer Schock die Prognose infaust machen würde.
353 Literatur
! Bei der Behandlung des Polytraumas ist nicht nur Sachverstand im eigenen Fachgebiet gefordert, sondern viel Er fahrung mit dem Gesamtbild des Polytraumas. Dazu gehört auch das Wissen um das Procedere und die Prioritätensetzung der anderen beteiligten medizinischen Disziplinen. Unabdingbar ist eine gute, kollegiale, respektvolle und faire interdisziplinäre Kooperation in allen Phasen der Versorgung eines polytraumatisierten Menschen.
Literatur Bickell WH, Wall MJ, Pepe PE, et al. (1994) Immediate versus Delayed Resuscitation for Hypotensive Patients with Penetrating Torso Injuries. N Engl J Med 331: 1105–1109. Hoyd D (2003) Prehospital Care: Do No Harm? Annals of Surgery Vol. 237, No. 2, 161–162 Ku J et al. (1999) Triangle of Death. New Horizons Vol.7 No.1. Liberman M, Mulder D, Lavoie A, Denis R, Sampalis JS (2003) Multicenter Canadian Study of Prehospital Trauma Care. Annals of Surgery Vol.237, No.2, 153–160. Prehospital Trauma Life Support Committee of the National Association of Emergency Medical Technicians in Cooperation with the Committee on Trauma of the American College of Surgeons (1999) PHTLS Basic and Advanced Prehospital Trauma Life Support, 4th ed.: Mosby Inc., St. Louis Sharples PM, Matthews, DSF, Eyre JA (1995) Cerebral blood flow and metabolism in children with severe head injuries. Part 1: Relation to age, GCS, outcome, intracranial pressure, and time after injury. J Neurology, Neurosurgery, and Psychiatry 58. Sharples PM, Matthews, DSF, Eyre JA (1995) Cerebral blood flow and metabolism in children with severe head injuries. Part 2: Cerebrovascular resistance and its determinants. J Neurology, Neurosurgery and Psychiatry 58. Wichell RJ, Hoyt DB (1997) Endotracheal Intubation in the Field Improves Sur vival in Patients with severe Head Injury. Arch Surg 132, 597.
34
35 Kardioanästhesie Alfred Schild, Tilmann Röhl 35.1 Anästhesie zu herzchirurgischen Eingriffen beim Erwachsenen –356 35.1.1 Anästhesie zur Myokardrevaskularisation bei koronarer Herzkrankheit (KHK) –356 35.1.2 Anästhesie bei erworbenen Herzklappenerkrankungen –358
35.2 Kardioanästhesie bei angeborenen Herzfehlern –362 35.2.1 Azyanotische Herzfehler –363 35.2.2 Zyanotische Vitien –365 35.2.3 Anästhesiologisches Vorgehen –366
Literatur –368
356
Kapitel 35 · Kardioanästhesie
Epidemiologie der koronaren Herzkrankheit
)) Herz-Kreislauf-Erkrankungen gehören zu den häufigsten Todesursachen in den westlichen Ländern. 1999 erkrankten in Deutschland insgesamt 288192 Menschen an einem Herzinfarkt (Männer 54,39 %, Frauen 45,61 %). Obwohl generell ein Rückgang der Mortalität der KHK zu verzeichnen ist, machen Herz-Kreislauf-Erkrankungen 47 % aller Todesfälle in Deutschland aus (Angaben des Statistischen Bundesamts Wiesbaden). 2002 im gesamten Bundesgebiet knapp 72,9 % (70185) aller Eingriffe mit extrakorporaler Zirkulation (EKZ) auf Koronaroperationen. Koronare Bypass-Operationen und Eingriffe an den nachstehend aufgeführten Herzklappen sind an den in Deutschland durchgeführten offenen Herzoperationen zu knapp 90 % beteiligt.
35.1
Anästhesie zu herzchirurgischen Eingriffen beim Erwachsenen
35.1.1 Anästhesie zur
Myokardrevaskularisation bei koronarer Herzkrankheit (KHK)
: Beispiel
35
Der 56-jährige Herr M. alarmiert gegen 7 Uhr den Notarzt. Aus dem Wohlbefinden heraus treten bei ihm kurz nach dem Frühstück heftigste thorakale Schmerzen auf, ausstrahlend in den Unterkiefer. Der Kollege findet den übergewichtigen Patienten in Todesangst kaltschweißig und dyspnoisch im Sessel sitzend vor. Blutdruck und Herzfrequenz sind deutlich erhöht. Der Patient gibt an, wenige Monate zuvor schon zwei ähnliche, weniger intensive Schmerzattacken gehabt zu haben. Es besteht starker Nikotinfoetor. Unter der Verdachtsdiagnose Myokardinfarkt appliziert der Notarzt Nitroglyzerin als Spray und eine Morphinanalgesie. Zusätzlich wird O2 insuffliert. In der Klinik sind im EKG deutliche ST-Streckensenkungen über den Vorderwandableitungen zu erkennen. Die infarkttypischen Enzyme sind grenzwertig erhöht. Die Echokardiographie zeigt eine gute Ventrikelfunktion bei Wandbewegungsstörungen über der Vorder wand. Bei der Koronarangiographie wird eine koronare 2-Gefäß-Erkrankung mit Hauptstammbeteiligung diagnostiziert und das Herzzentrum zur notfallmäßigen Bypassoperation verständigt. Der Patient wird mit drei Bypässen revaskularisiert.
Eine Myokardischämie entsteht durch Sauerstoffmangel infolge verminderter Durchblutung. Zugrunde liegt im Fall der Koronarsklerose ein lipoidhaltiger Plaque im Bereich der epikardialen Gefäßabschnitte. Normalerweise ist der koronare Blutfluss in bestimmten Grenzen unabhängig vom Perfusionsdruck. Er wird bestimmt vom Sauerstoffbedarf. (»Autoregulation«). Richtwert sind ca. 70 ml/100 g Gewebe/min. Die so genannte Koronarreserve bezeichnet den Unterschied zwischen autoreguliertem Fluss in Ruhe und maximal möglichem Fluss bei Belastung durch Vasodilatation (ca. 1 : 5). Bei Vorliegen einer Stenose dilatiert der dahinter liegende Gefäßabschnitt bereits in Ruhe, um einen ausreichenden Blutfluss aufrecht zu erhalten. Die Autoregulation ist aber bereits eingeschränkt oder aufgehoben, da bei vermehrtem Bedarf – bedingt durch die Stenose – keine adäquate weitere Steigerung der Durchblutung mehr stattfinden kann. Die Koronarperfusion wird in diesem Fall druckabhängig. Eine hämodynamisch relevante Stenose bedeutet eine Einengung des Gefäßquerschnittes um ca. 75 %. Kommen zusätzliche Faktoren, wie z. B. eine Tachykardie oder ein erhöhter linksventrikulärer Füllungsdruck hinzu, wird die Situation weiter verschlechtert. Besonders eine Tachykardie wirkt sich ungünstig aus, da sie den O2-Bedarf steigert bei gleichzeitiger Verkürzung der diastolischen Durchblutungszeit. Die Patienten, mit denen sich Kardioanästhesisten auseinandersetzen müssen, sind zunehmend älter und multimorbider. 2001 waren 38,3 % aller herzchirurgischen Patienten in Deutschland älter als 70 Jahre, 2002 waren in unserer Klinik knapp 36,8 % der Patienten in dieser Altersklasse. Parallel zu dieser Entwicklung wächst der Anteil an Patienten, die sich mit einer Vielzahl extrakardialer Erkrankungen zu einer Herzoperation vorstellen. 2002 waren 21 % unserer Patienten Diabetiker, knapp 42 % davon insulinpflichtig. Diabetiker haben eine deutlich erhöhte perioperative Morbidität und Mortalität. Weitere häufige Begleiterkrankungen herzchirurgischer Patienten sind ein essenzieller Hypertonus, eine kompensierte Niereninsuffizienz, obstruktive Lungenerkrankungen und begleitende atherosklerotische Läsionen an den Karotiden und/oder peripheren Gefäßen. Anerkannte Risikofaktoren der koronaren Herzkrankheit 5 Zigarettenrauchen 5 Übergewicht 5 Hyperlipidämie 6
357 35.1 · Anästhesie zu herzchirurgischen Eingriffen beim Erwachsenen
5 5 5 5 5
Diabetes mellitus Hypertonus »Stress« (chronische Angst, Überforderung) Alter Männliches Geschlecht
Bei der Diagnose der KHK steht an erster Stelle die klinische Untersuchung. Das Hauptsymptom der Koronarkrankheit ist der anfallsweise auftretende Schmerz präkordial und/oder ausstrahlend in den linken Arm, die Schulter oder den Unterkiefer. Möglich ist aber auch die stumme Ischämie mit typischen EKG-Veränderungen ohne klinische Symptome. Allerdings ist der Schweregrad einer KHK oft wenig korreliert mit objektiven Untersuchungsbefunden. Die leicht zu entdeckenden Zeichen der Herzinsuffizienz deuten auf ein bereits fortgeschrittenes Stadium hin. Weitere Zeichen einer reduzierten Herzfunktion können ein dritter oder vierter Herzton sein. Wichtig ist das Erkennen von Rhythmusstörungen und begleitender extrakardialer Erkrankungen, die das anästhesiologische Vorgehen beeinflussen können. Eine nützliche Einteilung der verschiedenen Schweregrade erfolgt nach der Klassifikation der Canadian Cardiovascular Society: 1. Normale körperliche Aktivität verursacht keine Angina pectoris. Diese tritt nur auf bei starker körperlicher Belastung 2. Leichte Einschränkung der normalen Aktivität: Angina pectoris tritt bei mäßiger körperlicher Belastung auf. Emotionale Belastung, Treppensteigen nach den Mahlzeiten oder die frühen Morgenstunden können ebenfalls Auslöser sein. 3. Starke Einschränkung der körperlichen Aktivität: Kürzere Strecken in der Ebene bzw. Treppen in das 1. Stockwerk verursachen Angina pectoris. 4. Bei jeder körperlichen Belastung oder auch schon in Ruhe tritt Angina pectoris auf. Das Elektrokardiogramm (EKG) ist in Ruhe bei etwa 30–50 % der Patienten mit schwerer KHK unauffällig. Zeichen alter Infarkte oder Rhythmusstörungen sind aber wichtige Hinweise auf eine KHK. Das Belastungs-EKG hat klinische Bedeutung bei der Diagnose einer KHK. Vor allem das Auftreten deszendierender ST-Streckensenkungen über 1 mm zu Anfang des Tests, begleitet von inadäquatem Anstieg von Herzfrequenz und Blutdruck, sind Zeichen einer fortgeschrittenen KHK. Hilfreich ist die computerunterstützte EKG-Auswertung unter Belastung.
Die Echokardiographie ist heute in der Diagnose und perioperativen Verlaufsbeobachtung der KHK nicht mehr wegzudenken. Ischämiebedingte regionale Wandbewegungsstörungen treten vor entsprechenden EKG-Veränderungen auf. Goldstandard in der Diagnose der KHK ist die Koronararteriographie und das Lävokardiogramm. Vor jeder Bypassoperation ist eine Darstellung von Ausmaß und Lokalisation der Koronarläsionen unabdingbar. Im Ventrikulogramm können vor allem Aussagen zur Funktion des Ventrikels gemacht werden. Wandbezirke mit Hypokinesie, Akinesie oder Dyskinesie können identifiziert werden. Wichtige Parameter sind dabei der linksventrikulärenddiastolische Druck (LVEDP, Normalwert 5–12 mmHg) und die Ejektionsfraktion (EF). Diese ist das Verhältnis von Schlagvolumen (SV) zu enddiastolischem Volumen (EDV) und beträgt normalerweise 50–75 %. Die Bypassoperation verbessert die Lebensqualität durch Reduktion oder Beseitigung der Angina pectoris und steigert die physische Belastbarkeit. In einer Subgruppe von Patienten mit Hauptstammstenose oder Dreigefäßerkrankung mit reduzierter Ventrikelfunktion scheint die chirurgische Intervention lebensverlängernd zu sein.
Anästhesiologisches Vorgehen Perioperativ ist jeder Koronarpatient durch akute Myokardischämie und Infarkt gefährdet. Ziel der anästhesiologischen Betreuung ist die Vermeidung von Faktoren, die den Sauerstoffverbrauch steigern. ! Hauptdeterminanten des myokardialen Sauerstoffverbrauchs sind die Herzfrequenz, die Kontraktilität und die Wandspannung (Kammerinnendruck u Radius/ Wanddicke).
Eine Tachykardie steigert den Sauerstoffbedarf bei gleichzeitig verkürzter diastolischer Füllungszeit. Kommt es simultan zu Hypotension und/oder Hypoxie, kann sich sehr rasch eine deletäre Situation entwickeln. ! Einer der Eckpfeiler der Anästhesie bei KHK ist die Vermeidung von Hypotension und Tachykardie. Tipps
Bypassoperation – so machen wir es: Präoperative Maßnahmen 5 Information über die kardiale Situation des Patienten 6
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35
Kapitel 35 · Kardioanästhesie
5 Allen-Test beider Aa. radialis (Überprüfung der Kollateralversorgung der Hand) 5 Routinemäßig erhält jeder Patient einen doppellumigen zentralen Venenkatheter (ZVK), eine arterielle Kanüle in die A. radialis der nicht dominanten Hand, eine Magensonde und einen Blasenkatheter sowie 2 periphervenöse Kanülen. 5 Die Indikation für einen Pulmonalarterienkatheter (PAK) sehen wir bei einer EF unter 40 %, einem LVEDP über 25 mmHg, weniger als 3 Monate zurückliegendem Infarkt, bei Kombinationseingriffen und Mitralrekonstruktionen, alternativ Pulskonturanalyse (PiCCO). 5 E-Blocker und Ca-Antagonisten werden bis zum Morgen des OP-Tages weitergegeben. 5 Bereitstellung von 4 Blutkonserven bzw. Eigenblut 5 Am Vorabend sowie am OP-Tag 30 mg Dikaliumchlorazepat oral Anästhesie 5 Wichtigste Prinzipien bei der »Standardeinleitung« sind Umsicht, Vorsicht und Ruhe! 5 12-Kanal-EKG, Pulsoxymetrie, O2 über Gesichtsmaske 5 Etomidate 0,2 mg/kg KG, Midazolam 0,07 mg/kg KG, Sufentanil 0,1 Pg/kg KG/min bis zur Intubation, Pancuroniumbromid 0,1 mg/kg KG 5 Platzierung der Katheter 5 Bei Hauptstammstenosen und/oder deutlich reduziertem Zustand arterielle Druckmessung vor Narkosebeginn 5 Temperaturmessung ösophageal und vesikal, pEEG Narkoseführung 5 Beatmung nach Maßgabe von SaO2, peCO2 bzw. der arteriellen Blutgasanalyse (BGA) 5 Als Richtwerte gelten 0,05–0,1 Pg/kg KG/min Sufentanil, Repetitionsdosen von Midazolam bis 15 mg, Pancuroniumbromid bis 16 mg; Isofluran oder Sevofluran 5 Perioperative Antibiotikaprophylaxe mit einem Cephalosporin der 2. Generation 5 Aprotinin 2 Mio. E als Bolus und in die HLM, weiter 500000 E/h i.v. 5 400 E/kg KG Heparin vor Kanülierung der Aorta 6
Abgehen von der extrakorporalen Zirkulation (EKZ): 5 Beatmung mit 100 % O2 und einem Atemminutenvolumen von 100 ml/kg 5 »Blick über das Tuch«, engmaschige Kooperation mit dem Herzchirurgen und Kardiotechniker! 5 Abhängig vom Volumenstatus bzw. dem kontraktilen Zustand des Myokards Substitution von Volumen und/oder positiv inotrope Unterstützung mit Katecholaminen 5 Bei Low cardiac output kommt zusätzlich der Einsatz eines mechanischen Unterstützungssystems in Betracht, z. B. intraaortale Gegenpulsation (IABP) 5 Schrittmachertherapie über temporäre epikardiale Elektrode bei bradykarden Rhythmusstörungen und AV-Dissoziationen 5 Die Heparinwirkung wird mit Protaminsulfat neutralisiert. 5 Der Patient wird intubiert auf die Intensivstation transportiert unter kontinuierlicher Kreislaufüberwachung und ggf. Katecholaminsubstitution.
Problemsituationen, die den O2-Verbrauch steigern oder das O2-Angebot reduzieren, müssen rasch erkannt und therapiert werden. Reize, wie z.B. die Intubation oder schmerzhafte Stimuli wie Hautinzision, Sternotomie und Gefäßpräparation können den zusätzlichen Einsatz von Vasodilatanzien und/oder E-Blockern notwendig machen. Ein durch die Narkose demaskierter latenter Volumenmangel muss zügig korrigiert werden. Bradykarde oder vor allem tachykarde Rhythmusstörungen werden vom Koronarkranken schlecht toleriert und erfordern schnelle medikamentöse oder elektrische Therapie. ! Ein invasives und exakt überwachtes Monitoring ist wesentlich für die Sicherheit der Patienten.
35.1.2 Anästhesie bei er worbenen
Herzklappenerkrankungen 2002 wurden in Deutschland etwas mehr als 16500 erworbene Herzklappenerkrankungen operiert, das entspricht knapp 17 % aller durchgeführten Herzoperationen.
Ätiologie Ätiologisch bestehen in der überwiegenden Mehrzahl der Fälle chronische Erkrankungen wie die Folgen eines durch-
359 35.1 · Anästhesie zu herzchirurgischen Eingriffen beim Erwachsenen
gemachten rheumatischen Fiebers oder eine fortschreitende Atherosklerose. Vor allem die Klappenstenosen entstehen auf diese Weise. Selten kann es zu einer akuten Klappeninsuffizienz etwa infolge einer Endokarditis oder eines Papillarmuskelabrisses nach Myokardinfarkt kommen. Jede Klappenerkrankung hat ihre eigenen spezifischen pathophysiologischen Besonderheiten. Allen gemeinsam ist jedoch, dass sie mit einer Veränderung der ventrikulären Vor- und/oder Nachlast sowie einer Reduktion des effektiven Auswurfvolumens einhergehen. Vorlast bezeichnet die Kraft, mit der in der Enddiastole der Ventrikel gedehnt wird. Abhängig ist diese Kraft vom enddiastolischen Volumen, der Ventrikelcompliance und -geometrie. Als klinische Messgröße wird der LVEDP herangezogen. Je größer die Vorlast, umso mehr O2 verbraucht der Ventrikel für seine Arbeit. Nachlast ist die Kraft, die benötigt wird, die Aortenklappe zu öffnen und Blut in die Aorta auszuwerfen. Der O2-Verbrauch ist ebenfalls positiv mit der Nachlast korreliert. Als Klappenersatz kommen Kunst- oder Bioprothesen in Betracht. Kunstklappen zeigen eine längere Haltbarkeit, erfordern aber eine lebenslange Antikoagulation. Bei Implantation einer Bioprothese aus Schwein- oder Rinderperikard muss nur für einige Monate antikoaguliert werden. Vor allem bei einer Mitralklappeninsuffizienz kommt auch eine Rekonstruktion der eigenen Klappe in Frage. Menschliches Klappenmaterial als Homograft kann unter bestimmten Voraussetzungen eine sinnvolle Alternative sein, die keine Antikoagulation erfordert. Schweregrad-Einteilung der erworbenen Herzklappenerkrankungen durch die NYHA 1. Keine Einschränkung körperlicher Belastbarkeit. EF und LVEDP bleiben auch unter Belastung normal 2. Symptome während stärkerer Belastung, EF wird durch Kompensationsmechanismen aufrechterhalten, Anstieg des LVEDP unter Belastung 3. Symptome schon während geringer Belastung, EF noch normal, LVEDP schon in Ruhe erhöht 4. Ruhedyspnoe, EF in Ruhe bei erhöhtem LVEDP reduziert, klinische Zeichen der Herzinsuffizienz
Aortenklappenstenose (AS) Ätiologie und Symptomatik Die erworbene Aortenklappenstenose ist die häufigste isolierte Klappenerkrankung. In der Regel ist sie valvulär loka-
lisiert. Sie hat keinen rheumatischen Ursprung, sondern ist Folge von Kalzifikation und Degeneration. Symptomatisch wird die AS meist erst bei einer Klappenöffnungsfläche (KÖF) von 1 cm2 oder weniger (Normalwert: 2,5–3,5 cm2). Es kommt zu Angina pectoris, Synkopen und im fortgeschrittenen Stadium zu Zeichen der Herzinsuffizienz. Die Diagnose erfolgt klinisch durch Auskultation eines in die Karotiden fortgeleiteten rauen Systolikums und eines gespaltenen 2. Herztons. Echokardiographisch lässt sich die konzentrische linksventrikuläre Hypertrophie erkennen, dopplersonographisch kann der Gradient über der Klappe bestimmt werden. Die Herzkatheteruntersuchung bestimmt invasiv die aktuellen Druckwerte und Gradienten und kann eine begleitende KHK aufdecken. Pathophysiologisch besteht durch die Stenose ein fixer Widerstand gegen den Blutstrom aus dem Ventrikel in die Aorta. ! Eine Tachykardie führt bei der AS zum Abfall des effektiven Schlagvolumens. Tipps
Aortenklappenstenose – so machen wir es: Präoperative Maßnahmen 5 Siehe Angaben zur Bypasschirurgie 5 Bei schwerer AS Reduktion der Prämedikation, PAK oder PiCCO 5 Orale Kaliumsubstitution (mind. 4,5 mmol/l) Anästhesie 5 Langsame Einleitung durch Titration von Etomidate, Midazolam, Sufentanil und Pancuroniumbromid 5 Herzfrequenz von 60–70/min. Eine Tachykardie wird mit dem E-Blocker Esmolol therapiert. 5 Unbedingt Erhalt des Sinusrhythmus. Aggressive Therapie bei Rhythmusstörungen, Gefahr von Rhythmusstörungen bei ZVK, PAK 5 Wir glauben, dass die Vorteile des hämodynamischen Monitorings bei schwerer AS durch einen PAK die potenziellen Gefahren überwiegen. 5 Hypotension unverzüglich mit Volumen (Diuretikavorbehandlung!) und/oder Inotropika behandeln 5 Bei Hypertonie und/oder ST-Streckenveränderungen: zunächst Nitroglyzerin i.v. Abgehen von der EKZ 5 Nach Ende der OP kann es zu lang anhaltenden Blutdrucksteigerungen kommen 5 Gefahr perioperativer Myokardinfarkte und Rhythmusstörungen
35
360
Kapitel 35 · Kardioanästhesie
Aortenklappeninsuffizienz (AI) Ätiologie und Symptomatik Nach der AS ist die AI die zweithäufigste isolierte Klappenerkrankung. Rheumatische oder bakterielle Endokarditiden sind häufige Ursachen. Seltener sind Aneurysmata der Aorta ascendens, Bindegewebserkrankungen wie das Marfan-Syndrom oder Traumata. Symptomatisch wird die AI – außer bei den akuten Formen – meist erst nach einem jahrelangen Verlauf, da der Ventrikel die auftretende Volumenbelastung zunächst gut toleriert. Schwindel, Belastungsdyspnoe und schließlich Zeichen der globalen Herzinsuffizienz sind dann möglich. Die akute AI bei bakterieller Endokarditis oder Aortendissektion führt in der Regel zum fulminanten therapierefraktären Lungenödem. Diagnostisch fällt bei der klinischen Untersuchung die große Blutdruckamplitude mit dem niedrigen diastolischen Wert auf. Auskultatorisch besteht ein Sofortdiastolikum. Im EKG fallen Zeichen der Linkshypertrophie auf, Vorhofflimmern ist eher selten. Die Echokardiographie inklusive der Farbdopplermethode demonstriert das Ausmaß der Regurgitation und die Ventrikeldimension und funktion. Die Herzkatheteruntersuchung komplettiert mit invasiven Druckmessungen die angiographische Gradeinteilung. Pathophysiologisch besteht bei der AI zunächst eine Volumenbelastung des linken Ventrikels. Diese ist umso ausgeprägter, je mehr Zeit für den Rückfluss aus der Aorta zur Verfügung steht, d. h. je geringer die Herzfrequenz ist.
35
! Eine mäßige Tachykardie verbessert die Hämodynamik der AI und wird gut toleriert.
Mit Fortdauer der Erkrankung kommt es zur Gefügedilatation und Hypertrophie des Ventrikels mit konsekutiven Compliance-Störungen. Der LVEDP beginnt zu steigen. Kritisch ist die O2-Versorgung des hypertrophierten Herzens, da der koronare Perfusionsdruck infolge des niedrigen diastolischen Drucks reduziert ist. Tipps
Aortenklappeninsuffizienz – so machen wir es: Präoperative Maßnahmen 5 Siehe Angaben zur AS 5 Absetzen von Vasodilatatoren 5 Großzügige Indikation zum PAK Anästhesie 5 Siehe auch Angaben zur AS 6
5 Bei der Einleitung muss eine ausgeprägte Vasodilatation vermieden werden, um den koronaren Perfusionsdruck nicht zu reduzieren. Ebenso wenig sollte der periphere Gefäßwiderstand stark ansteigen, da als Folge die Regurgitationsfraktion zunimmt. 5 Mäßige Tachykardie zwischen 90–100/min, evtl. 0,5 mg Atropin Abgehen von der EKZ 5 Höher dosierte Katecholamingabe kann nötig sein 5 LVEDP an oberer Normgrenze 5 Nach OP einer akuten AI sind normale Füllungsdrücke anzustreben.
Mitralklappenstenose (MS) Ätiologie und Symptomatik Die häufigste Ursache ist das rheumatische Fieber. In ca. 2/3 der Fälle sind Frauen betroffen. Oft vergehen Jahrzehnte zwischen dem rheumatischen Fieber und den ersten Symptomen. Diese sind ab einer Klappenöffnungsfläche (KÖF) von 2,5 cm2 (normal: 4–6 cm2) zu erwarten. Es kommt zum Rückstau von Blut vor der Klappe und einer Dilatation des linken Atriums (LA). Die Entwicklung von Vorhofflimmern ist häufig und begünstigt die Bildung von Thromben mit der Gefahr zerebraler und peripherer Embolien. Bei Fortdauer entwickelt sich durch Stauung in das Lungengefäßbett eine pulmonale Hypertonie und schließlich eine globale Herzinsuffizienz. Diagnostisch fällt bei der klinischen Untersuchung oft eine Arrhythmie auf, häufig begleitet von Dyspnoe unterschiedlichen Ausmaßes. Bei schweren Formen besteht Ruhedyspnoe, evtl. begleitet von Hämoptysen. Fließende Übergänge zum Lungenödem sind möglich. Auskultatorisch diastolisches Decrescendogeräusch, lauter 1. Herzton. Im EKG absolute Arrhythmie bei Vorhofflimmern, bei noch erhaltenem Sinusrhythmus doppelgipfelige P-Welle. Die Echokardiographie und farbkodierte Dopplerultraschalluntersuchung zeigen die Dimensionen der Herzhöhlen und die Funktion. Die verbleibende KÖF kann berechnet werden. Die Rechtsherzkatheteruntersuchung dient zum direkten Nachweis einer pulmonalarteriellen Hypertonie. Pathophysiologisch kommt es durch die linksatriale Obstruktion bei schwereren Formen bereits in Ruhe zu einem reduzierten Herzminutenvolumen (HMV) und sekundärem Anstieg des Drucks in der Lungenstrombahn mit
361 35.1 · Anästhesie zu herzchirurgischen Eingriffen beim Erwachsenen
der Gefahr der Ausbildung eines Lungenödems und konsekutiver Rechtsherzschädigung. ! Eine Tachykardie reduziert durch Verkürzung der Diastolendauer den Fluss über die stenosierte Klappe in den LV und vermindert so das effektive Auswurfvolumen. Tipps
Mitralklappenstenose – so machen wir es: Präoperative Maßnahmen 5 Bei Vorhofflimmern Digitalismedikation bis zum Morgen des OP-Tages 5 5 Tage vor der OP wird eine Marcumartherapie abgesetzt und überlappend mit Heparin therapiert. 5 Kaliumsubstitution (mindestens 4,5 mmol/l !) 5 Starke Prämedikation, wenn vertretbar (Tachykardie bei Angst!) Anästhesie 5 Siehe auch o. g. Angaben 5 Frequenz 60–70/min 5 Großzügige Indikation zum PAK 5 Kein Lachgas bei erhöhtem Pulmonalisdruck Abgehen von der EKZ 5 Häufig passagere Katecholaminsubstitution 5 Bei präoperativ schon deutlich erhöhtem Pulmonalisdruck Nachlastsenkung für den rechten Ventrikel (RV). Möglich ist die NO-Inhalation kombiniert mit einem Vasodilatator, z. B. Nitroglyzerin.
Mitralklappeninsuffizienz (MI) Ätiologie und Symptomatik Eine chronische MI kann auf dem Boden einer rheumatischen oder bakteriellen Endokarditis entstehen. Betroffen sind vor allem die Klappensegel und Sehnenfäden mit Verkürzung und Verschmelzung bzw. Abriss. Eine akute Endokarditis oder ein Myokardinfarkt können zu einer akuten MI durch Papillarmuskel- und/oder Sehnenfadenabriss mit schwerwiegenden Folgen führen. Ein Mitralklappenprolaps durch Durchschlagen der Klappensegel in den linken Vorhof (LA) während der Systole ist eine häufige, vor allem Frauen betreffende Erkrankung. Allerdings entwickeln nur ca. 15 % der Betroffenen eine klinisch bedeutsame MI. Symptomatisch werden die Patienten bei den chronischen Formen erst nach einem längeren Intervall, da der dilatierte Vorhof die Lungengefäße schützt und der volumenbelastete linke Ventrikel gut kontraktil bleibt. Symptome sind
dann schnelle Erschöpfung, Müdigkeit und bei Auftreten von Vorhofflimmern (häufig!) Herzrasen. Spätfolgen sind Ruhedyspnoe und globale Herzinsuffizienz. Die akute MI führt durch mangelnde Kompensationsmöglichkeiten rasch zum Lungenödem und vital bedrohlichem Myokardversagen. Diagnostisch kann bei der klinischen Untersuchung ein Holosystolikum und ein 3. Herzton auskultiert werden. Häufig ist absolute Arrhythmie bei Vorhofflimmern. Im EKG zusätzlich ein doppelgipfeliges P. Echokardiographie mit farbkodierter Dopplersonographie und Herzkatheteruntersuchung runden die präoperative Diagnostik ab. Pathophysiologisch besteht eine Regurgitation vor allem während der frühen Systole in den LA. Ein regurgitierter Anteil von über 60 % des linksventrikulären enddiastolischen Volumens zeichnet eine schwere MI aus. In der Folge kommt es zu einer Überdehnung des LA und schließlich zur Ausbildung eines pulmonalen Hypertonus mit Rechtsherzinsuffizienz. Eine Kontraktilitätsstörung durch die MI kann leicht unterschätzt werden, weil das Vitium durch chronisch erhöhte Vorlast bei gleichzeitig niedriger Nachlast durch die MI den Ventrikel und seine EF zunächst unterstützt. Ein erhaltener Sinusrhythmus hat bei der MI nicht die gleiche wichtige Bedeutung wie bei der MS. Tipps
Mitralklappeninsuffizienz – so machen wir es: Präoperative Maßnahmen 5 Siehe Angaben bei MS 5 Herzfrequenz 80–90/min 5 Eine starke Prämedikation ist eher weniger von Bedeutung. Anästhesie 5 Auch hier gelten die bereits weiter oben gemachten Angaben 5 Großzügige Indikation zum PAK 5 Mäßige Vasodilatation, um die Nachlast und damit die Regurgitationsfraktion zu vermindern 5 Volatile Anästhetika sind bei guter Ventrikelfunktion möglich. Abgehen von der EKZ 5 Evtl. höher dosierte Katecholamingabe, um die dem Ventrikel auferlegte höhere Nachlast zu kompensieren. 5 Reine D-Agonisten werden vermieden.
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362
35.2
Kapitel 35 · Kardioanästhesie
Kardioanästhesie bei angeborenen Herzfehlern
2002 wurden 4424 angeborene Herzfehler (4,6 % aller Herzoperationen) in Deutschland operiert. Dies korreliert gut mit der Erkenntnis, dass ca. 0,5–0,8 % der Lebendgeburten (4000–6000 Kinder) jährlich in Deutschland mit einem angeborenen Herzfehler zur Welt kommen. 80 % dieser Fälle sind korrekturbedürftig und operabel, 70 % benötigen eine Operation am offenen Herzen. Rund 10 % dieser Eingriffe sind dringlich oder Notfalloperationen. Ohne herzchirurgische Hilfe überleben Kinder mit einem kritischen Herzfehler in der Regel nicht das erste Lebensjahr, bei leichteren Fällen liegt die durchschnittliche Lebenser wartung dieser Kinder bei 20–30 Jahren. Durch den Fortschritt der diagnostischen und therapeutischen Verfahren kann durch herzchirurgische Therapie mindestens neun von zehn operationsbedürftigen Kindern zu einer normalen Lebenser wartung verholfen werden. Dabei ist es das Ziel, die Herzfehler frühestmöglich komplett oder weitestgehend zu korrigieren, um dem Kind eine optimale körperliche und seelische Entwicklungschance zu bieten.
Ätiologie
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Die Ätiologie der Fehlbildungen am Herz- Gefäßsystem ist komplex, und meist lässt sich ein kausaler Faktor nicht identifizieren. Neben Röteln und Alkohohlabusus während der Schwangerschaft sind genetische Defekte ursächlich für diese Herzfehler. Bei 5 % der Kinder sind Chromosomenanomalien festzustellen. So ist z. B. die Trisomie 21 häufig mit Endokardkissendefekten vergesellschaftet. Daneben spielen während der Entwicklung des Embryos im sensiblen ersten Trimenon der Schwangerschaft virale, seltener bakterielle Infektionen, pharmakologische Noxen, ionisierende Strahlen, metabolische Störungen und körperliche Überlastung der Mutter eine gewisse Rolle.
Pathophysiologie Die Pathophysiologie der angeborenen Herzfehler ist zum Teil sehr komplex und unterscheidet sich wesentlich von den Krankheitsbildern bei Erwachsenen (. Tab. 35.1). Klinisch werden die angeborenen Herzfehler in zyanotische und azyanotische Herzfehler eingeteilt (. Tab. 35.2). Anatomisch gesehen liegen den konnatalen Vitien Shunts, Fehlkonnektionen oder obstruktive Missbildungen zugrunde: 4 Shuntvitien (pathologische Verbindungen zwischen normalerweise getrennten Kreislaufabschnitten)
. Tabelle 35.1. Inzidenzen angeborener Herzfehler Abkürzung
Defekt
Inzidenzrate in % aller Defekte
VSD
Ventrikelseptumdefekt
20–25
PDA
Persistierender Ductus arteriosus Botalli
12–17
TOF
Fallotsche Tetralogie
7–11
PS
Pulmonalstenose
7–10
ASD II
Vorhofseptumdefekt
6–10
CoA
Aortenisthmusstenose
5–8
TGA
Transposition der großen Arterien
4–7
AS
Aortenstenose
5
VSD + PS
Ventrikelseptumdefekt + Pulmonalstenose
4
CAVC
Kompletter AV-Kanal
2–4
Single ventr.
Single ventricle
2–3
TA
Trikuspidalatresie
1–3
PAPVR
Partielle Lungenvenenfehlmündung
2
Truncus art. Com.
Truncus arteriosus communis
1–2
4 Fehlkonnektion (falsche Verbindung von Kreislaufabschnitten) 4 Obstruktionen an Klappen, Gefäßen oder durch anormale Muskelbündel Azyanotische Herzfehler führen durch Druck- und Volumenbelastung zu Herzinsuffizienz, während zyanotische Vitien unbehandelt Hypoxie, Polyglobulie und zerebrale Insulte zur Folge haben. Von wesentlicher Bedeutung für die Anästhesie ist die Frage, ob es sich um ein azyanotisches Shuntvitium mit Links-Rechts-Shunt oder um einen zyanotischen Herzfehler mit Rechts-Links-Shunt handelt. Weiter müssen die narkotikabedingten Druckänderungen im System- und Lungenkreislauf beachtet werden, da sich hierdurch Änderungen der Shuntvolumina und der effektiven Auswurffraktion ergeben können. Von essenzieller Bedeutung sind anästhesiebedingte Auswirkungen auf den
363 35.2 · Kardioanästhesie bei angeborenen Herzfehlern
delt sich hierbei um Links-Rechts-Shunts, d. h., oxygeniertes Blut rezirkuliert durch die Lunge.
. Tabelle 35.2. Einteilung angeborener Herzfehler (Abk. . Tab. 35.1) Azyanotische
Zyanotische
Obstruktionen
Septale Defekte Li-Re-Shunt
Septale Defekte + RechtsObstruktion Re-Li-Shunt
Fehlkonnektionen
AS
VSD
PS mit ASD
TGA
IHSS
ASD
PA
DORV
CoA
AVSD
TA
TAPVR
HLHS
PDA
TOF
PS
PAPVR
POF
Trunc. art. com.
EA
pulmonalvaskulären Widerstand (PVR) und die Inotropie des Herzens.
35.2.1 Azyanotische Herzfehler Die azyanotischen Herzfehler lassen sich in Vitien mit normaler und Vitien mit vermehrter Lungendurchblutung einteilen. Bei den Vitien mit normaler Lungendurchblutung liegen Stenosen im Bereich der Ausflussbahnen der Herzkammern bzw. an den großen Arterien vor. Es kommt in erster Linie zu einer Volumen- und Druckbelastung des Herzens. Linksobstruktion 5 Aortenstenose (AS; valvulär, subvalvulär, idiopathische hypertrophische subaortale Stenose IHSS) 5 Aortenisthmusstenose (CoA; präduktal infantiler Typ, postduktal erwachsener Typ) 5 Unterbrochener Aortenbogen 5 Hypoplastisches Linksherzsyndrom (HLHS; Atresie der Mitral- und Aortenklappe)
Rechtsobstruktion 5 Pulmonalstenose (PS)
Bei azyanotischen Vitien mit vermehrter Lungendurchblutung (Shuntvitien) kommt es aufgrund septaler Defekte zu Shunts zwischen Körper- und Lungenkreislauf. Es han-
Azyanotische Vitien mit vermehrter Lungendurchblutung Vorhofseptumdefekt (ASD) Partielle Lungenvenenfehlmündung (PAPVR) Ventrikelseptumdefekt (VSD) Atrio-ventrikulärer Septumdefekt (AVSD; totaler oder partieller AV-Kanal, ASD vom Primumtyp = ASD I) 5 Ductus botalli persistens (PDA) 5 Aorto-pulmonale(AP)-Shunts 5 Truncus arteriosus communis (TAC; aus beiden Ventrikeln entspringt ein Gefäß, meist über einem VSD) 5 5 5 5
Das Herz ist durch Volumen belastet, insbesondere kommt es zu einer Überflutung der Lunge mit einer flowbedingten pulmonalen Hypertonie (PHT). Längerfristig kommt es durch die PHT zur Lungengefäßsklerose und der damit verbundenen Erhöhung des PVR bis hin zum Eisenmenger-Syndrom. Als Eisenmenger-Syndrom bezeichnet man das späte Auftreten einer Zyanose bei primär azyanotischen Herzfehlern. Wichtig ist die frühzeitige Korrektur dieser Herzfehler, bevor es zu einem fixierten PHT kommt. Anästhesiologisch relevant bei Vitien mit Links-RechtsShunt und erhöhtem Lungendurchfluss ist, dass Inhalationsanästhetika beschleunigt aufgenommen werden. Sie setzen im allgemeinen den systemischen Widerstand (SVR) herab und führen deshalb zu einer Abnahme des Links-RechtsShunts. Intravenöse Anästhetika werden durch die pulmonale Rezirkulation verzögert aufgenommen, was jedoch durch ein erhöhtes HZV kompensiert wird.
Spezielle azyanotische Krankheitsbilder Vorhofseptumdefekt (ASD) Der Vorhofseptumdefekt ist einer der häufigsten angeborenen Herzfehler im Kindesalter. Nach ihrer Lage lassen sich die ASD folgendermaßen unterscheiden: 4 ASD I (partieller AV-Kanal) 4 ASD II (Ostium-secundum-Defekt). Er ist häufig im Bereich der Fossa ovalis lokalisiert. 4 Sinus venosus Defekt. Er befindet sich zwischen der Einmündung der oberen Hohlvene und der Fossa ovalis im hinteren oberen Anteil des Vorhofseptums. 4 Persistierendes Foramen ovale (PFO)
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364
Kapitel 35 · Kardioanästhesie
Als Ursache des ASD werden genetische und umweltbedingte Faktoren diskutiert. Bekannt ist ein familiär gehäuftes Auftreten des ASD mit verlängerter atrioventrikulärer Überleitungszeit im EKG. Der operative Verschluss des Vorhofseptumdefekts ist bei mehr als 40–50 % LinksRechts-Shunt indiziert.
Ventrikelseptumdefekt (VSD) Der VSD ist mit 20–25 % der angeborenen Vitien der häufigste Herzfehler. Er kommt isoliert oder als Teil komplexer Vitien vor. Er kann membranös, muskulär, subpulmonal oder multilokulär lokalisiert sein. Zwischen kleinen, drucktrennenden VSDs und großen, mit Druckgleichheit beider Ventrikel einhergehenden VSDs gibt es zahlreiche Übergänge. Ein VSD geht in der Regel mit Links-Rechts-Shunt einher.
Defekte des AV-Kanals Die normale Entwicklung des anterioren und posterioren Endokardkissens führt zu einer vollständigen Septierung der Vorhöfe, Bildung der septalen Segel bei den AV-Klappen und Ausbildung des Septum membranosum. Die AVKanaldefekte entstehen durch eine Wachstumshemmung der embryonalen Endokardkissen mit unvollständiger Verschmelzung und unzureichender Ausbreitung nach kranial und kaudal. Anatomisch werden unterschieden:
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Ostium-primum-Defekt. (Partieller AV-Kanal, ASD I), hier besteht ein Defekt im kaudalen Anteil des Vorhofseptums mit einem Spalt (cleft) im anterioren Mitralsegel, oft mit einem darunter liegenden kleinen VSD. Kompletter AV-Kanal (CAVC). Kennzeichnend ist der ge-
meinsame atrioventrikuläre Klappenring mit einem anterioren und einem posterioren Segel, die aus Anteilen der Mitral- und Trikuspidalklappe bestehen. Die Defekte des AV-Kanals gehören zu den selteneren angeborenen Missbildungen, sind jedoch häufig mit dem Down-Syndrom vergesellschaftet. Auf der Basis der anatomischen Anomalien kommt es zu einem Shunt über den ASD, Mitralregurgitation und evtl. Trikuspidalregurgitation. Solange der PVR niedriger als der SVR ist, liegt ein Links-Rechts-Shunt vor.
Persistierender Ductus arteriosus botalli (PDA) Der Ductus arteriosus Botalli dient im Fetalkreislauf zur Umgehung der nicht ventilierten Lunge und verbindet den Pulmonalarterienstamm mit der Aorta descendens distal des Abgangs der A. subclavia sinistra. Normalerweise ver-
schließt sich der Ductus in den ersten 24 h post partum funktionell. Ist er nach den ersten drei Lebensmonaten noch offen, wird er als persistierend bezeichnet. Ein PDA führt zur Überflutung der Lunge und dadurch zu einer Überlastung des linken Ventrikels. Häufig beobachtet man bei Frühgeborenen durch den PDA eine Herzinsuffizienz und Entwicklungsstörung. Bei der Anästhesie Frühgeborener ist dabei zu beachten, dass der Sauerstoffpartialdruck (pO2) wegen der Gefahr der retrolentalen Fibroplasie nicht höher als 60–80 mmHg steigen sollte. ! Bei Herzfehlern mit großem Links-Rechts-Shunt kommt es aufgrund des PHT zur obstruktiven Erkrankung der peripheren Lungengefäße mit Zunahme des PVR. Überschreitet der PVR den SVR, so kommt es zur Umkehr des ursprünglichen Links-Rechts-Shunts in einen RechtsLinks-Shunt und Ausbildung einer Zyanose (Eisenmenger-Reaktion).
: Beispiel Benedikt fiel nach der Geburt durch Dyspnoe und Schwitzen beim Trinken auf. Aufgrund eines Herzgeräusches wurde er in der kinderkardiologischen Sprechstunde vorgestellt, wo man echokardiographisch die Diagnose eines VSDs stellte. B. wurde digitalisiert, und die Eltern berichteten, dass das Kind nun langsam an Gewicht zunehme, jedoch weiter beim Trinken vermehrt schwitze. Mit 5 Monaten wurde Benedikt operiert und der VSD mit einem Dakronpatch verschlossen. Tipps
VSD – so machen wir es: Anästhesie 5 Induktion mit Trapanal 5 mg/kg KG, 5 Pancuroniumbromid 0,1 mg/kg KG, Atropin 0,01 mg/kg KG 5 Fentanyl 3–5 Pg/kg KG 5 Intubation, Inhalationsanästhesie mit Isofluran oder Sevofluran (0,4–0,6 Vol.%) 5 Midazolam, Fentanyl, Pancuroniumbromid Monitoring 5 EKG 5 Pulsoxymetrie 5 Kapnographie 5 ZVK 5 Arterielle Druckmessung, Blutgasanalyse (BGA) 5 Blasenkatheter 5 Temperatursonde (ösophageal, rektal)
365 35.2 · Kardioanästhesie bei angeborenen Herzfehlern
35.2.2 Zyanotische Vitien Aufgrund einer bestehenden Rechtsobstruktion gelangt sauerstoffuntersättigtes Blut durch intrakardiale Kurzschlüsse oder Verbindungen zwischen den großen Gefäßen in den Körperkreislauf, man spricht vom Rechts-Links-Shunt. Die Lungendurchblutung ist vermindert. Eine totale Trennung der Körperkreisläufe liegt bei der Transposition der großen Gefäße vor. Wichtig ist zu wissen, dass bei großen Shuntverbindungen durch dynamische Veränderungen von PVR und SVR die Richtung und Größe des Shuntvolumens beeinflusst werden (sog. dependent shunts). Bei komplexen Vitien ist die Richtung und Größe des Shunts vom Grad der vorliegenden Obstruktion abhängig. Zyanotische Herzfehler mit verminderter Lungendurchblutung 5 Fallotsche Tetralogie (TOF: VSD, PS, Rechtshypertrophie, reitende Aorta) 5 Fallotsche Pentalogie (POF : TOF + ASD) 5 Pulmonalstenose (PS) mit ASD 5 Pulmonalatresie (PA) 5 Trikuspidalatresie (TA) 5 Ebsteinsche Anomalie (EA)
Pulmonalatresie Bei Pulmonalatresie ist der rechte Ventrikel in der Regel hypoplastisch, es besteht ein Rechts-Links-Shunt auf Vorhofebene. Die Überlebensfähigkeit hängt von einem durchgängigen Ductus arteriosus ab, der bei Verschlechterung der klinischen Situation mit einer Prostaglandin-E1-Infusion (Minprog) offen gehalten werden muss.
Trikuspidalatresie Die Lungendurchblutung erfolgt durch VSD oder PDA. Die Therapie besteht in einem AP-Shunt nach Blalock-Taussig. Existiert ein großer VSD mit Überflutung der Lunge, besteht der Ersteingriff in der Bändelung der Pulmonalarterie. Die funktionelle Korrektur nach Fontan (Direktverbindung der oberen und unteren Hohlvenen mit der rechten Pulmonalarterie: Cavabidirektionale Anastomose) sollte erst ab dem 8.–12. Monat durchgeführt werden
Ebsteinsche Anomalie Eine Verlagerung der häufig missgebildeten Trikuspidalklappe in den rechten Ventrikel (Atrialisation). In 75 % liegt eine Kombination mit PFO bzw. ASD vor. Durch er-
schwerten Blutabfluss aus dem dilatierten rechten Vorhof entwickelt sich ein zunehmender Rechts-Links-Shunt. Die zweite Gruppe der zyanotischen Herzfehler hat ihre Ursache in dem Fehlursprung der großen Arterien, bzw. Fehlmündung der Lungenvenen. Kinder können nur durch Shunts überleben, z. B. ASD, VSD, PDA, evtl. Ballonatrioseptostomie nach Rashkind. Bei Verbindungen zwischen dem rechten und linken Herzen kommt es zu gekreuzten Shunts, jedoch überwiegt durch die Parallelschaltung der Kreisläufe die Zyanose. Zyanotische Herzfehler mit vermehrter Lungendurchblutung 5 Transposition der großen Arterien (TGA) 5 Double outlet right ventricle (DORV) 5 Totale Lungenvenenfehlmündung (TAPVR)
Anästhesiologische Relevanz Bei Vitien mit Rechts-Links-Shunt und reduziertem Lungendurchfluss werden Inhalationsanästhetika verzögert aufgenommen, bedingen durch Herabsetzen des SVR eine Zunahme des Rechts-Links-Shunts und führen so zu einer vermehrten Zyanose. Intravenöse Anästhetika gelangen durch den Rechts-Links-Shunt sofort in den großen Kreislauf mit der Gefahr der Überdosierung. Midazolam und Fentanyl lassen in niedriger bis mittlerer Dosierung den SVR unverändert, durch Ketamin wird er erhöht, was zu einer Verbesserung der Lungendurchblutung führt. ! Besonders zu beachten ist die Gefahr der zerebralen und koronaren Luftembolie bei zyanotischen Vitien durch i.v.Injektion von kleinen Luftbläschen!
Spezielle zyanotische Krankheitsbilder Fallotsche Tetralogie (TOF) Die TOF bezeichnet einen komplexen Herzfehler, der sich aus rechtsventrikulärer Ausflusstraktobstruktion, VSD, überreitender Aorta und Hypertrophie des rechten Ventrikels zusammensetzt. Durch die rechtsventrikuläre Ausflusstraktobstruktion gehört die TOF zu den zyanotischen Herzfehlern. Die Schwere der Obstruktion des rechtsventrikulären Ausflusstrakts bestimmt die Größe des Rechts-Links-Shunts. Eine Verminderung des SVR führt zu einer Zunahme des Rechts-Links-Shunts über den VSD und Abnahme der Lungendurchblutung. Hier ist bei der Narkose besonders auf eine Aufrechterhaltung eines ausreichenden SVR zu achten.
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Kapitel 35 · Kardioanästhesie
! Die Lungendurchblutung hängt vom SVR ab!
Tipps
Transposition der großen Arterien (TGA)
Zyanotische Herzfehler – so machen wir es: Anästhesie 5 Induktion mit Ketanest i.v. 1–2 mg/kg KG, Atropin 0,01 mg/kg KG 5 Relaxierung mit Pancuroniumbromid 0,1 mg/ kg KG 5 Intubation, Inhalationsanästhesie mit Isofluran oder Sevofluran 0,4–0,6 Vol.%, kein Lachgas 5 i.v.-Narkose mit Midazolam, Fentanyl, Pancuroniumbromid Monitoring 5 EKG, Pulsoxymetrie 5 Kapnographie 5 ZVK 5 Arterielle Druckmessung, BGA 5 Blasenkatheter 5 Temperatursonde (ösophageal, rektal)
Die Aorta entspringt bei der TGA aus dem morphologisch rechten Ventrikel bei normalem Blutzufluss über die Vena cava. Die Arteria pulmonalis entspringt aus dem linken Ventrikel. Man spricht von atrio-ventrikulärer Konkordanz bei ventrikulo-arterieller Diskordanz. System- und Pulmonalkreislauf sind nicht in Serie, sondern parallel geschaltet. Das Überleben des Kindes hängt von Verbindungen auf Vorhof- oder Ventrikelebene ab. Die TGA wird heute durch die arterielle Switch-Operation in den ersten beiden Lebenswochen korrigiert, eine anatomische Korrektur, welche in der Vertauschung der Arterien und Reimplantation der Koronararterien besteht. Palliativ kann bei nicht ausreichender Sättigung des Bluts während des diagnostischen Herzkatheters eine Ballonatrioseptostomie nach Rashkind durchgeführt werden.
Palliativoperationen Bei zyanotischen Vitien mit pulmonaler Minderdurchblutung wird heute nur noch selten, wenn keine Primärkorrektur möglich ist, als Palliativmaßnahme eine arteriopulmonale Anastomose (AP-Shunt) durchgeführt, meist nach Blalock-Taussig (A. subclavia – A. pulmonalis), seltener nach Waterston (Aorta ascendens – A. pulmonalis) oder Potts (Aorta descendens – A. pulmonalis sinistra). : Beispiel
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Omer B. ist das Kind mazedonischer Eltern und erst seit kurzem in Deutschland. Zunächst habe sich der Junge unauffällig entwickelt, jedoch falle seit einem Jahr ein rasches Ermüden auf, der Junge sei nicht so belastbar wie die Altersgenossen und nehme beim Spielen immer wieder eine Hockstellung ein. Seit wenigen Monaten fiel den Eltern eine Blaufärbung der Lippen und der Nägel auf, weshalb die Vorstellung beim Kinderarzt er folgte. Der Aufnahmebefund zeigt einen 4-jährigen Jungen mit generalisierter Zyanose, beginnenden Trommelschlegelfingern und Uhrglasnägeln. Über dem Herzen ist ein Schwirren zu fühlen bei bestehendem Herzbuckel. Auskultatorisch kann man ein raues, holosystolisches Geräusch hören. Mit der Echokardiographie lassen sich die typischen Zeichen der TOF erkennen. Die Herzkatheteruntersuchung bestätigt die Diagnose und es finden sich eine sowohl infundibuläre als auch valvuläre und supravalvuläre Pulmonalstenose.
35.2.3 Anästhesiologisches Vorgehen Das Anästhesieverfahren sollte auf die Pathophysiologie des Vitiums abgestimmt sein und den pathophysiologischen Gegebenheiten Rechnung tragen.
Präoperative Phase Eine orientierende klinische Untersuchung des Kindes mit Auskultation von Herz und Lunge, Suche nach Infektzeichen (Husten, Schnupfen) und Studium des Herzkatheterbefunds sind unerlässlich. Das präoperative Labor sollte kleines Blutbild (Hb, Hk, Leukozyten), Thrombozyten, Blutgruppe, Gerinnungsstatus, Elektrolyte und BGA umfassen. Blutkonserven müssen bereitgestellt sein (4 EK für Operationen mit EKZ). Bei der Aufklärung der Eltern sollte je nach Herzfehler auch auf erhöhtes Risiko, extrakorporale Zirkulation (EKZ), Blutübertragung, Kreislaufprobleme (Minderperfusion des Gehirns) eingegangen werden.
Prämedikation Wir bevorzugen eine eher leichte Prämedikation mit 0,5 mg/kg KG Midazolam rektal bei Kindern ab ca. 6 Monaten. Prämedizierte Kinder müssen überwacht werden (SaO2)! Bei Kindern mit TOF und hypoxämischen Anfällen sollte die präoperative Therapie mit E-Blockern bis zum Operationstag erfolgen. Ebenso darf Prostaglandin E1 zur Offenhaltung des Ductus arteriosus nicht vorzeitig abgesetzt werden!
367 35.2 · Kardioanästhesie bei angeborenen Herzfehlern
Narkoseeinleitung Prinzipiell ist eine i.v.-Einleitung der Inhalationseinleitung vorzuziehen! Bei unkooperativen, ungenügend sedierten Kindern ohne i.v.-Zugang kann mit 5 mg/kg KG Ketanest zusammen mit 0,02 mg/kg KG Atropin i.m. (Mischspritze) das Kind ruhiggestellt werden. Bei i.v.-Einleitung richtet sich die Wahl des Medikaments nach der Art des Herzfehlers. Als Mittel der Wahl bei kongenitalen Herzoperationen gelten intravenöse Anästhetika. Opioide haben bei entsprechender Dosierung keinen wesentlich negativen Einfluss auf Shuntrichtung, SVR oder Kontraktilität. Bestens bewährt hat sich die Kombination von Benzodiazepin und Opiat. Berücksichtigt werden muss jedoch, dass die Eliminationshalbwertszeit und das Verteilungsvolumen bei Säuglingen und Kindern höher sind, die Clearence dagegen erniedrigt. High-dose-Opioid-Mononarkose ist alleine nicht ausreichend, um eine endogene Katecholaminausschüttung zu unterdrücken.
Azyanotische Vitien mit Links-rechts-Shunt (VSD, ASD, PDA) Zur Einleitung Midazolam 0,1–0,2 mg/kg KG und Fentanyl 3–5 Pg/kg KG verabreichen. Als Induktionshypnotikum sind Hypnomidate 0,2 mg/kg KG oder auch Trapanal 5 mg/kg KG möglich. In der ersten Phase (ZVK, arterielle Kanüle) kann die Anästhesie mit Sauerstoff-Lachgas 1 : 1 und Isofluran oder Sevofluran (0,4–0,6 Vol%) aufrechterhalten werden.
Azyanotische Vitien mit Obstruktion des Vorwärts-Flows In diesen Fällen (Aortenstenose, schwere Fälle der Aortenisthmusstenose, Mitralstenose, linksventrikuläre Hypoplasie) sollte auf myokarddepressive Medikamente verzichtet werden! Die Einleitung erfolgt mit Midazolam 0,1 mg/ kg KG und Fentanyl 3–5 Pg/kg KG, als Induktionshypnotikum reduzierte Gabe von Hypnomidate. Keine Inhalationsanästhetika verwenden, wegen der Gefahr der Myokarddepression. N2O je nach Kreislaufverhalten.
Zyanotische Vitien mit Rechts-Links-Shunt (TOF, TA) und Fehlkonnektionen herznaher Gefäße (TGA, TAPVR) Induktion mit 1–2 mg/kg KG Ketanest i.v., während des Anlegens von ZVK und arterieller Druckmessung ist eine leichte Inhalationsanästhesie mit 0,4–0,6 Vol% Sevofluran oder Isofluran möglich. Fortführen der Anästhesie zur OP mit Midazolam und Fentanyl (Inhalationseinleitung nur in Ausnahmefällen). Ketamin erhöht den Systemdruck und
führt bei shuntabhängigen Vitien zu einer Abnahme des Rechts-Links-Shunts und verbesserter Lungendurchblutung.
Vitien mit intrakardialer Durchmischung von pulmonal- und systemvenösem Blut Diese Situationen (Truncus arteriosus, AV-Kanal, single ventricle und andere komplexe Vitien) müssen in Bezug auf ihre hämodynamischen Besonderheiten in jedem Falle einzeln evaluiert werden.
Relaxierung In der Regel kommt Pancuroniumbromid 0,1–0,12 mg/ kg KG zum Einsatz. Wenn keine Kontraindikationen vorliegen, kann bei vermuteter erschwerter Intubation auch Succinylcholin verwendet werden.
Beatmung Bei Risikokindern grundsätzlich Beatmung mit 100 % Sauerstoff (mit Ausnahme Frühgeborener), bei stabilen Kreislaufverhältnissen und azyanotischen Vitien ist ein O2 : N2O-Verhältnis von 1 : 1 möglich. Es ist jedoch empfehlenswert, nach EKZ auf N2O zu verzichten, um eine Diffusion von N2O in kleine Luftbläschen zu verhindern. Bei Vitien, deren Oxygenierung vom Ductus botalli abhängt, sollte man den FiO2 reduzieren, da es durch einen hohen paO2 zu einem Ductusverschluss kommen kann. Monitoring des pädiatrischen Herzpatienten Zur Einleitung präkordiales Stethoskop EKG, evtl. ST-Strecken-Monitoring Pulsoxymetrie (re. Arm u. Bein) Monitoring der Atemgase RR (NIBP) MS, Ösophagusstethoskop Temperatursonde (ösophageal u. rektal) Venöse Zugänge (evtl. Fußvene) Zentraler Venendruck, Doppellumencavakatheter Arterielle Blutdruckmessung: bevorzugt an der A. radialis, femoralis, evtl. auch an der A. dorsalis pedis oder A. tibialis post. 5 Blutgasanalysen 5 PAK und evtl. Linksvorhofkatheter (LAP) werden durch den Operateur gegen Ende der Operation gelegt 5 5 5 5 5 5 5 5 5 5
Nach Eingriffen mit EKZ werden temporäre Schrittmacherelektroden angelegt, um die Möglichkeit der externen
35
368
Kapitel 35 · Kardioanästhesie
Stimulation bei postoperativen Rhythmusstörungen zu haben. ! Cave Beim Einlegen der intravenösen Kanülen und Katheter sowie bei Blutentnahmen, Medikamenteninjektion und -infusion ist bei zyanotischen Herzfehlern (aber auch bei anderen Vitien) peinlichst darauf zu achten, dass keine Luftbläschen in den Kreislauf gelangen: Gefahr zerebraler und koronarer Luftembolien
Während der EKZ kommt es durch ausgedehnten Kontakt des Patientenbluts mit körperfremden Oberflächen zu Aktivierung der Gerinnungskaskade, des Kallikreinsystems (Bradykininfreisetzung), des fibrinolytischen Systems und des Komplementsystems. Unter Aprotinin kommt es zu einer Stabilisierung dieser Systeme und der Thrombozytenfunkion, dadurch können postoperativer Blutverlust und Blutungsneigung gesenkt werden. Die Aprotintintherapie erfolgt mit 30000 E/kg KG als Bolusinjektion, 30000 E/ kg KG in die HLM und10000 E/kg KG u h. Bewährt hat sich auch die Ultrafiltration während der EKZ. Durch die Ultrafiltration kommt es zu einer Abnahme von Zytokinen und Komplementfragmenten und damit zur Reduktion des Capillary-leak-Syndroms.
Narkoseführung
35
Mit Operationsbeginn Übergang auf reine NLA, d. h. Fentanyl, Midazolam, Pancuroniumbromid! Als Richtwert berechnet man die Fentanylgesamtdosis mit 50–100 Pg/ kg KG, die fraktioniert, je nach Wirkung, gegeben wird, Midazolam 0,5–1,0 mg/kg KG i.v. Zur Stimulierung der Diurese wird bereits mit OP-Beginn 1 mg/kg KG Furosemid verabreicht. 30 mg/kg KG Kortison (SDH bis max. 250 mg) geben wir, um allergischen und entzündlichen Reaktionen entgegen zu wirken. Die perioperative Antibiose erfolgt mit 50 mg/kg KG Cefuroxim präoperativ und am Ende der OP. Heparin: 400 E/kg KG i.v. rechtzeitig vor der EKZ. Die Kaliumsubstitution mit jeweils 1–2 mval verdünnt erfolgt über ein Vorlaufsystem.
Weaning von der EKZ Der Abgang von der EKZ kann sich bei komplexen Vitien schwierig gestalten. Katecholamine zur Kreislaufunterstützung müssen vorbereitet sein. Wir beginnen mit 2–5 Pg/ kg KG u min Dobutamin und fügen bei unzureichender Wirkung Adrenalin 0,01–0,1 Pg/kg KG u min hinzu. In besonderen Fällen können, insbesondere bei pulmonaler Hypertonie, auch Phosphodiesterasehemmer zum Einsatz kommen.
Therapie der pulmonalen Hypertonie Intrakardiale Shuntverbindungen führen meist zu einer Überflutung der Lunge. Dies ist die milde Form einer flowbedingten pulmonalen Hypertonie! Durch den niedrigen PVR kommt es zur Kongestion der Lunge. Länger bestehender PHT führt zur reaktiven Erhöhung des PVR und Reduzierung des Blutflusses. Der PVR ist in dieser Phase noch gut beeinflussbar, da die Pulmonalarteriolen noch reagibel sind. Erst nach 3–6 Monaten haben sich die Gefäße so verändert, dass es sich um einen fixierten PHT handelt, der nur noch schwer therapeutisch beeinflussbar ist. Eine Senkung des PVR kann erreicht werden durch: 4 Beatmung mit 100 % O2 4 Metabolische und respiratorische Alkalose, d. h. Hyperventilation bis zu einem paCO2 kleiner 20 mmHg und Zuführung von Natriumbikarbonat 4 Anwendung von Prostaglandin (PGE1 : 3–12 Pg/ kg KGu h, evtl. auch intratracheal) 4 Phosphodiesterase-III-Hemmer (z. B. Enoximon, Milrinon) 4 NO (Stickstoffmonoxid)
Postoperative Betreuung Die postoperative Phase der Herzoperationen ist durch instabile Kreislaufsituationen gekennzeichnet und bedarf einer sorgfältigen und lückenlosen Betreuung durch erfahrene Ärzte. Die Beatmung und Katecholamintherapie sind für den Transport kontinuierlich aufrechtzuerhalten, um Druckabfälle zu vermeiden. Die Volumensubstitution ist ein entscheidender Faktor für stabile Kreislaufverhältnisse, und eine evtl. auftretende pulmonale Hypertonie ist postoperativ ebenso aggressiv zu behandeln wie intraoperativ.
Literatur Brandt L, Krauskopf K-H, Simons F (1996) Handbuch der Kardioanästhesie. Wissenschaftl Verlagsges mbh, Stuttgart Barankay A., Lorenz H-P (2002) Interdisziplinäre Versorgung angeborener Herzfehler. Spitta-Verlag Balingen Doenicke A (1995) Anästhesiologie. Springer, Berlin Heidelberg New York Kaplan J (ed) (1993) Cardiac anesthesia. W.B. Saunders Company, Philadelphia Lake C (1993) Pediatric cardiac anesthesia. Appleton & Lange, Philadelphia Larsen R (1999) Anästhesie und Intensivmedizin in Herz-, Thorax- und Gefäßchirurgie. Springer, Berlin Heidelberg New York Lauterbach G (ed) (1996) Handbuch der Kardiotechnik. Fischer, Lübeck Stuttgart Jena Ulm Schuhmacher G (1989) Diagnostik angeborener Herzfehler. Perimed Fachbuchverlag, Erlangen
36 Anästhesie in der Thoraxchirurgie Christoph K. Hofer, Andreas Zollinger 36.1 Patientengut –370 36.2 Präoperative Abklärungen, Vorbehandlung und Prämedikation –370 36.2.1 36.2.2 36.2.3 36.2.4
Präoperative Abklärungen –370 Abklärungsgang –370 Vorbehandlung –371 Prämedikation –371
36.3 Anästhesieverfahren –372 36.3.1 Allgemeinanästhesie –372 36.3.2 Epiduralanästhesie –372 36.3.3 Monitoring –372
36.4 Besonderheiten thoraxchirurgischer Eingriffe –373 36.4.1 36.4.2 36.4.3 36.4.4
Lagerung –373 Der offene Thorax –373 Ein-Lungen-Ventilation –374 Thoraxdrainagen –377
36.5 Postoperative Probleme und Komplikationen –377 36.5.1 Nachblutungen –377 36.5.2 Pulmonale Komplikationen –377 36.5.3 Kardiale Probleme –378
36.6 Diagnostische Eingriffe im Rahmen der Thoraxchirurgie –378 Literatur –379
370
Kapitel 36 · Anästhesie in der Thoraxchirurgie
)) Unter dem Begriff Thoraxchirurgie werden Eingriffe an Lunge, Thoraxwand und Mediastinum zusammengefasst, wobei Herzchirurgie und Chirurgie der großen Gefäße üblicherweise ausgeklammert werden. Der Anästhesist wird bei thoraxchirurgischen Eingriffen nicht nur mit den spezifischen Problemen der Beatmung und des Gasaustauschs, sondern auch mit den dadurch bedingten Problemen des Kreislaufs sowohl intra- wie auch postoperativ konfrontiert.
36.1
Patientengut
Das Krankengut der Thoraxchirurgie hat sich in den letzten 50 Jahren stark verändert. Früher wurden Patienten vor allem aufgrund von Infektionskrankheiten und deren Folgen operiert (z. B. Lungentuberkulose), später überwog die chirurgische Entfernung von Tumoren der Lunge, des Ösophagus und des Mediastinums. Eine besondere Stellung nehmen heute zusätzlich die Lungenvolumen-Reduktions-Chirurgie (LVRS) und die Lungentransplantation bei verschiedenen Lungenerkrankungen (z. B. Zystische Fibrose) ein. ! Das Durchschnittsalter der thoraxchirurgischen Patienten hat deutlich zugenommen, daher sind altersbedingte anästhesiologische Probleme sowie bestehende Begleiterkrankungen besonders zu beachten.
36.2
36
Präoperative Abklärungen, Vorbehandlung und Prämedikation
36.2.1 Präoperative Abklärungen Die präoperative Abklärung dient der Planung des anästhesiologischen Vorgehens und der Beurteilung des perioperativen Risikos: 4 Genaue Kenntnisse des geplanten chirurgischen Vorgehens sind bei der Anästhesieplanung insbesondere für Atemwegssicherung und Beatmung unerlässlich. 4 Gezielte präoperative Abklärungen können die perioperative Morbidität und Mortalität reduzieren. Das spezifische Risiko für den einzelnen Patienten kann jedoch nicht systematisch vorhergesagt werden, da viele verschiedene Faktoren eine wichtige Rolle spielen. 4 Eine große Bedeutung kommt der kardialen Abklärung zu, da einerseits die Grundkrankheit zu kardialen
Veränderungen (Rechtsherzinsuffizienz, Cor pulmonale) führen kann, andererseits das Risikoverhalten dieser Patienten (Nikotinabusus) vermehrt zur koronaren Herzkrankheit führt. Allgemein gültige Richtlinien für die präoperative kardiale Abklärung fehlen jedoch. 4 Sog. prohibitive Lungenfunktionsparameter (früher: FEV1 < 2000 ml: 20–45 % Mortalität bei Pneumonektomie, FEV1 < 1000 ml: Absolute Kontraindikation für Resektion von Lungengewebe) sind heute gerade aufgrund der Erfahrung mit der LVRS kaum mehr gültig. ! Die Festlegung der notwendigen präoperativen Abklärungen, die Abschätzung von perioperativem Risiko und die individuelle anästhesiologische Planung erfordern vor allem klinische Erfahrung.
36.2.2 Abklärungsgang Der Abklärungsgang besteht bei allen Patienten aus zwingend notwendigen Abklärungen und ggf. im Einzelfall zusätzlich durchzuführenden zusätzlichen Untersuchungen (. Tab. 36.1): Der wichtigste Teil der Abklärung ist die klinische Beurteilung des Patienten. Diese besteht aus einer zielgerichteten Anamnese und der körperlichen Untersuchung. Inspektion der Mund-/Halsregion und die Beurteilung der Wirbelsäule sind wichtig, denn Abweichungen können für Lagerung, Intubationstechnik und Regionalanästhesieverfahren von Bedeutung sein. Alle durchgeführten radiologischen Untersuchungen müssen gesichtet werden. Diese geben nicht nur Aufschluss über Art und Grad der Lungenerkrankung, sondern auch über mögliche Veränderungen der Atemwege (z. B. Obstruktion, Verlagerung von Trachea und Bronchialbaum). Eine kleine Lungenfunktionsprüfung wird immer durchgeführt: Forcierte Vitalkapazität und Sekundenkapazität in Abhängigkeit von Alter, Gewicht und Größe des Patienten müssen ermittelt werden. Die Verminderung der Vitalkapazität weist auf eine restriktive, die Verminderung der Sekundenkapazität auf eine obstruktive Lungenerkrankung hin. Die Bestimmung weiterer Lungenfunktionsparameter wird gezielt durchgeführt: Zusätzliche lnformationen über Compliance der Lunge und Atemwegwiderstände liefert der Atemgrenzwert, die Inhalation von Kohlenmonoxid erlaubt die Bestimmung der Diffusionskapazität. Die arterielle Blutgasanalyse unter Raumluftatmung liefert eine zusätzliche Information über Hypoxämie oder Hyperkapnie, die auf mögliche intra- und postoperative Probleme hindeuten.
371 36.2 · Präoperative Abklärungen, Vorbehandlung und Prämedikation
Zur Messung der Leistungsfähigkeit des Patienten stehen verschiedene Methoden zur Verfügung. Die Bestimmung des maximalen O2-Verbrauchs erlaubt eine Differenzierung zwischen primär kardialer oder pulmonaler Ursache einer Leistungseinschränkung. In besonderen Fällen, z. B. bei Verdacht auf ausgeprägte pulmonal-arterielle Hypertonie oder Cor pulmonale, werden spezielle, gezielte Untersuchungen (Herzkatheter, Echokardiographie) durchgeführt. ! Die Interpretation der Lungenfunktionsparameter im Hinblick auf eine Operabilitätsbeurteilung ist schwierig. Sie geben Hinweise auf spezifische perioperativ zu erwartende Probleme, erlauben jedoch keine genaue Einschätzung des individuellen perioperativen Risikos. Tipps
Präoperative Abklärung thoraxchirurgischer Patienten – so machen wir es: Notwendige Abklärungsschritte 5 Anamnese 5 Beurteilung der kardiopulmonalen Leistungsfähigkeit 5 Körperliche Untersuchung (insbesondere Halsbereich, Wirbelsäule) 5 Kleine Lungenfunktionsprüfung 5 FVC: Forcierte Vitalkapazität 5 FEV1: Forciertes exspiratorisches Volumen in 1 s 5 Rö-Thorax 5 Sichtung weiterer durchgeführter radiologischer Untersuche: CT, MRI 5 12-Ableitungs-EKG in Ruhe Zusätzliche Abklärungsschritte 5 Erweiterte Lungenfunktionsprüfung mit 5 MMV: Atemgrenzwert 5 PEF: Exspiratorischer Spitzenfluss 5 DLCO: Diffusionskapazität für Kohlenmonoxid 5 Arterielle Blutgasanalyse 5 Ergometrie 5 Bestimmung der kardiopulmonalen Reserven 5 6-/12-Minuten-Gehtest 5 VO2max: Maximaler O2-Verbrauch Spezielles 5 Lungenperfusions-Szintigraphie 5 Herzkatheteruntersuchung 5 Echokardiographie 5 Karotis-Doppler
36.2.3 Vorbehandlung Lungenresektionen ziehen immer auch einen Verlust von funktionellem oder potenziell funktionellem Lungengewebe nach sich. Dies bedeutet, dass der Patient nicht nur unmittelbare Folgen der Thorakotomie zu überstehen, sondern auch eine Anpassung an den Langzeiteffekt des verminderten Lungenvolumens zu leisten hat. ! Eine optimale präoperative Vorbehandlung bestehender Lungenerkrankungen ist essenziell, wobei die Dringlichkeit einer Operation (z. B. Malignomverdacht) berücksichtigt werden muss.
Die Vorbehandlung muss individuell, abgestimmt auf die jeweilige Situation erfolgen: 4 Bereits länger eingesetzte Medikamente zur Behandlung der Grundkrankheit (Bronchodilatatoren, Sekretolytika, topische und systemische Kortikosteroide) werden weitergeführt. 4 Die medikamentöse Therapie der koronaren Herzkrankheit wird bis auf gerinnungshemmende Substanzen (Thrombozytenaggregationshemmer, Kumarine) unverändert verabreicht. 4 Zusätzliche, neue Therapien sollen nur bei ersichtlichem Nutzen eingesetzt werden (Antibiotika). 4 Die präoperative Nikotinabstinenz ist grundsätzlich wünschenswert. Ein positiver Effekt dieser Maßnahme ist jedoch frühestens 8 Wochen nach Rauchstop zu erwarten. 4 Eigentliche präoperative Rehabilitationsprogramme sind vor allem für Patienten auf Wartelisten für Lungentransplantationen oder vor LVRS sinnvoll.
36.2.4 Prämedikation Grundsätzlich können unter Berücksichtigung einzelner Kontraindikationen alle zur Prämedikation gebräuchlichen Pharmaka verwendet werden. Sedativa und Analgetika können jedoch gerade bei Patienten mit schwerer Lungenerkrankung zur Verschlechterung der Atmung führen, andererseits sind diese Patienten oft sehr ängstlich. ! Im Zweifelsfall wird auf die perorale Medikation verzichtet und eine Sedierung/Anxiolyse erfolgt intravenös bei Ankunft des Patienten im Operationssaal unter Überwachung durch den Anästhesisten.
36
372
36.3
Kapitel 36 · Anästhesie in der Thoraxchirurgie
Anästhesiever fahren
36.3.1 Allgemeinanästhesie
36
Alle Thoraxeingriffe werden in Allgemeinanästhesie unter kontrollierter mechanischer Ventilation durchgeführt. Ausnahmen sind diagnostische Thorakoskopien und medikamentöse Pleurodesen, die in Lokalanästhesie beim spontan atmenden Patienten durchgeführt werden können. Generell können eine Vielzahl von Anästhetika, Analgetika und Muskelrelaxanzien unter Berücksichtigung spezifischer Kontraindikationen und möglicher Medikamenteninteraktionen verwendet werden. Bevorzugt werden kurz wirksame, gut steuerbare Substanzen, die eine unmittelbar postoperative Extubation zulassen. So wird heute vielerorts eine total intravenöse Anästhesie mit Propofol als sog. »Target controlled infusion« in Kombination mit dem kurzwirksamen Opioid Remifentanil durchgeführt. Andererseits ist aber auch die Inhalationsanästhesie mit Sevoflurane sehr verbreitet. Zur Muskelrelaxation kommen inzwischen vorwiegend Rocuronium, aber auch Cis-Atracurium oder Mivacurium zum Einsatz. Diese Vorgehensweise ist speziell für Patienten mit erhöhtem perioperativen Risiko von Vorteil. Verschiedene Anästhetika können unterschiedliche Auswirkungen auf Atemwege und hypoxisch-pulmonale Vasokonstriktion (HPV) haben. Generell scheinen Inhalationsanästhetika (insbesondere Sevoflurane) den Atemwegswiderstand im Sinne einer Bronchodilatation günstig zu beeinflussen. Eine total intravenöse Anästhesie (mit Propofol) scheint allerdings die HPV weniger zu beeinflussen als die Inhalationsanästhetika: Eine Verminderung der Shuntfraktion erlaubt eine verbesserte Oxygenierung.
Die ausgezeichnete Analgesie mittels thorakaler Epiduralanästhesie ermöglicht eine intraoperative Einsparung von Anästhetika und intravenös applizierten Analgetika. Die schmerzbedingten Druckerhöhung im kleinen Kreislauf und die endokrine metabolische Stressreaktion als Folge des erhöhten Sympathikotonus können so reduziert werden. Vorteile der Epiduralanästhesie in der postoperativen Phase sind die frühzeitig mögliche Extubation in schmerzfreiem Zustand und ein rascher postoperativer Physiotherapiebeginn (Sekretabhusten, Mobilisation). Die postoperative Lungenfunktion ist unter Epiduralanästhesie signifikant besser (höhere Vitalkapazität und FEV1) und die Häufigkeit pulmonaler Komplikationen ist niedriger als bei einer systemischen parenteralen Analgesie. Die arterielle Hypotonie, bedingt durch Sympathikusblockade und venöses Pooling, ist die häufigste Komplikation. Der Einsatz von Vasopressoren kann erforderlich sein.
36.3.3 Monitoring
! Von zentraler Bedeutung für das Auftreten von postoperativen pulmonalen Komplikationen ist eine suffiziente intra- und postoperative Analgesie, weswegen die Kombination einer Allgemeinanästhesie mit einer Epiduralanästhesie heute oft bevorzugt wird.
In der Thoraxchirurgie ist mit schnellen Veränderungen des pulmonalen Gasaustauschs und der Hämodynamik mit Herzrhythmusstörungen und arterieller Hypotonie sowie mit plötzlich auftretendem massivem Blutverlust zu rechnen. Neben nicht-invasivem Standardmonitoring (EKG, Pulsoxymetrie) sind die direkte invasive Blutdruckmessung über einen arteriellen Katheter und ein zentral-venöser Zugang zur Messung des zentral-venösen Drucks und zur Applikation von vasoaktiven Medikamenten erforderlich. Die Indikation zur Herz-Kreislauf-Überwachung mittels Swan-Ganz-Katheter und transösophagealer Echokardiographie ist selten gegeben. Allenfalls können diese Verfahren bei Linksherzinsuffizienz, schwerer koronare Herzkrankheit und pulmonal oder kardial bedingten Drucksteigerungen im kleinen Kreislauf nützlich sein. Der Stellenwert der neueren volumetrischen HämodynamikMessverfahren (z. B. PiCCO) in der Thoraxchirurgie ist noch offen.
Die Epiduralanästhesie in der Thoraxchirurgie wird im Bereich der thorakalen Wirbelsäule (Th 4-7) beim wachen Patienten vor Einleitung der Allgemeinanästhesie angelegt. Die Wahl der Punktionsstelle richtet sich in der Regel nach der Höhe der Schnittführung Lokalanästhetika alleine oder eine Kombination von Lokalanästhetikum mit einem Opioid werden eingesetzt.
! Pulsoxymetrie und Kapnometrie sind in der Thoraxchirurgie bei Ein-Lungenventilation und kompromittierter peripherer Zirkulation nur beschränkt zuverlässig: Regelmäßig, intermittierend durchgeführte Blutgasanalysen sind deshalb er forderlich. Die kontinuierliche intraarterielle Blutgasmessung bleibt auf spezielle Indikationen (LVRS und Lungentransplantationen) beschränkt.
36.3.2 Epiduralanästhesie
373 36.4 · Besonderheiten thoraxchirurgischer Eingriffe
36.4
Besonderheiten thoraxchirurgischer Eingriffe
36.4.1 Lagerung Die meisten thoraxchirurgischen Eingriffe erfolgen durch einen anterolateralen Zugang in Halbseitenlage oder durch einen posterolateralen Zugang in Seitenlage (. Abb. 36.1). 4 Das unten liegende Bein des Patienten wird in Hüftund Kniegelenk gebeugt, das Becken wird mittels Kissen einseitig angehoben. Der untere Arm wird auf einer Armschiene gelagert, der obere möglichst lose über dem Kopf hängend fixiert. 4 Der Kopf liegt auf einem flachen Kissen, sodass ein freier Zugang zu Gesicht und Tubus gewährleistet ist.
Lagerungsschäden ! Der Patient ist vor Druckstellen zu schützen. Lagerungsschäden sind in der Thoraxchirurgie häufiger als bei anderen Operationen.
4 Durch Zug am oberen Arm nach ventral und oben kann eine Plexusparese entstehen. 4 Eine Parotitis durch Speichelabflussbehinderung und eine Fazialisparese sind mögliche Folgen fortgesetzten Drucks der Scapula gegen den Unterkiefer durch den Thoraxspreizer. 4 Der Auflagedruck auf den Bulbus oder ein nicht vollständiger Lidschluss führen zu Konjunktivitis, Konjunktival- und Lidödem. 4 Der Druck auf das Fibulaköpfchen des unteren Beins bei zu harter Unterlage kann zu Schädigungen des dahinter verlaufenden N. fibularis führen. 4 Diese Lagerungsschäden haben in der Regel eine gute Prognose, können aber im Einzelfall den Patienten über Wochen invalidisieren und zu unangenehmen Haftpflichtfragen führen.
Lagerungsbedingte respiratorische und hämodynamische Veränderungen In Seitenlagerung sind rechte und linke Lunge bezüglich des Herzens einem unterschiedlichen Druckgefälle ausgesetzt. 4 Das Blutvolumen erfährt eine Verschiebung zugunsten der »unteren« abhängigen Lunge. Beim wachen Spontanatmenden erfolgt im Normalfall gleichzeitig eine Zunahme der Ventilation, sodass das Ventilations-Perfusions-Verhältnis im Ganzen dadurch nicht gestört wird.
. Abb. 36.1. Lagerung bei thoraxchirurgischem Eingriff
4 Unter Anästhesieeinleitung, Relaxation und Beatmung sinkt die funktionelle Residualkapazität (FRC) v. a. bedingt durch den Tonusverlust des Zwerchfells. 4 Die Neigung zu Kompressionsatelektasen in abhängigen Lungenregionen durch Anästhesie, Relaxation und Beatmung wird durch die Lagerung zusätzlich verstärkt. 4 Die Ventilation verschiebt sich zugunsten der oberen, nichtabhängigen Lunge bei weiterhin besserer Durchblutung der unteren, abhängigen Lunge. Daraus resultiert eine Zunahme des Totraums in der oberen, eine Zunahme des Shunts in der unteren Lunge; das Ventilations-Perfusionsverhältnis verschlechtert sich deutlich.
36.4.2 Der offene Thorax Zwar werden heute viele thoraxchirurgische Eingriffe thorakoskopisch mit nur kleinen Hautinzisionen durchgeführt, die Verbindung der Pleurahöhle mit der umgebenden Atmosphäre führt jedoch immer zum »offenen Thorax«. Große Interventionen (z. B. eine Pneumonektomie) erfolgen weiterhin konventionell mittels Thorakotomie. Grundsätzliches Wissen um die pathophysiologischen Veränderungen des offenen Thorax ist somit unerlässlich. 4 Durch die Thoraxeröffnung steigt die Compliance der gleichseitigen Lunge. Dadurch wird sie – bei mechanischer Beatmung – zusätzlich bevorzugt ventiliert. 4 Die Expansion der Lunge interferiert häufig mit chirurgischen Manipulationen. Die Lungenkompression durch Haken und Retraktoren führt zur Reduktion der Ventilation und auch der Perfusion dieser Lungen-
36
374
Kapitel 36 · Anästhesie in der Thoraxchirurgie
. Tabelle 36.1. Vor- und Nachteile von Doppellumentubus (DLT) und Bronchusblocker
DLT
Bronchusblocker
Vorteil
Nachteil
Beide Lungenflügel getrennt zugänglich (optische Kontrolle, Absaugen, O2-Insufflation)
Verschiedene Tuben links und rechts; Tubuswechsel bei postoperativer Weiterbeatmung notwendig
Platzierung links relativ einfach
Platzierung rechts schwierig
Lungenkollaps erleichtert
Erhöhtes Risiko der tracheo-bronchialen Verletzung
Einsatz zusammen mit normalem Endotrachealtubus
Ballon verschließt Zugang zu distalen Luftwegen
Links- und rechtsseitige Blockade ohne Tubuswechsel möglich
Absaugen der blockierten Seite/O2-Gabe unmöglich
Keine postoperative Umintubation notwendig
Erhöhtes Risiko der intraoperativen Dislokation; Undichtigkeit v. a. rechts-endobronchial häufig (leicht ovaler Querschnitt des rechten Hauptbronchus)
seite. Bei pulmonal vorgeschädigten Patienten kann dies zu einer limitierenden Hypoxämie führen. 4 Hämodynamische Beeinträchtigungen spielen besonders bei linksseitiger Thorakotomie eine Rolle. Durch Retraktorzug kann der venöse Rückstrom zum Herzen behindert werden und zur Abnahme des Herzzeitvolumens führen. Je nach Ausmaß einer bestehenden Gasaustauschstörung führt dies zu einer weiteren Verschlechterung der Oxygenierung. 4 Durch manuelle Kompression und mechanische Irritation des Herzens können Tachykardien und hämodynamisch relevante Rhythmusstörungen ausgelöst werden.
36
36.4.3 Ein-Lungen-Ventilation Mit der schnellen Verbreitung von thorakoskopisch durchgeführten Eingriffen hat die Bedeutung der Ein-LungenVentilation zugenommen. Um diese Operationstechnik zu ermöglichen, sind in aller Regel die völlige Stilllegung und der Kollaps der Lunge im Operationsgebiet erforderlich.
Indikationen Es sind absolute und relative Indikationen zur Ein-LungenVentilation zu unterscheiden. Absolute Indikationen 5 Eröffnung großer Atemwege (z. B. Operationen an Trachea und Bronchien) 6
5 Aspirationsgefahr von Eiter, Blut oder Sekret aus der erkrankten in die gesunde Lunge 5 Lungentransplantation 5 Thorakoskopische Eingriffe
Relative Indikationen 5 Schaffung optimaler Operationsbedingungen
Technik Die Ein-Lungenventilation ermöglicht eine Trennung beider Lungenflügel. Dies kann einerseits durch die konventionelle endotracheale Intubation und Blockade eines Hauptbronchus durch einen Ballonkatheter (sog. Bronchusblocker) oder durch die endobronchiale Intubation mittels Doppellumentubus (DLT) erfolgen. Bei beiden Techniken ist nach Einlage dieser Gerätschaften und jedem Lagerungswechsel des Patienten neben der klinischen auch eine fiberoptische Lagekontrolle notwendig, um eine Fehllage sicher auszuschließen. Beide Techniken weisen typische Vor- und Nachteile auf (. Tab. 36.1). Aufgrund der relativ einfachen Handhabung und der mit dieser Technik verbundenen Vorteile wird heute vorwiegend der DLT verwendet (. Abb. 36.2). Dieser hat zwei getrennte Lumina, von denen das eine einem Trachealtubus mit einer trachealen Abdichtungsmanschette entspricht und oberhalb der Bifurkation endet. Das andere, etwas längere Lumen entspricht einem links- oder rechtsseitigen Bronchialtubus mit Abdichtungsmanschette.
375 36.4 · Besonderheiten thoraxchirurgischer Eingriffe
tung sein und desto kleiner werden auch die Shuntzunahme und die PaO2-Reduktion. Je besser die präoperative Funktion einer Lunge ist, umso größer werden die Shuntzunahme und der PaO2-Abfall bei der intraoperativen Ausschaltung. Die normal funktionierende HPV reduziert die Durchblutung in der nicht ventilierten Lunge um etwa 50 %. Verschiedene Faktoren können die HPV negativ beeinflussen, d. h. unter deren Einfluss ist der Shunt höher und es kommt zu einer schlechteren Oxygenierung als in Fällen mit erhaltener HPV. . Abb. 36.2. Links-endobronchialer (unten) und rechtsendobronchialer DLT (oben)
! Für die Routineanwendung hat sich der links-endobronchiale DLT bewährt, da der linke Hauptbronchus günstigere anatomische Bedingungen für die Tubuslage als der rechte aufweist. Der rechte Hauptbronchus weist bereits 2–3 cm unterhalb der Carina den Abgang des rechten Oberlappenbronchus auf. Deswegen verfügt der rechts-endobronchiale DLT über eine in die Abdichtungmanschette eingelassene oder unmittelbar distal derselben angebrachte Öffnung für die Beatmung dieses Bronchus. Dadurch neigt der rechts-endobronchiale DLT vermehrt zu intraoperativer Dislokation. Einzige zwingende Indikationen für den rechts-endobronchialen Tubus sind die linksseitige Pneumonektomie und die links-, bzw. beidseitige Lungentransplantation.
Gasaustausch unter Ein-Lungen-Ventilation ! Bei der Ein-Lungen-Ventilation wird die für den Gasaustausch verfügbare Alveolaroberfläche deutlich reduziert. Die weiterhin bestehende Perfusion, aber fehlende Ventilation in diesem Lungenanteil führt zu einer individuell unterschiedlichen venösen Beimischung (Rechts-linksShunt).
Die Oxygenierung verschlechtert sich nach Beginn der Ein-Lungen-Ventilation verzögert, sobald der alveolär vorhandene O2-Anteil resorbiert ist. Der jeweils unterschiedlich ausgeprägte Shunt lässt sich vor allem durch die präoperative Verteilung der Lungenperfusion und das Funktionieren der hypoxisch-pulmonalen Vasokonstriktion (HPV) erklären. Je schlechter die präoperative Funktion der ausgeschalteten Lunge ist, desto unbedeutender wird ihre Durchblu-
HPV: Einflussfaktoren 5 Lagerung des Patienten 5 Chirurgische Manipulationen an Lungengewebe und Lungengefäßen 5 Starke Hypo-/Hyperkapnie 5 Mechanische Ventilation (PEEP) 5 Hoher pulmonal-arterieller Druck 5 Sehr hohes/tiefes Herzzeitvolumen 5 Medikamente – Katecholamine – Vasodilatatoren – Bronchodilatatoren – Anästhetika
Die CO2-Elimination wird bei Lungengesunden durch die Ein-Lungen-Ventilation kaum verändert, falls das Atemminutenvolumen konstant gehalten wird. Zu Beginn der Ein-Lungen-Ventilation, vor Einsetzen der HPV, kann aber eine vermehrte Totraumventilation im Sinne einer Überblähung (Zunahme der alveolären Ventilation bei unveränderter Perfusion) zu einer Abnahme der CO2-Abatmung führen: Die arteriell-endexspiratorische CO2-Differenz nimmt zu. Bei Patienten mit schwerer COPD ist die Totraumventilation deutlich stärker ausgeprägt. Die alveoläre Ventilation kann hier mit der Kapnographie nur unzuverlässig überwacht werden. Um bei diesen Patienten stark erhöhte Beatmungsdrücke und die Entwicklung des so genannten »air-trappings« (Verhinderte Ausatmung und zunehmende Überdehnung der Alveolen) mit konsekutivem intrinsic PEEP zu verhindern, kann das Tolerieren einer ausgeprägten Hyperkapnie (»permissive Hyperkapnie«) während der Anästhesie notwendig sein.
36
376
Kapitel 36 · Anästhesie in der Thoraxchirurgie
Hämodynamik unter Ein-Lungenventilation
Beatmungsstrategie bei Ein-Lungen-Ventilation
! Nach Beginn der Ein-Lungen-Ventilation führt das Einsetzen der HPV zu einer Erhöhung des pulmonalvaskulären Drucks und bei unverändertem Herzzeitvolumen zu einer Zunahme des pulmonal-vaskulären Widerstands.
! Während der gesamten Dauer der intraoperativen Beatmung sollte eine adäquate Oxygenierung und CO2-Elimination unter Vermeidung von pulmonalen und hämodynamischen Nebenwirkungen gewährleistet sein. Gleichzeitig sind bestmögliche Operationsbedingungen zu schaffen.
Im Allgemeinen sind diese hämodynamischen Veränderungen klinisch nicht relevant. Bei vorbestehender, ausgeprägter pulmonal-arterieller Hypertonie und Cor pulmonale kann jedoch eine weitere Erhöhung des vaskulären Drucks zur Rechtsherzdekompensation führen. (z. B. bei Lungentransplantationen). Der frühzeitige Beginn einer medikamentösen pulmonalen Drucksenkung (Nitratpräparate, Prostaglandine, NO-und Prostazyklin-Inhalation) ist in dieser Situation indiziert. Während der Ein-Lungen-Ventilation bei thorakoskopischen Eingriffen kann es zu einer weiteren, schweren hämodynamischen Komplikation kommen: Die massive Überblähung oder ein Spannungspneumothorax der ventilierten Lunge führen über eine Verschiebung des Mediastinums zur nicht ventilierten Seite hin zu einer akuten Verminderung des venösen Rückflusses. In diesem Fall sind die sofortige Unterbrechung der Operation, Beendigung der Ein-Lungen-Ventilation und gegebenenfalls die Entlastung des Pneumothorax erforderlich.
Primär müssen eine Hypoxie, dann ein hoher Beatmungsspitzendruck und die Überblähung der Lunge vermieden werden. Diesen Zielen kann die CO2-Elimination (z. B. bei thorakoskopischer Emphysemchirurgie) untergeordnet sein (. Tab. 36.2). Um eine schwere Hypoxie zu beheben, kann O2 in kleinen Mengen – man spricht von »apnoisch« – insuffliert werden, d. h. O2 wird über einen Katheter in die nicht beatmete Lunge geleitet. Falls diese Maßnahmen nicht ausreichen, muss die Operation unterbrochen, die nicht beatmete Lunge gebläht und reventiliert werden. Als weitere Maßnahme kann bei konventionellen Eingriffen auf die nicht beatmete Lunge zusätzlich ein kontinuierlicher positiver Atemwegsdruck appliziert werden (»continuous positive airway pressure« = CPAP). Genügen diese Interventionen zur Aufrechterhaltung einer ausreichenden Oxygenierung nicht oder ist das Fortführen der Operation dadurch unmöglich, kann der Ein-
. Tabelle 36.2. Beatmungsstrategie bei Thoraxeingriffen (Ein-Lungen-Ventilation)
36
Bedeutung
Ziele und Maßnahmen 1. Vermeiden von Hypoxie 5 Korrekte Tubuslage, fiberoptisch kontrolliert 5 Optimal ventilierte Lunge der gesunden Seite (kein Sekret, keine Atelektasen) 5 Hohe inspiratorische O2-Konzentration (100% bei Ein-Lungen-Ventilation) 5 Apnoische Oxygenierung der nicht beatmeten Lunge (O2-Insufflation in offenen Tubus) 5 Kurze Reventilation der nicht ventilierten Lunge bei kritischer Oxygenierung 2. Vermeiden der Lungenüberblähung und hoher Beatmungsdrücke 5 Druckbegrenzung der Inspiration (< 30 cm H2O) 5 Begrenzung des Atemzugvolumens (< 10 ml/kg KG) 5 Begrenzung der Atemfrequenz (12–16 Atemzüge/min) 5 Verlängerung der Exspirationsdauer (> 60 %) 5 Überwachung und Begrenzung des intrinsic PEEP (< 5 cm H2O) 3. Vermeiden einer schweren respiratorischen Azidose 5 Optimierung der Beatmungsparameter (unter Berücksichtigung von 1. und 2.) 5 Bronchoskopische Kontrolle der Tubuslage (evtl. mit bronchoalveolärer Lavage der ventilierten Seite) 5 u. U. Einsatz von Bronchodilatatoren 5 u. U. Reduktion des Metabolismus (z. B. Vertiefung der Anästhesie)
377 36.5 · Postoperative Probleme und Komplikationen
satz einer Herz-Lungen-Maschine notwendig werden (z. B. bei Lungentransplantation).
36.4.4 Thoraxdrainagen Das Einlegen von Thoraxdrainagen am Ende des Einriffs ermöglicht eine schnelle Ausdehnung der Lunge, verhindert eine Mediastinalverlagerung zur Gegenseite und erlaubt die Ableitung von Blut, Wundsekret und Luft aus dem Pleuraraum. In der Regel werden 2 großlumige Drains eingelegt: der apikale Drain dient dem Absaugen von Luft, der dorsal an der Lungenbasis liegende drainiert Blut und Wundsekret. Je nach zu erwartendem Blut- und Luftverlust variieren Zahl und Lage der Drains. Für besseren Patientenkomfort sollte der Hautschnitt immer ventral der hinteren Axillarlinie liegen. Bei subtotaler Lungenresektion (Lobektomie, Segmentresektion) kann der Luftverlust aus verletztem Lungengewebe beträchtlich sein und über mehrere Tage andauern. Eine gezielt gelegte Drainage kann dabei die Sequestration von Luft und Wundsekret verhindern. Im Anschluss an eine regelrecht durchgeführte Pneumonektomie darf kein Luftverlust bestehen, sodass ein einziger Drain zur Ableitung von Blut und Wundsekret aus der leeren Thoraxhöhle genügt. Nach Einlegen der Drainagen wird die (Rest-)Lunge vor Thoraxverschluss durch sorgfältiges Blähen mit oberer Druckbegrenzung vollständig entfaltet. Die Thoraxdrainage wird angeschlossen und ein Sog von 20–40 cm H20 erzeugt. Nach Pneumonektomie darf nur intermittierend und mit niedrigem Sog (5–10 cm H2O) gesaugt werden, da sonst gefährliche Mediastinalverziehungen auf die leere Thoraxseite mit Verlagerung und Kompression der großen Gefäße entstehen können. Dyspnoe und Kreislaufzusammenbruch sind die Folge. Die Entfaltung der (Rest-)Lungen und korrekte Lage der Drains müssen postoperativ radiologisch kontrolliert werden. Durch Blutgerinnsel verstopfte Drains führen zu intrathorakaler Sekretansammlung und/oder Pneumothorax mit Bildung von Atelektasen. Über längere Zeit in gestautem Wundsekret liegende Bronchusnähte unterliegen großer Infektionsgefahr und drohender Nahtinsuffizienz. Verstopfte Thoraxdrains müssen deswegen so schnell wie möglich desobliteriert bzw. im Anschluss entfernt und neu eingelegt werden. Nach Pneumonektomie können Thoraxdrainagen bei stabilen Verhältnissen (keine Nachblutung, keine Luftfisteln) am 1. postoperativen Tag entfernt werden. Nach Lungenteilresektion erfolgt die Drainage solange, bis kein Blut oder Wund-
sekret und keine Luft mehr abgesaugt werden, die (Rest-)Lunge entfaltet ist und die Atembewegungen im Thoraxdrain sistiert haben (Anzeichen für Verklebung des Pleuraspalts). Bei der Drain-Entfernung ist ein Lufteintritt über die Drainstelle durch ein großes luftdichtes Heftpflaster oder durch Anziehen einer vorher gelegten Naht zu verhindern. Nach der Entfernung und 24h später soll eine radiologische Thoraxkontrolle durchgeführt werden.
36.5
Postoperative Probleme und Komplikationen
36.5.1 Nachblutungen Der Blutverlust aus Thoraxdrains ist gewöhnlich in der 1. postoperativen Stunde nach der Operation am höchsten, da sich das während Thoraxverschluss und Transport angesammelte Blut entleert. Danach soll üblicherweise der stündliche Blutverlust weniger als 100–150 ml betragen. Bei anhaltendem größeren Blutverlust ist eine Rethorakotomie in Erwägung zu ziehen. Nachblutungen können durch Verletzungen von Interkostalarterien oder der A. mammaria interna vor allem während Thoraxverschluss, aber auch durch Abrutschen von Gefäßligaturen, verursacht werden. Gerinnungsstörungen (Verbrauchskoagulopathie) treten bedingt durch die Traumatisierung von Lungengewebe und Freisetzung von fibrinolytischen Substanzen auf. Bei geringen, nach außen drainierten Blutverlusten und zunehmender Kreislaufinstabilität ist an das Vorliegen eines Hämatothorax zu denken. Bei Verdacht muss dieser sofort radiologisch bestätigt oder ausgeschlossen werden.
36.5.2 Pulmonale Komplikationen Allgemeines Die postoperative Nachbeatmung ist nur selten indiziert. Die unmittelbare postoperative Extubation ist durch den Einsatz kurz wirksamer Anästhetika und der thorakalen Epiduralanalgesie meist problemlos möglich. Sie soll gerade für kritische Patienten (schweres Emphysem) angestrebt werden. Dieses Vorgehen scheint die Inzidenz postoperativer pulmonaler Komplikationen positiv zu beeinflussen. Es liegen jedoch keine gesicherten Daten im Sinne von kontrollierten Studien vor. Hauptprobleme in der postoperativen Phase sind postoperatives Lungenödem, Atelektasen, Aspiration und Nahtinsuffizienz.
36
378
Kapitel 36 · Anästhesie in der Thoraxchirurgie
Postoperatives Lungenödem Ein nicht-kardiales, initial meist einseitiges Lungenödem kann sich nach Ausdehnung eines länger dauernden Lungenkollapses am Ende der Operation (Reexpansionslungenödem) oder Pneumonektomie (Post-Pneumonektomie-Lungenödem) entwickeln. Ursache ist eine akute Permeabilitätsstörung mit proteinreichem, alveolären Exsudat, welche möglicherweise durch eine bereits präoperativ beginnende Zytokinfreisetzung und durch eine intraoperative Erhöhung des pulmonal-arteriellen Drucks ausgelöst wird. Klinisch relevante Symptome treten typischerweise 2–4 Tage postoperativ auf. Die Behandlung gestaltet sich schwierig, die Mortalität ist hoch (> 50 %). Durch eine perioperative Flüssigkeitsrestriktion wird der Schweregrad unter Umständen positiv beeinflusst.
Atelektasen
36
Atelektasen sind die häufigsten pulmonalen Komplikationen nach allen intrathorakalen Eingriffen. Schlecht drainierte pleurale Blut- und Flüssigkeitsansammlungen führen durch Kompression zu sog. Kompressionsatelektasen oder durch Sekretverlegung der unteren Atemwege zu sog. Resorptionsatelektasen. Die klinischen Zeichen sind seitenparadoxe Atembewegungen und fehlendes oder abgeschwächtes Atemgeräusch über der betroffenen Region. Die Blutgasanalyse zeigt einen erniedrigten arteriellen pO2 bei normalem oder ebenfalls leicht erniedrigtem pCO2. Die Röntgenaufnahme zeigt die genaue Lokalisation des atelektatischen Lungenabschnitts. Behoben werden Kompressionsatelektasen durch suffiziente Pleuradrainage, Resorptionsatelektasen durch Absaugen und gleichzeitige Lokalisation der Verlegung mit Hilfe eines fiberoptischen Bronchoskops. In beiden Fällen hilft eine anschließende konsequente Physiotherapie bei der Eröffnung der nicht belüfteten Lungenanteile (Erhöhung der Lungen-Compliance!). Patienten mit großen bronchialen Sekretmengen oder eingedicktem Sekret, Raucher mit Verlust der ziliaren Funktion und alte, geschwächte Patienten weisen ein deutlich erhöhtes Atelektaserisiko auf. Hohe inspiratorische O2-Konzentrationen über längere Zeit fördern die Entstehung von Resorptionsatelektasen.
Aspiration Bei großen endobronchialen Sekretmengen, Abszessen, Blutungen und Bronchusfisteln soll eine Aspiration in den gegenseitigen Lungenflügel durch den intraoperativen Einsatz des DLT verhindert werden. Eine Aspiration kann jedoch auch schon präoperativ erfolgt sein oder postope-
rativ klinisch unbemerkt geschehen. Ateminsuffizienz mit schwerer Beeinträchtigung des pulmonalen Gasaustauschs ist die Folge. Die Lagerung auf der operierten (erkrankten) Seite und häufiges, gezieltes Absaugen von Bronchialsekret unter Einsatz von Mukolytika und Antibiotika sind Maßnahmen zur Verhinderung schwerer Komplikationen nach Aspiration. Selten (z. B. bei massiver Blutung) ist die länger dauernde seitengetrennte Beatmung über einen Doppellumentubus notwendig.
Nahtinsuffizienz Das Auftreten einer Nahtinsuffizienz am Bronchusstumpf oder der Anastomosen ist eine schwerwiegende Komplikation, die vorwiegend infektiös, seltener durch insuffiziente chirurgische Nahttechnik bedingt ist. Eine Ungenügende Drainage des Wundsekrets im Bereich der Naht oder die Anschoppung von infektiösem Sekret im Lumen des betreffenden Hohlorgans erhöhen das Risiko einer Nahtinsuffizienz. Die Mortalität dieser Komplikation liegt bei ca. 50 %.
36.5.3 Kardiale Probleme Supraventrikuläre Rhythmusstörungen (Vorhofflimmern, supraventrikuläre Tachyarrhythmien) treten nach thorakalen Eingriffen relativ häufig auf. Ältere Patienten und ein Zustand nach Pneumonektomie mit intraperikardialer Resektion (z. B. bei großen oder zentralen Karzinomen) stellen ein erhöhtes Risiko dar. Zur Behandlung werden heute vorwiegend E-Blocker und Amiodaron eingesetzt, aber auch eine Digitalisierung bei hämodynamisch labiler Situation zur Frequenzkontrolle kann sinnvoll sein. Bei gleichzeitiger ausgeprägter Kreislaufinsuffizienz müssen ggf. Katecholamine eingesetzt werden.
36.6
Diagnostische Eingriffe im Rahmen der Thoraxchirurgie
Die diagnostischen Eingriffe im Rahmen der Thoraxchirurgie umfassen die Bronchoskopie, die Mediastinoskopie und die Thorakoskopie. Die starre Bronchoskopie wird in Allgemeinanästhesie meist über ein Beatmungsbronchoskop durchgeführt. Der Widerstand im starren Bronchoskop ist hoch und der Gasverlust nach außen unkontrollierbar. Die Folgen sind ein erhöhter Beatmungsdruck und die Notwendigkeit einer hohen Frischgaszufuhr. Dadurch ist die konventionelle Beatmungstechnik häufig nicht durchführbar und eine Jetventilation wird deswegen vielerorts routinemäßig
379 Literatur
eingesetzt. Häufig ist während und unmittelbar nach der Bronchoskopie ein verschlechterter Gasaustausch als Folge von Bronchospasmen, gesteigerter Sekretion und Schleimhautödemen oder wegen Blutungen nach einer Biopsie zu beobachten. Zur Durchführung einer Mediastinoskopie muss der Patient mit einem Spiraltubus intubiert werden. Hauptrisiko einer Mediastinoskopie ist die Luftembolie. Durch Überdruckbeatmung bei optimaler Muskelrelaxation und leichter Trendelenburg-Lagerung kann dieses Risiko vermindert werden. Daneben können unvorhergesehene große Blutungen auftreten, die unter Umständen eine Notthorakotomie erfordern. Häufig treten hämodynamisch wirksame Herzrhythmusstörungen auf, weshalb ein Defibrillator und Medikamente zur kardialen Reanimation immer greifbar sein müssen. Die diagnostische Thorakoskopie wird ebenfalls unter kontrollierter Beatmung in Allgemeinanästhesie durchgeführt. Die Patienten werden meist mit einem Doppellumentubus intubiert, um die Gefahr der Verletzung einer Lunge durch das Thorakoskop zu minimieren.
Literatur Abe K et al. (1998) The effects of propofol, isoflurane, and sevoflurane on oxygenation and shunt fraction during one-lung ventilation. Anesth Analg 87: 1164–9 Krucylak PE et al. (1996) Anesthetic management of patients undergoing unilateral video-assisted lung reduction for treatment of end-stage emphysema. J Cardiothorac Vasc Anesth 10: 850–3 Slinger PD (1995) Perioperative fluid management for thoracic surgery: the puzzle of postpneumonectomy pulmonary edema. J Cardiothorac Vasc Anesth 9: 442–51 Smetana GW (1999) Preoperative pulmonary evaluation. N Engl J Med 12: 937–44 Wang J et al. (1999) Assessment of pulmonary complications after lung resection. Ann Thorac Surg 67: 1444–7 Warner MA et al. (1989) Role of preoperative cessation of smoking and other factors in postoperative pulmonary complications: a blinded prospective study of coronary ar tery bypass patients. Mayo Clin Proc 6: 609–16 Zollinger A, Hofer CK, Pasch T (2001) Preoperative pulmonary evaluation: facts and myths. Curr Opin Anaesthesiol 14: 59–63 Zollinger (1999) Anaesthesie in der Thoraxchirurgie. Der Anaesthesist 3: 193–204
36
37 Anästhesie in der Gynäkologie und Geburtshilfe Daniela Zitzelsberger, Franz-Josef Kretz 37.1 Spezielle Eingriffe –382 37.1.1 Kleine Eingriffe –382 37.1.2 Mittlere Eingriffe –382 37.1.3 Große Eingriffe –383
37.2 Physiologische Veränderungen in der Schwangerschaft –383 37.2.1 37.2.2 37.2.3 37.2.4
Atmung und Respirationstrakt –383 Herz und Kreislauf –383 Blutvolumen und Gerinnung –384 Magen-Darm-Trakt –384
37.3 Pathophysiologische Veränderungen in der Schwangerschaft –384 37.3.1 Aorto-cavales Kompressionssyndrom –384 37.3.2 Präeklampsie/Eklampsie und HELLP-Syndrom –384
37.4 Anästhesie in der Schwangerschaft –384 37.5 Anästhesie rund um die Geburt –385 37.5.1 37.5.2 37.5.3 37.5.4 37.5.5
Periduralanästhesie zur Geburtserleichterung –385 Vorgehen zur Sectio caesarea –386 Elektive Sectio –387 Eilige Sectio –388 Notsectio und Vorgehen in Allgemeinanästhesie –388
37.6 Spezielle Komplikationen –389 37.6.1 37.6.2 37.6.3 37.6.4
Manuelle Nachtastung –389 Blutungen –389 Uterusatonie –390 Fruchtwasserembolie –390
37.7 Pharmakologische Besonderheiten während Schwangerschaft und Stillzeit –391 37.7.1 Medikamente und Plazentagängigkeit –392 37.7.2 Anästhesie in der Stillzeit –393
Literatur –393
382
Kapitel 37 · Anästhesie in der Gynäkologie und Geburtshilfe
37.1.2 Mittlere Eingriffe
)) Bei den anästhesiologischen Patientinnen in der Gynäkologie handelt es sich meist um Frauen jüngeren und mittleren Alters ohne schwerwiegende Begleiterkrankungen. Abgesehen von wenigen Besonderheiten gelten die gleichen Regeln bezüglich Prämedikation, Narkosevorbereitung und -durchführung wie für andere operative Bereiche. Bei hohem Lebensalter ist natürlich auf entsprechende Begleiterkrankungen zu achten (7 Kap. 45). Meist kommen Allgemeinanästhesien für gynäkologische Operationen zum Einsatz. Für vaginale Eingriffe ist grundsätzlich ein Regionalanästhesieverfahren (Sattelblock, PDA) möglich, wird jedoch aufgrund der in der Regel kurzen OP-Dauer und der häufig ambulant durchgeführten Narkose und Operation nur in Ausnahmefällen angewendet. Meist ist eine Steinschnittlagerung erforderlich (Cave: Lagerungsschäden!).
37.1
Spezielle Eingriffe
37.1.1 Kleine Eingriffe Abrasiones, Konisationen, Hysteroskopien, Interruptiones, Mamma-Probeexzisionen, Abszessinzisionen, Follikelpunktionen, Laserungen ! Für Gebärmuttereingriffe von vaginal muss der Gebärmutterhals mit sog. Hegarstiften dilatiert werden. In dieser Phase der OP ist unbedingt auf eine ausreichende Narkosetiefe zu achten, da es bei Bewegungen der Patientin, Husten u. ä. zu einer Uterusperforation kommen kann!
37
Zu den häufigen, anästhesiologisch kleinen Eingriffen in der Gynäkologie zählen Abrasiones, Konisationen, Hysteroskopien, Schwangerschaftsunterbrechungen, Mamma-Probeexzisionen und Abszessinzisionen. Auch Follikelpunktionen im Rahmen einer künstlichen Befruchtung oder gynäkologische Untersuchungen bei Kindern oder behinderten Menschen können nur in Narkose bzw. Analgosedierung erfolgen. Diese kurz dauernden Eingriffe können bei fehlenden Kontraindikationen in Larynxmaske oder Maskennarkose durchgeführt werden. Ein peripher-venöser Zugang ist ausreichend. Als Narkosemedikamente kommen eine TIVA oder eine balancierte Narkose, als Opioide Alfentanil, Sufentanil oder Fentanyl in Betracht. ! Für Interruptiones nach der 12. Schwangerschaftswoche ist wegen erhöhter Aspirationsgefahr eine Rapid sequence induction (RSI) durchzuführen (7 Kap. 37.4)!
Hysterektomien, Beckenbodenplastiken, Inkontinenzoperationen, Laparoskopien, einfache Mammatumorentfernungen Hysterektomien können von vaginal, abdominal, oder von vaginal mit laparoskopischer Assistenz durchgeführt werden. Eine Intubationsnarkose ist (außer bei der vaginalen Gebärmutterentfernung) obligat. Sie kann als balancierte Anästhesie oder als TIVA durchgeführt werden. Bei allen laparoskopischen Eingriffen ist eine Magensonde empfehlenswert, um den Magen zu entlüften, der möglicherweise bei der Maskenbeatmung mit Luft gefüllt wurde. ! Da es bei Gefäßverletzungen zu erheblichen Blutungen kommen kann, ist auf zwei großvolumige periphervenöse Zugänge zu achten.
Darüber hinaus sollte, wie bei allen größeren Eingriffen, auf Normovolämie und Normothermie geachtet werden, ggf. unter Verwendung von speziellen Wärmematten, vorgewärmten Infusionen. Ein erweitertes, invasives Monitoring ist bei Fehlen entsprechender Begleiterkrankungen nicht nötig. Für Beckenbodenplastiken (als sog. vordere/hintere Plastik, bei Descensus vaginae mit/ohne Rekto-, oder Zystozele) und Inkontinenzoperationen gilt dies ebenso. Hier ist zusätzlich das meist fortgeschrittene Lebensalter der Patientinnen zu beachten. Operative Risiken: Hier sind neben Blutungen (selten) die Blasen- oder Darmperforation zu nennen. In Rücksprache mit dem Operateur ist bei Inkontinenzoperationen u. U. ein Regionalanästhesieverfahren von Vorteil, da der Operateur häufig perioperativ eine Erfolgskontrolle durchführt, indem die Patientin zum Husten aufgefordert wird. So kann überprüft werden, ob noch eine Stressinkontinenz besteht. Bei Operationen im Bereich der Brust, beispielsweise bei Entfernung gut- oder bösartiger Tumoren, ist auf eine sichere Fixierung des Tubus bzw. der (Spiral-)Larynxmaske zu achten, da die sterile OP-Abdeckung bis an den Halsbereich der Patientin reicht. ! Bei Mammakarzinompatientinnen wird häufig eine Lymphknotenentfernung in der gleichseitigen Axilla durchgeführt. Da es daher postoperativ nicht selten zu einem Lymphödem mit Armschwellung kommt, ist unbedingt darauf zu achten, dass i.v.-Zugänge auf der nichtoperierten Seite gelegt werden. Bei einem beidseitigen Karzinom ist auch ein periphervenöser Zugang am Fuß möglich!
383 37.2 · Physiologische Veränderungen in der Schwangerschaft
Sehr viele gynäkologische Operationen, z. B. die Entfernung von Ovarialzysten, gutartigen Tumoren, Myomen, Sterilisationen, und diagnostische Eingriffe wie die Chromopertubation bei Sterilität, werden laparoskopisch durchgeführt. Laparoskopien werden immer als Intubationsnarkose (balanciert oder als TIVA) mit Magensonde und Blasenkatheter durchgeführt. Zu achten ist auf eine gute Fixierung der Patientin, da in Kopftief lagerung operiert wird, um die Sicht zu verbessern (Darmverlagerung nach kranial). ! Vorsicht vor Druckschäden durch die Lagerung!
37.1.3 Große Eingriffe
Erweiterte onkologische Operationen, rekonstruktive Eingriffe, Mammareduktionsplastiken Zu den großen Eingriffen zählen alle erweiterten Tumoreingriffe: die Operation nach Wertheim-Meigs beim Zervixkarzinom (Laparotomie mit Hysterektomie, Lymphknotenentfernung, Resektion der Parametrien und des oberen Scheidendrittels); Vulvektomien mit Lymphknotenentfernung beim Vulvakarzinom, Rekonstruktionsoperationen bei Mammakarzinompatientinnen. Für Operationen diesen Ausmaßes gelten die herkömmlichen Regeln: Intubationsnarkose, balancierte Anästhesie oder als TIVA, mindestens zwei großlumige periphervenöse Zugänge, invasives Monitoring (ZVK, arterielle Blutdruckmessung), Magensonde, Blasenkatheter, Temperatursonde, Wärmemaßnahmen, Bereithalten von Blutkonserven, sorgfältige Lagerung, ggf. postoperative Überwachung auf der Intensivstation. Neben den Tumoreingriffen können auch kosmetische Operationen wie die Mammareduktionsplastik mit größeren Blutverlusten einhergehen. Daher ist hier eine entsprechende Zahl von Erythrozytenkonzentraten bereitzuhalten, selbstverständlich ist auf entsprechende periphervenöse Zugänge zu achten. Da die Operation meist bei jungen, gesunden Frauen durchgeführt wird, ist hier in der Regel kein erweitertes Monitoring nötig.
37.2
Physiologische Veränderungen in der Schwangerschaft
Im Rahmen einer Schwangerschaft kommt es im Organismus der Frau zu zahlreichen physiologischen Veränderungen, deren Kenntnis für den Anästhesisten von großer Bedeutung ist.
37.2.1 Atmung und Respirationstrakt Die Schleimhautdurchblutung im Nasopharynxbereich, im Kehlkopf, in der Trachea und in den Bronchien nimmt zu. Dadurch ist die Verletzungsgefahr mit der Folge von Blutungen und Ödemen erhöht. Dies wiederum kann die Intubation erschweren. ! Intubationsprobleme sind eine häufige Ursache anästhesiebedingter Komplikationen bei Schwangeren!
Das Atemminutenvolumen (AMV) steigt während der Schwangerschaft um etwa 50 % über den Ausgangswert an. Ursache hierfür ist wahrscheinlich die erhöhte Progesteronkonzentration, die die Atmung stimuliert. Die alveoläre Ventilation nimmt um 70 % zu. Daraus ergibt sich die für Schwangere physiologische Hyperventilation. Der pH-Wert im Blut bleibt trotzdem normwertig aufgrund einer erhöhten Bikarbonatausscheidung über die Nieren. Während des Geburtsvorgangs kann das AMV sogar noch weiter ansteigen und kann Werte über 300 % des Ausgangswerts betragen. Wehenbedingt kann es sogar zu einer respiratorischen Alkalose kommen. Der Zwerchfellhochstand durch den graviden Uterus bedingt eine thorakale Atmung. Die Vitalkapazität bleibt unverändert, wohingegen die funktionelle Residualkapazität (FRC) um etwa 20 % abnimmt. Der Sauerstoffverbrauch nimmt ab der 14. Schwangerschaftswoche zu. Die Gründe hierfür sind der gesteigerte Stoffwechsel der Schwangeren, der Sauerstoffbedarf der fetoplazentaren Einheit und die erhöhte Atemund Herzarbeit (7 Kap. 37.2.2). Das erhöhte AMV und die erniedrigte FRC führen darüber hinaus auch zum schnelleren An- und Abfluten von Inhalationsanästhetika. ! Der erhöhte Sauerstoffbedarf und die erniedrigte FRC führen dazu, dass in Apnoephasen die Sauerstoffsättigung signifikant schneller sinkt als bei nicht schwangeren Patientinnen!
37.2.2 Herz und Kreislauf Das Herzminutenvolumen (HMV) nimmt bereits ab der 8. Schwangerschaftswoche deutlich zu, vor allem durch eine Erhöhung des Schlagvolumens, weniger durch Erhöhung der Herzfrequenz. Während der Austreibungsphase kann das HMV auf bis zu 50 % des Ausgangswerts gesteigert sein. Dies muss beispielsweise bei einer Schwangeren mit vorbestehender Herzerkrankung berücksichtigt werden, da sie ihr HMV u. U. nicht entsprechend erhöhen kön-
37
384
Kapitel 37 · Anästhesie in der Gynäkologie und Geburtshilfe
nen; hier wäre dann eine Sectio indiziert. Der systolische Blutdruck bleibt unverändert, wohingegen der diastolische um ca. 15 % sinkt. Als Grenzwert für eine Schwangerschaftshypertonie wird ein Blutdruck von 140/90 mmHg angesehen.
37.2.3 Blutvolumen und Gerinnung Das intravasale Blutvolumen steigt ab der 8. Schwangerschaftswoche an, wobei das Plasmavolumen mehr zunimmt als das Erythrozytenvolumen. Dies führt zu einer Hämodilution. Von einer Anämie spricht man bei Schwangeren erst ab einem Hb < 11 g/l (in der Regel handelt es sich dann um eine Eisenmangelanämie). Durch das erhöhte Volumen wird ein Blutverlust von 500–600 ml während der Geburt (900–1000 ml bei Sectio caesarea oder Zwillingsgeburt) normalerweise gut kompensiert. Schwangere haben ein erhöhtes Thromboembolierisiko. Einerseits ist durch die Schwangerschaft der Druck in der V. cava inferior erhöht, was zu einer gewissen venösen Stase in der unteren Körperhälfte führt. Andererseits kommt es bei Schwangeren zu einer permanenten Gerinnungsaktivierung, die das Risiko für thrombembolische Komplikationen erhöht, aber auch vor lebensbedrohlichen Blutungen während der Geburt schützen soll.
37.3.1 Aor to-cavales
Kompressionssyndrom Durch den graviden Uterus wird der Blutrückfluss aus der V. cava inferior gehemmt. Vor allem bei Hochschwangeren in Rückenlage ist dies der Fall. Dadurch kann es zu einem Abfall des Schlagvolumens, des HMV und des Blutdrucks kommen. Weitere Symptome sind Schwitzen, Übelkeit, Erbrechen; auch eine zerebrale Beeinträchtigung ist möglich. Daher ist auf Folgendes zu achten: ! Ab der 20. Schwangerschaftswoche: Linksseitenlage des OP-Tisches!
Hierdurch wird eine zu starke Kompression der V. cava inferior durch die Gebärmutter vermieden. Häufig liegt gleichzeitig auch eine Kompression der Aorta im Bereich LWK4/5 (Lendenlordose!) vor. Diese verursacht im Allgemeinen jedoch keine mütterlichen Symptome. Trotzdem kommt es dadurch zu einer verminderten Uterusdurchblutung mit Gefahr der fetalen Asphyxie. Auch deswegen ist auf die Linksseitenlage der Schwangeren zu achten. Weitere therapeutische Maßnahmen bei einem Blutdruckabfall: Volumengabe, ggf. bedarfsadaptierte, vorsichtige medikamentöse Unterstützung mittels Vasopressoren intravenös.
37.3.2 Präeklampsie/Eklampsie
und HELLP-Syndrom
37.2.4 Magen-Darm-Trakt
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70 % aller Schwangeren haben am Ende der Schwangerschaft mit einer Refluxösophagitis zu kämpfen. Ein erhöhter Mageninnendruck und ein erniedrigter Verschlussdruck des unteren Ösophagussphinkters sind dafür verantwortlich. Die Magenentleerung ist verzögert, und der pH-Wert des Magensekrets durch Gastrin aus der Plazenta erniedrigt. Diese Veränderungen sind auch schon im 2. und 3. Trimenon vorhanden. Daher gilt: ! Schwangere ab der 12. Schwangerschaftswoche sind aspirationsgefährdet!
37.3
Pathophysiologische Veränderungen in der Schwangerschaft
Einige schwangerschaftsspezifische Erkrankungen sind auch für den Anästhesisten von Bedeutung.
Bei diesen Gestosen und beim HELLP-Syndrom, d. h. durch die Schwangerschaft erworbenen Erkrankungen, besteht ein erhöhtes Letalitätsrisiko sowohl für die Mutter als auch für das Kind. Ein spezielles anästhesiologisches und intensivmedizinisches Vorgehen ist erforderlich und wird in 7 Kap. 61 ausführlich besprochen!
37.4
Anästhesie in der Schwangerschaft
Die häufigsten Indikationen für nicht aufschiebbare Operationen während einer Schwangerschaft sind Ovarialzysten, eine akute Appendizitis, Verletzungen, Mammatumoren oder eine Cerclage bei vorzeitiger Muttermundseröffnung. Verschiedene Studien haben sich mit dem Risiko einer Operation bzw. Narkose bezüglich Abortrate und kindlicher Fehlbildungen beschäftigt. Die Ergebnisse sind unterschiedlich, jedoch weisen neuere Studien nicht auf eine erhöhte Abortrate, ein niedrigeres Geburtsgewicht oder auf vermehrte kongenitale Fehlbildungen hin. Sicherlich ist die Indikationsstellung für eine Operation sehr streng zu hand-
385 37.5 · Anästhesie rund um die Geburt
haben. Nicht zuletzt, weil zahlreiche Medikamente, die im »normalen« Krankenhausalltag Anwendung finden, für Schwangere nicht zugelassen sind (7 Kap. 37.7). Falls möglich, sollte eine Operation erst ab dem zweiten Trimenon durchgeführt werden, da dann die embryonale Organogenese abgeschlossen ist und keine Fehlbildungen mehr befürchtet werden müssen. Ist eine Operation unumgänglich, dann sollte zusammen mit der werdenden Mutter das für sie am besten geeignete Anästhesieverfahren ausgewählt werden. Grundsätzlich kommen sowohl Regionalanästhesieverfahren als auch eine Allgemeinanästhesie in Frage. Dabei sind folgende Regeln zu beachten: Tipps
Anästhesie in der Schwangerschaft – so machen wir es: 5 In der Regel keine Prämedikation für Schwangere (so wenig Medikamente wie möglich!), aber: Stress für die Mutter bedeutet auch Stress für das Kind (Abwägen der Vor- und Nachteile im Einzelfall er forderlich!). 5 Präoperative Gabe von Natriumzitrat 0,3 molar und/oder H2-Antagonisten, um das Aspirationsrisiko von saurem Magensaft zu minimieren. 5 Bei Schwangeren ist die Rate an schwierigen Intubationen erhöht – daher kann Regionalanästhesie von Vorteil sein! 5 Ab der 12. Schwangerschaftswoche gelten Schwangere unabhängig von der Dauer der Nahrungskarenz als nicht nüchtern: RSI bei Allgemeinanästhesie. 5 Linksseitenlage des OP-Tischs zur Vermeidung eines aorto-cavalen Kompressionssyndroms 5 Hämodynamische und pulmonale Größen sollen vor dem Hintergrund der physiologischen Veränderungen in der Schwangerschaft (7 Kap. 37.2) im Normbereich gehalten werden. 5 Prä- und postoperatives gynäkologisches Konsil zur Überwachung des Schwangerschaftsverlaufs.
37.5
Anästhesie rund um die Geburt
37.5.1 Periduralanästhesie
zur Geburtserleichterung Etwa 20 % aller Schwangeren erhalten eine Periduralanästhesie (PDA) zur Spontanentbindung. Idealerweise erfolgt
die Aufklärung der Schwangeren vor Beginn der Wehen im Rahmen der Schwangerschaftsberatung. Die Aufklärung einer in den Wehen liegenden Frau im Kreissaal wird juristisch als fragwürdig eingestuft, jedoch nach wie vor am häufigsten durchgeführt. Für eine Analgesie in der Eröffnungsperiode der Geburt ist eine Ausschaltung der Segmente Th10 bis L1 wünschenswert. Eine Blockade von Th10 bis S4 kann den Austreibungsschmerz blockieren. Daher wird die PDA etwa im Bereich LWK 3–4 angelegt und durch fraktionierte Dosierung die gewünschte Ausbreitungshöhe erreicht. Zur allgemeinen Durchführung, Nebenwirkungen, Kontraindikationen 7 Kap. 16. Die wichtigsten Indikationen für eine PDA 5 Wunsch nach einer schmerzarmen Geburt 5 Protrahierte Eröffnungsperiode 5 Wehenschwäche und Einsatz eines »Wehentropfs« zur Wehenverstärkung 5 Geburtsstillstand 5 Präeklampsie 5 Zustände, bei denen ein starkes Pressen der Mutter vermieden werden muss, z. B. Ablatio retinae 5 Vorerkrankungen der Mutter, die eine Anpassung des Organismus an den Geburtsvorgang einschränken (z. B. Herzerkrankungen, Lungenerkrankungen, neurologische Erkrankungen)
! Jedes rückenmarknahe Regionalver fahren darf nur bis zu folgenden Grenzwerten der Gerinnungsparameter durchgeführt werden: Quick t 50 %, PTT d 50 s, Thrombozytenzahl t 50000/mm3! Tipps
5 Kardiotokographische Überwachung während der gesamten Durchführung, um eine fetale Depression sofort zu erkennen. 5 Vor Anlegen der PDA Volumengabe von 500– 1000 ml über einen peripher-venösen Zugang, um einen Blutdruckabfall zu vermeiden. 5 Aufgrund von Flüssigkeitseinlagerungen im Gewebe ist die Identifizierung des Periduralraums schwieriger. 5 Die Dosierung ist für eine vergleichbare Analgesiehöhe bei Schwangeren häufig niedriger zu wählen (Ursachen sind ein verringertes Vertei6
37
386
Kapitel 37 · Anästhesie in der Gynäkologie und Geburtshilfe
lungsvolumen im Peridural-raum und vermutlich auch biochemische Veränderungen im Rahmen der Schwangerschaft), o titrierte Gabe! 5 Verwendung von niederprozentigem Bupivacain (0,25 %) oder Ropivacain (0,2 %), um eine möglichst selektive Ausschaltung der sensiblen Nervenfasern zu erreichen, damit die Patientin die Geburt weiterhin aktiv durch Pressen unterstützen kann. 5 Zusatz von Sufenta epidural (10 Pg) zum Lokalanästhetikum hat sich in der Praxis bewährt (Sufenta epidural ist das einzige Opioid, das derzeit für die epidurale Gabe in Deutschland zugelassen ist).
37
Die Durchführung kann sowohl im Sitzen als auch in Linksseitenlage erfolgen. Während einer Wehe sollte nicht punktiert bzw. nicht injiziert werden, da einerseits die Gefahr einer Duraperforation durch Bewegungen der Patientin erhöht ist, andererseits das Lokalanästhetikum durch den erhöhten Druck im Epiduralraum sich sehr weit nach kranial ausbreiten kann. Die Lokalanästhesiegabe kann nach Injektion der Wirkdosis intermittierend oder kontinuierlich über Perfusor erfolgen. Auch eine patientenkontrollierte epidurale Anästhesie mit Bolusgabe durch die Schwangere selbst ist möglich. Selbstverständlich kann ein liegender Periduralkatheter auch für einen Kaiserschnitt verwendet werden. Dafür ist das »Aufspritzen« des Katheters mit einem Lokalanästhetikum (LA) in höherer Konzentration notwendig, um eine ausreichende Analgesie und Muskelrelaxierung zu erreichen. Als Lokalanästhetikum kommen Bupivacain 0,5 % oder Ropivacain 0,75 %, auch hier in Kombination mit 10 Pg Sufenta epidural, in Frage. Das Anästhesieniveau sollte für den Kaiserschnitt mindestens Th6, besser Th4, betragen. Hierzu ist eine titrierte LA-Menge von etwa 12–20 ml nötig (je nach Ausbreitung und abhängig von Größe und Gewicht der Patientin). ! Eine Notfallausrüstung einschließlich Medikamente muss in Reichweite immer vorhanden sein
: Beispiel Der diensthabende Anästhesist wird gegen 2:30 Uhr in den Kreissaal zur Anlage eines Periduralkatheters zur Geburtserleichterung gerufen. Bei der Patientin handelt es sich um eine 32-jährige gesunde Erstgravida (171 cm, 78 kg) mit unauffälligem Schwangerschaftsverlauf. Der 6
Muttermund ist 4 cm eröffnet. Die Gerinnungswerte für Quick und PTT liegen im Normbereich, die Thrombozytenzahl ebenfalls. Nach Anamneseerhebung und Aufklärung der Patientin über Nebenwirkungen und Vorgehen wird sie in die sitzende Position gebracht. Ein periphervenöser Zugang liegt bereits, 500 ml einer kristalloiden Infusionslösung sind infundiert, weitere 500 ml Jonosteril laufen. Als Monitoring werden eine Blutdruckmanschette und eine Pulsoxymetrie angelegt. Die Überwachung des CTG erfolgt durch die anwesende Hebamme. Die Anlage des PD-Katheters erfolgt problemlos. Eine Testdosis von 3 ml Carbostesin 0,5 % isobar wird injiziert. Ab jetzt werden minütlich RR-Kontrollen durchgeführt. Der Katheter wird fixiert. Die Patientin kann auf Nachfrage keine motorischen oder sensiblen Einschränkungen in den Beinen feststellen, der Blutdruck bleibt gleich. Nach etwa 5 min erfolgt die Injektion der Wirkdosis 2- bis 3-ml-weise mit Naropin 0,2 % und einer Ampulle Sufenta epidural, aufgezogen in einer 10-ml-Spritze. Nach Injektion von insgesamt 8 ml der Wirkdosis verspürt die Patientin nach 15 min eine deutliche Erleichterung der Wehenschmerzen, nach einer halben Stunde sind die Schmerzen fast vollständig verschwunden, eine leichte Taubheit in beiden Oberschenkeln wird festgestellt. Eine Perfusorspritze wird mit 30 ml Naropin 0,2 %, 18 ml NaCl und 2 ml Sufenta epidural bestückt (# Naropin 0,12 % mit Sufentanil 0,2 Pg/ml). Der Per fusor wird an den Periduralkatheter angeschlossen und mit einer Laufrate von 8 ml/h eingestellt. Das Sensibilitätsgefühl ist nach Austestung bis etwa Th7, beidseits gleich, eingeschränkt. 3 h danach wird der Anästhesist nochmals gerufen. Bei der gleichen Patientin soll wegen Geburtsstillstand eine Sectio durchgeführt werden. Der Per fusor wurde von der Hebamme bereits eine halbe Stunde zuvor abgestellt. Der PD-Katheter wird erneut, nach einer Testdosis, mit Naropin 0,75 % aufgespritzt, insgesamt 14 ml. Nach etwa einer halben Stunde wird die Höhe der Anästhesie bei Th4 beidseits ausgetestet. Die Sectio verläuft problemlos.
37.5.2 Vorgehen zur Sectio caesarea Soll bei einer Patientin ein Kaiserschnitt durchgeführt werden, so ist ein ausführliches Prämedikationsgespräch für die werdende Mutter und den Anästhesisten von großer Bedeutung. Für den Anästhesisten sind bei der Anamneseerhebung der Verlauf der Schwangerschaft und eventuell aufgetretene Probleme wichtig. Laborwerte einschließlich Hb-Wert und Gerinnungsparameter sowie die Blutgruppe der Patientin müssen bestimmt werden. Wünschenswert
387 37.5 · Anästhesie rund um die Geburt
wäre es hier besonders, wenn der aufklärende Anästhesist die Schwangere auch während der Operation betreut, da ein schon hergestelltes Vertrauensverhältnis die Angst und Aufregung der werdenden Mutter mindern kann. Es gilt nämlich: ! Keine Prämedikation der Schwangeren vor Kaiserschnitt!
Dies geschieht vor dem Hintergrund, dass alle gängigen, zur Prämedikation eingesetzten Medikamente plazentagängig sind und damit auf das Kind übergehen. Dadurch kann das Neugeborene durch Muskelrelaxierung und Atemdepression einen schwierigen Start haben. Des Weiteren ist die erhöhte Aspirationsgefahr zu beachten (7 Kap. 37.2.4). Unabhängig vom angewandten Verfahren wird in aller Regel eine Aspirationsprophylaxe durchgeführt. Dafür erhält die Patientin oral einen H2-Blocker am Vorabend und zwei Stunden vor Beginn der Sectio, um das Magensaftvolumen zu reduzieren und den pH-Wert des Magensafts anzuheben. Eine intravenöse Gabe sollte bis eine Stunde vorher verabreicht sein. Am OP-Morgen kann zusätzlich Metoclopramid gegeben werden, um die Magenentleerung zu beschleunigen und den Tonus des unteren Oesophagussphinkters zu erhöhen. Durch die Gabe von Natriumzitrat 0,3 molar, 15–30 min vor dem Eingriff p.o. gegeben, kann eine Pufferung des Magensafts erreicht werden. ! Aspirationsprophylaxe nicht vergessen!
Bei der Wahl des Narkoseverfahrens ist neben der zur Verfügung stehenden Zeit (s. u.) der Wunsch der Schwangeren entscheidend. Grundsätzlich möglich ist die Durchführung als Periduralanästhesie, als Spinalanästhesie oder als Allgemeinanästhesie mit Intubation. Bei den Regionalanästhesieverfahren ist die Anwesenheit des Partners/einer Bezugsperson im Operationssaal möglich. Allerdings ist der Arzt nicht verpflichtet, eine entsprechende Erlaubnis zu geben. Falls die Anwesenheit gestattet wird, sollten der Partner/die Bezugsperson über das Verhalten im OP und auf mögliche Risiken hingewiesen werden. Es wird empfohlen, sich diese Aufklärung schriftlich bestätigen zu lassen.
37.5.3 Elektive Sectio Man spricht von einer elektiven Sectio, wenn keine besondere zeitliche Dringlichkeit zur Durchführung geboten ist. Häufig findet das Prämedikationsgespräch einige Tage vor dem geplanten Eingriff in der Prämedikationsambulanz statt. Gibt es keine Kontraindikationen (7 Kap. 16), so ist die Spinalanästhesie (SPA) die Methode der Wahl.
Vorteile der Spinalanästhesie bei elektiver Sectio 5 5 5 5 5 5
Einfache und schnelle Durchführung Schneller Wirkeintritt Gute Muskelrelaxierung Gute Analgesie Bewusstes Geburtserlebnis für die Mutter Keine Intubationsprobleme, keine Aspirationsgefahr
! Geringere Lokalanästhetika-Dosierung für SPA bei Schwangeren!
Dies beruht auf dem erhöhten Druck im Periduralraum, durch den das Liquorvolumen lumbal vermindert ist. Eine Lokalanästhetika-Menge von 1,8–3,0 ml Bupivacain oder Ropivacain (je nach Technik und Größe der Patientin) sind für eine ausreichende Analgesie beschrieben. Nachteile und Nebenwirkungen der Spinalanästhesie. Im Kreissaal ist hier besonders der Blutdruckabfall zu
erwähnen. Daher werden unmittelbar im Anschluss an die Injektion einminütige Blutdruckkontrollen durchgeführt. Auf Symptome wie Schwindel, Übelkeit und Unwohlsein bei der Schwangeren ist in dieser Phase besonders zu achten. Die Durchblutung der Plazenta und damit die Sauerstoffversorgung des Kindes hängen zum Geburtstermin direkt vom mütterlichen Blutdruck ab! Vasopressoren und Atropin müssen daher griffbereit sein. Die vorherige Volumengabe ist besonders wichtig. ! Engmaschige Blutdruckkontrollen unmittelbar nach Anlage der SPA und ggf. rasche medikamentöse Therapie!
Für die Periduralanästhesie gelten im Wesentlichen die gleichen Vorteile gegenüber einer Allgemeinanästhesie: Keine Gefahr von Intubationsproblemen mit dem Risiko der Hypoxie von Mutter und Kind, und keine Aspirationsgefahr. Eine PDA ist jedoch nicht so schnell in der Durchführung, die vollständige Wirkentfaltung dauert etwa eine halbe Stunde bei empfohlener, titrierter Gabe des Lokalanästhetikums, und die Wirkausbreitung kann einseitig oder »fleckig« sein. Hier kann die epidurale Gabe von Sufentanil helfen. Wurde ein PD-Katheter bereits zur Wehenschmerzlinderung angelegt, so ist bei gleichseitiger, guter Wirkung selbstverständlich die Verwendung des Katheters sinnvoll (7 Kap. 37.5.1). Durch die titrierte Gabe des Lokalanästhetikums fällt der Blutdruckabfall bei der PDA meist deutlich moderater aus, weswegen diese Methode in besonderen Fällen (z. B. bei Patientinnen mit Herzerkrankungen) bevorzugt wird.
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Kapitel 37 · Anästhesie in der Gynäkologie und Geburtshilfe
: Beispiel Eine 27-jährige Zweitgravida, Erstpara (168 cm, 106 kg) stellt sich in der Prämedikationssprechstunde vor. Eine elektive Sectio soll wegen Beckenendlage des Kindes durchgeführt werden. Zur Geburt des ersten Kindes ist wegen eines schlechten CTGs eine Notsectio in ITN durchgeführt worden. Die Patientin ist mit einer Spinalanästhesie einverstanden, nachdem ihr Vor- und Nachteile erläutert wurden. Am nächsten Morgen wird der Patientin im Kreissaal ein periphervenöser Zugang gelegt, 1000 ml Sterofundin werden angehängt. Im Sectio-OP erhält die Patientin vor Umlagerung 20 ml Natriumzitrat 0,3 molar. EKG, RR und Pulsoxymetrie werden angelegt. Die SPA wird im Sitzen durchgeführt, Punktionshöhe LWK3/4, Injektion von 2,4 ml Carbostesin 0,5 % hyperbar. Die Patientin wird in etwa 15 Grad Linksseitenlage gebracht, der Blutdruck wird minütlich kontrolliert. Die Patientin gibt Schwindel und Übelkeit an. Der Blutdruck ist von initial 160/95 mmHg auf 90/45 mmHg abgefallen, Herzfrequenz 75/min. Akrinor (1 Ampulle aufgezogen mit 8 ml NaCl) wird fraktioniert gegeben, die Infusionsgeschwindigkeit wird erhöht. Nach Injektion von 2 ml der verdünnten Lösung wird ein RR von 140/80 mmHg gemessen, Herzfrequenz 110/min. Die Austestung der Spinalanästhesie ergibt ein Niveau von Th4 beidseits. Nach Entwicklung des Kindes werden 3 IE Oxytocin i.v. gespritzt, eine Infusion mit weiteren 10 IE wird angehängt. Wegen erneut auftretender Übelkeit und starkem Würgereiz erhält die Patientin bei kreislaufstabilen Verhältnissen zweimal eine halbe Ampulle Vomex A. Die Patientin wird nach Beendigung der Sectio kreislaufstabil an die Hebammen zur weiteren Überwachung übergeben.
37.5.4 Eilige Sectio
37 Meldet der Geburtshelfer eine eilige Sectio an, so stehen dem Anästhesisten 20–30 min (so genannte E-E-Zeit: Zeit zwischen Entscheidung zur Sectio und Entwicklung des Kindes) zur Prämedikation einschließlich Aufklärung und Durchführung der Anästhesie zur Verfügung. Diese Zeit ist für eine Periduralanästhesie nicht ausreichend, eine Spinalanästhesie kann durchgeführt werden. Bei Kontraindikationen, nicht vorhandenen Gerinnungswerten, technischen Schwierigkeiten bei der Punktion oder Ablehnung seitens der Patientin wird eine Intubationsnarkose (7 Kap. 37.5.5) durchgeführt.
37.5.5 Notsectio und Vorgehen
in Allgemeinanästhesie Eine Notsectio muss so schnell wie irgend möglich durchgeführt werden. Die häufigste Ursache sind Zeichen der fetalen Asphyxie im CTG. Narkoseverfahren ist die Intubationsnarkose. Auf dem Weg in den Operationssaal sollte die Schwangere nach Möglichkeit nach Allergien und schwer wiegenden Problemen bei Vornarkosen befragt werden. Da dieser Eingriff unter großem Zeitdruck durchgeführt werden muss, ist ein standardisiertes Vorgehen unumgänglich. Auch muss ein Notfallmedikamentenset zur Einleitung der Allgemeinanästhesie immer griffbereit im Kühlschrank des Notsectio-OPs vorhanden sein. Tipps
Notsectio – so machen wir es: 5 Alarmierung des Anästhesisten, Anästhesieund OP-Pflegepersonal über Piepser 5 Gabe von Natriumzitrat 5 Frage nach Unverträglichkeiten, Narkoseproblemen in Vorgeschichte 5 Anlage eines großlumigen venösen Zugangs 5 Vorbereitung der Anästhesieausrüstung 5 Anlage des Monitorings (EKG, RR, Pulsoxymetrie; letztere ist Minimalvoraussetzung) 5 Präoxygenierung so lange wie möglich, mindestens 4 tiefe Atemzüge mit 100 % Sauerstoff 5 Information des Geburtshelfers über den Narkosebeginn (bei Schnittbereitschaft des Operateurs!) 5 Narkoseeinleitung als RSI, Freigabe zur OP nach erfolgreicher Intubation und Cuffblockung (bei frustranem Intubationsversuch Anwendung einer Larynxmaske, ggf. Maskenbeatmung!) 5 Tubuslagekontrolle und Fixierung 5 Aufrechterhaltung der Narkose mit Isofluran (max. 0,75 Vol%), 100 % Sauerstoff bis zur Abnabelung 5 evtl. zweiter venöser Zugang Die weitere Fortführung entspricht dem Vorgehen bei jeder Intubationsnarkose zum Kaiserschnitt: 5 Opioidgabe nach Abnablung des Kindes 5 Max. 0,75 Vol% Isofluran, da es durch höhere Dosierung zu einer Uterusrelaxierung mit Gefahr der Nachblutung kommen kann, ggf. Lachgasbeimischung, sofern vorhanden 6
389 37.6 · Spezielle Komplikationen
5 Gabe von Oxytocin 3 IE i.v. und Dauerinfusion von 10 IE Oxytocin in 500 ml Trägerlösung zur Uteruskontraktion 5 Ggf. Nachrelaxierung 5 Ggf. Magensonde 5 Adäquate Flüssigkeitssubstitution 5 Extubation der kardiopulmonal stabilen Patientin nach sicher zurückgekehrten Schutzreflexen, schriftliche und mündliche Übergabe mit Anweisungen zur weiteren Überwachung von Kreislauf und Atmung an das weiter betreuende Personal (Aufwachraum oder Kreissaal)
Bei einer geplanten Sectio in ITN steht zu Beginn natürlich ein ausführliches Aufklärungsgespräch. Der Ablauf ist ähnlich dem der Notsectio, steht jedoch unter wesentlich geringerem Zeitdruck durchzuführen. Dies gilt nicht für den Gynäkologen, der gewaschen am Tisch steht, ehe die Narkoseeinleitung durchgeführt wird. Da das Einleitungshypnotikum auch beim Kind eine Atemund Kreislaufdepression her vorrufen kann, sollte die Kindsentwicklung so schnell wie möglich erfolgen. Mit Intubation und Freigabe durch den Anästhesisten erfolgt der Hautschnitt, 3–5 min danach sollte das Kind abgenabelt sein. ! Grundsätzlich wird bei jeder Allgemeinanästhesie zur Sectio das Opioid erst nach der Abnabelung des Kindes verabreicht, um eine kindliche Atemdepression zu vermeiden!
Bei Indikation zur Notsectio (gelegentlich auch bei geplanten Allgemeinanästhesien) ist manchmal mit kindlichen Anpassungsstörungen zu rechnen, daher: ! Umgehende Information des Neonatologen im Falle einer Notsectio!
Falls keine neonatologische Abteilung am Hause ist, muss der Anästhesist die notfallmäßige Neugeborenenerstversorgung übernehmen (7 Kap. 38)!
37.6
Spezielle Komplikationen
37.6.1 Manuelle Nachtastung Bei etwa 1 % aller vaginalen Entbindungen löst sich die Plazenta nicht vollständig. Eine manuelle Ablösung und Nachtastung ist erforderlich. Dieser Eingriff wird als Intu-
bationsnarkose mit RSI-Einleitung durchgeführt. Falls ausreichend Zeit vorhanden ist, kann auch ein bereits liegender Periduralkatheter nochmals aufgespritzt werden (cave: Blutdruckabfall!). Auf mindestens einen großvolumigen venösen Zugang ist zu achten, da es schnell zu großen Blutverlusten kommen kann. Außer dem üblichen Monitoring sind keine zusätzlichen Maßnahmen notwendig. Die postoperative Überwachung erfolgt bei unkompliziertem Verlauf im Kreissaal.
37.6.2 Blutungen
Mögliche Ursachen für eine Blutung zum Zeitpunkt der Geburt 5 5 5 5 5 5
Placenta praevia Abruptio placentae Plazentareste Uterusatonie Uterusruptur Zervix-, Vaginarisse
Therapeutisch muss umgehend die operative Versorgung durch den Gynäkologen erfolgen. Dies geschieht als manuelle Nachtastung/Kürettage bei Plazentaresten, bei noch bestehender Schwangerschaft als notfallmäßige Entbindung des Kindes und ggf. Naht bei Uterusruptur/Zervix- oder Vaginarissen. Als ultima ratio wird eine Hysterektomie durchgeführt. Neben der schnellen operativen Sanierung ist eine adäquate Substitution von Volumen, Erythrozytenkonzentraten, Plasma, Gerinnungsfaktoren und Thrombozytenkonzentraten entscheidend. Wiederholte Blutgas- und Gerinnungskontrollen sind notwendig. Eine invasive Blutdruckmessung und Anlage eines zentralvenösen Zugangs sind zur Überwachung wichtig. Neben der Volumensubstitution sind unter Umständen Katecholamine zur Aufrechterhaltung eines adäquaten Kreislaufs erforderlich. Geburtshilfliche Blutungen können äußerst dramatisch verlaufen und führen aufgrund der schnellen, großen Blutverluste rasch zu einer disseminierten intravasalen Koagulopathie (DIC). Gerinnungsentgleisungen werden durch Mediatoren, die von der Plazenta ausgeschüttet werden (z. B. Thromboplastin), zusätzlich getriggert. Frühzeitig sollte zusätzliches Personal zu Hilfe geholt werden, um alle notwenigen Maßnahmen (Bestellung/Anhängen von Blutprodukten, Anlegen von genügend peripher-venösen Zugängen, invasives Monitoring usw.) durchführen zu können!
37
390
Kapitel 37 · Anästhesie in der Gynäkologie und Geburtshilfe
37.6.3 Uterusatonie Die postpartale Uterusatonie soll hier gesondert als mögliche Blutungsursache dargestellt werden, da der Anästhesist durch seine Narkoseführung darauf zusätzlich Einfluss nehmen kann. Inhalationsanästhetika haben neben ihrer skelettmuskelrelaxierenden Wirkung auch eine Relaxation der Uterusmuskulatur mit der Gefahr der Atonie zur Folge. Daher ist bei Sectiones in ITN oder auch bei manuellen Nachtastungen darauf zu achten, dass die Konzentration des Narkosegases nicht zu hoch gewählt wird. Dosierungen von 0,6–1 Vol% Enfluran bzw. bis 0,75 Vol% Isofluran werden in den meisten Studien als sicher erachtet (über die Anwendung von Desfluran und Sevofluran liegen keine ausreichenden Erfahrungen bei Schwangeren vor, eine uterusrelaxiernde Wirkung kann jedoch angenommen werden). Medikamente, die im Falle einer Atonie auf Anweisung des Gynäkologen durch den Anästhesisten verabreicht werden, sind: 4 Oxytocin (Dosis: 3 IE als Bolus i.v. und/oder 10 IE ad 500 ml Infusion) 4 Methylergometrin (Dosis: 0,5–1 mg i.v.) 4 Prostaglandine (meist Prostaglandin F2D, Dosis: 5 mg ad 500 ml Infusion, oder Prostaglandin E2) Prostaglandin F2D führt neben der Uteruskontraktion auch zu einer Tonisierung der Zervix, weswegen es von vielen Gynäkologen bevorzugt eingesetzt wird. Alle genannten Medikamente bergen bei Überdosierung das Risiko einer Uterusruptur durch Kontraktionssteigerung in sich. : Beispiel
37
Die Anästhesistin wird um 5:35 Uhr zu einer Patientin mit Uterusatonie in den Kreissaal gerufen. Die Patientin hat um 4:51 Uhr spontan entbunden. Es ist ihr 4. Kind. Die Apgar-Werte des Kindes betrugen 7/10/10. Die Plazenta hat sich vollständig gelöst. Aufgrund einer Uterusatonie kam es zu einer Nachblutung, vom Gynäkologen hat die Patientin bereits 3 IE Oxytocin i.v. erhalten, 10 IE Oxytocin in 500 ml Normofundin und 1 Ampulle Methergin i.v. Um 5:16 Uhr erhält die Patientin eine vaginale Tamponade mit Minprostin F2D, um 5:20 Uhr wird Minprostin F2D in 500 ml NaCl angehängt. Um 5:40 Uhr trifft die Anästhesistin im Kreissaal ein. Sie findet eine wache, orientierte Patientin vor. Die Blutdruckwerte sind mit systolisch 90 mmHg noch tolerabel. Monitoring (RR, EKG Pulsoxymetrie) wird angelegt, Volumen substituiert mit Jonosteril 1000 ml, HAES 6% 1500 ml. Erythrozytenkonzentrate (EKs) und Frischplasmen (FFPs) werden bestellt. Insgesamt werden 3 periphervenö6
se Zugänge gelegt. Noch im Kreissaal erhält die Patientin insgesamt 6 EKs und 4 FFPs. Die Patientin ist weiterhin kreislaufstabil und ansprechbar. Da die Blutung nicht zum Stillstand kommt, wird der Entschluss zur Hysterektomie gefasst. Im OP fällt die Patientin nach der RSI mit dem Blutdruck ab, stabilisiert sich jedoch rasch wieder nach weiterer Volumengabe. Ein zentralvenöser Zugang wird perioperativ angelegt. Die venöse Blutgasanalyse ergibt einen Hb von 7,5 g/l, Natrium und Kalium sind normwertig, eine Hypokalzämie wird substituiert. Der Operateur teilt mit, dass er Schwierigkeiten bei der Blutstillung hat. Die Patientin erhält im weiteren Verlauf noch 12 EKs, 6 FFPs, 1000 IE Antithrombin, 1000 IE PPSB. Wiederholt misslingt die Anlage einer arteriellen Kanüle bei der mittlerweile zentralisierten Patientin. Nachdem doch noch eine invasive RR-Messung angelegt werden konnte, werden regelmäßig arterielle Blutgasanalysen durchgeführt. Eine Azidose wird mit 100 mmol Natriumbikarbonat ausgeglichen. Eine Gerinnungsanalyse um 6:28 Uhr ergibt einen Quickwert von 42 %, eine PTT von 56 s. Um 7:48 Uhr werden die weiteren Werte vom Labor durchgegeben: ATIII 41 % (Normwert 80–120 %), Fibrinogen 160 mg/dl (Normwert 180–350 mg/dl). Die Thrombozytenzahl liegt nach »blinder« Transfusion von 2 Thrombozytenkonzentraten bei 75000/Pl. Nach der Gabe von Faktor VIIa (NovoSeven) kommt die Blutung erstmals zum Stillstand. Während der gesamten OP-Dauer war die Patientin kreislaufstabil und nicht katecholaminpflichtig. Die Sättigungswerte lagen bei einer inspiratorischen Sauerstoffkonzentration von 0,5 stets bei 98–100 %. Es gab keine Besonderheiten bei der Beatmung. Die Patientin hat 400 ml Urin ausgeschieden. Sie wird postoperativ intubiert und beatmet auf die Intensivstation verlegt, dort erhält sie noch Fibrinogen. Am nächsten Tag kann sie extubiert werden, nach einem weiteren Tag wird sie auf die Normalstation verlegt. Am 10. postoperativen Tag kann die Patientin nach Hause entlassen werden.
37.6.4 Fruchtwasserembolie Die Fruchtwasserembolie stellt eine seltene geburtshilfliche Komplikation dar. Die genaue Inzidenz ist nicht bekannt, sie wird mit etwa 1 : 50000 angegeben. Die ausgesprochen hohe Mortalität (mütterliche Sterblichkeit 60–80 %, kindliche Sterblichkeit 50 %) konnte bisher durch keine Therapiestrategie deutlich gesenkt werden. Ursächlich wird die Einschwemmung fetaler Antigene (Fruchtwasser enthält u. a. Lanugohaare, Vernix caseosa, Mekonium, fetale Plattenepithelien) in die mütterliche Blutstrombahn für das Geschehen verantwortlich gemacht. Vorkommen kann
391 37.7 · Pharmakologische Besonderheiten während Schwangerschaft und Stillzeit
dies sowohl bei einer Spontangeburt durch Verletzung endozervikaler Venen, als auch bei einem Kaiserschnitt, oder einer vorzeitigen Plazentalösung. Die Immunantwort der Mutter triggert nach Einschwemmung von kindlichen Zellen/Zellbestandteilen die Freisetzung von Mediatoren, die zu lebensbedrohlichen Kreislaufreaktionen und Gerinnungsstörungen führen können. Bekannte Risikofaktoren für eine Fruchtwasserembolie 5 5 5 5 5 5 5 5
Gesteigerte Wehentätigkeit Uterusruptur Abruptio placentae Hoher Zervixriss Sectio Intrauteriner Fruchttod Multiparität Amniozentese
Da die Symptomatik und der klinische Verlauf weniger durch eine Embolie an sich aufrecht erhalten werden als vielmehr durch ein anaphylaktoides Geschehen, wird in der Literatur vorgeschlagen, den Begriff »Fruchtwasserembolie« zu ersetzten durch »anaphylactoid syndrome of pregnancy«. Die Diagnose erfolgt als Ausschlussdiagnose rein klinisch anhand der Symptome: 4 Dyspnoe, Tachypnoe, Zyanose 4 Unruhe, Verwirrtheit, Krampfanfälle 4 Blutdruckabfall 4 Asystolie 4 Koagulopathie 4 fetale Bradykardie Unter Umständen steht nur eines der Symptome im Vordergrund und in Frage kommende Differenzialdiagnosen (postpartale Blutung, Präeklampsie, HELLP, Lungenembolie, Anaphylaxie, vorzeitige Plazentalösung, Luftembolie, Myokardinfarkt, Aspiration, Sepsis, toxische Lokalanästhetikawirkung) erschweren die Diagnosestellung. Im Verlauf kann es durch die mechanische Verlegung der Lungenstrombahn zu einer pulmonalen Hypertonie mit Gefahr der Rechtsherzdekompensation kommen. Das Herzzeitvolumen nimmt ab, ein Linksherzversagen kann resultieren. Das kardiopulmonale Versagen steht in der Anfangsphase meist im Vordergrund. Ist die Entbindung des Kindes zu diesem Zeitpunkt noch nicht abgeschlossen, kommt es zu fetaler Bradykardie, die in vielen Fällen zum Tod des Kindes führt und bei 50 % der überlebenden
Kinder zu neurologischen Defiziten führt. In der zweiten Phase beherrschen massive Blutungen und Gerinnungsstörungen das Bild. Wird auch diese Phase überstanden, so droht noch Tage nach dem Ereignis ein Multiorgandysfunktionssyndrom. Die Therapie der Fruchtwasserembolie erfolgt symptomatisch: 5 Kardiopulmonale Reanimation, rasche Geburtsbeendigung, ggf. unter Reanimation 5 Oxygenierung mit hoher FiO2 5 Kreislauftherapie mittels Katecholaminen und Volumen 5 Gerinnungstherapie mittels Erythrozyten-, Thrombozytenkonzentraten, Frischplasma, AT III, Gerinnungsfaktoren, ggf. niedrig dosiertes Heparin, ggf. Antifibrinolytika (Aprotinin) 5 Glukokortikoide initial in hoher Dosierung 5 Uterustonisierung (Oxytocin, Methylergometrin, Prostaglandine) 5 Invasives Monitoring 5 Operative Maßnahmen 5 Organersatzverfahren
Eine Notsectio verbessert die Reanimationschancen, die bei einer hochschwangeren Patientin drastisch verschlechtert sind, und auch die Überlebenschancen des Kindes.
37.7
Pharmakologische Besonderheiten während Schwangerschaft und Stillzeit
Bei etwa 2 % aller Schwangeren wird ein operativer Eingriff durchgeführt. Dies bedeutet für den Anästhesisten, dass er bei der Wahl des Narkoseverfahrens und der Auswahl der Medikamente sozusagen zwei Patienten berücksichtigen muss: Die Mutter mit den entsprechenden physiologischen, schwangerschaftsbedingten Veränderungen und das ungeborene Kind, das über die uteroplazentare Einheit mit dem Kreislauf der Mutter in Verbindung steht und je nach Plazentagängigkeit der Medikamente auch deren Wirkungen und Nebenwirkungen ausgesetzt ist. Zu den möglichen Risiken für das ungeborene Kind gehören grundsätzlich das Risiko der potenziellen Teratogenität von Medikamenten, das Risiko der vorzeitigen Wehenauslösung und die Beeinträchtigung der uteroplazentaren Perfusion mit Gefahr der Asphyxie. Letzterem wird in erster Linie durch Aufrechterhaltung eines adäquaten mütterlichen Blut-
37
392
Kapitel 37 · Anästhesie in der Gynäkologie und Geburtshilfe
. Tabelle 37.1. Perioperativ verwendete Medikamente und Plazentagängigkeit (nach Lang et al. 2002)
37
Medikament
Plazentapassage
Nebenwirkungen
Empfehlung
Volatile Anästhetika
Ja
Uterine Relaxation mit Gefahr der Blutung
Dosierung ≤ 1 MAC bei Sectio
Thiopental
Ja
Atemdepression bei > 5 mg/kg KG bzw. repet. Dosen
Einleitungsdosis 4–5mg/kg KG
Propofol
Ja
Niedrige APGAR-Werte bei Dosierung > 2,5 mg/kg bzw. kontinuierlicher Gabe > 9 mg/kg/h
Einleitungsdosis 2–2,5 mg/kg KG
Etomidate
Ja
Vereinzelt Suppression der Nebennierenrinde postpartal
Zur Einleitung bei kardialen Risikopatientinnen geeignet
Ketamin
Ja
Hypertonie, mütterliche Angstzustände (bei Dosierung ≥ 1,5 mg/kg)
Kontraindikation: Präeklampsie, Gestose, uterine Hyperaktivität
Lachgas
Ja
Diffusionshypoxie, megaloblastäre Anämie (selten)
Nicht im 1. und. 2. Trimenon; kurze Exposition während Sectio (N2O : O2 = 1 : 1) tolerabel
Benzodiazepine
Ja (Ausmaß je nach Lipophilie)
»Floppy-infant-syndrome«: Trinkschwäche, schlaffer Muskeltonus, Atemdepression
Nicht im 1. Trimenon; nur kurzfristig, niedrig dosiert
Opioide
Ja (Ausmaß je nach Lipophilie)
Atemdepression
Bei Sectio nach Abnabelung des Kindes
Muskelrelaxanzien
Gering
Keine bekannt
Unbedenklich
Atropin
Ja
Tachykardie
Strenge Indikationsstellung
Paracetamol
Ja
Erst bei Überdosierung der Mutter
Schmerzmedikament 1. Wahl
Metamizol
Ja
Blutbildungsstörung u. a. (selten)
Nicht empfohlen; Kontraindiziert im 3. Trimenon
Dimenhydrinat
Keine Angaben
Keine bekannt
Antiemetikum 1. Wahl
Lokalanästhetika (Bupivacain, Ropivacain)
Ja
Bei hoher fetaler Konzentration kardio- und neurotoxisch
In üblicher Dosierung keine toxischen Effekte
Heparin
Nein
Keine bekannt
Antikoagulans 1. Wahl
drucks und einer Normoventilation Rechnung getragen. Wie bereits erwähnt, besteht für die wenigsten Pharmaka eine Zulassung während der Schwangerschaft, jedoch ist bei keinem der gängigen Narkosemedikamente eine Teratogenität bekannt. Die Verwendung der Medikamente orientiert sich in erster Linie an tierexperimentellen Studien und empirischen Daten. Gleiches gilt für die Medikamentengabe bei Eingriffen, die postpartal während der Stillzeit durchgeführt werden. Der Übertritt von Medikamenten in die Muttermilch ist von verschiedenen Faktoren abhängig, auf Sinn oder Notwendigkeit einer postoperativen Stillpause wird in Kapitel 37.7.2 näher eingegangen.
37.7.1 Medikamente
und Plazentagängigkeit Die Plazentagängigkeit von Medikamenten ist abhängig von Molekulargewicht, Fettlöslichkeit und Ionisierungsgrad des Medikaments: Je geringer das Molekulargewicht (< 500 Dalton), je fettlöslicher und je geringer der Ionisierungsgrad des Medikaments, desto leichter passiert es die Plazentaschranke und tritt in den kindlichen Kreislauf über. Daneben spielen auch der Diffusionskoeffizient, der Konzentrationsgradient und die Proteinbindung des entsprechenden Medikaments eine wichtige Rolle. Eine Übersicht
393 Literatur
über einzelne Medikamente und Anwendungsempfehlungen (nach Lang et al.) gibt . Tab. 37.1. Sollten Antibiotika in der Schwangerschaft oder peripartal notwendig sein, gelten als Mittel der Wahl Penicilline und Cephalosporine aufgrund ihrer fehlenden Teratogenität und Toxizität. ! Cave Kontraindiziert sind Aminoglykoside (oto- und nephrotoxisch), Tetrazykline (toxisch für Zähne und Knochen), Sulfonamide und Chloramphenicol (»grey-baby-syndrome«, toxisches Syndrom bei Neugeborenen mit blasser Zyanose und aufgetriebenem Abdomen).
37.7.2 Anästhesie in der Stillzeit Nach einer Sectio caesarea in Allgemeinanästhesie mit üblicher Medikamentendosierung kann es zwar noch zu einem Übertritt von Medikamenten in die Muttermilch kommen, Auswirkungen auf das Neugeborene sind jedoch nicht zu erwarten. Daher kann die Mutter stillen, sobald sie sich dazu in der Lage fühlt. Wird bei einer stillenden Mutter eine Operation mit Narkose durchgeführt, z. B. eine Abrasio zur Entfernung eines Plazentarests, sollte der Zeitpunkt der Operation präoperativ möglichst genau feststehen: Einerseits kann eine zu lange Flüssigkeitskarenz der Mutter hemmenden Einfluss auf die Milchproduktion haben, andererseits kann die Mutter so kurz vor Operationsbeginn noch einmal stillen. Postoperativ ist eine Stillpause nicht zwangsläufig notwendig. Die Medikamentendosis, die den Säugling über die Muttermilch erreicht, ist von einer Vielzahl von Faktoren abhängig (Dosis, Applikationsweg bei der Mutter, Häufigkeit der Gabe, Proteinbindung, Verteilungsvolumen, pharmakokinetische Eigenschaften des Medikaments, kindliche Pharmakokinetik, Milchmenge usw.) und kann nur annähernd abgeschätzt werden. Grundsätzlich gilt: ! Je unreifer ein Säugling, desto anfälliger ist er für toxische Medikamenteneffekte!
Für die Anwendung der meisten Medikamente in der Stillzeit – wie auch während der Schwangerschaft – gibt es keine explizite Zulassung. Bei einmaliger Applikation im Rahmen einer Anästhesie sind jedoch die gängigen Allgemein- und Lokalanästhetika als unbedenklich zu bewerten. Daher kann bei sorgfältiger Auswahl der Medikamente kurz nach der Operation wieder gestillt werden. Soll dennoch eine Stillpause eingehalten werden, kann präoperativ Milch abgepumpt werden, die postoperativ während der Stillpause gegeben werden kann.
Keine Stillpause scheint nach aktueller Datenlage (Lang et al. 2003) bei einmaliger Gabe notwenig zu sein bei: 4 Thiopental 4 Succinylcholin, nicht depolarisierenden Muskelrelaxanzien 4 Alfentanil, Fentanyl (Sufentanil, Remifentanil und Piritramid vermutlich unbedenklich) 4 Volatile Anästhetika 4 Tramadol 4 Atropin 4 Neostigmin, Pyridostigmin 4 Paracetamol 4 Ibuprofen 4 Bupivacain Stillpausen (in Klammern) werden bei folgenden Medikamenten empfohlen: 4 Propfol (12–24 h) 4 Etomidate (4 h) 4 Midazolam (4 h) 4 Morphin (2 h)
Substanzen, die während der Stillperiode nicht empfohlen werden bzw. nach deren Einnahme eine Stillpause empfohlen wird, sind z. B.: 4 Diazepam 4 Dikaliumclorazepat 4 Azetylsalizylsäure 4 Metamizol 4 Haloperidol
Literatur Gogar ten W, Marcus MA, Van Aken H (1997) Geburtshilfliche Schmerztherapie. Anaesthesist 46: 159–164 Gogar ten W, Van Aken H (2001) Anästhesie während der Schwangerschaft. Anästhesiologie und Intensivmedizin 42: 963–72 Kretzschmar M, Zahm DM, Remmler K, Pfeiffer L, Victor L, Schirrmeister W (2003) »Anaphylactoid syndrome of pregnancy«. Anaesthesist 52: 419–426 Lang C, Behnke H, Wulf H, Geldner G (2002) Plazentapassage von Anästhetika und Adjuvanzien. Anaesthesist 51: 409–17 Lang C, Geldner G, Wulf H (2003) Anästhesie in der Stillperiode. Anaesthesist 52: 934–46 List W, Osswald PM, Hornke I (2003) Komplikationen und Gefahren in der Anästhesie. Springer, 4. Aufl, Berlin Lorenz C, Beck L (2003) Lokal- und Leitungsanästhesien in der Geburtshilfe. Gynäkologe 36: 993–1004 Schneider P, Reinhold P (2000) Anästhesie in der Stillzeit. Anästhesiol Intensivmed Notfallmed Schmerzther 35: 356–74
37
38 Erstversorgung von Neugeborenen Martin Kroll 38.1 Organisatorische Voraussetzungen –396 38.2 Kreislaufverhältnisse, Atmung und Thermoregulation –397 38.3 Zustandsbeurteilung –398 38.4 Durchführung der Erstversorgung –399 38.4.1 38.4.2 38.4.3 38.4.4 38.4.5
Ziele der Primärversorgung –399 Gesunde Neugeborene –399 Zyanotische Neugeborene / Neugeborene mit Anpassungsstörungen –399 Neugeborene mit terminaler Apnoe –400 Tote, aber reanimierbare Neugeborene –403
38.5 Dokumentationspflicht –403 38.6 Spezielle Probleme –404 38.6.1 38.6.2 38.6.3 38.6.4 38.6.5 38.6.6 38.6.7
HIV-Infektion der Mutter –404 Mekoniumhaltiges Fruchtwasser –404 Hypovolämischer Schock –404 Zwerchfellhernie –404 Ösophagusatresie –405 Omphalozele, Gastroschisis –405 Spina bifida –405
38.7 Offene Fragen –406 38.7.1 Sauerstoffzufuhr bei Beatmung –406 38.7.2 Hypothermie bei Asphyxie –406
Literatur –406
396
Kapitel 38 · Erstversorgung von Neugeborenen
)) In den 2000 Akutkrankenhäusern der Bundesrepublik Deutschland gibt es etwa 1100 gynäkologisch-geburtshilfliche Abteilungen. Diesen stehen 300 Kinderkliniken gegenüber, d. h. es ist nur bei in einem Drittel der Geburten möglich, dass ein Neugeborenes unmittelbar nach der Geburt von einem Kinderarzt versorgt werden kann. Aufgrund dieser Tatsache kommt der Anästhesist immer wieder in die Situation, Neugeborene erstversorgen zu müssen. In diesem Kapitel werden die Prinzipien der Diagnostik und Therapie von Adaptationsstörungen sowie die speziellen Aspekte der Neugeborenen-Reanimation dargestellt.
38.1
Organisatorische Voraussetzungen
Die organisatorischen Voraussetzungen der Erstversorgung von Neugeborenen sind durch eine gemeinsame Stellungnahme aller beteiligten Fachgesellschaften (Gynäkologie und Geburtshilfe, Anästhesie und Intensivmedizin, Perinatologie, Neonatologie und pädiatrische Intensivmedizin) geregelt. Demnach liegt die organisatorische Verantwortung für die Erstversorgung von Neugeborenen beim Geburtshelfer. Bei Bedarf fordert er den Neonatologen an. Ist kein Neonatologe in der Abteilung tätig oder liegt ein Notfall vor, wird zusätzlich der Anästhesist zur Versorgung des Neugeborenen bis zum Eintreffen des neonatologischen Teams hinzugezogen. ! Bei allen Risikoschwangerschaften wird bereits im Vorfeld das pädiatrische Team durch den Geburtshelfer informiert.
38
Indikationen für Stand-by des Neonatologen/ Anästhesisten Frühgeburt Mehrlinge Intrauterine Infektion Mekoniumhaltiges Fruchtwasser Morbus hämolyticus fetalis Fetale Brady- und Tachyarrhythmien Intrauterine Mangelentwicklung < 5. Perzentile einer vom Gestationsalter abhängigen Ultraschall-Schätzgewichtskurve 5 Pränatal diagnostizierte, versorgungsrelevante Fehlbildungen 6 5 5 5 5 5 5 5
5 Schwere schwangerschaftsassoziierte Erkrankungen (z. B. schwere Präeklampsie, HELLP-Syndrom) 5 Chronische Infektionen der Mutter, wenn sie den Feten bedrohen (Toxoplasmose, HSV, CMV, HIV ) 5 Insulinpflichtiger Diabetes mellitus, Gestationsdiabetes 5 Chronische Erkrankungen der Mutter, wenn sie den Feten bedrohen (z.B. schwere Organerkrankungen, Phenylketonurie, Hypo-/ Hyperthyreose, Zustand nach Transplantation, Autoimmunopathien) 5 Drogenabhängigkeit
Die Primärversorgung muss in einem ungestörten und ruhigen Umfeld erfolgen. Ein stetiges Kommen und Gehen im Versorgungsraum ist auch hinsichtlich der Regulation der Körpertemperatur des Neugeborenen zu vermeiden. Das benötigte Instrumentarium ist in der Übersicht zusammengestellt. Wichtig zur Verhütung des Wärmeverlusts eines Neugeborenen ist ferner die Vermeidung von: 4 Konvektion o Kind in vorgewärmte Moltontücher hüllen, Luftzug vermeiden, Atemgas anwärmen 4 Strahlung o größere Entfernung von Fenster- und Kachelflächen 4 Konduktion o Tisch anwärmen 4 Verdunstung o Kind abtrocknen, Atemgas anfeuchten Instrumentarium für die Primärversorgung von Neugeborenen 5 Absaugvorrichtung mit 0,2(–0,5) bar Sog, Absaugsonden Ch 6 und 8, Sekretauffangglas 5 Pulsoxymeter mit Sensoren unterschiedlicher Größe, Blutgasanalysegerät 5 Sauerstoffquelle mit Flowmeter und Zuleitung 5 Beatmungssystem (z.B. Baby-Ambu-Beutel, Laerdal-Beutel für Neugeborene) mit PEEP-Ventil (3–4 cm H2O) und Beatmungsmaske (Größe 0 und 1) 5 Laryngoskop mit geradem Spatel, Nr. 0 (Frühgeborene) und Nr. 1 (Reifgeborene) 5 Magill-Zange für Neugeborene 5 Endotrachealtuben (2,5/3,0/3,5 I.D.) mit Adapter, Flasche steriles Aqua dest. zum Befeuchten des Tubus 6
397 38.2 · Kreislaufverhältnisse, Atmung und Thermoregulation
5 Blutdruckmessgerät (z.B. Dinamap neonatal) 5 Stoppuhr zur Bestimmung der Apgar-Werte (. Tab. 38.4) bzw. Feststellung von Intubationszeitpunkt und Reanimationsdauer 5 Magensonden 5 Neugeborenenstethoskop 5 Frühgeborenenthermometer Das Instrumentarium muss auf Funktionsfähigkeit überprüft sein!
Medikamente zur Notfallversorgung, die bereitgestellt sein sollten, sind in . Tab. 38.1 zusammengestellt. Auf Empfehlung der Ernährungskommission wird bei der Erstversorgung eine orale Vitamin-K-Prophylaxe (Konakion MM) mit 2 mg durchgeführt. Wenn eine orale Gabe wegen zweifelhafter Resorption nicht möglich ist oder eine parenterale Gabe aus anderen Gründen (krankes
. Tabelle 38.1. Medikamente und Dosierung für die Erstversorgung Neugeborener Aufgezogen bereitliegend
Sofort zugänglich bzw. nach Indikation bereitliegend
5 Glukose 5 % (20 ml) 5 NaCl 0,9 % (5 ml) 5 Konakion
5 Antibiotika (z. B. Ampicillin 50–100 mg/kg KG) 5 Koffeinzitrat (10–20 mg/kg KG) 5 Diazepam (0,1–0,5 mg/kg KG) 5 Natriumbikarbonat 8,4 % 5 Adrenalin 1 : 10.000 verdünnt 5 Kristalloide Lösung (15–20 ml/kg KG) 5 Notfallerythrozytenkonzentrat der Blutgruppe 0 rh-negativ, CMV-frei 5 (Naloxon)
Neugeborenes, abdominelle Probleme) indiziert ist, kann 0,5 mg Vitamin K1 (Konakion MM Amp. 10 mg/ml) i.m. verabreicht werden (. Tab. 38.2). ! Vitamin K ist für die parenterale Gabe zur Blutungsprophylaxe bei Früh- und Neugeborenen nicht zugelassen. Die Ausnahme bei extrem Frühgeborenen erfolgt zur Vermeidung von Unruhezuständen durch intramuskuläre Injektion. Die intravenöse Verabreichung bei dieser Indikation er folgt in Anlehnung an die i.v.-Gabe bei Gerinnungsstörungen und in der Kinderonkologie sowie bei lebensbedrohlichen Vitamin-K-Mangelblutungen.
38.2
Kreislaufverhältnisse, Atmung und Thermoregulation
Die Oxygenierung des fetalen Blutes geschieht in der Plazenta, intrauterin beträgt der Sauerstoffpartialdruck des zirkulierenden Blutes 25 mmHg. Dieser niedrige Sauerstoffpartialdruck wird beim Feten durch eine Linksverschiebung der Sauerstoffdissoziationskurve und die größere Sauerstoffaffinität des fetalen Hämoglobins kompensiert. Bei einer normalen Geburt wirken auf die Plazenta und den Feten in der Austreibungsphase Drucke ein, die über dem systolischen Blutdruck der Mutter liegen. Hierdurch kommt es immer zu einer kurzfristigen Unterbrechung der uterinen Durchblutung, was die metabolische Azidose des Feten unter der Geburt erklärt (pH-Wert ca. 7,25; BE ca. –8 mmol/l). Die Atemtätigkeit setzt durch die Stimulation der zentralen Atemzentren ein. Neben den Veränderungen von pH-Wert und pCO2 sind pO2, Temperaturveränderung, Druck und Schmerz weitere Reize. In der Regel besteht nach 2–3 min eine stabile Eigenatmung, die bei Frühgeborenen periodisch ist. ! Neugeborene sind obligatorische Nasenatmer, eine Mundatmung ist nicht in ausreichendem Maße möglich.
. Tabelle 38.2. Dosierung von Vitamin K bei Neugeborenen Reifgeborene und Frühgeborene > 2000 g
Frühgeborene < 2000 g
Frühgeborene < 1000 g
2 mg Vitamin K = 0,2 ml Konakion MM p.o.
0,2 mg Vitamin K1 i.m. = 0,02 ml Konakion MM Amp. 10 mg/ml (mit NaCl 0,9 % verdünnen!)
0,1 mg Vitamin K1 i.m oder i.v. = 0,01 ml Konakion MM Amp. 10 mg/ml (mit NaCl 0,9 % verdünnen!)
Voraussetzung für die Ausbildung der funktionellen Residualkapazität ist eine ausreichende Surfactant-Produktion, die mit 24 Schwangerschaftswochen (SSW) beginnt und in der 35. SSW stark ansteigt. Frühgeborene sind somit hinsichtlich einer unzureichenden Entfaltung des Alveolarsystems und der Entwicklung von Atelektasen besonders gefährdet. Mit den ersten Atemzügen steigt die Durchblutung der Lunge an. Die zunehmende Oxygenierung führt zu einer allmählichen Erweiterung der Lungenarterien. Die Druckveränderungen führen zu einem funktionellen Verschluss des Foramen ovale, der höhere pO2 des Blutes zum funktio-
38
398
Kapitel 38 · Erstversorgung von Neugeborenen
nellen Verschluss des Ductus arteriosus. Pathologische Veränderungen oder auch nur eine Drucksteigerung im kleinen Kreislauf durch Schreien können zu einer Wiedereröffnung des Ductus arteriosus und zum Rechts-Links-Shunt führen. Zur Beurteilung des präductalen paO2 sollte bei der Erstversorgung die transkutane Sauerstoffsättigungsüberwachung möglichst an der rechten Hand erfolgen. Die mittleren Blutdruckwerte (MAD) in Abhängigkeit vom Geburtsgewicht in den ersten Lebenstagen zeigt . Tab. 38.3. Für extrem kleine Frühgeborene kann als Faustregel gelten: MAD am 1. Lebenstag = Gestationsalter in mmHg. ! – Eine Vergrößerung des Atemminutenvolumens ist bei Neugeborenen nur über eine Steigerung der Atemfrequenz möglich. – Eine Vergrößerung des Herzminutenvolumens ist bei Neugeborenen nur über eine Steigerung der Herzfrequenz möglich. – Tachypnoe und Tachykardie können Zeichen einer drohenden Dekompensation sein.
. Tabelle 38.3. Mittlere Blutdruckwerte in Abhängigkeit vom Geburtsgewicht in der ersten Lebenswoche Geburtsgewicht (g)
Mittlerer Blutdruckwert (MAD)
< 1000
30–35 mmHg (4,0–4,7 kPa)
1000–1500
35–40 mmHg (4,7–5,3 kPa)
1500–2000
40–45 mmHg (5,3–6,0 kPa)
2000–3000
45 mmHg (6,0 kPa)
> 3000
50 mmHg (6,7 kPa)
Als Erklärung einer Ateminsuffizienz nach der Geburt dient das Tiermodell nach Dawes. Bei einer akuten Asphyxie kommt es demnach zunächst nach einigen insuffizienten Atemzügen zu einer Phase primärer Apnoe. Nach 1–2 min beginnt die Schnappatmung mit ansteigender Frequenz und Intensität, die dann aber nach ca. 8 min in die Phase der terminalen Apnoe übergeht. Wärme kann von Neugeborenen nicht durch Muskelzittern produziert werden, sondern fast ausschließlich durch Lipolyse im braunen Fettgewebe. Dies steigert den Verbrauch von Energie, Sauerstoff und Glukose und führt zu einer metabolischen Azidose durch Anhäufung freier Fettsäuren und Laktat. Besonders das Frühgeborene ist gefährdet durch eine geringe subkutane Fettschicht, einen geringen Bestand an braunem Fettgewebe, durch ein größeres Verhältnis von Oberfläche zu Körpermasse, eine höhere Perspiratio insensibilis, eine physiologische Tachypnoe und eine starke Vaskularisierung.
38.3
Zustandsbeur teilung
Die Beurteilung des klinischen Zustandes eines Neugeborenen nach der Geburt erfolgt mit Hilfe des Apgar-Schemas (. Tab. 38.4) jeweils nach einer, fünf und zehn Minuten. Hautfarbe. Nach 1 min sollte die Hautfarbe bis auf Hände und Füße rosig sein. Eine Akrozyanose ist kein verlässlicher Indikator für eine Hypoxämie, sondern eher ein Zeichen einer anderen Störung wie z. B. Kältestress. Atmung. Die transiente Tachypnoe des Neugeborenen be-
ruht auf einem unzureichenden Transport von intraalveolärer Flüssigkeit in das Lymphsystem. Schnappatmung oder eine Apnoe sind Zeichen einer notwendigen Atemunterstützung.
38 . Tabelle 38.4. Apgar-Schema Symptom
0 Apgar-Punkte
1 Apgar-Punkt
2 Apgar-Punkte
Hautfarbe
Blau oder weiß
Akrozyanose
Rosig
Atmung
Keine
Langsam, unregelmäßig
Gut
Herzaktion
Keine
< 100/min
> 100/min
Muskeltonus
Schlaff
Träge Flexion
Aktive Bewegung
Reflexe beim Absaugen
Keine
Grimassieren
Schreien
399 38.4 · Durchführung der Erstversorgung
Herzaktion. Die normale Herzaktion des Neugeborenen
liegt zwischen 100 und 140 Schlägen/min. Ist sie langsamer, sind Herzzeitvolumen und Gewebeperfusion reduziert.
4 Minimierung des O2-Verbrauchs und des Energieverlustes durch Vermeidung von Wärmeverlusten
38.4.2 Gesunde Neugeborene
Muskeltonus. Während reife Neugeborene sofort aktiv
sind und auf Stimulation mit Bewegungen aller Extremitäten reagieren, haben Frühgeborene eine physiologische Minderung des Muskeltonus und der Spontanmotorik und einen herabgesetzten Reflexstatus. Reflexe beim Absaugen. Neugeborene reagieren stärker
als Frühgeborene beim Absaugen mit Grimassieren und Schreien. ! Herzfrequenz und Atmung sind zur Beurteilung generell wichtigere Kriterien als Muskeltonus und Reflexe.
Anhand der Zustandsbeurteilung nach 60–90 s lassen sich die Neugeborenen nach Roberton in vier Kategorien einteilen: 1. Gesunde Neugeborene (90–95 %) 2. Zyanotische und apnoische Neugeborene oder Neugeborene mit Anpassungsstörungen: die Herzfrequenz beträgt 80–100/min, die Kinder befinden sich im Stadium der primären Apnoe (s. o.; 5–6 %) 3. Neugeborene mit (terminaler) Apnoe, blassen Extremitäten und einer Herzfrequenz < 80/min (0,2–0,5 %) 4. Tote Neugeborene, die reanimierbar sind (< 0,1 %)
38.4
Durchführung der Erstversorgung
Die Richtlinien für die Erstversorgung von Neu- und Frühgeborenen werden in internationalen Arbeitsgruppen (ILCOR = International Liaison Committee on Resuscitation) stetig überarbeitet und als Evidenz-basierte Richtlinien publiziert.
38.4.1 Ziele der Primär versorgung Die Ziele der Primärversorgung unterscheiden sich nicht wesentlich vom bekannten ABC-Schema, lediglich die Aufrechterhaltung der Körpertemperatur ist ein zusätzlicher Bestandteil: 4 Entfaltung der Lungen durch Freimachen und Offenhalten der Atemwege 4 Anheben des arteriellen pO2 durch adäquate alveoläre Ventilation 4 Aufrechterhaltung einer ausreichenden kardialen Auswurfleistung
! Ein zu aggressives Vorgehen ist zu vermeiden!
Wichtiger als Absaugen ist bei gesunden Neugeborenen eine korrekte Lagerung des Kopfs zur Offenhaltung der Atemwege. Es sollte ein Finger zwischen Kinn und Brust passen, ist der Kopf zu weit überstreckt oder auf die Brust gelagert, wird der Larynx komplett verlegt. Durch Absaugen besteht die Gefahr von Schleimhautläsionen und reflektorischer Bradykardie und einem Verlust von Energiereserven. Es können Apnoen provoziert werden. Das Abnabeln erfolgt bei vaginaler Geburt mit Sistieren der Nabelschnur-Pulsationen, bei Sectio caesarea nach Ausstreichen der Nabelschnur. Eine chronische Plazentainsuffizienz oder deutliche Übertragung führt durch intrauterine Erythropoetin-Ausschüttung zu einer Polyzythämie. In diesen Fällen wird rasch ohne Ausstreichen abgenabelt. Ein gesundes Neugeborenes wird nach Abtrocknen und Vitamin-K-Gabe in einem vorgewärmten Frottiertuch der Mutter auf die Brust gelegt. Ein Baden des Kindes im Kreißsaal ist unnötig!
38.4.3 Zyanotische Neugeborene /
Neugeborene mit Anpassungsstörungen ! Bei Geburt Stoppuhr einschalten! Meist ist Absaugen und eine taktile Stimulation ausreichend.
Die Halswirbelsäule wird durch Unterlegen eines gefalteten Tuches leicht überstreckt. Der Mund wird zuerst abgesaugt, dann die Nase. Beim Abreiben mit warmen Tüchern haben Frottiertücher aufgrund der rauen Oberfläche und der guten Saugfähigkeit große Vorteile. Ein Abreiben von kaudal nach kranial führt zu einer Streckung der Wirbelsäule und damit zu einer Ausdehnung des Brustkorbes. Bei fortbestehender Zyanose erfolgt die O2-Zufuhr über den Reservoirschlauch des Ambu-Beutels, wobei die Entfernung zwischen Schlauch und Nase die O2-Konzentration bestimmt. Eine Maske kann lose auf das Gesicht aufgesetzt werden (Gasfluss 2–5 l/min). Zur Vermeidung von Hypoxämie oder Hyperoxie wird frühzeitig eine transkutane Sauerstoffsättigungssonde geklebt (besonders wichtig bei Frühgeborenen!).
38
400
Kapitel 38 · Erstversorgung von Neugeborenen
. Tabelle 38.5. Richtwerte zur Wahl von korrektem Endotrachealtubus und Absaugkatheter Körpergewicht bzw. Gestationsalter
Tubusgröße (innerer Durchmesser mm/Ch)
Absaugkatheter (Ch)
< 750 g oder < 26 SSW
2,0 oder 2,5/10 oder 12
5
750–2000 g oder 26–34 SSW
2,5 oder 3,0/12 oder 14
5 oder 6
> 2000 g oder > 34 SSW
3,0/14
6 oder 8
! Bei fehlendem Reservoirschlauch am Ambu-Beutel kann keine ausreichende O2-Konzentration erzielt werden.
Bei ausbleibender Stabilisierung innerhalb kürzester Zeit wird eine Maskenbeatmung unter kontinuierlicher Auskultation erforderlich. Sichtbare Thoraxexkursionen sind ausreichend! 4 Inspirationsdruck initial 30–40 cm H2O, dann 15–20 cm H2O 4 Beatmungsfrequenz 40–60/min, Gasfluss 4–6 l/min 4 Verhältnis Inspirationszeit : Exspirationszeit = 1 : 2 ! Cave Eine initiale Blähung kann bereits die Alveolarmembran zerstören! Beatmung mit zu hohen Drücken oder zu kurzer Exspirationszeit kann einen Pneumothorax provozieren! Bei zu forcierter Beatmung nach initialer Blähung kann das pCO2 rasch abfallen und eine Apnoe provozieren!
38
Jeder manuellen Beatmung ist eine Atemhilfe (CPAP = Continuous Positive Airway Pressure) über einen transnasal in den Pharynx vorgeschobenen Tubus vorzuziehen. Tubus max. 4 cm (Reifgeborene) bzw. 3 cm (Frühgeborene) einführen. Über einen CPAP-Tubus ist auch eine manuelle Ventilation möglich, dabei müssen Mund und offenes Nasenloch zugehalten werden. Bei Verwendung eines selbstblähenden Atembeutels erfolgt die Kompression mit den Fingerspitzen der rechten Hand. Bei Einsatz von Daumen und Zeigefinger ergeben sich Drücke von etwa 20 cm H2O. Jeder weitere Finger erhöht den Druck um etwa 5 cm H2O. Bei Frühgeborenen sollten die transkutanen O2-Sättigungen nicht über 93–95 % liegen. Die gefürchtete O2-Toxizität betrifft nicht nur die Augen (Frühgeborenen-Retinopathie) und die Lunge (bronchopulmonale Dyspasie). Auch im Gehirn drohen u. U. Folgeschäden durch toxische Sauerstoffradikale (7 Kap. 38.5.1). Erholt sich das Neugeborene mit diesen Maßnahmen nicht innerhalb von 2–3 min, ist die nasotracheale Intubati-
on angezeigt. Richtwerte zur Wahl der korrekten Endotrachealtuben- und Absaugkatheter zeigt . Tab. 38.5. Bei Frühgeborenen unter 1000 g eher Tubus Ch 12 oral als Tubus Ch 10 nasal (Sekretobstruktion)! Aufgrund der sicheren Fixierung wird immer eine nasotracheale Intubation angestrebt. Als Richtgröße zur Positionierung gilt: 4 Fixierung am Naseneingang bei 7 cm + kg KG in cm bei nasotrachealer Intubation 4 Fixierung an der Lippe bei 6 cm + kg KG in cm bei orotrachealer Intubation 4 Ende der schwarzen Tubusmarkierung im Bereich der Stimmritze (z. B. Vygon-Tuben) Bei Frühgeborenen, bei denen mit einem SurfactantMangel gerechnet werden muss (< 30 Schwangerschaftswochen), kommt ein Tubus mit eingearbeitetem Kanal zur eventuellen Surfactant-Applikation zur Anwendung. ! Die korrekte Tubuslokalisation wird durch Auskultation über beiden Lungenflügeln überprüft, im Zweifelsfall laryngoskopische Lagekontrolle! Eine möglichst rasche radiologische Kontrolle ist erforderlich.
Endotracheales Absaugen ist nur bei reichlicher Sekretbildung sinnvoll. Die Beatmung wird wie oben beschrieben durchgeführt. Die Kinder mit Anpassungsstörungen werden sich rasch erholen und können unter kontrollierten Bedingungen rasch extubiert werden. Bei einem Atemnotsyndrom aufgrund Surfactant-Mangels (Intubations- und Sauerstoffbedarf) bei einem Frühgeborenen mit einem Gestationsalter unter 28 SSW wird die möglichst rasche intratracheale Gabe eines Surfactant-Präparates durch einen Neonatologen empfohlen.
38.4.4 Neugeborene mit terminaler Apnoe Beatmung Hat ein Neugeborenes im Alter von 2 min noch keine ausreichende Spontanatmung, muss davon ausgegangen wer-
401 38.4 · Durchführung der Erstversorgung
den, dass es sich im Stadium der terminalen Apnoe befindet. Diese Neugeborenen haben als Zeichen der Asphyxie blasse Extremitäten und eine Herzfrequenz < 80/min. Der Blutdruck ist im Gegensatz zum Stadium der primären Apnoe erniedrigt. ! Eine rasche Intubation ist er forderlich zur Vermeidung biochemischer (pH-Wert-Erniedrigung, Laktaterhöhung) und physiologischer Veränderungen (verminderte Organperfusion). Das Risiko einer bleibenden Hirnschädigung nimmt mit zunehmender Dauer dieser Phase zu.
Die Beatmung erfolgt mit 100 % O2. Liegt die Herzfrequenz 30 s nach Beatmungsbeginn über 100/min, muss auf spontane Atembewegungen des Kindes geachtet werden. Ist das Kind rosig und die Atmung suffizient, sind weitere Maßnahmen nicht erforderlich.
Herzmassage Steigt die Herzfrequenz unter Beatmung nicht auf > 80/ min an oder liegt sie bereits initial unter 80/min, wird mit Herzmassage begonnen. Herzmassage bei Neugeborenen 5 5 5 5
Rhythmus: 3-mal Herzmassage – 1-mal Beatmung Kompressionsfrequenz: 90/min Kompressionstiefe: 1–2 cm Verhältnis Kompression : Entspannung 1 : 1
Es stehen zwei Techniken zur Verfügung (. Abb. 38.1): 1. Der Thorax wird mit beiden Händen von unten umgriffen, sodass sich beide Daumen in der Sternummitte in Mamillenhöhe berühren (Thaler-Stobie-Manöver). Bei Frühgeborenen legt man die Daumen übereinander. 2. Mit Zeige- und Mittelfinger wird das Sternum in der Mitte gegen die Wirbelsäule bewegt (2-Finger-Methode). Das Thaler-Stobie-Manöver ist der 2-Finger-Methode überlegen. Es erfolgt zusätzlich eine laterale Brustwandkompression, es werden höhere systolische und mittlere arterielle Drücke und höhere Koronarperfusionsdrücke erzielt. Während bei Erwachsenen überwiegend eine Arrhythmie zum Herzstillstand führt, besteht dagegen beim Neugeborenen in der Regel zunächst eine Ateminsuffizienz, die zur Hypoxie und Gewebeazidose führt. Dies wiederum führt zur Bradykardie, herabgesetzter Kontraktilität und evtl. zum Herzstillstand.
. Abb. 38.1. Durchführung der Herzmassage. (Nach Flake, Scheinichen [2005] Kindernotfälle im Rettungsdienst. Springer, Heidelberg)
! Bei der Bradykardie des Neugeborenen handelt es sich – im Gegensatz zum Erwachsenen – um einen perfundierten Rhythmus.
Medikamentöse Therapie Bei anhaltender Bradykardie nach 30 s Beatmung und Herzmassage besteht eine Indikation für die systemische Applikation von Adrenalin (. Tab. 38.6). Aufgrund der nicht ausreichenden Zirkulation ist die Gabe in eine periphere Vene meist nicht sinnvoll. Als Zugangsweg bietet sich die intratracheale Gabe aufgrund der großen Resorptionsfläche bei noch perfundierendem Herzrhythmus (s. o.) und der einfachen Handhabung an. ! Natriumbikarbonat darf prinzipiell nur nach vorheriger Kenntnis des Säure-Basen-Status gegeben werden! Es sollte nicht intratracheal verabreicht werden.
Eine »blinde« Pufferung wird nur bei einem schwerst asphyktischen Neugeborenen empfohlen, das nach 3– 5 min noch keine Spontanatmung zeigt. Ein solches Kind
38
402
Kapitel 38 · Erstversorgung von Neugeborenen
. Tabelle 38.6. Medikamentöse Therapie bei Neugeborenen – Dosierungen Medikament
Dosierung
Zubereitung
Adrenalin
0,01–0,03 mg/kg KG
1 ml Adrenalin 1 : 1000 + 9 ml Aqua dest 0,1 ml Lösung = 0,01 mg
Natriumbikarbonat
1–2 mmol/kg KG
8,4% = 1 mmol/ml 4,2 % = 0,5 mmol/ml 1 : 1 mit Aqua dest.
Naloxon (Narcanti)
0,1 mg/kg KG
Glukose 10 %
5 ml/kg KG, dann 2–3 ml/kg KG/h
len Niveau. Keine randomisierte Studie ergab einen Vorteil der Pufferung. Unter Umständen wirkt die Pufferung sogar durch die Hyperosmolarität und den resultierenden Anstieg des pCO2 hinsichtlich der myokardialen Kontraktilität und der zerebralen Funktion nachteilig! Das Spritzen von Medikamenten direkt in die Nabelvene ist gefährlich. Das Legen eines zuvor mit NaCl
38 . Abb. 38.2. Nabelvenenkatheterisierung. a) Abschneiden und Darstellen des Nabelschnurstumpfes, b) Einführen des Nabelvenenkatheters, c) Fixierung des Nabelvenenkatheters in Form eines Brückenpflasters
benötigt in der Regel 6–8 mmol/kg KG Natriumbikarbonat 1 : 1 verdünnt mit Aqua dest. über 2–3 min in die Nabelvene. Der empirische Nutzen der Pufferung begründet sich aus der besseren Wirkung der Katecholamine im neutra-
0,9 % oder Glukose 5 % gefüllten Nabelvenenkatheters (. Abb. 38.2) geht schnell; es muss unter sterilen Bedingungen erfolgen. Da eine Fehlpositionierung (Portalgefäß, Lungengefäß) möglich ist, wird der Katheter zunächst für die Medikamentengabe nur 1–2 cm über das Hautniveau vorgeschoben, bis sich Blut leicht aspirieren lässt. Für die Anwendung von Naloxon zur Behebung der Ateminsuffizienz nach vorheriger Opiatgabe an die Mutter liegen nur wenige Studien mit positiven Ergebnissen vor. Bei Drogenabusus der Mutter ist die Gabe von Naloxon beim Neugeborenen kontraindiziert, da hierdurch akute Entzugssyndrome ausgelöst werden können! Asphyktische Neugeborene sind besonders gegenüber Hypoglykämien (d 50 mg/dl = 2,8 mmol/l) gefährdet. Nach Blutzuckerkontrolle gibt man zunächst Glukose als Bolus zur Erhaltung der myokardialen Funktion. Im Anschluss an die Reanimationsmaßnahmen wird Glukose als Dauerinfusion unter engmaschiger Kontrolle des Blutzuckers zur Vermeidung von Hypo- und Hyperglykämien infundiert (. Tab. 38.6). ! Eine Hypotonie bei einem asphyktischen Neugeborenen ist eher Ausdruck einer Myokardschädigung als einer Hypovolämie. Vorsicht ist geboten bei einer Volumensubstitution mit kristalloiden oder kolloidalen Lösungen! . Abb. 38.3 zeigt ein Ablaufschema der Erstversorgung
Neugeborener.
38
403 38.5 · Dokumentationspflicht
• • • •
Atmung?
spontan
> 100/min
• Nasse Tücher entfernen • Lagern • Trachea absaugen bei mekoniumhaltigem Fruchtwasser
Wärmezufuhr Sorgfältig abtrocknen Absaugen: Mund vor Nase Taktile Stimulation
Herzfrequenz?
Keine oder Schnappatmung
Beatmung mit O2 15 - 30 s
< 100/min
Herzfrequenz?
80 - 100/min
> 100/min
• Auf Spontanatmung achten • dann Beatmung beenden
Herzfrequenz steigt: • Beatmung fortsetzen
< 80/min
Herzfrequenz steigt nicht: • Beatmung fortsetzen, FiO2 1,0 • Herzmassage, wenn HF < 80/min
Hautfarbe? blau O2-Gabe
• Beatmung fortsetzen, FiO2 1,0 • Herzmassage, F 90/min 15 - 30 s
• 0,1 (-0,3) ml/kg Adrenalin 1:10000 i.t. oder i.v. • NaHCO3 bei pH < 7,20 und/oder BE > - 10 mmol/l • Glukose 10% 5 ml/kg, dann 2-3 ml/kg/h
rosig oder periphere Zyanose beobachten
. Abb. 38.3. Erstversorgung Neugeborener
38.4.5 Tote, aber reanimierbare
38.5
Dokumentationspflicht
Neugeborene Da über die pränatale Dauer einer Asystolie meist keine Klarheit besteht, ist die primäre Reanimation bei diesen Kindern fast immer gerechtfertigt. Die hier dargestellten Maßnahmen sind nicht Bestandteil der internationalen Empfehlungen! 4 Sofortige Intubation und Herzmassage 4 Adrenalin 1 : 1000 (!); 0,1 ml/kg KG 4 Natriumbikarbonat 6–8 mmol/kg KG über NVK, Wiederholung nach 3–4 min 4 Glukose 10 %ig, 10 ml/kg KG 4 Kalziumglukonat 10 %ig, 1 ml/kg KG 4 Nochmals Adrenalin 0,1–0,3 ml/kg KG ! Nach 8–10 min erfolgloser Reanimation bestehen praktisch keine Chancen mehr auf ein Überleben ohne schwerwiegende neurologische Schäden. Nach 15 min sollten er folglose Reanimationsmaßnahmen eingestellt werden.
Keine Reanimation ist abgeschlossen ohne sorgfältige zeitliche Dokumentation aller Beobachtungen und Aktivitäten. Bestandteile der Dokumentation einer Reanimation 5 Apgar-Werte 5 Herz-Atem-Monitoring-, Pulsoxymetrieund Blutdruckwerte 5 Säure-Basen-Status und Blutzucker-Werte 5 Durchgeführte Maßnahmen, verabreichte Medikamente 5 Tubusgröße und Tubusfixierung in cm 5 Farbe und Menge von Absaugsekreten etc. 5 Temperatur 5 Primärversorgender Arzt
404
38.6
Kapitel 38 · Erstversorgung von Neugeborenen
Spezielle Probleme
38.6.1 HIV-Infektion der Mutter Sowohl bei einer Spontangeburt als auch bei einer Sectio caesarea kann zuvor virusfreies Fruchtwasser durch Eröffnung der Fruchtblase kontaminiert werden. Im Unterschied zum Erwachsenen stellen beim Neugeborenen die Schleimhäute des Respirationstraktes und des Gastrointestinaltrakts für HIV keine Barriere dar. Bei allen Versorgungsmaßnahmen müssen sterile Handschuhe getragen werden! Vor dem Absaugen werden Mund und Naseneingang mit feuchten Tupfern (steriles NaCl 0,9 %) ausgewischt. Nach Stabilisierung werden Ohren, Augen, Anus und Genitale gereinigt, anschließend Handschuhe wechseln (Kontamination)! Eine HIV-Diagnostik aus Nabelschnurblut ist nicht möglich, da eine Kontamination mit mütterlichem Blut oder Sekret nicht auszuschließen ist. Nabelschnurblut kann ggf. bei unbekannter Serologie zur Diagnostik hinsichtlich Hepatitis B/C, TPHA und Zytomegalie genutzt werden. Ist die Mutter HBsAg positiv, erfolgt eine aktive und passive Hepatitis B-Immunisierung. Auch bei Hepatitis C der Mutter sollte eine Hepatitis-B-Immunisierung erfolgen. ! Das Neugeborene muss sofort zur antiretroviralen Therapie (innerhalb der ersten 6 Lebensstunden) verlegt werden!
38.6.2 Mekoniumhaltiges Fruchtwasser Nach Möglichkeit werden nach der Entwicklung des Kopfes Mund, Nase und Pharynx so rasch wie möglich mit einem großlumigen Absaugkatheter (12 oder 14 F) abgesaugt. Es ist dennoch auch bereits intrauterin eine Aspiration möglich!
38
! Bei fehlender oder deprimierter Spontanatmung, einer Herzfrequenz < 100/min oder herabgesetztem Muskeltonus die Atmung nicht stimulieren und keine Maskenbeatmung durchführen!
In diesen Fällen wird sofort nach der Geburt eine direkte Laryngoskopie durchgeführt. Unter Sicht wird mekoniumhaltiges Material aus dem Hypopharynx entfernt, das Kind intubiert und restliches Material aus der Trachea abgesaugt. ! Tracheales Absaugen eines lebhaften Kindes verbessert die Prognose nicht und verursacht häufiger Komplikationen!
Bei Neugeborenen, deren Haut mekoniumverschmiert ist und die sekundär eine Apnoe oder ein Atemnotsyndrom erleiden, sollte zuerst endotracheal abgesaugt werden, bevor mit einer Beatmung begonnen wird. Eine Bronchiallavage kann durch Entfernen von Surfactant aus den Alveolen sehr schädlich sein. Sie ist nur bei Absaugen großer (!) Mengen Mekoniums zu erwägen (1 ml angewärmte 0,9 %ige NaCl-Lösung bis das Sekret klar ist). Ist eine Beatmung erforderlich, wird sie zur Vermeidung einer persistierenden pulmonalen Hypertension mit 100 % O2 durchgeführt. Zur Vermeidung einer erneuten Aspiration und Verhinderung von Schleimhautirritationen werden eine Magensonde gelegt und Sekret entleert.
38.6.3 Hypovolämischer Schock Die Hypovolämie, z. B. infolge Blutverlusten bei Plazentalösung oder -blutung, Nabelschnurabriss, feto-maternaler oder – bei Mehrlingen – feto-fetaler Transfusion, ist die häufigste Ursache des Schocks bei Früh- und Neugeborenen. In der kompensierten Phase findet sich eine Tachykardie bei noch normalem Blutdruck. ! Blässe, Tachypnoe, Hypotonie und Bradykardie sind Zeichen der Dekompensation. Diese Symptome können bei sehr kleinen Frühgeborenen auch ohne vorherige Tachykardie auftreten!
Bei Anämie als Ursache der Hypovolämie wird CMVnegatives Erythrozytenkonzentrat der Blutgruppe 0, rh negativ, transfundiert (10–15 ml/kg KG). Weitere Maßnahmen wie Blutaustausch oder Katecholamingabe sind in der Regel Teil der weiteren stationären Betreuung und sollten erst in Kenntnis des zentralvenösen Drucks und Hämatokrits erfolgen. In allen Fällen ist für eine Normothermie, ausreichende Oxygenierung und Vermeidung von Hypoglykämien zu sorgen. Zur vorübergehenden Stabilisierung kann zur Volumenexpansion isotone kristalloide Lösung (NaCl 0,9 % oder Ringer-Laktat) verwendet werden. ! Albumin-haltige Lösungen sollten aufgrund assoziierter erhöhter Mortalität und eines schlechteren neurologischen Outcomes bei Frühgeborenen Ausnahmesituationen vorbehalten bleiben!
38.6.4 Zwerchfellhernie Wurde die Diagnose durch Ultraschalluntersuchungen nicht bereits intrauterin gestellt, wird man durch rasch zunehmende Atemnot, paradoxe Atmung (Bauchdecke und
405 38.6 · Spezielle Probleme
Brustkorb bewegen sich gegensinnig) und Zyanose überrascht. Es entwickelt sich eine zunehmende Schocksymptomatik. Auf der betroffenen Seite (meistens links) ist kein Atemgeräusch auskultierbar, die Herztöne sind verlagert, bisweilen lassen sich Darmgeräusche im Thoraxbereich hören. Das Abdomen ist eingefallen. Im Vordergrund stehen die Bemühungen, alles zu vermeiden, was den pulmonalarteriellen Druck erhöht (Gefahr eines Rechts-Links-Shunts). Diese Gefahr ist besonders groß bei Hypoxie, Hyperkapnie und Azidose. ! Maskenbeatmung ist bei Zwerchfellhernie kontraindiziert, da es zu einer Überblähung des Magens und dadurch zur Ischämie der verlagerten Organe kommen kann.
Das Neugeborene wird sofort intubiert und mit 100 % O2 beatmet. Zur Vermeidung eines Pneumothorax und einer Schädigung der meist auch hypoplastischen Lunge auf der »gesunden« Seite erfolgt die Beatmung mit hoher Frequenz und niedrigem positivem Inspirationsdruck. Zur Entlastung des Magens wird eine großlumige Magensonde gelegt. Das Kind wird mit erhöhtem Oberkörper auf die betroffene Seite gelagert. Schockbehandlung und Azidoseausgleich sind vordringlich.
38.6.5 Ösophagusatresie
gen Membran, bestehend aus Peritoneum und Amnionepithel, bedeckt ist. Im Bruchsack sind Bauchorgane enthalten. Die Omphalozele kann rupturieren und wie eine Gastroschisis imponieren. Eine Gastroschisis ist ein Bauchwanddefekt unmittelbar (meist rechts) neben einer normalen Nabelschnur. Die Bauchorgane sind unbedeckt und mehr oder weniger durch Fibrinauflagerungen, Ödeme, Verklebungen und Nekrosen verändert. ! Entscheidend bei der Erstversorgung sind eine gute Wärmezufuhr und eine großlumige Magenablaufsonde. Maskenbeatmung ist kontraindiziert!
Es erfolgt notfalls eine primäre Intubation. Das Neugeborene wird auf die Seite gelagert, der Bruchsack bzw. die freiliegenden Organe werden mit sterilen, angefeuchteten, warmen (!) Kompressen abgedeckt. Zur Vermeidung eines Flüssigkeits- und Wärmeverlusts wird das Kind bis zur Axilla in einen verschließbaren, sterilen PolyethylenKunststoffbeutel gelegt (z. B. Steri-Drape 1003, 48 u 48 cm, 3M Health Care, Borken). Auch mit dieser Maßnahme ist noch mit einem hohen Flüssigkeitsverlust zu rechnen. Die Flüssigkeitszufuhr über einen sicheren venösen Zugang beträgt mindestens 100–120 ml/kg KG/Tag).
38.6.7 Spina bifida In der Schwangerschaftsanamnese ist ein Polyhydramnion häufig. Postnatal sind starkes Speicheln und Schäumen des Kindes Hinweise. Eine Absaugsonde lässt sich nicht in den Magen vorschieben. Husten und Zyanoseanfälle bei einem eingefallenen und luftleeren Abdomen bestehen bei der Ösophagusatresie ohne Fistel. Besteht eine distale Fistel zwischen Ösophagus und Trachea (87 %), treten besonders durch Maskenbeatmung ein zunehmend geblähtes Abdomen sowie frühzeitig starke feuchte Rasselgeräusche durch Aspiration oder durch die Fistel selbst auf. ! Intubation möglichst vermeiden! Vordringlich ist das Legen einer großlumigen Ablaufsonde.
Als Absaugsonde eignet sich besonders eine doppellumige Replogle-Sonde mit einem Dauersog von 10–15 cm H2O. Über den zweiten Kanal wird bei zähem Sekret häufig mit NaCl-Lösung angespült. Zur Vermeidung von Aspirationen wird das Kind in halbsitzender Position gelagert.
38.6.6 Omphalozele, Gastroschisis Bei der Omphalozele handelt es sich um eine Nabelschnurhernie, die nicht mit Haut, sondern mit einer durchsichti-
Wenn mehr als ein oder zwei Wirbelkörper vom mangelhaften Verschluss der Neuralrinne betroffen sind, wölben sich die Meningen des Rückenmarks vor und eine überhäutete Vorwölbung ist sichtbar (= Meningozele). Enthält die Vorwölbung zusätzlich Rückenmark und Nervenendigungen, spricht man von einer Meningomyelozele. Liegt das Gewebe offen, spricht man von einer Myelozele. Häufig ist die Myelomeningozele vergesellschaftet mit einem Hydrozephalus infolge Verlegung des Foramen magnum durch Medulla oblongata oder Zerebellum (Arnold-Chiari-Malformation). ! Es muss darauf geachtet werden, dass die Zele nicht rupturiert. Bei der Erstversorgung müssen Latex-freie Materialien verwendet werden.
Das Neugeborene wird seitlich auf sterile Tücher gelagert, die Zele mit sterilen, warmen, angefeuchteten Kompressen abgedeckt. Um eine Reizung der Zele durch Urin zu vermeiden, wird ein Urinbeutel geklebt. Bei bereits rupturierter Zele wird das Neugeborene auf dem Bauch auf einer dicken Rolle gelagert. Somit liegt die Zele am höchsten Punkt und es kann sich kein weiterer Liquor entleeren.
38
406
38.7
Kapitel 38 · Erstversorgung von Neugeborenen
Offene Fragen
38.7.1 Sauerstoffzufuhr bei Beatmung Biochemische, tierexperimentelle und vorläufige klinische Untersuchungen deuten darauf hin, dass bei der Erstversorgung eine Beatmung mit einem FiO2 von 0,21 gegenüber einem FiO2 von 1,0 Vorteile hinsichtlich der Entwicklung neurologischer Komplikationen haben kann. In hypoxischen Geweben werden bei Reoxygenierung Sauerstoff-Radikale freigesetzt, die mit biologischen Membranen reagieren. Die Konzentrationen der toxischen Radikale steigen mit der Konzentration des zugeführten Sauerstoffs an. Das Gehirn des Neugeborenen ist aufgrund hoher Konzentrationen vielfach ungesättigter Fettsäuren und einer niedrigen Konzentration antioxidativer Enzyme sehr vulnerabel. Dies führt zu einer neuronalen Schädigung durch Änderungen in der Struktur und Funktion der Zellmembranen. Bei einer Erstversorgung mit einem FiO2 von 0,21 scheinen sich die Konzentrationen der toxischen Radikale zu normalisieren. ! Bislang liegen jedoch keine ausreichenden Daten vor, um von einer Beatmung mit 100 % O2 bei einer Asphyxie abzuweichen.
38.7.2 Hypothermie bei Asphyxie
38
Bei einer Asphyxie kann aufgrund herabgesetzter Oxygenierung und Perfusion des Gewebes eine hypoxische Ischämie des Gehirns und anderer Organe auftreten. Es kommt zu vielfältigen Veränderungen des Metabolismus mit Anstieg von ADP und AMP. Die Glykolyse wird stimuliert, der anaerobe Metabolismus führt zu einem Anstieg von Laktat und einem zytotoxischen Ödem mit Anstieg von extrazellulärem Kalium und exzitatorischen Neurotransmittern (z. B. Glutamat). Bei Reperfusion kommt es zu einer schnellen Hyperämie mit Aktivierung einer toxischen Kaskade: Freie Sauerstoff-Radikale werden gebildet und es kommt zu einem ausgeprägten Zelluntergang infolge neuronaler Nekrose und Apoptose. Tierexperimentell ist gesichert, dass eine intraischämische moderate Hypothermie einen positiven Effekt auf die neuronale Schädigung hat. Auch wenn erste Studien diese positiven Auswirkungen der Hypothermie auch bei Kindern bestätigen, sind die Langzeiteffekte einer solchen Hypothermie aber bisher noch unklar. Auf jeden Fall ist aber
eine Hyperthermie zu vermeiden. Sie führt zu einer perinatalen Atemdepression und zu einer Verschlimmerung der asphyktisch-ischämisch bedingten Hirnschädigung. ! Eine routinemäßige Behandlung einer Asphyxie mit zerebraler Hypothermie kann aufgrund fehlender Langzeitstudien derzeit noch nicht empfohlen werden.
Literatur The American Heart Association in collaboration with the International Liaison Committee on Resuscitation (2000) Guidelines 2000 for Cardiopulmonary Resuscitation and Emergency Cardiovascular Care. Part 11: neonatal resuscitation. Circulation 102 (8 Suppl): I 343–357 AWMF online. http://www.uni-duesseldorf.de/WWW/AWMF/ Carrasco M et al (1997) Oronasopharyngeal suction at birth: effects on ar terial oxygen saturation. J Pediatr. 130: 832–834 Ernährungskommission der Deutschen Gesellschaft für Kinderheilkunde (1995) Vitamin K Prophylaxe für Neugeborene. Monatsschr Kinderheilkd 143: 95 Greenough A et al (2002) Colloid infusion in the perinatal period and abnormal neurodevelopmental outcome in very low birth weight infants. Eur J Pediatr 161: 319–323 Obladen M (2002) Neugeborenenintensivpflege - Grundlagen und Richtlinien. Unter Mitarbeit von Bein G, Maier RF und Waldschmidt J. Springer, Berlin Heidelberg New York Rober ton NRC (1999) In: Janet M. Rennie, NRC Rober ton (eds) Textbook of neonatology. Churchill Livingstone, Edinburgh, 241–265 Wiswell TE for the Meconium in the Delivery Room Trial Group (2000) Delivery room management of the apparently vigorous meconium-stained neonate: results of the multicenter collaborative trial. Pediatrics 105: 1–7
39 Anästhesie in der Neurochirurgie und Neuroradiologie Jürgen Schäffer, Michael Zumkeller 39.1 Physiologie und Pathophysiologie –408 39.1.1 Intrakranieller Druck (ICP) –408 39.1.2 Autoregulation der zerebralen Durchblutung –409
39.2 Einfluss der Anästhesie auf das Gehirn –409 39.2.1 Medikamente und Maßnahmen –409 39.2.2 Hyperventilation –409
39.3 Monitoring –409 39.4 Anästhesie bei neurochirurgischen Operationen –410 39.4.1 39.4.2 39.4.3 39.4.4 39.4.5
Shuntoperation –410 Hirntumor –410 Hirngefäßmissbildungen –411 Operation in sitzender Position –412 Extrakranielle Eingriffe –413
39.5 Neuroradiologie –413 39.5.1 Kernspintomographie –413 39.5.2 Interventionelle Neuroradiologie –414
Literatur –414
408
Kapitel 39 · Anästhesie in der Neurochirurgie und Neuroradiologie
)) Mit neurologischen Erkrankungen wird der Anästhesist nicht nur in der Spezialabteilung, sondern auch in jedem allgemeinen Krankenhaus, in erster Linie im Rahmen der Notfallversorgung konfrontiert. Da vor allem das zentrale Nervensystem direkt durch die Anästhesie, insbesondere durch die Medikamente, aber auch durch die sonstigen damit verbundenen Maßnahmen beeinflusst wird, sind genaue Kenntnisse der pathophysiologischen Zusammenhänge für den Anästhesisten essenziell.
39.1
Physiologie und Pathophysiologie
. Abb. 39.1. Folgen der intrakraniellen Raumforderung am Beispiel eines epiduralen Hämatoms. (Aus Kretz, Schäffer [2001] 3. Aufl. Anästhesie, Intensivmedizin, Notfallmedizin, Schmerztherapie. Springer, Heidelberg)
39.1.1 Intrakranieller Druck (ICP)
39
Das Gehirn liegt geschützt in der fast vollständig geschlossenen Kammer des Schädels. Größenveränderungen des Gehirns, insbesondere eine Zunahme des Volumens, können nicht ausgeglichen werden. Nimmt eines der Kompartimente des Gehirns – Hirngewebe, Liquor oder Blutgefäßsystem – zu, so kann es sich nur begrenzt ausdehnen, ohne dass der intrakranielle Druck ansteigt (. Abb. 39.1; . Abb. 39.2). Beispiele für solche kompensatorischen Volumenveränderungen sind die Abnahme der liquorgefüllten Räume bei der Zunahme des Hirngewebes infolge eines Tumors oder eines Ödems oder die Abnahme des Hirngewebes bei einer Zunahme des Kompartimentes Liquor bei einem chronischen Hydrozephalus. Sind die Kompensationsmöglichkeiten aufgebraucht, so steigt der intrakranielle Druck so weit an, dass die Hirnmassen, insbesondere das Mittelhirn und die Medulla oblongata, in Richtung des Foramen ovale, der einzigen größeren Öffnung der Schädelkammer, gedrückt werden. Hierdurch werden die Stammganglien, die Hirnnervenkerne, aber auch die Medulla oblongata mechanisch irritiert, was alarmierende, aber auch vital bedrohende Symptome zur Folge hat. Bewusstlosigkeit und Mydriasis als Folge der Irritation des N. oculomotorius sind erste wichtige klinische Alarmzeichen. Eine Bradykardie mit kompensatorischer Hypertonie (Cushing-Reflex) und eine Bradypnoe bis zur Apnoe sind die Symptome bei weiter steigendem intrakraniellen Druck. Als letztes übersteigt der intrakranielle Druck den arteriellen Mitteldruck. Ein zerebraler Kreislaufstillstand und damit der akute Hirntod sind die Folge. Man muss also immer die Differenz zwischen arteriellem
. Abb. 39.2. Intrakranielle Druck-Volumen-Kurve. Zwischen A und B ist der Druckunterschied zwar gering, eine weitere Volumenzunahme bei B führt jedoch zu einem steilen Druckanstieg
Mitteldruck (MAP) und intrakraniellem Druck vor Augen haben, die den zerebralen Perfusionsdruck (CPP) ergibt: CPP = MAP – ICP Zeichen für den drohenden zerebralen Kreislaufstillstand (Einklemmungssymptomatik) 5 5 5 5 5
Bewusstlosigkeit Einseitig oder beidseitig weite Pupille Bradykardie Hypertension Bradypnoe
409 39.3 · Monitoring
39.1.2 Autoregulation der zerebralen
Durchblutung Die zerebrale Blutversorgung unterliegt einer Autoregulation, die den zerebralen Blutfluss in einem Bereich des systemischen Blutdrucks von 50–150 mmHg konstant hält. Allerdings ist diese Autoregulation in Bereichen mit traumatisiertem oder durch Erkrankungen veränderten Hirngewebe aufgehoben, sodass die Folgen des pathologisch veränderten Blutdrucks wie Hypoperfusion mit lokaler Ischämie oder Mikro- bzw. Makroeinblutungen bei Hypertonie hier eher auftreten als in gesunden Gewebebereichen.
39.2
Einfluss der Anästhesie auf das Gehirn
Muskelerschlaffung veränderten venösen Rückfluss oder eine eigene sympathikomimetische Wirkung (Pancuroniurn) einen indirekten Einfluss auf die zerebrale Durchblutung und den intrakraniellen Druck haben. Eine Behinderung des venösen Rückflusses aus unterschiedlichster Ursache (obere Einflussstauung, Husten, Pressen, Kopftieflage) steigert das Volumen der venösen zerebralen Gefäße und führt damit auch zu einer Zunahme des intrakraniellen Volumens und so zu einer Drucksteigerung. Um dieses zu vermeiden, werden Patienten mit erhöhtem intrakraniellen Druck mit einem um 30° erhöhten Oberkörper gelagert. Allerdings weisen Befunde darauf hin, dass ein zu starkes Anheben des Oberkörpers über die Herzebene ungünstig ist, da dann die arterielle Versorgung und damit die Gewebeperfusion gefährdet ist.
39.2.2 Hyper ventilation 39.2.1 Medikamente und Maßnahmen Der intrakranielle Druck wird durch die Anästhesie, aber auch durch verschiedene, die Anästhesie begleitende Maßnahmen beeinflusst. Die meisten Einleitungsnarkotika und Analgetika senken den zerebralen Sauerstoffverbrauch und den intrakraniellen Druck (ICP), sodass der zerebrale Perfusionsdruck (CPP) sich erhöht, sofern der arterielle Mitteldruck konstant bleibt, was beim kreislaufinstabilen Patienten allerdings häufig nicht der Fall ist. Volatile Inhalationsnarkotika führen zu einer zerebralen Vasodilatation und steigern damit den intrakraniellen Druck schon in klinisch üblichen Dosen. Eine Ausnahme hiervon ist Isofluran, das bis zu einer Dosierung von 1,5 Vol% nicht zu einem Anstieg des intrakraniellen Drucks führt. Es kann daher vor allem im Rahmen einer balancierten Anästhesie auch bei einem intrakraniellen Eingriff verwendet werden, wenn eine Raumforderung vorliegt. Auch Lachgas wird eine hirndrucksteigernde Wirkung nachgesagt. Diese ist geringer als bei den volatilen Anästhetika. Dennoch wird Lachgas ebenso wie Isofluran gemieden, wenn (z. B. beim Schädel-Hirn-Trauma) eine Dekompensation der zerebralen Durchblutung aufgrund der Steigerung des intrakraniellen Drucks droht. Ketamin steigert in narkotischer Wirkung aufgrund seiner sympathikomimetischen Wirkung den intrakraniellen Druck. In niedriger Dosierung von 0,5–1,0 mg/kg KG, die zu einer Analgesie, aber nicht zu einer nennenswerten Beeinträchtigung des Bewusstseins führt, bleibt diese Wirkung jedoch aus. Relaxanzien allein beeinflussen die zerebralen Funktionsparameter nicht, können aber durch den infolge der
Der Muskeltonus und damit die Weite der zerebralen Gefäße sind vom pCO2 abhängig. Fällt der pCO2, so kommt es zu einer Vasokonstriktion, steigt er, so erfolgt eine Vasodilatation. Dieses macht man sich bei der Therapie des erhöhten intrakraniellen Drucks zu Nutze. Bei einer Hyperventilation auf einen pCO2 von 32–34 mmHg sinkt der intrakranielle Druck. Diese Veränderung hält über 2–3 Tage an, ist dann aber nicht mehr wirksam. Neuere Untersuchungen haben jedoch gezeigt, dass die Hyperventilation und die damit verbundene Vasokonstriktion zu einer Gewebehypoxie führen können, weswegen man die Hyperventilation nur noch zur akuten, zeitlich begrenzten Senkung des intrakraniellen Drucks einsetzt. In jedem Fall ist jedoch bei einem Patienten mit einer intrakraniellen Raumforderung eine Hypoventilation zu vermeiden.
39.3
Monitoring
Da die oben genannten Veränderungen mit einfachen klinischen Untersuchungsmethoden nicht zu erfassen sind, ist ein aufwändigeres perioperatives Monitoring in Abhängigkeit von der Art des Eingriffs obligat. Die Ventilation wird bei jedem Eingriff am zentralen Nervensystem mittels Kapnometrie überwacht und bei längeren Eingriffen mittels arterieller Blutgasanalysen überprüft. Infolge des Einflusses der Veränderungen der Hämodynamik ist die invasive Messung des arteriellen Blutdrucks und des zentralvenösen Drucks bei Kraniotomien selbstverständlich. Spezialverfahren kommen bei gezielter Indikation zum Einsatz. Die transkranielle Dopplersonographie hat ebenso
39
410
Kapitel 39 · Anästhesie in der Neurochirurgie und Neuroradiologie
. Abb. 39.3. Methoden der intrakraniellen Druckmessung. a: epidural, b: intraventrikulär. (Aus Kretz, Schäffer [2001] 3. Aufl. Anästhesie, Intensivmedizin, Notfallmedizin, Schmerztherapie. Springer, Heidelberg)
wie die Messung von evozierten Potenzialen und die Ableitung des EEGs vor allem ihre Berechtigung bei Eingriffen an den zerebralen Gefäßen. Die Messung des intrakraniellen Drucks ist intraoperativ ohne Bedeutung, da der Schädel eröffnet ist und der intrakranielle Druck sich damit dem Atmosphärendruck angleicht. Der Messung des intrakraniellen Drucks kommt aber in der postoperativen Phase bei Patienten mit intrakranieller Raumforderung eine wichtige Bedeutung bei schädel-hirn-verletzten Patienten zu, da sich dann der zerebrale Perfusionsdruck errechnen lässt (. Abb. 39.3).
39.4
Anästhesie bei neurochirurgischen Operationen
39.4.1 Shuntoperation
39
Der Liquor cerebrospinalis wird durch den Plexus choroideus gebildet. Er läuft über den Aquaeductus cerebri in den vierten Ventrikel und in das Rückenmark ab und wird hier resorbiert. Ist der Aquaeductus im Rahmen einer intrazerebralen Blutung durch ein Blutkoagel oder durch eine Raumforderung von außen verschlossen, so ist der Abfluss verhindert. Es kommt zum Rückstau und damit zum Hydrozephalus occlusus, einer Zunahme des Kompartimentes Liquor mit einer intrakraniellen Drucksteigerung. Lässt sich die Ursache nicht beheben, so kann dem Patienten vorübergehend mit einer Liquordrainage geholfen werden,
über die der Liquor durch ein Bohrloch in der Schädeldecke und Einbringen einer Ventrikeldrainage nach außen abläuft. Auf Dauer wird diese Drainage über ein Ventil an einen abführenden Schenkel angeschlossen, der entweder in der oberen Hohlvene oder im Peritoneum endet, wo der Liquor abfließen bzw. resorbiert werden kann. Beachtet man bei diesen Patienten den erhöhten intrakraniellen Druck, so ist dieser Eingriff für den Erwachsenen wenig belastend. Häufig sind jedoch wegen peripartaler Blutungen auch Neu- und Frühgeborene betroffen. Die Kompensationsmöglichkeiten für die intrakranielle Volumenzunahme sind hier wesentlich größer als bei Erwachsenen, da die Schädelnähte noch nicht verschlossen sind. Da das Volumen des Kopfs im Verhältnis zum Körper jedoch wesentlich größer ist und beim peritonealen Shunt die ganze Fläche vom Kopf bis zum Abdomen abgewaschen werden muss, sind die kleinen Patienten sehr stark durch Auskühlung gefährdet. Darüber hinaus ist die Untertunnelung des abführenden Schenkels vom Bohrloch am Kopf bis zur Minilaparotomie, über die der abführende Schenkel in das Abdomen eingeführt wird, ein akuter, sehr starker Schmerzreiz, der bei der Narkoseführung beachtet werden muss. Bei diesem Manöver wird der Patient durch den Operateur eventuell im Ganzen stark bewegt, sodass der Endotrachealtubus und der venöse Zugang dislozieren können. Tipps
Shuntoperationen bei Kindern – so machen wir es: 5 Intravenöse Narkoseeinleitung mit Barbiturat, Relaxierung 5 Möglichst nasale Intubation bei Früh- und Neugeborenen zu besseren Fixierung des Tubus 5 Fortführung als balancierte Anästhesie 5 Evtl. angewärmtes Desinfektionsmittel zu chirurgischen Hautdesinfektion 5 Übliches Monitoring mit Temperaturmessung
39.4.2 Hirntumor Hirntumoren sind eine intrakranielle Raumforderung, weswegen während der Anästhesie und der begleitenden Maßnahmen auf den intrakraniellen Druck geachtet werden muss. Zur Senkung des intrakraniellen Volumens werden diese Patienten leicht hyperventiliert, was mit Kapnometrie und Blutgasanalysen überprüft wird. Sowohl intravenöse als auch balancierte Anästhesietechniken unter Verwendung von Isofluran können ange-
411 39.4 · Anästhesie bei neurochirurgischen Operationen
wendet werden. Im Anschluss an die Narkoseeinleitung werden zum Monitoring ein zentralvenöser Katheter und ein arterieller Zugang gelegt. Bei der Lagerung wird der Kopf des Patienten mit der Mayfield-Zange fixiert, was einen starken Schmerzreiz darstellt. ! Vor dem Fixieren des Kopfs Narkose vertiefen!
Während der Eröffnung der Dura sollte der Anästhesist das Operationsfeld im Auge behalten, da hier sofort zu sehen ist, ob das Gehirn schwillt. In diesem Fall wölbt es sich über den Schnittrand der Dura hervor – ein Anlass, die Narkoseführung einschließlich der Ventilation zu überprüfen, um hirndrucksteigernde Einflüsse auszuschließen. Gegebenenfalls ist in Absprache mit dem Operateur eine abschwellende Therapie z. B. mit einem Osmodiuretikum einzuleiten, um dem Neurochirurgen den Zugang zum Gehirn zu erleichtern. Maßnahmen bei intraoperativer Hirnschwellung 5 Narkosetiefe und Relaxierung überprüfen 5 Ventilation überprüfen und ggf. Atemminutenvolumen erhöhen 5 Antiödematöse Therapie mit Osmodiuretikum
39.4.3 Hirngefäßmissbildungen : Beispiel Ein 35-jähriger Mann bekommt ohne Prodromi heftigste, blitzartig einschießende Kopfschmerzen und sinkt nach kurzer Zeit bewusstlos zusammen. Bis zum Eintreffen des Notarztes hat er das Bewusstsein wiedererlangt, ist aber noch deutlich somnolent. Unter Überwachung der Vitalparameter wird er vom Notarzt in die Klinik begleitet, wo die Computertomographie des Schädels eine Subarachnoidalblutung zeigt. Da der Patient vor der so genannten Spasmusphase , also innerhalb der ersten 72 h nach der Blutung, in der Klinik eintrifft, wird am gleichen Abend eine Angiographie durchgeführt, die ein Aneurysma der A. cerebri media zeigt. Dieses wird am gleichen Abend noch über eine fronto-laterale Kraniotomie mit einem Clip versorgt. Am 10. postoperativen Tag wird der Patient ohne neurologische Symptomatik aus dem Krankenhaus entlassen.
Subarachnoidale Blutungen haben meist ein zerebrales Gefäßaneurysma oder ein Angiom als Ursache. Sie können mit unterschiedlicher Symptomatik einhergehen und werden nach Hunt und Hess in vier verschiedene Stadien ein-
geteilt, wobei das Stadium I ohne klinische Symptome ist, während das Stadium IV mit tiefer Bewusstlosigkeit und einer Hirnstammsymptomatik einhergeht. Da die zerebralen Gefäße nach einer Subarachnoidalblutung leicht mit einem Gefäßspasmus reagieren, wird in den ersten zehn Tagen nach der Blutung nichts durchgeführt, was einen solchen Spasmus verursachen könnte, insbesondere keine Angiographie und keine Operation. Lediglich bei Verschlechterung der neurologischen Symptomatik, besonders dann, wenn eine zerebrale Einklemmungssymptomatik droht, erfolgen die weiterführende Diagnostik und die Operation in dieser Zeit. Man spricht von der so genannten Spasmusphase (7 Fallbeispiel). Wird ein Aneurysma nachgewiesen, so wird es unter Berücksichtigung der oben genannten Spasmusphase über eine Trepanation geclippt. Beim Präparieren des Aneurysmas, insbesondere aber beim Aufsetzen des Clips kann es zu einer Ruptur der Missbildung kommen. Das ausströmende Blut füllt in kurzer Zeit das ganze Operationsgebiet unter dem Operationsmikroskop. Nur durch permanentes Absaugen kann wieder so viel Sicht geschaffen werden, dass der Operateur einen Clip auf die Blutungsquelle setzen kann. In dieser Zeit kann es zu einem erheblichen, kreislaufwirksamen Blutverlust kommen. Um einer solchen intraoperativen Blutung vorzubeugen, kann eine kontrollierte Hypotension durchgeführt werden. Am besten werden hierzu gut steuerbare, kurz wirkende Medikamente wie Natriumnitroprussid oder Nitroglyzerin eingesetzt. Da diese Substanzen bei manchen Patienten nur eine unzureichende blutdrucksenkende Wirkung haben, kann eine gleichzeitige Gabe eines E-Blockers die Wirkung verstärken. Der Blutdruck sollte maximal auf einen arteriellen Mitteldruck von 60 mmHg gesenkt werden. Die Urinausscheidung sollte nicht sistieren. Dabei sind die Kontraindikationen zu beachten, von denen die Koronarinsuffizienz die wichtigste ist. Während der kontrollierten Hypotension sind die kontinuierliche invasive Blutdruckmessung, die Kontrolle der Urinausscheidung über einen Blasenkatheter und ein zentralvenöser Katheter obligat. Wird der Blutdruck zu stark gesenkt, so besteht erneut die Gefahr eines Gefäßspasmus, weswegen die kontrollierte Hypotension in den meisten neurochirurgischen Kliniken heute nicht mehr durchgeführt wird. Man beschränkt sich eher auf die Normalisierung eines evtl. erhöhten Blutdrucks und spricht von einer tiefen Normotonie. Dies lässt sich meist allein durch die Vertiefung der Narkose erreichen. Im Anschluss an die Versorgung des Aneurysmas wird heute eher ein hochnormaler Blutdruck zwischen 140 und 160 mmHg systolisch gefor-
39
412
Kapitel 39 · Anästhesie in der Neurochirurgie und Neuroradiologie
dert, um einem Gefäßspasmus und damit einen Hirninfarkt als Folge einer lokalen zerebralen Ischämie zu vermeiden. Schon während der Narkoseeinleitung ist ein übermäßiger Blutdruckanstieg zum Schutz vor einer Ruptur des Hirngefäßaneurysmas zu vermeiden. Es hat sich bewährt, vor der Narkoseeinleitung die arterielle Kanüle zur kontinuierlichen Blutdruckmessung in Lokalanästhesie zu legen. Neben der Einleitung einer tiefen Narkose sind noch verschiedene andere Verfahren beschrieben worden, um den Blutdruckanstieg infolge von Laryngoskopie und Intubation zu vermeiden: intravenöse oder intratracheale Gabe von Lidocain, Esmolol etc. Tipps
Narkose zum Aneurysmaclipping – so machen wir es: 5 Anlage der invasiven Blutdruckmessung in Lokalanästhesie vor Narkoseeinleitung 5 Narkoseeinleitung mit Fentanyl/Propofol 5 Relaxierung mit Pancuronium 5 Intravenöse Gabe von 50–100 mg Lidocain 5 Oberflächenanästhesie des Kehlkopfs 5 Endotracheale Intubation unter ständiger Blutdruckkontrolle 5 Fortführung der Anästhesie mit Propofol, Fentanyl und Relaxierung 5 Vertiefung der Narkose vor dem Fixieren des Kopfs 5 Tiefe Anästhesie zum Erreichen einer »tiefen Normotonie« beim Präparieren und Clippen des Aneurysmas 5 Danach Anheben des Blutdrucks durch Volumengabe und/oder Sympathomimetika 5 Postoperative Extubation im Operationssaal oder Nachbeatmung auf der Intensivstation, je nach klinischer Situation
39.4.4 Operation in sitzender Position
39
Bei Eingriffen an der hinteren Schädelgrube, also hauptsächlich am Kleinhirn und im Bereich des Kleinhirnbrückenwinkels, liegt das Operationsgebiet aufgrund der sitzenden Lagerung (. Abb. 39.4) über dem Herzen, sodass in diesem Bereich ein negativer Venendruck besteht. Hierdurch kann bei der Eröffnung von Venen Luft angesaugt werden, was zur Luftembolie führt. Die Luft bleibt im rechten Ventrikel liegen, was zu einem typischen Mühlradgeräusch bei der Auskultation und zu einer akuten Rechtsherzinsuffizienz führt. Die Gefahr solcher Luftembolien hat durch verbesserte Operationsmethoden mit sorgfältiger Blutstillung bei
. Abb. 39.4. Schematische Darstellung der Lagerung in sitzender Position. (Aus Rossaint, Werner, Zwißler [2004] Die Anästhesiologie. Springer, Heidelberg)
mikrochirurgischem Vorgehen und konsequenter Beachtung der prophylaktischen Maßnahmen abgenommen. Zunächst wird ein zentralvenöser Katheter bis in den rechten Vorhof vorgeschoben. Über diesen kann Luft aspiriert werden. Obligatorisch wird der Blutdruck arteriell und kontinuierlich gemessen. Über die Kapnographie kann die Luftembolie aufgrund der Perfusionsstörung frühzeitig erkannt werden, da der endexspiratorische CO2-Partialdruck abfällt. Darüber hinaus wird das Herzgeräusch über einen Dopplerschallkopf permanent überwacht, sodass vor allem dem erfahrenen Anästhesisten und Operateur die Veränderungen durch die Luftembolie sofort auffallen. ! Kapnographie und Dopplersonographie sind die empfindlichsten Sensoren für das Erkennen der Luftembolie.
Die wichtigste Prophylaxe der Luftembolie besteht in einer nur halbsitzenden Lagerung, bei der die Beine bis auf die Höhe des Operationsfeldes angehoben werden, um hier den venösen Druck zu erhöhen. Den gleichen Effekt haben die Beatmung mit PEEP sowie die Anwendung von Antischockhosen, die die Venen der unteren Körperhälfte komprimieren (. Abb. 39.4). Tipps
Operationen im Sitzen – so machen wir es: Monitoring 5 ZVK im rechten Vorhof, Lagekontrolle durch intrakardiale EKG-Ableitung 5 Arterielle Blutdruckmessung 5 Kapnometrie 6
413 39.5 · Neuroradiologie
Prophylaxe der Luftembolie 5 Halbsitzende Lagerung 5 Auffüllen des Blutvolumens 5 Beatmung mit PEEP Therapie der Luftembolie 5 FiO2 = 1,0 (keine Diffusion von Lachgas in die Luftblasen) 5 Kopftieflage und feuchte Kompresse auf das OP-Gebiet zur Vermeidung weiteren Lufteintrittes 5 Die empfohlene Linksseitenlage ist meist nicht möglich 5 Versuch, die Luft über den atrialen ZVK zu aspirieren
. Abb. 39.5. Schematische Darstellung der Knie-Ellenbogen-Lage zur Operation des lumbalen Bandscheibenvorfalls. (Aus Larsen [2004] Anästhesie und Intensivmedizin für die Fachpflege, 6. Aufl. Springer, Heidelberg).
39.4.5 Extrakranielle Eingriffe Die operative Behandlung des Bandscheibenvor falls (interlaminäre Fensterung mit Foraminotomie ist ein kleiner, wenig belastender Eingriff, hat für den Anästhesisten jedoch eine eigene Problematik. Die Eingriffe werden in Hock- oder Häschenstellung durchgeführt (. Abb. 39.5). Dabei wird der Kopf auf eine Art Hufeisen gelagert. Am Kopf, vor allem im Bereich der Augen, aber auch an den Armen (Sulcus ulnaris) können leichter als bei anderen Operationen in Bauchlage Druckstellen auftreten. Darüber hinaus ist der Kopf nicht mehr zugänglich, sodass der Patient bei einer Dislokation des Endotrachealtubus zur Reintubation wieder auf den Rücken gelagert werden muss. Da das Operationsgebiet durch die Wirbelsäule mit deren Band- und Muskelapparat sehr eng eingeschlossen ist, haben Blutungen und operationsbedingte Schwellungen wenig Platz, sich auszudehnen, weswegen es schon bei kleinsten Raumforderungen durch eine Irritation der Nervenwurzeln zu einer neuen oder weiter anhaltenden Schmerzsymptomatik wie vor der Operation kommen kann. Das Operationsergebnis ist dadurch in Frage gestellt.
39.5
Neuroradiologie
Für die konventionelle Röntgendiagnostik wird in der Neuroradiologie nur selten die Hilfe des Anästhesisten angefordert. Ihr Anteil ist jedoch gegenüber Computertomographie, Kernspintomographie und interventionellen Eingriffen verschwindend gering. Bei der Computertomographie sind neben den patientenbedingten Problemen (Kinderanästhesie, Polytraumaversorgung etc.) keine Besonderheiten
zu beachten, wenn man von meist räumlich beengten Verhältnissen um den Computertomographen absieht.
39.5.1 Kernspintomographie Hingegen stellt die Anästhesie in der Kernspintomographie durch das Magnetfeld im Umfeld des Kernspintomographen besondere Anforderungen. Durch einen Faradayschen Käfig wird der Einfluss des Magnetfeldes nach außen eingegrenzt, außerdem schützt dieser das Gerät und die mit ihm durchgeführten Messungen auch vor störenden Magnetfeldern von außen. Anästhesiologische Geräte, die ferromagnetische Teile enthalten, dürfen nicht in das Magnetfeld gebracht werden, da sie dann angezogen werden und somit eine Verletzungsgefahr für den Patienten und das Personal bedeuten. Andererseits stören ihre eigenen Magnetfelder die Messungen. Das gilt insbesondere für Geräte mit eigener Elektronik (Pulsoxymeter) oder mit Kathodenstrahlröhren (Monitore). Bewährt haben sich Narkosegeräte ohne eigene Elektronik, die pneumatisch betrieben werden und so modifiziert sind, dass sie keine ferromagnetischen Teile enthalten. Die Monitore werden am besten außerhalb des Faradayschen Käfigs aufgebaut und über lange, nicht stromführende Leitungen mit dem Patienten verbunden. Tipps
Narkose bei der Kernspintomographie – so machen wir es: 5 Narkoseeinleitung außerhalb des Untersuchungsraums an einem eigenen Arbeitsplatz 6
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414
Kapitel 39 · Anästhesie in der Neurochirurgie und Neuroradiologie
Tipps
5 Modifiziertes Narkosegerät ohne ferromagnetische und ohne elektronische Bauteile Monitoring: 5 Kapnometrie über langen Absaugschlauch 5 Pulsoxymetrie über Lichtleiter 5 EKG mit dem Monitor des Kernspintomographen über Kohlefaserkabel - nicht invasive oszillatorische Blutdruckmessung über lange Schläuche
che, dass die Beatmungsschläuche und der Endotrachealtubus etc. sich nicht im Strahlengang befinden dürfen. Dennoch ist darauf zu achten, dass der Endotrachealtubus und die Konnektionsstellen zu den Beatmungschläuchen sicher fixiert sind. Postoperativ müssen die Patienten auf einer Intensivstation mindestens 24 h lang überwacht werden, wobei – wie in der neurologischen Intensivmedizin – das Monitoring der neurologischen Parameter im Vordergrund steht.
Literatur Zur Untersuchung in Narkose kommen meist Kinder oder Patienten, die unter Klaustrophobie leiden. Die Patienten müssen absolut still liegen, da die Auflösung der Kernspintomographie so groß ist, dass Strukturen in der Größe von Millimetern abgebildet werden können. Da die Untersuchungen mit verschiedenen Messmethoden durchgeführt werden, müssen die Einstellungen genau vergleichbar sein. Je ruhiger die Patienten liegen und je geringer die Störeinflüsse auf das Magnetfeld von außen sind, desto kürzer sind die Untersuchungszeiten. Aus diesem Grund bevorzugen wir vor allem bei Kindern die Allgemeinanästhesie gegenüber einer Analgosedierung.
39.5.2 Inter ventionelle Neuroradiologie
39
Hoch auflösende Durchleuchtungsanlagen, die eine Untersuchung gleichzeitig in zwei Ebenen zulassen, und eine fortlaufend verbesserte Kathetertechnik haben es in den letzten Jahren möglich gemacht, bestimmte Erkrankungen minimal invasiv über das zerebrale Gefäßsystem anzugehen. Hierzu gehören vor allem Gefäßmissbildungen wie Angiome, aber auch bestimmte Aneurysmen oder stark durchblutete Tumoren, deren Gefäße therapeutisch oder adjuvant präoperativ embolisiert werden, um den intraoperativen Blutverlust zu verringern. Neben diesen Embolisationen werden aber auch lokale Lysen thrombosierter zerebraler Gefäße durchgeführt. Hierzu werden Mikrokatheter superselektiv in die entsprechenden peripheren Abschnitte der zerebralen Gefäße vorgeschoben. Die Eingriffe dauern oft mehrere Stunden und können vital bedrohliche Komplikationen hervorrufen (intrazerebrale Blutung, Infarkt, Hirnödem etc.). Aufgabe des Anästhesisten ist es, den Patienten zu überwachen (Stand-by) oder aber vor allem bei unkooperativen und ängstlichen Patienten durch die Narkose dafür zu sorgen, dass diese absolut still liegen. Bei diesen Narkosen ist vor allem die räumliche Enge zwischen den Röntgenanlagen ein Problem und die Tatsa-
Brock M (1983) Pathophysiologie und Behandlung des erhöhten intrakraniellen Drucks. In: Ahnefeld, FW, Bergmann H, Burri C, Dick W, Halmágyi M, Hossli G, Reulen HJ, Rügheimer E, Anästhesie in der Neurochirurgie, Springer, Berlin Heidelberg New York 33–49 Kretz FJ, Schäffer J (2000) Anästhesie, Intensivmedizin, Notfallmedizin, Schmerztherapie. Springer, Berlin Heidelberg New York Reulen HJ, Moeller H (1983) Probleme neurochirurgischer Operationstechniken für die Anästhesie. In: Ahnefeld, FW, Bergmann H, Burri C, Dick W, Halmágyi M, Hossli G, Reulen HJ, Rügheimer E, Anästhesie in der Neurochirurgie, Springer, Berlin Heidelberg New York 70–81 Stocker R, Bürgi U, Keller E, Imhof H (2000) Akute Schädel-Hirn-Verletzung. Anästhesist 49:913–926 Primär versorgung von Patienten mit Schädel-Hirn-Trauma. Notfallmedizin (1997) 27: 486
40 Anästhesie in der Augenheilkunde Jürgen Schäffer 40.1 Anatomie und Physiologie des Auges –416 40.1.1 Intraokularer Druck –416 40.1.2 Vis a tergo –416 40.1.3 Okulokardialer Reflex –416
40.2 Anästhesie und intraokularer Druck –416 40.3 Allgemeine Aspekte der Anästhesie in der Augenheilkunde –416 40.3.1 Durchführung der Allgemeinanästhesie –417 40.3.2 Durchführung der Lokalanästhesie –417
40.4 Operationen im vorderen Augenabschnitt –418 40.5 Chirurgie der Hinterkammer –418 40.6 Extraokulare Eingriffe –418 40.7 Perforierende Augenverletzungen –419 Literatur –419
416
40.1
Kapitel 40 · Anästhesie in der Augenheilkunde
Anatomie und Physiologie des Auges
40.1.1 Intraokularer Druck Die Organe des Augapfels werden durch eine feste elastische Schicht, die Hornhautsklerahülle, umschlossen. Sie zieht sich um die Augenvorderkammer und die durch das Iris-LinsenDiaphragma davon abgetrennte Hinterkammer, um den Glaskörper und um die Aderhaut (Choroidea). Die Hornhautsklerahülle ist – ähnlich wie der Schädelknochen um das Gehirn – nicht dehnbar, im Gegensatz zu diesem jedoch von außen verformbar, z. B. durch den Druck der Augenmuskeln. Der im Bulbus gemessene intraokulare Druck (IOD) wird durch die Kompartimente Kammerwasser, Glaskörper und choroideale Gefäße bestimmt. Treten Veränderungen im Volumen dieser Strukturen auf, so kommt es zu Veränderungen des intraokularen Drucks, weil sich die Kompartimente nicht ausdehnen können. Da der Glaskörper in der Regel keinen Volumenschwankungen unterworfen ist, bestimmen das Volumen des Kammerwassers und der intraokularen Gefäße die Höhe des intraokularen Drucks, der beim Gesunden zwischen 12 und 16 mmHg liegt. Der IOD ist z. B. beim Glaukom, einer Kammerwasservermehrung infolge einer Resorptionsstörung, pathologisch erhöht.
40.1.2 Vis a tergo
40
Ist das Auge operativ oder auch traumatisch eröffnet, so fällt der intraokulare Druck auf den atmosphärischen Wert von 0 mmHg ab. In diesem Moment wird im Bulbus nur noch ein geschlossener Raum durch die Sklera und das Iris-Linsen-Diaphragma gebildet. Die Druckerhöhung in diesem Raum äußert sich durch ein Vorwärtsdrängen des Iris-Linsen-Diaphragmas in den Wundspalt, was am offenen Auge als »Vis a tergo“ bezeichnet wird (. Abb. 40.1). Wesentlicher Faktor hierfür ist vor allem der Füllungszustand der Choroidea. Dieser kann durch erhöhten arteriellen oder venösen Druck zunehmen. Hypertonie, zu flache Narkose, Hypoventilation, venöse Stauung – auch durch Husten und Pressen – können ein Herauspressen des Bulbusinhalts (Glaskörper, Iris, Linse) oder gar eine expulsive Blutung in den Glaskörper bei Zerreißung choroidealer Gefäße verursachen.
40.1.3 Okulokardialer Reflex Zug an den Augenmuskeln oder Druck auf das Auge können eine Bradykardie bis zur Asystolie verursachen. Ursa-
. Abb. 40.1. Durch die Eröffnung des Auges wird der intraokulare Druck 0, wodurch sich der Perfusionsdruck erhöht, was zu einer Zunahme des Kompartiments Blutgefäße führt, sodass sich das Iris-LinsenDiaphragma nach vorne wölbt.
che hierfür ist der okulokardiale Reflex. Er verläuft vom Auge über den N. trigeminus und das Ganglion Gasseri zum Hirnstamm und von dort über den N. vagus zum Herz. Das Auftreten des okulokardialen Reflexes wird u. a. durch Hypoxie, Hyperkapnie, zu flache Narkose und präoperative Angst begünstigt. Klinische Erscheinungsbilder sind am häufigsten die vagotone Form mit Sinusbradykardie oder Knotenrhythmus, AV-Block bis zum seltenen Herzstillstand und die weniger häufige sympathikotone Form mit Tachykardie, Tachyarrhythmie bis zum Kammerflimmern. Der Reflex kann insbesondere bei kindlichen Schieloperationen beobachtet werden (bis zu 70 % der Fälle). Die Prophylaxe mit Atropin ist nur bedingt möglich. Die Therapie umfasst die Unterbrechung der Operation und u. U. die intravenöse Gabe von Atropin oder Glykopyroniumbromid (Robinul).
40.2
Anästhesie und intraokularer Druck
Die meisten Anästhetika, Opiate und Relaxanzien senken den intraokularen Druck. Eine Ausnahme bildet Ketamin, das zu einer Steigerung führen kann. Succinylcholin steigert den intraokularen Druck dadurch, dass der Bulbus durch die Faszikulationen der Augenmuskulatur während des Wirkungseintritts zusammengedrückt wird.
417 40.3 · Allgemeine Aspekte der Anästhesie in der Augenheilkunde
40.3
Allgemeine Aspekte der Anästhesie in der Augenheilkunde
Augenoperationen können in Allgemein- oder Lokalanästhesie durchgeführt werden. Für Standardoperationen wie in der Kataraktchirurgie eignet sich eher die Lokalanästhesie, da die Operationszeiten kurz sind und das Verfahren die Patienten wenig belastet. Dieses ist ein wesentlicher Vorteil, da die Patienten aufgrund ihres Alters häufig eine große Zahl von Vorerkrankungen haben. So werden diese Operationen heute häufig ambulant durchgeführt. Bei langen und komplizierten Operationen vor allem im hinteren Augenabschnitt (Vitrektomie, Netzhautoperationen, perforierende Augenverletzung) wird die Allgemeinanästhesie bevorzugt. Das gilt auch für Kinder und Patienten, die spezielle Vorerkrankungen – vor allem respiratorische – mitbringen, oder die für den mikrochirurgisch durchgeführten Eingriff nicht ausreichend ruhig liegen können.
vermeiden, andererseits aber auch, um den Druck der Augenmuskulatur auf den Bulbus zu verhindern. Um den intraokularen Druck bzw. die Vis a tergo zu senken, werden die Patienten hyperventiliert, da ein niedriger paCO2 den choroidalen Blutfluss senkt. Dieser Hyperventilation sind aber gerade beim alten Patienten Grenzen gesetzt, um eine Vasokonstriktion der Koronarien und der zerebralen Gefäße zu vermeiden. Der paCO2 sollte daher zwischen 32 und 36 mmHg liegen. Hieraus ergibt sich, dass die Kapnometrie zum obligaten Monitoring bei Augeneingriffen gehört. Postoperativ ist das Auge wieder verschlossen, sodass die Vis a tergo und ein Anstieg des intraokularen Drucks jetzt keine Rolle mehr spielen. Der Patient kann nach Wiederkehr der Schutzreflexe extubiert werden. Im Aufwachraum wird der Patient nicht auf die operierte Seite gelagert, wobei der Kopf zur Verbesserung des Blutabflusses erhöht zu lagern ist.
40.3.2 Durchführung der Lokalanästhesie
40.3.1 Durchführung der
Allgemeinanästhesie Abgesehen von kurzen Narkoseuntersuchungen werden alle Eingriffe in Intubationsnarkose durchgeführt. Wie bei anderen Eingriffen am Kopf liegen die Arbeitsfelder von Anästhesist und Operateur sehr dicht beieinander. Der Kopf ist intraoperativ nicht zugänglich, weswegen auf die optimale Sicherung des Endotrachealtubus geachtet werden muss. Die Eingriffe werden mit dem Operationsmikroskop durchgeführt, weswegen der Patient bis zum Schluss der Operation absolut ruhig liegen muss. Mit dem Ausleiten der Narkose kann also nicht schon in den letzten Operationsphasen begonnen werden, zumal das Auge erst mit den letzten Nähten verschlossen wird und ein frühzeitiges Husten aufgrund der dann auftretenden Vis a tergo eine Gefährdung für das Auge darstellt. ! In der Ophthalmochirurgie tiefe Narkose bis zur letzten Naht!
Daraus ergibt sich die Forderung nach einem Anästhesieverfahren mit einer guten Steuerbarkeit, was am ehesten durch die neuen Inhalationsnarkotika Desfluran und Sevofluran oder durch TIVA-Verfahren mit kurz wirksamen Substanzen wie Propofol und Remifentanil erreicht wird. Auch nach der Intubation, bei der man auch aufgrund der Wirkung auf das Auge auf Succinylcholin verzichtet, wird weiter relaxiert, um einerseits Spontanbewegungen zu
Die Lokalanästhesie wird in der Regel durch den Augenarzt durchgeführt. Immer häufiger wird jedoch ein Anästhesist zu Überwachung der Vitalfunktion hinzugezogen (Stand-by). In manchen Kliniken führt der Anästhesist jedoch auch die Lokalanästhesie durch. Bei der Retrobulbäranästhesie wird das Lokalanästhetikum hinter den Bulbus gespritzt. Dieses ist für den Patienten unangenehm und kann zu erheblichen Blutdruckspitzen während der Injektion führen. Außerdem sind Hirnstammanästhesien beschrieben worden. Dieses kann dadurch erklärt werden, dass vor allem bei tiefer retrobulbärer Injektion mit einer spitzen Nadel das Lokalanästhetikum retrograd über die A. ophthalmica und die A. carotis direkt in das Gehirn gelangt. Auch die Injektion an den Hirnstamm bei Perforation der Schädelbasis ist beschrieben worden. Ein plötzlicher Atemstillstand und eine schwere Kreislaufdepression sind die Auswirkungen einer solchen Hirnstammanästhesie. Diese Komplikationen können vermieden werden, wenn kurze, stumpfe und gebogene Injektionskanülen verwendet werden, mit der das Lokalanästhetikum direkt hinter den Bulbus gespritzt wird. Folglich muss die Überwachung des Patienten durch den Anästhesisten schon vor dem Setzen der Lokalanästhesie beginnen. ! Stand-by bei Augenoperationen schon beim Setzen der Lokalanästhesie.
Die Gefahr der Hirnstammanästhesie besteht bei der Peribulbäranästhesie nicht, bei der das Lokalanästheti-
40
418
Kapitel 40 · Anästhesie in der Augenheilkunde
. Abb. 40.2. Anatomie und Operationen am Auge
kum um den Bulbus herum gespritzt wird und die deswegen eine immer weitere Verbreitung findet. Um eine Akinesie des M. orbicularis oculi zu erreichen, muss eine Fazialisblockade durchgeführt werden. Dazu wird der N. fazialis nach van Lint nahe des äußeren Orbitarandes oder nach O’Brien am Kiefergelenk umspritzt. Abhängig von der Operationsmethode ist zusätzlich eine Trigeminusblockade durch Unterspritzen der Augenlider notwendig. Die Zuständigkeiten bei der Augenoperation, bei der des Anästhesist zum Stand-by hinzugezogen wird, sind in einer gemeinsamen Erklärung zwischen den Fachgesellschaften festgelegt worden. Die Patienten sollen genauso wie für ein vom Anästhesisten selbst durchgeführtes Anästhesieverfahren vorbereitet werden. Das gilt insbesondere für die Voruntersuchungen, die Einwilligung und für die Einhaltung des Nüchternheitsgebotes. In der Regel wird ein Sedativum zur Prämedikation verschrieben. Eine weitere intraoperative Sedierung darüber hinaus hat sich in der Regel nicht bewährt, da ein Atemstillstand nicht zu beheben ist, ohne die Operation zu unterbrechen und die Sterilitätsbedingungen in Frage zu stellen. Selbst das Schnarchen kann die Operationsbedingungen beim Einsatz des Operationsmikroskops sehr beeinträchtigen.
40
40.4
Operationen im vorderen Augenabschnitt
Zur Kataraktoperation kommen in der Regel alte, häufig multimorbide Patienten. Der 20–40 min lange Eingriff, bei dem die getrübte Linse gegen eine Kunststofflinse ausgetauscht wird, ist standardisiert und wird meist in Lokalanästhesie durchgeführt (. Abb. 40.2).
Ein chronischer Anstieg des intraokularen Drucks (Glaukom), meist durch eine Abflussbehinderung des Kammerwassers verursacht, kann medikamentös mit adrenalin- oder E-blockerhaltigen Augentropfen behandelt werden. Beide Medikamente reduzieren wie Azetazolamid die Kammerwasserproduktion und müssen wegen ihrer möglichen systemischen Nebenwirkungen bei der Narkoseführung berücksichtigt werden. Ist eine solche konservative Behandlung nicht effektiv, so wird eine Trabekelektomie durchgeführt, bei der ein Segment des Trabekelwerkes unter eine Skleraschicht genäht wird, um so eine Resorption des Kammerwassers zu gewährleisten. Bei irreparablen Hornhautschäden kann diese entfernt und im Rahmen einer Keratoplastik durch ein autologes Transplantat ersetzt werden. Nach Entfernung der Hornhaut ist das Auge weit offen und vollkommen ungeschützt gegen intrabulbäre oder orbitale Druckerhöhungen. Leichte Veränderungen der Vis a tergo können zu einem sofortigen Verlust des Auges führen. Die Eingriffe werden in Allgemeinanästhesie durchgeführt.
40.5
Chirurgie der Hinterkammer
Bei der Vitrektomie werden über einen kleinen Schnitt im Bulbus Blutungen und Eintrübungen aus dem Glaskörper abgesaugt, nachdem sie mittels Ultraschall verflüssigt wurden. Damit die Form und damit die optische Funktion des Bulbus erhalten bleiben, wird der Defekt danach mit unterschiedlichen Flüssigkeiten wie Schwefelhexafluorid oder Silikonöl aufgefüllt. Diese Eingriffe dauern häufig lange und werden daher meist in Allgemeinanästhesie durchgeführt.
40.6
Extraokulare Eingriffe
Netzhautablösungen können dadurch behandelt werden, dass der Bulbus durch eine Cerclage (Plombe) gerafft wird, sodass sich die Netzhaut wieder anlegt = Amotiooperation. Dazu muss der Bulbus sehr weit aus seiner physiologischen Lage heraus gedreht werden, sodass leicht der okulokardiale Reflex ausgelöst werden kann. Die gleiche Problematik gibt es auch bei der Schieloperation, die meist im Klein- und Schulkindalter durchgeführt wird. Zur Korrektur der Fehlstellung des Bulbus wird der Ansatz der Augenmuskeln versetzt. Diese Eingriffe sind planbare Wahleingriffe und sollten daher nur durchgeführt werden, wenn die Kinder ganz gesund sind. Zur Tränenwegrekonstruktion kommen vorwiegend Kinder, bei denen die Tränenwege nicht angelegt oder verschlossen sind, seltener Erwachsene, bei denen Entzündungen oder Traumen Ursache für den Verschluss sind.
419 Literatur
Für diagnostische Tränenwegspülungen sollte, auch wenn der Eingriff sehr kurz ist, eine Intubationsnarkose durchgeführt oder mit der Larynxmaske die Atemwege gesichert werden, da leicht Schleim- oder Eiterpfropfen in den Pharynx gespült und dann aspiriert werden können.
40.7
Per forierende Augenverletzungen
Ist die Verletzung durch einen Metallsplitter verursacht, so kann dieser mit einem Magneten entfernt werden. Ist dieses nicht der Fall, muss eine Revision des Auges durchgeführt werden. Da diese Patienten nach ihrem Trauma nicht nüchtern sind, muss eine lleuseinleitung durchgeführt werden. Um eine glatte, schnelle Narkoseeinleitung ohne Husten und Pressen zu ermöglichen, wird hier Succinylcholin verwendet, obwohl für dieses sonst beim eröffneten Auge eine Kontraindikation besteht. Tipps
Narkose bei perforierender Augenverletzung – so machen wir es: 5 Bei entsprechender Indikationsstellung durch den Operateur kein Abwarten der 6-StundenNüchternheitszeit 5 Gute Präkurarisierung z.B. 10 mg Atracurium, nach Wirkungsbeginn 5 Einleitung mit Thiopental oder Propofol, Succinylcholin 2 mg/kg KG 5 Crush-Intubation 5 Fortführung als balancierte Anästhesie oder TIVA 5 Beachtung der Begleitverletzungen (SchädelHirn-Trauma, Gesichtsschädelverletzung)
Literatur Gemeinsame Empfehlung über die Zusammenarbeit bei der operativen Ophthalmologie. Anästhesiologie und Intensivmedizin (1989) 39: 309–310 Heindl B (2005) Inter ventionshäufigkeit und Risikofaktoren bei anästhesiologischem Stand-by in der Ophthalmochirurgie – eine retrospektive Analyse. Anästhesiol Intensivmed Notfallmed Schmerzther 40: 340–344 Rex S (2001) Anästhesie in der Augenheilkunde. Anästhesist 50:798– 815 Ruprecht K (1989) Indikationen, Kontraindikationen und Komplikationen der Lokalanästhesie am Auge. In: Piepenbrock S, Schäffer J. Anästhesie in der Augenheilkunde, Thieme, Stuttgart
40
41 Anästhesie in der Kiefer- und Mundchirurgie Jürgen Schäffer 41.1 Abszess –422 41.2 Tumorchirurgie –422 41.3 Lippen-Gaumen-Spalten –422 41.4 Gesichtsschädeltrauma –423 41.5 Zahnbehandlung –423 Literatur –423
422
Kapitel 41 · Anästhesie in der Kiefer- und Mundchirurgie
)) Bei der Arbeit in der Kiefer- und Mundchirurgie ist der Anästhesist vor ähnliche Probleme gestellt wie in der Hals-Nasen-Ohren-Klinik. Das Operationsgebiet der beiden Fachabteilungen überschneidet sich zum Teil, die Genese von Tumoren ist ähnlich. Daher treten ähnliche Probleme bei der Versorgung auf: Häufig chronisch obstruktive Lungenerkrankung und toxischer Leberschaden bei Tumorpatienten, Intubationsschwierigkeiten und die Besonderheiten bei lange dauernden Rekonstruktionsoperationen. Ein besonderes Feld ist die Anästhesie im Rahmen der Versorgung von Lippen-Kiefer-Gaumen-Spalten bei kleinen Kindern.
41.1
Abszess
: Beispiel Bei einem 35-Jährigen kommt es zu einer zunehmenden schmerzhaften Schwellung im Bereich des linken Unterkiefers. Er wird unter dem Verdacht eines Abszesses der Glandula submandibularis in eine kieferchirurgische Klinik zur Abszessspaltung eingewiesen. Hier bestätigt sich die Diagnose und der Patient wird für die Operation vorbereitet. Bei der Festlegung des Operationszeitpunktes wird wegen der aufgeschobenen Dringlichkeit der Operation auf den Ablauf der Sechsstundenfrist für die Nüchternheit geachtet. Schon bei der Prämedikation imponiert eine Kiefersperre, die Zahnreihen lassen sich nur 1 cm weit auseinander bewegen. Es besteht ein mechanischer, aber auch schmerzbedingter Widerstand. Es wir eine fiberoptische nasale Intubation vorbereitet. Der Patient wird präoxygeniert und mit 2-mal 1 mg Midazolam und 0,1 mg Fentanyl leicht analgosediert. Hierunter lässt sich der Kiefer deutlich mehr öffnen, sodass von einer schmerzbedingten Kieferklemme ausgegangen wird. Man entschließt sich zur Narkoseeinleitung mit konventioneller Intubation, was mühelos gelingt, da sich die Zahnreihen nach Narkoseeinleitung 2 cm weit auseinander bewegen lassen.
41
Abszesse im Mund- und Kieferbereich können zu einer Kieferklemme führen, die eine konventionelle Intubation unmöglich macht. Die Kieferklemme kann durch Schmerz bedingt sein und löst sich dann nach der Anästhesieeinleitung. Sie kann aber auch eine mechanische Ursache durch die abszessbedingte Schwellung haben und so die Beweglichkeit im Kiefergelenk einschränken. In diesem Fall löst sich die Klemme während der Narkoseeinleitung nicht.
Häufig lässt sich vor Narkoseeinleitung nicht feststellen, welche der beiden Möglichkeiten vorliegt, sodass man immer so vorgehen sollte, als sei die Intubation nicht möglich.
41.2
Tumorchirurgie
Für die Tumorchirurgie gelten die gleichen Richtlinien wie bei der Tumorchirurgie in der Hals-Nasen-Ohren-Heilkunde (7 Kap. 42).
41.3
Lippen-Gaumen-Spalten
Bei den Lippen- und Gaumenspalten bzw. deren Kombination handelt es sich um einen Defekt in der fetalen Entwicklung des Gesichtsschädels, bei der sich die anterioren und lateralen Fortsätze nicht vollständig zusammenschließen. Handelt es sich lediglich um eine Lippenspalte, dann können die Kinder gestillt und somit ernährt werden. Mit der Versorgung kann bis zum 6. Lebensmonat gewartet werden. Anders ist es bei der Lippen-Gaumen-Spalte. Da die Kinder nicht saugen können, sondern nur über eine Magensonde ernährt werden können, wird die Operation hier bereits im 3. Lebensmonat durchgeführt. Ist nur der Gaumen zu versorgen, so liegt das Hauptziel darin, die Sprechfähigkeit herzustellen und man kann bis zum 12. Lebensmonat warten. Zur Operation kommen Säuglinge und Kleinkinder, die v. a. bei isolierten Gaumenspalten häufig weitere Missbildungen haben. Eine genaue Voruntersuchung unter Berücksichtigung der pädiatrischen Befunde ist daher wichtig. Die Eingriffe sind planbar und sollten nur dann durchgeführt werden, wenn die Kinder gesund, vor allem völlig infektfrei sind. Allerdings sollte eine laufende Nase nicht dazu führen, dass die Kinder abgesetzt werden, da vor allem Gaumenspalten häufig mit chronischem Schnupfen und Otitis media vergesellschaftet sind. Der Ausfluss sollte aber nicht putride und das Kind fieberfrei sein. Die Kinder werden am besten mit einem vorgeformten Tubus intubiert, der medial an der Unterlippe fixiert und über das Kinn abgeleitet wird. Es wird ein Tubus ohne Blockung verwendet, weswegen sich eine Rachentamponade zum Schutz vor der Aspiration von Blut bewährt hat. Der perioperative Blutverlust ist schwer abzuschätzen, kann aber bei der Versorgung einer Lippen-Gaumen-Spalte so stark sein, dass eine Bluttransfusion indiziert ist. Am besten lässt sich der Blutverlust bei kleinen Kindern am Kreislaufverhalten abschätzen.
423 Literatur
41.4
Gesichtsschädeltrauma
Schädeltraumen bestehen häufig aus einer Kombination von Gesichtsschädel- und Hirntrauma. Sehr häufig wird die Schwere eines Gesichtsschädeltraumas unterschätzt, da direkte Blutungsquellen nicht zu sehen sind. Die Blutverluste aus den Frakturen des Gesichts können jedoch erheblich sein, sodass eine schwere Schocksymptomatik allein durch das Gesichtsschädeltrauma zu erklären ist, wenn sonst keine Blutungsquellen zu erkennen sind. Um diese auszuschließen, ist der Patient genauestens daraufhin zu untersuchen, ob er weitere Frakturen oder ein stumpfes Bauch- (Sonographie des Abdomens) oder Thoraxtrauma (Röntgenaufnahme des Thorax) hat. Weiterhin muss, sofern der Patient eine Störung des Bewusstseins hat oder gehabt hat, mittels Computertomographie ein Hirntrauma ausgeschlossen werden. Zuletzt müssen durch einen Augenarzt die Augen auf eine perforierende Augenverletzung hin untersucht werden. ! Gesichtsschädelverletzungen können zu erheblichen Blutverlusten mit ausgeprägter Schocksymptomatik führen.
Liegen keine anderen Verletzungen vor und ist der Patient in einem stabilen Zustand, was Lungen- und Kreislauffunktion angeht, so kann die Versorgung der Gesichtsschädelfrakturen sofort, d. h. innerhalb der üblichen 6-Stundenfrist nach dem Trauma durchgeführt werden. Häufiger ist es jedoch, dass die Vitalfunktionen des Patienten weiter stabilisiert werden müssen oder dass andere Verletzungen dringlicher zu versorgen sind. In diesem Fall werden die Gesichtsschädelverletzungen erst nach Rückgang der traumabedingten Schwellung durchgeführt. Es ist dann jedoch ratsam, gleich eine Tracheotomie durchzuführen, da die Schwellung erheblich und damit im Falle einer akzidentellen Extubation eine Reintubation unmöglich sein kann. Aus dem gleichen Grund sollte auch im Rahmen einer primären Versorgung die Indikation zur Tracheotomie vor allem dann großzügig gestellt werden, wenn der Patient postoperativ nachbeatmet werden muss. ! Beim Gesichtsschädeltrauma Indikation zur Tracheotomie großzügig stellen!
Die Narkoseführung erfordert, abgesehen von der Sicherung des Luftwegs und der Behandlung des Blutverlusts, keine Besonderheiten. Der Patient wird primär mit einem Spiraltubus oder mit einem vorgeformten Tubus intubiert. In der Regel sind keine Intubationsschwierigkeiten zu erwarten. Es ist jedoch durch sorgfältiges Absaugen darauf zu achten, dass der Patient während der Intubation
kein Blut aspiriert. Außerdem kann der Patient in der Regel nicht mit der Maske beatmet werden, weswegen eine ausreichend lange Zeit zur Präoxygenierung abgewartet werden sollte.
41.5
Zahnbehandlung
Anästhesisten werden zur Zahnbehandlung vor allem bei geistig behinderten Kindern hinzugezogen, wenn die Behandlungen sehr umfangreich sind oder die kleinen Patienten aus anderen Gründen nicht kooperativ sind. Meist werden die Behandlungen ambulant durchgeführt. In der Regel sind außer der Anamnese und der körperlichen Untersuchung keine Voruntersuchungen notwendig. Sie werden von den klinischen Befunden abhängig gemacht. Vor allem bei den ängstlichen und unkooperativen Kindern ist eine gute Prämedikation oder gar eine rektale Narkoseeinleitung notwendig, sodass sich der venöse Zugang einfach legen lässt. Die Narkose kann dann mit Sevofluran und Propofol vertieft werden, sodass die Kinder ohne Relaxanzien intubiert werden können. Je nach Absprache mit dem Operateur kann ein konventioneller Spiraltubus oder ein vorgeformter Endotrachealtubus verwendet werden, der über das Kinn oder bei nasaler Applikation über die Nase abgeleitet werden kann. Vor der Extubation sollen die Schutzreflexe wieder zurückgekehrt sein.
Literatur Rex S, Max M (2001) Anästhesie in der Mund-Kiefer-Gesichtschirurgie. Anästhesist 50: 207–225
41
42 Anästhesie in der HNO Jürgen Schäffer 42.1 Allgemeines –426 42.2 Adenotomie, Tonsillektomie, Paukenröhrchen –427 42.3 Tracheotomie –427 42.4 Operationen am Ohr –428 42.5 Eingriffe am Larynx –428 42.5.1 Panendoskopie –428 42.5.2 Lasereingriffe –429
42.6 Tumorchirurgie –430 Literatur –430
426
Kapitel 42 · Anästhesie in der HNO
)) Weniger als in der Neuro- und Ophthalmochirurgie sind bei der Anästhesie in der Hals-Nasen-Ohren-Heilkunde besondere pathophysiologische Verhältnisse des zu behandelnden Organs zu beachten. Dafür stehen andere, die Operationsverfahren betreffende Probleme im Vordergrund.
42.1
Allgemeines
Das Arbeitsfeld des Anästhesisten und des HNO-Arztes liegen sehr dicht beieinander. Mehr als in anderen Fächern muss auf eine optimale Zusammenarbeit geachtet werden.
5
5 5 5 5
Tipps
Sicherung des Luftweges in der HNO – so machen wir es: 5 Verwendung eines Spiral-Einmaltubus 5 Fixierung des Tubus mit Pflaster, nachdem die Haut zuvor mit Flüssigverband vorbehandelt wurde 5 Überkleben des Tubuspflasters mit breitem, wasserundurchlässigem Pflaster 5 Sicherung der Konnektionsstellen zwischen Tubus und Y-Stück sowie zwischen Y-Stück und Beatmungsschläuchen mit Pflasterstreifen
Vor allem bei enoralen Eingriffen, aber auch bei Endoskopien müssen Operateur und Anästhesist dauernd in Kontakt bleiben und gemeinsam den Luftweg für die Beatmung sichern. Bei Tumoren im Hals- und Rachenbereich ist mit erheblichen Intubationsschwierigkeiten zu rechnen. Nur ein genau geplantes und gut vorbereitetes Vorgehen kann die Gefährdung des Patienten weitgehend verringern. Tipps
42
Vorgehen bei erwarteter schwieriger Intubation in der HNO – so machen wir es: 5 Voruntersuchung unter Berücksichtigung der Malampati-Einteilung und des Spiegelbefundes des HNO-Arztes: Kehlkopf nicht einsehbar = schwierige Intubation zu erwarten! 5 Bereitstellung verschiedener Tubusgrößen mit Führungsstäben, Bougierungsstäben und Intu6
5
bationshilfen, mehrerer Laryngoskopgrößen mit verschiedenen Spatelformen und eines Bronchoskops zur fiberoptischen Intubation bzw. eines endoskopisch ausgerüsteten Laryngoskops Mit der Narkoseeinleitung warten, bis der Operateur zugegen ist, damit dieser im Notfall ein starres Beatmungsbronchoskop einführen oder eine Notfallkoniotomie durchführen kann Gute, mindestens 5 min dauernde Präoxygenierung Narkoseeinleitung durch langsame Injektion von Propofol Nach Einschlafen des Patienten Versuch von Maskenbeatmung und Laryngoskopie Bei akzeptablen Beatmungs- und Intubationsbedingungen Relaxierung und Intubation Bei unmöglicher Beatmung oder Intubation Propofol abstellen und in Sedierung fiberoptische Intubation durchführen
Tipps
Fiberoptische Intubation – so machen wir es: 5 Nach Möglichkeit den Patienten über den Vorgang aufklären 5 Abschwellen der Nasenschleimhaut mit Nasentropfen bei nasotrachealem Zugang 5 Oberflächenanästhesie von Rachen und Kehlkopf mit Lidocainspray 5 Sauerstoffinsufflation 5 Leichte Sedierung mit Midazolam, titrieren! 5 Endotrachealtubus auf das Bronchoskop auffädeln 5 Vorschieben des Bronchoskops über die Nase (Vorsicht Blutungsgefahr!) oder durch den Mund über einen Beißschutz ggf. mit Führungsschiene (modifizierter Guedel-Tubus) 5 Lokalanästhesie von Kehlkopf mit Stimmbändern und Trachea mit jeweils 1–2 ml Lidocain 1 % über einen dünnen Schlauch (Peridural-, Cava- oder anderer Mikrokatheter), der über den Arbeitskanal vorgeschoben wird 5 Vorschieben des Bronchoskops nur, wenn der Patient nicht hustet 5 Wenn das Bronchoskop in der Trachea liegt (Knorpelspangen und Bifurkation sind sichtbar), vorschieben des Endotrachealtubus über das Instrument 5 Endoskopische Lagekontrolle
427 42.3 · Tracheotomie
Häufig ver wenden HNO-Ärzte Vasokonstriktoren, um die vor allem bei dem Einsatz des Mikroskops störenden Blutungen zu vermindern. Dazu wird Adrenalin auf 1 : 100000 verdünnt und in das Operationsgebiet eingespritzt. Systemische Wirkungen mit Tachykardie, Hypertonie und Rhythmusstörungen sind nicht auszuschließen. Da das früher verwendete Halothan selbst die Reizschwelle senkt, ist es in dieser Situation kontraindiziert. Weniger problematisch ist der Einsatz von Vasopressin, das jedoch auch hypertone Reaktionen bis zur hypertensiven Krise auslösen kann.
42.2
Adenotomie, Tonsillektomie, Paukenröhrchen
Diese Eingriffe werden sehr häufig bei Klein- und Schulkindern, Tonsillektomien auch bei Erwachsenen durchgeführt. Sie werden auch außerhalb von HNO-Kliniken in Belegabteilungen an fast allen Krankenhäusern und in Praxen vorgenommen. Die Eingriffe gelten als einfach, stellen den Anästhesisten jedoch häufig gerade deshalb vor Probleme. Häufig sind chronische Infekte der oberen Luftwege und Mittelohrentzündungen die Indikation für die Eingriffe. Aus diesem Grund sind die Patienten meist nicht infektfrei. Sie sollten im Intervall operiert werden und dann fieberfrei sein und keinen Husten bzw. keinen pathologischen Auskultationsbefund der Lunge haben. Die Eingriffe werden nicht unter aseptischen Bedingungen, häufig auch außerhalb des zentralen Operationsbereichs vorgenommen. Gerade unter diesen Bedingungen ist auf eine sorgfältige Anästhesieführung durch einen erfahrenen Anästhesisten zu achten. Tipps
Kleine HNO-Eingriffe bei Kindern (Paukenröhrchen, Adenotomie, Tonsillektomie) – so machen wir es: 5 Prämedikation ambulant und Abwarten des Intervalls, in dem das Kind keinen Husten, Fieber oder einen pathologischen Lungenauskultationsbefund hat 5 Einleitung per Maske mit Sevofluran oder nach Hautanästhesie mit EMLA intravenös 5 Intubation mit vorgeformtem, nicht blockbarem Endotrachealtubus nach Vertiefung der Narkose mit Propofol oder Relaxierung mit geringen Mengen eines nicht depolarisierenden Muskelrelaxans (kein Succinylcholin, Rhabdomyolyse) 6
5 Bei Luftleck eventuell größeren Tupfer vor den Kehlkopf legen 5 Zunächst Adenotomie oder Tonsillektomie, dann in der Phase der Blutstillung Einlegen der Paukenröhrchen mit Hilfe des Operationsmikroskops 5 Blutungskontrolle durch den Operateur 5 Narkoseausleitung und Extubation unter Spontanatmung nach Wiederkehren der Schutzreflexe 5 Nach Adenotomie: Kein tiefes Absaugen durch die Nase, Wundbett kann verletzt werden 5 Nach Tonsillektomie: Sichtkontrolle auf Nachblutung mit dem Laryngoskop vor Extubation
42.3
Tracheotomie
Die Indikation für eine Tracheotomie (. Abb. 42.1) kann vom Hals-Nasen-Ohren-Arzt gestellt sein, wenn der Luftweg durch die Erkrankung oder die Operation dauerhaft unterbrochen oder gestört ist. Eine andere Indikation wird in der Intensivmedizin bei Patienten gestellt, die über längere Zeit beatmet werden, um den künstlichen Zugang zum Tracheobronchialsystem zu verbessern. Bei der Tracheotomie wird unterhalb des Kehlkopfs zwischen den ersten Knorpelspangen die Trachea eröffnet und eine Beatmungskanüle eingeführt. Dieser Zugang eignet sich vor allem für die Tracheotomie bei vorübergehend beatmeten Patienten. Da das Gewebe zwischen der Trachealwand und der Haut ungeschützt offen liegt, können hier leicht Keime eindringen, die zu einer Entzündung der Wunde führen. Darüber hinaus fallen Haut, Unterhaut und Trachealspangen leicht wieder zusammen, wenn die Kanüle entfernt wird oder aus dem Tracheostoma herausrutscht, sodass eine Rekanülierung manchmal sehr schwierig sein kann. Nach der Entfernung der Kanüle verschließt sich das Tracheostoma innerhalb weniger Stunden spontan. Ähnliche Probleme bestehen bei der perkutanen Dilatationstracheotomie, bei der mittels Seldinger-Technik die Haut und die Trachealwand so weit aufbougiert werden, dass eine Trachealkanüle eingeführt werden kann. Auch hier ist eine Rekanülierung vor allem in den ersten 48 h nach der Anlage des Tracheostomas sehr schwierig, sodass es meist günstiger ist, den Patienten im Notfall zunächst wieder orotracheal zu intubieren. Die kosmetischen Ergebnisse sind nach der Dekanülierung besser als nach konventioneller Tracheotomie. Der große Vorteil liegt bei diesem Verfahren jedoch darin, dass aufgrund der Dilatationstechnik die Gewebe an den Rändern so aneinander gedrückt
42
428
Kapitel 42 · Anästhesie in der HNO
42.4
Operationen am Ohr
Ohroperationen, sind abgesehen von der Mastoidektomie, Wahleingriffe und bieten mit Ausnahme der Tympanoplastik für den Anästhesisten keine Besonderheiten. Die Eingriffe werden meist mikrochirurgisch durchgeführt. Deshalb muss der Patient bis zum Schluss der Operation absolut still liegen. Bei der Tympanoplastik wird beim Verschluss des Trommelfells vor allem dann ein abgeschlossener lufthaltiger Raum gebildet, wenn ein Druckausgleich über die Tuba eustachii nicht möglich ist. In diesen Raum strömt Lachgas ein, wodurch es zu einem Anstieg des Drucks im Mittelohr kommt, sodass sich das Trommelfell wieder abheben kann und der Operationserfolg dadurch in Frage gestellt wird. Aus diesem Grund wird dem inspiratorischen Gasgemisch 20–30 min vor dem Verschluss des Trommelfells kein Lachgas mehr zugemischt. Bei den Eingriffen am Ohr wird fast immer ein Vasokonstriktor (s. o.) vom Operateur eingespritzt, um die Blutung im Operationsfeld herabzusetzen.
42.5
Eingriffe am Larynx
Mehr als bei allen anderen Eingriffen in der HNO ist bei Eingriffen am Larynx eine Absprache zwischen Anästhesist und Operateur notwendig, da direkt im Luftweg operiert wird (s. o.).
42.5.1 Panendoskopie . Abb. 42.1. a) Plastisches Tracheostoma (die Cutis ist in die Trachealwand eingenäht), b) Tracheotomie, c) perkutane Dilatationstracheotomie
42
werden, dass keine Blutungen oder Entzündungen entstehen. Muss der Zugang zur Trachea auf Dauer bestehen bleiben, so ist es günstiger, ein plastisches Tracheostoma anzulegen. Hier wird wie bei der Tracheotomie die Trachea eröffnet, die Haut jedoch direkt mit der Trachea vernäht. Das Tracheostoma bleibt auch offen, wenn die Kanüle entfernt wird und zeigt, da die Schnittflächen verschlossen sind, in der Regel keine Entzündungen. Allerdings muss es, wenn es überflüssig geworden ist, durch einen erneuten operativen Eingriff plastisch verschlossen werden. Es sollte vor allem dann angelegt werden, wenn die Atmung dauerhaft behindert ist, wie etwa beim Appalliker. Vor einer Laryngektomie kann das Tracheostoma in Lokalanästhesie angelegt werden.
Zur Tumordiagnostik in der Hals-Nasen-Ohren-Heilkunde wird eine Endoskopie des Ösophagus (Ösophagoskopie) und der Trachea (Tracheoskopie) mit einem starren Instrument durchgeführt. Zur Entnahme von Gewebeproben aus dem Hypopharynxbereich, aber auch zur Operation an den Stimmbändern, wird ein Stützautoskop zur Darstellung des Hypopharynxbereichs eingesetzt (. Abb. 42.2; . Abb. 42.3). Infolge der Tumoren in diesem Bereich ist mit erheblichen Intubationsschwierigkeiten (s. o.) zu rechnen. Tipps
Panendoskopie – so machen wir es: 5 Vorgehen wie bei erwarteter schwieriger Intubation 5 Einleiten einer intravenösen Anästhesie am besten mit kurz wirksamen Substanzen (Propofol und 6
429 42.5 · Eingriffe am Larynx
5 5
5
5
. Abb. 42.2. Beatmungstracheoskop. Über ein Lichtleiterkabel (a) wird Licht in das Instrument geführt, über den Zugang (b) wird das Beatmungsgerät angeschlossen. Für das Einführen von Instrumenten muss das Fenster am Ende des Beatmungstracheoskops geöffnet werden. In diesem Moment entsteht ein großes Leck im Beatmungssystem. Die Luft kann bei Überdruck direkt in das Gesicht des Operateurs entweichen. Aus diesem Grund sollen die Narkosen für diese Eingriffe ohne volatile Anästhetika durchgeführt werden. Bei geöffnetem Fenster darf nicht beatmet werden.
. Abb. 42.3. Stützautoskop
Remifentanil) und Relaxierung mit kurz wirkendem, nicht depolarisierendem Muskelrelaxans Vor der Intubation Tracheoskopie mit Beatmungstracheoskop Abdichten von Leckagen zwischen Tracheoskop und Larynx mit einem feuchten Lappen, der über Mund und Nase gedrückt wird Nach der Tracheoskopie Intubation mit einem dünnem (5,0–6,5 Charr) und langen Tubus, danach Ösophagoskopie Danach Einbringen und Fixierung des Stützautoskops und Operation unter dem Operationsmikroskop am Larynx und Hypopharynx (im Rahmen der Diagnostik meist Entnahme von Gewebeproben)
Stützautoskopien können vor allem dann, wenn an den Stimmbändern operiert wird, auch in Apnoe durchgeführt werden. Eine ausreichende Präoxygenierung muss der Operationsphase vorhergehen. Beim Abfall der arteriellen Sauerstoffsättigung muss der Eingriff für die Beatmung unterbrochen werden. Eine andere Möglichkeit ist die Operation in Spontanatmung oder die Beatmung mittels Jet-Ventilation oder High-Frequency-Jet-Ventilation (HFJV).
42.5.2 Lasereingriffe Wegen der geringen Gewebetraumatisierung bei gleichzeitiger Blutstillung hat sich bei Eingriffen am Larynx der Einsatz des CO2-Lasers bewährt. Mit ihm werden Tumoren, aber auch Veränderungen an den Stimmbändern abgetragen. Neben den allgemeinen Vorsichtsmaßnahmen zum Schutz von Personal und Patienten (Tragen von Brillen) muss beachtet werden, dass der Laserstrahl in diesem Bereich auch den Endotrachealtubus treffen und in Brand setzen kann. Ein Inhalationstrauma mit schweren Veränderungen der Tracheal- und Bronchialschleimhaut sowie toxischen Lungenveränderungen können die Folge sein. Um dieses zu vermeiden sind Tuben entwickelt worden, die zwei Cuffs haben, sodass, wenn der eine durch den Laser zerstört wird, der andere, distale, die Abdichtung des Tubus gewährleistet. Um einen eventuell entstehenden Brand sofort zu löschen, werden die Cuffs nicht mit Luft, sondern mit Wasser geblockt. Zudem sind die Tuben mit Silber beschichtet, das den Laser reflektiert und so ein Schmelzen oder Entflammen des Plastikmaterials verhindert. Um einen eventuell doch entstehenden Brand durch
42
430
Kapitel 42 · Anästhesie in der HNO
Sauerstoff nicht anzufachen, ist die FiO2 so gering wie möglich zu halten. Sollte es dennoch zu einem Tubusbrand kommen, so ist dieser so schnell wie möglich zu entfernen und der Patient wie bei einem Inhalationstrauma zu behandeln. Nach der Inspektion der Tracheal- und Bronchialschleimhaut zum Abschätzen des Ausmaßes des Schadens ist eine Therapie mit Kortikosteroiden angezeigt, das am besten als Spray lokalisiert wird. Der Patient muss anschließend intensiv überwacht werden.
42.6
42
Tumorchirurgie
Maligne Tumoren im HNO-Bereich werden vor wiegend bei Patienten des mittleren und höheren Lebensalters operiert. Da die Tumoren häufig nach chronischem Alkohol- und Nikotinabusus vorkommen, ist mit den entsprechenden anästhesiologischen Problemen durch chronisch obstruktive Lungenerkrankungen, toxische Leberschäden und hepatische Enzyminduktion zu rechnen. Häufig sind die Patienten mit ihren spezifischen Problemen (Intubationsschwierigkeiten, Vorerkrankungen) schon bekannt, da präoperativ eine Panendoskopie durchgeführt wurde. Ist der Eingriff mit einer Tracheotomie verbunden, so sollte diese im Zweifelsfall vor der eigentlichen Tumoroperation in Lokalanästhesie durchgeführt werden. Mit der Extirpation eines malignen Tumors im HNOBereich ist die Ausräumung der Lymphknoten im Lymphabflussgebiet, die radikale Neck dissection, verbunden. Diese Tumoroperationen können einige Stunden dauern. Während der Narkose ist auf eine sorgfältige Bilanzierung von Flüssigkeits- und Blutumsatz zu achten, zumal die Wundfläche bei einer Neck dissection relativ groß ist, sodass die Blutverluste erheblich sein können, ohne selbst als solche zu imponieren. Ist ein zentralvenöser Katheter indiziert, so sollte ein periphervenöser Zugang gewählt werden, damit sich der Punktionsort fern des Operationsgebiets befindet. Dieser Katheter braucht nicht lange zu liegen, da die Patienten schon nach kurzer Zeit über eine Magensonde enteral ernährt werden können. Aufwendig mit Operationszeiten bis zu 10 h ist eine Extirpation eines Tumors, der auch den Ösophagus betrifft. Hier wird ein freies Kolon- oder Jejunuminterponat zur Überbrückung des Defekts durchgeführt. Bestehen größere Hautdefekte, so werden diese mit Verschiebe- oder gestielten Hautlappen plastisch gedeckt.
Tipps
Anästhesie bei Tumorextirpation im HNO-Bereich mit plastischer Rekonstruktion (Jejunum-/ Koloninterponat, plastischer Hautlappen) – so machen wir es: 5 Übliche Vorbereitung 5 Ggf. Tracheostoma in Lokalanästhesie 5 Einleitung einer balancierten Anästhesie 5 Monitoring: wie üblich mit Kapnometrie, CavaKatheter, arterielle Blutdruckmessung, regelmäßige Kontrolle von kleinem Blutbild, Gerinnung, Elektrolyten und arterielle Gasanalyse 5 Magensonde, Urinkatheter 5 Verhinderung von Temperaturverlusten: aktive Wärmezufuhr, minimal Flow 5 Niedermolekulare HAES zur Verbesserung der Rheologie nach Anlegen der Gefäßanastomosen des freien Transplantats
Literatur Padorsch S, Polarz H (2001) Anästhesiologisches Management bei laserchirurgischen Eingriffen in der Hals-Nasen-Ohren-Heilkunde. Anästhesist 50: 721–737
43 Anästhesie in der Urologie Christoph Wachter 43.1 Einführung und Besonderheiten –432 43.2 Narkoseverfahren –432 43.2.1 Allgemeinanästhesie –432 43.2.2 Regionalanästhesie –432 43.2.3 Kombinationsverfahren –433
43.3 Lagerungsverfahren –433 43.3.1 Trendelenburg-Lagerung –433 43.3.2 Steinschnittlagerung –433 43.3.3 Nierenlagerung –434
43.4 Anästhesiologische Besonderheiten bei speziellen Eingriffen –434 43.4.1 43.4.2 43.4.3 43.4.4 43.4.5 43.4.6 43.4.7 43.4.8
TUR der Prostata –434 TUR der Blase –435 Prostatektomien –435 Zystektomie mit Neoblase –436 Nierenoperationen (Nierentumoren, Nierenbecken und Ureter) –436 Extrakorporale Stoßwellen-Lithotripsie (ESWL) –436 Ambulante Eingriffe –436 Anästhesie bei Kindern –437
Literatur –437
432
43.1
Kapitel 43 · Anästhesie in der Urologie
Einführung und Besonderheiten
Um die Besonderheiten in einem Satz zu nennen: urologische Patienten sind häufig entweder sehr alt oder sehr jung. Tatsächlich sind diese beiden Extreme in der Urologie wie in kaum einem anderen operativen Fachgebiet vertreten. Das erfordert sowohl Erfahrung als auch besonderes Einfühlungsvermögen des Anästhesisten. Da die meisten urologischen Erkrankungen erst in einem höheren Lebensalter manifest werden, finden sich dementsprechend viele Begleiterkrankungen bei den betagten Patienten. Hierzu gehören die kompensierte Herzinsuffizienz, Hypovolämie, Diabetes mellitus, Hypertonie, KHK, Demenz, eingeschränkte Lungenfunktion und weitere typische Erscheinungen des höheren Lebensalters. ! Urologische Patienten haben häufig viele kardiale und respiratorische Vor- und Begleiterkrankungen, da es sich in der Regel um ältere Patienten handelt.
Wie eingangs erwähnt, befinden sich auch sehr viele Kinder unter dem urologischen Patientengut. Neben kleineren und häufig ambulant durchgeführten Eingriffen wie z. B. Zirkumzisionen werden auch zahlreiche Kinder mit komplexen angeborenen Fehlbildungen der ableitenden Harnwege operiert. Diese kleinen Patienten haben bereits häufig Wiederholungsnarkosen und -operationen hinter sich gebracht, dementsprechend wichtig ist eine gute und ausreichende Prämedikation. ! Kinder benötigen eine ausreichende anxiolytische und sedierende Prämedikation, da es sich häufig um Wiederholungseingriffe handelt und die notwendige Einsichtsfähigkeit noch fehlt.
Eine weitere Besonderheit der Urologie ist, dass eine spezielle urologische Ausrüstung für die Durchführung der Eingriffe notwendig ist. Dazu gehören der Nierensteinzertrümmerer, besondere Röntgentische, Vorrichtungen zur Durchführung von transurethralen Prostataresektionen usw. Dieses Equipment befindet sich meist in ausgelagerten Räumen der Urologen. Eine direkte Verbindung zum OP-Trakt und zum Aufwachraum ist nicht immer gegeben. Da wie oben bereits erwähnt, häufig Risikopatienten operiert werden, stellen sich mitunter logistische Probleme.
43
! Urologische Eingriffsräume sind häufig ausgelagert. Zu Hilfe gerufene Oberärzte müssen zumeist längere Wege zurücklegen. Es erscheint daher sinnvoll, erfahrene Anästhesisten mit der Durchführung von urologischen Anästhesien zu betrauen.
43.2
Narkosever fahren
Prinzipiell sind in der Urologie sowohl Allgemeinanästhesien wie auch regionale Narkoseverfahren möglich. Relativ häufig erscheint aber eine Kombination von regionalen und allgemeinanästhesiologischen Verfahren sinnvoll. Vor allem Patienten mit multiplen Vorerkrankungen und zu erwartenden starken postoperativen Schmerzen profitieren hiervon. Aber auch bei Kindern kann der Analgetikaverbrauch im Aufwachraum und auf der Station durch das Kombinieren beider Verfahren deutlich gesenkt werden.
43.2.1 Allgemeinanästhesie Von Vorteil bei Allgemeinanästhesien ist, dass die Patienten besser mit einem invasiven Monitoring (z. B. arterielle Blutdruckmessung und zentralvenöser Katheter) überwacht werden können. Außerdem werden so kritische pulmonale oder kardiale Situationen früher erkannt und können besser beherrscht werden. Häufig entscheidet man sich auch für eine Vollnarkose um verwirrte, unruhige, behinderte oder sehr junge Patienten besser während eines Eingriffs führen zu können. Bei Operationen in Bauchlage, langen OPs und nicht nüchternen Patienten kommt in der Regel eine Intubationsnarkose zum Einsatz. Viele urologische Interventionen können jedoch in Larynxmasken-Narkose durchgeführt werden.
43.2.2 Regionalanästhesie Von Vorteil bei Regionalverfahren sind die Wachheit des Patienten während des Eingriffs und die länger anhaltende postoperative Schmerzausschaltung. Sehr häufig werden z. B. transurethrale Resektionen (TUR) der Blase oder der Prostata in Spinalanästhesie durchgeführt. Nachteilig ist oft, dass es sich in der Regel um ältere Patienten mit oftmals schwierigen anatomischen Verhältnissen und vielfach degenerativ veränderten Wirbelsäulen handelt. Nicht immer gelingt daher eine spinale Punktion auf Anhieb. Erschwerend kommt hinzu, dass die räumlichen Bedingungen in den urologischen Eingriffsräumen nicht immer optimal sind. Diese Schwierigkeiten stellen nicht selten hohe Anforderungen an den Anästhesisten. Die Wahl des Lokalanästhetikums zur Durchführung einer Spinalanästhesie richtet sich nach den örtlichen Richtlinien der Anästhesieabteilungen. Vorteil eines hyperbaren Lokalanästhetikums (z. B. Carbostesin 0,5 % hyperbar) ist, dass durch entsprechende Lagerungsmanöver die Anästhe-
433 43.3 · Lagerungsverfahren
siehöhe auch nach der spinalen Injektion noch korrigiert werden kann. Nachteilig ist hierbei jedoch, dass die Fixierungszeit des Lokalanästhetikums immer abgewartet werden muss, bevor der Patient endgültig für die Operation gelagert werden kann. Bei einem isobaren Lokalanästhetikum (z. B. Carbostesin 0,5 % isobar) kann die Anästhesiehöhe nicht mehr durch Lagerungsmanöver, sondern nur durch das primär intrathekal injizierte Volumen gesteuert werden.
. Abb. 43.1. Trendelenburg-Lagerung (Aus Larsen: Anästhesie, 7. Aufl., S. 1274 © 2002 Urban & Fischer Verlag München)
Notwendige Spinalanästhesiehöhe für urologische Eingriffe 5 Niere und Ureter: Höhe Th 6–Th 8 (Xyphoid-Höhe) 5 TUR Blase/Prostata: Höhe Th10 (Nabel-Höhe) 5 Skrotum und Penis: Höhe Th12 (LeistenbandHöhe)
43.2.3 Kombinationsver fahren Relativ häufig werden Verfahren der Allgemeinanästhesie mit denen der Regionalanästhesie kombiniert. Das bringt beträchtliche Vorteile vor allem bei älteren Patienten mit vielen Vorerkrankungen und geplanten großen urologischen Eingriffen (z. B. radikale Prostatektomien, Neoblasen usw.). Hierbei kann man einerseits kreislaufbelastende Anästhetika während der Narkose einsparen und anderseits postoperative Schmerzen optimal therapieren. Meistens wird hierbei bereits präoperativ ein thorakaler Periduralkatheter gelegt und anschließend eine Vollnarkose eingeleitet. Jetzt kann schon während der eigentlichen Operation der Periduralkatheter mit einem Lokalanästhetikums bestückt werden. Oft wachen diese Patienten recht stressfrei und schmerzarm aus der Narkose auf. Auch bei kinderurologischen Eingriffen macht man sich diese Vorteile zunutze. Bei Zirkumzisionen kann nach eingeleiteter Allgemeinanästhesie ein Peniswurzelblock durchgeführt werden. Hierzu werden 1 cm kranial der Peniswurzel mit einer stumpfen Kanüle Haut und subkutanes Fettgewebe durchstochen, bis man nach einem spürbaren »Klick« die Bucksche Faszie perforiert. Nun kann ein Lokalanästhesie-Depot appliziert werden (z. B. Carbostesin 0,5 %, 0,1 ml/ kg KG). Dies stellt ein wirkungsvolles Verfahren zur intraoperativen und postoperativen Schmerztherapie dar. Eine weitere Möglichkeit bei Kindern ist die Applikation von Lokalanästhetika über den Hiatus sacralis. Diese so genannten Kaudalanästhesien können sowohl als Single-shot wie auch als epidurales Katheterverfahren durchgeführt werden.
. Abb. 43.2. Steinschnittlagerung (Aus Roissaint, Werner, Zwißler: [2004] Die Anästhesiologie. Springer, Heidelberg)
43.3
Lagerungsver fahren
43.3.1 Trendelenburg-Lagerung Diese Lagerungsart wird häufig für Operationen im Beckenraum benötigt. Der Patient liegt hierbei in Rückenlage auf dem OP-Tisch, die Symphyse stellt den höchsten Punkt dar, Beine und Oberkörper werden nach unten abgeklappt (. Abb. 43.1).
43.3.2 Steinschnittlagerung Vor allem bei endoskopischen Operationen der Prostata und Blase kommt die Steinschnittlagerung zum Einsatz.
43
434
Kapitel 43 · Anästhesie in der Urologie
. Abb. 43.3. Nierenlagerung (Aus Roissaint, Werner, Zwißler: [2004] Die Anästhesiologie. Springer, Heidelberg)
Der Patient liegt auf dem Rücken, die Arme sind zumeist abduziert. Die Beine werden ebenfalls etwas abduziert und in Hüftextension auf zwei seitlichen Schalen hochgelagert. Der operierende Urologe kann so zwischen den Beinen sitzen (. Abb. 43.2). Nachteilig bei Steinschnitt-Lagerung ist, dass diese bei intubierten Patienten zu Beeinträchtigung der Lungencompliance und Abnahme der Vitalkapazität führt. Weiterhin kommt es durch das Hochlagern der Extremitäten zu einer Autotransfusion. Bei Spinalanästhesien kann es nach dem postoperativen Rücklagern ins flache Patientenbett möglicherweise zu gefährlichen Blutdruckabfällen kommen.
43.3.3 Nierenlagerung Der Patient liegt in Seitlage auf dem Operationstisch. Oberkörper und Unterkörper werden nach unten abgeklappt. Auch hierbei kann es zu Beeinträchtigungen des Gasaustauschs in der Lunge während einer Vollnarkose kommen (. Abb. 43.3).
43.4
Anästhesiologische Besonderheiten bei speziellen Eingriffen
43.4.1 TUR der Prostata
43
Die Operation wird in Steinschnittlagerung durchgeführt. Der Operateur sitzt zwischen den Beinen des Patienten und endoskopiert die Harnröhre mit einem starren Gerät. Das Endoskop besitzt eine elektrische Schlinge, mit der Schicht für Schicht Tumor- oder Adenomgewebe der Prostata reseziert werden kann. Das Resektionsareal wird von einer isolierenden, elektrolytfreien Flüssigkeit umspült, damit der Strom der Koagulationsschlinge nicht an benachbartes Gewebe weitergeleitet wird. Durch den Druck der Spüllösung
und durch die Wundfläche, bei der größere Venenplexen eröffnet werden, kommt es zu einer Wasserresorption in den Körperkreislauf. Hierbei kann es zu einer Volumenüberladung des Patienten mit eingeschwemmter Flüssigkeit (ca. 20 ml/Resektionsminute) mit deutlicher Elektrolytverschiebung und Hämolyse kommen. Dieses lebensbedrohliche Krankheitsbild wird als TUR-Syndrom bezeichnet. Frühzeichen sind Unruhe und Verwirrung, Hypertonie, Tachykardie und ZVD-Anstiege. Später kommt es zu Blutdruckabfällen, Herzrhythmusstörungen wie Bradykardie und Elektrolytverschiebungen mit Hyponatriämie, Hypokaliämie, Lungenödem, Gerinnungsstörungen und Hirnödem. Diese Patienten müssen dann zwingend auf der Intensivstation versorgt werden. Ein weiterer Nachteil der Spülflüssigkeit ist, dass die Blutungsmenge durch die Verdünnung nur recht ungenau abgeschätzt werden kann. Regelmäßige Kontrollen des Hb-Wertes sind daher wichtig. ! Risiken bei der TUR der Prostata sind das TUR-Syndrom mit Einschwemmung von Spülflüssigkeit und Elektrolytverschiebungen sowie hohe unbemerkte Blutverluste!
Wichtig ist es, frühzeitig an das Krankheitsbild zu denken und entsprechend zu reagieren. Prophylaktisch wird deshalb die Resektionszeit auf maximal 60 min begrenzt und die intravenöse Volumenzufuhr streng reduziert. Manche Kliniken legen aus diesem Grund auch einen zentralenvenösen Zugang bei Risikopatienten. Im Aufwachraum sollte neben einer Blutbild- auch eine Elektrolytkontrolle erfolgen. Therapeutisch wird eine forcierte Diurese mit 20–40 mg Furosemid und ein Ausgleich der Elektrolyte angestrebt. Tipps
TUR der Prostata – so machen wir es: 5 Lagerung: Steinschnitt-Lagerung 5 Narkose: Spinalanästhesie bis Th10 + Sedierung 5 Monitoring: EKG, Sättigung, engmaschige Blutdruckkontrollen, auf Veränderungen der Vigilanz achten, Hb- und Elektrolytkontrollen, evtl. ZVK
Da die zumeist älteren und oftmals verwirrten Patienten durch die unangenehme Steinschnittlagerung perioperativ häufig Unruhe entwickeln, ist eine ausreichende Sedierung mit Midazolam oder Propofol in kleinen titrierten Dosen notwendig. Wichtig ist zu beachten, dass die alten Patienten präoperativ meist hypovoläm sind und eine dementsprechende verminderte Kreislaufzeit für Medikamente haben. Deshalb können bereits geringe Dosen eines Sedativums bei diesen Patienten eine lebensbedrohliche Ateminsuffizienz
435 43.4 · Anästhesiologische Besonderheiten bei speziellen Eingriffen
auslösen. Eine nasale Sauerstoffsonde ist daher (wie bei allen Regionalanästhesiverfahren) ebenso wie die Möglichkeit der maschinellen Beatmung eine unabdingbare Voraussetzung.
43.4.2 TUR der Blase Das operative Vorgehen ist prinzipiell dasselbe wie bei der TUR der Prostata, ebenso die Art der OP-Lagerung. Trotzdem gibt es einige Besonderheiten. So kommt es bei diesem Eingriff in weitaus weniger Fällen zur Entwicklung eines TUR-Syndroms, da perioperativ in wesentlich geringerem Maße Venenplexen eröffnet werden. Allerdings ist der Operateur darauf angewiesen, dass sich der Patient während der OP ausgesprochen ruhig verhält. Bei plötzlichen Patientenbewegungen kann schnell durch das starre Operationsendoskop die Blasenwand perforiert werden. Sitzt der Tumor an der Seitenwand der Blase, kann es zudem passieren, dass durch den Koagulationsstrom der in der Nähe verlaufende N. obturatorius gereizt wird. Dabei kommt es trotz Spinalanästhesie zu einer unwillkürlichen Adduktion des betreffenden Oberschenkels. Diese wiederum kann durchaus zum Unmut des zwischen den Beinen sitzenden Operateurs führen. Vorbeugend blockiert man bei bekannter und entsprechender Tumorlage und vor Durchführung der Spinalanästhesie den N. obturatorius an seiner Durchtrittstelle durch das Foramen obturatorius mit 10–15 ml eines Lokalanästhetikums. Tipps
TUR der Blase – so machen wir es: 5 Lagerung: Steinschnittlagerung 5 Narkose: Spinalanästhesie bis Th10, evtl. zusätzliche Blockade des N. obturatorius + Sedierung 5 Monitoring: EKG, Sättigung, Blutdruck 5 Risiken: Bei plötzlichen Patientenbewegungen besteht die Gefahr der Perforation der Blasenwand durch den Operateur.
43.4.3 Prostatektomien Die Urologen unterscheiden zwei Möglichkeiten, die Prostata operativ zu entfernen: Der weniger invasive Eingriff wird transvesikal suprapubisch durchgeführt. Der operative Zugangsweg wird hierbei von perineal gewählt. Bei dieser Art des Eingriffs ist es nicht zwingend erforderlich, den Patienten mit invasivem Monitoring (arterielle Blutdruckmessung und ZVK)
perioperativ zu versorgen. Da die Prostata reich an Fibrinolyse-Aktivatoren ist, kann es jedoch durch Manipulationen des Urologen zu einer gesteigerten Freisetzung dieser Aktivatoren mit vermehrten und verstärkten Blutungen kommen. Es sollten daher immer mindestens zwei Erythrozytenkonzentrate auf Abruf bereitgestellt werden. Tipps
Transvesikale suprapubische Adenomenukleation – so machen wir es: 5 Lagerung: Trendelenburg-Lagerung 5 Narkose: Intubationsnarkose 5 Monitoring: EKG, Sättigung, Blutdruck, evtl. ZVK, invasiver Blutdruck, regelmäßige Laborkontrollen 5 Risiken: starke Blutungen durch gesteigerte Fibrinolyse
Bei der radikalen Prostatavesikulektomie wird der Operationszugang von abdominal gewählt. Bei dieser recht umfangreichen Operation ist ein invasives Monitoring zwingend erforderlich. Da das OP-Gebiet in der Nähe größerer Gefäße liegt, können schnell vermehrte Blutungen auftreten. Es ist daher wichtig, präoperativ ausreichend Erythrozytenkonzentrate bereitzustellen. Bei den langen OP-Zeiten sind zudem wärmeerhaltende Maßnahmen, z. B. mit Warmluftdecken, zwingend erforderlich, um den Patienten vor ausgedehnten Wärmeverlusten zu schützen. Häufig müssen diese Patienten auf der Intensivstation postoperativ nachbeatmet werden. Sinnvoll ist auch, aufgrund der Größe bzw. Länge des Eingriffs und den zu erwartenden postoperativen Schmerzen, die Kombination einer Vollnarkose mit einem Regionalanästhesieverfahren (thorakaler Periduralkatheter) anzustreben. Tipps
Radikale Prostatavesikulektomie – so machen wir es: 5 Lagerung: Trendelenburg-Lagerung auf Wärmematte und Wärmedecke 5 Narkose: Intubationsnarkose + thorakaler Periduralkatheter 5 Monitoring: EKG, Sättigung, invasiver Blutdruck, ZVK, regelmäßige Laborkontrollen (BGA, kl. BB, Gerinnung), evtl. Nachbeatmung auf der Intensivstation 5 Risiken: Auskühlung, starke Blutungen durch gesteigerte Fibrinolyse und große Gefäße im OP-Gebiet
43
436
Kapitel 43 · Anästhesie in der Urologie
43.4.4 Zystektomie mit Neoblase Der operative Zugangsweg ist abdominal. Es handelt sich um eine umfangreiche und invasive urologische Operation, durch die großen Wundflächen kommt es zu einem ausgedehnten Verdampfen von Flüssigkeit über dem OP-Gebiet. Dementsprechend groß sind die perioperativen Volumenumsätze, die mit Infusionslösungen ausgeglichen werden müssen. Auch bei diesem Eingriff bietet sich die Kombination einer Regionalanästhesie mit einer Allgemeinanästhesie an. Ein invasives Monitoring ist ebenso erforderlich wie eine postoperative Nachbeatmungsmöglichkeit auf der Intensivstation. Tipps
Zystektomie – so machen wir es: 5 Lagerung: Trendelenburg-Lagerung 5 Narkose: Intubationsnarkose + thorakaler Periduralkatheter 5 Monitoring: EKG, Sättigung, invasiver Blutdruck, ZVK, regelmäßige Laborkontrollen (BGA, kl. BB, Gerinnung), evtl. Nachbeatmung auf der Intensivstation 5 Risiken: Auskühlung, starke Blutungen durch große Gefäße im OP-Gebiet, große Wundfläche mit hohen Flüssigkeitsumsätzen
43.4.5 Nierenoperationen (Nierentumoren,
Nierenbecken und Ureter)
Tipps
Nierenoperationen – so machen wir es: 5 Lagerung: seitliche Nierenlagerung in Taschenmesserposition 5 Narkose: Intubationsnarkose ggf. thorakaler Periduralkatheter 5 Monitoring: EKG, Sättigung, invasiver Blutdruck, ZVK, regelmäßige Laborkontrollen (BGA, kl. BB, Gerinnung), evtl. Nachbeatmung auf der Intensivstation 5 Risiken: Auskühlung, starke Blutungen durch große Gefäße im OP-Gebiet, Pleuraverletzungen mit Pneumothorax, Lungenembolien durch verschleppte Tumorzapfen aus der Vena cava inferior
43.4.6 Extrakorporale Stoßwellen-
Lithotripsie (ESWL) Patienten die zur Durchführung einer ESWL gelagert werden, müssen beim Einsatz älterer ESWL-Geräte in eine Wasserwanne eintauchen, damit die Stoßwellen auf den Körper übertragen werden. Dieses Eintauchen erfolgt je nach Gerät halbsitzend oder auch liegend. Insgesamt ist der Zugang zum Patienten nach den Lagerungsmaßnahmen für den Anästhesisten oftmals recht schwierig. Die eigentliche Narkose erfolgt als Analgosedierung mit einem Opiat (z. B. Alfentanyl) in Kombination mit einem Sedativum (z. B. Midazolam). Tipps
43
Zumeist werden in der Nierenchirurgie bösartige Neubildungen operiert. In einem nicht unerheblichen Prozentsatz wachsen diese als Tumorzapfen invasiv in die untere Hohlvene ein. Dies gilt es vor allem bei plötzlich auftretenden Beatmungsproblemen zu bedenken (Lungenembolie). Eventuell müssen daher auch Gefäßchirurgen bei diesen Eingriffen hinzugezogen werden. Neben den weiteren üblichen Operationsrisiken wie z. B. auftretende Blutungen kann die Pleura durch die Nähe zum OP-Gebiet verletzt werden (Pneumothorax). Dies macht dann das Einlegen einer Thoraxdrainage erforderlich. Durch die sehr ungünstige Nierenlagerung kann es zudem zu Störungen im pulmonalen Gasaustausch der Lungen kommen. Engmaschige Kontrollen mit Blutgasen sind daher wichtig. Selbstverständlich muss auch hier für ausreichend bereitgestellte Erythrozyten-Konzentrate bei größeren tumorchirurgischen Nierenoperationen gesorgt werden.
ESWL – so machen wir es: 5 Lagerung: halbsitzend 5 Narkose: Analgosedierung, Sauerstoffsonde 5 Monitoring: EKG, Sättigung, Blutdruck 5 Besonderheiten: Zugang zum Patienten oftmals erschwert
43.4.7 Ambulante Eingriffe Viele kleinere Eingriffe in der Urologie können ambulant durchgeführt werden. Hierzu gehören Harnröhrenschlitzungen, Zystoskopien, Vasektomien (Sterilisations-OP) und viele mehr. Die Patienten sollten sich in der Prämedikationsambulanz der Anästhesieabteilung spätestens am Vortag vorgestellt haben und am OP-Tag nüchtern erscheinen.
437 Literatur
Zirkumzisionen haben in manchen Kulturen eher rituellen als medizinischen Charakter. In diesen Fällen ist auf eine besonders ausführliche Aufklärung der Narkoserisiken beim Prämedikationsgespräch zu achten. Der Eingriff kann zumeist in Larynxmaskennarkose oder auch Maskennarkose durchgeführt werden. Patienten mit rezidivierenden Erkrankungen der ableitenden Harnwege wurden häufig schon vielfach katheterisiert. Durch den mehrmaligen Kontakt der Schleimhäute mit latexhaltigem Kathetermaterial kann es zu einer Sensibilisierung und Allergie kommen. Danach sollte bei der Prämedikation immer gefragt werden. Die Patienten sind darüber aufzuklären, dass sie nicht selbständig nach der Narkose ein Fahrzeug führen dürfen. Tipps
Ambulante Eingriffe in der Urologie – so machen wir es: 5 Lagerung:Rücken oder Steinschnittlagerung 5 Narkose: Maskennarkose, Larynxmaske + evtl. Peniswurzelblock 5 Monitoring: EKG, Sättigung, Blutdruck 5 Besonderheiten: Nach präoperativer Nüchternheit fragen, auf postoperative Fahruntüchtigkeit hinweisen
43.4.8 Anästhesie bei Kindern Wie bereits oben erwähnt, stellen Kinder ein nicht unerhebliches Patientengut in der Urologie dar. Darunter finden sich häufig Kinder mit angeborenen Fehlbildungen der ableitenden Harnwege, die oftmals mehrfach operiert werden müssen. Um den kleinen Patienten zusätzliche Traumatisierungen zu ersparen, empfiehlt es sich, eine ausreichende Prämedikation (z. B. mit Midazolam rektal, oral oder nasal) rechtzeitig vor dem Einschleusen in den OP-Trakt durchzuführen. Ebenso wichtig ist eine suffiziente postoperative Schmerztherapie im Aufwachraum (z. B. mit Piritramid in Einzeldosen von 0,1–0,2 mg/kg KG) in Kombination mit Pracetamol-Suppositorien (rektale Einmalgabe von 20–30 mg/kg KG). Wie bereits erwähnt, ist auch die Kombination einer Vollnarkose mit einem Regionalanästhesieverfahren (z. B. Kaudalanästhesie, Peniswurzelblockade) vorteilhaft. Keinesfalls sollte Kindern aus Angst vor potenziellen Nebenwirkungen eine ausreichende Schmerztherapie vorenthalten werden. Eine mögliche urologische Notfallsituation stellt die häufig bei Kindern und Jugendlichen auftretende sehr
schmerzhafte Hodentorsion dar. Hierbei ist zu beachten, dass schnellstmöglich operiert werden muss, um den tordierten Hoden möglicherweise noch erhalten zu können. Ein Abwarten der Nüchternzeit wie bei geplanten Operationen ist somit nicht möglich. Diese Kinder werden dann in jedem Fall zur Durchführung der Operation intubiert (Rapid sequence-induction) und erst nach Rückkehr sämtlicher Schutzreflexe extubiert.
Literatur Jöhr M (2004) Kinderanästhesie. 6. Aufl. Urban & Fischer, München Klöss T (2004) Anästhesie. Urban & Fischer, München Kretz F-J (1998) Anästhesie, Notfallmedizin und Intensivmedizin bei Kindern. Thieme, Stuttgart Larsen R (2002) Anästhesie. Urban & Fischer, München Striebel HW (2005) Anästhesie, Intensivmedizin, Notfallmedizin. Schattauer, Stuttgart Roewer N. (Hrsg.; 2004). 2. Aufl. Taschenatlas der Anästhesie. Thieme, Stuttgart
43
44 Anästhesie bei Kindern Daniela Zitzelsberger, Franz-Josef Kretz 44.1 Anatomische und physiologische Besonderheiten von Kindern –440 44.1.1 44.1.2 44.1.3 44.1.4 44.1.5 44.1.6
Wärmehaushalt –440 Atmung –441 Retrolentale Fibroplasie –442 Herz und Kreislauf –442 Wasser- und Elektrolythaushalt –443 Sonstige Organsysteme –444
44.2
Pharmakologische Besonderheiten –444
44.2.1 Pharmakokinetik und -dynamik –444 44.2.2 Medikamente und Dosierungen –444
44.3 Präoperative Visite –446 44.3.1 Anamnese und Untersuchung –446 44.3.2 Nüchternzeiten –446 44.3.3 Prämedikation –447
44.4 Narkoseverfahren –447 44.4.1 Vorbereitung und Zubehör –447 44.4.2 Allgemeinanästhesie –447 44.4.3 Regionalverfahren –449
44.5 Postoperative Schmerztherapie –450 44.5.1 Allgemeines –450 44.5.2 Medikamentöse Schmerztherapie –451
44.6 Komplikationen –452 44.6.1 44.6.2 44.6.3 44.6.4 44.6.5
Hypoxämie –452 Laryngospasmus –452 Latexallergie –454 Maligne Hyperthermie –454 Propofol-Infusionssyndrom –454
Literatur –454
440
Kapitel 44 · Anästhesie bei Kindern
44.1
)) Zur Durchführung von Kinderanästhesien sind einige Besonderheiten zu berücksichtigen. Vor allem Kinder unter einem Jahr unterscheiden sich in Anatomie, Physiologie, Pharmakokinetik- und -dynamik wesentlich von einem Er wachsenen. Er fahrungen aus der Er wachsenenanästhesie sind hilfreich, jedoch sind spezielle Kenntnisse notwendig, um Kinder unterschiedlicher Altersstufen perioperativ gut zu betreuen. Allgemeine pädiatrische »Fähigkeiten« sollte der Kinderanästhesist mitbringen: Beispielsweise sollte er abschätzen können, ob ein Kind in Größe und Gewicht seinem Alter entspricht (. Tab. 44.1), oder ob die psychomotorische Entwick lung adäquat ist. Natürlich sollte und muss der Anästhesist dazu die Eltern befragen, jedoch werden zunehmend mehr Kinder ausländischer Eltern betreut, was die Kommunikation erschwert. Deshalb ist es wichtig, dass man sich bei diesen Eltern eines Dolmetschers bedient, um die medizinisch relevanten Fragen zu klären. Dennoch sind auch dadurch nicht immer Unschär fen und Missverständnisse auszuräumen. Der Arzt sollte in der Lage sein, sich zusätzlich ein unabhängiges Bild zu machen. Von entscheidender Bedeutung ist es, bestehende Ängste soweit wie möglich abzubauen und ein Ver trauensverhältnis zu schaffen. Es ist gut, wenn Kinder den Eindruck gewinnen, dass die Eltern mit dem geplanten Vorgehen einverstanden sind. Es sollte einfühlend, aber dennoch zügig und professionell gearbeitet werden.
. Tabelle 44.1. Größen- und Gewichtstabelle (Orientierungswerte) Alter
44
Länge [cm]
Gewicht [kg]
Körperoberfläche [m2]
Neugeborenes
50
3
0,2
2 Jahre
85
12
0,5
5 Jahre
110
18
0,7
9 Jahre
135
30
1,0
Erwachsener
175
70
1,7
Anatomische und physiologische Besonderheiten von Kindern
44.1.1 Wärmehaushalt Kinder besitzen von Anfang an eine intakte Thermoregulation, mit der sie versuchen, ihre Körpertemperatur konstant zu halten. Jedoch müssen insbesondere Neugeborene und Säuglinge dabei mit einigen Problemen kämpfen: Durch die im Vergleich zum Gewicht verhältnismäßig größere Körperoberfläche kommt es schneller zu einem Wärmeverlust und zu Unterkühlung. Ein Neugeborenes hat eine nur dünne subkutane Fettschicht, dadurch fehlt eine ausreichende Isolierung. Außerdem geht durch ein hohes Atemminutenvolumen relativ zum Körpergewicht auch mehr Wärme über die Lungen verloren. Verdunstung ist ein weiterer Wärmeverlustmechanismus. Daher müssen Säuglinge immer sofort abgetrocknet werden (nach Benetzung mit Urin, Desinfektionsmitteln u. ä.). ! Ein entkleidetes Neugeborenes bei 23 °C Umgebungstemperatur ist in der gleichen Situation wie ein Erwachsener ohne Kleidung bei 1 °C Umgebungstemperatur.
Maßnahmen zur Prophylaxe von Wärmeverlusten 5 Erst alles vorbereiten, dann das Kind aus dem Inkubator holen 5 OP-Saal vorheizen (bei Früh- und Neugeborenen 28–30 °C, bei Säuglingen 26–28 °C) 5 Türen zu! Zugluft vermeiden! 5 Warme Tücher zum Zudecken 5 Wärmelampe, solange das Kind aufgedeckt liegt 5 Spezielle Wärmeluftdecken bei Kindern < 10 kg KG 5 Verwendung warmer Infusionslösungen 5 Postoperativ: vorgewärmtes Bett/Inkubator ! Eine Temperaturmessung ist obligat bei allen Eingriffen über 30 min OP-Dauer, bei Frühgeborenen auch bei kürzeren Eingriffen!
Säuglinge und Neugeborene können nur durch eine Stoffwechselsteigerung Wärme erzeugen, Muskelzittern zur Wärmeproduktion ist ihnen noch nicht möglich (erst bei Kindern ab 6 Jahren). Die Stoffwechselsteigerung erfolgt durch eine Aktivierung des braunen Fettgewebes (non shivering
44
441 44.1 · Anatomische und physiologische Besonderheiten von Kindern
. Tabelle 44.2. Respiratorische Parameter von Neugeborenen, Säuglingen, Klein- und Schulkindern (n. Kretz, Schäffer (2001), Anäst Intensivmed Notfallmed) AF [min–1]
FRC [ml/kg KG]
Va [ml/min/kg]
FRC/VA
O2Gehalt [Vol%]
O2Verbrauch [ml/min/ kg]
pH
pO2 [mmHg]
pCO2 [mmHg]
Neugeborenes
40–60
25
130
1:6
20
6
7,37
82,5
35–40
Säugling
20–40
25
120
1:5
13
5
7,36
75
30–35
Kleinkind
20–30
25
90
1 : 3,6
14
4–5
7,432
75
30–35
Schulkind
12–20
25
70
1 : 2,8
20
3
7,424
90
35–40
thermogenesis), die jedoch sehr viel Sauerstoff verbraucht. Eine Hypothermie ist eine bei Säuglingen typische Ursache für Hypoventilation. Durch die Hypoventilation bei gleichzeitig gesteigertem O2-Verbrauch wird unter Umständen ein Circulus vitiosus in Gang gesetzt, Hypoxämie ist die Folge. ! Hypothermie ist eine mögliche Ursache für verzögertes Aufwachen, Hypotonie, Bradykardie, Muskelhypotonie, erniedrigte MAC-Werte und verlängerte Medikamentenwirkung!
44.1.2 Atmung Anatomie Anatomische Besonderheiten der Atemwege bei Säuglingen und kleinen Kindern 5 5 5 5 5 5 5
Großer Kopf, kurzer Hals Große Zunge Höherstehender Kehlkopf Lange, U-förmige Epiglottis Häufig hyperplastische Tonsillen, Adenoide Relativ kurze Trachea Engste Stelle des Kehlkopfs auf Höhe des Ringknorpels, subglottisch
Aufgrund der anatomischen Besonderheiten ist ein Intubationskissen meist nicht nötig. Ein Kopfring zur Fixierung des Kopfs ist ausreichend. Der Kopf wird in der so genannten »Schnüffelpositon« gelagert. Ein gerolltes Tuch kann zur Stabilisierung unter den Nacken gelegt werden. Durch sanften Krikoiddruck mit dem kleinen Finger wird die Ventralstellung des Larynx zur besseren Sicht bei der Laryngosko-
pie »korrigiert«. Aufgrund der kurzen Trachea ist besonders darauf zu achten, dass nicht durch zu weites Vorschieben des Tubus einseitig intubiert wird. Da die Schleimhäute sehr empfindlich sind, muss mit großer Sorgfalt laryngoskopiert werden. Bei der Wahl des Tubus ist daher auch besonders auf die richtige Größe zu achten (7 Abschnitt 44.4.2), denn schon ein geringes Schleimhautödem kann nach Extubation zu einer gefährlichen Verlegung der Atemwege führen.
Physiologie Der Sauerstoffverbrauch (6–7 ml/kg KG) ist etwa doppelt so groß wie der von Erwachsenen (3,5 ml/kg KG), die O2Reserve hingegen ist aufgrund einer kleinen funktionellen Residualkapazität (FRC) nur gering. ! Schon nach kurzer Apnoe kommt es in Sekunden zum Abfall der Sauerstoffsättigung!
Die alveoläre Ventilation (ALV) (100–150 ml/kg KG/ min) ist doppelt so groß wie beim Erwachsenen (40 ml/ kg KG/min). Bei einem in allen Altersklassen etwa gleichem Atemzugvolumen (ca. 6 ml/kg KG) ergibt sich dies aus einer höheren Atemfrequenz (. Tab. 44.2). Die Einstellung des Beatmungsgeräts ist entsprechend durchzuführen. Das Verhältnis von alveolärer Ventilation (VA) zu funktioneller Residualkapazität (FRC) beträgt beim Neugeborenen 5 : 1, beim Erwachsenen hingegen nur etwa 1,5 : 1. Da also im Kindesalter einerseits der Sauerstoffverbrauch erhöht ist, die Sauerstoffreserve durch die verhältnismäßig kleine FRC jedoch gering, kommt es beim Kind viel schneller zu Hypoxämien. ! Hypoxämien führen im Kindesalter häufig zu Bradykardien! Bei jeder Bradykardie ist eine Hypoxämie auszuschließen!
442
Kapitel 44 · Anästhesie bei Kindern
Die so genannte »closing capacity« (das noch in der Lunge befindliche Volumen, bei dem es bei forcierter Ausatmung zum Verschluss der kleinen Atemwege kommt), ist bei Kindern erhöht. Das heißt, dass es bereits am Ende einer normalen Ausatmung zu einem Verschluss der kleinen Atemwege kommen kann. Dadurch ist die Gefahr der Atelektasenbildung erhöht, vor allem bei Unregelmäßigkeiten der Atmung und/oder Überblähung des Magens. Kinder atmen fast ausschließlich mit dem Zwerchfell. Jede Einschränkung dieser Bauchatmung, durch Druck von außen beispielsweise, kann die Spontanatmung schnell lebensbedrohlich einschränken. Die Atemarbeit ist außerdem durch den noch elastisch-instabilen Thorax erhöht, die Atemmuskulatur (v. a. Zwerchfell) noch nicht vollständig ausgebildet. Daher kommt es bei zusätzlicher Atemarbeit (Verlegung der Atemwege, Infektionen, Totraumvergrößerung durch Tubus u. ä.) schnell zur Dekompensation.
44.1.3 Retrolentale Fibroplasie Jeder Anästhesist ist sich der Gefahr der Hypoxämie bei Kindern bewusst. Speziell bei Frühgeborenen birgt jedoch auch die Hyperoxie eine Gefahr: Durch einen zu hohen Sauerstoffpartialdruck (pO2) scheint es zu Gefäßspasmen und zum Stillstand der Gefäßentwicklung der Retina zu kommen. Bei normalen pO2-Werten kommt es in der Folge zu einer Mangelversorgung der Netzhaut, die zur Retinopathia praematurorum führt. Bei Frühgeborenen werden daher Sättigungswerte zwischen 85–90 % angestrebt. Ein zu hoher pO2 kann aber sicher nur durch wiederholte Blutgasanalysen ausgeschlossen werden, die bei länger dauernder Beatmung durchzuführen sind. ! Gegen die potenzielle Gefahr eines zu hohen pO2 steht jedoch im Zweifelsfall die sichere Gefahr eines zu niedrigen pO2!
44.1.4 Herz und Kreislauf Kreislauf Mit dem ersten Atemzug nach der Geburt kommt es zur Kreislaufumstellung. Der fetale Kreislauf zeichnet sich durch einen hohen Lungengefäßwiderstand aus. Nur 10 % des Blutvolumens des rechten Herzens fließt intrauterin durch die Lungen. Die restlichen 90 % fließen durch den Ductus Botalli direkt aus der A. pulmonalis in die Aorta. Herz und Gehirn werden mit sauerstoffreichem Blut aus der V. cava inferior versorgt, das über das Foramen ovale direkt aus dem rechten Vorhof in den linken Vor-
44
hof fließt. Durch die Entfaltung der Lungen nach der Geburt sinkt der Gefäßwiderstand in der Lunge und die Rechts-Links-Shunts (über Foramen ovale und Ductus Botalli) verschließen sich zunächst funktionell. Im Normalfall kommt es zum definitiven Verschluss des Ductus Botalli nach 4–6 Wochen, beim Foramen ovale dauert es 3–12 Monate. ! Durch Hypothermie, Azidose, Hyperkapnie, Hypoxie, Hypothermie kann es in den ersten Wochen zu einer Wiedereröffnung der fetalen Kurzschlüsse Ductus Botalli und Foramen ovale kommen. Ein Circulus vitiosus mit zunehmender Hypoxie und Azidose durch persistierende Rechts-Links-Shunts (persistierender fetaler Kreislauf) droht!
Herz und Herzfrequenz Das Herz des Neugeborenen besitzt weniger kontraktile Elemente als Erwachsene, daher erfolgt die Steuerung des Herzminutenvolumens über eine Anpassung der Herzfrequenz, weniger des Schlagvolumens. ! Cave Hypoxämie führt bei Kindern rasch zu einer Bradykardie!
Dadurch ist eine Anpassung des Herzminutenvolumens nicht mehr möglich. Weitere Ursachen für eine Bradykardie: Halothan, Succinylcholin, rasche Opioidinjektion, okulokardialer Reflex (häufig bei Schieloperationen). ! Ein Abfall der Herzfrequenz resultiert in einer Abnahme des Herzminutenvolumens!
Bradykardien werden schlecht vertragen, hingegen werden Tachykardien ohne Abfall des Herzminutenvolumens gut toleriert.
Blutdruck Der Blutdruck ist im Vergleich zum Erwachsenen niedrig (. Tab. 44.3). Passende Manschettengrößen sind vorrätig zu halten. Gesunde Neugeborene und Säuglinge haben immer einen messbaren Blutdruck. Bei nicht messbaren Werten liegt bis zum Beweis des Gegenteils kein technischer Defekt vor, sondern es ist nach den Ursachen, z. B. Hypovolämie, Medikamentenüberdosierung zu suchen.
Blut Das Blutvolumen von Kindern ist mit etwa 80 ml/kg KG größer als das von Erwachsenen (70 ml/kg KG). Neugeborene haben hohe Hämoglobin-Werte (. Tab. 44.4). In den ersten Lebenswochen sinken die Werte, bis etwa im dritten
443 44.1 · Anatomische und physiologische Besonderheiten von Kindern
. Tabelle 44.3. Alter, Blutdruck (RR) und Herzfrequenz
. Tabelle 44.5. Flüssigkeitsbedarf
Alter
RR Systolisch [mmHg]
RR diastolisch [mmHg]
Herzfrequenz [1/min]
Gewicht
Erhaltungsbedarf/Stunde
Weniger als 10 kg
4 ml/kg KG
Neugeborenes
75
50
130
10–20 kg
40 ml + 2 ml/kg (pro kg > 10 kg)
3 Monate
80
50
130
Mehr als 20 kg
60 ml + 1 ml/kg (pro kg > 20 kg)
1 Jahr
90
50
125
6 Jahre
95
55
100
10 Jahre
100
60
90
Nüchternzeiten oder perioperative Verluste führen bei Kindern rasch zu einer gefährlichen Dehydratation. ! Cave Kinder haben einen hohen Grundbedarf an Flüssigkeit!
. Tabelle 44.4. Alter, Hämoglobin- und Hämatokritwerte Alter
Hämoglobin [g/l]
Hämatokrit [%]
1–7 Tage
16–20
52
1–4 Wochen
11–16
38
2–3 Monate
10–12
32
5–Jahre
11–13
38
12 Jahre
12–14
40
Einerseits geht viel Flüssigkeit über die verhältnismäßig große Körperoberfläche verloren (Perspiratio insensibilis), andererseits wird mehr Flüssigkeit über die noch nicht voll ausgereiften Nieren ausgeschieden (7 Abschnitt 44.1.6). Auch über das höhere Atemminutenvolumen geht Flüssigkeit verloren. Je kleiner das Kind ist, desto sorgfältiger ist auf eine genaue Bilanzierung des Wasser- und Elektrolythaushalts zu achten. ! Infusionstherapie bei Kindern < 10 kg KG über Infusionspumpen!
Je kleiner das Kind, desto größer ist die Gefahr, den Blut- und Volumenverlust zu unterschätzen.
Der perioperative Flüssigkeitsbedarf setzt sich grundsätzlich zusammen aus dem Erhaltungsbedarf, dem Defizit aufgrund der Nahrungskarenz und den Verlusten während der Operation. Für die Kalkulation des Erhaltungsbedarfs wird häufig die 4:2:1-Regel angewandt (4 ml/kg für die ersten 10 kg Körpergewicht, 2 ml/kg für jedes kg über 10 kg KG, 1ml/kg für jedes kg über 20 kg KG, . Tab. 44.5). Als Faustformel sollten in der ersten perioperativen Stunde 10–20 ml/kg KG infundiert werden. In jeder weiteren Stunde wird die Summe aus Erhaltungsbedarf und Verlusten (Urin, Magensonde, Gewebetrauma) ersetzt. Kleinere Blutverluste werden wie bei Erwachsenen durch Kristalloide ersetzt, bei größeren Kindern auch mit Kolloide. Notfallmäßig wird ein Bolus von 20–40 ml/kg kristalloide Flüssigkeit gegeben, bis das Defizit abgeschätzt werden kann.
44.1.5 Wasser- und Elektrolythaushalt
! Volumenbolus im Notfall 20–40 ml/kg KG, ggf. wiederholt
Je kleiner das Kind, desto größer ist der Anteil des Wassers am Gesamtkörpergewicht. Bei Säuglingen beträgt der Wasseranteil etwa 75 %, beim Erwachsenen nur noch 60 %. Abnorme Wasserverluste durch Erbrechen, Diarrhö, lange
Für den intra- und postoperativen Volumenbedarf sind natriumreiche Lösungen zu verwenden, beispielsweise Ringerlaktat. Natriumarme Pädiatrielösungen oder reine Glukoselösungen können durch exzessive Zufuhr von reinem Wasser zu Wasserintoxikationen mit Hyponatriämien
Monat die niedrigsten Hb-Werte vorliegen (Trimenonanämie). Abhängig vom Blutvolumen (BV), dem Ausgangshämatokrit (aHkt), dem gewünschten Hämatokritwert (wHkt, abhängig von Vorerkrankungen und Alter) und dem Mittelwert der beiden (mHkt) sollte bei entsprechenden Operationen präoperativ die Berechnung des noch akzeptablen Blutverlusts erfolgen: ! Präoperative Berechnung des noch akzeptablen Blutverlusts! Akzeptabler Blutverlust = [BV u (aHkt – wHkt)]/mHkt
44
444
Kapitel 44 · Anästhesie bei Kindern
und schweren neurologischen Folgeerscheinungen führen. Hyperglykämien sind durch die rasche Zufuhr glukosehaltiger Lösungen perioperativ nicht selten. Demgegenüber kann es durch (zu) lange Nüchternzeiten vor allem bei sehr kleinen Kindern zu Hypoglykämien kommen. Lösungen mit einem Glukoseanteil von 1,25–2,5 % (z. B. Delta Select: Glukoseanteil 2,5 %, Natriumgehalt 70 mmol) scheinen hier einen guten Mittelweg darzustellen. Bei länger dauernden Operationen sind Blutzuckerbestimmungen aus den angeführten Gründen notwendig.
44.1.6 Sonstige Organsysteme Niere. Die Funktionen der Nieren sind bei der Geburt noch nicht voll ausgebildet. Dies betrifft sowohl die glomeruläre Filtrationsrate als auch die Tubulusfunktion mit Rückresorption und Konzentrationsleistung. Für die Narkoseführung ist dies jedoch von eher untergeordneter Bedeutung. Wichtig ist, dass eine minimale Diurese von 1 ml/kg KG/h angestrebt wird. Leber. Auch die Leberfunktion beim Neugeborenen ist noch unreif. Bei kurz dauernden Eingriffen spielt die eingeschränkte Leistungsfähigkeit keine große Rolle. Jedoch ist die verlängerte Wirkung einiger Medikamente aufgrund ihrer hepatischen Clearance zu beachten (7 Abschnitt 44.2).
Pharmakologische Besonderheiten
44.2.1 Pharmakokinetik und -dynamik Bei Neugeborenen haben die meisten Medikamente eine verlängerte Wirkung. Verschiedene Mechanismen spielen dabei eine Rolle: Die noch nicht voll ausgereiften Funktionen von Leber und Niere, das größere Verteilungsvolumen von Medikamenten aufgrund des großen Extrazellulärvolumens, die geringere Proteinbindung von Medikamenten, die »unreife« Blut-Hirn-Schranke. Bei der Dosierung von Medikamenten muss die verstärkte und verlängerte Wirkung berücksichtigt werden, eine exakte Dosierung ist äußerst wichtig. Dies gilt in noch stärkerem Maße für Frühgeborene. Ältere Säuglinge und Kleinkinder hingegen haben in der Regel eine schnellere Medikamentenmetabolisierung als Er wachsene. Hier sind die Dosierungen vergleichsweise hoch. Ausnahmen bilden Kinder mit schweren Vorerkrankungen. Insgesamt ist also eine an Alter und Vorerkrankungen angepasste Dosierung erforderlich. ! Cave Dosierungen im unteren Normbereich bei Frühgeborenen! Dosierungen im oberen Normbereich bei Neugeborenen, Säuglingen und Kleinkindern! Kinder mit schweren Vorerkrankungen: häufig niedrigere Dosierungen, individuelle Titration!
Nervensystem. Die Gehirnentwicklung ist zum Zeitpunkt der Geburt noch mitten in Gang. Auch die zentrale Atemregulation funktioniert noch nicht perfekt. Vor allem bei Frühgeborenen kommt es häufiger zu einer periodischen Atmung mit z. T. längeren Apnoephasen. Frühgeborene und ehemalige Frühgeborene sollten postoperativ mittels eines Apnoemonitorings bis zum nächsten Morgen überwacht werden.
Bezüglich der volatilen Anästhetika ist zu beachten, dass durch das besondere Verhältnis von FRC : VA von 1 : 5 bei Kindern das An- und Abfluten der Narkosegase beschleunigt ist. Daher sind die Ein- und Ausleitungszeiten kürzer.
! Cave
44.2.2 Medikamente und Dosierungen
Keine ambulanten Eingriffe bei Frühgeborenen bis zur 65. postkonzeptionellen Woche!
Gerinnung. Die Blutgerinnungsparameter zeigen nach der
Geburt noch nicht die für Erwachsenen typischen Normwerte. Dies ist physiologisch, zu einer verstärkten Blutungsneigung bei operativen Eingriffen kommt es dadurch nicht. Neugeborene erhalten trotzdem post partem Vitamin K peroral.
44
44.2
Atropin wurde in der Vergangenheit standardmäßig bei jeder Kindernarkose eingesetzt. Mittlerweile wird die prophylaktische Atropingabe (rektal zusammen mit der Prämedikation bzw. intravenös bei der Einleitung) zur Vermeidung einer Bradykardie nicht mehr gefordert. Kontraindiziert ist Atropin bei Kindern mit Fieber, da die Hemmung der Schweißsekretion die Temperaturregulation beeinträchtigt. Bei Kindern mit Mukoviszidose ist die Sekreteindickung durch Atropin unerwünscht und ist daher zu vermeiden. . Tab. 44.6 gibt eine Übersicht über die am häufigsten verwendeten Medikamente.
445 44.2 · Pharmakologische Besonderheiten
. Tabelle 44.6. Häufig verwendete Medikamente Substanz (Präparatebeispiel)
Dosierung [mg/kg] i.v.
Besonderheiten
Propofol (Disoprivan)
2–5 mg/kg KG TIVA: erste 10 min: 10–15 mg/kg KG/h, dann 5–10 mg/kg KG/h
Injektionsschmerz geringer durch vorherige Lidocaininjektion
Thiopental (Trapanal)
5–7 mg/kg KG
Methohexital (Brevimythal)
(1–2 mg/kg KG)
Rektal: 25–40 mg/kg KG (in Deutschland nicht mehr erhältlich!)
Ketamin
0,5–3 mg/kg KG i.v. 3–5 mg/kg KG i.m. 10–15 mg/kg KG rektal
Immer in Kombination mit Dormicum und Atropin; S-Ketamin in halber Dosierung!
Einleitungshypnotika
Opioide Fentanyl
5–10 μg/kg KG
Sufentanil (Sufenta)
0,25 μg/kg KG
Cave: Thoraxrigidität bei schneller Injektion
Alfentanil (Rapifen)
20 μg/kg KG
Cave: Thoraxrigidität
Remifentanil (Ultiva)
0,1–0,5 μg/kg KG/min
Cave: rechtzeitige postoperative Schmerztherapie
Piritramid (Dipidolor)
0,1 mg/kg KG
Zur postoperativen Schmerztherapie
Vecuronium (Norcuron)
0,1 mg/kg KG
Lang wirksames Relaxans bei Säuglingen
Rocuronium (Esmeron)
0,6 mg/kg KG
s. Vecuronium
Mivacurium (Mivacron)
0,25 mg/kg KG
Cave: Histaminfreisetzung
cis-Atracurium (Nimbex)
0,15 mg/kg KG
Organunabhängige Elimination
Atracurium (Tracrium)
0,5 mg/kg KG
Organunabhängige Elimination
Succinylcholin (Pantolax, Lysthenon)
1,5–2 mg/kg KG
Rapid sequence induction, organunabhängige Elimination, kardiale Nebenwirkungen bei Kindern häufiger, Triggersubstanz für MH
Adrenalin (Suprarenin)
0,01–0,1 mg/kg KG
Anaphylaxie, Reanimation
Atropin
0,1–0,15 mg/kg KG
Hemmt Speichelsekretion, bei Bradykardie; nicht bei Fieber, Mukoviszidose
Cimetidin (Tagamet)
5 mg/kg KG
s. Latexallergie
Clemastin (Tavegil)
0,02 mg/kg KG
s. Latexallergie
Dexamethason (Forte cortin)
0,5 mg/kg KG
Antiemetikum
Midazolam (Dormicum)
0,1 mg/kg KG
Sedierung
Naloxon (Narcanti)
0,01-0,02 mg/kg KG bei Neugeborenen 0,1 mg/kg KG
Bei Opioidüberhang
Muskelrelaxanzien
Sonstige
6
44
446
Kapitel 44 · Anästhesie bei Kindern
. Tabelle 44.6. Häufig verwendete Medikamente (Fortsetzung) Substanz (Präparatebeispiel)
Dosierung [mg/kg] i.v.
Besonderheiten
Neostigmin
0,05 mg/kg KG
+ 0,015 mg/kg KG Atropin!
Ondansetron (Zofran)
0,1 mg/kg KG
Antiemetikum
Prednisolon (Solu Decortin H)
5 mg/kg KG
z. B. Postintubationsstridor, Asthma bronchiale
Ranitidin (Zantic)
1 mg/kg KG
s. Latexallergie
Theophyllin (Euphylong)
5 mg/kg KG über 15 min
z. B. bei Bronchospasmus nach Narkosevertiefung
Tropisetron (Navoban)
0,05–0,1 mg/kg KG
Antiemetikum
44.3
Präoperative Visite
44.3.1 Anamnese und Untersuchung Ein wichtiges Ziel bei der Prämedikationsvisite ist es, bestehende Ängste bei Eltern und Kindern abzubauen. Beruhigte Eltern wirken beruhigend auf ihr Kind, beruhigte Kinder werden durch die ungewohnte Umgebung, die bevorstehende Operation und Narkose weniger geängstigt. Im Unterschied zu Erwachsenen sind bei der Anamneseerhebung einige Besonderheiten zu beachten: Familienanamnese. Gezielt ist nach (angeborenen) Erkran-
kungen, z. B. Muskelerkrankungen als Risikofaktor für eine Maligne Hyperthermie, und Narkoseproblemen bei Eltern und Geschwistern zu fragen. Aktuelle Infektionserkrankung. Besteht momentan eine In-
fektion, vor allem der Atemwege? Dabei ist ein Infekt der oberen Atemwege mit Schnupfen und ohne wesentliches Krankheitsgefühl des Kindes weniger problematisch für die Narkose als ein Infekt der unteren Atemwege (Gefahr eines Laryngospasmus, 7 Abschnitt 44.6.2). Im Einzelfall muss unter Berücksichtigung der Art und Dringlichkeit der OP, der Erkrankungshäufigkeit des Kindes und der Dauer der Erkrankung individuell entschieden werden. Es gilt jedoch: ! Keine elektiven Eingriffe bei Fieber > 38 °C, produktivem Husten, positivem Auskultationsbefund der Lungen (z. B. Rasselgeräusche, verlängertes Exspirium). In diesen Fällen sollte der Eingriff 4–6 Wochen verschoben werden.
Impfungen. Aufgrund von möglicherweise noch auftretenden Impfkomplikationen ist es sinnvoll, bei elektiven Ein-
44
griffen einen gewissen zeitlichen Abstand zwischen Impfung und OP/Narkose einzuhalten. ! Keine Wahleingriffe bis mindestens 3 Tage nach Totimpfstoffen (Diphtherie, Tetanus, Pertussis, Haemophilus influenzae Typ B, Hepatitis B, meist auch Polio) und bis mindestens 14 Tage nach Lebendimpfstoffen= (Masern, Mumps, Röteln).
Zahnstatus. Auf lockere Milchzähne ist zu achten (Aspirationsgefahr)! Bisherige Entwicklung. Verlief die bisherige geistige und
motorische Entwicklung normal oder gab es Besonderheiten (Krampfanfälle, Entwicklungsverzögerung, Aufmerksamkeitsdefizitsyndrom u. ä.). Latexallergie. Vor allem bei Kindern, die schon mehrfach voroperiert sind, ist an eine mögliche Sensibilisierung zu denken und auf Latexfreiheit der verwendeten Materialien zu achten. Außerdem sollen diese Kinder an 1. Stelle des OP-Plans operiert werden, um eine bereits erfolgte Kontamination der Räumlichkeiten mit Latex weitestgehend auszuschließen. Alle Kinder werden kardiopulmonal auskultiert. Weitere spezielle Untersuchungen sind bei klinisch und anamnestisch gesunden Kindern und kleineren Eingriffen nicht notwendig. Bei relevanten Vorerkrankungen und großen Operationen sind natürlich entsprechende Untersuchungen in die Wege zu leiten (z. B. Blutbild, Gerinnung, Elektrolyte, Kreatinin, Echokardiographie bei Herzfehler).
44.3.2 Nüchternzeiten Da Kinder einen hohen Flüssigkeitsumsatz haben, sind die präoperativen Nüchternzeiten möglichst kurz zu halten
447 44.4 · Narkosever fahren
eine Vasokonstriktion durch die Salbe die Punktion sonst erschweren kann.
. Tabelle 44.7. Nüchternzeiten Alter
feste Nahrung/ Milch
Wasser, Tee, Apfelsaftschorle
bis 6 Monate
4h
2h
ab 6 Monaten
6h
2h
. Tabelle 44.8. Prämedikation Alter
Dosierung von Midazolam
ab 6 Monaten
Rektal: 0,5-1,0 mg/kg Oral: 0,5 mg/kg Nasal: 0,2–0,4 mg/kg
(. Tab. 44.7). Außerdem sind Kinder ohne Durst zufriedener (Erwachsene im Übrigen auch). Für Notfalleingriffe gelten die gleichen Kriterien wie für Erwachsene.
44.3.3 Prämedikation Ziel der Prämedikation ist ein angstfreies, kooperatives Kind. Säuglinge < 6 Monate haben im Allgemeinen keine Trennungsängste und werden nicht prämediziert. Bei älteren Kindern erleichtert eine Prämedikation sowohl die Trennung von der Mutter als auch die vorbereitenden Maßnahmen (Anlegen des Monitorings, intravenöser Zugang, Präoxygenierung). Die Prämedikation erfolgt normalerweise mit Midazolam, rektal oder oral (je nach Alter und Wunsch des Kindes, . Tab. 44.8), auch eine nasale Applikation ist möglich. Für die orale Gabe ist es empfehlenswert, den bitteren Midazolamgeschmack mit wenigen Millilitern Sirup zu »korrigieren«. Echte paradoxe Wirkungen auf Midazolam sind selten, Unruhezustände beruhen meist auf einer zu geringen Dosierung. Ab 40 kg und dem entsprechenden Alter kann auch eine Tablette Dormicum 7,5 mg per os gegeben werden. Bereits mindestens 1 h vor dem Eingriff sollte EMLA (eutetic mixture of local anaesthetics, Gemisch aus Prilocain und Lidocain) auf die voraussichtliche Venenpunktionsstelle aufgetragen werden. Durch diese Lokalanästhesie kann bei prämedizierten Kindern in der Regel schmerzfrei und ohne Stress ein venöser Zugang gelegt werden. Zu achten ist dabei darauf, dass EMLA mindestens 15 min vor der Punktion wieder entfernt wird, da
44.4
Narkosever fahren
44.4.1 Vorbereitung und Zubehör Allgemein ist bei Kindernarkosen auf das passende Zubehör zu achten. Dies gilt sowohl für das Monitoring (passende Blutdruckmanschetten, Pulsoxymetrie, präkordiales Stethoskop) als auch für die Beatmungsgeräte inklusive passender Maskengrößen (z. B. Rendell-Baker-Masken mit minimalen Totraum oder runde, durchsichtige Laerdal-Masken für Neugeborene), Larynxmasken in verschiedenen Größen (1, 1.5, 2, 2.5), Tuben mit/ohne Cuff. Auch Guedel-Tuben, flexible Führungsstäbe und Magill-Zangen sollten in entsprechenden Größen vorhanden sein. Neben dem gebogenen Spatel nach McIntosh verwenden manche Kinderanästhesisten auch einen geraden Spatel (z. B. nach Miller). Für Kinder < 15–20 kg werden dünnere Kinder-Beatmungsschläuche verwendet, um den Atemwegwiderstand und den Totraum möglichst gering zu halten. Beatmungsbeutel stehen ab einer Größe von 0,5 l zur Verfügung. Auch spezielle, »kleine« CO2-Meßküvetten und Beatmungsfilter für Kinder sind zu verwenden. Ehe das Kind in den OP geholt wird, werden alle benötigten Medikamente in passender Verdünnung und Spritzengröße aufgezogen. Atropin (zur Therapie nicht hypoxiebedingter Bradykardien) und Succinylcholin (zur Therapie des Laryngospasmus) sollten immer bei jeder Kindernarkose für den Notfall aufgezogen bereit liegen. An Wärmemaßnahmen ist zu denken (7 Abschnitt 44.1.1).
44.4.2 Allgemeinanästhesie Einleitung Für die Narkoseeinleitung stehen drei Methoden zur Verfügung: 4 Intravenös, 4 per inhalationem/Maskeneinleitung oder 4 rektal. Die rektale Einleitung ist Ausnahmefällen vorbehalten, sie wird mit Methohexital durchgeführt (Dosierung . Tab. 44.6 (Medikament mußte über die internationale Apotheke besorgt werden)). Die intravenöse Einleitung mit Propofol oder Thiopental gilt als sicherstes Verfahren und ist bei Aspirationsgefahr auf jeden Fall durchzuführen.
44
448
Kapitel 44 · Anästhesie bei Kindern
Je kleiner das Kind, desto schwieriger kann mitunter die venöse Punktion sein. Daher wird bei Frühgeborenen und Säuglingen und allgemein bei schwierigen Venenverhältnissen häufig eine Maskeneinleitung durchgeführt. Sevofluran und Halothan kommen hierfür in Frage (Halothan ist in Deutschland jedoch nicht mehr zugelassen. Es kann über die internationale Apotheke bestellt werden, wenn man es für erforderlich hält. Dies ist teuer und auch umständlich, da man jeden Patienten, der Halothan erhält, namentlich notieren muss). Für eine Einleitung per inhalationem werden ein hoher Frischgasfluss (8–10 l/min) und eine hohe Sevoflurankonzentration gewählt. Dabei ist aus Vorsichtsgründen darauf zu achten, dass die inspiratorische Sevoflurankonzentration nicht höher als notwendig (1,5 MAC) eingestellt wird und – sobald möglich – wieder auf die Erhaltungskonzentration (1 MAC) reduziert wird. Grund hierfür sind epileptiforme EEG-Veränderungen, die bei manchen Kindern und auch Erwachsenen während Sevoflurannarkosen beobachtet worden sind. Diese EEG-Veränderungen können mit unkoordinierten Arm- und Beinbewegungen oder auch tonisch-klonischen Bewegungen einhergehen, meist jedoch treten sie ohne klinische Symptome auf. Das krampfinduzierende Potenzial von Sevofluran wird zwar insgesamt bisher als gering erachtet und scheint nur bei Prädisposition und unter bestimmten Voraussetzungen erhöht zu sein (sehr junge oder sehr alte Patienten, Epilepsie in der Vorgeschichte, Hyperventilation, kein Benzodiazepin als Prämedikation), jedoch sind weitere Studien wünschenswert, um endgültige Aussagen treffen zu können. Eine EEG-Überwachung als Monitoring scheidet bei Kindern bislang noch aus, weil diese bei Kindern noch nicht validiert ist. Außerdem ist unklar, wie sich Krampfpotenziale in Überwachungsmethoden wie z. B. Narcotrend oder BIS zeigen. Manche Kliniken benutzen ein Sauerstoff-/Lachgasgemisch von 40 %/60 %, um das Anfluten des Narkosegases zu beschleunigen. Es ist jedoch nicht grundsätzlich für eine Maskeneinleitung erforderlich. Die Maske sollte möglichst dicht sitzend gehalten werden, um die Einleitung zu beschleunigen und eine Kontamination des OP-Saals zu vermeiden. Gut prämedizierte Kinder akzeptieren die Maske fast immer. Die Maskeneinleitung bei Kindern geht schneller als bei Erwachsenen aufgrund des Quotienten FRC/Va von 1 : 5 und aufgrund des hohen Atemminutenvolumens. Sobald die Kinder ausreichend tief schlafen wird ein venöser Zugang gelegt. ! Cave Nach einer Maskeneinleitung nie die Reduktion des Narkosegases vergessen!
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Die Maskenbeatmung bei Kindern ist für Ungeübte schwierig. Wichtig ist, Druck auf den Mundboden zu vermeiden, da es sonst durch die Zunge zu einer Atemwegsverlegung kommt. Bei leicht geöffnetem Mund und manuell vorgeschobenem Unterkiefer ist eine manuelle Beatmung in der Regel gut möglich. Es ist darauf zu achten, dass der Magen nicht überbläht wird, da sich einerseits das Aspirationsrisiko dadurch erhöht und andererseits eine Beeinträchtigung der Atmung resultiert. Gegebenenfalls muss die Luft aus dem Magen abgesaugt werden.
Tubus oder Larynxmaske Larynxmasken der Größen 1 (für Neugeborene und Säuglinge bis 5 kg), 1,5 (für Kinder zwischen 5 und 10 kg), 2 (bis 20 kg) 2,5 (bis 30 kg) und 3 (bis 50 kg) finden in der Kinderanästhesie Verwendung. Zum Einsatz kommen sie bei allen kleineren Eingriffen, bei denen grundsätzlich auch eine Maskennarkose in Betracht kommt (z. B. Herniotomien, Zirkumzisionen) und bei denen keine Aspirationsgefahr besteht (z. B. Metallentfernungen an den Extremitäten nach Frakturen). Bei HNO-Eingriffen wie Adenotomien, Tonsillotomien und Tonsillektomien finden sie zunehmend Verwendung. Ein großer Vorteil der Larynxmasken besteht in der geringeren Irritation der Atemwege und der dadurch selteneren Komplikation des Laryngospasmus (7 Abschnitt 44.6.2). Daneben müssen keine Muskelrelaxanzien verwendet werden. Bei Neugeborenen und Säuglingen wird die Indikation für eine Intubation großzügiger gestellt. Der Grund liegt darin, dass es keine der Neugeborenen- und Säuglingsanatomie angepassten Larynxmasken gibt. Die Larynxmaske der Größe 1 hat deshalb die höchste Komplikationsrate. Intubierte Säuglinge werden auch immer beatmet, um Atelektasen zu vermeiden, die bei Spontanatmung bei intubierten Neugeborenen und Säuglingen entstehen. Außerdem wirken Opioide und Anästhetika atemdepressiv, sodass es zu keiner ausreichenden Spontanatmung kommen kann. Auch wäre die Atemarbeit beim intubierten, spontan atmenden Kind zu hoch. Spontanatmung ist nur in Maskennarkose und bei kurz dauernden Eingriffen in Larynxmaske vertretbar. Für die Intubation ist allgemein große Sorgfalt wichtig: Bei der Laryngoskopie als auch beim Einführen des Tubus (7 Abschnitt 44.1.2). Wichtig ist auch die Wahl der richtigen Größe. ! Berechnung der richtigen Tubusgröße (ohne Cuff ): Innendurchmesser = (Alter [Jahre] + 16)/4
Bei einem Beatmungsdruck von 20 cm H2O sollte etwas Luft entweichen, sonst ist der Tubus zu groß und gerade bei längeren Eingriffen das Risiko eines postoperativen
449 44.4 · Narkosever fahren
Ödems mit Stridor, erhöhter Atemarbeit und gefährlicher Verlegung der Atemwege groß. Der jeweils nächstgrößere und nächstkleinere Tubus sollten bereit liegen. Zur Orientierung hilft auch die Kleinfingerregel: Der richtige Tubus entspricht meist dem Durchmesser des kleinen Fingers des Kindes. ! In der Regel werden bis zum Alter von 8 Jahren ungeblockte Tuben verwendet! Grund: Der Druck im Cutt kann die Schleimhaut schädigen
Beim Vorschieben ist darauf zu achten, dass der Tubus gerade so tief platziert wird, dass die schwarze Markierung hinter der Stimmritze verschwindet. Durch Auskultation und Beobachtung der Thoraxbewegung ist eine seitengleiche Beatmung sicherzustellen. ! Abschätzung der Tubustiefe bei Neugeborenen: KG [kg] + 6 = Entfernung Mundwinkel–Tubusspitze [cm]
! Cave Ausreichende Präoxygenierung vor Intubation! Die Sauerstoffreserven sind besonders bei Neugeborenen und Säuglingen gering!
Aufrechterhaltung der Narkose Die Aufrechterhaltung der Narkose erfolgt als TIVA mit Propofol und einem Opioid oder balanciert mit einem Inhalationsanästhetikum (. Tab. 44.9) mit oder ohne Lachgas und einem Opioid. Wann immer möglich, sollte bei Kindern zusätzlich ein Regionalanästhesieverfahren durchgeführt werden. Dies senkt den Bedarf an Inhalationsanästhetika/Propofol und Opioid und erhöht die Eltern- und Patientenzufriedenheit, da die Kinder postoperativ schmerzfrei sind.
Ausleitung Kurzzeitige Beatmung mit reinem Sauerstoff erhöht vor der Extubation die Sauerstoffreserve. Der Mund sollte . Tabelle 44.9. MAC50-Werte [Vol%] gebräuchlicher Inhalationsanästhetika in Abhängigkeit vom Alter Alter
Isofluran
Sevofluran
Desfluran
Neugeborene
1,6
3,3
9,2
1–6 Monate
1,9
3,2
9,4
Kleinkinder
1,6
2,5
8,6
Erwachsene
1,2
2,0
6,0
sorgfältig abgesaugt werden, da Kinder zu starker Speichelsekretion neigen. Manche Anästhesisten bevorzugen die frühe Extubation bei zurückgekehrter Spontanatmung in noch tiefer Narkose. Je jünger das Kind, desto später wird jedoch in der Regel extubiert. Bei Säuglingen wird mit der Extubation meist gewartet, bis sie bei suffizienter Spontanatmung einen guten Muskeltonus haben (also die Arme und Beine anheben) und die Schutzreflexe zurückgekehrt sind. Bei TIVA ist ein Exzitationsstadium kaum mehr zu erwarten, bei Narkosen mit Inhalationsgasen ist dies z. T. ausgeprägt. Erkennbar ist es an unwillkürlichen Bewegungen des Kindes, weiten Pupillen, dem Hin- und Herwandern der Augen, einer gesteigerten Speichelsekretion und Atemstörungen (Husten, Atemanhalten, unregelmäßige Atmung). Manipulationen am Kind (z. B. Absaugen, Extubieren) können in diesem Stadium sehr leicht zu einem Laryngospasmus führen und sollten im Exzitationsstadium unterlassen werden. ! Frühextubation bei Kindern, Spätextubation bei Säuglingen! Keine Extubation im Exzitationsstadium!
Durch endotracheales Absaugen bei Säuglingen und Kleinkindern während der Extubation kann es durch den Sog zu Atelektasen kommen. Es hat sich daher bewährt, manuell die Lunge zu blähen und dabei den Tubus zügig zu entfernen. Dadurch wird die Sauerstoffreserve erhöht, das Kind zum Ausatmen gezwungen und durch den meist erfolgenden Hustenstoß noch vorhandener Speichel herausbefördert.
44.4.3 Regionalver fahren Ein wichtiges Ziel von Regionalanästhesieverfahren ist die postoperative Schmerzfreiheit. Meist werden die Blockaden in Narkose angelegt. Dies bedeutet weniger Stress für das Kind, hat aber den Nachteil, dass Komplikationen und Nebenwirkungen (ZNS-Symptome, Schmerzen bei Nervenläsionen u. ä.) nicht erkennbar sind. Die Kombination von »Schlaf« und Regionalverfahren hat neben der postoperativen Schmerzfreiheit den Vorteil, dass die Narkose (bei präoperativer Anlage des Blocks) so gut gesteuert werden kann, dass das Kind unmittelbar nach Operationsende aufwacht. Ein Medikamentenüberhang ist äußerst selten. Der Anästhetikabedarf ist geringer. Die Kinder erwachen in der Regel ruhig, sind kooperativ und weinen nicht. Ältere Kinder können auch in Regionalanästhesie alleine operiert werden, sofern sie damit einverstanden sind bzw. dies wünschen.
44
450
Kapitel 44 · Anästhesie bei Kindern
Häufig verwendete Blockadetechniken Peniswurzelblock 4 OP: Zirkumzisionen, Hypospadien 4 Technik: Punktion mit stumpfer Nadel, am Unterrand der Symphyse, kranial der Peniswurzel, bis zur Buckschen Faszie (kräftiger Widerstand), LA-Depot unter der Faszie 4 Medikament + Dosierung: Bupivacain 0,5 %, ohne Adrenalin-Zusatz (Endarterie!), 0,1 ml/kg KG 4 Wirkeintritt + Wirkdauer: nach 5–10 min, 12–24 h 4 Sonstiges: hohe Erfolgsquote, einfache Durchführung
Ilioinguinalis-Iliohypogastricus-Blockade 4 OP: Herniotomien, Hydrozelenspaltung, Orchidopexie 4 Technik: Punktion 1cm kranial und medial der Spina iliaca anterior superior, bis zur Aponeurose des M. obliquus externus, Lokalanästhetika (LA)-Depot unter der Aponeurose 4 Medikament + Dosierung: Bupivacain 0,25 %, 0,5 ml/ kg KG 4 Sonstiges: zusätzliche Gabe eines Schmerzmedikamentes in der Regel notwendig, intraoperative LA-Gabe unter Sicht durch den Operateur häufig effektiver
Kaudalanästhesie 4 OP: Hypospadiekorrekturen, Orchidopexien, Klumpfußkorrekturen, Blaseneingriffe, Becken-Osteotomien, Abdominaleingriffe 4 Technik: single-shot oder Katheterverfahren bei länger dauernden/größeren Eingriffen; Kind in Seitenlage, Punktion der Membran am Hiatus sacralis (bildet gleichseitiges Dreieck mit den Spinae iliacae posteriores superiores), Injektion erst nach sorgfältiger Aspiration und Testdosis 4 Medikament, Dosierung:Testdosis Bupivacain 0,25 % mit Adrenalin 1 : 200000, 0,5–1,0 ml 4 Wirkdosis: Bupivacain 0,125 %–0,25 % 1 ml/kg KG (in Abhängigkeit von gewünschter Ausbreitungshöhe und erlaubter Maximaldosierung von 2,5 mg/kg) 4 Sonstiges: Wirkverstärkung bzw. -verlängerung durch Zusatz von Morphin (30–100 Pg/kg) bzw. Clonidin (1–2 Pg/kg) möglich bei postoperativer intensivmedizinischer Überwachung
44
da das Kind nur bei perfekt sitzenden Blockaden profitiert und stressfrei die peri- und postoperative Zeit erleben kann. Axilläre Plexusblockaden und Femoralisblockaden (je 0,5– 0,75 ml/kg KG, z. B. Bupivacain 0,25 %–0,5 %) sind unter den peripheren Regionalanästhesien auch bei Kindern verhältnismäßig einfach durchzuführen. Die Technik entspricht der bei Erwachsenen. Grundsätzlich sind auch alle rückenmarknahen Verfahren wie beim Erwachsenen möglich. Im Wesentlichen gelten auch die gleichen Kontraindikationen. Spinalanästhesien werden bei ehemaligen Frühgeborenen bis zur 55. postkonzeptionellen Woche und einem Gewicht bis 2500 g bei Herniotomien durchgeführt. In diesem Alter sind postoperative Apnoen und andere Komplikationen nach Allgemeinanästhesien nicht selten, weswegen die Spinalanästhesie diesbezüglich vorteilhaft ist. Die Zahl der Apnoen ist reduziert, auszuschließen sind sie jedoch nicht. Von Nachteil ist die kurze Wirkdauer von nur 20–40 min: Der Operateur muss vor Anlage der Spinalanästhesie gewaschen am Tisch stehen, für die postoperative Schmerztherapie sind weitere Medikamente notwendig. ! Wundinfiltration durch den Operateur wann immer möglich, z. B. mit Bupivacain 0,25 % oder Lidocain 0,5 % (unter Beachtung der Maximaldosierungen).
Dosierung Maximaldosierungen von Lokalanästhetika Bupivacain 2,5 mg/kg KG; bei Langzeitverabreichung 0,25 mg/kg KG/h Ropivacain 3–4 mg/kg KG; bei Langzeitverabreichung 0,4 mg/kg KG/h Lidocain 7 mg/kg KG Prilocain 7–10 mg/kg KG
! Cave Kein Prilocain in den ersten drei Lebensmonaten wegen der Gefahr der übermäßigen Methämoglobinbildung (aufgrund der noch reduzierten Aktivität der Methämoglobinreduktase)!
44.5
Postoperative Schmerztherapie
Sonstige Ver fahren
44.5.1 Allgemeines
Nutzen und Risiken und vor allem die Erfahrung des einzelnen Anästhesisten mit der jeweiligen Technik sind bei der Wahl des richtigen Narkoseverfahrens entscheidend. Die Qualitätsanforderungen an Regionalanästhesien sind hoch,
Eine gute Schmerztherapie ist bei Kindern wie bei Erwachsenen ungeheuer wichtig. Dies ist im Grunde selbstverständlich, dennoch besteht vor allem bei Kindern, insbesondere bei Neu-
451 44.5 · Postoperative Schmerztherapie
geborenen und Säuglingen, die Tendenz, zu wenig und zu selten Analgetika zu verabreichen. Zum einen liegt der Grund in der Schwierigkeit der Beurteilung: Hat das Kind Schmerzen, Angst oder kann die Unruhe auf eine Sevofluran-Narkose zurückzuführen sein? Zum anderen kann das Ausmaß der Schmerzen schlechter festgestellt werden als beim Erwachsenen und beim Kind, das sich schon artikulieren kann. Darüber hinaus besteht gerade bei Säuglingen und Frühgeborenen häufig die Angst vor einer Überdosierung. Bei sorgfältiger Auswahl des Medikaments in der entsprechenden Dosierung (titrierende Gabe) und einer guten Überwachung durch geschultes Personal sind diese Ängste unbegründet. ! Adäquate Schmerztherapie auch und gerade bei Kindern aller Altersstufen.
Zum Wohlfühlen und zur Beruhigung gehört auch eine ruhige Atmosphäre im Aufwachraum, die Anwesenheit der Eltern, und die Erlaubnis zu trinken, sobald das Kind wach ist und von operativer Seite nichts dagegen spricht.
44.5.2 Medikamentöse Schmerztherapie Die Kombination von Techniken und Medikamenten (»balanced analgesia«) ermöglicht eine gute Analgesie bei wenigen Nebenwirkungen. Zur Verfügung stehen: 4 Regionalverfahren (bereits perioperativ), 4 Paracetamol, Metamizol und nichtsteroidale Antirheumatika (NSAR) sowie 4 Opioide. Aus diesen drei »Gruppen« wird je nach Eingriff und Schmerzintensität ausgewählt und kombiniert. Clonidin kann wie in der Erwachsenenanästhesie und -schmerzthera-
pie auch bei Kindern in einer Dosierung von 1–2 Pg/kg KG als Adjuvans eingesetzt werden und wirkt analgesieverstärkend und -verlängernd. Darüber hinaus ist seine sedierende Wirkung häufig erwünscht. Eine stationäre Überwachung postoperativ ist dann jedoch erforderlich. (Zu den Regionalverfahren und Lokalanästhetika 7 Abschnitt 44.4.3.). Paracetamol, Metamizol und NSAR. Bei der Durchführung
einer Allgemeinanästhesie (mit oder ohne Regionalanästhesie) hat sich vor Hautschnitt die Gabe von Paracetamol oder Diclofenac rektal bewährt, damit nutzt man die Operationszeit zur Resorption. Postoperativ soll die Gabe systemisch wirksamer Medikamente rechtzeitig erfolgen. Bei kleinen, häufig ambulant durchgeführten Eingriffen (z. B. Leistenund Nabelherniotomien mit lokaler Wundinfiltration, Adenotomien, Zirkumzisionen mit Peniswurzelblock) ist eine einmalige Gabe Paracetamol rektal (rekt.) oder peroral (p.o.) postoperativ in der Regel ausreichend. Bei größeren Eingriffen müssen neben Paracetamol auch andere Medikamente (Opioide) eingesetzt werden. Bei rektaler Verabreichung von Paracetamol ist zu berücksichtigen, dass zum Erreichen wirksamer Plasmaspiegel eine erste Aufsättigungsdosis verabreicht werden muss. Die Höchstdosierung darf aufgrund der Hepatotoxizität bei Kindern < 3 Monaten nur 48 h, bei Kindern > 3 Monaten nur 72 h gegeben werden. Für knochenchirurgische Eingriffe sind Diclofenac (rekt., p.o.) und Ibuprofen (p.o., als Saft) gut geeignet. Bei viszeralen und kolikartigen Schmerzen kommt auch Metamizol (i.v., p.o. als Tropfen) in Betracht (. Tab. 44.10). ! Cave Azetylsalizylsäure wird bei Kindern wegen der Gefahr des lebensbedrohlichen Reye-Syndroms nicht angewendet!
. Tabelle 44.10. In der Kinderanästhesie häufig verwendete Nichtopioidanalgetika Medikament
Dosierung
Intervall
Maximaldosis
Sonstiges
Paracetamol
p.o.: 10–20 mg/kg KG rekt.: 1. Dosis 30–40 mg/kg KG, danach 10–20 mg/kg KG
6-stündlich
< 3 Monate: 60 mg/kgKG/Tag > 3 Monate: 100 mg/kg KG/Tag
Hepatotoxizität
Diclofenac
rekt.: 1–2 mg/kg KG
8–12-stündlich
3 mg/kg KG/Tag
ab ≥ 1 Jahr; Blutungsneigung
Ibuprofen (Nurofen)
p.o.: 5–10mg/kg KG
6-stündlich
30–40 mg/kg KG/Tag
Metamizol (Novalgin)
i.v.: 10–20 mg/kg KG
4-stündlich
Agranulozytose, Blutdruckabfall; nur als Kurzinfusion
44
452
Kapitel 44 · Anästhesie bei Kindern
. Tabelle 44.11. Verwendung von Opioiden zur postoperativen Schmerztherapie bei Kindern Medikament
Dosierung
Sonstiges
Piritramid
0,1 mg/kg KG i.v.
Reiner Agonist
Nalbuphin
0,1–0,2 mg/kg KG i.v.
Partieller AgonistAntagonist: geringere Atemdepression, geringere Analgesie
Paracetamol + Codein (Talvosilen)
10–20 mg/kg KG rekt.
Wirkstärke vergleichbar mit der von Nichtopioiden, sedierend
Opioide. Falls o. g. Analgetika nicht ausreichen, werden Opioide i.v. nach Bedarf titrierend eingesetzt (. Tab. 44.11). Auch Schmerzpumpen (PCA; mit Nalbuphin, Morphin oder Piritramid bestückt) kommen zum Einsatz. Ab einem Alter von etwa 6 Jahren kann man Kindern die Methode gut erklären, bei jüngeren oder behinderten Patienten kann die Schmerzpumpe auch elternkontrolliert angewendet werden. Bei allen Opioiden ist die Überwachung hinsichtlich der Nebenwirkungen obligat. Eine Maximaldosierung gibt es nicht, vielmehr erfolgt die Gabe titrierend unter Beachtung der Wirkung und Nebenwirkungen. Bei Nalbuphin ist zu beachten, dass es als partieller Agonist-Antagonist die perioperative Gabe eines reinen Agonisten (z. B. Fentanyl, Sufentanil, Piritramid) antagonisieren kann. Der peri- und postoperative Einsatz des gleichen Medikaments ist in diesem Fall sinnvoll. Mit Talvosilen als Suppositorium steht ein Kombinationspräparat aus Paracetamol und dem schwach wirksamen Codein zur Verfügung. Aus Codein wird im Körper z. T. Morphin gebildet, dieses wirkt dann analgetisch. Bei starken Schmerzzuständen ist es als alleiniges Medikament nicht geeignet, die sedierende Komponente des Codeins ist zu beachten.
44.6
siologischen Besonderheiten rasch auf. Die Beatmung ist sofort zu überprüfen, mögliche Ursachen sind gezielt zu suchen und auszuschalten. Mögliche Gründe für eine Hypoxie 5 Falsche Tubuslage: ösophageal oder einseitig bronchial? 5 Laryngospasmus/Bronchospasmus 5 Tubusobstruktion: abgeknickt? Sekret? 5 Diskonnektion der Schlauchsysteme 5 Unzureichende Relaxation/oberflächliche Narkose 5 Aspiration von Fremdkörpern (Zahn, Adenoidgewebe, Magensekret) 5 Atelektasen 5 Zu niedrige Sauerstoffzufuhr 5 Herzinsuffizienz/Lungenödem/kardialer Shunt 5 Pneumothorax
Die Beatmung soll mit reinem Sauerstoff durchgeführt werden, bis die Ursache behoben ist und wieder normale Sättigungswerte vorliegen. ! Bei niedrigen Sauerstoffsättigungswerten liegt bis zum Beweis des Gegenteils eine Hypoxämie vor und kein technischer Defekt!
Bradykardien sind in der Kinderanästhesie nahezu immer hypoxiebedingt: Sauerstoff ist notwendig, nicht Atropin! Die Herzfrequenz normalisiert sich von alleine, wenn die Hypoxie schnell behoben werden kann.
44.6.2 Laryngospasmus Der Verschluss der Stimmritze ist ein Schutzreflex, der das Eintreten von Fremdmaterial in die Trachea verhindern soll. Er kann jedoch in Narkose lebensbedrohlich werden, wenn er zu lang andauert. Vorausschauend sind Risikofaktoren für einen Laryngospasmus zu erkennen:
Komplikationen Risikofaktoren für einen Laryngospasmus 5 5 5 5 5
44.6.1 Hypoxämie Die häufigste Komplikation in der Kinderanästhesie ist die Hypoxie. Daher ist ein Pulsoxymeter obligat, von den meisten Autoren wird auch die Verwendung eines präkordialen Stethoskops als Routinemonitoring gefordert. Hypoxien 6 bei Kindern aufgrund der vorab besprochenen phytreten
44
Kinder mit Atemweginfekt Kinder < 1 Jahr Eingriffe im Bereich der Luftwege Anästhesist mit wenig Erfahrung Rauchende Eltern o Passivrauchen des Kindes
Darüber hinaus sind für die Narkoseführung zu beachten:
453 44.6 · Komplikationen
! Keine elektiven Eingriffe bei Kindern mit Infektion der Atemwege (Fieber, positiver Auskultationsbefund, grobblasige Rasselgeräusche, deutliches Krankheitsgefühl, erhöhte Leukozytenzahl. Keine Manipulation (z. B. Absaugen, Umlagern) in oberflächlicher Narkose/im Exzitationsstadium! Larynxmaske statt Intubation, wann immer möglich!
Ein vierjähriges, normal entwickeltes Mädchen mit einem Körpergewicht von 14 kg kommt in den HNO-OP zur Tonsillektomie und Parazentese beidseits. Vorerkrankungen sind keine bekannt. Bis auf eine Rhinitis, die nach Angaben der Mutter fast immer besteht, ist sie gesund. Als Prämedikation hat sie Dormicum 12,5 mg rektal erhalten. Das Mädchen ist müde und ruhig. Im OP werden eine passende Blutdruckmanschette, ein EKG und ein Pulsoxymeter angelegt. Ein intravenöser Zugang am Handrücken kann problemlos gelegt werden (EMLA war bereits bei Aufnahme morgens auf Station aufgetragen worden und ist wieder rechtzeitig entfernt worden), als Infusion läuft eine Ringerlaktat-Lösung. Eine Präoxygenierung wird durchgeführt. Zur Einleitung erhält die kleine Patientin 0,15 mg Atropin, 3,5 Pg Sufenta, und 60 mg Propofol. Die Larynxmaske der Größe 2 kann problemlos eingeführt werden und ist nach Blocken des Cuffs mit 10 ml bei Beatmungsdrücken von 16 cm H20 dicht. Die Aufrechterhaltung der Narkose erfolgt über einen Perfusor mit Propofol 140 mg/h, beatmet wird mit einem Lachgas-Sauerstoff-Gemisch (N2O 65%, O2 35 %). Sauerstoffsättigung, Blutdruck und Herzfrequenz sind normwertig. Nach der Einleitung erhält das Mädchen Paracetamol 500 mg rektal. Zum Schnitt wird Dipidolor 1,5 mg i.v. gegeben. Die Tonsillektomie verläuft problemlos. Die Parazentese links ist erfolgreich durchgeführt. Der Operateur lagert nun den Kopf des Kindes nach links, um die Parazentese rechts durchzuführen. Plötzlich kommt es zu einem Abfall des endtidalen CO2, das Beatmungsgerät alarmiert aufgrund
erhöhter Beatmungsdrücke. Der Anästhesist stellt um auf manuelle Beatmung und eine inspiratorische Sauerstoffkonzentration von 1,0. Auch mit manueller Beatmung lässt sich das Kind nicht beatmen, es kommt kein CO2 zurück, kein Atemgeräusch kann auskultiert werden. Die Dislokation der Larynxmaske wird deutlich durch den Austritt von Blut aus dem Mund bei jedem Atemhub. Mund und Rachenraum werden abgesaugt, die Larynxmaske entfernt, und bei fallender Sauerstoffsättigung eine Maskenbeatmung mit hohen Beatmungsdrücken durchgeführt. Eine adäquate Beatmung ist auch nach vertiefter Narkose (Bolus mit Propofol 20 mg unter laufendem Perfusor) nicht möglich. Die Sauerstoffsättigung fällt weiter, Succinylcholin 20 mg i.v. werden verabreicht und das Mädchen wird problemlos intubiert. Es wird endotracheal abgesaugt, wenig blutiges Sekret kommt zurück. Die Sättigung steigt allmählich wieder auf 100 % unter Beatmung mit 100 % Sauerstoff. Die Beatmungsdrücke sind jedoch weiterhin hoch, der Spitzendruck liegt bei etwa 32 cm H2O. Nur ein sehr stark abgeschwächtes Atemgeräusch ist auskultierbar. Die 2. Parazentese wird durchgeführt. Das Mädchen atmet sofort wieder spontan mit einer Atemfrequenz um die 40/ min. Bei dem Versuch, den Rachen vorsichtig abzusaugen, reagiert sie mit Husten. Wiederholt wird ein Bolus mit Propofol 5–10mg gegeben, um den Husten. der bei geringstem Reiz auftritt, zu durchbrechen. Bei einem endtidalen CO2 von 67 mmHg wird das Kind letztlich extubiert, da eine flachere Narkose mit stärkerem Atemantrieb und geringeren CO2-Werten wiederholt zu Husten und Bronchospasmus führt. Bei der Auskultation ist Giemen über allen Lungenfeldern zu hören. Eine kapilläre Blutgasanalye wird durchgeführt, der pCO2 beträgt 70 mmHg. Die Maske wird mit einem PEEP von etwa 10 mmHg und hohem Sauerstoff-Flow gehalten, die Spontanatmung assistiert. 40 mg Euphyllin i.v. werden gegeben, weitere 40 mg werden zur langsamen Infusion in 250 ml Ringerlaktat angehängt. Die Spontanatmung des Kindes wird zunehmend besser, das Giemen lässt nach, die Atemfrequenz normalisiert sich, Einziehungen sind nicht vorhanden. Mit einer Sauerstoffsättigung von 97 % bei vorgehaltener Maske wird das Mädchen in den Aufwachraum verlegt. Dort inhaliert sie mit Adrenalin. Eine weitere Blutgasanalyse nach 15 min zeigt Normalwerte. Die Lunge ist auskultatorisch frei. Die Station wird informiert, dass eine Pulsoxymetriekontrolle bis 6 h postoperativ weitergeführt werden soll und dass bei Auftreten von Fieber ein Röntgenbild des Thorax (bei fraglicher Aspiration) durchgeführt werden muss. Bei wiederholten Visiten postoperativ am OP-Tag und wäh-
6
6
Bei Auftreten eines Laryngospasmus wird eine Maskenbeatmung mit positivem Atemwegsdruck (20–30 cmH2O) und reinem Sauerstoff durchgeführt. Als nächstes wird die Narkose vertieft (z. B. Propofol 2–3 mg(kg KG). Wenn diese Maßnahmen nicht greifen, sind eine Relaxierung mit Succinylcholin (0,5 mg/kg) und die (Re-)Intubation notwendig. Dies ist jedoch glücklicher weise selten indiziert. : Beispiel
44
454
Kapitel 44 · Anästhesie bei Kindern
rend des weiteren stationären Aufenthalts zeigt sich ein Mädchen ohne jegliche Atemprobleme, ohne Fieber und mit auskultatorisch freier Lunge. Nach einer Woche wird sie nach Hause entlassen.
44.6.3 Latexallergie Die häufigste Ursache für eine intraoperative Anaphylaxie bei Kindern ist die Latexallergie. Wichtig ist, Kinder mit einem erhöhten Risiko zu erkennen: Risikofaktoren für eine Latexallergie 5 Wiederholt operative Eingriffe in der Anamnese (Fehlbildungen, Meningomyelozelen, Blasenekstrophien) mit wiederholter Latexexposition 5 Lippenschwellung beim Aufblasen von Luftballons 5 Kreuzallergie gegen tropische Früchte (Banane, Kiwi)
Bei Risikokindern muss streng auf die Latexfreiheit der verwendeten Materialien geachtet werden. Kinder mit Latexallergie sollten an erster Stelle im OP-Plan operiert werden. Bei Auftreten einer Anaphylaxie erfolgt die Behandlung mittels Adrenalin i.v., Sauerstoffgabe, Volumengabe, Steroide i.v. und einer H1-/H2-Blockade (Dosierungen . Tab. 44.6).
44.6.4 Maligne Hyper thermie Bei Kindern mit Strabismus, Syndromen allgemein und/ oder Muskelerkrankungen (die sich noch nicht manifestiert haben müssen) bzw. Angehörigen mit Muskelerkrankungen ist prophylaktisch eine triggerfreie Narkose durchzuführen (7 Kap. 49).
44.6.5 Propofol-Infusionssyndrom Beim Propofol-Infusionssyndrom (PRIS) handelt es sich um eine zwar seltene, aber lebensgefährliche Komplikation. Das PRIS kann sowohl bei Kindern als auch bei Erwachsenen auftreten, wobei bisher die Mehrzahl der Fälle bei Kindern beschrieben worden ist. Eine hoch dosierte Propofolgabe über einen längeren Zeitraum scheint ein Triggerfaktor zu sein. Eine Katecholamin- und/oder Steroidtherapie, die die Patienten aufgrund ihrer Vorerkrankung benötigen, stellt vermutlich einen weiteren Triggerfaktor
44
dar. Kinder und Erwachsene mit akuten neurologischen Erkrankungen (z. B. Schädelhirntraumen, Notwendigkeit eines neurochirurgischen Eingriffs), Sepsis/SIRS und Infektionen der Atemwege, die hoch dosiert Propofol zur Sedierung erhalten, sind besonders gefährdet. Pathogenetisch liegt dem Syndrom die Unfähigkeit des Patienten zugrunde, die mit dem Propofol applizierten Fette zu metabolisieren. Wahrscheinlich liegt eine Mitochondriendysfunktion vor. Durch die Störung des Fettstoffwechsels kommt es zu einer Anhäufung von freien Fettsäuren, die sich in einer Hyperlipidämie und auftretenden Herzrhythmusstörungen äußert. Außerdem kommt es zu Zellnekrosen in Herz- und Skelettmuskulatur. Mögliche Symptome des Propofol-Infusionssyndroms 5 Plötzlich auftretende, therapieresistente Bradyarrhythmien 5 Lipämisches Blutplasma 5 Vergrößerte Leber 5 Metabolische Azidose mit einem base excess > –10 mmol/l 5 Rhabdomyolyse und/oder Myoglobinurie, Nierenversagen
Die Therapie erfolgt rein symptomatisch. Bei Verdacht ist die Propofolgabe sofort zu beenden und eine andere sedierende Medikation zu erwägen. Wegen der Gefahr eines PRIS ist Propofol zur Langzeitsedierung bei Kindern kontraindiziert. Allerdings sind mittlerweile auch Fälle beschrieben worden, bei denen der Zeitraum der Propofolgabe beim Entstehen eines PRIS sehr kurz war. Bei Narkosen ist erhöhte Aufmerksamkeit geboten bei Patienten mit angeborener Störung der Mitochondrienfunktion, bei Kindern mit Syndromen und Patienten mit ZNS-Erkrankungen. Bei der Anwendung von Propofol ist in diesen Fällen eine sorgfältige Kontrolle der klinischen und laborchemischen Parameter (v.a. bei langer OP-Dauer stündliche BGA-Kontrollen!) äußerst wichtig, um ein drohendes PRIS rechtzeitig zu erkennen und zu therapieren.
Literatur Cremer OL, Moons KG, Bouman EAC et al (2001) Long-term propofol infusion and cardia failure in adult head-injured patients. Lancet 357: 117–8 Constant I, Seeman R, Murat I (2005) Sevoflurane and epileptiform EEG changes. Paediatr Anaesth 4: 266–274
455 Literatur
Frei FJ, Jonmarker C, Werner O (1999) Kinderanästhesie. 2. Aufl., Springer, Berlin Heidelberg New York Jöhr M (2001) Kinderanästhesie. 5. Aufl. Urban & Fischer, München Kretz FJ (2001) Kinderanästhesie. In: Kochs E, Krier C, Buzello W et al (Hrsg) Anästhesiologie. 1. Aufl., Thieme, Stuttgart, S 1354–1413 Lochbühler H, Kontokollias JS (2003) Neugeborenes und Kleinkind. In: List W, Osswald PM, Hornke I (Hrsg) Komplikationen und Gefahren in der Anästhesie. Springer, 4. Aufl., Berlin Heidelberg New York, S. 581–611 Vasile B, Rasulo F, Candiani A, Latronico N (2003) The pathophysiology of propofol infusion syndrome: a simple name for a complex syndrome. Intensive Care Med 29: 1417–25
44
45 Anästhesie bei alten Patienten Andreas Sielenkämper 45.1 Altersbedingte Änderungen der Organfunktionen –458 45.1.1 45.1.2 45.1.3 45.1.4
Herz-Kreislauf-System –458 Lunge –459 Zentrales Nervensystem –459 Hepatorenale Funktionen –459
45.2 Präoperative Vorbereitung –459 45.3 Wahl des Anästhesieverfahrens –460 45.4 Anästhetika und Anästhesiologisches Management –460 45.4.1 Intravenöse Anästhetika –461 45.4.2 Inhalationsanästhetika –461 45.4.3 Lokalanästhetika –461
45.5 Konzepte zur Aufrechterhaltung der funktionellen Reserve –461 Literatur –463
458
45
Kapitel 45 · Anästhesie bei alten Patienten
)) Mit dem Alter steigt das Risiko eines Patienten, eine schwere perioperative Komplikation zu erleiden. Die Wahrscheinlichkeit einer Komplikation wird dabei vor allem durch das Spektrum der Begleiterkrankungen und die körperliche Belastbarkeit des Patienten bestimmt. Diese Tatsache spiegelt sich in einer hohen Inzidenz von perioperativen Komplikationen bei einem ASA-Score von 3 oder höher wieder. Die Anästhesie stellt, ebenso wie die perioperative Stressreaktion, eine Anforderung an die körperliche Belastbarkeit dar. Die Bestimmung der Belastungsreserve ist daher für die Einschätzung des perioperativen Risikos, aber auch für die Festlegung des anästhesiologischen Managements von großer Bedeutung. Die Belastungsreserve der Organe, die auch als »funktionelle Reserve« bezeichnet wird, ist definiert als die Differenz zwischen der Organfunktion unter Ruhebedingungen und dem maximal erreichbaren Funktionslevel unter Belastung (. Abb. 45.1).
45.1
Altersbedingte Änderungen der Organfunktionen
Eine wichtige Rolle für die Pharmakokinetik von Medikamenten spielt die Veränderung der Anteile von Flüssigkeit und Fett am Gesamtkörpergewicht. Bis zum Alter von 70 Jahren nimmt der Anteil des Körperfetts – ausgehend von einem jungen Erwachsenen – um 30–40 % zu, während der
. Abb. 45.1. Schematische Darstellung der Abhängigkeit der Organfunktion vom Lebensalter. Die Differenz zwischen basaler Organfunktion im Ruhezustand und maximaler Organfunktion unter Belastung entspricht der Belastungsreserve (= funktionelle Reserve).
Anteil der Extrazellulärflüssigkeit um etwa den gleichen Betrag abnimmt. Die Konsequenz ist, dass das Verteilungsvolumen von Medikamenten mit überwiegender Verteilung im Körperwasser abnimmt, während Substanzen mit überwiegender Verteilung im Fettgewebe ein erhöhtes Verteilungsvolumen aufweisen. Zudem nimmt die Albuminkonzentration im Serum mit dem Alter ab, sodass der Anteil an freier Substanz steigt, insbesondere bei Medikamenten mit hoher Eiweißbindung (z. B. Barbiturate, Etomidat, Propofol, Benzodiazepine). Der Dosisbedarf dieser Medikamente ist daher verringert. Für das Komplikationsrisiko einer Narkose sind besonders Veränderungen des Herz-KreislaufSystems, der Lunge sowie des zentralen Nervensystems von zentraler Bedeutung. Ebenso spielen Änderungen der Leber- und Nierenfunktion für die Pharmakodynamik vieler Anästhetika eine wichtige Rolle.
45.1.1 Herz-Kreislauf-System Der Alterungsprozess wird begleitet von morphologischen Veränderungen des Herzgewebes. So verringert sich die Myozytenanzahl bei gleichzeitiger Zunahme der Herzmuskelmasse. Ebenso kommt es zu Änderungen der Herzfunktion, zu denen eine Verminderung der Myokardkontraktilität, eine Verlängerung der Aktionspotenzialdauer, ein Abfall der koronaren Flussreserve sowie eine verminderte Erregbarkeit der E-Rezeptoren bei insgesamt erhöhter Sympathikusaktivität zählen. Aufgrund einer verminderten Aortenelastizität kommt es zu einem stärkeren Druckanstieg innerhalb der systolischen Pulswelle, die weiter augmentiert wird durch frühzeitig aus der Peripherie reflektierte Pulswellen. Es entwickelt sich ein systolischer Bluthochdruck, der die Nachlast für den linken Ventrikel steigert und im Laufe von Jahren eine adaptive Verdickung der linksventrikulären Wand bewirkt. Die Compliance des linken Ventrikels ist beim älteren Menschen als Folge der dargestellten Veränderungen vermindert. Es muss daher für die Ventrikelfüllung ein höherer enddiastolischer Druck aufgebracht werden. Ebenso hängt die Steigerung des Herzzeitvolumens unter Belastung vermehrt von einer adäquaten Ventrikelfüllung ab, da die Kontraktilitätsreserven des Myokards im Vergleich zu jungen Menschen begrenzt sind. Wenn in dieser Situation das intravaskuläre Volumen sinkt, kann eher als beim jungen Menschen keine ausreichende linksventrikuläre Füllung mehr erfolgen. Das Herzzeitvolumen wird vermindert. Insgesamt wird damit mit zunehmendem Alter das Herz empfindlicher gegenüber einer Hypovolämie.
459 45.2 · Präoperative Vorbereitung
Da das Herz sich an die altersbedingten Veränderungen adaptiert, sind Herzfrequenz und Herzzeitvolumen bei älteren Menschen unter Ruhebedingungen im Vergleich zu jungen Menschen kaum verschieden. Unter Belastung hingegen steigen beim jungen Menschen Herzfrequenz und Ejektionsfraktion an, während das alte Herz die Schlagfrequenz und die Ejektionsfraktion nur ungenügend steigern kann. Das maximale Herzzeitvolumen und damit die funktionelle Reserve des älteren Herzens sind daher reduziert.
45.1.2 Lunge Residualvolumen und funktionelle Residualkapazität sind beim alten Menschen erhöht, während inspiratorisches und exspiratorisches Reservevolumen abnehmen. Dementsprechend nimmt die Vitalkapazität ab. Die Veränderungen der Lungenfunktion sind zum Teil bedingt durch eine Versteifung der Thoraxwand, ebenso tragen aber auch strukturelle Veränderungen in Lunge und Atemwegen dazu bei. Die effektive Gasaustauschfläche ist reduziert, und es kommt aufgrund einer Rarefizierung des pulmonalen Kapillargebiets (Verlust von perfundierten Kapillaren) zu einer Erhöhung des pulmonalarteriellen Mitteldrucks und des pulmonalvaskulären Gefäßwiderstands. Die beschriebenen Veränderungen führen mit der Zeit zu einer Beeinträchtigung des pulmonalen Gasaustauschs, sodass die arterielle Sauerstoffspannung (paO2) mit den Jahren schrittweise abnimmt. Die arterielle Kohlendioxidspannung (paCO2) dagegen bleibt konstant. Im Alter wird der Thorax steifer, die elastischen Rückstellkräfte des Lungenparenchyms nehmen ab. Der Thorax vergrößert sich, und das Zwerchfell verflacht. Das Verschlussvolumen, definiert als das Volumen, bei der die elastischen Rückstellkräfte der Lunge für eine Offenhaltung von kleinen Bronchiolen ohne Knorpelwand nicht ausreichen, steigt und übertrifft beim aufrecht stehenden 60Jährigen bereits die funktionelle Residualkapazität. In der Konsequenz müssen die kleinen Atemwege bei jeder neuen Inspiration wieder eröffnet werden, sodass die Atemarbeit ansteigt. Ältere Patienten neigen daher zu schnellerer Ermüdung bei der Respiratorentwöhnung.
ronenverbände hierzu bei. Die Atrophie des Gehirngewebes, die häufig bei älteren Menschen festgestellt wird, korreliert dabei gut mit dem Ausmaß der Funktionsbeeinträchtigung. Kognitive Dysfunktion ist im Rahmen der Routine-Vorbereitung auf einen chirurgischen Eingriff unter Narkose nur schwer festzustellen und zu quantifizieren. Häufig manifestieren sich Einschränkungen der kognitiven Funktion nur situationsbedingt (z. B. in fremder Umgebung, unter Stress). Auch müssen altersbedingte ZNS-Dysfunktionen von krankheitsbedingten Schäden, z. B. bei der Alzheimerschen Erkrankung oder bei zerebrovaskulärer Insuffizienz, unterschieden werden.
45.1.4 Hepatorenale Funktionen Die Funktion von Leber und Niere stellt für die Metabolisierung vieler Anästhetika und damit für die Pharmakokinetik der verwendeten Substanzen einen entscheidenden Faktor dar. Mit der Abnahme von Lebervolumen und portalem Blutfluss im Alter sinkt die Plasmaclearence von vielen primär über die Leber abgebauten Anästhetika (7 Kap. 10, 7 Kap. 25). Auch die Synthese der Plasmacholinesterase, über die z. B. Succinylcholin und Mivacurium abgebaut werden, ist vermindert. Andererseits kann bei Rauchern auch im Alter eine Enzyminduktion mit erhöhter Biotransformation von Medikamenten vorliegen. Durch den Verlust funktionstüchtiger Nephrone kommt es pro Lebensdekade zu einem Absinken der glomerulären Filtrationsrate um 6–8 %. Die aktive tubuläre Sekretion und die Reabsorption von Medikamenten und Metaboliten nehmen proportional ab. Die stark reduzierte funktionelle Reserve des alten Menschen wird daher nur schwer mit den Imbalancen im Elektrolyt- und Wasserhaushalt bei großen Eingriffen fertig. Auch heute noch ist das akute Nierenversagen für etwa 20 % der perioperativen Mortalität bei alten Patienten verantwortlich.
45.2
Präoperative Vorbereitung
Ziele der präoperativen Voruntersuchungen sind die Einschätzung der funktionellen Reserve sowie die Erfassung
45.1.3 Zentrales Ner vensystem
des Schweregrades von Erkrankungen der Organsysteme. Zunächst ist wichtig, ob der Patient noch regelmäßig
Die den altersbedingten Einschränkungen der ZNS-Funktion zugrunde liegende Ursache ist bislang nicht eindeutig geklärt. Wahrscheinlich tragen aber Veränderungen im Hormonhaushalt und der zerebralen Blutversorgung sowie durch oxidativen Stress verursachte Schädigungen der Neu-
körperlich und geistig aktiv ist. Ein aktiver alter Mensch hat zumeist noch Reserven in Hinsicht auf die kardiopulmonale und mentale Funktion und damit eine geringere Wahrscheinlichkeit perioperativer Komplikationen. Neben der Anamneseerhebung erfolgt eine zielgerichtete klinische Untersuchung, die außer der Erhebung des
45
460
45
Kapitel 45 · Anästhesie bei alten Patienten
physischen Zustands das Erkennen von Risikofaktoren für eine anästhesiologische Komplikation wie z. B. ein Intubationshindernis oder ein erhöhtes Aspirationsrisiko zum Ziel hat. Weiterführende diagnostische Untersuchungen wie Laborparameter, EKG, Lungenfunktionsdiagnostik, Röntgendiagnostik oder echokardiographische Untersuchungen werden auch bei älteren Patienten heute nur noch gezielt, und nicht mehr als »Screening«-Methoden eingesetzt. ! Erkrankungen, die die Funktion relevanter Organsysteme während der perioperativen Phase beeinträchtigen, müssen optimal behandelt sein.
Dies schließt insbesondere kardiale Erkrankungen, Diabetes, chronisch obstruktive Lungenerkrankungen sowie Niereninsuffizienz ein. Es gilt als sicher, dass eine optimale Behandlung von Begleiterkrankungen die Inzidenz tödlicher perioperativer Komplikationen senken kann. ! Bei Patienten mir hohem kardiovaskulärem Risiko und ohne E-Blocker-Medikation immer die Indikation zu einer zusätzlichen perioperativen Medikation mit E-Blockern prüfen und gegebenenfalls großzügig stellen, da hierdurch die perioperative Mortalität in dieser Patientengruppe deutlich reduziert wird.
Bestandteil der präoperativen Visite ist zudem die Festlegung der anxiolytischen Vormedikation. Im Regelfall werden Benzodiazepine (z. B. Dikaliumchlorazepat 5–20 mg p.o. 2 h präoperativ und bei Bedarf zusätzlich am Vorabend der Operation) gegeben, wobei in Abhängigkeit vom Gesamtzustand des Patienten und von den Vorerkrankungen in Einzelfällen, wie etwa bei schwerem Schlaf-Apnoe-Syndrom, auf eine medikamentöse Anxiolyse verzichtet wird. Tipps
Präoperative Vorbereitung bei alten Patienten – so machen wir es: 5 Er fassen von Begleiterkrankungen und körperlicher Belastbarkeit, ASA-Status 5 Optimierung der medikamentösen Therapie 5 E-Blocker bei hohem kardiovaskulärem Risiko 5 Medikamentöse Anxiolyse
45.3
Wahl des Anästhesiever fahrens
Die chirurgische Stressreaktion ist charakterisiert durch eine Sympathikusaktivierung, eine katabole Stoffwechsellage sowie durch eine gesteigerte metabolische Aktivität.
Als typische Konsequenzen der chirurgischen Stressreaktion werden eine verlängerte Erholungsphase nach chirurgischen Eingriffen, aber auch postoperative Darmatonie, gastrointestinale Hypoperfusion und eine Beeinträchtigung des Immunsystems angesehen. Da zentrale Nervenblockaden die chirurgische Stressreaktion durch eine Blockade von nozizeptiven afferenten Reizen aus dem verletzten Gewebe und durch eine Hemmung der efferenten Sympathikusantwort mindern, empfehlen viele Autoren die Regionalanästhesie gerade für ältere Patienten. Für große Eingriffe wird insbesondere die Kombination aus Allgemein- und Regionalanästhesie als besonders günstig angesehen. Auch zur Protektion des Immunsystems sowie zur Aufrechterhaltung der nutritiven Organperfusion im Splanchnikusgebiets ist die zentrale Nervenblockade ein wirkungsvolles Verfahren. ! Nach derzeitigem Kenntnisstand kann durch die Anwendung von zentralen Nervenblockaden die perioperative Mortalität insgesamt reduziert werden.
Vorteile der Regionalanästhesie sind dabei eine verringerte Inzidenz von tiefen Beinvenenthrombosen, Lungenembolien und respiratorischen Komplikationen. Die Frage des Outcomes kann allerdings nicht auf den Themenkomplex Allgemeinanästhesie vs. Regionalanästhesie (oder Kombination mit Regionalanästhesie) reduziert werden. Vielmehr sollte die Regionalanästhesie als ein wichtiger Faktor innerhalb eines multimodalen, auf optimale perioperative Therapie ausgerichteten Konzepts verstanden werden. Ein solches Konzept, dessen weitere Komponenten eine rasche Mobilisation, eine frühzeitige enterale Ernährung sowie eine patientenkontrollierte Analgesie sein können, kann die Folgen des chirurgischen Stresses mildern und die Erholung nach einem operativen Eingriff beschleunigen. Wichtig ist zudem, dass zwar die Regionalanästhesie mit postoperativer Fortführung im Rahmen der Schmerztherapie das Outcome verbessern kann, eine allein intraoperative Regionalanästhesie aber wohl keinen Vorteil bringt. Demnach sollte postoperativ die Regionalanästhesie je nach Umfang des Eingriffes zur Stressprotektion für einige Tage postoperativ weitergeführt werden.
45.4
Anästhetika und Anästhesiologisches Management
Alle intravenösen und volatilen Anästhetika interferieren mit dem Herz-Kreislaufsystem, sei es durch direkte vaskuläre oder kardiale Effekte oder aber durch Beeinflussung der neurohumoralen Kontrollmechanismen. An direkten Wirkungen sind vor allem negative Inotropie, Beeinträch-
461 45.5 · Konzepte zur Aufrechterhaltung der funktionellen Reserve
tigung der myokardialen Funktion und Vasodilatation zu nennen. Typische indirekte Wirkungen sind eine Verminderung der Sympathikusaktivität, Beeinflussung der vagalen Kontrolle der Herzfrequenz, vagale Stimulation und Unterdrückung von Barorezeptorreflexen. In Abhängigkeit der spezifischen pharmakologischen Effekte beeinflussen viele Anästhetika zudem Funktionen anderer Organe.
45.4.1 Intravenöse Anästhetika
treten einer Sympathikusaktivierung vor allem bei rascher Aufsättigung in der Einleitungsphase, die bei entsprechend angepasstem Vorgehen aber weitgehend vermieden werden kann. In Hinsicht auf die hohe Prävalenz kardiovaskulärer Erkrankungen im Senium ist wichtig, dass Inhalationsanästhetika kardioprotektiv wirksam sind (7 Kap. 3). Die minimalen alveolären Konzentrationen für alle volatilen Anästhetika sind bei alten Menschen um bis zu 30 % erniedrigt.
45.4.3 Lokalanästhetika Für ältere Patienten, und zwar insbesondere bei Vorliegen von kardialen Risikofaktoren, werden Anästhetika mit milden kardiovaskulären Nebenwirkungen und kurzer Wirkdauer bevorzugt. Dieses sind z. B. Etomidate und Midazolam zur Anästhesieeinleitung und Sedierung, Remifentanil als Opioid der Wahl für kurze Eingriffe. Bei der Anwendung von Benzodiazepinen sollte bedacht werden, dass bei Patienten mit Hirninfarkten in der Anamnese eine zumindest partielle passagere Rückkehr der initialen neurologischen Symptomatik zu erwarten ist. Bezüglich der Verwendung von Opioiden bestehen bei älteren Patienten keine Einschränkungen, allerdings muss die Dosis aufgrund einer deutlich verlängerten Eliminationshalbwertszeit reduziert werden. Propofol kann zur Hypnose verwendet werden, jedoch sollte man die kardiovaskulären Nebenwirkungen (vor allem negative Inotropie) berücksichtigen. Muskelrelaxanzien mit hepatischer oder renaler Elimination wirken bei älteren Patienten häufig länger. Obschon Atracurium und Cis-Atracurium prinzipiell aufgrund ihrer von den Organfunktionen unabhängigen Metabolisierung als vorteilhaft gelten, kann ihre Wirkdauer dennoch beim alten Menschen verlängert sein. Auch für Muskelrelaxanzien gilt, dass häufig reduzierte Dosen eine ausreichende Wirkung erzielen.
Beim alten Menschen nehmen im Vergleich zum jüngeren die Dauer und die Ausdehnung einer Spinalanästhesie bei gleicher Lokalanästhetikadosis zu. Daher muss die Dosis bei älteren Patienten reduziert werden. Ebenso nimmt auch die Zahl der anästhesierten Segmente bei periduraler Gabe eines Lokalanästhetikums zu. In der Praxis wird daher für die Periduralanästhesie die normale segmentale Dosis des Lokalanästhetikums von 1,5–2 ml (thorakal 1,0 ml) um 0,1 ml pro Lebensdekade jenseits von 40 Jahren reduziert. Wie erwähnt, nimmt auch die Erregbarkeit der E-Rezeptoren mit dem Alter ab. Daher ist bei einer Standardtestdosis mit Adrenalinzusatz (1 : 200000) bei versehentlicher intravasaler Katheterlage ein Anstieg der Herzfrequenz nicht unbedingt zu erwarten. Beim alten Patienten sollte man bei Gabe der Testdosis vielmehr auf den Blutdruck achten, da ein adrenalinassoziierter Blutdruckanstieg auch bei alten Patienten beobachtet wird und daher das sensitivere Kriterium für eine Katheterfehllage darstellt.
45.5
Konzepte zur Aufrechterhaltung der funktionellen Reserve
45.4.2 Inhalationsanästhetika
Zur perioperativen Aufrechterhaltung der funktionellen Reserve der Organsysteme sollten einige gut etablierte
Alte Patienten metabolisieren Medikamente generell langsamer und individuell stark unterschiedlich. Daher haben alle Anästhetika, die eine Metabolisierung zur Wirkungsbeendigung benötigen, eine im Einzelfall oft nur schwer vorhersehbare Wirkdauer. Insofern sind Inhalationsanästhetika günstige Anästhetika, weil sie zum großen Teil über die Lungen schnell wieder eliminiert werden. Gerade die neueren Inhalationsanästhetika Sevofluran und Desfluran, die wenig metabolisiert werden und aufgrund einer geringen Löslichkeit im Blut eine rasche Aufsättigung und eine schnelle Elimination ermöglichen, sind durch eine für alte Patienten sehr günstige Pharmakokinetik gekennzeichnet. Diese Aussage wird für Desfluran eingeschränkt durch das mögliche Auf-
Konzepte wie E-Blocker bei Patienten mit hohem kardialen Risiko, Stressprotektion, Sicherung der hämodynamischen Stabilität sowie Vermeidung von Hypothermie konsequent angewendet werden (. Abb. 45.2). Durch Medikation mit E-Blockern kann die perioperative Mortalität von Patienten mit hohem kardiovaskulärem Risiko gesenkt werden. Zur Stressprotektion eignet sich die Regionalanästhesie, die je nach Art des Eingriffs entweder als Monoanästhesie oder in Kombination mit einer Allgemeinanästhesie durchgeführt werden kann, wobei diese dann als postoperative Analgesie zumindest nach größeren Eingriffen für einige Tage weitergeführt wird. Hämodynamische Stabilität, insbesondere die Aufrechterhaltung des Herzzeitvolumens, ist ein wichtiger
45
462
Kapitel 45 · Anästhesie bei alten Patienten
. Abb. 45.2. Eckpunkte des anästhesiologischen Managements bei alten Patienten
45
Faktor zur Gewährleistung eines adäquaten systemischen Sauerstoffangebots. Neben einer ausgewogenen Volumentherapie ist ein wichtiger Faktor in diesem Zusammenhang die arterielle Hämoglobinkonzentration. Alte Patienten tolerieren extrem niedrige Hämoglobinwerte weniger gut als junge. Bezüglich der Transfusionsindikation lässt sich für alte Patienten zwar kein allgemeiner Transfusionstrigger festlegen, jedoch sollte bei relevanter koronarer Herzerkrankung eine arterielle Hämoglobinkonzentration von 9–10 g/dl nicht unterschritten werden. Bei größeren Eingriffen ist häufig ein erweitertes Monitoring erforderlich, um die Infusionstherapie und eventuell auch die supportive Gabe von Katecholaminen und anderen kreislaufwirksamen Medikamenten zu steuern. Ein solches Monitoring kann die arterielle Kanülierung, die intraoperative transösophageale Echokardiographie oder die Einschwemmung eines Pulmonaliskatheters einschließen. Im Hinblick auf die perioperative kognitive Dysfunktion oder auch die Gefahr eines Hirninfarkts gibt es kein wirklich etabliertes Konzept für das anästhesiologische Management, abgesehen von der Gewährleistung eines ausreichenden Blutdrucks und hämodynamischer Stabilität. Die Inzidenz der perioperativen kognitiven Dysfunktion steigt dabei mit dem Lebensalter des Patienten, ist aber von der Auswahl des Narkoseverfahrens – abgesehen von der unmittelbar postoperativen Phase – unabhängig. Ein Abfall der Körpertemperatur während eines operativen Eingriffs ist vor allem bei Allgemeinanästhesie zu erwarten. Hypothermie beeinträchtigt nicht nur die Gerinnung und prädisponiert daher zu Blutungskomplikationen, sondern erhöht auch das Risiko einer perioperativen Myokardischämie. Ein Temperaturmonitoring während des Eingriffs sowie eine aktive Erwärmung bei Bedarf sind daher bei älteren Patienten unabdingbar.
Letztendlich ist auch eine zielgerichtete postoperative anästhesiologische Betreuung bei alten Patienten von besonderer Wichtigkeit. Dies lässt sich daran verdeutlichen, dass nicht nur die perioperative Komplikationsrate, sondern auch die Krankenhausmortalität insgesamt sowie auch die Spätmortalität bei alten Patienten erhöht sind. Ein Kernbereich der postoperativen anästhesiologischen Betreuung ist die Schmerztherapie, die intraoperativ begonnen wird und entweder anhand engmaschig kontrollierter Therapieschemata mittels Nicht-Opiod-Analgetika und Opioiden oder aber patientenkontrolliert erfolgt. Die patientenkontrollierte Analgesie wiederum kann über einen für die Regionalanästhesie angelegten Katheter (z. B. epidural) mit Lokalanästhetika und Opioiden durchgeführt werden oder aber als intravenöse patientenkontrollierte Analgesie mit Opioiden erfolgen. Tipps
Anästhesiologisches Management des alten Patienten – so machen wir es: 5 Bevorzugung einer Kombination aus Regionalanästhesie und Allgemeinanästhesie bei den meisten großen nichtkardiochirurgischen Eingriffen 5 Bei Allgemeinanästhesie: Anästhetika mit milden kardiovaskulären Nebenwirkungen und kurzer Wirkdauer in angepassten Dosen 5 Bei Regionalanästhesie: Dosisreduktion der verwendeten Lokalanästhetika 5 Bei Indikation erweitertes Monitoring wie Blasenkatheter, arterielle Blutdruckmessung, transösophageale Echokardiographie 6
463 Literatur
5 Aufrechterhaltung der hämodynamischen Stabilität, Gewährleistung eines adäquaten systemischen Sauerstoffangebotes (DO2) 5 Monitoring der Körpertemperatur, bei Bedarf aktive Erwärmung (z. B. Bair Hugger) 5 Postoperativ konsequente Schmerztherapie mit Fortführung der Regionalanästhesie als patientenkontrollierte Analgesie in Kombination mit Nicht-Opioid-Analgetika; alternativ Analgesie mit Opioiden (evtl. patientenkontrolliert) in Kombination mit Nicht-Opioid-Analgetika
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45
46 Anästhesiologisches Stand-by Sinikka Münte, Hans-Anton Adams 46.1 Definitionen, Patienten und Eingriffe –466 46.2 Rechtliche und organisatorische Grundlagen –466 46.3 Allgemeine Vorbereitungen und Überwachung –467 46.4 Anästhetika –467 46.4.1 46.4.2 46.4.3 46.4.4 46.5
Allgemeines –467 Hypnotika und Sedativa –468 Opioide –469 Nicht-Opioid-Analgetika –469 Methoden und Risiken –470
Literatur –470
466
46.1
46
Kapitel 46 · Anästhesiologisches Stand-by
Definitionen, Patienten und Eingriffe
Das anästhesiologische »Stand-by« wird von der Deutschen Gesellschaft für Anästhesiologie und Intensivmedizin und dem Berufsverband Deutscher Anästhesisten wie folgt definiert: »Unter ‚Stand-by-Funktion‘ versteht man die Überwachung der vitalen Funktionen sowie im Falle von Störungen ihre Aufrechterhaltung und Wiederherstellung während eines diagnostischen oder therapeutischen Eingriffs durch einen Anästhesisten, ohne dass dieser zugleich ein Betäubungsverfahren durchführt.« Nach dieser Definition bezeichnet der Begriff Standby die ausschließliche Überwachung der Vitalfunktionen durch den Anästhesisten. Falls während eines Stand-by der Einsatz von Analgetika oder Sedativa erforderlich wird, was sehr häufig geschieht, wird das Stand-by zur Analgosedierung erweitert. Die Analgosedierung ist ein Anästhesieverfahren im weiteren Sinne, bei dem der Patient schmerzfrei und schlafend, aber möglichst aufweckbar und damit an der Grenze zur Allgemeinanästhesie gehalten wird. Im angloamerikanischen Sprachgebrauch ist für dieses erweiterte Stand-by der Begriff Monitored Anesthesia Care etabliert, für den sich als deutsche Übersetzung Anästhesiologische Betreuung anbietet. Das traditionelle Spektrum des Stand-by war im Wesentlichen auf in Lokalanästhesie durchgeführte Eingriffe wie Kataraktoperationen und bestimmte diagnostische Eingriffe wie Endoskopien des Bronchial- und MagenDarm-Trakts begrenzt. Dem Anästhesisten fiel lediglich die Überwachung der Vitalfunktionen zu, während eine evtl. Lokalanästhesie meist vom Operateur durchgeführt wurde. Das Spektrum der anästhesiologischen Betreuung hat sich jedoch in den letzten Jahren durch Fortschritte der Diagnostik (Positronen-Emissions-Tomographie oder Kernspin-Tomographie nichtkooperativer Patienten usw.) und minimal-invasiver therapeutischer Verfahren (interventionelle Radiologie mit Stent-Einlagen usw.) bedeutend erweitert. In der Übersicht sind wesentliche diagnostische und therapeutische Maßnahmen aufgelistet, die eine anästhesiologische Überwachung oder Betreuung erfordern. Insgesamt bietet die anästhesiologische Betreuung dem Patienten bei längeren und schmerzhaften Prozeduren mehr Komfort als die alleinige Lokalanästhesie, während gleichzeitig manche Nachteile der Allgemeinanästhesie wie lange Ein- und Ausleitungszeiten vermieden und die Kosten im Vergleich zur Allgemeinanästhesie gesenkt werden können.
Darüber hinaus erfordern einige Verfahren die absolute Ruhigstellung des Patienten, die neben der Überwachung der Vitalfunktionen damit ebenfalls zum Aufgabenbereich des Anästhesisten gehört. Chirurgische und diagnostische Eingriffe, die unter Stand-by oder anästhesiologischer Betreuung durchgeführt werden können 5 5 5 5 5 I5
5
5 5 5 5 5 5 5
46.2
Endoskopie des Gastrointestinaltrakts Bronchoskopie Extrakorporale Stoßwellen-Lithotrypsie (ESWL) Transvaginale IVF-Prozeduren (IVF = »in-vitro«Fertilisierung) Radiologische und neuroradiologische Untersuchungen bei Kindern Interventionelle Radiologie (Angiographien von Extremitäten- und Abdomengefäßen, Stents in der thorakalen und abdominalen Aorta) Interventionelle Neuroradiologie (Angiographie von Hirngefäßen, Embolisationen von intrakraniellen arteriovenösen Malformationen, A. carotisund A. vertebralis-Stents) Schrittmacher-Implantation Anlage zentralvenöser Katheter Dentale Chirurgie und Prothetik Kataraktchirurgie und andere ophthalmologische Eingriffe Oberflächenchirurgie, Varizen-Operation Arthroskopie, Karpaltunnel-Operation, kleinere orthopädische Eingriffe Zirkumzision, Herniotomie, Vasektomie, Orchidopexie
Rechtliche und organisatorische Grundlagen
Grundsätzlich ist jeder Arzt, der diagnostische oder therapeutische Maßnahmen vornimmt, auch für die Überwachung dieser Maßnahmen und die Beherrschung typischer Komplikationen verantwortlich. Dies gilt selbstverständlich auch für vom Operateur vorgenommene Lokalanästhesien. Mit Anforderung des Stand-by durch den Operateur übernimmt der Anästhesist die volle rechtliche Verantwortung für diese Funktion. Die Zusammenarbeit zwischen Operateur und Anästhesist beruht auch in diesem Fall auf den grundlegenden Rechtsbegriffen »Strikte Arbeitsteilung«, »Methodenfreiheit« und »Vertrauensgrundsatz«.
467 46.4 · Anästhetika
Strikte Arbeitsteilung und Methodenfreiheit erlauben keine Eingriffe des Operateurs in den Verantwortungsbereich des Anästhesisten. Es obliegt daher dem Anästhesisten, welche vorbereitenden diagnostischen Maßnahmen er für erforderlich hält, welche medikamentöse Prämedikation er verordnet, wie er die intraoperative Über wachung des Patienten gestaltet und ob er eine intraoperative Analgosedierung vornimmt. Darüber hinaus schließt die Übertragung der Stand-by-Funktion im Einzelfall auch ein abweichendes Vorgehen nicht aus. So hat der Anästhesist das Recht und die Pflicht, bei Vorliegen triftiger Gründe die Durchführung der Operation in Allgemeinanästhesie zu verlangen. Im Rahmen des Vertrauensgrundsatzes gehört es zu einem kollegialen Miteinander, die grundsätzlichen Verfahrensregeln für den Normalfall im Vorhinein festzulegen und evtl. organisatorische Probleme im Sinn des Patienteninteresses gemeinsam zu lösen.
46.3
Allgemeine Vorbereitungen und Überwachung
chende respiratorische (Obstruktion der oberen Luftwege, Apnoe) und kardiozirkulatorische (Hypotonie, Rhythmusstörung) Komplikationen entwickeln. Gegen diese Gefahren ist die ungeteilte Aufmerksamkeit des Anästhesisten der beste Schutz. So kann er bei einer Verlegung der oberen Atemwege z. B. vorausschauend reagieren, während die Pulsoxymetrie erst die bereits eingetretene arterielle Hypoxämie erkennt. Dies bedeutet auch, dass sich der überwachende Anästhesist in einem fortgeschritteneren Ausbildungsstand befinden soll, um sich anbahnende Komplikationen rechtzeitig zu erkennen. Zur Patientensicherheit gehört auch, dass alle Materialien zur Behandlung von Komplikationen unmittelbar verfügbar sind. Dazu zählen: 4 Vollständiges Intubationsbesteck 4 Absaugung 4 Beatmungsbeutel und Sauerstoffquelle 4 Defibrillator 4 einschlägige Notfallmedikamente
46.4 Zur Übernahme der Stand-by-Funktion und damit der Verantwortung für die Überwachung und Aufrechterhaltung der Vitalfunktionen des gemeinsamen Patienten sind bestimmte Voraussetzungen unabdingbar, von denen nur im Ausnahmefall abgewichen werden soll: 4 Genaue Kenntnis des geplanten Eingriffs 4 Untersuchung, Aufklärung und Einwilligung des Patienten, in der Regel am Vortag 4 Veranlassung evtl. erforderlicher diagnostischer Maßnahmen, 4 ggf. Verordnung einer Prämedikation 4 Einhaltung des Nüchternheitgebots wie vor einer Allgemeinanästhesie Bei der apparativen Überwachung der Vitalfunktionen gelten die gleichen Standards wie bei einer Allgemein- oder Regionalanästhesie. Hierzu zählen: 4 Kontinuierliche EKG-Ableitung 4 regelmäßige, möglichst oszillometrische BlutdruckMessung 4 Bestimmung der arteriellen Sauerstoffsättigung mittels Pulsoxymetrie Die individuelle Reaktion eines Patienten auf die gleiche Dosis von Analgetika oder Sedativa kann sehr variieren. Daher können Patienten trotz sorgfältiger Titration von Medikamenten zu »tief« sediert werden und entspre-
Anästhetika
46.4.1 Allgemeines
Substanzgruppen und Medikamente zur Analgosedierung während eines anästhesiologischen Stand-by 5 Hypnotika und Sedativa: Propofol, Methohexital, Midazolam 5 Esketamin 5 Opioid-Analgetika: Remifentanil, Piritramid, Fentanyl, Alfentanil, Sufentanil 5 Nicht-Opioid-Analgetika: Metamizol, Parecoxib, Paracetamol
Oft werden Medikamente aus zwei oder mehr Substanzgruppen kombiniert. Bei der Auswahl der Medikamente ist neben der Dauer des Eingriffs zu beachten, ob der Patient ambulant oder stationär behandelt wird. Bei ambulanten Eingriffen soll der Patient nach kurzer Erholungsfrist (ca. 2 h) in Begleitung entlassungsfähig sein. Deshalb sind bei ambulanten Eingriffen Medikamente mit kurzer Wirkdauer und guter Steuerbarkeit zu bevorzugen, die sich mittlerweile allerdings auch im stationären Bereich weitgehend durchgesetzt haben.
46
468
Kapitel 46 · Anästhesiologisches Stand-by
46.4.2 Hypnotika und Sedativa
46
Hypnotika und Sedativa werden häufig zur Supplementierung einer Lokalanästhesie benutzt, so in der Oralchirurgie, bei Mamma-Biopsien, der Anlage eines kraniellen Bohrlochs und vor dem Setzen eines retro- oder peribulbären Blocks. Alle Substanzen können gravierende respiratorische und hämodynamische Komplikationen hervorrufen. Deshalb ist persönliche Erfahrung und vorsichtige Titration bis zum gewünschten Effekt wichtiger als die Auswahl zwischen den einzelnen Substanzen.
Propofol Ein lipidlösliches Hypnotikum ohne analgetische Potenz, das den GABAA-Rezeptor (GABA = J-aminobutyric acid, J-Aminobuttersäure) des zentralen Nervensystems (ZNS) durch Verstärkung der GABA-Wirkung aktiviert. Der dosisabhängig sedierende oder hypnotische Effekt setzt etwa 30 s nach Injektion ein, ist nach etwa 3 min voll ausgeprägt und hält nach einem Bolus 5–10 min an. Von allen Hypnotika hat Propofol die höchste Plasma-Clearance und ist damit besonders gut steuerbar. Propofol senkt den intraokularen Druck und hat eine gewisse antiemetische Potenz. Wesentliche Nebenwirkungen sind eine Sympathikolyse durch verminderte Noradrenalinfreisetzung mit Blutdruckabfall und Bradykardie sowie eine Atemdepression. Der von mehr als der Hälfte der Patienten beklagte Injektionsschmerz kann durch eine Lösung, die als Lösungsvermittler lang- und mittelkettige Triglyzeride statt Sojabohnenöl enthält, vermindert werden. Bei niedrig gewählter Dosierung zur Analgosedierung sind die kardiorespiratorischen Nebenwirkungen gering. Die Kombination von Propofol mit einer geringen Dosis Midazolam (bei 75 kg KG etwa 2 mg i.v.) soll einen zusätzlichen sedierenden, amnestischen und anxiolytischen Effekt haben, ohne die Erholung zu beeinträchtigen. Niedrig dosierte Propofol-Infusionen werden insbesondere für längere Eingriffe wie Herniotomien, Endoskopien des Magen-Darm-Trakts, Herzkatheter-Untersuchungen und transösophageale Echokardiographien eingesetzt. Eine patientenkontrollierte Sedierung mit Propofol (Bolusgröße 0,5 mg/kg KG, Sperrzeit 1 min) kann bei sehr ängstlichen Patienten während Zahnbehandlung oder Koloskopie (Bolus 0,3 mg/kg, keine Sperrzeit) vorteilhaft sein.
Methohexital Ein Barbitursäure-Derivat, das ebenfalls den GABAA-Rezeptor-Komplex des ZNS aktiviert. Nach intravenöser Bolusinjektion setzt die Wirkung innerhalb 1–1,5 min ein
und hält etwa 5–7 min an. Die ausgezeichnete Sedierung und gute Erholung ist durchaus mit Propofol vergleichbar. Nachteile sind ein deutlicher Injektionsschmerz sowie die Auslösung von Schluckauf, Übelkeit und Erbrechen (in Deutschland nicht mehr erhältlich).
Midazolam Ein wasserlösliches Benzodiazepin mit den Haupteffekten Anxiolyse, Amnesie und Sedierung. Die Substanz verstärkt durch Bindung an einer spezifischen Stelle des GABAA-Rezeptor-Komplexes des ZNS die GABA-Wirkung. Auf dieser indirekten Wirkung beruht der »ceiling-effect«, wonach ein bestimmter Effekt auch durch Dosissteigerung nicht weiter verstärkt werden kann. Die Wirkung einer i.v.-Injektion ist erst nach etwa 5 min voll ausgeprägt. Diese Hysterese, also die zeitliche Verzögerung zwischen Plasmakonzentration und Effekt, erfordert Geduld bei der Applikation, um Überdosierungen zu vermeiden. Die Wirkung hält ca. 30–60 min an. ! Die individuelle Empfindlichkeit gegenüber Midazolam ist sehr verschieden; insbesondere bei älteren Patienten in schlechtem Allgemeinzustand können schon sehr geringe Dosen eine schwerwiegende Atemdepression verursachen.
Insgesamt ist die Steuerbarkeit der Substanz durch den ceiling-effect und Hysterese begrenzt. Eine Dauerinfusion ist vor allem in der intensivmedizinischen Analgosedierung üblich. Zur Prämedikation erhalten Erwachsene etwa 7,5 mg als Tablette. Bei Kindern kann Anxiolyse und Sedierung z. B. vor Operationen oder Zahnarztbehandlung mit Midazolam oral (etwa 0,4 mg/kg KG), rektal (etwa 0,5 mg/kg KG) oder auch nasal (etwa 0,2 mg/kg KG) erreicht werden. ! Die Wirkung des oral applizierten Midazolams ist wegen des hepatischen First-pass-Effekts sehr variabel.
S(+)-Ketamin Ein N-Methyl-D-Aspartat(NMDA)-Rezeptor-Antagonist an der Phenzyklidin-Bindungsstelle des NMDA-Rezeptors im ZNS, der seine analgetische Wirkung vorwiegend über diesen Rezeptor und damit ganz überwiegend nicht über Opiat-Rezeptoren entfaltet. Neben dem analgetischen Effekt hat Ketamin schwächere hypnotische Wirkungen mit fehlender Ansprechbarkeit bei unvollständigem Bewusstseinsverlust und deutlichen halluzinogenen Begleiterscheinungen. Diese »dissoziative Anästhesie« macht in der Regel die Kombination mit einem Sedativum erforderlich. Zusätzlich hat Ketamin deutliche sympathomimetische Wirkun-
469 46.4 · Anästhetika
gen, wobei die Kreislaufeffekte (Blutdruck- und Frequenzanstieg) bei geringen analgetischen Dosen kaum ins Gewicht fallen. Der wesentliche Vorteil von S(+)-Ketamin gegenüber dem Ketamin-Razemat ist die deutlich verkürzte Aufwachphase, die gerade bei ambulanten Eingriffen Vorteile bietet. Nach i.v.-Gabe einer niedrigen analgetischen Dosis setzt die Wirkung nach etwa 30 s ein und hält 10–15 min an; die Patienten bleiben in der Regel ansprechbar. Im Vergleich mit modernen Opioiden wie Remifentanil stehen der guten analgetischen Wirkung und weitgehend fehlenden Atemdepression des S(+)-Ketamin dessen prolongiertere Aufwachphase und die Traumreaktionen gegenüber. Zur intravenösen Analgesie wird in der Regel ein Einzelbolus verabreicht und bei Bedarf die halbe Initialdosis nachinjiziert. Bei niedrigen Dosen ist die zusätzliche Sedierung mit Midazolam nicht zwingend erforderlich. Zur längerfristigen Analgosedierung in Spontanatmung wird S(+)-Ketamin als Dauerinfusion eingesetzt. Im Einzelfall wird zur zusätzlichen Sedierung Propofol oder Midazolam mit niedriger Dosierung infundiert; bei kürzeren Eingriffen können beide Substanzen auch fraktioniert gegeben werden.
KG/min beschrieben, wobei die Patienten durchgehend ansprechbar oder doch aufweckbar blieben. Zur Analgosedierung in Spontanatmung nach Vorinjektion von 2 mg Midazolam und in Kombination mit Propofol(35 Pg/kg KG/min) wurden Infusionsdosen von 0,075–1,5 Pg/kg KG/min verwendet. Die Kombination von Remifentanil mit Midazolam (2 mg i.v.) führte zu weniger Übelkeit bei besserer Sedierung und Anxiolyse.
Piritramid Dieses Opioid-Analgetikum wird in Deutschland ebenfalls häufig zur Analgosedierung eingesetzt. Der Substanz wird eine stärkere Sedierung, bessere Herz-Kreislauf-Verträglichkeit und geringere Inzidenz an Übelkeit und Erbrechen als anderen Opioiden zugeschrieben. Für eine suffiziente Analgesie genügen meist i.v.-Dosen von 0,05–0,1 mg/ kg KG, die in kleinen Boli titriert werden. Die Wirkung tritt nach 5–10 min ein und hält 4–6 h an. Wegen der langen Wirkdauer ist Piritramid weniger zur Analgosedierung bei kurzen ambulanten Eingriffen, sondern mehr zur postoperativen Schmerztherapie geeignet.
Fentanyl 46.4.3 Opioide Remifentanil Dieses Opioid wird wegen seiner guten Steuerbarkeit zunehmend zur Analgosedierung im Rahmen der anästhesiologischen Betreuung benutzt. Wirkort ist der P-Opioid-Rezeptor vor allem im Hirnstamm, der insbesondere Analgesie und Atemdepression vermittelt. Die Substanz hat eine Anschlagzeit von 30 s und erreicht die maximale analgetische Wirkung nach 1–2 min. Remifentanil hat mit 5 min die kürzeste Wirkdauer aller Opioide; sie ist unabhängig von der Infusionszeit, was bei ambulanten Eingriffen einen wesentlichen Vorteil darstellt. Der hohen analgetischen Potenz mit gewissen sedierenden Effekten steht die deutliche Atemdepression gegenüber. Da der analgetische Effekt von Remifentanil nach Beendigung der Zufuhr sehr schnell abklingt, ist bei entsprechenden Eingriffen der rechtzeitige Übergang auf eine postoperative Schmerztherapie mit Lokalanästhesie oder langwirksamen Opioiden erforderlich. Remifentanil wird in der Regel als Infusion verabreicht und kann mit Propofol oder Midazolam kombiniert werden. Zur Analgesie in Spontanatmung ohne Einsatz von Sedativa oder Hypnotika empfiehlt der Hersteller Infusionsdosen von 0,025–0,1 Pg/kg KG/min. In der Literatur wurden auch deutlich höhere Dosen von 0,25–0,3 Pg/kg
Ein hochpotenter, reiner P-Rezeptor-Agonist mit starker analgetischer und atemdepressiver Wirkung. Wegen der guten Fettlöslichkeit passiert die Substanz rasch die BlutHirn-Schranke; die Wirkung setzt innerhalb 1 min ein, ist nach 5 min voll ausgeprägt und hält etwa 30 min an. Obwohl die Zulassung der Substanz auf die Anästhesie beschränkt ist, wird sie in geringen i.v.-Dosen von 1–2 Pg/ kg KG gelegentlich auch zur Analgosedierung in Spontanatmung verwendet. Insbesondere bei Patienten in reduziertem Allgemeinzustand kann es jedoch zu einer ausgeprägten Atemdepression kommen, die eine kontrollierte Beatmung erforderlich machen kann. Gleiches gilt für Alfentanil, das dem Fentanyl chemisch verwandt ist. Die kürzere Wirkdauer von etwa 15 min ist vorteilhaft für ambulante Eingriffe.
46.4.4 Nicht-Opioid-Analgetika Die analgetische Potenz der Nicht-Opioid-Analgetika ist insgesamt begrenzt, in Kombination mit einer Lokalanästhesie sind sie aber durchaus zu verwenden. Darüber hinaus können ihre antiphlogistischen und antipyretischen Eigenschaften gezielt genutzt werden. Für die intravenöse Injektion stehen folgende Substanzen zur Verfügung: Metamizol ist besonders verbreitet und verfügt über ausgeprägte analgetische und antipyretische Eigenschaften.
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46
Kapitel 46 · Anästhesiologisches Stand-by
Die Wirkung setzt innerhalb weniger Minuten ein und hält mehrere Stunden an. Bei schneller i.v.-Injektion kann es zu einem starken Blutdruck-Abfall kommen. Parecoxib ist ein parenteraler COX-2-Hemmer. Die Wirkung der aktiven Form Valdecoxib tritt bereits nach ca. 10 min ein und hält 12–24 h an. Paracetamol hat die geringste analgetische Potenz, ist jedoch ohne erhebliche Nebenwirkungen, solange die Grenzdosierungen (1 g i.v. alle 6 h) nicht überschritten werden.
46.5
Methoden und Risiken
Typische Verfahren der Lokalanästhesie, bei denen häufiger eine anästhesiologische Betreuung erfolgt, sind: 4 Oberflächenanästhesie, z. B. Kornea-Tropfanästhesie 4 Infiltrationsanästhesie einschließlich Feldblock 4 Periphere Leitungsanästhesie, z. B. Hand- oder Fußblock 4 Blockaden des Plexus axillaris, Peniswurzel-Blockade 4 Retro- oder peribulbäre Blockade Der Einsatz von Lokalanästhetika weist typische Risiken auf. Ursachen sind toxische Reaktionen durch versehentliche intravasale Injektion oder Überdosierung sowie seltene allergische Reaktionen, die bei den amidartigen Substanzen nahezu unbekannt sind. Typische Nebenwirkungen der Lokalanästhetika sind Störungen der kardialen Erregungsausbreitung mit Bradykardie, AV-Block und Asystolie sowie negativer Inotropie, direkte Vasodilatation und exzitatorische Wirkungen auf das ZNS mit Unruhe und Krämpfen sowie letztlich zentralnervöser Depression mit Atemstillstand. Das den Lokalanästhetika-Lösungen häufig zugesetzte Adrenalin stimuliert dagegen das Herz und kann zu Tachykardie und Kammerflimmern sowie zentraler Erregung mit Unruhe und Angstgefühlen führen. Auch die Ausdehnung der Lokalanästhesie kann je nach Injektionsort zusätzliche Komplikationen verursachen, z. B. eine ZNS-Beteiligung mit Krämpfen oder zentraler Atem- und Kreislaufdepression bei Retrobulbär-Anästhesie zur Katarakt-Operation. Die zusätzliche Gabe von Analgetika und Sedativa während einer Lokalanästhesie ist mit einer erhöhten Komplikationsrate verbunden. Das Risiko für lebensbedrohliche Zwischenfälle ist besonders hoch, wenn die Analgosedierung durch den Operateur erfolgt. Bei inadäquater technischer und klinischer Überwachung bleiben Obstruk-
tion der Atemwege, Hypoxie und Rhythmusstörungen unentdeckt. Neben den bekannten respiratorischen und zirkulatorischen Risiken bei anästhesiologischer Betreuung ist noch auf eine andere Komplikation hinzuweisen, die zwar selten eintritt, dann aber potenziell lebensbedrohlich ist: Bei der häufig geübten Sauerstoff-Insufflation unter die Abdecktücher kann es bei Verwendung eines Elektrokauters im Kopf- und Halsbereich zur Entflammung kommen. Daher ist vor dem Einsatz des Elektrokauters die Sauerstoffzufuhr rechtzeitig zu unterbrechen. ! Ein sicheres anästhesiologisches Stand-by erfordert in aller Regel dieselbe Vorbereitung des Patienten wie für eine Narkose. Die Überwachung sowie die etwaige Erweiterung zur Analgosedierung bedürfen ebenso wie bei einer Narkose der uneingeschränkten Aufmerksamkeit eines erfahrenen Anästhesisten.
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47 Sedierung und Narkose bei diagnostischen Maßnahmen Joachim Stelzner 47.1 Gründe für Analgosedierungsverfahren –472 47.2 Sedierungsstadien –472 47.3 Personelle Voraussetzungen –473 47.3.1 Anesthesia outside the operating room –473
47.4 Apparative Voraussetzungen –473 47.5 Magnetresonanztomographie –473 47.6 Patientenvorbereitung –474 47.6.1 47.6.2 47.6.3 47.6.4
Nüchternheit –474 Wahl des Untersuchungszeitpunktes –474 Besonderheiten bei Patienten zur Magnetresonanztomographie (MRT) –474 Prämedikation –474
47.7 Sedierung versus Narkose –475 47.8 Allgemeine Aspekte zur Durchführung von Sedierungen –475 47.8.1 Applikationswege –475
47.9 Medikamentenauswahl –475 Literatur –477
472
Kapitel 47 · Sedierung und Narkose bei diagnostischen Maßnahmen
))
47
Der medizinische Fortschritt beschert uns eine immer größer werdende Vielfalt an diagnostischen Methoden. Bei vielen von ihnen kann aus unterschiedlichen Gründen eine Sedierung, Analgosedierung oder auch eine Narkose er forderlich sein. Einen Überblick über das Spektrum der in der klinischen Routine relevanten Verfahren gibt . Tab. 47.1.
47.1
Gründe für Analgosedierungsver fahren
Alle Untersuchungsmethoden erfordern zur Erzielung eines optimalen Ergebnisses einen kooperativen Patienten, der bereit ist, die mit dem jeweiligen Verfahren verbundenen Unannehmlichkeiten zu ertragen. Handelt es sich um schmerzhafte Untersuchungen oder um Patienten, die aufgrund ihrer physischen, psychischen oder intellektuellen Konstitution nicht in der Lage sind, bestimmte Untersuchungen über sich ergehen zu lassen, ist häufig eine Sedierung, Analgosedierung oder auch eine Narkose erforderlich. Als Beispiel sei hier der klaustrophobische Patient erwähnt, der sich einer kernspintomographischen Untersuchung unterziehen muss. Die Patientengruppe, die jedoch
. Tabelle 47.1. Übersicht über diagnostische Maßnahmen Verfahren
Beispiele
Bildgebende Verfahren
5 Sonographie 5 Computertomographie (CT) 5 Szintigraphie 5 Magnetresonanztomographie (MRT) 5 Positronenemissionstomographie (PET)
Endoskopien
5 Laryngo-, Tracheo-, Bronchoskopie 5 Gastroskopie, Koloskopie, Zystoskopie
Katheteruntersuchungen
5 Angiographie 5 Herzkatheteruntersuchung
Elektrophysiologische Untersuchungen
5 Elektroenzephalogramm (EEG) 5 Akustisch oder somatisch evozierte Potenziale (AEP, SEP) 5 Brainstem evoked resonance audiometry (BERA)
Diagnostische Punktionen
5 Knochenmark- und Lumbalpunktion 5 Tumorfeinnadelbiopsien
am häufigsten eines Sedierungs- oder Narkoseverfahrens zur Durchführung diagnostischer Maßnahmen bedarf, sind Kinder. Insbesondere kleine Kinder können die Notwendigkeit einer Untersuchung nicht verstehen und lehnen bzw. wehren sie deshalb ab. ! Werden schmerzhafte Verfahren ohne eine entsprechende Analgosedierung oder Narkose durchgeführt, können schwere psychische Traumen bei Kindern und auch bei ihren Eltern die Folge sein.
Diagnostische Maßnahmen müssen in einem planbaren zeitlichen Rahmen ablaufen. Vor allem beim Betrieb diagnostischer Großanlagen wie Kernspin- und Computertomographen ist eine wirtschaftliche Geräteauslastung zwingend erforderlich. Die einzelnen Untersuchungen müssen zügig hintereinander stattfinden. Patienten, die nicht in der Lage sind, die erforderliche Zeit ruhig zu liegen, führen zu einer enormen Verlängerung der Untersuchungszeiten. Eine effektive Geräteauslastung ist somit nicht möglich. Auch entstehen dadurch nicht akzeptable Wartezeiten für nachfolgende Patienten. ! Da kein Sedierungs- oder Narkosever fahren frei von Risiken ist, muss jeweils eine Abwägung zwischen dem Nutzen der geplanten Untersuchung und dem Risiko, das mit dem Sedierungsverfahren verbunden ist, stattfinden. Hierüber müssen sich die beteiligten Fachdisziplinen mit dem Patienten beziehungsweise den Eltern verständigen.
47.2
Sedierungsstadien
Die American Academy of Pediatrics führte 1992 eine Stadieneinteilung der medikamentösen Bewusstseinsausschaltung ein. Die Unterteilung in Conscious Sedation (leichte Sedierung), Deep Sedation (tiefe Sedierung) und General Anesthesia (Allgemeinanästhesie) wurden auch im deutschen Schrifttum übernommen. Leichte Sedierung. Stadium der medikamentös induzierten Bewusstseinsdämpfung, bei dem die Schutzreflexe unbeeinträchtigt sind, die Atemwegkontrolle voll erhaltenen bleibt und der Patient jederzeit auf physische Reize oder verbale Aufforderungen reagiert. Tiefe Sedierung. In diesem Stadium ist der Patient nicht
mehr leicht erweckbar. Die Schutzreflexe können partiell oder komplett erloschen sein, ebenso die Atemwegkontrolle. Der Patient kann nicht mehr gezielt auf physische Reize oder verbale Aufforderungen reagieren.
473 47.5 · Magnetresonanztomographie
Anästhesie. Der Patient ist bewusstlos. Die Schutzreflexe
und die Atemwegkontrolle sind in diesem Stadium komplett erloschen. ! Die Übergänge zwischen den Stadien sind fließend. In der klinischen Situation sind sie nicht exakt voneinander zu trennen.
Unabhängig von der Medikamentenauswahl und der Applikationsart ist es jederzeit möglich, dass ein Patient von einem flacheren Sedationsstadium in ein tieferes gleiten kann oder umgekehrt. Eine lückenlose Überwachung ist deshalb erforderlich.
47.3
Personelle Voraussetzungen
Auch eine leichte Sedierung bei Patienten der ASA-Klassen I und II sollte von einem Arzt durchgeführt werden, der die Besonderheiten und die Pharmakologie der verwendeten Medikamente und ihrer Antagonisten kennt, und der über Erfahrungen im BLS (basic life support) verfügt. Die Sedierung und die Überwachung des Patienten kann nicht vom Untersucher selbst geleistet werden. Es muss hierfür eine zweite Person zur Verfügung stehen, die erfahren ist in der Beurteilung der Vitalfunktionen und deren ausschließliche Aufgabe es ist, den Patienten zu überwachen. Rechtlich verbindliche Vorschriften hierüber gibt es nicht. Sedierungen bei Patienten mit schweren Allgemeinerkrankungen sowie alle tiefen Sedierungen und Narkosen sollten selbstverständlich einem erfahrenen Anästhesisten vorbehalten bleiben.
47.3.1 Anesthesia outside the operating
room Da die diagnostischen Maßnahmen in aller Regel außerhalb des zentralen Operationstraktes stattfinden, ist versierte Hilfe in aller Regel schwierig verfügbar. Sicherheitsaspekte müssen deshalb in besonderer Weise Berücksichtigung finden. An die Qualifikation der eingesetzten Ärzte müssen hohe Anforderungen gestellt werden, und es muss durch ein funktionierendes Alarmsystem sichergestellt sein, dass versierte Hilfe schnell verfügbar ist. Vor jeder Sedierung ist der Arbeitsplatz auf Vollständigkeit und Funktionstüchtigkeit der verschiedenen Geräte zu überprüfen. Hierauf ist besondere Sorgfalt zu legen, da die Arbeitsplätze in den abgelegenen Bereichen oft nicht regelmäßig benutzt werden, und daher Routinewartungen häufig nicht ausreichend durchgeführt werden.
47.4
Apparative Voraussetzungen
Leichte Sedierung. Zur Überwachung leicht sedierter Patienten ist die Pulsoxymetrie das Verfahren der Wahl. Eine serielle Blutdruckmessung sollte durchgeführt werden. Der Arbeitsplatz muss so ausgerüstet sein, dass alle für eine Reanimation erforderlichen Dinge vorhanden sind: Beatmungsmöglichkeit mit hochkonzentriertem Sauerstoff, Intubationsutensilien, Absaugung, Notfallmedikamente, Infusionslösungen, verschiedene Venenkatheter usw. Auch ein Defibrillator muss erreichbar sein. Tiefe Sedierung und Narkose. Bei der Durchführung von tiefen Sedierungen sind die gleichen Anforderungen an den Arbeitsplatz zu stellen wie bei einer Allgemeinanästhesie. Das Standardmonitoring umfasst die Pulsoxymetrie, die EKGund serielle Blutdrucküberwachung sowie die Messung des endexspiratorischen CO2-Partialdrucks. Auch bei nicht intubierten, spontanatmenden Patienten lässt sich mit einem Nebenstromkapnometer über eine im Atemstrom fixierte Sonde die CO2-Partialdruckkurve registrieren. Es muss beachtet werden, dass die so gemessenen Werte erhebliche Differenzen zum arteriellen CO2-Partialdruck aufweisen können. Jedoch können die dynamischen Veränderungen wichtige Hinweise beispielsweise auf eine zunehmende Atemwegsverlegung geben. Mit dieser Methode ist auch eine sichere Registrierung der Atemfrequenz möglich. Zur Dokumentation einer stabilen Atmung müssen arterielle beziehungsweise kapillare Blutgasanalysen angefertigt werden. Speziell bei lange dauernden Untersuchungen sollte zumindest punktuell eine Messung der Körpertemperatur erfolgen. Erweiterte Überwachungsmethoden wie die intraarterielle direkte Blutdruckmessung, die Registrierung der zentralen oder pulmonalarteriellen Druckkurven bleiben speziellen Indikationen vorbehalten, sollten prinzipiell aber verfügbar sein.
47.5
Magnetresonanztomographie
Spezielle Anforderungen an die apparative Ausstattung
werden im Bereich der Magnetresonanztomographie gestellt: 4 Wegen des starken Magnetfeldes dürfenkeine ferromagnetische Geräte oder Arbeitsmaterialien (Intubationsspatel, Stethoskop, Stahlkanülen etc.) mit in den Untersuchungsraum genommen werden, da sie zum Magneten hin beschleunigt werden können (Projektil-Effekt). Hier besteht ein Verletzungspotenzial für Patienten und Mitarbeiter, und es kann zu Beschädigungen des Kernspintomographen kommen.
47
474
47
Kapitel 47 · Sedierung und Narkose bei diagnostischen Maßnahmen
4 Jedes elektrisch betriebene Gerät sendet elektromagnetische Wellen aus. Diese Strahlung kann zu erheblichen Störungen der Bildqualität des Tomographen führen. Geräte, die im Untersuchungsraum betrieben werden, müssen somit über eine spezielle Abschirmung verfügen. 4 Konventionelle Überwachungs- und Narkosegeräte werden durch das starke Magnetfeld in ihrer Funktion gestört und gefährden so die Sicherheit des Patienten. 4 Auch können sich metallhaltige Sonden und Kabel erhitzen. Hierdurch bedingte Hautverbrennungen sind in der Literatur beschrieben. ! Aus diesen Gründen dürfen nur Geräte mit der speziellen Bauartzulassung für den Bereich Kernspintomographie im Untersuchungsraum betrieben werden.
Inzwischen werden von verschiedenen Firmen Narkosegeräte und Überwachungsmonitore für den Bereich der Kernspintomographie angeboten. Es muss dabei immer beachtet werden, dass alle Geräte nur mit einem in den Betriebsanleitungen ausgewiesenen Mindestabstand zum Magnetkern betrieben werden können.
47.6
Patientenvorbereitung
Patienten, die einer Sedierung oder Narkose zu einer diagnostischen Maßnahme bedürfen, sind in ähnlicher Weise vorzubereiten wie bei einer elektiven Operation. Häufig erfolgen die Untersuchungen ambulant. Wird ein Anästhesist mit der Durchführung der medikamentösen Ruhigstellung beauftragt, sollten auf der Anmeldung die speziellen Anforderungen des Untersuchers an das Sedierungs- bzw. Narkoseverfahren mitgeteilt werden. Spätestens am Vortag der geplanten Untersuchung muss sich der Patient ggf. mit seinen Eltern und allen relevanten Krankenunterlagen in der Anästhesieambulanz vorstellen. Der Anästhesist entscheidet, welches Sedierungs- oder Anästhesieverfahren durchgeführt wird, klärt den Patienten bzw. seine Eltern darüber auf und holt die entsprechende Einwilligung ein.
47.6.1 Nüchternheit Bei allen elektiven Sedierungs- und Narkoseverfahren sind die jeweils gültigen Nüchternheitsvorschriften einzuhalten. Dies gilt auch bei einer geplanten leichten Sedierung, da insbesondere bei repetitiven Gaben von Sedativa immer auch mit einem Abgleiten in ein tieferes Sedationsstadium gerechnet werden muss. Die jeweiligen Nüchternzeiten müssen entsprechend dem Untersuchungszeitpunkt indi-
viduell festgelegt werden. Somit lassen sich auch zu lange Nahrungs- und Flüssigkeitskarenzen vermeiden, da Hunger und Durst dem Sedierungserfolg entgegenstehen.
47.6.2 Wahl des Untersuchungszeitpunktes Ist bei kleinen Kindern eine diagnostische Maßnahme vorgesehen, die ein absolut ruhiges Liegen erforderlich macht, aber nicht schmerzhaft ist, so ist es ratsam, den Untersuchungszeitpunkt zu Schlafzeiten des Kindes zu wählen. Alternativ kann vorher ein Schlafentzug durchgeführt werden. Ist das Kind am Untersuchungszeitpunkt müde, kann in einigen Fällen auf eine Sedierung ganz verzichtet werden, oder es sind zumindest wesentlich geringere Dosen an Sedativa erforderlich.
47.6.3 Besonderheiten bei Patienten zur
Magnetresonanztomographie (MRT) Patienten, bei denen eine Magnetresonanztomographie geplant ist, müssen ausdrücklich darauf hingewiesen werden, dass keine ferromagnetischen Gegenstände (Schlüssel, Uhren, Schmuck u. ä.) mit in den Untersuchungsraum genommen werden dürfen. Auch nach metallhaltigen Implantaten muss gefragt werden. Durch die Absorption energiereicher Strahlung kann es zur Erhitzung der Implantate und somit zur lokalen thermischen Schädigung kommen. Ferromagnetische intrakranielle Gefäßclips, Innenohrimplantate und intraokulare Metallsplitter stellen Kontraindikationen für ein MRT dar. Das gleiche gilt für Herzschrittmacher. Magnetisch einstellbare ventrikuloperitoneale Shunt-Ventile müssen nach Kernspinuntersuchungen überprüft werden.
47.6.4 Prämedikation Wird eine tiefe Sedierung oder eine Narkose durchgeführt, ist eine anxiolytische/sedative Prämedikation zu empfehlen, die zeitgerecht verabreicht werden muss. Auch hier gelten die gleichen Standards wie bei elektiven Operationen. Speziell im Kindesalter ist Midazolam das Prämedikationsmedikament erster Wahl und kann rektal, oral oder nasal schmerzfrei appliziert werden. Ist eine intravenöse Einleitung der Sedierung oder Narkose geplant oder ist ein venöser Zugang durch die Untersuchung indiziert (z. B. Gabe von Kontrastmittel), so kann der Punktionsschmerz durch das Verwenden eines Lokalanästhetikapflasters reduziert werden. Insbesondere wenn eine leichte Sedierung geplant ist, sollte unmittelbar vor dem Beginn der Sedierung keine
475 47.9 · Medikamentenauswahl
schmerzhafte Venenpunktion erfolgen, da der Bedarf an Sedativa hierdurch deutlich gesteigert wird.
47.7
Sedierung versus Narkose
Die Entscheidung, ob eine leichte Sedierung, eine tiefe Sedierung oder eine Narkose bei einem Patienten das am besten geeignete Verfahren ist, kann nicht pauschal getroffen werden. Sie muss sich an der Art der durchzuführenden diagnostischen Maßnahme, der Untersuchungsdauer, dem Alter und den Begleiterkrankungen des individuellen Patienten sowie an den örtlichen Bedingungen orientieren. Wichtigstes Entscheidungskriterium ist die Sicherheit des Patienten. Der hinzugezogene Anästhesist wird mit verschiedenen Erwartungen und Vorurteilen konfrontiert. Nach wie vor wird der Narkose von Patienten und Elternseite aber auch nicht selten von den ärztlichen Kollegen ein wesentlich höheres Risiko als einer Sedierung beigemessen. Das dem nicht so ist, und die Narkose in vielen Fällen das sichere Verfahren ist, muss vermittelt werden. ! Insbesondere bei Patienten mit erhöhter Aspirationsgefahr, Vigilanzstörungen, erhöhtem intrakraniellem Druck, Atemwegsobstruktionen, zentralen Störungen der Atemregulation (Bradykardie-Apnoesyndrom bei Frühgeborenen), eingeschränkter pulmonaler Reserve oder einer Adipositas per magna fällt die Risikoanalyse zu Gunsten der Narkose aus.
47.8
Allgemeine Aspekte zur Durchführung von Sedierungen
Sedierungen haben ihre Indikation vor allem bei Patienten der Risikoklassen ASA I und II. Leitsätze für die Durchführung von Sedierungen 5 Das Sedierungskonzept sollte sich auf wenige Medikamente beschränken. 5 Die Dosierungen müssen sich am Zustand des Patienten orientieren und können individuell stark variieren. 5 Prinzipiell können mit jedem Medikament alle Sedierungsstadien bis hin zum vollständigen Verlust der protektiven Reflexe erreicht werden. 5 Bei der Kombination von Medikamenten können die Einzelkomponenten deutlich niedriger dosiert werden. Auch die unerwünschten Wirkungen 6
5 (z. B. Atemdepression) können sich synergistisch verstärken. 5 Medikamente mit guter Steuerbarkeit (kurze Anschlagzeit und kurze Wirkdauer) sind zu bevorzugen. 5 Opioide sind nur bei schmerzhaften Untersuchungen indiziert. 5 Nach der Sedierung muss sich eine Überwachungsphase bis zum vollständigen Erwachen des Patienten anschließen.
47.8.1 Applikationswege Der Applikationsweg von Analgosedativa bestimmt entscheidend den Wirkungsbeginn und die Wirkungsdauer der eingesetzten Medikamente. Nur bei intravenöser Applikation kann unter Berücksichtigung der jeweiligen Anschlagzeit die Dosis nach Wirkung titriert werden. Mit geringen Einschränkungen ist dies auch bei der streng intranasalen Applikation möglich. Hierbei wird das Medikament sehr rasch über die Nasenschleimhaut aufgenommen und unterliegt keinem First-pass-Effekt in der Leber. Bei der intramuskulären, rektalen und gastralen Applikation kann die Wirkung mit erheblicher Zeitverzögerung einsetzen. Wird nach nicht ausreichender Wartezeit nachdosiert, besteht die Gefahr einer Überdosierung. Faktoren, die hier eine Rolle spielen sind z. B. die regionalen Durchblutungsbedingungen, Art und Volumen des Magen- bzw. Darminhalts, die Magenmotilität und die Verweildauer im Magen. Bei der rektalen Applikation ist die Bioverfügbarkeit eines Medikaments am schlechtesten berechenbar. Ein wichtiger Aspekt ist hierbei die Applikationstiefe. Bei der tiefen rektalen Applikation erfolgt die Resorption vorwiegend über die Vv. rectales superiores, die in die Pfortader drainieren. Pharmaka, die auf diese Weise gegeben werden, unterliegen somit einem First-pass-Effekt in der Leber. Wird das Medikament jedoch direkt hinter den Analsphinkter appliziert, erfolgt die Resorption zum Großteil über die Vv. rectales inferiores direkt in die untere Hohlvene. Somit muss nicht mit einem First-pass-Effekt gerechnet werden.
47.9
Medikamentenauswahl
Zur Durchführung von Sedierungen werden in der Literatur zahlreiche Medikamente vorgeschlagen. Kein Medikament, das eine sedierende Wirkung hat, wird hier vermisst.
47
476
Kapitel 47 · Sedierung und Narkose bei diagnostischen Maßnahmen
Die Schwierigkeit ist also darin zu sehen, aus der Fülle von Vorschlägen ein praktikables Sedierungskonzept zu empfehlen. Im Folgenden sollen beispielhaft einige häufig angewandte Sedierungsverfahren vorgestellt werden.
47
Midazolam unterliegt einer altersabhängigen Pharmakokinetik und muss bei Kindern höher dosiert werden als bei Erwachsenen. In den extremen Altersklassen sollte Midazolam jedoch sehr vorsichtig und titrierend dosiert werden.
Chloralhydrat Chloralhydrat wird seit mehr als 120 Jahren als Hypnotikum verwendet und weltweit zur Sedierung von Kindern zu diagnostischen Maßnahmen eingesetzt. Es kann oral oder rektal appliziert werden, wobei aus pharmakokinetischen Erwägungen der oralen Gabe der Vorzug zu geben ist. Trotz der Verwendung eines Geschmackskorrigens bleibt der bittere Geschmack erhalten und es wird deshalb häufig von Kindern abgelehnt. Aus diesem Grund empfiehlt sich bei Kindern unter einem Jahr Chloralhydrat über eine Magensonde zu geben, die jedoch mindestens eine Stunde vor Beginn der Sedierung gelegt werden sollte. Dosierung Chloralhydrat: 50–75 (bis max. 100) mg/kg KG, max. Gesamtdosis 2 g.
Nebenwirkungen: Unerwünschte Wirkungen sind insgesamt selten. Erbrechen, paradoxe Agitiertheit, Ataxie und extrem verlängerte Wirkungsdauer kommen vor. Bei Kindern mit obstruktiven Atemwegen sind Hypoxien beschrieben. Einzelne Berichte über Todesfälle auch bei üblichen Dosierungen liegen vor. Eine sorgfältige Überwachung ist deshalb bei allen Kindern erforderlich. Die viel diskutierte karzinogene Wirkung eines Chloralhydratmetaboliten, der Trichloressigsäure, scheint bei kurzzeitiger Anwendung keine Rolle zu spielen.
Midazolam Midazolam ist das Benzodiazepin mit der kürzesten Wirkdauer und somit am besten steuerbar. Neben der sedierenden Eigenschaft besitzt das Midazolam auch ausgeprägt anxiolytische, amnestische, antikonvulsive und zentral muskelrelaxierende Eigenschaften. Es kann intravenös, nasal, oral und rektal appliziert werden. Ein wichtiger Sicherheitsaspekt ist die Möglichkeit der Antagonisierung mit Flumazenil. Dosierung Midazolam i.v.: 0,1–0,2 mg/kg KG nasal: 0,2–0,3 mg/kg KG oral: 0,3–0,5 mg/kg KG rektal: 0,5–1 mg/kg KG
Nebenwirkungen: An unerwünschten Wirkungen treten
Ataxie, selten paradoxe Reaktionen mit Agitiertheit und Aggressivität auf. Dosisabhängig kann eine Atemdepression auftreten, insbesondere bei Kombination mit Opioiden.
Propofol Propofol besitzt auf Grund seiner hohen hepatischen Clearance eine sehr gute Steuerbarkeit. Die Sedierung wird durch eine titrierende Bolusinjektion induziert und durch eine intravenöse Infusion aufrechterhalten. Es können alle Sedationsstadien bis hin zur Anästhesie erreicht werden. Vorteilhaft sind ferner der antiemetische Effekt und der vom Patienten als sehr angenehm empfundene Schlaf. Propofol ist inzwischen ab einem Alter von 4 Wochen zugelassen. Zur Erzielung gleicher Effekte muss Propofol bei Kindern höher dosiert werden als bei Erwachsenen. Dosierung Propofol Induktionsdosis: 1–2 mg/kg KG, bei Kindern bis zu 4 mg/kg KG Erhaltungsdosis: 2–5 mg/kg KG u h, bei Kindern bis zu 10 mg/kg KG u h
Nebenwirkungen: Insbesondere bei hypovolämischen Patienten kann es zu erheblichen Blutdruckabfällen kommen, ein reflektorischer Anstieg der Herzfrequenz bleibt aus. Dosisabhängig kommt es zur Atemdepression. Häufig ist der Injektionsschmerz, der jedoch durch Zusatz von Lidocain (10 mg Lidocain ad 20 ml Propofol 1 %) gedämpft werden kann. Exzitatorische Bewegungen können auftreten. Ob Propofol bei entsprechender Disposition Krampfanfälle induzieren kann, lässt sich noch nicht abschließend beurteilen. Vereinzelt ist über das Auftreten von Krampfanfällen im Zusammenhang mit der Anwendung von Propofol berichtet worden. Jedoch wird Propofol auch zur Durchbrechung therapierefraktärer Krämpfe eingesetzt.
Ketamin/S+-Ketamin Ketamin besitzt starke analgetische Eigenschaften, und kann intravenös, oral oder rektal appliziert werden. Die Atemregulation wird nur gering beeinträchtigt, und die Schutzreflexe bleiben erhalten. Aufgrund sympathomime-
477 Literatur
tischer Eigenschaften steigen Blutdruck und Herzfrequenz an. Ketamin führt zu einer Hypersalivation und sollte deshalb mit einem Anticholinergikum kombiniert werden. Die für Ketamin typische dissoziative Anästhesie mit alptraumartigen Wahrnehmungen, ist beim S+-Ketamin vermindert. Zur Reduktion dieser Sensationen sollten trotzdem beide Medikamente mit einem Benzodiazepin (in der Regel Midazolam) oder mit Propofol kombiniert werden. Dosierung Ketamin: intravenös: rektal/oral: S+-Ketamin: intravenös:
1–2 mg/kg KG 5–10 mg/kg KG 0,5–1 mg/kg KG
Tipps
Anästhesiologischen Betreuung von Kindern bei diagnostischen Maßnahmen – so machen wir es: 5 Tracheo-Bronchoskopien: Allgemeinanästhesie 5 Endoskopien des Gastrointestinaltrakts: Allgemeinanästhesie (ITN) 5 Schmerzhafte Punktionen: Ketanest/MidazolamNarkose 5 Herzkatheteruntersuchungen, Angiographien: Ketanest/Midazolam-Narkose bzw. ITN 5 BERA – Kinder < 1 Jahr: Chloralhydratsedierung – Kinder > 1 Jahr: Propofolsedierung 5 Kernspinuntersuchungen – Kinder < 1 Jahr: Chloralhydratsedierung bzw. ITN – Kinder > 1 Jahr: Propofolsedierung bzw. ITN
Literatur American Academy of Pediatrics, Committee on Drugs (1992) Guidelines for monitoring and management of pediatric patients during and after sedation for diagnostic and therapeutic procedures. Pediatrics 89: 1110–1115 American Academy of Pediatrics, Committee on Drugs and Committee on Environmental Health (1993) Use of chloral hydrate for sedation in children. Pediatrics 92 American Society of Anesthesiologists (1996) Practce guidelines for sedation and analgesia by non-anesthesiologists. Anesthesiology 84: 459–471 Coté CJ (1994) Sedation for the pediatric patient, a review. Pediatric Clinics of North America 41: 31–58 Edelman RR, Warach S (1993) Magnetic resonance imaging (first of two parts). N Engl J Med. 328: 708–16
Frankville DD et al. JB (1993) The dose of propofol required to prevent children from moving during magnetic resonance imaging. Anesthesiology 79: 953–958 Greenberg SB et al. (1993) High-dose chloral hydrate sedation for children undergoing MR imaging: safety and effiacy in relation to age. AJR 161: 639–641 Levati A et al. (1996) Propofol anaesthesia in spontaneously breathing paediatric patients during magnetic imaging. 40: 561–565
47
48 Aspiration Birgit Pfeiffer 48.1 Inzidenz der Aspiration –480 48.1.1 Inzidenz der Aspiration in der Anästhesie –480 48.1.2 Inzidenz der Aspiration in der Intensivmedizin –480
48.2 Pathophysiologie der Aspiration –480 48.2.1 Akute Reaktion auf die Aspiration –480 48.2.2 Aspirat und spezifische Reaktion der Lunge –481 48.2.3 Aspirationssyndrom –481
48.3 Ätiologie –481 48.4 Maßnahmen zur Reduktion des Aspirationsrisikos –481 48.4.1 48.4.2 48.4.3 48.4.4 48.4.5 48.4.6 48.4.7
Nahrungs- und Flüssigkeitskarenz –482 Medikamentöse Maßnahmen –482 Mechanische Magenentleerung –482 Sicherung der Atemwege –482 Ileuseinleitung (Blitzintubation, Rapid sequence induction) –482 Narkoseausleitung und Extubation –483 Aspirationsprophylaxe in der Intensivtherapie –483
48.5 Therapie –484 48.5.1 Sofortmaßnahmen bei erfolgter Aspiration –484 48.5.2 Therapie der Aspirationspneumonie –484 48.5.3 Therapie des ARDS und Multiorganversagen –485
Literatur –485
480
Kapitel 48 · Aspiration
)) . Tabelle 48.1. Ursachen einer Aspiration in der Anästhesie
48
Eine Aspiration ist das Eintreten von Fremdmaterial, am häufigsten Erbrochenes oder regurgitierter Mageninhalt, in die Luftwege unterhalb der Stimmritze. Die Aspiration ist eine schwerwiegende anästhesiologische Komplikation und akut lebensbedrohlich. Die Mortalität im Gesamtverlauf liegt bei 5 %. Die ursächlichen Faktoren einer Aspiration sind in . Tab. 48.1 aufgeführt. In der Hälfte der Fälle wäre diese Komplikation vermeidbar gewesen. Häufiger, aber nicht so offensichtlich und deshalb meist unerkannt, tritt die Aspiration in der Intensivtherapie als stumme Aspiration nach Regurgitation auf. Sie muss in ca. 9–27 % als Ursache der im Krankenhaus erworbenen Lungenentzündungen angenommen werden. Hauptanliegen in der Anästhesie und Intensivmedizin ist die Prävention der Aspiration, die auf medikamentösen und mechanischen Maßnahmen beruht. Hierfür müssen Patienten mit erhöhtem Aspirationsrisiko aufgrund der Pathophysiologie erkannt werden.
48.1
Inzidenz der Aspiration
Ursache/Einflussfaktor
Anteil in %*
Fehleinschätzung des Patienten
32
Fehlerhafte Anästhesietechnik
26
Inadäquate Patientenvorbereitung
19
Inadäquate Assistenz
10
Mangelnde Erfahrung des Anästhesisten
10
Hast
5
Keine/nicht bekannt
25
* Mehr fachnennungen möglich
bei 4,4 % der Patienten mit einer Aspiration gerechnet werden. Bis zu 70 % der Patienten mit reduzierter Vigilanz weisen eine Aspiration auf.
48.2 48.1.1 Inzidenz der Aspiration
in der Anästhesie Das durchschnittliche Risiko der perioperativen Aspiration ist 1,4–6,5 : 10000. Bei Kindern nach dem 1. Lebensjahr und Elektiveingriffen bei Patienten der Klassen ASA I und II ist dieses Risiko mit ca. 1 : 10000 am geringsten (ASA steht für die Risikoklassifizierung der American Society of Anesthesiology). Demgegenüber haben Säuglinge, Patienten der Klassen ASA IV + V, sowie Patienten zur Sectio und bei Notfalleingriffen das 10fache Aspirationsrisiko. Am größten ist das Aspirationsrisiko bei der Notfallintubation mit einer Inzidenz von 375 : 10000. Der Zeitpunkt des größten Aspirationsrisikos ist die Narkoseeinleitung (56 % aller Aspirationen). Bei der Narkosedurchführung treten 19 %, bei der Narkoseausleitung 20 % der Aspirationen auf. Aber auch in der postoperativen Phase (5 %) kann es noch zur Aspiration kommen.
48.1.2 Inzidenz der Aspiration
in der Intensivmedizin Bei 20–40 % der Beatmungspatienten, nach dreitägiger Intubation sogar bei 77 % ist eine Aspiration nachweisbar. Allein bei nasoenteral liegender Ernährungssonde muss
Pathophysiologie der Aspiration
Nach einer Aspiration kann es nacheinander zu folgenden Reaktionen mit der Ausbildung der genannten Symptome kommen: 1. Atemwegsverlegung und Flutung durch Aspirat mit Hypoxie (sofort) 2. Chemische Reaktion mit Spastik, Bronchialsekretion und lokaler Ödembildung (innerhalb der ersten Stunden) 3. Generalisierte Entzündungsreaktion mit akutem Lungenversagen (ARDS – acute respiratory distress syndrome) und evtl. Multiorganversagen (innnerhalb 48 h) 4. Bakterielle Lungenentzündung, Lungenabszess, ggf. Sepsis
48.2.1 Akute Reaktion auf die Aspiration Die endotracheale Reizung bei einer Aspiration löst unter erhaltenen Schutzreflexen (z. B. bei zu flacher Narkose) Husten aus und kann zum Laryngo- und Bronchospasmus führen. Dadurch oder infolge einer Atemwegsverlegung auftretende schwere Hypoxiezustände sowie die vagale Reizung können in der Akutphase bradykarde Herzrhythmusstörungen, Asystolie und Hypotonie auslösen. Die Verlegung von Atemwegen und Flutung von Lungenarealen durch das Aspirat führt direkt zur lokalen Min-
481 48.4 · Maßnahmen zur Reduktion des Aspirationsrisikos
derventilation und zur Ausbildung eines intrapulmonalen Shunts. Diese Gasaustauschstörungen werden durch einen Bronchospasmus und die Ausbildung eines Lungenödems noch verstärkt. Mit diesen Störungen des pulmonalen Gasaustauschs infolge der Aspiration ist innerhalb von 2 h zu rechnen. Bei fehlenden Gasaustauschstörungen innerhalb dieser Zeit ist eine Zustandsverschlechterung infolge der Aspiration weitestgehend ausgeschlossen. Ein Teil der Patienten bleibt symptomlos.
. Tabelle 48.2. Faktoren eines erhöhten Aspirationsrisikos Risikofaktoren
Ursachen
Verzögerte Magenentleerung
Adipositas, Gravidität, Diabetes mellitus, chronische Niereninsuffizienz, Magenulcera, Stress, Angst, Schmerz, Trauma, Schädel-Hirn-Trauma, erhöhter intrakranieller Druck, Narkotika, Ileus
Regurgitation
Insuffizienz des unteren Ösophagussphinkters, medikamentös reduzierter Sphinkterdruck (z. B. Anticholinergika, Benzodiazepine), Hiatushernie
Erhöhter intraabdominaler Druck
Adipositas, Gravidität im III. Trimenon, Aszites
Schwierige Intubation
traumatisierte Atemwege, atypische Anatomie, Säuglinge, Intubation bei zu flacher Narkose
Fehlende Schutzreflexe
Narkose, Somnolenz, Intoxikation, neurologische Erkrankungen, Z.n. Pharynx-/Larynx-OP
48.2.2 Aspirat und spezifische Reaktion
der Lunge Die Aspiration führt zu einer lokalen Zerstörung des Surfactant und des Alveolarepithels sowie des Endothels. Die Entwicklung und Schwere einer Pneumonie hängen von der Menge und Art des Aspirates ab. Die Aspiration von saurem (pH-Wert < 2,5) Mageninhalt und Gallefermenten induziert eine chemische Pneumopathie. Nahrungspartikel können partiell die Atemwege verlegen und zu einer lokalen Entzündungsreaktion führen. Erst die Aspiration infektiösen Materials führt primär zu einer bakteriellen Pneumonie. Bei der Aspiration chemisch inerter Flüssigkeit wie Milch und Blut kommt es nur zu geringen Entzündungsreaktionen. Jedoch kann die Auswirkung auf den Gasaustausch durch Verlegung der Atemwege und Flutung der Alveolen volumenabhängig gravierender sein.
48.2.3 Aspirationssyndrom Im Verlauf einer Aspiration kommt es durch die Aktivierung von Alveolarmakrophagen und neutrophilen Granulozyten zur Freisetzung von proinflammatorischen Substanzen. Diese proinflammatorischen Mediatoren erreichen über die Blutbahn nicht von der Aspiration betroffene Lungenareale und weitere Organsysteme wie Herz und Nieren, die mit einer interstitiellen Ödembildung reagieren. Dadurch kann die Aspiration in schweren Fällen nicht nur zum akuten Lungenversagen, sondern auch zum Multiorganversagen führen.
48.3
Ätiologie
Traditionell bezieht sich die Definition des erhöhten Aspirationsrisikos auf die kritischen Grenzwerte von 0,4 ml/ kg KG Mageninhalt mit einem pH-Wert < 2,5, welche auf Untersuchungen am Rhesusaffen zurückgehen. Empirisch haben sich diese Grenzwerte für ein erhöhtes Aspirationsrisiko beim Menschen auf 0,8 ml/kg KG und pH-Wert < 3,5
verschoben, jedoch sind diese Grenzwerte im klinischen Alltag nicht erhebbar. Für die Risikoabschätzung sind die prädisponierenden Risikofaktoren für eine Aspiration klinisch relevant. Die Risikofaktoren und ihre Ursachen sind in . Tab. 48.2 wiedergegeben. Hieraus ergeben sich die Patienten mit einem stark erhöhten Aspirationsrisiko, bei denen Maßnahmen zur Minimierung des Aspirationsrisikos einschließlich der Ileuseinleitung (Rapid sequence induction) indiziert sind.
48.4
Maßnahmen zur Reduktion des Aspirationsrisikos
Durch die Durchführung von Regionalanästhesien bei hierfür geeigneten operativen Eingriffen kann das Aspirationsrisiko maximal gesenkt werden. Auch bei zusätzlicher Analgosedierung mit erhaltener Spontanatmung ist das Aspirationsrisiko gering. Bei prädisponierten Patienten kann das Aspirationsrisiko außerdem durch folgende Maßnahmen vermindert werden: 4 Nahrungs- und Flüssigkeitskarenz 4 Medikamentöse Reduktion des Magensaftvolumens und pH-Wert-Anhebung 4 Mechanische Magenentleerung 4 Sicherung der Atemwege
48
482
48
Kapitel 48 · Aspiration
48.4.1 Nahrungs- und Flüssigkeitskarenz
48.4.3 Mechanische Magenentleerung
Das Volumen des Mageninhalts hängt neben der Nahrungs- und Flüssigkeitsaufnahme auch von der Magensaftsekretion (50 ml/h beim Erwachsenen) und der Speichelsekretion (1 ml/kg KG/h) ab. Deshalb hat auch der nüchterne Patient keinen leeren Magen. Aber bei allen Elektiveingriffen kann das Aspirationsrisiko durch eine Nahrungs- und Flüssigkeitskarenz reduziert werden. Feste Nahrung sollte 6 h präoperativ nicht mehr aufgenommen werden. Dieser Zeitraum entspricht der normalen durchschnittlichen Magenentleerungszeit fester Nahrung. Die Flüssigkeitsaufnahme ist bis 2 h vor Narkoseeinleitung möglich. Im Normalfall sind nach einer Stunde nur noch 5 % der aufgenommenen Flüssigkeitsmenge im Magen. Säuglinge können bis 4 h präoperativ gestillt werden und bis 2 h präoperativ klare Flüssigkeit trinken. Diese Angaben gelten für Patienten ohne erhöhtes Aspirationsrisiko. Die Karenzzeiten müssen für Risikopatienten ggf. individuell verlängert werden.
Präoperativ kann der Mageninhalt durch das Legen einer Magensonde reduziert werden. Jedoch lässt sich hierdurch beim nicht nüchternen Patienten keine sichere und vollständige Magenentleerung erreichen, da Nahrungspartikel das Sondenvolumen verlegen können. Außerdem kann das Platzieren der Magensonde selbst Erbrechen, vagale sowie stressbedingte Kreislaufreaktionen und einen O2-Sättigungsabfall auslösen. Eine liegende nasogastrale Sonde begünstigt durch gastroösophageale Schienung das Erbrechen und damit das Aspirationsrisiko und muss vor Narkoseeinleitung entfernt werden.
48.4.2 Medikamentöse Maßnahmen
! Lediglich bei Ileus kann durch die präoperative Magenentlastung mittels Magensonde das Aspirationsrisiko gesenkt werden.
Nach Sicherung der Atemwege mittels endotrachealem Tubus muss bei erhöhtem Aspirationsrisiko eine Magenentlastung mittels Magensonde erfolgen, um das Aspirationsrisiko für den weiteren Verlauf der Narkose und postoperativ zu minimieren.
48.4.4 Sicherung der Atemwege Bei Patienten mit Risikofaktoren können präoperativ die Propulsion und Magenentleerung medikamentös unterstützt bzw. der Magensaft-pH-Wert angehoben werden. Die orale Gabe von 10 mg Metoclopramid am Vorabend und ca. 1 h vor Narkoseeinleitung wirkt motilitätssteigernd auf den Magen und erhöht den Druck des unteren Ösophagussphinkters. Indiziert ist Metoclopramid bei Magenausgangsstenose und symptomatischem Ösophagusreflux. Der Magensaft-pH-Wert kann durch die Gabe von H2Blockern (400 mg Cimetidin oder 150 mg Ranitidin oral 12 h und 2 h präoperativ) oder Protonenpumpen-Inhibitoren (40 mg Omeprazol oral 12 h und 2 h präoperativ) angehoben werden. Dies ist insbesondere auch bei Patienten mit bekannter Magenulkusanamnese indiziert, die auf eine erhöhte Magensaftsekretion hinweist. Bei Kindern kann der Magensaft-pH-Wert mittels 2 mg/kg KG Ranitidin oral angehoben werden. Verbleibt vor einem dringlichen oder Notfalleingriff keine Zeit für eine der genannten medikamentösen Maßnahmen, kann der Magensaft unmittelbar vor Narkoseeinleitung mittels Natriumzitrat (30 ml bzw. 0,4 ml/kg KG oral) neutralisiert werden.
! Die endotracheale Intubation ist der sicherste Schutz vor Aspiration.
Die meisten Aspirationen treten unter Maskenbeatmung bei der Narkoseeinleitung auf. Bei der Maskenbeatmung kann Luft in den Magen insuffliert werden, was zum Erbrechen oder Regurgitieren führen kann. Auch die Larynxmaske bietet keinen Aspirationsschutz, sondern begünstigt sogar die Aspiration durch Reflexion des Erbrochenen.
48.4.5 Ileuseinleitung (Blitzintubation,
Rapid sequence induction) Die Ileuseinleitung (oder auch Blitzintubation) ist die standardisierte Narkoseeinleitung bei erhöhter Aspirationsgefahr. Die Bezeichnung geht auf den Ileus als die Indikation für diese spezielle Narkoseeinleitung zurück. Die Ileuseinleitung wird aber ebenso bei erhöhtem Aspirationsrisiko anderer Genese durchgeführt. Die Abfolge der wichtigsten Maßnahmen im Rahmen der Ileuseinleitung ist in . Abb. 48.1 dargestellt.
48
483 48.4 · Maßnahmen zur Reduktion des Aspirationsrisikos
! Bei Intubationsproblemen während einer Ileuseinleitung muss trotz erhöhter Aspirationsgefahr der ausreichenden Oxygenierung oberste Priorität eingeräumt 6
Präoxygenierung und Präcurarisierung
Thiopental 3-5 mg/kg Succinylcholin 1-2 mg/kg
Intubation und Blockung des Cuff
Anti-Trendelenburglagerung
Ileuseinleitung (Rapid sequence induction) – so machen wir es: Der Patient wird mit dem OP-Tisch in Anti-Trendelenburg-Lage gekippt. Durch diese Oberkörperhochlagerung reduziert sich der Druck auf den unteren Ösophagussphinkter und damit das Risiko der Regurgitation und des Erbrechens. Um Sauerstoffreserven für die Apnoephase nach Gabe des Hypnotikums bis zur Intubation zu haben, wird über 3–5 min mit 100 % Sauerstoff präoxygeniert. Die Präkurarisierung er folgt mit einem nicht depolarisierenden Muskelrelaxanz, die Narkoseeinleitung mit einem schnell wirksamen Hypnotikum, bei fehlenden Kontraindikationen mit Thiopental. Intubation: Mit Verlust des Bewusstseins und der Schutzreflexe wird der Krikoid-Druck (SellickHandgriff ) durchgeführt und bis zum Blocken des endotracheal platzierten Tubus beibehalten. Mit dem Sellik-Handgriff wird ein Druck von ca. 40 mmHg auf den Kehlkopf ausgeübt, wodurch der Ösophagus verschlossen und regurgitierter Mageninhalt zurückgehalten wird. Bei aktivem Erbrechen darf der Sellik-Handgriff nicht aufrechterhalten werden, da dabei intragastrale Drücke bis zu 100 mmHg auftreten können und die Gefahr der Ösophagusruptur besteht. Die Muskelrelaxierung er folgt mit Succinylcholin, dem derzeit am schnellsten und kürzesten wirksamen Muskelrelaxans. Einzige Kontraindikation gegen die Succinylcholingabe bei Ileuseinleitung bleibt die Disposition zur Malignen Hyperthermie. Auf eine Maskenbeatmung wird bei der Ileuseinleitung gänzlich verzichtet. Es erfolgt aber bis zur Intubation eine apnoische Oxygenierung. Zur Erleichterung der Intubation sollte der Tubus mit einem Mandrin geführt werden. Erst nach sicherer endotrachealer Platzierung des Tubus und Blocken des Tubuscuffs ist der Atemweg gesichert und der Patient wird beatmet. Im Fall der ösophagealen Fehlintubation kann der Tubus als »Magensonde« vorerst belassen werden und die endotracheale Intubation erfolgt mit einem Ersatztubus.
Erhöhtes Aspirationsrisiko
Krikoid-Druck
Tipps
Weiterführung der Narkose, Magenentlastung über Magensonde
. Abb. 48.1. Ileuseinleitung
werden. Überbrückend muss ggf. eine Maskenbeatmung mit 100 % Sauerstoff und geringen Beatmungsdrücken und -volumina unter Beibehaltung des Sellik-Handgriffs und der Anti-Trendelenburglage er folgen.
48.4.6 Narkoseausleitung und Extubation Ein Viertel aller Aspirationen tritt während der Narkoseausleitung und in der postnarkotischen Phase auf. Nach der Einleitung von Risikopatienten sollte zur Magenentlastung eine Magensonde platziert werden, die in der Regel vor der Ausleitung wieder entfernt wird. Die Extubation erfolgt erst nach Wiedererlangen der Schutzreflexe und ausreichender Vigilanz.
48.4.7 Aspirationsprophylaxe
in der Intensivtherapie In der Intensivtherapie sollten zur Aspirationsprophylaxe bei Patienten mit erhöhtem Aspirationsrisiko folgende Empfehlungen berücksichtigt werden: 4 Vermeiden übermäßiger Sedierung und Analgesie zum Erhalt der Schutzreflexe
484
48
Kapitel 48 · Aspiration
4 Oberkörperhochlagerung zum Verhindern von Regurgitation und Erbrechen 4 Nahrungs- und Flüssigkeitskarenz; ggf. Sondenkost 4 Mechanische Magenentleerung bei hohen Magenresten (»Ablaufsonde«) 4 Medikamentöse Steigerung von unterem Ösophagussphinktertonus und der Magen-Darm-Passage mittels Metoclopramid 4 Sicherung der Atemwege (Intubation; Cuffdruckregler; subglottische Drainage), insbesondere bei Patienten mit fehlenden Schutzreflexen aufgrund von Vigilanzstörungen
48.5
Therapie
48.5.1 Sofortmaßnahmen bei er folgter
Aspiration Kommt es zur Aspiration, ist die Sicherung der Atemwege mittels endotrachealer Intubation erstes Ziel. Nach dem Erbrechen kann die Kopftieflage hilfreich sein, damit das Erbrochene ablaufen kann und die Sicht auf den Larynx zur Intubation freigegeben wird. Ein großlumiger Absaugschlauch muss ggf. zum Reinigen des Rachens, soweit zur Intubation erforderlich, eingesetzt werden. Nach der endotrachealen Intubation und Blocken des Tubuscuffs muss das Aspirat endotracheal so weit wie möglich abgesaugt werden, noch bevor der Patient beatmet wird. Eine diagnostische und therapeutische Bronchoskopie ist bei massiver Aspiration durchzuführen. Es sollte keine Lungenlavage erfolgen, lediglich bei Verlegung der kleinen Atemwege muss lokal unter Sicht mit kleinen Mengen NaCl gespült und abgesaugt werden. Feste Nahrungspartikel müssen endoskopisch entfernt werden. Gewonnenes Aspirat ist für die mikrobiologische Untersuchung zu sichern. Eine Neutralisation der Magensäure ist nicht erforderlich, da unmittelbar nach Aspiration die Neutralisation durch die körpereigenen Puffersysteme erfolgt. Der reflektorische Bronchospasmus nach Aspiration kann mit Theophyllin (Bolus 5 mg/kg KG i.v., ggf. weiter mit 0,7–0,9 mg/kg KG u h) symptomatisch therapiert werden. Nach anfänglicher Beatmung mit 100 % Sauerstoff ist die FiO2 auf das notwendige Maß zur adäquaten Oxygenierung zu reduzieren, um eine zusätzliche Schädigung durch Sauerstoffradikale zu minimieren. Mit der Antibiotikagabe nach Aspiration wird zurückhaltend verfahren. Sie ist in der Mehrzahl der Fälle nicht indiziert. Die kalkulierte Anti-
biotikatherapie sollte bis auf Ausnahmefälle bei z. B. eingeschränkter Immunabwehr erst beim Auftreten von Infektionszeichen erfolgen. Tipps
Checkliste bei erfolgter Aspiration – so machen wir es: 5 Sicherung der Atemwege (Intubation) 5 Endotracheal Absaugen 5 Beatmung mit 100 % O2, dann adäquater FiO2 5 Symptomatische Therapie eines Bronchospasmus 5 Bronchoskopie: – Aspirat für mikrobiologische Untersuchung sichern – Ggf. lokale Lavage mit kleinen Mengen NaCl – Entfernen von Nahrungspartikeln – Ggf. Antibiotika
Treten nach einer Aspiration innerhalb von 2 h keine Symptome auf und ist die pulsoxymetrische Sättigung bei Raumluft > 90 %, ist eine Verschlechterung der Lungenfunktion unwahrscheinlich. Diese Patienten können nach der Operation und entsprechender Überwachung im Aufwachraum ohne erhöhtes Risiko auf Normalstation verlegt werden.
48.5.2 Therapie der Aspirationspneumonie Die Entwicklung einer Aspirationspneumonie verläuft meistens foudroyant. Der Aspiration folgt eine akute Verschlechterung der Lungenfunktion mit Ausbildung eines ARDS, sodass eine intensivmedizinische Betreuung geboten ist. Entsprechend der mikrobiologischen Untersuchungsergebnisse erfolgt die Antibiotikatherapie. Jedoch sind nur bei 40 % der Aspirationspneumonien primär Keime nachweisbar. Gegebenenfalls muss eine kalkulierte Antibiotikatherapie begonnen und im weiteren Verlauf nach Antibiogramm optimiert werden. Während beim Gesunden im Sputum lediglich mit Gram+-Erregern zu rechnen und der Mageninhalt steril ist, muss bei Kranken mit Gram–-Erregern im Nasen-Rachen-Raum und einer Kolonisierung des Magens gerechnet werden. Bei der Aspiration von galligem Sekret ist mit dem Auftreten Gram–-Erreger aus dem Gastrointestinaltrakt zu rechnen. Eine prophylaktische Antibiotikatherapie nach Aspiration ohne Vorliegen von Zeichen einer Infektion wird nicht empfohlen.
485 Literatur
48.5.3 Therapie des ARDS
und Multiorganversagen Nach einer Aspiration entwickelt sich in 12–36 % der Fälle ein ARDS. Die Mortalität des ARDS liegt seit Jahren unverändert bei 40–60%. Bis heute gibt es keine spezifische Therapie des ARDS nach Aspiration. Im Vordergrund stehen allgemeine intensivtherapeutische Maßnahmen, welche sich an der jeweiligen Symptomatik orientieren. Dazu gehört die kontrollierte lungenprotektive Beatmung mit positivem endexspiratorischem Druck und Drucklimitierung zur Aufrechterhaltung einer adäquaten Oxygenierung und gleichzeitiger Minimierung von Beatmungsschäden. Außerdem muss in der Regel eine Kreislaufstabilisierung durch adäquate, eher restriktive Volumensubstitution und ggf. Katecholamintherapie erfolgen. Bei Versagen weiterer Organsysteme durch das generalisierte Ödem sind diese Organe funktionell zu unterstützen oder passager zu ersetzen. Zur kardiopulmonalen Über wachung des kritisch Kranken muss ein erweitertes Monitoring mit invasiver Blutdruckmessung, zentralem Venenkatheter und ggf. Pulmonaliskatheter erfolgen.
Literatur Britto J ,Demling RH (1993) Aspiration lung injury. New Horiz 1:435–439 Hackl W, Regal W, Lichtenberger M, et al. (1997) Intraoperative complications: aspiration. Acta Anaesthesiol Scand Suppl 111: 308–310 Kallar SK ,Everett LL (1993) Potential risks and preventive measures for pulmonary aspiration: new concepts in preoperative fasting guidelines. Anesth Analg 77: 171–182 Kluger MT, Short TG (1999) Aspiration during anaesthesia: a review of 133 cases from the Australian Anaesthetic Incident Monitoring Study (AIMS). Anaesthesia 54 :19–26 Lee-Chiong TL, Jr. (1997) Pulmonary aspiration. Compr Ther 23: 371–377 Mahul P, Auboyer C, Jospe R, et al. (1992) Prevention of nosocomial pneumonia in intubated patients: respective role of mechanical subglottic secretions drainage and stress ulcer prophylaxis. Intensive Care Med 18: 20–25 Mellin-Olsen J, Fasting S ,Gisvold SE (1996) Routine preoperative gastric emptying is seldom indicated. A study of 85,594 anaesthetics with special focus on aspiration pneumonia. Acta Anaesthesiol Scand 40: 1184–1188 Mullan H, Roubenoff RA ,Roubenoff R (1992) Risk of pulmonary aspiration among patients receiving enteral nutrition support. JPEN J Parenter Enteral Nutr 16: 160–164 Nader-Djalal N, Knight PR, Davidson BA, et al. (1997) Hyperoxia exacerbates microvascular lung injury following acid aspiration. Chest 112: 1607–1614 Warner MA, Warner ME ,Weber JG (1993) Clinical significance of pulmonary aspiration during the perioperative period. Anesthesiology 78: 56–62
48
49 Maligne Hyperthermie Frank Wappler 49.1 Einleitung –488 49.2 Epidemiologie –488 49.3 Pathophysiologie –488 49.4 Trigger der MH –489 49.5 Klinische Symptomatik –490 49.5.1 Fulminante Krise –490 49.5.2 Abortive Verlaufsformen –493 49.5.3 Masseterspasmus –493
49.6 Therapie –494 49.7 Postanästhesiologisches Management –494 49.8 Präanästhesiologische Evaluierung –495 49.8.1 49.8.2 49.8.3 49.8.4
Identifizierung der MH-Veranlagung –495 In-vitro- Kontrakturtestung –495 Molekulargenetik –495 Alternative Testverfahren –496
49.9 Anästhesie bei Patienten mit MH-Veranlagung 49.10 MH und andere Erkrankungen –496 Literatur –497
–496
488
Kapitel 49 · Maligne Hyperthermie
)) Die Maligne Hyperthermie (MH) ist eine genetisch determinierte, latente Myopathie, die nach Exposition mit bestimmten Triggersubstanzen (volatile Inhalationsanästhetika sowie depolarisierende Muskelrelaxanzien) auf zellulärer Ebene zu einer Dysregulation der intrazellulären Kalziumhomöostase und konsekutiv zu einer hypermetabolen Stoffwechselentgleisung führt.
49
49.1
Einleitung
Im Jahre 1900 wurden die ersten Berichte über ein Hyperthermiesyndrom während operativer Eingriffe in Allgemeinanästhesie publiziert. Ein Zusammenhang zwischen der Narkose als auslösendem Faktor der Hyperthermie und einer familiären Veranlagung wurde jedoch erst im Jahre 1960 hergestellt. Denborough und Lovell berichteten über einen Patienten, der präoperativ große Angst vor der Narkose äußerte, da zehn seiner Familienangehörigen während oder nach Narkosen verstorben waren. Die Allgemeinanästhesie wurde daher mit dem damals neu eingeführten Halothan durchgeführt, unter dem sich allerdings ebenfalls eine Hyperthermie entwickelte, die der Patient überlebte. Nach eingehender Analyse dieses Falls sowie der Familienanamnese gelangten die Autoren zu der Überzeugung, dass es sich bei diesem Hyperthermiesyndrom um eine Erkrankung mit dominantem Erbgang mit inkompletter Penetranz unter Beteiligung eines oder mehrerer Gene handeln müsse. Seither
wird dieses als Maligne Hyperthermie (MH) bezeichnete Syndrom als eigenständiges Krankheitsbild im Zusammenhang mit einer Allgemeinanästhesie betrachtet.
49.2
Epidemiologie
Die MH kann bei Menschen aller ethnischen Gruppen und in jedem Alter auftreten, beide Geschlechter sind betroffen, wobei eine Prädominanz des männlichen Geschlechts und von Kindern bzw. Jugendlichen angenommen wird. Die Gesamtinzidenz der MH konnte bislang nicht präzise ermittelt werden, für Deutschland wurde jedoch eine Inzidenz für die MH von 1 : 60000 errechnet.
49.3
Pathophysiologie
! Der genaue Pathomechanismus, wie bestimmte Substanzen eine MH-Krise triggern, ist bislang nicht in allen Details geklärt. Zahlreiche Untersuchungsbefunde belegen jedoch, dass die Regulation der intrazellulären Ca2+-Homöostase bei der MH gestört ist.
Beim normalen Muskelkontraktionszyklus wird Ca2+ aus den Terminalzisternen des sarkoplasmatischen Retikulums (SR) in das Myoplasma freigesetzt und initiiert nach Bindung an Troponin C die Muskelkontraktion durch Interaktion zwischen Aktin und Myosin (. Abb. 49.1 A). Ca2+ bindet ebenfalls an die Phosphorylasekinase und aktiviert die Glykolyse und die Resynthese von ATP. Nach Dissoziati-
. Abb. 49.1. Intrazelluläre Kalziumregulation im normalen (A) und im für Maligne Hyperthermie (MH) disponierten Skelettmuskel (B) (Aus Steinfath M et al. [2002] Der Anaesthesist 51: 328)
489 49.4 · Trigger der MH
on vom Troponin C wird das Ca2+ wieder über ATP-abhängige Pumpen in das SR zurücktransportiert und damit die Relaxation der Skelettmuskulatur bewirkt. In zahlreichen Studien wurden funktionelle Veränderungen des Ryanodin-Rezeptors bei MH-Disposition nachgewiesen. Der Ryanodin-Rezeptor von MH-disponierten Schweinen und Menschen ist durch eine erhöhte Affinität für spezifische Liganden charakterisiert und setzt bei Stimulation durch Ca2+-Ionen bereits bei geringeren Konzentrationen als bei MH-normalen Individuen Ca2+ frei. Nach Stimulation bleibt der Ryanodin-Rezeptor bei MH-disponierten Muskeln signifikant längere Zeit geöffnet und setzt dadurch größere Mengen von Ca2+ frei als bei MH-normalen Muskeln. Diese Mechanismen (. Abb. 49.1 B) führen zu einer vermehrten Freisetzung von Ca2+ aus dem SR in das Myoplasma und einer verstärkten und verlängerten Interaktion kontraktiler Filamente der Skelettmuskulatur. Zusätzlich werden Ca2+-abhängige Stoffwechselfunktionen aktiviert, was zu den MH-typischen Symptomen führt: Typische Symptome der Malignen Hyperthermie 5 5 5 5 5
Hyperkapnie Azidose Laktatämie Muskelrigidität Fieber
Die inadäquate Versorgung der Zelle mit Sauerstoff führt zu einer Verschlechterung der aeroben Energiegewinnung. Laktatazidose und intramitochondriale Ca2+-Akkumulation mit konsekutiver Entkopplung der oxidativen Phosphorylierung wirken zytotoxisch. Bei der fulminanten Krise folgt bei Verlust der Zellintegrität eine zunehmende Membranpermeabilität für Ionen, Moleküle und Enzyme. Dieser Pathomechanismus führt ohne therapeutische Intervention zum irreversiblen Zelluntergang und Zusammenbruch aller Organfunktionen. Neben den Störungen der Ca2+-vermittelten Ca2+-Freisetzung wurden Störungen intrazellulärer Botenstoffe, z. B. im Inositolphosphatstoffwechsel und im Serotoninsystem, bei der MH als Auslöser für die Ca2+-Regulationsstörung diskutiert. Allerdings ist ungeklärt, ob diese Veränderungen ursächlich für das MH-Syndrom oder sekundärer Natur sind. ! Die Veränderungen bei der MH sind nicht auf die Skelettmuskulatur beschränkt, auch andere Organsysteme wie Herz, ZNS und Leber weisen bestimmte Defekte im Sinne einer Systemerkrankung auf.
Während der MH-Krise treten bereits in der Frühphase ausgeprägte Störungen der Herz- und Kreislauffunktion bis hin zur Asystolie auf. Darüber hinaus wurde in MH-Familien über eine erhöhte Inzidenz von Kardiomyopathien und plötzliche Todesfälle auch unabhängig von der Durchführung von Anästhesien berichtet. Eine Beteiligung des kardiovaskulären Systems bei der MH wird daher vermutet, bislang ist allerdings nicht abschließend geklärt, ob die Störungen der myokardialen Funktionen primärer Natur sind oder Folge von Hyperthermie, Azidose und Elektrolytveränderungen. Untersuchungen an MH-positiven Schweinen ergaben Hinweise für eine Primärbeteiligung des zentralen Nervensystems bei der MH. So traten hirnelektrische Störungen im EEG bei der beginnenden MH-Krise regelmäßig vor Veränderungen systemischer Parameter auf und normalisierten sich unmittelbar nach Gabe von Dantrolen. In Hepatozyten von MH-positiven Schweinen lässt sich ebenfalls eine gestörte Ca2+-Regulation nachweisen. ! Es ist daher sehr wahrscheinlich, dass der »MH-Defekt« nicht nur in Skelettmuskelzellen sondern auch an den Zellmembranen anderer Organsysteme lokalisiert ist.
49.4
Trigger der MH
! Sowohl alle volatilen Inhalationsanästhetika wie Halothan, Enfluran, Isofluran, Sevofluran und Desfluran als auch depolarisierende Muskelrelaxanzien vom Typ des Succinylcholins sind Triggersubstanzen der MH (. Tab. 49.1).
. Tabelle 49.1. Triggersubstanzen und Anästhetika ohne Triggerpotenz bei Disposition zu Maligner Hyperthermie Triggersubstanzen
Anästhetika ohne Triggerpotenz
Volatile Inhalationsanästhetika 5 Halothan 5 Enfluran 5 Isofluran 5 Desfluran 5 Sevofluran
5 5 5 5 5
Depolarisierende Muskelrelaxanzien 5 Succinylcholin
5 nicht-depolarisierende Muskelrelaxanzien 5 Lachgas 5 Ketamin (besondere Indikationsstellung) 5 Xenon
Etomidat Barbiturate Propofol Benzodiazepine Lokalanästhetika vom Ester- und Amid-Typ 5 Opioide
49
490
Kapitel 49 · Maligne Hyperthermie
! Cave Alle volatilen Inhalationsanästhetika sind daher bei Patienten mit MH-Veranlagung absolut kontraindiziert.
49
Ketamin selbst ist keine MH-Triggersubstanz, allerdings ist der Einsatz von Ketamin bei MH-Patienten kritisch zu bewerten, da Ketamin über eine Aktivierung des sympathischen Nervensystems zu tachykarden Herzrhythmusstörungen führen kann. Außerdem induziert Ketamin, vermutlich über zentrale Effekte, eine Steigerung des Muskeltonus. Diese Wirkungen können die klinische Diagnose einer MH erschweren. ! Ketamin sollte bei Patienten mit MH-Veranlagung nicht eingesetzt werden, da durch Ketamin MH-ähnliche Symptome hervorgerufen werden können.
Phenothiazine, MAO-Inhibitoren und trizyklische Antidepressiva können das maligne neuroleptische Syndrom (MNS) auslösen, dessen klinische Symptomatik mit Fieber, Rigor der Skelettmuskulatur und Tachykardie der MH ähnelt. Die Ursache des MNS beruht jedoch nicht auf einer peripheren Stoffwechselstörung wie die MH, sondern einer Dysregulation zentraler Dopaminrezeptoren. Aufgrund der ähnlichen klinischen Symptomatik wird empfohlen, diese Medikamente bei MH-Patienten nicht einzusetzen. ! Physischer und psychischer Stress können MH-typische Episoden auslösen.
In einer Untersuchung an Patienten, die nach starker physischer Belastung eine Rhabdomyolyse und weitere MH-typische Symptome entwickelt hatten, konnte in den meisten Fällen eine MH-Disposition nachgewiesen werden. Allerdings ist der Anteil der MH-Patienten, die auf körperliche Belastungen mit MH-typischen Symptomen reagieren, insgesamt äußerst gering.
49.5
Klinische Symptomatik
Die klinische Symptomatik der MH ist variabel und reicht von abortiven Formen mit nur einem oder wenigen Symptomen oder einer geringen Ausprägung verschiedener Symptome, über moderate Verlaufsformen bis hin zur klassischen fulminanten MH-Krise. Die Ursachen für diese Variabilität sind noch nicht vollständig geklärt, vermutet werden jedoch Unterschiede in der Potenz der verschiedenen MH-Triggersubstanzen, der Konzentration und der Expositionsdauer der Trigger, aber auch weitere Faktoren, wie Temperatur, Alter und letztlich genetische Unterschiede spielen vermutlich eine Rolle. Fulminante Krisen wurden
in 6,5 % aller MH-Fälle beobachtet, vermutlich liegt der Anteil jedoch deutlich niedriger, da abortive Verläufe der MH leicht übersehen werden und somit keinen Eingang in Statistiken fanden.
49.5.1 Fulminante Krise ! Tachykarde Herzrhythmusstörungen, supraventrikuläre und ventrikuläre Arrhythmien sowie Extrasystolen bis hin zum Herzstillstand sind mit über 80 % die häufigsten Frühsymptome der MH-Krise.
Wesentliche Differenzialdiagnosen des Anstiegs der endtidal gemessenen CO2-Konzentration während einer Allgemeinanästhesie 1. Anstieg der CO2-Produktion: – Fieber – Flache Anästhesie – Maligne Hyperthermie 2. Exogene Aufnahme von CO2: – Laparoskopische Operationen 3. Inadäquate Atmung/Beatmung – Zentrale Dämpfung des medullären Atemzentrums unter Spontanatmung – Neuromuskuläre Schwächung unter Spontanatmung – Inadäquate Respiratoreinstellungen – Funktionsstörungen des Narkosegerätes – Erhöhter Atemwegswiderstand (z. B. Bronchospasmus, Atemwegsobstruktion, einseitige Intubation, chronisch obstruktive Lungenerkrankung, dekompensierte Herzinsuffizienz, Hämatothorax, Pneumothorax) – Rückatmung des Atemgases (verbrauchter Absorberkalk, Ventildysfunktion, nicht ausreichender Frischgasfluss) 4. Funktionsstörung des Monitorings
Ein rascher Anstieg der endexspiratorisch gemessenen CO2-Konzentration bei unveränderten Beatmungsbedingungen ist ebenfalls ein sensitives und spezifisches Frühzeichen der MH beim kontrolliert beatmeten Patienten. Nach Ausschluss anderer Ursachen (7 Übersicht zur Differenzialdiagnose bei Anstieg der endtidalen CO2-Konzentration) muss durch eine Blutgasanalyse die endexspiratorische Messung verifiziert werden. Spontanatmende bzw. nicht relaxierte Patienten können in der Frühphase durch
491 49.5 · Klinische Symptomatik
Hyperventilation auffallen. Ein weiteres Frühwarnzeichen der MH kann ein Spasmus der Massetermuskulatur unmittelbar nach Gabe von Succinylcholin sein. Der Masseterspasmus ist jedoch auch ein unspezifisches Zeichen und muss nicht Ausdruck einer beginnenden MH-Krise sein. Bei 50–80 % der Patienten tritt zudem ein generalisierter Muskelrigor auf. ! Die Symptome in der Frühphase einer MH-Krise sind zumeist unspezifisch und können daher falsch interpretiert werden.
Sofern die Frühsymptome der MH nicht erkannt und keine entsprechende Therapie eingeleitet wird, kommt es zu einer fortschreitenden Entgleisung des hypermetabolen Stoffwechsels. Die Haut, die initial aufgrund des starken Anstiegs der Katecholaminspiegel stark gerötet sein kann, zeigt im Verlauf eine ausgeprägte Zyanose und/oder eine starke Schweißentwicklung. Als Ursache für diese Veränderungen werden einerseits der gesteigerte Sauerstoffverbrauch und andererseits der Abfall des Herzzeitvolumens angesehen. Wesentliche Differenzialdiagnosen des Anstiegs der Körpertemperatur während einer Allgemeinanästhesie 1. Verminderte Wärmeabgabe (hohe Umgebungstemperatur, Patientenabdeckung) 2. Exogene Wärmezufuhr (Wärmedecken, -matten, Blutwärmer) 3. Funktionsstörung des Monitorings 4. Erhöhte Wärmeproduktion – Gesteigerte Muskelarbeit (Shivering, Tetanus, Status epilepticus) – Maligne Hyperthermie – Sepsis, Freisetzung von Entzündungsmediatoren – Reaktion auf Pyrogene (Transfusionen, Infusionen) – Thyreotoxikose – Phäochromozytom – Osteogenesis imperfecta 5. Funktionsstörung des ZNS – Hypothalamische Hyperpyrexie (Sauerstoffmangel, Ödem, Trauma, Tumor) – Spinale Hyperthermie (z. B. Halsmarkläsion) – Gabe von ionischem Kontrastmittel in den Liquorraum 6
6. Arzneimittelreaktionen – Neuroleptisches Malignes Syndrom (NMS) – Sympathomimetika (Monoaminoxidase-Inhibitoren, Amphetamine, Kokain, trizyklische Antidepressiva) – Anticholinergika (Atropin, Scopolamin) 7. Sonstiges – Dehydratation – Fettembolie
Die Hyperthermie entwickelt sich in den meisten Fällen langsam und ist in der Regel ein Spätsymptom der Erkrankung. Der Temperaturanstieg ist in seiner Ausprägung sehr variabel und auch nicht bei allen MH-Krisen nachweisbar. Der Verlauf des Temperaturanstieges ist differenzialdiagnostisch und prognostisch von größerer Bedeutung als das gemessene Temperaturmaximum (7 Übersicht Differenzialdiagnostik bei Anstieg der Körpertemperatur). Bei der fulminanten MH-Krise können Temperaturanstiege von bis zu 1 °C/5 min gemessen werden. ! Die Hyperthermie tritt nicht bei allen MH-Krisen auf und ist bereits ein Spätsymptom.
Laborchemisch lässt sich bei der MH eine respiratorische und metabolische Azidose mit negativem Basenüberschuss und Laktatämie nachweisen. In der Blutgasanalyse können Hyperkarbie und Hypoxie gefunden werden, zentralvenös entnommene Blutgase spiegeln den Beginn und die Schwere des Syndroms besser wider als arterielle Blutgase. Zentralvenöse PaCO2-Werte von t 60 mmHg und ein Basenüberschuss von –5 bis –7 mmol/l gelten nach Ausschluss anderer Ursachen als Indikatoren für die MH. Der Hypermetabolismus induziert Permeabilitätsstörungen der Skelettmuskelzellmembranen und die Freisetzung von intrazellulärem Kalium und Kalzium. Bei schweren Schädigungen der Skelettmuskulatur ist Myoglobin in Blut und Urin nachweisbar. Bei massiver Rhabdomyolyse sind im Blut exzessiv erhöhte Werte der Kreatinphosphokinase (CK) und der Transaminasen messbar. ! Der Anstieg der CK-Werte beginnt erst nach ca. 4–6 h und der Maximalwert wird in der Regel erst nach 24–48 h erreicht.
Rhabdomyolyse und Myoglobinurie können die Entwicklung eines akuten Nierenversagens begünstigen. Darüber hinaus wurden neurologische Störungen und Hirn-
49
492
Kapitel 49 · Maligne Hyperthermie
49
. Abb. 49.2. Narkoseprotokoll (a) einer MH-Krise bei einem 42-jährigen Patienten, der sich Allgemeinanästhesie einer Cholezystektomie unterziehen musste. b und c zeigen die Blutgasanalysen während der MH sowie die postanästhesiologischen Kreatinkinase (CK) Werte.
ödeme beschrieben. Das Endstadium der MH-Krise kann kompliziert werden durch Verbrauchskoagulopathie und Lungenödem. Bei inadäquater oder zu später Therapie versterben die Patienten zumeist an Hypo- oder Asystolie, bei längeren Verläufen besteht die Gefahr eines Multiorganversagens.
: Beispiel Ein 42-jähriger Patient musste sich einer Cholezystektomie in Allgemeinanästhesie unterziehen. Es war die erste Operation für den Patienten und es lagen keine relevanten Vorerkrankungen in der Eigen- und Familienanamnese vor. Der 6
493 49.5 · Klinische Symptomatik
Anästhesieverlauf ist schematisch in . Abb. 49.2 dargestellt. Nach Prämedikation mit Dormicum erhielt der Patient im Narkoseeinleitungsraum zunächst Dehydrobenzperidol (DHB) und Atropin zur Vorbereitung. Die Allgemeinanästhesie wurde dann durch die intravenöse Gabe von Etomidat, Fentanyl und Succinylcholin eingeleitet. Nach der endotrachealen Intubation wurde der Patient mit Cis-Atracurium relaxiert und die Anästhesie durch Gabe von Isofluran in einem Sauerstoff/Lachgas-Gemisch aufrechterhalten. Bei Entwicklung einer Tachykardie wurde die Anästhesie vor OP-Beginn durch erneute Gabe von Etomidat und Fentanyl vertieft. Die Herzfrequenz stieg jedoch weiter an, zusätzlich traten ventrikuläre Extrasystolen auf und es entwickelte sich eine arterielle Hypotonie. Die endtidal gemessene CO2-Konzentration (etCO2) stieg trotz bereits gesteigertem AMV auf 76 mmHg, die Blutgasanalytik zeigte eine schwere Azidose. Zu diesem Zeitpunkt wurde die Verdachtsdiagnose einer Malignen Hyperthermie gestellt und die Operation abgebrochen. Die Gabe von Isofluran wurde beendet, der Patient mit 100 % Sauerstoff beatmet. Weiterhin wurde das Atemminutenvolumen auf 18 l/min gesteigert. Die Anästhesisten vertieften die Narkose weiter durch Gabe von Fentanyl und Cis-Atracurium sowie kontinuierliche Gabe von Propofol und behandelten die hypotone Kreislaufsituation mit Akrinor. Zunächst wurden Dantrolen in einer Dosierung von 2,5 mg/kg KG sowie 100 ml Natriumbikarbonat gegeben. Die Tachykardie und die Hypotonie sowie das etCO2 waren unter dieser Therapie rückläufig, bei nun rasch ansteigender Körpertemperatur wurde jedoch ein weiterer Dantrolenbolus appliziert. Nach Gabe von weiteren 100 ml Natriumbikarbonat, Infusion von kalten Infusionen sowie externer Kühlung mit Eis war die hypermetabole Symptomatik langsam rückläufig. Nach weiterer Stabilisierung wurde mit der kontinuierlichen Gabe von Dantrolen begonnen und der Patient auf die Intensivstation verlegt. Der weitere Verlauf war unkompliziert, der maximale CK-Wert am 1. postoperativen Tag betrug 21986 U/l. Eine Woche nach dem Ereignis konnte der Patient aus dem Krankenhaus entlassen werden. Sechs Monate später stellte sich der Patient in der MH-Sprechstunde vor, und mit dem invitro- Kontrakturtest nach dem Protokoll der Europäischen MH-Gruppe wurde eine MH-Veranlagung nachgewiesen. Myopathologisch zeigte sich ein Normalbefund, molekulargenetisch konnte eine MH-assoziierte C1840-T-Mutation nachgewiesen werden. Im Rahmen der weiteren Familienuntersuchung konnten auch beim Vater und zwei Kindern des Patienten die MH-Veranlagung und eine C1840-T-Mutation nachgewiesen werden.
49.5.2 Abor tive Verlaufsformen Tachykardien oder Arrhythmien, signifikante Anstiege der CK oder Störungen im Säure-Basen-Haushalt mit und ohne Masseterspasmus nach Gabe von MH-Triggersubstanzen können Zeichen einer abortiven Verlaufsform der MH sein. Die Anzeichen sind unspezifisch und werden daher möglicherweise fehlgedeutet. Darüber hinaus müssen zahlreiche Differenzialdiagnosen in Betracht gezogen werden (z. B. allergische Reaktionen, Elektrolytimbalancen, Lungenembolie etc.). Wird allerdings die Verdachtsdiagnose einer MH gestellt, muss der Patient entsprechend überwacht und konsequent therapiert werden. Anschließend erfolgt die Information des Patienten über die Verdachtsdiagnose und die Kontaktaufnahme mit einem etablierten MH-Testzentrum, um das weitere Vorgehen (MH-Diagnostik, Familienberatung etc.) abzustimmen.
49.5.3 Masseterspasmus Der Masseterspasmus (»Trismus«) ist definiert als unvollständige Relaxation der Kiefermuskulatur nach Gabe von Succinylcholin, welche durch die zusätzliche Gabe von Halothan (und vermutlich allen volatilen Anästhetika) massiv verstärkt werden kann. Der Masseterspasmus ist eine normale Reaktion auf die Gabe von Succinylcholin und beruht auf einer im Vergleich zur übrigen Skelettmuskulatur veränderten Fasertypzusammensetzung der Kiefermuskulatur. Bei Patienten ohne MH-Veranlagung konnte gezeigt werden, dass Succinylcholin einerseits zu einem passager erhöhten Widerstand der Kiefermuskulatur und einer Reduktion der Mundöffnung führt, andererseits eine komplette Relaxation der übrigen Skelettmuskulatur induzierte. : Beispiel Ein lange andauernder (> 90 s) Trismus, der die direkte Laryngoskopie und Intubation verhindert, der so genannte »jaw of steel«, ist hingegen eine pathologische Reaktion.
Als Ursache für diese Reaktion wurden neben der MH auch Myotonien und andere Myopathien vermutet, so konnte gezeigt werden, dass bei 50 % der Patienten mit einem »jaw of steel« eine MH-Veranlagung vorlag. Bei leichten Formen eines Masseterspasmus sollte die Narkose ohne MH-Triggersubstanzen weitergeführt, das Monitoring erweitert (z. B. kontinuierliche Temperaturmessung) und die Blutgase und Elektrolyte bestimmt werden. Im weiteren Verlauf sollten über einen Zeitraum von mindestens 24 h regelmäßige Messungen des CK-Werts erfolgen. Bei ausgeprägten Formen muss die Verdachtsdiagnose
49
494
Kapitel 49 · Maligne Hyperthermie
. Tabelle 49.2. Therapie der Malignen Hyperthermie (MH) gemäß den Leitlinien der Deutschen Gesellschaft für Anästhesiologie und Intensivmedizin
49
Primärmaßnahmen
Sekundärmaßnahmen
1. Zufuhr von Triggersubstanzen beenden und Entfernung des Narkosegasverdampfers vom Narkosegerät 2. Hyperventilation mit dem 3–4fachen des kalkulierten Atemminutenvolumens. Die FiO2 auf 1,0 und den Frischgasfluss auf 10 l/min einstellen (kein Wechsel des Narkosegeräts) 3. Vertiefung der Narkose mit Opioiden und Sedativa; Relaxierung mit nicht-depolarisierenden Muskelrelaxanzien 4. Blutkontrollen (Blutgasanalyse, Elektrolyte, CK, Transaminasen, Laktat und Myoglobin); regelmäßige Wiederholung zur Überprüfung des Therapieer folges 5. Schnellstmögliche Bolusgabe von Dantrolen: 2,5 mg/kg KG bzw. bis zum Sistieren der MH-Symptomatik; anschließend Fortführung der Dantrolentherapie mit 10 mg/kg KG für 24 h 6. Azidosekorrektur mit Natriumhydrogenkarbonat (1–2 mval/ kg KG); Therapie einer möglichen Hyperkaliämie mit z. B. Glukose-Insulin-Infusionen 7. Bei Bedarf Therapie mit Antiarrhythmika; Kalziumantagonisten und Digitalis sind kontraindiziert! 8. Abbruch bzw. rasche Beendigung des operativen Eingriffs
1. Erweiterung des Monitorings: arterielle Kanülierung, ZVK und Blasenkatheter; bei schwerer Herz-Kreislaufdepression Messung des Herzzeitvolumens (z. B. Pulmonaliskatheter, transösophageale Echokardiographie und/oder Pulskonturanalyse) 2. Kühlung des Patienten: Oberflächenkühlung mit Eis, eisgekühlte Infusionen, evtl. Eiswasserspülungen 3. Forcierte Diurese mit Schleifendiuretika zur Prävention eines akuten Nierenversagens; Urinproduktion > 2 ml/kg/h 4. Nach Stabilisierung des Patienten Fortführung der Therapie und des Monitorings (Blutanalysen!) auf einer anästhesiologischen Intensivstation 5. Beim Erwachsenen Low-dose-Heparinisierung 6. Aufklärung des Patienten und der Familienangehörigen. Ausstellung eines Attestes; Zuweisung an ein MH-Testzentrum zur weiteren Beratung und Diagnostik
Nach Wappler F. et al. Anästhesiologie & Intensivmedizin 2002; 43: 50–54
einer MH gestellt, das Narkoseregime abgeändert und die Therapie unverzüglich eingeleitet werden. Nach jedem Masseterspasmus müssen der betroffene Patient und dessen Familienangehörige über den MH-Verdacht informiert und eine MH-Diagnostik empfohlen werden.
49.6
Therapie
Die wesentlichen pathophysiologischen Mechanismen im Rahmen einer MH-Krise sowie die entsprechende Therapie und die Therapieziele sind im Algorithmus der MH dargestellt (. Abb. 49.3). Die Therapie der MH muss nach Stellung der Verdachtsdiagnose unverzüglich eingeleitet und konsequent durchgeführt werden. Die Durchführung einer suffizienten Therapie ist personalintensiv und erfordert die frühzeitige Unterstützung durch weitere Anästhesisten und Pflegepersonal. Die wesentlichen therapeutischen Maßnahmen sind in den Leitlinien der Deutschen Gesellschaft für Anästhesiologie und Intensivmedizin festgelegt (. Tab. 49.2).
49.7
Postanästhesiologisches Management
Nach Stabilisierung des Patienten sind eine intensivmedizinische Überwachung mit adäquaten Monitoring sowie
das Fortführen der Dantrolentherapie erforderlich. Die Laborparameter (insbesondere Blutgasanalysen, Elektrolyte, CK und Nierenfunktionswerte) sind engmaschig zu kontrollieren. Die Messungen der CK, Transaminasen und Myoglobin (im Serum und Urin) geben Aufschluss über das Ausmaß der Muskelschädigung, Kontrollen des Blutbildes können bei schwersten Verläufen Hinweise auf eine Hämolyse geben. Bei Schockzuständen mit Freisetzung von Gewebethromboplastin und Hämolyse können sich eine disseminierte intravasale Gerinnung sowie eine Verbrauchskoagulopathie entwickeln. Daher sollten die Patienten frühzeitig eine Low-dose-Heparinisierung erhalten und die Gerinnungsparameter regelmäßig kontrolliert werden. Die MH kann bei rechtzeitigem Erkennen der Symptomatik und unverzüglicher Behandlung in den meisten Fällen erfolgreich therapiert werden. Die Mortalität sank in den letzten Jahren auf unter 10 %. Dem Patienten muss ein Attest über die MH-Veranlagung ausgestellt und er sowie seine Angehörigen an ein MH-Zentrum zur weiteren Beratung und MH-Diagnostik überwiesen werden. ! Von entscheidender Bedeutung für den Patienten und dessen Familienangehörige ist die Aufklärung über die Veranlagung zur MH, um weitere Narkosezwischenfälle in der Familie zu vermeiden.
495 49.8 · Präanästhesiologische Evaluierung
Maligne Hyperthermie
VO2 ↑ VCO2 ↑
Sympathikus ↑
Hpoxämie, Hyperkapnie
Tachykardie, Rhythmusstörungen
Pathophysiologie: zytosol. aerobe Glycolyse ↑, (hypermetaboles später anaerob Ca++ ↑ Syndrom)
Symptome: (foudroyanter Verlauf )
Azidose, Laktatämie
mangelde PermeabilitätsMuskelerschlaffung steigerung der Kontraktur Muskelzellmembran
Rigor
Austritt von Temperatur ↑ K+, Na+, CK (Rhabdomyolyse)
„gefleckte Zyanose“
Therapie: Dantrolen (initial 2,5 mg/kg; weiter Symptom-orientiert) - spezifisch (sofort und in Intensivtherapie) - symptomatisch FiO2 1.0, Antiarrhythmika NaHCO3 (β-Blocker, AMV x 3 evtl. Lidocain)
Elektrolytausgleich, Kühlung Volumenzufuhr, forcierte Diurese
Therapieziel: frühzeitiger Ausgleich aller Störungen (Kontrollen!) restitutio ad integrum. . Abb. 49.3. Algorithmus der Malignen Hyperthermie (aus Wappler J et al [2002] Anästhesie und Intensivmedizin 43: 50–54)
49.8
Präanästhesiologische Evaluierung
49.8.1 Identifizierung der MH-Veranlagung ! Ein präoperativer Screening-Test zur Identifizierung der MH-Veranlagung steht bislang nicht zur Verfügung.
Daher sollte im Rahmen der Anamneseerhebung vor einer Anästhesie gezielt nach ungeklärten Komplikationen sowie nach Fieberschüben, Muskelschmerzen und Gelenksteife oder Verfärbung des Urins im Zusammenhang mit Narkosen beim Patienten und dessen Familie gefragt werden. Weiterhin sollte gezielt nach Muskelerkrankungen beim Patienten und der Familie gefragt werden. Hinweise auf Myopathien können z. B. rezidivierende Myalgien, Muskelkrämpfe und Urinverfärbungen in Ruhe oder nach körperlicher Belastung sein. Bei entsprechender Anamnese sollte präoperativ der CK-Wert bestimmt und eine neurologische Untersuchung durchgeführt werden. ! Bei konkreten Hinweisen auf eine MH-Veranlagung oder myopathologische Erkrankungen, sind eine triggerfreie Narkoseführung und ein entsprechendes Monitoring obligat.
Die präoperative Messung der CK kann zwar Hinweise für einen gestörten Muskelstoffwechsel liefern, hat sich jedoch nicht zur Identifizierung der MH-Disposition bewährt.
49.8.2 In-vitro- Kontraktur testung Der In-vitro- Kontrakturtest (IVKT) ist das Standardverfahren zur präsymptomatischen Diagnostik der MH-Veranlagung. Für den IVKT muss dem Patienten durch eine offene Biopsie eine Probe aus dem Musculus quadriceps femoris entnommen werden. Die Präparation der Muskelprobe und der Versuchsaufbau und -ablauf erfolgen in Europa standardisiert nach dem Protokoll der »European MH Group«. Die Diagnostik weist eine Sensitivität von 99 % und eine Spezifität von 94 % auf.
49.8.3 Molekulargenetik Aufgrund der großen Vielfalt von Genotypveränderungen ist die Diagnose der MH-Disposition mit molekulargenetischen Methoden nur in einigen wenigen Fällen möglich. Ist sowohl durch den IVKT eine MH-Veranlagung als auch molekulargenetisch eine von 20 definierten Mutationen im Ryanodinrezeptorgen nachgewiesen, so kann die MH-Veranlagung inner-
49
496
Kapitel 49 · Maligne Hyperthermie
halb dieser Familie durch Nachweis der bekannten Mutation bestimmt werden. Ist eine Mutation nachweisbar, so wird die Diagnose MHS ohne weitere IVKT-Untersuchung gestellt. Ist die Mutation nicht nachweisbar, so muss zur definitiven Diagnosestellung der IVKT durchgeführt werden. ! Eine MH-Veranlagung kann durch ein negatives Mutationsscreening nicht ausgeschlossen werden, hierfür ist immer ein negativer IVKT er forderlich.
49
49.8.4 Alternative Testver fahren In den vergangenen Jahrzehnten wurden eine Vielzahl unterschiedlicher Untersuchungsmethoden zur MH-Diagnostik, z. B. Magnetresonanzspektroskopie, Thrombozytenfunktionstests, Mikrodialyseverfahren, Kalziumkonzentrationsmessungen u.v.m., vorgeschlagen. ! Bislang konnte kein anderes Verfahren eine mit dem IVKT vergleichbare diagnostische Genauigkeit erbringen; der IVKT bleibt daher das Standardverfahren zur präsymptomatischen Diagnose der MH-Veranlagung.
49.9
Anästhesie bei Patienten mit MH-Veranlagung
Zur Narkosevorbereitung von Patienten mit nachgewiesener oder vermuteter MH-Veranlagung müssen neben den Routinemaßnahmen relevante Laborparameter wie Blutgasanalyse, Elektrolyte und CK-Wert, insbesondere zur Abschätzung von Veränderungen im Rahmen der Anästhesie, bestimmt werden. Bei Anhaltspunkten für eine neuromuskuläre Erkrankung sollte zusätzlich ein neurologischer Status erhoben werden. Wesentliche Vorbefunde für die Planung der Narkose, insbesondere alte Narkoseprotokolle oder Arztberichte, sollten präoperativ vorliegen. Stress kann möglicherweise auch beim Menschen eine Rolle bei der MH-Induktion spielen, sodass ein ausführliches Gespräch zur Information und Beruhigung des Patienten bei der präoperativen Visite ausgesprochen wichtig ist. Zusätzlich ist eine suffiziente Prämedikation empfehlenswert. Aufgrund der günstigen pharmakologischen Eigenschaften (Anxiolyse, Muskelrelaxierung und Amnesie) haben sich die Benzodiazepine hierzu bewährt. ! Die früher empfohlene prophylaktische Gabe von Dantrolen zur Senkung des MH-Risikos ist bei trigger freier Narkoseführung und entsprechendem Monitoring heute als obsolet anzusehen.
Die Vorbereitung des Narkosegeräts beinhaltet das Entfernen des Narkosegasverdampfers vom Gerät sowie die Erneuerung aller Teile des Geräts, die mit dem Gasstrom in Verbindung stehen (Narkoseschläuche, Absorberkalk etc.). Anschließend wird das Gerät für mindestens 10 min mit einem Frischgasflow von 10 l/min gespült. Für den Notfall muss Dantrolen in einer Dosierung von 10 mg/kg für den Patienten bereitgestellt werden. Das Monitoring umfasst mindestens EKG, Blutdruckmessung, Kapnometrie, Pulsoxymetrie und kontinuierliche Temperaturmessung. Großlumige periphervenöse Zugänge erleichtern die Blutabnahme für die Kontrolle von Laborparametern. Die Indikation für ein invasives Monitoring sollte in Abhängigkeit von dem operativen Eingriff großzügig gestellt werden. Ein Intensivtherapieplatz sollte für den Notfall bereitstehen. Die Narkose wird entweder als triggerfreie Allgemeinanästhesie oder als Regionalanästhesie durchgeführt. Die Narkoseeinleitung sollte in stressfreier Umgebung erfolgen. Für die Allgemeinanästhesie haben sich Opioide, Barbiturate, Etomidat, Propofol, Benzodiazepine und Lachgas als unbedenklich erwiesen (. Tab. 49.1). Alle gebräuchlichen nicht-depolarisierenden Muskelrelaxanzien dürfen verwendet werden. Bei der Regionalanästhesie können alle Lokalanästhetika sowohl vom Ester- als auch vom Amidtyp eingesetzt werden. Die postoperative anästhesiologische Überwachung muss nach kleineren Eingriffen mindestens 4–6 h und nach größeren Operationen ca. 24 h betragen. Die Indikation zur intensivmedizinischen Überwachung sollte in Abhängigkeit vom operativen Eingriff und anästhesiologischem Verlauf großzügig gestellt werden. Postoperativ werden regelmäßig Laborkontrollen durchgeführt.
49.10
MH und andere Erkrankungen
Unspezifische myopathologische Veränderungen lassen sich bei etwa 30–50 % der Patienten mit MH-Veranlagung nachweisen. Spezifische Myopathien, wie z. B. Muskeldystrophie Typ Duchenne oder Becker, Central Core Disease oder Myotonia congenita werden nur bei ca. 5 % der MH-Patienten beschrieben. Die einzige neuromuskuläre Erkrankung, für die ein genetischer Zusammenhang mit der MH gesichert scheint, ist die autosomal-dominant vererbte Central Core Disease. So ließ sich in molekulargenetischen Studien eine Kopplung zwischen dem Gen für die Central Core Disease und dem Ryanodin-Rezeptorgen nachweisen. Auch für das King-Denborough-Syndrom, eine seltene Erkrankung, die durch Kleinwuchs, Ptose und Skelettdeformitäten gekenn-
497 Literatur
zeichnet ist, und die Myotonia congenita wurde eine enge Assoziation mit der MH beschrieben. Für zahlreiche andere Erkrankungen wie z. B. das Maligne Neuroleptische Syndrom (MNS), die Osteogenesis imperfecta, den Hitzschlag oder den plötzlichen Kindstod wurden Beziehungen zur MH hergestellt. Die Assoziationen dieser Erkrankungen zur MH sind jedoch zweifelhaft und wurden bislang nicht durch klinische Studien belegt. Fazit Die MH ist eine latente Myopathie, der ein genetisch determinierter Defekt der intrazellulären Kalziumhomöostase zugrunde liegt. Nach Gabe bestimmter Anästhetika kann eine lebensbedrohliche, hypermetabole Stoffwechselstörung mit Azidose, Hyperkapnie, Hypoxämie, Rigor, Rhabdomyolyse, Elektrolytentgleisungen, Herz-Kreislaufstörungen und Fieber auftreten. Neben der symptomatischen Therapie steht bei der MH-Krise die Gabe von Dantrolen im Mittelpunkt der Behandlung. Ein Screening-Test für die MH steht bislang nicht zur Verfügung. Bei Verdacht erfolgt der Nachweis einer MH-Veranlagung durch den In-vitro- Kontrakturtest mit Halothan und Koffein. Bei bekannter MH-Veranlagung werden Anästhesien frei von MH-Triggersubstanzen und unter erweitertem Monitoring durchgeführt.
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49
50 Diagnostik und Therapie der Lungenembolie Maria Breulmann 50.1 Pathophysiologie –500 50.2 Pulmonaler Gasaustausch –501 50.3 Basisdiagnostik –501 50.4 Spezifische Diagnostik –501 50.4.1 D-Dimere –501 50.4.2 Echokardiographie –502 50.4.3 Radiologische Diagnostik –503
50.5 Therapie –503 50.5.1 Chirurgische Embolektomie –504 50.5.2 Thrombolyse –504 50.5.3 Vena-cava-Filter –505
Literatur –505
500
Kapitel 50 · Diagnostik und Therapie der Lungenembolie
)) . Tabelle 50.1. Einteilung* der Lungenembolien
50
Eine Lungenembolie entsteht durch die embolische Verlegung eines Pulmonalarterienasts. Häufigste Quelle von Embolien sind Thrombosen der tiefen Bein- und Beckenvenen (TVT), seltenere Ursachen sind die Verschleppung von Fett, Luft, Knochenzement oder Amnionflüssigkeit in die Lungenstrombahn. Nach der gängigen Klassifikation der Lungenembolien wird das Krankheitsbild, abhängig von Lokalisation und Ausmaß der Verlegung in der Pulmonalis-Angiographie sowie der Auswirkungen auf den Kreislauf in vier Schweregrade eingeteilt. Aktuell setzt sich zunehmend die einfachere Unterteilung in massive und nicht massive Lungenembolien allein nach klinischen und hämodynamischen Kriterien durch (. Tab. 50.1). Trotz detaillierter Kenntnisse über die Risikofaktoren für die Entstehung von Venenthrombosen und etablierten Strategien zur Prophylaxe und Therapie bleibt die Lungenembolie nach wie vor eine der Haupttodesursachen hospitalisierter Patienten. Ihre Letalität ist trotz beeindruckender Fortschritte bei den Diagnostikver fahren und etablierter, hochwirksamer Therapiemöglichkeiten in den vergangenen 30 Jahren fast unverändert geblieben – immer noch wird in einem hohen Prozentsatz die Diagnose erst post mortem gestellt. Da ein großer Teil der Patienten bereits innerhalb der ersten Stunde verstirbt, ist eine unverzügliche Diagnosestellung von herausragender Bedeutung für das Überleben der betroffenen Patienten.
50.1
Pathophysiologie
Die akute Verlegung von Teilen der Lungenstrombahn erzeugt einen Anstieg der rechtsventrikulären Nachlast, bis hin zur rechtsventrikulären Dekompensation. Akut lebensbedrohlich sind die Zustände, bei denen die Obstruktion mehr als 50 % des pulmonalen Gefäßbetts betrifft oder bei denen ein zentraler Embolus die Bifurkation der Pulmonalarterien verlegt (»reitender Embolus«). Experimentell konnte gezeigt werden, dass eine akute Erhöhung des pulmonalarteriellen Drucks (PAP) und die daraus folgende Druckbelastung des rechten Herzens erst nach einem embolischen Verschluss von mehr als 30 % der Lungenstrombahn zu er warten ist. Erst bei über 50 %iger Obstruktion kommt es zu einem kritischen Anstieg des pulmonalarteriellen Drucks mit der daraus folgenden Erhöhung der rechtsventrikulären Nachlast.
Massiv
Schock und/oder Hypotension (syst. RR < 90 mmHg oder RR-Abfall von > 40 mmHg für > 15 min, der nicht durch eine neu aufgetretene Arrhythmie, Hypovolämie oder Sepsis bedingt ist)
Nicht massiv
Lungenembolie ohne o. g. Kreislaufreaktion
Submassiv
Keine Kreislaufreaktion, jedoch echokardiographischer Nachweis von rechtsventrikulären Hypokinesien
* gemäß European Society of Cardiology 2000
Den Kompensationsmechanismen des rechten Ventrikels sind enge Grenzen gesetzt: Zunächst kann das HZV noch durch Zunahme der Herzfrequenz und (als Ausnutzung der Reserve nach dem Frank-Starling-Mechanismus) durch Zunahme des enddiastolischen Volumens aufrechterhalten werden. Der damit verbundene Anstieg des intracavitären Drucks, d. h. der Wandspannung führt jedoch gleichzeitig zu einer Zunahme des myokardialen Sauerstoffverbrauches. Die rechtsventrikuläre Koronarperfusion (RVCPP) ergibt sich aus der Differenz zwischen dem arteriellen Mitteldruck (MAP) und dem enddiastolischen Druck im rechten Ventrikel (RVCPP = MAP – RVEDP): ! Nimmt die Wandspannung zu und der arterielle Blutdruck ab, so entsteht ein Missverhältnis zwischen dem myokardialen Sauerstoffbedarf und dem Sauerstoffangebot.
Die fortschreitende Myokardischämie ist neben der Erhöhung des Aufwurfwiderstands durch die Gefäßokklusion der entscheidende Grund für die Verschlechterung der Pumpleistung und für das gefürchtete irreversible Rechtsherzversagen im Rahmen einer massiven Lungenembolie. Während in der frühen Phase der Blutdruck durch Vasokonstriktion im Systemkreislauf häufig noch aufrechterhalten werden kann, verschlechtert sich die Hämodynamik in dem Maße, wie die Füllung des linken Ventrikels durch Größenzunahme des rechten Ventrikels behindert wird. Da sich das Herz bei geschlossenem Perikard nur begrenzt ausdehnen kann, ist die Volumenzunahme der rechten Kammer begleitet von einer Verlagerung des intraventrikulären Septums nach links, sodass die Füllung des linken Ventrikels beeinträchtigt wird (Interdependenz der Ventrikel). Durch die Degranulation von Thrombozyten aus dem Embolus werden vasoaktive Substanzen wie Thromboxan und Serotonin freigesetzt, die den pulmonalarteriellen
501 50.4 · Spezifische Diagnostik
Druckanstieg durch zusätzliche Vasokonstriktion verstärken. Im Vergleich zu einer Verkleinerung des Gefäßbetts durch eine Lungenparenchymresektion resultiert daher bei der Lungenembolie ein stärker ausgeprägter Anstieg des pulmonalarteriellen Drucks. Neben dem arteriellen Druck stellt der pulmonalarterielle Druck den wichtigsten Parameter zur Beurteilung der hämodynamischen Folgen einer Lungenembolie dar. Der pulmonalarterielle Verschlussdruck (PCWP) und der zentrale Venendruck (ZVD) dagegen sind für diese Zwecke weniger geeignet: der PCWP stellt ein Maß für die Vorlast des linken Ventrikels dar, ein Anstieg des Drucks im rechten Vorhof bzw. des ZVD tritt häufig erst ein, wenn die Obstruktion der Lungenstrombahn 35–40 % beträgt und der mittlere pulmonalarterielle Druck 30 mmHg übersteigt.
50.2
Pulmonaler Gasaustausch
Betrachtet man das Ventilations/Perfusions-Verhältnis der Lunge, so ist das Hauptcharakteristikum einer Lungenarterienembolie die Unterbrechung der Perfusion in ventilierten Lungenarealen, d. h. eine akute Zunahme des alveolären Totraums (VD/VT). Bei nur partieller Okklusion des Gefäßes entstehen Bezirke mit hohem Ventilations/ Perfusions-Verhältnis (»high V/Q«), durch Umverteilung des Blutflusses aus embolisierten in »normal« durchblutete Bereiche resultiert dort eine regionale Hyperperfusion, d. h. eine Abnahme des Ventilations/Perfusions-Verhältnis (»low V/Q«). Diese beiden Vorgänge sowie eine häufig postulierte Störung der Surfactant-Synthese führen in der Summe zu einem Ventilations/Perfusions-Missverhältnis und einer Zunahme sowohl des alveoloären Totraums als auch des intrapulmonale Shunts (Qs/Qt).
Trotz dieser eingreifenden Veränderungen sind die klinischen Auswirkungen auf den pulmonalen Gasaustausch nicht immer sehr ausgeprägt: selbst bei massiver Lungenembolie kann der arterielle Sauerstoffpartialdruck unter Umständen nur mäßig verändert oder auch gar nicht beeinträchtigt sein. Während bei konstanter Ventilation (z. B. während maschineller Beatmung) durch die akute Zunahme des Totraums der arterielle CO2-Partialdruck umgehend ansteigt, fehlt dieser Befund meistens in der Blutgasanalyse von wachen, spontan atmenden Patienten. Diese sind häufig in der Lage, das Atemminutenvolumen (AMV) so weit zu steigern, dass die alveoläre Ventilation konstant bleibt (AMV = alveoläre Ventilation + Totraumventilation). Charakteristischerweise findet sich in daher bei vielen Patienten ein normaler bzw. erniedrigter pCO2-Wert in der Blutgasanalyse.
50.3
Basisdiagnostik
Dyspnoe, Thoraxschmerz, Hämoptyse und Tachypnoe sind Symptome, die gehäuft bei Patienten mit Lungenarterienembolie zu beobachten sind, die jedoch einzeln oder auch kombiniert ebenso bei einer Reihe anderer Krankheitsbilder auftreten können. Die Aussagekraft des EKG bei Lungenembolie ist äußerst begrenzt: neben der häufig auftretenden Sinustachykardie sind Gallopprhythmus, Veränderungen des Lagetyps, akuter Rechtsschenkelblock, ST-Strecken-Veränderungen und der S1/Q3-Typ weitere, seltener auftretende EKG-Veränderungen. Häufige Befunde im Röntgenbild des Thorax sind Plattenatelektasen, Pleuraergüsse, Lungeninfiltrate sowie ein Zwerchfellhochstand auf der betroffenen Lungenseite. Radiologische Zeichen eines abgelaufenen Lungeninfarkts oder die Rarefizierung der Gefäße (»amputierte Hili« = Westermannsches Zeichen) sind inkonstant und daher für die initiale Diagnosesicherung ungeeignet. ! Sowohl für die EKG- als auch für die Röntgendiagnostik gilt, dass sie – isoliert betrachtet – weder eine verlässliche Aussage über das Vorliegen einer Lungenembolie noch den Ausschluss einer Lungenembolie zulassen.
Hilfreich bei der Basisdiagnostik und äußerst praktikabel im Umfeld von Anästhesie und Intensivstation ist die dort in der Regel bettseitig verfügbare Kapnographie: eine deutliche Erhöhung des endexspiratorisch/arteriellen CO2-Gradienten (AaDCO2, physiologisch < 5 mmHg), weist auf eine akute Zunahme der Totraumventilation, z. B. bei Lungenembolie, hin.
50.4
Spezifische Diagnostik
50.4.1 D-Dimere D-Dimere sind Abbauprodukte des quervernetzten Fibrins, die im Rahmen einer Hyperfibrinolyse freigesetzt und mittels Latexagglutinationstest oder ELISA-Test im Plasma bestimmt werden. Bildung und Abbau von Fibrin sind allerdings nicht spezifisch für venöse Thombosen und Embolien. Zwar findet sich bei Patienten mit Lungenembolie fast immer eine Erhöhung des D-Dimer-Spiegels, jedoch werden auch bei nicht thrombotischen Krankheitsbildern wie Herzerkrankungen, Pneumonien, Malignomen sowie allgemein bei älteren Patienten und nach operativen Eingriffen erhöhte D-Dimer-Spiegel gemessen.
50
502
Kapitel 50 · Diagnostik und Therapie der Lungenembolie
. Abb. 50.1. Algorithmus bei klinischem Verdacht auf Lungenembolie
50
! Aufgrund des hohen negativen prädiktiven Werts des Verfahrens kann hingegen bei einem negativen D-Dimer-Test eine klinisch vermutete Lungenembolie ausgeschlossen werden.
50.4.2 Echokardiographie Mit der zunehmenden Verbreitung der Echokardiographie hat das Verfahren auch in der Intensivmedizin erheblich an Bedeutung gewonnen. Im Unterschied zu anderen bildgebenden Verfahren handelt es sich um eine bettseitige, nichtinvasive Untersuchungsmethode, die vor allem bei nicht transportfähigen, kreislaufinstabilen Patienten unschätzbare Vorteile bietet. Bei jeder höhergradigen Lungenarterienembolie lassen sich echokardiographisch die typischen Zeichen einer vermehrten Rechtsherzbelastung wie eine Dilatation des rechten Ventrikels, eine Verschiebung des interventrikulären Septums nach links sowie eine paradoxe Septumbewegung nachweisen. Bereits bei 30 %iger Obstruktion sind bei fast allen Patienten Wandbewegungsstörungen des rechten Ventrikels zu beobachten.
Die Echokardiographie erlaubt zudem bereits bei geringfügiger Trikuspidalinsuffizienz eine Einschätzung des Druckgradienten über der Trikuspidalklappe. Addiert man zu diesem Wert den rechtsatrialen Druck, so kann auch ohne Swan-Ganz-Katheter eine Aussage über die Höhe des pulmonalarteriellen Drucks getroffen werden. Eine direkte Darstellung von Thromben im Herzen oder in der Pulmonalarterie gelingt bei der transthorakalen Untersuchungstechnik allerdings nur bei weniger als 10 % der Patienten, bessere Ergebnisse werden mit der transösophagealen Echokardiographie (TEE) erzielt. Hiermit wird in manchen Untersuchungen eine fast so hohe Diagnosesicherheit erreicht wie mit dem Spiral-CT. Unabhängig vom Ausmaß der Verlegung der Lungenstrombahn und vom aktuellen klinischen Zustand des Patienten ist der Nachweis einer Hypokinesie des rechten Ventrikels offenbar ein unabhängiger prognostischer Parameter. Patienten mit < 50 %iger Obstruktion, jedoch echokardiographisch nachgewiesener Rechtsherzbelastung haben eine höhere Letalität als die Patienten ohne Rechtsherzbelastung. Für diese Patientengruppe wurde der Begriff der »submassiven Lungenembolie« vorgeschlagen (European Society of Cardiology 2000, . Tab. 50.1).
503 50.5 · Therapie
50.4.3 Radiologische Diagnostik Bei der Perfusionsszintigraphie reichert sich intravenös verabreichtes, radioaktiv markiertes Albumin im Kapillarbett der Lunge an. Aktivitätsanreicherung entspricht Bezirken mit erhaltener Perfusion, Aussparungen Bezirken mit unterbrochener Perfusion. Aus dem Verteilungsmuster kann auf das Vorliegen und das Ausmaß einer Lungenembolie geschlossen werden. Eine normale Perfusionsszintigraphie schließt eine Lungenembolie zuverlässig aus. Die Rate unsicherer oder nicht aussagekräftiger (»non diagnostic«) Szintigraphie-Befunde ist allerdings hoch. Lediglich durch Hinzunahme weiterer Symptome und Befunde, die für das Vorliegen einer Lungenembolie sprechen, kann mit dem Verfahren eine hohe Diagnosewahrscheinlichkeit, nie jedoch eine Diagnosesicherung erreicht werden. Diese wird nach heutigem Kenntnisstand am ehesten durch die Pulmonalisangiographie (»golden standard«) und wahrscheinlich mit annähernd gleicher Zuverlässigkeit durch das Spiral-CT erreicht - letzteres erlaubt zumindest bis auf die Ebene der lobären und segmentalen Äste der Pulmonalarterien eine sichere Aussage über eine erfolgte Thromboembolie. Zusammenfassend sind die klinischen Symptome einer Lungenembolie allesamt außerordentlich unspezifisch. Einfache apparative Untersuchungen wie das EKG und die Röntgenuntersuchung des Thorax sind wenig aussagekräftig. Ihre klinische Bedeutung liegt überwiegend in der Möglichkeit, differenzialdiagnostisch in Betracht kommende andere Erkrankungen auszuschließen. Den größten Stellenwert unter den bettseitigen Diagnoseverfahren haben die Messung der AaDCO2 und die Echokardiographie: findet sich in diesen Verfahren kein pathologischer Befund, kann eine klinisch relevante Lungenarterienembolie mit großer Sicherheit ausgeschlossen werden. Lässt sich der klinische Verdacht auf Lungenembolie dagegen echokardiographisch und durch Messung der AaDCO2 erhärten, so sollte – soweit der klinische Zustand des Patienten dies erlaubt – eine erweiterte Diagnostik mittels Perfusionsszintigraphie, Angiographie oder SpiralCT erfolgen; die beiden letzteren Verfahren erlauben im Gegensatz zu allen anderen Verfahren einen Nachweis der Lungenembolie; dieser ist umso bedeutsamer, je höher das Therapierisiko des Patienten ist. Da nicht alle angesprochenen Diagnostikverfahren flächendeckend und rund um die Uhr verfügbar sind, ist im Hinblick auf die vitale Bedrohung einer drohenden Rechtsherzdekompensation die Etablierung eines auf die lokalen
diagnostischen Möglichkeiten abgestimmten Algorithmus von großer Bedeutung (. Abb. 50.1).
50.5
Therapie
! Ziele der Therapie bei einer Lungenembolie sind die hämodynamische Stabilisierung, eine adäquate Oxygenierung, eine Rekanalisierung der Lungenstrombahn sowie eine Rezidivprophylaxe.
Bei stabiler Kreislaufsituation ohne echokardiographischen Hinweis auf eine rechtsventrikuläre Belastung (»nicht-massive Lungenembolie«, . Tab. 50.1) ist eine therapeutische Heparinisierung ausreichend. Diese kann entweder mit unfraktioniertem Heparin unter Kontrolle der PTT (angestrebter Bereich 1,5–2fach normal) oder alternativ mit niedermolekularem Heparin erfolgen. Hauptziel bei der Therapie einer massiven Lungenembolie muss die umgehende Wiedereröffnung der Lungenstrombahn sein, um durch eine Minderung der RVNachlast ein Rechtsherzversagen zu verhindern. Die vitale Bedrohung ist umso größer, je ausgedehnter die Verlegung der Lungenstrombahn ist. Allerdings haben Untersuchungen gezeigt, dass auch nicht-massive Lungenembolien, bei denen sich echokardiographisch schon in der Akutphase Störungen der rechtsventrikulären Funktion nachweisen lassen, mit einer vergleichsweise hohen Letalität einhergehen (»submassive Lungenembolien«, . Tab. 50.1). Auch bei einem kardiopulmonal vorgeschädigten Patienten kann eine Verlegung von deutlich unter 50 % der pulmonalen Strombahn letal enden. Für die Prognose des Patienten ist neben der Sicherung der Diagnose die funktionelle Diagnostik von entscheidender Bedeutung. Über die Rechtsherzfunktion kann sowohl die Echokardiographie als auch die Messung des pulmonalarteriellen Druckes über Swanz-Ganz-Katheter Aufschluss geben. Wird ein pulmonalarterieller Mitteldruck von 40 mmHg oder darüber gemessen, so entspricht dies dem Maximum, was ein nicht vorbelasteter rechter Ventrikel zu leisten vermag. In diesen Fällen muss unverzüglich eine Therapie eingeleitet werden, die den rechten Ventrikel entlastet und verhindert, dass eine Myokardischämie und ein irreversibles Rechtsherzversagen eintreten. ! Die wichtigste Säule in der Therapie einer massiven Lungenembolie ist daher neben der Beseitigung der Obstruktion die medikamentöse Unterstützung des belasteten rechten Ventrikels.
50
504
50
Kapitel 50 · Diagnostik und Therapie der Lungenembolie
Inotrope Substanzen, die gezielt auf den rechten Ventrikel wirken, sind leider nicht verfügbar. Zur Steigerung der Inotropie wird wie bei der Linksherzinsuffizienz bevorzugt das Dobutamin eingesetzt. Zur Aufrechterhaltung eines ausreichenden Aortenmitteldrucks und damit zur Sicherstellung der Koronarperfusion ist jedoch einer Substanz mit D- wie auch E-1-adrenerger Wirkung der Vorzug zu geben. Daher stellt das Noradrenalin für Patienten mit akuter Rechtsherzbelastung und Schock das Katecholamin der Wahl dar. Vor einer liberalen Volumentherapie muss bei hämodynamisch instabilen Patienten gewarnt werden. Abhängig vom aktuellen Füllungszustand erhöht die Gabe von Volumen die Wandspannung des rechten Ventrikels kritisch und verschlechtert damit die myokardiale Sauerstoffbilanz. Zudem birgt sie das Risiko einer weiteren Verlagerung des interventrikulären Septums und beeinträchtigt so die Funktion des linken Ventrikels im Sinne einer »Tamponade«.
50.5.1 Chirurgische Embolektomie Trotz einer gewissen Verbesserung der Ergebnisse in den letzten Jahren blieb die Letalität des Verfahrens nach wie vor hoch, insbesondere bei Patienten, die zuvor reanimiert worden waren. Von einzelnen Autoren wurden zwar durchaus ermutigende Ergebnisse berichtet , die operative Embolektomie bleibt jedoch heute den Patienten vorbehalten, bei denen es Kontraindikationen gegen die Thrombolyse bzw. die Antikoagulation gibt. Diese extrem restriktive Indikation wird auch in den Ergebnissen einer multizentrischen Studie erkennbar, in der von mehr als 1000 Patienten mit Lungenembolie lediglich 1 % chirurgisch embolektomiert wurden.
50.5.2 Thrombolyse ! Methode der Wahl bei der Behandlung einer massiven Lungenembolie ist heute die Thrombolyse mit Streptokinase, Urokinase oder mit rt-PA (rt-PA= recombinant tissue Plasminogen-Aktivator).
Entscheidender Schritt bei der Thrombolyse ist die Umwandlung von Plasminogen zu Plasmin sowohl im Plasma als auch im Thrombus. Streptokinase und Urokinase aktivieren in hohem Maße zirkulierendes Plasminogen und erzeugen eine Plasminämie. Dieser Schritt ist gefolgt von einem Abbau des plasmaständigen Fibrinogens und der Gerinnungsfaktoren V und VIII, sodass eine vorübergehende Ungerinnbarkeit des Blutes unvermeidbar ist. Na-
. Abb. 50.2. Ablauf der therapeutischen Fibrinolyse
turgemäß kann dies besonders bei operierten Patienten zu erheblichen Blutungskomplikationen führen. Daher gilt nach gängiger Lehrbuchmeinung die kurz zurück liegende Operation oder Reanimation als Kontraindikation zur Thrombolyse. Den klassischen Thrombolytika steht mit rt-PA eine Substanz mit einer gewissen Thrombusspezifität und einer geringeren systemischen Defibrinierung gegenüber (. Abb. 50.2). Weitere Vorteile gegenüber Streptokinase und Urokinase sind die kürzere Halbwertszeit, die fehlende Antigenität und die schnellere Thrombolyserate. Im Hinblick auf dramatische, häufig tödlich verlaufende postoperative Lungenembolien kann ein zuvor durchgeführter operativer Eingriff heute nur noch als relative Kontraindikation gegen eine Thrombolyse betrachtet werden. Verschiedene Fallberichte sowie die Ergebnisse einer großen multizentrischen Studie konnten zeigen, dass postoperativ auch nach großen Eingriffen eine Thrombolysetherapie mit einem vertretbaren Risiko durchgeführt werden kann. Berücksichtigt werden muss jedoch, dass die Inzidenz transfusionsbedürftiger Blutungen in einem
505 Literatur
gemischten Patientengut bei > 20 %, das Risiko einer Hirnblutung zwischen 1–2 % liegt. Eine kurze Lysedauer scheint mit einer geringeren Rate an Blutungskomplikationen verbunden zu sein als Infusionsregime über einen längeren Zeitraum. Im Gegensatz zu früheren Therapieregimen wird daher heute der Kurzzeitlyse (100 mg in 2 h) oder der Boluslyse (50 mg in 20 min) der Vorzug gegeben. Vorteile einer direkten intrapulmonalen Gabe über den liegenden Swan-Ganz-Katheter gegenüber einer peripher-venösen Gabe haben sich nicht nachweisen lassen.
50.5.3 Vena-cava-Filter Haupteinsatzbereich von V.-cava-Filtern sind Patienten mit rezidivierenden Lungenembolien, bei denen eine Kontraindikation gegen eine systemische Antikoagulation besteht oder bei denen die Antikoagulation nicht das Auftreten weiterer Lungenembolien verhindern konnte. Weitere Indikationen können der Nachweis von frei flottierenden Thromben im Bereich der Becken-Beinvenen oder Patienten mit tiefen Venenthrombosen sein, bei denen ein Eingriff im Hüft- oder Kniegelenkbereich notwendig ist. In den meisten Fällen kann ein passageres System, welches perkutan über die V. jugularis interna oder über die kontralaterale Femoralvene eingeführt wird, einen ausreichenden Schutz bieten, ohne den Patienten lebenslang mit den Risiken eines Vena-cava-Filters zu belasten. Diese sind vor allem die hohe Rate an Thrombosen der unteren Hohlvene, ein thrombotisches Syndrom sowie Dislokation und Perforation des Filters in Nachbarorgane. Auch Lungenembolien bei liegendem Schirmsystem sind nicht sicher auszuschließen. Fazit Bei der Lungenarterienembolie handelt es sich um ein potentiell lebensbedrohliches Ereignis mit einer hohen Letalität. Die Prognose des einzelnen Patienten hängt entscheidend ab von einer umgehenden aussagefähigen Diagnostik, deren Umfang sowohl an den Zustand des Patienten als auch an die jeweilige Ver fügbarkeit der verschiedenen Ver fahren angepasst werden muss. Therapie der Wahl bei massiven Lungenembolien mit Zeichen der Rechtsherzbelastung bis hin zum Schock und zur Reanimation – auch beim operativen Patienten – ist die Thrombolyse. 6
Im Hinblick auf das Risiko schwerer Blutungskomplikationen muss – auch aus forensischen Gründen – die Diagnostik das Ziel haben, die klinische Verdachtsdiagnose durch Verfahren mit größtmöglicher Sensitivität und Spezifität zu sichern. Wann immer der Zustand des Patienten dies erlaubt, sollte daher die Durchführung einer Pulmonalisangiographie oder eines SpiralCT angestrebt werden. Je dramatischer die klinische Situation und je vitaler die Bedrohung allerdings ist, um so eher wird der erfahrene Intensivmediziner auch ohne Sicherung der Diagnose allein aufgrund der klinischen und der bettseitigen Diagnostik bei vitaler Bedrohung eine Thrombolyse einleiten.
Literatur Böttiger BW et al (1993) Die akute Thrombembolie der Lunge: Klinik – Pathophysiologie – Diagnostik – Therapie. Anaesthesist, 42: 55–73 European Society of Cardiology (2000) Task force on pulmonary embolism. Guidelines on diagnosis and management of accute pulmonary embolism. European Heart Journal, 21: 1301–1336 Goldhaber S (2002) Thrombolysis for pulmonary embolism. NEngl J Med 347, 15: 1131–1132 Kasper W(1997) Management strategies and determinants of outcome in acute major pulmonary embolism: results of a multicenter registry (MAPPET). JACC 30, No 5: 1165–71 Konstantinidis S, Geibel M, Olschweski (1997): Acute pulmonary embolism: the value of echocardiography for identification of high risk patients. Circulation 96: 1–25. Pruszcyk P et al (1997) Noninvasive diagnosis of suspected severe pulmonary embolism; transesophageal echocardiography vs spiral CT. Chest, 112: 722–28. Verstraete M (1988) Intravenous and intrapulmonary recombinant tissue plasminogen activator in the treatment of acute massive embolism. Circulation 77, No 2: 353–360 Zwissler B (2000): Das akute Rechtsherz versagen, Ätiologie, Pathophysiologie, Diagnostik, Therapie. Anaesthesist 49: 788–808
50
51 Übelkeit und Erbrechen in der postoperativen Phase Daniel Guber 51.1 Definitionen und physiologische Grundlagen –508 51.1.1 Der Nausea-Symptomen-Komplex –508
51.2 Würgen und Erbrechen –508 51.3 Physiologische Grundlagen –508 51.3.1 Periphere und zentrale Detektoren –508 51.3.2 Das Gleichgewichtsorgan –508 51.3.3 Weitere Afferenzen –509
51.4 Risikofaktoren –509 51.4.1 51.4.2 51.4.3 51.4.4
Patientenbezogene Risikofaktoren –509 Anästhesiologische Faktoren –510 Operative Faktoren –510 Weitere Faktoren –510
51.5 Antiemetische Therapie und perioperative Strategie –511 51.5.1 51.5.2 51.5.3 51.5.4 51.5.5
Antiemetika –511 Kombinationen verschiedener Substanzklassen –512 Risikoabschätzung –512 Reduzierung des Basis-Risikos –512 Strategien –513
Literatur –513
508
Kapitel 51 · Übelkeit und Erbrechen in der postoperativen Phase
))
51
Postoperative Nausea und Vomiting (kurz: PONV ) ist definitionsgemäß ein Ereignis, das in den ersten 24 h nach einer Allgemeinanästhesie, Regional- oder Lokalanästhesie auftreten kann. Neben dem postoperativen Schmerz zählt PONV mit einer durchschnittlichen Inzidenz von 20–30 % zu den häufigsten postoperativen Komplikationen. Die Inzidenzen schwanken durch den Einfluss anästhesiologischer sowie chirurgischer und individueller Risikofaktoren stark. Verlängerte Aufwachraumzeiten, stationäre Aufnahme bei ambulanten Operationen und die antiemetische Therapie können das perioperative Management erschweren und Kostenfaktoren darstellen. Psychische Faktoren wie Patientenunzufriedenheit und Angst vor der Narkose bis hin zu einer erlernten Aversion werden als Ursache diskutiert. In diesem Kapitel werden Grundlagen der Physiologie, der Risikofaktoren sowie der antiemetischen Therapie vermittelt.
51.1
Definitionen und physiologische Grundlagen
! Phylogenetisch gesehen dienen Übelkeit und Erbrechen dem Schutz vor Vergiftungen. Physiologisch betrachtet handelt es sich dabei um einen komplexen Fremdreflex.
51.1.1 Der Nausea-Symptomen-Komplex Nausea (= griech.: Schiff; Nausia: Schiffkrankheit) kann als unangenehmes Gefühl des drohenden Erbrechens beschrieben werden. Verbunden mit autonomen Funktionen wie Salivation, Kaltschweißigkeit, Tachykardie und Hypersekretion in Luft- und Speiseweg, spricht man vom NauseaSymptomen-Komplex.
51.2
Würgen und Erbrechen
Hier gilt es zu unterscheiden. Beim Würgen wird durch erniedrigten intrathorakalen Druck (erzeugt durch rhythmische Atembewegungen bei geschlossener Glottis und gleichzeitiger Bauchpresse) eine Pendelbewegung des Magen erzeugt. Hinzu kommt eine duodeno-jejunale Retroperistaltik, die den Mageninhalt puffert, den Flüssigkeitsanteil erhöht und der Giftelimination dient. Dadurch ist der Mageninhalt gut durchmischt (Erleichterung des Brechakts) und die Magensäure gepuffert (Schutz vor Verätzungen).
Die Entleerung des Mageninhalts folgt durch das Erbrechen. Durch Koordination von Bauchpresse und erhöhtem intrathorakalen Druck wird der Mageninhalt retrograd expulsiert. Dabei wird der untere Ösophagussphinkter offen gehalten. Der Vorgang wird durch eine Retroperistaltik des thorakalen Ösophagus unterstützt. Zu Beginn und während der Brechphase werden der Unterkiefer nach kaudal gezogen und das Zungenbein nach ventral und kaudal verlagert. Dies ermöglicht die Expulsion des Mageninhalts. ! Die Glottis steht beim Erbrechen offen – Aspirationsgefahr!
51.3
Physiologische Grundlagen
Aus verschiedenen Regionen des Körpers verlaufen Afferenzen zum Brechzentrum. Das Brechzentrum kann als eine Funktionsgruppe verschiedener Kerngebiete im Bereich der Formatio reticularis verstanden werden.
51.3.1 Periphere und zentrale Detektoren Betrachtet man Nausea und Emesis von ihrer ursprünglichen Bedeutung aus, den Körper vor Aufnahme toxischer Substanzen zu schützen, lassen sich Detektoren auf verschiedenen Ebenen erklären. Zu den peripheren Detektoren zählen der Geschmackssinn, der Geruchssinn sowie die visuelle Wahrnehmung. Auf dieser Ebene kann eine Konditionierung erfolgen, die vor erneuter Aufnahme toxischer Substanzen schützt. Chemorezeptoren, Mechanorezeptoren (vagale Afferenzen) und enterochromaffine Zellen des Magen-Darm-Trakts kommen zum Tragen, wenn dennoch eine orale Aufnahme stattfand. Erfolgt letztendlich eine Resorption toxischer Substanzen, werden Chemorezeptoren im ZNS stimuliert. An der Seitenwand des 4. Ventrikels gibt es einen Bereich ohne Blut-Hirn-Schranke mit einer Oberfläche, die reich an Rezeptoren ist: die ChemorezeptorTriggerzone (CTZ). Zu den wichtigsten Rezeptoren zählen die 5-HT3-Rezeptoren, Histaminrezeptoren sowie Alphaund Dopaminrezeptoren. Nikotinerge, muskarinerge Rezeptoren und P-Rezeptoren sind ebenfalls von Bedeutung.
51.3.2 Das Gleichgewichtsorgan Übelkeit und Erbrechen können durch eine Reizung des Gleichgewichtsorgans ausgelöst werden. Dies wird damit erklärt, dass Schwindel dem Körper eine Vergiftung signalisiert. Hierdurch kommt es zur Auslösung des Brechreflexes.
509 51.4 · Risikofaktoren
. Tabelle 51.1. Risikofaktoren für PONV Patient
Anästhesie
Art der Operation
Perioperative Faktoren
Junges Lebensalter
Volatile Anästhetika
Strabismus-Chirurgie
Unzureichende Prämedikation
Weibliches Geschlecht
Hoher Opiatbedarf
Gyn. Operationen
Frühe Bewegungsreize
Reisekrankheit u. PONV-Anamnese
Dauer des Eingriffs
Abdominalchirurgie, peritonealer Reiz
Postoperative Nahrungszufuhr
Nichtraucherstatus
Lachgas
HNO
Nüchtern?!
51.3.3 Weitere Afferenzen Verschiedene Afferenzen aus dem Kopf-Hals-Bereich können durch Reizung Übelkeit und Erbrechen auslösen. Hierzu zählen sensible Fasern des N. trigeminus, N. vagus und des N. glossopharyngeus. Durch funktionelle Überschreitungen kann sogar durch Manipulation am äußeren Gehörgang (Arnold-Nerv) der Brechreflex ausgelöst werden.
51.4
Risikofaktoren
Die Erläuterung der physiologischen Grundlagen lässt erahnen, dass es im Rahmen einer Operation durchaus Faktoren gibt, welche das Auftreten von PONV auslösen. Schon durch das Einführen eines Absaugkatheters z. B. kann theoretisch ein Brechreiz ausgelöst werden. Baucheingriffe oder Eingriffe im gynäkologischen Bereich sowie in der HNO lassen ebenfalls einen Zusammenhang mit der Auslösung von PONV erahnen. Die multifaktorielle Genese von PONV macht es allerdings schwer, solche Zusammenhänge statistisch zu belegen. Dennoch sollte man diese physiologischen Zusammenhänge mit in ein Gesamtkonzept integrieren (. Tab. 51.1).
Alter des Patienten Kinder erbrechen häufiger als Erwachsene. Die Inzidenz bei Säuglingen liegt allerdings unter 5 %. Bei Kindern im Vorschulalter sind es ca. 20 %, im Schulalter dann 34–50 %. So stellt PONV die häufigste postoperative Komplikation bei Kindern dar. Im ambulanten Bereich führt postoperatives Erbrechen häufig zur stationären Aufnahme. Dies bedeutet meist eine große Belastung für Eltern und Kind. Zusätzlich kommt es auch zu ökonomischen Nachteilen. Vergleicht man Erwachsene mit Kindern, so kann man sagen, dass das Risiko bis zur Pubertät mit zunehmendem Alter zunächst ansteigt, im Er wachsenenalter dann mit den Jahren wieder sinkt.
Weibliches Geschlecht Für die erhöhte Inzidenz von PONV bei Frauen werden v. a. hormonelle Unterschiede verantwortlich gemacht. Allerdings steigt das relative Risiko gegenüber Männern mit zunehmendem Alter an. Die unterschiedlichen Lebensgewohnheiten sowie genetische Aspekte könnten eine Rolle spielen.
51.4.1 Patientenbezogene Risikofaktoren
Adipositas
Diese Faktoren sollten beim Aufklärungsgespräch erfasst und in die Planung des perioperativen Managements einbezogen werden.
Sie gilt als ein kontrovers diskutierter Risikofaktor. Vermehrte Magenblähung bei einer Maskenbeatmung sowie eine Insuffizienz des unteren Ösophagussphinkters werden u. a. für ein erhöhtes PONV-Risiko verantwortlich gemacht.
Kinetosen (Reisekrankheit) und PONV in der Anamnese
Nichtraucherstatus
Kinetosen und/oder PONV in der Anamnese gelten als bedeutende Risikofaktoren. Ein Patient mit einer solchen Anamnese hat ein 2–3fach erhöhtes Risiko. Als Ursache werden eine erhöhte Empfindlichkeit des Brechreflexes und/oder eine Konditionierung diskutiert.
Der genaue Mechanismus ist nicht geklärt. Angenommen wird eine Down-Regulation von Dopaminrezeptoren durch Hemmung des GABA-ergen Systems. In einer großen epidemiologischen Studie mit 16000 Patienten erbrachen Nichtraucher zweimal häufiger als Raucher.
51
510
Kapitel 51 · Übelkeit und Erbrechen in der postoperativen Phase
51.4.2 Anästhesiologische Faktoren
Volatile Anästhetika
51
Den volatilen Anästhetika kann ein eindeutig emetogener Effekt zugeschrieben werden. Vergleicht man Inhalationsanästhesien mit einer TIVA mit Propofol, zeigt sich ein bis zu 2,8fach höheres Risiko für Übelkeit und Erbrechen bei Inhalationsanästhesien. Dieser Effekt macht sich vor allem in der frühen postoperativen Phase bemerkbar. Es zeigte sich zudem eine Verdopplung der Inzidenzen bei einer Narkosedauer von über 90 min (Zeitfaktor). Untereinander unterscheiden sich die volatilen Anästhetika kaum. Volatile Anästhetika wurden deshalb auch schon als »main cause« für PONV bezeichnet.
Lachgas Als pathophysiologisches Modell dient die Diffusion von Lachgas in Hohlorgane wie Magen, Darm (vagale Afferenzen), Mittelohr (vestibuläre Reizung) und die Freisetzung von Katecholaminen. Der Einfluss auf die Inzidenz von PONV wird allerdings kontrovers diskutiert. Bei Patienten mit geringem Risiko für PONV müssen 60 Patienten ohne Lachgas behandelt werden, damit einer profitiert. Bei Hochrisikopatienten waren es lediglich 6 Patienten. Allerdings war das Risiko einer Awareness-Situation 10-mal höher, wenn auf Lachgas verzichtet wurde!
Opiate Opiate erhöhen die Empfindlichkeit des Vestibularis-Apparats. Auch können sie an den P-Rezeptoren der CTZ angreifen, Serotonin freisetzen und die Motilität des Magen-DarmTrakts beeinflussen. So können Opiate in allen Phasen einer Operation (als Prämedikation, intraoperativ oder postoperativ verabreicht) PONV triggern. Allerdings scheint eine niedrige Dosierung (1,5 Pg/kg KG Fentanyl, 15 Pg/kg KG Alfentanil oder 0,15 Pg/kg KG Sufentanil) zur Narkoseeinleitung nur einen geringen Effekt auf die Inzidenz von PONV zu haben.
51.4.3 Operative Faktoren In einigen operativen Fachgebieten werden erhöhte Inzidenzen für PONV beschrieben. Durch die multifaktorielle Genese von PONV ist es allerdings schwierig zu beweisen, was letztendlich ursächlich für diese hohen Inzidenzen ist.
Strabismus-Chirurgie Hier werden Inzidenzen von durchschnittlich 59 %, in einzelnen Erhebungen sogar bis zu 95 % beschrieben. So ge-
nannte Fadenoperationen scheinen mit besonders hohen Inzidenzen einherzugehen. Als pathophysiologisches Modell dient der Reiz an den vagal innervierten Augenmuskeln (okulokardialer Reflex). Bei Erwachsenen werden im Gegensatz zu Kindern auch hier geringere Inzidenzen (21–31 %) beschrieben.
Fachbereich HNO Auch hier sind z. T. sehr hohe Inzidenzen – bis zu 75 % – beschrieben. Wieder stellt sich die Frage, ob das jugendliche Alter oder das Operationsverfahren hauptursächlich ist. Wie oben beschrieben, gibt es eine Reihe von Pathomechanismen (vagale Afferenzen, frisches Blut im Magen), die zur Erklärung der hohen Inzidenzen herangezogen werden können.
Abdominalchirurgie, gynäkologische Laparoskopien und urogenitale Eingriffe Zug am Peritoneum, Pneumoperitoneum, direkte mechanische Reize an Magen und Darm sowie postoperative gastrointestinale Motilitätsstörung dienen als Erklärungsmuster. Allerdings schwanken hier die Inzidenzen auch mit der Anästhesietechnik. Gerade bei laparoskopischen Eingriffen konnte z. B. durch den Verzicht auf Lachgas eine Senkung der Erbrechensinzidenz erzielt werden.
51.4.4 Weitere Faktoren Ein nicht nüchterner Patient ist sowohl bei Narkoseeinleitung wie auch postoperativ verstärkt gefährdet. Über den Zeitpunkt der ersten oralen Flüssigkeits- bzw. Nahrungszufuhr gibt es unterschiedliche Angaben. Manche Autoren beschreiben eine generell erhöhte Inzidenz, andere beschreiben nur eine Veränderung bezüglich des Zeitpunkts der Manifestation. Des Weiteren gelten Angst und Schmerzen als Risikofaktoren.
Sonder fall Regionalanästhesie Bei Regionalanästhesien werden insgesamt niedrigere Inzidenzen für PONV beschrieben. Dennoch kann auch hier PONV auftreten. Gerade durch den Einsatz von Opiaten bei Spinal- oder Periduralanästhesien sind vergleichsweise höhere Inzidenzen beobachtet worden. In Kombination mit einer Allgemeinanästhesie können jedoch regionalanästhesiologische Verfahren den Verbrauch von Narkosegasen und/oder Opiaten senken und somit deren emetogene Wirkung verringern.
51
511 51.5 · Antiemetische Therapie und perioperative Strategie
. Tabelle 51.2. Antiemetika Gruppe
Beispiele
D2-Rezeptoren
Cholinerge
H1
5-HT3
Phenothiazine
Chlorpromazin, Fluphenazin
++++
+
++
–
Butyrophenone
Droperidol Haloperidol
++++ ++++
– –
+ +
+ –
Antihistaminika
Dimenhydrinal
+
++
++++
–
Anticholinergika
Scopolamin
+
++++
+
–
Benzamide
Metoclopramid, Domperidon
+++
–
+
++
5-HT3 –Antagonisten
Ondansetron, Granisetron, Tropisetron, Dolasetron
–
–
–
++++
Kortikosteroide
Dexamethason
Wirkmechanismus unklar; womöglich durch abschwellende Eigenschaften im ZNS oder Prostaglandinsynthesehemmung (Waldvogel)
51.5
Antiemetische Therapie und perioperative Strategie
Hier ist der Anästhesist gefragt. Das richtige Vorgehen basiert auf folgenden Pfeilern: 4 Das individuelle Risiko kann abgeschätzt werden! 4 Risikofaktoren können beeinflusst werden! 4 Es steht eine Reihe von Substanzen (auch in Kombination) zur Verfügung, die zur Prophylaxe und Therapie eingesetzt werden können!
51.5.1 Antiemetika Hauptangriffspunkt einer antiemetischen Therapie ist die Chemorezeptor-Triggerzone (CTZ). Hier stehen einige Medikamentengruppen zur Verfügung, um die entsprechenden Rezeptoren zu blockieren (. Tab. 51.2). Die wichtigsten Therapeutika werden hier vorgestellt.
Serotonin-Antagonisten Mit Ondansetron, Tropisetron, Dolasetron und Granisetron stehen vier Vertreter dieser Gruppe zur Verfügung. Sie gelten als nebenwirkungsarm (Kopfschmerz, Flush, Obstipation) und können zur Prophylaxe und Therapie eingesetzt werden. Übelkeit wird weniger beeinflusst als Erbrechen. Ihre Wirksamkeit kann durch Kombination mit anderen Substanzen wie Droperidol oder Dexamethason ergänzt und verbessert werden. Zur Prophylaxe sollten sie kurz vor Narkoseausleitung gegeben werden. Ihre Effizienz ist untereinander vergleichbar.
Dosierung Ondansetron (Zofran): 4–8mg i.v. (Erwachsene ) bzw. 50–100 Pg/kg KG (Kinder) Dolasetron (Anemet): 12,5 mg i.v. (Erwachsene) bzw. 300 Pg/kg KG (Kinder) Anwendungszeitpunkt: Als Prophylaxe zur Narkoseausleitung Wichtigste Nebenwirkungen: Kopfschmerz, Obstipation, Flush
Dexamethason Obwohl der Wirkmechanismus weitgehend ungeklärt ist, kann es in seiner Wirksamkeit durchaus mit den 5HT3-Antagonisten verglichen werden. In den empfohlenen Dosierungen sind kaum Nebenwirkungen zu erwarten. Dosierung Dexamethason (z. B. Fortecortin): 150 Pg/kg KG bis zu 8 mg i.v. Anwendungszeitpunkt: zur Narkoseeinleitung Wichtige Nebenwirkungen: Werden in dieser Dosierung selten beobachtet. Eine immunsuppressive Wirkung (Wundinfektion) sollte berücksichtigt werden.
Droperidol Unter den Dopamin-Rezeptor-Antagonisten ist Droperidol wohl die am häufigsten eingesetzte Substanz in der antiemetischen Therapie. Der antiemetische Effekt ist mit dem der
512
Kapitel 51 · Übelkeit und Erbrechen in der postoperativen Phase
Serotonin-Antagonisten durchaus vergleichbar. Gegenüber anderen Dopamin-Antagonisten wie z. B. Metoclopramid ist Droperidol überlegen. Das Nebenwirkungsspektrum ist allerdings größer. Angst und Unruhe, Extrapyramidalsymptomatik (EPS), Hypotension und sedierende Effekte werden vor allem bei höheren Dosierungen beschrieben, können aber auch in den hier empfohlenen Dosierungen auftreten. Zur Prophylaxe sollte es 30 min vor Narkoseausleitung verabreicht werden. Dosierung Droperidol: 0,625–1,25 mg i.v. (Erwachsene) bzw. 50–75 Pg/kg KG (Kinder) Anwendungszeitpunkt: zur Narkoseausleitung Wichtige Nebenwirkungen: EPS, Angst- und Unruhezustände, Hypotension, Long QT-Syndrom
51 Metoclopramid, Domperidon Die Wirkung beruht auf sowohl zentraler (CTZ) als auch peripherer gastrointestinaler (GI) Blockade von D2-Rezeptoren. Der antiemetische Effekt resultiert wahrscheinlich aus einer Beeinflussung der Magenmotilität und einer zentralen Komponente. In niedrigen Dosierungen treten selten Nebenwirkungen (EPS) auf. Durch eine kurze Wirkdauer von 1–2 h liegt der Nutzen eher in der Behandlung als in der Prophylaxe von PONV. Dosierung MCP: 10–20mg i.v. (Erwachsene) bzw. 0,1–0,2 mg/ kg KG (Kinder) Anwendungszeitpunkt: zur Narkoseausleitung Wichtige Nebenwirkungen: EPS, Sedation
Antihistaminika Dimenhydrinat, Hydroxyzine und Diphenhydramine gelten als Vertreter dieser Gruppe. Sie können zur Therapie von Reisekrankheit, zur Sedierung und zur antiemetischen Therapie eingesetzt werden. Ihre Wirkung beruht im Wesentlichen auf einer Blockade der Histamin-Rezeptoren im Nucleus tractus solitarii und der CTZ. Die vestibuläre Komponente in der Genese von PONV (z. B. Mittelohreingriffe, opiat-induziertes Erbrechen) kann somit beeinflusst werden. Dosierung Dimenhydrinat: 1–2 mg/kg KG i.v. (Erwachsene) bzw. 0,5–1mg/kg i.v. oder 2–5mg/kg KG rektal (Kinder) Wichtige Nebenwirkungen: Sedation
51.5.2 Kombinationen verschiedener
Substanzklassen Eine Beteiligung unterschiedlicher Neurorezeptoren in der Genese von PONV lässt die Kombination antiemetischer Substanzen aus verschiedenen Klassen sinnvoll erscheinen. Tatsächlich konnte dies in klinischen Untersuchungen bestätigt werden. Die Vorteile liegen neben der verbesserten Effizienz in einer Dosisreduktion (Nebenwirkungen) der einzelnen Substanzen. Kombinationen aus gleichen Substanzklassen sollten deshalb vermieden werden. Dosierung Prophylaxe: Ondansetron 4 mg + Dexamethason 4 mg – Therapie: Droperidol Prophylaxe: Ondansetron 4 mg + Droperidol 0,625 mg – Therapie : Dimenhydrinat Prophylaxe: Ondansetron 4 mg + Dexamethason 4 mg + Dimenhydrinat 62,5 mg – Therapie: Droperidol
51.5.3 Risikoabschätzung Ein allgemein anerkannter vereinfachter Risikoscore, der Apfel-Score, basiert auf vier Risikofaktoren: 1. Weibliches Geschlecht 2. Nichtraucherstatus 3. Positive PONV-Anamnese 4. Postoperative Opiate Liegen 0, 1, 2, 3 oder 4 dieser Faktoren vor, so ist dies mit einem Risiko von 10 %, 21 %, 39 %, 61 % oder 78 % assoziiert. Erreicht ein Patient einen Score von 2, kann er als Risikopatient eingestuft werden. (Zusätzlich sollte der Anästhesist die operativen Risikofaktoren berücksichtigen; . Tab. 51.1).
51.5.4 Reduzierung des Basis-Risikos Dem Anästhesisten stehen verschiedene Möglichkeiten zur Verfügung das Basis-Risiko zu senken: 4 Regionalanästhesie 4 Verzicht auf volatile Anästhetika 4 Verzicht auf Lachgas 4 Reduzierung des Opiatbedarfs – LA, NSAR ! Hierbei müssen Nutzen und Risiko gegeneinander abgewogen werden!
513 Literatur
51.5.5 Strategien Die Strategie sollte sich nach dem Risikoprofil richten. Eine mögliche Planung des Verfahrens ist im Folgenden schematisch dargestellt. Schritt 1: Abschätzung des individuellen Risikos 4 Gründliche Anamnese 4 Operative Faktoren? Schritt 2: Einstufung des Risikos z. B. anhand des »Apfel-
Scores«. 4 Risiko 10 %
→ Wait and see, ggf. Reduzierung des Basisrisikos 4 Risiko 20–40 % → Reduzierung des Basisrisikos oder Prophylaxe mit einer Monosubstanz 4 Risiko 40–60 % → Reduzierung des Basisrisikos und Prophylaxe ggf. mit einer Kombination 4 Risiko > 60 % → Reduzierung des Basisrisikos und Prophylaxe mit einer 3fach-Kombination
Schritt 3: Therapie wenn nötig im Aufwachraum oder auf
Station, Wiederholungen vermeiden ! Die Übergänge in die verschiedenen Risikobereiche können fließend sein. Der Anästhesist sollte die operativen Faktoren mit berücksichtigen.
Literatur Andrews PLR.: Physiology of Nausea and Vomiting. Br J Anaesth 1992; 69 (Suppl. 1): 2S–19S Apfel CC., Läärä E, Koivuranta M (1999) A simplified risk score for predicting postoperative nausea and vomiting. Anaesthesiology 91: 693–700 Apfel CC, Roewer N (2000) Einflussfaktoren von Übelkeit und Erbrechen nach Narkosen: Fakten und Fiktionen. Anaesthesist 49: 629– 642 Gan TJ., Meyer T, Apfel CC (2003) Consensus guidelines for managing postoperative nausea and vomiting. Anaesth Analg 97: 62–71 Kovac AL(2000) Prevention and treatment of postoperative nausea and vomiting. Drugs 59 (2): 213–243 Rose JB., Watcha MF (1999) Postoperative nausea and vomiting in paediatric patients. British Journal of Anaesthesia 83(1): 104–17 Schimanski Ch, Waldvogel HH, Neugebauer E (2001) Postoperative Nausea und Emesis: Klinische Bedeutung, Grundlagen, Prophylaxe und Therapie. Chirurg 72: 1417–1426 Waldvogel HH (1995) Antiemetische Therapie, Nausea und Emesis. Thieme, Stuttgart
51
52 Beatmung auf der operativen Intensivstation Albert Benzing, Frank Teufel 52.1 Indikationen zum Einsatz einer maschinellen Beatmung –516 52.2 Aufgaben eines Respiratorsystems –516 52.3 Respiratortechnik –517 52.3.1 Steuerungsprinzipien –517
52.4 Beatmungsformen –518 52.4.1 52.4.2 52.4.3 52.4.4
Volumenkontrollierte Beatmung –518 Druckkontrollierte Beatmung –518 BiPAP (Biphasic Positive Airway Pressure)) –518 ASB bzw. PSV (Assisted spontaneous breathing, Pressure support ventilation) –518
52.5 Nicht-invasive Beatmung –519 52.6 Beatmungsmonitoring –519 52.7 Nebenwirkungen der Beatmung –520 52.8 Spezielle Beatmungsindikationen auf der operativen Intensivstation –520 52.8.1 Postoperative Beatmung –521 52.8.2 Postoperative Ateminsuffizienz –522 52.8.3 Acute respiratory distress syndrome (ARDS) –522
52.9 Respiratorentwöhnung (Weaning) –525 Literatur –526
516
Kapitel 52 · Beatmung auf der operativen Intensivstation
)) Die Beatmung ist heutzutage ein wichtiger Bestandteil der intensivmedizinischen Therapie. Dem Intensivmediziner stehen eine Vielzahl von Beatmungsformen und Respiratoren zur Verfügung. Diese ermöglichen den individuellen patientenadaptierten Einsatz geeigneter Atemhilfen von Beginn der Beatmung bis zur Respiratorentwöhnung. Dabei ist das Ziel, die Adaptierung der Atemhilfe an die Bedürfnisse des Patienten und nicht umgekehrt. Mit Wissen um die Risiken der künstlichen Beatmung sollten alle Maßnahmen zum Ziel haben, die Rückkehr des Patienten zu einer suffizienten Eigenatmung zu ermöglichen.
52.1
52
Indikationen zum Einsatz einer maschinellen Beatmung
Die Vielzahl der Indikationen für den Einsatz von maschinellen Atemhilfen wird unterteilt in Störungen die zu einer Hypoventilation führen und solche, denen Gasaustauschstörungen zugrunde liegen. Die Hypoventilation entsteht durch Störungen des Atemantriebs oder der Atemmechanik (oftmals als Atemmuskel- oder Pumpversagen bezeichnet). Außerdem werden zentrale und periphere Ursachen der Ventilationsstörungen mit Hypoventilation unterschieden. Zentralnervöse Ventilationsstörungen entstehen durch Schädel-Hirn-Traumen, Tumoren, Infektionen, Intoxikationen oder auch durch medikamentöse Beeinflussung des Atemzentrums (z. B. durch Opiate oder Barbiturate). Die peripheren Ventilationsstörungen haben vielfältige Ursachen. Zu diesen peripher bedingten Ventilationsstörungen gehören hohe Querschnittslähmungen, Läsionen des Nervus phrenicus, ein Guillian-Barré-Syndrom, die CriticalIllness-Polyneuropathie (CIP) und verschiedene Muskelerkrankungen. Hierzu zählt auch die schmerzbedingte Hypoventilation nach Oberbauch- oder Thoraxeingriffen. Nicht zu vergessen sind auch Relaxanzienüberhänge, die ebenfalls zu einer Hypoventilation führen können. Da bei diesen Patienten in der Regel keine schwerwiegenden Einschränkungen der Lungenfunktion (Gasaustauschfunktion) vorliegen, ist eine adäquate Atemhilfe zur Überbrückung der Hypoventilation und auch ein langfristiger Ersatz mit der heutigen Respiratortechnik ohne großen Aufwand möglich. Im Gegensatz hierzu sind Patienten mit schweren Gasaustauschstörungen eine große Herausforderung an den Intensivmediziner. Erkrankungen des Lungenparenchyms mit pathologischem Ventilations/Perfusions-Verhältnis und Ausbildung von intrapulmonalen Rechts-LinksShunts sowie alveolo-kapillären Diffusionsstörungen erfor-
dern den Einsatz einer differenzierten Respiratortherapie. Die hierbei jeweils zum Einsatz kommenden Atemhilfen sollten möglichst exakt an die jeweiligen Anforderungen der vorliegenden pulmonalen Störungen angepasst werden. Das schwere akute Lungenversagen (Acute respiratory distress syndrome = ARDS, vgl. 7 Kap. 48) ist für die Intensivmediziner eine der größten Herausforderungen im Hinblick auf eine differenzierte Respiratortherapie.
52.2
Aufgaben eines Respiratorsystems
Unabhängig vom gewählten Beatmungsmodus muss ein Respiratorsystem bestimmte Funktionen übernehmen. Die Volumenverschiebung von Atemgas in die Lunge zur Sicherstellung der Ventilation steht hierbei an oberster Stelle. Die hierzu nötige Atemarbeit kann ganz oder in Teilen vom Respirator übernommen werden, je nach dem, in welchem Maße noch eine Spontanatmung des Patienten vorhanden ist (7 Kap. 9). Maschinelle Beatmung wird heute fast ausschließlich als intermittierende Überdruckbeatmung durchgeführt. Hierbei wird jeder einzelne maschinelle Beatmungszyklus in Inspirationsphase und Exspirationsphase eingeteilt. Der wesentliche Unterschied zur Spontanatmung besteht in der Umkehrung der intrathorakalen und intraalveolären Druckverhältnisse. Bei der Spontanatmung wird durch Inspirationsbewegungen von Zwerchfell und Thoraxwand ein Sog, ausgehend von der Lungenperipherie zu den großen Luftwegen ausgebildet, wodurch in den Alveolen ein subatmosphärischer Druck entsteht. Die maschinelle Beatmung ist hierzu im Gegensatz durch positive inspiratorische Drücke in den großen Luftwegen sowie in den Alveolen gekennzeichnet. Durch diese Druckdifferenz zwischen Respirator und Atemwegen strömt in der Inspirationsphase das Atemgas in die Lungen des Patienten. Je größer der maschinelle Inspirationsflow hierbei ist und je größer die Widerstände in den Atemwegen sind, desto höher ist der im Respirator gemessene Beatmungsdruck. Der wichtigste Faktor für den Gasaustausch ist die funktionelle Gasaustauschoberfläche. Die Abhängigkeit der Oxygenierung von dieser Oberfläche wird durch die Tatsache verstärkt, dass der Prozess der Arterialisierung des Bluts auch während der Exspirationsphase des Atemzyklus stattfindet. Diese auch während der Exspiration zur Verfügung stehende Oberfläche ist durch die funktionelle Residualkapazität (FRC) charakterisiert. Neben der reinen Volumenverschiebung muss also ein Respirator die Möglichkeit der Beeinflussung des endexspiratorischen Fül-
517 52.3 · Respiratortechnik
. Tabelle 52.1. Steuerungsprinzipien von Respiratoren Steuerungsprinzip
Beispiel
Steuerungsparameter
Inspiratorische Steuerung
Drucksteuerung
Das Erreichen eines vorgewählten Drucks in den oberen Atemwegen beendet die Inspiration.
Flow-Steuerung
Das Unterschreiten eines vorgegebenen Inspirationsflows beendet die Inspiration.
Volumensteuerung
Die Abgabe eines vorgewählten Volumens beendet die Inspiration.
Zeitsteuerung
Ablauf einer vorgegebenen Zeit beendet die Inspiration (volumenkonstant oder druckkonstant).
Zeitsteuerung
Der Ablauf einer vorgegebenen Zeit beendet die Exspiration (kontrollierte Beatmung).
Patienten-Trigger
Das Erkennen eines spontanen Eigenatemversuchs beendet die Exspiration (assistierte Beatmung).
Exspiratorische Steuerung
lungszustands der Lunge bieten. Die Respiratoreinstellung sollte somit über längere Zeit die Gasaustauschfläche aufrechterhalten und wenn möglich verlorene Gasaustauschfläche neu rekrutieren. Die aus der zentralen Gasversorgung entnommenen Gase müssen auf die Bedürfnisse des Patienten abgestimmt (konditioniert) werden. Dies beinhaltet Atemgasbefeuchtung, Temperaturregulierung und Gaszusammensetzung. Die adäquate Funktion eines Respiratorsystems und sein Zusammenspiel mit dem Patienten muss in den für die gewählte Betriebsart relevanten Parametern überwacht werden. Grenzüberschreitungen, die zu einer Beeinträchtigung der Therapie oder gar Gefährdung des Patienten führen, müssen jeweils durch einen Alarm abgesichert werden. ! Aufgaben eines Respiratorssystems sind Übernahme oder Unterstützung der Ventilation, Steuerung der zeitlichen Folge und Dauer der Atemphasen, Erhaltung und Wiederherstellung der Gasaustauschoberfläche, Konditionierung der Atemgase (Temperatur, Feuchte, Gaszusammensetzung) und Überwachung der Maschinenfunktion.
52.3
Respirator technik
Moderne Respiratoren bieten eine Vielzahl an einstellbaren Beatmungsformen und Beatmungsmustern. Die Steuerung der zeitlichen Folge und Dauer der Volumenverschiebung wird vom Respirator übernommen. Sie kann nach einem starren Zeitraster erfolgen bzw. aus dem Erreichen von vorgegebenen Beatmungsparametern oder auch aus der spon-
tanen Atemaktivität des Patienten abgeleitet werden. Die Sensitivität des Steuerkreises (Sensor und Ventil) drückt sich vor allem in der Triggerlatenz aus. Darunter versteht man den Zeitraum vom Erkennen des Steuersignals durch Unterschreiten der Triggerschwelle bis zur vollständigen Öffnung des Inspirationsventils und Erreichen eines adäquaten Flows. Im Gegensatz zu älteren Respiratoren, die auf Grund technischer Unzulänglichkeit oftmals hohe Triggerlatenzen aufwiesen, verfügen moderne Geräte über hochempfindliche Ventile mit niedrigen Triggerlatenzen, deren Einfluss auf die Atemarbeit des Patienten vernachlässigt werden kann.
52.3.1 Steuerungsprinzipien Für das Verständnis der Auswirkungen von Respiratoreinstellung auf das Beatmungsmuster ist die Zuordnung eines Gerätes zu einem bestimmten Funktions- und Steuerprinzip wesentlich entscheidender als die genaue Kenntnis seines technischen Aufbaus. Ein Steuerungsparameter ist die physikalische Größe, die zur Beendigung der Inspirationsbzw. Exspirationsphase führt (. Tab. 52.1). Alle Respiratoren bieten je nach Steuerungsprinzip die Möglichkeit, bestimmte Beatmungsparameter – so genannte Einstellgrößen – vorzuwählen Als Freiheitsgrade bezeichnet man jene Parameter, die sich einer direkten Einstellung am Respirator entziehen und deren Größe sich als Folge der gewählten Einstellung in Abhängigkeit vom Zustand des Thorax-Lungen-Systems des Patienten ergibt. Freiheitsgrade beschreiben somit die Reaktionsmöglichkeiten auf
52
518
Kapitel 52 · Beatmung auf der operativen Intensivstation
Veränderungen der Respiratoreinstellungen. Die häufigsten Freiheitsgrade von Respiratoren sind: 4 Atemzugvolumen (VT) 4 Atemminutenvolumen (AMV) 4 Atemwegsdruck (PAW) 4 Frequenz (F) 4 Atemzeitverhältnis (I : E) Nicht alle Freiheitsgrade treten in jeder Betriebsart gleichzeitig auf. Je geringer die Zahl der Freiheitsgrade ist, umso überschaubarer wird die Reaktion auf die Einstellung des Respirators. Um eine Patientengefährdung auszuschließen, müssen alle Freiheitsgrade überwacht und ihre möglichen Extremwerte begrenzt werden. Die Begrenzung ist das Sicherheitsnetz für die Freiheitsgrade!
52.4
52
Beatmungsformen
. Abb. 52.1. Druck- und Flowkurve bei volumenkontrollierter Beatmung (nach Fresenius, Heck [2001] Repetitorium Intensivmedizin. Springer, Heidelberg)
Inzwischen existiert eine Vielzahl von unterschiedlichen Beatmungsformen. Im Folgenden werden deshalb nur einige etablierte Beatmungsformen exemplarisch vorgestellt. Für spezielle weitergehende Fragestellungen sei auf die umfangreiche Literatur zum Thema Beatmung verwiesen.
52.4.1 Volumenkontrollier te Beatmung Diese Beatmungsform wird häufig heute noch im Operationssaal verwendet. Es erfolgt hierbei die Einstellung eines Atemzug- oder eines Atemminutenvolumens sowie die Vorgabe der Atemfrequenz. Die Flow-Zufuhr erfolgt meist mit einem konstanten Flow. Als Freiheitsgrad bei dieser Beatmungsform ergibt sich hier der Beatmungsdruck, sodass eine Druckbegrenzung als Sicherheit für den Patienten unverzichtbar ist (. Abb. 52.1).
52.4.2 Druckkontrollier te Beatmung Hierbei erfolgt die Einstellung eines oberen Druckniveaus der Atemfrequenz sowie des Atemzeitverhältnisses. Die Beatmungsform wird mit einem dezelerierenden Flow durchgeführt. Der Freiheitsgrad bei dieser Beatmung ist somit das Atemzugvolumen, welches sich aus der Compliance des Lungenthoraxsystems des Patienten ergibt (. Abb. 52.2).
52.4.3 BiPAP (Biphasic Positive Air way
Pressure)) Diese Beatmungsform wurde 1989 in die klinische Praxis eingeführt. Es ist eine Kombination aus zeitgesteuerter,
. Abb. 52.2. Druck- und Flowkurve bei druckkontrollierter Beatmung (nach Fresenius, Heck [2001] Repetitorium Intensivmedizin. Springer, Heidelberg)
druckkontrollierter Beatmung und Spontanatmung, meist mit einer Druckunterstützung auf dem unteren Druckniveau. Der Respirator wechselt hierbei zwischen zwei Druckniveaus, was einer druckkontrollierten Beatmung entspricht. Eine intermittierende Spontanatmung, meist auf dem unteren Druckniveau beginnend, ist jedoch zu jedem Zeitpunkt des Atemzyklus möglich (. Abb. 52.3).
52.4.4 ASB bzw. PSV
(Assisted spontaneous breathing, Pressure support ventilation) Dies ist die häufigste Beatmungsform im Rahmen einer unterstützten Spontanatmung. Hierbei wird nach Antrig-
519 52.6 · Beatmungsmonitoring
. Abb. 52.3. Druckkurve von BIPAP als Kombination von Spontanatmung und druckkontrollierter Beatmung (nach Fresenius, Heck [2001] Repetitorium Intensivmedizin. Springer, Heidelberg)
gen, nicht-invasive Beatmungsverfahren an Stelle oder zur Vermeidung der invasiven Beatmung großzügiger einzusetzen (unter Beachtung der Kontraindikationen für diese Verfahren, 7 Übersicht). Bei der nicht-invasiven Beatmung wird auf einen künstlichen Atemweg (z. B. Endotrachealtubus oder Tracheostomiekanüle) verzichtet. Der natürliche Atemweg mit seinen physiologischen Funktionen bleibt somit erhalten. Neben Nasen- und Gesichtsmasken sind so genannte Beatmungshelme für die nicht-invasive Beatmung entwickelt worden. Zum Einsatz kommen kontinuierlich positiver Atemwegsdruck CPAP, druckunterstützte Beatmung, volumenkontrollierte oder druckkontrollierte Beatmungsformen. Unter Beachtung der Kontraindikationen kann durch ihren Einsatz bei respiratorischer Insuffizienz eine endotracheale Intubation unter Umständen vermieden werden. Bei Patienten mit chronisch obstruktiver Lungenerkrankung und muskulärer Erschöpfung ist ein Benefit durch nicht-invasive Beatmung beschrieben. Des Weiteren kann durch intermittierende nicht-invasive Atemunterstützung eine frühzeitige Extubation erfolgreich sein, selbst wenn einige »Extubationskriterien« noch nicht ausreichend erfüllt sind. Indikationen und Kontraindikationen der nicht-invasiven Beatmung
. Abb. 52.4. Druck- und Flowkurve bei Assisted Spontaneous Breathing (ASB) (nach Fresenius, Heck [2001] Repetitorium Intensivmedizin. Springer, Heidelberg)
gerung des Beatmungsgeräts eine inspiratorische Gasströmung eingeleitet, die bis zu einem eingestellten Druckniveau erfolgt. Auch hier ist die Flow-Form dezelerierend. Die passive Exspiration erfolgt meist bei einem Flow-Abfall auf 25 % des initialen Spitzenflusses, die Dauer des Atemzyklus wird somit vom Patienten gesteuert. Diese Atemunterstützung kann jedoch nur angewendet werden, wenn die zentralen und auch peripheren Steuerungsmechanismen der Atmung des Patienten vorhanden sind (. Abb. 52.4).
52.5
Nicht-invasive Beatmung
Mit dem Wissen um Grenzen und Risiken der invasiven Beatmung wird in den letzten Jahren zunehmend vorgeschla-
Indikationen 5 Akute respiratorische Insuffizienz 5 Akute Infekt exazerbierte COPD 5 Kardiales Lungenödem 5 Respiratorentwöhnung Kontraindikationen 5 Unkooperativer Patient 5 Fehlende Schutzreflexe 5 Atem- und Kreislaufstillstand 5 Tiefere Sedierung er forderlich 5 Lebensbedrohliche Azidose 5 Multiorganversagen 5 Gesichts- bzw. Schädelverletzungen 5 Aspirationsgefahr 5 Kreislaufinstabilität (hoch dosierte Katecholamintherapie)
52.6
Beatmungsmonitoring
Die Hauptaufgabe des Beatmungsmonitorings liegt darin, akute Situationen zu erkennen, die für den Patienten poten-
52
520
Kapitel 52 · Beatmung auf der operativen Intensivstation
ziell gefährlich sind und diese akustisch und optisch anzuzeigen. Sekundär ermöglicht es, langsame Veränderungen der Beatmungssituation frühzeitig zu erkennen und das Auftreten kritischer Zustände durch entsprechende Maßnahmen zu verhindern. Das Beatmungsmonitoring sollte folgende Bereiche umfassen: 4 Konditionierung der Atemgase 4 Temperatur bzw. Feuchtigkeit 4 Ventilation/Atemzugvolumen/Atemminutenvolumen/ Atemfrequenz 4 Kapnographie/Kapnometrie 4 Beatmungsdrücke/Spitzendruck/Plateaudruck/Mitteldruck/PEEP 4 Oxygenierung/FiO2/BGA/Pulsoxymetrie
52
Veränderungen oder Abweichungen vom Sollzustand können in folgenden Bereichen auftreten: 4 Beatmungsschläuche: Diskonnektion, Undichtigkeit, Abknicken 4 Endotrachealtubus: Nicht ausreichende Blockierung, Abknicken, Sekretverlegung 4 Lunge des Patienten: Sekretstau, Stenose, Leckage durch Fisteln, ComplianceVeränderungen, Eigenatmung des Patienten, nachlassende oder beginnende Eigenatmung 4 Beatmungsgerät: Fehlbedienung, Funktionsstörung
52.7
Nebenwirkungen der Beatmung
Wie viele andere Therapien auch, haben maschinelle Atemhilfen negative Rückwirkungen auf andere Organsysteme. Herz-Kreislauf-System. Durch die Anwendung der Über-
druckbeatmung kann es zu einer Abnahme des Herzzeitvolumens kommen. Der erhöhte intrathorakale Druck vermindert hierbei den venösen Rückstrom, dadurch wird das Herzzeitvolumen oft deutlich reduziert. Hohe intrapulmonale Druckwerte können zu einer Erhöhung der Alveolardrucke führen, wodurch die Lungenperfusion beeinträchtigt wird, der pulmonalvaskuläre Widerstand erhöht wird und in der Folge eine Rechtsherzbelastung entstehen kann. Nierenfunktion. Durch die Überdruckbeatmung kommt es häufig zur Einschränkung der Nierenfunktion. Dies zeigt
sich am Rückgang der Diurese und Natriurese sowie an der Abnahme der Kreatinin-Clearace. Folgende Faktoren sind ursächlich für diese Einschränkung der Nierenfunktion: 4 Verminderung des Herzzeitvolumens 4 Intrarenale Umverteilung des Blutflusses zugunsten des Marks 4 Druckerhöhung in den Nierenvenen 4 Reflektorische Aktivitätserhöhung sympatischer Nierenefferenzen 4 Veränderungen an den Hormonsystemen (Renin, Noradrenalin, ANP) 4 Ausschüttung von ADH Splanchnikusgebiet. Eine Überdruckbeatmung führt oft-
mals auch zu einer Verminderung der Splanchnikusperfusion. Es kann zu einer Verminderung des gesamten Leberblutflusses kommen mit Enzymerhöhung und Stauungsleber. Die Verminderung der Magenperfusion kann eine erosive Gastritis bis hin zu einer Magenblutung verursachen und die Verminderung der Pankreasperfusion kann die Entstehung einer Pankreatitis begünstigen. Zentrales Nervensystem – ZNS. Die Überdruckbeatmung
mit hohen Beatmungsdrücken kann zu einer intrakraniellen Drucksteigerung führen. Eine ausgeprägte beatmungsinduzierte Hyperventilation kann durch die entstehende Hypokapnie zu einer zerebralen Vasokonstriktion führen; diese wiederum kann zu einer Sauerstoffmangelversorgung des ZNS führen. Pneumonie-Risiko. Bei invasiver Beatmung steigt das Risiko einer Pneumonie mit zunehmender Beatmungsdauer an. Ist das Pneumonie-Risiko in den ersten 24 h einer Beatmung noch sehr gering, so steigt es im weiteren Verlauf schnell an. Bei intubierten und maschinell beatmeten Patienten ist die Inzidenz einer beatmungsassoziierten Pneumonie 6–21fach erhöht und wird auf ca. 2 % pro Beatmungstag geschätzt.
52.8
Spezielle Beatmungsindikationen auf der operativen Intensivstation
Die postoperative Nachbeatmung direkt im Anschluss an eine Operation, die neu aufgetretene postoperative Ateminsuffizienz sowie das akute Lungenversagen (ARDS) sind drei der wichtigsten Indikationsfelder, die den Einsatz von maschinellen Atemhilfen auf der operativen Intensivstation erfordern.
521 52.8 · Spezielle Beatmungsindikationen auf der operativen Intensivstation
52.8.1 Postoperative Beatmung In den vergangenen Jahren hat sich die Einstellung der Anästhesisten zur postoperativen Beatmung (in der Umgangssprache oft Nachbeatmung genannt) grundlegend verändert. Durch die Entwicklung neuer, gut steuerbarer Anästhetika und Muskelrelaxanzien, durch die Verfeinerung chirurgischer Techniken mit minimalinvasiven Verfahren und Blut sparendem Vorgehen, durch ein gutes intraoperatives Wärmemanagement und durch eine optimierte postoperative Schmerztherapie können Patienten im Operationssaal extubiert werden, bei denen man noch vor wenigen Jahren davon überzeugt war, dass eine postoperative Beatmung zur Vermeidung von Komplikationen unerlässlich wäre. Zur verringerten Inzidenz der postoperativen Beatmung hat wesentlich auch die Erkenntnis beigetragen, dass die künstliche Beatmung mit erheblichen Komplikationen wie Schädigung der oberen Atemwege, Perfusionsminderung der viszeralen Organe und vor allem mit dem Risiko einer nosokomialen Pneumonie behaftet ist. Im Gegensatz zu Patienten mit akuter Lungenschädigung (Acute Lung Injury, ALI) oder akutem Lungenversagen (ARDS) scheint bei operativen Patienten mit gesunder Lunge eine beatmungsassoziierte Lungenschädigung oder eine beatmungsinduzierte systemische inflammatorische Reaktion keine Rolle zu spielen. Die primären Ziele der Beatmung sind die Vermeidung von Hypoxämie, Hyperkapnie mit unter Umständen lebensbedrohlicher respiratorischer Azidose und die Verringerung der Atemarbeit. Da es keine kontrollierten Studien gibt, ob und ggf. bei welchen Patienten eine postoperative Beatmung den Behandlungserfolg sichern und Komplikationen zu vermeiden hilft, beruht in vielen Fällen die Entscheidung über eine postoperative Beatmung auf der Beurteilung physiologischer Variablen, einer Nutzen-Risiko-Abwägung und auf einer subjektiven Einschätzung der Gesamtsituation des Patienten. Gründe für eine postoperative Beatmung sind eine Nachwirkung von Anästhetika, insbesondere nach langen Eingriffen, eine vorbestehende oder neu aufgetretene respiratorische Insuffizienz, eine ausgeprägte Hypothermie, eine ausgeprägte Kreislaufinstabilität, kardiochirurgische Eingriffe, ein neurologisches Defizit, neuromuskuläre Erkrankungen oder ausgedehnte Eingriffe im Bereich der oberen Atemwege, beispielsweise große Tumoroperation mit der Gefahr einer postoperativen Atemwegsverlegung. Letztere sind im engeren Sinne keine Indikation zur Beatmung, sondern eine Indikation für einen künstlichen Atemweg. Anästhetikaüberhang. Die Verwendung lange wirksamer Pharmaka kann nicht nur zu einer erhöhten Inzidenz post-
operativer Beatmung führen, sondern auch postoperative pulmonale Komplikationen begünstigen. Es bleibt festzuhalten, dass eine verlängerte Wirkung von Anästhetika und Relaxanzien gelegentlich eine Indikation zur postoperativen Beatmung darstellt. Mit der Einführung der neueren, besser steuerbaren Pharmaka ist diese Indikation zur postoperativen Beatmung selten geworden. Hypothermie. In Operationssälen, in denen Erwachsene ope-
riert werden, ist es kalt. Die Temperaturregulation des Organismus, welche die Körpertemperatur normalerweise innerhalb einer engen Bandbreite von ± 0,2 °C konstant hält, wird durch Anästhetika dosisabhängig gestört. Die Bandbreite der Thermoregulation steigt, d. h. die Schwelle, bei der Temperaturregulationsprozesse wie Kältezittern, zitterfreie Thermogenese, Schwitzen oder Vasodilatation einsetzen, steigt auf ± 2 °C. Da während einer Allgemeinanästhesie zitterfreie Thermogenese nicht möglich ist und Kältezittern durch Anästhetika und Relaxanzien unterdrückt wird, sind anästhesierte Patienten poikilotherm. Ein Absinken der Körpertemperatur im Mittel um 2–3 °C ist die Folge. Neben anderen negativen Effekten wie Wundheilungsstörung oder erhöhtem Transfusionsbedarf als Folge einer Gerinnungsstörung kann Hypothermie durch eine postoperative sympathische Aktivierung mit dem Ziel der Thermogenese zu einem Anstieg des Sauerstoffverbrauchs führen. Dies wiederum kann vor allem bei Patienten mit kardialen Vorerkrankungen zu einer Häufung myokardialer Komplikationen führen. Eine Entscheidung darüber, ob und ggf. in welcher Situation eine postoperative Beatmung bei Hypothermie Komplikationen vermeiden hilft, ist schwierig. Das Wichtigste ist sicherlich die Vermeidung der Hypothermie selbst. Wenn dies nicht gelingt, kann bei Patienten mit schweren myokardialen Vorerkrankungen eine postoperative Beatmung bis zum Erreichen der Normothermie erwogen werden. Kreislaufinstabilität. Bei ausgeprägter Kreislaufinstabilität und Schock ist eine postoperative Beatmung indiziert. Ziel ist dabei die Vermeidung einer zusätzlichen Kreislaufbelastung durch die Atemarbeit. Die Durchblutung und der Sauerstoffverbrauch der Atemmuskulatur in Ruhe ist mit einem Anteil von < 3 % am Herzzeitvolumen und am gesamten Sauerstoffverbrauch des Organismus sehr gering. Bei Lungenerkrankungen wie COPD, Kältezittern und bei Erkrankungen wie beispielsweise Adipositas oder Sepsis, die mit einem erhöhten Sauerstoffverbrauch einhergehen, nehmen die Atemarbeit und damit der Sauerstoffbedarf und die Durchblutung der Atemmuskulatur um ein Vielfaches zu. Besonders bei diesen Patienten kann deshalb bei
52
522
Kapitel 52 · Beatmung auf der operativen Intensivstation
Kreislaufinstabilität und Schock eine postoperative Nachbeatmung indiziert sein. Neurologisches Defizit und neuromuskuläre Erkrankung.
Ein neurologisches Defizit mit eingeschränkten Schutzreflexen ist eine Indikation für einen künstlichen Atemweg als Aspirationsprophylaxe. Bei neurochirurgischen Krankheitsbildern ist deswegen gelegentlich eine postoperative Beatmung notwendig. Nach kardiochirurgischen Eingriffen tritt bei ca. 5 % der Patienten ein neurologisches Defizit auf. Dies führt ebenfalls häufig zu einer verlängerten postoperativen Beatmung. Bei neuromuskulären Erkrankungen wie z. B. der Myastenia gravis kann aufgrund der muskulären Schwäche eine postoperative Beatmung notwendig sein.
52.8.2 Postoperative Ateminsuffizienz
52
Pulmonale Komplikationen nach Operationen sind Ursachen einer erhöhten postoperativen Mortalität. Vorbestehende Risikofaktoren wie Nikotinabusus, Adipositas, Immunschwäche und pulmonale Vorerkrankungen begünstigen das Auftreten einer postoperativen respiratorischen Insuffizienz. Auch die Art der Operation, vor allem bei Oberbauch- und Thoraxeingriffen, beeinflusst wesentlich das Auftreten solcher postoperativen Atemfunktionsstörungen. Ein reduziertes Lungenvolumen sowie eine eingeschränkte Thoraxwand/Zwerchfellexkursion sind wichtige Mechanismen, die postoperativ zur Hypoxämie und Hypoventilation führen können (7 Übersicht). Faktoren einer postoperativen Ateminsuffizienz Reduziertes Lungenvolumen 5 Ileus 5 Darmparalyse 5 Zwerchfellhochstand 5 Abdominale Distension 5 Lungenödem 5 Sekretretention 5 Pneumothorax 5 Atelektasen Einschränkung von Zwerchfell und Thoraxwandexkursion 5 Schmerzen 5 Abdominale Distension 5 Eingeschränkter Hustenstoß 5 Sekretretention
Vor allem postoperative Atelektasen sind häufig Ursache der pulmonalen Komplikationen. Sie entstehen z. B. durch flache Atmung bei insuffizienter Schmerztherapie, Beeinträchtigung der Zwerchfellbeweglichkeit durch Darmatonie, bei Adipositas permagna sowie bei nikotinbedingter erhöhter pulmonaler Sekretion. Ausgeprägte Atelektasen verursachen eine arterielle Hypoxämie. Wichtigste Maßnahme ist die Prophylaxe von Atelektasen. Dazu gehört eine frühzeitige Mobilisierung, eine suffiziente Schmerztherapie und eine intensive physikalische Atemtherapie. Zur Wiedereröffnung von Atelektasen können nicht-invasive Atemhilfen z. B. nasale CPAP-Masken, Gesichtsmasken oder Beatmungshelme eingesetzt werden. Bei schwerwiegender Hypoxämie sind die Reintubation und differenzierte Beatmungstherapie möglichst unter Erhalt der Spontanatmung erforderlich. Bei einer Hypoxämie durch Atelektasen sind Maßnahmen zur Wiedereröffnung der atelektatischen Bereiche indiziert und somit das kausale Therapieziel. Hierzu gehören Rekrutierungsmanöver, der Einsatz einer protektiven Beatmung (7 Kap. 52.8.3) sowie der Einsatz von PEEP zum Offenhalten von wiedereröffneten Lungenbereichen sowie zur Aufrechterhaltung einer adäquaten funktionellen Residualkapazität (FRC).
52.8.3 Acute respiratory distress syndrome
(ARDS) Das ARDS wurde 1967 erstmals von Ashbough beschrieben. Die Erkrankung beginnt meist sehr schnell innerhalb von 24 h nach der initialen Schädigung. Die Klinik ist geprägt von Tachypnoe, Atemnot, Zyanose und zunehmender Hypoxämie. Im weiteren Verlauf zeigt sich selbst bei hoher Sauerstoffzufuhr eine ausgeprägte Hypoxie mit ausgeprägten intrapulmonalen Rechts-Links-Shunts und schweren Störungen des Ventilations/Perfusions-Verhältnisses. Die pulmonale Compliance sinkt, es entsteht ein so genanntes nicht kardiales Lungenödem mit erhöhtem extravaskulärem Lungenwasser. Radiologisch zeigen sich typischerweise im Röntgenbild des Thorax diffuse Infiltrate, bei schwerem Krankheitsverlauf das Vollbild der weißen Lunge. Die Definition des ARDS wurde 1992 anhand von vier Punkten festgelegt. 1. Akutes Auftreten der Erkrankung 2. Oxygenierungsindex (Horowitz-Quotient) PaO2 : FiO2 < 200 mmHg unabhängig von der Höhe des angewandten PEEP 3. Bilaterale Infiltrate im Röntgenbild des Thorax 4. Pulmonalkapillärer Verschlussdruck PCWP < 18 mmHg bzw. Ausschluss eines kardialen Lungenödems
523 52.8 · Spezielle Beatmungsindikationen auf der operativen Intensivstation
. Tabelle 52.1. Schweregrad des akuten Lungenversagens (nach Murray) Scorewert 1. Radiologischer Befund
2. HypoxämieScore
keine alveolären Verschattungen
0
alveoläre Verschattungen in 1 Quadranten
1
alveoläre Verschattungen in 2 Quadranten
2
alveoläre Verschattungen in 3 Quadranten
3
alveoläre Verschattungen in 4 Quadranten
4
paO2/ FiO2
≥ 300 mmHg
0
225–229 mmHg
1
175–224 mmHg
2
100–174 mmHg
3
≤ 100 mmHg
4
< 5 mbar
0
6–8 mbar
1
9–11 mbar
2
12–14 mbar
3
≥ 15 mbar
4
> 80 ml/mbar
0
60–79 ml/mbar
1
40–59 ml/mbar
2
20–39 ml/mbar
3
< 20 ml/mbar
4
3. PEEP
4. Compliance des respiratorischen Systems
effektive Compliance
Summe der Gruppenwerte/Anzahl der Gruppen
= Scorewert
Keine Lungenschädigung
0
Leichte bis mäßige Lungenschädigung
0,1–2,5
Schwere Lungenschädigung
> 2,5
Eine genauere Einteilung und Schweregradbestimmung erlaubt der sog. Murray score oder auch Lung injury score (LIS) (. Tab. 52.2) Morphologisch können die Lungen von ARDS-Patienten in drei Bereiche eingeteilt werden: Dorsal gelegene atelektatische Bereiche ohne pulmonalen Gasaustausch, die den Hauptanteil am Rechts-Links-Shunt ausmachen. Im mittleren Übergangsbereich findet sich eine Zone mit rekrutierbaren Lungenanteilen. In den ventralen Anteilen der Lunge befindet sich weitgehend gesundes Lungengewebe mit noch normaler Compliance. Beim schweren ARDS können gesunde Lungenanteile, die noch am Gasaustausch teilhaben, bis auf ca. ein Drittel des ursprünglichen Lungenvolumens reduziert sein. Die Inzidenz der Erkrankung wird zwischen 1,5–8,3 Fälle pro 100000 Einwohner angegeben. Auch die Letalitätsangaben sind sehr unterschiedlich und liegen zwischen 20 % und 50 %. Dies ist nicht verwunderlich, hängt die Letalität doch von sehr vielen unterschiedlichen Faktoren wie Alter, Grunderkrankung und Ursache des ARDS ab. Bei den Ursachen unterscheidet man direkte und indirekte Schädigungen der Lungen. Pulmonale Infektionen, Lungenkontusion, Aspiration und Inhalationstrauma sind einige Beispiele für die direkte Schädigung der Lunge, die zu einem ARDS führen können. Die Hauptursachen für eine indirekte Lungenschädigung sind ein SIRS oder eine Sepsis, Polytrauma, Massivtransfusionen, verschiedene Schockzustände, Pankreatitis, Verbrennungen, Fruchtwasserembolie, Fettembolie und extrakorporale Zirkulation. Die Pathophysiologie ist geprägt durch eine Aktivierung verschiedener Mediatorenkaskaden, die zu einer Erhöhung der pulmonalen Kapillarpermeabilität führt. Es entsteht ein alveoläres Ödem und kommt zum Surfactantverlust mit Ausbildung von Atelektasen, einer Reduktion der funktionellen Residualkapazität (FRC) sowie einem zunehmenden Rechts-Links-Shunt. Die multimodale Therapie beinhaltet zunächst die adäquate Therapie der auslösenden Ursache. Die Anforderungen an ein Beatmungsregime bei ARDS sind sehr groß. Durch protektive Beatmungsstrategien wird versucht, eine adäquate Oxygenierung zu erreichen, atelektatische Bereiche zu rekrutieren und beatmungsinduzierte iatrogene Schädigungen der gesunden Lungenanteile zu vermeiden. Diese protektive Beatmung beinhaltet niedrige Atemzugvolumina (5–6 ml pro kg KG) und Begrenzung des Beatmungsspitzendrucks auf 35 cm H2O. Die Anwendung eines so genannten »best«-PEEP soll die Beatmung innerhalb der optimalen Compliance-Kurve des Lungenthoraxsystems ermöglichen (steiler Teil der Druckvolumenkur-
52
524
Kapitel 52 · Beatmung auf der operativen Intensivstation
ve). Hierbei wird der PEEP oberhalb des unteren Inflektionspunktes (LIP) dieser Druckvolumenkurve eingestellt (. Abb. 52.5). Um diese Ziele zu erreichen, wird auch eine so genannte permissive Hyperkapnie mit pH-Werten bis ca. 7,2 toleriert. Für weitere therapeutische Aspekte der ARDSTherapie wie z. B. Inhalation von NO, Inhalation von Prostazyklinen, die intermittierende Bauchlagerung oder die Anwendung extrakorporaler Lungenersatzverfahren sei auf die weiterführende Literatur verwiesen. : Beispiel
52
Ein 55-jähriger Patient kommt zur stationären Aufnahme mit kolikartigen Bauchschmerzen und wiederholtem Erbrechen. Sechs Monate vor der stationären Aufnahme war eine Sigmaresektion erfolgt. Bei ausgeprägter Ileussymptomatik wurde der Patient noch am Aufnahmetag operiert. Intraoperativ zeigten sich ein Dünndarmbridenileus und Netzadhäsionen sowie eine paraumbilicale Narbenhernie. Es wurde eine ausgedehnte Adhäsiolyse und Verschluss der Narbenhernie durchgeführt. Der postoperative Verlauf gestaltete sich zunächst ungestört. Am 3. postoperativen Tag kam es jedoch auf Grund einer persistierenden Magen-Darm-Atonie zum Erbrechen. Der Patient aspirierte Erbrochenes. Mit rasch zunehmender Atemnot wurde der Patient auf die Intensivstation aufgenommen. Eine ausgeprägte Hypoxämie erforderte eine sofortige Intubation und Beatmung. Radiologisch war eine massive Verschattung der rechten Lunge nachweisbar (. Abb. 52.6). Bei progredienter Hypoxämie trotz Beatmung war zur Oxygenierung zunächst folgende Beatmungseinstellung er forderlich: FiO2 1,0, PEEP 20 mbar, Atemzugvolumen ca. 6 ml/kg KG, Spitzendruckbegrenzung bei 35 mbar. Zur Verbesserung der Oxygenierung wurde des Weiteren eine intermittierende Bauchlagerung durchgeführt. Neben diesem ausgeprägten ARDS entwickelte der Patient ein schweres Multiorganversagen. Zur Stabilisierung der Herzkreislauffunktion war die Gabe von Katecholaminen er forderlich. Ein akutes Nierenversagen er forderte den Einsatz eines kontinuierlichen Nierenersatzverfahrens. Radiologisch zeigten sich innerhalb von 24 h beidseits ausgeprägte Infiltrationen in allen vier Quadranten, lediglich die apikalen Anteile beider Lungen zeigten noch normale Transparenz (. Abb. 52.7). Im weiteren Verlauf stabilisierte sich der Patient, die Invasivität der Beatmung konnte bei zunehmender Verbesserung der Oxygenierung schrittweise reduziert werden. Das Nierenersatzverfahren 6
. Abb. 52.5. Pulmonale Druckvolumenkurve (nach Fresenius, Heck [2001] Repetitorium Intensivmedizin. Springer, Heidelberg)
. Abb. 52.6. Rö-Thorax bei Aufnahme auf die Intensivstation (Erläuterungen siehe Fallbeispiel)
konnte am 5. Tag nach Aufnahme auf die Intensivstation bei ausreichender Nierenfunktion beendet werden. Zwölf Tage nach der Aspiration wurde der Patient erfolgreich extubiert und wenige Tage später mit fast normalem Röntgenthoraxbefund problemlos auf die Normalstation verlegt (. Abb. 52.8). Trotz eines schweren Krankheitsverlaufes mit zu Beginn extremer Gasaustauschstörungen konnte der Patient ohne weitere Residuen auf die Station verlegt werden. Nach ca. 1 Jahr stellte sich der Patient zur Operation einer Leistenhernie vor. Diese Operation verlief problemlos. Es waren keine Langzeitschäden durch die Schwere der vorausgegangenen Erkrankung erkennbar.
525 52.9 · Respiratorentwöhnung (Weaning)
. Abb. 52.7. Rö-Thorax nach einem Tag auf der Intensivstation (Erläuterungen siehe Fallbeispiel)
. Abb. 52.8. Rö-Thorax kurz vor Verlegung auf die Normalstation (Erläuterungen siehe Fallbeispiel)
52.9
Respiratorentwöhnung (Weaning)
Viele Beatmungen auf der operativen Intensivstation verlaufen ohne größere Probleme und die Patienten können nach kurzzeitiger maschineller Unterstützung wieder extubiert werden. In einigen Fällen dagegen gestaltet sich die Entwöhnung vom Respirator als sehr schwierig. Ca. 1/5 der beatmeten Patienten zeigen Probleme bei der Entwöhnung vom Respirator. Meist ist die Ursache eine Überlastung der Atemmuskulatur bei deutlich reduzierter Kraft und Aus-
dauer. Erhöhte Atemarbeit durch reduzierte Lungencompliance, Hyperthermie, COPD, zentral nervös bedingte Dysfunktionen der Atmungsregulation und andere Faktoren wie z. B. Linksherzinsuffizienz, Sedierungsüberhang bzw. inadäquate Sedierung, psychologische Komponenten (psychische Abhängigkeit vom Respirator) sind weitere Ursachen, die eine Entwöhnung vom Respirator erschweren können. Bei schwieriger Respiratorentwöhnung erfolgt eine schrittweise Reduktion der Invasivität der Beatmung mit dem Ziel einer langfristigen suffizienten Spontanatmung unabhängig von maschinellen Atemhilfen. Hierbei werden schrittweise die FiO2 reduziert, das Atemzeitverhältnis (I : E) normalisiert, der PEEP in kleinen Schritten und die inspiratorische Druckunterstützung reduziert. Um subjektive Fehleinschätzungen und unnötig verlängerte Beatmungsdauern zu minimieren und den Erfolg der Respiratorentwöhnung zu optimieren, werden derzeit zunehmend Entwöhnungsprotokolle oder Weaning-Konzepte zur erfolgreichen Respiratorentwöhnung eingesetzt. Neben einer individuell patientenadaptierten Beatmungsstrategie werden physiologische Messparameter und intermittierende Spontanatmungsversuche als Kriterien für eine erfolgreiche Entwöhnung herangezogen. Wenn unter einer FiO2 von 0,4, einem PEEP von 5 mbar und einer Druckunterstützung von 5–10 mbar der PaO2 60–mmHg, der PaCO2 < 50 mmHg, der pH-Wert > 7,35, die Atemfrequenz < 30/min, das Atemzugvolumen > 5 ml/kg KG und der maximal negative inspiratorische Druck < –20 mbar betragen, kann der Patient in der Regel extubiert werden. Der so genannte Rapid shallow breathing index oder auch Yang-Index ist ein weiteres Beispiel für einen prognostischen Parameter einer erfolgreichen Respiratorentwöhnung. Dieser Index berechnet sich über den Quotienten aus Atemfrequenz und Atemzugvolumen(in Liter). Wird ein Wert < 80 erreicht, ist eine nicht assistierte Spontanatmung meist erfolgreich und der Patient kann extubiert werden. Bei Werten zwischen 80 und 105 kann durch evtl. unterstützende intermittierende, nicht-invasive Überdruckbeatmung ebenfalls eine erfolgreiche Extubation durchgeführt werden. Bei Werten über 105 sind Entwöhnungsversuche in einem hohen Prozentsatz nicht erfolgreich. Um bei Langzeitbeatmung eine schnellere Respiratorentwöhnung zu erreichen, wird oftmals eine Tracheotomie durchgeführt. Heutzutage wird häufig bei dieser Indikation die bettseitige Methode, d. h. die perkutane Dilatationstracheotomie den chirurgischen Methoden vorzogen. Die Vorteile der Tracheotomie sind eine verbesserte Sekretab-
52
526
Kapitel 52 · Beatmung auf der operativen Intensivstation
saugung, eine Reduktion des Atemwegwiderstands, die verbesserte Mundpflege und der geringere Bedarf an Analgosedierung (Bedingt durch bessere Toleranz des Atemwegzugangs).
Literatur
52
Becker HF, Schönhofer B, Burchardi (Hrsg.; 2002) Nicht-invasive Beatmung. Blackwell Wissenschafts-Verlag Benzer H, Burchardi H, Larsen R, Suter PM (Hrsg.; 1995) Intensivmedizin. 7. Aufl. Springer, Berlin Heidelberg New York Burchardi H, Kuhlen R,Schönhofer B, Müller E, Criée CP, Welte T (2002) Nicht-ivasive Beatmung. Der Anästhesist 51: 33–41 Kilian J, Benzer H, Ahnefeld FW (Hrsg.; 1994) Grundzüge der Beatmung. 2. Aufl. Springer, Berlin Heidelberg New York Kopp R, Kuhlen R, Max M, Rossaint R (2003) Evidenzbasier te Medizin des akuten Lungenversagens. Der Anästhesist 52: 195–203 Larsen R, Ziegenfuß T (1997) Beatmung – Grundlagen und Praxis. Springer, Berlin Heidelberg New York Lemmen HJ, Kopp R, Kuhlen R, Rossaint R (2003) Indikationen zur Beatmung neu überdacht. Anästhesiologie & Intensivmedizin 44: 777–786 Neumann P, Burchardi H, Klockgether-Radke A (2002) Moderne Konzepte in der maschinellen Beatmung. Anästhesiologie & Intensivmedizin 43: 714–724 Schönhofer B (2000) Entwöhnung vom Respirator (Weaning). Intensivmed. 37: 273–283 v. Hitzenstern U, Bein T (2004) Praxisbuch Beatmung. 3. Aufl. Urban & Fischer
53 Herz-Kreislauf-Funktionsstörungen und ihre Therapie Samir G. Sakka 53.1 Schock –528 53.1.1 53.1.2 53.1.3 53.1.4 53.1.5 53.1.6 53.1.7
Volumenmangelschock –528 Kardiogener Schock –529 Septischer Schock –529 Anaphylaktischer Schock –531 Neurogener Schock –531 Obstruktive Schockformen –531 Narkose bei Patienten im Schock –532
53.2 Perioperative Herz-Kreislauf-Funktionsstörungen –532 53.2.1 Herzrhythmusstörungen –533 53.2.2 Hypertensive Krise –534 53.2.3 Akuter Myokardinfarkt –535
Literatur –535
528
Kapitel 53 · Herz-Kreislauf-Funktionsstörungen und ihre Therapie
)) Neben dem Herz-Kreislauf-Stillstand, der die sofortige Wiederbelebung erfordert, befasst sich das folgende Kapitel mit den verschiedenen Schockformen und anderen akuten Herz-Kreislauf-Störungen. Die Übergänge der einzelnen Kreislaufstörungen bis zum manifesten Schock und letztlich Kreislaufstillstand sind fließend.
53.1
Schock
Ätiologie. Als Schock bezeichnet man das Unvermögen des
53
Herz-Kreislauf-Systems, ein zur Deckung des zellulären Energiebedarfs ausreichendes Substratangebot aufrechtzuerhalten. Der Schock ist zumeist ein multifaktorielles Geschehen, das über eine Gewebeminderperfusion und -hypoxie letztlich zur Organfunktionsstörung führt. Pathophysiologisch lassen sich anhand der Hauptregelgrößen des Kreislaufs (Herzzeitvolumen, zirkulierendes Blutvolumen und Gefäßtonus) verschiedene Schockformen unterscheiden. Neben einer Abnahme des Blutvolumens (Volumenmangelschock) und dem Herzversagen (kardiogener Schock) gibt es die distributiven Schockformen (septischer, anaphylaktischer und neurogener Schock), die auf einer Fehlverteilung des Blutvolumens infolge Gefäßdysregulation beruhen. Ein Sonderfall sind die obstruktiven Schockformen aufgrund mechanischer Beeinträchtigung intrathorakaler Gefäßstrukturen. Symptomatologie. Zwar sind das klinische Bild und die
Therapie der verschiedenen Schockformen unterschiedlich, doch lassen sich folgende Symptome regelmäßig beobachten:
4 4 4 4 4
Blutdruckabfall Tachykardie (Bradykardie) Tachypnoe Oligurie Sensorische Störungen
Klinisch wurde vielfach der so genannte AllgöwerSchockindex (Quotient aus Herzfrequenz und systolischem Blutdruck) benutzt. Bei einem Index < 0,5 besteht kein Schock, bei einem Wert von 1,0 liegt ein mäßiger und > 1,5 ein schwerer Schock vor. Allerdings kann durch endogene Kompensationsmechanismen relativ lange ein »Normalzustand« vorgetäuscht sein, sodass der Index nur zur groben Orientierung dienen sollte. ! Jede Form des Schocks bedarf der sofortigen Therapie, die dem Ziel der Wiederherstellung einer adäquaten Gewebedurchblutung und -oxygenierung dienen sollte!
53.1.1 Volumenmangelschock Ätiologie. Blut-, Flüssigkeits- und Elektrolytverluste füh-
ren zu einer Reduktion des Blutvolumens, sodass es infolge einer Abnahme der kardialen Vorlast zu einem Abfall des Herzzeitvolumens kommt. In der Frühphase kann eine Hypotonie zunächst fehlen, die Auswirkungen hängen von Umfang und Geschwindigkeit des Blutverlustes sowie evtl. kardiovaskulären Vorerkrankungen ab. ! Der Schock durch Hypovolämie ist die häufigste Schockform!
Über die Störung der Makrozirkulation kommt es zur Beeinträchtigung der Mikrozirkulation. Man unterscheidet:
. Tabelle 53.1. Einteilung und Schweregrad des hämorrhagischen Schocks (Angaben für Erwachsene, ca. 70 kg) Volumenverlust (ml)
Abnahme des Blutvolumens (%)
Schweregrad
Klinische Zeichen
Kein Schock
Keine
0–500
0–10
500–1200
10–25
Leichter Schock (kompensiert)
Geringe Tachykardie, leichter Blutdruckabfall, geringe periphere Vasokonstriktion
1200–1800
25–35
Mäßiger Schock
Fadenförmiger Puls, Schwitzen, Herzfrequenz erhöht, Hypotonie (RRsys ca. 90 mmHg)
1800–2500
35–50
Schwerer Schock
Fadenförmiger Puls, Herzfrequenz > 120/min, RRsys < 60 mmHg, starkes Schwitzen, Verwirrtheit, Anurie
529 53.1 · Schock
4 Hämorrhagischer Schock (Blutungsschock) 4 Schock durch Flüssigkeits- und Elektrolytverluste 4 Schock durch Exsikkose und Verbrennungen Therapie. Die Therapie des hämorrhagischen Schocks
besteht in einer raschen Volumensubstitution mit ggf. Blutkomponenten. Das Vorgehen sollte sich zunächst an klinischen Zeichen (Herzfrequenzabnahme, Pulsqualität, Blutdruckanstieg, . Tab. 53.1) bzw. Organfunktionen (Urinausscheidung) orientieren. Nach Stabilisierung kann ein erweitertes Monitoring zur differenzierten Kreislauf- und Volumentherapie erfolgen.
53.1.2 Kardiogener Schock : Beispiel Ein 54-jähriger Mann mit einem nicht-insulinpflichtigen Diabetes mellitus und einer Hypercholesterinämie in der Anamnese klagt über plötzlich einsetzende linksthorakale Schmerzen, die in den linken Arm ausstrahlen. Er ist kurzatmig und kaltschweißig. Die sublinguale Gabe von Nitroglyzerin führt zu keiner Besserung der Beschwerden. Der Blutdruck beträgt 105/60 mmHg, die Atemfrequenz 22/min und der Puls ist unregelmäßig mit ca. 120/min. Es er folgt eine Sauerstoffinsufflation über eine Nasensonde und der Patient wird an einen EKG-Monitor angeschlossen. Im EKG findet sich eine massive Hebung der ST-Strecke in den Brustwandableitungen V2–V6. Zur Schmerztherapie erhält der Patient 5 mg Morphin intravenös. Zur Antikoagulation werden 500 mg Azetylsalizylsäure injiziert und im Anschluss an eine Bolusgabe von 5000 IE Heparin wird eine kontinuierliche Infusion (1000 IE/h) begonnen. Bei Verdacht auf einen akuten Vorderwandinfarkt wird eine thrombolytische Therapie mit dem Gewebe-Plasminogen-Aktivator (t-PA) eingeleitet. Das Röntgen-Thoraxbild bei Aufnahme zeigt keine Anzeichen einer Herzinsuffizienz. Die Kreatinkinase im Serum ist deutlich erhöht (4800 U/ml, CK-MB Anteil 20 %), das Troponin I beträgt 15,4 ng/ml (Norm < 0,1). Gehäufte Episoden ventrikulärer Tachykardien bedürfen der antiarrhythmischen Therapie mit Lidocain und Amiodaron. Die Beschwerden des Patienten bleiben bestehen und der Blutdruck fällt bei einem Puls von 100/min auf 75/40 mmHg ab. Eine Therapie mit Dobutamin wird begonnen und eine transthorakale Echokardiographie durchgeführt, die eine Vorderwandakinesie zeigt und die Diagnose eines kardiogenen Schocks bestätigt. Der Patient wird sofort ins Herzkatheterlabor 6
gebracht, es zeigt sich ein Verschluss des Ramus interventricularis anterior (RIVA). Es wird eine perkutane transluminale Koronarangioplastie (PTCA) durchgeführt, die er folgreich verläuft. Im weiteren Verlauf stabilisiert sich das mittels Rechtsherzkatheter gemessene Herzzeitvolumen und der pulmonalarterielle Verschlussdruck fällt. Die Therapie mit Inotropika wird bei stabilen Kreislaufverhältnissen nach 2 Tagen beendet.
Ätiologie. Beim kardiogenen Schock besteht trotz ausreichender Vorlast eine unzureichende Auswurfleistung aufgrund eines kardialen Pumpversagens. Der akute Myokardinfarkt stellt mit über 40 % die häufigste Ursache dar, umgekehrt entwickelt sich ein kardiogener Schock jedoch nur in ca. 5–15 % dieser Fälle. Weitere Ursachen eines kardiogenen Schocks sind Arrhythmien, vor allem tachykarde Rhythmusstörungen. Neben der Minderperfusion der Organe (»Vorwärtsversagen«) kommt es zu einem Rückstau in das rückwärtige Gefäßsystem (»Rückwärtsversagen«). Das Rückwärtsversagen bei Linksherzversagen führt zum Lungenödem, während beim Rechtsherzversagen periphere Ödeme und die Stauung innerer Organe (Hepatomegalie, Aszites) typisch sind. Therapie. Die kausale Therapie richtet sich nach der Ursache (z. B. Thrombolyse beim akuten Myokardinfarkt, Antiarrhythmika bei Rhythmusstörungen). Die symptomatische Therapie besteht in der Kreislaufstabilisierung und beinhaltet drei Prinzipien: Einsatz von Inotropika (z. B. Dobutamin), Nachlastsenkung (z. B. Nitroprussid-Natrium, ACE-Hemmer), Vorlastoptimierung (z. B. Nitroglycerin). Bleibt die konservative Therapie erfolglos, kann bis zur endgültigen Versorgung (Herztransplantation, Koronarbypass-OP) überbrückend der Einsatz von Herz-Unterstützungssystemen wie z. B. der intraaortalen Ballonpumpe (IABP) nötig werden. Trotz aller Fortschritte beträgt die Mortalität des kardiogenen Schocks bis zu 85 %. ! Vasokonstriktiva sind im kardiogenen Schock primär nicht indiziert, da sie den ohnehin schon erhöhten peripheren Gefäßwiderstand weiter anheben!
53.1.3 Septischer Schock : Beispiel Eine 68-jährige Frau entwickelt drei Tage nach einer komplikationslosen Stoßwellenlithotripsie wegen Nephrolithiasis Schüttelfrost, Fieber, Verwirrtheit und Oligurie. Bei 6
53
530
53
Kapitel 53 · Herz-Kreislauf-Funktionsstörungen und ihre Therapie
einer Körpertemperatur von 39 °C beträgt der Blutdruck 100/45 mmHg, der Puls 120/min und die Atemfrequenz 40/ min. Das Röntgen-Thoraxbild ist normal, im EKG findet sich eine Sinustachykardie. Laborchemisch zeigen sich eine Leukozytose von 18100/Pl und eine Hyperkaliämie. Es werden Blutkulturen entnommen und eine antibiotische Therapie mit Imipenem/Cilastatin begonnen. Einige Stunden später entwickelt die Patientin einen Abfall des systolischen Blutdrucks auf 70 mmHg und die arterielle O2-Sättigung fällt auf 75 % ab. Ein erneutes Röntgen-Thoraxbild zeigt beidseitige diffuse Lungeninfiltrate im Sinne eines ARDS. Die Patientin wird auf die Intensivstation verlegt, wo sie bei gleichzeitiger Volumensubstitution intubiert wird. Zusätzlich wird der Einsatz von Inotropika (Dobutamin) und Vasopressoren (Noradrenalin) notwendig. Allerdings bleibt die Patientin oligurisch und urämisch, sodass eine venovenöse Hämodialyse begonnen wird. Die maschinelle Beatmung bedarf einer hohen FiO2 (60 %) und hoher PEEPWerte. In den Blutkulturen gelingt der mikrobiologische Nachweis von Gram-negativen Bakterien (E. coli). Mit Hilfe von großzügiger Volumen- und differenzierter Katecholamintherapie, Antibiotikabehandlung, Bluttransfusionen und Hämodialyse stabilisiert sich der Zustand innerhalb weniger Tage. Die Katecholamintherapie kann beendet und die Patientin zwei Tage später erfolgreich extubiert werden. Die Patientin hat kein Fieber und eine gute Diurese, sodass eine Fortführung der Nierenersatztherapie nicht mehr notwendig ist. Neun Tage nach der Krankenhausaufnahme wird die Patientin auf die Normalstation verlegt, von wo aus sie wieder nach Hause entlassen wird.
Ätiologie. Der septische Schock entsteht durch das Eindrin-
gen von Mikroorganismen oder Toxinen aus einem Sepsisherd in die Blutbahn (vor allem Gram-negative Erreger). Häufige Eintrittspforten sind Atemwege, Urogenital-, Gastrointestinaltrakt, Wunden oder Fremdkörper (z. B. Implantate, Gefäßkatheter). Häufig unterscheidet man ein Frühstadium, das geprägt ist von einer Vasodilatation, Zunahme von Herzfrequenz und Herzzeitvolumen (hyperdynamer bzw. »warmer« Schock). Das Spätstadium hingegen ist charakterisiert durch einen Abfall des Herzzeitvolumens (hypodynamer bzw. »kalter« Schock). Diese Differenzierung wurde weitgehend verlassen, doch hat sie insofern noch eine Bedeutung als die Fähigkeit, einen hyperdynamen Kreislauf (hohes O2-Angebot) aufzubauen, mit einer besseren Prognose verbunden ist. Symptomatologie. Die Diagnose septischer Schock beruht auf der Kreislaufinsuffizienz (systolischer Blutdruck
< 90 mmHg bzw. Notwendigkeit zur Katecholamintherapie) und zusätzlich mindestens zwei der folgenden Kriterien: 4 Körpertemperatur > 38,0 °C oder < 36,0 °C 4 Herzfrequenz > 90 /min 4 Atemfrequenz > 20/min oder PaCO2 < 32 mmHg 4 Leukozyten > 12000/Pl bzw. < 4000/Pl oder > 10 % stabkernige Granulozyten (Linksverschiebung) ! Klinisches Frühsymptom des septischen Schocks kann eine septische Enzephalopathie sein, die häufig als Verwirrtheitszustand imponiert (cave: Fehldeutung als Alkoholentzugssyndrom).
Wenn auch nicht spezifisch, so findet man doch oft eine Thrombozytopenie und Hypophosphatämie. Serologische Entzündungsmarker sind u. a. das C-reaktive Protein (CRP) und Prokalzitonin. Therapie. Die kausale Therapie besteht in der ggf. chirurgischen Beseitigung des Sepsisherds und – falls notwendig – in der gezielten antibiotischen Therapie. Die Begleittherapie beinhaltet in erster Linie die Wiederherstellung und Aufrechterhaltung eines adäquaten Volumenstatus, ausreichenden O2-Angebots und Perfusionsdrucks. Aufgrund einer unzureichenden Flüssigkeitsaufnahme und gleichzeitigen Verlusten in das Gewebe (»dritter Raum«) besteht ein relativer und absoluter Volumenmangel. Daher wird initial eine massive Flüssigkeitssubstitution notwendig, die mehrere Liter pro Tag betragen kann. Die jeweiligen Maßnahmen sollten in Abhängigkeit von Organdurchblutung und -funktion, z. B. Urinausscheidung, Laktat, zentralvenöse O2-Sättigung und regionale Mikrozirkulation (z. B. Magen-Tonometrie oder Indozyaningrün-Plasmaverschwinderate), erfolgen. ! Die adäquate Kreislauftherapie des septischen Schocks besteht primär in einer adäquaten Volumentherapie. Erst sekundär kommen vasoaktive Substanzen zum Einsatz!
Die Frage, ob kristalloider oder kolloidaler Plasmaersatz eingesetzt werden sollte, scheint sekundär zu sein, viel wichtiger ist ein adäquater Flüssigkeitsersatz. Auch besteht eine anhaltende Diskussion darüber, welche vasoaktiven Substanzen bevorzugt verwendet werden sollten. Die Therapie mit kreislaufwirksamen Substanzen wird detailliert in 7 Kap. 6.1.6. besprochen. Die Prognose wird vom Ausmaß der Organversagen bestimmt, daher ist eine adäquate Kreislauftherapie zur Verhinderung von Gewebeischämie und -hypoxie nach wie vor die wichtigste Maßnahme. Trotz des medizinischen Fortschritts ist die Mortalität des septischen Schocks mit 45–90 % hoch.
531 53.1 · Schock
. Tabelle 53.2. Stadieneinteilung der anaphylaktischen Reaktion. Symptomatik, Befund und Therapie Stadium
Symptomatik
Befund
Therapie
0
Lokal
Begrenzte kutane Reaktion
Keine
I
Leichte Allgemeinreaktion
Disseminierte kutane Reaktion (Exanthem, Urticaria), Allgemeinreaktion (Unruhe, Cephalgien)
5 Prednisolon (50–125–mg i.v.) 5 H1- und H2-Blockade (Dimetinden 8 mg i.v., Cimetidin 400 mg i.v.)
II
Ausgeprägte Allgemeinreaktion
Leichte Dyspnoe, beginnender Bronchospasmus, Kreislaufdysregulation
5 Adrenalin (inhalativ, i.v. 1 : 10 0,5–1 mg titriert) 5 Prednisolon (250–500 mg i.v.) 5 H1- und H2-Blockade (Dimetinden 8 mg i.v., Cimetidin 400 mg i.v.)
III
Bedrohliche Allgemeinreaktion
Schock
5 Adrenalin oder ggf. Noradrenalin (i.v. 1 : 10 0,5–1 mg titriert) 5 Prednisolon (0,5–1 g i.v.)
IV
Vitales Organversagen
Atem- und Kreislaufstillstand
Kardiopulmonale Reanimation
53.1.4 Anaphylaktischer Schock
53.1.5 Neurogener Schock
Ätiologie. Die Anaphylaxie ist eine lebensbedrohliche allergische Reaktion, welche durch eine immunologische Sofortreaktion (Typ I) ausgelöst wird. Voraussetzung ist eine zurückliegende Sensibilisierung gegen das Allergen, das bei der Zweitexposition die IgE-vermittelte Reaktion auslösen kann. Die Bindung von IgE an Mastzellen führt zur Freisetzung von Histamin, Serotonin und anderen Substanzen, die zu einer ausgeprägten Vasodilatation und letztlich zum Kreislaufzusammenbruch führen. Die Kapillarpermeabilität nimmt zu und infolge Ödembildung im Hypopharynx und Larynx kann es zur akuten Erstickungsgefahr kommen. Die bronchiale Obstruktion kann die Ursache für einen evtl. tödlichen Status asthmaticus sein.
Ätiologie. Der neurogene Schock basiert auf einem Ausfall
Therapie. Neben der Beseitigung der auslösenden Substanz
besteht die Therapie in der Gabe von Adrenalin und Glukokortikoiden. Die Volumentherapie sowie die Histaminblockade mit H1- und H2-Antagonisten stellen die weiteren Maßnahmen dar. Klinisch unterscheidet man vier Stadien (. Tab. 53.2). Es existiert keine validierte Prophylaxe, doch wird bei entsprechender Anamnese und geplanter Allergenexposition (z. B. Röntgenkontrastmittel) empfohlen, 8stündlich für 24 h p.o. oder parenteral jeweils Prednisolon 80–100 mg (0,5–1 mg/kg), Dimetinden 8 mg (0,1 mg/kg) und Cimetidin 400 mg (5 mg/kg) bzw. Ranitidin 150– 300 mg zu verabreichen.
der sympathischen Gefäßinnervation (Tonusverlust der Widerstands- und Kapazitätsgefäße). Als zentrale Schädigung kommt die Zerstörung des Vasomotorenzentrums in der Medulla oblongata (z. B. Schädel-Hirn-Verletzung) in Frage, häufiger ist jedoch der spinale Schock (z. B. akutes Querschnittssyndrom). Ein neurogener Schock kann traumatisch, tumorbedingt oder pharmakologisch (z. B. Spinalanästhesie) bedingt sein. Therapie. Bei rechtzeitiger Diagnose sowie ausgiebigem
Volumenersatz und ggf. Einsatz vasoaktiver Substanzen ist der Schockzustand meist zu durchbrechen. Bei einem Ausfall der sympathischen Herzinnervierung (Nn. accelerantes) kann eine Bradykardie eintreten, die eine Therapie mit einem Anticholinergikum (Atropin 0,5–2 mg i.v.) oder Sympathomimetikum (Orciprenalin 0,25–1 mg i.v.) erforderlich macht. Die Prognose wird von der Grundkrankheit bzw. dem Ausmaß der Schädigung bestimmt, die zum Schock geführt hat.
53.1.6 Obstruktive Schockformen Obstruktive Schockformen resultieren aus einer mechanischen Beeinträchtigung der großen Gefäße oder des Herzens selbst. Trotz ausgeglichenem Volumenstatus kann ein ausreichender Kreislauf aufgrund der Beeinträchtigung der
53
532
Kapitel 53 · Herz-Kreislauf-Funktionsstörungen und ihre Therapie
kardialen Vor- oder Nachlast nicht aufrechterhalten werden. Neben seltenen Syndromen (Vorhofmyxom, Zwerchfellruptur) sind der Spannungspneumothorax, das Venacava-Kompressionssyndrom, die Perikardtamponade und die akute Lungenembolie (7 Kap. 50) von besonderer klinischer Relevanz.
Spannungspneumothorax Ätiologie. Der Spannungspneumothorax ist eine Sonderform des Pneumothorax, also der pathologischen Luftansammlung im Pleuraspalt. Es kommt im Sinne eines Ventilmechanismus zu einem stetigen Lufteinstrom und Druckanstieg im Pleuraraum, der zu einer Behinderung der kardialen Füllung und letztlich zum Pumpversagen führt.
53
Symptomatologie. Der Patient klagt über akute Atemnot, häufig verbunden mit einem einseitigen stechenden Thoraxschmerz. Zunehmende Dyspnoe, Tachykardie, Zyanose und eine arterielle Hypotonie mit Halsvenenstauung sind Zeichen eines Spannungspneumothorax. Therapie. Bei Verdacht auf einen Spannungspneumothorax muss die sofortige Druckentlastung erfolgen. Eine großlumige Kanüle wird im 3. oder 4. Interkostalraum in der vorderen Axillarlinie jeweils am Oberrand der Rippe eingestochen. Mit dem hörbaren Entweichen von Luft, zugleich Bestätigung der Diagnose, kommt es gleichzeitig zu einer Normalisierung der Kreislaufsituation. Im Anschluss an die Entlastung sollte über eine Thoraxdrainage ein Dauersog von ca. 10 cmH2O angelegt werden, um die kollabierte Lunge wieder zu entfalten.
Vena-cava-Kompressionssyndrom Ätiologie. Die Schocksymptomatik beruht auf der Behinde-
rung des venösen Rückflusses zum Herzen durch Kompression der V. cava inferior und tritt überwiegend bei schwangeren Patientinnen in Rückenlage auf. Therapie. Der durch den schwangeren Uterus bedingte Blutdruckabfall lässt sich zumeist durch Änderung der Lage der Patientin z. B. in die Linksseitenlage beheben.
Perikardtamponade Ätiologie. Durch eine zunehmende Flüssigkeitsmenge kommt es zur Druckerhöhung im Herzbeutel und damit mechanischen Beeinträchtigung der Herzfunktion. Aufgrund der physiologisch niedrigeren Drücke im rechten Herz beginnen die Symptome zumeist als Rechtsherzinsuffizienz. Während Symptome bei einer chronischen Genese
erst bei Mengen von ca. 1000 ml auftreten, können bei einem akuten Geschehen bereits ca. 250 ml für eine kritische Situation ausreichend sein. Klinisch imponiert eine Perikardtamponade durch die klassische Trias: 4Pulsus paradoxus (inspiratorischer Abfall des systolischen Blutdrucks um > 10 mmHg durch Gefäßkompression und Abnahme der linksventrikulären Füllung) 4 Halsvenenstauung, erhöhter zentraler Venendruck 4 Arterielle Hypotonie Therapie. Die einzig wirksame Maßnahme bei einer Peri-
kardtamponade ist die sofortige Perikardpunktion und ggf. das Einbringen einer Drainage. Ein operatives Vorgehen im Sinne einer Perikardiotomie wird bei einer weiter bestehenden Symptomatik oder traumatischen Genese notwendig.
53.1.7 Narkose bei Patienten im Schock Prinzipiell gilt, dass einer Narkose bei Patienten im Schock eine suffiziente Primärbehandlung vorausgehen sollte, um einen evtl. irreversiblen Zusammenbruch der Herz-Kreislauf-Funktionen zu vermeiden. Die Narkotika dürfen nicht schematisch, sondern nur nach Wirkung dosiert werden. Im Schock ist ihr Bedarf per se niedriger, sodass die Dosierungen entsprechend niedriger gewählt werden sollten. Zur Einleitung und Intubation empfiehlt sich eine Vorgehensweise wie beim nicht nüchternen Patienten unter Verabreichung eines kurzwirksamen intravenösen Narkotikums mit geringer Kreislaufbeeinträchtigung (z. B. Etomidat). Zur Aufrechterhaltung der Narkose scheint die balancierte Anästhesie mit einem Opioid (mit oder ohne Lachgas) und Muskelrelaxanzien am ehesten geeignet. Die Patienten müssen im Anschluss an die Operation auf einer Intensivstation behandelt werden.
53.2
Perioperative Herz-KreislaufFunktionsstörungen
Die häufigsten perioperativen Kreislaufkomplikationen im Rahmen der Anästhesie und Intensivmedizin sind: 4 Blutdruckabfall 4 Blutdruckanstieg 4 Herzrhythmusstörungen 4 Herzinsuffizienz Blutdruckabfall. Ein Blutdruckabfall im Rahmen der Anäs-
thesie beruht zumeist auf einem Volumenmangel, seltener auf einer Herzinsuffizienz oder anderen Herz-Kreislauf-
53
533 53.2 · Perioperative Herz-Kreislauf-Funktionsstörungen
Herzinsuffizienz. Eine Herzinsuffizienz in der postoperati-
ven Phase beruht zumeist auf einer vorbestehenden Herzerkrankung. Sie äußert sich klinisch mit einer Hypotonie bei erhöhtem zentralvenösen Druck bzw. pulmonalkapillären Verschlussdruck. Gleichzeitig finden sich eine erhöhte Herzfrequenz und eine Abnahme des Herzzeitvolumens. Die konservative Therapie besteht in der Gabe positiv inotroper Substanzen und von Herzglykosiden. Blutdruckanstieg. Ursachen für einen Blutdruckanstieg in der postoperativen Phase sind Schmerz, Hypoxämie, Hyperkapnie und eine Hypervolämie. Besonders häufig und ausgeprägt findet man hypertone Episoden bei Patienten mit einer arteriellen Hypertonie. Die Therapie besteht in einer adäquaten Analgesie und vorzugsweise im Einsatz von Vasodilatatoren. ! Die präoperative antihypertensive Medikation (insbesondere E-Blocker) sollte bis zur Operation fortgeführt werden!
53.2.1 Herzrhythmusstörungen Ätiologie. Herzrhythmusstörungen können auf Elektrolyt-
störungen (vor allem Hypo- bzw. Hyperkaliämie), einer Hypoxie, Hyper- und Hypokapnie, Digitalisüberdosierung oder vorbestehenden Herzerkrankungen beruhen. Als kausaler Therapieansatz sollte zunächst die Ursache behoben werden, eine symptomatische Therapie beruht auf dem Einsatz von Antiarrhythmika. Nahezu sämtliche Herzrhythmusstörungen führen, je nach Grad der Ausprägung, zu einer Verminderung des Schlag- bzw. Herzzeitvolumens und somit zur Reduktion der Herzleistung. Während ein Gesunder bradykarde wie auch tachykarde Herzrhythmusstörungen gut toleriert und erst ab Frequenzen von ca. 180–200 Schlägen/min aufgrund einer zu kurzen Füllungszeit des Ventrikels mit einer kritischen Abnahme des Herzzeitvolumens reagiert, tritt dies bei Patienten mit einer Herzerkrankung bereits viel früher auf.
+20
0 Membranpotenzial [mV]
Störungen. Speziell beim Volumenmangel sind eine unzureichende Flüssigkeitszufuhr intra- und postoperativ sowie anhaltende Blutverluste zu berücksichtigen. Die klinischen Zeichen des Volumenmangels beinhalten eine Hypotonie, Zunahme der Herzfrequenz, Abnahme des zentralvenösen Drucks und Oligurie. Die Therapie besteht in einer adäquaten Volumengabe, bei postoperativen Blutungskomplikationen ist ggf. zur Blutstillung eine chirurgische Revision indiziert.
-20
-40 -60 -80
-100 0
100
200
300
Zeit [msec] . Abb. 53.1. Aktionspotenzial des Herzmuskels (Arbeitsmyokard). 0 Na+-Kanäle geöffnet; Phase О: 1 Na+-Kanäle geschlossen; Phase О: 2 Ca++-Kanäle geöffnet, schnelle K+-Kanäle geschlossen; Phase О: 3 Ca++-Kanäle geschlossen, langsame K+-Kanäle geöffnet; Phase О: 4 Ruhepotenzial Phase О:
Physiologie. Die einzelnen Antiarrhythmika entfalten ihre Wirkung durch unterschiedliche Beeinflussung des myokardialen Aktionspotenzials, das in 4 Phasen eingeteilt wird (. Abb. 53.1). In der Phase 0, die charakterisiert ist durch eine sprunghafte Öffnung der Na+-Kanäle und einen raschen Na+-Einstrom, kommt es zur Depolarisation und sogar zu kurzzeitiger Umkehrung des Membranpotenzials. Die Phase 1 beschreibt die frühe, kurze, steile Repolarisation aufgrund der abnehmenden Na+-Leitfähigkeit. Die Phase 2 wird bestimmt durch die weitere langsame Inaktivierung der Na+-Kanäle und Öffnung der Ca++-Kanäle mit langsamem Ca++-Einstrom (Plateauphase). In der Phase 3 wird der Ca++-Einstrom inaktiviert und es setzt der repolarisierende K+-Ausstrom, der den initialen Na+Einstrom ausgleicht, ein. Die Phase 4, in der Na+-Ionen im Austausch mit K+-Ionen wieder in den Extrazellulärraum befördert werden, beschreibt die langsame diastolische Depolarisation. Im Arbeitsmyokard entspricht diese Phase wieder einem stabilen Ruhemembranpotenzial, hingegen kommt es in den Zellen des Erregungsbildungs- und -leitungssystem (Schrittmacherfunktion) unter dem Einfluss eines Ca++-Einstroms nach Erreichen des Schwellenpotenzials zu einem erneuten Aktionspotenzial.
Tachykarde Herzrhythmusstörungen Bei den tachykarden Rhythmusstörungen unterscheidet man, ob der Ursprung oberhalb (supraventrikulär) oder unterhalb des His-Bündels (ventrikulär) liegt. Zu den supraventrikulären Rhythmusstörungen zählen die Sinusta-
534
Kapitel 53 · Herz-Kreislauf-Funktionsstörungen und ihre Therapie
chykardie, die paroxysmale supraventrikuläre Tachykardie sowie das Vorhofflattern/-flimmern. Als ventrikuläre Herzrhythmusstörungen gelten die ventrikuläre Extrasystolie, die ventrikuläre Tachykardie und das Kammerflattern/flimmern. Prinzipiell können sowohl ventrikuläre als auch supraventrikuläre Rhythmusstörungen lebensbedrohlich sein. Die klinischen Symptome tachykarder supraventrikulärer Rhythmusstörungen sind je nach Schweregrad eher spärlich und stellen gelegentlich einen Zufallsbefund dar. Die meisten Patienten klagen über Herzklopfen, Herzstolpern oder Herzrasen. Ist die Tachykardie allerdings so ausgeprägt, dass keine ausreichende Ventrikelfüllung mehr möglich wird, können eine Angina pectoris oder Zeichen einer Herzinsuffizienz auftreten.
Ein gesundes Herz reagiert bei einer bradykarden Herzrhythmusstörung infolge der Zunahme der Ventrikelfüllung mit einer Steigerung des Schlagvolumens, sodass stabile Kreislaufverhältnisse aufrechterhalten bleiben. Demgegenüber weist das geschädigte Herz a priori bereits ein erhöhtes enddiastolisches Volumen auf. Aufgrund der eingeschränkten Kompensation kann eine bradykarde Rhythmusstörung daher zur Dekompensation und akut zum kardiogenen Schock führen.
(Valsalva, Karotis-Druck) primär nicht erfolgreich, beinhaltet die medikamentöse Behandlung eine rasche Digitalisierung (z. B. Digoxin 0,2–0,4 mg i.v.) sowie die Gabe von Verapamil (5–10 mg i.v.). Als Alternative steht das ultrakurz wirksame Adenosin (3–18 mg i.v.) zur Verfügung. Speziell bei Präexzitationssyndromen können Ajmalin (50–75 mg i.v.), Sotalol (0,25–1,5 mg/kg i.v.) oder Amiodaron (3– 5 mg/kg i.v.) verabreicht werden. Sowohl bei supraventrikulären als auch ventrikulären Tachykardien kann bei medikamentöser Erfolglosigkeit oder Komplikationen eine Elektrotherapie (Kardioversion) notwendig werden. Die Therapie des Kammerflimmerns besteht in der sofortigen elektrischen Defibrillation. Ein klinisch eindrucksvolles Symptom einer bradykarden Rhythmusstörung ist der Adams-Stokes-Anfall, der einem totalen AV-Block und intermittierendem Kammerstillstand entspricht und mit einer vorübergehenden Bewusstlosigkeit verbunden ist. Die therapeutischen Maßnahmen sind zunächst pharmakologisch, es werden Vagolytika (Atropinsulfat 0,5–2 mg) und Sympathomimetika (Orciprenalin 0,25–1 mg) intravenös verabreicht. Da beide Ansätze auf unterschiedlichen Mechanismen beruhen, kann eine gleichzeitige Gabe im Sinne einer Wirkungssteigerung sinnvoll sein. Bei erfolgloser medikamentöser Therapie wird eine Schrittmacherbehandlung (transkutan, transösophageal oder transvenös) notwendig.
Therapie von Herzrhythmusstörungen
53.2.2 Hyper tensive Krise
Bradykarde Herzrhythmusstörungen
53
! Nicht jede Herzrhythmusstörung muss behandelt werden. Da mit den begrenzten diagnostischen Möglichkeiten im Rahmen der Notfallmedizin und Anästhesie eine Differenzialdiagnose akuter Herzrhythmusstörungen oftmals schwierig ist, sollte eine antiarrhythmische Sofortbehandlung nur dann eingeleitet werden, wenn die zugrunde liegende Rhythmusstörung zu einer akuten Vitalbedrohung führt.
Bei ventrikulären Arrhythmien, zumeist polymorphen und salvenartigen Extrasystolen, oder der ventrikulären Tachykardie sind Lidocain oder Amiodaron einsetzbar. Für Lidocain empfiehlt sich nach einem Bolus von 1 mg/ kg KG die anschließende Dauerinfusion mit 2–5 mg/min. Als Alternative hat sich auch Ajmalin (50–75 mg i.v.) bewährt. Zu den bedrohlichen supraventrikulären Arrhythmien zählen das Vorhofflimmern mit rascher Kammerfrequenz und das Vorhofflattern mit einer 1 : 1-Überleitung. Seltener finden sich paroxysmale supraventrikuläre Tachykardien oder eine ektope Vorhoftachykardie. Sind vagale Manöver
Ätiologie. Die hypertensive Krise ist gekennzeichnet durch
einen plötzlichen Blutdruckanstieg, der zur Beeinträchtigung der Funktionen von ZNS, Herz und Nieren führt. Als kritischen Blutdruck bezeichnet man Werte oberhalb 200/120 mmHg. Typischerweise liegen morphologische Veränderungen des arteriellen Gefäßsystems (Atheromatose) der entsprechenden Organe vor. Symptomatologie. Die Leitsymptome sind Kopfschmer-
zen, Brechreiz, Erbrechen, Aphasie, Gesichtsfeldausfälle, Krämpfe, Apathie, Somnolenz bis hin zum Koma. Als kardiale Erscheinungen können aufgrund der akuten Nachlasterhöhung eine Angina pectoris, ein Myokardinfarkt und eine Linksherzinsuffizienz mit Lungenödem auftreten. Therapie. Die Therapie besteht in der Senkung des Blut-
drucks auf Werte von ca. 140/100 mmHg. Bei Vorliegen einer hypertensiven Enzephalopathie (Symptome: gestörte segmentale Kraft, pathologische Reflexe, Nystagmus, Krampfanfälle, Koma) sollten Blutdruckwerte von
535 Literatur
. Tabelle 53.3. Systemische thrombolytische Therapie bei akutem Myokardinfarkt (APSAC = anisoylierter Plasminogen-StreptokinaseAktivatorkomplex, t-PA = Gewebeplasminogenaktivator) Streptokinase
Urokinase
APSAC
t-PA
Dosisw
1,5 Mio IE
2–3 Mio IE
30 IE
70–100 mg
Halbwertszeit
20–30 min
15 min
90 min
5 min
Bolus
–
(+)
–
+
Infusionsdauer
60 min
60–90 min
5 min
90–180 min
Heparintherapie
–
+
–
+
170/100 mmHg nicht unterschritten werden, da es sonst aufgrund der veränderten Autoregulation zu einer akuten Gefährdung der Durchblutung von Gehirn und Retina kommen kann. Zur Behandlung bedarf es Pharmaka mit rasch blutdrucksenkender Wirkung. Als erste Wahl gelten Nitroglyzerin (0,8–1,6 mg s.l.) und Nifedipin (5–10 mg s.l.). Alternativ können Clonidin (0,15 mg i.v.), Dihydralazin (12,5–25 mg i.v.) oder Urapidil (25–50 mg i.v.) verabreicht werden. Nach neueren Untersuchungen scheint auch Captopril (25 mg s.l.) viel versprechend. Speziell bei durch Phäochromozytom bedingten Blutdruckkrisen hat sich der D-Blocker Phentolamin (2,5–20 mg i.v.) als Mittel der Wahl erwiesen.
53.2.3 Akuter Myokardinfarkt Ätiologie. Der akute Myokardinfarkt entsteht infolge eines akuten Koronararterienverschlusses auf dem Boden einer atheromatösen Plaque. Durch die plötzliche Ischämie beginnt nach etwa 20–30 min eine Myokardnekrose, die nach weiteren 5–8 h abgeschlossen ist. Symptomatologie. Der Patient klagt typischerweise über einen retrosternalen Schmerz, der zumeist in den linken Arm, den Hals oder ins Epigastrium (z. B. Hinterwandinfarkt) ausstrahlen kann. Im EKG finden sich zunächst eine massive Erhöhung der T-Welle (»Erstickungs-T-Welle«) und später eine Hebung der ST-Strecke. Im Gegensatz zu einer Angina-pectoris-Attacke halten die Schmerzen bei einem Myokardinfarkt länger als 30 min an und reagieren nicht auf die Gabe von Nitroglyzerin. Typisch für den Myokardinfarkt ist der Anstieg der herzspezifischen Enzyme im Serum: Kreatinkinase und Troponin I, wobei deren Freisetzung erst nach einer Ischämiedauer > 60 min
eintritt. Differenzialdiagnostisch sind eine Lungenembolie, der Spontanpneumothorax sowie eine thorakale Aortendissektion zu berücksichtigen. Therapie. Neben einer Vorlastsenkung durch Nitroglyzerin empfiehlt sich die Gabe eines E-Blockers (z. B. Metoprolol 5 mg i.v.) zur Ökonomisierung der Koronarperfusion, die physiologisch nahezu ausschließlich während der Diastole erfolgt. Die prophylaktische Gabe von Lidocain kann heutzutage nicht mehr empfohlen werden. Die Therapie beim akuten Myokardinfarkt bedarf einer adäquaten Analgesie (z. B. Morphin 3–5 mg i.v.). Um eine rasche Reperfusion des ischämischen Myokards zu erzielen, sollte – wann immer möglich – eine koronarographische Akutinter vention erfolgen. Die außerklinische Gabe von Azetylsalizylsäure (500 mg i.v.) sowie von Heparin (60–70 IE/ kg i.v.) hat sich allgemein durchgesetzt. Eine systemische Thrombolysetherapie (prähospital oder intrahospital) kann einen Zeitgewinn schaffen und stellt keine Kontraindikation für die spätere Inter vention dar (. Tab. 53.3). Neuere Thrombolytika (Reteplase und Tenecteplase) bieten den Vorteil der vereinfachten Verfügbarkeit (Gabe als Einfach-Bolus), was insbesondere für die Notfallmedizin von Bedeutung ist.
Literatur Baumann G, Felix S, Stangl K (1994) Therapie des kardiogenen Schocks. Z Kardiol 83 Suppl 6: 89–96 Grosser KD (1980) Lungenembolie. Diagnose und differentialtherapeutische Probleme. Internist 21: 273–282 Haljamae H (1993) The pathophysiology of shock. Acta Anaesthesiol Scand Suppl 98: 3–6 Karzai W, Oberhoffer M, Meier-Hellmann A, Reinhart K (1997) Procalcitonin – a new indicator of the systemic response to severe infections. Infection 25: 329–334
53
536
53
Kapitel 53 · Herz-Kreislauf-Funktionsstörungen und ihre Therapie
Osswald S, Buser PT, Rickenbacher P, Pfisterer M (1996) Supraventrikuläre Tachykardien: Mechanismen, Diagnose und Therapie. Schweiz Rundsch Med Prax 126: 974–985 Pearl RG (1998) Treatment of shock. Anesth Analg Suppl: 75–84 Ranft A, Kochs EF (2004) Treatment of anaphylactic reactions: a review of guidelines and recommendations. Anasthesiol Intensivmed Notfallmed Schmerzther 39: 2–9 Rivers E, Nguyen B, Havstad S et al. (2001) Early goal-directed Therapy Collaborative Group. Earls goal-directed therapy in the treatment of severe sepsis and septic shock. N Engl J Med 345: 1368–1377 Schupfer C, Gertsch M (1996) Ventrikuläre Arrhythmien: Diagnose und medikamentöse Therapie. Schweiz Rundsch Med Prax 85: 647–654 The ACCP/ SCCM Consensus Conference Committee: Bone RC, Balk RA, Cerra FB, Dellinger RP, Fein AM, Knaus WA, Schein RH, Sibbald WJ (1992) Definitions for sepsis and organ failure and guidelines for the use of innovative therapies in sepsis. Chest 101: 1644–1655 Van de Werf F, Ardissino D, Betriu A et al. (2003) Task Force on the Management of Acute Myocardial Infarction of the European Society of Cardiology. Management of acute myocardial infarction in patients presenting with ST-segment elevation. The Task Force on the Management of Acute Myocardial Infarction of the European Society of Cardiology. Eur Heart J 24: 28–66 Vincent JL (1997) New therapies in sepsis. Chest 112 (6 Suppl): 330S– 338S
54 Reanimation Ansgar M. Brambrink 54.1 Einleitung –538 54.2 Pathophysiologie des Kreislaufs unter Reanimation –538 54.2.1 Blutfluss bei Thoraxkompression –538 54.2.2 Blutfluss bei offener Herzmassage –540 54.2.3 Durchblutung der Herzkranzgefäße –540
54.3 Die Leitsymptome des Herzkreislaufstillstands –540 54.4 Basismaßnahmen der Reanimation (BLS) –541 54.4.1 Sinn und Zweck von BLS –541 54.4.2 Aktionsplan für »Einfache lebensrettende Sofortmaßnahmen« = BLS-Algorithmus –543
54.5 Erweiterte Maßnahmen der Reanimation (ACLS, PALS) –545 54.5.1 Sinn und Zweck von ACLS und PALS –545 54.5.2 Aktionsplan für »Erweiterte Reanimationsmaßnahmen« = ACLS-Algorithmus –547
54.6 Komplikationen der Reanimation –550 54.7 Abbruch der Reanimation –551 Literatur –552
538
Kapitel 54 · Reanimation
)) Seit der ersten Konferenz der National Academy of Science 1966 zur kardiopulmonalen Reanimation wurden mehrfach Leitlinien zur Wiederbelebung sowohl für die Angehörigen von Heilberufen als auch für Laien erarbeitet. Diese finden sich in den Leitlinien »Basic Life Support« (BLS), »Advanced Cardiac Life Support (ACLS) sowie »Pediatric Advanced Life Support« (PALS) der American Heart Association (AHA) und in den Richtlinien für die kardiopulmonale Reanimation des European Resuscitation Council (ERC) (siehe Literatur am Ende des Beitrags). Seit 1992 versucht das ILCOR (International Liason Committee on Resuscitation, ein Zusammenschluss verschiedener nationaler und internationaler Institutionen der Notfallmedizin [AHA; ERC; Australien Resuscitation Council, ARC; Resuscitation Council of Southern South Africa, RCSA; Heart and Stroke Foundation of Canada, HSFC; Consejo Latinoamericano de Resuscitation, CLAR]) weltweit gültige Standards zu erarbeiten, die auf Empirie beruhen (evidence based medicine).
54.1
Einleitung
54 Werden Wiederbelebungsmaßnahmen schnell und effizient eingeleitet, kann bei einigen Patienten trotz vorübergehendem Herz-Kreislauf-Stillstand eine vollständige Wiederherstellung der Gesundheit erreicht werden. Die kurze Zeitspanne, in der durch Wiederbelebungsmaßnahmen der ursprüngliche Funktionszustand aller Organe einschließlich des Gehirns wiederhergestellt werden kann, wird üblicherweise als klinischer Tod bezeichnet. Dieser Zeitraum wird weiter unterteilt: Während des so genannten freien Intervalls (für das Gehirn ca. 10 s) können die Organe nach Ausfall von Herz- und Kreislauffunktion den noch zirkulierenden Sauerstoff ausschöpfen und ihre Funktion aufrechterhalten. Nach Eintritt des Funktionsverlusts – während der so genannten Wiederbelebungszeit – können Reanimationsmaßnahmen noch erfolgreich sein, ohne dass irreversible Organschäden zurückbleiben. Mit den derzeit verfügbaren Wiederbelebungstechniken beträgt diese Wiederbelebungszeit für das Gehirn etwa 4–5 min, für das Herz etwa 15–30 min. Die notfallmedizinische Praxis zeigt jedoch täglich, dass auch bei deutlich längerem Intervall erfolgreiche Reanimationen möglich sind. Viele klinische Studien belegen, wie wichtig der Faktor Zeit für den Erfolg der Reanimation ist. Einer der wichtigsten Gründe für den Erfolg frühzeitig einsetzender Wiederbelebungsmaßnahmen (insbesondere durch am Notfallort anwesende Laien) ist vermutlich, dass Kammerflimmern
(die häufigste Form des Kreislaufstillstands beim Erwachsenen) über längere Zeit aufrechterhalten wird und eine erst verzögert verfügbare Defibrillation (durch den Rettungsdienst) dennoch wirksam ist.
54.2
Pathophysiologie des Kreislaufs unter Reanimation
54.2.1 Blutfluss bei Thoraxkompression Wie kommt es zu einem vorwärts gerichteten Blutfluss bei Kompression des Thorax von außen? Es existieren derzeit zwei verschiedene mechanistische Erklärungsmodelle. Bei erwachsenen Patienten sind – je nach Größe und Form des Thorax und der angrenzenden Strukturen – vermutlich beide Mechanismen in unterschiedlichem Maße von Bedeutung. Bei Säuglingen und Kleinkindern wird u. a. aufgrund der Thoraxelastizität eher der Herzpumpmechanismus von Bedeutung sein. In den Empfehlungen zur Wiederbelebung finden diese Vorstellungen ihren Niederschlag: schnelle Kompressionsfrequenzen bei Kindern (optimal für eine Herzkompression), langsamere Frequenzen bei Erwachsenen (optimal für die zyklische Entleerung/Füllung des Thorax).
Die Herzkompressionstheorie In ersten Beschreibungen einer erfolgreichen extrathorakalen Herzmassage wurde die Theorie aufgestellt, dass der beobachtete Blutfluss durch die Kompression des Herzens zwischen Sternum und Wirbelsäule entsteht. Die Richtung des Blutflusses ergibt sich durch die Herzklappenfunktion. Bei Kompression öffnen sich die Aorten- und Pulmonalklappen, während sich Mitral- und Trikuspidalklappe schließen. Auf diese Weise strömt das Blut während der Kompression in Richtung extrathorakal bzw. in die Lunge. Bei Entlastung verschließt sich der Ausflusstrakt und durch die geöffnete Mitral- und Trikuspidalklappe fließt erneut Blut in die Ventrikel (. Abb. 54.1.) Tatsächlich konnten weitere Studien diese Theorie erhärten. Andere Untersucher fanden dagegen Hinweise, die mit der Herzkompressionstheorie unvereinbar sind. Während der Thoraxkompression steigt beispielsweise der venöse Druck auf ähnlich hohe Werte wie der arterielle Mitteldruck. Weiterhin kann beim intubierten Patienten mit kompressionssynchroner Beatmung ein deutlich höherer arterieller Mitteldruck erreicht werden als bei der alternierenden Technik (Thoraxkompression im Wechsel mit Beatmung). Es ist auch unsicher, ob nach längerer Reanimation die Funktionsfähigkeit
539 54.1 · Einleitung
. Abb. 54.1. Hämodynamik unter Reanimation. (a) Vorstellungen zum Blutfluss bei direkter Kompression des Herzens (Theorie des Herzpumpmechanismus); links Entlastungsphase (»Diastole«); rechts Kompressions- oder Austreibungsphase (»Systole«); (b) Vorstellungen zum Blutfluss bei Kompression des Thorax (Theorie des Thoraxpumpmechanismus); links »Diastole«, rechts »Systole«, (modifiziert n. Luce et al., 1989) [Weitere Erläuterungen im Text]
der Herzklappen erhalten bleibt. Schließlich können auch Patienten mit ausgeprägtem Fassthorax (z. B. bei Lungenemphysem) erfolgreich reanimiert werden, bei denen eine Kompression des Herzens zwischen Sternum und Wirbelsäule sicher nicht möglich ist.
Die Thoraxpumptheorie Im Jahre 1976 wurde berichtet, dass Patienten mit Kammerflimmern im Herzkatheterlabor durch wiederholte kräftige Hustenstöße »systolische« Blutflusswellen mit einer ausreichenden Organperfusion produzieren konnten. Die Patienten blieben bei Bewusstsein. Dies nährte die Vermutung, dass der Blutfluss bei Thoraxkompressionen im Rahmen einer Reanimation möglicher weise durch einen ähnlichen Mechanismus von ansteigendem und abfallendem intrathorakalen Druck entstehen könnte. Experi-
mentelle und klinische Studien belegen mittler weile diese Annahme. Gemäß der Thoraxpumptheorie funktionieren das Herz, die Lunge und alle übrigen Gefäße während der kardiopulmonalen Reanimation nur als Durchflussorgan (»conduit«). Extrathorakaler Druck wird nach intrathorakal weitergeleitet und komprimiert indirekt auch alle blutführenden Strukturen: so wird beispielsweise das Blut aus der Lunge (größtes Reser voir) durch die Mitralklappe ins Herz und parallel aus dem Herz in die Aorta gepresst. Der Vor wärtsfluss des Bluts entsteht durch einen Druckgradienten zwischen intrathorakalen und extrathorakalen Strukturen. Begünstigt wird der arterielle Blutfluss durch funktionsfähige Venenklappen (Rückschlag ventile) und eine größere Kompressibilität der Venen in Höhe der oberen Thoraxapertur (V. subclavia, V. jugularis) im Vergleich zu den stärker wandigen Arterien. An der unte-
54
540
Kapitel 54 · Reanimation
ren Thoraxapertur entsteht kein Druckgradient während der Kompressionsphase (»Systole«), wohl aber während der »Diastole«. Blut fließt dann aus der V. cava inferior in den rechten Vorhof. Versuche, den Vor wärtsfluss durch weitere Erhöhung des intrathorakalen Drucks noch zu verbessern (Simultane Kompression und Beatmung, kontinuierliche oder interponierte abdominelle Kompression, Ballon-Gegenpulsation), basieren auf der Thoraxpumptheorie.
54.2.2 Blutfluss bei offener Herzmassage
54
Schon lange ist direkte manuelle Herzkompression bei offenem Thorax als eine mögliche Technik der kardiopulmonalen Wiederbelebung bekannt. Sie ist immer dann indiziert, wenn definitive chirurgische Versorgung verfügbar ist, also im Operationssaal. Mit offener Herzmassage wird ein Blutfluss ohne einen Thoraxdruckgradienten produziert. Es wird dabei ein deutlich höheres Herzzeitvolumen und damit eine bessere zerebrale und myokardiale Durchblutung erreicht als mit Thoraxkompressionen. Insbesondere Patienten mit penetrierenden Verletzungen des Brustkorbs reagieren nur eingeschränkt auf eine externe Thoraxkompression. In diesen Fällen wird empfohlen, schon sehr frühzeitig mit offener Herzmassage zu beginnen. Auch Patienten mit stumpfem Thoraxtrauma und abdominellen Verletzungen scheinen von offener Herzmassage zu profitieren. Selbstverständlich sollte diese Technik nur eingesetzt werden, wenn adäquate Einrichtungen und trainiertes Personal zur Verfügung stehen.
54.2.3 Durchblutung der Herzkranzgefäße Das unmittelbare Ziel der Reanimation ist die Wiederherstellung einer spontanen Herzaktion, ohne die selbst ein kurzfristiges Überleben unmöglich ist (Ausnahme: unmittelbare Verfügbarkeit einer Herzlungenmaschine). Das Herz kann nur erfolgreich wiederbelebt werden, wenn die koronare Perfusion ausreichend und das Myokard entsprechend durchblutet ist. Während des Herz-Kreislauf-Stillstands sind die Herzkranzgefäße maximal dilatiert: die Durchblutung ist direkt durch den koronaren Perfusionsdruck bestimmt. Der koronare Perfusionsdruck entspricht unter Reanimationsbedingungen – anders als unter normalen Bedingungen – der Differenz aus enddiastolischem Druck in der proximalen Aorta und enddiastolischem Druck im rechten Vorhof; als günstig wird ein koronarer Perfusionsdruck von 30–40 mmHg, mindestens aber von 20 mm Hg angesehen.
! Koronarer Perfusionsdruck unter Reanimation = diastolischer Aortendruck minus diastolischer Druck im rechten Vorhof
Eine Durchblutung des Herzmuskels erfolgt nur während der »Diastole«. Daraus ergeben sich für die Praxis zwei Stellglieder, um die koronare Durchblutung zu optimieren: der diastolische Aortendruck und die Dauer der »Diastole«. Der diastolische Aortendruck kann kurzfristig durch mechanische Reanimationsmaßnahmen, im Verlauf jedoch nur durch die Gabe von Katecholaminen (z. B. Adrenalin) adäquat erhöht werden. Die Dauer der »Diastole« während einer Reanimation ist bestimmt durch die Kompressionsfrequenz und das Verhältnis (»duty-cycle«) von »Systole« (= Kompressionsphase) zu »Diastole« (= Entlastungsphase). Ein optimaler koronarer Perfusionsdruck resultiert, wenn beide Phasen etwa gleich lang sind (duty-cycle = 50 %). ! Möglichkeiten zur Beeinflussung der koronaren Perfusion unter Reanimation: Steigerung des diastolischen Aortendrucks o sofort Katecholamine Ausreichende Dauer der Entlastungsphase o 50 % duty-cycle
54.3
Die Leitsymptome des Herzkreislaufstillstands
Atemstillstand. Besonders häufig kommt es im Zusammen-
hang mit Verletzungen, allergischen Ereignissen oder durch Medikamente zu einer lebensbedrohlichen Atmungseinschränkung bis hin zum Atemstillstand. Ein Atemstillstand entsteht durch Verlegung der Atemwege oder in Folge einer zentralen oder peripheren Atemdepression (. Tab. 54.1). Bei partieller Verlegung der Atemwege kommt es in der Regel zu auffälligen Atemgeräuschen (z. B. Stridor), die bei kompletter Verlegung fehlen. Ein Atemstillstand oder eine schwere respiratorische Insuffizienz führen zum Zusammenbruch des Gasaustauschs und unbehandelt innerhalb von 5–10 min zum Herzstillstand. Eine frühe Intervention durch Öffnen der Luftwege und/oder Beatmung kann in diesen Fällen einen Herz-Kreislauf-Stillstand verhindern. In manchen Fällen genügt alleine diese Maßnahme, um die Eigenatmung des Patienten wieder in Gang zu setzen. Kreislaufstillstand. Anästhesisten sind in der Regel auch
mit der Akutbehandlung von kardiozirkulatorischen Notfällen innerhalb und außerhalb eines Krankenhauses betraut. Ein Herz-Kreislauf-Stillstand kann grundsätzlich zu jedem
541 54.4 · Basismaßnahmen der Reanimation (BLS)
. Tabelle 54.1. Ursachen des Atemstillstands Verlegung der Atemwege
Zentrale Atemdepression
Periphere Atemdepression
5 Bewusstlosigkeit (Zurücksinken der Zunge in den Hypopharynx) 5 Fremdkörper (Zahnprothesen, Erbrochenes, Blutkoagel, Schleim) 5 Glottisödem bzw. Epiglottitis 5 Laryngospasmus, Bronchospasmus 5 Technische Probleme (z. B. Cuff-Hernie)
5 Medikamente (Anästhetika, Opioide, Sedativa, Antibiotika) 5 Schädel-Hirn-Verletzungen
5 Muskelrelaxanzien 5 Neurologische, neuromuskuläre Erkrankungen 5 Schweres Thoraxtrauma
. Tabelle 54.2. Ursachen des Kreislaufstillstands Kardiogen
Nicht kardiogen
5 Akute Myokardischämie (akuter Verschluss von Herzkranzgefäßen, schlechte Koronarperfusion bei Hypotonie oder Tachykardie) 5 Arrhythmie (Kammerflimmern, Kammertachykardie) 5 Elektrolytstörungen (Hyper-, Hypokaliämie) 5 Herzerkrankungen (Kardiomyopathie, Herzklappenfehler)
5 Hypoxie /Asphyxie (bei Fehlintubation [= Ösophagus anstelle von Trachea], Tubusballonhernie, Abknicken des Tubus, Aspiration von Erbrochenem, Beatmung mit hypoxischem Gasgemisch) 5 Spannungspneumothorax (nach Punktionsversuch für einen zentralen Venenkatheter, nach Thoraxtrauma, bei hohem Beatmungsdruck) 5 Ausgeprägter Volumenmangel (bei großen Blutverlusten, ausgedehnter Sympathikusblockade, anaphylaktischer Reaktion) 5 Anaphylaxie, Intoxikation (bei Allergien, Transfusionsreaktionen, Medikamentenüberdosierungen)
Zeitpunkt während einer Anästhesie auftreten. Er entsteht entweder primär kardiogen (z. B. Kammerflimmern) oder sekundär auf Grund einer dramatischen Störung der Atmung (Hypoxie/Asphyxie, Spannungspneumothorax) bzw. der Zirkulation (z. B. massiver Blutverlust, toxische Einwirkung). Besonders gefährdet sind dabei sehr alte und sehr junge Patienten, Patienten mit schwerwiegenden Grunderkrankungen (koronare Herzkrankheit, Arrhythmien, Kardiomyopathie, Herzklappenfehler) sowie Patienten mit ausgeprägten Störungen der Homöostase (schwerer Volumenmangel, Elektrolytstörungen). Es kann unterschieden werden zwischen einem primären und einem sekundären Herzstillstand; die häufigste klinische Manifestation bei primär kardialem Herz-Kreislaufstillstand ist Kammerflimmern (. Tab. 54.2).
54.4
Basismaßnahmen der Reanimation (BLS)
! Basismaßnahmen der Reanimation (»Einfache lebensrettende Sofortmaßnahmen« bzw. »Basic Life Support« = 6
BLS) zielen auf Freimachen und Freihalten der Atemwege sowie auf die Unterstützung von Atmung und Kreislauf ohne zusätzliche Ausrüstung.
BLS gliedert sich in Erstbeurteilung (Ansprechen / Anfassen), Atemwegskontrolle, Beatmung und Thoraxkompression. Werden alle Maßnahmen durchgeführt, so spricht man von kardiopulmonaler Reanimation. Die Einzelmaßnahmen sind in einer genau festgelegten Reihenfolge (Aktionsplan = Algorithmus) durchzuführen, um ein – entsprechend der Ausgangssituation – optimales Ergebnis der Reanimation sicher zu stellen (BLS-Algorithmus . Abb. 54.2).
54.4.1 Sinn und Zweck von BLS ! Mit den Basismaßnahmen wird versucht, eine ausreichende Ventilation und Zirkulation aufrechtzuerhalten, bis erweiterte Reanimationsmaßnahmen verfügbar sind.
Ein Zirkulationsstillstand führt – unabhängig von der Ursache – in wenigen Sekunden zum Funktionsverlust
54
542
Kapitel 54 · Reanimation
. Abb. 54.2. BLS-Algorithmus: Aktionsplan für einfache lebensrettende Sofortmaßnahmen (BLS) beim Erwachsenen (nähere Erläuterungen im Text)
54
der vitalen Organe (beim Gehirn ca. nach 10–15 s). Nach 30–60 s kommt es zur Erweiterung der Pupillen. Nach 3– 4 min (bei gleichzeitiger Hypoxie weniger) kann bereits ein irreparabler Hirnschaden entstehen. Jede Verzögerung des Beginns von BLS reduziert dramatisch die Erfolgschancen einer Reanimation (um 5 %/min). ! Der Ersthelfer alarmiert umgehend das Rettungsteam!
Nach Sicherung der Diagnose »leblose Person« sollte sobald wie möglich Hilfe herbeigerufen werden. Bei einem erwachsenen Patienten wird zunächst Hilfe gerufen und im Anschluss unmittelbar mit den Wiederbelebungsmaßnahmen begonnen. Liegt vermutlich ein hypoxisches Geschehen zugrunde (Ersticken, Beinahe-Ertrinken) werden zunächst Wiederbelebungsmaßnahmen für 1 min durchgeführt und dann erst (d. h. bei Erfolglosigkeit) weitere Hilfe alarmiert.
Sonder fall Säuglinge und Kleinkinder Bei Säuglingen und Kleinkindern ist ein Herz-KreislaufStillstand in der Regel nicht kardial bedingt, sondern Folge einer schweren Hypoxie. Wenn initial ein einzelner Ersthelfer ein lebloses Kind auffindet, wird empfohlen, sofort mit Basismaßnahmen zu beginnen. Für etwa 1 min sollte der Ersthelfer die Atemwege öffnen, ggf. reinigen und den Patienten wenn nötig beatmen, sowie ggf. Thoraxkompressionen durchführen. Auf diese Weise kann z. B. ein Fremdkörper möglicherweise bereits entfernt bzw. ein hypoxisches Geschehen anderer Genese revidiert werden. Dann muss auch in dieser Situation das Rettungsteam alarmiert werden, auch wenn dies eine Unterbrechung der Maßnahmen bedeutet. Ist gleichzeitig eine Alarmierung möglich, z. B.
durch eine andere Person, sollte dies selbstverständlich sofort erfolgen. Die Sequenz der Wiederbelebungsmaßnahmen orientiert sich an der ABC-Regel. Dabei sollte immer bewusst bleiben, dass jeder Maßnahme eine rasche, orientierende Untersuchung zur Sicherung der Diagnose vorausgehen muss. ABC-Regel der »Einfachen lebensrettenden Maßnahmen« (BLS) A = Atemwege öffnen, ausräumen und freihalten B = Beatmung bzw. Atmung sicherstellen C = Zirkulation (circulation) sicherstellen bzw. wiederherstellen
Alle Angaben zu den Basismaßnahmen der Herz-Lungen-Wiederbelebung (BLS) beziehen sich auf Umstände, in denen keine weiteren technischen Hilfsmittel zur Verfügung stehen. Die beiden wichtigsten Grundsätze für die Bewältigung einer Reanimationssituation lauten: Überlegt und besonnen handeln und Diagnose vor Therapie. ! 1. Grundsatz: Überlegt und besonnen handeln 2. Grundsatz: Diagnose vor Therapie – Erst Diagnose Atemwegsverlegung sichern (z. B. bei Bewusstlosigkeit), dann Öffnen der Atemwege – Erst Diagnose Atemstillstand sichern, dann Beatmung – Erst Diagnose Zirkulationsstillstand sichern, dann Thoraxkompression
543 54.4 · Basismaßnahmen der Reanimation (BLS)
54.4.2 Aktionsplan für »Einfache
lebensrettende Sofortmaßnahmen« = BLS-Algorithmus Die Darstellung des Aktionsplans für die einfachen lebensrettenden Sofortmaßnahmen (BLS-Algorithmus (. Abb. 54.2) orientiert sich an den jüngsten Empfehlungen des European Resuscitation Council (ERC).
Überprüfen der Ansprechbarkeit Der Helfer prüft zunächst, ob der Patient ansprechbar ist. Er schüttelt den Patienten vorsichtig an den Schultern und spricht ihn an. Antwortet der Patient oder bewegt er sich, so wird er in der Situation belassen, in der er aufgefunden wurde, soweit es für ihn keine Gefahr darstellt. Der Helfer untersucht ihn auf Verletzungen und überprüft wiederholt seine Ansprechbarkeit. Bei Bedarf wird Hilfe gerufen. Sonderfall: Bei einem Kreislaufstillstand im Operationssaal oder in einer anderen Einrichtung des Krankenhauses muss davon ausgegangen werden, dass eine Notfallausrüstung zum Beatmen und Defibrillieren unmittelbar zur Verfügung steht. Ebenso kann davon ausgegangen werden, dass in der Regel mehrere Personen anwesend sind, sodass mit der Reanimation sofort begonnen werden kann, und zusätzliche Hilfe und Ausrüstung für die »Erweiterten lebensrettenden Sofortmaßnahmen« bald eintreffen werden. In jedem Fall muss sofort mit den Basismaßnahmen der Wiederbelebung begonnen werden. Im Operationssaal oder auf einer Intensivstation sollte nahezu jeder Zwischenfall beobachtet werden. Ein frühes Erkennen wird erleichtert durch kontinuierliches elektronisches Monitoring. Dennoch sind Situationen vorstellbar, in denen die automatische Überwachung zum Zeitpunkt des Kollaps nicht oder noch nicht ausreichend funktionsfähig ist. Die Sicherheit eines Patienten im Operationssaal oder auf der Intensivstation hängt also entscheidend von der lückenlosen Überwachung der Vitalfunktionen und der Aufmerksamkeit der verantwortlichen Personen ab.
A = Atemwege öffnen, ausräumen und freihalten Nach Feststellen der Bewusstlosigkeit und Alarmieren zusätzlicher Hilfe wird der Patient zunächst (wenn möglich) in der Position belassen, in der er aufgefunden wurde. Es muss unverzüglich versucht werden, die Atemwege frei zu machen. Beengende Bekleidung am Hals wird geöffnet und der Kopf wird nach hinten rekliniert. Eine Hand des Helfers liegt dabei auf der Stirn des Patienten (Haaransatz), die andere hebt mit den Fingerspitzen den Unterkiefer an. Bei
Patienten mit Verdacht auf Halswirbelsäulenverletzungen sollte der Hals nicht bewegt werden, um zusätzliche Verletzungen des Rückenmarks zu verhindern. Bei diesen Patienten sollte eher der Esmarch-Handgriff zur Anwendung kommen: die Kieferwinkel werden mit beiden Händen nach vorne luxiert, und gleichzeitig schieben die Daumen das Kinn nach kaudal. Bei Säuglingen kann versucht werden, durch Zug am Unterkiefer die Atemwege zu öffnen. Ergeben sich Probleme, die Atemwege in der ursprünglichen Auffindeposition zu öffnen, sollte der Patient unverzüglich auf den Rücken gedreht und die beschriebenen Manöver wiederholt werden. Nach Öffnen der Luftwege hört und fühlt der Helfer für 5–10 s, ob die Spontanatmung des Patienten wieder einsetzt. Er nähert dabei sein Ohr dem Mund des Patienten, um Atemgeräusche zu hören und Luftströmungen an der Wange wahrnehmen zu können. Er beobachtet gleichzeitig, ob Thoraxbewegungen zu sehen sind. Bei ausreichender Spontanatmung sollte der Patient in stabile Seitenlage gebracht werden. Der Helfer sollte weiterhin in kurzen Abständen Atmung und Puls überwachen.
B = Beatmung (Mund-zu-Mund) bzw. Atmung sicherstellen Wenn der Patient nicht atmet, wird er auf den Rücken gedreht und Mund-zu-Mund bzw. Mund-zu-Nase beatmet. Alle offensichtlichen Fremdkörper – einschließlich loser Zähne – werden zuvor aus dem Mund entfernt. Der Helfer beobachtet, ob sich der Brustkorb des Patienten hebt (dazu notwendiges Beatmungsvolumen beim Erwachsenen: ca. 400–600 ml, . Tab. 54.3). Jede Atemspende sollte über einen Zeitraum von 1,5–2 s appliziert werden. Das langsame Beatmen soll Luftinsufflation in den Magen verhindern. ! Beatmung im Rahmen der »Einfachen lebensrettenden Maßnahmen« (BLS): Beatmungsvolumen 400–600 ml, Thorax hebt sich, Beatmungsdauer 1,5–2 s
Während der Mund-zu-Nase-Beatmung wird der Mund des Patienten verschlossen, während der Exspiration jedoch wieder geöffnet, da sonst möglicherweise der weiche Gaumen den Luftfluss zurück in den Nasopharynx behindert. Dem Patienten muss ausreichend Zeit gelassen werden auszuatmen. Die leicht überstreckte Position des Kopfs wird daher auch während der Ausatemphase beibehalten, um die Luftwege geöffnet zu halten. Nach 2–3 s erfolgt eine zweite Beatmung. Kann der Patient nicht beatmet werden, müssen die Atemwege erneut geöffnet werden. Eine Fremdkörperaspiration sollte erwogen werden.
54
544
Kapitel 54 · Reanimation
. Tabelle 54.3. Fakten zur Beatmung ohne weitere Hilfsmittel Beatmungstechnik
Frequenz
Volumen
Erwachsene
Mund-zu-Mund Gesichtstrauma: Mund-zu-Nase Tracheostoma: Mund-zu-Tracheostoma
< 15/min
400–600 ml*
Kinder
Mund-zu-Mund (je nach Größe: Mund-zu-Mund/Nase)
20/min
10–15 ml/kg KG*
Säuglinge
Mund-zu-Mund und Nase (gleichzeitig)
20/min
10–15ml/kg KG*
* = Anhaltswert; immer auf ausreichende Thoraxexkursionen achten, siehe Text
54
Ist ein Tracheostoma vorhanden, so sollte der Helfer direkt eine Mund-zu-Tracheostoma-Beatmung durchführen, bis geeignetes Material verfügbar ist. In diesen Fällen kann ein gleichzeitiger Verschluss von Mund und Nase des Patienten hilfreich sein. Der Patient soll zunächst zweimal effektiv beatmet werden (max. 5 Versuche: wenn erfolglos o V.a. Fremdkörperaspiration). Anschließend sollte die Zirkulation überprüft werden (s. u.). Kehrt die Spontanatmung zurück, wird der Patient in die stabile Seitenlage gebracht und streng überwacht, wie oben geschildert.
C = Zirkulation überprüfen und ggf. wiederherstellen Sobald wie möglich wird nach Zeichen eines erhaltenen Kreislaufs gesucht (Bewegungen, Schlucken, Atmung). Der Puls wird geprüft (beim Erwachsenen an der Halsschlagader [A. carotis], beim Säugling oder Kleinkind an der Oberarmarterie [A. brachialis, medial, auf dem mittleren Drittel des Humerus]). Sind Lebenszeichen nachweisbar bzw. ist ein Puls tastbar, muss der Patient – wenn nötig – weiterbeatmet werden. Nach 10 Beatmungshüben wird der Kreislaufstatus erneut geprüft. Kehrt die Spontanatmung zurück, wird der Patient in die stabile Seitenlage (s. o.) gebracht und Atmung und Kreislauf werden ständig überwacht, um jederzeit die Reanimationsmaßnahmen wieder aufnehmen zu können. Sollte nach maximal 10 s kein Puls zu tasten sein, ist von einem Kreislaufstillstand auszugehen. Ein Blutfluss muss jetzt von außen – durch Thoraxkompressionen – erzeugt werden. Der Patient wird dazu auf einer festen Unterlage auf den Rücken gelagert und der optimale Druckpunkt am Brustbein wird aufgesucht (beim Erwachsenen und Kind: unteres Sternumdrittel; beim Säugling: 1 Querfinger unter-
halb einer gedachten Linie durch beide Mammillen). Beim Erwachsenen legt der Helfer einen Handballen auf die angegebene Stelle und platziert den zweiten Handballen auf den Handrücken der unteren Hand. Der Druck wird nur über die Handwurzel auf das Brustbein übertragen. Die Finger beider Hände können ineinander verschränkt werden, um ein Abrutschen zu verhindern. ! Cave Kompressionen nur an bezeichneten Stellen durchführen, da sonst Verletzungen drohen (z. B. Rippenfrakturen etc.)
Beim Erwachsenen beugt sich der Helfer gerade über den Patienten und drückt mit ausgestreckten Armen das Brustbein vertikal etwa 4–5 cm tief ein (die gebeugten Schultern des Helfers befinden sich dabei genau senkrecht über der Mitte des Brustkorbs des Patienten). Am Ende jeder Kompression wird der Druck vollständig entlastet, und das Brustbein gelangt durch die Eigenelastizität des Thorax zurück in die Ausgangsposition, ohne dass die Hände des Helfers von der Haut abgehoben werden. Die Kompression sollte im Weiteren etwa 100-mal pro Minute durchgeführt werden (ca. 2 Kompressionen/s). Kompressionszeit und Relaxationszeit sollten gleich lang sein (duty-cycle 50 %). Nach 15 Thoraxkompressionen wird der Kopf erneut überstreckt, das Kinn angehoben und der Patient wird zweimal beatmet. Danach werden die Hände wieder auf das Brustbein aufgesetzt (unteres Sternumdrittel) und weitere 15 Kompressionen durchgeführt. ! Beatmung und Thoraxkompression werden von einem Helfer im Verhältnis von 15 : 2 durchgeführt.
Stehen zwei Helfer zur Verfügung, wird nach neuesten Richtlinien ebenfalls ein Verhältnis von 15 : 2 empfohlen. Ein Abrücken von der 5 : 1-Methode war sinnvoll, da neue-
545 54.5 · Erweiterte Maßnahmen der Reanimation (ACLS, PALS)
. Tabelle 54.4. Fakten zur Thoraxkompression Druckpunkt
Technik
Tiefe
Frequenz
»duty-cycle«
Rhythmus
Erwachsene, Schulkinder
Mitte des unteren Sternumdrittels
2 Hände
4–5 cm
80/min
50 % (Kompression/ Relaxation)
1 Helfer = 15 : 2 2 Helfer = 15 : 2
Kleinkinder
Unteres Sternumdrittel
1 Hand
3 cm
100/min
50 %
1 Helfer = 5 : 1 (nur 1 Helfer)
Säuglinge
1 Quer finger kaudal der Intermammillarlinie
2 Finger/ Daumen
2 cm
> 100/min
50 %
1 Helfer = 5 : 1 (nur 1 Helfer)
re experimentelle Daten zeigen konnten, dass zunächst mindestens drei Thoraxkompressionen nötig sind, um einen ausreichenden Blutdruck zu erzeugen, der im Verlauf eine Perfusion von Gehirn und Koronargefäßen erlaubt. Die 15 : 2-Methode ermöglicht nach adäquatem Druckaufbau insgesamt 12 effektive Kompressionen. Ein wesentlicher Vorteil der Zwei-Helfer-Methode ist, dass jeweils für Beatmung und Thoraxkompressionen ein Helfer zur Verfügung steht. Der erfahrenere Helfer sollte dabei die Beatmung übernehmen. Selbstverständlich können beide Helfer bei Erschöpfung die Aufgaben tauschen. Bei Kindern wird – je nach Körpergröße – mit einer Hand das untere Drittel des Sternums etwa 2,5–3,5 cm tief eingedrückt (Frequenz etwa 100/min). Bei Säuglingen können die Kompressionen entweder mit den gestreckten Fingern einer Hand oder mit beiden Daumen ausgeführt werden (die Hände umfassen dabei den Thorax von hinten). Die Eindrücktiefe sollte hier etwa 1,5–2,5 cm, die Frequenz wenigstens 100/min oder mehr betragen. Bei Säuglingen und Kindern wird nur ein Helfer unmittelbar aktiv (vgl. . Tab. 54.4). Die Chance für die Wiederherstellung eines Spontankreislaufs ohne Hilfsmittel der »Erweiterten lebensrettenden Maßnahmen« (ALS) ist insgesamt als niedrig einzuschätzen, und nimmt mit fortschreitender Zeit drastisch ab. Daher empfiehlt das European Resuscitation Council bis zum Eintreffen professioneller Hilfe, keine Zeit mit weiteren Pulsüberprüfungen zu verlieren. Sollte sich der Patient plötzlich bewegen oder gar spontan atmen, wird der Puls an der Halsschlagader (beim Säugling: A. brachialis) überprüft. Eine Entscheidung, ob ein Puls vorhanden ist oder fehlt, sollte jeweils innerhalb von 10 s getroffen werden. Darüber hinaus darf es keine Unterbrechung der Reanimationsmaßnahmen geben.
54.5
Erweiter te Maßnahmen der Reanimation (ACLS, PALS)
! Die erweiterten Maßnahmen der Reanimation (»Erweiterte lebensrettende Sofortmaßnahmen«: für Erwachsene: »Advanced Cardiac Life Support« = ACLS; für Kinder: »Pediatric Advanced Life Support« = PALS) bezeichnen den Einsatz von zusätzlichen Hilfsmitteln und speziellen Techniken zur Korrektur eines pathologischen Herzrhythmus, zur Sicherung der Atemwege und der Beatmung sowie die spezifische Pharmakotherapie im Rahmen von Wiederbelebungsmaßnahmen.
Auch die ACLS-Maßnahmen sind in Bezug auf den zeitlichen Ablauf in einem Algorithmus zusammengefasst (ACLS-Algorithmus, . Abb. 54.3).
54.5.1 Sinn und Zweck von ACLS und PALS Ein leblos aufgefundener Patient kann in der Regel nur durch eine über die Basismaßnahmen hinausgehende differenzierte Behandlung erfolgreich reanimiert werden. Beim Erwachsenen liegt in den meisten Fällen eine primäre Störung des Herzens zugrunde (z. B. Kammerflimmern), oft verursacht durch eine koronare Herzkrankheit oder in seltenen Fällen durch äußere Einwirkung (z. B. Starkstrom). Bei Kindern geht dem Herz-Kreislauf-Stillstand fast immer eine längere Phase von Hypoxie/Asphyxie voraus. Primäres Kammerflimmern ist eher selten und wird meist nach kardiochirurgischen Eingriffen oder bei Kindern mit kongenitalen Herzerkrankungen beobachtet.
54
546
Kapitel 54 · Reanimation
. Abb. 54.3. ACLS-Algorithmus: Aktionsplan für erweiterte lebensrettende Maßnahmen (ACLS) (nähere Erläuterungen im Text)
54
547 54.5 · Erweiterte Maßnahmen der Reanimation (ACLS, PALS)
. Abb. 54.3. (Fortsetzung)
54.5.2 Aktionsplan für »Er weiter te
Reanimationsmaßnahmen« = ACLS-Algorithmus ! Der vorgestellte Aktionsplan für erweiterte Wiederbelebungsmaßnahmen (ACLS-Algorithmus (. Abb. 54.3) entspricht den jüngsten Empfehlungen des European Resuscitation Council (ERC). Die Besonderheiten bei der Behandlung von Kindern (PALS-Algorithmus) sind an entsprechender Stelle im Text erwähnt. Von Bedeutung sind hier vor allem die Dosierungsangaben.
: Beispiel Notruf: Ein etwa 45-jähriger Mann bricht in der Eingangshalle des Krankenhauses plötzlich zusammen. Das herbei eilende krankenhausinterne Notfallteam unter der Leitung eines Anästhesisten findet eine offensichtlich leblose Person vor. Anwesende Laienhelfer führen bereits Herz-Lungen-Wiederbelebung durch. EKG-Erstdiagnose: Kammerflimmern. Die erste Defibrillation (200 J) ist erfolglos, ein unmittelbar anschließender zweiter Stromstoß führt zu einer Asystolie. Nach 20 s plötzlich einsetzende, arrhythmische Herzaktion (Absolute Arrhythmie mit Vorhofflimmern), unregelmäßige Pulse sind an der Karo6
tisarterie tastbar; der Blutdruck beträgt 80/40 mmHg. Der Patient wird anschließend intubiert und nach weiterer Stabilisierung (Dopamin-Perfusor) in die Notaufnahme transportiert. Dort wird im Verlauf ein kleinerer Myokardinfarkt nachgewiesen. Der Patient erholt sich nach 2 Wochen intensivmedizinischer Versorgung und anschließendem stationärem Aufenthalt und Anschlussheilbehandlung vollständig. Er kann seine Berufstätigkeit wieder aufnehmen.
Für den Ersthelfer ist es ohne entsprechende Ausrüstung nicht möglich, zwischen den verschiedenen Formen des Kreislaufstillstands zu differenzieren. Darüber hinaus können die einzelnen Formen im Verlauf ineinander übergehen. Eine spezifische Therapie (»Advanced Life Support« [ALS]) kann daher erst mit Eintreffen des Rettungsdienstes beginnen. ! Die EKG-Diagnose ist das entscheidende Bindeglied zwischen BLS- und ALS-Maßnahmen.
Der elektrokardiographische Befund muss jedoch unbedingt in direktem Zusammenhang mit der klinischen Situation interpretiert werden (d. h. Ausschluss von Bewegungsartefakten, Diskonnektion, elektrischen Störsignalen etc.). Die neuesten Empfehlungen des ERC unterscheiden
54
548
Kapitel 54 · Reanimation
. Tabelle 54.5. Empfohlene Energiemenge bei Defibrillation 1. Defibrillation
2. Defibrillation
3. Defibrillation
Alle weiteren
Erwachsene – konventionell – biphasisch
200 J ~ 150 J*
200 J ~ 150 J*
360 J ~ 150 J*
360 J ~ 150 J*
Kinder
2 J/kg KG
2 J/kg KG
4 J/kg KG
4 J/kg KG
Säuglinge
2 J/kg KG
2 J/kg KG
4 J/kg KG
4 J/kg KG
*= impedanzgesteuert
zwei Behandlungsstrategien, je nach EKG/Puls-Primärdiagnose: Kammerflimmern/Kammertachykardie [VF/VT] oder Nicht-VF/VT (d. h. Pulslosigkeit + anderer EKGRhythmus).
Primärdiagnose Kammer flimmern/ Kammertachykardie (VF/VT)
54
Mit Diagnosestellung wird ohne Verzögerung der erste elektrische Schock abgegeben, gefolgt – wenn nötig – von einem zweiten bzw. dritten Stromstoß. Die applizierte Energiemenge wird dabei stufenweise erhöht (Erwachsener: 200 J, 200 J, 360J, Säuglinge und Kinder: 2 J/kg KG, 2 J/ kg KG, 4 J/kg KG; . Tab. 54.5). Die erste Defibrillationssequenz (max. 3 Stromstöße) sollte nicht durch Basismaßnahmen unterbrochen werden. Eine elektrokardiographische Rhythmuskontrolle muss vor jedem Schock über die Elektroden bzw. Paddels vorgenommen werden. Eine Pulskontrolle wird erst nach Beendigung der gesamten Sequenz durchgeführt. Bei 80 % aller erfolgreich defibrillierten Patienten mit VF/VT führt einer der drei ersten Stromstöße zur Konversion dieser lebensgefährlichen Rhythmusstörung. Bei Erfolglosigkeit der ersten Defibrillationssequenz (d. h. Persistieren von VF/VT oder sekundärer Asystolie) werden die Basismaßnahmen für ca. 1 min fortgesetzt. Gleichzeitig sollte umgehend endotracheal intubiert und/ oder ein intravenöser Zugang gelegt werden. Auf diese Weise können Beatmung und Medikamentengabe gezielt erfolgen. Beide Maßnahmen dürfen jedoch auf keinen Fall zu einer wesentlichen Unterbrechung der Basismaßnahmen oder einer Verzögerung weiterer Defibrillationssequenzen führen. Im Allgemeinen wird eine Zeit von maximal 20–30 s akzeptiert. Obwohl diese Maßnahmen (Intubation, i.v.-Kanüle) für die Prognose des Patienten günstig sein mögen, gibt es keine eindeutigen Belege dafür, wohl aber
für eine Verschlechterung der Prognose durch verzögerte weitere Defibrillationen. Dabei sollte bedacht werden, dass selbst eine optimale BLS-Technik nur maximal 25 % der normalen Herzauswurfleistung, 5 % der normalen myokardialen und weniger als 30 % der zerebralen Perfusion erreichen kann. Entscheidend für die Prognose des Patienten ist daher die Gesamtdauer ohne Spontanzirkulation. Die Überlebenswahrscheinlichkeit ist dramatisch eingeschränkt, wenn die Basismaßnahmen häufig unterbrochen oder mangelhaft durchgeführt werden. Nach Anlage eines intravenösen und/oder endobronchialen Zugangs (z. B. Tubus) wird Adrenalin verabreicht. Dieses ist unbedingt nötig, um den Blutfluss zu den lebenswichtigen Organen anzuheben. Die Adrenalindosis richtet sich nach der Art des Zugangs und dem Alter des Patienten (. Tab. 54.6). Das Intervall zwischen der 1. und 2. Defibrillationssequenz sollte nicht größer als 2 min sein. Wiederholung der Maßnahmen (»Looping«). Sollte nach 1–2 min weiterhin »VF/VT« vorliegen, wird erneut eine Serie von maximal drei Stromstößen initiiert (Erwachsene: 360 J, Kinder 4 J/kg KG), gefolgt von Rhythmus- und Pulskontrolle. Wenn statt dessen der EKG-Rhythmus »Nicht-VF/VT« vorliegt, werden nach Adrenalingabe Thoraxkompressionen und Beatmung für weitere 2 min fortgesetzt und die Therapie erfolgt im Weiteren entsprechend dem rechten Schenkel (»Nicht-VF/VT«) des Algorithmus (. Abb. 54.3). Nach 2 Zyklen von Basismaßnahmen und bis dahin erfolgloser Defibrillation sollte der Einsatz weiterer Medikamente bedacht werden (z. B. Lidocain, ggf. auch Natriumbikarbonat). Ebenso sollte bei Therapieresistenz erwogen werden, die Elektroden zu wechseln bzw. Elektroden-Gel und Andruckkraft zu überprüfen. Darüber hinaus sollten andere Ursachen in Betracht gezogen werden, wie z. B. Elektrolytstörungen, Hypothermie, Intoxikationen
549 54.5 · Erweiterte Maßnahmen der Reanimation (ACLS, PALS)
. Tabelle 54.6. Spezifische Pharmakotherapie bei Reanimation Medikament
Indikation (während der Reanimation)
Dosis Erwachsene
Säuglinge, Kinder
Adrenalin
5 Asystolie 5 Bradykardie (Sinus-, AV-) 5 PEA, Kammerflimmern
i.v.: 1 mg; (ab 3. Dosis: ggf. 5 mg); e.b.: 3 mg
i.v./i.o.: 1. Dosis: 10 μg/kg KG; folgende: 100 μg/kg KG; e.b.: 100 μg/kg KG
Atropin
5 Asystolie 5 Bradykardie (Sinus-, AV-)
i.v.: 1–3 mg; e.b.: 6(–9) mg
i.v./i.o.: 0,02 mg/kg KG e.b.: 0,04(–0,06) mg/kg KG
Amiodaron
5 Ventrikuläre Tachykardie 5 Kammerflimmern
300 mg i.v. über 10 min
5 mg /kg KG i.v./i.o.
Lidocain
Ventrikuläre Tachykardie (Kammerflimmern)
i.v.: 100 mg; e.b.: 200(–300) mg
i.v./i.o.: 1 mg/kg KG; e.b.: 2(–3) mg/kg KG
Natriumhydrogenkarbonat (NaCO3)
5 Metabolische Azidose 5 Hyperkaliämie 5 Blindpufferung (nach 10 min Reanimation) oder entspr. Blurgasanalyse (BGA)
i.v.: 50 mEq (ggf. wdh.) oder NaHCO3 nach BGA (mEq) = 0,3 × kg KG × BE
i.v./i.o.: 1 mEq/kg KG oder NaHCO3 nach BGA (mEq) = 0,3 x kg KG × BE
Glukose
Hypoglykämie (< 60 mg%)
i.v.: 10–20 g (= 20–40 ml 50 %ige Glukoselösung)
i.v./i.o.: 500 mg/kg KG (als 10- bzw. 25 %ige Glukoselösung)
Flüssigkeit
1. Zur Volumentherapie 2. Bei primärer Hypovolämie (größerer Blutverlust, Flüssigkeitsdefizit)
1. i.v.: 500–1000 ml 2. i.v.: vermuteten Verlust mit Kristalloiden 3 : 1 bzw. mit Kolloiden 1 : 1 ersetzen
1. i.v./i.o.: 10–20 ml/kg KG 2. i.v./i.o.: 50–70 ml/kg KG, bei Bedarf auch mehr; vermuteten Verlust mit Kristalloiden 3 : 1 bzw. mit Kolloiden 1 : 1 ausgleichen
Kalzium
5 Hypokalziämie 5 Hyperkaliämie 5 KalziumantagonistenIntoxikation
i.v.: 200 mg (CaCl 10 %)
i.v./i.o.: 10–30 mg/kg KG (CaCl 10 %)
i.v.=intravenös; e.b.=endobronchial; PEA=usless electrical activity; BE=base excess; i.o.=intraossär
und ggf. parallel behandelt werden. Zusätzliches Adrenalin sollte etwa alle 3 min verabreicht werden. Die Defibrillation wird so lange wiederholt, wie VF/VT besteht bzw. suffiziente Basismaßnahmen gewährleistet sind. Die Gesamtanzahl der Behandlungssequenzen, d. h. die Dauer der Wiederbelebung sollte von der klinischen Situation und von der Gesamtprognose des Patienten abhängig gemacht werden. Wiederbelebungsversuche über einen Zeitraum von ca. 45 min werden im Allgemeinen als ausreichend angesehen. Nur unter ganz bestimmten Bedingungen sollten Reanimationsmaßnahmen über einen längeren Zeitraum ausgedehnt werden (z. B. bei Hypothermie, Beinahe-Ertrin-
ken oder Medikamentenintoxikation). Solange allerdings elektrokardiographisch Kammerflimmern nachweisbar ist, sollten die Maßnahmen in jedem Fall fortgesetzt werden.
Primärdiagnose »Asystolie/Pulslose Elektrische Aktivität” (»Non-VF/Non-VT”) Nach Sicherung der Diagnose »Asystolie« durch zwei EKG-Ableitungen, die senkrecht zueinander liegen (Ausschluss feines Kammerflimmern), wird keine Defibrillation durchgeführt (eine Defibrillation kann jedoch im Laufe der Reanimation notwendig werden, wenn aufgrund der Maßnahmen Kammerflimmern entsteht).
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Kapitel 54 · Reanimation
Neben der Weiterführung von Basismaßnahmen hat die Suche nach möglichen reversiblen Ursachen des Kreislaufstillstands in dieser Situation oberste Priorität (. Abb. 54.3: Hypoxie, Hypovolämie, Elektrolytstörungen, Hypothermie, Pneumothorax, Perikardtamponade, Intoxikation, Embolie,). Gleichzeitig sollte so bald wie möglich intubiert, ein i.v.-Zugang angelegt (ohne wesentliche Verzögerung der Basismaßnahmen, d. h. < 30 s) und Adrenalin (Er wachsene: 1 mg, Kinder: 10 Pg/kg, i.v.) verabreicht werden. Danach werden für ca. 3 min kontinuierlich Basismaßnahmen durchgeführt (etwa 10 Sequenzen, jeweils 5 Kompressionen / 1 Beatmung). Bei intubierten Patienten kann die Abfolge Thoraxkompression / Beatmung asynchron verlaufen. Die einmalige Gabe von Atropin (3 mg, i.v.) kann er wogen werden, um eine überschießende Vagus-Erregung als Ursache der Asystolie auszuschließen. Bei Erfolglosigkeit der beschriebenen Maßnahmen und Fortbestehen der Asystolie muss der Einsatz eines Schrittmachers er wogen werden. Als Indikation können z. B. eine vorhandene PWelle (trifaszikulärer Block) bzw. vereinzelte QRS-Komplexe (= extreme Bradykardie) gelten. Ob ein transkutaner, transösophagealer oder transvenöser Schrittmacher eingesetzt wird, hängt von der Ausstattung und Ausbildung des Rettungspersonals ab. Die Gabe von Puffersubstanzen kann bei protrahiertem Verlauf auch bei »NichtVF/Nicht-VT« indiziert sein. Wiederholung der Maßnahmen (»Looping«). Nach 3 min
werden Rhythmus und Puls des Patienten erneut evaluiert. Ist ein Kammerflimmern oder eine Kammertachykardie (»VF/VT«) zu erkennen, verlaufen die weiteren Reanimationsmaßnahmen entsprechend dem oben geschilderten Algorithmus (linke Seite), besteht weiterhin »Nicht-VF/Nicht-VT«, dann werden die soeben dargestellten Maßnahmen (rechte Seite des Algorithmus) wiederholt. Adrenalin in gleicher Dosis wird alle 3 min verabreicht. Nach 3 Zyklen erfolgloser Wiederbelebungsversuche kann die jeweilige Adrenalingabe erhöht werden (. Tab. 54.6). Nach 20–30 min erfolgloser Reanimation sind die Erfolgsaussichten bei Asystolie sehr ungünstig. Daher sollte in dieser Situation eine Weiterführung der Reanimationsbemühungen sorgfältig überprüft werden (7 Kap. 54.7). Besondere Aufmerksamkeit sollte auf Begleitumstände gelegt werden, da – insbesondere bei Kindern – die Prognose von »Nicht-VF/Nicht-VT« bei Hypothermie, nach Beinahe-Ertrinken oder Medikamentenintoxikationen auch nach 15 min noch wesentlich günstiger einzuschätzen ist.
54.6
Komplikationen der Reanimation
Das Risiko für den Patienten. Reanimationsmaßnahmen sollten schwerwiegende Komplikationen minimieren, jedoch sind spezifische Gefahren nicht auszuschließen. Der Patient sollte daher sorgfältig auf mögliche Zeichen solcher Komplikationen überwacht werden, da sie die langfristige Prognose entscheidend beeinflussen können. Zu Rippenfrakturen kommt es relativ häufig vor allem bei älteren Patienten. Die Folgen sind in der Regel harmlos. Kommt es allerdings zur Durchspießung von Pleura und Lungengewebe, entwickelt sich durch die Überdruckbeatmung rasch ein Spannungspneumothorax. Insgesamt sind schwerwiegende Komplikationen allerdings selten, wenn die korrekte Position der Hände/Handballen eingehalten und die angegebenen Kompressionstiefen nicht überschritten werden.
Komplikationen der kardiopulmonalen Reanimation 5 5 I5 5 5 5 5 5 5 5 5 5 5
Aspiration Frakturen des Brustbeins und der Rippen instabiler Thorax, Pneumothorax, Hämatothorax Hämoperikard Subkutanes Emphysem Mediastinales Emphysem Lungenkontusion Knochenmark- und Fettembolie Verletzungen des Ösophagus Verletzungen des Magens Verletzungen der unteren Hohlvenen Verletzungen der Leber oder Milz Gefäßverletzungen
Das Risiko für den Ersthelfer. Bis heute konnte keine Über-
tragung des HIV-, Hepatitis-B- bzw. Hepatitis-C-Virus bei Mund-zu-Mund-Beatmung nachgewiesen werden. Speichel gilt derzeit nicht als Übertragungsweg für HIV, gleiches gilt für Hepatitis B und C. Während einer Mund-zuMund-Beatmung kann es zum Kontakt mit Patientenblut kommen, sodass eine theoretische Gefährdung des Helfers nicht vollständig ausgeschlossen werden kann. Eine Übertragung anderer Erkrankungen wie Tuberkulose, Herpes oder virale Infektionen des Atmungstrakts sind ebenfalls möglich. In etwa 70 % aller Reanimationen führen Ersthelfer Wiederbelebungsmaßnahmen bei Bekannten oder Verwandten durch, sodass das Infektionsrisiko in vielen Fällen kalkulierbar bleibt. In Übereinstimmung mit der American Heart Association empfiehlt das European Resus-
551 54.7 · Abbruch der Reanimation
citation Council, die Öffentlichkeit im Gebrauch von einfachen aber effektiven Schutzvorrichtungen (z. B. Folien) zu unterrichten.
54.7
Abbruch der Reanimation
Das Ziel einer Reanimation ist, den Weg zum Tod umzukehren und einen Menschen vor einem zu frühen oder vermeidbaren Tod zu bewahren. Ziel der Reanimation ist nicht die Verlängerung des Sterbens. Die Kriterien/Indikationen für den Beginn bzw. den Abbruch von Wiederbelebungsmaßnahmen sind nicht eindeutig zu definieren. Die Entscheidung muss daher in jedem Fall individuell getroffen werden. Im Krankenhaus sind Anästhesisten oder Intensivmediziner häufig mit Patienten konfrontiert, bei denen die Frage »Ist eine Reanimation gewünscht und/oder sinnvoll« nicht hinreichend ausführlich vor dem akuten Ereignis besprochen wurde. In solchen Situationen muss der verantwortliche Arzt davon ausgehen, dass maximale Wiederbelebungsmaßnahmen erwünscht und der Situation des Patienten angemessen sind. Bei terminal Kranken sowie Hochrisikopatienten sollte daher das Vorgehen bei einer plötzlichen Verschlechterung des Zustands, wenn möglich mit dem betroffenen Patienten selbst, seinem gerichtlich bestellten Betreuer oder den nächsten Angehörigen eingehend erörtert werden. Liegt eine eindeutige Entscheidung des Patienten oder seiner Vertreter vor, so muss diese entsprechend dokumentiert und im Team kommuniziert werden. Nur so kann ein Arzt in der konkreten Situation angemessen handeln und Wünsche und Vorstellungen des Patienten in seine Entscheidungen einbeziehen. Neben dem Patientenwunsch sollten selbstverständlich auch eine Reihe von objektiven Faktoren in die Überlegungen einbezogen werden. Ort der Reanimation. Wird ein lebloser Patient in einer Umgebung reanimiert, aus der er nur mit sehr großer Zeitverzögerung abtransportiert werden kann, so muss generell von einer schlechten Prognose ausgegangen werden. Zeitspanne zwischen Herzkreislaufstillstand und Beginn der Basismaßnahmen (BLS). Sind bereits mehr als 5 min
vergangen, bevor nach dem Kollaps effektive Basismaßnahmen zur Wiederbelebung begonnen wurden, muss von einer deutlichen neurologischen Schädigung ausgegangen werden. Bei hypothermen, anästhesierten und pädiatrischen Patienten muss eine längere Ischämietoleranz angenommen werden, d. h. die Gesamtprognose ist in einer entsprechenden Situation besser.
Zeitspanne bis zu erweiterten Reanimationsmaßnahmen (ACLS/PALS). Vergehen mehr als 30 min zwischen dem
Auftreten des Herzstillstands und der Anwendung von erweiterten lebensrettenden Maßnahmen (Defibrillation, kontrollierte Beatmung), ist selbst bei optimalen Basismaßnahmen von einer schlechten Prognose für den Erfolg von Wiederbelebungsversuchen auszugehen. Herztod. Kann bei Patienten mit Asystolie nicht innerhalb
von 30–45 min ein spontaner suffizienter Kreislauf erreicht werden, sollte die Einstellung der Wiederbelebungsmaßnahmen erwogen werden. Irreversible Hirnschädigung. Der Ausfall sämtlicher Hirn-
stammreflexe über einen längeren Zeitraum (z. B. weite, lichtstarre und entrundete Pupillen, ohne vorhergehende medikamentöse Therapie mit Adrenalin bzw. anderen Mydriatika) muss als Hinweis auf eine schwerwiegende Hirnschädigung gewertet werden. Prognose der Grunderkrankung. Wiederbelebungsversuche bei sehr alten oder terminal kranken Patienten sollten bei Erfolglosigkeit frühzeitig abgebrochen werden. Alter. Es gibt derzeit keinen Hinweis, dass ältere Patienten grundsätzlich eine schlechtere Prognose bei Herzstillstand haben als jüngere. Viel wichtiger sind in diesem Zusammenhang die vorliegenden Grunderkrankungen. Kinder haben dagegen eine deutlich höhere Überlebungschance. Temperatur. Eine Wiederbelebung bei stark unterkühlten
Patienten sollte länger fortgesetzt werden als unter normalen Bedingungen. Immer wieder wurden Fälle berichtet, bei denen noch nach 45 Minuten Herzkreislaufstillstand erfolgreich wiederbelebt werden konnte. Während der zum Teil sehr langen Aufwärmphase muss die Unterstützung des Herz-Kreislauf-Systems weitergeführt werden. In diesen Fällen kann, falls verfügbar und sinnvoll, ein kardiopulmonaler Bypass eingesetzt werden. Medikamente vor dem Herzkreislaufstillstand. Patienten
in Narkose oder tiefer Sedierung weisen in der Regel eine verlängerte Hypoxietoleranz auf. Bei dieser Patientengruppe sollten Wiederbelebungsversuche länger durchgeführt werden als unter Normalbedingungen. Akute, aber therapierbare Probleme. Wenn die Umstände, die zum Herzkreislaufstillstand geführt haben, behandelbar erscheinen (Spannungspneumothorax, Perikardtampo-
54
552
Kapitel 54 · Reanimation
nade, Elektrolytverschiebungen, Medikamentenintoxikationen) sollten die Wiederbelebungsmaßnahmen so lange weitergeführt werden, bis alle Behandlungsmöglichkeiten des Grundproblems ausgeschöpft sind. Kardiopulmonaler Bypass/intraaortale Ballon-Gegenpulsation. Ob diese technischen Verfahren zum Einsatz kom-
men, hängt wesentlich von deren Verfügbarkeit ab. Darüber hinaus sollten diese Verfahren nur bei Patienten mit ausgesprochen guter Gesamtprognose (Hypothermie, Medikamentenintoxikation, operativ heilbare Grunderkrankung) zum Einsatz kommen.
Für die Organisation und Aufrechterhaltung geeigneter Strukturen sollte eine Abteilung (z. B. Anästhesie oder Innere Medizin) verantwortlich sein. Die Verantwortlichen sollten sicherstellen, dass alle Mitarbeiter in regelmäßigen Abständen ihre theoretischen und praktischen Fähigkeiten in strukturierten Fortbildungsveranstaltungen aktualisieren (Training der verschiedenen Algorithmen als »Megacode«). Die Fortbildungsverpflichtung der einzelnen Mitarbeiter sollte in Art und Umfang klar definiert sein.
Literatur Fazit
54
In jedem Bereich des Krankenhauses und zu jedem Zeitpunkt kann ein Patient einen Herzkreislaufstillstand erleiden. Wiederbelebungsmaßnahmen sollten unmittelbar und nach einem Aktionsplan (Algorithmus) er folgen. Komplikationen sind bei korrekter Durchführung selten. Der Abbruch von Reanimationsmaßnahmen ist eine schwer wiegende Entscheidung und setzt die Einbeziehung aller verfügbaren Informationen voraus. Alle Mitarbeiter, die direkt mit der Versorgung von Patienten betraut sind, sollten die Rettungskette alarmieren und selbst einfache lebensrettende Sofortmaßnahmen (BLS) durchführen können bis qualifizierte Hilfe eintrifft. Ein Rettungsteam, das über geeignetes Material, Sachkenntnis und entsprechendes Training für erweiter te Reanimationsmaßnahmen (ACLS, PALS) ver fügt, muss innerhalb des Krankenhauses jederzeit an jedem Ort schnell ver fügbar sein. Bei weitläufigen Krankenhäusern erscheint die strategische Zuordnung von einzelnen Rettungsteams für bestimmte Krankenhausbereiche günstig. Auch entsprechendes Material (Sauerstoff, Defibrillatoren, Notfallkoffer etc.) sollte so deponiert werden, dass schnell darauf zugegriffen werden kann. Operative Bereiche des Krankenhauses (OP, Aufwachraum, Intensivstationen, Ambulanzen) sind besonders günstige Standorte. Die War tung und Überprüfung sollte an qualifizier tes Personal (z. B. Pflegekräfte der jeweiligen Einrichtungen) delegiert werden. Es muss ein Alarmierungsplan bestehen, aus dem für jeden erkenntlich ist, wer im Notfall wie (Piepser etc.) zu rufen ist. Dieser Plan sollte in regelmäßigen Abständen aktualisiert werden. 6
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55 Sepsis Andreas Meier-Hellmann 55.1 Definition und Diagnose der Sepsis –554 55.2 Pathophysiologische Aspekte –555 55.2.1 Pathophysiologie der Entzündung –555 55.2.2 Das kardiovaskuläre System bei Sepsis –555 55.2.3 Bedeutung des regionalen Blutflusses –555
55.3 Therapeutische Strategien –555 55.4 Supportive Therapie der Sepsis –556 55.4.1 55.4.2 55.4.3 55.4.4 55.4.5 55.4.6 55.4.7 55.4.8 55.4.9
Hämodynamisches Monitoring –556 Volumentherapie –557 Sicherstellung eines optimalen Hämoglobingehaltes –557 Beatmung –557 Therapie der Sepsis mit vasoaktiven Substanzen –557 Weitere therapeutische Ansätze –559 Ernährung des septischen Patienten –559 Substitution von Kortikosteroiden –560 Hämofiltration zur Elimination von Mediatoren der Sepsis –560
55.5 Adjuvante Therapie –560 55.5.1 55.5.2 55.5.3 55.5.4
Anti-Tumornekrosefaktor-Strategien –560 Antithrombin III, aktiviertes Protein C, Tissue Factor Pathway Inhibitor –560 Weitere immunmodulatorische Therapieansätze –561 Immunglobuline –561
55.6 Zusammenfassung –561 Literatur –562
554
Kapitel 55 · Sepsis
)) Sepsis, septischer Schock und durch Sepsis induziertes Multiorganversagen haben einen wesentlichen Anteil an der Mortalität von Patienten auf Intensivstationen. Trotz vieler Weiterentwicklungen auf dem Gebiet der Intensivmedizin hat sich die Letalität der Sepsis (35–70 %) in den letzten Jahren nicht wesentlich geändert. Die verschiedenen Aspekte der Pathophysiologie bei Sepsis sind Thema unzähliger Untersuchungen und Veröffentlichungen der letzten Jahre. Obwohl viele der so gewonnenen Erkenntnisse dazu beigetragen haben, das Krankheitsbild der Sepsis besser zu verstehen, haben nur wenige auch neue oder verbesserte Therapieansätze hervorgebracht. So sind das Zusammenspiel und die Bedeutung der verschiedenen Mediatoren des inflammatorischen Systems heute wesentlich besser bekannt. Wesentliche therapeutische Optionen haben sich daraus bisher aber nicht ergeben. Ein wichtiger Bestandteil der Therapie bei Sepsis und Multiorganversagen ist daher nach wie vor eine adäquate und differenzierte Kreislauftherapie.
55.1
55
Definition und Diagnose der Sepsis
Der Begriff der Sepsis bzw. deren Definition hat in den letzten Jahren eine erhebliche Änderung erfahren. Die klassische Definition mit dem strengen Postulat eines primären Sepsisherdes und einer davon ausgehenden hämatogenen Streuung, deren Nachweis für die Diagnose einer Sepsis obligat war, ist einer Definition gewichen, die das inflammatorische Geschehen in den Vordergrund rückt. So sind heute entscheidende Merkmale einer Sepsis das Vorhandensein einer Infektion und das Auftreten einer infektionsortfernen Organbeteiligung die belegt, dass die Infektion eine den ganzen Organismus betreffende systemische Bedeutung erlangt hat. ! Unter Sepsis wird eine akute inflammatorische Wirtsantwort infektiöser Ätiologie verstanden, die dadurch charakterisiert ist, dass es dem Wirt nicht gelingt, die Entzündungsantwort mit ihren destruktiven Teilkomponenten lokal zu begrenzen.
1992 wurden durch zwei große amerikanische Fachgesellschaften eine Definition der Sepsis und eine Schweregradeinteilung mit klaren diagnostischen Kriterien vorgeschlagen. Eine wesentliche Neuerung war, dass die systemische Wirtsantwort SIRS (Systemic inflammatory response syndrome) erstmals als eigenständige inflammatorische
Reaktion auf eine Reihe verschiedener Provokationen (Verbrennung, Trauma, Pankreatitis usw.) bewertet wurde. Ein SIRS ist demnach gegeben, wenn 2 der folgenden 4 Kriterien erfüllt sind: 1. Fieber: Temperatur > 38 °C oder Hypothermie: Temperatur < 36 °C 2. Tachykardie: Herzfrequenz > 90/min 3. Tachypnoe: > 20 Atemzüge/min oder Hyperventilation: PaCO2 < 4,3 kPa (= 33 mmHg), Beatmungspflichtigkeit (dieses Kriterium ist in der Originalpublikation nicht genannt, wurde in den letzten Jahren aber ebenfalls genutzt) 4. Leukozytose > 12000/Pl oder Leukopenie < 4000/Pl oder Linksverschiebung im Differenzialblutbild (unreife/Gesamtzahl der neutrophilen Granulozyten > 0,1) Eine Sepsis liegt vor, wenn die Ursache des SIRS eine Infektion ist. Kommt eine Organbeteiligung hinzu, spricht man von schwerer Sepsis und bei Auftreten eines Kreislaufversagens vom septischen Schock. Dies bedeutet, dass dem bis dahin in Europa gebräuchlichen Sepsisbegriff mit Organfunktionsstörungen nun die Begriffe schwere Sepsis und septischer Schock zugeordnet wurden. Im klinischen Alltag ist die derzeit vorliegende Definition der Sepsis jedoch nicht unbedingt hilfreich. So sind die SIRS-Kriterien zwar sehr sensitiv, aber leider auch sehr unspezifisch, sodass bei mehr als zwei Drittel der Patienten einer Intensivstation die Diagnose eines SIRS zu stellen ist. Derzeit wird an besseren Definitionen bzw. Kriterien gearbeitet. Es ist davon auszugehen, dass diese Kriterien direkte Parameter der inflammatorischen Wirtsantwort (z. B. Interleukine) beinhalten werden. Welche diese sind, und wie eine bessere Sepsisdefinition genau aussehen wird, ist zurzeit noch offen. Wichtig ist, zu wissen, dass eine Körpertemperatur oder eine Leukozytenzahl im Normbereich eine Sepsis nicht ausschließt. Eine anderweitig nicht zu erklärende Organfunktionsstörung in Zusammenhang mit einer Infektion muss immer an das Vorliegen einer Sepsis denken lassen. Insbesondere auch akute Veränderungen der Vigilanz und Desorientiertheit, Symptome die häufig als Medikamenten- oder Alkoholentzug fehlgedeutet werden, können erste Zeichen einer septischen Enzephalopathie sein. ! Das Vorliegen unauffälliger etablierter Parameter einer Infektion (Körpertemperatur, Leukozytenzahl, Blutkultur) schließt eine Sepsis nicht aus. Verwirrtheit und Vigilanzstörungen können erste Zeichen einer septischen Enzephalopathie sein.
555 55.3 · Therapeutische Strategien
55.2
Pathophysiologische Aspekte
55.2.1 Pathophysiologie der Entzündung Verschiedene Triggersubstanzen (z. B. Endotoxine), aktivieren zelluläre (Monozyten-Makrophagen, Lymphozyten, Endothelzellen usw.) und humorale (Komplementsystem, Gerinnungssystem, Kininsystem) Abwehrsysteme. Die Aktivierung dieser Systeme führt u. a. über die Freisetzung von pro- und antiinflammatorischen Zytokinen zu einer direkten Zellschädigung. Außerdem kommt es zu einer Veränderung des nutritiven Blutflusses mit einer konsekutiven Gewebehypoxie, die wiederum mit sekundärer Zellschädigung einhergeht. Ein direktes Eingreifen in dieses kompliziert vernetzte System ist Gegenstand vieler neuer therapeutischer Strategien gewesen. Mit wenigen Ausnahmen konnte jedoch eine Wirksamkeit dieser Therapien nicht belegt werden. Im Folgenden soll deshalb nur auf die pathophysiologischen Aspekte, die für die intensivmedizinische Therapie von Bedeutung sind, eingegangen werden.
55.2.2 Das kardiovaskuläre System
der metabolischen Veränderungen im Rahmen der Sepsis muss ein gestiegener Substratbedarf gedeckt werden. Der Erniedrigung des peripheren Gefäßwiderstands kann in gewissen Grenzen durch eine kompensatorische Steigerung des Herzminutenvolumens Rechnung getragen werden, sodass die Pumpfunktionsparameter häufig im, oder sogar oberhalb des Normalbereiches liegen. Eine ausreichende Kompensation mit einer adäquaten Gewebeperfusion und Oxygenierung wird in der Regel jedoch nicht erreicht.
55.2.3 Bedeutung des regionalen
Blutflusses Das Nierenversagen und das gastrointestinale Versagen sind häufige Komplikationen im Rahmen der Sepsis. Insbesondere der adäquaten Oxygenierung des Splanchnikusgebiets wird von einigen Autoren eine besondere Bedeutung zugeschrieben. Es wird diskutiert, dass ein gastrointestinales Versagen über den Mechanismus einer Keim-Translokation eine bestehende Sepsis unterhalten bzw. neue septische Episoden induzieren kann.
55.3
Therapeutische Strategien
bei Sepsis Im Rahmen der Sepsis kommt es zu einem absoluten und relativen intravasalen Volumendefizit. Ursächlich hierfür sind eine Umverteilung des zirkulierenden Blutvolumens durch venöses Pooling und ein Verlust von intravasaler Flüssigkeit durch eine pathologisch erhöhte Kapillarpermeabilität. Die früher gebräuchliche Unterscheidung eines hypound hyperdynamen Schocks ist heute nicht mehr üblich. Der hypodyname Schock ist Ausdruck des oben genannten intravasalen Volumenmangels und kann durch adäquate Volumensubstitution vermieden werden. Eine Ausnahme hiervon stellen Patienten dar, die aufgrund einer primär eingeschränkten myokardialen Funktion nicht in der Lage sind, trotz ausreichenden Flüssigkeitsangebots einen hyperdynamen Kreislauf aufzubauen. Die Beeinträchtigung der kardialen Pumpfunktion beim septischen Patienten hat unter dem Begriff der »septischen Kardiomyopathie« Einzug in die Literatur gefunden. Die pathophysiologischen Veränderungen sind in erster Linie durch eine eingeschränkte myokardiale Pumpleistung und einen erniedrigten peripheren Gefäßwiderstand gekennzeichnet. Sie stehen einer gesteigerten Anforderung an das kardiozirkulatorische System entgegen, denn aufgrund
Im Rahmen der Therapie septischer Patienten können drei therapeutische Ansätze unterschieden werden: Kausale Therapie. Hierbei handelt es sich um die Beseitigung der Ursache der Sepsis, d. h. beispielsweise um die chirurgische Sanierung einer Weichteilinfektion oder einer Peritonitis oder die Entfernung infizierten Kathetermaterials. Auch eine resistenzgerechte Therapie mit Antibiotika kann zu den kausalen Ansätzen in der Sepsistherapie gerechnet werden. Überaus wichtig ist hierbei, dass die potenziellen Therapiemaßnahmen möglichst schnell ergriffen werden. ! Ein verspäteter Beginn der kausalen Therapie verschlechtert die Prognose des Patienten entscheidend.
Supportive Therapie. Unter supportiver Therapie versteht man die intensivmedizinischen Maßnahmen, die zu einer Korrektur bzw. Wiederherstellung gestörter Organfunktionen führen. In erster Linie geht es hier um die Therapie des Kreislaufversagens, aber auch um organersetzende Verfahren, wie die Hämodialyse bzw. -filtration oder die enterale bzw. parenterale Ernährung. ! Die frühe, konsequente und adäquate Therapie einer gestörten Hämodynamik kann das Auftreten von Organversagen verhindern.
55
556
Kapitel 55 · Sepsis
Adjuvante Therapie. Zur adjuvanten Therapie zählen alle
therapeutischen Ansätze mit dem Ziel, das der Sepsis zugrunde liegende Geschehen selektiv zu beeinflussen. Die meisten der bisher diskutierten adjuvanten Therapieansätze konnten in entsprechenden klinischen Studien nicht als effektiv belegt werden.
55.4
Suppor tive Therapie der Sepsis
Entsprechend den pathophysiologischen Veränderungen in der Sepsis bzw. im septischen Schock stehen Therapieansätze im Vordergrund, die in der Lage sind, die Störungen der zellulären O2-Versorgung zu beheben bzw. günstig zu beeinflussen.
55.4.1 Hämodynamisches Monitoring
55
Einheitliche Empfehlungen, welche Zielparameter anzustreben sind, liegen nicht vor. Die Frage, ob und welches der so genannten erweiterten Monitoringverfahren (Pulmonalarterienkatheter, transpulmonale Indikatorverdünnung, Echokardiographie) zur Anwendung kommen sollte, wird kontrovers diskutiert. Grundsätzlich muss betont werden, dass einfache klinische Kriterien bzw. Parameter wie arterieller Blutdruck, Herzfrequenz und Urinausscheidung wichtige Informationen für die Steuerung der Therapie geben können. Zeichen der Kreislaufzentralisation, ein erniedrigter arterieller Blutdruck, eine erhöhte Herzfrequenz und eine verringerte Urinausscheidung sind häufig Zeichen eines Volumenmangels. Eine zentralvenöse O2-Sättigung (ScvO2) < 60 % kann ein Zeichen für eine massive Erniedrigung des Herzzeitvolumens sein. Ob zur Abschätzung der kardialen Vorlast ein erweitertes Monitoring notwendig ist, ist nicht sicher belegt. Kann durch eine Therapie mit Volumen alleine kein suffizienter Kreislauf wiederhergestellt werden und lassen sich die oben genannten Parameter nicht normalisieren, erscheint der Einsatz von Verfahren sinnvoll, die eine genauere Einschätzung der kardialen Vorlast erlauben. Tipps
Hämodynamisches Monitoring bei Sepsis – so machen wir es: Nicht bei jedem Patienten mit Sepsis kommt primär ein erweitertes hämodynamisches Monitoring zur Anwendung. Häufig kann eine hämodynamische The6
rapie alleine unter Beachtung von klinischen Kriterien gesteuert werden. Die ScvO2, die bei den meisten Patienten erhältlich ist, hat sich dabei als sehr hilfreich erwiesen. Steigt z. B. die ScvO2 nach Volumengabe an, ohne dass sich andere den O2-Verbrauch beeinflussende Faktoren (Temperatur, Sedierung) verändert haben, darf dies als ein Zeichen des erhöhten Herzzeitvolumens gesehen werden und ist somit Ausdruck eines zuvor bestehenden Volumendefizits. Bei Patienten mit einem hohen Bedarf an Noradrenalin oder weiter bestehenden Zeichen einer peripheren Minderperfusion (Laktat, Diurese) verwenden wir das PiCCO-System (Fa. Pulsion), da dieses System weniger invasiv als ein Pulmonalarterienkatheter ist und vor allem die relevanteren Vorlastparameter liefert.
Das Konzept, das globale O2-Angebot primär als Zielparameter in der Kreislauftherapie der Sepsis anzusehen und ein möglichst hohes O2-Angebot zu erzielen, muss kritisch hinterfragt werden. Als gesichert gilt, dass Patienten, die im Rahmen einer Sepsis in der Lage sind, einen so genannten hyperdynamen Kreislauf mit erhöhtem O2-Angebot zu entwickeln, eine bessere Prognose haben, als Patienten, die – in der Regel aufgrund einer kardialen Vorerkrankung – hierzu nicht in der Lage sind. Im Rahmen der Volumentherapie im Sinne einer Optimierung der kardialen Vorlast einen hyperdynamen Kreislauf anzustreben, ist sicherlich sinnvoll. Einen hyperdynamen Kreislauf durch den Einsatz hoch dosierter Katecholamine erzwingen zu wollen, scheint nicht nur ohne Effekt, sondern unter Umständen auch kontraproduktiv zu sein. Bei der Frage, welcher arterielle Perfusionsdruck für verschiedene Organe als adäquat angesehen werden kann, müssen Vorerkrankungen wie Hypertonus und arterielle Verschlusskrankheit berücksichtigt werden. Daten aus großen Multizenterstudien an septischen Patienten zeigen, dass in der Praxis der arterielle Mitteldruck (MAP) durch die Kreislauftherapie bei diesen Patienten zwischen 70 und 90 mmHg liegt. Ein MAP > 75 mmHg wird heute als adäquat angesehen. ! Zielkriterien zur Stabilisierung der globalen Hämodynamik vorzugeben, scheint nicht sinnvoll. Die Anwendung eines bestimmten Monitoringverfahrens ist nicht zwingend. Vielmehr sollte individuell bei jedem einzelnen Patienten anhand von Parametern der Kreislauffunktion entschieden werden, welches Herzzeitvolumen und welcher Perfusionsdruck adäquat ist.
557 55.4 · Supportive Therapie der Sepsis
55.4.2 Volumentherapie Aufgrund der pathophysiologischen Veränderungen bei Sepsis, die durch eine periphere Vasodilatation zu einem relativen und durch ein »capillary leak« zu einem absoluten Volumenmangel führen, liegt bei Patienten mit Sepsis in der Regel ein ausgeprägter Volumenbedarf vor. Die Flüssigkeitsmenge, die in der Akutphase infundiert werden muss, kann mehrere Liter betragen. ! Das Unterschätzen des Volumenbedarfs und damit eine nicht ausreichende Volumensubstitution ist vermutlich einer der häufigsten Fehler in der primären hämodynamischen Stabilisierung von Patienten mit Sepsis.
Tipps
Bluttransfusion bei Sepsis – So so machen wir es: Aufgrund der deutlichen Hinweise, dass eine Bluttransfusion mit erheblichen Nebenwirkungen einhergeht, stellen wir die Indikation zur Transfusion erst bei einem Hb-Wert < 7 g/dl und nur, wenn zeitgleich eine ScvO2 < 70 % vorliegt, da eine höhere ScvO2 als Ausdruck eines ausreichenden O2-Angebots gesehen werden kann und eine Transfusion keine weitere Verbesserung erwarten lässt.
55.4.4 Beatmung
Grundlegendes Prinzip der Volumentherapie ist die Optimierung der myokardialen Vorlast. Es sollte solange Volumen appliziert werden, bis dies nicht mehr mit einer weiteren Steigerung des Herzzeitvolumens einhergeht bzw. eine Verschlechterung des pulmonalen Gasaustausches eintritt. Die Frage, ob kolloidale oder kristalloide Flüssigkeiten verabreicht werden sollten, ist nach wie vor nicht geklärt, wobei der sehr kostenintensive Einsatz von Humanalbumin als Volumenersatzmittel sicher nicht gerechtfertigt ist. Letztendlich scheint eine adäquate Volumensubstitution, d. h. die Menge des zugeführten Volumens wichtiger als die Art des Volumenersatzmittels.
Bei Patienten mit Sepsis muss davon ausgegangen werden, dass ein »capillary leak« vorliegt und somit auch bei ungestörter kardialer Funktion ein Lungenödem auftreten kann. Die Entscheidung zur Intubation sollte beim Patienten im septischen Schock auch ohne Vorliegen einer Störung des Gasaustauschs frühzeitig gestellt werden, da die Atemarbeit insbesondere in einer Stresssituation einen bedeutenden Anteil am O2-Bedarf des Körpers einnimmt. Die Intubation und Beatmung vermindern den O2-Verbrauch bei septischen Patienten um bis zu 25 %, sodass das limitierte O2-Angebot nicht überproportional für die Atemmuskulatur, sondern für andere Organsysteme verfügbar wird.
! Eine adäquate Volumentherapie ist die wichtigste Maßnahme im Rahmen der hämodynamischen Stabilisierung septischer Patienten.
55.4.5 Therapie der Sepsis mit vasoaktiven
55.4.3 Sicherstellung eines optimalen
Hämoglobingehaltes Bereits die Therapie mit Kristalloiden oder Kolloidalen führt zu einem Absinken der Hb-Konzentration um 1–3 g/dl. Ein auf 8–10 g/dl erniedrigter Hb-Wert wird von vielen Patienten toleriert, zumal die mit dem erniedrigten Hb-Wert einhergehende verringerte Blutviskosität zu einer Verringerung der kardialen Nachlast und einer Verbesserung des venösen Rückflusses führt, was in einem erhöhten HZV resultiert. Eine Untersuchung zeigte bei kritisch kranken Patienten, die entlang eines restriktiven Transfusionsprotokolls (Hb 7–9 g/dl) behandelt wurden, eine geringere Sterblichkeit als bei Patienten, die entlang eines liberalen Transfusionprotokolls (Hb 10–12 g/dl) therapiert wurden.
Substanzen Dobutamin. Zur Therapie einer häufig vorliegenden septischen Kardiomyopathie und zur Aufrechterhaltung eines hyperdynamen Kreislaufs ist der Einsatz einer primär E1mimetischen Substanz sinnvoll. Dobutamin wird als Katecholamin der Wahl empfohlen. ! Dobutamin ist das Katecholamin der Wahl zur Therapie der eingeschränkten Pumpfunktion bei Sepsis.
Noradrenalin. Die ausgeprägte vasopressorische Wirkung
von Noradrenalin ist der Grund für das häufig anzutreffende Therapiekonzept, Noradrenalin erst im Sinne einer »letzten therapeutischen Möglichkeit« einzusetzen, wenn mit anderen Substanzen eine Kreislaufstabilisierung nicht möglich ist. Diese Vorstellung ist heute nicht mehr aufrechtzuerhalten. In mehreren Untersuchungen an septischen Patienten konnte gezeigt werden, dass die Diurese und teilweise auch die Kreatininclearance unter einer Noradrenalin-
55
558
Kapitel 55 · Sepsis
therapie steigen. Allerdings hatten die Patienten in diesen Studien ohne Noradrenalin einen deutlich erniedrigten arteriellen Blutdruck, sodass der grundlegende Mechanismus der verbesserten Nierenfunktion hier in der Sicherstellung eines ausreichenden Perfusionsdrucks zu sehen ist. Demzufolge sollte keinesfalls ein inadäquat niedriger Blutdruck toleriert werden, nur um potenziell negative Effekte des Vasopressors zu vermeiden. Im Vergleich mit anderen potenziellen Vasopressoren wie Adrenalin und Dopamin ist Noradrenalin der Vasopressor mit den geringsten Nebenwirkungen. ! Eine adäquate Therapie mit Volumen und gegebenenfalls Dobutamin vorausgesetzt, darf bei Persistenz eines nicht adäquaten Perfusionsdrucks auf die Anwendung einer vasopressorischen Substanz nicht verzichtet werden. Noradrenalin ist hierzu Katecholamin der Wahl.
Adrenalin. Adrenalin wird von einigen Autoren für die
55
Therapie des schweren septischen Schocks empfohlen, da es aufgrund der positiv inotropen E1-Adrenozeptor-Wirkung das HZV steigern kann und gleichzeitig mittels der vasopressorischen D-Adrenozeptor-Wirkung einen ausreichenden Perfusionsdruck bewirkt. Einige Arbeitsgruppen haben gezeigt, dass bei Patienten im septischen Schock, die sich auch mit hochdosiertem Dopamin oder Noradrenalin hämodynamisch nicht stabilisieren ließen, Adrenalin zu einer Stabilisierung des Kreislaufs führte. Dennoch ist Adrenalin nicht Katecholamin der ersten Wahl bei Sepsis. Der Grund hierfür ist, dass Adrenalin zu einer selektiven Minderperfusion im Splanchnikusgebiet führt. ! Auf den Einsatz von Adrenalin sollte im Rahmen der Therapie der Sepsis verzichtet werden.
Dopamin. Dopamin wird häufig als adjuvante Low-doseTherapie (1–3 Pg/kg KG/min) zur Verbesserung der Nierenfunktion und der Splanchnikusperfusion eingesetzt. Die Effektivität dieser Strategie ist bis zum heutigen Tag jedoch nicht bewiesen, sodass sie auch in aktuellen Therapieempfehlungen nicht mehr erscheint. Umso eindrucksvoller sind jedoch die Hinweise auf ungünstige Effekte von Dopamin auf die Perfusion und Oxygenierung im Splanchnikusgebiet. Neben diesen potenziell ungünstigen Effekten ist bekannt, dass Dopamin die Konzentration verschiedener Hormone der neurohypophysären Achse zu senken vermag, was möglicherweise die Ursache für eine oft therapeutisch nicht zu beherrschende Katabolie ist. Des Weiteren kann Dopamin über eine Beeinflussung von Schilddrüsenhormonen die myokardiale und vaskuläre Funktion beeinträchtigen.
! Dopamin ist nicht das Katecholamin der ersten Wahl bei der Therapie der Sepsis!
Phosphodiesterasehemmer. Aufgrund des positiv inotro-
pen und des gefäßdilatierenden Effekts bewirken Phosphodiesterasehemmer einen Anstieg des Herzzeitvolumens bei deutlicher Reduzierung der kardialen Füllungsdrücke und der pulmonalen und systemischen Gefäßwiderstände. Grundsätzlich sind Phosphodiesterasehemmer somit zur Therapie der schweren Herzinsuffizienz geeignet, insbesondere wenn wegen einer verminderten Ansprechbarkeit der Katecholaminrezeptoren eine Therapie mit Katecholaminen nicht mehr effektiv ist. Wesentliche Nebenwirkung der Phosphodiesterasehemmer ist eine Thrombozytopenie. Im Rahmen der Therapie septischer Patienten mit instabilen Kreislaufverhältnissen führte Enoximon zu einem gesteigerten O2-Angebot und -verbrauch. Ob auch selektive Effekte auf die regionale Perfusion vorliegen, kann zurzeit nicht sicher beantwortet werden. Neben einer Erhöhung des pulmonalen Shuntvolumens und einer ausgeprägten Vasodilatation, die häufig den zusätzlichen Einsatz von Vasopressoren erforderlich macht, sind die lange Halbwertszeit (z. B. für Milrinon 20–45 min) und damit die schlechte Steuerbarkeit die wesentlichen Nachteile. Deshalb sollte der Einsatz von Phosphodiesterasehemmern Situationen vorbehalten bleiben, in denen die myokardiale Insuffizienz, z. B. bei Patienten mit entsprechender kardialer Vorerkrankung, im Vordergrund steht oder eine konventionelle Behandlung bei längerer Therapiedauer aufgrund einer »Down-Regulation« der Katecholaminrezeptoren nicht mehr effektiv ist. ! Phosphodiesterasehemmer können angewandt werden, wenn Dobutamin aufgrund einer verminderten Ansprechbarkeit der Katecholaminrezeptoren ineffektiv ist, oder wenn – bei Patienten mit myokardialer Insuffizienz – der nachlastsenkende Effekt erwünscht ist.
Vasopressin. Vasopressin führt zu einer V1-Rezeptor-ver-
mittelten Erhöhung der intrazellulären Kalziumkonzentration. Eine Reihe von Untersuchungen konnte zeigen, dass Vasopressin zur hämodynamischen Stabilisierung bei Patienten mit septischem Schock eingesetzt werden kann, insbesondere auch dann noch, wenn mit Noradrenalin keine adäquate Stabilisierung zu erreichen ist. Diese eindrucksvollen Effekte, die in der Regel mit dem synthetischen Vasopressin-Analogon Terlipressin erreicht wurden, sollten jedoch nicht zu einem unkritischen Einsatz dieser Substanz führen. Im Rahmen einer längerfristigen Anwendung von Vasopressin bleibt eine Reihe von
559 55.4 · Supportive Therapie der Sepsis
Fragen offen. Eine wichtige Frage ist, ob Vasopressin zur Therapie einer Hypotonie im Sinne eines Vasopressors oder aber zur Substitution bei einem absoluten oder relativen Vasopressinmangel eingesetzt werden sollte. Dass ein solcher Vasopressinmangel bei septischen Patienten sehr häufig vorliegt, ist gut belegt. Ob eine Substitutionstherapie sinnvoll ist und ob es einen qualitativen Unterschied zwischen einer niedrig dosierten Substitutionstherapie und einer höher dosierten Vasopressortherapie gibt, bleibt zu klären, solange entsprechende Untersuchungen fehlen. Obwohl mittlerweile viele Daten zeigen, dass Vasopressin bei schwersten Schockzuständen eine Stabilisierung der globalen Hämodynamik ermöglicht, ist völlig unklar, ob dies mit einer Verschlechterung der Perfusionsverhältnisse auf Ebene der Mikrozirkulation erkauft wird, wofür es sowohl tierexperimentelle als auch klinische Hinweise gibt. Aufgrund der Unkenntnis der Effekte von Vasopressin auf die Mikrozirkulation, also letztendlich der Effekte, die entscheidend das Auftreten eines Organversagens und damit das Überleben des Patienten beeinflussen können, sollte Vasopressin im Rahmen der hämodynamischen Therapie bei Sepsis als längerfristige Medikation nur mit äußerster Zurückhaltung eingesetzt werden. ! Obwohl gezeigt werden konnte, dass bei septischen Patienten von einem Vasopressinmangel ausgegangen werden muss, und obwohl Vasopressin eindrucksvolle, die Hämodynamik stabilisierende Effekte haben kann, sollte diese Substanz nur mit äußerster Zurückhaltung eingesetzt werden. Potenziell ungünstige Effekte von Vasopressin auf die regionale Perfusion sind noch nicht ausreichend untersucht. Wenn überhaupt, sollte Vasopressin deshalb nur als eine ultima-ratio bei anderweitig nicht zu stabilisierenden Patienten in Betracht gezogen werden. Tipps
Therapie der Sepsis mit vasoaktiven Substanzen – so machen wir es: Voraussetzung für eine Therapie mit Katecholaminen ist immer ein adäquater Volumenstatus. Die wesentlichen Katecholamine in der Therapie der Sepsis sind Dobutamin und Noradrenalin. Indikationen für Dobutamin zur Steigerung des Herzzeitvolumens sind eine ScvO2 < 70 %, eine eingeschränkte Diurese und ein erhöhter Laktatwert. Noradrenalin wird verabreicht, um einen arteriellen Mitteldruck von > 70 mmHg zu erreichen. Bei einigen Patienten wird gegebenenfalls 6
auch ein höherer Mitteldruck angestrebt, insbesondere wenn dieser mit Zeichen einer verbesserten Organfunktion einhergeht (Verbesserung der Diurese). Dopamin, Dopexamin oder Vasopressin werden nicht eingesetzt. Wenn mit Dobutamin eine Steigerung des Herzzeitvolumens nicht möglich ist und das myokardiale Versagen im Vordergrund steht, wird ein Therapieversuch mit einem Phosphodiesterasehemmer durchgeführt.
55.4.6 Weitere therapeutische Ansätze Weitere therapeutische Ansätze mit dem Ziel, die Hämodynamik insbesondere auf Ebene der Mikrozirkulation zu stabilisieren, sind der Einsatz von hypertonen Lösungen (HTS), von Prostazyklin, von N-Acetylcystein (NAC), von L-N-Methylarginin (LMNA) oder von Methylenblau. All diesen Ansätzen ist gemein, dass eine klinische Wirksamkeit bis heute nicht hinreichend bewiesen ist und ihr Einsatz somit nicht gerechtfertigt ist. ! Sämtliche therapeutische Ansätze, die eine Verbesserung der Mikrozirkulation (HTS, Prostazyklin, NAC, LMNA, Methylenblau) zum Ziel haben, müssen als nicht gesichert bezeichnet werden.
55.4.7 Ernährung des septischen Patienten Enterale Ernährung ist ein wichtiger Stimulus für mukosales Wachstum. Eine Reihe von prospektiv randomisierten Studien konnte demonstrieren, dass ein früher enteraler Kostaufbau (innerhalb der ersten 12 h) sowohl die Mortalität als auch den Aufenthalt auf der Intensivstation im Vergleich zu einem verzögerten enteralen Kostaufbau signifikant verringern kann. Es sollte daher frühzeitig, d. h. innerhalb der ersten 12 h, mit dem enteralen Kostaufbau begonnen werden. Ob der Einsatz so genannter immunmodulierender Sondenlösungen, die Arginin, Glutamin und/oder Fischöl enthalten, tatsächlich einen günstigen Effekt auf die Inzidenz und den Verlauf von Infektionen hat, ist nicht eindeutig geklärt. Insbesondere der Einsatz von Arginin scheint sogar mit einer höheren Mortalität bei Sepsis assoziiert zu sein. Obwohl immunmodulierende Sondenlösungen möglicherweise in der Prävention einer Infektion einen Stellenwert haben, können Sie in der Therapie der Sepsis nicht empfohlen werden.
55
560
Kapitel 55 · Sepsis
55.4.8 Substitution von Kor tikosteroiden ! Die hoch dosierte Gabe von Kortikosteroiden zur Therapie der Sepsis muss eindeutig abgelehnt werden. Untersuchungen haben keinen bzw. sogar einen ungünstigen Effekt einer solchen Therapie gezeigt. Ganz anders sieht die Situation jedoch bei einer so genannten Substitutionstherapie mit Steroiden aus. Obwohl bei kritisch Kranken primär im Rahmen einer Stressreaktion die Serum-Kortisolspiegel erhöht sind, kommt es im weiteren Verlauf häufig zu einer Störung der Hypothalamus-HypophysenNebennierenrinden-Achse. Dies führt dazu, dass eine situationsgerechte adäquate Kortisol-Ausschüttung in späteren Phasen des septischen Schocks oft nicht mehr möglich ist. Es konnte gezeigt werden, dass die Substitution von Hydrokortison bei Patienten im septischen Schock zu einer kürzeren Dauer einer Vasopressorentherapie, einer kürzeren Behandlungsdauer und einer geringeren Inzidenz von Organversagen führt. In einer Empfehlung zur Therapie der Sepsis vom »European Sepsis Forum« aus dem Jahr 2001 wird der Einsatz von niedrig dosiertem Hydrokortison empfohlen. Tipps
55
Steroidale Substitutionstherapie – So machen wir es: Alle Patienten mit vasopressorpflichtigem septischem Schock erhalten täglich 300 mg Hydrokortison als Dauerinfusion. Wenn diese Maßnahme mit einer hämodynamischen Verbesserung einhergeht (Reduzierung des Noradrenalinbedarfs), wird die Therapie so lange fortgeführt, bis kein Vasopressorbedarf mehr besteht. Falls die Hydrokortisongabe nicht mit einer hämodynamischen Verbesserung einhergeht, wird diese schon früher beendet. Grundsätzlich wird die Hydrokortisontherapie durch tägliche Halbierung der Dosierung ausgeschlichen. Eine Funktionsdiagnostik der Nebennierenrinde wird nicht durchgeführt.
55.4.9 Hämofiltration zur Elimination
von Mediatoren der Sepsis In der initialen Phase der Sepsis lassen sich erhöhte Serumspiegel proinflammatorischer Mediatoren nachweisen und es konnte in vielen Studien gezeigt werden, dass ein hoher Plasmaspiegel von TNF-D und Interleukin-1E mit einer geringeren Überlebenswahrscheinlichkeit korreliert.
Daher wurde eine unspezifische Entfernung verschiedener proinflammatorischer Verbindungen durch extrakorporale Eliminationstechniken wie die kontinuierliche Hämofiltration oder Hämodiafiltration, durch Hämodialyse, Plasmaaustausch oder Blutaustausch als unterstützende Therapie beim schweren septischen Schock vorgeschlagen. Allerdings legen bereits theoretische Überlegungen nahe, dass die Effektivität einer Hämodiafiltration nicht ausreichend ist, um nennenswerte Mengen der betreffenden Mediatoren zu eliminieren. Darüber hinaus stehen gute randomisierte Studien mit einer Kontrollgruppe aus, die die Verbesserung der Prognose von septischen Patienten durch verschiedene Verfahren der extrakorporalen Mediatorelimination belegen, sodass diese Verfahren derzeit als Routinemaßnahme nicht empfohlen werden können.
55.5
Adjuvante Therapie
55.5.1 Anti-Tumornekrosefaktor-Strategien Tumornekrosefaktor D (TNFD) spielt eine entscheidende Rolle in der Mediatorkaskade der Sepsis. Hohe TNFD-Spiegel sind mit einer schlechten Prognose assoziiert. Tierexperimentell konnte gezeigt werden, dass Antikörper gegen TNFD die Letalität in entsprechenden Sepsismodellen dramatisch senken. Diese Erkenntnisse haben dazu geführt, dass Anti-TNFD-Strategien die am meisten in großen klinischen Untersuchungen getesteten Strategien sind. Die meisten dieser Studien haben jedoch nicht zeigen können, dass die Anwendung eines Antikörpers gegen TNFD oder von löslichen TNFD-Rezeptoren mit einem Überlebensvorteil septischer Patienten assoziiert ist.
55.5.2 Antithrombin III,
aktivier tes Protein C, Tissue Factor Pathway Inhibitor Sepsis-assoziierte Zytokine führen zu einer pathologisch gesteigerten Aktivierung des plasmatischen Gerinnungsund Fibrinolysesystems. Diese Aktivitätssteigerung führt zu einem Verbrauch an Gerinnungsfaktoren und zu einer disseminierten Fibrinablagerung, die eine der Ursachen des sepsis-assoziierten Multiorganversagens ist. Physiologische Gerinnungsinhibitoren wie Antithrombin III (AT III), aktiviertes Protein C und Tissue factor pathway inhibitor (TFPI) inaktivieren prokoagulatorische Faktoren sowie die Thrombinbildung und können somit die Folgen der oben genannten Aktivierung des Gerinnungssystems begrenzen.
561 55.6 · Zusammenfassung
Alle drei Strategien zeigten in kleineren Studien potenziell günstige Effekte. In großen, multizentrischen Untersuchungen konnte jedoch nur für aktiviertes Protein C eine Effektivität belegt werden.
Klinischer Stellenwert von aktiviertem Protein C Die kürzlich veröffentlichte Studie zur Effektivität von rekombinantem, humanem aktiviertem Protein C (Drotecogin-D) zeigte an 1690 Patienten einen klaren Effekt auf die Überlebensrate (PROWESS-Studie). Mit aktivierten Protein C behandelte Patienten hatten im Vergleich zu einer Plazebo-Gruppe eine 6,1 % niedrigere Letalität. Die Tatsache, dass die Inzidenz schwerer Blutungen in der Gruppe der mit aktivierten Protein C behandelten Patienten mit 3,5 % höher als in der Plazebo-Gruppe mit 2,0 % war, zeigt aber auch, dass diese Substanz sehr kritisch eingesetzt werden muss. Drotrecogin-D ist sowohl in den USA als auch in Europa zugelassen. Daher soll auf Überlegungen zum klinischen Einsatz näher eingegangen werden. In der primären Untersuchung wurden Patienten eingeschlossen, die die Kriterien einer schweren Sepsis bzw. eines septischen Schocks erfüllten. Entgegen der eigentlichen Definition mussten in dieser Untersuchung jedoch drei der so genannten Systemic-inflammatory-responsesyndrome(SIRS)-Kriterien erfüllt sein. Ferner durfte der Beginn des zur Diagnose führenden Organversagens nicht älter als 48 h sein. Eine Reihe von Nebenerkrankungen sowie alle Bedingungen, die mit einem erhöhten Blutungsrisiko einhergehen, waren Ausschlusskriterien. Diese relativ engen Kriterien im Rahmen der PROWESS-Studie haben dazu geführt, dass relativ wenige operative Patienten eingeschlossen wurden (Patienten mit Pneumonie > 50 %). Das Ergebnis der PROWESS-Studie kann somit nicht repräsentativ für alle Patienten mit Sepsis sein. Eine post-hoc Analyse der Studiendaten hat gezeigt, dass eine Effektivität von Drotecogin-D bei Patienten mit nur einem Organversagen zweifelhaft ist, was dazu geführt hat, dass die Zulassung dieser Substanz in Europa zurzeit nur für Patienten mit mindestens 2 Organversagen vorliegt. Um zu vermeiden, dass Drotecogin-D bei einzelnen Patienten möglicherweise mehr Schaden als Benefit bewirkt, sollte diese neue Substanz deshalb sehr kritisch und unter strenger Beachtung der Kontraindikationen eingesetzt werden. ! Mit aktivierten Protein C steht erstmals eine gesicherte adjuvante Therapiestrategie zur Ver fügung. Aufgrund der potenziellen Nebenwirkungen (erhöhte Blutungsneigung) sollte diese Substanz unter strenger Beachtung der Kontraindikationen angewandt werden.
55.5.3 Weitere immunmodulatorische
Therapieansätze Neben den bereits genannten gegen TNFD gerichteten Strategien und der Therapie mit aktivierten Protein C gibt es eine Reihe weiterer immunmodulatorischer Ansätze. Diese Ansätze wie z. B. Antikörper gegen Endotoxin, Antikörper gegen verschiedenen Interleukine, Plättchen-aktivierenden Faktor oder Granulozyten-Kolonie-stimulierenden Faktor (G-CSF) werden teilweise gerade in großen Phase-III-Studien überprüft und sind somit noch weit davon entfernt, als Standard in der Sepsistherapie diskutiert zu werden.
55.5.4 Immunglobuline Immunglobuline sind sowohl in der Prophylaxe als auch in der Therapie der Sepsis eingesetzt worden. Die Datenlage zur Effektivität einer Prophylaxe bzw. Therapie mit Immunglobulinen ist nach wie vor widersprüchlich. Für den Einsatz in der Sepsistherapie gibt es zurzeit keine auf klaren Studienergebnissen basierende Grundlage. Aufgrund der hohen Kosten sollte daher von einer Therapie mit Immunglobulinen abgesehen werden.
55.6
Zusammenfassung
Die wichtigsten Maßnahmen im Rahmen der Therapie der Sepsis und des Multiorganversagen können wie folgt zusammengefasst werden: Tipps
Therapie der Sepsis und des Multiorganversagen – so machen wir es: 1. Kausale Therapie 5 Fokussuche 5 Chirurgische Herdsanierung 5 Entfernung von infiziertem Fremdmaterial 5 Antibiotikatherapie 2. Sicherstellung eines adäquaten Volumenstatus 5 Optimierung der myokardialen Vorlast 5 Art des Volumenersatzmittels sekundär 5 Marker der peripheren Per fusion und Organfunktion (Diurese, Laktat) beachten 3. Sicherstellung eines adäquaten Sauerstoffangebotes und Korrektur einer eingeschränkten myokardialen Pumpfunktion 5 Das Konzept der Maximierung des DO2 mittels hoch dosierter Katecholamine ist abzulehnen. 6
55
562
55
Kapitel 55 · Sepsis
5 Das optimale DO2 muss titrierend, für jeden Patienten individuell ermittelt werden 5 Zur Entscheidung, ob ein weiterer DO2-Anstieg sinnvoll ist, müssen die Marker der peripheren Perfusion und Organfunktion (z. B. Diurese, Laktat) beachtet werden. 5 Zur Therapie der eingeschränkten Pumpfunktion ist Dobutamin Katecholamin der Wahl. 4. Sicherstellung eines adäquaten Perfusionsdrucks 5 Noradrenalin ist Katecholamin der Wahl. 5 Auch der optimale Perfusionsdruck muss unter Beachtung von Parametern der peripheren Perfusion und Organfunktion (z. B. Diurese, Laktat) individuell ermittelt werden. 5 Auf keinen Fall darf ein nicht adäquater Per fusionsdruck toleriert werden, um potentielle Nebenwirkungen von Vasopressoren auf die regionale Per fusion zu vermeiden. 5 Ggf. ist eine Substitutionstherapie mit Hydrokortison (200–300 mg/Tag) gerechtfertigt. 5. Adjuvante Therapie 5 Lediglich die Therapie mit aktiviertem Protein C (Drotecogin-D) kann zurzeit als gesichert bezeichnet werden. Indikationen und Kontraindikationen sollten hierbei streng beachtet werden.
Literatur Annane D, Sebille V, Charpentier C et al. (2002) Effect of treatment with low doses of hydrocor tisone and fludrocor tisone on mor tality in patients with septic shock. JAMA 288: 862–871 Bernard GR, Vincent JL, Laterre PF et al. (2001) Efficacy and safety of recombinant human activated protein C for severe sepsis. N Engl J Med 344: 699–709 Bone RC, Balk RA, Cerra FB et al. (1992) Definitions for sepsis and organ failure and guidelines for the use of innovative therapies in sepsis. The ACCP/SCCM Consensus Conference Committee. American College of Chest Physicians/Society of Critical Care Medicine. Chest 101: 1644–1655 Bone RC, Fisher CJ, Jr., Clemmer TP et al. (1987) A controlled clinical trial of high-dose methylprednisolone in the treatment of severe sepsis and septic shock. N Engl J Med 317: 653–658 Hebert PC, Wells G, Blajchman MA et al. (1999) A multicenter, randomized, controlled clinical trial of transfusion requirements in critical care. Transfusion Requirements in Critical Care Investigators, Canadian Critical Care Trials Group. N Engl J Med 340: 409–417 Heyland DK, Cook DJ, Guyatt GH (1993) Enteral nutrition in the critically ill patient: a critical review of the evidence. Intensive Care Med 19: 435–442
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56 Nierenfunktionsstörung und Nierenersatztherapie Mathias Haller, Ines Kaufmann, Gustav Schelling 56.1 Definition des akuten Nierenversagens –564 56.2 Pathophysiologie des akuten Nierenversagens –565 56.2.1 Veränderungen im Tubulusbereich und an den Kapillaren –565
56.3 Klinische Beurteilung –565 56.4 Therapie –567 56.5 Nierenersatzverfahren –567 56.5.1 Hämofiltration –568 56.5.2 Hämodialyse –569 56.5.3 Kontinuierliche Hämofiltration versus intermittierende Hämodialyse –569
Literatur –570
564
Kapitel 56 · Nierenfunktionsstörung und Nierenersatztherapie
)) In der operativen Intensivmedizin treten Nierenfunktionsstörungen meist im Sinne eines akuten Nierenversagens auf. Ein Teil der Patienten leidet jedoch an einer chronischen Nierenfunktionsstörung bis hin zum chronischen Dialyse-Patienten mit terminaler Niereninsuffizienz. Bei Patienten mit kompensierter chronischer Niereninsuffizienz kann sich die Nierenfunktion im Rahmen eines akuten Nierenversagens weiter verschlechtern. Je nach Population (höhere Inzidenz z. B. bei Patienten nach Herzoperationen oder nach Organtransplantation) erleiden 4–23 % der Intensivpatienten ein akutes Nierenversagen. Auch heute noch sterben über die Hälfte der Intensivpatienten mit akutem Nierenversagen, wobei Patienten mit isoliertem akutem Nierenversagen eine bessere Prognose haben als solche mit akutem Nierenversagen im Rahmen eines Multiorganversagens. Die schlechte Prognose ist meist durch die Grundkrankheit (Sepsis, Trauma etc.) und nicht durch das Nierenversagen verursacht. Überlebt der Patient, erholt sich die Nierenfunktion meist ganz oder teilweise.
: Beispiel
56
Eine 32-jährige Erstgravida hat nach der Geburt eines gesunden Kindes weiter »Wehen«. Im Verlauf fallen zunehmende systemische Entzündungszeichen wie Fieber, Leukozytose und Erhöhung des C-reaktiven Proteins auf. Bei der Laparotomie zeigt sich eine diffuse Peritonitis in Folge einer perforierten Appendizitis. Die Patientin hat zum Zeitpunkt der Operation bereits eine erhöhte Serumkreatininkonzentration (1,4 mg/dl), eine rückläufige Diurese (35 ml/h), einen eingeschränkten pulmonalen Gasaustausch und eine Kreislaufinsuffizienz im Sinne eines septischen Schocks. Nach der Operation wird sie beatmet auf die Intensivstation verlegt. In den nächsten Stunden geht die Harnausscheidung trotz ausreichender Volumengabe weiter zurück und die Serumkaliumkonzentration steigt an (5,6 mmol/l). Über einen in die V. femoralis gelegten Katheter wird die Patientin kontinuierlich venovenös hämofiltriert. Zur Antikoagulation wird Heparin vor dem Hämofilter in den extrakorporalen Kreislauf gegeben. Die Patientin muss wegen eines akuten Lungenversagens weiter beatmet werden und zur Aufrechterhaltung eines adäquaten Perfusionsdrucks müssen Katecholamine gegeben werden. In den folgenden Tagen werden geplante Relaparotomien durchgeführt und die Patientin wird antibiotisch behandelt, wobei die Dosis der Antibiotika an die eingeschränk-
te Nierenfunktion und die Leistung der Hämofiltration angepasst wird. Innerhalb von 12 Tagen bessern sich die Infektionszeichen, die Peritonitis heilt aus und die Patientin muss nicht mehr maschinell beatmet werden. Die Harnausscheidung kommt wieder in Gang, zunächst mit hohen Harnzeitvolumina (300 ml/h). Die Patientin scheidet ausreichend Kalium und Harnstoff aus, sodass die Hämofiltration beendet werden kann. Die Kreatinin-Clearance (als Maß für die glomeruläre Filtrationsrate) beträgt zunächst 27 ml/min und steigt während der nächsten Tage weiter an bis zur vollständigen Normalisierung. Nach 26 Tagen kann die Patientin von der Intensivstation verlegt werden.
56.1
Definition des akuten Nierenversagens
Zur Definition des akuten Nierenversagens (im Gegensatz zu chronischen Nierenfunktionsstörungen) gehören: der plötzliche Beginn (Stunden bis Tage), die Verminderung der glomerulären Filtrationsrate als Maß für die Ausscheidungsfunktion der Niere und die Retention harnpflichtiger Substanzen wie Kreatinin und Harnstoff. Der Begriff »akutes Nierenversagen« beschreibt kein einheitliches Krankheitsbild. Im weiteren Sinne werden darunter Nierenfunktionsstörungen unterschiedlicher Ursache zusammengefasst. Ein »postrenales« Nierenversagen ist Folge einer Harnwegsobstruktion. Ein »prärenales« Nierenversagen beruht auf einer extrarenal verursachten Minderdurchblutung der Nieren, z. B. bei Hypovolämie oder Herzinsuffizienz. Pathologische Veränderung in der Niere selbst führen zum »renalen« Nierenversagen. Wird die Ursache eines prä- oder postrenalen Nierenversagens längere Zeit nicht behoben, kann in Folge einer Schädigung des Nierenparenchyms ein renales Nierenversagen entstehen. Mögliche Ursachen eines akuten Nierenversagens sind in der Übersicht zusammengestellt. Ursachen des akuten Nierenversagens Prärenal 5 Hypovolämie (z. B. Blutung, Erbrechen, Verbrennung) 5 Herzinsuffizienz (z. B. Myokardinfarkt, Myokarditis, Lungenembolie) 5 Vasodilatation (z. B. antihypertensive Medikamente, Anaphylaxie) 6
565 56.3 · Klinische Beurteilung
Renal 5 Veränderungen der großen Gefäße (z. B. bilaterale Thrombose oder Embolie) 5 Veränderungen der Mikrozirkulation (z. B. Glomerulonephritiden, Vaskulitiden, hämolytisch-urämisches Syndrom) 5 Veränderungen der Tubuli (z. B. akute Tubulusnekrose durch Ischämie oder Nephrotoxine wie Medikamente, Gifte, Myoglobin, Hämoglobin) 5 Veränderungen des Interstitiums (z. B. allergische interstitielle Nephritis, Infektionen) 5 Postrenale Harnwegsinfektion ! Entsprechend der ausgeschiedenen Harnmenge wird ein nicht-oligurisches (Harnausscheidung > 400 ml/d) von einem oligurischen (Harnausscheidung < 400 ml/d) bzw. von einem anurischen (Harnausscheidung < 50 ml/d) Nierenversagen unterschieden. Da unter physiologischen Bedingungen nur ca. 1 % des filtrierten Primärharns auch letztlich ausgeschieden wird (7 Kap. 11), lässt die Urinmenge pro Zeiteinheit (= Diurese) nur bedingt Rückschlüsse auf die glomeruläre Filtration (und damit die exkretorische Nierenfunktion) zu.
56.2
Pathophysiologie des akuten Nierenversagens
Wenn prärenale und postrenale Ursachen ausgeschlossen sind, ist in der operativen Medizin ein akutes Nierenversagen im Sinne der akuten Tubulusnekrose wahrscheinlich. Meist ist dies verursacht entweder durch eine systemische Entzündungsreaktion, z. B. im Rahmen einer schweren Infektion (Sepsis), eines Polytraumas, einer Pankreatitis, durch nephrotoxische Substanzen oder durch Hypovolämie (z. B. hämorrhagischer Schock). Pathophysiologisch lassen sich Veränderungen sowohl an den Nierentubuli als auch an den Blutkapillaren der Nieren feststellen.
56.2.1 Veränderungen im Tubulusbereich
und an den Kapillaren An den Tubuli kommt es zur Obstruktion und zum »Backleak« (Rückdiffusion von Filtrat aus dem Tubuluslumen ins Interstitium): Sauerstoff- und Substratdefizit führt in den Tubuluszellen zu einem Abfall der Konzentration energiereicher Phosphate (Adenosintriphosphat, ATP). Daraus folgt eine
Störung energieabhängiger zellulärer Prozesse wie z. B. der Na/K-ATPase. Durch Störung des intrazellulären Milieus und konsekutiv der Zellintegrität kann es letztlich zum Zelltod durch Nekrose oder Apoptose kommen. Bei subletaler Zellschädigung kommt es zum Verlust der Zellpolarität und zu Störungen der Zellhaftung auf der Matrix. Tubuluszellen lösen sich von der Basalmembran, verklumpen im Tubuluslumen und verstopfen dieses. Die Unterbrechung der Epithelschicht durch abgestorbene und abgeschilferte Tubuluszellen führt zu einem teilweisen Verlust der Barrierefunktion und damit zur Rückdiffusion von Filtrat ins Interstitium. An den Kapillaren der Nieren kommt es zu Vasokonstriktion und Obstruktion. Es überwiegen vasokonstriktorisch wirkender Mediatoren (z. B. Endothelin, Thromboxan und Angiotensin II) über vasodilatatorische (z. B. Prostazyklin oder Stickstoffmonoxid). Zelluläre Blutbestandteile verstopfen die Kapillaren durch Aggregation (Erythro- und Thrombozyten) oder vermehrte Adhäsion am Endothel (Leukozyten). In . Abb. 56.1 sind pathophysiologische Aspekte des akuten Nierenversagens auf verschiedenen strukturellen Ebenen des Körpers schematisch und vereinfacht dargestellt. Das akute Nierenversagen verläuft oft, aber durchaus nicht immer, in 4 Phasen (vorausgesetzt, die Ursache wird behoben): Schädigungsphase (Stunden bis Tage), Oligo-/ Anurie (1–2 Wochen), Polyurie (1–3 Wochen) und Rekonvaleszenz (Monate). Besondere Beachtung bei der Behandlung von Patienten mit akutem Nierenversagen verdienen die Komplikationen, die sich an anderen Organsystemen manifestieren, z. B. Elektrolytstörungen mit Herzrhythmusstörungen, neurologische Symptome, Hypervolämie mit Herzinsuffizienz, gastrointestinale Symptome, Abwehrschwäche, Blutungsneigung etc. und die veränderte Pharmakokinetik und -dynamik von Medikamenten.
56.3
Klinische Beur teilung
Die glomeruläre Filtrationsrate als wichtigster Parameter der exkretorischen Nierenfunktion kann im klinischen Alltag am besten mit Hilfe der Kreatinin-Clearance beurteilt werden. Entsprechend der Clearance-Formel (C = [U/S] u UZV) berechnet man die Kreatinin-Clearance, indem man Urin über einen definierten Zeitraum sammelt. Dann bestimmt man die Kreatininkonzentration im Urin und im Serum. Die Kreatinin-Clearance entspricht dann dem Quotienten aus Urin(U)- und Serum(S)-Kreatininkonzentration, multipliziert mit der Urinmenge pro Zeiteinheit (UZV).
56
566
Kapitel 56 · Nierenfunktionsstörung und Nierenersatztherapie
. Abb. 56.1. (a) Tubulusveränderungen auf zellulärer und molekularer Ebene. (b) Vaskuläre Veränderungen auf zellulärer und molekularer Ebene (Aus Rossaint, Werner, Zwißler [2004] Die Anästhesiologie. Springer, Heidelberg)
56
: Beispiel Urin wird über 6h(= 360 min) gesammelt. Die Konzentration von Kreatinin ist im Urin 24 mg/dl und im Serum 1,6 mg/dl. Die Urinmenge beträgt 320 ml in 6 h (= 360 min). Die Kreatinin-Clearance ist dann: CKr = (24 mg/dl u 320 ml/360 min)/1,6 = 13,3 ml/min.
Da Kreatinin überwiegend glomerulär filtriert und kaum im Tubulus-Sammelrohrsystem sezerniert oder rückresorbiert wird, ist es ein guter endogener Marker der glomerulären Filtrationsrate. Aufgrund des hyperbolischen Zusammenhangs von Serumkreatininkonzentration und glomerulärer Filtrationsrate eignet sich die Kreatinin-Clearance als Nierenfunktionsparameter besonders im Bereich
einer mäßiggradigen Nierenfunktionsstörung. Die glomeruläre Filtrationsrate muss auf ca. 50 % der Norm vermindert sein, bevor die Serumkreatininkonzentration über die obere Normgrenze ansteigt. Deshalb ist in diesem Bereich die Serumkreatininkonzentration zur Beurteilung der glomerulären Filtrationsrate schlecht geeignet. Im Bereich pathologisch erhöhter Serumkreatininkonzentrationen (auf dem steilen Teil der Beziehung von Serumkreatininkonzentration und glomerulärer Filtrationsrate) zeigen Änderungen des Serumkreatinins jedoch Veränderungen der glomerulären Filtrationsrate ausreichend verlässlich an. Allerdings gibt es Situationen, in denen auch bei hochgradig eingeschränkter Nierenfunktion die Serumkreatininkonzentration normal ist (z. B. hochgradige Muskelatrophie
567 56.5 · Nierenersatzverfahren
bei langzeitigem Behandlungsverlauf auf der Intensivstation. Da Kreatinin im Muskel gebildet wird, fällt in dieser Situation wenig Kreatinin an). Im Gegensatz zur glomerulären Filtration lassen sich die vielfältigen Funktionen des Tubulus-Sammelrohr-Systems nur mit größerem Aufwand ausreichend differenziert beurteilen. Die Bestimmung der Konzentrierungsfähigkeit der Niere oder der Natriumrückresorption hilft selten weiter, da Intensivpatienten häufig mit Schleifendiuretika behandelt werden und oft größere Mengen Flüssigkeit und Natrium zugeführt bekommen, welche wieder ausgeschieden werden müssen. Dadurch entstehen schon physiologisch bedingt eine erhöhte Natriumausscheidung und eine niedrige, im Bereich der Osmolalität des Blutes liegende, Urinosmolalität.
56.4
Therapie
Die einzige kausale Therapie des akuten Nierenversagens ist die Beseitigung der Ursache, also die Therapie der Grundkrankheit. Bei schweren Infektionen bedeutet dies die chirurgische Herdsanierung, eine adäquate antibiotische Therapie und supportive intensivmedizinische Maßnahmen, auch eine den metabolischen Bedürfnissen entsprechende Ernährungsstrategie. Nephrotoxische Substanzen sollten weitestmöglich vermieden werden. ! Die beste Prophylaxe des akuten Nierenversagens ist eine rasche Therapie der Grundkrankheit, ausreichende Volumensubstitution bei Hypovolämie oder Situationen mit erhöhtem Volumenbedarf (relative Hypovolämie) wie z. B. im septischen Schock und die Vermeidung nephrotoxischer Substanzen.
56.5
Nierenersatzver fahren
pflichtiger Substanzen (als Marker: Harnstoff) – können akut zum Einsatz eines Nierenersatzverfahrens zwingen. Im Falle extremer Hyperkaliämie muss dies unter Umständen innerhalb von Minuten geschehen. Die Indikation zur Nierenersatztherapie sollte in der Regel frühzeitig gestellt werden, bevor potenziell lebensbedrohliche Komplikationen der Niereninsuffizienz entstehen. Indikationen zur Nierenersatztherapie 5 Unzureichende Flüssigkeitsausscheidung (Oligo-/Anurie) 5 Hypervolämie 5 Hyperkaliämie 5 Azotämie (erkennbar an erhöhter Serumharnstoffkonzentration) 5 Metabolische Azidose 5 Hyperthermie 5 Intoxikation
Die Nierenersatzverfahren werden nach Art des Stoffaustauschs, nach der Dauer der Anwendung und nach der Art des Gefäßzugangs unterschieden. Stoffaustausch. Bei der Hämofiltration findet der Stoffaus-
tausch durch Konvektion statt, d. h. durch »Mitnahme« der gelösten Blutbestandteile mit dem Flüssigkeitsstrom entlang eines hydrostatischen Druckgradienten. Die Blutbestandteile, die nicht ausgeschieden werden sollen (z. B. zelluläre Bestandteile und Proteine), werden durch einen Filter zurückgehalten. Bei der Hämodialyse geschieht der Stoffaustausch durch Diffusion durch eine semipermeable Membran. Zeitdauer. Nierenersatzverfahren können entweder konti-
nuierlich oder intermittierend eingesetzt werden. Im Gegensatz zu den sehr beschränkten Möglichkeiten der medikamentösen Therapie des akuten Nierenversagens haben Nierenersatzverfahren einen hohen Standard erreicht. Ein Nierenersatzverfahren muss dann eingesetzt werden, wenn die Restfunktion der Nieren nicht mehr ausreicht, um die Homöostase des Wasser- , Elektrolyt- und Säure-Basen-Haushalts aufrecht zu erhalten und toxische harnpflichtige Substanzen adäquat auszuscheiden. Indikationen zur Nierenersatztherapie sind in der Übersicht zusammengestellt. Die Folgen der eingeschränkten Nierenfunktion – zu geringe Flüssigkeitsausscheidung mit folgender Hypervolämie, gefährlich hohe Serumkaliumkonzentration, metabolische Azidose oder die unzureichende Ausscheidung harn-
Gefäßzugang. Früher arteriovenös (treibende Kraft ist der Blutdruck), heute venovenös (treibende Kraft ist eine Pumpe). Aus dem Gesagten ergeben sich verschiedene Möglichkeiten zur Kombination der Verfahren. In der operativen Intensivmedizin wird am häufigsten die kontinuierliche Hämofiltration eingesetzt, gefolgt von der intermittierenden Hämodialyse, wie sie bei terminal niereninsuffizienten Patienten normalerweise durchgeführt wird. Prinzipiell kann auch über 24 h kontinuierlich dialysiert werden; der Aufwand ist aber größer als bei der reinen Hämofiltration. Die Hämofiltration ist pro Zeiteinheit zwar weniger
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Kapitel 56 · Nierenfunktionsstörung und Nierenersatztherapie
leistungsfähig. Bei kontinuierlicher Durchführung reicht aber die Filtrationsleistung für fast alle Intensivpatienten mit akutem Nierenversagen aus. Rasche hocheffektive Entfernung niedermolekularer Substanzen ist auch beim Intensivpatienten besser durch Dialyse zu erreichen (z. B. Kaliumelimination bei lebensbedrohlicher Hyperkaliämie).
56.5.1 Hämofiltration Durch ein hydrostatisches Druckgefälle wird über einen Filter dem Blut Plasmawasser mit den darin gelösten niedermolekularen Substanzen entzogen. Ursprünglich wurde dabei der Blutdruck als treibende Kraft genutzt (kontinuierliche arteriovenöse Hämofiltration, CAVHF). Besonders bei Patienten mit schlechter Kreislauffunktion konnten mit der arteriovenösen Druckdifferenz keine ausreichend großen Filtratmengen erzielt werden. Die pumpengetriebene Hämofiltration, bei der Blut venös entnommen und auch venös zurückgeführt wird (kontinuierliche venovenöse Hämofiltration, CVVHF), erlaubt hohe Filtratmengen, die durchaus einem Viertel (40–50 l/Tag) oder mehr des normalerweise von den Nieren produzierten Ultrafiltrats (ca. 180 l/Tag) entsprechen können. Da auf die arteriovenöse Blutdruckdifferenz als treibende Kraft hier verzichtet wird, entfällt auch der komplikationsträchtige großlumige arterielle Gefäßzugang.
56
Substitutionslösung Die Bestandteile des Bluts, die filtriert, aber eigentlich vom Körper benötigt werden, müssen über eine Substitutionslösung ersetzt werden. Hierzu gehören neben Wasser auch Elektrolyte wie Natrium, Kalzium, Magnesium, Chlorid und Kalium sowie eine oder mehrere Puffersubstanzen wie Laktat oder Bikarbonat. Aus dem in der Substitutionslösung enthaltenen Laktat wird in der Leber des Patienten Bikarbonat gebildet, welches den eigentlichen endogenen Puffer darstellt. Bei Patienten mit schlechter Leberfunktion (z. B. im schweren septischen Schock oder bei akutem Leberversagen) muss eine mit Bikarbonat gepufferte Substitutionslösung verwendet werden. Natriumbikarbonat muss diesen speziellen Lösungen unmittelbar vor Gebrauch zugesetzt werden, da keine lagerungsstabilen bikarbonathaltigen Substitutionslösungen für die Hämofiltration zur Verfügung stehen. Besondere Sorgfalt muss bei der Flüssigkeitsbilanzierung aufgebracht werden. Bei Flüssigkeitsumsätzen von vielen Litern pro Tag bedeutet ein Bilanzierungsfehler von 10 % je nach Richtung des Bilanzierungsfehlers Exsikkose oder Überwässerung des Patienten mit den jeweils nachteiligen Folgen.
! Moderne Hämofiltrationssysteme erlauben deshalb die automatische Bilanzierung über die Steuerung des Blutflusses, der Filtratmenge und der Substitutionsmenge.
Antikoagulation Da der extrakorporale Kreislauf durch Oberflächenaktivierung der Blutgerinnung thrombogen wirkt, muss eine Antikoagulation durchgeführt werden. Im Normalfall wird diese wegen der guten Steuerbarkeit mit unfraktioniertem Heparin unter Kontrolle der aktivierten partiellen Thromboplastinzeit (aPTT) durchgeführt. Um eine möglichst hohe Wirksamkeit im extrakorporalen System zu erreichen, kann das Heparin in den Kreislauf des Nierenersatzsystems gegeben werden. Bei blutungsgefährdeten Patienten (z. B. postoperativ) sollte die aPTT an der oberen Normgrenze gehalten werden (»Low-dose-Heparinisierung«). In der Regel reichen 250–500 E/h Heparin aus. Wenn keine Blutungsgefahr besteht, kann großzügiger heparinisiert werden, um die Filterlaufzeiten zu erhöhen. Mit jedem durch Thromben verstopften Filter geht auch Patientenblut verloren! Bei Heparinunverträglichkeit (z. B. heparininduzierter Thrombopenie Typ II, HIT II) muss auf alternative Antikoagulanzien ausgewichen werden. Hier können Danaparoid, Epoprostenol (Prostazyklin bzw. Prostaglandin I2, hemmt die Thrombozytenfunktion) oder Lepirudin (rekombinantes Hirudin) verwendet werden. Danaparoid ist ein Heparinoid, das über die Hemmung des Faktors Xa wirkt. Bei Niereninsuffizienz muss die Dosis reduziert werden. Die Wirkung kann über die Bestimmung des Anti-Faktor-XaSpiegels überwacht werden. Es gibt eine Kreuzreaktivität der Antikörper bei HIT Typ II zwischen Heparin und Danaparoid. Hirudin wird in unveränderter Form renal eliminiert und muss deshalb bei Niereninsuffizienz und damit auch bei Anwendung in der Nierenersatztherapie entsprechend niedrig dosiert werden. Der Bedarf ist von Patient zu Patient unterschiedlich und hängt unter anderem von der Ausscheidung über die jeweilige Filtermembran ab. Eine weitere Alternative, besonders bei blutungsgefährdeten Patienten, ist die »lokale« Antikoagulation nur des extrakorporalen Kreislaufs mit Zitrat. Zitrat bindet das für die Blutgerinnung erforderliche Kalzium. Die Zitratwirkung wird durch Kalziumionen im Blut rasch wieder aufgehoben. Kalzium muss entsprechend diesem Verbrauch an Kalziumionen beim Patienten substituiert werden. Die Antikoagulation mit Prostazyklin, Hirudin oder Zitrat ist keine Routinemaßnahme; standardisierte Dosierungsprotokolle fehlen und die Empfehlungen zur Art der Applikation, zur Überwachung der Wirkung, zur Begleitmedikation
569 56.5 · Nierenersatzverfahren
und zur Höhe der Dosis sind von Arbeitsgruppe zu Arbeitsgruppe verschieden. Im Zweifelsfall hilft die Kontaktaufnahme mit Kollegen eines Zentrums mit großer Erfahrung in der kontinuierlichen Nierenersatztherapie. Bei Patienten mit starker Blutungsneigung kann auch eine Behandlung ohne Antikoagulation versucht werden.
um einen thrombotischen Verschluss des extrakorporalen Kreislaufs zu verhindern.
Filtereigenschaften
In der operativen Intensivmedizin hat sich die kontinuierliche Hämofiltration vor allem bei Patienten durchgesetzt, die aufgrund ihrer schweren Erkrankung durch plötzliche Veränderungen im Volumen- oder Elektrolythaushalt gefährdet sind. In diese Gruppe gehören z. B. Patienten mit septischem oder kardiogenem Schock, mit akutem Lungenversagen (ARDS) oder mit Multiorganversagen. Der Vorteil des langsameren und damit schonenderen und gleichmäßigeren Stoffaustauschs kommt dabei weniger durch die Art des Stoffaustauschs (Filtration oder Dialyse) als vielmehr durch die kontinuierliche Anwendung über 24 h/Tag zustande. Die Hämofiltration ist einfach in der Anwendung und hat meist eine ausreichende Effektivität. Kreislaufstabile Patienten mit hochgradig eingeschränkter Nierenfunktion, die vor allem durch die Retention harnpflichtiger Substanzen gefährdet sind, können intermittierend dialysiert werden. In diese Gruppe gehören Patienten mit in Rückbildung begriffenem akutem Nierenversagen, deren Grundleiden gebessert ist. Die intermittierende Hämodialyse ermöglicht die Entfernung harnpflichtiger Substanzen in kurzer Zeit (wenige Stunden). Deshalb profitieren vor allem Patienten während der Phase der zunehmenden Mobilisierung nach überstandener schwerer Krankheit von diesem Verfahren. In . Tab. 56.1 sind die
Die zur Hämofiltration verwendeten synthetischen Membranen zeichnen sich durch eine Porengröße aus, die Moleküle bis zu einem Molekulargewicht von 20000–50000 Dalton passieren lässt. Damit sind die für die Hämofiltration verwendeten Membranen für größere Moleküle durchlässiger als die für die Hämodialyse verwendeten Membranen. Letztere halten Moleküle ab etwa 5000 Dalton zurück. In der Praxis führt dies zu unterschiedlichen Siebkoeffizienten (Maß für die Durchlässigkeit der Membran für eine Substanz) von Hämofiltration und Hämodialyse, vor allem für Substanzen mit Molekulargewichten zwischen ca. 1000 und 50000 Dalton. : Beispiel Vancomycin, eines der größten Moleküle unter den Medikamenten (Molekulargewicht ca. 1500 Dalton), muss bei anurischen hämofiltrierten Patienten häufiger gegeben werden (unter Umständen täglich) als bei anurischen Patienten, die hämodialysiert werden (in der Regel einmal pro Woche).
Bei Patienten, die einen sehr hohen Anfall niedermolekularer ausscheidungspflichtiger Substanzen haben (z. B. Harnstoff oder Kalium), kann die Hämofiltration mit gleichzeitiger Dialyse durchgeführt werden: kontinuierliche venovenöse Hämodiafiltration (CVVHDF). Hier wird Dialysat im Gegenstrom auf der Filtratseite des Filters vorbeigeleitet.
56.5.2 Hämodialyse Bei der Hämodialyse findet der Stoffaustausch durch Diffusion über eine semipermeable Membran statt. Auf der einen Seite der Membran fließt das Patientenblut, auf der anderen die Dialysier- oder Waschlösung. Die Membran lässt Substanzen bis zu einem Molekulargewicht von ca. 5000 Dalton durch. Diese Art der Nierenersatztherapie wird auf Grund ihrer hohen Ausscheidungskapazität im niedermolekularen Bereich bei chronisch nierenkranken Patienten in regelmäßigen Abständen durchgeführt. Auch hier muss der Patient während der Sitzung mit gerinnungshemmenden Medikamenten (Heparin) behandelt werden,
56.5.3 Kontinuierliche Hämofiltration
versus intermittierende Hämodialyse
. Tabelle 56.1. Vergleich von kontinuierlicher Hämofiltration und intermittierender Hämodialyse beim Intensivpatienten Kontinuierliche Hämofiltration
Intermittierende Hämodialyse
Durch Intensivpersonal
Durch Nephrologiepersonal
Gleichmäßiger Stoffaustausch über 24 h
Hoher Stoffaustausch in kurzer Zeit
Bei Kreislaufinstabilität
Bei Kreislaufstabilität
Bei Hirnödem
Bei bedrohlicher Hyperkaliämie
Patient schlecht mobilisierbar
Patient gut mobilisierbar im behandlungsfreien Intervall
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570
56
Kapitel 56 · Nierenfunktionsstörung und Nierenersatztherapie
Unterschiede zwischen kontinuierlicher Hämofiltration und intermittierender Hämodialyse bei Intensivpatienten dargestellt. Auf vielen Intensivstationen wird die kontinuierliche Hämofiltration durch das Personal der Intensivstation durchgeführt. Intermittierende Hämodialysen erfolgen dagegen meist unter fachnephrologischer Leitung, die nicht in jedem Krankenhaus verfügbar ist. Für beide Verfahren gibt es darüber hinaus spezielle Indikationen. So kann eine lebensbedrohliche Hyperkaliämie nur durch Hämodialyse rasch therapiert werden; die Kaliumausscheidung via Hämofiltration ist bei lebensbedrohlicher Hyperkaliämie zu langsam. Bei Patienten mit Hirnödem können die akuten Schwankungen des intravasalen Volumens und der Stoffkonzentrationen im Serum bei intermittierender Hämodialyse zu einer Zunahme des Hirnödems führen. Hier ist die kontinuierliche Hämofiltration schonender und sicherer. Bisher nicht eindeutig geklärt ist die Frage der Dosis der Nierenersatztherapie. Mit »Dosis« ist hier die Menge an geklärter Substanz (z. B. Harnstoff) bzw. die Filtratmenge pro Zeiteinheit gemeint. Filtratmengen von ca. 20–50 l/ Tag, entsprechend einer Filtration von 14–35 ml/min, reichen meist aus, die Konzentration harnpflichtiger Substanzen im Serum in tolerablen Grenzen zu halten und einen ausgeglichenen Säure-Basen- und Elektrolythaushalt zu gewährleisten, auch wenn die erreichte Filtration nur ca. einem Fünftel bis einem Drittel der normalen glomerulären Filtrationsrate (ca. 120 ml/min) entspricht. Neue Untersuchungen deuten darauf hin, dass größere Filtratmengen positive Einflüsse auf das Outcome dieser schwerkranken Intensivpatienten haben könnten.
Literatur Gabriel A, Müller E, Tarnow J (2001) Therapie des akuten Nierenversagens – Konzepte und Kontroversen. Teil I – Pharmakologische Behandlung und experimentelle Therapieansätze. Anästhesiol Intensivmed Notfallmed Schmerzther 36: 134–142 Gabriel A, Müller E, Tarnow J (2001) Therapie des akuten Nierenversagens – Konzepte und Kontroversen. Teil II – Extrakorporale Nierenersatz ver fahren und Peritonealdialyse. Anästhesiol Intensivmed Notfallmed Schmerzther 36: 195–204 Haller M, Schelling G (200) Akutes Nierenversagen. Pathophysiologie – klinische Bedeutung – Therapie. Anaesthesist 49: 349–352 Hörl W (2001) Renale Erkrankungen – Akutes Nierenversagen. In: Intensivmedizin. Hrsg. Van Aken H, Reinhart K, Zimpfer M. Thieme, Stuttgart. Kap. 20, S. 1097–1131 Kaufmann I, Haller M, Schering G (2004) Akutes Nierenversagen und Nierenersatz ver fahren. In: Die Anästhesiologie. Hrsg. Rossaint R, Werner C, Zwißler B. Springer, Berlin Heidelberg New York. Kap. 82. S. 1589–1605
Kierdorf HP (2002) Nierenersatztherapie beim akuten Nierenversagen in der Intensivmedizin. In: Intensivmedizin, 2. Aufl. Hrsg. Eckardt J, Forst H, Buchardi H. ecomed-Verlag Landsberg/Lech. Kap. VI-4: S. 1–20 Lamiere N, van Biesen W, Vanholder R (2005) Acute renal failure. Lancet 365: 417–430 Schönermarck U, Samtleben W (2002) Diagnostik und Klinik des akuten Nierenversagens. In: Intensivmedizin, 2. Aufl. Hrsg. Eckardt J, Forst H, Buchardi H. ecomed Landsberg/Lech. Kap. VI-2: S. 1–20
57 Entgleisungen des Wasser-, Elektrolytund Säure-Basen-Haushalts Karsten Michael 57.1 Entgleisung des Wasserhaushalts –572 57.1.1 Hypertone Störungen –572 57.1.2 Isotone Störungen –572 57.1.3 Hypotone Störungen –573
57.2 Entgleisung des Elektrolythaushalts –573 57.2.1 57.2.2 57.2.3 57.2.4 57.2.5 57.2.6
Hyponatriämie –573 Hypernatriämie –574 Hypokaliämie –574 Hyperkaliämie –574 Hypokalzämie –575 Hyperkalzämie –575
57.3 Entgleisung des Säure-Basen-Haushalts –575 57.3.1 57.3.2 57.3.3 57.3.4
Respiratorische Azidose –575 Respiratorische Alkalose –576 Metabolische Azidose –576 Metabolische Alkalose –576
Literatur –576
572
Kapitel 57 · Entgleisungen des Wasser-, Elektrolyt- und Säure-Basen-Haushalts
)) Veränderungen der Elektrolytver teilung und Störungen des Säure-Basen-Haushalts sind eng mit pathologischen Volumenänderungen der Körper flüssigkeiten verknüpft. Der menschliche Körper besteht zu 40–80 % aus Wasser, das normaler weise durch osmotische und onkotische Kräfte gebunden ist. Zellmembranen teilen die Körper flüssigkeiten in zwei Hauptflüssigkeitsräume auf: – Extrazellulär volumen (intravasaler Raum, interstitieller Raum und transzellulärer Raum) sowie – Intrazellulärvolumen (intrazellulärer Raum) – Störungen des Wasserhaushalts und Verschiebung von Volumen zwischen den verschiedenen Flüssigkeitsräumen können Komplikationen her vorrufen.
57.1
Therapie der hypertonen Hyperhydratation 5 Einschränkung der Wasser- und Natriumzufuhr 5 Entwässerung mittels Diuretika 5 Eventuell Einsatz eines Nierenersatzverfahrens
Hypertone Dehydratation. Die Serumosmolalität beträgt
mehr als 320 mosmol/l; die hypertone Dehydratation ist häufig durch große Verluste elektrolytarmer Flüssigkeiten bedingt. Zu einem großen Wasserverlust kommt es oft bei übermäßigem Schwitzen, bei Fieber sowie beim polyurischen Nierenversagen oder beim Diabetes insipidus. Ohne therapeutisches Eingreifen kann es zu einem generalisierten Wassermangel mit resultierender Schocksymptomatik bis hin zum Koma kommen.
Entgleisung des Wasserhaushalts Therapie der hypertonen Dehydratation
Entgleisungen des Wasserhaushalts werden in Volumenüberschuss (Hyperhydratation) und Volumendefizit (Dehydratation) eingeteilt. Gemäß der jeweils vorherrschenden Osmolalität (molare Konzentration aller osmotisch aktiven Teilchen pro kg Wasser) unterscheidet man die beiden genannten Formen der Entgleisung weiter in isotone, hypertone und hypotone Formen. ! Der Normalwert der Serumosmolalität beträgt etwa 290–300 mosmol/l.
57
57.1.1 Hyper tone Störungen
5 Behandlung des Grundleidens 5 Adäquater Flüssigkeitsersatz (z. B. durch Glukoselösung)
57.1.2 Isotone Störungen Isotone Störungen betreffen den Extrazellulärraum. Es besteht ein Überschuss oder ein Mangel von Wasser oder Natrium in isotonem Verhältnis zur extrazellulären Flüssigkeit. Isotone Hyperhydratation. Wird Natrium in Form einer
Hierunter fallen Volumenüberschuss oder Volumenmangel bei 4 Plasmahyperosmolalität 4 Erhöhtem Serumnatrium 4 Defizit an freiem Wasser Hypertone Hyperhydratation. Die Serumosmolalität beträgt mehr als 320 mosmol/l. Häufige Ursachen sind ein Überangebot an hypertonen Infusionslösungen oder eine eingeschränkte Nierenfunktion. Die Osmolalität im Extrazellulärraum steigt an. Es folgt ein Wasserausstrom aus den Zellen gemäß dem osmotischen Gradienten (zelluläre Exsikkose). Es kommt zu Elektrolytverschiebungen, Überwässerung des kardiopulmonalen Systems und zur Ödembildung.
isotonen Flüssigkeit retiniert kommt es zu einer isotonen Hyperhydratation. Auslösend ist häufig ein sekundärer Hyperaldosteronismus oder ein übermäßiges Angebot isotoner Infusionslösungen. Hierbei kann es zu einer generalisierten interstitiellen Ödembildung kommen. Therapie der isotonen Hyperhydratation 5 Behandlung des Grundleidens 5 Einschränkung der Flüssigkeitszufuhr 5 Entzug der Flüssigkeit (z. B. durch gesteigerte Diurese)
Isotone Dehydratation. Bei großen Verlusten isotoner
Körperflüssigkeiten kommt es zu einer isotonen Dehydratation. Dies ist der Fall beispielsweise bei häufigem
573 57.2 · Entgleisung des Elektrolythaushalts
Erbrechen, chronischer Diarrhö oder bei Blut- oder Plasmaverlusten im Rahmen starker Blutungen oder Verbrennungen.
glichenen Wasser- und Elektrolythaushalts ist das Idealziel der therapeutischen Bemühungen.
57.2
Entgleisung des Elektrolythaushalts
Therapie der isotonen Dehydratation 5 Behandlung des Grundleidens 5 Adäquater Flüssigkeitsersatz
57.1.3 Hypotone Störungen Zu hypotonen Störungen kommt es durch Volumenüberschuss oder Volumenmangel bei Plasmahypoosmolalität, erniedrigtem Serumnatrium oder Überschuss an freiem Wasser. Hypotone Hyperhydratation. Die Serumosmolalität beträgt weniger als 280 mosmol/l. Häufig ist diese Störung durch ein Überangebot an freiem Wasser verursacht, beispielsweise durch Retention oder Überinfusion. Es kommt zu einer Verdünnungshyponatriämie. Die Osmolalität im Extrazellulärraum fällt ab, die Folge ist ein Wassereinstrom in die Zellen gemäß dem osmotischen Gradienten.
57.2.1 Hyponatriämie ! Eine Hyponatriämie liegt vor, wenn die Serumkonzentration des Natriums unter 135 mmol/l liegt.
Die Hyponatriämie ist eine häufige Elektrolytstoffwechselstörung. Meistens liegt kein primärer Natriummangel sondern ein Wasserüberschuss zugrunde. Oft findet sich zusätzlich eine verminderte Plasmasomolalität. Ein Wasserüberschuss im Plasma findet sich bei einer verminderten renalen Wasserausscheidung. Ursachen hierfür können eine vermehrte ADH-Sekretion sein. Diese findet sich beispielsweise bei einer Überfunktion des Hypophysenhinterlappens (Tumor) oder bei einer nicht-osmotischen ADH-Stimulation bei Volumenmangel im Rahmen einer Aktivierung von Barorezeptoren. Weitere Ursachen sind das SIADH (syndrome of inappropriate ADH secretion) bei perioperativem Stress, Schmerzen oder chronischen Lungenprozessen.
Therapie der hypotonen Hyperhydratation 5 Verminderung der Wasserzufuhr 5 Erhöhte Diurese (Entwässerung) 5 Eventuell Einsatz eines Nierenersatzverfahrens
Hypotone Dehydratation. Die Serumosmolalität beträgt
hierbei weniger als 280 mosmol/l, häufig verursacht durch den Verlust von Natrium und Ersatz von elektrolytfreien Flüssigkeiten oder durch eine chronische Niereninsuffizienz mit erhöhtem Natriumverlust. Es resultiert eine Überwässerung der Zelle bei Abnahme des Extrazellulärvolumens gemäß dem osmotischen Gradienten. Die Therapie erfolgt durch adaptierte Flüssigkeitssubstitution. ! Bei allen Störungen des Wasserhaushalts ist die Behandlung der Grunderkrankung auf lange Sicht das primäre Therapieziel. Alle kurzfristigen therapeutischen Maßnahmen sollten langsam und unter regelmäßiger laborchemischer Kontrolle durchgeführt werden. Rasche Volumenverschiebungen können durch Überkorrektur Komplikationen hervorrufen. Das Erreichen eines ausge6
Symptome der Hyponatriämie 5 5 5 5 5 5 5
Ödeme Kopfschmerz Verwirrtheit, Desorientiertheit Unruhe Bewusstseinsstörungen Krampfanfälle Papillenödem
Das therapeutische Vorgehen richtet sich nach dem klinischen Befund. Bei klinisch asymptomatischen Patienten ist eine Wasserrestriktion oft ausreichend. Bei ausgeprägten klinischen Symptomen (insbesondere bei zentralnervösen Zeichen) ist eine rasche Teilkorrektur des Natriumwerts indiziert. Ebenso ist die Gabe von Diuretika bei Überwässerung oder eventuell der Einsatz eines Nierenersatzverfahrens zu erwägen. ! Bei zu raschem Ausgleich einer Hyponatriämie besteht die Gefahr einer pontinen Myelinolyse!
57
574
Kapitel 57 · Entgleisungen des Wasser-, Elektrolyt- und Säure-Basen-Haushalts
57.2.2 Hypernatriämie ! Eine Hypernatriämie liegt vor, wenn die Serumkonzentration des Natriums über 150 mmol/l liegt.
Aufgrund eines körpereigenen Schutzmechanismus durch Aktivierung der ADH-Sekretion bei Durst und bei Anstieg der Serumosmolalität tritt die Hypernatriämie seltener auf als die Hyponatriämie. Ursachen einer Hypernatriämie sind eine ausgeprägte Zufuhr von Natrium oder ausgeprägter Verlust hypotoner Flüssigkeiten ohne adäquaten Ersatz. Als eigenständiges Krankheitsbild ist beim Diabetes insipidus centralis oder renalis (ADH-Mangel oder ADH-Resistenz) eine ausgeprägte Störung der Wasserrückresorption zu beobachten. Hierdurch kommt es rasch zu einer Hypernatriämie. Ebenso können die Überinfusion mit Natriumbikarbonatlösung sowie eine Diuretikatherapie ursächlich für eine Hypernatriämie sein. Symptome der Hypernatriämie 5 5 5 5 5 5
57
Durst Neurologische Störungen Unruhe Schwäche Athetosen Krampfanfälle
Therapeutisch erfolgt die langsame Korrektur der Natriumkonzentration. ! Cave Eine rasche Korrektur durch Wasserzufuhr kann zu einem Hirnödem führen.
Die Absenkung des Natriumspiegels sollte über einen Zeitraum von 48 h erfolgen (1–2 mmol/l/h).
57.2.3 Hypokaliämie
4 Kaliumtransport nach intrazellulär bei Insulintherapie, einer E2-Stimulation oder einer Hypothermie Symptome einer Hypokaliämie 5 Muskelschwäche, Muskelkrämpfe 5 Erhöhte Empfindlichkeit für supraventrikuläre Herzrhythmusstörungen 5 Erhöhte Empfindlichkeit für Digitalis 5 EKG: flache ST-Senkung, flache T-Welle 5 Kardiale Störungen: Kammerflimmern, Asystolie ! Digitalistherapie bei Hypokaliämie ist zu vermeiden.
Therapeutisch steht die Kaliumsubstitution im Vordergrund. Diese kann p.o. oder als Infusion erfolgen. Bei Diuretikatherapie sollten nach Möglichkeit Kalium sparende Diuretika verwendet werden. Weiterhin sollte eine bestehende Alkalose korrigiert werden. ! Die Kaliumsubstitution sollte nicht mit mehr als 20 mval Kalium/h erfolgen.
57.2.4 Hyperkaliämie ! Eine Hyperkaliämie liegt vor, wenn die Serumkonzentration des Kaliums über 5,5 mmol/l liegt.
Mögliche Ursachen einer Hyperkaliämie: 4 Exzessive Freisetzung von intrazellulärem Kalium, z. B. bei Myolyse, Hämolyse oder bei Katabolie 4 Verminderte Kaliumausscheidung, z. B. bei Nierenversagen 4 Erhöhte Kaliumzufuhr, z. B. bei Überkorrektur einer Hypokaliämie, bei Massentransfusionen 4 Medikamentengabe, z. B. depolarisierende Muskelrelaxanzien, Kalium sparende Diuretika Symptome einer Hyperkaliämie
! Eine Hypokaliämie liegt vor, wenn die Serumkonzentration des Kaliums unter 3,5 mmol/l liegt.
Häufige Ursachen für Hypokaliämie bzw. Kaliummangel sind: 4 Gastrointestinale Verluste bei Erbrechen, Diarrhö, Darmspülungen oder Verluste über eine Magensonde 4 Renale Verluste bei Hyperaldosteronismus, einer Kortisontherapie, einer Therapie mit Diuretika oder einer osmotischen Diurese
5 5 5 5
Kardiale Störungen: Kammerflimmern, Asystolie Atonische Paralyse Muskelschmerzen EKG: hohe, spitze T-Welle; AV-Block; Verlust der P-Welle
Therapeutisch kann bei nicht lebensbedrohlichen Fällen die Diurese gesteigert werden. Weiterhin sind Infusio-
575 57.3 · Entgleisung des Säure-Basen-Haushalts
nen aus Glukose und Altinsulin oder Kalziumglukonat therapeutisch wirksam. Im lebensbedrohlichen Zustand ist der rasche Einsatz eines Nierenersatzverfahrens indiziert. ! Eine akute Hyperkaliämie (> 6,5 mmol/l) ist eine lebensbedrohliche Notfallsituation. Aufgrund der Gefahr eines Herzstillstands ist eine sofortige Therapie notwendig.
57.2.5 Hypokalzämie ! Eine Hypokalzämie liegt vor, wenn der Serumspiegel des Gesamtkalziums unter 2,2 mmol/l liegt.
Eine Hypokalzämie kann her vorgerufen werden durch: 4 Hypoparathyreoidismus 4 Nierenerkrankungen 4 Pankreatitis 4 Vitamin-D-Mangel 4 Intestinale Malabsorption 4 Alkoholismus Symptome einer Hypokalzämie 5 5 5 5
Erhöhte neuromuskuläre Erregbarkeit Tetanie Blutgerinnungsstörungen Diarrhö
Therapie einer Hypokalzämie ist die Substitution von Kalzium p.o. oder als Infusion. Eine Hyperventilation mit resultierender respiratorischer Alkalose bewirkt einen Abfall des ionisierten Kalziums. Typisches klinisches Zeichen sind Pfötchenstellung und tonische Krämpfe der Gesichtsmuskulatur. Hier ist eine Korrektur der respiratorischen Alkalose, z. B. durch Rückatmung, notwendig.
57.2.6 Hyperkalzämie ! Eine Hyperkalzämie liegt vor, wenn der Serumspiegel des Kalziums über 2,6 mmol/l liegt.
Mögliche Ursachen einer Hyperkalzämie: 4 Primärer Hyperparathyreoidismus 4 Intoxikation mit Vitamin D 4 Erhöhter Knochenabbau
4 Paraneoplastisches Syndrom 4 Osteolytische Metastasen Symptome einer Hyperkalzämie 5 5 5 5
Herzrhythmusstörungen Polyurie, Polydipsie Erbrechen, Übelkeit, Obstipation Adynamie, Muskelschwäche
Therapeutisch eignen sich die Gabe von Glukoseinfusionen sowie eine forcierte Diuretikatherapie. Mit Hilfe von Natrium-EDTA-Infusionen kann eine akute Senkung des ionisierten Kalziumspiegels erreicht werden.
57.3
Entgleisung des Säure-Basen-Haushalts
Im Organismus entstehen durch Stoffwechselprozesse ständig mehr saure als alkalische Stoffwechselprodukte. Insbesondere fallen fortlaufend saure H+-Ionen an, die vom Körper gepuffert werden müssen. Der Organismus ist ständig bestrebt, einen ausgeglichenen pH-Wert zu erhalten. Hierzu bedient sich der Organismus unterschiedlicher Mechanismen und Puffersysteme. 1. Puffersysteme: Bikarbonat-, Kohlensäure-, Phosphatpuffer zur Säurebindung 2. Pulmonale Steuerung: Ventilation und Abatmung von Kohlendioxid über die Lunge 3. Renale Steuerung: Rückresorption von Bikarbonat oder Sezernieren von H+-Ionen Alle drei Mechanismen zur Kompensation des Säure-Basen-Haushalts sind eng miteinander verzahnt und stehen in permanenter Wechselwirkung zueinander. Als wichtige Kenngrößen zur Beurteilung des Säure-BasenHaushaltes gelten: 4 pH-Wert (7,35–7,45) 4 pCO2 (36–44 mmHg) 4 Standardbikarbonat (SB) (22–26 mmol/l) 4 Base excess (BE) (± 2,5)
57.3.1 Respiratorische Azidose Durch eine verminderte Abatmung von CO2 kommt es zu einem Anstieg des pCO2 und somit zu einem Abfall des pH-Wertes. Der Laborbefund bei respiratorischer Azidose zeigt einen erniedrigten pH-Wert (< 7,36), einen erhöhten pCO2 sowie normale Werte für SB und BE.
57
576
Kapitel 57 · Entgleisungen des Wasser-, Elektrolyt- und Säure-Basen-Haushalts
Mögliche Ursachen einer respiratorischen Azidose sind: 4 Hypoventilation 4 Verlegung der Atemwege 4 ZNS-Schädigung (zentrale Atemdepression) 4 Zwerchfellhochstand 4 Pleuraerguss Die Therapie liegt primär in der Beseitigung der Respirationsstörung. Im Vordergrund steht das Erreichen einer Normoventilation. ! Steigt der pCO2-Wert über 60 mmHg ist die Intubation mit maschineller Beatmung in Erwägung zu ziehen. Ausnahmen gelten hier bei Patienten mit COPD.
Der Körper versucht im Sinne einer Autoregulation den Ausgleich des pH-Werts über eine metabolisch kompensierte respiratorische Azidose zu erreichen. Hierbei werden vermehrt saure Valenzen über die Niere ausgeschieden. Der Laborbefund einer metabolisch kompensierten respiratorischen Azidose zeigt bei normalem pH-Wert erhöhte Werte für pCO2, SB und BE.
57.3.2 Respiratorische Alkalose
57
Durch vermehrte Abatmung von CO2 kommt es zu einer Erniedrigung des pCO2-Werts und zum Anstieg des pHWerts (> 7,44) im Blut. SB und BE liegen im Normalbereich. Ursachen der respiratorischen Alkalose können sein: 4 Hyperventilation 4 Angstzustände (psychogene Hyperventilation) 4 Stimulation des Atemzentrums bei zerebralen Erkrankungen 4 Hypoxämie Die Therapie liegt in der Reduktion der Hyperventilation. Bei psychogener Hyperventilation ist die Rückatmung in ein Atemreservoir hilfreich. Der Körper versucht im Sinne einer Autoregulation den Ausgleich des pH-Werts über eine metabolisch kompensierte respiratorische Alkalose zu erreichen. Hierbei werden saure Valenzen über die Niere zurückgehalten. Der Laborbefund zeigt dann einen normalen pH-Wert; pCO2, SB und BE sind erniedrigt.
57.3.3 Metabolische Azidose Infolge eines Bikarbonatmangels ist der pH-Wert bei der metabolischen Azidose erniedrigt. Der Laborbefund bei
der metabolischen Azidose zeigt bei normalem pCO2 erniedrigte Werte für pH (< 7,36), SB und BE. Ursachen der metabolischen Azidose sind: 4 Vermehrte Säureanhäufung 4 Nierenversagen (renale Bikarbonatverluste) 4 Diabetes mellitus (Entgleisung: Ketoazidose) 4 Laktatazidose (Schock, Hypoxie) 4 Vergiftungen 4 Basenverlust über enterale Fistel Im Vordergrund steht die Beseitigung der primären Ursache. Zur metabolischen Korrektur kann die Gabe von Puffersubstanzen indiziert sein. Der Körper versucht im Sinne einer Autoregulation den Ausgleich des pH-Werts über eine respiratorisch kompensierte metabolische Azidose durch Hyperventilation zu erreichen. Der Laborbefund ist dann durch einen normalen pH-Wert und erniedrigte Werte für pCO2, SB und BE gekennzeichnet.
57.3.4 Metabolische Alkalose Durch einen Bikarbonatüberschuss ist der pH-Wert bei der metabolischen Alkalose erhöht. Im Laborbefund zeigen sich bei normalem pCO2 erhöhte Werte für pH (> 7,44), SB und BE. Mögliche Ursachen der metabolischen Alkalose sind: 4 Säureverlust 4 Verlust von Magensaft (Erbrechen) 4 Diuretika 4 Ausgeprägter Kalium-Mangel Therapeutisch kann bei schweren metabolischen Alkalosen die Pufferung mit verdünnter Salzsäure in Betracht kommen. Der Körper versucht im Sinne einer Autoregulation den Ausgleich des pH-Wertes über eine respiratorisch kompensierte metabolische Alkalose durch Hypoventilation zu erreichen. Im Laborbefund zeigt sich dies im normalen pH-Wert und erhöhten Werten für pCO2, SB und BE.
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57
58 Gerinnungsstörungen Karl Heinz Kopp 58.1 Bestandteile des Gerinnungsprozesses –580 58.1.1 58.1.2 58.1.3 58.1.4
Gefäßendothel und subendotheliale Strukturen –580 Thrombozyten –580 Plasmatische Gerinnungsfaktoren –580 Aktivierung der Gerinnung –581
58.2 Diagnostik –582 58.2.1 Thrombozyten –582 58.2.2 Plasmatische Gerinnung –582 58.2.3 Aktivierungsmarker –583
58.3 Hämorrhagische Diathese –583 58.3.1 Thrombozytäre Gerinnungsstörungen –583 58.3.2 Plasmatische Gerinnungsstörungen –584
58.4 Spezielle Krankheitsbilder –585 58.4.1 58.4.2 58.4.3 58.4.4 58.4.5 58.4.6
Disseminierte intravasale Gerinnung –585 Massivtransfusion –585 Leberfunktionsstörungen –586 Vitamin-K-Mangel und Blutungen unter Vitamin-K-Antagonisten –586 Heparinbedingte Koagulopathien –587 Thrombozytenaggregationshemmer –588
Literatur –588
580
58.1
Kapitel 58 · Gerinnungsstörungen
Bestandteile des Gerinnungsprozesses
58.1.3 Plasmatische Gerinnungsfaktoren Gerinnungsfaktoren und ihre Inhibitoren
An dem Gleichgewicht der Blutgerinnung mit den Komponenten Gerinnungsförderung, Gerinnungshemmung und Gerinnselauflösung sind folgende Systeme beteiligt: 4 Blutgefäße mit Endothel und Subendothel (vaskuläre Komponente) 4 Thrombozyten, Leukozyten und Monozyten (zelluläre Komponente) 4 Gerinnungsfaktoren und ihre Inhibitoren (plasmatische Komponente) 4 Fibrinolyse und ihre Inhibitoren (fibrinolytisches System)
58.1.1 Gefäßendothel
und subendotheliale Strukturen
58
Nicht aktiviertes Endothel zeigt überwiegend antikoagulatorische Eigenschaften mit Vasodilatation (NO, Prostazyklin), Gerinnungsinhibierung (Heparansulfat, Thrombomodulin, Tissue factor pathway inhibitor), Fibrinolyseaktivierung (Tissue plasminogen activator) und Plättchenhemmung über NO. Bei Verletzung konvertiert das Endothel in einen prokoagulatorischen Zustand mit Vasokonstriktion (Endothelin und PAF), Gerinnungsaktivierung (Integrinrezeptoren wie GPIb, Tissue factor), Fibrinolysehemmung und Plättchenaktivierung (von-Willebrand-Faktor, vWF). Subendothelial freiliegendes Kollagen führt als Adhäsivprotein zur Adhäsion von Thrombozyten. Subendothelial freiliegende Zellen wie Monozyten setzen zusätzlich Tissue factor (TF) frei.
58.1.2 Thrombozyten Endothelverletzungen führen zur wandständigen Adhäsion von Thrombozyten, die über vWF und GPIb vermittelt ist. Im Rahmen dieser Aktivierung werden plättchenspezifische Oberflächenrezeptoren wie GP IIb/IIIa und andere hämostaserelevanten Substanzen aus den Thrombozyten freigesetzt. Nach Adhäsion an das Subendothel werden über das kanalikuläre System der Thrombozyten ADP, Serotonin und Plättchenfaktor 4 freigesetzt. Dies induziert eine Aggregation von Thrombozyten und eine Bindung von Fibrinogen an den Thrombozytenrezeptor GP IIb/IIIa. Der Plättchenpfropf wird durch das bei der plasmatischen Gerinnung entstehende Fibrin stabilisiert. Diese Prozesse bilden den Ansatz für die medikamentöse Thrombozytenaggregationshemmung.
Die plasmatischen Gerinnungsfaktoren sind Glykoproteine und gehören zum Großteil zu der Familie der Serinproteasen (Gerinnungsfaktoren II, VII, IX, X, XI, XII sowie der Inhibitor Protein C/S). Sie liegen im Blut in inaktiver Form als Zymogene vor. Der Zusatz »a« bezeichnet die aktive Form (z. B. F VIIa). Es werden prokoagulatorische sowie inhibitorische Faktoren unterschieden (. Tab. 58.1; Müller-Berghaus 1998). Prokoagulatorische Faktoren. Die Mehrzahl dieser Fakto-
ren wird in der Leber synthetisiert, die Faktoren II, VII, IX, X, XI, XII sind Vitamin-K-abhängig, die Faktoren V und VIII stellen Kofaktoren dar und der Faktor XIII ist eine Transglutaminase und für die Quervernetzung von polymerisiertem Fibrin verantwortlich. Der vWF (Bildung im Endothel) ist an der Thrombozytenadhäsion beteiligt und liegt im zirkulierenden Blut als Komplex mit dem Faktor VIII vor. Inhibitoren der plasmatischen Gerinnung. Wichtigster
Inhibitor ist das Antithrombin (AT) mit einer starken Affinität und Hemmwirkung auf Thrombin (Bildung eines Thrombin/Antithrombin-Komplexes TAT) und auf Faktor Xa. AT wird in seiner Aktivität durch Heparansulfat oder Heparin vertausendfacht.
. Tabelle 58.1. Faktoren mit prokoagulatorischem und inhibitorischem Gerinnungspotenzial Prokoagulatorisches Gerinnungspotenzial
Inhibitorisches Gerinnungspotenzial
Fibrinogen (FI) Prothrombin (FII) Faktor V (FV) Faktor VII (FVII) Faktor VIII (FVIII) Faktor IX (FIX) Faktor X (FX) Faktor XI (FXI) Faktor XII (FXII) von-Willebrand-Faktor (vWF) 5 Gewebefaktor (TF) 5 Hochmolekulares Kininogen (HMWK) 5 Präkallikrein (PräKK)
5 Antithrombin 5 Protein C/S 5 Tissue factor pathway inhibitor 5 α2-Antiplasmin 5 α2-Makroglobulin 5 α1-Antitrypsin 5 C1-Esterase-Inhibitor
5 5 5 5 5 5 5 5 5 5
581 58.1 · Bestandteile des Gerinnungsprozesses
! Schlechte oder nicht vorhandene Wirkung von exogen zugeführtem Heparin kann durch einen AT-Mangel bedingt sein. Nach Normalisierung von AT ist in jedem Fall eine überschießende Heparinwirkung zu erwarten.
Das inhibitorische Protein-C-System beinhaltet die Vitamin-K-abhängigen Proteine C und S sowie den transmembranösen Thrombinrezeptor Thrombomodulin. Dabei bindet Protein C zusammen mit Thrombin an das im Endothel lokalisierte Thrombomodulin, wird dabei aktiviert und spaltet unter Beteiligung von Protein S die aktivierten Kofaktoren V und VIII proteolytisch. Somit wird die Gerinnselbildung erheblich verlangsamt. Protein C wirkt durch die Neutralisierung des t-PA auch profibrinolytisch. Ein weiterer Inhibitor ist der von den Endothelzellen synthetisierte Tissue factor pathway inhibitor (TFPI) der direkt FXa hemmt und mit FV IIa/Tissue factor einen inaktiven quarternären Komplex bildet. ! Der Faktor V kann eine erworbene oder angeborene APCResistenz aufweisen. Dies wird als Faktor-V-Leiden-Mutation bezeichnet und geht mit einer Thromboseneigung einher.
Fibrinolysesystem Die Komponenten des Fibrinolysesystems sind Plasminogen, Gewebeplasminogenaktivator (t-PA), Pro-Urokinase, D2-Antiplasmin (D2AP) sowie Plasminogenaktivator-Inhibitor (PAI-1, PAI-2). t-PA erzeugt aus Plasminogen Plasmin. Plasmin kann Fibrinogen und nicht quervernetztes Fibrin zu so genannten Fibrinspaltprodukten (FSP) hydrolysieren oder nach der Fibrinquervernetzung durch Faktor XIIIa die wesentlich komplexeren Fragmente D und E herauslösen. Es wird in der Zirkulation durch D2-Antiplasmin sehr schnell abgebunden. ! Fibrinogen-Spaltprodukte (FSP) als Reaktion von Plasmin mit nicht vernetztem Fibrinogen zeigen eine primäre Hyperfibrinolyse an, D-Dimere als Folge der Einwirkung von Plasmin auf quervernetztes Fibrin sind beweisend für eine sekundäre oder reaktive Hyper fibrinolyse.
58.1.4 Aktivierung der Gerinnung Ziel der Aktivierung ist die Entstehung von Fibrin aus Fibrinogen unter dem Einfluss von Thrombin. Eine Verletzung der intakten Gefäßoberfläche führt zur Adhäsion und Aggregation von Thrombozyten (Plätt-
chenthrombus) und zur Anheftung von subendothelial oder zellulär lokalisiertem TF. Dieser aktiviert Faktor VII, der Komplex TF/F VIIa aktiviert nun die Faktoren X und IX. FXa wandelt in kleinen Mengen Prothrombin in Thrombin um. Der initial aus TF/Faktor VIIa-Komplex gebildete Faktor IXa dient nun als Vermittler zwischen TF-exprimierenden Zellen und aktivierten Thrombozyten und führt mit seinem Kofaktor VIIIa zur weiteren Bildung von Faktor Xa. Dieser bildet zusammen mit dem Kofaktor Va den so genannten Prothrombinasekomplex, der in großen Mengen Prothrombin in Thrombin überführt. Thrombin selbst kann die Faktoren V, VIII und XI aktivieren, was zu einer Verstärkung der Gerinnung führt. Gleichzeitig induziert Thrombin in hoher Konzentration die Aktivierung von Faktor XIII, was die Quervernetzung von Fibrinfilamenten fördert. ! Im Rahmen der Initiierung spielen der TF und F VIIa eine wesentliche Rolle und bilden z. B. die Grundlage für die Off-label-Therapie von unstillbaren Blutungen mit rekombinantem F VIIa (NovoSeven). Der aktivierte Faktor X bildet für alle Schritte eine gemeinsame Endstrecke.
Thrombin führt nun zur Abspaltung von Fibrinopeptid A und B aus dem Fibrinogen und damit zum Entstehen der Fibrinmonomere, die durch spontane Polymerisation nicht mehr lösliche Fibrinprotofibrillen bilden. Mittels F XIIIa entsteht durch kovalente Bindungen quervernetztes Fibrin. Das dargestellte Gerinnungsmodell wird als zellbasiertes Modell bezeichnet. Es ergänzt die bisherige Unterscheidung in einen exogenen und endogenen Aktivierungsweg. Ersterer beinhaltet die F IX- und F X-Aktivierung mittels F VIIa, TF, Phospholipiden und Kalzium. Der endogene Aktivierungsweg entsteht durch Kontakt mit Fremdoberflächen über eine F XII-Aktivierung. Diese wiederum aktiviert F XI, F IX und F VIII im Beisein von Präkallikrein und High-molecular-weight-Kininogen (HMWK) und führt zur Bildung von aktiviertem F X. Die Abgrenzung findet ihren Niederschlag in den jeweiligen Labortests. ! Der Quickwert repräsentiert das exogene System, die aktivierte partielle Thromboplastinzeit (aPTT) das endogene System.
Die Regulation der Blutgerinnung erfolgt über die beschriebenen Plasmainhibitoren, über negative Rückkopplungsmechanismen (z. B. das Protein-C-System) sowie über die Modulation der gerinnungsaktivierenden Faktoren auf der Oberfläche von Thrombozyten und Endothelzellen. Die Kontrolle des Fibringerinnsels ist durch die
58
582
Kapitel 58 · Gerinnungsstörungen
Fibrinolyse sichergestellt, indem Fibringerinnsel abgebaut und weitere Gerinnselbildungen limitiert werden.
58.2
Diagnostik
Grundlage der Gerinnungsdiagnostik ist die Anamnese (Blutungs- und Medikamentenanamnese). Labormethodisch lässt sich in der Klinik das komplexe Gerinnungssystem in folgende Einzelkomponenten unterteilen: 4 Thrombozyten 4 Plasmatische Gerinnung unter Einschluss der Inhibitoren und des fibrinolytischen Systems 4 Aktivierungsmarker Auf die Diagnostik der Gefäßfunktion wird in diesem Rahmen nicht eingegangen. ! Grundvoraussetzung für eine korrekte Gerinnungsdiagnostik ist die Blutentnahme selbst. Die häufigsten Ursachen falscher Messergebnisse sind präanalytische Fehler.
58.2.1 Thrombozyten Neben der Bestimmung der Thrombozytenzahl (cave: EDTA-induzierte Pseudothrombozytopenie) sind Tests für die Thrombozytenfunktion von Bedeutung.
58
Blutungszeit. Die Bestimmung der Blutungszeit überprüft Thrombozytenaktivierung, -adhäsion und -aggregation, erfasst jedoch keine plasmatische Gerinnung. Sie ist schwer standardisierbar. Eine Verlängerung der Blutungszeit deutet bei normaler Thrombozytenzahl in erster Linie auf ein von-Willebrand-Syndrom oder eine Thrombozytenfunktionsstörung hin. Eine normale Blutungszeit schließt jedoch eine Störung der primären Hämostase nicht aus. Platelet Function Analyzer-100 (PFA-100). Das PFA-100System misst die Verschlusszeit beim Durchsaugen von Blut durch eine Kapillare mit Kollagenmembran unter Anwesenheit von Epinephrin oder ADP. Die Methode benötigt einen Hämatokrit von mindestens 35 % und eine Thrombozytenzahl von mindestens 100000/Pl. Die Methode detektiert den Einfluss von ASS und GP IIb/IIIa-Rezeptorantagonisten auf die Thrombozytenfunktion und hat eine hohe Sensitivität bei der von-Willebrand-Erkrankung. Thrombelastogramm (TEG) und Rotationsthrombelastogramm (ROTEG). Beide Verfahren sind wie das PFA-100 so
genannte Point-of-care-Analyseverfahren, welche patientennah durchgeführt werden können. TEG und ROTEG ge-
ben eine globale und unspezifische Auskunft sowohl über Thrombozyten als auch über die plasmatische Gerinnung. Sie werden im Rahmen der Transplantationschirurgie (Lebertransplantation) und bettseitig auf Intensivstationen verwendet (Spannagel 2002). Beide Verfahren eignen sich gut zur Detektion von Hyperfibrinolysen.
58.2.2 Plasmatische Gerinnung Globale Gerinnungstests sind Quickwert, aPTT und Thrombinzeit. Quickwert (Thromboplastinzeit). Normwert 70–130 %. Der Quickwert erfasst die Aktivität des exogenen Gerinnungssystems mit den Faktoren II, VII, X (Prothrombin-
komplex) sowie dem Faktor V und dem Fibrinogen. Da Faktor II, VII und X Vitamin-K-abhängig sind, dient er der Erfassung eines Vitamin-K-Mangels sowie der Einstellung und Überwachung der Therapie mit Vitamin-K-Antagonisten (Kumarinderivate). Zusätzlich dient er zur Verlaufskontrolle bei Lebererkrankungen und Hämostasestörungen. Der Quickwert ist relativ unempfindlich gegen eine unspezifische Hemmung durch Fibrinogenspaltprodukte und vor allem durch Heparin. Erst bei hohen Heparindosierungen setzt ein relevanter Hemmeffekt mit Erniedrigung des Quickwerts ein. Aktivierte partielle Thromboplastinzeit (aPTT). Normwert 25–35 s. Die aPTT erfasst die Aktivität der Faktoren des endogenen Gerinnungssystems mit den Faktoren VIII, IX,
XI, XII sowie HMWK und Präkallikrein, dazu die Faktoren der gemeinsamen Endstrecke des exogenen und endogenen Systems Faktor V, X, I und II. Hauptindikation ist die Überwachung einer Heparintherapie mit unfraktioniertem Heparin, weil dieses einen bevorzugten Hemmeffekt auf den Faktor II hat. Da niedermolekulare Heparine bevorzugt den Faktor Xa hemmen, haben diese keinen Einfluss auf die aPTT. Ansonsten dient die Bestimmung der aPTT wie der Quick-Wert zur Verlaufskontrolle bei Lebererkrankungen und Hämostasestörungen. ! Merke: Quick, PTT und die Thrombozytenzahl stellen das Minimalprogramm der Gerinnungsanalysen dar.
Plasmathrombinzeit (PTZ, TZ). Normwert 16–24 s. Die Bestimmung ermöglicht eine Aussage über die thrombininduzierte Fibrinbildung und die Fibrinaggregation, also den letzten Schritt der Gerinnung durch Zusatz einer definierten Thrombinmenge. Daher dient der Test zur Überwachung der fibrinolytischen Therapie, zur Überwachung
583 58.3 · Hämorrhagische Diathese
der Heparintherapie und zur Diagnose einer Hyperfibrinolyse. Activated clotting time (ACT). Normwert 120–140 s. Nach
Kontaktaktivierung mit Kaolin oder Celit wird die Gerinnungsgeschwindigkeit von Vollblut gemessen (Kontaktphase – endogenes System). Die ACT wird vor allem zur Steuerung des Heparinmanagements bei Hämodialyse oder extrakorporaler Zirkulation benutzt (Anwendung hoher Heparinspiegel). Bei niedrigen Heparinspiegeln ist die Präzision schlecht. ! aPTT ist das Verfahren zur Überwachung einer Heparintherapie mit niedrigen Heparinspiegeln, ACT das Ver fahren zur Überwachung einer Heparintherapie mit hohen Heparinspiegeln.
ein frühzeitiger Hinweis auf ein akutes Thromboserisiko. TAT und Prothrombinfragmente sind ein indirektes Maß für die Thrombinbildung. Auch sie deuten auf eine Hyperkoagulabilität hin, deren Ursache ähnlich vielschichtig sein kann wie bei den Fibrinmonomeren. Beide Parameter sind bei der Mehrzahl von Patienten mit tiefen Venenthrombosen und/oder Lungenembolie erhöht.
58.3
Hämorrhagische Diathese
Die hämorrhagischen Diathesen lassen sich in vaskuläre, thrombozytäre und plasmatische Hämostasestörungen einordnen. Da die vaskulären Gerinnungsstörungen in der Anästhesie und Intensivmedizin seltener eine Rolle spielen, wird auf Ausführungen hierzu verzichtet.
Antithrombin (AT). Normwert 80–120 %. Antithrombin ist
58.3.1 Thrombozytäre
der wichtigste Inhibitor der plasmatischen Gerinnung. Er ist nicht Vitamin-K-abhängig, dient somit zur Differenzierung eines Vitamin-K-Mangels. Indikationen: bei Verdacht auf Thrombophilie, Leberfunktionsstörung, Sepsis und Heparinresistenz.
Die thrombozytären Gerinnungsstörungen lassen sich in hereditäre oder erworbene Thrombozytopenien oder -pathien einteilen.
Fibrinolysemarker. Fibrin(ogen)spaltprodukte (FSP), D-Di-
Hereditäre Thrombozytopenien und -pathien
mere und Plasminogen/Antiplasmin-Komplex (PAP) sind Marker der Hyperfibrinolyse. D-Dimere sind üblicherweise bei der primären Hyperfibrinolyse nicht nachweisbar. Alle drei Tests haben keine hohe Spezifität. Negative D-Dimere schließen jedoch in hohem Maße eine Thrombose aus. Neben den angegebenen Parametern sind in Einzelfällen auch die Analysen von Einzelfaktoren indiziert. Dies betrifft vor allem das Akutphaseprotein Fibrinogen (bei therapeutischer Fibrinolyse, bei Lebererkrankungen sowie bei Verbrauch), den Faktor VIII (Hämophilie A), den Faktor IX (Hämophilie B), den von-Willebrand-Faktor sowie den Faktor XIII (Fibrin stabilisierender Faktor, ein Mangel ist gelegentlich Ursache für perioperative Blutungen).
Angeborene thrombozytäre Hämostasestörungen beziehen sich auf das Fehlen von Oberflächenrezeptoren (z. B. Bernard-Soulier-Syndrom), auf pathologische Veränderungen der Sekretionsprodukte (Storage-pool-Defizienz) sowie auf thrombozytäre Defekte in der Aktivierung der plasmatischen Gerinnungskaskade. Diese Erkrankungen sind in aller Regel bekannt und bedürfen im Einzelfall einer hämostaseologischen Beratung.
58.2.3 Aktivierungsmarker Zu den Markern einer Gerinnungsaktivierung zählen die Produkte, die bei der Fibrinogenaktivierung durch Thrombin entstehen. Dies sind Fibrinogenmonomere, Fibrinopeptide A, Prothrombinfragmente F1 und F2 sowie AT und Thrombin/Antithrombin-Komplex (TAT). Der Nachweis von Fibrinmonomeren weist auf eine erhöhte intravasale Gerinnungsaktivität hin. Sie finden sich regelhaft im Rahmen der Sepsis, bei Schockzuständen verschiedener Genese, Gewebezerstörungen, sind jedoch auch
Gerinnungsstörungen
Erworbene thrombozytäre Hämostasestörungen Erworbene Thrombozytopenien sind entweder Bildungsoder Umsatzstörungen. Letztere spielen die dominierende Rolle und resultieren aus immunologischen Mechanismen, z. B. die idiopathische thrombozytäre Purpura (ITP) oder die Posttransfusionspurpura. Besonders erwähnenswert sind hier die heparininduzierte Thrombozytopenie (HIT s. u.) sowie eine gesteigerte intravasale Gerinnung (Verbrauchskoagulopathie s. u.). Weiterhin sind die Oberflächenaktivierung (extrakorporaler Kreislauf), die Verlustkoagulopathien (schwere Blutungen s. u.) sowie Lebererkrankungen (s. u.) zu nennen. Er worbene Thrombozytopathien sind in der Mehrzahl medikamentös induziert. Dies betrifft alle Thrombozytenaggregationshemmer (s. u.) mit den drei Ansätzen GP IIb/IIIa-Rezeptorantikörper, ADP-Rezeptorantagonis-
58
584
Kapitel 58 · Gerinnungsstörungen
ten sowie Thromboxan-A2-Hemmer. Zusätzlich führen Leberzirrhose, Urämie, extrakorporaler Kreislauf sowie Hypothermie und Azidose zu Thrombozytenfunktionsstörungen. ! Auf operativen Intensivstationen sind die häufigsten thrombozytären Hämostasestörungen medikamenteninduzierte Thrombozytopathien und Thrombozytopenien als Ausdruck einer gesteigerten intravasalen Gerinnung.
58.3.2 Plasmatische Gerinnungsstörungen Die plasmatischen Gerinnungsstörungen lassen sich ebenfalls in hereditäre und erworbene Formen einteilen. Dabei sind bei den hereditären Formen häufig nur Einzelfaktoren und bei den erworbenen Gerinnungsstörungen mehrere Gerinnungsfaktoren betroffen.
Hereditäre plasmatische Gerinnungsstörungen Durch Anamnese und Klinik ist häufig eine erste Verdachtsdiagnose zu stellen und die entsprechende Labordiagnostik in die Wege zu leiten. Häufigste angeborene Störung der plasmatischen Gerinnung ist das von-Willebrand-Syndrom (vWS) gefolgt von der Hämophilie A (Faktor-VIIIMangel) und B (Faktor-IX-Mangel).
58
von-Willebrand-Syndrom (vWS). Das vWS führt durch Mangel oder Dysfunktion des vWF bei Patienten zu klinischen Symptomen, die einer thrombozytären Gerinnungsstörung ähnlich sind, wenngleich eine plasmatische Störung vorliegt. In der schwersten Form (vWS Typ 3) sind auf Grund einer Aktivitätsminderung des assoziierten Faktors VIII auch klinische Zeichen der plasmatischen Gerinnungsstörung zu er warten. Einziger In-vivo-Test ist die Blutungszeit, die in aller Regel verlängert ist. Die In-vitro-Bestimmung der Blutungszeit über einen PFA 100 zeigt eine relativ hohe Sensitivität. Die Absicherung der Diagnose muss über eine aufwendige Laboruntersuchung erfolgen. Die Therapie orientiert sich am Schweregrad. Bei Verdacht auf leichte Formen bietet sich perioperativ die Gabe des Vasopressinanalogons Desmopressin (Minirin) an. Bei schwereren Formen ist die Applikation von vWF-haltigem Faktor-VIII-Konzentrat notwendig. Hämophilie. Bei der Hämophilie hängt das Blutungsrisiko von der Restaktivität der Faktoren VIII oder IX ab. Dabei
führen Restaktivitäten von 5–10 % lediglich bei Traumen oder operativen Eingriffen zu Blutungskomplikationen.
Für operative Interventionen wird ein Anheben der Aktivität auf 30–50 % empfohlen. Die Substitutionstherapie muss für mindestens 2–3 Tage durchgeführt werden. Die Substitution birgt ein Restrisiko an Virusinfektion sowie die Gefahr der Bildung von Hemmkörpern. Selten finden sich hämorrhagische Diathesen auf dem Boden einer Afibrinogenämie oder eines Mangels an Faktor II, V, VII, X, XI oder XII. Der Faktor-XII-Mangel geht zwar mit einer Verlängerung der PTT einher, zeigt jedoch klinisch keine Blutungsneigung. Bei postoperativen Nachblutungen muss hingegen an den seltenen Faktor-XIIIMangel gedacht werden. ! Bei der Substitutionstherapie führt eine Einheit (IE) eines Gerinnungsfaktors pro kg KG zu einem Aktivitätsanstieg um 1–2 %.
Im Rahmen von Thromboseneigungen sind die angeborenen Antithrombin-, Protein-C- und Protein-S-Mangelzustände sowie APC-Resistenz (Faktor-V-Leiden-Rotation) zu bedenken. In allen Fällen handelt es sich um eine Störung des Inhibitorensystems der Blutgerinnung.
Erworbene plasmatische Gerinnungsstörungen Prinzipiell lassen sich bei plasmatischen Gerinnungsstörungen Synthesestörungen von Umsatzstörungen unterscheiden. Synthesestörungen beruhen fast ausschließlich auf einer Leberdysfunktion und/oder einem Vitamin-K-Mangel (s. u.). Ursachen von Umsatzstörungen sind: 4 Überschießende Gerinnungsaktivierung wie z. B. bei der Verbrauchskoagulopathie 4 Verlust- und Verdünnungskoagulopathien vor allem bei hohen Blutverlusten und Volumenersatz 4 Immunkoagulopathien (seltener), die mit Ausbildung von erworbenen Hemmkörpern einhergehen (z.B. Hemmkörperhämophilie oder das Antiphospholipidsyndrom als erworbene Thrombophilie) Die zu erwartenden Veränderungen der Laborwerte zeigt . Tab. 58.2. Bei der Therapie müssen folgende Fragen bezüglich der Gerinnungsfaktoren beantwortet werden: 1. Ist die Vorratsmenge ausreichend? 2. Ist die Vorratsqualität ausreichend? 3. Ist der Umsatz adäquat oder zu hoch? 4. Ist die Balance gestört?
585 58.4 · Spezielle Krankheitsbilder
. Tabelle 58.2. Erworbene plasmatische Gerinnungsstörungen Verlustkoagulopathie
Verbrauchskoagulopathie
Heparin-Überdosierung
Fibrinolyse
Thrombozyten
c
c
normal
normal
Quick
c
c
c
c
PTT
d
d
d
d
TZ
normal
normal
d
d
Fibrinogen
c
c
normal
c
AT III
c
c
normal
Normal ?
D-Dimere
normal
positiv
normal
positiv
Monomere
negativ
positiv
negativ
negativ
58.4
Spezielle Krankheitsbilder
58.4.1 Disseminier te intravasale Gerinnung Die disseminierte intravasale Gerinnung (DIC) ist eine erworbene Hämostasestörung, die auf einer pathologischen Aktivierung des Gerinnungssystems durch verschiedene Noxen wie Sepsis, Trauma, protrahierter Schock, Fruchtwasserembolie, Plazentalösung, Malignomerkrankungen oder Leberzirrhose basiert. Hierbei kommt es primär zu einer pathologischen Expression von TF, was unter Verbrauch von prokoagulatorischen Gerinnungsfaktoren zur gesteigerten Generierung von Thrombin und der konsekutiven Bildung von Fibrin führt. Als Gegenregulation kommt es zur Aktivierung der Inhibitoren AT, Protein C und Protein S. Beide Vorgänge zusammen führen zu einem kritischen Absinken des Gerinnungspotenzials. Nach der Initialphase mit Hyperkoagulabilität folgt die frühe Verbrauchsphase und als schwerstes Stadium eine späte Verbrauchsphase mit Defibrinierung und sekundärer Hyperfibrinolyse. Die späte Phase wird auch als Verbrauchskoagulopathie bezeichnet und ist meist einer Therapie nicht mehr zugänglich. Klinisch resultiert eine Mikrothrombosierung mit konsekutivem Organversagen gefolgt von einer zunehmenden Blutungsneigung. Wie aus . Tab. 58.2 zu entnehmen ist, imponieren in der Labordiagnostik die Thrombozytopenie, die Verlängerung der aPTT sowie der Abfall des Quick-Werts, ein Abfall des AT sowie der Nachweis von Aktivierungsmarkern (Fibrinmonomere, Thrombin/Antithrombin-Komplex) und in späteren Stadien auch der Nachweis von D-Dimeren.
! Der Abfall der Thrombozyten ist bei entsprechender Anamnese erster Hinweis auf eine beginnende DIC. Zur weiteren Diagnostik gehören in jedem Fall die aPTT, der Quick-Wert sowie die Fibrinmonomere.
Die Therapie der zu Grunde liegenden Ursache steht im Mittelpunkt. Gelingt dies (z. B. Fokussanierung und Antibiose bei Sepsis), ist häufig eine gerinnungsspezifische Therapie nicht notwendig. Bei relevanter Blutungsneigung oder manifester Blutung kann eine Therapie mit Antithrombin und Frischplasma erwogen werden. Beide Ansätze sind nicht evidenz-basiert. Thrombozytengaben sollten restriktiv erfolgen, für Heparin (von Thromboseprophylaxedosierung abgesehen) und Antifibrinolytika gibt es kaum Indikationen.
58.4.2 Massivtransfusion Unter Massivtransfusionen wird die Substitution eines Blutverlusts von mehr als einem zirkulierenden Blutvolumen oder die Gabe von 10 Erythrozytenkonzentraten in weniger als 24 h verstanden. Ursachen komplexer Hämostasestörungen bei Massivtransfusionen 5 Kontinuierlicher Verlust von Gerinnungsfaktoren und Thrombozyten 5 Hämodilutionsbedingte Verdünnung von Gerinnungsfaktoren und Thrombozyten 6
58
586
Kapitel 58 · Gerinnungsstörungen
5 Vermehrter Verbrauch bei einsetzender DIC 5 Verminderte Synthese und Mobilisation 5 Hypothermie
Durch Blutkonser ven bedingte Zitratüberladung und konsekutiver relativer Kalziummangel verstärken die komplexen Gerinnungsstörungen. Thrombozytenabfall, aPTT-Anstieg und Abfall des Quickwerts können Hinweise auf das Ausmaß der Störung geben, wenngleich die Analysen aufgrund der Dynamik der Situation häufig nachhinken. In akuten Fällen richtet sich die Therapie ausschließlich nach der klinischen Situation. Die Transfusion von Frischplasmen (FFP) erfolgt in einem Substitutionsschema – bezogen auf den EK-Bedarf (EK zu FFP) – im Verhältnis von 4 : 1, dann 3 : 1 und ab dem 10. EK 2 : 1. Als Ultima ratio kann bei lebensbedrohlichen Blutungen der Einsatz von rF VIIa (NovoSeven) er wogen werden. ! 1 ml/kg KG FFP führt zu einem Aktivitätsanstieg aller Faktoren um ca. 1–2 %.
Thrombozytengaben sollten ab dem 10. EK erfolgen. Dabei führt die Verabreichung von 1 Pool-TK (4–6 Einzelspender-TK) zu einem Thrombozytenanstieg von 20000– 30000/Pl.
58
! Empirische Labortrigger für die Gabe von Thrombozyten und Frischplasma sind Thrombozyten < 50000/Pl, Quick-Wert < 40 %, PTT > 60 s. Bei Schädel-Hirntraumatisierten Patienten gelten die Trigger Thrombozyten < 80000/Pl, Quickwert < 60 %, PTT > 40 s.
58.4.3 Leber funktionsstörungen Da die Hämostase eng an die Leberfunktion geknüpft ist, sind Gerinnungsstörungen bei Leberdysfunktion meist komplex. Mit Ausnahme von vWF, von t-PA und von Urokinase werden alle prokoagulatorischen, antikoagulatorischen und Fibrinolyseproteine in der Leber synthetisiert. Zusätzlich besteht eine enge Verbindung zu Vitamin-K-Mangelzuständen, da die Vitamin-K-abhängigen Gerinnungsfaktoren II, VII, IX, X sowie die Inhibitoren PC und PS hepatisch modifiziert werden müssen.
Gerinnungsstörungen bei Leberdysfunktion 5 Blutungsneigung durch Faktorenmangel, Thrombozytopathie und Thrombozytopenie bei Hypersplenismus 5 Gestörte Clearance und damit »low grade DIC« 5 Hyper fibrinolyse durch erhöhte fibrinolytische Aktivität
Laborchemisch zeigen sich eine Thrombozytopenie, pathologische globale Gerinnungstests (Quick-Wert, aPTT), eine Erniedrigung des Fibrinogens und des Antithrombins sowie der Nachweis von Fibrinolysemarkern (D-Dimere). Eine Substitutionstherapie ist nur bei drohender oder manifester Blutung indiziert und wird wie bei der Verdünnungkoagulopathie initial mit FFP durchgeführt. Eine Substitution mit Prothrombinkomplex (PPSB) und/oder Fibrinogen ist bei massiven Blutungen oder dringender OP-Indikation unter Abwägung der Risiken (isoliertes Anheben des prokoagulatorischen Potenzials) indiziert. ! Vor der Gabe von PPSB muss ein bestehender Antithrombinmangel ausgeglichen werden, da sonst die Gefahr einer überschießenden Gerinnung besteht.
Bei ausgeprägter Fibrinolyse (Nachweis durch D-Dimere und spindelförmigem Thrombelastogramm) ist die Gabe von Aprotinin zu erwägen. Ähnlich wie bei der Massivtransfusion kann bei nicht kontrollierbaren Blutungen die Gabe von rF VIIa (NovoSeven) lebensrettend sein.
58.4.4 Vitamin-K-Mangel und Blutungen
unter Vitamin-K-Antagonisten Da das Vitamin K zur J-Karboxylierung der Vitamin-K-abhängigen Gerinnungsfaktoren und Inhibitoren II, VII, IX, X sowie PC und PS notwendig ist, führt ein Vitamin-KMangel oder eine Inhibition zur Erniedrigung dieser Faktoren. Mögliche Ursachen für Vitamin-K-Mangel 5 Vitamin-K-freie Ernährung (Mangelsymptomatik in aller Regel erst nach 3 Monaten), 5 Antibiotikatherapie mit Zerstörung der Vitamin-Kproduzierenden Darmflora (diese liefert 50 % des Vitamin-K-Bedarfs) 6
587 58.4 · Spezielle Krankheitsbilder
5 Malabsorptionssyndrome (Vitamin K ist fettlöslich) 5 Cholestase 5 Therapeutische Inhibition mit Vitamin-K-Antagonisten (Kumarinderivate)
Laborchemisch findet sich eine Erniedrigung der Aktivität des Prothrombin-Komplexes (Quick-Wert). Die Therapie eines chronischen Vitamin-K-Mangels besteht in der Gabe von 2 u 5–10 mg Konakion/Woche. Bei nicht lebensbedrohlichen Blutungen Kumarin-therapierter Patienten ist nach der einmaligen Gabe von 10–20 mg Vitamin K nach 6–12 h ein ausreichendes Hämostasepotenzial zu erwarten. Bei stärkeren Blutungen ist neben Vitamin K die Gabe von PPSB Therapie der Wahl. Dabei ist aufgrund der besonderen Thrombosegefährdung eine therapeutische Heparinisierung zu erwägen. ! PPSB-Dosis (IE) = kg KG u gewünschter Faktorenanstieg in %.
58.4.5 Heparinbedingte Koagulopathien Heparintherapie Der Wirkmechanismus des Heparins besteht in einer Beschleunigung der Inaktivierung von Faktor Xa und Thrombin durch die Bildung eines Heparin/Antithrombin-Komplexes. Dabei ist das Verhältnis der Anti-Xa/ Anti-IIa-Wirkung der unterschiedlichen Heparine abhängig von deren Molekulargewicht. Niedermolekulare Heparine mit einem hohen Pentasaccharidanteil zeigen eine Anti-Xa/Anti-IIa-Wirkung von 4 : 1, unfraktioniertes Heparin hingegen zeigt einen Quotienten von 1 : 1. Dies bedeutet für die Therapiekontrolle, dass unfraktionierte Heparine mit der aPTT, niedermolekulare Heparine und Heparinoide (Orgaran) mittels der Anti-Xa-Aktivität über wacht werden. Niedermolekulare Heparine müssen bei prophylaktischer und therapeutischer Anwendung nur bei Risikogruppen wie Schwangeren, schwerer Leber- und Niereninsuffizienz sowie bei unter- oder überproportionalem Körpergewicht über wacht werden. Eine Überdosierung von unfraktioniertem Heparin, die sich in einer Verlängerung der PTT auf das über 3fache äußert, kann bei zwingender Indikation (drohenden Blutungen) mit Protaminsulfat antagonisiert werden. Dabei wird pro 100 IE Heparin 1 mg Protamin gegeben. Protamin kann anaphylaktische Reaktionen verursachen. Eine Antagonisierung niedermolekularer Heparine ist wenig vorhersagbar. Die
reinen Thrombininhibitoren vom Hirudintyp sind nicht antagonisierbar.
Heparininduzierte Thrombozytopenien Die heparininduzierte Thrombozytopenie I (HIT I) ist eine nicht immunologische heparinassoziierte Thrombozytopenie, die auf einer direkten Heparin-Thrombozyten-Interaktion mit Adenylatzyklasehemmung und konsekutiver Thrombozytenaktivierung beruht. Sie tritt unmittelbar nach Beginn der Heparintherapie auf und führt selten zu Thrombozytenwerten unter 100000/Pl. Die Inzidenz liegt bei 10–20 %, Komplikationen sind kaum zu er warten. Die heparininduzierte Thrombozytopenie II (HIT II) ist eine seltene (Inzidenz bis 3 % nach Heparingabe von mehr als 5 Tagen) jedoch schwere Nebenwirkung von Heparin. Hier liegt eine immunologische Reaktion mit der Antikörperbildung gegen den Komplex aus Heparin und Plättchenfaktor 4 zu Grunde. Dies kann sowohl im venösen als auch im arteriellen Gefäßsystem zur Thrombenbildung mit lebensgefährlichen thromboembolischen Komplikationen führen. Die Reaktion ist unabhängig von der Heparindosierung, tritt ca. 5–21 Tage nach Beginn der Heparintherapie auf, bei Reexposition schon früher, und führt zum Abfall der Thrombozytenwerte um mehr als 50 %. Der Nachweis von HIT-Antikörpern wird im heparininduzierten Thrombozyten-Aggregationstest (HIPA-Test) oder durch den direkten HIT-Antikörper/Antigen-Reaktionstest (Heparin/ PF4-Elisa) möglich. Der funktionelle HIPA-Test hat einen besseren positiv prädiktiven Wert für eine klinisch manifeste HIT II. Dennoch sollten beide Tests gleichzeitig und unverzüglich durchgeführt werden, da bei einem Großteil der Patienten nach Absetzen des Heparins Antikörper nicht mehr nachweisbar sind. Auf Grund des hohen Thromboembolierisikos muss das Heparin sofort abgesetzt und durch alternative Antikoagulantien wie Heparanoid (Orgaran) oder Hirudin (Refludan) ersetzt werden. Thrombozytenkonzentrate sind bei HIT II innerhalb der ersten 48 h streng kontraindiziert. ! Das Heparinoid Orgaran muss mittels der Anti-Xa-Aktivität, das Hirudin Refludan mit der aPTT überwacht werden.
Niedermolekulare Heparine haben ein wesentlich geringeres Risiko zur Entwicklung einer HIT II (weltweit lediglich Einzelfälle beschrieben).
58
588
Kapitel 58 · Gerinnungsstörungen
58.4.6 Thrombozytenaggregationshemmer Die heute in großem Umfang eingesetzten Thrombozytenaggregationshemmer basieren auf 4 einer irreversiblen Blockade der Zyklooxygenase (COX1) und damit einer Synthesestörung des aggregationsfördernden Thromboxans (Azetylsalizylsäure; ASS), 4 einer Erhöhung des cAMP-Spiegels durch PGE1 (Alprostadil; Prostavasin) oder PGI (Ilomedin; Iloprost, Flolan), 4 einer irreversiblen Hemmung von ADP-Rezeptoren durch Tienopyridine wie Clopidogrel (Plavix) oder Ticlopidin (Tyklid) 4 oder einer Blockade durch monoklonale Antikörper gegen den thrombozytären GP IIb/IIIa-Rezeptor. Durch Substanzen wie Abciximab (ReoPro), Etifibatid (Integrilin) oder Tirofiban (Agrastat) wird damit die Fibrinogenbindung an den Thrombozyten blockiert. Die Wirkung dieser Substanzen lässt sich nur in funktionellen Tests wie Bestimmung der Blutungszeit oder dem PFA 100 nachweisen. Während die Prostaglandinderivate reversibel und kurz wirksam sind, sind die übrigen Substanzen irreversibel und lange (Tage) wirksam. Bei letzteren Substanzen kann bei leichten Blutungen die Gabe von Desmopressin (Minirin) erwogen werden. Bei schwereren Blutungen kommt nur die Gabe von Thrombozytenkonzentraten in Frage.
Literatur
58
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59 Zerebrale Funktionsstörungen Matthias Hansen 59.1 Untersuchungsmethoden –590 59.1.1 Apparative Untersuchungen von zerebralen Funktionsstörungen –591
59.2 Bewusstseinsstörungen –591 59.2.1 59.2.2 59.2.3 59.2.4 59.2.5 59.2.6 59.2.7
Koma –591 Apallisches Syndrom –591 Mittelhirnsyndrom –592 Somnolenz –592 Amnesie –592 Locked-in-Syndrom (deefferenzierter Zustand) –592 Hirntod –592
59.3 Intrakranielle Ursachen der zerebralen Funktionsstörung –593 59.3.1 59.3.2 59.3.3 59.3.4 59.3.5 59.3.6 59.3.7 59.3.8
Hirndruck/Hirnödem –593 Epilepsie –594 Meningitis –595 Enzephalitis –595 Hirntumor –595 Schädel-Hirn-Trauma –595 Intrakranielle Blutungen –595 Zerebrale Ischämien –595
59.4 Nicht primär zerebral ausgelöste Störungen –595 59.4.1 Delir –596
59.5 Zusammenfassung –596 Literatur –597
590
Kapitel 59 · Zerebrale Funktionsstörungen
)) . Tabelle 59.1. Glasgow coma scale
Die Ursachen zerebraler Funktionsstörungen sind vielfältig. In Frage kommen traumatische, infektiöse, vaskuläre, metabolische, endokrinologische oder kardiovaskuläre Probleme. Mit einer jährlichen Inzidenz von 200/100000 Einwohner haben die Hirntraumen einen hohen Anteil an den zerebralen Funktionsstörungen. Nach einer Reanimation oder einer Hypoxie muss leider häufig mit bleibenden neurologischen Defiziten gerechnet werden. Man schätzt, dass nur 10 % der Patienten, die eine Reanimation überleben, ihren Ausgangszustand wieder erreichen. Verantwortlich dafür sind hierbei vor allem neurologische Defizite. Ein Problem auf der Intensivstation ist, dass es bei sedierten Patienten häufig sehr schwierig ist, die zerebrale Funktion zu beurteilen. Ob eine Störung sedierungsbedingt oder pathologisch bedingt ist, kann nicht immer klinisch unterschieden werden.
59.1
59
Untersuchungsmethoden
Zur Feststellung und Beurteilung von zerebralen Funktionsstörungen ist eine Untersuchung auf entsprechende Merkmale notwendig. Vor allem bei Patienten auf einer Intensivstation ist eine systematische neurologische Untersuchung notwendig. Bei wachen Patienten werden neben einer Anamnese die kognitiven Fähigkeiten, die Orientiertheit zu Person, Ort, Zeit und Situation geprüft. Somnolente, bewusstlose oder sedierte Patienten sind hierbei nur eingeschränkt beurteilbar. Zusätzlich sollten bei allen Patienten Untersuchungen wie Pupillenstatus (Isokorie, Pupillenweite, Lichtreaktion beiderseits) und Reflexprüfungen durchgeführt werden. Differenzierter können bei wachen Patienten noch die Stimmungslage, der Antrieb, die Merkfähigkeit sowie Lese- und Schreibfähigkeit geprüft werden. Weiterhin gehört eine Prüfung der Motorik und Kraft dazu. Dabei ist auf Asymmetrien, Tremor und Dyskinesien zu achten. Sinnvoll ist auch eine sensorische Prüfung der Nerven. Bei der Prüfung des Reflexstatus ist neben der Prüfung von Muskeleigenreflexen auf pathologische Reflexe wie Pyramidenbahnzeichen (Babinski-Zeichen oder Oppenheim-Zeichen/Tibiavorderkante) zu achten. Diese weisen oft auf eine zentrale Funktionsstörung durch eine verminderte Reflexdämpfung hin. Zur einfachen Beurteilung des Vigilanzzustands eines Patienten mit einem Hirntrauma hat sich die Glasgow coma scale bewährt (vgl. 7 Kap. 34). Es handelt sich um eine einfache, gut reproduzierbare Skala für wache oder somnolente Patienten (. Tab. 59.1).
Kriterium/Reaktion
Punkte
Augen öffnen 5 spontan 5 auf Aufforderung 5 auf Schmerzreiz 5 gar nicht
4 3 2 1
Beste verbale Antwort 5 orientiert 5 teilorientiert 5 inadäquat 5 unverständliche Laute 5 keine
5 4 3 2 1
Beste motorische Antwort 5 gezielt auf Ansprache 5 gezielt auf Schmerzreiz 5 ungezielt auf Schmerzreiz 5 Flexion bei Schmerzreiz 5 Extension bei Schmerzreiz 5 Keine Reaktion
6 5 4 3 2 1
3–8 Punkte: schweres SHT; 9–12 Punkte: mittelschweres SHT; 13–15 Punkte: leichtes SHT. Ab weniger als 4 Punkten ist bei 85 % der Patienten die Prognose schlecht (bleibende schwerste Schädigung oder Tod).
! Die Glasgow coma scale ist bei sedierten Patienten nicht aussagefähig und differenziert auch bei Bewusstlosigkeit nicht. Die Skala muss vor einer Sedierung geprüft werden, sonst ist sie prognostisch nicht zu verwerten.
Bei Patienten mit zerebralen Funktionsstörungen (z. B. Somnolenz, Koma), bei denen die Folge einer Sedierung differenzialdiagnostisch ausgeschlossen werden muss, ist es häufig sinnvoll, vor weiterer aufwendiger Diagnostik eine Antagonisierung mit z. B. Flumazenil (Anexate) oder Naloxon (Narcanti) durchzuführen. ! Cave Fraktionierte Gabe und Kontraindikationen beachten!
Zusätzlich sind zur weiteren Abklärung bei Funktionsstörungen apparative Untersuchungen wie EEG, CT, MRT, Dopplermessungen der hirnversorgenden Gefäße und transkranielle Doppleruntersuchungen sinnvoll. Auch sollten immer Untersuchungen zum Ausschluss von toxischen, metabolischen, endokrinologischen oder kardiovaskulären Ursachen durchgeführt werden.
591 59.2 · Bewusstseinsstörungen
59.1.1 Apparative Untersuchungen
59.2
Bewusstseinsstörungen
von zerebralen Funktionsstörungen Elektroenzephalogramm (EEG). Messprinzip ist die Aufzeichnung der elektrischen Aktivität des Kortex. Es werden verschiedene Wellenformen (D = 8–13 Hz, E = 14–30 Hz, Q = 4–7 Hz, G = 0,5–3,5 Hz) unterschieden. Neben der allgemeinen Aktivität ist vor allem die Untersuchung auf einen Herdbefund und die Ableitung von epilepsietypischen Wellenformen (Spikes und Sharp waves) klinisch wichtig. Computertomographie (CT). Als in den meisten Kranken-
häusern vorhandene, radiologische Schichtuntersuchungstechnik lassen sich hierbei intrakranielle Raumforderungen (Tumor, Blutung, Abszess), Hirnödem, Ischämieregionen und Liquorzirkulationsstörungen erkennen. Kleine Herdbefunde und Prozesse im Stammhirn entgehen häufig dieser Diagnostik. Frische Ischämien (jünger als 48 h) sind nicht sicher erkennbar. Der exakte Hirndruck oder die jeweilige regionale Hirnperfusion können nicht beurteilt werden. Schnelle Untersuchungen mit guter Auflösung sind mit modernen mehrzeiligen CT-Geräten möglich. Dies ist vor allem bei unruhigen Patienten ein großer Vorteil. Infektionen und Hirntumore oder Hirnmetastasen sind mit zusätzlicher Kontrastmittelgabe zu erkennen. Magnetresonanztomographie (MRT). Bei Untersuchun-
gen des Hirnstamms, einer Thrombose der V. basilaris und zur Erkennung einer frühen Enzephalitis ist das MRT dem CT überlegen. Der Aufwand ist wegen des hohen Magnetfelds und dem Verwenden von ausschließlich nicht magnetischen Geräten im Untersuchungsfeld sehr hoch. Zusätzlich ist durch die Bauart der meisten Geräte (Ausnahme: so genannte offene MRT) ein direkter Zugang zum Patienten für akute Notfälle nicht gewährleistet. Deshalb ist diese Untersuchung für Intensivpatienten nur selten indiziert. ! Das Magnetfeld besteht konstant, also auch, wenn keine Untersuchung durchgeführt wird.
Transkranielle Dopplersonographie. Mit modernen Ultraschallgeräten ist es bei den meisten erwachsenen Patienten möglich, transkraniell Blutflussmessungen vorzunehmen. Ein großer Vorteil der Methode ist, dass seitengetrennt Untersuchungen zur Hirnorganperfusion durchgeführt werden können. Ein Nachteil ist, dass die Ergebnisse dieser Methode sehr stark von der Erfahrung des Untersuchers abhängig sind.
59.2.1 Koma Das Koma ist definiert als ein Zustand von Bewusstlosigkeit, in dem weder die Augen spontan geöffnet werden, noch auf Schmerzreize, akustische oder taktile Reize eine Reaktion erfolgt. Es ist keine Kommunikation mit dem Patienten in irgendeiner Form möglich. Der Zustand kann durch zerebrale Funktionsstörungen oder Sedierung bedingt sein. Ursachen für Bewusstlosigkeit durch zerebrale Funktionsstörungen 5 5 5 5 5 5 5 5
Trauma mit Hirnblutung (epi- oder subdural) Hirnödem Meningitis Enzephalitis Intoxikationen Stoffwechselentgleisung Hypoxie Krampfanfälle
Fast immer haben die Patienten im Koma keine ausreichenden Schutzreflexe und sollten deshalb einen sicheren Atemwegzugang (Tubus oder Trachealkanüle) erhalten. Das Vorhandensein von Schutzreflexen (z. B. durch Auslösen des Hustenreflexes beim Absaugen) ist zu prüfen. Der Unterschied zwischen Koma und einer Somnolenz ist fließend. Dennoch sollte die Tiefe der Störung erfasst werden (. Tab. 59.1). Zuerst wird immer durch Ansprache und akustische Reize geprüft, ob ein Patient darauf reagiert. Bleibt hierbei eine Reaktion aus, wird mit Schmerzreizen weiter getestet. Es werden durch einen Druck auf den Austritt des N. supraoptikus, durch Kompression von Nagelbett oder Nasenseptum oder durch das Kneifen – z. B. in den M. pectoralis – Reize gesetzt. Es sollte immer im Seitenvergleich getestet werden. Lässt sich keinerlei Reaktion auslösen, liegt eine Bewusstlosigkeit vor.
59.2.2 Apallisches Syndrom Das apallische Syndrom (persistierender vegetativer Status, Coma vigile) ist vom Koma abzugrenzen. Es ist ein Krankheitsbild, das durch schwere zerebrale Funktionsstörungen verursacht wird, wobei unterschiedliche Ursachen zugrunde liegen können. Meist handelt sich um
59
592
Kapitel 59 · Zerebrale Funktionsstörungen
ausgedehnte kortikale Läsionen, diffuse Marklagerschädigungen oder bilaterale Thalamusläsionen. Jegliche bewusste Wahrnehmungsfähigkeit, Sprachverständnis und Sprachfunktionen sind aufgehoben. Ein Schlaf-Wach-Zyklus kann häufig (wenn auch meist gestört) erhalten sein. Die Patienten sind intermittierend wach, d. h. die Augen sind geöffnet, jedoch erfolgt keine willkürliche Reaktion auf visuelle, akustische, taktile oder schmerzhafte Reize. Aus diesem Grund handelt es sich um eine Bewusstseinsstörung, bei der nicht die Wachheit, sondern die Wahrnehmungsfähigkeit beeinträchtigt ist, bei jedoch teilweise erhaltenen vegetativen Funktionen. Diese ermöglichen ein Überleben. Häufig sind Primitivreflexe auslösbar (z. B. Greifreflex oder primitive Orientierungsreflexe in Form von Kopf- oder Augenwendungen). Beobachtet werden auch Myoklonien, ungezielte Rumpf- oder Extremitätenbewegungen, subkortikal generierte mimische Äußerungen wie Grimassieren, Lächeln, Weinen und orale Automatismen. Die fehlende Wahrnehmungsfähigkeit der Betroffenen lässt sich bis heute nach wissenschaftlichen Kriterien nicht beweisen. Das apallische Syndrom kann vorübergehend im Sinne eines Durchgangsstadiums auftreten oder auch irreversibel sein. Nach den Empfehlungen verschiedener Experten kann eine Diagnose sowohl bei traumatischer als auch bei nichttraumatischer Hirnverletzung erst nach einem Zeitraum von mindestens einem Monat nach dem akuten Ereignis gestellt werden. In den meisten Fällen entwickelt sich das Krankheitsbild aus einem unterschiedlich lange anhaltenden Koma.
59.2.3 Mittelhirnsyndrom
59
Die Patienten zeigen schwere Bewusstseinsstörungen; bei Schmerzreiz oder spontan auftretendem plötzlichem Überstrecken des Rumpfes (Opisthotonus) und Strecken der Extremitäten reagieren sie mit Adduktions- und Pronationsbewegungen der Arme (Strecksynergien/Streckkrämpfe). Der Kornealreflex ist vorhanden, bei mittelweiten Pupillen mit verzögerter Lichtreaktion. Zusätzlich sind durch Schmerzreize eine Tachykardie und eine Tachypnoe auszulösen. Mittelhirnsyndrome sind häufig traumatisch bedingt und weisen auf eine schwere Störung hin.
59.2.4 Somnolenz Kennzeichnend sind häufige Schlafphasen, mangelndes Interesse an der Umwelt und Apathie. Der Patient kann aber durch Reize gut erweckt werden.
59.2.5 Amnesie Bei normaler Wachheit sind Erinnerungslücken vorhanden, die zum Teil auch die vor dem auslösenden Ereignis liegende Zeit betreffen. Diese Form wird dann als retrograde Amnesie bezeichnet.
59.2.6 Locked-in-Syndrom
(deefferenzier ter Zustand) Ausgelöst wird das Syndrom z. B. durch eine Thrombose der V. basilaris oder durch ein Trauma im Bereich des Pons. Es bestehen Läsionen im Bereich des Pons und des ventrorostralen Kerngebiets (Tractus corticonuclearis und corticospinalis) bei gleichzeitig erhaltener Formatio reticularis. Somit bestehen keine Vigilanzstörungen und gleichzeitig eine hohe Tetraplegie. Willkürlich sind nur Lidschluss und Augenbewegungen möglich.
59.2.7 Hirntod Der dissoziierte Hirntod wird definiert als Zustand der irreversibel erloschenen Gesamtfunktion des Großhirns, des Kleinhirns und des Hirnstamms. Dabei wird durch kontrollierte Beatmung die Herz- und Kreislauffunktion noch künstlich aufrechterhalten. Hirntodfeststellung: Falls eine Hirntodfeststellung zu einer
Organspende benutzt wird, muss der Hirntod durch eine exakt durchgeführte Untersuchung anhand eines Standardprotokolls von zwei Ärzten, die unabhängig vom Transplantationsteam sind, dokumentiert werden. ! Ab dem Zeitpunkt einer Hirntodfeststellung gilt – auch nach dem Gesetz – ein Patient als tot.
Neben der klinischen Untersuchung mit der Dokumentation des Ausfalls der Atmung und einer zweiten Untersuchung nach einer festgelegten Zeit zur Feststellung der Irreversibilität, kann oder muss je nach Ursache und Alter des Patienten eine zusätzliche apparative Untersuchung mit EEG, Doppler oder Hirnperfusionsszintigraphie erfolgen. Die zerebrale Angiographie ist bis auf wenige Ausnahmen nicht mehr zulässig (mögliche Schädigung einer Restperfusion des Gehirns). Klinisch haben sich das EEG, die Doppleruntersuchung und die Hirnperfusionsszintigraphie gut bewährt. Den genauen Ablauf, entsprechende Protokolle und gesetzliche Vorgaben zur Hirntodfeststellung bei Organspende kann man sich unter www.dso.de abrufen.
593 59.3 · Intrakranielle Ursachen der zerebralen Funktionsstörung
59.3
Intrakranielle Ursachen der zerebralen Funktionsstörung
59.3.1 Hirndruck/Hirnödem Ein erhöhter intrakranieller Druck kann durch vermehrte Wassereinlagerung bei einem Trauma, einem Tumor oder Ischämie bedingt oder durch eine Blutung verursacht werden. Liquorresorptionsstörungen und Liquorzirkulationsstörungen führen zu einem gesteigerten Hirndruck. Das Gehirn ist von Knochen umgeben und kann bei intrakranieller Volumenzunahme durch raumfordernde Prozesse wie Ödem, Blutung, Tumor oder Abszess nur in Richtung Foramen occipitale magnum ausweichen. Physiologisch besteht das Gehirn aus 85 % Hirnsubstanz (mit intrazellulärem Wasser), 10 % Liquor und 5 % Blut. Diese Bestandteile sind nicht kompressibel, somit kommt es bei Volumenzunahme unausweichlich zu einem Anstieg des Hirndrucks (. Abb. 59.1). Klinische Zeichen des erhöhten Hirndrucks sind plötzliches Auftreten extrem heftiger Kopfschmerzen, Erbrechen im Schwall (teilweise lageabhängig) und vegetative Zeichen. Die Zeichen des Hirndrucks mit drohender Einklemmung sind Mittelhirn- oder Bulbärhirnsyndome. Falls keine apparative Messung des Hirndrucks möglich ist, ist eine engmaschige Prüfung von Vigilanz, Pupillenmotorik, Nackensteifigkeit, Hirnstamm-/Pyramidenbahnzeichen und Beuge- und Strecksynergien nötig. Kann ein intrakranieller Druckanstieg nicht mehr kompensiert werden, kommt es zur Verlagerung von Zwischenund Mittelhirnteilen im Bereich des Tentoriumschlitzes (obere Einklemmung) und des Stammhirns (Medulla oblongata) im Formamen occipitale magnum. Dies führt rasch zu irreversiblen Unterbrechungen der efferenten und afferenten Leitungsbahnen und damit zur Dezerebration. Meist kommt es gleichzeitig zu vegetativen Reaktionen mit Tachykardie, Bradykardie, Hypertonie und Hypotonie in raschem Wechsel sowie Zeichen eines Mittelhirnsyndroms. Dies ist ein absolut vital bedrohlicher Notfall und bedarf rasch (soweit möglich) einer Therapie. Bei einseitiger supratentorieller Raumforderung wird das Mittelhirn gegen die kontralaterale Kante des Tentoriums gepresst. Es kommt zu einer homolateralen Hemiparese und der N. occulomotorius wird durch hernierende Temporallappenanteile über Tentoriumansatz und Felsenbeinkante gedrückt (Klivuskantensyndrom). Oft sind erst eine Miosis und dann eine Mydriasis (Anisokorie) sichtbar. Spätzeichen sind beiderseits weite, lichtstarre Pupillen.
. Abb. 59.1. Beziehung zwischen intrakraniellem Volumen und Druck (Hirncompliance). Eine geringe und langsame Zunahme des intrakraniellen Volumens wird mit minimalem Hirndruckanstieg (Strecke A–B) gut toleriert, da Liquor vom intrakraniellen in den spinalen Raum verlagert wird und seine venöse Resorption in Abhängigkeit vom Hirndruck gesteigert werden kann. Ein rascher Hirndruckanstieg wird weniger gut toleriert, da die Adaptationszeit der Kompensationsmechanismen eingeschränkt ist. Sind die Volumenkompensationsmechanismen des Gehirns erschöpft (Punkt C), so führt eine geringfügige weitere Volumenzunahme zu einem raschen Anstieg des Hirndrucks. In diesem Bereich kann selbst eine geringe Abnahme des zerebralen Blutvolumens zu einer wesentlichen Verringerung des Hirndrucks führen (Aus Benzer et. al [1995] Intensivmedizin, 7. Aufl. Springer, Heidelberg)
Bei intrakranieller Liquorzunahme mit Weitung der inneren und äußeren Liquorräume (Hydrozephalus) ist häufig an den Engstellen (Foramen Monroi oder Aquädukt) der Liquorabfluss gestört. Dies kann durch Blut oder Raumforderungen geschehen. Selten ist die Liquorbildung gesteigert oder die Resorption vermindert. Beim Erwachsenen werden ca. 500 ml/d Liquor gebildet und vorwiegend in den Plexus chorioidei an den Arachnoidalzotten resorbiert. Die Liquorgesamtmenge des Erwachsenen beträgt normalerweise nur ca. 150 ml.
Hirndrucküberwachung Bei einem Hirnödem oder einer intrakraniellen Raumforderung ist eine Hirndrucküberwachung sinnvoll. Wird der Hirndruck (ICP) eines Patienten gemessen, kann bei bekanntem mittleren arteriellen Druck (MAP) der zerebrale Perfusionsdruck (CPP) als relevante Größe für die Hirndurchblutung bestimmt werden (CPP = MAP–ICP). Das therapeutische Ziel ist, den Hirnperfusionsdruck CPP über 70 mmHg zu halten. Der Hirndruck selbst sollte unter 20 mmHg liegen. Leider kann aufgrund von bildgebenden Verfahren (CT oder MRT) der Hirndruck nur grob
59
594
Kapitel 59 · Zerebrale Funktionsstörungen
abgeschätzt werden. Dies erfolgt durch indirekte Zeichen wie Größe der Liquorräume, Größe der Raumforderung, Mittellinienverlagerung, Ausdehnung des Hirnödems und – als Spätzeichen – eine (obere oder untere) Einklemmung. Nicht invasiv lassen sich aus den Befunden (Flussprofile) in einer transkraniellen Doppleruntersuchung die Folgen eines erhöhten Hirndrucks auf die Hirnperfusion abschätzen. Invasive Hirndruckmessungen können epidural, subdural, subarachnoidal, intraparenchymatös und intraventrikulär durchgeführt werden. Der Druckaufnehmer kann direkt an der Sondenspitze oder extrakraniell mit Druckübertragung durch einen Katheter erfolgen. Eine direkte Messung ist z. B. über eine in die Kalotte eingeschraubte Sonde möglich, die epidural misst. Das epidurale Kompartiment ist jedoch nur bedingt repräsentativ für den intrakraniellen Druck; von Vorteil ist die geringe Komplikationsrate dieser Messung. Genauer sind direkte Messsonden, die intraparenchymatös liegen. Eine andere einfache Methode ist die Messung über eine in den Liquorräumen positionierte Nadel als Sonde. Die Anlage der Nadel ist jedoch bei engen Liquorräumen schwierig. Von Vorteil ist die gleichzeitig mögliche Liquordrainage, Nachteil die Dämpfung durch die Flüssigkeitssäule in den Messleitungen. ! Bei Hirndruck können intrakraniell regional deutlich unterschiedliche Drücke vorhanden sein. Die Risiken der intrakraniellen Messungen sind die Verletzung des Hirnparenchyms und die damit möglicherweise ausgelöste Blutung sowie ein Infektionsrisiko. Für alle invasiven Druckmessver fahren sind Gerinnungsstörungen eine Kontraindikation.
59.3.2 Epilepsie
59 Die Anfälle können fokal oder generalisiert auftreten und sind meist von einer vorübergehenden Bewusstseinsstörung begleitet. Die richtige Bewertung erfordert eine genaue Anamnese oder Fremdanamnese und Kenntnisse über die verschiedenen Anfallsformen. Anfallsformen bei Epilepsie 1. Einfache fokale Anfälle (ohne Bewusstseinstörung) mit motorischen, sensiblen, vegetativen oder psychischen Symptomen 2. Komplexe fokale Anfälle (mit Bewusstseinstörung), Anfallsbeginn mit einer Bewusstseinstrübung oder 6
nach Beginn mit fokalem Anfall und nachfolgender Eintrübung 3. Fokale Anfälle mit sekundärer Generalisierung 4. Generalisierte Anfälle mit Absenzen, klonische Anfälle, tonische Anfälle, tonisch-klonische Anfälle (Grand mal) 5. Status epilepticus, Anfallsserien ohne zwischenzeitliche Erholungspausen, generalisiert oder fokal
Inzidenz. Etwa 5 % der Bevölkerung erleben in ihrem Le-
ben einen einzelnen Anfall, bei etwa 0,5 % entwickelt sich eine Epilepsie, wobei die durchschnittliche Krankheitsdauer 10 Jahre beträgt. 90 % aller Epilepsien treten vor dem 25. Lebensjahr auf. Bei einem erstmaligen Auftreten nach dem 25. Lebensjahr spricht man von einer Spätepilepsie. Ursachen von Epilepsie sind angeborene oder fokale Gehirnveränderungen (Narben nach Trauma, Tumore, Durchblutungsstörungen, Gefäßmissbildungen, Zysten), metabolische Störungen (Elektrolytentgleisungen, Hypoglykämie), Infektionen, Fieber oder toxische Einflüsse (z. B. Alkoholoder Medikamentenentzug). In der Hälfte der Fälle lässt sich keine Ursache erkennen. Ein erstmaliges Auftreten einer Epilepsie sollte jedoch immer zu einer Abklärung führen. Es sollten eine EEG-, eine CT- oder eine MRT-Untersuchung durchgeführt werden. ! Ein sehr wichtiger Ausschluss ist eine Hypoglykämie.
Therapie. Ein einzelner Anfall sollte im Gegensatz zu einem
Status epilepticus nicht therapiert werden. Ist der Patient nach einem Anfall wieder ansprechbar, benötigt er meist keine sofortige antiepileptische Therapie. Es sollte, falls möglich, erst eine Ursachenabklärung erfolgen. Dies ist bei bekannten Auslösern wie intrakraniellen Blutungen, SchädelHirn-Trauma oder Hirntumor anders. Bei einem Anfall ist hier die akute Therapie mit einem Benzodiazepin (z. B. Midazolam) indiziert. Laut verschiedenen Studien ist Midazolam wirksamer als das meist verwendete Diazepam. In höherer Dosierung ist die Möglichkeit zur Beatmung zu gewährleisten. Bei einem Status epilepticus ist die Gabe von Phenytoin oder eine Dauertherapie mit Clonazepam sinnvoll. ! Rasche Gabe von Phenytoin kann einen drastischen Blutdruckabfall zur Folge haben.
Ist weder mit Benzodiazepinen noch mit Phenytoin der Status zu durchbrechen, ist unter Beatmung des Patienten eine Therapie mit Barbituraten (Thiopental, Methohexital) notwendig.
595 59.4 · Nicht primär zerebral ausgelöste Störungen
59.3.3 Meningitis
59.3.6 Schädel-Hirn-Trauma
Meningeale Reizungen gehen fast immer bei wachen Patienten mit Kopfschmerzen, Übelkeit, Erbrechen und Nackensteifigkeit, positivem Kernig-Zeichen (Flexionskontraktur der Beine, Streckung des Kniegelenks beim Sitzen nicht möglich) oder Lasègue-Zeichen (Hüftgelenk kann bei gestrecktem Kniegelenk nicht gebeugt werden) einher. Auch bei einem bewusstseinsgetrübten Patienten können positive Dehnungszeichen (z. B. eine Nackensteifigkeit) festgestellt werden. In 10–30 % der Fälle kommen epileptische Anfälle hinzu, seltener sind Halbseitensymptomatik, Aphasie oder delirante Zustände. Nach Ausschluss von Hirndruck mit Einklemmungsgefahr und Gerinnungsstörungen sollte eine Liquordiagnostik (vorwiegend als Lumbalpunktion) erfolgen. Es werden neben der nativen Beurteilung (Trübung, Blutanteil), eine Bestimmung der Zellzahl, Messungen des Proteins, der Glukose, des Laktats und eine Gram-Färbung durchgeführt. Zusätzlich sollte eine mikrobiologische Kultur angelegt werden. Neuerdings sind PCR-Schnelltestverfahren zur Bestimmung klassischer Meningitiserreger möglich. Sind die Zellzahlen im Liquor normal (< 5 Zellen/Pl), kann eine bakterielle Infektion praktisch ausgeschlossen werden. Der Glukosegehalt des Liquors ist abhängig vom Gehalt im Blut. Das Laktat ist blutspiegelunabhängig, da es vorwiegend aus dem hirneigenen Stoffwechsel stammt.
Schädel-Hirn-Traumata (SHT) treten meist mit zerebralen Funktionsstörungen auf. Es ist ein genauer Ausgangsbefund zu erheben. In vielen Fällen ist initial ein CT sinnvoll, um das Ausmaß der Schädigung zu sehen und ggf. eine frühe operative Versorgung durchzuführen. Bei einer zerebralen Verschlechterung in den ersten Tagen nach einem Trauma ist ebenfalls ein (erneutes) CT sinnvoll. Spätestens ab einem GCS von unter 12 Punkten (. Tab. 59.1) ist in der Regel eine Überwachung auf einer Intermediate Care Station oder Intensivstation anzustreben
59.3.4 Enzephalitis Entzündungen des Hirnparenchyms treten bei Sepsis durch Absiedelung von Bakterien oder embolisch durch Mikrothromben als Herdbefund auf. Es kann auch zu Ausbildung größerer Abszesse kommen. Häufig sind Viren als Enzephalitis-Auslöser (z. B. Herpesviren). Diese Enzephalitis ist in den ersten 2–3 Tagen oft im CT nicht zu erkennen, hier hat die MRT-Diagnostik große Vorteile.
59.3.5 Hirntumor Tumore können verschiedenste zerebrale Funktionsstörungen bewirken. Die initialen Symptome sind oft sehr diffus. 30 % haben epileptische Anfälle als Erstsymptom. Neben der direkten Funktionsstörung am Ort des Tumors werden meist durch Verdrängung, Verlagerung und perifokales Ödem zusätzliche Störungen hervorgerufen. Durch antiödematöse Therapie, z. B. mit Dexamethason, Diuretika und Osmotherapeutika (bei erhaltener Blut-Hirn-Schranke) lassen sich bei akutem Hirndruck oft rasche Verbesserungen erzielen.
59.3.7 Intrakranielle Blutungen Subarachnoidalblutungen zeigen einen plötzlich eintretenden Kopfschmerz, Meningismuszeichen und ein sekundäres Eintrüben. Da eine Aneurysmaruptur die Blutungsquelle sein kann, ist eine rasche Diagnostik mit CT oder Angiographie notwendig.
59.3.8 Zerebrale Ischämien In aller Regel betrifft dies ältere Patienten mit einer kardiovaskulären Grundkrankheit. Hier ist vor allem mit herdförmigen, seitengetrennten zerebralen Störungen zu rechnen. Bedingt durch die verschiedenen Interventionsmöglichkeiten und den raschen Untergang von Hirngewebe ist eine rasche Diagnostik mit CT und ggf. eine Versorgung in einer neurologischen Einrichtung (Stroke Unit) sinnvoll.
59.4
Nicht primär zerebral ausgelöste Störungen
Blutzuckerentgleisungen. Sowohl hypo- wie auch hyper-
glykämische Zustände gehen mit teilweise schweren zerebralen Funktionsstörungen (Delir, Somnolenz, Koma, Epilepsie) einher. Das Hirngewebe nutzt vor allem Glukose für seinen Stoffwechsel. Lipide können im Gehirn nicht zur ATP-Produktion herangezogen werden. Deshalb muss bei einer unklaren zerebralen Funktionsstörung immer eine Blutzuckerkontrolle erfolgen. Elektrolytentgleisungen. Ausgeprägte Elektrolytverände-
rungen (Natrium, Kalium, Kalzium) oder rasche Blutspiegelveränderungen der Elektrolyte gehen mit ausgeprägten zerebralen Störungen und auch teilweise einem Hirnödem einher (7 Kap. 57). Krampfanfälle, Verwirrtheit und Kopfschmerzen sind unspezifische Zeichen dieser Störungen.
59
596
Kapitel 59 · Zerebrale Funktionsstörungen
Deshalb gehört eine Kontrolle der Serumelektrolyte (heute häufig in modernen Geräten zur Blutgasanalyse integriert) zur absolut notwendigen Abklärung unbekannter zerebraler Funktionsstörungen. Leber- oder Nierenausfall. Bei hochgradiger Leberinsuffizi-
enz kann es zum Pyramidenbahnzeichen und zum Koma kommen. Eine urämische Situation kann (neben den Elektrolytveränderungen) durch die nicht eliminierten Abbauprodukte zu Krampfanfällen, Myoklonien oder einem Tremor führen. Hormonstörungen. Hypo- und Hyperthyreose können mit Verwirrtheit, Psychosen und Epilepsie einhergehen. Eine Nebenniereninsuffizienz (Addison-Krise) kann ebenfalls zu zerebralen Funktionsstörungen führen. Schock. Eine ausgeprägte Hypotension oder ein kardiales
Low-output-Syndrom können die zerebralen Funktionen ebenfalls einschränken. Vor allem bei starken Wandveränderungen und Stenosen in den hirnversorgenden oder hirneigenen Gefäßen können hypotensive Zustände zu einer Mangeldurchblutung mit einer Minderversorgung des Gehirns führen. Toxische Schädigungen. Alkohol, Sedativa, Hypnotika und Opiate führen dosisabhängig bis zum Koma mit Atemstillstand. Bei unklarer Bewusstseinstörung oder Koma ist deshalb ein Laborscreening auf die am häufigsten verwendeten Substanzen (Drogen) sinnvoll. Ältere Menschen reagieren teilweise sehr viel stärker und verlängert auf Sedativa.
59.4.1 Delir
auf. Als Differenzialdiagnose sind Psychosen und Demenz abzugrenzen. Ausgelöst wird ein Delir durch intrakranielle Ursachen (Trauma, Blutung, Ischämie, Infektion), Medikamenteneinnahme oder der Entzug von Alkohol und Medikamenten (Sedativa, Opiate usw.). Eine Sepsis kann ebenfalls als erstes Zeichen ein Delir zeigen. Therapie: Falls möglich, sollte die Ursache des Delirs beseitigt werden. Zur medikamentösen Therapie sind Benzodiazepine, Haloperidol und Clonidin sinnvoll. Clomethiazol ist wegen seiner deutlichen Bronchialsekretionssteigerung auf der Intensivstation nur in wenigen Fällen indiziert. Bei allen Therapien ist eine engmaschige Kontrolle wegen der möglichen Nebenwirkungen angezeigt. Haloperidol als Monotherapie kann prokonvulsiv sein. Bei Clonidin ist auf Bradykardien und Hypotension zu achten. Eine Benzodiazepin-Therapie ist bezüglich ihrer Atemdepression zu überwachen. Bei Verdacht auf ein zentral anticholinerges Syndrom (z. B. als Narkosefolge) kann die Gabe von Physostigmin (Anticholium) erfolgen. Wird der Patient darunter bewusstseinsklar, ist die Diagnose »ex juvantibus« zu stellen. Neben der Medikamententherapie ist ein sicheres Verhalten mit eindeutigen Aussagen beim Umgang mit Patienten im Delir sehr hilfreich. Persönliche Gegenstände, bekannte Personen und vor allem eine ausreichende Schmerztherapie helfen ebenfalls, die Situation zu verbessern. Oft sind solche Situationen eine Belastung für alle Beteiligten. In manchen Fällen können eine Fixierung der Hände, Füße und ein Beckengurt notwendig sein. ! Fixierungen so anbringen, dass sich der Patient nicht verletzt. Eine Fixierung ersetzt eine Überwachung nicht. Bei länger dauernder Fixierung ist ggf. eine Betreuung (durch ein Vormundschaftsgericht) einzurichten.
59 Das Delir/Durchgangssyndrom ist ein reversibles hirnorganisches Psychosyndrom, dessen Dauer meist 3–10 Tage beträgt. Bei der Kombination von hirnorganischen Schädigungen (Trauma, Ischämie) und einem zusätzlichen Entzug ist die Delirdauer verlängert. Länger als 4 Wochen hält ein Delir in der Regel nicht an. Symptomatik: Das Delir zeigt sich durch globale kognitive Störungen (Denken, Perzeption, Gedächtnis), (paranoide) Wahnvorstellungen, illusionäre Verkennung, Halluzinationen, Desorientiertheit. Zusätzlich treten oft ein gestörter Tag/Nachtrhythmus mit vor allem nächtlicher Unruhe und vegetative Störungen (Schwitzen, Hypertonus, Tachykardie, Zittern als Zeichen einer sympathischen Überaktivität)
59.5
Zusammenfassung
Zerebrale Funktionsstörungen müssen auf ihre Ursache hin abgeklärt werden. Dies erfordert neben einer guten klinischen Untersuchung häufig auch eine apparative Untersuchung. Die meisten intrakraniellen Auslöser einer zerebralen Funktionsstörung lassen sich in einem CT des Schädels sichtbar machen. Es ist immer daran zu denken, dass die Ursachen nicht primär zerebral sein müssen. Bei unklaren Bewusstseinsstörungen sind deshalb eine Hypotension, Hypoglykämie, Hypoxie und Hyperkapnie auszuschließen. Bei Patienten mit einer vorhergehenden Sedierung kann zur Abklärung der Funktionsstörungen eine Antagonisierung der sedierenden Medikamente sinnvoll sein.
597 Literatur
Literatur Berlit P, Braun R (1998): Klinische Neurologie für Anästhesisten. Thieme, Stuttgart Benzer H, Burchardi H, Larson R, Suter PM , (Hrsg) (1994),: Intensivmedizin. Springer, Berlin Heidelberg New York Demetriades D, Kuncir E, Velmahos GC, Rhee P, Alo K, Chan LS (2004): Outcome and prognostic factors in head injuries with an admission Glasgow Coma Scale score of 3. Arch surg 139: 1066–1068 Doeffinger Joachim, Jesch Franz (2002): Intensivmedizinisches Notizbuch. Wissenschaftliche Verlagsabteilung Abbott Wiesbaden Marino PL (1994): Das ICU Buch. Urban & Schwarzenberg, München Morgalla MH, Grote EH (1999): Messtechnik, Systematik und Methoden der intracraniellen Druckmessung. Anaesthesist 48: 630–638.
59
60 Analgosedierung auf der Intensivstation Thomas Wagner 60.1 Zielsetzung der Analgosedierung –600 60.2 Pharmakologische Grundlagen –600 60.2.1 60.2.2 60.2.3 60.2.4 60.2.5
Bolusgabe versus kontinuierliche Applikation –601 Kontextsensitive Halbwertszeit –601 Plasmaeiweißbindung –601 Verteilungsvolumen –602 Hepatische Extraktion –602
60.3 Analgetika –603 60.3.1 60.3.2 60.3.3 60.3.4
Opioide –603 Ketamin –604 Nicht-Opioid-Analgetika –604 Regionalanästhesieverfahren –604
60.4 Sedativa –605 60.4.1 60.4.2 60.4.3 60.4.4 60.4.5
Benzodiazepine –605 Propofol –605 Barbiturate –606 Gamma-Hydroxybuttersäure –606 Volatile Anästhetika –606
60.5 Adjuvante Substanzen –606 60.5.1 Zentrale α2-Adrenozeptor-Agonisten –606 60.5.2 Neuroleptika –607 60.5.3 Muskelrelaxanzien –607
60.6 Monitoring der Analgosedierung –607 60.6.1 Analgesie-Monitoring –607 60.6.2 Sedierungs-Monitoring –607
60.7 Konzeption der Analgosedierung –608 60.7.1 60.7.2 60.7.3 60.7.4
Analgesie –608 Sedierung –609 Analgosedierung und Beatmung –609 Entzugssyndrome nach Analgosedierung –610
60.8 Kriterien zur Medikamentenauswahl –610 Literatur –611
600
Kapitel 60 · Analgosedierung auf der Intensivstation
60.1
Zielsetzung der Analgosedierung
Der Begriff Analgosedierung umfasst neben der Analgesie die sich teilweise überschneidenden Komponenten Anxiolyse, Amnesie, Hypnose und psychovegetative Abschirmung. Wesentliche Ziele der Analgosedierung 5 Schmerzfreiheit, Schmerzreduktion 5 Angstfreiheit (vegetative Abschirmung zur hämodynamischen Stabilisierung) 5 Sedierung/Hypnose/Amnesie zur Stressreduktion in psychisch traumatisierenden Situationen 5 Toleranz des künstlichen Atemwegs 5 Toleranz bei diagnostischen/therapeutischen Interventionen 5 Schonender Übergang zur Spontanatmung 5 Senkung des Sympathikotonus 5 Senkung des erhöhten intrakraniellen Drucks 5 Erzeugen milder Hypothermie, Wiederherstellung der Normothermie 5 Sterbeerleichterung
: Beispiel
60
Ein 18-jähriger Radfahrer erleidet bei der Kollision mit einem Traktor einen Sturz. Nach kurzer Bewusstlosigkeit weist der Patient außer einer retrograden Amnesie keine neurologischen Auffälligkeiten auf. Während des NAWTransports in die Klinik gibt er linksseitig leichte Kopfsowie Flankenschmerzen an. Im Schockraum fallen Müdigkeit, starke Blässe und Zeichen des beginnenden Schocks auf. Die Abdomensonographie zeigt eine Milzruptur und freie Flüssigkeit im Abdomen. Ohne weitere bildgebende Diagnostik wird der Patient zur Splenektomie in den Operationssaal gebracht. Am Ende der Operation bietet er eine diskrete Anisokorie, wenig später beidseitig weite und lichtstarre Pupillen. Die CCT-Untersuchung zeigt einen links-temporalen Kontusionsherd sowie ein generalisiertes Hirnödem mit drohender Einklemmung. Die hirndrucksenkende Therapie (Mannitol, milde Hyperventilation, Lagerung mit erhöhtem Oberkörper) begleitet eine Sedierungsumstellung von Propofol auf Midazolam und Ketamin. Zusätzlich erhält der Patient Sufentanil. Auf der Intensivstation wird eine zerebrale Parenchymsonde zur Messung des intrakraniellen Drucks (ICP) angelegt. Bei weiterhin hohen ICP-Werten wird die Analgosedie6
rung um Methohexital erweitert. Unter antiödematösen Maßnahmen und tiefer Sedierung lassen sich kritische ICP-Anstiege vermeiden, sodass die Sedierung nach acht Tagen bei deutlicher CT-Befundbesserung reduziert und im Laufe einer Woche unter Hinzunahme von Clonidin ausgeschlichen wird. Der Patient zeigt außer einer diskreten motorischen Aphasie keine neurologischen Ausfälle und kann drei Wochen nach dem Unfall in die Frührehabilitation entlassen werden.
Wurde die Analgosedierung zu Beginn der intensivmedizinischen Ära noch als »notwendiges Übel« zur Realisierung der maschinellen Beatmung angesehen, hat sich hinsichtlich ihrer Indikationen in den zurückliegenden Jahrzehnten ein deutlicher Wandel vollzogen. Sie ist heute nicht nur Voraussetzung für zahlreiche intensivmedizinische Maßnahmen, sondern verfolgt auch eigenständige therapeutische Ziele (z. B. bei der Behandlung des erhöhten intrakraniellen Drucks). Dazu werden Analgetika mit Sedativa kombiniert. Ergänzend kommen adjuvante Medikamente zum Einsatz (. Tab. 60.1). Eigenschaften des »idealen« Analgosedierungsregimes 5 Gute Steuerbarkeit (schneller Wirkungseintritt, kurze Wirkungsdauer mit raschem Wirkungsverlust nach Absetzen des Medikaments) 5 Von der Organfunktion unabhängige Elimination 5 Geringe oder fehlende Beeinträchtigung von Organfunktionen, insbesondere des Herz-Kreislauf-Systems, der Atmungsfunktion, der gastrointestinalen Funktion 5 Möglichst geringe Interaktionen mit anderen Medikamenten 5 Keine Kumulation, keine aktiven Metaboliten 5 Keine Histaminfreisetzung 5 Keine Abhängigkeitsentwicklung, auch bei Langzeitanwendung
Keines der gebräuchlichen Medikamente erfüllt alle diese Anforderungen. Dennoch kann dieser Forderungskatalog bei der Entscheidung für oder gegen bestimmte Substanzen hilfreich sein.
60.2
Pharmakologische Grundlagen
Die Pharmakokinetik beschreibt Aufnahme, Verteilung und Elimination (Metabolisierung und Exkretion) von
601 60.2 · Pharmakologische Grundlagen
. Tabelle 60.1. Medikamente für die Analgosedierung Gruppe
Beispiele
Analgetika
5 Opioide: Morphin, Piritramid, Fentanyl, Sufentanil, Remifentanil 5 Ketamin 5 Nicht-Opioid-Analgetika: NSAID, Metamizol, Paracetamol 5 Regionalanästhesiever fahren
Sedativa
5 Benzodiazepine: Diazepam, Midazolam, Lorazepam 5 Propofol 5 Barbiturate: Thiopental, Methohexital 5 Gamma-Hydroxybuttersäure 5 Volatile Anästhetika: Isofluran, Sevofluran
Adjuvante Substanzen
5 α2-Adrenozeptor-Agonisten: Clonidin 5 Neuroleptika: Haloperidol 5 (Muskelrelaxanzien)
Arzneimitteln im Organismus. Wirkungseintritt und Wirkungsdauer werden von diesen Vorgängen determiniert. Die für das Verständnis der Medikamentenauswahl im Rahmen der Analgosedierung wesentlichen Aspekte sind: 4 Bolusgabe versus kontinuierliche Applikation 4 Kontextsensitive Halbwertszeit 4 Plasmaeiweißbindung 4 Verteilungsvolumen 4 Hepatische Extraktion
60.2.1 Bolusgabe versus kontinuierliche
Applikation Im Gegensatz zur bei Narkoseeinleitung gebräuchlichen Bolusinjektion von Analgetika und Sedativa, bei der Umverteilungsphänomene die zentralnervöse Wirkung der Pharmaka beenden, führt die kontinuierliche Applikation von Medikamenten zu unterschiedlicher Verteilung auf die Kompartimente des Organismus und zur Anreicherung in bestimmten Geweben mit entsprechenden Folgen für die Wirkungsdauer. Dies soll am Beispiel der Benzodiazepine veranschaulicht werden: Während einer Dauerinfusion bindet die Substanz an den Benzodiazepin-Rezeptor. Gleichzeitig kommt es zum Auffüllen des so genannten tiefen Kompartiments; hierunter werden alle Gewebe mit niedrigem Blutfluss, aber hoher Aufnahmekapazität für das Medikament (z. B. Fettgewebe, Muskulatur) subsumiert. Bei entsprechender Dosierung werden schließlich sämtliche Rezeptoren mit
dem Wirkstoff besetzt, also abgesättigt sein. Das Fortsetzen der Infusion führt dann zu keiner weiteren Wirkungszunahme, sondern lediglich zum Kumulieren der Substanz im tiefen Kompartiment. Die Folge: Nach Beendigung der Medikamentenzufuhr kommt es erst dann zum Abklingen der Arzneimittelwirkung, wenn die Substanzkonzentration am Wirkort (ZNS) infolge von Rückverteilung und Elimination soweit gefallen ist, dass nun auch Rezeptoren wieder frei werden. ! Das Überschreiten der zum vollständigen Besetzen aller Rezeptoren er forderlichen Dosierung führt nicht zu einer Zunahme der erwünschten Medikamentenwirkung, wohl aber zur Verlängerung der Wirkdauer.
60.2.2 Kontextsensitive Halbwertszeit Zur Beschreibung der Eliminationsgeschwindigkeit von Sedativa und zentral wirksamen Analgetika bei Langzeitanwendung wird die kontextsensitive Halbwertszeit herangezogen. Diese ist definiert als diejenige Zeitspanne, in der die Plasmakonzentration einer Substanz in Abhängigkeit von der Applikationsdauer (dem Kontext) um die Hälfte abgenommen hat. ! Substanzen, die mit zunehmender Applikationsdauer keine oder nur eine geringe Zunahme der kontextsensitiven Halbwertszeit aufweisen, sind für die Analgosedierung zu bevorzugen.
Die Steuerbarkeit der Medikamentenwirkung ist hier insofern besser, als Aufwachzeiten auch nach mehrtägiger Gabe nicht in so hohem Maße verlängert sind wie bei Substanzen, deren kontextsensitive Halbwertszeit mit wachsender Infusionsdauer deutlich zunimmt (. Abb. 60.1). Es sei aber darauf hingewiesen, dass es sich bei der kontextsensitiven Halbwertszeit um ein theoretisches Konstrukt handelt, basierend auf Computersimulationen am Mehrkompartimentmodell. Die Anwendbarkeit im Einzelfall ist eingeschränkt, weil ein Modell nicht alle pharmakokinetisch relevanten Faktoren berücksichtigen kann.
60.2.3 Plasmaeiweißbindung Zentral wirksame Pharmaka sind lipophil und werden im Blut zum überwiegenden Teil an Plasmaproteine gebunden transportiert, d. h. sie weisen eine hohe Plasmaeiweißbindung auf. Pharmakologisch wirksam ist indessen nur die freie, also ungebundene Fraktion. Darüber hinaus steht
60
602
Kapitel 60 · Analgosedierung auf der Intensivstation
(D = Dosis, CPlasma = extrapolierte maximale Plasmakonzentration). Medikamente, die sich im tiefen Kompartiment anreichern, erscheinen im Plasma in geringer Konzentration, sodass das Verteilungsvolumen entsprechend groß ist. Die Clearance einer Substanz (Cl) beschreibt deren Elimination aus dem Organismus. Sie gibt an, aus wie viel Millilitern des gesamten Verteilungsvolumens die Substanz pro Minute eliminiert wird. Die Clearance ist proportional zum Verteilungsvolumen. Auch die Plasmahalbwertszeit verhält sich proportional zum Verteilungsvolumen:
t1/2 . Abb. 60.1. Kontextsensitive Halbwertszeit von Analgetika und Sedativa (semiquantitativ)
60
auch nur diese den Eliminationsmechanismen in Leber und Niere zur Verfügung. Ausgeprägte Eiweißmangelzustände können somit zu einer signifikanten Erhöhung der freien Substanz mit entsprechender Wirkungsverstärkung führen. Insbesondere bei Bolusgaben muss eine Dosisreduktion erfolgen. Bei kontinuierlicher Medikamentengabe hingegen erfordern erniedrigte Plasmaeiweißkonzentrationen in der klinischen Praxis zumeist keine Dosisanpassung, weil sich bei erhöhter freier Substanzmenge im Plasma und konsekutiver Zunahme der Metabolisierungsrate in der Leber ein neues Gleichgewicht einstellt. Dies setzt allerdings eine normale Leberfunktion voraus. Ist diese eingeschränkt, können Arzneimittel kumulieren. Weiterhin können Azidose und – geradezu typisch für kritisch Kranke – gleichzeitige Gabe mehrerer, um die Plasmaeiweißbindung konkurrierender Substanzen eine Zunahme der freien Medikamentenfraktion im Blut und damit eine Zunahme der Medikamentenwirkung verursachen, indem sie sich gegenseitig aus der Proteinbindung verdrängen.
60.2.4 Ver teilungsvolumen Wird eine Substanz intravenös verabreicht, so verteilt sie sich aufgrund ihrer pharmakologischen Eigenschaften unterschiedlich auf den Organismus. Das Verteilungsvolumen (Vd) beschreibt das virtuelle Volumen, auf das sich die applizierte Dosis scheinbar verteilt:
Vd
D C Plasma
ln2 u
Vd Cl
! Pharmaka mit niedrigem Verteilungsvolumen sind unter dem Gesichtspunkt der Steuerbarkeit (zügigeres Erwachen nach Ende der Applikation bei Medikamenten mit kürzerer Halbwertszeit) zu bevorzugen.
60.2.5 Hepatische Extraktion Von wenigen Ausnahmen abgesehen, werden die für die Analgosedierung eingesetzten Medikamente von der Leber eliminiert, weil sie aufgrund ihrer Lipophilie metabolisiert werden müssen, bevor sie bzw. ihre Metaboliten ausgeschieden werden können. Die hepatische Extraktion (EH) gibt substanzspezifisch den Anteil des Medikamentes an, dessen Elimination in der Leber stattfindet. Neben der hepatischen Extraktion bestimmt der hepatische Blutfluss (FH) die hepatische Clearance: ClH = EH u FH. Die Leber-Clearance kann aufgrund dieser Abhängigkeit vom Leberblutfluss bei Intensivpatienten gravierend beeinträchtigt sein. Allein die Überdruckbeatmung reduziert die Leberdurchblutung um bis zu 20 %. Kommen weitere Störfaktoren (Schock, intraabdominelle Druckerhöhung) hinzu, kann die hepatische Clearance in so starkem Umfang eingeschränkt sein, dass auch Medikamente mit hoher hepatischer Extraktion kumulieren können. Umgekehrt kann der hepatische Blutfluss bei hyperdynamer Kreislaufsituation (z. B. bei Sepsis-Patienten) derart zunehmen, dass Medikamente mit hoher hepatischer Extraktion in so hohem Maße eliminiert werden, dass deren Dosisbedarf deutlich ansteigt. Alternativ zu einer situationsadaptierten Dosiserhöhung kann ein Medikationswechsel erfolgen. Hierzu wird auf eine Substanz mit geringerer hepatischer Extraktion umgestellt, deren Clearance geringer ist (die also nicht bei jeder Leberpassage größtenteils eliminiert wird).
603 60.3 · Analgetika
60.3
Analgetika
! Wichtigstes Ziel der Analgosedierung ist eine gezielte und adäquate Analgesie, also die Ausschaltung von Schmerzen bzw. deren Linderung auf ein erträgliches Maß. Erst in zweiter Linie geht es um die Frage, ob und womit eine Sedierung erzielt werden soll.
Für die Analgesie kommen Opioide, Ketamin, NichtOpioid-Analgetika und Regionalanästhesie-Verfahren zur Anwendung.
60.3.1 Opioide Opioide sind die Basissubstanzen für die Analgesie-Komponente im Rahmen der Analgosedierung. Die hierfür gebräuchlichen Pharmaka sind allesamt reine Agonisten an Opioidrezeptoren, die sich im ZNS, aber auch in peripheren Nerven befinden. Für die Vermittlung der analgetischen Wirkung ist der P1-Rezeptor die wichtigste Bindungsstelle, während Stimulation des P2-Rezeptors vor allem Atemdepression, Bradykardie und Euphorisierung hervorruft. Die übrigen Opioidrezeptor-Typen (G-, F-, VRezeptoren) sind für Überlegungen zur Analgosedierung von untergeordneter Bedeutung. Hinsichtlich des Wirkungsspektrums und unerwünschter Wirkungen verhalten sich alle Substanzen recht ähnlich. Sie besitzen nur geringe Kreislaufwirkungen, können aber infolge der analgesiebedingten Dämpfung des Sympathikotonus zu Hypotension führen. Alle Opioide wirken – ebenfalls opioidrezeptorvermittelt – atemdepressiv und können Übelkeit und Erbrechen auslösen. Zudem beeinträchtigen sie die Motilität des Magen-Darm-Trakts mit regelmäßig zu beobachtender Obstipation. Deshalb sollte die Langzeitgabe von Opioiden stets von Laxanzien begleitet werden. Morphin. Die »Ursubstanz« der klinisch gebräuchlichen
Opioide setzt Histamin frei, hat eine ungünstige Pharmakokinetik (schlechte Steuerbarkeit) und findet deshalb zur Analgosedierung kaum noch Anwendung. Wegen seiner die Vorlast senkenden Wirkung wird Morphin gelegentlich bei Patienten im kardiogenen Schock (Myokardinfarkt, Lungenembolie) eingesetzt. Die Substanz senkt in höherer Dosierung infolge einer Tonusverminderung der glatten Muskulatur in den Blutgefäßen den Blutdruck. Diese Wirkung ist stärker ausgeprägt als bei anderen Opioiden. Nicht selten wird Morphin bei moribunden Patienten zur Sterbeerleichterung verwendet.
Piritramid. Dieses Opioid hat eine dem Morphin vergleichbare analgetische Potenz, besitzt aber nur minimale Kreislaufwirkung, löst außerdem seltener Übelkeit und Erbrechen aus, wirkt weniger atemdepressiv und ist bei fehlender Histaminliberation in der postoperativen Schmerztherapie weit verbreitet. Auf der Intensivstation wird die Substanz wegen ihrer relativ langen Wirkungsdauer zumeist intermittierend als Bolus gegeben und hat insbesondere im Rahmen der intravenösen Patienten-kontrollierten Analgesie (PCA), bei der das Analgetikum vom Patienten »per Knopfdruck« als Bolus abgerufen wird, einen festen Platz. Die PCA setzt allerdings wache, orientierte Patienten voraus, was ihre Anwendbarkeit in der Intensivmedizin – wenngleich in den letzten Jahren zunehmend eingesetzt – einschränkt. Fentanyl. Das synthetische Opioid Fentanyl besitzt bei kürzerer Wirkungsdauer eine etwa 100fach höhere analgetische Potenz als Morphin. Wegen gleichzeitig kürzerer Wirkungsdauer, geringerer kontextsensitiver Halbwertszeit und fehlender Histaminfreisetzung war Fentanyl über lange Zeit das am häufigsten eingesetzte Opioid zur Analgosedierung, wird jedoch seit der Einführung des überlegenen Sufentanil deutlich seltener für diese Indikation verwendet. Sufentanil. Sufentanil zeigt bei 10fach höherer analgeti-
scher Potenz als Fentanyl ähnliche Eigenschaften wie dieses. Die Substanz weist eine hohe Affinität zum P1-Rezeptor auf. Die atemdepressive Wirkung soll daher geringer ausfallen als bei weniger selektiven P-Rezeptoragonisten. Außerdem zeichnet sich Sufentanil durch eine ausgeprägte sedierende Wirkungskomponente mit der erwünschten psychovegetativen Abschirmung aus. Deshalb und aufgrund der günstigen pharmakologischen Kenndaten (niedrige und auch bei längerer Infusionsdauer nur wenig zunehmende kontextsensitive Halbwertszeit) ist die Substanz für Analgosedierungskonzepte ausgezeichnet geeignet. Remifentanil. Remifentanil ist ein synthetischer P-Rezep-
tor-Agonist, dessen Elimination durch Plasmaesterasen und damit unabhängig von der Organfunktion erfolgt. Selbst mehrtägige Applikation führt nicht zu einer Zunahme der kontextsensitiven Halbwertszeit. Damit besitzt die Substanz einzigartige Eigenschaften. Allerdings ist sie für die postoperative Analgosedierung nur für bis zu 72 h zugelassen und darüber hinaus bei äquipotenter Dosierung wie herkömmliche Opioide so teuer, dass die Abwägung von Kosten und Nutzen zu ihren ungunsten ausfällt
60
604
Kapitel 60 · Analgosedierung auf der Intensivstation
60.3.2 Ketamin
60
Ketamin nimmt insofern eine Sonderstellung ein, als die Substanz sowohl analgetische als auch sedierende Wirkungen besitzt. Diese werden durch Angriffspunkte an verschiedenen Rezeptorsystemen hervorgerufen. Die bei höherer Dosierung eintretende hypnotische Wirkung wird für den Einsatz zur Analgosedierung normalerweise nicht angestrebt. Demgegenüber wirkt die Substanz bereits in niedriger Dosierung sehr gut analgetisch und ruft bei erhaltenen Schutzreflexen nur in geringem Maße Atemdepression hervor. Daher bietet sie sich vor allem in Situationen an, in denen die Spontanatmungsaktivität möglichst erhalten bleiben soll. Zudem weist das Medikament hervorragende bronchodilatatorische Eigenschaften auf. Ketamin kann zur Supplementierung oder anstelle von Opioiden eingesetzt werden, zumal die Substanz die gastrointestinale Motilität nicht beeinträchtigt. Ein weiterer Vorzug kann in der kreislaufstabilisierenden Wirkung bestehen, sodass z. B. bei Sepsispatienten der Bedarf an exogen zugeführten Katecholaminen abnimmt. Andererseits muss aufgrund der sympathikomimetischen Effekte (Zunahme des myokardialen Sauerstoffverbrauchs) bei Patienten mit arterieller Hypertonie, koronarer Herzerkrankung oder Herzinsuffizienz eine strenge Indikationsstellung erfolgen. Für Schädel-Hirn-traumatisierte Patienten bzw. für Patienten mit gesteigertem intrakraniellen Druck gilt Ketamin bei Spontanatmung wegen der hier regelhaft zu beobachtenden Erhöhung des Hirndrucks als kontraindiziert. Faktisch entfällt diese Einschränkung aber, da solche Patienten stets intubiert und beatmet sind. Um unerwünschte psychomimetische Effekte (»bad trips«) zu vermeiden, sollte Ketamin mit einem Sedativum (Propofol, Benzodiazepin) kombiniert werden. Ketamin ist ein Razemat, besteht also aus einer Mischung der Enantiomere S(+)- und R(-)-Ketamin. Seit einigen Jahren ist das isolierte rechtsdrehende S(+)-Ketamin, das im Vergleich zum Razemat analgetisch deutlich potenter ist und bei höherer Clearance kürzere Aufwachzeiten ermöglicht, als Präparat verfügbar.
60.3.3 Nicht-Opioid-Analgetika Die Analgetikatherapie kann ergänzt werden mit NichtOpioid-Analgetika (z. B. NSAID, Paracetamol, Metamizol), deren analgetische Potenz alleine in den meisten Fällen nicht ausreicht, die jedoch einen opioideinsparenden Effekt besitzen können. Allerdings sind die entspre-
chenden Kontraindikationen zu beachten, vor allem bei eingeschränkter Leber- und Nierenfunktion, bei positiver Ulkusanamnese und bei erhöhtem Blutungsrisiko. Die in Frage kommenden Substanzen werden an anderer Stelle vorgestellt (7 Kap. 20).
60.3.4 Regionalanästhesiever fahren Bekannterweise führt die Schmerzbehandlung durch Regionalanästhesieverfahren zu einer merklichen Abnahme des Bedarfs an Analgetika. Die damit einhergehende Reduktion unerwünschter Opioidwirkungen (z. B. Atemdepression, Obstipation) lässt Regionalanästhesieverfahren auch bei Intensivpatienten prinzipiell geeignet erscheinen. So kommt die thorakale Periduralanästhesie (vorzugsweise kontinuierlich über einen Periduralkatheter, der bereits präoperativ platziert wurde) oder die intermittierend erfolgende Interkostalblockade zur Schmerztherapie nach Thorakotomien zur Anwendung. Bei Extremitätenverletzungen bzw. -amputationen bietet sich die lumbale Katheter-Periduralanästhesie (untere Extremität) bzw. die Anlage eines Katheters zur Anästhesie des Plexus brachialis (obere Extremität) an. Die Periduralanästhesie führt nicht nur zur Reduktion des Opioidbedarfs mit entsprechend geringerer Obstipationsproblematik, sondern über eine Sympathikolyse zu einer direkten Zunahme der gastrointestinalen Motilität. Abdominelle und/oder thorakale Operationen führen regelmäßig schmerzbedingt zu Veränderungen von Atemmechanik und Atemmuster (flachere, höherfrequente Atmung), die die Entstehung von Atelektasen begünstigen. Insofern kann eine suffiziente Regionalanästhesie unter Erhalt der Spontanatmung Atelektasen vermeiden helfen und als Pneumonieprophylaxe angesehen werden. Warum finden Regionalanästhesieverfahren trotz dieser offensichtlichen Vorzüge keineswegs so häufig Anwendung, wie die vorstehenden Ausführungen vermuten lassen? Es sind hauptsächlich die zwar seltenen, aber gravierenden Komplikationen speziell der rückenmarknahen Katheterverfahren, die deren Einsatz im klinischen Alltag limitieren. Die Möglichkeit irreversibler neurologischer Probleme infolge von Blutungen (epidurale Hämatomentstehung) oder Infektion (Abszess) führt zur Beschränkung von Regionalanästhesieverfahren auf wache und kommunikationsfähige Patienten, die die frühzeitige Erfassung dieser Komplikationen erlauben. Bei allen anderen Patienten wird ein solches Verfahren nur ausnahmsweise nach gründlicher Abwägung möglicher Vorteile und potenzieller Nachteile zum Einsatz kommen.
605 60.4 · Sedativa
60.4
Sedativa
Die Sedierung soll den Patienten vor unangenehmen Stimuli abschirmen. Derartige Stressfaktoren wirken vielfach auf kritisch Kranke ein: hoher Geräuschpegel (Geräte, Alarme, Personal), Schlafentzug bzw. -störungen (Licht, diagnostische und/oder therapeutische Maßnahmen), maschinelle Beatmung, Angst. Sedativa sollen dem Patienten ermöglichen, diese Faktoren angst- und stressfrei zu tolerieren.
60.4.1 Benzodiazepine Benzodiazepine sind sedativ-hypnotisch wirksam und rufen Amnesie und Anxiolyse hervor. Sie wirken antikonvulsiv, zentral muskelrelaxierend und atemdepressiv. Paradoxe Reaktionen sind selten und treten vorwiegend bei älteren Patienten auf. Die Kreislaufwirkung ist bei üblichen Dosierungen gering; im Vordergrund steht dabei – ähnlich wie bei den Opioidanalgetika – die Sympathikusdämpfung mit nachfolgender Kreislaufdepression. Die Wirkung wird über den Benzodiazepinrezeptor vermittelt. Dieser ist Teil des Gamma-Aminobuttersäure-(GABA-) Rezeptors. GABA ist der bedeutendste inhibitorische Neurotransmitter im ZNS. Benzodiazepine entfalten ihre Wirkung in Abhängigkeit vom Ausmaß der Rezeptorbindung: Sind bis zu etwa 20 % der Rezeptoren besetzt, steht die Anxiolyse, bei 30–50 % die Sedierung im Vordergrund. Bewusstseinsverlust tritt bei mehr als 60 % Rezeptorbindung ein. Chronische Anwendung der Benzodiazepine über einen längeren Zeitraum führt infolge von Toleranzentwicklung (Down-Regulation der Rezeptoren, verminderte Ansprechbarkeit) zu einer Wirkungsabschwächung, die eine Dosiserhöhung erforderlich machen kann. Sind allerdings alle Rezeptoren besetzt, so kann eine weitere Dosissteigerung zu keiner Wirkungszunahme führen. Die auf Intensivstationen mitunter zu beobachtenden hohen Benzodiazepindosierungen verursachen die eingangs geschilderten Probleme hinsichtlich der zu erwartenden Aufwachzeiten (7 Abschnitt 60.2). Um der toleranzbedingten Wirkungsabschwächung zu begegnen, sollte bei Zunahme des Sedativabedarfs eine einbis zweitägige Benzodiazepin-Pause (unter Überbrückung dieses Zeitraumes z. B. mit Propofol) erwogen werden, um in diesem benzodiazepinfreien Intervall eine Normalisierung der Rezeptoransprechbarkeit zu erzielen. Bei langen Aufwachzeiten nach Benzodiazepingabe besteht die (allerdings recht kostspielige) Möglichkeit, zur Klärung der Frage eines Medikamentenüberhangs den Antagonisten Flumazenil zu verabreichen.
Diazepam. Das »klassische« Benzodiazepin; es spielt we-
gen ungünstiger Pharmakokinetik (extrem lange Eliminationszeit, aktive Metaboliten, Kumulation) für die Analgosedierung keine Rolle mehr. Midazolam. Aufgrund seiner Pharmakokinetik wird Mida-
zolam von allen Benzodiazepinen am häufigsten zur Analgosedierung auf der Intensivstation eingesetzt. Lorazepam. Die Substanz besitzt sehr gute anxiolytische Eigenschaften bei allerdings sehr langer Halbwertszeit. Es findet daher ausschließlich als niedrig dosierte Bolusmedikation Anwendung, z. B. bei Angst- oder Unruhezuständen.
60.4.2 Propofol Wie die Benzodiazepine besitzt Propofol atemdepressive, jedoch keine analgetische Wirkung. Anders als jene, ruft die Substanz allenfalls geringe Amnesie hervor. Bolusgaben führen wegen peripherer Vasodilatation und negativ inotroper Wirkung zur Hypotension. Bereits geringe Propofoldosen zeigen antiemetische Effekte. Das Medikament ermöglicht aufgrund seiner niedrigen kontextsensitiven Halbwertszeit auch nach mehrtägiger Verabreichung kurze Aufwachzeiten. In punkto Steuerbarkeit besitzt es damit auch gegenüber dem »schnellsten« Benzodiazepin, Midazolam, Vorteile, weshalb es vor allem in Situationen zum Einsatz kommt, in denen rasches Erwachen und zügige neurologische Beurteilbarkeit wichtig sind. Propofol besitzt die Zulassung für die Sedierung bis zu einem Zeitraum von sieben Tagen. Üblicherweise wird die Substanz kontinuierlich appliziert. Der hohe Fettanteil der Propofol-Emulsion, der eine bakterielle Kontamination begünstigt, kann zur Hyperlipidämie führen (regelmäßige Triglyzerid-, Lipase-, Amylase-Bestimmungen) und sollte im Ernährungsplan berücksichtigt werden. Um die Fettzufuhr bei gleicher Wirkstoffdosis zu reduzieren, wird neben der im Narkosebereich üblichen 1 %igen auch eine 2 %ige Präparation für die Langzeitanwendung angeboten. ! Cave Bei pädiatrischen Intensivpatienten wurde nach mehrtägiger hochdosierter Gabe das Propofol-Infusionssyndrom (typische Symptome: Hyperlipidämie, Laktatazidose, Herzrhythmusstörungen, Rhabdomyolyse) mit hoher Letalität beobachtet. Deshalb gilt Propofol zur Langzeitsedierung von Kindern als kontraindiziert.
60
606
Kapitel 60 · Analgosedierung auf der Intensivstation
60.4.3 Barbiturate Barbiturate bewirken eine Reduktion des Hirnstoffwechsels mit Senkung des zerebralen Sauerstoffverbrauchs und besitzen einen hirndrucksenkenden Effekt. Zudem wirken sie antikonvulsiv. Die hyperalgetische Wirkung erfordert stets die Kombination mit einem Analgetikum. Barbiturate besitzen für die Analgosedierung ungünstige pharmakologische Eigenschaften (Kumulationsneigung, lange Aufwachzeiten) und bewirken eine Immunsuppression (im Vergleich zu anderen Sedierungsregimen früher beginnende und schwerer verlaufende nosokomiale Infektionen). Damit beschränkt sich der Einsatz von Barbituraten auf neurochirurgische und neurotraumatologische Patienten.
60.4.4 Gamma-Hydroxybuttersäure
60
Gamma-Hydroxybuttersäure (GHBS) ist chemisch der Gamma-Aminobuttersäure (GABA) verwandt und besitzt sedativ-hypnotische und amnestische Wirkung bei geringer bis fehlender Analgesie. Die Substanz zeichnet sich durch allenfalls minimale Atemdepression sowie gute Kreislaufstabilität (diskreter Herzfrequenz- und Blutdruckanstieg) aus. Sedierungstiefe und Aufwachzeit sind im Einzelfall schwer vorhersagbar. Daher hat sich GHBS im Narkosebereich nicht etablieren können. Für Sedierungskonzepte bei kritisch Kranken hingegen sind diese Unwägbarkeiten meist unerheblich, sodass das Medikament hier sowohl als Monotherapeutikum als auch zur Supplementierung eines bestehenden Sedierungsregimes eingesetzt wird. Insbesondere bei Patienten im Alkoholentzugsdelir bietet sich GHBS als Sedativum an, das die psychomotorische Unruhe wie auch die typischen vegetativen Symptome (Tachykardie, Tremor, Schwitzen, Übelkeit) sehr gut zu dämpfen vermag. Zur Vermeidung von Hypernatriämien ist allerdings der hohe Natriumgehalt des Präparats zu beachten. Dies gilt vor allem für Patienten mit eingeschränkter Leber- oder Nierenfunktion. Höhere Dosierungen können Krampfpotenziale auslösen, sodass GHBS bei entsprechender Anamnese nicht verwendet werden sollte.
60.4.5 Volatile Anästhetika Volatile Anästhetika wirken bronchodilatierend. Die derzeit gängigen (Isofluran, Sevofluran) werden nahezu vollständig, unverändert und ohne von Leber- oder Nierenfunktion abhängig zu sein, über die Lunge eliminiert. Aller-
dings bieten die derzeit auf Intensivstationen eingesetzten Respiratoren mit wenigen Ausnahmen keine Möglichkeit, Verdampfer zur Applikation volatiler Anästhetika anzuschließen. Ein ebenfalls nicht gelöstes Problem der Inhalationsanästhetika besteht in der möglichen, in ihren Folgen derzeit jedoch nicht abschätzbaren Arbeitsplatzbelastung für das Personal (z. B. bei Umintubation bzw. Extubation oder Diskonnektion des Beatmungssystems).
60.5
Adjuvante Substanzen
60.5.1 Zentrale α2-Adrenozeptor-Agonisten Die Aktivierung von D2-Rezeptoren im ZNS ruft eine zentrale Sympathikolyse hervor und bewirkt außer einer Abnahme von Herzfrequenz und Blutdruck eine Wirkungsverstärkung von Sedativa und Analgetika. Atemdepression wird nicht beobachtet. Damit zeigen D2-Adrenozeptor-Agonisten ein für die Zwecke der Analgosedierung geeignetes Wirkungsprofil. Der einzige in Deutschland zugelassene D2-Adrenozeptor-Agonist ist Clonidin. Nach intravenöser Bolusgabe wird ein temporärer Blutdruckanstieg, hervorgerufen durch Aktivierung von vasokonstriktorisch wirkenden D2-Rezeptoren an den Blutgefäßen, beobachtet, auf den eine lang anhaltende, auf der Abnahme des Sympathikotonus beruhende Blutdrucksenkung folgt (Eliminationshalbwertszeit von Clonidin: ca. 8 h). Unerwünschte Wirkungen sind Bradykardien und – vor allem bei hohen Dosen – Hemmung der Darmperistaltik. Nach abruptem Absetzen kann es im Rahmen eines Rebound-Phänomens zu kritischen Blutdruckanstiegen kommen Clonidin ist als Basissubstanz zur Behandlung des Opioid- und Alkoholentzugssyndroms anzusehen, erfährt aber in jüngerer Zeit eine Ausweitung seiner Indikationen, indem das Medikament zur Vermeidung von analgosedierungsbedingten Entzugssymptomen bereits während der Analgosedierung als Adjuvans eingesetzt wird. : Beispiel Eine 68-jährige Patientin, die infolge einer Darmanastomosen-Insuffizienz nach Hemikolektomie eine Peritonitis entwickelt hat, muss relaparotomiert werden. Während des Eingriffs (Lavage) wird sie kreislaufinstabil und benötigt Noradrenalin. Nach Aufnahme auf die Intensivstation erhält sie wegen der am 3. Tag geplant durchzuführenden Second-look-OP zunächst Ketamin und Propofol. 6
607 60.6 · Monitoring der Analgosedierung
Wegen zunehmender respiratorischer Insuffizienz mit absehbar länger dauernder Respirator- und ausgiebiger Lagerungstherapie wird Propofol durch Midazolam ersetzt. Gelegentliche tachykarde Episoden erfordern die Ketamindosisreduktion sowie die Gabe von Sufentanil. Vor schmerzhaften Maßnahmen (Bauchlagerung, Relaparotomie) erhält die Patientin jeweils bolusweise Sufentanil. Muskelrelaxanzien sind nicht erforderlich. Unter antibiotischer Therapie und nach mehrmaliger Etappenlavage normalisieren sich die Infektionsparameter, sodass die Invasivität der maschinellen Beatmung und die Sedierungstiefe reduziert werden können. Bereits vor der letzten Abdominallavage wird die Analgosedierung um Clonidin ergänzt. Die Sufentanildosis wird soweit reduziert, dass die Patientin nach Abschluss der chirurgischen Sanierung assistiert beatmet werden kann. Midazolam wird so titriert, dass sie die maschinelle Beatmung gut toleriert und (z. B. zur Physiotherapie) kontaktfähig ist. Nach erfolgter Respiratorentwöhnung und Extubation wird die Analgesie mit Piritramid als PCA fortgesetzt, weil die Patientin wach und kooperativ ist und nur noch intermittierend einer nicht-invasiven Beatmung bedarf. Hierzu ist keine kontinuierliche Sedativagabe mehr nötig. Stattdessen wird bei rezidivierend auftretenden Agitiertheits-Zuständen Lorazepam als Bolus verabreicht.
letzt aufgrund weiter entwickelter Beatmungsmöglichkeiten, aber auch infolge grundsätzlich geänderter Analgosedierungskonzepte nur noch selten angezeigt. In jedem Fall sind sie keine Alternative zu, sondern eine Ergänzung von Analgesie und Sedierung. Selbst bei Patienten mit erhöhtem Hirndruck, bei denen von der Muskelrelaxation eine Abnahme des Beatmungsdrucks und infolgedessen des intrakraniellen Drucks erhofft wurde, ist diese Indikation als nicht gesichert anzusehen. Sie kann überdies insbesondere bei gleichzeitiger Behandlung mit Glukokortikoiden zu Muskelschwäche und protrahierter Entwöhnung vom Respirator führen. Die gelegentliche Relaxanzienanwendung für invasive Maßnahmen wie Intubation oder Bronchoskopie bleibt von diesen Einschränkungen unberührt. Die kontinuierliche Gabe neuromuskulär blockierender Substanzen ist dagegen nur äußerst selten erforderlich. So gilt sie zur Behandlung muskulärer Spasmen bei Tetanus als angebracht. ! Werden Muskelrelaxanzien repetitiv oder kontinuierlich eingesetzt, so ist neben der Kontrolle einer adäquaten Sedierungstiefe die Überwachung der neuromuskulären Blockade obligat.
60.6
Monitoring der Analgosedierung
60.5.2 Neuroleptika 60.6.1 Analgesie-Monitoring ! Neuroleptika sind antipsychotisch wirksam. Sie als Sedativa anzuwenden, ist falsch.
Hochpotente Neuroleptika (z. B. Haloperidol) erzeugen zwar motorische Ruhe und einen Bewusstseinszustand von psychischer Indifferenz, der äußerlich als Behandlungstoleranz missverstanden werden kann. Allerdings ist nicht »Ruhigstellen« das Ziel der Analgosedierung (insbesondere in der Entwöhnungsphase), sondern Kooperationsfähigkeit des Patienten bei gleichzeitiger psychomotorischer Dämpfung. Damit können Neuroleptika bei produktiv-psychotischen Symptomen, bei denen starke Agitiertheit intensivmedizinische Maßnahmen praktisch unmöglich macht, indiziert sein.
Zur Dosierungsoptimierung und zur Therapiekontrolle bei Analgesieverfahren ist es wichtig, Schmerzintensität und qualität verlässlich zu erfassen. Bei wachen, orientierten und kooperationsfähigen Patienten ist dies z. B. unter Verwendung der »visuellen Analog-Skala (VAS)« oder der »numeric rating scale (NRS)« im allgemeinen problemlos möglich (7 Kap. 20). Anders bei sedierten oder nicht kontaktfähigen Personen: Hier sollten ersatzweise schmerzassoziierte Reaktionen (Abwehrbewegungen, mimische Reaktion, Schwitzen, Tränenfluss) und physiologische Parameter (Herzfrequenz, Blutdruck, Atemfrequenz) bzw. deren Änderung nach Analgetikagabe zur Beurteilung des Schmerzstatus herangezogen werden.
60.5.3 Muskelrelaxanzien
60.6.2 Sedierungs-Monitoring
Die kontinuierliche neuromuskuläre Blockade wurde früher verbreitet eingesetzt, mit dem Ziel, einen tief narkotisierten, nicht erweckbaren und zum Ankämpfen gegen das Beatmungsgerät unfähigen Patienten kontrolliert beatmen zu können. Mittlerweile sind Muskelrelaxanzien nicht zu-
Scoringsysteme Die Beurteilung der Sedierungstiefe erfolgt mittels verschiedener Scoringsysteme. Die Sedierungsskala nach Ramsay unterscheidet sechs semiquantitative Sedierungsstufen von »komatös« (Ramsay-Grad 6) bis »ängstlich/motorisch un-
60
608
Kapitel 60 · Analgosedierung auf der Intensivstation
. Tabelle 60.2. Ramsay-Sedierungsskala und Richmond agitation-sedation-scale (RASS) Ramsay
RASS
Score
Sedierungsgrad
Score
Sedierungs-/Agitiertheitsgrad
1
Ängstlich, agitiert, motorisch unruhig
+4
Gewalttätig, gefährdet Personal
2
Kooperativ, orientiert, ruhig
+3
Aggressiv, entfernt sich Katheter/Sonden/Tubus
3
Befolgt Aufforderungen
+2
Gehäuft unwillkürliche Bewegungen, Ankämpfen gegen Respirator
4
Schläft, reagiert aber prompt auf motorischen oder lauten akustischen Stimulus
+1
Ängstlich, motorisch unruhig, jedoch nicht aggressiv
5
Schläft, reagiert träge auf motorischen oder lauten akustischen Stimulus
0
Wach, kooperativ, ruhig
6
Schläft, ist nicht erweckbar
–1
Träge, erweckbar durch Ansprechen (Augenöffnen und Kontakt für > 10 s) Kurzdauerndes Erwachen bei Ansprechen (Augenöffnen und Kontakt für < 10 s) Motorische Reaktion oder Augenöffnen bei Ansprechen (jedoch keine Blickkontakt) Keine Reaktion auf Ansprache, aber motorische Reaktion oder Augenöffnen bei mechanischer Stimulation Keine Reaktion auf Ansprache oder mechanische Stimulation
–2 –3 –4 –5
60
ruhig« (Ramsay-Grad 1). Wenn auch nie validiert, ist dieser Score aufgrund seiner einfachen Anwendbarkeit der am weitesten verbreitete. Die Ramsay-Skala unterscheidet allerdings nicht zwischen verschiedenen Unruhe- oder Agitationszuständen. Diese werden z. B. von der »Richmond agitation-sedationscale (RASS)« erfasst, die reliabel und valide ist und signifikant mit applizierten Analgetika- und Sedativadosen korreliert (. Tab. 60.2). Darüber hinaus existieren weitere entsprechende Scoringsysteme, die z. T. für spezielle Patientengruppen angewandt werden (beatmete Patienten, Kinder). Wichtiger als die Entscheidung für ein bestimmtes System sind dessen konsequenter Einsatz und die klare Strukturierung der Handlungsabläufe zur Optimierung der Sedativadosierung. Vielerorts sind dementsprechend Sedierungsprotokolle etabliert.
chen Sedativaüberdosierung als auch – z. B. bei Patienten mit erhöhtem intrakraniellen Druck – zum Erkennen einer inadäquaten Sedierung wünschenswert. Mit der Zielsetzung, diese »Überwachungslücke« zu schließen, wurden zahlreiche, hauptsächlich aus dem Bereich der perioperativen Überwachung stammende Verfahren auf ihre Tauglichkeit im Rahmen der Analgosedierung untersucht. Zumeist handelt es sich um EEG-basierte Verfahren. Derzeit kann zur Anwendung apparativer Messmethoden wegen noch ungeklärter Fragen (z. B. Aussagekraft bei metabolischen Störungen) keine generelle Empfehlung ausgesprochen werden.
Apparative Methoden
Oberste Priorität hat die Analgesie mit dem Ziel, Schmerz als Stressfaktor auszuschalten. Schmerz muss dabei nicht notwendigerweise von einem operierten, verletzten, entzündeten oder anderweitig geschädigten Organ ausgehen. Invasive Maßnahmen (endotrachealer Tubus, intravasale
Bei sehr tiefen Sedierungsstadien oder bei mit Muskelrelaxanzien behandelten Patienten sind Scoringsysteme nicht anwendbar. Gerade bei tief sedierten Patienten wäre eine Erfassung der Sedierungstiefe sowohl wegen einer mögli-
60.7
Konzeption der Analgosedierung
60.7.1 Analgesie
609 60.7 · Konzeption der Analgosedierung
Katheter), Pflege- und Rehabilitationsmaßnahmen (Lagerung, Physiotherapie) können per se schmerzhaft sein. Unbehandelt führt Schmerz zu einer Stressantwort, die sich z. B. in Blutdrucksteigerung und Tachykardie (beides Faktoren, die den myokardialen Sauerstoffverbrauch steigern), kataboler Stoffwechsellage, Immunsuppression, Wasserretention und Ödemneigung sowie Hyperkoagulabilität äußert. Unzureichende Analgesie muss mit Analgetika-(nicht mit Sedativa-)gaben therapiert werden. Die Gabe des Analgetikums erfolgt sinnvollerweise kontinuierlich als Basisanalgesie und wird durch bedarfsorientierte Bolusgaben vor absehbaren schmerzhaften Stimuli ergänzt. Gegebenenfalls erfolgt gleichzeitig eine Steigerung der Infusionsgeschwindigkeit des Analgetikums. Das Erhöhen der Infusionslaufrate allein ist zur Anpassung der Analgetikadosierung an die klinischen Erfordernisse ungeeignet, weil die Dosierungsänderung erst mit deutlicher Verzögerung wirksam wird. Umgekehrt deutet Toleranz selbst gegenüber starken Schmerzreizen ohne entsprechende physiologische Reaktion des Patienten auf eine Analgetikaüberdosierung hin. Die kontinuierliche Gabe sollte dann mit reduzierter Dosis erfolgen oder unterbrochen werden, bis wieder entsprechende Reaktionen auf schmerzhafte Stimuli auftreten.
60.7.2 Sedierung Erst nach Herstellen einer adäquaten Analgesie stellt sich die Frage nach der zusätzlichen Notwendigkeit einer Sedierung. Auch diese ist der aktuellen Situation des Patienten anzupassen. Sowohl zu tiefe als auch zu geringe Sedierung sind zu vermeiden, weil beide nachteilige Auswirkungen auf den Krankheitsverlauf haben können. Bei zu tiefer Sedierung steht neben Hypotension und häufiger auftretenden venösen Thrombosen die Verlängerung der Beatmungsdauer mit erhöhter Inzidenz von Infektionen, insbesondere Pneumonien, im Vordergrund. Gleichzeitig ist die neurologische Beurteilung bei tief sedierten Patienten deutlich erschwert. Zudem treten nach langer Sedierungsdauer und tiefer Sedierung Entzugssymptome häufiger auf. Umgekehrt ergeben sich für eine inadäquat flache Sedierung dieselben Probleme wie für die unzureichende Analgesie beschrieben. Da Analgesie und Sedierung voneinander unabhängige Größen sind, sind fixe Medikamentenmischungen obsolet. Das Analgosedierungsregime sollte täglich, u. U. mehrfach reevaluiert werden, um veränderte Therapieziele, neu erhobene Diagnosen und eventuell hinzugekommene Probleme berücksichtigen zu können. Medikamentenüberhänge kön-
nen vermieden werden, indem das Dosisoptimum durch Titrieren ermittelt wird. Dies geschieht z. B. durch tägliche Aufwachversuche und – sofern erforderlich – anschließende Wiederaufnahme der Sedativagabe. Ein oft unterschätzter Aspekt für die Analgosedierung ist die günstige Beeinflussung des Krankheitsverlaufs durch einen normalen Tag-Nacht-Rhythmus. Um einen solchen zu realisieren, kommen hauptsächlich nicht-medikamentöse Maßnahmen zum Tragen: Nachts sollte eine ruhige Umgebung unter Vermeidung akustischer und optischer Störfaktoren geschaffen werden (Beleuchtung dämpfen oder ausschalten, planbare Maßnahmen wie ZVK-Anlage oder Bronchoskopie tagsüber ausführen, Musik über Kopfhörer).
60.7.3 Analgosedierung und Beatmung Generell hat die Weiterentwicklung der Respiratortechnik dazu geführt, dass assistierte Beatmungsformen auch bei Krankheitsbildern realisiert werden können, die vormals stets die kontrollierte Beatmung erforderten. Selbst beim Lungengesunden führt die kontrollierte Beatmung bereits nach kurzer Zeit zur Entstehung basaler Atelektasen mit Zunahme des intrapulmonalen Shunts. Die bei Spontanatmungsverfahren erhaltene Zwerchfellbeweglichkeit hilft, diesen Effekt zu vermeiden. Damit verbessert sich das Ventilations-Perfusions-Verhältnis. Die periodische Abnahme des intrathorakalen Drucks während der Inspirationsbewegung des Zwerchfells hat in Verbindung mit der dabei möglichen Reduzierung des Beatmungsdrucks größere hämodynamische Stabilität infolge verbesserten venösen Rückstroms zum Herzen zur Folge. Die erhaltene Spontanatmung kann aber auch negative Auswirkungen haben. Liegt der normale Anteil der Atemmuskulatur am gesamten Sauerstoffverbrauch des Organismus bei lediglich 2 %, so kann dieser bei stark gesteigerter Atemarbeit (z. B. bei Lungenversagen mit der Notwendigkeit, das Atemminutenvolumen auf ein mehrfaches der Norm zu erhöhen), bis auf 20 % zunehmen. In einer solchen Situation kann die durch Analgetika und/oder Sedativa hervorgerufene Dämpfung bzw. Ausschaltung der Spontanatmungsaktivität therapeutisch sinnvoll sein. Auch die früher unumstrittene Auffassung, dass zur Durchführung der Beatmung auf der Intensivstation in jedem Fall die endotracheale Intubation bzw. eine Tracheotomie nötig seien, gilt inzwischen nicht mehr. Dies hat Auswirkungen auf die Konzeption der Analgosedierung: Die nicht-invasive Beatmung (NIV = non-invasive ventilation) verlangt wegen des Verzichts auf die Intubation beispiels-
60
610
Kapitel 60 · Analgosedierung auf der Intensivstation
weise das Vorhandensein von Schutzreflexen, eine Forderung, die die Analgosedierung zu berücksichtigen hat.
60.7.4 Entzugssyndrome nach
Analgosedierung
der Fall. Auch zur Begünstigung der Spontanatmung oder bei opioidbedingt gestörter Magen-Darm-Motilität ist die Substanz eine viel versprechende Alternative oder Ergänzung zu Opioiden.
Sedierung Mehr als die Hälfte aller Analgosedierungspatienten zeigt Entzugsphänomene unterschiedlichen Ausmaßes, die klinisch als ZNS-Dysfunktion im Sinne einer Enzephalopathie imponieren. Das Entzugssyndrom nach Analgosedierung ist eine Ausschlussdiagnose und muss differenzialdiagnostisch von anderen Delir-Ursachen (z. B. Infektion, Hypoxie, Ischämie, Trauma, metabolisch-toxische Ursachen, zentral-anticholinerges Syndrom) unterschieden werden. Die Entzugsgefährdung bei Opioiden, Benzodiazepinen, aber auch bei Propofol korreliert mit der applizierten Gesamtdosis und – bei Opioiden und Propofol, nicht jedoch bei Benzodiazepinen – mit der Applikationsdauer. Entzugssyndrome lassen sich durch Ausschleichen von Analgetika und Sedativa vermeiden: initiale Dosisreduktion um 25 %, danach tägliche Reduktion um 10 %. Bei hoher Gefährdung ist die prophylaktische Gabe von Clonidin zu empfehlen.
60.8
60
Kriterien zur Medikamentenauswahl
Bei der Auswahl eines Regimes zur Analgosedierung spielt nicht nur das Grundleiden des Patienten eine Rolle. Vielmehr müssen die voraussichtliche Sedierungsdauer, die gewünschte Sedierungstiefe und -qualität, Begleiterkrankungen sowie die individuelle klinische Situation (Alter, Organfunktionsstörungen, Entzugssymptome) bedacht werden. Es gibt kein Standard-Analgosedierungsschema; ein derartiges Vorgehen könnte den Erfordernissen des einzelnen Patienten nicht gerecht werden.
Analgesie Die Analgesie wird normalerweise mit Sufentanil als Opioid durchgeführt. Nur in begründeten Fällen, z. B. Patienten im Leberversagen, wird stattdessen Remifentanil eingesetzt. Piritramid ist das Standardopioid für die PCA und damit beschränkt auf wache, kooperative Patienten. Zur Sterbeerleichterung erhalten die Patienten Morphin. Sind Kreislaufstabilisierung und/oder zerebrale Protektion erwünscht, so findet Ketamin Anwendung. Dies ist vorwiegend bei Patienten mit Sepsis und bei polytraumatisierten Patienten bzw. bei Schädel-Hirn-Traumatisierten
Die Sedierung erfolgt bei einer voraussichtlichen Sedierungsdauer von bis zu etwa drei Tagen mit Propofol. Ist eine über diesen Zeitrahmen hinaus gehende Sedierung erforderlich, wird Midazolam verwendet. Bei Leberfunktionsausfall kommt Gamma-Hydroxybuttersäure in Frage. Patienten mit erhöhtem intrakraniellem Druck erhalten Midazolam und Ketamin als Kombination. Barbiturate kommen bei kritisch hohem Hirndruck – der einzigen verbliebenen Indikation für diese Substanzklasse auf der Intensivstation – hinzu. Bei Alkoholentzugssyndrom ist Clonidin, gegebenenfalls kombiniert mit GHBS, indiziert. Bei starker Agitiertheit wird Lorazepam, bei produktiv-psychotischen Symptomen Haloperidol eingesetzt. Tipps
Analgosedierung – so machen wir es: 5 Analgesie und Sedierung sind nicht die Weiterführung einer Narkose 5 Analgesie hat oberste Priorität, Analgetikabedarf täglich neu evaluieren 5 Sedierungsziel: Grad 2–3 nach Ramsay 5 Tiefe Sedierung nur in speziellen Fällen (z. B. nicht adäquate Ventilation unter maschineller Beatmung, Hirndrucksymptomatik mit drohender Einklemmung, Bauchlagerung) 5 Täglich mehrfach die Notwendigkeit der Sedierung und den Medikamentenbedarf überprüfen 5 Medikamente gezielt im Hinblick auf voraussichtliche Analgosedierungsdauer auswählen 5 Substanzen verwenden, deren (erwünschte und unerwünschte) Wirkungen bekannt sind 5 Analgetika und Sedativa werden getrennt verabreicht (kein fixes Mischungsverhältnis) 5 Medikamentenkombinationen können helfen, unerwünschte Wirkungen zu reduzieren 5 Entzugsphänomene vermeiden (kein abruptes Absetzen, sondern Ausschleichen und Anwendung eines Weaningprotokolls) 5 Hochpotente Neuroleptika sind antipsychotisch wirksam, als Sedativa jedoch ungeeignet 6
611 Literatur
5 Muskelrelaxanzien sind äußerst selten erforderlich, Einsatz nur unter neuromuskulärem Monitoring
Literatur Kleinschmidt S (1994) Analgesie und Sedierung. In: Benzer H, Burchardi H, Larsen R et al. (Hrsg) Intensivmedizin, 7. Aufl. Springer, Heidelberg Berlin New York, 191–206 Mar tin J, Bäsell K, Bürkle H et al. (2005) Analgesie und Sedierung in der Intensivmedizin – Kurz version, S2-Leitlinien der Deutschen Gesellschaft für Anästhesiologie und Intensivmedizin. Anästh Intensivmed 46 Suppl 1: S1–20 Schaffrath E, Kuhlen R, Tonner PH (2004) Analgesie und Sedierung in der Intensivmedizin. Anaesthesist 53: 1111–1132 Zielmann S, Schneider T, Petrow H et al. (2001) Analgosedierung in der Intensivmedizin: Wann und wie? In: Deutsche Akademie für anästhesiologische Fortbildung – DAAF (Hrsg.) Aktuelles Wissen für Anästhesisten, Refresher Course Nr. 27. Springer, Heidelberg Berlin New York, 139–155
60
61 Intensivtherapie bei Gestose Stephan Rapp 61.1 Einleitung –614 61.2 Inzidenz und Prognose –614 61.3 Ätiologie –615 61.3.1 Pathophysiologie –615
61.4 Diagnose –615 61.5 Überwachung –616 61.6 Therapie –616 61.6.1 61.6.2 61.6.3 61.6.4
Antihypertensive Therapie –617 Antikonvulsive Therapie –617 Vorsichtige Volumensubstitution –618 Korrektur einer defizitären Hämostase –618
61.7 Zeitpunkt der Entbindung –618 61.8 Anästhesiologisches Management –619 61.8.1 Nicht dringliche vaginale Entbindung: –619 61.8.2 Entbindung durch Sectio caesarea –619
Literatur –620
614
Kapitel 61 · Intensivtherapie bei Gestose
61.1
Einleitung
Gestose ist ein in der Literatur gebrauchter Begriff für verschiedene Ausprägungen von schwangerschaftsinduzierten hypertonen Erkrankungen. Zahlreiche Synonyme beschreiben komplexe Krankheitsbilder von der isolierten Hypertonie bis hin zum Multiorganversagen. 1986 wurde nach der International Society for Study of Hypertension in Pregnancy (ISSHP) folgende Klassifikation etabliert: 4 Schwangerschaftsinduzierte Hypertonie(SIH) 4 Präeklampsie: SIH zusammen mit Proteinurie (> 300 mg/24 h) 4 Eklampsie: Präeklampsie + generalisierter Krampfanfall 4 HELLP-Syndrom: schwere Verlaufsform der Präeklampsie mit Hämolyse (hemolysis), erhöhten Leberwerten (elevated liver enzymes) und Thrombozytopenie (low platelets)
61
Diese Klassifizierung vermittelt den Eindruck, dass sich der Krankheitsverlauf den Stadien entsprechend entwickelt. Sie wird allerdings der klinischen Beobachtung nicht gerecht, dass der Krankheitsverlauf bei der SIH unvorhersehbar ist und meist durch das unvorhersehbare Auftreten weiterer Komplikationen entscheidend beeinflusst wird. Die Vielgestaltigkeit der Erkrankung erfordert eine hohe interdisziplinäre Kompetenz von Geburtshelfer, Neonatologe und Anästhesiologe. Die fachlich kompetente Betreuung der Schwangeren und die Entscheidung zur Geburt zum richtigen Zeitpunkt fordern den Geburtshelfer, die hohe Rate von Morbidität und Mortalität beim Neugeborenen bedürfen einer intensiven Therapie möglichst an neonatologischen Zentren und die intensivmedizinische Überwachung und Therapie der Schwangeren bzw. der Mutter nach der Entbindung und die anästhesiologische Betreuung der Mutter zur Geburt fordern den Anästhesisten. In Anbetracht einer bislang weitgehend ungeklärten Ätiologie sind die Kenntnisse der pathophysiologischen Veränderungen und deren Zusammenhänge besonders wichtig und ermöglichen zumindest eine fundierte symptomatische Therapie. : Beispiel In der 38. SSW war eine 25-jährige Patientin zur geplanten Sectio caesarea bei einer Gemini-Schwangerschaft zur Aufnahme gekommen. Die Schwangerschaft war komplikationslos verlaufen. Die Sectio er folgte in einer unkomplizierten Spinalanästhesie. Während der Sectio klag6
te die Patientin plötzlich über stärkste Kopfschmerzen, im weiteren Verlauf über Sehstörungen. Zum Ende der OP gab sie an, nur noch hell und dunkel zu sehen. Während des postoperativ sofort durchgeführten CCT trat plötzlich ein generalisierter Krampfanfall auf, der nach Injektion von 5 mg Diazepam i.v. sistierte. Intermittierend war eine kurzzeitige Maskenbeatmung er forderlich. Der Befund des CCT war völlig unauffällig. Unter sofort eingeleiteter Magnesium-Therapie unter Intensivüberwachung stabilisierte sich der Zustand rasch, bereits ca. 1 h nach postpartaler Eklampsie war die Patientin wieder vollständig orientiert und die Sehstörung abgeklungen. Der weitere Verlauf war komplikationslos.
61.2
Inzidenz und Prognose
Das Auftreten einer SIH mit schweren Verlaufsformen bzw. Komplikationen wird mit sehr unterschiedlicher Häufigkeit angegeben. Diese Differenzen sind wahrscheinlich durch die uneinheitliche Nomenklatur mit vielen Synonymen und die uneinheitliche Bewertung in der internationalen Literatur bedingt, andererseits werden auch erhebliche regionale Unterschiede beschrieben. Die Diagnose einer SIH wird in Mitteleuropa bei etwa 5–10 % aller Schwangerschaften gestellt, die Diagnose einer Präeklampsie bei etwa 3–5 % (Frey 1997). Die Wahrscheinlichkeit, dass neurologische Symptome oder ein generalisierter tonisch-klonischer Krampfanfall hinzutreten, wird mit etwa 1 : 1000 Geburten beziffert. Durch die in den letzten Jahren erfolgte Aufklärung und bessere Beschreibung des Krankheitsbilds wird die Häufigkeit eines HELLP-Syndroms mit bis zu 0,5 % angegeben. Ein erhöhtes individuelles Risiko, im Rahmen der Schwangerschaft eine Präeklampsie, Eklampsie oder ein HELLP-Syndrom zu entwickeln, ist mit verschiedenen Begleitfaktoren vergesellschaftet. Risikofaktoren für Präeklampsie 5 5 5 5 5 5 5 5
Diabetes mellitus Junge Erstgebärende Alter > 40 Jahre Mehrlingsschwangerschaft Präeklampsie in der Familie Chronische Hypertonie Chronische Nierenerkrankungen Z.n. schwerer Präeklampsie in vorhergehender Schwangerschaft
615 61.4 · Diagnose
Die SIH mit den entsprechenden Komplikationen gilt auch heute trotz der intensiven Schwangerschaftsbetreuung als die häufigste Ursache der mütterlichen und perinatalen Morbidität und Mortalität. Besonders für Patientinnen mit Eklampsie, der schwersten Ausprägung der Erkrankung, wird die mütterliche Mortalität mit 1,5–2 % und die neonatale Letalität mit bis zu 12 % angegeben. Die Todesursachen bei HELLP-Symptomatik sind zerebrale ischämische Insulte, schwere Gerinnungsstörungen und Myokardinfarkte, selten Leberversagen oder intrahepatische Hämatome. Das Morbiditätsrisiko für die Mutter liegt bei etwa 1 %, das der Neugeborenen jedoch bei bis zu 35 %, bedingt durch die bedeutsame Frühgeburtlichkeit. Für die Prognose der Erkrankung ist ganz wesentlich festzuhalten, dass alle Formen der SIH eine schwere Komplikation der Schwangerschaft darstellen. Mutter und ungeborenes Kind sind erheblich gefährdet. Da eine Crescendosymptomatik vom Hypertonus über periphere Ödeme hin zu neurologischen Komplikationen fehlt und sich die Progredienz der Erkrankung meist durch das plötzliche Auftreten von neuen Symptomen darstellt, ist es für den behandelnden Arzt von besonderer Bedeutung, jede Ausprägung der SIH ernst zu nehmen und adäquat zu behandeln.
61.3
Ätiologie
! Die Ätiologie der SIH ist weiterhin ungeklärt!
Folgende Hypothesen versuchen, die Pathogenese näher zu beschreiben: Genetische Faktoren scheinen für die Erkrankung zu disponieren, ohne dass jedoch ein klarer Vererbungsmodus besteht. Ebenso werden Störungen der immunologischen Reaktion zwischen mütterlichem Immunsystem und Plazenta und Kind diskutiert. Neuere Befunde weisen darauf hin, dass es in der Plazenta zu erheblichen Störungen des Endothels kommt, die auch morphologisch nachweisbar sind. Diese Veränderungen sind jedoch nicht nur auf die Plazenta beschränkt, auch andere Organsysteme weisen ähnliche Erscheinungen auf. Diese sind z. B. hyperplastische Arterio-/Arteriolopathien, fibrinoide Endothelnekrosen und eine akute Atherose. So zeigt die fetale Plazenta Fehlentwicklungen wie z. B. Infarkte oder Endanginopathia obliterans auf. Durch die Veränderung der Endothelfunktion kommt es aber auch zu Verschiebungen bei den Konzentrationen verschiedener Mediatoren und anderer Substanzen, z. B. hämostaseologischer Faktoren. Die verminderte Synthese und Sekretion von PGI2 und NO als potente Vasodilatatoren und die vermehrte Produktion von
TXA2 und Endothelin als Vasokonstriktoren führt zu einer empfindlichen Dysbalance zwischen Vasodilatatoren und Vasokonstriktoren. Im Weiteren ändert sich die Empfindlichkeit der Gefäße auch gegenüber anderen vasoaktiven Mediatoren wie z. B. Angiotensin und Noradrenalin.
61.3.1 Pathophysiologie Die zentrale pathophysiologische Rolle im Krankheitsbild der SIH spielt das gestörte Verhältnis zwischen vasodilatierenden und vasokonstringierenden Faktoren als Folge der Endothelzellschädigung. Die Störung der uteroplazentaren Mikrozirkulation führt zu einer fetalen Wachstumsreduzierung. Unabhängig davon kommt es durch die Beeinträchtigung anderer Organsysteme zu weiteren Funktionsstörungen. Renale Ischämie führt zu einer Niereninsuffizienz, kardiale Minderperfusionen zu Myokardinfarkten und hämodynamischen Störungen, zerebrale Vasospasmen und intrazerebrale Perfusionsdefizite haben intrakranielle Ödeme, Einblutungen und Konvulsionen zur Folge.
61.4
Diagnose
Leitsymptom bei den SIH-Erkrankungen ist, wie der Name beschreibt, die Hypertonie. Diese ist definiert als ein Blutdruck von systolisch t 140 mmHg und diastolisch t 90 mmHg. Während physiologischerweise der systolische und vor allem der diastolische Blutdruck bereits im ersten Trimenon sinken, im zweiten Trimenon einen Tiefstwert erreichen und zum Ende der Schwangerschaft wieder in etwa auf den Ausgangswert ansteigen, finden sich die erhöhten Blutdruckwerte bei der SIH nach etwa der 20. SSW. Der diastolische Blutdruckwert sollte bei der Messung durch das Leiserwerden der Strömungsgeräusche (Korotkow IV) erfasst werden. ! Erhöhte Blutdruckwerte in Kombination mit einer Proteinurie t 300 mg/24 h werden als Präeklampsie definiert. Dieser Begriff hat die alte Bezeichnung der EPH-Gestose abgelöst.
Das Symptom der Ödeme hat keine messbaren Grenzwerte und stellt im Gegensatz zu den Symptomen Hypertonie und Proteinurie keinen prognostischen Faktor dar. Weitere diagnostische Zeichen einer SIH können neurologische Ausfallserscheinungen sein, die das Krankheitsbild der Präeklampsie erheblich komplexer werden lassen. Prodromi wie Hyperreflexie, Kopfschmerzen, Sehstörungen und neurologische Defizite stellen bedrohliche
61
616
Kapitel 61 · Intensivtherapie bei Gestose
Erscheinungen dar. Das Auftreten von generalisierten, tonisch-klonischen Krämpfen stellt das Vollbild einer schweren Verlaufsform – der Eklampsie – dar und bedeutet für Mutter und Kind ein hohes Risiko. Als auslösender Faktor der Eklampsie wird eine zerebrale Ischämie infolge von Vasospasmen und Mikrothromben der kleinen intrakraniellen Gefäße angenommen. In bis zu 40 % der Fälle treten die Zeichen der Eklampsie ohne Prodromi oder die anderen Zeichen wie Hypertonie und Proteinurie auf und schwere Verlaufsformen der Präeklampsie und Eklampsie können nicht nur präpartal, sondern auch peripartal und bis zu 7 Tage nach der Geburt auftreten (bis zu 30 %). Eine weitere Ausprägung der Präeklampsie wurde 1982 geprägt. Unter dem Begriff HELLP fasste Weinstein Verlaufsformen mit dem Bild einer Hämolyse (H), erhöhten Leberwerten (EL) (erhöhte LDH und AST > ALT) und niedrigen Thrombozytenzahlen (low platelets = LP) zusammen. Als klinische Zeichen imponieren neben den laborchemischen Veränderungen Schmerzen im Oberbauch, oft ausstrahlend in die rechte Schulter oder ins Epigastrium. Weitere initiale Symptome können uncharakteristisch sein und umfassen Unwohlsein, Übelkeit und Erbrechen. Späte Symptome sind Ikterus und Fieber. Bei dieser schweren Verlaufsform steht eine typische Laborwertekonstellation mit vor allem sich rasch verändernden Thrombozytenzahlen im Vordergrund. ! Schwere Präeklampsien, eklamptische Krampfanfälle und Symptome des HELLP-Syndroms treten nicht nur präpartal auf, sondern in bis zu 40 % der Fälle unter der Geburt bzw. bis zu 7 Tage nach der Geburt.
61.5
61
Überwachung
Patientinnen mit leichten Formen der SIH können, sofern die äußeren Rahmenbedingungen geeignet sind, ambulant betreut werden. Insbesondere bei schweren Verlaufsformen ist jedoch nicht nur die klinische Überwachung erforderlich, sondern auch eine Beobachtung auf der Intensivstation, da akut auftretende Komplikationen zu einer erheblichen Gefährdung für Mutter und Kind führen können. Regelmäßige klinische Untersuchungen unter besonderer Berücksichtigung der speziellen Symptome und engmaschige gynäkologische Untersuchungen stellen die Basismaßnahme dar. Die hämodynamische Überwachung umfasst die regelmäßige Blutdruckkontrolle. Idealerweise sollte diese invasiv kontinuierlich erfolgen. Dadurch erfolgt die Messung von der Patientin im Verlauf unbemerkt und besonders die diastolischen Werte lassen sich exakt bestimmen.
Sinnvoll und regelmäßig zu empfehlen ist die Anlage eines zentralvenösen Katheters zur kontinuierlichen Applikation von Medikamenten und differenzierter Steuerung der Flüssigkeitstherapie. Weitere invasive hämodynamische Überwachungsmaßnahmen sind nur sehr selten erforderlich, heute sollte im Bedarfsfall einem PiCCO-Katheter bzw. der transösophagealen Echokardiographie der Vorzug vor einem Pulmonalarterienkatheter gegeben werden. Indikationen hierfür sind kardiale Dysfunktionen, pulmonale Funktionsstörungen und renale Insuffizienz. Zu den Basismaßnahmen zählt im Weiteren die pulsoxymetrische Überwachung der Sauerstoffsättigung. Eine besondere Bedeutung hat die neurologische Untersuchung. Die klinische Erfassung von Kopfschmerz und/ oder Flimmerskotomen durch Befragung der Patientin und regelmäßige Überwachung des Reflexstatus in fest definierten Zeitintervallen steht im Vordergrund. Dies vor allem deshalb, um einerseits sich anbahnende Komplikationen, wie den eklamptischen Anfall erfassen zu können und zum anderen, um die antikonvulsive Therapie mit Magnesium zu kontrollieren. Weitere spezifische diagnostische Maßnahmen wie CCT bzw. NMR sind nur bei speziellen Fragestellungen wie z. B. dem Ausschluss intrazerebraler Blutungen erforderlich. Wegen der Strahlenbelastung sollte präpartal nach Möglichkeit (Verfügbarkeit, Notfallsituation) einer NMR-Untersuchung der Vorzug gegeben werden. EKG, dopplersonographische Untersuchungen und intrakranielle Hirndruckmessung können je nach Klinik indiziert sein. Zur Erfassung renaler Funktionsstörungen ist die kontinuierliche Urinableitung und Bilanzierung obligat, die Bestimmung von Kreatinin, Kreatinin-Clearance, Harnstoff und Harnsäure ergeben weitere Hinweise. Bei Patientinnen mit einer HELLP-Symptomatik muss eine engmaschige Bestimmung der Laborwerte (Blutbild, Gerinnung, Leberwerte), des Weiteren eine regelmäßige sonographische Kontrolle der Leber unter der Fragestellung eines hepatischen Hämatoms erfolgen. Weiterführende bildgebende Verfahren (CT, NMR) bleiben Ausnahmen vorbehalten. Besondere Bedeutung kommt der interdisziplinären Überwachung zusammen mit dem Geburtshelfer zu. Engmaschige CTG- und Ultraschalluntersuchungen sind erforderlich, um zeitnah verlässliche Kriterien über das Kind zu haben, da zu jederzeit eine Entbindung zwingend erforderlich sein kann.
61.6
Therapie
Zwei prinzipielle Therapieentscheidungen obliegen dem intensivmedizinischen Behandlungsteam in Zusammen-
617 61.6 · Therapie
arbeit mit dem Geburtshelfer unter Berücksichtigung der Schwere der Symptomatik: Ist eine abwartende, symptomatische Behandlung der Erkrankung gerechtfertigt oder ist eine frühzeitige Entbindung als einzig kausale Therapieform indiziert? Grundsätzlich sollten bei einer Präeklampsie < 32. SSW ein konservatives Vorgehen angestrebt und Maßnahmen zur Lungenreifung durchgeführt werden. Konservative Behandlungsprinzipien zur Stabilisierung der Präeklampsie 5 5 5 5
Antihypertensive Therapie Antikonvulsive Therapie Vorsichtige Volumengabe Korrektur einer defizitären Hämostase
61.6.1 Antihyper tensive Therapie Bei nahezu allen Patientinnen mit SIH ist eine Therapie des Hypertonus erforderlich. Ziel ist eine Prävention kardiound zerebrovaskulärer Komplikationen, eine Reduktion der Gestose-Symptomatik und somit eine Vermeidung einer verfrühten Geburtseinleitung. Eine optimale Therapie muss nach folgenden Grundsätzen erfolgen: 4 Reizabschirmung 4 Blutdruck zwischen 140–160/90–100 mmHg als Behandlungsziel 4 Blutdruckwert darf innerhalb der ersten Stunde nicht um mehr als 20 % gesenkt werden 4 Infusionstherapie vor jeder parenteralen antihypertensiven Therapie (Vermeidung uteroplazentarer Perfusionsstörungen) 4 Blutdrucksenkung unter CTG-Kontrolle Antihypertonikum der Wahl ist unter intensivmedizinischen Bedingungen Dihydralazin, ein direktes Relaxans der glatten Gefäßmuskulatur der Arteriolen. Unter intensivmedizinischer Überwachung ist eine kontinuierliche Applikation von 2–20 mg/h zweckmäßig, beginnend mit 5 mg/h. Alternativ kann auch eine Bolusgabe von zunächst 5 mg alle 20 min durchgeführt werden. Als Nebenwirkungen von Dihydralazin werden Kopfschmerz, Übelkeit, Reflextachykardie, Fieber und selten fetale Thrombozytopenien beobachtet. Bei Versagen der Dihydralazin-Therapie oder bei Auftreten von starken Nebenwirkungen bietet sich als Alternative Urapidil an, ein D1-Rezeptorenblocker. Eine initiale
Bolusgabe von 10–20 mg i.v. wird weitergeführt mit der kontinuierlichen Applikation von 15–25 mg/h. Vorteile einer Urapidil-Therapie sind meist die fehlende Reflextachykardie und intrakranielle Druckanstiege, bei schweren Verlaufsformen sind jedoch oftmals hohe Dosierungen erforderlich, die mit Nebenwirkungen wie Kopfschmerzen und Übelkeit einhergehen. Die Initial- oder als Überbrückungsmaßnahme mögliche Applikation von Nifedipin (1 Kapsel, 5–10 mg) ist als parenterale Dauertherapie wegen des hohen Alkoholgehalts der Lösung nicht geeignet. Das als Langzeittherapeutikum eingesetzte Antihypertensivum α-Methyl-Dopa ist in Kombination mit Vasodilatatoren möglich. D-Rezeptorenblocker sind zwar grundsätzlich möglich, werden jedoch wegen intrauteriner Wachstumsretardierung zunehmend kritisch bewertet. ! ACE-Hemmer sind wegen fetotoxischer Nebenwirkungen kontraindiziert.
61.6.2 Antikonvulsive Therapie Schwere Präeklampsien mit neurologischen Symptomen sind als Prodromi eines eklamptischen Geschehens zu werten. Maßnahmen zur Verhinderung eines Krampfanfalls sind unabdingbar. Mittel der ersten Wahl neben einer suffizienten antihypertensiven Therapie ist Magnesium. Seit vielen Jahren hat es einen etablierten Platz als Antikonvulsivum und zeigt bessere Resultate für Mutter und Fetus im Vergleich zu Diazepam oder Phenytoin. Die Wirkung erfolgt durch die präsynaptische Blockierung der neuromuskulären Endplatten mit folgender Inhibition der Azetylcholin-Freisetzung. Die intravenöse Mg-Therapie wird nach Schema durchgeführt und mit einem Initialbolus von 4–6 g Magnesiumsulfat begonnen, appliziert in verdünnter Form über 15– 10 min als Kurzinfusion oder mittels Spritzenpumpe. (50 % Mg-Sulfat = 5 g/10 ml). Eine Erhaltungsdosis wird mit 1–2 g/h kontinuierlich durchgeführt. Die Kontrolle der Magnesiumwirkung bzw. der Nebenwirkungen erfolgt im Wesentlichen durch die engmaschige regelmäßige Kontrolle der Muskeleigenreflexe, besonders des Patellarsehnenreflexes (PSR). Die bei der Präeklampsie bestehende Hyperreflexie mit teilweise stark verbreiterten Reflexzonen sollte auf einen normal bis schwach auslösbaren PSR zurückgeführt werden. Ein Verschwinden der tiefen Muskeleigenreflexe ist meist bei Mg-Serumkonzentrationen > 5,0 mmol/l zu beobachten. Bestimmungen der Serumkonzentration sollten in regel-
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Kapitel 61 · Intensivtherapie bei Gestose
mäßigen Abständen erfolgen. EKG-Überwachung und Kontrolle der Atemtätigkeit sind obligatorisch. Besondere Bedeutung kommt der Kontrolle der Urinausscheidung (> 100 ml in 4 h) zu, da Magnesium ausschließlich renal eliminiert wird und somit bei eingeschränkter Ausscheidung im Rahmen des Krankheitsbilds schnell Intoxikationserscheinungen resultieren. Kalzium (1 Amp. Kalziumglukonat) sollte als Antidot zur eventuellen sofortigen intravenösen Injektion bereitliegen. Ein akuter Krampfanfall kann meist mit einer geringen Menge Diazepam (5–10 mg i.v.) terminiert werden, die weitere Therapie sollte mit Magnesium erfolgen.
therapiert. Eine prophylaktische Substitution von GFP oder anderer Gerinnungsfaktoren ist nicht gerechtfertigt. Auch die im Rahmen des HELLP-Syndroms bestehende Thrombozytopenie wird nur unter strenger Indikationsstellung durch Thrombozytengabe substituiert. Eine vaginale Entbindung kann bei Thrombozytenzahlen über 20000/Pl durchgeführt werden, ebenso ist postpartal, sofern keine Nachblutung besteht, kein Transfusionsbedarf gegeben. Treten Blutungskomplikationen auf oder ist eine chirurgische bzw. gynäkologische Intervention (Sectio caesarea) angezeigt, sollte bei einer Thrombozytenzahl von unter 50000/Pl eine Substitution in Betracht gezogen werden.
! Magnesium ist Mittel der ersten Wahl zur Prophylaxe und Behandlung schwerer neurologischer Symptome und Krampfanfälle bei der Präeklampsie/Eklampsie. Die Wirkung der Therapie er folgt durch die klinische Kontrolle der Muskeleigenreflexe (MER). Die Magnesiumzufuhr muss vermindert bzw. gestoppt werden, wenn die MER nicht mehr auslösbar sind.
61.7
61.6.3 Vorsichtige Volumensubstitution Als Ausdruck einer generalisierten Vasokonstriktion finden sich bei der schweren SIH neben dem erhöhten peripheren Gefäßwiderstand ein erniedrigtes Herzzeitvolumen und ein deutlich erniedrigtes Plasmavolumen bei entsprechend höherem Hämatokritwert. Eine Volumensubstitution mit kolloidalen Lösungen führt zu einer Steigerung des intravasalen Blutvolumens und damit zu einer Verbesserung der Hämodynamik. Häufig ist unter dieser Maßnahme sogar eine moderate Senkung des Blutdrucks zu erreichen. Zum Einsatz können die derzeit gebräuchlichen Hydroxyethylstärkelösungen oder Gelatinelösungen kommen. Sollten Hinweise für ein beginnendes Lungenödem bestehen, muss die Volumengabe jedoch vorsichtig und unter strenger Überwachung erfolgen. Unter diesem Aspekt verbietet sich die Gabe von Diuretika zur Therapie der Hypertonie.
61
61.6.4 Korrektur einer defizitären
Hämostase Bei den besonders schweren Verlaufsformen der SIH, der Eklampsie und besonders dem HELLP-Syndrom kommt es in 20–40 % zu disseminierten Gerinnungsstörungen, das Vollbild einer Verbrauchskoagulopathie wird jedoch nur in 8–15 % beobachtet. Plasmatische Störungen der Hämostase werden, sofern Blutungskomplikationen es erforderlich machen, im Bedarfsfall mit gefrorenem Frischplasma (GFP)
Zeitpunkt der Entbindung
Der Zeitpunkt der Geburtseinleitung wird von der Klinik der Mutter und der Reife des Fetus bestimmt. Insbesondere zur Förderung der Lungenreifung des Fetus ist ein abwartendes und konservatives Vorgehen bei einem Gestationsalter < 32. SSW anzustreben, möglichst sogar bis zur 34. SSW. Unter folgenden Bedingungen muss auch zu einem früheren Zeitpunkt die Schwangerschaft ggf. durch Sectio caesarea beendet werden: Mütterliche Indikationen zur Entbindung bzw. Sectio 5 Auftreten eines eklamptischen Anfalls 5 Schwere therapierefraktäre Präeklampsie: 5 Therapeutisch nicht oder schwer beherrschbare Hypertonie 5 Anurie trotz ausreichendem Flüssigkeitsangebot 5 Ausgeprägtes Lungenödem 5 Auftreten einer schweren Thrombozytopenie, wobei der Verlauf entscheidend ist 5 Zunehmende Leberfunktionsstörungen 5 Drohende Eklampsie und persistierende neurologische Symptome 5 Mütterliche/kindliche Komplikationen wie Abruptio placentae, zerebrale Blutung, an Volumen zunehmendes Leberhämatom oder Verdacht auf eine Leberruptur
Kindliche Indikationen zur Entbindung bzw. Sectio 5 Pathologisches CTG (z. B. wiederholte Spät- und schwere variable Dezelerationen) 5 Schwere intrauterine Wachstumsretardierung 5 Hochpathologischer Dopplerbefund
619 61.8 · Anästhesiologisches Management
. Tabelle 61.1. Vergleich der Anästhesieverfahren zur Entbindung bei SIH Allgemeinanästhesie
Periduralanästhesie
Vorteile
5 Schnellstes Verfahren 5 Kein hämostaseologisches Risiko 5 Verminderung der Krampfschwelle bei Eklampsie 5 Erweiterung des Eingriffs (z. B. bei Leberruptur) möglich
5 5 5 5
Nachteile
5 Hypertensive Phasen bei Intubation 5 Erschwerte Intubation 5 Apgar vermindert
5 Zeitdauer höher 5 Hypotonie 5 Risiko des Hämatoms u. der epiduralen Blutung
5 Hypotension stark ausgeprägt 5 Verminderte Plazentaperfusion 5 Risiko des Lungenödems bei Infusionstherapie
Verfahren der Wahl bei
5 Notfall 5 Gerinnungsstörung
5 Elektive vaginale Entbindung 5 Elektive Sectio
5 Elektive Sectio 5 Eilige Sectio 5 (Gerinnungsstörung)
Gute Analgesie Verminderter Blutdruckanstieg Stabilisation des HZV Verbesserte uteroplazentäre Durchblutung
Nach der Entbindung sollte die Mutter zumindest über 3 Tage intensivmedizinisch überwacht werden. Die zuvor begonnene antikonvulsive und antihypertensive Therapie wird entsprechend weitergeführt, um weitere Komplikationen während dieses Zeitraums zu vermeiden.
61.8
Anästhesiologisches Management
Eine besondere Herausforderung stellt das anästhesiologische Vorgehen bei geplanter oder aber bei dringlicher Entbindung dar. Kenntnisse der pathophysiologischen Veränderungen und der therapeutischen Ansätze sind Voraussetzung. Hämodynamische Veränderungen, neurologische Symptome und gerinnungsphysiologische Veränderungen sind die bedeutsamsten Gesichtspunkte. Die Vorgehensweise richtet sich nach der mütterlichen klinischen Symptomatik.
61.8.1 Nicht dringliche vaginale
Entbindung Für eine vaginale Entbindung stellt die Periduralanästhesie, eine suffiziente Blutgerinnung vorausgesetzt, die beste anästhesiologische Methode dar. Durch eine gute Analgesie werden stressbedingte Blutdruckanstiege und die Bildung von Stresshormonen reduziert, eine verbesserte intraplazentare Durchblutung ist die Folge. Jederzeit ist die Durchführung einer eiligen Sectio bei liegender PDA möglich. Wie bei der Anlage jeder Regionalanästhesie bei Schwangeren muss der
Spinalanästhesie
5 Rasche Durchführung möglich 5 Zuverlässige Wirkung 5 Geringes hämostaseologisches Risiko
vorherigen und zeitgleichen Infusionstherapie besondere Beachtung gegeben werden, durch Lagerungsmaßnahmen und die Gabe von Vasokonstriktoren kann einer Hypotonie entgegen gewirkt werden. Entscheidend für die Anlage der PDA für eine Entbindung sind die gerinnungsphysiologischen Veränderungen. Unabhängig von den Thrombozytenzahlen verbietet sich z. B. bei HELLP-Syndrom die Anlage einer PDA im Thrombozytensturz, sodass wiederholte Blutbild-Bestimmungen insbesondere bei Thrombozytopenie zu fordern sind. Eine Bestimmung der Blutungszeit ergibt keine zusätzliche Sicherheit.
61.8.2 Entbindung durch Sectio caesarea Das anästhesiologische Vorgehen bei Sectio caesarea muss anhand von Dringlichkeit, neurologischen oder hämostaseologischen Komplikationen oder kardialer Symptome entschieden werden (. Tab. 61.1). Bei notfallmäßiger Entbindung ist die Allgemeinanästhesie Verfahren der Wahl, ebenfalls bei Patientinnen mit eingeschränktem Gasaustausch, z. B. bei einem Lungenödem. Potenzielle Risiken bei einer Allgemeinanästhesie sind vor allem die schwierige Intubation bei Larynxödem und gesteigerter Ödemneigung nach frustranen Intubationsversuchen. Auch heute stellen hypoxämische Komplikationen die häufigsten und bedeutsamsten Risiken der Anästhesie bei Sectio caesarea dar. Weitere Risiken stellen schwere Blutdruckanstiege im Rahmen der Anästhesieeinleitung und Intubation oder In-
61
620
61
Kapitel 61 · Intensivtherapie bei Gestose
teraktionen zwischen nicht depolarisierenden Muskelrelaxanzien und der evtl. vorbestehenden Magnesium-Therapie dar. Die Überwachung der neuromuskulären Erregungsübertragung mittels Relaxometrie muss gefordert werden. Der Spinalanästhesie kommt aus heutiger Sicht für die Sectio caesarea die größte Bedeutung zu. Als ein rasch durchzuführendes Verfahren, sicher in der Anwendung mit zuverlässiger Wirksamkeit hat diese Methode derzeit die größte Verbreitung. Allerdings sind schon bei gesunden Schwangeren die Blutdruckabfälle durch die sehr schnell einsetzende Vasodilatation teilweise deutlich ausgeprägt. In Situationen einer bestehenden Gestose besteht deshalb ganz besonders die Gefahr ausgeprägter Hypotonien. Die Vorbehandlung der Schwangeren mit kolloidaler Volumengabe, die Verwendung einer möglichst geringen Lokalanästhesiedosis und die Bereithaltung von Vasokonstriktoren muss deshalb zwingend gefordert werden. Allerdings besteht natürlich besonders bei SIH-Patientinnen bei ausgeprägter Infusionstherapie das Risiko des Lungenödems. Als vorteilhaft ist die Spinalanästhesie deshalb anzusehen, da auch eilige Entbindungen wegen des geringen Zeitbedarfs damit durchführbar sind und das Risiko der Blutung auch bei mäßigen Störungen der Hämostase sehr gering ist. Die Periduralanästhesie hat ihren Stellenwert insbesondere dann, wenn primär eine vaginale Entbindung angestrebt wird, im Verlauf jedoch eine Sectio caesarea erforderlich ist. Hier bietet sich die Weiterführung der Periduralanästhesie an. Gegenüber der Spinalanästhesie besteht der Vorteil der langsameren Anästhesieausbreitung und der damit verbundenen langsamer auftretenden Vasodilatation, sodass hypotensive Blutdruckveränderungen wesentlich leichter auszugleichen bzw. zu behandeln sind. Obwohl die PDA ein sehr schonendes Verfahren ist verbietet sie sich in allen Fällen der eiligen oder gar notfallmäßigen Sectio und bei Gerinnungsstörungen. Unabhängig vom Anästhesieverfahren für die Sectio caesarea ist nach der Entbindung besondere Aufmerksamkeit bei der Gabe von Uterotonika angezeigt. Die Applikation kann zu schweren hämodynamischen Veränderungen und Myokardischämien führen, die in der Situation eines Ungleichgewichts vasokonstringierender und vasodilatierender Faktoren besonders ausgeprägt sein können. Eine vorsichtige titrierende Gabe ist erforderlich. ! Die Spinalanästhesie ist das anästhesiologische Verfahren der Wahl bei geplanter oder eiliger Sectio caesarea. Als Kontraindikation ist im Wesentlichen nur die schwere Störung der Blutgerinnung anzusehen. Besondere Vorsicht ist bei der Gabe von Uterotonika nach der Entbindung angezeigt.
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62 Verbrennungen und Verbrühungen Helmut Krause 62.1 Epidemiologie und Ätiologie –622 62.2 Pathophysiologie –622 62.2.1 62.2.2 62.2.3 62.2.4 62.2.5
Ausmaß –622 Schädigungsmechanismen –622 Systemische Auswirkungen –622 Inhalationstrauma –623 Elektrotrauma –623
62.3 Einteilung –623 62.3.1 Verbrennungsgrade –623 62.3.2 Ausdehnung –624
62.4 Erstversorgung –624 62.5 Intensivtherapie –626 62.5.1 62.5.2 62.5.3 62.5.4 62.5.5 62.5.6 62.5.7
Ziele –626 Ateminsuffizienz –626 Volumentherapie –627 Infektionsprophylaxe und -therapie –627 Analgosedierung und Schmerztherapie –628 Ernährung –628 Verbandwechsel und operative Eingriffe –629
62.6 Zusammenfassung –629 Literatur –630
622
Kapitel 62 · Verbrennungen und Verbrühungen
: Beispiel Beim unachtsamen Entzünden eines Holzkohlegrills explodiert die Brennspiritusflasche und Robert, sechseinhalb Jahre alt, steht in Flammen. Die Umstehenden löschen zwar schnell die Bekleidung, indem sie das Kind in eine Decke einwickeln, trotzdem erleidet Robert schwere Brandverletzungen an Gesicht, Armen und Rumpf. Vom Notarzt wird eine Infusionstherapie begonnen und eine Analgesie durchgeführt. In der Klinik muss das Kind wegen zunehmender Anschwellung des Gesichts intubiert werden. Nach der chirurgischen Erstversorgung wird Robert auf der Intensivstation weiter beatmet. Die folgenden Tage sind von einem massiven Volumenbedarf, starken Ödemen am gesamten Körper und einer kurzfristig katecholaminpflichtigen Kreislaufinsuffizienz geprägt. Die Verbrennungen zweiten und dritten Grades umfassen 40 % der Körperober fläche. Durch die intensivmedizinische Stabilisierung ist es möglich, am zweiten posttraumatischen Tag eine erste Nekrosenentfernung und temporäre Hautdeckung vorzunehmen. Das Kind kann bald darauf extubiert werden. Eine frühzeitige enterale Ernährung wird begonnen. Trotzdem schließen sich noch eine Vielzahl von plastischen Operationen und ein monatelanger Krankenhausaufenthalt an diese initiale Phase an, bis Robert nach Hause entlassen werden kann.
Verbrennungstiefe ist abhängig von der Einwirkungsdauer und der Temperatur. Die kritische Temperatur, bei der lebende Zellen geschädigt werden, liegt bei 52 ºC. Während bei Verbrühungen die intrakutane Temperatur relativ niedrig, d. h. niedriger als 100 ºC ist, können durch Flammeneinwirkung, Metalle oder Chemikalien Temperaturen bis über 1000 ºC auf die Haut einwirken. Einfluss auf die Schädigung haben auch die initiale Hauttemperatur, Hautdurchblutung (Wärmeabtransport), das subkutane Fettgewebe als Isolator für tiefere Schichten und vor allem die Hautdicke. So kann z. B. Wasser einer Temperatur von 60 ºC nach nur 30 s Einwirkzeit schon drittgradige Verbrühungen beim Säugling hervorrufen.
62.2.2 Schädigungsmechanismen Unter dem Einfluss der Hitzequelle entstehen in der Epidermis nach wenigen Sekunden Blasen, deren flüssiger Inhalt nach weiterer Hitzeeinwirkung einkocht und die Haut großflächig abhebt. Durch den Dampfdruck platzen dann diese Blasen und der anfänglich feuchte Coriumwundgrund trocknet aus, zieht sich zusammen und verkohlt bei andauernder Hitzeeinwirkung. Histologisch sieht man bei einer tiefen Verbrennung Zonen der Nekrose, der Stase und der Hyperämie.
62.2.3 Systemische Auswirkungen 62.1
62
Epidemiologie und Ätiologie
Trotz der enormen Fortschritte, die in den letzten zwei bis drei Jahrzehnten in der Behandlung thermisch verletzter Patienten erzielt wurden, gehören schwere Verbrennungen und Verbrühungen zu den gravierendsten Traumen des Menschen mit einer immer noch hohen Letalität. Die Häufigkeit wird mit 6 : 1000 Einwohner pro Jahr für leichte Verbrennungen angegeben, für schwere Verbrennungen liegt sie bei 0,02–0,05 : 1000 Einwohner. Haushalts- und Freizeitunfälle sind wesentlich häufiger als Arbeitsunfälle. Bei Erwachsenen überwiegt als Ursache für thermische Verletzungen die Verbrennung durch offene Flammen, während Kinder am häufigsten Verbrühungen durch heiße Flüssigkeiten erleiden.
62.2
Pathophysiologie
62.2.1 Ausmaß Das Ausmaß der thermischen Schädigung wird von der Verbrennungstiefe und Verbrennungsfläche bestimmt. Die
Neben den lokalen Schäden der thermischen Noxe (Nekrose, Stase, lokales Ödem) kommt es bei Verletzungen über 10–15 % der Körperoberfläche zu allgemeinen, den ganzen Körper betreffenden Auswirkungen. Sie werden zusammengefasst als SIRS (systemic inflammatory response syndrome) bezeichnet und haben damit den Begriff »Verbrennungskrankheit« abgelöst (. Abb. 62.1). Auslöser sind Gewebemediatoren (z. B. TNF, Interleukine, Histamin, Bradykinin). Ein SIRS kann auch im Rahmen anderer schwerer Traumen, bei der Sepsis oder bei schwerer Hypoxie eintreten. Aufgrund der Kapillarschädigung mit einer Permeabilitätserhöhung kommt es zu einem massiven generalisierten Ödem mit Verlust von Wasser, Elektrolyten und Eiweißen aus dem Intrazellulärraum. Durch die Hypovolämie, Vasokonstriktion und Viskositätserhöhung entsteht unbehandelt eine Mikrozirkulationsstörung und Hyperkoagulation, eine herabgesetzte Gewebeoxygenierung und konsekutiv eine metabolische Azidose. Verstärkt wird dieser Zustand noch durch eine Abnahme des HZV durch die schwere Verbrennung selbst, vermutlich durch einen »myocardial depressant factor“. Behandelt geht das SIRS oft in einen hyperdynamen Kreislaufzustand über. Weite-
623 62.3 · Einteilung
. Abb. 62.1. Entstehung des SIRS und des Organversagens beim unbehandelten schweren thermischen Trauma (mod. nach Herndon DN, 2001)
re Folgen des SIRS nach schweren thermischen Traumen können eine Abnahme der Nierenperfusion, ein Hypermetabolismus mit konsekutiver Katabolie, eine Bakterientranslokation und Stressulzeration im Magen-Darm-Trakt, eine Immunsuppression und eine Anämie sein. Durch die aufgehobene Schutzfunktion der verletzten Haut entstehen ein zusätzlicher Flüssigkeitsverlust (Exsudation), eine erhöhte Infektionsgefahr und ein Wärmeverlust. Nach ca. 24 h lässt die Kapillarpermeabilität wieder nach und es folgt eine Rückresorption von Wasser und Elektrolyten. Die ausgetretenen Proteine werden jedoch nicht rückresorbiert und können durch ihre osmotische Wirkung die Ödemrückresorption erheblich vermindern. Die Spätphase des schweren thermischen Traumas ist häufig gekennzeichnet durch generalisierte Organfunktionsstörungen und eine Infektabwehrschwäche.
62.2.4 Inhalationstrauma Eine weitere Gefahr im Rahmen von Verbrennungsunfällen ist das Inhalationstrauma. Durch die thermische Schädigung kann es zu einem Ödem und Nekrosen der Schleimhaut kommen, bei Wasserdampfinhalation, bedingt durch die hohe Wärmeleitfähigkeit, sogar bis in die unteren Atem-
wege. Eine Rauchvergiftung oder toxische Gase können neben diesen Schädigungen auch einen Bronchospasmus, eine Tracheobronchitis und ein toxisches Lungenödem hervorrufen. Symptome treten oft erst nach einer stundenlangen Latenzphase auf. Gefahr besteht auch durch eine COoder Zyanidvergiftung.
62.2.5 Elektrotrauma Bei oft nur kleinen oberflächlichen Verbrennungen (Strommarken) kann es bei Elektrounfällen zu ausgedehnten tiefen Gewebeschäden, z. B. in der Muskulatur kommen. Neben akuten Begleiterscheinungen (Herzrhythmusstörungen) ist als Folge der Rhabdomyolyse ein akutes Nierenversagen möglich.
62.3
Einteilung
62.3.1 Verbrennungsgrade Für die Einschätzung des Schweregrades der thermischen Verletzung ist die Beurteilung der Schädigungstiefe von großer Bedeutung (. Abb. 62.2; . Tab. 62.1). Allerdings ist die Tiefe der Schädigung besonders nach Verbrühungen im Rahmen der Erstversorgung oft nur schwer einzuschätzen und muss nach 24 und 48 h in der Klinik erneut bestimmt werden.
62
624
Kapitel 62 · Verbrennungen und Verbrühungen
. Tabelle 62.1. Verbrennungsgrade
. Abb. 62.2. Neunerregel (Mod. nach Kretz, Schäffer, Anästhesie, Intensivmedizin, Notfallmedizin, Schmerztherapie, 3. Aufl. [2001]. Springer, Heidelberg)
! Auch tief zweitgradig oder drittgradig thermisch verletzte Patienten benötigen i. d. R. eine Schmerztherapie, da immer auch geringergradig verletzte Areale vorhanden sind, die starke Schmerzen verursachen.
62.3.2 Ausdehnung
62
Neben der Schädigungstiefe ist für die Prognose des Patienten das Verbrennungsausmaß von entscheidender Bedeutung. Es wird in % verbrannter Körperoberfläche (KOF) ausgedrückt. Hatten vor dreißig Jahren Patienten mit mehr als 30 % verbrannter KOF kaum eine Chance zu überleben, so liegt heute in Verbrennungszentren die Überlebensrate über 80 % bei jungen Erwachsenen mit Verbrennungen von ca. 60 % der KOF. Für Erwachsene dient allgemein die Neunerregel nach Wallace (. Abb. 62.2) zur Einschätzung der verbrannten Körperoberfläche. Bei Kindern nimmt der Kopf auf Kosten der Beine und des Stamms einen erhöhten Anteil der KOF ein. Hier sind spezielle Schemata anzuwenden. ! Faustregel: Die Handfläche des Kindes macht ein Prozent seiner Körperober fläche aus!
Grad I:
Betrifft nur die Epidermis: Erythem, leichte bis mäßige Schmerzen für 2–3 Tage, Spontanheilung (»Sonnenbrand«)
Grad II a:
Betrifft Epidermis und obere Anteile der Dermis: Blasenbildung, Exsudation, Wundgrund mit sofortiger Rekapillarisierung, heftige Schmerzen, Spontanheilung in der Regel nach 1–2 Wochen
Grad II b:
Betrifft Epidermis und gesamte Dermis: offene Blasen, keine Rekapillarisierung, Schmerzen u. U. abgeschwächt, weil Nervenendigungen geschädigt, nur eingeschränkte Spontanheilung
Grad III:
Betrifft alle Hautschichten, evtl. auch Faszien und Muskulatur, harter, trockener Schorf, weiß bis bräunlich verkohlt, Haare und Nägel fallen ab, auch größere Gefäße können thrombosieren, aufgehobene Sensibilität, keine Spontanheilung
Alle thermischen Verletzungen, die mehr als zehn Prozent der KOF beim Erwachsenen (> 5 % beim Kind) umfassen, sind eine unbedingte Indikation zur Klinikeinweisung. Daneben müssen auch Patienten mit Verbrennungen bzw. Verbrühungen der Hände, Füße, zirkulär um Gelenke, am Gesicht und am Genitale in eine Klinik eingewiesen werden. Bei ausgedehnten thermischen Traumen, bei Inhalationstraumen, CO-Vergiftung, Starkstromverletzungen und schweren Begleitverletzungen (Polytraumen) ist eine Intensivtherapie notwendig.
62.4
Erstversorgung
Tipps
Präklinische Erstversorgung bei Verbrennungen – so machen wir es: 5 Patient bergen (Eigenschutz beachten) 5 Vitalfunktionen prüfen, ggf. sichern 5 Sauerstoffgabe bei allen Verletzten durch offenes Feuer 5 Kleidung entfernen, sofern nicht festhaftend (Nachbrennen verhindern) 5 Orientierende Untersuchung (Ausmaß, Begleitverletzungen) 6
625 62.4 · Erstversorgung
5 Brandwunden mit kaltem Wasser für ca. 10– 20 min kühlen, dabei allgemeine Hypothermie vermeiden (d. h. bei kleinen Kindern und ausgedehnten Verletzungen ist die Kaltwassertherapie nicht oder nur sehr eingeschränkt möglich) 5 Wunden mit trockenem Wundverband bedecken, notfalls mit sauberen Tüchern (z. B. frische Bettlaken) 5 Intravenösen Zugang anlegen, möglichst großlumig, evtl. auch durch verbranntes Gebiet; bei schwierigsten Venenverhältnissen eine Intraossärkanüle dem zentralen Venenkatheter vorziehen 5 Analgesie: – z. B. Ketamin 0,5–1,5–mg/kg KG i.v. oder – Piritramid 0,05–0,1 mg/kg KG i.v. titrierend 5 Infusionsbehandlung: – < 10 % verbr. KOF: Erhaltungsbedarf als Ringerlaktat (ca. 30–40 ml/kg KG/d) – > 10 % verbr. KOF: 4 ml/kg KG/% verbr. KOF/d als Ringerlaktat, davon 50 % in den ersten 8 h 5 Indikation zur Intubation und Beatmung: – Bewusstlosigkeit, Ateminsuffizienz, erhebliche Kreislaufinstabilität – Ausgedehnte Gesichts- und/oder Halsverbrennung – V.a. thermisch-toxisches Inhalationstrauma, Rauchvergiftung mit Stridor oder Dyspnoe, V.a. CO-Vergiftung – Schwere Begleitverletzungen (z. B. Polytrauma, SHT) – Ausgedehnte thermische Schädigung, besonders bei Säuglingen (Analgesie) 5 Transport in die nächstgelegene chirurgische Klinik bzw. in ein Verbrennungszentrum (wenn innerhalb von 30 min erreichbar)
! Volumentherapie-Faustregeln Für Erwachsene (> 20 % verbr. KOF, präklinisch): insgesamt ca. 1000 ml in der 1. h Für Kinder (präklinisch): insgesamt ca. 20 ml/kg KG in der 1. h
! Cave Um die Ödeme nicht zu verstärken, dür fen keine hypotonen Lösungen infundiert werden. Aus dem gleichen Grund sollen die angegebenen Infusionsmengen nicht überschritten werden. Kolloide haben in den ersten 24 h, solange die Kapillarpermeabilität noch hoch ist, nur bei akuter Kreislaufinsuffizienz durch Volumenmangel oder Hämorrhagie eine Indikation.
Außer den oben genannten Indikationen gibt es keinen Grund zur so genannten prophylaktischen Intubation und Beatmung. Bei der Laryngoskopie ist es wichtig, die Schleimhaut zu beurteilen (Ruß, Rötung, Ödem) und den Befund zu dokumentieren. Tipps
Klinische Erstversorgung bei Verbrennungen – so machen wir es: 5 Überprüfung der präklinische Erstversorgung, ggf. Komplettierung – Vitalfunktionen stabilisieren – Analgesie – Ggf. Intubation und Beatmung, Magensonde 5 Anamneseerhebung (wenn möglich) und ausführliche körperliche Untersuchung – Begleitverletzungen, periphere Pulse – Bei Kindern: Körpergewicht (vor Anlegen der Verbände!) 5 Labordiagnostik – Kleines BB, Elektrolyte, BZ, CRP, Krea, Harnstoff, GOT, GPT, art./kap. BGA, Blutgruppe – Bei allen Verbrennungsunfällen: CO-Hb 5 Infusionsregime überprüfen bzw. nach Schema beginnen 5 Chirurgische Erstversorgung (bei stabilisierten Vitalfunktionen): Säuberung, Entfernung der Blasen, ggf. Escharotomie, Bestimmung der geschädigten KOF (bei Kindern nach altersadaptiertem Schema), ggf. Hautentnahme für Zellkulturen, Salben-Gazeverband 5 Ggf. invasive Überwachungsmethoden: – Blasenkatheter: bei allen schweren thermischen Verletzungen, Kreislaufinsuffizienz, Verletzungen im Genitalbereich – Zentraler Venenkatheter: bei allen schweren thermischen Verletzungen, Kreislaufinsuffizienz, schwierigem Venenstatus, absehbar längerer Beatmung – Direkte arterielle Druckmessung: bei schwerer Gasaustauschstörung, Kreislaufinsuffizienz, wenn nichtinvasive Druckmessung nicht möglich ist (Wunden) 5 Ggf. Duodenalsonde: bei > 20 % verbrannter KOF zur frühzeitigen enteralen Ernährung 5 Rö-Thorax: bei V.a. Inhalationstrauma, Ateminsuffizienz, Polytrauma, V.a. thorakale Begleitverlet6
62
626
Kapitel 62 · Verbrennungen und Verbrühungen
zungen, Lagekontrolle des Tubus (Langzeitbeatmung) oder des ZVK 5 Tetanusimpfung (wenn keine Dokumentation über Impfschutz vorhanden ist)
Indikation zur Verlegung in eine Spezialklinik 5 Verbrennungen IIº > 20 % der KOF (Kinder >10% der KOF) 5 Verbrennungen IIIº > 10 % der KOF 5 Verbrennungen II b und IIIº an Händen, Füßen, Gesicht, Hals 5 Inhalationstrauma, Elektrotrauma Kontakt: Bundesweiter zentraler Bettennachweis der Feuerwehr Hamburg Tel. 040/42851-3998 oder 040/42851-3999
Fazit für die Erstversorgung: Eine frühzeitige und suffizien-
te Erstversorgung von thermisch verletzten Patienten ist für die Prognose von entscheidender Bedeutung. Sie besteht vor allem aus der Stabilisierung der Vitalparameter, der Beurteilung des Verbrennungsausmaßes und eventueller Begleitverletzungen, einer adäquaten Volumentherapie und der Einschätzung der pulmonalen Situationen sowie die Sicherung der Atemwege. Folgende Fehler sind in der Initialphase zu vermeiden: unkritische Gabe von Katecholaminen und Kolloiden, Therapie mit Diuretika und Kortison.
62.5
Intensivtherapie
62.5.1 Ziele
62
Mit Eintritt der systemischen Reaktion (SIRS) auf schwere thermische Verletzungen können zunächst stabile Patienten nach ein bis zwei Tagen zunehmend instabil werden. Dieses geschieht zu einer Zeit, in der die frühzeitig notwendige Nekrektomie und Wunddeckung eine zusätzliche Belastung für den Patienten darstellt. ! Das vordringlichste intensivmedizinische Behandlungsziel ist es, den Patienten so zu stabilisieren, dass eine chirurgische Wundversorgung in den ersten 72 h nach dem Trauma möglich ist.
Diese frühe chirurgische Wundversorgung und temporäre Deckung der verbrannten Hautflächen haben ganz
maßgeblich zu der Verbesserung der Überlebensrate in den letzten zwanzig Jahren beigetragen. Ziele der Intensivtherapie 5 Stabilisierung der Vitalfunktionen – Therapie von Gasaustauschstörungen – Adäquater Volumen- und Elektrolytersatz – Ausreichende Urinausscheidung 5 Kontrolle von Infektionen – Streng hygienisches Vorgehen – Enges mikrobiologisches Monitoring – Keine prophylaktische systemische Antibiotikatherapie – Gezielte, prompte Behandlung von Organinfektionen – Frühzeitige enterale Ernährung und Atemtherapie 5 Begrenzung der Katabolie – Reaktion auf erhöhten Grundumsatz – Frühzeitige enterale Ernährung – Warme Umgebungstemperatur (Wärmestrahler) – Adäquate Schmerztherapie, Anxiolyse, evtl. Sedierung 5 Physiotherapie und psychosoziale Betreuung – Einbeziehung von Physiotherapeuten, Sozialarbeitern, Psychologen, Ergotherapeuten
62.5.2 Ateminsuffizienz Eine Schädigung der Lunge durch Inhalation von Kohlenmonoxid, toxischen Gasen oder Rauch ist ein ganz wesentlicher Grund für den akuten Tod von Verbrennungsopfern. Bei den Patienten, die das initiale Trauma überleben, kann eine eingeschränkte Lungenfunktion für Monate oder sogar Jahre anhalten. Akute, intensivmedizinische Probleme entstehen vor allem durch eine CO-Vergiftung, ein toxisches Lungenödem oder ein ARDS.
Kohlenmonoxydvergiftung CO, ein Geruchs- und farbloses Gas, entsteht bei inkompletter Verbrennung von kohlenstoffhaltigen Materialien. CO bindet über 200-mal stärker an Hämoglobin als O2. Eine erhebliche CO-Vergiftung mit klinischen Symptomen besteht ab 15–20 % CO-Hb. Symptomatik: rosiges Hautkolorit, Dyspnoe, Übelkeit,
Schwindel, Kopfschmerz, Bewusstseinseintrübung, Herzrhythmusstörungen, Krämpfe, Koma
627 62.5 · Intensivtherapie
Labordiagnostik: Azidose, COHb n, ! Cave (Falsch) normale pulsoxymetrische Sättigung!
Therapie: Atmung/Beatmung mit 100 % O2 bis COHb
< 10 %, bei Bedarf Diuretika, evtl. hyperbare Oxygenierung (Druckkammer)
meine Übereinstimmung darüber, dass die frühe Gabe von Kolloiden weder den akuten Abfall des HZV verhindert, noch die Überlebensrate verbessert. Die Zielgrößen für die Volumentherapie sind eine Urinausscheidung von 0,5–1 ml/kg KG/h (1–2 ml/kg KG/h bei Kindern < 2 Jahren), ein HKT von 30–40 % sowie normaler Blutdruck und normale bis leicht erhöhte Herzfrequenz. Zur genauen Berechnung der Infusionsmenge ist das modifizierte Parkland-Schema weit verbreitet.
Thermisch-toxisches Inhalationstrauma Ein Inhalationstrauma kann durch das Einatmen heißer Luft oder toxischer Gase wie z. B. Ammoniak, Phosgen oder Nitrosegase auftreten. Toxische Gase entstehen vor allem bei Verbrennung von Kunststoffen oder Chemikalien. Die Symptome treten sofort oder kurze Zeit (Stunden) nach dem Trauma auf. Symptomatik: Stridor, Dyspnoe, Hypoxie, Bronchospas-
mus, toxisches Lungenödem, Tracheobronchitis, Schleimhautnekrosen. Diagnostik: Beurteilung der Schleimhaut, Geruch, Blutabnahmen. Eine Tracheobronchoskopie sollte baldmöglichst durchgeführt werden (sofern vom pulmonalen Zustand her vertretbar, spätestens vor Extubation). Therapie: Beatmung mit adaptiertem FiO2 und PEEP, in-
tensive Bronchialtoilette, evtl. Lavage, inhalative Bronchodilatatoren, ggf. systemisch Antidote. Die Gabe von systemischen Kortikoiden ist kontraindiziert, die von Kortikoid-Aerosolen umstritten.
Atemnotsyndrom (ARDS) Ein ARDS kommt mit einer hohen Inzidenz bei Rauchinhalation und gleichzeitig ausgedehnten Verbrennungen vor. Die Symptome treten in den ersten Tagen nach dem Trauma auf, bei Komplikationen (Sepsis) aber auch später (7Kap. 52; 7Kap. 55).
Parkland-Schema (mod.) 5 Indiziert bei Verletzungen > 10% der KOF, bei Säuglingen und jungen Kleinkindern > 5% der KOF 5 Infusionsbedarf als Ringerlaktat (bei Säuglingen als G5RL) – 1. Tag: 4 ml/kg KG/% verbr. KOF (50 % in den ersten 8 h) – 2. Tag: 1–3 ml/kg KG/% verbr. KOF – 3. Tag: 1 ml/kg KG/% verbr. KOF 5 Die Infusionsmenge muss initial 4-stündlich nach Urinmenge und Hämatokrit variiert werden. Das Schema soll nur den ersten Anhalt ergeben, Variationen von ± 100 % sind häufig. 5 Infusion von Kolloiden am1. Tag – Prinzipiell nicht, u. U. indiziert bei Kreislaufinsuffizienz oder nach 8–12 h bei ausgedehnten Verletzungen (> 50 % verbr. KOF, beim Säugling > 30 % verbr. KOF) – HAES ist in dieser Situation das Kolloid der Wahl – Während der Phase des Kapillarlecks (bis ca. 8 h posttraumatisch) gegebene Kolloide verzögern die Ödemrückbildung erheblich. 5 Ab dem 2. Tag – Humanalbumin 20 %, wenn das Serumprotein < 3,0 g/dl ist 5 Berechnung: Bedarf Albumin in g/Tag = (Soll[g/l] – Ist[g/l]) u Serumvolumen
62.5.3 Volumentherapie Die Aufrechterhaltung der adäquaten Organperfusion gehört zu den wichtigsten Aufgaben der intensivmedizinischen Versorgung von thermisch verletzten Patienten. Zahlreiche Verbrennungszentren haben Richtlinien für die Volumentherapie veröffentlicht, das optimale Vorgehen zur Wiederherstellung des intravaskulären Volumens ist aber immer noch in der Diskussion, ebenso die Indikation für hypertone Kochsalzlösungen. Es besteht aber eine allge-
Eine engmaschige Kontrolle der Labor werte (vor allem BGA, Elektrolyte, Blutbild) ist besonders in den ersten 24–48 h notwendig, Phosphat muss meist substituiert werden.
62.5.4 Infektionsprophylaxe und -therapie Die Sepsis ist auch heute noch die Ursache für 50–60 % aller Todesfälle bei schweren Brandverletzungen. Alle Pati-
62
628
Kapitel 62 · Verbrennungen und Verbrühungen
enten mit schweren thermischen Verletzungen müssen auf der Intensivstation in einem Einzelzimmer unter strengen hygienischen Kautelen behandelt werden (Kittelpflege, penible Händedesinfektion, Handschuhe und Mundschutz bei offenem Verband etc.). ! Eine prophylaktische systemische Antibiotikatherapie ist nicht sinnvoll und fördert das Auftreten resistenter Keime.
Das regelmäßige mikrobiologische Monitoring (Wundabstriche, ggf. Trachealsekret, Urinkultur, Blutkultur) ermöglicht eine gezieltere Therapie bei auftretenden Organinfektionen oder Sepsis. Während der Flow-Phase (Hypermetabolismus), also ab ca. 48 h nach dem Trauma, ist die Temperaturregulation durch die Bildung von Pyrogenen im verletzten Gewebe nach oben hin verschoben (ca. 1–1,5 °C). Temperaturspitzen nach Manipulation an den Wunden sind häufig und erschweren die klinische Infektionsdiagnostik. Akute Veränderungen der laborchemischen Infektionsmarker (Leukozytenzahl, Li.-Verschiebung, CRP) und Blutkulturen können für die Differenzialdiagnose hinweisend sein. Die Wundflora ändert sich von primär auftretenden Hautkeimen (Staphylococcus epidermidis, S. aureus) im Laufe der Zeit zu Hospitalkeimen (Pseudomonas aeruginosa, Enterokokken, Candida). Pseudomonaden haben die Tendenz, in tiefere Gewebeschichten vorzudringen und erhöhen das Sepsisrisiko. Deshalb ist es so wichtig, die zumindest temporäre Deckung der Brandwunden so früh wie möglich durchzuführen. Die üblicherweise durchgeführte topische antimikrobielle Therapie mit Sulfadiazin-Silber kann eine temporäre Leukozytopenie verursachen. Eine frühzeitige enterale Ernährung ist ein wesentlicher Faktor zur Verhinderung der Bakterientranslokation im Gastrointestinaltrakt und damit für eine Reduzierung der endogenen Infektionsgefahr. Die Inzidenz pulmonaler Infektionen kann durch eine früh einsetzende Atemtherapie reduziert werden.
62.5.5 Analgosedierung und
Schmerztherapie
62
Die Analgosedierung und Schmerztherapie sind integrale Bestandteile der Intensivtherapie bei Schwerbrandverletzten und werden ausführlich in 7 Kap. 60 behandelt.
62.5.6 Ernährung Die Ernährung schwerst brandverletzter Patienten hat für das Überleben und die Wundheilung eine sehr wichtige Be-
deutung. Sie muss so angelegt sein, dass sie die besonderen metabolischen Anforderungen abdeckt, die nach schweren thermischen Traumen die Regel sind. Ziele sind eine möglichst frühe enterale Ernährung, eine ausgeglichene, adaptierte Zufuhr von Makro- und Mikroernährungsbausteinen, die ungestörte Wundheilung und Infektionsprophylaxe. Der Gewichtsverlust soll nicht mehr als 5 % des Ausgangsgewichts betragen. Die Pathophysiologie des Postaggressionsstoffwechsels bei schweren thermischen Verletzungen lässt sich in zwei Phasen unterteilen. Die Schockphase dauert Stunden bis Tage, abhängig vom Verletzungsausmaß, den Begleitverletzungen und der Erstversorgung. Sie ist gekennzeichnet durch die Katabolie. I. d. R. innerhalb von 48 h nach dem Trauma beginnt die Flowphase. Der Hypermetabolismus kann mehr als das Zweifache des Basalwerts betragen. Es kommt zu einer Hyperthermie, Tachykardie, einer Reduktion der Glykogenspeicher, einer Lipolyse und evtl. einem Proteinkatabolismus. Der Hypermetabolismus nimmt durch Schmerz, Stress und eine inadäquat niedrige Umgebungstemperatur zu und ist abhängig vom Ausmaß noch offener, ungedeckter Verbrennungswunden. Bei kompletter und erfolgreicher endgültiger Hautdeckung nähert sich der Kalorienbedarf wieder dem Normalwert an. ! Täglicher Kalorienbedarf: 25 kcal/kg KG + 40 kcal/% verbr. KOF (Erwachsene)
Vorteile enteraler Ernährung bei schweren Brandverletzungen 5 Eine Atrophie der intestinalen Mukosa wird vermieden. 5 Die immunologische Funktion der Darmwand wird erhalten. 5 Die Gefahr der Bakterientranslokation wird vermindert. 5 Der Gallenfluss bleibt unbeeinträchtigt. 5 Eine medikamentöse Stressulkusprophylaxe ist meist nicht notwendig.
Eine frühzeitige enterale Ernährung ist anzustreben. Sie sollte in der Regel nach 6–12 h beginnen, wenn möglich per os, sonst über Duodenalsonde oder Magensonde. Magenatonie in den ersten posttraumatischen Tagen tritt häufig auf, Ileuszustände sind jedoch extrem selten! Die parenterale Ernährung ist nur dann indiziert, wenn die enterale Ernährung nicht möglich ist (z. B. Ileus, instabile Vitalfunktionen, Durchfall, Erbrechen) oder
629 62.6 · Zusammenfassung
wenn die enterale Ernährung nicht ausreicht, um den Kalorienbedarf oder den Bedarf an Nahrungsbestandteilen zu decken. Zu beachten ist ein erhöhter Bedarf an Elektrolyten (Phosphat, Magnesium), Vitaminen (Vitamin A, C) und Spurenelementen (Zink). Eine Behandlung mit Wachstumshormonen kann vor allem bei Kindern erwogen werden. Sie soll zur Reduktion des Proteinkatabolismus und zu einer schnelleren Heilung der verbrannten Hautpartien bzw. einer besseren Qualität der geheilten Haut führen.
62.5.7 Verbandwechsel und operative
Eingriffe An die anästhesiologische und chirurgische Erstversorgung schließen sich in den folgenden Tagen, Wochen und evtl. Monaten zahlreiche operative Eingriffe an. Auf die Bedeutung der frühen Nekrosenentfernung und (temporären) Wunddeckung wurde schon hingewiesen. Daneben machen häufige Verbandwechsel, Spalthautgewinnung und Hautdeckung sowie Narbenkorrekturen eine Analgosedierung oder Narkose notwendig. ! Wichtig ist, dem Patienten von Beginn an traumatische schmerzhafte Erlebnisse bei Verbandwechseln oder anderen chirurgischen Manipulationen zu ersparen.
Verbandwechsel. Für die oft täglich stattfindenden, meist
schmerzhaften Verbandwechsel ist in der Regel eine Kurznarkose notwendig. Häufig wird dafür eine Kombination von Midazolam/Ketamin oder Propofol/Remifentanil eingesetzt. Auf ausreichende Überwachungsmöglichkeiten der kardiopulmonalen Funktion und Materialien zum Freihalten der Atemwege ist zu achten, da die Verbandwechsel u. U. an Orten stattfinden, an denen sonst nicht anästhesiert wird (Ablösen der Verbände und Säuberung unter Wasser). Narkose. Wichtig ist eine ausreichende Prämedikation, um den psychischen Stress der Patienten vor den wiederholt notwendigen Eingriffen zu vermindern. Zu einer sorgfältigen Vorbereitung der Narkose gehört unter anderem: 4 Abschätzung des erwarteten Blutverlusts und Bereitstellung von genügend Blutkonserven und FFP, sichere, fixierte großvolumige intravenöse Zugänge 4 Maßnahmen zur Erhaltung der Körpertemperatur: OP aufheizen, warme Tücher oder konvektive Wärmedecken, Aufwärmung der Abwasch- und Infusionslösungen 4 Strenge hygienische Kautelen: Sterile Kittel und Handschuhe für alle, die direkt am Patienten hantieren
4 Abschätzung der Intubationsschwierigkeiten: Bei Verbrennungen an Gesicht, Hals und oberem Thorax können durch die Vernarbung zunehmende Intubationsschwierigkeiten bis hin zur Unmöglichkeit der Laryngoskopie und konventionellen Intubation auftreten. Daher müssen ggf. rechtzeitig alternative Verfahren zur Erhaltung oder Herstellung eines Atemwegs bedacht und vorbereitet werden (z. B. bronchoskopische Intubation). Die Narkoseeinleitung und -führung kann mit der üblichen Auswahl der gängigen Hypnotika, Muskelrelaxanzien und Anästhetika als balancierte oder total intravenöse Anästhesie durchgeführt werden. Folgende Besonderheiten sind zu beachten: In den ersten 24–48 h posttraumatisch ist noch mit einem reduzierten Herzzeitvolumen zu rechnen, Dosierungen müssen ggf. reduziert werden. Nach dieser Zeit kommt es zu einem zunehmenden Bedarf an Hypnotika, Muskelrelaxanzien und Opioiden, der ein Vielfaches der normalen Dosierung betragen kann. Gründe dafür sind unter anderem im erhöhten Metabolismus und in einer veränderten Organsensitivität und Plasmaeiweißbindung zu finden. ! Cave Succinylcholin ist ab dem zweiten posttraumatischen Tag bis sechs Monate nach abgeschlossener Hautdeckung kontraindiziert, da es bei der Gabe von depolarisierenden Muskelrelaxanzien nach schweren Verbrennungsverletzungen zu einer lebensbedrohlichen Hyperkaliämie kommen kann.
Vor allem bei großflächiger tangentialer Nekrektomie und Spalthautentnahme kann es zu gravierenden Blutverlusten kommen. Eine enge Zusammenarbeit mit dem Operateur ist hier besonders wichtig, um den Blutverlust und die Blutsubstitution im Gleichgewicht halten zu können. Der aktuelle Zustand des Patienten muss das Ausmaß des Eingriffs begrenzen. Der Volumenbedarf soll nur im Notfall durch die Gabe von Vasopressoren kompensiert werden. Auf die rechtzeitige Supplementierung von Plasma, Gerinnungsfaktoren (FFP) und Kalzium muss geachtet werden, da vor allem letzteres schon präoperativ durch die Verbrennungsverletzung erniedrigt sein kann.
62.6
Zusammenfassung
Eine ausgedehnte Verbrennung oder Verbrühung gehört zu den schwersten Traumen, die vorstellbar sind. Sie resultiert
62
630
Kapitel 62 · Verbrennungen und Verbrühungen
nicht nur in der lokalen Schädigung des Gewebes, sondern führt auch zu schweren systemischen Veränderungen und Schädigungen. Der Anästhesist ist präklinisch wie klinisch häufig in die Erstversorgung mit einbezogen. Neben der initialen Stabilisierung der Vitalfunktionen, der Diagnostik des Verbrennungsausmaßes und der Erkennung und Behandlung der Begleitverletzungen gehören vor allem die Flüssigkeitstherapie und die Therapie eventueller pulmonaler Schädigungen zu den wesentlichen Maßnahmen, die die Prognose maßgeblich beeinflussen. Wichtigstes intensivmedizinisches Ziel ist es, die frühzeitige Nekrosenabtragung und temporäre Hautdeckung zu ermöglichen. Daneben sind die Infektionsprophylaxe und -therapie, die möglichst frühzeitige enterale Ernährung und eine suffiziente Analgosedierung von hoher Bedeutung. Auch bei Narkosen zu Verbandwechseln und operativen Eingriffen im weiteren Verlauf muss sich der Anästhesist von seinen Kenntnissen in der Pathophysiologie des schweren thermischen Traumas führen lassen. Die Behandlung schwerst verbrannter oder verbrühter Patienten stellt hohe Anforderungen an das gesamte Team, der Erfolg wird nicht zuletzt durch die enge Zusammenarbeit zwischen Chirurgen, Anästhesisten, Intensivpflegepersonal und Physio- bzw. Ergotherapeuten bestimmt.
Literatur Herndon DN (Ed.): Total burn care. 2 Ed. Saunders, London 2001 Mar tyn JAJ (Ed.): Acute Management of de Burned Patient. Saunders, Philadelphia 1990, Haße W (Hrsg): Verbrennungen im Kindesalter G. Fischer Stuttgart 1990 Mac Lennan N, Heimbach DM, Cullen BF (1998) Anesthesia for major thermal injury Anesthesiology 89.3: 749 Ruddy RM (1994) Smoke Inhalation Injury. Ped Clin North Am 41: 317 Zellweger G (1985) Die Behandlung der Verbrennungen. Dt. Ärzte Verl., Köln
62
63 Prophylaxe und Therapie nosokomialer Infektionen auf der Intensivstation Philipp M. Lepper, Matthias Trautmann 63.1 Definition nosokomialer Infektionen –632 63.2 »Surveillance« von Infektionen auf der Intensivstation –632 63.3 Nosokomiale Pneumonie –632 63.3.1 Prävention –632 63.3.2 Diagnostik –634 63.3.3 Therapie –637
63.4 Gefäßkatheterassoziierte Infektionen –637 63.4.1 Prävention –637 63.4.2 Diagnostik –637 63.4.3 Therapie –639
63.5 Harnweginfektionen –639 63.5.1 Prävention –640 63.5.2 Diagnostik –640 63.5.3 Therapie –641
63.6 Postoperative Infektionen auf der Intensivstation –641 63.6.1 Wundbehandlung und Verbandwechsel –641 63.6.2 Therapie –642
63.7 Umgang mit resistenten Erregern –642 Literatur –643
632
Kapitel 63 · Prophylaxe und Therapie nosokomialer Infektionen auf der Intensivstation
)) Nosokomiale Infektionen stellen eine der häufigsten Komplikationen intensivmedizinischer Behandlung dar. Je nach Art der Intensivstation (operativ, konservativ) und Liegedauer der Patienten treten Infektionen in 20–60 % der Behandlungen auf. Nach einwöchiger Liegedauer steigt der Anteil der mit Antibiotika behandelten Patienten auf operativen Intensivstationen auf > 80 %; umgekehrt macht der Antibiotikaverbrauch auf Intensivstationen in Schwerpunkt- und Tertiärversorgungszentren meist etwa die Hälfte des gesamten Verbrauchs einer Klinik aus. Die Prävention und Behandlung von Infektionen auf der Intensivstation haben daher nicht zuletzt auch aus krankenhausökonomischer Sicht große Bedeutung.
63.1
Definition nosokomialer Infektionen
Als nosokomial werden Infektionen bezeichnet, die in einem ursächlichen Zusammenhang mit einer medizinischen Maßnahme stehen. Da eine Kausalität jedoch oft nicht zweifelsfrei nachgewiesen werden kann, wird für epidemiologische Zwecke ein arbiträrer Zeitabstand nach der Krankenhausaufnahme als »Grenze« zwischen ambulant erworbener und nosokomialer Infektion definiert. In den meisten Studien werden Infektionen, die sich klinisch nach t 48 h manifestieren, als nosokomial gewertet. Für die Diagnose einzelner Infektionsarten haben sich die Kriterien der US-amerikanischen Centers for Disease Control (CDC) bewährt, die mit geringen Modifikationen in . Tab. 63.1 wiedergegeben sind.
63.2
63
»Surveillance« von Infektionen auf der Intensivstation
Mit dem Inkrafttreten des Infektionsschutzgesetzes (IfSG) sind die Krankenhäuser seit dem 1.1.2001 verpflichtet, nosokomiale Infektionen fortlaufend aufzuzeichnen und zu bewerten (Surveillance). In Vorbereitung dieser gesetzlichen Regelung begann das Nationale Referenzzentrum für Surveillance bereits im Jahre 1997 mit einer deutschlandweiten Erfassung nosokomialer Infektionen im Rahmen der so genannten KISS-Studie (Krankenhaus-InfektionsSurveillance-System). Nachdem initial lediglich 25 Intensivstationen an dieser Erhebung teilnahmen, wurde die Studie inzwischen auf 274 Intensivstationen ausgeweitet. Die Infektionen wurden angegeben als Zahl der Infektionsereignisse pro 1000 Venenkatheter-Tage, pro 1000 Beatmungsta-
ge oder pro 1000 Harnwegskatheter-Tage. Auf diese Weise sind auch Intensivstationen mit sehr unterschiedlicher Patientenliegezeit miteinander vergleichbar. . Tab. 63.2 zeigt den derzeitigen Stand dieser Infektionsstatistik für die drei häufigsten Infektionsarten. Das System dient vor allem dazu, die eigene Intensivstation in Bezug zum Medianwert aller anderen teilnehmenden Stationen zu bewerten. Der Schwerpunkt der nachfolgenden Ausführungen liegt auf Maßnahmen zur Prävention und Therapie der häufigsten Infektionen, zusätzlich werden Hinweise zur mikrobiologischen Diagnostik gegeben.
63.3
Nosokomiale Pneumonie
Patientenseitige Risikofaktoren für nosokomiale Pneumonien sind hohes Alter, konsumierende Grunderkrankungen, reduzierter Allgemein- und Ernährungszustand sowie vorangegangener Nikotin- und/oder Alkoholabusus. ! Die wichtigsten behandlungsabhängigen Risikofaktoren für die Entstehung einer Pneumonie auf der Intensivstation sind die endotracheale Intubation und maschinelle Beatmung.
Das kumulative Risiko, an einer Pneumonie zu erkranken, steigt unter Beatmung um ca. 1–3 % pro Tag. In den ersten 4 Tagen nach Beatmungsbeginn wird die Pneumonie überwiegend noch von Erregern verursacht, die der natürlichen Rachenflora des Patienten zuzurechnen sind (»early onset pneumonia«). Typische Erreger dieser Frühpneumonie sind Pneumokokken, Haemophilus influenzae oder Moraxella catarrhalis. Ab dem 5. Tag dominieren im Krankenhaus erworbene Erreger wie Staphylococcus aureus, Pseudomonas aeruginosa, Enterobakterien oder Hefepilze (»late onset pneumonia«). Diese Erreger weisen im Vergleich zu den erstgenannten oft eine ungünstigere Resistenzsituation auf.
63.3.1 Prävention Beatmungsweg, Tubuswahl, Tracheotomie Bereits durch die Wahl des Intubationswegs und der Beatmungsform kann das Pneumonierisiko reduziert werden. Die orale Intubation sollte bevorzugt werden, da es hierunter seltener zu einer paranasalen Sinusitis durch Verlegung der Ostien der Nasennebenhöhlen kommt. Inwieweit die Verwendung von Spezialtuben, die eine subglottische Sekretabsaugung ermöglichen, die Pneumonieinzidenz unter klinischen Alltagsbedingungen verringert, ist strittig. Diese Tuben wurden vor Einführung der Oberkörper-
633 63.3 · Nosokomiale Pneumonie
. Tabelle 63.1. Definition nosokomialer Infektionen Art der Infektion
Definition
Chirurgische Wundinfektion
Jede Infektion, die innerhalb von 30 Tagen nach einem perkutanen operativen Eingriff auftritt und eines der folgenden Symptome beinhaltet: 5 Eiteraustritt oder Absonderung kulturell positiver seröser Flüssigkeit aus der Wunde oder Naht 5 Eröffnung einer geschlossenen Naht durch den Chirurgen und kultureller Nachweis eines Infektionserregers aus dem anschließend gewonnenen tiefen Wundabstrich 5 Dehiszenz der Wunde bzw. Naht mit positiver Kultur 5 Durch bildgebende Ver fahren diagnostizierter Abszess im OP-Gebiet 5 Entleerung von Eiter aus einem Drain
Primäre Sepsis (»Blutstrominfektion«)
Bakteriämie oder Fungämie ohne nachgewiesene Erregerquelle im Körper. Venenkatheter- oder arterienkatheterassoziierte Septikämien rechnen zur primären Sepsis. Die klinische Sepsisdiagnose basiert auf dem Vorhandensein eines oder mehrerer der folgenden Symptome: 5 Fieber ≥ 38 °C 5 RR-Abfall ≤ 90 mm Hg 5 Oligurie unter 20 ml/h Außerdem alle folgende Kriterien: 5 Blutkultur nicht abgenommen oder negativ 5 Keine nachweisbare Infektion an anderer Körperstelle 5 Arzt beginnt antimikrobielle Therapie der Sepsis
Untere Atemweginfektion
Pneumonie: neue oder zunehmende Produktion von purulentem Sputum und/oder Fieber ≥ 38 °C mit klinischen Zeichen (z. B. Rasselgeräusche, Klopfschalldämpfung) und/oder radiologischer Nachweis neuer oder progressiver Infiltrate, Verdichtungen, Hohlraumbildungen oder von Pleuraergüssen, soweit sie nicht durch eine andere Krankheit erklärt sind. Beatmungsassoziierte Pneumonie: neues Infiltrat im Thoraxröntgenbild für mindestens 48 h und mindestens 2 der folgenden Symptome: 5 Fieber ≥ 38 °C oder Temperatur < 35 °C 5 Leukozytenzahl > 10000/μl oder < 3500/μl 5 Eitriges Sputum 5 Isolierung pathogener Erreger aus dem Respirationstrakt (Trachealsekret, bronchoalveoläre Lavage)
Harnweginfektion
Symptomatische Infektion: positives Ergebnis einer Urinkultur (≥ 105 Keime/ml) und eines der folgenden klinischen Zeichen: 5 Fieber ≥ 38 °C 5 Harndrang 5 Häufige Harnentleerung 5 Schmerzen beim Wasserlassen 5 Lendenschmerz 5 Suprapubischer Schmerz Asymptomatische Bakteriurie: Nachweis von ≥ 105 Keimen/ml in der Urinkultur, dabei Nachweis von nicht mehr als 2 Spezies, bei liegendem Harnwegskatheter oder ohne Harnwegskatheter. Kein Fieber, keine sonstigen harnwegassoziierten Beschwerden.
nach Eggimann & Pittet, 2001
hochlagerung (s. u.) in zwei randomisierten klinischen Studien evaluiert. Beide Studien zeigten eine Verringerung der Pneumonieinzidenz, jedoch keinen Einfluss auf Mortalität und Liegezeit. Eine Kosten-/Nutzeneffektivität der vergleichsweise teuren Spezialtuben, deren Einsatz zudem personalaufwändig ist, wurde bisher nicht belegt.
Ist eine Tracheotomie erforderlich, sollte die dilatative perkutane Technik gewählt werden, da sie im Gegensatz zur plastischen Tracheotomie eine verbesserte Lokalhygiene am Tracheostoma ermöglicht und es damit seltener zu Wundinfektionen und Aspirationen keimhaltigen Materials kommt.
63
634
Kapitel 63 · Prophylaxe und Therapie nosokomialer Infektionen auf der Intensivstation
. Tabelle 63.2. Ergebnisse der Infektionserfassung auf deutschen Intensivstationen (KISS-System, Januar 1997 bis Dezember 2002) Variable
Anzahl, Wert
Zahl der Intensivstationen
274
Zahl der Patienten
590695
Zahl der Patiententage
21457943 Gepoolter arithmetischer Mittelwert (Medianwert in Klammern) der Infektionsrate
Pneumonien
8,75 (7,46)/1000 Beatmungstage
Harnweginfektionen
3,59 (1,65)/1000 Harnwegkathetertage
Katheterseptikämien
1,83 (1,18)/1000 Venenkathetertage
Zahlen des Nationalen Referenzzentrums für Surveillance, Berlin (www.medizin.fu-berlin.de/hygiene/nrz)
Lagerung und Ernährung Wichtigstes Prinzip der Pneumonievermeidung ist heute die Oberkörperhochlagerung (30–45°). Sie führt zu einem deutlich geringeren Reflux von Magensekret in den Hypound Oropharynx und reduziert dadurch das Risiko einer Mikroaspiration erregerhaltigen Materials. Der Einfluss einer enteralen Ernährung auf die Entstehung nosokomialer Beatmungspneumonien wird kontrovers diskutiert, überwiegend wird heute die frühzeitige enterale Ernährung empfohlen. Vor jeder Nahrungsapplikation über Sonde ist die korrekte Lage der Sondenspitze durch Aspiration zu verifizieren. Überleitsysteme für Sondenkost sind mindestens alle 24 h zu wechseln.
Selektive Darmdekontamination und Stressulkusprophylaxe
63
Die in den 80er Jahren des vergangenen Jahrhunderts übliche Stressulkusprophylaxe unter Einsatz von H2-Bockern oder später Protonenpumpenhemmern führte zu einer Anhebung des Magen-pH-Werts und ermöglichte dadurch ein verstärktes Bakterienwachstum im Magensekret. Um dem entgegenzuwirken, wurde die selektive Darmdekontamination (SDD) unter Verwendung der nicht resorbierbaren Antibiotika Polymyxin, Tobramycin (oder Gentami-
cin) und des Antimykotikums Amphotericin B eingeführt. Die SDD führte in zahlreichen Studien zu einer Reduktion der Pneumonierate, jedoch nur selten zu einer Verkürzung des Intensivstationsaufenthalts oder zu einer Senkung der Mortalität. Der Anteil der zusammen mit der topischen Antibiotikagabe durchgeführten systemischen Antibiotikaprophylaxe (meist mit Cefotaxim) am positiven Gesamteffekt der SDD blieb zudem ungeklärt. Derzeit kann die SDD für bestimmte Patientengruppen (Lebertransplantationspatienten, Polytraumapatienten) empfohlen werden. Ein Einsatz bei kritisch kranken Intensivpatienten kann erwogen werden. Wenn vertretbar, sollte auf eine Stressulkusprophylaxe ganz verzichtet werden, da sich das Risiko gastrointestinaler Stressblutungen in neueren Studien als relativ gering erwiesen hat.
Umgang mit dem Beatmungssystem und Zubehör Zur Prävention exogener Infektionen während der Beatmung sollte auf jeder Intensivstation ein schriftlich fixiertes Hygienekonzept vorliegen (. Tab. 63.3). Wichtig ist die strikte Befolgung der Hygienemaßnahmen bei der Absaugung und im Umgang mit dem Beatmungszubehör. Richtlinien hierzu wurden von der Kommission für Krankenhaushygiene und Infektionsprävention am Robert-KochInstitut veröffentlicht. Sie beruhen auf aussagekräftigen wissenschaftlichen Untersuchungen oder, sofern solche nicht vorliegen, auf einem Expertenkonsens.
63.3.2 Diagnostik Klinische Kriterien für die Diagnose einer nosokomialen Pneumonie sind aus . Tab. 63.1 ersichtlich. Die mikrobiologische Probengewinnung sollte vor Einleitung einer antimikrobiellen Therapie erfolgen. Falls bereits eine solche durchgeführt wird, sollte das Antibiotikaregime 72 h vor der Probengewinnung nicht umgestellt worden sein. Eine Therapiepause vor Durchführung der Diagnostik ist grundsätzlich nicht erforderlich. Transport- und Lagerungszeiten der Materialien dürfen 4 h nicht überschreiten, da sich ansonsten das Verhältnis von pathogenen zu nichtpathogenen Erregern verschiebt. Sofern keine spezielle Fragestellung formuliert wird, umfasst die Routineuntersuchung die mikroskopische Beurteilung der Probe mittels Gramfärbung und die kulturelle Untersuchung auf schnellwachsende aerobe Bakterien und Hefepilze. Untersuchungen auf Anaerobier, Legionellen, Mycobacterium tuberculosis, Nocardien oder Aspergillus spp. sollten speziell angefordert werden.
635 63.3 · Nosokomiale Pneumonie
. Tabelle 63.3. Hygienemaßnahmen bei maschineller Beatmung Maßnahme
Empfehlung
Händedesinfektion
Vor und nach jedem Kontakt mit Tubus, Tracheostoma oder Beatmungszubehör, vor Anlegen und nach Ablegen von Schutzhandschuhen
Intubationsvorgang
Tragen keimarmer Einmalhandschuhe, Anreichen des Tubus unter aseptischen Kautelen
Tracheotomie
Tracheotomie und das Auswechseln der Trachealkanüle unter aseptischen Bedingungen; desinfizierte oder sterilisierte Trachealkanülen verwenden
Absaugsysteme
Es können sowohl offene als auch geschlossene Absaugsysteme verwendet werden. Verwendung geschlossener Systeme: Absaugvorgang kann wiederholt werden; zur Entfernung von Sekret ausschließlich sterile Spüllösung verwenden; eine maximale Verwendungsdauer der Systeme kann nicht angegeben werden.* Verwendung offener Systeme: sterile Einmalkatheter verwenden. Beim Absaugen sind keimarme Einmalhandschuhe zu tragen. Nach Abschluss der Absaugung Durchspülung des Absaugsystems mit Leitungswasser. Aufhängung des Ansatzstücks des Absaugkatheters in senkrechter Position. Tägliche, bevorzugt thermische Desinfektion von Absaugschlauch und Sekretauffangbehälter. Patientenbezogene Verwendung von Absaugschlauch und Sekretauffangbehälter.
Beatmungsschläuche
Heizbare Schläuche nicht obligat. Regelmäßige Entfernung von Kondenswasser. Wechselintervall 7 Tage.
Beatmungsfilter
Eine Empfehlung für oder gegen Beatmungsfilter kann aus hygienischer Sicht nicht gegeben werden. Das Wechselintervall von Beatmungsschläuchen kann durch die Anwendung von Beatmungsfiltern nicht verlängert werden.
Medikamentenvernebler
Kondenswasser aus den Beatmungsschläuchen vor dem Befüllen des Verneblers entfernen. Medikamente aus Einzelampullen verwenden. Nach Gebrauch der In-line-Medikamentenvernebler thermische oder chemische Desinfektion vornehmen. Nach chemischer Desinfektion Vernebler mit sterilem Wasser zur Beseitigung von Desinfektionsmittelrückständen ausspülen und trocken Lagern.
Wiederaufbereitung von Beatmungszubehör
Gründliche Reinigung aller Gegenstände vor Desinfektion. Desinfektion von Gegenständen, die direkt oder indirekt mit den Schleimhäuten des Respirationstrakts in Berührung kommen. Bevorzugung thermischer Desinfektionsver fahren. Nach chemischer Desinfektion Nachspülung mit sterilem Wasser zur Beseitigung von Desinfektionsmittelrückständen. Trockene Lagerung der desinfizierten Gegenstände.
* Die Hersteller empfehlen den Wechsel der geschlossenen Systeme nach 24 h. Neuere mikrobiologische Ex-vivo-Studien sprechen dafür, dass die Systeme bis zu 48 h belassen werden können.
Die quantitative Kultur erhebt den Anspruch, durch einen Keimzahltrennwert eine Unterscheidung zwischen Kolonisation und Infektion leisten zu können. Der Grenzwert richtet sich nach den verwendeten diagnostischen Verfahren (geschützte Bürste [PSB] 103, bronchoalveoläre Lavageflüssigkeit [BAL] 104, Trachealsekret 105 koloniebildende Einheiten [KBE] pro ml Material). Der Nutzen der quantitativen Kultur als unabhängiges Kriterium für die Diagnosestellung einer Pneumonie ist umstritten und insbesondere für antibiotisch vorbehandelte Patienten nicht gut untersucht.
Für die beatmungsassoziierte Pneumonie wurde vor allem von französischen Autoren eine invasive Diagnostik mit bronchoskopischer Materialentnahme (geschützte Bürste, bronchoalveoläre Lavage) zum Standard erhoben. Diese Formen der Probenentnahme bieten jedoch im Vergleich zum quantitativ untersuchten Trachealsekret keinen Vorteil im Hinblick auf das Therapieergebnis (Letalität, Beatmungsdauer und Verweildauer auf der Intensivstation). In Deutschland wird derzeit in den meisten Zentren eine quantitative oder semiquantitative kulturelle Untersuchung von Trachealsekret als ausreichend angesehen.
63
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Kapitel 63 · Prophylaxe und Therapie nosokomialer Infektionen auf der Intensivstation
. Tabelle 63.4. Punkteschema zur Auswahl der Antibiotika für die empirische Initialtherapie der nosokomialen Pneumonie Risikofaktoren
Punkte
Alter > 65 Jahre
1
Strukturelle Lungenerkrankung (z.B. COPD)
2
Antiinfektive Vorbehandlung
2
Late Onset (ab dem 5. Tag Krankenhausaufenthalt)
3
Schwere respiratorische Insuffizienz mit oder ohne Beatmung (Maschinell oder nicht-invasiv)
3
Extrapulmonales Organversagen (Schock, DIC, Leber-, Nierenversagen)
4
Antibiotikaauswahl I (1–2 Punkte)
5 Aminopenicillin/BLI 5 Cephalosporin 2/3a 5 Fluorchinolon 3/4
II (3–5 Punkte)
5 5 5 5
III (6 Punkte und mehr)
5 Cephalosporin 3b 5 Acylaminopenicillin/BLI 5 Carbapenem In Kombination mit Fluorchinolon 2/3 oder Aminoglykosid
Acylaminopenicillin/BLI Fluorchinolon 2/3 Cephalosporin 3b Carbapenem
Substanzen: Aminopenicillin/BLI: Ampicillin/Sulbactam, Amoxicillin/Clavulansäure; Acylaminopenicillin: z. B. Mezlocillin, Piperacillin, jeweils in Kombination mit einem β-Laktamase-Inhibitor (z. B. freie Kombination mit Sulbactam oder fixe Kombination mit Tazobactam); Cephalosporin 2: Cefazolin, Cefuroxim; Cephalosporin 3a: z. B. Cefotaxim; Cephalosporin 3b: Ceftazidim, Cefepim; Fluorchinolon 2: Ciprofloxacin; Fluorchinolon 3: Levofloxacin; Fluorchinolon 4: Moxifloxacin; Carbapenem: Imipenem, Meropenem; BLI, β-LaktamaseInhibitoren: z. B. Tazobactam, Sulbactam, Clavulansäure. nach Bodmann KF, 2003
63
Bei Entnahme des Trachealsekrets für die mikrobiologische Untersuchung sollte zunächst das im Tubus vorhandene ältere Sekret abgesaugt werden und danach ein neuer Katheter mit angeschlossenem Auffanggefäß tief eingeführt werden. Es sollte nur makroskopisch eitriges Trachealsekret eingesandt werden. Diagnostisch verwertbare Proben enthalten bei mikroskopischer Untersuchung t 25 Granulozyten und < 10 Plattenepithelien pro Gesichtsfeld bei 100facher Vergrößerung. Durch Entnahme von Blutkulturen kann eine Bakteriämie im Rahmen einer Pneumonie nachgewiesen werden. Blutkulturen werden in ca. 5–15 % der Fälle positiv. Es sollen mindestens zwei Blutkultursets (jeweils aerob und anaerob) von unterschiedlichen Punktionsstellen abgenommen werden.
! Über den optimalen Zeitpunkt für die Abnahme der Blutkulturen liegen keine gesicherten Daten vor; auf einen Fieberanstieg sollte daher nicht gewartet werden.
Antikörperbestimmungen spielen für die Akutdiagnostik keine Rolle. Insbesondere bei Legionella-Pneumonien und invasiver Candida-Infektion kann die Diagnose im Nachhinein durch Nachweis von Antikörperanstiegen gesichert werden. Die Antikörpertiter steigen jedoch bei beiden Infektionsarten erst nach einigen Wochen an. In der Akutphase einer Legionellose besitzt der Legionella-Antigentest aus Urin mit über 80 % positiven Befunden eine relativ gute Sensitivität bei hoher Spezifität. Candida-Antigen-Tests sind bei immunkompetenten Patienten zur Diagnosestellung einer invasiven Candidose wertlos.
637 63.4 · Gefäßkatheteassoziierte Infektionen
63.3.3 Therapie Die initiale antimikrobielle Therapie muss in Unkenntnis des zugrunde liegenden Erregers immer als kalkulierte Therapie erfolgen. Ein einfaches Punkteschema, welches die Auswahl der initial einzusetzenden Substanzen bzw. Substanzkombinationen erleichtert, ist in . Tab. 63.4 wiedergegeben. Dieses Punkteschema wurde von einer Expertengruppe der Paul-Ehrlich-Gesellschaft entwickelt, um existierende internationale Leitlinien zu vereinfachen. Nach Eintreffen des Kulturergebnisses kann die Therapie gezielt fortgeführt werden, wobei im Sinne einer Deeskalationstherapie jeweils das Antibiotikum mit dem schmalsten Wirkspektrum eingesetzt werden sollte. Bei Nachweis von Pseudomonas aeruginosa wird der Einsatz von 2 Antibiotika aus verschiedenen Wirkstoffklassen empfohlen, um Resistenzentwicklungen vorzubeugen. Als Kombinationspartner von E-Laktamen wird heute das Ciprofloxacin bevorzugt, da eine Aminoglykosidtherapie Talspiegelbestimmungen erfordert und das Risiko der Nephrotoxizität beinhaltet. Die optimale Therapiedauer ist wissenschaftlich nicht untersucht worden, üblich ist eine Fortführung der Antibiotikatherapie 3 Tage über die Entfieberung hinaus. Bei persistierenden Infiltraten und Infektionszeichen ist ggf. eine erneute mikrobiologische Diagnostik indiziert.
63.4
Gefäßkatheterassoziier te Infektionen
Für Venenverweilkanülen liegen nur unzureichende Daten zur Infektionsrate vor. Zum Zeitpunkt der Entfernung sind 5–7 % der Venenverweilkanülen mikrobiell kolonisiert, was sich jedoch in der Regel nicht klinisch auswirkt. Aufgrund der kurzen, meist nur 3–5 Tage betragenden Liegedauer der Kanülen kommen Septikämien außerordentlich selten vor (d 0,2 %). Phlebitiden (meist nicht erregerbedingt) werden je nach Insertionsort der Kanüle und Art der infundierten Lösungen in 30–50 % der Kanülen, bei längerer Liegedauer auch in bis zu 100 % beobachtet. Etwa 80 % aller gefäßkatheterassoziierten Infektionen treten im Zusammenhang mit zentralen Venenkathetern auf. Eine Kolonisation der Katheterspitze ist bereits nach einer Liegezeit von wenigen Tagen bei 25–30 % der Katheter nachweisbar. Im Zeitraum von 1995–2002 wurden in den USA auf Intensivstationen zwischen 2,3 und 6,6 Septikämie-Episoden pro 1000 Kathetertage ermittelt (Medianwerte). Die entsprechenden Werte aus Deutschland sind aus . Tab. 63.3 ersichtlich.
Eine katheterassoziierte Septikämie verursacht im Mittel eine Verweildauerverlängerung von 7–14 Tagen auf der Intensivstation und bis zu 24 Tagen im Krankenhaus, mit entsprechenden zusätzlichen Kosten. ! Die »attributable mortality«, d. h. die nur auf die Katheterinfektion zurückzuführende Letalitätserhöhung wird in verschiedenen Studien mit ca. 10–40 % beziffert.
63.4.1 Prävention Von entscheidender Bedeutung sind hygienische Vorsichtsmaßnahmen beim Legen von Gefäßkathetern und beim Verbandwechsel. Eine Zusammenstellung der wichtigsten, überwiegend evidenzbasierten Empfehlungen der Kommission für Krankenhaushygiene und Infektionsprävention des Robert-Koch-Instituts gibt . Tab. 63.5. Antimikrobiell beschichtete Venenkatheter werden von verschiedenen Firmen angeboten und mit entsprechenden Studien beworben, die eine verminderte Infektionsrate zeigen. Der derzeit am häufigsten verwendete Katheter ist außenseitig mit Chlorhexidin und Silbersulfadiazin beschichtet. Ein infektionsprophylaktischer Effekt wurde während der ersten 7 Liegetage nachgewiesen. Die Katheter sind allerdings sehr viel teurer als nicht beschichtete Katheter. Große Sorgfalt erfordert die Infusionshygiene. Die maximal zulässigen Laufzeiten von kristallinen Lösungen (empfohlen: 24 h), Lipidlösungen (12 h), Blut- und Blutprodukten (6 h) sowie die Wechselintervalle von Überleitsystemen (72 h) sollten im Hygieneplan festgeschrieben und dem Personal regelmäßig in Form von Schulungen vermittelt werden. Die genannten Laufzeitempfehlungen sowie weitere Hinweise zur Infusionstherapie sind über die Homepage des Robert-Koch-Instituts abrufbar (www.rki.de). Der Umgang mit Dreiwegehähnen und das Vorgehen bei Diskonnektionen der Systeme sind ebenfalls durch Schulungen zu vermitteln. ! Zentrales Element ist die Händedesinfektion bei allen Kontakten mit dem Infusionssystem und den Kathetern.
63.4.2 Diagnostik Klinisch ist der Verdacht auf eine katheterassoziierte Infektion gegeben, wenn unklares Fieber ohne andere ersichtliche Infektionsursache auftritt. Bei Patienten mit Fieber und leichter klinischer Symptomatik (keine lokalen Infektionszeichen an der Insertionsstelle, keine Organdysfunktion, kein Schock) kann der Katheter belassen werden. Es
63
638
Kapitel 63 · Prophylaxe und Therapie nosokomialer Infektionen auf der Intensivstation
. Tabelle 63.5. Evidenzbasierte Hygienemaßnahmen zur Prävention gefäßkatheterassoziierter Infektionen Maßnahme
Empfehlung
Anlage von Venenverweilkanülen
Mit keimarmen Einmalhandschuhen nach Hautdesinfektion (mindestens 15 s mit alkoholischem Desinfektionsmittel)
Anlage von zentralen Venenkathetern
Unter infektionsprophylaktischen Gesichtspunkten stellt die V. subclavia den günstigsten Insertionsort dar, gefolgt von V. jugularis und V. femoralis. Insertion zentraler Venenkatheter mittels Seldingertechnik unter Einhaltung maximaler hygienischer Vorsichtsmassnahmen: Steriler Kittel, sterile Handschuhe, Mundnasenschutz, großes Lochtuch, steriles Abdecktuch. »Cavafix«-Katheter können mit sterilen Handschuhen gelegt werden.
Verwendung antiseptisch oder antimikrobiell beschichteter Katheter
Keine wissenschaftlich begründete Empfehlung für oder gegen die Verwendung auf der Basis der vorliegenden Studien.
Verband
Es können sowohl Mullverbände als auch Transparentverbände verwendet werden. Tägliche Inspektion der Verbände und Palpation der Insertionsstelle. Empfohlene Liegedauer von Gazeverbänden: keine wissenschaftlich begründete Empfehlung. Wechsel bei Verschmutzung, Ablösung, Durchfeuchtung. Täglicher Wechsel bei fehlender Kooperation des Patienten (z. B. Bewusstlosigkeit). Empfohlene Liegedauer von Transparentverbänden: 7 Tage.
Wechsel von Venenkathetern und Verweilkanülen
Kein routinemäßiger Wechsel nach bestimmten Zeitintervallen. Sofortiger Wechsel bei Zeichen einer Lokalinfektion (Rötung, Schmerz, Eiteraustritt aus Punktionsstelle).
Stilllegung von Venenverweilkanülen
Stilllegung mit Mandrins nach Möglichkeit vermeiden! Wenn unbedingt er forderlich, tägliche Inspektion der Insertionsstelle (Rötung, Schmerz?).
Stilllegung einzelner Stränge von mehrlumigen Venenkathetern
Möglichst nicht länger als 24 h; bei Notwendigkeit der Beibehaltung des Katheters »Offenhalte-Infusion« des nicht mehr benötigten Schenkels.
Spülung von Verweilkanülen oder Venenkathetern
Sterile Kochsalzlösung reicht aus, kein Heparinzusatz er forderlich.
werden zunächst die Resultate der peripher entnommenen Blutkulturen abgewartet. Bei schwerer klinischer Symptomatik (hohes Fieber, Organversagen, Schock) ist der Katheter zu entfernen und ggf. an anderer Stelle neu zu legen. ! Cave Von der Technik des Wechsels zentraler Katheter über Führungsdraht wird heute abgeraten, da eine Kontamination des neu gelegten Katheters nicht sicher vermieden werden kann.
63
Nach Entfernung des Katheters sollte die Spitze (ca. 3 cm) mit einer sterilen Schere abgeschnitten und in einem sterilen trockenen Gefäß aufgefangen werden. Dieses Kathetersegment kann im Labor auf einer Agarplatte ausgerollt werden. Der Nachweis von mehr als 15 Kolonien pro Kathetersegment nach dem Ausrollen der Außenseite des Katheters auf einer Blutagarplatte (Methode nach Maki) zeigt eine katheterassoziierte lokale oder systemische In-
fektion an. Dieser semiquantitativen Methode zur Differenzierung einer Kolonisation von einer Infektion wurde in Studien eine Sensitivität und Spezifität von über 80 % zugeschrieben. Bei einer neueren diagnostischen Methode, die ein automatisches Blutkultursystem erfordert, kann der Katheter zumindest vorläufig belassen werden. Es werden zeitgleich 10 ml Blut aus einer peripheren Vene und 10 ml Blut aus dem Katheter entnommen und parallel durch das automatische Blutkultursystem inkubiert. Wird die Probe aus dem Katheter t 2 h früher positiv als das Blut aus der peripheren Vene (»differential time to positivity«), so ist von einer katheterassoziierten Sepsis auszugehen (Methode nach Blot). Diese Technik zeigte in einer neuen Untersuchung eine hervorragende Korrelation mit der Maki-Methode und wird sich vermutlich bald als Referenzmethode etablieren (. Abb. 63.1). Unabhängig davon, ob die Methode nach Blot angewandt wird oder nicht, sollten in jedem Fall einer fieberhaften Infektion mit Verdacht auf katheterassoziierte
639 63.5 · Harnweginfektionen
wie z. B. ein Fluorchinolon der Gruppe 2 oder 3 oder ein inhibitorgeschütztes Penicillin, z. B. Piperacillin/Tazobactam, eingesetzt werden. Nach Eintreffen des Ergebnisses der Blutkulturen kann bei leichter klinischer Symptomatik und Nachweis von koagulasenegativen Staphylokokken der Versuch gemacht werden, den Katheter zu erhalten, wenn dieser dringend benötigt wird und eine Neuanlage problematisch ist. In diesem Fall wird für 10–14 Tage mit einem staphylokokkenwirksamen Antibiotikum (gemäß Resistenztestung) therapiert und ggf. zusätzlich die »antibiotic lock technique« angewandt. Diese beinhaltet die Füllung des Katheterlumens für längere Zeitintervalle, beispielsweise über Nacht, mit einer hochkonzentrierten Antibiotikalösung. Ein geeignetes Regime ist z. B. die Füllung, je nach Volumen des Katheters, mit 2–5 ml einer Lösung von 1–5 mg/ml Vancomycin plus 1–2 mg/ml Gentamicin in 0,9 % NaCl-Lösung unter Zusatz von 100–500 IE Heparin. Wird der Katheter entfernt, so reicht bei koagulasenegativen Staphylokokken meist eine kurze Therapiedauer aus (5–7 Tage). Bei Nachweis von S. aureus, Enterokokken, gramnegativen aeroben Stäbchenbakterien oder Pilzen ist der Katheter in jedem Fall zu entfernen und eine 10–14-tägige erregergezielte Therapie durchzuführen. Bei Nachweis einer Endokarditis oder metastatischer Infektionsherde (z. B. Osteomyelitis) ist die Therapiedauer zu verlängern (bei Endokarditis 4–6 Wochen, bei Osteomyelitis 6–8 Wochen). . Abb. 63.1. Zeitdifferenz in Stunden zwischen dem erstmaligen Positivbefund von Blutkulturen, die aus einer peripheren Vene versus aus dem zentralen Venenkatheter entnommen wurden. Wird die aus dem zentralen Venenkatheter entnommene Kultur t 2 h früher positiv als die Kultur aus der peripheren Vene, spricht dies für eine venenkatheterassoziierte Septikämie (nach Blot F et al., 1999)
Septikämie 2 Blutkulturpaare entnommen werden, davon mindestens eines aus einer peripheren Vene.
63.4.3 Therapie Zur empirischen Initialtherapie bei Verdacht auf katheterassoziierte Septikämie wird in Abhängigkeit von der lokalen Resistenzsituation entweder ein staphylokokkenwirksames Cephalosporin (z. B. Cefuroxim) oder ein Glykopeptid eingesetzt. Glykopeptide sind indiziert bei bekannt hoher Rate von Infektionen durch methicillinresistente Staphylococcus-aureus-Stämme (MRSA). Bei schwerkranken und/ oder immunsupprimierten Patienten sollte zusätzlich ein breit im gramnegativen Bereich wirksames Antibiotikum
63.5
Harnweginfektionen
Etwa 30 % aller nosokomialen Infekte sind Harnweginfekte. Wichtigster prädisponierender Faktor ist ein transurethraler Blasendauerkatheter. Das Risiko der Entwicklung einer Bakteriurie liegt bei transurethralen Kathetern bei ca. 3–10 % pro Kathetertag; nach 10-tägiger Liegedauer liegt somit bei bis zu 100 % der Patienten eine – meist asymptomatische – Bakteriurie vor. Nur 10–25 % dieser Patienten entwickeln Fieber und/oder lokale Symptome wie Schmerzen in der Urethra, schmerzhaften Harndrang trotz Katheter, oder suprapubischen Schmerz (symptomatische Harnweginfektion). Bei 1–4 % der bakteriurischen Patienten kommt es zur Streuung der Erreger in die Blutbahn (Septikämie, Urosepsis), wodurch die Mortalität etwa um den Faktor 3 ansteigt. Unkomplizierte Harnweginfektionen verlängern den Krankenhausaufenthalt im Mittel um einen Tag. Neben der Belastung des betroffenen Patienten ergeben sich durch eine Harnweginfektion auch zusätzliche Kosten durch Diagnostik und Antibiotikatherapie.
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Kapitel 63 · Prophylaxe und Therapie nosokomialer Infektionen auf der Intensivstation
63.5.1 Prävention Harnblasenkatheter werden erfahrungsgemäß zu häufig gelegt und liegen zu lange. Wichtigste Maßnahme zur Infektionsvermeidung ist daher die sorgfältige Prüfung der Indikation zur Anlage eines Harnblasenverweilkatheters. Anerkannte Indikationen für einen Harnblasenverweilkatheter 5 Harnableitung unmittelbar vor, während oder nach einem längeren chirurgischen Eingriff in Allgemein- oder Spinalanästhesie 5 Monitoring der Harnausscheidung (Intensivpatient) 5 In Fällen, wo die Feststellung der exakten Tagesharnmenge (z. B. für biochemische und Stoffwechseluntersuchungen) benötigt wird, der Patient jedoch unfähig ist, jede Harnportion zu sammeln 5 Notwendigkeit kontinuierlicher Blasenspülungen, z. B. um intravesikale Blutansammlungen zu beseitigen (Urologie) 5 Kongenitale oder erworbene Anomalitäten der ableitenden Harnwege, z. B. Urethralstrikturen 5 Akute Harnverhaltung und voller Blase; anschließend muss abgeklärt werden, ob es sich ein organisches oder funktionelles Abflusshindernis vorliegt 5 Langzeitableitung bei organischen Harnröhrenproblemen (z. B. Striktur), wenn eine chirurgische Korrektur nicht indiziert oder möglich ist 5 Offene sakrale oder perineale Wunden, zur Verbesserung der Pflege 5 Auf ausdrücklichen Wunsch des Patienten in der Sterbepflege
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Harnwegkatheter sollten unter streng aseptischen Kautelen gelegt werden. Hierzu gehört die sorgfältige Desinfektion des Meatus urethrae mit einem Schleimhautdesinfektionsmittel wie Octenidin (z. B. Octenisept) oder einem jodhaltigen Präparat (z. B. Betaisodona). Handelsübliche Gleitmittel sind patientenbezogen aus einem Einzelgebinde zu entnehmen. Da sie meist neben Xylocain auch ein Schleimhautdesinfektionsmittel (z. B. Chlorhexidin) enthalten, sollte eine Einwirkzeit von mindestens 1 min eingehalten werden, damit die ersten Zentimeter der Urethralschleimhaut wirksam desinfiziert werden. Bei einer voraussichtlichen Katheterisierungsdauer von t 5 Tagen sollte primär ein suprapubischer Katheter zum Einsatz kommen.
! Die einzige wissenschaftlich gesicherte Präventionsmaßnahme während der weiteren Liegedauer eines Katheters ist die Unterlassung einer Diskonnektion des Urinableitsystems.
Urinproben sollten nur aus dem dafür vorgesehen Probenport des Ableitsystems nach sorgfältiger Desinfektion entnommen werden. Die Harnsammelbeutel sind patientenbezogen zu entleeren, hierbei müssen keimarme Einmalhandschuhe und eine Plastikschürze getragen werden. Bei Transporten und Pflegemaßnahmen ist darauf zu achten, dass der Harnsammelbeutel nie über Blasenniveau angehoben wird.
63.5.2 Diagnostik Klinische Symptome Spezifische Symptome sind Schmerzen in der Harnröhre, das Gefühl eines schmerzhaften Harndrangs trotz liegendem Katheter sowie suprapubische Schmerzen. Bei Patienten im höheren Lebensalter, Diabetikern und Querschnittgelähmten können lokale Schmerzhinweise fehlen. Subfebrile Temperaturen und eine Verschlechterung des Allgemeinzustands mit Verwirrtheit und Lethargie können beim alten Menschen die einzigen Symptome einer Harnweginfektion sein. Querschnittgelähmte geben oft nur unspezifische diffuse Unterbauchschmerzen an, zusätzlich können Fieber, Schweißneigung und vermehrte Muskelspastizität wegweisend sein. Beim analgosedierten Patienten sind häufig nur Fieber, Leukozytose und CRP-Anstieg gegeben.
Urinkultur, Urinsediment Bei der Anlage von Urinkulturen werden üblicherweise Uricult-Träger verwendet, da auf diese Weise der Einfluss unterschiedlicher Transportzeiten auf die Keimzahl umgangen wird. Wird der Urin nativ eingesandt, müssen Spezialröhrchen mit einem Stabilisatorzusatz verwendet werden, der die Keimzahl über ca. 24 h stabil hält. Der Grenzwert für eine signifikante Bakteriurie bei katheterisierten Patienten liegt bei t 105 KBE/ml (für suprapubische Katheter: t 102 KBE/ml, für Candida spp.: t 103 KBE/ml). Zahlen über diesem Wert können lediglich Zeichen einer Besiedelung sein, während eine Infektion auch schon bei unter 100 KBE/ml vorliegen kann. Um auszuschließen, dass erhöhte Keimzahlen lediglich durch sekundäre Keimvermehrung bei Transport oder Lagerung zustande kamen, muss stets ein Urinsediment parallel angesetzt werden. Nur bei gleichzeitig vorliegender Pyurie (> 10 Leukozyten pro Gesichtsfeld) ist ein bakteriologischer Befund verwertbar.
641 63.6 · Postoperative Infektionen auf der Intensivstation
Die häufigsten, für nosokomiale Harnweginfektionen verantwortlichen Erreger sind E. coli (etwa 25 %), Enterococcus spp. (16 %), Pseudomonas aeruginosa (11 %) und Klebsiella spp. (7 %). Seltener finden sich Proteus und Serratia spp. Bei Langzeitkatheterisierung treten gelegentlich auch Morganella morganii, Providentia stuartii und andere Enterobakteriazeen auf. Das Erregerspektrum hat sich in den letzten Jahren und Jahrzehnten nur unwesentlich geändert.
63.5.3 Therapie Eine asymptomatische Bakteriurie sollte nicht behandelt werden. Die Bakteriurie ist fast immer Ausdruck einer Biofilmbildung am Katheter. Diese kann durch Antibiotika ohnehin nicht beseitigt werden, sodass die Antibiotikagabe meist nur zu einer passageren Reduktion der Keimzahl im Harn führt, mit nachfolgender erneuter Vermehrung der gleichen Erregerspezies. Symptomatische Harnweginfektionen sollten dagegen wegen der Beschwerden des Patienten und wegen der Komplikationsgefahr stets antibiotisch behandelt werden. Für die empirische Primärbehandlung eignen sich bei oraler Behandlung Cotrimoxazol, Oralcephalosporine der zweiten und dritten Generation, Amoxicillin/Clavulansäure oder Flurochinolone. Bei parenteraler Therapie können Cephalosporine der zweiten Generation (z. B. Cefuroxim), inhibitorgeschützte Penicilline oder Flurochinolone ver wendet werden. Nach Vorliegen des Kulturergebnisses und des Antibiogramms sollte die Therapie überprüft und ggf. umgestellt werden. Für unkomplizierte Lokalinfektionen beträgt die empfohlene Therapiedauer 7–10 Tage, für komplizierte Infektionen (z. B. mit vermuteter oder nachgewiesener Generalisierung in den Blutstrom) 10–21 Tage. ! Es empfiehlt sich, den Katheter ca. 3–4 h nach der ersten Antibiotikagabe (d. h. während der maximalen Anflutung des Antibiotikums in der Urethralschleimhaut) zu wechseln, da der anhaftende Biofilm durch die antibiotische Therapie nicht beseitigt werden kann.
63.6
Postoperative Infektionen auf der Intensivstation
Postoperative Infektionen im Operationsgebiet machen einen Anteil von ca. 20 % aller Infektionen auf operativen Intensivstationen aus. Ihre Häufigkeit hängt vom Allgemeinzustand des Patienten bei der Operation, von der Dauer des
Eingriffs, sowie vom präoperativen Kontaminationsgrad des OP-Gebiets ab. Operationen in septischen oder massiv kontaminierten Körperarealen und Höhleneingriffe nach Durchbruch von Hohlorganen sind naturgemäß mit einer weitaus höheren Infektionsrate assoziiert als Operationen in sauberen Gebieten. Für die gesetzlich vorgeschriebene Erfassung postoperativer nosokomialer Infektionen des OP-Gebiets eignet sich deshalb am besten das KISS-System, weil es die genannten Variablen berücksichtigt und die Patienten hiernach stratifiziert werden. Durchschnittlich verlängern postoperative Infektionen den Krankenhausaufenthalt um 7,3 Tage.
63.6.1 Wundbehandlung und
Verbandwechsel Auf die oft komplexe Diagnostik, Therapie und Pflege bei postoperativen Infektionen auf der Intensivstation kann hier nicht eingegangen werden. Mikrobiologische Untersuchungen, der Einsatz von Antibiotika und die Notwendigkeit von erneuten Eingriffen werden in erster Linie vom behandelnden Chirurgen festgelegt. Für den Intensivmediziner und das Pflegepersonal der Intensiveinheit sind zwei Aspekte von entscheidender Bedeutung: Zum einen muss die Ausbreitung multiresistenter Erreger, die eine Wunde kolonisieren, auf der Intensivstation durch geeignete Hygienemaßnahmen vermieden werden. Zum anderen muss sichergestellt werden, dass bei frischen, bis zur Aufnahme auf die Intensivstation komplikationslosen Wunden keine sekundäre Infektion während der Intensivversorgung auftritt. Für die Behandlung und Beseitigung einer Wundkolonisation eignen sich am besten Schleimhautdesinfektionsmittel wie das Octenidindihydrochlorid (Octenisept), PVP-jodhaltige Verbindungen oder Chloramin T. Nicht mehr eingesetzt werden sollte Ethacridin (Rivanol), da es nur gegen gramnegative Bakterien wirkt, während heute überwiegend Staphylokokken und Enterokokken bei Wundinfektionen vorkommen. Für die Vermeidung sekundärer Wundkolonisationen und -infektionen ist ein geordnetes aseptisches Vorgehen bei der Verbandvisite unabdinglich. Ein Hygieneplan für die korrekte Durchführung eines Verbandwechsels sollte am besten gut sichtbar im Flur auf der Intensivstation aushängen. Es empfiehlt sich, einzeln eingeschweißte Verbandssets vorrätig zu haben, in denen eine Schere, Pinzetten, Pflaumtupfer und mehrere Gazekompressen enthalten sind. Vor den Zimmern sollten auf dem Flur Haken angebracht sein, damit chirurgische Konsiliarärzte ihren
63
642
Kapitel 63 · Prophylaxe und Therapie nosokomialer Infektionen auf der Intensivstation
weißen Dienstkittel vor dem Verbandwechsel ablegen können. Kleine Verbandwechsel können mit dem üblichen kurzärmeligen Kasak durchgeführt werden, bei größeren Maßnahmen ist ein sauberer Bündchenkittel anzulegen. Der Verbandwechsel sollte nicht »en passant« bei der chirurgischen Visite durchgeführt werden. Korrekter Ablauf des Verbandwechsels 5 Information und Hinzuziehung der Hilfsperson; Verbandwechsel immer zu zweit durchführen! 5 Weißen Dienstkittel vor dem Patientenzimmer ablegen 5 Überkittel oder Plastikschürze anlegen 5 Abfallbehälter am Patientenbett bereitstellen 5 Händedesinfektion; nach Trocknung des Desinfektionsmittels Einmalhandschuhe anlegen 5 Alten Verband komplett entfernen und entsorgen; Kein Öffnen und wiederanpressen des alten Verbands! 5 Ggf. Redons ziehen und sofort in Abwurf entsorgen 5 Handschuhe ablegen, Händedesinfektion 5 Sterile Verbandmaterialien auf gesonderter Ablage bereitlegen; Schere und Pinzette als steriles Set bereitlegen 5 Haut-/Wunddesinfektion mit Hautdesinfektionsspray oder mittels desinfektionsmittelgefüllter steriler Schale und sterilen Pflaumtupfern 5 Sterile Handschuhe anlegen; Materialien durch Hilfsperson anreichen lassen 5 Neuen Verband aseptisch aufbringen 5 Handschuhe abwerfen, Händedesinfektion 5 Verbandwechsel bei infizierten Wunden und MRSA-kolonisierten Wunden: 5 Wie oben, aber stets Schutzkittel anziehen; bei ausgedehnten Wunden zusätzlich Mund-Nasenschutz
rapie gramnegative Aerobier und Anaerobier erfassen, bei Infektionen nach Eingriffen am weiblichen Genitale sind auch B-Streptokokken zu berücksichtigen. Geeignete Substanzkombinationen sind Piperazillin/Tazobactam ± Aminoglykosid, Fluorchinolone der Gruppe 2 oder 3 in Kombination mit Metronidazol oder ein Cephalosporin der Gruppe 2 oder 3 in Kombination mit einem Aminoglykosid, ggf. auch mit Metronidazol. Bei schwersten Infektionen können auch primär Carbapeneme eingesetzt werden, ihr Einsatz sollte jedoch aufgrund der Kosten und der schnellen Resistenzinduktion bei Pseudomonas aeruginosa auf Einzelfälle beschränkt bleiben.
63.7
Umgang mit resistenten Erregern
Studien aus den USA und Deutschland zeigen eine dramatische Zunahme resistenter Erreger im Intensivbereich. Auf Intensivstationen sind in Deutschland derzeit ca. 30 % der isolierten S.-aureus-Stämme oxacillinresistent, d. h. MRSAStämme. In den Studien der Paul-Ehrlich-Gesellschaft stieg die allgemeine MRSA-Rate im letzten Jahrzehnt auf 20,7 % an (. Abb. 63.2). Weitere Resistenzprobleme betreffen das Auftreten von multiresistenten Pseudomonas-aeruginosa-Stämmen (. Abb. 63.3), Ausbrüche von Acinetobacter-Infektionen mit Multiresistenz, einen allgemeinen Anstieg fluorchinolonresistenter E.-coli-Stämme, sowie das Auftreten von Enterobakteriazeen-Stämmen, die sich durch die Produktion von Breitspektrum-E-Laktamasen auszeichnen (so genannte ESBL-Stämme, extended spectrum β-lactamase producers).
63.6.2 Therapie
63
Die empirische Initialtherapie von Haut-Weichteil-Infektionen sollte im Wesentlichen auf Staphylokokken und Enterokokken fokussiert sein. Am besten eignen sich hierfür inhibitorgeschützte Penicilline, ggf. ein Zweitgenerationscephalosporin, wenn eine Enterokokkenbeteiligung unwahrscheinlich ist (z. B. Infektionen an der oberen Körperhälfte). Bei Infektionen des Bauchraums sollte die The-
. Abb. 63.2. Anstieg der Oxacillin-Resistenz bei Staphylococcus aureus in deutschen Krankenhäusern nach Angaben der Paul-EhrlichGesellschaft
643 Literatur
Konzepte eines zyklischen Einsatzes alternativer Regime mit Substanzen aus verschiedenen Wirkstoffklassen (»crop rotation“) haben sich in Studien bewährt. Insgesamt sollen die heute zur Verfügung stehenden Substanzgruppen (Breitspektrum-Penizilline, Cephalosporine, Carbapeneme, Chinolone) möglichst gleichmäßig zum Einsatz kommen.
Literatur
. Abb. 63.3. Imipenemresistenz von Pseudomonas aeruginosa in einem süddeutschen Klinikum der Schwerpunktversorgung in Abhängigkeit vom Imipenemverbrauch. Nach Lepper et al., 2002.
! MRSA werden in aller Regel horizontal durch Hygienefehler übertragen und können daher nur durch strikte Isolierungs- und Dekontaminationsmaßnahmen in ihrer Häufigkeit reduziert werden.
Kernpunkt der Hygieneregime muss die Einzelzimmerisolierung sein. Einschlägige Empfehlungen zum Vorgehen sind in der Richtlinie zum Umgang mit MRSA-Patienten enthalten, abrufbar von der Homepage des RKI (www.rki. de). Der oben dargestellte Verbandstandard sollte Teil des Hygieneregimes sein. Die Entstehung von E-Laktam- und Carbapenem-Resistenzen bei Pseudomonas aeruginosa wird nach neueren Erkenntnissen in erster Linie durch den breiten, unkritischen Einsatz von Carbapenem-Antibiotika in der ungezielten Primärtherapie von Infektionen gefördert. Untersuchungen in einem Krankenhaus der Schwerpunktversorgung zeigten einen Anstieg der Carbapenem-Resistenzrate von Pseudomonas aeruginosa auf bis zu 28 %, wenn der Carbapenemverbrauch sich 800 definierten Tagesdosen (Tagedosis = 3 g) näherte. Die Resistenzrate ließ sich durch einen Beschluss der Arzneimittelkommission, wonach Carbapeneme nur noch aufgrund schriftlicher Anforderung mit Begründung von der Apotheke ausgeliefert werden durften, rasch wieder in tolerable Bereiche zurückführen. ! Neuere Untersuchungen zeigen, dass ein rationaler, möglichst gezielter und kurzfristiger Einsatz antimikrobieller Substanzen auf der Intensivstation die beste Strategie zur Minimierung von Resistenzen darstellt.
Blot F et. al (1999) Diagnosis of catheter-related bacteraemia: a prospective comparison of the time to positivity of hub-blood versus peripheral-blood cultures. Lancet 354: 1071–1077 Bodmann KF, Lorenz J, Bauer T, Ewig S, Trautmann M (2003) Nosokomiale Pneumonie: Prävention, Diagnostik und Therapie. Empfehlung der Paul-Ehrlich-Gesellschaft für Chemotherapie und der Deutschen Gesellschaft für Pneumologie. Chemotherapie Journal 12: 33–44 Eggimann P, Pittet D (2001) Infection Control in the ICU. Chest 120: 2059–2093. Kommission für Krankenhaushygiene und Infektionsprävention. Prävention Gefässkatheter-assoziier ter Infektionen. Empfehlung der Kommission für Krankenhaushygiene und Infektionsprävention beim Robert-Koch-Institut (RKI). Bundesgesundheitsbl - Gesundheitsforsch - Gesundheitsschutz 2002; 45: 907–924 Krueger WA et al. (2002) Influence of combined intravenous and topical prophylaxis on the incidence of infections, organ dysfunctions, and mor tality in critically ill surgical patients: a prospective, randomized, double-blind, placebo-controlled clinical trial. Am Rev Resp Crit Care Med 15: 1029–1037 Lepper PM, Wiedeck H, Geldner G, Essig A, Trautmann M (2001) Value of Candida antigen and antibody assays for the diagnosis of invasive candidosis in surgical intensive care patients. Intensive Care Med 27: 916–920 Lepper PM, Grusa E, Reichl H, Hoegel J, Trautmann M (2002) Consumption of imipenem correlates with E-lactam resistance in Pseudomonas aeruginosa. Antimicrob Agents Chemother 46: 2920–25 Raymond DP, Pelletier SJ, Crabtree TD, Gleason TG, Hamm LL, Pruett TL, Sawyer RG (2001) Impact of a rotating empiric antibiotic schedule on infectious mor tality in an intensive care unit. Crit Care Med 29: 1101–1108
63
64 Parenterale und enterale Ernährung Markus Apin 64.1 Physiologie und Pathophysiologie des Stoffwechsels beim Intensivkranken –646 64.1.1 Physiologie –646 64.1.2 Pathophysiologie des Postaggressionstoffwechsels –647
64.2 Parenterale Ernährung –647 64.2.1 Kohlenhydrate –648 64.2.2 Aminosäuren –649 64.2.3 Fette –649
64.3 Enterale Ernährung –650 64.4 Spezielle Krankheitsbilder des Intensivpatienten –652 64.4.1 64.4.2 64.4.3 64.4.4
Leberinsuffizienz Niereninsuffizienz Lungenversagen Akute Pankreatitis
–652 –652 –652 –653
64.5 Immunonutrition –653 Literatur –653
646
Kapitel 64 · Parenterale und enterale Ernährung
)) Die enterale und die parenterale Ernährung sind heute wichtige Bestandteile der Intensivtherapie kritisch Kranker. Frühzeitige enterale Ernährung und spezielle Ernährungsregimes (Immunonutrition) werden zukünftig die Therapieerfolge noch verbessern.
64.1
Physiologie und Pathophysiologie des Stoffwechsels beim Intensivkranken
64.1.1 Physiologie Ziel der künstlichen Ernährung beim schwerkranken Intensivpatienten ist eine an den Stressstoffwechsel angepasste Ernährungstherapie, die dem Organismus zum jeweiligen Zeitpunkt die richtigen Substrate in einer verwertbaren Menge zur Verfügung stellt. Dies bedeutet: Bereitstellung energiereicher chemischer Speicher
64
in Form von Phosphaten (ATP, GTP) für die Aufrechterhaltung Energie verbrauchender Prozesse. Chemisch gespeicherte Energie muss rasch verfügbar sein für die Synthesearbeit von Proteinen, Enzymen, Hormonen und Transmittern; für die Gewährleistung von Membranpotenzialen und Ionengradienten an Zellmembranen sowie für die muskuläre Tätigkeit von Herz, Zwerchfell und übriger Muskulatur. Bewahrung körpereigener Proteine, die für Reparationsprozesse und die Regeneration und Aufrechterhaltung der Homöostase beim kritisch Kranken erforderlich sind (u. a. Enzymsysteme, Transportproteine, Proteine des Immunsystems sowie Gerinnungsfaktoren). Muss ein Patient künstlich ernährt werden, können ihm unterschiedliche Nährsubstrate auf enteralem und/ oder parenteralem Wege gegeben werden. Die einzelnen Nährsubstrate sind hierbei die Kohlenhydrate, Proteine und Fette, die mit unterschiedlichen Brennwerten in die Energiegewinnung einfließen: So liegt die Energiegewinnung für Kohlenhydrate bei 4,1 kcal/g, für Eiweiße ebenso bei 4,1 kcal/g und schließlich für Fette mit der höchsten Energiedichte bei 9,3 kcal/g. Die Energiegewinnung geht für alle drei Nährsubstrate nach ihrer Metabolisierung vom Azetyl-CoA aus, welches als wesentliche Ausgangssubstanz in den Zitratzyklus und in die Atmungskette mündet.
Synthesewege für Azetyl-CoA 5 Kohlenhydratabbau: aus der Dekarboxylierung des Pyruvats (welches als Glykolyseendprodukt sowie aus Laktat entsteht) 5 Aus ketoplastischen Aminosäuren 5 Durch E-Oxidation der Fettsäuren
Alle Zellen des Organismus sind zur aeroben/anaeroben Glykolyse und damit zur Energiegewinnung aus Glukose befähigt. In Zellen des ZNS, des retikuloendothelialen Systems, des Nierenmarks sowie in Erythrozyten gelingt die Energiebereitstellung ausschließlich aus Glukose, diese wird dort insulinunabhängig verwertet. Werden keine Kohlenhydrate zugeführt, sind die Kohlenhydratspeicher nach ca. 24 h aufgebraucht und der Stoffwechsel muss auf die Verwertung von Fett und Eiweiß umgestellt werden. Durch Glukoneogenese wird das Substratminimum der glukoseabhängigen Gewebe von ca. 100 g/Tag gesichert: als Ausgangssubstanz zur Glukoseneugewinnung dienen hierbei die glukoplastischen Aminosäuren bei verstärkt ablaufender Proteolyse und das Glyzerin der Triglyzeride nach gesteigerter Lipolyse. Die Energieproduktion, die zur Erhaltung der einzelnen Organfunktionen in Ruhe notwendig ist, wird als Grundumsatz bezeichnet. Sie ist abhängig von Alter, Geschlecht, hormoneller Aktivität sowie Art der Ernährung. Der Grundumsatz des Menschen lässt sich näherungsweise mit der Formel nach Harris und Benedict berechnen. Er kann aber auch grob mit 25–30 kcal/kg KG/Tag (bezogen auf das Sollgewicht) angegeben werden. ! Der Energiebedarf des Intensivpatienten kann in der Akutphase mit 15–20 kcal/kg KG Sollgewicht angegeben werden, erst nach späterer Stabilisierung kann die Energiezufuhr auf 25–30 kcal/kg KG gesteigert werden. Bei anorektischen Patienten orientiert man sich dagegen am tatsächlichen Istgewicht.
Eine – noch vor einigen Jahren betriebene – Hyperalimentation und damit verbundene Derangierung der Stoffwechselsituation kann nicht mehr empfohlen werden und ist eindeutig mit einer höheren Morbidität und Mortalität korreliert. Aus der Erfahrung der täglichen Praxis empfiehlt sich unbedingt eine eher zurückhaltende und bedarfsorientierte Ernährungstherapie, bei der nur in Einzelfällen nach schweren Traumen und im Vollbild des SIRS (systemische Entzündungsreaktion, Systemic inflammatory response syndrome) mehr als 2000 kcal/Tag verabreicht werden
647 64.2 · Parenterale Ernährung
sollten. Therapeutisches Ziel muss eine an die jeweilige Phase des Postaggressionsstoffwechsels angepasste und zur Vermeidung einer entgleisten Stoffwechselsituation bedarfsadaptierte Ernährung sein. Ein regelmäßiges Stoffwechselmonitoring mit Bestimmung des Serum-Glucosespiegels, der Serum-Triglyzeridspiegel und seltener der Stickstoffbilanz ist daher erforderlich. Unter dieser Stoffwechselkontrolle sollten die Blutzuckerspiegel bei 80–120 mg% liegen, die Spiegel der Triglyzeride unter 300 mg%.
64.1.2 Pathophysiologie des
Postaggressionstoffwechsels Alle Formen von physischem wie auch psychischem Stress beim Intensivpatienten durch z. B. Operation, Trauma, Schock, Sepsis oder SIRS, inadäquater Analgosedierung während der einzelnen Phasen und Interventionen der Intensivbehandlung führen zu neurohumoralen Veränderungen des so genannten Postaggressionsstoffwechsels. Kennzeichnend für die charakteristischen Konstellationen des Postaggressionsstoffwechsels sind Veränderungen sowohl auf hormoneller wie auch Mediator-Ebene (Zytokine, Prostaglandine, Leukotriene), die zu einer gesteigerten Glukoneogenese, Lipolyse und Proteolyse mit verstärkter HarnStickstoffausscheidung führen. 3 Phasen des Postaggressionsstoffwechsels nach Moore 5 Aggressionsphase (Ebb-Phase): Stunden bis wenige Tage 5 Postaggressionsphase (Flow-Phase): 2–4 Tage 5 Reparationsphase (Flow-Phase): Wochen bis Monate
Postaggressionsphase (Flow-Phase). Wenige Stunden nach dem auslösenden Ereignis erfolgt der Übergang in die Postaggressionsphase, in der weiterhin eine inadäquate Insulinsekretion besteht, die jedoch wieder durch exogen zugeführte Kohlenhydrate stimulierbar ist (relatives Insulindefizit). Die antiinsulinären Stresshormone bestimmen weiterhin die Stoffwechselsituation. Bei entleerten Glykogenspeichern erfolgt die Glukoneogenese aus Laktat, Glyzerin und glukoplastischen Aminosäuren. In dieser Postaggressionsphase beginnende Synthese- und Reparationsleistungen können durch exogen zugeführte Nährsubstrate deutlich gesteigert werden. Reparationsphase (Flow-Phase). Nach Erreichen des Wendepunkts (nach ca. 3–5 Tagen) schließt sich die Reparationsphase an. In dieser nun anabolen Phase übernimmt das Insulin wieder die führende Rolle im Kohlenhydratstoffwechsel, die antiinsulinären Stresshormone kehren in den Normalbereich zurück. Die Blutglukosespiegel normalisieren sich, O2-Umsatz und Stickstoff-Ausscheidung haben ihr Maximum überschritten. Nur durch gesteigerte Nährstoffzufuhr können die nun erforderlichen Reparationsvorgänge bewerkstelligt werden. Der Patient darf in diesen unterschiedlichen Phasen der Stressstoffwechselsituation weder durch Mangelernährung noch durch Hyperalimentation gefährdet werden. Eine verfehlte Ernährungstherapie beim Intensivpatienten manifestiert sich in erhöhter Morbidität (Infektionen, Wundheilungsstörungen, Dekubiti, Critical-Illness-Polyneuropathie) und Mortalität. Die Folgen einer Fehlernährung zeigen sich in verlängertem Intensivstations- und Krankenhausaufenthalt, gesteigerten Therapiekosten sowie schlussendlich in sinkender Lebensqualität.
Parenterale Ernährung
Aggressionsphase (Ebb-Phase). In dieser Phase bemüht
64.2
sich der Körper, durch massive Flüssigkeitsrestriktion und gesteigerte Substratverfügbarkeit die lebenswichtigen Organsysteme ausreichend zu perfundieren und mit Energie zu versorgen. Bedingt durch die hypothalamisch-hypophysäre Stressreaktion mit Aktivierung des Sympathikus und Freisetzung humoraler Mediatoren resultiert ein massiver Anstieg der antiinsulinären Hormone im Plasma. Einer stark erhöhten Konzentration der Stresshormone Adrenalin, Noradrenalin, Glukagon, Kortisol, STH, T3/T4, ADH (antidiuretisches Hormon) und Aldosteron steht ein absolutes Insulindefizit gegenüber (durch Katecholamine bedingte Suppression der Insulinsekretion im Pankreas). Die Folgen sind massiv gesteigerte Glukoneogenese, Lipolyse und Proteolyse mit stark erhöhtem O2-Verbrauch.
Die künstliche Ernährung ist bei allen Patienten indiziert, die über einen Zeitraum von mehr als 3–5 Tagen keine Möglichkeit haben, bedarfsdeckend Nährsubstrate aufzunehmen. Für den Fall, dass ein Patient nur vorübergehend für den Zeitraum von 3–5 Tagen keine Nahrung aufnehmen kann, ist aus der Literatur kein Benefit einer früh-enteralen oder supplementierenden parenteralen Ernährung gegenüber einer Null-Diät bekannt. Prinzipiell ist bei der Ernährung des Intensivpatienten der enteralen und damit physiologischeren Nährstoffzufuhr der Vorrang zu geben, sofern keine Kontraindikationen vorliegen und geeignete Zugangswege bestehen. Mitunter kann die enterale/früh-enterale Nährstoffzufuhr lediglich in
64
648
Kapitel 64 · Parenterale und enterale Ernährung
Minimaldosierung als »Darmpflege« zum Erhalt resorptiver Darmstrukturen erfolgen, dann sollte sie mit einer bedarfsdeckenden parenteralen Ernährung kombiniert werden. Auch gibt es klare Kontraindikationen gegen eine enterale Ernährung. Indikationen für eine parenterale Ernährung 5 5 5 5 5
Akutes Abdomen Ileus/Subileus Frische obere GI-Blutung Kurzdarmsyndrom mit Malassimilation Chylothorax/Chyloaszites
: Beispiel Parenterale Ernährung mit suppor tiv enteraler »Darmpflege« Patient mit Mesenterialischämie. Unter dem Bild des Akuten Abdomens er folgt die notfallmäßige Laparatomie und Dünndarmteilresektion. Initial zeigt sich ein kreislaufinstabiler katecholaminpflichtiger Patient. Die geplante Second-Look-Laparatomie wird am 2. postoperativen Tag durchgeführt, es finden sich hierbei stabile intestinale Durchblutungsverhältnisse, während dieses Eingriffs wird eine jejunale Dünndarmernährungssonde chirurgisch eingelegt. Begonnen wird die parenterale Ernährung am 3.–4. postoperativen Tag mit einem Dreikammerbeutel (ca. 1000 ml, Energiegehalt der Nichtproteinkalorien 800 kcal/1000 ml). Da bei normalem Ernährungsstatus in der Literatur kein Benefit einer parenteralen Ernährung gegenüber einer Nahrungskarenz von 3–5 Tagen belegt ist, star ten wir die parenterale Ernährung am 3.–4. Tag nach Ereignis. Bei normalen Blutglukosespiegeln können wir die parenterale Ernährung am 4.–5. Tag auf 1500 ml (1200 kcal) steigern. Bei weiterhin unauffälligem Abdominalbefund Beginn einer supplementierenden enteralen Ernährung mit einer chemisch definier ten Diät (es besteht ein Kurzdarmsyndrom mit Malassimilation) in niedrigster Dosierung von 10 ml/h (»Darmpflege«, Energiegehalt 240 kcal/Tag).
64
Die parenterale Applikation der Nährstofflösungen sollte über einen zentralen Venenkatheter erfolgen (unabdingbar für Aminosäuren- und höherprozentige Kohlenhydratlösungen, Fettlösungen können hingegen periphervenös verabfolgt werden), ansonsten resultieren ausgeprägte Thrombophlebitiden mit der Gefahr von Sklerosierungen und Thrombosierung der Gefäße.
! Nährsubstrate mit einer Osmolarität von > 800 mosm/l müssen über einen zentralen Venenkatheter appliziert werden, solche mit einer Osmolarität < 800 mosm/l können auch periphervenös verabfolgt werden.
Die parenterale Nährstoffzufuhr sollte kontinuierlich über 24 h erfolgen, um die Clearanceleistungen der am Metabolismus beteiligten Enzymsysteme nicht zu überschreiten und so Blutzucker- oder Triglyzerid-Entgleisungen im Plasma zu vermeiden. Die einzelnen Nährsubstrate sind industriell vorgefertigt und können als Einzelbausteine oder aber als Mischinfusion infundiert werden. Mittlerweile stehen auch Dreikammerbeutel zur Verfügung, die zusätzlich zu Kohlenhydraten und Aminosäuren die notwendigen Fette enthalten. Sollte der Patient über einen längeren Zeitraum Nahrung nicht oral zu sich nehmen können und liegen Kontraindikationen gegen eine enterale Ernährung über Sondensysteme vor, dann erfolgt die parenterale Ernährung einschleichend ab dem 1.–2. postoperativen/posttraumatischen Tag und wird langsam bis zum 4.–5. Tag erhöht.
64.2.1 Kohlenhydrate Begonnen wird die Glukosezufuhr ab dem 1.–2. postoperativen/traumatischen Tag mit 1–2 g/kg KG/Tag. Bis zum 4.–5. Tag wird die Glukosezufuhr dann auf maximal 2–3 g/ kg KG/Tag gesteigert. Eine höherenergetische Glukosezufuhr führt zur Hyperalimentation mit Hyperglykämie und den dadurch bedingten Nebenwirkungen (7Übersicht: Synthesewege für Azetyl-CoA). Bei schwer kranken Intensivpatienten lässt sich die Mortalität signifikant durch Einhalten eines Serum-Glukosespiegels von 80–120 mg% mittels angepasster Ernährungsstrategie und ggf. intensivierter Insulintherapie reduzieren. Tipps
Glukosezufuhr bei Intensivpatienten – so machen wir es: 5 Beginn der Glukosezufuhr mit 1–2 g/kg KG/Tag nach 24–48 h 5 Stufenweiser Aufbau bis max. 2–3 g/kg KG/Tag bis zum 4.–5. postoperativen/traumatischen Tag 5 Engmaschiges Blutzucker-Monitoring: 5 Bei BZ-Spiegeln > 80–120 mg% zunächst Reduktion der KH-Zufuhr auf minimal 100 g/Tag (Substratminimum der glukoseabhängigen Organe) 6
649 64.2 · Parenterale Ernährung
5 Bei weiterhin erhöhten BZ-Spiegeln > 120 mg% kontinuierlich intravenöse Applikation von Insulin max. 4–8 IE/h
renlösungen zur Verfügung. Das funktionelle Eiweißminimum von 0,7–1 g/kg KG/Tag zur Aufrechterhaltung der normalen Leistungsfähigkeit sollte nicht unterschritten werden. Tipps
Folgen einer inadäquaten Glukosezufuhr mit deutlichen Hyperglykämien 5 Leberzellverfettung 5 Steigerung des Hypermetabolismus mit verstärktem O2-Verbrauch und erhöhter Katecholaminfreisetzung 5 Vermehrte CO2-Belastung mit respiratorischem Stress 5 Mitauslöser einer Critical-IllnessPolyneuropathie 5 Schlechtere Prognose bei Apoplex oder schwerem Schädel-Hirn-Trauma 5 Deutlich gesteigerte Mortalität beim kritisch kranken Intensivpatienten
Zuckeraustauschstoffe wie Xylit, Fruktose und Sorbit sollten beim Intensivpatienten nicht mehr eingesetzt werden: Xylit kann zum »Xylit-Toxizitätssyndrom« mit zerebralen und renalen Funktionseinschränkungen bis hin zu apoplektiformen Zustandsbildern und Hämodialysepflichtigkeit führen. Diese Komplikationen können auch ohne Dosisüberschreitungen aufgrund nicht näher bekannter Prädisposition auftreten. Fruktose und Sorbit sollten wegen der Gefahr der Fruktoseintoleranz mit konsekutiver Leberinsuffizienz vermieden werden. Alle Zuckeraustauschstoffe dürfen nicht eingesetzt werden bei fortgeschrittener Leberinsuffizienz oder Leberzirrhose, da sie zu einer weiteren Verarmung energiereicher Phosphatverbindungen in der Leber führen und die Leberfunktion weiter schädigen würden. ! Cave Keine Gabe von Xylit, Fruktose und Sorbit beim Intensivpatienten.
64.2.2 Aminosäuren Parallel zur Glukosezufuhr werden beginnend ab dem 1.–2. postoperativen/traumatischen Tag Aminosäuren als Substrate für Reparations- und Funktionsprozesse verabreicht. Für bestimmte Krankheitsbilder wie Leber- oder Niereninsuffizienz stehen speziell adaptierte Aminosäu-
Aminosäurenzufuhr bei Intensivpatienten – so machen wir es: 5 Beginn der Aminosäurenzufuhr mit 0,7–1 g/kg KG/Tag nach 24–48 h 5 Max. Tagesdosis von 1,5–2 g/kg KG/Tag bis zum 4.–5. posttraumatischen/ postoperativen Tag (Kinder mehr, Ältere weniger!)
Aminosäuren werden trotz ihres physiologischen Brennwerts von 4,1 kcal/g nicht in die Berechnung des Energiebedarfs miteinbezogen, denn sie werden für Reparations- und Homöostaseprozesse benötigt. Der aus dem Grundumsatz errechnete Energiebedarf wird durch Nichtproteinkalorien gedeckt und auf die Substrate Kohlenhydrate und Fette verteilt.
64.2.3 Fette Fette sollten ebenfalls ab dem 1.–2. Tag nach dem Ereignis kontinuierlich verabfolgt werden. Anzustreben sind Triglyzeridspiegel unter 300 mg%, ggf. muss die Zufuhr von Fetten reduziert werden. Zur Verfügung stehen Fettlösungen aus LCT-Emulsionen (enthalten langkettige Fettsäuren), MCT-/LCT-Gemischen (mittel- und langkettige Triglyzeride) sowie strukturierte Lipide (an einem Triglyzeridmolekül sowohl lang- wie auch mittelkettige Fettsäuren). Mittelkettige Fettsäuren sind v. a. Energielieferanten und gehen verstärkt in die E-Oxidation und damit Energiegewinnung ein, langkettige Fettsäuren sind Träger der essenziellen Fettsäuren (Z6-Fettsäuren wie Linolsäure, Z3-Fettsäuren wie Linolensäure) sowie Strukturlipide (Aufbau von Membranen). Während beim Gesunden das Verhältnis der Nährstoffe Kohlenhydrate und Fette an den Nichtproteinkalorien bei 45–65 % Kohlenhydrate zu 25–35 % Fette liegen sollte, wird bei kritisch Kranken in der Akutphase ein Verhältnis von 50–60% Kohlenhydrate zu 40–50 % Fette empfohlen. Gegenüber der normalen Stoffwechselsituation besteht in dieser Initialphase eine Verminderung der Glukoseutilisation zugunsten einer gesteigerten E-Oxidation der Fettsäuren.
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Kapitel 64 · Parenterale und enterale Ernährung
Tipps
Fettzufuhr bei Intensivpatienten – so machen wir es: 5 Beginn der Fettzufuhr mit 0,5g/kg KG/Tag kontinuierlich über 24 h ab dem 1.–2. postoperativen/ posttraumatischen Tag 5 Steigerung um 0,5 g/kg KG/Tag, max. Tagesdosis 1,5–2 g/kg KG/Tag
Eine Fettzufuhr sollte unterbrochen bzw. noch nicht begonnen werden bei ausgeprägter Schocksymptomatik oder Hypoxie, fehlender E-Oxidation der Fettsäuren, Hypertriglyzeridämien > 300 mg% (es sei denn eine Hypertriglyzeridämie ist vorbestehend bekannt), Thrombozytopenien < 50000/Pl sowie bei DIC (disseminiert intravasaler Gerinnungsstörung). ! Gerade bei schwer kranken Patienten sollte ein Anteil der Fette an den Nichtproteinkalorien von 50 % angestrebt werden.
64.3
64
Enterale Ernährung
Zeichnet sich ab, dass der Patient für t 7 Tage keine orale Nahrung zu sich nehmen kann und liegen keine Kontraindikationen gegen eine enterale Ernährung vor, sollte der Patient unbedingt auf enteralem Wege ernährt werden (7 Übersicht: Folgen einer inadäquaten Glukosezufuhr). Lediglich bei Vorliegen von Kontraindikationen gegen eine enterale/früh-enterale Ernährung wird der Patient parenteral ernährt. Kann ein Intensivpatient beispielsweise für 14 Tage oral keine Nahrung zu sich nehmen, verdoppelt sich seine Mortalität. Bei fehlender enteraler Ernährung treten bereits ab dem 1. Tag der Nahrungskarenz morphologisch sichtbare Veränderungen der Mukosabarriere des Darms auf (Bildung subepithelialer Hohlräume, Ablösen des Epithels an der Zottenspitze), bei einer mehrtägigen total parenteralen Ernährung manifestieren sich komplette Zottendestruktionen und Mukosaatrophien. Diese gestörte Mukosabarriere ermöglicht Bakterien und deren Toxinen den freien Durchtritt in die Blutzirkulation oder Lymphe. Einmal eingeschwemmt, resultiert eine Aktivierung zellulärer Mechanismen (v. a. Leukozyten, Thrombozyten und Endothelzellen), die über ein Kaskadenspiel humoraler als auch zellulärer Mechanismen zum Multiorganversagen führen können. Die Folgen sind erhöhte Morbidität, verlängerte Krankenhausaufenthaltsdauer sowie signifikant gesteigerte Mortalität. ! »When the gut works, use it or loose it!«
Vorteile der enteralen gegenüber der parenteralen Nutrition 5 Verhinderung einer Schleimhautatrophie der Darmwand 5 Energieversorgung der Dünn-/Dickdarmzellen gesichert und unabhängig von Splanchnikusperfusion 5 Geringere metabolische Entgleisungen durch kontinuierliche Abgabe von Nährstoffen aus der Darmwand in die Zirkulation 5 Frühzeitigeres Einsetzen der Darmperistaltik 5 Stressulkusprophylaxe 5 Deutliche Kostenersparnis
Gesicherter Therapiebaustein bei schwerer akuter Pankreatitis (Reduktion der Mortalität) und fortgeschrittener Leberinsuffizienz (verbesserte Leberdurchblutung durch Erhalt der leberarteriellen Autoregulation) ! Eine enterale Ernährung verbietet sich bei folgenden Krankheitsbildern: – Akutes Abdomen – Ileus/Subileus – Frische obere GI-Blutung – Chylothorax/Chyloaszites
Die enterale Ernährung kann auf unterschiedlichen Wegen durchgeführt werden: Nasogastral über eine Magensonde. Bei dieser Form der enteralen Ernährung sollte eine funktionierende Magen-Darm-Passage vorliegen, ansonsten droht beim häufig nicht ganz kooperativen und vigilanten Intensivpatienten die Regurgitation und anschließende Aspiration. Die Nährstoffapplikation über eine nasogastrale Magensonde erfolgt bolusweise (ansonsten häufig Magenatonie) unter Einhaltung nächtlicher Ruhepausen. Postpylorisch über eine endoskopisch eingelegte duodenale oder jejunale Ernährungssonde. Die Nährstofflösungen werden hierbei kontinuierlich über Pumpensysteme verabreicht, nächtliche Ruhepausen sind nicht erforderlich. Duodenal- und Jejunalsonden erfordern immer eine zusätzliche Magenableitung über eine separate Magensonde. Ebenfalls postpylorisch über eine bei Laparatomien durchgeführte Feinnadelkatheterjejunostomie (FNKJ). Hierbei wird bei offenem Abdomen vom Chirurgen transkutan eine Dünndarmernährungssonde in eine distale Jejunumschlinge gelegt. Gerade bei viszeralchirurgischen Oberbaucheingriffen kann auf diese Weise innerhalb der
651 64.3 · Enterale Ernährung
ersten postoperativen Stunden kontinuierlich Nährstofflösung zugeführt werden. Perkutan als PEG (Perkutane endoskopisch kontrollierte Gastrostomie). Nach Endoskopie und Darstellung der ventralen Magenwand wird transkutan eine Sonde eingelegt und der Adapter für die Applikation der Nährlösungen an der äußeren Bauchwand fixiert. Diese Form eignet sich besonders für längerfristig bei in der Nährstoffaufnahme und beim Schluckakt behinderten Patienten (z. B. nach schwerem Schädel-Hirn-Trauma, großem Apoplex). Vorteile einer postpylorischen enteralen Ernährung sind die im Vergleich zum Magen und Dickdarm deutlich früher einsetzende Dünndarmmotilität, die bereits wenige Stunden nach einem Stress auslösenden Ereignis wieder eintritt (Dünndarmatonie ca. 12 h, im Vergleich hierzu postoperative/posttraumatische Magenatonie 4–5 Tage, Dickdarmatonie 3–4 Tage) und die erheblich reduzierte Aspirationsgefahr. Als Nährstofflösungen stehen Sondennahrungen zur Verfügung, die bedarfsdeckend an Energie, essenziellen Aminosäuren, essenziellen Fettsäuren, Mineralien, Vitaminen und Spurenelementen sind. Unterschieden werden hochmolekulare nährstoffdefinierte Diäten von niedermolekularen chemisch definierten Diäten (7 Übersicht: Vorteile der enteralen gegenüber der parenteralen Nutrition). Indikationen der niedermolekularen Diäten sind entzündliche Darmerkrankungen sowie Krankheitsbilder mit Resorptions- und Verdauungsstörungen (z. B. Kurzdarmsyndrom, Strahlenenteritis). Charakteristika hochmolekularer und niedermolekularer Nährstofflösungen Hochmolekulare nährstoffdefinierte Diäten: 5 Intakte nicht aufgespaltene Kohlenhydrate, Proteine und Fette 5 Optimales Nährstoffgemisch 5 Niedrige Osmolarität, damit besser verträglich 5 Hohe Nährstoffkonzentration (1–1,5 kcal/ml) 5 Sowohl gastral wie auch postpylorisch applizierbar Niedermolekulare chemisch definierte Diäten: 5 Mono- und niedermolekulare Einzelbausteine (Mono- und Disaccharide, Oligopeptide, essenzielle Fettsäuren) 5 Resorption unabhängig von Verdauungsleistungen 5 Häufiger Unverträglichkeiten durch höhere Osmolarität 5 Ballaststofffrei
Begonnen wird die enterale Nährstoffzufuhr optimal als früh-enterale Ernährung mit Beginn innerhalb von 24– 48 Stunden nach Trauma/Operation. Ausgehend von einer Nährstoffapplikation von 10–20 ml/h kontinuierlich über ein Pumpensystem wird innerhalb der folgenden Tage um 20 ml/h gesteigert bis zu einer Dosierung von 60–80 ml/h. Wichtig ist hierbei die tägliche klinische Untersuchung des Abdomens, um Unverträglichkeiten frühzeitig zu erkennen (Meteorismus und Distensionen, Peristaltik, Magensondenreflux). Bei Auftreten von Komplikationen sollte eine Unterbrechung der kontinuierlichen Nährstoffapplikation für ca. 8–12 h stattfinden, ggf. kann anschließend mit der nächst niedrigeren Dosierungsstufe fortgefahren werden. : Beispiel Enterale Bolusapplikation Patient mit erhaltener gastrointestinaler Kompetenz (z.B. isoliertes Schädel-Hirn-Trauma II–III°), intubiert und beatmet, geplante Beatmung über die zerebrale Ödemphase von > 96 h hinaus. Nach initialer Stabilisierung des Patienten über Nacht erfolgt der Beginn der bolusweisen enteralen Ernährung über Magensonde am: 1. posttraumatischen Tag: 6 u 50 ml Sondennahrung (nährstoffdefiniert) 2.–3. posttraumatischen Tag: 6 u 100 ml Sondennahrung (nährstoffdefiniert) 4.–5. posttraumatischen Tag: 6 u 200 ml Sondennahrung (nährstoffdefiniert) Im Anschluss an jeden Bolus wird mit jeweils 50 ml Tee nachgespült. Selten wird eine höhervolumige Nährstoffapplikation in der Initialphase ohne Nebenwirkungen toleriert. Bei 6 u 200 ml Sondennahrung stehen dem Patienten 1200 kcal Energie zur Verfügung. Wichtig sind die Einhaltung nächtlicher Ruhephasen sowie die tägliche klinische Untersuchung des Patienten (Meteorismus, Distensionen, Magenreflux, Peristaltik). Bei einem Magensondenreflux in die intermittierend tief hängende Magensonde von > 1/3 der täglich applizierten Menge an Sondenlösung trotz Gabe von Prokinetika über die Dauer von mehr als 2 Tagen sollte auf die kontinuierliche postpylorische Ernährung über Pumpensysteme gewechselt werden.
: Beispiel Kontinuierlich enterale/früh-enterale Ernährung Patient mit Polytrauma, u. a. schwere Lungenkontusion mit er forderlicher Langzeitbeatmung sowie mehreren zu versorgenden Frakturen. Erwartete Beatmungsdauer ungefähr 7 Tage. Beachtet werden muss, dass der Patient 6
64
652
Kapitel 64 · Parenterale und enterale Ernährung
aufgrund seines Verletzungsmusters gegebenenfalls über eine perkutane Dilatationstracheotomie vom Respirator entwöhnt werden muss. Es erfolgt die operative wie auch hämodynamische und respiratorische Stabilisierung während der initialen 12–24 h, anschließend endoskopische Anlage einer tief duodenalen oder jejunalen Dünndarmernährungssonde. Beginn der kontinuierlichen enteralen Nährstoffapplikation mit einer nährstoffdefinierten Sondenlösung sofort nach Anlage der Ernährungssonde in einer Dosierung von 10–20 ml/h (keine nächtlichen Ruhepausen). Tägliche Steigerung der Dosierung in Schritten von 20 ml/h bis zu einer Dosierung von 60–80 ml/h am 5. posttraumatischen Tag. Bei Unverträglichkeiten oder Komplikationen wird die kontinuierliche Zufuhr für 8–12 h unterbrochen, anschließend die Zufuhrrate auf die nächst niedrigere Dosierungsstufe reduziert.
64.4
Spezielle Krankheitsbilder des Intensivpatienten
64.4.1 Leberinsuffizienz
64
Der leberinsuffiziente Patient ist besonders bedroht durch einen möglichen fortschreitenden Leberausfall mit Versagen der Stoffwechselregulationen. Bei Ausfall der Entgiftungsfunktionen resultieren eine Anhäufung potenziell toxischer Metaboliten mit direkter Schädigung des Gehirns (Ammoniak, Phenole u. ä.) sowie ein zentrales Überangebot falscher Neurotransmitter. Ein solch zunehmender Leberausfall zeigt sich in einem rasch fortschreitendem Versagen vieler Organsysteme. Bestimmend für die weitere Prognose sind in der Folge die Störungen der Gerinnungsfunktion (gesteigerte Blutungsneigung wie auch gesteigerte Thromboseneigung, Gefahr der Verbrauchskoagulopathie) sowie das mögliche maligne Hirnödem. Eine Ernährungstherapie beim leberinsuffizienten Patienten zielt auf eine angepasste Nährstoffzufuhr bei einer dem Stadium der Erkrankung angepassten Reduktion potenziell schädlicher aromatischer Aminosäuren. Der Kalorienbedarf des Patienten kann bis auf das 1,3fache des Grundumsatzes gesteigert sein. Glukose wird in einer Dosierung von 2–4 g/kg KG/Tag – je nach Blutglukosespiegel – verabreicht, Zuckeraustauschstoffe hingegen verbieten sich beim leberinsuffizienten Patienten. Fette werden in unveränderter Dosierung von 1–1,5 g/kg KG/Tag appliziert, sie sind die bei Leberinsuffizienz am besten tolerierten Nährsubstrate. Aminosäu-
renlösungen werden bei stabilen Zirrhose-Patienten in unveränderter Tagesdosis von 1–1,2 g/kg KG gegeben, bei beginnender hepatischer Dekompensation empfiehlt sich ein 2–3 Tage dauernder Stopp der Aminosäurenzufuhr, anschließend die Fortführung der Aminosäurenapplikation in reduzierter Menge von 0,4–1 g/kg KG/Tag. Alternativ können leberadaptierte Aminosäurenlösungen eingesetzt werden. Dekompensierende Leberinsuffizienzen zeigen sich an einem deutlichen Anstieg der Serum-Ammoniakkonzentrationen (Normwert 20–100 Pg/dl oder 10–60 Pmol/l) oder einer zunehmenden Eintrübung des Patienten. ! Gerade beim leberinsuffizienten Patienten empfiehlt sich eine enterale Ernährung, da nur so eine arterielle Autoregulation der Leberperfusion erhalten bleibt. Hypoxien und mögliche Noxen werden so von der Leber besser toleriert.
64.4.2 Niereninsuffizienz Der Energiebedarf beim niereninsuffizienten Patienten ist ebenfalls bis auf das 1,3fache des Grundumsatzes gesteigert. Durch eine gestörte Produktion bestimmter Aminosäuren werden diese essenziell und sollten – wie in speziellen Nierenlösungen – in höherer Konzentration angeboten werden. Konventionelle Nährstofflösungen können bis zu einer Kreatinin-Clearance von 50 ml/min. gegeben werden, bei weiterer Dekompensation der Nierenfunktion sollte auf spezielle adaptierte »Nierenlösungen« umgestellt werden. Bei Nierenersatzverfahren (Hämodialyse, Hämofiltration) müssen zusätzliche Aminosäurenverluste ausgeglichen werden: 4 Hämodialyse: 8–10 g Aminosäurenverluste pro Hämodialyse 4 Hämofiltration: Filtrationsvolumen u 0,3 (Aminosäurenverluste in g)
64.4.3 Lungenversagen Bei akutem Lungenversagen wie auch bei chronisch respiratorisch insuffizienten Patienten empfiehlt sich eine Steigerung der Fettzufuhr. Der Anteil der Fette an den Nichtproteinkalorien sollte ca. 50 % betragen, sodass im Vergleich zu reiner Kohlenhydratverbrennung weniger CO2 und damit weniger Atemarbeit anfällt (Respiratorischer Quotient RQ = CO2/O2, bei reiner Kohlenhydrat-Verbrennung RQ von 1, bei Fettzufuhr RQ < 0,8).
653 Literatur
64.4.4 Akute Pankreatitis Bei der akuten Pankreatitis liegt eine hypermetabole Stoffwechselsituation vor mit deutlich gesteigertem Energieumsatz bis 2000–2300 kcal/Tag. Bei parenteraler Ernährung können Fette unproblematisch kontinuierlich intravenös appliziert werden, sie stimulieren nicht die exokrine Pankreasfunktion mit möglicher Verstärkung der Autodigestion. Während die enterale Ernährung bei der leichten akutödematösen Pankreatitis nicht zu einer Verringerung der Mortalität führt, wird bei der schweren nekrotisierenden Pankreatitis die Mortalität durch eine enterale Nährstoffzufuhr reduziert. Vorrausetzung ist eine distal des Treitzschen Bandes platzierte Dünndarmernährungssonde als Applikationsmodus: die exokrine Pankreasfunktion wird hierdurch eher gedrosselt, durch Erhalt der Darmintegrität sinkt außerdem das Risiko einer Sekundärinfektion der nekrotischen Pankreasbezirke durch aus dem Darm translozierte Darmkeime.
64.5
Immunonutrition
Immunnutritive Nährstofflösungen sind mit immunmodulierenden Substanzen angereicherte enterale oder parenterale Nährlösungen. Zu diesen immunnutritiven Substanzen zählen die Aminosäuren Glutamin und Arginin, das Aminosäurenderivat Taurin, die Z3-Fettsäuren, Ribonukleotide, Spurenelemente wie Selen sowie weitere Antioxidanzien. Immunnutritive Nährstofflösungen sind bei bestimmten Intensivpatienten in der Lage, die frühen hyperinflammatorischen Entzündungsreaktionen, die zu einem Multiorganversagen führen können, abzuschwächen sowie vorzeitig die volle Immunkompetenz wiederherzustellen. So können Patienten nach Polytraumen oder viszeralchirurgischen Tumoreingriffen nach den derzeitigen Leitlinien von einer immunnutritiven Ernährung profitieren. ! Eine generelle Empfehlung zum Einsatz immunnutritiver Nährstofflösungen beim schwer kranken Intensivpatient kann zum aktuellen Zeitpunkt aber nicht ausgesprochen werden!
Literatur Adolph M (1999) Ernährung des Patienten mit Leberinsuffizienz. In: Refresher Course – Aktuelles Wissen für Anaesthesisten Nr. 25. Springer, Berlin Heidelberg New York Al-Omran M, Groof A, Wilke D (2001) Enteral versus parenteral nutrition for acute pancreatitis (Cochrane Review). The Cochrane Library, 1–8
Apin M, Mar tin J (2002) Praxis der Ernährung in der Intensivmedizin. 2. Aufl. Zuckschwerdt Verlag, München Biolo G, Grimble G, Preiser JC, Lever ve X, Jolliet P, Planas M, Roth E, Wernermann J, Pichard C (2002) Position paper of the ESICM Working Group on nutrition and Metabolism. Intensive Care Med, 28: 1512–1520 Braunschweig C, Levy P, Sheean P, Wang X (2001) Enteral compared with parenteral nutrition: a meta-analysis. Am J Clin Nutr, 74: 534– 542 Heyland DK, Novak F, Drover JW, Jain M, Su X, Suchner U (2001) Should immunonutrition become routine in critically ill patients? A systematic review of the evidence. JAMA, 286: 944–953 Kreymann G, Ebener C, Hartl W, von Heymann C, Spieß C (2003) DGEM-Leitlinie Enterale Ernährung: Intensivmedizin. In: Lochs H, Lübke H, Weimann A (Hrsg) Aktuelle Ernährungsmedizin, Supplement 1, 28: 42–50 Marik P, Zaloga P (2001) Early enteral nutrition in acutely ill patients: A systematic review. Crit Care Med, 29: 2264–2270 Plauth M, Weimann A, Holm F, Müller MJ (1999) Leitlinien der GASL zur Ernährung bei Leberkrankheiten und Leber transplantation. Z Gastroenterol, 37: 301–312 Toigo G, Aparicio M, Attmann PO, Cano N, Cianciaruso B, Engel B, Fouque D, Heidland A, Teplan V, Wanner C (2000) Expert working group report on nutrition in adult patients with renal insufficiency – Consensus Report. Clinical Nutrition, 19: 197–207 und 281–291 Van den Berghe G, Wouters P, Weekers F, Ver waest C, Bruyninckx F, Schetz M, Vlasselaers D, Ferdinande P, Lauwers P, Bouillon R (2001) Intensive insulin therapy in critically ill patients. New Engl J Med, 345: 1359–1367
64
65 Mediko-legale Probleme Elmar Biermann 65.1 Einleitung –656 65.2 Zivilrechtliche Haftung und strafrechtliche Verantwortung
–656
65.3 Rechtliche Szenarien nach einem Anästhesiezwischenfall –656 65.4 Zivilrechtliche Schadenersatzansprüche –657 65.4.1 Haftpflichtversicherung –657 65.4.2 Haftpflichtprozess –659 65.4.3 Beweislast –659
65.5 Strafrechtliches Ermittlungsverfahren –659 65.5.1 65.5.2 65.5.3 65.5.4
Ablauf eines strafrechtlichen Ermittlungsverfahrens –660 Strafbefehl –660 Öffentliche Hauptverhandlung –660 Urteil –661
65.6 Zwischenfallsmanagement aus rechtlicher Sicht Literatur –663
–661
656
Kapitel 65 · Mediko-legale Probleme
)) »Tod beim Zahnarzt – zweijähriges Mädchen musste sterben, weil Arzt zu viel Narkosemittel spritzte…« »Der Koma-Skandal: Narkosearzt war beim Kaffeetrinken...« Solche Überschriften finden sich nach einem Anästhesiezwischenfall in der Laienpresse. Nur die schlechte Nachricht ist eine gute Nachricht. Positive Informationen finden sich in der Laienpresse nicht in Großbuchstaben. Auf wenig Interesse stößt, dass das medizinische Risiko in der Anästhesie heute für den Patienten denkbar gering ist und sich statistisch gesehen unterhalb des Bereiches anderer, meist bedenkenlos in Kauf genommener allgemeiner Lebensrisiken bewegt.
65.1
Einleitung
Dass der medizinische Fortschritt die Behandlungsrisiken drastisch reduziert hat, darf jedoch nicht zu der Annahme verführen, in gleichem Umfang hätten sich für die Beteiligten die forensischen Risiken gemindert. Das Gegenteil ist der Fall. Stellt sich nach einem Zwischenfall, durch den ein Patient geschädigt wurde, die im Zivil- und Strafprozess maßgebende Frage, ob der Arzt die im Zeitpunkt der Behandlung erforderliche Sorgfalt gewahrt hat, dann rekurriert der Richter über die medizinischen Sachverständigen auf die im Fachgebiet anerkannten Leistungs- und Sorgfaltsstandards und misst den Arzt daran. Mit den Fortschritten der Medizin und der Spezialisierung und der Subspezialisierung sind jedoch auch die Qualitätsanforderungen an die Prozess- und Strukturqualität, an Krankenhäuser und Krankenärzte gestiegen. Darin liegt zugleich der wichtigste Grund für das gestiegene forensische Risiko der Ärzte. Zwischenfälle in der Anästhesie sind zahlenmäßig gering, in ihren Folgen im Allgemeinen aber – sieht man von Zahnschäden ab – schwer. Außerdem ist schnell zwischen einem Handeln oder Unterlassen des Anästhesisten und dem Schaden eines Patienten ein Zusammenhang konstruiert. Deshalb ist es wichtig, die Grundzüge der zivilrechtlichen Haftung und der strafrechtlichen Verantwortung zu kennen und zu wissen, wie man sich rechtlich korrekt bei und nach einem Zwischenfall verhält.
65.2
65
Zivilrechtliche Haftung und strafrechtliche Verantwor tung
Die rechtlichen Voraussetzungen der zivilrechtlichen Haftung und der strafrechtlichen Verantwortung sind identisch:
! Der Arzt haftet (nur), wenn er seine berufstypische Sorgfalt schuldhaft, d. h. vorsätzlich oder fahrlässig verletzt hat und der Patient dadurch (Kausalitätsfrage) einen Schaden (Gesundheitsschaden, Tod) erlitten hat.
Die ärztliche Haftung hat somit drei Voraussetzungen, die kumulativ erfüllt sein müssen: 4 Fehler des Anästhesisten, 4 Schaden des Patienten 4 und Kausalzusammenhang zwischen dem Fehler des Anästhesisten und dem Schaden des Patienten (Ursachenzusammenhang). Ein »Fehler« liegt in der Regel im Abweichen von den im Zeitpunkt der Behandlung geltenden Leistungs- und Sorgfaltsstandards. Dabei kann man grob unterteilen: Behandlungsfehler im engeren Sinn, z. B. nicht rechtzeitig erkannte Fehlintubation, die Medikamentenüberoder -unterdosierung, Fehler bei der Bedienung technischer Geräte. Organisationsmängel (Behandlungsfehler im weiteren Sinn), z. B. Einsatz eines nicht ausreichend qualifi-
zierten Arztes zur selbstständigen Durchführung eines Anästhesieverfahrens ohne ausreichende Anleitung und Aufsicht. Aufklärungsfehler, insbesondere nicht vollständig oder verspätete Risikoaufklärung, was zur Unwirksamkeit
der Einwilligung des Patienten führt (zur Aufklärung siehe: Biermann, 1997). Dokumentationsmängel haben keine unmittelbaren strafrechtlichen Konsequenzen, auch zivilrechtlich ist der Dokumentationsmangel keine eigenständige Anspruchsgrundlage für den Patienten. Allerdings können Dokumentationsmängel zivilrechtlich Beweislasterleichterungen bis hin zur Umkehr der Beweislast zur Folge haben.
65.3
Rechtliche Szenarien nach einem Anästhesiezwischenfall
Womit muss der Anästhesist rechnen, wenn es »schief geht?«. Denkbare Szenarien nach einem Anästhesiezwischenfall Zivilrechtliche Haftung 5 Verfahren vor der Gutachter-/Schlichtungskommission 6
657 65.4 · Zivilrechtliche Schadenersatzansprüche
5 Zivilrechtlicher Haftungsprozess vor dem Landgericht (LG) in erster Instanz, evtl. dem Oberlandesgericht (OLG) als Berufungsinstanz bis hin zum Bundesgerichtshof (BGH) als Revisionsinstanz Strafrechtliche Verantwortung 5 Strafrechtliches Ermittlungsverfahren durch die Staatsanwaltschaft 5 Hauptverhandlung vor dem Strafgericht Nebenverfahren 5 Berufsgerichtliches Ver fahren vor dem Berufsgericht 5 Anordnung des Ruhens/Widerruf der Approbation durch die Verwaltungsbehörde 5 Arbeitsrechtliche Konsequenzen in Form von Abmahnung/Kündigung oder Regress
Nicht selten stellt aber »die Strafanzeige den Eröffnungszug im Kampf um Schadenersatz und Schmerzensgeld« dar (Ulsenheimer 2002). Unter Juristen gilt dies allerdings als »juristischer Kunstfehler«, da die Vorteile für den Patienten bei diesem Vorgehen (»kostenlose« Sachverhaltsaufklärung von Amts wegen, d. h. durch Kriminalpolizei und Staatsanwaltschaft) die Nachteile nicht aufwiegen (Ulsenheimer 2003, S. 999). Die Nachteile sind: Das Hinauszögern der zivilrechtlichen Regulierung, der evtl. Verlust von Beweismitteln durch Zeitablauf (mangelnde Erinnerung der Zeugen), die »Verhärtung der Fronten« und die nur bedingt für den zivilrechtlichen Haftungsprozess ergiebigen Ermittlungsergebnisse im Strafverfahren, zumal dann, wenn das Ermittlungsverfahren eingestellt wird.
65.4
Zivilrechtliche Schadenersatzansprüche
Im Folgenden sollen nur die zivilrechtliche Abwicklung eines Zwischenfalls und der Ablauf eines strafrechtlichen Ermittlungsverfahrens skizziert werden (für weitergehende Informationen s. Biermann 2003). Anschließend folgt der »juristische Notfallkoffer« mit Verhaltenshinweisen bei und nach einem Zwischenfall. In erster Linie geht es dem Patienten/den Angehörigen um Schadenersatz einschließlich Schmerzensgeld, also um einen zivilrechtlichen Ausgleich, weniger um eine Bestrafung des Arztes. Dennoch: Neben dem zivilrechtlichen Haftungsprozess und unabhängig von diesem kann ein strafrechtliches Ermittlungsverfahren gegen die Beteiligten wegen fahrlässiger Körperverletzung oder Tötung – u. U. auch wegen unterlassener Hilfeleistung – eingeleitet werden. Zivilrechtliche Haftung und strafrechtliche Verantwortung stehen unabhängig nebeneinander, sie schließen sich weder gegenseitig aus noch präjudizieren sie sich wechselweise. Es kann auch durchaus sein, dass in Strafverfahren ein »Freispruch« erfolgt, im Zivilverfahren die beteiligten Ärzte, das Pflegepersonal und der Krankenhausträger zu Schadenersatz einschließlich Schmerzensgeld verurteilt werden. Dies kann an den unterschiedlichen Beweisregeln für das Zivil- und Strafverfahren liegen.
In aller Regel meldet sich nach einem Zwischenfall für den geschädigten Patienten ein Rechtanwalt, der um eine Kopie der Krankenunterlagen bittet. Was tun? Die Herausgabe verweigern? Das wäre falsch: Nach der Rechtsprechung hat der Patient einen Anspruch, seine Krankenunterlagen einzusehen, dies beinhaltet nach überwiegender Auffassung auch einen Anspruch auf Überlassung von Kopien, nicht jedoch der Originale. Auf Anfrage sind auch Name und Adresse der beteiligten Personen und ggf. deren Qualifikation bekannt zu geben. Dem anwaltlichen Anforderungsschreiben liegt meist eine Entbindung von der Schweigepflicht durch den Patienten bei, sodass sich Probleme mit der Schweigepflicht nicht ergeben. Ist der Patient verstorben, muss der Anästhesist mit Rücksicht auf die ärztliche Schweigepflicht selbstständig prüfen, ob der mutmaßliche Wille des Patienten der Einsichtnahme entgegensteht. Nächste Angehörige sollen, soweit das Geheimhaltungsinteresse des Patienten nicht entgegensteht, nach der Rechtsprechung ein Einsichtsrecht haben; Erben dann, wenn die vermögensrechtliche Situation des Patienten betroffen ist, wie etwa bei der Verfolgung von Schadenersatzansprüchen.
Es kann teuer werden. Nach Auskunft von Haftpflichtver-
Nach der Berufsordnung ist der Arzt verpflichtet, sich ausreichend gegen Haftpflichtansprüche aus seiner beruflichen Tätigkeit zu versichern; eine gesetzliche Verpflichtung für den Krankenhausträger, eine solche Haftpflichtversicherung abzuschließen, gibt es jedoch nicht. Doch ca. 90 % aller Krankenhausträger haben die dienstliche Tätigkeit ihrer Mitarbeiter unter Versicherungsschutz gestellt. Zur
sicherern war nach einer Sectio mit Aspiration und folgendem appallischen Syndrom ein Schaden von ca. 1 Mio. Euro zu regulieren; eine Tetraparese bei einer 33-jährigen Patientin nach Periduralanalgesie anlässlich einer Geburt schlug mit 1,5 Mio. Euro zu Buche. Der hypoxische Hirnschaden eines Patienten wurde mit 400000 Euro reguliert.
65.4.1 Haftpflichtversicherung
65
658
Kapitel 65 · Mediko-legale Probleme
Leistungspflicht des Haftpflichtversicherers gehören die Prüfung der Haftpflichtfrage, der Ersatz des Schadens im Haftungsfall sowie die Abwehr unberechtigter Ansprüche. Der letzte Punkt zeigt, dass die Haftpflichtversicherung insoweit auch den Charakter einer Rechtsschutzversicherung hat. Vorsätzlich verursachte Schäden sind vom Versicherungsschutz ausgenommen, dagegen ist jede Form der Fahrlässigkeit, auch die grobe Fahrlässigkeit, versicherbar. Es kommt aber auf die jeweiligen, individuell vereinbarten Versicherungsbedingungen an.
rung beschlagnahmt und/oder deren Sachbearbeiter als Zeugen vernommen werden. Die Informationen an die Haftpflichtversicherung sollten deshalb nur so ausführlich wie nötig, aber so knapp wie möglich gehalten und auf die objektiven Umstände beschränkt werden. Die ärztliche Schweigepflicht steht weder der Information des Haftpflichtversicherers noch der des eigenen Rechtsanwaltes entgegen, da der betroffene Anästhesist sich zur Abwehr der gegen ihn erhobenen Ansprüche auf den Gesichtspunkt der »Wahrnehmung berechtigter Interessen« berufen kann.
! Achtung, Gefahr einer Versicherungslücke: Ob und inwieweit ein möglicher arbeitsrechtlicher Regress gegen die angestellten Ärzte mitversichert ist, sollte ebenfalls im Einzelfall überprüft werden.
Anerkenntnisverbot und Information des Patienten
Regulierungsvollmacht der Haftpflichtversicherung.
Nach den Versicherungsbedingungen ist die Haftpflichtversicherung ermächtigt, alle zur Schadensregulierung notwendigen Maßnahmen weisungsfrei vorzunehmen; die Versicherung gilt als bevollmächtigt, alle zur Beilegung oder Abwehr des Anspruchs zweckmäßig erscheinenden Erklärungen im Namen des Versicherungsnehmers (Arzt/ Krankenhausträger) abzugeben (Regulierungsvollmacht). Der Haftpflichtversicherer kann den Schaden regulieren, er kann eine Regulierung aber auch verweigern und den Rechtsweg ausschöpfen wollen; er muss dabei auf Wünsche oder Weisungen der versicherten Ärzte/des Krankenhausträgers keine Rücksicht nehmen.
Rechtzeitige Meldung an die Haftpflichtversicherung Der Versicherungsfall ist nach § 5 Abs. 2 der Allgemeinen Haftpflichtversicherungsbedingungen unverzüglich, »d. h. spätestens innerhalb einer Woche« der Haftpflichtversicherung zu melden. Sollte später ein Mahnbescheid erlassen, ein strafrechtliches Ermittlungsverfahren eingeleitet werden oder ein Strafbefehl ergehen, so ist auch dies dem Versicherer zusätzlich »unverzüglich« anzuzeigen, selbst wenn der Versicherungsfall als solcher schon gemeldet war.
! Der versicherte Anästhesist ist nicht berechtigt, ohne Zustimmung der Haftpflichtversicherung den Anspruch des Patienten ganz oder teilweise anzuerkennen.
Nicht verboten ist es allerdings, den Patienten über einen Behandlungsfehler zu unterrichten und ihm den medizinischen Sachverhalt zu schildern, wozu der Arzt aufgrund des Behandlungsvertrags zumindest dann verpflichtet sein kann, wenn weitere ärztliche Maßnahmen zur Überwachung oder zum Schutz des Patienten notwendig sind. Eine Prüfung des Vorgangs durch die Haftpflichtversicherung darf dem Patienten zugesagt werden. Keinesfalls aber darf ihm eine Regulierung zugesichert werden! Richtig ist: Dem Patienten bzw. dessen Rechtsanwalt wird
mitgeteilt, dass der Vorgang der Haftpflichtversicherung gemeldet wird; ihm wird die Versicherungsnummer und die Anschrift der Haftpflichtversicherung gegeben. Im Übrigen wird der Patient/der ihn vertretende Anwalt darauf verwiesen, jeden weiteren Schriftverkehr über die Haftpflichtversicherung abzuwickeln. Eigene Erklärungen gegenüber dem Patienten bzw. seinem Rechtsanwalt gibt der Anästhesist allenfalls nach Rücksprache mit der Haftpflichtversicherung ab. Die Haftpflichtversicherung bestellt oder benennt in aller Regel auch einen Rechtsanwalt – oder bei Interessenkollisionen mehrere Rechtsanwälte – für die betroffenen Ärzte.
Ausreichende Information Eine weitere Obliegenheit des Versicherten ist es, der Haftpflichtversicherung frühzeitig, vollständig und »wahr« alle notwendigen Informationen zu erteilen und Unterlagen zu überlassen, damit diese den Sachverhalt »zur Prüfung der Haftpflichtfrage« klären kann. Vorsicht: In einem möglichen strafrechtlichen Ermittlungs-
65
verfahren können diese Unterlagen auch bei der Versiche-
Außergerichtliche Einigung Zusammen mit der Haftpflichtversicherung werden Krankenhausträger und Arzt die Haftpflichtfrage klären und im geeigneten Fall versuchen, eine außergerichtliche Einigung zu erzielen. In diesem Rahmen können mit Zustimmung der Haftpflichtversicherung außergerichtlich auch die Gutachterkommissionen bzw. Schlichtungsstellen der Ärztekammern eingeschaltet werden. Diese begutachten den an-
659 65.5 · Strafrechtliches Ermittlungsverfahren
geblichen Behandlungsfehler und machen zum Teil auch einen Vorschlag zur gütlichen Einigung. Arzt und Patient steht es frei, ob sie einen Antrag auf Tätigwerden dieser Institutionen stellen und am Verfahren teilnehmen (Prinzip der Freiwilligkeit). Es bleibt dem Patienten unbenommen, stattdessen sofort oder im Laufe des Schlichtungsverfahrens die staatlichen Gerichte anzurufen. Die Bescheide der Kommissionen haben keinerlei rechtliche Bindungswirkung für die beteiligten Parteien, es handelt sich um unverbindliche Empfehlungen (Prinzip der Unverbindlichkeit) mit allerdings erheblicher faktischer Bindungswirkung.
beweisen. Beweislast bedeutet auch, das Risiko eines ungünstigen Ausgangs des Prozesses tragen zu müssen, wenn entscheidungserhebliche Tatsachen nicht geklärt werden können. Kann etwa der Kausalzusammenhang zwischen einem erwiesenen Behandlungsfehler und dem Schaden des Patienten nicht geklärt werden, verliert derjenige den Prozess, der die Beweislast trägt. Trotz des gerade geschilderten Ausgangspunktes muss dies nicht notwendigerweise der Patient sein. Denn die Rechtsprechung hilft dem Patienten durch ein abgestuftes System von Beweiserleichterungen, vom Beweis des »ersten Anscheins« bis hin zur Umkehr
65.4.2 Haftpflichtprozess
der Beweislast, insbesondere bei groben Behandlungsfehlern und Dokumentationsmängeln. Dadurch erhöht sich
Kommt es zu keiner außergerichtlichen Einigung, muss der Anästhesist damit rechnen, dass der Patient bzw. dessen Angehörige versuchen, den Schadenersatzanspruch vor Gericht einzuklagen. Im zivilrechtlichen Haftungsprozess ermittelt der Richter, anders als im Strafverfahren der Staatsanwalt oder Strafrichter, den Sachverhalt nicht von Amts wegen. »Wo kein Kläger, da kein Richter«: Es obliegt vielmehr den Parteien, d. h. dem Kläger und dem Beklagten, den Sachverhalt zu schildern, über den der Richter dann zu entscheiden hat. Widerspricht eine Partei der Sachverhaltsschilderung der anderen nicht, dann legt der Richter diesen unstrittigen Sachverhalt seiner Entscheidung zugrunde, in der Regel ohne eigene Nachprüfung. Nur wenn eine Partei der Schilderung der anderen widerspricht und die umstrittene Tatsache entscheidungserheblich ist, wird Beweis erhoben. Im Zivilverfahren ist der klagende Patient Herr des Verfahrens. Das heißt, er kann jederzeit seine Klage zurücknehmen, z. B. nach Zahlung des geforderten Geldbetrags durch die Haftpflichtversicherung, er kann seinen Anspruch im Laufe des Haftpflichtprozesses aber auch erhöhen oder reduzieren. In aller Regel wird die Klage in erster Instanz vor dem Landgericht erhoben. Dort herrscht Anwaltszwang. Dies bedeutet, dass die Parteien sich durch einen zugelassenen Rechtsanwalt vertreten lassen müssen. Gegen das Urteil des Landgerichts kann die unterlegene Partei eine Berufung beim Oberlandesgericht und u. U. Revision beim Bundesgerichtshof einlegen.
65.4.3 Beweislast Im Zivilverfahren muss im Ausgangspunkt zwar der Patient den Fehler des Arztes, seinen eigenen Schaden und den Ursachenzusammenhang zwischen Fehler und Schaden
das rechtliche Risiko für den Krankenhausträger und den Anästhesisten, einen Prozess auch dann zu verlieren, d. h. dem Patienten bzw. den Hinterbliebenen Schadenersatz leisten zu müssen, wenn z. B. unklar bleibt, ob ein Behandlungsfehler überhaupt vorlag oder ob ein Behandlungsfehler für den Schaden des Patienten ursächlich war. : Beispiel Ein grober Behandlungsfehler liegt vor, so der Bundesgerichtshof (BGH, NJW 1998, S. 1782): »...wenn das ärztliche Verhalten aus objektiver Sicht bei Anlegung des für den Arzt geltenden Kenntnis- und Fertigkeitsstandes nicht mehr verständlich und verantwortbar erscheint, weil ein solcher Fehler dem Arzt schlechterdings nicht unterlaufen darf...«
Im Strafverfahren gibt es keine Beweislast des Patienten. Hier erfolgt eine Verurteilung nur, wenn dem Arzt der Behandlungsfehler, der Schaden des Patienten und vor allem auch der Ursachenzusammenhang zwischen beidem »mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit, d. h. einem Grad von Gewissheit, der vernünftige Zweifel ausschließt«, nachgewiesen werden kann (Ulsenheimer 2003, S. 1297 ff.).
65.5
Strafrechtliches Ermittlungsver fahren
Damit nicht genug: Neben und unabhängig von einem zivilrechtlichen Haftungsprozess kann der Zwischenfall auch strafrechtliche Konsequenzen haben. Gefährlich ist es, wenn der Patient bzw. dessen Angehörige das Gefühl haben, eine zivilrechtliche Regulierung werde von den beteiligten Ärzten bzw. der Haftpflichtversicherung verschleppt und dann mit einer Anzeige des Sachverhalts bei der Kriminalpolizei/Staatsanwaltschaft reagieren. Anders als im Zivilverfahren gilt im strafrechtlichen Ermittlungsverfahren das Offizial-/Legalitätsprinzip. Dieses
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Kapitel 65 · Mediko-legale Probleme
verpflichtet und berechtigt die staatlichen Organe, Straftaten von Amts wegen zu verfolgen und den Sachverhalt ohne Bindung an das, was die Beteiligten vortragen, zu erforschen. Wenn die Staatsanwaltschaft Kenntnis von Umständen erhält, die auf eine Straftat hindeuten können, dann muss sie diesen nachgehen. Woher die Kenntnis stammt,
ob aus einer Anzeige, auch einer anonymen, ob aus den Medien oder – eher selten – durch Abgabe der Akten des Zivilgerichtes an die Staatsanwaltschaft, ist gleichgültig. Im Rahmen der strafrechtlichen Verantwortung steht die staatliche Strafdrohung, nicht der finanzielle Ausgleich zwischen den Parteien im Vordergrund. Herren des Verfahrens sind die Staatsanwaltschaft bzw. das Strafgericht, nicht aber der geschädigte Patient wie im Zivilverfahren. Der geschädigte Patient ist im Strafverfahren in der Regel nur Zeuge. Das strafrechtliche Verfahren ist seinem Einfluss weitgehend entzogen. Selbst dort, wo die Strafverfolgung zunächst von einem Strafantrag des Patienten abhängig ist, insbesondere bei der fahrlässigen Körperverletzung, kann die Staatsanwaltschaft auch dann, wenn der Geschädigte – etwa nach Regulierung des Schadens durch die Haftpflichtversicherung – seinen Strafantrag zurückgenommen haben sollte, die Strafverfolgung bei einem »besonderen öffentlichen Interesse« von Amts wegen weiter betreiben. Dieses ist bei arztrechtlichen Problemen in der Regel gegeben.
65.5.1 Ablauf eines strafrechtlichen
Ermittlungsver fahrens Oft wird zunächst ein Ermittlungsverfahren gegen Unbekannt eingeleitet; es folgt in der Regel die Beschlagnahme der Krankenunterlagen durch die Kriminalpolizei aufgrund richterlicher Anordnung. Daran schließt sich eine informatorische Befragung aller Beteiligten, zunächst meist (nur) als Zeugen an. Aus den Ergebnissen solcher informatorischer Befragungen und der Auswertung der Krankenunterlagen »filtert« die Staatsanwaltschaft dann diejenigen heraus, gegen die sie im Folgenden als Beschuldigte weiter ermitteln will. Die Ergebnisse eines staatsanwaltlichen Ermittlungsverfahrens können sein:
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Einstellung nach § 170 Abs. 2 Strafprozessordnung (StPO). Etwa wenn sich der Anfangsverdacht nicht bestätigt oder der Kausalzusammenhang zwischen einem Behandlungsfehler und dem Schaden des Patienten nicht festzustellen ist. 6
Einstellung nach §§ 153, 153 a StPO. Das Verfahren wird wegen »Geringfügigkeit« bzw. dann eingestellt, wenn der Beschuldigte bestimmte Auflagen erfüllt. Bei diesen Auflagen handelt es sich meist um eine Geldzahlung, die keine Sanktion darstellt, sondern von dem Beschuldigten »freiwillig« er füllt wird. Wegen der »geräuschlosen« und endgültigen Erledigung nach Erfüllung der Auflage werden versierte Strafverteidiger sehr früh versuchen, eine solche Einstellung zu erreichen. Doch bleibt oft das Gefühl eines »faulen Kompromisses« mit einer befürchteten »negativen Präjudizwirkung« für einen zivilrechtlichen Haftungsprozess. Ulsenheimer gibt deshalb den wichtigen Hinweis, bei der Zustimmung zur Einstellung nach § 153 a StPO ausdrücklich klarzustellen, dass in der Erfüllung der Auflage »kein Schuldanerkenntnis liegt« (Ulsenheimer 2003, S. 525 f.).
65.5.2 Strafbefehl Sieht der Staatsanwalt die Schuld des Arztes mit hoher Wahrscheinlichkeit oder sicher als nachweisbar an, kann anstelle einer förmlichen Anklage mit anschließender Hauptverhandlung noch eine »stille« Erledigung durch einen Strafbefehl (richterliche Entscheidung ohne Hauptverhandlung) erfolgen. Nicht selten raten Strafverteidiger in den Fällen, in denen wegen der Schwere des Vorwurfs eine Einstellung nicht in Betracht kommt, dazu, einen Strafbefehl zu akzeptieren, um die Prangerwirkung einer öffentlichen Hauptverhandlung zu vermeiden.
65.5.3 Öffentliche Hauptverhandlung Der »worst case«: Entscheidet die Staatsanwaltschaft nach dem Ergebnis des Ermittlungsverfahrens indes, einen Antrag auf Eröffnung des Hauptverfahrens zu stellen, so legt sie die Anklageschrift dem für die Hauptverhandlung zuständigen Gericht vor. Das Gericht prüft, ob die angeschuldigten Ärzte der Straftat hinreichend verdächtig sind und lässt die öffentliche Hauptverhandlung zu, wenn es diese Frage bejaht. Aus dem angeschuldigten Arzt wird nun ein Angeklagter. Das Ergebnis einer öffentlichen Hauptverhandlung, in der Regel nach Vernehmung von Zeugen und Sachverständigen, kann sein 4 eine Einstellung nach § 153, 153 a StPO (siehe oben) oder 4 ein Urteil.
661 65.6 · Zwischenfallsmanagement aus rechtlicher Sicht
In besonderen Fällen kann auch ein Berufsverbot ausgesprochen werden.
ter- und Fortbildung bzw. Beurteilung befürchten zu müssen.
65.5.4 Ur teil
Mit dem Patienten sprechen. Wer möchte sich schon mit
Das Urteil wiederum kann auf Freispruch oder Verurteilung lauten. In der Regel erfolgt die Verurteilung zu einer Geldstrafe, bei groben Fehlern mit schweren Folgen kann u. U. eine Freiheitsstrafe in Betracht kommen, die aber regelmäßig zur Bewährung ausgesetzt wird. Bei der Verurteilung zu einer Geldstrafe ist wichtig zu wissen: Das Maß der Schuld wird nicht allein durch die Höhe der ausgeurteilten Summe bestimmt, sondern durch die Tagessatzzahl. In der Zahl der Tagessätze spiegelt sich wieder, wie schwer das Gericht die Schuld des Angeklagten bewertet hat. Höchstens 360 Tagessätze können ausgeurteilt werden; zahlt der Verurteilte die Geldstrafe nicht, muss er eine Haftstrafe verbüßen, die der Zahl der Tagessätze entspricht. Die Tagessatzhöhe richtet sich nach dem Nettoeinkommen des Betroffenen pro Tag. Bei Verurteilung wegen fahrlässiger Körperverletzung bewegt sich die Strafe im Rahmen von 30–90 Tagessätzen, bei fahrlässiger Tötung zwischen 60– 250 Tagessätzen. Bei einer Verurteilung zu einer Geldstrafe von nicht mehr als 90 Tagessätzen darf der Verurteilte sich noch als »nicht vorbestraft bezeichnen«, die Verurteilung wird nicht in das Führungszeugnis aufgenommen. Nach Auskunft eines Staatsanwaltes muss ab ca. 100 Tagessätzen damit gerechnet werden, dass die Verwaltungsbehörde das Ruhen oder gar den Entzug der Approbation anordnet.
65.6
Zwischenfallsmanagement aus rechtlicher Sicht
Was ist aus rechtlicher Sicht nach einem Zwischenfall zu tun, was zu unterlassen? Dazu haben Strafverteidiger mehrfach Stellung genommen. Die nachfolgenden Ausführungen orientieren sich u.a. an den »Verhaltenshinweisen nach einem Zwischenfall« der Rechtsanwälte Ulsenheimer und Bock (2001). Hilfe holen. Viele schwere Folgen eines Zwischenfalles wären vermeidbar, wenn rechtzeitig Hilfe geholt würde. Es ist zwar verständlich, bei Komplikationen, deren Beherrschung die eigenen Fähigkeiten zu übersteigen drohen, zunächst zu versuchen, den Zwischenfall selbst zu meistern. Doch dies ist meist falsch. Ein frühzeitiger Hilferuf wird wesentlich erleichtert, wenn in den Fachabteilungen eine Atmosphäre herrscht, die es den Mitarbeitern erlaubt, nach Unterstützung zu rufen, ohne Nachteile für die eigene Wei-
seinen eigenen Misserfolgen auseinandersetzen müssen? Psychologisch lässt sich die fehlende Gesprächsbereitschaft nach einer Komplikation bzw. einem Zwischenfall verstehen. Doch ist dieses »Verstummen« die Ursache nicht für Verärgerung, sondern auch für Misstrauen auf der Seite des Patienten bzw. seiner Angehörigen, die leicht umschlägt in das Begehren, Schadenersatzansprüche durchzusetzen oder eine Strafanzeige zu erstatten. Was ist zu tun? Die Aussprache wird dem Patienten bzw. den Angehörigen zeitnah angeboten; sie wird aber gründlich vorbereitet und mit Abstand zum Ereignis geführt. Das Gespräch sollte auch nicht vom betroffenen Anästhesisten allein, sondern zumindest unter Teilnahme des Chefarztes mit dem Patienten bzw. den Angehörigen stattfinden. Es ist sinnvoll, von dem Gespräch Notizen zu fertigen und dringend geboten, im Gespräch auf Wertungen, Vermutungen und Hypothesen sowie Schuldzuweisungen zu verzichten. ! Dieses Gespräch kann die entscheidende Weichenstellung für den weiteren Ablauf sein. Soweit möglich, sollten die Vorgänge offen, ggf. unter Einsicht in die Unterlagen, besprochen werden. Aber Vorsicht: Es darf aber kein Schuldanerkenntnis abgegeben oder etwa eine zivilrechtliche Regulierung zugesagt werden.
Sorgfältige Dokumentation. Eine sorgfältige Dokumentation aller Einzelheiten ist bei Zwischenfällen oft nicht vereinbar mit der gebotenen zeitgerechten Versorgung des Patienten. Umso wichtiger ist es, im unmittelbaren Anschluss an den Vorfall die Krankenunterlagen zu vervollständigen und fehlende Eintragungen nachzutragen. Kein Problem: Werden später Korrekturen erforderlich, weil man etwas vergessen oder unzutreffend dargestellt hat, dann können diese Korrekturen durchgeführt werden, sie müssen aber unter Angabe des Datums als nachträglich geschrieben gekennzeichnet sein. Andernfalls droht der Vorwurf der Urkundenfälschung! ! Vorsorge für den Fall der Beschlagnahme treffen: Die Krankenunterlagen sollten fotokopiert, wo Kopien nicht möglich sind, Duplikate angefertigt werden.
Denn bei einem strafrechtlichen Ermittlungsverfahren muss mit einer Beschlagnahme der Unterlagen gerechnet werden. Der beschuldigte Arzt erhält keine Akteneinsicht. Er kann Akteneinsicht nur über seinen Verteidiger erlangen. Ein Rechtsanspruch auf Einsicht entsteht aber erst
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Kapitel 65 · Mediko-legale Probleme
nach Abschluss der Ermittlungen. Eine adäquate Verteidigung in Arztstrafverfahren ist jedoch ohne die Krankenunterlagen kaum denkbar. Deshalb Fotokopien fertigen! Von der »normalen Dokumentation« zu unterscheiden und getrennt von dieser zu verwahren sind persönliche Aufzeichnungen, die jeder Betroffene für sich selbst machen sollte. Darin wird detailliert genau der Ablauf des Zwischenfalls bzw. der Komplikation festgehalten unter Angabe markanter Zeitpunkte, der Wiedergabe der Länge bestimmter Zeitphasen; die beteiligten Personen, Besonderheiten des Patienten, Auffälligkeiten im Umfeld, Name der Beteiligten/Zeugen u. ä. sind zu dokumentieren. Da auch diese Unterlagen beschlagnahmefähig sind, sollten sie als persönliche Notizen des betroffenen Arztes sicher aufbewahrt werden. Sie gehören insbesondere nicht in die Krankenunterlagen! Vorsicht vor Gemeinschaftsprotokollen und Zwischenfallskonferenzen bei nicht abgeschlossenem Verfahren! Krankenunterlagen auf Anforderung herausgeben. Der
Patient hat Anspruch auf Einsicht in die Krankenunterlagen; es wäre falsch, ihm diese Einsicht zu verweigern. Die Einsicht wird ermöglicht u. a. durch Erstellung von Fotokopien sämtlicher Unterlagen. Dritten, z. B. dem Rechtsanwalt des Patienten, wird Einsicht gewährt aber nur dann, wenn er eine Erklärung des Patienten über die Entbindung von der Schweigepflicht vorlegt. Originale werden an den Patienten/den Rechtsanwalt nicht herausgegeben, soweit Fotokopien ausreichen. Müssen Originale übergeben werden, etwa bei der Beschlagnahme durch die Kriminalpolizei, dann sollten die Akten vorsorglich paginiert, d. h. mit Seitenzahlen versehen und die Übergabe unter detaillierter Angabe des überlassenen Materials quittiert werden. Zuvor werden Kopien für den »eigenen Bedarf« gefertigt. Erforderliche Meldungen machen. Die Krankenhausver-
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waltung/der Dienstherr und die Haftpflichtversicherung müssen über den Zwischenfall informiert werden, unabhängig davon, ob schon konkrete Ansprüche gegen den Arzt/Krankenhausträger erhoben wurden. Die Folge: Die Verwaltung wie auch die Haftpflichtversicherung werden in der Regel eine schriftliche Stellungnahme anfordern. Sollte wegen des Vorfalls auch ein Strafverfahren eingeleitet werden, dann können nicht nur sämtliche Unterlagen beschlagnahmt, sondern auch die Adressaten der Informationen als Zeugen vernommen werden. Alle Mitteilungen haben sich deshalb auf die Schilderung des Tatbestandes, d. h. den tatsächlichen Geschehensablauf, die »objektive Chronologie der Ereignisse« ohne Schuldzuweisungen,
Spekulationen, Vermutungen zu beschränken; in aller Regel reicht ein reiner »Tatsachenvortrag«, so wie er sich etwa aus dem Anästhesieprotokoll ergibt. Regulierungsvollmacht der Haftpflichtversicherung. Aufgrund der Versicherungsbedingungen ist der Haftpflichtversicherer ermächtigt, alle mit der Schadensregulierung zusammenhängenden Maßnahmen verbindlich zu treffen. Deshalb wird dem Patienten bzw. dem Rechtsanwalt, der Ansprüche stellt, nur Name und Anschrift der Haftpflichtversicherung, evtl. die Versicherungsnummer, mitgeteilt. Weitere Erklärungen gibt der Anästhesist allenfalls in Abstimmung mit der Haftpflichtversicherung ab. Die Regulierungsvollmacht gilt allerdings nur für das Zivilverfahren. Im strafrechtlichen Ermittlungsverfahren ist der Arzt frei, auch bezüglich der Wahl seines Rechtsanwaltes. Gutachter- und Schlichtungskommissionen. Im Zuge der
zivilrechtlichen Auseinandersetzung sollte der Arzt mit der Haftpflichtversicherung abstimmen, ob Gutachter- und Schlichtungskommissionen eingeschaltet werden können. Dies ist in aller Regel sinnvoll. Unabhängig davon, dass die Entscheidung der Gutachterkommissionen und Schlichtungsstellen für die Beteiligten rechtlich nicht bindend sind, präjudizieren sie vielfach aber den weiteren Verlauf. Deshalb kann bereits in diesem Verfahren eine professionelle Rechtsvertretung notwendig werden. Den eigenen Rechtsanwalt unterstützen. Sowohl im Strafverfahren wie auch im Rahmen der zivilrechtlichen Prozessführung sollte der betroffene Anästhesist seinen – ggf. von der Haftpflichtversicherung benannten – Rechtsanwalt unterstützen. Das heißt zunächst, den Rechtsanwalt korrekt und frühzeitig informieren. Dies heißt weiter: Die eigenen wie die Schriftsätze des Gegners bezüglich der Sachdarstellung und der anästhesiologischen Fakten zu prüfen und zu den Details frühzeitig und umfassend Stellung zu beziehen. Zu Gutachten der Sachverständigen sollte der Anästhesist ebenfalls sachlich und kritisch Stellung nehmen; so kann er helfen, weitere Sachverständigengutachten zu beantragen oder ein »Privatgutachten« einzuholen. Verfehlt wäre es, um mit Ulsenheimer/Bock zu sprechen, wenn der Anästhesist glauben würde, »mit der Einschaltung eines Rechtsanwaltes das Erforderliche getan zu haben« und meinte, damit »diese lästige Sache« los zu sein. Todesbescheinigung korrekt ausfüllen. Spätestens bei der
Leichenschau nach einem Zwischenfall stellt sich die Frage, wie der »natürliche« von dem »nicht-natürlichen« Tod ab-
663 Literatur
zugrenzen ist. Die Frage wird in den Bestattungsgesetzen der Länder zum Teil unterschiedlich beantwortet. Nach Ulsenheimer/Bock kann die Abgrenzung so vorgenommen werden: »Verwirklicht sich beim ‚Exitus in tabula‘ das Risiko der Grunderkrankung oder das wegen ordnungsgemäßer Aufklärung und Einwilligung erlaubte Risiko der Operation und liegen keine Anhaltspunkte für ärztliches oder pflegerisches Fehlverhalten (oder das eines Dritten) vor, so handelt es sich um einen natürlichen Tod. Eine Ausnahme hiervon bestünde dann, wenn bereits die Grunderkrankung von rechtlich bedeutsamen äußeren Faktoren bestimmt war. Zu denken wäre z. B. an traumatische Verletzungen (Verkehrsunfall, Sturz etc.) oder länger wirkende, rechtlich bedeutsame Einwirkungen (z. B. Vergiftungen, Berufskrankheiten etc.). Lässt sich der Tod, z. B. wegen fehlender präoperativer Diagnostik, nicht aus dem Krankheitsbild oder dem typischen Operationsrisiko erklären oder liegen Anhaltspunkte (nicht notwendig Beweise) für ein Fehlverhalten vor, so darf die Ankreuzung ‚natürlicher Tod‘ auf dem Leichenschauschein nicht erfolgen, sondern es muss als Todesart ‚ungeklärt‘ oder ‚ungewiss‘ angegeben werden (sofern in dem jeweiligen Bundesland möglich). Die endgültige Feststellung bleibt dann dem Obduzenten bzw. Pathologen überlassen. Außerdem ist unter dieser Prämisse unverzüglich die Polizei oder Staatsanwaltschaft zu benachrichtigen.« Keinen Einfluss auf Zeugen nehmen, keine Beweismittel unterdrücken. Weder im Straf- noch im Zivilverfahren dür-
fen Zeugen beeinflusst werden. Krankenunterlagen dürfen nicht nachträglich verfälscht oder sonst Beweismittel vernichtet oder beiseite geschafft werden. Keine mündlichen Auskünfte. Nach den Prozessordnun-
gen gilt: Der Zeuge hat die Pflicht zur wahrheitsgemäßen Aussage und darf die Auskunft auf einzelne Fragen nur dann verweigern, wenn deren Beantwortung ihn selbst oder einen nahen Angehörigen in die Gefahr bringen würde, strafrechtlich verfolgt zu werden. Der Beschuldigte im Strafverfahren hat stets das Recht, seine Aussage zu verweigern. Es gilt für ihn, anders als für eine Partei im Zivilprozess, auch keine Wahrheitspflicht. Doch ist dem Beschuldigten keinesfalls dazu zu raten, die Unwahrheit zu sagen! Sowohl dem Zeugen wie dem Beschuldigten geben Ulsenheimer/Bock den Rat, bei der Polizei stets zu schweigen und eine schriftliche Formulierung der Fragen zu erbitten, um dann eine schriftliche Stellungnahme zur Sache bzw. eine Beantwortung der Fragen in Aussicht zu stellen. Vor
der Kriminalpolizei besteht im Übrigen weder ein Zwang zum Erscheinen noch zur Aussage. Anders ist es, wenn der Staatsanwalt vorlädt. ! Erst recht ist dem Beschuldigten dringend von mündlichen Erklärungen zur Sache abzuraten, denn die Gefahr von Irrtümern, Ungenauigkeiten und Missverständnissen bei der Aufzeichnung der Angaben durch die Kriminalpolizei ist groß.
Dieser Gefahr lässt sich begegnen, wenn schriftlich und bevorzugt nach Akteneinsicht und vorheriger rechtlicher Prüfung zur Sache Stellung genommen wird. Eine solche gründlich vorbereitete Stellungnahme sollte möglichst früh erfolgen. Das Hauptziel einer vernünftigen Verteidigung in Arztstrafsachen muss es sein, die Erhebung der Anklage mit der darauf folgenden öffentlichen Hauptverhandlung mit allen rechtlichen Mitteln zu vermeiden. Denn die beste Hauptverhandlung ist und bleibt die, die erst gar nicht stattfindet!
Literatur Biermann, E (1997) Medico-legale Aspekte in Anästhesie und Intensivmedizin – Teil 1: Der Behandlungsfehler, AINS 32: S. 135–206; Teil 2: Einwilligung und Aufklärung in der Anästhesie – Rechtsgrundlagen und forensische Konsequenzen, AINS 32: S. 427–452 Biermann, E (2003) Rechtliche Aspekte, in: Schüttler, J./Biermann, E.: Der Narkosezwischenfall, Thieme, Stuttgart – New York 2003, S. 222 ff. Ulsenheimer, K (2002) in: Laufs, A./Uhlenbruck, W.: Handbuch des Arztrechtes, 3. Aufl. C.H. Beck Verlag München S. 999 Ulsenheimer, K (2003) Arztstrafrecht in der Praxis, 3. Aufl. C.F. Müller Verlag, Heidelberg S. 500 Ulsenheimer K, Bock (2001) Der »juristische Notfallkoffer«, Anästh Intensivmed 42: 885
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66 Datenmanagementsysteme in der Anästhesie und Intensivmedizin Joerg Martin 66.1 Datenmanagement in der Anästhesie –666 66.1.1 Beleglese-Systeme –667
66.2 Intensivmedizinische Informationssysteme –668 66.3 Zusammenfassung –669 Literatur –669
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Kapitel 66 · Datenmanagementsysteme in der Anästhesie und Intensivmedizin
)) Die Anästhesiologie und Intensivmedizin sind in der heutigen Krankenhauswelt geprägt durch eine extrem hohe Komplexität der Versorgung, die nur mit großer apparativer Unterstützung möglich ist. Beide Disziplinen sind im Rahmen der Gesamtversorgung der Patienten Hilfsprozesse, die jedoch wesentlich zum Behandlungserfolg beitragen. Die zeitnahe und engmaschige Dokumentation des medizinischen Handelns und der relevanten Patientenparameter wurde von der Anästhesie bereits im vorigen Jahrhundert eingeführt. Die Pflicht zur lückenlosen ärztlichen Aufzeichnung ist auch in den ärztlichen Berufsordnungen geregelt: »Der Arzt hat über die in Ausübung seines Berufes gemachten Feststellungen und getroffenen Maßnahmen die er forderlichen Aufzeichnungen zu machen (§15/1 der Berufsordnung für Ärztinnen und Ärzte in Hessen [BOÄH 1]). Neben diesen Anforderungen an die medizinische Dokumentation muss jedes Dokument einer Krankenakte auch unter forensischen Aspekten den heutigen Anforderungen genügen. Das Narkoseprotokoll und die intensivmedizinische Behandlungskurve gelten nach allgemeiner Rechtsprechung als offizielles Dokument bei juristischen Auseinandersetzungen. Im Falle einer in wesentlichen Punkten unzulänglichen Dokumentation kann es zu einer Umkehr der Beweislast kommen, da ansonsten dem Kläger in forensisch relevanten Punkten die Beweisführung erschwert wird und Nachteile für ihn entstehen.
66.1
Datenmanagement in der Anästhesie
Wegen der hohen Komplexität und Prozessdichte in der Anästhesiologie wurde in den 80er Jahren versucht, automatisierte Narkoseprotokolle einzusetzen. In zahlreichen Untersuchungen konnte gezeigt werden, dass die handschriftliche Anästhesiedokumentation in einem hohen Maße inkomplett und inkorrekt ist. Dies umso mehr, je »kritischer« der Augenblick ist und wenn dadurch eine zeitnahe Dokumentation nicht möglich ist. Der Zeitaufwand der Anästhesiedokumentation beträgt ca. 20 % der Gesamtzeit einer Narkose. Handschriftlich ausgefüllte Dokumente lassen sich später nicht zum Zwecke des Qualitätsmanagements, Controllings und für wissenschaftliche Fragestellungen auswerten.
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Ein Anästhesieprotokoll ist entsprechend dem prozessualen Ablauf in drei Teileinheiten gegliedert 1. Prämedikationsprotokoll 5 Beschreibung des präoperativen Zustands des Patienten aus anästhesiologischer Sicht 5 Anordnung der Prämedikationsmedikamente und notwendigen Blutprodukte 2. Intraoperatives Verlaufsprotokoll 5 Dokumentation der Vitalparameter (Blutdruck, Puls, Sauerstoffsättigung, Beatmungsparameter) und der verabreichten Medikamente sowie von Besonderheiten im Verlauf der Anästhesie 3. Postoperatives Überwachungsprotokoll 5 Vitalparameter, Maßnahmen, Medikamente und Besonderheiten im direkten postoperativen Verlauf
Diese Teilprozesse müssen alle in einem Dokument zusammengefasst und dokumentiert werden. Während sich zu Beginn der 80er Jahre die automatische Narkoseprotokollierung schwerpunktmäßig auf die intraoperative Erfassung der Vitalparameter und Beatmungsdaten sowie der applizierten Medikamente fokussierte, müssen nach heutigen Anforderungen alle Teilprozesse elektronisch erfasst werden. Erst mit der zunehmenden Verbreitung grafisch orientierter Benutzeroberflächen konnten auch automatische Anästhesieprotokollsysteme vermehrt in der Routine eingesetzt werden. Allerdings führen nur bei umfassender Integration in bestehende klinische Informationsnetze und Nutzung der automatischen Datenübernahme aus angeschlossenen Geräten und Subsystemen automatische Anästhesieprotokollsysteme zu vollständigen Datensätzen. Dies bedeutet, dass der Implementierungsaufwand sehr hoch ist. Neben dem hohen personellen Aufwand erfordert die Einführung eines automatischen Anästhesieprotokollsystems auch einen erheblichen finanziellen Aufwand, da jeder Anästhesiearbeitsplatz mit einem eigenen PC bestückt werden muss und entsprechende Ausfallkonzepte vorgehalten werden müssen. Der zeitliche Aufwand zur Einführung eines solchen Systems beträgt von der Entscheidung zur Beschaffung bis zur Inbetriebnahme ca. 1–1,5 Jahre.
667 66.1 · Intensivmedizinische Informationssysteme
Daten, die durch ein automatisches Anästhesieprotokollsystem erfasst werden müssen 5 5 5 5 5 5 5 5 5 5
Patientenstammdaten Daten zur Qualitätssicherung Daten zur Leistungserfassung Prämedikationsbefunde und Befunde der postanästhesiologischen Visite Aufwachraumdaten Kommentare, Befunde Medikamenten- und Anästhetikadokumentation Vital- bzw. Monitorparameter Beatmungsparameter Echtzeitkurven
In der Übersicht sind die notwendigen Daten zusammengefasst, die zwingend zu erfassen sind, um eine vollständige Dokumentation zu gewährleisten. Schon bei Beginn der Implementierung muss zum Klinikinformationssystem aber auch zu anderen Subsystemen (Labor, Röntgen, OP-Organisationssystem usw.) eine Schnittstelle eingeplant sein (. Abb. 66.1). Ein weiterer Schwerpunkt der automatischen Anästhesieinformationssysteme stellt die Online-Übernahme der Vital- bzw. Monitorparameter sowie der Daten des Beatmungsgeräts dar. Hierfür sind direkte Schnittstellen zu schaffen, damit diese Daten übernommen werden können. Jedoch sollte eine automatische Online-Abspeicherung nicht zugelassen werden, da die Daten zunächst angezeigt und erst nach Validierung durch den Anästhesisten abgespeichert werden dürfen. Nach Validierung und Abspeicherung sollte eine Änderung der Daten nicht mehr möglich sein. Neben der reinen Dokumentation und Erfassung all der genannten Daten muss jeder Anästhesieabteilung ein leistungsfähiges Auswertesystem zur Verfügung stehen. Sinnvollerweise sollte die Auswertung nur auf Kopien der Datenbank durchgeführt werden, um den Routinebetrieb nicht durch Systembelastungen zu beeinflussen. Neben Standardabfragen muss es möglich sein, auch durch den Laien individuelle Abfragen, die aus vielfältigen Gründen entstehen, durchzuführen. Bei der Anschaffung eines Systems ist aus diesen Gründen darauf zu achten, dass die Datenbank eine kommerziell verfügbare Datenbank ist, die sich mit Hilfe eines SQL-Statements (structured query language) abfragen lässt. Die Datenbankstruktur muss dem Anwender offen gelegt sein. Bei der Schnittstellenimplementierung sollte darauf geachtet werden, dass diese
. Abb. 66.1. Schnittstellen eines Anästhesie-Informationsmanagement-Systems (HL7 = Health Level 7; MIB = Medical Interface Bus)
Schnittstellen lückenlos dokumentiert sind, bidirektional funktionieren und dem Industriestandard HL 7 (Health Level 7) genügen. ! Eine vorherige Aufwandabschätzung der Schnittstellenkosten ist äußerst hilfreich, da sich in diesem Bereich häufig Probleme ergeben, die die Einführung eines solchen Systems lange verzögern können.
Die Verfügbarkeit der Daten zur externen Qualitätssicherung muss problemlos gegeben sein. Aufgrund dieser hohen Komplexität und Kommunikation mit vielen anderen Systemen hat sich das automatische Anästhesieprotokollsystem in den letzten Jahren zu einem Anästhesie-Informationsmanagement-System (AIMS) gewandelt.
66.1.1 Beleglese-Systeme Während bisher nur in wenigen Kliniken eine komplette Implementierung von Anästhesie-Informationssystemen erfolgt ist, gilt heute als Standardlösung die Datenerfassung über ein Beleglesesystem. Hierbei wird weiterhin ein Papiernarkoseprotokoll auf einem besonderen Formular geführt, das während der Prämedikation, Anästhesie und im Aufwachraum eine Strichcodierung für ausgewählte Felder erlaubt. Diese Formulare werden dann mit einem Belegleser automatisch erfasst und in eine Datenbank geschrieben. Es findet direkt am Computer eine Plausibilitätskontrolle statt, die Plausibilitätsverletzungen können manuell korrigiert werden. Auch bei diesen Systemen ist es sinnvoll, eine bidirektionale Verbindung zu dem Krankenhausinformationssystem zu integrieren, um die Patientenstammdaten für spätere Auswertungen zu übernehmen und die relevanten
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668
Kapitel 66 · Datenmanagementsysteme in der Anästhesie und Intensivmedizin
Controlling- und Qualitätsdaten an das Krankenhausinformationssystem zu übergeben.
66.2
Intensivmedizinische Informationssysteme
Im Vergleich zur Anästhesie sind die Dokumentationsrichtlinien in der Intensivmedizin wesentlich weniger standardisiert. In der Intensivmedizin wird zur Dokumentation noch überwiegend Papier benutzt. Ein wesentlicher Unterschied zur Anästhesie besteht darin, dass die Patienten nicht für einen definierten Zeitraum überwacht werden müssen, sondern der Aufenthalt auf der Intensivstation von wenigen Stunden bis zu mehreren Tagen oder gar Wochen andauern kann. Für diesen gesamten Zeitraum ist eine lückenlose Dokumentation wie in der Anästhesiologie vorgeschrieben und notwendig. Die zu dokumentierenden Parameter entsprechen denen in der Anästhesie und werden heutzutage vorwiegend auf einem Krankenblatt meist im Format DIN A 2 protokolliert. Neben dem zentralen Dokument des Krankenblatts existieren jedoch noch weitere zusätzliche Dokumente und Protokolle (Laborwerte, Beatmungsprotokoll, Radiologiebefunde, Sonographiebefunde usw.). Ziel ist es, bei der Etablierung einer »papierlosen« Intensivstation alle Dokumente und relevanten Informationen in einem einzigen System zu dokumentieren und auch
abrufen zu können. Ebenso wie bei den Anästhesiesystemen ist es notwendig, Schnittstellenverbindungen zu dem Krankenhausinformationssystem, zu dem Laborsystem, Radiologiesystem und zu anderen Systemen herzustellen, um eine zeitnahe Erfassung der notwendigen Parameter zu ermöglichen. Neben der Erfassung der in 7 Abschnitt 66.1 genannten Daten ist es wichtig, etablierte Scoring-Systeme (TISS 28, SAPS II, APACHE 2 oder 3, LEP u. a.) zu dokumentieren. Auch sollte eine ausreichende Leistungserfassung und Erfassung der Diagnosen und Prozeduren möglich sein, um DRG-relevante Daten an das Klinikinformationssystem zur Abrechung weiterzugeben. Gleichzeitig müssen die Daten auch benutzt werden, um eine innerbetriebliche Leistungsberechnung zu ermöglichen. Werden auch die Echtzeitdaten (Monitordaten, Beatmungsparameter usw.) in einem solchen Intensivinformationssystem dokumentiert, so ist es notwendig, an jedem Bett einen Arbeitsplatz zur Verfügung zu stellen. Sinnvoll ist es sicherlich auch, einen zweiten Bildschirm zu implementieren, um parallel zu der Datenerfassung auch Radiologiebefunde usw. abrufen zu können. Der Implementierungsaufwand solcher Systeme ist nach wie vor sehr hoch, insbesondere die individuelle Konfiguration und die Einbindung in die heterogene Informationswelt einer Klinik erfordern hohe personelle und finanzielle Ressourcen (. Abb. 66.2).
. Abb. 66.2. Anästhesie- und Intensivmedizinische EDVSysteme als Teil eines gesamten klinischen Informationssystems (mod. nach Martin J et al. (2003) DRG konforme Dokumentation in der Intensivmedizin. Anästhesiologie und Intensivmedizin 44: 305–308)
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669 Literatur
Einige Autoren konnten aufzeigen, dass durch die Implementierung von intensivmedizinischen Informationssystemen die Validität der Datenerfassung verbessert und die Zeit der Datenerfassung verkürzt werden konnte. Ebenso wie bei dem anästhesiologischen Informationssystem ist es notwendig, entsprechende Standardabfragen zu implementieren, um auf die klinikinternen Fragen auf Basis der vorhandenen Datenbasis qualifizierte Antworten geben zu können. Auch sollte ein Datenexport möglich sein, um sich an externen qualitätssichernden Maßnahmen beteiligen zu können. Neben der reinen Datenerfassung und retrospektiven Auswertung bieten heutige moderne Informationssysteme durch graphische Aufbereitung der Daten und Mustererkennung mit Zeitreihenanalysen eine Hilfe für die klinischen Entscheidungen. Ob solche Expertensysteme einen signifikanten Nutzen für die klinische Routine und das Outcome der Patienten bieten, konnte bisher noch nicht nachgewiesen werden.
66.3
Zusammenfassung
Sowohl in der Anästhesie als auch in der Intensivmedizin werden sich in Zukunft automatische Protokollierungsund Informationssysteme aufgrund der hohen Daten- und Informationsdichte durchsetzen. Ziel bei der Implementierung solcher Systeme muss es immer sein, eine möglichst genaue und forensisch abgesicherte Dokumentation zu erreichen, Daten zum Controlling und zur Qualitätssicherung zu erhalten und evtl. in Zukunft durch entsprechende Aufarbeitung (Mustererkennungen usw.) einen Beitrag zur klinischen Entscheidungsfindung leisten zu können. Es ist notwendig, darauf zu achten, dass alle geforderten Datensätze zur Qualitätssicherung aber auch zur ökonomischen Kontrolle sowie die Standardscoring-Systeme in der Intensivmedizin implementiert sind. Ein weiterer Schwerpunkt bei der Einführung solcher Systeme ist, dass sie in die heterogene Klinik-EDV durch Schnittstellen eingebunden sind, um redundante Dokumentation zu vermeiden und einen Datenaustausch zu gewährleisten. Insbesondere unter den heutigen Abrechnungsbedingungen sind diese Voraussetzungen unabdingbar.
Literatur Benson M, Junger A, Fuchs C, Quinzio L, Sciuk G, Jost A, Röhrig R, Banzhaf A Hempelmann G (2003) Patienten-Daten-ManagmentSysteme in der Anästhesie und Intensivmedizin. Anästhesiologie und Intensivmedizin 44: 105–123 Eichhorn JH (1993) Anesthesia record keeping. Int J Clin Monit Comput 10:109–115
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671
Stichwortverzeichnis Symbole 1/3-Elektrolytlösungen 61, 181 2/3-Elektrolytlösungen 61, 181 2-Finger-Methode (Herzmassage bei Neugeborenen) 401 3-in-1-Katheter 217 3-in-1-Technik 165 4-2-1-Regel 443 5-HT3 –Antagonisten – PONV-Therapie 511 α-Amylase – Anstieg nach Gabe von Hydroxyethylstärke 63 α-Glukosidase-Inhibitoren 244 α-Methyl-Dopa 617 α-Rezeptorenblocker – Medikation am OP-Tag 117 α1-Antitrypsin 580 – Mangel 234 α1-Rezeptorenblocker 617 α2-Adrenozeptor-Agonisten 601, 606 α2-Agonisten – Medikation am OP-Tag 117 α2-Antiplasmin 580, 581 α2-Makroglobulin 580 β-Blocker 54, 55, 56, 71, 220, 223, 366, 460, 533 – Einsatz in der Anästhesie 54 – intrinsische Aktivität 54 – Medikation am OP-Tag 117 β-Rezeptoren – Erregbarkeit 461 – Erregbarkeit im Alter 458 β-Sympatholytika 54 μ-Rezeptoren 508 ω3-Fettsäuren 653
A AB0-Identitätstest 190, 191 AB0-Inkompatibilität 186, 192 ABC-Regel (Reanimation) 542 Abdominalchirurgie 319 – PONV-Inzidenz 510 Abnabeln 399 Abrasio 382 Absaugsystem 635 Abszess 422 – Inzision 382 ACE-Hemmer 52, 97, 220 – Indikationen 52 – Kontraindikationen 52 – Kontraindikation i. d. Schwangerschaft 617 – Medikation am OP-Tag 117 AChR-Antikörper 301 ACLS-Algorithmus (Reanimation) 546 ACTH-Test 268 Acute/adult respiratory distress syndrom 522 Addison-Krise 270, 596 Adenom 266 – somatotropes 273 Adenosin 55, 534 Adenotomie 427 Adipositas 307 – Anästhesieverfahren 311 – Begleiterkrankungen 309 – extreme, Grad III 309 – genetische Faktoren 309 – Grad I 309 – Grad II 309 – kardiale Erkrankungen 310 – per magna 308 – postoperative Betreuung 312 – Prämedikation 311 – präoperative Maßnahmen 310 – respiratorische Veränderungen 310 – Risiko für PONV 509 – WHO-Klassifikation 309
Adjuvanzien 45 Adrenalin 48, 49, 225, 227, 368, 397, 401, 402, 403 – als Notfallmedikament 49 – bei Sepsis 558 – Dosierung bei Kindern 445 – Einfluss auf kardiovaskuläre Funktion 68 – Schocktherapie 531 – Wirkung auf Organdurchblutung 49 – zur Reanimation 549 Advanced Cardiac Life Support 538, 545 Afterload 70 Aggressionsphase 647 Agitation – postoperativ 135 Agoga 244 Agonisten 2, 15 air-trapping 375 Ajmalin 56, 534 Akatinol 298 Akineton 298 Akrinor 127, 221, 225, 227 Akromegalie 273 Akrylknochenzement 332 – Kreislaufdepression 334 – Nebenwirkungen 333 Aktionsphasen des Herzens 69 Aktionspotenzial 30 akutes Abdomen 320, 321, 648 akute Pankreatitis 653 – enterale Ernährung 650 Alberti-Regime 246 Albumin 404 Alfentanil 17, 130 – Dosierung 126 – Dosierung bei Kindern 445 – pharmakokinetische Daten 18 – zur Analgosedierung 469 Alfentanyl 352 Alkalose 576 Alkoholabusus 90
A X
672
Stichwortverzeichnis
Allgemeinanästhesie 10, 447 – Beatmung 83 – Begriffsbestimmungen 122 – bei Adipositas 311 – Durchführung 121 – Einleitung 123 – i.v.-Einleitung 126 – in der Urologie 432 – Patientenlagerung 125 – respiratorische Komplikationen 84 – Vorbereitung 122 – zur Entbindung 619 Allgöwer-Schockindex 528 Alter (Komplikationsrisiko) 458 Alveolen 80 Alveolitiden 238 ambulante Anästhesie 313–316 ambulante Eingriffe 314 – Orthopädie 330 Aminoglykoside – Kontraindikation 393 Aminosäureabbau 89 Aminosäuren – zur parenteralen Ernährung 649 Aminosteroide 33 Amiodaron 56, 534 – zur Reanimation 549 Amnesie 592, 600 Amoxycillin – Endokarditisprophylaxe 226 Ampicillin 397 amputierte Hili 501 Amrinon 51 Analgesie 134, 608 – Monitoring 607 Analgetika 212, 601, 603 Analgosedierung 466, 472, 599 – Ablauf 610 – Applikationsweg 475 – Entzugssyndrome 610 – Medikamente 467, 601 – Medikamentenauswahl 475, 610 – Regime 600 – Zielsetzung 600 Anämie 258, 278 – akute 279 – chronische 279 – infektiös bedingte 281 – toxische 281
Anamnese 112 anaphylactoid syndrome of pregnancy 391 anaphylaktische Reaktion – bei Volumenersatztherapie 182 – Stadien und Therapie 531 Anaphylaxie 531 Anästhesie – intravenöse 10 – in der Herzchirurgie 356, 357, 359, 361 Anästhesie-Ambulanz 119 Anästhesie-InformationsmanagementSystem 667 Anästhesiearbeitsplatz – Checkliste 123 – nach EN 740 123 Anästhesiedokumentation 666 Anästhesiegase – automatische Identifikation 172 Anästhesieprotokoll 666, 667 Anästhesiesprechstunde 118 Anästhesietypen 122 Anästhesieverfahren – Patientenaufklärung 118 – rückenmarknahe 158 anästhesiologische Betreuung (erweitertes Stand-by) 466 Anästhetika 212 – Einfluss auf Gefäßwiderstand 72 – Enfluss auf kardiovaskuläre Funktion 68 – volatile 126, 172, 601, 606 Anästhetikaüberhang 521 Anerkenntnisverbot 658 Anesthesia outside the operating room 473 Aneurysmaclipping 412 Anexate 13 angeborene Herzfehler 362 Angina pectoris 357 Angiopathie 281 Angiotensin II 97 anisoylierter Plasminogen-StreptokinaseAktivatorkomplex 535 Anschlagzeit (Onset-time) 31 Ansprechbarkeit 543 Antagonisierung 134 Antagonisten 2, 15
Anti-Parkinson-Medikamente 298 – Medikation am OP-Tag 117 Anti-Trendelenburg-Lagerung 483 Antiarrhythmika 53, 54, 55 – als Notfallmedikamente 123 – Klassifikation nach dem Wirkungsort 56 – Medikation am OP-Tag 117 – Wirkprinzip 533 Anticholinergika 235, 298 – PONV-Therapie 511 Antidepressiva – Medikation am OP-Tag 117 Antidiabetika – orale 244 antiemetische Therapie 511 Antiepileptika – als Notfallmedikament 123 Antihistaminika – PONV-Therapie 511 antihypertensive Therapie 220 Antikoagulation 114 – bei Hämofiltration 568 Antikonvulsiva 299, 617 – Medikation am OP-Tag 117 Antikörper-Suchtest 190 Antioxidanzien 653 Antithrombin 560, 580, 583 – Mangel 285 Anxiolyse 600 Aortenisthmusstenose 362 Aortenklappeninsuffizienz (AI) 225, 360 Aortenklappenstenose (AS) 225, 359, 362 Aorto-cavales Kompressionssyndrom 384 Apallisches Syndrom 591 Apgar-Schema 398 Apnoe 171, 398, 404 – bei Kindern 441 Apoplexie 301, 310 apparative Diagnostik – bei Polytrauma 352 Appendektomie 323 Appendizitis 320 Approbation 657 Aprotinin 202, 342, 358, 368 APSAC 535 Äquilibrierungskonstante 7
673 Stichwortverzeichnis
Arbeitsmyokard 533 Arbeitsrecht 657 ARDS 238, 480, 522, 524 – Therapie 485 Area under the Curve (AUC) 5 Arginin 559, 653 Arnold-Chiari-Malformation 405 Artane 298 Arterenol 49 Arthritis 330 ASA-Klassifikation 112, 480, 458 ASB (Beatmung) 518 ASD II (Vorhofseptumdefekt) 362 Asphyxie 398, 401, 402, 406 Aspiration 79, 143, 378, 404, 405, 479 – Ätiologie 481 – Inzidenz 480 – Mortalität 480 – Pathophysiologie 480 – Risikofaktoren 481 – stumme 480 – Therapie 484 – Ursachen 480 Aspirationsgefahr 126, 258, 508 – ab der 12. SSW 384 – Narkoseeinleitung 136 Aspirationsprophylaxe – bei Intensivtherapie 483 Aspirationsrisiko 460 – erhöhtes 117 – Reduzierung 481 Aspirationssyndrom 481 Aspirin 114, 214 ASS 214 – Medikation am OP-Tag 117 Assisted spontaneous breathing 518 Asthma bronchiale 234–236 Asystolie 549 Aszites 90, 258, 327 AS (Aortenstenose) 362 AT1-Blocker 220 AT1-Rezeptor-Agonisten – Medikation am OP-Tag 117 Ataranalgesie 131 Atelektase 378, 522 Atemarbeit 80 Atemdepression 16 – des Neugeborenen 387 – unbemerkte 134
Atemfrequenz 518 Atemgrenzwert (MMV) 371 Atemhilfen 516 Ateminsuffizienz 398 – postoperative 522 Atemkalk 26, 103, 106–108 – Compound A 108 Atemminutenvolumen 383, 398, 518 – bei Lungenembolie 501 – von Kindern 440 Atemnotsyndrom 400, 627 Atemstillstand 540 – Ursachen 541 Atemwege 78, 79 – Erkrankungen 232, 633 Atemwegsdruck 518 Atemwegsmanagement 139 Atemwegssicherung 140, 482 – Auswahl des Verfahrens 142 – Basisalgorithmus 150 – Basismaßnahmen 141 – Maßnahmen 149 Atemzeitverhältnis 518 Atemzeitvolumen 82 Atemzugvolumen 79, 232, 518 Atmung – »äußere« und »innere« 78 – physiologische Aspekte 79 – Störungen 83 – und Narkose 77 – von Kindern 441 Atmungsstörungen – Kompensationsmechanismen 83 Atmungssystem 78 Atracurium 32, 328, 372, 461 – Dosierung bei Kindern 445 Atropin 125, 367 – Dosierung bei Kindern 445 – zur Reanimation 549 Atropinsulfat 55, 534 AUC 5 Aufklärung 112, 118 Aufklärungs- und Anamnesebogen 112 Aufklärungsfehler 656 Aufwachraum 227, 343 Aufwachtest 337 Aufzeichnungspflicht 666
Augenheilkunde 415 – Lokalanästhesie 417 Augenverletzungen – perforierende 419 Ausatemluft – Elimination 102 Ausatemventil 101, 103 Ausleitung 134 – bei Kindern 449 Ausscheidungsfunktion der Nieren außergerichtliche Einigung 658 Auswurf 232 Autoimmunhämolyse 279 Autoimmunopathie 396 autologe Blutverfahren 197 Autotransfusion 199 AV-Kanal-Defekte 364 Awareness 131 axilläre Plexusanästhesie 164 Ayresches T-Stück 101 Azetyl-CoA 646 Azetylcholin 30, 37 Azetylsalizylsäure 214 – Kontraindikation 451 – Stillpause 393 Azidose 489, 575, 576
B Babinski-Zeichen 590 Backleak (Nierenversagen) 565 Bain-System 101 Bainbridge-Reflex 71 Bakteriurie 639 – Therapie 641 balanced analgesia 451 balancierte Anästhesie 10, 122, 129 – Ausleitung 134 – Einzelschritte 124 Ballonatrioseptostomie 366 Barbexaclon 299 Barbiturate 10, 11, 349, 601, 610 – zur Analgosedierung 606 – zur Narkoseeinleitung 126 Barorezeptorreflex (Karotissinusreflex) 71 Base excess (BE)
A–B
94
674
Stichwortverzeichnis
Basic Life Support 538, 541 Basis-Bolus-Konzept 244 Bauchatmung 442 Bauchlagerung 341 Beatmung 396, 400, 516 – Assisted spontaneous breathing 518 – assistierte 83 – bei Analgosedierung 609 – bei Polytrauma 349 – Biphasic Positive Airway – druckkontrollierte 518 – Einfluss auf die Lunge 85 – Einfluss auf Gehirndurchblutung 85 – Einfluss auf Herz-Kreislauf– intermittierende 83 – kontrollierte 83 – künstliche 83 – maschinelle 516 – Minderung der Nierendurchblutung 85 – Monitoring 171, 519 – Mund-zu-Mund 543, 550 – Mund-zu-Nase 543 – Mund-zu-Tracheostoma 544 – Nebenwirkungen 520 – Neugeborene 406 – nicht-invasive 519 – postoperative 521 – Störungen 83 – volumenkontrollierte 518 Beatmungsbeutel 154 Beatmungsdruck 171 Beatmungsfilter 635 Beatmungsfluss 171 Beatmungsindikationen – auf der operativen Instensivstation 520 Beatmungsparameter 517 Beatmungsschläuche 635 – für Kinder 447 Beatmungstracheoskop 429 Beckenbodenplastik 382 Beckenfraktur 340 Bedside-Test 186, 190 Behandlungsfehler 656 Behandlungskurve – intensivmedizinische 666
Beinvenenthrombose 460 Belastungs-EKG 357 Belastungsreserve 458 – Aufrechterhaltung 461 Beleglesesystem 667 Benuron 215 Benzamide – PONV-Therapie 511 Benzodiazepine 13, 117, 259, 461, 601 – als Antikonvulsiva 299 – zur Analgosedierung 605 – zur Prämedikation 118 Benzodiazepinrezeptor 13 Benzylisochinoline 32 Bernard-Soulier-Syndrom 583 Berufsgericht 657 Berufsordnung 666 Betamethason 269 Beweislast 659 Beweismittel 663 Bewusstlosigkeit – Ursachen 591 Bewusstseinsstörungen 591 Biersche Blockade 166 Biguanide 244 – Medikation am OP-Tag 117 Bilirubin 90 Biotransformation 4 Biphasic Positive Airway Pressure (BiPAP) 518 Bispektral-Index (EEG/Narkosetiefe) 132, 177 Blasen-Resektomie 435 Blasendauerkatheter 639 Blitz-Intubation (Rapid sequence induction 136 Blockaden im Fußbereich 166 blood patch 160 Blot-Methode 638 BLS-Algorithmus (Reanimation) 541, 542 Blut-Gas-Verteilungskoeffizient 21, 22 Blutaufbereitung – postoperativ 200 Blutbild 278 Blutdruck 72, 73 – intraoperative Toleranzgrenzen 221
– mittlerer arterieller 398 – von Kindern 442 Blutdruckabfall – perioperativ 532 Blutdruckanstieg – postoperativ 533 Blutdruckmessung – automatische 170 – invasive arterielle 174 – nichtinvasive (NIBD) 170 Blutgasanalyse 233 Blutgerinnung 581, 582 – Störung durch kolloidale Infusionslösungen 182, 183 Blutkomponenten 60 Blutkonserven – bestrahlte 187 – Erwärmung 191 – Lagerung 191 Blutprodukte 185, 186 blutsparende Verfahren 341 Blutspenden – gerichtete 187 Blutsperre (Tourniquet) 340 Blutströmung 82 Bluttransfusion 90 – Aufklärungsgespräch 186 – autologe 193 Blutung während der Geburt 389 Blutungsanämie 279 Blutungszeit 582 Blutvolumen 71 – von Kindern 442 Blutzuckerbestimmung – präoperative 113 Blutzuckerentgleisungen – zerebrale Funktionsstörungen 595 Blutzuckerspiegel 243 Bodyplethysmographie 233 Body mass index – WHO-Klassifikation 309 Bohr-Effekt 82 bone injection gun 348 Bonfils-Endoskop 151 Bowditch-Effekt 70 Brady- und Tachyarrhythmien – fetale 396 braunes Fettgewebe 440 Brechreflex 509
B–D
675 Stichwortverzeichnis
Brechzentrum 508 Breitspektrum-Penizilline 643 Brennwert 646 Brevimytal 126 Bronchiallavage 404 Bronchitis 234 Bronchoskopie 233, 378 Bronchusblocker 374 Bronzediabetes 242 buffy coat 186 Bupivacain 44, 159, 164, 386 – pKa-Wert 40 – Plasmaeiweißbindung 40 Buprenorphin 214 Burn-out-Leber 90 Butyrophenone – PONV-Therapie 511 Bypassoperation 357
C »can’t ventilate« 140 »can´t ventilate – can´t intubate« 153 »can’t intubate« 140 »can’t intubate – can’t ventilate« 147 C-reaktives Protein 233 C1-Esterase-Inhibitor 580 Ca-Antagonisten 220 – Medikation am OP-Tag 117 Canadian Cardiovascular Society – Klassifikation der koronaren Herzkrankheit 357 Candidose 636 Carbamazepin 299 Carbapeneme 643 Cardiac index 69 CAVC (kompletter AV-Kanal) 362 Cefuroxim 368 Celebrex 215 Central Core Disease 304 Chemorezeptor-Triggerzone (CTZ) 508 Chinidin 56 Chinolone 643 Chloralhydrat – zur Analgosedierung 476
Chloramphenicol – Kontraindikation 393 Chlorpromazin – PONV-Therapie 511 Cholestase 90 Cholezystektomie – laparoskopische 323 Cholinesterasehemmer 37 Chorea Huntington 242 chronisch obstruktive Bronchitis 234 CI 69 Cimetidin 531 – Dosierung bei Kindern 445 Cis-Atracurium 32, 328, 461 – Dosierung bei Kindern 445 Clearance 95, 602 – totale 5 Clemastin – Dosierung bei Kindern 445 Clindamycin – Endokarditisprophylaxe 226 clinical duration 31 Clonazepam 299 Clonidin 46, 54, 135, 164, 601, 606, 610 Clopidogrel 114 – Medikation am OP-Tag 117 CMV 396 CO-Diffusionskapazität 233 CO2-Absorber 26 CO2-Laser 429 Coating 62, 63 CoA (Aortenisthmusstenose) 362 Codein – Dosierung bei Kindern 452 Combitube 143, 147 Compliance 233 – (Atmung) 80 Compound A 26, 98, 108 Computertomographie 591 Conn-Syndrom (Hyperaldosteronismus) 270 continuous positive airway pressure 376 COOK-Airway exchange catheter 151 COPD 234 – Schweregrade 235 Coriumwundgrund 622 Cor pulmonale 370
Coxibe 215 CPAP 400 CPPV (kontinuierliche Überdruckbeatmung) 83 Crasheinleitung 33 Creutzfeldt-Jakob-Erkrankung – Bluttransfusion 195 CRH-Stimmulationstest 268 Critical-Ill-Polyneuropathie (CIP) CTG-Kontrolle 617 Cushing-Reflex 408 Cyclodextrine 37
516
D D-Dimere 501 Dalton-Gesetz 21 Dampfdruck – spezifischer 21 Danaparoid 568 Dantrolen – als Notfallmedikament 123 Darmdekontamination 634 Darmperforation 320 Darmpflege 648 Datenmanagementsystem 665 Dauermedikation 116, 315 – Interaktion mit Anästhetika 116 – Mindestkarenzzeiten vor Anästhesie 116 Davis-Meyer-Insufflationsspatel 106 DBS 35, 173 DDC-Hemmer 298 DDD-Schrittmacher 229 deefferenzierter Zustand 592 Deeskalationstherapie 637 Defektkoagulopathie 283, 284 Defibrillation – Energiemengen 548 Dehydratation 180, 181, 443, 572, 573 Delir 596 Denervierungssyndrom 300 Denitrogenisierung 124, 125 Depolarisationsblock 30 Desfluran 27, 92, 126 – Differenzialindikation 129
676
Stichwortverzeichnis
– physikalisch-chemische Eigenschaften 20 – Sympathikusaktivierung 461 Desmopressin 202 Dexamethason 269 – Dosierung bei Kindern 445 – Hemmtest 268 – PONV-Therapie 511 Dextrane 61, 62, 182, 350 – Nebenwirkungen 62 Dextranhaptengabe 62 Diabetes insipidus 273 Diabetes mellitus 242, 245, 396, 460 – Typ 1 242 – Typ 2 242, 309 diabetische Nephropathie 250 diagnostische Maßnahmen 472 – Patientenvorbereitung 474 Dialyse – präoperativ 252 Diazepam 299, 349, 397, 601, 605 – Dosierung bei Polytrauma 349 – Stillpause 393 – zur Prämedikation 118 Diazoxid 53 DIC 585 Dickdarmerkrankungen – entzündliche 324 Diclofenac 215 – Dosierung bei Kindern 451 Dienstanweisung 186, 189 Differenzialblockade 41 Differenzialblutbild 233, 278 Diffusionskapazität für Kohlenmonoxid (DLCO) 371 Diffusionsparameter (Narkosegase) 22 Digitalis – Medikation am OP-Tag 117 Digitalisierung 534 Digitoxin 55 Digoxin 55, 534 Dihydralazin 53, 617 Dikaliumclorazepat 358 – Stillpause 393 – zur Prämedikation 118 Diltiazem 53, 56 Dimenhydrat – PONV-Therapie 511
Dimetinden 531 Diphenylhydantoin 56 Dipidolor 213 Diskonnektionsalarm 171 Disoprivan 126, 349, 352 Disopyramid 56 disseminierte intravasale Koagulopathie (DIC) 389, 585 Distickstoffoxid 27 Diuretika 220 – Medikation am OP-Tag 117 DLCO (Diffusionskapazität für Kohlenmonoxid 371 Dobutamin 48, 227, 368 – bei Sepsis 557 – Wirkung auf Organdurchblutung 49 Dokumentation 403 – des Narkoseverlaufs 135 – papierlose 668 Dokumentationsmängel 656 Dokumentationspflicht – Transfusionsmedizin 196 Dolantin 213 Dolasetron – PONV-Therapie 511 Domperidon – PONV-Therapie 511 Dopamin 48, 50, 227 – bei Sepsis 558 – Nebenwirkungen 50 – Wirkung auf Organdurchblutung 49 Dopamin-Agonisten 298 Dopergin 298 Dopexamin 50 Doppelabsorber 107 Doppellumentubus (DLT) 374 Dopplersonographie – transkranielle 591 Dormicum 13, 299, 315 Dosis-Wirkungs-Beziehung 2 Double-Burst-Stimulation (DBS) 35, 173 Down-Syndrom 242 Dreigefäßerkrankung 357 Drogenabhängigkeit 396, 402 Droperidol – PONV-Therapie 511
Drotecogin-α 561 druckkontrollierte Beatmung 517, 518 Dualblock (Phase-II-Block) 30 Dünndarmchirurgie 324 Dünndarmmotilität 651 Duplexsonographie 220 Duraperforation 160, 161 Duration 25 % 31 Durchblutungsstörung 83 Durogesic 212 – Äquipotenz zu Morphin 213 duty-cycle 540 Dynastat 215 Dysfibrinogenämien 285 Dyspnoe 232, 501 – bei Herzinsuffizienz 226
E Easytube 143, 147 Ebb-Phase 647 Ebsteinsche Anomalie (EA) 365 Echokardiographie 220, 357 – Diagnostik der Lungenembolie 502 EC 50 3 ED 95 31 Effektivität (eines Pharmakons) 3 Effektkompartiment 7 Eigenblutspende 198, 341 Ein-Lungen-Ventilation 374 einfache lebensrettende Sofortmaßnahmen 541 Einleitungshypnotika – Dosierung bei Kindern 445 Einthoven-Ableitung (EKG) 123, 170 Einzelreiz 35 Eisenmangel-Anämie 279 EKG 170, 233, 357 – intrakardiale Ableitungen 170 – präoperatives 114 – ST-Strecken-Analyse 223 Eklampsie 384, 614, 618 Elektroenzephalogramm (EEG) 177, 591 Elektrokauter – Entflammung von Sauerstoff 470
677 Stichwortverzeichnis
Elektrolytentgleisungen – zerebrale Funktionsstörungen 595 Elektrolythaushalt – Entgleisung 573 – von Kindern 443 – Verschiebungen 321 Elektrotrauma 623 Elimination 4 Eliminationskonstante 5 Embolektomie 504 EMLA (eutectic mixture of local anaesthetics) 44, 117, 447 Endokarditisprophylaxe 225, 226 endokrine Erkrankungen 263, 274 Endotrachealtubus – Fixierung 426 Energiebedarf – Berücksichtigung von Aminosäuren 649 Energiedichte 646 Enfluran 27, 92, 97 – Einfluss auf kardiovaskuläre Funktion 68 – physikalisch-chemische Eigenschaften 20 enorale Eingriffe 426 Enoximon 51, 368 Entbindung – Zeitpunkt 618 enterale Ernährung 460, 628, 645, 650 Enzephalitis 595 Enzephalopathie 90 – als Schocksymptom 530 EN 740 (Anästhesiearbeitsplatz) 123 EPH-Gestose 615 Epiduralanästhesie – Thoraxchirurgie 372 Epilepsie 299, 594 – Anfallsformen 594 – Inzidenz 594 – Therapie 594 Epoprostenol 568 Erbrechen 508 – postoperativ 507 Ergenyl 299 Ergometrie 220 Erhaltungsdosis 34 Erhaltungsdosis (ED) 95 % 31 Erholungszeit (recovery time) 31
Erkrankungen – der Muskulatur 302 – des zentralen Nervensystems 298 – neurogene 302 – neuromuskuläre 298, 301 Ermittlungsverfahren – strafrechtliches 659 Ernährungssonde 650 Ernährungstherapie 646 Eröffnung des Auges 416 Ersthelfer 542, 550 Erwachen – verzögertes 135 erweiterte lebensrettende Sofortmaßnahmen 545 Erythropoetin 201, 342 Erythrozytenkonzentrate 404 – Präparate 186 Esketamin – zur Analgosedierung 468 Esmarch-Handgriff 128, 146 Esmolol 54, 359 ESWL (extrakorporale StoßwellenLithotripsie) 436 Etomidate 11, 126, 328, 358, 359, 461 – Dosierung 126 eutetic mixture of local anaesthetics 447 euthyreote Struma 264 Evipan 10 evozierte Potenziale 177 Exophtalmus 265 Exspiration 79 – bei künstlicher Beatmung 83 Exspiratorischer Spitzenfluss (PEF) 371 exspiratorisches Reservevolumen – im Alter 459 exspiratorisches Volumen – forciertes (FEV) 371 Exsudation 623 extrakorporale Stoßwellen-Lithotripsie (ESWL) 436 extrakorporale Zirkulation (EKZ) 358 extrakranielle Eingriffe 413 extraokulare Eingriffe 418 extratracheale Hilfsmittel 146 Extrazellulärflüssigkeit – im Alter 458
Extubation 154 Exzitationsstadium
449
F Faktor-II-Leiden 286 Faktor-IX-Mangel 284 Faktor-V-Leiden 285 Faktor-VIII-Mangel 283 Fallotsche Tetralogie (TOF) 362 Familienanamnese 446 Fanconi-Anämie 280 fastin, fastout 43 fastin, slowout 44 Fastrach-Larynxmaske 146 Favismus 280 Fazialisblockade 418 Fehlintubation 84, 321, 483 – Ausschluss 144 Fehlkonnektion 362 Feinnadelkatheterjejunostomie 650 Femoralisblockade 450 Fentanyl 17, 130, 328, 349, 352, 367, 601 – Dosierung 126 – Dosierung bei Kindern 445 – Dosierung bei pädiatrischen Herzoperationen 368 – Pflaster 212 – pharmakokinetische Daten 18 – zur Analgosedierung 469, 603 Ferguson-Regel 21 fetaler Kreislauf – persistierender 442 Fette – zur parenteralen Ernährung 649 Fettleber 90 Fettsäureoxidation 89 Fettschicht – subkutane 440 fiberoptische Intubation 426 Fibrinogen 580 Fibrinolyse 581 – Aktivatoren 435 Fibrinspaltprodukte 581 Fibroplasie – retrolentale 442
D–F
678
Stichwortverzeichnis
Fibrosen 238 Fieber 489 Fixieren des Kopfs 411 Flecainid 56 Flimmerskotome 616 Flow-Phase 647 Flow-Steuerung (maschinelle Beatmung) 517 Flumazenil 13 Flunitrazepam – zur Prämedikation 118 Fluorid – als Metabolit von Anästhesiegasen 97 Fluphenazin – PONV-Therapie 511 Flüssigkeit – zur Reanimation 549 Flüssigkeitsbedarf – intraoperativer 180, 181 – physiologischer 180 Flüssigkeitsbilanzierung 321 Flüssigkeitsersatz 180, 181 Flüssigkeitskompartimente 180 Flüssigkeitstherapie 60 Flüssigkeitsverlust – intraoperative (Anzeichen) 180 Follikelpunktion 382 Foramen ovale 397 Fortral 214 Frank-Starling-Mechanismus 69, 70 freies Intervall (klinischer Tod) 538 Freiheitsgrade (maschinelle Beatmung) 517 fremdblutsparende Verfahren 197 Friedreich Ataxie 242 Frischgasstrom 101, 103 Frischplasma 186 – gefrorenes 188 Fruchtwasser – Embolie 390, 391 – mekoniumhaltiges 396 Frühgeborene 400 Frühgeburt 396 Fruktose 649 Fruktoseintoleranz 649 funktionelle Reserve 458
funktionelle Residualkapazität (FRC) 383, 397, 516 – im Alter 459 Furosemid 368 Fußblock 166
G GABA-Rezeptor 10, 13 Galaktose-Eliminations-Kapazität 91 Gamma-Aminobuttersäure 605 Gamma-Hydroxybuttersäure 601, 610 – zur Analgosedierung 606 Gasaustausch 83, 516 Gastric banding 308, 324 Gastroschisis 405 Gastrostomie 651 Gauer-Henry-Reflex 71 Gebärmuttereingriffe – ausreichende Narkosetiefe 382 Geburtshilfe 381 Gefäßkatheter 637 Gefäßsystem – Aufbau 71 Gefäßwiderstand – Einfluss auf Blutdruck 72 Gelatine 63 Gelatinelösungen 182 – anaphylaktische Reaktionen 182 – Nebenwirkungen 64 Gentamycin – Endokarditisprophylaxe 226 Gerinnungsanalyse – präoperative 114 Gerinnungsfaktoren 258 – als Therapeutika 204 – Halbwertszeit 205 – inhibitorische 580 – plasmatische 580 – prokoagulatorische 580 Gerinnungsförderung 580 Gerinnungshemmung 580 Gerinnungsstörungen 579 – bei SIH 618 – Laborwerte 584 – plasmatische 584 Gesamtgasuptake 104
Gesamtkörperwasser 180 Gesichtsmaske 141 Gesichtsschädeltrauma 423 Gestationsdiabetes 243, 396 Gestose 613 Gewebe-Blut-Verteilungskoeffizient 23 Gewebeplasminogenaktivator 535, 580, 581 Gewichtstabelle 440 GFR (glomeruläre Filtrationsrate) 94, 251 Glasgow coma scale 590 Gleichgewichtsorgan 508 Glinide 244 glomeruläre Filtrationsrate (GFR) 94, 251, 566 – Einflussfaktoren 95 – im Alter 459 Glottisödem 266 Glucose-6-Phosphat-DehydrogenaseMangel 280 Glukokortikoide – Synthese und Wirkung 268 Glukoneogenese 89, 646 Glukose – zur Reanimation 549 Glukosehomöostase 113 Glukoseintoleranz 242 Glukosetoleranztest 259 Glutamin 653 Glykogenabbau 89 Glykogensynthese 89 Glykolyse 89 Glykopyrrolat 125, 127 Grad-I-Block 228 Grad-II-Block 228 Grad-III-Block 228 Graft-versus-Host-Reaktion 187, 193 Grahamsches Gesetz 22 Grand mal 594 Granisetron – PONV-Therapie 511 grey-baby-syndrome 393 Größentabelle 440 Grundumsatz 646 Guargummi 244 Guedel-Tubus 127, 142, 447 – modifizierter 426
679 Stichwortverzeichnis
Guillian-Barré-Syndrom 516 Gutachterkommissionen 658 gynäkologische Untersuchungen – unter Narkose 382 Gynäkomastie 90
H HAES 62, 182, 350 Haftpflicht 658 – Prozess 659 – Versicherung 657 Haftung 656 – Voraussetzungen 656 – zivilrechtlich 656 Halbelektrolytlösungen 61, 181 Halbwertszeit 5 – kontextsensitive 5, 601 – terminale 5 halluzinogene Wirkung 14 Haloperidol 601, 610 – PONV-Therapie 511 – Stillpause 393 Halothan 26 – Leberschädigung 91 – physikalisch-chemische Eigenschaften 20 Halothanhepatitis 91 Hals-Nasen-Ohren-Heilkunde 426 Halswirbelsäule – Unfallchirurgie 339 Hämapherese 187 hämato-onkologische Erkrankungen 278, 286 hämato-onkologische Notfälle 278 Hämatologie 277 Hämatom – hepatisches 616 Hämochromatose 242 Hämodiafiltration – kontinuierliche venovenöse 569 Hämodialyse 569 Hämodilution 198, 342, 384 – normovolämische 199 Hämodynamik – unter Reanimation 539
Hämofiltration 568, 569 – Antikoagulation 568 – bei Sepsis 560 – Filtereigenschaften 569 – Substitutionslösung 568 Hämoglobin-Werte – von Kindern 442 – kritische 188 Hämoglobinbestimmung – präoperative 113 Hämoglobinlösungen 204 Hämolyse 194 – physikalische 279 hämolytische Krise 279 hämolytische Sofortreaktion 192 Hämophilie 206, 584 – Formen 283 Hämoptyse 501 Hämorrhagie 180 hämorrhagischer Schock 352, 529 – Schweregrade 528 hämorrhagische Diathese 278 Hämosiderose 194 Hämostase-Defizit – bei SIH 618 Hämotherapie 186 Händedesinfektion 635 Harnblasenverweilkatheter – Indikationen 640 Harnröhrenschlitzungen 436 Harnweginfektion 633, 639 Hauptstammstenose 357 HELLP-Syndrom 281, 384, 396, 614, 616, 618 – Inzidenz 614 Heparin 358, 361, 568 – Nebenwirkungen 587 – Thromboseprophylaxe 343 – Wirkmechanismus 587 Heparintherapie 535, 587 hepatic arterial buffer response 89 hepatischer Blutfluss 602 hepatische Enzephalopathie 259 hepatische Extraktion 602 Hepatitis 90, 260, 261, 404 Hepatitisübertragungen – transfusionsbedingte 341 Hepatitisviren 194 hepatopulmonales Syndrom 259
F–H
hepatorenales Syndrom 259 Herpes-Viren 195 Herz – Aktionsphasen 69 Herz-Kreislauf-Erkrankungen 219, 356 Herz-Kreislauf-Funktionsstörungen 527 – perioperative 532 Herz-Kreislauf-Stillstand 528, 538 Herz-Kreislauf-System – im Alter 458 Herz-Lungen-Maschine 377 Herzdynamik 68 Herzfehler 362 Herzfrequenz – von Kindern 442 Herzfunktion – Steuerung 70 Herzglykoside 55 Herzindex (CI) 69 Herzinfarkt 356 Herzinsuffizienz 226 – postoperativ 533 Herzklappenerkrankungen 358, 359 Herzklappenersatz 359 Herzklappenfehler 224 Herzkompressionstheorie 538 Herzkranzgefäße 540 Herzmassage 401 – offene 540 Herzmechanik 68 Herzminutenvolumen (HMV) 383, 398 Herzpumpmechanismus 538 Herzrhythmusstörungen 51, 228, 533, 534 Herzschrittmacher 229 – Buchstabenkode 229 Herzzeitvolumen (HZV) 68, 82, 94 – im Alter 461 Einfluss auf Inhalationsanästhetika 22 Hexobarbital 10 Hirndruck 593 – Überwachung 593 Hirngefäßmissbildungen 411 Hirnödem 352, 593 Hirnschädigung 401 Hirntod 592 – Feststellung 592
680
Stichwortverzeichnis
Hirntrauma 423 Hirntumor 410, 595 Hirudin – rekombinantes 568 Histaminfreisetzung 445 HIV 195, 396, 404 HNO – PONV-Inzidenz 510 Hochdrucksystem 71 Hodentorsion 437 Hormonstörungen – zerebrale Funktionsstörungen 596 Horowitz-Quotient 522 HSV 396 Hüftgelenk-Endoprothese 332 Humanalbumin 197 Humaninsulin 243 Husten 232 Hydrokortison 269 – bei Sepsis 560 – Dosierung nach Adrenalektomie 269 – Substitutionsschema 269 Hydroxyethylstärke (HAES) 62, 63, 182 – Nebenwirkungen 63 Hydrozephalus 405 Hygienekonzept 634 Hypalbuminämie 258 Hyperaldosteronismus (Conn-Syndrom) 270 hyperalgetische Wirkung 606 Hyperalimentation 646 Hyperämie 622 Hyperfibrinolyse 285 Hyperglykämie 649 Hyperhaes 64 Hyperhydratation 572, 573 Hyperkaliämie 194, 574 Hyperkalzämie 266, 575 Hyperkapnie 489 – permissive 375 Hyperkoagulabilität 278, 285 Hyperkortisolismus 268 Hyperleukozytose 286 Hypernatriämie 574 Hyperparathyreoidismus 266 Hyperreflexie 615 Hypersalivation 127
hypertensive Krise 534 Hyperthermie 406 – Spätsymptom der malignen Hyperthermie 491 – maligne 31 Hyperthermiesyndrom 488 Hyperthyreose 264, 265, 396 – zerebrale Funktionsstörungen 596 hyperton-hyperonkotische Lösungen 64, 350 Hypertonie 614 – arterielle 220, 250, 309 – Einstellung vor OP 220 – intraoperatives Management 221 – medikamentöse Therapie 220 – Therapie i. d. Schwangerschaft 617 hypertonieassoziierte Erkrankungen 220 Hyperurikämie 310 Hyperventilation 409 – chronische 383 – Senkung ds intraokularen Drucks 417 Hypervolämie – transfusionsbedingte 194 Hypnomidate 126, 349, 367 Hypnose 600 Hypnotika 10 Hypoaldosteronismus 271 Hypoglykämie – bei Lebererkrankungen 259 – Wahrnehmung 245 Hypokaliämie 574 Hypokalzämie 267, 575 Hyponatriämie 573 Hypoparathyreoidismus 267 Hypophyse – Erkrankungen 272 Hypoproteinämie 258 Hypotension – kontrollierte 203, 342 Hypothermie 342, 406, 441, 461, 521 Hypothyreose 264, 396 – zerebrale Funktionsstörungen 596 Hypoventilation – bei Adipositas 309 – bei Säuglingen 441 Hypovolämie 180, 402, 404 – Empfindlichkeit im Alter 458
Hypoxämie bei Kindern 441, 452 Hysterektomie 382, 389 Hysterese 7 Hysteroskopie 382 HZV 68
I Ibuprofen 214 – Dosierung bei Kindern 451 ICD-Schrittmacher 230 ICG-Test 91 Identitätskontrolle 186 idiopathische thrombozytopenische Purpura 282 Ikterus 90 Ileus 320, 325, 482, 628 Ileuseinleitung (Rapid sequence induction) 320, 482 Ilioinguinalis-IliohypogastricusBlockade 450 Immunonutrition 559, 653 Impfkomplikationen 446 In-vitro- Kontrakturtest (IVKT) 495 Indozyaningrün-Clearance 91 Infektion – intrauterine 396 – nosokomiale 631 – postoperative 641 Infektionsmarker – Test von Blutspendern 195 Infektionsprophylaxe – bei Verbrennungen 627 Infektionsschutzgesetz 632 Informationssysteme – intensivmedizinische 668 Infusionshygiene 637 Infusionslösungen 60, 181 – 1/3-Elektrolytlösungen 181 – 2/3-Elektrolytlösungen 181 – Blutkomponenten 60 – Halbelektrolytlösungen 181 – kolloidale 60, 61, 181 – kristalloide 60, 181 – Plasmaderivate 60 – Vollelektrolytlösungen 181
681 Stichwortverzeichnis
Infusionsregime – für Glukose und Insulin 247 Infusionstherapie 59 – Gefahren 183 – intraoperativ 132 – intraoperative 179 – intravenöse 60 inguinale Nervus-femoralisBlockade 165 Inhalationsanästhesie 10 – Ausleitung 134 – Einzelschritte 124 Inhalationsanästhetika 19, 70 – alveoläre Konzentration 21 – Blut-Gas-Verteilungskoeffizienten 21 – Einflussfaktoren auf Aufnahme 21 – Elimination 23 – ideale 28 – in der Thoraxchirurgie 372 – kardioprotektiver Effekt 461 – Leberschädigung 91 – MAC-Werte 24 – physikalisch-chemische Eigenschaften 20 – pulmonale Ausscheidung 4 – Stoffwechsel 24 – unspezifische Wirkungen 2 – Verteilung in Körperkompartimenten 23 – Wirkmechanismus 20 Inhalationsnarkose 122 – Einfluss auf intrakraniellen Druck 409 Inhalationstrauma 429, 623 – thermisch-toxisches 627 injizierbare Anästhetika – Differenzialindikation 130 Inkontinenzoperation 382 Inodilatoren 51 Inotropika – bei Herzinsuffizienz 227 Inspiration 79 – bei künstlicher Beatmung 83 inspiratorisches Reservevolumen – im Alter 459 Insufflationssysteme 100 Insulin 243 – Analoga 244 – Bedarf 243
– Defizit 647 – Präparationen 243 – Sekretionsförderer 244 – therapie – Schemata 244 Intensivtransporthubschrauber 351 Interkostalblockade 604 Interruptio 382 interscalenäre Plexusanästhesie 165 interventionelle Neuroradiologie 414 intrakranieller Druck (ICP) 408 intrakranielle Druck-Volumen-Kurve 408 intraokularer Druck (IOD) 416 – Einfluss der Anästhesie 416 intrapulmonale Shunts 501 intravasaler Raum 180, 182 intravenöse Anästhesie 9, 10 – totale (TIVA) 10 intrinsischen Aktivität 15 Intubation 30 – bei Allgemeinanästhesie 128 – einseitige 144 – endobronchiale 144 – endotracheale 142, 143, 632 – endotracheale bei Kindern 145 – fiberoptische 148 – nasotracheale 400 – Probleme 112 – Risiken 144 – schwierige 140 – tracheale 172 Intubationsprobleme 460 – am Unfallort 349 – HNO-Eingriffe 426 – Kiefer- und Mundchirurgie 422 – Rapid sequence induction 483 – Schwangerschaft 383 Intubationsvorgang 635 Intubationszeichen – Übersicht 145 IPPV (intermittierende Überdruckbeatmung) 83 Ipratropiumbromid 55 Ischämie 591 – stumme 357 – zerebrale 595 Isofluran 26, 92, 129, 328, 358, 367, 601 – Differenzialindikation 129
H–K
– Einfluss auf kardiovaskuläre Funktion 68 – physikalisch-chemische Eigenschaften 20 Isoproterenol 51 isotone Kochsalzlösung 60 IVKT (Test auf Maligne Hyperthermie) 495
J Jackson-Position 125, 128 – verbesserte (Beatmung) 142 Jackson-Rees-System 101 jaw of steel 493 Jet-Lavage 335 Jet-Ventilation 429 Jodmangelstruma 264 Jumbo-Absorber 107
K Kaiserschnitt 386 Kalzium – zur Reanimation 549 Kalzium-Antagonisten 53, 56 Kalziumglukonat 403, 618 Kalziumhydroxidkalk 107 Kammerflimmern 548 Kammertachykardie 548 Kapnographie/-metrie 123, 171, 350, 501 – Beeinträchtigtigung 132 kardialen Risiken – perioperativ 222 kardiale Dekompensation 222 Kardioanästhesie 355 – Patientenalter 356 kardiogener Schock 529 kardiopulmonale Reaktion 333 kardiovaskuläres System 68 Kardioverter-DefibrillatorenSchrittmacher 230 Karotissinusreflex 71 Karzinoidsyndrom 274
682
Stichwortverzeichnis
Kataraktbildung 245 Kataraktoperation 418 Katecholamine 70, 71 – als Notfallmedikamente 123 – bei Phäochromozytom 271 – Synthese und Wirkung 268 – synthetische 50 Katecholamintherapie – Durchführung 51 – in der Sepsis 50 Katheterinfektion 637 – Hygienemaßnahmen 637 Katheterverfahren – zur postoperativen Schmerztherapie 216 Kaudalanästhesie 433, 450 Keimzahltrennwert 635 Keratoplastik 418 Kernspintomographie – Bauartzulassung von Geräten 474 – Besonderheiten den Anästhesie 413 Ketamin 14, 131, 367, 610 – bei Schädel-Hirn-Trauma 349 – Dosierung bei Kindern 445 – Einfluss auf intrakraniellen Druck 409 – Einfluss auf kardiovaskuläre Funktion 68 – Enantiomere 604 – S(+)-Isomer 349 – zur Analgosedierung 476, 604 Ketamin S – Dosierung bei Polytrauma 349 Ketanest 14, 367 KHK 356 Kieferchirugrie 421 Kinder 439 – anatomische Besonderheiten 440 – Atmung 441 – physiologische Besonderheiten 440 Kinetik 0./1. Ordnung 4 Kinetose 509 Kininogen 580 KISS-System 634 klaustrophobischer Patient 472 Kleinfingerregel 449 Klinefelter-Syndrom 242
klinischer Tod 538 klinische Wirkdauer 31 Knie-Ellenbogen-Lagerung 341 Knie-Endoprothesen 333 Knochenpunktion – Volumenersatz bei Polytrauma 348 Knochenzement – Eigenschaften 334 Ko-Analgetika 212, 216 Koagulopathien 283 Koffeinzitrat 397 Kohlendioxidabsorber 100, 102, 106 Kohlenhydrate – zur parenteralen Ernährung 648 Kohlenhydratspeicher 646 Kohlenmonoxidbildung 26 Kohlenmonoxidvergiftung 626 Kolloide 182 kolloidosmotischer Druck 94 Koma 591 Kombinationsinsulin 244 Kompartimentmodell 6 kompetitiver Block 30 kompletter AV-Kanal (CAVC) 362, 364 Konakion 397 Konduktion 396 Koniotomie 154 Konisation 382 Konservenbegleitschein 186 kontinuierliche Technik nach Rosenblatt 165 Kontraktilität (Inotropie) 70 Konvektion 396 Konzentrationseffekt (Narkosegase) 22 Kooperation des Patienten 158 Kopfring 441 Kopfschmerz 616 Koronarangiographie 220 Koronararteriographie 357 koronare Angioplastie – kardiale Komplikationen 114 koronare Herzkrankheit (KHK) 221 – Epidemiologie 356 – Prämedikation 223 – Risikofaktoren 356 – Schweregrade 357 Koronarperfusion 500 – Druckabhängigkeit 356
Koronarreserve 356 Koronarsklerose 356 Körperfettanteil – im Alter 458 körperliche Untersuchung – bei Polytrauma 347 Körperoberfläche 440 Körpertemperatur – Anstieg 491 Körperverletzung 657 Kortikoide – Medikation am OP-Tag 117 Kortikosteroide – PONV-Therapie 511 – Sepsis 560 Kortisol 269 Kortison 269, 368 Kortisonpräparate – Äquivalenztabelle 269 Kortisontherapie – hoch dosierte 339 Krankenakte 657, 666, 668 Kreatinin 113 Kreatinin-Clearance 96, 565 Kreatinphosphokinase – Maligne Hyperthermie 491 Kreislauf – Instabilität 521 – Stillstand 540 – System 67 Kreislaufumstellung – nach der Geburt 442 Kreissysteme 103 Kreuzprobe 190 Krikoid-Druck 441, 483 Kryochirurgie 328 Kuhn-System 101 künstliche Beatmung – Einfluss auf Nierendurchblutung künstliche Ernährung 646 Kurznarkosen 131
L L-Dopa 298 Lachgas 27, 126, 225, 227, 328, 367 – Auslösung von PONV 510
98
683 Stichwortverzeichnis
– Einfluss auf intrakraniellen Druck 409 – Kontraindikation 361 – unerwünschte Effekte 129 Lack-System 101 Laerdal-Masken 447 Lagerung – bei orthopädischen und chirurgischen Eingriffen 341 – bei Polytrauma 347 – Thoraxchirurgie 373 Lagerungshilfen – bei Adipositas 311 Laparoskopie 322, 382 – PONV-Inzidenz 510 Laryngoskopie 141, 396 – Spateltypen 144, 151 Laryngospasmus 452 Larynxeingriffe 428 Larynxmaske (LMA) 127, 142, 146, 382, 447 – Fastrach- 146 – flexible 146 – Größen 146 – Pro-Seal- 146 Larynxtubus 143 Laserchirurgie 328 – in der HNO 429 Laserung 382 Latexallergie 437, 446, 454 Lävokardiogramm 357 Lawinentechnik – bei VIB 165 LCT-Emulsionen 649 Leber 25 – Antomie 88 – Autoregulation der arteriellen Durchblutung 88 – Bedeutung im Stoffwechsel 89 – Blutfluss (Richtung) 88 – Blutversorgung 88 – chirurgische Unterteilung 88 – Einfluss der Narkose 89 – Histologie 88 – Physiologie 88 – verringerte Sauerstoffversorgung 88 Leberchirurgie 327 Leberenzyme 91
Lebererkrankungen 257 – Narkose 260 – pathophysiologische Veränderungen 258 – Prämediaktion 260 Leberfunktion – Beeinflussung durch Narkosemedikamente 91 – Tests 90 Leberfunktionsstörung 258 – Einfluss auf Hämostase 586 Leberinsuffizienz 652 – zerebrale Funktionsstörungen 596 Lebermetastasen 90 Leberperfusion – Steuerung 89 Leberresektion 262 Leberruptur 352 Leberschaden – toxischer 422 Leberzirrhose 90, 261 leichte Sedierung 472 – apparative Voraussetzungen 473 Leistungserfassung 667 Lepirudin 568 Levobupivacain 44 Lidocain 43, 56, 534 – pKa-Wert 40 – Plasmaeiweißbindung 40 – zur Reanimation 549 Liegestuhl-(Lawn-Chair-)Lagerung 333 Ligand 2 lineare Kinetik 4 Links-Rechts-Shunt 364 Linksschenkelblock (Gefahr des totalen Herzblocks) 229 linksventrikuläres enddiastolisches Volumen 69 Linksverschiebung 187 Liponeogenese 89 Lippen-Gaumen-Spalte 422 Lipuro 11 Liquordiagnostik 595 Liquor – Drainage 410 – Gesamtmenge 593 – Verlustsyndrom 160 – Zunahme 593 Liskantin 299
K–L
Lithium – Medikation am OP-Tag 117 Locked-in-Syndrom 592 Lokalanästhetika 39 – Alkalisierung 45 – allergische Reaktionen 45 – Dosierung bei alten Patienten 461 – hepatische Elimination 41 – hyperbare 159 – in der Geburtshilfe 40 – kardiale Komplikationen 45 – Lipophilie 41 – Maximaldosierung bei Kindern 450 – Pharmakodynamik/-kinetik 41 – Pharmakologie 40 – pKa-Werte 40 – Plasmaeiweißbindung 40 – systemisch-toxische Wirkungen 44 – Wirkungsminderung in entzündetem Gewebe 40 – zentralnervöse Komplikationen 44 Looping (Reanimation) 548, 550 Lorazepam 601, 610 – zur Prämedikation 118 Löslichkeitskoeffizienten – der Atemgase 81 Low-Flow-Anästhesie 132 Low cardiac output 358 Luftembolie 194, 412 Luftrettung 351 Lufttransport – Kriterien 351 Luminal 299 Lungenatmung 78 Lungenembolie 460, 499 – Basisdiagnostik 501 – Diagnose-Algorithmus 502 – Einteilung 500 – massive 504 – submassive 503 – Therapie 503 Lungenemphysem 234 Lungenentzündung – bakterielle 480 Lungenerkrankungen 232 – chronisch obstruktive 422 – obstruktive 234 – präoperativer Marker 233 – restriktive 237
684
Stichwortverzeichnis
Lungenfunktionsdiagnostik 232, 370 – präoperative 115 Lungenfunktionsparameter – prohibitive 370 Lungenkapazität – totale 233 Lungenödem – postoperatives 378 Lungenperfusions-Szintigraphie 371 Lungenresektion 371 Lungenstrombahn – Verlegung 500 Lungentransplantation 370 Lungenversagen 652 Lungenvolumen-Reduktions-Chirurgie (LVRS) 370 Lung injury score (LIS) 523
M MAC-Wert 24 MAC50-Werte – bei Kindern 449 Macintosh-Spatel 128, 144 Madopar 298 Magenatonie 628, 651 Magenchirurgie 326 Magenentleerung – mechanische 482 Magenresektionen 326 Magensaft-pH-Wert 482 Magensonde 321, 482, 650 – bei Ileuseinleitung 321 Magill-System 101 Magill-Zange 447 Magill-Tubus 128 Magnesium – als Antikonvulsivum 617 Magnetresonanztomographie 591 – anästhesiologische Besonderheiten 473 – Patientenvorbereitung 474 Maki-Methode 638 Makroangiopathie 245 Maliasin 299
Maligne Hyperthermie 122, 126, 304, 332, 487, 489, 490 – abortive Verlaufsform 493 – bei Kindern 454 – Differenzialdiagnose 491 – Kopplung mit neuromuskulären Erkrankungen 301 – fulminante Krise 490 – Inzidenz 488 – Masseterspasmus 493 – Mutationsscreening 496 – Pathophysiologie 488 – Testverfahren 495 – Therapie (Leitlinien) 494 – Triggersubstanzen 489 malignes neuroleptisches Syndrom (MNS) 490 Mallampati-Test 141 Mamma-Probeexzision 382 Mammatumorentfernung 382 mammilläres Drei-KompartimentModell 6 Mandrin 483 Mangelentwicklung 396 MAO-B-Hemmer 298 MAO-Hemmer – Medikation am OP-Tag 117 Mapleson-Klassifizierung 101 Marcumar 361 maschinelle Autotransfusion 199, 342 Maskenbeatmung – bei Allgemeinanästhesie 127 – Probleme 140 – Voraussetzungen 142 Maskengröße 447 Maskennarkose 382 Masseterspasmus 493 Massivtransfusion 585 May-Hegglin-Syndrom 283 Mayfield-Zange 411 McCoy-Spatel 151 McIntosh-Spatel 447 MCT-/LCT-Gemische 649 mean residence time (MRT) 5 Median-Frequenz (EEG) 177 Mediastinoskopie 379 Mediastinum (Thoraxchirurgie) 370 Medikamente – kardial wirksame 47
– Plazentagängigkeit 391, 392 Medikamentenabusus 90 Medikamentenclearance – Veränderungen bei Lebererkrankungen 259 Medikamentenvernebler 635 medikamentöse Dauertherapie 116 Medikation am OP-Tag (Übersicht) 117 MEG-X-Test 41, 90 Megaloblastäre Anämie 279 Mehrlinge 396 Mehrlingsschwangerschaft 614 Mekonium 404 Meningitis 595 Meningomyelozele 405 Meningozele 405 Mepivacain 43, 159, 164 – pKa-Wert 40 – Plasmaeiweißbindung 40 Merseburger Trias 265 metabolisches Syndrom 242 metabolische Azidose 89 Metamizol 215, 451, 601 – Dosierung bei Kindern 451 – Stillpause 393 – zur Analgosedierung 469 Metformin 244 – Medikation am OP-Tag 117 Methämoglobinämie 43 Methodenfreiheit 466 Methohexital 11, 126, 601 – Dosierung 126 – Dosierung bei Kindern 445 – zur Analgosedierung 468 Methylergometrin 390 Methylprednisolon 269 Metoclopramid – PONV-Therapie 511 Metoprolol 54 Mexiletin 56 Meyer-Overton-Regel 20 Midazolam 13, 127, 131, 223, 299, 349, 352, 358, 359, 366–368, 461, 601, 605, 610 – Dosierung bei Kindern 316, 445 – Dosierung bei Polytrauma 349 – zur ambulanten Anästhesie 315
685 Stichwortverzeichnis
– zur Analgosedierung 468, 476 – zur Prämedikation 118 – zur Prämedikation bei Kindern 117 Mikroangiopathie 245 Mikrozirkulation 71 Miller-Spatel 128, 144, 447 Milrinon 51, 368 Milzruptur 352 Mineralokortikoide 267 Minimal-Flow-Anästhesie 132 minimale alveoläre Konzentration (MAC-Wert) 24 Minoxidil 53 Mitralklappeninsuffizienz (MI) 225, 361 Mitralklappenstenose (MS) 225, 360 Mittelhirnsyndrom 592 Mivacurium 4, 32, 34, 372 – Dosierung bei Kindern 445 Mobilisation 460 Mobitz Typ II (AV-Block) 228 Mobitz Typ I (AV-Block) 228 MODY 242 Molsidomin – Medikation am OP-Tag 117 Monitored Anesthesia Care 466 Monitoring 169 – Allgemeinanästhesie 123 – Beatmung 171 – Eingriffe am Zentralnervensystem 409 – EKG 170 – Elektroenzephalographie (EEG) 177 – erweitertes 173 – evozierte Potenziale 177 – im Alter 462 – invasive arterielle Blutdruckmessung 174 – Kapnometrie/-graphie 171 – nichtinvasive Blutdruckmessung(NIBD) 170 – Pulmonalarterienkatheder (PAK) 174 – Pulsoxymetrie 170 – Relaxometrie 172 – Standardmonitoring 170 – Temperaturmessung 174 – transkranielle Dopplersonographie 178
– Urinausscheidung 173 – zentraler Venendruck 174 Mono-Ethyl-Glycin-Xylidid-Test 90 Morbus – Addison (Nebennierenrindenunterfunktion) 270 – Basedow 265 – Bechterew 330 – Crohn 324 – Cushing (Nebennierenrindenüberfunktion) 268 – hämolyticus fetalis 396 – Osler 281 – Parkinson 298 – Werlhof 282 – Wilson 90 Morphin 15, 212, 601, 610 – pharmakokinetische Daten 18 – zur Analgosedierung 603 motorisch evozierte Potenziale 337 Movergan 298 MRSA-Stämme 642 MRT 5 MS (Multiple Sklerose) 299 MSI Mundipharma 212 MST 212 Multiorganversagen 485 – sepsis-induziertes 554 Multiple Sklerose (MS) 299 Mundchirurgie 421 Murray-Formel 81 Murray score 523 Muskeldystrophie – Becker-Typ 302 – Duchenne-Typ 302 – progressive 302 Muskelerkrankungen 302 – Klassifizierung 303 Muskelrelaxanzien 29, 259, 607 – depolarisiernde 31 – Dosierung bei Kindern 445 – erwünschte Eigenschaften 31 – nicht depolarisierende 32 – Pharmakologie 31 Muskelrelaxierung – des Neugeborenen 387 Muskelrigidität 489 Myasthenia gravis 301 Myelozele 405
Mylepsin 299 Myoglobinurie 491 myokardialer Synchronismus 70 myokardiales Aktionspotenzial – Phasen 533 Myokardinfarkt 535 Myokardischämie 224, 356 – bei Lungenembolie 500 Myoklonien 11 Myopathie 301, 488 Myxödemkoma 264
N Nabelvene 402 Nachbeatmung 520 Nachlast (Afterload) 70, 359 Nacom 298 Nadelschießinstrument – zur Knochenpunktion 348 Nährstofflösungen 648 – Charakteristika 651 Nahrungskarenz 321 Nalbuphin – Dosierung bei Kindern 452 Naloxon 15, 18, 214, 402 – Dosierung bei Kindern 445 Narcanti 18, 214, 402 Narcotrend 132 Narkose (s. a. Anästhesie) – Einfluss auf Nierenfunktion 97 Narkoseeinleitung 10 – intravenös 447 – per inhalationem 447 – rektal 447 Narkoseführung – bei Polytrauma 348 – Kriterien zur Differenzialindikation 130 Narkosegase – Anwendung 20 Narkoseinduktion 126 Narkosemasken 100 Narkosemedikamente – Einfluss auf Leberfunktion 91 Narkoseprotokoll 666
L–N
686
Stichwortverzeichnis
Narkosesysteme 99 – geschlossene 104 – halbgeschlossene 104 – halboffene 104 – Klassifizierung 100 – offene 104 – ohne Reservoir 100 – technisch-konstruktive Konzeption 100 Narkosetiefe 131, 132 Narkoseverfahren – bei Kindern 447 Nasopharyngealtubus 142 Natrium-Antagonisten 55 Natriumbikarbonat 397, 401, 402, 403 Natriumhydrogenkarbonat – zur Reanimation 549 Natriumkalk 107 Natriumkanal 41 Natriumnitroprussid 227 Nausea-Symptomen-Komplex 508 Nebenniere – Erkrankungen 267 Nebennierenmark 267 Nebennierenrinde 267 – Überfunktion (Morbus Cushing) 268, 269 – Unterfunktion (Morbus Addison) 270 Nebenschilddrüse – Erkrankungen 264, 266 Nekrose 622 Neoblase 436 Neostigmin 37 – Dosierung bei Kindern 446 Nervenblockaden – periphere 163 – untere Extremitäten 165 Nervenverletzung – bei orthopädischen Eingriffen 335 Nervus-obturatorius-Blockade 166 Nervus-suprascapularis-Blockade 165 Neugeborene 440 – Erstversorgung 395 neurogener Schock 531 neurogene Erkrankungen 301–303 Neuroleptika 601, 607 – Medikation am OP-Tag 117 neurologisches Defizit 522
neurologische Erkrankungen 297 neuromuskuläres Monitoring 35 neuromuskuläre Blockade 30 – Antagonisierung 37 neuromuskuläre Restblockade 36 neuromuskuläre Erkrankungen 522 neuromuskuläre Synapse – Anatomie und Physiologie 30 Neuropathie 245 Neuroradiologie 407 Neurotransmitter 50 NIBD 170 Nicardipin 53 nicht-invasive Beatmung 519 Nicht-Rückatemsysteme 100, 105 – Effektivität 102 – Klassifizierung nach Mapleson 101 Nichtdepolarisationsblock 30 nichtlineare Kinetik 4 Nichtopioidanalgetika (NSAID) 214, 601 – Kinderanästhesie 451 – zur Analgosedierung 469, 604 Nichtraucher – PONV-Risiko 509 nichtsaure NSAID 215 Niederdrucksystem 71 Niere 25, 93 – Anatomie und Physiologie 94 Nierenerkrankungen 249 – Besonderheiten der Narkose 252 – häufige Medikamente 251 Nierenersatztherapie 563, 567 – Indikationen 567 Nierenfunktion 94 – Einfluss der Narkose 97 – Regulation 97 Nierenfunktionsstörung 250, 563 Niereninsuffizienz 460, 652 – perioperative Maßnahmen 252 – Prämedikation 252 – terminale 564 – Ursachen 250 Nierenlagerung 434 Nierenoperationen 436 Nierensteinzertrümmerer 432 Nierenversagen – akutes 564 – anästhesiologische Relevanz 250
– anurisches 565 – Definition 564 – Inzidenz 564 – nicht-oligurisches 565 – oligurisches 565 – Pathophysiologie 564 – Phasen 565 – postrenales 564 – prärenales 564 – Therapie 567 – Ursachen 564 Nifedipin 53, 617 Nikotinabusus 232, 235 Nimodipin 53 Nitrate – Medikation am OP-Tag 117 Nitroglyzerin 52, 221, 227, 359, 361 – als Notfallmedikament 52 Nitrokörper 52 Nitroprussid-Natrium 52 NMDA-(Rezeptor)antagonisten 14, 298 NO• 52, 75 non shivering thermogenesis 441 Noradrenalin 48, 49, 221, 225 – bei diastolischer Hypotonie 225 – bei Sepsis 557 – Einfluss auf kardiovaskuläre Funktion 68 – Schocktherapie 531 – Wirkung auf Organdurchblutung 49 Normalgewicht 309 Normalinsulin 244 Normovolämie 180 Notarzteinsatzfahrzeug 346 Notfallmedikamente 123 Notfalltransfusion 190 Notruf 346 Notsectio 388 Novalgin 215 Nozizeptoren 210 – polymodale 210 – unimodale 210 – Veränderung der Reizschwelle 210 NSAID 214 NSAR 451 – Medikation am OP-Tag 117
687 Stichwortverzeichnis
Nüchternheit 315, 447, 474 – vor Allgemeinanästhesie 122 Nüchternheitsfristen – bei Kindern 315 numerische Analogskala (Schmerz) 211
O Oberkörperhochlagerung 634 Oberschenkelfraktur 339 Ödem 258, 615 Off-label-Therapie (Blutungsstillung) 581 offener Thorax 373 offene Herzoperation 356 okulokardialer Reflex 416, 510 Omphalozele 405 Ondansetron – Dosierung bei Kindern 446 – PONV-Therapie 511 Onset-time 31 operatives Risiko – Eingruppierung 115 Ophthalmochirurgie – Narkosedauer 417 Opiatantagonisten 18 Opiatrezeptoren 15 – Wirkungen 15 Opioidallergie 18 Opioide 10, 15, 97, 125, 259, 348, 461, 601 – Agonisten/Antagonisten 212 – Auslösung von PONV 510 – Auswahlkriterien 129 – bei Herzoperationen 367 – Dosierung bei Kindern 445 – Einfluss auf Herzfrequenz 71 – Einfluss auf kardiovaskuläre Funktion 68 – Einsatz bei Kindern 452 – Partialagonisten 212 – Pharmkokinetik 17 – Schmerztherapie 212 – Suchtpotenzial 16 – Wirkungen 15 – zur Analgosedierung 469, 603
Oppenheim-Zeichen 590 orale Antidiabetika – Medikation am OP-Tag 117 Orciprenalin 51, 534 Orfiril 299 Organdurchblutung 74 – Steuerung 74 Organisationsmangel 656 Organversagen 623 ORG 25969 (Cyclodextrin) 33, 37 Oropharyngealtubus 142 Orthopädie 330 – Allgemeinnarkose 331 – ambulante Eingriffe 330 – intraoperatives Monitoring 331 – perioperatives Management 330 – perioperative Komplikationen 333 – Regionalanästhesie 331 – Wirbelsäulenchirurgie 336 orthopädische Tumoren 337 Ösophagoskopie 428 Ösophagusatresie 405 Ostium-primum-Defekt 364 Oxycodon 213 Oxygenierungsindex 522 Oxygesic 213 Oxytocin 390
P PAK-Mesung – Normalwerte 175 Palmarerythem 90 Pancuronium 33, 34, 328, 358, 359, 367, 368 Panendoskopie 428 Pankreaschirurgie 326 Pankreatitis 326 PAPVR (partielle Lungenvenenfehlmündung) 362 Paracetamol 215, 451, 601 – Dosierung bei Kindern 451 – zur Analgosedierung 470 paradoxe Wirkung 447 Parasiten – Übertragung durch Bluttransfusion 195
N–P
Parasympatholytika 55 Parathormon 266 Parathyreoidektomie 267 Parecoxib – zur Analgosedierung 470 parenterale Ernährung 628, 645, 647 – Indikationen 648 Parkinson-Syndrom 298 Parkland-Schema 627 Parovirus B-19 195 Partialagonisten 15 Partialdruck – der Atemgase 81 partielle Lungenvenenfehlmündung (PAPVR 362 Patienten-Trigger (maschinelle Beatmung) 517 Patientenaufklärung 112 – juristische Aspekte 118 – spätest möglicher Zeitpunkt 118 patientenkontrollierte Analgesie (PCA) 17, 216, 416 patientenkontrollierte Epiduralanalgesie 216 Patientenstammdaten 667 Patientenvorbereitung – bei Regionalanästhesie 158 patient controlled analgesia (PCA) 17 Paukenröhrchen 427 PCA 17, 216 PCEA 216 pCO2 – Normalwert 575 PDA (Periduralanästhesie) 161 PDA (persistierender Ductus arteriosus botalli) 362 PDE-Hemmer 51 Pediatric Advanced Life Support 538, 545 PEEP (positiv-endexspiratorischer Druck 84 – bei Leberinsuffizienz 261 PEF (Exspiratorischer Spitzenfluss 371 Pendelsysteme 103 Peniswurzelblock 433, 450 Penlon coaxial system 101 Pentazocin 214
688
Stichwortverzeichnis
Perfalgan 215 Perfluorocarbone 204 Perfusionsszintigraphie – Diagnostik der Lungenembolie 503 Peribulbäranästhesie 417 Periduralanästhesie 70, 604 – Durchführung 161 – Sympathikolyse 71 – zur Geburtserleichterung 385 – zur Entbindung 619 Periduralanästhesie (PDA) 161 – Komplikationen 161 Periduralkatheter 321 – Nachsorge 161 – thorakaler 433 Perikardtamponade 532 perioperative Analgesie 134 perioperative Ernährung 321 Peritonitis 320, 324 – postoperative Komplikationen 325 – Schocksymptomatik 324 persistierender Ductus arteriosus botalli (PDA) 362, 364 Perspiratio insensibilis 443 Pethidin 17, 135, 213 Pfortaderdruck – erhöhter bei Lebererkrankungen 258 pH-Wert – Normalwert 575 Phäochromozytom 271, 272 Pharmakodynamik 2 – bei Kindern 444 Pharmakokinetik 2, 3 – bei Kindern 444 Pharmakokinetische Modelle 6 Pharmakon – unspezifische Wirkungen 2 Phase-I-Reaktionen 89 Phase-II-Block 30 Phase-II-Reaktionen 89 Phenhydan 299 Phenobarbital 299 Phenothiazine – PONV-Therapie 511 Phentolamin 54 Phenylephrin 225 Phenylketonurie 396 Phenytoin 299
Phosphodiesterasehemmer 51, 70, 368 – bei Sepsis 558 Pickwick-Syndrom 309 Piritramid 17, 213, 601, 610 – Dosierung bei Kindern 445, 452 – zur Analgosedierung 469, 603 PK-Merz 298 pKa-Wert 40 Plasmaderivate 60 Plasmaeiweißbindung 601 Plasmaersatzlösungen – kolloidale 181 Plasmaersatzmittel 61 Plasmaexpander 61, 63 Plasmapherese 198, 342 Plasmapräparate 188 Plasmathrombinzeit 582 Plasminämie 504 Plasminogen 581 Plasminogenaktivator-Inhibitor 581 Platelet Function Analyzer 582 Plättchenthrombus 581 Plazenta 397 Plazentagängigkeit – von Medikamenten 387 Plazentainsuffizienz 399 Plazentaschranke 392 Pleuraerguss 258 Plexus-brachialis-Blockade 331, 338 – in der Orthopädie 332 Plexusblockade 450 Pneumonie – nosokomiale 632 Pneumoperitoneum 322 – Komplikationen 323 Pneumothorax 400, 405 Polyhydramnion 405 Polyneuropathie 245 Polytraumaversorgung 346, 348 Polyzythämie 286 PONV 135, 508 – bei Kindern 509 – hormonelle Faktoren 509 – Kombinationstherapie 512 – Risikofaktoren 509 – Therapeutika 511 Porphyrie 11, 126 portale Hypertension 258
positiv-endexspiratorischer Druck (PEEP) 84 Post-Pneumonektomie-Lungenödem 378 Postaggressionsstoffwechsel 628, 647 – Phasen 647 postoperatives Kältezittern (shivering) 135 postoperative Betreuung 462 postoperative Überwachung 135 postoperative Nausea und Vomiting 508 posttetanic Count (PTC) 36, 173 Posttransfusionspurpura 192 Prädiktoren für Operationsrisiko 114 Präeklampsie 384, 396, 614 – Inzidenz 614 – konservative Therapie 617 – Risikofaktoren 614 Präkallikrein 580 präkordiales Stethoskop 452 Präkurarisierung 34, 125, 483 Prämedikation 111, 116 – bei Kindern 117, 446, 447 Prämedikationsgespräch 118 – bei Regionalanästhesie 158 Prämedikationsprotokoll 123 Prämedikationsvisite – Erkennen von Leberschäden 89 präoperative Untersuchung 111 Präoxygenierung 125 präsystemische Elimination 3 Pravidel 298 Prednisolon 269, 531 – Dosierung bei Kindern 446 Prednison 269 pressure support ventilation 518 Prilocain 43 – pKa-Wert 40 – Plasmaeiweißbindung 40 Primärharn 94 Primärversorgung 396 Primidon 299 Priming 12, 34, 125 Pro-Urokinase 581 Propafenon 56 Propofol 12, 126, 130, 131, 328, 601, 610 – Dosierung 126
689 Stichwortverzeichnis
– Dosierung bei Kindern 445 – Einfluss auf kardiovaskuläre Funktion 68 – target controlled infusion 372 – zur Analgosedierung 468, 476, 605 Propofol-Infusionssyndrom 454, 605 ProSeal-Larynxmaske 146 Prostaglandine 368, 390 Prostaglandin E1 366 Prostaglandin I2 568 Prostata-Resektomie 434 Prostatavesikulektomie 435 Prostatektomie 435 Prostazyklin 568 Proteinurie 615 Protein C 285, 560, 580 Protein S 285, 580 Protheseninfektion 335 Prothesensysteme – zementfreie vs. zementierte 335 Prothrombin 580 Prothrombinasekomplex 581 Protozoonosen 195 PSV 518 psychovegetative Abschirmung 600 PS (Pulmonalstenose) 362 PTC (Posttetanic Count) 36, 173 Puffersysteme 575 pulmonalarterieller Druck 501 Pulmonalarterienkatheter (PAK) 174 Pulmonalatresie 365 Pulmonaler Gasaustausch – bei Lungenembolie 501 pulmonales Versagen 352 pulmonale Komplikationen 377 pulmonalkapillärer Verschlussdruck 69 Pulmonalstenose (PS) 362 pulslose elektrische Aktivität 549 Pulsoxymetrie 72, 123, 170 – Beeinträchtigung 132 Pulsus paradoxus 532 Pulswellenkonturanalyse 176 Pyramidenbahnzeichen 590
Q Qualitätsanforderungen 656 Qualitätssicherung 667 – externe 667 – Transfusionsmedizin 196 Querschnittslähmung 300 Quicktrach 153 Quickwert 581, 582
R R-auf-T-Phänomen 228 Rachentamponade 422 RAE-Tubus 128 Ramsay-Sedierungsskala 608 Ranitidin 531 – Dosierung bei Kindern 446 Rapid sequence induction (RSI; s. a. Ileuseinleitung) 33, 136, 135, 348, 482 – ab der 12. SSW 382 – Atemwegssicherung 141 Reanimation 403, 537 – Abbruch 551 – Basismaßnahmen (BLS) 541 – erweiterte Maßnhamen 545 – Gefährdung des Ersthelfers 550 – kardiopulmonale 541 – Komplikationen 550 – Pharmakotherapie 549 Reanimationsequipment 123 Reboundphänomen 2, 55 Rechts-Links-Shunt 365 Rechtsanwalt 662 Rechtsherzinsuffizienz 370 recovery time 31 Redon-Drainage 200 Reexpansionslungenödem 378 Reflexstatus 590 Refluxkrankheit 320 Refluxösophagitis – in der Schwangerschaft 384 Regionalanästhesie 157 – bei Adipositas 312 – bei älteren Patienten 460
P–R
– Einfluss auf Atmung 85 – in der Urologie 432 – intravenöse 166 – Kooperation des Patienten 158 – PONV-Inzidenz 510 – rückenmarknahe 158 – zur Analgosedierung 604 Regulierungsvollmacht 658 Reisekrankheit 509 reitender Embolus 500 Rekapillarisierung 624 Rekurrensparese 266, 267 Relaxanzien – Einfluss auf intrakraniellen Druck 409 – verschieden lang wirksame 34 Relaxanzienüberhang 134, 516 Relaxierung – bei Allgemeinanästhesie 127 – intraoperativ 133 Relaxometrie 123, 172 Remifentanil 4, 17, 130, 328, 372, 461, 601, 610 – Dosierung 126 – Dosierung bei Kindern 445 – pharmakokinetische Daten 18 – zur Analgosedierung 469, 603 Remifentanyl 352 Remodelling 236 Rendell-Baker-Maske 447 Renin-Angiotensin-System 97 Reparationsphase 647 Replogle-Sonde 405 Repolarisationsantagonisten 56 Reservevolumen 232 – exspiratorisches 79 – inspiratorisches 79 Residualkapazität – funktionelle (FRC) 80, 233 – von Kindern 441 Residualvolumen 79, 232 – im Alter 459 Resistance (Atemwegswiderstand) 80, 233 Resorption 3 Respirator – Steueringsprinzipien 517 Respiratorentwöhnung 525 respiratorisches System 25
690
Stichwortverzeichnis
respiratorisches Monitoring 123 respiratorische Veränderungen – bei Adipositas 310 Respiratorsystem – Aufgaben 516 Respiratortechnik 517 Respiratortherapie 516 Restblockade – neuromuskuläre 36 – unerkannte 37 Retinopathia praematurorum 442 Retinopathie 245 Retransfusion – ohne Aufbereitung 201 Retrobulbäranästhesie 417 Rettung – bei Polytrauma 347 Rettungsassistent 346 Rettungshubschrauber 346 Rettungssanitäter 346 Rettungsstelle 346, 351 Rettungssystem – präklinisches 346 Rettungsteam 542 Rettungswagen 346 Reye-Syndrom 451 Rezeptor 2 Rhabdomyolyse 491 rheumatoide Arthritis 330 rheumatoide Erkrankungen – Intubationsschwierigkeiten 330 Ribonukleotide 653 Richmond agitation-sedation-scale (RASS) 608 Ringelröteln 195 Ringer-Laktat-Lösung 60 Risikoaufklärung 656 Rivotril 299 Rocuronium 33, 34, 37, 328, 372 – Dosierung bei Kindern 445 Röntgen-Thorax 233 Röntgenkontrastmittel – allergische Reaktion 531 Ropivacain 44, 386 – pKa-Wert 40 – Plasmaeiweißbindung 40 Rotationsthrombelastogramm 582 RSI 145
rt-PA 504 Rückatemsysteme 102, 104 Rückatmung – partielle 104 Rückenmarkkompression 286
S S(+)-Ketamin 15, 126 – zur Analgosedierung 477 Sachverständiger 656 Sattelblock 159 Sauerstoff-Radikale 406 Sauerstoffbindungskurve 81 Sauerstoffdissoziationskurve 397 Sauerstoffpartialdruck – arterieller 81 Sauerstoffsättigung 398 – arterielle 170 – des Blutes 81 – gemischtvenöse 176 Sauerstoffverbrauch – von Kindern 441 Saugdrainage 335 Säuglinge 440 Säure-Basen-Haushalt – Entgleisung 575 saure NSAID 214 Scandicain 159 Schädel-Hirn-Trauma 423, 595 – Intubation am Unfallort 349 – prognostische Einschätzung 347 Schadenersatz 657 Schenkelhalsfraktur 339 Schieloperationen 416 Schilddrüsenerkrankungen 264 – anästhesiologische Besonderheiten 265 Schilddrüsenhormone – Medikation am OP-Tag 117 – physiologische Wirkung 264 Schilddrüsenknoten – autonome 264 Schilddrüsenoperation 266 Schilddrüsenunterfunktion 264 – primäre 264 Schimmelbuschmaske 100
Schlaf-Apnoe-Syndrom 238 Schlafentzug – Alternative zur Sedierung 474 Schlichtungsstelle der Ärztekammer 658 Schmerz – anatomische Grundlagen 210 – Defintion 210 – Messung 211 – physiologische Grundlagen 210 Schmerzensgeld 657 Schmerztherapie – eingesetzte Medikamente 212 – postoperative 17, 158, 209, 210, 450 – praktische 217 – Stufenplan 217 Schnellkreuzung 190 Schnüffelstellung (Beatmung) 142, 441 Schock 528 – anaphylaktischer 531 – hämorrhagischer 529 – hyperdynamer 530 – hypodynamer 530 – Hypovolämie 528 – kardiogener 529 – neurogener 531 – septischer 529 – Symptome 528 – zerebrale Funktionsstörungen 596 Schockformen – obstruktive 531 Schockpatienten – Narkose 532 Schulter (orthopädische Eingriffe) 333 Schwangerschaft – anästesierelevante physiologische Veränderungen 383 – Intubationsprobleme 383 – pharmakologische Besonderheiten 391 schwangerschaftsinduzierte Hypertonie 614 Schwartz-Bartter-Syndrom (SIADH) 274 schwere Sepsis 554 Scopolamin – PONV-Therapie 511
691 Stichwortverzeichnis
Scoring-Systeme 668 Second-gas-Effekt 21, 126 Sectio caesarea 386, 618, 619 Sedativa 601 – zur Analgosedierung 605 Sedierung 471, 609, 610 – Leitsätze zur Durchführung 475 Sedierungsmonitoring 607 Sedierungsstadien 472 Sekundärtransport – bei Polytrauma 351 Selen 653 Sellick-Handgriff 145, 321, 483 Sepsis 50, 238, 553, 633 – adjuvante Therapie 556 – Beatmung 557 – Bluttransfusion 557 – Definition 554 – enterale Ernährung 559 – gastrointestinales Versagen 555 – hämodynamisches Monitoring 556 – Herz-Kreislauf-System 555 – immunmodulatorische Therapie 561 – kausale Therapie 555 – Mortalität 554 – Nierenversagen 555 – Pathophysiologie 554, 555 – Substitution von Kortikosteroiden 560 – supportive Therapie 555 – Therapie 555 – Volumentherapie 557 Septikämie 639 septischer Schock 50, 52, 529, 554 Seromarker 198 Serumelektrolyte 113 Serumosmolalität – Normalwert 572 Sevofluran 27, 92, 97, 126, 328, 358, 367, 372, 601 – Differenzialindikation 129 – Einfluss auf kardiovaskuläre Funktion 68 – physikalisch-chemische Eigenschaften 20 shivering (postoperatives Kältezittern 135 Shuntoperation (Neurochirurgie) 410
Shuntvitien 362 Sichelzellanämie 279 SIH 614 – Diagnostik 615 – Inzidenz 614 silent death 134 single ventricle 362 SIRS 238, 554, 623, 646 Skoliose 336 small volume resuscitation 64 somatosensorisch evozierte Potenziale 332, 335, 337 Somnolenz 309, 592 Sonnenbrand 624 Sorbit 649 Sotalol 54, 56, 534 Spannungspneumothorax 376, 532 Spasmusphase 411 spektrale Eckfrequenz (EEG) 177 Spenderausschluss 195 Sphärozytose – hereditäre 280 Spider naevi 90 Spinalanästhesie 70, 158 – bei elektiver Sectio 387 – Durchführung 160 – hohe 159 – Komplikationen 159 – Kontrolle der Vitalparameter 159 – paramedianer Zugang 159 – Sympathikolyse 71 – totale 85, 159 – unilaterale 159 – zur Entbindung 619 spinaler Schock 300 spinale Automatismen 300 Spina bifida 405 Spiral-CT – bei Polytrauma 352 Spirometrie 232 Spitzenfluss – exspiratorischer 233 Splenomegalie 258 Spondylitis ankylopoetica 330 Spüldrainage 335 Spülgassysteme 101 ST-Strecken-Analyse (EKG) 223 stabile Seitenlage 544 Stammfettsucht 242
Stand-by (anästhesiologisches) 465, 466 – bei Augenoperationen 417 – Methodenfreiheit 466 – organisatorische Grundlagen 466 – rechtliche Grundlagen 466 – strikte Arbeitsteilung 466 – zur Analgosedierung 466 – Vertrauensgrundsatz 466 – Zuständigkeiten 418 Standardbikarbonat (SB) – Normalwert 575 Standardmonitoring 170 Stase 622 Status asthmaticus 531 Steinschnittlagerung 382, 433 Stenosealarm 171 Stent-Implantation – kardiale Komplikationen 114 Steroiddiabetes 242 Stickoxydul (Lachgas) 27, 122, 129 Stickstoffmonoxid 52, 75, 368 Stillpause – medikamentenbedingte 393 Stillzeit 393 – pharmakologische Besonderheiten 391 Stone heart 31 Strabismus-Chirurgie – Auslösung von PONV 510 Strafverfahren 659 Strahlung 396 Streptokinase 504, 535 Stresshormone 647 Stressstoffwechsel 646 Stressulkusprophylaxe 634 Stridor 266, 267 strikte Arbeitsteilung 466 strukturierte Lipide 649 Struma 264, 265 Stufenplan für intraoperatives Monitoring 338 Stützautoskop 429 subarachnoidale Blutungen – Einteilung nach Hunt und Hess 411 Subileus 320 Substitutionslösung (bei Hämofiltration) 568
R–S
692
Stichwortverzeichnis
Succinylcholin 30, 31, 136, 260, 483 – Dosierung bei Kindern 445 – Einfluss auf intraokularen Druck 417 – Hyperkaliämie 250 – wichtige Nebenwirkungen 31 Sufentanil 15, 17, 46, 130, 213, 328, 358, 359, 601, 610 – Dosierung 126 – Dosierung bei Kindern 445 – pharmakokinetische Daten 18 – zur Analgosedierung 603 Sufenta epidural 213, 386 Sulfonamide – Kontraindikation 393 Sulfonylharnstoffe 244 – Medikation am OP-Tag 117 supraglottische Hilfsmittel 146 Suprarenin 49 Surfactant 81, 397, 400, 404 Surveillance 632 Swan-Ganz-Katheter 372 Sympathikomimetika 48 – Rezeptorbindungsaffinität 48 – synthetische 51 – Wirkung auf Organdurchblutung 49 Systemic inflammatory response syndrome (SIRS) 554, 646
T t-PA 535 Tachykardie 225, 357 – schmerzbedingte 224 Tachyphylaxie 2 Tachypnoe 501 target controlled infusion (TCI) 12, 130 Taurin 653 TA (Trikuspidalatresie) 362 TCI 12 Technik des hängenden Tropfens (Periduralanästhesie) 161 Tegretal 299 Temgesic 214 Temperaturmessung 174
Temperaturmonitoring 462 Teratogenität 391 tetanische Stimuli 35 Tetrazykline – Kontraindikation 393 TGA (Transposition der großen Arterien) 362 Thalassämie 280 Thaler-Stobie-Manöver 401 Theophyllin – Dosierung bei Kindern 446 – Medikation am OP-Tag 117 Thermoregulation 397, 440 – unter Allgemeinanästhesie 133 Thiopental 10, 126, 136, 328, 349, 483, 601 – Dosierung 126 – Dosierung bei Kindern 445 – Einfluss auf kardiovaskuläre Funktion 68 Thorakoskopie 233, 379 Thoraxchirurgie 369 – Allgemeinanästhesie 372 – diagnostische Eingriffe 378 – präoperatives Vorgehen 370 Thoraxdrainage 377 – Komplikationen 377 Thoraxeingriffe – Beatmungsstrategie 376 Thoraxkompression (Reanimation) 538, 545 Thoraxpumptheorie 539 Thoraxrigidität 445 Thoraxschmerz 232, 501 Thoraxwand 370 Thrombelastogramm 582 Thromboembolierisiko – in der Schwangerschaft 384 Thrombolyse – Therapie der Lungenembolie 504 thrombolytische Therapie 535 Thrombophilie 278, 285 Thromboplastinzeit 568, 582 Thrombose 500 – Hauptfaktoren 343 – nach orthopädischen Eingriffen 334 Thromboseneigung 584
Thromboseprophylaxe 312, 343 – bei rückenmarknaher Regionalanästhesie 162 Thrombozyten 580 – Adhäsion 580 – Aggregation 580 Thrombozytenaggregationshemmer 588 Thrombozytenfunktionsstörungen 204 Thrombozytenkonzentrate 187 – Kontraindikation 587 Thrombozytenkonzentration 114 Thrombozytenzahl 582 Thrombozytopathie 282 – erworbene 583 Thrombozytopenie 258, 282, 618 – angeborene 583 – erworbene 583 – heparininduzierte 204, 587 Thyreoidektomie 265 Thyreostatika – Medikation am OP-Tag 117 thyreotoxische Krise 265 Tidalvolumen 79 tiefes Kompartiment 601 tiefe Normotonie 411 tiefe Sedierung 472 – apparative Voraussetzungen 473 Timing-Prinzip 34 Timonil 299 Tissue factor pathway inhibitor 560, 580 TOF (Fallotsche Tetralogie) 35, 362 Tonsillektomie 427 Totalintravenöse Anästhesie (TIVA) 10, 122, 130, 131 – Ausleitung 134 – Einzelschritte 124 Tötung 657 Tourniquet 340 Toxine – Clearance 89 toxische Gase 626 Toxoplasmose 396 TPHA-Test 195 Trabekelektomie 418 Tracheobronchoskopie 627 Tracheoskopie 428 Tracheostoma 428
693 Stichwortverzeichnis
Tracheotomie 423, 427, 632, 635 Train of Four(TOF)-Stimulation 35, 133, 173 TRALI-Syndrom 193 Tramadol 213 Tramal 213 Tränenwegrekonstruktion 418 Tränenwegspülungen 419 Transfusion – immunmodulatorischer Effekt 193 – Krankheitsübertragung 194 – Nebenwirkungen 192 Transfusionsgesetz 196 Transfusionsmedizin – Dokumentation 196 transkardiopulmonale Indikatordilution 176 transkranielle Dopplersonographie (TCD) 178 Transmissionsstörungen 301 transösophageale Echokardiographie (TEE) 177, 502 Transplantation 396 Transport – bei Polytrauma 346, 350 Transposition der großen Arterien (TGA) 362 transurethrale Resektion (TUR) 432 Trapanal 10, 126, 367 Traumapatient 338 Traumateam 351 Treitzsches Band 653 Tremarit 298 Trendelenburg-Lagerung 379, 433 – bei diastolischer Hypotonie 225 Treponema pallidum 195 Triazolam – zur Prämedikation 118 Trigeminusblockade – bei Augenoperationen 418 Triggerlatenz (maschinelle Beatmung) 517 Triggersubstanzen 488, 489 Trikuspidalatresie (TA) 362, 365 Trimenonanämie 443 Trismus 493 Tropfnarkose 100 Tropisetron 511 – Dosierung bei Kindern 446
Tubulus-Sammelrohr-System 96 Tubulusnekrose 565 Tubusauswahl – bei Allgemeinanästhesie 128 Tubusbrand 430 Tubuswahl 632 Tumorchirurgie 337, 422 – Darm 325 – Pankreas 326 Tumorextirpation – im HNO-Bereich 430 Tumornekrosefaktor α 560 TUR-Syndrom 434 Turner-Syndrom 242 Typ-1-Diabetiker 247 Typ-2-Diabetiker 248 Typ-A-Insulinresistenz 242
Urapidil 54, 221, 617 Urinausscheidung 173 Urinkultur 640 Urinsediment 640 urogenitale Eingriffe – PONV-Inzidenz 510 Urokinase 504, 535 Urologie 431 – ambulante Eingriffe 436 – Anästhesie bei Kindern 437 – Besonderheiten 432 Urtika – transfusionsbedingte 193 Uterotonika 620 Uterusatonie 390
V U Übelkeit – postoperativ 507 Überdruckbeatmung – intermittierende 83 – kontinuierliche 83 Übergewicht 309 – erhöhte Morbidität und Mortalität 309 – extremes 308 – WHO-Klassifikation 309 Überwachung der Vitalfunktionen 467 Ultrafiltration – Reduktion des Capillary-leakSyndroms 368 Unfallchirurgie 330, 338 – perioperatives Management 338 – Wirbelsäulenchirurgie 339 Unfallschwerpunktkrankenhaus 351 Unterkühlung 440 unterlassene Hilfeleistung 657 Untersuchungszeitpunkt – Festlegung 474 Urämie – Folgen und Organmanifestationen 251 – zerebrale Funktionsstörungen 596
V5-Ableitung (EKG) 123 Vagolyse 125 Vagolytika – als Notfallmedikamente 123 Validierung 667 Valium 299 Valproinsäure 299 Vancomycin 569 – Endokarditisprophylaxe 226 Vasektomien 436 Vasodilatation 221 Vasodilatatoren 53 – bei Herzinsuffizienz 227 – periphere 53 Vasokonstriktion – bei Lungenembolie 501 Vasokonstriktoren – bei HNO-Eingriffen 427 Vasomotorenlähmung 300 Vasopressin – bei Sepsis 558 Vecuronium 33, 328 – Dosierung bei Kindern 445 Vena-cava-Filter – Therapie der Lungenembolie 505 Vena-cava-Kompressionssyndrom 532 Vena-cava-superior-Syndrom 286 Venendruck 72
S–V
694
Stichwortverzeichnis
Venenkatheter – zentrale 174 Ventilation – bei Allgemeinanästhesie 132 Ventilations/Perfusions-Verhältnis 501 Ventilationsstörungen 83 – peripher bedingte 516 – zentralnervös bedingte 516 Ventrikelseptumdefekt (VSD) 362, 364 Verantwortung – strafrechtlich 657 Verapamil 53, 56, 220, 534 verbale Rating-Skala 211 Verbandwechsel 629, 641 Verbrauchskoagulopathie 206, 283, 585 Verbrennungen 621, 622, 624 – Erstversorgung 624 – Intensivtherapie 626 – klinische Erstversorgung 625 – Schweregrade 623 – Volumentherapie 627 Verbrühungen 621 Verdünnungskoagulopathie 283 Verdünnungsthrombozytopenie 282 Verdunstung 396 Versicherungsfall 658 Versicherungslücke 658 Verteilungsvolumen 5, 602 – im Alter 458 Verteilung (eines Pharmakons) 3 vertikale infraklavikuläre Blockade (VIB) 164 Vertrauensgrundsatz 466 Verzögerungsinsulin 244 VIB 164 Vierfachreiz 35 Virchow-Trias 343 Virushepatitis 90, 261 Virusinaktivierung 188 visuelle Analogskala 211 Vis a tergo 416 Vitalkapazität 79, 232 – forcierte (FVC) 371 – forcierte exspiratorische 233 Vitalparameter 123
Vitamin-K-Antagonisten 586 – Medikation am OP-Tag 117 Vitamin-K-Mangel 258, 284, 586 Vitamin K 397 Vitrektomie 418 volatile Anästhetika – Differenzialindikation 130 – PONV-Auslösung 510 Vollelektrolytlösungen 60, 181 Voltaren 215 Volumendefizit 572 Volumenersatz – bei Polytrauma 350 Volumenersatzmittel 283 Volumenersatztherapie 48, 180 – mit kolloidalen Infusionslösungen 182 volumenkontrollierte Beatmung 518 Volumenmangel 321 Volumenmangelschock 528 Volumensteuerung (maschinelle Beatmung) 517 Volumensubstitution 402 – bei SIH 618 Volumenüberladung 262 – perioperative 183 Volumenüberschuss 572 von-Willebrand-Syndrom 206, 284, 584 Vorhofdehnungsreflex 71 Vorhofseptumdefekt (ASD) 362, 363 Vorlast (Preload) 69, 225, 359 Voruntersuchung – anästhesiologische 112 VSD (Ventrikelseptumdefekt) 362 VVI-Schrittmacher 229
W Wachstumshormone – bei Verbrennungen 629 Warmblut – autologes 191 Wärmehaushalt – von Kindern 440 Wärmeluftdecke 440
Wärmemanagement 133 Wärmeverluste – Prophylaxe 440 Wasserdefizit 574 Wasserhaushalt – Entgleisung 572 – von Kindern 443 Weaning 368, 525 Wedensky-Block 43 Wedge-Druck 176 Wehen 386 Wehenauslösung – vorzeitige 391 Weichmacher – Transfusionsbeutel 194 Wenckebachblock 228 Wendl-Tubus 127, 142 Westermann-Zeichen 501 White-clot-Syndrom 204 WHO-Stufenmodell der Schmerztherapie 217 Widerstandsverlustmethode (Periduralanästhesie) 161 Wiederbelebungsmaßnahmen 538 Wiederbelebungszeit 538 Wirbelsäulenchirurgie 336 – Lagerung 341 – Unfallchirurgie 339 Wirbelsäulenfraktur 340 Wirbelsäulenverletzung 352 Wirkdauer 6 – verlängerte 91 Wirkdauer von Medikamenten – bei Leberinsuffizienz 259 Wirkortkompartiment 7 Wirkstärke (eins Pharmakons) 3 Wisconsin-Spatel 128 Wiskott-Aldrich Syndrom 283 Woodbridge-Tubus 128 Wundinfektion 633 Würgen 508
X Xenon 489 Xylit-Toxizitätssyndrom
649
695 Stichwortverzeichnis
Y Yersinia enterocolica
195
Z Zahnbehandlung 423 ZAS 135 Zeitsteuerung (maschinelle Beatmung) 517 Zellatmung 78 zentraler Venendruck (ZVD) 69, 72 zentrales Nervensystem – im Alter 459 zentrales anticholinerges Syndrom 135 zentrale Nervenblockaden 460 Zentropil 299 Zephalosporin 358 zerebraler Kreislaufstillstand 408 zerebraler Perfusionsdruck (CPP) 593 – Erhöhung durch Anästhetika 409 zerebrale Durchblutung – Autoregulation 409 zerebrale Funktionsstörungen 589, 593 – Untersuchungsmethoden 590, 591 Zeugen 663 Zeugen Jehovas 197 Zirkumzisionen 437 Zitrat 568 – Intoxikation 194 Zivilverfahren 659 Zuckeraustauschstoffe 649 Zusatzmonitoring 123 ZVD 69, 72 ZVD-Kurve 174 Zwerchfellhernie 404 Zwerchfellhochstand 383 zyanotische Vitien 365 Zyklooxygenasehemmer 214 Zystektomie 436 Zystoskopien 436
V–Z