Springer-Lehrbuch
Friedemann W. Nerdinger Gerhard Blickle Niclas Schaper
Arbeits- und Organisationspsychologie Mit 104 Abbildungen und 32 Tabellen
123
Univ.-Prof. Dr. Friedemann W. Nerdinger
Univ.-Prof. Dr. Gerhard Blickle
Universität Rostock Lehrstuhl für Wirtschaftsund Organisationspsychologie Ulmenstr. 69, 18057 Rostock E-Mail:
[email protected]
Rheinische Friedrich-Wilhelms-Universität Bonn Institut für Psychologie Lehrstuhl für Arbeits-, Organisationsund Wirtschaftspsychologie Kaiser-Karl-Ring 9, 53111 Bonn
Univ.-Prof. Dr. Niclas Schaper Universität Paderborn Fakultät für Kulturwissenschaften Lehrstuhl für Arbeits- und Organisationspsychologie Warburger Straße 100, 33098 Paderborn E-Mail:
[email protected]
ISBN-13 978-3-540-74704-8 Springer Medizin Verlag Heidelberg Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. Dieses Werk ist urheberrechtlich geschützt. Die dadurch begründeten Rechte, insbesondere die der Übersetzung, des Nachdrucks, des Vortrags, der Entnahme von Abbildungen und Tabellen, der Funksendung, der Mikroverfilmung oder der Vervielfältigung auf anderen Wegen und der Speicherung in Datenverarbeitungsanlagen, bleiben, auch bei nur auszugsweiser Verwertung, vorbehalten. Eine Vervielfältigung dieses Werkes oder von Teilen dieses Werkes ist auch im Einzelfall nur in den Grenzen der gesetzlichen Bestimmungen des Urheberrechtsgesetzes der Bundesrepublik Deutschland vom 9. September 1965 in der jeweils geltenden Fassung zulässig. Sie ist grundsätzlich vergütungspflichtig. Zuwiderhandlungen unterliegen den Strafbestimmungen des Urheberrechtsgesetzes. Springer Medizin Verlag springer.de © Springer Medizin Verlag Heidelberg 2008 Produkthaftung: Für Angaben über Dosierungsanweisungen und Applikationsformen kann vom Verlag keine Gewähr übernommen werden. Derartige Angaben müssen vom jeweiligen Anwender im Einzelfall anhand anderer Literaturstellen auf ihre Richtigkeit überprüft werden. Die Wiedergabe von Gebrauchsnamen, Warenbezeichnungen usw. in diesem Werk berechtigt auch ohne besondere Kennzeichnung nicht zu der Annahme, dass solche Namen im Sinne der Warenzeichen- und Markenschutzgesetzgebung als frei zu betrachten wären und daher von jedermann benutzt werden dürfen.
Planung: Dr. Svenja Wahl Projektmanagement: Michael Barton Lektorat: Dr. Christiane Grosser, Viernheim Layout und Einbandgestaltung: deblik Berlin Einbandfoto: Eduardo Barcellos/Samba Photo/Getty Images Satz: Fotosatz-Service Köhler GmbH, Würzburg SPIN: 10952207
Gedruckt auf säurefreiem Papier
2126 – 5 4 3 2 1 0
V
Vorwort Die Arbeits- und Organisationspsychologie ist mittlerweile ein gut etabliertes und breit entwickeltes Anwendungsfach der Psychologie, das auf einem soliden wissenschaftlichen Fundament steht und vielfältige, empirisch überprüfte praktische Anwendungen entwickelt hat. In diesem Lehrbuch wird der Versuch unternommen, dieses Gebiet umfassend und systematisch darzustellen und einen fundierten Überblick über die vielfältigen theoretischen und methodischen Grundlagen sowie die praktischen Anwendungsfelder der Arbeits- und Organisationspsychologie zu geben. Bei der Strukturierung des komplexen Terrains in inhaltliche Teilgebiete und Themen wurde einerseits bewährten Aufteilungen gefolgt, andererseits wurden aber auch innovative Entwicklungen des Fachs berücksichtigt. Neben »Grundlagen« und den Themenfeldern »Organisation«, »Personal« und »Arbeit« wurde daher auch der Bereich »Dienstleistungen« als Schnittstellenbereich der Organisation zum Markt bzw. Kunden als besonders innovatives Entwicklungsfeld des Fachs ausgewiesen und in die oberste Gliederungsebene mit aufgenommen. Im Bereich Grundlagen wird ‒ neben Bestimmungen des Selbstverständnisses und der Gegenstände der Arbeits- und Organisationspsychologie ‒ ein prägnanter geschichtlicher Überblick zur Entwicklung des Fachs und das Vorgehen bei der Gestaltung empirischer Studien in Anwendungsfeldern der Arbeits- und Organisationspsychologie gegeben. Im Zentrum des Teilgebiets Organisation stehen einerseits eher theoriebezogene Themenbereiche wie Organisationstheorien, Interaktion und Kommunikation, Konflikt und Konfliktlösung, Teamarbeit, organisationale Sozialisation sowie Organisationsklima und -kultur und andererseits stärker anwendungsbezogene Themenkomplexe wie Mitarbeiterführung, Organisationsdiagnose und Organisationsentwicklung. Einen Themenbereich, der in den letzten Jahren immer wichtiger wurde, stellt die Behandlung psychologischer Konzepte bei Fusionen und Unternehmensübernahmen dar. Im Teilgebiet Personal werden neben den Kernthemen wie Anforderungsanalyse, Personalmarketing, Personalauswahl, Leistungsbeurteilung und Personalentwicklung auch Theorien und Befunde zur Berufswahl und zur beruflichen Entwicklung vorgestellt. Das Teilgebiet Arbeit lässt sich ebenfalls wie der Organisationsbereich in eher theorieorientierte Themenfelder wie theoretische Modelle des Arbeitshandelns, Arbeitsmotivation und Arbeitszufriedenheit, Formen des Arbeitsverhaltens und Wirkungen der Arbeit einerseits sowie stärker anwendungsbezogene Themenbereiche wie Arbeitsanalyse und -bewertung, Arbeitsgestaltung in der Produktion und Verwaltung, Gruppenarbeit in der Produktion, Aus- und Weiterbildung sowie Psychologie der Arbeitssicherheit aufteilen. Als neue Formen der Arbeit werden in einem gleichnamigen Kapitel telekooperative Arbeitsformen und Wissensarbeit beschrieben. Hierzu ist aber auch die eingehende Behandlung von Bedingungen und Gestaltungsaspekten bei Callcentertätigkeiten im Kapitel Arbeitsgestaltung zu zählen. Schließlich werden im Teilgebiet Dienstleistungen die Merkmale und Bedingungen von Dienstleistungstätigkeiten beschrieben sowie Grundlagen und Ansatzpunkte zur Steuerung von Dienstleistungsqualität bzw. Kundenzufriedenheit vorgestellt. Bei der Darstellung der einzelnen Teilgebiete und -themen wurde zum einen auf eine systematische und didaktisch gut aufbereitet Vermittlung der jeweiligen theoretischen und methodischen Grundlagen sowie des aktuellen empirischen Erkenntnisstandes Wert ge-
L Siehe auch »Wegweiser zum Buch« im vorderen Buchdeckel
VI
Vorwort
Siehe auch Übersicht über die Lernwebsite im hinteren Buchdeckel
legt. Unterstützende didaktische Elemente hierfür sind prägnante Überblicksdarstellungen zur Einleitung jedes Kapitels, herausgehobene Definitionen von zentralen Begriffen und, prägnante Kapitelzusammenfassungen, Empfehlungen zu weiterführender Literatur sowie ein Glossar. Durch die Integration von vielfältigen Anwendungs- und Fallbeispielen in die Lehrtexte wurde zum anderen versucht, die Theorie- und Methodenkonzepte nicht nur anschaulicher zu vermitteln, sondern auch konkrete Anwendungsperspektiven und -möglichkeiten aufzuzeigen. Gestalterisch werden diese Elemente insbesondere durch die vielfältigen Infokästen herausgehoben, in denen entsprechende Untersuchungs-, Anwendungsund Methodenbeispiele der Arbeits- und Organisationspsychologie vertiefend dargestellt werden. Zur besseren Lesbarkeit wurde durchgehend die männliche Schreibweise verwendet. Um das Lernen und Lehren mit diesem Lehrbuch weiterhin zu unterstützen, wird zusätzliches Material im Internet auf dem Lernportal »www.lehrbuch-psychologie.de« in Form von Memokarten, kommentierten Linksammlungen und Kapitelzusammenfassungen bereitgestellt. Das Lehrbuch wurde insbesondere für Studierende der Psychologie verfasst, um eine systematische und profunde Einführung in die Teilgebiete und Themenfelder der Arbeitsund Organisationspsychologie zu erhalten. Dabei dient es sowohl zur Begleitung von arbeits- und organisationspsychologischen sowie personal- und marktpsychologischen Veranstaltungsangeboten im Bachelor- als auch Masterstudium. Das Lehrbuch ist aber auch für Studierende anderer Studiengänge insbesondere der Wirtschaftswissenschaften, aber auch der Ingenieur- und Sozialwissenschaften, die sich im Rahmen ihres Studiums mit Fragen der Anwendung der Psychologie bei der Arbeits- und Organisationsgestaltung, dem Personal- und Dienstleistungsmanagement und der Führung beschäftigen, geeignet. Auch sie erhalten mit dem Lehrbuch eine verständliche und hilfreiche Grundlage für die Einarbeitung in entsprechende arbeits- und organisationspsychologische Themenfelder. Insbesondere ihnen soll das Glossar den Einstieg in die interessante, aber auch z. T. nicht ganz einfache Materie erleichtern. Weiterhin sollen natürlich auch interessierte Fachkollegen und Praktiker, die sich mit dem wissenschaftlichen Erkenntnisstand zu arbeitsund organisationspsychologischen Themen vertraut machen wollen, durch das Lehrbuch angesprochen werden. Das Lehrbuch Arbeits- und Organisationspsychologie wurde im Wesentlichen von drei Hauptautoren verfasst. Friedemann W. Nerdinger zeichnet dabei verantwortlich für das Kapitel zur »Geschichte der Arbeits- und Organisationspsychologie«, fast alle Kapitel des Teilbereiches »Organisation« (mit Ausnahme von Kapitel 9), die drei Kapitel zum Teilbereich »Schnittstelle Organisation/Markt: Dienstleistungen« und die Kapitel »Arbeitsmotivation und Arbeitszufriedenheit« sowie »Formen des Arbeitsverhaltens«. Gerhard Blickle hat das Kapitel zu den »Methoden der Arbeits- und Organisationspsychologie« und alle Kapitel des Teilbereiches »Personal« verfasst. Niclas Schaper zeichnet verantwortlich für das Kapitel »Selbstverständnis, Gegenstände und Aufgaben der Arbeits- und Organisationspsychologie« sowie die Mehrzahl der Kapitel des Teilbereiches »Arbeit«. Besonders zu erwähnen ist in diesem Zusammenhang, dass mehrere Kapitel dieses Teilgebiets mit verschiedenen Koautoren verfasst wurden. Das Kapitel »Theoretische Modelle des Arbeitshandelns« wurde zusammen mit Katharina Schütze, »Arbeitsanalyse und -bewertung« mit Yasmin Kurzhals, »Arbeitsgestaltung in Produktion und Verwaltung« mit Yasmin Kurzhals und Sabine Hochholdinger, »Gruppenarbeit in der Produktion« mit Jacqueline Mann und Eva Horvath, »Wirkungen der Arbeit« mit Eva Horvath und »Neue Formen der Arbeit« zusammen mit Jens Radstaak geschrieben. Marc Solga hat darüber hinaus das Kapitel »Konflikt, Konfliktlösung und Mediation« selbstständig verfasst.
VII Vorwort
So ein umfangreiches Projekt, wie das Schreiben eines Lehrbuchs, gelingt nicht ohne die Unterstützung vieler Beteiligter und »guter Geister«. Besonders bedanken möchten wir uns hier bei unseren Mitarbeitern Sabine Hochholdinger, Eva Horvath, Yasmin Kurzhals, Jacqueline Mann, Jens Radstaak, Katharina Schütze und Marc Solga als sehr kompetente und in besonderem Maße involvierte (Mit-)Verfasser der Lehrbuchtexte. Wertvolle Unterstützung bei der Vorbereitung, Erstellung und Korrektur der Texte, Abbildungen und Internetmaterialien haben darüber hinaus Thomas Assmann, Marta Jaworski, PD Dr. Sabine Hochholdinger, Jochen Kramer, Tassilo Momm, Caroline Röder, Tobias Rüther, Alexander Pundt, Erko Martins und Caroline Wozny geleistet. Nicht zuletzt danken wir sehr herzlich auch Dr. Svenja Wahl, Dr. Christiane Grosser und Michael Barton vom Springer Verlag für ihre kompetente Begleitung und Unterstützung sowie ihre Geduld bei der Entstehung des Lehrbuchs. Schließlich möchten wir auch unseren Familien dafür danken, dass sie uns mental in schwierigen Phasen des Schreibens unterstützt und so manches Mal auf uns verzichtet haben, wenn das Schreiben des Lehrbuchs auch außerhalb normaler Arbeitszeiten anstand. Friedemann W. Nerdinger, Rostock Gerhard Blickle, Bonn Niclas Schaper, Paderborn
IX
Sektionsverzeichnis I Grundlagen 1
IV Arbeit
Selbstverständnis, Gegenstände und Aufgaben der Arbeits- und Organisationspsychologie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
3
2
Geschichte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
19
3
Methoden . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
29
II Organisation 4
Organisationstheorien . . . . . . . . . . . . . . . .
47
5
Interaktion und Kommunikation. . . . . . . . .
61
6
Gravitation und organisationale Sozialisation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
75
7
Führung von Mitarbeitern . . . . . . . . . . . . .
87
8
Teamarbeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 103
9
Konflikte in Organisationen . . . . . . . . . . . . 121
10
Organisationsdiagnose . . . . . . . . . . . . . . . 135
11
Organisationsklima und Organisationskultur 147
12
Organisationsentwicklung . . . . . . . . . . . . . 159
13
Mergers & Acquisitions: Fusionen und Unternehmensübernahmen . . . . . . . . . . . . 171
20
Theoretische Modelle des Arbeitshandelns 327
21
Arbeitsanalyse und -bewertung . . . . . . . . . 353
22
Arbeitsgestaltung in Produktion und Verwaltung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 377
23
Gruppenarbeit in der Produktion . . . . . . . . 399
24
Arbeitsmotivation und Arbeitszufriedenheit . . . . . . . . . . . . . . . . . 425
25
Formen des Arbeitsverhaltens . . . . . . . . . . 443
26
Aus- und Weiterbildung: Konzepte der Trainingsforschung . . . . . . . . . . . . . . . . . . 459
27
Psychologie der Arbeitssicherheit . . . . . . . 485
28
Wirkungen der Arbeit . . . . . . . . . . . . . . . . 513
29
Neue Formen der Arbeit: Das Beispiel Telekooperation . . . . . . . . . . . 535
V Die Schnittstelle Organisation – Markt: Dienstleistungen 30
Dienstleistungstätigkeiten . . . . . . . . . . . . . 557
31
Dienstleistungsqualität – Erklärung und Messung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 571
32
Steuerung der Dienstleistungsqualität . . . . 579
III Personal 14
Berufswahl und berufliche Entwicklung . . . 187
15
Anforderungsanalyse . . . . . . . . . . . . . . . . . 209
16
Personalmarketing . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 225
17
Personalauswahl
. . . . . . . . . . . . . . . . . . 243
Glossar . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 597
18
Leistungsbeurteilung . . . . . . . . . . . . . . . . 275
Quellenverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 619
19
Personalentwicklung . . . . . . . . . . . . . . . . . 295
Sachverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 623
Anhang
XI
Inhaltsverzeichnis I Grundlagen 1
1.1 1.2 1.3 1.4 1.5
II Organisation
Selbstverständnis, Gegenstände und Aufgaben der Arbeits- und Organisationspsychologie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Zentrale Gegenstände und Fragestellungen der Arbeits- und Organisationspsychologie. . . . . . . . Begriffsbestimmungen, Themenfelder und Themenperspektiven . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Wissenschaftliches und fachliches Selbstverständnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Untersuchungs- und Aufgabenfelder der Arbeitsund Organisationspsychologie . . . . . . . . . . . . . Aktuelle und zukünftige Themenfelder . . . . . . . Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
3
6
11 14 16
Geschichte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
19
Wilhelm Wundt und die Folgen . . . . . . . . . . . Der Taylorismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Hugo Münsterberg und die industrielle Psychotechnik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Weitere Entwicklungen: Berufs-, Personal- und Arbeitspsychologie . . . . . . . . . . . . . . . . . . Soziale Psychotechnik und Organisationspsychologie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die Entwicklung nach dem Zweiten Weltkrieg . Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
. . . .
20 21
. .
22
. .
24
. . . . . .
25 26 27
3
Methoden . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
29
3.1 3.2 3.3 3.4 3.5 3.6 3.7 3.8
Formulierung der Problemstellung Formulierung von Hypothesen . . . Auswahl des Studiendesigns . . . . Datensammlung . . . . . . . . . . . . Datenauswertung . . . . . . . . . . . Interpretation der Ergebnisse . . . . Kommunikation der Ergebnisse . . Metaanalyse . . . . . . . . . . . . . . . Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . .
31 32 34 38 40 41 41 42 43
2.6
. . . . . . . . .
. . . . . . . . .
. . . . . . . . .
. . . . . . . . .
. . . . . . . . .
. . . . . . . . .
. . . . . . . . .
. . . . . . . . .
. . . . . . . . .
. . . . . . . . .
47
Zum Begriff Organisation. . . . . . . . . . . . . Strukturierung und Organisationsstrukturen Ausgewählte Theorien der Organisation . . . Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
. . . .
48 49 51 59
5
Interaktion und Kommunikation. . . . . . . . .
61
5.1
Interaktion und Kommunikation: Zur Abgrenzung der Begriffe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Formen der Kommunikation. . . . . . . . . . . . . . . Formale Kommunikation in Organisationen . . . . . Informelle Kommunikation . . . . . . . . . . . . . . . Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
62 63 64 69 74
9
2.1 2.2 2.3
2.5
Organisationstheorien . . . . . . . . . . . . . . . .
4.1 4.2 4.3
5
2
2.4
4
5.2 5.3 5.4
. . . .
. . . .
. . . .
6
Gravitation und organisationale Sozialisation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
6.1 6.2
Gravitation und Sozialisation – Zu den Begriffen . Das Zusammenwirken von Gravitation und Sozialisation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Grundlagen der organisationalen Sozialisation . . Wirkungen organisationaler Sozialisation . . . . . Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
75
.
76
. . . .
77 79 84 86
7
Führung von Mitarbeitern . . . . . . . . . . . . .
87
7.1 7.2 7.3
Führung und Führungserfolg . . Ein Rahmenmodell der Führung Determinanten der Führung. . . Literatur . . . . . . . . . . . . . . .
8
Teamarbeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 103
8.1 8.2 8.3 8.4
Merkmale von Gruppen. . . . . . . . . . . . . . Mögliche Vorteile der Teamarbeit . . . . . . . Mögliche Probleme der Teamarbeit . . . . . . Optimierung von Gruppen: Teamdesign und Teambuilding . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
6.3 6.4
. . . .
. . . .
. . . .
. . . .
. . . .
. . . .
. . . .
. . . .
. . . .
. . . .
. . . .
. 88 . 88 . 90 . 100
. . . . 104 . . . . 107 . . . . 109 . . . . 113 . . . . 117
9
Konflikte in Organisationen . . . . . . . . . . . . 121
9.1 9.2
Deskriptive Ansätze . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 123 Erklärende Ansätze. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 125
XII
Inhaltsverzeichnis
9.3
Präskriptive Ansätze . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 132 Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 134
10
Organisationsdiagnose . . . . . . . . . . . . . . . 135
10.1 10.2 10.3 10.4 10.5
Definition und Ziele . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Aufgaben. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Modell- vs. fallorientierte Organisationsdiagnose Phasen der Organisationsdiagnose . . . . . . . . . Der Wert von Organisationsdiagnosen . . . . . . . Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
11
Organisationsklima und Organisationskultur. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 147
. . . . . .
136 137 138 140 145 146
11.1 Das »Klima« im Betrieb . . . . . . . . . . . . . . . . . . 148 11.2 Organisationskultur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 153 Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 158
12
Organisationsentwicklung . . . . . . . . . . . . . 159
12.1 12.2 12.3 12.4 12.5 12.6
Zum Begriff Organisationsentwicklung . . . Historische Quellen . . . . . . . . . . . . . . . Ansatzpunkte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die Rolle des Beraters . . . . . . . . . . . . . . Wirkungen der Organisationsentwicklung. Neuere Schwerpunkte . . . . . . . . . . . . . Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
13
Mergers & Acquisitions: Fusionen und Unternehmensübernahmen . . . . . . . . . . . . 171
13.1 13.2 13.3 13.4 13.5 13.6
Begriff und Formen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Das Merger-Syndrom . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Organisatorische Vorbedingungen . . . . . . . . . . Psychologische Prozesse . . . . . . . . . . . . . . . . . Emotionale und verhaltensbezogene Ergebnisse . Unternehmenskommunikation zur Steuerung des Integrationsprozesses . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
. . . . . . .
. . . . . . .
. . . . . . .
. . . . . . .
. . . . . . .
160 160 163 163 164 165 168
172 173 174 177 180
14
15
Berufswahl und berufliche Entwicklung . . . 187 . . . 189
. 199 . 201 . 204 . 205
Anforderungsanalyse . . . . . . . . . . . . . . . . . 209
15.1 Wofür werden Anforderungsanalysen benötigt? . . 210 15.2 Welche Personenmerkmale können für die Anforderungsanalyse relevant sein? . . . . . . . . . . 212 15.3 Warum sollte eine systematische und professionelle Anforderungsanalyse vorgenommen werden? . . . 213 15.4 Methoden und Verfahren der Anforderungsbestimmung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 215 15.5 Einordnung und Ausblick. . . . . . . . . . . . . . . . . 220 Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 222
16
Personalmarketing . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 225
16.1 Was versteht man unter dem Konzept Personalmarketing? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 16.2 Grundlagen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 16.3 Personalansprache und Personalbindung . . . . Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
. . . .
. . . .
17
Personalauswahl
17.1 17.2 17.3 17.4 17.5 17.6 17.7 17.8
Selektion und Passung . . . . . . . . . . . . . . . . . . Instrumente der Personalauswahl . . . . . . . . . . . Gütekriterien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Gültigkeitsüberprüfungen als systematische Basis Kombination von Prädiktoren . . . . . . . . . . . . . Richtige und falsche Auswahlentscheidungen . . . Der Nutzen von Auswahlverfahren . . . . . . . . . . Ethische und rechtliche Rahmenbedingungen . . . Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
181 183
III Personal
14.1 Definitionen: Job, Beruf und Erwerbsarbeit . . 14.2 Familiäre Lebensverhältnisse und Bildungsbeteiligung als Schlüssel zum Berufserfolg . . 14.3 Anfänge der beruflichen Entwicklung von der Kindheit bis ins frühe Erwachsenenalter . . . . 14.4 Psychologische Konzepte zur Berufsfindung .
14.5 Berufliche Etablierung. . . . . . . . . . . . . . . . . . 14.6 Auswirkungen der veränderten Beschäftigungsverhältnisse auf den Berufsverlauf . . . . . . . . . . 14.7 Perspektiven aufgrund des demographischen Wandels in Deutschland . . . . . . . . . . . . . . . . Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
226 227 233 240
. . . . . . . . . . . . . . . . . . 243 245 247 252 259 262 264 268 269 273
18
Leistungsbeurteilung . . . . . . . . . . . . . . . . 275
18.1 18.2 18.3 18.4 18.5 18.6
Begriff und Ziele der Leistungsbeurteilung . . . . Leistungsbeurteilung als Verhaltensbeurteilung . Aspekte tätigkeitsbezogener Leistung . . . . . . . Beurteilungsverfahren . . . . . . . . . . . . . . . . . Urteilstendenzen und Beurteilungsfehler . . . . . Anlässe und Ebenen der Leistungsbeurteilung . . Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
19
Personalentwicklung . . . . . . . . . . . . . . . . . 295
. . . . . . .
276 278 280 281 290 291 294
. . . 191 . . . 193 . . . 196
19.1 Was ist Personalentwicklung? Definition und Abgrenzungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 296
XIII Inhaltsverzeichnis
19.2 Unternehmensplanung, Laufbahnplanung und Personalentwicklung . . . . . . . . . . . 19.3 Potenzialanalyse . . . . . . . . . . . . . . . . . 19.4 Diagnose des Entwicklungsbedarfs . . . . . 19.5 Maßnahmen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 19.6 Transfersicherung . . . . . . . . . . . . . . . . Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
23 . . . . . .
. . . . . .
. . . . . .
. . . . . .
. . . . . .
297 300 302 304 319 320
IV Arbeit
24 20
Theoretische Modelle des Arbeitshandelns 327
20.1 Verhaltenstheoretische Ansätze des Arbeitshandelns . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 20.2 Kognitionspsychologische/-theoretische Ansätze . 20.3 Handlungstheoretische Ansätze . . . . . . . . . . . . 20.4 Tätigkeitstheoretische Ansätze – Die Tätigkeitstheorie nach Leontjew. . . . . . . . . . Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
21
347 351
Arbeitsanalyse und -bewertung . . . . . . . . . 353
21.1 Definition und Einordnung der psychologischen Arbeitsanalyse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 21.2 Anwendungsbereiche und Ziele psychologischer Arbeitsanalysen. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 21.3 Theoretische Fundierung. . . . . . . . . . . . . . . . . 21.4 Grundlegende methodische Zugänge der Arbeitsanalyse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 21.5 Ausgewählte Verfahren der Arbeitsanalyse . . . . . 21.6 Kriterien der Arbeitsbewertung. . . . . . . . . . . . . 21.7 Durchführungsbedingungen und Ressourcen bei Arbeitsanalysen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 21.8 Gütekriterien bei Arbeitsanalyseverfahren. . . . . . Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
22
328 332 338
354 356 358 359 363 370 371 372 375
Arbeitsgestaltung in Produktion und Verwaltung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 377
22.1 Gegenstände und Ziele von Arbeitsgestaltung . . 22.2 Theoretisch fundierte Konzepte der Arbeitsgestaltung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 22.3 Grundlegende Strategien der Arbeitsgestaltung . 22.4 Beispiele für Arbeitsgestaltungsmaßnahmen in der betrieblichen Praxis. . . . . . . . . . . . . . . . . 22.5 Befunde zu Wirkungen von Arbeitsgestaltung . . Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
. 378 . 381 . 386 . 387 . 391 . 397
Gruppenarbeit in der Produktion . . . . . . . . 399
23.1 Hintergründe und Zielsetzungen für die Einführung von Gruppenarbeit . . . . . . . . . . . . . 23.2 Definitorische Merkmale und Klassifikationsansätze der Gruppenarbeit. . . . . . . . . . . . . . . . 23.3 Formen der Gruppenarbeit . . . . . . . . . . . . . . . 23.4 Leistungsdeterminanten der Gruppenarbeit . . . . 23.5 Einführung von Gruppenarbeit als Organisationsentwicklungsprozess . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
. . . .
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426 427 434 441
. 444 . 446 . 447 . 451 . 456 . 457
Aus- und Weiterbildung: Konzepte der Trainingsforschung . . . . . . . . . . . . . . . . . . 459
26.1 26.2 26.3 26.4
Gegenstände der Aus- und Weiterbildung . . . . Bestimmung des Lern- und Trainingsbedarfs . . . Lerntheoretische Grundlagen . . . . . . . . . . . . Spezifische Formen und Methoden der Ausund Weiterbildung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 26.5 Personen- und organisationsbezogene Einflussfaktoren der Trainingseffektivität sowie Maßnahmen zur Transfersicherung . . . . . . . . . 26.6 Evaluation von Trainingsmaßnahmen . . . . . . . Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
27
421 423
Formen des Arbeitsverhaltens . . . . . . . . . . 443
25.1 Die Vielfalt des Arbeitsverhaltens. . . . . . . . . . . 25.2 Produktives Verhalten: Leistung und Leistungsergebnisse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 25.3 Extraproduktives Verhalten . . . . . . . . . . . . . . 25.4 Kontraproduktives Verhalten . . . . . . . . . . . . . 25.5 Die Beziehung zwischen extraproduktivem und kontraproduktivem Verhalten . . . . . . . . . . . . . Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
26
403 406 417
Arbeitsmotivation und Arbeitszufriedenheit . . . . . . . . . . . . . . . . . 425
24.1 Motiv, Anreiz und Motivation . . 24.2 Arbeitszufriedenheit. . . . . . . . 24.3 Theorien der Arbeitsmotivation Literatur . . . . . . . . . . . . . . .
25
401
. 462 . 464 . 465 . 469
. 476 . 480 . 482
Psychologie der Arbeitssicherheit . . . . . . . 485
27.1 Begriffsbestimmungen, Zielsetzungen und Maßnahmen des betrieblichen Arbeitsschutzes . . . . 27.2 Konzepte und Modelle sicherheitskritischen Verhaltens . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 27.3 Systemsicherheit und Sicherheitskultur . . . . . . Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
. 486 . 491 . 501 . 510
XIV
Inhaltsverzeichnis
28
Wirkungen der Arbeit . . . . . . . . . . . . . . . . 513
28.1 Belastung, Beanspruchung und Stress . . . . . . 28.2 Stressmodelle . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 28.3 Moderatoren, Einflüsse und Bedingungen von Stress . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 28.4 Spezifische Auswirkungen von Stress . . . . . . . 28.5 Stressbewältigung und Gesundheitsförderung. 28.6 Arbeit, Freizeit und Persönlichkeit . . . . . . . . . . Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
29
. . 514 . . 516
30.4 Der dritte Akteur: Die Organisation . . . . . . . . . . 567 Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 568
31 . . . . .
. . . . .
518 523 526 529 532
Neue Formen der Arbeit: Das Beispiel Telekooperation . . . . . . . . . . . 535
29.1 Veränderungstrends in der Arbeitswelt . . . . . . . . 537 29.2 Telekooperation und Telearbeit . . . . . . . . . . . . . 543 Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 552
V Die Schnittstelle Organisation – Markt: Dienstleistungen
Dienstleistungsqualität – Erklärung und Messung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 571
31.1 Dienstleistungsqualität und Kundenzufriedenheit 31.2 Modelle der Dienstleistungsqualität. . . . . . . . . . 31.3 Messung der Dienstleistungsqualität . . . . . . . . . Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
572 573 575 578
32
Steuerung der Dienstleistungsqualität . . . . 579
32.1 32.2 32.3 32.4
Dienstleistungsmarketingmix . . . . . . . . . . . . . . Wahrgenommene Prozesse: Dienstleistungsklima Gestaltung des Umfeldes. . . . . . . . . . . . . . . . . Personen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
580 581 584 588 592
Anhang Glossar . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 596
30
Dienstleistungstätigkeiten . . . . . . . . . . . . . 557
30.1 Dienstleistung: Bedeutung und Problem. . . . . . . 558 30.2 Taxonomie der Dienstleistungen . . . . . . . . . . . . 559 30.3 Die Dienstleistungsdyade . . . . . . . . . . . . . . . . 560
Quellenverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 619 Sachverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 623
XV
Autorenverzeichnis Gerhard Blickle, Univ.-Prof. Dr.
Niclas Schaper, Univ.-Prof. Dr.
Rheinische Friedrich-Wilhelms-Universität Bonn Institut für Psychologie Lehrstuhl für Arbeits-, Organisationsund Wirtschaftspsychologie Kaiser-Karl-Ring 9, 53111 Bonn
Universität Paderborn Lehrstuhl für Arbeits- und Organisationspsychologie Warburger Straße 100, 33098 Paderborn E-Mail:
[email protected]
Marc Solga, Dr. Friedemann W. Nerdinger, Univ.-Prof. Dr. Universität Rostock Lehrstuhl für Wirtschafts- und Organisationspsychologie Ulmenstr. 69, 18057 Rostock E-Mail:
[email protected]
Rheinische Friedrich-Wilhelms-Universität Bonn Institut für Psychologie Lehrstuhl für Arbeits-, Organisationsund Wirtschaftspsychologie Kaiser-Karl-Ring 9, 53111 Bonn E-Mail:
[email protected]
Mitarbeit an den Kapiteln von Niclas Schaper PD Dr. Sabine Hochholdinger Eva Horvath Yasmin Kurzhals Jaqueline Mann Jens Radstaak Katharina Schütze
I Grundlagen 1
Selbstverständnis, Gegenstände und Aufgaben der Arbeits- und Organisationspsychologie – 3
2
Geschichte
– 19
3
Methoden
– 29
Psychologie wird häufig als die empirische Wissenschaft vom menschlichen Erleben und Verhalten definiert. Die Arbeits- und Organisationspsychologie ist ein Teilgebiet der Psychologie und beschäftigt sich mit dem menschlichen Erleben und Verhalten in der Arbeit, wobei die spezifischen Bedingungen der Organisation, in der gearbeitet wird, auf das menschliche Erleben und Verhalten wesentlichen Einfluss nehmen. Die Arbeits- und Organisationspsychologie zählt zu den angewandten Disziplinen der Psychologie, d. h., sie versucht mit ihren Erkenntnissen in der Praxis Nutzen zu stiften. Aus diesen Bestimmungen ergeben sich eine Reihe von Fragen: Das Selbstverständnis der Arbeits- und Organisationspsychologie, ihre Gegenstände und Aufgaben werden daher in 7 Kap. 1 dieses Lehrbuchs etwas genauer vorgestellt. Die wissenschaftliche Psychologie führt ihre Ursprünge gern auf die Gründung des ersten psychologischen Labors in Leipzig durch Wilhelm Wundt zurück. Es war ein Schüler Wilhelm Wundts – Hugo Münsterberg – der bereits zu Beginn des 20. Jahrhunderts die Grundlagen der angewandten Psychologie gelegt hat. Daraus hat sich dann sehr schnell eine prosperierende Disziplin, die industrielle Psychotechnik, entwickelt, die als Vorläufer der heutigen Arbeitspsychologie zu betrachten ist. Die Untersuchung des Erlebens und Verhaltens in Organisationen hat sich dagegen erst sehr viel später dieser Disziplin zugesellt. Zum besseren Verständnis dieser Entwicklungen wird in 7 Kap. 2 die Geschichte der Arbeits- und Organisationspsychologie kurz nachgezeichnet. Wie die Psychologie im Allgemeinen ist auch die Arbeits- und Organisationspsychologie eine empirische Wissenschaft. Gilt in der Psychologie generell das Experiment als Königsweg zur Erkenntnis, so stellt sich die Frage in der Arbeits- und Organisationspsychologie komplexer dar. Aufgrund ihrer spezifischen Aufgaben und der Anwendungsorientierung, die letztlich immer auf die Übertragung der Erkenntnisse in die Praxis zielt, ist das psychologische Experiment wegen seiner häufig sehr künstlichen Bedingungen nur eingeschränkt anwendbar. Stattdessen dominieren in dieser Disziplin Feldstudien, die wiederum den Forscher vor ganz spezielle Probleme stellen. Grundlegende Kenntnisse der Methoden, die im Rahmen arbeits- und organisationspsychologischer Forschungen eingesetzt werden, sind Voraussetzung zum Verständnis der Inhalte, die in diesem Lehrbuch vorgestellt werden. Einen Überblick zu diesen Methoden gibt 7 Kap. 3.
1
1 Selbstverständnis, Gegenstände und Aufgaben der Arbeits- und Organisationspsychologie 1.1
Zentrale Gegenstände und Fragestellungen der Arbeitsund Organisationspsychologie – 5
1.2
Begriffsbestimmungen, Themenfelder und Themenperspektiven – 6
1.3
Wissenschaftliches und fachliches Selbstverständnis
1.4
Untersuchungs- und Aufgabenfelder der Arbeitsund Organisationspsychologie – 11
1.5
Aktuelle und zukünftige Themenfelder Literatur
– 16
– 14
–9
4
1
Kapitel 1 · Selbstverständnis, Gegenstände und Aufgaben der Arbeits- und Organisationspsychologie
> Womit beschäftigt sich die Arbeits- und Organisationspsychologie? Welche Themenfelder werden unter welchen wissenschaftlichen Fragestellungen und Perspektiven bearbeitet? Was tun Arbeits- und Organisationspsychologen in der Praxis und in welchen Kontexten arbeiten sie? Wodurch ist das fachliche Selbstverständnis dieser psychologischen Teildisziplin gekennzeichnet? Mit welchen Themen und Fragen wird sich die Arbeits- und Organisationspsychologie zukünftig schwerpunktmäßig beschäftigen? Dies sind zentrale Fragen mit denen sich dieses einleitende Kapitel des Lehrbuchs auseinandersetzt. Ziel ist dabei, wesentliche Gegenstände, das fachliche Selbstverständnis, Aufgaben- und Untersuchungsfelder sowie Bearbeitungsperspektiven der Arbeits- und Organisationspsychologie vorzustellen und zu erläutern (. Abb. 1.1). Nach der Einführung der zentralen Gegenstände und Fragestellungen der Arbeits- und Organisationspsychologie werden vertiefend dazu Begriffsbestimmungen, Themenfelder und Bearbeitungsperspektiven vorgestellt. In zwei weiteren Abschnitten werden das wissenschaftliche und fachliche Selbstverständnis der Arbeits- und Organisationspsychologie erläutert und Untersuchungs- und Aufgabenfelder des Fachs charakterisiert. Abschließend werden aktuelle und zukünftige Themenfelder dieser Teildisziplin skizziert.
. Abb. 1.1. Gegenstände, Selbstverständnis, Aufgaben- und Untersuchungsfelder sowie Bearbeitungsperspektiven der Arbeits- und Organisations-(A&O-)Psychologie
5 1.1 · Zentrale Gegenstände und Fragestellungen der Arbeits- und Organisationspsychologie
1.1
Zentrale Gegenstände und Fragestellungen der Arbeitsund Organisationspsychologie
Menschen müssen sich die Welt erst durch Arbeit verfügbar machen, um das zu gewinnen, was sie zum Leben brauchen. Arbeit ist somit eine elementare Aktivität bzw. Tätigkeit des Menschen, die ihn zu allen Zeiten, wenn auch auf unterschiedliche Weise und zu unterschiedlichen Bedingungen begleitet und bestimmt hat. Durch planvoll vorsorgendes Tun sichert sich der Mensch sein Aus- und Einkommen. Arbeit dient aber nicht nur der Existenzsicherung, sondern eröffnet auch neue Möglichkeiten der Lebensführung und trägt somit zur Daseinsbereicherung bei. So verleiht Arbeit dem Leben Sinn und Wert. Sie besitzt allerdings nicht nur diese positive Seite, sondern ist ebenso durch Belastungen und Mühsal geprägt. Diese Seite der Arbeit wurde bereits in der Bibel thematisiert. Die Vertreibung des Menschen aus dem Paradies macht in allegorischer Form deutlich, dass Arbeit mit Mühe und Schweiß verbunden und eine auferlegte Last ist, der sich der Mensch nicht entziehen kann. Auch in der heutigen Arbeitswelt, die insbesondere durch Zeitdruck und Hektik sowie vielfältige weitere psychische und körperliche Belastungen geprägt ist, gilt dies nach wie vor. ! Arbeits- und Organisationspsychologen interessiert daher, welche Funktionen und welchen Stellenwert Arbeit im Leben von Menschen hat und welche Ansprüche diese an ihre Arbeitstätigkeit richten. Sie interessieren sich darüber hinaus auch in besonderem Maße für die Belastungen und Beanspruchungen, die durch Arbeit entstehen, wie damit umgegangen wird und welche Folgen daraus für die betroffenen Menschen entstehen.
Arbeit ist durch zwei weitere grundlegende Merkmale geprägt (Bungard & Wiendiek, 2001): Der Mensch bedient sich selbstgeschaffener Werkzeuge und er arbeitet in aller Regel nicht allein, sondern im Rahmen eines arbeitsteiligen Systems. Ersteres ist Ausdruck der technischen Intelligenz von Menschen und hat in hohem Maße die Ausführung von Arbeit verändert bis hin zu hoch automatisierten Arbeitsprozessen, in denen Menschen so gut wie nicht mehr gebraucht werden. Durch fortlaufende Innovationen in Bezug auf die Arbeits- und Organisationsmittel verändern sich somit Arbeitsformen und -anforderungen. Dies spüren wir heute nicht nur durch die Automatisierungstechnik, sondern auch durch den
Einsatz von Informations- und Kommunikationstechniken im Rahmen von weltweit vernetzten Arbeitsprozessen. Die körperlichen Arbeitsanforderungen sind im Verlauf der letzten 50 Jahre an vielen Arbeitsplätzen deutlich zurückgegangen. Stattdessen haben die kognitiven Anforderungen bei der Erfüllung von Arbeitsaufgaben durch die breite Einführung von Mikroelektronik sowie Informations- und Kommunikationstechnologien erheblich zugenommen. Dadurch sind neuartige Belastungen und Beanspruchungen hinzugekommen, z. B. durch die zunehmende Intransparenz von Arbeitsprozessen, die wachsende Informationsflut sowie die Anforderungen an den kompetenten Umgang mit den neuen Informations- und Kommunikationsmedien. ! Arbeits- und Organisationspsychologen beschäftigen sich in diesem Zusammenhang mit der Frage, welche Anforderungen und Bedingungen bei veränderten und neuartigen Arbeitsformen (z. B. Telearbeit) gegeben sind, und wie man Arbeitsaufgaben, -bedingungen und -anforderungen so gestalten kann, dass diese ausführbar, beeinträchtigungsfrei und entwicklungsförderlich bleiben.
Auch der Aspekt der Arbeitsteilung hat lange zurückliegende Wurzeln und findet sich bereits beim Jagdverhalten urzeitlicher Jäger und Treiber. Wie die beiden Rollenbegriffe bereits kennzeichnen, werden jeweils unterschiedliche, aber aufeinander bezogene Aufgaben erfüllt, um ein gemeinsames Ziel – das Erlegen eines Tieres – zu erreichen. Erst die Koordination der spezialisierten Teiltätigkeiten ermöglicht die Erreichung des Jagdzieles und erzeugt damit den besonderen »organisatorischen« Vorteil dieses Vorgehens gegenüber den Bemühungen eines Einzelnen. Dadurch sind Jäger und Treiber allerdings auch aufeinander angewiesen, sodass dem Leistungsvorteil der Arbeitsteilung eine soziale Abhängigkeit gegenübersteht. Im Prinzip findet sich hierin bereits eine Vorform von Organisation. Organisationen stellen somit Ressourcen zur Verfügung, um die Handlungsmöglichkeiten des Menschen zu erweitern und ihm darüber hinaus Schutz und Sicherheit zu bieten. Dies funktioniert allerdings nur um den Preis des partiellen Verzichts auf eigene Handlungsziele und -optionen. Demnach werden soziale Systeme dadurch zu kollektivem Handeln befähigt, dass Personen nicht mehr individuell ihre Ressourcen für bestimmte Ziele einsetzen, sondern sie zusammenlegen und einer
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6
1
Kapitel 1 · Selbstverständnis, Gegenstände und Aufgaben der Arbeits- und Organisationspsychologie
einheitlichen Disposition unterstellen. Organisationen sind somit soziale Systeme, die bestimmte Ziele verfolgen und Regeln sowie Strukturen aufweisen, mit deren Hilfe sie die Aktivitäten ihrer Mitglieder auf diese Ziele ausrichten (vgl. Kieser & Kubicek, 1992; 7 Kap. 4). Die genannten, meist formalisierten Regel- oder Führungssysteme steuern Verhalten und Einstellungen der Organisationsmitglieder, wobei dies nicht allein unter Einsatz bestimmter zweckrationaler Mittel wie Anweisungen und Pläne gelingt. Vielmehr bedarf es weiterer Führungsmittel wie z. B. motivationaler Anreize (7 Kap. 24) oder bestimmter Werte und Normen (7 Kap. 11), um das gewünschte Leistungs- und Sozialverhalten zu erhalten. ! Arbeits- und Organisationspsychologen interessieren sich somit auch dafür, wie Verhalten und Erleben der Organisationsmitglieder gesteuert wird und welche Effekte sich daraus ergeben. Darüber hinaus ist für sie von Interesse, wie sich die Zugehörigkeit zu einer Organisation auf den Menschen auswirkt, aber auch, wie der Einzelne die Organisation beeinflusst.
Eine Organisation zeichnet sich also dadurch aus, dass Ziele und Arbeitsaufgaben arbeitsteilig erfüllt werden. Je stärker diese Arbeitsteilung ausgeprägt ist, umso höher ist z. B. der Grad der Spezialisierung von Tätigkeiten in einer Organisation. Aus den einzelnen Arbeitsaufgaben ergibt sich auch die organisationale Gliederung, d. h., wie die Aufgaben in einer Organisation strukturiert und definiert werden. Die jeweiligen Aufgaben bzw. Tätigkeiten stellen damit das Bindeglied zwischen Person und Organisation dar, denn zu ihrer Ausführung benötigt man jeweils Personen, die für die entsprechenden Aufgaben bzw. Teilaufgaben befähigt sind. Arbeitsaufgaben und die durch sie gegebenen Arbeitsanforderungen sind damit ein wichtiger Ausgangspunkt für das Personalmanagement. ! In Hinblick auf das Personalmanagement interessiert Arbeits- und Organisationspsychologen z. B., wie die jeweiligen Stellenanforderungen beschaffen sind und wie man sie systematisch ermitteln kann. Auf der Grundlage solcher Aufgaben- und Anforderungsbestimmungen sind Lösungen dafür zu finden, wie Mitarbeiter für bestimmte Positionen bzw. Aufgaben erfolgreich gewonnen und ausgewählt werden können und wie diese für ihre Aufgaben aus- und fortgebildet werden können. 6
Außerdem interessiert Arbeits- und Organisationspsychologen, mithilfe welcher Prinzipien und Methoden das Verhalten, die Einstellungen und die Motivation der Mitarbeiter wirkungsvoll erfasst und beeinflusst werden kann, um sie gemäß den Zielen der Organisation zu führen.
Organisationen sind soziale Systeme, die in einem regen und vielfältigen Austausch mit ihrer Umwelt stehen. Diese Austauschbeziehungen werden insbesondere durch die jeweiligen Ziele der Organisation – z. B. Produkte herstellen und verkaufen, Dienstleistungen anbieten – und die daran beteiligten Akteure, z. B. Kunden und Verkäufer geprägt. Die Schnittstellen der Organisation zu ihrer Umwelt bzw. dem Markt haben damit eine zentrale Bedeutung für die Erfüllung der organisationalen Ziele. Wenn z. B. Kunden nicht zufrieden mit der erbrachten Dienstleistung sind, kann dies den geschäftlichen Erfolg erheblich beeinträchtigen. An die Mitarbeiter des Unternehmens bzw. der Organisation, die in Kontakt mit dem Kunden stehen, werden daher besondere Anforderungen an das Gelingen solcher Kontaktbeziehungen gestellt. ! Die Arbeits- und Organisationspsychologie beschäftigt sich daher einerseits mit der Frage, was Kundenzufriedenheit bzw. Dienstleistungsqualität ausmacht und welche Verhaltensweisen, Fähigkeiten und Rahmenbedingungen zum Gelingen von Dienstleistungsbeziehungen beitragen. Dienstleistungstätigkeiten sind andererseits durch sozialkommunikative und emotionale Aspekte bzw. Anforderungen geprägt, die besondere Beanspruchungen darstellen (z. B. höflich zu bleiben, auch wenn das Verhalten des Kunden beleidigend ist). Man spricht in diesem Zusammenhang von »Gefühlsarbeit«. Hier stellt sich u. a. die Frage, welcher Art diese Beanspruchungen sind, wie sie sich auf die Betroffenen auswirken und wie man damit angemessen umgehen kann.
1.2
Begriffsbestimmungen, Themenfelder und Themenperspektiven
Im Rahmen dieses Lehrbuchs haben wir es also mit vier zentralen Begriffen unter einer psychologischen Perspektive zu tun: Arbeit, Organisation, Personal und
7 1.2 · Begriffsbestimmungen, Themenfelder und Themenperspektiven
Markt bzw. Kunden. Diesen vier zentralen Begriffen sind jeweils unterschiedliche Perspektiven und Teilgebiete der Arbeits- und Organisationspsychologie zugeordnet, die im Folgenden erläutert werden: Definition Arbeit lässt sich bestimmen als jede auf ein wirtschaftliches oder organisationales Ziel gerichtete planmäßige menschliche Tätigkeit, bei der sowohl körperliche als auch geistige Kräfte eingesetzt werden. Bei der Arbeit geht es somit um planmäßige Handlungen, die auf die Erfüllung von Aufgaben im Rahmen wirtschaftlicher oder organisationaler Prozesse unter bestimmten Bedingungen und unter Nutzung unterschiedlicher Ressourcen (insbesondere Werkzeuge bzw. technische Mittel sowie menschliche Fähigkeiten und Leistungen) gerichtet sind.
Mit psychologischen Aspekten der Arbeit beschäftigt sich insbesondere die Arbeitspsychologie. Ihr Untersuchungsgegenstand ist das Erleben und Verhalten des Menschen bei der Arbeit in Abhängigkeit von Arbeitsbedingungen, Arbeitsaufgaben und den dazu erforderlichen Leistungsvoraussetzungen (Kleinbeck, 1982). Sie befasst sich dabei mit Erkenntnissen und Methoden, die zur Analyse, Bewertung und Gestaltung von Arbeitstätigkeiten und -strukturen bedeutsam sind (Hacker, 1998). Weitere zentrale Themen der Arbeitspsychologie sind theoretische Konzepte zur Beschreibung, Erklärung und Vorhersage von Arbeitshandlungen sowie zur Motivation von Arbeitstätigkeiten, Wirkungen von Arbeitstätigkeiten in Bezug auf Beanspruchungs- und Stresserleben sowie Arbeitszufriedenheit, Konzepte der Arbeitssicherheit, Formen und Gestaltungsansätze der Gruppenarbeit sowie Konzepte und Maßnahmen zur Aus- und Weiterbildung von Mitarbeitern (7 Kap. 20–29).
stimmte formale und zweckgerichtete Strukturen bzw. Regelsysteme gekennzeichnet, in denen festgelegt ist, was Organisationsmitglieder in welcher Situation wie zu tun haben, wer wem Anweisungen gibt und wer diese zu befolgen hat, wer über was durch wen zu informieren ist und wer in welcher Hinsicht wie zu behandeln ist. Diese Funktions-, Führungs- und Kommunikationsstrukturen weisen je nach Zielsetzung, Größe und Selbstverständnis der Organisation sowie wirtschaftlichen und kulturellen Rahmenbedingungen unterschiedliche Aufbau- und Ablaufformen auf.
Als Untersuchungsgegenstand für die Organisationspsychologie steht das Erleben und Verhalten von Menschen in Organisationen allgemein, aber auch in Abhängigkeit von verschiedenartigen Ausprägungen organisationaler Wirkgrößen im Zentrum (von Rosenstiel, 2007). Dieses gilt es zu beobachten, zu beschreiben, zu erklären, zu prognostizieren und zu verändern. Dabei werden allerdings nicht nur einseitig die Wirkungen der Organisationsgrößen auf das Verhalten der Organisationsmitglieder, sondern auch die Wechselwirkungen betrachtet, die durch den Einfluss des Individuums auf die Organisation entstehen. Ein Beispiel bietet die Untersuchung der Wirkung von persönlichen Führungsstilen auf das Organisationsklima. Zentrale Themen und Fragestellungen der Organisationspsychologie sind theoretische Konzepte zur Beschreibung und zum Verständnis von Organisationsmerkmalen, -strukturen und -formen, Kommunikations-, Interaktions- und Sozialisationsprozesse und ihre Rolle in Organisationen, Konzepte der Führung von Mitarbeitern sowie Konzepte und Instrumente zur Diagnose und Veränderung von Organisationen (dazu insbesondere 7 Kap. 4–13).
Definition
Definition
Organisationen bezeichnen den Zusammenschluss von Menschen zur Erreichung bestimmter Ziele, die hierfür eine zielgerichtete Ordnung bzw. Regelung von Aufgaben in bestimmten sozialen Gebilden (z. B. Betriebe oder gesellschaftliche Institutionen) entwickelt haben bzw. sich dieser Ordnung unterwerfen. Organisationen sind in der Regel durch be-
Mit dem Begriff Personal bezeichnet man die in Organisationen in abhängiger Stellung arbeitenden Menschen, die innerhalb einer institutionell abgesicherten Ordnung eine Arbeitsleistung erbringen. Es geht somit um die Mitarbeiter eines Unternehmens oder einer Organisation, die zur Realisierung von Geschäfts- und Arbeitsprozessen eingesetzt und be-
6
6
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8
1
Kapitel 1 · Selbstverständnis, Gegenstände und Aufgaben der Arbeits- und Organisationspsychologie
zahlt werden. Personal wird im betriebswirtschaftlichen Sinne als eine Ressource aufgefasst, die es zu managen bzw. zu steuern gilt. Dabei geht es sowohl um die Verhaltenssteuerung im Sinne einer Mitarbeiterführung als auch die Gestaltung von Systemen zur Steuerung der Personalfunktionen wie Beschaffung, Auswahl, Entwicklung, Beurteilung, Vergütung etc.
Als weiteres Teilgebiet der Arbeits- und Organisationspsychologie behandelt die Personalpsychologie sowohl Aspekte der Verhaltenssteuerung als auch die Frage, wie die genannten Personalfunktionen wirkungsvoll unterstützt werden können. Dieses Teilgebiet konzentriert sich auf die Betrachtung des Individuums in seinen Verhaltens-, Befindens-, Leistungs- und Entwicklungszusammenhängen insbesondere in seiner Rolle als Mitarbeiter eines Unternehmens bzw. einer Organisation (Schuler, 2006). Dementsprechend stehen jene Themen und Aspekte im Vordergrund, die einen Berufs- und Leistungsbezug aufweisen. Hierzu gehören vor allem Fragen und Themen der Berufswahl und beruflichen Entwicklung, der Analyse von beruflichen und aufgabenbezogenen Anforderungen, der Gewinnung von Mitarbeitern für die Organisationen (Personalmarketing), der Personalauswahl, der Leistungs- und Potenzialbeurteilung und der Förderung von Mitarbeitern bezüglich ihrer Fähigkeiten und Potenziale (Personalentwicklung; zu diesen Themen vor allem 7 Kap. 14–19). Definition Die Schnittstellen von Organisationen zur Umwelt sind insbesondere über Austausch- und Marktbeziehungen definiert. Der Markt stellt den ökonomischen Ort des Tauschs bezüglich bestimmter Güter unter dem Aspekt der Preisbildung und unter Berücksichtigung von Bedingungen der Angebotsund Nachfrageregelung dar. Der Austausch zwischen Organisationen und ihrer Umwelt findet dabei insbesondere im Rahmen von VerkäuferKäufer- bzw. Kundenbeziehungen statt.
Welche Bedingungen Einfluss auf solche Kundenbeziehungen nehmen und welche Anforderungen bei der Gestaltung erfolgreicher Kundenbeziehungen zu berück-
sichtigen sind, damit beschäftigt sich die Markt- und Werbe- bzw. Wirtschaftspsychologie (vgl. von Rosenstiel & Frey, 2007; Frey & von Rosenstiel, 2007). Sehr bedeutsam sind in diesem Zusammenhang insbesondere Beziehungen zwischen Kunden und Mitarbeitern der Organisation geworden, die im Rahmen von Dienstleistungstätigkeiten auftreten. Hierbei treten Mitarbeiter mit Kunden in einen interaktiven Kontakt mit dem Ziel, Bedürfnisse der Kunden zufriedenzustellen bzw. bestimmte Probleme der Kunden zu lösen. Dabei gilt es einerseits ein Produkt bzw. eine bestimmte Dienstleistung zu einem angemessenen, gewinnbringenden Preis zu verkaufen und andererseits die Kunden so zufrieden zu stellen, dass diese bereit sind, das Produkt bzw. die Dienstleistung wieder in Anspruch zu nehmen und/ oder sogar das Unternehmen weiterzuempfehlen. Neben dem geschäftlichen Erfolg soll daher auch Kundenzufriedenheit und Dienstleistungsqualität erzeugt werden. Neue Themenfelder der Arbeits- und Organisationspsychologie sind in diesem Zusammenhang die Interaktionsformen und -anforderungen im Rahmen von Dienstleistungstätigkeiten, Kriterien und Methoden zur Bestimmung von Kundenzufriedenheit und Dienstleistungsqualität sowie Rahmenbedingungen und Maßnahmen zur Gestaltung wirkungsvoller Kundenbeziehungen (7 Kap. 30–32). Im Zusammenhang mit der Gliederung der für die Arbeits- und Organisationspsychologie relevanten Themenfelder und Kerninhalte werden oftmals auch verschiedene Betrachtungsebenen und Bearbeitungsperspektiven unterschieden (z. B. Schuler, 2004a). In Bezug auf die Betrachtungsebenen wird zwischen folgenden Ebenen differenziert: 4 Ebene des Individuums: Im Rahmen dieser Betrachtungsebene stehen vor allem Verhaltens- und Leistungsbedingungen von Individuen in Organisationen sowie deren Diagnose und Förderung im Vordergrund. 4 Ebene von Gruppen bzw. Interaktionsbeziehungen in Organisationen: Auf dieser Ebene geht es in erster Linie um Formen, Bedingungen und Prozesse von Arbeitsgruppen und Führungsbeziehungen. 4 Ebene der Organisation als Ganzes: Im Rahmen dieser Ebene stehen Formen (z. B. funktionale Organisationen) und Charakteristika der Organisation (z. B. Organisationsklima bzw. -kultur; 7 Kap. 11) sowie die Beziehungen einer Organisation zur Umwelt im Zentrum.
9 1.3 · Wissenschaftliches und fachliches Selbstverständnis
In Bezug auf die Bearbeitungsperspektiven werden folgende Unterscheidungen vorgenommen: 4 Grundlagen: Unter dieser Perspektive werden vor allem grundlegende theoretische Konzepte (z. B. zur Regulation von Arbeitshandlungen) und Fragen (z. B. zur Bedeutung von Arbeit) erforscht und entwickelt. 4 Diagnose: Bei dieser Perspektive steht die Entwicklung von diagnostischen Methoden in Bezug auf die unterschiedlichen Untersuchungsgegenstände der Arbeits- und Organisationspsychologie im Vordergrund (z. B. Methoden zur Arbeitsanalyse, zur Eignungsdiagnostik sowie zur Organisations- und Teamdiagnose). 4 Intervention: Hierbei geht es um die Entwicklung von Konzepten und Maßnahmen zur Veränderung und Optimierung von Arbeits-, Gruppen- und Organisationsprozessen (z. B. durch Personalentwicklungsmaßnahmen). 4 Evaluation: Bei dieser Perspektive steht die Überprüfung der Wirksamkeit von Interventionsmaßnahmen auf den unterschiedlichen Ebenen (z. B. individuelle Aus- und Weiterbildung oder Team- bzw. Organisationsentwicklung) sowie die Qualitätssicherung bei diagnostischen Instrumenten und Entscheidungsprozessen im Fokus. Diese Einteilungen erlauben vor allem eine weitere Differenzierung und Strukturierung von Gegenständen und Inhalten der Arbeits- und Organisationspsychologie, obwohl die Kategorien nicht trennscharf sind. Als heuristisches Prinzip zur Differenzierung unterschiedlicher Perspektiven auf die verschiedenen Gegenstände der Arbeits- und Organisationspsychologie sind sie jedoch durchaus nützlich. 1.3
Wissenschaftliches und fachliches Selbstverständnis
Einhellig stimmen alle Autoren umfassenderer Lehrbücher (z. B. Frieling & Sonntag, 1999 oder Schuler, 2004b) darin überein, dass die Arbeits- und Organisationspsychologie sowohl ein Teilgebiet der Angewandten Psychologie als auch eine Querschnittsdisziplin der Allgemeinen, Differenziellen, Biologischen, Sozial- und Entwicklungspsychologie ist. Sie versteht sich als eine angewandte Disziplin, weil sie ihre Problemstellungen – ähnlich wie z. B.
die Klinische und Pädagogische Psychologie – überwiegend in der praktischen Lebenswelt findet. Da sie sich darüber hinaus allgemeiner theoretisch-modellhafter Konzepte und Erkenntnisse sowie anspruchsvoller wissenschaftlicher Untersuchungsmethoden bedient, ist sie keine Forschungsdisziplin, die sich in der Anwendung erschöpft. Ihr Erkenntnisinteresse ist vielmehr dreifach bestimmt (vgl. Frieling & Sonntag, 1999): Psychologische Grundlagenforschung. Das Erkenntnis-
interesse der Arbeits- und Organisationspsychologie ist einerseits geprägt durch Zielsetzung und Methodologie der psychologischen Grundlagenforschung; d. h., auch Arbeits- und Organisationspsychologen sind daran interessiert, allgemeingültige Gesetzesaussagen (bzw. Theorien) zu formulieren und die daraus abgeleiteten Hypothesen anhand systematisch angelegter Labor- und Feldstudien zu überprüfen (7 Kap. 3). Die Forschungsthemen ergeben sich in diesem Zusammenhang insbesondere durch theorieimmanente Fragen und Probleme und stellen ausgewählte Ausschnitte der Arbeits- und Organisationswirklichkeit dar, die es zu beschreiben und zu erklären gilt (z. B. welche Rolle spielen Ziele bei der Motivation und Steuerung von Arbeitshandlungen; vgl. Kap. 24). Angewandte Psychologie. Andererseits ist das Er-
kenntnisinteresse durch Vorgehensweisen der Angewandten Psychologie geprägt, die Modelle und Methoden zur Problemlösung unter Bezug auf eine oder mehrere Theorien und Disziplinen entwickelt. Hierdurch werden Konzepte und Instrumente generiert, deren Effektivität zur Analyse, Vorhersage und Veränderung bestimmter arbeits- und organisationsbezogener Aufgaben- und Problemstellungen kontextspezifisch zu überprüfen ist. Forschungsthemen ergeben sich unter dieser Perspektive sowohl durch theorieimmanente Fragen als auch durch praxisbezogene Problemstellungen. Durch den Einbezug situativer Variablen sind die Erklärungsmodelle i. Allg. komplexer als bei einer rein grundlagenpsychologisch orientierten Betrachtung. Beispielsweise werden zur Erklärung der Wirksamkeit von Trainingsmaßnahmen nicht nur lehr-/lerntheoretische Konzepte (z. B. zur Wirkung kooperativer Lernformen), sondern auch motivationstheoretische (z. B. zum erwarteten Nutzen der Lernergebnisse) und sozialpsychologische Einflussvariablen (z. B. Einstellungen des Vorgesetzten zur Weiterbildung seiner Mitarbeiter) herangezogen (7 Kap. 26).
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Kapitel 1 · Selbstverständnis, Gegenstände und Aufgaben der Arbeits- und Organisationspsychologie
Praxisbezug. Das Erkenntnisinteresse kann darüber hi-
naus als praxisbezogen charakterisiert werden, da die Arbeits- und Organisationspsychologie auch an der unmittelbaren Analyse und Intervention bei konkreten Einzelfällen interessiert ist. Gegendstand der Entwicklung und Untersuchung ist hierbei die optimale Umsetzung und spezifische Anwendung von arbeits- und organisationspsychologischen Kenntnissen und Methoden, um Gestaltungsbedürfnissen von Praktikern in Organisationen zu genügen. Aus wissenschaftlicher Sicht ist diese Erkenntnisperspektive noch ein eher unterentwickeltes Feld. So gibt es zwar sicherlich eine Reihe guter Beispiele, bei denen man sich auf der Basis vorangegangener Forschungen mit der Entwicklung und Implementierung von Tools für die Lösung praktischer Probleme intensiv beschäftigt hat (z. B. die Entwicklung eines sehr wirksamen und gut handhabbaren Leistungsrückmeldungssystems für Arbeitsgruppen in Form des »partizipativen Produktivitätsmanagements«; Schmidt, 2004). Es mangelt jedoch an übergeordneten Konzepten und Kriterien, die diese Art von wissenschaftlicher Anwendungspraxis fundieren und legitimieren. Mit der Einführung des Konzepts eines »Evidence-based-Management« (vgl. Rousseau, 2006) könnte allerdings Bewegung in diese Forschungs- und Entwicklungsperspektive geraten. Evidence-based-Management zielt auf ein System von Handlungs- und Entscheidungsstandards, die aufgrund gut fundierter Forschungserkenntnisse entwickelt werden. Dieses Konzept bietet somit Ansatzpunkte und Kriterien für die Umsetzung wissenschaftlicher Erkenntnisse in der Führungs- und Organisationspraxis, die sich in anderen Disziplinen bereits bewährt haben (z. B. in der Medizin oder den Pflegewissenschaften). Als angewandte Disziplin der Psychologie steht die Arbeits- und Organisationspsychologie mittlerweile gleichberechtigt neben den anderen beiden »großen« Anwendungsfächern Klinische Psychologie und Pädagogische Psychologie. Dies drückt sich insbesondere in der inhaltlichen Struktur des Diplomstudiengangs Psychologie aus, da die Arbeits- und Organisationspsychologie obligatorisch im zweiten Studienabschnitt neben den anderen beiden Anwendungsfächern angeboten werden muss. Durch die Einführung und Umstellung auf Bachelor- und Masterstudiengänge in der Psychologie werden zwar wieder verstärkt Spezialisierungen im Angebot der Psychologischen Institute insbesondere in der Masterausbildung gefördert. Aller-
dings werden momentan viele Masterstudiengänge geplant, in denen die Arbeits- und Organisationspsychologie weiterhin eine zentrale Rolle spielt. Die feste Verankerung der Arbeits- und Organisationspsychologie in den Psychologischen Instituten kann daher auch als wesentlicher Beitrag bei der Entwicklung eines einheitlicheren und integrativen Selbstverständnisses als Fach bewertet werden. Spezifischere Gebietsbezeichnungen wie Betriebs-, Personal-, Ingenieurund Wirtschaftspsychologie machen zwar besondere Spezialisierungen der Ausbildung und Forschung an einigen Instituten deutlich, werden aber trotzdem dem Fach Arbeits- und Organisationspsychologie im weitesten Sinne zugeordnet. Ausdruck findet dieses gemeinsame fachliche Selbstverständnis auch in der Gründung einer gemeinsamen Fachgruppe Arbeitsund Organisationspsychologie in der Deutschen Gesellschaft für Psychologie (vgl. http://www.aodgps.de) und der Sektion Arbeits-, Betriebs- und Organisationspsychologie im Berufsverband Deutscher Psychologen (jetzt Sektion Wirtschaftspsychologie (vgl. http://www.wirtschaftspsychologie-bdp.de). Die Arbeits- und Organisationspsychologie baut auf verschiedenen Grundlagenfächern der Psychologie auf, man bezeichnet sie daher auch als Querschnittsdisziplin. Eine besondere Rolle spielen hier die Allgemeine Psychologie, die Sozialpsychologie und die Differenzielle Psychologie. So wird zur Klärung psychologischer Fragen der Wahrnehmung, des Denkens und Lernens sowie der Motivation bei Arbeitstätigkeiten in der Regel auf grundlegende Modelle der Allgemeinen Psychologie zurückgegriffen. Zur Analyse und Gestaltung von Kommunikations-, Kooperations- und Konfliktbeziehungen zwischen organisationalen Akteuren und im Rahmen von Arbeitsgruppen bzw. Teams spielen Theorien und Erkenntnisse der Sozialpsychologie eine zentrale Rolle. Und die Diagnostik interindividueller Unterschiede in Bezug auf Verhalten, Leistungen und Eignungsmerkmale von Mitarbeitern ist ohne die Bezugnahme auf Konzepte und Verfahren der Differenziellen Psychologie nicht vorstellbar. Darüber hinaus weist die Arbeits- und Organisationspsychologie aber auch je nach Themenstellung enge Bezüge zu anderen Anwendungsfächern der Psychologie auf. Im Rahmen beispielsweise von psychologischen Fragen der Personalentwicklung sowie Aus- und Weiterbildung existieren mittlerweile relativ enge thematische Beziehungen zur Pädagogischen Psychologie. Diese Disziplin hat einerseits ihr Forschungs-
11 1.4 · Untersuchungs- und Aufgabenfelder der Arbeits- und Organisationspsychologie
feld deutlich über das rein schulische Lehren und Lernen auf berufliche und nachschulische Bildungsprozesse hinaus entwickelt. Andererseits lassen sich die zur Analyse und Gestaltung von Lehr-/Lernprozessen sowie deren Rahmenbedingungen zugrunde gelegten Theorien und Gestaltungsansätze der Pädagogischen Psychologie auch auf anwendungsbezogenes und berufliches Lernen übertragen (vgl. z. B. Schaper & Sonntag, 2007). Die Komplexität und multifaktorielle Bedingtheit psychologischer Problemstellungen in der Arbeitswelt und in organisationalen Kontexten erfordert es darüber hinaus, dass die Arbeits- und Organisationspsychologie die Erkenntnisse anderer wissenschaftlicher Disziplinen nutzt und mit diesen kooperiert, um angemessene Erklärungsansätze und Lösungen zu entwickeln. Bedeutsame Nachbardisziplinen sind insbesondere die 4 Betriebswirtschaft, 4 Medizin, 4 Informatik und Ingenieurswissenschaften, 4 Soziologie, 4 Rechtswissenschaften und die 4 Berufs-, Wirtschafts- und Medienpädagogik. Um beispielsweise den wirtschaftlichen Nutzen und die Effizienz von Personalentwicklungsmaßnahmen oder Personalauswahlprozessen zu ermitteln und nachzuweisen, bedarf es der Bezugnahme auf betriebswirtschaftliche Kosten-Nutzen-Modelle (Süßmaier & Rowold, 2007). Ein anderes Beispiel: Um psychophysiologische Belastungs- und Beanspruchungsparameter in definierten Arbeitssituationen zu erheben und angemessen auszuwerten, sind medizinische und leistungsphysiologische Erkenntnisse und Methoden unabdingbar (Richter, 1998). 1.4
Untersuchungs- und Aufgabenfelder der Arbeits- und Organisationspsychologie
Die Themengebiete, mit denen sich die Arbeits- und Organisationspsychologie sowohl wissenschaftlich als auch praktisch auseinandersetzt, sind enorm vielfältig. Sie reichen von Arbeitsanalyse, -bewertung und -gestaltung sowie Arbeits- und Gesundheitsschutz weiter über Führung, Gruppenarbeit und Mensch-Maschine-Systeme bis zu Telearbeit und Unternehmenskultur (vgl. hierzu Wieland & Dutke, 2003). Um sich ein Bild über die the-
matische und methodische Ausrichtung von Forschungsaktivitäten der Arbeits- und Organisationspsychologie zu machen, kann man beispielsweise die Auswertungen der in deutschsprachigen Zeitschriften veröffentlichten arbeits- und organisationspsychologischen Publikationen heranziehen (Wegge & Kleinbeck, 2004; Solga & Blickle, 2006; 7 Kasten). In der Praxis der Arbeits- und Organisationspsychologie stehen überwiegend personalbezogene Aufgabenfelder im Vordergrund, insbesondere Fragen der Ausund Weiterbildung, Personalentwicklung, Gewinnung und Auswahl von Mitarbeitern, Leistungsbeurteilung sowie Berufsberatung. In diesen Kontext fallen auch Aufgaben im Bereich der Organisations- und Führungskräfteentwicklung. Arbeits- und Organisationspsychologen sind hier nicht nur in konzeptionellen und operativen, sondern auch leitenden Funktionen tätig. Praxisfelder mit einem stärker arbeitspsychologischen Fokus sind Arbeits- und Gesundheitsschutz, Analyse und Gestaltung von Arbeitssystemen, Softwareergonomie sowie die Gestaltung von Mensch-Maschine-Systemen. Weitere praktische Einsatzgebiete von Arbeits- und Organisationspsychologen liegen darüber hinaus im Bereich der Werbung und Marktforschung. Diese Aufgaben bewältigen Arbeits- und Organisationspsychologen als Mitarbeiter von Industrie- und Dienstleistungsunternehmen, Behörden, Verwaltungsorganisationen und Verbänden sowie als Berater und Trainer in angestellter und selbstständiger Form. Erhebungen des Berufsverbands Deutscher Psychologen (BDP; Bausch, 1999) zeigen, dass etwa 21% der Psychologinnen und Psychologen in Einsatzfeldern der Arbeits-, Organisations- und Wirtschaftspsychologie tätig sind. Damit bilden sie den zweitgrößten Beschäftigungsbereich neben der Klinischen Psychologie (51%) und vor Einsatzgebieten in Forschung und Lehre (15%) – wobei in der letztgenannten Gruppe auch an Hochschulen tätige Arbeits- und Organisationspsychologen zusätzlich enthalten sind. Die gerade in den 90er Jahren des letzten Jahrhunderts gestiegenen Beschäftigungszahlen von Arbeitsund Organisationspsychologen in Wirtschafts- und Beratungsorganisationen zeigen, dass diese mittlerweile eine anerkannte Berufsgruppe bilden, der man wichtige eigenständige Beiträge zuschreibt und zutraut, zentrale Herausforderungen in wirtschaftlichen und organisationalen Kontexten zu bewältigen. Die zunehmend bedeutsame Rolle von Psychologen in der
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12
1
Kapitel 1 · Selbstverständnis, Gegenstände und Aufgaben der Arbeits- und Organisationspsychologie
Wirtschaft verdeutlicht insbesondere, dass Herausforderungen und Probleme nicht nur über betriebswirtschaftliche und technologische Lösungen zu bewältigen sind, sondern auch die menschengerechte Gestaltung von Arbeits- und Organisationsprozessen sowie Strukturen und/oder die Befähigung von Mitarbeitern zu hohen technischen, wirtschaftlichen und sozialen Leistungen erfordern. Für die praktischen Einsatzfelder von Arbeitsund Organisationspsychologen gilt darüber hinaus, dass ihre Aufgaben sich selten als rein »psychologische« darstellen. Vielmehr erfordert die berufspraktische Tätigkeit der Arbeits- und Organisationspsychologen in der Regel
die Zusammenarbeit mit Fachleuten anderer Disziplinen (z. B. Betriebswirte, Ingenieure, Informatiker, Juristen) sowohl in personalen, arbeitsgestalterischen und organisationsentwickelnden Aufgabenbereichen. Kenntnisse und Fähigkeiten der entsprechenden Nachbardisziplinen (z. B. im Arbeitsrecht, in Produktionswirtschaft und -technik, im Marketing oder Softwareengineering) sind daher in der Regel ebenso bedeutsam wie breite, insbesondere fachübergreifende Erfahrungen (z. B. zu personalwirtschaftlichen Aufgabenbereichen), um als kompetenter Gesprächs- und Praxispartner in den entsprechenden Aufgabenfeldern anerkannt zu werden.
Publikationen zu arbeits- und organisationspsychologischen Themenstellungen aus den Jahren 2004 und 2005 in deutschsprachigen Zeitschriften Solga und Blickle (2006) haben 164 Zeitschriftenartikel aus 14 einschlägigen psychologischen Periodika sowie 268 Beiträge der 4. Tagung der Fachgruppe Arbeits- und Organisationspsychologie in Bonn analysiert. Die Auswertung zeigt (. Tab. 1.1), dass der Schwerpunkt der Zeitschriften- und Tagungsbeiträge aus dem Bereich der Organisationspsychologie kommt (68 bzw. 114 Beiträge). Die Themenstellungen aus diesem Bereich befassen sich vor allem mit Arbeitsmotivation, Arbeitszufriedenheit (wobei man diese Themen – wie im vorliegenden Lehrbuch – auch der Arbeitspsychologie zuordnen kann), produktives und kontraproduktives Extra-Rollenverhalten, organisationale Identifikation, organisationales Commitment, Führung, Arbeitsgruppe, (interkulturelle) Kommunikation und Kooperation. Dem folgen mit Abstand Themenbereiche der Arbeitspsychologie (37 bzw. 64 Beiträge) und der Personalpsychologie (38 bzw. 57 Beiträge). Im Bereich Arbeitspsychologie konzentrieren sich die Forschungsthematiken auf Belastung und Beanspruchung sowie Stress in der Arbeit. Auch im Bereich der Personalpsychologie weisen die behandelten Forschungsthemen einen deutlich Fokus auf: Etwa 71% der Publikationen lassen sich den Themenbereichen Eignungsdiagnostik und Personalauswahl zuordnen. Den am geringsten besetzen Bereich stellen Themen der Berufspsychologie dar (28 bzw. 32 Beiträge). Hier wurden vor allem Fragen beruflicher Selbstständigkeit, des Unternehmertums sowie der Work-Life-Balance un-
tersucht. Zu anderen wichtigen Themen (z. B. Analyse, Bewertung und Gestaltung von Arbeit, Berufswahl und berufliche Entwicklung, Handlungsregulation der Arbeitstätigkeit, psychologische Aspekte der Ergonomie, Personalmarketing, Personalbeurteilung, Personalentwicklung, Organisationsdiagnose, Organisationsentwicklung) wurde eher selten publiziert. In erster Linie wird über empirische Forschungsarbeiten (ca. 54% der Zeitschriftenbeiträge) berichtet, die überwiegend als Feldstudien (73 Feld- vs. 9 Laborstudien) durchgeführt wurden. Hier zeigt sich deutlich das Selbstverständnis der deutschen Arbeits- und Organisationspsychologie als anwendungsorientierte Forschungsdisziplin. Übersichtsreferate, Metaanalysen und Theoriebeiträge stellen etwa 19% der Zeitschriftenbeiträge dar. Weitere 18% der Zeitschriftenpublikationen sind Instrumententwicklungen und -darstellungen und ca. 9% Diskussionsbeiträge (z. B. zum Selbstverständnis der Arbeits- und Organisationspsychologie). Nicht berücksichtigt wurden in dieser Analyse Beiträge aus wirtschaftpsychologischen Themenfeldern (z. B. Finanzpsychologie, Werbepsychologie oder Marktforschung). Außerdem fehlen in der Auswertung Beiträge deutscher Arbeits- und Organisationspsychologen in internationalen (englischsprachigen) Zeitschriften, wobei der Anteil international publizierter Beiträge deutschsprachiger Arbeits- und Organisationspsychologen noch eher gering ist (Schui & Krampen, 2005). 6
1
13 1.4 · Untersuchungs- und Aufgabenfelder der Arbeits- und Organisationspsychologie
Forschungsfeld Arbeitspsychologie A.1: Arbeitstätigkeit, Handlungsregulation A.2: Analyse, Bewertung und Gestaltung von Arbeit
Zeitschriften 2004 u. 2005
4. Fachgruppentagung
f (f%)
f (f%)
37 (20,9)
64 (23,9)
6 (3,4)
0 (0,0)
7 (4,1)
12 (4,5)
19 (10,7)
21 (7,8)
A.4: Arbeits- und Gesundheitsschutz, betriebliche Gesundheitsförderung
2 (1,1)
18 (6,7)
A.5: Psychologische Ergonomie
1 (0,6)
9 (3,4)
A.3: Belastung und Beanspruchung in der Arbeit, Stress
A.6: Sonstige arbeitspsychologische Themen
2 (1,1)
4 (1,5)
Personalpsychologie
38 (21,5)
56 (20,9)
P.1: Personalmarketing
0 (0,0)
0 (0,0)
P.2: Anforderungsanalyse P.3: Eignungsdiagnostik, Personalauswahl
0 (0,0)
4 (1,5)
27 (15,3)
34 (12,7)
P.4: Personalbeurteilung
2 (1,1)
2 (0,7)
P.5: Personalentwicklung
8 (4,5)
16 (6,0)
P.6: Personalfreisetzung, Outplacement
0 (0,0)
0 (0,0)
P.7: Sonstige personalpsychologische Themen
1 (0,6)
0 (0,0)
68 (38,4)
114 (42,6)
O.1: Kommunikation und Kooperation, auch interkulturelle
Organisationspsychologie
8 (4,5)
1 (0,4)
O.2: Einfluss, Konflikte, Mikropolitik
2 (1,1)
6 (2,2)
O.3: Führung
9 (5,1)
16 (6,0)
O.4: Arbeitsgruppe
8 (4,5)
23 (8,6)
O.5: Arbeitsmotivation, Arbeitszufriedenheit, organisationale(s) Identifikation und Commitment
12 (6,8)
27 (10,1)
O.6: Produktives und kontraproduktives Extra-Rollenverhalten
10 (5,6)
9 (3,4)
O.7: Organisationsdiagnose, Mitarbeiterbefragung
2 (1,1)
9 (3,4)
O.8: Organisationales Lernen und Organisationsentwicklung
2 (1,1)
7 (2,6)
5 (2,9)
13 (4,8)
O.10: Sonstige organisationspsychologische Themen
O.9: Innovation und Wissensmanagement
10 (5,6)
3 (1,1)
Berufspsychologie
28 (15,8)
32 (11,9)
B.1: Berufswahl
2 (1,1)
2 (0,7)
B.2: Ausbildung und Training (beschäftigungsvorbereitend)
1 (0,6)
5 (1,9)
B.3: Berufliche Entwicklung und Berufserfolg
6 (3,4)
17 (6,3)
B.4: Work-Life-Balance
8 (4,5)
3 (1,1)
10 (5,6)
1 (0,4)
1 (0,6)
4 (1,5)
B.5: Berufliche Selbstständigkeit, Unternehmertum B.6: Berufliche Krisen und Erwerbslosigkeit B.7: Sonstige berufspsychologische Themen Gesamt f absolute Häufigkeiten; f% prozentuale Häufigkeiten
0 (0,0) 177 (100)
0 (0,0) 268 (100)
Mit freundlicher Genehmigung von Hogrefe, Göttingen. © Hogrefe 2006
. Tab. 1.1. Themen der arbeits-, personal-, organisations- und berufspsychologischen Publikationen in deutschsprachigen wissenschaftlichen Zeitschriften in 2004 und 2005 sowie Themen der Beiträge der 4. Tagung der Fachgruppe Arbeits- und Organisationspsychologie in der DGPs (übernommen aus Solga & Blickle, 2006)
14
1
Kapitel 1 · Selbstverständnis, Gegenstände und Aufgaben der Arbeits- und Organisationspsychologie
1.5
Aktuelle und zukünftige Themenfelder
In Bezug auf die Themenfelder und -schwerpunkte der Arbeits- und Organisationspsychologie haben sich in den vergangenen Jahren einige erhebliche Veränderungen ergeben. Hauptgründe dafür liegen vor allem in dem drastischen Wandel der Wirtschafts- und Arbeitswelt. Kennzeichen dieses Wandels sind insbesondere der Anstieg an Informationsarbeit verbunden mit den Entwicklungen im Bereich von Informations- und Kommunikationstechnologien, die Globalisierung und Verschärfung der internationalen Konkurrenzsituation sowie zunehmend kundenorientierte Märkte, die neue flexible Organisationsstrukturen sowie flexibilisierte Arbeitsstrukturen in Bezug auf Arbeitszeiten, Arbeitsverträge, Arbeitsinhalte und Arbeitsorte erfordern. »Das Bild der zukünftigen Arbeit wird vor allem dadurch gekennzeichnet sein, dass die künftige Arbeit flexibler, weniger orts- und zeitgebunden, qualifizierter, innovativer, globaler in ihrer Verwertung sowie individualisierter und kundenorientierter in ihrer Ausführung und ihren Zielen sein wird« (Wieland, 2003, S. 109). Beispielhaft seien fünf Themenfelder skizziert, von denen angenommen werden kann, dass sie bedeutsame Themenschwerpunkte der zukünftigen arbeits- und organisationspsychologischen Forschung und Praxis sein werden: Neue Informations- und Kommunikationstechnologien. Die Einführung und Nutzung neuer Informations-
und Kommunikationstechnologien hat erhebliche Veränderungen in Bezug auf die Arbeitsformen und -anforderungen ausgelöst. Ein zentrales Beispiel dafür sind telekooperative Arbeitsformen bzw. Telearbeit (7 Kap. 29). Hierdurch werden Organisationen und Mitarbeiter in die Lage versetzt, Arbeitsleistungen und -prozesse orts- und zeitflexibler zu erbringen bzw. zu gestalten. Waren es zunächst eher einfache Routineaufgaben (z. B. Texterfassung), die in Telearbeit ausgeführt wurden, so überwiegen mittlerweile eher anspruchsvolle Aufgaben und Tätigkeiten moderner Informationsarbeit (z. B. Programmieraufgaben). Telekooperative Arbeitsformen bringen eine Reihe von Vorzügen für Unternehmen und Mitarbeiter mit sich. Sie weisen allerdings auch eine Reihe von potenziellen Risiken auf (z. B. Gefahr der sozialen Isolation von Kollegen oder die mangelnde Ab-
grenzung von Arbeit und privatem Bereich), die bisher nur ansatzweise untersucht wurden. Man kann außerdem davon ausgehen, dass Telearbeit und Telekooperation veränderte Anforderungen an die Führung von Mitarbeitern und Teams stellen. Die wachsende Verbreitung und Bedeutung dieser Arbeitsformen steigert den Bedarf für gesicherte und differenzierte Erkenntnisse über Risiken dieser Arbeitsformen einerseits aber auch Möglichkeiten zur angemessenen Gestaltung andererseits. Anwachsen der Dienstleistungstätigkeiten. Eine wachsende Bedeutung erhalten in unserer Arbeitswelt darüber hinaus Dienstleistungstätigkeiten (7 Kap. 30). Dies ist bedingt durch ihre zunehmende Verbreitung, aber auch ihre wachsende Bedeutung im Rahmen wirtschaftlicher Wertschöpfungsprozesse und gesellschaftlicher Aufgabenstellungen (Pflege, Bildung und Erziehung etc.). Dienstleistungstätigkeiten sind vor allem dadurch gekennzeichnet, dass sie im direkten Kontakt mit dem Kunden ausgeführt werden und besondere Anforderungen an die Interaktionsfähigkeiten und das Engagement in Bezug auf Kundenorientierung und/oder individuelle klientengerechte Problemlösungen stellen (Nerdinger, 2003). Welche Kommunikationsaspekte, personalen Voraussetzungen und organisationalen Rahmenbedingungen zum Scheitern oder Gelingen solcher Dienstleistungsbeziehungen beitragen, ist empirisch allenfalls ansatzweise geklärt. Auch die aus solchen Anforderungen entstehenden Belastungen und Beanspruchungen, die unter der Überschrift »Gefühls- bzw. Emotionsarbeit« thematisiert werden, bedürfen noch intensiver weiterer Forschungsanstrengungen. Internationalisierung und Globalisierung. Durch die Internationalisierung und Globalisierung der Wirtschaft sowie die zunehmende kulturelle, demographische und religiöse Heterogenität der Belegschaften – der sog. Diversity – sind veränderte Anforderungen an das Personalmanagement entstanden. Fach- und Führungskräfte, die entsprechende Aufgaben im Ausland übernehmen sollen, müssen darauf vorbereitet und dabei begleitet werden. Darüber hinaus entstehen neue Anforderungen für das Personalmanagement durch zunehmend multikulturelle und heterogene Zusammensetzungen von Belegschaften und Arbeitsgruppen (z. B. in multinationalen Teams oder altersgemischten
15 1.5 · Aktuelle und zukünftige Themenfelder
Arbeitsgruppen). Das Arbeiten in interkulturellen und multikulturellen Zusammenhängen birgt Chancen, aber auch vielfältige Risiken. Die psychologische Forschung sowohl in Bezug auf Anforderungen beim internationalen Personaleinsatz als auch in multikulturellen Arbeitsgruppen steht nicht am Anfang (Trommsdorff & Kornadt, 2007). Das empirische Fundament der entwickelten Ansätze und Methoden muss allerdings noch erheblich verbessert und verbreitert werden. Durch die wachsende Bedeutung dieses Aufgabenfeldes im Personalmanagement besteht daher erheblicher Bedarf an entsprechenden psychologisch fundierten Konzepten und Maßnahmen. Veränderungsmanagement. Die zunehmenden Erfor-
dernisse, innovative Arbeits- und Organisationsprozesse im Unternehmen zu implementieren, um wettbewerbsfähig zu bleiben, machen Konzepte zur effizienten Begleitung und Steuerung entsprechender Veränderungsprozesse notwendig. Die Arbeits- und Organisationspsychologie hat hierzu bereits eine Reihe von Modellen und Konzepten zur Initiierung und Begleitung von Innovations- und Veränderungsprozessen entwickelt. Allerdings ist die empirische Basis in Bezug auf organisationale und personale Einflussfaktoren (z. B. Akzeptanzfaktoren und Widerstände) sowie Voraussetzungen solcher Änderungsprozesse (z. B. qualifikatorische Vorbereitungen) in vieler Hinsicht noch lückenhaft. Um einerseits die komplexen Wirkungszusammenhänge bei organisationalen Veränderungsprozessen (z. B. auch bei Unternehmensfusionen; 7 Kap. 13) besser zu verstehen und andererseits den Erfolg und die Nachhaltigkeit von entsprechenden Interventionsansätzen sicherzustellen, bedarf es daher noch erheblicher Forschungsanstrengungen. Zunehmende Flexibilisierung. Die zunehmende Flexibilisierung der Arbeitswelt insbesondere in Bezug auf Arbeitszeiten und arbeitsvertragliche Bindungen führt zu erhöhten Beschäftigungsrisiken für die Arbeitnehmer (z. B. durch befristete Arbeitsverträge). Diese sollten daher lernen, Eigenverantwortung in Bezug auf den Erhalt der eigenen Beschäftigungsfähigkeit zu übernehmen und Fähigkeiten in Bezug auf ein entsprechendes berufliches Selbstmanagement zu erwerben. Dies bezieht sich einerseits auf die Entwicklung von Kompetenzen im Umgang mit wechselnden Tätigkeiten und berufsbiographischen Brüchen, aber auch auf die ei-
genverantwortliche Wahrnehmung von beruflichem Weiterbildungsbedarf und die konsequente Verfolgung von Weiterbildungsanstrengungen. Dem stetig wachsenden Bedarf zur Beratung und Unterstützung entsprechender Kompetenzen zur Sicherung und zum Erhalt der eigenen Beschäftigungsfähigkeit steht allerdings eine noch wenig entwickelte Erkenntnislage gegenüber. Auch im Bereich der psychologischen Forschung zu Anforderungen, Einflussfaktoren, personalen Voraussetzungen und Förderansätzen des beruflichen und weiterbildungsbezogenen Selbstmanagements sind daher noch erhebliche Anstrengungen erforderlich. Veränderte Themenfelder und -schwerpunkte ergeben sich darüber hinaus durch Entwicklungen und Innovationen innerhalb des Fachs selbst. Dies sei abschließend an einem Beispiel verdeutlicht: Organisationsdiagnostik. Die Arbeits- und Organisa-
tionspsychologie hat sich bereits über Jahrzehnte hinweg intensiv mit der Erfassung und Messung von Merkmalen des Organisationsklimas und der Organisationskultur (7 Kap. 11.) einerseits und unterschiedlichsten Konstrukten des organisationalen Verhaltens (7 Kap. 25) andererseits beschäftigt. Hierzu liegt mittlerweile ein gut fundiertes konzeptionelles und methodisches Wissen vor, das im Rahmen von Mitarbeiterbefragungen für praxisbezogene organisationsdiagnostische Fragen breit und intensiv genutzt wird (Blickle, 2006; auch 7 Kap. 10). Beim Einsatz und der praxisorientierten Weiterentwicklung dieser organisationsdiagnostischen Verfahren hat sich allerdings auch gezeigt, dass Instrumente der Mitarbeiterbefragung nicht nur zur Diagnose, sondern auch sehr wirkungsvoll als Interventionsansatz im Rahmen von organisationalen Veränderungsprozessen eingesetzt werden können. Mitarbeiterbefragungen sind damit zu einem zentralen Instrument der Organisationsführung und -entwicklung geworden (Borg, 2006). Die zunächst eher theoretisch und methodisch orientierte Forschung in diesem Bereich hat damit zu einer wesentlichen Innovation im Bereich der Organisationsführung beigetragen.
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Kapitel 1 · Selbstverständnis, Gegenstände und Aufgaben der Arbeits- und Organisationspsychologie
Zusammenfassung 4 Zentrale Gegenstände und Themenfelder der Arbeits- und Organisationspsychologie sind Arbeit, Personal, Organisation und Markt bzw. Kunde. 4 Untersuchungsgegenstand der Arbeitspsychologie ist das Erleben und Verhalten des Menschen bei der Arbeit in Abhängigkeit von Arbeitsbedingungen, Arbeitsaufgaben und den dazu erforderlichen Leistungsvoraussetzungen. 4 Gegenstand der Organisationspsychologie ist das Erleben und Verhalten von Menschen in Organisationen allgemein und in Abhängigkeit von organisationalen Wirkgrößen. 4 Die Personalpsychologie behandelt sowohl Aspekte der Verhaltenssteuerung als auch die Frage, wie Personalfunktionen der Beschaffung, Auswahl, Entwicklung, Beurteilung und Vergütung aus psychologischer Sicht wirkungsvoll unterstützt werden können. 4 Ein zentrales Themenfeld der Marktpsychologie sind Bedingungen, die Einfluss auf Kundenbeziehungen nehmen und die Anforderungen, die bei der Gestaltung erfolgreicher Kundenbeziehungen zu berücksichtigen sind. 4 Die Arbeits- und Organisationspsychologie ist sowohl ein Teilgebiet der Angewandten Psychologie als auch Querschnittsdisziplin der Allgemeinen, Differenziellen, Biologischen, Sozial- und Entwicklungspsychologie. 4 In der Arbeits- und Organisationspsychologie kann man zwischen unterschiedlichen Betrachtungsebenen (Individuum, Gruppe, Organisation) und Bearbeitungsperspektiven (Grundlagen, Diagnose, Intervention, Evaluation) unterscheiden. 4 Das Erkenntnisinteresse der Arbeits- und Organisationspsychologie kann als grundlagenbezogen, anwendungsbezogen und praxisbezogen charakterisiert werden. 4 In der Praxis der Arbeits- und Organisationspsychologie stehen überwiegend personalbezogene Aufgabenfelder im Vordergrund
L Weiterführende Literatur Schuler, H. (2004). Einleitung. In H. Schuler (Hrsg.), Lehrbuch Organisationspsychologie (S. 9–18). Bern: Huber. Spector, P.E. (2003). Industrial and organizational psychology. Reasearch and practice (3rd ed.). Hoboken, NJ: John Wiley & Sons.
Literatur Bausch, M. (1999). Arbeitsmarkt-Information für Psychologinnen und Psychologen. Verfügbar unter: http://www.psychologie. uni-heidelberg.de/zav/zav_99.htm [23.06.2007] Blickle, G. (2006). Organisationsdiagnostik. In F. Petermann & M. Eid (Hrsg.), Handbuch der Psychologie, Band Psychologische Diagnostik (S. 730–738). Göttingen: Hogrefe. Borg, I. (2006). Mitarbeiterbefragungen. In H. Schuler (Hrsg.), Lehrbuch der Personalpsychologie (S. 409–432). Göttingen: Hogrefe. Bungard, W. & Wiendiek, G. (2001). Perspektiven: Eine Standortbestimmung der Arbeits- und Organaisationspsychologie. In R. Silbereisen & D. Frey (Hrsg.), Perspektiven der Psychologie (S. 174–193). Weinheim: Beltz. Frey, D. & Rosenstiel, L. von (2007). Wirtschaftspsychologie. Enzyklopädie der Psychologie D/III/6. Göttingen: Hogrefe. Frieling, E. & Sonntag, Kh. (1999). Lehrbuch Arbeitspsychologie (2. Aufl.). Bern: Huber. Hacker, W. (1998). Allgemeine Arbeitspsychologie. Bern: Huber. Kieser, A. & Kubicek, H. (1992). Organisation (4. Aufl.). Berlin: De Gruyter. Kleinbeck, U. (1982). Ansätze zur integrativen Arbeitswissenschaft aus der Sicht der Arbeitspsychologie. Zeitschrift für Arbeitswissenschaft, 36, 207–210. Nerdinger, F.W. (2003). Kundenorientierung. Göttingen: Hogrefe. Richter, P. (Hrsg.). (1998). Zu diesem Heft. Themenheft »Psychophyiologische Beanspruchungsforschung«. Zeitschrift für Arbeitsund Organisationspsycchologie, 42 (4), 77–79. Rosenstiel, L. von (2007). Grundlagen der Organisationspsychologie (6. Aufl.). Stuttgart: Schäffer-Poeschel. Rosenstiel, L. von & Frey, D. (Hrsg.), Marktpsychologie. Enzyklopädie der Psychologie, Bd. D/III/5. Göttingen: Hogrefe. Rousseau, D. (2006). Is there such a thing as »evidence-based-management«? Academy of Management, 31 (2), 256–259. Schaper, N. & Sonntag, Kh. (2007). Weiterbildungsverhalten. In D. Frey & L. von Rosenstiel (Hrsg.), Wirtschaftspsychologie. Enzyklopädie der Psychologie, Bd. D/III/6 (S. 573–648). Göttingen: Hogrefe. Schmidt, H. (2004). Messung und Förderung von Gruppenleistungen durch Partizipatives Produktivitätsmanagement. In H. Schuler (Hrsg.), Beurteilung und Förderung beruflicher Leistungen (S. 236–258). Göttingen: Hogrefe Schui, G. & Krampen, G. (2005). Zur Entwicklung und zur Internationalität der Arbeits- und Organisationspsychologie im deutschen Bereich. In G. Blickle & A. Witzki (Hrsg), Psychologie im Arbeitsleben, Menschen verstehen, Organisation erklären, Arbeit human gestalten (Berichte aus dem Institut der Rheinischen Friedrich-Wilhelms-Universität Bonn, Band 31, Heft 1, S. B 133). Bonn: Institut für Psychologie der Universität Bonn. Schuler, H. (2004a). Einleitung. In H. Schuler (Hrsg.), Lehrbuch Organisationspsychologie (S. 9–18). Bern: Huber. Schuler, H. (Hrsg.). (2004b). Lehrbuch Organisationspsychologie (3. Aufl.). Bern: Huber. Schuler, H. (2006). Gegenstandsbereich und Aufgaben der Personalpsychologie. In H. Schuler (Hrsg.), Lehrbuch der Personalpsychologie (S. 4–13). Göttingen: Hogrefe.
17 Literatur
Solga, M. & Blickle, G. (2006). In deutschsprachigen wissenschaftlichen Zeitschriften der Jahre 2004 und 2005 publizierte Forschungsbeiträge zur Arbeits- und Organisationspsychologie. Zeitschrift für Arbeits- und Organisationspsychologie, 50 (1), 28–42. Süßmaier, A. & Rowold, J. (2007). Kosten- und Nutzenanalyse und Human Resources. Weinheim: Beltz. Trommsdorff, G. & Kornadt, H.J. (2007). Anwendungsfelder der kulturvergleichenden Psychologie. Enzyklopädie der Psychologie, Bd. C/VII/3. Göttingen: Hogrefe. Wegge, J. & Kleinbeck, U. (2004). Forschung in der Arbeits- und Organisationspsychologie: Rückblick und Ausblick. Zeitschrift für Arbeits- und Organisationspsychologie, 48 (1), 36–43.
Wieland, R. (2003). Neue Arbeits- und Organisationsformen im Wandel der Arbeitsgesellschaft. In R. Wieland & S. Dutke (Hrsg.), Arbeits- und Organisationspsychologie. Informationsbroschüre der Fachgruppe »Arbeits- und Organisationspsychologie« in der Deutschen Gesellschaft der Psychologie (DGPs). Wieland, R. & Dutke, S. (Hrsg.). (2003). Arbeits- und Organisationspsychologie. Informationsbroschüre der Fachgruppe »Arbeits- und Organisationspsychologie« in der Deutschen Gesellschaft der Psychologie (DGPs).
1
2
2 Geschichte 2.1
Wilhelm Wundt und die Folgen
2.2
Der Taylorismus
2.3
Hugo Münsterberg und die industrielle Psychotechnik
2.4
Weitere Entwicklungen: Berufs-, Personalund Arbeitspsychologie – 24
2.5
Soziale Psychotechnik und Organisationspsychologie
2.6
Die Entwicklung nach dem Zweiten Weltkrieg – 26 Literatur
– 27
– 20
– 21 – 22
– 25
20
Kapitel 2 · Geschichte
> Dass sich die psychologische Forschung in der hier interessierenden Teildisziplin auf ein doppeltes Objekt bezieht – auf Arbeit und Organisation –, lässt sich erst aus ihrer historischen Entwicklung nachvollziehen. Diese kann hier nur kursorisch in ihren Hauptlinien nachgezeichnet werden (vgl. ausführlich u. a. Gundlach, 1996; Greif, 2004; Lück, 2004). Nimmt man als Ausgangspunkt moderner psychologischer Forschung die bahnbrechenden Arbeiten von Wilhelm Wundt, dann lassen sich diese Hauptlinien mit den Schlagworten »Taylorismus« und Münsterbergs Programm der »industriellen und sozialen Psychotechnik« benennen. Relativ eigenständige Wurzeln weisen dagegen die Vorläufer der Berufs- und der Personalpsychologie auf.
2
2.1
Wilhelm Wundt und die Folgen
Obwohl bereits im 18. Jahrhundert die ersten Forderungen nach einer empirischen Psychologie erhoben wurden, war Wilhelm Wundt (1832–1920) zumindest für die Entwicklung der Psychologie in Deutschland entscheidend (vgl. allgemein zu dieser Entwicklung: Lück, 2002; Schönpflug, 2004). Das ist nicht zuletzt darauf zurückzuführen, dass er – 1879 in Leipzig – das erste experimentalpsychologische Institut gegründet und eine Vielzahl einflussreicher Schüler in der neuen Disziplin ausgebildet hat. Nach seiner Lehre war es Aufgabe der Psychologie, »die Tatsachen des Bewusstseins, ihre Verbindungen und Beziehungen zu untersuchen, um schließlich Gesetze aufzufinden, von denen diese Beziehungen beherrscht werden« (Wundt, 1911; zit. nach Lück, 2002, S. 57). Aus methodischen Gründen teilte er dabei die Psychologie in zwei Richtungen ein, die physiologische Psychologie und die Völkerpsychologie. Die physiologische Psychologie sollte auf experimentellem Wege die Elemente des Bewusstseins erforschen. Da nach Wundts Überzeugung komplexere Prozesse – und dazu zählen alle sozialen Prozesse – dem Experiment nicht zugänglich sein sollen, wies er deren Untersuchung dem Bereich der Völkerpsychologie zu. In diesem Feld wurden aufgrund von Beobachtungen und literarischen Analysen u. a. Mythos, Religion, Recht, Kunst und eben auch der »Wirtschaftsverkehr« unter der Perspektive des »Volkes« als natürlich gegebener Einheit des Menschen studiert (Lück, 2004). Die physiologische Psychologie hat die Entwicklung der Psychologie entscheidend geprägt, der spezifische nicht empirische Ansatz der Völkerpsychologie hat sich dagegen eher hinderlich auf die psychologische Erforschung sozialer Prozesse ausgewirkt. Einer der ersten, der Wundt’s experimentelle Methodik auf praktische Fragen angewandt hat, war sein Schüler Emil Kraepelin
(1856–1926). Mit einfachen Untersuchungen wie Kopfrechnen, Buchstabenzählen etc. versuchte er Faktoren zu ermitteln, die Einfluss auf die Arbeitsleistung haben. Auf diesem Wege konnte er den Anreiz der Arbeit, Übung, Willensspannung, Ermüdung und Gewöhnung als entscheidende Einflussgrößen des Arbeitsverhaltens ermitteln. Auch die Wirkung von Arbeitspausen und die optimale Lage und Dauer von Arbeitspausen hat er experimentell untersucht. Im Jahre 1902 veröffentlichte er die Ergebnisse seiner Studien in einem ersten Werk der Arbeitspsychologie mit dem Titel »Die Arbeitscurve«. Obwohl Wilhelm Wundt kein Gegner solcher angewandter Untersuchungen war – wie oft behauptet wird –, hatte er doch dagegen grundlegende Vorbehalte. Nicht zuletzt war er überzeugt, dass das »verfrühte Streben nach praktischer Anwendung« die Theoriebildung und die Entwicklung theoretischer Begriffe in der Psychologie behindern könnte (Wundt, 1909; zit. nach Lück, 2004, S. 24). Diese Sorge hat sein Schüler Hugo Münsterberg (1912/1997; 7 Abschn. 2.3) präzise benannt und ihm direkt geantwortet: Die lange anhaltende Scheu, auch die Untersuchungen der Psychologen praktisch auszunutzen, muss somit besonderen Gründen entsprungen sein. Einige sind leicht erkennbar. Zunächst lag wohl das deutliche Gefühl vor, dass die neue Wissenschaft erst einmal eine Periode der stillen unbekümmerten Arbeit verlange, um ausreifen zu können, ehe sie mit dem Gefühl des praktischen Lebens in Berührung tritt. Es kann nicht ohne Schaden für die Wissenschaft selbst geschehen, wenn ihre Ergebnisse den Forderungen des Tages dienen sollen, ehe die Grundbegriffe geklärt, die Methode der Forschung erprobt und ein reichliches Tatsachenmaterial gesammelt ist. Nur wird dieses sehr berechtigte Bedenken zu einer argen Gefahr, wenn
21 2.2 · Der Taylorismus
sich daraus einfach eine instinktive Scheu entwickelt, mit dem praktischen Leben überhaupt in Fühlung zu treten. (Münsterberg, 1912/1997, S. 5)
Diese Scheu haben wohl viele Psychologen geteilt, speziell die Arbeits- und Organisationspsychologie wird teilweise auch heute noch von Vertretern der Grundlagenforschung kritisch beobachtet und im akademischen Betrieb ihren Standards unterworfen – mit durchaus problematischen Folgen für das Fach (vgl. von Rosenstiel, 2004). Aus wissenschaftshistorischer Sicht kann man diesen Sorgen entgegenhalten, dass die angewandte Psychologie – speziell die Arbeits- und Organisationspsychologie – auch der Psychologie insgesamt neue Aufgaben erschlossen und dabei Theorien und Methoden entwickelt hat, die nicht zuletzt auf die Grundlagenforschung zurückwirken (vgl. Danziger, 1987). Dass sich die kritische Haltung gegenüber der Arbeits- und Organisationspsychologie aber so hartnäckig hält, mag u. a. auch an einigen »nichtpsychologischen« Wurzeln dieser Disziplin liegen. Dazu zählen an erster Stelle die ingenieurswissenschaftlichen Grundlagen, die sich mit dem Namen Taylor und dem nach ihm benannten System des Taylorismus verbinden. 2.2
Der Taylorismus
Der Begriff Taylorismus wird uneinheitlich und unpräzise verwendet, gemeint ist damit gewöhnlich ein Konglomerat von Methoden zur Steigerung des betrieblichen Outputs, die letztlich durch vier Prinzipien gekennzeichnet sind (vgl. Greif, 2004): 1. Zergliederung der Arbeitsaufgaben in einzelne Arbeitselemente, die anschließend analysiert und mithilfe von Zeit- und Bewegungsstudien rationalisiert werden; 2. Auswahl und Schulung von Arbeitskräften, die am besten für eine Tätigkeit geeignet sind; 3. Trennung von Kopf- und Handarbeit: Das Management übernimmt die Planung und Überwachung der Aufgaben, die Arbeiter die praktische Ausführung; 4. Einvernehmen zwischen Arbeitgebern und Arbeitnehmern (vgl. zum tayloristischen Vorgehen 7 Kap. 4). Diese grundlegenden Ideen gehen auf den amerikanischen Ingenieur Frederick Winslow Taylor (1856–1915)
zurück (vgl. zum Folgenden Lück, 2004, S. 26ff.). Aufgewachsen in einem streng puritanischen Milieu hat er zuerst eine Lehre zum Modellbauer, dann zum Mechaniker durchlaufen. In einer Stahlfabrik arbeitete er sich zum Meister hoch und absolvierte gleichzeitig ein Fernstudium, das er als Maschineningenieur abschloss. Schon vorher begann er mit Zeitstudien, nachdem er sich über das Bummeln vieler Arbeiter geärgert hatte. Durch diese Studien wollte er ausdrücklich »faire« Leistungskriterien ermitteln, um sie dann zur Grundlage der Einführung leistungsbezogener Lohnsysteme zu machen. Zusammen mit veränderten Produktionsabläufen und der Einführung von Verfahren zur Auswahl von Mitarbeitern gelang es ihm häufig, die Produktivität in den von ihm beratenen Unternehmen zu steigern. In seinem Buch »The Principles of Scientific Management« (1911; deutsch: »Die Grundsätze wissenschaftlicher Betriebsführung«, 1913/1977) beschreibt er sein Vorgehen sehr plastisch. Dieses Buch hat er nicht zuletzt als Reaktion auf die heftige Kritik an der wissenschaftlichen Betriebsführung geschrieben – die bis auf den heutigen Tag nachwirkt (vgl. z. B. Ulich, 2005). Dabei wurde ihm vor allem von gewerkschaftlicher Seite vorgeworfen, mit seinen Methoden die Ausbeutung der Arbeiter zu maximieren. Dagegen meinte Taylor: Wir wollen durch diese Untersuchungen nicht herausfinden, welches Maximalquantum an Arbeit ein Arbeiter während einer kurzen Zeit zu leisten im Stande ist, sondern was eigentlich die angemessene Tagesleistung eines erstklassigen Arbeiters bildet; was man jahraus, jahrein täglich von einem Arbeiter erwarten kann, ohne dass er dabei körperlichen oder seelischen Schaden erleidet. (Taylor, 1913/1977, S. 58)
Heute wird Taylor diese positive Absicht gelegentlich durchaus zugute gehalten (vgl. Frieling & Sonntag, 1999), vor allem da einige der Auswüchse des Taylorismus weniger auf seine Arbeiten als vielmehr auf Weiterentwicklungen durch andere zurückzuführen sind. Dazu zählt in erster Linie der konsequente Einsatz der Fließbandfertigung, den Henry Ford vorangetrieben hat. In seinen Werken hat er die Typisierung der Produkte, den gezielten Einsatz von Personalauswahlverfahren, hohe Löhne bei gleichzeitig niedrigen Produktpreisen und ein Verbot von Betriebsräten durchgesetzt. Weiterentwickelt wurde der Taylorismus auch durch den Ingenieur Frank Bunker Gilbreth (1868–1924), der
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Kapitel 2 · Geschichte
– zusammen mit seiner Frau Lilian Moller Gilbreth (1878–1972), die sein Werk fortsetzte und dabei gegenüber Taylor’s Methoden durchaus kritisch eingestellt war – die Methode der Bewegungsstudie entwickelte und zum Kern der ingenieurwissenschaftlich orientierten Arbeitsanalyse machte. Dabei wurden zunächst Elementarbewegungen bestimmt, um sie dann zu optimalen Bewegungsabläufen zusammenzusetzen. Jeder Elementarbewegung, wie z. B. dem Bewegen der leeren Hand oder dem Greifen eines Gegenstandes, war eine mit der Stoppuhr gemessene Standardzeit zugeordnet (Schönpflug, 2004). Diese Methoden wurden in Deutschland u. a. durch Irene M. Witte (1894–1976) bekannt, einer Arbeitswissenschaftlerin, die eng mit dem Ehepaar Gilbreth zusammenarbeitete und die Übertragung der neuen Methoden vor dem Hintergrund kultureller Unterschiede zwischen Europa und den USA diskutierte (Witte, 1924). Psychologen haben den Taylorismus – mit unterschiedlichen Argumenten – meist abgelehnt, arbeitspsychologisch bedeutsam wurden aber die Studien zur Eignungsdiagnostik und zum Training motorischer Fähigkeiten. Die Grundgedanken der Standardisierung und Ökonomisierung der Arbeit sind dagegen in einem Zweig der Ingenieurswissenschaften, der Arbeitswissenschaft weiterentwickelt worden. In Deutschland wurde 1924 der Reichsausschuss für Arbeitsermittlung REFA von der Metallindustrie und Ingenieursvereinigungen gegründet, der sich u.a. der Normierung von Arbeitszeiten widmete. Daraus leitet sich die bis heute reichende Dominanz der Ingenieure in Fragen der Arbeitsanalyse und -gestaltung ab. Für die Entwicklung der Arbeitspsychologie ist dagegen die ebenfalls zur Jahrhundertwende entstandene Bewegung der industriellen Psychotechnik wichtiger geworden. 2.3
Hugo Münsterberg und die industrielle Psychotechnik
Der Begriff Psychotechnik geht auf den Entwicklungspsychologen und Begründer der differenziellen Psychologie William Stern (1871–1938) zurück. Er hat unterschieden zwischen der Psychognostik, die der psychologischen Beurteilung dienen soll – als »richtendes Urteil« über Befähigung, Charakter u. Ä. –, und der Psychotechnik als Wissenschaft von der Menschenbehandlung als »geeignete Handlungsweise für wertvolle Zwecke« (Schönpflug, 2004, S. 412). Er verwendete damit zwar als
erster in Verbindung mit Psychologie den Begriff der Technik, die angewandte Tätigkeit des Psychologen verglich er aber eher mit dem Handeln des Arztes. Darin unterschied er sich von Hugo Münsterberg (1863–1916), der heute als Nestor der angewandten Psychologie gilt und mit seinem Buch »Psychologie und Wirtschaftsleben« (1912/1997) als Begründer der Wirtschaftspsychologie. Da die Arbeits- und Organisationspsychologie als Kern dieser auch die Markt- und Werbepsychologie umfassenden Disziplin anzusehen ist, sei auf seine Person und sein Werk etwas genauer eingegangen (vgl. zum Folgenden Greif, 2004). Der aus einer deutsch-jüdischen Familie stammende Münsterberg studierte zunächst Medizin und legte in Leipzig die ärztliche Vorprüfung ab. Dort lernte er Wilhelm Wundt kennen, der ihn für Philosophie und Psychologie begeisterte mit der Folge, dass Münsterberg 1885 in Philosophie promovierte. Nach dem Studium ging Münsterberg nach Freiburg, wo er sich 1888 habilitierte und ein privates psychologisches Laboratorium einrichtete. 1891 wurde er in Freiburg zum außerordentlichen Professor ernannt, bereits ein Jahr später bot ihm William James, der für die amerikanische Psychologie so wichtig ist wie Wilhelm Wundt für die deutsche, die Leitung des neu einzurichtenden psychologischen Laboratoriums an der Harvard University an. Trotz seiner jungen Jahre hatte Münsterberg sich bereits einen so außergewöhnlichen Ruf erarbeitet, dass William James ihn für den einzig geeigneten Kandidaten zur Übernahme dieser Position hielt. Münsterberg nahm den Ruf an und baute ein psychologisches Laboratorium auf, wie er es aus Leipzig kannte. Er forschte über verschiedene theoretische und angewandte Fragestellungen, kehrte aber 1895 wieder nach Deutschland zurück. Dort wurde ihm – wohl nicht zuletzt aus antisemitischen Gründen – keine vergleichbare Position angeboten, weshalb er 1897 endgültig in die Vereinigten Staaten übersiedelte. In der Folgezeit publizierte er dort eine Vielzahl von Artikeln (u. a. einen, in dem er sich merkwürdigerweise kritisch zu den Möglichkeiten einer angewandten Psychologie äußert; vgl. dazu ausführlich Benjamin, 2006). Von Oktober 1910 bis September 1911 war er als Austauschprofessor in Berlin, wobei er vor mehreren hundert Studenten eine vierstündige Vorlesung über angewandte Psychologie gehalten hat. Nach eigener Aussage »war [es] das erste Mal, dass dieses neue Wissenschaftsgebiet an irgend einer Universität planmäßig als ein Ganzes dargestellt wurde« (Müns-
23 2.3 · Hugo Münsterberg und die industrielle Psychotechnik
terberg, 1912/1997, Vorwort). Diese Vorlesung bildete den Kern seines Buches »Grundzüge der Psychotechnik« (Münsterberg, 1914; zur zwiespältigen Rezeption von Person und Werk Hugo Münsterbergs in den USA vgl. Landy, 1992). Münsterberg betrachtet die Psychotechnik als »Wissenschaft von der praktischen Anwendung der Psychologie im Dienste der Kulturaufgaben« (1914, S. 1), wobei sie in diesem grundlegenden Werk auf Gesundheit, Wirtschaft, Recht, Erziehung, Kunst und Wissenschaft angewendet wird. In dieser Einschätzung der Aufgaben der Psychotechnik ähnelt er den Ansichten von William Stern, allerdings betrachtet er Anwendung sehr viel stär-
ker als eine Technik, als Instrumentarium, mit dem man eben nicht nur die Natur, sondern auch die sozialen Kräfte beherrschen kann (Lück, 2004). Dies zeigt sich auch in seinen eigenen Forschungen. Auf Anregung der American Association for Labor Legislation führte er 1910 die ersten Tests zur Auswahl von Straßenbahnfahrern durch. Damals waren elektrische Straßenbahnen eine wichtig Neuerung zur Bewältigung des Verkehrs in den Städten, dabei ereigneten sich aber enorm viele Unfälle, an denen Straßenbahnen beteiligt waren. Münsterberg führte die Unfälle zumindest teilweise auf die mangelnde Eignung der Fahrer zurück und entwickelte ein Verfahren, um unter den Bewerbern die Geeigneten herauszufinden.
Die Auswahl von Straßenbahnfahrern Nach manchen misslungenen Versuchen, die mit zu komplizierten Apparaten arbeiteten, kam ich schließlich zu der folgenden Versuchsanordnung. Ich beschreibe sie am besten, wenn ich von einem Satz langer Kartonblätter ausgehe, die in den Apparat hineingelegt werden. Jedes dieser Blätter sei 9 cm breit und 26 cm hoch. In der Mitte läuft durch die Länge ein Paar paralleler Linien mit einem Zentimeter Distanz. Sie stellen gewissermaßen ein Schienengeleise vor. Die ganze Karte ist in Zentimeterquadrate geteilt; innerhalb des Geleises liegt somit eine Reihe von 26 Quadranten, in deren jedes ein großer Buchstabe des Alphabetes von A bis Z eingedruckt ist. Auf jeder Seite dieses mittleren Geleises liegen nun also noch vier Parallelreihen solcher Quadrate. In diese sind scheinbar vollkommen unregelmäßig und zufällig eine Masse Ziffern eingedruckt, und zwar ausschließlich die Ziffern 1, 2 und 3. Auf jedem Blatt sind etwa hundert dieser Zahlen. Mehr als die Hälfte sind schwarz, der kleinere Teil rot. Ehe ich mit dem Versuch beginne, zeige ich eine oder zwei solcher Karten dem Individuum, das geprüft werden soll, und sage ihm etwa das Folgende: »Denken Sie sich, dass diese Mittellinien ein Geleise auf der Straße bedeuten, dass jede 1 einen Fußgänger, jede 2 einen Wagen und jede 3 ein Auto vorstellt, weil das Auto sich um die dreifache, der Wagen um die zweifache Strecke sich fortbe-
wegt hat, wenn der Fußgänger einen einfachen Schritt macht. Jeder solcher Schritt soll durch ein Quadrat dargestellt sein. Alle die schwarzen Zahlen bewegen sich dem Geleise parallel; kommen also für etwaiges Kreuzen des Geleises gar nicht in Betracht. Sie können von den schwarzen Zahlen mithin völlig absehen. Die roten Zahlen dagegen sind die gefährlichen. Sie bedeuten die Passanten, die sich von rechts oder von links her auf die Geleise bewegen. Ihre Aufgabe ist es nun, das Geleise von A bis Z mit den Augen entlangzugehen und so schnell wie möglich herauszufinden, an welcher Stelle die roten Ziffern gerade auf das Geleise kommen würden, wenn die 1 einen Schritt, die 2 zwei Schritte oder die 3 drei Schritte macht«. (Münsterberg, 1912/1997, S. 52) Bei dieser Aufgabe war ein Gefahrenpunkt zu erkennen und mit dem dazugehörigen Buchstaben zu bezeichnen (Schritte wurden in durchquerten Quadranten gemessen). Dies sollte möglichst schnell gehen – die Zeit bis zum Benennen wurde per Stoppuhr auf eine Fünftelsekunde genau gemessen. Für die Versuche hatte eine Straßenbahngesellschaft »einige ihrer allerbesten Männer zur Verfügung gestellt … und andere, die der Entlassung nahe standen, besonders solche, die eine Reihe kleiner Unfälle verschuldet hatten« (ebd., S. 54). Münsterberg berichtet, er habe eine weitgehende Übereinstimmung der Versuchsergebnisse mit den Leistungen der Wagenführer festgestellt.
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Kapitel 2 · Geschichte
Über diese und eine Vielzahl weiterer Untersuchungen berichtet Münsterberg in seinem Buch »Psychologie und Wirtschaftsleben«, das 1912 erschienen ist und den ersten publizierten Lehrtext der Arbeits- und Organisationspsychologie darstellt. Nach der Diskussion grundlegender Fragen werden in diesem Buch drei Bereiche behandelt: Die Auslese geeigneter Persönlichkeiten, wobei in erster Linie eignungsdiagnostische Untersuchungen berichtet werden (7 Kap. 17). Unter der Überschrift »Die Gewinnung der bestmöglichen Leistungen« werden u. a. Untersuchungen zu Fragen der Arbeitsgestaltung (7 Kap. 22), der Folgen der Arbeitstätigkeit (7 Kap. 25) und der Arbeitsmotivation (7 Kap. 24) beschrieben. Schließlich berichtet Münsterberg unter der Überschrift »Die Erzielung der erstrebten psychischen Wirkungen« auch über werbe- und verkaufspsychologische Untersuchungen, die heute eher zum Bereich der Marktpsychologie zählen (vgl. von Rosenstiel & Frey, 2007). 2.4
Weitere Entwicklungen: Berufs-, Personal- und Arbeitspsychologie
Münsterberg hat bereits in diesem frühen Werk alle wesentlichen Themen der Wirtschaftspsychologie angesprochen. Dabei konnte er sich teilweise auch auf Vorgänger berufen. So hat Frank Parsons schon im Jahre 1909 ein Buch mit dem Titel »Choosing a Vocation« veröffentlicht und gilt damit als Begründer der Berufspsychologie (vgl. Schönpflug, 2004). Die Personalpsychologie kann sich wiederum neben den grundlegenden Ideen von Münsterberg auf eine fundamentale Arbeit von Walter Scott – der auch bahnbrechende Arbeiten auf dem Gebiet der Werbepsychologie durchgeführt hat – aus dem Jahre 1915 zurückführen, in der er die Beurteilerübereinstimmung von Auswahlgesprächen überprüft hat. Dabei hat Scott u. a. festgestellt, dass derselbe Bewerber von einem Manager auf den 1. Platz und von einem anderen auf den 32. Platz (von 36 Bewerbern) gesetzt wurde. Damit wurde zum ersten Mal ein fundamentales Problem der Eignungsdiagnostik angesprochen mit der Folge, dass in der amerikanischen Versicherungswirtschaft die ersten biographischen Fragebögen entwickelt wurden. Durch solche Untersuchungen ließ sich die Überlegenheit einer Diagnostik demonstrieren, die auf psychometrischen Prinzipien beruht (vgl. Schuler & Marcus,
2006). Diese Entwicklung wurde vor allem durch die erste, groß angelegte Eignungsauslese mithilfe von Intelligenztests befördert. Als im Jahre 1917 die Vereinigten Staaten in den Ersten Weltkrieg eintraten, waren zwei Psychologen der Harvard Universität – Yerkes und Terman – maßgeblich an der Eignungsauslese beteiligt. Dazu wurden u. a. zwei Serien von Intelligenztests mit den Namen »army-alpha« und »army-beta« verwendet, wobei mit dem Alpha-Test Personen mit Lese- und Schreibkenntnissen und mit dem Beta-Test Analphabeten untersucht wurden. Damals wurden über zwei Millionen Tests durchgeführt – ein Markstein der Personalpsychologie (vgl. Schönpflug, 2004). Diese ersten berufs- und personalpsychologischen Arbeiten waren noch Teil der Psychotechnik. Münsterberg hatte mit diesem Begriff die gesamte angewandte Psychologie bezeichnet, demgegenüber schlug Walter Moede (1888–1958) den Begriff »industrielle Psychotechnik« vor, um damit die Anwendung der Psychologie in Produktionsbetrieben zu benennen (Greif, 2004). Diese Richtung nahm in Deutschland nach dem ersten Weltkrieg einen raschen Aufschwung. Nachdem die Wirtschaft sich schnell von den Kriegsfolgen erholt hatte, entstanden rund 600 private Rationalisierungsverbände, 85 staatliche Stellen mit ähnlichen Zielen sowie 67 staatliche Prüf- und Forschungseinrichtungen. Diese wurden durch das 1921 mit gewerkschaftlicher und staatlicher Beteiligung gegründete Reichskuratorium für Wirtschaftlichkeit (RKW) verknüpft. Im Jahre 1926 haben rund 110 deutsche Industrieunternehmen psychotechnische Untersuchungen durchgeführt, von denen ca. die Hälfte psychotechnische Prüfstellen eingerichtet hatten, wobei die meisten von Ingenieuren geleitet wurden. Dies erwies sich allerdings als eine kurzfristige Erscheinung, die bereits gegen Ende der Weimarer Republik wieder verblüht war. Dafür lassen sich eine Reihe von Ursachen anführen (vgl. Lück, 2004), u. a. die Weltwirtschaftskrise, aber auch die mangelnde Validität der eingesetzten Verfahren, aufgrund derer auch die Erfolge der psychotechnischen Bewegung bescheiden blieben. Erst nach dem Zweiten Weltkrieg, als die gesamte Psychologie aufgrund der professionellen akademischen Ausbildung ihren Aufschwung nahm, konnte sich dann eine Arbeitspsychologie etablieren, die sich mit vielen, bereits von der industriellen Psychotechnik bearbeiteten Fragestellungen auseinandersetzt (7 Kap. 20–32).
25 2.5 · Soziale Psychotechnik und Organisationspsychologie
2.5
Soziale Psychotechnik und Organisationspsychologie
Während sich die Anfänge der Arbeitspsychologie relativ eindeutig in der wissenschaftlichen Betriebsführung von Taylor und der industriellen Psychotechnik von Münsterberg erkennen lassen, ist die Idee einer Organisationspsychologie schwerer auszumachen, entsprechend ist auch der Begriff noch sehr jung: Im Jahre 1961 hielt Leavitt einen Festvortrag mit dem Titel »Towards Organizational Psychology«, 1965 erschien das erste Lehrbuch gleichen Namens von Bass, das erste deutschsprachige Lehrbuch haben von Rosenstiel, Molt und Rüttinger im Jahre 1972 publiziert. Da diese Teildisziplin in Abgrenzung zu der zu diesem Zeitpunkt bereits mehr oder weniger etablierten Arbeitspsychologie den Schwerpunkt auf das soziale Verhalten in Organisationen legt, werden ihre Anfänge gerne in den Hawthorne-Studien und der darauf folgenden Human-Relations-Bewegung gesehen (dazu genauer 7 Kap. 4). In den HawthorneStudien zeigte sich, dass das Leistungsverhalten der Mitglieder von Organisationen entscheidend durch das Verhalten anderer Personen in der Organisation beeinflusst wird, d. h., sozialpsychologische Variablen sind häufig wichtiger als die in der industriellen Psychotechnik analysierten objektiven Bedingungen des Arbeitsplatzes. In der Folge propagierte die Human-Relations-Bewegung die Pflege zwischenmenschlicher Beziehungen inner-
halb der Arbeitsgruppen und zwischen Vorgesetzten und Unterstellten als Königsweg zur Optimierung der Leistung in Organisationen. Demgegenüber hat Eckardt (1998) gezeigt, dass bereits Münsterberg die Bedeutung der sozialen Beziehungen im beruflichen Alltag für die Arbeitsleistung erkannt und die Grundlagen zu einer sozialen Psychotechnik gelegt hat. Nach seinen Vorstellungen ist es die Aufgabe der sozialen Psychotechnik – aufgrund der experimentell gewonnenen Erkenntnisse über das soziale Verhalten – die soziale Organisation praktisch zu fördern (Münsterberg, 1914). Entsprechend diesem Ansatz hat Münsterberg auch Gruppenprozesse untersucht und war u. a. der erste Forscher, der Konformitätsexperimente durchführte (Lück, 2004). Vermutlich unter dem Einfluss von Münsterberg hat Walther Moede bereits im Jahre 1913 eine groß angelegte Versuchsreihe zum Einfluss der sozialen Situation auf die Leistung des Einzelnen durchgeführt. Dabei untersuchte er u. a. den Einfluss des Wettbewerbs und den Einfluss von Zuschauern auf die Leistung von Schülern, wobei er glaubte, dass sich die Ergebnisse auch auf das Berufsleben übertragen lassen. Münsterberg, der diese Untersuchungen kannte, regte seinen Doktoranden Floyd H. Allport (1890–1978) zu weiteren Experimenten zum Einfluss der Anwesenheit anderer auf das Leistungsverhalten an. Diese Untersuchungen führten zur Entdeckung des Phänomens der Social Facilitation.
Social Facilitation und Arbeitsleistung Allports Versuchspersonen mussten einzeln oder in Gruppen von 3–5 Personen u. a. in Texten Vokale durchstreichen, Zahlen multiplizieren oder Gewichte beurteilen (vgl. zum Folgenden Lück, 1987). In den Gruppen verrichteten entweder alle die gleiche Arbeit oder aber nur einer und die anderen traten als Zuschauer auf. Der erste Fall wird als »Coaction-Bedingung« bezeichnet, der zweite als »Audience-Bedingung«. In der CoactionBedingung wurden die Versuchspersonen angewiesen, ihre Leistungen nicht als Wettbewerb zu verstehen: Die Versuchspersonen arbeiteten nebeneinander, wobei kein Leistungsvergleich gestattet war. Als Ergebnis stellte Allport eine Steigerung der Quantität der Leistung in der Coaction-Bedingung fest, wobei er glaubte, zwei gegenläufige Einflüsse in dieser Situation zu entdecken:
Der erste ist ein hemmender Einfluss, der durch Störungen der Sinnesorgane, emotionale Faktoren wie Übererregung beim Wettkampf, Voreingenommenheit beim Vergleich mit anderen und dergleichen zustande kommt. Der zweite und stärkere Faktor ist die Erleichterung. Zahlreiche Stimuli als Anzeichen für die schnelle Arbeit des Nachbarn dienen als Antrieb für größere Anstrengungen. (Allport, 1920; zit. nach Lück, 1987, S. 53) Für diesen zweiten Fall prägte Allport den Begriff Social Facilitation (soziale Erleichterung) als Ausdruck für die sozial bedingte Leistungsaktivierung. Verantwortlich machte er dafür letztlich den Anblick und die Geräusche der anderen, die das Gleiche machen.
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Die umfangreichen Forschungen zum Phänomen der Social Facilitation zählen heute zu den Grundlagen der Sozialpsychologie, wobei ihr Ausgangspunkt in der sozialen Psychotechnik und der Bezug zur Sozialpsychologie des Arbeitsverhaltens im Betrieb kaum noch beachtet werden. Tatsächlich kann aber in diesen Untersuchungen die Keimzelle der Organisationspsychologie gesehen werden (ohne den nachhaltigen Einfluss der HawthorneStudien und der Human-Relations-Bewegung auf die Entstehung dieser Disziplin zu verleugnen; 7 Kap. 4). 2.6
Die Entwicklung nach dem Zweiten Weltkrieg
Die NS-Diktatur mit dem Ergebnis des Zweiten Weltkriegs bildete für die Geschichte der Psychologie in Deutschland eine Zäsur: Qualitativ erlebte sie einen dramatischen Niedergang aufgrund der Zwangsemigration führender, vor allem jüdischer Psychologen, der zunehmenden Abkopplung von den internationalen Entwicklungen und auch der Anbiederung mancher Fachvertreter an die Nazi-Ideologie. Dem stand aber ein quantitativer Ausbau der Hochschulinstitute und vor allem der Wehrmachtpsychologie entgegen. Nach dem Zweiten Weltkrieg war die Lage auch für die Arbeits- und Betriebspsychologie entsprechend schwierig, was zu einem engen Zusammenschluss der verbliebenen Fachvertreter führte. Bereits im Jahre 1946 wurde in der britischen Besatzungszone der Berufsverband Deutscher Psychologen (BDP) gegründet (Lück & Sewz-Vosshenrich, 2000), im Jahr darauf wurde ein Mitteilungsblatt angeboten und die erste Tagung durchgeführt. Im Jahre 1948 wurde dann auch die Sektion Arbeits- und Betriebspsychologie gebildet (heute: Sektion Wirtschaftspsychologie), deren Mitgliederzahl bis heute konstant gestiegen ist. Der akademische Interessenverband der deutschen Psychologen, die Deutsche Gesellschaft für Psychologie
(DGPs), hat sich im Jahre 1948 mit einer Tagung in Göttingen wieder etabliert. Seitdem kooperieren beide Verbände in der Vertretung der Interessen deutscher Psychologen. In der DGPs besteht seit 1985 die Fachgruppe Arbeits- und Organisationspsychologie, die mittlerweile über 200 Mitglieder umfasst und im Abstand von 2 Jahren wissenschaftliche Tagungen durchführt. Lag das Niveau der deutschen A&O-Psychologie nach dem Kriege noch deutlich hinter dem internationalen Standard – einen Überblick über die wichtigsten wissenschaftlichen Arbeiten nach dem Krieg gibt das »Handbuch für Betriebspsychologie« von Arthur Mayer (Mayer & Herwig, 1970) –, so hat sich vor allem nach der Etablierung der Organisationspsychologie die Qualität der deutschen Forschung entscheidend verbessert. Dokumentiert ist diese Entwicklung im wichtigsten deutschsprachigen wissenschaftlichen Organ, der Zeitschrift für Arbeitsund Organisationspsychologie. Die starke wissenschaftliche Entwicklung in diesem Feld hat dazu geführt, dass sich im Jahre 2002 mit der Zeitschrift für Personalpsychologie ein weiteres Organ des wissenschaftlichen Austausches etablieren konnte. Diese positive Entwicklung der deutschen Arbeitsund Organisationspsychologie dokumentiert sich auch in der Verortung des Faches an den Universitäten und Fachhochschulen. Mittlerweile finden sich an fast allen psychologischen Instituten auch Lehrstühle bzw. Professuren für Arbeits- und Organisationspsychologie, die allerdings des Öfteren mit der Sozialpsychologie verbunden sind. Darüber hinaus sind solche Lehrstühle auch an anderen Instituten, vor allem im betriebswirtschaftlichen Bereich, aber auch bei den Ingenieurswissenschaften angesiedelt, wo sie Studierende im Nebenfach ausbilden. Ursache für diese Tendenz ist nicht zuletzt die starke Nachfrage nach akademisch ausgebildeten Arbeits- und Organisationspsychologen aus der Praxis, die auch zur Einrichtung spezieller Studiengänge an Fachhochschulen geführt hat.
27 Literatur
Zusammenfassung 4 Die Anfänge der Arbeits- und Organisationspsychologie lassen sich bis auf Wilhelm Wundt zurückverfolgen, der zwar einer Anwendung der Psychologie skeptisch gegenüber stand, von dessen Schülern aber entscheidende Impulse ausgingen. 4 Ein Gutteil der Vorbehalte gegen die neue Teildisziplin lässt sich auf den Taylorismus zurückführen, dessen rigides System der wissenschaftlichen Betriebsführung sowohl von Psychologen als auch von gewerkschaftlicher Seite kritisiert wurde.
L Weiterführende Literatur Greif, S. (2004). Geschichte der Organisationspsychologie. In H. Schuler (Hrsg.), Lehrbuch Organisationspsychologie. (S. 21–57). Bern: Huber. Gundlach, H. (Hrsg.). (1996). Untersuchungen zur Geschichte der Psychologie und Psychotechnik. München: Profil. Lück, H.E. (2004). Geschichte der Organisationspsychologie. In: H. Schuler (Hrsg.), Organisationspsychologie 1 – Grundlagen und Personalpsychologie. Enzyklopädie der Psychologie, Bd. D/III/3. (S. 17–72). Göttingen: Hogrefe.
Literatur Allport, F.H. (1920). The influence of the group upon association and thought. Journal of Experimental Psychology, 3, 159–182. Bass, B.M. (1965). Organizational psychology. Boston: Allyn and Bacon. Benjamin, L.J. (2006). Hugo Münsterbergs attack on the application of scientific psychology. Journal of Applied Psychology, 91, 414–425. Danziger, K. (1987). Social context and investigative practices in early twentieth-century psychology. In M.G. Ash & W.R. Woodward (Eds.), Psychology in twentieth-century thought and society. (pp. 13–33). Cambridge: Cambridge University Press. Eckardt, G. (1998). Die Thematisierung des Sozialen in der frühen Psychotechnik in Deutschland. Psychologie und Geschichte, 8, 18–33. Frieling, E. & Sonntag, Kh. (1999). Lehrbuch Arbeitspsychologie. (2. Aufl.). Bern: Huber. Greif, S. (2004). Geschichte der Organisationspsychologie. In H. Schuler (Hrsg.), Lehrbuch Organisationspsychologie. (S. 21–57). Bern: Huber. Gundlach, H. (Hrsg.). (1996). Untersuchungen zur Geschichte der Psychologie und Psychotechnik. München: Profil. Kraepelin, E. (1902). Die Arbeitscurve. Philosophische Studien, 19, 459–507. Landy, F.J. (1992). Hugo Münsterberg. Victim or visionary? Journal of Applied Psychology, 77, 787–802. Lück, H.E. (1987). Psychologie sozialer Prozesse. (2. Aufl.). Opladen: Leske + Budrich.
4 Als Gründervater der angewandten Psychologie gilt Hugo Münsterberg, der mit seinem Buch »Psychologie und Wirtschaftsleben« entscheidende Anstöße für die industrielle Psychotechnik gegeben hat, aus der sich nach dem Zweiten Weltkrieg die Arbeitspsychologie entwickelte. 4 Auf Münsterberg gehen auch die ersten Ideen für eine soziale Psychotechnik zurück, die als Keimzelle der modernen Organisationspsychologie gelten kann.
Lück, H.E. (2002). Geschichte der Psychologie. (3. Aufl.). Stuttgart: Kohlhammer. Lück, H.E. (2004). Geschichte der Organisationspsychologie. In: H. Schuler (Hrsg.), Organisationspsychologie 1 – Grundlagen und Personalpsychologie. Enzyklopädie der Psychologie, Bd. D/III/3. (S. 17–72). Göttingen: Hogrefe. Lück, H.E. & Sewzs-Vosshenrich, G. (2000). Die Anfänge des BDP nach historischen Quellen. Report Psychologie, 25, 728–733. Mayer, A. & Herwig, B. (Hrsg.). (1970). Handbuch der Psychologie, Bd. 9: Betriebspsychologie (2. Aufl.). Göttingen: Hogrefe. Münsterberg, H. (1912/1997). Psychologie und Wirtschaftsleben. Neu herausgegeben und eingeleitet von W. Bungard und H.E. Lück. Weinheim: Beltz. Münsterberg, H. (1914). Grundzüge der Psychotechnik. Leipzig: Barth. Rosenstiel, L. von (2004). Arbeits- und Organisationspsychologie – wo bleibt der Anwendungsbezug? Zeitschrift für Arbeits- und Organisationspsychologie, 48, 87–94. Rosenstiel, L. von & Frey, D. (Hrsg.). (2007). Marktpsychologie. Enzyklopädie der Psychologie, Bd. D/III/5. Göttingen: Hogrefe. Rosenstiel, L. von, Molt, W. & Rüttinger, W. (1972). Organisationspsychologie. Stuttgart: Kohlhammer. Schönpflug, W. (2004). Geschichte und Systematik der Psychologie. Ein Lehrbuch für das Grundstudium. (2. Aufl.). Weinheim: Beltz. Schuler, H. & Marcus, B. (2006). Biografieorientierte Verfahren der Personalauswahl. In H. Schuler (Hrsg.), Lehrbuch der Personalpsychologie. (2. Aufl., S. 189–226). Göttingen: Hogrefe. Scott, W.D. (1915). Scientific selection of salesmen. Advertising and Selling Magazine, 5, 5–6. Taylor, F.W. (1913/1977). Die Grundsätze wissenschaftlicher Betriebsführung. Neu herausgegeben und eingeleitet von W. Volpert und R. Vahrenkamp. Weinheim: Beltz. Ulich, E. (2005). Arbeitspsychologie. (6. Aufl.). Zürich und Stuttgart: vdf und Schäffer-Poeschel. Witte, I.E. (1924). Taylor, Gilbreth, Ford. Gegenwartsfragen der amerikanischen und europäischen Arbeitswissenschaft. München: Oldenbourg. Wundt, W. (1909). Über reine und angewandte Psychologie. Psychologische Studien, 5, 1–47. Wundt, W. (1911). Einführung in die Psychologie. Leipzig: Voigtländers.
2
3
3 Methoden 3.1
Formulierung der Problemstellung
3.2
Formulierung von Hypothesen
3.3
Auswahl des Studiendesigns – 34
– 31
– 32
3.3.1 Experimentelles Design – 34 3.3.2 Korrelatives Design – 36
3.4
Datensammlung
3.5
Datenauswertung
3.6
Interpretation der Ergebnisse
3.7
Kommunikation der Ergebnisse
3.8
Metaanalyse Literatur
– 38
– 42
– 43
– 40 – 41 – 41
30
Kapitel 3 · Methoden
»Ich halte dafür, dass das einzige Ziel der Wissenschaft darin besteht, die Mühseligkeit der menschlichen Existenz zu erleichtern.« (Bert Brecht, Leben des Galilei)
3
> Die Arbeits- und Organisationspsychologie ist eine angewandte Wissenschaft. Weil sie eine wissenschaftliche Teildisziplin der Psychologie ist, beschäftigt sie sich mit der objektiven Beschreibung, Messung, Erklärung und Prognose des Erlebens und Verhaltens von Menschen in Organisationen und an der Schnittstelle zu Organisationen. Menschen in Organisationen haben z. B. die Rolle von Mitarbeitern, Kollegen, Führungskräften oder Unternehmern. Menschen an der Schnittstelle zu Organisationen sind z. B. Bewerber, Kunden oder Aktionäre. Weil sie eine angewandte Disziplin ist, forscht die Arbeits- und Organisationspsychologie auch mit dem Ziel, die Praxis zu beraten, Innovationen zu entwickeln sowie Evaluationen in der Praxis durchzuführen. Allerdings hat die Arbeits- und Organisationspsychologie als angewandte Disziplin auch eine aufklärende Funktion (Blickle & Witzki, 2006). Sie soll 4 Vorurteile, Mythen, und Ideologien der Praxis aufdecken, 4 versteckte Wertprämissen transparent machen, 4 Traditionen und Gewohnheiten in Frage stellen sowie 4 die Wünsche von Praktikern am tatsächlich Machbaren prüfen. Um diese Ziele erreichen zu können, ist eine unvoreingenommene, unparteiliche, rationale, transparente und vor allem erfahrungsbasierte, d. h. empirische Untersuchung der Gegebenheiten und Wirkungszusammenhänge erforderlich. Nicht Spekulationen, Wunschdenken oder Interessen, sondern empirisch fundierte Aussagen, die auf Beobachtung, Messung und Bedingungsvariationen bei Kontrolle der Randbedingungen beruhen, bestimmen die Arbeits- und Organisationspsychologie. Heinz Schuler (2006) hat dies als quasi naturwissenschaftliche Arbeitshaltung bezeichnet. Diese impliziert auch, dass die Arbeits- und Organisationspsychologie nicht zu allen Fragestellungen, die aus der Praxis an sie herangetragen werden, sofort eine Aussage machen kann. Vielmehr gehört auch das Wissen um die Begrenztheit dessen, wozu aktuell empirisch begründete Aussagen gemacht werden können, zum Selbstverständnis der Arbeits- und Organisationspsychologie. Neben dieser Anerkennung der eigenen Grenzen ist die Offenheit für Selbstkorrekturen eine weitere wichtige Quelle für die Weiterentwicklung der wissenschaftlichen Erkenntnisse. Das methodologische Regelwerk der Psychologie und die darauf aufbauenden Methoden der Arbeits- und Organisationspsychologie dienen letztlich dem Zweck, sicherzustellen, dass diese unvoreingenommene, unparteiliche, rationale und transparente empirische Untersuchung der Gegebenheiten und Wirkungszusammenhänge des Erlebens und Verhaltens von Menschen in Organisationen erfolgreich ist. Im Folgenden sollen deshalb kurz die wichtigsten Schritte des arbeits- und organisationspsychologischen Forschungsprozesses skizziert werden (. Abb. 3.1).
31 3.1 · Formulierung der Problemstellung
. Abb. 3.1. Kernelemente des Forschungsprozesses in der Arbeits- und Organisationspsychologie
3.1
Formulierung der Problemstellung
Am Beginn des Forschungsprozesses steht die Formulierung der Problemstellung. Viele Problemstellungen ergeben sich aus der gesellschaftlichen, wirtschaftlichen und technischen Veränderung des Umfeldes von Organisationen wie z. B.: 4 Wie kann die Vereinbarkeit von Beruf und Familie verbessert werden? 4 Welche Aufgaben in einer Organisation können von Beschäftigten, die älter als 60 Jahre alt sind, ebenso gut erfüllt werden wie von jüngeren Personen? 4 Wie lassen sich die neuen Informations- und Kommunikationstechnologien für die Personalsuche von Organisationen einsetzen? Manche Problemstellungen ergeben sich auch aus der betrieblichen Praxis, z. B.: 4 Bekämpfung des Substanzmissbrauchs (Alkohol, Drogen) während der Arbeit (7 Kap. 25), 4 Unfallverhütung am Arbeitsplatz (7 Kap. 27), 4 Einführung von Gruppenarbeit (7 Kap. 8 und 23), 4 Verhinderung von Abrechnungsbetrug durch Angestellte oder Diebstahl am Arbeitsplatz (7 Kap. 25), 4 Qualifizierung von Mitarbeitern (7 Kap. 19 und 26), 4 Senkung der Fluktuationsquote (Kündigungsrate) (7 Kap. 8 und 16).
Oft ergeben sich aber auch Problemstellungen aus der bisherigen Forschung wie etwa: 4 Sind die Befunde und Ergebnisse der amerikanischen Forschung zum Zusammenhang von allgemeiner Intelligenz und Berufsleistung auch auf europäische oder deutsche Verhältnisse übertragbar? 4 Wie lassen sich unterschiedliche Vorhersagen zweier Theorien zum gleichen Gegenstand miteinander vereinbaren? Sind die Aussagen einer Theorie richtig und die Aussagen der anderen Theorie falsch oder beziehen sich die beiden Theorien nur scheinbar auf den gleichen Gegenstand und sind beide Theorien richtig, weil sie in Wirklichkeit doch zu unterschiedlichen Sachverhalten Aussagen machen? 4 Gibt es Bereiche des Arbeitsverhaltens, die durch die sog. emotionale Intelligenz besser vorhergesagt werden können als durch bereits etablierte Konstrukte der Personalpsychologie, als da sind: allgemeine Intelligenz, Persönlichkeitsmerkmale oder soziale Fertigkeiten? Da die Arbeits- und Organisationspsychologie inzwischen auf eine fast 100-jährige Forschungsgeschichte zurückblicken kann und da die Ressourcen für Forschung knapp sind, steht am Anfang jeder Forschungsarbeit die Literaturrecherche und das genaue Studium der Literatur, denn für viele Fragen gibt es bereits eine solide wissenschaftliche Befundlage. Aktuelle Lehrbücher dienen als Hilfsmittel, um einen allgemeinen Überblick zu bekommen. Anschließend sollten Handbücher durchgesehen werden, die zur speziellen Thematik vertiefende Informationen und Literaturhinweise liefern, wie z. B. das Handbuch zur Arbeits- und Organisationspsychologie (Schuler & Sonntag, 2007). Schließlich sind dann Artikel zur aktuellen Forschung zu einer bestimmten Fragestellung zu recherchieren. Im deutschen Sprachraum gibt es dafür die »Zeitschrift für Arbeits- und Organisationspsychologie« und die »Zeitschrift für Personalpsychologie« (für einen Überblick s. Solga & Blickle, 2006). Wichtige internationale Zeitschriften sind in der folgenden Übersicht zusammengefasst. Unverzichtbare Hilfsmittel für die Recherche von Zeitschriftenartikeln sind die Datenbanken PSYNDEX plus für die deutschsprachige Literatur sowie die Datenbanken PsycInfo und Web of Science für die internationale Literatur. Sie sind bei den meisten Universitätsbibliotheken oder den Bibliotheken der Institute für Psychologie über die elektronischen Portale zugänglich.
3
32
Kapitel 3 · Methoden
Internationale Zeitschriften mit arbeits- und organisationspsychologischem Schwerpunkt 4 4 4 4 4 4
3
4 4 4 4 4 4 4 4 4 4 4 4 4 4 4 4
3.2
Academy of Management Journal Academy of Management Review Administrative Science Quarterly Applied Ergonomics Applied Psychology: An International Review European Journal of Work & Organizational Psychology Ergonomics Human Factors Human Performance Human Relations Human Resource Development Quarterly Human Resource Management Review International Journal of Selection and Assessment Journal of Applied Psychology Journal of Applied Social Psychology Journal of Occupational and Organizational Psychology Journal of Organizational Behavior Journal of Vocational Behavior Leadership Quarterly Organizational Behavior and Human Decision Processes Personnel Psychology Work & Stress
Formulierung von Hypothesen
Forschung, die am Anfang steht, muss sich mit der Formulierung von Fragestellungen begnügen, fortgeschrittene arbeits- und organisationspsychologische Forschung zeichnet sich dadurch aus, dass sie Fragestellungen in sog. Forschungshypothesen überführt. Dazu ist es zunächst notwendig festzulegen, welche Sachverhalte als sog. Variablen variiert oder gemessen werden sollen. Definition Eine Variable ist ein Merkmal eines Sachverhaltes (z. B. ein Trainingsprogramm für Mitarbeiter) oder von Personen (z. B. die Leistung eines Mitarbeiters), das unterschiedliche Ausprägungen hat.
Beispielsweise kann ein Trainingsprogramm ohne (»Tun Sie Ihr Bestes!«) oder mit Zielvorgaben (»Nach dem Training sollten Sie den Leistungsstand xy erreichen!«) durchgeführt werden. Der Versuchsleiter kann in diesem Fall variieren, ob ein Untersuchungsteilnehmer das Trainingsprogramm ohne oder mit Zielsetzung vermittelt bekommt. Bei einer Variablen, die gemessen werden soll, geht es darum, unterschiedlichen Ausprägungen eines Sachverhaltes (z. B. hohe, mittlere oder geringe Leistung) Zahlenwerte zuzuordnen. Wenn verschiedene Personen nach dem Training einen unterschiedlichen Leistungsstand erreichen, spricht man davon, dass dieses Merkmal variiert, d. h. bei unterschiedlichen Personen verschieden ausfällt. Definition In einer wissenschaftlichen Hypothese wird der Zusammenhang zwischen zwei oder mehreren Variablen vorhergesagt. Eine wissenschaftliche Hypothese bringt also zum Ausdruck, welche Erwartungen die forschende Person darüber hat, wie z. B. der Zusammenhang zwischen der Trainingsmodalität (mit oder ohne Zielsetzung) und der Leistung nach dem Training ausfallen wird.
Von wissenschaftlichen Laien wird häufig die Frage gestellt, warum man überhaupt noch etwas erforschen müsse, wenn man doch schon genaue Erwartungen dazu habe, wie das Ergebnis der Forschung hinterher ausfallen wird. Die Antwort ist, dass Hypothesen aus Theorien abgeleitet werden und dass wir aufgrund der Bestätigung oder Nichtbestätigung von Hypothesen Rückschlüsse auf die Gültigkeit der sie begründenden Theorien ziehen können. Eine Bestätigung der Hypothese besagt, dass wir mit einer Theorie vorläufig weiterarbeiten können. Eine Nichtbestätigung der Hypothese stellt eine sog. Falsifikation dar. Wenn dieser Fall eintritt, muss die Theorie revidiert oder die Messinstrumente oder das Design der Studie überprüft werden. Warum ist aber die Falsifikation oder vorläufige Akzeptanz von Theorien so wichtig für die Wissenschaft? Von wissenschaftlichen Laien werden wissenschaftliche Theorien häufig fälschlicherweise für subjektive Überzeugungen oder für subjektive Lebensmaximen gehalten, weil man im Alltag häufig hört: »Meine Theorie ist ja, dass …«. In der wissenschaftlichen Psychologie hat der Begriff Theorie eine andere Bedeutung.
33 3.2 · Formulierung von Hypothesen
Definition Eine Theorie stellt in der wissenschaftlichen Psychologie ein Modell zur Erklärung eines bestimmten Phänomens dar.
Die Zielsetzungstheorie (Locke & Latham, 1990; 7 Kap. 24), erklärt z. B., wie sich die Merkmale von Zielen auf das Arbeitsverhalten und die Leistung von Mitarbeitern auswirken, die Rückmeldungstheorie (Kluger & DeNisi, 1996; 7 Kap. 18) erklärt, wie sich unterschiedliche Arten von Rückmeldungen auf die weitere Leistung von Mitarbeitern auswirken, etc. Das Ziel der wissenschaftlichen Forschung besteht darin, solche Theorien zu entwickeln und empirisch zu überprüfen, weil Theorien Verallgemeinerungen über Arbeitsplätze, Personen, Situationen, Messinstrumente, Epochen, Länder und Kulturen hinweg darstellen. Wenn die Wissenschaft solche Theorien entwickelt hat, ist es nicht notwendig, immer wieder neu für jeden Arbeitsplatz und für jeden Mitarbeiter zu untersuchen, wie die Ziele und die Art der Rückmeldung für ihn oder sie gestaltet sein müssen, damit er oder sie optimale Leistung bringt. Wenn wir es mit einer gut geprüften Theorie zu tun haben, so gilt sie bei Männern und Frauen, Chemiearbeitern und Versicherungsangestellten, heute und in 20 Jahren, in Nordamerika und in Asien, ebenso wie in Leverkusen oder München. Der für die Entwicklung der Psychologe als Wissenschaft richtungsweisend wirkende Kurt Lewin (1951, S. 169) schrieb deshalb: »There is nothing as practical as a good theory.«
Wenn eine forschende Person ihre erwarteten Ergebnisse aus bestehenden Theorien ableitet, verzichtet sie also darauf, das Rad oder die Bratkartoffeln neu zu erfinden, sondern sie greift damit auf die Forschungsergebnisse von Generationen von Forschenden vor ihr zurück. Gleichzeitig überprüft sie mit der Formulierung der Hypothese für die neue Problemstellung, ob die Theorie auch im konkreten Fall Anwendung finden kann. In Bezug auf Theorien lassen sich vier verschiedene Arten von Variablen unterscheiden: Antezedenzvariablen, Mediatorvariablen, Moderatorvariablen und Konsequenzvariablen (. Abb. 3.2). Antezedenzvariablen sind die sog. vorauslaufenden Bedingungen. Sie beschreiben die Wenn-Komponente einer Hypothese. Die Konsequenzvariablen betreffen die Folgen, die sich danach aus der Wenn-Komponente ergeben. Die Konsequenzvariable beschreibt also die Dann-Komponente einer Hypothese. Wenn jemand z. B. ein spezifisches, schwieriges, aber erreichbares Ziel vorgegeben bekommt oder sich selbst setzt, dann bringt er oder sie höhere Leistungen, als wenn jemand kein Ziel, bzw. ein unspezifisches Ziel vorgegeben bekommt (z. B. »Tun Sie Ihr Bestes!«). Warum ist dies so? Welche psychischen Prozesse laufen ab, die dazu führen, dass spezifische und schwierige Ziele zu einer Leistungserhöhung führen? Die Zielsetzungstheorie postuliert: Weil spezifische Ziele die Aufmerksamkeit auf das Ziel ausrichten, weil das psychische System durch diese Ziele aktiviert wird, weil spezifische Ziele die Anstrengung steigern und die Ausdauer (Festhalten am Ziel, auch wenn Widerstände auftreten) erhöhen, kommt es zu der leistungssteigernden Wirkung
. Abb. 3.2. Unterschiedliche Arten von Variablen am Beispiel der Zielsetzungstheorie von Locke und Latham (1990)
Mediatorvariable Moderatorvariable
3
34
3
Kapitel 3 · Methoden
durch spezifische und schwierige Ziele. Man bezeichnet dies als vermittelnde (mediierende) Prozesse. Eine Variable, die an diesen vermittelnden Prozessen beteiligt ist, wie z. B. die Anstrengungssteigerung, bezeichnet man deswegen als Mediatorvariable. Eine Hypothese, die für eine bestimmte Variable postuliert, dass es sich dabei um eine vermittelnde Variable handelt, bezeichnet man deswegen auch als Mediatorhypothese. Die Zielsetzungstheorie postuliert weiterhin, dass dieser Wenn-dann-Zusammenhang zwischen Zielart und Leistung nur unter bestimmten Randbedingungen gilt, nämlich dann, 4 wenn die betroffene Person über ausreichende Fähigkeiten verfügt, 4 wenn sie mit geeigneten Werkzeugen, Materialien, und Arbeitsmethoden in einer nicht behindernden Arbeitsumgebung (z. B. ausreichende Ausleuchtung) arbeiten kann, 4 wenn sie während des aktuellen Arbeitsprozesses ihre Teil- und Zwischenergebnisse erfährt, 4 wenn ihr das Ziel wichtig ist (positive Zielbindung) und 4 wenn das Ziel eine geringe Komplexität aufweist. Diese Randbedingungen, die mitentscheiden, ob bei gegebener Wenn-Komponente die Dann-Komponente eintritt oder nicht, bezeichnet man als Moderatorvariablen. Hypothesen, die sich auf die moderierende Wirkung einer Variablen beziehen, bezeichnet man als Moderatorhypothesen. Lässt sich beispielsweise wider Erwarten die leistungssteigernde Wirkung spezifischer und schwieriger Ziele in einem bestimmten Arbeitskontext nicht bestätigen, ist eine mögliche Erklärung dafür, dass dort eine noch unerforschte Moderatorvariable wirksam war, deren spezifische Ausprägung das Eintreten des erwarteten Effektes verhindert hat. Das »etc.?« in . Abb. 3.2 zeigt, dass es hier möglicherweise noch eine Reihe von unerforschten Moderatorvariablen gibt. Jede Theorie stellt eine Vereinfachung der Realität dar. Stillschweigend wird in der Theorie eine durchschnittliche, psychisch und biologisch funktionsfähige Person unter den normalen Lebens- und Arbeitsbedingungen in einer modernen Industriegesellschaft vorausgesetzt. Diese stillschweigenden Voraussetzungen nennt man »Ceteris-paribus-(c. p.-)Bedingungen«. Dies bedeutet: »Unter der Annahme, dass alle Rahmenbedingungen gleich bleiben.«
3.3
Auswahl des Studiendesigns
Bei der Planung einer Studie werden zwei typische Untersuchungsanlagen (Designs) unterschieden: 1. das experimentelle und 2. das korrelative Design. 3.3.1 Experimentelles Design Bei einem experimentellen Design stellt die forschende Person aktiv die Untersuchungsbedingungen her, die im Experiment variiert werden (Moser, 2004), z. B. Arbeiten mit und ohne Pausen. Die forschende Person kann z. B. die Hypothese haben, dass durch Einstreuen von regelmäßigen Kurzpausen die Arbeitsleistung gesteigert wird. Die Konsequenzvariable muss so beschaffen sein, dass sie sich objektiv erfassen lässt, wie z. B. die Anzahl richtig gelöster Rechenaufgaben im Zahlraum von 100. Eine Konsequenzvariable wird im Experiment als abhängige Variable bezeichnet, die Antezendenzvariable dagegen als unabhängige Variable. Bei einem sachgerecht durchgeführten Experiment soll lediglich die Variation der unabhängigen Variablen einen Einfluss auf die Ausprägung der abhängigen Variablen haben. Alle anderen Einflüsse auf die Ausprägung der abhängigen Variablen sollen konstant gehalten werden. In der sog. Kontrollgruppe bekommen die Versuchspersonen beispielsweise 120 Minuten lang Rechenaufgaben am Computer eingespielt, die sie lösen und dann das richtige Ergebnis eintippen sollen. Sobald sie eine Aufgabe gelöst haben, spielt der Computer die nächste Aufgabe ein. In der Experimentalgruppe zeigt der Computer regelmäßig nach 5 Minuten an: »Machen Sie nun eine kurze Pause von einer Minute – entspannen Sie sich!«. Nach Ablauf 1 Minute werden wieder 5 Minuten lang Rechenaufgaben eingespielt. In der Experimentalgruppe arbeiten die Versuchspersonen also 100 Minuten und machen 20 Minuten Pause, während die Versuchspersonen in der Kontrollgruppe 120 Minuten lang ohne Unterbrechung durcharbeiten. Es gibt nun verschiedene Größen, die auf die Rechenleistung einen Einfluss nehmen können, z. B. die Sichtbarkeit der Rechenaufgaben am Bildschirm, die Tageszeit, zu der gearbeitet wird, die Rechenfähigkeit der Versuchspersonen, die Motivation der Untersuchungsteilnehmer, die Ausstrahlung des Versuchsleiter, der Ehrgeiz der Versuchspersonen, aber auch möglicherweise
35 3.3 · Auswahl des Studiendesigns
noch viele andere, bisher unerforschten Variablen. Um diese Einflussgrößen konstant zu halten, gibt es unterschiedliche Kontrolltechniken: 4 Konstanthalten, 4 Randomisierung, 4 Parallelisierung und 4 Ausbalancieren. Die erste Kontrolltechnik besteht darin, sprichwörtlich in beiden Untersuchungsbedingungen alles konstant zu halten, was man konstant halten kann, den Arbeitsraum, den Arbeitsplatz, die Beleuchtung und Klimatisierung, die Mensch-Computer-Schnittstelle, den Versuchsleiter, die Tageszeit der Durchführung des Experimentes, etc. Wenn dem Versuchsleiter unbekannt ist, welche Personenfaktoren die abhängige Variable beeinflussen können, wird die Technik der sog. Randomisierung (Zufallsaufteilung) eingesetzt. Per Zufall (z. B. durch Münzwurf) entscheidet der Versuchsleiter, welche Untersuchungsperson welcher Versuchsgruppe zugeordnet wird. Dadurch wird sichergestellt, dass sich die beiden Gruppen in Bezug auf die unbekannten Merkmale nur zufällig unterscheiden. Für die Kontrolle bekannter und starker Einflüsse auf die abhängige Variable – wie etwa in diesem Beispiel die Rechenfähigkeit der Versuchspersonen – bietet sich auch eine andere Kontrolltechnik an, nämlich das sog. Parallelisieren. Angenommen, in jeder Experimentalbedingung sollen 10 Versuchspersonen untersucht werden. Eine Woche vor dem eigentlichen Experiment wird mit den 20 Versuchspersonen ein Rechentest durchgeführt. Aufgrund ihrer Ergebnisse im Rechentest stellt der Versuchsleiter eine Rangreihe von 1 bis 20 auf. Dann bildet der Versuchsleiter entsprechend der Leistung immer 2-er-Paare, das Paar der Besten, also Nr. 1 und 2, das Paar der Zweitbesten, also Nr. 3 und 4., bis zum Paar der Schlechtesten, also Nr. 19 und 20. Bei jedem Paar entscheidet der Versuchsleiter dann per Zufall (Münzwurf), welcher der Paarlinge in die Experimental- und welcher der Paarlinge in die Kontrollgruppe kommt. Dadurch wird auch sichergestellt, dass sich die Rechenfähigkeit in den beiden Untersuchungsgruppen nur zufällig unterscheidet. Eine weitere, wirkungsvolle, aber sehr aufwändige Kontrolltechnik ist das sog. Ausbalancieren, bei dem eine Versuchsperson beide Versuchsbedingungen, also die Experimentalbedingung und die Kontrollbedingung durchläuft, sodass alle stabilen Personenmerkmale, wie
z. B. die Rechenfähigkeit oder der individuelle Leistungsehrgeiz für beide Versuchsgruppen konstant gehalten werden. In diesem Fall muss der Versuchsleiter allerdings wieder per Zufall entscheiden, welche Versuchsperson am Experiment in der Abfolge »Experimentalbedingung o Kontrollbedingung« und welche Versuchsperson in der Abfolge »Kontrollbedingung o Experimentalbedingung« an der Untersuchung teilnimmt. Experimente, die in einer von der Forschung speziell hergerichteten Umgebung außerhalb des alltäglichen Lebenskontextes der Untersuchungsteilnehmer durchgeführt werden, bezeichnet man als Laborexperimente, Experimente, die im alltäglichen Lebenskontext durchgeführt werden, bezeichnet man dagegen als Feldexperimente. Studien, bei denen zwar eine systematische Bedingungsvariation vorliegt, aber entweder mindestens eine der unterschiedlichen Untersuchungsbedingungen nicht hergestellt wurde, sondern auf vorliegende Unterschiede (z. B. Männer vs. Frauen, Mitarbeiter unter 30 Jahre vs. Mitarbeiter über 60 Jahre, Personen in Nachtschicht vs. Personen in Tagesschicht) zurückgegriffen wurde, oder bei denen keine randomisierte Zuweisung der Personen zu den Versuchsbedingungen vorliegt, bezeichnet man als Quasi-Experimente. Quasi-Experimente haben im Gegensatz zu Experimenten den Nachteil, dass man aus ihnen nicht eindeutig folgern kann, dass die Unterschiede zwischen den Versuchsgruppen ausschließlich auf die Versuchsbedingungen zurückführbar sind. Der Nachteil von Experimenten ist jedoch, dass unklar ist, ob man die Befunde, die sich in einem Experiment zeigen, auch auf Verhältnisse außerhalb des Labors übertragen kann. Deswegen ist es sinnvoll, wo dies möglich ist, zunächst Laborexperimente durchzuführen. Wenn sich dabei dann ein robuster Effekt zeigt, sollte in einem zweiten Schritt die Übertragbarkeit dieses Effektes in einer quasi-experimentellen Feldstudie im alltäglichen Lebens- und Arbeitskontext überprüft werden. So wurde es in der psychologischen Ermüdungs- und Pausenforschung (Ulich, 1994) auch gemacht. Es zeigte sich in der Tat, dass die Reduzierung der Arbeitszeit durch Kurzpausen sowohl bei geistiger als auch bei körperlicher Arbeit zu einer Leistungssteigerung führt. Solche Pausen bezeichnet man als »lohnende Pausen« (. Abb. 3.3.) In der Allgemeinen Psychologie und oft auch in der Sozialpsychologie ist das Experiment die dominierende Forschungsmethode. Das Experiment setzt eine hohe Kontrolle der Forschenden über den Forschungsgegen-
3
36
Kapitel 3 · Methoden
. Abb. 3.3. Wirkung von Kurzpausen auf die Leistung von 7 Arbeiterinnen beim Montieren von Fahrradketten bei traditionellen Arbeitsbedingungen ohne Kurzpausen (A) und mit Kurzpausen (B). (Nach Ulich, 1994)
3
a
b
stand und die Untersuchungsteilnehmer (zumeist Studierende) voraus. Wer sich jedoch mit Phänomenen des Arbeits- und Berufslebens in Organisationen befasst, stößt oft sehr schnell an die Grenzen der Kontrolle: Betriebe und Betriebsräte erlauben es Wissenschaftlern nur selten, zu Forschungszwecken Arbeitsbedingungen systematisch zu variieren. Erwerbstätige haben selten die Bereitschaft, eine Arbeit auszuführen, für die sie per Zufall ausgewählt wurden. Und das Handeln von Arbeitnehmern wird häufig durch andere Motive bestimmt, als mit der Wissenschaft zu kooperieren (Bungard, 2004). Deswegen kommen in der Arbeits- und Organisationspsychologie häufiger korrelative Designs zur Anwendung. 3.3.2 Korrelatives Design In einem korrelativen Design werden mindestens zwei, in der Regel aber mehrere unterschiedliche Variablen, deren Ausprägung so, wie sie vorliegen, erfasst werden, zueinander in Beziehung gesetzt. Anstatt gezielt die Ausprägung von Variablen zu variieren, wird auf die vorhandene Variation von Variablen zurückgegriffen und diese zueinander in Beziehung gesetzt. Im einfachsten Fall können die beiden Variablen voneinander unabhängig
sein (Orthogonalität) oder miteinander in Beziehung stehen (Korreliertheit). Wenn eine gleichsinnige Beziehung vorliegt, spricht man von einer positiven Korrelation: Wer z. B. in der Präsentationsübung eines Assessment-Centers (AC; 7 Kap. 17) gut abschneidet, schneidet meist auch gut in der Übung zur freien Gruppendiskussion ab; wer aber schlecht in der Präsentationsübung abschneidet, schneidet meist auch schlecht in der Gruppendiskussion ab. Wenn eine gegenläufige Beziehung der Variablen vorliegt, spricht man von einer negativen Korrelation: Wenn z. B. jemand hohe Werte bei einem Introversionsfragebogen hat, schneidet er meist schlecht bei der Gruppendiskussionsübung ab; wer aber niedrige Werte bei einem Introversionsfragebogen hat, schneidet meist gut bei der Gruppendiskussionsübung ab. Diejenige Variable, die man als ursächlich oder zeitlich vorgelagert interpretiert, wird dabei als Prädiktor bezeichnet (z. B. das Persönlichkeitsmerkmal Introversion), diejenige Variable, die man als bewirkt oder zeitlich nachgelagert interpretiert (Abschneiden im AssessmentCenter), wird als Kriterium bezeichnet. Wenn die beiden Variablen aber zum gleichen Zeitpunkt erfasst werden, kann nicht entschieden werden, welche Variable die Ursache und welche die Wirkung ist. Denn Variable A könnte Variable B beeinflusst haben, aber auch Variab-
37 3.3 · Auswahl des Studiendesigns
le B könnte Variable A bewirkt haben. Außerdem wäre es auch möglich, dass eine Variable C die Variablen A und B beeinflusst hat, ohne dass A und B sonst in einem Zusammenhang stehen würden. Nehmen wir z. B. an, das Assessment-Center finde beim Militär statt. Ein Teilnehmer hat von seinem Freund den Rat bekommen, dass es beim Militär immer gut sei, nicht aufzufallen. Entsprechend verhält sich der Teilnehmer in den Übungen ganz unauffällig und stellt sich auch bei der Beantwortung des Fragebogens als vollkommen unauffällig dar. Ein anderer Teilnehmer will möglicherweise eine Offizierslaufbahn einschlagen und versucht deswegen, überall positiv aufzufallen. Ein dritter Teilnehmer nimmt gegen seinen Willen an dem AC teil und versucht deshalb, überall einen möglichst schlechten Eindruck zu machen. In all diesen Fällen würde der Selbstpräsentationsstil die Fragebogenbeantwortung und das Abschneiden in der Präsentationsübung bestimmen. Während es in einem experimentellen Design darauf ankommt, all diejenigen Variablen, die auf die Konsequenzvariable einen Einfluss haben könnten, konstant zu halten, versucht man in korrelativen Designs diese Variablen zu erheben und als sog. Kontrollvariablen in den statistischen Auswertungen zu berücksichtigen. Die dabei angewandte statistische Technik ist die sog. hierarchische Regressionsanalyse. Im ersten Schritt wird der Einfluss der Kontrollvariablen auf das Kriterium ermittelt. Erst im zweiten Schritt wird dann geprüft, ob die eigentlich interessierende(n) Variable(n) in einem über die Kontrollvariablen hinausgehenden Zusammenhang mit dem Kriterium steht(en). Werden in einem Längsschnittdesign unterschiedliche Variablen, die zu aufeinanderfolgenden Zeitpunkten erhoben wurden, z. B. das Abschneiden bei einem Personalauswahlverfahren und die Leistungsbeurteilung durch den Vorgesetzten nach 2 Jahren, in Verbindung zueinander gesetzt, spricht man von einer prädiktiven korrelativen Studie. In einem prädiktiven Design kann man ausschließen, dass die zum 2. Zeitpunkt erhobene Variable die Ausprägung der Variablen zum 1. Zeitpunkt beeinflusst hat. Aber ob die Variable zum 1. Zeitpunkt die Variable zum 2. Zeitpunkt wirklich verursacht hat, muss zunächst auch offen bleiben. Denn eine (positive) prädiktive Korrelation lässt folgende Interpretationen zu (Kleinmann, 2003): Variable A hat Variable B wirklich verursacht. Man könnte sich das beim AC so vorstellen, dass die positive
Rückmeldung nach einem AC den Teilnehmern so viel Selbstvertrauen gibt, dass sie aufgrund dieses Selbstvertrauens viele Widerstände und Schwierigkeiten gut bewältigen und deswegen auch gute Leistungen bringen. Negative Rückmeldungen führen dagegen zu wenig Selbstvertrauen, geringer Ausdauer, schneller Resignation bei Schwierigkeiten und deswegen auch zu geringerer beruflicher Leistung. In diesem Fall wäre also eine sog. Sich-selbst-erfüllende-Prophezeiung (vgl. Kleinmann, 2003) Ursache der Leistung. Wenn man gute Gründe hat, dies als Ursache anzunehmen, sollte man im nächsten Schritt ein Feldexperiment durchführen. Man teilt die Teilnehmer dann nach dem AC zufällig in zwei Gruppen ein. Eine Gruppe erhält eine sehr positive Rückmeldung, die andere Gruppe eine rein beschreibende Rückmeldung ohne positiven evaluativen Gehalt. Dann wird das Selbstvertrauen in die eigene berufliche Leistungsfähigkeit gemessen. Dabei sollten sich die beiden Gruppen deutlich unterscheiden. Nach 2 Jahren werden die Betroffenen von ihren Vorgesetzten beurteilt. Dann sollte sich zeigen, dass die Teilnehmer mit positiver Rückmeldung deutlich besser beurteilt werden als die Teilnehmer mit neutraler Rückmeldung. Außerdem sollte dieser Zusammenhang vom Selbstvertrauen in die eigene berufliche Leistungsfähigkeit mediiert werden. EineVariable C hat sowohl A als auch B verursacht. Man
könnte sich das beim AC so vorstellen, dass Personen mit guter sozialer Intelligenz schnell erfassen, was von ihnen sowohl in den AC-Übungen als auch im späteren beruflichen Alltag erwartet wird und sie auch in der Lage sind, entsprechend zu handeln. Wenn man gute Gründe hat, dass das Ausmaß der sozialen Intelligenz tatsächlich sowohl das Abschneiden im AC als auch am Arbeitsplatz beeinflusst, sollte man vor dem AC das Ausmaß der sozialen Intelligenz der AC-Teilnehmer messen und dann die berufliche Bewährung nach 2 Jahren erheben (T1 = Messung der sozialen Intelligenz vor AC, T2 = AC, T3 = Leistungsbeurteilung 2 Jahre nach AC). Falls die soziale Intelligenz wirklich entscheidend ist, sollte es sowohl eine positive Korrelation zwischen der sozialen Intelligenz zum Zeitpunkt 1 als auch dem Abschneiden beim AC zum Zeitpunkt 2 als auch bei der Leistungsbeurteilung zum Zeitpunkt 3 geben. Die positive Korrelation zwischen den Ergebnissen zu Zeitpunkt 2 und 3 sollte verschwinden, wenn man aus den Variablen den gemeinsamen Anteil mit der zum Zeitpunkt 1 erhobenen Variablen kontrolliert (d. h. herauspartialisiert).
3
38
Kapitel 3 · Methoden
Eine unbekannte Variable C hat sowohl A als auch B verursacht. Man könnte sich das beim AC so vorstellen,
3
dass sowohl Erklärung (a) als auch Erklärung (b) empirisch geprüft worden seien und verworfen werden mussten, d. h., A korreliert positiv mit B, aber weder die experimentelle Variation des Selbstvertrauens noch die statistische Kontrolle der sozialen Intelligenz konnten den Zusammenhang zwischen dem Abschneiden im AC und der beruflichen Leistungsbeurteilung 2 Jahre später aufklären. Dann könnte es sein, dass eine unbekannte Drittvariable ursächlich für die Zusammenhänge ist. Ob eine solche unbekannte Drittvariable diese Rolle spielt, könnte dadurch geprüft werden, dass nach 2 Jahren ein weiteres AC durchgeführt wird und nach 4 Jahren eine weitere Leistungsbeurteilung stattfindet. Mithilfe komplexer statistischer Modelle (sog. Strukturgleichungsmodelle) kann nun geprüft werden, ob die Gemeinsamkeiten zwischen dem AC zum Zeitpunkt 1 und der Leistungsbeurteilung zum Zeitpunkt 2 sowie die Gemeinsamkeiten des AC zum Zeitpunkt 2 und der Leistungsbeurteilung zum Zeitpunkt 3 stabile gemeinsame Wurzeln aufweisen. Ist dies der Fall, so kann von einer unbekannten, noch nicht gemessenen gemeinsamen Drittvariablen ausgegangen werden, die es in weiteren Studien zu identifizieren gilt (Dormann, 2001). Die Forschungen zur Validität des Assessment-Center zeigen, dass alle drei Erklärungsansätze zur Vorhersagekraft des Assessment-Center beitragen (Kleinmann, 2003). Eine besonders aussagenkräftige Variante einer Längsschnittstudie liegt dann vor, wenn z. B. zum Zeitpunkt 1 sowohl die Prädiktorvariable als auch die Kriteriumsvariable erhoben werden und zum Zeitpunkt 2 nochmals die Kriteriumsvariable erhoben wird. Wenn ein solches Design dann mit einer hierarchischen Regressionsanalyse ausgewertet wird, ist die Ausprägung der Kriteriumsvariablen zum Zeitpunkt 2 die abhängige Variable. Die Ausprägung der Kriteriumsvariablen zum Zeitpunkt 1 stellt die Kontrollvariable dar, die im ersten Schritt als Prädiktor in die hierarchische Regressionsgleichung eingeführt wird. Die eigentliche Prädiktorvariable wird erst im zweiten Schritt der hierarchischen Regressionsgleichung als Prädiktor in die Berechnung aufgenommen. Falls sich die Personen von Zeitpunkt 1 zu Zeitpunkt 2 unterschiedlich in Bezug auf die Kriteriumsvariable verändern und falls sich dann bei der hierarchischen Regressionsanalyse ein bedeutsamer Zusammenhang zwischen der Prädiktorvariablen im zweiten Schritt der Analyse und dem Kriterium nach
Kontrolle der Werte zum Zeitpunkt 1 ergibt, zeigt dies, dass die Prädiktorvariable die Veränderung von Zeitpunkt 1 zu Zeitpunkt 2 im Kriterium vorhersagen kann (Asendorpf, 2007). Diese Veränderung könnte allerdings auch die Folge einer noch unbekannten Drittvariablen (s. oben) sein, die sowohl die Prädiktorvariable als auch die Kriteriumsvariable beeinflusst. Die Vorteile korrelativer Designs sind, dass sie auch dann zur Anwendung kommen können, wenn die Forscher nur eine beschränkte Kontrolle über das untersuchte Forschungsfeld haben. Korrelative Designs lassen sich in der Praxis (oder: im Feld) auch ökonomischer realisieren als experimentelle Bedingungsvariationen. In dem Maß, wie Forscher sich jedoch um kausale Aufklärung bemühen und prädiktive Studien planen, stehen sie vor dem Problem der sog. Stichprobenmortalität, d. h. zur 2., 3. und 4. Erhebung können nur noch in den seltensten Fällen alle Teilnehmer der 1. Erhebung dazu bewegt werden, sich erneut an der Studie zu beteiligen. Die Forscher haben dann zu prüfen, ob es zu einem systematischen Stichprobenausfall kommt, d. h. dass bestimmte Teilnehmergruppen mit höherer Wahrscheinlichkeit abspringen als andere und dass deswegen die Ergebnisse nicht mehr auf diese verallgemeinerbar sind. 3.4
Datensammlung
Ein wichtiger Grundsatz der psychologischen Forschung ist, dass Aussagen nicht auf einzelnen Fällen beruhen sollten, sondern auf größeren Stichproben von Personen. Im Idealfall wird eine Zufallsstichprobe untersucht. Dabei lassen sich verschiedene Formen unterscheiden. Ist man beispielsweise an der Zufriedenheit der Studierenden einer bestimmten Universität interessiert, sollte man mithilfe des Computers der Universitätsverwaltung eine echte Zufallsstichprobe zusammenstellen. Eine geschichtete Zufallsstichprobe liegt vor, wenn man im ersten Schritt die Gesamtpopulation in verschiedene Schichten, z. B. die Studierenden verschiedener Fächer, einteilt und dann im zweiten Schritt aus jeder Schicht eine Zufallsstichprobe zieht. Eine anfallende Stichprobe liegt vor, wenn man die Personen untersucht, die gerade verfügbar sind, z. B. die Studierenden, die sich an einem bestimmten Wochentag zwischen 12 und 14 Uhr in einer bestimmten Mensa befinden. Je weiter sich eine Stichprobe von einer echten Zufallsstichprobe entfernt und je kleiner eine Stichprobe ist, desto fraglicher ist, ob
39 3.4 · Datensammlung
sich die Befunde auf die Zielpopulation verallgemeinern lassen. Oder umgekehrt: Bei einer kleinen Gelegenheitsstichprobe liegt ein hoher Stichprobenfehler vor, d. h., es gibt eine starke Abweichung des Mittelwertes der Stichprobe vom Mittelwert der Population. Bei der Datensammlung sollte man darauf achten, bewährte objektive Erhebungsinstrumente mit guter Messgenauigkeit (Reliabilität) und nachgewiesener Messgültigkeit (Validität) zu verwenden. Deswegen besteht ein wichtiger Teil der arbeits- und organisationspsychologischen Forschung auch in der Entwicklung objektiver, reliabler und valider Messinstrumente. Bei jeder Datenerhebung wird das Ergebnis z. T. auch durch die Art der Datenerhebung mitbestimmt. Dies be-
trifft sowohl die Datenquelle als auch die Art der Datenerhebung. Ein Kennzeichen guter psychologischer Forschung ist, dass Daten aus unterschiedlichen Quellen (z. B. Leistungsbeurteilungen durch Vorgesetzte, Kollegen, Mitarbeiter oder Kunden) und Daten unterschiedlicher Art (z. B. neben Leistungsbeurteilungen objektive Leistungskennziffern wie z. B. Anzahl der Abwesenheitstage, Stückzahlen, Anzahl der Beanstandungen, etc.) kombiniert werden. Im Idealfall werden diese Erhebungen auch noch zu mehreren Zeitpunkten von verschiedenen Untersuchern durchgeführt – am Beispiel des Vorgehens bei der Arbeitsanalyse (7 Kasten »Integration unterschiedlicher Urteilsquellen …« und 7 Kap. 21) zeigt dies . Abb. 3.4.
Integration unterschiedlicher Urteilsquellen, Untersucher und Messzeitpunkte bei der Datenerhebung Oesterreich und Bortz (1994) haben zwei unterschiedliche Designs zur Verknüpfung von unterschiedlichen Urteilsquellen, Untersuchern und Messzeitpunkten beschrieben, nämlich das Verfahren der vollständigen Doppelanalyse sowie der vollständigen Wiederholungsanalyse (. Abb. 3.4). . Abb. 3.4. Unterschiedliche Vorgehensweisen bei der Arbeitsanalyse. (Nach Lüders, 1999)
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Beim Verfahren der vollständigen Doppelanalyse zur Erfassung psychologischer Situationsmerkmale in Organisationen wird zunächst ein Manual zur Durchführung von Beobachtungsinterviews durch geschulte arbeitspsychologische Experten entwickelt. Gegenstand der Analyse ist die Verrichtung von Arbeitstätig-
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40
Kapitel 3 · Methoden
keiten durch hinreichend geübte Arbeitspersonen, die sich nicht mehr in einer Phase der Einarbeitung befinden und welche die Arbeitstätigkeit seit mindestens 3 Monaten ausführen. Aufgrund dieser Vorgaben in Bezug auf die Arbeitspersonen soll verhindert werden, dass die Ergebnisse der Situationsanalyse mit der Ausführungskompetenz der Arbeitsperson vermischt (konfundiert) sind. Weiterhin soll ausgeschlossen werden, dass die Ergebnisse der Situationsanalyse von der persönlichen Vorgehensweise und Interpretation des Untersuchers abhängen (Objektivität). Deshalb muss die gleiche Arbeitstätigkeit durch verschiedene Untersucher analysiert werden. Weiterhin soll das Ergebnis der Analyse nicht vom ausgewählten Untersuchungstermin und den dann jeweils gerade ausgeübten Arbeitsverrichtungen abhängig sein (Stabilität). Deswegen wird die Arbeitsverrichtung der gleichen Tätigkeit durch eine andere Arbeitsperson – z. B. in einer anderen Schicht – von einem weiteren Untersucher analysiert. Damit soll zudem kontrolliert werden, in welchem
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Gesucht werden in der Psychologie also Befunde, die über unterschiedliche Urteilsquellen, Erhebungsinstrumente, Untersucher und Messzeitpunkte hinweg stabil sind. In ihnen spiegeln sich objektive Sachverhalte wider. Weisen die Befunde jedoch Inkonsistenzen auf, liegt die Vermutung nahe, dass es sich um Messartefakte handelt. 3.5
Datenauswertung
Da in der psychologischen Forschung angestrebt wird, dass Aussagen nicht auf einzelnen Fällen beruhen sollten, sondern auf größeren Stichproben von Personen, kommt es zunächst darauf an, die Befunde für die gesamte Stichprobe und für die einzelnen Teilstichproben (z. B. die verschiedenen Gruppen eines Experimentes) in aussagekräftigen, aber leicht handhabbaren Kenngrößen zusammenzufassen. Solche Kenngrößen sind beispielsweise der Mittelwert einer Variablen einer Stichprobe, die Streuung der Variablen in einer Stichprobe oder der Korrelationskoeffizient zwischen zwei Variablen in einer Stichprobe. Der Mittelwert ist der Durchschnittswert einer Gruppe. Die Streuung ist ein Maß für die Unterschiedlichkeit in einer Stichpro-
Ausmaß die Situationserfassung robust gegenüber verschiedenen Arbeitspersonen ist, die die gleiche Tätigkeit verrichten (Äquivalenz). Oesterreich und Bortz (1994) haben dieses Verfahren als vollständige Doppelanalyse bezeichnet. Das Verfahren prüft simultan Objektivität, Stabilität und Äquivalenz der Messung der Situationsbedingungen. Wird die Arbeitstätigkeit derselben Person durch verschiedene Untersucher wiederholt analysiert, handelt es sich um eine vollständige Wiederholungsanalyse. Der Zeitraum zwischen den verschiedenen Analysen ist so groß zu wählen, dass die arbeitende Person sich bei den späteren Analysen nicht mehr an Einzelheiten der vorausgegangenen Analyse erinnert. Die vollständige Wiederholungsanalyse prüft simultan Objektivität und Stabilität der Erhebung bei variierenden Arbeitsverrichtungen. Die Äquivalenz der Messung bei verschiedenen Arbeitspersonen wird damit allerdings nicht geprüft.
be. Eine große Streuung besagt, dass die individuellen Werte sowohl sehr stark als auch sehr schwach ausgeprägt sein können, d. h., weit vom Durchschnittswert abweichen. Eine kleine Streuung besagt, dass die individuellen Werte relativ nahe beim Mittelwert liegen. Mittelwert, Streuung und Korrelationskoeffizient sind Kenngrößen der sog. deskriptiven Statistik. Sie sind dazu da, eine Stichprobe oder Teilstichprobe zu beschreiben. Der sog. Korrelationskoeffizient variiert zwischen –1 und +1. Wenn der Korrelationskoeffizient einen Wert von null hat, bedeutet dies, dass zwei Variablen nicht miteinander zusammenhängen. Sie sind dann orthogonal. Das bedeutet, dass man aufgrund der Ausprägung des Wertes bei einer Variablen nichts über die Ausprägung des Wertes in der anderen Variablen aussagen kann. Eine positive Korrelation (r>0) besagt, dass wenn der Wert bei einer Variablen hoch ist, er dann in der anderen Variablen auch eher hoch ist. Wenn der Wert in der einen Variablen niedrig ist, ist er in der anderen Variablen auch eher niedrig. Eine negative Korrelation (r<0) bedeutet dagegen, dass wenn der Wert bei einer Variablen hoch ist, er dann in der anderen Variablen eher niedrig ist. Wenn der Wert in der einen Variablen
41 3.7 · Kommunikation der Ergebnisse
aber niedrig ist, ist er in der anderen Variablen dagegen eher hoch. Eine positive Korrelation beschreibt also ein gleichsinniges Verhältnis zwischen zwei Variablen, eine negative Korrelation ein gegenläufiges Verhältnis von zwei Variablen. Was die psychologische Forschung aber eigentlich interessiert, ist die Beurteilung bzw. statistische Überprüfung von Hypothesen (7 oben). Dies ist das Gebiet der sog. Inferenzstatistik, bei der geprüft wird, ob Unterschiede oder Zusammenhänge zwischen Variablen im Zufallsbereich liegen oder nicht. Dabei gibt es zwei Arten von Hypothesen, nämlich die sog. Unterschiedshypothesen, die in experimentellen Designs geprüft werden, und Zusammenhangshypothesen, die in korrelativen Designs geprüft werden. Bei Unterschiedshypothesen wird postuliert, dass der Unterschied zwischen mindestens zwei Gruppen eines Experimentes so groß ist, dass er nicht mehr auf den Zufall zurückgeführt werden kann. Vielmehr hat die Variation der unabhängigen Variablen dazu geführt, dass sich die Ausprägungen der abhängigen Variable in den einzelnen Untersuchungsgruppen so stark unterscheidet, dass dies, wenn nur der Zufall am Werk ist, in lediglich 5% der Fälle oder seltener eintritt. Bei Zusammenhangshypothesen wird gewöhnlich postuliert, dass die Korrelation zwischen zwei Variablen so stark ist, dass eine solche Korrelation, wenn nur der Zufall am Werk ist, in lediglich 5% der Fälle oder seltener eintritt. Falls eine statistische Unterschieds- oder Zusammenhangshypothese bestätigt werden kann, spricht man von einem sog. signifikanten Ergebnis. Wenn eine statistische Unterschieds- oder Zusammenhangshypothese nicht bestätigt werden kann, muss die sog. Nullhypothese beibehalten werden, die besagt, dass die Größe des Unterschiedes zwischen den Mittelwerten der abhängigen Variablen in der Experimental- und Kontrollgruppe oder die Höhe des Zusammenhanges zwischen zwei Variablen im Zufallsbereich liegt. Ein weiteres Gebiet der statistischen Datenauswertungen sind sog. Modelltestungen. Dabei wird geprüft, wie gut die Vorhersagen, die sich aus einem bestimmten theoretischen Modell ergeben, mit den vorliegenden Daten einer Stichprobe vereinbar sind. Wenn eine hohe Vereinbarkeit vorliegt, spricht man davon, dass ein guter Modellfit vorliegt, wenn eine geringe Übereinstimmung von Daten und Modell vorliegt, spricht man von einem schlechten Modellfit.
3.6
Interpretation der Ergebnisse
Eine psychologische Studie wird in der Regel durchgeführt, um Hypothesen zu prüfen, die aus psychologischen Theorien hergeleitet wurden. In ganz wenigen Fällen sind aber die Ergebnisse völlig klar und eindeutig. Wenn die forschende Person in ihrer Studie keine signifikanten Ergebnisse gefunden hat, muss sie die Argumente abwägen, die dafür sprechen, dass ihre Hypothese falsch war, sowie die Argumente, die dafür sprechen, dass die Studie ungeeignet war, die Hypothese angemessen zu prüfen. Argumente, die dafür sprechen, die Hypothese beizubehalten und eine neue Studie durchzuführen, können sein, dass das Design falsch gewählt oder die Stichprobe zu klein oder zu wenig repräsentativ für die relevante Population war. Weitere Argumente für die Beibehaltung einer Hypothese sind ungenaue oder nicht aussagekräftige Messinstrumente sowie noch nicht vorhandene statistische Verfahren, um die Daten angemessen auswerten zu können. Wenn allerdings eine Studie mit richtigem Design, angemessenem Stichprobenumfang, einer Zufallsstichprobe, anerkannten, reliablen und validen Messinstrumenten sowie angemessenen statistischen Auswertungstechniken nicht zu signifikanten Ergebnissen führt, spricht dies für eine Falsifikation einer Hypothese. Wenn die forschende Person dagegen signifikante Ergebnisse gefunden hat, stellt sich bei Laborstudien zum einen die Frage, wie aussagekräftig die Ergebnisse zur Abstützung einer bestimmten wissenschaftlichen Theorie sind, und zum anderen, auf welche Sachverhalte außerhalb der künstlich hergestellten Untersuchungssituation sich die Befunde übertragen lassen. Dies ist die Frage nach der sog. externen Validität eines Experimentes. Bei korrelativen Studien ist zu prüfen, ob die Befunde eine kausale Interpretation der Ergebnisse im Sinne einer bestimmten Theorie zulassen oder ob es noch ungeprüfte, aber plausible Wirkungszusammenhänge mit Drittvariablen gibt. Weiterhin ist zu prüfen, wie plausibel es ist, dass sich die Befunde auf andere Arbeitsplätze, Organisationen, Beschäftigte, Länder und Kulturen verallgemeinern lassen. 3.7
Kommunikation der Ergebnisse
Die Kommunikation der Forschungsergebnisse ist ein wichtiger Teil des wissenschaftlichen Erkenntnis- und Forschungsprozesses. Sie vollzieht sich auf Kongressen, in Zeitschriftenartikeln und Buchpublikationen. Sie ist
3
42
3
Kapitel 3 · Methoden
aus drei Gründen essenziell für den wissenschaftlichen Erkenntnis- und Forschungsprozesses: 1. Jedes Forschungsergebnis ist potenziell ein kumulativer Beitrag zum kollektiven wissenschaftlichen Erkenntnisprozess, denn es liefert Informationen über die Bewährung von Messinstrumenten und, falls theoriegeleitet Hypothesen geprüft wurden, Informationen zur vorläufigen Bewährung oder Falsifikation von Theorien. 2. Die Kommunikation von Forschungsergebnissen ermöglicht Diskussion und Kritik. Die forschende Person versteht so ihre eigene Forschung und ihre Ergebnisse besser und bewirkt analoge Prozesse bei anderen forschenden Personen. Dies wird in dem Bonmot »Kritik ist die Nächstenliebe der Wissenschaft« zusammengefasst. Außerdem kommt es durch ständige, gegenseitige kritische Prüfung zu einem kollektiven Erkenntnisfortschritt. 3. Die Kommunikation der Ergebnisse in Form von Publikationen u. a. ist deshalb notwendig, um Metaanalysen (7 unten) zu ermöglichen. Für die Publikation wissenschaftlicher Ergebnisse gibt es forschungsethische Richtlinien (Blickle, 2007), die in der folgenden Übersicht dargestellt werden.
Forschungsethische Publikationsrichtlinien 4 Die Ergebnisse von wissenschaftlichen Untersuchungen sollen in einer öffentlich zugänglichen Form (z. B. Zeitschrift, Buch oder Internet) bekannt gemacht werden, damit sie von anderen zur Kenntnis genommen und überprüft werden können. 4 Bei der Publikation sollen die Ergebnisse vollständig, unverändert und ohne Zutaten berichtet werden. 4 Bei der Publikation ist auf die Darstellung der Forschungsmethode besonderer Wert zu legen, damit andere Forscher die Ergebnisse in einer Wiederholungsstudie überprüfen können. 4 Auf Wunsch ist anderen Forschern der Datensatz zum Zweck der Gegenprüfung der Befunde zugänglich zu machen. 4 Die Veröffentlichung fremder Daten unter eigenem Namen oder eigener, bereits publizierter 6
Daten als vorgespiegelte Erstveröffentlichung ist auch deswegen unzulässig, weil damit der Wissenschaftsgemeinschaft breitere Evidenzen vorgegaukelt werden als tatsächlich vorhanden sind. 4 Schließlich: In einer wissenschaftlichen Studie darf niemals deren Auftraggeber oder Finanzier das Ergebnis bestimmen. Deswegen müssen die Autoren wissenschaftlicher Studien offenlegen, wer eine Studie finanziert hat.
3.8
Metaanalyse
Jede psychologische Einzelstudie in der Arbeits- und Organisationspsychologie kann nie die Grundgesamtheit von Personen an Arbeitsplätzen in Organisationen untersuchen, auf die man gerne ihre Ergebnisse verallgemeinern würde. Vielmehr wird es immer eine Stichprobe von Personen sein, die mit bestimmten Messinstrumenten untersucht wird. Meistens gibt es nicht nur ein mögliches Messinstrument, sondern eine ganze Reihe unterschiedlicher Instrumente. Dies hat mehrere Konsequenzen: In jeder Stichprobe gibt es notwendigerweise einen sog. Stichprobenfehler, d. h. eine Verschätzung des wahren Wertes in der Grundgesamtheit (Population). Zweitens gibt es keine Messung ohne Messfehler und drittens fallen die Messfehler bei unterschiedlichen Instrumenten in unterschiedlichen Stichproben unterschiedlich aus. Aufgrund der Selektivität der Stichprobe kommt es außerdem häufig vor, dass in einer Stichprobe nicht das ganze Spektrum des jeweiligen Phänomens repräsentiert ist, sondern nur Ausschnitte davon. Man bezeichnet dies als Varianzeinschränkung. Außerdem kann die Publikation von Forschungsergebnissen sehr unterschiedlich sein: Manche Arbeiten werden in Zeitschriftenartikeln abgedruckt, manche Forschungsergebnisse liegen nur in Qualifikationsarbeiten (Diplomarbeiten, Promotionen) vor, manche erscheinen nur als sog. »graue Literatur«, z. B. als Forschungsberichte an einem Lehrstuhl in sehr geringer Auflage. Um einen wirklichen Überblick über den Stand der Forschung zu einem Thema zu bekommen, ist es deswegen notwendig, alle diese Forschungsergebnisse quantitativ zusammenzufassen. Dies ist der Gegenstand einer
43 Literatur
Metaanalyse. Im Gegensatz zu einem Buch oder einem Überblicksartikel, in dem die einschlägigen Arbeiten verbal zusammengefasst werden (narrativer Review) erfolgt in Metaanalysen eine exakte, zahlenmäßige Zusammenfassung der unterschiedlichen Forschungsergebnisse (quantitativer Review). Die Bedeutsamkeit der einzelnen Studien hängt von der Größe der Stichprobe ab. Je größer die Stichprobe, desto besser lässt sich daraus der Wert in der Grundgesamtheit schätzen. Deswegen werden die Befunde der einzelnen Studien mit der Stichprobengröße gewichtet. So kann ein gewichteter Durchschnittswert aller Ergebnisse aller analysierten Studien berechnet werden. Für diesen Durchschnittswert der Differenzen (7 Abschn. 3.3.1) oder Zusammenhänge (7 Abschn. 3.3.2) lässt sich weiterhin ermitteln, ob er von null verschieden ist oder nicht. Ein von null verschiedener Durchschnittswert der Differenzen bedeutet, dass es in der Summe der Untersuchungen einen nicht zufälligen Unterschied zwischen der Experimental- und der Kontrollgruppe gibt. Ein von null verschiedener Durchschnittswert der Korrelationen (Zusammenhang) bedeutet, dass es über alle Untersuchungen hinweg nicht zufällige Zusammenhänge zwischen zwei Variablen gibt. Eine solche Metaanalyse wird als Bare-Bone-Analyse bezeichnet. Hunter und Schmidt (2004) haben außerdem vorgeschlagen, die wahren Populationsparameter (ρ) zu berechnen, die sich nach der Korrektur der Messerfehler, Varianzeinschränkung und anderer Fehlergrößen ergeben. Sie bezeichnen diese Vorgehensweise als Validitätsgeneralisierung. Auf diese Art und Weise ist es möglich, die wahren Zusammenhänge zwischen zwei Variablen zu schätzen. Nach Schuler (2006) stellt die Technik der Metaanalyse eine der wichtigsten Forschungsinnovationen der vergangenen 25 Jahre dar, denn sie erlaubt es, Theorien und Hypothesen nicht nur im Lichte von Einzelergebnissen, sondern vor dem Hintergrund der gesamten einschlägigen Forschung zu einem bestimmten Thema bewerten zu können. Deswegen werden in diesem Buch Metaanalysen eine besondere Rolle spielen (s. zur Einführung in die Metaanalyse Schmidt & Hunter, 2001). Wie . Abb. 3.1 zeigt, führen die Ergebnisse von Einzelstudien, aber insbesondere auch die Ergebnisse von Metaanalysen dann wieder zur Reformulierung und Modifikation von Theorien und zur Entwicklung neuer Fragestellungen.
Zusammenfassung 4 Fragestellungen aus der Praxis und vorausgegangene wissenschaftliche Forschung führen auf der Basis von Theorien zur Formulierung von Hypothesen. 4 Hypothesen werden mittels experimenteller oder korrelativer Designs geprüft. 4 Die Güte der Datensammlung hängt von der Art und Größe der Stichprobe sowie den verwendeten Messinstrumenten ab. 4 Neben der reinen Stichprobenbeschreibung kommt es bei der Auswertung der Daten auf die Prüfung statistischer Hypothesen an. Die Grundfrage ist dabei, ob ein Ergebnis im Zufallsbereich liegt oder systematisch vom Zufall abweicht. 4 Bei der Interpretation negativer Befunde ist zu prüfen, ob die Hypothesen zu verwerfen sind, oder die Vorgehensweise, sie zu prüfen, zu kritisieren ist. Bei der Interpretation positiver Befunde ist ihr theoretischer Stellenwert sowie ihre Verallgemeinerbarkeit zu prüfen. 4 Die Kommunikation von Forschungsergebnissen ist ein unverzichtbarer Bestandteil des wissenschaftlichen Erkenntnisprozesses. Sie dient auch dazu, dass die Ergebnisse von Einzelforschungen in Metaanalysen quantitativ integriert werden können. 4 Metaanalysen stellen die wichtigste Forschungsinnovationen für die Arbeits- und Organisationspsychologie der vergangenen 25 Jahre dar.
L Weiterführende Literatur Bortz, J. & Döring, N. (2006). Forschungsmethoden und Evaluation für Human- und Sozialwissenschaftler (4. Aufl.). Berlin: Springer. Sonnentag, S. (2006). Abschlussarbeiten und Dissertationen in der angewandten psychologischen Forschung. Göttingen: Hogrefe.
Literatur Asendorpf, J. (2007). Psychologie der Persönlichkeit (4. Aufl.). Berlin: Springer. Blickle, G. (2007). Ethische Fragen arbeits- und organisationspsychologischer Forschung. In H. Schuler & Kh. Sonntag (Hrsg.), Handbuch der Psychologie, Band Arbeits- und Organisationspsychologie (S. 109–114). Göttingen: Hogrefe.
3
44
3
Kapitel 3 · Methoden
Blickle, G. & Witzki, A. (2006). Stand und Perspektiven der Arbeitsund Organisationspsychologie. Zeitschrift für Arbeits- und Organisationspsychologie, 50, 175. Brecht, B. (1956/1998). Leben des Galilei. Schauspiel. Frankfurt a. M.: Suhrkamp. Bungard, W. (2004). Organisationspsychologische Forschung im Anwendungsfeld. In H. Schuler (Hrsg.), Lehrbuch Organisationspsychologie (3. erw. Aufl., S. 121–142). Bern: Huber. Dormann, C. (2001). Modeling unmeasured third variables in longitudinal studies. Structural equation modeling, 8, 575–598. Hunter, J.E. & Schmidt, F.L. (2004). Methods of meta-analysis. Thousand Oaks: Sage. Kleinmann, M. (2003). Assessment-Center. Göttingen: Hogrefe. Kluger, A.N. & DeNisi, A. (1996). The effects of feedback interventions on performance: A historical review, a meta-analysis, and a preliminary feedback intervention theory. Psychological Bulletin, 119, 254–284. Locke, E.A. & Latham, G.P. (1990). A theory of goal setting and task performance. Englewood Cliffs, NJ: Prentice Hall. Lewin, K. (1951). Field theory in social science; selected theoretical papers. New York: Harper & Row. Lüders, E. (1999). Analyse psychischer Belastung in der Arbeit: Das RHIA-Verfahren. In H. Dunkel (Hrsg.), Handbuch psychologischer Arbeitsanalyseverfahren (S. 365–396). Zürich: Hochschulverlag.
Moser, K. (2004). Planung und Durchführung organisationspsychologischer Forschung. In H. Schuler (Hrsg.), Lehrbuch Organisationspsychologie (3. erw. Aufl., S. 89–120). Huber: Bern. Oesterreich, R. & Bortz, J. (1994). Zur Ermittlung der testtheoretischen Güte von Arbeitsanalyseverfahren. ABOaktuell – Psychologie für die Wirtschaft 1 (3), 2–8. Schmidt, F.L. & Hunter, J.E. (2001). Meta-Analysis. In N. Anderson, D.S. Ones, H.K. Sinangil & C. Viswesvaran (Eds.), Handbook of Industrial, Work & Organizational Psychology, Vol. 1: Personnel Psychology (pp. 51–70). London: Sage. Schuler, H. (2006). Stand und Perspektiven der Personalpsychologie. Zeitschrift für Arbeits- und Organisationspsychologie, 50, 176–188. Schuler, H. & Sonntag, Kh. (Hrsg.). (2007). Handbuch der Psychologie, Bd. Arbeits- und Organisationspsychologie. Göttingen: Hogrefe. Solga, M. & Blickle, G. (2006). In deutschsprachigen wissenschaftlichen Zeitschriften der Jahre 2004 und 2005 publizierte Forschungsbeiträge zur Arbeits- und Organisationspsychologie: Eine empirische Analyse. Zeitschrift für Arbeits- und Organisationspsychologie, 50, 28–42. Ulich, E. (1994). Arbeitspsychologie. Stuttgart: Poeschel.
II Organisation 4
Organisationstheorien
– 47
5
Interaktion und Kommunikation – 61
6
Gravitation und organisationale Sozialisation
7
Führung von Mitarbeitern
8
Teamarbeit
9
Konflikte in Organisationen
– 75
– 87
– 103 – 121
10
Organisationsdiagnose
– 135
11
Organisationsklima und Organisationskultur
12
Organisationsentwicklung
13
Mergers & Acquisitions: Fusionen und Unternehmensübernahmen – 171
– 159
– 147
Arbeitet man nur in Organisationen? Wird in Organisationen nur gearbeitet? Mit diesen provokanten Fragen hat Lutz von Rosenstiel (1991) darauf verwiesen, dass die beiden klassischen Blickwinkel der Arbeits- bzw. der Organisationspsychologie auf menschliches Erleben und Verhalten – der Mensch als arbeitendes Wesen und der Mensch als Mitglied einer Organisation – nicht aufeinander reduzierbar sind. In diesem Abschnitt wird der Mensch, sein Erleben und Verhalten in der Organisation betrachtet. Zunächst gilt es zu klären, was denn unter dem Begriff Organisation überhaupt zu verstehen ist und wie sich die damit beschriebenen sozialen Gebilde verstehen und erklären lassen. Das ist das Thema des Kapitels über Organisationstheorien. Organisationen bestehen, weil die dort arbeitenden Menschen immer wieder ihre Handlungen wechselseitig abstimmen. Sie machen das, indem sie gegenseitig aufeinander einwirken. Diesen Vorgang bezeichnet man als Interaktion. Die wichtigste Form der Einwirkung auf andere Menschen ist die Kommunikation, d. h. der Austausch von Mitteilungen. Für ein Verständnis des Verhaltens in Organisationen ist daher ein grundlegendes Wissen über die Phänomene Interaktion und Kommunikation erforderlich. Das bildet wiederum die Grundlage, um zu verstehen, wie Organisationen Einfluss auf die Werte, Einstellungen und Orientierungen ihrer Mitglieder nehmen. Dieser Prozess, der als Sozialisation bezeichnet wird, führt letztlich dazu, dass sich die Mitarbeiter an die Organisation anpassen und loyal zu ihr verhalten. Der wichtigste Einflussfaktor auf das Verhalten der Mitarbeiter, der auch im Wege der Kommunikation wirksam wird, ist die Führung durch direkte Vorgesetzte. Führung bildet den zentralen Transmissionsriemen, mit dem das Verhalten der Mitarbeiter auf die Ziele der Organisation ausgerichtet wird, weshalb dieser Bereich einen relativ breiten Raum in der Forschung und damit auch in diesem Lehrbuch einnimmt. Bei dem Versuch, die Ziele der Organisation zu erreichen, arbeiten die Mitarbeiter gewöhnlich nicht alleine, sondern koordiniert mit anderen Mitarbeitern. Daher lassen sich Organisationen als soziale Systeme betrachten, die aus miteinander verzahnten Subsystemen, d. h. aus Gruppen bzw. Teams bestehen. Gruppe und Teamarbeit bilden damit das Scharnier zwischen dem individuellen und dem organisationalen Verhalten. Ein spezieller Aspekt ist dabei der interpersonelle Konflikt, der in Gruppen auftreten kann. Solche Konflikte können die Organisation schädigen, werden sie aber konstruktiv gelöst, dann können sie sogar ein Gewinn für die Organisation sein. Die Bedingungen und Folgen von Konflikten in Gruppen werden aufgrund dieser großen Bedeutung in einem eigenen Kapitel untersucht. Die restlichen Kaptitel dieses Abschnittes widmen sich dann der Organisation als Ganzes. Grundlage dafür bilden die verschiedenen Methoden der Organisationsdiagnose, die in der Psychologie und anderen Wissenschaften entwickelt wurden. Zwei spezielle Konzepte, die bei der Diagnose von Organisationen eingesetzt werden, sind das Organisationsklima und die Organisationskultur. Beides sind Aspekte der Organisation, die zu den sog. »weichen Faktoren« zählen, deren Bedeutung für den Erfolg einer Organisation sehr hoch einzustufen sind. Die Diagnose von Klima und Kultur bildet aber keinen Selbstzweck, sondern dient häufig als Anlass zur Veränderung der Organisation. Konzepte wie Organisationsentwicklung, Innovation oder lernende Organisation bezeichnen verschiedene Aspekte solcher Veränderungsprozesse. Eine Form der Veränderung, die häufig sehr dramatisch abläuft und in den letzten Jahren immer stärker ins Bewusstsein der Bevölkerung gerückt ist, bilden »Mergers & Acquisitions«, d. h. Unternehmenszusammenschlüsse und -käufe. Dass diese so häufig scheitern, liegt nicht zuletzt an psychologischen Faktoren, die im abschließenden Kapitel dieses Abschnitts diskutiert werden.
4
4 Organisationstheorien 4.1
Zum Begriff Organisation
4.2
Strukturierung und Organisationsstrukturen
4.3
Ausgewählte Theorien der Organisation
4.3.1 4.3.2 4.3.3 4.3.4
Wissenschaftliche Betriebsführung – 52 Die Bürokratietheorie von Max Weber – 53 Die Human-Relations-Bewegung – 55 Die verhaltenswissenschaftliche Entscheidungstheorie
Literatur
– 59
– 48 – 49
– 51
– 57
48
Kapitel 4 · Organisationstheorien
> Psychologie wird als Wissenschaft vom menschlichen Erleben und Verhalten definiert, Organisationspsychologie ist dann die Wissenschaft vom menschlichen Erleben und Verhalten in Organisationen (von Rosenstiel, 2003). Das hier interessierende menschliche Erleben und Verhalten ist also immer auf die Situation in Organisationen bezogen – nur was Menschen in Auseinandersetzung mit dieser Situation erleben und wie sie sich in Bezug zu dieser Situation verhalten, ist für die Organisationspsychologie entscheidend. Bevor man sich diesem Erleben und Verhalten zuwenden kann, muss daher ein grundlegendes Verständnis von Organisation, ihren Funktionen, Zielen und Wirkmechanismen hergestellt werden. Das ist die Aufgabe dieses Kapitels. Im Folgenden wird daher zuerst der hier verwendete Begriff Organisation verdeutlicht. Organisationstheorien dienen wiederum dem Zweck, so gekennzeichnete Organisationen zu verstehen und zu erklären (Kieser, 1995). Die Ausführungen beschränken sich hier auf solche Theorien, die einen zentralen Aspekt der Organisation – ihre formale Struktur – erklären wollen. Durch formale Strukturen soll das Verhalten der Organisationsmitglieder auf die Ziele der Organisation ausgerichtet werden, solche Strukturen begrenzen und ermöglichen das Handeln von Individuen und Gruppen in Organisationen. Daher wird zunächst die Frage der Gestaltung von Strukturen (»Strukturierung«) besprochen, anschließend werden allgemeine formale Strukturen und schließlich die wichtigsten Theorien zu ihrer Erklärung vorgestellt.
4
4.1
Zum Begriff Organisation
Nach einem geflügelten Wort ähneln Organisationen den Wolken, deren Konturen sich in Abhängigkeit vom Standpunkt des Betrachters ständig verändern und – kommt man ihnen zu nahe – vor dem Auge verschwimmen (vgl. Gebert & von Rosenstiel, 2002). Das bedeutet, Organisation zu definieren ist eine heikle Aufgabe, die letztlich nicht eindeutig gelingen kann. In der Wissenschaft wird der Begriff Organisation in drei verschiedenen Bedeutungen gebraucht (vgl. Schulte-Zurhausen, 2002): Im Sinne eines Instrumentes, einer Funktion und einer Institution.
instrumentale Organisationsbegriff vor allem in der Betriebswirtschaftslehre verwendet. Für die Betriebswirtschaftslehre stellt Organisation aber auch eine Managementfunktion dar, die alle Aktivitäten der Planung, Einführung und Durchsetzung von organisatorischen Regeln umfasst. Definition Als Funktion betrachtet bedeutet Organisation vornehmlich organisieren, d. h., zum einen Arbeiten auf die Mitarbeiter verteilen (Arbeitsteilung) und zum anderen alle Arbeiten auf die übergeordneten Ziele ausrichten (Koordination).
Definition Der instrumentale Begriff sieht Organisation als die Gesamtheit aller Regelungen, die sich auf die Verteilung von Aufgaben und Kompetenzen sowie die Abwicklung von Arbeitsprozessen beziehen.
Das System formaler, dauerhafter Regeln bildet nach diesem Verständnis die Organisationsstruktur, die das Verhalten von Menschen auf ein gemeinsames Ziel ausrichtet. Organisation ist demnach ein Instrument zur effizienten, zielgerichteten Führung, daher wird der
Der instrumentale und der funktionale Organisationsbegriff thematisieren die Regeln, die eine Ordnung schaffen. Ordnung wird zwischen einzelnen Elementen – Aufgaben, Informationen und/oder Personen – geschaffen, die miteinander in Beziehung stehen. Eine Menge von Elementen und die Beziehungen, die zwischen ihnen bestehen, bezeichnet man als System. Ein soziales System ist dadurch gekennzeichnet, dass Personen die Elemente der Menge bilden.
49 4.2 · Strukturierung und Organisationsstrukturen
Definition Institutional betrachtet sind Organisationen soziale Systeme, die sich beschreiben lassen als 4 zeitlich relativ stabile, 4 gegenüber der Umwelt offene, 4 aus Individuen und Gruppen zusammengesetzte, 4 zielgerichtet handelnde und 4 strukturierte Systeme (Schulte-Zurhausen, 2002).
Bei diesem Verständnis von Organisation stehen drei Aspekte im Vordergrund: die Personen (Elemente), das Verhalten der Personen im Sinne ihrer regelgeleiteten Handlungen und das dadurch begründete System als überindividuelle Einheit. Das System ist offen, d. h. die Grenzen sind durchlässig gegenüber der sozialen, technischen, politischen und wirtschaftlichen Umwelt, mit der das System in Austauschbeziehungen steht. Das System handelt zielgerichtet, wobei zu beachten ist, dass jede Organisation mehrere Ziele verfolgt, die häufig nicht eindeutig sind und sich teilweise sogar widersprechen können. Schließlich ist das System strukturiert, d. h. zur Erreichung der Ziele entwickelt die Organisation eine bestimmte Form der Arbeitsteilung und gewöhnlich auch eine Hierarchie der Über- und Unterordnung. Das sind abstrakte Merkmale des Systems, es sind aber vor allem die Personen bzw. ihr regelgeleitetes Verhalten und die dadurch entstehenden Beziehungen zwischen den Personen bzw. den Funktionsträgern, die eine Organisation ausmachen. Aufgrund der zentralen Bedeutung der Personen und ihres Verhaltens ist der institutionale Begriff der Organisation kennzeichnend für die Arbeits- und Organisationspsychologie – dieser Begriff liegt den folgenden Ausführungen zugrunde. Das wesentliche Merkmal einer solchen Institution ist ihre formale Struktur bzw. die Maßnahmen, die zu ihrer Entwicklung führen, d. h. die Strukturierung der Organisation. 4.2
Strukturierung und Organisationsstrukturen
Um ihre Ziele zu erreichen, bilden Organisationen eine formale Struktur aus, deren wesentliche Merkmale die Arbeitsteilung und eine Hierarchie der Verantwortung
sind. In der Organisationsforschung wird daher umgekehrt gefragt, durch welche Struktur die Abläufe in einer Organisation so gesichert sind, dass sie mit hoher Wahrscheinlichkeit deren Zielen dient. Die deutsche betriebswirtschaftliche Organisationslehre hat zur Gestaltung solcher Strukturen – zur Strukturierung der Organisation – ein Vorgehen entwickelt, das seinen Ausgangspunkt bei der Gesamtaufgabe des Unternehmens nimmt (Schulte-Zurhausen, 2002; vgl. zum Folgenden Nerdinger, 2003). Um die Gesamtaufgabe zu erfüllen, muss sie zunächst inhaltlich festgelegt und in einzelne, voneinander unabhängig bearbeitbare Teilaufgaben zerlegt werden. Dieser Vorgang wird als Aufgabenanalyse bezeichnet. Eine solche Analyse kann nach verschiedenen Merkmalen, z. B. danach, wie sie verrichtet wird, durchgeführt werden. Dabei wird nach der Art der Leistung, die zu erbringen ist, unterschieden. Eine andere Möglichkeit ist die Analyse nach dem Rang. Der Rang trennt Steuerungs- von Ausführungsaufgaben. Zu den Steuerungs- oder Führungsaufgaben zählen folgende Teilaufgaben: Planen, Entscheiden, Veranlassen der Durchführung und Kontrolle der Ergebnisse. Ausführungsaufgaben realisieren entsprechend die auf der Steuerungsebene entwickelten Pläne und Entscheidungen. Sie umfassen alle Aufgaben der Erstellung bzw. Bereitstellung, Verwertung oder auch Entsorgung von Produkten oder Leistungen. Die Gliederung nach dem Merkmal »Rang« bereitet die hierarchischen Beziehungen in der Organisation vor. Zur Aufrechterhaltung und Bewältigung der Steuerungs- und Ausführungsprozesse fallen in der Organisation schließlich noch Unterstützungs- bzw. interne Serviceaufgaben an. Dazu zählen 4 personenbezogene Dienste wie z. B. die Aus- und Weiterbildung der Mitarbeiter; 4 objektbezogene Dienste wie die Wartung und Instandhaltung in der Produktion; 4 informationsbezogene Dienste, darunter das Rechnungswesen und die EDV, und 4 finanzbezogene Dienste, wie sie beispielsweise von einer Investitions- und Finanzabteilung geleistet werden. Als Ergebnis der Aufgabenanalyse liegen verteilungsfähige Teilaufgaben vor, die in einem sog. Aufgabengliederungsplan festgelegt sind. Ein Beispiel für einen solchen Plan aus dem Bereich Marketing und Vertrieb kann so aussehen, wie in . Tab. 4.1 veranschaulicht.
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Kapitel 4 · Organisationstheorien
. Tab. 4.1. Aufgabengliederungsplan für den Bereich Marketing und Vertrieb. (Nach Schulte-Zurhausen, 2002) Bereich
Aufgabe
Marktforschung
Absatzmöglichkeiten analysieren Konkurrenten analysieren
Absatzprogrammplanung
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Life Cycle untersuchen Substitutionsprodukte ermitteln Sortiment planen
Absatzmengenplanung
Zeitreihen untersuchen Absatzmengen prognostizieren Werbeträger analysieren
Auftragsbearbeitung
Aufträge erfassen
Schriftliche Aufträge erfassen Mündliche Aufträge erfassen
Aufträge prüfen
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Deckungsbeitragsrechnung durchführen Vertriebsergebnisrechnung durchführen
In einem Aufgabengliederungsplan finden sich die einzelnen Teilaufgaben, die z. B. im Bereich Marketing und Vertrieb zu erfüllen sind. Diese lassen sich nach bestimmten Merkmalen so zusammenfassen, dass man sie verschiedenen Mitarbeitern zuordnen kann. Dadurch entstehen einzelne Stellen, wobei in vielen Orga-
nisationen die auf einer Stelle zu erledigenden Aufgaben in Form von Stellenbeschreibungen formal festgelegt sind. Verschiedene inhaltlich verwandte Stellen werden schließlich zu Abteilungen zusammengefasst. Dieses Vorgehen, bei dem die zunächst zergliederten Teilaufgaben so zusammengefasst werden, dass sie sich verschiedenen Mitarbeitern zuordnen lassen, wird auch als Aufgabensynthese bezeichnet. Das Ergebnis der Aufgabenanalyse und -synthese stellt die Aufbauorganisation dar. Die Aufbauorganisation wird häufig in Form eines formalen Plans – dem sog. Organigramm – dargestellt. Durch einen solchen Plan soll die Zusammenarbeit der Mitglieder einer Organisation so geregelt werden, dass ihre Ziele optimal erreicht werden. Zu diesem Zweck werden Instanzen ausgebildet, welche die verschiedenen Aktivitäten koordinieren, d. h. es bilden sich Führungspositionen heraus. In komplexeren Organisationen ist dabei die Verantwortung hierarchisch aufgebaut, wodurch sich die einfache Struktur eines Stab-Linien-Systems mit mehreren Ebenen ergibt (. Abb. 4.1). In einem Stab-Linien-System wird die Führungsperson dadurch entlastet, dass die Zahl der unterstellten Mitarbeiter durch eine Hierarchie der Verantwortung reduziert wird. Zudem werden einzelnen Führungspositionen Experten mit spezifischem Fachwissen zur Seite gestellt. Diese sog. Stäbe – in . Abb. 4.1 am Beispiel der Controlling- und der Personalabteilung verdeutlicht – beraten die Führungspersonen unter dem Aspekt ihrer spezifischen Kompetenz, haben aber selbst keine Entscheidungsbefugnis. Diese bleibt »in der Linie«, d. h. bei den Personen, die Verantwortung für das Geschäftsergebnis tragen. Bei einem solchen Stab-Linien-System ist jeder Mitarbeiter genau einer Führungskraft unterstellt. Das hat den Vorteil einer eindeutigen Verantwortung, dem steht allerdings die Gefahr einer zunehmenden Abschottung der Bereiche gegenüber. Dies sucht man häufig durch ein System der sog. »Mehrfachunterstellung« zu vermeiden, bei dem ein Mitarbeiter z. B. fachlich einem anderen Vorgesetzten als disziplinarisch unterstellt ist. Das kann in Form einer Matrixorganisation realisiert werden (. Abb. 4.2): Aufgaben haben gewöhnlich mehrere gleichgewichtige Aspekte – z. B. spielen bereits bei der Entwicklung eines neuen Produkts neben den technischen Aspekten auch die Finanzierung und das Marketing eine wesentliche Rolle. In einer Matrixorganisation wer-
51 4.3 · Ausgewählte Theorien der Organisation
. Abb. 4.1. Organigramm eines StabLinien-Systems
. Abb. 4.2. Organigramm einer Matrixorganisation
den diese Aspekte durch eine gleichgewichtige Zuordnung von Abteilungen berücksichtigt. Dadurch kommt es zu Mehrfachunterstellungen der Mitarbeiter, von denen man sich konstruktive Konflikte und die Berücksichtigung unterschiedlicher Perspektiven durch die Mitarbeiter erhofft (von Rosenstiel, Molt & Rüttinger, 2005). Das sind lediglich zwei Beispiele formaler Organisationsstrukturen. Im Folgenden werden ausgewählte Organisationstheorien dargestellt, die versuchen, die Struktur von Organisationen zu beschreiben und zu erklären.
4.3
Ausgewählte Theorien der Organisation
Das Feld der Organisationstheorien ist mittlerweile kaum noch zu überblicken. Wer sich zum ersten Mal damit beschäftigt, steht deshalb in Gefahr, schnell zu resignieren. Warum ist das so? Warum werden immer wieder neue Organisationstheorien entwickelt, anstatt an einer, umfassenden Theorie zu arbeiten? Kieser (1995) antwortet auf diese hilflos-verzweifelte Frage mit einem indischen Märchen (7 Kasten »Von Blinden, Elefanten und Organisationen«).
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Kapitel 4 · Organisationstheorien
4.3.1 Wissenschaftliche Betriebsführung Von Blinden, Elefanten und Organisationen
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»Sechs blinde Männer stoßen auf einen Elefanten. Der eine fasst den Stoßzahn und meint, die Form des Elefanten müsse die eines Speeres sein. Ein anderer ertastet den Elefanten von der Seite und behauptet, er gleiche eher einer Mauer. Der dritte fühlt ein Bein und verkündet, der Elefant habe große Ähnlichkeit mit einem Baum. Der vierte ergreift den Rüssel und ist der Ansicht, der Elefant gleiche einer Schlange. Der fünfte fasst an ein Ohr und vergleicht den Elefanten mit einem Fächer; und der sechste, welcher den Schwanz erwischte, widerspricht und meint, der Elefant sei eher so etwas wie ein dickes Seil.« Wir Menschen sind demnach in Bezug auf die Komplexität von Organisationen wie Blinde, die nur jeweils einen Teilaspekt ertasten können. Organisationstheorien beschreiben alle mehr oder weniger wichtige Teilaspekte von realen Organisationen ohne jemals den Anspruch erheben zu können, alle ihre Eigenschaften und Beziehungen zwischen den Eigenschaften zu erklären.
Diese Situation zwingt zur Auswahl. Im Folgenden werden vier Theorien vorgestellt, die sich jeweils auf die Erklärung eines zentralen Aspektes von Organisationen beschränken: deren formale Struktur. Für ein psychologisches Verständnis sind solche Ansätze zentral, da die formale Struktur einer Organisation das Handeln ihrer Mitglieder auf das Ziel der Organisation ausrichtet und damit den Kern der organisationspsychologischen Fragestellung berührt. Von all den verschiedenen Theorien, die diese Fragestellung genauer untersuchen (vgl. Neuberger, 1989; Kirchler, Meier-Pesti & Hoffmann, 2003; Walgenbach, 2004), werden wiederum nur diejenigen dargestellt, die in der Arbeits- und Organisationspsychologie besonders beachtet wurden – die Theorien werden zudem nicht vollständig aufbereitet, sondern wiederum nur in den psychologisch besonders wichtigen Teilen. Chronologisch betrachtet bildet die wissenschaftliche Betriebsführung von Frederick Taylor (1911) den Ausgangspunkt.
Bis zum Beginn des vorigen Jahrhunderts bestand die »Managementlehre« – das Wissen über die »richtige« Art der Betriebsführung – aus unsystematischen Versuchen, Erfahrungen aus der Praxis in Regeln zu fassen, die für andere Praktiker gewissermaßen als Leitfaden ihrer Arbeit dienen konnten. Hier fanden sich u. a. Anleitungen zur Disziplinierung der Arbeiterschaft, zur Gestaltung der Koordination in der Hierarchie, über das Anlegen von Akten und zur Arbeitsteilung (vgl. Kieser, 2002a). Zum Beispiel hat Adam Smith in seinem berühmten Buch »Der Wohlstand der Nationen« (Smith, 1789/1978) den Wert der Arbeitsteilung mit folgenden, nicht minder berühmten Worten gepriesen: Die Arbeitsteilung dürfte die produktiven Kräfte der Arbeit mehr als alles andere fördern und verbessern … Wir wollen daher als Beispiel die Herstellung von Stecknadeln wählen, ein recht unscheinbares Gewerbe. Der eine Arbeiter zieht den Draht, der andere streckt ihn, ein dritter schneidet ihn, ein vierter spitzt ihn zu, ein fünfter schleift das obere Ende, damit der Kopf aufgesetzt werden kann. Auch die Herstellung des Kopfes erfordert zwei oder drei getrennte Arbeitsgänge. Das Ansetzen des Kopfes ist eine eigene Tätigkeit, ebenso das Weißglühen der Nadel, ja, selbst das Verpacken der Nadel ist eine Arbeit für sich. Um eine Stecknadel anzufertigen, sind somit etwa 18 verschiedene Arbeitsgänge notwendig … Ich selbst habe eine kleine Manufaktur dieser Art gesehen, in der nur 10 Leute beschäftigt waren, so dass einige von ihnen zwei oder drei solcher Arbeiten übernehmen mussten. Obwohl sie nun sehr arm und nur recht und schlecht mit dem nötigen Werkzeug ausgerüstet waren, konnten sie zusammen am Tage doch etwa 12 Pfund Stecknadeln anfertigen, wenn sie sich einigermaßen anstrengten. Rechnet man nun für ein Pfund über 4.000 Stecknadeln mittlerer Größe, so waren die 10 Arbeiter imstande, täglich etwa 48.000 Nadeln herzustellen, jeder also ungefähr 4.800 Stück. Hätten sie indes alle einzeln und unabhängig voneinander gearbeitet, noch dazu ohne Ausbildung, so hätte der einzelne gewiss nicht einmal 20, vielleicht sogar keine einzige Nadel am Tag zustande gebracht. (Smith, 1789/1978, S. 9f.)
Das sind beeindruckende Zahlen und Schlussfolgerungen, sie können aber nicht darüber hinwegtäuschen,
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dass die ganze Aussage lediglich auf den Eindrücken und Schätzungen eines Autors beruht. Wissenschaftlich betrachtet ist ihr Wert damit sehr eingeschränkt. Nichtsdestotrotz ist diese Art der Managementlehre bis auf den heutigen Tag lebendig: All die sich jagenden Managementmoden – Lean Management, Total Quality Management, Business Process Reenginiering, Benchmarking etc. –, die vor allem von Unternehmensberatern in regelmäßigen Abständen propagiert werden, basieren letztlich auf derselben Methode. Demgegenüber hat Frederick Taylor mit seiner »wissenschaftlichen Betriebsführung« den Anspruch erhoben, auf streng methodischem Wege die Probleme der Betriebe lösen zu können (vgl. zum Folgenden Neuberger, 1989; Kieser, 2002a; Walgenbach, 2004; 7 Kap. 2). Sein Ziel war es, eine naturwissenschaftliche Organisationstheorie zu entwickeln. Als Ingenieur war Taylor überzeugt, dass eine Organisation ein mechanisches Kunstprodukt ist, das sich nach den Prinzipien rationaler und systematischer ingenieurwissenschaftlicher Analyse gestalten lässt. Daher bildet das wissenschaftliche Experiment den Kern seiner Managementlehre, Taylor gibt damit den Unternehmern eine Methode zur Steigerung der Produktivität an die Hand. Er vermittelt also keine fertigen Lösungen im Sinne von Organisationsprinzipien, sondern eine Lösungsmethode, die beschreibt, wie sich unter Berücksichtigung verschiedener Arbeitsbedingungen die jeweils gewünschten Ziele realisieren lassen. Seine Vorstellung vom wissenschaftlichen Experiment, das konkrete betriebliche Probleme lösen kann, hat er u. a. an dem Problem der Auswahl des optimalen Werkzeuges verdeutlicht. Soll z. B. die optimale Form einer Schaufel für Erdarbeiten bestimmt werden, empfiehlt sich folgendes Vorgehen: Für einen erstklassigen Schaufler gibt es eine bestimmte Gewichtslast, die er jedesmal mit der Schaufel heben muss, um die größte Tagesleistung zu vollbringen. Welches ist nun diese Schaufellast? … Das ist eine Frage, die sich nur durch sorgfältig angestellte Versuche beantworten lässt. Deshalb suchten wir erst 2 oder 3 erstklassige Schaufler aus, denen wir einen Extralohn zahlten, damit sie zuverlässig und ehrlich arbeiteten. Nach und nach wurden die Schaufellasten verändert und alle Nebenumstände, die mit der Arbeit irgendwie zusammenhingen, sorgfältig mehrere Wochen lang von Leuten, die ans Experimentieren gewöhnt waren, beobachtet. Sie fanden, dass ein erst-
klassiger Arbeiter seine größte Tagesleistung mit einer Schaufellast von ungefähr 9½ kg vollbrachte, d. h. er leistete bei einer Schaufellast von 9½ kg mehr als mit einer solchen von 11 kg oder 8½ kg. (Taylor, 1911; zit. nach Kieser, 2002a, S. 76).
Auf ähnlichem Wege hat Taylor die für eine Aufgabe am besten geeigneten Arbeiter, die optimalen Bewegungsabläufe bei der Verrichtung bestimmter Tätigkeiten, das beste Entlohnungssystem und anderes mehr bestimmt. Dieses methodische Vorgehen ist wiederum eingebettet in ein System strategischer Gestaltungsziele von Organisation, die sich als allgemeine Prinzipien fassen lassen (Ebbinghaus, 1984; 7 Kasten, S. 54). Das System der wissenschaftlichen Betriebsführung ist vielfach kritisiert worden (vgl. Kieser, 2002a). Mit Blick auf die Methodik ist festzustellen, dass Taylor gar keine wissenschaftlichen Experimente durchgeführt hat – seine Untersuchungen basieren auf viel zu kleinen Stichproben, die Teilnehmer sind nicht zufällig ausgewählt, ihre Reaktionen werden lediglich in Extremsituationen registriert und die Untersuchungen umfassen viel zu kurze Zeiträume (d. h. es wurden keine Kontroll- und Folgeuntersuchungen durchgeführt). Unter ethischem Aspekt wurden vor allem die impliziten Annahmen über die Arbeiter kritisiert. Nach Meinung von Taylor sind diese – im Gegensatz zu den Betriebsingenieuren (!) – dumm und faul und finden ihr Glück nur im Konsum. Gerade die kritische Auseinandersetzung mit diesem System hat aber die Arbeits- und Organisationspsychologie entscheidend geprägt (zur historischen Bedeutung der wissenschaftlichen Betriebsführung für die Entwicklung der Arbeits- und Organisationspsychologie vgl. Greif, 2004). 4.3.2 Die Bürokratietheorie von Max Weber Der berühmte deutsche Soziologe Max Weber wird heute als Begründer der Organisationstheorie im engeren Sinne betrachtet, seine Analyse der Bürokratie hat eine Vielzahl weiterer Organisationstheorien beeinflusst und auch die Entwicklung der Arbeits- und Organisationspsychologie ist ohne sein Werk kaum zu verstehen. Der Begriff der Bürokratie, wie wir ihn heute verwenden, bezieht sich auf die nach bestimmten Prinzipien aufgebaute staatliche Verwaltung. Diese Form wurde im absolutistischen Zentralstaat in Frankreich
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Kapitel 4 · Organisationstheorien
Prinzipien der der strategischen Gestaltung von Unternehmen
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Trennung von Hand- und Kopfarbeit. Arbeiter bringen ein reichhaltiges Erfahrungswissen in ihre Arbeit ein. Nach Taylor ist es die Aufgabe des Managements, dieses Wissen der Arbeiter systematisch zu sammeln. Das sollte vor allem auf dem Wege von Zeit- und Bewegungsstudien geschehen, die von speziell ausgebildeten Experten durchgeführt werden (7 Kap. 21). Eignet sich das Management auf diesem Wege die Kenntnisse der Arbeiter über die Produktionsprozesse an, sollten sich dann erhebliche Leistungssteigerungen ergeben, wenn diese Kenntnisse – die häufig nur in Form von »Daumenregeln« vorliegen – systematisch durch wissenschaftliche Erkenntnisse angereichert werden. Pensum und Bonus. Aus den wissenschaftlichen Erkenntnissen soll ein Tagespensum abgeleitet werden, das ein Arbeiter ohne Schädigung bewältigen kann. Mithilfe eines finanziellen Bonus soll der Arbeiter dazu motiviert werden, dieses Pensum auch zu erfüllen. Für die Entlohnung gilt der Grundsatz: hohe Löhne bei
entwickelt, wobei das Ziel vor allem die effiziente Eintreibung von Steuern war (vgl. Kieser, 2002b). Im 19. Jahrhundert verbreitete sich diese Form der Verwaltung sehr rasch unter den Staaten. In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts entwickelten sich dann die ersten großen Industrieunternehmen, deren Verwaltungen nach demselben Prinzip wie die staatlichen organisiert wurden. Max Weber hat die Entwicklung der Bürokratie im Zusammenhang mit dem Prozess der gesellschaftlichen Rationalisierung gesehen, d. h. mit der – historisch betrachtet – ständig zunehmenden Fähigkeit des Menschen, sich mit der natürlichen und sozialen Umwelt geistig (rational) auseinanderzusetzen und sie zu gestalten (Weber, 1921/1972; vgl. zum Folgenden Neuberger, 1989; Kieser, 2002b; Kirchler et al., 2003; Walgenbach, 2004). Den Prozess der Rationalisierung sieht Weber auf drei Ebenen voranschreiten: 4 Auf der Ebene der Weltbilder: Dabei werden zunächst magische Weltbilder zugunsten religiöser zurückgedrängt, dann weichen konkrete religiöse Vorstellungen zunehmend abstrakteren und schließlich
niedrigen Herstellungskosten. Die Arbeiter sollten sich für ein hohes Gehalt anstrengen, es sollte aber nur die Leistung von ihnen verlangt werden, die sie lange Zeit ohne Schädigung ihrer Gesundheit erbringen können. Auslese und Anpassung der Arbeiter. Ein zentrales Ziel der wissenschaftlichen Betriebsführung ist »eine Arbeitervereinigung der leistungsfähigsten Leute«. Zu diesem Zweck sollten – in dieser Frage ist Taylor ein Vorgänger der Eignungsdiagnostik (7 Kap. 17) – Tests zur Auslese der geeigneten Arbeiter eingesetzt werden. Im Übrigen wird auf die Wirkung von Pensum und Bonus vertraut, die geeignete und motivierte Arbeiter anziehen soll. Versöhnung zwischen Arbeitern und Management. Taylor glaubte, dass der Einsatz seines Systems die Konflikte zwischen Arbeitnehmern und -gebern lösen werde. Demnach sollte die wissenschaftliche Betriebsführung die Produktivität so steigern, dass die Verteilung der erzielten Erträge ohne Neid und Missgunst vonstatten geht.
verliert die religiöse Ethik ihre Verbindlichkeit für das menschliche Verhalten. 4 Auf der Ebene der praktischen Lebensführung: Rationalisierung bedeutet in diesem Fall, das eigene Leben zunehmend methodisch und konsistent zu führen und sich dabei an eigenen Wertvorstellungen zu orientieren. 4 Auf der Ebene der Institutionen: Hier bedeutet Rationalisierung, dass die Probleme der natürlichen und sozialen Welt durch Wissenschaft, Technik und Organisation zunehmend berechen- und beherrschbar werden. Ein wesentliches Ergebnis der Rationalisierung auf der Ebene der Institutionen ist die Entwicklung der Bürokratie. Die entscheidenden Kennzeichen von Rationalität sind Sachlichkeit, Unpersönlichkeit und Berechenbarkeit, diese Kennzeichen prägen auch die Bürokratie. Die Struktur der Bürokratie weist die im 7 Kasten, S. 55 dargestellten Merkmale auf. In der Bürokratie sind damit die Arbeitsergebnisse völlig kalkulierbar, jeder einzelne Beamte ist ersetzbar
55 4.3 · Ausgewählte Theorien der Organisation
Strukturelle Merkmale der Bürokratie Arbeitsteilung. Jeder Beamte – früher wurden auch in den Betrieben die Mitarbeiter in der Verwaltung als Beamte bezeichnet – hat genau festgelegte Zuständigkeiten, d. h. einen sachlich abgegrenzten Bereich von Leistungspflichten (als Amt oder auch als Stelle bezeichnet). Zur Erfüllung dieser Pflichten wird ihm die notwendige Befehlsgewalt (Weisungsbefugnis) zugewiesen. Die Kompetenzen werden durch Regeln völlig unabhängig von der einzelnen Person und allgemein gültig festgelegt, zudem werden nur solche Personen eingestellt, die aufgrund ihrer Ausbildung für die Übernahme des Aufgabengebietes qualifiziert sind. Im Ergebnis entsteht eine Struktur, in der sich jedes einzelne Mitglied austauschen lässt, ohne dass sich an der Funktionsfähigkeit der Organisation etwas ändert. Amtshierarchie. Die Bürokratie ist durch ein festes System der Über- und Unterordnung gekennzeichnet, das eine effiziente Abstimmung zwischen einzelnen Aufgabenbereichen ermöglichen soll. Dabei sind die Kompetenzen in dem Sinne abgegrenzt, dass die obere Instanz nicht einfach die Geschäfte der unteren an sich ziehen kann. Bei Konflikten zwischen den Aufgabenbereichen wird die nächsthöhere Instanz eingeschaltet, außerdem müssen Beschwerden auf einem festgelegten Weg von unten nach oben weitergeleitet werden. Amtsführung. Die damit bezeichnete Aufgabenerfüllung erfolgt in Form von technischen Regeln oder Normen. Diese legen fest, welche Ergebnisse zu erzielen sind, über welche Kompetenzen der einzelne Stelleninhaber verfügt und wer mit wem kommunizieren darf oder muss (der sog. Dienstweg). Die Amtsführung ist von der Person zu trennen, sie darf sich nur an der Sache orientieren. Aktenkundigkeit. Die Aufgabenerfüllung beruht auf Schriftstücken (Akten), alle Vorgänge müssen schriftlich festgelegt werden (die sog. Aktenmäßigkeit). Die Akten sind aufzubewahren, wodurch alle Vorgänge kontrollierbar werden und beim Wechsel von Amtsinhabern die Weiterführung der Geschäfte gesichert wird.
und hat keinerlei Einfluss auf die Gestaltung seiner Arbeit. Dadurch ist die Bürokratie in den Augen von Weber allen anderen Formen der Verwaltung überlegen, ihre Kennzeichen sind »Präzision, Schnelligkeit, Eindeutigkeit, Aktenkundigkeit, Kontinuierlichkeit, Diskretion, Einheitlichkeit, straffe Unterordnung, Ersparnisse an Reibungen, sachlichen und persönlichen Kosten« (Weber, 1921/1972, S. 561ff.). Allerdings wird sie damit auch zu einem »stahlharten Gehäuse«, das den Handlungsspielraum der Mitarbeiter einengt und ihnen kaum Entscheidungsfreiheit und Verantwortung zugesteht. Natürlich wurde auch an Webers Analyse der Bürokratie Kritik geübt (vgl. Neuberger, 1989). Ein zentrales Problem ist, dass damit nur ein Idealtyp der Bürokratie beschrieben wird, Organisationen diesen aber jeweils sehr unterschiedlich ausgestalten. Außerdem ist diese Art der Organisation nur für solche Produkte angebracht, die sich weitgehend standardisieren lassen – in einer Umwelt, die häufige Anpassungen der organisatorischen Regeln erfordert, ist diese Form der Bürokratie wenig effizient. Die grundlegenden Gedanken prägen aber auch heute noch die Organisation der Unternehmen (und in noch viel stärkerem Maße des öffentlichen Dienstes). Mit der darin erläuterten Spannung zwischen dem Individuum, das zumindest partiell nach Handlungsfreiheit strebt, und der bürokratischen Organisation, die diese zu unterdrücken sucht, muss sich die Arbeits- und Organisationspsychologie auch heute noch wissenschaftlich auseinandersetzen. 4.3.3 Die Human-Relations-Bewegung Wie Kieser (2002c) eindrücklich belegt, war den Unternehmern bereits im 19. Jahrhundert in der Phase der Industrialisierung sehr wohl bewusst, dass die Herstellung »menschlicher Beziehungen« (»human relations«) zu den Arbeitern ein wichtiger Produktionsfaktor sein kann. Nach dem ersten Weltkrieg wurde dieser Gedanke akut, als allseits eine zunehmend um sich greifende Arbeitsunlust in den Unternehmen diagnostiziert wurde. Diese war zum einen auf gesellschaftliche Bedingungen zurückzuführen – eine hohe Geldentwertung sorgte ebenso dafür wie die enttäuschten Hoffnungen der Arbeiterschaft auf eine grundlegende Änderung der ökonomischen und politischen Verhältnisse –, zum anderen auf die durch wissenschaftliche Betriebsführung sinnentleerte Arbeitgestaltung. Als Reaktion darauf wurden
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Kapitel 4 · Organisationstheorien
die Unternehmer zunehmend aufgefordert, ihre Arbeiter »menschlich« zu behandeln und eine andere, auf die Organisation menschlicher Beziehungen orientierte Führung zu praktizieren. In dieser Situation wurde ein Forschungsprogramm gestartet, das in Felduntersuchungen Probleme der Produktivität und der Kündigungsraten analysierte (Roethlisberger & Dickson, 1939; vgl. Greif, 2004). Diese Untersuchungen wurden zwischen 1924 und 1932 in einem Werk der Western-Electric Company in Hawthorne durchgeführt. Unter diesem Namen wurden die Untersuchungen weltberühmt (7 Kasten »Die Hawthorne-Studien«). Diese Ergebnisse führten die Forscher darauf zurück, dass den Arbeitern – ganz im Gegensatz zur sonst üblichen Behandlung in der Arbeit – im Rahmen der Versuche zum ersten mal Interesse entgegengebracht und sie mit Respekt behandelt wurden. Die Tatsache, dass allein die Teilnahme an einer Untersuchung schon einen Einfluss auf das Verhalten der Untersuchten hat, wird seitdem als Hawthorne-Effekt bezeichnet. Diese Deutung brachte die Forscher zu der Schlussfolgerung, dass eine Verbesserung der menschlichen Beziehungen (»human relations«) die Arbeitszufriedenheit und die Arbeitsmotivation erhöht und in der Folge die Leistung der Mitarbeiter steigt. Der Führung wurde aufgrund dieser »Erkenntnisse« empfohlen, die Mitarbeiter freundlich zu behandeln und vertrauensvolle Beziehungen zu ihnen aufzubauen. Diese Empfehlungen, verbunden mit dazu passenden Schulungsprogrammen für die Führungskräfte der Wirtschaft, bildeten den Kern der sog. »Human-Relations-Bewegung«. Um die Motivation der Mitarbeiter zu steigern, vertrauten zumindest in den größeren Unternehmen der USA fortan die Manager nicht mehr allein auf Lohnanreize, sondern setzten auf die Erhöhung der Arbeitszufriedenheit. Zu diesem Zweck wurden Schulungen in Human-Relations-Techniken zum Standard. Diese ersetzten allerdings nicht die wissenschaftliche Betriebsführung, vielmehr wurde nur der Umgang mit den Arbeitern verändert (Kieser, 2002c). Die Hawthorne-Studien und die dadurch verstärkte Human-Relations-Bewegung haben also streng genommen gar keinen Einfluss auf die Organisationsstrukturen genommen und können auch nicht als Organisationstheorie im engeren Sinne bezeichnet werden: In diesem Ansatz wurde nicht die Organisation selbst erklärt, sondern diese lediglich als Bezugsrahmen zur Erklärung menschlichen Verhaltens herangezogen. Für die Ent-
Die Hawthorne-Studien Bei den ersten Studien ging es um die Frage, welche Auswirkungen die Helligkeit am Arbeitsplatz für die Arbeitsleistung hat. Zu diesem Zweck wurden zunächst in mehreren Abteilungen Durchschnittswerte der Leistung erhoben, anschließend wurde die Helligkeit am Arbeitsplatz systematisch variiert. Dabei zeigte sich aber kein direkter Zusammenhang zwischen der Leistung und der Helligkeit am Arbeitsplatz. Vielmehr stieg in allen Abteilungen, in denen die Forscher ihre Untersuchungen durchführten, die Leistung. Das war sogar dann der Fall, wenn die Helligkeit verringert wurde. Aufgrund dieser unerwarteten Ergebnisse wurden in der Folge verschiedene Faktoren – Ermüdung, Ruhepausen, Länge des Arbeitstages, Lohnsystem und Arbeitseinrichtungen – systematisch in ihrer Wirkung auf die Arbeitsleistung untersucht. Berühmt geworden ist dabei u. a. eine Untersuchungsreihe, wobei fünf Arbeiterinnen in einem Versuchsraum jeweils Relais zusammensetzen mussten. Untersucht wurde hier die Wirkung von Ruhepausen und der Länge des Arbeitstages auf die Leistung. Auch hier nahmen – scheinbar unabhängig von den experimentell variierten Arbeitsbedingungen – die Leistungen zu (Roethlisberger & Dickson, 1939).
wicklung der Organisationspsychologie und das in dieser Disziplin verbreitete Verständnis von Organisation hat die Bewegung aber fundamentale Bedeutung. Das ist umso bemerkenswerter, als mittlerweile bekannt ist, dass es sich beim Hawthorne-Effekt wahrscheinlich um ein methodisches Artefakt handelt (vgl. Greif, 2004). So arbeiteten die Testpersonen unter privilegierten Bedingungen, erhielten bessere Löhne, in einem Fall wurden zwei widerspenstige Frauen durch »kooperationswillige« Versuchspersonen ersetzt, die Arbeiter erhielten regelmäßiges Leistungsfeedback und wurden teilweise sogar gezielt aufgefordert, so schnell wie möglich zu arbeiten. Der Hawthorne-Effekt ist also eher ein Mythos, der aufgrund der zeitbedingten ideologischen Bedingungen gerne geglaubt wurde. Obwohl die Untersuchungen den modernen methodischen Standards nicht standhalten, hat sich aber im Laufe der Forschung herausgestellt, dass die daraus ent-
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wickelten Annahmen nicht völlig falsch sind. So zeigen z. B. neuere Metaanalysen, dass ein mitarbeiterorientiertes Führungsverhalten – wie von der Human-Relations-Bewegung postuliert – sehr wohl positive Auswirkungen auf die Zufriedenheit und die Leistung der Mitarbeiter hat (vgl. Judge, Piccolo & Ilies, 2004). Und so hat diese Bewegung, obwohl sie nicht zuletzt auf einem Mythos beruht, nachhaltige Folgen für die Organisationen. Eine davon ist, dass seither die Verbesserung der Arbeitszufriedenheit und der sozialen Beziehungen in Organisationen als eigenständige Zielkriterien angesehen werden. Dass auch Ökonomen und Betriebswirte dies anerkennen, ist nicht zuletzt auf die HumanRelations-Bewegung zurückzuführen. Zudem basieren gestaltungsorientierte Ansätze wie beispielsweise die Organisationsentwicklung (7 Kap. 12) auf den Grundüberlegungen und Vorgehensweisen, die bereits in den Hawthorne-Studien angelegt sind (die Überprüfung der Wirkungen solcher gestaltungsorientierter Ansätze belegt auch den Wert der grundlegenden Aussagen der Human-Relations-Bewegung; vgl. dazu Guzzo, Jette & Katzell, 1985; Neuman, Edwards & Raju, 1989). 4.3.4 Die verhaltenswissenschaftliche
Entscheidungstheorie Die verhaltenswissenschaftliche Entscheidungstheorie basiert auf den Erkenntnissen des ehemaligen amerikanischen Topmanagers Chester Barnard (1938), die vor allem von dem Psychologen Herbert A. Simon (1976; March & Simon, 1958) wissenschaftlich ausgearbeitet wurden. Für die damit verbundenen Arbeiten zur begrenzten Rationalität hat Simon später den Nobelpreis für Ökonomie erhalten (vgl. zusammenfassend Berger & Bernhard-Mehlich, 2002; Walgenbach, 2004). Simon geht davon aus, dass Entscheidungsprozesse den Kern der Organisation ausmachen, daher bilden diese den Ausgangspunkt der Theorie. Diese Annahme liegt auch den meisten betriebswirtschaftlichen Theorien zugrunde, im Gegensatz zu diesen stützt sich Simon aber nicht auf die Entscheidungslogik, sondern auf das empirisch zu beobachtende Entscheidungsverhalten. Ein solches Herangehen ist das Kennzeichen der Verhaltenswissenschaften, woher sich auch der Name der Theorie ableitet. Die verhaltenswissenschaftliche Entscheidungstheorie versucht zu erklären, wie sich Organisationen an
unsichere, ständig ändernde Umwelten anpassen und damit ihren Bestand sichern. Aufgrund des verhaltenswissenschaftlichen Ansatzes wird dies als Problem des menschlichen Entscheidungsverhaltens formuliert, was wiederum von den Annahmen über diejenigen menschlichen Eigenschaften geprägt ist, die für Entscheidungen relevant sind. Dabei geht die Theorie von zwei Annahmen aus: 1. Menschen verfügen nur über begrenzte Kapazitäten zur Verarbeitung von Informationen und 2. ihre Bereitschaft, sich in Organisationen zu engagieren, ist beschränkt. Organisationen werden im Rahmen der Theorie als Systeme bewusst koordinierter Handlungen von zwei oder mehr Personen definiert (Barnard, 1938). Nach diesem Verständnis bestehen Organisationen also nicht aus Menschen, sondern aus Handlungen. Organisation ist daher ein unpersönliches Handlungssystem: Mit der Entscheidung für eine Organisation wird das Handeln der Teilnehmer nicht mehr von persönlichen, sondern allein von den Gesichtspunkten der Organisation geleitet. Eine Konsequenz dieser Auffassung ist, dass die Menschen, die diese Handlungen vollziehen, nicht Bestandteil der Organisation sind, sondern ebenso zur Umwelt zählen wie die physische oder soziale Umwelt, etwa die von der Organisation verwendeten Maschinen, die Gebäude oder auch die Gesetze. So kann diese Theorie u. a. erklären, warum eine Organisation bestehen bleibt und ihre Identität wahren kann, obwohl über kurz oder lang alle Teilnehmer wechseln, aus deren Handlungen sie besteht. Den Ausgangspunkt der Analyse der Entscheidungen, aus denen eine so verstandene Organisation »besteht«, bildet das Konzept der begrenzten Rationalität (»bounded rationality«). Nach Simon (1976) sind Menschen nur sehr eingeschränkt in der Lage, rational Entscheidungen zu treffen: Sie handeln lediglich intentional rational, d. h., sie haben die Absicht bzw. streben danach, rational zu handeln. Damit grenzt er sich von der ökonomischen Entscheidungstheorie ab, die von objektiv rational handelnden Menschen ausgeht. Nach dem ökonomischen Modell werden Ziele, Optionen, Umweltbedingungen, Ergebnisse und deren Wahrscheinlichkeiten sowie deren Nutzen objektiv ermittelt und anhand von Regeln der Entscheidungslogik verknüpft, wobei gewöhnlich ein Ziel der Nutzenmaximierung angenommen wird (vgl. z. B. Eisenführ &
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Kapitel 4 · Organisationstheorien
Weber, 2002). Simon weist dagegen darauf hin, dass Menschen 4 nur ein unvollständiges Wissen über die Bedingungen haben, die Einfluss auf die Konsequenzen von Entscheidungen nehmen; 4 nur begrenzt in der Lage sind, zukünftige Ereignisse vorwegnehmend zu bewerten; 4 nicht in der Lage sind, alle Entscheidungsalternativen in Betracht zu ziehen. Wenn Menschen durch solche Begrenzungen gekennzeichnet sind, wie kann man dann absichern, dass die in der Organisation gefällten Entscheidungen rational sind
(und das müssen sie sein, um deren Überleben zu sichern)? Die Antwort der verhaltenswissenschaftlichen Entscheidungstheorie lautet: durch formale Organisation. Ihre Funktion ist es, die Komplexität und die Unsicherheit, denen Entscheidungen in Organisationen ausgesetzt sind, zu reduzieren. Dies gelingt der formalen Organisation durch verschiedene Mittel (Simon, 1976; Berger & Bernhard-Mehlich, 2002; 7 Kasten »Möglichkeiten der Reduktion von Komplexität und Unsicherheit in formalen Organisationen«).
Die verhaltenswissenschaftliche Entscheidungstheorie hat das Denken über Organisationen entscheidend geprägt und eine Vielzahl weiterer Theorien inspiriert
Möglichkeiten der Reduktion von Komplexität und Unsicherheit in formalen Organisationen Arbeitsteilung. Organisationen sind mit komplexen Problemen konfrontiert. Diese werden in zu bearbeitende Teilprobleme aufgespalten und an Organisationsmitglieder zur Lösung zugewiesen. So gibt es in Organisationen Abteilungen, die für die Entwicklung von Produkten zuständig sind, andere sorgen für deren Produktion, eine dritte für deren Verkauf usw. Aufgrund dieser Arbeitsteilung müssen die Organisationsmitglieder nicht eine Vielzahl von unterschiedlichen Anforderungen gleichzeitig bewältigen. Die einzelnen Entscheider müssen sich nur noch auf Ausschnitte der Realität beziehen – die Mitarbeiter in der Entwicklungsabteilung auf neue Problemlösungen, die Mitarbeiter in der Produktion auf technische Probleme, die Mitarbeiter in der Verkaufsabteilung auf die Bedingungen am Markt. Dadurch reduzieren sich die zu beachtenden Alternativen und die daraus möglicherweise folgenden Konsequenzen – durch Arbeitsteilung wird es einfacher, rational zu entscheiden! Standardisierte Verfahren. Standardisierte Verfahren legen fest, wie bestimmte Aufgaben zu erledigen sind. Solche Verfahren und die damit verbundenen Regeln entlasten die Organisationsmitglieder bei ihren Entscheidungen – in häufig auftretenden Situationen müssen sie nicht mehr alle möglichen Alternativen und deren Konsequenzen durchdenken, sondern können auf allgemeine Problemlösungen zurückgreifen. Hierarchie. In der Hierarchie wird der Entscheidungsspielraum nachgeordneter Stellen durch die übergeordneten Stellen eingeengt – diese geben vor, worauf
sich die nachgeordneten Stellen konzentrieren müssen. Je enger aber dadurch der Entscheidungsspielraum wird, desto geringer ist die Komplexität der Probleme für den Entscheider und seine Unsicherheit sinkt. Kommunikation. Jedes Organisationsmitglied erhält nur die Informationen, die es für die Entscheidungen an seiner Stelle benötigt. Durch diese Filterung der Informationen werden schon im Vorfeld – noch bevor der Entscheider damit konfrontiert wird – Unsicherheit und Komplexität verringert. Indoktrination. Häufig verfügen Vorgesetzte nicht über die notwendigen Detailkenntnisse über betriebliche Situationen, d. h., ihre Mitarbeiter haben in diesen Fällen eine Art Informationsmonopol: Nur sie können die sachlich adäquaten Entscheidungen treffen. Für die Organisation ist es daher sehr wichtig, dass sich die Mitarbeiter mit der Organisation identifizieren und nicht im eigenen, persönlichen Interesse entscheiden, sondern im Interesse der Organisation. Um dies zu sichern, werden die Organisationsmitglieder »indoktriniert«, d. h., es wird versucht, sie zur Verinnerlichung der Werte und Ziele der Organisation zu bewegen. Das wird z. B. im Rahmen vonWeiterbildungsveranstaltungen, bei Motivationstagen, Vorstandsansprachen etc. gemacht. Letztlich dient auch die Ausbildung einer Organisationskultur genau dieser Art von Indoktrination (7 Kap. 11). Für die Mitarbeiter wiederum vereinfacht die Übernahme der organisationalen Werte und Ziele die alltäglichen Entscheidungen, da sie dann ohne langes Abwägen im Interesse der Organisation handeln.
59 Literatur
(vgl. Walgenbach, 2004). Im Gegensatz zu den anderen hier besprochenen Ansätzen verweist diese Theorie darauf, dass Organisationen nicht beliebig beherrschbar sind und entwirft damit ein realistischeres Bild von der Organisation. Die Grenzen der verhaltenswissenschaftlichen Entscheidungstheorie liegen allerdings in der allzu großen Bedeutung, die der formalen Organisation zugewiesen wird. Andere Aspekt wie z. B. die individuellen Bedürfnisse und Interessen der Mitarbeiter werden dagegen vernachlässigt. Zusammenfassung 4 Nach dem institutionalen Begriff sind Organisationen zeitlich relativ stabile, gegenüber der Umwelt offene, aus Individuen und Gruppen zusammengesetzte, zielgerichtet handelnde und strukturierte soziale Systeme. 4 Wesentliche Merkmale der Struktur solcher Systeme sind Arbeitsteilung und Hierarchie der Verantwortung, die durch Aufgabenanalyse und -synthese entstehen. 4 Das Modell der wissenschaftlichen Betriebsführung verfolgt als strategische Gestaltungsziele die Trennung von Hand- und Kopfarbeit, Pensum und Bonus, Auslese und Anpassung der Arbeiter sowie Versöhnung zwischen Arbeitern und Management. 4 Die Bürokratietheorie von Max Weber sieht die moderne Verwaltung als Ergebnis der fortschreitenden Rationalisierung, die dadurch bedingte Struktur der Bürokratie ist gekennzeichnet durch Arbeitsteilung, Amtshierarchie der Überund Unterordnung; Amtsführung in Form von technischen Regeln und Aktenkundigkeit. 4 Die Human-Relations-Bewegung geht auf die Hawthorne-Untersuchungen zurück, nach deren Ergebnissen eine Verbesserung der menschlichen Beziehungen die Arbeitszufriedenheit und die Leistung der Mitarbeiter erhöht. 4 Die verhaltenswissenschaftliche Entscheidungstheorie geht vom Konzept der begrenzten Rationalität aus, wonach Menschen nur sehr eingeschränkt in der Lage sind, rational Entscheidungen zu treffen.
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60
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Kapitel 4 · Organisationstheorien
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5
5 Interaktion und Kommunikation 5.1
Interaktion und Kommunikation: Zur Abgrenzung der Begriffe – 62
5.2
Formen der Kommunikation
– 63
5.2.1 Mündliche Kommunikation – 63 5.2.2 Schriftliche Kommunikation – 63 5.2.3 Nonverbale Kommunikation – 64
5.3
Formale Kommunikation in Organisationen
5.3.1 5.3.2 5.3.3 5.3.4
Das Sender-Empfänger-Modell – 65 Formale Kommunikationsstrukturen – 66 Vorgesetzten-Untergebenen-Kommunikation – 67 Wahl von Kommunikationskanälen – 68
5.4
Informelle Kommunikation
5.4.1 5.4.2 5.4.3 5.4.4
Unterschiede zwischen formaler und informeller Kommunikation Das Filtermodell der Kommunikation – 69 Spiele –70 Gerüchte – 72
Literatur
– 74
– 64
– 69 – 69
62
Kapitel 5 · Interaktion und Kommunikation
> Organisationen bestehen, weil die dort arbeitenden Menschen immer wieder ihre Handlungen aufeinander abstimmen. Sie machen das – allgemein betrachtet – durch Interaktion, d. h., indem sie gegenseitig aufeinander einwirken. Die wichtigste Form der Einwirkung auf andere Menschen ist die Kommunikation (vgl. Jablin & Putnam, 2001). Nach der Erläuterung der Bedeutung und einer Abgrenzung der beiden Begriffe werden im Folgenden die wichtigsten Formen der Kommunikation beschrieben. Darauf aufbauend können dann die beiden grundlegenden und organisationspsychologisch wichtigen Formen der Kommunikation – die interpersonelle und die organisationale Kommunikation – in ihren wesentlichen Merkmalen dargestellt werden (zu einer dritten Variante, die davon ausgeht, dass Organisationen aus Kommunikation und Interaktion bestehen, vgl. Blickle, 2004).
5 5.1
Interaktion und Kommunikation: Zur Abgrenzung der Begriffe Definition Soziale Interaktion bezeichnet die Einwirkung verschiedener Personen aufeinander, wobei der Einwirkung nicht notwendigerweise eine Absicht, ein Plan oder auch nur das Wissen der Personen über die wechselseitige Einwirkung zu unterstellen ist (Blickle, 2004).
Eine Form der Einwirkung ist das als Social Facilitation bekannte Phänomen, wonach die Anwesenheit anderer bei der Verrichtung einfacher, gut gelernter Tätigkeiten zu höherer Leistung führt im Vergleich zur Einzelarbeit: Allein die physische Präsenz anderer Menschen bewirkt eine physiologische Aktivierung, d. h., es findet eine Einwirkung völlig unabhängig davon statt, was jemand mit seinem Verhalten beabsichtigt (7 Kap. 2). Im Kern der Interaktion steht die wechselseitige Einwirkung. Welche Funktion diese Einwirkung für die beteiligten Personen hat, wird mit dieser Definition noch nicht deutlich. Nach einer grundlegenden Annahme der Psychologie sind Menschen aufeinander angewiesen, um bestimmte Bedürfnisse zu befriedigen und sie stimmen ihr Verhalten ab, um Bedürfnisbefriedigung zu erreichen (Graumann, 1972). Die Möglichkeiten, einer anderen Person Befriedigung zu verschaffen oder zu verweigern und dadurch selbst in den Genuss belohnender Aktivitäten des anderen zu kommen, führen demnach zur wechselseitigen Einwirkung.
Definition Eine spezielle Form der Einwirkung ist die Kommunikation, die als Übermittlung oder Austausch von Informationen definiert wird (Krauss & Fussell, 1996).
Da jede Mitteilung Einfluss auf den Empfänger ausübt, stellt jede Kommunikation eine Interaktion dar, aber nicht jede Interaktion ist auch eine Kommunikation, d. h., Kommunikation bildet eine Teilmenge der Interaktion. Um sinnvoll von Kommunikation sprechen zu können, müssen einige Voraussetzungen erfüllt sein. Dem Austausch von Mitteilungen liegt gewöhnlich eine Absicht zugrunde: Eine Mitteilung setzt ein Ziel voraus, das in einem Medium – brieflich, fernmündlich oder von Angesicht zu Angesicht – zu verwirklichen versucht wird, wobei sich die Kommunikationsteilnehmer wechselseitig an einem oder mehreren Themen orientieren. Zwischen der Interaktion und der Kommunikation sind viele Merkmale der sog. Körpersprache – häufig auch als nonverbale Kommunikation (DePaulo & Friedman, 1998) bezeichnet – einzuordnen. Ein Vorgesetzter kann einen Tonfall der Erregung oder eine gespannte Körperhaltung bewusst produzieren, z. B. um die Dramatik seiner Aussagen im Gespräch mit seinem Mitarbeiter zu erhöhen. In diesem Fall stellt sein nonverbales Verhalten ein Ausdrucksmittel der Kommunikation dar, das unter Umständen auch als solches vom Mitarbeiter interpretiert wird. Möglicherweise wirkt das Verhalten auf den Mitarbeiter ein, ohne von diesem bemerkt zu werden: Im ersten Fall würde es sich um eine Form der Kommunikation, im zweiten um eine einseitige Interaktion handeln. Dasselbe Verhalten des Vorgesetzten kann aber beispiels-
63 5.2 · Formen der Kommunikation
weise auch die Nachwirkung der Auseinandersetzung mit dem Vorstand sein, der ihn vielleicht kurz vor dem Mitarbeitergespräch wegen nachlassender Umsätze kritisiert hat. In diesem Fall ist das nonverbale Verhalten des Vorgesetzten kein bewusst eingesetztes Ausdrucksmittel und zählt daher nicht zur Kommunikation. Vielmehr bildet es eine Form der Interaktion, eine einseitige Einwirkung auf den Mitarbeiter. Versteht aber der Mitarbeiter das Verhalten als bewusst eingesetztes Mittel, um ihn unter Druck zu setzen, dann kann er es auch als schlechte Schauspielerei betrachten und diese Deutung wird ihn in seinen möglicherweise bestehenden Vorurteilen gegenüber dem Vorgesetzten bestätigen. Die Begriffe Interaktion und Kommunikation lassen sich also im Gegensatz zu häufig geäußerten, gegenteiligen Meinungen (z. B. Watzlawick, Beavin & Jackson, 1969) sehr wohl unterscheiden, wenn sich auch die Grenzen zwischen den beiden Phänomenen nicht immer ganz genau festlegen lassen. Unter Interaktion kann der Prozess der wechselseitigen Einwirkung zweier oder mehrerer Personen verstanden werden, die spezielle Einwirkung durch Kommunikation, d. h. durch die Übermittlung von Botschaften, kann wiederum verschiedene Formen annehmen. 5.2
Formen der Kommunikation
Wie werden Nachrichten übermittelt? Im Prinzip lassen sich drei Formen der Kommunikation unterscheiden: mündliche (verbale), schriftliche (verbale) und nonverbale Kommunikation. 5.2.1 Mündliche Kommunikation Die wichtigste Form der Kommunikation ist die mündliche: Ansprachen, Mitarbeitergespräche, Gruppendiskussionen, aber auch Klatsch und die Verbreitung von Gerüchten beruhen auf mündlicher Kommunikation. Die technische Entwicklung hat diese Form der Kommunikation noch erheblich ausgeweitet: Vor allem das Telefon, neuerdings aber auch Videokonferenzen, ermöglichen mündliche Kommunikation über beliebige Distanzen hinweg. Die große Bedeutung dieser Kommunikationsform ist letztlich auf zwei Merkmale zurückzuführen: ihre Geschwindigkeit und die Möglichkeit zu unmittelbarem Feedback. Die mündliche Übermittlung
einer Nachricht benötigt extrem wenig Zeit, und wenn sich der Empfänger über deren Bedeutung nicht sicher ist, kann er dies dem Sender rückmelden, wodurch dieser wiederum sofort eventuell aufgetretene Missverständnisse korrigieren kann. Ein gravierender Nachteil der mündlichen Kommunikation zeigt sich vor allem, wenn auf diesem Wege eine Information an sehr viele verschiedene Personen nacheinander zu übermitteln ist. Mit der Zahl der Personen wird der Grad der Verzerrung der Botschaft steigen (Sader, 2002). Diese Beobachtung wird im Zusammenhang mit der Filtertheorie der Kommunikation noch einmal aufgegriffen (7 Abschn. 5.4.2). 5.2.2 Schriftliche Kommunikation Schriftliche Kommunikation nimmt in Organisationen die verschiedensten Formen an: Brief, Fax, E-Mail, SMS, Firmenzeitschriften, Informationen an Schwarzen Brettern bis hin zu Erinnerungszetteln (»Post It«), die an allen nur denkbaren Objekten angebracht werden – all das zählt zur schriftlichen Kommunikation. Diese Form der Kommunikation hat eine Reihe von Vorteilen. Vor allem lassen sich die Mitteilungen beliebig lange aufheben und können als Beleg dienen, dass eine bestimmte Information übermittelt wurde. Das ist besonders wichtig bei allen Arten von Anweisungen, aber auch bei komplexen und lange Zeit relevanten Kommunikationen wie beispielsweise bei Umstrukturierungsplänen. Bei solchen Plänen zeigt sich noch ein weiterer Vorteil schriftlicher Kommunikation: Die verwendeten Formulierungen sind gewöhnlich sorgfältiger gewählt als bei mündlicher Kommunikation. Normalerweise ist man bei schriftlicher Kommunikation gezwungen, intensiver über die Botschaft nachzudenken. Das scheint allerdings bei elektronischer schriftlicher Kommunikation nicht zu gelten, die häufig durch rüde Ausdrucksweise gekennzeichnet ist (Thompsen & Ahn, 1992). Schreiben ist zwar in der Regel präziser, es dauert aber sehr viel länger als sprechen. Zudem fehlt der schriftlichen Kommunikation die Möglichkeit zum unmittelbaren Feedback. Wer eine schriftlich Nachricht verschickt, kann sich nicht sicher sein, dass sie den Empfänger erreicht – und wenn er erreicht wurde, kann man sich nicht sicher sein, dass er sie richtig verstanden hat. Zudem hat die elektronische schriftliche Kommunikation in den letzten Jahren so überhand genommen, dass
5
64
Kapitel 5 · Interaktion und Kommunikation
sie gelegentlich schon als ein ernsthaftes Hindernis für die Produktivität angesehen wird (Moser, Preising, Göritz & Paul, 2002).
wird. Der Mitarbeiter leidet vielleicht an einer nervösen Zuckung, die ihn ständig zum Blinzeln bringt. Begegnet ihm die junge Kollegin, deutet sie möglicherweise sein Zucken falsch, da sie nichts über sein Leiden weiß. 4 Interpretative Kommunikation: Nonverbale Botschaften werden bewusst gesendet und empfangen. Der Mitarbeiter blinzelt die junge Kollegin gezielt an, sie erkennt das Signal, versteht es im Sinne des Mitarbeiters – und wendet sich empört ab (oder auch nicht).
5.2.3 Nonverbale Kommunikation
5
Die im Rahmen der Kommunikation verwendeten Zeichen sind sprachlicher, d. h. verbaler, oder nonverbaler Art, entsprechend wird verbale von nonverbaler Kommunikation unterschieden (DePaulo & Friedman, 1998). Durch Mimik, Gestik, Körperhaltung und auch durch die Modulation der Stimme können Botschaften übermittelt werden. Häufig wird sogar behauptet, dass jedes Verhalten Mitteilungscharakter hat, was mit dem paradox klingenden Satz »man kann nicht nicht-kommunizieren« umschrieben wird (Watzlawick et al., 1969). Diese extreme Ausweitung des Kommunikationsbegriffs ist allerdings nicht haltbar, vielmehr lassen sich verschiedene Typen nonverbaler Kommunikation unterscheiden (Burgoon, 1994), die in der folgenden Übersicht erläutert werden.
Typen nonverbaler Kommunikation 4 Zufällige Kommunikation: die zufällige Wahrnehmung spontan ausgelöster Signale – z. B. fällt dem Mitarbeiter beim Essen in der Kantine ein Staubkorn ins Auge und er beginnt heftig zu blinzeln. Genau in diesem Moment sieht die junge Kollegin vom Nebentisch zu ihm herüber, glaubt sein Blinzeln zu verstehen und reagiert – vielleicht – empört. 4 Intuitive Kommunikation: absichtlich ausgesendete Signale, die unbewusst empfangen werden. Der Mitarbeiter könnte der jungen Kollegin auch absichtlich zugeblinzelt haben, da sich diese aber gerade mit ihrer Kollegin unterhält, nimmt sie sein Blinzeln nicht bewusst wahr. Wenn sie ihm das nächste Mal begegnet, hat sie den unklaren Eindruck, dass er etwas von ihr will. 4 Informative Kommunikation: ein symptomatisches Verhalten, das nicht als Botschaft beabsichtigt ist, aber vom Empfänger so interpretiert
6
Zwar haben Menschen die Neigung, jedem Verhalten einen Sinn zuzuschreiben, aber nicht jedes Verhalten ist notwendigerweise eine Form der Kommunikation (Frey, 1999)! In Organisationen wird nonverbale Kommunikation in vielfältiger Weise eingesetzt, besonders auffällig ist dabei ihr Einsatz zur Kommunikation von Statusunterschieden. So kommunizieren Manager und Vorgesetzte ihren Status häufig nonverbal, z. B. indem sie Untergebene warten lassen: Damit senden sie nicht zuletzt das Zeichen, dass ihre Zeit wertvoller ist als diejenige der Untergebenen (Greenberg, 1989). Im direkten Kontakt mit den Untergebenen zeigen Statushöhere gewöhnlich eine entspanntere Haltung und benehmen sich deutlich lässiger. Zudem können sie durch das »seating behavior« ihren Status unterstreichen: Wenn sie hinter ihrem Schreibtisch sitzen bleiben und der Untergebene – vielleicht gar noch mit dem Rücken zur Tür – auf einem niedrigeren Stuhl vor ihnen Platz nehmen muss, so wird damit der Statusunterschied körperlich spürbar. 5.3
Formale Kommunikation in Organisationen
Organisationen werden gewöhnlich so gestaltet, dass sie unabhängig von den individuellen Persönlichkeiten der Mitarbeiter funktionieren können. Ein wichtiges Mittel ist dabei die Formalisierung der Beziehungen zwischen den Inhabern verschiedener Positionen in der Organisation. Dies gewährleistet am besten die schriftliche Kommunikation zwischen den Stelleninhabern, die dadurch quasi austauschbar werden: Nach dem Ausscheiden ei-
5
65 5.3 · Formale Kommunikation in Organisationen
nes Amtsinhabers kann sein Nachfolger anhand der »Aktenlage«, in der die vorgängigen Kommunikationen dokumentiert sind, alle Vorgänge und Entscheidungen nachvollziehen (Hahne, 1998; 7 Kap. 4). Dies entspricht dem Ideal der formalen Kommunikation. Die theoretische Grundlage dieser Kommunikation bildet das sog. Sender-Empfänger-Modell. Die Erforschung der formalen Kommunikation hat sich auf verschiedene Aspekte konzentriert, u. a. die Wirkung bestimmter formaler Kommunikationsstrukturen, die Kommunikation zwischen Vorgesetzten und Untergebenen sowie die Wahl des Kommunikationsmediums (vgl. Blickle, 2004). 5.3.1 Das Sender-Empfänger-Modell Das Sender-Empfänger-Modell (Graumann, 1972), das in den Ingenieurswissenschaften entwickelt wurde, beschreibt den Prozess der Kommunikation sehr allgemein (. Abb. 5.1). Zur Beschreibung des Kommunikationsprozesses sind demnach acht Merkmale zu beachten: 1. Sender, 2. Enkodierung, 3. Nachricht, 4. Kommunikationskanal, 5. Dekodierung, 6. Empfänger, 7. Störquellen und 8. Rückmeldung.
Kommunikation geht vom Sender aus, der einen Gedanken enkodiert und damit eine Nachricht initiiert. Die Nachricht ist demnach das physische Produkt der Enkodierung – wenn wir sprechen, ist es das gesprochene Wort, beim Schreiben das Schriftstück etc. Der Kommunikationskanal bildet das Medium, durch das die Nachricht übertragen wird. Der Sender wählt einen Kommunikationskanal, er bestimmt, ob er einen formalen oder einen informellen Kanal wählt. Der Empfänger ist derjenige Kommunikationsteilnehmer, an den die Nachricht gerichtet ist. Um zu verstehen, was gemeint ist, muss der Empfänger die Nachricht aber zuerst dekodieren, d. h., er muss die eingehenden Symbole in eine für ihn verständliche Form übersetzen. Das ist der Prozess der Dekodierung. Störquellen sind solche Kommunikationsbarrieren, die in der Lage sind, die Eindeutigkeit der Nachricht zu beeinträchtigen. Zu den Störquellen zählen Wahrnehmungsprobleme, semantische Schwierigkeiten oder interkulturelle Differenzen. Schließlich hat der Empfänger die Möglichkeit zur Rückmeldung: Durch Rückmeldung oder Feedback wird letztlich festgelegt, ob eine wechselseitige Verständigung stattgefunden hat. Nach diesem Modell reduziert sich Kommunikation auf den Austausch von Informationen, die objektiv messbar sind. Kommunikationsprobleme zwischen den Gesprächspartnern werden letztlich auf Probleme bei der Ver- und Entschlüsselung der Information oder auf die Störung von Übertragungswegen zurückgeführt. Das Signalübertragungsmodell der Kommunikation geht davon aus, dass eine Kommunikationseinheit
. Abb. 5.1. Das Sender-Empfänger-Modell. (Nach Nerdinger, 2003)
© Kohlhammer 2003
66
Kapitel 5 · Interaktion und Kommunikation
genau eine Bedeutung hat und entsprechend genau eine Reaktion hervorruft (Graumann, 1972). Das entspricht der Logik der technischen Signalübertragung: Beinhaltet ein Kommunikationsvorgang unterschiedliche Steuerungssignale, kann der Empfänger nicht reagieren, da unvereinbare Reaktionen hervorgerufen werden. Aufgrund dieser Einschränkungen eignet sich dieses Modell nur zur Erklärung der formalen Kommunikation.
5
5.3.2 Formale Kommunikationsstrukturen Aus dem Sender-Empfänger-Modell der Kommunikation leitet sich für die Erforschung der Organisation zunächst die zentrale Frage ab, welche formalen Kommunikationsstrukturen optimal für die Zielerreichung sind. Anders formuliert: Wie müssen die Kommunikationsbeziehungen zwischen den Mitarbeitern einer Organisation gestaltet werden, damit diese ihre Ziele erreicht. In Anlehnung an sozialpsychologische Laboruntersuchungen, die bereits in den 50er Jahren des letzten Jahrhunderts durchgeführt wurden (Leavitt, 1951; vgl. Blickle, 2004), werden solche Kommunikationsstrukturen nach dem Grad der Zentralisierung unterschieden (. Abb. 5.2). In . Abb. 5.2 ist die Kommunikation nach dem Grad der Zentralisierung geordnet: Das Rad ist die zentralste Struktur, die Totale bildet dagegen eine völlig dezentrale Struktur (7 Kasten »Formale Kommunikationsstrukturen«). Formale Kommunikationsstrukturen Rad. Beim Rad kommunizieren alle Mitarbeiter über eine Stelle (. Abb. 5.2, C), d. h., C kontrolliert in diesem Fall alle Kommunikationsbeziehungen. Das ist gewöhnlich die Position des Vorgesetzten, weshalb 6
. Abb. 5.2. Formale Kommunikationsstrukturen
dieser Fall auch als die Vorgesetztenstruktur bezeichnet wird. In der Praxis findet sich eine solche Struktur z. B. bei der Organisation des Außendienstes: Jeder Außendienstmitarbeiter bearbeitet seinen Bezirk, ohne sich mit den anderen Kollegen direkt abzustimmen. Die Abstimmung erfolgt vielmehr über den Verkaufsleiter C.
Kette. Bei der Kette verläuft die Kommunikation linear von A nach E (. Abb. 5.2). »Idealerweise« kann hier nur mit einem, in der Kette direkt benachbarten Mitglied Kontakt aufgenommen werden. Die Kette entspricht damit dem Informationsfluss in der Hierarchie: Vom Vorstand (A) ausgehend wandert die Information durch die Hierarchie bis zu den Mitarbeitern (E). Totale. Bei der Totalen kommuniziert jeder mit jedem. Die hohe Anzahl von Kommunikationspartnern erlaubt hier ein hohes Maß an Informationsaustausch, zudem bietet diese Struktur beste Voraussetzungen für die Entwicklung personaler und sozialer Kontakte. In Forschungs- und Entwicklungsabteilungen (F&E) sind häufig solche Kommunikationsstrukturen zu beobachten: Die komplexen Aufgaben, die in solchen Abteilungen bearbeitet werden, erfordern das Wissen und die Ideen aller Mitarbeiter, die nur im gemeinsamen Austausch optimal genutzt werden.
In einer Vielzahl von Studien wurden die Auswirkungen dieser Kommunikationsstrukturen auf verschiedene Variablen untersucht (vgl. von Rosenstiel, 2003). Dabei zeigte sich, dass mit dem Grad der Zentralität der Struktur die Zufriedenheit der Mitarbeiter abnimmt – in der Totalen sind die Mitarbeiter am zufriedensten, im Rad am unzufriedensten. Bei der Leistung finden sich dagegen weniger eindeutige Ergebnisse, hier ist zusätzlich die Komplexität und der Schwierigkeitsgrad der bearbeiteten Aufgabe zu berücksichtigen (. Abb. 5.3). Das bedeutet letztlich, dass die Kommunikationsstruktur immer auf die Aufgabe abzustimmen ist: Werden z. B. in einer Abteilung vorwiegend einfache Routineaufgaben erledigt, wie es in vielen Verwaltungen üblich ist, so sind zentralisierte Kommunikationsstrukturen effektiver. Müssen jedoch neue Lösungen für komplexe und schwierige Probleme gefunden werden – was in Forschungs- und Entwicklungs-(F&E-)Abtei-
67 5.3 · Formale Kommunikation in Organisationen
. Abb. 5.3. Leistung in Abhängigkeit vom Grad der Zentralisierung und der Schwierigkeit der Aufgabe
lungen der Fall ist –, so sind dezentralisierte Strukturen überlegen. 5.3.3 Vorgesetzten-Untergebenen-
Kommunikation Die formale Kommunikation zwischen Vorgesetzten und Untergebenen orientiert sich am Organisationsplan (. Abb. 5.4). Demnach lassen sich zwei Kommunikationsrichtungen unterscheiden: von oben nach unten und von unten nach oben. Die Kommunikation von oben nach unten enthält alles, was zur Steuerung und Koordinierung der Aktivitäten in der Organisation notwendig ist: Zielvorgaben, Anweisungen, Regelungen, Rückmeldungen über individuelle Leistungen etc., d. h. alles, was die Mitarbeiter wissen müssen, um ihre Aufgaben erledigen zu können. So wichtig diese Form der Kommunikation für das Funktionieren der Organisation ist, so hat sie doch einige . Abb. 5.4. Formale Kommunikation entsprechend dem Organisationsplan
Nachteile – es dauert relativ lange, bis eine Information von oben nach unten weitergegeben wird und bei mündlicher Kommunikation können zudem mehr oder weniger starke Veränderungen des Sinngehaltes auftreten. Die aufwärts gerichtete Kommunikation umfasst Informationen, die Vorgesetzte brauchen, um ihre Aufgaben zu erledigen, z. B. Daten, die sie für ein Projekt benötigen. Auf diesem Wege werden aber auch Verbesserungsvorschläge, neue Ideen der Mitarbeiter, Zustandsberichte etc. kommuniziert. Obwohl es sich hier um die logische Umkehrung der Kommunikation von oben nach unten handelt, sind die beiden Formen nicht symmetrisch zueinander. Die Kommunikation von unten nach oben findet sehr viel seltener statt, ist kürzer und sie tendiert zu Verzerrungen (Dansereau & Markham, 1996). Unter Kommunikationsverzerrung wird eine unvollständige, tendenziöse oder verfälschende Weitergabe von Informationen verstanden. Ob es zu solchen Verzerrungen kommt, hängt von verschiedenen Bedingungen ab (vgl. auch Blickle, 2004): 4 Merkmale der Botschaft: Bei Informationen, die für den Vorgesetzten negativ und für den Untergebenen unvorteilhaft sind, treten eher Verzerrungen auf als bei positiv-vorteilhaften Informationen. Dahinter könnte die Angst stehen, dass man als Überbringer schlechter Nachrichten mit diesen assoziiert wird und deshalb Nachteile befürchten muss. 4 Merkmale der Untergebenen: Die eben angesprochene Angst führt dazu, dass Menschen mit einem starken Sicherheitsbedürfnis Informationen an ihren Vorgesetzten eher verzerren. Aber auch das Aufwärtsstreben der Untergebenen führt zu Verzerrungen, denn Männer sowie Personen mit starkem Auf-
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68
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Kapitel 5 · Interaktion und Kommunikation
stiegswunsch bzw. ausgeprägtem Machtmotiv neigen besonders dazu, verzerrte Informationen an ihre Vorgesetzten weiterzugeben. 4 Merkmale der Beziehung: Die Beziehung des Vorgesetzten zum Mitarbeiter ist sehr wichtig, wobei das Vertrauen besondere Bedeutung hat. Je mehr der Mitarbeiter glaubt, dass ihm der Vorgesetzte wichtige Informationen vor enthält, desto eher wird er Informationen verzerrt weitergeben. Je positiver jedoch das Vertrauensverhältnis zum Vorgesetzten, desto weniger Verzerrungen treten auf. Allerdings ist das nur der Fall, wenn der Untergebene keine ausgeprägten Karriereambitionen hat. Wenn solche Verzerrungen auftreten, führt das häufig zu Gegenmaßnahmen der Organisation: Strengere Regeln werden erlassen, Handlungsspielräume eingeengt, die Mitarbeiter werden häufiger kontrolliert und enger überwacht etc. Damit werden aber Engagement und Eigeninitiative der Mitarbeiter negativ beeinflusst, was längerfristig dem Unternehmen mehr schaden kann als verzerrte Kommunikation. 5.3.4 Wahl von Kommunikationskanälen Warum schicken Manager manchmal E-Mails, um etwas mitzuteilen, und suchen dann wieder das persönliche Gespräch? Die Hintergründe solcher Verhaltensweisen versucht die Theorie der medialen Reichhaltigkeit (Daft & Lengel, 1984; Trevino, Daft & Lengel, 1990) zu erklären. Nach dieser Theorie ist ein Medium umso reichhaltiger,
4 je schneller eine Rückmeldung kommt, 4 je mehr Kommunikationskanäle zur Verfügung stehen, 4 je stärker sich die Kommunikation damit individuell prägen lässt und 4 je vielfältiger die Kodes – z. B. gesprochene Sprache, Gestik, Mimik, Blick etc. – sind. Anhand ihrer Reichhaltigkeit lassen sich die wichtigsten in Organisationen verwendeten Medien in die in . Abb. 5.5 dargestellte Reihenfolge bringen. Kommunikation von Angesicht zu Angesicht hat die größte mediale Reichhaltigkeit, weil sich auf diesem Wege eine maximale Menge an Informationen übertragen lässt. Schriftliche Kommunikation ist in dieser Hinsicht geradezu armselig. Die Theorie der medialen Reichhaltigkeit berücksichtigt aber auch den symbolischen Wert eines Mediums, so kann z. B. eine elektronisch übermittelte Nachricht auch Fortschrittlichkeit symbolisieren. Daher ist in . Abb. 5.5 die E-Mail als reichhaltiger eingestuft im Vergleich zu einfachen Briefen. Die Theorie der medialen Reichhaltigkeit postuliert nun, dass die Wahl eines Kommunikationskanals u. a. davon abhängt, ob eine Routine- oder eine Nichtroutinenachricht übermittelt werden soll. Routinenachrichten sind relativ eindeutig, Nichtroutinenachrichten dagegen sind komplizierter und es besteht die Gefahr von Missverständnissen. So ist die Bestätigung eines Gesprächstermins recht eindeutig möglich, die Begründung für die Entlassung eines Mitarbeiters dagegen ist sehr sensibel. Entsprechend lassen sich Routinenachrichten sehr effizient über Kanäle mit geringer medialer Reichhaltigkeit übermitteln, zur Übermittlung von Nichtroutinenach-
. Abb. 5.5. Reichhaltigkeit verschiedener Kommunikationsmedien. (Nach Trevino et al., 1990)
© Sage Publications, Inc. 1990
69 5.4 · Informelle Kommunikation
5.4
Informelle Kommunikation
Betrachtet man eine Organisation von außen, so drängt sich zunächst deren formale Kommunikation auf – alle offiziellen Verlautbarungen scheinen den Charakter der Organisation zu verdeutlichen. Begibt man sich aber in die Organisation und beobachtet das konkrete Verhalten ihrer Mitglieder, so stellt man schnell fest, dass dort neben den offiziellen Kanälen auch noch sehr viel auf anderen Kanälen kommuniziert wird. Dies wird als informelle Kommunikation bezeichnet. 5.4.1 Unterschiede zwischen formaler
und informeller Kommunikation Informelle Kommunikation unterscheidet sich in mehreren Merkmalen von der offiziellen oder formalen Kommunikation (vgl. Stohl & Redding, 1996; Blickle, 2004): 4 Formale Kommunikation benutzt dafür vorgesehene Informationskanäle (»Dienstweg«), informelle dagegen ereignet sich zwischen Bekannten oder Vertrauten. 4 Formale Kommunikation findet in offiziellen Räumen statt – Konferenzzimmer, Büros etc. –, informelle dagegen in den »Randzonen« der Organisation wie dem Lift, der Kaffeeküche, auf dem Parkplatz etc. 4 Formale Kommunikation ist verbindlich, z. B. eine Verlautbarung des Vorstands oder eine Anweisung des Vorgesetzten, informelle dagegen ist weitgehend unverbindlich: Beispielsweise kann man ein Gerücht weitererzählen, ohne für dessen Wahrheitsgehalt zu haften. 4 Formale Kommunikation ist sorgfältig ausgearbeitet, da sich jeder darauf berufen kann, informelle dagegen ist spontan und in der Alltagssprache gehalten.
4 Formale Kommunikation kann immer eindeutig einer Quelle zugeordnet werden, informelle dagegen ist einfach da – z. B. kann man gewöhnlich bei einem Gerücht kaum sagen, wer es in die Welt gesetzt hat. Informelle Kommunikation unterscheidet sich demnach sehr deutlich von der formalen, entsprechend ist zu ihrem Verständnis auch das Sender-Empfänger-Modell nicht ausreichend. Dafür geeignet ist die sog. Filtertheorie der Kommunikation. Nach deren Darstellung wird informelle Kommunikation in Organisationen an zwei Beispielen verdeutlicht – Spiele und Gerüchte. 5.4.2 Das Filtermodell der Kommunikation Informelle Kommunikation ist sehr effizient, das ist letztlich der Grund, warum sie in Organisationen so häufig zur Weitergabe von Informationen gewählt wird. Effizient ist sie allerdings nur, wenn die Personen, die miteinander kommunizieren, sich verstehen. Der Grund dafür lässt sich an dem bekannten Gesellschaftsspiel der »stillen Post« darstellen (Sader, 2002): Eine Person betrachtet z. B. eine Zeichnung von einer Eule und flüstert einer zweiten Person ins Ohr, was sie gesehen hat. Sie versucht die Eule zu beschreiben, ohne sie zu benennen. Der Empfänger erzählt das, was er verstanden hat, einer dritten Person usw. Etwa ab der 6. oder 7. Weitergabe hat die übermittelte Information nur noch entfernte Ähnlichkeit mit dem ursprünglichen Bild (. Abb. 5.6). Die »stille Post« verdeutlicht, dass sich die Information in Abhängigkeit von der jeweiligen Informations-
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richten dagegen müssen reichhaltigere Kanäle gewählt werden. Tatsächlich zeigen empirische Untersuchungen, dass erfolgreiche Manager mediensensibler sind als weniger erfolgreiche: Erfolgreiche Manager wählen demnach für die Übermittlung unterschiedlicher Nachrichten jeweils den angemessenen Kommunikationskanal (Trevino et al., 1990).
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. Abb. 5.6. Die Umwandlung von graphischem Material während des Kommunikationsprozesses der »stillen Post«. (Nach Nerdinger, 2003)
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Kapitel 5 · Interaktion und Kommunikation
verarbeitung des Rezipienten verändert. Diese Prozesse der Informationsverarbeitung werden in der kognitiven Psychologie mit dem Konzept »Schema« beschrieben. Definition
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Ein Schema ist eine allgemeine Wissensstruktur. Diese gibt die wichtigsten Merkmale eines Gegenstandsbereiches wieder, auf den sich das Schema bezieht und gleichzeitig wird damit angegeben, welche Beziehungen zwischen diesen Merkmalen bestehen (Nerdinger, 2003).
Im Beispiel der stillen Post verändert sich das Gehörte in Abhängigkeit von dem Schema, das beim Empfänger durch die Beschreibung des Senders aufgerufen wird. Dabei sind drei Prozesse besonders wichtig (Blickle, 2004): 4 Informationen, die mit dem Schema nicht in Verbindung stehen, werden ausgelassen: Zum Beispiel wird beim Übergang vom 2. zum 3. Bild in . Abb. 5.6 die raubvogeltypische Stellung der Augen nicht mehr beachtet; offensichtlich hat die Beschreibung beim Empfänger bereits das Schema eines Säugetiers aufgerufen, zu dem diese Augenstellung nicht passt. 4 Zum aufgerufenen Schema passende Information wird hervorgehoben: Beim Übergang vom 6. zum 7. Bild wird aus dem Strich um den Hals der charakteristische Schnurrbart einer Katze. Beim Empfänger wurde das Schema einer Katze aufgerufen, in dessen Rahmen dieses Merkmal als Schnurrbart identifiziert wird. 4 Schließlich werden Informationen, die gar nicht übermittelt wurden, aus dem Schema erschlossen: Ebenfalls beim Übergang vom 6. zum 7. Bild taucht plötzlich der charakteristische Katzenschwanz auf. Dieser wird aus dem Schema erschlossen – zu einer Katze gehört eben ein Schwanz –, obwohl er gar nicht kommuniziert wurde. Demnach hängt das Verstehen von Kommunikation von den Schemata ab, die durch die Mitteilungen des Senders aufgerufen werden: Schemata wirken also wie ein Filter, durch den eingehende Informationen interpretiert werden. Das Filtermodell der Kommunikation besagt nun, je ähnlicher die Schemata zweier Personen sind, desto ähnlicher nehmen sie Ereignisse wahr, desto ähnlicher sind ihre Schlussfolgerungen und desto effizienter ist ihre Kommunikation (Theis, 1993).
Im Gegensatz zum Signalübertragungsmodell geht dieser Ansatz also von einem subjektiven Informationsbegriff aus: Die Schemata des Empfängers entscheiden über den Informationsgehalt einer Nachricht. Entsprechend muss die Bedeutung, die ein Sender mit einer Nachricht verbindet, nicht mit der Nachricht, wie sie der Empfänger versteht, übereinstimmen. Folglich kann auch nicht Kommunikation als solche etwas bewirken, sondern nur in Verbindung mit den jeweiligen Schemata der Empfänger von Nachrichten. Die Empfänger gehen über die reine Mitteilung hinaus und versuchen zu erschließen, was der Sender denn »eigentlich« meint – jede Mitteilung enthält »zwischen den Zeilen« noch weitere Bedeutungen (Blickle 2004). Auf der Grundlage dieses Verständnisses lassen sich die verschiedenen Formen der informellen Interaktion und Kommunikation besser verstehen. Das sei an zwei wichtigen Beispielen verdeutlicht: Spiele und Gerüchte. 5.4.3 Spiele Da der Begriff Spiel im Deutschen – im Gegensatz zur englischen Sprache – doppeldeutig ist, sorgt seine Verwendung in Verbindung mit dem Verhalten in Organisationen gelegentlich für Verwirrung. Zum einen ist Spiel ein gemeinsamer Zeitvertreib, der allen Beteiligten Freude macht und z. B. in öde (Arbeits-)Situationen Abwechslung bringt (Spiel im Sinne von »play«). Solche Spiele sind Forschern, die mithilfe teilnehmender Beobachtung das Arbeitsverhalten im Produktionsbereich untersucht haben, schon frühzeitig aufgefallen. So hat
Spiele (»play«) in Organisationen: »Banana Time« Roy (1955) hat mithilfe teilnehmender Beobachtung – er hat für mehrere Monate in einem Unternehmen in der Produktion gearbeitet – u. a. folgendes Spiel nachgewiesen: Ein Arbeiter zieht immer zu einer bestimmten Zeit eine Banane aus der Tasche und versucht, sie zu schälen. Daraufhin entwendet einer seiner Kollegen die Banane und neckt den Besitzer. Nach einigem Hin und Her bekommt er seine Banane letztendlich zurück und kann sie dann in Ruhe verspeisen.
71 5.4 · Informelle Kommunikation
zum Beispiel Roy (1955) in einer klassischen Studie beschrieben, wie sich eine Gruppe von Arbeitern in der Produktion durch verschiedene Spiele den langweiligen Arbeitstag eingeteilt und damit auch den Stress in der Arbeit verringert hat. Eines dieser Spiele hat Roy (1955) als »Banana Time« bezeichnet (7 Kasten, S. 70). Zum anderen hat der Begriff Spiel aber auch die Bedeutung einer regelgebundenen und zielbewussten Auseinandersetzung mit Aufgaben oder Menschen (Spiel im Sinne von »game«). Wettkampf- oder Gesellschaftsspiele – besonders Schach – entsprechen diesem Sinn von Spiel. Eine Vielzahl von Handlungen in Organisationen lassen sich als Spiele in diesem Sinne verstehen: Wenn Praktiker
von »Spielchen« sprechen, die dann gemacht werden, wenn z. B. »Pöstchen« zu besetzen sind, dann beziehen sie sich auf solche Handlungen (die dabei verwendete Form der sprachlichen Verkleinerung verweist auf den Versuch, die Tragweite solcher Verhaltensweisen zu verringern; vgl. Neuberger, 1988; 1995; 7 Kasten auf dieser Seite). Zwar lassen sich diese Spiele teilweise nur schwer voneinander trennen und der theoretische Hintergrund der von Mintzberg gewählten Typologie bleibt unklar (Neuberger, 1995), die Aufzählung zeigt aber, dass in Organisationen eine Vielzahl informeller Verhaltensweisen zu beobachten ist, die sich mit dem Konzept des Spiels adäquat beschreiben lässt.
Spiele (»games«) in Organisationen In seiner grundlegenden Studie über Macht in Organisationen hat Mintzberg (1983) 13 häufig gespielte Spiele ausgemacht, die er 5 Gruppen zuordnet (vgl. Neuberger, 1995):
Spiele, in denen Widerstand gegen Autorität geleistet wird 4 Widerstandsspiele: Widerstandsspiele sind entweder subtil oder aggressiv. Bei subtilem Widerstand werden z. B. Entscheidungen manipuliert, unterlaufen, übertrieben korrekt ausgeführt etc., bei aggressivem Widerstand kommt es dagegen zu offener Rebellion, zu Streik, Sabotage oder offenem Ungehorsam.
4
4
Spiele gegen Widerstandsspiele 4 Konterrevolutionäre Spiele: Ein aggressiver Widerstand gegen die Entscheidungen der Autorität wird niedergekämpft oder im Keim erstickt. In Bürokratien wird Widerstand gegen Autorität mit noch mehr Autorität bekämpft, durch Sanktionen, enge Überwachung und ständige Kontrollen.
Spiele zum Aufbau von Macht
4
4
4 Sponsor-Protégé-Spiel: In diesem Fall hängt man sich an eine aufstrebende Person und kann im Gegenzug zur eigenen Loyali-
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tät an dessen Machtgewinn teilhaben. Die Sponsoren bringen ihre Schützlinge wiederum in günstige Positionen, die auch für ihre eigenen Aktionen vorteilhaft sind. Letztlich bilden sich bei diesem Spiel sog. »Seilschaften«. Bündnisspiel: Gleichrangige knüpfen ein Netz von Beziehungen und umgeben sich mit solchen Verbündeten, die über Ressourcen wie z. B. wichtige Informationen verfügen. So bilden sich Interessengruppen, Koalitionen oder Allianzen. Reichsgründungsspiel: Das ist der Beginn einer Lagerbildung in der Organisation: Um ihren Einfluss zu sichern, suchen sich einzelne Personen eine breite Gefolgschaft, die in kritischen Situationen für die Position der betreffenden Person kämpfen. Budgetspiel: Dieses Spiel zielt darauf, mehr zu bekommen – mehr Stellen, Räume, Ressourcen und vor allem mehr Geld. Das Spiel funktioniert nach strengen Gesetzen: Man muss immer mehr fordern, als man braucht; alles muss möglichst rational begründet sein; man muss alle Mittel zum Ende des Jahres aufbrauchen usw. Expertisespiel: Dabei versucht man, sich selbst als Experten zu etablieren, indem man seine Unersetzlichkeit behauptet oder demonstriert, sein Fachwissen ausnutzt oder aber zurückhält. Häufig werden auch externe Exper-
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Kapitel 5 · Interaktion und Kommunikation
ten eingesetzt, die mit ihren Beratungen oder Gutachten die eigene Position stärken. 4 Dominanzspiel: Hierbei wird die eigene Macht voll ausgespielt, um andere einzuschüchtern. Man zeigt offen, wer das Sagen hat; diejenigen, die sich nicht wehren können, werden schikaniert.
5
Spiele zur Bekämpfung von Rivalen 4 Linie-gegen-Stab-Spiel: Dieses Spiel ist gewissermaßen in der Struktur der Organisation angelegt – überall, wo es eine StabLinien-Organisation (7 Kap. 4) gibt, wird dieses Spiel gespielt. Dabei prallt die formale Autorität der Linienvertreter auf die Informationsvielfalt und das Expertentum der Stäbe. 4 Rivalisierende-Lager-Spiel: Wenn sich – z. B. infolge des Reichsgründungsoder des Bündnisspiels – zwei feindliche Lager herausgebildet haben, kann es zu heftigen Kämpfen zwischen ihnen kommen.
5.4.4 Gerüchte Definition Ein Gerücht ist eine mit Tagesereignissen verbundene Behauptung, die geglaubt werden soll, gewöhnlich von Mensch zu Mensch mündlich weitergegeben wird, wobei keine konkreten Belege vorhanden sind, die deren Richtigkeit bestätigen könnten (Allport & Postman, 1947).
In Laborstudien mit dem bereits erwähnten Spiel »stille Post« haben Allport und Postman (1947) drei Prozesse entdeckt, die mit der Weitergabe von Gerüchten verbunden sind: 4 Levelling: Das Gerücht wird schnell kürzer, weniger detailliert und weniger komplex. 4 Sharpening: Bestimmte Aspekte des Gerüchts werden selektiv betont und übertrieben. 4 Assimilation: Das Gerücht wird in Einklang mit den bereits existierenden Vorurteilen und Interessen verzerrt.
Spiele zur Realisierung organisationalen Wandels 4 Strategische-Kandidaten-Spiel: Zu den »strategischen Kandidaten« zählen zum einen Personen mit Karrierehoffnungen, zum anderen aber auch Vorschläge, Projekte, Programme usw. Das Spiel umfasst gewöhnlich drei Phasen: Zuerst wird ein strategischer Kandidat gesucht, dann wird er in der Organisation als wichtig verkauft und schließlich durchgesetzt. Dann können seine Unterstützer davon profitieren. 4 Verpfeifenspiel: Wurde in der Organisation ein gesellschaftlicher oder moralischer Fehltritt vertuscht, dann kann das Wissen darum an Außenstehende – z. B. die Medien – weitergegeben werden, um diese zum Eingreifen zu bringen. Dieses Spiel wird vor allem in der Politik mit missliebigen Gegnern gespielt. 4 Jungtürkenspiel: Dieses Spiel wird meistens von hochrangigen Mitgliedern der Organisation gespielt: In verschwörerischen Geheimzirkeln wird dabei der Umsturz im Unternehmen vorbereitet.
In Feldstudien zeigte sich allerdings, dass bei der Verbreitung von Gerüchten eher wenige Verzerrungen auftraten, stattdessen werden in den ersten Phasen der Verbreitung die Details sogar enorm ausgebreitet (Kapferer, 1997). Im Gegensatz zu den Laboruntersuchungen wollen in realen Situationen diejenigen, die Gerüchte weitergeben, ihre Zuhörer überzeugen – und das versuchen sie zu erreichen, indem sie die Details besonders eindrucksvoll ausschmücken. Für die Verbreitung von Gerüchten in Organisationen ist besonders wichtig, dass es sich dabei um Informationen handelt, die von offiziellen Quellen noch nicht öffentlich bestätigt sind oder von diesen dementiert werden (Kapferer, 1997; vgl. Blickle, 2004). Damit wird deutlich, dass Gerüchte immer in Konkurrenz zu den offiziell verbreiteten Informationen stehen und auf Wegen weitergegeben werden, die sich von der Leitung einer Organisation kaum kontrollieren lassen. Für die Kommunikation in Organisationen sind sie damit zentral. Ob die mit Gerüchten verbundene Information verzerrt wird bzw. ob Gerüchte überhaupt weitererzählt
73 5.4 · Informelle Kommunikation
werden, hängt vom Grad der Angst derjenigen ab, die ein Gerücht hören. In Situationen mit hoher Unsicherheit und Ambivalenz steigt die Angst und der Stress und die Betroffenen suchen nach Informationen, mit denen sie sich die Angst erklären können, was die Wahrscheinlichkeit der Entstehung und Weitergabe von Gerüchten erhöht (Kapferer, 1997). In Organisationen ist das in allen krisenhaften Situationen, in denen keine befriedigenden offiziellen Informationen vorliegen, der Fall: Wenn Entlassungen, Umstrukturierungen oder Übernahmen anstehen, hält sich die Leitung der Organisation gewöhnlich so lange wie irgend möglich bedeckt, denn das erhöht ihre Handlungsspielräume. Das sind dann wiederum genau die Situationen, in denen Gerüchte entstehen und sich rasant verbreiten. In einem Krankenhaus, das sich in einem schwerwiegenden Wandlungsprozess befand, konnten fünf verschiedene Typen von Gerüchten identifiziert werden (Bordia, Jones, Gallois, Callan & DiFonzo, 2006): über 4 Änderungen der Arbeitsbedingungen; 4 die Ursachen des organisatorischen Wandels; 4 das schlechte Management des Wandels; 4 Konsequenzen des Wandels für die Leistung der Organisation; 4 reines »Geschwätz«. Negative Gerüchte überwogen deutlich die positiven und Angestellte, die negative Gerüchte berichteten, litten auch unter stärkerem Stress verglichen mit ihren Kollegen. Gerüchte können auch gezielt lanciert werden, z. B. um eine offizielle Stelle – die Unternehmensleitung oder den Betriebsrat – zu einer Reaktion zu zwingen. Umgekehrt kann auch die Leitung der Organisation ein Gerücht streuen, um Reaktionen der Belegschaft auf geplante kritische Entscheidungen zu testen. Dabei ist allerdings zu beachten, dass Gerüchte, die später von der Unternehmensleitung offiziell bestätigt werden, das Vertrauen der Belegschaft untergraben können (Blickle, 2004). Mit der Zeit wird durch ständige Verbreitung von Gerüchten das Vertrauen in die offizielle Kommunikation abnehmen. Um das zu vermeiden, muss die Organisation eine auf Transparenz und Vertrauen zielende Kommunikationspolitik praktizieren (Kimmel, 2003). Führungsentscheidungen müssen offen kommuniziert, über Veränderungen im Unternehmen muss glaubwür-
dig, umfassend, regelmäßig und möglichst aktuell informiert werden. So können Gerüchte bereits zu Beginn der Verbreitung gestoppt werden. Zusammenfassung 4 Soziale Interaktion bezeichnet die Einwirkung verschiedener Personen aufeinander. 4 Eine spezielle Form der Einwirkung ist die Kommunikation, die als Austausch von Informationen definiert wird. 4 Kommunikation kann dabei in mündlicher, schriftlicher und/oder nonverbaler Form erfolgen. 4 Formale Kommunikation bezeichnet die nach festgelegten Regeln erfolgende schriftliche Kommunikation in Organisationen, ihre Analyse orientiert sich am Signalübertragungsmodell. 4 Die Theorie der medialen Reichhaltigkeit erklärt, welche Medien für welchen Zweck gewählt werden (sollen). 4 Informelle Kommunikation kann über das Filtermodell erklärt werden, das besagt: Je ähnlicher die Schemata zweier Personen sind, desto ähnlicher nehmen sie Ereignisse wahr, desto ähnlicher sind ihre Schlussfolgerungen und desto effizienter ist ihre Kommunikation. 4 Mit dem Begriff Spiel werden regelgeleitete, soziale Verhaltensweisen beschrieben, die in Organisationen häufig politischen Charakter haben, d. h., sich um Macht und Einfluss drehen. 4 Gerüchte stehen immer in Konkurrenz zu den offiziell verbreiteten Informationen und werden auf Wegen weitergegeben, die sich von der Leitung einer Organisation kaum kontrollieren lassen.
L Weiterführende Literatur Blickle, G. (2004). Organisationale Interaktion und Kommunikation. Rekonstruktion von fünfzig Jahren empirischer Forschung im Lichte grundlegender Paradigmen. In: H. Schuler (Hrsg.), Organisationspsychologie 2 – Gruppe und Organisation. Enzyklopädie der Psychologie, Bd. D/III/4. (S. 55–128). Göttingen: Hogrefe. Hahne, A. (1998). Kommunikation in der Organisation. Grundlagen und Analyse – ein kritischer Überblick. Opladen: Westdeutscher Verlag. Jablin, F.M. & Putnam, L.L. (2001). The new handbook of organizaitonal communication. Advances in theory, research and methods. Thousand Oaks, CA: Sage.
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Kapitel 5 · Interaktion und Kommunikation
Literatur
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Allport, G.W. & Postman, L. (1947). The psychology of rumor. New York: Holt, Rinehart and Winston. Blickle, G. (2004). Organisationale Interaktion und Kommunikation. Rekonstruktion von fünfzig Jahren empirischer Forschung im Lichte grundlegender Paradigmen. In: H. Schuler (Hrsg.), Organisationspsychologie 2 – Gruppe und Organisation. Enzyklopädie der Psychologie, Bd. D/III/4 (S. 55–128). Göttingen: Hogrefe. Bordia, P., Jones, E., Gallois, C. Callan, V.J. & DiFonzo, N. (2006). Management are aliens! Rumors and stress during organizational change. Group & Organization Management, 31, 601–621. Burgoon, J.K. (1994). Nonverbal signals. In M.L. Knapp & G.R. Miller (Eds.), Handbook of interpersonal communication (2nd ed., pp. 229–285). Thousand Oaks, CA: Sage. Daft, R.L. & Lengel, R.H. (1984). Information richness: A new approach to managerial behavior and organizational design. Research in Organizational Behavior, 6, 191–233. Dansereau, F. & Markham, S. (1996). Superior-subordinate communication: Multiple levels of analysis. In F.M. Jablin, L.L. Putnam, K.H. Roberts & L.W. Porter (Eds.), Handbook of organizational communication. An interdisciplinary perspective (4th ed., pp. 343–388). Newbury Park: Sage. DePaulo, B.M. & Friedman, H.S. (1998). Nonverbal communication. In D.T. Gilbert, S.T. Fiske & G. Lindzey (Eds.), The handbook of social psychology, vol. II (4th ed., pp. 3–40). Boston: McGraw-Hill. Frey, S. (1999). Die Macht des Bildes. Der Einfluss der nonverbalen Kommunikation auf Kultur und Politik. Bern: Huber. Graumann, C.F. (1972). Interaktion und Kommunikation. In C.F. Graumann (Hrsg.), Sozialpsychologie. Handbuch der Psychologie, Bd. 7 (S. 1109–1262). Göttingen: Hogrefe. Greenberg, J. (1989). The organizational waiting game: Time as a status-asserting or status-neutralizing tactic. Basic and Applied Social Psychology, 10, 13–26. Hahne, A. (1998). Kommunikation in der Organisation. Grundlagen und Analyse – ein kritischer Überblick. Opladen: Westdeutscher Verlag. Jablin, F.M. & Putnam, L.L. (2001). The new handbook of organizational communication. Advances in theory, research and methods. Thousand Oaks, CA: Sage. Kapferer, J.N. (1997). Gerüchte. Das älteste Massenmedium der Welt. Berlin: Aufbau. Kimmel, A.J. (2003). Rumors and rumor control. A managers guide to understanding and combatting rumors. London: Erlbaum.
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6 Gravitation und organisationale Sozialisation 6.1
Gravitation und Sozialisation – Zu den Begriffen
6.2
Das Zusammenwirken von Gravitation und Sozialisation
6.3
Grundlagen der organisationalen Sozialisation
6.3.1 Phasen der Sozialisation – 79 6.3.2 Sozialisationsinhalte – 80 6.3.3 Betriebliche Sozialisationsstrategien
6.4
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– 79
– 81
Wirkungen organisationaler Sozialisation
– 84
6.4.1 Bindung an die Organisation – 84 6.4.2 Kündigungsabsicht und Fluktuation der Mitarbeiter – 85
Literatur
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Kapitel 6 · Gravitation und organisationale Sozialisation
> Welchen Einfluss hat die Organisation auf die Werte, Einstellungen und Orientierungen ihrer Mitglieder? Welchen Einfluss haben die Mitarbeiter auf die Veränderungen in ihrer Organisation? Das sind die zentralen Fragen, die unter den Konzepten Gravitation und Sozialisation von verschiedenen Wissenschaften – neben der Arbeits- und Organisationspsychologie sind hier u. a. auch die Organisationssoziologie und die Betriebswirtschaftslehre engagiert – untersucht werden. Diese werden im Folgenden kurz erläutert und ihr Zusammenwirken am Beispiel einer Längsschnittstudie verdeutlicht. Da Prozesse der Selektion, die wiederum der Gravitation zugrunde liegen, an anderer Stelle genauer dargestellt werden (7 Kap. 17), wird anschließend lediglich die Problematik der organisationalen Sozialisation etwas näher beleuchtet.
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6.1
Gravitation und Sozialisation – Zu den Begriffen
Verschiedene empirische Untersuchungen zeigen, dass sich die Persönlichkeiten der Mitarbeiter eines Unternehmens ähnlicher sind, als es aufgrund einer zufälligen Verteilung zu erwarten wäre (Schneider, Smith & Paul, 2001). Wie ist das zu erklären? Eine Erklärung bietet der sog. Sozialisationseffekt: Demnach versuchen Organisationen, ihre Mitarbeiter an die in der Organisation dominierenden Werte anzupassen, sie wirken auf die Mitarbeiter dahingehend ein, dass sich diese so verhalten, wie es vonseiten der Organisation erwünscht ist. Das bezeichnet man als Sozialisation. Definition Mit dem Begriff organisationale Sozialisation wird der Prozess der Vermittlung und des Erwerbs von Kenntnissen, Fertigkeiten, Fähigkeiten, Überzeugungen, Werthaltungen und Normen beschrieben, der eine Person dazu befähigt, die von der Organisation an sie gestellten Handlungsanforderungen zu erfüllen.
Möglicherweise ist der Effekt der Angleichung von Personen und Organisationen aber auch dadurch zustande gekommen, dass Menschen mit ähnlichen Wertorientierungen durch eine bestimmte Organisation angezogen und von dieser für verschiedene Aufgaben ausgewählt werden. Nach dieser Vorstellung »gravitieren« Menschen mit bestimmten Merkmalen in Organisationen, die zu ihnen passen.
Definition Die Prozesse, die dazu führen, dass Organisationen bestimmte Menschen anziehen und für die Mitarbeit auswählen, werden als Gravitation bezeichnet.
Mit dem Begriff Gravitation werden vielschichtige Prozesse beschrieben (vgl. Nerdinger, 1994). Dazu zählen Prozesse der Selbstselektion, d. h., Arbeitnehmer wählen aus Stellenanzeigen ein oder mehrere Unternehmen aus, bei denen sie sich bewerben. Sie treffen also eine Auswahl unter den Unternehmen, die Stellen anbieten. Zum anderen wählen aber auch die Unternehmen aus – sie veröffentlichen Stellenanzeigen und suchen damit nach geeigneten Mitarbeitern. Aus dem Pool von Bewerbern wählen sie diejenigen aus, die für die Stelle geeignet sind bzw. die zum Unternehmen passen. Dieser Fall wird als Fremdselektion bezeichnet. Dazu zählen nicht nur die Auswahl von Mitarbeitern, sondern auch verschiedene selektierende Prozesse im Unternehmen wie die Nichtbeförderung, Versetzung, Zuteilung bestimmter Aufgaben oder – zuletzt – die Entlassung. Durch diese beiden Prozesse »gravitieren« Menschen zu solchen Tätigkeiten, die ihren Werten, aber auch ihren Fähigkeiten entsprechen: So lässt sich z. B. zeigen, dass Menschen mit höheren kognitiven Fähigkeiten zu komplexeren Tätigkeiten »gravitieren« (Wilk & Sackett, 1996). Prozesse der Gravitation lassen sich mit dem »Attraction-selection-attrition-Modell« – abgekürzt: ASA-Modell – von Schneider (1987; Schneider et al., 2001) darstellen. Schneider (1987) erklärt die Frage, warum sich die Mitglieder von Organisationen so häufig in ihrer Persönlichkeit ähnlich sind, über folgende Gemeinsamkeiten:
77 6.2 · Das Zusammenwirken von Gravitation und Sozialisation
4 Alle Mitglieder haben sich bei der gleichen Organisation beworben (»attraction« = Anziehung, d. h., sie werden durch die Werte oder allgemein das Image der Organisation angezogen), 4 wurden von der jeweiligen Organisation aus einem Pool von Bewerbern als geeignet eingestuft und ausgewählt (»selection« = Auswahl) und 4 haben sich entschlossen, in der Organisation zu verbleiben bzw. wer nicht zur Organisation passt, wird von deren Kultur »zermürbt« und verlässt deshalb die Organisation (»attrition« = Zermürbung). Nach dem ASA-Modell ziehen Organisationen aufgrund ihrer Werte, des nach außen präsentierten Bildes oder allgemein der Kultur ganz bestimmte Bewerber an (7 Kap. 16), d. h., die Kultur einer Organisation regt zur Selbstselektion an: Stellensuchende bewerben sich bevorzugt bei solchen Organisationen, von denen sie annehmen, dass sie in ihnen die eigenen beruflichen Wünsche realisieren können und dass diese zu ihren Wertorientierungen passen. Das führt zu einem relativ homogenen Pool von Bewerbern, aus dem Organisationen im Zuge der Fremdselektion diejenigen auswählen, die sowohl fachlich für die Stelle geeignet sind als auch zur Kultur der Organisation passen. Das gelingt natürlich nicht immer vollständig. Da aber Menschen, die in ihrer Persönlichkeit und ihren Wertorientierungen nicht zu einer Organisation passen, diese eher verlassen (bzw. verlassen müssen), werden sich auf Dauer die Personen in Organisationen recht ähnlich sein. Dadurch stabilisiert sich die Organisationskultur und sorgt über die Ähnlichkeit zwischen den Mitarbeitern für deren Integration (vgl. Schneider, Goldstein & Smith, 1995; 7 Kap. 11). Die Kultur der Organisation wirkt aber auch über Sozialisationsprozesse auf die Mitglieder ein. Diejenigen, die von einer Organisation ausgewählt werden, entsprechen selten in ihren Verhaltensweisen vollständig den Vorstellungen und Erwartungen der Organisation. Sie müssen sich an diese Erwartungen anpassen, entsprechend kann unter Sozialisation in diesem weiten Sinne die Anpassung an Normen und die Übernahme von Werten verstanden werden (Schallberger, 2000; Moser, 2004). Sozialisation und Gravitation schließen sich also nicht gegenseitig aus, vielmehr ergänzen sich beide Prozesse.
6.2
Das Zusammenwirken von Gravitation und Sozialisation
Die sich wechselseitig ergänzenden Wirkungen von Gravitation und Sozialisation seien am Beispiel einer Untersuchung des Übergangs von der Hochschule in den Beruf veranschaulicht (von Rosenstiel & Nerdinger, 2000). Befragt wurden Studierende der Wirtschafts-, Ingenieurs- und Naturwissenschaften mehrerer deutscher Universitäten, die sich zum Examen angemeldet hatten. Zur Erfassung ihrer Wertorientierungen wurde ihnen u. a. eine sog. Typenfrage vorgelegt (7 Kasten). Zum ersten Mal wurde den Teilnehmern die Typenfrage im Jahre 1991 vorgelegt, als sie kurz vor ihrem Examen standen. Das zweite mal im Jahre 1992, als die meisten Befragten ihre erste Stelle angetreten hatten. Zur Kontrolle der Auswirkungen der beruflichen Erfahrung wurden die Absolventen noch einmal in den Jahren 1993 und 1995 befragt. Hinweise auf Gravitation geben die Ergebnisse, die in . Abb. 6.1 dargestellt sind. Demnach drängen Karriereorientierte besonders in die private Wirtschaft, alternativ Engagierte dagegen in höherem Maße in den öffentlichen Dienst. Offensichtlich passen Karriereorientierte am besten zu den Werten, die in Unternehmen der privaten Wirtschaft dominieren. Dagegen finden alternativ Engagierte eher im öffentlichen Dienst die Freiräume, die zu ihren Wertorientierungen passen. Neben diesen Gravitationseffekten ließen sich aber auch Sozialisationseffekte nachweisen (. Abb. 6.2). Am wenigsten ändern Karriereorientierte ihre Wertorientierungen – sie passen offensichtlich recht gut zu den Werten der Unternehmen, in denen sie arbeiten. Den stärksten Sozialisationsdruck erleben dagegen die Freizeitorientierten: 32% wandeln sich zu Karriereorientierten, 43% ändern ihre Einstellung und entwickeln ein alternatives Engagement. Eine Freizeitorientierung passt am wenigsten zu dem, was in Organisationen erwartet wird, und das gilt speziell für die Unternehmen der Wirtschaft. Gravitation und Sozialisation werden zwar häufig getrennt untersucht, sie können aber als komplementäre Prozesse angesehen werden: Gravitation führt zu einer eher groben Passung zwischen den Wertorientierungen der Person und den Werten der Organisation, die durch Sozialisationsprozesse den »Feinschliff« erhält. Dabei wird der Beitrag von Gravitation und Sozialisation zur Passung von Organisation und Individuum nicht immer und in
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78
Kapitel 6 · Gravitation und organisationale Sozialisation
Typenfrage zur Erfassung von Wertorientierungen Es unterhalten sich drei Studenten über ihre berufliche Zukunft. Der erste sagt: »Ich möchte später einmal in einer großen Organisation der Wirtschaft oder Verwaltung in verantwortlicher Position tätig sein. Dort habe ich die Möglichkeit, Einfluss auf wichtige Geschehnisse zu nehmen und werde außerdem noch gut bezahlt. Dafür bin ich bereit, mehr als 40 Stunden in der Woche zu investieren und auf Freizeit zu verzichten.« Der zweite sagt: »Ich bin nicht so ehrgeizig. Wenn ich eine sichere Position mit geregelter Arbeitszeit habe und mit netten Kollegen zusammenarbeiten kann, bin ich zufrieden. Die mir wichtigen Dinge liegen nicht in der Arbeit, sondern in der Freizeit – und dafür brauche ich auch nicht so viel Geld.« Der dritte sagt: »Ich bin durchaus bereit, viel Arbeitskraft zu investieren, aber nicht in einer großen Organisation der Wirtschaft oder Verwaltung, durch die
Mit freundlicher Genehmigung der Wißner-Verlag GmbH & Co. KG
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unsere Gesellschaft immer unmenschlicher wird. Ich möchte einmal in einer anderen, konkreteren Arbeitswelt tätig sein, in der menschenwürdige Lebensformen erprobt werden. Dafür bin ich auch bereit, auf hohe Bezahlung oder auf Geltung und Ansehen außerhalb meines Freundeskreises zu verzichten.« Was würden Sie persönlich sagen – welcher Auffassung stehen Sie am nächsten? Diejenigen, die der ersten Auffassung nahe stehen, werden als karriereorientiert bezeichnet; wer die zweite Auffassung wählt, ist freizeitorientiert; die dritte Auffassung wird als alternatives Engagement bezeichnet. Die so bezeichneten Personen unterscheiden sich auch in ihrer Persönlichkeit. So konnte Blickle (1998) zeigen, dass Karriereorientierte ein hohes Machtmotiv haben, Freizeitorientierte ein sehr gering ausgeprägtes Machtmotiv und alternativ Engagierte durch hohen Altruismus ausgezeichnet sind.
. Abb. 6.1. Erste berufliche Anstellung in Abhängigkeit von den Wertorientierungen (Angaben in Prozent). (Nach von Rosenstiel, 1998)
. Abb. 6.2. Stabilität und Wandel der Wertorientierungen (Angaben in Prozent). (Nach von Rosenstiel 1998)
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79 6.3 · Grundlagen der organisationalen Sozialisation
allen Fällen gleich sein (Semmer & Schallberger, 1996). Zum Beispiel ist die Wirkung der Selbstselektion besonders hoch, wenn die Arbeitsmarktlage den Stellensuchenden die Wahl zwischen verschiedenen attraktiven Stellenangeboten ermöglicht. Unter diesen Bedingungen wird durch Gravitationsprozesse bereits eine so gute Passung entstehen, dass Sozialisation kaum noch Wirkung zeigt. Unter der Bedingung eines Überhangs der Nachfrage nach Arbeitsplätzen werden dagegen Sozialisationseffekte wirksamer sein. Insofern sind die Ergebnisse aus der hier berichteten Studie nur eine Momentaufnahme von Prozessen, die einem ständigen Wandel unterworfen sind. 6.3
Grundlagen der organisationalen Sozialisation
6.3.1 Phasen der Sozialisation Der Prozess der Sozialisation lässt sich als Abfolge verschiedener Phasen konstruieren. Nach van Maanen und Schein (1977) kann man drei solcher Phasen unterscheiden: vor dem Eintritt in die Organisation, der Eintritt in die Organisation und die Metamorphose, d. h. die »Verwandlung« des neuen Mitarbeiters (vgl. dazu Bauer, Morrison & Callister, 1998; Moser, 2004). Die erste Phase umfasst alle Lernprozesse, die auf den Eintritt in eine Organisation vorbereiten. Sie wird daher auch häufig als antizipatorische Sozialisation bezeichnet. In der zweiten Phase erlebt der Neuling, wie die Organisation wirklich ist, und wird sich bewusst, dass seine Erwartungen und die Realität sich widersprechen können. In der dritten Phase kommt es dann zu den langfristig
wirksamen Änderungen der Person, die eine Anpassung an die Organisation darstellen: Der neue Mitarbeiter erwirbt die Fähigkeiten, die für die Bewältigung der Aufgaben notwendig sind, bewegt sich erfolgreich in seiner neuen Rolle und passt sich an die Werte und Normen der Arbeitsgruppe an. Dieser Prozess hat wiederum Auswirkungen auf die Leistung des Mitarbeiters, seine Bindung an die Organisation und die Bereitschaft zum Wechsel (. Abb. 6.3). Die Phase vor dem Eintritt verdeutlicht, dass jeder neue Mitarbeiter und jede neue Mitarbeiterin sich vor dem Eintritt in eine Organisation ein eigenes Profil an Werten, Einstellungen und Erwartungen ausbildet. Diese bereiten sowohl auf die Arbeit als auch auf das Verhalten in der Organisation vor. So wird für die meisten Berufe eine mehr oder weniger lange Zeit der Ausbildung gefordert, in der die Teilnehmer für ihre künftigen Aufgaben sozialisiert werden. Darüber hinaus müssen die angehenden Mitarbeiter aber auch lernen, welche Einstellungen und Werte in den Organisationen von ihnen erwartet werden. Ob man in einem Unternehmen eingestellt wird, hängt letztlich davon ab, wie man sich dem Unternehmen präsentiert. Die Fähigkeit, die Wünsche und Erwartungen der Entscheider in einer Organisation richtig zu antizipieren und sich entsprechend zu präsentieren, ist ausschlaggebend dafür, ob man in der Organisation angestellt wird. Nach dem Eintritt in die Organisation werden die eigenen Erwartungen – bezüglich der Arbeit, dem Vorgesetzten, den Kollegen und der Organisation – mit der Realität konfrontiert. Wunsch und Wirklichkeit werden eher selten übereinstimmen, bei allen widersprechenden Merkmalen wird der Neuling den Druck seiner
© Goodyear 1977
. Abb. 6.3. Ein Modell der Sozialisation neuer Mitarbeiter. (Nach van Maanen & Schein, 1977)
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Kapitel 6 · Gravitation und organisationale Sozialisation
Umwelt spüren, der darauf abzielt, dass er sich anpasst. Das beschreibt den Beginn des eigentlichen Prozesses der organisationalen Sozialisation, in dem ihm die Erwartungen der Organisation in Bezug auf sein Verhalten und seine Einstellungen vermittelt werden. Gelegentlich kann es in dieser Phase auch zu völliger Desillusionierung über die neue Situation kommen – man spricht dann von einem »Realitätsschock« (Wanous, 1992), ein angemessener Auswahlprozess kann dies aber verhindern. In der Metamorphose werden die Widersprüche zwischen Mitarbeiter und Organisation beseitigt. Welche Inhalte davon betroffen sind und welche Strategien die Organisation dabei einsetzt, wird in den nächsten beiden Abschnitten gezeigt.
gruppe und die Arbeit erfahren kann, spielt eine entscheidende Rolle in der Sozialisation. Persönlichkeitsmerkmale, Aspekte der Gruppendynamik, Ähnlichkeit der Interessen und durch die Struktur der Organisation festgelegte Beziehungen entscheiden darüber, ob ein neuer Mitarbeiter von seinen Kollegen akzeptiert wird (Chao et al., 1994).
6.3.2 Sozialisationsinhalte
Sprache. Der neue Mitarbeiter muss nicht nur die Fachsprache seines Berufs beherrschen – diese zu lernen ist gewöhnlich Aufgabe der ersten Phase der Sozialisation –, darüber hinaus muss er den für eine Organisation spezifischen Jargon beherrschen, um zu verstehen, worüber geredet wird. Als äußeres Zeichen der Organisationskultur bedeutet dieser Spracherwerb, dass man zum kompetenten Teilnehmer an einer Kultur geworden ist (Neubauer, 2003).
Die Frage nach den Sozialisationsinhalten thematisiert, was tatsächlich während der Sozialisation gelernt wird. Empirisch lassen sich diese Inhalte auf sechs Dimensionen beschreiben (Chao, O’Leary-Kelly, Wolf, Klein & Gardner, 1994; vgl. auch Bauer et al., 1998): 4 berufliche Fähigkeiten, 4 Personen, 4 Politik, 4 Sprache, 4 organisationale Ziel und Werte und 4 Geschichte. Berufliche Fähigkeiten. Zentral für die erfolgreiche Mit-
arbeit in einer Organisation ist es, dass ein Mitarbeiter die Aufgaben beherrscht, die seine Arbeit an ihn stellt. Daher ist die Aneignung der dafür notwendigen Fähigkeiten ein kritischer Aspekt in jeder organisationalen Sozialisation (Bauer et al., 1998). Ein Gutteil dieser Fähigkeiten sollte der Neuling natürlich schon im Rahmen der Phase vor dem Eintritt in die Organisation erworben haben. Was noch zu lernen ist und wie gut der Neuling gefordertes Wissen und Fähigkeiten beherrscht, das wird aber in der Sozialisation direkt beeinflusst. Personen. Eine weitere zentrale Aufgabe der Sozialisati-
on ist es, dass der Neuling erfolgreiche und befriedigende Beziehungen zu anderen Mitgliedern der Organisation entwickelt. Die richtige Person zu finden, von der man möglichst viel über die Organisation, die Arbeits-
Politik. Für jeden Mitarbeiter, der Interesse an einem be-
ruflichen Aufstieg hat, ist dieser Bereich von überragender Bedeutung. Der individuelle Erfolg hängt entscheidend davon ab, ob man die notwendigen Informationen über formale und informelle Arbeitsbeziehungen und die Machtstrukturen der Organisation erhält (Neuberger, 1995). Diese an die Neulinge zu vermitteln, ist eine wesentliche Aufgabe der Sozialisation.
Ziele und Werte. Für jede Definition organisationaler Sozialisation ist die Übernahme der Ziele und Werte einer Organisation zentral (vgl. Moser, 2004). Auf dieser Dimension findet die Anpassung an die übergreifende Organisation statt: Wenn sich der neue Mitarbeiter an den Werten orientiert, die für eine Organisation kennzeichnend sind, ist die Integration in die Organisation in hohem Maße geglückt. Geschichte. Das Wissen über die Geschichte einer Orga-
nisation wie über den persönlichen Hintergrund spezieller Mitglieder kann dabei helfen zu lernen, welche Verhaltensweisen in bestimmten Interaktionen oder Situationen angemessen sind oder nicht. Traditionen, Mythen und Rituale werden dazu genutzt, kulturelles Wissen über die Organisation zu vermitteln, und dadurch werden bestimmte Verhaltensweisen perpetuiert (Neubauer, 2003; 7 Kap. 9). In einer Untersuchung an akademisch ausgebildeten Mitarbeitern konnten Chao et al. (1994) zeigen, dass die gelungene Sozialisation auf diesen Dimensionen ver-
81 6.3 · Grundlagen der organisationalen Sozialisation
schiedene Indikatoren des beruflichen Erfolgs erklären kann: So ist z. B. die Höhe des Einkommens besonders stark vom Wissen über die Politik abhängig, die Zufriedenheit mit der Arbeit wird dagegen in hohem Maße durch die Übernahme der Werte und Ziele erklärt. Damit stellt sich die Frage, durch welche Strategien die Organisation neue Mitarbeiter sozialisiert. 6.3.3 Betriebliche Sozialisationsstrategien In Organisationen läuft der Prozess der Anpassung in erster Linie informell ab, wobei der Vermittlung sog. erschütternder Erfahrungen besondere Bedeutung zukommt (von Rosenstiel, 2003). Zum Beispiel werden einem neuen Mitarbeiter, der frisch von der Universität kommt, Aufgaben zugewiesen, an denen er mit großer Wahrscheinlichkeit scheitern wird. Diese Erfahrung erschüttert sein Selbstvertrauen, der Neuling fühlt sich zunehmend unsicher. In einer solchen Situation wird er sich verstärkt am Verhalten der anderen Mitglieder der Organisation orientieren und so die Werte, Normen und Verhaltensregeln übernehmen, die für die Organisation kennzeichnend sind. Neben solchen informellen Prozessen der Sozialisation gibt es aber auch eine Reihe von personalpolitischen Instrumenten, die im Sinne formaler Sozialisation wirken. Besonders zu nennen sind hier die realistische Tätigkeitsvorausschau als Teil der ersten Phase der Sozialisation, Einarbeitungsprogramme und das in der letzten Zeit intensiver untersuchte Mentoring. Realistische Tätigkeitsvorausschau Im ersten Jahr nach der Einstellung kündigen Mitarbeiter von sich aus relativ häufig. Ein wichtiger Grund dafür sind unrealistische Erwartungen an die Tätigkeit und das Unternehmen (Wanous, 1992). Solche überzogenen Erwartungen werden häufig im Einstellungsgespräch erzeugt, wenn die Verantwortlichen das Unternehmen, die Möglichkeiten für die Mitarbeiter und die künftige Tätigkeit in den schönsten Farben ausmalen. Die Enttäuschung über die Realität ist dann umso größer. Um das zu vermeiden, wurde das Konzept der realistischen Tätigkeitsvorausschau (»realistic job preview«) als Teil des Einstellungsgespräches entwickelt. Dabei wird gefordert, dass vonseiten des Unternehmens realistisch über die Tätigkeit und die Situation im Unternehmen informiert
wird, es sollen also nicht nur die positiven Aspekte hervorgehoben werden, sondern auch Probleme und mögliche Schwierigkeiten sind zu beschreiben. Davon erhofft man sich, dass der Bewerber keine überzogenen Erwartungen an seine neue Position richtet und entsprechend in der Einarbeitungszeit keine gravierenden Enttäuschungen auftreten (kein »Realitätsschock«!). Das wiederum soll zu höherer Arbeitszufriedenheit und geringerer Fluktuation führen. Empirische Untersuchungen können diese positiven Wirkungen nur teilweise bestätigen. So zeigt eine Metaanalyse vorliegender Befunde zwar, dass eine realistische Tätigkeitsvorausschau positive Wirkungen auf die Bindung an die Organisation und die Arbeitszufriedenheit hat und in negativer Beziehung zur Fluktuation steht, die Zusammenhänge sind aber sehr gering (Premack & Wanous, 1985). Neuere Untersuchungen zeigen allerdings, dass sich bei differenzierter Betrachtung durchaus beachtenswerte Zusammenhänge finden: Eine videobasierte, realistische Tätigkeitsvorausschau korreliert mit der späteren Leistung (r=.18; Phillips, 1998). Vermutlich findet bei diesem Vorgehen auch ein Lernen am Modell (7 Kap. 26) statt, das diesen Zusammenhang erklären kann. Programme zur Einarbeitung neuer Mitarbeiter Wer neu in ein Unternehmen kommt, ist gewöhnlich verunsichert. Gleichzeitig kennzeichnen ihn hohe Erwartungen an und Wünsche für die berufliche Zukunft. Das gilt sowohl für die neuen Mitarbeiter wie die Unternehmen. Die meisten Erwartungen der Unternehmen richten sich auf die Leistung der Mitarbeiter im Sinne von deren Beitrag zur Erreichung der Unternehmensziele, daneben finden sich aber auch mehr oder weniger implizite Vorstellungen hinsichtlich des erwünschten Verhaltens. Dazu zählen Loyalität, Bereitschaft zur Anpassung und anderes mehr. Um dies zu erreichen, wird den Neuen in der Regel eine Zeit der Einarbeitung gewährt, die durch Maßnahmen der Organisation unterstützt wird. Mit der Phase der Einarbeitung verbinden beide Seiten also teilweise verschiedene Ziele, einige davon zeigt . Tab. 6.1. Diese Ziele sind nicht leicht zu erreichen, eine Vielzahl von Problemen steht dem entgegen. Manche Führungskräfte können sich nicht in die Situation der Neuen einfühlen und weisen ihnen deshalb zu schwere oder auch zu leichte Aufgaben zu – beides kann die bestehende Unsicherheit verstärken. Besonders wichtig ist aber
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Kapitel 6 · Gravitation und organisationale Sozialisation
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Sicht des Unternehmens
Sicht des Mitarbeiters
4 4 4 4 4 4
4 Genaues Wissen darüber, was das Unternehmen erwartet 4 Souveräne Bewältigung der Aufgaben 4 Bedürfnisgerechte Aufgabengestaltung 4 Vereinbarkeit der Normen und Werte der Arbeitsgruppe bzw. des Unternehmens mit den eigenen Werten
Kenntnis der eigenen Stelle und der damit verbundenen Aufgaben Ausgleich anfänglicher Defizite in Kenntnissen und Fähigkeiten Motivierte Aufgabenerledigung Bereitschaft, sich auf neue Anforderungen einzustellen Loyalität und Bindung an das Unternehmen Übernahme von Normen und Werten der Arbeitsgruppe und des Unternehmens
das Verhalten der Kollegen, vor allem wenn eine enge Zusammenarbeit in einer Gruppe gefordert wird (Anderson & Thomas, 1996). Besteht in einer solchen Gruppe ein sehr enger Zusammenhalt – d. h. eine ausgeprägte Kohäsion (7 Kap. 8) –, dann ist es für neue Gruppenmitglieder häufig sehr schwer, auch emotional akzeptiert zu werden. Ist die Situation in der Gruppe umgekehrt sehr konfliktträchtig, dann werden die verschiedenen Lager gelegentlich versuchen, den Neuen auf ihre Seite zu ziehen, was für diesen buchstäblich zur »Zerreißprobe« werden kann und sehr belastend ist. Um solchen Problemen zu begegnen, setzen Unternehmen verschiedene Methoden ein. Dazu zählen (vgl. Kieser, Nagel, Krüger & Hippler, 1990; Moser & Schmook, 2006): 4 einführende Veranstaltungen, auf denen Informationen über das Unternehmen, seine Struktur, die Produkte usw. vermittelt werden; 4 Schulungen, die häufig außerhalb des Unternehmens stattfinden; 4 Begrüßung und Einarbeitung durch den Vorgesetzten; 4 soziale und sportliche Aktivitäten mit den Kollegen; 4 Traineeprogramme; 4 Zuweisung von Paten. Zu den beiden letztgenannten Methoden sind noch einige Anmerkungen notwendig. Für Absolventen – vor allem mit akademischer Ausbildung – stellen Traineeprogramme einen alternativen Einstieg in das Berufsleben dar (vgl. Thom & Friedli, 2003). Anders als beim Direkteinstieg ermöglicht ein Traineeprogramm den Neuen – den Trainees – Einblicke in unterschiedliche Bereiche des Unternehmens. Anstelle starrer Ausbildungspläne wird entsprechend den aktuellen Anforderungen des Unternehmens und den Schwerpunkten des jeweiligen Trainees ein individueller Fahrplan der Einar-
beitung entwickelt. Darin sind die einzelnen Abteilungen sowie die Dauer ihres Durchlaufs ebenso festgelegt wie die zu besuchenden Seminare. Es besteht also ein regelmäßiger Wechsel von Praxis und Weiterbildung, der kennzeichnend für solche Programme ist. Ihre Durchführung erfordert nicht zuletzt deshalb eine intensive Betreuung, die gewöhnlich von der Personalabteilung geleistet wird. Eine solche Betreuung ist wiederum ein geeigneter Rahmen für die Beeinflussung und damit die Sozialisation der Trainees. Bei einem Patensystem wird dem Neuen ein erfahrener Mitarbeiter – der Pate – zugewiesen, der ihn in der Zeit der Einarbeitung betreut (Kieser et al., 1990). Ein solcher Pate hat verschiedene Aufgaben, u. a. soll er neue Mitarbeiter 4 mit der Arbeitsumgebung vertraut machen; 4 bei der Kontaktaufnahme mit den Kollegen und zukünftigen Gesprächspartnern unterstützen; 4 bei Fehlern konstruktiv beistehen; 4 mit ihnen Ideen besprechen und – sofern die Vorstellungen sinnvoll sind – sie bei deren Umsetzung unterstützen; 4 Betreuungsgespräche führen, dabei die Kritik der Neuen ernst nehmen und möglichst die Ursachen beheben; 4 bei persönlichen Problemen hilfreich zur Seite stehen; 4 bei Bedarf den Vorgesetzten einbeziehen. Neben diesen wichtigen Aufgaben wirken Paten besonders auf das Verhalten der Neuen ein, indem sie diese mit den »ungeschriebenen Gesetzen« des Unternehmens vertraut machen. Paten sind aufgrund ihres unmittelbaren Einflusses eine besonders wirkungsvolle Sozialisationsinstanz.
Mit freundlicher Genehmigung von Hogrefe, Göttingen. © Hogrefe 2006
. Tab. 6.1. Ziele der Einarbeitung aus Sicht des Unternehmens und der Mitarbeiter. (Nach Moser & Schmook, 2006)
83 6.3 · Grundlagen der organisationalen Sozialisation
Mentoring Dem Patensystem verwandt ist das Mentoring (vgl. Blickle, 2003; Blickle & Boujataoui, 2005). Definition Die ursprüngliche Bedeutung des Begriffs Mentor ist »väterlicher Freund« oder »Lehrer«, unter betrieblichem Mentoring versteht man eine persönlich gestaltete Beziehung zwischen einer beruflich erfahrenen, erfolgreichen und einer weniger erfahrenen Person mit Karriereambitionen.
Im Rahmen dieser Beziehung gibt der Mentor – der natürlich auch eine Mentorin sein kann – sein Wissen in Form von informellen Informationen an den »Mentee« weiter, er unterstützt gezielt durch Ratschläge und Gespräche und hilft beim Erschließen neuer Kontakte. Dazu gehört auch, dass der Mentor seinen Mentee im Unternehmen »sichtbar macht«, eine Aufgabe, die gelegentlich kritisch beurteilt wird. Allerdings zeigt die Tatsache, dass sich Mentoring-Programme häufig an Frauen richten, dass damit nicht ein einfaches »Protegieren« gemeint ist, sondern vielmehr solche Programme darauf zielen, die vorhandenen betrieblichen Ressourcen besser zu nutzen. Im Überblick betrachtet kann man verschiedene Funktionen des Mentoring unterscheiden, die sich in Anlehnung an Kram (1988) in Karriere- und psychosoziale Funktionen gliedern lassen (7 Übersicht): Funktionen von Mentoring aus der Sicht des Mentors (Kram, 1988; nach Moser, 2004) Karrierefunktionen 4 Türen öffnen 4 Feedback geben 4 Schutz verschaffen 4 Gelegenheiten zur Selbstdarstellung ermöglichen 4 Herausfordernde Aufgaben vermitteln oder delegieren
Demnach sollte Mentoring die berufliche Entwicklung im Sinne der Beförderung des Mentees ebenso positiv beeinflussen wie psychosoziale Kriterien, z. B. die Zufriedenheit mit der Karriere oder der Arbeit allgemein. Eine Metaanalyse vorliegender Studien zu den Wirkungen von Mentoring belegt, dass diese Ziele erreicht werden – wenn auch die Zusammenhänge zwischen Mentoring und den entsprechenden Ergebnissen insgesamt gesehen relativ gering ausfallen (vgl. Allen, Eby, Poteet & Lentz, 2004; Payne & Huffman, 2005). Mentoring kann verschiedene Formen annehmen (vgl. Blickle, 2000). Beim informellen Mentoring entstehen die Kontakte zufällig, der Verlauf der Beziehung ist stark abhängig von den im Unternehmen herrschenden Rahmenbedingungen. Bei formellen Programmen wird der Kontakt gezielt hergestellt und der Verlauf wird gewöhnlich von Mitarbeitern der Personalabteilung begleitet. Die damit verbundene Formalisierung der Beziehung trägt gewöhnlich zur Akzeptanz im Unternehmen bei. Solche formellen Programme lassen sich wiederum danach unterscheiden, ob sie innerhalb oder außerhalb des Unternehmens organisiert werden. Organisationsinterne Programme sind meistens so gestaltet, dass der Mentor mindestens zwei Hierarchiestufen über dem Mentee angesiedelt ist und zwischen den beiden keine direkte Arbeitsbeziehung besteht. Bei organisationsexternem Mentoring sind die Mentoren in anderen Unternehmen – die manchmal in ganz anderen Branchen angelagert sind – tätig. Mentoring-Programme sind zeitlich begrenzt, sie dauern in der Regel zwischen 6 Monaten und 3 Jahren (ob die persönliche Beziehung danach weitergeführt wird, liegt natürlich an den Beteiligten). Damit soll eine unbegrenzte Belastung der Mentoren verhindert werden, aber auch die Unabhängigkeit der Nachwuchskraft wird dadurch befördert. Im Rahmen eines solchen Programms sollten die Mentoren auf ihre Aufgabe vorbereitet werden, wobei insbesondere auf die Regeln des Mentoring zu achten ist (Kram, 1988; 7 Kasten »Regeln des Mentoring«).
Regeln des Mentoring Psychosoziale Funktionen 4 Vorbild sein 4 Hilfestellung und Ratschläge geben 4 Respekt ausdrücken 4 Eine freundschaftliche Vertrauensbeziehung anbieten
4 Den Stellenwert des Mentoring im Unternehmen klären 4 Die Bedeutung einer guten Mentorenbeziehung für die Karriere verdeutlichen
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Kapitel 6 · Gravitation und organisationale Sozialisation
4 Möglichkeiten und Grenzen solcher Beziehungen klar machen 4 Vorurteile gegen das Mentoring direkt ansprechen und ausräumen (»Seilschaften«; »Protegé« etc.) 4 Für Probleme gegengeschlechtlicher Mentoring-Beziehungen sensibilisieren 4 Schulung der kommunikativen und zwischenmenschlichen Fähigkeiten
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Wird gegen diese Regeln verstoßen, kann es leicht zu negativen Erlebnissen des Mentee kommen, wobei sich zeigt, dass über die negativen Erfahrungen eines distanzierten sozialen Verhaltens bzw. geringer Expertise des Mentors vor allem in der Phase der Ablösung berichtet wird (Eby, Butts, Lockwood & Simon, 2004). Allerdings sind die Bedingungen, unter denen es zu solchen negativen Erlebnissen kommt, noch nicht systematisch erforscht. 6.4
Wirkungen organisationaler Sozialisation
Ob die Sozialisation neuer Mitarbeiter gelungen ist, hängt davon ab, inwieweit Individuum und Organisation ihre Ziele erreicht haben. Gemessen wird das gewöhnlich an zwei Indikatoren: Dem Commitment, d. h. dem Grad der Bindung an die Organisation und der Fluktuation der Mitarbeiter (van Dick, 2004; Moser & Schmook, 2006). Zwar ist aus Sicht der Unternehmen das dritte Ziel der Sozialisation – die Produktivität (. Abb. 6.3) – eigentlich das wichtigste, bislang wurden aber diese Wirkungen nicht systematisch untersucht (Moser, 2004). 6.4.1 Bindung an die Organisation Die Bindung an die Organisation – häufig auch als Commitment bezeichnet – ist ein wichtiges Ziel organisationaler Sozialisation. Mitarbeiter sind an die Organisation gebunden, wenn sie deren Werte und Normen internalisiert haben, bereit sind, sich für die Organisation anzustrengen und sich wünschen, in der Organisation zu verbleiben (Mowday, Porter & Steers, 1982). Dabei lassen sich drei Formen unterscheiden: die kalku-
lative, die affektive und die normative Bindung (Weller, 2003). 4 Kalkulative Bindung entsteht, wenn Mitarbeiter ihre Kosten für das Verlassen des Unternehmens als zu hoch einschätzen – weil sie in einem anderen Unternehmen weniger verdienen würden, die Chancen auf dem Arbeitsmarkt gering sind oder wegen anderer rational kalkulierter Gründe. Wer kalkulativ gebunden ist, der bleibt im Unternehmen, weil er bleiben muss. 4 Wer dagegen affektiv an das Unternehmen gebunden ist, bleibt, weil er will – weil er sich mit dem Unternehmen identifiziert, in seine Aufgaben involviert ist und sich dem Unternehmen emotional verpflichtet fühlt. Da die affektive Bindung an die Organisation in der Regel negativ mit der Kündigungsbereitschaft korreliert, kann sie als subjektiver Indikator der Fluktuation dienen. Gelegentlich finden sich auch positive – allerdings in der Regel niedrige – Zusammenhänge mit der Leistung der Mitarbeiter, zudem kann affektive Bindung innovatives Verhalten fördern (Moser, 1996; van Dick, 2004). 4 Normative Bindung beruht auf dem Gefühl der Verpflichtung, dem Unternehmen treu bleiben zu müssen. Der Gedanke an eine Kündigung wird aus moralischen Gründen als bedenklich oder verwerflich erachtet. Positiv gewendet steht im Mittelpunkt die Überzeugung, dass es richtig ist, der Organisation treu zu bleiben. Kalkulatives Commitment entsteht u. a. durch hohe Investitionen des Mitarbeiters in die Mitgliedschaft in der Organisation. Im Rahmen der organisationalen Sozialisation zählt dazu, dass neue Mitarbeiter zunächst sehr herausfordernde und schwierige Auswahlverfahren durchlaufen müssen. Die Investitionen, die notwendig sind, um diese zu bewältigen, erhöhen dann die Bindung an die Organisation. Affektives Commitment kann durch verschiedene Maßnahmen der Einarbeitung hervorgerufen werden. So führt ein gelungenes Patensystem zu Gefühlen der Dankbarkeit und der Identifikation mit dem Unternehmen. Damit verbunden ist dann auch das normative Commitment: Aufgrund einer solchen Dankbarkeit entsteht die Überzeugung, dass es richtig ist, in der Organisation zu bleiben. Zu bedenken ist allerdings, dass eine hohe Bindung aus Sicht des Unternehmens nicht immer wünschenswert ist. Das ist z. B. dann der Fall, wenn das Commit-
85 6.4 · Wirkungen organisationaler Sozialisation
ment die Trennung von leistungsschwachen Mitarbeitern erschwert (Moser, 1998). Das wiederum zeigt, dass Commitment und Fluktuation nicht unabhängige Ziele organisationaler Sozialisation darstellen. 6.4.2 Kündigungsabsicht und Fluktuation
der Mitarbeiter Die Kündigungsabsicht ist zwar eine subjektive Variable, sie hat sich aber in der Forschung als der beste Prädiktor des Verhaltens, d. h. der tatsächlichen Kündigung erwiesen (Lang-von Wins & Kaschube, 1998). Eine solche, subjektiv geäußerte Absicht kann daher als ein geeigneter Indikator für eine psychologisch wie betriebswirtschaftlich bedeutsame Konsequenz – die Fluktuation – betrachtet werden. Fluktuation wird von den meisten Organisationen regelmäßig erfasst, gewöhnlich als Anzahl der Personalabgänge im Verhältnis zum durchschnittlichen Personalbestand (vgl. z. B. Jung, 2003). Jede Kündigung und die damit verbundene Suche nach neuen Mitarbeitern ist für das Unternehmen mit sehr hohen Kosten verbunden, daher scheint Fluktuation ein geeigneter Indikator für gelungene Sozialisation. Allerdings ist die dabei unterstellte Unterscheidung zwischen freiwilliger und unfreiwilliger Kündigung schwer zu belegen (Moser, 2004; Moser & Schmook, 2006) – nicht selten liegt der Kündigung eine Einigung zwischen Unternehmen und Mitarbeiter zugrunde. Außerdem hängt die Fluktuation auch von der Lage am Arbeitsmarkt ab. Für die Interpretation im Sinne der Wirkung der Sozialisation ist dies allerdings sekundär, da sowohl die freiwillige als auch die unfreiwillige Kündigung für misslungene Sozialisation sprechen. Bei der unfreiwilligen Kündigung ist die Sozialisation aus Sicht des Mitarbeiters und der Organisation misslungen, im Falle der freiwilligen zumindest aus der Sicht der Organisation (wobei aber Fälle denkbar sind, in denen freiwillige Kündigung durchaus im Sinne der Organisation sein kann; Moser, 1998). Zu Bedenken ist aber, dass Fluktuation vor allem für ambitionierte Mitarbeiter eine andere Bedeutung haben kann, da heute ein oder mehrere Wechsel des Arbeitsgebers die Karriere sehr befördern können. Das gilt besonders, wenn die Entwicklungschancen in einem Unternehmen begrenzt sind.
Zusammenfassung 4 Sozialisation bedeutet, dass Organisationen versuchen, ihre Mitarbeiter an die bestehenden Werte anzupassen. 4 Gravitation heißt, Menschen mit ähnlichen Wertorientierungen werden durch eine bestimmte Organisation angezogen. 4 Beide Prozesse ergänzen einander: Gravitation führt zu einer groben Passung zwischen den Wertorientierungen der Person und den Werten der Organisation, Sozialisationsprozesse geben dem den »Feinschliff«. 4 Besonders stark ist der sozialisierende Einfluss der Kollegen, der auf informelle Art und Weise erfolgt. 4 Bereits vor dem Eintritt in die Organisation wird – im Sinne antizipierender Sozialisation – die realistische Tätigkeitsvorausschau wirksam. 4 Einarbeitungsprogramme – Traineeprogramme und die Zuweisung von Paten – tragen ebenfalls zur Sozialisation bei. 4 Beim Mentoring unterstützt in einer persönlich gestalteten Beziehung zwischen einer beruflich erfahrenen, erfolgreichen und einer weniger erfahrenen Person mit Karriereambitionen der Mentor seinen Schützling bei der erfolgreichen Entwicklung im Unternehmen. 4 Als Indikatoren für den Erfolg der Sozialisation werden gewöhnlich das Commitment und die Fluktuation bzw. als subjektiver Indikator die Kündigungsabsicht herangezogen.
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Kapitel 6 · Gravitation und organisationale Sozialisation
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7
7 Führung von Mitarbeitern 7.1
Führung und Führungserfolg
7.2
Ein Rahmenmodell der Führung
7.3
Determinanten der Führung – 90
7.3.1 7.3.2 7.3.3 7.3.4
Persönlichkeit des Führenden – 90 Verhalten des Führenden – 93 Symbolische Führung – 96 Einfluss der Geführten – Führung von unten – 98
Literatur – 100
– 88 – 88
88
Kapitel 7 · Führung von Mitarbeitern
> Führung ist der – wenn nicht wichtigste, so doch – für den Beobachter beeindruckendste Einflussfaktor auf das Verhalten der Mitarbeiter von Organisationen. Entsprechend intensiv wird dieser Bereich aus der Perspektive verschiedener Wissenschaften erforscht (vgl. zum Überblick: Yukl & van Fleet, 1992; Kieser, Reber & Wunderer, 1995; Weibler, 2001; Neuberger, 2002; von Rosenstiel & Wegge, 2004). Im Laufe der Zeit wurde es daher immer schwieriger, die Ergebnisse der Führungsforschung zu überschauen. Die Anwendung metaanalytischer Untersuchungen hat aber zum Glück in den letzten Jahren einiges Licht in das Dunkel der empirischen Führungsforschung gebracht. Im Folgenden wird ein Einblick in die wichtigsten Entwicklungslinien dieser Forschungsrichtung gegeben. Nach einer knappen Bestimmung des Begriffs Führung und seiner wichtigsten Konsequenz, des Führungserfolgs, wird ein Rahmenmodell des Führungsgeschehens skizziert, anschließend werden zentrale Aspekte der Führung von Mitarbeitern etwas genauer beleuchtet.
7
7.1
Führung und Führungserfolg Definition Führung ist die bewusste und zielbezogene Einflussnahme auf Menschen (von Rosenstiel, 2003b).
Die Ziele der Einflussnahme folgen in der Regel aus den Zwecken der Organisation, in der geführt wird. Daraus leitet sich auch ab, woran der Erfolg von Führung gemessen wird – die Frage, wofür wird geführt, gibt darauf eine Antwort. Diese Frage hat zwei Seiten (Neuberger, 2002): Zum einen das für wen: Wem nutzt oder schadet Führung? Hier ist die Antwort gewöhnlich klar: Führung soll zum Erfolg des Unternehmens beitragen, sie nutzt dem Unternehmen. Erfolgreich ist ein Unternehmen, wenn es seine Ziele erreicht oder sogar übertrifft. Zu den Unternehmenszielen zählen Marktanteil, Wachstum, Umsatz, Produktivität, Gewinn, Rendite und vieles mehr. Führungskräfte sollen mit ihren Mitarbeitern zum Erreichen dieser Ziele beitragen. Sie müssen dafür sorgen, dass die Mitarbeiter (mindestens) so viel leisten, wie zum Erreichen der Ziele notwendig ist. Führungserfolg zeigt sich also an der Leistung der Mitarbeiter. Damit drängt sich aber die zweite Seite der Frage nach dem Führungserfolg auf: Für was wird geführt? Anders formuliert: Was bewirkt Führung – auch in dem Sinne, welche ungewollten Nebenfolgen Führung zeigt. In der Stressforschung werden nicht zuletzt die Situationen untersucht, in denen Mitarbeiter unter zeitlichen oder anderen Druck gesetzt werden, um den Erfolg des Unternehmens zu steigern – und deshalb
längerfristig erkranken können (7 Kap. 28). Von der ethischen Problematik solcher negativer Führungsfolgen ganz abgesehen können damit auch hohe wirtschaftliche Kosten verbunden sein, wenn z. B. die Fehlzeiten ansteigen und immer mehr Mitarbeiter kündigen. Führung erfordert, sich die Konsequenzen des eigenen Handelns bewusst zu machen, und dazu zählen auch die Folgen für die Mitarbeiter. So kann das »für wen« ergänzt werden: Führung sollte nicht nur den Unternehmenszielen dienen, sondern auch Humanziele verfolgen, d. h. den Mitarbeitern nutzen. Ein zweites wichtiges Kriterium des Führungserfolgs ist daher deren Wohlbefinden oder allgemein ihre Zufriedenheit (7 Kap. 24). 7.2
Ein Rahmenmodell der Führung
Wie werden diese Ziele durch Führung verfolgt und – wenn sie denn erfolgreich ist – erreicht? Betrachtet ein Außenstehender eine Situation, in der geführt wird, kann er Folgendes wahrnehmen (vgl. Nerdinger, 2000): Eine Person – die Führungskraft – zeigt ein bestimmtes Verhalten. Dieses Verhalten wirkt als zielbezogene Einflussnahme auf einen oder mehrere andere Menschen, auf einzelne Mitarbeiter oder ein ganzes Arbeitsteam. Danach verhalten sich die Mitarbeiter auf eine bestimmte Weise, z. B. arbeiten sie intensiver oder sie benehmen sich vielleicht feindselig gegenüber ihren Kollegen. Ihr Verhalten zeigt also bestimmte Ergebnisse, die den Führungserfolg darstellen. Der Ablauf dieser Beobachtungen lässt sich wie in . Abb. 7.1 veranschaulichen.
7
89 7.2 · Ein Rahmenmodell der Führung
. Abb. 7.1. Ein Rahmenmodell der Führung. (Nach Nerdinger, 2003a)
© Kohlhammer 2003
Führungserfolg wird gewöhnlich durch die Führungsperson und hier bevorzugt durch die Persönlichkeit der Führungskraft und ihre Eigenschaften erklärt, so wird z. B. erfolgreichen Managern sehr häufig Charisma und Ausstrahlung zugeschrieben (attribuiert; 7 Abschn. 7.3.1). Eine solche Zuschreibung hat verschiedene Gründe. Zum einen sind Führungskräfte privilegiert und gegenüber den Mitarbeitern hierarchisch hervorgehoben. Eine solche Position gilt es zu legitimieren, und wenn die so Hervorgehobenen durch besondere Persönlichkeiten gekennzeichnet sind, dann rechtfertigt das ihre Position (Neuberger, 2002). Daneben wirkt aber auch ein wahrnehmungspsychologischer Mechanismus, die Figur-Grund-Differenzierung (Goldstein, 1997). Bei der Beobachtung der Interaktion zwischen einer Führungskraft und ihren Mitarbeitern wird die Person des Führenden zur Figur, alle Einflüsse der Situation dagegen werden zum Grund. Die Persönlichkeit des Führenden und seine Eigenschaften haben zweifellos Einfluss auf den Führungserfolg, allerdings wirkt die Persönlichkeit gewöhnlich nicht direkt, sondern vermittelt über die Wahrnehmungen und Attributionen der Mitarbeiter. Da die Persönlichkeit eines Menschen nicht unmittelbar wahrnehmbar ist, wird aus dem Beobachteten auf Merkmale geschlossen, die in der Person liegen (Amelang & Bartussek, 2001). Was die Mitarbeiter beobachten, ist das Verhalten der Führungskraft. Verhalten wirkt direkt auf andere Menschen ein, d. h. im Verhalten des Vorgesetzten realisiert sich Führung. Daher wurde in einer Vielzahl von Untersuchungen geprüft, welches Verhalten von Führungskräften optimal für den Führungserfolg ist. Gewöhnlich werden dabei zwei Dimensionen des Führungsverhaltens unterschieden, die man als Mitarbeiterorientierung und Aufgabenorientierung bezeichnet (7 Abschn. 7.3.2). Ein mitarbeiterorientiertes Führungsverhalten nimmt Rücksicht auf die persönlichen Bedürfnisse der Mitarbeiter, ist um ihr Wohlergehen besorgt und respektiert ihre Vorstellungen. Aufgabenorientiertes Führungsver-
halten ist darauf gerichtet, die Ziele der Organisation zu erreichen. Zu diesem Zweck kann der Vorgesetzte seinen Mitarbeitern Ziele setzen, die Kooperation in der Arbeitsgruppe unterstützen und Anregungen zur Aufgabenerledigung geben. Damit ist das Führungsverhalten aber noch nicht vollständig beschrieben, in den letzten Jahren wird zudem noch eine weitere Form untersucht – die sog. transformationale Führung (7 Abschn. 7.3.2). Diese Form des Führungsverhaltens zielt darauf, den Mitarbeitern Sinn in der Arbeit zu vermitteln und auf diesem Wege ihre Einstellungen zu verändern, d. h. zu transformieren. Wie die Forschung zeigt, sind die verschiedenen Formen des Führungsverhaltens wichtig zur Erklärung des Führungserfolges, dieser kann aber nicht allein durch das Verhalten der Führungskräfte erklärt werden. Offensichtlich gibt es nicht das ideale Führungsverhalten, das immer und in jeder Situation zu hoher Leistung und Zufriedenheit der Mitarbeiter führt. Entscheidend ist, welche Persönlichkeit welches Verhalten in welcher Situation zeigt (von Rosenstiel & Wegge, 2004). Verhält sich ein Vorgesetzter in der beschriebenen, mitarbeiterorientierten Art und Weise z. B. gegenüber den wenigen, stark motivierten Mitarbeitern einer Projektgruppe, wird er vermutlich andere Wirkungen erzielen als ein Meister in einem Industriebetrieb, der bis zu 30 Mitarbeiter führt, die zum Teil wenig qualifiziert sind und sich möglicherweise kaum für die Ziele des Unternehmens interessieren. Im ersten Fall erwarten die Geführten, dass der Vorgesetzte ihre Fähigkeiten respektiert, entsprechend werden sie positiv auf sein mitarbeiterorientiertes Verhalten reagieren. In zweiten Fall dagegen erleben die Mitarbeiter ihren Vorgesetzten und sein Verhalten möglicherweise als unsicher und strengen sich in der Arbeit weniger an, als sie könnten. Je nach Situation kann also ein und dasselbe Führungsverhalten andere Wirkungen auf die Mitarbeiter haben und deren Verhalten kann in Abhängigkeit von der Situation zu unterschiedlichen Ergebnissen führen.
90
7
Kapitel 7 · Führung von Mitarbeitern
Die stark motivierten Mitarbeiter der Projektgruppe werden im Unternehmen selbstständig nach geeigneten Ansprechpartnern suchen und mit diesen ihre Ideen diskutieren, eigenverantwortlich Gruppensitzungen organisieren und sich über die Verteilung von Arbeitsaufgaben ohne Einfluss von außen einigen. Ein vergleichbar selbstständiges Handeln würde bei einer Arbeitsgruppe, die sich im Produktionsprozess an den technischen Abläufen orientieren muss, schnell ins Chaos führen. Die Situation entscheidet also, welches Verhalten eine Führungspersönlichkeit zeigt, wie dieses Verhalten von den Mitarbeitern oder dem Team wahrgenommen wird und ob deren Reaktionen zu den Zielen des Unternehmens beitragen. Merkmale der Situation, die einen solchen Einfluss auf den Prozess der Führung haben, sind vielfältig. Dazu zählen u. a. (vgl. von Rosenstiel 2003b): 4 Machtmittel zur Durchsetzung von Entscheidungen, 4 Hilfsbereitschaft der Kollegen, 4 technische und organisatorische Hilfsmittel bei der Arbeit, 4 Marktbedingungen, 4 Einstellung des Betriebsrates zur Zusammenarbeit, 4 Schwierigkeit der Aufgabe, 4 Ziele und Struktur der Organisation etc.
te, d. h. alles, was von Menschen gemacht wurde – von der Architektur bis zu den einzelnen, mehr oder weniger bürokratischen Regelungen. Wird gezielt versucht, den Mitarbeitern bestimmte Deutungen des Führungsverhaltens bzw. der Situation nahezulegen, so spricht man von symbolischer Führung (7 Abschn. 7.3.3). Das zeigt, dass die Mitarbeiter aktiv am Prozess der Führung beteiligt sind. Diese Teilnahme ist aber nicht nur auf die Deutung des Führungsverhaltens und der Artefakte des Unternehmens beschränkt, die Mitarbeiter versuchen auch direkt, ihre Vorgesetzten zu beeinflussen, um ihre Ziele zu erreichen. Dieses Verhalten wird auch als Führung von unten bezeichnet. In . Abb. 7.1 wird das durch den wechselseitig gerichteten Pfeil angedeutet – nicht nur beeinflussen Führungskräfte ihre Mitarbeiter, deren Verhalten wirkt auch auf ihre Vorgesetzten ein (7 Abschn. 7.3.4). Damit sind die wichtigsten Einflussfaktoren der Führung benannt, die es bei der Ermittlung ihres Erfolgs zu berücksichtigen gilt. Wesentliche Erkenntnisse zu den Determinanten der Führung werden im Folgenden dargestellt.
Solche Merkmale der Situation können darüber entscheiden, ob ein bestimmtes Verhalten des Vorgesetzten zum Erfolg oder zum Misserfolg führt. Es gibt aber auch Merkmale der Situation, die das Führungsverhalten sogar ersetzen können. Diese werden als Substitute der Führung bezeichnet (Kerr & Jermier, 1978; vgl. Neuberger, 2002). Zum Beispiel können Fähigkeiten, Erfahrungen, Ausbildung und Wissen der Mitarbeiter die Führung ersetzen: Fähige und gut ausgebildete Mitarbeiter wissen, was sie wie machen müssen, und können daher selbstständig auf die verschiedensten Situationen der Arbeit reagieren. Zwei weitere Punkte sind hier zu beachten. Zum einen wurden bislang das Verhalten des Vorgesetzten und die Situation jeweils als objektiv wirkende Größen betrachtet. Die Situation und das Verhalten des Vorgesetzten haben aber für die Mitarbeiter immer auch eine bestimmte Bedeutung, sie erzeugen nicht nur direkte Wirkungen, sie stehen auch für anderes: Führungsverhalten symbolisiert die Werte und Überzeugungen des Unternehmens genauso wie alle dort anzutreffenden Artefak-
Lange Zeit wurde allein in der Persönlichkeit des Führenden die Ursache des Erfolgs gesucht. In der sozialwissenschaftlichen Forschung wie in der Alltagspsychologie dachte man dabei zuerst an das Außergewöhnliche des Führers, sein Charisma, d. h. seine »Ausstrahlung«. Die organisationspsychologische Forschung hat dagegen im Sinne des persönlichkeitspsychologischen Ansatzes versucht, die Eigenschaften zu ermitteln, in denen sich erfolgreiche von nicht erfolgreichen Führern unterscheiden.
7.3
Determinanten der Führung
7.3.1 Persönlichkeit des Führenden
Charismatische Führer Durch die Analyse überragender Persönlichkeiten der Geschichte – Menschen, die andere Menschen scheinbar magisch angezogen und begeistert haben –, hofften Forscher lange Zeit, das Geheimnis der Führungspersönlichkeit zu entschlüsseln. Von dieser Logik ausgehend hat bereits zu Beginn des 20. Jahrhunderts der bedeutende deutsche Soziologe Max Weber im »Charisma« das wesentliche Merkmal der erfolgreichen Führungspersönlichkeit ausgemacht (Weber, 1921/1980; vgl. Steyrer, 1995).
91 7.3 · Determinanten der Führung
Definition Charisma ist die außeralltägliche Qualität einer Persönlichkeit, um derentwillen sie als mit übernatürlichen oder übermenschlichen oder mindestens spezifisch außeralltäglichen, nicht jedem anderen zugänglichen Kräften oder Eigenschaften begabt oder als gottgesandt oder als vorbildlich und deshalb als »Führer« gewertet wird. (Weber, 1980, S. 140)
Diese (über-)natürliche Anziehungskraft führt bei anderen Menschen dazu, dass sie den Führer idealisieren und ihm überragende Eigenschaften zuschreiben, Eigenschaften, die sie bewundern und über die sie selber gerne verfügen würden. Daher folgen ihm seine Anhänger und ahmen ihn nach – der charismatische Führer wird zum Vorbild durch sein Verhalten, seine Werte, Ziele und moralischen Vorstellungen. Als positives Beispiel wird immer wieder Mahatma Ghandi genannt, der Gewaltlosigkeit und zivilen Ungehorsam gepredigt und exemplarisch vorgelebt hat. Charisma wird aber nicht notwendig zum Nutzen der Menschen eingesetzt, in der Geschichte der Menschheit finden sich auch genügend charismatische Personen, die letztlich die von ihnen Geführten ins Unglück getrieben haben. Zudem ist zu fragen: Wer will sich anmaßen, ein zweiter Mahatma Ghandi zu sein? Offensichtlich wird mit dem Begriff Charisma die Wirkung außergewöhnlicher Menschen beschrieben. Daher betrachtete die organisationspsychologische Forschung dieses Merkmal lange Zeit als eher nebensächlich für den Führungserfolg. Seit einiger Zeit hat sich das grundlegend geändert, gerade in Organisationen der Wirtschaft interessiert man sich verstärkt für die charismatische Führung (Steyrer, 1995; 1999). Das ist zunächst äußerst merkwürdig, hat doch Max Weber das Charisma als eine »notwendig außerwirtschaftliche Macht« angesehen: Charisma sei »alsbald in seiner Virulenz gefährdet, wenn die Interessen des ökonomischen Alltags zur Übermacht gelangen« (Weber, 1980, S. 660). Für Max Weber waren Unternehmen rationale Veranstaltungen, in denen allein Sachzwänge dominieren und wo daher eine solch gefühlsgeladene Erscheinung wie das Charisma keinen Platz hat. Im modernen Kapitalismus ist nach seiner Meinung der Weg des Charismas von einem »stürmisch-emotionalen, wirtschaftsfremden Leben zum langsamen Erstickungstod« (Weber, 1980, S. 661) vorgegeben (7 Kap. 4).
Gekommen ist es ganz anders, heute atmet das Charisma – oder zumindest der Wunsch, die Führungskräfte mögen doch über so etwas verfügen – im Kapitalismus besser denn je. Die Ursachen dafür sind vielfältig: Gerade weil sich moderne Unternehmen wie von Max Weber vorausgesagt zu durchrationalisierten, lediglich an »nackten« ökonomischen Kennziffern orientierten Organisationen entwickelt haben, fällt es ihnen zunehmend schwerer, ihren Mitarbeitern den Sinn der Existenz des Unternehmens zu vermitteln. Das wird nicht zuletzt in Krisenzeiten problematisch, wenn von den Mitarbeitern ein ganz besonderer Einsatz für das Unternehmen gefordert wird. In solchen Zeiten können charismatische Führer – so die weit verbreitete Hoffnung (Steyrer, 1999) – den für das Überleben des Unternehmens notwendigen Zusammenhalt unter den Mitarbeitern bewirken und sie derart begeistern, dass sie Überragendes leisten. Fragt man, wie charismatische Führer das machen, dann bezieht man sich auf die beobachtbare Seite des Charismas, das Verhalten – unter dem Konzept der transformationalen Führung wird dieses Verhalten in 7 Abschn. 7.3.2 beschrieben. In der organisationspsychologischen Forschung wurde neben der Suche nach dem Charisma noch ein weiterer Ansatz, der die Wirkung der Persönlichkeit des Führenden untersucht, relativ intensiv verfolgt. Dabei wird versucht, die Führungspersönlichkeit über ihre Eigenschaften zu beschreiben. Eigenschaften erfolgreicher Führer Die Suche nach den Eigenschaften, die erfolgreiche Führungspersönlichkeiten auszeichnen, hat eine sehr große Zahl von Untersuchungen angeregt – von eindeutigen Ergebnissen war sie lange Zeit nicht gekrönt. Aus dieser Enttäuschung heraus glaubten viele Forscher, die Persönlichkeit habe für den Führungserfolg keinerlei Bedeutung (vgl. Neuberger, 2002). Das hat sich aber als genauso überzogen erwiesen wie die naive Vorstellung, Führungserfolg hänge allein von der Persönlichkeit des Führenden ab. Ein Persönlichkeitsmerkmal, das mit fast allen beruflichen Leistungen sehr eng zusammenhängt, sind allgemeine kognitive Fähigkeiten, die gewöhnlich mit dem Begriff der Intelligenz beschrieben werden (Schmidt & Hunter, 1998; 7 Kap. 17). Für den Bereich der Führung scheint das aber nicht im sonst bekannten Maße zu gelten: Die metaanalytische Überprüfung von über 150 empirischen Untersuchungen des Zusammenhangs zwi-
7
7
Kapitel 7 · Führung von Mitarbeitern
schen Führungserfolg und Intelligenz des Führers zeigt nur einen moderaten Zusammenhang (eine korrigierte Korrelation von ρ=.27; vgl. Judge, Colbert & Ilies, 2004). Dafür können methodische Probleme verantwortlich sein: Führungskräfte werden u. a. aufgrund ihrer Intelligenz für diese Aufgabe ausgewählt, d. h. in den untersuchten Stichproben finden sich gewöhnlich Personen mit einer überdurchschnittlich hohen Intelligenz, in der sie sich auch nur relativ wenig unterscheiden (d. h. die Varianz ist gering). Das könnte die vergleichsweise niedrige Korrelation mit dem Führungserfolg erklären. Ursächlich dafür könnte aber auch sein, dass es in der Praxis weniger auf die absolute Höhe der Intelligenz ankommt als vielmehr darauf, dass die jeweilige Führungsperson in Bezug auf die Aufgaben intelligenter als die von ihr Geführten ist. Neben der Intelligenz finden sich weitere Persönlichkeitseigenschaften, die Bedeutung für den Führungserfolg haben. Persönlichkeit lässt sich relativ sparsam durch fünf Eigenschaften beschreiben, die auch als FünfFaktoren-Modell bezeichnet werden (Borkenau & Ostendorf, 1993; 7 Kasten). In einer umfassenden Metaanalyse der vorliegenden Untersuchungen haben Judge und seine Mitarbeiter (Judge, Bono, Ilies & Gerhardt, 2002) den Zusammenhang zwischen diesen Persönlichkeitsmerkmalen und
dem Führungserfolg überprüft. Die Autoren kommen zu den in . Tab. 7.1 dargestellten Ergebnissen. Demnach haben Extraversion und Gewissenhaftigkeit relativ deutliche, positive Zusammenhänge mit dem Führungserfolg, die Eigenschaft »Neurotizismus« hängt dagegen negativ mit dem Erfolg zusammen, d. h. Ängstlichkeit ist hinderlich für den Führungserfolg. Absolut gesehen sind die Zusammen-
. Tab. 7.1. Zusammenhänge zwischen den fünf Faktoren der Persönlichkeit und Maßen des Führungserfolgs. (Nach Judge et al., 2002) Persönlichkeitseigenschaft
Führungserfolg k
N
ρ
Neurotizismus
48
8.025
–.24
Extraversion
60
11.705
.31
Offenheit für Erfahrung
37
7.221
.24
Verträglichkeit
42
9.801
.08
Gewissenhaftigkeit
35
7.510
.28
k Anzahl der Korrelationen; N Zahl der Untersuchten; ρ korrigierte durchschnittliche Korrelation
Fünf-Faktoren-Modell der Persönlichkeit (nach Borkenau & Ostendorf, 1993) 1. Gewissenhaftigkeit unterscheidet ordentliche, zuverlässige, hart arbeitende, disziplinierte, pünktliche, penible, ehrgeizige und systematische von nachlässigen und gleichgültigen Personen. Diese Eigenschaft umfasst sowohl Aspekte der Verlässlichkeit (ordentlich, zuverlässig etc.) als auch der Leistungsorientierung (hart arbeitend, ehrgeizig etc.). 2. Extraversion: Menschen, die über diese Eigenschaft verfügen, sind gesellig, aktiv, energisch, gesprächig, personenorientiert, herzlich, optimistisch und heiter, sie mögen Anregungen und Aufregungen. Auch diese Eigenschaft lässt sich in Unterkategorien aufspalten: Extraversion umfasst sowohl Geselligkeit als auch den Einfluss auf andere (Hough, 1992). 3. Neurotizismus: Wer in diesem Merkmal hohe Ausprägungen aufweist, neigt dazu, nervös, ängstlich,
traurig, unsicher und verlegen zu sein und sich Sorgen um seine Gesundheit zu machen. Solche Menschen tendieren zu unrealistischen Ideen und sind weniger in der Lage, ihre Bedürfnisse zu kontrollieren und auf Stresssituationen angemessen zu reagieren. 4. Verträglichkeit kennzeichnet altruistische, mitfühlende, verständnisvolle und wohlwollende Menschen. Sie neigen zu zwischenmenschlichem Vertrauen, zu Kooperation und Nachgiebigkeit und sie haben ein starkes Harmoniebedürfnis. 5. Offenheit für Erfahrung: Erfahrungsoffene Menschen schätzen neue Erfahrungen hoch ein, bevorzugen Abwechslung, sind wissbegierig, kreativ, fantasievoll und unabhängig in ihrem Urteil. Sie haben vielfältige kulturelle Interessen und interessieren sich für öffentliche Ereignisse.
© American Psychological Association 2002
92
7
93 7.3 · Determinanten der Führung
hänge zwar »nur« moderat, da sie aber in relativ vielen Untersuchungen gefunden wurden, sind sie als sehr stabil zu betrachten. Die Persönlichkeit hat also sehr wohl Einfluss auf den Führungserfolg, sie kann den Erfolg aber nicht allein erklären. Über die Persönlichkeit hinaus müssen noch weitere Aspekte berücksichtigt werden. Dazu zählt vor allem das Verhalten des Führenden. 7.3.2 Verhalten des Führenden
Stichproben von Mitarbeitern mit der Bitte vorgelegt, das Führungsverhalten ihres Vorgesetzten zu beurteilen. Auf der Basis der Ergebnisse einer Reihe solcher Untersuchungen konnte der Umfang des Fragebogens sukzessive auf 42 Items reduziert werden. Diese messen im Wesentlichen zwei Hauptdimensionen des Führungsverhaltens, die als »Consideration« und »Initiating Structure« bezeichnet wurden. Definition
Mitarbeiter- und Aufgabenorientierung Die Frage, wie sich das Führungsverhalten beschreiben lässt, wird seit den 50er Jahren des vorigen Jahrhunderts intensiv erforscht (Neuberger, 2002; von Rosenstiel & Wegge, 2004). Ausgangspunkt bilden die sog. OhioStudien, in deren Rahmen zum ersten Mal ein Fragebogen zur Erfassung des Führungsverhaltens konstruiert wurde. Der »Leader Behavior Description Questionnaire« (LBDQ) – das Vorbild für eine Vielzahl von anderen, auch deutschsprachigen Instrumenten – wurde auf folgende Weise entwickelt (Hemphill & Coons, 1957; vgl. Neuberger, 2002): Im ersten Schritt wurde bei Berufserfahrenen eine große Zahl von Schilderungen selbst erlebten Führungsverhaltens gesammelt. Die dabei gefundenen 1.790 Schilderungen wurden inhaltsanalytisch untersucht und zu 9 Dimensionen des Führungsverhaltens verdichtet. Für diese Dimensionen wurden 150 Aussagen formuliert und verschiedenen
Consideration erfasst Wärme, Vertrauen, Freundlichkeit, Achtung der Mitarbeiter und wird deshalb als mitarbeiterorientiertes Verhalten übersetzt. Mit Initiating Structure wird die aufgabenbezogene Organisation und Strukturierung, die Aktivierung und Kontrolle der Mitarbeiter gemessen. Daher wird diese Dimension im Deutschen als aufgabenbezogenes Verhalten bezeichnet.
Beispiele für die Erfassung dieser Dimensionen aus einem deutschen Fragebogen, dem Fragebogen zur Vorgesetzten-Verhaltens-Beschreibung (FVVB) von Fittkau-Garthe und Fittkau (1971), sind in folgendem 7 Kasten zusammengestellt. Die Wirkung der beiden grundlegenden Dimensionen des Führungsverhaltens wurde in vielen empirischen Untersuchungen überprüft. Judge und seine Mitarbeiter (Judge, Piccolo & Ilies, 2004) haben
Fragebogen zur Vorgesetzten-Verhaltens-Beschreibung (FVVB) Freundliche Zuwendung (Mitarbeiterorientierung)
Mitreißende Aktivität (Aufgabenorientierung)
Er behandelt seine Mitarbeiter als gleichberechtigte Partner.
1 2 3 4 5
1 2 3 4 5
In Gesprächen mit seinen unterstellten Mitarbeitern schafft er eine gelöste Stimmung, sodass sie sich frei und entspannt fühlen.
1 2 3 4 5
Er bemüht sich, langsam arbeitende unterstellte Mitarbeiter zu größeren Leistungen zu ermuntern. Er weist seinen unterstellten Mitarbeitern spezifische Aufgaben zu.
1 2 3 4 5
1 2 3 4 5
Er reißt durch seine Aktivität seine unterstellten Mitarbeiter mit.
1 2 3 4 5
Er ist freundlich und man hat leicht Zugang zu ihm.
1 2 3 4 5
Er passt die Arbeitsgebiete genau den Fähigkeiten und Leistungsmöglichkeiten seiner unterstellten Mitarbeiter an.
1 2 3 4 5
Auch wenn er Fehler entdeckt, bleibt er freundlich.
94
Kapitel 7 · Führung von Mitarbeitern
. Tab. 7.2. Zusammenhänge zwischen Mitarbeiter-/Aufgabenorientierung und Maßen des Führungserfolgs. (Nach Judge et al., 2004) Führungsverhalten Mitarbeiterorientierung k
Aufgabenorientierung
N
ρ
k
N
ρ
Mitarbeiterzufriedenheit
76
11.374
.46
72
10.317
.22
Leistung (der Gruppe bzw. der Organisation)
27
2.008
.28
27
2.079
.30
163
20.963
.48
159
20.431
.29
Führung insgesamt
k Anzahl der Korrelationen; N Zahl der Untersuchten; ρ korrigierte durchschnittliche Korrelation
7
diese Untersuchungen einer Metaanalyse unterzogen, deren Ergebnisse in . Tab. 7.2 dargestellt werden. Diese Ergebnisse belegen, dass das Führungsverhalten – gemessen über die beiden Dimensionen der Mitarbeiter- und Aufgabenorientierung – einen deutlichen Zusammenhang mit Maßen des Führungserfolgs aufweist. Wie erwartet, korreliert die Mitarbeiterorientierung des Vorgesetzten eng mit der Zufriedenheit der Mitarbeiter (ρ=.46) und seine Aufgabenorientierung korreliert etwas schwächer mit der Leistung der Gruppe bzw. der ganzen Organisation (ρ=.30). Das sind insgesamt gesehen beachtliche Zusammenhänge, die aber das Spektrum des Verhaltens von Vorgesetzten noch nicht völlig adäquat beschreiben. In den letzten Jahren ist in Verbindung mit der »Wiederentdeckung« des charismatischen Führers verstärkt eine weitere Dimension des Führungsverhaltens untersucht worden, das sog. transformationale Verhalten. Transformationales Führungsverhalten Seit einiger Zeit haben sich die Anforderungen an Führung deutlich gewandelt. Verantwortlich dafür sind die geänderten Bedingungen auf den Märkten ebenso wie die neuen, schlankeren Strukturen in den Unternehmen (Nerdinger, 2003b). Unter solchen Bedingungen wird eine Dimension des Führungsverhaltens immer wichtiger, die man als transformationales Verhalten bezeichnet (zum Überblick Felfe, 2006). Diese Form des Führungsverhaltens zielt letztlich darauf, den Mitarbeitern Sinn in der Arbeit zu vermitteln. Der Begriff »transformationale Führung« geht auf den amerikanischen Politikwissenschaftler Burns (1978) zurück, der diese Art der Führung von der transaktionalen Führung unterschieden hat.
Definition Transaktionale Führung beruht auf dem lerntheoretischen Prinzip der Verstärkung: Die Führungskraft kontrolliert sowohl den Weg, den die Mitarbeiter bei der Verfolgung ihrer Ziele einschlagen, als auch die Zielerreichung.
Ist der Mitarbeiter erfolgreich, wird er belohnt, Zielverfehlung dagegen wird bestraft (Bass & Avolio, 1990; vgl. Neuberger, 2002). Ausdruck eines solchen Verhaltens ist zum einen das sog. »Management by Exception«, bei dem der Führer sich so lange nicht in die Arbeit der Mitarbeiter einmischt, so lange keine Ausnahmen (»exception«) vorliegen. Zum anderen zählt dazu die »bedingte (kontingente) Belohnung«: Für bestimmte, genau definierte Leistungen des Mitarbeiters bietet die Führungskraft eine festgelegte Gegenleistung (Entgelt, Lob, Aufstieg etc.). Dies gewährleistet, dass sich der Mitarbeiter im Rahmen des Vereinbarten anstrengt und ermöglicht deshalb der Führungskraft eine verlässliche Planung. Definition Transformationale Führung setzt bei der normalen Anstrengung der Mitarbeiter an und erhöht – d. h. transformiert – sie zu einer Extra-Anstrengung.
Dabei kommen im Wesentlichen vier »Techniken« zum Einsatz, die zusammen transformationale Führung ausmachen: 4 Idealisierter Einfluss (Charisma): Wenn die Führungskräfte den Mitarbeitern erreichbare Missionen
© American Psychological Association 2004
Führungserfolg (Kriterien)
7
95 7.3 · Determinanten der Führung
Die Zusammenhänge zwischen transaktionaler und transformationaler Führung lassen sich gemäß . Abb. 7.2 darstellen. Die in . Abb. 7.2 dargestellten Elemente transaktionaler und transformationaler Führung können mit einem gut getesteten Fragebogen, dem MLQ (»Multifactor Leadership Questionnaire«), zuverlässig erfasst werden (vgl. Bass & Avolio, 1990; Steyrer, 1999). Bei der empirischen Überprüfung der theoretisch vermuteten Zusammenhänge mit dem MLQ zeigt sich, dass transformationale Führung in der erwarteten Richtung wirkt (Lowe, Kroeck & Sivasubramaniam, 1996). Nach den vorliegenden Befunden fördert transformationale Führung die Leistung von Mitarbeitern mehr als transaktionale Führung: Die mittleren Korrelationen zwischen den Skalen des MLQ und objektiven Maßen der Leistung liegen zwischen .26 und .35. So betrachtet hat dieses Konzept eini-
. Abb. 7.2. Inhalte und Konsequenzen transaktionaler und transformationaler Führung. (Nach Neuberger, 2002)
ge Bedeutung für den Unternehmenserfolg, zumal Untersuchungen zeigen, dass sich zumindest der Aspekt der inspirierenden Kommunikation recht gut trainieren lässt (Frese, Beimel & Schönborn, 2003). Warum hat diese Form der Führung heute Erfolg? Der Grund dafür liegt vermutlich in den gesellschaftlichen und ökonomischen Entwicklungen der letzten Jahre. Der Markt verlangt zunehmend eine stärkere Kundenorientierung der Unternehmen. Mitarbeiter müssen schnell und flexibel auf Kundenwünsche reagieren und selbstständig die Interessen des Unternehmens vertreten (Nerdinger, 2003c). Das können sie nur, wenn ihnen die dafür notwendigen Kompetenzen übertragen werden. Je selbstständiger sie aber arbeiten sollen, desto unangemessener ist ein Führungsverhalten, das allein auf Kontrolle und Belohnung beruht. Aber auch kooperatives, an den Bedürfnissen der Mitarbeiter orientiertes Führungsverhalten stellt nicht sicher, dass die Mitarbeiter selbstständig die Ziele des Unternehmens verfolgen. In einer solchen Situation werden Vorgesetzte, die erfolgreich versuchen, die Einstellung ihrer Mitarbeiter zur Arbeit zu verändern – sie zu transformieren –, eher die erwünschten Ergebnisse erzielen. Wie eine Untersuchung von Bono und Judge (2003) belegt, erreichen sie das, weil ihre Mitarbeiter ihre Arbeit als wichtiger empfinden und den Eindruck haben, dass sie besser mit ihrem Selbstbild übereinstimmt (7 Kasten »Die Wirkung transformationaler Führung«). Transformationale Führung ist also ein vielversprechender Weg im Umgang mit Mitarbeitern, allerdings sind auch einige Einschränkungen vonnöten. Das Kon-
Mit freundlicher Genehmigung der Lucius & Lucius Verlagsgesellschaft mbH.
vermitteln und stimulierende Visionen anbieten, dann fassen diese Vertrauen und eifern ihnen nach. 4 Inspirierende Motivierung: Symbole und emotionale Appelle steigern das Bewusstsein für die angestrebten Ziele. 4 Intellektuelle Stimulierung: Die Mitarbeiter werden dabei unterstützt, die eigenen Werte, Überzeugungen und Erwartungen wie die der Führenden und der Organisation in Frage zu stellen. 4 Individualisierte Behandlung: Der Führende berücksichtigt die Bedürfnisse der Mitarbeiter und kümmert sich darum, dass diese die beruflichen Herausforderungen bewältigen können.
96
Kapitel 7 · Führung von Mitarbeitern
Die Wirkung transformationaler Führung
7
Bono und Judge (2003) haben überprüft, ob sich die Wirkung transformationalen Führungsverhaltens durch die Theorie der Selbstkonkordanz (Sheldon & Elliot, 1999) erklären lässt. Nach dieser Theorie führt die Verfolgung von Zielen, die selbstkonkordant sind, d. h., die mit den eigenen Werten und Interessen übereinstimmen, eher zur Zielerreichung und zu höherem Wohlbefinden als die Verfolgung von Zielen, die nicht mit dem Selbst übereinstimmen. Bono und Judge (2003) vermuten, dass transformational führende Vorgesetzte ihren Mitarbeitern die Arbeit so vorstellen, dass sie deren übergeordneten Werten und Interessen entspricht. In der Folge sollen die Mitarbeiter ihre Arbeit als sinnvoller ansehen und die mit der Arbeit verbundenen Aktivitäten als selbstkonkordant erleben. Das führt zu größerer Motivation und mehr Anstrengung, die eher zur Zielerreichung und auch zur Zufriedenheit führen. Diese Hypothesen haben die Autoren an 247 Führungskräften und 954 ihrer Mitarbeiter untersucht, die in 9 verschiedenen Unternehmen arbeiteten. Die Mitarbeiter stuften das transformationale Führungsverhalten ihrer jeweiligen Führungskraft auf dem MLQ ein, außer-
zept der transformationalen Führung wurde in den USA entwickelt und spiegelt viel von der dortigen Lebensart wieder. So belegt auch eine Metaanalyse vorliegender, fast ausschließlich amerikanischer Untersuchungen, dass transformationales Führungsverhalten sehr konsistent mit dem Persönlichkeitsmerkmal der Extraversion korreliert (Bono & Judge, 2004). Darüber hinaus liegt diesem Konzept ein tiefer Glaube an die Wirkung des positiven Denkens zugrunde, der sich so formulieren lässt: »Wenn Du nur an Dich glaubst und Dir hohe Ziele setzt, wirst Du sie erreichen« (Neuberger, 2002; zu möglichen negativen Auswirkungen des positiven Denkens vgl. Langens, 2004). Transformationale Führung sollte daher nur mit Vorsicht auf europäische Verhältnisse übertragen werden. Zudem ist zu beachten, dass ein solches Führungsverhalten vom Vorgesetzten sehr hohe moralische und ethische Standards erfordert. Dies scheint aber gegeben: Empirisch zeigt sich – allerdings wiederum in einer USamerikanischen Studie –, dass Manager, die sehr ausge-
dem wurde u. a. ihre Arbeitszufriedenheit erhoben. Selbstkonkordanz wurde folgendermaßen gemessen: Die Mitarbeiter sollten sechs ihrer arbeitsbezogenen, kurzfristigen Ziele benennen (d. h. Ziele, die sie in den nächsten 60 Tagen erreichen können). Zu jedem Ziel wurden ihnen 4 Fragen gestellt, warum sie das Ziel verfolgen. Die Fragen variierten von fremdgesetzten (»Sie verfolgen das Ziel, weil jemand anderer das von Ihnen erwartet«) zu völlig selbstgesetzten Gründen (»Sie verfolgen das Ziel, weil sie wirklich glauben, dass es sehr wichtig ist«). Damit kann der Grad der Selbstkonkordanz der Ziele erfasst werden. Die Führungskräfte wiederum gaben für jeden ihrer Mitarbeiter, der an der Studie beteiligt war, eine Leistungsbeurteilung ab. Diese umfasste sowohl quantitative Aspekte als auch Fragen der Innovation und der persönlichen Initiative (7 Kap. 18). Die Daten wurden mit pfadanalytischen Methoden ausgewertet. Dabei konnten die Hypothesen bestätigt werden: Transformationale Führung hat sowohl einen signifikanten Einfluss auf die wahrgenommene Selbstkonkordanz der arbeitsbezogenen Ziele als auch auf die Arbeitzufriedenheit und die Leistung der Mitarbeiter.
prägtes transformationales Verhalten zeigen, auch in besonderem Maße durch moralische Reflexion ihres Handelns ausgezeichnet sind (Turner, Barling, Epitropaki, Butcher & Milner, 2002). Wie die Untersuchungen zu den verschiedenen Dimensionen des Führungsverhaltens belegen, hat dieses wesentlichen Einfluss auf den Führungserfolg. Dabei müssen aber die Geführten und ihre Reaktionen auf das Führungsverhalten berücksichtigt werden: Entscheidend ist, wie sie das Verhalten des Vorgesetzen erleben und welchen Sinn sie seinem Verhalten zuschreiben. Die Bedeutung der Interpretation des Verhaltens wird mit dem Konzept der symbolischen Führung beschrieben. 7.3.3 Symbolische Führung Bei der Führung von Mitarbeitern kommt es nicht nur darauf an, was ein Vorgesetzter macht, sondern auch, wie er es macht. Darauf verweist nicht zuletzt das Konzept
97 7.3 · Determinanten der Führung
der transformationalen Führung. Das Verhalten des Vorgesetzten hat für seine Mitarbeiter immer auch eine bestimmte Bedeutung, es erzeugt nicht nur direkte Wirkungen, es steht auch für anderes: Definition Führungsverhalten symbolisiert die Werte und Überzeugungen des Unternehmens. Wird diese Tatsache gezielt bei der Führung von Mitarbeitern beachtet, so spricht man von symbolischer Führung (vgl. Neuberger, 2002).
Folgende Fragen verdeutlichen diesen Aspekt der Führung: 4 Warum liegen die Büros des Topmanagements so oft in der obersten Etage des Verwaltungsgebäudes? 4 Was bedeutet es, wenn der neue Organisationsleiter seine Mitarbeiter persönlich statt – wie bislang üblich – schriftlich über die künftige Strategie informiert? 4 Warum verlangte IBM-Gründer Thomas J. Watson Sr. von seinen Mitarbeitern, dass sie konservativ gekleidet zur Arbeit kommen? 4 Was bedeutet es, wenn im Unternehmen die automatische Arbeitszeiterfassung ersatzlos gestrichen wird? Alles, was im Unternehmen geschieht, ist immer auch »symbolisch« – es weist über sich selbst hinaus und steht für etwas anderes. Dass die Büros des Topmanagements so oft im obersten Stock liegen, ist zunächst einfach eine Tatsache (Weibler, 1995). Diese Tatsache verweist aber auch darauf, dass Vorstände »ganz oben« sind, alles überblicken können, niemand (außer dem Lieben Gott) über sich haben ... All das könnte man den Mitarbeitern natürlich auch schriftlich mitteilen. Die Wirkung wäre aber gering, Büros an der Spitze der Zentrale sagen eben »mehr als tausend Worte«! Wer auf diesem Wege etwas macht, um damit die Werte des Unternehmens zu vermitteln, der führt symbolisch. Wenn der neue Organisationsleiter seinen Mitarbeitern persönlich die künftige Strategie erklärt, zeigt er ihnen damit auch, wie wichtig ihm die Mitarbeiter sind. Durch ihre konservative Kleidung tragen die IBM-Mitarbeiter auch die Werte ihres Unternehmens zur Schau. Das ersatzlose Streichen der automatischen Arbeitszeiterfassung bedeutet auch, dass das Unternehmen Vertrauen zu seinen Mitarbeitern hat.
Geführte versuchen stets, den Sinn dessen, was im Unternehmen geschieht, herauszufinden. Daher werden sie jede Geste einer Führungskraft, alle ihre Entscheidungen und Handlungen in einen Zusammenhang bringen, damit sie das beobachtete Verhalten verstehen (Weibler, 2001). Lässt beispielsweise ein Vorgesetzter prinzipiell seine Zimmertür offen stehen, will er damit möglicherweise zeigen, dass er immer für seine Mitarbeiter zu sprechen ist – die Mitarbeiter schließen daraus auf den Wert, den sie für den Vorgesetzten oder gar für das Unternehmen haben. So gesehen ist jedes Führungsverhalten immer auch symbolische Führung, da die Mitarbeiter aus dem Verhalten des Vorgesetzten Rückschlüsse auf seine Werte und Zielsetzungen ziehen. Gelegentlich wird daher Führungskräften empfohlen, durch symbolische Gesten den Mitarbeitern gezielt Werte zu vermitteln. Sie sollen z. B. Jubiläen feiern oder zu Geburtstagen gratulieren, um zu verdeutlichen, was ihnen die Mitarbeiter wert sind. Dabei ist allerdings zweierlei zu beachten: Zum einen – wenn ein solches Verhalten gezielt eingesetzt wird, um einen erwünschten Eindruck bei den Mitarbeitern hervorzurufen, steht es in Gefahr, nicht mehr authentisch zu wirken. Wer seiner Mitarbeiterin einen Blumenstrauß zum Geburtstag schenkt, nicht weil er sich aufrichtig mit ihr freut, sondern weil er damit lediglich vor aller Augen den Wert der Mitarbeiterin symbolisieren will, der wird leicht durchschaut und dann besteht die Gefahr, dass er das Gegenteil erreicht. Ein zweites ist zu bedenken: Handlungen sind häufig mehrdeutig! Kontrolliert beispielsweise ein Vorgesetzter die Arbeitsergebnisse seines Mitarbeiters sehr genau, will er sich damit vermutlich über die Fortschritte in der Arbeit informieren, um notfalls korrigierend eingreifen zu können. Der eine Mitarbeiter deutet Kontrolle als Ausdruck des Misstrauens gegenüber seiner Person, ein anderer dagegen als Interesse für die eigene Arbeit. Je nach Deutung des Führungsverhaltens werden die Mitarbeiter anders darauf reagieren – mit anderen Folgen. Symbolische Führung verweist damit indirekt auf die zentrale Rolle der Mitarbeiter – wie sie das Verhalten des Vorgesetzten interpretieren, entscheidet darüber, wie sie darauf reagieren und damit auch über den Führungserfolg. Die Bedeutung des Mitarbeiters reicht aber noch weiter. Nicht nur führen Vorgesetzte ihre Mitarbeiter, diese führen umgekehrt auch ihre Vorgesetzten.
7
98
Kapitel 7 · Führung von Mitarbeitern
7.3.4 Einfluss der Geführten –
Führung von unten
7
Vorgesetzten beeinflussen ihre Mitarbeiter – das ist der gängige Blick bei der Erforschung der Führung. Dass Mitarbeiter auch ihren Vorgesetzten beeinflussen, scheint dagegen Führungskräften als eine erstaunliche, ja geradezu ungehörige Feststellung. Diese Phänomen wird als »Führung von unten« bezeichnet: Auch die Mitarbeiter versuchen, das Verhalten des Vorgesetzten zu beeinflussen, um ihre Ziele zu erreichen! Wie gelingt ihnen das? Während sich Vorgesetzte auf ihre Positionsmacht stützen können und letztlich weisungsbefugt sind, müssen Mitarbeiter subtiler vorgehen, wenn sie ihre Vorgesetzten beeinflussen wollen. Gewöhnlich verwenden sie zu diesem Zweck sog. Einflusstaktiken. Die Forschung hat eine Vielzahl von Einflusstaktiken von Untergebenen nachgewiesen, von denen die wichtigsten in der folgenden Übersicht aufgelistet sind (vgl. Blickle, 2003; 2004): Diese Einflusstaktiken treten in der Praxis natürlich unterschiedlich häufig auf: Gewöhnlich versuchen Mit-
arbeiter zuerst durch sachliches Überzeugen ihre Vorgesetzten zu beeinflussen, Tauschgeschäfte werden dagegen sehr selten angeboten. Solche Einflusstaktiken lassen sich auch durch Fragebögen erfassen, Ausschnitte aus dem Inventar zur Erfassung intraorganisationaler Einflussstrategien (Blickle & Gönner, 1999) sind im 7 Kasten »Inventar zur Erfassung intraorganisationaler Einflussstrategien« dargestellt. Im Grad der Wirksamkeit unterscheiden sich die verschiedenen, von Mitarbeitern eingesetzten Einflusstaktiken deutlich: Am häufigsten von Erfolg gekrönt ist die Taktik der sachlichen Überzeugung, gefolgt von Freundlichkeit und der Bitte um Beratung (Blickle, 2003). Dabei lässt sich vor allem ein deutlicher Einfluss auf die Leistungsbeurteilung durch den Vorgesetzten feststellen, auf Gehalt oder Beförderung wirken sich solche Einflusstaktiken dagegen wenig aus. Während die sachliche Überzeugung durchaus im Sinne einer optimalen, gemeinsamen Aufgabenerfüllung steht, wird der Vorgesetzte mit Freundlichkeit und der Bitte um Beratung »an seiner Eitelkeit gepackt« – ob
Wichtige Einflusstaktiken von Untergebenen 4 Sachliche Überzeugung (Rationalität): Mitarbeiter versuchen, durch logische Argumente oder durch schriftliche Vorlagen ihren Vorgesetzten zu überzeugen. 4 Sich beraten lassen (Konsultation): Mitarbeiter suchen gezielt den Rat des Vorgesetzten, beispielsweise stellen sie ihre Ideen vor und bitten um Verbesserungsvorschläge. 4 Inspirierende Vorschläge: Mitarbeiter formulieren Anregungen oder Bitten, die den Vorgesetzten auf die gemeinsamen Werte verpflichten sollen, z. B. indem sie darauf verweisen, wie herausfordernd ihre Pläne sind. 4 Koalitionen bilden: Bevor ein Vorschlag beim Vorgesetzten präsentiert wird, sichert sich ein Mitarbeiter die Unterstützung der Kollegen für sein Vorhaben. 4 Einschmeicheln: Ein freundliches, einschmeichelndes Verhalten zeigt sich u. a. in begeisterter Zustimmung zu den Ansichten des Vorgesetzten, aber auch im Erweisen kleiner Gefälligkeiten.
4 Übergeordnete Instanzen einschalten: Mitarbeiter wenden sich offiziell oder inoffiziell beispielsweise an den nächsthöheren Vorgesetzten und bitten diesen um Unterstützung für ihr Vorhaben. 4 Druck ausüben (Assertivität): Durch bestimmtes Auftreten wird die eigene Entschlossenheit demonstriert; Mitarbeiter, von denen der Vorgesetzte in irgendeiner Weise abhängig ist, können auch Fristen setzen und mit Konsequenzen drohen. 4 Austausch anbieten: In diesem Fall werden »Geschäfte« angeboten – im Sinne »wenn Sie das für mich tun, mache ich jenes für Sie« 4 Blockieren: Wenn die eigene Position stark genug ist, kann man die Einstellung der Zusammenarbeit androhen oder langsamer arbeiten. 4 Legitimation: Der Mitarbeiter kann auf den eigenen Kompetenzbereich verweisen oder auf Regeln der Organisation pochen. 4 Persönliche Appelle: Man kann an die gemeinsamen Ziele erinnern oder an die Loyalität appellieren. 4 Selbstpromotion: Sich selbst als kompetent, tüchtig und erfolgreich präsentieren.
7
99 7.3 · Determinanten der Führung
Inventar zur Erfassung intraorganisationaler Einflussstrategien Denken Sie bitte an Angelegenheiten, die für Sie wichtig waren und wo Sie etwas gegenüber Ihrem Vorgesetzten durchsetzen wollten. Es kann sich dabei um private Ziele (z. B. Urlaub) oder um dienstliche Vorhaben handeln (z. B. eine andere Aufteilung der Arbeit). Sie finden im Folgenden eine Reihe von Antwortmöglichkeiten, wie man andere beeinflussen kann. Es ist durchaus möglich, dass Sie nur einige wenige dieser Möglichkeiten selbst eingesetzt haben. Geben Sie bitte an, welche Sie zur Durchsetzung ihrer Interessen gegenüber Ihrem Vorgesetzten erfolgreich eingesetzt haben.
ja
nein
Um mein Ziel zu erreichen, bot ich ihm als Ausgleich an, Nachteile auf mich zu nehmen (beispielsweise einen Teil der Arbeit eines anderen zu übernehmen).
ja
nein
Ich habe meine Kollegen davon überzeugt, dass sie durch ihre Mitarbeit an meinem Konzept ihre eigenen Interessen verwirklichen können.
ja
nein
ja
nein
Ich stellte mich offen gegen ihn, um mein Ziel zu erreichen.
ja
Um mein Ziel zu erreichen, sorgte ich für Rückendeckung vonseiten Höhergestellter.
ja
nein
Ich vermittelte ihm das Gefühl von Wichtigkeit, um meine Absicht zu verwirklichen (z. B. »Nur Sie sind in der Lage ...«).
Um mich durchzusetzen, erinnerte ich ihn an Gefälligkeiten, die ich in der Vergangenheit geleistet habe.
ja
nein
Ich verwendete rationale Argumente, um ihn zu überzeugen.
ja
nein
ja
nein
Ich versicherte mich der Unterstützung meiner Kollegen, um mich durchzusetzen.
ja
Um mein Ziel zu erreichen, betonte ich, dass wir stolz auf uns sein können.
ja
nein
Ich zeigte mich von meiner nettesten Seite, um mein Ziel zu erreichen.
ja
nein
Um mein Ziel zu erreichen, gab ich eine grobe Vorstellung meiner Idee und überließ ihm die Ausführung im Detail.
Zur Unterstützung meiner Position gab ich ihm ausführliche Informationen, die meine Ansicht unterstützen.
ja
nein
Um mein Ziel zu erreichen, versuchte ich deutlich zu machen, dass wir alle im selben Boot sitzen.
ja
Ich erinnerte ihn daran, dass ich ja nur seine Idee aus der Vergangenheit aufgegriffen habe.
ja
Ich kündigte Konsequenzen an, falls meine Wünsche nicht erfüllt würden.
ja
nein
Ich wendete mich ganz offiziell an höhere Vorgesetzte, um mein Ziel zu verwirklichen.
nein
nein
nein
nein
Auswertung: Sachliche Überzeugung:
6. und 14.
Sich beraten lassen:
8. und 16.
Inspirierende Vorschläge:
7. und 15.
Koalitionen bilden:
4. und 12.
Freundlichkeit, Einschmeicheln:
5. und 13.
Übergeordnete Instanzen einschalten:
2. und 10.
Druck ausüben:
1. und 9.
Austausch anbieten:
3. und 11.
100
7
Kapitel 7 · Führung von Mitarbeitern
zum Nutzen oder Schaden der gemeinsamen Aufgabenerfüllung, hängt von den jeweils verfolgten Zielen ab. Für Vorgesetzte kann es allerdings ein Warnsignal sein, wenn sie von allzu vielen schmeichelnden Mitarbeitern umgeben sind: Möglicherweise machen sie auf ihre Mitarbeiter den Eindruck, dass sie für vernünftige Argumente nicht zugänglich sind. Das bedeutet: Führung ist kein einseitiger Prozess, in dem allein Vorgesetzte ihre Mitarbeiter beeinflussen, vielmehr werden sie regelmäßig auch von ihren Mitarbeitern beeinflusst. Dieser Einfluss wird wahrscheinlich in Zukunft noch stärker werden. Dafür sprechen mindestens drei Gründe: 4 Mit steigender Qualifikation und zunehmender Spezialisierung sind Vorgesetzte immer häufiger den Mitarbeitern fachlich nicht mehr überlegen (von Rosenstiel, 2003a).
4 Die neuen Strukturen der Unternehmen mit dezentralen Einheiten und flacheren Hierarchien stärken den Einfluss der Mitarbeiter (Nerdinger, 2003b). 4 Die Werte der Menschen haben sich gewandelt: Werte wie Gehorsam, Unterordnung und formale Autorität haben ihre Bedeutung verloren, stattdessen sind in den letzten 30 Jahren Werte wie Unabhängigkeit, Gleichberechtigung und Überzeugungsfähigkeit immer wichtiger geworden (von Rosenstiel & Nerdinger, 2000). Auf »Führung von unten« müssen sich Vorgesetzte daher künftig verstärkt einstellen. Je mehr sie sich den sachlichen Argumenten ihrer Mitarbeiter öffnen, desto weniger werden die Mitarbeiter andere, für die Zusammenarbeit und den Führungserfolg eher problematische Einflusstaktiken anwenden.
Zusammenfassung 4 Führung ist die bewusste und zielbezogene Einflussnahme auf Menschen. 4 Der Führungserfolg wird gewöhnlich an der Leistung und der Zufriedenheit der Mitarbeiter gemessen. 4 Die wichtigsten Aspekte im Führungsgeschehen sind die Person des Führenden, ihr Verhalten, die Situation, in der das Verhalten auftritt, und das Verhalten der Geführten. 4 Die Person des Führenden wird häufig über ihr Charisma beschrieben, obwohl es sich dabei um ein außergewöhnliches Merkmal handeln soll. 4 Die Untersuchung der Eigenschaften erfolgreicher Führer hat gezeigt, dass Extraversion, Gewissenhaftigkeit und Intelligenz als wichtigste persönliche Eigenschaften anzusehen sind.
L Weiterführende Literatur Kieser, A., Reber, G. & Wunderer, R. (Hrsg.). (1995). Handwörterbuch der Führung (2. Aufl.). Stuttgart: Schäffer-Poeschel. Neuberger, O. (2002). Führen und führen lassen (6. Aufl.). Stuttgart: Lucius & Lucius. Rosenstiel, L. von & Wegge, J. (2004). Führung. In: H. Schuler (Hrsg.), Organisationspsychologie 2 – Gruppe und Organisation. Enzyklopädie der Psychologie, Bd. D/III/4 (S. 494–558). Göttingen: Hogrefe. Weibler, J. (2001). Personalführung. München: Vahlen.
4 Das Führungsverhalten wird klassischerweise über die Dimensionen Mitarbeiter- und Aufgabenorientierung beschrieben. 4 Transformationale Führung beschreibt ein sinnstiftendes Verhalten, das die Einstellungen der Mitarbeiter transformiert und damit zu zusätzlichen Anstrengungen und größerer Leistung führt. 4 Führungsverhalten symbolisiert die Werte und Überzeugungen des Unternehmens, wird diese Tatsache gezielt bei der Führung von Mitarbeitern beachtet, so spricht man von symbolischer Führung. 4 Mitarbeiter üben auf verschiedene Weise Einfluss auf den Vorgesetzten aus und bringen ihn dazu, das zu machen, was die Mitarbeiter wollen, d. h., es gibt auch eine Führung von unten.
Literatur Amelang, M. & Bartussek, D. (2001). Differentielle Psychologie und Persönlichkeitsforschung (5. Aufl.). Stuttgart: Kohlhammer. Bass, B.M. & Avolio, B. (1990). Transformational leadership development. Manual for the multifactor leadership questionnaire. Palo Alto: Consulting Psychologists. Blickle, G. (2003). Einflusstaktiken von Mitarbeitern und Vorgesetztenbeurteilung: eine prädiktive Feldstudie. Zeitschrift für Personalpsychologie, 2, 4–12. Blickle, G. (2004). Einflusskompetenz in Organisationen. Psychologische Rundschau, 55, 82–93.
101 Literatur
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7
8
8 Teamarbeit 8.1
Merkmale von Gruppen
– 104
8.2
Mögliche Vorteile der Teamarbeit
– 107
8.2.1 Vorteile in der Informationsverarbeitung 8.2.2 Motivationsgewinne im Team – 108
– 108
8.3
– 109
Mögliche Probleme der Teamarbeit
8.3.1 Probleme der Informationsverarbeitung: Groupthink – 110 8.3.2 Motivationsverluste im Team – 112
8.4
Optimierung von Gruppen: Teamdesign und Teambuilding – 113
8.4.1 Teamdesign: Homogene vs. heterogene Gruppen? 8.4.2 Teambuilding durch Teamentwicklung – 115
Literatur – 117
– 114
104
Kapitel 8 · Teamarbeit
> Organisationen lassen sich als soziale Systeme betrachten, die wiederum aus miteinander verzahnten Subsystemen bestehen (7 Kap. 4.). Solche Subsysteme werden gewöhnlich als Gruppen oder Teams bezeichnet, wobei sich die beiden Begriffe inhaltlich kaum unterscheiden lassen. Die Zusammenarbeit in Gruppen bildet gewissermaßen den »Normalfall« des Verhaltens in Organisationen. Gruppen- bzw. Teamarbeit wurde bislang bevorzugt in der Arbeitspsychologie am Beispiel der Arbeit in der Produktion untersucht (7 Kap. 23). Daneben findet sich auch in der Verwaltung, im Management und in anderen Bereichen zunehmend Gruppenarbeit. Hier existieren Entscheidungsgruppen, zu denen alle formalen Gremien zählen, Projekt- und Entwicklungsgruppen, aber auch Arbeitsgruppen, die z. B. gemeinsam Dienstleistungen erbringen. Auf diese Formen der Team- oder Gruppenarbeit beschränken sich die folgenden Ausführungen. Zunächst wird etwas genauer untersucht, was überhaupt eine Gruppe ausmacht. Anschließend werden wissenschaftlich belegte Vor- und Nachteile der Arbeit in Teams dargestellt. Einige der möglichen Nachteile lassen sich durch eine sorgfältige Zusammensetzung bzw. durch gezielte Entwicklung des Teams vermeiden, daher wird abschließend auf diese Fragen eingegangen.
8 8.1
Merkmale von Gruppen
Gruppen und Gruppenarbeit werden in Organisationen immer wichtiger (West, 2001). Das hat verschiedene Gründe. Zum einen erhoffen sich die Verantwortlichen in Organisationen von Gruppen bessere Leistungen als von Einzelnen: Die steigende Komplexität von Problemen führt dazu, dass der Einzelne immer häufiger überfordert ist, Wissen und Fähigkeiten verschiedener Spezialisten müssen deshalb zur Bewältigung anstehender Probleme in Gruppen zusammengeführt werden. Zum anderen erfüllen Gruppen aber auch wichtige Funktionen in Unternehmen: Hier ist zum einen die Koordinationsfunktion zu nennen: Gruppen koordinieren die Arbeit verschiedener Teilbereiche und tragen dadurch zur reibungslosen Zusammenarbeit bei. Häufig haben Gruppen auch Repräsentationsfunktion: Zum Beispiel werden Projektgruppen gewöhnlich so zusammengestellt, dass alle wichtigen Interessengruppen des Unternehmens vertreten sind (Fisch, Beck & Englich, 2001). Schließlich haben manche Gruppen auch wichtige Verantwortungsfunktionen: Stehen kritische Entscheidungen an – z. B. über die Restrukturierung eines Unternehmens, die mit Personalabbau verbunden sein kann –, dann werden gerne Gruppen gebildet, die Entscheidungsvorschläge präsentieren sollen. Damit kann die Verantwortung für die gravierenden Folgen auf mehrere Schultern verlagert werden. Bei diesen vielfältigen Formen und Funktionen von Gruppen stellt sich zunächst die Frage, was überhaupt
eine Gruppe ist. Bis heute gibt es dafür keine allgemein akzeptierte Definition. Gewöhnlich wird dieses Problem umgangen, indem lediglich die wesentlichen Merkmale aufgezählt werden, die vorliegen müssen, damit man von einer Gruppe sprechen kann (von Rosenstiel, 2003; Antoni & Bungard, 2004). Folgende Aufzählung zentraler Merkmale ist dafür exemplarisch: Definition Eine Gruppe ist 1. eine Mehrzahl von Personen, 2. die über längere Zeit 3. in direktem Kontakt stehen, 4. wobei sich Rollen ausdifferenzieren, 5. gemeinsame Normen entwickelt werden und 6. Kohäsion, d. h. ein Wir-Gefühl, besteht (von Rosenstiel 2003).
Diese Merkmale definieren auch Teams, weshalb eine sinnvolle begriffliche Unterscheidung zwischen Gruppe und Team kaum möglich ist. Im Folgenden werden daher beide Begriffe synonym verwendet. Ihre zentralen Merkmale müssen noch genauer erläutert werden (vgl. zum Folgenden Nerdinger, 2003). Mehrzahl Eine Mehrzahl von Personen ist natürlich Grundvoraussetzung für eine Gruppe. Die Frage ist allerdings, was
105 8.1 · Merkmale von Gruppen
»Mehrzahl« genau bedeutet, d. h., wo die Unter- und die Obergrenze liegt. Gewöhnlich werden mindestens 3 Personen gefordert, da sich erst ab dieser Zahl wichtige Gruppenphänomene wie Mehrheitsbildungen, Koalitionen und Wechsel von Koalitionen beobachten lassen. Schwieriger ist die Obergrenze zu bestimmen, da die Herausbildung von Gruppen von vielen verschiedenen Bedingungen abhängt. In der Praxis wird das Problem der Obergrenze häufig durch die sog. Leitungsspanne gelöst (Schulte-Zurhausen, 2002), d. h. die Zahl von Mitarbeitern, die einem Vorgesetzten unmittelbar unterstellt sind. Die Größe der Leitungsspanne hängt ab von der Tätigkeit der Mitarbeiter: Ein Meister in der Produktion, dessen Mitarbeiter relativ wenig qualifizierte Tätigkeiten verrichten, kann ohne größere Schwierigkeiten bis zu 30 Personen führen. Dagegen hat ein Bankmanager, dem Spezialisten für Finanzierungsinstrumente unterstellt sind, schon Probleme, wenn er mehr als 5 oder 6 Mitarbeiter führen soll. In den bislang besonders intensiv untersuchten Problemlöse- und Entscheidungsgruppen haben sich 5 Personen als optimal erwiesen (Brandstätter & Brodbeck, 2004). Fünf Personen finden noch relativ leicht Kompromisse zwischen den verschiedenen Meinungen. Da aufgrund der überschaubaren Größe alle Mitglieder die Möglichkeit haben, sich an der Diskussion zu beteiligen, ist auch die Zufriedenheit relativ groß und das Gesamtergebnis wird in der Regel von allen Beteiligten mitgetragen. Zeit Die Entwicklung von Gruppen braucht längere Zeit, da sie in der Regel mehrere Phasen durchläuft. Häufig lassen sich vier solcher Phasen unterscheiden (Tuckman, 1965; vgl. Simon, 2003): 1. Forming: Die Teilnehmer lernen sich kennen und »tasten sich ab«. In dieser Phase ist die Situation noch unklar, man kann die anderen noch nicht richtig einschätzen und hält sich selbst bedeckt. 2. Storming: Nicht selten brechen nach dem Kennenlernen erste Konflikte auf, in deren Rahmen die Teilnehmer Fragen der Macht und des Status klären. Das geschieht gewöhnlich auf der Beziehungsebene der Kommunikation, während man auf der Sachebene über Ziele und Vorgehensweisen diskutiert (7 Kap. 5). Diese Phase kann sehr belastend sein, entsprechend ist zu dieser Zeit das Gefühl der Zusammengehörigkeit noch wenig entwickelt.
3. Norming: Sind Macht- und Statusfragen geklärt, kehrt wieder Ruhe in die Gruppe ein. Die Mitglieder beginnen sich zu akzeptieren und langsam bildet sich ein gewisser Teamgeist heraus. Entscheidend dafür ist die Entwicklung von Normen des gemeinsamen Umgangs, der Leistungsansprüche und des akzeptablen Verhaltens. 4. Performing: Erst wenn die internen Koordinationsprobleme weitgehend gelöst sind, kann die Gruppe zu geordneter Arbeitsweise übergehen und beginnen, ihre Aufgaben zu lösen. Diese Phasen werden nicht immer und von jeder Gruppe durchlaufen, zudem dauert der dafür notwendige Prozess jeweils unterschiedlich lange. In jedem Fall benötigt aber eine Gruppe eine gewisse Zeit, um überhaupt arbeitsfähig zu werden. Bleiben die Mitglieder allerdings zu lange zusammen, so kann das zu Problemen bei der Leistungsfähigkeit führen. Zum Beispiel dauert es bei Projektgruppen im Unternehmensbereich »Forschung und Entwicklung« im Durchschnitt 3 Jahre, bis sie die höchste Leistung entfalten (Katz & Allen, 1982; Ulich, 2005; . Abb. 8.1). Danach fällt die Leistung stark ab: Die Gruppen haben relativ starre Normen entwickelt, bestrafen Abweichungen von ihren Normen immer massiver und sind nicht mehr offen für Argumente von außen. Aufgrund dieser zunehmenden Abkapselung findet Kommunikation vor allem zwischen den Gruppenmitgliedern statt und von außen kommende Anregungen werden abgelehnt. In der Folge kommt die Gruppe immer weniger zu innovativen Problemlösungen und die Leistungen nehmen ab (vgl. Gebert, 2004b; . Abb. 8.1). Direkter Kontakt Direkter Kontakt zwischen allen Mitgliedern einer Gruppe muss zumindest prinzipiell möglich sein. Hat sich eine Gruppe gebildet, so finden sehr viel mehr Kontakte der Gruppenmitglieder untereinander statt als mit anderen Personen (Witte & Ardelt, 1989). In der Kommunikation von Angesicht zu Angesicht entfalten sich die Beziehungen zwischen den Gruppenmitgliedern, werden Fragen von Macht und Einfluss ausgehandelt, klären sich Sympathie und Antipathie. Nach einem allgemeinen »Gesetz« – das der Sozialpsychologe George Homans (1950; von Rosenstiel, 2003) formuliert hat und daher auch als Homans Gesetz bezeichnet wird – steigt die Sympathie mit der Zahl der Kontakte. Sympathie entsteht aber auch durch Ähnlichkeit in wichtigen Aspek-
8
106
Kapitel 8 · Teamarbeit
. Abb. 8.1. Dauer der Gruppenzugehörigkeit und Leistungen von Projektgruppen im Bereich Forschung und Entwicklung. (Nach Ulich, 2005)
8 ten, die Menschen verbinden: Im Betrieb schließen sich häufig diejenigen zusammen, die jeweils ähnliche, dabei aber von anderen abweichende Arbeiten verrichteten. Daher können sich auch sog. »virtuelle Arbeitsgruppen« (Konradt & Hertel, 2002), in denen die Mitglieder über Computer miteinander kommunizieren und sich selten oder nie von Angesicht zu Angesicht begegnen, zu echten Gruppen entwickeln: Die Vielzahl computervermittelter Kontakte und die gemeinsame Aufgabe lassen Sympathie entstehen. Allerdings dauert die Entwicklung eines Gruppengefühls in diesen Fällen sehr viel länger (Döring, 1999). Rollendifferenzierung In jeder Gruppe bestehen Erwartungen an die einzelnen Mitglieder, wie sie sich in bestimmten, für die Gruppe wichtigen Situationen verhalten sollten. Die Summe dieser Erwartungen wird als »Rolle« bezeichnet (Nerdinger, 2003). In einer funktionierenden Gruppe sind diese Erwartungen so ausdifferenziert, dass sich die Rollen wechselseitig ergänzen. Bei der Rollendifferenzierung wird eine vertikale von einer horizontalen Dimension unterschieden. Vertikal geht es um Macht und Einfluss, ähnlich wie im Tierreich bilden sich in Gruppen sog. Hackordnungen aus (Witte & Ardelt, 1989): Auf dem Hühnerhof kann sich das sozial am höchsten stehende Tier – das Alphatier – allen anderen gegenüber aggressiv ver-
halten, während es selbst von keinem anderen »gehackt« werden darf. Das Alphatier übernimmt z. B. bei der Futtersuche eindeutige Führungsfunktionen. Auch in den meisten menschlichen Gruppen bildet sich ein Führer heraus, gelegentlich finden sich sogar zwei Führer (Sader, 2002). Gewöhnlich leitet der eine die Gruppe bei der Aufgabenerfüllung, der andere dagegen sorgt für die Stimmung in der Gruppe. In diesem Fall haben sich die beiden Führer also die Arbeit sinnvoll geteilt, daher finden zwischen diesen beiden auch keine Machtkämpfe statt. Auf der horizontalen Dimension bilden Gruppen verschiedene Rollen unter den Geführten aus: Spezialisten für bestimmte Aufgaben, Mitläufer, Außenseiter, Sündenböcke etc. (von Rosenstiel, 2004). Normen Gruppen entwickeln im Laufe der Zeit Regeln für Verhaltensweisen, die in bestimmten Situationen (nicht) auftreten sollen. Solche Regeln werden als Normen bezeichnet. Normen erfüllen eine Reihe von Funktionen, die für Gruppen äußerst wichtig sind (Fischer & Wiswede, 2002): 4 Orientierung: Normen geben in unsicheren Situationen Hinweise, wie der Einzelne sich verhalten soll. 4 Selektion: Aus der prinzipiell unendlich großen Vielfalt von Verhaltensmöglichkeiten wählen Nor-
107 8.2 · Mögliche Vorteile der Teamarbeit
men einige aus, die in bestimmten Situationen als sinnvoll erlebt werden. 4 Stabilisierung: Durch Normen wird das Verhalten der Gruppenmitglieder stabil, sie sind Voraussetzung dafür, dass man in einer gegebenen Situation auf ein bestimmtes Verhalten der anderen vertrauen kann. 4 Koordination: Durch Normen wird das Handeln der Mitglieder einer Gruppe aufeinander abgestimmt. 4 Prognose: Normen machen Verhalten der anderen berechenbar. Damit ermöglichen Normen die Vorhersage, welches Verhalten in einer bestimmten Situation am wahrscheinlichsten auftreten wird.
essent möglicherweise vor der Bewerbung um Aufnahme in die Projektgruppe überlegen, ob bei der Zusammensetzung der Projektgruppe überhaupt ein Erfolg zu erwarten ist; 4 dem Vergleichsniveau der Mitglieder, d. h. den Erfahrungen mit anderen Gruppenmitgliedschaften; wer bislang schlechte Erfahrungen mit Projektgruppen gemacht hat, beurteilt den Zusammenhalt in einer »ganz normalen« Gruppe u. U. sehr viel besser als jemand, der schon Erfahrungen mit mehreren »tollen Projektgruppen« gemacht hat, die viele Erfolge vorzuweisen hatten.
Normen entwickeln sich in Gruppen gewöhnlich aus einem Interessensausgleich der Gruppenmitglieder. Die Gruppe hat insgesamt Nachteile, wenn einzelne von der Norm abweichen. Deshalb wird konsequent darauf geachtet, dass alle Mitglieder sie einhalten. Kommt ein Neuer in die Gruppe und verstößt gegen bestehende Normen, muss er mit mehr oder weniger drastischen Sanktionen rechnen. Diese können von verbalen Aggressionen über körperliche Attacken bis zu völliger Isolation reichen – Normverletzungen sind häufig der Ausgangspunkt für Mobbing, den gezielten »Psychoterror« gegenüber Kollegen (Neuberger, 1999; Zapf, 2004).
Da eine hohe Kohäsion zur Zufriedenheit der Mitglieder führt, wird ein solcher Zustand häufig als erstrebenswert angesehen. Im Arbeitsleben kann sich aber eine hohe Kohäsion auch negativ auf die Leistung von Teams auswirken. Bestehen in einem Team niedrige Leistungsnormen, führt eine hohe Kohäsion dazu, dass alle Mitglieder weniger leisten und damit die Leistung insgesamt deutlich sinkt (von Rosenstiel, 2004). Die bislang dargestellten Merkmale sind allgemeiner (sozialpsychologischer) Natur, sie charakterisieren jede Art von Gruppe – auch Jugendbanden oder Freizeitgruppen. Für Arbeitsgruppen ist darüber hinaus charakteristisch, dass sie eine oder mehrere Aufgaben zu bewältigen haben und dadurch zu den Zielen einer Organisation beitragen. Die Gruppe produziert also Ergebnisse, für die sie gegenüber der Organisation verantwortlich ist. Die Art des Produktes ist dabei nicht entscheidend, es kann sich um eine Dienstleistung, ein materielles Produkt, eine Entscheidung oder Ähnliches handeln (Kauffeld, 2001). Wichtig ist nur, dass die Gruppenergebnisse identifiziert und in Bezug zu den organisationalen Aufgaben und Zielen gesetzt werden.
Kohäsion Fühlen sich die Mitglieder in ihrer Gruppe wohl und identifizieren sie sich mit der Gruppe, dann sprechen sie voneinander als »Wir«. Dieses »Wir-Gefühl« wird auch als Gruppenkohäsion bezeichnet und als Ausmaß wechselseitiger positiver Gefühle definiert (Sader, 2002). Die Höhe der Kohäsion ist von einer Reihe von Faktoren abhängig: 4 den Motiven der Gruppenmitglieder, die eine Gruppe für sie attraktiv machen; z. B. wird in einer Projektgruppe zur Einführung eines neuen ControllingSystems eine hohe Kohäsion bestehen, wenn alle Mitglieder der Gruppe mit dem gemeinsamen Erfolg der Projektgruppenarbeit die Chance auf eigenes berufliches Fortkommen verbinden; 4 den Anreizen, die eine Gruppe bietet; im Beispiel der Projektgruppe sind das vor allem die Anreize, die von einer neuen, herausfordernden Aufgabe ausgehen, aber auch mit dem erfolgreichen Abschluss verbundene Prämien etc.; 4 der Erwartung, dass eine Mitgliedschaft tatsächlich günstige Ergebnisse erbringt; so wird sich ein Inter-
8.2
Mögliche Vorteile der Teamarbeit
Für die Arbeit in Teams werden verschiedene Gründe genannt (vgl. Wegge, 2004). Letztlich entscheidend ist wohl die weit verbreitete Annahme, dass Teamarbeit gegenüber der Einzelarbeit gravierende Vorteile hat, die wiederum bessere Leistungen erwarten lassen. Diese Vorteile kann man auf verschiedene Ursachen zurückführen. Für Teams außerhalb der Produktion, d. h. in der Verwaltung bzw. im Management, sind zwei Arten von Ursachen besonders wichtig: solche, die durch spezifi-
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Kapitel 8 · Teamarbeit
sche Möglichkeiten der Informationsverarbeitung zustande kommen, und solche, die durch höhere Motivation – sog. Motivationsgewinne der Gruppe – entstehen. 8.2.1 Vorteile in der
Informationsverarbeitung
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Teams in der Verwaltung bzw. im Management müssen in der Regel Aufgaben und Probleme lösen, bei denen es vor allem auf die Verarbeitung von Informationen ankommt, z. B. die gemeinsame Lösung von Problemen oder die Entwicklung von Ideen (Gebert, 2004b). Eine intensive Forschung zu diesen Fragen zeigt, dass Gruppen – verglichen mit einer gleichen Anzahl von unabhängigen Einzelpersonen, sog. nominale Gruppen – nicht mehr, sondern weniger Ideen produzieren. Auch die nachfolgenden Entscheidungen werden durch Teamarbeit nicht besser, allerdings ist im Team die Zufriedenheit und auch der Beteiligungsgrad der Mitglieder höher als in einer nominalen Gruppe (Zysno, 1998). Beim Lösen von Problemen sind die Ergebnisse von Teams sogar noch fragwürdiger: Wenn es sich um schwierige Probleme handelt, kann eine Person, die eine richtige Lösung kennt, die anderen nur überzeugen, wenn sie dabei von mindestens einer weiteren Person unterstützt wird. In diesen Fällen verhindert also die Gruppe sogar eine Problemlösung. Der größte Vorteil, den Teams gegenüber Einzelpersonen in der Informationsverarbeitung bieten, beruht darauf, dass im Team gleichzeitig mehrere Gedächtnisse genutzt werden (können). Dadurch kann das Team mehr Informationen behalten, außerdem lassen sich individuelle Fehler im Gedächtnisprozess besser korrigieren (Tschan, 2000). Bei einer echten Kooperation entwickelt sich in der Gruppe ein geteiltes Wissen – das sog. transaktive Gedächtnis (Brauner, 2003) –, das eine besonders effiziente Arbeitsteilung ermöglicht. Schließlich verarbeiten Teams auch die Rückmeldungen über Ergebnisse ihrer Arbeit schneller und gründlicher, d. h., sie lernen aus den Rückmeldungen besser als Einzelarbeiter. Der Grund dafür könnte darin liegen, dass allein die Notwendigkeit, andere Gruppenmitglieder von der eigenen Interpretation der Rückmeldung zu überzeugen, die Einzelnen dazu bringt, systematischer mit den Informationen umzugehen (Brodbeck & Greitemeyer, 2000). In der Frage des Lernens hat das Team in jedem Fall eindeutige Vorteile: Da die Bedingungen für das Lernen
durch Beobachtung und Nachahmung anderer in dieser Situation natürlich besonders gut sind (Sader, 2002), können Teams offensichtliche Fehler besser korrigieren. Das ist zweifellos der wichtigste Vorteil in der Informationsverarbeitung, den Gruppen gegenüber Einzelnen aufweisen. 8.2.2 Motivationsgewinne im Team Arbeit im Team macht gewöhnlich Spaß, in der Gruppe können die grundlegenden menschlichen Bedürfnisse nach Geselligkeit und Einflussnahme (Macht) befriedigt werden. Daher sollte die Motivation im Team höher sein als bei Einzelarbeit. Neben dieser sehr allgemeinen Aussage lassen sich in Anlehnung an Wegge (2004) drei spezifische Formen des Motivationsgewinns unterscheiden, die auch einen Vergleich mit der Situation des Einzelarbeiters ermöglichen: 4 Mere Presence – Motivationsförderung allein durch die Anwesenheit anderer; 4 Social Compensation – sich für eine schwache Gruppe aufopfern; 4 Social Labouring – das Gefühl, für die Gruppe zu arbeiten. Mere Presence. Die Auswirkung der Gegenwart anderer Personen auf die Leistung ist ein seit der klassischen Untersuchung von Triplett (1897) – sie gilt als erstes Experiment der Sozialpsychologie – intensiv untersuchtes Phänomen. Dabei wird der andere nur als Zuschauer oder Koakteur betrachtet, d. h., es besteht keine echte Zusammenarbeit zwischen den anwesenden Personen. In solchen Fällen zeigt sich, dass bei einfachen Aufgaben die Leistung unter dieser Bedingung höher ist – dieser Effekt wird auch als Social Facilitation bezeichnet –, bei komplexen Aufgaben jedoch niedriger (Social Impairment). Hinter diesen Effekten stehen wohl zwei motivationale Wirkungen. Die Anwesenheit anderer wirkt aktivierend, weshalb einfache bzw. gut gelernte Tätigkeiten leichter und besser verrichtet werden. Zum anderen können anwesende Personen auch die Tendenz zur Selbstdarstellung aktivieren – man will eben vor den anderen »gut dastehen«. In gewisser Weise wird mit den anderen Anwesenden konkurriert, was leistungsförderlich sein kann. In der betrieblichen Praxis kann der Mere-PresenceEffekt ausgelöst werden, wenn mehrere Mitarbeiter in
109 8.3 · Mögliche Probleme der Teamarbeit
einem Großraumbüro zusammengefasst werden. Allerdings zeigt sich dann nur bei sehr gut gelernten Tätigkeiten wie z.B. bei Schreibarbeiten ein Leistungsvorteil. Für kreative Tätigkeiten ist die mit der Anwesenheit anderer Personen verbundene Störung eher hinderlich. Das belegen auch die Untersuchungen zu einer weit verbreiteten Methode der Ideenproduktion in Gruppen, dem Brainstorming (vgl. Kasten »Die Wirkung des (elektronischen) Brainstormings«). Social Compensation. Da Teams durch intensive Kooperation gekennzeichnet sind, bleibt der Mere-Presence-Effekt wohl eher eine Ausnahme. Dagegen ist der Effekt der sozialen Kompensation daran gebunden, dass ein einzelner als Gruppenmitglied agiert. Der Effekt besteht darin, dass sich ein Gruppenmitglied besonders anstrengt, wobei andere Gruppenmitglieder keinen wesentlichen Beitrag zum Erfolg der Gruppe liefern (Williams & Karau, 1991). Ein Mitglied versucht also, die Schwächen anderer durch zusätzliche eigene Anstrengungen zu kompensieren. Dieses Phänomen tritt auf, wenn die Person 4 glaubt, dass ihr persönlicher Leistungsbeitrag die Feststellung der Gruppenleistung beeinflusst; 4 erwartet, dass andere nur ungenügend zu dem Ergebnis beitragen und 4 es als wichtig erachtet, dass die Gruppenaufgabe gut erledigt wird (vgl. Wegge, 2004).
Ein solches Verhalten wird wohl nur in relativ kleinen Gruppen auftreten und schnell unterlassen werden, wenn die anderen Gruppenmitglieder sich über eine längere Zeit nur wenig anstrengen. Das ist vielleicht der Grund, weshalb soziale Kompensation bislang nur in Laborexperimenten nachgewiesen wurde. Social Labouring. Damit wird ein Effekt der Identifikation mit der eigenen Gruppe beschrieben, der zur Zunahme der individuellen Leistung führt (Worchel, Rothgerber, Day, Hart & Butemeyer, 1998). Das wird der Fall sein, wenn die Gruppe zu anderen Gruppen in einem Wettbewerb steht, den sie gewinnen will. Zwar wurde auch dieser Effekt bislang nur experimentell nachgewiesen. Allerdings stehen gerade Teams im Bereich des Managements häufig unter enormem Wettbewerbsdruck, sodass bei den Mitgliedern, die sich besonders stark mit dem Team bzw. der Aufgabe identifizieren, deutliche Leistungssteigerungen auftreten sollten. Dies entspricht vielen persönlichen Alltagserfahrungen, ob es sich auch systematisch nachweisen lässt, muss noch überprüft werden.
8.3
Mögliche Probleme der Teamarbeit
Teamarbeit liegt im Trend – für nahezu jedes auftretende Problem wird in modernen Unternehmen eine »task force« ins Leben gerufen, möglichst alle Aufgaben sollen
Die Wirkung des (elektronischen) Brainstormings Brainstorming ist eine Gruppentechnik zur Ideengenerierung, die auf zwei Prinzipien beruht: Aufschub von Kritik, d. h., produzierte Ideen dürfen zunächst nicht bewertet werden, und Quantität erzeugt Qualität, d. h., es sollen möglichst viele Ideen produziert werden. Erwartet wird, dass dann auch mehr gute Ideen produziert werden. Dass Brainstorming in Gruppen die Kreativität erhöht, ist eine in der Praxis weit verbreitete Annahme (vgl. zum Folgenden Stroebe & Nijstad, 2004). Die empirische Überprüfung dieser These zeigt aber, dass in Brainstorminggruppen insgesamt weniger, und dabei auch noch weniger gute Ideen produziert werden als von Einzelpersonen. Der Grund für diesen Leistungsnachteil in der Gruppe ist die gegenseitige Produktionsblockierung: Da in einer Gruppe zu jedem Zeitpunkt je-
weils nur ein Mitglied das Wort ergreifen kann, wird während der Zeit seines Sprechens die Ideenproduktion der anderen, die ihm zwangsläufig zuhören, blockiert. Für diesen Effekt sprechen auch die Belege von Untersuchungen des elektronischen Brainstormings. In den entsprechenden Studien arbeiten die Versuchspersonen separat an vernetzten Computern und können während der Ideeneingabe die Ideen anderer auf ihrem Monitor ablesen. Bei der Ideenproduktion gelten ansonsten die üblichen Regeln des Brainstormings. Die empirische Überprüfung zeigt, dass bei elektronischem Brainstorming relativ große Gruppen (n > 9), bei denen ein Ideenaustausch erlaubt wurde, mehr Ideen produzieren als in Gruppen ohne Ideenaustausch, d.h. in nominalen Gruppen (Valacich, Dennis & Connolly, 1994).
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Kapitel 8 · Teamarbeit
im Team durchgeführt werden (Wegge, 2004). Wie gezeigt, finden sich einige – wenn auch insgesamt gesehen nicht sehr beeindruckende – Belege für den Vorteil des Teams gegenüber der Einzelarbeit. Das ist aber nur eine Seite der Medaille, die Arbeit im Team weist auch eine ganze Reihe von Problemen auf. So wird die Arbeit im Team aufgrund der dort ablaufenden Prozesse, der sog. Gruppendynamik (Langemaack, Braune-Krickau & Braune-Krickau, 2000), schnell sehr komplex. Zudem sind die Leistungen von Teams nicht leicht zu messen, die Führung von Gruppen ist außerdem schwieriger als die Führung einzelner Mitarbeiter. Schließlich finden sich noch einige prinzipielle Nachteile von Teams, die sich wiederum nach Problemen der Informationsverarbeitung und der Motivation aufteilen lassen. Auf diese Probleme beschränken sich die folgenden Ausführungen.
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8.3.1 Probleme der Informations-
verarbeitung: Groupthink In der Frage der Probleme der Informationsverarbeitung in Gruppen bildet das sog. Groupthink ein Phänomen, das besonders intensiv untersucht wurde. Janis (1972), auf den dieser Begriff zurückgeht, versteht darunter Folgendes:
Definition Groupthink ist ein »... Denkmodus, in den Personen verfallen, wenn sie Mitglied einer hoch kohäsiven Gruppe sind, wenn das Bemühen der Gruppenmitglieder um Einmütigkeit, ihre Motivation, alternative Wege realistisch zu bewerten, übertönt« (Janis, 1972, S. 9).
Janis entdeckte dieses Phänomen beim Studium sehr umfangreicher zeithistorischer Unterlagen zu einigen politischen Entscheidungen, die sich im Nachhinein als gravierende Fehler erwiesen haben und nicht selten in einer Katastrophe endeten. Ein häufig zitiertes Beispiel ist die gescheiterte Invasion in der Schweinebucht (vgl. Nerdinger, 2003; 7 Kasten »Das Fiasko in der Schweinebucht«). Nach der Analyse einer Vielzahl gravierender Fehlentscheidungen kam Janis zu dem Schluss, dass eine Gruppe, die an Groupthink leidet, Entscheidungen fällt, bevor sie die Alternativen realistisch eingeschätzt hat. Das erhöht die Wahrscheinlichkeit von Fehlentscheidungen. Zu erkennen ist Groupthink an den im 7 Kasten »Merkmale des Groupthink« zusammengestellten Symptomen (vgl. Schulz-Hardt, 1997).
Das Fiasko in der Schweinebucht Ursprünglich hatte der amerikanische Vize-Präsident Nixon den Plan gefasst, Exil-Kubaner auszubilden und in Kuba einmarschieren zu lassen, um die Regierung von Fidel Castro zu stürzen. Nixons politischer Gegner, Präsident John F. Kennedy, übernahm diesen Plan auf Anraten wichtiger Mitarbeiter des CIA. Vorher war der Plan im Sicherheitsrat, dem eine Reihe angesehener, erfahrener und exzellent ausgebildeter Fachleute angehörten, lange und intensiv diskutiert worden. Am 17. April 1961 kreuzten 1.400 Exil-Kubaner mit Unterstützung amerikanischer Truppen vor Kuba an der sog. »Schweinebucht« auf, wo sie bereits von rund 20.000 kubanischen Soldaten erwartet wurden. Keines der vier Schiffe konnte landen, zwei wurden von den Kubanern versenkt, die beiden anderen flohen. Die wenigen Soldaten, die an Land kamen, wurden sofort
von den kubanischen Soldaten gefangen genommen. Die Aktion war jämmerlich gescheitert. Danach ließ sich nicht mehr verheimlichen, dass die amerikanische Regierung hinter dem Plan stand. Kennedy und seine Berater bekannten sich öffentlich dazu und schon nach kurzer Zeit konnte keiner mehr erklären, wie es zu der politisch unsinnigen wie moralisch fragwürdigen Entscheidung gekommen war. Die Gruppe vertraute auf Kennedy, und Kennedy vertraute auf den Geheimdienst und die Militärs. Robert Schlesinger, Pressesprecher und Mitglied der Gruppe meinte dazu später: »Unsere Besprechungen fanden in einer eigentümlichen Atmosphäre stillschweigend angenommener Übereinstimmung statt ... aufgrund der Umstände, unter denen die Diskussionen stattfanden, hat niemand den ganzen Unsinn abgeblasen« (Janis 1972, S. 39f.).
111 8.3 · Mögliche Probleme der Teamarbeit
Merkmale des Groupthink Selbstüberschätzung der Gruppe 1. Illusion der Unverwundbarkeit, die zu einem unrealistischen Optimismus führt: So kam in der Gruppe um Kennedy niemals die Idee auf, dass die kubanischen Soldaten einer von amerikanischen Militärs geleiteten Aktion etwas entgegenzusetzen hätten. 2. Glaube, hohe moralische Standards zu vertreten: Die Gruppe ging immer von der Prämisse aus, dass sie auf der Seite der Freiheit, d. h. des »Guten«, steht. Engstirnigkeit 1. Kollektive Rationalisierungen: Eine Rationalisierung liegt vor, wenn sich jemand das Motiv seines Handelns nicht eingestehen möchte und stattdessen vernünftige (rationale) Gründe konstruiert. Das kann auch auf der Gruppenebene, d. h. im Kollektiv, geschehen. In der Gruppe um Kennedy kam niemals die Frage auf, ob es sich bei der Aktion lediglich um eine Bestrafung Kubas handelt, weil es ein anderes Gesellschaftssystem angenommen hatte. Statt eines solchen Rachegedankens wurde die Invasion auf Kuba in der Gruppe durchgängig nur als Aktion verstanden, um die Bedrohung Amerikas durch den Kommunismus zu verhindern. 2. Stereotypisierung von Außenstehenden: Castro galt in der Gruppe als unfähiger und dummer Führer, der nicht in der Lage sei, sein Land zu regieren.
Die wesentlichen Bedingungen und Folgen von Groupthink zeigt . Abb. 8.2. Groupthink wird durch Bedingungen gefördert, die in der Gruppe (A in . Abb. 8.2), in der Organisation (B-1) und im Kontext, in dem gehandelt wird (B-2), liegen. Grundbedingung ist eine hohe Gruppenkohäsion, da sonst immer mit abweichenden Meinungen zu rechnen ist. Besonders gefährlich ist eine Organisationsstruktur, die zur Abschottung der Gruppe von wichtigen Informationen führt. Das ist eine Gefahr, die in vielen Entscheidungsgruppen besteht. Zum Beispiel erreichen Vorstände in Wirtschaftsunternehmen gewöhnlich nur extrem wenige Informationen über die Vorgänge in ihren Unternehmen. Um sie vor einer Überflutung mit unwichtigen bzw. für ihre Arbeit nicht relevanten Informationen zu schüt-
Uniformitätsdruck 1. Selbstzensur: Mehrere Mitglieder der Gruppe berichteten, dass sie während der Diskussionen Zweifel bekamen. Sie haben sich daraufhin selbst eingeredet, dass sie Kennedy in dieser Situation nicht im Stich lassen können und daher ihre Bedenken unterdrückt. 2. Illusion der Einstimmigkeit: Alle Mitglieder der Gruppe gingen davon aus, dass alle anderen der gleichen Meinung seien – obwohl niemals die Meinungen aller Teilnehmer abgefragt wurden. 3. Gruppendruck gegen Argumente, die gemeinsame Illusionen in Frage stellen: Ganz am Beginn der Diskussionen fanden sich noch vereinzelte Gegenstimmen. In den Protokollen ist nachzulesen, dass abweichende Meinungen sofort zu massiven Angriffen führten. Dabei wurden keine rationalen Argumente ausgetauscht, sondern die Loyalität der »Abweichler« in Frage gestellt. Von diesem Punkt an finden sich keine Gegenargumente mehr. 4. Selbsternannte Gesinnungswächter: Offensichtlich haben bei den Beratungen über die Invasion einige Teilnehmer die Aufgabe übernommen, die Gruppe vor abweichenden Informationen zu »schützen«. Bereits im Vorfeld haben sie Informationen zensiert und nur solche an die Gruppe weitergeleitet, die eine Entscheidung für die Invasion unterstützten.
zen, sind ihnen verschiedene Abteilungen, Mitarbeiter und Führungskräfte vorgelagert, die alle Informationen danach filtern, ob sie für die Arbeit der Vorstände wichtig sind. Damit bekommen aber diese Mitarbeiter – die sog. Gatekeeper, da sie wie ein Türsteher den Fluss der Informationen überwachen (7 Kap. 5) – einen unwägbaren Einfluss auf die Entscheidungen des Vorstands. Eine weitere Bedingung ist die Homogenität der Gruppe. Haben alle Teilnehmer denselben sozialen Hintergrund und vertreten sie die gleichen Einstellungen zu wichtigen Fragen, so erhöht sich die Gefahr des Groupthink. Solche Bedingungen sind in Unternehmen der Wirtschaft häufig zu beobachten: Im Topmanagement finden sich überwiegend Personen aus derselben sozialen Schicht, die von Soziologen als »Großbürger-
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Kapitel 8 · Teamarbeit
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Mit freundlicher Genehmigung des Verlags Hans Huber © Hogrefe, Verlag Hans Huber 2007
. Abb. 8.2. Entstehung und Folgen von Groupthink. (Nach Schulz-Hardt, 1997)
tum« bezeichnet wird (Hartmann, 2004). Die Mitglieder des Topmanagements haben damit eine sehr ähnliche Erziehung erfahren und zeichnen sich durch ähnliche Einstellungen aus. Schließlich zählt zu den Kontextbedingungen auch der hohe Stress, der durch Zeitdruck und die Bedeutung von Entscheidungen für die Organisation entstehen kann – diese Bedingung ist wohl im Wirtschaftsleben fast immer gegeben. Stress trägt zusammen mit den übrigen Faktoren dazu bei, dass Entscheidungen nicht gründlich und kritisch vorbereitet und nach methodischen Prinzipien durchgeführt werden. Dann sind aber die Grundbedingungen für das Auftreten von Groupthink erfüllt (kritisch zu diesem Phänomen: Gebert, 2004b). Nimmt man die Qualität der getroffenen Entscheidung als Maßstab, dann kann Groupthink dazu beitragen, dass die Gruppenentscheidung schlechter ausfällt als die Entscheidung einzelner Personen. Darüber hinaus hat die Forschung noch weitere Probleme der Infor-
mationsverarbeitung in Gruppen ermittelt, z. B. treten in Gruppen viele Urteilsfehler auf. Diese finden sich zwar auch bei Einzelnen, sind in Gruppen jedoch konsistenter und wirken sich daher noch negativer aus (zu weiteren Problemen vgl. Wegge, 2004). 8.3.2 Motivationsverluste im Team Interessanterweise wurden bislang mehr Motivationsprobleme als -gewinne in Gruppen nachgewiesen, die zudem auch noch empirisch besser belegt sind als die Motivationsgewinne. Die wichtigsten Motivationsverluste sind (vgl. Wegge, 2004) 1. sozialer Müßiggang (»social loafing«), 2. soziale Angst, 3. Trittbrettfahren (»free riding«), 4. »nicht der Dumme sein wollen« (»sucker effect«) und 5. Soldatentum (»soldiering«).
113 8.4 · Optimierung von Gruppen: Teamdesign und Teambuilding
Sozialer Müßiggang. Der Begriff »sozialer Müßiggang«
wird in der Literatur uneinheitlich verwendet, man kann aber darunter einen Motivationsverlust bei einem Mitglied einer Gruppe verstehen, der ohne bewusste Entscheidung zu einer Verringerung der Anstrengung auftritt (Williams & Karau, 1991). Die Person erlebt sich als normales Mitglied der Gruppe und empfindet ihre Anstrengung als angemessen. Tatsächlich hat sie aber ihre Leistung reduziert – möglicherweise, weil sie eben aufgrund der Situation in der Gruppe mit zu viel Muße bei der Sache war. Ein solcher Zustand ist dann wahrscheinlich, wenn bei der Teamarbeit eine Beurteilung oder Bewertung durch andere Personen wie z. B. durch Vorgesetzte nicht ohne weiteres möglich ist (Karau & Williams, 1993), d. h., die eigenen Leistungsbeiträge zum Teamergebnis sind kaum identifizierbar. Dieser Effekt ist in westlichen, individualistischen Kulturen stärker als in östlichen, kollektivistischen Kulturen (vgl. dazu Hofstede, 1997). In kollektivistischen Kulturen hat die Gruppe eine sehr hohe Bedeutung, die alle Menschen verinnerlicht haben. Diese Bedeutung der Gruppe sorgt dafür, dass die Anstrengung automatisch auf hohem Niveau gehalten wird. Da die Gruppenmitglieder in westlichen Kulturen dagegen nicht merken, dass ihre Leistung nachlässt, ist der Effekt als besonders kritisch zu werten – er kann sich hier mit der Zeit in jeder Gruppe einstellen. Soziale Angst. Die Anwesenheit anderer, vor allem sub-
jektiv wichtiger Personen kann zur Verringerung der Arbeitsmotivation und der Leistung aufgrund von Hemmungen führen. Dieser Effekt scheint den Wirkungen des Mere Presence (7 Abschn. 8.2.2) zu widersprechen, tatsächlich finden sich aber beide Effekte. Das deutet auf Persönlichkeitsunterschiede hin (Blascovich, Mendes, Hunter & Salomon, 1999). In der Tat sind es Menschen, die zu sozialer Angst neigen, die in Gruppen eine geringere Leistung zeigen.
Effekt – und der Art der Aufgabe ab – wenn nur die Leistung des Besten zählt, empfinden leistungsschwächere Gruppenmitglieder ihren Beitrag eher als überflüssig. Sucker-Effekt. Das damit bezeichnete Gefühl, »nicht länger der Dumme sein zu wollen« entsteht, wenn ein Gruppenmitglied beobachtet, dass sich andere Mitglieder der eigenen Gruppe wie Trittbrettfahrer verhalten. In diesem Fall kommt es zu einer bewussten Entscheidung, sich nicht länger anzustrengen (Kerr, 1983). Dies tritt nur ein, wenn ein Gruppenmitglied den Eindruck hat, dass die anderen durchaus in der Lage wären, etwas zum Erreichen des Gruppenziels beizutragen. Wird das nicht geglaubt, dann kommt es auch nicht zu einer Leistungsrücknahme. Der Sucker-Effekt ist also ein Ausdruck des Protestes gegenüber dem Fehlverhalten anderer Gruppenmitglieder. Soldatentum. Stellt jemand – eine Person oder eine Gruppe – Ansprüche an die eigene Gruppe, die von dieser als ungerechtfertigt erlebt werden, kann es zur Motivations- und Leistungsreduktion als Ausdruck des Protestes gegenüber dieser Person oder Gruppe kommen (Haslam, 2001). Dieses Phänomen, das als »Soldatentum« bezeichnet wird, ähnelt dem Social Labouring (7 Abschn. 8.2.2). Auch in diesem Fall identifiziert sich die betroffene Person mit ihrer eigenen Gruppe und grenzt sich gegenüber einer anderen Gruppe ab. Beim Soldatentum wird aber nicht versucht, einen Wettbewerb mit der Außengruppe zu gewinnen, sondern zu signalisieren, dass deren Verhalten nicht legitim ist. Der Begriff spielt auf die Situation an, in der ein Ausbilder von seinen Rekruten Unmögliches verlangt und diese daraufhin noch weniger leisten, als möglich wäre. Ob sich der Effekt auch in Management- oder Verwaltungsteams nachweisen lässt, muss noch untersucht werden.
Trittbrettfahren. Im Gegensatz zum sozialen Müßiggang
Optimierung von Gruppen: Teamdesign und Teambuilding
beruht das Trittbrettfahren auf einer bewussten Entscheidung eines Gruppenmitgliedes, seine Anstrengung zu reduzieren (Kerr, 1983). Vermutlich tritt dieser Effekt nur auf, wenn jemand annimmt, dass seine Leistung überflüssig bzw. unwichtig ist, da die anderen Gruppenmitglieder das Gruppenziel auch ohne den eigenen Beitrag sichern (Wegge, 2004). Der Effekt hängt zudem von der Größe der Gruppe – je größer, desto wahrscheinlicher ist der
Wägt man Probleme und Chancen von Teams gegeneinander ab, so scheinen die Gefahren eher zu überwiegen. Für den Einsatz in der Praxis folgt daraus, dass zur Bewältigung von Aufgaben im Bereich von Verwaltung oder Management häufig viel zu schnell Teams gebildet werden. Allen und Hecht (2004) bezeichnen den dahinter stehenden, den empirischen
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Kapitel 8 · Teamarbeit
Befunden widersprechenden Glauben an die Effektivität von Teams als Romantik des Teams. Sie führen diese romantische Überhöhung auf den psychologischen Nutzen zurück, den Mitglieder aus der Arbeit in Gruppen ziehen. Demnach bieten Teams sozioemotionalen und kompetenzbezogenen Nutzen. Sozioemotional gesehen erfüllen Teams universelle soziale Bedürfnisse, verringern Unsicherheit in der Arbeit und – da die Arbeit im Team häufig Spass macht – tragen zur Arbeitszufriedenheit und zum Wohlbefinden bei. Kompetenzbezogen ermöglichen sie es, zentrale Gefühle der Effizienz und des Selbstvertrauens aufrecht zu erhalten. Die Romantik des Teams bietet damit bereits einige psychologische Gründe für die Arbeit in Gruppen. Darüber hinaus lassen sich auch einige der hier dargestellten Probleme vermeiden bzw. abmildern, wenn ein Team sehr sorgfältig zusammengesetzt (Teamdesign) bzw. wenn die Fähigkeit zur Zusammenarbeit bei den Mitgliedern bereits bestehender Teams entwickelt wird (Teambuilding). 8.4.1 Teamdesign: Homogene vs.
heterogene Gruppen? Beim Teamdesign sollen wesentliche Merkmale des Teams – Fähigkeiten der Mitglieder, Ziele, Größe, Ressourcen etc. – so gestaltet werden, dass eine möglichst gute Zusammenarbeit im Team gewährleistet wird. Dazu zählen auch Fragen der Arbeitsgestaltung, der Arbeitsteilung oder der dem Team zugebilligten Autonomie (7 Kap. 22). Im vorliegenden Zusammenhang interessiert speziell die Frage, ob man die Mitglieder bezüglich bestimmter Eigenschaften homogen oder heterogen zusammensetzen soll. Unter dem Begriff Diversity wird diese Frage in der Arbeits- und Organisationspsychologie diskutiert (vgl. Jackson & Ruderman, 1996; Wegge, 2003). Der Begriff der Diversity stammt aus der intensiven Diskussion in den USA, die sich auf Fragen der Chancengleichheit mit Blick auf Rasse, Geschlecht und körperliche Beeinträchtigungen konzentriert. In Europa dagegen kreist die Diskussion vor allem um Probleme kultureller Vielfalt, die mit der zunehmenden Globalisierung bzw. der Wirtschaftsverflechtung in der EU immer drängender werden. Diversity bedeutet übersetzt »Vielfalt«, für die Gestaltung von Gruppen stellt sich die Frage, hinsichtlich
welcher Größen Vielfalt besteht. Die wichtigsten Größen der Vielfalt zeigt folgende Übersicht.
Größen der Vielfalt in Gruppen (nach Ladwig, 2003) 1. Demographische Merkmale, z. B.: 4 Alter 4 Geschlecht 4 Körperliche Konstitution (körperliche/geistige Behinderung etc.) 4 Kultureller Hintergrund (Geburtsland, Rasse, familiäre Wurzeln etc.) 4 Ausbildung 4 Familienstand 2. Know-how und Erfahrungen, z. B.: 4 Aufgabenbezogenes Wissen 4 Fähigkeiten aus unterschiedlichen Karrierewegen 4 Frühere Einsatzgebiete 4 Berufserfahrungen 3. Wertesystem, z. B.: 4 Werte 4 Glauben bzw. Überzeugungen 4. Charakter bzw. Persönlichkeit, z. B.: 4 Verhalten 4 Auftreten 5. Sozialer Status, z. B.: 4 Rang 4 Position bzw. Hierarchie 4 Macht bzw. Autorität 4 Netzwerkzugehörigkeit
Demographische Merkmale sind aus zwei Gründen besonders wichtig: Zum einen lassen sie sich unmittelbar erkennen und üben deshalb direkten Einfluss auf die anderen Gruppenmitglieder aus. Zum anderen sind aufgrund des demographischen Wandels (Löwisch, Caspers & Neumann, 2003) künftig verstärkt Spannungen zwischen »Jungen« und »Alten« bzw. Angehörigen verschiedener Kulturen in den Organisationen der Wirtschaft zu erwarten. Aber auch die anderen Größen, die in der Übersicht knapp veranschaulicht sind, haben Auswirkungen auf die Leistung und die Zufriedenheit in Gruppen. Wie man Teams hinsichtlich dieser Größen am besten zusammensetzt, damit sie ihre Aufgaben optimal
115 8.4 · Optimierung von Gruppen: Teamdesign und Teambuilding
lösen, das hängt allerdings von vielen Aspekten ab. Besonders wichtig ist zum einen die Art der Aufgabe, die ein Team erledigen soll. So ist es für Teams im Dienstleistungsbereich – z.B. eine Crew von Flugbegleitern – günstig, wenn die Mitglieder über möglichst gleiche Fähigkeiten und Fertigkeiten verfügen. Die Gruppe kann in diesem Fall von unterschiedlichen Fähigkeiten bei der Aufgabenerfüllung nicht profitieren. Ganz im Gegenteil: Solche Teams arbeiten unter der Beobachtung von Kunden, daher können unterschiedliche Fertigkeiten sogar schaden, da sie zum Vergleich zwischen den Flugbegleitern auffordern, der wiederum deren Ängstlichkeit gegenüber den Kunden erhöhen kann (7 Kap. 30). Teams in Forschung und Entwicklung können dagegen von einer heterogenen Zusammensetzung profitieren, da eine unterschiedliche Wissensbasis der Mitglieder zur Problemlösung beitragen kann (Klimoski & Jones, 1995). Zum anderen ist aber auch zu beachten, was erklärt werden soll – die Leistung des Teams hängt von anderen Größen ab als die Zufriedenheit der Teammitglieder. So kann hohe Heterogenität zu kreativeren und innovativeren Lösungen führen, gleichzeitig können sich aber die Entscheidungsprozesse verlangsamen und die Kommunikation zwischen den Gruppenmitgliedern verringern. In heterogenen Gruppen ist die Gruppenkohäsion und damit auch die Zufriedenheit häufig geringer als in homogenen Gruppen (Jackson, 1996). 8.4.2 Teambuilding durch Teamentwicklung Aufgrund der kaum überschaubaren Zahl von Einflussgrößen und Randbedingungen ist das Problem des optimalen Teamdesign nur schwer zu lösen. Daher wird die zweite Interventionsmöglichkeit, das Teambuilding, immer eine wichtige ergänzende Maßnahme darstellen. Teambuilding oder, wie in Deutschland bevorzugt gesagt wird, Teamentwicklung, zielt auf soziale und aufgabenbezogene Prozesse innerhalb bereits bestehender Teams, um in direkter Interaktion mit den Teammitgliedern – durch Gruppen- und Einzelgespräche, Workshops, Trainings etc. – Barrieren abzubauen, Rollenbilder zu klären und zwischenmenschliche Beziehungen zu verbessern (Comelli, 2003). Die wichtigsten Ziele von Teamentwicklungsmaßnahmen sind im 7 Kasten »Hauptziele von Teamentwicklungsmaßnahmen« zusammengestellt (Varney, 1977, zit. nach Kauffeld, 2001).
Hauptziele von Teamentwicklungsmaßnahmen 4 Verbesserung des Verständnisses für die Rolle eines jeden Teammitgliedes innerhalb der Arbeitsgruppe 4 Verbesserung des Verständnisses für die Beschaffenheit – den Charakter – des Teams und seine Rolle innerhalb der Gesamtabläufe der Organisation 4 Verbesserung der Kommunikation zwischen den Teammitgliedern über alle Punkte, welche die Effektivität der Gruppe betreffen 4 Stärkung der gegenseitigen Unterstützung unter den Gruppenmitgliedern 4 Klares Verständnis für die ablaufenden Gruppenprozesse, d. h. für jene gruppendynamischen Ereignisse, die in jeder Gruppe eng Zusammenarbeitender ablaufen 4 Finden von effektiven Wegen für die Gruppe, die in ihr bestehenden Probleme auf der Sach- und Beziehungsebene zu bewältigen 4 Entwickeln der Fähigkeit, Konflikte positiv zu nutzen 4 Verstärkung der Zusammenarbeit zwischen den Teammitgliedern und eine Verringerung jenes Wettbewerbs, der auf Kosten der jeweiligen Gruppe bzw. der Organisation geht 4 Verbesserung der Fähigkeit des Teams, mit anderen Arbeitsgruppen innerhalb der Organisation zusammenzuarbeiten 4 Stärkung des Bewusstseins des gegenseitigen »Aufeinander-angewiesen-Seins« innerhalb des Teams
Die Ziele werden im Rahmen eines Teamentwicklungsprozesses gewöhnlich in sechs Schritten angestrebt (vgl. Comelli, 2003). 1. In der Kontaktphase müssen die gegenseitigen Erwartungen, Zielsetzungen, Vorgehensweise, Rahmenbedingungen und die zeitliche Perspektive geklärt werden. Dies geschieht über einen schriftlich fixierten Kontrakt mit dem Auftraggeber. Den Teammitgliedern ist Vertraulichkeit zuzusichern und der Trainer oder Berater sollte vorab klar machen, dass er von keinerlei verdeckten Aufträgen oder Weisungen anderer Personen abhängig ist.
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Kapitel 8 · Teamarbeit
2. Als nächstes wird auch ein Kontrakt mit den betroffenen Teammitgliedern geschlossen. Im Rahmen dieses Kontraktes sollte die Rolle des Vorgesetzten im Prozess ebenso festgelegt werden wie die der Gruppe. 3. In der Diagnosephase, auch Phase der Datensammlung genannt, werden Daten über den zu bearbeitenden Problemzustand erhoben. Ziel der Datenerhebung ist es, den Berater in die Lage zu versetzen, dass er die Gruppenprozesse besser versteht und daraus Maßnahmen ableiten kann. Bei den Gruppenmitgliedern sollte die Diagnosephase das Problembewusstsein schärfen und neue Einsichten ermöglichen. Eine solche Diagnose wird gewöhnlich mit Fragebögen zu verschiedenen Aspekten der Gruppe durchgeführt. Ein solcher Fragebogen ist der F-A-T (Fragebogen zur Arbeit im Team; Kauffeld & Frieling, 2001). In diesem Fragebogen werden die beiden wesentlichen Funktionen der Gruppe – Lösung von Aufgaben (Strukturorientierung) und Berücksichtigung der beteiligten Personen (Personenorientierung) – mit je zwei (Sub-)Skalen erfasst. Einen Ausschnitt aus diesem Fragebogen zeigt die . Abb. 8.3. 4. Im nächsten Schritt wird ein Teamentwicklungstraining geplant, das maßgeschneidert auf die in der Diagnosephase festgestellten Probleme eingeht. Das Trainingskonzept sollte man allerdings mög-
lichst flexibel halten, um auf Erkenntnisse, die im Rahmen des Trainings auftauchen, angemessen reagieren zu können. Die Probleme werden dabei mit verschiedenen Methoden bearbeitet, wobei die Arbeit in Kleingruppen zur Entwicklung von Teilschritten der Problemlösung, Selbsterfahrungsgruppen zur Sensibilisierung für gruppendynamische Prozesse und die Arbeit im Plenum, d. h. mit der Gesamtgruppe, zur grundsätzlichen Abstimmung und Diskussion sich gewöhnlich abwechseln (ausführlich dazu Bouwen & Fry, 1996). 5. Die Teamentwicklungsmaßnahme wird durchgeführt und gewöhnlich mit der Planung weiterer Maßnahmen in der Gruppe sowie Selbstverpflichtungen der Teilnehmer über das künftige Verhalten beendet. Diese Interventionen sind besonders wichtig, um den Transfer auf die alltägliche Arbeitssituation, d. h. das Wirken des Erarbeiteten und Gelernten über den Zeitraum der Maßnahme hinaus, zu sichern. 6. Die Evaluation der Wirkungen der Teamentwicklungsmaßnahme schließt den Prozess ab. Eine solche Evaluation sollte 1–3 Monate nach der Maßnahme erfolgen – das ist der minimale Zeitraum, damit die verabredeten Aktivitäten durchgeführt werden und in der Praxis greifen können. Die Evaluation kann wiederum mit denselben Instrumenten wie die Diagnose durchgeführt werden, also z. B. mit dem F-A-T (Kauffeld & Frieling, 2001).
Auszug aus Kauffeld (2004): Fragebogen zur Arbeit im Team (FAT). Göttingen: Hogrefe. Mit freundlicher Genehmigung von Hogrefe, Göttingen. © Hogrefe 2004
116
. Abb. 8.3. Beispielfragen aus dem F-A-T. (Nach Kauffeld, 2001)
117 Literatur
Wie verschiedene Metaanalysen belegen, können solche Teamentwicklungsmaßnahmen dazu beitragen, dass die Teammitglieder zufriedener sind und – in Grenzen – auch effektiver zusammenarbeiten (vgl. zusammenfassend Gebert, 2004a). Die vielfältigen Probleme und Ge-
fahren der Arbeit im Team lassen sich also durch geeignete Maßnahmen des Teamdesign und des Teambuilding zumindest begrenzen, zum guten Teil auch ganz ausschalten.
Zusammenfassung 4 Unter einer Gruppe wird eine Mehrzahl von Personen verstanden, die über längere Zeit in direktem Kontakt stehen, wobei sich Rollen ausdifferenzieren, gemeinsame Normen entwickelt werden und Kohäsion, d. h. ein Wir-Gefühl, besteht. 4 In der Informationsverarbeitung hat die Gruppe u. a. den Vorteil, dass gleichzeitig mehrere Gedächtnisse genutzt werden. 4 Drei wesentliche Motivationsgewinne können in Teams auftreten: Mere Presence, d. h., die Motivation wird allein durch die Anwesenheit anderer gefördert; Social Compensation, leistungsstarke Mitglieder opfern sich für eine schwache Gruppe auf; Social Labouring, das Gefühl, für die Gruppe zu arbeiten. 4 Bei Groupthink, dem wichtigsten Problem der Informationsverarbeitung von Gruppen, handelt es sich um einen Denkmodus, in den Mitglieder hoch kohäsiver Gruppen verfallen können, was u. a. zu gravierenden Fehlentscheidungen führen kann.
4 Zu den wichtigsten Motivationsproblemen zählen der soziale Müßiggang (»social loafing«), soziale Angst, Trittbrettfahren (»free riding«), »nicht der Dumme sein wollen« (»sucker effect«) und das Soldatentum (»soldiering«). 4 Beim Teamdesign sollen wesentliche Merkmale des Teams so gestaltet werden, dass eine möglichst gute Zusammenarbeit im Team gewährleistet wird. 4 Besondere Bedeutung hat dabei die Diversity, d. h. die heterogene Zusammensetzung der Gruppe hinsichtlich verschiedener Merkmale der Demographie, des Know-how, der Werte oder des sozialen Status. 4 Teambuilding oder Teamentwicklung zielt auf soziale und aufgabenbezogene Prozesse innerhalb bereits bestehender Teams, wobei durch Gruppenund Einzelgespräche, Workshops, Trainings etc. Barrieren abgebaut, Rollenbilder geklärt und zwischenmenschliche Beziehungen verbessert werden.
L Weiterführende Literatur
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Kapitel 8 · Teamarbeit
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8
9
9 Konflikte in Organisationen Marc Solga 9.1
Deskriptive Ansätze
– 123
9.1.1 Konfliktgegenstände – 123 9.1.2 Konfliktverhalten – 124
9.2
Erklärende Ansätze – 125
9.2.1 Konfliktentstehung – 125 9.2.2 Konfliktverlauf – 126 9.2.3 Konfliktfolgen – 130
9.3
Präskriptive Ansätze Literatur
– 134
– 132
122
Kapitel 9 · Konflikte in Organisationen
> Menschen, die gemeinsam in Abteilungen oder Arbeitsgruppen tätig sind, haben nicht selten unterschiedliche oder gar unvereinbare Ansichten, Werthaltungen, Bedürfnisse oder Ziele. Ein paar Beispiele: 4 Projektmitarbeiter favorisieren unterschiedliche Problemlösungen, Mitglieder des Topmanagements gegensätzliche Geschäftsstrategien – es entbrennt ein Streit um die beste Alternative; 4 Kollegen konkurrieren um Führungspositionen oder herausfordernde Aufgaben, Abteilungsleiter streiten um Zuständigkeiten; 4 Mitarbeiter fühlen sich benachteiligt, weil ein Kollege mehr Aufmerksamkeit und Unterstützung vonseiten des Vorgesetzten erhält; 4 ein anderer Vorgesetzter erwartet Leistungen, die seine Mitarbeiter nicht zu erbringen bereit sind.
9
In den skizzierten Situationen müssen die Beteiligten trotz unvereinbarer Standpunkte und Interessen miteinander kooperieren, d. h. ihre Aktivitäten aufeinander abstimmen, einander zuarbeiten und gemeinsam Entscheidungen treffen. Dabei wird die erlebte Gegensätzlichkeit das Verhalten und die Interaktionsprozesse der Beteiligten prägen; sie wird ihre Zusammenarbeit und die Ergebnisse ihrer Zusammenarbeit beeinflussen. Der Begriff des sozialen Konflikts kennzeichnet das spannungsvolle Erleben einer Unvereinbarkeit der Ansichten oder Interessen mindestens zweier Parteien und ferner sämtliche Aktivitäten dieser Parteien, die empfundene Anspannung zu reduzieren (Van de Vliert, 1997; vgl. auch Blickle & Solga, 2006). Dass zwei oder mehr Opponenten feindselig miteinander interagieren, setzt dieser Konfliktbegriff nicht voraus. Er stellt das subjektive Erleben der Beteiligten in den Vordergrund, nicht aber das sichtbare Verhalten der betroffenen Personen. So wird es möglich, unterschiedlichste Formen der Konfliktaustragung oder -bewältigung zu betrachten – z. B. konfrontieren und attackieren, das Problem konstruktiv zu lösen versuchen, Kompromisse erarbeiten, sich aus dem Weg gehen, nachgeben, sich zurückziehen – und hinsichtlich ihrer Entstehungsbedingungen und Auswirkungen miteinander zu vergleichen. Van de Vliert und Janssen (2001) unterscheiden drei wissenschaftliche Perspektiven auf soziale Konflikte: Deskriptive Ansätze versuchen, die Erscheinungsformen sozialer Konflikte systematisierend zu beschreiben. Erklärende Ansätze untersuchen die Entstehungs- und Verlaufsbedingungen, ferner die Auswirkungen sozialer Konflikte. Ihr Ziel besteht darin, die Zusammenhänge zwischen Antezendenzen, Konfliktverhalten und Konfliktfolgen zu erklären. Präskriptive Ansätze geben Handlungsempfehlungen zur Konfliktvermeidung und zur Konfliktbeilegung. Im Sinne dieser Gliederung werden zunächst einige Ansätze erörtert, deren Ziel darin besteht, Konflikte beschreibend zu klassifizieren. Anschließend werden Theorien der Konfliktentstehung und des Konfliktverlaufs sowie ein Forschungsansatz beschrieben, der die Auswirkungen sozialer Konflikte in Arbeitsgruppen untersucht. Stellvertretend für die präskriptiven Ansätze werden abschließend einige Verhandlungstechniken dargestellt, mit deren Hilfe sich Konflikte partnerschaftlich beilegen lassen.
9
123 9.1 · Deskriptive Ansätze
9.1
Deskriptive Ansätze
Deskriptive Ansätze verfolgen das Ziel, soziale Konflikte zu beschreiben und die Vielfalt ihrer Manifestationsformen zu ordnen. Sie lassen sich danach unterscheiden, ob sie den Konfliktgegenstand – also den Inhalt der erlebten Unvereinbarkeit – oder das Verhalten der Konfliktparteien, ihre Merkmale bzw. die Art ihrer Beziehung in den Vordergrund stellen (für einen Überblick s. Regnet, 2001). Nachfolgend werden einige Klassifikationen vorgestellt, die sich am Konfliktgegenstand bzw. am Verhalten der Parteien orientieren. 9.1.1 Konfliktgegenstände
© Elsevier Ltd. 2003
Im organisationspsychologischen Kontext ist die Unterscheidung zwischen Beziehungs- und Aufgabenkonflikten in Arbeitsgruppen von großer Bedeutung (vgl. Jehn & Bendersky, 2003; 7 Abschn. 9.2.3). Beziehungskonflikte haben unvereinbare private Einstellungen und Werthaltungen bzw. Fragen des persönlichen Miteinanders zum Gegenstand. Entscheidend ist, dass der Konflikt Sachverhalte betrifft, die nicht unmittelbar für die gemeinsame Aufgabe von Bedeutung sind. Aufgabenkonflikte gehen auf dissonante Standpunkte und Handlungspläne zurück, die die Bewältigung der gemeinsamen Aufgabe unmittelbar betreffen. Sie werden noch-
mals in prozessorientierte und inhaltsbezogene Konflikte untergliedert. Letztere beruhen darauf, dass Informationen, die für die Bewältigung der Aufgabe von Bedeutung sind, widerstreitend interpretiert werden. Im Kontext prozessorientierter Aufgabenkonflikte streiten die Beteiligten über die Mittel und Wege der Zielerreichung, die Zuweisung und Koordination der Teilaufgaben, der Verantwortlichkeiten und Arbeitsmittel (. Abb. 9.1). Rüttinger und Sauer (2000) beziehen sich ebenfalls auf den Konfliktgegenstand. Sie unterscheiden vier Konflikttypen (7 Kasten). Oft lassen sich die beschriebenen Konflikttypen nur schwer auseinander halten. Denn erstens haben Konflikte die Tendenz, sich eskalierend auszuweiten: Nach kurzer Zeit wird es viele Konfliktgegenstände geben, die sich kaum voneinander trennen lassen (Glasl, 1999). Häufig eskalieren Meinungsverschiedenheiten, die ganz sachlich begonnen haben, zu emotional stark aufgeladenen Beziehungskonflikten. So zeigt ein metaanalytischer Befund, dass Aufgaben- und Beziehungskonflike zu ρ=.54 korrelieren (durchschnittliche, reliabilitätskorrigierte Korrelation; De Dreu & Weingart, 2003a; mehr zur zitierten Metaanalyse in 7 Abschn. 9.2.3). Zweitens verhalten sich die Konfliktgegner oft taktisch: Sie geben vor, Standpunkte zu vertreten und Ziele zu verfolgen, die in Wahrheit keine Rolle spielen.
. Abb. 9.1. Soziale Konflikte in Arbeitsgruppen. (Nach Jehn & Bendersky, 2003)
124
Kapitel 9 · Konflikte in Organisationen
Konflikttypen (nach Rüttinger & Sauer, 2000) Bewertungskonflikte. Sie beruhen darauf, dass zwei oder mehr Parteien die Bedeutsamkeit eines Ziels unterschiedlich bewerten. Beispiel: Der Personalreferent will ein Trainingsprogramm des Unternehmens evaluieren; für ihn ist die wissenschaftliche Qualitätssicherung von großer Bedeutung. Der Personalvorstand lehnt eine Evaluation ab; für ihn stehen Aufwand und Ertrag einer solchen Maßnahme nicht im Verhältnis.
9
Beurteilungskonflikte. Sie entstehen, wenn zwei oder mehr Parteien zwar bereit sind, dasselbe Ziel zu verfolgen, sich aber darin uneins sind, wie es am besten zu erreichen ist. Beispiel: In der Geschäftsführung wird darüber diskutiert, wie sich die Rentabilität eines Geschäftsbereichs langfristig verbessern lässt. Die einen wollen in Forschung und Entwicklung investieren, um innovative Produkte auf den Markt zu bringen; die anderen sind dafür, Kosten zu reduzieren – auch im Forschungs- und Entwicklungsbereich.
9.1.2 Konfliktverhalten Auch das beobachtbare Konfliktverhalten ist Ausgangspunkt mehrerer Klassifikationsansätze (für eine Übersicht s. Van de Vliert & Janssen, 2001). Die folgende, ausführlich von Van de Vliert (1997) beschriebene Taxonomie ist weit verbreitet: 4 Vermeiden bzw. Untätigkeit: z. B. sich zurückziehen; das Problem ignorieren; ein klärendes Gespräch aufschieben; darauf hoffen, dass sich die Sache »von selbst« erledigen wird; sich Dingen zuwenden, die mit dem Konflikt nichts zu tun haben; 4 Sichanpassen bzw. Nachgeben: z. B. den Forderungen des Kontrahenten nachkommen; einseitige und bedingungslose Zugeständnisse machen; sich unterordnen; das eigene Anspruchsniveau absenken; 4 Kompromisseschließen: z. B. schrittweise die eigenen Forderungen reduzieren und den Verhandlungspartner drängen, dasselbe zu tun; die Zugeständnisse der Gegenseite in gleicher Weise erwidern; 4 Problemlösen bzw. Integrieren: kreativ nach Lösungen suchen, die geeignet sind, allen Seiten maxi-
Verteilungskonflikte. Sie liegen vor, wenn zwei oder mehr Parteien um knappe (und nicht teilbare) Ressourcen streiten; es kann dabei um Mittel gehen, die zur Aufgabenbewältigung benötigt werden, oder um Leistungsanreize (attraktive Positionen oder Arbeitsaufgaben, Statussymbole etc.). Beispiel: Zwei Kollegen bewerben sich auf die Position eines Gruppenleiters; nur einer kann befördert werden. Beziehungskonflikte. Sie entstehen, wenn sich eine Person durch die Aktivitäten ihrer Interaktionspartner herabgesetzt oder zurückgewiesen fühlt. Dieser Begriff des Beziehungskonflikts bezieht sich im Gegensatz zu dem vorher erörterten auf Gesichtsverluste; er geht von einer empfundenen Kränkung des Selbstwerts aus. Beispiel: Ein Mitarbeiter wird von einer anstehenden Neuerung in seinem Arbeitsbereich nicht informiert; er wird nicht gebeten, sich an der Entwicklung dieser Neuerung zu beteiligen. Damit wird ihm signalisiert, dass er in dieser Sache keine Rolle spielt.
male Erträge zu bescheren; in 7 Abschn. 9.3 werden diese Taktiken als integratives Verhandeln bezeichnet und etwas genauer dargestellt; 4 Kämpfen bzw. Sichdurchsetzen: z. B. mit Bestrafung oder Rückzug drohen; sich auf unveränderliche Positionen festlegen; die Gegenseite falsch oder unvollständig informieren; Intrigen anzetteln und Koalitionen schmieden. Van de Vliert (1997) plädiert für eine Ergänzung dieser Klassifikation, weil er die unterschiedlichen Spielarten des konfrontativen oder destruktiven Konfliktverhaltens nicht ausreichend berücksichtigt findet. Deshalb schlagen Van de Vliert und Janssen (2001) eine Taxonomie mit acht Kategorien oder Modi des Konfliktverhaltens vor (. Abb. 9.2). Ihr Modell knüpft an die beschriebene Klassifikation an, untergliedert die Strategie des Sichdurchsetzens aber nochmals in insgesamt vier Formen des Kämpfens, genauer: zwei Formen des indirekten (Prozesskontrolle und Widerstand) und zwei Formen des direkten Kampfes (Konfrontieren und Attackieren):
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© Taylor & Francis Group LLC-Books, Lawrence Erlbaum Associates, Inc. 2001
9.2 · Erklärende Ansätze
. Abb. 9.2. Modi des Konfliktverhaltens. (Nach Van de Vliert & Janssen, 2001)
4 Prozesskontrolle: z. B. auf bestimmte Regeln des Kommunizierens und Zusammenarbeitens pochen, um die Gegenseite auf diese Weise zu dominieren; 4 Widerstand: z. B. direkte Kontakte mit dem Kontrahenten vermeiden; intrigieren, sich passiv widersetzen, beispielsweise indem Entscheidungen aufgeschoben oder Aufgaben verschleppt werden; 4 Konfrontieren: z. B. mit Nachdruck den eigenen Standpunkt deutlich machen und eine Klärung der Situation einfordern; 4 Attackieren: offensive Taktiken, deren Ziel darin besteht, den Widerstand des Gegners zu brechen, den Widersacher zu besiegen. 9.2
Erklärende Ansätze
Der folgende Abschnitt geht auf die erklärenden Ansätze innerhalb der Konfliktforschung ein. Es werden zuerst einige Entstehungsbedingungen sozialer Konflikte in Organisationen beschrieben. Als Entstehungsbedingungen oder Konfliktursachen werden jene Gegebenheiten bezeichnet, die dazu führen, dass sich ein Konfliktgegenstand – eine störende Unvereinbarkeit – entwickelt und wahrgenommen wird. Ein zweiter Abschnitt ist den Verlaufsbedingungen sozialer Konflikte gewidmet, jenen Bedingungen also, die den Prozess der Konfliktaustragung – d. h. Erleben, Verhalten und Interaktion der Opponenten im Verlaufe des weiteren Konfliktgeschehens – beeinflussen. Abschließend werden die Folgen sozialer
Konflikte auf die Leistungen von Arbeitsgruppen und die Zufriedenheit der in ihr Tätigen betrachtet. 9.2.1 Konfliktentstehung Hier lässt sich lediglich eine kleine Auswahl typischer Konfliktursachen aus der gewaltigen Menge potenzieller Entstehungsbedingungen beschreiben. Die Ausführungen sind an der von Rüttinger und Sauer (2000) vorgeschlagenen Klassifikation sozialer Konflikte orientiert. Ausführlichere Darstellungen geben Rüttinger und Sauer selbst und ferner Regnet (2001). Bewertungskonflikte beruhen auf unvereinbaren Zielsetzungen und Bedürfnissen. Häufig stehen die persönlichen Ziele und Bedürfnisse der in einer Organisation Arbeitstätigen in Widerspruch zueinander (z. B. effektiv arbeiten vs. befriedigende soziale Kontakte haben) oder in Widerspruch zu den formalen Zielen der Organisation (z. B. interessante Tätigkeiten ausüben vs. Routineaufgaben bearbeiten). Bewertungskonflikte entstehen aber auch, weil die Konfliktgegner über ganz unterschiedliche Werthaltungen verfügen. Denn Normen und Werte stecken den Rahmen ab, innerhalb dessen Ziele als wünschenswert und akzeptabel gelten. Beurteilungskonflikte, die auf diskrepante Bewertungen eines Handlungsplans zurückgehen, beruhen wesentlich auf unterschiedlichen Wissensgrundlagen der Konfliktparteien. Denn aus unterschiedlichen Wissensbasen bezüglich des Zusammenhangs von Verhal-
126
9
Kapitel 9 · Konflikte in Organisationen
tensweisen, Randbedingungen und Verhaltenskonsequenzen resultieren unterschiedliche instrumentelle Überzeugungen, die ihrerseits dazu führen, dass Handlungspläne unterschiedlich beurteilt werden (instrumentelle Überzeugungen geben Antwort auf die Frage: »Was führt in dieser Situation mit größter Wahrscheinlichkeit zum anvisierten Ziel?«). In Situationen, die intransparent oder vieldeutig sind (häufig wird hierbei von Ambiguität gesprochen; die Frage »Wie soll ich mich hier verhalten?« ist nicht klar und eindeutig zu beantworten), kommt es verstärkt zu Beurteilungskonflikten. Denn Ambiguität erzeugt Beurteilungs- und Entscheidungsunsicherheit. Sie veranlasst die Beteiligten, willkürlich und subjektiv zu urteilen und vorliegende Informationen im Sinne der eigenen Standpunkte zu deuten. Auf diese Weise entstehen unvereinbare Bewertungen von Handlungsplänen. Erschwerend wirken Kommunikationsbarrieren (dort werden Informationen nicht weitergegeben). Sie verhindern, dass die Parteien ihre Wissensgrundlagen erweitern und aufeinander abstimmen können. Gelegentlich werden wichtige Informationen bewusst verfälscht oder unterschlagen, weil man sich davon persönliche Vorteile erhofft (Blickle & Solga, 2006). Das formelle Kommunikationssystem – also organisatorische Regelungen dazu, wer wann mit wem kommunizieren darf bzw. kommunizieren muss – enthält ebenfalls Barrieren: Nicht jeder darf alles wissen. Unterschiedliche Werthaltungen spielen auch für Beurteilungskonflikte eine wichtige Rolle, denn sie lassen nicht nur Ziele als erwünscht oder inakzeptabel erscheinen, sondern auch mögliche Mittel und Wege der Zielerreichung. Verteilungskonflikte, die darauf beruhen, dass zwei oder mehr Parteien unvereinbare Ansprüche stellen, entzünden sich an der Knappheit der beanspruchten Ressourcen (der technischen Ausrüstung, der Budgets, des Personals, attraktiver Aufgaben, von Belohnungen etc.). Das Ausmaß der Bedürfnisse übersteigt die vorhandenen Mittel. Die Wahrscheinlichkeit, dass alltägliche Verteilungsprozesse zu Verteilungskonflikten eskalieren, wird größer sein, wenn die betroffenen Personen über eine starke Wettbewerbsorientierung verfügen oder innerhalb der Organisation ein starkes Wettbewerbsklima herrscht (7 Abschn. 9.2). Beziehungskonflikte nach Rüttinger und Sauer (2001) wurzeln in einer erlebten Verletzung des Selbstwertgefühls, des Bedürfnisses, die eigene Person positiv zu bewerten und von anderen positiv bewertet zu wer-
den (Dauenheimer, Stahlberg, Frey & Petersen, 2002). Die Aktivitäten des einen stellen zentrale Aspekte im Selbstkonzept des anderen in Frage und werden als gesichtsverletzend empfunden. Häufig geschieht dies etwa im Zuge von Leistungsfeedback: Eine Rückmeldung wird als unsensibel und verletzend erlebt. Auch der Verdacht, von Kollegen geschnitten zu werden oder Opfer einer Intrige zu sein (Stresserfahrungen, die – länger und intensiv andauernd – als Mobbingerleben bezeichnet werden; Schwickerath, Carls, Zielke & Hackhausen, 2004; 7 Kap. 28), kann zum Ausgangspunkt eines intensiven Beziehungskonflikts werden. Abschließend sei auf zwei eng miteinander verbundene Konfliktursachen hingewiesen, die sich nicht eindeutig dem zugrunde gelegten Klassifikationsschema zuordnen lassen: unklare Verantwortlichkeiten und Entscheidungsbefugnisse. Herrscht nämlich innerhalb einer Arbeitsgruppe Uneinigkeit darüber, wer welche Aufgaben zu erledigen hat und wer zu welchen Entscheidungen berechtigt ist, so werden die Mitglieder unkoordiniert handeln und im Falle eines Misserfolgs darüber streiten, wer den Schaden zu verantworten hat. 9.2.2 Konfliktverlauf Die wissenschaftlichen Ansätze, deren Ziel es ist, den Verlauf sozialer Konflikte zu erklären, lassen sich in zwei Bereiche untergliedern (Van de Vliert, 1998; Van de Vliert & Janssen, 2001). Strukturorientierte Ansätze stellen die eher stabilen Randbedingungen des Konfliktverlaufs in den Vordergrund: die Organisationsstruktur, Persönlichkeitsmerkmale der Kontrahenten, die hierarchische Beziehung der Parteien etc. Prozessorientierte Ansätze sind auf die interaktionale Dynamik des Konfliktverlaufs, das Wechselspiel der Aktionen und Reaktionen, ferner die Eskalation sozialer Konflikte konzentriert. Ein typisches Beispiel für die prozessorientierten Ansätze stellt das Konflikteskalationsmodell von Glasl (1999) dar. Es beschreibt die Eskalationsdynamik, die Verschlimmerung sozialer Konflikte, in neun Stufen (7 Kasten »Stufen der Konflikteskalation«). Glasl (1999) postuliert fünf Basismechanismen der Konflikteskalation; beispielhaft sei ein Phänomen beschrieben, dass er als »wechselseitige Kausalitätsumkehrung bei gleichzeitiger Simplifizierung der Kausalitätsbeziehungen« (Glasl, 1999, S. 200) bezeichnet: Die Kontrahenten entwickeln unterschiedliche, nämlich
127 9.2 · Erklärende Ansätze
Stufen der Konflikteskalation (nach Glasl, 1999) 1. Verhärtung: Spannungen im Rahmen der alltäglichen Interaktionsbeziehung, die beidseitig insgesamt als harmonisch beurteilt wird 2. Polarisation und Debatte: Fixierung auf eigene Standpunkte; harte verbale Auseinandersetzungen 3. Taten statt Worte: ein starkes wechselseitiges Gefühl des Durch-den-anderen-Blockiertwerdens; die Konfliktgegner halten das Miteinanderreden zunehmend für sinnlos und versuchen, ihre Interessen aktional durchzusetzen – es gilt, vollendete Tatsachen zu schaffen 4. Sorge um Images und Koalitionen: die Auseinandersetzung wird zunehmend als ein Kampf um Sieg und Niederlage erlebt; starke Selbstüberhöhung und Abwertung der Gegenseite; Versuche, Koalitionen mit Unbeteiligten zu schmieden 5. Gesichtsverluste: wechselseitige Gesichtsangriffe – d. h. Versuche, die öffentlich wahrgenommene Integrität, Wirksamkeit und Gutwilligkeit des Gegners zu schädigen – und Gesichtsverluste; umfas-
selbstwertdienliche und die eigene Position rechtfertigende Ansichten darüber, wie und wann ihr Konflikt begonnen hat. Dabei nehmen sie die komplexen Kausalitätsbeziehungen stark vereinfacht wahr. Ferner kommt es typischerweise zu wechselseitigen Kausalitätsumkehrungen: Während Partei A ihr Verhalten als Reaktion auf die Aktivitäten des Kontrahenten B versteht, interpretiert B seine Aktivitäten als Reaktionen auf das Verhalten der Gegenseite A. Ein Beispiel: Während Müller glaubt, dass der Streit mit Meier angefangen habe, als Meier sich – ohne Müller zu fragen – Papier aus dessen Drucker nahm (Müller hätte es selbst dringend benötigt), ist Meier davon überzeugt, völlig zu Recht gehandelt zu haben; schließlich habe er Müller das Papier vor Wochen einmal geborgt und bis heute, trotz mehrfachen Nachfragens, nicht zurückerhalten. Die Kausalitätszuschreibungen der Kontrahenten sind unvereinbar und gegensätzlich – und sie werden selbst zu einem Streitgegenstand, der zur Eskalation des Konflikts beiträgt. Ein typisches Beispiel für die strukturorientierten Ansätze findet sich dagegen in einer Arbeit Mintzbergs
6.
7.
8.
9.
sende Ideologisierung des Konflikts: hier liege, so die Überzeugung der Parteien, eine direkte und harte Konfrontation ganz unterschiedlicher Welt- und Wertauffassungen vor Drohstrategien: extreme Drohmanöver, die zu einer starken Forcierung der Eskalation führen; kontraproduktive Überdosierung der Gewaltandrohungen mit dem Ziel, Kontrolle zurückzugewinnen Begrenzte Vernichtungsschläge: Gewaltanwendungen zielen auf eine Schädigung der Sanktionsmacht des Gegners; Aufkommen von Verlust-Verlust-Einstellungen: eigene Verluste werden akzeptiert, wenn es gelingt, dem anderen noch größere Verluste zuzufügen Zersplitterung: wechselseitige Versuche, die Existenzgrundlagen des Gegners zu vernichten; noch versuchen die Parteien, hierbei die eigenen Verluste zu minimieren Gemeinsam in den Abgrund: die Rivalen gehen auf einen totalen Kollisions- und Vernichtungskurs – ohne Rücksicht auf eigene Verluste
(1979), die sich der Ausgestaltung von Organisationsstrukturen widmet. Für unterschiedliche Ausprägungen der Organisationsstruktur, so Mintzberg, seien unterschiedliche Formen der Konfliktaustragung kennzeichnend: Organisationen, die durch ein hohes Maß an Zentralisierung und Standardisierung gekennzeichnet seien (d. h., die wirklich wichtigen Entscheidungen werden von Wenigen an der Spitze getroffen und die Abläufe sind bis ins Detail genau festgelegt), neigten demnach zur Unterdrückung sozialer Konflikte. In dynamischen Unternehmen, in denen nur ein geringes Ausmaß an Zentralisierung und Standardisierung vorherrsche, würden Konflikte tendenziell offen, kontrovers und zumeist konstruktiv ausgetragen. Soziale Interdependenztheorie Die soziale Interdependenztheorie von Deutsch (1973) verbindet struktur- und prozessorientierte Aspekte. Folgt man dieser Theorie, so ist das Konfliktverhalten der Opponenten abhängig von der wahrgenommenen Interdependenz ihrer Ziele, wobei Deutsch zwischen positiver und negativer Interdependenz unterscheidet (vgl.
9
128
9
Kapitel 9 · Konflikte in Organisationen
auch Tjosvold, 1998) – hierin zeigt sich der strukturorientierte Aspekt: Bei positiver Interdependenz sind die Ziele der Parteien gleichsinnig: Die Wahrscheinlichkeit, dass die eine Partei ihr Ziel erreicht, steigt in dem Maße, wie es auch der anderen gelingt, ihr Ziel zu erreichen. Beide Parteien können von einer Kooperation profitieren. Diese Konstellation findet sich typischerweise in Beurteilungsbzw. Aufgabenkonflikten: Die Mitglieder einer Arbeitsgruppe verfolgen ein gemeinsames Ziel, favorisieren aber unterschiedliche Handlungspläne bzw. streiten um die richtige Interpretation einer aufgabenrelevanten Information. Nehmen die Parteien eine positive Wechselbeziehung wahr, entwickeln sich freundliche Einstellungen zur Gegenseite; der Konflikt wird als ein Problem wahrgenommen, das konstruktiv und zur Zufriedenheit aller gelöst werden kann; die Parteien sind bereit, einander zu vertrauen, sich gegenseitig zu unterstützen und ihre Anstrengungen zu koordinieren; sie suchen Kontakt und kommunizieren offen. Tjosvold (1998) bezeichnet diese Form der Auseinandersetzung als konstruktive Kontroverse. Bei negativer Interdependenz sind die Ziele der Parteien antagonistisch. In dem Maße, wie die Wahrscheinlichkeit steigt, dass die eine Partei ihr Ziel erreicht, muss die andere fürchten, ihr Ziel zu verfehlen. Eine solche Situation wird als Nullsummenspiel bezeichnet: Die Erträge der einen und die Verluste der anderen addieren sich zu null. Zwischen den Rivalen besteht ein echtes Wettbewerbs- oder Konkurrenzverhältnis. Dies ist die Situation eines Verteilungskonflikts. Ist die Interdependenz der Ziele negativ, wachsen feindschaftliche Einstellungen; der Konflikt erscheint beiden Parteien als ein Machtkampf, der gewonnen oder verloren wird; die Gegner sind nicht bereit, miteinander zu kooperieren; sie meiden den Kontakt und agieren taktisch; mit großer Wahrscheinlichkeit kommt es, wie zuvor beschrieben, zu einer Eskalation des Konflikts. Die wahrgenommene positive oder negative Interdependenz – hier zeigt sich der prozessorientierte Aspekt der Theorie – setzt Interaktionsprozesse in Gang, in welchen die Parteien zunehmend reziprok aufeinander reagieren: Kooperatives Verhalten wird durch kooperatives Verhalten beantwortet, kompetitives Verhalten provoziert kompetitives Verhalten. Deutsch (1973) bezeichnet diesen Mechanismus als »crude law of social relationships«, die simple Grundregel sozialer Beziehungen (»wie du mir, so ich dir«).
In der Regel verfügen die Mitglieder einer Arbeitsgruppe sowohl über positiv interdependente als auch über negativ interdependente Ziele. Dann ist, so Deutsch (1973), die relative Stärke der erlebten positiven und negativen Interdependenzbeziehungen entscheidend. Sie bestimme, ob im Erleben der Parteien eher der Eindruck einer positiven oder aber der Eindruck einer negativen Abhängigkeit vorherrsche. Die Opponenten werden dann entweder eindeutig kooperativ oder aber eindeutig kompetitiv agieren. Dual-Concern-Modell Das sog. Dual-Concern-Modell (Pruitt & Carnevale, 1993; Rubin, Pruitt & Kim, 1994) postuliert, dass das Verhalten im Kontext sozialer Konflikte durch zwei Motive bestimmt werde: durch ein als Eigeninteresse bezeichnetes Selbstbehauptungsmotiv und ein Unterstützungsoder Kooperationsmotiv, das als Fremdinteresse bezeichnet wird. Eigeninteresse ist das Bedürfnis, persönliche Ziele und Interessen zu verwirklichen; Fremdinteresse ist das Interesse daran, dass auch die Gegenseite ihre Ziele erreichen und ihre Erträge maximieren möge. Es wird angenommen, dass beide Motive unabhängig voneinander existieren und unterschiedlich stark ausgeprägt sein können. Damit gelingt es, die Einseitigkeit der individualistischen Perspektive zu überwinden, derzufolge Menschen stets egoistisch darauf bedacht sind, eigene Vorteile zu maximieren. Zugleich werden jene Konzeptionen verworfen, in denen Eigeninteresse und Fremdinteresse als Pole eines Kontinuums – Wettbewerbsorientierung vs. Kooperativität – betrachtet werden. Ein hohes Interesse am Gewinn der Gegenseite kann dabei entweder genuin und wahrhaftig sein und dann auf Sympathie, einer gemeinsamen Gruppenzugehörigkeit oder einer positiven Grundstimmung usw. beruhen. Oder es ist taktisch und instrumentell und soll letztlich dem eigenen Vorteil dienen, weil man eine gute Basis für die künftige Zusammenarbeit schaffen will oder hofft, bei einflussreichen Dritten einen guten Eindruck zu machen (Rubin et al., 1994). Die Stärke des Interesses am eigenen Gewinn ist abhängig u. a. von der erlebten Wichtigkeit und Dringlichkeit der zugrunde liegenden Bedürfnisse, von der Wichtigkeit und Dringlichkeit anderer Bedürfnisse, um deren Verwirklichung man sich ebenfalls kümmern will, vom Ausmaß des sozialen Harmoniebedürfnisses (Konfliktangst) der Parteien oder von der sozialen Verantwortung, die die Parteien tragen, wenn sie stellvertretend für Dritte verhandeln.
129 9.2 · Erklärende Ansätze
. Abb. 9.3. Das Dual-Concern-Modell. Fünf prototypische Kombinationen unterschiedlicher Ausprägungsgrade von Fremdinteresse und Eigeninteresse ergeben fünf Strategien des Konfliktmanagements
Die Ausprägungsgrade des Eigen- und des Fremdinteresses bestimmen die Wahl des Konfliktverhaltens, so die Vetreter des Dual-Concern-Modells. Dabei werden fünf prototypische Verhaltensstrategien unterschieden (. Abb. 9.3). Es sind die in 7 Abschn. 9.1.2 erörterten Strategien des Vermeidens, des Nachgebens, des Problemlösens, des Sichdurchsetzens und des Kompromisseschließens. Zwar kann das Dual-Concern-Modell vorhersagen, welche Verhandlungsstrategie bei einer gegebenen Ausprägung der beiden Dimensionen prinzipiell bevorzugt wird. Seit einigen Jahren diskutieren insbesondere Van de Vliert und Kollegen (zusammenfassend Van de Vliert, 1997; Van de Vliert & Janssen, 2001) aber ein Problem, das die eindeutige Zuordnung von Aktivitäten zu obigen Strategien oder Modi des Konfliktverhaltens betrifft: Konkretes Konfliktverhalten erweist sich häufig als ein Konglomerat aus ganz unterschiedlichen Verhaltensweisen; selten agieren die Kontrahenten eindeutig und ausschließlich im Sinne einer einzigen Strategie (etwa reines kooperatives Problemlösen oder reines Durchsetzen der eigenen Forderungen auf Biegen und Brechen). Hier setzt die Hypothese der wahrgenommenen Durchführbarkeit (Rubin et al., 1994) an: Antizipiert die Person, dass ihre bevorzugte Strategie erfolglos bleiben wird, greift sie ad hoc auf Taktiken jener Alternativstrategien zurück, die mit größter subjektiver Wahrscheinlichkeit geeignet sind, das vorherrschende Interesse zu verwirklichen.
Kognitive Prozesse Das Konfliktverhalten der Parteien wird natürlich auch durch kognitive Prozesse beeinflusst. Pinkley (1990; Pinkley & Northcraft, 1994) bezeichnet die Art und Weise, wie die Opponenten den Konfliktgegenstand wahrnehmen und interpretieren, als »conflict framing« (also etwa: Einrahmung des Konflikts). Dabei bezeichnet der Begriff »conflict frame« eine individuelle Wahrnehmungsorientierung der Person, die ihre Informationssuche und -verarbeitung sowie die Aktivierung relevanter Gedächtnisinhalte beeinflusst und auf diese Weise eine handlungsleitende Wirkung entfaltet. Pinkley unterscheidet drei Dimensionen dieser perzeptiven Grundorientierung einer Konfliktpartei: 4 emotional vs. intellektuell: Individuen mit einer emotionalen Orientierung achten in besonderer Weise auf die Emotionen (Ärger, Eifersucht, Furcht etc.), die den Konflikt begleiten; Personen mit intellektueller Orientierung sind auf das Verhalten und die Verhaltenskonsequenzen konzentriert; 4 kooperativ vs. kompetitiv: Menschen mit kooperativer Orientierung achten auf Möglichkeiten, die Erträge beider Parteien zu maximieren; Personen mit einer kompetitiven Orientierung erleben den Konflikt als ein Nullsummenspiel; 4 beziehungsorientiert vs. sachorientiert: Individuen mit einer Beziehungsorientierung achten auf die wechselseitigen Bedürfnisse und darauf, eine gute Beziehung zur Gegenseite aufrechtzuerhalten; Personen mit einer Sachorientierung fokussieren auf die materiellen Aspekte des Konflikts: die Verteilung von Ressourcen, die Klärung von Eigentumsrechten etc. Darüber hinaus werden zahlreiche urteilsverzerrende Voreinstellungen (sog. Biases) erörtert, die das Erleben und Verhalten von Parteien vornehmlich in Verteilungskonflikten beeinflussen. Eine sehr ausführliche Darstellung dieser Voreinstellungen findet sich bei Bazerman (2006). Im Folgenden sollen drei Aspekte beispielhaft erörtert werden: Anker-Effekte. Diese Effekte stellen zunächst ein ganz
allgemeines Phänomen der menschlichen Urteils- und Entscheidungsbildung dar. Dabei sind zwei Vorbedingungen entscheidend: 1. Eine Person wird aufgefordert, innerhalb eines wenig vertrauten Wissensbereichs einen bestimmten Wert zu schätzen (z. B. »Aus wie vielen Nervenzellen besteht das menschliche Gehirn? Schätzen Sie
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9
Kapitel 9 · Konflikte in Organisationen
die genaue Anzahl!«). 2. Es wird ein bestimmter Wertebereich akzentuiert (z. B. »Sind es mehr oder weniger als 100 Millionen?«). Unter diesen Bedingungen neigen Menschen dazu, den akzentuierten Wertebereich als Ausgangs- oder Ankerpunkt für das eigene Urteil zu verwenden: Von diesem Ankerpunkt werden sie sich nur unweit entfernen und so ein unzureichendes Urteil treffen, sollte der tatsächliche Wert sehr viel weiter entfernt liegen (zu obigem Beispiel: wissenschaftlichen Schätzungen zufolge besteht das menschliche Gehirn in Wirklichkeit aus etwa 100 Milliarden Nervenzellen). Das generelle Phänomen des Anker-Effekts ist von großer Bedeutung, wenn zwei Parteien versuchen, einen Verteilungskonflikt durch Verhandeln beizulegen (mehr dazu in 7 Abschn. 9.3). So haben ganz bestimmte, zuvor erzielte Verhandlungsresultate häufig einen ankernden Effekt. Zu wissen, dass ein Kollege bei Gehaltsverhandlungen ein bestimmtes Ergebnis erzielt hat, mag dazu führen, ähnliche Beträge auch für die eigene Person zu fordern. Sollte diese Forderung die Konzessionsbereitschaft der Gegenseite bei weitem übersteigen, ist der Verhandlungsprozess erschwert. Ein weiterer Aspekt: Erfahrene Verhandlungsparteien wissen, dass sie das Verhandlungsergebnis durch eine extrem hohe Anfangsforderung beeinflussen können. Durch die Extremforderung wird taktisch ein günstiger Ankerpunkt festgelegt, der den später erzielten Kompromiss deutlich beeinflussen wird. Fixed-Pie-Überzeugung. Der metaphorische Begriff des
»festgelegten Kuchens« kennzeichnet die Tendenz, den Umfang der verteilbaren Ressourcen als begrenzt und nicht veränderbar wahrzunehmen (Größe und Stückelung des Kuchens sind eindeutig festgelegt) und zugleich davon auszugehen, dass die involvierten Parteien gleichartige Bedürfnisse haben, die die Menge der verfügbaren Ressourcen übersteigen. Dann bedeuten die Gewinne der einen Partei stets Verluste für die andere – die Situation des Nullsummenspiels. Diese Voreinstellung hat ein stark wettbewerbsorientiertes, wenig flexibles Verhalten zur Folge.
9.2.3 Konfliktfolgen Die Auswirkungen sozialer Konflikte sind Gegenstand eines Forschungsansatzes, der sich wie folgt beschreiben lässt: Untersucht werden die Effekte sozialer Konflikte auf die gemeinschaftlich und arbeitsteilig erbrachte Leistung von Arbeitsgruppen und die Zufriedenheit der einzelnen Gruppenmitglieder. Üblicherweise wird in diesen Untersuchungen zwischen Aufgaben- und Beziehungskonflikten im Sinne der Typologie aus . Abb. 9.1 unterschieden. Forschungsleitend ist die Frage, ob sich Konflikte generell negativ oder manchmal auch positiv auswirken können. Eine metaanalytische Zusammenfassung der Befunde findet sich bei De Dreu und Weingart (2003a; . Tab. 9.1); Jehn und Bendersky (2003) resümieren die Ergebnisse narrativ. Zunächst ein Blick auf die metaanalytischen Befunde zur Auswirkung sozialer Konflikte auf die Zufriedenheit der einzelnen Gruppenmitglieder: Sowohl Beziehungskonflikte (durchschnittliche, reliabilitätskorrigierte Korrelation ρ=–.54) als auch Aufgabenkonflikte (ρ= –.32) korrelieren signifikant negativ mit der erlebten Zufriedenheit. Je stärker und je häufiger die Konflikte, desto geringer dieselbe. Ergänzen lassen sich diese Be-
. Tab. 9.1. Zusammenhänge zwischen Beziehungs- und Aufgabenkonflikten einerseits und Arbeitsgruppenleistung bzw. Mitarbeiterzufriedenheit andererseits. (Nach De Dreu & Weingart, 2003a) k
N
ρ
Var(ρ)
95% CI
Beziehungskonflikt
14
1370
–.54
0.25
–.57, –.52
Aufgabenkonflikt
12
1048
–.32
0.24
–.35, –.28
Beziehungskonflikt
24
1808
–.22
0.22
–.25, –.19
Reaktive Abwertung. Dies bezeichnet die automatische
Aufgabenkonflikt
25
1726
–.23
0.18
Tendenz, die Zugeständnisse oder Lösungsvorschläge der Gegenseite abzuwerten, ohne ihr integratives, d. h. ihr beiderseitig günstige Verhandlungsergebnisse ermöglichendes Potenzial zu erkennen, weil sie eben vonseiten des Kontrahenten stammen.
–.26, –.20
k Anzahl der Korrelationen; N Gesamtstichprobengröße; ρ durchschnittliche korrigierte Korrelation; Var(ρ) Varianz von ρ; 95% CI unterer und oberer Wert des 95-prozentigen Konfidenzintervalls um ρ
Zufriedenheit
Leistung © American Psychological Association 2003
130
131 9.2 · Erklärende Ansätze
funde durch Daten, die auf positive Zusammenhänge zwischen Konflikten am Arbeitsplatz und psychosomatischen Beschwerden hindeuten (zusammenfassend De Dreu & Weingart, 2003b). Beziehungskonflikte beeinträchtigen die Zufriedenheit dabei substanziell stärker als Aufgabenkonflikte. Dieser Befund dürfte sich dadurch erklären lassen, dass Beziehungskonflikte psychologisch von größerer Bedeutung für Identität und Selbstwert der beteiligten Individuen sind. Nun ein Blick auf die metaanalytischen Befunde zur Auswirkung sozialer Konflikte auf die Leistung von Arbeitsgruppen: Beziehungskonflikte (ρ=–.22) und ebenso Aufgabenkonflikte (ρ=–.23) korrelieren signifikant negativ mit der Gruppenleistung: Je stärker die erlebten Beziehungskonflikte und je stärker die erlebten Aufgabenkonflikte, desto schwächer die Leistungen der Arbeitsgruppe. Dieser letzte Befund – Aufgabenkonflikte reduzieren die Arbeitsleistung – ist nicht trivial: Er widerspricht der vielfach vertretenen Überzeugung, dass die Effekte sozialer Konflikte nicht generell negativ sind, sondern unter bestimmten Umständen von Vorteil sein können (vgl. den Sammelband von De Dreu & Van de Vliert, 1997). Diese Auffassung besagt Folgendes: Während sich Beziehungskonflikte stets nachteilig auf die Arbeitsleistung auswirken, weil die Kontrahenten kognitive und emotionale Ressourcen in ein zusätzliches und im Sinne der beruflichen Aufgabe irrelevantes Problem investieren müssen, können Aufgabenkonflikte die Effektivität der Arbeitsgruppe positiv beeinflussen. Denn Aufgabenkonflikte intensivieren die aufgabenrelevante Informationsverarbeitung der Beteiligten. Der Konflikt zwingt die Kontrahenten dazu, bedeutsame Informationen zu suchen, zu bewerten und in ein Gesamtbild zu integrieren. Auf diese Weise optimieren die Parteien ihre zur erfolgreichen Bewältigung der Aufgabe erforderlichen Wissensgrundlagen; sie entwickeln ein verbessertes Problemverständnis und können folglich eine angemessenere Lösung erarbeiten. Die metaanalytischen Befunde von De Dreu und Weingart (2003a) widersprechen dieser Annahme jedoch. Die große Unterschiedlichkeit der Einzelbefunde, die in die Metaanalyse eingegangen sind, deutet aber darauf hin, dass der Zusammenhang zwischen Aufgabenkonflikten und Leistung durch Drittvariablen beeinflusst wird. Eine günstige Konstellation dieser Drittvariablen, so etwa Jehn und Bendersky (2003), könnte deutlich reduzierte negative, vielleicht sogar positive Zusammenhänge zwischen Aufgabenkonflikten und Leistung zur Folge haben. Folglich gelte es, die Wirkungen potenzieller
Moderatorvariablen zu untersuchen und diese Randbedingungen entsprechend auszugestalten. Nachfolgende Größen werden gegenwärtig als Moderatoren diskutiert (vgl. Jehn & Bendersky, 2003; auch . Abb. 9.4): 4 das Ausmaß der Aufgabenunsicherheit (auch Routinisiertheit oder Komplexität), d. h. die Anzahl der möglichen Handlungsalternativen, die zur Bewältigung der Aufgabe zur Verfügung stehen, und die Vorhersagbarkeit ihrer Effekte; 4 die kooperative (positive) vs. kompetitive (negative) Interdependenz der Gruppenmitglieder im Sinne der bereits erörterten Interdependenztheorie von Deutsch (1973); 4 die Diversität (Unterschiedlichkeit) der Arbeitsgruppe in Bezug auf Expertise, demographische Merkmale, Werthaltungen der Gruppenmitglieder; 4 das Vorliegen von Gruppennormen bzw. eines Teamklimas der Offenheit und Toleranz gegenüber Meinungsverschiedenheiten; 4 die Konfliktmanagementstrategieder Kontrahenten – kooperatives Problemlösen vs. einseitiges Duchsetzen eigener Interessen – und das eventuelle Hinzuziehen einer neutralen bzw. allparteilichen und hilfreichen dritten Partei (sog. Mediation; 7 Abschn. 9.3); 4 die interpersonale Affektivität der Kontrahenten (positive Grundstimmung vs. negative Affekte im Konfliktprozess – Ärger, Neid etc. – und das resultierende expressive Verhalten). Im Folgenden soll die Rolle der Aufgabenunsicherheit beispielhaft diskutiert werden. Einige Autoren (u. a. Jehn, 1995) vertreten die Auffassung, dass sich Beziehungskonflikte unabhängig von der Aufgabenunsicherheit stets negativ auf die Gruppenleistung auswirkten, während für Aufgabenkonflikte gelte: Sie beeinträchtigen die Gruppenleistung, wenn einfache, stark routinisierte Aufgaben vorliegen, weil sie den reibungslosen Ablauf bereits etablierter Prozesse stören; und sie fördern die Gruppenleistung, wenn komplexe, nicht routinisierte Aufgaben zu bewältigen sind, weil sie die Informationssuche forcieren und damit zur Optimierung der erfolgskritischen Wissensgrundlagen beitragen. Die Metaanalyse von De Dreu und Weingart (2003a) weist allerdings in die entgegengesetzte Richtung: Je komplexer die zu bewältigende Aufgabe, desto stärker der negative Zusammenhang zwischen Aufgabenkonflikten und Gruppenleistung (Gleiches gilt erwartungsge-
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132
Kapitel 9 · Konflikte in Organisationen
. Abb. 9.4. Modell des Zusammenhangs von Konflikttypen, Moderatorvariablen und Leistung bzw. Zufriedenheit
9
mäß für Beziehungskonflikte). Die durch das Konflikterleben kontraproduktiv in Anspruch genommenen kognitiven Ressourcen, so erklären De Dreu und Weingart (2003a) die Ergebnisse, werden in einem stärkeren Maße bei komplexen Aufgaben benötigt; so führt ihr Fehlen dort auch zu einer stärkeren Leistungsminderung. 9.3
Präskriptive Ansätze
Präskriptive Ansätze formulieren Handlungsempfehlungen zur Konfliktvermeidung und zur Konfliktbeilegung. Rüttinger und Sauer (2000) geben zahlreiche Hinweise, wie sich Konflikte in Organisationen vermeiden lassen. Stellvertretend für die große Zahl der Maßnahmen, die geeignet sind, bereits existierende Konflikte konstruktiv beizulegen, werden nachfolgend einige Techniken des sog. integrativen Verhandelns erörtert. Zunächst einige Anmerkungen zur Strategie des Verhandelns selbst (vgl. Thompson, 2006; Thompson & Fox, 2001): Verhandeln meint die Beilegung eines Verteilungskonflikts durch wechselseitiges Kommunizieren von Angeboten und Zugeständnissen – die Parteien tauschen Vorschläge und Gegenvorschläge aus, bis eine Lösung bzw. Vereinbarung gefunden ist, die von beiden Seiten akzeptiert werden kann. Nehmen die Verhandlungspartner die Unterstützung einer neutralen bzw.
allparteilichen dritten Person in Anspruch, wird von Mediation gesprochen (Montada & Kals, 2001). Der Mediator steuert den Kommunikations- und Verhandlungsprozess mit dem Ziel, eine allseits zufriedenstellende Konfliktlösung herbeizuführen; die Entscheidungsmacht verbleibt bei den Konfliktparteien. Als integrativ werden jene Verhandlungsstrategien und -techniken bezeichnet, die darauf abzielen, die Menge der aufteilbaren Ressourcen kooperativ zu vergrößern (metaphorisch ist häufig von »expanding the pie« – »den Kuchen vergrößern« – die Rede) und die Erträge aller Parteien zu maximieren, d. h. sog. »Winwin-Lösungen« herbeizuführen (Thompson & Fox, 2001). Im Rahmen der Klassifikationen des Konfliktverhaltens, die in 7 Abschn. 9.1.2 erörtert wurden, wären sie als Facetten des Problemlösens zu bezeichnen. Im Folgenden – und das vorliegende Kapitel über soziale Konflikte abschließend – einige Techniken des integrativen Verhandelns (ausführlicher beispielsweise Pruitt & Carnevale, 1993): Explikation zugrunde liegender Anliegen. Alle Verhandlungsparteien offenbaren die ihren Forderungen zugrunde liegenden Bedürfnisse und Interessen. Häufig zeigt sich dabei, dass zwar nicht die kommunizierten Forderungen, wohl aber die zugrunde liegenden Anliegen der Konfliktparteien integrierbar sind und eine allseits zufrieden stellende Lösung erreicht werden kann.
133 9.3 · Präskriptive Ansätze
Illustriert wird dies durch das Gleichnis der zwei Schwestern, die um eine Orange streiten (Fisher, Ury & Patton, 1984): Explizit fordern beide die Frucht für sich; gelingt es den Schwestern jedoch herauszufinden, dass die eine einen Kuchen backen will und dafür die Orangenschale benötigt, während die andere nur Saft trinken möchte, wäre eine allseits zufrieden stellende Lösung möglich. Tradeoff oder Logrolling. Jede Verhandlungspartei bildet zunächst eine Rangfolge ihrer Interessen. Anschließend tauschen die Parteien systematisch Zugeständnisse aus und zwar so, dass die erste Partei in einem unwichtigen Punkt nachgibt, der für die Gegenseite von großer Bedeutung ist, während die zweite Partei ihrerseits in einem bedeutungslosen Punkt nachgibt, welcher der ersten Partei wichtig ist. Folgende Leitfragen sind dabei hilfreich: Welche Anliegen oder Ressourcen sind von hoher, welche von niedriger Priorität für Partei A? Welche Anliegen oder Ressourcen sind von hoher, welche von niedriger Priorität für B? Sind einige hoch prioritäre Anliegen oder Ressourcen der Partei A zugleich unbedeutend für B und umgekehrt?
Systematisches Prüfen von Lösungsmöglichkeiten.
Für jedes ihrer Ziele formuliert Partei A mehrere Lösungsmöglichkeiten und stellt diese der Gegenseite B vor. B darf die unterschiedlichen Lösungsmöglichkeiten bewerten und erklärt, welche Alternative von ihr akzeptiert werden kann. Falls keine einzige Variante akzeptierbar ist, beginnt der Prozess von Neuem, jetzt mit einem weiteren Ziel der Partei A. Dieser Prozess wird fortgesetzt, bis die Partei B einen Lösungsvorschlag akzeptieren kann. Unspezifische Kompensationen. Der Gegenseite wird
eine Kompensation für ihr Zugeständnis angeboten, die bisher noch gar nicht gefordert wurde. Folgende Leitfragen sind hilfreich, um unspezifische Kompensationsmöglichkeiten zu entdecken: Welches sind wichtige Bedürfnisse, Ziele und Werte der Gegenpartei? Was kann Partei A tun, um wichtige Bedürfnisse, Ziele und Werte von B zu befriedigen? Auf diese Art und Weise werden häufig sehr kreative, allseits geschätzte Lösungen erzielt. Kosten reduzieren (»cost-cutting«). Die eine Partei be-
kommt, was sie sich wünscht. Im Gegenzug muss sie etwas tun, das die Kosten der Gegenseite reduziert oder gar eliminiert.
Zusammenfassung 4 Soziale Konflikte bezeichnen das spannungsvolle Erleben einer Unvereinbarkeit der Ansichten oder Interessen mindestens zweier Parteien. 4 Deskriptive Ansätze der Konfliktforschung versuchen, die Erscheinungsformen sozialer Konflikte systematisierend zu beschreiben. 4 Auf der Ebene der Konfliktgegenstände wird häufig zwischen Aufgaben- und Beziehungskonflikten unterschieden. 4 Mit Blick auf das manifeste Konfliktverhalten wird oft zwischen Vermeiden, Sichanpassen, Kompromisseschließen, Problemlösen und Kämpfen/Sichdurchsetzen differenziert. 4 Erklärende Ansätze beschreiben den Zusammenhang zwischen Entstehungs- und Verlaufsbedingungen, Konfliktverhalten und Auswirkungen desselben. 4 Die soziale Interdependenztheorie beschreibt das Konfliktverhalten zweier Parteien als Funktion der positiven oder negativen wechselseitigen Abhängigkeit ihrer Ziele.
4 Das Dual-Concern-Modell postuliert, dass das Verhalten im Kontext sozialer Konflikte durch zwei Motive bestimmt werde: ein Selbstbehauptungsmotiv (Eigeninteresse) und ein Unterstützungs- oder Kooperationsmotiv (Fremdinteresse). 4 Sowohl Beziehungskonflikte als auch Aufgabenkonflikte reduzieren die Zufriedenheit und ebenso die Leistung von Mitarbeitern. 4 Präskriptive Ansätze formulieren Handlungsempfehlungen zur Konfliktvermeidung und zur Konfliktbeilegung. 4 Ziel des integrativen Verhandelns ist es, Lösungen herbeizuführen, die die Vorteile oder Erträge aller Parteien maximieren. 4 Zu den Techniken integrativen Verhandelns gehört das Explizieren der Anliegen oder Bedürfnisse, die den Forderungen der Parteien zugrunde liegen, und das offene Austauschen substanzieller Zugeständnisse, die sich an den Bedürfnissen der Verhandlungspartner orientieren, sog. Tradeoff oder Logrolling.
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134
Kapitel 9 · Konflikte in Organisationen
L Weiterführende Literatur Blickle, G. & Solga, M. (2006). Einfluss, Konflikte, Mikropolitik. In H. Schuler (Hrsg.), Lehrbuch der Personalpsychologie (2. Aufl., S. 611–650). Göttingen: Hogrefe. Regnet, E. (2007). Konflikt und Kooperation. Göttingen: Hogrefe.
Literatur
9
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10
10 Organisationsdiagnose 10.1
Definition und Ziele – 136
10.2
Aufgaben
10.3
Modell- vs. fallorientierte Organisationsdiagnose
10.3.1 10.3.2
Ein Modell des Verhaltens in Organisationen Modellgestützte Diagnose – 140
10.4
Phasen der Organisationsdiagnose – 140
10.4.1 10.4.2 10.4.3 10.4.4 10.4.5 10.4.6 10.4.7
Einführungsphase – 141 Erkundungsphase – 141 Planungsphase – 141 Durchführung der Hauptuntersuchung – 143 Datenverarbeitung – 143 Datenaufbereitung und Interpretation – 144 Präsentation – 144
10.5
Der Wert von Organisationsdiagnosen – 145 Literatur
– 137
– 146
– 138
– 138
136
Kapitel 10 · Organisationsdiagnose
> Gegenstand der Organisationspsychologie ist das menschliche Erleben und Verhalten in Organisationen. Da menschliches Erleben und Verhalten immer auch von seiner Umwelt, d. h. im hier interessierenden Fall von den Merkmalen einer bestimmten Organisation, beeinflusst wird, sollte diese bei der Beschreibung und Erklärung berücksichtigt werden. Zu diesem Zweck muss die Wissenschaft zum einen über theoretische Modelle der Organisation, zum anderen über eine Methodologie zur Diagnose unterschiedlicher Merkmale konkreter Organisationen verfügen. Aufgrund dieser allgemeinen Überlegungen sollte man meinen, dass der Organisationsdiagnose eine zentrale Bedeutung in der Organisationspsychologie zukommt. Tatsächlich hat aber dieses Feld im Vergleich zur Personendiagnostik (7 Kap. 17) bislang nur relativ wenig Beachtung in der psychologisch orientierten Wissenschaft gefunden. Das mag daran liegen, dass andere Wissenschaften, vor allem die Betriebswirtschaftslehre und die Organisationssoziologie die Diagnose oder – wie es in diesen Wissenschaften gewöhnlich heißt – die Analyse von Organisationen als eine ihrer genuinen Aufgaben verstehen. Die von diesen Wissenschaften entwickelten Modelle und Methoden der Organisationsdiagnose entsprechen aber in der Regel nicht den spezifischen Anforderungen der Arbeits- und Organisationspsychologie. Daher werden im Folgenden die wichtigsten Aspekte einer psychologisch orientierten Organisationsdiagnose dargestellt.
10.1
10
Definition und Ziele
Da der Begriff Organisation in verschiedenen Bedeutungen verwendet wird (vgl. Schulte-Zurhausen, 2002), muss zunächst der Gegenstand der Diagnose geklärt werden. Wenn man von Organisationsdiagnose spricht, ist immer der sog. institutionale Organisationsbegriff gemeint (7 Kap. 4). Institutional betrachtet ist eine Organisation ein gegenüber der Umwelt offenes System, das zeitlich überdauernd existiert, spezifische Ziele verfolgt, sich aus Individuen oder Gruppen zusammensetzt – also ein soziales Gebilde ist –, und eine bestimmte Struktur aufweist, die meist durch Arbeitsteilung und eine Hierarchie der Verantwortung gekennzeichnet ist (von Rosenstiel, 2003). Bei diesem Verständnis von Organisation hat das Verhalten der Personen im Sinne ihrer regelgeleiteten Handlungen besondere Bedeutung. Definition Die psychologische Organisationsdiagnose dient dazu, »das regelhafte Erleben und Verhalten der Organisationsmitglieder zu beschreiben, zu erklären und zu prognostizieren mit dem Ziel der Aufdeckung organisationaler Handlungsfelder und der Vorbereitung von Organisationsentwicklungsmaßnahmen« (Kleinmann & Wallmichrath, 2004, S. 654; vgl. auch Büssing, 2004; Kühlmann & Franke, 1989).
Eine so verstandene Organisationsdiagnose interessiert sich für Unterschiede zwischen Organisationen oder Organisationseinheiten mit Blick auf die Wirkung ihrer Strukturen und Prozesse auf die Mitglieder der Organisation sowie für die Rückwirkungen, die deren Verhalten auf die Strukturen und Prozesse hat. Die Definition von Kleinmann und Wallmichrath (2004) weist bereits darauf hin, dass eine Organisationsdiagnose immer zielbezogen erfolgt. Diese Ziele können rein wissenschaftlicher Natur sein, dann geht es gewöhnlich um grundlegende Fragen der Wirkung der Organisation auf das menschliche Erleben und Verhalten. Sehr viel häufiger werden damit aber Ziele verfolgt, die aus der Organisationspraxis entspringen. In diesen Fällen dient eine Organisationsdiagnostik dazu, entweder bereits durchgeführte Änderungsmaßnahmen zu evaluieren (vgl. Wottawa & Thierau, 2003), oder aber solche Veränderungen vorzubereiten. Die Organisationsdiagnose soll den Ist-Zustand mit den Stärken und Schwächen der Struktur feststellen, aus denen sich dann Interventionsmaßnahmen ableiten lassen. Dabei kann allein die Diagnose schon eine Form der Intervention sein, da sie die Reflexion über die Organisation in Gang setzt und bestimmte Erwartungen bezüglich ihrer Änderung befördert (Harrison & Shirom, 1999).
137 10.2 · Aufgaben
10.2
Aufgaben
Aufgrund der hohen Komplexität kann – trotz des Namens – natürlich niemals eine Organisation als Ganzes diagnostiziert werden. Die Diagnose erfordert notwendigerweise jeweils eine Schwerpunktsetzung. Eine solche kann thematisch erfolgen, dann lassen sich z. B. Diagnosen des Betriebsklimas (von Rosenstiel & Bögel, 1992), der Organisationskultur (Müller, 1999; 7 Kap. 11) oder noch spezieller der Lernkultur einer Organisation (Sonntag, Stegmaier& Schaper, 2006) unterscheiden. Eine andere Einteilung folgt aus den je spezifischen Aufgaben, die mit der Diagnose verfolgt werden. Diese Aufgaben sind allerdings weit gestreut, deshalb haben Lawler, Nadler und Cammann (1980; vgl. Büssing, 2004) sie nach den Zielgruppen, an die sich die Ergebnisse von Organisationsdiagnosen richten, gegliedert. Sie unterscheiden drei Gruppen von Personen, die sich für solche Ergebnisse interessieren können:
4 Mitglieder der Organisation, d. h. sowohl Management als auch die Mitarbeiter; 4 externe Parteien, z. B. Kapitaleigner oder politische Gruppierungen; 4 Wissenschaftler. Für Mitglieder der Organisation, besonders für Vertreter des Managements sollen Organisationsdiagnosen die in der Übersicht zusammengestellten Aufgaben erfüllen. Zwar verweisen Lawler et al. (1980) ausdrücklich darauf, dass Organisationsdiagnosen auch Aufgaben für die Mitarbeiter erfüllen können, allerdings überwiegen hier die Interessen des Managements eindeutig. Wichtiger ist deshalb ihr Verweis auf die externen Interessenten, die gewöhnlich nicht erwähnt werden. Da aber diese nur schwer abgrenzbar sind, lassen sich in Bezug auf die externen Gruppen auch nur sehr allgemeine Aufgaben zuweisen. Dazu zählen: 4 Grundlage von Investitionsentscheidungen: Hier ist an ein arbeits- und organisationspsychologisches
Aufgaben von Organisationsdiagnosen 4 Unterstützung bei Arbeitsplatzentscheidungen, wobei sich zwei Aspekte unterscheiden lassen: interne Umsetzungen und Arbeitsplatzwechsel. Organisationsdiagnosen liefern die Grundlage, um solche Entscheidungen so zu treffen, dass sie für die Entwicklung der Organisation optimal sind. 4 Verbesserung des Personalwesens: Während Personalarbeit gewöhnlich vor allem an ökonomischen Erfolgskriterien gemessen wird, können Organisationsdiagnosen hier zusätzliche Aspekte wie z. B. das Wohlbefinden der Mitarbeiter in ihren Tätigkeiten einbringen. 4 Vorbereitung organisatorischer Veränderungen: Organisationsdiagnosen – z. B. in Form von Mitarbeiterbefragungen – erfüllen für das Management die Aufgabe der Analyse von Schwachstellen, die Ausgangspunkt für spezielle Organisationsentwicklungsmaßnahmen sein können (7 Kap. 12). Werden die Diagnosen in regelmäßigen Abständen durchgeführt, können sie auch zur Analyse der Ursachen von Schwachstellen beitragen, da sich dadurch die Wirkung organisatorischer Veränderungen überprüfen lässt.
4 Evaluation spezieller, organisationsbezogener Maßnahmen: Die Wirkungen bestimmter Programme, z. B. die Einführung eines Vorschlagswesens (vgl. Frey & Schultz-Hardt, 2000), kann durch Organisationsdiagnosen evaluiert werden. In diesen Fällen ist es besonders hilfreich, wenn solche Diagnosen regelmäßig durchgeführt werden, dann lassen sich die durch die jeweilige Maßnahme bewirkten Veränderungen genauer erfassen. 4 Unterstützung von Entscheidungen über die Verteilung organisationaler Ressourcen: In Verbindung mit den anderen Aufgaben können Organisationsdiagnosen die Verteilung von Ressourcen – z. B. von Personal, Technik oder auch Zeit – auf eine über die Möglichkeiten und Risiken informierte Grundlage stellen, da sich damit die Wirkungen früher durchgeführter Verteilungen belegen lassen: So können z. B. die Kosten und die mitarbeiterbezogenen Wirkungen der personellen Aufstockung im Bereich Controlling durch eine Organisationsdiagnose erfasst und bei künftigen Personalentscheidungen für diesen Bereich berücksichtigt werden.
10
138
Kapitel 10 · Organisationsdiagnose
Äquivalent zu den betriebswirtschaftlichen Wertanalysen zu denken, die gewöhnlich die Grundlage für Investitionsentscheidungen bilden (vgl. Büssing, 2004). Vor allem bei Organisationen, deren größter Wert das Humankapital ist – zu denken ist hier z. B. an Unternehmen im Bereich der Softwareentwicklung –, können psychologische Organisationsdiagnosen von großer Bedeutung sein. Aber auch zur Abschätzung der Risiken von Fusionen, Joint Ventures oder Kooperationen bieten sie wichtige Entscheidungshilfen (7 Kap. 13).
10
4 Grundlage eines Berichtswesens über die Situation im Arbeitsbereich: Hier ist an Daten über die Arbeitsbedingungen, Unfallgefahren, Qualität der Arbeit, Gesundheitsbedingungen etc. zu denken. »Solche organisationsdiagnostischen Daten könnten, vergleichbar zu Unfall-, Krankheitsdaten oder Entlassungszahlen, in politische Entscheidungen über Gesetzesbestimmungen, Verordnungen oder Forschungsprogramme eingehen (…), aber auch eine Informationsgrundlage für die Regulierung und die Kontrollaufgaben der öffentlichen Organe und Selbstverwaltungseinrichtungen (z. B. Kammern, Berufsgenossenschaften) darstellen« (Büssing, 2004, S. 564). Wie der Konjunktiv in diesen Ausführungen andeutet, handelt es sich dabei nur um Möglichkeiten, bislang werden Organisationsdiagnosen in dieser Weise noch nicht genützt. Dies würde auch einige institutionelle Änderungen erfordern – ähnlich wie im betriebswirtschaftlichen Bereich, in dem Prüfungen für externe Interessenten gewöhnlich von unabhängigen Institutionen durchgeführt werden (Wirtschaftsprüfer etc.), müssten die genannten Aufgaben von unabhängigen Einrichtungen erfüllt werden. Bleibt noch die dritte von Lawler et al. (1980) genannte Zielgruppe, die Wissenschaftler. Für diese Gruppe dienen Organisationsdiagnosen in erster Linie der Entwicklung und Überprüfung von Organisationstheorien. Hier kommt es allerdings häufig zu Interessenkonflikten mit der ersten Zielgruppe, speziell dem Management. Da Organisationsdiagnosen recht aufwändig sind und eine nicht zu unterschätzende Intervention darstellen (Harrison & Shirom, 1999), ist kaum ein Management bereit, dies allein für wissenschaftliche Zwecke zu erlauben. Dieser Konflikt verweist auf ein grundsätzliches Problem der Gestaltung von Organisationsdiagnosen: Die Frage, ob sie modell- oder fallorientiert durchzuführen sind.
10.3
Modell- vs. fallorientierte Organisationsdiagnose
Eine Organisationsdiagnose erfordert die grundlegende Entscheidung darüber, ob sie sich an vorliegenden theoretischen Modellvorstellungen orientiert oder aber die Organisation als je spezifischen Einzelfall betrachtet. Im ersten Fall des modellorientierten Vorgehens bestimmen die zugrunde gelegten theoretischen Vorstellungen, welche Variablen für die Untersuchung ausgewählt, wie die Daten erhoben und ausgewertet, schließlich auch, wie die Befunde interpretiert und dargestellt werden. Bei der fallorientierten Organisationsdiagnostik wird dagegen exploriert, wie sich der spezielle Fall einer bestimmten Organisation darstellt. Auch beim fallorientierten Vorgehen werden natürlich Theorien zugrunde gelegt, da jede Diagnostik Annahmen über den zu diagnostizierenden Gegenstand voraussetzt. Bei der fallorientierten Organisationsdiagnose bleiben diese Annahmen allerdings häufig implizit, wodurch u. a. die Interpretation der Ergebnisse erschwert wird. Empfehlenswert wäre es daher, vor der Untersuchung aus unterschiedlichen theoretischen Ansätzen ein Modell für den speziellen Fall zu entwickeln, das für den ganzen Prozess der Diagnose leitenden Charakter hat. Das modellorientierte Vorgehen sei im Folgenden am Beispiel des Ansatzes von Porter, Lawler und Hackman (1975) verdeutlicht. In diesem Modell wird versucht, das Verhalten der Organisationsmitglieder aus dem Zusammenwirken von individuellen und organisationalen Merkmalen zu erklären. Genau diese Schnittstelle zwischen Individuum und Organisation ist für die psychologische Organisationsdiagnostik besonders wichtig (ein weiter ausdifferenziertes Modell, das häufig als Grundlage von Mitarbeiterbefragungen dient, ist der »Leistungs-Zufriedenheits-Motor« von Borg, 2003). 10.3.1
Ein Modell des Verhaltens in Organisationen
Porter et al.(1975; vgl. Kleinmann & Wallmichrath, 2004) sehen die Leistung einer Organisation als Kombination der Ergebnisse ihrer Mitglieder, daher soll ihr Modell erklären, wie es zu diesen Ergebnissen kommt. Den Ausgangspunkt bilden dabei die von den Mitarbeitern wahrgenommenen Arbeitsanforderungen (. Abb. 10.1).
10
139
© McGraw-Hill Europe 1975
10.3 · Modell- vs. fallorientierte Organisationsdiagnose
. Abb. 10.1. Modell des Verhaltens in Organisationen als Grundlage für Organisationsdiagnosen. (Nach Porter et al., 1975; vgl. Kleinmann & Wallmichrath, 2004)
Nach diesem Modell ergeben sich die Anforderungen an den einzelnen Mitarbeiter aus den Bedürfnissen und Zielen der Organisation. Im ersten Schritt werden diese Anforderungen wahrgenommen und bewertet, denn nur wahrgenommene Merkmale der Umwelt können das Verhalten beeinflussen. Im zweiten Schritt werden die Aufgaben, die den Anforderungen zugrunde liegen, redefiniert. Unter dieses Interpretationsstadium fallen vier Prozesse: 1. Der Mitarbeiter muss die Aufgabe verstehen. 2. Er muss sie akzeptieren und sich den damit verbundenen Anforderungen stellen. 3. Er verbindet sie mit seinen Bedürfnissen und Wertvorstellungen. 4. Er interpretiert sie vor dem Hintergrund seiner beruflichen Erfahrungen.
Dieses Stadium erklärt individuelle Unterschiede im Arbeitshandeln – je nachdem, wie eine Person die Aufgabe wahrnimmt und bewertet, fällt ihre Redefinition unterschiedlich aus. Im dritten Schritt wird ein Verhaltensplan entwickelt (7 Kap. 20). Der Mitarbeiter entscheidet damit über die spezielle Arbeitsstrategie, die er einsetzen, und das Ausmaß an Anstrengung, das er investieren will. Letzteres ist ein Motivationsproblem (7 Kap. 24), daher nehmen die Autoren an, dass die Valenzen der Handlungsergebnisse und die Erwartungen, diese Ergebnisse zu erzielen, die Verhaltenspläne beeinflussen. Aus den Verhaltensplänen folgt dann direkt beobachtbares Arbeitsverhalten, das natürlich auch durch die Fähigkeiten und die Leistungsbereitschaft des Arbeitenden beeinflusst wird. Dieses Arbeitsverhalten führt dann zu Ergebnis-
140
Kapitel 10 · Organisationsdiagnose
sen, die sowohl Leistungsergebnisse als auch persönliche Ergebnisse, z. B. die Arbeitszufriedenheit umfassen. Das individuelle Arbeitsverhalten wird nach diesem Modell wiederum durch ein Merkmal der Organisation beeinflusst: die Verhaltens-Ergebnis-Kontingenzen. Damit wird beschrieben, was die Organisation unternimmt, damit ein bestimmtes Verhalten ihrer Mitarbeiter tatsächlich zu bestimmten Ergebnissen führt (damit werden also auch die konkreten Arbeitsbedingungen erfasst, die erst konkrete Arbeitsergebnisse ermöglichen). Diese Kontingenzen werden wiederum sehr stark dadurch beeinflusst, wie die Organisation ihre Ressourcen einsetzt – z. B. wird eine Organisation, die sehr viel in die Produktionstechnologie investiert, die VerhaltensErgebnis-Kontingenzen der Mitarbeiter in der Produktion stark beeinflussen. Dieses Modell ist relativ komplex, wobei auch nicht alle Annahmen empirisch hinlänglich bestätigt sind. Es kann aber als Grundlage zur Ableitung einzelner Hypothesen dienen, die in einer Organisationsdiagnose überprüft werden.
10 10.3.2
Modellgestützte Diagnose
Das Modell von Porter et al. (1975) gibt dem Diagnostiker vor, welche Variablen er erheben muss, um die Leistung der Organisation zu erklären. Gleichzeitig macht es Vorhersagen über das Zusammenwirken der Variablen, die im Rahmen der Organisationsdiagnose die Auswertung und Interpretation der Daten leitet. Zu diesem Zweck sind mindestens folgende Variablen zu erheben (vgl. Kleinmann & Wallmichrath, 2004): 1. Organisationsziele und -bedürfnisse; diese können z. B. durch Interviews mit leitenden Mitarbeitern oder auch durch Dokumentenanalysen (vgl. Lamnek, 2005) ermittelt werden; 2. Qualität und Quantität der Arbeitsaufträge an die Organisationsmitglieder, die sich durch Befragung der direkten Vorgesetzten ermitteln lassen; 3. Valenzen und Erwartungen der Mitglieder, d. h., es müssen die Motivationsvariablen direkt bei den Mitarbeitern erhoben werden (7 Kap. 24); 4. Arbeitsverhalten, das sich z. B. über Beobachtungsmethoden erheben lässt (7 Kap. 21); 5. Leistung und Arbeitszufriedenheit, Ersteres kann über objektive, betriebswirtschaftliche Daten ermittelt werden, Letzteres durch Befragung der Mitarbeiter;
6. Kontingenz zwischen 4. und 5., diese lässt sich objektiv durch Beobachtung oder subjektiv durch Befragung der Mitarbeiter ermitteln; 7. Art und Ausmaß des Feedbacks zwischen Arbeitsergebnissen, wahrgenommenen und tatsächlichen Kontingenzen sowie neuen Arbeitsaufträgen, auch dies kann eher objektiv durch Beobachtungen des Forschers oder subjektiv durch Befragung der Betroffenen ermittelt werden. Eine solche, modellorientierte Organisationsdiagnostik versucht demnach das Zusammenwirken zwischen den für das individuelle Verhalten wichtigen Größen mit den Arbeitsergebnissen und dafür relevanten Gegebenheiten der Organisation zu ermitteln. Die Ergebnisse können auf leistungsrelevante Schwachstellen in der Organisation verweisen und damit auch Hinweise für mögliche Interventionen geben. Wird z. B. bei einer Organisationsdiagnose in Form einer Mitarbeiterbefragung festgestellt, dass den Mitarbeitern leistungsförderliche Anreize wie z. B. abwechslungsreiche Arbeit sehr wichtig sind, die von der Unternehmensleitung bislang wenig beachtet wurden (vgl. »Valenzen und Erwartungen« in . Abb. 10.1), dann können solche Ergebnisse zu Änderungen in der Motivationspolitik eines Unternehmens führen (7 Kap. 24). 10.4
Phasen der Organisationsdiagnose
Aufgrund der großen Unterschiede zwischen den Organisationen, aber auch der vielfältigen Möglichkeiten der mit der jeweiligen Diagnose verbundenen Aufgaben und Ziele, kann es für Organisationsdiagnosen keinen einheitlichen Aufbau und Ablauf geben. Deshalb finden sich in der Praxis auch die unterschiedlichsten Vorgehensweisen (vgl. zur Klassifikation der verschiedenen Formen von Organisationsdiagnostik: Büssing, 2004). Der Ablauf einer Organisationsdiagnose lässt sich aber idealtypisch in verschiedene Phasen einteilen, in denen jeweils unterschiedliche Aufgaben zu erledigen sind. Kühlmann und Franke (1989) haben sieben Phasen unterschieden, die gewöhnlich bei der Durchführung einer Organisationsdiagnose durchlaufen und im Folgenden vorgestellt werden. Obwohl auch diese Phasen nicht immer und nicht notwendig in dieser Form zu durchlaufen sind, können sie doch den Prozess einer Organisationsdiagnose verdeutlichen. Um ihn auch inhaltlich zu veranschaulichen, werden die einzelnen Phasen jeweils an-
141 10.4 · Phasen der Organisationsdiagnose
hand eines Beispiels dargestellt. Es handelt sich dabei um eine Mitarbeiterbefragung in einer großen Bank (zu Mitarbeiterbefragungen allgemein vgl. Borg, 2003). 10.4.1
Einführungsphase
In der ersten Phase geht es darum, einige grundlegende Fragen zu klären: 4 Welche Ziele hat die Diagnose? 4 Wie sollen diese Ziele erreicht werden? 4 Ist ein modell- oder ein fallorientiertes Vorgehen angezeigt? 4 Wer sind die potenziellen Nutzer der Ergebnisse der Untersuchung? 4 Welche Ressourcen stehen zur Verfügung? 4 Wie sollen und können die Organisationsmitglieder an der Untersuchung partizipieren? Diese Fragen müssen in ersten Gesprächen und Verhandlungen mit Vertretern der Leitung bzw. mit den Auftraggebern geklärt werden. In dieser wichtigen Phase werden dann auch die wechselseitigen Rollen geklärt und unrealistische Erwartungen lassen sich korrigieren. Der Diagnostiker kann seine Ansprechpartner über mögliche Schwierigkeiten aufklären, umgekehrt kann er für sich ein Vorverständnis der wichtigen Variablen, Einheiten und Zusammenhänge in der zu untersuchenden Organisation entwickeln.
10.4.2
Erkundungsphase
Vor allem bei einem fallorientierten Vorgehen ist diese Phase sehr häufig anzutreffend. Dabei werden zunächst sondierende Studien durchgeführt, um die Untersuchungsperspektive möglichst breit zu halten. Dazu werden in dieser Phase verschiedene Untersuchungen mit wenig strukturierten Techniken durchgeführt – u. a. qualitative Interviews, offene Gruppendiskussionen, unstrukturierte Verhaltensbeobachtungen sowie verschiedene Formen der Dokumentenanalyse (Flick, 2002). 10.4.3
Planungsphase
In der Planungsphase muss zum einen ein Erhebungsinstrument entwickelt werden, zum anderen sind organisatorische Fragen der Durchführung zu klären. Grundlage für das Erhebungsinstrument sind gewöhnlich die in der Erkundungsphase gewonnenen Erkenntnisse, die allerdings nur einige spezifische Problemfelder der jeweils untersuchten Organisation aufdecken können. Da kaum erprobte Standardverfahren vorliegen – einen standardisierten Fragebogen zur Durchführung einer modellorientierten Organisationsdiagnose haben Van de Ven und Ferry (1980) entwickelt (vgl. Kleinmann & Wallmichrath, 2004) –, wird in der Regel versucht, bestehende Instrumente an die Situa-
Beispiel Mitarbeiterbefragung: Einführungsphase Im Beispiel der Mitarbeiterbefragung kamen Mitarbeiter der Personalabteilung auf den Organisationsdiagnostiker zu. Der Vorstand hatte beschlossen, eine Mitarbeiterbefragung durchzuführen, und die Personalabteilung wurde dafür verantwortlich gemacht. Nach ersten Gesprächen zeigte sich, dass eine solche Untersuchung in einem großen Unternehmen immer auch eine politische Dimension hat (vgl. Neuberger, 1995). Aus Sicht der Personalabteilung war zu diesem Zeitpunkt das größte Problem, alle wichtigen Interessengruppen so in die Untersuchung einzubinden, dass sie möglichst von keiner Seite sabotiert wird. Daher wurde in längeren Verhandlungen eine Projektgruppe unter Leitung eines Mitarbeiters der Personalabteilung zusammengestellt, an der – neben fachlich kompeten-
ten Mitarbeitern – auch wichtige Interessenvertreter beteiligt wurden. Dazu zählten Vertreter der Arbeitnehmerseite, der leitenden Angestellten sowie zentraler Abteilungen (vor allem die Abteilungen »Organisation« und »Marketing«). Der Organisationsdiagnostiker arbeitete in dieser Projektgruppe als externer Berater mit. Ziele der Untersuchung sollten die Diagnose der Zufriedenheit der Mitarbeiter mit wichtigen Aspekten der Organisation und die Einleitung von Teamentwicklungsprozessen sein. Die Nutzer der Ergebnisse sollten also zum einen die Führungsebenen, zum anderen aber auch – bezogen auf die Situation in der eigenen Abteilung – alle Mitarbeiter sein. Damit kam nur ein fallorientiertes Vorgehen in Frage, wobei im nächsten Schritt die genaue Konzeption zu klären war.
10
142
Kapitel 10 · Organisationsdiagnose
Beispiel Mitarbeiterbefragung: Erkundungsphase Bei der Mitarbeiterbefragung wurden zum einen alle Mitglieder der Projektgruppe beauftragt, in ihrem Bereich in informellen Gesprächen mit Kollegen die Probleme im Unternehmen zu ermitteln, die den Mitarbeitern am meisten am Herzen lagen. Zudem wurden vom externen Organisationsdiagnostiker relevante Dokumente analysiert, u. a. die Führungsleitsätze sowie das Unternehmensleitbild. Schließlich führten mehrere in Gesprächsführung geschulte Studenten mit Mitarbeitern aus ausgewählten Bereichen des Unternehmens – die von den Projektmitarbeitern nicht abgedeckt wurden – qualitative Interviews durch.
tion in der zu untersuchenden Organisation anzupassen, oder aber es wird ein ganz neues Instrument entwickelt. In diesem Fall muss natürlich die Messqualität vorher überprüft werden, außerdem ist ein Plan zur Auswertung zu entwickeln. Zudem muss in dieser Phase die Untersuchung organisatorisch vorbereitet werden, was je nach Größe der untersuchten Organisation unterschiedlich viel Aufwand bedeutet. Folgende Punkte sind dabei zu beachten: 4 Zeitpunkt der Untersuchung, 4 Dauer und Ort der Erhebung, 4 Auswahl der Erhebungseinheiten, 4 Information der Betroffenen, 4 Bereitstellung der Erhebungsunterlagen, 4 Sicherung der Datenverarbeitungskapazitäten, 4 Klärung des Datenschutzes.
Beispiel Mitarbeiterbefragung: Planungsphase
10
Im Beispiel der Mitarbeiterbefragung beherrschte die Frage des Datenschutzes einen großen Teil der vorbereitenden Aktivitäten. Vorgesehen war, dass möglichst jede betriebliche Einheit Rückmeldung über ihre eigenen Ergebnisse bekommen sollte, damit sie dort diskutiert und – im Sinne einer Teamentwicklung (7 Kap. 8) – Aktionspläne über erste Änderungen entwickelt werden sollten. Das setzt voraus, dass Betriebseinheiten identifizierbar sind. Da in dem Unternehmen sehr viele sehr kleine Einheiten vorlagen, wurde beschlossen, dass eine Einheit Rückmeldung bekommt, wenn sie mindestens 5 Mitarbeiter umfasst. Der Vertreter des Betriebsrates in der Projektgruppe hatte aber große Bedenken wegen der Identifizierbarkeit der einzelnen Mitarbeiter, da in dem Fragebogen auch soziodemographische Daten zu erheben waren (vor allem die Dauer der Betriebszugehörigkeit). Schließlich wurde beschlossen, zwei Instrumente einzusetzen: Zum einen einen Fragebogen mit zusätzlichen soziodemographischen Fragen, aber ohne Kennzeichnung der Betriebseinheiten, der den gängigen Instrumenten von Mitarbeiterbefragungen entsprach (Borg, 2003). Zum Beispiel wurden zur Beurteilung des Unternehmens folgende Fragen gestellt: 4 Ist die XX-Bank erfolgreich? 4 Folgt die XX-Bank klaren Strategien?
4 4 4 4 4
Tut die XX-Bank viel für ihre Mitarbeiter? Ist die XX-Bank wirtschaftlich stabil? Ist die XX-Bank gut geführt? Ist die XX-Bank angesehen bei den Mitarbeitern? Wie klar sind die geschäftspolitischen Ziele der XXBank? 4 Wie einverstanden sind Sie mit den geschäftspolitischen Zielen der XX-Bank? Zum anderen wurde ein Fragebogen entwickelt, der nur für die jeweiligen Betriebseinheiten auszuwerten war, und in dem die in der Planungsphase ermittelten, wichtigsten Kritikpunkte fast wörtlich aufgeführt waren. Einen Ausschnitt aus diesem Fragebogen, der dann als Grundlage für die Auswertungsgespräche in den Einheiten diente, zeigt . Abb. 10.2. Der Fragebogen umfasste sechs entsprechend aufgebaute Bereiche, die Ergebnisse wurden für jede Erhebungseinheit ausgewertet und rückgemeldet. Sie bildeten die Grundlage für die Auswertungsgespräche, die jeder Vorgesetzte mit seinen Mitarbeitern führen sollte. Da eine Vollerhebung aller Mitarbeiter beschlossen war, konnten aufgrund der Größe der Bank insgesamt knapp Tausend solcher Einheiten gebildet werden. Entsprechend groß war der Aufwand für die organisatorische Vorbereitung der Rückmeldegespräche.
6
143 10.4 · Phasen der Organisationsdiagnose
. Abb. 10.2. Für die Rückmeldung in kleineren Erhebungseinheiten geeignetes Frageformat
10.4.4
Durchführung der Hauptuntersuchung
In dieser Phase ist vor allem auf die Einhaltung des Untersuchungsplanes zu achten, sofern hier Abweichungen auftreten, müssen diese dokumentiert werden. Großes Gewicht ist darauf zu legen, dass keine Einflussnahmen auf den Erhebungsprozess stattfinden, die zu einer Ver-
zerrung führen könnten (z. B. durch Absprachen oder Benachteiligung von Teilnehmern). 10.4.5
Datenverarbeitung
Nach eingehender Kontrolle der Einhaltung festgelegter Auswahl- und Durchführungsrichtlinien werden die
Beispiel Mitarbeiterbefragung: Durchführung der Hauptuntersuchung Aufgrund der hohen Komplexität der Befragung wurde beschlossen, vor Ort Umfragebeauftragte zu installieren. Diese sollten in jedem Geschäftsbereich bzw. jeder Niederlassung sowie in jedem Zentralbereich der Bank die Vorbereitung und Durchführung begleiten. Vom oberen Führungskreis wurden geeignete Personen benannt, die wiederum von den Mitgliedern der Projektgruppe für ihre Aufgaben geschult wurden. Dazu zählten: 4 Information der Mitarbeiter und Führungskräfte über die Vorbereitung und Durchführung der Untersuchung;
4 Zusammenstellen der Auswertungseinheiten nach vorgegebenen Kriterien; 4 Durchführung der Untersuchung vor Ort: Aufstellen der Urnen, in denen die Mitarbeiter die ausgefüllten Fragebögen einwerfen konnten; Verteilung der Fragebögen; Versand der gefüllten Urnen an das auswertende Insitut; 4 Einweisung der Führungskräfte in die Durchführung der Auswertungsgespräche.
10
144
Kapitel 10 · Organisationsdiagnose
Daten ausgewertet. Dazu stehen bei quantitativen Untersuchungen prinzipiell sämtliche uni- und multivariaten statistischen Methoden zur Verfügung (vgl. Bortz, 1999). Allerdings ist zu beachten, dass die Ergebnisse einer Organisationsdiagnose gewöhnlich nicht für rein wissenschaftliche, sondern für praktische Zwecke verwendet werden. Daher müssen die Daten so ausgewertet und aufbereitet werden, dass sie auch für die Empfänger gut verständlich sind.
Beispiel Mitarbeiterbefragung: Datenverarbeitung
10
Im Beispielfall wurden die Daten aus Gründen des Datenschutzes von einem externen Institut nach den Anweisungen der Projektgruppe ausgewertet. Die Befragung der Gesamtbank mit dem ersten Fragebogen wurde auf Item- und Skalenniveau ausgewertet. Berechnet wurden die statistischen Kennwerte für die Gesamtbank und aufgespalten nach verschiedenen soziodemographischen Merkmalen. Der zweite Fragebogen wurde für jede der knapp tausend Auswertungseinheiten getrennt mit einfachen Häufigkeiten ausgewertet.
10.4.6
Datenaufbereitung und Interpretation
Die Datenauswertungen müssen nun so aufbereitet werden, dass sie sich interpretieren lassen. Dazu eignen sich die verschiedenen Techniken der Datenaufbereitung wie z. B. Stabdiagramme oder Profilverläufe. Die so aufbereiteten Ergebnisse werden dann interpretiert: Bezogen auf das Ziel der Organisationsdiagnose werden intra- oder – sofern möglich – auch interorganisationale Vergleiche angestellt sowie Deutungen über Ursachen und Konsequenzen der ermittelten Merkmalsausprägungen und -zusammenhänge angestellt. Häufig stellt sich hier heraus, dass nicht alle vorab gestellten Fragen beantwortet werden können, aber umgekehrt ganz neue Fragen auftauchen. Dies kann Anlass für weitere Diagnosen sein.
Beispiel Mitarbeiterbefragung: Datenaufbereitung und Interpretation Im Bankbeispiel wurde nach der ersten, grundlegenden Aufbereitung der Daten ein mehrstufiger Prozess der Interpretation gewählt. In der ersten Stufe hat der externe Berater aufgrund seiner allgemeinen organisationspsychologischen Kenntnisse und seiner Erfahrungen mit vergleichbaren anderen Untersuchungen erste Deutungen vorgenommen. Diese wurden auf der Grundlage der Ergebnisse in der Projektgruppe intensiv diskutiert und erste Hypothesen über mögliche Ursachen entwickelt. Schließlich wurden für jeden Fragebereich Experten aus der Bank für Ergebnisgespräche gewonnen, in denen die vorliegenden Daten noch einmal aus deren Sicht und Kenntnis der bankinternen Bedingungen gedeutet wurden.
10.4.7
Präsentation
Den Abschluss aus Sicht des Diagnostikers bildet die Präsentation der Ergebnisse vor dem Auftraggeber und gewöhnlich weiteren interessierten Gruppen der Organisation. Bei solchen Präsentationen sind einige Punkte zu beachten (vgl. Kühlmann & Franke, 1989, S. 649): 4 »eine an den Sprachgebrauch der Empfänger angepasste Wortwahl, 4 Beschränkung auf kurze, einfach gebaute, aber prägnante Sätze, 4 Gliederung des Ausgesagten durch Zusammenfassungen, Absätze, Hervorhebungen, Überschriften usw. 4 Illustration durch Beispiele, Anekdoten, Zitate usw. 4 Aktivierung der Informationsempfänger durch Fragen, persönliche Ansprache, Eingehen auf Detailfragen, 4 Nutzung verschiedener Informationskanäle unter Verwendung audiovisueller Hilfsmittel«. Dies deutet bereits darauf hin, dass zwar eine Organisationsdiagnose im engeren Sinne mit der Präsentation der Ergebnisse beendet ist, dass sich daran aber immer noch eine Evaluation – z. B. in Form eines Workshops zur Nachbereitung – oder, sofern konkrete Änderungsmaßnahmen beschlossen wurden, ein differenziertes
145 10.5 · Der Wert von Organisationsdiagnosen
Beispiel Mitarbeiterbefragung: Präsentation Die Ergebnispräsentation erfolgte im Bankbeispiel auf verschiedenen Wegen. Zum einen erhielten alle Auswertungseinheiten ihre individuellen Ergebnisse aus dem zweiten Fragebogen sowohl in Papierform als auch auf Folien, um sie mit den Mitarbeitern besser besprechen zu können. Jeder Vorgesetzte, der ein solches Gespräch zu leiten hatte, konnte bei der Projektgruppe um Unterstützung sowohl bei der Interpretation der Ergebnisse als auch bei der Durchführung der Auswertungsgespräche (z. B. in Form einer Moderation der Sitzung) nachfragen. Über die Ergebnisse der Gesamtbank wurden die Mitarbeiter in mehreren Artikeln in der hauseigenen Mitarbeiterzeitschrift informiert. Dieselben Ergebnisse wurden von der Projektgruppe im Vorstand der Bank präsentiert und diskutiert. In der Folge wurden vom Vorstand mehrere Änderungsmaßnahmen organisatorischer Art in der Bank beschlossen.
Management der Aktionen anschließen muss (vgl. dazu ausführlich: Borg, 2003) 10.5
Der Wert von Organisationsdiagnosen
Wie das Beispiel der Mitarbeiterbefragung in der Bank zeigt, kann eine psychologisch orientierte Organisationsdiagnose erhebliche Bedeutung haben und bei konsequenter Umsetzung auch einen großen Nutzen für die Organisation. Warum wird sie dann immer noch relativ selten eingesetzt? Vermutlich liegt dies vor allem daran, dass in der Praxis die Möglichkeiten sowie die KostenNutzen-Verhältnisse von Organisationsdiagnosen noch wenig bekannt sind (Büssing, 2004). Für eine solche Untersuchung spricht vor allem der Nutzen, den die Informationen und das Wissen um den Zustand der Organisation haben. Dem stehen aber z. T. nicht unerhebliche Kosten für die Durchführung entgegen. Diese Kosten lassen sich meist sehr präzise berechnen, der Wert der damit gewonnenen Informationen bleibt dagegen zunächst nur schwer abschätzbar. Hier ist zu fragen, ob sich der Wert solcher Informationen nur an der Wirtschaftlichkeit bemessen lässt. Vielmehr geht es doch bei den
verschiedenen Formen und Zielen der Organisationsdiagnose darum, die Funktionstüchtigkeit, die Sicherheit, die gesundheitliche Situation usw. in der Organisation zu optimieren. So wie gewöhnlich über die Kosten des betriebswirtschaftlichen Controlling nicht weiter diskutiert wird, da das Wissen um die damit erhobenen ökonomischen Kennwerte als Wert an sich angesehen wird, sollte auch das Wissen um die Situation in der Organisation als eine Grundlage für deren Steuerung angesehen werden, bei der sich Kosten nicht unmittelbar amortisieren müssen. Zusammenfassung 4 Eine psychologische Organisationsdiagnose dient dazu, das regelhafte Erleben und Verhalten der Organisationsmitglieder zu beschreiben, zu erklären und zu prognostizieren. 4 Sie dient entweder rein wissenschaftlichen oder aber praktischen Zielen, besonders der Evaluation bereits durchgeführter Änderungsmaßnahmen oder aber der Vorbereitung solcher Veränderungen. 4 Bei einem modellorientierten Vorgehen bestimmen die zugrunde gelegten theoretischen Vorstellungen, welche Variablen für die Untersuchung ausgewählt, wie die Daten erhoben und ausgewertet und wie die Befunde interpretiert werden. 4 Bei einem fallorientierten Vorgehen wird exploriert, wie sich der spezielle Fall einer Organisation darstellt. 4 Der Prozess der Diagnose lässt sich in verschiedene Phasen einteilen: die Einführung mit der Klärung der Ziele, die Erkundung, die Planung des Vorgehens, die Durchführung der Hauptuntersuchung, die Aufbereitung der Daten und schließlich die Präsentation der Ergebnisse bei den Auftraggebern.
L Weiterführende Literatur Borg, I. (2003). Führungsinstrument Mitarbeiterbefragung (3. Aufl.). Göttingen: Hogrefe. Harrison, M.I. & Shirom, A. (1999). Organizational diagnosis and assessment: Bridging theory and praxis. Thousand Oaks, CA: Sage. Kleinmann, M. & Wallmichrath, K. (2004). Organisationsdiagnose. In H. Schuler (Hrsg.), Organisationspsychologie 2 – Gruppe und Organisation. Enzyklopädie der Psychologie, Bd. D/III/4 (S. 653–700). Göttingen: Hogrefe.
10
146
Kapitel 10 · Organisationsdiagnose
Literatur
10
Borg, I. (2003). Führungsinstrument Mitarbeiterbefragung (3. Aufl.). Göttingen: Hogrefe. Bortz, J. (1999). Lehrbuch der Statistik (5. Aufl.). Berlin: Springer. Büssing, A. (2004). Organisationsdiagnose. In H. Schuler (Hrsg.), Lehrbuch Organisationspsychologie (3. Aufl., S. 557–599). Bern: Huber. Flick, U. (2002). Qualitative Sozialforschung. Eine Einführung. Reinbek bei Hamburg: Rowohlt. Frey, D. & Schulz-Hardt, S. (2000). Vom Vorschlagswesen zum Ideenmanagement. Zum Problem der Änderungen von Mentalitäten, Verhalten und Strukturen. Göttingen: VAP. Harrison, M.I. & Shirom, A. (1999). Organizational diagnosis and assessment: Bridging theory and praxis. Thousand Oaks, CA: Sage. Kleinmann, M. & Wallmichrath, K. (2004). Organisationsdiagnose. In H. Schuler (Hrsg.), Organisationspsychologie 2 – Gruppe und Organisation. Enzyklopädie der Psychologie, Bd. D/III/4 (S. 653–700). Göttingen: Hogrefe. Kühlmann, T. & Franke, J. (1989). Organisationsdiagnose. In E. Roth (Hrsg.), Organisationspsychologie. Enzyklopädie der Psychologie, Bd. D/III/3 (S. 631–651). Göttingen: Hogrefe. Lamnek, S. (2005). Qualitative Sozialforschung (4. Aufl.). Weinheim: Beltz. Lawler, E.E., Nadler, D.A. & Cammann, C. (1980). Uses of organizational assessment data. In E.E. Lawler, D.A. Nadler & C. Cammann
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II Organisation 4
Organisationstheorien
– 47
5
Interaktion und Kommunikation – 61
6
Gravitation und organisationale Sozialisation
7
Führung von Mitarbeitern
8
Teamarbeit
9
Konflikte in Organisationen
– 75
– 87
– 103 – 121
10
Organisationsdiagnose
– 135
11
Organisationsklima und Organisationskultur
12
Organisationsentwicklung
13
Mergers & Acquisitions: Fusionen und Unternehmensübernahmen – 171
– 159
– 147
Arbeitet man nur in Organisationen? Wird in Organisationen nur gearbeitet? Mit diesen provokanten Fragen hat Lutz von Rosenstiel (1991) darauf verwiesen, dass die beiden klassischen Blickwinkel der Arbeits- bzw. der Organisationspsychologie auf menschliches Erleben und Verhalten – der Mensch als arbeitendes Wesen und der Mensch als Mitglied einer Organisation – nicht aufeinander reduzierbar sind. In diesem Abschnitt wird der Mensch, sein Erleben und Verhalten in der Organisation betrachtet. Zunächst gilt es zu klären, was denn unter dem Begriff Organisation überhaupt zu verstehen ist und wie sich die damit beschriebenen sozialen Gebilde verstehen und erklären lassen. Das ist das Thema des Kapitels über Organisationstheorien. Organisationen bestehen, weil die dort arbeitenden Menschen immer wieder ihre Handlungen wechselseitig abstimmen. Sie machen das, indem sie gegenseitig aufeinander einwirken. Diesen Vorgang bezeichnet man als Interaktion. Die wichtigste Form der Einwirkung auf andere Menschen ist die Kommunikation, d. h. der Austausch von Mitteilungen. Für ein Verständnis des Verhaltens in Organisationen ist daher ein grundlegendes Wissen über die Phänomene Interaktion und Kommunikation erforderlich. Das bildet wiederum die Grundlage, um zu verstehen, wie Organisationen Einfluss auf die Werte, Einstellungen und Orientierungen ihrer Mitglieder nehmen. Dieser Prozess, der als Sozialisation bezeichnet wird, führt letztlich dazu, dass sich die Mitarbeiter an die Organisation anpassen und loyal zu ihr verhalten. Der wichtigste Einflussfaktor auf das Verhalten der Mitarbeiter, der auch im Wege der Kommunikation wirksam wird, ist die Führung durch direkte Vorgesetzte. Führung bildet den zentralen Transmissionsriemen, mit dem das Verhalten der Mitarbeiter auf die Ziele der Organisation ausgerichtet wird, weshalb dieser Bereich einen relativ breiten Raum in der Forschung und damit auch in diesem Lehrbuch einnimmt. Bei dem Versuch, die Ziele der Organisation zu erreichen, arbeiten die Mitarbeiter gewöhnlich nicht alleine, sondern koordiniert mit anderen Mitarbeitern. Daher lassen sich Organisationen als soziale Systeme betrachten, die aus miteinander verzahnten Subsystemen, d. h. aus Gruppen bzw. Teams bestehen. Gruppe und Teamarbeit bilden damit das Scharnier zwischen dem individuellen und dem organisationalen Verhalten. Ein spezieller Aspekt ist dabei der interpersonelle Konflikt, der in Gruppen auftreten kann. Solche Konflikte können die Organisation schädigen, werden sie aber konstruktiv gelöst, dann können sie sogar ein Gewinn für die Organisation sein. Die Bedingungen und Folgen von Konflikten in Gruppen werden aufgrund dieser großen Bedeutung in einem eigenen Kapitel untersucht. Die restlichen Kaptitel dieses Abschnittes widmen sich dann der Organisation als Ganzes. Grundlage dafür bilden die verschiedenen Methoden der Organisationsdiagnose, die in der Psychologie und anderen Wissenschaften entwickelt wurden. Zwei spezielle Konzepte, die bei der Diagnose von Organisationen eingesetzt werden, sind das Organisationsklima und die Organisationskultur. Beides sind Aspekte der Organisation, die zu den sog. »weichen Faktoren« zählen, deren Bedeutung für den Erfolg einer Organisation sehr hoch einzustufen sind. Die Diagnose von Klima und Kultur bildet aber keinen Selbstzweck, sondern dient häufig als Anlass zur Veränderung der Organisation. Konzepte wie Organisationsentwicklung, Innovation oder lernende Organisation bezeichnen verschiedene Aspekte solcher Veränderungsprozesse. Eine Form der Veränderung, die häufig sehr dramatisch abläuft und in den letzten Jahren immer stärker ins Bewusstsein der Bevölkerung gerückt ist, bilden »Mergers & Acquisitions«, d. h. Unternehmenszusammenschlüsse und -käufe. Dass diese so häufig scheitern, liegt nicht zuletzt an psychologischen Faktoren, die im abschließenden Kapitel dieses Abschnitts diskutiert werden.
11
11 Organisationsklima und Organisationskultur 11.1
Das »Klima« im Betrieb
11.1.1 11.1.2 11.1.3
Betriebs- und Organisationsklima – 148 Messung und Interpretation des Organisationsklimas Wirkungen des Organisationsklimas – 152
11.2
Organisationskultur
11.2.1 11.2.2 11.2.3
Das Konzept der Organisationskultur Messung und Interpretation – 153 Das Modell von Schein – 155
Literatur
– 158
– 148
– 153 – 153
– 150
148
Kapitel 11 · Organisationsklima und Organisationskultur
> Der Begriff des Betriebs- oder Arbeitsklimas ist in der Praxis weit verbreitet. In Stellenanzeigen wird häufig mit dem guten Betriebsklima geworben, trifft man einen ehemaligen Arbeitskollegen, so wird eine der ersten Fragen lauten, wie denn das Klima im neuen Betrieb sei (Schramm, 2003). Was aber ist unter dem Begriff Klima in diesem Zusammenhang genau zu verstehen? Wie lässt sich dieser Begriff von einem anderen Begriff, der in den letzten Jahren immer häufiger verwendet wird – dem der Organisationskultur – abgrenzen? Und wozu sind diese Begriffe überhaupt gut? Auf diese Fragen geben die folgenden Ausführungen eine Antwort.
11.1
Das »Klima« im Betrieb
Der Begriff Klima stammt aus der Wetterkunde und bedeutet eine längerfristige durchschnittliche, für eine Region charakteristische Wetterlage. Im Deutschen wurde dieser Begriff auf die Stimmung im Betrieb übertragen und von einem »Betriebsklima« gesprochen. Das ist eine weitgehend umgangssprachliche Bezeichnung, in der Wissenschaft hat sich stattdessen der Begriff Organisationsklima durchgesetzt. 11.1.1
11
Betriebs- und Organisationsklima
Definition Unter dem Begriff Betriebsklima wird gewöhnlich die Stimmung oder die Atmosphäre verstanden, die für einen ganzen Betrieb oder seine Teileinheiten typisch ist und von den Mitarbeitern bewertet wird (vgl. zum Folgenden von Rosenstiel et al., 1982; Bögel, 2003).
Wissenschaftlich geht dieses Konzept auf die in den 30er Jahren des vorigen Jahrhunderts durchgeführten Hawethorne-Studien zurück, in denen zum ersten Mal die Bedeutung der Tatsache, dass der Mitarbeiter ein soziales Wesen ist, wissenschaftlich belegt wurde (7 Kap. 4). Im Rahmen der sog. Human-Relations-Bewegung wurde daraufhin die Beeinflussung von sozialen Beziehungen und informellen Gruppen als entscheidender Weg zur Steigerung der Leistung im Unternehmen propagiert. Betriebsausflüge, gemütliches Zusammensein und ähnliche Aktivitäten zielen demnach darauf, die Stimmung im Betrieb zu verbessern, was sich wiederum in besseren Arbeitsergebnissen niederschlagen soll. Dieser vor allem von der deutschen Industriesoziologie verfolgte Ansatz wurde aber bald wegen seiner Vernachlässigung der strukturellen Aspekte der Organi-
sation sowie des damit verbundenen Manipulationsverdachts kritisiert. In der Arbeits- und Organisationspsychologie hat sich stattdessen der Begriff Organisationsklima durchgesetzt, der letztlich auf die Feldtheorie von Kurt Lewin zurückgeht (Lewin, 1951/1963). Menschliches Erleben und Verhalten werden hier nicht einseitig als persongebunden betrachtet, sondern als Ergebnis der Interaktion zwischen Person und Situation verstanden. Organisationsklima thematisiert demnach nicht allein soziale Aspekte im Betrieb, sondern berücksichtigt sämtliche, für die Mitarbeiter relevanten Aspekte der Organisation. Dazu zählen (von Rosenstiel, 2003a) 4 Kollegen, 4 Vorgesetzte, 4 Aufbau- und Ablauforganisation, 4 Information und Mitsprachemöglichkeiten, 4 Zusammenarbeit zwischen den Abteilungen, 4 Interessenvertretung, 4 betriebliche Leistungen 4 und anderes mehr. An diesen Aspekten der Organisation interessiert nun nicht – wie beim Betriebsklima – die Bewertung durch die Mitarbeiter, vielmehr steht die von den Mitarbeitern geteilte Wahrnehmung der betrieblichen Bedingungen im Vordergrund. Es geht also darum, wie die Mitarbeiter ihren Betrieb sehen. Definition Organisationsklima ist definiert als »die relativ überdauernde Qualität der inneren Umwelt der Organisation, die 4 durch die Mitglieder erlebt wird, 4 ihr Verhalten beeinflusst und 4 durch die Werte einer bestimmten Menge von Merkmalen der Organisation beschrieben werden kann« (von Rosenstiel 2003, S. 371).
149 11.1 · Das »Klima« im Betrieb
dingungen bzw. der Einstellung der Mitarbeiter zu bestimmten Aspekten der Arbeit und der Organisation abgrenzen lässt. Anhand einer sog. Facettenanalyse kann eine solche Unterscheidung vorgenommen werden. In Anlehnung an Payne und Pugh (1976) haben von Rosenstiel und Mitarbeiter (von Rosenstiel, Falkenberg, Henn, Henschel & Warns, 1982) drei solcher Facetten unterschieden: 4 Analyseeinheit: Individuum oder soziales Aggregat, 4 Analyseelement: Arbeit oder Organisation, 4 Art der Messung: Beschreibung oder Bewertung. Durch Kombination dieser drei Facetten der Analyse, die als unabhängig gedacht sind, lassen sich – wie in . Tab. 11.1 verdeutlicht – acht Konzepte der Analyse von Arbeit und Organisation recht präzise unterscheiden. Am Beispiel der beiden wichtigsten Konzepte – Arbeitszufriedenheit (7 Kap. 24) und Organisationsklima – sei die Logik der Facettenanalyse verdeutlicht. Arbeitszufriedenheit wird auf der Ebene der einzelnen Mitarbeiters definiert, wobei deren Bewertung einzelner Aspekte der Arbeit interessiert (»Wie zufrieden sind Sie mit …«). Demgegenüber wird das Organisationsklima auf der Ebene des sozialen Aggregats – der Gruppe oder der ganzen Organisation – erhoben. Es interessiert also nicht die individuelle Meinung, sondern die von allen Mitarbeitern geteilte Sicht der Organisation. Diese wird rein beschreibend erhoben. Damit sind schon die wesentlichen Vorschriften zur Messung des Organisationsklimas benannt.
. Tab. 11.1. Facettenanalyse von organisationspsychologischen Begriffen. (Nach von Rosenstiel, 2003) Facette
Bezeichnung
Analyseeinheit
Analyseelement
Art der Messung
Individuum
Arbeitsplatz
Beschreibung
Wahrgenommene Arbeitssituation
Bewertung
Arbeitszufriedenheit
Beschreibung
Wahrgenommene Organisation
Bewertung
Zufriedenheit mit der Organisation
Beschreibung
Rollenklima
Bewertung
Rollenmoral
Beschreibung
Organisationsklima
Bewertung
Organisationsmoral bzw. Betriebsklima
Organisation
Soziales Kollektiv (aggregiert)
Arbeitsplatz
Organisation
© 2003 Schäffer-Poeschel Verlag für Wirtschaft·Steuern·Recht GmbH & Co. KG, Stuttgart
Wie die Struktur des Organisationsklimas zu interpretieren ist, darüber bestehen noch einige theoretische Unklarheiten. Nach James und McIntyre (1996) stellen Wahrnehmungen des Klimas einer Organisation kognitive Bewertungen ihrer Merkmale im Hinblick auf die Bedeutung für den Einzelnen dar. Bewertung bedeutet dabei: Werte sind Standards zur Erfassung des Wohlergehens und in der Bewertung einzelner betrieblicher Merkmale wird erfasst, in welchem Ausmaße diese Standards in den Merkmalen der Umwelt repräsentiert sind. Weiter vermuten die Autoren, alle relevanten Bewertungen würden zusammen einen höherrangigen Faktor bilden, in dem sich verdichtet, in welchem Ausmaße die Umwelt als förderlich oder hinderlich für das eigene Wohlbefinden erlebt wird. Andere Autoren (z. B. Schneider, 1990) sehen dagegen das Organisationsklima als Bewertungen der Attribute der Umwelt auf der Basis sozialer Konstruktionen, d. h., die Kategorien, anhand derer die Umweltattribute bewertet werden, entstammen bestimmten Bezugspunkten der Umwelt, z. B. der Sicherheit, der Innovation oder dem Kundenservice. Entsprechend ergeben sich verschiedene Klimata, wobei sich Schneider und seine Mitarbeiter vor allem mit dem Problem des Dienstleistungsklimas auseinandergesetzt haben (Schneider, Bowen, Ehrhart & Holcomb, 2000; 7 Kap. 30). Unabhängig von diesem bislang noch nicht endgültig geklärten Problem stellt sich die Frage, wie sich das Konzept des Organisationsklimas von den vielen anderen, in der Organisationspsychologie gebräuchlichen Begriffen zur Erfassung wahrgenommener Arbeitsbe-
11
150
Kapitel 11 · Organisationsklima und Organisationskultur
11.1.2
11
Messung und Interpretation des Organisationsklimas
Nach der Facettenanalyse ist das Organisationsklima durch die von den Mitarbeitern geteilte Wahrnehmung der Organisation definiert. Diese gemeinsame Sicht lässt sich am besten durch Fragebögen erheben. Den bekanntesten Fragebogen zur Erfassung des Organisationsklimas im deutschen Sprachraum hat von Rosenstiel entwickelt (vgl. von Rosenstiel & Bögel, 1992). Der Aufbau des Fragebogens wird im 7 Kasten »Erfassung des Organisationsklimas« am Beispiel der Skala »Betrieb als Ganzes« verdeutlicht. Die Fragen der Skala »Betrieb als Ganzes« erfassen das allgemeine Organisationsklima, zu dessen Bestimmung über alle Antworten ein Mittelwert errechnet wird. Dazu müssen vorher die Antworten auf die Fragen, die negativ formuliert sind (Frage 4 und 5) umgepolt werden. Diesem Vorgehen entsprechend finden sich im Fragebogen zur Erfassung des Organisationsklimas Aussagen über die Kollegen, den Vorgesetzten, die Organisation, die Information und Mitsprachemöglichkeiten, die Interessenvertretung und die betrieblichen Leistungen (von Rosenstiel & Bögel, 1992). Die Ergebnisse einer auf diesem Wege durchgeführten Klimamessung sind für sich genommen aber noch wenig aussagekräftig, da unklar ist, was die Mittelwerte auf den einzelnen Dimensionen des Klimas jeweils konkret bedeuten. Erst durch den Vergleich mit dem Klima in anderen Betrieben können die Ergebnisse interpretiert werden. Von Rosenstiel und Bögel (1992) haben zu diesem Zweck die Ergebnisse der Untersuchung des Klimas in 60 deutschen, vorwiegend mittelständischen Unternehmen in Form einer Prozentrangskala zusammengestellt (. Abb. 11.1). Die Prozentrangskala ermöglicht es, die Klimawerte des eigenen Betriebs mit denen anderer Unternehmen zu vergleichen. Das Vorgehen lässt sich am Beispiel einer Organisationsklimauntersuchung eines mittelständischen Unternehmens in den Neuen Bundesländern verdeutlichen (Nerdinger, 1997). Es handelt sich dabei um ein Unternehmen, das auf Fensterproduktion sowie Rohr- und Stahlbau spezialisiert ist. Im Jahre 1992 als Zweigbetrieb eines westdeutschen Unternehmens gegründet, expandierte es bis zum Untersuchungszeitpunkt stark. Von den 51 Mitarbeitern haben 46 den Fragebogen zur Erfassung des Organisationsklimas ausgefüllt, die Ergebnisse sind in . Abb. 11.1 eingetragen.
Erfassung des Organisationsklimas: Betrieb als Ganzes (von Rosenstiel & Bögel, 1992) Im Folgenden finden Sie eine Reihe von Fragen. Die Fragen beziehen sich auf den Betrieb, in dem Sie arbeiten – nicht nur auf Ihren Arbeitsplatz. Bitte beschreiben Sie, wie Sie Ihren Betrieb – soweit Sie ihn über Ihren Arbeitsplatz hinaus kennen – sehen. Geben Sie dazu auf einer Skala von »1 = stimmt« bis »5 = stimmt nicht« an, ob die folgenden Aussagen zutreffen oder nicht. Bitte beantworten Sie zuerst einige allgemeine Fragen: 1 2 3 4 5 1. Unsere Firma legt großen Wert darauf, dass die Mitarbeiter gern hier arbeiten.
2. Es ist angenehm, für unsere Firma zu arbeiten.
3. In unserem Betrieb werden Anstrengungen unternommen, die Arbeitsbedingungen menschengerecht zu gestalten.
4. Man braucht sich nicht zu wundern, wenn Leute bei den Arbeitsbedingungen in unserem Betrieb krank werden.
5. In unserem Betrieb kommt man vor lauter Hektik nicht zum schnaufen.
6. In unserer Firma ist das Wohlergehen der Mitarbeiter das Wichtigste.
Die Ergebnisse lassen sich innerhalb der Prozentrangskala folgendermaßen interpretieren: Liegt ein Wert über dem Rang von 75%, dann sind (mindestens) 75% aller untersuchten Betriebe in diesem Aspekt des Organisationsklimas schlechter als das Unternehmen. Solche Werte verweisen darauf, dass das Unternehmen in diesem Aspekt offensichtlich exzellent wahrgenommen wird – diese Bedingungen sollten so gepflegt werden, dass sie in der Wahrnehmung der Mitarbeiter erhalten bleiben. Da zwischen 25 und 75% die Werte sehr
11
151
Mit freundlicher Genehmigung des Bayrisches Staatsministeriums für Arbeit und Sozialordnung.
11.1 · Das »Klima« im Betrieb
. Abb. 11.1. Prozentrangskala der Durchschnittswerte des Organisationsklimas von 60 untersuchten Unternehmen und das
Organisationsklima eines mittelständischen Betriebs. (Nach von Rosenstiel & Bögel, 1992)
152
Kapitel 11 · Organisationsklima und Organisationskultur
dicht beieinander liegen, sind Unterschiede in diesem Bereich vorsichtig zu interpretieren. Eine Handlungsempfehlung ist dagegen zwingend, wenn ein Wert unterhalb des 25%-Ranges liegt – in diesen Bereichen unterschreitet der Betrieb die gängigen Standards deutlich. Bei dem untersuchten Betrieb liegen zwar 4 Werte knapp über dem 50%-Rang, die allgemeine Einschätzung des Klimas ist aber deutlich unterdurchschnittlich, in den Bereichen Vorgesetzte und Interessenvertretung haben sogar mehr als 75% der Vergleichsbetriebe bessere Ergebnisse. Das bedeutet, dass das allgemeine Vertrauensverhältnis in diesem Betrieb belastet ist und das Verhalten der Führungskräfte von den Mitarbeitern sehr kritisch gesehen wird. Die Untersuchung der Antworten auf die einzelnen Aussagen zur Interessenvertretung zeigen zudem, dass vor allem ein Item zu dem schlechten Ergebnis geführt hat – alle Mitarbeiter stimmen der Aussage zu: »Für die Durchsetzung der eigenen Interessen muss bei uns jeder für sich allein kämpfen!« Offensichtlich fühlen sich die Mitarbeiter in diesem Betrieb in jeder Hinsicht allein gelassen, an diesem Punkt müssen dann auch Änderungsmaßnahmen ansetzen (Nerdinger, 1997; 7 Kap. 12).
11
11.1.3
Wirkungen des Organisationsklimas
Aus Sicht der Unternehmen ist die Frage entscheidend, welche Wirkungen das Organisationsklima hat, speziell wie es auf den Unternehmenserfolg wirkt. Mittlerweile liegen zwei Metaanalysen vor, die diese Frage überprüft haben (Carr, Schmidt, Ford & DeShon, 2003; Parker, Baltes, Young, Huff, Altmann, Lacost & Roberts, 2003). Ein spezielles Problem bei der Metaanalyse der vorliegenden Untersuchungen über diesen Zusammenhang liegt in der enormen Vielfalt der Klimadimensionen, die in den verschiedenen Untersuchungen verwendet werden. Diese müssen zunächst theoretisch sinnvoll geordnet werden, um zu aussagekräftigen Ergebnissen zu kommen. In diesem Punkt ist die Metaanalyse von Carr et al. (2003) derjenigen von Parker et al. (2003) überlegen, weshalb sich die folgenden Ausführungen auf diese Untersuchung beziehen. Die Autoren gehen von einer Taxonomie der Klimadimensionen aus, die Ostroff (1993) entwickelt hat. Ostroff hat gezeigt, dass sich die in empirischen Untersuchungen gewählten Klimadimensionen theoretisch sinnvoll und empirisch erschöpfend in drei Kategorien
einordnen lassen, die er als affektive, kognitive und instrumentelle Facetten des Organisationsklimas bezeichnet: 4 Die affektive Facette umfasst alle Dimensionen, die die sozialen Beziehungen und das soziale Involvement der Mitarbeiter ansprechen (dazu zählen Fragen der Partizipation, der »Wärme«, soziale Belohnungen und Kooperation). 4 Die kognitive Facette umfasst alle Dimensionen, die auf das Selbst und die eigene Entwicklung bezogen sind (das persönliche Wachstum, Innovation, Autonomie und intrinsische Belohnungen sind konstitutive Bestandteile). 4 Die instrumentelle Facette umfasst die Dimensionen, die das Involvement in die Aufgabe und die Arbeitsprozesse betonen (dazu zählen die Hierarchie, die Struktur des Unternehmens, extrinsische Belohnungen und die Leistungsdimensionen). Carr et al. (2003) konzentrieren sich auf die individuellen Wirkungen des Organisationsklimas, deshalb beschränkt sich die Untersuchung auf die individuelle Leistung, das Wohlbefinden und das Rückzugsverhalten der Mitarbeiter als abhängige Variablen. Schließlich stellt sich die Frage, wie das Organisationsklima auf diese Variablen wirken kann. Die Autoren gehen davon aus, dass die Wirkung des Klimas durch die Arbeitszufriedenheit und die Bindung an die Organisation vermittelt (mediiert) wird, d. h., ein gutes Organisationsklima sollte dazu führen, dass die Mitarbeiter zufrieden sind und sich an das Unternehmen gebunden fühlen und deshalb mehr leisten, sich wohler fühlen und weniger Rückzugsverhalten zeigen. Diese Hypothesen wurden an 51 empirischen Studien mit insgesamt 70 Untersuchungseinheiten (N zwischen 530 und 24.628) in einer metaanalytischen Pfadanalyse überprüft. Die Ergebnisse sind in . Abb. 11.2 dargestellt. Wie die Ergebnisse der . Abb. 11.2 verdeutlichen, sind es vor allem die affektiven Klimadimensionen, die einen starken Einfluss auf die Arbeitszufriedenheit haben, die wiederum positive Wirkungen auf das Wohlbefinden und die Leistung zeigt und Rückzugsverhalten verhindert (zu vergleichbaren Befunden kommen Parker et al., 2003). Das sind gewichtige Argumente für die Pflege des Organisationsklimas. Diese werden noch verstärkt durch neuere Untersuchungen, die belegen, dass das Klima – vermittelt über seine Wirkungen auf die Arbeitszufriedenheit – auch die Produktivität ganzer Unternehmen positiv beeinflusst (Patterson, Warr & West, 2004).
153 11.2 · Organisationskultur
11
© American Psychological Association 2003
. Abb. 11.2. Endgültiges Pfadmodell der Metaanalyse von Carr et al. (2003); die Ziffern an den Pfeilen bezeichnen standardisierte Regressionskoeffizienten; alle Koeffizienten sind signifikant für p<0,05
11.2
Organisationskultur
Die Begriffe Organisationsklima und Organisationskultur werden häufig synonym verwendet, das wird aber ihrer Bedeutung nicht gerecht. Zum einen entstammen die Konzepte unterschiedlichen wissenschaftlichen Entwicklungen: Während das Klimakonzept wie erwähnt auf die psychologische Feldtheorie zurückgeht, wird das Feld der Kultur traditionell in erster Linie von der wissenschaftlichen Disziplin der Anthropologie bearbeitet. Und auch inhaltlich sind beide Konzepte nicht bedeutungsgleich (Denison, 1996). Mit dem Begriff Klima werden bewusst wahrgenommene Prozesse und Faktoren der Umwelt beschrieben sind, die sich von der Organisation kontrollieren lassen. Mit dem Begriff Organisationskultur werden dagegen tief verankerte Werte und Annahmen beschrieben, die häufig nicht bewusst sind. Das muss etwas genauer erläutert werden.
wünschenswert ist und welches nicht. Diese ungeschriebenen Gesetze regeln das Verhalten und sorgen für die Einbindung der Mitarbeiter in die Organisation. Jeder, der neu in die Organisation eintritt, wird mit diesen Normen und Werten konfrontiert und ist gezwungen, sich damit auseinanderzusetzen. Diese Wirkungen werden mit dem Begriff der Organisationskultur beschrieben. Organisations- bzw. Unternehmenskultur – beide Begriffe werden häufig synonym verwendet, obwohl der erste der umfassendere ist – zählen zu den Begriffen, die äußerst schwierig zu definieren sind. Entsprechend findet sich in der wissenschaftlichen Literatur eine Vielzahl verschiedener Definitionsversuche (vgl. Neuberger & Kompa 1987; Neubauer 2003). Neuberger (1989, S. 245) hat die wichtigsten Aspekte zusammengestellt (7 Kasten »Bestimmungsstücke von Organisationskultur«). 11.2.2
11.2.1
Das Konzept der Organisationskultur
Organisationen sind soziale Systeme, in denen Menschen langfristig zusammenarbeiten (7 Kap. 4). Dabei bilden sich im Laufe der Zeit Normen und Selbstverständlichkeiten heraus: Die Mitarbeiter entwickeln gemeinsame Auffassungen darüber, welches Verhalten
Messung und Interpretation
Das mit dem Begriff Kultur Gemeinte kann aus zwei Perspektiven analysiert werden, die sich folgendermaßen umschreiben lassen: Die Organisation hat eine Kultur bzw. die Organisation ist eine Kultur (von Rosenstiel 2003). Geht man davon aus, dass eine Organisation eine Kultur hat, so wird man versuchen, die Besonderheit einer Organisation im Unterschied zu anderen Organisationen zu ermitteln. Das Ziel dieser Betrachtung ist
154
Kapitel 11 · Organisationsklima und Organisationskultur
Bestimmungsstücke von Organisationskultur 4 Kultur gilt als das Insgesamt der von Menschen geschaffenen bzw. weitergegebenen und damit zeit- und gruppenspezifischen Inhalte und Gestaltungen; 4 die weithin akzeptiert und von (fast) allen geteilt werden; 4 ein relativ stimmiges System – eine »Ganzheit« – bilden, was jedoch nicht ausschließt, dass sich in einer Organisation auch Subkulturen mit entgegengesetzten Vorstellungen vorfinden;
11
instrumentell, d. h., man muss zuerst die Besonderheit der Organisation ermitteln, um sie dann so zu gestalten, dass die angestrebten Ziele optimal erreicht werden. Das setzt Methoden voraus, die es ermöglichen, die Kultur einer Organisation empirisch zu erfassen. Obwohl nach dem zweiten Ansatz, wonach eine Organisation eine Kultur ist, gar keine Messung möglich sein sollte, wurden mittlerweile sehr viele Instrumente zur Erfassung der Kultur entwickelt. Die als Fragebögen angelegten Instrumente lassen sich in zwei Klassen einteilen (Ashkanasy, Broadfoot & Falkus, 2000): Typisierungen und Profilmaße. Typisierende Maße werden dazu benutzt, Unternehmenskulturen bestimmten Kulturtypen zuzuordnen. Profilmaße dagegen liefern detaillierte Beschreibungen von Unternehmenskulturen hinsichtlich verschiedener Dimensionen. Die Analyse zeigt allerdings, dass die so gemessene Kultur weitgehend mit dem Organisationsklima übereinstimmt (auf weitere Probleme der Kulturmessung verweist Drumm, 1991). Ziel der Messung einer bestimmten Organisationskultur ist es, diese zu verändern. Die Möglichkeiten dazu sind allerdings sehr begrenzt und viele Wissenschaftler beurteilen sie äußerst skeptisch. Das hängt mit der zweiten Perspektive zusammen, wonach eine Organisation eine Kultur ist. Organisation wird aus diesem Blickwinkel wie eine »Minigesellschaft« betrachtet, die ihre eigene Geschichte hat, eine spezielle Sprache ausbildet, in der bestimmte Rituale und Zeremonien entstehen, und die durch eigene Artefakte wie Abzeichen, Architektur oder Logos (Firmensignets) gekennzeichnet ist. Bei dieser Betrachtung nimmt der Wissenschaftler die Position eines Kulturanthropologen ein, der einen fremden Stamm be-
4 Inhalte und Formen sind spezifisch und einmalig, sie unterscheiden eine Gruppe oder auch eine ganze Epoche von anderen, machen ihren »Charakter« aus; 4 sie sind ständig im Wandel, werden immer wieder neu interpretiert, weiterentwickelt und umgeformt; 4 sind zugleich Ergebnis wie Mittel der sozialen Interaktionen und zeigen sich in konkreten Produkten und Praktiken; 4 erfassen und durchdringen den ganzen Lebensprozess und können auf die Bewältigung wichtiger Probleme bezogen werden.
obachtet und dabei versucht herauszufinden, nachwelchen Regeln die Stammesmitglieder leben. Mögliche Ansatzpunkte der Erforschung sind aus dieser Perspektive die Symptome der Organisationskultur. Die wichtigsten hat Neuberger (1989) zusammengestellt (. Tab. 11.2). Alle diese Elemente haben technische Konsequenzen, d. h., sie sind für die Ziele der Organisation funktional. So hat natürlich die Architektur eines Verwaltungsgebäudes funktionale Bedeutung. Sie wurde geschaffen, um einer bestimmten Anzahl von Mitarbeitern Büros, Konferenzräume, Erholungsmöglichkeiten usw. zu bieten. Ein Gebäude ist aber auch ein Symbol, d. h., es steht auch für etwas anderes. Gebäude haben – wie alle anderen Symptome der Organisationskultur – eine eigene Bedeutung, die es zu entschlüsseln gilt (7 Kap. 7). Dass jeder Neubau eines Bankengebäudes in Frankfurt am Main versucht, die Gebäude der Konkurrenten in der Höhe zu überflügeln, zeigt, dass die Architektur auch noch eine andere Bedeutung hat – sie symbolisiert die Macht und die Bedeutung der Organisation (zumindest aus Sicht ihrer Entscheidungsträger). Dass die Büros des Topmanagements immer in den obersten Stockwerken liegen, symbolisiert auch, wer »oben« ist, d. h. in der Organisation das Sagen hat usw. Diese Merkmale der Kultur lassen sich wiederum nutzen, um sie zu diagnostizieren. Eine originelle Methode hat Müller (1999) entwickelt, die an sprachlichen Merkmalen der Kultur – den Unternehmenswitzen – ansetzt (7 Kasten »Erfassung der Kommunikationskultur«). Bei dieser Betrachtungsweise geht es also um das Verstehen der Minigesellschaft »Organisation«. So gesehen sind Änderungen der Kultur natürlich kaum mög-
155 11.2 · Organisationskultur
11
Verbale
Interaktionale
Artifizielle (objektivierte)
4 4 4 4 4 4
4 4 4 4 4 4 4 4 4
4 Statussymbole 4 Abzeichen, Embleme, Geschenke, Fahnen 4 Logos 4 Preise, Urkunden, Incentive-Reisen 4 Idole, Totems, Fetische 4 Kleidung, äußere Erscheinung 4 Architektur 4 Arbeitsbedingungen 4 Plakate, Broschüren, Werkszeitung 4 Schriftlich fixierte Systeme (der Lohnfindung, Einstufung, Beförderung)
Geschichten Mythen Anekdoten Parabeln Legenden, Sagen, Märchen Slogans, Mottos, Maximen, Grundsätze 4 Sprachregelungen 4 Jargon, Tabus 4 Lieder, Hymnen
4 4 4 4
Riten, Zeremonien, Traditionen Feiern, Festessen, Jubiläen Conventions Konferenzen Tagungen Vorstandsbesuche Revisionsbesuche Organisationsentwicklung Auswahl und Einführung neuer Mitarbeiter; Beförderung Degradierung, Entlassung, freiwillige Kündigung, Pensionierung, Tod Beschwerden Magische Handlungen (Mitarbeiterauswahl, Strategische Planung usw.) Tabus
Erfassung der Kommunikationskultur Müller (1999) geht davon aus, dass sich ein Aspekt der Organisationskultur – die Kommunikationskultur – durch Sprüche erfassen lässt, mit denen Organisationsmitglieder Besonderheiten des Umgangs miteinander in witziger Weise zum Ausdruck bringen. Sie sind gewissermaßen »Sprechblasen« der Organisationskultur, die in verdichteter Form zum Ausdruck bringen, wie in der Organisation kommuniziert wird. Müller (1999) hat zehn solcher Sprüche zusammengestellt, die in den verschiedensten Unternehmen bekannt sind, z. B. »Wer kriecht, kann nicht stolpern« oder »Ich denke, also bin ich hier falsch«. Diese Sprüche wurden den Mitarbeitern verschiedener Unternehmen mit der Bitte vorgelegt, auf einer Skala von 1 bis 4 anzugeben, wie wahrscheinlich es ist, dass Mitglieder ihrer Organisation diese Sprüche gebrauchen. Dabei zeigte sich: In Organisationen, in denen solche Sprüche häufig verwendet werden, ist das Vertrauen der Mitarbeiter in die Organisation ebenso gering wie die Befriedigung, die aus der Arbeit in der Organisation gezogen wird.
lich, da sie sich in den Interpretationen und Deutungen der Mitarbeiter äußert. Diesen Aspekt hebt das Modell von Schein (1995) hervor. 11.2.3
Das Modell von Schein
Schein (1995) hat ein Modell der Organisationskultur entwickelt, das in der Wissenschaft stark beachtet wurde. Definition Nach Schein (1995) ist Organisationskultur 4 ein Muster gemeinsam geteilter, grundlegender Annahmen, 4 die von einer Gruppe bei der Lösung von Problemen der Anpassung an die Umwelt sowie der Integration ihrer Mitglieder gelernt wurden, 4 die sich als hinreichend erfolgreich bei der Lösung dieser Probleme erwiesen haben und 4 neuen Mitgliedern als die richtige Art und Weise, in der solchen Problemen zu begegnen ist, gelehrt wird.
Nach diesem Ansatz bilden grundlegende Annahmen über die Natur des Menschen, seines Verhaltens und seiner Beziehungen sowie über die Natur der Wirklichkeit den Kern der Organisationskultur. Diese Annahmen schlagen sich nieder in Werten, die wiederum
Mit freundlicher Genehmigung von Hogrefe, Göttingen. © Hogrefe 1989
. Tab. 11.2. Symptome der Organisationskultur. (Nach Neuberger, 1989)
156
Kapitel 11 · Organisationsklima und Organisationskultur
. Abb. 11.3. Ebenen der Organisationskultur. (Nach Schein, 1995)
11
in Artefakten und Schöpfungen objektiviert werden (. Abb. 11.3). Grundlegend für die Kultur sind eine Reihe von Annahmen und Überzeugungen, die erlernt und von den Mitgliedern einer Organisation geteilt werden. Diese wurden aber im Verlauf der Zeit zur Selbstverständlichkeit und sind daher häufig unbewusst. Diese Annahmen, die bestimmen, wie eine Organisation sich selbst und ihre Umwelt sieht, betreffen folgende vier Aspekte: 4 Beziehung zur Umwelt: Betrachten die entscheidenden Mitglieder das Verhältnis der Organisation zur Umwelt als eines der Dominanz (die Organisation prägt der Umwelt ihren Willen auf), der Unterwerfung (die Organisation muss sich nach der Umwelt richten), des Harmonisierens (die Organisation steht in Einklang mit der Umwelt) oder als etwas anderes? 4 Natur der Wirklichkeit: Gemeint sind vor allem die Sprach- und Verhaltensregeln, die festlegen, was als wirklich gilt und was nicht. Zum Beispiel zählt in manchen Organisationen, in denen das Controlling eine zentrale Stellung einnimmt, nur das, was sich messen lässt, alles andere wird ignoriert. 4 Natur der menschlichen Tätigkeit: Was ist das richtige Verhalten in Bezug auf die ersten beiden Annahmen – aktiv handeln oder passiv abwarten, bis etwas geschieht?
4 Natur der menschlichen Beziehungen: Was ist die richtige Art und Weise des Umgangs zwischen den Mitgliedern einer Organisation – kooperativ, konkurrenzorientiert, individualistisch oder steht die Gemeinschaft über dem Einzelnen? Basieren die Beziehungen auf der Autorität der Führung, den grundlegenden Menschenrechten oder etwas anderem? Diese Liste von Annahmen ist nicht unbedingt vollständig oder endgültig, im Kern einer jeden Kultur stehen aber solche Annahmen. Da sie im Laufe der Zeit selbstverständlich wurden, sind sie vorbewusst, d. h., wenn man die Mitglieder der Organisation darüber befragt, können sie diese Annahmen nicht unbedingt benennen. Man kann aber etwas über sie herausfinden, wenn man die Werte der Organisation untersucht, da diese von den Grundannahmen beeinflusst werden (und selber auf die Grundannahmen einwirken). Unter Werten können in Anlehnung an Kluckhohn (1951) Auffassungen des Wünschenswerten verstanden werden, die für einen Einzelnen oder eine Gruppe kennzeichnend sind und die Auswahl der Weisen, Mittel und Ziele des Handelns beeinflussen. Werte sind überindividuelle Präferenzen, die festlegen, was einer Gruppe wichtig ist und als gut eingeschätzt wird. Werte liegen damit am Schnittpunkt zwischen dem Einzelnen
157 11.2 · Organisationskultur
und der Organisation. Akzeptiert der Einzelne die Werte der Organisation, wird er sich an ihnen orientieren und sein Verhalten daran ausrichten. In diesem Fall spricht man von Wertorientierungen, die das Verhalten des Einzelnen bestimmen. Werte schlagen sich nieder in verschiedenen Artefakten und Schöpfungen, die gewissermaßen der objektive Ausdruck der Werte sind. Hat ein Unternehmen die Produktion über Fließbänder organisiert, so bildet diese Technologie auch den Ausdruck von Werten: Wichtig ist in diesem Unternehmen die möglichst effiziente Produktion großer Stückzahlen, die Arbeitsbedingungen der Menschen sind demgegenüber nachrangig. Beispiele für hörbares Verhalten wurden bereits im Rahmen der Untersuchung von Müller (1999) genannt: Wenn in einem Unternehmen Sprüche wie »Wer kriecht, kann nicht stolpern« kursieren, so bilden sie den Ausdruck des Wertes bestimmter Verhaltensweisen: Demnach ist es in diesem Unternehmen wichtig, dass die Mitarbeiter genau darauf achten, es sich nicht mit ihren Vorgesetzten zu verscherzen – deren Verhalten wird als willkürlich und ungerecht erlebt. Anpassung wird also in einem solchen Unternehmen höher bewertet als eigenständiges Denken und Handeln der Mitarbeiter. Durch Sammlung und Interpretation solcher Artefakte und Sprüche kann etwas über die Werte der Organisation herausgefunden werden. Das ermöglicht einen Schluss auf die grundlegenden Annahmen und damit die Kultur der Organisation. Nach Schein (1995) entsteht die Organisationskultur aus der Lösung bestimmter Probleme und führt dazu, dass vergleichbare Probleme künftig in derselben Weise wahrgenommen und gelöst werden. Zu diesem Zweck müssen potenzielle Mitarbeiter angeworben und ausgewählt werden, die sich an Werten orientieren, die den in der Organisation gemeinsam geteilten Werten möglichst entsprechen. Da dies nie vollständig möglich ist, muss nach der Einstellung dafür gesorgt werden, dass die neuen Mitarbeiter die bestehenden Werte übernehmen und sich die Grundannahmen zu eigen machen. Durch Prozesse der Gravitation und der Sozialisation sichert
die Kultur die interne Integration der Organisation (7 Kap. 6). Zusammenfassung 4 Organisationsklima ist die relativ überdauernde Qualität der inneren Umwelt der Organisation, die durch die Mitglieder erlebt wird, ihr Verhalten beeinflusst und durch die Werte einer bestimmten Menge von Merkmalen der Organisation beschrieben werden kann. 4 Nach einer Facettenanalyse wird das Organisationsklima auf der Ebene des sozialen Aggregats – der Gruppe oder der ganzen Organisation – erhoben. 4 Das Klima einer Organisation hat Auswirkungen auf die Leistung der Mitarbeiter, ihr subjektives Wohlbefinden und ihr Rückzugsverhalten. 4 Das Klima wirkt vermittelt über die Arbeitszufriedenheit und die Bindung an die Organisation. 4 Das Konzept der Organisationskultur beschreibt tief verankerte Werte und Annahmen, die häufig nicht bewusst sind. 4 Eine Organisation lässt sich wie eine Minigesellschaft betrachten, die ihre eigene Geschichte hat, eine spezielle Sprache ausbildet, in der bestimmte Rituale und Zeremonien entstehen und die durch eigene Artefakte gekennzeichnet ist. 4 Im Modell von Schein werden drei Ebenen unterschieden: Grundlegende Annahmen bilden den Kern der Organisationskultur, daraus leiten sich die Werte einer Organisation ab, die sich in den verschiedensten Artefakten objektivieren.
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11
158
Kapitel 11 · Organisationsklima und Organisationskultur
Literatur
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12
12 Organisationsentwicklung 12.1
Zum Begriff Organisationsentwicklung – 160
12.2
Historische Quellen
12.2.1 12.2.2 12.2.3
Laboratoriumsmethode – 161 Survey Feedback und Aktionsforschung Soziotechnische Systemtheorie – 162
12.3
Ansatzpunkte – 163
12.4
Die Rolle des Beraters
12.5
Wirkungen der Organisationsentwicklung
12.6
Neuere Schwerpunkte
12.6.1 12.6.2
Innovation – 165 Lernende Organisation
Literatur
– 168
– 160 – 161
– 163
– 165 – 167
– 164
160
Kapitel 12 · Organisationsentwicklung
> »Das einzige, was sich nicht ändert, ist, dass sich ständig alles ändert!« – so lautet ein in vielen Unternehmen verbreitetes Bonmot! Insofern wäre der ständige Wandel von Organisationen gewissermaßen ein Teil ihrer »Natur«, die zu erklären wiederum ein philosophisches Problem darstellt. Die Arbeits- und Organisationspsychologie kann sich dagegen nur mit bestimmten Arten des Wandels auseinandersetzen – den Versuchen, eine Änderung der Organisation gezielt herbeizuführen, gilt dabei ihr besonderes Interesse. Solche Versuche tragen viele Namen, am bekanntesten ist wohl der Begriff Organisationsentwicklung. Das damit Gemeinte und einige Weiterentwicklungen wie die sog. »lernende Organisation« und die vielfältigen Ansätze zur Gestaltung von Innovationen werden im Folgenden etwas genauer beleuchtet.
12.1
Zum Begriff Organisationsentwicklung
Organisationsentwicklung (OE) ist die bekannteste und nach wie vor wichtigste, psychologisch gestützte Form des geplanten Wandels von Organisationen (vgl. zum Folgenden Gebert, 2004a; Guldin, 2004; von Rosenstiel, Rüttinger & Molt, 2005). Definition
12
Charakteristisch für Organisationsentwicklung (OE) sind folgende Merkmale (vgl. French & Bell, 1977): 4 OE ist eine geplante Form des Wandels; 4 OE ist langfristig angelegt; 4 OE betrifft ganze Organisationen (Betriebe, Schulen, Krankenhäuser etc.) und nicht nur einzelne Abteilungen oder Gruppen; 4 am OE-Prozess sind die Betroffenen beteiligt; 4 der Wandel wird durch erfahrungsgeleitete Lern- und Problemlöseprozesse herbeigeführt; 4 das Lernen und Problemlösen wird durch Verfahren der angewandten Sozialwissenschaften ausgelöst und unterstützt; 4 OE zielt weniger auf die Beeinflussung der Produktivität, als vielmehr auf die Verbesserung der Lebensqualität und der Problemlösefähigkeit in einer Organisation.
OE versucht, durch die Konzipierung und Einführung geeignet erscheinender Formen der Arbeit, der Führung und der Kooperation die Effektivität der Abläufe in der Organisation zu sichern und gleichzeitig die Lernfähigkeit bzw. die Flexibilität und Innovationsfähigkeit der Organisation zu stärken. Letztlich sollen die Mitarbeiter
durch OE in die Lage versetzt werden, die Veränderungen der Umwelt konstruktiv zu bewältigen. In dieser Zielsetzung liegt auch die wesentliche Unterscheidung zu einer anderen Form des geplanten Wandels, die in den letzten Jahren immer wichtiger geworden ist, das sog. Change Management. Darunter werden alle Ansätze eines umfassenden organisationalen Wandels gefasst, die letztlich als Teil des strategischen Managements zu verstehen sind (Reiß, von Rosenstiel & Lanz, 1997; Müller-Stewens & Lechner, 2003). Besonders bekannte Beispiele für Formen des Change Management sind das Business Reengineering, Lean Management oder das Total Quality Management. Mit diesen Ansätzen sollen Kostensenkungen, Effizienzsteigerungen, verbesserte Kundenorientierung bzw. eine umfassende Qualitätssicherung im Unternehmen erreicht werden. Im Gegensatz zur Organisationsentwicklung werden die verschiedenen Formen des Change Management nicht durch die Betroffenen konzipiert und umgesetzt, sondern gewöhnlich von Beratern als ganze Konzeption dem Unternehmen verkauft. Wie es zu diesem fundamentalen Unterschied zwischen OE und Ansätzen des Change Management kam, wird an der historischen Entwicklung der OE deutlich. 12.2
Historische Quellen
Letztlich kann OE auf drei historische Wurzeln zurückgeführt werden (vgl. Greiner & Cummings, 2004; von Rosenstiel et al., 2005): die Laboratoriumsmethode, die Kurt Lewin als ein gruppendynamisches Verfahren entwickelt hat, die Datenerhebungs- und Rückkopplungsmethode (Survey Feedback), die ebenfalls in Verbindung mit der Gruppendynamik entstanden ist, sowie die sozio-
161 12.2 · Historische Quellen
technische Systemtheorie, die auf bahnbrechende Studien des Tavistock Instituts zurückgeht, die im britischen Kohlebergbau durchgeführt wurden. 12.2.1
Laboratoriumsmethode
Die Laboratoriumsmethode – häufig auch als Sensitivity Training oder T(rainings)-Gruppe bezeichnet – hat Kurt Lewin im Jahre 1947 entwickelt mit dem Ziel, Menschen die Möglichkeit zu geben, effektiver mit den komplexen menschlichen Beziehungen und Problemen umzugehen (Marrow, 2002). Bei dieser Methode arbeiten mehrere Personen für eine bestimmte Zeit in einer Gruppe zusammen, um zu lernen, die in der Gruppe ablaufenden Prozesse besser zu verstehen und sie kompetent zu steuern. Das Erleben und Verhalten in der Gruppe bildet dabei gewissermaßen das Lernmaterial – die Gruppe stellt eine Art soziales Laboratorium dar, die ganze Methode kann daher als eine Form des Erfahrungslernens betrachtet werden. Zur Herstellung optimaler Lernbedingungen in T-Gruppen müssen drei Bedingungen beachtet werden: 4 Unstrukturiertheit der Situation: Die Gruppen werden aus Personen zusammengesetzt, die keine gemeinsame Vergangenheit und keine gemeinsame Zukunft haben (sog. Stranger-Groups). Die Trainer nehmen keine Führungsrolle ein, es gibt keine Tagesordnung und es werden keine Themen vorgegeben. Damit fehlen die üblichen Möglichkeiten der sozialen Orientierung, die Teilnehmer können sich nicht mehr an vorgegebenen Rollen orientieren und zeigen stattdessen spontanes Verhalten. 4 Hier-und-Jetzt-Prinzip: Es darf nur über die aktuellen Vorgänge in der Gruppe gesprochen werden. Damit werden allein die Prozesse zwischen den Personen zum Thema, die in jedem Moment beobachtbar sind. Zur Bearbeitung dieses Themas kann aber jeder Teilnehmer unmittelbar beitragen. 4 Feedback: Damit sich die Teilnehmer bewusst werden, welche Wirkung sie auf andere haben, geben sie Rückmeldung darüber, wie sie die anderen erleben, und umgekehrt erhalten sie Rückmeldung darüber, wie sie von den anderen erlebt werden. Das Lernen neuer Verhaltensweisen und Einstellungen durch die auf diesem Wege vermittelten Erfahrungen vollzieht sich nach Lewin in einem Dreischritt, den er
mit den Begriffen Auftauen – Verändern – Einfrieren umschrieben hat. Das Auftauen verfestigter Verhaltensweisen und Einstellungen erfolgt über das Feedback, das bei den Empfängern gewöhnlich zu Abwehrreaktionen führt und anschließend der Reflexion zugänglich wird. Daran schließt sich das Ausprobieren neuer Verhaltensweisen an, die sich im Laufe der Zeit in der Gruppe stabilisieren. T-Gruppen erlebten zunächst einen wahren Boom in den verschiedensten Anwendungsbereichen: Sie wurden als das mächtigste Instrument zur Änderung von Menschen, Gruppen und schließlich ganzer Organisationen angesehen (Greiner & Cummings, 2004). Obwohl Metaanalysen zeigen, dass die Laboratoriumsmethode durchaus in der Lage ist, Einstellungen zu verändern (vgl. Neuman, Edwards & Raju, 1989), ist in der Praxis der Organisationen diese Euphorie mittlerweile weitgehend verflogen: Die Laboratoriumsmethode wird heute kaum noch im Rahmen der OE eingesetzt, vor allem, weil sich die unter Fremden neu gelernten Verhaltensweisen kaum auf die Situation in der Arbeit übertragen lassen. In bestehenden Arbeitsgruppen entwickelt sich nicht die Offenheit und Spontaneität wie unter Fremden. Heute wird stattdessen im Rahmen der OE bevorzugt die Methode der Teamentwicklung eingesetzt (Comelli, 2003; 7 Kap. 8). Trotzdem steht die Laboratoriumsmethode beispielhaft für die Verfahren der OE, die auf die Veränderung individuellen Verhaltens sowie auf verbesserte Teamfähigkeit zielen. Dabei handelt es sich durchgängig um Methoden des Erfahrungslernens, d. h., es wird kein Wissen von Experten vermittelt, sondern anhand eigener Erfahrungen in Gruppen gelernt. Und der Dreischritt »Auftauen – Verändern – Einfrieren« wurde als allgemeines Veränderungsmodell der OE übernommen, das auch heute noch bei den meisten Interventionen in Organisationen handlungsleitend ist. 12.2.2
Survey Feedback und Aktionsforschung
Beim Survey Feedback werden mit den Methoden der empirischen Sozialforschung – schriftliche oder mündliche Befragung, Vorgabe von Einstellungsskalen etc. – Daten erhoben (Survey Research) und die Ergebnisse anschließend an die Befragten rückgemeldet (Feedback). Diese analysieren dann die Ergebnisse vor dem Hintergrund ihres spezifischen Wissens um die Situation und
12
162
Kapitel 12 · Organisationsentwicklung
entwickeln für die festgestellten Probleme eigene Lösungsvorschläge. Ein so verstandenes Survey Feedback wird häufig im Rahmen der Aktionsforschung eingesetzt (Eden & Huxham, 1996; von Rosenstiel et al., 2005). Dabei versuchen Forscher und Betroffene – gewöhnlich Berater und Mitglieder der beratenen Organisation – gemeinsam, die Probleme, die zum Anlass der OE wurden, zu klären und zu lösen. So wird das klassische Verhältnis des Forschers zu seinem Forschungsgegenstand, das Subjekt-zu-Objekt-Modell der Forschung (wobei Subjekt = Forscher und Objekt = in diesem Fall die Mitarbeiter der Organisation) aufgehoben und durch eine Subjekt-Subjekt-Beziehung ersetzt, die durch gleichberechtigte Kooperation gekennzeichnet ist. Bei der Problemlösung wechseln sich die Phasen der Forschung und der Aktion, d. h. der Umsetzung von Änderungsmaßnahmen in der Organisation, ab. Das Vorgehen bei der Aktionsforschung, das auch das üblicherweise gewählte Vorgehen bei einer OE bestimmt, kann in verschiedene
Phasen unterteilt werden (vgl. zum Folgenden von Rosenstiel et al., 2005; 7 Kasten »Organisationsentwicklung als Aktionsforschung«). 12.2.3
Soziotechnische Systemtheorie
Für das in Europa vorherrschende Verständnis von OE sind als dritte historische Wurzel die Arbeiten des Tavistock Institute of Human Relations in London zu nennen, die zur Entwicklung der Theorie soziotechnischer Systeme geführt haben. Den Ausgangspunkt bildete eine nachgerade klassische sozialwissenschaftliche Studie dieses Instituts im britischen Kohlebergbau (Trist & Bamforth, 1951; vgl. Ulich, 2005). Im Rahmen der Untersuchung sollten die Ursachen schlechter Arbeitsmotivation, hoher Fehlzeiten, starker Fluktuation, häufiger Unfälle und einer Vielzahl von Arbeitskämpfen im Kohlebergbau ermittelt werden. Diese Probleme traten vermehrt auf, nachdem
Organisationsentwicklung als Aktionsforschung: Phasen der OE
12
1. Kontaktphase: Gewöhnlich beginnt ein OE-Projekt damit, dass ein Klient Kontakt mit einem Berater aufnimmt. 2. Vorgespräche: Im nächsten Schritt wird im Rahmen von Vorgesprächen das Projekt abgesteckt – z. B. wird geklärt, welchen Umfang das Projekt haben soll, welche Methoden verwendet werden, welche Rolle der Berater einnimmt etc. 3. Vereinbarung des Vorgehens: Wurde Einigkeit über das allgemeine Vorgehen erzielt, präzisieren die Partner anschließend die Form der Zusammenarbeit und die Art des Vorgehens. Dabei werden die betroffenen Mitarbeiter einbezogen – im Sinne der Aktionsforschung sind sie die Experten für ihre Situation und sollen deshalb an der Diagnose, der Planung von Maßnahmen und deren Umsetzung mitarbeiten. 4. Datenerhebung: Hier können praktisch alle Methoden der empirischen Sozialforschung zum Einsatz kommen, vor allem werden Fragebögen und qualitative Interviews eingesetzt. 5. Aufbereitung der Daten: Die anhand der Datenerhebung gesammelten Informationen werden aufbereitet, zusammengefasst und – sofern
6.
7.
8.
9.
möglich – graphisch veranschaulicht. Auch an diesem Prozess sollen die betroffenen Gruppen der Organisation beteiligt werden. Datenrückkopplung: Hier sind die unterschiedlichsten Formen denkbar – rückgemeldet wird schriftlich oder mündlich, an einzelne Mitarbeiter, an ganze Gruppen oder auch an die ganze Organisation (z. B. im Rahmen von Betriebsversammlungen). Diagnose: Im Rahmen der damit umschriebenen Analysephase werden die Daten bewertet und es wird versucht, bestehende Probleme herauszufinden. Bei der Diagnose ist es besonders wichtig, dass sich die verschiedenen beteiligten Gruppen auf eine gemeinsame Problemdefinition einigen. Maßnahmenplanung und -durchführung: Damit sind die umfangreichsten und langwierigsten Aufgaben der ganzen OE beschrieben. Die betroffenen Mitarbeiter und Gruppen übernehmen die Initiative, der Berater fungiert lediglich als Moderator. Erfolgskontrolle: Anhand von Erfolgskriterien, die möglichst schon am Beginn der OE gemeinsam definiert wurden, lassen sich deren Ergebnisse systematisch analysieren und bewerten.
163 12.4 · Die Rolle des Beraters
eine neue Methode des teilmechanisierten Abbaus der Kohle, die sog. »long wall method of coal getting« eingeführt wurde. Die Einführung der neuen Technik ersetzte ein vorher bestehendes System der Selbstregulation innerhalb kleiner Gruppen motivierter und qualifizierter Bergleute durch ein System der Arbeitsteilung zwischen Schichten und der Aufsicht und Koordinierung durch Vorgesetzte. Die negativen Veränderungen der Arbeitsmoral waren allerdings – wie die Studie nachweisen konnte – nicht unmittelbar auf die Einführung der neuen Technik zurückzuführen, sondern auf die damit verbundenen Eingriffe in das soziale System. Die Befunde dieser Untersuchung zeigten eindrücklich, wie wichtig bestehende soziale Strukturen für die Leistungsfähigkeit von Organisationen sind. Eingriffe in die Organisation – auch durch Änderungen der Technik – beeinflussen solche Strukturen mehr oder weniger stark. Diese Erkenntnis bildete den Ausgangspunkt der soziotechnischen Systemtheorie, die postuliert, dass das soziale und das technische System nicht unabhängig voneinander sind und man sie daher immer gemeinsam optimieren muss. Darin besteht auch der Beitrag der soziotechnischen Systemtheorie zur OE, der eine stärkere Berücksichtigung der technischen Bedingungen und ihrer Auswirkungen auf das soziale System sowie der Wechselwirkungen zwischen den Systemen fordert. Der Versuch, die Organisation in dieser Form eines ganzheitlichen Ansatzes zu betrachten und zu verändern, ist kennzeichnend für die in Europa verbreiteten Ansätze der OE. 12.3
Ansatzpunkte
Je nach dem Ansatzpunkt der geplanten Veränderungen unterscheidet man den strukturalen von einem prozessualen und einem personalen Ansatz der OE (vgl. Gebert, 2004a). Im strukturalen Ansatz werden Organisationen als soziotechnische Systeme verstanden und Änderungsprozesse über Eingriffe in die Arbeitsbedingungen angestrebt. Die Einführung der sog. »neuen Formen der Arbeitsgestaltung« (Ulich, 2005) – vor allem die qualitative Anreicherung der Arbeit und die Arbeit in teilautonomen Gruppen (7 Kap. 22) – zählt ebenso zum strukturalen Ansatz wie z. B. die Implementierung von Qualitätszirkeln. In all diesen Fällen wird versucht, die Struktur der Organisation zu verändern mit dem Ziel, zu einer Änderung der ganzen Organisation zu gelangen. Dabei kann auch an den in der Organisation ablaufen-
den Prozessen angesetzt werden, in diesem Fall wird von einem prozessualen Ansatz gesprochen. Zum prozessualen Ansatz zählen die bereits erwähnte Methode des Survey Feedback sowie die Prozessberatung und die Methoden der Teamentwicklung. Der personale Ansatz – nomen est omen – setzt an der Person des Mitarbeiters an. Das klassische Vorgehen im Rahmen des personalen Ansatzes bildet das Laboratoriumstraining, das über eine Sensibilisierung des Individuums für die in der Gruppe ablaufenden Prozesse eine Änderung der Personen anstrebt, die nachfolgend zu einer Änderung der Organisation führen soll. Letztlich handelt es sich hier also um eine Methode zur Verbesserung der sozialen Kompetenz. Wie bereits erwähnt, wird diese Methode heute nur noch selten eingesetzt – zum einen birgt sie nicht unerhebliche Risiken für die Trainingsteilnehmer, zum anderen gelingt der Transfer des in der T-Gruppe gelernten in die betriebliche Praxis eher selten. Soziale Kompetenz wird heute über spezielle Trainings aufgebaut (Kanning, 2005), die allerdings bevorzugt Führungskräften zugute kommt. Das trifft auch für eine andere Maßnahme im Rahmen des personalen Ansatzes der OE zu, das Coaching. Coaching ist eine individuelle Beratungsform für Führungskräfte bei personenbezogenen Problemen im Rahmen der beruflichen Rolle (Schreyögg, 2002). Wie der OE liegen auch dem Coaching Annahmen der Aktionsforschung zugrunde – es besteht eine Subjekt-Subjekt-Beziehung, die durch wechselseitiges Lernen gekennzeichnet ist – und das Ziel ist auch hier die Hilfe zur Selbsthilfe, wobei die Kommunikation zwischen Coach und Coachee im Zentrum steht. Coaching ist also eine Form der gesteuerten individuellen Entwicklung und bildet somit das Pendant zur OE auf der personalen Ebene. 12.4
Die Rolle des Beraters
Gewöhnlich führen Organisationen OE-Prozesse nicht selbstständig durch, sondern lassen sich dabei von internen oder externen Beratern helfen. Diese werden auch als Change Agents bezeichnet. Ihre Aufgabe bestand ursprünglich in der sog. Prozessberatung. Diese Form der Beratung besteht aus einer Reihe von Interventionen, die dem Klienten helfen sollen, Prozesse und Ereignisse in seiner Umwelt wahrzunehmen, zu verstehen und adäquat zu verarbeiten (Schein, 1969; vgl. von Rosenstiel et al., 2005). Es geht also darum, der Gruppe zu verdeut-
12
12
Kapitel 12 · Organisationsentwicklung
lichen, wie die Teilnehmer miteinander kommunizieren, wie sie mit Konflikten – z. B. im Rahmen der Festlegung von Zielen – umgehen, wie sie auf Machtungleichheiten reagieren etc. Ähnlich der Rolle des Trainers in T-Gruppen beschränkt sich der Berater darauf, der Gruppe in regelmäßigen Abständen seine Beobachtungen über die ablaufenden Prozesse zurückzumelden und diese mit der Gruppe zu diskutieren. Prozessberatung versucht letztlich eine Gruppe in die Lage zu versetzen, ihre Aktivitäten geplant zu steuern und die Zusammenarbeit entsprechend ihrer Ziele zu gestalten. Prozessberatung verdeutlicht die zentrale Aufgabe des Change Agents im Rahmen der OE: die Hilfe zur Selbsthilfe. Weitere Aufgaben ergeben sich aus seiner Rolle im Rahmen der Aktionsforschung, wonach er mit dem Klientensystem ein gemeinsames, kooperatives Handlungssystem bilden soll. Der Berater muss zunächst der Organisation das für das Verständnis der Veränderungsprozesse wichtige Wissen vermitteln. Dazu zählt u. a., dass er den Klienten die sozialwissenschaftlichen Methoden der Datenerhebung und der Steuerung des OE-Prozesses verdeutlicht. Zudem ist er in alle Fragen der OE – auch in die Definition und die Lösung vorliegender Probleme – aktiv einbezogen. Inhaltlich obliegen ihm weitere Aufgaben wie die Vorlage der Daten, Entwicklung von Bewertungskriterien, Verdeutlichung möglicher Konsequenzen von Handlungen etc. In welchem Maße der Berater in diese Prozesse involviert wird, hängt entscheidend von den Erwartungen und Erfahrungen der Organisationsmitglieder ab. Im Gegensatz zu einer präzisen inhaltlichen Beratung, wie sie z. B. ein Ingenieur oder ein Arzt vornimmt, soll also ein Change Agent keine inhaltlichen Empfehlungen geben, sondern vielmehr die intimen Kenntnisse der Betroffenen über ihre Situation so aktivieren, dass sie selbst praktikable Lösungen ihrer Probleme entwickeln können. Diese Rolle ist aber für den Berater nicht immer leicht durchzuhalten: Vor allem die Leitung der Organisation, die ja als Auftraggeber fungiert, drängt gewöhnlich auf inhaltliche Lösungen. Dem kann sich der Berater selten ganz entziehen (Gebert, 2004a). Hier zeigt sich ein zentraler Interessenkonflikt, dem der Berater im Rahmen einer OE ausgesetzt ist: Als Auftragnehmer ist er der Geschäftsleitung verpflichtet, als Berater ist sein Ziel die möglichst weitgehende Beteiligung der Betroffenen an der Problemlösung. Um solchen Interessenkonflikten vorzubeugen, sollte zu Beginn der Beratung die Rolle des Beraters in einem eindeutig formulierten Vertrag festge-
legt werden, sodass er im Laufe der OE unbeeinflusst agieren kann. 12.5
Wirkungen der Organisationsentwicklung
Um die zentrale Frage »Was bringt’s?« zu beantworten, müssen zuerst die abhängigen Variablen, d. h. die Erfolgskriterien, bestimmt werden (Gebert, 2004a; Guldin, 2004). Aus betriebswirtschaftlicher Sicht zählen hier vor allem sog. »harte« Kriterien, also objektiv messbare Indikatoren der Quantität und Qualität von Arbeitsergebnissen. Demgegenüber betonen psychologische Ansätze, dass durch OE in erster Linie die Personen beeinflusst werden, und versuchen, dies über »weiche« Erfolgskriterien zu erfassen. Dazu zählen die Arbeitszufriedenheit, die Bindung an das Unternehmen (das Commitment), das Organisationsklima, bessere Zusammenarbeit und Kommunikation etc. Zu den so gemessenen Wirkungen der OE liegen mittlerweile eine Reihe sekundärstatistischer Auswertungen und Metaanalysen vor. Differenziert man nach der Art des Ansatzes und der Form der Ergebnisse, so lassen sich die Befunde wie in . Abb. 12.1 zusammenfassen. Der strukturale Ansatz steht in positiver Beziehung zu weichen Erfolgskriterien. Das heißt, die Einführung von Job Enrichment und die Installierung von teilautonomen Arbeitsgruppen korreliert mit der Zufriedenheit der Mitarbeiter und ihrer Einstellung zu Kollegen, der Arbeit und der Organisation. Allerdings ist dieser Zusammenhang relativ gering (unkorrigiertes r=.178, das korrigierter erreicht dagegen .365; Neuman et al., 1989). Andere strukMit freundlicher Genehmigung des Verlags Hans Huber © Hogrefe, Verlag Hans Huber 2007
164
. Abb. 12.1. Ergebnisse von Metaanalysen der Wirkungen von OE-Maßnahmen. (Nach Gebert, 2004a)
165 12.6 · Neuere Schwerpunkte
turelle Interventionen wie die Einführung von Leistungsbeurteilungen, Zielvereinbarungssystemen, Entlohnungssystemen, Arbeitsplänen etc. hängen dagegen recht deutlich mit harten Kriterien zusammen, speziell mit der Zunahme der Arbeitsproduktivität. Der Zuwachs in der Produktivität verbessert sich im Durchschnitt sogar um eine halbe Standardabweichung durch solche strukturellen Eingriffe (vgl. Guzzo, Jette & Katzell, 1985). Einen deutlich positiven Zusammenhang mit weichen Kriterien haben die klassischen, am Prozess ansetzenden Interventionen – Survey Feedback, Teamentwicklung und Prozessberatung. Besonders wirksam sind dabei Maßnahmen der Teamentwicklung (Neuman et al., 1989; Porras, 1979). Zudem finden sich auch Hinweise, dass solche Maßnahmen mit harten Leistungskriterien zusammenhängen (Nicholas, 1982; vgl. Guldin, 2004). Die Befunde zum personalen Ansatz sind dagegen durchgängig negativ. Gruppendynamische Trainings zeigen – wenn überhaupt – nur dann Zusammenhänge zu harten und weichen Erfolgskriterien, wenn sie sorgfältig auf die Bedingungen am Arbeitsplatz abgestimmt sind. Einen etwas anderen Analyseansatz wählten Macy und Izumi (1993). Sie bezogen 131 Untersuchungen in eine Metaanalyse ein, wobei sie die Erfolgskriterien nach den Auswirkungen auf die Finanzen, das Verhalten der Mitarbeiter bzw. ihre Einstellungen unterschieden. Auf der Seite der OE-Maßnahmen wurde danach differenziert, ob die Interventionen das ganze System der Organisation betreffen, sich auf Mitarbeitergruppen beschränken oder einzelne Mitarbeiter beeinflussen. Zusammengefasst kommen sie zu folgenden Ergebnissen (Macy & Izumi, 1993; vgl. Guldin, 2004): 4 Versuche, die ganze Organisation zu verändern, führen zu den stärksten Verbesserungen im finanziellen Bereich. 4 Interventionen auf der Ebene von Gruppen, z. B. von Abteilungen, führen zu den stärksten Verbesserungen im Verhalten der Mitarbeiter. 4 Die Einwirkung auf den einzelnen Mitarbeiter dagegen hat in allen Kategorien – Finanzen, Verhalten und Einstellung – den geringsten Effekt. Diese Befunde verdeutlichen, dass sowohl auf der Seite der OE-Maßnahmen als auch bei den Konsequenzen eine differenzierte Sicht vonnöten ist. Zusammenfassend lässt sich sagen, dass OE-Maßnahmen durchaus sowohl auf weiche, psychologische als auch auf harte, betriebswirtschaftliche Erfolgskriterien
wirken, wobei allerdings die Zusammenhänge insgesamt betrachtet eher niedrig sind. Zudem fällt auf, dass die Streuung dieser Zusammenhänge sehr hoch ist, d. h., in vielen Fällen haben die Maßnahmen keine oder sogar negative Wirkungen. Eine OE ist eben ein äußerst diffiziles Unternehmen, dessen Erfolg von vielen Faktoren abhängt! 12.6
Neuere Schwerpunkte
Zielt das klassische Konzept der OE auf eine Änderung des Verhaltens der Mitarbeiter mit dem allgemeinen Ziel einer positiven Veränderung der Organisation, so haben sich in den letzten Jahren und Jahrzehnten neue Konzepte herausgebildet, die das Ziel der Veränderung präzisieren oder aber die Fähigkeit zur ständigen Veränderung als Wesensmerkmal einer überlebensfähigen Organisation verstehen. Zur ersten Entwicklung zählt die Innovationsförderung als Form der Organisationsentwicklung, zur zweiten das Konzept der lernenden Organisation, das häufig mit dem Begriff »organisationales Lernen« gleichgesetzt wird. 12.6.1
Innovation
Aus betrieblicher Sicht kommt Innovationen überlebensnotwendige Bedeutung zu: Je härter die Märkte umkämpft sind, desto wichtiger ist es, sich durch innovative Produkte und Dienstleistungen, aber auch durch innovative betriebliche Prozesse mit dem Ergebnis einer effizienteren Organisation von der Konkurrenz abzuheben (Hauschildt & Salomo, 2007). Im Gegensatz zur OE zielt Innovation also nicht auf die individuelle Entwicklung, sondern auf die Leistung der Organisation. Veränderung und Wandel sind dabei nicht gleichbedeutend mit Innovation: Damit ein Produkt, eine Dienstleistung, ein Verfahren oder ein Prozess als innovativ gelten kann, müssen sich diese Objekte der Innovation als neu und fruchtbar, d. h. als nützlich, erweisen (Glynn, 1996; Gebert, 2004b). Genau festzustellen, ob etwas innovativ ist, fällt sehr schwer, muss doch zu diesem Zweck entschieden werden, für wen oder was etwas neu ist und woran gemessen sich etwas als nützlich erweisen soll. Früher wurde häufig verlangt, dass etwas nur dann als innovativ einzustufen ist, wenn es einen radikalen Bruch zum Bisherigen darstellt. Das erweist sich aber als viel zu stren-
12
Kapitel 12 · Organisationsentwicklung
Mit freundlicher Genehmigung des Instituts für Angewandte Innovationsforschung.
166
. Abb. 12.2. Phasen des betrieblichen Innovationsprozesses. (Nach Staudt & Auffermann, 1996; vgl. Guldin, 2004)
12
ges Kriterium, ist doch das meiste, was unter den Begriff der Innovation gefasst wird, »lediglich« eine Verbesserung gegenüber dem Vorherigen. Der Prozess der Innovation lässt sich in Phasen einteilen, wie . Abb. 12.2 exemplarisch verdeutlicht. Innovationsprozesse müssen gewöhnlich angestoßen werden, sie benötigen einen Impuls (vgl. zum Folgenden Guldin, 2004). Im Betrieb kommen dabei die verschiedensten Möglichkeiten in Betracht – neue technologische Entwicklungen, geänderte Kundenbedürfnisse, unbefriedigende Entwicklung von Kosten oder Umsätzen etc. Solche Impulse stoßen die Suche nach Ideen an, d. h., es beginnt die Phase der Ideenfindung. Zusätzlich zur Ideensuche umfasst diese Phase auch deren Bewertung sowie die Auswahl letztlich geeigneter Ideen. Solche Ideen werden nicht nur innerhalb der Organisation gesucht, sondern auch von außen beschafft, wobei nicht zuletzt Konkurrenten imitiert werden. Bei der internen Entwicklung werden häufig Kreativitätstechniken eingesetzt, um möglichst vielfältige und originelle Ideen zu finden (vgl. z. B. Brandstätter & Brodbeck, 2004). Eine häufig eingesetzte Kreativitätstechnik ist das Brainstorming (7 Kasten »Regeln und Wert des Brainstormings«). Wurde eine Idee oder auch mehrere ausgewählt, so wird gelegentlich in einer Phase der Konkretisierung die
Idee in einem eng umgrenzten Anwendungsfeld ausprobiert. Dies ist häufig im Produktbereich der Fall, wo im Rahmen angewandter Forschung zunächst ein Prototyp eines neuen Produktes entwickelt und getestet wird. In der Phase der Umsetzung wird versucht, die Idee im Unternehmen zu implementieren. Dabei müssen u. U. die Mitarbeiter für die Umsetzung der Idee qualifiziert werden, neue Produktions- und Absatzformen müssen vorbereitet werden etc. Dieser Prozess wird mit der Phase der Durchsetzung abgeschlossen, wobei ein neues Produkt im Markt eingeführt wird, die Organisationsstruktur geändert, neue Arbeitsabläufe realisiert werden etc. Die Phasen der Konkretisierung, Umsetzung und Durchsetzung sind psychologisch insofern besonders wichtig, als die Mitarbeiter hier gewöhnlich neues Verhalten einüben, gelegentlich auch gut gelerntes Verhalten durch neues ersetzen müssen. Das gilt z. B. in der Produktion bei der Umstellung auf neue Produktlinien, die entsprechende neue Arbeitshandlungen erfordert (7 Kap. 22). Ein spezielles organisationspsychologisches Problem betrifft die Frage, welche organisatorischen Bedingungen innovationsfördernd sind. Dabei stehen Merkmale der Gruppe (vgl. Gebert, 2004b) sowie der Führung (Gebert, 2002) im Zentrum des Interesses. Hier handelt es sich um äußerst komplexe Probleme, wobei in Abhängigkeit
167 12.6 · Neuere Schwerpunkte
12.6.2
Lernende Organisation
Regeln und Wert des Brainstormings Zur besseren Nutzung des kreativen Potenzials von Gruppen hat Osborn (1957) vorgeschlagen, die Phase der Ideenfindung von der Phase der Ideenbewertung zu trennen. Dadurch sollen sich die Gruppenmitglieder, die nach Innovationen suchen, gegenseitig zu mehr und besseren Vorschlägen anregen. Aus dieser Überlegung leitet sich die zentrale Regel des Brainstormings ab: Zunächst sollen alle Gruppenmitglieder möglichst viele Ideen produzieren, wobei man die einzelnen Ideen nicht kritisieren darf. Erst wenn keine neuen Einfälle mehr produziert werden, sollen Kriterien für die Bewertung entwickelt und die besten Ideen ausgewählt werden. Im Gegensatz zur großen Beliebtheit dieser Methode in der Praxis zeigt eine Vielzahl empirischer Studien, dass in der Gruppe eher weniger Einfälle produziert werden, als beim Zusammenfassen von Einfällen gleich vieler, allein arbeitender Personen entstehen (Stroebe & Nijstad, 2004; 7 Kap. 8). Grund dafür ist, dass die einzelnen Mitglieder zwar Ideen haben, aber immer wieder warten müssen, bis sie diese einbringen können (Produktionsblockierung). Dass diese Methode trotzdem so beliebt ist, liegt wohl daran, dass die Beteiligten den subjektiven Eindruck haben, sie wären in der Gruppe wesentlich produktiver als allein.
von der konkreten Situation unterschiedliche Bedingungen hilfreich sind. Als günstig erweisen sich gewöhnlich die Heterogenität der Gruppe – sind sich die Mitglieder zu ähnlich, dann können sie sich nicht gegenseitig anregen – sowie breit gestreute Fähigkeiten und vielfältiges Wissen der Teilnehmer. Eher hemmend wirkt es sich aus, wenn die Mitglieder schon längere Zeit zusammenarbeiten und die Gruppe sehr klein ist. Innovationsförderliche Führung von Gruppen stellt hohe Anforderungen an die soziale Kompetenz der Führungskräfte. Letztlich geht es darum, den Mitarbeitern überzeugend zu vermitteln, dass eine Situation veränderungsbedürftig und veränderbar ist (vgl. Gebert, 2002). Zu diesem Zweck müssen die Mitarbeiter höhere Ansprüche an bestehende Situationen stellen und gleichzeitig muss ihnen die Möglichkeit gegeben werden, Änderungen auch real zu erproben.
Die zunehmende Dynamik in der Umwelt der Organisationen führt dazu, dass es nicht mehr genügt, wenn diese auf Änderungen in ihrer Umwelt reagieren bzw. sich an diese anpassen. Will ein Unternehmen wettbewerbsfähig bleiben, muss es sich kontinuierlich mit seiner Umwelt verändern. Eine Organisation mit dieser Eigenschaft wird als lernende Organisation bezeichnet (Senge, 2001; vgl. Kluge & Schilling, 2000; 2004). Dieser Begriff ist etwas verwirrend, da Organisationen als solche natürlich nicht lernen können, sondern das Lernen nur durch die bestehenden Mitarbeiter bzw. die Aufnahme neuer Mitarbeiter erfolgt. Andererseits ist aber das Lernen der Organisation nicht lediglich die Summe des individuellen Lernens. Eine lernende Organisation nimmt aktiv Wissen auf und vermittelt dieses in der ganzen Organisation. In Anlehnung an die grundlegenden Arbeiten von Chris Argyris (1993; Argyris & Schön, 1999) lassen sich dabei verschiedene Arten des Lernens unterscheiden. Adaptives Lernen (»single loop learning«) ist dadurch gekennzeichnet, dass auftretende Fehler mithilfe bestehender organisationaler Praktiken und in der Vergangenheit bewährter Routinen bewältigt werden. Dabei sollen auch die Fähigkeiten einer Organisation, ihre Ziele zu erreichen, verbessert werden. Die Grundannahmen und Werte der Organisation werden in diesem Fall aber nicht verändert, vielmehr geht es lediglich um die Anpassung an Veränderungen der Umwelt. Auf der Ebene des einzelnen Mitarbeiters ist dieses Lernen dadurch gekennzeichnet, dass er nur solche Rückmeldungen aus seiner Umwelt sucht, die seine grundlegenden Vorstellungen und Handlungsweisen nicht gefährden. Diese neigen daher dazu, sich mit der Zeit selbst zu erfüllen. Argyris hat den Begriff »single loop learning« in Anlehnung an die Funktionsweise eines Thermostaten gebildet: Wie ein Thermostat eine Behaglichkeitszone definiert, so lernen Menschen bei dieser Art nur innerhalb der Behaglichkeitszone ihrer Überzeugungen – alles, was neu und damit verunsichernd ist, wird ausgeblendet. Auf diesem Wege kann man lernen, wie man am besten seine Ziele erreicht, ob diese Ziele die richtigen sind, wird nicht gefragt. Das ist dagegen ein Merkmal der zweiten Lernart, des generativen Lernens (»double loup learning«). Hierbei werden Fehler korrigiert, indem die Geschäftspraktiken und standardisierten Vorgehensweisen ebenso modifiziert werden wie die Ziele. Dahinter steht
12
168
Kapitel 12 · Organisationsentwicklung
letztlich eine Neubewertung der organisationalen Ziele. Generatives Lernen bedeutet, kreativer und innovativer zu werden, indem man lernt zu lernen. Veränderungen sind dann keine Überraschungen mehr, vielmehr hat man sie erwartet und sich rechtzeitig darauf eingestellt. Das erfordert gewöhnlich eine Änderung der Unternehmenskultur, die dadurch gekennzeichnet ist, dass die eigenen Reaktionen auf externe Ereignisse beobachtet und dysfunktionale Reaktionsweisen ausgeschaltet werden. »Double loup learning« ist ein mühsamer und auch belastender Prozess, erfordert es doch, die eigenen mentalen Modelle der Welt in Frage zu stellen und sie immer wieder an die Realität anzupassen. Diese Ausführungen zu den verschiedenen Arten des Lernens deuten bereits an, dass es sich hier um komplexe Prozesse handelt, deren empirische Überprüfung sehr schwierig ist. Die wenigen vorliegenden
Untersuchungen kommen im Wesentlichen zu folgenden Ergebnissen (vgl. Kluge & Schilling, 2004, S. 894f.): Wird lernende Organisation über die von den Mitarbeitern geteilten mentalen Modelle gefasst, dann scheint sich der Lernprozess über direkte Interaktionen im Rahmen von Netzwerken zu entfalten. Die häufig als zentrale Mittel des Lernens propagierten Datenbanken und IT-Anwendungen spielen dagegen eine untergeordnete Rolle. So wichtig die direkte Interaktion zwischen den Mitarbeitern für das Lernen ist, so zeigt sich auch, dass Personen, die längere Zeit zusammenarbeiten, weniger neue Lösungen hervorbringen und stattdessen vorhandene Lernergebnisse verwerten. Fluktuation von Mitarbeitern führt entsprechend dazu, dass neue Informationen in die Organisation aufgenommen werden, sie wirkt sich aber auch negativ auf das »Gedächtnis« der Organisation aus.
Zusammenfassung
12
4 Organisationsentwicklung (OE) als geplanter organisationaler Wandel versucht, durch geeignete Maßnahmen der Führung und der Kooperation die Effektivität der Abläufe in der Organisation zu sichern und gleichzeitig die Lernfähigkeit bzw. die Flexibilität und Innovationsfähigkeit der Organisation zu stärken. 4 Historisch gesehen hat OE drei Wurzeln: das gruppendynamische Verfahren der Laboratoriumsmethode, die Datenerhebungs- und Rückkopplungsmethode (Survey Feedback) sowie die soziotechnische Systemtheorie.
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4 Beim strukturalen Ansatz wird versucht, die Strukturen zu ändern, damit sich das Verhalten ändert. 4 Der prozessuale Ansatz konzentriert sich auf die zwischenmenschlichen Prozesse und der personale Ansatz versucht die Individuen zu verändern. 4 Prozessberatung versucht die Betroffenen in die Lage zu versetzen, ihre Aktivitäten geplant zu steuern und die Zusammenarbeit entsprechend ihren Zielen zu gestalten. 4 OE-Maßnahmen beeinflussen sowohl psychologische als auch betriebswirtschaftliche Kenngrößen positiv, wenn auch die Wirkungen insgesamt gesehen eher bescheiden sind.
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12
13
13 Mergers & Acquisitions: Fusionen und Unternehmensübernahmen 13.1
Begriff und Formen
13.2
Das Merger-Syndrom
– 172 – 173
13.3
Organisatorische Vorbedingungen
13.3.1 13.3.2 13.3.3
Grad der Feindseligkeit – 174 Merkmale der übernehmenden Organisation Passung der Kulturen – 176
13.4
Psychologische Prozesse – 177
13.4.1 13.4.2 13.4.3
Erlebte Kontrolle und Partizipation – 177 Identifikation und Identität – 177 Wahrgenommene Gerechtigkeit – 178
13.5
Emotionale und verhaltensbezogene Ergebnisse – 180
13.6
Unternehmenskommunikation zur Steuerung des Integrationsprozesses – 181 Literatur
– 183
– 174 – 175
172
Kapitel 13 · Mergers & Acquisitions: Fusionen und Unternehmensübernahmen
> Als Daimler-Benz im Jahre 1998 mit der amerikanischen Firma Chrysler fusionierte, sprach Jürgen Schrempp, damals Vorstandsvorsitzender der Daimler-Benz AG, von einer »Hochzeit im Himmel«. Neun Jahre später wurde Chrysler, nachdem ursprünglich rund 35 Mrd. Euro bezahlt wurden, praktisch verschenkt: Nur um das Unternehmen loszuwerden, zahlte Daimler sogar noch 500 Mio. Euro an einen amerikanischen Finanzinvestor. Das ist nur ein besonders spektakuläres Beispiel für das Feld der Fusionen und Unternehmensübernahmen, die in den letzten Jahren zunehmend ins Bewusstsein der Bevölkerung getreten sind. Im Zentrum solcher Ereignisse stehen die Mitarbeiter der betroffenen Unternehmen – zum einen sind sie die »Opfer«, da sie die damit verbundenen Änderungen und Umstrukturierungen ertragen müssen; zum anderen entscheiden ihre Einstellungen und Verhaltensweisen über das Gelingen von Fusionen und Unternehmensübernahmen: Nur wenn sie die vorab am Schreibtisch ausgedachten Strategien adäquat in die Realität umsetzen, können die erhofften Erfolge eintreten. Das ist aber allzu häufig nicht der Fall, was zeigt, dass die arbeits- und organisationspsychologischen Bedingungen und Folgen von Fusionen und Unternehmensübernahmen von den jeweiligen Entscheidungsträgern immer noch zu wenig bedacht werden.
13.1
13
Begriff und Formen
Während sich im angelsächsischen Raum »Merger & Acquisitions« zu einem – auch juristisch eindeutig definierten – stehenden Begriffspaar entwickelt haben (Hogan & Overmyer-Day, 1994; Cartwright, 2005), ist die sprachliche Situation in Deutschland sehr viel schwieriger. Zum einen findet sich für die damit bezeichneten, wichtigen Formen des organisationalen Wandels keine rechtlich eindeutige Definition (Schwaab, 2003), zum anderen ist die wörtliche Übersetzung in »Fusionen und Unternehmensübernahmen« bzw. »Unternehmenskäufe« im Deutschen sehr ungewöhnlich. Daher – und nicht nur aufgrund der großen Beliebtheit von Anglizismen in der betrieblichen Praxis – wird auch in Deutschland häufig nur von »Mergers & Acquisitions« (m&a) gesprochen. Definition Bei Mergers (Fusionen) geht es im Sinne des Kartellrechts darum, dass ein Unternehmen das Vermögen eines anderen ganz oder teilweise erwirbt, Unternehmen sich zusammenschließen oder eine sonstige Verbindung eingehen (Schwaab, 2003). Dagegen wechselt bei einer Acquisition (Unternehmensübernahme) oder einem Unternehmenskauf eine Einheit in den Einfluss- und Entscheidungsbereich einer anderen und verliert damit teilweise oder ganz ihre Autonomie.
In jedem Fall liegt ein Unternehmenszusammenschluss vor. Solche Zusammenschlüsse können die verschiedensten Ziele verfolgen (Schmidt & Schettler, 1999), wobei sich je nach dem verfolgten Ziel unterschiedliche Formen der Integration unterscheiden lassen. Von einer losen Verbindung bis zur vollständigen Integration, wobei sich ein Unternehmen im anderen auflöst, sind alle Abstufungen denkbar. In Abhängigkeit von dem – im geplanten Konzept der künftigen Organisation festgelegten – Grad an autonomer Organisation und strategischer Interdependenz lassen sich vier Formen der Fusion unterscheiden (. Abb. 13.1). Bei der Erhaltung beschränkt sich die Integration auf das Minimum, das erforderlich ist, um die Steuerung innerhalb des neuen Verbundes zu sichern. Die fusionierten Einheiten behalten in diesem Fall ihre unternehmerische Selbstständigkeit, die Fusion erweist sich als loser Verbund vormals völlig unabhängiger Unternehmen. Zwar werden auf diese Weise kaum Synergien gewonnen, dafür sind aber die Risiken in Form der Kosten oder möglicher Widerstände der Mitarbeiter gering. Im Gegensatz dazu versucht die Symbiose höchstmögliche organisatorische Autonomie der Einheiten mit einer intensiven Abstimmung der strategischen Belange zu verknüpfen. Das ist eine sehr ehrgeizige Zielsetzung, die entsprechend hohe Anforderungen an das Management stellt: Die Überlegenheit eingespielter Organisationseinheiten ist mit der konsequenten Realisierung möglicher Synergien zu verknüpfen. Die Verbindung kann in die-
173 13.2 · Das Merger-Syndrom
men. Erstaunlicherweise zeigen aber verschiedene Untersuchungen, dass weniger als die Hälfte aller Zusammenschlüsse erfolgreich verlaufen – die Mehrzahl erbringt noch nicht einmal die Kosten der Fusion (Gerpott, 1993; Marks & Mirvis, 2001). Zu den entscheidenden Ursachen für diese hohe Misserfolgsquote zählen die negativen Reaktionen der Beschäftigten auf Mergers & Acquisitions (Greitemeyer, Fischer, Nürnberg, Frey & Stahlberg, 2006). Diese werden auch mit dem Begriff »Merger-Syndrom« zusammenfassend beschrieben. 13.2 Mit freundlicher Genehmigung von Wolters Kluwer Deutschland GmbH.
. Abb. 13.1. Klassifikation organisatorischer Integrationsmodelle. (Aus Jaeger, 2001; nach Schwaab, 2003)
sem Fall z. B. durch die gemeinsame Bearbeitung von Aufträgen oder konsequentes Projektmanagement erreicht werden. Die Absorption zielt dagegen auf die vollständige Verschmelzung beider Einheiten. Die alten Organisationsstrukturen werden völlig aufgelöst und neue, auf die Bedürfnisse des neu geschaffenen Unternehmens ausgerichtete Strukturen aufgebaut. Das erfordert massive Eingriffe in die Unternehmenskulturen der beteiligten Einheiten und muss daher mit den größten Widerständen rechnen. Die Holding stellt dagegen die schwächste Form der Integration verschiedener Einheiten dar. Diese verfügen weiterhin über ihre organisatorischen Freiräume und werden auch strategisch unabhängig gesteuert. Die Gemeinsamkeit beschränkt sich in einer Holding häufig auf ein zentrales Finanzmanagement und/oder den übergreifenden Einsatz qualifizierter Manager. Je nach dem Grad der angestrebten Integration werden die Mitarbeiter unterschiedlich intensiv betroffen sein, d. h., die psychologischen Wirkungen von Mergers & Acquisitions sind natürlich immer von der Form der dabei angestrebten Integration abhängig. Von Unternehmenszusammenschlüssen verspricht man sich gewöhnlich wirtschaftliche Vorteile gegenüber Konkurrenten, die durch personelle sowie organisationale Synergieeffekte entstehen sollen. Dementsprechend hat die Zahl der Fusionen in den letzten Jahrzehnten stetig zugenom-
Das Merger-Syndrom
Die amerikanischen Organisationspsychologen Mitchell Marks und Philip Mirvis (1986) haben für die Folgen von Mergers & Acquisitions den Begriff des MergerSyndroms geprägt (vgl. zum Folgenden Geiselhard, 2003). Dabei handelt es sich um eine Reihe von charakteristischen Verhaltensweisen und Reaktionen, die bei diesen Ereignissen auftreten können. Die wichtigsten lassen sich so zusammenfassen: 1. Befangenheit: Die Mitarbeiter sind von den Ereignissen der Fusion vollständig eingenommen und spekulieren verstärkt über die Folgen für die eigene Person. Aufgrund dieser Ablenkung sinkt die Arbeitsleistung. 2. Gerüchteküchen: In den fusionierenden Unternehmen verbreiten sich Gerüchte und wilde Spekulationen, die Mitarbeiter beschäftigen sich bevorzugt mit den schlimmsten anzunehmenden Zukunftsentwicklungen (»Worst-Case-Szenarios«). In der Folge wird die Unternehmenskommunikation kaum noch wahrgenommen. 3. Stressreaktionen: Bei den Mitarbeitern finden sich gehäuft Aggressionen, Rückzugsverhalten und körperliche Reaktionen wie Kopfschmerzen, Schlaflosigkeit, steigender Alkohol- und Zigarettenkonsum. 4. Eingeschränkte Kommunikation: Der Kontakt zwischen Belegschaft und Entscheider verringert sich, die Ziele des Zusammenschlusses und das weitere Vorgehen bleiben intransparent. 5. Unglaubwürdige Kontrolle: Wenn das Management beteuert, dass es über einen detaillierten Plan für die Fusion verfügt, mit dem sich alle Schwierigkeiten kontrollieren und abfedern lassen, dann wird ihm nicht geglaubt.
13
174
Kapitel 13 · Mergers & Acquisitions: Fusionen und Unternehmensübernahmen
6. Kampf der Kulturen: Die Differenzen zwischen den Kulturen der beteiligten Unternehmen werden besonders prägnant wahrgenommen, ähnliche Kulturmerkmale werden gezielt ausgeblendet. 7. Wir versus sie: Die Mitarbeiter konzentrieren sich auf die Differenzen zu den neuen Kollegen, diese werden im Laufe der Zeit verschärft wahrgenommen. 8. Gewinner versus Verlierer: Bei den Mitarbeitern des übernommenen Unternehmens entsteht schnell ein Verlierergefühl, das zu Resignation und hoher Fluktuation führt. 9. Angriff und Verteidigung: Die Mitarbeiter konzentrieren sich auf die Veränderungen in der anderen Organisation und versuchen gleichzeitig, die eigene vor dem Wandel zu schützen. Eine vergleichbare Haltung sehen sie auch im anderen Unternehmen. 10. Kulturüberlegenheit: Die Bewertung der eigenen Leistung wird zu einem permanenten Vergleich mit der anderen Kultur, wobei jeder seine eigene Kultur als überlegen betrachtet.
13
Hier handelt es sich um eine anschauliche Beschreibung der wichtigsten Reaktionen, die sich bei den Mitarbeitern betroffener Unternehmen immer wieder beobachten lassen. Einige davon konnten auch in der empirischen Forschung bestätigt werden. Die dazu vorliegenden, psychologisch relevanten Untersuchungen lassen sich danach unterscheiden, ob sie den Schwerpunkt auf die organisatorischen Vorbedingungen von Fusionen, die psychologischen Prozesse während der Integration oder auf die emotionalen und verhaltensbezogenen Folgen richten (Klendauer, Frey & Greitemeyer, 2006). Die wesentlichen Aspekte dieser Prozesse sind in . Abb. 13.2 zusammengefasst. Die in . Abb. 13.2 verdeutlichten Aspekte werden im Folgenden etwas genauer beleuchtet und zum Schluss
. Abb. 13.2. Ablaufmodell psychologisch relevanter Aspekte von Mergers & Acquisitions
noch einige Folgerungen für das Management von Mergers & Acquisitions gezogen. 13.3
Organisatorische Vorbedingungen
Obwohl bislang noch relativ wenig empirische Forschung in diesem Feld vorliegt, können einige Merkmale auf Seiten der beteiligten Organisationen als wichtige Vorbedingungen für das Gelingen von Fusionen und Übernahmen benannt werden (Cartwright, 2005; Klendauer et al., 2006). Dazu zählen der Grad der Feindseligkeit der Aktionen, verschiedene Merkmale der übernehmenden Organisation sowie die Passung zwischen den Kulturen. 13.3.1
Grad der Feindseligkeit
Fusionen und Übernahmen variieren hinsichtlich des Grades ihrer Feindseligkeit – grob lassen sich hier freundliche und feindliche Übernahmen unterscheiden. Bei einer feindlichen Übernahme versucht ein Unternehmen ein anderes – offen oder verdeckt – gegen dessen Willen zu übernehmen. Eine solche Übernahme wird vom »angegriffenen« Unternehmen als besonders bedrohlich erlebt, da die übernehmende Firma in der Regel von finanziellen Interessen geleitet wird und daher die Dominanz über die andere Firma anstrebt. Angesichts dieser Gefahren steigt gewöhnlich die Kohäsion in der gefährdeten Firma und der Widerstand gegen die Übernahme nimmt zu (Ivancevich, Schweiger & Power, 1987). Das wiederum erhöht die Feindseligkeit der Aktionen der übernehmenden Firma, die in der Folge häufig versucht, das Management der übernommenen Firma zu ersetzen und strenge Kontrollen der Belegschaft einführt. Nicht selten wird auch das ganze übernommene
175 13.3 · Organisatorische Vorbedingungen
Unternehmen zerschlagen, wie der berühmteste Fall einer feindlichen Übernahme in Deutschland – der Angriff der Firma »Vodafone« auf die Firma »Mannesmann« – verdeutlicht (7 Kasten »Die Schlacht um Mannesmann«). 13.3.2
Merkmale der übernehmenden Organisation
Der Grad der Feindseligkeit kann auch als ein Merkmal der übernehmenden Organisation betrachtet werden.
Weitere, relativ gut bestätigte Merkmale der übernehmenden Organisation, die Einfluss auf den Erfolg von Fusionen und Übernahmen haben, sind deren relative Größe, die Arroganz seines Managements, seine Erfahrungen mit Übernahmen und die Kultur der übernehmenden Organisation. Relative Größe. Allein dadurch, dass ein »Partner«
deutlich größer als der andere ist, werden bei den Mitarbeitern Gefühle der psychologischen Unterlegenheit ausgelöst (wobei es auch Beispiele dafür gibt, dass die übernommenen Mitarbeiter eines kleinen Unterneh-
»Die Schlacht um Mannesmann« Die Firma Mannesmann war ein traditionsreiches deutsches Unternehmen, dessen Kerngeschäft aus dem Röhren-, Maschinen- und Anlagebau bestand. In den 90er Jahren des vorigen Jahrhunderts wandelte sich das Unternehmen zunehmend zu einem modernen Dienstleistungs- und Kommunikationskonzern. Dieser Prozess führte dazu, dass am 21. Oktober 1999 der damalige Vorstandsvorsitzende von Mannesmann, Klaus Esser, den Kauf des großen britischen Mobilfunkanbieters »Orange« ankündigte. Dadurch wurde Mannesmann zum direkten Konkurrenten des britischen Marktführers »Vodafone«. Am Tag darauf wurde bekannt, dass Vodafone plane, Mannesmann für rund 120 Mrd. DM (ca. 61 Mrd. Euro) zu kaufen. Zu diesem Zeitpunkt notierte die Mannesmann-Aktie bei ca. 144 Euro, nach Bekanntwerden der Pläne stieg der Kurs steil an. In der Folge überstürzten sich die Ereignisse: Am 14. November bot Vodafone den Mannesmann-Aktionären 53,7 eigene Aktien im Tausch für eine Mannesmann-Aktie an, was einer Aufwertung dieser Aktie auf 240 Euro entsprach. Der gesamte Kauf hätte damit einen Preis von 102 Mrd. Euro erreicht. Der Vorstand von Mannesmann empfahl den Aktionären, das Angebot abzulehnen und startete eine beispiellose Werbekampagne, in der die Vorteile der Unabhängigkeit des Unternehmens dargestellt wurden. Vodafone reagierte mit einer »Gegenkampagne« in allen großen Tageszeitungen Deutschlands, um die Aktionäre von den Vorzügen der Fusion zu überzeugen. Am 23. Dezember erfolgte ein neues Angebot an die Mannesmann-Aktionäre, das eine Aktie mit
266 Euro bewertete. Das entsprach einem Gesamtkaufpreis von 138 Mrd. Euro. In der Folge wurden verschiedene Presseberichte lanciert, wonach Mannesmann mit anderen Unternehmen Kooperationen eingehen wolle. Am 3. Februar 2000 gab der Mannesmann-Vorstand bekannt, mit Vodafone wieder Gespräche über das Kaufangebot aufzunehmen. Am Morgen notierte die Aktie bei 340 Euro, am späten Abend verkündeten Klaus Esser und der Chef von Vodafone eine gütliche Einigung. Das Angebot an die MannesmannAktionäre wurde noch einmal erhöht – der gesamte Kaufpreis betrug nun 190 Mrd. Euro –, die Anteilseigner sollten 49,5% an dem fusionierten Unternehmen halten. Am 4. Februar desselben Jahres kam eine Vereinbarung mit dem Aufsichtsrat von Mannesmann zustande, wobei Klaus Esser eine Anerkennungsprämie über 16 Mio. Euro zugesichert wurde. Insgesamt flossen im Zuge der Übernahme 57 Mio. Euro als Anerkennungsprämien an amtierende und frühere Mannesmann-Vorstände – diese Vorgänge beschäftigten die deutsche Justiz noch auf Jahre. Ermittelt wurde auf Verdacht auf Untreue, am 22. Juni 2004 wurden alle Beschuldigten nach einem Prozess am Düsseldorfer Landgericht von diesem Vorwurf freigesprochen. Nach einer Revision des Bundesgerichtshofes wurde der Fall im Jahre 2006 neu verhandelt und schließlich gegen die Bezahlung von 5,8 Mio. Euro – die ausdrücklich nicht als Strafe deklariert wurde, sonst hätten die Angeklagten als vorbestraft gegolten – eingestellt.
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Kapitel 13 · Mergers & Acquisitions: Fusionen und Unternehmensübernahmen
mens den Vorgang begrüßen; Panchal & Cartwright, 2001). Der größere Partner steht automatisch im Verdacht, dass er dem kleineren seine Struktur, seine Kultur und seine Strategie aufzwingen will. Das zeigt sich auch in einer empirisch-psychologischen Untersuchung (7 Kasten »Unternehmensgröße und das Erleben von Fusionen«).
Unternehmensgröße und das Erleben von Fusionen In einer Laborstudie haben Rentsch und Schneider (1991) ihren Versuchspersonen Szenarien verschiedener Fusionen vorgelegt. Die Versuchspersonen sollten sich in die Situation der Mitarbeiter eines kleineren, mittleren oder größeren Unternehmens hineinversetzen und angeben, welche Erwartungen sie an das »Zusammenleben« mit den Kollegen des anderen Unternehmens nach der Fusion haben. Mitarbeiter einer kleinen Firma, die mit einer größeren fusioniert, erwarteten weniger positive Entwicklungen für ihre Karrieremöglichkeiten, die Sicherheit ihrer Arbeitsplätze, ihre Autonomie in der Tätigkeit und ihren Einfluss im Unternehmen verglichen mit denjenigen, die sich in die Lage der Mitarbeiter des größeren Unternehmens versetzen sollten.
13 Wahrgenommene Arroganz. Mit der Wirkung der rela-
tiven Größe verbunden ist die wahrgenommene Arroganz des Managements (Jemison & Sitkin, 1986; Gaughan, 2002). Dem Management des dominanten Unternehmens wird gerne Arroganz unterstellt in dem Sinne, dass dieses vorgibt zu wissen, was am besten für das übernommene Unternehmen ist bzw. Letzteres für inkompetent erklärt (ähnliche Wahrnehmungen haben auch die Widervereinigung beider deutscher Staaten aufseiten des »kleineren Partners« dominiert). In der Folge steigt aufseiten des übernommenen Unternehmens die Fluktuation bzw. sinkt die Moral und die Leistung. Inwiefern sich die Manager tatsächlich arrogant verhalten bzw. die Mitarbeiter des übernommenen Unternehmens ihnen dieses nur unterstellen, ist dabei jeweils zu klären – die negativen Folgen können aber unabhängig von der objektiven Beschaffenheit des Verhaltens eintreten!
Erfahrung. Auch die Erfahrung des Unternehmens mit Fusionen und Übernahmen hat Auswirkungen auf das Vorgehen: Nach mehreren Übernahmen haben Unternehmen gewöhnlich aus den früher gemachten Fehlern gelernt, sie legen bei der Planung weniger Wert auf betriebs- und finanzwirtschaftliche Analysen und achten mehr auf personalpsychologische Fragen bei der Übernahme (Hogan & Overmyer-Day, 1994). Unternehmenskultur. Die Fähigkeit zum Lernen ist aber mit der jeweiligen Unternehmenskultur verbunden: Unternehmen mit einer starken Kultur, in der ein hoher Konsens bezüglich der geteilten Werte und Überzeugungen besteht und in denen die Mitglieder konsequent in diesem Sinne sozialisiert werden, lernen nicht so leicht aus ihren Fehlern. Gleichzeitig haben aber gerade solche Unternehmen eine besonders starke Tendenz, ihre Kultur dem anderen Unternehmen aufzuzwängen (Gaughan, 2002).
13.3.3
Passung der Kulturen
Die Unternehmenskultur (7 Kap. 11) spielt eine zentrale Rolle bei Fusionen und Übernahmen, wobei dem Fit, d. h. der Passung der Kulturen beider Unternehmen, eine ganz besondere Bedeutung für das Gelingen zugeschrieben wird (Fischer & Steffens-Duch, 2000; Cartwright, 2005). Diese Bedeutung soll wiederum bei Fusionen, die ein hohes Maß an Integration anstreben – speziell bei Absorptionen, aber auch bei Symbiosen – besonders groß sein. Ganz im Gegensatz zur allgemein anerkannten Bedeutung des Fit der Kulturen finden sich aber relativ wenig empirische Belege für diese Annahme. Allerdings hat Datta (1991) in seiner Untersuchung von 173 Mergers & Acquisitions herausgefunden, dass Unterschiede im Managementstil beider Unternehmen negativ mit dem Ergebnis der Fusion zusammenhängen: Besonders wichtig sind dabei Unterschiede im Managementstil hinsichtlich 4 der Bereitschaft zum Risiko, 4 der Ermutigung zur Partizipation an Entscheidungsprozessen und 4 der Betonung formaler Aspekte. Je stärker sich die Unternehmen in diesen Aspekten unterscheiden, desto größer ist die Wahrscheinlichkeit, dass die Fusion scheitert!
177 13.4 · Psychologische Prozesse
13.4
Psychologische Prozesse
Die psychologischen Bedingungen von Mergers & Acquisitions beziehen sich auf das Erleben des Prozesses. Hier kommt drei Merkmalen besondere Bedeutung zu (Klendauer, Frey, Jonas & Kauffeld, 2003): der wahrgenommenen Kontrolle, die sich u. a. aus der Möglichkeit zur Partizipation ergibt, der wahrgenommenen Gerechtigkeit der Fusion und der Möglichkeit der Identifikation. 13.4.1
Erlebte Kontrolle und Partizipation
Mitarbeiter, die eine Fusion miterlebt haben, berichten häufig von Gefühlen der Hilflosigkeit und des Ausgeliefertseins (Jöns & Schultheis, 2004). Dies weist darauf hin, dass Mergers & Acquisitions gewöhnlich auf der Ebene der Geschäftsleitung beschlossen und dann unter zentraler Steuerung umgesetzt werden. Die Mitarbeiter erleben sich dann als Objekt und sehen keine Möglichkeit, ihr Schicksal zu beeinflussen. Das widerspricht aber einem grundlegenden menschlichen Bedürfnis, dem Wunsch, für die eigene Person wichtige Ereignisse kontrollieren zu können. Wenn Menschen den Eindruck haben, dass sie solche wichtigen Ereignisse beeinflussen können, dann lösen diese weniger Stress aus. Der Eindruck der Beeinflussbarkeit führt dazu, dass Menschen auch länger andauernde und belastendere Ereignisse ertragen können im Vergleich zu Situationen, in denen sie über keine Möglichkeiten der Einwirkung verfügen (Frey & Jonas, 2002). Empirische Untersuchungen zeigen, dass die Mitarbeiter eines übernommenen Unternehmens die durch die Fusion entstandene, neue Situation als für sich weniger kontrollierbar erleben und entsprechend über ein geringeres Wohlbefinden berichten verglichen mit den Kollegen der übernehmenden Firma (Greitemeyer et al., 2006). Dieses Gefühl der Kontrolle kann durch Partizipation, d. h. durch die Einbeziehung der Mitarbeiter in Entscheidungen, die sie betreffen, verstärkt werden. Aufgrund der Erfahrungen mit Partizipation im Rahmen von Veränderungsprozessen in Organisationen ist davon auszugehen, dass dadurch Widerstände verringert werden und die Akzeptanz für Veränderungsmaßnahmen erhöht wird. Damit können auch die typischen Folgen des Widerstandes gegen Veränderungen – geringere Arbeitsleistung, Kritik gegenüber Vorgesetzten, höhere Fluktuation und stärkerer Absentismus – verringert werden (Antoni, 1999).
Im Rahmen eines »partizipativen Change Managements« (Rosemann & Gleser, 1999) können Mitarbeiter in Merger & Acquisitions eingebunden wurden. In diesem Fall erarbeiten die Betroffenen gemeinsam mit ihren Vorgesetzten Vorschläge für die Lösung der wichtigsten, ihre Organisationseinheit betreffenden Probleme. Dabei sind natürlich die betrieblichen Rahmenbedingungen und die vorab festgelegten Regeln und Kriterien zu beachten. Der Vorgesetzte entscheidet dann auf der Basis der partizipativ entwickelten Kriterien. Ein solches Vorgehen setzt allerdings auch einen partizipativen Führungsstil der Vorgesetzten voraus, ansonsten kann es sogar zu gegenteiligen Effekten kommen (Marks & Mirvis, 2001). Diese Methodik hat im positiven Fall auch den Vorteil, dass der Informationsfluss von unten nach oben verbessert wird. Außerdem kann sich die Qualität der Problemlösungen erhöhen, da die Probleme dort analysiert werden, wo sie entstehen. 13.4.2
Identifikation und Identität
Mitarbeiter zeigen häufig sehr heftige Widerstände gegen Fusionen. Ein Grund für dieses Verhalten liegt in der massiven Bedrohung ihrer Identität durch solche Ereignisse (vgl. zum Folgenden Haslam, 2001). Identität gibt Antwort auf die Frage: »Wer bin ich?« Diese Frage kann durch sehr spezifische, rein individuelle Merkmale beantwortet werden, daneben gehören aber auch die Identifikationen mit sozialen Gruppen dazu. Wenn ein Mensch auf die Frage, wer er ist, z. B. antwortet, dass er Mitarbeiter von Siemens ist, dann zeigt er damit, dass er sich mit seinem Unternehmen identifiziert. Die Firma ist in diesem Fall zu einem Teil der eigenen Identität geworden. Durch eine Fusion, vor allem aber durch die Übernahme durch ein anderes Unternehmen wird die Identität der Firma bedroht und damit auch die eigene. Über die mit Fusionen verbundenen Ängste hinsichtlich des möglichen Arbeitsplatzverlustes und der persönlichen Entwicklung hinaus wird also auch das unmittelbare Selbstverständnis der sich identifizierenden Mitarbeiter bedroht! Der Erfolg von Fusionen und Akquisitionen ist daher besonders gefährdet, wenn sich die Mitarbeiter mehr mit der alten als mit der neuen Organisation identifizieren und in »Wir«-versus »Die«-Kategorien denken (Klendauer et al., 2003). Diese Prozesse erklärt die Theorie der sozialen Identität (Haslam, 2001; vgl. van Dick, 2004). Demnach sind
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Kapitel 13 · Mergers & Acquisitions: Fusionen und Unternehmensübernahmen
die Beziehungen zwischen Gruppen durch vier psychologische Prozesse bestimmt: Soziale Kategorisierung, soziale Identität, sozialer Vergleich und soziale Distinktheit. Soziale Kategorisierung bedeutet, dass man sich selbst und andere Menschen vor allem als Mitglieder einer Gruppe versteht und nicht als einzigartige Individuen. Als Folge davon wird die soziale Realität in die Eigenund die Fremdgruppe eingeteilt (Ingroup/Outgroup): Wenn die Mitarbeiter der Firma Chrysler die neuen Kollegen aus Deutschland nicht als individuelle Menschen sehen, sondern als Daimler-Mitarbeiter, dann wird diese Trennung in Ingroup (Chrysler) und Outgroup (Daimler) deutlich. Darin zeigt sich aber auch die soziale Identität der Mitarbeiter. Sie handeln in diesem Falle nicht als Individuen, sondern als Mitglieder einer bestimmten Gruppe, im Beispiel des Unternehmens Chrysler. Aufgrund der Identifikation mit dieser Gruppe wird diese zu einem Teil der eigenen Identität. Da die Identität eines Menschen aber auch mit seinem Selbstwertgefühl verbunden ist, besteht die Tendenz, die eigene Identität möglichst positiv zu bewerten. In der Folge wird auch versucht, die Ingroup – die Gruppe, der man angehört und die Teil der eigenen Identität geworden ist – als möglichst positiv zu erleben. Daher vergleichen Menschen die eigene Gruppe mit der Fremdgruppe hinsichtlich solcher Aspekte, auf denen die Ingroup besser abschneidet. Der soziale Vergleich dient also der Aufwertung der Ingroup. Wenn die Chrysler-Mitarbeiter feststellen, dass die Daimler-Mitarbeiter eben »typisch deutsch« sind – d. h. nach ihrer Meinung z. B. pedantische, humorlose Prinzipienreiter – dann wählen sie diesen Vergleich, weil sie selbst dadurch als »typisch amerikanisch« im Sinne von »entspannt und flexibel« erscheinen. Durch solche Vergleiche wird soziale Distinktheit hergestellt, d. h., es wird ein positiver Unterschied der eigenen Gruppe im Vergleich zu einer relevanten Fremdgruppe hergestellt, was gewöhnlich nur zu Lasten dieser Gruppe gehen kann. Diese Prozesse lassen sich bei Mergers & Acquisitions häufig beobachten (Terry, 2001; 2003; van Dick, Wagner & Lemmer, 2004). Bereits deren Ankündigung wird bei den Mitarbeitern Gefühle der persönlichen Bedrohung auslösen, wenn es sich um eine feindselige Übernahme bzw. um eine Fusion mit einem größeren Unternehmen handelt. In diesem Fall wird die Identifikation mit dem eigenen Unternehmen besonders bewusst, das eigene Unternehmen wird daher noch positi-
ver wahrgenommen und bewertet, die Mitglieder des anderen Unternehmens werden dagegen abgewertet und benachteiligt (»ingroup/outgroup bias«). Dies führt bei der Zusammenarbeit zu Feindseligkeiten: Zum Beispiel sahen bei einem Zusammenschluss zwischen zwei Banken die Mitarbeiter jeweils die gewohnten Arbeitsmethoden als überlegen an, wobei sie vor allem die Unterschiede zur anderen Bank betonten (vgl. Buono, Bowitch & Lewis, 1985). Die frühere Situation wurde zunehmend nostalgisch verklärt und über »die anderen« wurden immer neue Gerüchte verbreitet. Für alle auftretenden Fehler waren die anderen – die Kollegen der übernehmenden Organisation – verantwortlich, Erfolge wurden dagegen den Kollegen der eigenen Gruppe zugeschrieben. Hier zeigt sich der negative Effekt, der durch eine »Wir«versus »Die«-Dynamik entsteht. Dabei ist der Ingroup Bias bei Fusionen umso größer, je stärker die Bedrohung der eigenen Gruppe erlebt wird (Terry, 2003). Diese kann wiederum gemildert werden, wenn der Prozess der Fusion als gerecht erlebt wird. 13.4.3
Wahrgenommene Gerechtigkeit
In der Frage der wahrgenommenen Gerechtigkeit lassen sich (mindestens) drei Formen unterscheiden (Cropanzano, Rupp, Mohler & Schminke, 2001; vgl. zum Folgenden auch 7 Kap. 24): 4 Distributive Gerechtigkeit: Die wahrgenommene Fairness von Ergebnissen bzw. der Verteilung von Belohnungen. 4 Prozedurale Gerechtigkeit: Die wahrgenommene Fairness der Prozesse, die zu den Ergebnissen bzw. zur Verteilung der Belohnungen führt. 4 Interaktionale Gerechtigkeit: Die wahrgenommene Fairness der Behandlung des Mitarbeiters durch Vorgesetzte. Alle diese Formen haben – wenn auch in unterschiedlichem Ausmaß – Einfluss auf die Beurteilung von Mergers & Acquisitions und damit auch auf ihre Folgen. Die distributive Gerechtigkeit bezieht sich auf die faire Verteilung von Belohnungen, z. B. auf die Gehaltsverteilung. Bei der Verteilung wird dabei das Verhältnis von eigenem Input – z. B. in Form von Bildung, Alter, Anstrengung, Fähigkeiten – zum erzielten Output – z. B. in Form von Geld, Status oder Einfluss – in Beziehung gesetzt. Ist das Verhältnis von eigenem Input zu eigenem
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Output ungleich dem einer Person, mit der man sich vergleicht, so wird man die Verteilung als ungerecht erleben. In der Folge versuchen Mitarbeiter, das empfundene Ungleichgewicht zu reduzieren, wodurch sich Quantität und Qualität der Arbeitsleistung verschlechtern können (Nerdinger, 2006). Durch Fusionen und Übernahmen können Input und/oder Output der Mitarbeiter auf verschiedene Weise beeinflusst werden (Citera & Rentsch, 1993): Häufig wird Personal entlassen, was zu einer höheren Arbeitsbelastung der verbliebenen Mitarbeiter bei gleicher Entlohnung führt. Gelegentlich werden auch – bei gleicher Belastung – die Löhne gesenkt. Zudem werden gewöhnlich die Arbeitsbedingungen verändert, z. B. müssen neue (kleinere) Büros bezogen werden, die Computerprogramme des Fusionspartners werden übernommen und erfordern zusätzliche Umstellungen etc. Aufgrund der vielen Änderungen haben die Mitarbeiter häufig den Eindruck, dass sich die eigene Situation durch den Zusammenschluss deutlich verschlechtert hat. Dieser Eindruck kann allerdings über die beiden anderen Gerechtigkeitsformen kompensiert werden. Prozedurale Gerechtigkeit bezieht sich auf die Fairness von Entscheidungsprozessen. Werden diese Prozesse als gerecht erlebt, dann werden die Entscheidungen eher akzeptiert und die damit verbundenen Veränderungsprozesse unterstützt. Entsprechend zeigt eine Metaanalyse von 124 Untersuchungen, dass erlebte proze-
durale Gerechtigkeit sehr eng mit der Arbeitsleistung korreliert und gleichzeitig kontraproduktives Verhalten wie Sabotage, Diebstahl oder Verbreitung von Gerüchten unterbindet (Cohen-Charash & Spector, 2001; 7 Kap. 25). Müller (1998) hat eine Reihe grundlegender Regeln aufgestellt, durch deren Beachtung Führungskräfte das Erleben prozeduraler Gerechtigkeit bei den Mitarbeitern sichern können (7 Kasten »Merkmale gerechter Verfahren«). Schließlich bezieht sich die interaktionale Gerechtigkeit darauf, wie sich Vorgesetzte und Entscheidungsträger ihren Mitarbeitern gegenüber verhalten. Im Zentrum steht dabei die Kommunikation zwischen Management und Mitarbeitern, wobei vor allem die Vermittlung von Respekt gegenüber den Mitarbeitern und die Fähigkeit, Entscheidungen angemessen erklären zu können, den Eindruck interaktionaler Gerechtigkeit hervorrufen. Besteht so ein Eindruck, dann ist auch das Vertrauen in die Führungskräfte größer, es kommt zu proorganisationalem Verhalten (eine Form des sog. Extra-Rollenverhaltens; vgl. dazu Nerdinger, 2004; 7 Kap. 25), weniger kontraproduktivem Verhalten wie Diebstahl oder Sabotage und auch die Kündigungsabsichten sind gering (Bies, 2001). Interaktionale und prozedurale Gerechtigkeit sollten sich also ergänzen: Während sich Erstere auf das Verhalten der Vorgesetzten bezieht, thematisiert Letzteres die Organisation als Ganzes. Entsprechend sollten beide Formen positiven Einfluss auf die Umset-
Merkmale gerechter Verfahren 4 Beteiligung: Die von den Entscheidungen betroffenen Mitarbeiter müssen die Möglichkeit haben, ihre Ansichten zu äußern und auf die Entscheidungsfindung einzuwirken. 4 Konsistenz: Verfahren sollen mit größtmöglicher Objektivität und unabhängig von der Zeit, der jeweiligen Situation und den beteiligten Personen angewendet werden. Die Konsistenz eines Verfahrens garantiert die Chancengleichheit für die Betroffenen. 4 Unvoreingenommenheit: Die Verantwortlichen sollen gegenüber den betroffenen Mitarbeitern neutral und unparteiisch sein. Sie dürfen vom Ausgang des Verfahrens nicht profitieren und kein persönliches Interesse am Ergebnis von Entscheidungen haben.
4 Genauigkeit: Ein Verfahren muss dafür sorgen, dass möglichst alle Informationsquellen für eine Entscheidung erschlossen und ausgeschöpft werden. Ein Verfahren wird als unfair empfunden, wenn Meinungen und Sichtweisen einzelner Entscheidungsträger zu großes Gewicht haben oder hastige Entscheidungen begünstigt werden. 4 Ethische Grundsätze: Das Verfahren muss mit den ethischen Vorstellungen der Betroffenen übereinstimmen. Grundsätzlich dürfen Verfahren die Privatsphäre der Mitarbeiter nicht beeinflussen und müssen alle manipulativen Manöver wie List und Täuschung ausschließen.
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Kapitel 13 · Mergers & Acquisitions: Fusionen und Unternehmensübernahmen
Die Folgen erlebter Gerechtigkeit für eine Fusion Lipponen, Olkkonen und Moilanen (2004) gehen davon aus, dass erlebte prozedurale und interaktionale Gerechtigkeit positive Auswirkungen auf Fusionen haben. Die beiden Gerechtigkeitsformen sollen dabei positiv auf die Identifikation mit der neuen Organisation wirken und die neuen Mitglieder in eine gemeinsame Ingroup-Identität integrieren. Diese beiden Größen – organisationale Identifikation und gemeinsame Ingroup-Identität – sollen wiederum zwei Wirkungen haben: Zum einen sollen sie den Ingroup Bias verringern, zum anderen das positive, auf die Organisation gerichtete Extra-Rollenverhalten steigern. Diese Vermutungen wurden mit einem Fragebogen bei 189 Mitarbeitern eines fusionierten Unternehmens überprüft. Der Fragebogen wurde 11 Monate
zung von Mergers & Acquisitions haben. Diese Vermutung wurde auch empirisch untersucht (7 Kasten »Die Folgen erlebter Gerechtigkeit für eine Fusion«). 13.5
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Emotionale und verhaltensbezogene Ergebnisse
Die Konsequenzen von Fusionen für die Mitarbeiter werden gewöhnlich im negativen Bereich gesucht: Demnach soll damit Stress ausgelöst, das Wohlbefinden verringert und die Fluktuation erhöht werden. Solche negativen Folgen lassen sich aber nicht bei allen Mitarbeitern beobachten, vielmehr sind es in der Regel die Mitarbeiter des übernommenen Unternehmens, die auf diese Weise reagieren (Klendauer et al., 2006). Dass Mergers & Acquisitions Stress auslösen, wird immer wieder konstatiert. Demnach führt bereits die Ankündigung einer Fusion zu Gefühlen der Unsicherheit – vor allem über die eigene Zukunft –, was Schweiger und DeNisi (1991) in einem Feldexperiment belegen konnten. Diese Gefühle der Unsicherheit können die Furcht vor einem Verlust an Macht, Kontrolle, Einfluss und Status und damit die erlebte Angst und den Stress vergrößern. Das führt häufig zu Handlungen, die sich als Widerstand gegen die Fusion äußern. Allerdings ist das nicht zwangsläufig so, vielmehr stellen Fusionen kritische Lebensereignisse dar, die umfangreiche Anfor-
nach der Ankündigung der Fusion ausgefüllt, zu einem Zeitpunkt, als die damit verbundene Umstrukturierung eben beendet war. Die statistische Überprüfung ergab, dass prozedurale Gerechtigkeit einen starken Prädiktor sowohl der organisationalen Identifikation als auch der gemeinsamen Ingroup-Identität bildet. Interaktionale Gerechtigkeit kann darüber hinaus keine Varianz in diesen Variablen aufklären. Weiter zeigte sich, dass die organisationale Identifikation nach der Fusion mit dem selbst berichteten Extra-Rollenverhalten korreliert. Schließlich korrelierte auch die gemeinsame IngroupIdentität in der erwarteten negativen Form mit dem Ingroup Bias. Die vermutete mediierende Wirkung der erlebten Gerechtigkeit auf diese Variable konnte dagegen nicht bestätigt werden.
derungen (Coping; 7 Kap. 28) stellen (Fugate, Kinicki & Scheck, 2002). Ob sich eine Fusion für die Mitarbeiter, die in fusionierten Unternehmen verbleiben, positiv oder negativ auswirkt, hängt von weiteren Faktoren ab (Jöns & Schultheis, 2004): 4 Fusionen werden letztlich positiv beurteilt, wenn sich dadurch die berufliche Situation und die eigenen Perspektiven verbessern, z. B. weil durch die damit verbundenen Umstrukturierungen neue Karrierewege entstehen. 4 Für manche Mitarbeiter sind Fusionen irrelevant, da sie bereits vorher einen Arbeitgeberwechsel geplant haben oder aber demnächst pensioniert werden. 4 In der Mehrzahl der Fälle, vor allem bei den Mitarbeitern der übernommenen Firma, werden die damit verbundenen Unsicherheiten aber negativ erlebt, da eine Verschlechterung der eigenen Situation zu erwarten ist. Im dritten Fall wird infolge der Fusion Stress erlebt, wobei die Angst im Kern des Erlebens steht. Bei Fusionen entstehen vielerlei Ängste, u. a. Angst vor 4 Arbeitsplatzverlust, 4 Arbeitsortswechsel, 4 Lohneinbußen, 4 verringerten Sozialleistungen, 4 veränderten Karriereplänen etc.
181 13.6 · Unternehmenskommunikation zur Steuerung des Integrationsprozesses
In der Folge zeigen sich verschiedenste psychische Stressreaktionen wie Frustrationen, Ärger, Erschöpfung, Depression, sinkende Arbeitsmoral und innere Kündigung (Gut-Villa, 1997). Die Feststellung der genannten Stressreaktionen beruht allerdings aufgrund der mangelnden Forschung bislang weitgehend auf mehr oder weniger unsystematischen Beobachtungen, eine Verringerung des subjektiven Wohlbefindens bei den Mitarbeitern übernommener Unternehmen kann aber als gesichert gelten (Greitemeyer et al., 2006). Dabei konnte auch gezeigt werden, dass dieser Zusammenhang zumindest teilweise durch das Gefühl verringerter Kontrolle vermittelt wird. Der erlebte Stress hat wiederum verschiedene verhaltensbezogene Konsequenzen, wobei die Fluktuation am intensivsten diskutiert wird (Hogan & Overmyer-Day, 1994). Demnach kann man feststellen, dass die Fluktuation in fusionierten Unternehmen größer ist als in anderen Unternehmen. Dabei wird automatisch angenommen, dass die erhöhte Fluktuation auch negative Folgen für das Unternehmen hat, was sich aber nicht beweisen lässt. Fluktuation aufgrund von Entlassungen kann dabei in drei Situationen beobachtet werden: Wenn die übernommene Firma vor einer Fusion ökonomische Probleme hatte, wenn die Ergebnisse nach der Übernahme stark nachlassen und bei Symbiosen, d. h., wenn beide Firmen vollständig verschmolzen werden und dadurch viele Funktionen doppelt besetzt sind. Entsprechend sind Führungskräfte im gehobenen Management besonders von Entlassungen bedroht, da sich die dort vertretenen Funktionen am leichtesten von der übernehmenden Organisation ersetzen lassen. 13.6
Unternehmenskommunikation zur Steuerung des Integrationsprozesses
In der Unternehmenskommunikation wird gewöhnlich der wichtigste Erfolgsfaktor bei Mergers & Acquisitions gesehen, obwohl es bislang kaum empirische Untersuchungen zu deren Wirksamkeit gibt. Die meisten Empfehlungen leiten sich daher aus allgemeinen Erfahrungen mit Veränderungsprozessen in Organisationen ab. Die wichtigsten dieser Empfehlungen beziehen sich auf den Kommunikationssender, den -zeitpunkt und die -häufigkeit, die -medien sowie den -inhalt (vgl. zum Fol-
genden Klendauer et al., 2003; vgl. auch Cartwright & McCarthy, 2005). In der Frage der Kommunikationssender ist die Bedeutung des Topmanagements hervorzuheben: Sein Einsatz erhöht die Glaubwürdigkeit der Information und beeinflusst die Motivation der Mitarbeiter positiv. Dabei sollten die Vertreter des Topmanagements vor allem persönlich kommunizieren, d. h., sie sollten an möglichst allen Standorten des Unternehmens auftreten und ihre Botschaften glaubwürdig vermitteln. Dabei sollten sie – wenn möglich – auch in Kontakt mit den Mitarbeitern treten, auf jeden Fall sollten sie aber die Führungskräfte gewinnen, die dann die notwendigen Informationen umso glaubwürdiger an die Mitarbeiter weitergeben können. Zum Kommunikationszeitpunkt ist zu sagen, dass die Mitarbeiter möglichst frühzeitig zu informieren sind. Das schlimmste für den Prozess ist es, wenn die Mitarbeiter über dritte Stellen – z. B. die Presse – zum ersten Mal von den geplanten Aktivitäten erfahren. In diesem Fall verspielt das Management leicht seine Glaubwürdigkeit. Dabei ist es besonders wichtig, die möglichen zukünftigen Entwicklungen aufzuzeigen, da sich sonst sehr schnell unkontrollierbare Gerüchte verbreiten. Dabei müssen Gerüchte nicht immer negativ sein: Zunächst haben sie eine angstreduzierende Funktion – in einer unsicheren Umgebung können Gerüchte dazu beitragen, das Gefühl der Sicherheit zu stärken und damit die Angst zu verringern (Hogan & Overmyer-Day, 1994). Die Verbreitung von Gerüchten kann daher auch als ein Coping-Mechanismus betrachtet werden, der es den Mitarbeitern ermöglicht, unklare Informationen zu interpretieren. Wenn aber diese Funktion durch eine rechtzeitige, adäquate Information des Managements erfüllt wird, ist es für die gezielte Steuerung des Prozesses deutlich besser. Die notwendige Kommunikationshäufigkeit wird gerne unterschätzt: Während die informierten Manager leicht den Eindruck haben, sie würden doch »ständig informieren«, haben Mitarbeiter praktisch nie den Eindruck, dass sie ausreichend informiert würden. Das Management sollte daher nicht davor zurückschrecken, auch dieselben Informationen wiederholt zu kommunizieren. Das betrifft auch die verwendeten Kommunikationsmedien. Häufig wird über schriftliche Medien – Broschüren, Mitarbeiterzeitungen etc. – kommuniziert, damit verbreitet sich im Management leicht das Gefühl, es sei ja »alles gesagt«. Tatsächlich
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Kapitel 13 · Mergers & Acquisitions: Fusionen und Unternehmensübernahmen
Die Wirkung der realistischen Fusionsvorschau Schweiger und DeNisi (1991) haben kurz nach Ankündigung einer Fusion in zwei betroffenen Betrieben verschiedene Kommunikationsprogramme eingerichtet: Im einen Fall wurde ein traditionelles kommunikatives Vorgehen gewählt, im anderen Fall wurde eine realistische Fusionsvorschau implementiert. Im ersten Fall wurde von den Vorgesetzten nur dann informiert, wenn neue Ergebnisse der Fusion vorlagen. Vorgesetzte und Mitarbeiter trafen sich im Rahmen eines wöchentlichen Jour fixe. Bei der realistischen Fusionsvorschau wurden die Mitarbeiter dagegen stetig, ehrlich und relevant über die Fusion informiert. Sie konnten alle Fragen und ihre Sorgen mit den Vorgesetzten klären. Weiterhin kommunizierte das Management mit den Mitarbeitern über 4 einen Merger-Newsletter, in dem Fragen der Mitarbeiter beantwortet wurden; 4 eine telefonische Hotline; 4 wöchentliche Treffen zwischen Betriebsleiter, Teamleiter und Mitarbeitern in den einzelnen Abteilungen;
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werden solche Informationen teilweise gar nicht, häufig aber unvollständig und ungenau rezipiert. Entscheidend ist daher, möglichst intensive, dialogische Kommunikation. Schließlich ist zum Kommunikationsinhalt zu fordern, möglichst offen und ehrlich zu kommunizieren. In Anlehnung an eine »realistische Tätigkeitsvorschau« (7 Kap. 16), die sich im Rahmen der Einstellung neuer Mitarbeiter bewährt hat, ist hier eine »realistische Fusions-
4 persönliche Treffen der Betriebsleiter mit einzelnen Mitarbeitern, in denen ihnen Entscheidungen erläutert wurden, die sie selbst betrafen; 4 wöchentliche Treffen zwischen Teamleitern und Mitarbeitern. Die Auswertung der Untersuchung zeigt, dass die Mitarbeiter in der zweiten Bedingung (realistische Fusionsvorschau) besser mit der Schwierigkeiten der Fusion zurechtkamen. Während sich in dieser Gruppe die Situation nach Einführung der realistischen Kommunikation stabilisierte, verschlechterte sie sich in der anderen Gruppe ständig: Unsicherheit, Stress und Kündigungsabsichten stiegen hier stetig an, Arbeitszufriedenheit, Commitment und das Ansehen der Firma verschlechterten sich dramatisch. In der anderen Bedingung blieben diese Merkmale zunächst konstant, später verbesserten sie sich sogar. Ebenso nahm die Arbeitsleistung im Laufe der Zeit wieder zu.
vorschau« zu empfehlen. Deren Wirkung haben Schweiger und DeNisi (1991) in einem Feldexperiment belegt (7 Kasten »Die Wirkung der realistischen Fusionsvorschau«). Bislang fehlt noch ein umfassendes, empirisch getestetes Modell zur Psychologie von Mergers & Acquisitions. Wie die Untersuchung von Schweiger und DeNisi (1991) zeigt, kann aber durch geeignete Kommunikationsmaßnahmen das Gelingen des Prozesses positiv beeinflusst werden.
Zusammenfassung 4 Bei Fusionen geht es darum, dass ein Unternehmen ein anderes ganz oder teilweise erwirbt, Unternehmen sich zusammenschließen oder eine sonstige Verbindung eingehen. 4 Bei einer Übernahme oder einem Unternehmenskauf wechselt eine Einheit in den Einfluss- und Entscheidungsbereich einer anderen und verliert damit teilweise oder ganz ihre Autonomie.
4 Das Merger-Syndrom ist abhängig vom Grad der angestrebten Integration, dem Grad der Feindseligkeit, Merkmalen der übernehmenden Organisation und der Passung der beiden Unternehmenskulturen. 4 Während der Ereignisse treten häufig Erlebnisse des Kontrollverlustes auf: Die Mitarbeiter erleben sich als Objekt und sehen keine Möglichkeit, ihr Schicksal zu beeinflussen.
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183 Literatur
4 Übernahmen bedrohen die eigene Identität, was sich u. a. in Bevorzugungen der Ingroup bei gleichzeitiger Abwertung der Outgroup äußert. 4 Aufseiten der Mitarbeiter können Fusionen Stress auslösen und das Wohlbefinden verringern, außerdem steigt dadurch gewöhnlich die Fluktuation.
L Weiterführende Literatur Cartwright, S. (2005). Mergers and acquisitions: An update and appraisal. International Review of Industrial and Organizational Psychology, 20, 1–38. Klendauer, R., Frey, D. & Rosenstiel, L. von (2007). Fusionen und Akquisitionen. In D. Frey & L. von Rosenstiel (Hrsg.), Wirtschaftspsychologie. Enzyklopädie der Psychologie, Bd. D/III/6 (S. 400– 462). Göttingen: Hogrefe. Schwaab, M.O., Frey, D. & Hesse, J. (Hrsg.). (2003). Fusionen. Herausforderungen für das Personalmanagement. Heidelberg: Recht und Wirtschaft. Winkler, B. & Dörr, S. (2000). Fusionen überleben – Strategien für Manager. München: Hanser.
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4 Den negativen Wirkungen kann durch geeignete kommunikative Maßnahmen entgegengewirkt werden, wobei eine positive Wirkung der realistischen Fusionsvorschau auch empirisch belegt ist.
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13
184
Kapitel 13 · Mergers & Acquisitions: Fusionen und Unternehmensübernahmen
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III Personal 14
Berufswahl und berufliche Entwicklung
15
Anforderungsanalyse – 209
16
Personalmarketing
17
Personalauswahl
18
Leistungsbeurteilung
19
Personalentwicklung – 295
– 225 – 243 – 275
– 187
Zentrale Themen der Personalpsychologie gehören seit ihrem Entstehen zum Kernbestand der Arbeits- und Organisationspsychologie wie z. B. die Personalauswahl oder Trainings für Organisationsangehörige. Der Begriff der Personalpsychologie selbst findet in der modernen deutschsprachigen Arbeits- und Organisationspsychologie dagegen erst wieder seit kurzem breite Anwendung. Es war Heinz Schuler (2001), der diesen Begriff für sein Lehrbuch und eine neue wissenschaftliche Zeitschrift verwendete und damit große Resonanz fand. Kennzeichnend für die Personalpsychologie ist die Fokussierung auf das Individuum. Darin unterscheidet sich die Personalpsychologie zum einen von der Organisationspsychologie, bei der die sozialen Interaktionen in Organisationen im Vordergrund stehen, und zum anderen von der Arbeitspsychologie, bei der die Arbeitssituation den Mittelpunkt der Forschung ausmacht. Diese Orientierung am Individuum hat zwei Perspektiven. Es ist einerseits die Perspektive der erwerbstätigen Person in Bezug auf mögliche Arbeits- und Berufstätigkeiten sowie auf unterschiedliche Arbeitstätigkeiten in unterschiedlichen Organisationen über die Lebensspanne hinweg. Wir fassen diese Perspektive unter den Stichworten »Berufswahl und berufliche Entwicklung« zusammen und behandeln sie in 7 Kap. 14. Die andere Perspektive der Orientierung am Individuum geht von der Organisation aus und schaut auf die einzelne Person. Sie fragt: 4 Welche Anforderungen müssen Personen erfüllen, um für die Organisation nützlich zu sein (7 Kap. 15 »Anforderungsanalyse«)? 4 Wie können und müssen geeignete Personen angesprochen werden, damit diese bereit sind, der Organisation beizutreten und in ihr zu verbleiben (7 Kap. 16 »Personalmarketing«)? 4 Wie wählt eine Organisation geeignete Bewerber und Bewerberinnen aus (7 Kap. 17 »Personalauswahl«)? 4 Wer sind die Leistungsträger in der Organisation und wie können Personen zu höherer Leistung motiviert werden (7 Kap. 18 »Leistungsbeurteilung«)? 4 Wie kann die Organisation sicherstellen, dass Mitarbeiter und Führungskräfte zum richtigen Zeitpunkt mit den erforderlichen Qualifikationen dem Betrieb zur Verfügung stehen (7 Kap. 19 »Personalentwicklung«)? Diese Fokussierung auf das Individuum und die interindividuellen Unterschiede zwischen Personen dürfen jedoch nicht als Konkurrenz, sondern müssen als Ergänzung zur Situations- und Interaktionsperspektive gesehen werden, die gewöhnlich in der Organisationspsychologie dominiert. Neben der Fokussierung auf das Individuum arbeitet Schuler (2006) ein methodisches Kennzeichen der Personalpsychologie heraus, das er als naturwissenschaftliche Arbeitsauffassung der Personalpsychologie kennzeichnet. Sie hat folgende Merkmale: 4 starke Bedeutung statistischer und psychometrischer Verfahren, 4 emotionslose, kritische Prüfung von Hypothesen, 4 Orientierung am schrittweisen gemeinsamen Erkenntnisforschritt, d. h. an einer kumulationsfähigen Forschung und an knappen, kumulationsfähigen Forschungspublikationen. Aus diesem Grund hat die Personalpsychologie oft eine stark methodisch-diagnostische Ausrichtung. Dabei ist es allerdings wichtig, dass nicht die Methode die Inhalte, sondern die Inhalte die Methode bestimmen.
Literatur Schuler, H. (Hrsg.) (2001). Lehrbuch der Personalpsychologie. Göttingen: Hogrefe. Schuler, H. (2006). Stand und Perspektiven der Personalpsychologie. Zeitschrift für Arbeits- und Organisationspsychologie, 50, 176–188.
14
14 Berufswahl und berufliche Entwicklung 14.1
Definitionen: Job, Beruf und Erwerbsarbeit
14.2
Familiäre Lebensverhältnisse und Bildungsbeteiligung als Schlüssel zum Berufserfolg – 191
14.3
Anfänge der beruflichen Entwicklung von der Kindheit bis ins frühe Erwachsenenalter – 193
14.4
Psychologische Konzepte zur Berufsfindung
14.5
Berufliche Etablierung
14.6
Auswirkungen der veränderten Beschäftigungsverhältnisse auf den Berufsverlauf – 201
14.7
Perspektiven aufgrund des demographischen Wandels in Deutschland – 204 Literatur
– 205
– 189
– 196
– 199
188
Kapitel 14 · Berufswahl und berufliche Entwicklung
»Das Wichtigste im Leben ist die Wahl des Berufes. Der Zufall entscheidet darüber.«(Blaise Plascal) »Der Beruf ist das Rückgrat des Lebens und seine Wahl die wichtigste Entscheidung, die der Mensch treffen muss.« (Friedrich Nietzsche)
14
> Durch den Wandel der Arbeitswelt gleicht die Berufsbiographie vieler Menschen heute oft einem Flickenteppich: Sie haben schon sehr unterschiedliche Tätigkeiten ausgeführt, um ihren Lebensunterhalt zu verdienen. Unterbrechungen durch Zeiten der Arbeitslosigkeit sind nicht ungewöhnlich (7 Kasten »Erwerbsarbeit und Privatleben heute«). Im Folgenden sollen die psychologischen Hintergründe der Berufsfindung und der beruflichen Entwicklung angesichts des aktuellen Wandels der Arbeitswelt aus der Perspektive der Erwerbstätigen dargestellt werden. In 7 Abschn. 14.1 werden die Begriffe Job und Beruf einander gegenübergestellt und die generelle Bedeutung der Erwerbsarbeit für die psychische Gesundheit erläutert. Es entspricht den gängigen Alltagsvorstellungen in einer Leistungsgesellschaft, dass jede Person selbst der Schmied ihres beruflichen Glückes sei. Dass dem nicht ganz so sein könnte, darauf hat schon der Philosoph und Mathematiker Blaise Pascal (1623–1662) hingewiesen. Was subjektiv als freie Wahl erscheint, wird durch den Zufall der Geburt in eine bestimmte Familie und ihr soziales Umfeld sehr stark mitgeprägt. Deshalb wird in 7 Abschn. 14.2 die Bedeutung der sozialen Schichtzugehörigkeit des Elternhauses für den späteren Berufserfolg am Beispiel der Ergebnisse der PISA-Studien behandelt. Auch aus psychologischer Sicht beginnt die berufliche Entwicklung schon lange vor dem Eintritt ins Erwerbsleben. Zwischen dem 4. und 13. Lebensjahr werden die Grundlagen für die berufliche Planungs- und Entscheidungskompetenz gelegt. Jugendliche müssen dann ein Selbstkonzept bezüglich ihrer Bedürfnisse und Kompetenzen entwickeln und dieses in Beziehung zu den Gegebenheiten der Berufswelt setzen. Diese Wachstumsund Explorationsphasen der beruflichen Entwicklung werden in 7 Abschn. 14.3 dargestellt. Der Prozess der Berufsfindung in normativer und deskriptiver Hinsicht ist dann Gegenstand von 7 Abschn. 14.4. Die normative Frage betrifft das Problem, wie die Berufswahl eigentlich stattfinden sollte. Was sollten die jungen Erwachsenen dabei beachten und was sollte man ihnen – z. B. in der Berufsberatung – empfehlen? Die deskriptive Frage betrifft den Sachverhalt, wie sich die Berufsfindung tatsächlich vollzieht und welche Rolle dabei die berufssuchende Person spielt. Es kennzeichnet einen Aspekt des aktuellen Wandels der Erwerbsarbeit, dass eine dauerhafte berufliche Etablierung (7 Abschn. 14.5) für viele Erwerbstätige ungewiss ist. Sie sind auch nach dem 45. Lebensjahr noch zu beruflichen Re-Etablierungsphasen oder sogar Re-Explorationsphasen genötigt. In 7 Abschn. 14.6 werden deshalb drei Konzepte vorgestellt, die beschreiben sollen, wie Erwerbstätige mit dieser beruflichen Unsicherheit erfolgreich umgehen können. Es handelt sich um das proteanische Laufbahnmodell, das Konzept der entgrenzten Laufbahn sowie das Employability-Konstrukt. Zum Abschluss (7 Abschn. 14.7) wird kurz auf die Perspektiven aufgrund des demographischen Wandels in Deutschland, eingegangen: Das schrumpfende Arbeitskräfteangebot, die immer älteren Arbeitsanbieter und die erhöhten Qualifikationsanforderungen verlangen nach einer Erhöhung der Erwerbstätigenquoten von Frauen und Älteren.
189 14.1 · Definitionen: Job, Beruf und Erwerbsarbeit
Erwerbsarbeit und Privatleben heute Herr G. ist 34 und lebt mit einer Partnerin und zwei kleinen Kindern in einer großen süddeutschen Stadt. Beruflich ist er als sog. »fester freier« Mitarbeiter beim Rundfunk tätig, d. h. er hat (nach langen Phasen von Arbeitslosigkeit und journalistischen Gelegenheitsjobs) ein festes Arbeitsverhältnis mit einem garantierten, aber nicht sehr hohen Auftragsvolumen. Er arbeitet ausschließlich im Rahmen kurzfristiger Projekte; Arbeitsaufkommen und Einkommen variieren stark. Er hat keine festen Arbeitszeiten, sondern richtet sich nach Studioterminen, Kollegen, Interviewpartnern usw. Phasen immenser Belastung wechseln mit Perio-
14.1
Definitionen: Job, Beruf und Erwerbsarbeit
So genannte geringfügige oder zeitlich befristete Beschäftigungsverhältnisse werden in der Alltagssprache auch als Job bezeichnet.
den geringerer Anforderungen, die er dann für Zusatzaufträge und Weiterbildung nutzt. Herr G. arbeitet nur gelegentlich im Sender, die meiste Arbeit findet zu Hause und bei Recherchen vor Ort statt. Bei Herrn G. sieht jeder Tag anders aus. ... Maximal drei Monate weiß er im Voraus, was auf ihn zukommt, und er muss immer dafür offen sein, kurzfristig zu disponieren, beruflich wie privat. Urlaub wird dann gemacht, wenn gerade eine Lücke ist. Und wie lange er noch bei seinem derzeitigen Sender so weitermachen kann und will, weiß er nicht (Voß, 1998, S. 481–482).
Definition Der Beruf dient nicht nur dem kurzfristigen Einkommenserwerb, sondern auch der langfristigen Schaffung, Erhaltung und Weiterentwicklung der Lebensgrundlagen für den Berufstätigen und seine Familie.
Definition Jobs sind durch folgende Merkmale gekennzeichnet (Dostal, Stooß & Troll, 1998): 4 Die Tätigkeiten dienen allein dem Geldverdienen. 4 Sie sind kurzfristig angelegt. 4 Sie stellen geringe Qualifikationsanforderungen. 4 Die qualifizierte Ausführung ist schnell erlernbar. 4 Es findet seitens der Ausführenden und der Arbeitgeber ein häufiger Wechsel statt. 4 Seitens der Ausführenden liegt in der Regel nur eine geringe und instabile Identifikation mit der Aufgabe vor.
Im Gegensatz zu einem Job ist berufliche Erwerbsarbeit auf Dauer angelegt. Wer eine Erwerbstätigkeit als Beruf ausüben möchte, strebt ein unbefristetes Beschäftigungsverhältnis an. Der Beruf kann auch über einen Wechsel des Arbeitgebers hinweg stabil ausgeübt werden.
Dies bedeutet, dass es innerhalb eines Berufes auch Möglichkeiten des Aufstieges und der Zunahme der eigenen Qualifikationen sowie der Vergrößerung der persönlichen Verantwortung gibt. Es bedeutet weiterhin, dass mit dem Beruf eine Absicherung für Krankheit und Alter angestrebt wird. Langfristig ist das Einkommen in einem Beruf so bemessen, dass die berufstätige Person damit den Lebensunterhalt ihrer Familie bestreiten und die Ausbildung der Kinder finanzieren kann. Frauen dient der Beruf häufig auch zur Sicherung der wirtschaftlichen Unabhängigkeit vom Eheoder Lebenspartner. Die berufliche Tätigkeit ist ein Teil der persönlichen Identität. Personen wählen einen Beruf und engagieren sich in einer beruflichen Tätigkeit, um damit die Vorstellungen, die sie von sich selbst und der ihnen für sich selbst angemessen erscheinenden sozialen Rolle haben, verwirklichen zu können. Gleichzeitig ist die ausgeübte berufliche Tätigkeit mitdefinierend für den sozialen Status einer Person (. Tab. 14.1). Ein Beruf stellt hohe Qualifikationsanforderungen. Diese werden durch jahrelange Ausbildung oder ein Stu-
14
190
Kapitel 14 · Berufswahl und berufliche Entwicklung
14
Mit freundlicher Genehmigung des Instituts für Demoskopie, Allensbach.
. Tab. 14.1. Prestigewerte verschiedener Berufe: Ergebnisse der Allensbacher Berufsprestige-Skala 2005 Beruf
Prozentwert
Arzt
71
Krankenschwester
56
Polizist
40
Hochschulprofessor
36
Pfarrer/Geistlicher
34
Lehrer
31
Rechtsanwalt
25
Ingenieur
24
Botschafter/Diplomat
23
Apotheker
22
Unternehmer
21
Atomphysiker
21
Spitzenpolitiker
20
Informatiker/Programmierer
19
Schriftsteller
15
Manager in Großunternehmen
14
Offizier
10
Journalist
10
Buchhändler
7
Politiker
6
Fernsehmoderator
6
Gewerkschaftsführer
5
Frage: »Hier sind einige Berufe aufgeschrieben. Könnten Sie bitte die fünf davon heraussuchen, die Sie am meisten schätzen, vor denen Sie am meisten Achtung haben?« (Vorlage einer Liste)
dium z. T. mit anschließenden Referendariaten oder Assistenzzeiten erworben. Der Erwerb und der Nachweis der beruflichen Qualifikationen sind formal geregelt. Ein spezifischer Beruf ist durch bestimmte Tätigkeitsgegenstände, Arbeitsmittel und eine spezifische Umweltbeschaffenheit charakterisiert und mit bestimmten
. Abb. 14.1. Das Vitaminmodell der Arbeitsbedingungen von Warr (1987)
Rechten und Pflichten verbunden. Beispielsweise haben Pfarrer und Diplom-Psychologen eine Schweigepflicht in Bezug auf ihnen von ihren Pfarrkindern (Beichtgeheimnis) oder Klienten anvertraute Sachverhalte. Obwohl die konkrete Arbeitstätigkeit einer Person oft nicht ihren Ansprüchen genügt, sondern als belastend und mühselig erlebt wird, ziehen viele Menschen es vor, weiterhin erwerbstätig zu bleiben, anstatt sich arbeitslos zu melden oder in Rente zu gehen. Dies hat häufig finanzielle Gründe. Die Sicherung des Lebensunterhaltes ist daher von Jahoda (1981) auch als manifeste Funktion der Erwerbsarbeit bezeichnet worden. Darüber hinaus hat die Erwerbsarbeit aber auch viele sog. latente Funktionen. Sie müssen den Betroffenen nicht immer bewusst sein. Trotzdem haben sie einen positiven Einfluss auf das psychische Wohlbefinden. Diese latenten, positiven Funktionen der Erwerbsarbeit haben sich aus der Forschung bei Arbeitslosen und Personen, die altershalber aus dem Erwerbsleben ausgeschieden sind, ergeben. Jahoda (1981) unterscheidet fünf latente Funktionen der Erwerbsarbeit, die im entsprechenden 7 Kasten aufgeführt werden. Jahodas sechs Funktionen der Erwerbsarbeit sind später von Warr (1987) in ein umfassenderes Modell der psychischen Gesundheit – das sog. Vitaminmodell – integriert worden (. Abb. 14.1). Warr vergleicht Umweltbedingungen, unter denen Personen tätig sind, mit Vitaminen. Eine Bedingungsgruppe nennt er metaphorisch die Vitamingruppe CE (»constant effects«), nämlich Bezahlung, Arbeitssicherheit und soziale Wertschätzung. Eine weitere Gruppe von Umweltbedingungen nennt er, ebenfalls metaphorisch, die Vitamingruppe AD (»additional decrement«),
191 14.2 · Familiäre Lebensverhältnisse und Bildungsbeteiligung als Schlüssel zum Berufserfolg
Latente Funktionen der Erwerbsarbeit (nach Jahoda, 1981) 1. Durch die Erwerbsarbeit wird die Zeit strukturiert. Die Arbeitszeit legt das Ende des Schlafes und damit den subjektiven Tagesbeginn fest. Das Ende der täglichen Arbeitszeit weist der Haushaltszeit, der Familienzeit, der Sozialzeit und der Entspannungszeit ihren Platz zu. Die Arbeit selbst wird durch Pausen gegliedert. Die Erwerbsarbeit gliedert aber auch die Woche in Arbeitstage und freie Tage sowie das Jahr in Arbeitszeit, Feiertage und Urlaub. Die durch die Arbeit vorgegebene Zeitgliederung übt deshalb eine entlastende und stabilisierende Wirkung auf die Betroffenen aus. 2. Die Erwerbsarbeit bedingt regelmäßige soziale Kontakte außerhalb der Kernfamilie und bietet die Möglichkeit zu geteilten sozialen Erfahrungen. Die Betroffenen erfahren so wichtige Neuigkeiten, aber auch Klatsch und Tratsch. Sie haben Gelegenheit, am Leben anderer teilzunehmen, sich mit ihnen zu vergleichen und mit ihnen zu kooperieren oder sich mit ihnen auseinanderzusetzen. 3. Die Erwerbsarbeit schafft einen Bezug zu Zielen und Zwecken, die über die betroffene Person selbst hinausreichen. Erwerbsarbeit leistet so auch einen Beitrag zur persönlichen Sinnstif-
nämlich Anforderungsvielfalt, Denk- und Planungsanforderungen, Handlungsspielräume, soziale Kontakte, Teilhabe an übergeordneten, die Einzelperson transzendierenden Zielen sowie Transparenz der Anforderungen und Arbeitsbedingungen. Je nach Vitamingruppe hat die Steigerung der Dosierung unterschiedliche Effekte. Eine geringe und mittlere Dosierung hat bei beiden Vitamingruppen positive Effekte. Je stärker die jeweilige Umweltbedingung ausgeprägt ist, desto höher ist die psychische Gesundheit. Steigert man aber die Dosierung der Vitamine über eine mittlere Ausprägung hinaus, ergeben sich je nach Vitamingruppe unterschiedliche Effekte. In der Vitamingruppe CE bewirkt die Steigerung der Dosierung keine Steigerung der psychischen Gesundheit. In der Vitamingruppe AD (bewirkt die Steigerung der Dosierung dagegen ein Absinken der psychischen Gesundheit.
tung: Der Kioskpächter im Fußballstadion trägt zum Gelingen eines Fußballevents für die Fans bei. Die Verkäuferin im Warenhaus hilft den Kunden, die Weihnachtsgeschenke für ihre Familie zu finden. Der Müllmann hält seine Stadt ordentlich und sauber. Die Hebamme schützt die Mutter und hilft einem neuen Erdenbürger ins Leben. 4. Erwerbsarbeit gibt Identität und Status. Erwerbstätige gehören meist zu einem Betrieb und haben alleine schon deshalb eine soziale Identität: »Ah, Sie arbeiten im Altersheim!«. Auch wer eine Tätigkeit von geringem sozialem Prestige ausübt, ist trotzdem wirtschaftlich unabhängig und muss niemand um die Erfüllung seiner Wünsche bitten, z. B. weder Eltern, noch Ehepartner noch die eigenen Kinder. Wer erwerbstätig ist, hat einen Chef oder ist der eigene Chef, auch wenn es nur ein Kiosk ist. Es gibt Personen, denen er oder sie zuarbeitet, und Personen, die ihm zuarbeiten. Es gibt gleichrangige Kollegen, aber auch Personen, die unter oder über ihm oder ihr stehen. 5. Schließlich sorgt Erwerbsarbeit für Aktivierung. Die Studien von Jahoda haben gezeigt, dass Arbeitslose länger im Bett verweilen und sich weniger und langsamer körperlich bewegen. Demgegenüber befreit Erwerbsarbeit aus der körperlichen und psychischen Lethargie.
14.2
Familiäre Lebensverhältnisse und Bildungsbeteiligung als Schlüssel zum Berufserfolg
Die Ausübung sehr vieler beruflicher Tätigkeiten setzt den erfolgreichen Abschluss einer bestimmten Ausbildung bzw. bestimmte Studienabschlüsse zwingend voraus. Der Zugang zu den Ausbildungs- und Studiengängen hängt wiederum vom erfolgreichen Durchlaufen bestimmter Schullaufbahnen ab, er wird also bei den meisten beruflichen Tätigkeiten durch den Zugang zu und das Absolvieren von bestimmten Schullaufbahnen kanalisiert. Diese Schullaufbahnen sind hierarchisch geordnet. Haupt- und Realschule führen in der Regel zu einer beruflichen Ausbildung, das Gymnasium mit dem Abitur als Abschluss zu einem Studium. Das einmal eingeschlagene Schulniveau ist daher für die Kinder und
14
192
Kapitel 14 · Berufswahl und berufliche Entwicklung
Jugendlichen mit sehr langfristigen beruflichen Konsequenzen verbunden. ! Welche Schullaufbahn eine Person absolviert, wird stark von sozialen Faktoren bestimmt.
14
Ein ganz wesentlicher Faktor ist dabei das Elternhaus. Die Eltern prägen durch ihr Erziehungsverhalten und durch die Art ihres Umgangs mit ihren Kindern die Interessen und Werte, die Persönlichkeit, die Fähigkeiten und die Ziele ihrer Kinder. Die materiellen Ressourcen, das Vorbild der Eltern, ihre sozialen Kontakte sowie die Informationen, über die sie verfügen, bieten den Kindern größere oder begrenzte Gelegenheiten, Schullaufbahnen mit eingeschränkten oder weiterreichenden beruflichen Möglichkeiten zu ergreifen und erfolgreich zu durchlaufen. Kohn und Schooler (1983) fanden Zusammenhänge zwischen denjenigen Persönlichkeitsmerkmalen, von denen der Erfolg des Vaters in seiner jeweiligen Berufstätigkeit abhängt, und den Erziehungswerten dieser Väter. Väter, deren Beruf in hohem Umfang eigenständiges Entscheiden erfordert, fördern selbstbestimmtes Handeln bei ihren Kindern. Väter, die beruflich geringe Handlungsspielräume haben und eng durch Vorgesetzte kontrolliert werden, fördern bei ihnen dagegen Anpassung und Gehorsam. Insgesamt ist der Beruf der Eltern ein zentraler Indikator für die sozioökonomische Stellung einer Familie. Sie kennzeichnet das Ausmaß an verfügbaren finanziellen Mitteln, an relativer sozialer Macht und an gesellschaftlichem Prestige des Herkunftselternhauses. Neben der sozioökonomischen Stellung ist das kulturelle Kapital (Bourdieu, 1983) einer Familie ein weiterer wesentlicher Faktor für die schulischen Erfolgschancen der Kinder. Wichtige Einflussgrößen bzw. Manifestationen des kulturellen Kapitals sind 4 die Sprache, die in der Familie gesprochen wird, 4 das Humankapital der Eltern sowie 4 die kulturelle Praxis der Eltern. In Bezug auf die Familiensprache ist wichtig, ob sie der Verkehrssprache in einer Gesellschaft entspricht oder nicht. Wenn die Familiensprache von der Verkehrssprache abweicht, ist dies ein erheblicher Nachteil für die Kinder. Das Humankapital der Familie ergibt sich aus dem Niveau der Schul- und Berufsausbildungen der Eltern. Die kulturelle Praxis der Familie (z. B. das Ausmaß, in dem Eltern hochwertige Zeitungen, Zeitschrif-
ten und Bücher lesen und darüber diskutieren) prägt die Wahrnehmungs-, Denk- und Handlungsschemata der Kinder. Kinder haben umso mehr Erfolg in der Schule, je stärker die Passung zwischen dem, was in der Schule von den Schülern erwartet wird, und dem, was aufgrund des kulturellen Kapitals in einer Familie praktiziert wird. Neben dem kulturellen spielt das soziale Kapital (Coleman, 1988) ebenfalls eine wichtige Rolle. Soziales Kapital bildet sich in sozialen Netzwerken. Diese Netzwerke vermitteln Ziele und Normen, schaffen Vertrauen, ermöglichen Zusammenarbeit, erzeugen Informationen und sanktionieren Normverletzungen. Das Ausmaß des sozialen Kapitals in einer Familie hängt davon ab, 4 ob es sich um eine vollständige oder unvollständige Familie handelt, 4 ob die Eltern arbeitslos oder Vollzeit beschäftigt sind und 4 wie der Stil und die Intensität der Kommunikation innerhalb der Familie beschaffen sind. Enge Beziehungen und eine intensive Kommunikation in der Familie stärken das Selbstvertrauen der Kinder und begünstigen intrinsische Arbeitsinteressen. Sehr eindrucksvolle, aktuelle Belege für die Auswirkungen der sozioökonomischen Stellung der Eltern sowie ihres kulturellen und sozialen Kapitals auf das Niveau der Schulbildung ihrer Kinder liefern die Ergebnisse der PISA-Studien aus Deutschland. Eine der zentralen Fähigkeiten von Schülern stellt deren Lesekompetenz dar, also die Fähigkeit, auch schwierige und komplexe Texte zu verstehen. Die Chance, dass ein etwa 15-jähriges Akademiker- im Gegensatz zu einem 15 Jahre alten Facharbeiterkind nicht die Realschule, sondern das Gymnasium besucht, liegt bei ca. 3:1. Diese ungleichen Chancen haben weder etwas mit den kognitiven Grundfähigkeiten der Schüler noch etwas mit ihrer Lesekompetenz zu tun (vgl. Baumert & Schümer, 2001). Berücksichtigt man neben den Unterschieden im Elternberuf auch die Unterschiede im kulturellen und sozialen Kapital, dann ist die Chancenungleichheit noch deutlicher ausgeprägt. Schüler, die das Glück haben, dass ihre Eltern bezüglich des ökonomischen, sozialen und kulturellen Status in Deutschland im oberen Viertel liegen, haben eine über 5-mal bessere Chance das Gymnasium anstatt der Realschule zu besuchen, als Schüler, die das Pech haben, dass ihre Eltern nur dem zweiten Viertel (25–50%) in Hinblick
193 14.3 · Anfänge der beruflichen Entwicklung von der Kindheit bis ins frühe Erwachsenenalter
auf den Status angehören. Diese ungleichen Chancen haben weder etwas mit den kognitiven Grundfähigkeiten der Schüler noch etwas mit ihrer mathematischen Kompetenz zu tun. Die Platzierung in einem bestimmten Schultyp hängt neben Leistungsunterschieden von den Empfehlungen der Lehrer beim Übergang von der Grund- in eine weiterführende Schule, dem Wunsch der Eltern sowie den Wünschen der Kinder ab. Zumindest in den USA ist außerdem im Verlauf der Schulkarriere ein Abstieg aus einer höheren Schulform in einer niedrigere wahrscheinlicher als umgekehrt. Betroffen von dieser Tendenz zur Abwärtsmobilität in den Schulkarrieren sind vor allem Mädchen, ältere Schüler und Schüler aus Schichten mit geringerem sozialem Status. Die Zuordnung zu einem bestimmten Schultyp entscheidet auch über den objektiven Leistungsstand. Der Unterschied in Bezug auf die mathematischen Fähigkeiten von Gymnasiasten und Realschülern lag in der zweiten PISA-Studie bei 96 Kompetenzpunkten. Dies entspricht einem durchschnittlichen Zugewinn von 2 Schuljahren. Fast ebenso groß war der Unterschied zwischen Real- und Hauptschülern. Dies bedeutet, dass die Zuordnung zu unterschiedlichen Schulniveaus nicht nur soziale Unterschiede zwischen den Elternhäusern widerspiegelt, sondern auch die Leistungsunterschiede zwischen den Schülern vergrößert (Baumert & Schümer, 2001). Wer also als 10-jähriges Kind in seiner Schulbildung am Anfang unten einsteigt, hat trotz gleicher kognitiver Grundfähigkeiten mit zunehmender Schulzeit immer schlechtere Chancen bei der Lesekompetenz und der mathematischen Kompetenz das gleiche Niveau zu erreichen wie Kinder, die in der gleichen Zeit das Gymnasium besucht haben. Damit sinken auch die Chancen, später erfolgreich an weiterführende Schulen überzuwechseln. Und dies hat wiederum zur Folge, dass trotz gleicher Fähigkeiten und gleicher Leistungsbereitschaft die Zugangschancen zu beruflichen Tätigkeiten mit höherem sozioökonomischem Status je nach Herkunft und Anregungsbedingungen im Elternhaus ganz unterschiedlich ausfallen. Gute individuelle Bildung ist Voraussetzung für akzeptable persönliche Arbeitsmarktchancen. Deshalb ist es wichtig, gleiche Bildungschancen für alle herzustellen. Die Leistungspotenziale von Kindern aus unteren sozialen Schichten und von Migranten sollten in Deutschland – gerade auch im Interesse der Gesamtbevölkerung – viel besser ausgeschöpft werden (Allmen-
dinger & Ebner, 2006). Es ist allerdings wichtig zu erkennen, dass es sich bei diesen Befunden um zusammengefasste, statistische Aussagen handelt. Man darf deshalb keine Zwangsläufigkeiten für Einzelfälle daraus ableiten. Vielmehr erkennt man gerade an Einzelfällen, dass der weitere Berufsweg nicht alleine durch den Schulstart bestimmt wird. Beispielsweise verließ ein späterer Chef des nachmaligen Automobilunternehmens Daimler-Chrysler die Schule mit der mittleren Reife und machte eine Berufsausbildung als KfzMechaniker (Grässlin, 1998). Aufgrund seiner Schulbildung waren seine Chancen, an die Spitze eines Weltkonzerns zu gelangen, also sehr gering. Trotzdem hat er es später geschafft. 14.3
Anfänge der beruflichen Entwicklung von der Kindheit bis ins frühe Erwachsenenalter
Ein wichtiger Auslöser individueller Entwicklungsprozesse sind sog. Entwicklungsaufgaben, die als geteilte normative Erwartungen von der sozialen Umgebung an das Individuum herangetragen werden. Beispielsweise erwartet man von einem Kind ab einem bestimmten Alter, dass es sich selbst anziehen kann, dass es lernt »bitte und danke« zu sagen etc. Entwicklungsaufgaben begleiten uns entlang unserer gesamten Lebensspanne. Die erfolgreiche Bewältigung einer Entwicklungsaufgabe führt zu Zufriedenheit und Anerkennung, während das Versagen bei einer Entwicklungsaufgabe das Individuum unglücklich macht, auf Ablehnung durch die Gesellschaft stößt und zu Schwierigkeiten bei der Bewältigung späterer Entwicklungsaufgaben führt. Entwicklungsaufgaben von Jugendlichen sind beispielsweise der Aufbau von Beziehungen zu Gleichaltrigen, die Akzeptanz des eigenen Körpers, das Erreichen emotionaler Unabhängigkeit von den Eltern, die Vorbereitung auf das Berufsleben und die Auswahl eines Berufes sowie Bemühungen zur Sicherung der späteren wirtschaftlichen Unabhängigkeit. In der Laufbahnentwicklungstheorie (Savickas, 2002) wird das Alter zwischen 4 und 13 Jahren als Wachstumsphase der beruflichen Entwicklung bezeichnet (7 Übersicht). Mit zunehmendem Alter erwartet man von Heranwachsenden, dass sie sich mit ihrer eigenen beruflichen Zukunft befassen, diese als persönliche
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194
Kapitel 14 · Berufswahl und berufliche Entwicklung
Berufliche Entwicklungsaufgaben im Lebensverlauf (nach Savickas, 2002) Wachstumsphase (zwischen 4. und 13. Lebensjahr) 4 Zukunftszuwendung 4 Kontrollerleben 4 Berufswahlkriterien 4 Selbstvertrauen Explorationsphase (zwischen 14. und 24. Lebensjahr) 4 Kristallisation 4 Spezifikation 4 Aktualisierung Etablierungsphase (zwischen dem 25. und 44. Lebensjahr) 4 Stabilisierung 4 Konsolidierung 4 Aufstieg Erhaltungsphase (zwischen dem 45. und 64. Lebensjahr) 4 Sicherung 4 Aktualisierung 4 Innovation Ausscheiden aus dem Erwerbsleben (ab dem 65. Lebensjahr)
14 Herausforderung begreifen lernen, Kriterien für ihre Ausbildungs- und Berufswahlentscheidungen entwickeln und das Selbstvertrauen haben, eine für sie angemessene und realistische beruflichen Weichenstellungen vorzunehmen. Die eigenen Berufswünsche der Heranwachsenden äußern sich in Tagträumen (7 Kasten »Berufswünsche von Hauptschulschülerinnen«). Eine sichere psychische Bindung an die primären Bezugspersonen stärkt das Zutrauen der Heranwachsenden zu sich selbst, fördert ihren Optimismus sowie ihre Vertrauen in andere Personen. Damit werden eine vorausschauende Haltung und planende Einstellung gegenüber der eigenen beruflichen Zukunft gebahnt und die Grundlagen für die spätere berufliche Planungskompetenz gelegt. Die sichere Bindung an die primären
Berufswünsche von Hauptschulschülerinnen Ich würde gerne als Beruf Kraftfahrzeugmechaniker lernen, denn ich habe von diesem Beruf schon sehr viel gehört. Ein Freund von mir ist mit diesem Beruf sehr zufrieden. Da muss man Öl wechseln, Bremsbeläge wechseln, Autowaschen, Lichteinstellen, Abgastests machen, Radstand messen und noch vieles mehr. Ich bin auch sehr begeistert von diesem Beruf. Aber ich glaube Mädchen haben keine Chance, denn Jungs sind in diesem Beruf mehr gefragt als Frauen. Versuchen kann man es trotzdem mal. (Zitat entnommen aus Bamberg, 1996, S. 121) Ich würde gerne Kindergärtnerin werden, weil ich gerne mit Kindern umgehe. Es macht mir Spaß, etwas zu erklären, wenn sie etwas nicht verstehen. Es würde mir auch Spaß machen, mal so viele Kinder unter mir zu haben. Außerdem möchte ich gerne mit Kindern spielen, basteln, tanzen, spazieren gehen und vieles mehr. Außerdem würde mir die Ausbildung zur Kindergärtnerin auch später, wenn ich selbst einmal Kinder habe, zugute kommen. (Zitat entnommen aus Bamberg, 1996, S. 134)
Bezugspersonen schafft auch die Voraussetzung für spätere vertrauensvolle Beziehungen zu Mentoren, Vorgesetzten und Kollegen. Unsichere Bindungen an die primären Bezugspersonen führen dagegen zu einem negativen Selbstkonzept bei den Heranwachsenden, erhöhter Ängstlichkeit, ambivalenten oder sogar gleichgültigen Einstellungen gegenüber der eigenen beruflichen Zukunft und z. T. zu antisozialen Einstellungen (»Man kann alles machen, solange man nicht erwischt wird.«). Wenn eine heranwachsende Person den Freiraum bekommt, eigene Entscheidungen zu treffen, wenn sie dazu ermutigt wird, kleine kurzfristige Annehmlichkeiten zugunsten größerer langfristiger Belohungen aufzuschieben, wenn sie lernt, mit anderen zu verhandeln und für ihre eigenen Rechte einzutreten, entwickelt sich bei ihr ein Gefühl der persönlichen Autonomie und der Kontrolle über die eigenen Entscheidungen. Dies fördert auch die emotionale Unabhängigkeit und stärkt die persönliche Willenskraft. Insgesamt werden damit die Grundlagen für die spätere berufliche Entscheidungskompetenz gelegt.
195 14.3 · Anfänge der beruflichen Entwicklung von der Kindheit bis ins frühe Erwachsenenalter
Von einer heranwachsenden Person wird auch erwartet, dass sie Kriterien für die Ausbildungs- und Berufswahl entwickelt. Solche Kriterien können ganz unterschiedlich sein, wie z. B. »Hauptsache, es macht Spaß!«, »Man soll das als Beruf wählen, worin man gut ist!«, »Ich will etwas lernen, wo ich unabhängig und auf niemand angewiesen bin«, »Den Beruf, den man wählt, hat man sein ganzes Leben«, »Man kann den Beruf auch wechseln, wenn er keinen Spaß mehr macht«, »Ich will nie arbeitslos werden!«, etc. Die Herausbildung solcher Kriterien fördert das Wissen über die eigene Person und erleichtert es damit, später eine bessere Übereinstimmung zwischen den eigenen Bedürfnissen und Fähigkeiten mit den Angeboten in der Berufswelt herstellen zu können. Die erfolgreiche Problembewältigung in Alltagsdingen zu Hause, in der Schule oder bei Hobbys erhöht die eigene Selbstwirksamkeitseinschätzung, fördert die Selbstakzeptanz und steigert das Selbstwertgefühl. Dies schafft die Grundlagen für das Zutrauen zu sich selbst, die Herausforderungen der Berufswahl und der erforderlichen beruflichen Anpassungen erfolgreich bewältigen zu können. Das Alter zwischen 14 und 24 Jahren wird in der Laufbahnentwicklungstheorie (Savickas, 2002) als Explorationsphase der beruflichen Entwicklung bezeichnet. In dieser Zeit sollen die Personen den Weg von ihren beruflichen Wünschen und Tagträumen zu einer konkreten Stelle in der Arbeitswelt finden. Die Entwicklungsaufgabe besteht also darin, eine Berufswahlentscheidung treffen und umsetzen zu sollen. Man unterscheidet dabei drei Aspekte dieser Entwicklungsaufgabe: Kristallisation, Spezifikation und Aktualisierung. Die Kristallisationsaufgabe (7 obige Übersicht) besteht einerseits darin, durch gezielte Selbsterprobungen zu einer differenzierteren Einschätzung der eigenen beruflichen Interessensfelder (z. B. primär Umgang mit Menschen oder primär Umgang mit Dingen), der eigenen berufsrelevanten Fähigkeiten (liegen z. B. Stärken eher im sprachlichen Bereich oder im mathematischen Bereich) sowie der Ausprägung der eigenen Arbeitswerte (z. B. Sicherheit des Arbeitsplatzes vs. Abwechslung am Arbeitsplatz) zu gelangen. Es besteht also die Aufgabe, ein differenziertes berufliches Selbstkonzept zu entwickeln. Andererseits soll die berufssuchende Person gezielt Informationen über die Anforderungen, Routinen und Belohnungen, die bestimmte Berufsfelder
und Berufe stellen und bieten, sammeln, um damit eine individuelle kognitive Landkarte über die Berufswelt zu entwickeln. Aus dem Vergleich von Selbstkonzept und individueller kognitiver Berufslandkarte sollen sich vorläufige Präferenzen für bestimmte Berufsfelder ergeben. Die Spezifikationsaufgabe beinhaltet dann die Auswahl einer spezifischen Wunschtätigkeit aus den vorläufigen Präferenzen. Die Aktualisierungsaufgabe besteht schließlich darin, den Weg vom Wunsch zu dessen aktiver Realisierung tatsächlich – auch gegen Widerstände und angesichts von Schwierigkeiten – zu gehen. Für die Bewältigung dieser Entwicklungsaufgaben haben Jobs von Jugendlichen in Ergänzung zur Schule eine wichtige Bedeutung (Kirkpatrick Johnson & Mortimer, 2002): Jugendliche gewinnen so erste Erfahrungen im Erwerbsleben und können besser für sich ihre beruflichen Interessen und individuellen Arbeitswerte klären. Empirische Studien zeigen, dass diese Jobs bei den Jugendlichen zu einer verbesserten Pünktlichkeit, einem stärkeren Verantwortungsbewusstsein, höherer Zuverlässigkeit, einem größeren Selbstvertrauen und einem verbesserten Bewerbungsverhalten führen. Wenn die Arbeitszeiten im Job allerdings zu lange dauern, erhöht dies die Wahrscheinlichkeit von Substanzmissbrauch (Tabak und Alkohol), Delinquenz und eines Absinkens der schulischen Leistungen. Gute Schüler haben relativ kurze Arbeitszeiten in ihren Jobs und können deshalb stark davon profitieren. Schlechte Schüler haben dagegen oft zu lange Arbeitszeiten parallel zur Schule, was mit den genannten negativen Effekten einhergeht. Savickas (2002) berichtet über drei Stile, mit den Entwicklungsaufgaben der Explorationsphase umzugehen: 4 Der informationsorientierte Stil zeichnet sich durch ein aktives Suchverhalten sowie ein eigenständiges, stark problemorientiertes Vorgehen aus. 4 Der normorientierte Stil zeichnet sich durch eine sehr enge Anlehnung an die Vorgaben und Erwartungen signifikanter anderer Personen und eine enge Bindung an die Herkunftsfamilie aus. 4 Der vermeidende Stil äußert sich in hinauszögernden und vermeidenden Verhaltensweisen gegenüber beruflichen Entscheidungen. Den Betroffenen fehlen positive Rollenmodelle. Ihr Verhalten hat Defizite beim problemorientierten Vorgehen und zeichnet sich durch emotionszentrierte Bewältigungsversuche aus.
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Kapitel 14 · Berufswahl und berufliche Entwicklung
Wenn ein informationsorientierter Stil vorliegt, kann man von einer hohen sog. Berufswahlreife ausgehen. Damit bezeichnet man die Bereitschaft und die Fähigkeit, die Entwicklungsaufgabe der Berufswahl in Angriff zu nehmen und erfolgreich zu bewältigen. Berufswahlreife umfasst folgende Aspekte: Planungskompetenz, Entscheidungskompetenz, Wissen über das Selbst und die relevante berufliche Umwelt sowie die Berufswahlzuversicht. In der Bundesrepublik Deutschland dürfte der Alterskorridor von jungen Erwachsenen ohne Hochschulausbildung für die Explorationsphase in der Tat zwischen 14 und 24 Jahren liegen. Da Hochschulabsolventen hierzulande ihr Studium aber häufig erst nach dem 25. Lebensjahr abschließen, ist für diesen Teil des Berufsnachwuchses die Explorationsphase länger. Durch eine Verkürzung der Gymnasialzeit sowie die Einführung des 3-jährigen Bachelorstudiums als erstem berufsqualifizierendem Hochschulabschluss wurden in jüngster Zeit aber zielgerichtet berufspolitische Maßnahmen initiiert, um eine frühere Berufseinmündung bei Hochschulabsolventen herbeizuführen. 14.4
14
Psychologische Konzepte zur Berufsfindung
Zur Berufsfindung gibt es zwei zentrale psychologische Ansätze, nämlich den passungstheoretischen Ansatz (Matching) sowie die Konzeption der Laufbahnentwicklungstheorie. Beide sollen im Folgenden kurz vorgestellt werden. Anschließend werden die Haupthindernisse für eine angemessene Berufsfindung von Jugendlichen und jungen Erwachsenen vorgestellt. Das Problem der Berufsfindung hat aus psychologischer Sicht zwei Aspekte, einen normativen und einen deskriptiven.
4 Der normative Aspekt betrifft das Problem, wie die Berufswahl eigentlich stattfinden sollte. Was sollten die Berufswähler dabei beachten und was sollte man ihnen – z. B. in der Berufsberatung – empfehlen? 4 Der deskriptive Aspekt betrifft den Sachverhalt, wie sich die Berufsfindung tatsächlich vollzieht und welche Rolle dabei die berufssuchende Person spielt. Die Theorie der Arbeitsanpassung (Dawis, 1996, 2002) und das hexagonale Berufswahlmodell von Holland (Holland, 1996; Spokane, Luchetta & Richwine, 2002) gehen davon aus, dass sich bei Personen im Alter der Berufsfindung, also zwischen 14 und 24 Jahren, bereits stabile individuelle Fähigkeiten und Bedürfnisse herausgebildet haben, die für die Dauer des Berufslebens im Großen und Ganzen stabil bleiben, was kleinere Modifikationen aber nicht ausschließt. Bedürfnisse werden hier breit im Sinne von Motiven, Temperamentseigenschaften, Interessen oder Werthaltungen verstanden. Nach dem Matching-Ansatz soll nun eine Passung zwischen dem Beruf mit seinen Anforderungen und seinen Bedürfnisbefriedigungsmöglichkeiten einerseits und den Qualifikationen sowie den Bedürfnissen der Person andererseits hergestellt werden (. Tab. 14.2 zu verschiedenen Aspekten der Passung). Im Gegensatz zur Stellenwahl (7 Kap. 17), bei der vor allem die Tätigkeitsanforderungen einer bestimmten Stelle relevant sind, stehen bei der Berufswahl die langfristigen Laufbahnanforderungen im Vordergrund. Wenn man Berufe als eine spezifische Sequenz von Aufgaben und Positionen versteht, die Personen im Laufe ihres Erwerbslebens dann möglicherweise durchlaufen (7 Übersicht »Laufbahnsequenz im Lehrerberuf«), kommt es nach Auffassung der Vertreter des Matching-Ansatzes zum einen darauf an, die Fähigkeiten zu identifizieren, die benötigt werden, um das zu erlernen, was man
. Tab. 14.2. Aspekte der Passung zwischen Beruf und Person Berufstätigkeit
Aspekte der Passung
Person
Tätigkeitsanforderungen in bestimmten Positionen oder Stellen
Qualifikatorische Passung
Kenntnisse, Fertigkeiten, Fähigkeiten
Befriedigungspotenziale
Bedürfnisbezogene Passung
Bedürfnisse, Motive, Interessen, Werthaltungen
Laufbahnanforderungen
Potenzialbezogene Passung
Ausmaß der Lernfähigkeit und Lernbereitschaft, soziale Kompetenz, Selbstvertrauen
197 14.4 · Psychologische Konzepte zur Berufsfindung
. Tab. 14.3. Unterschiedliche Intelligenzmittelwerte in verschiedenen Berufen. (Nach Engelbrecht 1994) Beruf
Intelligenzmittelwert
Bäcker
43
Laufbahnsequenz im Lehrerberuf
Bauschlosser
44
4 4 4 4
Gas- und Wasserinstallateur
45
Altenpfleger
46
Konditor
47
Landwirt
48
Bekleidungsschneider
49
Einzelhandelskaufmann
50
Drucker
51
Drogist
52
Bürogehilfe
53
Speditionskaufmann
54
Elektromechaniker
55
Industriekaufmann
56
Technischer Zeichner
57
Informationselektriker
58
Bankkaufmann
59
Lehramtsstudium Referendariat Klassen- und/oder Fachlehrer Lehrer mit Unterrichts- und Verwaltungsaufgaben (Fachleitung) 4 Lehrer mit Unterrichts- und Personalaufgaben (stellvertretende Schulleitung) 4 Schulleitung mit Verwaltungs-, Personal-, Öffentlichkeits- und politischen Aufgaben 4 Tätigkeit in der Schulaufsicht und Schulverwaltung
Die Lernfähigkeit, die benötigt wird, um die benötigten Kompetenzen und Fertigkeiten zu erwerben, bezeichnet man als Potenzial oder Aptitude (Dawis, 1996). Welche Größen haben Einfluss auf dieses Potenzial? Wichtige Größen zur Vorhersage des Erfolges beruflicher Ausbildungs- und Trainingsmaßnahmen sind die Persönlichkeitsmerkmale Ehrlichkeit (Integrität) und Gewissenhaftigkeit, das Niveau der Schulbildung sowie einschlägige berufliche Interessen (Schmidt & Hunter, 1998). Wie eine große Zahl von Studien allerdings gezeigt hat, ist die allgemeine Intelligenz die beste Größe zur Vorhersage des Erfolges im Studium (Kunzell, Hezlett & Ones, 2004) sowie in der beruflichen Aus- und Weiterbildung und bei Trainingsmaßnahmen (Hülsheger, Maier, Stumpp & Muck, 2006; Schmidt & Hunter, 2004). Eine empirische Studie der Bundesanstalt für Arbeit belegt (Engelbrecht, 1994), dass sich verschiedene Berufe deutlich in Bezug auf die durchschnittliche Intelligenz der Berufsausübenden unterscheiden (. Tab. 14.3), aber selbstverständlich sind die Intelligenzunterschiede zwischen den Berufen nicht alleine durch das kognitive Anforderungsniveau bestimmt. Wenn man die Berufsfindung als Problem der richtigen Zuordnung (Matching) versteht, kommt es also zunächst darauf an, abzuklären, ob jemand über das für einen bestimmten Beruf erforderliche Fähigkeits- und Lernpotenzial verfügt. Dies ist die Frage danach, ob jemand zu einem bestimmten Beruf passt.
Gesamtmittelwert M=50, Stichprobenumfang 30,477 Personen; Berufsbezeichnungen nur männlich
In Bezug auf die Übereinstimmung von Fähigkeitsanforderungen und beruflicher Leistung fanden Dawis und Lofquist (1984) allerdings, dass die Berufszufriedenheit eine wichtige Moderatorvariable darstellt. Bei niedriger Berufszufriedenheit sagt die Übereinstimmung von individuellen Fähigkeiten und beruflichen Fähigkeitsanforderungen die berufliche Leistung nur zu r=.30 vorher, bei mittlerer beruflicher Zufriedenheit zu r=.40 und bei hoher beruflicher Zufriedenheit zu r=.60. Dies verweist auf die Bedeutung der bedürfnisbezogenen Passung. Als weiteres ist nach dem Matching-Ansatz die Frage zu klären, ob der Beruf zur Person passt. Damit ist gemeint, ob die Art und Intensität der Verstärkungen, Belohnungen und Gratifikationen, die ein bestimmter Be-
Mit freundlicher Genehmigung von Hogrefe, Göttingen. © Hogrefe 1994
braucht, um diese Aufgaben später erfolgreich zu erfüllen (potenzialbezogene Passung). Dabei spielt – neben anderem – die individuelle Lernfähigkeit eine wichtige Rolle.
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Kapitel 14 · Berufswahl und berufliche Entwicklung
ruf bietet, den individuellen Bedürfnissen, also den Motiven, Interessen und Werthaltungen mit ihrem jeweiligen Anspruchsniveau entspricht. Holland (1997) unterscheidet sechs verschiedene, primäre berufliche Interessensbereiche, nämlich 4 handwerklich-technische Interessen, 4 forschende Interessen, 4 künstlerische Interessen, 4 soziale Interessen, 4 Interesse an Führungstätigkeiten sowie 4 Interesse an verwaltenden Tätigkeiten. Holland geht weiter davon aus, dass sich bestimmte Interessensbereiche gut ergänzen, wie z. B. technische, forschende und verwaltende Interessen, aber andere Interessenbereiche in sich konflikthaft sind, wie z. B. handwerklich-technische vs. soziale Interessen, forschende Interessen vs. Interesse an Führungstätigkeiten oder künstlerische Interessen vs. Interesse an verwaltenden Tätigkeiten. Je klarer und konsistenter das individuelle Interessenprofil ist und je mehr es mit den Inhalten eines bestimmten Berufes übereinstimmt, desto 4 höher, so Holland, wird die spätere Berufszufriedenheit sein, desto 4 langfristiger wird jemand in einem bestimmten Beruf verbleiben und desto 4 besser wird die berufliche Leistung der betreffenden Person ausfallen.
14
Diese Hypothesen von Holland konnten allerdings nicht generell bestätigt werden (Spokane et al., 2002). Zwar korrelierte in einer Metaanalyse (7 Kap. 3) die berufliche Zufriedenheit mit der Passung der Interessen im Schnitt zu ca. r=.22, sie variierte jedoch zwischen –.07 und .51. Die Dauer des Verbleibs in einem Beruf korrelierte mit der Passung im Durchschnitt zu r=.15 und die berufliche Leistung nur zu r=.06 (Assouline & Meir, 1987). Wie findet nun aber die Berufswahl tatsächlich statt? Nach Holland streben Personen von sich aus danach, in beruflichen Umwelten tätig werden zu können, die mit ihren individuellen Interessenschwerpunkten und Fähigkeiten übereinstimmen. Wenn eine Person feststellt, dass eine berufliche Umwelt nicht wirklich ihren Fähigkeiten und Interessen entspricht, verlässt sie diese wieder und sucht nach einer Umwelt, zu der eine höhere Übereinstimmung besteht (Spokane et al., 2002). Man bezeichnet dies als berufliche
Gravitationshypothese (7 Kap. 6). Bestätigende Hinweise für die Gravitationshypothese liefert eine Studie von Judge, Higgins, Thoresen und Barrick (1999). Diese Autoren haben Langzeitstudien ausgewertet, bei denen in Kalifornien Persönlichkeitsmerkmale von Personen im Alter zwischen 12 und 14 Jahren erfasst und dann mit dem Berufsprofil ca. 30–35 Jahre später, also im Alter zwischen 41 und 50 Jahren in Beziehung gesetzt wurden. Dabei zeigte sich zum einen eine relativ hohe Stabilität der Persönlichkeitsmerkmale (die Durchschnittskorrelation betrug r=.43). Zum anderen zeigte sich eine überzufällige, aber schwach ausgeprägte Kongruenz zwischen Person und beruflicher Umwelt. Während im passungstheoretischen Ansatz die objektive Merkmalsbeschreibung der Person von Ausschlag gebender Bedeutung ist (z. B. die Frage, wie intelligent jemand objektiv ist), steht für die Laufbahnentwicklungstheorie (vgl. Savickas, 2002) das Selbstkonzept einer Person als die entscheidende Größe im Vordergrund (Abele-Brehm & Stief, 2004). Nicht in erster Linie die objektive Höhe der allgemeinen Intelligenz, sondern das Selbstvertrauen (Selbstwirksamkeit) und das Ausmaß, in dem eine Person sich selbst als entscheidend dafür erachtet, wie erfolgreich sie beruflich sein wird (interner Locus of Control) steuern das Berufswahl- und Berufsfindungsgeschehen. Nicht vor allem der objektive Neurotizismus, sondern das Ausmaß der Selbstwertschätzung ist für das Handeln der Personen entscheidend. Nicht die objektiven Bedürfnisse, sondern die konkreten individuellen Wertungen und Formungen von Bedürfnissen und Wünschen dienen der individuellen Bewertung des individuellen Berufsfindungsgeschehens. Es kommt weniger darauf an, was eine Person objektiv leistet und wie gut sie objektiv zu einem bestimmten Beruf passt, sondern wie die betroffene Person selbst die individuelle Passung wahrnimmt und einordnet. Für den Erfolg der Berufsfindung sind folgende Aspekte wichtig: 4 eine positive Selbstwertschätzung, 4 klare statt diffuse Selbsteinschätzungen, 4 in sich konsistente statt in sich widersprüchliche Selbsteinschätzungen, 4 realistische Selbsteinschätzungen, 4 differenzierte Selbsteinschätzungen und 4 positive Selbstwirksamkeitseinschätzungen.
199 14.5 · Berufliche Etablierung
Nach dieser Auffassung wird die Berufswahl und Berufsfindung als ein von der Person selbst gesteuerter, kontinuierlicher Entscheidungs- und Ausführungsprozess gesehen, der auch nicht immer linear verläuft, sondern in dem es viele Wiederholungen, Überlagerungen und Auslassungen gibt. Entsprechend der Laufbahnentwicklungstheorie haben Personen bei diesem Prozess das Ziel vor Augen, im Beruf solche Positionen und Rollen anzustreben, die ihnen die Gelegenheit geben, ihr berufliches Handeln als Bestätigung ihres Selbstkonzeptes zu interpretieren. Wenn Personen nicht die Möglichkeit sehen, ihr Selbstkonzept zu verwirklichen, orientieren sie sich beruflich um. Die Berufsfindung wird von der Laufbahnentwicklungstheorie also als ein Prozess und Versuch der Selbstkonzeptvalidierung verstanden. Hierzu ein Beispiel: Sieverding (1992) ging der Frage nach, warum es zwar in etwa gleich viele weibliche und männliche Absolventen des Medizinstudiums, aber wesentlich mehr männliche als weibliche Fachärzte in Deutschland gibt. Sie fand dabei heraus, dass die Absolventinnen des Medizinstudiums glaubten, für eine sich an das Studium anschließende Facharztausbildung in einer Klinik sei es erforderlich, aggressiv, dominant, cool, egoistisch und hart aufzutreten. Ihr Wunschselbstkonzept war jedoch, auch im Medizinberuf in der Klinik freundlich, hilfreich und herzlich zu sein. Sieverding erklärt mit dieser Diskrepanz zwischen dem Berufskonzept und dem Wunschselbstkonzept, warum viele weibliche Absolventen keine weitere Facharztausbildung an einer Klinik anstreben. Hinsichtlich der Ursachen für die Haupthindernisse in Bezug auf eine angemessene Berufsfindung kommen der passungs- und der laufbahnentwicklungstheoretische Ansatz zu ähnlichen Einschätzungen, nämlich dass Personen 4 keine klaren beruflichen Präferenzen haben, 4 sie in sich konfligierende berufliche Wünsche haben, 4 sie unzutreffende Informationen über verschiedene berufliche Umwelten haben, d. h., sie verkennen die beruflichen Umwelten, die zu ihnen passen bzw. eigentlich nicht zu ihnen passen, 4 sie soziale Konflikte haben, weil die beruflichen Erwartungen an sie aus ihrem sozialen Umfeld und insbesondere aus ihrer Familie weit entfernt von ihren eigenen beruflichen Wünschen sind, 4 sie aufgrund der geographischen Lage, der wirtschaftlichen Situation oder aufgrund von Diskrimi-
nierungen keinen Zugang zu passenden beruflichen Umwelten haben, Lern-, Qualifizierungs- oder Ausbildungsmöglichkeiten für sie eingeschränkt oder bestimmte Laufbahnmuster (z. B. Übernahme von Führungs- und Personalverantwortung) für Angehörige bestimmter Gruppen nicht zugänglich sind. Probleme bei der Berufsfindung können mithilfe der Skala zur Laufbahnproblembelastung von Seifert (1992) erfasst werden (7 Kasten »Itembeispiele aus der Skala zur Laufbahnproblembelastung«). Eine ausführliche, aktuelle Darstellung des Vorgehens bei der psychologischen Laufbahnberatung findet sich bei Hohner (2006). 14.5
Berufliche Etablierung
Das Alter zwischen 25 und 44 Jahren diente in der herkömmlichen Struktur der Berufswelt, die bis Mitte der 90er Jahre des vergangenen Jahrhunderts in den westlichen Industriegesellschaften vorherrschend war, der beruflichen Etablierung. Die Entwicklungsaufgabe bestand darin, aus einem befristeten Arbeitsverhältnis oder einer Teilzeitbeschäftigung in eine unbefristete Vollzeitbeschäftigung zu wechseln (7 Übersicht »Berufliche Entwicklungsaufgaben«: Stabilisierung). Wenn dies gelang, konnten die Erwerbstätigen auf eine langfristige, stabile, kalkulierbare und sichere Tätigkeit in ihrer Organisation setzen, die ih-
Itembeispiele aus der Skala zur Laufbahnproblembelastung bei Ausbildungsabsolventen nach Seifert (1992) in der Adaptation von Blickle (1997) 4 Ich kenne meine hauptsächlichen beruflichen Stärken und Schwächen noch zu wenig. 4 Ich fühle mich noch zu wenig darüber informiert, welche beruflichen Möglichkeiten ich habe. 4 Ich weiß noch zu wenig darüber Bescheid, welche Anforderungen in den für mich in Frage kommenden beruflichen Tätigkeiten gestellt werden. 4 Es beschäftigt mich, dass meine beruflichen Interessen und meine Fähigkeiten auf verschiedenen Gebieten liegen.
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Kapitel 14 · Berufswahl und berufliche Entwicklung
nen nach dem einmaligen Erlernen des relevanten Wissens sowie der entsprechenden fachlichen Fähigkeiten und Fertigkeiten überschaubare Aufgaben zumutete (7 Übersicht »Berufliche Entwicklungsaufgaben«: Konsolidierung), was bei entsprechender Loyalität und Einordnungsbereitschaft zu schrittweisem hierarchischem Aufstieg (7 Übersicht »Laufbahnsequenz im Lehrerberuf«) und betrieblicher Absicherung gegen Lebensrisiken (Unfälle, Krankheit, Arbeitslosigkeit und Altersarmut) führte. Die Höhe der Bezahlung hing vor allem vom Alter, vom Familienstand, der Dauer der Betriebszugehörigkeit, aber auch vom Geschlecht ab. Die Weiterbildung wurde vom Arbeitsgeber organisiert und finanziert. Auch heute noch wichtige berufliche Etablierungsmechanismen sind Mentoring (Blickle & Schneider, 2007) und Networking (Wolff & Moser, 2006). Es handelt sich dabei um ähnliche, aber doch unterschiedliche Formen der Laufbahnunterstützung. Der Begriff Mentor bezeichnet eine höherrangige, einflussreiche Person männlichen oder weiblichen Geschlechts im Arbeitsumfeld einer Nachwuchskraft, die dort über große berufliche Erfahrung sowie breites berufliches Wissen verfügt und der daran gelegen ist, die berufliche Entwicklung der Nachwuchskraft zu fördern und ihren Aufstieg zu unterstützen (7 Kap. 19). Innerhalb der Mentor-Protégé-(Mentee-)Beziehung nimmt ein Mentor drei verschiedene Funktionen wahr, nämlich 4 eine karrierebezogene, 4 eine psychosoziale sowie die 4 Funktion als Rollenmodell.
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Die karrierebezogene Funktion beinhaltet Unterstützung, die dem Weiterkommen und dem Aufstieg des Protégés innerhalb der Organisation zu Gute kommen soll. Der Mentor fördert die Talente des Protégés, gewährt Einblicke in berufliche Kniffe, zeigt formale und informale Regeln auf und führt in die Mikropolitik der Organisation ein. Er ermöglicht neue Kontakte, macht Leistungen und Potenzial des Protégés für andere einflussreiche Personen sichtbar, verhilft ihm zu Beförderungen und Versetzungen, unterstützt bei der Karriereplanung und schützt bei drohendem Schaden. Die psychosoziale Funktion betrifft hingegen emotionale Aspekte. Der Mentor hört aktiv zu, erteilt Ratschläge, zeigt Stärken und Schwächen auf und hilft auch bei persönlichen Problemen. Einige Autoren fügen dieser Liste den Aspekt hinzu, dass Mentoren Rollenmodell und Vorbild für die Nachwuchskraft sein können. Bei Proté-
gés konnten in einer Metaanalyse im Vergleich zu nicht protegierten Personen folgende Unterschiede in Bezug auf den beruflichen Erfolg und die berufliche Zufriedenheit empirisch festgestellt werden (Allen, Eby, Poteet, Lentz & Lima, 2004): Protégés erleben sowohl weniger Rollenstress als auch weniger Rollenkonflikte und ihre Arbeitszufriedenheit ist höher. Protégés steigen schneller auf, sie haben ein höheres Einkommen sowie eine erfolgreichere organisationale Sozialisation. Unter Networking versteht man den Aufbau und die Nutzung von Beziehungen im Berufsleben. In einer netzwerktheoretischen Neukonzipierung des Stellenwertes von Mentor-Protégé-Beziehungen für die Laufbahnentwicklung haben Blickle, Kuhnert und Rieck (2003) darauf aufmerksam gemacht, dass Mentor-Protégé-Beziehungen nur eine Art von laufbahnförderlichen Unterstützungsbeziehungen darstellen (Higgins & Thomas, 2001). Denn neben Beziehungen zu Mentoren gibt es auch andere laufbahnförderliche Beziehungen: In der einen Beziehung mag ganz die emotionale Unterstützung im Vordergrund stehen, in einer anderen dagegen der Aspekt des Coachings dominieren, d. h., die fördernde Person unterstützt insbesondere das Erlernen der sachlichen Aspekte der Tätigkeit und gibt dazu wichtige Hinweise und Ratschläge. In einer dritten Beziehung mag die Laufbahnplanung im Mittelpunkt stehen. Die fördernde Person ermutigt dazu, die eigene Karriere in Angriff zu nehmen. Sie gibt Tipps und Hinweise für die berufliche Zukunft und hilft bei der Laufbahnplanung. In einer vierten unterstützenden Beziehung kann der Fokus darauf liegen, dass Sichtbarkeit für die unterstützte Person entsteht: Die fördernde Person sorgt dafür, dass die Leistungen und das Potenzial der Nachwuchskraft einflussreichen Persönlichkeiten positiv auffallen. Im Gegenzug arbeitet die Nachwuchskraft der fördernden Person zu, entlastet sie von Detailaufgaben und bringt eigene Ideen zur Unterstützung der fördernden Person ein. Ein solches Netzwerk von unterstützenden Beziehungen hat zum einen den Vorteil, dass die Abhängigkeit von einzelnen Personen nicht zu groß wird, und zum anderen, dass die unterstützte Person gleichzeitig Zugang zu sehr vielen und sehr unterschiedlichen Informationen bekommt, was nicht der Fall ist, wenn sie nur von einem einzelnen Mentor unterstützt wird. In einer Metaanalyse (Ng, Eby, Sorensen & Feldman, 2005) zeigten sich positive Effekte von Networking auf die Höhe des Einkommens, den Aufstieg und die Berufszufriedenheit.
201 14.6 · Auswirkungen der veränderten Beschäftigungsverhältnisse auf den Berufsverlauf
Auswirkungen der veränderten Beschäftigungsverhältnisse auf den Berufsverlauf
Das Alter zwischen 45 und 64 Jahren diente in der herkömmlichen Struktur der Berufswelt der Sicherung des erreichten beruflichen Status. Die Entwicklungsaufgabe bestand darin, die erreichte Position zu sichern (7 Übersicht »Berufliche Entwicklungsaufgaben«), das erforderlichen Wissen und die eigenen, beruflich notwendigen Fertigkeiten auf dem neuesten Stand zu halten (7 Übersicht »Berufliche Entwicklungsaufgaben«: Aktualisierung) und sein Erfahrungswissen zu nutzen, um neue Aufgaben zu übernehmen (7 Übersicht »Berufliche Entwicklungsaufgaben«: Innovation). Ausgelöst wurden diese Entwicklungsaufgaben durch sich schrittweise verändernde Technologien in der Branche, durch den Konkurrenzkampf mit dem aufsteigenden Nachwuchs in der eigenen Organisation, die veränderten Ansprüche der heranwachsenden eigenen Kinder in der Familie sowie die nachlassende körperliche Fitness (Savickas, 2002). Aber bereits eine Studie von Mahoney (1987) aus der Mitte der 80er Jahre in den USA zeigte, dass dieses Muster vorwiegend für Berufstätige mit hochrangigen beruflichen Positionen zutreffend war. Hauptsächlich den beruflich ganz Erfolgreichen der 45- bis 64-jährigen Berufstätigen blieb es vorbehalten, in die Erhaltungsphase (7 Übersicht »Berufliche Entwicklungsaufgaben«) der berufliche Entwicklung zu gelangen. Der größere Teil der Berufstätigen nach dem 45. Lebensjahr musste in dieser Studie aus den USA die Stelle oder sogar die Laufbahn wechseln, was mit beruflichen Re-Etablierungsphasen oder sogar Re-Explorationsphasen verbunden war. Dieser Befund erwies sich als Trend. Durch die zunehmend globalere Vernetzung der nationalen Volkswirtschaften, den weltweiten Siegeszug der neuen Informations- und Kommunikationstechnologien, die Entwicklung weg von der Industrie- und hin zur Informationsgesellschaft sowie die Verbreitung von Unternehmenszusammenschlüssen (Mergers), -aufkäufen (Acquisitions), Umstrukturierungen (Business Reengineering) und Verkleinerungen (Downsizing) als neue Managementkonzepte (7 Kap. 13) veränderte sich auch die Art der Bindung der Beschäftigten (. Tab. 14.4) an ihre Organisation (Rousseau, 1995). Während die Beschäftigten vor den 90er Jahren noch auf eine langfristige Tätigkeit in ihrer Organisation setzen konnten, ist heute die Anstellung in einer Organisa-
. Tab. 14.4. Alter und neuer psychologischer Kontrakt nach Cascio (2003) Alter psychologischer Kontrakt
Neuer psychologischer Kontrakt
Stabilität, Vorhersehbarkeit
Veränderung, Ungewissheit
Langfristigkeit
Zeitliche Befristung
Standardisierte Aufgaben
Flexible Aufgaben
Belohnung von Loyalität
Belohnung von Leistung und Wissen
Patriarchalische Fürsorge
Eigenverantwortung
Sicherheit des Arbeitsplatzes
Arbeitsplatzunsicherheit*
Lineare Berufslaufbahnen
Berufliche Patchworkbiographien
Lernen am Berufsanfang
Lebenslanges berufliches Lernen
* Im Gegensatz zu den USA steht der Sicherheit des Arbeitsplatzes in Deutschland nicht die Sicherheit gegenüber, schnell wieder irgendwo anders einen Arbeitsplatz zu finden. Dies gilt in Deutschland nur für hoch qualifizierte Beschäftigte.
tion häufig zeitlich befristet und die Weiterbeschäftigung unsicher (Dostal, 2001). Die Berufsbiographie gleicht oft einem Flickenteppich (Lang-von Wins, Mohr & Rosenstiel, 2004). Viele Personen haben schon sehr unterschiedliche Tätigkeiten ausgeführt, um ihren Lebensunterhalt zu verdienen. Unterbrechungen durch Zeiten der Arbeitslosigkeit sind nicht ungewöhnlich. Die Bezahlung hängt weniger von Alter, Geschlecht, Familienstand und der Dauer der Betriebszugehörigkeit ab, sondern mehr davon, über welches im Moment erfolgskritische Wissen die Beschäftigten verfügen. Die Weiterqualifizierung fällt zunehmend mehr in die Eigenverantwortung der Beschäftigten. Die Lebensrisiken müssen verstärkt eigenständig abgesichert werden (Voß, 1998). Speziell in der Bundesrepublik Deutschland haben die sog. prekären Beschäftigungsverhältnisse (zeitliche Befristung, Teilzeitbeschäftigung, Scheinselbstständigkeit) stark zugenommen (Statistisches Bundesamt, 2004): Im Jahr 1991 waren 11% der abhängig Beschäftigten im Alter von 15 bis 29 Jahren nur zeitlich befristet beschäftigt, im Jahr 2003 waren es 20%. Auch die Teilzeitarbeit nahm erheblich in diesem Zeitraum zu: Seit 1991 stieg die Anzahl der abhängig Beschäftigten, die nur ein Teilzeitbeschäftigungsverhältnis hatten, um 2,4 Mio. Personen, also
© John Wiley & Sons, Inc. 2003
14.6
14
Kapitel 14 · Berufswahl und berufliche Entwicklung
Mit freundlicher Genehmigung des Instituts für Arbeitsmarktund Berufsforschung (IAB).
. Abb. 14.2. Schätzungen des Anteils der Erwerbstätigen ohne Auszubildende nach Tätigkeitsniveau in Deutschland 1991 und 2010 in Prozent. (Nach Reinberg & Schreyer, 2003)
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um 51% auf 22% der Erwerbstätigen insgesamt an. Nur noch 78% der Erwerbstätigen gingen im Jahr 2003 einer Vollzeitbeschäftigung nach. Schließlich stieg auch die Anzahl der Selbstständigen beträchtlich an, darunter auch die der Selbstständigen ohne Beschäftigte. Im Jahre 1991 gab es rund 1,4 Mio. Selbstständige ohne Beschäftigte. Im Jahr 2003 waren es rund 2 Mio. Selbstständige ohne Beschäftigte in Deutschland. Dies entspricht einem Zuwachs von 42%. Es ist zu vermuten, dass ein erheblicher Anteil der Selbstständigen ohne Beschäftigte in Arbeitsverhältnissen tätig ist, die dem einer Scheinselbstständigkeit sehr nahe kommen. Ein Beispiel dafür sind LKW-Fahrer, die nicht mehr als Angestellte, sondern als Selbstständige mit eigenem LKW für dieselbe Spedition tätig sind. Sie arbeiten nicht selbstständig, sondern nach Anweisung, tragen aber die wirtschaftlichen Risiken selbst, müssen ihre Kranken-, Renten-, Pflege- und Arbeitslosenversicherung alleine finanzieren und bekommen weder bezahlten Urlaub noch bezahlte Krankheitstage. Schließlich kommt hinzu, dass Erwerbstätigkeiten mit einfachen Anforderungen abgenommen und mit komplexeren Anforderungen zugenommen haben (Reinberg & Schreyer, 2003; . Abb. 14.2).
Als normative Leitkonzepte für Berufstätige, die mit diesen veränderten Beschäftigungsverhältnissen konfrontiert sind, wurden drei ähnliche Metaphern bzw. Konstrukte (Inkson, 2006) vorgeschlagen (. Tab. 14.5). Das proteanische Laufbahnmodell (Hall, 2004), das Konzept der entgrenzten Laufbahn (Voß, 1998) sowie das Employability-Konstrukt (Fugate, Kinicki & Ashforth, 2004). In der Odyssee von Homer ist Proteus der Meeresgott, der sich nach Wunsch und Bedarf in einen Löwen, eine Schlange, einen Panther, ein Wildschwein oder in eine andere Gestalt verwandeln kann. Dieses Bild wurde von Hall (2004) aufgegriffen, um das Leitbild einer selbst bestimmten beruflichen Anpassungsfähigkeit zu veranschaulichen. In starker gedanklicher Nähe zur Laufbahnentwicklungstheorie postuliert dieses Leitbild für Berufstätige das Ideal der Herausbildung einer individuellen beruflichen Identität (Was sind meine Stärken, was sind meine Werte, was sind meine Ziele – »knowing why«), der Herausbildung der Fähigkeit zur Antizipation von neuen Trends und Entwicklungen im eigenen beruflichen Umfeld sowie der Fähigkeit, Einstellungen und Fertigkeiten flexibel den situativen Anforderungen anzupassen. Die berufstätige Person schließt keinen psychologischen Kontrakt mehr mit ihrer Organisation (7 Kap. 16), sondern mit sich selbst. Sie misst ihren Erfolg nicht an materiellen Fortschritten, sondern an der Verwirklichung von selbst gesetzten Zielen. Allerdings steht die empirische Forschung zu diesem Leitbild noch am Anfang. Das Leitbild der Entgrenzung geht von der Annahme aus, dass Berufstätige die Fähigkeit entwickeln sollten, innerhalb einer bestimmten Branche und innerhalb eines bestimmten Berufes flexibel zwischen verschiedenen Laufbahnen (z. B. Fach- und Führungslaufbahnen) und Arbeitgebern, was auch Familienzeiten sowie Phasen beruflicher Selbstständigkeit einschließt, zu wechseln (Arthur & Rousseau, 1996). Wechsel werden durch berufliches Kapital ermöglicht und sollen zu einer Erweiterung des beruflichen Kapitals beitragen. Das berufliche Kapital hat drei Komponenten, nämlich
. Tab. 14.5. Neue normative Leitkonzepte für Berufstätige. (Nach Inkson, 2006) Proteanisches Leitbild
Leitbild der Entgrenzung
Employability
Selbstbestimmung und Anpassungsfähigkeit durch Identität und persönliche Werte
Proaktive Entgrenzung durch Akkumulation von Karrierekapital
Bewältigungshandeln durch sichere Identität, Laufbahnanpassungsfähigkeit, sowie Humanund Sozialkapital
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4 das Knowing why (berufliche Identität und berufliche Werte), 4 das Knowing how (berufliche Fertigkeiten und berufliche Erfahrung) sowie 4 das Knowing whom (Aufbau von persönlichen Netzwerken und sowie einer positiven persönlichen Reputation). Fugate et al. (2004) haben versucht, mit dem Konstrukt der Employability diejenigen Faktoren zu identifizieren, die dazu beitragen, dass eine Person ihre Erwerbstätigkeit auch angesichts prekärer Arbeitsmarktchancen erhalten kann. Das Konstrukt ist stärker deskriptiv orientiert als die beiden Leitbilder. Das Konstrukt der Employability wird von den Autoren als gemeinsame Schnittmenge der beruflichen Identität, der beruflichen Anpassungsbereitschaft sowie des individuellen Sozial- und Humankapitals konzipiert. Aufgrund eines differenzierten beruflichen Selbstkonzeptes, d. h. einer sicheren beruflichen Identität (Career Identity – Knowing why) sowie einer reichhaltigen individuellen kognitiven beruflichen Landkarte sollen Personen für sie in Frage kommende Beschäftigungsmöglichkeiten explorieren. Förderlich ist dabei ein informationsorientierter Stil, der sich durch aktives Suchverhalten sowie ein eigenständiges, stark problemorientiertes Vorgehen auszeichnet. Die berufliche Anpassungsfähigkeit wird durch folgende individuellen Einstellungen und Dispositionen gefördert: Optimismus, Lernbereitschaft, Offenheit für Erfahrung, ein internaler Locus of Control sowie eine positive, generalisierte Selbstwirksamkeitserwartung. Soziales Kapital manifestiert sich im sozialen Netzwerk einer Person. Netzwerke variieren in Bezug auf ihre Größe und Stärke. Sie verschaffen Informationen und Einfluss und damit die Gelegenheit, berufliche Chancen zu entdecken und die Möglichkeit, sie zu realisieren. Das individuelle Humankapital manifestiert sich in den individuellen Fähigkeiten, der Schulbildung, dem Studium, der beruflichen Ausbildung, der beruflichen Weiterbildung sowie der Dauer und Intensität der Arbeits- und Berufserfahrung. Eby, Butts und Lockwood (2003) untersuchten die relative Bedeutung der drei Größen Knowing why (differenziertes berufliches Selbstkonzept), Knowing how (Humankapital) und Knowing whom (Sozialkapital) bei 458 nordamerikanischen Hochschulabsolventen des Absolventenjahrganges 1995, die 2001, also nach 6 Jahren, zu ihrem beruflichen Erfolg, ihren internen Aufstiegs-
chancen sowie zu ihren Chancen am Arbeitsmarkt befragt wurden. Die Autoren fanden in Übereinstimmung mit der Laufbahnentwicklungstheorie, dass für den bisherigen Laufbahnerfolg und die Beurteilung der eigenen internen Aufstiegschancen ein differenziertes berufliches Selbstkonzept die vergleichsweise höchste Bedeutung hatte. Für die externen Arbeitsmarktchancen hatte das individuelle Humankapital das größte relative Gewicht. Begünstigende Faktoren für die berufliche Weiterbildungsbereitschaft wurden von Blickle und Schneider (2008) zusammenfassend dargestellt und werden in der entsprechenden Übersicht wiedergegeben. Begünstigende Faktoren für die berufliche Weiterbildungsbereitschaft Wichtige individuelle Motive 4 Allgemeines Bedürfnis zur persönlichen Weiterentwicklung und Selbstverbesserung 4 Hoffnung auf finanzielle Verbesserung 4 Wunsch nach Arbeitsplatzsicherung 4 Aussicht auf Reputationszuwachs 4 Wunsch, das berufliche Fachwissen zu aktualisieren 4 Wahrgenommene Verpflichtung zur Weiterbildung seitens des Arbeitgebers Begünstigende organisationale Faktoren (7 Kap. 19 und 26) 4 Vorhandene betriebliche Lernkultur 4 Lernförderliche Aufgabengestaltung 4 Unterstützung durch Vorgesetzte und Kollegen Faktoren, die die Motivation, an Trainingsmaßnahmen teilzunehmen, fördern (7 Kap. 19 und 26) 4 Geringe Ängstlichkeit 4 Internale Kontrollüberzeugung 4 Hohe Selbstwirksamkeit 4 Hohe Gewissenhaftigkeit 4 Starke Leistungsmotivation Problemgruppen der beruflichen Weiterbildung 4 Frauen 4 Ältere 4 Personen mit niedrigem Bildungsabschluss 4 Personen mit niedrigem sozialem Status 4 Beschäftigte in Klein- und Mittelbetrieben
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Kapitel 14 · Berufswahl und berufliche Entwicklung
Die Selbstwirksamkeitserwartungen, die Ausrichtung des Locus of Control, der Optimismus und die Selbstwertschätzung spielen also eine wichtige Rolle für die erfolgreiche Anpassung von Erwachsenen an die veränderten Beschäftigungsverhältnisse. Wie sehr umfangreichen Interventions- und Evaluationsstudien bei Arbeitslosen in den USA der Arbeitsgruppe um Vinokur zeigen, lassen sich diese Größen gezielt durch psychologische Interventionen im Rahmen von Outplacement- oder Arbeitslosentrainings steigern (Ryn & Vinokur, 1992). Diese Interventionen führen auch noch nach 2,5 Jahren zu einer höheren Beschäftigungsquote und besseren Einkommen bei den Betroffenen (Vinokur, Ryn, Gramlich & Price, 1991; Vinokur & Schul, 1997). Eine ausführliche Darstellung von psychologischen Interventionsmaßnahmen bei Erwerbslosen findet sich bei Zempel und Moser (2001), Outplacementmaßnahmen werden von Hofmann (2001) eingehend dargestellt. 14.7
14
Perspektiven aufgrund des demographischen Wandels in Deutschland
Mehr als 8 Mio. der fast 11 Mio. Teilzeitbeschäftigten in Deutschland sind Frauen (Wanger, 2005). Häufige Gründe dafür, warum Frau so häufig in Teilzeitbeschäftigungs- anstatt in Vollzeitbeschäftigungsverhältnissen arbeiten, sind die Unterbrechung oder Einschränkung der Erwerbstätigkeit von Frauen aufgrund der Kinderbetreuung sowie der Pflege und Betreuung immer länger lebender Eltern und Großeltern. Diese Einschränkungen und Unterbrechungen wirken sich negativ auf die Karriereentwicklung von Frauen aus. Die Einkommen von Frauen in Deutschland liegen derzeit jedoch auch bei Berücksichtigung der kürzeren Arbeitszeiten niedriger als jene der Männer. Außerdem sind Frauen in Führungspositionen immer noch stark unterrepräsentiert, obwohl Frauen inzwischen im Durchschnitt höhere allgemeinbildende Schulabschlüsse haben als Männer (Statistisches Bundesamt, 2005). Nur 38% der Menschen in Deutschland zwischen 55 und 64 Jahren sind noch erwerbstätig. Die Gründe dafür sind eine verminderte Erwerbsfähigkeit (etwa 1,8 Mio. Personen beziehen in Deutschland eine Erwerbs- bzw. Berufsunfähigkeitsrente), eine hohe Gesamtarbeitslosigkeit sowie eine lange Jahre auch staatlich geförderte
Frühverrentungspersonalpolitik der Arbeitgeber (Allmendinger & Ebner, 2006): 15% aller Betriebe stellen grundsätzlich keine älteren Mitarbeiter ein. Und nur 2% der Betriebe bieten eine besondere Ausstattung der Arbeitsplätze für Ältere. Es wird geschätzt (Allmendinger & Ebner, 2006), dass sich die Bevölkerung in Deutschland von 82,5 auf 75 Mio. im Jahre 2050 verringern wird. Der Anteil der unter 20-Jährigen wird von 21 auf 16% und der Anteil der zwischen 20- und 59-Jährigen wird von 55 auf 47% sinken. Steigen wird dagegen der Anteil der 60- bis 79Jährigen von 20 auf 25% und der über 80-Jährigen von 4 auf 12%. Je nach Zuwanderungsintensität schätzt man, dass deshalb das Arbeitskräfteangebot in Deutschland bis zum Jahre 2050 von 44,5 auf 32–38 Mio. Arbeitskräfte absinken wird. Allmendinger und Ebner (2006) gelangen deswegen zu folgender Forderung: Insbesondere die Expansion anspruchsvoller Dienstleistungstätigkeiten erhöht den Bedarf an hochqualifizierten Arbeitskräften, während niedrig Qualifizierte zunehmend seltener nachgefragt werden ... Das schrumpfende Arbeitskräfteangebot, die immer älteren Arbeitsanbieter und die erhöhten Qualifikationsanforderungen verlangen nach einer Erhöhung der Erwerbstätigenquoten von Frauen und Älteren sowie nach einer effektiveren und verstärkten Bildung und Weiterbildung. (Allmendinger & Ebner, 2006, S. 227)
Ältere Menschen verfügen über Wissen und Erfahrungen, die sie in die Lage versetzen, sich mit neuen Anforderungen kreativ auseinanderzusetzen, insbesondere werden Entscheidungen und Schlussfolgerungen von Älteren mit mehr Bedacht, mit größerer Vorsicht und nüchternem Realismus getroffen (Lehr & Kruse, 2006). Die Risiken bei älteren Beschäftigten resultieren aus einem Nachlassen der Körperkraft, der Verschlechterung der Gesundheit, Verminderungen der Sinnesleistungen, Einbußen in der Informationsverarbeitungsund Reaktionsgeschwindigkeit, verringerter Leistungskapazität des Arbeitsgedächtnisses sowie einer Abnahme der selektiven Aufmerksamkeit (Maintz, 2003). Deshalb wird es zukünftig notwendig sein, Arbeitsaufgaben für ältere Erwerbstätige so zu gestalten, dass sie deren Risiken kompensieren und ihre Stärken zum Tragen bringen.
205 Literatur
Zusammenfassung 4 Erwerbsarbeit dient der Sicherung des Lebensunterhaltes einer Person und ihrer Familie. Erwerbsarbeit strukturiert die Zeit, schafft regelmäßige soziale Kontakte außerhalb der Kernfamilie, vermittelt einen Bezug zu Zielen und Zwecken, die über die betroffene Person selbst hinausreichen, sie gibt persönliche Identität und schafft sozialen Status und sorgt für psychophysische Aktivierung. 4 Die berufliche Entwicklung wird durch sog. Entwicklungsaufgaben veranlasst und strukturiert. Jede Phase der beruflichen Entwicklung ist durch spezifische Entwicklungsaufgaben gekennzeichnet. 4 In der herkömmlichen Erwerbsarbeit konnte man folgende Phasen unterscheiden: Wachstums-, Explorations-, Etablierungs-, Erhaltungs- und Rückzugsphase. 4 Infolge der Globalisierung der Weltwirtschaft, der neuen Informations- und Kommunikationstechnologien sowie veränderter Managementkonzepte sind aber mittlerweile auch Beschäftigungsverhältnisse im mittleren und späten Erwachsenenalter durch Beschäftigungsungewissheit und hohe Flexibilitätserfordernisse gekennzeichnet. 4 Eine erfolgreiche individuelle Anpassung wird durch berufliche Zukunftsorientierung, hohe Selbstwirksamkeitserwartung, einen internalen Locus of Control, Optimismus und Selbstwertschätzung erleichtert. 4 Diese Größen lassen sich gezielt durch psychologische Interventionen im Rahmen von Outplacement- oder Arbeitslosentrainings beschäftigungswirksam steigern. 4 Das schrumpfende Arbeitskräfteangebot, die immer älteren Arbeitsanbieter und die erhöhten Qualifikationsanforderungen infolge des demographischen Wandels bis zum Jahre 2050 in Deutschland verlangen nach einer Erhöhung der Erwerbstätigenquoten von Frauen und Älteren sowie nach einer effektiveren und verstärkten Bildung und Weiterbildung von Älteren, Personen mit niedrigem Bildungsabschluss und niedrigem sozialem Status sowie Beschäftigten in Klein- und Mittelbetrieben.
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Kapitel 14 · Berufswahl und berufliche Entwicklung
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14
15
15 Anforderungsanalyse 15.1
Wofür werden Anforderungsanalysen benötigt? – 210
15.2
Welche Personenmerkmale können für die Anforderungsanalyse relevant sein?
15.3
– 212
Warum sollte eine systematische und professionelle Anforderungsanalyse vorgenommen werden? – 213
15.4
Methoden und Verfahren der Anforderungsbestimmung
15.4.1 15.4.2 15.4.3
Die tätigkeitserfahrungsgeleitete Methode – 215 Die arbeitsplatzanalytisch-empirische Methode – 217 Die personenbezogen-empirische Methode – 219
15.5
Einordnung und Ausblick Literatur
– 222
– 220
– 215
210
Kapitel 15 · Anforderungsanalyse
> Im Mittelpunkt der psychologischen Anforderungsanalyse steht die Frage, mithilfe welcher Merkmale Personen beschreibbar sind, die sich in einer bestimmten Stelle, einer bestimmten Tätigkeit, einem bestimmten Beruf oder einer bestimmte berufliche Laufbahn bewähren und dort erfolgreich tätig sind. Im Folgenden soll dargestellt werden, 4 wozu Anforderungsanalysen in der Personalpsychologie benötigt werden, 4 welche Art von Personenmerkmalen für die Anforderungsanalyse relevant sein können, 4 warum überhaupt eine systematische und professionelle Anforderungsanalyse vorgenommen werden sollte und 4 welche Methoden und Verfahren der Anforderungsbestimmung es gibt. Zum Abschluss erfolgt eine Einordnung der unterschiedlichen Aspekte sowie ein Ausblick zum Stellenwert von Anforderungsanalysen angesichts der zu erwartenden Entwicklungen im Arbeitsleben.
15.1
Wofür werden Anforderungsanalysen benötigt?
Anforderungsanalysen werden für vielfältige Zwecke benötigt. Die wichtigsten sind: 4 Personalplanung, 4 Personalsuche, 4 Personalauswahl, 4 Stellenbeschreibungen, 4 Stellenbewertungen, 4 Personalbeurteilung, 4 Potenzialanalyse, 4 Trainings- und Personalentwicklung, 4 Berufseignungsdiagnostik und Berufsberatung sowie 4 Bildungsplanung.
15
Diese unterschiedlichen Verwendungszwecke sollen im Folgenden kurz vorgestellt werden. Um eine sinnvolle, psychologisch fundierte Personalauswahl (7 Kap. 16) betreiben zu können, ist es erforderlich zu wissen, welche Vorbildung, welchen Werdegang, welche Verhaltensweisen, Fähigkeiten, Eigenschaften etc. die Personen kennzeichnen, die bisher in einer Tätigkeit erfolgreich waren. Die Summe dieser Merkmale und ihre jeweilige Ausprägung bezeichnet man als Anforderungsprofile (7 Übersicht »Schema eines Anforderungsprofils«). Anhand solcher Anforderungsprofile von in der Vergangenheit erfolgreichen Stelleninhabern werden dann neue Stelleninhaber gesucht. Mithilfe der Anforderungsanalyse werden also solche Personen-
merkmale identifiziert, die die Grundlage für die Personalplanung, -suche und -auswahl darstellen.
Schema eines Anforderungsprofils an Führungskräfte der mittleren Führungsebene und an Führungsnachwuchskräfte (nach Bisani, 1989) 1. Wissen und Erfahrung a) Wissen – Art und Ergebnis von Studien- und Schulabschlüssen – Art und Ergebnis der berufsorientierten Ausbildung – Spezial- und Zusatzkenntnisse (Fremdsprachen, EDV usw.) b) Erfahrungen und Können – Dauer der allgemeinen Berufserfahrung – Dauer der branchenübergreifenden Organisations- und Personalführung – Dauer der branchenbezogenen Berufserfahrung 2. Fertigkeiten – Reproduktive Fertigkeiten zur Lösung von Routineaufgaben – Planungs- und Organisationsfertigkeiten – Delegations- und Koordinationsfertigkeiten – Persönliches Auftreten und Repräsentationsverhalten – Kooperationsfertigkeiten
6
211 15.1 · Wofür werden Anforderungsanalysen benötigt?
– Informationsfertigkeiten – Ausdrucksfertigkeiten 3. Fähigkeiten – Problemsensitivität und Fähigkeit zur Problemlösung – Kreativität und Innovationsfähigkeit – Verhandlungsgeschick – Personalführungsfähigkeiten 4. Persönlichkeitseigenschaften – Zielstrebigkeit – Selbstbewusstsein – Zuverlässigkeit – Verantwortungsbereitschaft – Kritikfähigkeit – Risikoeinstellung – Entscheidungsfreudigkeit – Belastbarkeit – Stressresistenz – Vitalität – Flexibilität/Anpassungsfähigkeit
Diese Anforderungsprofile sind oft auch Bestandteil von sog. Stellenbeschreibungen, die als Instrumente der Personalführung und Organisationsgestaltung eingesetzt werden. Stellenbeschreibungen werden schriftlich fixiert und sollen dem Stelleninhaber eine klare Orientierung in Bezug auf seine Aufgaben und Schutz vor willkürlichen Eingriffen geben. Stellenbeschreibungen bauen auf Organisationsplänen auf, die zur Darstellung der Aufbauorganisation einer Organisation verwendet werden und die deren hierarchische Gliederung verdeutlichen sollen. Das Zusammenwirken unterschiedlicher Stellen bei der gesamtbetrieblichen Aufgabenerfüllung soll durch sog. Funktionsdiagramme oder Arbeitsverteilungsübersichten (d. h., wer erledigt was) erkennbar werden. Ein wesentlicher Bestandteil von Stellenbeschreibungen sind neben dem Anforderungsprofil Angaben zu den Aufgaben, die ein Stelleninhaber auszuführen hat sowie zu seinen Befugnissen und Verantwortlichkeiten. Darüber hinaus können Stellenbeschreibungen auch Zielvorgaben für den Stelleninhaber beinhalten. Die methodische Grundlage einer Stellenbeschreibung sollte eine sorgfältig durchgeführte Arbeitsanalyse sein. Das Anforderungsprofil hat auch eine wichtige Bedeutung für die Stellenbewertung. Je höher das Niveau des Anforderungsprofils ist,
desto höher ist die Wertigkeit einer Stelle und desto besser ist dann die Bezahlung. Auch bei der Personalbeurteilung (7 Kap. 18) spielt die Anforderungsanalyse eine wichtige Rolle. Bei der Personalbeurteilung wird z. B. geprüft, ob und in welchem Ausmaß ein Stelleninhaber diejenigen Verhaltensweisen zeigt, die zu einer erfolgreichen Aufgabenerfüllung führen. Zeigt er oft die richtigen Verhaltensweisen, wird der Mitarbeiter positiv beurteilt. Festzustellen, was die richtigen Verhaltensweisen sind, ist aber u. a. auch Gegenstand der Anforderungsanalyse. Personen, die eine bestimmte Stelle besetzen, stehen häufig am Anfang ihres Berufsweges, der sie mittelund langfristig in gehobene Positionen führen kann. Eine Auszubildende in einer Bank könnte später einmal einen Direktorenposten dort besetzen, ein Junglehrer hat die Möglichkeit, später einmal Schulleiter zu werden. Eine Voraussetzung dafür ist, dass sie dazu das notwendige Potenzial besitzen (7 Kap. 14). Was aber sind die Merkmale, die eine Auszubildende zur Bankdirektorin oder einen Junglehrer zum Schulleiter werden lassen? Dies zu ermitteln, kann auch Gegenstand der Anforderungsanalyse sein. In diesem Fall geht es in der Anforderungsanalyse um die Ermittlung künftiger Anforderungen auf der Basis voraussehbarer Veränderungen im Falle einer erfolgreichen beruflichen Laufbahnentwicklung einer Person. Sehr viele dieser Personenmerkmale, die den Erfolg in einer Tätigkeit ausmachen, sind weder angeboren noch durch das Elternhaus anerzogen, sondern stellen im Berufsleben erlernbares Wissen, Verhaltensweisen, Fertigkeiten und Fähigkeiten dar, die durch Weiterbildung, Training oder Personalentwicklungsmaßnahmen (7 Kap. 19) vermittelt werden können. Die Ermittlung von personenbezogenen Zielstellungen für solche Weiterbildungs-, Trainings- oder Personalentwicklungsmaßnahmen kann ebenfalls Gegenstand einer Anforderungsanalyse sein. Anforderungsanalysen sind aber auch für die Berufsberatung (7 Kap. 14) von zentraler Bedeutung. Wenn ein Berufsberater eine Empfehlung aussprechen soll, für welchen Beruf ein Ratsuchender geeignet ist, muss er die Merkmale kennen, die in einem bestimmten Beruf oder Berufsfeld bewährte und erfolgreiche Personen kennzeichnen, um sie dann mit den Qualifikationen, Fähigkeiten und Interessen des Ratsuchenden zu vergleichen. Auch in der DIN 33430, die Verfahren bei der berufsbezogenen Eignungsbeurteilung regelt, wird diese
15
212
Kapitel 15 · Anforderungsanalyse
anforderungsbezogene Vorgehensweise ausdrücklich vorgeschrieben (Hornke & Winterfeld, 2004). Schließlich sind Anforderungsanalysen auch für die Bildungsplanung von Schultypen, Ausbildungseinrichtungen und Hochschulen von großer Bedeutung (7 Kap. 26). Um Lehrpläne entwerfen zu können, müssen diese Bildungseinrichtungen Vorstellungen darüber entwickeln, welche Merkmale die Lernenden durch die Ausbildung erwerben sollen, damit die Lernenden später im Beruf erfolgreich sein können. 15.2
15
Welche Personenmerkmale können für die Anforderungsanalyse relevant sein?
Im Gegensatz zur Arbeitsanalyse, bei der die Beschreibung der Arbeitsaufgabe, der Arbeitsmittel, der Arbeitsumgebung, der einzuhaltenden Qualitätsstandards, des üblichen Zeitdrucks etc. (7 Kap. 21) im Mittelpunkt steht, sind es bei der Anforderungsanalyse die Leistungsvoraussetzungen von Personen, die für die erfolgreiche Bewältigung der jeweiligen Aufgaben benötigt werden. Die Bezeichnungen für solche Leistungsvoraussetzungen variieren z. T. in Abhängigkeit von der wissenschaftlichen Bezugsdisziplin sowie den professionellen Tätigkeitsfeldern (Sackett & Laczo, 2003). Wichtig sind hier insbesondere die Personalwirtschaftslehre bzw. das Personalmanagement, die Arbeits- und Personalpsychologie sowie die Betriebspädagogik und Berufssoziologie. Es ist jedoch eine hohe wechselseitige Durchdringung der verwendeten Begrifflichkeiten festzustellen (Erpenbeck & von Rosenstiel, 2003). Bezeichnungen für solche Personenmerkmale, die in der Personalwirtschaftslehre, im Personalmanagement sowie der amerikanischen Personalpsychologie gerne herangezogen werden, sind fachliches Wissen (z. B. Warenkunde, Rechtskenntnisse, Maschinenkenntnisse); die Beherrschung bestimmter Abläufe und Verhaltensweisen (z. B. ein Schreibprogramm bedienen oder eine Kundenbestellung aufnehmen können) bezeichnet man als Fertigkeiten. Zu diesen Personenmerkmalen gehören weiterhin Fähigkeiten, also vergleichsweise grundlegende und stabile individuelle Handlungsgrundlagen, die für sehr verschiedenartige Situationen und Aufgaben relevant sind, wie z. B. die Merkfähigkeit, das räumliche Orientierungsvermögen oder die numerische Intelligenz, aber darüber hinaus auch Interessen (z. B. Interes-
se am Kontakt mit Menschen oder Interesse am Kontakt mit Tieren), Persönlichkeitseigenschaften (z. B. Zuverlässigkeit, planvolles und systematisches Arbeiten, Freundlichkeit), Werthaltungen und andere Merkmale, mit deren Hilfe man Personen beschreiben kann. Eine andere Möglichkeit, solche Merkmale zu ordnen, die in der Arbeits- und Personalpsychologie oft benutzt wird, besteht darin, zwischen für den Erfolg erforderlichen Verhaltensweisen, was in etwa den Fertigkeiten entspricht, erforderlichen Eigenschaften (Fähigkeiten, Persönlichkeitsmerkmale, Interessen, Werthaltungen) sowie Aufgaben- und Ergebnisanforderungen (Wissen, berufliche Qualifikationsnachweise, Berufserfahrung, Leistungsergebnisse) zu unterscheiden. Kompetenzkonzepte finden im deutschen Sprachraum insbesondere in der Betriebspädagogik und Berufssoziologie starke Verwendung. Im angloamerikanischen Sprachraum werden Kompetenzkonzepte vor allem von in der Managementpraxis professionell tätigen Personalentwicklern verwendet. Kenntnisse, Fertigkeiten und Fähigkeiten, die der Bewältigung bekannter beruflicher Problemsituationen dienen, werden dort auch unter dem Begriff der Fachkompetenz zusammengefasst. Um dagegen neuartige und komplexe berufliche Aufgaben bewältigen zu können, bedarf es sog. Methodenkompetenz (Sonntag & Schaper, 1999). Sie resultiert aus situationsübergreifend, flexibel einsetzbaren kognitiven Fähigkeiten, deren Basis Intelligenz und Expertise darstellen. Kooperative und kommunikative Fertigkeiten zur Realisierung von Zielen in sozialen Interaktionssituationen werden als Sozialkompetenz bezeichnet (Blickle, 2004). Der Begriff Selbstkompetenz meint die Aspekte der motivationalen und emotionalen Steuerung des beruflichen Handelns. Sie resultiert aus Einstellungen, Werthaltungen, Bedürfnissen und Motiven. Kompetenzkonzepte werden häufig auch eingesetzt, um Personen, die berufliche Spitzenleistungen erbringen, von in ihrer Tätigkeit nur durchschnittlich erfolgreichen Personen zu unterscheiden (Sackett & Laczo, 2003). Man untersucht dort also, welche Merkmale eine Differenzierung in der Gruppe derjenigen erlauben, die grundsätzlich in der Lage sind, bestimmte Tätigkeiten erfolgreich auszuüben. Methoden-, Sozial- und Selbstkompetenz können auch unter dem Begriff der Schlüsselqualifikationen subsumiert werden. Während Anforderungen Personenmerkmale zur Kennzeichnung von Tätigkeiten darstellen, versteht man unter Qualifikationen, Personenmerk-
213 15.3 · Warum sollte eine systematische und professionelle Anforderungsanalyse vorgenommen werden?
male, die Individuen beschreiben sollen. In einem weiten Sinn bezeichnen Qualifikationen die Gesamtheit leistungsbezogener Merkmale einer Person, die dabei behilflich sind, die Anforderungen im Arbeitsprozess erfolgreich zu bewältigen. Unter Qualifikation im engeren Sinn versteht man den Befähigungsnachweis für ein bestimmtes Tätigkeits- bzw. Berufsbild. Für die Informationsplattform des Occupational Information Network (Peterson et al., 2001) des Arbeitsministeriums der Vereinigten Staaten von Amerika wurde eine Systematik von Personenmerkmalen zur berufliche Anforderungsanalyse entwickelt, die neben den Aspekten 4 Ausbildung, 4 Training, Erfahrung und Qualifikationen, 4 Kenntnisse, Fertigkeiten und Fähigkeiten, 4 Werthaltungen und Interessen, 4 Persönlichkeitsmerkmale auch 4 allgemeine Arbeitstätigkeiten (»generalized work activities«) enthält.
4 Belastung (Nervenbelastungen, Muskelbelastungen, zusätzliche Denkprozesse) und 4 Arbeitsbedingungen (z. B. Schmutz, Staub, Nässe etc.) (dazu auch 7 Kap. 21).
Letztere betreffen die Informationsaufnahme und -verarbeitung, die Handlungsausführung, die sozialen Interaktion, Koordination und Steuerung. Diese Klassifikation von Personenmerkmalen zur Anforderungsanalyse ist das Resultat jahrzehntelanger empirischer Forschung. In Bezug auf die Fähigkeiten werden dabei beispielsweise vier übergeordnete Bereiche (kognitive, psychomotorische, physische und sensorische Fähigkeiten), 15 Aspekte auf mittlerer Abstraktionsebene wie z. B. Gedächtnis, Aufmerksamkeit oder verbale Fähigkeiten und 52 Fähigkeiten auf spezifischer Ebene (z. B. Verstehen nach Hören, Verstehen nach Lesen, mündlicher Ausdruck, schriftlicher Ausdruck) unterschieden. Nicht nur der Fähigkeitsbereich, sondern auch die anderen Anforderungsdimensionen weisen ein vergleichbar hohes Differenzierungsniveau auf. Ausführliche Informationen zu den einzelnen Konstrukten sowie zu den Anforderungen in den verschiedensten akademischen und nicht akademischen Berufen in den USA sind auf der Internetplattform von O*NET erhältlich (http://www.online.onetcenter.org). Der Verband für Arbeitsstudien und Betriebsorganisation (REFA, 1991) untergliedert die Anforderungen in die Bereiche 4 Können (Kenntnisse und Geschicklichkeit), 4 Verantwortung (z. B. für die Sicherheit anderer oder für Betriebsmittel),
Die Durchführung einer systematischen Anforderungsanalyse bei personalpsychologischen Maßnahmen ist aus folgenden Gründen erforderlich (Schuler, 2002). 1. Durch eine Anforderungsanalyse wird der Zusammenhang zwischen Arbeitsplatz- bzw. Laufbahnmerkmalen einerseits und Personenmerkmalen anderseits inhaltlich explizit herausgearbeitet. 2. Durch eine systematische Anforderungsanalyse lässt sich die Objektivität, Genauigkeit (Reliabilität) und Gültigkeit (Validität) personalpsychologischer Verfahren überprüfen und dadurch im Bedarfsfall auch systematisch verbessern. 3. Die Anforderungsanalyse erhöht die ethische und juristische Legitimation personalpsychologischer Maßnahmen. Dies betrifft insbesondere die Begründungsfähigkeit, Nachvollziehbarkeit, Nachprüfbarkeit und Sachgerechtigkeit personalpsychologischer Maßnahmen. Sie trägt damit wesentlich zur Akzeptanz personalpsychologischer Maßnahmen bei.
Wie ersichtlich, sind hier mit dem Begriff Arbeitsanforderungen z. T. gänzlich andere Sachverhalte angesprochen (Verantwortung, Arbeitsbedingungen) als in der psychologischen Anforderungsanalyse. Überschneidungen gibt es im Bereich der sog. Belastungen (Denkanforderungen). Nur für den Bereich des sog. Könnens ist das Gleiche gemeint. Arbeitsanforderungen im Sinne der Personalpsychologie und Arbeitsanforderungen im Sinne von REFA dürfen also nicht miteinander verwechselt werden. Der gleiche Begriff meint z. T. Unterschiedliches. 15.3
Warum sollte eine systematische und professionelle Anforderungsanalyse vorgenommen werden?
In der betrieblichen Praxis ist oft ein starkes Bemühen um eine systematische Anforderungsanalyse zu erkennen. Allerdings ist die Vorgehensweise leider manchmal auch durch einen naiven Glauben an die außersprachliche Realgeltung von Wörtern gekennzeichnet (Schuler, 2002). Denn unsere Alltagssprache gibt uns die Möglichkeit, eine beinahe unbegrenzte Anzahl von menschlichen
15
214
15
Kapitel 15 · Anforderungsanalyse
Verhaltensweisen, Eigenschaften und Fähigkeiten sprachlich zu unterscheiden. Das geforderte Verhalten (7 Übersicht »Schema eines Anforderungsprofils«) von Personen wird z. B. als konstruktiv und mitarbeiterorientiert bezeichnet, sie sollen belastbar, gewandt, flexibel, entscheidungsfreudig und problemsensitiv sein, ein gutes persönliches Auftreten haben und repräsentieren können. Außerdem sollen sie eine ganze Menge von Fähigkeiten aufweisen: Anpassungsfähigkeit, Kritikfähigkeit, Innovationsfähigkeit etc. Mit den meisten sprachlichen Umschreibungen verbinden sich bei vielen Personen im Alltag schnell Assoziationen und sie denken vielleicht, dass überall dort, wo es einen sprachlichen Ausdruck gibt, es auch entsprechende menschliche Verhaltensweisen, Eigenschaften und Fähigkeiten geben muss. Aber was ist eigentlich genau gemeint, wenn man sagt, jemand verhalte sich problemsensitiv. Oder ist damit keine adverbiale Verhaltensbeschreibung, sondern eigentlich eine zeitstabile, überdauernde Eigenschaft gemeint, in dem Sinne, dass jemand problemsensitiv ist. Dies würde bedeuten, dass sich jemand nicht nur in spezifischen Situationen problemsensitiv verhält, sondern sich in allen Situationen, also im Kundengespräch, bei der Mitarbeiterversammlung, in der Diskussion mit Kollegen, bei der morgendlichen Begrüßung des persönlichen Referenten problemsensitiv verhält. Wir wüssten dann, dass jemand in allen Situationen problemsensitiv ist, aber wir wüssten immer noch nicht, was die problemsensitive Führungskraft in den einzelnen Situationen nun wirklich tut. Aber möglicherweise ist mit Problemsensitivität auch eine Fähigkeit gemeint, vielleicht etwas wie Achtsamkeit, Aufmerksamkeit oder eine schnelle Auffassungsgabe, möglicherweise ist Problemsensitivität auch eine Kompetenz oder Qualifikation. Wie dieses Beispiel verdeutlichen soll, haben sehr viele dieser Ausdrücke eine vage Bedeutung. Jede Person verbindet möglicherweise etwas anderes damit, ohne jeweils genau sagen zu können, was genau gemeint ist. Andere Ausdrücke sind zwar nicht vage, aber doch mehrdeutig. Wofür steht z. B. Kritikfähigkeit? Steht der Ausdruck für Zivilcourage, also die Bereitschaft, wenn es erforderlich scheint, auch Vorgesetzte zu kritisieren, oder steht er dafür, das Kritisiertwerden durch andere wegstecken zu können, ohne aus dem emotionalen Gleichgewicht zu geraten? Wieder andere Ausdrücke stehen in der Gefahr, Leerformeln zu sein, wie z. B. die Merkmale gewandt und flexibel. Sie bedeuten, dass die betreffende Person in der jeweiligen Situation das Richtige tun soll.
Aber was ist das Richtige in der jeweiligen Situation? Manche Ausdrücke bergen auch potenzielle Widersprüche in sich, wie etwa Zielstrebigkeit und Flexiblität. Denn was ist, wenn sich die Flexibilität auch auf die Ziele bezieht? Eine andere Gefahr ist, dass zwar unterschiedliche Begriffe gewählt werden, die aber in Wirklichkeit dieselbe oder eine sehr ähnliche Bedeutung haben können, wie etwa Kreativität und Innovationsfähigkeit. Hier macht man potenziell den Fehler, hinter zwei verschiedenen Begriffen auch zwei verschiedene Anforderungen zu vermuten, obwohl hinter beidem ein- und dasselbe psychologische Konzept stehen könnte. Aber Ausdrücke können nicht nur synonym sein, sondern auch als Oberund Unterbegriff aufeinander bezogen werden. Sind Delegations- und Koordinationsfertigkeiten auf der gleichen begrifflichen Abstraktionsebene angesiedelt wie Planungs- und Organisationsfertigkeiten, oder sind Delegations- und Koordinationsfertigkeiten Unterbegriffe von Planungs- und Organisationsfertigkeiten? Um nicht durch eine naiv durchgeführte Anforderungsanalyse irreführenden sprachlichen Suggestionen zu erliegen, ist es bei einer professionellen Anforderungsanalyse erforderlich, für alle Anforderungsmerkmale genau zu definieren, was gemeint ist, und Wege aufzuzeigen, wie das Vorliegen und die Ausprägung eines bestimmten Merkmals bei einer Person objektiv, zuverlässig und valide beobachtet oder gemessen werden kann. Eine der zentralen Aufgaben einer Anforderungsanalyse ist es – wie ausgeführt – den Zusammenhang zwischen Arbeitsplatzmerkmalen einerseits und Personenmerkmalen anderseits inhaltlich explizit herauszuarbeiten. ! Eine Gefahr bei naiv durchgeführten Anforderungsanalysen besteht darin, das Stereotyp vom guten Mitarbeiter mit den tatsächlichen Anforderungen der Tätigkeit zu verwechseln.
Wer dieser Gefahr erliegt, macht möglicher Weise zwei Fehler: Zum einen werden tätigkeitsspezifische Anforderungen zu Gunsten übergreifender Anforderungen, die für alle Tätigkeiten in einem bestimmten Feld gelten, unzulässiger Weise vernachlässigt (Fehler der mangelnden Spezifität). Und zum anderen wird von Tätigkeitsanforderungen ausgegangen, die möglicherweise für den Erfolg in der spezifischen Tätigkeit irrelevant sind. Beispielsweise wird die Bedeutung des Persönlichkeitsmerkmals »Extraversion« mit seinen Facetten Kontaktfreudigkeit, Selbstbehauptung, Vitalität,
215 15.4 · Methoden und Verfahren der Anforderungsbestimmung
Risikofreude und Optimismus für den Erfolg in vielen Tätigkeiten oft weit überschätzt (Fehler der Übergeneralisierung), bei Führungstätigkeiten spielt Extraversion aber eine förderliche Rolle (Judge, Bono, Ilies & Gerhardt, 2002). Weitere Merkmale einer professionellen Anforderungsanalyse sind, dass dort nicht nur herausgearbeitet wird, welche Merkmale vorliegen sollen und welche nicht, sondern auch, in welcher Ausprägungshöhe das Merkmal vorliegen soll und ob ein bestimmtes Merkmal ggf. durch ein anderes Merkmal kompensiert werden kann. 15.4
Methoden und Verfahren der Anforderungsbestimmung
Schuler und Höft (2004) unterscheiden drei grundsätzliche Zugänge zur Anforderungsbestimmung, nämlich 4 die erfahrungsgeleitet-intuitive Methode, 4 die arbeitsplatzanalytisch-empirische Methode sowie 4 die personenbezogen-empirische Methode. Angelehnt an diese Unterscheidung sollen im Folgenden einige konkreter Verfahren der Anforderungsanalyse erläutert werden. 15.4.1
Die tätigkeitserfahrungsgeleitete Methode
Die tätigkeitserfahrungsgeleitete Methode setzt eine langjährige Erfahrung der Personen, welche die Anforderungsanalyse vornehmen (psychologische Fachexperten), mit bestimmten Tätigkeiten, Berufen oder Berufslaufbahnen voraus. Dies betrifft sowohl die Auslese, Ausbildungs- sowie Aufstiegsbedingungen als auch die Merkmale der Tätigkeit im engeren Sinn, also die typischen Arbeitsaufgaben, Arbeitsmittel, die Art der Arbeitsumgebung, die einzuhaltenden Qualitätsstandards, den üblichen Zeitdruck etc. Aufgrund der großen Erfahrung mit dem Arbeitsplatz wird bei dieser Vorgehensweise auf eine vorausgehende, systematische Arbeitsanalyse verzichtet. Im Folgenden werden zwei Beispiele für diese erfahrungsgeleitete Methode vorgestellt, nämlich der sog. NEO Job Profiler sowie die sog. Methode der kritischen Ereignisse.
NEO Job Profiler Zur Ermittlung von Anforderungen aus dem Persönlichkeitsbereich ist von Costa, McCrae und Kay (1995) der sog. NEO Job Profiler vorgeschlagen worden, der auf dem Fünf-Faktoren-Modell der Persönlichkeit von Costa und McCrae (1992) aufbaut. Dieses Modell geht von fünf allgemeinen Beschreibungsdimensionen der menschlichen Persönlichkeit aus, nämlich Neurotizismus (mit dem Gegenpol emotionale Stabilität), Extraversion, Offenheit für Erfahrung, Umgänglichkeit und Gewissenhaftigkeit, die jeweils wieder mittels 6 spezifischer Facetten präzisiert werden, woraus sich dann 30 Persönlichkeitsmerkmale auf mittlerem Abstraktionsniveau ergeben, wie z. B. Gelassenheit, Ausgeglichenheit, Selbstvertrauen, Selbstkontrolle und Widerstandsfähigkeit für den Bereich der emotionalen Stabilität bzw. ihres Gegenpols, des Neurotizismus. Dieses deskriptive Beschreibungsmodell der Persönlichkeit versteht sich als umfassende, empirisch abgesicherte Sammlung und Systematisierung klar definierter sowie psychologisch objektiv, zuverlässig und valide messbarer Persönlichkeitsmerkmale. Den Fachexperten wird nun diese Liste mit den 30 Persönlichkeitsmerkmalen, die neben ihrer Bezeichnung noch durch kurze verbale Charakterisierungen präzisiert werden (z. B. Selbstkontrolle vs. Impulsivität: widersteht Versuchungen, kontrolliert drängende Impulse, nicht erregbar), schriftlich vorgelegt. Die Fachexperten sollen im ersten Bearbeitungsschritt alle 30 Persönlichkeitsmerkmale durchgehen und jeweils entscheiden, ob das jeweilige Merkmal einen Einfluss darauf hat, ob die Tätigkeit von einer Arbeitsperson erfolgreich ausgeführt wird oder nicht. Ist dies der Fall, so soll der Fachexperte das jeweilige Persönlichkeitsmerkmal ankreuzen. Im zweiten Schritt soll dann für die als relevant beurteilten Persönlichkeitsmerkmale in Bezug auf die zu analysierende Tätigkeit angegeben werden, ob das jeweilige Persönlichkeitsmerkmal »sehr unerwünscht«, »etwas unerwünscht«, »etwas erwünscht« oder »sehr erwünscht« ist. Auf diese Art und Weise entsteht ein Profil der Anforderungen aus dem Persönlichkeitsbereich für eine bestimmte Tätigkeit. Eine solche Vorgehensweise setzt nicht nur eine langjährige Erfahrung des Fachexperten mit dem Arbeitsplatz oder Beruf voraus, sondern auch eine präzise Kenntnis der Bedeutung der 30 Persönlichkeitsmerkmale. So lange aber für eine Tätigkeit die Ausprägung der 30 Persönlichkeitsmerkmale bei den Arbeitsplatzinha-
15
216
Kapitel 15 · Anforderungsanalyse
bern sowie Kriterien des Berufserfolges nicht gemessen und zueinander in Beziehung gesetzt wurden, und sich aufgrund der empirischen Zusammenhänge dann zeigt, dass die von den Fachexperten als relevant und wünschenswert beurteilten Persönlichkeitsmerkmale dies auch tatsächlich sind, hat das in der dargestellten Weise ermittelte Anforderungsprofil jedoch erst den Status einer Anforderungsprofilhypothese. Methode der kritischen Ereignisse Zur Ermittlung der Anforderungen aus dem Verhaltensbereich kann die sog. Methode der kritischen Ereignisse (»critical incident technique«; Flanagan, 1954) eingesetzt werden. Wieder setzt das Verfahren eine langjährige Vertrautheit mit dem Arbeitsplatz und der Arbeitsweise dort tätiger Personen voraus. Eine Kennt-
nis spezieller psychologischer Konzepte, wie etwa die Explikation bestimmter Persönlichkeitsmerkmale, ist bei diesem Verfahren nicht erforderlich. Zur Ermittlung der Verhaltensanforderungen an die Zielposition können Vorgesetzte, Arbeitsplatzinhaber, Kollegen, Kunden oder andere Personen herangezogen werden, die sich in engem Arbeitskontakt mit der Stelle befinden. Diese Arbeitsplatzexperten sollen dann über das Arbeitsverhalten eines Mitarbeiters nachdenken und sich dabei auf solche Verhaltensweisen konzentrieren, die in der Vergangenheit zu einer besonders effektiven oder besonders ineffektiven Aufgabenerfüllung geführt haben. In Bezug auf jedes sog. kritische Ereignis sollen die Umstände, die zu dem Verhalten geführt haben, beschrieben werden (auslösende Bedingungen). Dann soll das kritische Verhalten so konkret wie möglich beschrieben und es soll
Beispiele für die Analyse kritischer Ereignisse
15
Zunächst ein Beispiel für einen ineffizienten Kundenkontakt: 4 Die auslösende Bedingungen war: Ein Kunde ruft am Montagnachmittag aggressiv und empört an und beschwert sich, dass die zugesagte Lieferung bei ihm immer noch nicht eingetroffen ist. 4 Das Verhalten des Verkäufers auf diese Situation war: Der Verkäufer unterbricht den Kunden rasch und sagt, dass er gute Ohren habe und dass das Telefon auch in Ordnung sei. Der Kunde brauche also nicht so laut zu reden. 4 Negativ daran ist: Der Verkäufer lässt den Kunden nicht ausreden. Er zeigt kein Verständnis für die Empörung des Kunden, sondern übt sogar Kritik am Verhalten des Kunden. 4 Konsequenz: Der Kunde wird ausfallend. Der Verkäufer legt den Hörer auf. Jetzt ein Positivbeispiel: 4 Die auslösende Bedingungen war: Von einem Kunden ist noch keine schriftliche Bestellung eingegangen, obwohl dem Kunden erklärt wurde, dass nur bei Vorliegen eines schriftlichen Auftrages die Ware versandt werden kann. Der Kunde hat beim Telefonat eine schnelle Auslieferung dringend gefordert. Wenn die Lieferung raus soll, muss der Kunde aber binnen kurzem die Bestellung faxen.
4 Der Verkäufer reagiert darauf mit folgendem Verhalten: Er lässt die Sache nicht auf sich beruhen, nach dem Motto »Der Kunde ist ja selbst schuld«, sondern ruft von sich aus bei dem Kunden an. Der Verkäufer teilt kurz das Problem mit und fragt nach, ob er helfen kann. 4 Positiv daran ist: Der Verkäufer ist proaktiv. Für ihn zählt das Ergebnis und nicht, wer schuld hat. Er macht dem Kunden keine Vorwürfe, sondern versucht, den Kunden freundlich dazu zu bringen, zu tun, was für beide Seiten gut ist. 4 Konsequenz: Der Kunde entschuldigt sich für sein Versäumnis und schickt im letzten Moment die Bestellung per E-Mail. Die Formulierung verhaltensbezogener Anforderungen hat den Vorteil, dass sie sowohl für Trainingsmaßnahmen als auch für die Personalbeurteilung genutzt werden können. Damit ergibt sich die Situation, dass die gleichen Kriterien, die als Anforderungen formuliert werden, auch zur Personalbeurteilung herangezogen werden können. Deshalb wäre es zirkulär, die Anforderungskriterien an den Leistungsbeurteilungen validieren zu wollen. Sinnvoll wäre es in einem solchen Fall vielmehr, die Leistungsbeurteilungen, die auf den Anforderungskriterien beruhen, in Beziehung zu objektiven Ergebniskriterien zu setzen.
217 15.4 · Methoden und Verfahren der Anforderungsbestimmung
erläutert werden, was an dem Verhalten besonders effektiv oder ineffektiv war (Manifestation). Schließlich sollen die konkreten Konsequenzen des als kritisch bewerteten Verhaltens skizziert werden (Resultate). Nachdem alle Arbeitsplatzexperten ihre Beschreibungen der kritischen Ereignisse erstellt haben, kommt es im nächsten Schritt zu einer Gruppierung gleicher oder ähnlicher Fälle, die dann gemeinsam durchgesprochen werden, um im Kreise der Arbeitsplatzexperten in Bezug auf die einzelnen Vorfälle zu einer jeweils übereinstimmenden Beurteilung in Bezug auf die auslösenden Bedingungen, Manifestationen und Resultate der kritischen Vorfälle zu kommen. Neben der Klärung der Abweichungen zwischen den einzelnen Arbeitsplatzexperten ist darauf zu achten, dass möglichst alle Ereignisse, die in einer bestimmten Tätigkeit kritisch sind, erfasst werden. Für die Beurteilung der Frage, ob ein bestimmtes Vorkommnis wichtig ist, ist immer die Beziehung zum Tätigkeitserfolg entscheidend. In jeder Tätigkeit gibt es viele Routineaufgaben, die oft vorkommen und einen großen Teil der Zeit des Arbeitsplatzinhabers in Anspruch nehmen, ohne dass davon der Tätigkeitserfolg entscheidend beeinflusst wird. Es ist aber wichtig, sich auf solche Vorkommnisse und Verhaltensweisen zu konzentrieren, die erfolgskritisch sind. Aus den im Konsens mit den Arbeitsplatzexperten gruppierten und möglichst einschlägig umfassenden (exhaustiven) Situations- und Verhaltensbeschreibungen lässt sich dann ein Profil situativ bedingter Anforderungen an das jeweils erwünschte Verhalten erstellen. 15.4.2
Die arbeitsplatzanalytischempirische Methode
Der Grundgedanke der arbeitsplatzanalytisch-empirische Methode ist, dass sich spezifische Merkmale von Tätigkeiten auch in spezifischen Anforderungen widerspiegeln. Bei der arbeitsplatzanalytisch-empirische Methode beruht die Anforderungsanalyse auf einer vorausgehend durchgeführten systematischen Arbeitsanalyse (7 Kap. 21). Diese Arbeitsanalyse kann in unterschiedlicher Weise vorgenommen werden: Arbeitstätigkeiten können mit relativ allgemeinen und/oder spezifischen Merkmalen beschrieben werden. Die Beschreibung der Tätigkeit kann qualitativ oder quantitativ abgestuft erfolgen. Die Beschreibung kann von einer schon bestehenden, umfassenden Taxonomie ausgehen oder induk-
tiv aus den vorhandenen Arbeitstätigkeiten entwickelt werden. Die nötigen Informationen können aufgrund der Tätigkeitsbeobachtungen geschulter Fachexperten ermittelt und/oder durch die Befragung von Betroffenen (Arbeitsplatzinhaber, Vorgesetzte, Kollegen) gewonnen werden. Gegenstand der Arbeitsanalyse können die Arbeitsaufgaben und -vorgaben (z. B. Zeit-, Qualitäts- oder Mengenvorgaben), die Umgebungsbedingungen der Arbeitsausführung (z. B. Raumklima, Beleuchtung), die verwendeten Materialien, Geräte und Maschinen, die arbeitsrelevanten Sozialkontakte, der bestehende Handlungsspielraum, die Denk- und Entscheidungserfordernisse und/oder die mit einer Tätigkeit verbundenen Belastungen (z. B. Häufigkeit von Unterbrechungen oder Zeitdruck) sein. Die Beschreibung der Arbeitsausführung kann auch die Beschreibung beobachtbaren Verhaltens (z. B. Messskalen ablesen, Tastatur bedienen) beinhalten. Die Beschreibung der Denk- und Entscheidungserfordernisse geschieht oft mittels Begriffen, die den Informationsverarbeitungsprozess betreffen, wie z. B. identifizieren, koordinieren oder bewerten. Nachdem eine solche Arbeitsanalyse systematisch durchgeführt wurde, werden im zweiten Schritt die sog. persönlichen Attribute (z. B. Farbtüchtigkeit, Hörsensibilität, Konzentrationskraft, Kommunikationsfähigkeit oder Interesse an der Beeinflussung anderer Menschen) systematisch ermittelt, die für eine erfolgreiche Tätigkeitsausführung relevant sind. Zur Ermittlung dieser Attribute werden zunächst durch psychologische Experten, die zugleich mit den Arbeitsaufgaben und -bedingungen vertraut sein müssen, Hypothesen formuliert. Die Gültigkeit der Hypothesen kann dann in Laboroder Felduntersuchungen überprüft werden. Beispielsweise kann die Hypothese postuliert werden, dass für die erfolgreiche Bearbeitung bestimmter Identifikationsaufgaben wie sie z. B. bei Fluglotsen häufig vorkommen, die Konzentrationsfähigkeit eine wichtige Rolle spielt. Dazu kann in einem ersten Schritt eine solche Identifikationsaufgabe in einem Labor simuliert und überprüft werden, ob im Beruf bewährte Fluglotsen die Aufgabe erfolgreich lösen. Ist dies der Fall, können Personen mit sonst gleichen Eignungsvoraussetzungen wie Fluglotsen zunächst einem Aufmerksamkeitskonzentrationstest unterzogen werden, der die individuelle Konzentrationsfähigkeit misst. Anschließend bearbeiten diese Personen dann die Identifikationsaufgabe. Wenn die Konzentrationsfähigkeit tatsächlich ein kritisches persönliches Attribut darstellt, sollten sich signifikante Zusammenhänge zwischen
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218
Kapitel 15 · Anforderungsanalyse
dem Abschneiden im Konzentrationstest und bei der Bewältigung der Identifikationsaufgabe ergeben. Mithilfe einer statistischen Regressionsanalyse kann schließlich diejenige Ausprägung der Konzentrationsfähigkeit ermittelt werden, die für eine hinreichende Aufgabenerfüllung notwendig ist. Einen anderen Weg sind Frieling und Hoyos (1978) gegangen. Sie haben zunächst eine Vielzahl unterschiedlichster Berufstätigkeiten (z. B. Zahnarzthelferin, Ex-
portkaufmann, Kfz-Mechaniker, Betriebsleiter, Vertreter, Flugkapitäne etc.) mithilfe des Fragebogens zur Arbeitsanalyse (FAA) anhand einer standardisierten Liste von 192 sog. Arbeitselementen aus den Bereichen Informationsaufnahme und -verarbeitung, Arbeitsausführung, arbeitsrelevante Bedingungen sowie Umgebungseinflüsse durch Beobachtungsinterviews analysiert. Anschließend legten sie diese Liste der Arbeitselemente einer Expertengruppe aus dem Bereich Psychologie vor, die
Bedeutung unterschiedlicher Anforderungsarten bei Fahrttätigkeiten und Lagerarbeiten (nach Frieling & Hoyos, 1978; Spanne der Skalenausprägungen: 1.42–8.37)
15
Fahrtätigkeiten (Gabelstaplerfahrer, Karrenfahrer, Schlepperfahrer) 4 Hohe Bedeutung (Skalenausprägung ≥ 7) – Wahrnehmung – Sehschärfe im Fernraum – Räumliche Orientierung – Auditive Rhythmusdiskrimination – Auditive Wahrnehmungsgeschwindigkeit – Psychomotorik – Bewegungsausrichtung nach Reizen – Reaktionszeit – Reaktionsabstimmung – Regelungsgenauigkeit 4 Erhöhte Bedeutung (7 > Skalenausprägung > 5) – Körperliche Fähigkeiten – Statische Stärke – Dynamische Stärke – Explosivkräfte 4 Geringere Bedeutung (5 > Skalenausprägung > 4) – Gedächtnis – Assoziationsgedächtnis – Gedächtnisumfang – Visuelles Gedächtnis 4 Geringe Bedeutung (4 > Skalenausprägung > 3) – Intelligenz – Einfallsreichtum – Zahlengebundenes Denken – Sprachgebundenes Denken – Temperament – Fähigkeit zur Kommunikation – Fähigkeit zu selbstständigem Planen und unabhängigem Handeln
– Interesse – Interesse an der Beeinflussung anderer Menschen – Interesse an sozialen Aktivitäten Lagerarbeiten 4 Erhöhte Bedeutung (7 > Skalenausprägung > 5) – Psychomotorik – Gleichgewichtsfähigkeit – Reaktionsabstimmung – Bewegungsausrichtung nach Reizen – Geschwindigkeit der Armbewegungen – Körperliche Fähigkeiten – Statische Stärke – Explosivstärke – Rumpfgelenkigkeit – Interessen – Interesse an körperlichen Arbeiten 4 Geringere Bedeutung (5 > Skalenausprägung > 4) – Wahrnehmung – Farbtüchtigkeit – Wahrnehmungsgeschwindigkeit – Gestaltwahrnehmung 4 Sehr geringe Bedeutung (3 > Skalenausprägung) – Temperament – Einfühlungsvermögen – Kooperationsbereitschaft – Fähigkeit zur Kommunikation – Verantwortungs- und Risikobereitschaft – Intelligenz – Zahlengebundenes Denken – Einfallsreichtum und Produktivität – Formallogisches Denken
219 15.4 · Methoden und Verfahren der Anforderungsbestimmung
beurteilen sollten, welche Bedeutung 55 sorgfältig ausgewählte persönliche Attribute, also Anforderungen (15 aus dem Bereich der Wahrnehmungsfähigkeit, 11 aus dem Bereich der Psychomotorik, 6 aus dem Bereich Körperkraft, 3 aus dem Bereich Gedächtnis, 6 aus dem Bereich Intelligenz, 6 aus dem Temperamentsbereich und 7 aus dem Interessenbereich), für die erfolgreiche Bewältigung und Handhabung des jeweiligen Arbeitselementes haben. Auf dieser Basis kann dann für jede berufliche Tätigkeit, die mit dem FAA analysiert wird, ein spezifisches Anforderungsprofil erstellt werden. Die folgende Übersicht zeigt die Bedeutung unterschiedlicher Anforderungsarten bei Fahrttätigkeiten und Lagerarbeiten nach Frieling und Hoyos (1978). Aber auch dieses Anforderungsprofil ist lediglich als Hypothese zu betrachten. Die damalige Auffassung der Experten, dass Intelligenz für einfache Tätigkeiten von geringer oder sogar sehr geringer Bedeutung sei (7 Übersicht), muss inzwischen als widerlegt angesehen werden. Denn die metaanalytischen Studien (7 Kap. 3) von Schmidt und Hunter (1998) zeigten (zur Vorgehensweise 7 Abschn. 15.4.3), dass auch bei solchen Tätigkeiten immer noch eine bedeutsame, mittlere Korrelation von Intelligenz und Leistungsbeurteilung durch den Vorgesetzten in Höhe von ρ=.23 vorliegt. Der Grundgedanke der arbeitsplatzanalytisch-empirische Methode ist, wie bereits einleitend ausgeführt, dass sich spezifische Merkmale von Tätigkeiten auch in spezifischen Anforderungen widerspiegeln. Daher seien detaillierte Arbeitsanalysen für Anforderungsanalysen unerlässlich (Harvey & Wilson, 2000). Demgegenüber vertreten Schmidt, Hunter und Pearlman (1981) die Auffassung, dass die Bedeutung tätigkeitsspezifischer Anforderungen vernachlässigbar gering im Gegensatz zu tätigkeitsübergreifenden, allgemeinen beruflichen Anforderungen sei. Dies konnten sie auch für die Anforderungsmerkmale im Bereich von Intelligenz und Gedächtnis mit Hilfe von zwei Metaanalysen der Daten von 400,000 Personen in den USA empirisch für 35 sehr unterschiedliche Tätigkeiten belegen (zur Vorgehensweise 7 Abschn. 15.4.). Später zeigte sich jedoch ebenfalls in metaanalytischen Studien (Schmidt & Hunter 1998), dass die Bedeutung der Intelligenz für den Tätigkeitserfolg von der Komplexität der Tätigkeiten abhängt. Die Validität variiert je nach Komplexität der Tätigkeit zwischen .23≤ρ≤.58.
15.4.3
Die personenbezogen-empirische Methode
Die personenbezogen-empirische Methode ermittelt die Anforderungen aufgrund von statistischen Zusammenhängen zwischen den Merkmalen von in einem bestimmten Bereich oder Beruf tätigen Personen einerseits sowie Kriterien der Leistungsbeurteilung oder anderen individuellen Erfolgskriterien der beruflichen Tätigkeit andererseits. Sofern Daten zum beruflichen Erfolg nicht vorhanden sind, konzentriert man sich auf Personenmerkmale aller in einem bestimmten Beruf oder einer bestimmten Tätigkeit aktiven Personen. Für die erste der beiden beschriebenen Formen (d. h., wenn Daten zum Berufs- bzw. Tätigkeitserfolg vorliegen), der personenbezogen-empirischen Methode, kann auf Metaanalysen zurückgegriffen werden, welche die Ergebnisse einzelner einschlägiger Studien zusammenfassen und je nach Art der durchgeführten Metaanalyse auch statistische Begrenzungen der einzelnen Studien korrigieren (7 Kap. 3). Eine solche Metaanalyse ist für Verkaufstätigkeiten von Vinchur, Schippmann, Switzer und Roth (1998) durchgeführt worden. In die Studie wurden die Daten von 45,944 Personen aus Nordamerika aus der Zeit zwischen 1918 und 1996 einbezogen. Erfolgskriterien waren Beurteilungen durch Vorgesetzte sowie objektive Verkaufsdaten. Die Personenmerkmale mit von null verschiedenen, verallgemeinerbaren Zusammenhängen mit dem Kriterium sind in . Tab. 15.1 zusammengestellt. Im Gegensatz zum Kriterium der Vorgesetztenbeurteilung spielt Intelligenz bei dem Kriterium objektive Verkaufsergebnisse keine bedeutsame Rolle. Verwendet man dagegen Leistungsbeurteilungen durch Vorgesetzte als Kriterium, korreliert die numerische Intelligenz zu ρ=.12, die verbale Intelligenz zu ρ=.14 und die allgemeine Intelligenz zu ρ=.40 mit den Vorgesetztenbeurteilungen. Ein Beispiel für die zweite (d. h., wenn keine Daten zum Berufs- bzw. Tätigkeitserfolg vorliegen) der beiden beschriebenen Formen der personenbezogen-empirische Methode der Anforderungsanalyse bietet das Vorgehen von Bergmann und Eder (1992). Vor dem Hintergrund der Theorie der Berufsinteressen von Holland unterscheiden sie sechs verschiedene berufliche Interessensrichtungen: 4 handwerklich-technische (realistische – R) Interessen, 4 forschende (investigative – I) Interessen, 4 künstlerische (artistische – A) Interessen, 4 soziale (soziale – S) Interessen,
15
220
Kapitel 15 · Anforderungsanalyse
k
Zuverlässigkeit
05
Extraversion
n
r
80% CI
359
.18
.08
.31
18
2,629
.22
.13
.29
Machtmotiv
14
2,278
.26
.18
.32
Biographische Daten
18
34,005
.28
.18
.40
Gewissenhaftigkeit
15
1,774
.31
.19
.40
Wissen über Verkaufstechniken
14
1,613
.37
.22
.61
Leistungsmotiv
10
1,269
.41
.30
.48
Interesse an verkäuferischen Tätigkeiten
10
860
.50
.30
.62
k = Anzahl der Studien; n = Stichprobengröße; r = in Bezug auf Varianzeinschränkungen korrigierte, durchschnittliche Korrelation; 80% CI = unterer und oberer Wert des 80%-Vertrauensintervalls (»credibility interval«) der korrigierten, durchschnittlichen Korrelation
4 unternehmerische (entrepreuneriale – E) Interessen sowie Interesse an 4 administrativen Tätigkeiten (conventionale – C).
15
Die Konstellation dieser Interessenrichtungen haben sie in 33 praktischen Berufen bei über 800 Auszubildenden und Facharbeitern in Österreich untersucht. . Tab. 15.2 zeigt die interessenbezogenen Anforderungsprofile unterschiedlicher beruflicher Tätigkeiten. Wie man . Tab. 15.2 gut entnehmen kann, unterscheiden sich die Berufe hinsichtlich ihrer Interessenschwerpunkte deutlich: Während bei Schlossertätigkeiten handwerklich-technische Interessen im Vordergrund stehen, sind es bei der Tätigkeit von Chemielaboranten forschende Interessen, bei Masseurtätigkeiten soziale und bei der Tätigkeit von Kellnern unternehmerische und konventionelle Interessen. Die Profile würden sich wahrscheinlich noch deutlicher unterscheiden, wenn man nur solche Personen in die Stichprobe einbezogen hätte, die bereits mehrere Jahre und erfolgreich in dem jeweiligen Beruf tätig waren. 15.5
Einordnung und Ausblick
Angesichts der vielfältigen Methoden und Verfahren stellt sich möglicherweise die Frage, welches die richtige Vorgehensweise ist. Dies hängt zunächst immer von der
. Tab. 15.2. Anforderungsprofile verschiedener Berufe auf der Basis von Interessen. (Nach Bergmann & Eder, 1992) Berufe
Mittelwerte der Interessenrichtungen R
I
A
S
E
C
Schlosser
112
96
83
87
95
102
Chemielaborant
101
117
85
86
88
106
Fotograf
102
102
102
96
107
108
Masseur
90
98
90
108
99
101
Kellner
93
85
91
102
112
115
Buchhalter
84
90
80
89
97
120
R = realistische; I = investigative; A = artistische; S = soziale; E = entrepreneuriale; C conventionale Interessen. Die Interessenskalen haben jeweils einen Mittelwert von 100 und eine Standardabweichung von 10 Punkten. Die jeweils dominanten Interessen sind fett markiert.
Zielsetzung ab. Je nach Zielsetzung (Personalplanung, -suche, -auswahl, Stellenbewertung, Personalbeurteilung, Potenzialanalyse, Training, Personalentwicklung, Berufsberatung oder Bildungsplanung) stehen andere Aspekte im Vordergrund. Während die Methode der kritischen Ereignisse für die Trainingsentwicklung sehr hilfreich sein kann, wird beispielsweise in der Berufsberatung
Mit freundlicher Genehmigung von Beltz Test © Beltz Test 1992
Prädiktor
© American Psychological Association 1998
. Tab. 15.1. Zusammenhänge zwischen Personenmerkmalen und dem objektiven Erfolg bei Personen in Verkaufstätigkeiten. (Nach Vinchur et al., 1998)
221 15.5 · Einordnung und Ausblick
gerne die personenbezogen-empirische Methode eingesetzt. Es ist also immer zu prüfen, ob das gewählte Verfahren im Sinne der spezifischen Zielsetzung zweckdienlich ist. ! Es gibt keinen Königsweg der Anforderungsanalyse.
Neben der Zielangemessenheit wird von Schuler (2002) gefordert, bei Anforderungsanalysen grundsätzlich immer parallel 4 Aufgaben- und Ergebnisanforderungen, 4 Verhaltensanforderungen und 4 Eigenschaftsanforderungen zu berücksichtigen und auch 4 zur Ermittlung dieser Anforderungen unterschiedliche Verfahren einzusetzen. Dies wird als multimodaler-multimethodaler Ansatz bezeichnet. Dahinter steht als methodologisches Konzept der sog. kritische Multiplismus, der von einer Mehrfachbestimmtheit menschlicher Leistungen ausgeht, d. h., jede Leistung hat in der Regel nicht nur eine, sondern mehrere Ursachen und macht sich meist nicht nur bei einem, sondern bei unterschiedlichen Kennwerten bemerkbar. Daher sei es erforderlich, so die Vertreter dieses Ansatzes, gleichzeitig mit mehreren empirischen Operationalisierungen zu arbeiten (Schulze & Holling, 2004). Verhalten, Fertigkeiten, Fähigkeiten, Persönlichkeitseigenschaften etc. stellen psychologische Konstrukte dar, für deren Bedeutungsexplikation, Systematisierung, Beobachtung und Messung die wissenschaftlich betriebene Psychologie in besonderer Weise fachlich zuständig ist. Deshalb sollten an der Erstellung von Anforderungsprofilen immer auch arbeits- und organisationspsychologisch ausgebildete Fachkräfte beteiligt sein. Ansonsten ist die Gefahr, durch sprachliche Benennungen erzeugten Illusionen zu erliegen, sehr groß. Für jede Anforderung muss angegeben werden können, wie sie objektiv, zuverlässig und gültig gemessen werden kann und in welcher konzeptionellen und empirischen Beziehung sie zu anderen postulierten Anforderungen steht. Damit liegt dann eine Basis für die empirische Validierung der Anforderung vor. Die Beteiligung von sog. Arbeitsplatzexperten (Stelleninhaber, Vorgesetzte, Kollegen, Fachvertreter aus der Personalabteilung, Mitglieder der Abteilung für Arbeitssicherheit oder Mitglieder der Personalvertretung) hat eine doppelte Funktion: Zum einen stellen sie durch
ihr Wissen über die tatsächlichen Gegebenheiten vor Ort die Inhaltsvalidität einer Anforderungsanalyse mit sicher. Das heißt, durch ihre Einbeziehung wird angestrebt, alle wesentlichen und relevanten Aspekte von Tätigkeiten abzudecken. Ihre Einbeziehung trägt außerdem dazu bei, die Akzeptanz der Vorgehensweise im Management, bei der Belegschaft sowie den Arbeitnehmervertretern zu fördern. Es sollte aber nicht übersehen werden, dass dadurch auch ein weites Feld für Fehler in Anforderungsanalysen erzeugt wird, denn die Anforderungsanalyse findet sehr selten in einem Interessenvakuum statt (Schettgen, 1996). Arbeitsplatzinhaber neigen daher gerne dazu, bestimmte Aspekte ihrer Tätigkeit in für sie vorteilhafter Weise darzustellen. Bei langwierigen Prozeduren können aber auch Ermüdung und Nachlässigkeit hinzutreten. Schließlich kann es auch durch einen Mangel an sprachlichen Fertigkeiten zu Verzerrungen der Einschätzungen kommen (Harvey & Wilson, 2000). Deshalb ist es wichtig, dass die Aussagen dieser Arbeitsplatzexperten nicht unkritisch als Daten akzeptiert werden, sondern in Bezug auf Plausibilität und Diskrepanzen geprüft werden. Dafür können beispielsweise Beobachtungsinterviews am Arbeitsplatz durch psychologisch ausgebildete Fachexperten eingesetzt werden. Aber auch psychologische Fachexperten sind vor den Gefahren selektiver Wahrnehmung, Ermüdung, Nachlässigkeit oder interessengebundener Aussagen nicht gefeit. Deshalb ist es ratsam, auch die Übereinstimmung der psychologischen Fachexperten systematisch zu überprüfen (Morgeson & Campion, 2000; Oesterreich & Bortz, 1994). ! In Bezug auf die Rolle von psychologisch nicht ausgebildete Arbeitsplatzexperten im Prozess der Erstellung eines Anforderungsprofils bleibt aber festzuhalten, dass sie die eigentliche psychologische Aufgabenstellung, die mit Anforderungsanalysen verbunden ist, nur sehr eingeschränkt lösen können, nämlich die Übersetzung von Arbeitsbedingungen in ein begrifflich konsistentes und empirisch erfassbares Netzwerk von Personenmerkmalen sowie dessen empirische Gültigkeitsüberprüfung.
In Bezug auf viele Anforderungsmerkmale liegen derzeit bereits differenzierte Taxonomien und Erhebungsinstrumente vor (Erpenbeck & von Rosenstiel, 2003;
15
222
Kapitel 15 · Anforderungsanalyse
Kanning & Holling, 2002; Sarges, 2000). Dies betrifft vor allem Anforderungen im Bereich von Intelligenz, Persönlichkeit und Berufsinteressen. Weniger differenziert ist das Angebot an empirisch validierten Erfassungsinstrumenten für Anforderungen aus dem Bereich sozialer Fertigkeiten und Kompetenzen (s. allerdings Kanning, 2003). Der durch die wirtschaftliche Globalisierung sowie die neuen Informations- und Kommunikationstechnologien bedingte Wandel des Arbeits- und Wirtschaftslebens (7 Kap. 13 und 14) hat auch für die Personalpsychologie bedeutsame Auswirkungen (Voß, 1998). Zum einen werden die Arbeitsbedingungen entstandardisiert und die individuellen Handlungsspielräume nehmen zu. Zum anderen verändern sich die konkreten Arbeitsanforderungen relativ schnell. Es entstehen neue Berufe und die Ausführungsbedingungen traditioneller Berufstätigkeiten verändern sich sehr stark. Aufgrund beider Entwicklungen verringert sich wahrscheinlich immer mehr die Bedeutung tätigkeitsspezifischer und es wächst die Bedeutung tätigkeitsübergreifender Arbeitsanforderungen wie Intelligenz und Lernfähigkeit, Leistungsmotivation, soziale Kompetenz, Gewissenhaftigkeit und Selbstvertrauen.
L Weiterführende Literatur Gael, S. (Ed.). (1988). The job analysis handbook for business, industry, and government (2 vol.). New York: Wiley. Schuler, H. (2006). Arbeits- und Anforderungsanalyse. In H. Schuler (Hrsg.), Lehrbuch der Personalpsychologie (2. Aufl., S.45–68). Göttingen: Hogrefe.
Literatur Bergmann, C. & Eder, F. (1992). Allgemeiner Interessen-Struktur-Test – Umweltstrukturtest AIST/UST, Manual. Weinheim: Beltz Test. Bisani, F. (1989). Anforderungs- und Qualifikationsprofil. In H. Strutz (Hrsg.), Handbuch Personalmarketing (S. 230–243). Wiesbaden: Gabler. Blickle, G. (2004). Einflusskompetenz in Organisationen. Psychologische Rundschau, 55, 82–93. Costa, P.T. & MCrae, R.R. (1992). The Revised NEO Personality Inventory (NEO-PI-R). and NEO Rive-Factor Inventory (NEO-FFI) professional manual. Odessa, FL: Psychological Assessment Resources. Costa, P.T., McCrae, R.R. & Kay, G.G. (1995). Personens, placet, and personalità: Career assessment using the Revised NEO Personality Inventory. Journal of Career Assessment, 3, 123–139. Erpenbeck, J. & Rosenstiel, L. von (Hrsg.). (2003). Handbuch Kompetenzmessung. Stuttgart: Schäffer & Poeschel. Flanagan, J.C. (1954). The critical incident technique. Psychological Bulletin, 51, 327–358.
Zusammenfassung
15
4 Mithilfe der personalpsychologischen Anforderungsanalyse sollen erfolgskritische Personenmerkmale identifiziert werden. Sie sollte von Arbeitsplatzexperten und psychologischen Fachexperten gemeinsam durchgeführt werden. 4 Personalpsychologische Anforderungsanalysen werden für vielfältige, qualitativ unterschiedliche Zwecke benötigt, wie z. B. Personalsuche, Personalauswahl, Personalbeurteilung oder Personalentwicklung. 4 Durch eine systematische Anforderungsanalyse lässt sich die Objektivität, Genauigkeit und Gültigkeit personalpsychologischer Verfahren und Vorgehensweisen überprüfen und dadurch im Bedarfsfall auch systematisch verbessern. Die Anforderungsanalyse erhöht auch die ethische und juristische Legitimation personalpsychologischer Maßnahmen.
4 Eine systematische und professionelle Anforderungsanalyse beugt der Gefahr vor, durch sprachliche Benennungen erzeugten Realitätsillusionen zu erliegen. 4 Zur Übersetzung von Arbeitsbedingungen in ein begrifflich konsistentes und empirisch erfassbares Netzwerk von Personenmerkmalen sowie dessen empirische Gültigkeitsüberprüfung können unterschiedliche Methoden eingesetzt werden. Es gibt dabei keinen Königsweg der Anforderungsanalyse. Die Wahl der Methode sollte vom Zweck der Anforderungsanalyse bestimmt sein. 4 Umfassende personalpsychologische Anforderungsanalysen integrieren die Erhebung von Aufgabenund Ergebnisanforderungen, Verhaltensanforderungen sowie Eigenschaftsanforderungen und berücksichtigen zur Ermittlung dieser Anforderungen unterschiedliche Verfahren gleichzeitig.
223 Literatur
Frieling, E. & Hoyos, C. (Hrsg.). (1978). Fragebogen zur Arbeitsanalyse (FAA). Deutsche Bearbeitung des Position Analysis Questionnaire (PAQ). Handbuch. Bern: Huber. Harvey, R.J. & Wilson, M. (2000). Yes Virginia, there is an objective reality in job analysis. Journal of Organizational Behavior, 21, 829–854. Hornke, L. & Winterfeld, U. (Hrsg.). (2004). Eignungsbeurteilungen auf dem Prüfstand: DIN 33430 zur Qualitätssicherung. Heidelberg: Spektrum Akademischer Verlag. Judge, T.A., Bono, J.E., Ilies, R. & Gerhardt, M.W. (2002). Personality and leadership: A qualitative and quantitative review. Journal of Applied Psychology, 87, 765–780. Kanning, U.P. (2003). Diagnostik sozialer Kompetenzen. Göttingen: Hogrefe. Kanning, U.P. & Holling, H. (Hrsg.). (2002). Handbuch personaldiagnostischer Instrumente. Göttingen: Hogrefe. Morgeson, F.P. & Campion, M.A. (2000). Accuracy in job analysis: toward an inference-based model. Journal of Organizational Behavior, 21, 819–827. Oesterreich, R. & Bortz, J. (1994). Zur Ermittlung der testtheoretischen Güte von Arbeitsanalyseverfahren. ABOaktuell – Psychologie für die Wirtschaft, 1(3), 2–8. Peterson, N.G. et al. (2001). Understanding work using the occupational information network (O*NET): Implications for practice and research. Personnel Psychology, 54, 451–492. REFA –Verband für Arbeitsstudien und Betriebsorganisation (Hrsg.). (1991). Anforderungsermittlung (Arbeitsbewertung) (2. Aufl.). München: Hanser-Verlag. Sackett, P.R. & Laczo, R.M. (2003). Job and work analysis. In W. C. Borman, D. R. Ilgen & R. J. Klimoski (Eds.), Handbook of Psychology, Vol. 12: Industrial and Organizational Psychology (pp. 21– 37). Hoboken, NJ: Wiley.
Sarges, W. (Hrsg.) (2002). Management-Diagnostik (3. Aufl.). Göttingen: Hogrefe. Schettgen, P. (1996). Arbeit, Leistung, Lohn. Analyse- und Bewertungsmethoden aus sozioökonomischer Perspektive. Stuttgart: Enke. Schmidt, F.L. & Hunter, J.E. (1998). The validity and utility of selection methods in Personnel Psychology. Practical and theoretical implications of 85 years of research findings. Psychological Bulletin, 124, 262–274. Schmidt, F.L., Hunter, J.E. & Pearlman, K. (1981). Task differences as moderators of aptitude test validity in selection: A red herring. Journal of Applied Psychology, 66, 166–185. Schuler, H. (2002). Das Einstellungsinterview. Göttingen: Hogrefe. Schuler, H. & Höft, S. (2004). Berufseignungsdiagnostik und Personalauswahl. In H. Schuler (Hrsg.), Organisationspsychologie – Grundlagen und Personalpsychologie. Enzyklopädie der Psychologie, Bd. D/III/3 (S. 439–532). Göttingen: Hogrefe. Schulze, R. & Holling, H. (2004). Strategien und Methoden der Versuchsplanung und Datenerhebung. In H. Schuler (Hrsg.), Organisationspsychologie – Grundlagen und Personalpsychologie. Enzyklopädie der Psychologie, Bd. D/III/3 (S. 131–245). Göttingen: Hogrefe. Sonntag, Kh. & Schaper, N. (1999). Personale Verhaltens- und Leistungsbedingungen. In C. Hoyos & D. Frey (Hrsg.), Arbeits- und Organisationspsychologie (S. 298–312). Weinheim: Beltz. Vinchur, A.J., Schippmann, J.S., Switzer, F.S. & Roth, P.L. (1998). A meta-analytic review of predictors of job performance for salespeople. Journal of Applied Psychology, 83, 586–597. Voß, G.G. (1998). Die Entgrenzung von Arbeit und Arbeitskraft. Eine subjektorientierte Interpretation Interpretation des Wandels der Arbeit. Mitteilungen aus der Arbeitsmarkt- und Berufsforschung, 31, 473–487.
15
16
16 Personalmarketing 16.1
Was versteht man unter dem Konzept Personalmarketing?
16.2
Grundlagen
16.2.1 16.2.2 16.2.3
Basisrate, Selektionsrate, Validität – 228 Intransparenz, externer und interner Arbeitsmarkt Der psychologische Kontrakt – 232
16.3
Personalansprache und Personalbindung – 233
16.3.1 16.3.2 16.3.3 16.3.4 16.3.5
Das Image der Organisation – 234 Merkmale der Tätigkeit bzw. der Stelle – 235 Wege der Bewerberansprache – 235 Wahrnehmung der Auswahlverfahren – 237 Die realistische Tätigkeitsvorschau – 238
Literatur
– 227
– 240
– 231
– 226
226
Kapitel 16 · Personalmarketing
> Die Personalarbeit in einer Organisation sollte eng auf die langfristigen Ziele der Organisation abgestimmt sein. Solche Ziele können z. B. das Erreichen einer bestimmten Eigenkapitalrendite, die Ausrichtung der Organisation auf bestimmte Kernprodukte, die Sicherstellung eines bestimmten Qualitätsniveaus der Produkte oder die Präsenz im asiatischen und nordamerikanischen Markt sein. Die Personalplanung soll dazu beitragen, dass diese Ziele erreicht werden können. Dazu müssen im Rahmen der Personalplanung z. B. folgende Fragen beantwortet werden: Innerhalb welches Zeitraumes (dies betrifft die Altersstruktur der Organisation) werden wie viele Mitarbeiter mit welchen Qualifikationen (dies betrifft die Qualifikationsstruktur der Mitarbeiter der Organisation) für welche Art von Stellen (Leitungspositionen, Fachpositionen, ausführende Tätigkeiten) benötigt, um diese Ziele zu erreichen? Die Personalplanung muss sich aber auch der Frage stellen, wie das Überleben und die Leistungsfähigkeit der Organisation sichergestellt werden können, wenn die Prognosen versagen, weil unvorhergesehene Entwicklungen und Veränderungen der Umwelt eintreten. Im Folgenden soll zunächst in 7 Abschn. 16.1 erläutert werden, was das Konzept Personalmarketing bedeutet. Dann wird in 7 Abschn. 16.2 ein kurzer Überblick über die einschlägigen Grundlagen gegeben. Dazu werden zuerst die Begriffe Basisrate, Selektionsrate und Validität im Rahmen der Personalauswahl erläutert. Dann wird das Problem der Intransparenz sowohl aus Sicht der Stellensuchenden als auch aus Sicht der Organisation verdeutlicht. Ferner wird das Konzept des sog. psychologischen Kontraktes vorgestellt. In 7 Abschn. 16.3 werden schließlich wichtige empirische Befunde aus dem Bereich der Personalansprache und Personalbindung vorgestellt. 7 Abschn. 16.4 fasst die wesentlichen Sachverhalte dieses Kapitels zusammen.
16.1
16
Was versteht man unter dem Konzept Personalmarketing?
Die Aufgabe des Personalmarketings besteht darin, vor dem Hintergrund der Zielstellungen der strategischen Planung und der Personalplanung 4 potenziell geeignete Arbeitskräfte zu identifizieren, 4 sie auf die Organisation und die dortigen Arbeitsplätze aufmerksam zu machen, 4 sie zu einer Bewerbung zu ermutigen sowie 4 diejenigen Personen, die von der Organisation ausgewählt und eingestellt wurden und sich als geeignet erwiesen haben, langfristig an die Organisation zu binden und sich 4 von den Personen zu trennen, die für eine Tätigkeit in der Organisation nicht (mehr) geeignet sind. Die langfristige Bindung geeigneter Personen an die Organisation kann als ein Mittel angesehen werden, um sich gegen die unvorhersehbaren Entwicklungen in der Umwelt abzusichern. Man bezeichnet dies auch als die Herausbildung eines internen Arbeitsmarktes durch
eine Organisation. Um neue Aufgaben zu erfüllen, sucht die Organisation dann geeignete Personen in den eigenen Reihen anstatt auf dem externen Arbeitsmarkt. Das Personalmarketing hat also zwei wesentliche Aufgaben, nämlich einerseits die sog. Bewerberansprache, man bezeichnet dies auch als Personal(an)werbung oder Recruiting, und andererseits die sog. Personalerhaltung, was auch als Personalpflege oder Personalbindung bezeichnet wird. Ein zentrales Hilfsmittel des Personalmarketing stellt die organisationale Personalforschung dar, deren einzelne Tatigkeitsfelder in der folgenden Übersicht zusammengestellt sind. Die Anwerbungsertragspyramide (Muchinsky, 2003) verdeutlicht die Bedeutung der Personalansprache (. Abb. 16.1). Um 5 Führungspositionen zu besetzen, bedarf es der doppelten Anzahl von Stellenangeboten, denn nicht jedes Stellenangebot wird angenommen: Manche Bewerber haben sich nur beworben, um ihren Marktwert zu testen. Andere führen Rückverhandlungen mit der Organisation, in der sie derzeit beschäftigt sind und erhal-
227 16.2 · Grundlagen
Aufgaben der organisationalen Personalforschung 4 Analyse des Arbeitsmarktes (z. B. gegenwärtige und zukünftige Bevölkerungsstruktur, Migrationsbewegungen, potenzielle Auslandsarbeitsmärkte) sowie der rechtlichen Rahmenbedingungen 4 Analyse der Ziele und Vorgehensweisen von externen Bewerbern und ihrer Mediennutzung 4 Analyse der Attraktivität von Konkurrenzorganisationen 4 Analyse von Fehlzeiten und Fluktuationen in der aktuellen Belegschaft und die regelmäßige Durchführung von Mitarbeiterbefragungen 4 Analyse des Branchen-, Unternehmens- und Arbeitgeberimages 4 Kostenanalyse und Erfolgskontrolle (Evaluation) der durchgeführten Maßnahmen im Personalmarketing
. Abb. 16.1. Die Anwerbungsertragspyramide nach Muchinsky (2003)
ten von dort ein besseres Angebot. Oft gibt es auch Hindernisse im privaten Bereich: Personen würden gerne eine neue Stelle annehmen, aber schrecken vor den Konsequenzen für den Partner oder die Kinder zurück. Um 10 Personen ein konkretes Einstellungsangebot machen zu können, müssen ca. 40 Bewerber in die engere Auswahl gezogen werden. Das Ergebnis der engeren Auswahl ist dann eine Entscheidung, wer für ein Angebot überhaupt in Frage kommt und in welcher Reihenfolge
die Bewerber ein Angebot erhalten sollen. Allerdings ist es so, dass nicht alle Personen, die zu einem Auswahlverfahren eingeladen werden, diese Einladung auch annehmen. Viele potenzielle Bewerber erkundigen sich schon im Vorfeld über die Organisation und die für sie in Frage kommenden Stellen und verfolgen dann den Kontakt nicht weiter, sei es, weil sie auf informellem Wege negative Informationen von einem Insider bekommen haben oder weil sie sich selbst als nicht geeignet für die Stelle einschätzen. Der Einladung zur Teilnahme an einem Auswahlverfahren geht die 4-fache Anzahl an Kontakten mit Bewerbern oder Interessenten voraus. Die Relation zwischen der Anzahl der erforderlichen Erstkontakte bis zu den tatsächlichen Neueinstellungen beträgt also knapp 1:50. Diese Zahlenrelationen repräsentieren allerdings lediglich ein konkretes Beispiel und variieren mit der Art der Zielpositionen, dem Personalsegment, der Lage am Arbeitsmarkt etc. Sie verdeutlichen jedoch sehr anschaulich, warum eine aktive Personalanwerbung für eine Organisation eine so große Bedeutung hat. Wenn eine Person einer Organisation beigetreten ist, kommt es darauf an, ihre Einarbeitung durch gezielte Eingliederungsmaßnahmen zu unterstützen und einen Realitätsschock, also eine starke erlebte Diskrepanz zwischen den Erwartungen, die zum Organisationsbeitritt geführt haben, und dem Erleben der tatsächlichen Bedingungen und Anforderungen am Arbeitsplatz und in der Organisation, zu vermeiden. Denn diese Diskrepanz führt zu einer erhöhten Anzahl von Kündigungen im Laufe des ersten Jahres nach dem Organisationseintritt (Highhouse & Hofmann, 2001). Allein wenn man den hohen Aufwand für die Anwerbung, Gewinnung und Einarbeitung neuer Mitarbeiter bedenkt, sollten solche Kündigungen nach Möglichkeit vermieden werden. Wenn sich allerdings im Laufe des ersten Jahres herauskristallisiert, dass keine Passung (Kristof, 1996) zwischen Person und Organisation vorliegt, dann ist es aus Sicht der Organisation wünschenswert, sich von solchen Personen zu trennen. 16.2
Grundlagen
Das Personalmarketing ist auf die Gewinnung und Bindung von Mitarbeitern ausgerichtet. Zur Gewinnung der Mitarbeiter ist Personalwerbung erforderlich. Diese Personalwerbung sollte auf die sich an sie anschließende Personalauswahl optimal abgestimmt sein. Wie diese
16
228
Kapitel 16 · Personalmarketing
Verzahnung zu erreichen ist, soll anhand der Konzepte Basisrate, Selektionsrate und Validität von Personalauswahlverfahren erläutert werden (7 Abschn. 16.2.1). Sowohl Bewerber als auch Organisationen haben oft die Tendenz, der jeweiligen Gegenseite nicht alle relevanten Informationen, sei es über die Stelle und die Organisation, sei es über die eigene Qualifikation und Motivation, zu offenbaren. Dies hat bedeutsame Konsequenzen sowohl für die Stellensuche seitens der Bewerber als auch für die Art der Mitarbeitereingliederung durch die Organisation. Aufgrund des Intransparenzproblems entsteht der sog. interne Arbeitsmarkt einer Organisation (7 Abschn. 16.2.2). Die Wahrnehmung der wechselseitigen Verpflichtungen und Zusagen im Rahmen eines Arbeitsverhältnisses ist Gegenstand des sog. psychologischen Vertrages. Psychologische Verträge können eher kurzfristig-monetär, d. h. transaktional, oder langfristig-affektiv, d. h. relational, ausgerichtet sein. Wahrgenommene Verletzungen des psychologischen Vertrages können kontraproduktives Verhalten, also z. B. Absentismus, Diebstahl oder Sabotage, der Mitarbeiter auslösen (7 Abschn. 16.2.3). 16.2.1
16
Basisrate, Selektionsrate, Validität
Ein wichtiges Ziel des Personalmarketing ist die Einstellung geeigneter Bewerber mit einem vertretbaren Aufwand. Ob dieses Ziel erreicht wird, hängt von verschiedenen Faktoren ab. Einen Faktor stellt die Unterschiedlichkeit der Qualifikationen der Bewerber dar. Im Regelfall sind nicht alle Bewerber geeignet, sondern es liegen erhebliche Unterschiede vor. Den Anteil der geeigneten Bewerber in einer Bewerberstichprobe bezeichnet man als Basisrate. Wenn sich beispielsweise 125 Kandidaten in einer Organisation um 38 Informatikerstellen bewerben und 50 Kandidaten für die Stellen geeignet sind, dann liegt eine Basisrate von 50/125 = .40 vor. Die Basisrate wird als Relation der Zahl der geeigneten Bewerber zur Bewerbergesamtzahl definiert. Ein weiterer Faktor ist die sog. Selektionsrate. Dies ist die Anzahl der Stellen, die im Verhältnis zur Anzahl der Bewerber zu besetzen sind. Im vorliegenden Beispiel würde die Selektionsrate 38/125≈.30 betragen. Ein weiterer wichtiger Faktor ist schließlich die Gültigkeit (Validität) des Auswahlverfahrens (7 Kap. 17). Sie variiert zwischen –1 und 1. Bei einem Auswahlver-
fahren, das eine Gültigkeit von 0 hat, würde die Wahrscheinlichkeit, geeignete Bewerber einzustellen, der Basisrate entsprechen. Bei einem Auswahlverfahren mit einer Validität von 1 gelingt es dagegen, alle geeigneten Bewerber in der Stichprobe korrekt zu identifizieren. Hätte man allein durch eine Losentscheidung die 38 Stellen aus den 125 Bewerbern besetzt, so wäre man zu einer Trefferquote von 40% gelangt und hätte nur 15 tatsächlich geeignete Personen eingestellt. Bei einer Validität des Auswahlverfahrens von 1 wäre es dagegen gelungen, alle 38 Stellen mit geeigneten Bewerbern zu besetzen. Und selbst wenn einige Bewerber das Angebot abgelehnt hätten, wäre immer noch sichergestellt gewesen, dass alle Stellen mit geeigneten Bewerbern besetzt werden, denn die Anzahl der geeigneten Personen lag im Beispiel mit 50 ja über der Anzahl von 38, also der Zahl der tatsächlich eingestellten Personen. In der Realität wird man aber Personalentscheidungen weder auf Zufallsbasis treffen, noch wird die Validität von Auswahlverfahren perfekt sein. Sehr gute Auswahlverfahren haben derzeit eine Validität von .65 (Schmidt & Hunter, 2000; 7 Kap. 16). Taylor und Russel (1939) haben ein Tabellenwerk entwickelt, das es ermöglicht, die Trefferquote eines Auswahlverfahrens in Abhängigkeit von seiner Validität sowie der Basisrate und der Selektionsrate zu schätzen. Ein Auszug des Tafelwerkes findet sich in Lienert und Raatz (1994). Bei einer Validität von .65 liegt die geschätzte Trefferquote im vorliegenden Beispiel mit einer Basisrate von .40 und einer Selektionsrate von .30 bei 72% – von den 38 ausgewählten Personen sind 27 Personen dann auch tatsächlich geeignet (. Abb. 16.2). Um die Trefferquote zu erhöhen, sind nach Taylor und Russel folgende Wege möglich: Erhöhung der Validität des Auswahlverfahrens, Erhöhung der Basisrate sowie Absenkung der Selektionsrate. Was zur Erhöhung der Validität von Auswahlverfahren getan werden kann – z. B. Durchführung von Anforderungsanalysen, Kombination niedrig korrelierter, aber hoch prognostisch valider Verfahren, Strukturierung von Einstellungsinterviews etc. wird in 7 Kap. 17 zur Personalauswahl dargestellt. Der Beitrag des Personalmarketing zur Erhöhung der Trefferquote konzentriert sich dagegen auf zwei Faktoren, nämlich zum einen auf die Erhöhung der Basisrate und zum anderen auf die Absenkung der Selektionsrate. Dafür bietet gerade die Personalansprache im Internet vielfältige Möglichkeiten (Kirbach, Montel, Oenning & Wottawa, 2004; Moser, Zempel & Göritz, 2003).
229 16.2 · Grundlagen
. Abb. 16.2. Steigerung der Trefferquote durch Senkung der Selektionsquote
Die Basisrate kann durch eine Vorselektion der Bewerberstichprobe erhöht werden. Dies ist der Sinn der Unterscheidung zwischen »Kontakten« und »Einladungen« in der Anwerbungsertragspyramide. Wichtige Elemente sind die Erhebung biographischer Informationen – beispielsweise zu den bei einem Bewerber vorhandenen Bildungs- und Ausbildungsabschlüssen – sowie die möglichst genaue Information potenziell Interessierter über die Stelle, die Organisation und insbesondere die Anforderungen, die gestellt werden. Dazu werden von Firmen neuerdings auch informationshaltige Spiele im Internet auf ihren Webseiten angeboten. Dabei kann der potenzielle Bewerber beispielsweise als virtueller Leiter eines interdisziplinären Projektteams reale Mitarbeiter und Führungskräfte des Unternehmens
kennenlernen. Diese Spiele werden zudem häufig als Wettbewerbe präsentiert. Ihre Funktion besteht darin, 4 Aufmerksamkeit zu wecken, 4 die Beschäftigung mit der Organisation zu intensivieren, 4 im Spiel Informationen über die Organisation weiterzugeben sowie 4 zielgruppenspezifisch ein positives Image der Organisation aufzubauen. Durch diese Informationsvermittlung soll aber insbesondere auch die Passung der Bewerber mit der Stelle und Organisation durch Selbstselektion erhöht werden. »Vorurteile« geeigneter Bewerber gegen die Organisation sollen abgebaut und reale Hindernisse bei ungeeigne-
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16
Kapitel 16 · Personalmarketing
Mit freundlicher Genehmigung der Deutschen Bahn AG.
230
. Abb. 16.3. Beispiel für Informationsvermittlung über Tätigkeiten in einer Organisation im Internet
ten potenziellen Bewerbern aufgezeigt werden. Im einen Fall ist das Ziel, die Bewerbungswahrscheinlichkeit zu erhöhen und im anderen Fall, sie zu senken. Neben der Abfrage biographischer Daten und der Vermittlung von Informationen zur Organisation und zu den Leistungsanforderungen der Stelle dient schließlich auch das Angebot von kostenfreien und anonymen Verfahren zur Selbsteinschätzung der Eignung dazu, ungeeignete In-
teressenten von einer Bewerbung abzuhalten und geeignete Personen für eine Bewerbung zu motivieren. Was kann das Personalmarketing zur Absenkung der Selektionsquote beitragen? Unter sonst gleichen Bedingungen liegt in unserem Beispiel die Trefferquote anstatt bei 72% bei 87%, wenn die Selektionsrate von .30 auf .10 reduziert wird (. Abb. 16.2). Um die Selektionsquote abzusenken gibt es zwei Wege: Entweder die An-
231 16.2 · Grundlagen
zahl der zu besetzenden Stellen wird reduziert oder die Anzahl der zugelassenen Bewerber wird erhöht. Die Selektionsrate kann also auch von .30 auf .10 reduziert werden, wenn unter sonst gleichen Bedingungen anstatt 125 nun 380 Bewerber zugelassen werden. Dies ist jedoch nur dann ein praktisch gangbarer Weg, wenn so viele Personen überhaupt angesprochen werden können und wenn die Kosten des Bewerbungsverfahrens dadurch nicht explodieren. Gerade hier bietet das Internet große Möglichkeiten: Jobbörsen sind Plattformen im Internet, auf denen Personen ihre eigenen Stellengesuche platzieren können. Organisationen können diese Gesuche mithilfe von Suchmaschinen zielgenau analysieren. Potenzielle Bewerber können überregional und sogar international angesprochen werden. Für die Bewerber ist eine Erreichbarkeit rund um die Uhr, risikofrei und zu für sie minimalen Kosten gegeben. Durch eine attraktive Gestaltung der eigenen Portale für potenzielle Bewerber durch Spiele, Wettbewerbe und die unverbindliche, kostenfreie Möglichkeit zum Self-Assessment wird die Aufmerksamkeit mit großer Reichweite und zugleich kostengünstig auf die Stellenangebote der Organisation gelenkt. Eine vergleichende Analyse der Kosten unterschiedlicher Wege der Bewerberansprache ergab, dass durch die Ansprache über das Internet die Kosten auf 20% oder weniger gegenüber Zeitungsanzeigen, Jobmessen oder Firmenpräsentationen auf dem Uni-Campus reduziert werden können (Konradt & Sarges, 2003). Dies bedeutet im Umkehrschluss, dass bei gleichem Kostenaufwand via Internet ein 5-mal so großer Personenkreis angesprochen werden kann. Dadurch wird die Selektionsquote wiederum entsprechend verkleinert, was schließlich der Erhöhung der Trefferquote des Auswahlverfahrens dient. 16.2.2
Intransparenz, externer und interner Arbeitsmarkt
Viele Stellen haben zwar manche Vorzüge, aber sie sind auch mit unattraktiven Aspekten verbunden. Eigentlich wäre es dann die Aufgabe des Personalmarketing, darauf hinzuwirken, dass die Stellen attraktiver gestaltet werden. Aber viele Organisationen auf der Suche nach neuen Mitarbeitern ziehen es vor, keine, unvollständige oder verfälschte Informationen über den Arbeitsplatz und die Organisation zu geben (Moser & Zempel, 2004). Um die Stellenwahl für die Bewerber intransparent zu
gestalten, verpflichten manche Organisationen ihre Mitglieder auch vertraglich dazu, über ihre Bezüge gegenüber Dritten Stillschweigen zu wahren. Deshalb fehlt es vielen Bewerbern auch an realistischen Informationen über die Stelle und über ihre Einkommensmöglichkeiten. Bewerbern mangelt es außerdem oft auch an Erfahrung mit Bewerbungssituationen, sodass sie die tatsächliche Güte eines Stellenangebotes nicht beurteilen können, weil ihnen die Möglichkeiten zum Vergleichen fehlen. Granovetter (1995) berichtet für die USA, dass über 60% der Stellensuchenden im Arbeiterbereich über informelle Kanäle (Verwandte, Freunde und Bekannte) Kontakt mit Organisationen aufnehmen. Ein wesentlicher Grund dafür dürfte sein, dass sie sich vorab über diese für sie glaubwürdigen Quellen über die tatsächlichen Verhältnisse in einer Organisation informieren und sich erst dann, bei positiven Auskünften, bewerben. Auch hier könnten in Zukunft das Internet und insbesondere die sog. Jobbörsen dazu beitragen, dass für die Arbeitsplatzsuchenden mehr Transparenz und Vergleichbarkeit am Arbeitsmarkt entsteht. Für eine Organisation, die auf dem externen Arbeitsmarkt nach Bewerbern sucht, stellt sich das umgekehrte Problem, nämlich dass in vielen Fällen oft nur näherungsweise beurteilt werden kann, ob die Bewerber über die gewünschten Qualifikationen und Erfahrungen tatsächlich verfügen und ob die von den Bewerbern dargestellte Leistungsorientierung und Zuverlässigkeit auch wirklich vorliegen. In einer Studie mit Hochschulabsolventen, die zu ihrem Bewerbungsverhalten befragt wurden, räumten 25% der befragten Personen ein, dass sie in Einstellungsgesprächen auch vor relativ massiven Unwahrheiten nicht zurückschrecken (Fletcher, 1989). Mit dieser Art von Problemen befasst sich die Organisationsökonomik (Wolff, 1999). Sie basiert auf dem Menschenbild des Homo oeconomicus und unterstellt, dass sich Bewerber wie rationale Nutzenmaximierer verhalten und bei der Verfolgung ihrer Ziele auch nicht vor Arglist und Täuschung zurückschrecken. Nach Auffassung dieser ökonomischen Theorie stehen dem Arbeitgeber folgende »Abwehrmaßnahmen« zur Verfügung: Suche nach glaubwürdigen Hinweisen. Er sucht nach
glaubwürdigen Signalen in der Vergangenheit der Bewerber, die aussagekräftige Hinweise über deren Motivation und Qualifikation geben. Ein solches Signal ist beispielsweise der erfolgreiche Erwerb eines Ausbildungsdiploms bzw. -zertifikates.
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232
Kapitel 16 · Personalmarketing
Referenzen. Weiterhin kann der potenzielle Arbeitgeber den Bewerber um Referenzen von früheren Arbeitgebern bitten oder selbstständig Auskünfte über diesen einholen. PsychologischeTestverfahren. Eine weitere Handlungsoption für den Arbeitgeber ist der Einsatz psychologischer Testverfahren, die es dem Arbeitgeber erlauben sollen, Qualifikation und Motivation der Bewerber objektiv einzuschätzen, anstatt sich nur auf die freien Selbstauskünfte der Bewerber verlassen zu müssen.
planung nicht erwartet wurden, zurückgreifen kann. Die Organisation hat damit zwei Probleme gleichzeitig gelöst. Zum einen hat sie Wege gefunden, mit ihrer Unsicherheit bezüglich Motivation und Qualifikation der Stellensucher umzugehen. Und zum anderen hat die Organisation auch Vorsorge für das Überleben und die Leistungsfähigkeit der Organisation für den Fall geleistet, dass die Zukunftsprognosen der strategischen Planung versagen. 16.2.3
Der psychologische Kontrakt
Spezifizierung der Vertragsangebote. Außerdem kann
der Arbeitgeber den Bewerbern auch unterschiedlich spezifizierte Vertragsangebote machen. Der Arbeitsgeber sucht dabei die Bewerber, die bereit sind, sich auf solche Verträge einzulassen, bei denen die Beschäftigten zunächst Vorleistungen zu erbringen haben und sich der finanzielle Nutzen für sie erst mittelfristig einstellt. Die Annahme ist dabei, dass sich auf einen derartigen Vertrag nur solche Personen einlassen, die ihre Qualifikation und Motivation wahrheitsgemäß dargestellt haben und die sich selbst als beständig und konkurrenzfähig genug einschätzen, um die Durststrecke bis zum Erreichen attraktiverer Positionen durchzustehen. Eine mittel- und langfristige Beschäftigung in der Organisation erlaubt es nun auch dem Arbeitgeber selbst, sich ein zutreffendes Bild von den Qualifikationen und der Motivation des Beschäftigten aufgrund seines tagtäglichen Arbeitsverhaltens zu machen.
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Längerfristige Beobachtung der Bewerber. Manche Organisationen stellen daher auch mehr Beschäftigte ein, als sie tatsächlich benötigen (Rastetter, 1996). Dies geschieht z. B. in Form von sog. Traineeprogrammen für Nachwuchskräfte im Fach- und Führungskräftebereich, die zwischen 6 und 24 Monaten dauern und bei denen die potenziellen Nachwuchskräfte verschiedene Abteilungen des Unternehmens durchlaufen. Dieser Beschäftigungsüberschuss hat die Funktion, erfolgversprechende Bewerber über längere Zeit hinweg zu beobachten. Passende Einsteiger steigen danach auf, die anderen erhalten im Anschluss keine Vertragsverlängerung. So bildet sich im Laufe der Zeit in der Organisation ein Überschuss an qualifizierten und motivierten Arbeitskräften (dies ist der sog. innerbetriebliche Arbeitsmarkt), auf die die Organisation im Bedarfsfall, z. B. wenn unvorhergesehene Entwicklungen eintreten, die von der Personal-
Im Gegensatz zum Menschenbild des homo oeconomicus basieren personalpsychologische Ansätze auf dem Menschenbild des komplexen Menschen (Blickle, 2004). Dies bedeutet, dass die Personalpsychologie zum einen davon ausgeht, dass es zwischen verschiedenen Menschen große Unterschiede in Bezug auf deren Interessen, Fähigkeiten und deren Motivation gibt, und zum anderen davon, dass dieselben Menschen je nach sonstigen situativen Gegebenheiten die gleichen Sachverhalte sehr unterschiedlich wahrnehmen, erleben, bewerten und darauf reagieren. Dabei spielt insbesondere der soziale Kontext eine wichtige Rolle, denn er trägt zu einer sich selbst erfüllenden Prophezeiung bei. Führungskräfte, die davon ausgehen, dass Mitarbeiter grundsätzlich versuchen, durch Arglist und Täuschung mit minimalem Arbeitseinsatz ein Maximum an Vergütung zu erzielen, tragen durch diese Erwartungen, die sie implizit oder auch explizit an die Beschäftigten kommunizieren, dazu bei, dass die Mitarbeiter sich auch tatsächlich entsprechend verhalten. Führungskräfte dagegen, die davon ausgehen, dass es viele Menschen gibt, für die die Arbeitstätigkeit in ihrem Leben eine zentrale Rolle spielt und die versuchen, in der Arbeit ihre eigene Identität zu verwirklichen, 4 verhalten sich wertschätzend gegenüber ihren Mitarbeitern, 4 räumen ihnen Mitsprachemöglichkeiten ein, 4 suchen nach Gelegenheiten für die persönliche Weiterqualifizierung dieser Mitarbeiter und 4 sind bemüht, ein Vertrauensverhältnis zu ihren Mitarbeitern aufzubauen. Solche Verhaltensweisen von Vorgesetzten tragen zur Entwicklung eines relationalen Kontraktes (7 unten) zwischen Person und Organisation bei.
233 16.3 · Personalansprache und Personalbindung
Der formale Arbeitsvertrag ist die rechtliche Basis für den Organisationsbeitritt einer Person. Die erlebte Bindung an die Organisation ergibt sich jedoch aus dem sog. psychologischen Vertrag (Rousseau, 1995). Das Konzept des psychologischen Vertrages ist ein psychologisches Konstrukt, das die subjektiv erlebte Bindung einer Person an eine Organisation verständlich machen soll. Die Grundlage des psychologischen Kontraktes ist die Überzeugung einer Person, dass sie der Organisation und die Organisation ihr zumindest implizit ein Versprechen bzw. eine Zusage gemacht hat. Sie ist weiterhin davon überzeugt, dass beide Seiten diese Zusagen akzeptiert haben. Daraus ergibt sich für die beschäftigte Person die Wahrnehmung der wechselseitigen Verpflichtungen zwischen Person und Organisation. Beispielsweise kann die Bindung einer Person an eine Organisation auf der Erwartung beruhen, dass die Organisation ihr einen sicheren Arbeitsplatz und Aufstiegsmöglichkeiten zusagt, so lange sie im Gegenzug engagiert arbeitet und die Organisation loyal unterstützt. Die Person geht schließlich davon aus, dass beide Seiten die gleichen Auffassungen in Bezug auf den jeweiligen psychologischen Kontrakt haben. Allerdings können sich die Überzeugungen in Bezug auf die wechselseitigen Verpflichtungen im Laufe der Beschäftigungsdauer durchaus verändern. Rousseau (1995) geht davon aus, dass sich der jeweils konkrete psychologische Kontrakt einer Person auf einem Kontinuum mit den beiden Polen transaktionale versus relationale Kontrakte einordnen lässt. Transaktionale Kontrakte sind durch eine kurze Zeitperspektive und spezifische Verpflichtungen gekennzeichnet, wobei der finanzielle Aspekt ganz im Vordergrund steht. Dies entspricht dem Zugehörigkeitsgefühl zu einer Organisation auf der Basis einer Jobperspektive. Relationale Kontrakte sind durch eine langfristige Zeitperspektive und unscharf definierte Verpflichtungen gekennzeichnet. Neben den finanziellen Aspekten ist die langfristige Aufrechterhaltung der Zugehörigkeit zu der Organisation sowie die emotionale Einbindung in die Organisation ein zentrales Motiv bei solchen Verträgen. Die Person, die ihre Bindung an die Organisation im Sinne eines relationalen Kontraktes wahrnimmt, zeigt ein hohes Maß an Einsatz für die Organisation und Loyalität ihr gegenüber. Zu einer wahrgenommenen Verletzung eines psychologischen Vertrages kommt es, wenn die beschäftigte Person den Eindruck gewinnt, dass
4 vonseiten der Organisation Versprechen und Zusagen nicht eingehalten werden, wie z. B. dass die zugesagte Einarbeitung nicht stattgefunden hat, 4 die tatsächlichen Bezüge unter den in Aussicht gestellten Bezügen liegen, 4 die Aufstiegsmöglichkeiten entgegen dem, was besprochen worden war, nicht erkennbar sind, 4 trotz behaupteter Krisenfestigkeit des Arbeitsplatzes eine Entlassung nicht ausgeschlossen ist, 4 das Betriebsklima im Gegensatz zu der Darstellung vor der Einstellung wenig unterstützend ist oder 4 entgegen der Zusage noch nie ein Rückmeldungsgespräch mit dem Vorgesetzten stattgefunden hat. Solche wahrgenommenen Verletzungen des psychologischen Vertrages reduzieren das Vertrauen gegenüber der Organisation, sie vermindern die Arbeitszufriedenheit und lassen bei den Betroffenen den Wunsch entstehen, die Organisation wieder zu verlassen. Es kommt dadurch zu einer zunehmenden psychischen Distanz zwischen der Person und der Organisation und der Vertrag entwickelt sich zunehmend in eine transaktionale Richtung. Allerdings gibt es zunächst Versuche, einen eher relationalen Kontrakt aufrechtzuerhalten, in dem die betroffene Person die von ihr wahrgenommenen Kontraktverletzungen offen gegenüber dem Vorgesetzen anspricht. Ist der Ausgang eines solchen Gespräches unbefriedigend für die Person, kommt es zum inneren Rückzug. Die beschäftigte Person leistet Dienst nach Vorschrift, verhält sich passiv und übernimmt keine Verantwortung mehr. Als extrem wahrgenommene Verletzungen des psychologischen Vertrages können sogar bis zum Diebstahl, zur gezielten Sabotage oder zu körperlichen Tätlichkeiten gegen die als verantwortlich eingeschätzte Person führen. Dies wird als kontraproduktives Verhalten (7 Kap. 25) bezeichnet (Martinko, Gundlach & Douglas, 2002; McLean Parks & Kidder, 1994). 16.3
Personalansprache und Personalbindung
Im Folgenden werden zentrale Elemente von der Personalansprache bis zur Personalbindung angesprochen: Eine wichtige Determinante, ob Personalwerbung positive Resonanz auslöst, ist das Image der Organisation. Ein positives Image bewirkt, dass potenzielle Bewerber empfänglicher für Informationen über eine Organisati-
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Kapitel 16 · Personalmarketing
on sind (7 Abschn. 16.3.1). Die Bewertung der Merkmale der zu besetzenden Stellen aus der Sicht der Bewerber ist ein weiterer wichtiger Einflussfaktor auf den Erfolg der Personalansprache. Aufgabe des Personalmarketing ist es, die kritischen Stellenmerkmale zu identifizieren und in geeigneter Weise den Bewerbern zu präsentieren (7 Abschn. 16.3.2). Für die Bewerberansprache stehen verschiedene Wege zur Verfügung. Offizielle Repräsentanten der Firma, sog. Recruiter, beeinflussen durch ihr Auftreten die wahrgenommene Attraktivität einer Stelle und haben deswegen einen starken Einfluss darauf, ob sich jemand tatsächlich bewirbt oder nicht. Besonders effektiv für die Einstellung von Bewerbern und für den Eingliederungserfolg ist auch die Ansprache auf informellem Wege über Verwandte, Bekannte und Freunde (7 Abschn. 16.3.3). Auch das eingesetzte Auswahlverfahren wirkt sich auf das Image der Organisation sowie die Bereitschaft aus, ein Stellenangebot anzunehmen oder auszuschlagen. Interviews haben eine hohe Akzeptanz, graphologische Verfahren werden dagegen von den Bewerbern abgelehnt (7 Abschn. 16.3.4). Die Aufgabe der Personalpflege im Rahmen des Personalmarketing besteht darin, die Bildung von Erwartungen an die Organisation gezielt zu steuern und erzeugte Erwartungen einzulösen. Zu diesem Zweck wird die realistische Tätigkeitsvorschau eingesetzt (7 Abschn. 16.3.5). 16.3.1
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ganisation sind und aufmerksamer auf diese Informationen achten. 4 Schließlich sind Bewerber auch bereit, aufgrund eines sehr positiven Organisationsimages ein geringeres Einstiegsgehalt zu akzeptieren (Cable & Turban, 2003).
Wichtige Einflussgrößen für das Image der Organisation 4 Branche, in der die Organisation angesiedelt ist 4 Rentabilität des Unternehmens 4 Vertrautheit der Zielgruppe mit der Organisation (Cable & Graham, 2000); die Vertrautheit mit der Organisation wird sowohl durch Produktwerbung als auch durch Imagewerbung beeinflusst 4 Bei akademisch gebildeten Nachwuchskräften haben die Präsenz in den Hochschulen sowie die Verfügbarkeit von Informations- und Werbematerial einen positiven Einfluss auf das Image der Organisation. Eine Studie von Gatewood, Gowan und Lautenschlager (1993) zeigte Folgendes: Je umfangreicher die Informationen für die Zielgruppe waren, die die Organisationen über sich zur Verfügung stellten, desto günstiger war das Image bei der Zielgruppe und desto stärker war auch die Bereitschaft ausgeprägt, sich bei dieser Organisation zu bewerben
Das Image der Organisation
Für die Personalansprache spielt das Image einer Organisation eine wichtige Rolle. Darunter kann man das Bild verstehen, das sich die Öffentlichkeit von einer Organisation macht. 4 Ein positives Image in der Öffentlichkeit gibt den Mitgliedern der Organisation Gelegenheit, Stolz über ihre Zugehörigkeit zu empfinden, was sich auch positiv auf das Selbstwertgefühl später als Mitarbeiter auswirkt. 4 Ein positives Image wird von vielen Bewerbern darüber hinaus als Signal für angenehme Arbeitsbedingungen, hohe Bezahlung sowie zahlreiche Aufstiegsmöglichkeiten gedeutet, auch wenn dazu für sie noch keine konkreten Informationen vorliegen. 4 Außerdem bewirkt ein positives Image, dass Bewerber empfänglicher für Informationen über eine Or-
Folgende Instrumente werden von Firmen u. a. eingesetzt, um ein positives Image von sich an Schulen zu erzeugen, deren Absolventen als Auszubildende potenziell der Organisation beitreten könnten: 4 Spenden für Schulpreise, 4 Förderung des Schulsports, 4 Finanzierung von Computern oder anderer technischer Ausstattung, 4 Einladung zu und Durchführung von Betriebsbesichtigungen, 4 Vorträge und Präsentationen von Firmenvertretern in der Schule oder 4 Gewinnung von Lehrern der Schule als Dozenten für das Unternehmen (Moser & Zempel, 2004).
235 16.3 · Personalansprache und Personalbindung
16.3.2
Merkmale der Tätigkeit bzw. der Stelle
Barber und Roehling (1993) baten Stellensuchende, fiktive Stellenausschreibungen daraufhin zu sichten, ob sie Kontakt mit der entsprechenden Organisation aufnehmen würden, und alle Gedanken laut auszusprechen, die ihnen dabei durch den Kopf gingen. Anschließend wurden die Protokolle des lauten Denkens systematisch ausgewertet. Es zeigte sich, dass der Ort der potenziellen Arbeitsstelle sowie die voraussichtliche Bezahlung und die geldwerten Zusatzleistungen mit der meisten Aufmerksamkeit bedacht wurden. Längere Aufmerksamkeit erregten außerdem die Menge von Informationen, die über die Stelle gegeben wurden, sowie Stellenmerkmale, die extrem oder außergewöhnlich waren. Die Stellensuchenden nutzen die Informationen in den Stellenausschreibungen, um sich auch ein ungefähres Bild von anderen Merkmalen der Stelle zu machen: Die Bezeichnung der Stelle sowie die Branche wurden als Hinweise auf das Ausmaß an Eigenverantwortung und die Komplexität der Aufgabe verwendet. Die Höhe der Bezüge diente als Hinweis auf die voraussichtliche tatsächliche Arbeitszeit. Die Firmengröße und die geldwerten Zusatzleistungen wurden schließlich als Hinweise auf die Arbeitsplatzsicherheit interpretiert. Um herauszufinden, welche Stellen- und Tätigkeitsmerkmale für potenzielle Interessenten oder Bewerber in einem bestimmten Bereich wichtig sind (z. B. für den Nachwuchs im Handwerks-, im Gastronomie-, im Kranken- und Pflegebereich oder bei der Polizei), sollten Branchen bzw. Organisationen in bestimmten Bereichen mit Nachwuchssorgen zuvor systematisch die Präferenzen ihrer vorhandenen Nachwuchskräfte analysieren, um daraus Erkenntnisse darüber ableiten zu können, was für die Personen, die sich für einen bestimmten Beruf entschieden haben bzw. die einer bestimmten Organisation beigetreten sind, relevante Anreize darstellen und wo sie gravierende Defizite wahrnehmen. So erwies sich z. B. die Arbeitsplatzsicherheit in den 80er Jahren des letzten Jahrhunderts in Deutschland als wichtiges Attraktionsmerkmal für Beschäftigte im Sozial- und Gesundheitsbereich, die geringe Vergütung wurde dagegen als ein Defizit wahrgenommen (Moser, 1992). Ebenso sollte die Wahrnehmung der Tätigkeitsfelder bei denjenigen untersucht werden, die zwar die relevanten Einstiegsvoraussetzungen erfüllen, wie z. B. eine entsprechende Schulbildung, sich aber trotzdem für andere
Branchen- bzw. Berufsbereiche und damit gegen die Zielbranche entschieden haben. Die Beseitigung solcher Defizite durch Modifikation von Arbeitsplatzmerkmalen gehört ebenfalls zu den wichtigen Aufgaben des Personalmarketing. 16.3.3
Wege der Bewerberansprache
Bei der externen Bewerberansprache steht eine Vielzahl von Möglichkeiten zur Verfügung, die in der folgenden Übersicht exemplarisch am Beispiel der Ansprache von Hochschulabsolventen (Moser & Zempel, 2004) aufgezeigt werden sollen. Beim persönliche Kontakt mit einem offiziellen Firmenrepräsentanten spielt dessen Auftreten eine wichtige Rolle: Verbindet ein sog. Recruiter ein professionelles Auftreten mit einer positiven affektiven Ausstrahlung, so wirkt sich dies auch günstig auf die Wahrnehmung der
Möglichkeiten der Ansprache von Hochschulabsolventen 4 Traditionelle Stellenanzeigen 4 Firmenpräsentationen in Zeitungen und Zeitschriften 4 Firmen- und Stellenpräsentation im Internet 4 Broschüren, die die Organisation und die Einstiegsmöglichkeiten darstellen 4 Vorträge und Unternehmenspräsentation an Hochschulen 4 Entsenden von Lehrbeauftragten 4 Präsenz bei Jobmessen und Firmenkontaktgesprächen 4 Anbieten von Praktikantenplätzen und Ferienjobs 4 Kontakte zu Professoren und ihren Mitarbeitern 4 Kooperationen mit studentischen Vereinen 4 Vergabe von Diplom- und Promotionsarbeiten 4 Veranstaltung von Unternehmensplanspielen 4 Einrichtung von Förderkreisen für ausgewählte Studierende 4 Vergabe von Stipendien und Preisen 4 Erwerb von Absolventenbüchern 4 Unterstützung von Ehemaligenvereinigungen 4 Einsatz von Personalberatern
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Kapitel 16 · Personalmarketing
Attraktivität der Stelle sowie den vermuteten Umgang der Organisation mit den Beschäftigten aus. Aus dem Auftreten des Recruiters wird auch auf die eigene Passung zur Organisation geschlossen. Für den Erfolg der Anwerbung ist es außerdem wichtig, dass der Recruiter bei seinen Kontakten eine Vorselektion trifft und den vermutlich geeigneten Interessenten signalisiert, dass sie gute Chancen haben, eine Stelle zu bekommen. Dies vermittelt den Interessenten in Bezug auf die nachfolgende Bewerbung Erfolgszuversicht. Das Auftreten eines Recruiters kann also das Interesse an einer Organisation und die Bereitschaft, sich dort zu bewerben, positiv beeinflussen. Allerdings zeigte sich, dass, wenn die objektiven Merkmale der beworbenen Stellen dann statistisch kontrolliert wurden, die Wahrnehmung des Recruiters keinen eigenständigen Einfluss mehr auf die Entscheidung hatte, ob jemand ein Stellenangebot akzeptierte oder nicht (Rynes & Cable, 2003). Das Auftreten des Recruiters wirkt also erleichternd, aber nicht entscheidend. Als eine besonders wirkungsvolle Form der Personalansprache hat sich die informelle Kontaktierung von potenziell geeigneten Personen im Verwandtschafts-, Freundschafts- oder Bekanntschaftskreis von Firmenangehörigen erwiesen (Moser, 1995). Dies hat eine Reihe von Gründen: 4 Persönliche Vertraute haben eine höhere Glaubwürdigkeit für Externe als offizielle Repräsentanten der Organisation. Dies löst das Intransparenzproblem für die Bewerber. 4 Die aktuellen Organisationsmitglieder treffen weiterhin vor der Ansprache potenzieller Interessenten eine Vorauswahl in Bezug auf deren fachliche und persönliche Eignung. Dies steigert die Basisrate im Selektionsprozess. 4 Die Organisationsangehörigen informieren außerdem die Interessenten in realistischerer Weise über die zukünftigen Anforderungen, was den Bewerbern hilft, angemessene Erwartungen zu bilden und später gute Leistungen zu erbringen.
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. Abb. 16.4. Beispiel für Bewerberansprache aus Zeitung/Zeitschrift
Die Organisationsangehörigen unterstützen häufiger aktiv die Eingliederung der neuen Mitarbeiter in die Organisation und sorgen auch für eine großzügigere und nachsichtigere Beurteilung dieser Organisationsneulinge, wenn ihnen Fehler unterlaufen sollten. Informell angesprochene Bewerber zeigen deswegen später höhere Leistungen, fehlen seltener und identifizieren sich stärker mit der Organisation. Allerdings trägt dieser Prozess
237 16.3 · Personalansprache und Personalbindung
auch zur psychologischen und sozialen Homogenisierung der Organisationsmitglieder bei. Homogenisierung bedeutet, dass sich die Mitglieder der Organisation in ihren Werthaltungen, Persönlichkeitsmerkmalen und Einstellungen immer ähnlicher werden. Übersteigt diese Homogenität jedoch ein bestimmtes Maß, so leidet darunter die Innovationsfähigkeit der Organisation (Schneider, Smith & Paul, 2001; auch 7 Kap. 11 und 12). Außerdem bilden sich so leicht informelle Netzwerke unter den Mitarbeitern. Verlässt ein einflussreiches Mitglied eines solchen informellen Netzwerkes dann die Organisation, steigt die Wahrscheinlichkeit überproportional an, dass auch die anderen Netzwerkmitglieder die Organisation verlassen werden (Krackhardt & Porter, 1986). 16.3.4
Wahrnehmung der Auswahlverfahren
Für den Erfolg der Personalansprache und -gewinnung ist auch die Wahrnehmung der Auswahlverfahren aus der Perspektive der potenziellen und tatsächlichen Bewerber von großer Bedeutung. Heinz Schuler und seine Mitarbeiter gehörten zu den ersten, die sich mit diesen Sachverhalten in der Personalpsychologie befasst haben (Schuler & Stehle, 1983; Schuler, Frier & Kaufmann, 1991). Sie entwickelten dabei das Konzept der sog. sozialen Validität von Auswahlverfahren. Ein Auswahlverfahren sollte demnach so gestaltet sein und durchgeführt werden, dass auch abgelehnte Bewerber das Verfahren und seine Anwendung als akzeptabel empfinden. Inzwischen hat dieses Thema zu einer großen Zahl an Studien geführt. Einen qualitativen Überblick über diese Forschungsarbeiten geben Anderson, Born und Cunningham-Snell (2001). Eine quantitative Zusammenfassung der Befunde aus 86 Stichproben auf der Basis von insgesamt 48 750 Befragten aus Europa und Amerika in der Form einer Metaanalyse (7 Kap. 3) haben Hausknecht, Day und Thomas (2004) zusammengestellt. Untersucht wurde, wie sich die Beteiligung an einem Auswahlverfahren auswirkt, und zwar einerseits auf das Selbstwertgefühl der Teilnehmer und die Selbsteinschätzung ihres eigenen Könnens und andererseits auf die wahrgenommene Attraktivität der Organisation, die Bereitschaft, ein Stellenangebot zu akzeptieren, sowie die Bereitschaft, im Ablehnungsfall gegen die Organisation zu klagen oder diese trotzdem weiterzuemp-
fehlen und auch weiterhin die Produkte des Unternehmens zu kaufen. Verfahren mit geringerer sozialer Validität führen zu geringerer Akzeptanz. Dies bedeutet, dass die Bewerber bei geringerer sozialer Validität ein herabgesetztes Selbstwertgefühl und weniger Zutrauen in ihre eigenen Kompetenzen haben. Sie schätzen die Organisation als weniger attraktiv ein. Ihre Bereitschaft, ein Stellenangebot zu akzeptieren, so es denn übermittelt wird, sinkt. Ihre Bereitschaft, gegen die Organisation zu klagen, steigt. Eine Weiterempfehlung der Organisation unterbleibt, und der Kauf der Produkte der Firma wird verweigert. Ein wichtiger Untersuchungsgegenstand ist, wie einzelne Auswahlinstrumente (z. B. Interviews, Arbeitsproben, Intelligenztests, biographische Fragebögen) hinsichtlich des Arbeitsplatzbezuges oder ihrer Fairness eingeschätzt werden. Die Metaanalyse von Hausknecht et al. (2004) zeigte die in der folgenden Übersicht wiedergegebene Reihenfolge in Bezug auf die Akzeptanz der Einzelinstrumente aus der Sicht der Bewerber (1 = höchste Akzeptanz, 10 = geringste Akzeptanz):
Auswahlinstrumente in der Reihenfolge ihrer Akzeptanz durch die Bewerber 1. 2. 3. 4. 5. 6. 7. 8.
Interviews Arbeitsproben Lebenslauf Arbeitszeugnisse (Referenzen) Intelligenztests Persönlichkeitstests Biographische Verfahren Persönliche Bekanntschaft mit der einstellenden Person 9. Ehrlichkeitstests 10. Graphologische Analysen
Wichtige Aspekte für die Wahrnehmung der Akzeptabilität von Auswahlverfahren insgesamt – also neben der Akzeptabilität der Instrumente auch die Akzeptanz der Durchführung sowie der Ergebnisse – sind (Hausknecht et al., 2004) 4 die wahrgenommene prozedurale Gerechtigkeit (Konsistenz, Transparenz und Sachgerechtigkeit des Vorgehens, d. h. vor allem Tätigkeitsbezug, Augen-
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Kapitel 16 · Personalmarketing
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scheinvalidität und wahrgenommene Vorhersagevaldität), die wahrgenommene interpersonale Gerechtigkeit (Höflichkeit und Respekt im Umgang mit den Kandidaten) die wahrgenommene informationale Gerechtigkeit (Begründung des Vorgehens, Vermeiden von Täuschung, Rückmeldung über die Ergebnisse an die Teilnehmer) die wahrgenommene distributive Gerechtigkeit (z. B. Anteil von Frauen oder von Minderheiten bei den Akzeptierten), die Wahrnehmung des eigenen Befindens während des Auswahlverfahrens (Testängstlichkeit, Testmotivation) die Einstellung zu Auswahlverfahren und Tests im Allgemeinen.
Die Akzeptanz eines Auswahlverfahrens ist also umso höher, je größer die wahrgenommene Fairness (prozedurale, interpersonale, informationale und distributive Gerechtigkeit), je höher die Testmotivation, je geringer die Testängstlichkeit und je positiver die Einstellungen zu Auswahlverfahren und Tests bei einer Person i. Allg. ausgeprägt sind. Von besonderem Gewicht für die Akzeptanz insgesamt sind zwei Faktoren der wahrgenommenen prozeduralen Fairness. Zum einen die Augenscheinvalidität, die von den Bewerbern mit dem Verfahren verbunden wird: Bei hoher Augenscheinvalidität haben die Bewerber den Eindruck, dass durch das Verfahren alle wichtigen Aspekte der späteren Tätigkeit an einem bestimmten Arbeitsplatzes abgedeckt werden. Zum anderen die wahrgenommene Vorhersagevalidität des Verfahrens: Dies bedeutet, wie gut man nach Meinung der Bewerber aufgrund des Verhaltens in einem Auswahlverfahren die spätere berufliche Leistung in der zu besetzenden Stelle vorhersagen kann. 16.3.5
Die realistische Tätigkeitsvorschau
Eine nicht gelungene Eingliederung von Personen in Organisationen kostet Letztere viel Geld, nämlich die Kosten der Personalsuche (z. B. teure Stellenanzeigen in Zeitungen und Zeitschriften), die Kosten eines Personalvermittlers (Headhunters), die Kosten der Personalauswahl (z. B. kostet ein zweitägiges Assessment-
Center ca. 15.000 €) und die Kosten der Einarbeitung. Aus diesem Grund wäre es fatal für Organisationen, wenn Personen bereits nach wenigen Monaten die Organisation wieder verlassen und ein schlechtes Image über die Organisation verbreiten. Das wirkt abschreckend auf andere potenzielle Bewerber. Eine wichtige Möglichkeit, um frühzeitige Abwanderung kurz nach der Einstellung zu verhindern, stellt eine sog. realistische Tätigkeitsvorschau – Realistic Job Preview – dar. Mithilfe der realistischen Tätigkeitsvorschau wird der Versuch unternommen, die Erwartungen der Bewerber oder Organisationsneulinge realistisch auszurichten, was in der Regel bedeutet, das Erwartungsniveau der Neueinsteiger abzusenken. Dies bedeutet, dass Unternehmen im Bewerbergespräch oder beim Organisationseintritt darauf verzichten, die Tätigkeit und die Firma in goldenen Farben zu schildern, wenn dies nicht zutrifft. Sie sollten darauf verzichten, gezielt vage Hoffnungen zu stimulieren und stattdessen auch die mühseligen und unangenehmen Seiten der zukünftigen Tätigkeit hinreichend darstellen. Einen metaanalytischen Überblick zur realistischen Tätigkeitsvorschau gibt Phillips (1998). Die Aufgabe der Personalpflege im Rahmen des Personalmarketing besteht also darin, die Bildung von Erwartungen an die Organisation gezielt zu steuern und erzeugte Erwartungen einzulösen. Wichtige Instrumente dafür sind die realistische Tätigkeitsvorschau sowie gezielte Einarbeitungsmaßnahmen für neue Mitarbeiter. Weiterhin kommt es darauf an, regelmäßig zu erfassen, wie die Belegschaft das Organisationsklima erlebt und bei wahrgenommenen Missständen Gegenmaßnahmen zu ergreifen. Regelmäßige Mitarbeiterbefragungen (Borg, 2003) sowie die Initiierung von sog. Qualitätszirkeln (Antoni, 2002) können dabei helfen. Besondere Belastungen, die einzelne Mitarbeiter oder ganze Mitarbeitergruppen betreffen, erfordern schließlich wirksame und auch für die anderen Mitarbeiter deutlich sichtbare Maßnamen, die das Vertrauen in den relationalen Kontrakt stabilisieren. Ein Beispiel dafür sind sog. Outplacementmaßnahmen, die sich ergreifen lassen, wenn es zu betriebsbedingten Kündigungen kommt. Diese Maßnahmen (Hofmann, 2001) sind kostenlose Bewerbertrainings für diejenigen Mitarbeiter, die in der Organisation nicht weiter beschäftigt werden können.
239 16.3 · Personalansprache und Personalbindung
Studien zur Absenkung des Erwartungsniveaus beim Organisationseintritt Buckley, Fedor, Veres, Wiese und Carraher (1998) haben ein Experiment zur Absenkung des Erwartungsniveaus beim Organisationseintritt von Fließbandarbeitern durchgeführt. Die Intervention fand nach der Einstellung, aber vor dem Stellenantritt statt. Alle Bewerber hatten also in der Phase der Personalansprache und -auswahl so viele positive Informationen über die Organisation aufgenommen, dass sie gewillt waren, der Organisation beizutreten. In der Kontrollgruppe wurde den Neueinsteigern nur das Organisationshandbuch, das Zuständigkeiten und Aufgaben in der Organisation regelt, mit der Aufforderung, es bis zum nächsten Tag durchzulesen, ausgehändigt. Diese Gruppe erhielt also weder zusätzliche positive noch zusätzliche negative Informationen über die Organisation und den zukünftigen Arbeitsplatz über das hinaus, was sie in der Phase der Personalansprache und -auswahl schon gehört hatten. In der zweiten Gruppe wurden viele zusätzliche positive Informationen über die Organisation, aber keine Informationen über die Stelle selbst gegeben. In der dritten Gruppe wurde eine realistische Tätigkeitsvorschau betrieben, d. h., es wurden sowohl die positiven Aspekte der Zugehörigkeit zu der Organisation, aber auch die negativen Seiten der Tätigkeit dargestellt, wie z. B. »Es kommt öfters vor, dass sie unter einem harten Zeitdruck werden arbeiten müssen«, »Es gibt einen starken Wettbewerb zwischen verschiedenen Arbeitsgruppen«, »Die Arbeit ist körperlich sehr anstrengend und auch manchmal mit unangenehmen Geräuschen und unangenehmen
Temperaturen verbunden.« In der letzten Gruppe wurden gezielt mögliche Erwartungen der Neulinge angesprochen und mitgeteilt, dass diese nur in sehr geringem Umfang erfüllt werden könnten. Abhänge Variable war die Kündigung nach 6 Monaten und nach 1 Jahr. Es zeigte sich, dass die Kündigungsrate bei der realistischen Tätigkeitsvorschau und in der Erwartungsreduktionsgruppe sowohl nach 6 Monaten als auch nach 1 Jahr signifikant geringer war als in den anderen beiden Gruppen (. Abb. 16.5). Eine Studie von Bretz und Judge (1998) zeigte allerdings auch, dass durch eine realistische Tätigkeitsvorschau bei Bewerbern die Attraktivität der Organisation deutlich gesenkt wird. In der Tendenz gewichteten hoch qualifizierte, aber beruflich unerfahrene Bewerber diese negativen Informationen am stärksten. Anders ausgedrückt: Es besteht die Gefahr, dass bei einer realistischen Tätigkeitsvorschau eher die weniger qualifizierten Bewerber das Stellenangebot annehmen und die guten Bewerber wegbleiben. Dies war jedoch nur bei den beruflich unerfahrenen Hochschulabsolventen der Fall, nicht aber bei den Organisationseinsteigern, die bereits über längere Berufserfahrung verfügten. Relativierend ist zu ergänzen, dass Irving und Meyer (1994) in einer Längsschnittstudie zu dem Ergebnis kamen, dass für die Kündigungsbereitschaft nicht die Erwartungen vor Jobantritt entscheidend sind, sondern das Ausmaß positiver und negativer Erfahrungen bei der Arbeit. Je stärker die positiven Erfahrungen sind, desto geringer ist die Kündigungsbereitschaft.
. Abb. 16.5. Wirkungen erwartungssenkender Maßnahmen. (Nach Buckley et al., 1998)
© American Psychological Association 1998
16
240
Kapitel 16 · Personalmarketing
Zusammenfassung
16
4 Die Aufgabe des Personalmarketings ist, potenziell geeignete Arbeitskräfte zu identifizieren, sie auf die Organisation und die dortigen Arbeitsplätze aufmerksam zu machen und sie zu einer Bewerbung zu ermutigen sowie diejenigen Personen, die von der Organisation ausgewählt und eingestellt wurden und die sich als geeignet erwiesen haben, langfristig an die Organisation zu binden und sich ferner von den Personen zu trennen, die für eine Tätigkeit in der Organisation nicht (mehr) geeignet sind. 4 Sinnvolle Aktivitäten der Personalansprache erhöhen die Basisrate, reduzieren die Selektionsrate und verbessern damit die Trefferquote in der Personalauswahl. Dabei kann die Ansprache im Internet eine wichtige Rolle spielen. 4 Sowohl die Organisation als auch der Bewerber stehen vor dem Problem der Intransparenz, weil sie befürchten müssen, dass die jeweils andere Seite nicht alle relevanten Sachverhalte freiwillig offenbart. Deswegen sind für die Arbeitssuchenden informelle Informationsnetzwerke und für die Organisation der interne Arbeitsmarkt von großer Bedeutung. 4 Die Grundlage der Bindung einer Person an eine Organisation ist der psychologische Kontrakt. Wird von den Beschäftigten eine Verletzung des psychologischen Kontraktes seitens der Organisation wahrgenommen, kann es zu kontraproduktivem Verhalten der Beschäftigten kommen. 4 Für den Erfolg der Personalansprache haben das Organisationsimage, der spezifische Weg der Personalansprache, die Art des Auftretens der Recruiter, die Merkmale der Tätigkeit sowie die Akzeptabilität des Auswahlverfahrens eine große Bedeutung. 4 Ein wichtiges Instrument der Personalbindung stellt die realistische Tätigkeitsvorschau dar.
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16
17
17 Personalauswahl 17.1
Selektion und Passung – 245
17.2
Instrumente der Personalauswahl
17.2.1 17.2.2
Personaldiagnostische Herangehensweisen – 247 Personaldiagnostische Verfahren – 248
17.3
Gütekriterien
17.3.1 17.3.2 17.3.3 17.3.4 17.3.5 17.3.6 17.3.7
Dokumentation – 252 Objektivität – 252 Reliabilität – 253 Validität – 254 Testfairness – 257 Normierung – 257 Ökonomie, Einsatzbreite, Nützlichkeit und Akzeptanz – 258
17.4
Gültigkeitsüberprüfungen als systematische Basis
17.5
Kombination von Prädiktoren
17.6
Richtige und falsche Auswahlentscheidungen
17.7
Der Nutzen von Auswahlverfahren
17.8
Ethische und rechtliche Rahmenbedingungen – 269 Literatur
– 247
– 252
– 273
– 259
– 262 – 264
– 268
244
Kapitel 17 · Personalauswahl
> Die psychologisch fundierte Personalauswahl gehört zu den Kernbereichen der Personalpsychologie. Sie kann auf eine fast 100-jährige Forschungstradition zurückblicken (7 Kap. 2). Das Problem der Personalauswahl selbst stellt sich seit Alters her für jede Organisation (7 Kasten »Biologische Grundlagen und historische Beispiele der Personalauswahl«). Im Folgenden (7 Abschn. 17.1) soll zunächst der Unterschied zwischen der Personalselektion und anderen personalpsychologischen Vorgehensweisen (Beratung, Platzierung) verdeutlicht und daran anschließend aufgezeigt werden, was das Ziel der Personalselektion darstellt, nämlich eine hohe Passung zwischen Bewerbern einerseits und Position und Organisation andererseits zu erreichen. Dann werden die wichtigsten Verfahren (7 Abschn. 17.2) und Gütekriterien (7 Abschn. 17.3) zur Entwicklung und Auswahl von Personalauswahlinstrumenten vorgestellt. In 7 Abschn. 17.4 soll dann dargelegt werden, was den Kern der psychologischen Personalauswahl ausmacht, nämlich die systematische, empirische Gültigkeitsüberprüfung. Dabei sind nicht die Erfolge im Einzelfall entscheidend, sondern der wiederholbare Erfolg in großem Umfang und die langfristige Bewährung. In 7 Abschn. 17.5 soll verdeutlicht werden, dass zur erfolgreichen Personalauswahl stets mehrere Verfahren eingesetzt werden sollten und es wird aufgezeigt, wie sie miteinander kombiniert werden können. Wie bei jeder Art von Personalauswahl sind auch bei der psychologisch gestützten Personalauswahl Fehlentscheidungen unvermeidlich. In 7 Abschn. 17.6 wird deshalb ausgeführt, von welchen Faktoren die Anzahl falscher und richtiger Entscheidungen abhängt, welche Arten von Fehlentscheidungen auftreten können und wie solche Fehlentscheidungen, die für Organisationen besonders relevant sind, minimiert werden können. Im Anschluss daran werden in 7 Abschn. 17.7 die Faktoren erläutert, die den wirtschaftlichen Nutzen des Einsatzes psychologischer Auswahlverfahren für Organisationen entscheidend beeinflussen. Abschließend werden im Überblick die ethischen und rechtlichen Rahmenbedingungen der Personalauswahl durch Organisationen behandelt.
Biologische Grundlagen und historische Beispiele der Personalauswahl
17
Bereits Studien aus den 30er Jahren des vergangenen Jahrhunderts dokumentieren erhebliche Leistungsunterschiede innerhalb verschiedener Tierarten (Field, 1934). Die Aufgabe bestand darin, durch das Bedienen von Drucktasten in einem Labyrinth das Öffnen einer Tür und dadurch Zugang zum Futter zu erreichen. Dabei variierte z. B. bei den Rhesusaffen die Anzahl der Durchgänge zwischen dem Leistungsstärksten und Leistungsschwächsten ganz erheblich. Der Leistungsstärkste brauchte nur 19 Durchgänge, um sicher den Weg durch das Labyrinth zu finden, während der leistungsschwächste Rhesusaffe dafür 310 Durchgänge benötigte. Das Leistungsverhältnis zwischen dem besten und dem schlechtesten Affen lag also etwa bei einem Verhältnis von 1:16.
Je nach Art der Tätigkeit gibt es auch bei der menschlichen Leistung ganz erhebliche Unterschiede (McCormick & Tiffin, 1974). Im Produktionsbereich liegen die Unterschiede zwischen der Leistung des produktivsten und des am wenigsten produktiven Mitarbeiters im Bereich von 1:2 bis 1:3, bei Führungskräften liegt das Verhältnis im Bereich von 1:3 bis 1:6, bei Versicherungsverkäufern im Bereich von 1:14 und bei Rechtsanwälten für den Bereich erfolgreicher Schadensersatzklagen im Bereich von 1:20. Je komplexer die Tätigkeiten sind und je selbstständiger Personen agieren können, desto deutlicher zeigen sich die Leistungsunterschiede. Deshalb ist die Personalauswahl seit alters her für Sozialverbände eine wichtige Aufgabe. So wird im 7. Kapitel des Buches Richter der Bibel beschrieben, wie der Feld-
6
245 17.1 · Selektion und Passung
herr Gideon in mehreren Schritten aus 32.000 Personen 300 Kämpfer auswählte, mit denen er dann in die Schlacht zog: Und Jahwe sprach zu Gideon: Des Volkes, das bei dir ist, ist zu viel, ... Und nun rufe doch vor den Ohren des Volkes aus und sprich: Wer furchtsam und verzagt ist, kehre um und wende sich zurück ... ! Da kehrten von dem Volke zweiundzwanzigtausend um, und zehntausend blieben übrig. … Und Jahwe sprach zu Gideon: Jeder, der mit seiner Zunge von dem Wasser leckt, wie ein Hund leckt, den stelle besonders; ... Und die Zahl derer ... war dreihundert Mann; ... Und er entließ alle Männer von Israel ... ; aber die dreihundert Mann behielt er. Die Vorgehensweise von Gideon bezeichnet man heute als sequenzielle Auswahlstrategie, also eine Auswahlstrategie, bei der die Auswahlentscheidung in mehreren aufeinanderfolgenden Schritten getroffen wird. Die Selektionsquote von 1% (300 von 32.000 Personen) ist sehr gering. Wir werden jedoch sehen, dass gerade ein solches Vorgehen zur Auswahl tatsächlich geeigneter Personen erheblich beiträgt.
17.1
Selektion und Passung
Ganz allgemein betrachtet handelt es sich bei der Personalauswahl um ein Zuordnungsproblem zwischen Personen und Arbeitsplätzen. Die Personalauswahl stellt ein sog. Selektionsproblem dar. Andere Formen der Zuordnung sind Beratung und Platzierung (. Abb. 17.1). Einen typischen Fall der Zuordnung durch Beratung im Rahmen der Personalpsychologie stellt die Berufsberatung dar. Der Sinn und Zweck der Berufsberatung besteht darin, einer spezifischen, individuellen Person zu helfen, einen für sie geeigneten beruflichen Arbeitsplatz zu finden. Die zentralen Orientierungsgesichtspunkte
Mit freundlicher Genehmigung von Hogrefe, Göttingen. © Hogrefe 1996
. Abb. 17.1. Formen der Zuordnung von Personen (P) zu Handlungsalternativen bzw. Arbeitsplätze (A). (Nach Schuler, 1996)
Die Vorselektion wurde mit einem Selbstauswahlverfahren getroffen, die eigentliche Auswahl erfolgte mittels einer Verhaltensbeobachtung. Die beiden Auswahlwahlschritte waren außerdem einfach und schnell zu realisieren, also kostengünstig. Wie auch bei manchen psychologischen Auswahlverfahren mag der Sinn den Betroffenen nicht unmittelbar eingeleuchtet haben. Was hat die Art des Trinkens mit dem erfolgreichen Kämpfen zu tun? Gideon war erfolgreich. Er gewann mit seinen Kämpfern die Schlacht. Hier würde nun der Kern der psychologischen Arbeit ansetzen. Führt die gleiche Art der Personalauswahl bei einer zweiten, dritten, vierten, fünften etc. Stichprobe wieder dazu, dass dadurch die besonders kampfstarken Personen identifiziert werden können? Auch im alten China (ca. 1100 v. Chr.) wurde zur Auswahl der höheren Beamten eine systematische Eignungsauswahl durchgeführt (Dubois, 1966). Wie in einem modernen Assessment-Center mussten die künftigen Führungskräfte des Reiches unterschiedliche Verhaltensübungen erfolgreich bewältigen. Den Kern der Prozedur bildeten fünf Aufgaben, nämlich Musizieren, Bogenschießen, Reiten, Schreiben und Rechnen.
sind neben den individuellen Fähigkeiten und Qualifikationen die Neigungen, Interessen und Wünsche der zu beratenden Person. Sie steht zwei oder mehreren Berufslaufbahnen, Ausbildungsgängen, Ausbildungsplätzen etc. gegenüber und die zu beratende Person sieht sich vor dem Problem, sich für eine der Möglichkeiten zu entscheiden. Für den Berater soll ganz der Nutzen für die betroffene Einzelperson im Vordergrund stehen. Eine Zuordnung durch Platzierung liegt dann vor, wenn eine Institution in Bezug auf mehrere Personen eine Entscheidung treffen muss, wie sie mit diesen Personen weiterhin verfährt. Beispielsweise kann eine Versicherung eine Reihe von Hochschulabsolventen aus verschiedenen Fächern wie z. B. Betriebswirtschaftslehre, Mathematik, Kunstgeschichte und Psychologie eingestellt haben und muss nun entscheiden, wer von den Neueingestellten an einem versicherungswirtschaftlichen Spezialkurs an der hauseigenen Versicherungsakademie teilnehmen soll. Dazu wird ein versicherungswirtschaftlicher Wissenstest durchgeführt. Diejenigen Neueingestellten, deren Punktwert im Wissenstest un-
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17
Kapitel 17 · Personalauswahl
terhalb eines bestimmten Grenzwertes, dem sog. Cut-off Point gelegen hat, werden zum Crashkurs auf die Versicherungsakademie geschickt. Diejenigen, die im Wissenstest einen Mindestpunktwert erreicht haben, kommen sofort in die Vertriebsabteilung und müssen in den nächsten Monaten Lebensversicherungen verkaufen. Bei Platzierungsentscheidungen stehen also für mehrere Personen verschiedene Alternativen bzw. Tätigkeiten zur Auswahl und es muss entsprechend der Zielsetzungen und der Interessen der Institution entschieden werden, wer welcher Tätigkeit bzw. welchen Alternativen zugewiesen wird. Kommt bei der Entscheidung darüber nur ein Aspekt (der technische Fachausdruck lautet dafür »Prädiktor«, also Vorhersagevariable) zum Einsatz, wie im vorliegenden Beispiel das Abschneiden im Wissenstest, spricht man von einer Zuordnung durch Platzierung. Werden mehrere Aspekte herangezogen, handelt es sich um eine Zuordnung durch Klassifikation. Es ist in der Personalpsychologie üblich, die Platzierung als Spezialfall der Klassifikation abzuhandeln. Platzierungsund Klassifikationsentscheidungen sind für Organisationen vor allem im Zusammenhang mit Personalentwicklungsmaßnahmen (7 Kap. 19) zu treffen. Das Zuordnungsproblem bei der Personalauswahl besteht darin, dass für einen Arbeitsplatz mehrere Kandidaten zur Verfügung stehen und nun im Sinne der Interessen und Ziele der Organisation zu entscheiden ist, welche Person ein Stellenangebot erhält. Nach welchen Kriterien soll nun die Personalauswahl stattfinden? Die Personalauswahl sollte sich daran orientieren, dass eine Passung zwischen den Anforderungen der Tätigkeit einerseits und den Qualifikationen der Person, also ihren Fähigkeiten, Fertigkeiten und Kenntnissen andererseits, zustande kommt. Dieser qualifikatorische Aspekt der Passung ist entscheidend für die spätere berufliche Leistung, die eine Person im Rahmen ihrer Tätigkeit auf einer bestimmten Stelle erbringt. Man spricht hier von der Passung der Person für die Stelle. Andererseits sollte eine Organisation aber auch
auf eine Passung zwischen dem Befriedigungspotenzial der Tätigkeit für die Bedürfnisse, Motive, Interessen sowie Werthaltungen und den Bedürfnissen der einzustellenden Person achten. Man spricht hier von der Passung der Stelle für die Person. Beispielsweise sollte eine stark leistungsmotivierte Person häufig Rückmeldungen über ihre Leistungen bekommen. Eine stark machtmotivierte Person sollte die Gelegenheit haben, andere Personen lenken, leiten und steuern zu können. Eine stark kontaktorientierte Person sollte Gelegenheit haben, viel mit anderen Menschen zusammenzuarbeiten, etc. Denn wenn für die Beschäftigten in ihrer Tätigkeit hinreichend Gelegenheit besteht, zentrale persönliche Bedürfnisse und Motive zu befriedigen, führt dies zu Arbeits- und Berufszufriedenheit. Arbeits- und Berufszufriedenheit sind wiederum wichtige Einflussfaktoren für die persönliche Bindung einer Person an ihre Organisation. Wie bereits an anderer Stelle ausgeführt wurde (7 Kap. 16), gehört bei qualifikatorisch geeigneten Beschäftigten die Förderung der Bindung an die Organisation zu den wichtigsten Aufgaben der Personalarbeit. Denn zufriedene Mitarbeiter stehen der Organisation auf dem internen Personalmarkt für weitere Stellenbesetzungen zur Verfügung. Damit ist ein weiterer Aspekt der qualifikatorischen Passung angesprochen. Personen sollten nicht nur momentan in der Lage sein, die Anforderungen einer aktuell zu besetzenden Stelle zu erfüllen, sondern auch über das persönliche Potenzial verfügen, die im Rahmen einer bestimmten Laufbahn auf sie in der Zukunft zukommenden Sach-, Kontakt- und Führungsaufgaben erfolgreich wahrzunehmen. Deshalb sind als tätigkeitsübergreifende Anforderungen, die eine Person erfüllen sollte, Lernfähigkeit, soziale Kompetenz und Selbstverstrauen von großer Bedeutung. Man kann dies als potenzialbezogene Passung bezeichnen. Zusammenfassend lässt sich festhalten, dass bei der Auswahl auf die qualifikatorische, die bedürfnisbezogene und die potenzialbezogene Passung zu achten ist (. Tab. 17.1).
. Tab. 17.1. Aspekte der Passung zwischen Tätigkeit und Person Berufstätigkeit
Aspekte der Passung
Person
Tätigkeitsanforderungen
Qualifikatorische Passung
Kenntnisse, Fertigkeiten, Fähigkeiten
Befriedigungspotenziale
Bedürfnisbezogene Passung
Bedürfnisse, Motive, Interessen, Werthaltungen
Laufbahnanforderungen
Potenzialbezogene Passung
Lernfähigkeit, Lernbereitschaft, soziale Kompetenz, Selbstvertrauen
247 17.2 · Instrumente der Personalauswahl
17.2
Instrumente der Personalauswahl
Zur Personalauswahl steht eine Vielzahl von Instrumenten zur Verfügung, über die im Folgenden ein kurzer Überblick gegeben werden soll. In Bezug auf die Konstruktion und den Einsatz dieser Instrumente können drei verschiedene Herangehensweisen unterschieden werden. Schuler (2001) bezeichnet sie als 4 konstruktorientierte, 4 simulationsorientierte und 4 biographieorientierte Vorgehensweisen. Einzelne Instrumente oder Verfahren wie z. B. das Auswahlinterview oder das Assessment-Center können aber mehrere dieser Herangehensweisen miteinander kombinieren. 17.2.1
Personaldiagnostische Herangehensweisen
Konstruktorientierte Verfahren Konstruktorientierte Verfahren zielen darauf ab, Eigenschaften von Personen, wie z. B. die allgemeine Intelligenz oder Persönlichkeitsmerkmale zu erfassen. Aus dem Abschneiden einer Person bei einem konstruktorientierten Verfahren wird im ersten Schritt auf eine nicht unmittelbar beobachtbare, sondern nur erschlossene, innerhalb der Person stabile und zwischen Personen variierende Eigenschaft geschlossen. Beispielsweise werden aus der Anzahl der Richtiglösungen in einem Intelligenztest Rückschlüsse auf den stabilen Ausprägungsgrad der individuellen Intelligenz einer konkreten Person gezogen. Im zweiten Schritt wird von der Höhe der individuellen Ausprägung des Personenmerkmals (Konstruktes) auf die Höhe des zu erwartenden Erfolges dieser Person in der späteren Arbeitstätigkeit geschlossen: z. B. »Je höher die allgemeine Intelligenz, desto höher die voraussichtliche Berufsleistung.« oder »Je neurotischer eine Person ist, desto geringer die voraussichtliche Arbeitsleistung.« Die Gültigkeit des ersten Schlusses hängt von der Konstruktvalidität des Verfahrens ab (7 unten). Misst der Test, von dem die Konstrukteure behaupten, er messe allgemeine Intelligenz oder Neurotizismus, auch tatsächlich die allgemeine Intelligenz bzw. den Neurotizismus einer Person? Die Gültigkeit des zweiten Schlusses hängt von der Kriteriumsvalidität ab. Dies betrifft die
Frage, wie gut man aufgrund der allgemeinen Intelligenz oder des Neurotizismus ein Kriterium, z. B. die Arbeitsleistung, tatsächlich vorhersagen kann. Kombiniert man die beiden Schlüsse, dann leitet man aus dem Abschneiden in einem Test Aussagen zur voraussichtlichen Leistung am Arbeitsplatz oder anderer Kriterien ab. Simulationsorientierte Verfahren Bei simulationsorientierten Auswahlverfahren müssen die Auswahlkandidaten und Aufgaben bearbeiten, die weitgehend den Tätigkeiten entsprechen, die später am Arbeitsplatz auch zu erledigen sind. In diesem Fall stellt das Auswahlverfahren also eine Simulation der späteren Arbeitstätigkeit dar. Wird beispielsweise eine Sekretariatskraft gesucht, so kann das Erstellen eines Serienbriefes am PC als Auswahlaufgabe gestellt werden. Je kürzer die Bearbeitungszeit und je geringer die Anzahl der Fehler, desto besser schneidet die Person im Auswahlverfahren ab. Bei simulationsorientierten Aufgaben wird nur unterstellt, dass das, was eine Person in der Auswahlsituation zu leisten in der Lage war, von ihr auch im späteren Tätigkeitsalltag geleistet werden kann. Es wird also angenommen, dass diese Verfahren aufgrund des aktuellen zukünftiges Verhalten vorherzusagen vermögen. Im Assessment-Center spielen solche simulationsorientierten Aufgaben und Verhaltensübungen wie z. B. Präsentationsübungen, Postkorbaufgaben oder Gruppendiskussionen eine wichtige Rolle. Biographieorientierte Verfahren Die Grundsätze biographieorientierter Verfahren lauten, dass vergangenes Verhalten zukünftiges Verhalten vorherzusagen erlaubt und dass bestimmte Ereignisse im Lebenslauf spätere berufliche Vorkommnisse und Leistung vorherzusagen vermögen. Wer z. B. schon als Schüler Klassensprecherin oder Schulsprecher war, der würde auch im Berufsleben Leitungs- und Repräsentationsfunktionen anstreben. Wer mehrere Autounfälle hatte, würde mit höherer Wahrscheinlichkeit auch Arbeitsunfälle haben. Wer sich öfters von seinem Partner trennt, würde auch häufiger den Arbeitsplatz und den Arbeitgeber wechseln. Der Schluss von der Vergangenheit auf die Zukunft ist dann um so plausibler, je ähnlicher sich die vergangene und die aktuelle Situation sind und je kürzer der Abstand zwischen der vergangenen und der aktuellen Situation ist. Die Analyse des bisherigen beruflichen Werdeganges, das Einholen von Referenzen, die Auswertung von Arbeitszeugnissen sowie die Entwick-
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248
Kapitel 17 · Personalauswahl
lung und Anwendung biographischer Fragebögen im engeren Sinn beruhen auf dem biographischen Ansatz in der Personalauswahl. Ob aber wirklich eine solche Entsprechung vorliegt, ob also der Schluss von der Vergangenheit auf die Zukunft nicht nur plausibel, sondern auch zutreffend ist, muss in empirischen Validierungsstudien überprüft werden. 17.2.2
Personaldiagnostische Verfahren
Einen sehr guten Überblick über die Vielzahl konkreter personaldiagnostischer Instrumente gibt das Handbuch von Kanning und Holling (2002). Im Folgenden sollen folgende psychologische Auswahlverfahren in ihren Grundzügen kurz vorgestellt werden: 4 psychologische Tests, 4 Arbeitsproben, 4 biographische Fragebögen, 4 Auswahlinterviews und 4 Assessment-Center-Verfahren. Psychologische Tests Definition Unter psychologischen Tests versteht man »standardisierte, routinemäßig anwendbare Verfahren zur Messung individueller Verhaltensmerkmale, aus denen Schlüsse auf Eigenschaften der betreffenden Person oder ihr Verhalten in anderen Situationen gezogen werden können« (Schuler & Höft, 2006, S. 104). Es handelt sich dabei häufig um publizierte Verfahren, die über den Testhandel bezogen werden können.
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Viele Tests sollen psychologische Konstrukte messen wie z. B. die allgemeine Intelligenz, spezifische kognitive Fähigkeiten wie z. B. das Konzentrations- oder das räumliche Vorstellungsvermögen, allgemeine Persönlichkeitsmerkmale wie Neurotizismus, Extraversion, Verträglichkeit, Gewissenhaftigkeit oder Offenheit für Erfahrung, spezifische Persönlichkeitsmerkmale wie z. B. Kontrollüberzeugungen, Selbstwirksamkeitserwartungen oder die Stressbelastbarkeit, berufliche relevante Motive wie z. B. das Leistungs- oder Machtmotiv, berufliche (z. B. technische, forschende, künstlerische, soziale, unternehmerische oder administrative) Interessen oder die Ehrlichkeit (Integrität) im Berufsalltag. Die Logik all dieser Test beruht auf dem konstruktorientierten Ansatz.
Daneben gibt es jedoch noch eine Reihe von psychologischen Tests, die auf dem simulationsorientierten Ansatz beruhen. Dies sind Fachkenntnistests und sog. spezifische Leistungstests. Fachkenntnistests überprüfen die für eine spezifische Tätigkeit erforderlichen Fachkenntnisse in standardisierter Form. Leistungstests (Kanning & Holling, 2002) prüfen, wie gut die für bestimmte Tätigkeiten oder Berufe erforderlichen Fertigkeiten, wie z. B. Kundenbriefe alphabetisch sortieren, Rechnungssummen prüfen, Bruchrechnung, Prozentrechnung, Zinsrechnung oder einen Geschäftsbrief auf Rechtschreibfehler zu korrigieren, beherrscht werden. Andere spezifische Leistungstests erfassen mechanische und motorische Fertigkeiten. Durch die sog. Drahtbiegeprobe (Radke, 2002) soll beispielsweise das motorische Handgeschick untersucht werden, das in Metall verarbeitenden Berufen eine wichtige Rolle spielen kann. In Bezug auf die Erfassung kognitiver Fähigkeiten und spezifischer Leistungen spielen mögliche Verfälschungstendenzen keine Rolle, wenn die Bewerber bestrebt sind, ihre individuelle Bestleistung zu erbringen. Wie eine Metaanalyse von Ones und Viswesvaran (1998) zeigte, spielt aber auch für die Messung von Persönlichkeitsmerkmalen sozial erwünschtes Beantwortungsverhalten im Bereich der Eignungsauswahl keine Rolle. Denn als sie die Tendenz zur positiven Selbstdarstellung in der Beziehung zwischen den Persönlichkeitsmerkmalen und dem Ausbildungs- und Berufserfolg durch ein statistisches Verfahren kontrollierten (Berechnung von Partialkorrelationen), ergab sich keine signifikante Veränderung der Beziehungen von Persönlichkeitsmerkmalen und den Kriterien des Ausbildungs- und Berufserfolges. Dieser Befund widerlegt häufig geäußerte Zweifel an der Validität von Persönlichkeitstests in der Personalauswahl (Marcus, 2003). Tests müssen nicht mit Formular, Papier und Bleistift durchgeführt werden, sondern die Testitems können auch am Computer dargeboten werden. Es ist allerdings zu beachten, dass die Testleistungen bei Computerdarbietung häufig anders ausfallen als bei einer Papier-undBleistift-Bearbeitung. Es ist daher jeweils zu überprüfen, ob die Computerversion und die Papier-und-BleistiftVersion zu äquivalenten Ergebnissen führen und ob die prädiktiven Validitäten (7 unten) die gleichen sind. Bei guten computergestützten Testsystemen sind solche Informationen dem Manual bzw. Testhandbuch zu entnehmen (s. Kanning & Holling, 2002). Das Fehlen solcher Informationen sollte zur Vorsicht mahnen.
249 17.2 · Instrumente der Personalauswahl
Arbeitsproben Definition Unter Arbeitsproben versteht man diagnostische Verfahren, die aus einer realitätsnahen Simulation wichtiger Arbeitsaufgaben bestehen. Andere Bezeichnungen für diese Vorgehensweise lauten situative Tests oder Leistungstests (Höft & Funke, 2006).
So kann man z. B. für die Auswahl von Kassierern in einem Supermarkt die Bewerber einen vorbereiteten Probearbeitskorb, der ein breites Warenspektrum abdeckt, bearbeiten lassen und dabei die Geschwindigkeit und die Anzahl der Fehler feststellen. Typische Arbeitsproben sind auch Postkorbübungen, Rollenspiele und Gruppendiskussionen im Assessment-Center. Die Sinnhaftigkeit des Einsatzes einer Arbeitsprobe hängt davon ab, wie gut die diagnostische Aufgabe bzw. die diagnostischen Teilaufgaben das tatsächliche aktuelle Arbeitsspektrum abbilden. Man bezeichnet dies als Inhaltsvalidität. Sie ist zusammen mit Arbeitsplatzexperten im Anschluss an eine Anforderungsanalyse zu überprüfen. Beispielsweise erfasst das reine Eintippen eines Musterwarenkorbes nicht, wie gut ein Kassierer mit den Belastungen, verursacht durch eine lange Arbeitszeit sowie drängelnde, mogelnde oder ungeschickte Kunden, umzugehen vermag. Die Konstruktion und Durchführung einer inhaltsvaliden Arbeitsprobe ist deswegen in der Regel mit einem hohen Arbeitsaufwand verbunden. Da sich in der derzeitigen Arbeitswelt die Anforderungen an vielen Arbeitsplätzen relativ rasch verändern, ist auch eine laufende Aktualisierung der Arbeitsproben erforderlich. Sind diese Bedingungen jedoch erfüllt, gehören Arbeitsproben zu den besten Auswahlverfahren im Bereich der Personaldiagnostik. Aufgrund des hohen Tätigkeits- und Arbeitsplatzbezuges ist die Akzeptanz dieser Verfahren bei den Bewerbern auch sehr hoch. Diesen vielen Vorteilen stehen jedoch auch verschiedene Nachteile gegenüber: In der Regel können Arbeitsproben nicht voraussetzungslos bearbeitet werden, sondern sie erfordern einschlägige Sachkenntnisse bei den Bewerbern als Vorbedingung für ihren Einsatz. Für die Auswahl von Berufs- oder Tätigkeitsunerfahrenen können sie daher nicht eingesetzt werden. Zweitens sind Arbeitsproben auf spezifische Tätigkeiten ausgerichtet. Häufig ist es aber wichtig, dass eine einzustellende Person in der Organisation breit einsetzbar ist. Wenn ruhige Geschäftszeiten sind, soll beispielsweise ein Kassierer in
einem Supermarkt auch die Regale prüfen und nachfüllen können etc. Arbeitsproben erfassen auch nicht das Potenzial von Personen, sondern nur deren Status quo. Möglicherweise gibt es unter den Bewerbern auch Personen, die schnelles und zuverlässiges Eintippen sehr rasch lernen könnten. Schließlich sind die meisten Bewerber, die eine Arbeitsprobe durchlaufen, daran interessiert, ihr Leistungsmaximum zu zeigen – es sei denn, Personen bewerben sich nur zum Schein, ohne wirklich eingestellt werden zu wollen. Es zeigt sich jedoch, dass die maximale Leistung bei Arbeitsproben und die Durchschnittsleistung am Arbeitsplatz nur in einem schwachen positiven Zusammenhang zueinander stehen (Sackett, Zedeck & Fogli, 1988). Biographische Fragebögen In der Praxis spielen biographische Elemente bei der Bewerberauswahl eine wichtige Rolle. Bei der Sichtung der Bewerbungsunterlagen wird häufig von der Personalabteilung geprüft, ob es im Lebenslauf Lücken gibt, welche Schul- und Ausbildungsnoten die Bewerber haben und ob die Bewerber über einschlägige Berufserfahrung verfügen. Auch die Interpretation der Arbeitszeugnisse früherer Arbeitgeber spielt eine Rolle. Wie die Studien von Weuster (1994) zeigen, der verschiedene Arbeitszeugnisse Personalexperten vorlegte, gibt es jedoch auch unter Experten keine eindeutige Zeugnissprache. Das gleiche Zeugnis wird von unterschiedlichen Personalexperten unterschiedlich beurteilt. Manchmal wird die Auswertung von Arbeitszeugnissen noch ergänzt durch das Einholen von Referenzen beim früheren Arbeitgeber. Schulnoten sind gute Prädiktoren des Ausbildungserfolges (r=.41), die Dauer der Berufserfahrung korreliert positiv mit dem Berufserfolg (r=.27) und auch Referenzen stehen in positiver Beziehung zu der späteren Berufsleistung (r=.26; 7 im Überblick Schuler & Marcus, 2006). Biographische Fragebögen im engeren Sinne entstanden, weil schon sehr früh (Scott, 1915) nachgewiesen werden konnte, dass unstruktuierte Auswahlinterviews je nach Interviewer zu ganz unterschiedlichen Ergebnissen führen können. In der Studie von Scott wurde bei 36 Bewerbern ein Bewerber von einem Interviewer auf den 1. Platz gesetzt. Derselbe Bewerber wurde vom 2. Interviewer auf Rangplatz 32 gesetzt. Das Grundprinzip biographischer Fragebögen ist deswegen streng empirisch. Es beginnt bei einer Analyse der beruflichen Leistungen oder anderer Kriterien, die für die einstellende Organisation wichtig sind wie z. B. die Beschäftigungs-
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Kapitel 17 · Personalauswahl
dauer der aktuellen Stelleninhaber. Im nächsten Schritt werden objektive, beobachtbare Ereignisse aus der biographischen Vergangenheit der Stelleninhaber gesammelt. Diese Sachverhalte werden dann in Bezug zum Kriterium gesetzt. So zeigte z. B. eine Studie von Dunnette und Maetzold (1955), dass diejenigen Saisonarbeiter in einer Konservenfabrik die geringste Fluktuation hatten, die in der Nähe der Fabrik wohnten, einen Telefonanschluss besaßen, deren Körpergewicht zwischen 68 und 79 kg lag und die jünger als 25 Jahre oder älter als 55 Jahre waren. Warum diese und nicht andere Sachverhalte das Kriterium am besten vorherzusagen vermögen, bleibt offen. Für die Entwickler klassischer biographischer Fragebögen ist allein entscheidend, dass die Items das Kriterium maximal vorhersagen. Dies hat den klassischen biographischen Fragebögen den Vorwurf eingetragen, dass sie blind empirisch konstruiert sind. Wegen des mangelnden Konstruktbezuges kann nicht erklärt werden, warum bestimmte Personen im Sinne des Kriteriums erfolgreich sind oder nicht. Biographische Fragebögen haben außerdem zwei weitere Nachteile. Man braucht sehr große Stichproben, um sie zu entwickeln, und sie können nicht in andere Anwendungskontexte mit Erfolg übertragen werden, sondern für jede neue Anwendung ist ein neuer Itemsatz zur Vorhersage des Kriteriums zu entwickeln. Man versucht daher in neuerer Zeit, auch bei biographischen Fragebögen Items theoriegeleitet zu entwickeln und durch Faktorenanalysen zu interpretierbaren Skalen zusammenzufassen. Außerdem wird der Versuch gemacht, biographische Muster erfolgreicher und nicht erfolgreicher Stelleninhaber zu identifizieren (Schuler & Marcus, 2006). Die mittlere Validität von biographischen Fragebögen liegt bei r=.30 (Bliesner, 1995). Auswahlinterviews Definition
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Das Auswahlgespräch ist ein personaldiagnostisches Verfahren, bei dem zwischen dem Bewerber und einem oder mehreren Repräsentanten der auswählenden Organisation Informationen über den Bewerber und die auswählende Organisation ausgetauscht werden.
Einstellungsinterviews haben in der Praxis eine sehr starke Verbreitung. Sie werden als Auswahlverfahren von den Bewerbern auch sehr positiv eingeschätzt, weil die
Bewerber es zur gezielten Selbstdarstellung und zur Einflussnahme auf die Auswahlsituation nutzen können. Es zeigte sich allerdings schon sehr früh, dass unstrukturierte Interviews keine zutreffenden Leistungsprognosen erlauben. Es sind deshalb eine Reihe von Maßnahmen vorgeschlagen worden, um die Prognosegüte von Vorstellungsgesprächen zu verbessern (Schuler & Marcus, 2006). Vor einem Auswahlinterview sollte immer eine Anforderungsanalyse stattfinden, damit das Interview auf die tatsächlichen Anforderungsdimensionen ausgerichtet werden kann. Die Interviewfragen sollten vorab entworfen und an einer Teststichprobe überprüft werden. Auch die möglichen Antworten sollten vorab einem Antwortschlüssel zugeordnet werden. Wenn es nicht möglich ist, die Fragen und Antworten zu strukturieren, sollten zwei oder mehrere Interviewer gleichzeitig eingesetzt werden. Allen Bewerbern sollten die gleichen Fragen gestellt werden. Die Antworten sollten aufgezeichnet werden. Die Interviewer sollten für ihre Aufgaben trainiert werden. Das Einholen der Informationen und die Auswertung und Bewertung der Antworten sollten getrennt werden. Die Gewichtung der Informationen und die Bildung des Gesamturteils sollte standardisiert werden. Außerdem sollte die Vorhersagegüte der Interviews regelmäßig evaluiert werden. Der Nutzen solcher Strukturierungsmaßnahmen ist beachtlich: Strukturierte Interviews haben nach Schmidt und Hunter (1998) eine prädiktive Validität von ρ=.51. Das sog. multimodale Interview, wie es von Schuler (1992) entwickelt wurde, beinhaltet unterschiedliche Komponenten in strukturierter Form: Den Bewerbern wird zum einen Raum gegeben, sich selbst darstellen zu können, sie werden zum anderen über die fragliche Tätigkeit und die Organisation ausführlich informiert. Außerdem werden gezielt biographische Informationen erfragt und die Bewerber haben situative Fragen zu beantworten. Bei situativen Fragen handelt es sich um die Schilderung von Ereignissen aus dem Tätigkeitsalltag, die in die Frage münden: »Was würden Sie in dieser Situation tun?« Die freien Antworten der Bewerber werden dann einem vorbereiteten Antwortschlüssel zugeordnet. Ein Beispiel: »Sie stellen fest, dass Sie einen schwerwiegenden Fehler gemacht haben. Was würden Sie tun?«. Die Antworten dazu lassen sich folgendem Schema zuordnen: (a) »Ich würde versuchen, den Fehler zu vertuschen«, (b) »Ich würde selbstständig versuchen, zu retten, was zu retten ist«, (c) »Ich würde Kollegen um
251 17.2 · Instrumente der Personalauswahl
Hilfe fragen«, (d) »Ich würde unverzüglich meinen Chef informieren«. Die von der Organisation gewünschte Antwortalternative wäre die Alternative d. Mit solchen situativen Fragen beinhaltet das multimodale Interview auch eine simulationsorientierte Komponente. Prinzipiell ist es auch möglich, die Antworten der Bewerber konstruktorientiert auszuwerten, indem sie z. B. auf bestimmte Persönlichkeitskonstrukte bezogen werden. Dazu können validierte Items aus Persönlichkeitsfragebögen als Interviewfragen gestellt werden. Assessment-Center Definition Das Assessment-Center-Verfahren besteht aus einer Kombination mehrerer verhaltensorientierter Simulationsübungen. Jeweils mehrere Teilnehmer werden gleichzeitig von mehreren geschulten Beobachtern in Bezug auf mehrere vorab definierte Anforderungen hin beurteilt (s. Fisseni & Preusser, 2007). Wichtige Simulationselemente sind die Postkorbübung, die mündliche Präsentation, das Rollenspiel und die Gruppendiskussion. Diese Elemente können noch durch Fallstudien, Tests und Interviews ergänzt werden (Höft & Funke, 2006).
Bei der Postkorbübung erhalten die Teilnehmer schriftliche Materialien, die einen typischen Postkorb einer Fach- oder Führungskraft in der Position abbilden soll, für die die Bewerber ausgewählt werden. Die im Postkorb enthaltenen Briefe, Mitteilungen, E-Mails etc. unterscheiden sich u. a. in Bezug auf ihre Dringlichkeit und Wichtigkeit. Die Assessment-Center-Teilnehmer haben innerhalb einer sehr knapp bemessenen Zeit, Anweisungen an Mitarbeiter, Briefe an Vorgesetzte und Geschäftspartner als Reaktion auf die Inhalte des Postkorbes zu formulieren und die einzelnen Maßnahmen mit ihrem Terminkalender als Fach- oder Führungskraft abzustimmen. Die von den Teilnehmern angefertigten Schriftstücke und ihre Terminplanung werden anschließend in Bezug auf vorab definierte Anforderungen bewertet. In einer sich gelegentlich anschließenden Disputation sollen die Teilnehmer ihr Vorgehen und ihre Entscheidungen begründen und rechtfertigen. Bei der Präsentationsübung muss der Teilnehmer nach einer relativ kurzen Vorbereitungszeit einen Vortrag zu einem Thema halten, das ihm vorher unbekannt war. Die Teilnehmer haben klare Zeitvorgaben. Diese variieren zwischen
5 Minuten und einer halben Stunde. Im Rollenspiel wird eine Gesprächssituationen aus der Organisation oder ein Kundenkontakt vorgegeben. Die Teilnehmer sollen z. B. einen Mitarbeiter dazu bewegen, wegen der aktuellen positiven Auftragslage des Unternehmens auch am Samstag zu arbeiten oder sie sollen die Reklamation eines unzufriedenen, aber wichtigen Kunden entgegennehmen. Bei der Gruppendiskussion sollen die Teilnehmer miteinander ein vorgegebenes betriebliches Problem diskutieren und zu einer von allen Beteiligten gebilligten Entscheidung kommen. In der Praxis ist leider zu beobachten, dass die wesentlichen Simulationselemente und Bewertungsdimensionen von Assessment-Centern unabhängig von den Anforderungen in der konkreten Organisation oder den jeweils zu besetzenden Zielpositionen zum Einsatz kommen. Diese Entwicklung verfehlt jedoch ganz den Sinn des Assessment-Center-Verfahrens, dessen Grundgedanke ein maßgeschneidertes Vorgehen ist. Denn die Inhalte der Simulationen und die Beurteilungs- und Bewertungsdimensionen für das von den Teilnehmern gezeigte Verhalten sollen einen tatsächlichen Anforderungsbezug zur späteren Tätigkeit aufweisen. Das Assessment-Center-Verfahren erfreut sich in der Praxis seitens der einstellenden Organisationen einer großen Beliebtheit, weil als Beobachter auch Führungskräfte der auswählenden Organisation eingesetzt werden. Dieser Personenkreis ist jedoch in der Regel nicht mit den Fehlertendenzen vertraut, die Beobachtern im Alltag gewöhnlich unterlaufen. Daher sind zur Qualitätssicherung von Assessment-Center-Verfahren Beobachtertrainings unerlässlich. Assessment-Center werden aufgrund ihres vermeintlichen oder tatsächlichen beruflichen Anforderungsbezugs von den Bewerbern sehr geschätzt. Da sie bis zu 3 Tage dauern können, sind die Teilnehmer jedoch erheblichen Belastungen ausgesetzt. Es wird daher von den Teilnehmern sehr positiv bewertet, wenn sie unmittelbar im Anschluss an das Assessment-Center eine persönliche Rückmeldung im Rahmen eines Gespräches über ihr Auftreten und Abschneiden erhalten. Solche Rückmeldungen sind ein wichtiger Bestandteil der sozialen Validität (Görlich & Schuler, 2006; Schuler & Stehle, 1983) des Auswahlverfahrens (7 unten). Wegen der hohen Akzeptanz durch Auftraggeber und Bewerber wird das Assessment-Center in der personaldiagnostischen Praxis intensiv genutzt. Die Konzipierung, Vorbereitung, Durchführung und Auswertung ei-
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Kapitel 17 · Personalauswahl
nes Assessment-Centers ist allerdings mit einem erheblichen sachlichen, zeitlichen und personellen Aufwand verbunden. Man schätzt, dass ein konventionelles Assessment-Center zwischen 15.000 € und 20.000 € kostet. Die prognostische Validität des Assessment-Center-Verfahrens liegt allerdings nur im mittleren Bereich (ρ=.37; Schmidt & Hunter, 1998). Vermutlich werden im Assessment-Center auch nicht die Dimensionen erfasst, die man zu beobachten meint, wie z. B. Kommunikationsfähigkeit, Durchsetzungsfähigkeit etc. Vielmehr spielt für das abschließende Gesamturteil die allgemeine Intelligenz der Bewerber eine wichtige Rolle (Schuler, 2000). Die Inhaltsvalidität eines Assessment-Centers hängt von der Konzeption ab. Die prognostische Validität des Assessment-Center-Verfahrens ist befriedigend, aber welche Konstrukte dabei eigentlich erfasst werden, ist bisher noch nicht abschließend geklärt. 17.3
Gütekriterien
Zur Entwicklung und Beurteilung von Auswahlverfahren sind folgende Kriterien vorgeschlagen worden (s. Lienert & Raatz, 1994; Häcker, Leutner & Amelang, 1998; Muchinsky, 2003; Schuler & Stehle 1983; Westhoff et al., 2004), die im Folgenden kurz erläutert werden sollen: 4 Dokumentation, 4 Objektivität, 4 Reliabilität, 4 Validität, 4 Fairness, 4 Normierung, 4 Ökonomie, 4 Einsatzbreite, 4 Nützlichkeit und 4 Akzeptanz.
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17.3.1
Dokumentation
Die DIN 33430 (s. Westhoff et al., 2004) fordert das Vorliegen einer für den fachlich ausgebildeten Nutzer zugänglichen Dokumentation zur Entwicklung und sachgerechten Anwendung eines eignungsdiagnostischen Instrumentes, in dem ausführliche Informationen zu den Gütekriterien enthalten sein sollen. Für psychologische Tests ist diese Dokumentation das sog. Testmanual bzw. Testhandbuch. Für Verhaltensbeobachtungen und
Interviews liegen solche Handbücher in der Regel aber nicht anlassunspezifisch vor, sondern müssen anlassspezifisch erstellt werden. 17.3.2
Objektivität
Definition Unter Objektivität als Gütekriterium von Instrumenten der Personalauswahl versteht man, dass die Ergebnisse einer begutachteten Person unabhängig davon sein sollen, wer das Auswahlinstrument administriert, Verhaltensübungen beobachtet oder ein Interview durchführt (Durchführungsobjektivität), auswertet (Auswertungsobjektivität) oder interpretiert (Interpretationsobjektivität).
Die Objektivität kann durch Standardisierung der Durchführungsdingungen, Auswertungsmodalitäten sowie durch eindeutige Interpretationsregeln erhöht werden. Die Höhe der Übereinstimmung zwischen verschiedenen Beobachtern, Interviewern oder Kodierern etc. wird mithilfe der sog. Intraklassenkorrelation bestimmt (s. Bortz, Lienert & Boehnke, 1990). Manche Autoren (s. Westmeyer, 2003) behandeln die Beobachter- bzw. Urteilerübereinstimmung als Teilsaspekt der Reliabilität. In Bezug auf die Auswertungsobjektivität gelten Korrelationswerte von bis zu r=.60 als niedrig, Werte zwischen .70 und .90 als mittel und Werte über .90 als hoch (Fisseni, 1990). Im Rahmen von Assessment-Center-Übungen konnten folgende Werte für Beobachterübereinstimmungen ermittelt werden (Höft & Funke, 2006): für Präsentationsübungen .48≤r≤.61, für Rollenspiele .57≤r≤.80 und für Gruppendiskussionen .76≤r≤.98. Der Ausdruck »objektiver Test« hat in der Psychologie jedoch noch eine zweite Bedeutung, die nicht mit der Objektivität als Gütekriterium verwechselt werden darf. Nach Cattell (1986) ist ein diagnostisches Verfahren dann objektiv, wenn die untersuchten Personen nicht erkennen können, was mit dem Verfahren gemessen werden soll. Dies liegt z. B. dann vor, wenn ein konventioneller Fragebogen den zu begutachtenden Personen am Bildschirm im »Ja/nein«-Format dargeboten wird und nicht die Beantwortung der Fragen, mit »ja« oder »nein« ausgewertet wird, sondern die Entscheidungszeit pro Item, ohne dass die Untersuchten dies wissen.
253 17.3 · Gütekriterien
17.3.3
Reliabilität
Es handelt sich dabei um eine Eigenschaft des diagnostischen Instrumentes sowie der betrachteten Population (Krauth, 1996). Definition Unter Reliabilität versteht man die Genauigkeit, mit der ein Verfahren in einer bestimmten Population misst, was es messen soll.
Dem liegt die Annahme zugrunde, dass jede Messung unvermeidlich einen Messfehler beinhaltet. Nach Auffassung der klassischen Testtheorie setzt sich der gemessene Wert aus dem wahren Wert und einem Messfehler zusammen. Messfehler und wahrer Wert sind nach dieser Auffassung voneinander unhängig. Nach Lord und Novick (1968) ist die Reliabilität der Anteil der wahren Varianz an der Gesamtvarianz. Die Reliabilität nimmt Werte zwischen 0 und 1 an (Krauth, 1996). Reliabilitäten unter .80 gelten als niedrig, Werte zwischen .80 und .90 als mittel und Reliabilitätswerte über .90 gelten als hoch (Fisseni, 1990). Je nach Auffassung werden drei bzw. vier Typen von Reliabilität unterschieden: Die Interrater-Reliabilität, die Paralleltest-Reliabilität, die Retest-Reliabilität sowie die Interne Konsistenz. Die Interrater-Reliabilität wurde bereits im Zusammenhang mit dem Kriterium der Objektivität besprochen. Paralleltest-Reliabilität Ein Paralleltest ist ein Test, der mit anderen Items denselben Sachverhalt messen soll. Der Test ist dann parallel, wenn die wahren Werte der untersuchten Personen übereinstimmen und die Messungen die gleiche Fehlervarianz haben. Wenn für ein diagnostisches Instrument eine oder mehrere Parallelformen vorliegen, erfüllt es auch das Gütekriterium der Vergleichbarkeit (s. Lienert & Raatz, 1994). Man kann dann z. B. das Ergebnis der Durchführung der Parallelversion A mit dem Ergebnis der Parallelversion B vergleichen. Der Einsatz einer Parallelversion bei denselben Bewerbern ist z. B. dann sinnvoll, wenn es wichtig ist, ein bestimmtes Merkmal sehr genau zu erfassen, aber gleichzeitig anzunehmen ist, dass der wiederholte Einsatz derselben Testversion aufgrund von Lern- oder Gedächtniseffekten die Testergebnisse verändern würde. Verschiedene Parallelversionen
können auch eingesetzt werden, um sicherzustellen, dass räumlich nebeneinander platzierte Bewerber bei einer Gruppenuntersuchung nicht voneinander abschreiben können, aber ihre Testergebnisse trotzdem miteinander direkt vergleichbar sein sollen. Wenn von denselben Bewerbern Werte aus mindestens zwei Parallelversionen eines Tests vorliegen, dann kann man die Korrelation zwischen den beiden Versionen berechnen. Man bezeichnet diesen Korrelationswert als Paralleltest-Reliabilitätskoeffizient. Retest-Reliabilität Wird dasselbe Instrument in ein und derselben Version der gleichen Stichprobe mit einem gewissen zeitlichen Abstand erneut vorgelegt, kann man die Übereinstimmung zwischen der ersten und der zweiten Erhebung wieder mittels einer Korrelation berechnen. Wie der Paralleltest-Koeffizient so gibt auch der Retest-Korrelationskoeffizient die Rangplatzstabilität von Personen an. Beträgt die Korrelation 1, so ist diejenige Person, die bei der ersten Erhebung am besten abgeschnitten hat (Rangplatz 1), auch bei der zweiten Erhebung die Beste (erneut Rangplatz 1), und die Person, die beim ersten Mal auf dem zweiten Platz lag (Rangplatz 2), ist wieder die Zweite (erneut Rangplatz 2), und die Person, die beim ersten Mal am schlechtesten abgeschnitten hatte, ist wieder Letzte. Liegt die Korrelation zwischen erster und zweiter Messung jedoch bei null, besteht kein Zusammenhang zwischen der Rangreihe beim ersten und beim zweiten Mal. Eine hohe Retest-Reliabilität über einen mehrjährigen Zeitraum hinweg spricht für eine hohe Rangkonstanz des gemessenen Merkmals. Interne Konsistenz Der nächste Typ der Reliabilität ist die sog. interne Konsistenz des Instrumentes. Dabei wird die durchschnittliche Korrelation aller Erhebungselemente (Testitems) berechnet. Handelt es sich um dichotom zu beantwortende Items (ja/nein), wird dazu die Kuder-RichardsonFormel 20 verwendet, wenn es sich dagegen um eine mehrstufige Beantwortung auf einer Intervallskala handelt, wird Cronbachs alpha (α) verwendet. Man kann aber auch den Test in zwei Hälften zerlegen. Eine Hälfte besteht aus allen geradzahligen Items. Die andere Hälfte aus den ungeradzahligen Items. Diese beiden Testhälften werden dann miteinander korreliert. Man nennt dies die Methode der Testhalbierung. Die Höhe der internen Konsistenz ist ein Maß für die Homogenität des Instru-
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254
Kapitel 17 · Personalauswahl
mentes. Die Homogenität eines Instruments ist das Ausmaß, in dem dieselben untersuchten Personen bei allen Erhebungselementen (Items) gleich abschneiden. Wenn beispielsweise ein Persönlichkeitstest das Konstrukt Extraversion mit 10 Items untersucht, dann sollten die Items untereinander hoch korrelieren. Ist dies der Fall, so bezeichnet man das Instrument als homogen. Korrelieren dagegen die Items im Durchschnitt nur niedrig miteinander, dann ist der Test inhomogen. Falls der Test aber ein einheitliches Merkmal erfassen soll, wäre dies ein Argument gegen die Verwendung eines solchen Tests. Folgende Faustregeln für die Anwendung der Gütekriterien in der Personalauswahl lassen sich formulieren: Ein Instrument sollte auf jeden Fall eine interne Konsistenz von α≥.80 aufweisen. Existieren Parallelversionen, so sollte die Paralleltest-Reliabilität bei kurzem zeitlichem Abstand ebenfalls bei rtt≥.80 liegen. Für die Beurteilung der Retest-Reliabilität ist es entscheidend, was in Bezug auf das zu erfassende Merkmal und dessen Konstanz anzunehmen ist. Handelt es sich um ein Instrument, das ein hoch stabiles Merkmal wie z. B. die allgemeine Intelligenz erfassen soll, dann sprächen niedrige RetestReliabilitäten gegen den Einsatz des Instrumentes. Wenn ein Instrument dagegen aktuelle Ausprägungen einer Fertigkeit erfassen soll, wie z. B. die Präsentationsfertigkeiten, von denen per definitionem unterstellt wird, dass sie durch Training und Personalentwicklungsmaßnahmen stark verändert werden können, dann spräche ein niedriger Retest-Reliabilitätskoeffizient nicht gegen den Einsatz dieses Instrumentes, wenn zugleich die interne Konsistenz und die Paralleltest-Reliablität über α, rtt≥.80 liegen. 17.3.4
Validität
Definition
17
Nach traditionellem Verständnis ist die Validität eines Instrumentes dann gegeben, wenn ein Instrument das gültig bzw. zutreffend erfasst, was es erfassen soll.
Demnach ist ein Test, der Intelligenz erfassen soll, nach traditioneller Auffassung in dem Maße valide, wie er das Konstrukt Intelligenz zutreffend misst. Nach neuerer Auffassung (Sireci, 2003a) bezieht sich der Terminus Validität aber nicht auf das Instrument, sondern auf die
Schlussfolgerungen, die sich aus den Befunden, die mithilfe des Instrumentes gewonnen wurden, ableiten lassen. Dies hängt aber vom Zweck des Instrumenteneinsatzes ab. Zieht man beispielsweise die Jahre der einschlägigen Berufserfahrung als Prädiktor heran, so kann man aus einer längeren Berufserfahrung auch auf eine günstigere Vorgesetztenbeurteilung schließen (r=.18), nicht aber auf ein besseres Abschneiden bei beruflichen Trainingsmaßnahmen (r=.01) (Schmidt & Hunter, 1998). Die Vorhersagevariable (Prädiktor) »Berufserfahrung« ist also valide in Bezug auf die Personalauswahl, aber nicht in Bezug auf die Platzierungsentscheidung »Entsendung zu einer Fortbildungsmaßnahme«. Je nach Verwendungszweck muss ein Instrument entsprechend validiert werden. Daher sollte nicht von Validität, sondern von Validierung gesprochen werden. Es lassen sich drei Aspekte der Validierung eines Instrumentes unterscheiden, nämlich die sog. Konstrukvalidierung, die Inhaltsvalidierung und die kriteriumsorientierte Validierung. Inhaltsvalidierung Unter Inhaltsvalidierung (Sireci, 2003b) eines Instrumentes versteht man den Nachweis des Ausmaßes, in dem das Instrument den Gegenstandsbereich, auf den es sich bezieht, in relevanten Bereichen abdeckt. Zur Inhaltsvalidierung gehört daher zunächst die definitorische Abgrenzung des mit dem Instrument zu erfassenden Gegenstandsbereichs. Wünschenswert sind hier eine vollständige Auflistung aller relevanten Sachverhalte sowie die inhaltliche Begründung ihrer Konstruktrelevanz. So kann die Gesamtheit möglicher Items definiert werden. Im zweiten Schritt ist in Bezug auf das konkrete Instrument und seine Items zu prüfen, ob sie alle bedeutsamen Facetten des Konstruktes abdecken (»domain representation«). Bei Konstrukten, die sehr verhaltensnah definiert sind, wie z. B. »erfolgreiche Handhabung eines Personalcomputers im Rahmen von Sekretariatsarbeiten« können die Items des Instrumentes eine Stichprobe der Konstruktdefinition darstellen wie z. B. »Erstellen und Beantworten einer E-Mail«, »Durchführung einer Flugbuchung via Internet«, »Erstellen eines Geschäftsbriefes«, »Erstellen eines Serienbriefes« etc. Die Inhaltsvalidierung muss von Experten vorgenommen werden. Experten für den intendierten Gegenstandsbereich überprüfen dabei inhaltlich logisch den Umfang und die Abgrenzung des Gegenstandsbereichs sowie die Gegenstandsrepräsentation des Konstruktes durch die Items. Das Kriterium ist dabei das Ausmaß der
255 17.3 · Gütekriterien
Übereinstimmung der Experten. Für die Höhe der Übereinstimmung gibt es keine festen Grenzen, sie variiert zwischen 75 und 100%. Für die Güte der Validierung ist auch wichtig darzulegen und zu begründen, nach welchem Kriterium bestimmt wird, ob eine Person als Experte gilt. Konstruktvalidierung Jedes Instrument bezieht sich auf eine gedankliche Einheit, das Konstrukt. Diese gedankliche Einheit kann in relativ direkter und naher Beziehung zu Beobachtungen und Messungen stehen. Entsprechend haben Konstrukte einen hohen, mittleren oder geringen Bedeutungsüberschuss gegenüber der Beobachtung oder Messung. Ein Konstrukt steht aber nicht nur in Beziehung zu Beobachtungen und Messungen, sondern auch in Beziehung zu anderen Konstrukten. Dieses Beziehungsgeflecht bezeichnet man als sog. nomologisches Netzwerk (Cronbach & Meehl, 1955). Je größer der Bedeutungsüberschuss und je vielfältiger die Beziehungen zu anderen Konstrukten, desto komplexer die Validierung. Jede empirische Überprüfung einer Hypothese, die sich zu dem Instrument aus dem nomologischen Netzwerk des Konstruktes ergibt, ist als Versuch der Konstruktvalidierung des Instrumentes zu werten. Die Frage bei der Konstruktvalidierung eines Instrumentes lautet, ob aus den unterschiedlichen Messwerten (hohe, mittlere und niedrige), die das Instrument bei verschiedenen Personen liefert, gefolgert werden darf, dass bei verschiedenen Personen die konstruktrelevanten Sachverhalte in starker, mittlerer oder schwacher Ausprägung vorliegen. Um diese Frage zu überprüfen, ist von Campbell und Fiske (1959) die sog. konvergente und diskriminante Validierung vorgeschlagen worden. Die Vorgehensweise ist dabei Folgende: Wenn ein neues Instrument zur Erfassung eines bestimmten Konstruktes entwickelt worden ist, ist eine Untersuchung durchzuführen, bei der von einer größeren Stichprobe von Personen einerseits weitere Instrumente bearbeitet werden, die das gleiche messen sollen wie das neue Instrument, und andererseits solche Instrumente, die überhaupt nichts mit dem neuen Konstrukt zu tun haben. Die konvergente Validierung ist dann erfolgreich, wenn alle Instrumente, die dasselbe messen sollen, signifikant positiv korrelieren. Die diskriminante Validierung ist dann erfolgreich, wenn alle Instrumente, die Unterschiedliches messen sollen, idealtypisch im Nullbereich miteinander korrelieren. Die-
se Art der Validierung ist dann umso überzeugender, wenn die unterschiedlichen Instrumente, die dasselbe Konstrukt messen sollen, unterschiedliche Methoden verwenden, also z. B. Fragebogen, Verhaltensbeobachtung oder psychophysiologische Messungen. Anstelle unterschiedlicher Methoden kann man auch unterschiedliche Gruppen von Beobachtern bzw. Ratern einsetzen, wie z. B. Vorgesetzte, Kollegen und Mitarbeiter der Zielpersonen sowie die Zielpersonen selbst. Wenn unter Verwendung verschiedener Methoden die konvergente und diskriminante Validierung gelingt, so sind dies starke Hinweise auf die Konstruktvalidität eines Instrumentes insgesamt. Da ein Instrument in der Regel aus mehreren Teilen (Items) besteht, lautet ein weiteres Problem der Konstruktvalidierung eines Instrumentes, inwiefern auch die verschiedenen Items des Instrumentes das Konstrukt erfassen. Um dies zu überprüfen, können sog. Faktorenanalysen durchgeführt werden. Konfirmatorische Faktorenanalysen können testen, ob ein Item nur mit den Items korreliert, die auch das Konstrukt messen sollen und nicht mit den Items korreliert, die ein anderes Konstrukt messen sollen. Ist dies für alle Items eines Instrumentes der Fall, spricht man von einer sog. faktoriellen Validierung im Rahmen der Konstruktvalidierung. Andere Formen der Konstruktvalidierung sind beispielsweise konstruktrelevante Vergleiche von Extremgruppen oder die konstruktrelevante Analyse intraindividueller Veränderungen. Kriteriumsorientierte Validierung Unter kriteriumsorientierter Validierung (Dunbar & Ordman, 2003) eines Instrumentes versteht man, dass die Ergebnisse des fraglichen Instrumentes in Beziehung zu den Erfolgskriterien der Tätigkeit gesetzt werden sollen. Wenn beispielsweise der Notendurchschnitt beim Abitur genutzt werden soll, um zu entscheiden, ob jemand in einem bestimmten Fach einen Studienplatz bekommt oder nicht, dann ist der Zusammenhang zwischen der Vorhersagevariable (Prädiktor) und dem Erfolgsmaß (Kriterium) zu bestimmen. Ein sinnvolles Erfolgsmaß könnte in diesem Fall die Durchschnittsnote im Bachelor- oder Masterabschluss sein. Wenn der Prädiktor zeitlich deutlich vor dem Kriterium erfasst wurde und sich eine bedeutsame Korrelation zwischen dem Prädiktor und dem Kriterium zeigt, liegt eine sog. prädiktive Validierung vor. Diese sog. Vorhersagevalidität ist umso höher, je höher die Korrelation zwischen dem
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Kapitel 17 · Personalauswahl
Prädiktor und dem Kriterium ist. Vorhersagevalidität bedeutet, dass man aus dem Abschneiden bei einem Prädiktorinstrument auf den späteren Erfolg im Kriteriumsbereich schließen kann bzw. dass man aus dem Prädiktor vor der Bewährung den späteren Erfolgsgrad in der eigentlichen Bewährungssituation prognostizieren kann. Wenn der Prädiktor (fast) zeitgleich mit dem Kriterium erfasst wird, und sich eine bedeutsame Korrelation zwischen dem Prädiktor und dem Kriterium zeigt, liegt eine sog. konkurrente Validierung vor. Diese sog. Übereinstimmungsvalidität ist umso höher, je höher die Korrelation zwischen dem Prädiktor und dem Kriterium ist. Übereinstimmungsvalidität bedeutet, dass man aus dem Abschneiden bei einem Prädiktorinstrument auf den gegenwärtigen Erfolg im Kriteriumsbereich schließen kann. Die Höhe der Kriteriumsvalidierung hängt nicht nur von der Objektivität, und Reliabilität der Messung des Prädiktors ab, sondern ebenso sehr von der Objektivität, Reliabilität sowie Inhalts- und Konstruktvalidität des Kriteriums. Denn in schlecht konzipierten Untersuchungen zur kriteriumsorientierten Validierung erfasst das verwendete, das sog. aktuelle Kriterium nur einen kleinen Ausschnitt des tatsächlichen Kriteriums, das man auch als konzeptuelles Kriterium bezeichnet. Dies ist z. B. der Fall, wenn der Erfolg von Führungskräften nur durch die Zufriedenheit der unterstellten Mitarbeiter erfasst wird. Denn Mitarbeiterzufriedenheit ist gewiss ein Aspekt einer erfolgreichen Führungstätigkeit, aber eben nur ein Aspekt unter vielen anderen. Die Arbeitsleistung und -moral der Mitarbeiter, ihre Qualifikation, die Fehlzeiten, die Personalfluktuation und die Per. Abb. 17.2. Kriteriumsrelevanz, -defizienz und -kontamination
17
sonalkosten sind ebenfalls wichtige Aspekte des Führungserfolges. In der Mitarbeiterzufriedenheit schlagen sich außerdem auch die Beziehung zu Kollegen, Kunden sowie die allgemeine Lebenszufriedenheit nieder. All diese Aspekte verunreinigen (kontaminieren) die Messung des Führungserfolges. Die Gemeinsamkeit von aktuellem und konzeptuellem Kriterium bezeichnet man als kriteriumsrelevante Varianz. Als Kriteriumskontamination bezeichnet man den Bereich des aktuellen Kriteriums, der sich nicht mit dem konzeptuellen Kriterium überschneidet. Denjenigen Bereich des konzeptuellen Kriteriums, der vom aktuellen Kriterium nicht erfasst wird, bezeichnet man als kriteriumsdefiziente Varianz (. Abb. 17.2). Eine Kontamination des aktuellen Kriteriums und eine geringe Reliabilität tragen dazu bei, dass der tatsächliche Zusammenhang mit dem Prädiktor unterschätzt wird. Hinzu kommt, dass bei der prädiktiven Validierung der Zusammenhang von Prädiktor und Kriterium nur bei den Personen erfasst werden kann, die schlussendlich das Auswahlverfahren erfolgreich durchlaufen haben. Deswegen sind die Stichproben in der Regel relativ klein und sowohl die Prädiktorvarianz als auch die Kriteriumsvarianz sind eingeschränkt, denn es wurde ja nur der leistungsstarke Teil der Bewerber ausgewählt. Auch diese Faktoren führen dazu, dass die wahre Höhe des Zusammenhanges zwischen Prädiktor und Kriterium durch den faktischen Korrelationskoeffizienten unterschätzt wird. Um die wahren Vorhersagevaliditätskoeffizienten zu ermitteln, sind deswegen rechnerische Korrekturen in Bezug auf die Rohkorrelationen vorzunehmen. Die Berücksichti-
257 17.3 · Gütekriterien
gung der Reliabilität des Kriteriums bezeichnet man als Minderungskorrektur (Attenuationskorrektur), die Berücksichtigung der Varianzeinschränkung als Varianzkorrektur. Die rechnerische Durchführung solcher Korrekturen wird von Lienert und Raatz (1994) erläutert. Jede Einzelstudie zur kriteriumsbezogenen Validierung von Instrumenten ist unvermeidlicherweise mit einem Stichprobenfehler behaftet. Deswegen ist es sinnvoll, nicht einzelne Studien isoliert zu betrachten, sondern sie statistisch, quantitativ zusammenzufassen, um daraus den wahren kriteriumsorientierten Validitätskoeffizienten in der Population zu berechnen. Dazu werden sog. Metaanalysen (7 Kap. 3 sowie Höft, 2006) durchgeführt, bei denen aus allen verfügbaren publizierten und nicht publizierten Validierungsstudien ein durchschnittlicher Validitätskoeffizient unter Berücksichtigung der unterschiedlichen Stichprobengrößen, der Reliabilitäten von Prädiktor und Kriterium, der Varianzverzerrungen, der Validität der Kriterien, der Fehler bei der Datenerhebung und -auswertung sowie der spezifischen Situationsbedingungen geschätzt wird (Hunter & Schmidt, 2004). Eine derartige Metaanalyse für die wichtigsten Auswahlinstrumente im amerikanischen Sprachraum auf der Basis der Studien seit 1913 haben Schmidt und Hunter (1998) vorgelegt. Wenn mindestens 75% der Varianz der Unterschiede zwischen den verschiedenen Untersuchungsergebnissen auf Stichprobenfehler und sonstige Artefakte (7 oben, Varianzeinschränkungen etc.) zurückzuführen sind, kann man von einer sog. Validitätsgeneralisierung ausgehen. Dies bedeutet, dass die Unterschiedlichkeit der kriteriumsorientierten Validitätskoeffizienten in den verschiedenen Studien nur mit ihrem Messfehleranteil, nicht aber durch die Unterschiedlichkeit der wahren Werte zu erklären ist. Wenn dagegen mehr als 25% der Varianz der Unterschiede nicht auf statistische Artefakte zurückzuführen ist, dann sind zur Prüfung der sog. differenziellen Validität Moderatortestungen durchzuführen. Es könnte z. B. sein, dass die Validität bei Frauen höher ist als bei Männern oder bei simplen Tätigkeiten niedriger als bei komplexen etc. Das Geschlecht oder die Komplexität der Tätigkeit könnte dann die Validität moderieren. Wenn dies der Fall ist, spricht von der der differenziellen Validität eines Prädiktors.
17.3.5
Testfairness
Damit sind wir bei einem weiteren Gütekriterium zur Beurteilung von Prädiktoren in der Personalauswahl: der sog. Testfairness. Ein Auswahlinstrument ist dann unfair, wenn eine differenzielle prädiktive Validität (unterschiedliche Steigungen der Regressionsgeraden) und/ oder eine systematische Validitätsüberschätzung oder -unterschätzung (Abszissen der Regressionsgeraden) vorliegen. Beispielsweise könnte ein bestimmter Büroarbeitstest zwar bei Männern, nicht aber bei Frauen den Ausbildungserfolg vorhersagen. In diesem Fall wäre der Einsatz dieses Tests unfair gegenüber Frauen, weil die Auswahl bei Männern aufgrund deren Leistung, bei Frauen aber zufällig erfolgen würde. Falls die Steigung der Regressionsgeraden in allen Gruppen von null verschieden ist, gibt es allerdings die Möglichkeit der rechnerischen Testwertkorrektur. Das Gütekriterium der Testfairness ist also ein Teilaspekt der prädiktiven Validierung von Auswahlinstrumenten und kein zusätzliches Testgütekriterium. 17.3.6
Normierung
Ein weiteres Gütekriterium für Auswahlverfahren ist das Vorliegen einer Normierung (Kanjee, 2003). Darunter versteht man, dass die Möglichkeit gegeben ist, das Abschneiden einer Person bei einem bestimmten Auswahlinstrument in Beziehung zum Abschneiden aller Personen zu setzen, für die das Auswahlverfahren konzipiert wurde. Es handelt sich dabei um ein allgemeines Bezugssystem, um die Ergebnisse von einzelnen Personen im Vergleich zur Gesamtgruppe der Personen, für die das Instrument konzipiert wurde, einordnen zu können. Diese Normierung erlaubt es dann nicht nur festzustellen, welche von mehreren Personen als beste, zweitbeste und schlechteste abgeschnitten hat, sondern auch, ob es sich dabei um weit überdurchschnittliche, überdurchschnittliche, mittlere, unterdurchschnittliche oder weit unterdurchschnittliche Werte in Bezug auf die Gesamtgruppe handelt. Den Prozess der Erstellung eines solchen Bezugssystems nennt man Eichung. Der Prozess beginnt bei der Definition der Personengruppe, bei der das Verfahren als Auswahlinstrument eingesetzt werden soll. Aus dieser Personengruppe ist eine repräsentative Stichprobe zu ziehen. Das Instrument
17
258
Kapitel 17 · Personalauswahl
ist dann bei dieser repräsentativen Stichprobe in standardisierter Form anzuwenden. Denn die Standardisierung der Durchführung und Auswertung ist eine wesentliche Voraussetzung für die spätere Vergleichbarkeit der Ergebnisse. Bei standardisiertem Vorgehen und hinreichender Reliabilität der Messwerte können anschließend Normwerte und Normtabellen für die gesamte Bezugsgruppe (z. B. Mittelwert, Standardabweichung) oder bestimmte Subgruppen (z. B. getrennt nach Geschlecht und Bildungsgrad) entwickelt werden. Es ist schließlich außerdem wichtig, dass die Werte der Normstichprobe aktuell sind. Die DIN (Westhoff et al., 2004) zur Eignungsbeurteilung (DIN 33430) schreibt deshalb vor, dass die Eichwerte mindestens alle 8 Jahre überprüft werden sollen. Denn durch die Anwendung und Verbreitung bestimmter Auswahlverfahren werden deren richtige Lösungen in der Zielgruppe möglicherweise bekannt, wodurch sich die Aussagekraft eines bestimmten Ergebniswertes verschiebt. Einst gute Werte sind dann als durchschnittlich einzustufen und einst durchschnittliche Werte müssen als unterdurchschnittlich bewertet werden. 17.3.7
17
Ökonomie, Einsatzbreite, Nützlichkeit und Akzeptanz
Ökonomie Ein Auswahlinstrument ist dann ökonomisch, wenn die Durchführungszeit kurz ist, wenn kein aufwändiges Material benötigt wird, wenn die Handhabung einfach ist, wenn mehrere oder viele Personen gleichzeitig untersucht werden können und wenn die Befunde schnell und bequem auswertbar sind. Die Kosten eines Verfahrens lassen sich als Teilaspekt der Ökonomie verstehen (Lienert & Raatz, 1994). Die Ökonomie eines Verfahrens ist ein Nebenkriterium. Denn erst wenn eine hinreichende Validierung vorliegt, ist es sinnvoll, sich Gedanken zur Ökonomie eines Verfahrens zu machen. Für die Ökonomie gibt es keinen zahlenmäßigen Kennwert. Sie muss im Vergleich mit Verfahren ähnlicher Validität bestimmt werden. Ein in diesem Sinne unökonomisches Verfahren ist beispielsweise das Assessment-Center, ökonomischere Verfahren sind dagegen Tests zur allgemeinen Intelligenz. Einsatzbreite Bei der Einsatzbreite (»applicability«; Muchinsky, 2003) handelt es sich um ein Nebenkriterium. Die Einsatzbreite eines Auswahlverfahrens hängt davon ab, für wie viele
Tätigkeiten es eingesetzt werden kann. Eine bestimmte Arbeitsprobe ist beispielsweise immer nur für eine spezifische Tätigkeit einsetzbar. Für jede Tätigkeit muss eine neue Arbeitsprobe entwickelt werden. Tests zur allgemeinen Intelligenz können dagegen tätigkeitsübergreifend eingesetzt werden. Auch für dieses Nebenkriterium gibt es keinen zahlenmäßigen Kennwert. Nützlichkeit Dieses Kriterium umfasst zwei Aspekte, nämlich die absolute und die relative Nützlichkeit (Lienert & Raatz, 1994). Ein Verfahren hat eine absolute Nützlichkeit, wenn dadurch ein Merkmal erfasst wird, das für den Anwender des Auswahlverfahrens von Bedeutung ist. Die Frage der absoluten Nützlichkeit hängt also immer vom Standpunkt des Anwenders ab. Da es im vorliegenden Zusammenhang um die Personalauswahl von Organisationen geht, spielt hier die Beurteilung der Nützlichkeit aus der Sicht der Organisation eine entscheidende Rolle. Ein Verfahren hat für einen Anwender relative Nützlichkeit, wenn es besser und mit geringeren Kosten als ein anderes Verfahren ein für ihn relevantes Merkmal erfasst. Zur Vorhersage des Studienerfolges sind beispielsweise die Abiturnoten oft besser geeignet als Intelligenztests. Außerdem liegen die Abiturnoten vor, während die Intelligenztests erst durchgeführt werden müssten. In einem solchen Fall haben Abiturnoten als Verfahren zur Bestimmung der Studienzulassung für die auswählende Universität eine höhere relative Nützlichkeit als der Einsatz von Intelligenztests. In 7 Abschn. 17.7 werden noch Formeln zur Berechnung der relativen Nützlichkeit des Einsatzes bestimmter Auswahlverfahren vorgestellt werden. Akzeptanz Ein Auswahlverfahren soll so gestaltet sein und durchgeführt werden, dass auch abgelehnte Bewerber das Verfahren und seine Anwendung als akzeptabel empfinden (auch 7 Kap. 16). Zur Akzeptanz des Auswahlinstruments tragen folgende Faktoren bei (s. Hausknecht et al., 2004): der Bezug zur späteren Tätigkeit, seine Augenscheinvalidität, die wahrgenommene Vorhersagevaldität des Verfahrens sowie die Wahrnehmung des eigenen Befindens während des Auswahlverfahrens. Für die Akzeptanz der Verfahren ist außerdem deren ethische Legitimation und rechtliche Zulässigkeit von großer Bedeutung (Blickle, 2004). Das Kriterium der Akzeptanz ist von hoher praktischer Bedeutsamkeit. Allerdings gibt es auch dafür keinen verbindlichen zahlenmäßigen Kennwert.
259 17.4 · Gültigkeitsüberprüfungen als systematische Basis
Unter dem Begriff der Augenscheinvalidität versteht man den Sachverhalt, dass Laien oder Bewerber aufgrund des Lesens der Instruktion eines Auswahlinstruments oder der Items eines Tests den subjektiven Eindruck gewinnen, dass das Auswahlinstrument tatsächlich das zu erfassen vermag, was für den Erfolg in der späteren Tätigkeit von Bedeutung ist. Ein Faktor, der die Augenscheinvalidität positiv beeinflusst, ist, wenn die Testinhalte in Fragestellungen aus dem späteren Tätigkeitsbereich eingekleidet sind. Die Augenscheinvalidität wirkt sich positiv auf die Akzeptanz eines Auswahlinstrumentes aus, sagt aber nichts über die tatsächliche Validität des Erhebungsinstruments aus. Reine Augenscheinvalidität, die losgelöst von der Akzeptanz eines Auswahlinstrumentes betrachtet wird, ist deshalb kein wissenschaftliches Gütekriterium für Auswahlinstrumente. 17.4
Gültigkeitsüberprüfungen als systematische Basis
Die Praxis der Personalauswahl ist häufig äußerst defizitär. Der spätere Vorgesetzte führt mit mehreren Bewerbern ein Gespräch und bildet sich dann intuitiv einen Eindruck. Für den Erfolg der Bewerber sind insbesondere zwei Faktoren von großer Bedeutung. Das Ausmaß der von den Bewerbern betriebenen Eigenwerbung im Laufe der Bewerbung sowie die vom Beurteiler wahrgenommene Übereinstimmung einer sich bewerbenden Person mit ihm selbst. Eigenwerbung wird auch als Self-Promotion bezeichnet und besteht darin, sich so darzustellen, dass die über die Einstellung entscheidenden Personen den Eindruck gewinnen, die entsprechende Person sei fachlich hoch kompetent. Wie eine Metaanalyse von Higgins, Judge und Ferris (2003) zeigte, hat diese Form der Selbstdarstellung einen sehr günstigen Einfluss auf das Bild vom Bewerber in den Augen der Gesprächspartner. Allerdings stimmen Sein und Schein oft nicht miteinander überein. Wird die entsprechende Person dann eingestellt, entpuppen sich die Aussagen über ihre Kompetenz, Motivation und Erfahrung im Laufe eines längeren täglichen Arbeitskontaktes häufig als prahlerisch überzogen oder sogar als täuschend und unwahr. Die wahrgenommene Ähnlichkeit mit sich selbst aus der Perspektive des Beurteilenden ist ein weiterer wichtiger Faktor, der zu Urteilsverzerrungen über die Bewerber führen kann (Wayne, Liden, Graf & Ferris, 1997). Kommt ein Vorgesetzter zu dem Eindruck, ein Bewerber
habe eine große Ähnlichkeit mit ihm selbst, so führt auch dies zu einer günstigeren Beurteilung der sich bewerbenden Person, die sachlich oft nicht gerechtfertigt ist. Allerdings hat sich auch herausgestellt, dass selbst ausgebildete Personalpsychologen, sofern sie klinisch vorgehen, d. h. ohne explizite Regeln der Datenerhebung und -kombination, ebenso für Urteilsverzerrungen anfällig sind (Fisseni, 1990). Deswegen ist für eine sinnvolle Personalauswahl eine statistisch fundierte Vorgehensweise mit formalen Regeln der Datenerhebung und -kombination unerlässlich. Von Spector (2003) ist dazu folgende Vorgehensweise vorgeschlagen worden (. Abb. 17.3). Ausgangspunkt der Personalauswahl sollte eine systematische Anforderungsanalyse (7 Kap. 15) durch Personalpsychologen oder andere Arbeitsplatzexperten (wie z. B. aktuelle Arbeitsplatzinhaber, deren Vorgesetzte und Mitglieder der Personalabteilung) an solchen Arbeitsplätzen sein, für die Bewerber eingestellt werden sollen, und bei solchen Beschäftigten, die bereits aktuell an diesen Arbeitsplätzen tätig sind. Der Sinn dieser Vorgehensweise besteht darin, umfassend alle wichtigen Aspekte der Tätigkeit zu beschreiben. Auf dieser Basis können einerseits angemessene Leistungskriterien abgeleitet werden und andererseits Hypothesen darüber gebildet werden, welche kognitiven, Persönlichkeits-, Verhaltensoder biographischen Merkmale ausschlaggebend dafür sind, ob Arbeitspersonen unzureichende, hinreichende oder hervorragende Leistungen in der entsprechenden Stelle erbringen. Vor diesem Hintergrund sind dann die Instrumente zur Erfassung der Prädiktoren (z. B. Intelligenztest und Arbeitsproben) sowie die Instrumente zur Leistungsbeurteilung zu bestimmen. Dann ist mit den tatsächlich in den entsprechenden Stellen Beschäftigten eine konkurrente Validierungsstudie (d. h. gleichzeitige Erhebung von Prädiktor und Kriterium) zur Überprüfung der Anforderungshypothesen durchzuführen. Einerseits wird bei ihnen eine Leistungsbeurteilung durchgeführt und andererseits bearbeiten sie die Instrumente zur Erfassung der Prädiktoren. Falls die Anforderungshypothesen zutreffend sind, gibt es Zusammenhänge zwischen dem Abschneiden bei der Leistungsbeurteilung und der Erfassung der Prädiktoren. Die Validierungshypothese (d. h., es besteht ein signifikanter Zusammenhang) muss verworfen werden, wenn der Korrelationskoeffizient null beträgt oder sich von null nur im Zufallsbereich unterscheidet. Die Validierungshypothese kann vorläufig beibehalten werden, wenn der Zusammenhang jenseits des Zufallsbereichs
17
260
Kapitel 17 · Personalauswahl
© John Wiley & Sons, Inc. 2003
. Abb. 17.3. Systematische Basis von Selektionsentscheidungen. (Nach Spector, 2003)
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von null liegt. Je mehr sich der Zusammenhang von null weg und hin in Richtung 1 oder –1 bewegt, desto besser kann man aufgrund der Ausprägung des Prädiktors statistisch die Leistung in der Gruppe der Personen, die an bestimmten Stellen aktuell tätig sind, vorhersagen. Um Einflüsse der Zusammensetzung der Validerungsstichprobe auszuschließen, d. h., um sicherzustellen, dass der gefundene Zusammenhang nicht nur in Bezug auf die Validierungsstichprobe, sondern auch i. Allg. gilt, ist eine Kreuzvalidierungsstudie durchzuführen. Bei dieser Kreuzvalidierungsstudie wird in Bezug auf die gleiche Tätigkeit mit denselben Instrumenten der Leistungsbeurteilung und denselben Instrumenten zur Erfassung der Prädiktormerkmale eine zweite Stichprobe von Arbeitspersonen untersucht. Man kann bei der Planung der Validierungsstudien von vorneherein so vorgehen, dass man die in einer Organisation in einer bestimmten Funktion Tätigen per Zufall in eine Validierungs- und eine Kreuzvalidierungsstichprobe einteilt. Gelingt es, die Bestätigung der Anforderungshypothese in der Kreuzvalidierungsstichprobe zu replizieren, d. h., zeigt sich der gleiche Zusammenhang zwischen der Ar-
beitsleistung und dem Personenmerkmal, der sich von null über den Zufallsbereich hinaus unterscheidet, in der Kreuzvalidierungsstichprobe erneut, dann kann man in Bezug auf die Organisation und die dort zu besetzenden Stellen von einer gelungenen Validierung der Anforderungshypothese ausgehen. Man kann nun die Instrumente zur Erfassung der Personenmerkmale als Prädiktoren für die Personalselektion in der entsprechenden Organisation einsetzen. Dazu wird das Prädiktormerkmal mit dem gleichen Instrument bei den Bewerbern erfasst. Diejenigen Bewerber, deren Werte eine bestimmte Ausprägung erreichen oder sogar höher liegen, bekommen dann ein Stellenangebot. Diejenigen Bewerber, die aufgrund des Stellenangebotes die Stelle akzeptiert haben, werden, einige Zeit nachdem sie in der Organisation gearbeitet haben, z. B. ein oder zwei Jahre später, einer Leistungsbeurteilung unterzogen. Dabei ist darauf zu achten, dass diejenigen, die die Leistungsbeurteilung vornehmen, aufgrund eines regelmäßigen Arbeitskontaktes und der Kenntnis der Beiträge der betreffenden Mitarbeiter auch wirklich in der Lage sind, die Leistung der eingestellten Personen zu beurteilen. Dann wird erneut überprüft, ob zwischen der Leis-
261 17.4 · Gültigkeitsüberprüfungen als systematische Basis
tung am Arbeitsplatz und dem Prädiktor, der zum Zeitpunkt der Einstellung der Personalselektion zugrunde gelegen hat, in der jeweiligen Organisation ein vom Zufall verschiedener Zusammenhang besteht. Dies ist nicht selbstverständlich. Denn das in der Validierungs- und Kreuzvalidierungsstudie erfasste Prädiktormerkmal wurde ja bei Personen erfasst, die schon längere Zeit in der Stelle berufstätig waren. Es ist nun nicht auszuschließen, dass sich der Prädiktor (z. B. Selbstvertrauen) durch den Eintritt in die Organisation und die Ausübung der Tätigkeit in einer bestimmten Weise verändert, sodass die Ausprägungen der Personenwerte vor dem Organisationseintritt keine vom Zufall abweichenden Vorhersagen der späteren Arbeitsleistung zulassen. Deshalb ist es sinnvoll, bei der Personalauswahl möglichst stabile Personenmerkmale als Prädiktoren heranzuziehen. Wenn hypothesenentsprechende Zusammenhänge zwischen zwei Merkmalen, einem Prädiktor und einem Kriterium, die zeitlich deutlich versetzt erhoben wurden, tatsächlich vorliegen, spricht man von kriteriumsbezogener Vorhersagevalidität bzw. prädiktiver Validität. Der Gedanke, Personalauswahlentscheidungen strikt auf empirischen Gültigkeitsüberprüfungen aufzubauen, hat langfristig gesehen die psychologische Personalauswahl sehr erfolgreich gemacht. Allerdings ist die skizzierte Vorgehensweise der arbeitsplatzspezifischen und organisationsbezogenen Validierung nicht immer ohne Probleme. Zum einen sind die verfügbaren Stichproben häufig sehr klein. Nur in sehr großen Organisationen gibt es für bestimmte einzelne Tätigkeiten für korrelative Validierungsstudien hinreichend viele Beschäftigte. Bei kleinen Stichproben sind aber die Schätzungen der wahren korrelativen Zusammenhänge sehr instabil, sodass die Ergebnisse der Validierungs- und Kreuzvalidierungsuntersuchung leicht auseinander fallen können. Denn jede psychologische Messung ist mit einem mehr oder minder großen Messfehler, einer Messungenauigkeit, behaftet, was dazu beiträgt, dass die wahren Zusammenhänge zwischen Prädiktoren und Kriterien nur sehr ungenau geschätzt werden. Je kleiner die Stichprobe, desto größer der Messfehler. Zum anderen werden durch solche Studien die wirklichen Zusammenhänge unterschätzt, weil es sich meist nicht um stark durchmischte, sondern um vorausgelesene Stichproben von in der Tendenz grundsätzlich geeigneten Stelleninhabern handelt. Denn weder bei den konkurrenten Validierungsstudien noch bei den prädiktiven Validierungsstudien können ja die abgelehnten Bewerber mit
berücksichtigt werden. Dies bewirkt statistisch gesehen eine sog. Varianzeinschränkung der gemessenen Merkmale und damit eine Unterschätzung der wahren Zusammenhänge zwischen Prädiktoren und Kriterien. Schließlich ist der Erkenntnisgewinn solcher Untersuchungen relativ beschränkt, wenn ihr Ertrag nur darin besteht, dass gezeigt werden kann, dass eine bestimmte Form der Erhebung eines bestimmten Prädiktormerkmals positiv mit der Arbeitsleistung an einem bestimmten Arbeitsplatz in einer bestimmten Organisation korreliert. Ein allgemeiner Erkenntnisgewinn liegt dann vor, wenn empirisch nachgewiesen werden kann, dass die verschiedenen Facetten von Arbeitsleistung (wie z. B. Quantität, Qualität, Umgang mit Problemen und Störungen, Umgang mit Kollegen und Kunden etc.; 7 Kap. 18) über die verschiedensten Organisationen und Personenstichproben hinweg und in Bezug auf bestimmte Klassen von Tätigkeiten (z. B. Verkaufstätigkeiten) mit bestimmten Personenmerkmalen zusammenhängen, die sich jeweils einem bestimmten psychologischen Konstrukt zuordnen lassen. Ein allgemeiner Erkenntnisgewinn läge dann vor, wenn sich beispielsweise zeigen würde, dass alle Instrumente, die das Persönlichkeitsmerkmal der Extraversion mit seinen verschiedenen Facetten wie z. B. Kontaktfreude, Geselligkeit, Vitalität, Neugier und gute Laune messen wollen, einerseits untereinander eng zusammenhängen und andererseits mit dem Erfolg in verkäuferischen Tätigkeiten, sei dies beim Verkauf von Fisch, Kleidung oder Autos und sei es in Supermärkten, Kaufhäusern oder Einzelhandelsgeschäften, positiv zusammenhängen. Wenn eine solche Verallgemeinerung über unterschiedliche Personenstichproben, Tätigkeiten und Messinstrumente hinweg gelingt, spricht man von der bereits erwähnten Validitätsgeneralisierung (7 oben). Sofern ein solcher statistischer Nachweis einer generalisierbaren Validität eines psychologischen Konstruktes in Bezug auf die Arbeitsleistung vorliegt, können zur Personalauswahl Instrumente, die das spezifische Konstrukt messen, eingesetzt werden, ohne dass die arbeitsplatzbezogene Validität gesondert überprüft werden muss. Durch den Ansatz der Validitätsgeneralisierung ist also ein bedeutender praktischer und theoretischer Fortschritt im Bereich der statistisch basierten Personalauswahl gelungen (s. dazu jedoch kritisch Sackett, Tenopyr, Schmitt, Kehoe & Zedeck, 1985).
17
262
Kapitel 17 · Personalauswahl
17.5
Kombination von Prädiktoren
Ein wichtiges Prinzip der psychologischen Diagnostik im Allgemeinen sowie der Personaldiagnostik im Besonderen ist die bereits erwähnte multimodale Vorgehensweise. Wie ausgeführt unterscheidet Schuler (1996) drei Klassen (Modalitäten) von Verfahren: simulationsorientierte, eigenschaftsorientierte und biographieorientierte Verfahren. Simulationsorientierte Verfahren erfassen Verhalten, eigenschaftsorientierte Verfahren erfassen psychologische Konstrukte wie z. B. Persönlichkeitsmerkmale oder Intelligenz, biographieorientierte Verfahren betreffen die Aufgaben- und Ergebnisebene. Dem biographieorientierten Vorgehen (s. z. B. die systematische Analyse von Bewerbungsunterlagen) liegt der Gedanke zugrunde, dass vergangenes Verhalten eine gute Prognose des zukünftigen Verhaltens gestattet. Dem simulationsorientierten Vorgehen wie z. B. bei Präsentationsübungen oder Rollenspielen im Assessment-Center liegt die Überlegung zugrunde, dass die diagnostische Situation eine direkte Abbildung der realen Tätigkeitsanforderungen darstellen soll. Das Verhalten, das die Kandidaten in der Simulation präsentieren, können sie dann auch in der Echtsituation zeigen. Psychologische Konstrukte sollen schließlich späteres Verhalten, Handeln und Leistungen vorhersagen und erklären. Die psychologischen Konstrukte beziehen sich auf ein individuelles Potenzial. Beispielsweise indiziert die allgemeine Intelligenz das Lernpotenzial von Personen. Je höher sie ist, desto besser schneiden Personen bei Weiterbildungsmaßnahmen und Trainings ab, an denen sie teilgenommen haben. Ein anderes Beispiel bietet das Konstrukt
der emotionalen Stabilität (der Gegenpol von Neurotizismus). Emotionale Stabilität ist eines von fünf grundlegenden Persönlichkeitsmerkmalen. Je größer die emotionale Stabilität ausgeprägt ist, desto besser ist das Potenzial einer Person, dass sie mit Belastungen erfolgreich umgehen kann. Die drei Modalitäten stellen also jeweils unterschiedliche Aspekte der Person in den Vordergrund. Wenn man davon ausgeht, dass Bewerber den Wunsch haben, in einem Auswahlverfahren möglichst gut abzuschneiden, dann dürften simulationsorientierte Verfahren gut geeignet sein, die Obergrenze der aktuellen individuellen Leistungsfähigkeit in einem bestimmten Bereich zu erfassen (maximale aktuelle Leistung). Biographieorientierte Verfahren zeigen dagegen das langfristige Leistungsniveau, auf dem sich eine Person bewegt (typische Leistung). Konstrukt- bzw. eigenschaftsorientierte Verfahren liefern schließlich Aussagen zum Potenzial von Personen, also zu den Möglichkeiten von Personen. Ob diese Möglichkeiten dann im Berufsalltag auch tatsächlich genutzt werden, hängt von den Anreizen und Gegebenheiten der Arbeitssituation ab. Denn wenn das Lernpotenzial einer Person durch die Arbeitsbedingungen und die Lernkultur einer Organisation nicht in Anspruch genommen wird, kann die hohe allgemeine Intelligenz eines Mitarbeiters sich auch nicht in höheren Leistungen umsetzen. Gemäß dem multimodalen Vorgehen sollten bei Selektionsentscheidungen die individuellen Werte mehrerer Prädiktoren berücksichtigt werden. Dafür gibt es unterschiedliche Vorgehensweisen, nämlich das Modell mehrfacher Hürden (Konfigurationsmodell), das Kompensationsmodell sowie gemischte Vorgehensweisen (. Abb. 17.4).
17
Mit freundlicher Genehmigung von Hogrefe, Göttingen. © Hogrefe 1996
. Abb. 17.4. Kombinationsmodelle für je zwei Prädiktoren. (Aus Schuler, 1996)
263 17.5 · Kombination von Prädiktoren
Modell mehrfacher Hürden Beim Modell mehrfacher Hürden (Konfigurationsmodelle) wird für jeden Prädiktor eine Mindestausprägung (Cut-off-Wert) festgelegt. Die verschiedenen Hürden müssen in einer bestimmten Reihenfolge überwunden werden. Dies könnte bei der Auswahl von Bewerben für ein Traineeprogramm praktisch wie folgt aussehen: Vor dem Hintergrund des biographieorienten Vorgehens wird das Vorliegen eines Hochschulabschlusses als erste Hürde festgelegt. Alle diejenigen Bewerber, die dieses Kriterium erfüllen, kommen in die zweite Auswahlrunde. Dort kommt im Sinne des konstruktorientierten Vorgehens ein Test zur allgemeinen Intelligenz zur Anwendung. Als Cut-off-Wert wird ein Intelligenzquotient von 110 Punkten festgelegt. Wer auch diese Hürde überwindet, wird zu einem Assessment-Center eingeladen (simulationsorientiertes Verfahren). Diejenigen Bewerber bekommen ein Angebot, die von allen Beobachtern bei allen Übungen in ihren Leistungen mindestens als »gut« beurteilt wurden. Die Festlegung der Reihenfolge der einzelnen Hürden ergibt sich hauptsächlich aus den Kosten der Verfahrensdurchführung. Die Feststellung, ob jemand ein Hochschulstudium erfolgreich absolviert hat, lässt sich zu minimalen Kosten bereits aus den Bewerbungsunterlagen entnehmen. Intelligenztests können einsatzfertig erworben und in hoch standardisierter Form in Gruppenversuchen in wenigen Stunden durchgeführt werden. Die Kosten dafür sind vergleichsweise gering. Die Simulationsübungen des Assessment-Center sollten entsprechend den Realanforderungen in der einstellenden Organisation konzipiert werden. Die Durchführung der Simulationsübungen ist zeitaufwändig. Zwei Tage sind keine Seltenheit. Schließlich müssen für alle Übungen bei jedem Bewerber mehrere Beobachter eingesetzt werden, die z. T. Führungskräfte der Organisation sind. Auch die Schulung der Beobachter vor dem Assessment-Center ist zeitintensiv. Deshalb sind die Kosten der Durchführung eines Assessment-Center ziemlich hoch, und daher sollte es nur mit einer kleinen Zahl von Bewerbern durchgeführt werden. Kompensatorischer Ansatz Beim sog. kompensatorischen Ansatz ist vorgesehen, dass Defizite der Bewerber bei einem Prädiktor durch Stärken der Bewerber bei einem anderen Prädiktor ausgeglichen werden können. Beispielsweise rechnen viele Organisationen bei Hochschulabsolventen mit einem durchschnittlich ca. 3-jährigen Einarbeitungs- und Schulungsbedarf bis das erwünschte Leistungsniveau
erreicht wird. Da die allgemeine Intelligenz ein zentraler Indikator für das Lernpotenzial von Personen ist, d. h., je intelligenter Personen sind, um so leichter und schneller eignen sie sich neues Wissen an, umso mehr dürfte sich die erforderliche Einarbeitungszeit in dem Maße verkürzen, wie die allgemeine Intelligenz einer Person über dem Durchschnittswert derjenigen Hochschulabsolventen liegt, die üblicherweise von der Organisation eingestellt werden. Aus der jeweiligen Kombination von Monaten mit Berufserfahrung und der allgemeinen Intelligenz eines Bewerbers ergibt sich dann das zu erwartete Leistungsniveau der fraglichen Person. Bewerber mit hoher Intelligenz können dann ihre nicht vorhandene Berufserfahrung kompensieren, und Bewerber mit unterdurchschnittlicher Intelligenz können durch längere Berufserfahrung ihr geringeres Lerntempo ausgleichen. Eine solche Vorgehensweise setzt voraus, dass in der Organisation bereits Erhebungen konkurrenter oder prädiktiver Art (7 oben) zum Zusammenhang von Intelligenz, Monaten der Berufserfahrung und der Leistung von Organisationsangehörigen vorliegen. Ist dies der Fall, lässt sich mithilfe einer sog. Regressionsanalyse (Backhaus, Erichson, Plinke & Weiber, 2003) das Gewicht von Intelligenz und Berufserfahrung exakt bestimmen. Außerdem ist es erforderlich, dass bei der zu erwartenden Leistung wieder ein Cut-off-Wert bestimmt wird. Mithilfe der vorhandenen Regressionsdaten lässt sich dann ermitteln, ob der aufgrund der spezifischen Kombination von Intelligenz und Berufserwartung zu erwartende Leistungswert den Cut-off-Wert erreicht oder nicht. Erreicht die aufgrund der Regressionsgleichung geschätzte Leistung des Bewerbers den Cut-offWert, erhält der Bewerber ein Stellenangebot, liegt ihre geschätzte Leistung unter dem Cut-off-Wert, erhält der Bewerber kein Stellenangebot. Gemischte Vorgehensweise Bei einer gemischten Vorgehensweise werden für die Prädiktoren zunächst jeweils einzeln Cut-off-Werte festgelegt. Für Prädiktorwerte, die höher als die Cut-offs liegen, können sich die Werte der unterschiedlichen Prädiktoren gegenseitig jeweils kompensieren. Eine solche Vorgehensweise kann dann sinnvoll sein, wenn z. B. für die Besetzung von Sekretariatsstellen simulationsorientiert eine standardisierte Arbeitsprobe (Erstellen eines Geschäftsbriefes am PC) und konstruktorientiert ein Test zur emotionalen Stabilität zur Personalauswahl eingesetzt werden.
17
264
Kapitel 17 · Personalauswahl
17.6
17
Richtige und falsche Auswahlentscheidungen
Wie weiter oben bereits ausgeführt wurde, ist der Zusammenhang zwischen Prädiktor und Kriterium die entscheidende Grundlage für die psychologische Personalauswahl. Die Enge des Zusammenhanges kann mithilfe des Korrelationskoeffizienten angegeben werden. Er wird als Validität bezeichnet. Liegt ein perfekter Zusammenhang vor, beträgt der Korrelationskoeffizient 1, liegt kein Zusammenhang vor, beträgt der Korrelationskoeffizient 0. Ein solcher Zusammenhang kann auch als Funktionsgleichung angegeben und graphisch veranschaulicht werden. . Abb. 17.5a (r=1) zeigt den Fall eines perfekten Zusammenhangs zwischen Prädiktor und Kriterium. Die Werte aller untersuchten Personen liegen exakt auf der Regressionsgeraden. Alle Bewerber, deren Prädiktorwert über dem Cut-off-Wert liegt, werden angenommen. Da auch ihre Kriteriumswerte alle über dem Cut-off-Wert des Kriteriums liegen, sind sie auch alle geeignet. Mit den Prädiktorwerten aller Personen, die unter dem Cut-off liegen, korrespondieren Kriteriumswerte, die dort unter dem Cut-off liegen. Dies bedeutet, dass all diejenigen Personen, die im Auswahlverfahren abgelehnt werden, auch tatsächlich ungeeignet sind. Personen, deren Werte im Feld b liegen, werden als »Geeignete und Akzeptierte« (»true accepts«) bezeichnet. Personen, deren Werte im Feld c liegen, werden als »Ungeeignete und Abgelehnte« (»true rejects«) bezeichnet. . Abb. 17.5b (r=0) zeigt den Fall eines fehlenden Zusammenhangs zwischen Prädiktor und Kriterium. Die Werte aller untersuchten Personen verteilen sich gleichmäßig über die Felder a–d. Die Regressionsgerade ist die Parallele zur X-Achse, die im Cut-off-Wert des Kriteriums die Y-Achse schneidet. Im Gegensatz zum Fall in . Abb. 17.5a gibt es jetzt auch Personen in den Quadranten a und d. Die Personen im Quadrant a sind zwar geeignet, werden aber trotzdem nicht eingestellt (Geeignete und Abgelehnte, »false rejects«). Die Personen im Quadrant d sind ungeeignet, werden aber trotzdem eingestellt (Ungeeignete und Akzeptierte, »false accecpts«). Falls 50% der Bewerber geeignet sind und 50% der Bewerber eingestellt werden, ergibt sich bei einem fehlenden Zusammenhang von Prädiktor und Kriterium (r=0) Folgendes: Nur 50% der Bewerber wurden richtig ausgewählt, nämlich 25% »Geeignete und Akzeptierte (b)« und 25% »Ungeeignete und Abgelehnte (c)«. Aber 50%
der Bewerber wurden falsch ausgewählt, nämlich 25% »Geeignete und Abgelehnte (a)« und 25% als »Ungeeignete und Akzeptierte (d)«. . Abb. 17.5c (0
265 17.6 · Richtige und falsche Auswahlentscheidungen
. Abb. 17.5a–c. Falsche und richtige Entscheidungen in der Personalauswahl, a r=1, b r=0, c 0
a
b
geeignete Abgelehnte geeignete Akzeptierte ungeeignete Abgelehnte ungeeignete Akzeptierte
c
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Kapitel 17 · Personalauswahl
. Abb. 17.6a,b. Auswirkungen unterschiedlicher Selektionsquoten, a Selektionaquote 20%, b Selektionsquote 70%
a
b
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ten immer eine niedrige sog. Selektionsrate bzw. -quote, d. h., die Anzahl der Akzeptierten im Verhältnis zur Anzahl der Bewerber ist relativ klein. Je strenger die Anforderungen an die Bewerber werden, desto niedriger ist also die Selektionsrate und desto größer ist die Wahrscheinlichkeit, dass geeignete Bewerber abgelehnt werden. Will man diese Art von Fehler reduzieren, dann ist es angezeigt, die Auswahlanforderungen zu reduzieren und die Selektionsrate zu erhöhen (. Abb. 17.6b). Eine solche Vorgehensweise ist dann sinnvoll, wenn z. B. das Ziel der Chancengleichheit einen hohen Stellenwert bei Auswahlentscheidungen hat.
Wenn man es beispielsweise mit der Entscheidung zu tun hat, ob ein Schüler der 4. Klasse eine Gymnasialempfehlung bekommen soll oder nicht, und wenn bekannt ist, dass Schüler aus niedrigeren sozialen Schichten bei hinreichender Intelligenz geringere Chancen haben, auf eine weiterführende Schule zu kommen (7 Kap. 14), dann kann man die Anforderungen an den zu erreichenden Notenschnitt für eine Gymnasialempfehlung absenken. Dies bewirkt, dass die Wahrscheinlichkeit für Fehler zu Lasten der Individuen absinken, erhöht aber zugleich die Wahrscheinlichkeit des Fehlers zu Lasten der Institution, denn es erhöht sich damit auch der Anteil ungeeigneter
267 17.6 · Richtige und falsche Auswahlentscheidungen
. Abb. 17.7a,b. Auswirkungen unterschiedlicher Basisraten, a Basisrate 40%, b Basisrate 60%
a
b
Schüler am Gymnasium. Für eine Organisation kann es außerdem wichtig sein, die Fehler zu Lasten der Individuen zu senken, wenn dies mit einem Imageschaden für die Organisation verbunden ist oder wenn aufgrund solcher Fehler der Organisation Gerichtsverfahren wegen Verletzungen der Chancengleichheit bei Auswahlverfahren drohen. Was eine angemessene Selektionsrate darstellt, kann man ohne Kenntnis des Auswahlzwecks sowie der sozialen und juristischen Rahmenbedingungen nicht entscheiden. Cascio, Alexander und Barrett (1988) haben diese Fragen in umfassender Weise behandelt. Für Organisationen geht es primär darum, die Wahrscheinlichkeit institutioneller Fehler gering zu halten. Ein Faktor, der dabei neben der Validität der Auswahlverfahren sowie der Selektionsrate zusätzlich eine wichtige Rol-
le spielt, ist die sog. Basisrate. Sie wird auch als Grundquote bezeichnet. Die Basisrate ist der Anteil von geeigneten Bewerbern in der Gesamtgruppe der Bewerber. Bei einer Basisrate von .20 hätte man durch ein Zufallsauswahlverfahren eine Trefferquote von 20%, bei einer Basisrate von .60 hätte man durch ein Zufallsauswahlverfahren eine Trefferquote von 60% etc. Je größer der Anteil der Geeigneten ist, desto geringer ist die Wahrscheinlichkeit für institutionelle Fehler (. Abb. 17.7a,b). Taylor und Russel (1939) haben die Zusammenhänge zwischen der Trefferrate, d. h. dem Anteil der Geeigneten an den Ausgewählten, der Basisrate sowie der Selektionsrate in einem Tafelwerk zusammengestellt. Ein Auszug des Tafelwerkes findet sich in Lienert und Raatz (1994).
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268
Kapitel 17 · Personalauswahl
! Die Trefferquote ist umso höher, je größer die Validität des Auswahlinstrumentes, je kleiner die Selektionsquote und je höher die Basisrate ist.
Organisationen haben nur indirekten Einfluss auf die Basisrate der Geeigneten. Sie können jedoch durch eine kluge Auswahl der Zielgruppe sowie der Art der Bewerberansprache im Rahmen des Personalmarketing den Anteil der Geeigneten unter den Bewerbern deutlich erhöhen (7 Kap. 16). Die stärkste Verbesserung der Trefferrate durch psychologische Auswahlverfahren ergibt sich bei einer Basisrate von 50%. Bei einer sehr hohen Basisrate (z. B. über 80%) ist außerdem zu prüfen, ob die Kosten, die durch das Auswahlverfahren selbst verursacht werden, nicht den zusätzlichen Nutzen, der sich aus der Erhöhung der Trefferquote durch den Einsatz des psychologischen Auswahlinstrumentes ergibt, egalisieren oder ihn sogar übertreffen. Dann ist der Nutzen einer Auswahl aufgrund einer sog. A-priori-Strategie (Zufallsauswahl auf der Basis der Grundquote) im Vergleich zum Einsatz eines psychologischen Auswahlinstrumentes zu überlegen. 17.7
17
Der Nutzen von Auswahlverfahren
Welchen Nutzen bringt eine psychologisch gestützte Personalauswahl? Der Nutzen einer Vorgehensweise muss immer relativ zu einem bestimmten Bezugspunkt definiert werden. Denn es kann sich um den Nutzen für die Gesellschaft, den Nutzen für die betroffenen Bewerber, den Nutzen für die die Personalauswahl durchführenden Psychologen oder um den Nutzen für die Institution bzw. Organisation handeln, in deren Auftrag die Personalauswahl nach psychologischen Grundsätzen durchgeführt wird. Diese Fragen sind grundsätzlich von Cronbach und Gleser (1965) behandelt worden. Im Folgenden soll lediglich der Nutzen aus der Perspektive der Organisation, die eine psychologisch gestützte Personalauswahl veranlasst, behandelt werden (vgl. ausführlicher Görlich & Schuler, 2006). Der Nutzen selbst hat wiederum verschiedene Dimensionen. Im Folgenden soll es aber lediglich um den wirtschaftlichen, in Geldeinheiten quantifizierbaren Nutzen aus der Perspektive der einstellenden Organisation gehen. Dabei sind folgende Größen von Bedeutung:
4 Unterschiedlichkeit der Leistung: Eine wichtige Größe ist die in Geldeinheiten ausgedrückte Unterschiedlichkeit der Leistung zwischen verschiedenen Stelleninhabern. Die Leistungsstreuung bei angelernten Beschäftigten beträgt beispielsweise in den USA (Schmidt & Hunter, 1998) bezogen auf den Leistungsdurchschnitt 19%, bei Facharbeitern 32% und bei Führungskräften 48%. Je größer die Leistungsstreuung, desto höher ist der geldwerte Nutzen der Personalauswahl für die Organisation. Diese Unterschiedlichkeit kann als Standardabweichung des Leistungskriteriums in Geldeinheiten (SDy) erfasst werden. 4 Höhe des Validitätskoeffizienten: Von Bedeutung ist ebenfalls die Höhe des Validitätskoeffizienten (rxy), der die Enge des Zusammenhangs zwischen dem Abschneiden im Auswahlverfahren und dem Leistungskriterium angibt. Je höher der Validitätskoeffizient, desto höher ist der geldwerte Nutzen der Personalauswahl für die Organisation. 4 Selektionsquote: Darüber hinaus spielt die Selektionsquote eine wichtige Rolle. Je kleiner die Selektionsquote ist, d. h., je strenger die Maßstäbe in Bezug auf das Auswahlverfahren sind, desto kleiner ist der institutionelle Fehler (Anteil der ungeeigneten, aber akzeptierten Bewerber), der bei einem Auswahlverfahren gemacht wird, und umso höher ist die Trefferquote. Diese Größe kann als durchschnittlicher standardisierter Prädiktorwert (zMx) der Ausgewählten angegeben werden. Je größer der durchschnittliche standardisierte Prädiktorwert (zMx) der Ausgewählten ist, desto höher ist der geldwerte Nutzen der Personalauswahl für die Organisation. 4 Anzahl der Eingestellten und der Jahre: Weiterhin sind die Anzahl der Eingestellten (NE) und die Anzahl der Jahre, die diese in der fraglichen Position tätig sind (T), von Bedeutung. Der Nutzen steigt mit der Anzahl der Eingestellten und der Anzahl der Zeiteinheiten proportional an. Vermindert wird der Nutzen durch die Kosten des Auswahlverfahrens pro Bewerber (C = »costs«) und die Anzahl der Bewerber (NB). Der zusätzliche Nutzen (ΔU = »utility«) des Auswahlverfahrens im Verhältnis zu einer Einstellung auf Zufallsbasis lässt sich dann in folgender Formel zusammenfassen (s. Höft, 2001):
269 17.8 · Ethische und rechtliche Rahmenbedingungen
ΔU = (NE * T * SDy * rxy * zMx) − (C * NB), wobei ΔU Nutzenzuwachs in Geldeinheiten gegenüber einer Zufallsauswahl NE Anzahl der Eingestellten T Anzahl der Zeiteinheiten in der Stelle (Verweildauer) SDy Standardabweichung des Kriteriums in Geldeinheiten rxy Validitätkoeffizient zMx Durchschnittlicher standardisierte Prädiktorwert der Eingestellten C Kosten pro Bewerber NB Anzahl der Bewerber Höft (2001) kommt bei der Nutzenanalyse eines Fallbeispiels hinsichtlich der Auswahl von 120 Bankkaufleuten aus einem Pool von 585 Bewerbern und einer durchschnittlichen Verweildauer von 10,2 Jahren bei einer prognostischen Validität des Auswahlverfahrens von rxy=.35, Kosten von 140 € pro Bewerber, einer Leistungsstreuung (SDy) bei den Bankkaufleuten von 23.300 € pro Jahr sowie einem durchschnittlichen standardisierten Testwert bei den eingestellten Bewerbern von .5 (zMx) auf einen Nutzenzuwachs von rund 4,9 Mio. €. Eine Übersicht über die bisherigen empirischen Studien zum monetären Nutzen des Einsatzes von Verfahren zur Personalauswahl findet sich bei Holling (1998). Der Anwendung dieser Nutzenschätzung von psychologisch gestützten Auswahlverfahren steht im Alltag allerdings das Problem entgegen, dass Schätzungen der Leistungsstreuung in Geldeinheiten in Bezug auf die Stelleninhaber in den Organisationen selten vorliegen. 17.8
Ethische und rechtliche Rahmenbedingungen
Für die Akzeptanz psychologischer Personalauswahlverfahren auch aus der Sicht (später) abgelehnter Bewerber ist deren moralische Legitimation und rechtliche Zulässigkeit von großer Bedeutung. Im Folgenden wird ein kurzer Überblick über die wichtigsten Punkte in diesem Zusammenhang gegeben. Ausführlichere Informationen finden sich bei Blickle (2003; 2004) sowie Westhoff et al. (2004). Bei der Frage, welche Personen im Rahmen der Personalsuche angesprochen werden, kann sich das Prob-
lem stellen, ob eine moralisch ungerechtfertigte Diskriminierung vorliegt. Denn niemand darf aufgrund eines für die Erfüllung einer Tätigkeit irrelevanten Merkmales seiner Person wie z. B. 4 Rasse, 4 Herkunft, 4 religiöse Überzeugung, 4 Geschlecht, 4 sexuelle Orientierung (Homosexualität) etc. von dem angesprochenen Personenkreis bei der Personalsuche ausgeschlossen werden. Das bürgerliche Gesetzbuch der Bundesrepublik Deutschland enthält explizit ein Benachteiligungsverbot für Frauen bei Stellenausschreibungen (§ 611b, Bürgerliches Gesetzbuch). Rechtlich umstritten sind jedoch Fälle, bei denen der Arbeitgeber mit den Präferenzen seiner Kunden oder Geschäftspartner argumentiert und vorbringt, dass sich z. B. Herrenoberbekleidung oder Kraftfahrzeuge besser durch männliche Personen und Damenoberbekleidung, Kosmetika oder Haushaltswaren besser durch weibliche Personen verkaufen lassen. Quoten Für die Diskussion um die ungerechtfertigte Diskriminierung am Arbeitsplatz spielen außerdem Quoten (z. B. die Frauenquote) eine wichtige Rolle. Der zentrale Streitpunkt in dieser Frage ist, ob bei der Personalauswahl der relative Anteil in der relevanten erwerbstätigen Bevölkerung oder die individuelle Qualifikation für eine bestimmte Stelle von ausschlaggebender Bedeutung sein soll. Die Kritiker des individuellen Qualifikationsprinzips führen ins Feld, dass die herrschenden Qualifikationskriterien auf Männer zugeschnitten seien. Eine Möglichkeit für einen Kompromiss ist, dass Angehörige bestimmter Gruppen (z. B. Frauen) durch gesellschaftlich finanzierte Maßnahmen gezielt beim Erwerb beruflicher Qualifikationen gefördert werden, gleichzeitig aber am Prinzip der ausschließlich qualifikationsabhängigen Stellenbesetzung festgehalten wird. Schutz ethisch-moralischer Grundrechte Der Schutz ethisch-moralischer Grundrechte bei Auswahlverfahren betrifft primär zwei Aspekte, nämlich den Schutz der rationalen Selbstbestimmung sowie den Schutz der psychischen und sozialen Unversehrtheit der Bewerber. Die Möglichkeit zur rationalen Selbstbestimmung soll durch die Transparenz des Auswahlverfahrens für die
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Kapitel 17 · Personalauswahl
Bewerber gewährleistet werden. Die Bewerber sollen vor der Durchführung des Verfahrens insgesamt und im Zweifelsfall auch vor einzelnen Teilschritten über die Ziele, die Durchführungsmodalitäten sowie die möglichen Folgen und Nebenfolgen, die bei einzelnen Verfahren wie z. B. beim Stressinterview (gezielte Einschüchterung und Verunsicherung der Bewerber zur Prüfung ihrer emotionalen Stabilität und Belastbarkeit) oder beim Polygraphen (Lügendetektor) durchaus problematisch sein können, aufgeklärt werden. Erst nach einer derartigen Aufklärung sollen die Bewerber entscheiden, ob sie sich am Auswahlverfahren beteiligen und über die Ergebnisse informiert werden wollen oder nicht. Der Bewerber soll eine Rückmeldung über die diagnostischen Ergebnisse erhalten. Die Vorinformation und Ergebnisrückmeldung muss dabei in einer Form und Sprache erfolgen, die es dem Bewerber ermöglicht, die gegebenen Informationen nachzuvollziehen und für sich persönlich einzuordnen. Der Bewerber soll selbst entscheiden, an wen und in welcher Form die diagnostischen Ergebnisse weitergeleitet werden dürfen. Die diagnostischen Ergebnisse müssen gegebenenfalls so aufbewahrt und kodiert werden, dass sie nicht von Unbefugten benutzt werden können. Die psychische und soziale Unversehrtheit soll durch eine takt- und respektvolle Vorinformation, Begutachtung und Rückmeldung geschützt werden. Hier ist auch darauf zu achten, dass in den Erhebungsinstrumenten keine sprachlich diskriminierenden Ausdrücke, wie z. B. Neger für Schwarze, verwendet werden. Information und Rückmeldung können auch die Funktion haben, den Betroffenen kognitive Kontrolle über das Begutachtungsverfahren zu vermitteln. Es kann jedoch auch sinnvoll sein, mit dem Betroffenen vorab zu klären, ob er überhaupt eine Rückmeldung über die diagnostischen Ergebnisse wünscht, um durch die diagnostische Rückmeldung sein Selbstbild oder seine psychische Stabilität nicht unnötig zu beeinträchtigen. Die soziale Unversehrtheit soll außerdem durch die Schweigepflicht des Diagnostikers gegenüber Dritten geschützt werden. So soll einer möglichen sozialen Stigmatisierung vorgebeugt werden. Transparenz Eine vollständige Transparenz wird bei einem Verfahren zur Bewerberauswahl selten gegeben sein. Dies liegt z. T. an der Professionalisierung der betrieblichen und insbesondere psychologischen Personalarbeit, die mit einer hohen Expertenkompetenz verbunden ist und z. T. daran, dass Seitens der Bewerber unvorbereitete Reaktionen und Stel-
lungnahmen im Rahmen einer Bewährungsprobe oft diagnostisch aufschlussreicher sind. Die Durchführung von Eignungsuntersuchungen ist also nicht nur für die Bewerber, sondern auch für die beauftragende Organisation sowie die Laienöffentlichkeit nur z. T. durchschaubar. Speziell in Bezug auf die Bewerber kommen ein großes Machtgefälle sowie eine mangelnde Situationskontrolle gegenüber dem Diagnostiker hinzu. Aus diesem Grund trägt der Personalexperte eine moralische Durchführungs- und Missbrauchsverantwortung (z. B. Datenmissbrauch) sowie eine Verantwortung für die Folgelasten (z. B. in Bezug auf die Integration von Sondergruppen wie z. B. leistungsschwache Bewerber ohne Hauptschulabschluss). Fairness bzw. Gerechtigkeit Das Problem der Fairness bzw. Gerechtigkeit von Auswahlverfahren selbst stellt sich in zweifacher Hinsicht, nämlich als Problem der Beitragsgerechtigkeit und als Problem der Verteilungsgerechtigkeit. Bei jedem Auswahlverfahren durchläuft eine größere Anzahl von Bewerbern eine Prozedur, an deren Ende nur ein Teil der Personen eine Stelle bekommt. Der Großteil der Bewerber hat also Mühe, Zeit und Hoffnung investiert, geht aber am Ende leer aus, wohingegen die Organisation aufgrund der Teilnahme der abgelehnten Bewerber für sich geeignete Personen identifizieren konnte. Dies kann als eine Störung der Beitragsgerechtigkeit im Verhältnis von Organisation und Bewerbern gesehen werden. Um diese Asymmetrie abzubauen, ist vorgeschlagen worden, die Ergebnisrückmeldung am Ende des Auswahlverfahrens auch gezielt zur Förderung von abgelehnten Bewerbern zu nutzen, indem die abgelehnten Bewerber konkrete Rückmeldungen über ihre weiteren beruflichen Entwicklungsmöglichkeiten erhalten sollen. Damit ist natürlich seitens der Organisation auch die Hoffnung auf eine erhöhte Akzeptanz ihrer Auswahlverfahren bei den Bewerbern sowie die Hoffnung, einem Imageschaden in den Augen der abgelehnten Bewerber vorzubeugen, verbunden. Auswahlverfahren sind auch Instrumente, um knappe Güter, nämlich Arbeitsplätze, zu verteilen. Dabei lässt sich das Problem der Verteilungsgerechtigkeit auf zwei Ebenen aufwerfen, nämlich auf der Item- und der Instrumentenebene. Auf der Itemebene kann das Problem auftauchen, ob z. B. Fragen zur familiären Herkunft und zur Familiensituation ethisch zulässig sein sollen, selbst wenn sie zuverlässige Prognosen liefern. Wer z. B. als Scheidungskind aus einer Familie stammt, bei der der Vater vorbe-
271 17.8 · Ethische und rechtliche Rahmenbedingungen
straft und die Mutter suchtkrank ist, dürfte bei einem biographischen Fragebogen für eine Verantwortungsposition (z. B. Pilot oder Führungskraft im Finanzmanagement) eher mit geringen Erfolgsprognosen zu rechnen haben. Es handelt sich dabei jedoch um Sachverhalte (Scheidung, Kriminalität und Suchterkrankung der Eltern), für die der Bewerber nicht verantwortlich ist. Es wurde daher der Vorschlag geäußert, nur solche biographischen Items abzufragen, die Verhalten zum Gegenstand haben, das vermutlich innerhalb der Kontrolle des Bewerbers liegt. Andernfalls würde man solche Bewerber doppelt benachteiligen. Auf der Instrumentenebene kann sich das bereits erwähnte Problem der Testfairness stellen. Ein Auswahlinstrument ist dann unfair, wenn eine differenzielle prädiktive Validität (unterschiedliche Steigungen der Regressionsgeraden) und/oder eine systematische Validitätsüberoder unterschätzung (Abszissen der Regressionsgeraden) vorliegt. Beispielsweise könnte ein bestimmter Büroarbeitstest zwar bei Deutschen, nicht aber bei Immigranten den Ausbildungserfolg vorhersagen. In diesem Fall wäre der Einsatz dieses Tests unfair gegenüber Immigranten, weil die Auswahl bei Deutschen aufgrund deren Leistung, bei Immigranten aber zufällig erfolgen würde. Falls die Steigung der Regressionsgeraden in allen Gruppen von null verschieden ist, gibt es allerdings die Möglichkeit der rechnerischen Testwertkorrektur.
Verletzung der ethisch-moralischen Grundrechte Bewerber, die nach der Auswahlprozedur ein Stellenangebot erhalten, werden oft in einer Weise angesprochen, die die Tätigkeit und die Organisation als sehr attraktiv erscheinen lassen, wobei bestimmte Angaben zu den in Aussicht gestellten Arbeits- und Vergütungsbedingungen manchmal absichtlich unvollständig oder sogar falsch sind. Eine solche gezielte Informationsbeschränkung stellt eine schwerwiegende Verletzung des ethisch-moralischen Grundrechtes auf rationale Selbstbestimmung von Bewerbern dar. Wie personalpsychologische Befunde zeigen (Buckley, Fedor, Veres, Wiese & Carraher, 1998), ist dagegen moralisch verantwortungsvolles Verhalten auch für die Organisation nützlich: Eine realistische Tätigkeitsvorschau (vgl. Kapitel 16), bei der die Licht- und Schattenseiten der zukünftigen Tätigkeit im Rahmen von Einstellungsverfahren den Bewerbern verdeutlicht werden, führt mittelfristig zu einer höheren Arbeitszufriedenheit, einer stärkeren Identifikation mit der Organisation sowie zu einer geringeren Abwanderung. Personalfachleute sollten ihre moralische Verantwortung insbesondere in Anlehnung an die berufsethischen Richtlinien ihrer jeweiligen Standesorganisationen (Berufsverband Deutscher Psychologen, 1988; o. J.; Deutsche Gesellschaft für Personalführung, 2005; Schuler, 1999) wahrnehmen (7 Kasten). Dabei kommt es
Auszüge aus den ethischen Richtlinien der Deutschen Gesellschaft für Psychologie e.V. und des Berufsverbands Deutscher Psychologinnen und Psychologen e.V. Die Aufgabe von Psychologen ist es, das Wissen über den Menschen zu vermehren und ihre Kenntnisse und Fähigkeiten zum Wohle des einzelnen und der Gesellschaft einzusetzen. Sie achten die Würde und Integrität des Individuums und setzen sich für die Erhaltung und den Schutz fundamentaler menschlicher Rechte ein. Das berufliche Handeln von Psychologen, seien sie nun wissenschaftlich in Lehre und Forschung, in der Diagnostik, Psychotherapie, Supervision, Beratung, als Experten oder in anderen Funktionen tätig, ist geprägt von der besonderen Verantwortung, die Psychologen gegenüber den Menschen tragen, mit denen sie umgehen. Um helfen zu können, benötigen sie ihr Vertrauen. Der Schutz und das Wohl der Menschen, mit denen Psychologen arbeiten, sind das primäre Ziel dieser Richtlinien.
Psychologen sind dazu verpflichtet, in der praktischen Ausübung ihres Berufs zu jeder Zeit ein Höchstmaß an ethisch verantwortlichem Verhalten anzustreben. Sie sind dazu verpflichtet, die Rechte der ihnen beruflich anvertrauten Personen nicht nur zu respektieren, sondern, wann immer erforderlich, auch aktiv Maßnahmen zum Schutz dieser Rechte zu ergreifen. Psychologen anerkennen das Recht des Individuums, in eigener Verantwortung und nach eigenen Überzeugungen zu leben. In ihrer beruflichen Tätigkeit bemühen sie sich um Sachlichkeit und Objektivität und sind wachsam gegenüber persönlichen, sozialen, institutionellen, wirtschaftlichen und politischen Einflüssen, die zu einem Missbrauch bzw. zu einer falschen Anwendung ihrer Kenntnisse und Fähigkeiten führen könnten. (Quelle: http://www.bdp-verband.org/bdp/verband/ ethik.shtml)
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Kapitel 17 · Personalauswahl
darauf an, in einem Feld konkurrierender Interessen die Risiken und Lasten von Auswahlverfahren keiner Seite einseitig aufzuerlegen. Es ist also die Aufgabe der Personalexperten, jeweils in der gegebenen Auswahlsituation vor dem Hintergrund ihrer berufsethischen Richtlinien zu einem fairen Interessenausgleich zu kommen. In Bezug auf die Durchführungsverantwortung bei Auswahl-
verfahren haben Schuler und Stehle (1983) das Konzept der sozialen Validität entwickelt, das die Aspekte der Information, Transparenz, Partizipation und Urteilskommunikation exemplarisch bei der Durchführung von Assessment-Center-Verfahren herausarbeitet (s. auch Görlich & Schuler, 2006).
Zusammenfassung
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4 Personalauswahl besteht darin, dass für einen Arbeitsplatz mehrere Kandidaten zur Verfügung stehen und dabei im Sinne der Interessen und Ziele der Organisation zu entscheiden ist, welche Person ein Stellenangebot erhält. 4 Das Ziel der Personalauswahl sollte es sein, eine sog. Passung zu erreichen. Hierbei sind die qualifikatorische, die bedürfnisbezogene und die potenzialbezogene Passung zu unterscheiden. 4 Die Verfahren der Personalauswahl sind konstrukt-, simulations- oder biographieorientiert konzipiert. Ihre Entwicklung und Anwendung sollte nach den Kriterien der Dokumentation, Objektivität, Reliabilität, Validität, Fairness, Normierung, Ökonomie, Einsatzbreite, Nützlichkeit und Akzeptanz beurteilt werden. 4 Im Mittelpunkt der psychologisch gestützten Personalauswahl steht die systematische, empirische Gültigkeitsüberprüfung. Sie beginnt bei der Anforderungsanalyse für die zu besetzende Stelle sowie bei der Bestimmung von Prädiktoren und Leistungskriterien. Dann sollten bei den bereits eingestellten Beschäftigten konkurrente Validierungs- und Kreuzvalidierungsstudien durchgeführt werden. Auf dieser Basis kann dann die statistisch abgesicherte betriebliche Personalauswahl erfolgen. Diese sollte zur Ermittlung der sog. kriterienbezogenen Vorhersagevalidität nach einer bestimmten Zeit evaluiert werden. 4 Mithilfe von Metaanalysen der konkurrenten und prädiktiven Validierungsstudien kann dann überprüft werden, welche psychologischen Prädiktoren den Erfolg bei spezifischen Tätigkeiten und welche Prädiktoren berufliche Leistung insgesamt am besten statistisch vorhersagen. Gelingt der Nachweis, dass einzelne Prädiktoren relevant für berufliche
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Leistung i. Allg. sind, spricht man von Validitätsgeneralisierung. Zur Verbesserung der Validität von Auswahlverfahren können mehrere Prädiktoren konfigurativ (mehrfache Hürden), kompensativ (Ausgleich von Schwächen durch Stärken) oder gemischt kombiniert werden Die bei Personalauswahlentscheidungen auftretenden Fehler bestehen entweder darin, dass geeignete Personen zurückgewiesen werden oder ungeeignete Personen ein Stellenangebot erhalten. Für Organisationen ist insbesondere die Akzeptanz von Ungeeigneten von Bedeutung. Sie wird auch als institutioneller Fehler bezeichnet, weil die Folgen der Fehlentscheidung von der Institution zu tragen sind. Institutionelle Fehler können durch die Verwendung von Auswahlverfahren mit hoher Validität und einer geringen Selektionsquote (d. h. strenge Auswahlkriterien) minimiert werden. Die Trefferquote wird außerdem von der Basisrate beeinflusst. Der finanzielle Nutzen der Personalauswahl für eine Organisation wird von der Variabilität der Leistung bei den zu besetzenden Stellen, der Validität des Auswahlverfahren, der Strenge der Auswahlkriterien, den Kosten des Auswahlverfahrens pro Bewerber sowie der Anzahl der Bewerber und Eingestellten beeinflusst. Die Personalwahl durch Organisationen berührt immer auch ethische und rechtliche Aspekte. Dies betrifft insbesondere die Frage, wann eine ungerechtfertigte Diskriminierung vorliegt und wie sie vermieden werden kann, das Problem, wie die ethischmoralischen Grundrechte von Personen auch im Auswahlverfahren selbst geschützt werden können und wie Personen, die im Auswahlverfahren als geeignet identifiziert wurden, über die Stelle und die Organisation informiert werden.
273 Literatur
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18
18 Leistungsbeurteilung 18.1
Begriff und Ziele der Leistungsbeurteilung – 276
18.2
Leistungsbeurteilung als Verhaltensbeurteilung
18.3
Aspekte tätigkeitsbezogener Leistung – 280
– 278
18.4
Beurteilungsverfahren
18.4.1 18.4.2 18.4.3 18.4.4 18.4.5
Freie Eindrucksschilderung – 282 Kennzeichnung auf vorgegebenen Aussagelisten – 282 Rangordnungsverfahren – 283 Einstufungsverfahren – 284 Aufgaben- und zielorientierte Beurteilungsverfahren – 289
18.5
Urteilstendenzen und Beurteilungsfehler
18.6
Anlässe und Ebenen der Leistungsbeurteilung – 291
18.6.1 18.6.2
Tägliche Rückmeldungen am Arbeitsplatz – 291 Regelbeurteilungen und Potenzialbeurteilung – 292
Literatur
– 294
– 281
– 290
276
Kapitel 18 · Leistungsbeurteilung
Mit freundlicher Genehmigung des Bund-Verlags.
> Nicht nur Schüler und Studierende, sondern auch Mitarbeiter und Führungskräfte werden laufend in Bezug auf ihre Leistungen beurteilt (. Abb. 18.1). Der erste Abschnitt dieses Kapitels widmet sich der Frage, worin die Unterschiede zwischen einer Leistungsbeurteilung und einer Mitarbeiterbeurteilung liegen und worin sich beide von einer beruflichen Leistungsbeurteilung unterscheiden. Im darauf folgenden Abschnitt soll verdeutlicht werden, warum tätigkeitsbezogene Leistungsbeurteilungen Verhaltens- und nicht Ergebnisbeurteilungen sein sollten. Danach wird ein kurzer Überblick über die unterschiedlichen Aspekte tätigkeitsbezogener Leistungen gegeben. Im Anschluss werden verschiedene Beurteilungsverfahren vorgestellt, u. a. die freie Eindrucksschilderung sowie Rangordnungs- und Einstufungsverfahren. Abschließend werden Urteilstendenzen sowie wichtige Anlässe für und Ebenen der Leistungsbeurteilung dargestellt, nämlich tägliche Rückmeldungen am Arbeitsplatz, Regelbeurteilungen sowie Leistungsbeurteilungen als Elemente der Potenzialbeurteilung.
. Abb. 18.1. Cartoon »Die Beurteiler/innen«. (Aus Breisig, 1998)
18.1
18
Begriff und Ziele der Leistungsbeurteilung
Der Begriff der tätigkeitsbezogenen Leistungsbeurteilung im Personalbereich ist von zwei verwandten Begriffen zu unterscheiden, nämlich zum einen vom Begriff der Mitarbeiterbeurteilung und zum anderen vom Begriff der beruflichen Leistungsbeurteilung. Bei der Mitarbeiterbeurteilung wird primär der Mitarbeiter beurteilt, aber nicht oder erst sekundär seine Leistung. Die erbrachte Leistung stellt dabei nur eine Facette der Mitarbeiterbeurteilung dar. Vielmehr steht bei der Mitarbeiterbeurteilung die Person mit ihren Qualifikationen, ihrem Fachwissen, ihren beruflichen Erfah-
rungen, ihrer Motivation etc. im Vordergrund. Eine solche Mitarbeiterbeurteilung kann z. B. für ein Arbeitszeugnis oder eine Potenzialbeurteilung erstellt werden. Bei der beruflichen Leistungsbeurteilung (Dette, Abele & Renner, 2004) wird zwar nicht eine Person, sondern ihre berufliche Leistung beurteilt. Bezugspunkte einer solchen Leistungsbeurteilung sind dabei aber nicht nur die Leistungen hinsichtlich einer bestimmten Tätigkeit im Rahmen einer bestimmten Organisation, sondern die Leistungen einer Person im Rahmen einer bestimmten Berufslaufbahn insgesamt. Gegenstand einer solchen beruflichen Leistungsbeurteilung ist der Karriereerfolg in einem bestimmten Beruf, ggf. in verschiedenen Tätigkeiten und Organisationen in einer bestimmten beruflichen Entwicklungsphase. Maßstab der Beurteilung ist nicht primär der Beitrag der Person zur Zielerreichung der sie beschäftigenden Organisation, vielmehr sind es die Normen einer bestimmten Profession und die von der Person selbst verfolgten beruflichen Ziele. Derartige berufliche Leistungsbeurteilungen werden z. B. im Rahmen der Berufung von Professoren vorgenommen. Berufliche Leistungsbeurteilungen sind aber insbesondere für die Forschung zur Berufswahl und beruflichen Entwicklung (7 Kap. 14) als Kriterium des Berufserfolges von Bedeutung. Einen aktuellen metaanalytischen Überblick dazu geben Dette et al. (2004) sowie Ng, Eby, Sorensen & Feldman (2005). Bei der tätigkeitsbezogenen Leistungsbeurteilung im Personalbereich geht es dagegen um die Beurteilung der tätigkeitsbezogenen Leistung einer Person in einem bestimmten Zeitraum, die in einer bestimmten Organisation beschäftigt ist. Ihre tätigkeitsbezogene Leistung
277 18.1 · Begriff und Ziele der Leistungsbeurteilung
wird in Bezug auf die Ziele der Organisation beurteilt, in der sie beschäftigt ist, und nicht in Bezug auf eigene Ziele der Person oder die Normen einer bestimmten Profession. Leistungsbeurteilungen können sich neben Einzelpersonen prinzipiell auch auf Gruppen oder Kollektive (z. B. Universitäten) beziehen. Der Einfachheit halber wollen wir uns in der folgenden Darstellung auf die Leistung von Einzelpersonen als Beurteilungsgegenstand beschränken (zur Beurteilung von Gruppenleistungen s. Schmidt, 2004 sowie Muck & Schuler, 2004 sowie 7 Kap. 8 und 23). Leistungsbeurteilung kann für sehr unterschiedliche Zwecke betrieben werden (s. Schuler, 2004a): Es werden dabei, wie die folgende Übersicht zeigt, drei Hauptfunktionen unterschieden, nämlich die administrative Funktion, die Rückmeldungsfunktion und die Forschungsfunktion.
Mögliche Zwecke von Leistungsbeurteilungen Administrative Funktion 4 Betriebliche Gehalts- oder Lohnbestimmung 4 Vorbereitung und Dokumentation von Personalentscheidungen (Beförderungen, Versetzungen oder Entlassungen), entsprechend tariflicher und arbeitsrechtlicher Erfordernisse 4 Planung und Gestaltung betrieblicher Personalentwicklungsmaßnahmen 4 Neugestaltung von Arbeitsbedingungen 4 Evaluation der betrieblichen Personalauswahl und Personalentwicklung Rückmeldungsfunktion 4 Verdeutlichung von Leistungsanforderungen und -erwartungen bei der Neueingliederung von Mitarbeitern sowie zur Verhaltenssteuerung 4 Vorbereitung von Rückmeldungs- und Zielvereinbarungsgesprächen mit dem Ziel der Leistungsverbesserung 4 Individuelle Beratung und Förderung einzelner Mitarbeiter Forschungsfunktion 4 Validierung von Anforderungsanalysen 4 Validierung von Personalauswahlinstrumenten 4 Evaluation von Personalentwicklungskonzepten
Im Rahmen der administrativen Funktion kann die Leistungsbeurteilung die Grundlage der betrieblichen Gehalts- oder Lohnbestimmung sein. Leistungsbeurteilungen können dort auch zur Vorbereitung und zur Dokumentation – entsprechend der rechtlichen und tariflichen Anforderungen – von Personalentscheidungen wie z. B. Beförderungen, Versetzungen oder Entlassungen durchgeführt werden. Weiterhin können Leistungsbeurteilungen zur Planung und Gestaltung von betrieblichen Personalentwicklungsmaßnahmen vorgenommen werden. Ihre Ergebnisse können darüber hinaus auch für die Neugestaltung von Arbeitsbedingungen sowie zur Evaluation der betrieblichen Personalauswahl und Maßnahmen der Personalentwicklung herangezogen werden. Auch die Rückmeldungsfunktion hat unterschiedliche Facetten: Leistungsbeurteilungen können als Mittel zur Verdeutlichung von Leistungsanforderungen und -erwartungen z. B. bei der Neueingliederung von Mitarbeitern sowie zur Verhaltenssteuerung eingesetzt werden. Leistungsbeurteilungen können der Vorbereitung von Rückmeldungs- und Zielvereinbarungsgesprächen mit dem Ziel der Leistungsverbesserung dienen. Leistungsbeurteilungen können außerdem zum Zweck der individuellen Beratung und Förderung einzelner Mitarbeiter vorgenommen werden. Schließlich ist die Auswertung von Leistungsbeurteilungen durch Wissenschaftler ein wichtiges Instrument der Personalforschung: Leistungsbeurteilungen dienen beispielsweise der Validierung von Anforderungsanalysen, der Validierung von Personalauswahlinstrumenten sowie der Evaluation von Personalentwicklungskonzepten. Je nach Einsatzzweck werden unterschiedliche Ansprüche an die Qualität der Leistungsbeurteilungen gestellt. Dient die Leistungsbeurteilung der individuellen Beratung und Förderung etwa im Rahmen des Coaching und Mentoring (7 Kap. 19), spielt die Vergleichbarkeit zwischen Personen eine ganz untergeordnete Rolle. Die interindividuelle Vergleichbarkeit hat dagegen bei Leistungsbeurteilungen zum Zweck der Gehalts- und Lohnbestimmung eine sehr große Bedeutung. Es ist außerdem sehr wichtig zu erkennen, dass nicht alle Funktionen der Leistungsbeurteilung gleichzeitig wahrgenommen werden sollten, wenn man kontraproduktive Effekte vermeiden möchte. Leistungsbeurteilungen, die der betrieblichen Gehalts- oder Lohnbestimmung dienen, setzen beispielsweise einen starken Akzent auf den interindividuellen Leistungsvergleich, was
18
278
Kapitel 18 · Leistungsbeurteilung
durchaus zur Verstimmung bei den Beurteilten führen kann. Leistungsbeurteilungen zur Motivierung und individuellen Leistungsverbesserung können dagegen einen stärkeren Akzent auf den intraindividuellen Vergleich legen: Das Erkennen der eigenen Fortschritte kann dabei eine sehr motivierende Wirkung haben (Muck & Schuler, 2004). Diese motivierende Wirkung des intraindividuellen Leistungsvergleichs könnte jedoch konterkariert werden, wenn gleichzeitig ein interindividueller Leistungsvergleich stattfindet. Deswegen ist es auch sinnvoll, Leistungsbeurteilungen, die zu unterschiedlichen Zwecken durchgeführt werden, zeitlich zu trennen. 18.2
Leistungsbeurteilung als Verhaltensbeurteilung
Was ist unter der tätigkeitsbezogenen Leistung einer Person in einer Organisation in einem bestimmten Beurteilungszeitraum zu verstehen? Es liegt zunächst nahe, die Leistung einer Person als die Gesamtheit der Ergebnisse des Tätigwerdens im Beurteilungszeitraum – bewertet aus der Sicht der Organisation – zu definieren. Dabei lassen sich vier Ergebnisdimensionen unterscheiden (Schmitt, Cortina, Ingerick & Wiechmann, 2003), nämlich 4 Produktivität, 4 Kundenzufriedenheit, 4 Rückzugs- und kontraproduktives Verhalten sowie 4 rechtliche Beanstandungsfreiheit und soziale Verantwortung. Definition Produktivität ist die Summe aus Effektivität (Grad der Erreichung der von der Organisation vorgegebenen Ziele) und Effizienz (Verhältnis der erreichten Ergebniseinheiten zum Ausmaß eingesetzter organisationaler Ressourcen).
18
Kunden sind nicht nur die organisationsexternen Kunden, sondern alle von der Organisation definierten Leistungsempfänger in Bezug auf eine bestimmte Tätigkeit. So sind z. B. die Kunden von Hochschullehrern in Bezug auf ihre akademische Lehrtätigkeit zum einen die Studierenden zum anderen aber auch die Organisationen, die die Absolventen später beschäftigen.
Definition Unter Rückzugsverhalten versteht man die Abwesenheit vom Arbeitsplatz während der Arbeitszeit (Absentismus) sowie Kündigungen.
Positive Ergebnisse im Sinne der Organisation liegen vor, wenn Mitarbeiter immer bei der Arbeit erscheinen und weder krank werden noch blau machen, pünktlich zur Arbeit erscheinen, ihre Pausen nicht überziehen und weder Anlass zur Kündigung geben noch von sich aus kündigen (während die Organisation zugleich mit ihrer Leistung zufrieden ist). Definition Kontraproduktives Verhalten umfasst sowohl die Schädigung anderer Organisationsmitglieder (z. B. Mobbing oder sexuelle Belästigung am Arbeitsplatz) als auch die Schädigung der Organisation durch Diebstahl, Sabotage, Unfälle oder Störfälle.
Die rechtliche Beanstandungsfreiheit bezieht sich auf den Sachverhalt, dass die Mitarbeiter so handeln sollen, dass die Organisation nicht in Konflikt mit Gesetzen sowie der Rechtsprechung gerät z. B. durch Verstöße gegen Zoll- oder Steuergesetze oder durch andere wirtschaftskriminelle Handlungsweisen. Die soziale Verantwortung des Unternehmens bezieht sich darauf, dass die Mitarbeiter sich so verhalten sollten, dass das Unternehmen in seiner sozialen Umgebung akzeptiert wird. Dies kann z. B. die Unterlassung einer zwar rechtlich tolerierten, aber von der Öffentlichkeit sehr kritisch beurteilten Umweltverschmutzung sein. Das Problem einer solchen, auf das Tätigkeitsergebnis bezogenen Definition von Arbeitsleistung ist jedoch, dass sie nur dann sinnvoll ist, wenn das Arbeitsergebnis ausschließlich durch das individuelle Arbeitsverhalten bestimmt ist. Dies ist jedoch offensichtlich nicht der Fall. Das Arbeitsergebnis ist stets das Resultat des Zusammenspiels des individuellen Arbeitsverhaltens mit den organisationsinternen und -externen situativen und strukturellen Gegebenheiten. Die objektive Produktivität hängt beispielsweise nicht nur vom individuellen Arbeitsverhalten, sondern auch vom Zustand der Arbeitsumgebung und der Hilfsmittel (Maschinen), der rechtzeitigen und vollständigen Verfügbarkeit von arbeitsnotwendigen Informationen, der Klarheit der Ziel-
279 18.2 · Leistungsbeurteilung als Verhaltensbeurteilung
stellung und der Zuarbeit anderer Organisationsmitglieder ab. Auch externe Faktoren wie z. B. Materialknappheit oder Streiks bei Zulieferern sowie Verkehrsengpässe bei Transportunternehmen können die Arbeitsproduktivität beeinflussen, weil die Materialversorgung starken Schwankungen ausgesetzt ist. Die Kundenzufriedenheit hängt zwar auch vom Verhalten eines Stelleninhabers, aber eben auch vom Anspruchsniveau der Kunden und von den am Markt vorhandenen Alternativen ab. Das gleiche gilt auch für die anderen beiden Ergebnisdimensionen: Unfälle können beispielsweise die Folge von Drogenmissbrauch am Arbeitsplatz sein, sie sind jedoch auch häufig das Resultat unsicherer Arbeitsbedingungen sowie tätigkeitsbedingter Ermüdung und Konzentrationsmängel, die nicht von den Beschäftigten zu vertreten sind. Die Arbeitsperson ist bei einem Unfall oft nur das letzte und schwächste Glied in einer fremdgesteuerten und riskanten Arbeitsumgebung. Ob rechtliche Beanstandungen auftreten, hängt einerseits vom Arbeitsverhalten, aber auch von der Kontrolldichte der Rechtsorgane und der Klagefreudigkeit der organisationalen Umwelt ab. Aufgrund dieses sog. Zurechnungsproblems der tätigkeitsbezogenen Arbeitsergebnisse wird die Arbeitsleistung als ein Merkmal des Arbeitsverhaltens und nicht der Arbeitsergebnisse definiert (Motowidlo, 2003). Der Grundgedanke der verhaltensbezogenen Definition tätigkeitsbezogener Arbeitsleistung ist folgender: Für jede Arbeitstätigkeit können Arbeitsplatzexperten (z. B. Stelleninhaber, unmittelbare Vorgesetzte, Personalfachleute, Arbeitsgestalter) erfolgskritische Verhaltensweisen identifizieren. Eine Verhaltensweise gilt dann als erfolgskritisch, wenn sich die Arbeitsplatzexperten darüber einig sind, dass die Ausführung dieser Verhaltensweise mit hoher Wahrscheinlichkeit zu einem von der Organisation gewünschten Ergebnis führen wird. Beispielsweise führt bei männlichen Außendienstmitarbeitern von Versicherungen ein gepflegtes und seriöses Auftreten (konservativer Straßenanzug, Krawatte und geputzte Schuhe) dazu, dass sie von potenziellen Kunden als vertrauenswürdiger eingeschätzt werden (Nerdinger, 2001). Je mehr Vertrauen dem Verkäufer entgegengebracht wird, desto höher ist dann die Wahrscheinlichkeit, dass es zu einem erfolgreichen Verkauf einer Versicherungspolice kommt. Eine erfolgskritische Verhaltensweise bei Außendienstmitarbeitern wäre also, Kundenkontakte nur in seriöser und gepflegter Kleidung wahrzunehmen. Ob der Außendienstmitarbeiter diese Verhaltensweise zeigt, liegt allein in seiner Hand. Deswegen kann er in Bezug darauf
auch beurteilt werden. Ob ein erfolgreicher Verkaufsabschluss zustande kommt, hängt dagegen noch von vielen anderen Faktoren ab, die der Versicherungsvertreter nicht beeinflussen kann. Bei dieser verhaltensbezogenen Definition der Arbeitsleistung geht es also nicht darum, ob eine kritische Verhaltensweise in jedem Einzelfall zum Erfolg führt, sondern darum, dass nach übereinstimmender Einschätzung der Arbeitsplatzexperten die Verhaltensweise einen positiven Erwartungswert in Bezug auf das Eintreten der von der Organisation gewünschten Verhaltenskonsequenzen hat. Allerdings ist der Erfolg eines Verkäufers nicht nur von den geputzten Schuhen und der Krawatte abhängig, sondern auch noch von einer größeren Anzahl anderer kritischer Verhaltensweisen, die von den Arbeitsplatzexperten identifiziert und in Bezug auf ihren Erfolgsbeitrag einzuschätzen sind. Für die Gesamtarbeitsleistung ist also die jeweilige Summe der erfolgskritischen Verhaltensweisen am Arbeitsplatz entscheidend. Die Definition des Konstruktes Arbeitsleistung lautet deshalb: Definition Die individuelle tätigkeitsbezogene Arbeitsleistung ist die Summe der Erwartungswerte – bewertet aus Sicht der Organisation – des Arbeitsverhaltens eines Beschäftigten im jeweiligen Beurteilungszeitraum (Motowidlo, 2003).
Man kann also festhalten: Aufgrund des Zurechnungsproblems wird die Arbeitsleistung einer Person nicht über die tatsächlichen Arbeitsergebnisse dieser Person definiert, sondern darüber, in welchem Ausmaß eine Person in ihrer Tätigkeit Verhaltensweisen zeigt, die nach übereinstimmender Meinung der Arbeitsplatzexperten mit hoher Wahrscheinlichkeit zu positiven Ergebnissen für die Organisation führen. Eine solche verhaltens- und nicht ergebnisbezogene Definition von Arbeitsleistung hat neben der Berücksichtigung des Zurechnungsproblems eine Reihe weiterer Vorteile (Schuler & Höft, 2004): 4 Erfolgskritische Verhaltensweisen können methodisch zuverlässig identifiziert werden, etwa mithilfe der anforderungsanalytischen Methode der kritischen Ereignisse (7 Kap. 15 zur Anforderungsanalyse). 4 Die Bewertung der Arbeitsleistung wird nicht auf das unmittelbar zähl- und messbare reduziert. Diese Ge-
18
280
Kapitel 18 · Leistungsbeurteilung
fahr ist bei rein ergebnisorientierter Leistungsbewertung sehr groß. 4 Die Identifikation erfolgskritischer Verhaltensweisen und die Kommunikation an die betroffenen Mitarbeiter haben für diese einen sehr hohen Informationsgehalt. Sie wissen dann sehr genau, was von ihnen erwartet wird, und können sich darauf einstellen. 4 Das Wissen über die erfolgskritischen Verhaltensweisen gibt dem Vorgesetzten und der Organisation ein großes Steuerungspotenzial in Bezug auf die Verbesserung der Arbeitsleistung der Mitarbeiter. Es ermöglicht ursachenbezogenes Feedback und liefert Anhaltspunkte für Trainings (7 Kap. 19).
18
Dies schließt jedoch nicht aus, dass man bei geeigneten Rahmenbedingungen auch Arbeitsergebnisse als Indikatoren der Arbeitsleistung heranziehen kann, ebenso wie man auch Personenmerkmale unter bestimmten Bedingungen als Indikatoren der Arbeitsleistung verwenden kann. Wichtig ist jedoch dabei, immer zwischen der Definition des Konstruktes der tätigkeitsbezogenen Arbeitsleistung und möglichen empirischen Indikatoren dafür zu unterscheiden. Personen- oder ergebnisbezogene Indikatoren können dann sinnvoll sein, wenn das kritische Zielverhalten nur schwer oder unvollständig beobachtbar ist. Personenbezogene Indikatoren (z. B. Motivation, Fachwissen, Erfahrung) sind insbesondere dann sinnvoll, wenn die Ziele einer Tätigkeit nur sehr allgemein, aber nicht operational definierbar sind, etwa weil das angemessene Zielverhalten hoch situationsspezifisch ist. Dies ist beispielsweise der Fall, wenn Führungskräfte in einer fremden Kultur (z. B. in Indien oder China) eine Verkaufsorganisation oder eine Produktionsstätte aufbauen sollen und man davon ausgehen muss, dass die neu einzurichtende Tochterorganisation in den ersten Jahren auf jeden Fall ein Verlustbringer sein wird. Dieser Sachverhalt, dass Indikatoren nicht mit dem Konstrukt gleichgesetzt werden dürfen, ohne deswegen überflüssig zu sein, wurde bereits im Zusammenhang mit der Personalauswahl thematisiert (vgl. . Abb. 17.2). Das Ausmaß, in dem ein Indikator (z. B. Fachwissen) einen wichtigen Aspekt des Konstruktes erfasst, bezeichnet man als die Kriteriumsrelevanz des Indikators. Das, was durch einen bestimmten Indikator in Bezug auf das Konstrukt nicht abgedeckt wird, bezeichnet man als seine Kriteriumsdefizienz. Denn für eine hohe Leistung ist mehr als nur sehr gutes Fachwissen erforderlich. Die As-
pekte des Fachwissens, die nichts zur beruflichen Leistung beitragen, wie z. B. die Kenntnis früherer Produkte und Arbeitsverfahren, die heute nicht mehr aktuell sind, bezeichnet man als Kontamination (Verunreinigung) des Indikators in Bezug auf das Konstrukt. Da ein einziger Indikator selten das gesamte Leistungsspektrum abdeckt (Kriteriumsdefizienz), ist es sinnvoll, unterschiedliche Leistungsindikatoren gleichzeitig zu verwenden. 18.3
Aspekte tätigkeitsbezogener Leistung
Campbell, McCloy, Oppler und Sager (1993) haben versucht, alle Aspekte zusammenzutragen, die für die tätigkeitsbezogene Leistung einer Person relevant sind. Diese Leistungsdimensionen sollen nicht die Einflussgrößen der Leistung, sondern die Bandbreite der erfolgskritischen Verhaltensweisen (Extension) wiedergeben. Campbell et al. (1993) haben dabei auf umfangreiche Daten, die sie bei den amerikanischen Streitkräften erheben konnten, zurückgegriffen und die in der folgenden Übersicht zusammengestellten Dimensionen identifiziert. Nach Campbell et al. (1993) sind die Korrelationen der einzelnen Dimensionen untereinander relativ niedrig, sodass sich die Gesamtleistung aus der Summe der Leistungen auf den einzelnen Dimensionen ergibt. Viswesvaran, Schmidt und Ones (2005) haben dagegen auf Basis einer Metaanalyse einen Generalfaktor der tätigkeitsbezogenen Leistung identifiziert, der 60% der Varianz der Leistungsbeurteilungen aufklären soll. Innerhalb einer Leistungsdimension – wie etwa der tätigkeitsspezifischen Tüchtigkeit – können die verschiedenen Leistungsmaße aber auch relativ unabhängig voneinander sein, wie eine Studie von Sackett, Zedeck und Fogli (1988) zeigt. Sie untersuchten die Schnelligkeit und Genauigkeit (gemessen an der Anzahl von Fehleingaben und Stornierungen) von 735 Kassenmitarbeitern in Supermärkten. Dabei zeigte sich, dass die Korrelation der beiden Größen »Schnelligkeit« und »Genauigkeit« nur zwischen –.02≤r≤.09 lag. Außerdem fanden Sackett et al. (1988) in der gleichen Studie, dass die maximale Leistung (Bearbeitung von 4 bis 6 Musterwarenkörben) und die durchschnittliche (typische) Arbeitsleistung über einen Zeitraum von 4 Wochen hinweg ebenfalls nur gering miteinander korreliert waren. Die Korrelation typischer und maximaler Schnelligkeit betrug r=.32, die Korrelation typischer und maximaler Genauigkeit be-
281 18.4 · Beurteilungsverfahren
Leistungsdimensionen (nach Campbell et al., 1993)
Dimensionen beruflicher Leistung (nach Schmitt et al., 2003)
4 Tätigkeitsspezifische Tüchtigkeit: kompetente Verrichtung der technischen Abläufe und Erfüllung der Kernaufgaben einer spezifischen Tätigkeit in einer Organisation 4 Tätigkeitsunspezifische Tüchtigkeit: kompetente Verrichtung der technischen Abläufe und Erfüllung von Aufgaben, die unabhängig von der je spezifischen Tätigkeit erwartet werden (z. B. Umgang mit einem Personalcomputer) 4 Kommunikation: erfolgreiche schriftliche und mündliche Kommunikation 4 Anstrengung: Arbeiten mit großem Einsatz (Intensität) und großer Ausdauer (Persistenz) 4 Disziplin: zuverlässige Einhaltung organisationaler Regeln und Vorgaben, kein Drogenmissbrauch am Arbeitsplatz, kein unerlaubtes Fehlen 4 Teamarbeit und Unterstützung von Kollegen: Einarbeiten und Unterstützen von Kollegen, sich für den Erfolg des gesamten Arbeitsteams einsetzen 4 Supervision: Ausmaß, in dem es jemandem gelingt, Mitarbeiter – sofern vorhanden – in der direkten Interaktion von Angesicht zu Angesicht zu steuern 4 Administrative Aufgabenerfüllung: Erledigung der anfallenden Verwaltungs- und Managementaufgaben im Rahmen einer bestimmten Tätigkeit
4 Tüchtigkeit in der Tätigkeit: – Tätigkeitsspezifische Tüchtigkeit – Tätigkeitsunspezifische Tüchtigkeit 4 Kontextbezogenes Verhalten, das das Arbeitsumfeld positiv beeinflusst: – Anstrengung – Disziplin – Teamarbeit – Unterstützung von Kollegen – Arbeitsengagement aus freien Stücken und ohne formale Extrabelohnung – Kundenorientiertes Verhalten 4 Adaptives Verhalten, das zum erfolgreichen Umgang mit Veränderungen in der Tätigkeit beiträgt: – Erfolgreiche Bewältigung von Störfällen und Krisensituationen – Erfolgreicher Umgang mit Arbeitsstress – Kreatives Problemlösen – Bewältigung von Arbeitssituationen mit ungewissem und unvorhersagbarem Verlauf und Ausgang – Erlernen neuer Arbeitsaufgaben, Handhabung neuer Technologien, Erwerb neuer Vorgehensweisen – Erfolgreiche Anpassung an veränderte soziale Kontexte – Erfolgreiche Zusammenarbeit mit neuen Kollegen und Vorgesetzten unter veränderten Bedingungen und bei veränderten Regeln – Erfolgreiche Anpassung an veränderte kulturelle Bedingungen (Auslandseinsatz, Unternehmensaufkäufe und -zusammenschlüsse) – Erfolgreiche körperliche Anpassungsfähigkeit
trug r=.11. Die Studie stützt also die Auffassung, dass die tätigkeitsbezogene Leistung ein mehrdimensionales Konstrukt ist, das durch einen Generalfaktor nur unzureichend abgedeckt wird. Schmitt et al. (2003) haben konzeptuell drei globale Dimensionen beruflicher Leistung unterschieden (7 Übersicht). Sie fassen die Dimensionen von Campbell et al. (1993) zu zwei Dimensionen zusammen, nämlich in die Dimensionen »Tüchtigkeit in der Tätigkeit« und die Dimension »kontextbezogenes Verhalten« (s. Borman & Motowidlo, 1993). Im Anschluss an Pulakos, Arad, Donovan und Plamondon (2002) ergänzen sie diese beiden Aspekte um die Dimension des »adaptiven Leistungsverhaltens«.
18.4
Beurteilungsverfahren
Es gibt fünf verschiedene Zugangsweisen, Beurteilungen vorzunehmen, nämlich die freie Eindrucksschilderung, die Bearbeitung von Aussagenlisten, Rangordnungsverfahren, Einstufungsverfahren sowie aufgaben- und zielorientierte Beurteilungsverfahren. Diese sollen im Folgenden kurz dargestellt werden.
18
282
Kapitel 18 · Leistungsbeurteilung
18.4.1
18
Freie Eindrucksschilderung
Bei der freien Eindrucksschilderung sammelt und ordnet eine beurteilende Person die Eindrücke, die sie aus der direkten Zusammenarbeit mit der zu beurteilenden Person und der Beobachtung der Arbeit dieser Person gewonnen hat. Die Eindrücke und Beobachtungen können sich dabei sowohl auf Eigenschaften als auch auf Verhaltensweisen der zu beurteilenden Person beziehen. Die Urteiler verwenden keine Skalen, sondern versuchen, zu einer individuellen Charakterisierung der Zielperson anhand von Urteilsaspekten zu gelangen, die dem Beurteiler als bedeutsam erscheinen. Die Organisation kann diese Eindruckssammlung durch die Bereitstellung von Urteilsaspekten oder Listen mit gewünschten und unerwünschten Eigenschaften und Verhaltensweisen unterstützen. Wird das Ergebnis dieser Eindruckssammlung schriftlich niedergelegt oder an andere kommuniziert, entsteht aus der freien Eindruckssammlung eine freie Eindrucksschilderung. Die freie Eindrucksschilderung legt den Urteilenden kaum formale Beschränkungen auf, was von diesen als positiv erlebt wird. Das Verfahren erfordert auch nicht die gesonderte Entwicklung eines Skalierungsverfahrens. Eine solche Zugangsweise wird in der Praxis häufig bei der Beurteilung von Führungsnachwuchskräften in Verbindung mit Fördergesprächen oder bei Führungskräften in Verbindung mit Zielsetzungsgesprächen eingesetzt (Schuler, 2004a). Die Wahl einer solchen Zugangsweise ist dann berechtigt, wenn für den Beurteilungsanlass interindividuelle Vergleiche von untergeordneter Bedeutung sind. Allerdings verführt das Verfahren leicht zum Verzicht auf das Ansprechen und die Rückmeldung von heiklen und negativen Punkten im Beurteilungsgespräch. Aufgrund der hohen Individualisierung dieser Zugangsweise können unterschiedliche Beurteiler zu sehr unterschiedlichen Beurteilungen gelangen (geringe Beurteilerübereinstimmung). Aber auch dieselben Urteiler gelangen zu unterschiedlichen Zeitpunkten leicht zu unterschiedlichen Beurteilungen, weil ihre Eindrücke stark von aktuellen Stimmungslagen und kurz zurückliegenden Ereignissen beeinflusst sind (geringe Reliabilität). Die Gültigkeit der Ergebnisse einer solchen Beurteilung hängen auch stark von der Differenziertheit der Wahrnehmung der Beurteiler sowie vom Zeitaufwand ab, den die Beurteilenden in die Sammlung und Ordnung ihrer Eindrücke investieren.
18.4.2
Kennzeichnung auf vorgegebenen Aussagelisten
Bei der Beurteilung in Form der Kennzeichnung auf vorgegebenen Aussagelisten lassen sich zwei Varianten unterscheiden, nämlich die Bearbeitung einer gemischten Aussagenliste mit freier Wahl sowie die Bearbeitung von gruppierten Aussagenlisten mit Wahlzwang. Bei der Bearbeitung einer gemischten Aussagenliste mit freier Wahl wird dem Urteiler eine thematisch nicht geordnete, inhaltlich bunt gemischte Liste von Aussagen zum Arbeitsverhalten der zu beurteilenden Personen vorgelegt und er hat lediglich die Aufgabe, anzugeben, ob die Aussage auf die Zielperson zutrifft oder nicht (7 Kasten).
Beispiel für eine gemischte Aussagenliste mit freier Wahl (nach Schettgen, 1996) Welche der folgenden Aussagen treffen auf den Mitarbeiter/die Mitarbeiterin zu? Kreuzen Sie bitte an! Der Mitarbeiter / die Mitarbeiterin
hält jeden Termin ein
hat Schwierigkeiten, verschiedene Aufgaben zu koordinieren
reagiert empfindlich auf Kritik
arbeitet mehr als verlangt
findet in fremder Umgebung nicht leicht Kontakt
kommt zu Sitzungen manchmal zu spät
arbeitet auch unter Zeitdruck fehlerfrei
hat wichtige Unterlagen griffbereit
gerät leicht in Aufregung
hält auch sehr detaillierte Richtlinien ein
schreibt übersichtlich gegliederte Berichte
Den urteilenden Personen ist jedoch unbekannt, welches Gewicht die einzelnen Aussagen für die Gesamtbeurteilung der Zielperson haben. Diese Gewichtung muss im Rahmen eines vorausgegangenen Skalenentwicklungsund Validierungsprozesses erfolgt sein. Dabei wird für jede Verhaltensweise, deren Vorliegen zu beurteilen ist, statistisch ein Gewicht ermittelt. Nachdem die Urteiler die Listen bearbeitet haben, kann deshalb statistisch ein
283
Gesamturteil in Bezug auf jede Zielperson errechnet werden, z. B. als der Summenwert all derjenigen Aussagen, die als für die Zielperson zutreffend angegeben wurden. Auch bei der Bearbeitung einer gruppierten Aussagenliste mit Wahlzwang wird den Urteilenden eine Liste mit Aussagen zum Arbeitsverhalten der Zielperson vorgelegt. Allerdings werden die Aussagen hier paarweise oder als Tripel vorgegeben. Bei den Aussagepaaren mit Wahlzwang muss der Beurteiler jeweils in Bezug auf zwei Aussagen angeben, welche für die Zielperson zutreffend ist. Die beiden Aussagen der jeweiligen Wahlalternativen sind so formuliert, dass sie sich in Bezug auf die augenscheinliche Günstigkeit für die beurteilte Zielperson nicht unterscheiden. Aber nur jeweils eine der beiden Aussagen erlaubt – aufgrund einer vorausgegangenen Skalenentwicklung und -validierung – Rückschlüsse darauf, ob eine beurteilte Person in Wirklichkeit gute Arbeit leistet oder nicht. Dieser Sachverhalt ist den Beurteilern jedoch unbekannt. Auf diese Weise sollen beschönigende Leistungsbeurteilungen vermieden werden. Bei den sog. gemischten Standardskalen (»mixed standard scale«) werden den Urteilern für jeden thematischen Bereich jeweils drei Aussagen vorgelegt. Eine Aussage davon beschreibt sehr gutes Arbeitsverhalten, eine zweite durchschnittliches Arbeitsverhalten und die dritte Aussage beschreibt schlechtes Arbeitsverhalten. Die urteilende Person soll für jede Aussage angeben, ob die beurteilte Zielperson »besser«, »gleich gut« oder »schlechter« als in der jeweiligen Aussage beschrieben arbeitet. Die Entwicklung der Beurteilungsskalen, die den Aussagelisten zugrunde liegen, ist mit einem großen Aufwand verbunden. Aufgrund der Intransparenz der Beurteilung für die Beurteiler sollen Urteilsverzerrungen und -beschönigungen vermieden werden. Allerdings führt gerade dies auch zu einer geringen Akzeptanz dieser Skalen bei den Beurteilern (King, Hunter & Schmidt, 1980). Die Leistungsbeurteilung in Form der Bearbeitung von vorgegebenen Aussagelisten hat daher in der Praxis eine eher randständige Bedeutung. 18.4.3
Rangordnungsverfahren
Bei Rangordnungsverfahren hat die beurteilende Person die Aufgabe, die Gesamtheit der zu beurteilenden Personen in eine Reihenfolge zu bringen. Die Person mit der besten Leistung kommt auf Platz 1. Die Person
18 Mit freundlicher Genehmigung von Hogrefe, Göttingen. © Hogrefe 2004
18.4 · Beurteilungsverfahren
. Abb. 18.2. Quotenvorgabe bei der Rangbildung. (Nach Schuler, 2004a)
mit der zweitbesten Leistung kommt auf Platz 2. Die Person mit der schlechtesten Leistung kommt auf den letzten Rangplatz. Wenn Personen global nach dem einzigen Kriterium »Leistung« in eine Rangfolge gebracht werden, spricht man von einfacher Rangreihenbildung. Wenn objektive Leistungsdaten vorliegen, wie z. B. die von den Mitarbeitern produzierten Stückzahlen, stellt eine solche einfache Rangreihenbildung scheinbar kein Problem dar. Allerdings stellt sich dann oft die Frage, wie zuverlässig die Unterschiede zwischen den verschiedenen Mitarbeitern sind. Oder anders ausgedrückt: Rechtfertigen geringe aktuelle Unterschiede bei den produzierten Stückzahlen unterschiedliche Leistungsbeurteilungen. Deswegen können in solchen Fällen auch Rangbildungen mit Quotenvorgaben vorgenommen werden. Die Personen, deren Leistung im Bereich der oberen 10% liegt, kommen in die Leistungsbeurteilungsstufe 1. Die Personen, deren Leistung zwar nicht zu den 10% besten, aber zu den 30% besten Ergebnissen gehört, kommen in die Leistungsbeurteilungsstufe 2. Die Personen, deren Leistung zwar nicht zu den 30% besten, aber zu den besten 70% gehört, kommen in die Leistungsbeurteilungsstufe 3. Die 10% der Personen mit einer Leistung am ganz unteren Ende der Leistungsverteilung kommen in die Leistungsbeurteilungsstufe 5. Die restlichen 20% der Personen kommen in die Leistungsbeurteilungsstufe 4 (. Abb. 18.1). Diese Art, Leistungsbeurteilungsstufen zu bilden, hängt davon ab, wie die Leistungen in den Beurteilungsgruppen verteilt sind. Bei dem Schlüssel »10%:20%:40%:20%:10%« wird die Form einer gaußschen Normalverteilung (Glockenkurve) unterstellt. Man bezeichnet die Verwendung von Quotenvorgaben auch als Verfahren der erzwungenen Verteilung (»forced-distribution method«).
284
18
Kapitel 18 · Leistungsbeurteilung
Wie oben bereits ausgeführt, sind die vermeintlich objektiven Ergebnisparameter in der Regel aber wegen des Zurechnungsproblems oft stark kontaminierte Leistungsmaße, weshalb dann doch auf subjektive Leistungsbeurteilungen zurückgegriffen werden muss. Um die subjektive Rangreihenbildung zu erleichtern, kann man dabei alternierend (abwechselnd) vorgehen (»alternate ranking«): Die beurteilende Person wählt zunächst die Person aus, die auf den 1. Platz kommt, und dann die Person, die auf den letzten Platz kommt. Dann wählt sie die Person aus, die auf den 2. Platz kommt und anschließend die Person, die auf den zweitletzten Platz kommt etc. Ein anderes Verfahren der Rangreihenbildung ist die sog. indirekte Methode. Dabei wird jede zu beurteilende Person mit allen anderen verglichen, ob sie besser oder schlechter ist. Aus diesen Paarvergleichen wird dann die Rangreihe über alle Personen gebildet. Diese Paarvergleichsmethode hat den Vorteil, dass dabei intransitive Beurteilungen aufgedeckt werden können: z. B. Person A wird besser als Person B beurteilt (A>B), Person B wird besser als Person C beurteilt (B>C), aber Person C wird besser als Person A beurteilt (A>C). In einem zweiten Beurteilungsdurchgang sind dann solche Intransitivitäten aufzulösen. Bei großer Personenzahl ist das Paarvergleichsverfahren allerdings kaum noch durchführbar; es ist aber das einzige Verfahren, dass im mittleren Bereich der Leistungsverteilung differenzieren kann. Auch bei der subjektiven Rangreihenbildung kann mit Quotenvorgaben gearbeitet werden, d. h., ein bestimmter Prozentsatz von Personen darf der höchsten Leistungsklasse zugeordnet werden, ein weiterer Prozentsatz der zweithöchsten Leistungsklasse etc. Rangordnungsverfahren und Quotenvorgaben sollen dazu dienen, dass die Beurteiler tatsächlich Differenzierungen zwischen den zu beurteilenden Personen vornehmen, anstatt fast alle Personen gleich zu beurteilen. Außerdem sollen sie verhindern, dass eine ganze Gruppe von Personen zu gut (Mildetendenz) oder zu schlecht (Strengetendenz) beurteilt wird. Nach Schuler (2004a) führen sie auch zu reliablen Beurteilungen. Der Zweck solcher Beurteilungen kann in der Stimulierung des Wettbewerbs zwischen den Beurteilten liegen. Denn für die Beurteilten sind Rangordnungsverfahren immer sog. Nullsummenspiele. Wenn eine Person besser beurteilt wird, muss eine andere Person schlechter beurteilt werden. Ob ein solcher Wettbewerb für die Organisation förderlich ist, muss von Fall zu Fall entschieden werden. Wenn die verschiedenen Mitarbeiter unabhängig von-
einander arbeiten, wie z. B. Versicherungsvertreter in unterschiedlichen Bezirken, kann dieser Wettbewerb leistungsförderlich sein. Müssen die Beurteilten jedoch direkt miteinander zusammenarbeiten, dürfte ein solcher interner Wettbewerb eher konfliktförderlich und deshalb insgesamt leistungshemmend wirken. Denn durch Kooperationszurückhaltung schadet man den anderen, kann aber eventuell sein eigenes relatives Abschneiden verbessern. Damit Rangordnungen auch in Bezug auf Sachstandards informativ sind, kann man sie auf einzelne inhaltliche Dimensionen beziehen, wie z. B. »Fachkenntnisse« oder »Arbeitsengagement« und einzelne Ausprägungen inhaltlich verankern, wie z. B. für die niedrigste Stufe: »Fachkenntnisse entsprechen nicht den Anforderungen« oder die zweitniedrigste Stufe: »Die Fachkenntnisse liegen über den Mindestanforderungen; dies trifft auf etwa 90% der Arbeiter an vergleichbaren Arbeitsplätzen zu« etc. Diese Vorgehensweise wird von Schuler (1972) unter dem Stichwort »sequenzielle Prozentrangskalierung« abgehandelt. Allerdings bieten auch solche verankerten Rangskalen nur indirekte Hinweise zur Verhaltenssteuerung für den Vorgesetzten und für die leistungsfördernde Rückmeldung an die Beurteilten, denn die Rangbeurteilung als solche sagt nichts darüber aus, durch welche konkreten Verhaltensänderungen jemand seine Leistung steigern könnte. Eng verwandt damit sind verhaltensbezogene Beurteilungsverfahren mit Rangstufen für die kritischen Verhaltensweisen. Dabei soll in Bezug auf jede kritische Verhaltensweise eine Rangeinstufung erfolgen. Diese Vorgehensweise ist den Einstufungsverfahren (7 unten) sehr ähnlich (für ein Beispiel . Abb. 18.3). Es werden dabei einzelne, kritische Verhaltensweisen Rangstufen zugeordnet werden. Dies verbessert dann auch die Möglichkeit der leistungsförderlichen Rückmeldung. 18.4.4
Einstufungsverfahren
Einstufungen (Ratings) stellen kriteriumsbezogene Beurteilungen von Personen auf Ratingskalen ohne Bezug zu anderen Personen dar. Die einzelnen Skalen werden dabei in verschiedene Stufungen der Merkmalsausprägung eingeteilt. Oft sind es 7 Skalenstufen, manchmal aber auch 5 oder 9. Häufig werden diese Skalen graphisch dargeboten. Man spricht dann von einer graphischen Einstufungs- bzw. Ratingskala (»graphic ra-
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285
© American Psychological Association 2001
18.4 · Beurteilungsverfahren
. Abb. 18.3. Verhaltensbezogene Leistungsbeurteilung mit Rangstufen für kritische Verhaltensweisen im Bereich der aufgabenbezogenen Leistung (Items 2, 5, 8, 11, 14), des Arbeitsen-
gagements (Items 1, 4, 7, 10, 13) sowie des Kooperationsverhaltens (Items 3, 6, 9, 12, 15). (Mod. nach Ferris, Witt und Hochwarter, 2001)
286
Kapitel 18 · Leistungsbeurteilung
. Abb. 18.4. Beispiel für eine eigenschaftsorientierte, graphische Einstufungsskala
ting scale«, GRS) (. Abb. 18.4). Die einzelnen Skalenpunkte sind entweder durch Zahlenwerte, Adjektive, Adverbien und/oder Verhaltensbeschreibungen gekennzeichnet. Man bezeichnet diese Kennzeichnung als Skalenverankerung (. Tab. 18.1). Die sprachlichen Veran-
kerungen sollen zu einer einheitlichen Handhabung der Skalen durch verschiedene Urteiler in Bezug auf verschiedene Beurteilte führen und individuelle Urteilstendenzen der Urteilenden, wie z. B. eher mild oder eher streng zu beurteilen, reduzieren.
. Tab. 18.1. Beurteilungsraster für Personalleiter, die das Lachen (noch) nicht verlernt haben. (Nach Schettgen, 1996)
Überragend
Tritt hervor
Befriedigend
Entspricht im Wesentlichen den Anforderungen
Entspricht nicht den Anforderungen
Arbeitsleistung
Reißt Bäume aus
Reißt sich ein Bein aus
Reißt sich zusammen
Reißt Kalenderblätter ab
Reißt vor der Arbeit aus
Schnelligkeit
Erreicht Lichtgeschwindigkeit
Schnell wie ein Kugelblitz
Schneller als Kegelkugel
Schneller als Rumkugeln
Schiebt eine ruhige Kugel
Durchsetzungsvermögen
Durchbricht Stahlbeton
Durchbricht Mauerwerk
Durchbricht die Arbeit
Bricht Bleistifte ab
bricht leicht zusammen
Belastbarkeit
Erledigt alles gleichzeitig
Erledigt jeden Widersacher
Erledigt seine Arbeit sofort
Ist sofort erledigt
Erledigt sein Geschäft
Kommunikationsfähigkeit
Spricht mit Gott und Ebenbürtigen
Spricht mit sich selbst und Vorgesetzten
Verspricht viel
Verspricht sich oft
Spricht guten Getränken zu
Geistige Fähigkeit
Löst auf der Stelle jedes Problem
Muss nachdenken, um Probleme zu lösen
Hat mit Lösungen Probleme
Löst Kreuzworträtsel
Löst sich nur selten vom Fleck
Allgemeines u. dienstliches Wissen
Weiß alles am besten
Weiß über alles Bescheid
Weiß, was er falsch macht
Weiß, wann Feierabend ist
Weiß, wo gerade gefeiert wird
Führungsqualitäten
Ist in allem führend
Führt ein strenges Regiment
Verführt zum Feiern
Führt ein angenehmes Leben
Braucht häufig Abführmittel
Verhalten gegenüber Vorgesetzten
Macht Vorgesetzte überflüssig
Öffnet Vorgesetzten die Tür
Grüßt Vorgesetzte stets fröhlich
Fragt Vorgesetzte nach der Uhrzeit
Parkt auf reserviertem Chef-Parkplatz
Verhalten gegenüber Kollegen
Hat keine Kollegen
Lässt Kollegen ins Messer laufen
Grüßt Kollegen korrekt mit »Mahlzeit«
Unterhält sich mit Kollegen im Dienst
Hält Kollegen von der Arbeit ab
Merkmal
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Mit freundlicher Genehmigung der Lucius & Lucius Verlagsgesellschaft mbH.
Prädikat
287 18.4 · Beurteilungsverfahren
Die Abstände zwischen zwei benachbarten numerischen Skalenstufen werden als gleichgroß präsentiert, weshalb davon ausgegangen wird, dass diese Einstufungsskalen mindestens Intervallskalenqualität haben. Man kann zur Leistungsbeurteilung sog. eigenschaftsorientierte oder verhaltensorientierte Einstufungsskalen verwenden. Eigenschaftsbezogene Beurteilungen (z. B. Kontaktfähigkeit, Pünktlichkeit, Belastbarkeit) sollten immer nur dann eingesetzt werden, wenn konkretes Verhalten schwer beobachtbar ist. Denn man sollte sich darüber im Klaren sein, dass Leistung als Verhalten, das i. Allg. zieldienlich ist, definiert wurde. Eigenschaften sind nur Indikatoren der Leistung. Denn Eigenschaften können zwar Leistungen hervorbringen, sie müssen es aber nicht. Bei den verhaltensorientierten Einstufungsskalen sind insbesondere die sog. Verhaltensbeobachtungsskalen (»behavioral observation scale«, BOS) und die verhaltensverankerten Einstufungsskalen (»behaviorally anchored rating scale«, BARS) von Bedeutung. Verhaltensbeobachtungsskalen geben die einzelnen Verhaltensweisen wieder, die im Rahmen einer Arbeitsanalyse als erfolgskritisch identifiziert werden konnten. Es handelt sich dabei um zumeist etwa 50 verschiedene, einzelne Verhaltensweisen. Bei einem Restaurantkellner können dies beispielsweise die Folgenden sein: »Nimmt bei neuen Gästen die Bestellung zügig auf«, »Reagiert schnell auf Signale der Gäste«, »Hält die Aschenbecher sauber«. Diese Verhaltensweisen werden dann im Likert-Format mit 5 Skalenstufen präsentiert (. Abb. 18.5). Die Gesamtbewertung wird durch eine Mittelung oder Summierung der Einzelbewertungen gebildet. Bei verhaltensverankerten Einstufungsskalen werden den einzelnen Skalenausprägungen oder Skalenabschnitten Verhaltensweisen als Anker zugeordnet. Um . Abb. 18.5. Beispiele für Verhaltensbeobachtungsskalen für Bedienungen in Restaurants
zu verhaltensverankerten Einstufungsskalen zu gelangen, wird ein Projektteam gebildet. Diesem Projektteam sollten Personen angehören, die die zu beurteilende Arbeitstätigkeiten sehr gut kennen und unterschiedliche Bezüge dazu aufweisen. Normalerweise gehören den Projektteams Vorgesetzte, Mitarbeiter, Vertreter der Personalabteilung und Vertreter des Betriebsrates an. Aus diesem Projektteam werden drei vertikal und funktionsgemischte Gruppen gebildet. Die erste Gruppe entwickelt eine möglichst umfangreiche Liste konkreter Verhaltensweisen, die bei der zu beurteilenden Tätigkeit zu Erfolg oder Misserfolg führen. Dies ist die sog. Methode der kritischen Ereignisse (»critical incident technique«, 7 Kap. 15). Diese Gruppe ordnet die Verhaltensweisen dann auch in verschiedene Dimensionen und gibt diesen Dimensionen einen Namen. Die Gruppe konkretisiert die Dimensionen durch Umschreibungen für jeweils gute, mittlere und schlechte Leistungen. Die zweite Gruppe erhält die Namen der Dimensionen und die Verhaltensweisen, sie weiß aber nicht, welche Verhaltensweisen durch die erste Gruppe welchen Dimensionen zugeordnet wurden. Die Aufgabe der zweiten Gruppe besteht nun darin, die Verhaltensweisen den Dimensionen erneut zuzuordnen. Alle Verhaltensweisen, die von mindestens 75% der Gruppenmitglieder einer bestimmten Dimension zugeordnet wurden, werden weiterhin berücksichtigt. Die anderen Verhaltensweisen werden ausgeschieden. Die dritte Gruppe bekommt nun die Namen der Dimensionen, die Umschreibungen für jeweils gute, mittlere und schlechte Leistungen sowie die verbliebenen Verhaltensweisen genannt. Sie weiß, welche Verhaltensweisen welcher Dimension zugeordnet werden. Ein Pol der Dimension wird als »sehr effektives« Verhalten bezeichnet, der andere Pol der Dimension wird als »sehr
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288
Kapitel 18 · Leistungsbeurteilung
. Abb. 18.6. Beispiel für verhaltensverankerte Einstufungsskala zum tätigkeitsbezogenen Wissen bei Streifenpolizisten bezüglich geltender Gesetze, polizeilicher Vorgehensweisen, Prozessregeln und deren Veränderungen. (Nach Muchinsky, 2003)
18
unangemessenes Verhalten« bezeichnet. Die Aufgabe jedes Mitgliedes der dritten Gruppe ist es nun, die einzelnen Verhaltensweisen auf einem Kontinuum, das von 9 bis zu 1 reicht, einzuordnen. Für einige Verhaltensweisen ergeben sich dann in Bezug auf die Lokalisierung auf der Skala hohe, bei anderen Verhaltensweisen eher geringe Übereinstimmungen. All diejenigen Verhaltensweisen, bei denen eine geringe Übereinstimmung vorliegt, werden aussortiert. . Abb. 18.6 zeigt ein Beispiel für eine solche Skala. Es handelt sich dabei um die Beurteilung der Dimension »tätigkeitsbezogenes Wissen« bei Streifenpolizisten in den USA. Werden die Umschreibungen
für jeweils gute, mittlere und schlechte Leistungen und ferner die Verhaltensweisen im Sinne von Erwartungen formuliert – z. B. »Von Polizisten mit mittleren Leistungen ist zu erwarten, dass sie sich ab und zu bei Kollegen nach den geltenden Richtlinien und Vorschriften erkundigen werden« – bezeichnet man diese Skala nicht mehr als verhaltensverankerte Einstufungsskala, sondern als Verhaltenserwartungsskala (»behavior expectation scale«, BES). Die verhaltensverankerte Einstufungsskala ist vertikal angeordnet. Auf der linken Seite stehen Umschreibungen für jeweils gute, mittlere und schlechte Leistun-
289 18.4 · Beurteilungsverfahren
gen. Auf der rechten Seite stehen über das Skalenkontinuum verteilt konkrete Verhaltensweisen. Die Aufgabe des Beurteilers besteht dann darin, das konkret beobachtete Verhalten der zu beurteilenden Person auf einer solchen verhaltensverankterten Skala einzuordnen. Wie man sieht, ist die Konstruktion solcher Skalen aufwändig. Allerdings hat diese Vorgehensweise zwei große Vorteile. Sie ist verhaltensorientiert und strebt danach, nur solche Verhaltensdimensionen auszuwählen, bei denen eine hohe interindividuelle Übereinstimmung zwischen den Beurteilern besteht. Zum anderen sind die späteren Anwender und Betroffenen an der Entwicklung des Instrumentes beteiligt. Dies dürfte dazu führen, dass die Akzeptanz des Instrumentes in der Organisation relativ hoch sein wird.
rend Selbst- und Kollegeneinstufungen zu ρ=.36 korrelieren (Harris & Schaubroeck, 1988; Moser, 2004). Insgesamt kann man in Bezug auf die metaanalytischen Befunde zur Reliabilität und Validität festhalten, dass die Reliabilitätskennwerte der Leistungseinstufungen gut sind und dass die metaanalytischen Befunde zur Validität von Einstufungsskalen durchweg positiv ausfallen. Entgegen mancher Kritik (s. Breisig, 1998) hat sich die am Leitbild der Objektivität orientierte betriebliche Leistungsbeurteilung damit an operationalen, empirischen Kriterien gemessen bewährt.
Reliabilitäts- und Validitätskennwerte von Leistungsbeurteilungen Viswesvaran (2001) gibt einen Überblick über die metaanalytisch ermittelten Reliabilitäts- und Validitätskennwerte von einstufungsbasierten Leistungsbeurteilungen. Für die Gesamtbeurteilung der Leistung auf der Basis von Leistungseinstufungen durch Vorgesetzte ergab sich ein mittlerer interner Konsistenzwert von α=.86, eine mittlere Wiederholungsreliabilität (Retestreliabilität) von r=.81 sowie eine mittlere Interraterreliabilität (Ausmaß der Übereinstimmung zwischen unterschiedlichen Vorgesetzten in Bezug auf die Beurteilung der Leistungen verschiedener Mitarbeiter) von r=.52. Für die Gesamtbeurteilung der Leistung auf der Basis von Leistungseinstufungen durch Kollegen ergab sich ein mittlerer interner Konsistenzwert von α=.85 sowie eine mittlere Interraterreliabilität von r=.42. Die Interraterreliabilität bei Beurteilungen durch Mitarbeiter lag innerhalb des Intervalls .31≤r≤.36. Auch in Bezug auf die Konstruktvalidität sind die Befunde positiv: Unterschiedliche Einstufungsformate und -skalen führen zu den gleichen Ergebnissen (s. Landy & Farr, 1980). Die verhaltensbezogenen Leistungseinstufungen korrelieren mit objektiven Ergebnisparametern zu ρ=.39. Leistungseinstufungen durch Vorgesetzte korrelieren mit der Mitarbeiterflukturation zu ρ=–.30. Die Abwesenheit vom Arbeitsplatz und Leistungsbeurteilungen korrelieren je nach Berechnungsmethode in folgendem Intervall: –26 ≤ρ≤.32. Die Gesamteinstufungen der Leistung durch Vorgesetzte korrelieren mit Leistungseinstufungen durch Kollegen zu ρ=.62. Selbst- und Vorgesetzteneinstufungen korrelieren zu ρ=.35, wäh-
In der betrieblichen Praxis (Schettgen, 1996) werden auch sog. aufgabenorientierte Einstufungsverfahren bzw. zielorientierte Verfahren (Breisig, 1998) verwendet. Ausgangspunkt für das aufgabenorientierte Einstufungsverfahren ist eine Tätigkeitsanalyse (7 Kap. 21) mit dem Ziel, die wesentlichen Arbeitsaufgaben (Hauptaufgaben) eines Stelleninhabers zu identifizieren und zu gewichten. Die Summe der Gewichtungsfaktoren für die einzelnen Aufgaben beträgt 100. Für jede Hauptaufgabe wird dann vom Vorgesetzten auf einer 5-stufigen Skala (1 = Aufgabe wird nicht erfüllt, 5 = Aufgabe wird vollständig entsprechend der Anforderungen erfüllt) der Grad der individuellen Aufgabenerfüllung durch den Stelleninhaber beurteilt. Für jede Hauptaufgabe lässt sich dann aus dem mathematischen Produkt von Erfüllungsgrad und Gewichtungsfaktor eine Punktsumme errechnen. Die Gesamtpunktzahl der Leistungsbewertung ergibt sich aus der Produktsumme über alle Hauptaufgaben hinweg. Sie beträgt im schlechtesten Fall für den Beurteilten 100 Punkte und im günstigsten Fall für ihn 500 Punkte. Kritisch ist anzumerken, dass die Festlegung der Gewichtungsfaktoren für die Hauptaufgaben nur Plausibilitätsüberlegungen folgt. In Bezug auf die Beurteilung des Aufgabenerfüllungsgrades stellt sich die Frage, ob das Zurechnungsproblem gelöst werden kann. Hängt der Grad der Aufgabenerfüllung tatsächlich im Wesentlichen ausschließlich von der zu beurteilenden Person ab? Sehr wahrscheinlich nicht! Bei den zielorientierten Beurteilungsverfahren soll der Mitarbeiter danach beurteilt werden, inwiefern er die vereinbarten Ziele erreicht hat. Die Frage ist dabei zum einen, ob sich operationale Ziele definieren lassen, und
18.4.5
Aufgaben- und zielorientierte Beurteilungsverfahren
18
290
Kapitel 18 · Leistungsbeurteilung
zum anderen, wer und was für die Zielerreichung verantwortlich und ursächlich ist. Denn auch die Zielerreichung ist nicht ausschließlich durch das individuelle Arbeitsverhalten bestimmt. Die Zielerreichung ist stets das Resultat des Zusammenspiels des individuellen Arbeitsverhaltens mit den organisationsinternen und -externen situativen und strukturellen Gegebenheiten. Wäre es dann nicht sinnvoller, diejenigen Verhaltensweisen zu identifizieren, die i. Allg. zieldienlich sind, d. h., der Aufgabenerfüllung dienen? Der Unterschied besteht darin, dass im einen Fall die faktische Aufgabenerfüllung bzw. Zielerreichung beurteilt werden soll und im anderen, ob die Person diejenigen Verhaltensweisen gezeigt hat und zeigt, die i. Allg. zur Aufgabenerfüllung bzw. Zielerreichung führen. So kann es zu einer Leistungsbeurteilung kommen, die nicht durch Einflüsse struktureller und situativer Faktoren (z. B. schlechte Ausstattung, unerwartet auftretende Ereignisse und Entwicklungen, nicht verfügbare oder falsche Informationen, unkooperative Kollegen etc.) kontaminiert ist. Diese Argumente sprechen nicht gegen den Einsatz von Zielsetzungsverfahren als Führungs- und Motivierungsinstrumente (7 Kap. 7 und 24), sondern lediglich dagegen, dass Zielsetzungsverfahren Leistungsbeurteilungen ersetzen könnten. 18.5
18
Urteilstendenzen und Beurteilungsfehler
Manche Urteiler neigen dazu, die Leistung einer gesamten Gruppe von Personen besser zu bewerten als andere Urteiler. Man bezeichnet dies als Mildetendenz. Den umgekehrten Fall, dass jemand eine Gruppe von Personen schlechter beurteilt, als andere Urteiler, bezeichnet man als Strengetendenz. Milde- und Strengetendenz werden unter dem Oberbegriff der Mittelwertstendenzen zusammengefasst, weil dadurch der Mittelwert der Beurteilung einer Gruppe von Personen nach oben oder nach unten verschoben wird. Eine sog. Streuungstendenz liegt dann vor, wenn ein Urteiler entweder stärker oder geringer mit seinen Urteilen differenziert als andere Urteiler. Bei zu starker Differenzierung liegt eine zu große Streuung der Urteile vor, bei zu geringer Differenzierung eine zu geringe Streuung der Urteile (wenn z. B. die Urteile kaum vom Mittelwert abweichen). Man spricht bei zu geringer Streuung der Urteile auch von einer sog. Varianzeinschränkung.
Als Korrelationstendenzen bezeichnet man den Umstand, wenn die Beurteilungen auf verschiedenen Urteilsdimensionen gleichsinnig ausfallen, also wenn beispielsweise die meisten Personen, die als höflich beurteilt werden, auch als hilfsbereit, zuverlässig und belastbar unter Stress beurteilt werden, und wenn umgekehrt Personen, die eher als unhöflich beurteilt werden (z. B. »grüßt nicht«), auch als wenig hilfsbereit, unzuverlässig und als unter Stress nicht belastbar eingeschätzt werden. Dies bezeichnet man auch als Halo-, Überstrahlungs-, Irradiations- oder Hof-Effekt. Hier liegt der Verdacht nahe, dass der Beurteiler nicht das Verhalten der zu beurteilenden Personen beurteilt hat, sondern hauptsächlich aufgrund seiner impliziten subjektiven Theorien über die Zusammenhänge von Merkmalen sein Urteil abgegeben hat. Der Urteiler hätte dann möglicherweise nicht das reale Leistungsverhalten der zu beurteilenden Personen beurteilt, sondern Aussagen darüber gemacht, wie er glaubt, dass die Verhaltensdimensionen untereinander zusammenhängen. Andererseits könnten diese Korrelationstendenzen auch das Resultat der Lernerfahrung der Urteiler sein, d. h., bei den Personen, die die Urteiler zu beurteilen haben, treten die entsprechenden Merkmale häufig gemeinsam auf, wie z. B. Fleiß und Pünktlichkeit. Wenn dies so ist, würden diese Korrelationstendenzen die Zusammenhänge zwischen den verschiedenen Beurteilungsaspekten korrekt wiedergeben. Generell stellt sich also die Frage, inwiefern Urteilstendenzen, die bei Leistungsbeurteilungen mit Einstufungsverfahren auftreten, als Urteilsfehler anzusehen sind. Dies lässt sich überprüfen, indem man die Urteile von betrieblichen Leistungsbeurteilern mit den Leistungsbeurteilungen von Experten vergleicht. Die Akkuratheit der Urteile der Beurteiler aus der Praxis wird an der Übereinstimmung mit den Expertenurteilen gemessen. In der Regel geht man dabei so vor, dass wissenschaftliche Experten für Leistungsbeurteilung und Praktiker Videoaufnahmen vom Leistungsverhalten einer Zielperson unabhängig voneinander beurteilen. Murphy und Balzer (1989) haben in einer Metaanalyse die Ergebnisse von 10 Studien mit über 1.000 Beurteilern aus der Praxis ausgewertet und dabei herausgefunden, dass zwischen den Urteilstendenzen der Praktiker und den Urteilen der Experten nur sehr schwache Zusammenhänge festzustellen waren. Ausgeprägtere Urteilstendenzen gingen also nicht mit inakkurateren Beurteilungen ein-
291 18.6 · Anlässe und Ebenen der Leistungsbeurteilung
her. Die Urteilstendenzen der Praktiker stellen daher keine Urteilsfehler dar. Diese Schlussfolgerung setzt allerdings voraus, dass die Experten in der Lage waren, die wahren Sachverhalte richtig einzuschätzen und dass die Videoaufnahmen des Leistungsverhaltens repräsentative Verhaltensstichproben wiedergeben (s. Schuler, 2004b). 18.6
Anlässe und Ebenen der Leistungsbeurteilung
Wie bereits zu Beginn dieses Kapitels ausgeführt wurde, können Leistungsbeurteilungen mit ganz unterschiedlichen Zielsetzungen vorgenommen werden. Je nach Zielsetzung ist es dann sinnvoll, andere Vorgehensweisen und andere Verfahren zu wählen und dabei auf bestimmte Beurteilungsaspekte Bezug zu nehmen sowie andere Aspekte nicht zu thematisieren. Schuler (2004c) unterscheidet dabei die täglichen Rückmeldungen am Arbeitsplatz (»day-to-day-feedback«), die Regelbeurteilung und die Potenzialbeurteilung. 18.6.1
Tägliche Rückmeldungen am Arbeitsplatz
Die tägliche Rückmeldung am Arbeitsplatz dient der Verhaltenssteuerung und dem Lernen des Mitarbeiters. Hierzu sollten die in freier Eindruckssammlung gewonnen Eindrücke des Vorgesetzten möglichst verhaltensund anlassnah an die beurteilten Mitarbeiter zurückgemeldet werden. Metaanalytische Studien zeigen (Fried & Ferris, 1987), dass zwischen dem Ausmaß der Rückmeldung sowie der generellen Arbeitszufriedenheit (r=.43), der Zufriedenheit mit der persönlichen Weiterentwicklung (r=.56), der erlebten Bedeutsamkeit der Arbeit (r=.57) sowie der erlebten Verantwortlichkeit (r=.56) bedeutsame positive Korrelationen bestehen. Außerdem lag ein bedeutsamer negativer Zusammenhang mit der Abwesenheitsrate (r=–.19) vor. Schließlich korrelierte das Ausmaß der Rückmeldungen auch signifikant positiv mit der Leistung (r=.09) und der intrinsischen Arbeitsmotivation (r=.34). Allerdings wirkt nicht jede Rückmeldung positiv (Blickle, 2004). Zur Erklärung der unterschiedlichen Wirkungen (Steigerung oder Reduzierung von Anstrengung, Lernfortschritte oder keine Lernfortschritte, positive oder
negative Emotionen) von Rückmeldungen haben Kluger und DeNisi (1996) die sog. Feedback-Interventions-Theorie entwickelt. Danach erfolgt die Regulation des Handelns der Mitarbeiter auf drei Ebenen: 4 der Aufgabenebene, 4 der Ebene des Selbst (der Aufgabenebene übergeordnet) sowie 4 der Ebene der Aufgabendetails (der Aufgabenebene untergeordnet). Durch Rückmeldungen wird der Aufmerksamkeitsfokus der Mitarbeiter auf eine der drei Ebenen gelenkt. Beispielsweise wird die Aufmerksamkeit durch sozial vergleichende Rückmeldungen auf die Ebene des Selbst gelenkt (Wie ist meine Leistung im Vergleich zu anderen?). Durch Rückmeldungen mit intraindividuellen Bezugsnorminformationen (Wie ist meine Leistung im Vergleich zu gestern, im Vergleich zu vergangener Woche oder im Vergleich zum vergangenen Jahr – besser oder schlechter als früher?) wird die Aufmerksamkeit auf die Aufgabenebene gelenkt. Durch korrektive Rückmeldungen wird die Aufmerksamkeit dagegen auf die Ebene der Aufgabendetails gelenkt. Je nach fokussierter Ebene werden dann unterschiedliche Prozesse ausgelöst. Rückmeldungen auf der Detailebene können Lernprozesse auslösen, Rückmeldungen auf der Aufgabenebene können Motivationsprozesse (Anstrengung) auslösen, Rückmeldungen auf der Ebene des Selbst können emotionale Prozesse auslösen (z. B. Stolz oder Scham). Je nach ausgelösten Prozessen kann die Rückmeldung dann zu einer positiven oder negativen Veränderung der Leistung oder sogar zur Leistungsverweigerung führen. Besonders intensiv erfolgen laufende Leistungsbeurteilungen und tägliche Rückmeldungen am Arbeitsplatz im Rahmen des sog. Coaching (7 Kap. 19): Der Vorgesetzte beabsichtigt, eine bestimmte Aufgabe an einen Mitarbeiter zu delegieren. Dazu schätzt er die erforderlichen Fertigkeiten und Fähigkeiten des Mitarbeiters ein, vereinbart mit ihm Ziele sowie einen Maßnahmen- und Zeitplan zur Erreichung dieser Ziele. Außerdem gibt er ihm kontinuierlich Rückmeldungen. Für den Erfolg dieser Vorgehensweise ist offene Kommunikation zwischen Vorgesetztem und Mitarbeiter sowie gegenseitiges Vertrauen wichtig. Coaching unterscheidet sich vom Training on the Job darin, dass nicht das kurzfristige Erreichen spezifischer Leistungsziele im Vordergrund steht, sondern die langfristige Ent-
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292
Kapitel 18 · Leistungsbeurteilung
wicklung von Fähigkeiten und die Stärkung des Selbstvertrauens des Mitarbeiters. Im Gegensatz zur psychologischen Beratung zielt aber Coaching nicht auf die individuelle Persönlichkeitsentwicklung des Mitarbeiters ab, sondern es steht der Nutzen für die Organisation im Vordergrund. 18.6.2
18
Regelbeurteilungen und Potenzialbeurteilung
In vielen Unternehmen und Behörden finden sog. Regelbeurteilungen auf der Basis anforderungsbezogener und standardisierter Beurteilungsinstrumente statt, die zudem auf eine interindividuelle Vergleichbarkeit der Ergebnisse hin ausgerichtet sind. Damit verbunden sind Beurteilungsgespräche, die ihrerseits mindestens einmal im Jahr stattfinden. Aufgrund gesetzlicher Bestimmungen ist das Beurteilungsergebnis dem Mitarbeiter zur Kenntnis zu geben (§ 82, Abs. 2 Betriebsverfassungsgesetz). Das Beurteilungsgespräch findet in der Regel zwischen direktem Vorgesetzten und Mitarbeiter und nur unter vier Augen statt. Regelbeurteilungen sollen die typischen Leistungen der Mitarbeiter verhaltens- und ergebnisorientiert erfassen. Die Mitarbeiter haben im Beurteilungsgespräch dann die Gelegenheit, dazu Stellung zu nehmen, Ergänzungen vorzutragen und Klärungen herbeizuführen. Die Stellungnahmen der Mitarbeiter werden auf einem Formblatt protokolliert. Das Beurteilungsgespräch dient auch der Kommunikation der betrieblichen Beurteilungs- und Leistungsstandards an die Mitarbeiter, und es zielt damit nicht auf die unmittelbare, sondern auf die mittelfristige Steuerung des Verhaltens der Mitarbeiter. Regelbeurteilungen bilden auch die Grundlage für die individuelle Entgeltfindung sowie für Beförderungsentscheidungen. Es wurde vorgeschlagen, Regelbeurteilungen durch regelmäßige zielorientierte Mitarbeitergespräche zu ersetzen (Breisig, 1998) und im sog. Zielvereinbarungsgespräch darauf abgestimmte Förder- und Entwicklungsmaßnahmen zu verabreden. Die Idee ist dabei, dass der Vorgesetzte und sein Mitarbeiter die Aufgabenstellung und Ziele des Mitarbeiters besprechen, Er-
folge und Misserfolge des Mitarbeiters in der Vergangenheit feststellen, die Gründe für positive und negative Leistungsergebnisse klären und die Konsequenzen für die Erreichung der zukünftigen Ziele besprechen. Subjektiv akzeptierte Ziele richten die Aufmerksamkeit des Mitarbeiters aus, führen zu seiner Aktivierung, fördern sein tätigkeitsbezogenes Lernen, erhöhen die Ausdauer bei vorübergehenden Misserfolgen und erlauben dem Mitarbeiter, Stolz und Zufriedenheit über seine Leistung zu erleben (Kleinbeck, 2004). Aber trotz all dieser möglichen positiven Effekte von Zielvereinbarungen wird dadurch das Zurechnungsproblem der betrieblichen Leistungsbeurteilung nicht gelöst (7 oben). Denn auch die Zielerreichung ist immer das Ergebnis des Zusammenwirkens des persönlichen Arbeitsverhaltens mit den innerorganisatorischen und externen situativen und strukturellen Gegebenheiten. Zielvereinbarungen können deshalb keine Alternative zu, sondern nur Ergänzungen von Regelbeurteilungen sein. Potenzialbeurteilungen haben die Funktion, die individuelle Eignung einer Person für die Anforderungen zukünftiger Stellen oder Laufbahnen zu ermitteln. Sie sind auf die Beurteilung der langfristigen Entwicklungsfähigkeit von Personen hin konzipiert. Dabei spielt neben dem Leistungsverhalten in der Vergangenheit und dem aktuellen Leistungsniveau (biographische Informationen) auch das Abschneiden bei konstruktbezogenen Verfahren der Personenbeurteilung (7 Kap. 15 zur Anforderungsanalyse) sowie bei Anforderungssimulationen (z. B. im Assessment Center, 7 Kap. 17) eine wichtige Rolle. Während die betriebliche Leistungsbeurteilung primär vergangenheitsbezogen ist, ist für die Potenzialbeurteilung der Zukunftsbezug entscheidend (von Rosenstiel & Lang-von Wins, 2000). Deshalb muss die Potenzialbeurteilung auch in nachfolgenden Regelbeurteilungen kontinuierlich überprüft werden. . Abb. 18.7 skizziert schematisch die Beziehungen zwischen den täglichen Rückmeldungen am Arbeitsplatz, der Regelbeurteilungen sowie der Potenzialbeurteilung. Wie bereits eingangs verdeutlicht wurde, stellen Potenzialbeurteilungen allerdings keine Leistungsbeurteilungen im engeren Sinn, sondern Mitarbeiterbeurteilungen dar.
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Mit freundlicher Genehmigung von Hogrefe, Göttingen. © Hogrefe 2004
18.6 · Anlässe und Ebenen der Leistungsbeurteilung
. Abb. 18.7. Wechselspiel von täglichen Rückmeldungen am Arbeitsplatz, der Regel- sowie der Potenzialbeurteilung. (Nach Schuler, 2004c)
Zusammenfassung 4 Bei der tätigkeitsbezogenen Leistungsbeurteilung geht es um die Beurteilung der Leistung einer Person, bezogen auf deren Tätigkeit in einer bestimmten Organisation und in einem bestimmten Zeitraum. 4 Aufgrund des Zurechnungsproblems wird die Arbeitsleistung einer Person nicht über die tatsächlichen Arbeitsergebnisse dieser Person definiert, sondern darüber, in welchem Ausmaß eine Person in ihrer Tätigkeit Verhaltensweisen zeigt, die nach übereinstimmender Meinung der Arbeitsplatzexperten mit hoher Wahrscheinlichkeit zu positiven Ergebnissen für die Organisation führen. 4 Es lassen sich drei globale Leistungsdimensionen unterscheiden, nämlich die Tüchtigkeit in der Tätigkeit, kontextbezogenes Leistungsverhalten sowie adaptives Leistungsverhalten. 4 Leistungsbeurteilung kann für sehr unterschiedliche Zwecke betrieben werden: Es werden drei übergeordnete Hauptfunktionen unterschieden,
nämlich die administrative Funktion, die Rückmeldungsfunktion und die Forschungsfunktion. 4 Je nach Einsatzzweck können unterschiedliche Beurteilungsverfahren verwendet werden, nämlich die freie Eindrucksschilderung, Kennzeichnungen auf vorgegebenen Aussagelisten, Rangordnungsverfahren, Einstufungsverfahren sowie aufgaben- und zielorientierte Beurteilungsverfahren. 4 Es können verschiedene Arten von Urteilstendenzen unterschieden werden, nämlich Mittelwertstendenzen, Streuungstendenzen sowie Korrelationstendenzen. Die Urteilstendenzen führen aber im Ganzen gesehen nicht zu weniger akkuraten Leistungsbeurteilungen. 4 In Bezug auf die konkreten Anlässe der Leistungsbeurteilung lassen sich die täglichen Rückmeldungen am Arbeitsplatz (»day-to-day-feedback«), die Regelbeurteilung sowie die Potenzialbeurteilung unterscheiden.
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Kapitel 18 · Leistungsbeurteilung
L Weiterführende Literatur Schuler, H. (Hrsg.). (2004). Beurteilung und Förderung beruflicher Leistung (2. Aufl.). Göttingen: Hogrefe.
Literatur
18
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19
19 Personalentwicklung 19.1
Was ist Personalentwicklung? Definition und Abgrenzungen
– 296
19.2
Unternehmensplanung, Laufbahnplanung und Personalentwicklung – 297
19.3
Potenzialanalyse
19.4
Diagnose des Entwicklungsbedarfs – 302
– 300
19.5
Maßnahmen
19.5.1 19.5.2 19.5.3 19.5.4 19.5.5 19.5.6 19.5.7
Persönlichkeits- und erlebnisorientierte Maßnahmen – 304 Verhaltensorientierte Maßnahmen – 305 Kommunikationszentrierte Maßnahmen – 308 Selbstmanagementorientierte Maßnahmen – 312 Zuweisung von entwicklungsförderlichen Aufgaben – 314 Coaching – 316 Mentoring – 318
19.6
Transfersicherung Literatur
– 304
– 320
– 319
296
Kapitel 19 · Personalentwicklung
> In vielen mittelständischen Unternehmen beschränken sich die Aufgaben der Personalabteilung immer noch auf die Abwicklung der Einstellung und Entlassung von Mitarbeitern sowie auf die Berechnung von Lohn, Gehalt und Urlaubsansprüchen. Eine gezielte Nachfolgeplanung für ausscheidende Mitarbeiter und Führungskräfte findet oft nicht statt. Deswegen taucht dann häufig, scheinbar unvermittelt, das Problem auf, sehr schnell eine Person finden zu müssen, die aufgrund ihrer fachlichen Kompetenz und Persönlichkeit in der Lage wäre, die frei werdende Position erfolgreich auszufüllen. Aber selbst wenn es gelänge, am externen Arbeitsmarkt eine solche Person für das Unternehmen zu interessieren, bleibt immer noch das Problem, dass der externe Aspirant mit den Sachproblemen vor Ort, den dort handelnden Personen und der Unternehmenskultur nicht vertraut ist. Andererseits gibt es möglicherweise eine Reihe von Personen, die schon viele Jahre im Betrieb tätig sind, die die betrieblichen Abläufe und die Mitarbeiter kennen, ihre Aufgaben bisher gut und zuverlässig erfüllt haben, aber fachlich auf die Übernahme der anspruchsvolleren Aufgaben nicht vorbereitet sind und auch über keinerlei Führungserfahrung verfügen. Derartige Engpässe entstehen jedoch nicht unvermittelt, sondern sind das Resultat fehlender Personalentwicklung. Denn die Besetzung von Stellen muss durch die Personalentwicklung und Laufbahnplanung langfristig vorbereitet werden. Oft fehlen in den Betrieben systematische Laufbahnkonzepte, Förderprogramme und Entwicklungspläne, die sicherstellen, dass Mitarbeiter und Führungskräfte zum richtigen Zeitpunkt mit den erforderlichen Qualifikationen dem Betrieb zur Verfügung stehen. Personalentwicklung ist aber auch dort notwendig, wo sich ein Unternehmen für eine neue Marktstrategie entscheidet, z. B. die Entscheidung, eine eigene Produktion in Osteuropa oder Südostasien aufzubauen. Mitarbeiter und Führungskräfte müssen dann auf diese Auslandsentsendung vorbereitet werden. Dazu gehört u. a. die Sicherstellung von Sprach- und Rechtskenntnissen im Gastland, die Vorbereitung auf dessen Kultur, die jeweilige Arbeitsmentalität usw. Wieder geht es darum, durch gezielte Maßnahmen der Personalentwicklung im Vorfeld sicherzustellen, dass die Mitarbeiter – und zwar auf allen Hierarchieebenen – für ihre zukünftigen Aufgaben qualifiziert sind. Aber auch um die bestehende Marktposition halten zu können, sind für ein Unternehmen Personalentwicklungsmaßnahmen erforderlich, z. B. dann, wenn es darum geht, neue Technologien in der eigenen Produktion einzusetzen und die Qualifikationen der Mitarbeiter und Führungskräfte an die veränderten Anforderungen anzupassen. Im Folgenden soll dargestellt werden, was unter dem Konzept der Personalentwicklung zu verstehen ist. Dazu werden die Bezüge zur Unternehmensplanung und Laufbahnplanung aufgezeigt. Dem schließt sich eine Darstellung des Vorgehens bei Potenzialanalysen sowie bei der Diagnose des individuellen Personalentwicklungsbedarfs an. Breiten Raum nimmt dann die Darstellung möglicher Personalentwicklungsmaßnahmen ein. Die Themen Transfersicherung und Evaluation werden schwerpunktmäßig im Kapitel zur Trainingsforschung (7 Kap. 26) abgehandelt.
19.1
Was ist Personalentwicklung? Definition und Abgrenzungen
19 Unter Personalentwicklung sollen im Folgenden alle gezielten Maßnahmen einer Organisation verstanden werden, die darauf ausgerichtet sind, die Qualifikationen des Personals, d. h. der Mitarbeiter und Führungskräfte auf
allen Hierarchieebenen, für seine gegenwärtigen und zukünftigen Aufgaben systematisch sicherzustellen. Dazu gehört insbesondere, die Qualifikationen des Personals auf dem neuesten Stand zu halten, das theoretische Wissen der Beschäftigten in anwendungsbezogenes Können umzuwandeln und die methodischen und sozialen Kompetenzen der Beschäftigten weiterzuentwickeln
297 19.2 · Unternehmensplanung, Laufbahnplanung und Personalentwicklung
(Steinert, 2003). Die systematische Vorgehensweise betrifft sowohl die Planung als auch die Realisierung und Evaluation der Maßnahmen. Die Maßnahmen können auf eine Erweiterung des Wissens, den Erwerb und die Festigung neuer Verhaltensweisen oder die Entwicklung der Persönlichkeit (z. B. Steigerung des Selbstvertrauens) abzielen. Die Maxime der psychologischen Personalentwicklung lautet: ! Stärken stärken, Schwächen schwächen!
Betrieblich nicht geplante, aber dennoch möglicherweise eingetretene Qualifikationsveränderungen bei den Mitarbeitern, z. B. die Fähigkeit zum Produzieren unter Umgehung von Sicherheits- und Qualitätsvorschriften aufgrund einer dysfunktionalen Anreizgestaltung (Akkordentlohnung), stellen nach dieser Definition also keine Personalentwicklung dar. Solche ungeplanten Qualifikationsveränderungen sind der organisationalen Sozialisation zuzurechnen (7 Kap. 6). Entsprechend dem individuumzentrierten Verständnis des Personalbegriffs von Schuler (2006) werden hier auch Teamund Organisationsentwicklung nicht zur Personalentwicklung gerechnet. Auch ist nicht jede Form der Arbeitsgestaltung als Personalentwicklung zu verstehen: Das systematische Kennenlernen unterschiedlicher Arbeitsbedingungen (Job Rotation) kann durchaus Bestandteil einer Personalentwicklungsmaßnahme sein ebenso wie lern- und entwicklungsförderliche Veränderungen in der Gestaltung der Arbeitsbedingungen. Aber gezielte Arbeitsgestaltung ist noch nicht per se Personalentwicklung. Subsumiert man die Konzepte Arbeitsgestaltung, Team- und Organisationsentwicklung unter das Konzept der Personalentwicklung, verliert dieses seine Unterscheidungskraft. Der Begriff »Personalentwicklung« würde dann so viel umfassen, dass er nichts mehr aussagt. Zwischen dem Konzept der Personalentwicklung und dem Trainingskonzept in der und für die Erwerbsarbeit besteht eine große Verwandtschaft. Man kann unter Trainings alle geplanten Maßnahmen zur Wiederherstellung, Erhaltung oder Erweiterung der beruflichen Handlungskompetenz verstehen. Während in der Personalentwicklung die Maßnahmen von der Organisation veranlasst werden und ihr auch zugute kommen sollen, muss der Nutznießer und Veranlasser eines Trainings nicht immer die Organisation des Arbeitgebers sein. Trainings für Arbeitslose werden z. B. auch von der Bundesagentur für Arbeit veranlasst und sollen den Erwerbs-
losen helfen Arbeit zu finden. Trainings in der beruflichen Rehabilitation veranlassen u. a. die Berufsgenossenschaften und sollen der Wiedereingliederung einer verunfallten oder berufserkrankten Arbeitsperson in das Erwerbsleben dienen. Outplacement-Maßnahmen sind Trainings für Mitarbeiter, die von ihrer Organisation entlassen werden sollen. Sie erhalten aber noch ein Bewerbungstraining von der sie entlassenden Organisation, damit sie schneller wieder einen adäquaten Arbeitsplatz in einer anderen Organisation finden. Wie man sieht, ist bei einer OutplacementMaßnahme der Veranlasser zwar die Organisation, aber der Nutznießer der zu erwerbenden Qualifikationen der Erwerbstätige. Trainings können aber durchaus auch als Bestandteile und Elemente der Personalentwicklung im weiteren Sinn eingesetzt werden. Sie sind dann auf den Erwerb von Qualifikationen für die erfolgreiche Bewältigung der Aufgaben in einer bestimmten Stelle oder auf eine verbesserte Leistung bei der Aufgabenbewältigung ausgerichtet. Personalentwicklungsmaßnahmen im engeren Sinn haben dagegen eher einen Laufbahnbezug. Es geht bei ihnen nicht nur darum, dass jemand in einer bestimmten Funktion erfolgreich ist, sondern sie zielen darauf ab, jemanden zu qualifizieren, eine bestimmte Laufbahn, z. B. eine Fachlaufbahn oder eine Führungslaufbahn (. Abb. 19.1), erfolgreich zu meistern. Während Trainings eher auf die Vermittlung und Anwendung eng umschriebener Fertigkeiten und Regeln ausgerichtet sind, steht bei der Personalentwicklung eher die Potenzialförderung und Entfaltung im Vordergrund, d. h. die Entwicklung allgemeinerer Problemlöse- und sozialer Handlungskompetenzen. Das gegenwärtige Kapitel widmet sich der Personalentwicklung, 7 Kap. 26 geht dagegen ausführlich auf die berufliche Trainingsforschung ein. 19.2
Unternehmensplanung, Laufbahnplanung und Personalentwicklung
Eine Unternehmensstrategie will Antworten auf folgende Fragen entwickeln: 4 Mit welchen Herausforderungen wird die Organisation in Zukunft voraussichtlich konfrontiert sein? 4 Wie werden sich vermutlich die Rahmenbedingungen bei den Kunden und bei den Wettbewerbern entwickeln?
19
298
Kapitel 19 · Personalentwicklung
. Abb. 19.1. Fach- versus Führungslaufbahn in der Praxis. (Nach Ernst, 2003)
4 Wie will sich die Organisation angesichts dieser Herausforderungen positionieren (als Innovator oder als Kostenführer, im Kernmarkt oder in Nischenmärkten)? 4 Was sind die Kompetenzen und Fähigkeiten, die den Erfolg der Organisation voraussichtlich bestimmen werden?
19 Das Ziel der Personalentwicklung besteht darin, die Qualifikationen des Personals für die gegenwärtigen und zukünftigen Aufgaben der Organisation systematisch sicherzustellen. Die Personalplanung ergibt sich
aus dem Unternehmensplan (Mag, 2004). Der Unternehmensplan stellt eine Konkretisierung der Unternehmensstrategie vor dem Hintergrund einer bestimmten Markt- und Wettbewerbssituation dar und integriert Marketing-, Produkt-, Investitions-, Finanz- und Personalplanung (. Abb. 19.2). Der Personalplan legt die benötigte Art und Anzahl bestimmter Qualifikationen sowie die Zeithorizonte, bis zu denen diese Qualifikationen zur Verfügung stehen sollen, fest. In der Personalbedarfsplanung wird ermittelt und festgelegt, welche Stellen durch externe und welche Stellen durch interne Rekrutierung besetzt werden sollen. Externe Rekrutierung bedeutet, die Besetzung von Stellen mithilfe der externen Personalsuche und -auswahl vorzunehmen. Für eine Organisation, die Personal extern rekrutiert, stellt sich das Problem, dass in vielen Fällen oft nur näherungsweise beurteilt werden kann, ob die Bewerber über die gewünschten Qualifikationen und Erfahrungen tatsächlich verfügen und ob die von den Bewerbern dargestellte Leistungsorientierung und Zuverlässigkeit auch wirklich vorliegen. Die Planung und Durchführung der Ansprache und Gewinnung externer Bewerber ist Gegenstand des Personalmarketing (7 Kap. 16). Dabei spielt die Personalauswahl (7 Kap. 17) eine wichtige Rolle. Interne Rekrutierung bedeutet, dass die Organisation selbst die erforderlichen Qualifikationen entwickeln muss. Der große Vorteil dieser Vorgehensweise besteht darin, dass die Organisation die Möglichkeit hat, die Mitarbeiter über längere Zeit hinweg zu beobachten, und so in die Lage versetzt wird, relativ genaue Aussagen über das Leistungsverhalten und die Leistungsergebnisse von Stellenaspiranten zu machen. Damit wird das Intransparenzproblem (7 Kap. 16 zum Personalmarketing) in Bezug auf die tatsächlichen Qualifikationen, die Motivation zur Leistung, die Zuverlässigkeit und die Umgänglichkeit der Mitarbeiter gelöst. Die Laufbahnplanung in einer Organisation setzt die Bildung von sog. Aufstiegskanälen, Funktionsgruppen und Laufbahnstufen seitens der Organisation voraus. Die Einheit von Aufstiegskanälen, Funktionsgruppen und Laufbahnstufen wird als das Laufbahnkonzept einer Organisation bezeichnet (Arnold, 2002). Aufstiegskanäle sind typische Laufbahnwege in einer Organisation, für die in den Versetzungsrichtlinien Qualifikationsanforderungen und Aufstiegsvoraussetzungen festgelegt werden. Eine Fachlaufbahn ist ein Aufstiegskanal, die Führungslaufbahn ist ein anderer Aufstiegskanal (. Abb. 19.1). Funktionsgruppen sind organisationsweit definierte Po-
299 19.2 · Unternehmensplanung, Laufbahnplanung und Personalentwicklung
. Abb. 19.2. Unternehmensplanung und Personalentwicklungsplanung
sitionen gleicher hierarchischer Ebene, wie z. B. Sachbearbeitung, Gruppenleitung oder die Bereichsleitung. Innerhalb eines Aufstiegskanals sind die Funktionsgruppen nach Laufbahnstufen hierarchisch geordnet. Ein organisationales Laufbahnkonzept mit den damit verbundenen Entwicklungsprogrammen für Mitarbeiter und Führungskräfte hat folgende Zielsetzungen (Kaschube & Rosenstiel, 2004): 4 Die persönlichen Ziele und Karriereambitionen der Mitarbeiter sollen mit den Plänen der Organisation abgestimmt werden. Dies betrifft auch den Wunsch oder die Bereitschaft, den Wohnort zu wechseln, neue Positionen zu übernehmen sowie mit wechselnden Personen zusammenzuarbeiten. 4 Das Laufbahnkonzept soll Beschäftigten mit positiven Potenzialvoraussetzungen attraktive Karriere-
optionen bieten und diese damit langfristig an die Organisation binden. 4 Die Leistungsreserven der Mitarbeiter sollen durch die Aussicht auf Aufstiegs- und Entwicklungsmöglichkeiten mobilisiert werden. 4 Durch gezielte Qualifizierungsmaßnahmen soll außerdem ein breites Kompetenzprofil geschaffen werden, sodass der Mitarbeiter vielfältig in der Organisation einsetzbar ist. In der Praxis (Ernst, 2003) gelten die Transparenz des Laufbahnkonzeptes für die Betroffenen, seine von den Betroffenen wahrgenommene Fairness und die tatsächliche Leistungsabhängigkeit des Aufstiegs im Gegensatz zur Vetternwirtschaft oder der Zugehörigkeit zu Seilschaften als zentrale Erfolgsvoraussetzungen.
19
300
Kapitel 19 · Personalentwicklung
Der Gegenstand der Personalentwicklungsplanung ist die Festlegung der Soll-Qualifikationen durch laufbahnbezogene Anforderungsprofile, die Feststellung der Ist-Qualifikationen, die Bestimmung der individuellen Lernziele, die Planung der Personalentwicklungsmaßnahmen sowie die Durchführung der Maßnahmen und ihre Erfolgskontrolle (Evaluation). Führt die Evaluation zu dem Ergebnis, dass immer noch eine Ist-SollAbweichung vorliegt, müssen neue Maßnahmen ergriffen werden. 19.3
19
Potenzialanalyse
Die Potenzialanalyse dient der Klärung der Frage, über welches Niveau an kognitiven Fähigkeiten, an sozialer Kompetenz, an emotionaler Stabilität sowie an Lern-, Veränderungs- und Entwicklungsbereitschaft eine Person verfügt. Je nach Potenzialniveau kann dann entschieden werden, ob weitere Fördermaßnahmen angezeigt erscheinen und welches Laufbahnniveau passend ist. Wie im Kapitel zum Personalmarketing ausgeführt (7 Kap. 16), stellen Organisationen oft mehr Nachwuchsbeschäftigte ein, als sie tatsächlich benötigen. Dies geschieht z. B. bei beruflichen Ausbildungsplätzen oder in Form von Trainee-Programmen für Nachwuchskräfte im Fach- und Führungskräftebereich. Die Trainee-Programme bestehen darin, dass die Nachwuchskräfte systematisch die verschiedenen Abteilungen und Bereiche einer Organisation kennenlernen und zusätzlich in Seminaren und Workshops mit den Produkten und der Arbeitsweise der Organisation weiter vertraut gemacht werden (Neuberger, 1991). Solche Trainee-Programme dauern zwischen 6 und 24 Monaten. Die Potenzialanalyse am Ende von Trainee-Programmen soll dazu dienen, diejenigen Personen zu identifizieren, die eine Organisation langfristig an sich binden möchte. Eine solche Potenzialanalyse kann aber z. B. auch am Ende der betrieblichen Ausbildungszeit einer Kohorte in der beruflichen Erstausbildung stattfinden. Wie im Kapitel zur Personalauswahl (7 Kap. 17) dargestellt, sollten gute Personalentscheidungen immer auf mehreren Informationsquellen beruhen, die jeweils unterschiedliche Aspekte erfassen. Man bezeichnet ein solches diagnostisches Vorgehen als Multiplismus (Schulze & Holling, 2004). Gute Personalentscheidungen sollten zum einen zeitstabile Eigenschaften von Personen berücksichtigen, zum anderen sollte das Ver-
halten in konkreten Bewährungssimulationen überprüft werden und schließlich sollten biographische Informationen eingehen, die das Wirken der Person und die Ergebnisse dieses Wirkens im Zeitverlauf erfassen (7 Übersicht). Instrumente der Potenzialanalyse 4 Tests zur allgemeinen Intelligenz 4 Persönlichkeitstests (Gewissenhaftigkeit, emotionale Stabilität, Extraversion) 4 Potenzial-Assessment-Center 4 Lernpotenzial-Assessment-Center 4 Leistungsbeurteilungen 4 360°-Feedback
Die Metaanalysen von Schmidt und Hunter (2004) haben gezeigt, dass positions-, organisations-, branchen- und zeitübergreifend die allgemeine Intelligenz die beste Größe zur Vorhersage der beruflichen Leistung ist, die wir derzeit kennen. Darüber hinaus sagt die allgemeine Intelligenz auch am besten den Erfolg von beruflichen Trainings- und Entwicklungsmaßnahmen vorher. Einschränkend ist jedoch zur Generalität der Befunde von Schmidt und Hunter folgendes festzuhalten: Es handelt sich bei den untersuchten Tätigkeiten um handwerklich-technische, Verwaltungs-, Management- sowie um militärische und polizeiliche Tätigkeiten. Sozialberufe spielen nur am Rand eine Rolle, nämlich als Sanitätstätigkeiten beim Militär sowie als Tätigkeiten bei der polizeilichen Bewährungshilfe. Andere soziale Berufe (z. B. Lehrer, Erzieher, Pfleger, Sozialarbeiter etc.), forschende Tätigkeiten und künstlerische Berufe, also z. B. Tätigkeiten als Musiker, Designer, Architekt, Kunsthandwerker oder Darsteller, fehlen in dieser Metaanalyse ganz. Ob für diese Tätigkeiten das Gleiche gilt, muss also erst noch überprüft werden. Die große Bedeutung der allgemeinen Intelligenz für den späteren Tätigkeitserfolg sollte jedoch nicht dazu führen, die Bedeutung des tätigkeitsbezogenen Wissens zu unterschätzen. Wie für das Problemlösen im Allgemeinen (Weinert & Schrader, 1997) so ist auch speziell für den Erfolg in beruflichen Tätigkeiten das einschlägige Fachwissen von ausschlaggebender Bedeutung (Schmidt & Hunter, 2004). Deshalb sind auch die Wissensvermittlung und der Wissenserwerb wesentliche Elemente der Personalentwicklung (Sonntag & Schaper, 2006). Eine hervorragende bereichs- und aufgabenspe-
301 19.3 · Potenzialanalyse
zifische Problemlösefähigkeit bezeichnet man als Expertise. Sie entwickelt sich über viele Jahre hinweg aufgrund von Ausbildung, Training und tätigkeitsbezogener Erfahrung. Je intelligenter Personen sind, desto schneller und besser eignen sie sich – bei gleichen sonstigen Bedingungen – das tätigkeitsbezogene Wissen an. Aber umgekehrt gilt auch, dass der Erfolg beim Erlernen von Problemlösestrategien für einen bestimmten Tätigkeitsbereich davon abhängt, wie gut ausgeprägt das tätigkeitsspezifische (Vor-)Wissen einer Person jeweils ist. Intelligenz und Wissen ergänzen sich also wechselseitig. Judge, Higgins, Thoresen und Barrick (1999) haben Langzeitstudien ausgewertet, bei denen in Kalifornien Persönlichkeitsmerkmale von Personen im Alter zwischen 12 und 14 Jahren erfasst und dann mit dem Berufserfolg ca. 30–35 Jahre später, also im Alter zwischen 41 und 50 Jahren in Beziehung gesetzt wurden. Dabei zeigte sich zum einen eine relativ hohe Stabilität der Persönlichkeitsmerkmale (die Durchschnittskorrelation betrug r=.43) und zum anderen, dass zwei Persönlichkeitsmerkmale besonders bedeutsam für den objektiven Berufserfolg – erfasst über Einkommen und sozialen Status - waren, nämlich Gewissenhaftigkeit und Neurotizismus (7 Kap. 17 und Übersicht »Zentrale Aspekte von Gewissenhaftigkeit und Neurotizismus«). Zentrale Aspekte von Gewissenhaftigkeit und Neurotizismus (Ostendorf & Angleitner, 2004) Gewissenhaftigkeit 4 Selbstvertrauen 4 Ordnungsliebe 4 Pflichtbewusstsein 4 Selbstdisziplin 4 Leistungsmotivation 4 Besonnenheit Neurotizismus 4 Ängstlichkeit 4 Impulsivität 4 Selbstaufmerksamkeit 4 Reizbarkeit 4 Verletzlichkeit 4 Depressivität
Das Persönlichkeitsmerkmal Gewissenhaftigkeit sagte den Berufserfolg positiv vorher, das Persönlichkeits-
merkmal Neurotizismus dagegen negativ. Diese Befunde decken sich auch mit einer Metaanalyse zum Zusammenhang von Persönlichkeitsmerkmalen und beruflichem Erfolg (Barrick, Mount & Judge, 2001). Das Persönlichkeitsmerkmal Neurotizismus ist der negative Pol der Dimension der emotionalen Stabilität. Je höher die emotionale Stabilität einer Person ist, desto besser kann sie mit Belastungssituationen umgehen und konstruktive Bewältigungsstrategien dafür finden. Barrick und Kollegen fanden auch folgenden Zusammenhang: Je höher die emotionale Stabilität und die Gewissenhaftigkeit von Personen ausgeprägt sind, desto besser integrieren diese sich in Arbeitsteams und arbeiten dort konstruktiver mit. Judge, Bono, Ilies und Gerhardt (2002) konnten im Rahmen einer Metaanalyse außerdem aufzeigen, dass das Persönlichkeitsmerkmal der Extraversion sowohl mit der spontane Anerkennung als Führungspersönlichkeit (»leadership emergence«) im jeweiligen sozialen Kontext (Wirtschaft, Militär, Universität) als auch mit dem Führungserfolg in konsistent positiver Beziehung steht. Neben der Erfassung stabiler Personenmerkmalen (allgemeine Intelligenz, Gewissenhaftigkeit und Neurotizismus) sollte bei der Potenzialanalyse auch die Verhaltensbeurteilung in Bewährungssimulationen eine Rolle spielen. Dazu können Assessment-Center eingesetzt werden. Eine Studie, die in einem amerikanischen Großunternehmen durchgeführt wurde (Bray & Grant, 1966) zeigt, dass das Abschneiden im Assessment-Center den Aufstieg im Management sowohl nach 8 als auch noch nach 16 Jahren positiv vorhersagen konnte. Zur Potenzialidentifikation sollten bei den Assessment-Centern dann Beurteilungsdimensionen zugrunde gelegt werden, die stabile Personenmerkmale erfassen (Kleinmann, 2003). Eine sichere Potenzialidentifikation ist schon bei einer kleinen Anzahl einfacher Übungen (3–6) möglich. Wichtig ist jedoch, dass die Dimensionen nicht transparent sind, d. h., die AC-Teilnehmer sollten vorab nicht mitgeteilt bekommen, in Bezug auf welche Dimensionen sie beurteilt werden (Thornton & Rupp, 2006), sondern dies erst beim Feedback erfahren. Von Sarges (2000) stammt das Konzept des Lernpotenzial-Assessment-Center. Das Konstrukt des Lernpotenzials soll nicht nur die Lernfähigkeit, sondern auch die Lernwilligkeit erfassen. Scherm und Sarges (2002) sprechen im positiven Fall von einer agilen Lernpersönlichkeit. Sie zeichnet sich dadurch aus, dass sie Lerngelegenheiten aktiv aufsucht, von sich aus Rückmeldungen über ihren jeweiligen Lernerfolg initiiert und eigene
19
302
19
Kapitel 19 · Personalentwicklung
Fehler als Chance für Verbesserung begreift. Sarges hält die Erfassung dieser Motivation bei der Potenzialdiagnose von Fach- und Führungskräften für entscheidend. Denn er geht davon aus, dass es für den beruflichen Erfolg von Nachwuchskräften im Fach- und Führungsbereich notwendig ist, sich kontinuierlich an veränderte sachliche, zeitliche und soziale Umweltbedingungen anzupassen. Im Lernpotenzial-Assessment-Center (LPAC) bekommen die Teilnehmer nach jeder Übung Rückmeldungen zu ihrem Abschneiden. Was bei den Teilnehmern beurteilt wird, ist, wie sie aufgrund dieser Rückmeldungen und der Selbsteinschätzungen ihres Abschneidens bei einer Übung dann bei der nächsten Übung ihr Verhalten verändern. Die bisherigen Forschungsarbeiten zum LPAC (Stangel-Meseke, Agli & Schnelle, 2005) kommen zu positiven Ergebnissen. Der empirische Nachweis der prognostischen Validität des LPAC steht allerdings noch aus. Biographische und auf Ergebnisse bezogene Aspekte der Potenzialanalyse können durch Leistungsbeurteilungen durch Vorgesetzte sowie durch multiple Fremdbeurteilungen erhoben werden. Sie beziehen sich dann auf die Zeit, die die betreffende Person bereits der Organisation angehört. Bei der Leistungsbeurteilung durch Vorgesetzte z. B. im Rahmen einer Ausbildung oder eines Trainee-Programms ist aber zu bedenken, dass Vorgesetzte in der kurzen Zeit, in der die Nachwuchskräfte sich in ihrem Zuständigkeitsbereich befinden, nur sehr wenig Gelegenheit haben, das Verhalten und Auftreten der Nachwuchskräfte wirklich kennenzulernen. Schuler, Funke, Moser und Donat (1995) fanden bei Nachwuchskräften in der technischen Industrieforschung, dass die Leistungsbeurteilungen durch Vorgesetzte erst nach 4 Jahren ihre volle Validität erlangten. In den meisten Organisationen ist es allerdings üblich, dass jemand nur dann an einem Potenzialworkshop teilnehmen kann, wenn dazu eine ausdrückliche Empfehlung durch den Vorgesetzten vorliegt. Im Gegensatz zu Vorgesetzten haben Kollegen und die anderen Nachwuchskräfte oft intensiveren Kontakt mit den zu Beurteilenden. Scherm und Sarges (2002) schlagen deshalb vor, durch die Personen aus dem unmittelbaren organisationalen Umfeld der Nachwuchskraft Aspekte der sog. kontextuellen Leistung beurteilen zu lassen. Dies betrifft insbesondere den Umgang mit Konflikten, das Verhalten in der Gruppe, die Zuverlässigkeit beim Einhalten von Zusagen, die Hilfsbereitschaft und Unterstützung für andere sowie die Beachtung von
. Abb. 19.3. Beurteilergruppen im 360°-Feedback
Regeln und Vorschriften. Bei Personen, die der Organisation schon längere Zeit angehören und dort an einem festen Arbeitsplatz z. B. als Sachbearbeiter tätig waren (. Abb. 19.1), ist es auch sinnvoll, das sog. 360°-Feedback einzusetzen (. Abb. 19.3). Diese Art der Beurteilung ist multiperspektivisch angelegt und berücksichtigt zusätzlich zur Selbsteinschätzung verschiedene Personengruppen aus der Arbeitsumgebung der zu Beurteilenden. Dazu gehören neben dem Vorgesetzten, die Kollegen, Mitarbeiter sowie Organisationsexterne wie z. B. Kunden. Die Beurteilungsprofile werden in der Regel auf der Grundlage standardisierter, schriftlicher Befragungen erstellt (Scherm & Sarges, 2002). Zwischenbilanz ziehend ist festzuhalten, dass Potenzialanalysen umso aussagekräftiger sind, je unterschiedlicher die Informationen sind, die dazu herangezogen werden. Neben einem Test zur allgemeinen Intelligenz empfiehlt es sich, die Persönlichkeitsmerkmale Gewissenhaftigkeit und emotionale Stabilität zu berücksichtigen. Das Verhalten in Bewährungssimulationen sollte mittels eines Potenzial-Assessment-Center geprüft werden. Die bisherige Zeit in der Organisation kann mittels Leistungsbeurteilungen durch Vorgesetzte berücksichtigt werden. Für die Beurteilung der kontextuellen Leistung kann auf 360°-Beurteilungen zurückgegriffen werden. 19.4
Diagnose des Entwicklungsbedarfs
Neben den Laufbahnzielen und Selbsteinschätzungen der Mitarbeiter sowie den Beurteilungen durch Vorgesetze und Fachexperten aus der Personalentwicklung stellt das Assessment-Center eine geeignete Methode dar, um den individuellen Entwicklungsbedarf zu ermit-
303 19.4 · Diagnose des Entwicklungsbedarfs
teln. Die Konzeption eines solchen Entwicklungs-AC unterscheidet sich jedoch von Assessment-Centern, bei denen es darum geht, Bewerber für eine bestimmte Stelle auszuwählen oder das Potenzial von Nachwuchskräften zu bestimmen (Thornton & Rupp, 2006). Für Entwicklungs-AC sollten nur solche Übungen ausgewählt werden, die es erlauben, Verhaltens- und Leistungsdimensionen zu beobachten, die durch Maßnahmen der Personalentwicklung auch tatsächlich gezielt veränderbar sind (Schuler, 2007). Die Übungen in ihrer Gesamtheit sollten möglichst ein breites Spektrum unterschiedlicher Verhaltens- und Leistungsdimensionen abdecken. Es kann sich dabei um bis zu 10 verschiedene Übungen handeln. Die Übungen und Anforderungen sollten ein hohes Maß an Realitätsnähe zum Zielbereich aufweisen. Beispielsweise sollten die Übungen in einem Entwicklungs-AC für zukünftige Schulleiter anders gestaltet sein als die Übungen für künftige Einsatzleiter bei der Polizei. Die Komplexität der Übungen hängt von der einschlägigen Berufserfahrung der Teilnehmergruppe ab. Weiterhin sollte die Anzahl der von den Assessoren zu beobachtenden Dimensionen möglichst gering gehalten werden, damit ihre Beobachtungskapazität nicht überfordert wird. Außerdem ist es im Gegensatz zu einem Potenzial-Assessment-Center wichtig, dass die Teilnehmer des Entwicklungs-AC wissen, welche Anforderungsdimensionen in der jeweiligen Übung relevant sind (Kleinmann, 2003). Diese Transparenz der Anforderungsdimensionen in den einzelnen Übungen erhöht die Spezifität der Beobachterurteile. Denn nur spezifische Beobachterurteile lassen eine valide Diagnose des jeweiligen Entwicklungsbedarfs zu. Das Rückmeldungsgespräch (. Abb. 19.4) mit den Teilnehmern des Entwicklungs-ACs sollte in zeitlicher Nähe zum AC stattfinden, damit die Eindrücke noch frisch und präsent sind. An ihm sollten neben dem ACTeilnehmer, die Person, die für die Durchführung des AC verantwortlich ist, z. B. ein Psychologe oder eine Psychologin, sowie die für die Personalentwicklung im jeweiligen Organisationsbereich zuständige Person teilnehmen. Bei dem Gespräch geht es zunächst darum auszuloten, wo die Selbst- und Fremdwahrnehmung von Stärken und Schwächen miteinander konvergieren. Dazu ist es notwendig, dass die Teilnehmer Gelegenheit bekommen, ihre Sicht darzustellen, und zuzulassen, dass dies auch zu einer Revision der Einschätzungen der Beurteiler führen kann. Dies wird dadurch formal dokumentiert, dass – durch den Teilnehmer veranlasst – Ergänzungen in das
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Fördergespräch Follow-upGespräch . Abb. 19.4. Ablauf der Diagnose des Entwicklungsbedarfs
AC-Gutachten aufgenommen werden können und dass das revidierte Gutachten dann von den Gesprächsteilnehmern gemeinsam unterschrieben wird. Diese Gelegenheit, die eigene Sichtweise einzubringen, erhöht die Veränderungsbereitschaft bei den Betroffenen (Tyler & Lind, 1992). Um die Richtung und Intensität der Veränderungsbereitschaft bei der betroffenen Person auszuloten, sollten außerdem mögliche Personalentwicklungsmaßnahmen bereits vorgestellt und mit der betroffenen Person diskutiert werden. Nach ca. 14 Tagen sollte dann ein weiteres Gespräch geführt werden, dessen Gegenstand die konkrete Vereinbarung von Förder- und Entwicklungsmaßnahmen ist. An diesem Gespräch sollten neben der zu fördernden Person der Personalenwickler, der bereits am Rückmeldungsgespräch teilgenommen hat, und auch der direkte Vorgesetzte der zu fördernden Person teilnehmen. Im ersten Schritt wird anhand des gemeinsam unterschriebenen Gutachtens zum Assessment-Center das Stärkenund-Schwächen-Profil in wesentlichen Zügen rekapituliert. Im zweiten Schritt werden die konkret möglichen Fördermaßnahmen gemeinsam besprochen. Dabei ist von der Seite des Personalentwicklers darzustellen, wie sich die Schulungs- und Trainingsmaßnahmen in die Entwicklungsprogramme der Organisation für Fachund Führungskräfte einfügen. Denn die einzelnen Interventionen sollen im Sinne der betrieblichen Karriereplanung nicht isoliert nebeneinander stehen, sondern Module in einer vernetzten Vorgehensweise der Organisation darstellen. Im dritten Schritt kommt es dann zu einer Vereinbarung der anstehenden Personalentwicklungsmaßnahmen. Bei dieser Vereinbarung ist es auch notwendig, die Rollen zu klären, die dem Vorgesetzten, dem Personalentwickler und vor allem der betroffenen Person dabei zukommen. Wichtig sind hier die zeitlichen Horizonte, die zeitlichen Freiräume, die verfüg-
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Kapitel 19 · Personalentwicklung
baren Ressourcen sowie der Grad der Eigeninitiative der betroffenen Person. Schließlich ist ein Zeithorizont für eine Nachfolgebesprechung zu vereinbaren. Die Nachfolgebesprechung sollte nach ca. 1 Jahr stattfinden. Sie dient dazu, die Umsetzung der vereinbarten Maßnahmen zu überprüfen (Implementierungsevaluation) sowie deren Ergebnisse zu besprechen. Dabei sollten alle Beteiligten (die Betroffenen, die Vorgesetzten und die Personalentwicklung) nicht nur die Effektivität der Einzelmaßnahmen im Auge haben, sondern auch sensibel für dysfunktionale Auswirkungen der Fördermaßnahmen insgesamt sein, wie z. B. »High-Potential-Gehabe« bei den Geförderten oder Verlierersymptome und Motivationsverluste bei den nicht Geförderten (Kleinmann, 2003). 19.5
Maßnahmen
Für Personalentwicklungsmaßnahmen gibt es derzeit kein allgemein anerkanntes Klassifikationssystem (Kaschube & Rosenstiel, 2004). Wir haben deswegen eine eher pragmatisch orientierte Auswahl und Einteilung wichtiger Verfahren der Personalentwicklung (Sonntag & Stegmaier, 2006) vorgenommen (7 Übersicht). ComVerfahren und Instrumente der Personalentwicklung
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4 Persönlichkeits- und erlebnisorientierte Verfahren (7 Abschn. 19.5.1): Persönlichkeitstrainings, Sensititvitätstrainings, gruppendynamische Ansätze 4 Verhaltensorientierte Maßnahmen (7 Abschn. 19.5.2): Verhaltensmodellierung, simulationsorientierte Verfahren, Fallstudienmethode 4 Kommunikationsorientierte Verfahren (7 Abschn. 19.5.3): Verfahren zur Stärkung der Präsentations-, Moderations-, Unterweisungs-, Gesprächsführungs- und Inspirationskompetenz 4 Selbstmanagementorientierte Verfahren (7 Abschn. 19.5.4) 4 Zuweisung von entwicklungsförderlichen Aufgaben (7 Abschn. 19.5.5) 4 Coaching (7 Abschn. 19.5.6) 4 Mentoring (7 Abschn. 19.5.7)
puter- und netzgestützte Lehr- und Lernformen werden im Kapitel »Aus- und Weiterbildung« dargestellt (7 Kap. 26). Der Schwerpunkt bei der Auswahl der Verfahren liegt auf jenen, die insbesondere für die Personalentwicklung im Fach- und Führungskräftebereich eine wichtige Rolle spielen. Einen vertieften Einblick in die Verfahren und Instrumente der Personalentwicklung gibt das von Ryschka, Solga und Mattenklott (2005) herausgegebene »Praxishandbuch Personalentwicklung«. 19.5.1
Persönlichkeits- und erlebnisorientierte Maßnahmen
Maßnahmen zur sog. Persönlichkeitsentwicklung werden von Praktikern oft als wichtige Bausteine für die Entwicklung von Managementkompetenz betrachtet und erfreuen sich auf dem bunt schillernden Psychomarkt einiger Beliebtheit (Leidenfrost, Götz & Hellmeister, 2000). Diese Verfahren sollen die Teilnehmer – ausgelöst durch Selbsterfahrung – zu einem grundsätzlichen Nachdenken über die eigene Persönlichkeit veranlassen. Dadurch soll es zu einer Klärung der Sicht auf die eigene Vergangenheit kommen. Bisher als spannungsvoll erlebte Konflikte zwischen aktuellen Lebenszielen im privaten und beruflichen Bereich sollen gelöst werden. Ziel dieser Verfahren soll es sein, den Teilnehmern zu einem höheren Maß an Selbstverwirklichung zu verhelfen. Eng verwandt damit sind sog. Sensitivitätstrainings (Röschmann, 1998). Sie dienen dazu, individuelle Entwicklungsprozesse durch das emotionale Erleben neuartiger Situationen im Hier und Jetzt in Erfahrungsgruppen außerhalb der Organisation sowie durch intensive Rückmeldungen über das eigene Verhalten durch den Trainer und die anderen Gruppenteilnehmer, die aus den verschiedensten Organisationen stammen, auszulösen. In der Gruppe können und sollen dann neue Verhaltensweisen durch die Teilnehmer ausprobiert werden. Allerdings sind die Praktiken in manchen der Persönlichkeitstrainings und Sensitivitätsgruppen z. T. obskur (Schwertfeger, 1998). Die Teilnehmer sollen stundenlang in meditativer Stimmung in eine brennende Kerze schauen oder körperliche Übungen durchführen. Fragen der Teilnehmer zum Sinn eines solchen Vorgehens werden zurückgespiegelt: »Warum fragst Du das?« und auf die angeblichen inneren Widerstände der Teilnehmer gerichtet: »Wie sieht Dein Widerstand aus? Be-
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Manipulationstechniken in Psychogruppen (Schwertfeger, 1998) 4 Verschleierung: Die Seminaranbieter informieren die Teilnehmer vorab nicht über die eigentlichen Inhalte der Maßnahmen und Übungen. 4 Weckung von Allmachtsphantasien: Jeder ist angeblich selbst verantwortlich für sein Schicksal. Alles was den Teilnehmern im bisherigen Leben passiert ist, auch Unfälle und Krankheiten, hätten sie eigentlich selbst so gewollt. 4 Nicht diskutierbare Regeln: Die Seminarleiter geben die Regeln vor, Diskussionen darüber werden unterbunden. 4 Präsentation überraschender, nachträglicher Verhaltensinterpretationen: Nach einer Joggingübung wird den Teilnehmern offenbart: »Je langsamer Du bist, desto größer sind Deine Widerstände gegen Veränderungen.« Oder nachdem die Teilnehmer zu exzessivem Hecheln (Hyperventilation) veranlasst wurden, was intensive Erfahrungen aus-
schreib ihn!«. Diese sog. Persönlichkeitstrainings werden häufig auch von organisierten Psychogruppen angeboten. Sie verwenden in ihren Trainings charakteristische Techniken (7 Kasten). Wie die Metaanalyse von Neumann, Edwards und Raju (1989) zeigt, werden insbesondere die Sensitivitätstrainings von Trainingsteilnehmern selbst sehr positiv bewertet. Zu ähnlichen Ergebnissen kamen auch Leidenfrost et al. (2000) für den deutschen Sprachraum. Gruppendynamische Trainings führen in über 80% der Studien zu einer Veränderung des Selbstkonzeptes und des Sozialverhaltens (Smith, 1975) bei den Betroffenen, allerdings häufig auch in negative Richtung, nämlich zu einer Senkung des Selbstwertgefühls und zu sozial unsichererem Verhalten. Gesicherte Ergebnisse darüber, ob die veränderte Persönlichkeit sich auch im Berufs- und Organisationsalltag positiv auswirkt, also zur Frage, ob es zu einem Transfer vom Training in den Berufsalltag kommt (Solga, 2006), liegen derzeit allerdings nicht vor. Dass die Persönlichkeits- und Sensitivitätstrainings vielen Teilnehmern zusagen und Spaß machen, könnte ein Grund sein, warum Organisationen ihre Beschäftigten zu solchen Veranstaltungen entsenden. Denn konkrete Lernziele im Sinne der Personalentwicklung können durch diese Trainings offensichtlich nicht er-
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lösen kann, erfahren sie: »Jetzt spürst Du die Gefühle, die Du bisher nicht zugelassen hast«. Isolation: Trainings finden an Orten statt, die den Teilnehmern unbekannt sind. Sie werden dort mit Extrabussen der Veranstalter hingebracht. Alle persönlichen Dinge inklusive der Armbanduhr müssen vorher abgegeben werden. Kommunikationsverbot: Außerhalb der Übungen und in Abwesenheit der Trainer ist die Kommunikation zwischen den Teilnehmern untersagt. Intime Beichten: Die Teilnehmer werden zu Selbstoffenbarungen vor der Gruppe über intime Sachverhalte aus dem eigenen Leben und der eigenen Vergangenheit animiert. Gedankenstopp: Die Teilnehmer werden aufgefordert, bestimmte Gedanken nicht zu denken. Immer wenn ein schlechter Gedanken auftaucht, soll ein positiver Gedanke gedacht werden.
reicht werden. Nicht die Qualifizierung für zukünftige Aufgaben, sondern die Belohnung, in einer Umgebung außerhalb der Organisation nicht ganz alltägliche Erfahrungen machen zu dürfen, wäre dann der eigentliche Zweck der Entsendung zu solchen Persönlichkeitstrainings. Speziell bezogen auf sog. Psychotrainings vermutet ein Insider der Personalentwicklung jedoch noch etwas anderes: Ein Unternehmen, das seine Mitarbeiter dorthin schickt, vermittelt ihnen die unterschwellige Botschaft, dass sie sich Autoritäten anpassen müssen. Ich könnte mir vorstellen, dass die Unternehmen hoffen, dass dadurch der Umgang mit den Mitarbeitern leichter wird. Aber ich kann mir nicht vorstellen, was ein Unternehmen sonst davon haben könnte. Auf keinen Fall lernen die Teilnehmer jedoch, kritisch zu sein. (Schwertfeger, 1998, S. 170)
19.5.2
Verhaltensorientierte Maßnahmen
Zu den verhaltensorientierten Maßnahmen in der Personalentwicklung kann man die Verhaltensmodellierung sowie die simulationsorientierten Verfahren (Rollen-
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Kapitel 19 · Personalentwicklung
und Planspiele) rechnen. Diese werden im Folgenden dargestellt. Verhaltensmodellierung Gegenstand dieses, auch als Behavior Modeling Training bezeichneten Verfahrens ist die Vermittlung und Einübung ausgewählter Verhaltensweisen. Die Zielverhaltensweisen, die es zu erlernen und einzuüben gilt, werden zunächst durch eine Anforderungsanalyse im Arbeitsfeld, in dem das neue Verhalten später auch praktiziert werden soll, ermittelt. Dazu bedient man sich der Methode der kritischen Ereignisse (7 Kap. 15 und 18). Für ein Führungskräftetraining von Latham und Saari (1979) wurden z. B. folgende Verhaltensweisen zum Umgang von Führungskräften mit Beschwerden seitens ihrer Mitarbeiter ermittelt (7 Übersicht).
Zielverhaltensweisen für Vorgesetzte beim Umgang mit Beschwerden ihrer Mitarbeiter (nach Latham und Saari, 1979) 4 Vermeiden Sie es, feindselig oder abwehrend zu reagieren! 4 Bitten Sie um eine genaue Schilderung und hören Sie aufmerksam der Beschwerde zu! 4 Wiederholen Sie mit Ihren Worten die Beschwerde, um sie genau zu verstehen! 4 Lassen Sie die Beschwerde als die Sichtweise des/der Mitarbeiters/in gelten! 4 Falls notwendig, stellen Sie ihre Sichtweise – ohne sich zu verteidigen – dar! 4 Vereinbaren Sie mit dem Mitarbeiter einen genauen Termin für ein Folgegespräch!
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Durch das Training (Goldstein & Ford, 2002) sollen die Aufmerksamkeit auf die Zielverhaltensweisen ausgerichtet, Gedächtnisprozesse angeregt, die Ausführung des Verhaltens eingeübt, die Selbstwirksamkeitserwartung gestärkt und die Anwendung der Zielverhaltensweisen im Arbeitsumfeld sichergestellt werden. Dazu erhalten die Trainingsteilnehmer zunächst eine Einführung in den Problembereich durch den Trainer. Dann werden die Zielverhaltensweisen beschreibend vom Trainer vorgestellt. Diese Zielverhaltensweisen werden auch als Lernpunkte bezeichnet. Danach erfolgt das Vormachen des Zielverhaltens oder eine Film- bzw. eine
Videodarbietung für die Teilnehmer. In beiden Fällen muss es sich um ein für die Teilnehmer vertrauenswürdiges positives Verhaltensmodell handeln. Es hat sich jedoch auch als günstig erwiesen, nicht nur positive Modelle zu verwenden, sondern positive und negative zur Abgrenzung und Kontrastierung. Durch eine Gruppendiskussion über die Effektivität des Verhaltensmodells wird anschließend die Sinnhaftigkeit der einzelnen Aspekte des Modellverhaltens verdeutlicht. Im Anschluss daran gehen die Teilnehmer nochmals die Zielverhaltensweisen durch und formulieren die Regeln des Zielverhaltens, soweit sie dazu kognitiv in der Lage sind, möglichst in eigenen Worten. Ist dies nicht möglich, sollten sie dabei Hilfe und Anleitung bekommen. In der nächsten Trainingsphase kommt es zum konkreten Einüben. Es hat sich als günstig erwiesen, wenn das Training einerseits vor Publikum stattfindet, aber andererseits die Zahl der Beobachter nicht mehr als zwei Personen umfasst. Das Übungsverhalten sollte aufgezeichnet und die Rückmeldungen anhand des Videoprotokolls gegeben werden. Für die Übungen ist es wichtig, eine positive, angstfreie Atmosphäre zu schaffen und Fortschritte durch Lob und Anerkennung zu verstärken. Zum Spannungsabbau können beispielsweise regelmäßige Entspannungsübungen eingesetzt werden. Es kommt außerdem darauf an, eine möglichst hohe Selbstwirksamkeitserwartung – d. h. Selbstvertrauen – bei den Teilnehmern aufzubauen, dass sie die Zielverhaltensweisen auch in der Praxis anwenden können. Deswegen sollte so lange geübt werden, bis die Teilnehmer das Zielverhalten sicher beherrschen. Hierzu hat es sich als günstig erwiesen, die Zielverhaltensweisen nicht sofort in ihrer Gesamtheit, sondern einzeln einzuüben. In einem Gruppengespräch sollte dann herausgearbeitet werden, wie die neuen Verhaltensweisen von den Teilnehmern der Personalentwicklungsmaßnahme in ihrem beruflichen Handlungsfeld umgesetzt werden können. Ein Transfer ist dann umso wahrscheinlicher, wenn die neuen Verhaltensweisen auch im beruflichen Handlungsfeld der Trainingsteilnehmer verstärkt werden. Dies verweist auf die Notwendigkeit, Personalund Organisationsentwicklung miteinander zu verknüpfen. Überblicksarbeiten und Metaanalysen (Burke & Day, 1986; Taylor, Russ-Eft & Chan, 2005) belegen die hohe Wirksamkeit des Behavior Modeling sowohl in Bezug auf die Trainings- als auch in Bezug auf die Transfereffekte.
307 19.5 · Maßnahmen
Simulationsorientierte Verfahren Simulationsorientierte Verfahren bieten die Möglichkeit, in einem künstlichen Erfahrungsraum ohne Zeitdruck und mit geringem Risiko neue Verhaltensweisen zu erproben und die Konsequenzen von Handlungsstrategien kennenzulernen. Je höher die augenscheinliche Realitätsnähe der Simulation ist, desto motivierender wirken die Verfahren auf die Teilnehmer. Bei den simulationsorientierten Verfahren lassen sich Rollen- und Planspiele unterscheiden. Mit Rollenspielen können viele Situationen aus dem Berufsleben sowie der Zusammenarbeit in Organisationen simuliert werden, z. B. Mitarbeitergespräche, Besprechungssituationen oder Verhandlungen. Für den Lerneffekt ist es besonders wichtig, dass die einzelnen Spielsituationen mit Video aufgezeichnet werden und dass das Feedback gestützt auf die Videoaufzeichnungen gegeben wird. Rollenspiele erlauben folgende Lerneffekte (Holling & Liepmann, 2004): 4 Durch die Übernahme fremder Rollen erhöht sich die Fähigkeit, andere Positionen und Beteiligte kognitiv und emotional besser zu verstehen. 4 Allein die Beobachtung des eigenen Verhaltens auf Video kann schon zu einer Verhaltensänderung führen. 4 Die Beobachtung des Verhaltens der anderen Trainingsteilnehmer in den Rollenspielen kann das Verhaltensrepertoire jedes einzelnen Teilnehmers vergrößern. 4 Durch ein konstruktives, videogestütztes Feedback wird die Veränderung alter Verhaltensweisen und die Stabilisierung neuer Verhaltensweisen unterstützt. Durch die Möglichkeiten der Informations- und Kommunikationstechnologien gibt es inzwischen Planspiele der unterschiedlichsten Komplexitätsniveaus (Geilhardt & Mühlbradt, 1995; Steinborn & Müller, 1999; Strauß & Kleinmann, 1995). Man kann mit ihnen mühelos Märkte, Branchen, Unternehmen oder einzelne Organisationsbereiche simulieren. Das traditionelle Planspiel ist allerdings ohne Computer ausgekommen (Kaplan, Lombardo & Mazique, 1985). In dem Planspiel »Looking Glass« (McCall & Lombardo, 1982) wurden die Teilnehmer nach einer Einführung in die Planspieltechnik im Allgemeinen, in die Zielsetzung des speziellen Planspiels sowie in seine Regeln und den konkreten Ablauf verschiedenen Ma-
nagementpositionen in einer fiktiven Organisation zugeteilt. Sie sollten dann dieses Unternehmen einen Tag lang (die Spielzeit beträgt 6 Stunden) in Rollenspielen führen und wurden dabei beobachtet. Anschließend erhielten die Teilnehmer ausführliche Rückmeldungen über ihr Verhalten. In der zweiten Spielphase sollten die Teilnehmer dann diese Rückmeldungen umsetzen. Kaplan et al. (1985) berichten positive Effekte in Bezug auf die Verbesserung des Führungsverhaltens sowie die Verbesserung der Kooperation im Team. Allerdings war ihre Stichprobe relativ klein. Hinsichtlich der tatsächlichen Verbesserung des Führungsverhaltens im Allgemeinen aufgrund solcher Planspielsimulationen kommen die Experten allerdings zu eher zurückhaltenden Einschätzungen (Fechner, 2000; Fiedler, 1996). Bei mehrfacher Wiederholung solcher Planspiele lassen sich jedoch positive Lerneffekte in Bezug auf das strategische Managementwissen (Keys & Wolf, 1990) nachweisen. Ein Problem beim Einsatz komplexer Planspiele ist, dass sie schon umfangreiches Sachwissen über den jeweiligen Gegenstandsbereich voraussetzen. Außerdem lassen sich die Konsequenzen von Verhaltensweisen und Entscheidungen für die Teilnehmer nicht immer eindeutig übersehen, was Lerneffekte für sie erschwert. Hsu (1989) hat daher vorgeschlagen, traditionelle Lernformen – nämlich Vorträge und individuelles Selbststudium – für die Vermittlung und Verarbeitung von Strategie- und Managementwissen einzusetzen. Zur Anwendung und Stabilisierung des Wissens sollten dagegen Planspiele zum Einsatz kommen, wobei er den Rückmeldungen eine besonders wichtige Rolle zuschreibt. Eng verwandt mit simulationsorientierten Verfahren ist die sog. Fallstudienmethode (s. Holling & Liepmann, 2004). Sie wurde an der Harvard Business School entwickelt. Die Trainingsteilnehmer erhalten zunächst eine detaillierte Beschreibung eines realen Beratungsfalles einer Organisation. Die Teilnehmer sollen sich vorstellen, es handele sich dabei um eine Organisation, die von ihnen beraten werden soll. Jeder Teilnehmer soll zunächst individuell den Fall bearbeiten und eine Erklärung dafür finden, wie es kam, dass die Organisation sich mit einem entsprechenden Problem konfrontiert sieht. Außerdem soll jeder Schulungsteilnehmer Lösungsvorschläge entwickeln. Im nächsten Schritt diskutieren die Teilnehmer ihren Fall in Kleingruppen und erarbeiten einen gemeinsamen Lösungsvorschlag. Unter der Leitung eines Experten werden die Vorschläge aller Kleingruppen dann in der Gesamtgruppe diskutiert. Erlernt
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Kapitel 19 · Personalentwicklung
werden soll durch diese Vorgehensweise die Kompetenz zur Problemanalyse, Problemsynthese und Entscheidungsfindung in einem bestimmten Gegenstandsgebiet. Dies geschieht durch die Aktivierung des eigenen Vorwissens, durch das Kennenlernen der Vorgehensweise der anderen Übungsteilnehmer, durch die Diskussion über die verschiedenen Analyse- und Lösungsvorschläge sowie die Rückmeldung durch die Experten. Zusammenfassende Wirksamkeitsstudien für diese Methode stehen allerdings noch aus. Fallstudien werden auch häufig im Rahmen von Postkorbübungen bei Assessment-Centern eingesetzt. Der Fokus ist dabei allerdings personaldiagnostischer Natur (Musch, Rahn & Lieberei, 2001). Einen Überblick über weitere verhaltensorientierte Trainingsmaßnahmen im Personalbereich z. B. zur Konfliktbeilegung, zur Steigerung der Kundenorientierung oder zur Verbesserung der interkulturellen Kompetenz geben Demmerle, Schmidt und Hess (2005). 19.5.3
Kommunikationszentrierte Maßnahmen
Wie die Beobachtung des Verhaltens von Führungskräften ergab (Neuberger, 2002), verbringen diese ca. 70% ihrer Arbeitszeit mit verbaler Kommunikation. Deswegen gehört die Schulung der Kommunikationsfähigkeit (Rhetorik, Präsentationstechniken, Moderationstechniken, Unterweisungen, Gesprächsführung, motivierende Mitarbeiteransprache etc.) zu den Standardmaßnahmen der Personalentwicklung (von Rosenstiel, 2000).
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Stärkung der Präsentationskompetenz In Präsentationstrainings sollen die Teilnehmer lernen, Wissen kompetent, selbstsicher, prägnant und der Zielgruppe angemessen darzustellen sowie dabei sich selbst und die eigene Organisation attraktiv und positiv erscheinen zu lassen. Präsentationen umfassen in der Regel einen Vortrag und eine sich anschließende Frageund Diskussionsrunde. Präsentationstrainings beinhalten häufig die folgenden vier Bausteine: 4 Wissensvermittlung in Bezug auf die Vorbereitung, den rhetorischen Aufbau, die Verwendung von Humor und Witz bei der Durchführung sowie die Rahmung durch die Verknüpfung von Einleitung und Abschluss,
4 Kennenlernen und Einüben der Visulisierungsmöglichkeiten unterschiedlicher Medien (Beamer-Folien, Flipcharts oder Pinwand), 4 Optimierung des persönlichen Auftretens z. B. in Bezug auf Aussprache, Gestik, Mimik, eine entspannte Körperhaltung, Blickkontakt mit dem Publikum, die Modulation der Stimme, Vermeidung von Füllseln (»ähs, öhs, ams«) oder den Einsatz von Pausen durch Verhaltensmodellierung und 4 Einübung der Bewältigung von schwierigen Situationen (z. B. Lampenfieber, kritische Fragen aus dem Publikum oder unvorhergesehene Störungen). Solche Trainings sind dann als erfolgreich zu beurteilen, wenn die Teilnehmer danach die Erfolgsfaktoren einer Präsentation kennen, wenn sie schließlich über die Verhaltenskompetenzen verfügen, zielgruppensspezifisch vorzutragen und auf Publikumsreaktionen souverän einzugehen, und wenn sie ferner ein positives Vertrauen in ihre Fähigkeit entwickeln, erfolgreich präsentieren zu können (Steigerung der Selbstwirksamkeitserwartung). Stärkung der Moderationskompetenz Das Ziel von Moderationsverfahren (Seifert, 2004) besteht darin, ein Arbeitsgruppentreffen so zu steuern, dass die Arbeitsgruppe erfolgreich ist. Die Person mit der Moderatorenfunktion soll sich inhaltlich aus dem Arbeits- und Problemlöseprozess heraushalten, aber aufgrund des Einsatzes von Gruppenarbeitsmethoden und ihrem Wissen über gruppendynamische Prozesse die Gruppe zum Ziel führen. Arbeitsgruppentreffen dieser Art können sehr unterschiedlich sein. Sie können z. B. im Rahmen von Qualitätszirkeln, Projektgruppen, Workshops oder Abstimmungstreffen mit Kunden stattfinden. Moderationstrainings sollen die Kompetenz vermitteln, Arbeitsgruppentreffen erfolgreich zu strukturieren. Dabei erfahren die Trainingsteilnehmer zunächst die Unterschiede zwischen der Leitung und der Moderation einer Arbeitsgruppensitzung. Dann wird die Rolle des Moderators verdeutlicht: Er soll sich in der Sache neutral und gegenüber den Teilnehmern wertschätzend und an ihren jeweiligen Stärken orientiert verhalten. Dies wird auch als Haltung der Allparteilichkeit bezeichnet. Im nächsten Schritt werden die Trainingsteilnehmer mit den Gruppenarbeitsmethoden zum Sammeln, Bewerten und Auswählen von Problemen und Lösungsvorschlägen vertraut gemacht. Sie probieren dann deren Handhabung in Rollenspielen anhand konkreter Probleme
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aus dem eigenen Arbeitsbereich in kleinen Übungsgruppen aus. Im folgenden Schritt werden die Schulungsteilnehmer für die gruppendynamischen Prozesse und ihre Strukturen sensibilisiert (z. B. Teamentwicklung, Rollenbildung, Gruppenklima). Schließlich werden die Teilnehmer auf schwierige Situationen in der Gruppe und bei der Moderation von Gruppen vorbereitet (z. B. persönliche Konflikte zwischen Gruppenteilnehmern oder dominierendes Verhalten einzelner Gruppenmitglieder). Zum Abschluss wird der konkrete Einsatz im jeweiligen Arbeitskontext der einzelnen Schulungsteilnehmer vorbereitet. Dabei spielt auch die Stärkung der Überzeugung, erfolgreich moderieren zu können, eine wichtige Rolle. Eine experimentelle Studie von Lecher und Witte (2003) zeigte, dass moderierte Gruppen unmoderierten Gruppen beim komplexen Problemlösen deutlich überlegen waren. Die im Labor getesteten Moderationsmethoden wurden anschließend in einem mittelständischen Unternehmen der IT-Branche sowie der chemischen Industrie erfolgreich eingesetzt. Stärkung der Unterweisungskompetenz In der Praxis ist die sog. Vier-Stufen-Methode zur Unterweisung von Mitarbeitern (REFA, 1987) weit verbreitet. Arbeitsunterweisungen sollen demnach in 4 Phasen ablaufen, nämlich 1. Vorbereitung der lernenden Person, 2. Vorführung durch die unterweisende Person, 3. Einübung der Ausführung durch die lernende Person und 4. Abschluss der Unterweisung durch die unterweisende Person. Wie notwendig Kommunikationstrainings sind, zeigt eine Studie von Semmer, Barr und Steding (2000) zur Qualität von mündlichen Unterweisungen in der gewerblichen Berufsausbildung. Nach der Handlungsregulationstheorie (Hacker, 1998) sollten gute Unterweisungen (7 Übersicht) darauf abzielen, bei den Lernenden ein Verständnis für die allgemeinen Prinzipien, die hinter der zu erlernenden Tätigkeit stehen, zu erwerben. Unterweisungen sollten also den Aufbau eines mentalen Modells des zu erlernenden Arbeitsablaufes bei den Auszubildenden begünstigen. Dazu ist eine klare Gliederung des Vorgehens anstelle eines reinen Aufzählens ohne roten Faden erforderlich. Eine gute Unterweisung sollte versuchen, das Vorwissen der Lernenden zu aktivieren. Begriffe und Regeln sollten ausdrücklich als solche eingeführt werden.
Wichtig ist auch die Illustration an Beispielen und das Hindeuten auf relevante Gegenstände sowie die Benutzung von Modellwerkstücken oder Skizzen. Dies dient dazu, das Lernmaterial auf möglichst vielfältige Weise zu kodieren (semantisch, bildhaft, akustisch, haptisch etc.). Wiederholungen sollten als Zwischenbilanzen eingesetzt werden. Ganz wichtig sind die Möglichkeit zum Üben und zur praktischen Umsetzung durch die Lernenden sowie Rückmeldungen seitens der Meister an die Auszubildenden. Diese Rückmeldungen sollten auch Hinweise auf Fehlermöglichkeiten und sich daran anschließende Fehlerbewältigungsstrategien beinhalten. Wichtig ist, dass der Lernende dazu angeleitet wird, sich aus seinem Arbeitshandeln selbst Rückmeldungen abzuleiten. Semmer und Kollegen stellten in ihrer Evaluationsstudie zu Unterweisungen durch Meister fest, dass es sehr selten zu Zusammenfassungen und Wiederholungen kommt. Damit wird ein wichtiges Strukturierungsmittel nicht genutzt. Die Erklärungen der Ausbilder sind häufig unklar und eher verwirrend als erhellend. Es kommt hinzu, dass den Auszubildenden oft die Arbeit beim Üben einfach aus der Hand genommen und vom Meister zu Ende gebracht wird, ohne dass dieser dazu eine Erklärung abgibt, die den Auszubildenden helfen würde zu verstehen, was sie bisher noch nicht richtig gemacht haben.
Was macht gute mündliche Unterweisungen aus (Semmer et al., 2000)? 4 Anknüpfung an und Einordnung in vorhandene Kenntnisse beim Lernenden 4 Neue Konzepte werden von den Unterweisenden als Begriffe oder Regeln explizit formuliert 4 Verdeutlichung der neuen Konzepte an Beispielen 4 Die Unterweisung hat eine klar erkennbare Gliederung (roter Faden) 4 Verwendung von Gebrauchsobjekten, Modellen, Werkstücken, Abbildungen und Skizzen zum Anschauen, Befühlen, Hantieren etc. 4 Wiederholungen als Zusammenfassungen und Strukturierungen 4 Einsatz von Aufgaben zum Ausprobieren und Üben 4 Rückmeldungen zum Übungsfortschritt 4 Hinweise auf Fehler und Möglichkeiten ihrer Vermeidung 4 Erläuterung von Fehlerbewältigungsstrategien
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Kapitel 19 · Personalentwicklung
Merkmale unlauteren Argumentierens (Blickle, 1994) 4 Absichtliche Stringenzverletzungen, z. B. unzulässige Verallgemeinerungen, Umkehrschlüsse, Leerformeln 4 Begründungsverweigerung, z. B. bloße Autoritätsverweise, reine Gefühlsappelle, schlichte Behauptungswiederholungen 4 Wahrheitsvorspiegelungen, z. B. Vorbringen von Halbwahrheiten oder Gerüchten, Bestreiten von Tatsachen 4 Verantwortlichkeitsverschiebung, z. B. Sündenböcke benennen, eigene Zuständigkeiten verleugnen 4 Konsistenzvorspiegelung, z. B. so tun als ob Reden und Handeln in Übereinstimmung seien, ad hoc Ausnahmeregeln aufstellen
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Stärkung der Gesprächsführungskompetenz Das Gespräch zwischen Führungskraft und Mitarbeiter kann unterschiedliche Funktionen erfüllen (Fiege, Muck & Schuler, 2006). Es kann dem Austausch von Sachinformationen, der Klärung und Entwicklung der persönlichen Beziehung, der Leistungsrückmeldung und Zielvereinbarung sowie der Förderung und Entwicklung der Mitarbeiter dienen. Dem Vorgesetzten stehen dabei eine Reihe von Möglichkeiten der Gesprächssteuerung zur Verfügung, nämlich die Vorgabe eines Gesprächszieles sowie der Gesprächsdauer, die Zuweisung von Gesprächsanteilen, das Stellen von Fragen, Aufforderungen zu Erläuterungen und Stellungnahmen, das Klären von Ergebnissen durch Erfragen der Zustimmung, die Zusammenfassung von Ergebnissen sowie das Setzen des Gesprächsabschlusses. Im Training sollen automatisierte Kommunikationsmuster wieder bewusst und dadurch veränderbar gemacht sowie neue Verhaltensweisen aufgebaut und eingeübt werden. Ein wichtiges Ziel von Gesprächsführungstrainings ist der Aufbau eines Verhaltensrepertoires, auf das situationsspezifisch zurückgegriffen werden kann, z. B. Fragetechniken, Ich-Botschaften, aktives Zuhören, Verstärken, Zusammenfassen oder die Abwehr rhetorischer Tricks, z. B. von Killerphrasen oder Doppelbotschaften (7 Übersicht; Mischo, Groeben, Christmann & Flender, 2002). Außerdem fördert die Beachtung bestimmter Verhaltensmaximen der Kommunikation (7 Kasten »Die
4 Sinnentstellung, z. B. Übertreiben, Pauschalurteile, Ausweichen ins Allgemeine 4 Unerfüllbarkeit, z. B. sich wechselseitig ausschließende Forderungen gleichzeitig stellen 4 Diskreditierung, z. B. Lächerlichmachen, Psychologisieren 4 Feindlichkeit, z. B. Beleidigungen, Provokationen, ungehörige Fragen 4 Beteiligungsverhinderung, z. B. Killerphrasen, Vernebelung, Tabuisierung 4 Abbruch, z. B. Dringenderes vorschieben, Ablenken
zehn Gebote der Kooperation«) den Aufbau vertrauensvoller Beziehungen in Organisationen (Butler, 1991). Insgesamt ist jedoch festzuhalten, dass die Wirkungen von Trainingsmaßnahmen zum Mitarbeitergespräch im organisationalen Kontext weitgehend unerforscht sind (Kaschube & von Rosenstiel, 2004).
Die zehn Gebote der Kooperation in Organisationen (Blickle, 2003) 1. 2. 3. 4. 5. 6. 7. 8. 9. 10.
Verhalte Dich kalkulierbar! Suche den Kontakt zu anderen! Halte Deine Zusagen ein! Verhalte Dich loyal zu Deinen Untergebenen, Kollegen und Vorgesetzten! Sei ehrlich! Sei diskret und behalte vertrauliche Informationen für Dich! Habe ein offenes Ohr für die Anliegen anderer! Stehe zu Deiner Verantwortung! Mache Dich in Deinen Aufgaben sachkundig! Lasse unterschiedliche Meinungen und Standpunkte gelten!
Stärkung der Kompetenz zu inspirierender Kommunikation Personale Führung ist Führung durch Interaktion und Kommunikation. Deswegen spielt das Training der
311 19.5 · Maßnahmen
Kommunikationskompetenz im Rahmen von Führungstrainings häufig eine wichtige Rolle. Kaschube und von Rosenstiel (2004) geben einen Überblick über traditionelle Führungstrainings und ihre empirische Bewährung. Eine besondere Bedeutung hat die Kommunikationskompetenz der Führungskraft jedoch gerade für einen Führungsansatz, der in jüngster Zeit sowohl in der Praxis als auch in der Forschung eine zunehmend wichtige Rolle spielt, nämlich die sog. charismatische und transformationale Führung (7 Kap. 7; Judge, Fluegge Woolf, Hurst & Livingston, 2006). Interessant ist dabei insbesondere, dass auch die Kompetenz einer Führungskraft, Visionen an Mitarbeiter so zu kommunizieren, dass sie auf diese eine inspirierende Wirkung haben, keine göttliche Gnadengabe darstellt (das griechische Wort Charisma bedeutet nämlich übersetzt »göttliche Gnadengabe«), sondern durch gezielte Trainingsmaßnahmen entwickelt und verbessert werden kann. Dies haben Frese, Beimel und Schoenborn (2003) mit einem handlungstheoretischen Trainingsansatz nachgewiesen. Grundlegend für die handlungstheoretische Vorgehensweise ist die Zielsetzung, durch das Training bei den Lernenden ein mentales Modell der auszuführenden Handlung aufzubauen. Dieses Modell beinhaltet drei Hauptkomponenten: 1. ein Konzept der typischen Ausgangslage, für die eine bestimmte Handlung eingesetzt werden soll, 2. ein Konzept des typischen Zielzustandes, der durch die Handlung herbeigeführt werden soll, und 3. Veränderungswissen darüber, wie durch die Handlung die Ausgangs- in die Zielsituation überführt werden kann. Der Ausgangspunkt für Visionen sind organisationale Veränderungsprozesse. Ziel des Einsatzes von Visionen in organisationalen Veränderungsprozesses ist es, ein positives und anschauliches Bild des zukünftigen Zustandes der Organisation zu erzeugen, mit dem sich die Betroffenen in hohem Maße identifizieren können, weil es ihren eigenen Wertvorstellungen in starkem Maß entspricht. Um die Identifikationsprozesse zu erleichtern, muss dieses anschauliche Bild aber zugleich eine gewisse Unbestimmtheit aufweisen. Visionen sollen eine Denkumkehr – einen Aha-Effekt – bewirken, bei dem zwei scheinbar unvereinbare Bezugssysteme (alt und neu) kurzgeschlossen werden. Im Gegensatz zum Behavior Modeling sollen die Trainingsteilnehmer nicht konkrete Verhaltensregeln
erlernen, sondern Handlungsstrategien auf einem mittleren Allgemeinheitsniveau. Eine solche Handlungsregel ist z. B.: »Verwende Metaphern, um Deine Vision zu verdeutlichen.« Wenn es etwa darum geht, die Vision einer durchlässigeren Organisation zu kommunizieren, wäre das Zeltdorf eine gute Metapher für die neue Organisationsstruktur: Die Forderung, Organisationen als Zeltdörfer zu errichten, löst Assoziationen aus, die bislang noch nicht mit der Organisation verbunden waren: Zelte kann man relativ leicht auf- und abbauen, man kann sich in Zelten schlecht von anderen abschotten, man ist kaum von der Umwelt abgeschirmt usw. Dem Einüben und selbstständigen Erproben der neuen Handlungsstrategien wird eine hohe Bedeutung zugemessen. Dadurch sollen die Trainingsteilnehmer lernen, unter welchen Bedingungen sie eine bestimmte Handlungsstrategie auf welche Weise realisieren können. Dem Fehlermachen und dem durch Rückmeldungen auf Fehler Aufmerksam-gemacht-Werden werden dabei zentrale motivationale und lernanregende Rollen zu geschrieben. Denn erst an ihren Fehlern erkennen die Lernenden konkret, was sie noch besser machen müssen, und ihre Misserfolge stellen einen starken Anreiz dar, sich zu verbessern. Diese gezielte Herbeiführung von Frustrationen ist ein weiterer Punkt, an dem sich der handlungstheoretische Ansatz vom Behavior Modeling unterscheidet. Die Rückmeldungen sollen dabei aber immer den Zusammenhang von Handlung und Handlungserfolg verdeutlichen, wie z. B.: »Sie tragen Ihre Vision stimmlich zu gleichförmig vor. Wenn Sie die Sprechgeschwindigkeit variieren, vermitteln Sie Emotionen und können hervorheben, was Ihnen besonders wichtig ist.« Eine zentrale Aufgabe des Trainings besteht außerdem darin, das mentale Modell der neuen Handlung bei den Teilnehmern so zu verankern, dass sie sich im Laufe der Zeit selbst Rückmeldungen geben können und somit in die Lage versetzt werden, auch ohne externe Anleitung sich selbstständig weiter zu verbessern und zu optimieren. Vor und nach dem Training sollten die Studienteilnehmer (Fach- und Führungkräfte aus der Bau- und ITBranche) in einem Vortrag eine Vision für ihren Arbeitsbereich präsentieren (vgl. Frese et al., 2003). Diese Präsentationen wurden mit Video aufgezeichnet und später von Experten beurteilt. Anstelle einer Kontrollgruppe wurden zwei unterschiedliche Arten von abhängigen Variablen verwendet. Solche, die Gegenstand des Trainings waren (inspirierende Kommunikation) und solche, die nicht trainiert wurden, aber große Ähnlichkeit mit den Ziel-
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Kapitel 19 · Personalentwicklung
variablen aufweisen (Rhetorik und Präsentation im Allgemeinen). Das Training sollte dann effektiv sein, wenn sich die beiden Variablengruppen in unterschiedlicher Weise verändern. Die Gruppe derjenigen abhängigen Variablen, in Bezug auf die das Training stattfand, sollten sich signifikant stärker in positive Richtung verändern als die abhängigen Variablen der anderen Gruppe. Nach Cook und Campbell (1979) handelt es sich dabei um ein Design mit nicht äquivalenten abhängigen Variablen. Neben dem Einsatz von Metaphern haben Frese et al. (2003) mit den Trainingsteilnehmern die Gestensprache, die Variation des Sprechtempos, die gezielte Veränderung der Lautstärke, den Blickkontakt mit den Adressaten, den Einsatz von Wiederholungen, den Appell an geteilte Werte, das Stimulieren von Emotionen, das Herstellen eines Wir-Gefühls, die Stärkung der Wirksamkeitserwartungen sowie die Verdeutlichung der Relevanz der jeweiligen Vision eingeübt. Zur Wirksamkeitskontrolle der Trainings verwendeten sie den Vergleich mit rhetorischen Mitteln, die im Training nicht speziell thematisiert worden waren, also z. B. die Vermeidung von Füllseln, die deutliche Aussprache, den bewussten Einsatz von Pausen, die Verwendung kurzer und einfacher Sätze, die Nutzung von rhetorischen Fragen als Stilmittel sowie die Verknüpfung von Einleitung und Schluss einer Präsentation. Es zeigte sich eine durchschnittliche Effektstärke von d=1,04. Effektstärken von d=.80 werden als groß bezeichnet und entsprechen einer Korrelation von r=.50 (Bortz & Döring, 1995). 19.5.4
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Selbstmanagementorientierte Maßnahmen
Unter Selbstmanagement versteht man die zielgerichtete Beeinflussung des eigenen Verhaltens (König & Kleinmann, 2006). Durch Selbstmanagementtrainings sollen Personen dazu befähigt werden, für sich zielführende Handlungsweisen zu identifizieren sowie deren Ausführung zu praktizieren und zu stabilisieren. Selbstmanagementverfahren stammen ursprünglich aus der klinischen Psychologie (Kanfer, Reinecker & Schmelzer, 1996). Sie werden jedoch zunehmend mehr auch im Personalbereich eingesetzt. Gegenstand von Selbstmanagementtrainings in der Personalentwicklung kann z. B. die Reduktion von persönlichen Fehlzeiten, die Steigerung der individuellen Verkaufszahlen bei Außendienstmitarbeitern oder die Verbesserung des individuellen Zeitmanagements sein.
. Abb. 19.5. Schematischer Ablauf eines kognitiv-behavioralen Selbstmanagementtrainings
Solche Trainings können je nach Problemart als Blockseminare (etwa über 2 volle Tage) oder in aufeinander folgenden, wöchentlich stattfindenden Sitzungen abgehalten werden. Aufbauend auf der Selbstregulationstheorie von Kanfer (1970), der sozialkognitiven Lerntheorie von Bandura (1986) sowie der Zielsetzungstheorie von Locke und Latham (2002) enthalten psychologisch konzipierte Selbstmanagementtrainings die in . Abb. 19.5 dargestellten Schritte (Frayne & Geringer, 2000). Zunächst geht es darum, günstige Ausgangsbedingungen zu schaffen und die Änderungsmotivation der Teilnehmer zu stärken. Dem folgt eine systematische Zusammenstellung der Verhaltensweisen und ihrer Bedingungen, für die sich die Teilnehmer eine Veränderung wünschen. Typische Zeitmanagementprobleme (König & Kleinmann, 2004) 4 4 4 4 4 4 4 6
Aufschieben Zu wenig Planung Unfähigkeit, Nein zu sagen Ablenkungen und Unterbrechungen Zu wenig Delegation Schlechte Ordnung am Arbeitsplatz Zu wenig Pausen
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Unklare Ziele und Prioritäten Unklarheiten über die Zeitverwendung Unterschätzung der Aufgabendauer Mangelnde Berücksichtigung von Leistungsschwankungen über den Tag 4 Vergessen von Vorhaben 4 Gleichzeitige Wahrnehmung verschiedener Aufgaben (Multitasking)
Die problematischen Verhaltensweisen sollten dabei möglichst konkret beschrieben werden. Die Teilnehmer lernen, ein Tagebuch zu führen, in dem sie die Orte und Zeitpunkte eintragen, in denen die problematischen Verhaltensweisen auftreten. Sie versuchen außerdem, die auslösenden inneren und äußeren Bedingungen dafür sowie die Konsequenzen des Verhaltens zu identifizieren. Im Anschluss an die Identifizierung des Problems werden die Teilnehmer dazu angeregt, sich kurz-, mittelund langfristige Ziele zu setzen und entsprechende Maßnahmen zu deren Erreichung zu planen. Die Ziele sollen spezifisch, verhaltensbezogen und realistisch sein. Dabei sollen die kurzfristigen Ziele möglichst bald erreichbar sein. In der Folgezeit sollen sie ihre zielbezogenen Verhaltensweisen beobachten, um festzustellen, ob sie sich in Übereinstimmung mit den gesetzten Zielen befinden. Die Teilnehmer lernen dann, sich für das Erreichen von Zielen und Teilzielen zu belohnen. Falls ein Ziel verfehlt wird, sollen sie lernen, entweder die auslösenden Bedingungen des Fehlverhaltens zu verändern, damit das unerwünschte Verhalten in Zukunft nicht mehr auftritt, oder sich für das unerwünschte Verhalten selbst bestrafen (z. B. Verzicht auf einen Kinobesuch). Diese Anwendung von lerntheoretischen Prinzipien stellt ein wichtiges Element bei der Verhaltensänderung dar. Zur weiteren zeitlichen Stabilisierung des Verhaltens werden die Teilnehmer außerdem dazu angeregt, einen Vertrag mit sich selbst in Anwesenheit einer subjektiv bedeutsamen anderen Person abzuschließen. Dieser Vertrag konkretisiert die mittel- und langfristigen Ziele und legt die Konsequenzen für deren Erreichen (Belohnungen) und Verfehlen (Bestrafungen) fest. Diese Verträge werden schriftlich abgefasst und stellen ein wichtiges Instrument der Transfersicherung des Trainings dar. Um Rückfälle in alte dysfunktionale Verhaltensweisen zu vermeiden, werden die Teilnehmer gezielt für diese Problematik sensibilisiert und angeleitet, Risikositua-
tionen zu identifizieren. Die Teilnehmer lernen dann, diese Risikosituationen frühzeitig zu erkennen, um geeignete Sicherungsmaßnahmen (wie z. B. Situationsvermeidung) einleiten zu können. Außerdem lernen die Teilnehmer allgemeine Probleme und Fallstricke bei der Anwendung von Selbstmanagementtechniken kennen. Sie sollen z. B. lernen, auch dann noch selbstbewusst zu bleiben, wenn sich ein Rückfall ereignet. Neben der Rückfallprävention ist auch das Üben von Verhaltensweisen eine wichtige Transfertechnik, denn das Üben gibt Sicherheit und stärkt die Selbstwirksamkeitserwartung. Frayne und Geringer (2000) haben mit Versicherungsvertretern ein Selbstmanagementtraining durchgeführt. Fünfzehn Personen wurden per Zufall der Trainingsgruppe und 15 Personen der Kontrollgruppe zugewiesen. Vor dem Training und 6 Monate sowie 12 Monate nach dem Training wurden die Vorgesetztenbeurteilungen der Studienteilnehmer sowie deren Verkaufsumsätze erfasst (. Tab. 19.1). Vor dem Training bestanden keine bedeutsamen Unterschiede zwischen den beiden Gruppen. Nach dem Training waren sowohl die Leistungsbeurteilungen als auch die Umsatzzahlen in der trainierten Gruppe deutlich höher als in der Kontrollgruppe. In Bezug auf die Leistungsbeurteilungen klärte die Gruppenzugehörigkeit 16% und die Interaktion von Gruppenzugehörigkeit und Messzeitpunkt 28% der Varianz auf. Hinsichtlich der Verkaufsumsätze konnte durch die Gruppenzugehörigkeit 28% der Varianz und durch die Interaktion von Gruppenzugehörigkeit und Messzeitpunkt 6% der Varianz aufgeklärt werden. Diese Hauptund Interaktionseffekte waren alle signifikant. Das zeigt, . Tab. 19.1. Leistungssteigerung durch ein Selbstmanagementtraining bei Verkaufsmitarbeitern. (Frayne & Geringer, 2000) Vorher
Nach 6 Monaten
Nach 12 Monaten
Leistungsbeurteilunga Trainingsgruppe
125.9
145.3
178.6
Kontrollgruppe
132.4
135.0
135.2
Trainingsgruppe
3.9
5.9
6.6
Kontrollgruppe
3.2
3.4
2.3
Verkaufsumsätzeb
a b
Durchschnittswerte in Leistungspunkten Durchschnittswerte in 1000 Dollar im Bezugszeitraum
© American Psychological Association 2000
4 4 4 4
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Kapitel 19 · Personalentwicklung
dass durch das Selbstmanagementtraining nicht nur signifikante Effekte, sondern auch in der Praxis deutlich erkennbare positive Veränderungen bewirkt werden. Klein, König und Kleinmann (2003) haben ein Selbstmanagementtraining, das von Praktikern ohne psychologische Fundierung konzipiert worden war (Seiwert, 1997), aber in der Praxis positiven Anklang gefunden hatte, mit einem psychologisch fundierten Training auf der Basis des Selbstregulationsansatzes in einer Trainingsstudie verglichen. Die Trainees waren 82 Arbeitslose und 24 Dozenten in Weiterbildungseinrichtungen. Sowohl in Bezug auf die Bewertung des Trainings als auch in Bezug auf die Selbstmanagementfertigkeiten, den Zielerreichungsgrad und den Trainingstransfer nach 3 Monaten war das psychologisch konzipierte Training dem psychologisch unfundierten Training überlegen, während sich in dem in der Praxis und für die Praxis konzipierten Training keine Effekte zeigten. Dies unterstreicht, dass typische, praxisübliche Trainings oft nicht funktionieren, auch wenn sie eine hohe Augenscheinvalidität haben und auf hohe Akzeptanz treffen. 19.5.5
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Zuweisung von entwicklungsförderlichen Aufgaben
Viele Handlungen kann man weder durch Vorträge oder Instruktionen anderer noch aus Lehrbüchern lernen, sondern nur durch Beobachten und das eigene praktische Tun. Durch einen Vortrag beispielsweise über das Fahrradfahren lernt man dieses nicht, sondern nur durch Zuschauen und selbstständiges Ausprobieren. Die Kompetenz, die man durch ein solches Ausprobieren erwirbt, bezeichnet man als praktisches Know-how oder auch als »tacit knowledge«, d. h. als stillschweigendes oder implizites Wissen (Polanyi, 1985; Wagner & Sternberg, 1986). Durch die Übertragung von sog. entwicklungsförderlichen Aufgaben an Führungsnachwuchskräfte, die in deren Arbeitsalltag integriert sind, sollen diese folgende Kompetenzen informell erwerben (McCall, Lombardo & Morrison, 1988): 4 Kompetenz zum Aufbau und zur Umsetzung einer Agenda: Unter einer Agenda versteht man eine lose Verknüpfung von persönlichen Zielen und sachlichen Plänen aus unterschiedlichen Inhaltsbereichen mit unterschiedlichen Zeithorizonten. Nachwuchsführungskräfte sollen lernen, eine eigene Agenda zu entwickeln und umzusetzen.
4 Kompetenz zur effektiven und effizienten Gestaltung von Beziehungen: Nachwuchskräfte sollen lernen, mit und durch andere Personen die eigenen Aufgaben zu bewältigen. 4 Aneignung von grundlegenden Werten und Arbeitshaltungen der jeweiligen Managementumgebung: Die Nachwuchskräfte sollen die zentralen Werte und Arbeitshaltungen ihrer jeweiligen Managementumgebung übernehmen (7 Kasten »Beispiele für Arbeitshaltungen von Intrapreneuren«) 4 Einsichten zur eigenen Person. Die Nachwuchskräfte sollen ein Gefühl für ihre wirklichen Stärken und Schwächen sowie für ihre echten Präferenzen und Abneigungen entwickeln.
Beispiele für Arbeitshaltungen von Intrapreneuren (Neuberger & Kompa, 1987) 4 Suche Mitarbeiter, die Dich unterstützen! 4 Folge Deiner Intuition, welche Leute Du aussuchst! 4 Arbeite im Untergrund so lange Du irgendwie kannst – Publicity löst den Immunmechanismus eines Unternehmens aus! 4 Setze nie auf ein Rennen, an dem Du nicht beteiligt bist! 4 Denke daran, dass es einfacher ist, um Vergebung als um Erlaubnis zu bitten! 4 Erkenne Deine Sponsoren an!
Wie eine Studie von McCauley, Ruderman, Ohlott und Morrow (1994) zeigte, lassen sich drei Klassen entwicklungsförderlicher Aufgaben und Arbeitsbedingungen unterscheiden. Neue Aufgaben, Aufgaben mit spezifischen Charakteristika sowie die Unterstützung durch das berufliche Umfeld. Neue Aufgaben sind nicht als solche neu, sondern neu für die zu entwickelnde Nachwuchskraft. Es kann sich dabei um individuelle Veränderungen in Bezug auf die Arbeitsinhalte, in Bezug auf den Status (z. B. Wechsel von einer Stab- in eine Linienfunktion), in Bezug auf die Funktion (z. B. Übernahme von Personalverantwortung) oder in Bezug auf den Arbeitsort (z. B. Auslandsentsendung) der Nachwuchskraft handeln. Aufgrund der subjektiven Neuartigkeit der Tätigkeit stößt die Nachwuchskraft mit ihren bisherigen Arbeitsrou-
315 19.5 · Maßnahmen
Entwicklungsförderliche Aufgabenmerkmale 4 Die Verantwortung für die Entwicklung neuartiger Produkte, Geschäftsfelder oder -strategien, klare Anforderungen, die durch definitive Fristsetzungen, eine starke soziale Sichtbarkeit der Ergebnisse, hohe Erwartungen des Topmanagements, eindeutige Kriterien für Erfolg und Misserfolg sowie einen breiten Verantwortungsbereich in Bezug auf Produkte, Kunden oder Märkte gekennzeichnet sind. Aufgaben mit diesen Merkmalen werden nicht nur als Bedrohung, sondern auch als Herausforderungen mit hoher Aufgabenqualität erlebt, was nach Einschätzung der betroffenen Nachwuchskräfte zu positiven Lern- und Entwicklungseffekten führt. 4 Die Lösung von Problemen, die durch Vorgänger verursacht wurden, die Verantwortung für problematische Mitarbeiter mit zu geringen Fähig-
tinen an Grenzen. Um auch in der neuen Aufgabe erfolgreich zu sein, ist die Nachwuchskraft genötigt, für sich neuartige Handlungsweisen zu erproben. Ein besonderer sozialer Anreiz, auf alte Verhaltensweisen zu verzichten und neue zu erproben, resultiert aus dem Umstand, dass ein mögliches Scheitern in der neuen Aufgabe für Mitarbeiter, Kollegen und Vorgesetzte erkennbar wäre und daher auch eine Bedrohung für die Nachwuchskraft darstellt. Die empirischen Befunde von McCauley et al. (1994) zeigen, dass neue Aufgaben nach Einschätzung der betroffenen Nachwuchskräfte in der Tat Lernen und eine Weiterentwicklung auslösen, aber zugleich auch als bedrohlich erlebt werden (7 Kasten »Entwicklungsförderliche Aufgabenmerkmale«). In der Summe zeigen die Befunde von McCauley und Mitarbeitern (1994), dass die Übernahme subjektiv neuer Aufgaben zwar einerseits als bedrohlich, andererseits aber auch als lern- und entwicklungsförderlich erlebt wird. Die positiven Effekte können durch soziale Unterstützung aus dem Kreis der Mitarbeiter, Kollegen, Vorgesetzten und dem Topmanagement noch weiter verbessert werden. McCauley und Hazlett (2001) haben jedoch darauf hingewiesen, dass sich diese positiven Effekte entwicklungsförderlicher Aufgaben nicht bei allen Führungsnachwuchskräften einstellen. Lernen und Entwicklung erfor-
keiten, fehlender Erfahrung oder mit geringer Kooperationsbereitschaft, der Zwang zur Entlassung von Mitarbeitern oder die Notwendigkeit zur Beendigung von Geschäftsaktivitäten wird zwar einerseits von den Nachwuchskräften als lernförderlich, aber andererseits auch als leidvoll, beschädigend und nachteilig beurteilt. 4 Aufgaben, zu denen es gehört, Personen zu koordinieren und mit Personen zusammenzuarbeiten, gegenüber denen keine Anweisungsbefugnis besteht, werden einerseits als bedrohlich, aber andererseits auch als lernförderlich beurteilt. Fehlende Unterstützung durch das Topmanagement, schwierige Vorgesetzte und fehlende persönliche Unterstützung durch Kollegen und Mitarbeiter werden nicht nur als leidvoll und beschädigend beurteilt, sondern auch als entwicklungshemmend.
dern bestimmte individuelle Voraussetzungen, nämlich eine hohe Motivation zu lernen, die Fähigkeit, unterschiedliche Lernstrategien einzusetzen, eine proaktive Haltung, die Fähigkeit zur kritischen Reflexion der eigenen Erfahrungen sowie die Offenheit für Veränderungen. In Bezug auf die Befunde von McCauley et al. (1994) ist allerdings kritisch anzumerken, dass die Lern- und Entwicklungsfortschritte nur von den betroffenen Personen selbst und nicht z. B. im Rahmen eines 360°Feedbacks auch von Vorgesetzten, Kollegen, Mitarbeitern oder Kunden beurteilt wurden. Weiterhin wäre es wichtig, die subjektiven Beurteilungen durch objektive Lern- und Entwicklungsfortschrittsmaße zu ergänzen. Schließlich sollten zur Absicherung auch Längsschnittstudien, die sich über größere Zeiträume hinweg erstrecken, eingesetzt werden. Aber nicht nur im Bereich der Entwicklung des Fachund Führungskräftenachwuchses, sondern auch im Bereich der Personalentwicklung für ausführende Tätigkeiten kommt der Gestaltung von Arbeitsaufgaben eine wichtige Rolle zu. Lernförderliche Arbeitsaufgaben sind dadurch charakterisiert (Sonntag, 1996), dass 4 sie es ermöglichen, die vorhandenen Fähigkeiten auszunutzen und weiterzuentwickeln, 4 sie genügend Freiheitsgrade für eigenes Entscheiden und kreatives Ausführen enthalten,
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Kapitel 19 · Personalentwicklung
4 sie Verantwortungsübernahme und selbstständige Handlungsweisen zulassen, 4 beim Gelingen ein Erfolgserleben stattfindet und 4 ein organisationaler oder gesellschaftlicher Nutzen erkennbar ist. 19.5.6
Coaching
Bereits gegen Ende des 19. Jahrhunderts wurden in Nordamerika Personen, die selbst über einschlägige Sachkompetenz verfügten und andere auf Prüfungen, spezielle Aufgaben oder sportliche Wettbewerbe vorbereitet haben, als Coaches bezeichnet. Definition Unter dem Begriff Coaching versteht man im modernen Personalwesen einen individuell unterstützenden Beratungsprozess, bei dem ein Berater, der Coach, mit einer anderen Person, dem Coachee, eine Beratung durchführt (Rauen, 1999).
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Im heutigen Sport hat der Coach die Aufgabe der Beratung, Betreuung und Motivierung von Sportlern vor, während und nach dem Wettkampf. Während die Coachingbeziehung im Sport also eher mittelfristig angelegt ist und sich über mehrere Jahre hin erstrecken kann, ist ein Coachingprozess im Personalbereich auf einen Zeitraum zwischen 6 und 9 Monaten hin angelegt und besteht aus ca. 10–15 Sitzungen, die jeweils zwischen 1,5 und 2 Stunden lang dauern (Kühl, 2005). Coaching als prozess- und personenorientierte Beratung im Rahmen der Personalentwicklung hat Gemeinsamkeiten mit sog. Supervisionsverfahren in Berufen von Beziehungsarbeitern (z. B. Sozialarbeiter, Therapeuten, Seelsorger). Solche Beziehungsarbeit ist dadurch gekennzeichnet, dass der Erfolg der Leistungserbringung von der Mitwirkung der Leistungsempfänger abhängt. Da auch Führungstätigkeiten einen hohen Anteil von Beziehungsarbeit beinhalten, stammen eine Reihe von Techniken und Verfahren des Coaching aus der psychotherapeutischen Supervision. Coaching im Personalwesen ist aber keine Psychotherapie. Im Gegensatz zur Psychotherapie setzt Coaching intakte Selbstmanagementfähigkeiten bei den Gecoachten voraus und dient nicht der Behandlung psychischer Störungen.
Im Sinne des hier vertretenen individuumsorientierten Ansatzes der Personalentwicklung nach Schuler (2006) stellt das sog. Gruppencoaching (Rauen, 2007) eine Form der Teamentwicklung dar und ist damit der Organisationsentwicklung und nicht der Personalentwicklung zuzurechnen. Die Einsatzmöglichkeiten des Coaching von Einzelpersonen gehen außerdem weit über die Problemstellungen der Personalentwicklung hinaus, z. B. die Bewältigung von persönlichen Sinnkrisen im Beruf, die Vorbereitung auf den nahenden Ruhestand oder der Umgang mit akuten Konflikten mit Kollegen oder Vorgesetzten. Coaching als Instrument der Personalentwicklung betrifft vor allem die Unterstützung von Einzelpersonen beim Erlernen des Umgangs mit neuen Rollen, die Vorbereitung auf neue Aufgaben sowie die Verbesserung der sozialen Kompetenz und der Managementfähigkeiten von Führungskräften. Im Rahmen der Personalentwicklung lassen sich zwei Arten unterscheiden, nämlich das Coaching durch den Vorgesetzten sowie das Coaching durch eine Person, die normalerweise nichts mit der Arbeit der gecoachten Person zu tun hat. Das Einzelcoaching durch den Vorgesetzten dient der Vermittlung von Fertigkeiten, Kenntnissen und Erfahrungen in realistischen Arbeitssituationen und an konkreten Arbeitsaufgaben (Thomas, 1998). Dabei werden hauptsächlich Zielsetzungs- und Feedbackverfahren eingesetzt. Der Vorgesetzte möchte eine bestimmte Aufgabe an einen Mitarbeiter delegieren. Deshalb schätzt er die notwendigen Fertigkeiten und Fähigkeiten des Mitarbeiters ein, vereinbart mit ihm Ziele sowie einen Maßnahmen- und Zeitplan zur Erreichung dieser Ziele. All dies setzt eine hohe Sachkompetenz des coachenden Vorgesetzten voraus. Außerdem gibt dieser kontinuierlich Rückmeldungen an die gecoachte Person. Gute Ziele sollen, so die Erfahrungen aus der Praxis des Coaching, 4 SMART (spezifisch, messbar, »attainable« = erreichbar, realistisch und »time phrased« = zeitlich gegliedert), 4 PURE (positive formuliert, »understood« = von der gecoachten Person verstanden, relevant für sie und ethisch korrekt) sowie 4 CLEAR (»challenging« = herausfordernd, legal, »environmentally sound« = umweltverträglich, »agreed« = akzeptiert und »recorded« = protokolliert) sein (Whitmore, 1994). Das Feedback sollte relevant, konkret und beschreibend sein. Es soll sich auf die aktu-
317 19.5 · Maßnahmen
. Tab. 19.2. Methoden im professionellen Coaching und ihr konzeptioneller Hintergrund nach Rauen (2003) Methoden
Hintergrund
Fragen
Gesprächspsychotherapie, Hypnotherapie
Generalisierungen, Verzerrungen, Tilgungen klären
Rational-Emotive-Therapie
Rekonstruktionen
Systemische Therapie
Testverfahren
Keine spezifische Zuordnung
Pacing und Leading
Hypnotherapie, neurolinguistisches Programmieren
Gesprächstechniken
Gesprächspsycho-, Hypno-, Gestalttherapie
Verhaltensmuster durchbrechen
Verhaltenstherapie
Entlastung schaffen
Keine spezifische Zuordnung
Selbstreflexion fördern
Analytische Therapien
Feedback geben
Keine spezifische Zuordnung
Konfrontationen wagen
Gestalttherapie, provokative Therapie
Zusammenhänge analysieren
Analytische Therapien
Rollenspiele
Psychodrama, Gestalttherapie
Zielsetzungs- und Ordnungsprozesse fördern
Keine spezifische Zuordnung
Verhalten und Fähigkeiten trainieren
Verhaltenstherapie, Training
Hausaufgaben
Gestalttherapie
höhten ihre Reflexions-, Kommunikations- und Führungskompetenzen, handelten effektiver und verbesserten die Effektivität ihrer Organisation. Nach Künzli lassen sich außerdem folgende positive Wirkfaktoren des Coaching identifizieren: Die elaborierte Gestaltung der Zielformulierung und Zielannäherung, die Qualifikation, das Engagement und die Authentizität des Coaches sowie ein angepasster Einsatz verschiedener Techniken. Der fachliche Hintergrund und die fachliche Kompetenz professioneller Coaches sind jedoch höchst un-
Mit freundlicher Genehmigung von Hogrefe, Göttingen. © Hogrefe 2003
elle Situation beziehen und sowohl positive als auch negative Aspekte hervorheben. So soll es zu einer realistischen Selbsteinschätzung bei den Gecoachten kommen. Durch Nachfragen beim Feedback-Geben können außerdem die aktuelle Aufnahmebereitschaft der gecoachten Person für weiteres Feedback geprüft sowie Missverständnisse vermieden werden (Rauen, 2003). Diese Vorgehensweise ist relativ direktiv und soll sich an objektivierbaren Größen orientieren. Für den Erfolg dieser Vorgehensweise ist offene Kommunikation zwischen Vorgesetztem und Mitarbeiter sowie gegenseitiges Vertrauen wichtig. Die fachliche Anleitung, was z. B. in einem Kundengespräch zu thematisieren ist, könnte theoretisch auch in einem Lehrbuch nachgelesen werden. Das Erarbeiten und Vermitteln allerdings, wie ein Kundengespräch erfolgreich geführt und genutzt werden kann, stellt dagegen Coaching dar. Das Coaching durch den Vorgesetzten unterscheidet sich von einem reinen Training dadurch, dass nicht (nur) das kurzfristige Erreichen spezifischer Leistungsziele im Vordergrund steht, sondern (auch) die langfristige Entwicklung von Fähigkeiten sowie die Stärkung des Selbstvertrauens der Nachwuchskräfte. Wie eine Prä-Post-Studie (Graham, Wedman & Garvin-Kester, 1993, 1994) zeigte, ist es möglich, Vorgesetzte im Sinne des entwicklungsorientierten Führens der Mitarbeiter zu trainieren. Für den Erfolg des Coaching durch die Vorgesetzten wirkt sich eine Leitungsspanne von weniger als 9 Mitarbeitern günstig aus. Coaching in der Personalentwicklung durch professionelle Beratung soll der Verbesserung der Übernahme neuer Rollen und Funktionen (z. B. Wechsel von einer Stab- in eine Führungsfunktion) sowie der Steigerung der sozialen Kompetenz dienen. Die professionelle Beratung kann sowohl durch einen organisationsinternen als auch durch einen organisationsexternen Coach erfolgen. Diese Form des Coaching zielt auf die Förderung der Selbstreflexion, der Selbstwahrnehmung sowie der Selbstmanagementfähigkeiten ab. . Tab. 19.2 gibt einen Überblick über die dabei zum Einsatz kommenden Methoden und ihren konzeptionellen Hintergrund (Rauen, 2003). Künzli (2005) erstellte eine vergleichende Zusammenfassung von insgesamt 22 empirischen Forschungsarbeiten zu den Wirkungen im Führungskräfte-Coaching. Viele der Studien leiden unter methodischen Mängeln und weisen nur eine geringe theoretische Abstützung auf. Insgesamt zeichne sich aber, so Künzli, ein positives Gesamtbild ab: Die gecoachten Personen fühlten sich entlastet, sie entwickelten neue Sichtweisen, er-
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318
Kapitel 19 · Personalentwicklung
terschiedlich. Experten sprechen diesbezüglich von einem Scharlatanerieproblem (Kühl, 2005): Als wichtig gelten in der Praxis branchenbezogene Berufserfahrung und eigene Führungserfahrung. Über eine psychologisch-wissenschaftliche Ausbildung verfügt nur ein Teil der in der Praxis tätigen Coaches. Auch Personen, die zuvor als Betriebswirte, Journalisten, Praktiker im Personalwesen oder Sporttrainer gearbeitet haben, betätigen sich als professionelle Coaches. Vielen Personalabteilungen fehlen Qualitätsstandards zu deren Beurteilung. Diese fehlenden Qualitätsstandards werden nicht selten durch Qualitätssurogate ersetzt: graue Haare, Falten im Gesicht, seriöse Kleidung, akademische Titel und Präsenz in der Fachöffentlichkeit. 19.5.7
Mentoring
Der Name Mentor entstammt der altgriechischen Mythologie. In Homers Versepos »Odyssee« ist Mentor der Erzieher, Hauslehrer, Beschützer und Vaterersatz für Telemachos, den Sohn von Odysseus. Mentor begleitet Telemachos in die Welt des Erwachsenseins bis Odysseus aus dem Trojanischen Krieg zurückkehrt. Die Beziehung zwischen Mentor und Telemachos ist dabei von Zuneigung, Achtung, Vertrauen und gegenseitigem Respekt geprägt. Definition Im modernen Personalwesen bezeichnet der Begriff Mentor eine höherrangige, einflussreiche Person männlichen oder weiblichen Geschlechts im Arbeitsumfeld einer Nachwuchskraft, die dort über große berufliche Erfahrung sowie breites berufliches Wissen verfügt und der daran gelegen ist, die berufliche Entwicklung der Nachwuchskraft zu fördern und ihren Aufstieg zu unterstützen.
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Innerhalb der Mentor-Protegé-(Mentee-)Beziehung nimmt ein Mentor drei verschiedene Funktionen wahr, eine karrierebezogene, eine psychosoziale sowie die Funktion als Rollenmodell. Die karrierebezogene Funktion beinhaltet Unterstützung, die dem Weiterkommen und dem Aufstieg des Protegés innerhalb der Organisation zu Gute kommen soll. Der Mentor fördert die Talente des Protegés, gewährt Einblicke in berufliche Kniffe, zeigt formale und informale Regeln auf und führt in die Mikropolitik der Orga-
nisation ein. Er ermöglicht neue Kontakte, macht Leistungen und Potenzial des Protegés für andere einflussreiche Personen sichtbar, verhilft ihm zu Beförderungen und Versetzungen, unterstützt bei der Karriereplanung und schützt bei drohendem Schaden. Die psychosoziale Funktion betrifft hingegen emotionale Aspekte. Der Mentor hört aktiv zu, erteilt Ratschläge, zeigt Stärken und Schwächen auf und hilft auch bei persönlichen Problemen. Einige Autoren fügen dieser Liste den Aspekt hinzu, dass Mentoren Rollenmodell und Vorbild für die Nachwuchskraft sein können. Andere konzipieren diese Aufgabe hingegen als eigenständige Funktion. Ein in der amerikanischen Literatur weit verbreitetes Fragebogeninstrument zur Erfassung der Mentoringfunktionen, dem ein zweidimensionales Konzept zugrunde liegt, ist das Mentor Role Instrument (MRI; . Tab. 19.3) von Ragins und MacFarlin (1990). Nicht jede Laufbahnunterstützungsbeziehung stellt eine Mentor-Mentee-Beziehung dar. Besteht die Laufbahnunterstützung beispielsweise hauptsächlich darin, Türen für andere zu öffnen und Einfluss für diese geltend zu machen, spricht man von Sponsoring. Die Unterstützungsperson betätigt sich dann lediglich als Strippenzieher, ohne dass ein enges emotionales Band zur unterstützten Person besteht. Der Strippenzieher nimmt dann zwar eine Mentoringfunktion wahr, ohne aber Mentor zu sein. Besteht die Laufbahnunterstützung hauptsächlich in der Karriereberatung, spricht man von (Karriere-)Coaching (7 oben). Auch der Karrierecoach nimmt eine Mentoringfunktion wahr, ohne aber Mentor zu sein. Immer dann, wenn eine Unterstützungsperson nur eine oder wenige Mentoringfunktionen wahrnimmt, spricht man von Mentoring. Nimmt eine Unterstützungsperson dagegen fast alle oder alle Mentoringfunktionen gegenüber einer speziellen Nachwuchskraft wahr, spricht man von einer Mentor-Mentee- bzw. MentorProtegé-Beziehung. Aufgrund der zahlreichen positiven Effekte von Mentoring (Allen, Eby, Poteet, Lentz & Lima, 2004; Blickle & Schneider, 2007; Wanberg, Welsh & Hezlett, 2003) führten in den letzten Jahren viele Organisationen Mentoringprogramme mit formaler Zuweisung von Protegés zu Mentoren als Teil ihrer Personalentwicklung ein. Die formalen Mentorenprogramme führen dann zu einer höheren Arbeitszufriedenheit der Mentorierten. Der Gesamterfolg solcher Maßnahmen ist jedoch gegenüber den selbstinitiierten, über die Jahre hinweg natürlich gewachsenen Mentoringbeziehungen eher gering
319 19.6 · Transfersicherung
. Tab. 19.3. Das Mentor Role Instrument (MRI) nach Ragins und McFarlin (1990) Funktionen
Beispielitem: Mein Mentor…
Karrierebezogen Challenge
... sorgt dafür, dass ich herausfordernde Aufträge zugewiesen bekomme
Coach
... gibt mir Ratschläge, wie man Beachtung in der Organisation findet
Exposure
... hilft mir, stärker in der Organisation wahrgenommen zu werden
Protect
... schützt mich vor denen, die mir vielleicht schaden möchten
Sponsor
... setzt seinen Einfluss in der Organisation zu meinen Gunsten ein
© Elsevier Ltd. 1990
Psychosozial Acceptance
... hat eine gute Meinung von mir
Counseling
... gibt mir Resonanz, um mich selbst zu verstehen und zu entwickeln
Friendship
... ist jemand, dem ich mich anvertrauen kann
Parent
... ist wie ein Vater/eine Mutter zu mir
Role Model
... ist jemand, mit dem ich mich identifiziere
Social
... und ich treffen uns oft nach der Arbeit informell alleine
Die einzelnen Dimensionen sind alphabetisch geordnet. Die Antwortskala reicht von 1 (trifft überhaupt nicht zu) bis 7 (trifft völlig zu).
(Blickle, 2000). Wichtige Ursachen dafür sind das Fehlen des besonderen Vertrauensverhältnisses sowie die geringer ausfallende Passung und Sympathie zwischen Mentor und Mentee bei formalen Mentoringbeziehungen. Blickle und Boujatoui (2005) fanden in einer empirischen Studie, dass formale Programme weibliche Nachwuchskräfte überproportional häufig Kolleginnen und Kollegen zuordnen, während männliche Nachwuchskräfte durch Programme überproportional häufig Vorgesetzten als Unterstützer zugeordnet werden. Da Kollegen aber weniger mächtig sind als Vorgesetzte, wirkt sich dies dann auch ungünstig auf die weitere Beförderung von weiblichen Nachwuchskräften im Management aus.
19.6
Transfersicherung
Bei den einzelnen Personalentwicklungsmaßnahmen wurde z. T. darauf eingegangen, wie bereits die Personalentwicklungsmaßnahmen selbst zu gestalten sind, um den späteren Transfer in die Tätigkeitspraxis zu erleichtern. Der zweite Aspekt der Transfersicherung betrifft die Ausgestaltung der Arbeitsumwelt der Mitarbeiter und Führungsnachwuchskräfte. Hier geht es um die Herstellung eines günstigen Lerntransferklimas. Ausführlichere Informationen dazu finden sich bei Solga (2006; zur Evaluation von Personalentwicklungsmaßnahmen vgl. Solga, 2005). Aufgrund der Globalisierung des Wirtschaftslebens sowie des Übergangs von der Industrie- zur Wissensgesellschaft steigt der Bedarf an Personalentwicklung immer mehr, aber die lang- und mittelfristige Planbarkeit des zukünftigen Qualifikationsbedarfs nimmt immer mehr ab. Dies dokumentiert sich an folgenden Sachverhalten: Nur noch ca. 20% der Beschäftigten in der Industrie sind in klassischen Produktionstätigkeiten beschäftigt und der weit überwiegende Teil erfüllt auch dort sog. Dienstleistungsaufgaben. Dabei spielt die Gewinnung, Speicherung, Vermittlung, Verarbeitung und Nutzung von Informationen und Wissen eine entscheidende Rolle (Niedenhoff, 1999). Produktivitätszuwächse resultieren vor allem aus dem Einsatz von Wissen. Der Wissenseinsatz ermöglicht es, sich durch Neuartigkeit und Hochwertigkeit von der Konkurrenz zu differenzieren und die Produkt- bzw. Innovationszyklen zu verkürzen. Die Größe des Unternehmens verliert an Bedeutung. Immer entscheidender wird dagegen die von den Unternehmen in ihren Entscheidungen erreichte Geschwindigkeit. Dies bedeutet für die Beschäftigten, dass nur durch eine beständige, das ganze Berufsleben begleitende Weiterentwicklung ihrer Qualifikationen ihre Beschäftigungsfähigkeit erhalten bleiben wird. Deswegen ist bei der Transfersicherung und Evaluation von Personalentwicklungsmaßnahmen nicht nur darauf zu achten, dass, ob und in welchem Ausmaß die durchgeführten Maßnahmen auch zu Konsequenzen im Arbeitsfeld und in den Tätigkeiten der betroffenen Personen führen, sondern auch, 4 ob die Teilnehmer von Personalentwicklungsmaßnahmen durch diese sensibel für den eigenen zukünftigen Entwicklungsbedarf werden, 4 ob sie selbstständig aktiv neue Erfahrungen aufsuchen,
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Kapitel 19 · Personalentwicklung
4 ob sie von sich aus Rückmeldungen über ihren jeweiligen Lernerfolg initiieren, 4 ob sich ihre Lernbereitschaft erhöht, 4 ob sich die Lernfähigkeit verbessert und 4 ob eigene Fehler als Chance für Verbesserungen betrachtet werden (McCauley & Hezlett, 2001).
Die von Sarges (2000) postulierte agile Lernpersönlichkeit sollte also nicht nur Voraussetzung, sondern immer auch Ziel der Personalentwicklung sein.
Zusammenfassung 4 Unter Personalentwicklung versteht man alle gezielten Maßnahmen einer Organisation, die darauf ausgerichtet sind, die Qualifikationen des Personals, d. h. der Mitarbeiter und Führungskräfte auf allen Hierarchieebenen, für seine gegenwärtigen und zukünftigen Aufgaben systematisch sicherzustellen. Die Maxime der psychologischen Personalentwicklung lautet: Stärken stärken, Schwächen schwächen! 4 Unter Laufbahnplanung in einer Organisation versteht man die Bildung von sog. Aufstiegskanälen, Funktionsgruppen und Laufbahnstufen. Die Einheit von Aufstiegskanälen, Funktionsgruppen und Laufbahnstufen wird als Laufbahnkonzept einer Organisation bezeichnet. 4 Die Potenzialanalyse dient der Klärung der Frage, über welches Niveau an kognitiven Fähigkeiten, an sozialer Kompetenz, an emotionaler Stabilität sowie an Lern-, Veränderungs- und Entwicklungsbereitschaft eine Person verfügt. Je nach Potenzialniveau kann dann entschieden werden, ob weitere Fördermaßnahmen angezeigt erscheinen und welches Laufbahnniveau passend ist.
L Weiterführende Literatur
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4 Das Assessment-Center ist eine geeignete Methode, um den individuellen Entwicklungsbedarf zu ermitteln. Die Konzeption eines solchen Entwicklungs-AC unterscheidet sich von Assessment-Centern, bei denen es darum geht, Bewerber für eine bestimmte Stelle auszuwählen oder das Potenzial von Nachwuchskräften zu bestimmen. 4 Für Personalentwicklungsmaßnahmen gibt es derzeit kein allgemein anerkanntes Klassifikationssystem. Für die Personalentwicklung im Fach- und Führungskräftebereich spielen insbesondere folgende Verfahren eine wichtige Rolle: Persönlichkeits- und erlebnisorientierte Verfahren, verhaltensorientierte Maßnahmen, kommunikationsorientierte Verfahren, selbstmanagementorientierte Verfahren, die Zuweisung von entwicklungsförderlichen Aufgaben, Coaching und Mentoring. 4 Bei der Transfersicherung und Evaluation von Personalentwicklungsmaßnahmen ist darauf zu achten, dass, ob und in welchem Ausmaß die durchgeführten Maßnahmen auch zu Konsequenzen im Arbeitsfeld und in den Tätigkeiten der betroffenen Personen führen.
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19
IV Arbeit 20
Theoretische Modelle des Arbeitshandelns
– 327
21
Arbeitsanalyse und -bewertung – 353
22
Arbeitsgestaltung in Produktion und Verwaltung –377
23
Gruppenarbeit in der Produktion
24
Arbeitsmotivation und Arbeitszufriedenheit – 425
25
Formen des Arbeitsverhaltens – 443
26
Aus- und Weiterbildung: Konzepte der Trainingsforschung
– 399
– 459
27
Psychologie der Arbeitssicherheit – 485
28
Wirkungen der Arbeit – 513
29
Neue Formen der Arbeit: Das Beispiel Telekooperation
– 535
Arbeit stellt einen zentralen Lebensinhalt der meisten Menschen dar und dient nicht nur zur Existenzsicherung, sondern ist auch ein wichtiges Wirkungs- und Gestaltungsfeld des eigenen Lebens. Sie beinhaltet allerdings sowohl positive Wirkungen wie Entwicklungspotenziale als auch negative Wirkungen wie Belastungen für den arbeitenden Menschen. Wenn allgemein und insbesondere in der Arbeits- und Organisationspsychologie von Arbeit gesprochen wird, sind meist Arbeitstätigkeiten in organisationalen Kontexten gemeint; d. h., Arbeit findet in arbeitsteiligen Strukturen statt und dient der Erreichung organisationaler Ziele. Bei der Analyse und Gestaltung von Arbeit sind somit sowohl betriebswirtschaftliche, organisationale, aber auch mitarbeiterorientierte Ziele und Aspekte zu beachten, um Arbeit nicht nur effizient, sondern auch humangerecht zu gestalten. Die Arbeits- und Organisationspsychologie bietet hierfür eine Vielfalt an fundierten und überprüften Theorien und Methoden an. In 7 Kap. 20 geht es zunächst um Theorien des Arbeitshandelns, die Konzepte zur Beschreibung, Erklärung und Vorhersage menschlichen Arbeitsverhaltens aus verhaltens-, kognitions-, handlungs- und tätigkeitstheoretischer Perspektive darstellen. Um entsprechendes Arbeitshandeln bzw. -verhalten systematisch zu erfassen und im Hinblick auf bestimmte Zielsetzungen zu analysieren und zu bewerten, bedarf es wissenschaftlich fundierter empirischer Methoden. In 7 Kap. 21 werden grundlegende methodische Zugänge und ausgewählte Verfahren der psychologischen Arbeitsanalyse vorgestellt, mit denen Anforderungen, Bedingungen und Wirkungen von Arbeitsaufgaben und -tätigkeiten unter Bezugnahme auf verschiedene theoretische Perspektiven ermittelt und einer Bewertung zugänglich gemacht werden können. Auf der Grundlage solcher Analysen gilt es, Arbeitsaufgaben und -bedingungen an die Leistungsvoraussetzungen des arbeitenden Menschen anzupassen, und diese so zu gestalten, dass nicht nur effiziente und produktive Arbeitsprozesse resultieren, sondern auch die Gesundheit des arbeitenden Menschen erhalten und seine Persönlichkeit weiterentwickelt wird. Die Arbeits- und Organisationspsychologie hat hierzu eine Reihe von wirkungsvollen Konzepten, Prinzipien und Strategien für eine humangerechte und effiziente Arbeitsgestaltung entwickelt, die in 7 Kap. 22 anhand konkreter Fallbeispiele vorgestellt werden. Effizientes und humangerechtes Arbeiten beinhaltet auch das Arbeiten in Gruppen. In 7 Kap. 23 werden Formen und Zielsetzungen bei der Gestaltung von Gruppenarbeit erörtert und Ergebnisse, welche Bedingungen und Merkmale eine leistungsfähige bzw. effektive Gruppe ausmachen, vorgestellt. Um die Leistung und den Einsatz von Menschen bei der Arbeit erklären zu können, bedarf es auch motivationstheoretischer Konzepte. In 7 Kap. 24 werden daher wichtige motivationspsychologische Ansätze erörtert, die erklären, warum arbeitende Menschen bestimmte Handlungsziele wählen, was sie bei der Realisierung der Ziele motiviert und unter welchen Gesichtspunkten Ergebnisse des Handelns bewertet werden. Eine besondere Rolle spielt in diesem Zusammenhang die Arbeitszufriedenheit, die nicht nur Ergebnis der Motivation ist, sondern auch selbst motivierende Wirkung hat. Anhand zweier weiterer bedeutsamer Theorien wird erläutert, wie Tätigkeiten beschaffen sein sollten, damit sie Arbeitszufriedenheit und damit auch die Arbeitsmotivation fördern. Arbeitsverhalten als eine zentrale abhängige Variable der Arbeits- und Organisationspsychologie ist als mehrdimensionales Konzept aufzufassen. Es geht nicht nur um produktives Verhalten – das eigentliche Leistungsverhalten bei der Bewältigung von Arbeitsaufgaben. Von zunehmender Bedeutung sind auch Aspekte des extraproduktiven Verhaltens – als Verhaltensaspekte, die über die vertraglichen geforderten Arbeitsleistungen hinausgehen ‒ und im umgekehrten Sinne des kontraproduktiven Verhaltens – als Verhaltensaspekte, die Interessen der Organisation verletzen. In 7 Kap. 25 werden beschreibende und erklärende Konzepte insbesondere zu den extra- und kontraproduktiven Verhaltensaspekten vorgestellt. Um die zunehmend anspruchsvoller werdenden Aufgaben in der Arbeitswelt zu bewältigen, müssen die Mitarbeiter ausgebildet und kontinuierlich weiter geschult werden. Die Arbeits- und Organisationspsychologie hat hierzu eine Vielzahl von theoretischen und methodischen Konzepten entwickelt, um entsprechende Lernanforderungen zu ermitteln, die beruflichen Wissens- und Kompetenzinhalte wirkungsvoll zu vermitteln und ihre Anwendung am Arbeitsplatz zu gewährleisten (7 Kap. 26). Die Arbeitswelt ist auch durch Gefahren und Gefährdungen geprägt, die zu Unfällen und Verletzungen der arbeitenden Menschen, aber auch weitergehenden Schäden im Arbeitssystem und der Umwelt führen können. Um Arbeits- und Systemsicherheit zu gewährleisten, sind in besonderem Maße auch verhaltens- und einstellungsbezogene, d. h. psychologische Faktoren mit ins Kalkül zu ziehen. 7 Kap. 27 stellt unterschiedliche Modelle zur Erklärung und Prävention sicherheitskritischen Verhaltens und zur Gewährleistung einer umfassenderen Systemsicherheit vor. Um unterschiedliche Wirkungsaspekte der Arbeit geht es in 7 Kap. 28. Im Zentrum stehen Belastungen und Beanspruchungen durch Arbeit – insbesondere solche, die sich in Form von Stress und seinen Folgen bemerkbar machen. Hierzu werden entsprechende Erklärungsansätze zur Stressentstehung sowie moderierender Faktoren vorgestellt und Ansätze zur Stressbewältigung und Gesundheitsförderung beschrieben. Kurz angesprochen werden außerdem die Wechselwirkungen der Arbeit mit dem Freizeitverhalten und der Persönlichkeitsentwicklung. In 7 Kap. 29 werden schließlich verschiedene Entwicklungstrends der Arbeitswelt erörtert und anhand telekooperativer Arbeit die Gestaltung neuer Formen der Arbeit exemplarisch dargestellt und diskutiert.
20
20 Theoretische Modelle des Arbeitshandelns 20.1
Verhaltenstheoretische Ansätze des Arbeitshandelns – 328
20.1.1 20.1.2
S-R- bzw. S-O-R-Modell – 328 Veränderung des Arbeitsverhaltens auf der Basis verhaltensorientierter Lerntheorien
– 329
20.2
Kognitionspsychologische/-theoretische Ansätze – 332
20.2.1 20.2.2
Annahmen zur menschlichen Informationsverarbeitung – 333 Informationsverarbeitungsmodell von Rasmussen – 334
20.3
Handlungstheoretische Ansätze – 338
20.3.1 20.3.2
TOTE-Modell – 339 Handlungsregulationstheorie
20.4
Tätigkeitstheoretische Ansätze – Die Tätigkeitstheorie nach Leontjew – 347
20.4.1 20.4.2
Makrostruktur der Tätigkeit – 348 Ringstruktur der Tätigkeit – 349
Literatur
– 351
– 340
328
Kapitel 20 · Theoretische Modelle des Arbeitshandelns
> Gegenstand dieses Kapitels sind Theorien des Arbeitshandelns. Mithilfe solcher Theorien soll unter wissenschaftlichen Gesichtspunkten Arbeitsverhalten bzw. -handeln beschrieben, erklärt und vorhergesagt werden. Unter eher praktischen bzw. anwendungsbezogenen Aspekten sollten gemäß Hacker (2006) solche Theorien auch in der Lage sein, zum einen Erkenntnisse zur Verbesserung von Arbeitsaufgaben und ihren Ausführungsbedingungen zu liefern und zum anderen Erkenntnisse zur Verbesserung von Leistungsvoraussetzungen arbeitender Menschen abzuleiten. Im Verlauf der historischen Entwicklung der Arbeits- und Organisationspsychologie wurden – auch unter dem Einfluss jeweils dominierender disziplinärer und zeitgeschichtlicher Theorieströmungen – ganz unterschiedliche theoretische Ansätze zur Beschreibung, Erklärung und Vorhersage von Arbeitsverhalten bzw. -handeln entwickelt. Im Rahmen dieses Lehrbuchs können daher nur Schlaglichter auf diese Entwicklung geworfen werden. Im Folgenden werden vier bedeutsame theoretische Ansätze des Arbeitshandelns betrachtet und vorgestellt: Verhaltens- und lerntheoretische Ansätze, kognitionspsychologische Ansätze, sowie handlungs- und tätigkeitstheoretische Ansätze. Dabei sollen folgende Fragen beantwortet werden: Auf welchen Grundannahmen beruht der jeweilige Ansatz? Welche grundlegenden Erklärungskonzepte wurden jeweils zur Beschreibung und Erklärung von Arbeitsverhalten entwickelt? Welche Anwendungsbezüge und praktischen Konzepte ergeben sich aus diesen Theorien?
20.1
Verhaltenstheoretische Ansätze des Arbeitshandelns
Verhaltenstheoretische Ansätze des Arbeitshandelns beschäftigen sich mit der Frage, wie und anhand welcher Prinzipien (Arbeits-)Verhalten verändert werden kann. Diese Ansätze nehmen Bezug auf behavioristische Theorien des klassischen und operanten Konditionierens sowie des Beobachtungslernens. Behavioristischen Theorien liegt eine Modellierung menschlichen Verhaltens in Form von Reiz-Reaktions-Beziehungen (S-R) bzw. in seiner erweiterten Form unter Einbezug intervenierender Organismusvariablen (S-O-R) zugrunde. Dieses grundlegende Modell und seine Bedeutung für die arbeits- und organisationspsychologische Forschung werden einleitend vorgestellt und diskutiert, bevor auf die genannten Konditionierungstheorien eingegangen wird. 20.1.1
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S-R- bzw. S-O-R-Modell
Der Behaviorismus – als eine sehr prägende Richtung in den Anfangszeiten der psychologischen Forschung – stellte das menschliche Verhalten sowie dessen Analyse in den Mittelpunkt der Betrachtungen. Ausgangspunkt waren die Untersuchungen und Erkenntnisse von Iwan Petrowitsch Pawlow (1849–1936), einem russischen
Physiologen, welcher eine grundlegende Form des Lernens bei Tieren und Menschen entdeckte. Pawlow fand heraus, dass Tiere in der Lage sind, neue Reiz-ReaktionsVerbindungen zu erlernen. Neben angeborenen Reaktionen auf bestimmte Reize (z. B. Speichelfluss, wenn Futter gezeigt wird), zeigten die von ihm untersuchten Tiere diese Reaktion auch bei neuen Reizen (z. B. einem Klingelton), wenn diese neuen Reize vorher mehrmals in enger räumlich-zeitlicher Verknüpfung mit dem ursprünglichen Reiz (Zeigen des Futters) präsentiert wurden. Das heißt, nachdem mehrmals Futter und Klingelton gemeinsam präsentiert wurden, reagierte das Tier (z. B. ein Hund) allein beim Erscheinen des Klingeltons (ohne das Zeigen des Futters) mit Speichelfluss. Diese Beobachtung bzw. Erkenntnis wurde von den Behavioristen in hohem Maße verallgemeinert: Sie nahmen an, dass jedes Verhalten eine Reaktion auf einen bestimmten Reiz in der Umwelt darstellt. Diese Annahme, die auch als S-R-Modell bezeichnet wird, wobei S für Stimulus, d. h. Reiz, und R für Reaktion steht, beschreibt somit den grundlegenden behavioristischen Erklärungsansatz: Verhaltensweisen werden durch bestimmte Stimulusgegebenheiten ausgelöst und können auf dieser Basis gesteuert werden. Dieser Grundansatz wurde auch auf die Analyse und Erklärung menschlichen Arbeitsverhaltens übertragen. Zum Beispiel beruht das klassische Belastungs-Bean-
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spruchungs-Modell der Ergonomie auf einem S-R-Ansatz (7 Kap. 28). Die Stimulusgegebenheiten in Form von Arbeitsgegenständen, Arbeitsmitteln oder Merkmalen der Arbeitsumwelt wirken als »Belastungen« auf den Menschen ein, was zu bestimmten Reaktionen im Sinne von »Beanspruchungen« (Erleben der Arbeitssituation und Verhalten/Leistung in der Situation) führt. Untersucht werden entsprechende Zusammenhänge in Versuchsanordnungen, in denen bestimmte Stimuli (z. B. Umgebungslärm oder Signaldarstellungen) variiert und die sich dadurch ändernden Reaktionen (z. B. Arbeitsleistung oder Stresserleben) gemessen werden. So wurde beispielsweise beobachtet, dass Beschäftigte auf eine hohe Geräuschkulisse am Arbeitsplatz mit einer niedrigeren Konzentrationsfähigkeit und somit schlechteren Arbeitsergebnissen »reagieren«. Das S-R-Modell besitzt allerdings nur eine sehr begrenzte Aussagekraft – so lassen sich in erster Linie einfache Arbeitssituationen mit wenigen Einfluss nehmenden Variablen erklären. Aber selbst bei der Untersuchung solcher einfach strukturierten Situationen wurde schnell deutlich, dass menschliches Verhalten eben nicht ausschließlich durch Reize von außen beeinflusst wird, sondern auch Prozesse im Inneren des Menschen einen Einfluss auf das resultierende Verhalten ausüben; Prozesse, die im Organismus des Menschen wirksam werden und zwischen dem Reiz und der Reaktion vermitteln. Das wiederum bedeutet, dass die individuelle Wahrnehmung eines Reizes, dessen Verarbeitung und Bewertung, entscheidend für die darauf folgende Reaktion ist. Somit haben z. B. auch Einstellungen, Motive, Emotionen, Fähigkeiten oder Persönlichkeitseigenschaften einen Einfluss auf das resultierende Verhalten. Das S-R-Modell wurde vor dem Hintergrund dieser Erkenntnisse zum S-O-R-Modell erweitert. Auch dieses neobehavioristische Modell wurde vielfach kritisiert (z. B. Ulich, 1989). Es liegt jedoch vielen Untersuchungen des Arbeitsverhaltens mehr oder weniger implizit zugrunde (Nerdinger, 2003). Zum Beispiel wird ein entsprechender Denk- und Untersuchungsansatz zur Erklärung und Beschreibung sicherheitskritischer Verhaltensweisen in risikobehafteten Arbeitssystemen angewandt (7 Kap. 27). Die Stimulusseite wird dabei beispielsweise vorgegeben durch bestimmte Signale, die Hinweise auf sicherheitsrelevante Situationen bzw. Anforderungen geben. In Bezug auf die Organismusvariable werden z. B. Sicherheitseinstellungen analysiert, und auf der Reaktionsseite werden sicherheitsadäquate bzw.
-inadäquate Verhaltensweisen ermittelt. Auch bei der Untersuchung des vermittelnden Einflusses von bestimmten personalen oder sozialen Ressourcen (z. B. Selbstvertrauen oder soziale Unterstützung durch Kollegen) als Organismusvariable zwischen Belastungen/Stressoren einerseits und Beanspruchungen/Stresserleben andererseits wird ein dem S-O-R-Ansatz entsprechendes Denkmodell implizit zugrunde gelegt (7 Kap. 28). Allerdings ist auch das S-O-R-Modell noch relativ beschränkt in seiner Reichweite. In erster Linie lässt sich hiermit passives, als Reaktion auf Reize in der Umwelt interpretierbares Verhalten erklären. Aktives, insbesondere zielgeleitetes Verhalten, das von Personen selbst ausgeht, ist anhand solcher Modelle nicht adäquat beschreibbar. Hierzu bedarf es z. B. kognitions- bzw. handlungstheoretisch fundierter Modelle, auf die wir noch zu sprechen kommen (7 Abschn. 20.2 und 20.3). 20.1.2
Veränderung des Arbeitsverhaltens auf der Basis verhaltensorientierter Lerntheorien
Auch den im Folgenden vorgestellten Theorien des klassischen und operanten Konditionierens sowie des Beobachtungslernens liegt der S-R- bzw. S-O-R-Ansatz als grundlegendes Denkmodell zugrunde. Klassisches Konditionieren Die Funktionsweise des klassischen Konditionierens nach Pawlow wurde bereits oben anhand eines Beispiels beschrieben. In verallgemeinerter Weise lässt sich dieses Prinzip der Verhaltensänderung folgendermaßen charakterisieren: Ein unkonditionierter Stimulus, welcher automatisch bzw. reflexartig eine unkonditionierte Reaktion hervorruft, wird mit einem weiteren Reiz bzw. Stimulus assoziiert, d. h. mehrfach in enger Verknüpfung miteinander präsentiert. Von einer Konditionierung wird dann gesprochen, wenn der weitere, dann konditionierte Reiz die gleiche, dann konditionierte Reaktion hervorrufen kann wie der unkonditionierte Reiz. Im (Arbeits-)Alltag spielen Phänomene der klassischen Konditionierung insbesondere bei emotionalen bzw. Erlebensreaktionen jedes Menschen eine wichtige Rolle. Hierzu ein Beispiel aus der Arbeitswelt: Eine Frau wurde an ihrem Arbeitsplatz durch Kollegen gemobbt (hier als unkonditionierter Stimulus zu verstehen), was Ängste und Depressionen bei ihr auslöste (unkonditionierte Re-
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Kapitel 20 · Theoretische Modelle des Arbeitshandelns
aktion). Bereits wenn sie morgens auf den Parkplatz fuhr und das große gläserne Bürogebäude (konditionierter Stimulus) sah, in welchem sich ihr Arbeitsplatz befand, begannen ihre Angstzustände (konditionierte Reaktion). Mittlerweile arbeitet sie schon seit über 7 Jahren in einem anderen Unternehmen. Trotzdem bekommt sie noch öfters Schweißausbrüche, sobald sie ein großes gläsernes Bürogebäude sieht. In dem beschriebenen Fall kommt es somit auch zu einer Art »Generalisierung« der Angstreaktion auf den Reizkomplex »gläsernes Bürogebäude«. Zur Veränderung solcher sehr unangenehmen, konditionierten Reiz-Reaktions-Verknüpfungen bedarf es oftmals verhaltenstherapeutischer Techniken z. B. der systematischen Desensibilisierung; d. h. es müssen aktiv wieder neue, angenehme Reiz-Reaktions-Verbindungen aufgebaut und/oder wirkungsvolle emotionale Bewältigungstechniken (in Bezug auf die Angstgefühle) eingeübt werden (Myers, 2005). Neuere Erkenntnisse zum Prinzip des klassischen Konditionierens zeigen darüber hinaus, dass der Konditionierungsprozess keineswegs so gedankenlos und automatisiert abläuft, wie man zunächst vermutet hat. Vielmehr geht man mittlerweile davon aus, dass der konditionierte Reiz Informationen über den unkonditionierten Reiz vermittelt und signalisiert, dass letzterer demnächst erscheinen wird. Somit wird eine Kontingenzbeziehung zwischen den beiden Reizen gelernt, die bewusst ist und in erster Linie einer »bewertenden Reaktion« entspricht (Moser, 2007). Dies kann man auch daran erkennen, dass die Reaktion, die konditioniert wird, oftmals der Reaktion, die vom unkonditionierten Stimulus ausgelöst wird, nicht unbedingt ähnelt und somit keine automatisierte Verknüpfung von Reiz und (Verhaltens-)Reaktion erfolgt. Z. B. werden in der Werbung oft sexuelle Reize in Zusammenhang mit einem Produkt gebracht. Dies führt allerdings nicht wirklich zu sexuellen Stimulierungen oder Reaktionen beim Wahrnehmen des Produkts außerhalb der Werbung, sondern allenfalls zu positiv gefärbten Gefühlen bzw. Einstellungen gegenüber dem Produkt im Sinne der o. g. bewertenden Reaktion. Schließlich zeigen eine Reihe weiterer Studien (Engel, Blackwell & Miniard, 1995), dass die Wirksamkeit klassischer Konditionierung durch vorherige Erfahrungen mit dem unkonditionierten oder konditionierten Stimulus beeinträchtigt werden können (z. B. können konditionierter und unkonditionierter Reiz als nicht zueinander passend erlebt werden).
Operantes Konditionieren Ein weiteres sehr wirkungsvolles Prinzip der Verhaltensänderung existiert in Form des sog. operanten Konditionierens. Diese Form des Konditionierens, die insbesondere von Burrhus Frederic Skinner (1904–1990) sehr intensiv beforscht wurde, beruht auf der Wirkung von positiven oder negativen Folgen eines Verhaltens für die weitere Auftretenswahrscheinlichkeit dieses Verhaltens. Die Auftretenswahrscheinlichkeit des Verhaltens bei positiven Konsequenzen wird erhöht und bei negativen verringert. Damit sind zwei Grundtypen des operanten Konditionierens verbunden: Verstärkung und Bestrafung. Allerdings greift das behavioristische Denkmodell hier nicht ganz bzw. in einer veränderten Weise. Der eigentlich verhaltensrelevante Stimulus wird zeitlich nicht vor der Reaktion, sondern erst nachher als Folge bzw. Konsequenz präsentiert. Eine Verstärkung beinhaltet somit einen Stimulus bzw. ein Ereignis, das die Auftretenswahrscheinlichkeit eines Verhaltens bzw. einer Verhaltensreaktion erhöht, sie also bekräftigt. Das operante Konditionieren wurde zunächst ebenfalls überwiegend an Tieren untersucht (z. B. Skinners berühmte Tauben oder Ratten). Insbesondere konnte gezeigt werden, dass bestimmte Verhaltensweisen von Tieren (z. B. das Niederdrücken eines Hebels in der sog. Skinner-Box) durch die kontingente Gabe (d. h. direkt im Anschluss an das entsprechende Verhalten) von Verstärkern wie z. B. Futter in ihrer Auftretenswahrscheinlichkeit signifikant erhöht werden konnten. Dieses Prinzip lässt sich auch auf menschliches Verhalten übertragen. Hierzu wiederum ein Beispiel aus der Arbeitswelt: Ein Assistent hat die Aufgabe, für Präsentationen seines Vorgesetzten Graphiken zu Statistiken zu erstellen (unverstärktes Verhalten). Sowohl der Vorgesetzte als auch die Konferenzteilnehmer sind sehr erfreut über die Übersichtlichkeit und Aussagekraft der Graphiken und bringen dies lobend zum Ausdruck (Verstärkungsreiz). Dies hat zur Folge, dass sich der Assistent auch bei zukünftigen Aufträgen dieser Art sehr bemüht, übersichtliche und aussagefähige Graphiken zu erstellen (Verhaltensreaktion). Durch das Lob wird das besonders bemühte und kompetente Arbeitsverhalten des Assistenten somit »verstärkt«. Eine weitere Differenzierung beim Verstärkungsprinzip betrifft die Unterscheidung zwischen positiver und negativer Verstärkung. Unter positiver Verstärkung wird das Geben eines angenehmen Reizes (Belohnen) als Konsequenz auf ein gewünschtes Verhalten verstanden
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(z. B. die Auszahlung einer Prämie an einen Vertriebsmitarbeiter als Folge exzellenter Verkaufszahlen). Als positive Verstärker kommen dabei sowohl Dinge in Frage, die bestimmte Bedürfnisse (z. B. nach Anerkennung) unmittelbar befriedigen (primäre Verstärker), als auch solche, die eine Bedürfnisbefriedigung in Aussicht stellen (z. B. finanzielle Belohnungen oder das In-AussichtStellen einer Beförderung; sekundäre Verstärker). Darüber hinaus sind eine Reihe weiterer Aspekte bei der Planung und Durchführung von Verstärkungen zu berücksichtigen, deren Erläuterung an dieser Stelle aber zu weit führen würde (s. hierzu beispielsweise Gage & Berliner, 1995). Von negativer Verstärkung wird im Unterschied zur positiven dann gesprochen, wenn die Auftretenswahrscheinlichkeit eines bestimmten Verhaltens dadurch erhöht wird, dass ein negativer Reiz beim Zeigen eines gewünschten Verhaltens entfernt wird. Beispielsweise muss eine Angestellte keine Überstunden machen, wenn sie die Abrechnung rechtzeitig in der Arbeitszeit erledigt. Operantes Konditionieren im Sinne von Verstärkung kann somit wirkungsvoll zur Verhaltensformung bzw. Herbeiführung von gewünschten Verhaltensweisen genutzt werden, die ohne diese Art der Unterstützung nicht gezeigt werden würden. Von Bestrafung wird im Unterschied zur Verstärkung dann gesprochen, wenn einem Verhalten nicht eine angenehme, sondern eine unangenehme Konsequenz folgt, wodurch sich die Auftretenswahrscheinlichkeit verringert bzw. verringern soll. Bestrafungen oder Sanktionen sind allerdings in vielen Fällen keine geeigneten oder wenig effektive Mittel zur Verhaltensänderung. So kommt es oftmals nicht zur Abnahme des unerwünschten Verhaltens, sondern eher zur Vermeidung der Konfrontation mit den Bestrafungen bzw. dem Bestrafer (z. B. indem bestimmte Schutzkleidung, die eigentlich Vorschrift ist und deren Nichttragen sanktioniert wird, nur angelegt wird, wenn ein Besuch der Sicherheitsfachkraft am Arbeitsplatz erwartet wird). Des Weiteren können sich durch Bestrafungen auch Aversionen gegen den Bestrafer entwickeln (im Sinne einer klassischen Konditionierung). Auch arbeitsrechtliche und andere gesetzliche Bestimmungen verbieten zu Recht von vornherein bestimmte Arten der Bestrafung bzw. Sanktionierung. Aus diesen Gründen ist es häufig effektiver, unerwünschtes Verhalten nicht zu bestrafen, sondern es stattdessen durch die Verstärkung alternativen Verhaltens zu reduzieren.
Die beschriebenen Prinzipien der klassischen und operanten Konditionierung können nicht nur zur Erklärung bestimmter Verhaltensweisen im Arbeitskontext herangezogen, sondern auch systematisch zur Verhaltensmodifikation verwendet werden. Beispielhaft sollen entsprechende Anwendungsmöglichkeiten am Organizational-Behaviour-Modification-Ansatz verdeutlicht werden (vgl. hierzu Arnold et al., 2005). Im Fokus solcher Verhaltensmodifikationsprogramme steht die Identifikation kritischer Verhaltensweisen, die im Zusammenhang mit guten Arbeitsleistungen bzw. -ergebnissen stehen und durch Prinzipien der operanten Konditionierung verstärkt, reduziert oder verändert werden sollen. Bei der Umsetzung sind folgende Vorgehensschritte zu beachten: 1. Identifikation kritischer Verhaltensweisen. Im ersten Schritt sind die Verhaltensweisen zu identifizieren, die in einem bedeutsamen Zusammenhang mit organisationalen Erfolgs- bzw. Leistungskennziffern einer Organisation bzw. Organisationseinheit stehen. Entscheidend ist, dass dabei auf beobachtbares Verhalten Bezug genommen wird. 2. Messung der Basisrate des kritischen Verhaltens. Durch diesen Schritt wird festgestellt, in welcher Form und in welchem Ausmaß das kritische Verhalten in der Organisation tatsächlich vorkommt, um ein präzises Bild über das Problemausmaß zu erhalten. 3. Funktionale Analyse. In diesem Schritt müssen die Stimuli der Arbeitssituation identifiziert werden, welche das kritische Verhalten hervorrufen. Außerdem wird analysiert, welche Folgen das kritische Verhalten jeweils hat und durch welche Konsequenzen es aufrechterhalten wird. 4. Ausarbeitung einer Interventionsstrategie. Hierbei kommen insbesondere Prinzipien der operanten Konditionierung zur Anwendung. Zentral ist die Auswahl geeigneter Verstärker (diese reichen von zusätzlichen finanziellen Anreizen über Angebote zu attraktiven Freizeitbeschäftigungen bis hin zu besonderen sozialen Verstärkern) und Verstärkungspläne auf der Basis der Ergebnisse der funktionalen Analyse 5. Evaluation. Überprüfung, ob die Interventionsstrategie zur gewünschten Verhaltensveränderung geführt hat. Ein konkretes Beispiel für ein solches Modifikationsprogramm kann dem 7 Kasten »Organizational Behavior Modification« entnommen werden.
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Kapitel 20 · Theoretische Modelle des Arbeitshandelns
Organizational Behavior Modification In einem von Zohar und Fussfeld (1981) untersuchten Interventionsprogramm sollte das Tragen von Ohrenschützern in einem Produktionsbereich einer Textilfabrik mit extrem hohem Lärmpegel (106 dB) verändert werden. Auslöser für diese Intervention war die Feststellung, dass die Belegschaft dieser Fabrik sich seit Jahren mehr oder weniger weigerte, die von der Leitung empfohlenen Ohrenschützer zu tragen. Obwohl bereits zahlreiche Aufklärungs- und Plakatierungsaktionen durchgeführt worden waren, konnte eine Besserung der Lage bisher nicht erzielt werden. In einem ersten Schritt ermittelten die Autoren die Häufigkeit des Gebrauchs der Ohrenschützer seitens der Belegschaft. Dies zeigte, dass trotz der gesundheitsgefährdenden Lärmbelastung lediglich 35% der Mitarbeiter Ohrenschützer trugen. Im nächsten Schritt führten die beiden Autoren Interviews mit den betroffenen Mitarbeitern der Fertigungsbereiche für eine vertiefende funktionale Analyse durch. Dabei erarbeiteten sie u. a. eine Liste mit attraktiven Verstärkern für diese Personengruppe (z. B. Radios oder Fernseher). Im Anschluss begannen sie als Intervention ein variables Quoten-
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Beobachtungslernen Eine wesentliche Beschränkung der Ansätze zur klassischen und operanten Konditionierung sowohl unter theoretischer als auch praktischer Perspektive ist, dass das Lernen stark fremdgesteuert und unter geringer Beteiligung von Einsichtsprozessen erfolgt. Abschließend sei auf einen Ansatz hingewiesen, der einerseits noch relativ eng Bezug auf die behavioristischen Lerntheorien nimmt, aber diesen Ansatz durch bestimmte kognitive Elemente in theoretischer und lernpraktischer Form erweitert. Beim Ansatz des sozialkognitiven Lernens nach Bandura (1986) geht es im Kern um Prozesse der Beobachtung und des Nachahmens von Verhaltensweisen anderer Menschen. Es wird angenommen, dass wir uns unser soziales, aber auch anderes (Arbeits-)Verhalten in hohem Maße über diese Form des Beobachtungs- bzw. Modelllernens aneignen. Untersuchungen von Bandura und anderen Forschern zeigen, dass die Ausrichtung der Aufmerksamkeit auf bedeutsame Verhaltensaspekte, die angemessene Einübung und Kodierung des beobachteten
Token-System einzuführen. Im Rahmen dieses Systems wurden die Token (eine Art Wertmarken) als sog. sekundäre Verstärker eingesetzt; d. h. wenn die betroffenen Mitarbeiter der Textilfabrik eine bestimmte Anzahl von Token gesammelt hatten, konnten diese gegen die oben genannten Konsumgüter eingetauscht werden. Die Vergabe der Token beruhte außerdem auf einem variablen Verstärkungsplan, d. h. die Vorgesetzten verteilten die Token nicht bei jeder Gelegenheit, bei der das Tragen der Ohrenschützer beobachtet wurde, sondern nur bei einer bestimmten Quote entsprechender Situationen. Bereits nach sehr kurzer Zeit trug ein Anteil von 90% der Belegschaft Ohrenschützer (im Vergleich zu den eingangs ermittelten 35%). Obwohl die Intervention nur über einen Zeitraum von 2 Monate erfolgte, konnte 9 Monate nach Beendigung des Token-Programms noch immer ein Anteil von 90% ermittelt werden. Die Studie von Zohar und Fussfeld verdeutlicht, wie zuvor festgefahrene Verhaltensweisen mithilfe von Prinzipien der operanten Konditionierung relativ rasch und nachhaltig modifiziert werden können.
Verhaltens sowie Prozesse der stellvertretenden Verstärkung (hierbei wird beobachtet, wie die Modellperson verstärkt wird) und Selbstverstärkung (z. B. durch eigene Belohnung) zentrale Einflussfaktoren dieser Art des Lernens sind. Eine praxisbezogene und sehr wirkungsvolle Umsetzung dieser Lern- bzw. Verhaltenstheorie erfolgt im Rahmen von Ansätzen des Behavior Modeling Training (z. B. zum Erlernen von Gesprächstechniken; 7 Kap. 26). 20.2
Kognitionspsychologische/ -theoretische Ansätze
Bei der Behandlung arbeits- und organisationspsychologischer Fragestellungen wird oft auf Annahmen über kognitive Prozesse und Leistungen des Menschen zurückgegriffen; d. h. Annahmen über das Wahrnehmen, Verarbeiten und Behalten von Umweltinformationen sowie ihre Verwendung beim Handeln. Kognitionspsychologische Ansätze bzw. Theorien beschäftigen sich
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somit in erster Linie mit der Beschreibung und Analyse von Mechanismen und Funktionsweisen des menschlichen Denkens. In diesem Kontext hat sich insbesondere die Betrachtung des Menschen als informationsverarbeitendes System durchgesetzt. Im Folgenden werden daher zunächst Grundannahmen und ein Rahmenmodell des Informationsverarbeitungsansatzes erläutert, bevor ein spezifisch auf Arbeitsverhalten bezogenes Modell von Rasmussen (1986) vorgestellt wird. 20.2.1
Annahmen zur menschlichen Informationsverarbeitung
Gemeinsam mit anderen Ansätzen zur Analyse kognitiver Prozesse teilt der Informationsverarbeitungsansatz die Auffassung, dass menschliches Erleben und Verhalten nur auf der Grundlage von Annahmen über interne (kognitive) Strukturen und Prozesse erklärbar ist. In Bezug auf den genannten Ansatz bedeutet dies, dass zunächst grundlegende Annahmen über die Aufnahme, Weiterleitung und Verarbeitung von Informationen sowie deren Einfluss auf Verhalten und Handeln zu entwickeln sind. Die Annahmen sollten sich dabei sowohl auf strukturelle als auch prozessuale Aspekte der Informationsverarbeitung beziehen. Ein entsprechendes Rahmenmodell der Informationsverarbeitung bieten Newell und Simon (1972) an. Gemäß diesem Modell besteht ein Informationsverarbeitungssystem im Wesentlichen aus vier verschiedenen Komponenten: 4 einem sensorischen System (Rezeptorsystem), 4 einem Antwortgenerator (Effektorsystem), 4 einem Gedächtnis und 4 einem zentralen Prozessor. Der Informationsverarbeitungsprozess selbst funktioniert folgendermaßen: Zunächst werden über das sensorische System z. B. visuell, auditiv oder haptisch Informationen aufgenommen, welche dann an einen zentralen Prozessor weitergeleitet werden. In dem Prozessor werden nach einem bestimmten Schema elementare Operationen zur Kodierung, Verarbeitung und Speicherung ausgeführt. Beim Gedächtnis wird zwischen Kurzzeitund Langzeitgedächtnis unterschieden, wobei Ersteres im Wesentlichen für die zeitlich relativ begrenzte Bereitstellung von Informationen zur Verarbeitung im Prozessor zuständig ist und Letzteres vor allem die langfristige
Speicherung von symbolisch kodierten Informationen in Form von Wissensrepräsentationen übernimmt. Nachdem eine Information dann über zahlreiche Operationen verarbeitet wurde, führt sie schließlich zu einem bestimmten Verhalten oder Handeln (Antwortgenerator). Anhand dieser Ausführungen wird deutlich, dass der Informationsverarbeitungsansatz auf dezidierten Analogien zwischen kognitiven Prozessen des Menschen und der Funktionsweise eines Computers aufbaut, weshalb man in diesem Zusammenhang auch von der »Computermetapher« spricht. Der Ansatz geht somit davon aus, dass über die kognitiven Funktionen des Menschen wie bei einem Softwareprogramm Symbole verarbeitet werden, deren Verarbeitung am Ende zu einer Repräsentation, d. h. einer internen bzw. mentalen Darstellung, führt, ähnlich wie in einem Computer bestimmte numerische Kodierungen Buchstaben, Worte oder Sätze repräsentieren. Eine weitere Eigenschaft menschlicher Informationsverarbeitungssysteme ist darüber hinaus die Fähigkeit, Informationen aus der Umwelt nicht nur symbolisch zu repräsentieren, sondern auf Basis dieser Repräsentationen und elementarer Informationsverarbeitungsprozesse auch neue Symbolstrukturen zu schaffen. Dabei sind Repräsentationen nicht als einmalige Ergebnisse eines Verarbeitungsprozesses zu betrachten; vielmehr entsteht während des Verarbeitungsprozesses eine Vielzahl von Bildern, da das sensorische System stets für das »Einfangen« neuer Informationen sorgt, welche dann zu immer neuen Repräsentationen führen. Der theoretische und methodische Zugang zur Beschreibung und Erklärung entsprechender Informationsverarbeitungsprozesse erfolgt vor dem Hintergrund folgender Annahmen (Muthig, 1999): Informationelle Beschreibung. Kognitive Prozesse des Menschen lassen sich als Informationsverarbeitungsprozesse beschreiben. Diese Verarbeitungsprozesse folgen einer Sequenz von Input, Operation und Output, wobei der Output direkt vom Input sowie der Operation, die den Input bearbeitet, abhängt. Rekursive Zerlegung. Es wird angenommen, dass der
Informationsverarbeitungsprozess in verschiedene Komponenten oder Stufen zerlegt werden kann. Diese Komponenten stellen jeweils getrennte Verarbeitungsprozesse dar, die auf einer anderen Ebene oder zu einem anderen Zeitpunkt im Ablauf erfolgen. So gliedert sich
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Kapitel 20 · Theoretische Modelle des Arbeitshandelns
beispielsweise das Gedächtnis in drei Teilsysteme: den sensorischen Speicher, den Kurzzeit- bzw. Arbeitsspeicher und den Langzeitspeicher. In jedem dieser Speicher laufen unterschiedliche Verarbeitungsprozesse ab, deren zeitlicher Zusammenhang den Informationsfluss durch das System bestimmt. Dabei können unterschiedliche Prozesse sowohl gleichzeitig, als auch nacheinander, d. h. sequenziell, ablaufen. Kontinuität und zeitliche Steuerung des Informationsflusses. Der gesamte Output einer Verarbeitungsstufe
muss in dem Output der ihm zeitlich vorgeordneten Prozesse enthalten sein. Das heißt, jede informationsverarbeitende Operation kann erst dann beginnen, wenn der für sie benötigte Input zur Verfügung steht. Physikalische Verankerung. In dem physischen System sind die jeweiligen Zustände des Systems als materielle Träger der Information (symbolische Repräsentationen) zu betrachten, während die Zustandsänderungen als materielle Träger der Operationen (Prozesse) zu betrachten sind. . Abb. 20.1 verdeutlicht die beschriebenen strukturellen Bestandteile der Informationsverarbeitung und skizziert den Informationsfluss zwischen den Komponenten. Allgemein hat sich der im Rahmen des Informationsverarbeitungsansatzes verfolgte Zugang zur Analyse kognitiver Prozesse sowohl theoretisch als auch empirisch als sehr fruchtbar erwiesen (Muthig, 1999). Im Folgenden wird daher beschrieben, zu welchen Modellvorstellungen und Erkenntnissen dieser Ansatz bei der Beschreibung und Erklärung von kognitiven Prozessen im Rahmen von Arbeitszusammenhängen geführt hat. Der Fokus liegt dabei auf der Darstellung eines Modells von Rasmussen . Abb. 20.1. Allgemeines Rahmenmodell der menschlichen Informationsverarbeitung
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(1986), das diese Erkenntnisse und Modellvorstellungen für diesen Anwendungskontext gut integriert. 20.2.2
Informationsverarbeitungsmodell von Rasmussen
Rasmussen (1986) geht in seinem Ansatz davon aus, dass Individuen nicht einfach auf Inputs aus der Umwelt reagieren, vielmehr greifen sie aktiv auf die Informationen zu, die für sie im Kontext ihrer aktuellen Ziele und Bedürfnisse relevant sind. Dieses aktive Extrahieren von Informationen wird durch Prozesse der selektiven Aufmerksamkeit ermöglicht, welche aus einer Fülle von wahrgenommenen Informationen nur jene herausfiltert, welche gerade für die bewusste Handlungssteuerung benötigt werden. Die Auswahl der relevanten Informationen kann jedoch nur dann kontrolliert werden, wenn das Individuum über eine dynamische innere Repräsentation des aktuellen Zustandes – ein aktives, inneres dynamisches Weltmodell – verfügt. Die Wahrnehmung und selektive Verarbeitung von Informationen auf dieser Ebene erfolgt vor allem mithilfe eines sog. primären Verarbeitungssystems, dessen Prozesse weitgehend automatisch, in Form einer »parallelen«, wahrnehmungsorientierten Verarbeitung und unterhalb der Bewusstseinsschwelle ablaufen. Das primäre wird durch ein sekundäres Verarbeitungssystem überwacht und kontrolliert, das durch einen »sequenziell« sowie wissensund zielorientiert arbeitenden Prozessor oberhalb der Bewusstseinschwelle gekennzeichnet ist. Die Annahme von zwei miteinander gekoppelten Verarbeitungssystemen mit unterschiedlichen Charakteristika und Funktionen hat den Vorteil, dass dieses Modell einem breiten
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Spektrum kognitiver Prozesse und Leistungen Rechnung trägt. Das von Rasmussen (1986) beschriebene Informationsverarbeitungssystem setzt sich aus folgenden zentralen Komponenten zusammen: 1. das primäre Verarbeitungssystem, 2. das dynamische interne Weltmodell mit Inkongruenzentdecker, 3. das sekundäre Verarbeitungssystem mit Kurzzeitund Langzeitspeicher. Diese Komponenten sowie ihre prozessualen Zusammenhänge werden im Folgenden eingehender behandelt (s. für eine graphisch-schematisch Veranschaulichung des Modells auch . Abb. 20.2). Primäres Verarbeitungssystem Für Informationsprozesse, welche notwendig sind, um den Körper mit einer dynamischen Umwelt auf einer sensomotorischen Ebene zu koordinieren, wird angenommen, dass diese durch ein sog. primäres Verarbeitungssystem geregelt werden. Im Fokus des Systems steht die Wahrnehmung, also die Aufnahme von Informationen
. Abb. 20.2. Informationsverarbeitungsmodell des Arbeitshandelns (nach Rasmussen, 1986); der grau schraffierte Teil des Rahmens stellt den Bereich nicht bewusster Verarbeitung dar, wäh-
aus der Umwelt (z. B. über Objekte, Zustände und Ereignisse des Arbeitsprozesses) durch sensorische Inputs. Die Wahrnehmung wird vom primären System geleitet und ausgerichtet unter Zuhilfenahme des sog. internen dynamischen Weltmodells. Darunter ist vor allem eine kontinuierliche dynamische Simulation der (Arbeits-)Umgebung sowie der Befindlichkeit des eigenen Körpers in dieser Umgebung zu verstehen, um sensomotorische Prozesse zu koordinieren. Das primäre Verarbeitungssystem ist insbesondere dadurch charakterisiert, dass es auf einer unbewussten, automatisierten Ebene arbeitet, durch sog. verteilte, parallele Verarbeitungsmodi gekennzeichnet ist (z. B. die gleichzeitige Aufnahme, Verarbeitung und Integration von Informationen aus mehreren Sinneskanälen bzw. Aufgaben) und über eine hohe Verarbeitungskapazität verfügt. Trotz der grundsätzlichen Fähigkeit zur parallelen Verarbeitung von Informationen auf der sensomotorischen Ebene, kann allerdings auch gezeigt werden, dass bei der gleichzeitigen Beanspruchung unterschiedlicher modalitätsspezifischer Ressourcen zusätzlicher Aufwand entsteht (Kluwe, 2006). So absorbiert z. B. nachgewiesenermaßen das Telefonieren während des Autofahrens einen Teil der für das Fahren benötigten Auf-
rend der unschraffierte Teil die bewusste Informationsverarbeitung kennzeichnet
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Kapitel 20 · Theoretische Modelle des Arbeitshandelns
merksamkeitsressourcen. Andererseits kann die automatisierte sensomotorische Verarbeitung durch das Einüben von Routineprozeduren im Rahmen von Trainings unterstützt werden (7 Kap. 26), was zur »Entlastung« der Verarbeitungskapazitäten führt und damit z. B. die gleichzeitige Ausführung von Aufgaben oder Beachtung verschiedener Informationsquellen ermöglicht.
1. die zu einem Zeitpunkt vorgenommene Aufmerksamkeitsverteilung über ein Situationsgeschehen (quasi eine komplexe Momentaufnahme), 2. das tiefer reichende Verständnis der aktuellen Vorgänge und 3. die Erwartungen darüber, wie sich die Situation entwickeln wird.
Dynamisches internes Weltmodell Dieses Modell bezieht sich auf die interne Repräsentation bzw. Simulation der Handlungssituation, in der sich eine Person befindet, die kontinuierlich an das Handlungsgeschehen angepasst wird. Gemäß Rasmussen (1986) werden die Wahrnehmungssysteme durch das dynamische interne Weltmodell auf die Quelle der Information ausgerichtet, zu der relevante Veränderungen der aktuellen (Arbeits-)Situation erwartet werden. Umgekehrt liefern die Wahrnehmungssysteme die Informationen zur kontinuierlichen Aktualisierung des Weltmodells. Anhand dieser wechselseitigen Verschränkung wird die Informationsverarbeitung auf solche Umgebungsmerkmale gerichtet, die ziel- und handlungsrelevant in einem bestimmten Arbeitskontext sind. Wahrnehmung und Handlung sind dadurch in hohem Maße integriert. Da angenommen wird, dass das dynamische Weltmodell nicht nur das Verhalten der Umgebung, sondern auch des eigenen Körpers simuliert, stellt es auch die Grundlage für die Handhabung von Objekten und Werkzeugen sowie die antizipatorische Steuerung und Kontrolle schneller Handlungssequenzen dar. In Zusammenarbeit mit einem sog. »Inkongruenzentdecker« kommt dem inneren Weltmodell außerdem die Funktion zu, Abweichungen des äußeren Geschehens von der internen Situationsrepräsentation aufzudecken, d. h. Diskrepanzen zwischen den Wahrnehmungsergebnissen über den Zustand der Umwelt und dem Simulationsergebnis des internen dynamischen Modells. Diese zunächst unbewusst wahrgenommenen Unstimmigkeiten führen dazu, dass das bewusste bzw. sekundäre Verarbeitungssystem alarmiert wird. Wenn beispielsweise beim Schalten während einer Autofahrt ein falscher Gang eingelegt wird, bewirkt dies meist eine »Beförderung« der Information auf die bewusste Verarbeitungsebene, sodass die Schaltbewegung dann bewusst kontrolliert und korrigiert wird. Die Instanz des dynamischen internen Weltmodells weist hohe Entsprechungen mit dem »Situation-Awareness«-Konzept nach Endsley (1995) auf. Dieses bezeichnet
Auch hierbei erfolgt ein kontinuierliches »Updating« der Situation, womit eine fortlaufend aktualisierte Wahrnehmung und Einschätzung der Situationsentwicklung gemeint ist. Situation Awareness wird auch als leistungskritische Kompetenz von Operateuren hochdynamischer Mensch-Maschine-Systeme aufgefasst (z. B. bei der Flugzeugführung oder der Steuerung verfahrenstechnischer Prozesse), die diese befähigt, bereits erste, noch relativ »harmlose« Anzeichen für gefährliche Situationsentwicklungen frühzeitig wahrzunehmen und rechtzeitig Gegenmaßnahmen einzuleiten. Sekundäres Verarbeitungssystem Das primäre Verarbeitungssystem unterliegt der Kontrolle eines zweiten Systems, welches sich auf einem höheren bewussten Level befindet und von Rasmussen (1986) als symbolbasierter sequenzieller Prozessor bezeichnet wird. Anhand einer informationellen Kopplung mit dem Kurzeit- und Langzeitgedächtnis kontrolliert dieser Prozessor die Ebene und die Aufmerksamkeitsausrichtung der Wahrnehmungsaktivitäten, die Zielbildung für den gesamten Verarbeitungsprozess sowie die Handlungen. Dieses System kommt überwiegend dann zum Einsatz, wenn ungewöhnliche Situationen vorliegen und rationale Folgerungen, symbolisches Denken sowie neuartige Handlungsstrategien erforderlich werden. Die Verarbeitungskapazität des sekundären Prozessors ist begrenzt, wobei diese Einschränkungen im Wesentlichen aus den Begrenzungen der Speicherkapazität und -dauer des Kurzzeitspeichers resultieren. Durch diese Begrenzungen werden Wahrnehmungs- und Gedächtnisinhalte sequenziell (d. h. eins nach dem anderen) und sehr selektiv verarbeitet. Da in neuartigen bzw. wenig vertrauten Situationen (z. B. selten auftretenden Störoder Notfallsituationen) viele Wahrnehmungsergebnisse in Diskrepanz zum internen dynamischen Weltmodell stehen können, kann dies die Verarbeitungsmöglichkeiten der verantwortlichen Person rasch überschreiten. Wenn die relevanten Umweltinformationen nicht mehr adäquat verarbeitet werden, führt dies letztendlich zu
337 20.2 · Kognitionspsychologische/-theoretische Ansätze
Fehlern, inadäquaten Handlungen bzw. Entscheidungen und Überforderungsreaktionen der Betroffenen (hierzu auch 7 Kap. 27). Trotz dieser Begrenzungen ist die Effizienz des symbolbasierten sequenziellen Prozessors hoch, da die Wahrnehmungsergebnisse als abstrahierte und hoch aggregierte Informationscodes (Zeichen und Symbole) interpretiert und verarbeitet werden. Auf der Basis einer zeichenbasierten Verarbeitung, die auf bekannte Situationsmuster verweist, können damit verknüpfte routinisierte Handlungsmuster abgerufen und situationsgerecht angepasst werden. Auf der Ebene einer symbolbasierten Verarbeitung der Geschehensinformationen können darüber hinaus funktionale Schlussfolgerungen zum Situationsverständnis und zur Problemlösung sowie durch planendes symbolisches Probehandeln neue Handlungsstrategien generiert werden. Wie bereits erwähnt, steht der Prozessor des sekundären Verarbeitungssystems nicht nur mit dem primären Verarbeitungssystem, sondern auch mit dem Kurzzeitspeicher und dem Langzeitgedächtnis in einer informationellen Kopplung. Der Kurzzeitspeicher, der in anderen Modellen auch als Arbeitsgedächtnis bezeichnet wird, enthält die Informationen, die von dem sekundären Prozessor jeweils aktuell bearbeitet werden und damit im Fokus der Aufmerksamkeit stehen. Hierbei handelt es sich einerseits um kodierte Elemente der Wahrnehmung und andererseits um für die Verarbeitung relevante Elemente des Langzeitgedächtnisses. Die Kapazität dieses Speichers ist stark begrenzt (7±2 Informationseinheiten bzw. Chunks), wodurch einerseits der sequenzielle Verarbeitungsmodus begründet ist und es andererseits schnell zu einer informationellen Überlastung dieser Instanz kommt. Die Erkenntnis, dass das Arbeitsgedächtnis eine geringe Kapazität hat, sowie weitere Eigenschaften dieser Instanz haben erhebliche Konsequenzen für die Gestaltung von Überwachungsdisplays und -anzeigen im Rahmen von Mensch-Maschine-Systemen. So ist beispielsweise auch von zwei modalitätsspezifischen Subsystemen des Arbeitsgedächtnisses auszugehen (ein phonologischer Speicher für sprachbasierte Informationen und ein Subsystem für visuell-räumliche Informationen). Beanspruchen zwei Teilaufgaben dieselbe Modalität, kommt es zu erheblichen Leistungseinbußen in der Informationsverarbeitung. Für die simultane Bearbeitung zweier Aufgaben im Rahmen von Mensch-Maschine-Systemen wird daher empfohlen, die Informationsdarbietungen der simultanen Aufgaben so zu gestalten, dass verschie-
dene Modalitäten beansprucht werden (Wickens & Hollands, 2000). Das Langzeitgedächtnis schließlich dient zur überdauernden Speicherung des Wissens eines Organismus. Darüber, wie dieses Wissen im Gedächtnis repräsentiert ist, gibt es unterschiedliche Auffassungen (z. B. als Schemata oder Bedingungs-Aktions-Regeln; 7 Kap. 26). Je nach Repräsentationsformat ergeben sich unterschiedliche Implikationen für die Aneignung und Nutzung von arbeits- bzw. aufgabenbezogenem Wissen. Für die Beschreibung von Anforderungen in Mensch-MaschineSystemen ist darüber hinaus die Unterscheidung von vier verschiedenen Arten des Wissens relevant: Deklaratives, prozedurales, implizites und explizites Wissen (Schacter, Wagner & Buckner, 2000). Unter deklarativem Wissen wird Wissen über die Realität verstanden, welches der Mensch in der Lage ist mitzuteilen. Dies kann auf der einen Seite die Erinnerung an ein (Arbeits-)Ereignis der vergangenen Tage sein (sog. episodisches Wissen), aber auch das Wissen über Aufbau und Funktionsweise einer bestimmten Maschine (sog. semantisches Wissen). Mit prozeduralem Wissen ist Wissen in Form von Handlungsabläufen gemeint (insbesondere sog. Bedienungswissen z. B. wie eine Fertigungsmaschine zu Beginn der Schicht angefahren wird). Dieses Wissen entsteht über die Wiederholung und »Einübung« von Handlungsabläufen (z. B. zur Aneignung von Routinen zur Maschinenbedienung) oder durch wiederholten Umgang mit bestimmten Situationen. Implizites Wissen beschreibt die Nutzung von Informationen, die wahrgenommen, jedoch nicht bewusst gespeichert wurden (z. B. in Bezug auf Motorengeräusche, die Hinweise auf den Regelungsbedarf der Motorkraft geben), während explizites Wissen den bewussten Abruf vorher eingeprägter Informationen beschreibt (z. B. in Bezug auf Werte zur Justierung von Messvorrichtungen). Alle vier Wissensformen sind in unterschiedlicher Ausprägung je nach Aufgabe, Ausbildung und Erfahrung Bestandteile des System- und Steuerungswissens von Operateuren in Mensch-Maschine-Systemen, in denen Anforderungen an die Prozesssteuerung gestellt werden (z. B. zur Steuerung von Flugzeugen, Schiffen oder Lokomotiven oder zur Überwachung von Produktionsprozessen in der Chemie, der Energieerzeugung oder der Güterproduktion). Im Zusammenhang mit der Struktur und Organisation von Wissen wird außerdem das Konzept mentaler Modelle verwendet, das auf große strukturierte Wissenseinheiten Bezug nimmt, die zur Beschreibung, Er-
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Kapitel 20 · Theoretische Modelle des Arbeitshandelns
klärung und Vorhersage von komplexen technischen, organisatorischen oder sozialen Zusammenhängen gebildet werden. Mentale Modelle haben im Rahmen der Steuerung von Mensch-Maschine-Systemen folgende Funktionen (Kluwe, 2006): 4 Mentale Modelle leiten das Verständnis einer Person über das Prozessgeschehen; d. h., bestimmte Ausschnitte der Prozessrealität werden in ihren strukturellen bzw. zeitlichen, räumlichen, kausalen oder symbolischen Relationen mithilfe interner, dynamisch veränderbarer Repräsentationsformate mehr oder weniger gut wiedergegeben; dies impliziert beispielsweise, dass die Wahrnehmung und Verarbeitung von Informationen über den aktuellen Zustand des Systems mithilfe eines mentalen Modells erfolgt, das wiederum durch seine Beschaffenheit Einfluss auf die Sichtweise und Bewertung des Systemzustandes nimmt. 4 Mentale Modelle leiten das Handeln eines Menschen; d. h. je nach Verständnis des Systemzustandes werden Eingriffe in das System ausgewählt und vorgenommen. 4 Mentale Modelle erlauben die Ableitung von Vorhersagen über den Systemzustand bzw. die Entwicklung von Systemvariablen; dies ermöglicht u. a. eine Abschätzung möglicher Effekte von Eingriffen.
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Mentale Modelle sind nicht notwendig zutreffende und vollständige Abbildungen der Systemrealität, sondern entsprechen lediglich der von dem Individuum »gedachten Realität«. Sie unterliegen darüber hinaus einem ständigen Wandel und ändern sich je nach Aufgaben-/Problemsituation und in Abhängigkeit vom Lernfortschritt eines Individuums. Ziel von Trainings (z. B. an Simulatoren) ist daher nicht, eine »realitätsgetreue« Sicht des Systems zu vermitteln, sondern »funktionale« mentale Modelle für die zu erwartenden Aufgaben- und Problemanforderungen der Operateure auszubilden (7 Kap. 26). Bereits die verschiedenen Beispiele zu Elementen des Rasmussen-Modells dürften verdeutlicht haben, dass ein Anwendungsschwerpunkt dieses und ähnlicher Informationsverarbeitungsmodelle im Bereich der Analyse und Gestaltung von Mensch-Maschine-Systemen liegt (d. h. Arbeitstätigkeiten, die in Zusammenhang mit der Bedienung, Überwachung, Steuerung und Instandhaltung technischer Systeme zur Ausführung bestimmter Aufgaben stehen). Durch die Bezugnahme auf grundlegende Aspekte der menschlichen Informations-
aufnahme und -verarbeitung lassen sich anhand kognitionstheoretisch fundierter Ansätze praktisch relevante Implikationen für die Analyse und Gestaltung von Informationsdarstellungen (Anzeigen und Displays) sowie Unterstützungssystemen (z. B. für besondere Steuerungs- und Entscheidungsanforderungen) in MenschMaschine-Systemen ableiten. Darüber hinaus werden sie aber auch zur Konzeption und Planung kognitiver Aufgabenanalysen (Schaper & Sonntag, 1998; Wei & Salvendy, 2004) sowie zum Entwurf kognitiv orientierter Trainings und Trainingssimulatoren für Operateure (z. B. van Merrienboer, 1997; 7 Kap. 26) herangezogen. Begrenzungen kognitionstheoretischer Ansätze zum Arbeitshandeln liegen vor allem darin begründet, dass komplexere Strukturen der Handlungsplanung und -ausführung, in denen z. B. eine Zwischenzielbildung erforderlich ist, nicht hinreichend berücksichtigt werden. Im Fokus stehen eher kurzfristige Handlungsepisoden bzw. Anforderungssituationen. Für eine umfassendere Betrachtung von komplexen Handlungen sind handlungstheoretische Ansätze geeignet, die im folgenden Abschnitt vorgestellt werden. 20.3
Handlungstheoretische Ansätze
Handlungstheorien befassen sich mit der Beschreibung, Erklärung und Vorhersage menschlicher (Arbeits-)Handlungen. In diesem Zusammenhang wird Handeln nicht als reaktives Verhalten, wie etwa im Rahmen der Reiz-Reaktions-Modelle verstanden. Vielmehr wird davon ausgegangen, dass Handlungen von Individuen zweckgerichtet, motiviert und bewusst ausgeführt werden und somit einen aktiven, finalen Charakter besitzen. Handlungen werden im Kontext dieser Theorien vor allem als Mittel zur Erreichung von Zielen verstanden. Fragestellungen ergeben sich dabei in Bezug auf die Gründe und die Motivation menschlichen Handelns sowie die Beziehungen zwischen dem Handelnden und der Situation. Eine zentrale Annahme der Handlungstheorien bezieht sich auf die Existenz sog. Rückkopplungsmechanismen, welche notwendig sind, um gezielte und koordinierte Handlungen vorzunehmen. Das aus der Kybernetik übernommene Rückkopplungskonzept entspricht einem technischen Regelvorgang (z. B. einer durch Thermostaten gesteuerten Regelung von Hausheizungen), der folgende Systemkomponenten im Sinne eines Rückkopplungskreislaufes beinhaltet: Messfühler zur Fest-
339 20.3 · Handlungstheoretische Ansätze
stellung des Ist-Werts, der Vergleich des Ist- mit einem Soll-Wert und die Feststellung von Diskrepanzen sowie Effektoren zum Ausgleich der Ist-Soll-Diskrepanzen. Dieses zunächst eher technische Regelprinzip wird im Rahmen der Handlungstheorien auf das menschliche Handeln übertragen. Man geht davon aus, dass das zu erzielende Handlungsergebnis im Kopf des Menschen gespeichert ist, sodass es als Vergleichsgrundlage für die sich aus einer Handlung ergebenden Teil- oder Zwischenergebnisse dienen kann. Dies setzt eine kognitive Grundlage voraus, d. h. intern repräsentierte Ziele und Wissensbestände zur Handlungssteuerung. Handlungstheorien basieren somit auch auf kognitionspsychologischen Annahmen; die in diesem Kontext betrachteten kognitiven Prozesse weisen allerdings engere Bezüge zum Verhalten bzw. den Situationsgegebenheiten beim aktiven Handeln auf als kognitionstheoretische Ansätze. Damit ergeben sich auch Bezüge zu behavioristischen Theorien; im Gegensatz zu diesen befassen sich Handlungstheorien allerdings vor allem mit den Prozessen, die zwischen dem Reiz- bzw. Umwelt-Input und dem gezeigten Verhalten stattfinden, d. h. den regulativen Funktionen von Kognitionen beim Handeln. Handlungstheorien zeichnen sich somit insbesondere dadurch aus, dass sie die Lücke zwischen Kognitionen und äußerer motorischer Aktivität schließen. Im folgenden Abschnitt wird zunächst auf das sog. TOTE-Modell eingegangen – einem Vorläufer und wichtigen Basiskonzept der Handlungstheorien –, um danach die im arbeits- und organisationspsychologischen Kontext zentrale Theorie der Handlungsregulation zu erörtern. . Abb. 20.3. Beispiel für das TOTE-Modell: Der Fahrradkurier
20.3.1
TOTE-Modell
Das Test-Operate-Test-Exit-(TOTE-)Modell stellt eine Erweiterung der einfachen behavioristischen Reiz-Reaktions-Modelle dar. Ursprünglich entstammt das Modell der Kybernetik, welche sich mit der Struktur komplexer Systeme beschäftigt. In die Psychologie wurde es zur Untersuchung motivierten, zielstrebigen Verhaltens eingeführt und diente insbesondere dazu, menschliches (Arbeits-)Handeln unter Berücksichtigung der jeweiligen Situation ganzheitlich zu erklären. Das Modell wurde in den 60er und 70er Jahren von Miller, Galanter und Pribram (1973) entwickelt und als bedeutsame Alternative zu den bis dahin dominierenden Reiz-ReaktionsModellen diskutiert. Nach Auffassung der Autoren ist Verhalten hierarchisch organisiert und läuft nach folgendem Muster ab: In einem ersten Schritt erfolgt ein Vergleich zwischen Soll- und Ist-Situation (Test 1). Daran schließt sich eine bestimmte Operation an, durch welche die Umwelt verändert wird (Operate 1). Hiernach erfolgt eine Rückmeldung über das erzielte Veränderungsresultat (Test 2). Diese Test- und Operate-Einheiten wiederholen sich so lange, bis das gewünschte Resultat erreicht wird (Exit). In . Abb. 20.3 wird das TOTE-Modell anhand eines Beispiels verdeutlicht: Ein Fahrradkurier soll möglichst rasch wichtige Unterlagen von der Hauptverwaltung eines Unternehmens zu einer Zweigstelle fahren. Nachdem er die Unterlagen bei der Hauptverwaltung abgeholt hat, stellt er mithilfe des Stadtplans fest, wo sich die Zweigstelle befindet und welche grobe Richtung er dazu einschlagen muss. Dann fährt er zunächst in der geplanten Rich-
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Kapitel 20 · Theoretische Modelle des Arbeitshandelns
tung los. Hierdurch ermittelt der Kurier die Wegdifferenz zwischen den beiden Positionen und führt eine Operation zur Verringerung der Wegdifferenz durch. An einer der nächsten Kreuzungen bleibt er stehen, nimmt den Plan wieder zur Hand, stellt fest, wie weit er schon gekommen ist und entscheidet sich für die nächste Wegstrecke. Hiermit erfolgt ein weiterer Vergleichs- bzw. Prüfschritt, um die Differenz zwischen der aktuellen und der angestrebten Position zu ermitteln sowie weitere Maßnahmen zur Differenzverringerung. Derartige TestOperate-Einheiten werden so lange wiederholt, bis der Kurier sein Ziel (die Zweigstelle) erreicht hat. Um hierarchisch verschachtelte TOTE-Einheiten modellieren zu können, führten Miller et al. (1973) außerdem das Konzept des Plans ein. Pläne dienen vor allem dazu, um Handlungen bzw. Operationen in der richtigen Reihenfolge auszuführen und bestehen aus einer Hierarchie von Instruktionen. Darüber hinaus unterschieden Miller et al. (1973) zwischen Verhaltensstrategien und -taktiken, auf denen Pläne basieren können. Strategien beziehen sich dabei auf verallgemeinerte Pläne zu größeren Handlungsketten, während Taktiken zur Steuerung bzw. Ausgestaltung kleiner Verhaltenseinheiten dienen. Der Begriff Bild (»image«) wurde schließlich im Rahmen des Modells verwendet, um die Repräsentation von Handlungswissen als kognitive Grundlage der Handlungssteuerung zu beschreiben. Kritisiert wurde am TOTE-Modell (Frese & Zapf, 1994) vor allem, dass der beschriebene Prozess nicht explizit auf Ziele und Rückmeldungen bei der Handlungssteuerung eingeht. Des Weiteren wird angemerkt, dass das Modell eher einem geschlossenen Kreislauf ähnelt, nicht jedoch mögliche Umwelteinflüsse, welche die Pläne oder Ziele ändern könnten, berücksichtigt. Trotz dieser kritischen Aspekte wurde das TOTE-Grundmodell im Rahmen der Handlungsregulationstheorie aufgegriffen und weiterentwickelt. 20.3.2
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Handlungsregulationstheorie
Hacker (2006) sowie Oesterreich und Volpert (1987) gehen im Rahmen der von ihnen entwickelten Handlungsregulationstheorie davon aus, dass eine effektive Arbeitsanalyse, -bewertung und -gestaltung nur dann möglich ist, wenn bekannt ist, wie Arbeitstätigkeiten psychisch reguliert werden. Wie bereits oben beschrieben, ist dabei ein wesentlicher Ausgangspunkt der Handlungsregulati-
onstheorie, dass Arbeitsverhalten bzw. -handeln durch Ziele geleitet und gesteuert wird. Arbeitshandeln kann aus zwei Perspektiven betrachtet werden. Gemäß der ersten prozessorientierten Perspektive schreitet eine Handlung von einem Ziel zu einem Plan, dann zur Ausführung des Plans und schließlich zum Handlungsergebnis bzw. einer entsprechenden Rückmeldung voran. Unter einer zweiten eher strukturellen Perspektive wird betrachtet, wie der Handlungsverlauf durch bestimmte hierarchisch strukturierte Formen der Informationsverarbeitung gesteuert bzw. reguliert wird. Prozessuale Struktur von Handlungen Mit Bezug auf die erste Perspektive nehmen Frese und Zapf (1994) bzw. Hacker (2006) an, dass ein Handlungsprozess bzw. -ablauf in der Regel folgende Schritte beinhaltet: 1. Zielbildung oder Ausrichtung des Handelns im Sinne einer Vornahme und Vorwegnahme; 2. Orientierung über die Aufgabe, die Ausführungsmöglichkeiten und Handlungsbedingungen; 3. Entwerfen eines Vorgehensplans bzw. Handlungsprogramms; 4. Entscheidung über die tatsächliche Ausführungsweise bzw. für einen spezifischen Plan aus einer Reihe von möglichen Vorgehensweisen; 5. Ausführung des Handlungsplans und Überwachung bzw. Kontrolle des Ausführungsprogramms; 6. Verarbeitung des Feedbacks zur Handlungsausführung bis zur Zielerreichung. Diese Abfolge darf man jedoch nicht als eine Folge real abgegrenzter regulativer Phasen verstehen, sondern eher als miteinander verquickte Handlungsvorgänge. Die Reihenfolge der Schritte kann in der Realität ebenfalls ungeordneter erfolgen, sodass manche Schritte vor anderen erfolgen oder Rücksprünge bzw. Wiederholungen von bestimmten Phasen des Handelns vorkommen. Für die Betrachtung bestimmter regulativer Bedingungen und Prozesse des Handelns ist es dennoch sinnvoll, eine entsprechende Phaseneinteilung vorzunehmen. Phase der Zielbildung. Die Phase der Zielbildung ist vor
allem durch kognitiv-motivationale Prozesse geprägt. Einerseits werden hier aus Wünschen bzw. Motiven unter Berücksichtigung und Abwägung bestimmter Handlungserwartungen konkrete Ziele abgeleitet. Andererseits ist in der Arbeitswelt weniger von Wünschen und
341 20.3 · Handlungstheoretische Ansätze
Motiven, sondern von Aufträgen oder Aufgaben als Ausgangspunkt des Handelns auszugehen. Solche Aufträge und Aufgaben werden jedoch von den Akteuren im Zusammenhang mit ihrem Wissen, ihren Einstellungen und ihren Motiven »redefiniert«. Je nach Aufgabenverständnis und Motivation des Akteurs können daher Aufträge bzw. Arbeitsaufgaben ganz unterschiedlich aufgefasst werden, was nicht selten zu Konflikten innerhalb einer Arbeitsgruppe oder zwischen Mitarbeiter und Führungskraft führt. Die in dieser Phase gebildeten Ziele sind gleichzeitig die Richtschnur des Handelns, da sie Repräsentationen der erwarteten Handlungsergebnisse darstellen und damit als Vergleichsgrößen für den Handlungsfortschritt dienen. Bestimmte Eigenschaften der Ziele bzw. der Zielbildung (wie z. B. die Spezifität oder der Herausforderungscharakter von Zielformulierungen) sind darüber hinaus maßgeblich für Motivation und Qualität des Handelns (z. B. werden spezifische und herausfordernde Ziele motivierter und mit höherem Erfolg verfolgt als Zielformulierungen, die diese Eigenschaften nicht aufweisen). Phase der Orientierung. In der Phase der Orientierung über die Aufgabe und deren Bedingungen verschafft sich der Akteur einen Überblick über Handlungsmöglichkeiten und -bedingungen. Hier kommt es vor allem auf adäquate mentale Modelle über die Aufgabe sowie aktive und geeignete Strategien zur Informationssuche beim Akteur und die handlungsbezogene Darstellung von relevanten Aufgabenbedingungen im Arbeitssystem (z. B. die Darstellung von eingriffsrelevanten Kennwerten in einem Mensch-Maschine-System) an. Die Angemessenheit und Qualität der Handlungsauswahl und -planung in der nächsten Phase hängt somit stark davon ab, wie angemessen und gründlich sich ein Akteur kognitiv über die Handlungsbedingungen orientiert hat bzw. welche Art von Informationen ihm hierzu zur Verfügung standen bzw. gestellt wurden. Entwurfs- und Entscheidungsphase. Der Orientie-
rungs- folgt die Entwurfs- und Entscheidungsphase, die die eigentliche Handlungsplanung beinhaltet. Je nach Erfahrung der Akteure mit der Aufgabe bzw. Handlungssituation kann diese Phase sehr unterschiedlich ausfallen. In einer Routinesituation genügen Sekunden, um sich zu vergegenwärtigen, was zu tun ist; während in einer unbekannten und problemhaltigen Situation ein Handlungsplan erst ausgearbeitet werden muss oder
verschiedene Vorgehensalternativen zu entwickeln und gegeneinander abzuwägen sind. Je nach Reichweite und Komplexität des Ziels bedarf es oftmals auch keiner vollständigen und detaillierten Ausarbeitung aller Handlungsschritte. Angemessener ist in solchen Fällen oft, wenn nur die ersten Schritte detailliert geplant werden und ein grober Plan für das gesamte Vorgehen vorliegt. Weitere Teilpläne können dann während des Handelns entwickelt werden. Diese Art der Planung ist darüber hinaus flexibler, da adäquater mit Handlungsgegebenheiten, die während des Handelns entstehen, umgegangen wird. Phase der Handlungsausführung und -kontrolle. In der
Phase der Handlungsausführung und -kontrolle werden die kognitiven Vorbereitungen des Handelns umgesetzt und bezüglich Zielerreichung und Planbeibehaltung überwacht. Effizientes Handeln erfordert aber in dieser Phase auch, dass der Handelnde flexibel auf unerwartete Gegebenheiten reagieren kann, Handlungspläne anpassen kann, ohne das Ziel aus den Augen zu verlieren, sein Handeln auch unter zeitlichen Aspekten effizient ausführt und gegebenenfalls sein Handeln mit anderen Akteuren oder mit der Erledigung paralleler Aufgaben koordinieren kann. Feedbackverarbeitung. Im Rahmen der Feedbackverar-
beitung erhält der Akteur Rückmeldung darüber, ob er das Ziel erreicht hat bzw. wie weit er noch von der Zielerreichung entfernt ist. Rückmeldungen sind somit die Informationen aus der Umwelt, die der Handelnde zur Beurteilung des Handlungsfortschritts und zur weiteren Handlungssteuerung benötigt. Der Wert solcher Rückmeldungsinformationen ist jedoch immer in Relation zu den Zielrepräsentationen zu sehen, da erst der Vergleich des Feedbacks mit dem Ziel oder Plan handlungsrelevante Kognitionen erzeugt. Bedeutsamkeit und Wert von Feedbackinformationen hängen darüber hinaus davon ab, wie zeitnah diese jeweils gegeben werden, ob sie auch Informationen über die Handlungsausführung oder nur zum Ergebnis des Handelns enthalten und wie detailliert die Rückmeldungen ausfallen. Hierarchisch-sequenzielle Struktur der Handlungsregulation Die zweite Perspektive der Handlungsbetrachtung nimmt Bezug auf die kognitive Strukturierung der Handlungsregulation. Eine zentrale Grundannahme
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Kapitel 20 · Theoretische Modelle des Arbeitshandelns
Mit freundlicher Genehmigung des Verlags Hans Huber © Hogrefe, Verlag Hans Huber 2007
. Abb. 20.4. Vergleichs-VeränderungsRückkopplungs-(VVR-)Einheiten. (Nach Hacker, 2006)
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hierzu beinhaltet, dass die Organisation von Handlungen auf der Basis von »zyklischen Einheiten« erfolgt. Diese Einheiten bilden sozusagen die Grundbausteine menschlichen Handelns und bestehen aus einem Ziel bzw. Zwischenziel sowie mehreren Transformationen, die auf das Ziel bezogen sind. Hacker (2006) geht davon aus, dass die von ihm als Vergleichs- bzw. Vorwegnahme-Veränderungs-Rückkopplungs-Einheiten (VVR-Einheiten) benannten Einheiten, welche inhaltlich den TOTE-Einheiten entsprechen, in sich vernetzte und hierarchisch organisierte zyklische Einheiten darstellen (. Abb. 20.4). Im Unterschied zu den TOTE-Einheiten nehmen die VVREinheiten Bezug auf Ziele als Resultate und Vergleichsmuster des Handelns und weisen deutlicher auf umweltverändernde Wirkungen des Handelns hin. Analog zum TOTE-Modell wird bei den VVR-Einheiten das »vorgedachte« Ziel mit dem angestrebten Ergebnis verglichen. Wenn das rückgemeldete Resultat mit dem Zwischenziel übereinstimmt, wird die Handlung fortgesetzt, falls nicht, wird die zyklische Einheit wiederholt. Die Verschachtelung der VVR- bzw. zyklischen Einheiten hängt dabei davon ab, in welchem Ausmaß die Ziel- und die korrespondierende Planstruktur einer Handlung Hierarchieebenen aufweisen. Unter der hierarchischen Organisation der Handlunsregulation ist somit zu verstehen, dass Operationen auf unteren Ebenen von höheren Ebenen der Handlungsregulation generiert, organisiert und gesteuert werden. Als sequenzielle Orga-
nisation ist schließlich die mehr oder weniger geordnete Abfolge konkret beobachtbarer Handlungsschritte auf der untersten Ebene der Handlungsausführung zu verstehen, die sich aus der Organisation der übergeordneten Ziel- und Planebenen ergibt. Zur Veranschaulichung der hierarchisch-sequenziellen Organisation von Handlungen dient folgendes Beispiel (. Abb. 20.5): Eine Sekretärin hat den Auftrag bekommen, eine Konferenz zu organisieren. Um dieses Gesamtziel zu erfüllen, muss sie verschiedene Teilaufgaben erledigen. Zunächst gilt es eine Einladungs-E-Mail zu schreiben und an alle Beteiligten zu verschicken. In einem weiteren Teilziel muss sie einen Tagungsraum sowie die Verpflegung für die Konferenzteilnehmer auswählen und organisieren usw. Bei der Planung der Reihenfolge der einzelnen Teilaufgaben legt die Sekretärin fest, dass sie zunächst mit dem Schreiben und Versenden der Einladungsmail beginnen wird. Bei der Planung und Ausführung dieser Teilaufgabe ist es währenddessen nicht notwendig, die anderen Teilaktivitäten sowie deren Vornahmen und Ausführungsaktivitäten ständig im Bewusstsein zu behalten. Die Vollständigkeit und Komplexität des gesamten Handlungsplans muss dem Handelnden also nicht permanent bewusst sein, sonst wäre er bzw. sie sehr schnell kognitiv überfordert. Bei der Ausführung der Teilaufgabe »Schreiben einer Einladungsmail« ergeben sich schließlich verschiedene Unteraufgaben, wie beispielsweise das Festlegen der Inhalte des
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. Abb. 20.5. Beispiel für die hierarchisch-sequenzielle Struktur von Arbeitshandlungen
Schreibens, die Erstellung der Formatierung usw. Zur Umsetzung dieser Unteraufgaben sind dann wiederum die Planung und Ausführung weiterer Unterunteraufgaben bzw. Operationen notwendig, welche in diesem Beispiel u. a. die Formulierung einzelner Sätze beinhaltet. So können alle Aufgaben so weit herunter gebrochen werden, bis die unterste Handlung nur noch aus der Eingabe von Buchstaben auf der Tastatur besteht. Da die Annahme einer durchgehend hierarchischen Regulation von Handlungen empirisch nicht haltbar ist, spricht man mittlerweile eher von einer »heterarchischen« Handlungsorganisation bzw. von schwachen Hierarchien (Frese & Zapf, 1994). So kann man beispielsweise davon ausgehen, dass untere Handlungsebenen eigene regulative Funktionen ausüben, indem sie auf Feedback selbstständig reagieren und die Handlung ohne Einbezug höherer Ebenen an situative Bedingungen anpassen. Auch wirken unerwartete Handlungsergebnisse der unteren Ebenen auf höhere Ebenen z. B. durch Veränderungen der Zielsetzungen ein (weil möglicherweise die Erreichung der ursprünglichen Ziele nicht mehr realistisch ist). Anhand der Analyse von
Handlungsfehlern kann man sogar eine Art von »Eigenleben« der unteren Ebenen beobachten (7 Kap. 27). Neben der hierarchisch-sequenziellen Struktur der Handlungsorganisation geht Hacker (2006) außerdem davon aus, dass die Handlungsregulation auf qualitativ verschiedenen Regulationsniveaus erfolgt. Hierbei werden drei Niveaus bzw. Ebenen unterschieden: Auf der sensomotorischen bzw. untersten Ebene wird die motorisch koordinierte Ausführung einzelner Handlungsschritte bzw. Bewegungen gesteuert. Bei der mittleren bzw. perzeptiv-begrifflichen Ebene erfolgt die Steuerung von mehreren zu einer Teilaufgabe gehörenden Schritten anhand von bereits gut beherrschten Handlungsschemata. Mithilfe der obersten bzw. intellektuellen Regulationsebene werden übergeordnete oder neuartige Handlungspläne zur Zielerreichung entworfen und kontrolliert. Speziell das Vorgehen in neuartigen und wenig vertrauten Handlungssituationen erfordert eine Steuerung auf dieser Ebene anhand analytischer und problemlösender Denkoperationen (Hacker, 2006). Die Charakteristika der einzelnen Regulationsebenen werden im Folgenden eingehender behandelt (. Abb. 20.6).
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Kapitel 20 · Theoretische Modelle des Arbeitshandelns
Mit freundlicher Genehmigung des Verlags Hans Huber © Hogrefe, Verlag Hans Huber 2007
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. Abb. 20.6. Zusammenhang von Regulationsebene und Art der Aktionsprogramme. (Nach Hacker, 2006)
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Auf der sensomotorischen Ebene werden stereotype und automatisierte Bewegungen ohne bewusste Aufmerksamkeit organisiert und gesteuert. Diese Art der Handlungsregulation erfolgt meist mit wenig Anstrengung. Sie ist vergleichbar mit den Aktivitäten des primären Verarbeitungssystems bei Rasmussen (7 Abschn. 20.2.2). Sensomotorische Vorgänge werden durch bewegungsorientierte Abbilder aufseiten des Gedächtnisses gesteuert und orientieren sich darüber hinaus an internen und externen Feedbacksignalen der motorischen Bewegungskoordination. Bemerkenswert ist in diesem Zusammenhang, dass sensomotorische Handlungskomponenten durch bewusste Regulationsvorgänge zwar in Gang gesetzt und unterbrochen bzw. angehalten werden können, die Veränderung von automatisierten Handlungsprogrammen durch bewusste Regulationsanstrengungen jedoch erhebliche Schwierigkeiten bereitet (Frese & Zapf, 1994). Ein Beispiel für die Handlungsregulation auf der sensomotorischen Ebene stellt das weitgehend automatisierte und meistens unbewusst ablaufende Schalten von Gängen beim Autofahren dar. Auf der perzeptiv-begrifflichen Ebene werden Handlungen durch bewusstseinsfähige, wenn auch nicht unbedingt bewusstseinspflichtige Vorgänge vorbereitet und gesteuert. Die Hauptrolle spielen dabei Urteils- und Klassifikationsvorgänge, die auf Wahrnehmungs- und Wissensschemata basieren. Hierbei werden Informationen nach bestimmten gespeicherten Regeln bzw. Mustern integriert und meist direkt mit bestimmten Handlungsschemata verknüpft. Handlungsschemata beinhal-
ten fertige Handlungspläne, die durch Erfahrung oder Übung in routinisierter Form beherrscht werden. Die Handlungsorientierung und -vorbereitung auf dieser Regulationsebene verläuft daher in hohem Maße regelgeleitet und schematisiert, sodass es nur bestimmter »Signale« bedarf, um entsprechende Pläne oder Handlungsschemata zu aktivieren. Nichtsdestotrotz bleiben die Schemata flexibel einsetzbar, indem sie Steuerungsparameter besitzen, die situationsbezogen spezifiziert werden und damit an die jeweilige Situation bei gleich bleibendem Grundmuster angepasst werden können. Die Wahrnehmung entsprechender »Signale« sowie der damit verbundene Abruf von mehr oder weniger »fertigen« Handlungsplänen kann meist gut trainiert werden. Ein Beispiel hierfür ist die Wahrnehmung bestimmter Warnsignale an Maschinen und die dadurch ausgelösten Handlungsketten zur Bewältigung eines möglichen Störereignisses. Nimmt ein erfahrener Arbeiter ein solches Warnsignal wahr, so muss er, abhängig vom wahrgenommenen Signal, zunächst bestimmte Zuordnungsvorgänge vornehmen (z. B. um welche Störungsart es sich handelt). Nach der Klassifikation bzw. Bewertung des Warnsignals werden dann – meist in unmittelbarer zeitlicher Folge – damit verknüpfte Entscheidungen über die zu ergreifenden Maßnahmen getroffen und umgesetzt. Auf der intellektuellen Ebene werden komplexe Analysen von Situationen und Handlungen zur Bewältigung problemhaltiger Arbeitsanforderungen reguliert. Diese Vorgänge bedürfen meistens der bewussten Zuwendung. Auf dieser Ebene werden die Handlungspläne entwickelt, die auf den untergeordneten Ebenen umgesetzt werden bzw. nach einer Phase der Einübung ohne Rückgriff auf die intellektuelle Ebene abgerufen werden können. Die informationsverarbeitenden Aktivitäten zur Erstellung solcher Handlungspläne umschließen beispielsweise die Analyse von Zielen und Umweltbedingungen in einem Handlungsfeld, die Analyse und der Entwurf von möglichen Problemlösungen sowie die Entscheidungsfindung dazu, welches die geeignetste Vorgehensvariante in diesem Kontext ist. Ein Beispiel für die Handlungsregulation auf der intellektuellen Ebene stellt die Planung eines Projekttreffens (7 Kasten) durch einen noch unerfahrenen Projektleiter dar. Die Einteilung in drei Regulationsebenen findet sich in analoger und verblüffend ähnlicher Form auch bei Rasmussen (1986) wieder, der unabhängig von der Handlungsregulationstheorie ebenfalls drei Ebenen der kognitiven Regulation von Arbeitsverhalten (»skill-
345 20.3 · Handlungstheoretische Ansätze
Planung eines Projekttreffens Der Projektleiter muss sich zunächst Gedanken darüber machen, welche Ziele und Aufgaben für das Projekt anstehen, wo das Projekt im Rahmen der Zielerreichung steht und in welchem Zustand das Projektteam ist. Vor diesem Hintergrund formuliert er dann die Ziele, die beim Projekttreffen zu erreichen sind, und sammelt die Themen, die zu besprechen sind. In einem nächsten Schritt plant er, wie er bestimmte Aufgabenund Problemstellungen beim Projekttreffen ansprechen und bearbeiten lassen will. Hierzu überlegt er sich, welche Moderationsmethoden dafür geeignet sind und welche Berichte und Inputs für das Treffen vorzubereiten sind. Seine Überlegungen und Vorgehensentwürfe bespricht er in einem nächsten Schritt mit seiner Assistentin und erwägt mit ihr Vor- und
based«, »rule-based« und »knowledge-based level«) unterscheidet. In weiterführenden Ansätzen der Handlungsregulationstheorie wird darüber hinaus eine zusätzliche vierte sog. »heuristische Ebene«, die sich auf die Regulation metakognitiver Aspekte des Handelns bezieht, eingeführt (Frese & Zapf, 1994). Zu erwähnen ist in diesem Zusammenhang auch, dass Oesterreich (1981) ein alternatives Fünf- bzw. Zehn-Ebenenmodell der Handlunsgregulation entwickelt hat, das allerdings fokussiert ist auf die Charakterisierung unterschiedlicher Anforderungsebenen bei der Planung von Handlungen (7 Kap. 21). Dabei wird auf interne psychische Vorgänge bei der Handlungssteuerung nur am Rande Bezug genommen. Operative Abbildsysteme Ein weiteres zentrales Konzept der Handlungsregulationstheorie sind sog. operative Abbildsysteme. Operative Abbilder stellen zeitweilig relativ stabile, »invariante« Abbildungen der zu erreichenden Ziele, Pläne und der dabei zu berücksichtigenden Bedingungen des eigenen Handelns dar. Ohne diese relativ beständigen handlungsregulierenden psychischen Repräsentationen wäre ein zielgerichtetes Handeln nicht denkbar (vgl. hierzu auch das dynamische interne Weltmodell nach Rasmussen in 7 Abschn. 20.2.2). Operative Abbilder stellen somit wesentliche kognitive Grundlagen des menschlichen (Arbeits-)Handelns dar. Hierbei erfüllen sie verschie-
Nachteile bestimmter Moderationsabläufe. Beide entscheiden sich dann für konkrete Lösungen der Themenbehandlung im Projekttreffen und arbeiten gemeinsam eine konkrete Agenda aus usw. Um die Anforderungen für die Vorbereitung und Durchführung des Projekttreffens zu bewältigen, bedarf es somit einer genauen Analyse der Ausgangssituation und der zu erreichenden Ziele sowie einer daran anschließenden detaillierten Planung des Vorgehens. Bei den nächsten Projekttreffen kann der Projektleiter möglicherweise schon von diesen »Vorarbeiten« profitieren und muss bestimmte Elemente der Projekttreffen nicht mehr so detailliert planen, da er bereits auf entsprechende Vorgehensmuster zurückgreifen kann.
dene Funktionen: Als Repräsentationen über Ziele und Teilziele dienen sie dem Handelnden zur Antizipation des Arbeitsergebnisses, d. h. des angezielten Soll-Zustandes. Daher müssen sie spätestens in der handlungsvorbereitenden Phase entstehen und bis zum Handlungsabschluss erhalten bleiben. Nur so kann der gespeicherte Soll-Zustand permanent über Rückkopplungsvorgänge mit dem erreichten Ist-Zustand verglichen werden. Sie beinhalten darüber hinaus Repräsentationen der Ausführungsbedingungen von Arbeitshandlungen (z. B. Eigenschaften des Ausgangsmaterials, die beim Bearbeiten zu beachten sind oder das Wissen über Ablaufgesetzmäßigkeiten von Arbeitsprozessen) und dienen damit zur Orientierung über den Handlungskontext. Drittens beziehen sie sich auf Repräsentationen der Transformationsmaßnahmen des Ist- in den Soll-Zustand (z. B. Handlungspläne, Wissen über die Funktionsweisen von Arbeitsmitteln, Wissen über die eigenen Leistungsmöglichkeiten) und unterstützen damit die Handlungsplanung und -ausführung. Ein operatives Abbildsystem eines Anlagenfahrers kann beispielsweise das Wissen über den inneren Aufbau und die in der Anlage ablaufenden Prozesse, die Kenntnis von Anlagensignalen, welche ihm eingriffsrelevante Zustände der Prozesse anzeigen, die Kenntnis und Beherrschung erforderlicher Maßnahmen, das Wissen über mögliche Folgezustände der Eingriffshandlungen sowie das Wissen über die zu erreichenden Produk-
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Kapitel 20 · Theoretische Modelle des Arbeitshandelns
tionsziele sowie ihre Bedeutsamkeit etc. beinhalten. Das bedeutet, der Anlagenfahrer hat ein inneres Bild von den Produktionszielen, der Anlage, seinem Arbeitsprozess, den erforderlichen Eingriffen und den Rahmenbedingungen. An diesem Bild orientiert der Arbeitende sein Handeln und seine Maßnahmen. Darüber hinaus konnte in verschiedenen Studien gezeigt werden, dass die Richtigkeit und Differenziertheit der operativen Abbildsysteme die Güte der an ihnen orientierten Informationsverarbeitungsprozesse und Handlungen bestimmt (Hacker, 2006). Beispielsweise ist ein Facharbeiter, der über umfangreiche Kenntnisse bezüglich der Maschine, ihrer Zustände und Signale sowie der erforderlichen Eingriffsmaßnahmen verfügt, in der Lage, in diesem Kontext schnell, effizient und angemessen zu handeln. Ein unerfahrener Mitarbeiter hingegen, welcher noch nicht über ein differenziertes operatives Abbildsystem zu dieser Maschine und den Eingriffsmaßnahmen verfügt, wird in der Regel langsamer handeln, läuft Gefahr, Signale falsch zu interpretieren und so unangemessene Handlungsschritte einzuleiten.
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Anwendungsaspekte der Handlungsregulationstheorie Was folgt aus den handlungstheoretischen Konzepten für praktische Fragen- und Problemstellungen der Arbeits- und Organisationspsychologie? Anwendungsbezogene Folgerungen und Forschungsaktivitäten, die durch die Handlungsregulationstheorie initiiert wurden, beziehen sich u. a. auf Fragen der Arbeitsanalyse, der Arbeitsgestaltung sowie der Aus- und Weiterbildung. Auf der Grundlage handlungstheoretischer Konzepte wurde eine Reihe – zumindest im deutschsprachigen Raum – sehr bedeutsamer Arbeitsanalyseinstrumente entwickelt. Hier ist neben dem Tätigkeitsbewertungssystem (TBS) und seinen Varianten aus der Dresdener Arbeitsgruppe um Hacker vor allem das VERA- und RHIAVerfahren aus der Berliner Arbeitsgruppe um Volpert und Oesterreich zu nennen. Das Tätigkeitsbewertungssystem erlaubt eine differenzierte Analyse und Bewertung eines breiten Spektrums von kognitiven und kooperativen Anforderungen bei Arbeitstätigkeiten, um auf dieser Grundlage einerseits arbeitsbedingte Ursachen psychischer Beeinträchtigungen (z. B. Stress- oder Monotonieerleben; 7 Kap. 28) zu identifizieren, und um andererseits Hinweise zur Gestaltung lern- und persönlichkeitsföderlicher Tätigkeiten ableiten zu können.
Beim TBS wurde auf die oben beschriebenen prozessund strukturorientierten Charakteristika der Handlungsregulation direkt Bezug genommen und entsprechende Bewertungsskalen zur Operationalisierung dieser Merkmale entwickelt. Das VERA-Verfahren, das zur Analyse von Denk-, Planungs- und Entscheidungsanforderungen bei Arbeitstätigkeiten dient, lehnt sich ebenfalls an zentrale Grundannahmen der Handlungsregulationstheorie an, wobei es allerdings auf dem Zehn-Stufen-Modell der Handlungsregulation von Oesterreich (1981) basiert (7 Kap. 21). Beim RHIAVerfahren steht hingegen die Analyse von Belastungen bei Arbeitstätigkeiten in Form von Regulationshindernissen und -überforderungen im Vordergrund. Hierzu wurde ein eigenständiger Ansatz zur Klassifizierung entsprechender Hindernisse und Überforderungen unter Berücksichtigung handlungstheoretischer Grundannahmen entwickelt. Unter arbeitsanalytischen Gesichtspunkten sind darüber hinaus Taxonomien zur Beschreibung, Erklärung und Klassifizierung von Handlungsfehlern auf handlungstheoretischer Basis von Bedeutung. Auf der Grundlage solcher Klassifizierungen, können Ursachen der Fehlerentstehung, die auf verschiedene Aspekte der Regulationsebenen und -phasen Bezug nehmen, aufgedeckt und Maßnahmen für ein besseres Fehlermanagement entwickelt werden (Frese & Zapf, 1994; auch 7 Kap. 27). Folgerungen der Handlungsregulationstheorie für die Arbeitsgestaltung ergeben sich vor allem in Hinblick auf die Gestaltung der Aufgaben und Handlungsanforderungen. In Bezug auf die Aufgabengestaltung ist in erster Linie das Konzept der »vollständigen« Aufgabe bzw. Tätigkeit zu nennen. Hierunter wird in Anlehnung an die prozessorientierte Betrachtung von Handlungen die Gewährung von Möglichkeiten zum selbstständigen Setzen von Zielen sowie zur selbstständigen Handlungsvorbereitung, Mittelauswahl, Ausführung von Handlungen mit Ablauffeedback und Kontrolle der Zielerreichung mit Resultatfeedback verstanden. Einschränkungen dieser Möglichkeiten z. B. durch Fragmentierung von vorbereitenden, ausführenden und kontrollierenden Teiltätigkeiten führen nachgewiesenermaßen zu Störungen im Wohlbefinden und zu psychischen Beschwerden sowie zum Abbau der geistigen Leistungsfähigkeit und Beweglichkeit (Ulich, 2004). Neben der Berücksichtigung einer »ganzheitlichen« Aufgabengestaltung weist die Handlungsregulationstheorie aber auch darauf hin, dass die maßvolle Erhöhung von Regulationsanforde-
347 20.4 · Tätigkeitstheoretische Ansätze – Die Tätigkeitstheorie nach Leontjew
rungen im Sinne z. B. erweiterter Handlungs- und Entscheidungsspielräume und damit verbundener Planungs- und Denkanforderungen zur Weiterentwicklung der Handlungskompetenzen und damit letztlich zur »Persönlichkeitsentwicklung« beiträgt. Diese Hinweise zur praktischen Relevanz der handlungsregulationstheoretischen Konzepte in Bezug auf die Arbeitsgestaltung deuten nur an, welches enorme Potenzial dieser Ansatz für die Arbeitsgestaltung besitzt (s. hierzu insbesondere Hacker, 2006). Eine wichtige kognitive Grundlage für effektives und effizientes Arbeitshandeln stellen außerdem differenzierte und aufgabenadäquate operative Abbildsysteme sowie die Beherrschung von Strategien und Handlungsprogrammen auf den unterschiedlichen Regulationsebenen dar. Auf der Basis dieses handlungstheoretischen Konzepts lassen sich weitreichende und differenzierte praktische Implikationen für die Gestaltung von Lern- und Trainingsprozessen bei sowohl routinisierbaren als auch problemhaltigen, kognitiv anspruchsvollen Arbeitsaufgaben ableiten (7 Kap. 26). Ein besonderes Verdienst kommt dieser Theorie auch insofern zu, da sie als eine der ersten auf die Potenziale der Auseinandersetzung mit Lernanforderungen im Arbeitskontext für ein kognitiv anspruchvolles Lernen hingewiesen und gezeigt hat, wie entsprechende arbeitsnahe Lernprozesse unterstützt und wirkungsvoll gestaltet werden können. Eine zentrale Kritik an den bisher vorgestellten kognitions- und handlungstheoretischen Ansätze ist, dass Arbeitstätigkeiten im Wesentlichen unter kognitiven Gesichtspunkten behandelt, die sozialen und motivationalen Aspekte der Arbeit hingegen eher vernachlässigt werden. Die Tätigkeitstheorie ist ein theoretischer Ansatz, der diese Aspekte in den Fokus seiner Betrachtungen stellt und mit den kognitionsorientierten Konzepten integriert. Sie wird im Folgenden als abschließender Ansatz vorgestellt. 20.4
Tätigkeitstheoretische Ansätze – Die Tätigkeitstheorie nach Leontjew
Zur begrifflichen Klärung und zum besseren Verständnis des folgenden Abschnitts werden einleitend Unterschiede zwischen den Konzepten Handlung und Tätigkeit erläutert.
Definition Eine Handlung ist im Sinne von Stengel (1997) ein Verhalten, das auf ein konkretes, bewusst angestrebtes Ziel ausgerichtet ist. Eine Tätigkeit hingegen ist auf einer höheren Ebene anzusiedeln und bezieht sich auf ein übergeordnetes Ziel oder Motiv, welches dem Individuum nicht unbedingt bewusst sein muss. Eine Tätigkeit umfasst dabei sowohl geistig-mentale, d. h. innere, als auch praktische, gegenstandsbezogene, also äußere Prozesse, welche den erwähnten Motiven oder Oberzielen zugeordnet sind.
Beim Tätigkeitsbegriff wird der Akzent auf die Gegenständlichkeit gesetzt; d. h., das Motiv des Tätigwerdens ist auf ideelle oder materielle Gegenstände gerichtet, durch deren Veränderung individuelle und gesellschaftliche Bedürfnisse erfüllt werden. Bei der Handlung hingegen liegt der Akzent auf der Zielbezogenheit und der Bewusstheit; d. h. der kognitiven, auf ein Ziel bezogenen Steuerung von Arbeitshandlungen. Enge Bezüge zwischen beiden Konzepten bestehen aber insofern, da Handlungen zur Konkretisierung oder Realisierung einer Tätigkeit erforderlich sind. Tätigkeitstheoretische Konzepte beruhen vor allem auf den Arbeiten osteuropäischer Psychologen wie Rubinstein (1984), Leontjew (1977) und Tomaszewski (1981). Im Folgenden soll insbesondere der Ansatz von Leontjew (1977) eingehender vorgestellt werden. Tätigkeiten des menschlichen Individuums werden im Rahmen der Tätigkeitstheorie als Teilsystem der gesellschaftlichen Beziehungen aufgefasst (Hacker, 2006). Dementsprechend wird angenommen, dass der Mensch nicht nur durch innere Vorgänge, sondern auch durch sein Handeln in der Welt geformt wird. Im Rahmen seiner Tätigkeitstheorie stellt Leontjew (1977) daher die vermittelnde Rolle der Tätigkeit zwischen Individuum und Umwelt in den Mittelpunkt der Betrachtungen. Nach seinem Verständnis stellen Tätigkeiten Wechselwirkungen zwischen Mensch und Umwelt her. Des Weiteren betont Leontjew den »gegenständlichen Charakter« von Tätigkeiten, welcher sich daraus ergibt, dass sich das Motiv, welches einen Menschen zu einer Tätigkeit antreibt, stets auf einen ideellen oder materiellen Gegenstand zur Bedürfniserfüllung gerichtet ist. Als drittes nimmt Leontjew an, dass Tätigkeiten ein gestaltendes und persönlichkeitsförderndes Element besitzen, wel-
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348
Kapitel 20 · Theoretische Modelle des Arbeitshandelns
ches sich daraus ergibt, dass sich der Mensch, während er auf seine Umwelt einwirkt, sich ihre sachliche und soziale Bedeutung aneignet und sich hieraus wiederum seine Motive, Fähigkeiten und sein Denken (weiter)entwickeln. Neben diesen generelleren Annahmen geht Leontjew davon aus, dass Tätigkeiten aus verschiedenen strukturellen Perspektiven betrachtet bzw. analysiert werden können. Er unterscheidet dabei zwischen einer Makrostruktur, welche einer strukturellen Betrachtungsweise, und einer Ringstruktur, die einer prozessualen Betrachtung entspricht. 20.4.1
Makrostruktur der Tätigkeit
Die Makrostruktur beschreibt den Zusammenhang und die hierarchische Ordnung der Konzepte Tätigkeit, Handlung, Operation und Bewegung einerseits und Motiv, Ziel und Bedingung andererseits (. Abb. 20.7). Tätigkeiten bilden die hierarchisch am höchsten angesiedelte Analysekategorie. Sie werden durch Motive ausgelöst (z. B. das Motiv der Existenzsicherung bei Arbeitstätigkeiten) und anhand von Handlungen, Operationen und Bewegungen realisiert. Handlungen auf der nächst tiefer gelegenen Stufe verkörpern die einem bewussten Ziel untergeordneten Prozesse, die schließlich in Operationen umgesetzt werden. Operationen auf der dritten Analyseebene sind Verrichtungen, welche von den gegebenen Bedingungen abhängen und damit als unselbstständige Teilhandlungen zu verstehen sind. Auf unterster Ebene sind schließlich die Bewegungen als sichtbare und gleichzeitig kleinste Einheit der Tätigkeit zu betrachten. Wichtig ist hierbei, dass Tätigkeiten nicht nur durch Motive initiiert, sondern auch von diesen gesteuert werden (der Charakter einer Handlung wie z. B. das Führen eines Kundengesprächs verändert sich, je nachdem welches Motiv dabei im Vordergrund steht: Sollen die Bedürfnisse des Kunden erfüllt oder der Verkaufs. Abb. 20.7. Makrostruktur der Tätigkeit. (Nach Leontjew, 1977)
20
umsatz optimiert werden). Gleichermaßen werden Handlungen nicht nur durch Ziele gesteuert, sondern ebenfalls von diesen ausgelöst. Somit sind sowohl bei Tätigkeiten als auch bei Handlungen zwei verschiedene Regulationssysteme zu unterscheiden (Hacker, 2006): ein motivational-antriebsregulatorisches System (bei dem es um die Absichten, Vorsätze sowie Bedürfnisse, Interessen und Gefühle beim Handeln, d. h. die motivationalen, volitionalen und emotionalen Aspekte der Handlungs- bzw. Tätigkeitsregulation, geht) und ein zielgerichtet-ausführungsregulatorisches System (bei dem es um die Zielanalyse, die Verwirklichungsbedingungen, die Mittelbestimmung und die Ausführungskontrolle, d. h. die kognitive und sensomotorische Steuerung der Handlungs- bzw. Tätigkeitsausführung, geht). Die makrostrukturelle Betrachtungsweise von Tätigkeiten ist weitgehend mit derjenigen der Handlungsregulationstheorie in Einklang zu bringen. Jedoch ergeben sich durch den stärkeren Einbezug von motivationalen Aspekten der Arbeitstätigkeit weitergehende Analyse- und Gestaltungsperspektiven. Dies betrifft beispielsweise die Analyse der im makrostrukturellen Modell angesprochenen Beziehungen zwischen Motiv, Ziel und Bedingungen: So können sich bezüglich des Motivs einer Tätigkeit Diskrepanzen zwischen Motiv und Ziel einerseits sowie Motiv und Bedingungen andererseits ergeben und motivationale Probleme bei den Tätigkeitsausübenden verursachen. Diskrepanzen zwischen Motiv und Ziel liegen beispielsweise vor, wenn durch zu starke Reglementierung der Arbeit eine Mitgestaltung seitens des Mitarbeiters sowie eine positive Identifikation mit der Arbeit verhindert bzw. eingeschränkt werden. Diskrepanzen zwischen Motiv und Bedingungen können dann entstehen, wenn durch belastende Umfeldbedingungen, z. B. eine laute Arbeitsumgebung, das Ziel der Arbeit, z. B. das Entwickeln komplexer Problemlösungen, nicht erreicht werden
349 20.4 · Tätigkeitstheoretische Ansätze – Die Tätigkeitstheorie nach Leontjew
kann. Darüber hinaus können auch Ziel-BedingungsDiskrepanzen entstehen, wenn beispielsweise durch die Bereitstellung unzureichender Arbeitsmittel Handlungen nicht wie geplant durchgeführt werden können. Anhand der Analyse solcher Diskrepanzen können folglich in der Praxis wichtige Hinweise für die Arbeitsgestaltung gewonnen werden. 20.4.2
Ringstruktur der Tätigkeit
Mit der Ringstruktur bzw. prozessualen Betrachtungsweise (. Abb. 20.8) beschreibt Leontjew die durch Tätigkeiten und Handlungen hervorgerufenen bzw. vermittelten Wechselwirkungen zwischen Umwelt und Person. Diese Wechselwirkungen haben auf der einen Seite eine Veränderung der Umwelt zur Folge, die durch eine in die Umwelt eingreifende Tätigkeit hervorgerufen wird. Auf der anderen Seite wirkt die Umwelt über die Tätigkeit auf die handelnde Person ein bzw. zurück und verändert diese, worunter in erster Linie Veränderungen in Bezug auf die Tätigkeitsauffassung und der Ausführungskompetenzen der Person (z. B. indem man Interesse an einer zunächst uninteressanten Tätigkeit entwickelt) zu verstehen sind. Prozesse der Kompetenz- und Persönlichkeitsentwicklung durch die Arbeit sind somit anhand dieser Betrachtungsweise erklärbar. Der beschriebene Wechselwirkungsprozess zwischen Mensch und Umwelt darf darüber hinaus nicht so verstanden werden, dass er sich auf den unterschiedlichen Ebenen als Tätigkeit oder Handlung oder Operation jeweils für sich vollzieht. Vielmehr ist er als »hierarchisch-inklusiver« Vorgang aufzufassen (Kannheiser, 1992). Das bedeutet, dass die Tätigkeit im Wesentlichen als eine motivbezogene Betrachtungseinheit zu verstehen ist: Handlungen sind aus diesem Grund nicht allein als zielorientierte Prozesse zu betrachten, sondern immer auch als motiv-initiierte Tätigkeiten. Anders ausgedrückt fallen Tätigkeit und
. Abb. 20.8. Ringstruktur der Tätigkeit. (Nach Leontjew, 1977)
Handlung stets zusammen. Dies wiederum bedeutet, dass Handlungen sowohl ausführungsregulatorisch, d. h. durch Kognitionen gesteuert, als auch antriebsregulatorisch, also durch Motive reguliert, zu analysieren bzw. zu betrachten sind. In Bezug auf die Arbeitsgestaltung beinhaltet diese Auffassung, dass durch Handlungen auch die Realisierung von Motiven ermöglicht bzw. unterstützt werden sollte (z. B. gesellschaftlich nützliche Dinge herzustellen oder befriedigende Beziehungen zu anderen Menschen zu entwickeln). Anhand der Ringstruktur lassen sich darüber hinaus Folgerungen in Bezug auf die Ganzheitlichkeit der Tätigkeit ableiten. Durch die Schnittstelle zur Umwelt wird der Bezug zur sachlichen und stofflichen Realität hergestellt. Hier wird auch von der Ebene der sinnlichen Wahrnehmung und Erfahrung gesprochen. Durch das bewusste, planvolle und zielgerichtete Eingreifen des Menschen in die Umwelt wird weiterhin die Ebene der Kognition einbezogen. Durch die Bedeutung, die der Mensch einem Gegenstand zuschreibt, wird schließlich die Ebene des Sinnes angesprochen. Diese drei Ebenen charakterisieren das ganzheitliche Konzept der Tätigkeit. Praktisch folgt daraus, dass bei einer mangelnden Integration der Ebenen (z. B. durch fehlende Sinnlichkeit, fehlende Eingriffsmöglichkeiten oder fehlenden Sinnbezug) die Entwicklungspotenziale in der Tätigkeit nicht ausreichend bzw. suboptimal gegeben sind. Um die Entwicklungspotenziale einer Tätigkeit voll auszuschöpfen, sollten in eine Tätigkeit daher stets alle drei Ebenen (Wahrnehmung, Kognition, Sinn) eingebunden werden. Die mangelnde Integration einer der Ebenen kann bei dem Handelnden beispielsweise zu einer erlebten Sinnlosigkeit der Arbeit führen. Tätigkeiten sind somit so zu gestalten, dass die Bedeutung des persönlichen Arbeitsbeitrags für den Handelnden erfahrbar wird (z. B. indem einem Mitarbeiter der Zusammenhang seiner Arbeit zum Endprodukt verdeutlicht wird). Insbesondere in Arbeitskontexten mit einer hohen Arbeitsteilung ist dies von großer Bedeutung. Anhand des Ringstrukturmodells lassen sich außerdem die verschiedenen Übergänge zwischen Mensch bzw. Subjekt, Tätigkeit und Umwelt und die sich daraus ergebenden spezifischen Wechselwirkungen verdeutlichen (7 Kasten »Wechselwirkungen zwischen Mensch, Tätigkeit und Umwelt«). Aus der Betrachtung von Übergängen zwischen Mensch, Tätigkeit und Umwelt ergeben sich ebenfalls
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350
Kapitel 20 · Theoretische Modelle des Arbeitshandelns
Wechselwirkungen zwischen Mensch, Tätigkeit und Umwelt Subjekt–Tätigkeit. Bei diesem Übergang sind vornehmlich Vorgänge betroffen, welche eine Tätigkeit auslösen und steuern, also beispielsweise Motivationsprozesse. Ein Verkäufer gewinnt seinen Antrieb aus dem engen Kontakt mit Menschen, für eine Mechanikertätigkeit hingegen würde ihm die Motivation fehlen. Ein »Match« zwischen Person und Aufgabe wäre im letzteren Fall daher nicht vorhanden.
gen Übergang werden bei diesem Modus die Rückwirkungen der Umwelt auf die Tätigkeit betrachtet. Durch die Verwendung einer Vielzahl von mikroelektronischen Systemen in der modernen Auto-
Tätigkeit–Subjekt. Bei diesem Übergang werden die Rückwirkungen der Tätigkeit auf das Subjekt, also den Menschen, untersucht. Hier führen Erfahrungen aus dem Vollzug der Tätigkeit zu einem veränderten Abbild der gegenständlichen Welt, welches wiederum die Modifikation von Plänen und Strategien zur Folge haben kann. Nach vergeblichen Versuchen eine Maschine allein zu reparieren, bittet ein Mechaniker schließlich einen weiteren Kollegen ihm zu helfen. Gemeinsam lässt sich die Maschine deutlich leichter und besser reparieren. Durch diese Erfahrung wird der Mechaniker möglicherweise seine Einstellung gegenüber kooperativem Arbeiten verändern und bei künftigen Aufträgen schwierige Reparaturen von vornherein gemeinsam planen.
bedeutsame praxisrelevante arbeits- und organisationspsychologische Fragestellungen: In Bezug auf den Übergang zwischen Subjekt und Tätigkeit stehen die Zuordnung von Personen zu Aufgaben sowie der »Match« zwischen vorhandenen, geforderten und abgerufenen Qualifikationen im Vordergrund (z. B. welche Aufgaben sind für ältere leistungseingeschränkte Mitarbeiter noch adäquat und fordernd genug). In umgekehrter Richtung, d. h. beim Übergang von Tätigkeit zum Subjekt, werden die Rückwirkungen der ausgeführten Tätigkeit auf Wohlbefinden, Gesundheit und Qualifikation eines Arbeiters untersucht (z. B. welche psychischen und gesundheitlichen Folgen hat die langjährige Ausübung von Tätigkeiten, die hoch standardi-
siert sind und nur geringe geistige Anforderungen stellen). Hinsichtlich der Übergänge zwischen Tätigkeit und Umwelt bzw. Umwelt und Tätigkeit ergeben sich schließlich in erster Linie Fragen in Bezug auf die Gestaltung der Arbeitsbedingungen und deren Wirkungen auf die Ausführung der Tätigkeiten (z. B. wie wirken sich veraltete Maschinen und Werkzeuge zur Produktbearbeitung auf die Arbeitsstrategien zur Erreichung der Produktionsziele aus). Anhand dieser Beispiele sollte deutlich geworden sein, dass auch die Tätigkeitstheorie ein hohes Potenzial für die Analyse und Gestaltung von Arbeitstätigkeiten besitzt, wenngleich dieses auch erst in Ansätzen erforscht und realisiert wird.
Tätigkeit–Umwelt. Hierbei steht die durch eine Tätigkeit vorgenommene Einflussnahme auf die Umwelt im Mittelpunkt. Ein Mechaniker kann beispielsweise durch eine Reparatur Einfluss auf den Zustand einer Maschine nehmen. Diese Veränderung ist für ihn als Ergebnis seiner Arbeit sichtbar und beinhaltet entsprechende Rückmeldungen über den Erfolg der Tätigkeit. Umwelt–Tätigkeit. Im Unterschied zum vorheri-
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mobiltechnik haben sich die Reparaturtätigkeiten in Kfz-Werkstätten erheblich verändert; zur Fehlersuche benutzt ein Kfz-Mechaniker heutzutage nicht nur seine Beobachtung und Erfahrung, sondern er führt vielmehr eine Reihe von Tests mit messelektronische Geräten durch, um darüber den Fehler zu bestimmen.
351 Literatur
Zusammenfassung 4 Behavioristischen Theorien liegt eine Modellierung menschlichen Verhaltens in Form von ReizReaktions-Beziehungen (S-R) bzw. in seiner erweiterten Form unter Einbezug intervenierender Organismusvariablen (S-O-R) zugrunde. 4 Die klassische Konditionierung erklärt, wie neue Reiz-Reaktions-Verbindungen durch bestimmte assoziative Lernvorgänge entstehen, während die operante Konditionierung sich mit der Veränderung von Verhaltenswahrscheinlichkeiten durch Verstärkung und Bestrafung befasst. Insbesondere die operante Konditionierung kann gezielt zur Veränderung von Arbeitsverhalten eingesetzt werden. 4 Im Rahmen des Informationsverarbeitungsansatzes wird angenommen, dass menschliches Arbeitserleben und -verhalten nur auf der Basis von Annahmen über interne (kognitive) Strukturen und Prozesse erklärbar ist. Hierbei geht es insbesondere um Annahmen über die Aufnahme, Weiterleitung und Verarbeitung von Informationen und deren Einfluss auf das Verhalten bzw. Handeln in Arbeitskontexten. 4 Das Informationsverarbeitungsmodell nach Rasmussen spezifiziert, welche Informationsverarbeitungsprozesse und -komponenten beim Arbeitshandeln in Mensch-Maschine-Systemen eine Rolle spielen.
L Weiterführende Literatur Arnold, J., Silvester, J., Patterson, F., Robertson, I., Cooper, C. & Burnes, B. (2005). Work psychology. Understanding human behaviour in the workplace (4th ed.). Harlow: Pearson Education Limited. Hacker, W. (2006). Allgemeine Arbeitspsychologie. Psychische Regulation von Arbeitstätigkeiten (2. Aufl.). Bern: Huber. Kluwe, R. H. (2006). Informationsaufnahme und Informationsverarbeitung. In B. Zimolong & U. Konradt (Hrsg.), Ingenieurpsychologie. Enzyklopädie der Psychologie, Bd. D/III/2 (S. 35–70). Göttingen: Hogrefe.
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4 Handlungstheorien gehen davon aus, dass Arbeitshandlungen in erster Linie als Mittel zur Erreichung von Zielen zu verstehen und zu erklären sind, wobei entsprechende Ziele sowohl Ausgangspunkte als auch Regulationskomponenten des Handelns darstellen. 4 Bei der Analyse von Arbeitshandlungen unterscheidet man zwischen einer prozessualen Betrachtung von verschiedenen aufeinander folgenden Handlungsphasen und einer strukturellen Perspektive, die sich mit der hierarchisch-sequenziellen Organisation von Handlungen bzw. der Handlungssteuerung befasst. 4 Die Tätigkeitstheorie nach Leontjew befasst sich nicht nur mit der kognitiven Strukturierung von Handlungen bzw. Tätigkeiten, sondern auch mit den sozialen und motivationalen Aspekten des Arbeitshandelns. 4 Bei der Betrachtung von Tätigkeiten kann zwischen einer makrostrukturellen Perspektive, bei der Entsprechungen zwischen Motiv-, Ziel- und Handlungsstrukturen untersucht werden, und einer ringstrukturellen Perspektive, die die Wechselwirkungen zwischen Mensch, Tätigkeit und Umwelt analysiert, unterschieden werden.
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352
Kapitel 20 · Theoretische Modelle des Arbeitshandelns
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20
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IV Arbeit 20
Theoretische Modelle des Arbeitshandelns
– 327
21
Arbeitsanalyse und -bewertung – 353
22
Arbeitsgestaltung in Produktion und Verwaltung –377
23
Gruppenarbeit in der Produktion
24
Arbeitsmotivation und Arbeitszufriedenheit – 425
25
Formen des Arbeitsverhaltens – 443
26
Aus- und Weiterbildung: Konzepte der Trainingsforschung
– 399
– 459
27
Psychologie der Arbeitssicherheit – 485
28
Wirkungen der Arbeit – 513
29
Neue Formen der Arbeit: Das Beispiel Telekooperation
– 535
Arbeit stellt einen zentralen Lebensinhalt der meisten Menschen dar und dient nicht nur zur Existenzsicherung, sondern ist auch ein wichtiges Wirkungs- und Gestaltungsfeld des eigenen Lebens. Sie beinhaltet allerdings sowohl positive Wirkungen wie Entwicklungspotenziale als auch negative Wirkungen wie Belastungen für den arbeitenden Menschen. Wenn allgemein und insbesondere in der Arbeits- und Organisationspsychologie von Arbeit gesprochen wird, sind meist Arbeitstätigkeiten in organisationalen Kontexten gemeint; d. h., Arbeit findet in arbeitsteiligen Strukturen statt und dient der Erreichung organisationaler Ziele. Bei der Analyse und Gestaltung von Arbeit sind somit sowohl betriebswirtschaftliche, organisationale, aber auch mitarbeiterorientierte Ziele und Aspekte zu beachten, um Arbeit nicht nur effizient, sondern auch humangerecht zu gestalten. Die Arbeits- und Organisationspsychologie bietet hierfür eine Vielfalt an fundierten und überprüften Theorien und Methoden an. In 7 Kap. 20 geht es zunächst um Theorien des Arbeitshandelns, die Konzepte zur Beschreibung, Erklärung und Vorhersage menschlichen Arbeitsverhaltens aus verhaltens-, kognitions-, handlungs- und tätigkeitstheoretischer Perspektive darstellen. Um entsprechendes Arbeitshandeln bzw. -verhalten systematisch zu erfassen und im Hinblick auf bestimmte Zielsetzungen zu analysieren und zu bewerten, bedarf es wissenschaftlich fundierter empirischer Methoden. In 7 Kap. 21 werden grundlegende methodische Zugänge und ausgewählte Verfahren der psychologischen Arbeitsanalyse vorgestellt, mit denen Anforderungen, Bedingungen und Wirkungen von Arbeitsaufgaben und -tätigkeiten unter Bezugnahme auf verschiedene theoretische Perspektiven ermittelt und einer Bewertung zugänglich gemacht werden können. Auf der Grundlage solcher Analysen gilt es, Arbeitsaufgaben und -bedingungen an die Leistungsvoraussetzungen des arbeitenden Menschen anzupassen, und diese so zu gestalten, dass nicht nur effiziente und produktive Arbeitsprozesse resultieren, sondern auch die Gesundheit des arbeitenden Menschen erhalten und seine Persönlichkeit weiterentwickelt wird. Die Arbeits- und Organisationspsychologie hat hierzu eine Reihe von wirkungsvollen Konzepten, Prinzipien und Strategien für eine humangerechte und effiziente Arbeitsgestaltung entwickelt, die in 7 Kap. 22 anhand konkreter Fallbeispiele vorgestellt werden. Effizientes und humangerechtes Arbeiten beinhaltet auch das Arbeiten in Gruppen. In 7 Kap. 23 werden Formen und Zielsetzungen bei der Gestaltung von Gruppenarbeit erörtert und Ergebnisse, welche Bedingungen und Merkmale eine leistungsfähige bzw. effektive Gruppe ausmachen, vorgestellt. Um die Leistung und den Einsatz von Menschen bei der Arbeit erklären zu können, bedarf es auch motivationstheoretischer Konzepte. In 7 Kap. 24 werden daher wichtige motivationspsychologische Ansätze erörtert, die erklären, warum arbeitende Menschen bestimmte Handlungsziele wählen, was sie bei der Realisierung der Ziele motiviert und unter welchen Gesichtspunkten Ergebnisse des Handelns bewertet werden. Eine besondere Rolle spielt in diesem Zusammenhang die Arbeitszufriedenheit, die nicht nur Ergebnis der Motivation ist, sondern auch selbst motivierende Wirkung hat. Anhand zweier weiterer bedeutsamer Theorien wird erläutert, wie Tätigkeiten beschaffen sein sollten, damit sie Arbeitszufriedenheit und damit auch die Arbeitsmotivation fördern. Arbeitsverhalten als eine zentrale abhängige Variable der Arbeits- und Organisationspsychologie ist als mehrdimensionales Konzept aufzufassen. Es geht nicht nur um produktives Verhalten – das eigentliche Leistungsverhalten bei der Bewältigung von Arbeitsaufgaben. Von zunehmender Bedeutung sind auch Aspekte des extraproduktiven Verhaltens – als Verhaltensaspekte, die über die vertraglichen geforderten Arbeitsleistungen hinausgehen ‒ und im umgekehrten Sinne des kontraproduktiven Verhaltens – als Verhaltensaspekte, die Interessen der Organisation verletzen. In 7 Kap. 25 werden beschreibende und erklärende Konzepte insbesondere zu den extra- und kontraproduktiven Verhaltensaspekten vorgestellt. Um die zunehmend anspruchsvoller werdenden Aufgaben in der Arbeitswelt zu bewältigen, müssen die Mitarbeiter ausgebildet und kontinuierlich weiter geschult werden. Die Arbeits- und Organisationspsychologie hat hierzu eine Vielzahl von theoretischen und methodischen Konzepten entwickelt, um entsprechende Lernanforderungen zu ermitteln, die beruflichen Wissens- und Kompetenzinhalte wirkungsvoll zu vermitteln und ihre Anwendung am Arbeitsplatz zu gewährleisten (7 Kap. 26). Die Arbeitswelt ist auch durch Gefahren und Gefährdungen geprägt, die zu Unfällen und Verletzungen der arbeitenden Menschen, aber auch weitergehenden Schäden im Arbeitssystem und der Umwelt führen können. Um Arbeits- und Systemsicherheit zu gewährleisten, sind in besonderem Maße auch verhaltens- und einstellungsbezogene, d. h. psychologische Faktoren mit ins Kalkül zu ziehen. 7 Kap. 27 stellt unterschiedliche Modelle zur Erklärung und Prävention sicherheitskritischen Verhaltens und zur Gewährleistung einer umfassenderen Systemsicherheit vor. Um unterschiedliche Wirkungsaspekte der Arbeit geht es in 7 Kap. 28. Im Zentrum stehen Belastungen und Beanspruchungen durch Arbeit – insbesondere solche, die sich in Form von Stress und seinen Folgen bemerkbar machen. Hierzu werden entsprechende Erklärungsansätze zur Stressentstehung sowie moderierender Faktoren vorgestellt und Ansätze zur Stressbewältigung und Gesundheitsförderung beschrieben. Kurz angesprochen werden außerdem die Wechselwirkungen der Arbeit mit dem Freizeitverhalten und der Persönlichkeitsentwicklung. In 7 Kap. 29 werden schließlich verschiedene Entwicklungstrends der Arbeitswelt erörtert und anhand telekooperativer Arbeit die Gestaltung neuer Formen der Arbeit exemplarisch dargestellt und diskutiert.
21
21 Arbeitsanalyse und -bewertung 21.1
Definition und Einordnung der psychologischen Arbeitsanalyse – 354
21.2
Anwendungsbereiche und Ziele psychologischer Arbeitsanalysen – 356
21.3
Theoretische Fundierung
21.4
Grundlegende methodische Zugänge der Arbeitsanalyse
21.4.1 21.4.2 21.4.3 21.4.4 21.4.5 21.4.6
Befragungsmethoden – 359 Beobachtungsmethoden – 360 Physikalische Messmethoden – 360 Physiologische Messmethoden – 362 Laborforschung – 362 Unterscheidung zwischen bedingungsund personenbezogenen Arbeitsanalysen
– 358 – 359
– 363
21.5
Ausgewählte Verfahren der Arbeitsanalyse – 363
21.5.1 21.5.2 21.5.3
Verfahren zur Ermittlung von Regulationserfordernissen (VERA) – 364 Instrument zur stressbezogenen Tätigkeitsanalyse (ISTA) – 366 Job Diagnostic Survey (JDS) – 368
21.6
Kriterien der Arbeitsbewertung – 370
21.7
Durchführungsbedingungen und Ressourcen bei Arbeitsanalysen – 371
21.7.1 21.7.2
Vorgehen bei Arbeitsanalysen – 371 Erforderliche Ressourcen – 372
21.8
Gütekriterien bei Arbeitsanalyseverfahren – 372
21.8.1 21.8.2
Ansätze zur Überprüfung der Gütekriterien – 372 Studien zu Einflussfaktoren der Güte von Arbeitsanalyseverfahren
Literatur
– 375
– 373
354
Kapitel 21 · Arbeitsanalyse und -bewertung
> Die Durchführung von Arbeitsanalysen und -bewertungen gehört zu den zentralen Aufgabenbereichen und Forschungsgegenständen der Arbeits- und Organisationspsychologie, da die Konzeption und Planung von Maßnahmen zur Verbesserung und Neugestaltung von Arbeitsaufgaben und -bedingungen in der Regel eine sorgfältige Analyse der Arbeitssituation und -anforderungen sowie der organisationalen Rahmenbedingungen und personalen Voraussetzungen an den betroffenen Arbeitsplätzen erfordert. Hierfür stehen mittlerweile ein breites Wissen über grundlegende Anwendungskonzepte und -fragen der Arbeitsanalyse und -bewertung sowie eine Vielzahl von konkreten methodischen Verfahren zur Verfügung. Im Folgenden wird ein Überblick zu Fragestellungen und Aspekten gegeben, die bei der Planung von Arbeitsanalysen sowie der Auswahl entsprechender Verfahren zu berücksichtigen sind. Zunächst ist von entscheidender Bedeutung, welche Ziele mit einer Arbeitsanalyse verfolgt werden (z. B. Arbeitsgestaltung oder Qualifizierung von Mitarbeitern; 7 Abschn. 21.2), da je nach Zielsetzung unterschiedliche Vorgehensweisen und Verfahren in Frage kommen. Den Arbeitsanalyseverfahren liegen außerdem verschiedene theoretische Fundierungen (7 Abschn. 21.3) zugrunde, die Richtungen vorgeben, auf welche Analyseebene (z. B. Organisationseinheit, Arbeitsgruppe, Arbeitstätigkeit, Arbeitsaufgabe, Arbeitsverrichtung) sich diese beziehen sollte, welche inhaltlichen Aspekte einer Tätigkeit erfasst und welche Schwerpunkte bei der Dateninterpretation gesetzt werden sollten. Es existieren darüber hinaus unterschiedliche methodische Zugänge der Arbeitsanalyse (7 Abschn. 21.4; z. B. Beobachtung und Befragung), spezifische Verfahren (7 Abschn. 21.5), Kriterien zur Arbeitsbewertung (7 Abschn. 21.6), Durchführungsbedingungen (7 Abschn. 21.7) und Gütekriterien (7 Abschn. 21.8), die es bei der Planung von Arbeitsanalysen zu beachten gilt. Nicht zuletzt ist bei der Konzeption von Arbeitsanalysen der Anwendungskontext zu berücksichtigen, da je nach Branche (z. B. Industrie, Verwaltung), Berufsgruppe (z. B. Führungsebene) oder Tätigkeitsklasse (z. B. Montage- und Verwaltungstätigkeiten) unterschiedliche Verfahren geeignet sind (Dunckel, Zapf & Udris, 1991). Bevor diese Fragen jedoch behandelt werden, wird eine Definition und Einordnung von Arbeitsanalysen vorgenommen.
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21.1
Definition und Einordnung der psychologischen Arbeitsanalyse
Definition Gegenstand der psychologischen Arbeitsanalyse ist die Analyse und Bewertung von Arbeitstätigkeiten und ihrer Bedingungen sowie die Wirkungen der Arbeitsbedingungen und Anforderungen auf das Individuum. Dabei werden in systematischer Form Informationen über die Tätigkeit eines arbeitenden Individuums erfasst und beurteilt.
Im Rahmen einer Arbeitsanalyse können in Abhängigkeit von Zielsetzung und Verfahren unterschiedliche Komponenten einer Tätigkeit analysiert und beschrieben werden:
4 Arbeitsaufgaben (Inhalte, Abläufe und Prozesse), 4 aufgabenbezogene Verhaltensweisen/Anforderungen (z. B. Denk- und Entscheidungserfordernisse, Handlungsspielräume, Informationen), 4 Interaktionen mit Maschinen, Materialien und Werkzeugen, 4 Arbeitsprodukte, 4 Arbeitsumgebung (z. B. Arbeitszeit, gefordertes Arbeitstempo, Belastungsfaktoren durch Lärm und Hitze), 4 soziale Bedingungen (z. B. Kontaktmöglichkeiten, Betriebsklima), 4 Methoden der Qualitätssicherung (z. B. Produktivitäts-, Fehlerraten), 4 zur Ausführung der Arbeitsaufgabe erforderliche Leistungsvoraussetzungen (z. B. Fähigkeiten, Fertigkeiten, Wissen).
355 21.1 · Definition und Einordnung der psychologischen Arbeitsanalyse
In erster Linie zielt die psychologische Arbeitsanalyse darauf ab, Gestaltungs- und Optimierungsbedarfe an Arbeitsplätzen in Bezug auf Probleme der Arbeitsausführung und -organisation, gesundheitliche Belastungen sowie motivationale und qualifikatorische Defizite zu identifizieren. Es besteht hier also ein enger Zusammenhang mit den Themen Arbeitsgestaltung (7 Kap. 22), Gesundheitsförderung (7 Kap. 28) sowie
Personalentwicklung (7 Kap. 19), da eine sorgfältig analysierte und bewertete Arbeitstätigkeit als Grundlage für die Gestaltung persönlichkeits- und gesundheitsförderlicher Arbeitsbedingungen sowie personaler Fördermaßnahmen dient. Das im 7 Kasten vorgestellte Beispiel verdeutlicht idealtypisch, welche Anlässe zu Arbeitsanalysen führen, wie bei der Planung, Ausführung und Auswertung von Arbeitsanalysen vorgegan-
Beispiel für Einsatz und Nutzung von Arbeitsanalysen In einem Unternehmen der Automobilindustrie sollen die Arbeitsprozesse von Mitarbeitern in der Endmontage untersucht werden. Die Mitarbeiter haben die Aufgabe, Autositze in die fertige Karosserie zu montieren. Aufgrund unbefriedigender Produktivitäts- und Qualitätskennziffern sowie erhöhter Krankheits- bzw. Absentismusraten in der Endmontage richtet die Bereichsleitung eine Projektgruppe ein, die die Probleme bei den Tätigkeiten in der Endmontage analysieren und Maßnahmen zur Verbesserung der Arbeitsabläufe und -bedingungen entwickeln soll. Das Team setzt sich aus ausgewählten Mitarbeitern und Meistern der Endmontagelinie, Vertretern des Betriebsrats, Führungskräften sowie Mitarbeitern der Arbeitsvorbereitung und des Arbeits- und Gesundheitsschutzes zusammen. Das Projektteam entschließt sich in einem ersten Schritt, die Ursachen für die berichteten Probleme genauer und systematischer zu analysieren. Hierzu werden von geschulten Mitarbeitern der Arbeitsschutzabteilung Beobachtungsinterviews bei 15 Positionen in unterschiedlichen Abschnitten der Endmontage durchgeführt, die eine strukturierte Beobachtung des Arbeitsablaufs und darauf basierend Interviews mit dem Beschäftigten am Arbeitsplatz beinhalten. Das Analyseverfahren, das hierzu herangezogen wird, ist insbesondere auf die Erfassung von Störungen und Beeinträchtigungen des Arbeitsablaufes sowie von dadurch entstehenden Belastungen und Beanspruchungen ausgerichtet. Anhand der Arbeitsanalyse wird Folgendes festgestellt: Die Beschäftigten arbeiten unter Bedingungen, in denen sie häufig auf Betriebsmittel (Schrauben, Scheiben) warten müssen. Die Montagematerialien (Befestigungselemente, Schienen) sind aufgrund von Platzmangel in zu hohen, unübersichtlichen und vom Arbeitsplatz relativ weit entfernten Regalen abgelegt.
Dies führt zu Unterbrechungen und unnötigen Transport- und Handhabungsschritten. Des Weiteren entstehen für die Mitarbeiter Behinderungen des Arbeitsablaufs durch häufig fehlende oder falsche Informationen aus der Arbeitsvorbereitung. Gleichzeitig arbeiten sie unter starkem Zeitdruck und eng getakteten Zeitvorgaben an den Linien. Diese Beeinträchtigungen und Störungen eines reibungslosen Arbeitsablaufes führen zu erkennbaren psychischen Beanspruchungen der Montagemitarbeiter wie Gereiztheit, psychosomatische Beschwerden und hohe Arbeitsunzufriedenheit. Diese sind darüber hinaus auch körperlich belastet infolge einseitiger Körperhaltungen (ständiges Knien, gebückte Haltung) und nennen daher in erhöhtem Maße auch körperliche Beschwerden wie Rückenschmerzen. Nach der Auswertung der Analysen, werden diese im Projektteam vorgestellt und ausgiebig diskutiert. Auf dieser Grundlage werden eine Reihe von Maßnahmen zur Optimierung der Arbeitsprozesse abgeleitet und empfohlen: Das Montagematerial soll unmittelbarer an den Arbeitsplatz verlagert und die Regale hinsichtlich Körpergröße und Übersichtlichkeit angepasst werden. Es wird außerdem empfohlen, mitlaufende Wagen für die Betriebsmittel zu konstruieren, die für Flexibilität und Mobilität sorgen und Wegezeiten reduzieren können. Ein spezieller Montagesitz sorgt für aufrechtes Sitzen und eine ergonomisch bessere Haltung bei der Innenraummontage. Der Informationsfluss zwischen Arbeitsvorbereitung und Endmontage soll durch die Einführung morgendlicher Kurzbesprechungen vor Beginn der Schicht verbessert werden. Darüber hinaus sollen neue und flexiblere Zeitvorgaben für verschiedene Montagevorgänge ermittelt werden, um den Montagemitarbeitern mehr Handlungs- und Zeitspielräume beim Umgang mit Störsituationen einzuräumen.
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Kapitel 21 · Arbeitsanalyse und -bewertung
gen werden kann und welche Folgerungen auf dieser Grundlage gezogen werden können. Arbeitsanalysen zählen ebenso wie Anforderungsanalysen (7 Kap. 15 und 26), zu den Instrumentarien der Arbeitsdiagnostik. Sie unterscheiden sich allerdings in Bezug auf Ihre Zielsetzungen und teilweise auch in den Analysegegenständen. Bei der Arbeitsanalyse steht die Analyse und Beschreibung von Arbeitsaufgaben, -mitteln und -produkten sowie der Arbeitsumgebung im Vordergrund. Ziel ist vor allem die Gestaltung und Optimierung von Arbeitstätigkeiten auf der Grundlage der ermittelten Schwachstellen. Das zentrale Ziel von Anforderungsanalysen besteht darin, Leistungsvoraussetzungen und Merkmale von Personen für bestimmte Positionen, Tätigkeitsgruppen oder Berufe zu identifizieren. Analysegegenstände sind hierbei in erster Linie die Arbeitsaufgaben und die bei ihrer Erfüllung zu bewältigenden sensumotorischen, kognitiven, sozialen und emotional-motivationalen Anforderungen. Eine eindeutige Abgrenzung dieser beiden arbeitsdiagnostischen Methodengruppen ist jedoch nicht möglich, da sich sowohl die Analyseinhalte als auch die methodischen Zugänge und Verfahren in hohem Maße überschneiden. Beispielsweise sollten Anforderungsanalysen auf sorgfältig durchgeführten Arbeitsanalysen beruhen (Harvey & Wilson, 2000), da sich Arbeitsanforderungen oft erst durch die spezifische Analyse von Tätigkeitsmerkmalen und -bedingungen erschließen. Des Weiteren unterscheiden sich Arbeitsanalysen von Verfahren der Organisationsdiagnose (7 Kap. 10), die das menschliche Erleben und Verhalten der Organisationsmitglieder zu erfassen versuchen. Beiden Verfahren ist jedoch gemeinsam, dass sie Beeinträchtigungen in der Arbeitsorganisation ermitteln, die als Grundlage zur Verbesserung der Personalarbeit (z. B. motivierende Aufgabengestaltung) sowie organisationaler Abläufe (z. B. Informations- und Kommunikationsprozesse) dienen. Bei der psychologischen Arbeitsanalyse kann je nach Perspektive zwischen bedingungsbezogenen (objektiven) und personenbezogenen (subjektiven) Analysen unterschieden werden. Bei bedingungsbezogenen Fragestellungen werden Merkmale der Arbeit (Situationen und Bedingungen) im weitesten Sinne untersucht und es interessiert, wie sich die damit verbundenen Anforderungen – unabhängig von der individuellen Tätigkeitsausführung sowie persönlichkeitsspezifischen Besonderheiten – auf den Menschen auswirken. Das bedeutet, dass die Arbeitssituationen und die daraus abgeleiteten Anforderungen
bei bestimmten Arbeitspositionen als gleich oder ähnlich aufgefasst werden, wenn die psychischen Prozesse zur Bewältigung von Arbeitsanforderungen ähnlich sind. Bei der bedingungsbezogenen Analyse wird also von einer »allgemeinen Person« ausgegangen, der z. B. ein normales Funktionieren kognitiver Prozesse unterstellt wird (Zapf, 1989). Im Gegensatz dazu berücksichtigt die personenbezogene Analyse interindividuelle Unterschiede zwischen den Arbeitenden bei der Wahrnehmung, Interpretation und Ausführung der Tätigkeit (Dunckel, 1999). 21.2
Anwendungsbereiche und Ziele psychologischer Arbeitsanalysen
Methoden der Arbeitsanalyse wurden bereits im Rahmen der Ansätze zur Rationalisierung von Arbeit (z. B. als Zeit- und Bewegungsstudien insbesondere von Frederic W. Taylor; vgl. Kap. 2 und 4) vor dem Ersten Weltkrieg entwickelt und eingesetzt. Die Entwicklung spezifischer Arbeitsanalyseverfahren erfolgte allerdings in Deutschland überwiegend in den 70er Jahren des letzten Jahrhunderts. Im Vordergrund stand zu dieser Zeit die Betrachtung von Arbeitsbedingungen und der Arbeitsorganisation sowie daraus resultierender Beanspruchungen mit dem Ziel, Arbeit »menschzentriert« zu gestalten und hinsichtlich verschiedener Humankriterien (Persönlichkeitsentwicklung, Qualifizierung) zu optimieren. In den USA entstand eine große Anzahl von Analyseverfahren in den 50er Jahren zu Zwecken der Berufsklassifikation, der Personalauswahl und -entwicklung sowie der Gleichbehandlung von Minderheiten. Insbesondere das amerikanische Militär und Innenministerium förderten dort die Entwicklung von Arbeitsanalyseverfahren. Vor dem Hintergrund dieser vielfältigen Anwendungsgebiete und Entwicklungsanstrengungen lassen sich die in der folgenden Übersicht aufgeführten Ziele von Arbeitsanalyseverfahren unterscheiden.
Ziele von Arbeitsanalyseverfahren im Überblick 4 Erhaltung des Arbeits- und Gesundheitsschutzes 4 Optimierung der Arbeitsgestaltung und -organisation 4 Bestimmung von personalen Fördermaßnahmen 4 Bestimmung von Eignungsanforderungen 4 Vergleiche von Arbeitstätigkeiten
357 21.2 · Anwendungsbereiche und Ziele psychologischer Arbeitsanalysen
Erhaltung des Arbeits- und Gesundheitsschutzes
Bestimmung von personalen Fördermaßnahmen
Verfahren zur Arbeitsanalyse werden insbesondere angewandt, um die Auswirkungen von Arbeits- und Produktionsbedingungen auf Befinden und Erleben der Beschäftigten zu identifizieren und um mithilfe entsprechender Gestaltungsmaßnahmen das physische und psychische Wohlbefinden zu erhalten und zu verbessern. Zu den Wirkungen von Arbeitstätigkeiten (7 Kap. 28) zählen zum einen physische und psychophysische Schädigungen wie z. B. Minderungen des Hörvermögens infolge stetiger Lärmeinwirkungen oder rheumatische Erkrankungen infolge ständiger Zwangshaltung. Zum anderen können Arbeitstätigkeiten das psychosoziale Wohlbefinden beeinträchtigen, wenn es z. B. zu depressiven Verstimmungen bei einem Mitarbeiter kommt, der sich aufgrund seiner jahrelangen Tätigkeit in der Nachtschicht sozial isoliert fühlt. Bei der Gestaltung von Arbeit gilt es, Aspekte der Human- und Sozialverträglichkeit zu berücksichtigen, sodass körperliche Beschwerden vermieden, die Gesundheit erhalten und die Persönlichkeit der Arbeitnehmer gefördert wird (7 Abschn. 21.6). Arbeitsaufgaben werden dann als persönlichkeitsförderlich eingestuft, wenn der Mitarbeiter die Möglichkeit hat, auf Arbeitsbedingungen und Arbeitssysteme Einfluss zu nehmen, und wenn Handlungsspielräume zur Verfügung stehen, um schädigende bzw. beeinträchtigende Bedingungen zu verändern (Ulich, 2005).
Betriebliche Mitarbeiter sind mit sich ständig verändernden Aufgaben- und Tätigkeitsbedingungen konfrontiert, die nur dann bewältigt werden können, wenn die Mitarbeiter ausreichend aufgabenangemessen qualifiziert werden. Arbeitsanalysen dienen dazu, Anforderungen an berufliche Handlungskompetenzen zu ermitteln, die zur Bewältigung der Arbeitsaufgaben und Tätigkeitsveränderungen relevant sind (Ghorpade, 1988; Sonntag, 2006). Auf der Grundlage der ermittelten Qualifikationsanforderungen können in weiteren Schritten bedarfsgerechte Trainings-, Schulungs- und Ausbildungsmaßnahmen entwickelt werden (7 Kap. 26). So ist es beispielsweise wichtig, für Produktionsmitarbeiter Qualifizierungsprogramme im Umgang mit neuen Technologien (Maschinen) zu konzipieren und umzusetzen, um die erforderlichen fachlich-methodischen und sozialkommunikativen Handlungskompetenzen zu vermitteln und Betriebsunfälle zu verhindern (Sonntag, Schaper & Benz, 1999).
Optimierung der Arbeitsgestaltung und -organisation
Arbeitsanalyseverfahren dienen dazu, Schwachstellen im Bereich der Arbeitsgestaltung und -organisation zu identifizieren, und um Arbeitsprozesse effektiver zu gestalten. Als Schwachstellen werden Merkmale des Arbeitsplatzes, der Arbeitsausführung und der Arbeitsorganisation verstanden, die zu Beeinträchtigungen des Arbeitsprozesses bzw. der Arbeitsleistung führen. Dabei kann sich die Schwachstellenermittlung auf die Arbeitsmittel und -werkzeuge (z. B. Maschinen), die Arbeitsumgebung (z. B. Lärm, schlechte Beleuchtung), den Arbeitsablauf (z. B. Wartezeiten, unnötige Transportund Handhabungsschritte), die Arbeitshandlung (z. B. geringe Handlungsspielräume) sowie auf die innerbetriebliche Information und Kommunikation beziehen (Frieling, 1999). Die Erfassung von Schwachstellen dient als Grundlage dafür, Gestaltungsmaßnahmen zu erarbeiten, die der Optimierung von Arbeitsprozessen und ablauforganisatorischen Bedingungen dienen.
Bestimmung von Eignungsanforderungen
Die Voraussetzung dafür, dass ein geeigneter Bewerber für eine konkrete Arbeitstätigkeit ausgewählt oder platziert wird, ist die Passung von Personenmerkmalen und Tätigkeitsanforderungen. Mithilfe von Arbeitsund Anforderungsanalysen können systematisch aus definierten Arbeitsaufgaben und Ausführungsbedingungen Anforderungen abgeleitet werden, denen ein potenzieller Stelleninhaber entsprechen sollte (7 Kap. 15). Dazu gehören die zur Ausübung der Tätigkeit relevanten kognitiven, motorischen, kommunikativen und motivationalen Personenmerkmale und Leistungsvoraussetzungen. Dies ist wichtig, um z. B. für ein AssessmentCenter tätigkeitsrelevante Testaufgaben zu entwickeln oder einen geeigneten Arbeitsplatz für einen behinderten Mitarbeiter zu finden. Vergleiche von Arbeitstätigkeiten
Die kontinuierlichen technischen und organisatorischen Veränderungen in den Betrieben wirken sich auch auf die Arbeitstätigkeit und die arbeitende Person aus. Spezifische Arbeitsanalysen unterstützen Einschätzungen darüber, wie sich in Abhängigkeit von geänderten Technologien und Organisationsformen die Tätigkeitsanforderungen und entsprechende Auswirkungen auf die Arbeitnehmer verändern (Frieling, 1999). Darüber hinaus lassen sich die Effekte bereits durchgeführter Gestal-
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Kapitel 21 · Arbeitsanalyse und -bewertung
tungsmaßnahmen und Veränderungen im Rahmen von Vorher-/Nachher-Untersuchungen ermitteln. Arbeitsanalyseverfahren werden auch im Rahmen der Berufsforschung zur Analyse und Klassifikation von Berufen eingesetzt, um bedeutsame Gemeinsamkeiten und Unterschiede zwischen den Berufstätigkeiten festzustellen (Frieling & Sonntag, 1999). In seltenen Fällen dienen Analyseverfahren dazu, durch den Vergleich von Arbeitstätigkeiten Entlohnungssysteme zu entwickeln mit dem Ziel, eine den Anforderungen und Leistungen gerechte Vergütungsstruktur bereitzustellen (Dunckel, 1999). 21.3
Theoretische Fundierung
Arbeitsanalyseverfahren basieren auf unterschiedlichen theoretischen Konzepten. Je nach theoretischer Ausrichtung werden verschiedene Aspekte der Arbeitstätigkeit, der Arbeitsbedingungen und der arbeitenden Person erfasst und bei der Interpretation der Analysedaten berücksichtigt. Welche Rolle spielt somit die theoretische Fundierung eines Arbeitsanalyseverfahrens? Die theoretische Orientierung von Analyseverfahren erfüllt zum einen den Zweck, diejenigen Merkmale aus der Vielfalt von Arbeitsmerkmalen herauszustellen, die für die Beschreibung der Tätigkeit sowie der damit verbundenen Bedingungen von Bedeutung sind. Das bedeutet, dass je nach Fragestellung als Analyseeinheit z. B. die Arbeitsaufgabe, die Ausführungs- und Umgebungsbedingungen, die Arbeitsmittel oder die sozialen Bedingungen im Vordergrund stehen. Zum anderen lassen sich mithilfe der Theorien psychologisch interpretierbare Kategorien formulieren, anhand derer die beobachtbaren und erfragbaren Analysemerkmale ausgewertet und zusammengefasst werden können. Grundlage sog. funktionsorientierter Analyseansätze, bei denen es in erster Linie um die Rationalisierung und Standardisierung von Arbeitsabläufen geht, sind verhaltenstheoretische bzw. verhaltensanalytische Konzepte (7 Kap. 20), bei denen Verhalten typischerweise als eingeübte, repetitive und unmittelbare Reaktion auf unter stets gleichbleibenden Bedingungen auftretende Stimuli aufgefasst wird. Eine eigenständige Motivation oder Zielgerichtetheit und Willentlichkeit menschlichen Handelns werden hierbei außer Betracht gelassen, sodass der Analysefokus eingeschränkt ist auf bestimmte strukturierte Arbeitsverrichtungen und klar eingegrenzte, eher repetitive Aufgabenbereiche.
Ein deutlich weiter gefasstes Verständnis menschlichen Arbeitsverhaltens liegt informationstheoretisch orientierten Analyseansätzen zugrunde. Hier greift man auf Konzepte des Menschen als Informationsverarbeiter zurück (7 Kap. 20), um konkrete Anforderungen in Bezug auf die Informationsaufnahme, -verarbeitung und -abgabe bei bestimmten Arbeitsaufgaben bzw. -inhalten (insbesondere bei der Kontrolle und Steuerung von Mensch-Maschine-Systemen) zu identifizieren (Facaoaru & Frieling, 1985). Informationstheoretisch fundierte Analyseverfahren erlauben somit vor allem Schlussfolgerunen über kognitive Anforderungen bei einer Arbeitstätigkeit. Ein Verständnis des Menschen als autonom handelndes Subjekt liegt Verfahren der Arbeitsanalyse zugrunde, die sich an arbeitspsychologischen Handlungstheorien orientieren (Oesterreich & Volpert, 1987; auch 7 Kap. 20). Ausgehend von der Annahme, dass Arbeitende ihr Handeln innerhalb von bestimmten Rahmenvorgaben selbst planen und steuern, geht es bei diesen Analyseansätzen vor allem um Fragen der psychischen Regulation von Handlungen und um Auswirkungen unterschiedlicher Anforderungskonstellationen auf das Beanspruchungserleben, die Qualität des Arbeitshandelns und die qualifikatorische Entwicklung der Beschäftigten (Hacker, 2006). Gegenstand handlungstheoretisch orientierter Arbeitsanalysen sind z. B. die kognitiven Anforderungen an das Planen von Arbeitshandlungen oder die Beanspruchungen, die durch Störungen und Erschwerungen des Arbeitshandelns entstehen. Motivationspsychologisch orientierte Arbeitsanalysen gehen schließlich der Frage nach, wie Arbeitstätigkeiten unter motivations- und leistungsanregenden Gesichtspunkten gestaltet sein sollten und welche Entfaltungsmöglichkeiten sie eröffnen (7 Kap. 24). Um z. B. das »Motivationspotenzial« einer Arbeitstätigkeit nach Hackman und Oldham (1975) zu erfassen, werden die Beschäftigten gebeten, bestimmte Merkmale der Tätigkeit (wie z. B. Anforderungsvielfalt, Bedeutsamkeit, Art der Rückmeldungen, Ausmaß der Autonomiegrade) zu beurteilen, von denen man annimmt, dass sie sich motivierend auf die Mitarbeiter auswirken. Weitere theoretische Konzepte, die der Gestaltung von Analyseverfahren zugrunde gelegt werden, beziehen sich z. B. auf stresstheoretische Überlegungen (7 Kap. 28). In diesem Kontext spielen »Stressoren« eine zentrale Rolle, d. h. solche Aufgabenmerkmale und Ausführungsbedingungen, die zu Beeinträchtigungen der Handlungsausführung sowie
359 21.4 · Grundlegende methodische Zugänge der Arbeitsanalyse
psychischen und körperlichen bzw. psychosomatischen Beanspruchungen führen. Umfassendere theoretische Orientierungen stellen z. B. tätigkeitstheoretische Konzepte dar (Leontjew, 1977). Sie gehen davon aus, dass zur Arbeitsanalyse und zum Verständnis von Arbeitshandlungen eine ganzheitliche Betrachtung der jeweiligen Arbeitstätigkeit erforderlich ist (7 Kap. 20). Neben unterschiedlichen Erfahrungsebenen von Tätigkeiten (Sinnlichkeit, Kognition und Sinn) werden auch strukturelle und prozessuale Aspekte der Tätigkeit (z. B. Tätigkeit als Vermittlungsinstanz zwischen Subjekt und Objekt) in die Analyse mit einbezogen. Hierdurch eröffnen sich ganz unterschiedliche Problemsichten auf die kognitiven und motivational-emotionalen Bedingungen des Arbeitshandelns (z. B. zur Analyse stressrelevanter Beziehungen zwischen Motiven, Zielen und Bedingungen des Handelns). Eine umfassendere theoretische Orientierung liegt auch Ansätzen zur soziotechnischen Systemanalyse und -gestaltung zugrunde (7 Kap. 22). Sie stellen die Wechselwirkung von technischen, sozialen und aufgabenbezogenen Aspekten heraus und betonen die Notwendigkeit Mensch, Technik und Organisation integrativ zu betrachten und gemeinsam zu optimieren (Ulich, 2005). Einige Verfahren integrieren z. T. unterschiedliche theoretische Modellvorstellungen, damit verschiedene Aspekte und Facetten der Arbeitstätigkeit im Analyseverfahren berücksichtigt werden können (Frieling, 1999). Dies hat zur Folge, dass die Analysedaten unter verschiedenen Tätigkeitsaspekten (z. B. technische Störungen, Körperhaltungen, Informationsprozesse) interpretiert werden können. Allerdings hat die Einschränkung auf ein theoretisches Konzept bei der Verfahrenskonzeption den Vorteil, dass sich die Dateninterpretation vorzugsweise auf einen Tätigkeitsaspekt fokussiert (z. B. die kognitiven Planungs- und Regulationsanforderungen bei VERA; 7 Abschn. 21.5.1). 21.4
Grundlegende methodische Zugänge der Arbeitsanalyse
Es existieren unterschiedliche Methoden, die zur Analyse von Arbeitsanforderungen und Belastungen sowie damit einhergehenden Auswirkungen eingesetzt werden. Die gebräuchlichsten Methoden zur Datenerhebung im Rahmen der Arbeitsanalyse sind Befragungsund Beobachtungsmethoden. In der Regel werden
diese beiden Methoden bei der Arbeitsanalyse miteinander kombiniert und als Beobachtungsinterviews bezeichnet. Darüber hinaus werden auch physikalische und physiologische Messmethoden eingesetzt, um die Bedingungen der Arbeitsumgebung und spezifische Beanspruchungen zu erfassen. Schließlich lassen sich mithilfe von Methoden der arbeitspsychologischen Laborforschung und Simulation die Einflüsse von Arbeitsbedingungen (z. B. Lärm, Hitze) auf das Arbeitsverhalten und Beanspruchungserleben experimentell untersuchen. Im Folgenden wird erörtert, was mit den konkreten Methoden erfasst wird und welche Vor- und Nachteile mit den einzelnen methodischen Zugängen verbunden sind. Abschließend werden außerdem die Unterschiede zwischen bedingungs- und personenbezogenen Analyseansätzen herausgearbeitet. 21.4.1
Befragungsmethoden
Befragungen werden eingesetzt, um den Arbeitsinhalt, den Arbeitsablauf, die sozialen Beziehungen, Beanspruchungen und andere – meist nur schwer beobachtbare – Aspekte der Tätigkeit wie z. B. Anforderungen an die Informationsaufnahme und -verarbeitung zu erfassen. Die Befragung von Arbeitsplatzinhabern zu ihren Arbeitstätigkeiten in Form von Interviews oder Fragebögen begründet sich durch die Annahme, dass die Beschäftigten ihre Arbeit selbst am besten kennen (Dunckel, Zapf & Udris, 1991). Die Befragungsmethode ist auch dann geeignet, wenn es um subjektive Einschätzungen wie beispielsweise Belastungen oder die Beschreibung von internen psychischen Prozessen geht. Ein wesentlicher Grund, warum schriftliche Befragungen die am häufigsten verwendete Methode bei der Arbeitsanalyse sind, liegt in der Ökonomie von Fragebögen, die relativ leicht zu entwickeln und anzuwenden sind. Außerdem kann mithilfe von Fragbögen eine große Anzahl von Arbeitstätigkeiten mit vielen Arbeitpsplatzinhabern analysiert werden (Harvey, 1991). Allerdings hat diese Methode auch verschiedene Schwächen. Dazu gehört, dass viele Aspekte interner psychischer Prozesse, z. B. bei stark automatisierten Handlungen, für die Arbeitenden nur schwer in Worte zu fassen sind. Außerdem kann insbesondere bei schriftlichen Befragungen die Verwendung von wissenschaftlichen Begriffen sowie deren Übersetzung in die Alltagssprache ein Problem für die Befragten darstellen. Oder
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Kapitel 21 · Arbeitsanalyse und -bewertung
aber es liegt generell ein mangelndes Verständnis der formulierten Items bei wenig sprachgewandten Arbeitsplatzinhabern vor. Des Weiteren erfolgen Befragungen meistens nicht während der Aufgabenausführung, sondern zeitlich versetzt, sodass die Daten aufgrund von Erinnerungseinflüssen verfälscht sein können. Grundsätzlich wird an Befragungen im Rahmen der empirischen Sozialforschung kritisiert, dass die Datenerhebung durch sozial erwünschte Antworten beeinflusst wird (Bortz & Döring, 2005). Unter einem sozial erwünschtem Verhalten wird verstanden, dass der Befragte versucht, sich gegenüber dem Versuchsleiter positiv darzustellen und den Erwartungen entsprechend verhält, was zu Antworttendenzen führen kann. Eine Antworttendenz hat z. B. zur Folge, dass der Zusammenhang zwischen Arbeitsmerkmalen und Gesundheit überschätzt wird (Zapf, 1989). Um die mit dieser Methode einhergehenden Schwächen zu reduzieren, sollte zum einen große Sorgfalt auf die Itemformulierung (z. B. keine wissenschaftlichen Fachbegriffe, allgemeine Verständlichkeit) verwendet werden. Zum anderen können Fehlertendenzen, die durch »subjektive« Angaben der Arbeitsplatzinhaber zustande kommen, dadurch minimiert werden, dass mehrere Personen pro Arbeitsplatz befragt oder Urteile von Vorgesetzten und Experten zusätzlich hinzugezogen werden (Semmer, Zapf, Dunckel, 1999). Es empfiehlt sich, ergänzend zur Befragungsmethode Beobachtungsmethoden durch geschulte Anwender bei der Datengewinnung einzusetzen. 21.4.2
Beobachtungsmethoden
Beobachtungsmethoden dienen dazu, Merkmale der Tätigkeit und des Verhaltens der Arbeitsplatzinhaber bei der betrieblichen Arbeit (Anforderungen und Belastungen) zu erfassen. Die Daten werden in der Regel zwar systematisch, aber nicht unter dem Gesichtspunkt repräsentativer Zeitstichproben erfasst. Beobachtungsmethoden werden häufig eingesetzt, um die mit Befragungsmethoden verbundenen Fehlerquellen zu vermeiden und »objektivere« Daten zu erhalten (Dunckel, 1999). Jedoch unterliegt auch diese Form der Datenerhebung bestimmten Fehlereinflüssen. Zu nennen ist hier das Problem, dass seltene Ereignisse oder Schwankungen während der Arbeit (z. B. Durchführung von Reparaturen, Zeitdruck) im Rahmen der vorgesehenen Beobachtungsdauer nicht stattfinden. Auch lässt die Qualität von Arbeitsplatz-
beobachtungen bei komplexeren Tätigkeiten nach, da die Beobachtungszeit möglicherweise kürzer ist als die Dauer des gesamten Tätigkeitsablaufs. Dies erschwert es, Rückschlüsse auf die gesamte Tätigkeit zu ziehen. Des Weiteren kann es vorkommen, dass die Arbeitsplatzinhaber unter anderen Bedingungen (z. B. weniger Störungen, andere Aufgaben) arbeiten, um die Tätigkeit vor den Untersuchern in einem positiven Licht erscheinen zu lassen (Effekte teilnehmender Beobachtung). Ein ganz wesentlicher Schwachpunkt von Beobachtungsmethoden liegt darin, dass einige Aspekte einer Tätigkeit weniger gut oder gar nicht beobachtbar sind wie z. B. Zeitdruck oder psychische Vorgänge, sondern nur resultierende Handlungen. Solche Tätigkeitsaspekte lassen sich besser durch Befragungsmethoden erfassen. Außerdem ist als Nachteil bei Arbeitsplatzbeobachtungen zu nennen, dass auch die Beurteiler bestimmten Bewertungs- und Interpretationsprozessen sowie Beurteilungsmaßstäben unterliegen (Dunckel, 1999). Das hat beispielsweise zur Folge, dass Arbeitsplätze durch die Beobachter als einheitlich gut oder schlecht beurteilt werden (»Halo-Effekt«). Durch eine fundierte theoretische und methodische Ausbildung von Beobachtern lassen sich diese Effekte reduzieren. Eine Übersicht über die Vor- und Nachteile von Befragungs- und Beobachtungsmethoden gibt . Tab. 21.1. Um Schwächen sowohl der Befragungs- als auch der Beobachtungsmethode zu kompensieren, bietet sich eine Kombination beider Methoden – sog. Beobachtungsinterviews – an. Bei dieser Erhebungsform beobachtet der Verfahrensanwender den Beschäftigten bei der Ausübung seiner Tätigkeit in einer halbstandardisierten Form und stellt währenddessen gezielte, ebenfalls halbstandardisierte Fragen an die arbeitende Person zu den Arbeitsaufgaben, den Anforderungen sowie den Belastungen und Beanspruchungen. Auf dieser Basis beantwortet er die im Rahmen der Datenerhebung für ein bestimmtes Verfahren gestellten Fragen und nimmt Einschätzungen von Analysemerkmalen vor (Dunckel, Zapf & Udris, 1991). 21.4.3
Physikalische Messmethoden
Mithilfe physikalischer Messmethoden lassen sich Umgebungsbedingungen der Arbeitstätigkeit relativ exakt erfassen. Das Ziel besteht meist darin, diese mit den subjektiven Beanspruchungen und Beanspruchungsfolgen des Arbeitenden zu vergleichen bzw. in Beziehung zu set-
361 21.4 · Grundlegende methodische Zugänge der Arbeitsanalyse
. Tab. 21.1. Gegenüberstellung von Beobachtungs- und Befragungsmethoden Befragung
Beobachtung
Vorteile
4 Kenntnisse der Arbeitsplatzinhaber über ihre eigene Tätigkeit 4 Beurteilung psychischer Prozesse und Belastungen durch die Arbeitenden 4 Anwendungsökonomie (von Fragebögen)
4 Eliminierung von Bewertungs- und Interpretationsprozessen durch die Arbeitenden 4 Einsatzmöglichkeit bei prospektiver Arbeitsgestaltung
Nachteile
4 Mangelnde Verbalisierbarkeit psychischer Prozesse 4 Übersetzung wissenschaftlicher Begriffe in die Alltagssprache erforderlich 4 Risiko von Fehleinschätzungen bei mangelndem Sprachverständnis 4 Erinnerungseinflüsse durch Retrospektivität 4 Einfluss sozialer Erwünschtheit
4 Einschränkungen durch begrenzte Beobachtungszeit 4 Effekte teilnehmender Beobachtung 4 Nichtbeobachtbarkeit bestimmter Vorgänge und Prozesse 4 Halo-Effekte
zen. Zu den Methoden, die im Rahmen von Felduntersuchungen unkompliziert einsetzbar sind, gehören Messungen des Lärms, der Beleuchtung und des Klimas. Lärm ist eine Schallempfindung, die vom Menschen als unangenehm wahrgenommen wird. Er wird als störend und belästigend empfunden, weil dadurch z. B. die sprachliche Verständigung eingeschränkt ist oder die Konzentration beeinträchtigt wird. Auch ruft Lärm unspezifische physiologische Reaktionen hervor (z. B. Erhöhung von Herzfrequenz, Blutdruck) und kann sich gesundheitsschädigend auswirken. Messungen des Lärms erfolgen mithilfe von Schallpegelmessern, die den momentan auftretenden Schallpegel und die über eine längere Dauer auf das Ohr einwirkenden Schallemissionen erfassen. Soll die Lärmgefährdung an einem Arbeitsplatz ermittelt werden, werden die unterschiedlich hohen Einzelschallpegel eines Arbeitstages mir ihrer jeweiligen Einwirkzeit multipliziert und auf 8 Stunden normiert. Das heißt, dass eine Lärmeinwirkung von z. B. 106 dB (Dezibel) über 4 Minuten gleichbedeutend ist mit 85 dB über 8 Stunden. Entsprechende Messungen können somit helfen, Lärmbelastungen an Arbeitsplätzen gezielt zu identifizieren und Maßnahmen zur Lärmreduktion bzw. entsprechende Schutzmaßnahmen zu entwickeln und zu evaluieren. Licht- und Beleuchtungsverhältnisse haben eine entscheidende Bedeutung dafür, dass Arbeitstätigkeiten ohne Einschränkungen ausgeführt werden können. Sind Arbeitsplätze unzureichend beleuchtet, kann dies zu Unfällen führen, die Leistungsfähigkeit vermindern und die Sehaufgaben beeinträchtigen, sodass z. B. Produktfehler nur schwer zu erkennen sind. Eine weitere Ursache von
Beeinträchtigungen bei der Ausführung der Arbeitsaufgaben liegt darin, dass an Arbeitsstätten häufig künstliche Beleuchtung herrscht. Bestimmte lichttechnische Größen wie der Lichtstrom, die Lichtquelle, die Lichtstärke, die Beleuchtungsstärke und die Leuchtdichte werden dazu herangezogen, um die menschliche Helligkeitsempfindung physikalisch abzubilden. Der Lichtstrom gibt an, welche Menge sichtbarer Strahlung von einer Lichtquelle abstrahlt und die Lichtausbeute bestimmt, wie wirksam die elektrische Leistung in sichtbares Licht umgewandelt wird. Mithilfe der Lichtstärke wird die Strahlung des Lichts in eine bestimmte Richtung des Raumes bestimmt, während die Beleuchtungsstärke die Intensität beschreibt, mit der das Licht auf eine Fläche strahlt. Die Leuchtdichte gibt die Helligkeit einer Lichtquelle oder reflektierenden Oberfläche an. Bei der Gestaltung von Arbeitsplätzen sollte darauf geachtet werden, dass die mit künstlicher Beleuchtung verbundenen Sehbeeinträchtigungen möglichst gemildert und Beleuchtungsverhältnisse geschaffen werden, die der erforderlichen Sehaufgabe gerecht werden sowie den natürlichen Bedingungen bzw. Beleuchtungsverhältnissen weitgehend entsprechen. Das Klima am Arbeitplatz ist abhängig von den Produktionsbedingungen, der Arbeitskleidung, der Umgebungstemperatur und den baulichen Verhältnissen. Verschiedene Klimaelemente wie Luftfeuchtigkeit, Temperatur, Luftbewegung und Wärme tragen dazu bei, dass der Arbeitende das Raumklima als angenehm oder unangenehm empfindet. Bei der Messung der Luftfeuchtigkeit wird entweder die Wasserdampfmasse gemessen, die in 1 kg Luft enthalten ist (absolute Luftfeuchtigkeit) oder das Verhältnis des momentanen Wasserdampfge-
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Kapitel 21 · Arbeitsanalyse und -bewertung
halts in der Luft zum möglichen Wasserdampfgehalt (relative Luftfeuchtigkeit). Die Temperaturmessung erfolgt mithilfe von Thermometern oder anderen wärmesensitiven Messgeräten, die Luftgeschwindigkeit wird mithilfe von Anemometern vorgenommen. Zur Erfassung der Wärmestrahlung werden Instrumente eingesetzt, die auf Strahlungsdifferenzmessungen basieren: Zwei der Strahlung ausgesetzte Flächen (gold und schwarz) absorbieren unterschiedlich stark, dadurch stellt sich eine Temperaturdifferenz ein, die das Maß für die Bestrahlungsstärke darstellt. Arbeitsgestalter sollten Kenntnisse über die wesentlichen Messgrößen haben und berücksichtigen, dass nur ein relativ geringer Klimakorridor vom Menschen als behaglich wahrgenommen wird (Eissing, 1990). 21.4.4
Physiologische Messmethoden
Arbeitsphysiologische Messmethoden dienen der Erfassung körperlicher und biochemischer Reaktionen des Organismus. Sie werden eingesetzt, um spezifische (objektive) Beanspruchungen der Arbeitenden zu erheben. Mit ihrer Hilfe lassen sich zudem subjektive Beanspruchungen, die durch Fragebögen gemessen wurden, objektivieren. Außerdem liefern kontinuierliche Messungen im Laufe eines Arbeitstages Hinweise über Veränderungen von Beanspruchungen. Die Messergebnisse tragen dazu bei, betriebliche Belastungsschwerpunkte zu identifizieren sowie Anhaltspunkte für eine optimierende Arbeitsgestaltung zu erhalten. Häufig ist es sinnvoll, in Ergänzung zu physiologischen Messmethoden physikalische einzusetzen, da zum einen physiologische Parameter durch physikalische Bedingungen beeinflusst und zum anderen Belastungsfaktoren wie z. B. Hitze einfacher ermittelt werden können. Es existiert keine einheitliche Auffassung darüber, welche physiologischen Indikatoren dazu geeignet sind, Beanspruchungen der Arbeitsplatzinhaber wie z. B. Anstrengungen und Ermüdungen zu erfassen. Im betrieblichen Alltag lassen sich ohne messtechnische Probleme relativ einfach die 4 kardiovaskulären Aktivitäten (Herzschlagfrequenz, Blutdruck), 4 elektrodermale Aktivität (Hautleitfähigkeit), 4 muskuläre Aktivität, 4 Atmung, 4 Körpertemperatur sowie die 4 Lidschlussfrequenz.
erfassen. Es handelt sich bei den meisten physiologischen Parametern um elektrische Indikatoren (z. B. Herzaktivität, Gehirnströme), die mithilfe von speziellen Messfühlern (Elektroden) gemessen werden können. Nicht elektrische Indikatoren wie z. B. Blutdruck oder Atmung können in elektrische Signale umgewandelt werden. Das Problem bei der Verwendung physiologischer Messungen liegt darin, dass Störsignale (z. B. durch Bewegung, begleitende physiologische Prozesse, externe elektrische Einstreuung) die Messung beeinflussen können. Neben den messtechnischen Störungen sind auch methodische Probleme zu nennen, die mit den Besonderheiten des Individuums (Alter, Geschlecht, Kleidung) zusammenhängen. Werden die beschriebenen Größen im Vorfeld und bei der Untersuchung kontrolliert, so können physiologische Messungen als reliabel bezeichnet werden (Bortz & Döring, 2005). 21.4.5
Laborforschung
Im Rahmen arbeitspsychologischer Laborforschung werden Experimente und Simulationen durchgeführt, um die Zusammenhänge zwischen Bedingungen der Arbeit und technischen Systemen einerseits und die Auswirkungen auf den Menschen andererseits zu untersuchen. Dabei kann experimentell allerdings nie die gesamte Arbeitstätigkeit abgebildet, sondern immer nur ein Ausschnitt des Arbeitsverhaltens untersucht werden. D. h. es geht bei der Laborforschung nicht um eine der Arbeit ähnliche Gestaltung des Experiments sondern darum, eine für die Versuchsperson angemessene Situation zu realisieren. Häufig werden Untersuchungen zur Mensch-Maschine- oder Mensch-Rechner-Interaktion durchgeführt, bei denen die Auswirkungen von technischen Arbeitsbedingungen (z. B. Display, Bedienteile, Software, Bildschirmoberfläche) auf den Arbeitenden (z. B. physiologische Reaktionen, Fehlerhäufigkeit) betrachtet werden. Aber auch Experimente, die sich mit psychischer Beanspruchung und Ermüdung beschäftigen, werden seit langer Zeit in der Arbeitspsychologie durchgeführt. Einige Experimente zum Zusammenhang zwischen Pausenverhalten und Leistungen (Graf, 1970) kamen zu dem Ergebnis, dass mittlere Pausen mit einer Dauer von 6 Minuten einen positiveren Effekt auf die Arbeitsleistung haben als Pausen von kurzer oder langer Dauer. Mit der Durchführung von Experimenten und der Vari-
363 21.5 · Ausgewählte Verfahren der Arbeitsanalyse
ation von Untersuchungsbedingungen wird zum einen das Ziel verfolgt, die Schnittstelle zwischen Mensch und Maschine bzw. Rechner (z. B. Displays, Anzeigen oder Körperhaltungen) zu verbessern. Zum anderen spielen auch die Gestaltung von Arbeitssystemen (z. B. Software) und Arbeitsprozessen sowie die Simulation von Arbeitssituationen eine zentrale Rolle. Die Durchführung von Simulationen bietet sich an, wenn es sich um in der Realität selten stattfindende Ereignisse handelt oder um Geschehnisse, die mit Gefahren verbunden sind. Vermehrt werden Simulationen in der Automobilindustrie durchgeführt, die die Auswirkungen bestimmter Fahrzeugapparaturen (z. B. Warnleuchten im Tachometer, Nachtsichtgeräte) auf das Fahrverhalten untersuchen. 21.4.6
Unterscheidung zwischen bedingungs- und personenbezogenen Arbeitsanalysen
Eine grundlegende Unterscheidung wird darüber hinaus zwischen sog. bedingungsbezogenen und personenbezogenen Analyseverfahren gemacht. Bedingungsbezogene Analyseverfahren zielen darauf ab, Anforderungen und Ausführungsbedingungen der Arbeitstätigkeit unabhängig von konkreten Personen mithilfe von Beobachtungen und Befragungen zu erfassen. Es wird daher von individuellen Besonderheiten der Aufgabenbewältigung und der Beurteilung von Arbeitsmerkmalen abgesehen und verallgemeinernd auf Regulationserfordernisse, Motivationspotenziale und Bewältigungsmöglichkeiten geschlossen. Die Daten werden zwar bei individuell ausgeführten Tätigkeiten erhoben. Ihre Interpretation wird jedoch für überindividuelle, psychologisch definierte Tätigkeitskonstrukte verallgemeinert. Entsprechend beziehen sich die Bewertungen nicht auf ein konkretes Individuum und seine spezifischen Leistungsvoraussetzungen, sondern auf die Arbeitsaufgaben und Ausführungsbedingungen in einem bestimmten Arbeitssystem in allgemeiner Form (Schüpbach & Zülch, 2004). Zur Datenerhebung werden bei bedingungsbezogenen Verfahren überwiegend Beoabachtungsinterviews eingesetzt, die von Analytikern durchgeführt werden, die mit dem Verfahren und der Arbeitstätigkeit vertraut sind. Allerdings werden methodische Probleme systematischer Tätigkeitsbeobachtungen in diesem Zusammenhang meist vernachlässigt bzw. unterschätzt. Oftmals werden sorgfältige Arbeitsablauf- und Arbeitsbe-
dingungsanalysen übergangen und stattdessen die psychischen Regulationserfordernisse direkt eingeschätzt. Tätigkeitsbeobachtungen erhalten damit den Charakter von Ratings, die im gleichen Maße wie subjektive Beurteilungen Antworttendenzen und Urteilsverzerrungen unterliegen. Bei personenbezogenen Verfahren steht hingegen die subjektive Wahrnehmung und Einschätzung der Arbeitstätigkeit und ihrer Ausführungsbedingungen durch individuelle Personen im Vordergrund. Damit wird nicht eine objektive, sondern eine »redefinierte« Wahrnehmung und Einschätzung von Tätigkeitsmerkmalen und Arbeitsbedingungen meist mittels schriftlicher Befragungen (standardisierte Fragebögen) erfasst. Methodologisch sind damit personenbezogene Verfahren mit Mitarbeiterbefragungen vergleichbar (7 Kap. 10). Bei personenbezogenen Arbeitsanalyseverfahren geht es allerdings nicht primär um die Erhebung von Arbeitszufriedenheitsaspekten, sondern die Einschätzung spezifischer Arbeitsmerkmale, -aufgaben und -bedingungen in einem kognitiv interpretierenden bzw. evaluativen Sinne. Ziel ist es z. B., die mittlere Ausprägung und Streubreite subjektiver Einschätzungen zu Stressoren und Indikatoren des Stresserlebens sowie deren Zusammenhänge zu ermitteln, um auf dieser Grundlage z. B. Empfehlungen für eine differenzielle Arbeitsgestaltung geben zu können. Methodische Probleme von personenbezogenen Verfahren sind begründet durch Antworttendenzen, das unzureichende Verständnis von Itemformulierungen oder selektive Stichprobenziehungen bzw. Rücklaufquoten. Substanzielle Bewertungen von Arbeitssystemen und -tätigkeiten allein auf der Basis von subjektiven Befragungsdaten sollten daher nicht vorgenommen werden. 21.5
Ausgewählte Verfahren der Arbeitsanalyse
Nachfolgend werden beispielhaft drei spezifische Analyseverfahren vorgestellt. Dabei handelt es sich um zwei bedingungsbezogene Verfahren: das Verfahren zur Ermittlung von Regulationserfordernissen (VERA) und das Instrument zur stressbezogenen Arbeitsanalyse (ISTA). Diesen Verfahren ist gemeinsam, dass die Datenerhebung in Form von Beobachtungsinterviews erfolgt. Das ISTA liegt auch als Fragebogen, d. h. zur schriftlichen Befragung der betroffenen Stelleinhaber vor. Darüber hinaus wird ein personenbezogenes Verfahren, der »Job
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21
Kapitel 21 · Arbeitsanalyse und -bewertung
Diagnostic Survey« (JDS), vorgestellt. Bei diesem Verfahren wird ein Fragebogen zur Datenerhebung verwendet. Die Verfahren werden anhand folgender Kriterien besprochen: Ziele, Anwendungsbereiche, theoretische Fundierung, Merkmalsbereiche, Auswertungs- bzw. Anwendungsmöglichkeiten sowie Gütekriterien des Verfahrens. 21.5.1
Verfahren zur Ermittlung von Regulationserfordernissen (VERA)
Bei dem VERA-Verfahren handelt es sich um ein bedingungsbezogenes Verfahren, welches die mit einer Arbeitsaufgabe verbundenen Anforderungen an das Denken, Planen und Entscheiden erfasst – unabhängig vom individuellen Arbeitsplatzinhaber. Das Ziel des Verfahrens besteht darin, das Ausmaß von Planungs- und
Denkprozessen in der Produktion bzw. im Büro zu ermitteln, um Gestaltungsmaßnahmen abzuleiten. Die Gestaltungsvorschläge sollten sich auf eine Erhöhung der Anforderungen beziehen, die u. a. zu einer verbesserten Arbeitsmotivation und zur effektiveren Nutzung der Qualifikationen und Arbeitserfahrungen beitragen soll (Oesterreich, 1999). Das VERA-Verfahren beinhaltet zwei Fassungen: eine zur Analyse von Produktions- und die andere zur Analyse von Bürotätigkeiten. Es kann branchenübergreifend für industriell-gewerbliche Arbeitstätigkeiten bis zur Meisterebene und für Büroarbeitsplätze, hier jedoch nicht für die Führungs- oder Managementebene, eingesetzt werden. Die theoretische Grundlage des Verfahrens ist ein Zehn-Stufen-Modell der Regulationserfordernisse (. Tab. 21.2), das auf dem von Oesterreich (1981) entwickelten »Fünf-Ebenen-Modell« der Handlungsregulation
. Tab. 21.2. Kurz-Definitionen der VERA-Stufen zur Analyse von Produktionstätigkeiten. (Aus Oesterreich, 1999) Ebene 5: Erschließung neuer Handlungsbereiche Stufe 5
Neu einzuführende, ineinander greifende Arbeitsprozesse, ihre Koordination und materiellen Bedingungen sind zu planen.
Stufe 5R
Wie Stufe 5. Die neuen Arbeitsprozesse sind Ergänzungen zu bestehenden Arbeitsprozessen, welche möglichst wenig verändert werden sollen.
Ebene 4: Koordination mehrerer Handlungsbereiche Stufe 4
Mehrere Teilzielplanungen (im Sinne der Stufe 3) von sich gegenseitig bedingenden Teilen des Arbeitsprozesses sind miteinander zu koordinieren.
Stufe 4R
Zwar ist nur eine Teilzielplanung erforderlich, hierbei sind jedoch Bedingungen für andere (nicht selbst zu leistende) Teilzielplanungen zu beachten.
Ebene 3: Teilzielplanung Stufe 3
Es kann vorab nur eine grob bestimmte Abfolge von Teiltätigkeiten geplant werden. Jede Tätigkeit erfordert eine eigene Planung (im Sinne der Stufe 2). Nach Abschluss einer Teiltätigkeit muss erneut das weitere Vorgehen durchdacht werden.
Stufe 3R
Vorab liegt eine Abfolge von Teiltätigkeiten fest. Jede Teiltätigkeit erfordert eine eigene Planung.
Ebene 2: Handlungsplanung Stufe 2
Die Abfolge der Arbeitsschritte muss vorab geplant werden, die Planung reicht jedoch bis hin zum Arbeitsergebnis.
Stufe 2R
Die Abfolge der Arbeitsschritte ist festgelegt. Sie ist jedoch immer wieder so unterschiedlich, dass sie vorab gedanklich vergegenwärtigt werden muss.
Ebene 1: Sensumotorische Regulation Stufe 1
Für den Entwurf der zu regulierenden Abfolge von Arbeitsbewegungen bedarf es keiner bewussten Planung, obwohl mitunter ein anderes Werkzeug verwendet werden muss.
Stufe 1R
Für den Entwurf der zu regulierenden Abfolge von Arbeitsbewegungen bedarf es keiner bewussten Planung. Es werden stets die gleichen Werkzeuge verwendet.
Mit freundlicher Genehmigung des Hochschulverlags Zürich.
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365 21.5 · Ausgewählte Verfahren der Arbeitsanalyse
basiert. Die Ebenen reichen von der »sensumotorischen Regulation« (Ebene 1), auf der es keiner bewussten Planung für die Abfolge der Arbeitsbewegung bedarf, bis hin zur »Schaffung neuer Handlungsbereiche« (Ebene 5), bei der neu einzuführende, ineinandergreifende Arbeitsprozesse zu koordinieren und zu planen sind. Das ZehnStufen- ergibt sich aus dem Fünf-Stufen-Modell durch die Unterscheidung von zwei Stufen auf jeder Ebene, eine normale und eine restriktive Ebene. Für Letztere gilt die Charakteristik der jeweiligen Ebenen nicht vollständig, sodass z. B. statt der Verwendung verschiedener Werkzeuge (Ebene 1) nur die Verwendung ein- und desselben Werkzeugs (Ebene 1R) erforderlich ist. Die Datenerhebung wird mithilfe von Beobachtungsinterviews durchgeführt. Das VERA-Verfahren setzt sich aus drei Teilen zusammen: 4 Im ersten Teil geht es um eine allgemeine Orientierung, bei der der Verfahrensanwender die gesamte Tätigkeit und die damit verknüpften Arbeitsaufgaben erfasst sowie sich über Aspekte des Arbeitsplatzes und der -umgebung informiert. 4 Der zweite Teil beinhaltet Fragen zu den identifizierten Aufgaben, mit denen man sich ein Bild über das angestrebte Arbeitsergebnis und die dazu verwendeten Arbeitsmittel anhand von 20 spezifischen
Fragen verschafft (z. B. in Bezug auf die Nutzung von Informationsunterlagen, die Eigenständigkeit bei der Auftragsfindung oder die Anforderungen an die Prüfung der Arbeitsergebnisse). 4 Im dritten Teil erfolgt die Beurteilung der Regulationserfordernisse, d. h. eine Einstufung jeder Arbeitsaufgabe im Hinblick auf die 5 bzw. 10 Stufen der Planungs- bzw. Regulationserfordernisse. Zur Bestimmung der VERA-Stufe muss der Arbeitsanalytiker einen Fragealgorithmus bearbeiten. In Frage 1 dieses Algorithmus wird zunächst grob geklärt, welches Planungsniveau bei der Arbeitsaufgabe anzunehmen ist. Mithilfe weiterer Fragen wird dann die spezifische VERA-Stufe identifiziert und zur Absicherung dieser Einstufung nach den stufenkennzeichnenden Merkmalen der Arbeitsaufgabe gefragt. Im 7 Kasten »Beispielitems zur Bestimmung der VERA-Stufe bei einer Arbeitsaufgabe« werden konkrete Elemente des Fragenalgorithmus
bei der Analyse von Produktionstätigkeiten auf der Stufe 2 wiedergegeben. Nach der Ermittlung der Stufe und der stufenkennzeichnenden Merkmale wird der Untersucher aufgefordert, konkrete Arbeitsgestaltungsvorschläge zu formulieren, deren Umsetzung in einer Erhöhung der Regulationserfordernisse resultieren würde.
Beispielitems zur Bestimmung der VERA-Stufe bei einer Arbeitsaufgabe Frage 2: Welche der Anforderungscharakterisierungen trifft auf die Arbeitsaufgabe zu? a) Die durch gedankliches Durchspielen zu planende Abfolge von Arbeitsschritten ist so kompliziert, dass es unrealistisch wäre, von Anfang bis hin zum Arbeitsergebnis alles festzulegen, was getan werden soll. Es muss daher erst ein Teil der Arbeitsschritte ausgeführt werden, bis der nächste Teil genauer durchdacht werden kann. (Weiter bei Frage 4: Stufe 3, Stufe 3R und Stufe 4R) b) Bei Beginn des Arbeitsauftrages wird eine bis hin zum Arbeitsergebnis reichende Folge von Arbeitsschritten geplant bzw. festgelegt. (Weiter bei Frage 5: Stufe 2, Stufe 2R und Stufe 3R) Nach der Zuordnung zu einer der Stufen sind die stufenkennzeichnenden Merkmale der Arbeitsaufgabe zu benennen. Für jede der möglichen Stufen ent-
hält das Manual eine betreffende Frage. Wurde z. B. Stufe 2 ermittelt, ist folgende Analyseanweisung zu beantworten: Wenn Sie die untersuchte Arbeitsaufgabe der Stufe 2 zugeordnet haben, beschreiben Sie, wie die Abfolge der Arbeitsschritte vorab geplant werden muss. Beachten Sie auch, wie sich die darunter und die darüber liegende Stufe von der Stufe 2 unterscheiden. a) Stufe 2R ist von Stufe 2 dadurch unterschieden, dass für jeden Arbeitsauftrag eine bis zum Arbeitsergebnis reichende Vorgehensweise vorgegeben ist. Der Arbeitende braucht also die Abfolge der Schritte nicht zu planen, es reicht aus, wenn er sich vergegenwärtigt, was zu tun ist. b) Stufe 3R ist von Stufe 2 dadurch unterschieden, dass eine Abfolge von mehreren Teiltätigkeiten vorliegt, die jeweils eine eigene Planung der Arbeitsschrittabfolgen erfordert.
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Kapitel 21 · Arbeitsanalyse und -bewertung
Anhand der VERA-Stufenzuordnungen wird das Ausmaß der Anforderungen an eigenständiges Denken und Planen pro Arbeitsaufgabe gekennzeichnet. Beinhaltet die Arbeitstätigkeit mehrere Arbeitsaufgaben, wird ein Stufendurchschnitt errechnet, bei dem die jeweils ermittelten Stufen durch die prozentualen Zeitanteile der Aufgaben gewichtet werden. Eine solche Mittelung kann beispielsweise auch für alle Arbeitsaufgaben innerhalb einer Abteilung berechnet werden und mit den Anforderungen anderer betrieblicher Einheiten bzw. vor und nach einer Arbeitsreorganisation miteinander verglichen werden. Unter qualitativen Gesichtspunkten liegt mit einer VERA-Analyse die Beschreibung des gesamten Verlaufs einer Arbeitstätigkeit, der Informations- und Materialflüsse sowie der besonders anforderungsreichen Aufgabenelemente vor. Von praktischer Bedeutung sind dabei insbesondere die mit der Analyse zu entwickelnden Arbeitsgestaltungsvorschläge, um die Denk- und Planungsanforderungen zu erhöhen. Für miteinander verbundene Arbeitsaufgaben in einem Arbeitssystem oder einer Abteilung können zunächst die Gestaltungsvorschläge gesammelt werden und es kann dann nach Sichtung und Vergleich der verschiedenen Vorschläge entschieden werden, welche Verbesserungen insgesamt umsetzbar sind. Objektivität bzw. Reliabilität des VERA-Verfahrens wurden für die Produktionsfassung mithilfe sog. unabhängiger Doppelanalysen (7 Abschn. 21.6.5) ermittelt. Als Übereinstimmungsmaß für die VERA-Einstufung ergab sich r=.85. Ein ähnlich zufrieden stellender Wert (.84) ergab sich für die Bürofassung. Untersuchungen zur Validität des VERA-Verfahrens zeigen darüber hinaus, dass höhere VERA-Einstufungen, d. h. höhere Regulationserfordernisse, die Arbeitstätigkeit attraktiver machen, mehr Motivationspotenzial aufweisen und zu höherer Eigenaktivität der Arbeitenden, aber nicht zu höheren psychischen Belastungen führen. 21.5.2
Instrument zur stressbezogenen Tätigkeitsanalyse (ISTA)
Bei dem ISTA handelt es sich um ein Verfahren, das darauf zielt, stressrelevante Arbeitsmerkmale und Belastungsschwerpunkte bei Tätigkeiten in der Produktion und im Büro zu ermitteln. Die Ergebnisse sollen Aufschluss darüber geben, welche Arbeitsbedingungen zum Wohlbefinden und zur Gesundheit des Individuums
beitragen und welche zu Beeinträchtigung (z. B. Stress) führen. Daraus lassen sich verschiedene Maßnahmen zur Arbeitsgestaltung und -organisation, z. B. zur Reduzierung der Belastungsschwerpunkte, ableiten. Was den Anwendungsbereich des Verfahrens betrifft, so existiert eine Version für Produktionstätigkeiten (Semmer, 1984) und eine von Zapf (1991) vorgelegte Version für Bürotätigkeiten. Dem ISTA werden zwei zentrale theoretische Richtungen zugrunde gelegt: die Handlungsregulationstheorie und stresstheoretische Konzepte. Die theoretische Modellvorstellung gibt Aufschluss darüber, auf welche Tätigkeitsaspekte bei der Dateninterpretation fokussiert wird. Beim vorliegenden Verfahren stehen die Aufgabenbewältigung und damit verbundene Handlungs- und Tätigkeitsspielräume sowie der Einfluss von Stressoren und Problemen bei der Tätigkeitsausübung im Vordergrund. Die durch das ISTA erfassten stressrelevanten Aspekte der Arbeit beziehen sich somit vor allem auf die Qualität der Aufgaben (z. B. Variabilität und Komplexität der Regulationsanforderungen sowie Kontroll- und Kommunikationsmöglichkeiten als Ressourcen), Hindernisse bei der Aufgabenbewältigung (z. B. Zeitdruck, Unterbrechungen der Arbeit oder Unsicherheiten durch unklares Feedback) und soziale Bedingungen (z. B. Konflikte und andere soziale Stressoren und Formen der sozialen Unterstützung als Ressource). Welche Skalen und Indizes das ISTA in der gegenwärtigen Version enthält, wird in der . Tab. 21.3 dargestellt. Das ISTA-Verfahren ist als bedingungsbezogenes Verfahren angelegt. Dies zeigt sich in den Erhebungsmethoden: Es liegt sowohl in einer Fragebogenversion für die Stelleninhaber als auch in einer Ratingversion vor, die der Arbeitsanalytiker anhand von Beobachtungsinterviews ausfüllt. Darüber hinaus wurde Wert darauf gelegt, dass die Itemformulierungen möglichst neutral-beschreibend ausfallen. Hiermit wird versucht zwischen Stressoren und Stressempfinden zu trennen, sodass die (Stress-)Reaktion der Befragten nicht vorweggenommen wird (wie z. B. bei der Aussage »Ich fühle mich überfordert«). Bei den Einstufungsskalen wurden außerdem solche verwendet, die sich auf die Intensität oder Häufigkeit der Merkmalsausprägung beziehen [z. B. »sehr wenig« (1) bis »sehr viel« (5) oder »sehr selten« (1) bis »sehr oft« (5)]. Teilweise werden als Items auch zwei »Gegenpole« benutzt, die die Arbeit von A der Arbeit von B gegenüberstellen (. Tab. 21.3). Bei der Beantwortung soll angegeben werden, ob der eigene Arbeitsplatz »genau wie der von A« (1), »ähnlich wie der von A« (2), »zwischen A
367 21.5 · Ausgewählte Verfahren der Arbeitsanalyse
. Tab. 21.3. ISTA-Skalen und –Indizes sowie Beispielitems und Einstufungsskalen Skala
Beispielitem
Einstufungsskala
Arbeitskomplexität und Qualifikationserfordernisse
A muss bei seiner Arbeit sehr komplizierte Entscheidungen treffen. B muss bei seiner Arbeit nur sehr einfache Entscheidungen treffen.
Dieser Arbeitsplatz ist … genau wie der von A (1) bis genau wie der von B (5)
Variabilität
Insgesamt gesehen hat A eine gleichförmige, immer wiederkehrende Arbeit. Insgesamt gesehen hat B eine abwechslungsreiche Arbeit.
Dieser Arbeitsplatz ist … genau wie der von A (1) bis genau wie der von B (5)
Handlungsspielraum
Können Sie selbst bestimmen, auf welche Art und Weise Sie Ihre Arbeit erledigen?
gar nicht (1) bis sehr viel (5)
Partizipation
Wie viel Einfluss haben Sie bei der Gestaltung der Urlaubspläne?
gar nicht (1) bis sehr viel (5)
Zeitspielraum
Wie lange können Sie sich von Ihrer Arbeit abwenden, ohne mit Ihrer eigentlichen Aufgabe in Verzug zu geraten?
sehr selten (1) bis sehr oft (5)
Unsicherheit
Erhalten Sie manchmal von verschiedenen Vorgesetzten widersprüchliche Anweisungen?
sehr selten (1) bis sehr oft (5)
Arbeitsorganisatorische Probleme
A muss viel Zeit damit vertun, um sich Informationen, Werkzeug und Material zu beschaffen. B hat Informationen, Werkzeug und Material in ausreichender Menge zur Verfügung.
Dieser Arbeitsplatz ist … genau wie der von A (1) bis genau wie der von B (5)
Arbeitsunterbrechungen
Kommt es vor, dass Sie aktuelle Aufgaben unterbrechen müssen, weil etwas Wichtiges dazwischen kommt?
sehr selten (1) bis sehr oft (5)
Unfallgefährdung
Wenn man bei der Arbeit nicht sehr vorsichtig ist, kann leicht ein Unfall passieren?
sehr selten (1) bis sehr oft (5)
Einseitige Belastung
Wie oft müssen Sie bei der Arbeit eine gebeugte Körperhaltung einnehmen?
sehr selten (1) bis sehr oft (5)
Umgebungsbelastung
Wie ausgeprägt ist die Lärmbelastung am Arbeitsplatz?
sehr niedrig (1) bis sehr hoch (5)
Konzentrationsanforderungen
A muss sich bei seiner Arbeit nervlich sehr anstrengen. B muss sich im Durchschnitt nervlich fast gar nicht anstrengen.
Dieser Arbeitsplatz ist … genau wie der von A (1) bis genau wie der von B (5)
Zeitdruck
Wie oft wird bei Ihrer Arbeit ein hohes Tempo verlangt?
sehr selten (1) bis sehr oft (5)
Kommunikationsmöglichkeiten
Mit wie vielen verschiedenen Arbeitskollegen können Sie während der Arbeit Kontakt aufnehmen?
mit sehr wenigen (1) bis mit sehr vielen (5)
Kooperationserfordernisse
Inwieweit erfordert Ihre Arbeit eine gemeinsame Planung mit Ihren KollegInnen?
gar nicht (1) bis sehr viel (5)
Kooperationsenge
Wie stark sind Ihre KollegInnen von Ihrem Arbeitstempo abhängig?
gar nicht (1) bis sehr viel (5)
Kooperationsspielraum
A kann in der Regel selbst entscheiden, mit wem er oder sie jeweils zusammenarbeitet. Bei B ist immer genau vorgegeben, mit wem er oder sie jeweils zusammenarbeitet.
Dieser Arbeitsplatz ist … genau wie der von A (1) bis genau wie der von B (5)
Emotionsarbeit
Wie oft gehört es zu Ihrer Aufgabe, dass Sie während der Arbeit Ihre eigenen Gefühle im Umgang mit anderen unterdrücken müssen?
sehr selten (1) bis sehr oft (5)
Zumutbarkeit und Respekt
Wie oft kommt es vor, dass Sie Arbeiten übernehmen müssen, für die Sie eigentlich zu gut ausgebildet sind?
sehr selten (1) bis sehr oft (5)
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Kapitel 21 · Arbeitsanalyse und -bewertung
und B« (3), »ähnlich wie der von B« (4), »genau wie der von B« (5) ist. Durch diese Mittel kann zwar nicht vollständig vermieden werden, dass die Einschätzungen durch Merkmale der Personen beeinflusst werden, sie sollen aber dadurch minimiert werden. Die Ratingversion ist weitgehend identisch mit der Fragebogenversion – bis hin zur Formulierung der Fragen. Lediglich Items, bei denen die Beobachtenden auf die Einschätzung der Arbeitenden angewiesen wären, sind in der Ratingversion nicht enthalten. Durch die identische Gestaltung bietet sich außerdem die Möglichkeit, die Einflüsse von Personenmerkmalen bei der Fragebogenversion (z. B. im Sinne von Antworttendenzen) durch Vergleiche mit der Ratingversion zu erfassen und zu kontrollieren. Zur Ergebnisauswertung können zunächst die an einzelnen Arbeitsplätzen auffälligen Werte identifiziert und beschrieben werden. Bezogen auf Gruppen von Arbeitsplätzen oder Organisationseinheiten werden darüber hinaus Durchschnittswerte und Profile von Stressfaktoren und Ressourcen ermittelt. Zum Vergleich können außerdem Daten anderer Organisationseinheiten oder anderer Unternehmen herangezogen werden, um eine Einordnung der Ergebnisse zu erleichtern. Auffällige Ergebnisse (besonders hohe/niedrige Werte bei bestimmten Stressfaktoren) sollten kommentiert und mit Empfehlungen, z. B. für Arbeitsgestaltungsmaßnahmen oder für vertiefende Analysen, versehen werden. Bezüglich der Reliabilität des Instruments zeigten Analysen der internen Konsistenz der Skalen, dass für die Mehrheit der Skalen weitgehend ausreichende Werte (r=.58–.88) ermittelt werden konnten. Auch die Beurteilerübereinstimmung bei der Ratingversion ist überwiegend zufriedenstellend. Validitätsstudien ergaben darüber hinaus, dass die ISTA-Stressoren die erwarteten Zusammenhänge mit den parallel erfassten psychosomatischen Beschwerden aufwiesen. 21.5.3
Job Diagnostic Survey (JDS)
Der »Job Diagnostic Survey« (JDS) ist ein von Hackman und Oldham (1975) entwickeltes Verfahren zur Analyse des Motivationspotenzials in der Arbeit. Schmidt, Kleinbeck, Ottman und Seidel (1985) haben zum JDS eine deutschsprachige Fassung vorgelegt. Mit dem Einsatz des Instruments wird das Ziel verfolgt, bedeutsame motivations- und leistungssteigernde Tätigkeitsmerkmale zu diagnostizieren, Veränderungsbedarf
festzustellen sowie daraus abgeleitete Arbeitsgestaltungsmaßnahmen zu bewerten. Der Anwendungsbereich des Verfahrens ist nicht auf eine bestimmte Branche oder Tätigkeit eingeschränkt, vielmehr geht es um den spezifischen Arbeitsplatz und die damit verbundenen Aufgaben und Tätigkeiten. Dem Instrument liegt das Job Characteristics Model zugrunde. Dieses Modell spezifiziert, wie Arbeitsaufgaben gestaltet sein müssen, um motivations- und leistungsfördernd zu wirken sowie dem Arbeitsplatzinhaber Entfaltungsmöglichkeiten bei der Arbeit zu bieten. Das Modell (7 Abschn. 24.2.1) enthält fünf zentrale Aufgabenmerkmale: 4 Anforderungsvielfalt, 4 Aufgabengeschlossenheit, 4 Bedeutung der Aufgabe für andere, 4 Autonomie im Sinne von Freiheitsgraden für selbstständige Zielstellungen und Entscheidungen über die Aufgabeninhalte, 4 Rückmeldung über die Tätigkeitsergebnisse. Die im Modell definierten Aufgabenmerkmale wirken, vermittelt über psychologische Erlebenszustände, auf die intrinsische Motivation, die Qualität der Arbeitsleistung, die Arbeitszufriedenheit und die Fehlzeiten und Fluktuation der Beschäftigten. Folgende vermittelnde Erlebenszustände werden definiert: 1. wahrgenommene Bedeutung der Arbeit, 2. wahrgenommene Verantwortung für die Arbeitsergebnisse und 3. Wissen um Ergebnisse der Arbeitstätigkeiten. In dem Modell findet sich außerdem noch eine Personenvariable, die als Bedürfnis nach persönlicher Entfaltung bezeichnet wird. Individuen mit einem starken Bedürfnis nach persönlicher Entfaltung sollten die erwähnten psychologischen Erlebenszustände eher als andere erfahren, wenn ihre Arbeitstätigkeit im Sinne der Tätigkeitsmerkmale erweitert wird. Anhand des »Job Diagnostic Survey« werden die in dem Modell spezifizierten Variablen durch die Beschäftigten bzw. deren subjektiver Wahrnehmung mithilfe eines standardisierten Fragebogens erfasst. Es handelt sich somit um ein personenbezogenes Arbeitsanalyseverfahren. Anhand 7-stufiger Einstufungsskalen sollen 83 verschiedene Aussagen beurteilt werden. Im 7 Kasten »Verfahrensabschnitte und Beispielitems des ‚Job Diagnostic Survey’« werden Itembeispiele für die 7 Teilab-
schnitte des Instruments vorgestellt.
369 21.5 · Ausgewählte Verfahren der Arbeitsanalyse
Verfahrensabschnitte und Beispielitems des »Job Diagnostic Survey« (nach Schmidt et al., 1985) Erfassung der 5 Aufgaben- und Tätigkeitsmerkmale (21 Items) 4 Wie viel Selbstständigkeit haben Sie bei Ihrer Arbeit? Das heißt, in welchem Ausmaß können Sie selbst bestimmen, wie Sie bei der Ausführung Ihrer Arbeit vorgehen? Einstufungsskala: von »sehr wenig« (1) bis »sehr viel« (7) 4 Meine Vorgesetzten lassen mich sehr oft wissen, wie gut ich meine Arbeit mache. Einstufungsskala: von »völlig unzutreffend« (1) bis »stimmt völlig« (7) Erfassung der 3 arbeitsbezogenen Erlebenszustände (14 Items) 4 Ich empfinde ein hohes Maß an persönlicher Verantwortung für die Arbeit, die ich verrichte. Einstufungsskala: von »völlig unzutreffend« (1) bis »stimmt völlig« (7) Erfassung der intrinsischen Arbeitsmotivation (6 Items) und allgemeinen Arbeitszufriedenheit (5 Items) 4 Meine Meinung über mich selbst wächst, wenn ich meine Arbeit gut mache.
Eine Anwendung des »Job Diagnostic Survey« ist vor allem dann angezeigt, wenn Probleme in den arbeitsbezogenen Einstellungen oder der Arbeitsmotivation deutlich werden oder um Ursachen von Fehlzeiten und Fluktuation zu identifizieren und genauer einzugrenzen. Auf der Grundlage der JDS-Analysen lassen sich außerdem in gezielter Form geeignete Arbeitsgestaltungsmaßnahmen ermitteln, um die identifizierten Defizite in den Arbeitsinhalten (z. B. unzureichende Autonomiegrade oder Rückmeldungen bei der Arbeit) zu beheben. Dabei ist allerdings zu beachten, dass nicht alle Personen von Erhöhungen des Motivierungspotenzials ihrer Arbeit profitieren. Insbesondere Personen mit einem niedrigen Entfaltungsbedürfnis verhalten sich solchen Maßnahmen gegenüber neutral, wenn nicht sogar ablehnend. Bezüglich der Gütekriterien des »Job Diagnostic Survey« lässt sich berichten, dass die interne Konsistenz der 16 Skalen weitgehend zufriedenstellend (r=0.59–0.84)
4 Allgemein gesprochen bin ich mit meiner Arbeit zufrieden. Einstufungsskala: von »völlig unzutreffend« (1) bis »stimmt völlig« (7) Erfassung der Zufriedenheit mit den Kontextfaktoren der Arbeit (10 Items) und der Zufriedenheit mit den Entfaltungsmöglichkeiten bei der Arbeit (4 Items) Wie zufrieden sind Sie mit: 4 den Möglichkeiten, durch die Arbeit sich persönlich weiterzuentwickeln. Einstufungsskala: von »überhaupt nicht zufrieden« (1) bis »sehr zufrieden« (7) Erfassung des Bedürfnisses nach persönlicher Entfaltung (23 Items) 4 Fragen, inwieweit die Befragten bestimmte Arbeitsbedingungen realisiert sehen möchten: z. B. Möglichkeiten, selbstständig und unabhängig zu denken und zu handeln
bis teilweise nicht ganz ausreichend ist (betrifft insbesondere die Variablen zur Erfassung der psychischen Erlebenszustände: 0.52–0.59) (Schmidt et al., 1985). Bezüglich der Validität ist festzustellen, dass die erfassten Tätigkeits- bzw. Aufgabenmerkmale relevante und konstruktvalide Merkmale des Motivationspotenzials der Tätigkeit sind. Außerdem konnte das Job Characteristics Model in mehreren Studien hinsichtlich der wesentlichen Modellaussagen bestätigt werden (Schmidt & Kleinbeck, 1999): Das heißt, die ermittelten Tätigkeitsbzw. Aufgabenmerkmale wirken sich über die Vermittlung der psychologischen Erlebenszustände positiv bzw. negativ auf die Ergebnisvariablen aus. Intrinsische Motivation, Arbeitszufriedenheit, Fehlzeiten und Fluktuation weisen dabei höhere Zusammenhänge als die Arbeitsleistung auf, für die der schwächste Zusammenhang ermittelt wurde. Diese Zusammenhänge werden außerdem – wie angenommen – durch das Ausmaß des persönlichen Entfaltungsbedürfnisses moderiert.
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Kapitel 21 · Arbeitsanalyse und -bewertung
21.6
Kriterien der Arbeitsbewertung
Ein zentrales Ziel von Arbeitsanalysen ist es, Grundlagen zur Gestaltung und Optimierung von Arbeitstätigkeiten zu ermitteln und bereitzustellen. Die Interpretation und Bewertung der Analyseergebnisse erfordert es allerdings, dass zur Ableitung von Gestaltungsempfehlungen Kriterien bzw. Referenzwerte herangezogen werden müssen, die Schlussfolgerungen über den Gestaltungs- bzw. Optimierungsbedarf erlauben. Hier stellt sich somit die Frage, was macht gut gestaltete Arbeitstätigkeiten aus, welche Kriterien zieht man zur Bewertung heran und auf welcher Grundlage entscheidet man, dass diese Kriterien erfüllt sind. Es existiert eine Vielzahl von Ansätzen, solche Kriterien zu formulieren und zu systematisieren. Bedeutung haben vor allem Ansätze erlangt, die versuchen sog. Kriterien humaner Arbeitsgestaltung zu definieren. Hacker und Richter (1980) als einflussreichste Vertreter haben in diesem Zusammenhang vier Kriterien benannt und Entscheidungsregeln und -hilfen zur Bewertung von Arbeitstätigkeiten gemäß diesen Kriterien beschrieben (7 Kasten).
Das Kriteriensystem von Hacker und Richter (1980) ist hierarchisch aufgebaut, d. h. zunächst ist die Einhaltung der Kriterien auf den unteren Stufen sicherzustellen, bevor z. B. eine Optimierung der Tätigkeit in Bezug auf ihre Persönlichkeitsförderlichkeit sinnvoll ist. In der Praxis wird allerdings in der Regel kein sequenzielles Vorgehen zur Bearbeitung entsprechender Gestaltungsdefizite, sondern eher eine parallele Problembearbeitung praktiziert. Generell ist anzumerken, dass man bei der Gestaltung von Arbeitsplätzen nach den genannten Kriterien immer auf die Zusammenarbeit mit anderen Berufsgruppen angewiesen ist (z. B. Arbeits- und Technikplanern, Meistern und Controllern). Aus psychologischer Sicht sind vor allem die Kriterien »Beeinträchtigungsfreiheit« und »Persönlichkeitsförderlichkeit« von Interesse, da die Bearbeitung der beiden anderen Kriterien eher in den Aufgabenbereich von ergonomisch bzw. ingenieurswissenschaftlich orientierten Arbeitswissenschaftlern gehört. Weiter gehende Ansätze zur Operationalisierung der Humankriterien liegen insbesondere für das relativ abstrakte Kriterium der Persönlichkeitsförderlichkeit vor.
Kriterien humaner Arbeitsgestaltung (nach Hacker & Richter, 1980) Ausführbarkeit. Hierbei geht es um die Frage, ob eine Tätigkeit oder Aufgabe unter Berücksichtigung der Auftragsstellung, der Arbeitsmittel und der Arbeitsbedingungen uneingeschränkt, bedingt bzw. eingeschränkt oder nicht zuverlässig ausgeführt werden kann. Zur Bewertung können hier vor allem ergonomische Normwerte (anthropometrische oder sinnesphysiologische Normen) herangezogen werden. Schädigungslosigkeit. Bei diesem Kriterium steht die Frage im Vordergrund, ob die Tätigkeit/Aufgabe ohne Gesundheitsschäden durchgeführt werden kann, d. h., ob solche Gesundheitsschäden ausgeschlossen werden können oder möglich bzw. sogar hochwahrscheinlich sind. Zur Beurteilung können sog. MAKWerte (Maximale-Arbeitsplatz-Konzentration: Werte, die die maximal zulässige Konzentration eines Stoffes, z. B. als Schwebstoff in der Atemluft am Arbeitsplatz, bei der kein Gesundheitsschaden zu erwarten ist, angeben) sowie Erkrankungs- und Unfallstatistiken zu Rate gezogen werden.
Beeinträchtigungsfreiheit. Im Zusammenhang mit diesem Kriterium ist zu klären, ob eine Tätigkeit/Aufgabe ohne kurz- oder längerfristige Beeinträchtigungen von Gesundheit und Wohlbefinden des Arbeitenden ausgeführt werden kann. Bei der Bewertung unterscheidet man zwischen Tätigkeiten ohne bzw. mit zumutbaren Beeinträchtigungen, bedingt zumutbaren und nicht zumutbaren Beeinträchtigungen. Als Indikatoren werden Maße der Befindensbeeinträchtigung (z. B. Ausmaß der Gereiztheit oder psychsomatischer Beschwerden) sowie psychophysiologische Kennwerte herangezogen. Persönlichkeitsförderlichkeit. Hierbei geht es um die Frage, ob durch die Tätigkeit/Aufgabe eine Weiterentwicklung und Erhaltung von Fähigkeiten und Einstellungen oder deren Rückbildung zu erwarten ist. Dies wird beispielsweise beurteilt anhand von Zeitanteilen für selbstständige oder schöpferische Handlungen oder dem Ausmaß erforderlicher Lernaktivitäten zur Tätigkeitsausübung.
371 21.7 · Durchführungsbedingungen und Ressourcen bei Arbeitsanalysen
Zum Beispiel hat Dunckel (1996) dieses Kriterium in 8 Teilziele untergliedert, die den Grundmerkmalen menschlichen Handelns entsprechen (Zielgerichtetheit, Gegenständlichkeit, soziale Eingebundenheit). So sollten Arbeitsaufgaben, welche die Besonderheiten und Stärken menschlichen Handelns berücksichtigen, z. B. einen großen Entscheidungsspielraum beinhalten, durchschaubar und gemäß eigener Ziele gestaltbar sein, einen konkreten Kontakt zu materiellen und sozialen Bedingungen des Arbeitshandelns ermöglichen und Möglichkeiten zur arbeitsbezogenen Kommunikation und zu unmittelbaren zwischenmenschlichen Kontakten bieten. Zur konkreten Arbeitsbewertung sind schließlich auch Referenzwerte in Bezug auf bestimmte Arbeitsmerkmale bzw. -indikatoren (z. B. Denk- und Problemlöseanforderungen) heranzuziehen, um konkret entscheiden zu können, ob ein Indikator im Sinne einer humanen Arbeit ausreichend erfüllt ist (d. h., ab welcher Bewertungsstufe man von ausreichenden Denkanforderungen im Sinne der Persönlichkeitsförderlichkeit sprechen kann). Eine Reihe von Analyseinstrumenten (z. B. das Tätigkeitsbewertungssystem; vgl. Hacker, Fritsche, Richter & Iwanowa, 1995) stellen für diese Zwecke entsprechende Referenzwerte in ihren Auswertungsmanualen zur Verfügung. Neben den vier genannten Humankriterien werden in der Literatur allerdings noch eine Reihe weiterer Kriterien bzw. Humanisierungsziele diskutiert. Die von Hacker und Richter im Sinne der Handlungstheorie formulierten Humankriterien vernachlässigen z. B. ökonomische Komponenten (angemessene Entlohnung) oder sozial-emotionale Aspekte (z. B. Spaß an der Arbeit). So nennt Neuberger (1985) in seiner Liste der Humanisierungsziele auch solche Kriterien wie Sicherheit gewähren, Orientierung geben, Konflikte regeln oder ästhetische Aspekte der Arbeit berücksichtigen. Festzuhalten bleibt jedoch, dass die genannten Kriterien humaner Arbeitsgestaltung noch immer zentrale und bedeutsame Leitlinien der Arbeitsbewertung und -gestaltung darstellen (auch 7 Kap. 22). 21.7
21.7.1
Vorgehen bei Arbeitsanalysen
Wie sollte man bei der Planung, Durchführung und Auswertung einer Arbeitsanalyse vorgehen? Von Besonderheiten abstrahierend und eher idealtypisch beschrieben, sind vor allem folgende Schritte zu berücksichtigen: Festlegung der Untersuchungsziele. Zu Beginn einer
arbeitsanalytischen Untersuchung sollten zunächst das Untersuchungsanliegen und die Untersuchungsziele mit den Auftraggebern detailliert geklärt werden. Erforderlich ist darüber hinaus, dass man die Gesamtorganisation (Betrieb, Unternehmen, Werk) sowie die zu betrachtende Organisationseinheit bezüglich ihrer Strukturen und organisatorischen Besonderheiten durchleuchtet (Frieling, 1999), um sich ein Bild von den Rahmenbedingungen der zu analysierenden Tätigkeiten machen zu können. Auch sollte man sich einen ersten Eindruck von Arbeitsauftrag und Ausführungsbedingungen der zu analysierenden Tätigkeit(en) verschaffen. Auswahl und Anpassung der Instrumente. In Abhän-
gigkeit von der Fragestellung/Zielsetzung werden auf dieser Grundlage ausgewählte Methoden und Instrumente zur Arbeitsanalyse bestimmt. In der Phase der Vorbereitung sind außerdem bestimmte Anpassungen des Analyseinstrumentariums an den Untersuchungskontext und/oder Schulungen bzw. Einweisungen der Analytiker in die Handhabung der Analysemethoden zu vollziehen. Durchführung einer psychologischen Aufgaben- und Tätigkeitsanalyse. Im nächsten Schritt wird meistens
eine psychologische Aufgaben- und Tätigkeitsanalyse in Zusammenarbeit mit den Stelleninhabern durchgeführt. Dabei kann es je nach Zielsetzung darum gehen, bestimmte Lärm-, Klima- und Lichtverhältnisse zu messen, Material- oder Informationsflüsse zu analysieren oder Behinderungen im Arbeitsvollzug herauszufinden.
Durchführungsbedingungen und Datenauswertung. Die aus der Arbeitsanalyse aufgeRessourcen bei Arbeitsanalysen nommenen Daten werden im Anschluss ausgewertet,
Es wird ein idealtypisches Vorgehen bei der Durchführung arbeitsanalytischer Untersuchungen beschrieben und es werden die für eine Arbeitsanalyse erforderlichen Ressourcen charakterisiert.
die resultierenden Ergebnisse dokumentiert, graphisch aufbereitet und mit dem Management sowie den Mitarbeitern diskutiert. Letzteres beinhaltet auch entsprechende kriteriengeleitete Bewertungen und Vergleiche mit Referenzwerten.
21
372
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Kapitel 21 · Arbeitsanalyse und -bewertung
Evaluation. Danach werden Gestaltungsmaßnahmen – in Kooperation mit den betreffenden betrieblichen Stellen – abgeleitet und schriftlich fixiert, um deren Bereitschaft und Unterstützung bei der Umsetzung sicherzustellen. Darüber hinaus sollten die Arbeitsgestaltungsmaßnahmen evaluiert werden, indem erneut Tätigkeitsanalysen durchgeführt und die Veränderungen erfasst werden. Häufig werden dazu nicht die objektiven Veränderungen untersucht, sondern (subjektiv orientierte) Befragungen durchgeführt.
21.7.2
Erforderliche Ressourcen
Die zeitlichen und personellen Ressourcen, die mit der Vorbereitung und Durchführung einer Arbeitsanalyse verbunden sind, sind abhängig vom eingesetzten Analyseverfahren und der damit verbundenen Methode (Beobachtung, Befragung). Der Einsatz der meisten Analyseverfahren ist mit einem hohen Zeitaufwand verbunden und bedarf grundlegender arbeitspsychologischer Kenntnisse und Erfahrungen der Anwender. Insbesondere für nicht psychologisch geschulte Anwender ist somit die Einarbeitung in die Verfahrensanwendung sehr zeitaufwändig (Semmer, Zapf, Dunckel, 1999). Allein für die Schulung von arbeitspsychologischen und interviewbezogenen Kenntnissen sowie die Einweisung in die mit dem Verfahren verbundenen theoretischen Konzepte sind oftmals mehrere Tage zu veranschlagen. Auch für die häufig erforderliche Analyse betrieblicher Unterlagen wie Arbeitsanweisungen, Qualitätshandbücher etc. sollte ausreichend Zeit eingeplant werden. Welche Vorzüge und Probleme sind hinsichtlich des Ressourceneinsatzes mit den einzelnen Erhebungsformen verbunden? Werden mündliche Befragungen in Unternehmen durchgeführt, so können von einem Interviewer 2–3 Interviews (ca. 1–2 Stunden Dauer) pro Tag durchgeführt werden. Handelt es sich um große Stichproben und wenige Interviewer können die Erhebungszeiträume mehrere Monate und z. T. 1–2 Jahre dauern. Dementsprechend sind auch die Kosten (Reisen, Terminvereinbarungen, Interviewtraining, Vor- und Nachbereitung der Interviews) pro Interview relativ hoch und betragen durchschnittlich 100–250 Euro (Frieling & Sonntag, 1999). Eine wesentlich kostengünstigere und weniger zeitaufwändige Form der Datenerhebung sind Telefoninterviews und schriftliche Befragungen. Telefoninterviews sind allerdings häufig nur dann erfolgreich, wenn
die Interviewpartner den Fragenden kennen und selbst kompetent für die gestellten Fragen sind. Schriftliche Befragungen haben den Vorteil, dass viele Mitarbeiter angesprochen, die Daten EDV-basiert ausgewertet und somit Kosten und personelle Ressourcen eingespart werden können. Allerdings sollte die Befragung telefonisch im Vorfeld angekündigt werden, um die Rücklaufquote zu erhöhen. Häufig noch aufwändiger als Befragungen sind Beobachtungen. Damit repräsentative Daten für eine Arbeitstätigkeit sowie die damit verbundenen Bedingungen und Aktivitäten erhoben werden können, müssen an unterschiedlichen Tagen und ggf. zu unterschiedlichen zeitlichen Perioden Beobachtungen durchgeführt werden. Erst dann können Aussagen darüber getroffen werden, ob die beobachteten Arbeitsabläufe die »Regel« sind oder ob saisonale und konjunkturelle Bedingungen die Arbeitstätigkeit beeinflussen. 21.8
Gütekriterien bei Arbeitsanalyseverfahren
Die im Rahmen von Arbeitsanalysen eingesetzten Verfahren sollten auch testtheoretischen Gütekriterien genügen, d. h. objektiv, reliabel und valide sein (7 Kap. 17). Die Objektivität eines Analyseverfahrens bezeichnet, ob die Durchführung, Auswertung und Interpretation der erhobenen Daten unabhängig vom Anwender ist. Die Reliabilität eines Verfahrens bestimmt, ob mit dessen Hilfe »stabile«, »zuverlässige« und »replizierbare« Ergebnisse hervorgebracht werden können (Oesterreich & Bortz, 1994). Das bedeutet, dass insbesondere mit wiederholten Messungen des gleichen Gegenstandes kaum voneinander abweichende Ergebnisse erzielt werden. Mit Überprüfungen der Validität wird untersucht, ob das Analyseinstrument auch wirklich das erfasst, was es zu erheben beansprucht. Im Folgenden werden Ansätze zur Überprüfung der Güte von Arbeitsanalyseverfahren sowie Studien zu Einflussfaktoren der Gütekriterien vorgestellt. 21.8.1
Ansätze zur Überprüfung der Gütekriterien
Bei Arbeitsanalyseverfahren geht es in der Regel um Merkmale der Arbeitstätigkeit (bedingungsbezogene Verfahren), nicht um die Erfassung von Personenmerk-
373 21.8 · Gütekriterien bei Arbeitsanalyseverfahren
malen (personenbezogene Verfahren). Werden jedoch Personenmerkmale beurteilt bzw. Unterschiede zwischen Personen erfasst, die eine spezifische Arbeitstätigkeit ausüben, sollten bezüglich des (personenbezogenen) Arbeitsanalyseinstruments wie bei anderen Fragebogeverfahren folgende Fragen gestellt und beantwortet werden (7 Kap. 17): 4 Inwieweit ist die Durchführung, Auswertung und Interpretation der Arbeitsanalyse unabhängig vom Anwender? (Objektivität) 4 Mit welcher Genauigkeit erfasst das Verfahren ein Personen- und Verhaltensmerkmal? (Reliabilität) 4 Inwieweit wird das behauptete Personen- und Verhaltensmerkmal tatsächlich gemessen? (Validität) Zur Prüfung der Güte von bedingungsbezogenen Verfahren schlagen Oesterreich und Bortz (1994) verschiedene Modelle vor: unabhängige, abhängige und simulierte Doppel- sowie Wiederholungsanalysen. Bei Doppelanalysen wird eine bestimmte Arbeitstätigkeit, die von unterschiedlichen Beschäftigten ausgeführt wird, von verschiedenen Untersuchern analysiert. Kennzeichen von Wiederholungsanalysen ist, dass eine Tätigkeit, die nur von einer Person ausgeführt wird, durch mehrere bzw. denselben Analytiker wiederholt analysiert wird. Beispielhaft soll im 7 Kasten »Unabhängige
Unabhängige Doppelanalysen zur Reliabilitätsprüfung bei bedingungsbezogenen Analyseverfahren Mithilfe von unabhängigen Doppelanalysen beobachten und befragen zwei Arbeitswissenschaftler getrennt voneinander verschiedene Beschäftigte, die die gleiche Arbeitstätigkeit ausüben. Das Ausmaß der Untersucherübereinstimmung kennzeichnet zum einen, inwieweit das Verfahren unabhängig von den jeweiligen Untersuchern ist (Objektivität), da Analyseergebnisse mehrerer Untersucher verglichen werden. Zum anderen können Aussagen darüber getroffen werden, wie stabil das Verfahren gegenüber den verschiedenen Auftragsbearbeitungen ist, da zum Zeitpunkt der Analyse die Beschäftigten jeweils unterschiedliche Arbeitsaufträge bearbeiten. Des Weiteren verweist die Beurteilerübereinstimmung darauf, inwieweit das Verfahren gegenüber verschiedenen Arbeitenden robust ist, d. h. unabhängig von interindividuellen Unterschieden der Beschäftigten äquivalente Ergebnisse aus der Datenerhebung resultieren (Reliabilität). Reliabilitäts- und Objektivitätsprüfung verschmelzen somit bei bedingungsbezogenen Analyseverfahren.
Doppelanalysen zur Reliabilitätsprüfung bei bedingungsbezogenen Analyseverfahren« ein spezifisches Modell zur
Reliabilitätsprüfung etwas genauer erläutert werden. Bei der Überprüfung der Validität können eine ganze Reihe von Methoden herangezogen werden (Lienert & Raatz, 1994). In Bezug auf Arbeitsanalyseverfahren werden von Oesterreich und Bortz (1994) vier Arten der Validitätsbestimmung unterschieden: 4 Eine größere Anzahl von Experten schätzt ein, inwieweit die im Arbeitsanalyseverfahren enthaltenen Merkmale das erfassen (z. B. Stress), was erfasst werden soll, bzw. ob das Konstrukt (in diesem Fall Stress) angemessen operationalisiert wurde. 4 Es werden Zusammenhänge (z. B. Korrelationen) berechnet zwischen den Ergebnissen des Arbeitsanalyseverfahrens und Ergebnissen von Verfahren, die das gleiche oder ein ähnliches Merkmal von Arbeitstätigkeiten erfassen. 4 Es wird untersucht, ob bestimmte Arbeitsmerkmale einen hohen Zusammenhang mit Merkmalen aufweisen, die Auswirkungen der Arbeitstätigkeit messen (z. B. Gesundheitsindikatoren).
4 Experimentell oder in Längsschnittuntersuchungen kann belegt werden, dass bestimmte Arbeitsmerkmale (z. B. Stress) Auswirkungen auf andere Merkmale (z. B. psychosomatische Beschwerden) haben. 21.8.2
Studien zu Einflussfaktoren der Güte von Arbeitsanalyseverfahren
Überwiegend im englischsprachigen Forschungskontext hat man sich mit Fragen auseinandergesetzt, welche Faktoren generell Einfluss auf die Genauigkeit sowie Zuverlässigkeit und Gültigkeit von arbeitsanalytischen Erhebungen und Urteilen ausüben. In einer Studie mit 494 kaufmännischen Angestellten konnten Morgeson, Delayney-Klinger, Mayfield, Ferrara und Campion (2004) zeigen, dass Faktoren der Selbstpräsentation bei der Befragung von Stelleninhabern zu ihren Aufgaben, Fähigkeiten und Kompetenzen wirken und zu sog. »inflatorischen« Einschätzungen bei fähigkeits- und kom-
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Kapitel 21 · Arbeitsanalyse und -bewertung
petenzbezogenen Ratings führen. In der Studie sollten die Probanden beurteilen, inwieweit bestimmte Jobkomponenten zu ihrer Arbeitstätigkeit gehören, die entweder als aufgabenbezogene Formulierung präsentiert wurden (z. B. Terminkalender führen oder Vorbereitung von Meetings, Konferenzen und ähnlichen Events) oder als fähigkeits- bzw. kompetenzbezogene Anforderung der Tätigkeit (z. B. Fähigkeit, Terminkalender zu führen, oder Fähigkeit zur Vorbereitung von Meetings, Konferenzen und ähnlichen Events). Anhand einer 4-stufigen bzw. 3-stufigen Skala waren jeweils für jede Jobkomponente die Häufigkeit des Auftretens und die Bedeutsamkeit der Komponenten für die eigene Arbeitstätigkeit zu beurteilen. Die Ergebnisse zeigen deutlich, dass »ability« bzw. »competency statements« häufiger als Teil der eigenen Arbeitstätigkeit benannt wurden im Vergleich zu der Probandengruppe, die dieselben Arbeitsinhalte als »task statements« zu beurteilen hatte. Bei einer Beurteilung derselben Tätigkeiten durch eine Kontrollgruppe mit Vorgesetzten und Arbeitsanalytikern wurden keine entsprechenden Unterschiede zwischen den verschiedenen semantischen Varianten der Jobkomponentenbeschreibung ermittelt. Die Unterschiede sind vermutlich auf den Einfluss von Motiven der Selbstpräsentation zurückzuführen. »Ability statements« sprechen somit das Motiv, bei anderen einen positiven Eindruck zu erzeugen oder das eigene Selbstbild zu schützen, eher an als »task statements«. Im Rahmen einer Metaanalyse haben Voskuijl und Sliedregt (2002) untersucht, welche Variablen die Interrater-Reliabilität von Arbeitsanalytikern beeinflussen. Die Interrater-Reliabilität bestimmt den Grad an Übereinstimmung, mit der zwei Beurteiler Aspekte des
Arbeitsplatzes und die damit verbundenen Bedingungen in vergleichbarer Weise einschätzen bzw. zu identischen Ergebnissen kommen. Die Autoren konnten die höchste Beurteilerübereinstimmung bei Arbeitsanalytikern finden, die Erfahrung in der Anwendung eines spezifischen Analyseverfahrens vorweisen konnten gegenüber solchen mit wenig oder keiner Erfahrung. Des Weiteren wurden Reliabilitätsunterschiede in Abhängigkeit von den verwendeten Einschätzungsskalen festgestellt. Analysen, die auf Skalen basierten, deren Einstufungslevel verhaltensnah und aufgabenbezogen beschrieben wurden, erzielten höhere Reliabilitätskoeffizienten als Analysen, die sich auf undefinierte Skalen stützten. Zu ähnlichen Ergebnissen kamen Dierdorff und Wilson (2003), die ebenfalls eine metaanalytische Untersuchung zur Reliabilität von Arbeitsanalysen durchführten. Sie konnten eine höhere Reliabilität feststellen, wenn die Analysedaten aus konkreten aufgabenbezogenen Informationen (z. B. erklärt dem Patienten den Behandlungsplan) gewonnen wurden, gegenüber Daten, die aus generellen jobunspezifischen Handlungsbeschreibungen (z. B. die Arbeit anderer kontrollieren) ermittelt wurden. Auch konnten sie höhere Reliabilitätskoeffizienten nachweisen, wenn die Daten von erfahrenen Arbeitswissenschaftlern durch Interviews oder Beobachtung erhoben wurden, gegenüber Daten aus Selbstberichten der Stelleninhaber und Einschätzungen von Führungskräften bzw. Managern. Es kann somit festgehalten werden, dass sowohl bestimmte personenals auch methodenbezogene Faktoren Einfluss auf die Urteile bei Arbeitsanalysen nehmen. Dies sollte bei der Planung, Durchführung und Auswertung von Arbeitsanalysen berücksichtigt werden.
Zusammenfassung 4 Mithilfe einer psychologischen Arbeitsanalyse werden in systematischer Form Informationen über die Tätigkeit eines arbeitenden Individuums, die Arbeitsbedingungen und deren Wirkungen erfasst und beurteilt. 4 Arbeitsanalysen verfolgen unterschiedliche Ziele. Sie können dazu dienen, den Arbeits- und Gesundheitsschutz zu erhalten, die Arbeitsgestaltung und -organisation im Unternehmen zu optimieren, personale Fördermaßnahmen oder Eignungsanforderungen zu bestimmen.
4 Zur Durchführung der Arbeitsanalyse existiert eine Vielzahl von Instrumenten. Je nach Zielsetzung und Anwendungskontext (betrachtete Analyseebene sowie Art der Tätigkeit, Berufsgruppe oder Branche) ist der Einsatz bestimmter Verfahren sinnvoll. 4 Den Analyseverfahren liegen verschiedene theoretische Fundierungen zugrunde, die vorgeben, welche inhaltlichen Aspekte einer Tätigkeit erfasst und welche Schwerpunkte bei der Dateninterpretation gesetzt werden sollten.
6
375 Literatur
4 Bei der Datenerfassung werden in Abhängigkeit vom eingesetzten Verfahren unterschiedliche methodische Zugänge verwendet. Die gebräuchlichsten Methoden zur Datenerhebung im Rahmen der Arbeitsanalyse sind Befragungs- und Beobachtungsmethoden. In der Regel werden diese beiden Methoden miteinander kombiniert und als Beobachtungsinterviews bezeichnet. 4 Zur Bewertung von Arbeitstätigkeiten werden Kriteriender humanen Arbeitsgestaltung herangezogen. Tätigkeiten sind demnach in Bezug auf Ihre Ausführbarkeit, Schädigungslosigkeit, Beeinträchtigungsfreiheit und Persönlichkeitsförderlichkeit zu bewerten, wozu je nach Bewertungsindikator entsprechende Referenzwerte heranzuziehen sind.
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4 Der Prozess einer Arbeitsanalyse umfasst verschiedene Phasen: Definition der Projekt- bzw. Gestaltungsziele, Vorbereitung und Planung der Analysen, Durchführung der Arbeitsanalysen, Auswertung und Aufbereitung der Daten, Bewertung und Diskussion der Ergebnisse mit dem Auftraggeber sowie Ableitung (und Umsetzung) von Gestaltungsmaßnahmen. 4 Bei der Planung und Umsetzung von Arbeitsanalysen sind auch Fragen in Bezug auf die personellen, zeitlichen und finanziellen Ressourcen zu berücksichtigen, da Arbeitsanalysen in der Regel aufwändig sind. 4 Arbeitsanalytische Verfahren sind als diagnostische Instrumente auch in Bezug auf die Erfüllung testtheoretischer Gütekriterien zu überprüfen. Die Genauigkeit und Validität der arbeitsanalytischen Messungen unterliegt dabei dem Einfluss unterschiedlicher personaler und methodischer Faktoren.
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Kapitel 21 · Arbeitsanalyse und -bewertung
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22
22 Arbeitsgestaltung in Produktion und Verwaltung 22.1
Gegenstände und Ziele von Arbeitsgestaltung – 378
22.2
Theoretisch fundierte Konzepte der Arbeitsgestaltung
22.2.1 22.2.2 22.2.3
Ansatz der soziotechnischen Systemgestaltung – 382 Tätigkeits- bzw. handlungstheoretische Konzepte – 383 Motivationstheoretische Ansätze – 385
22.3
Grundlegende Strategien der Arbeitsgestaltung – 386
22.4
Beispiele für Arbeitsgestaltungsmaßnahmen in der betrieblichen Praxis – 387
22.4.1
Differenzielle Arbeitsgestaltung am Beispiel einer Flachbaugruppenfertigung – 387 Präventiv-prospektive Arbeitsgestaltung am Beispiel eines Callcenters – 388
22.4.2
– 381
22.5
Befunde zu Wirkungen von Arbeitsgestaltung
22.5.1 22.5.2
Studien zur Wirkung von Arbeitsgestaltung in Callcentern – 391 Umfassendere Studien zur Wirkung von Arbeitsgestaltung – 393
Literatur
– 397
– 391
378
Kapitel 22 · Arbeitsgestaltung in Produktion und Verwaltung
> Historisch gesehen beschäftigt sich die Arbeitspsychologie schon seit ihrem Bestehen immer wieder mit Forderungen zur Gestaltung besserer Arbeitsbedingungen. Daher wurde bereits in den 20er Jahren des letzten Jahrhunderts eine Reihe wichtiger Konzepte einer psychologisch orientierten Arbeitsgestaltung entwickelt (z. B. das Konzept vollständiger Aufgaben bei Hellpach, 1922; vgl. hierzu Ulich, 2004). Aber erst in den 60er und 70er Jahren rückten in Deutschland – insbesondere mit dem Programm zur Humanisierung des Arbeitslebens – psychologische Aspekte der Arbeitsgestaltung ins Zentrum der Betrachtung; d. h. es wurden Ansätze und Maßnahmen entwickelt mit dem Ziel, die gestaltbaren Bedingungen von Arbeit so zu verändern und zu verbessern, dass auch das Wohlbefinden und die persönliche Weiterentwicklung des arbeitenden Menschen Berücksichtigung fanden. Demnach ist psychologische Arbeitsgestaltung in hohem Maße mit dem Ziel verknüpft, Arbeit nicht nur effizient, sondern auch »menschengerecht« zu gestalten. In diesem Kapitel können die relevanten Gestaltungsaspekte von Arbeit aufgrund ihrer Spezifität und ihres Umfangs allerdings nur in Ansätzen behandelt werden (s. hierzu z. B. Ulich, 2005). In erster Linie wird auf folgende Fragen Bezug genommen: Welche Ziele und theoretischen Annahmen werden mit der Gestaltung von Arbeit verknüpft? Welche Ansätze und vorbildlichen Beispiele existieren in der Praxis zur Arbeitsgestaltung? Welche empirischen Befunde liegen zur Wirkung von Gestaltungsmaßnahmen vor? Im ersten Abschnitt werden zunächst die Zielsetzungen beschrieben, die bei der Gestaltung von Arbeit im Vordergrund stehen. Der zweite Abschnitt behandelt verschiedene theoretische Konzepte der Arbeitsgestaltung, und im dritten Abschnitt werden grundlegende Strategien der Arbeitsgestaltung vorgestellt. Im vierten Abschnitt werden sodann zwei Praxisbeispiele einer vorbildlichen Arbeitsgestaltung beschrieben, die in einem Produktions- und in einem Dienstleistungsunternehmen implementiert wurden. Schließlich werden Befunde diskutiert, welche Wirkungen mit verschiedenen Bedingungen der Arbeitsgestaltung verbunden sind.
22
22.1
Gegenstände und Ziele von Arbeitsgestaltung
Allgemein werden unter Arbeitsgestaltung alle technischen, organisatorischen und ergonomischen Maßnahmen verstanden, die sich auf die Gestaltung des Arbeitsplatzes, der Arbeitsumgebung, des Arbeitsablaufes, der Arbeitsorganisation und der Aufgabeninhalte beziehen. Neben der Erreichung unternehmensbezogener Ziele wie z. B. Produktivitätssteigerung soll psychologische Arbeitsgestaltung dazu dienen, die Persönlichkeits- und Kompetenzentwicklung der Beschäftigten zu fördern sowie ihre Gesundheit und Leistungsfähigkeit langfristig zu erhalten. Arbeitstätigkeiten sollen also einseitige Belastungen und Beanspruchungen vermeiden, vielseitige Anforderungen stellen und lernförderlich gestaltet sein.
Definition Der Begriff »Arbeitsgestaltung« steht für die systematische Veränderung technischer, organisatorischer und (oder) sozialer Arbeitsbedingungen mit dem Ziel, diese an die Leistungsvoraussetzungen des arbeitenden Menschen anzupassen, sodass sie der Erhaltung und Entwicklung der Persönlichkeit sowie der Gesundheit der arbeitenden Menschen im Rahmen effizienter und produktiver Arbeitsprozesse dienen (Dunckel & Volpert, 1997).
In einer ersten systematischen Annäherung an das Thema stellt sich zunächst die Frage, welche Bereiche Gegenstand der Arbeitsgestaltung sind. In der arbeitspsychologischen und -wissenschaftlichen Literatur werden folgende Gegenstandsbereiche genannt: 4 Arbeitsumgebung, 4 Arbeitsmittel,
379 22.1 · Gegenstände und Ziele von Arbeitsgestaltung
4 4 4 4
Arbeitsplatz, Arbeitsinhalte, Arbeitszeit und Arbeitsablauf bzw. Arbeitsorganisation.
Mit einer Optimierung der Arbeitsumgebung wird das Ziel verfolgt, Umgebungsbedingungen wie Lärm, Klima und Beleuchtung zu verbessern. Dies kann beispielsweise durch den Einbau von Schallschutzwänden, der Regelung der Luftfeuchtigkeit mithilfe einer eingebauten Klimaanlage sowie der Schaffung natürlicher Beleuchtung durch Fenster realisiert werden. Maßnahmen der Arbeitsgestaltung, die sich auf die Arbeitsmittel beziehen, können beispielsweise in der Anschaffung von Headsets für Callcentermitarbeiter oder in der Bereitstellung von elektronischen Schraubern für Montagemitarbeiter liegen. Eine Verbesserung der Bedingungen am Arbeitsplatz kann dadurch erreicht werden, dass z. B. ergonomisch verstellbare Bürotische angeschafft werden, sodass der Tisch an die Körpergröße des Beschäftigten angepasst werden kann. Bezogen auf den Arbeitsinhalt werden Gestaltungsmaßnahmen als gesundheits- und persönlichkeitsförderlich betrachtet, die auf die Bewältigung »vollständiger« Arbeitsaufgaben abzielen (beinhaltet Komponenten der Planung, Organisation, Durchführung und Prüfung; vgl. auch 7 Abschn. 22.3.3). Betrachtet man den Gestaltungsbereich Arbeitszeit, so lassen sich hier Verbesserungen im Rahmen der Arbeitsgestaltung z. B. mit der Einrichtung von Kurzpausen erreichen. Für eine verbesserte Gestaltung des Arbeitsablaufes bzw. der Arbeitsorganisation werden schließlich Maßnahmen ergriffen, die z. B. unnötige Wegezeiten in der Produktion vermeiden und eine optimale Erreichbarkeit von Arbeitsmaterialien gewährleisten. Wie oben angesprochen, sind darüber hinaus verschiedene Ziele der Arbeitsgestaltung zu unterscheiden. Grundsätzlich wird zwischen mitarbeiterbezogenen und unternehmensbezogenen Zielen der Arbeitsgestaltung differenziert. Kommen wir zunächst auf die mitarbeiterbezogenen Ziele zu sprechen. Hier werden in der arbeitspsychologischen Literatur von verschiedenen Autoren relativ übereinstimmend vier bis fünf Oberziele für die Gestaltung von humangerechter Arbeit diskutiert (s. hierzu Frieling & Sonntag, 1999). Die grundlegenden Ziele von Arbeitsgestaltung sollen beispielhaft an der Einteilung von Hacker und Richter (1984) definiert und erläutert werden. Die beiden Autoren gehen davon aus, dass ein gut gestalteter Arbeitsplatz vor allem Kriterien
der Ausführbarkeit, Schädigungslosigkeit, Beeinträchtigungsfreiheit und Persönlichkeitsförderlichkeit erfüllen sollte (7 Kap. 21). Gemäß dem Arbeitsbewertungs- und Gestaltungskonzept von Hacker und Richter (1984) sollte als Grundbedingung die Ausführbarkeit der Arbeitstätigkeit gewährleistet sein. Dies beinhaltet, dass die Arbeit zuverlässig, anforderungsgerecht und langfristig ausgeführt werden kann, indem die physiologischen und psychischen Anforderungen die Kräfte des ausführenden Mitarbeiters nicht übersteigen (z. B. durch die Bereitstellung von Hebevorrichtungen bei schweren Werkstücken). Zusätzlich gehört hierzu auch die Berücksichtigung von Sicherheitsmaßnahmen bei der ergonomischen Gestaltung von Arbeitplätzen, Möbeln und Werkzeugen (z. B. Einrichten von Schutzabdeckungen bei Maschinen, Einhalten von Abständen bei gefahrträchtigen Maschinenteilen). Weiter sollten Arbeitstätigkeiten das Kriterium der Schädigungslosigkeit erfüllen, sodass psychophysische Gesundheitsschäden (z. B. verursacht durch Lärm, schlechte Beleuchtung, Gefahrstoffe) bei Ausübung der Tätigkeit ausgeschlossen sind. Arbeitsgestaltungsmaßnahmen könnten hier im Einsatz schallabsorbierender Trennwände zur Lärmreduktion, in dem Anbringen zusätzlicher Lichtquellen oder einer Schulung zum Umgang mit Gefahrstoffen liegen. Die Arbeit sollte darüber hinaus beeinträchtigungsfrei sein und keine bzw. lediglich zumutbare (subjektive) Beeinträchtigungen aufweisen (z. B. Vermeidung von Über-/Unterforderung, Monotonie, Stress). Um Arbeit beeinträchtigungsfrei zu gestalten, lassen sich beispielsweise zeitliche Spielräume bei der Aufgabenbewältigung einrichten sowie abwechslungsreiche Tätigkeiten im Stehen und Sitzen schaffen. Schließlich sollten auf der höchsten Ebene (Persönlichkeitsförderlichkeit) Maßnahmen zur Aufgabengestaltung dazu beitragen, dass die Arbeitskraft ihre Persönlichkeit im Sinne der Entfaltung ihrer eigenen Potenziale entwickeln kann. Das bedeutet, dass die Arbeit vielfältige Anforderungen (z. B. planerische und organisatorische Fertigkeiten, fachliches Wissen, analytische Fähigkeiten, Sozialkompetenzen usw.) aufweist und der Beschäftigte durch die Aufgabenbewältigung seine Kompetenzen weiter ausbauen kann. Die Auflistung von Kriterien humangerechter Arbeitsgestaltung ist mit den vier genannten Kriterien nicht erschöpft (7 Kap. 21). Die vier von Hacker und Richter (1984) genannten Kriterien sind allerdings die anerkanntesten und werden durch vielfältige Konzepte und
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Kapitel 22 · Arbeitsgestaltung in Produktion und Verwaltung
Kriterien und Hinweise zur Persönlichkeitsförderlichkeit (nach Dunckel, 1996)
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Arbeitstätigkeiten sollten 4 einen großen Entscheidungsspielraum gewähren 4 einen angemessenen zeitlichen Spielraum zur Verfügung stellen 4 durchschaubar und gemäß eigener Ziele gestaltbar sein; selbstständige Auswahl von Arbeitsverfahren und schöpferische Veränderung der Verfahren ermöglichen 4 frei von organisatorischen und/oder technischen Behinderungen und Belastungen sein 4 ausreichend körperliche Aktivität beinhalten 4 konkreten Kontakt zu materiellen und sozialen Bedingungen des Arbeitshandelns sowie befriedigende soziale Kooperationen ermöglichen
Instrumente unterstützt. So hat beispielsweise Dunckel (1996) Hinweise zur Konkretisierung und Umsetzung des relativ abstrakten Kriteriums der Persönlichkeitsförderlichkeit entwickelt, die den Grundmerkmalen menschlichen Handelns bzw. Tätigseins (Zielgerichtetheit, aktives veränderndes Handeln, soziale Eingebundenheit) zugeordnet werden können. Für die Gestaltung von Arbeitstätigkeiten, die die Besonderheiten und Stärken einer Person erhalten und weiterentwickeln, sind daher folgende Kriterien zu berücksichtigen (7 Kasten »Kriterien und Hinweise zur Persönlichkeitsförderlichkeit«): Welche unternehmensbezogenen Ziele sind darüber hinaus bei Arbeitsgestaltungsmaßnahmen zu berücksichtigen? Einige wesentliche Ziele, die Organisationen bei der Einführung neuer Techniken und bei der Durchführung von Arbeitgestaltungsmaßen verfolgen, werden im 7 Kasten »Unternehmensbezogene Ziele der Arbeitsgestaltung« dargestellt. Die oben genannten Humanisierungsziele sind nicht immer mit unternehmensbezogenen Zielen wie Kosten-, Organisations-, und Technikzielen identisch und vereinbar. Die mitarbeiterbezogenen Ziele treten somit teilweise in Konflikt oder Konkurrenz zu den ökonomischen Unternehmenszielen wie Effizienz, Kosten und Qualität. Beispielhaft für solche konflikthaften Zielkonstellationen sei in diesem Zusammenhang auf Gestaltungsfragen zur Förderung der Kundenzufriedenheit und Flexibilität hingewiesen. Ein wichtiges unternehmensbezogenes Ziel, das auch Fragen der Arbeitsgestaltung betrifft, besteht
4 vielfältige Sinnesqualitäten beanspruchen 4 Variationsmöglichkeiten bei der Erledigung der Arbeitsaufgaben zur Verfügung stellen 4 Möglichkeiten arbeitsbezogener Kommunikation und unmittelbar zwischenmenschliche Kontakte gewähren 4 Möglichkeiten zur Anwendung erworbener Kompetenzen anbieten 4 Möglichkeiten zur Erweiterung der Kompetenzen durch Lernen zur Verfügung stellen 4 Anerkennung wertvoller Leistungen und persönliche Bestätigung des Arbeitenden gewährleisten
darin, die Kundenzufriedenheit zu erhöhen – insbesondere im Rahmen personenbezogener Dienstleistungen (7 Kap. 30–32) wie z. B. Callcentertätigkeiten. Für die Beschäftigten geht diese Anforderung mit der Aufgabe einher, gleichbleibend freundlich auf den Kunden und sein Anliegen einzugehen und bei diesem positive Gefühle und Einstellungen auszulösen. Das Ziel der Unternehmen, auf die Kundenbedürfnisse einzugehen und die Unternehmensbezogene Ziele der Arbeitsgestaltung (nach Grob & Haffner, 1982) Beispielhafte Kostenziele 4 Senkung der Material- und Arbeitskosten 4 Senkung des Krankenstandes und der Fluktuation 4 Senkung der Bestände 4 Bessere Auslastung der Betriebsmittel 4 Verkürzung der Durchlaufzeiten Beispielhafte organisatorische Ziele 4 Verbesserung des Informationsflusses 4 Erhöhung der Flexibilität (Mitarbeitereinsatz, Fertigung) 4 Erhöhung der Kundenzufriedenheit Beispielhafte technische Ziele 4 Ergonomische Arbeitsplatzgestaltung 4 Reduzierung von Störungen 4 Vermeidung von Schadstoffen
381 22.2 · Theoretisch fundierte Konzepte der Arbeitsgestaltung
Kundenzufriedenheit zu steigern, kann bei den Beschäftigten, die eine entsprechende »Gefühlsarbeit« leisten müssen, zu starken Belastungen führen und sogar Burnout auslösen (Zapf, Seifert, Schmutte, Mertini & Holz, 2001; 7 Kap. 28). Hier stellt sich somit die Frage, in welcher Form und in welchem Ausmaß solche Anforderungen an das Kundenkontaktpersonal angemessen sind und wie organisatorische und arbeitsplatzbezogene Maßnahmen die Erfüllung entsprechender Anforderungen sinnvoll unterstützen bzw. »abpuffern« können. Auch Anforderungen in Bezug auf die zeitliche, örtliche und aufgabenbezogene Flexibilität der Mitarbeiter stellen potenziell konfliktbehaftete Zielsetzungen der Arbeitsgestaltung dar. Maßnahmen zur Flexibilisierung – insbesondere auch des Personaleinsatzes – werden von den Unternehmen als wirtschaftliche Notwendigkeit gesehen, um sich rasch an veränderte kunden- und marktbezogene Bedingungen anzupassen. Häufig gehen damit Arbeitsgestaltungsmaßnahmen einher, die es den Beschäftigten ermöglichen, ihre Arbeitszeiten flexibler zu gestalten, zunehmend eigenverantwortlich zu handeln und deutlich erweiterte Freiräume bei der Arbeitsausführung zu nutzen. Die Mitarbeiter legen zwar großen Wert darauf, ihre Arbeitszeiten individuell zu wählen und die Autonomiezuwächse finden durchaus Akzeptanz. Gleichzeitig werden aber sowohl der Leistungs- als auch der Zeitdruck auf die Mitarbeiter verstärkt und das Stresspotenzial erhöht (Jurczyk & Voß, 2000). Somit stellt das Unternehmensziel »Flexibilität« für die Beschäftigten nicht ausschließlich ein positives und persönlichkeitsförderliches Gestaltungsziel von Arbeit dar. Allerdings zeigen Arbeitsanalysen auch, dass schlecht gestaltete Arbeitsabläufe und -bedingungen zu Zusatzaufwand durch Unterbrechungen und Erschwerungen des Arbeitsablaufs sowie zu Qualitätsproblemen aufgrund von riskantem Handeln führen. Humangerecht gestaltete Arbeit führt somit nachweislich auch zu effizienterem Arbeiten und qualitativ besseren Arbeitsergebnissen (Österreich & Volpert, 1999). Im Rahmen betrieblicher Arbeitsgestaltung sollte daher auch vor diesem Hintergrund grundsätzlich versucht werden, Produktivitätsziele mit Humanisierungszielen zu integrieren und beide gleichgewichtig zu verfolgen. Wie schaffen es somit Unternehmen, die unterschiedlichen sozialen und wirtschaftlichen Interessen zu integrieren oder zu einem fairen Ausgleich zu bringen? Zunächst kann darauf hingewiesen werden, dass mitarbeiterbezogene Ziele im Sinne einer persönlichkeitsförderlichen Ar-
beitsgestaltung in vielen Fällen durchaus mit unternehmensbezogenen Interessen einhergehen. Dies gilt insbesondere für die Prävention gesundheitsgefährdender Arbeitsprozesse (z. B. hohe Lärmbelastung oder Schadstoffbelastung), um hohe Krankenstände und Fluktuationen zu reduzieren und zu vermeiden. Rohmert (1993) nennt einige Gründe dafür, dass Unternehmen und Beschäftigte von einer gesundheits- und lernförderlichen Arbeits- und Aufgabengestaltung gleichermaßen profitieren. Wird der Aufgabenbereich eines Mitarbeiters um zusätzliche Tätigkeiten bzw. Verantwortungsbereiche erweitert, können dadurch Fehlbeanspruchungen wie beispielsweise psychische Sättigung oder Unterforderung sowie negative Wirkungen auf die Leistungsfähigkeit und -bereitschaft verhindert werden. Gleichzeitig wird durch solche Maßnahmen in der Regel auch die Qualität des Arbeitsergebnisses verbessert und Absentismusraten werden reduziert. Dies gilt auch für Maßnahmen zur Erhaltung lebenslanger Beschäftigungsfähigkeit durch die Gestaltung lern- und gesundheitsförderlicher Arbeitsplätze und -aufgaben bei älteren Mitarbeitern. Auch hierdurch werden Ziele des arbeitenden Individuums mit den Unternehmenszielen verbunden. Durch eine gesundheitsförderliche Arbeitsgestaltung (z. B. Vermeidung schwerer körperlicher Anforderungen beim Heben und Tragen von Werkstücken) wird zum einen gesundheitlichen Risiken und Beanspruchungen vorgebeugt. Zum anderen sollen im Rahmen einer lernförderlichen Arbeitsinhaltsgestaltung Aufgaben mit Lernpotenzialen geschaffen werden, die auf den Erwerb und die Entwicklung neuer Kompetenzen bei älteren Mitarbeitern abzielen. Durch entsprechende Gestaltungsmaßnahmen wird damit sowohl die Gesundheit als auch die Leistungsfähigkeit der Beschäftigten erhalten, wovon sowohl der Betrieb als auch die Mitarbeiter profitieren. 22.2
Theoretisch fundierte Konzepte der Arbeitsgestaltung
Der Gestaltung von Arbeit können verschiedene theoretische Konzepte zugrunde gelegt werden. Aus einer arbeits- und organisationspsychologischen Perspektive lassen sich drei zentrale theoretische Orientierungen der Arbeitsgestaltung unterscheiden: 4 der Ansatz zur soziotechnischen Systemgestaltung, 4 handlungs- und tätigkeitstheoretische Konzepte sowie 4 motivationstheoretische Ansätze.
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Kapitel 22 · Arbeitsgestaltung in Produktion und Verwaltung
Der Ansatz zur soziotechnischen Systemgestaltung berücksichtigt Wechselwirkungen zwischen technischen und sozialen Systemkomponenten eines Arbeitssystems und hat auf dieser Basis Konzepte entwickelt, wie Technologieeinsatz und (Arbeits-)Organisation gemeinsam zur Arbeitsgestaltung optimiert werden können. Handlungs- und tätigkeitstheoretische Ansätze sind fokussiert auf die Frage, wie Aufgaben und Tätigkeiten lern- und persönlichkeitsförderlich gestaltet werden können (7 Kap. 20). Motivationstheoretische Ansätze spezifizieren schließlich Gestaltungsmerkmale von Arbeitsaufgaben, die intrinsische (Arbeits-)Motivation und (Arbeits-)Zufriedenheit bei den Beschäftigten fördern (7 Kap. 24). 22.2.1
Ansatz der soziotechnischen Systemgestaltung
Der Ansatz zur soziotechnischen Systemgestaltung geht in seiner Analyse von sog. »primären Arbeitssystemen« aus, die abgrenzbare Subsysteme innerhalb der Arbeitsorganisation eines Unternehmens darstellen. Diese Subsysteme sind charakterisiert durch eine Arbeitsgruppe und deren organisatorisch-technisches Arbeitsumfeld, deren gemeinsame Aufgabe bzw. Zweckbeziehungen die Beschäftigten und ihre Aktivitäten direkt miteinander verbindet (z. B. die Montage von Autotüren an ein Fahrzeug oder die Bereitstellung von Serviceleistungen für ein bestimmtes technisches Produkt). Die Verknüpfung des sozialen mit dem technischen System erfolgt über die Arbeitstätigkeit bzw. -aufgaben der Beschäftigten. Hierdurch werden einerseits die Funktionen festgelegt, die die Beschäftigten im Arbeits- bzw. Geschäftsprozess wahrnehmen. Andererseits werden anhand der Arbeitsaufgaben bzw. -rollen auch die Kooperationsbeziehungen zwischen den Beschäftigten bestimmt. Durch die Arbeitsaufgaben oder Arbeitsrollen werden somit das personale mit dem technischen System und die Menschen mit den organisatorischen Strukturen verknüpft. Hieraus resultieren unterschiedliche Mensch-Maschine-Funktionsteilungen und Formen der Arbeitsorganisation, die sich hinsichtlich ihrer Humanverträglichkeit, Effizienz, Art der Steuerung und Einbettung in das technisch-organisatorische Gesamtsystem unterscheiden. Der Grundgedanke dieses Ansatzes besteht darin, dass die in enger Beziehung zueinander stehenden Teil-
komponenten eines soziotechnischen Systems – die Technik, die Organisation und der Mensch – nur gemeinsam optimiert werden können und sollten. Der Einsatz von Technik, die Gestaltung der Organisationsstrukturen und die Weiterqualifikation der Mitarbeiter sind also nicht unabhängig voneinander zu betrachten. Die Gestaltung des soziotechnischen Systems setzt dabei vordringlich an der »Primäraufgabe« des Systems an; womit die Aufgabe bezeichnet wird, zu deren Erfüllung das entsprechende System geschaffen wurde. Dabei sind folgende Prinzipien praktisch bedeutsam (Ulich, 2004): 4 Bildung relativ unabhängiger Organisationseinheiten, denen ganzheitliche Aufgaben übertragen werden. Dies setzt voraus, dass der Arbeits- bzw. Produktionsprozess in relativ unabhängige (Teil-)Prozesse untergliedert werden kann, die möglichst nicht direkt miteinander verkettet sind. 4 Zusammenhang der Aufgaben in der Organisationseinheit. Das heißt, die verschiedenen Aufgaben bzw. Tätigkeiten in der Einheit sollten einen inhaltlichen Zusammenhang aufweisen, sodass das Bewusstsein einer gemeinsamen Aufgabe entsteht und die gegenseitige Unterstützung nahe legt. 4 Einheit von Produkt und Organisation. Der technisch-organisatorische Ablauf sollte so gestaltet sein, dass das Arbeitsergebnis in seiner qualitativen und quantitativen Form auf die Organisationseinheit rückführbar ist. Der Ansatz der soziotechnischen Systemgestaltung geht davon aus, dass insbesondere unter Berücksichtigung dieser Prinzipien die gemeinsame Optimierung besser gelingt und keine »technischen« Sachzwänge entstehen. Diese ergeben sich üblicherweise dann, wenn technische Systeme ohne Berücksichtigung von organisatorischen und arbeitsgestalterischen Anforderungen konzipiert werden. So sollte beispielsweise bei der Gestaltung von Softwareprogrammen zur Produktionsplanung und -steuerung berücksichtigt werden, dass ausreichende individuelle und kollektive Handlungsspielräume zur Auftragsplanung und -erfüllung erhalten bleiben. Entsprechende Spielräume würden unterminiert, wenn das Programm verlangen würde, dass zur Bearbeitung eines Auftrags alle Einzelheiten im Rahmen des Systems inhaltlich und zeitlich festgelegt werden müssen.
383 22.2 · Theoretisch fundierte Konzepte der Arbeitsgestaltung
22.2.2
Tätigkeits- bzw. handlungstheoretische Konzepte
Nach Hacker (2006) und anderen handlungs- bzw. tätigkeitstheoretisch orientierten Arbeitspsychologen ist der Arbeitsauftrag bzw. dessen individuelle Übernahme als Arbeitsaufgabe die zentrale Kategorie einer psychologischen Tätigkeitsbetrachtung. Anhand des Zuschnitts der Auftrags- bzw. Aufgabeninhalte werden entscheidende Festlegungen in Bezug auf die Regulation und Organisation der Tätigkeiten vorgenommen (z. B. in Bezug auf den Grad der Verantwortlichkeit). Auch Volpert (1987, S. 14) schreibt hierzu: »Der Charakter eines Schnittpunkts zwischen Organisation und Individuum macht die Arbeitsaufgabe zum psychologisch relevantesten Teil der vorgegebenen Arbeitsbedingungen«. Tätigkeits- und handlungstheoretisch fundierte Konzepte der Arbeitsgestaltung knüpfen damit eng an den soziotechnischen Systemansatz an, denn auch bei diesem Ansatz stellt die Arbeitsaufgabe (bzw. Primäraufgabe) den Kern für Maßnahmen der Arbeitsplatzgestaltung dar. Trotz der Vielfalt unterschiedlicher Konzepte, die sich auf die Handlungsbzw. Tätigkeitstheorie in Zusammenhang mit Arbeitsgestaltungsfragen beziehen, kann man grob zwischen vier grundlegenden Gestaltungskonzepten unterscheiden: 4 dem Konzept des Handlungs- bzw. Tätigkeitsspielraums, 4 Merkmalen zur Gestaltung lern- und persönlichkeitsförderlicher Tätigkeiten bzw. Aufgaben, 4 dem Konzept vollständiger Aufgaben bzw. Handlungen und 4 dem Gruppenaufgabenkonzept. Letzteres wird hier nicht behandelt (7 Kap. 23 bzw. Ulich, 2004, oder Weber, 1997). Die grundlegende Annahme des Handlungs- bzw. Tätigkeitsspielraumkonzepts (Ulich, 2005) besteht darin, dass unterschiedliche Spielräume bei der Arbeit mit verschiedenen Möglichkeiten zur Persönlichkeits- und Kompetenzentwicklung verbunden sind. Selbstgestaltete, vielseitige und teamorientierte Arbeitsaufgaben bieten mehr Entwicklungsangebote und sind motivierender als fremdbestimmte, monotone und sozial isolierte Tätigkeiten. Einem größeren Handlungsspielraum entspricht außerdem eine höhere Handlungsverantwortung, sodass sich Arbeitende außerdem mehr als Verursacher eigener Handlungen sehen und eine größere Kontrolle über ihre Handlungen und Handlungsergebnisse erle-
ben. Nach Ulich (2005) setzt sich der Tätigkeitsspielraum aus drei Komponenten zusammen: dem Handlungs-, dem Gestaltungs- und dem Entscheidungsspielraum. Der Handlungsspielraum bezieht sich auf die Flexibilität bei der Aufgabenbewältigung und umfasst die objektiv vorhandenen und subjektiv wahrgenommenen Wahlmöglichkeiten, wie z. B. zeitliche Organisation, Auswahl der Arbeitsmittel und des Vorgehens. Der Gestaltungsspielraum kennzeichnet das Ausmaß an Variabilität, d. h., dass die Aufgabe selbstständig nach eigenen Zielsetzungen strukturiert und gestaltet werden kann (z. B. eigene Planungen, Vielseitigkeit). Schließlich bestimmt der Entscheidungsspielraum das Ausmaß an Entscheidungskompetenzen von Beschäftigten, Arbeitsaufgaben selbst festzulegen und voneinander abzugrenzen. Das Handlungs- bzw. Tätigkeitsspielraumkonzept ist eng verknüpft mit Ansätzen zur Persönlichkeitsförderlichkeit (Bergmann, 1996; Ulich, 2005). Demnach sind Tätigkeiten mit einem großen Handlungsspielraum durch fünf zentrale persönlichkeitsförderliche Aufgabenmerkmale gekennzeichnet, die einen Zustand des Interesses und des Engagements bei der Bearbeitung sowie eine positivere Aufgabenorientierung hervorrufen (. Tab. 22.1). Die Merkmale beschreiben, wie die Arbeit gestaltet sein sollte, damit Persönlichkeits- und Kompetenzentwicklung beim Mitarbeiter stattfindet. Der zentrale Gedanke einer persönlichkeitsförderlichen Arbeitsgestaltung besteht darin, dass sich der arbeitende Mensch und dessen Kompetenzen in der Auseinandersetzung mit der Tätigkeit entwickeln. In hohem Maße bedeutsam bei der Gestaltung persönlichkeitsförderlicher Aufgaben sind nach Ulich (2005) insbesondere Arbeitsinhalte, die vielfältige Anforderungen an den Beschäftigten stellen und Lern- und Entwicklungsmöglichkeiten auf mehreren Dimensionen (z. B. kognitiv, sozial) zulassen. Im Zusammenhang mit einer persönlichkeitsförderlichen Arbeitsgestaltung wird dem Aufgabenmerkmal Ganzheitlichkeit bzw. Vollständigkeit eine zentrale Rolle zugewiesen (Hacker, 2006; Tomaszewski, 1981). Das Konzept der vollständigen Aufgabe beschreibt, welche Merkmale bei der Gestaltung von Arbeitsaufgaben berücksichtigt werden sollten (7 Kasten »Merkmale vollständiger Arbeitsaufgaben«). Dazu gehört die Möglichkeit, eigenständig Entscheidungen zu treffen (z. B. Ziele zu setzen, Arbeitsmittel auswählen) und Arbeitstätigkeiten mit planenden, ausführenden und kontrollierenden Aufgaben auszuführen. Nach der Aufgabenausführung können die Ergebnisse mit den gesetzten Zielen überprüft werden.
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Kapitel 22 · Arbeitsgestaltung in Produktion und Verwaltung
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Gestaltungsmerkmal
Realisierung durch …
Angenommene Wirkung
Ganzheitlichkeit
4 Aufgaben mit planenden, ausführenden und kontrollierenden Elementen und der Möglichkeit, Ergebnisse der eigenen Tätigkeit auf Übereinstimmung mit gestellten Anforderungen zu prüfen
4 Mitarbeiter erkennen Bedeutung und Stellenwert ihrer Tätigkeiten 4 Mitarbeiter erhalten Rückmeldung über den eigenen Arbeitsfortschritt aus der Tätigkeit selbst
Anforderungsvielfalt
4 Aufgaben mit unterschiedlichen Anforderungen an Körperfunktionen und Sinnesorgane
4 Unterschiedliche Fähigkeiten, Kenntnisse und Fertigkeiten 4 Einseitige Beanspruchungen können vermieden werden
Möglichkeiten der sozialen Interaktion
4 Aufgaben, deren Bewältigung Kooperation nahe legt oder voraussetzt
4 Schwierigkeiten können gemeinsam bewältigt werden 4 Gegenseitige Unterstützung hilft Belastungen besser zu ertragen
Autonomie
4 Aufgaben mit Dispositions- und Entscheidungsmöglichkeiten
4 Stärkt Selbstwertgefühl und Bereitschaft zur Übernahme von Verantwortung 4 Vermittelt die Erfahrung, nicht einfluss- und bedeutungslos zu sein
Lern- und Entwicklungsmöglichkeiten
4 Problemhaltige Aufgaben, zu deren Bewältigung vorhandene Qualifikationen eingesetzt und erweitert bzw. neue Qualifikationen angeeignet werden müssen
4 Allgemeine geistige Flexibilität bleibt erhalten 4 Berufliche Qualifikationen werden erhalten und weiter entwickelt
Zeitelastizität und stressfreie Regulierbarkeit
4 Schaffen von Zeitpuffern bei der Festlegung von Vorgabezeiten
4 Wirkt unangemessener Arbeitsverdichtung entgegen 4 Schafft Freiräume für stressfreies Nachdenken und selbst gewählte Interaktionen
Sinnhaftigkeit
4 Produkte, deren gesellschaftlicher Nutzen nicht in Frage gestellt wird 4 Produkte und Produktionsprozesse, deren ökologische Unbedenklichkeit überprüft und sichergestellt werden kann
4 Vermittelt das Gefühl, an der Erstellung gesellschaftlich nützlicher Produkte beteiligt zu sein 4 Gibt Sicherheit in Bezug auf Übereinstimmung individueller und gesellschaftlicher Interessen
In Anlehnung an die beschriebenen Merkmale sollte ein Produktionsmitarbeiter beispielsweise Tätigkeiten ausüben, bei denen er das für die Verarbeitung benötigte Material selber anfordert und zusammenstellt (Planung) und das Material eigenständig manuell bearbeitet, indem er z. B. Werkstücke schweißt, schleift o. Ä. (Ausführung). Auch sollte er die Arbeitsvorgänge optisch und akustisch überwachen (Kontrolle) und korrigieren können, indem er z. B. fehlerhaftes Verarbeitungsmaterial wechselt oder eine verklemmte Transportvorrichtung instand setzt (Handlungskorrektur). Schließlich sollte er die Qualität seiner Arbeitsergebnisse selbst überprüfen können, indem er die Ergebnisse mit den gesetzten Zielvorgaben vergleicht (Qualitätskontrolle).
Merkmale vollständiger Arbeitsaufgaben (nach Ulich, 2004) 1. Zielsetzung: Selbstständiges Setzen von Zielen 2. Vorbereitung: Selbstständige Handlungsvorbereitung (Wahrnehmung von Planungsfunktionen) 3. Organisation und Entscheidung: Auswahl der Mittel, Aktionen zur Zielerreichung 4. Ausführung mit Feedback (Möglichkeit zur Korrektur) 5. Kontrolle mit Resultatfeedback (Qualitätskontrolle)
Mit freundlicher Genehmigung des Verlags Hans Huber © Hogrefe, Verlag Hans Huber 2007
. Tab. 22.1. Merkmale motivations-, persönlichkeits- und lernförderlicher Aufgabengestaltung. (Nach Ulich, 2004)
385 22.2 · Theoretisch fundierte Konzepte der Arbeitsgestaltung
Neben einer zyklischen Vollständigkeit, d. h., dass Anteile aller Handlungsphasen bei der Tätigkeit im oben beschriebenen Sinne vertreten sind, wird von Hacker (2006) zusätzlich eine hierarchische Vollständigkeit von Aufgaben bzw. Tätigkeiten gefordert. Hierunter versteht der Autor das Ausmaß, in dem wechselnde Anforderungen der Handlungsregulation auf unterschiedlichen Ebenen (sensumotorische, perzeptiv-begriffliche und intellektuelle Regulationsebene; 7 Kap. 20) gegeben sind. In der arbeitspsychologischen Literatur finden sich vielfältige Hinweise darauf, dass vollständige Arbeitstätigkeiten leistungsmotivierend sind, einer Dequalifizierung entgegenwirken und die Gesundheit und das Wohlbefinden fördern (Hacker 2006; Tomaszewski, 1981; Ulich, 2005). Unvollständige Aufgaben hingegen verhindern, dass Arbeitende sich eigenständig Ziele setzen, Entscheidungen treffen und individuelle Arbeits- und Handlungsweisen entwickeln. Dadurch werden das Lernen in der Arbeitstätigkeit und das Entwickeln von arbeitsbezogenen Handlungskompetenzen deutlich eingeschränkt, was gegebenenfalls zu einem Abbau der individuellen Leistungsfähigkeit führt. Des Weiteren kann es bei unvollständigen Tätigkeiten zu einseitigen Beanspruchungen und Monotonieerleben kommen, die in der Folge zu Störungen des Wohlbefindens und zu gesundheitlichen psychischen und physischen Beeinträchtigungen führen können. 22.2.3
Motivationstheoretische Ansätze
Zu den motivationstheoretisch fundierten Ansätzen der Arbeitsgestaltung zählen neben dem Konzept der Aufgabengestaltung gemäß dem Job Charateristics Model nach Hackman und Oldham (1976; 7 Kap. 24) auch die Konzepte des Job Enrichments und Job Enlargements gemäß der Zwei-Faktoren-Theorie nach Herzberg, Mausner und Snyderman (1959). Da der Ansatz von Hackman und Oldham (1976) keine konkreten Hinweise zu Maßnahmen der Arbeitsgestaltung liefert, wird im Folgenden vor allem auf die Folgerungen aus der ZweiFaktoren-Theorie eingegangen (die Theorie ist ausführlich in 7 Kap. 24 dargestellt). Die von Herzberg formulierte Zwei-Faktoren-Theorie stellt die Inhalte der Arbeitstätigkeit als zentralen Einflussfaktor der Arbeitsmotivation heraus. Die grundlegende Annahme dieses Ansatzes besteht darin, dass bestimmte Merkmale der Arbeitsumgebung (Kontext-
faktoren) bei unzureichender Ausprägung Unzufriedenheit, aber keine bzw. nur begrenzt Arbeitszufriedenheit hervorrufen, während andere Merkmale, die mit dem Arbeitsinhalt (Kontentfaktoren) verknüpft sind, Leistungsmotivation und Arbeitszufriedenheit bei einer günstigen Ausprägung erzeugen. Die Kontextfaktoren bezeichnet Herzberg als extrinsische Aspekte (z. B. Gehalt, Arbeitsbedingungen, Sicherheit des Arbeitsplatzes). Sind die extrinsischen Faktoren positiv ausgeprägt, können sie zwar der Unzufriedenheit entgegenwirken, aber nur begrenzt zu einer Erhöhung der Arbeitszufriedenheit beitragen. Das bedeutet für die Arbeitsgestaltung, dass negative Faktoren wie z. B. mangelnde Arbeitsplatzsicherheit oder schlechte Bezahlung eliminiert oder im vorbeugenden Sinne verhindert werden sollten, um Unzufriedenheit zu vermeiden. Den Kontextfaktoren stehen die Kontentfaktoren gegenüber. Es handelt sich um Merkmale, die bei positiver Ausprägung als Motivatoren bzw. intrinsische Faktoren bezeichnet werden (z. B. die Tätigkeit selbst, die Möglichkeit, etwas zu leisten, die Möglichkeit, Verantwortung zu übernehmen, Anerkennung). Diese Faktoren nehmen in erster Linie auf den Inhalt der Arbeitstätigkeit Bezug und tragen bei positiver Ausprägung dazu bei, dass der Beschäftigte zufrieden ist und in der Folge zu Leistungen motiviert wird. In Anlehnung an die Zweifaktorentheorie betont Herzberg (1968) die Notwendigkeit, den Handlungsspielraum der Arbeitsaufgaben zu vergrößern, um die Beschäftigten zu motivieren. Demnach lässt sich eine intrinsische Arbeitsmotivation dadurch erzeugen, dass das Arbeits- bzw. Aufgabenfeld erweitert (»job enlargement«) und vor allem bereichert (»job enrichment«) wird. Das Gestaltungskonzept des Job Enlargement beinhaltet, dass zur ursprünglichen Tätigkeit weitere voroder nachgelagerte Aufgaben hinzukommen, die allerdings keine zusätzlichen Qualifikationen erfordern. Es handelt sich um eine sog. »horizontale« Erweiterung von Arbeitsaufgaben. Die dahinter stehende Überlegung ist, dass einseitige physische Belastungen des Mitarbeiters vermieden werden, indem beispielsweise ein Wechsel zwischen sitzender und stehender Tätigkeit stattfindet. Des Weiteren kann durch veränderte psychische Anforderungen Monotonie verhindert und durch einen Beanspruchungswechsel können zwischenzeitliche Erholungsphasen ermöglicht werden. Die Ausweitung der Tätigkeitsinhalte sollte zu einer höheren Arbeitszufriedenheit beitragen. Aber bereits Herzberg (1968) hat da-
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Kapitel 22 · Arbeitsgestaltung in Produktion und Verwaltung
rauf hingewiesen, dass diese Form der Aufgabenerweiterung nicht wesentlich zu einer motivational verbesserten Arbeitstätigkeit führt, da die Beschäftigten oft nur zwischen wenig bedeutsamen Teiltätigkeiten wechseln können. Eine signifikante Verbesserung gelingt erst, wenn das Konzept des Job Enrichments zur Anwendung kommt. Es erfordert allerdings, dass die Arbeitsorganisation so verändert wird, dass die Arbeitenden ein höheres Ausmaß an Kontrolle und Autonomie über ihre Aufgaben und Tätigkeiten erhalten und es zu einer qualitativen und nicht nur quantitativen Erweiterung der Aufgaben kommt. Das kann beispielsweise realisiert werden, indem an einem Arbeitsplatz verschiedene Tätigkeitselemente wie planende, kontrollierende und ausführende Tätigkeiten miteinander kombiniert werden, sodass ganzheitliche Arbeitsaufgaben entstehen. Dies wird von Herzberg (1968) als »vertikale« Aufgabenerweiterung bezeichnet. Weitere Möglichkeiten der Aufgabenerweiterung bestehen darin, den Verantwortungsbereich des Arbeitenden anzuheben oder komplexere Aufgaben einzuführen, sodass die Handlungs- und Entscheidungsspielräume erweitert und die Kompetenzentwicklung gefördert wird. Insgesamt wird durch Maßnahmen der vertikalen Aufgabenerweiterung die wahrgenommene Verantwortung und Anerkennung gesteigert und dadurch auch die Produktivität, die Kreativität und die intrinsische Arbeitsmotivation der Mitarbeiter gefördert. Eine zusätzliche Maßnahme, die häufig in Zusammenhang mit der Aufgabenerweiterung und -bereicherung genannt wird, ist der Arbeitsplatzwechsel (»job rotation«). Job Rotation bezeichnet eine Form der Arbeitsstrukturierung, bei der die Mitarbeiter systematisch den Arbeitsplatz oder das Aufgabenfeld wechseln. Die Tätigkeiten liegen dabei entweder auf dem gleichen Qualifikationsniveau (horizontaler Positionswechsel) oder auf unterschiedlich hohen Anforderungsniveaus (vertikaler Positionswechsel). Durch diese Maßnahme soll der Tätigkeitsspielraum des Einzelnen sowie dessen fachliche und soziale Kompetenzen erweitert werden. Es soll eine Abwechslung bei der Bewältigung der Arbeitsaufgabe stattfinden und eine einseitige Belastung am Arbeitsplatz verhindert werden. Des Weiteren kann der systematische Arbeitsplatzwechsel dazu beitragen, abteilungs- und fachbereichsübergreifende Zusammenhänge zu verstehen und andere Arbeitsverfahren und Lösungsansätze kennenzulernen.
22.3
Grundlegende Strategien der Arbeitsgestaltung
Neben den beschriebenen theoretisch fundierten Ansätzen wird auch zwischen verschiedenen grundlegenden Strategien der Arbeitsgestaltung unterschieden. Mit diesen Strategien werden verschiedenartige Ziele hinsichtlich ihres Zeithorizontes und ihrer Ausrichtung verfolgt: Es wird daher differenziert zwischen Gestaltungsstrategien, die 4 verschiedene zeitliche Perspektiven bei der Arbeitsgestaltung und 4 inter- und intraindividuelle Unterschiede der Beschäftigten berücksichtigen. In Bezug auf verschiedene zeitliche Perspektiven wird zwischen der korrektiven, der präventiven und der prospektiven Arbeitsgestaltung unterschieden. Von korrektiver Arbeitsgestaltung spricht man, wenn Arbeitssysteme und betriebliche Abläufe nach ihrer Einführung und der Identifizierung von Mängeln verändert werden. Beispiele hierfür sind das nachträgliche Anbringen von Schallschutzwänden zur Reduzierung von Lärm oder das nachträgliche Anbringen von Bildschirmfiltern, um Reflexionen und Spiegelungen zu verhindern. Korrektive Arbeitsgestaltung wird meist dann notwendig, wenn sicherheitstechnische, ergonomische, physiologische und psychologische Erfordernisse nicht oder nicht angemessen berücksichtigt wurden. Sie ist daher unumgänglich, um sich anbahnende oder potenzielle Beeinträchtigungen und Schädigungen der physischen und psychischen Gesundheit von Beschäftigten zu vermeiden. Wünschenswerter ist es allerdings in solchen Fällen meistens, wenn präventiv eingegriffen worden wäre. Bei der präventiven Arbeitsgestaltung werden somit mögliche gesundheitliche Schädigungen und psychosoziale Beeinträchtigungen der Beschäftigten, die durch die Auseinandersetzung mit der Arbeitstätigkeit auftreten können, gedanklich vorweggenommen. Das bedeutet, dass arbeitswissenschaftliche Konzepte zum Arbeits- und Gesundheitsschutz frühzeitig im Prozess der Arbeitsgestaltung herangezogen werden. Als Beispiel für diesen Ansatz sind arbeitsergonomische Maßnahmen zu nennen wie die Einrichtung eines kombinierten Steh- und Sitzarbeitsplatzes bevor Nacken- und Rückenbeschwerden auftreten. Auch wenn sicherheitstechnische Aspekte bei der Gestaltung von Arbeitsplätzen berücksichtigt werden, dient dies im Sinne einer präventi-
387 22.4 · Beispiele für Arbeitsgestaltungsmaßnahmen in der betrieblichen Praxis
ven Gestaltung der Unfallverhütung und Prävention von Berufskrankheiten (Luczak & Schlick, 2007). Will man darüber hinaus bereits bei der Planung bzw. Neugestaltung von Arbeitsstrukturen Aufgaben und Anforderungen gestalten, die sich positiv auf die Gesundheit und Persönlichkeitsförderlichkeit des Arbeitnehmers auswirken, erfordert dies die Strategie der prospektiven Arbeitsgestaltung. Dazu gehört zum einen das Schaffen von Tätigkeitsspielräumen für die Beschäftigten mit der Möglichkeit, das Aufgabenfeld selber zu gestalten. Werden beispielsweise verschiedene Formen der Arbeitsteilung angeboten, kann die Arbeitsaufgabe nach eigenen Präferenzen ausgewählt und gegebenenfalls geändert werden. Zum anderen schließt dieses Konzept auch die Gestaltung lernförderlicher Aufgaben mit ein (Bergmann, 1996). Bei der Arbeitsgestaltung ist es darüber hinaus oft sinnvoll, inter- und intraindividuelle Unterschiede der Beschäftigten zu berücksichtigen. In diesem Zusammenhang können drei Gestaltungsstrategien unterschieden werden: die flexible, die differenzielle und die dynamische Arbeitsgestaltung. Die flexible Arbeitsgestaltung ist ein Ansatz, der interindividuelle Differenzen bei der Bewältigung von Arbeit einbezieht und eine persönlichkeitsförderliche Aufgabengestaltung unterstützt. Demnach sollten Arbeitssysteme so gestaltet werden, dass der Beschäftigte unterschiedliche Arbeitsweisen innerhalb einer vorgegebenen Arbeitsstruktur realisieren kann. Es werden also Freiheitsgrade und Spielräume bei der Aufgabenbearbeitung zugelassen. Das kann z. B. für einen Monteur in der Produktion bedeuten, dass ihm Freiräume bei der Wahl oder Veränderung einer Montagestrategie erlaubt werden. Einen Schritt weiter geht die differenzielle Arbeitsgestaltung (Ulich, 2005). Hier können die Beschäftigten zwischen verschiedenen Arbeitsstrukturen wählen. Es wird also nicht eine für alle Mitarbeiter einheitliche Arbeitsstruktur vorgegeben. Die Betroffenen entscheiden selbst unter Berücksichtigung ihrer Kompetenzen, Bedürfnisse und ihres Potenzials, welche Arbeitsstruktur für sie geeignet ist. Zum Beispiel können den Beschäftigten verschiedene Tätigkeiten in einer Arbeitsgruppe oder an Einzelarbeitsplätzen mit individueller Aufgabenerweiterung angeboten werden (ein konkretes Beispiel hierzu wird im folgenden Abschnitt beschrieben). Ergänzend hierzu beschreibt das Prinzip der dynamischen Arbeitsgestaltung, dass parallel zum Lernfortschritt des Beschäftigten solche Arbeitsbedingungen geschaffen und weiterentwickelt wer-
den, die den Mitarbeiterkompetenzen entsprechen. Das kann in der betrieblichen Praxis bedeuten, dass einem Mitarbeiter nach längerer beruflicher Erfahrung solche Aufgaben übertragen werden, die ein höheres Kompetenzniveau erfordern. 22.4
Beispiele für Arbeitsgestaltungsmaßnahmen in der betrieblichen Praxis
Es existiert eine Vielzahl von Beispielen im betrieblichen Kontext, wie Arbeitsstrukturen und Arbeitsaufgaben im Sinne einer gesundheits- und menschengerechten Gestaltung optimiert werden können. Hier werden zwei konkrete Beispiele, aus einem produzierenden Unternehmen und aus einem Callcenter, berichtet, die die Umsetzung von gesundheits- und persönlichkeitsförderlichen Gestaltungslösungen sowie deren Auswirkungen auf die Beschäftigten verdeutlichen. 22.4.1
Differenzielle Arbeitsgestaltung am Beispiel einer Flachbaugruppenfertigung
Ein Beispiel für die Realisierung einer Arbeitsgestaltung, die interindividuelle Differenzen systematisch berücksichtigt, stellt die Fertigung von elektronischen Flachbaugruppen in zwei Siemens-Werken dar. Zülch und Starringer (1984) realisierten in diesem Kontext eine Form der differenziellen Arbeitsgestaltung, indem sie unterschiedlich befähigten und motivierten Mitarbeitern mehrere Formen der Arbeitsorganisation mit verschieden ausgeprägten Arbeitsinhalten und Anforderungen parallel in einem Arbeitssystem anboten. Elektronische Flachbaugruppen stellen wesentliche Funktionseinheiten von elektronischen Geräten wie z. B. Radio- und Fernsehapparaten, Telefonen, Handys etc. dar. Der Fertigungsprozess zur Herstellung einer elektronischen Flachbaugruppe war vor der differenziellen Arbeitsgestaltung nach dem Verrichtungsprinzip organisiert: Vormontage, manuelles Bestücken, Fertiglöten und Endmontage. Dabei waren die einzelnen Fertigungsstufen räumlich und organisatorisch voneinander getrennt, was zwangsläufig Werkstattlager erforderlich machte. Zusätzlich wurden die Werkstattbestände dadurch vergrößert, dass ein Fertigungslos, d. h. eine je-
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Kapitel 22 · Arbeitsgestaltung in Produktion und Verwaltung
weils zusammen zu fertigende Menge von Produkten, erst dann in die nächste Fertigungsstufe gegeben werden konnte, wenn es den vorhergehenden Arbeitsschritt durchlaufen hatte. Aus dieser Organisationsform resultierte eine Reihe von organisatorischen, kostenbezogenen und personellen Schwachstellen. Im Rahmen von Arbeitsanalysen wurden diese identifiziert und Ziele für die Neugestaltung der Arbeitsstruktur daraus abgeleitet. Als wirtschaftliche Ziele wurden die Verringerung der Werkstattbestände und die Senkung der Fehlerbeseitigungskosten benannt. Als mitarbeiterbezogene Zielsetzungen wurden außerdem die Erhöhung der Flexibilität, die Steigerung der Mitarbeitermotivation sowie die Möglichkeiten zur Kompetenzentwicklung für die Beschäftigten verfolgt. Unter Berücksichtigung der genannten Ziele wurden verschiedene Alternativen zur Strukturierung der Arbeit in Erwägung gezogen und bewertet. Als beste Lösung zur Erreichung der wirtschaftlichen und mitarbeiterbezogenen Zielkriterien stellte sich die differenzielle Arbeitsgestaltung heraus. Zur Umsetzung dieser Strategie wurden die neuen Arbeitssysteme in Form von Fertigungsnestern angeordnet. Die Fertigungsnester wurden »BLUME-Gruppen« genannt, als Abkürzung für Bestücken, Löten und Montieren als Einheit. Alle anfallenden Tätigkeiten wurden innerhalb dieser BLUME-Gruppe ausgeführt, die aus fünf Handarbeitsplätzen und zusätzlich zwei Bestückplätzen bestand. Nach dem Prinzip der differenziellen Arbeitsgestaltung können dabei verschiedene Formen der Arbeitsorganisation umgesetzt und angeboten werden, die neben den Neigungen auch den Leistungen und Fähigkeiten der Gruppenmitglieder entsprechen. Die verschiedenen Angebote reichten von spezialisierten Einzelarbeitsplätzen, bei denen jede Person nur eine Tätigkeit verrichtet und die sich daher eher für leistungseingeschränkte Mitarbeiter eignen, über Arbeitsplätze bzw. Fertigungsnester, an denen die Beschäftigten mindestens zwei Tätigkeiten ausüben können und damit flexibler einsetzbar sind, bis hin zu Nestern, bei denen alle Gruppenmitglieder jede der vorkommenden Tätigkeiten beherrschen müssen. In der dritten Stufe kann jeder jeden bei der Arbeit unterstützen und somit bei Engpässen oder Abwesenheiten aushelfen. Dies setzt allerdings ein hohes Maß an Flexibilität, Teamgeist und Verantwortungsbewusstsein in der Gruppe voraus. Hinzu kommen höhere Lohnkosten und längere Anlernzeiten. Diese Nachteile werden aber durch die höhere arbeitsorganisatorische Flexibilität und Produktivität die-
ses Arbeitssystems ausgeglichen. . Abb. 22.1 verdeutlicht die unterschiedlich gestalteten Arbeitsplätze bzw. -systeme in schematischer Form. Durch die neue Arbeitsgestaltung ergaben sich sowohl mitarbeiterbezogene als auch unternehmensbezogene Nutzenvorteile. Nach Aussagen der Beschäftigten, die in der neuen Arbeitsstruktur beschäftigt waren, wurde die Arbeit als interessant und motivierend erlebt. Darüber hinaus konnten einseitige Beanspruchungen durch die Möglichkeit des Tätigkeitswechsels reduziert werden. Als positiv wurden außerdem verbesserte Sozialkontakte sowie die mit der Organisationsform verknüpften erhöhten Lohnanreize wahrgenommen. Aus Sicht des Unternehmens konnten die Durchlaufzeiten und die Werkstattbestände gesenkt werden, weshalb sich die Investitionen sehr schnell amortisierten. Die vorgestellte Gestaltungsmaßnahme zeigt, dass veränderte Arbeitsstrukturen, die individuelle Unterschiede zwischen den Beschäftigten berücksichtigen, sich positiv auf die Arbeitszufriedenheit, das Befinden und die Kompetenzentwicklung auswirken können. Gleichzeitig lassen sich mit der Optimierung der Arbeitsorganisation auch wirtschaftliche Ziele wie z. B. die Senkung der Kosten und die Reduzierung der Materialbestände realisieren. 22.4.2
Präventiv-prospektive Arbeitsgestaltung am Beispiel eines Callcenters
Als weiteres Praxisbeispiel für die Konzeption und Umsetzung einer Arbeitsgestaltungsmaßnahme soll die Implementation eines Inhouse-Callcenters einer Sparkasse (Schweer & Meier, 2007) vorgestellt werden. Die Callcenterarbeitsstrukturen wurden in diesem Fall mithilfe einer präventiv-prospektiven Arbeitsgestaltung geplant und umgesetzt, um Gefährdungen bzw. Fehlbeanspruchungen der Mitarbeiter durch eine menschengerechte und gesundheitsförderliche Arbeitsorganisation zu vermeiden und Möglichkeiten zur Persönlichkeitsentwicklung durch die Berücksichtigung von Handlungs- und Gestaltungsspielräumen beim Entwurf der Callcenterarbeitsplätze zu schaffen. Bei der Gründung des Kommunikationscenters arbeitete die Sparkasse mit Beratern der zuständigen Verwaltungs- und Berufsgenossenschaft zusammen, um ein sowohl nach wirtschaftlichen als auch menschengerechten Gesichtspunkten gestaltetes
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Mit freundlicher Genehmigung vom ergonomia Verlag OHG.
22.4 · Beispiele für Arbeitsgestaltungsmaßnahmen in der betrieblichen Praxis
. Abb. 22.1. Schematische Darstellung der differenziell bzw. unterschiedlich gestalteten Arbeitsplatzsysteme im Rahmen der
Flachbaugruppenfertigung; BES Bestücken; VO Vormontieren; FE Fertigmontieren; FL Fertiglöten. (Nach Zülch & Starringer, 1984)
Kommunikationscenter aufzubauen. Dabei wurde ein ganzheitlich angelegter Ansatz verfolgt, der verschiedene Prozesse und Variablen mit einbezog: die Arbeitsorganisation (z. B. Ablauf, Aufgaben), die Arbeitsumgebung (z. B. Klima, Akustik), die Arbeitsmittel (z. B. Ergonomie, Ausstattung) und die Mitarbeiter (z. B. Ressourcen, Qualifizierung). Um bereits in der Planungsphase die Risiken von Fehlbeanspruchungsfolgen (z. B. psychische Ermüdung) abzuschätzen, wurde die Methode der »prospektiven Beanspruchungsanalyse« angewandt. Diese Methode erlaubt Aussagen darüber, welche Faktoren die Entwicklung negativer Beanspruchungsfolgen aus der Tätigkeit begünstigen. Zur Analyse wurden quantitative
und qualitative Daten herangezogen, die aus dem Filialgeschäft der Sparkasse vorlagen. Auf Basis dieser Daten sowie der zukünftigen Aufgaben des Callcenters konnten mithilfe spezieller computerbasierter Auswertungen Faktoren ermittelt werden, die mit hoher Wahrscheinlichkeit zu Fehlbeanspruchungen führen können. Die Sparkasse entschied sich auf der Grundlage vergleichender Analysen zu verschiedenen Gestaltungslösungen für eine Variante, bei der die Auswertung keine negativen Beanspruchungsfolgen prognostizierte. Bei der Planung der Arbeitsprozesse wurde berücksichtigt, dass die geplanten Tätigkeiten einen Mix aus telefonischen und telefonunabhängigen Aufgaben (z. B. im Backoffice) beinhalteten.
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Kapitel 22 · Arbeitsgestaltung in Produktion und Verwaltung
Im Rahmen der praktischen Umsetzungsphase wurden verschiedene Gestaltungslösungen realisiert, die sich auf die Arbeitsorganisation, die Arbeitsumgebung, die Arbeitsmittel sowie auf die Beschäftigten bezogen (. Tab. 22.2 für eine Übersicht). Zur Optimierung der Arbeitsorganisation wurden zunächst vollständige Tätigkeiten, erweiterte Handlungsspielräume und Kurzpausensysteme eingeführt. Den Beschäftigten wurden darüber hinaus Möglichkeiten zur Partizipation (z. B. Mitsprache bei der Anschaffung von Arbeitsmitteln) und zum Arbeitsplatzwechsel (Job Rotation) eingeräumt. Die vollständigen Tätigkeiten erlaubten den Callcenteragenten einen Arbeitsvorgang bzw. Anruf bis zum Abschluss des Falls zu bearbeiten. Dazu gehörte, dass die Vorbereitung, Planung, Umsetzung und Nachbearbeitung einer Aufgabe mit einer abwechslungsreichen Mischung aus Telefon-, Bildschirm- und kommunikationsfreien Tätigkeiten verbunden war (Seiler et al., 2002). Durch die Erweiterung der Handlungsspielräume konnten sich die Beschäftigten selbst aussuchen, welche Tätigkeiten sie ausüben möchten. Die Agenten mussten darüber hinaus keine Vorgaben zur Durchführung der Gespräche beachten (z. B. Skripte auf dem Bildschirm), sodass sie selbst entscheiden konnten, wie sie die Gespräche führen wollen. Durch diese Freiräume konnten die Callcenteragenten die Tätigkeit selbst steuern und hatten erhebliche Einflussmöglichkeiten, die Arbeit selbst zu organisieren (Seiler et al, 2002). Darüber hinaus wurden durch das Angebot von Personalentwicklungsmaßnahmen Karriereperspektiven ermöglicht, indem der Beschäftigte sich z. B. zum Produktexperten entwickeln konnte. Durch die Einführung von Kurzpausen wurde den Mitarbeitern erlaubt, nach jeder Arbeitsstunde eine Bildschirmpause von 10 Minuten einzulegen und sich von ihrem Arbeitsplatz zu entfernen. Hiermit wurde sowohl ein körperlicher Tätigkeitswechsel als auch eine Verringerung der Stimm- und Augenbelastung erreicht. Durch Möglichkeiten zur Partizipation der Mitarbeiter an Entscheidungsprozessen erhielten diese die Gelegenheit, bei der Anschaffung von Arbeitsmitteln in Absprache mit dem Betriebsrat mitzubestimmen. Mit der Einführung eines systematischen Arbeitsplatzwechsels (Job Rotation) war für die Beschäftigten neben der sich bietenden Abwechslung, das Kennenlernen anderer Tätigkeiten und damit eine Erhöhung von Flexibilität und Kompetenz verbunden.
. Tab. 22.2. Arbeitsgestaltungsmaßnahmen im Callcenter einer Sparkasse Gegenstandsbereich
Umsetzung durch….
Arbeitsorganisation
4 Vollständige Tätigkeiten 4 Erweiterung der Handlungsspielräume 4 Kurzpausensysteme 4 Job Rotation
Arbeitsumgebung
4 Schallschutzwände 4 Klimaanlage 4 Trinkwasserstationen
Arbeitsmittel
4 Flachbildschirme 4 Höhenverstellbare Tische und Stühle
Beschäftigte
4 Präventivprogramm gegen Muskel- und Skeletterkrankungen 4 Stimmtraining 4 Stressmanagementprogramm
Andere Gestaltungslösungen im Callcenter bezogen sich auf die angemessene Gestaltung der Arbeitsumgebung (Klima, Akustik, Fläche) und der Arbeitsmittel (Ergonomie, allgemeine Ausstattung). Dazu wurden bei der Arbeitsplatzgestaltung ergonomische Aspekte berücksichtigt, indem höhenverstellbare Tische und Stühle angeschafft wurden, die der Körpergröße angepasst werden können. Alle Bildschirmarbeitsplätze wurden mit Flachbildschirmen ausgestattet. Hinsichtlich der Gestaltungsaspekte Raumfläche und -akustik ist zu erwähnen, dass Einzelbüros mit Schallschutzwänden eingerichtet wurden, um Lärmbelästigungen vorzubeugen. Durch den Einbau einer Klimaanlage sollte darüber hinaus das Raumklima verbessert und für eine entsprechende Regelung der Luftfeuchtigkeit gesorgt werden. Damit ließen sich Risiken der Ermüdung, Konzentrationsschwächen, Erkältungskrankheiten sowie Belastungen für die Stimme minimieren. Zur allgemeinen Ausstattung wurden Trinkwasserstationen eingerichtet, die den Beschäftigten zur Versorgung mit Trinkgelegenheiten (u. a. Befeuchtung der Stimmlippen) und zur körperlichen Abwechslung dienten. Bei der Intervention auf Mitarbeiterebene handelte es sich um eine Kombination von verhaltenspräventiven Maßnahmen mit dem Ziel, die Gesundheit der Beschäftigten zu schützen und zu fördern. Dazu gehörten Schu-
391 22.5 · Befunde zu Wirkungen von Arbeitsgestaltung
lungen zur Vorbeugung gesundheitlicher Beschwerden wie Muskel- und Skeletterkrankungen und stimmlicher Belastungen sowie ein Stressmanagementtraining. Das wöchentlich durchgeführte Programm gegen Erkrankungen des Muskel- und Skelettsystems beinhaltete aktive Übungen zum Muskelaufbau und Dehnübungen sowie Methoden zur Entspannung (z. B. progressive Muskelentspannung). Zusätzlich wurden im Rahmen eines Basisseminars jeweils ein Stimmtraining und ein Stressmanagementtraining angeboten. Im Stimmtraining wurden Übungen durchgeführt, wie die Stimme vor einem längeren Einsatz aufgewärmt und damit geschont werden kann. Den Beschäftigten wurden zusätzlich einfache Regeln nahegebracht, wie z. B. regelmäßig zu trinken und die Stimme im Kundengespräch nicht unnatürlich zu nutzen. Das Training zum Stressmanagement zeigte Möglichkeiten auf, wie die Callcenteragenten persönlich mit Belastungen, insbesondere der geforderten emotionalen Arbeit, umgehen können. Die Beschäftigten erlernten Strategien, ihre Gefühle auf angemessene Weise auszusprechen und bei schwierigen Gesprächen die Hilfe von Arbeitskollegen in Anspruch zu nehmen (z. B. Gespräch weiterleiten). Drei Monate nach Inbetriebnahme des Callcenters fand eine erste Befragung der Mitarbeiter mithilfe des BMS II von Plath und Richter (1984), einem Instrument zur Messung von Beanspruchungsfolgen bei der Arbeit, statt. Damit sollten die zu Beginn der Implementation gemachten Prognosen über Fehlbeanspruchungsfolgen sowie die umgesetzten Arbeitsgestaltungsmaßnahmen im Routinebetrieb des Callcenters überprüft werden. Die Ergebnisse zeigten, dass keine negativen Beanspruchungsfolgen wie Erschöpfung, Monotonie und psychische Sättigung bei den Beschäftigten nachgewiesen werden konnten. Auch eine wiederholte Erhebung nach einem Jahr ergab keine Hinweise auf Fehlbeanspruchungsfolgen. Hieraus lässt sich vorsichtig schlussfolgern, dass die prospektive Arbeitsgestaltung eine geeignete Strategie für die Realisierung einer gesunden und erfolgreichen Arbeitsorganisation in Callcentern darstellt. Eine wesentliche Voraussetzung für das Gelingen des Gestaltungsprozesses war außerdem darin begründet, dass eine kontinuierliche Begleitung der verschiedenen Projektphasen durch ein externes Beratungsteam gewährleistet werden konnte.
22.5
Befunde zu Wirkungen von Arbeitsgestaltung
Es existieren leider nur wenige Untersuchungen, in denen systematisch konzipierte und theoretisch fundierte Arbeitsgestaltungsmaßnahmen evaluiert wurden. Allerdings gibt es eine Reihe von Studien, in denen in breit angelegten Querschnittsstudien die Wirkungen bestimmter Arbeitsmerkmale und -bedingungen in Abhängigkeit von ihren Ausprägungen untersucht wurden. Abschließend sollen daher ausgewählte empirische Studien vorgestellt und diskutiert werden, die sich mit den Wirkungen betrieblicher Arbeitgestaltung auf die Gesundheit und das Wohlbefinden der Beschäftigten befassen. Im Anschluss an das oben berichtete Beispiel zur Arbeitsgestaltung in einem Callcenter wird zunächst von Studien berichtet, die Arbeitsbedingungen und Arbeitsstrukturen in Callcentern untersucht haben. Daraufhin werden Befunde aus umfassender angelegten Untersuchungen zu Wirkungen der Arbeitsgestaltung in Büro und Produktion vorgestellt. 22.5.1
Studien zur Wirkung von Arbeitsgestaltung in Callcentern
In neueren Studien zur Wirkung von Arbeitsbedingungen und -gestaltungsformen wird ein besonderes Augenmerk auf Callcentertätigkeiten als Prototyp einer neuen Arbeitsform mit wachsendem Beschäftigungspotenzial und zunehmender wirtschaftlicher Bedeutung im öffentlichen und privaten Sektor gerichtet. Dabei wird das Ziel verfolgt, zum einen arbeitswissenschaftliche Erkenntnisse über die Arbeitsbedingungen bei diesen Tätigkeiten zu gewinnen und zum anderen arbeitsbedingte Erkrankungen von Callcenterbeschäftigten durch Empfehlungen zur Arbeitsgestaltung zu vermeiden. Mehrere Studien zeigen, dass die Arbeit in Callcentern überwiegend dadurch gekennzeichnet ist, dass Arbeitsabläufe stark strukturiert und die Tätigkeiten durch geringe Handlungsspielräume gekennzeichnet sind. Überdies erledigen die Beschäftigten im Wesentlichen Routineaufgaben, bei deren Bearbeitung eine hohe Aufmerksamkeit und kundenorientierte Zuwendung erforderlich ist (z. B. Isic, Dormann & Zapf, 1999; Metz, Rothe & Degener, 2001; Wieland, Metz & Richter, 2001; Zapf, Isic, Fischbach & Dormann, 2003). Moderne betriebliche
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Kapitel 22 · Arbeitsgestaltung in Produktion und Verwaltung
Arbeitsgestaltungskonzepte zur Erhöhung der Eigenverantwortlichkeit, Qualifizierung und Ganzheitlichkeit von Arbeitsaufgaben bleiben hierbei eher unberücksichtigt. Deshalb werden Kompetenzen von Mitarbeitern nicht optimal genutzt und eingesetzt (Wieland, Metz & Richter, 2002). In einer groß angelegten Projektstudie mit mehr als 1308 Callcenteragenten wurde die leistungs- und gesundheitsförderliche Gestaltung von Arbeitsstrukturen in Callcentern untersucht (Wieland et al., 2002). Es konnte gezeigt werden, dass die wesentlichen Ursachen von psychischer Fehlbeanspruchung (psychische Erschöpfung, Monotonie, Stress) bei Callcenterbeschäftigten in der Gestaltung der Aufgaben- und Arbeitsmerkmale zu suchen sind. Die Befunde ergaben, dass im Bereich von Callcenterarbeitsplätzen das Belastungspotenzial und die psychischen Beanspruchungen deutlich höher ausgeprägt waren als bei herkömmlichen Formen der Büroarbeit. Die Ursachen lagen dabei in den suboptimal gestalteten Arbeitsbedingungen. Es wurden wenig anspruchsvolle, sich ständig wiederholende Routineaufgaben verrichtet, die meist hoch standardisiert waren und wenig Entscheidungs- und Handlungsspielräume boten. Als weitere Ursachen für arbeitsbedingte Belastungen und Beanspruchungen konnten Faktoren wie hoher Zeit- und Leistungsdruck und geringe Kooperationserfordernisse identifiziert werden. Auch schien die Kommunikation mit den Kunden, die darauf ausgerichtet ist, deren Wünsche und Erwartungen zu befriedigen, ein zusätzlicher Belastungsaspekt zu sein. Zu ähnlichen Befunden kamen Isic et al. (1999), die in einer Untersuchung die Belastungen von Callcenteragenten mit denen von Verwaltungs- und Bankangestellten verglichen. Dabei wurden insbesondere das Vorkommen von psychosomatischen Beschwerden (z. B. Kopfschmerzen, Nackenbeschwerden), die Belastungsfähigkeit sowie emotionale Erschöpfung untersucht. Die Ergebnisse der Studie zeigten, dass Faktoren wie Zeitdruck, Konzentrationsanforderungen und arbeitsorganisatorische Probleme beide Berufsgruppen gleichermaßen belasten. Allerdings fanden sich Unterschiede darin, dass Callcenteragenten verglichen mit den Bankund Verwaltungsangestellten über wesentlich geringere Handlungs- und Zeitspielräume verfügten. Je geringer die Einflussmöglichkeiten der Beschäftigten waren, desto höher fielen die psychischen Beanspruchungen aus. Dies kann durch die fehlende Möglichkeit der Be-
schäftigten erklärt werden, eigene Mittel und Wege auszuwählen, um Belastungen und Stress abzubauen. Die Ergebnisse werden auch durch eine Untersuchung von Scherrer und Wieland (1999) bestätigt. Sie stellten fest, dass die psychischen Beanspruchungen von Callcenterbeschäftigten mit ausgeprägten Aufgabenanforderungen und Tätigkeitsspielräumen geringer ausfielen als von solchen mit vergleichsweise geringeren Handlungs- und Entscheidungsspielräumen. Neben den kognitiven und physiologischen Arbeitsanforderungen sind in Zusammenhang mit Belastungen in Dienstleistungsberufen in den vergangenen Jahren zunehmend die emotionalen Anforderungen von Beschäftigten ins Zentrum des Interesses gerückt und untersucht worden. Ein in diesem Kontext entwickelter Begriff ist die Gefühlsarbeit. Gefühlsarbeit wird als Aufgabe verstanden, im Kontakt mit den Kunden solche Emotionen zu zeigen, die bei diesen positive Gefühle hervorrufen und dazu die eigenen Emotionen entsprechend zu regulieren (Nerdinger, 2001; 7 Kap. 30). Die Arbeitstätigkeit von Callcentermitarbeitern ist in hohem Maße dadurch geprägt, dass sie eine Vielzahl von Anrufen in ihrer Arbeitsschicht bearbeiten müssen und dabei einen freundlichen Umgang mit den Kunden pflegen sollen. In einer Untersuchung mit Callcenteragenten konnte Menzler-Trott (1998) zeigen, dass das psychische Wohlbefinden der Beschäftigten vor allem durch zwei Faktoren beeinträchtigt wird: zum einen durch die emotionale Dissonanz, d. h., es werden Gefühle gezeigt, die nicht mit den eigenen übereinstimmen, und zum anderen durch die emotionale Sensitivität, d. h. die Anforderung, sich in die Lage des Kunden hineinzuversetzen. Entsprechende Befunde erbrachte auch die Studie von Zapf, Isic, Bechtoldt und Blau (2003). Die Autoren untersuchten verschiedene Tätigkeitsmerkmale, betriebliche Stressoren und emotionale Anforderungen bei der Arbeit von Callcenteragenten und verglichen diese Bedingungen mit Arbeitsbedingungen anderer Beschäftigter. Die Ergebnisse der Studie zeigen, dass die Callcentermitarbeiter sich hinsichtlich der meisten untersuchten Variablen kaum von den Beschäftigten in der Vergleichsgruppe unterschieden. Allerdings wiesen sie ein deutlich höheres Niveau in Bezug auf die emotionale Dissonanz auf. Durch die zusätzlich geringe Handlungsautonomie und die geringen Spielräume im Umgang mit Stressoren sind die Möglichkeiten zur Reduzierung von emotionaler Dissonanz erheblich einge-
393 22.5 · Befunde zu Wirkungen von Arbeitsgestaltung
schränkt. Auch die Befunde der Studie von Zapf et al. (2001) stützen diese Annahme. Die Autoren konnten zeigen, dass sich emotionale Dissonanz weniger stark auf Burnout auswirkt, wenn gleichzeitig der Handlungsspielraum hoch ausgeprägt war. Callcenterbeschäftigte berichten neben psychischen auch körperliche Arbeitsbelastungen. Dazu zählen jene Gesundheitsbeschwerden, die häufig in Zusammenhang mit Bildschirmarbeit auftreten und durch eine lang andauernde einseitige körperliche Belastung hervorgerufen werden wie z. B. Schmerzen im SchulterNacken-Bereich und Augenschmerzen. Andere körperliche Belastungserscheinungen, die in Zusammenhang mit dem Beruf des Callcenteragenten stehen, werden durch die telefonische Kommunikation und den hohen Geräuschpegel bzw. die Lärmbelastung in den Großraumbüros hervorgerufen (Sust, Lorenz, Schleif, Schubert & Utsch, 2002). Nach Menzler-Trott (1998) sowie Sust et al. (2002) weisen die für Callcenter obligatorischen Großraumbüros oft ein schlechtes Raumklima auf, sind oftmals laut und beengt und verfügen über zu geringe Beleuchtungsstärken am Arbeitsplatz. Darüber hinaus zeigen die spezifischen Anforderungen der Kommunikationsarbeit in Callcentern aber auch langfristige Wirkung, wie eine Untersuchung des Instituts für Betriebliche Gesundheitsforschung (2000) ergab. Hauptsächlich liegen die Krankheitsbilder im Bereich der Atemwegserkrankungen (Stimmbelastung), Erkrankungen des Magens (psychosomatisch bedingt) sowie der Muskel-Skelett-Erkrankungen mit dem Schwerpunkt auf Rückenbeschwerden (Zwangshaltungen, Sitzarbeitsplatz). Diese Befunde verdeutlichen abschließend die Bedeutsamkeit ergonomischer Arbeitsplatzbedingungen wie beispielsweise Lärmschutz in den Arbeitsräumen, angemessenes Raumklima (Temperatur, Luftfeuchte) sowie geeignete Arbeitsmittel (Headsets) und Büroarbeitsplätze. ! Als Fazit lässt sich festhalten, dass insgesamt noch erheblicher Bedarf in Hinblick auf die Arbeitsgestaltung auch bei neuen Arbeitsformen wie Callcentertätigkeiten besteht. Neben Fragen zur Gestaltung bereits bekannter Faktoren, wie beispielsweise der Ergonomie oder der Aufgabenund Organisationsgestaltung, sind auch »neue« Fragen in Bezug auf die Gestaltung von emotionsregulatorischen Anforderungen zu berücksichtigen.
22.5.2
Umfassendere Studien zur Wirkung von Arbeitsgestaltung
Im Rahmen zahlreicher meist querschnittlich angelegter Studien wurde über verschiedene Berufsgruppen hinweg untersucht, wie sich bestimmte Arbeitsstrukturen und Aufgabenbedingungen auf das arbeitende Individuum auswirken. Im Folgenden werden ausgewählte Untersuchungen dazu abschließend vorgestellt und diskutiert. Im Rahmen eines interdisziplinär angelegten Untersuchungsansatzes (Campion & Thayer, 1985; Edwards, Scully & Brtek, 2000) wurden verschiedene theoretische Perspektiven der Arbeitsgestaltung sowie damit jeweils verbundene Gestaltungs- und Wirkungsvariablen berücksichtigt. Insgesamt wurden vier verschiedene interdisziplinäre Perspektiven der Arbeitsgestaltung in die Wirkungsanalyse mit einbezogen: 4 Die motivational orientierten Gestaltungsansätze (z. B. Job Enrichement, soziotechnische Systemgestaltung) beziehen sich auf die psychologische Bedeutsamkeit und das Motivationspotenzial bestimmter Arbeits- bzw. Aufgabenmerkmale (Hackman & Oldham, 1976, Herzberg, 1968). Sind Arbeitstätigkeiten durch eine hohe Komplexität gekennzeichnet (z. B. Anforderungsvielfalt, Ganzheitlichkeit) wird eine Steigerung der Zufriedenheit, der intrinsischen Motivation und der Leistung bei den Beschäftigten angenommen. Gleichzeitig führen diese Gestaltungsaspekte, die mit höheren Anforderungen verbunden sind, zu einer Entwicklung neuer und vorhandener Kompetenzen. 4 Die mechanistisch orientierte Gestaltungsperspektive basiert auf Annahmen zur tayloristischen Arbeitsgestaltung (7 Kap. 4 und 20). Demnach führen hoch arbeitsteilige Arbeitsstrukturen und Aufgaben mit geringer Komplexität zu einer Effizienz- und Leistungssteigerung bei den Arbeitskräften. Daneben bringen die vereinfachten, spezialisierten Arbeitsaufgaben geringere Qualifikationserfordernisse auf Seiten der Mitarbeiter mit sich. Im Unterschied zu motivationalen Ansätzen muss allerdings auch angenommen werden, dass die Gestaltung repetitiver, einfacher Aufgaben zu einer Verminderung des Kompetenzniveaus führt. 4 Mit den biologisch orientierten Gestaltungsansätzen werden Aspekte der Arbeitsergonomie und -physiologie aufgegriffen. In diesem Zusammenhang wird die Gestaltung des Arbeitsplatzes und der Arbeitsum-
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394
22
Kapitel 22 · Arbeitsgestaltung in Produktion und Verwaltung
gebung (z. B. Raumklima) bei körperlich anspruchsvollen Tätigkeiten thematisiert. Das Ziel arbeitsgestalterischer Maßnahmen liegt bei diesen Ansätzen darin, gesundheitsgefährdende Risiken und körperliche Belastungen der Beschäftigten zu reduzieren, indem negative Faktoren wie z. B. Lärm und schlechte Beleuchtung eliminiert werden. Infolge dessen können langfristig Krankenstände reduziert werden. 4 Die wahrnehmungsbezogen-motorisch orientierten Gestaltungsansätze konzentrieren sich auf die Optimierung motorischer, wahrnehmungsbezogener und kognitiver Leistungen bei der Gestaltung der Arbeitsumgebung. In erster Linie soll die Wahrscheinlichkeit von Fehlern und Unfällen reduziert werden. Des weiteren sollen die kognitiven Anforderungen der Beschäftigten verringert und damit die mentale Überforderung sowie Stress verhindert werden. In Bezug auf diesen Punkt gibt es Gemeinsamkeiten mit den mechanistischen Ansätzen. Es wird angenommen werden, dass eine geringere mentale Beanspruchung mit einer verminderten Zufriedenheit und Motivation der Beschäftigten einhergeht. Mithilfe eines 48 Items umfassenden Analysefragebogens (»Multiple Job Description Questionnaire«), der Einschätzungen der beschriebenen Arbeitsgestaltungsmerkmale und Wirkungskennwerte bei Stelleninhabern und anderen Jobexperten abfragt, wurde untersucht, in welcher Weise die Gestaltungsmerkmale und Wirkungsvariablen zusammenhängen. Im Rahmen einer aktuellen Studie zu diesem Ansatz (Edwards et al., 2000) wird zwischen 10 Gestaltungsmerkmalen (Rückmeldungsgestaltung, Gestaltung lernförderlicher Aufgaben, Anreizgestaltung, Spezialisierung von Aufgaben, Aufgabenvereinfachung, körperliche Ausführbarkeit von Aufgaben, Gestaltung physischer Arbeitsbedingungen, Arbeitszeitgestaltung, ergonomisches Design, kognitive Vereinfachung von Aufgaben), die sich den vier Gestaltungsansätzen prototypisch zuordnen lassen, und vier Wirkungsvariablen (Arbeitszufriedenheit, Arbeitseffizienz, körperliches Wohlbefinden, zuverlässiges bzw. fehlerfreies Arbeitshandeln) unterschieden. . Tab. 22.3 verdeutlicht anhand der Ergebnisse einer Strukturgleichungsanalyse mit 788 arbeitsplatzbezogenen Datensätzen, dass die vier unterschiedlichen Gestaltungsrichtungen mit jeweils verschiedenen Wirkungsvariablen verknüpft sind. Die motivationalen Gestaltungsansätze fördern somit eher die Arbeitszufriedenheit, die mechanistischen
Ansätze die Arbeitseffizienz, die biologischen Ansätze in erster Linie das körperliche Wohlbefinden, aber auch zuverlässiges Arbeitsverhalten und die wahrnehmungsbezogen-motorischen Ansätze die Zuverlässigkeit des Arbeitshandelns. Weiter reichende Analysen (Campion & Thayer, 1985) zeigen darüber hinaus, dass die Gestaltungsansätze sich teilweise in Bezug auf ihre Empfehlungen widersprechen. Beispielsweise empfehlen die mechanistischen und wahrnehmungsbezogen-motorischen Ansätze eine Verringerung und Vereinfachung von geistigen Anforderungen bei Arbeitsaufgaben, während die motivational orientierten Gestaltungsansätze eher komplexe Arbeitsanforderungen befürworten. Entsprechende negative Beziehungen konnten zwischen den Gestaltungsdimensionen der motivationalen Orientierung mit den Dimensionen der mechanistischen und wahrnehmungsbezogen-motorischen Orientierung gefunden werden. Außerdem wurde analysiert, ob sich hohe Ausprägungen auf Gestaltungsdimensionen einer Orientierung nicht nur positiv auf die intendierten Wirkungsvariablen, sondern auch negativ auf andere Bereiche auswirken. Dieser Annahme entsprechend konnten z. B. negative Korrelationen der motivationalen Orientierung mit der Arbeitseffizienz und Zuverlässigkeit oder auch der mechanistischen Orientierung mit der Arbeitszufriedenheit ermittelt werden. Insgesamt vermittelt dieser Untersuchungs- bzw. Analyseansatz ein relativ umfassendes Bild über die Wirkungsweise verschiedener wichtiger Arbeitsgestaltungsansätze und klärt außerdem, in welchem Verhältnis die jeweiligen Gestaltungsorientierungen zueinander stehen. Anhand von drei weiteren Studien kann darüber hinaus verdeutlicht werden, dass hoch arbeitsteilige Arbeitsstrukturen ungünstige Wirkungen auf das Wohlbefinden, die Gesundheit und die Kompetenzentwicklung haben, während ganzheitlichere Arbeitsaufgaben umgekehrt zu positiven Wirkungen in Bezug auf diese Variablen führen. Gesundheitliche Beeinträchtigungen der Beschäftigten können beispielsweise nicht nur durch eine unzureichende ergonomische Arbeitsplatzgestaltung (z. B. durch einseitige körperliche Belastungen), sondern auch eine ungünstige, d. h. vor allem restriktive Aufgabengestaltung hervorgerufen werden. Lundberg (1996) konnte beispielsweise zeigen, dass bei Beschäftigten in hoch arbeitsteiligen Arbeitsstrukturen die physiologische Belastung und die erlebte Ermüdung im Verlauf der Arbeit anstieg. Demgegenüber blieb das Belastungsniveau bei anderen Beschäftigten, die in flexiblen Ar-
395 22.5 · Befunde zu Wirkungen von Arbeitsgestaltung
22
. Tab. 22.3. Beziehungen zwischen Arbeitsgestaltungsvariablen und Wirkungskennwerten; standardisierte Beta-Koeffizienten und nicht standardisierte Bestimmtheitsmaße (R2) des berechneten Strukturgleichungsmodells. (Aus Edwards et al., 2000) Wirkungskennwerte Arbeitsgestaltungsdimensionen
Zufriedenheit
Effizienz
Körperliches Wohlbefinden
Zuverlässigkeit/ Fehlerfreiheit
Motivationale Orientierung Rückmeldungsgestaltung
–.23
.10
.04
–.17
.15
.04
–.18
–.33
95**
–.19
.02
.33
Spezialisierung von Aufgaben
.02
–.02
.00
–.02
Aufgabenvereinfachung
.11
–.22
–.13
Gestaltung lernförderlicher Aufgaben Anreizgestaltung Mechanistische Orientierung
.74**
Ausführbarkeit von Aufgaben
.06
–.12*
.59**
–.08
Gestaltung physischer Arbeitsbedingungen
.02
–.19*
.10
–.41**
–.10
.21*
.25**
.84**
.14*
–.05
.03
.05
.26*
.62**
.66**
Arbeitszeitgestaltung
Wahrnehmungsbezogen-motorische Orientierung Ergonomisches Design
–.02
Kognitive Vereinfachung von Aufgaben
.08
R2
.69**
–.08 .79**
2
R Bestimmtheitsmaß der Strukturgleichung; * p<.05; ** p<.01
beitsstrukturen tätig waren, konstant. Zu identischen Befunden kamen Melin, Lundberg, Söderlund und Granqvist (1999), die physiologische Messungen bei Beschäftigten mit geringer und solchen mit stärker partialisierten Arbeitstätigkeiten durchführten. Die Autoren konnten nachweisen, dass die Gruppe mit den gering partialisierten Aufgaben die günstigeren physiologischen Kennwerte und die bessere Erholungsfähigkeit nach Arbeitsschluss aufwies. In einer Studie von Rau (2004) wurde darüber hinaus untersucht, ob spezifische Arbeitsmerkmale einen Einfluss auf die Erholungsprozesse und das subjektive Wohlbefinden der Beschäftigten haben. Dazu wurden zum einen Merkmale der Arbeitstätigkeit mithilfe eines Analyseinstruments erfasst sowie innerhalb eines 24-Stunden-Zeitraums die Herzfrequenz, der Blutdruck und die Bewegungsaktivität der Pro-
banden gemessen. Die Ergebnisse der Studie zeigen, dass Arbeitsaufgaben, die durch hohe Tätigkeitsspielräume, Lernmöglichkeiten und Kommunikationserfordernisse gekennzeichnet sind, sich gesundheitsförderlich auf das Befinden der Beschäftigten während der Arbeit auswirken. Solche Aufgaben sind außerdem mit einem deutlich geringeren kardiovaskulären Risiko (Hypertonie) verbunden. Demgegenüber gehen Überstunden mit negativen gesundheitlichen Begleiterscheinungen einher, wie einer gestörten Erholungsfähigkeit und Schlafstörungen. Die Ergebnisse bestätigen die Annahme, dass eine Aufgabengestaltung, bei der die Anforderungen und Fähigkeiten im Gleichgewicht stehen und die Anforderungen als Herausforderungen erlebt werden, zu einer intensiveren Hinwendung zur Arbeitsaufgabe und damit zu einem positiven Erleben während der Arbeit führt.
© American Psychological Association 2000
Biologische Orientierung
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Kapitel 22 · Arbeitsgestaltung in Produktion und Verwaltung
Welcher Zusammenhang zwischen Gestaltungsmerkmalen der Arbeit und bestimmten Persönlichkeitsmerkmalen besteht, wurde schließlich in einer aktuellen Studie von Fay und Kamps (2006) untersucht. Die Autorinnen gehen von der Annahme aus, dass Arbeitsgestaltung einen Beitrag dazu leisten sollte, die Kompetenzen der Arbeitskräfte zu entwickeln, um die anspruchsvollen Anforderungen der zukünftigen Arbeitswelt angemessen zu bewältigen. Im Rahmen ihrer Untersuchung wurden 335 Beschäftigte befragt, die aus dem öffentlichen und privaten Sektor (Banken, Krankenhäuser, produzierendes Gewerbe) kamen und auf unterschiedlichen Hierarchieebenen tätig waren. Die Beschäftigten sollten folgende Merkmale ihrer Arbeitstätigkeit einschätzen: 4 Entscheidungs- und Handlungsspielraum bei der Arbeit, 4 Aufgabenschwierigkeit, Möglichkeiten zum Lernen, Nutzung von Qualifikationen, 4 Vollständigkeit der Aufgabe, 4 Autonomie bei der Aufgabenausführung.
Des Weiteren wurden verschiedene Personenmerkmale erfasst, von denen angenommen werden kann, dass eine hohe Ausprägung dazu beiträgt, den zukünftigen Anforderungen gerecht zu werden (z. B. Selbstwirksamkeit, Initiative bei der Arbeit bzw. Initiative für Weiterbildung, Innovationsbereitschaft, Bereitschaft zur Anpassung an neue Arbeitsbedingungen, physisches und psychisches Wohlbefinden). Die Ergebnisse zeigen, dass Personen, deren Arbeitsaufgaben durch eine geringe Ausprägung der oben genannten Aufgabenmerkmale gekennzeichnet sind, niedrige Werte bei der arbeitsbezogenen Selbstwirksamkeit, der Eigeninitiative, der Zielorientierung und der Bereitschaft zur Anpassung aufweisen. Diese Personen lehnen allerdings auch eher Handlungs- und Entscheidungsspielräume bei der Arbeit ab und weisen höhere Depressionswerte auf als Personen mit weniger tayloristischen Arbeitsaufgaben.
Zusammenfassung 4 Unter Arbeitsgestaltung werden alle technischen, organisatorischen und ergonomischen Maßnahmen verstanden, die sich auf die Gestaltung des Arbeitsplatzes, der Arbeitsumgebung, des Arbeitsablaufes, der Arbeitsorganisation und der Aufgabeninhalte beziehen. 4 Mitarbeiterbezogene Ziele der Arbeitsgestaltung sind vor allem auf die Ausführbarkeit, Schädigungslosigkeit, Beeinträchtigungsfreiheit und Persönlichkeitsförderlichkeit von Arbeitstätigkeiten gerichtet. 4 Bei den unternehmensbezogenen Zielen der Arbeitsgestaltung wird zwischen kostenbezogenen, organisatorischen und technischen Zielen unterschieden. Diese sind mit den mitarbeiterbezogenen Zielen zu integrieren. 4 Ausgangspunkt aller theoretisch fundierten Ansätze einer psychologischen Arbeitsgestaltung ist die Arbeitsaufgabe. Hierbei wird zwischen handlungsbzw. tätigkeitstheoretischen und motivationstheoretischen Ansätzen sowie dem Ansatz der soziotechnischen Systemgestaltung unterschieden. 4 Hinsichtlich der zeitlichen Perspektive wird bei der Arbeitsgestaltung zwischen korrektiven, präventiven und prospektiven Strategien differenziert.
4 Bei der flexiblen, differenziellen und dynamischen Arbeitsgestaltung werden inter- und intraindividuelle Aspekte der Arbeitsausführung in unterschiedlicher Form berücksichtigt. 4 Bei der Gestaltung neuer Arbeitsformen wie beispielsweise Callcentertätigkeiten sind neben bereits bekannten Faktoren wie Ergonomie oder Aufgabenund Organisationsgestaltung auch »neue« Aspekte wie z. B. die Gestaltung emotionsregulatorischer Anforderungen zu berücksichtigen. 4 Verschiedene Ausrichtungen der Arbeitsgestaltung (motivational, mechanistisch, biologisch, wahrnehmungsbezogen-motorisch) wirken sich unterschiedlich auf die Zielvariablen Arbeitszufriedenheit, Arbeitseffizienz, körperliches Wohlbefinden und Zuverlässigkeit des Arbeitshandelns aus. 4 Hoch arbeitsteilige Arbeitsstrukturen haben nachweislich ungünstige Auswirkungen auf das Wohlbefinden, die Gesundheit und die Kompetenzentwicklung, während ganzheitlichere Arbeitsaufgaben umgekehrt zu positiven Wirkungen in Bezug auf diese Variablen führen.
397 Literatur
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22
398
22
Kapitel 22 · Arbeitsgestaltung in Produktion und Verwaltung
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23
23 Gruppenarbeit in der Produktion 23.1
Hintergründe und Zielsetzungen für die Einführung von Gruppenarbeit – 401
23.2
Definitorische Merkmale und Klassifikationsansätze der Gruppenarbeit – 403
23.3
Formen der Gruppenarbeit
23.3.1 23.3.2 23.3.3 23.3.4
Qualitätszirkel – 406 Projektgruppen und betriebliche Gesundheitszirkel – 408 Teilautonome Arbeitsgruppen – 409 Fertigungsteams und klassische Arbeitsgruppen – 414
23.4
Leistungsdeterminanten der Gruppenarbeit
23.5
Einführung von Gruppenarbeit als Organisationsentwicklungsprozess Literatur
– 423
– 406
– 421
– 417
400
23
Kapitel 23 · Gruppenarbeit in der Produktion
> Gruppenarbeit wird von vielen Unternehmen als entscheidender Erfolgsfaktor für die eigene wirtschaftliche Konkurrenzfähigkeit unter den heutigen Produktions- und Marktbedingungen angesehen. Spätestens seit der stark beachteten MIT-Studie von Womack, Jones und Roos (1991), die eine Überlegenheit japanischer Produktionskonzepte nahelegte, in denen eine bestimmte Art der Gruppenarbeit ein zentrales Element darstellt, ist diese Form der Arbeitsorganisation aus vielen Unternehmen nicht mehr wegzudenken. Gruppenarbeit ist aber auch eine Form der Arbeitsorganisation, die Potenziale für eine nach humanen Kriterien günstige Arbeitsgestaltung aufweist, da sie bei guter Gestaltung durch anspruchsvolle Aufgaben, hohe Kommunikations- und Kooperationsanforderungen sowie soziale Unterstützungsressourcen geprägt ist. Für die Arbeits- und Organisationspsychologie ergibt sich somit in Bezug auf die Analyse, Gestaltung und Evaluation von Gruppenarbeitskonzepten ein lohnendes und breites Betätigungsfeld. Im folgenden Kapitel soll erläutert werden, wie sich die Beschäftigung mit Gruppenarbeitskonzepten historisch entwickelt hat, durch welche Merkmale Gruppenarbeit bzw. Arbeitsgruppen gekennzeichnet sind, welche Formen der Gruppenarbeit zu unterscheiden sind, welche Gestaltungsprinzipien und -bedingungen bei der Realisierung einzelner Gruppenarbeitsformen zu beachten sind, wie sich diese unter ökonomischen und psychologischen Kriterien bewährt haben und welche Einflussfaktoren die Effektivität von Gruppenleistungen und -prozessen mitbestimmen. Zur Einstimmung in Bedingungen und Anforderungen bei der Implementierung eines Gruppenarbeitskonzepts in einem Betrieb wird im 7 Kasten »Einführung teilautonomer Gruppenarbeit in einem Produktionsunternehmen« ein entsprechendes Vorgehensbeispiel in Anlehnung an einen realen Fall beschrieben.
Einführung teilautonomer Gruppenarbeit in einem Produktionsunternehmen In einem Produktionswerk wurden LKW verkaufsfertig montiert (vgl. zum Folgenden Lemke, 1995). Neben Vor- und Endmontagearbeiten wurden im Zweischichtbetrieb auch Fahrerhäuser vor Ort gefertigt. Innerhalb der Produktionsbereiche herrschte eine stark hierarchische Struktur vor. Sie gliederte sich nach folgenden Ebenen: Werksleitung, Hauptabteilungen, Abteilungen, Hauptgruppen, Schichtmeister, Gruppenmeister, Vorarbeiter und Mitarbeiter. Angesichts einer verschärften Wettbewerbssituation und einem hohen Produktionskostenniveau war der Veränderungsdruck auf das Unternehmen beträchtlich gestiegen. Parallel war in Bezug auf die vorhandene Arbeitsorganisation eine steigende Unzufriedenheit unter den Mitarbeitern zu verzeichnen, die sich in einem hohen Fluktuationsgrad, hohem Krankheitsstand und einer mangelnden Identifikation mit Produkt und Unternehmen äußerte. Vor Ort an den Arbeitsplätzen gab es außerdem
Schnittstellenprobleme (z. B. Entwicklung/Konstruktion und Produktion), schwerfällige Entscheidungswege und einen sehr hohen Steuerungsaufwand. Diese Problemlage veranlasste den Unternehmensvorstand, sich für die stufenweise Einführung von teilautonomen Arbeitsgruppen zu entscheiden. Hauptziel bei einer solchen Umstrukturierung ist die Erreichung wirtschaftlicher Ziele im Sinne einer Strategie zur Kostensenkung. Zunächst sollten in Pilotprojekten Erfahrungen mit der Integration verschiedener Prüftätigkeiten und Instandhaltungstätigkeiten sowie erweiterten Arbeitsumfängen am Montageband im Rahmen der teilautonomen Gruppen gesammelt werden. Diese Erfahrungen wurden in einem Leitfaden zur Planung und Einführung von Gruppenarbeit verarbeitet, der auch die Ausarbeitung eines Rahmenkonzepts für die Gruppenarbeit beinhaltete und Grundlage für eine entsprechende Betriebsvereinbarung war. Im Anschluss daran wurden
6
401 23.1 · Hintergründe und Zielsetzungen für die Einführung von Gruppenarbeit
weitere Pilotprojekte in allen Produktionsbereichen durchgeführt und systematisch im Hinblick auf die Zielsetzungen evaluiert. Erst danach war eine unternehmensweite Ausweitung auf 50% aller Produktionsmitarbeiter vorgesehen. In der Einführungsphase galt es zunächst, die Aufgaben und Zielsetzungen des Projekts zu präzisieren. Es musste der Ist-Zustand hinsichtlich der technischen Systeme, Produkte und Kosten sowie in Hinblick auf Organisation und Personal analysiert werden. Anschließend wurde der Soll-Zustand hinsichtlich zukünftiger Tätigkeitsstrukturen, Leistungsziele, Funktionsteilungen und -zuordnungen sowie Entlohnungsformen erarbeitet. Auch die Aufbauorganisation erforderte entsprechende Anpassungen. Für die Gruppenbildung mussten darüber hinaus die Qualifikationsanforderungen an den Gruppenarbeitsplätzen ermittelt werden. Anschließend wurde geeignetes Personal ausgewählt sowie der erforderliche Qualifizierungsbedarf und Qualifizierungsmaßnahmen für die Gruppenmitarbeiter festgestellt. Weiterhin galt es, die gruppeninterne Organisation in Bezug auf die Rahmenbedingungen für die Prozessverbesserung, die interne und externe Kommunikation sowie die Aufgaben und Funktionen der Meister zu planen und festzulegen. Die Gestaltung des Umfelds betraf z. B. die Planung einer Informationsecke und eines Gruppenraums sowie von geeigneten Informationsmedien und
23.1
Hintergründe und Zielsetzungen für die Einführung von Gruppenarbeit
Die Diskussion über die Vor- und Nachteile sowie die Gestaltung von Gruppenarbeit setzte u. a. mit der durch die Hawthorne-Studien ausgelösten Human-RelationsBewegung ein. Dieser Forschungs- und Gestaltungsansatz, der gewissermaßen als Gegenpol zu den bis dahin vorherrschenden tayloristischen Produktionsprinzipien (7 Kap. 2 und 4) entwickelt wurde, betonte vor allem den sozialen Aspekt der Arbeit. Zentral für diesen Ansatz war die Erkenntnis, dass Menschen in ihrem Verhalten und ihrer Arbeitsleistung in hohem Maße durch die Gruppenzugehörigkeit und die Art der Gruppenbeziehung beeinflusst werden. Hierdurch richtete sich die Auf-
-systemen. Ein weiterer wichtiger Schritt im Einführungsprozess betraf das Festlegen von Wirtschaftlichkeitskriterien zur Bewertung der Gruppenarbeit. Außerdem war es erforderlich, die entsprechenden Personalmaßnahmen vorzubereiten und durchzuführen. Dazu mussten insbesondere die Mitarbeiter und Führungskräfte informiert und die Personalauswahl und Qualifizierung abgestimmt werden. Prozessbegleitend wurden Erfolgskontrollen und Befragungen durchgeführt sowie Erfahrungen dokumentiert: Probleme bei der Einführung betrafen z. B. die Erkenntnis, dass für Produktivitätsverbesserungen der Gruppen die Unterstützung der Vorgesetzten äußerst wichtig ist. Die Führungskräfte wurden nicht ausreichend auf die neue Führungsrolle bzw. die neuen Führungsaufgaben vorbereitet. »Verlierer« des Gruppenarbeitskonzepts, wie z. B. Vorarbeiter, Instandhaltungsmitarbeiter oder Gruppenmeister, wurden zu wenig berücksichtigt. Außerdem erfolgte die Umsetzung der Mitarbeitervorschläge zur Optimierung von Abläufen nicht schnell und konsequent genug. Positiv war, dass eine Reihe von Kostensenkungen (z. B. Herstellungskosten, Personalkosten) erreicht werden konnten und die Information und Beteiligung der Mitarbeiter hohes Engagement bewirkten. So brachten die Mitarbeiter vielfältige Vorschläge zur Verbesserung der Gruppenarbeit ein und beteiligten sich in hohem Maße an Informations- und Qualifizierungsveranstaltungen.
merksamkeit der Forscher insbesondere auf zwischenmenschliche Beziehungen sowie ihre Förderung und Gestaltung in der Arbeit. Ein weiterer entscheidender Impuls ging von Studien des Tavistock Institute for Human Relations im englischen Kohlebergbau aus (Trist & Bamforth, 1951). Diese zeigten, dass die Veränderung der Arbeitsmethode weg von Gruppen- und hin zu Einzelarbeit die Ursache für eine schlechtere Arbeitsmotivation, hohe Fehlzeiten und Fluktuation sowie häufige Unfälle in den Bergwerken war. Der Eingriff in das soziale System und die Nichtbeachtung der funktionalen sozialen Struktur hatte zur Folge, dass aus kleinen Gruppen qualifizierter und motivierter Bergleute ein wirtschaftlich weit weniger effizientes Arbeitssystem von Einzelkämpfern entstanden war. Die Ergebnisse dieser Untersuchungen bildeten die
23
402
23
Kapitel 23 · Gruppenarbeit in der Produktion
Basis für die Entwicklung des soziotechnischen Systemansatzes. Dieser Ansatz berücksichtigt als theoretisches Rahmenkonzept in besonderer Weise die Wechselwirkungen zwischen sozialen und technischen Komponenten von Arbeitssystemen und weist in seinen praktischen Implikationen insbesondere auf die Vorzüge sich selbst regulierender Gruppenarbeitsstrukturen für die Arbeits- bzw. soziotechnische Systemgestaltung hin (Ulich, 2005). Anfang der 70er Jahre wurden zunächst in skandinavischen und anschließend auch in deutschen PKWMontagewerken im Rahmen des Programms zur Humanisierung der Arbeit Pilotprojekte zur Einführung von teilautonomen Arbeitsgruppen gestartet. Diese Projekte fanden zwar eine große öffentliche und wissenschaftliche Beachtung. Die Ergebnisse wurden jedoch von den beteiligten Unternehmen sehr unterschiedlich und insgesamt eher reserviert bewertet. In der Mehrzahl der Fälle wurde daher nach Abschluss der Humanisierungsbzw. Forschungsprojekte die gruppenorientierte Arbeitsorganisation in den Betrieben wieder aufgelöst. In den 80er Jahren fand das Qualitätszirkelkonzept als »fernöstliche Wunderwaffe« seinen Weg in viele Unternehmen und verbreitete sich mit unglaublicher Geschwindigkeit (Bungard, 1999). Auch wenn sich die anfängliche Euphorie schnell legte, etablierten sich Qualitätszirkel als Instrument der Mitarbeiterbeteiligung und zur Einführung von Gruppenkonzepten in der Produktion. Insbesondere vom Management wurde diese Form der Gruppenarbeit allerdings kaum als strategischer Erfolgsfaktor gesehen. Das änderte sich Anfang der 90er Jahre schlagartig. Die bereits angesprochene MIT-Studie wird als wesentlicher Auslöser und Katalysator für die seither intensive Diskussion von Gruppenarbeitskonzepten insbesondere als integraler Bestandteil der Arbeitsorganisation gesehen. Die in dieser Studie verglichene Wettbewerbsfähigkeit der internationalen Automobilunternehmen zeigte sehr deutlich die Grenzen des bis dahin vorherrschenden tayloristischen Organisationskonzepts und die wirtschaftliche Überlegenheit von Produktionskonzepten, die auf bestimmten gruppenorientierten Arbeitsformen (insbesondere Fertigungsteams; hierzu 7 Abschn. 23.3.4) basieren. Mittlerweile scheint Gruppenarbeit zu einem Modebegriff für moderne Arbeitsorganisation geworden zu sein. Dies ist auch bedingt durch marktwirtschaftliche, technische und gesellschaftliche Entwicklungen, die im Folgenden grob skizziert werden:
Veränderung der Märkte. Der Wandel von Verkäufer-
märkten (die Nachfrage ist größer als das Angebot) zu Käufermärkten (das Angebot ist größer als die Nachfrage) resultierte in deutlich verschärften Wettbewerbsbedingungen für die Unternehmen. Das Ausmaß an Kundenorientierung sowie die vom Käufer geforderte Flexibilität stellt einen entscheidenden Wettbewerbsfaktor dar. Dies war mit den bis dato vorherrschenden Produktionsprinzipien nicht mehr zu bewerkstelligen, sondern erfordert in höherem Maße flexible und sich selbst regulierende Arbeitssysteme wie z. B. Gruppenarbeitskonzepte. Technischer Fortschritt. Die Entwicklung und zunehmende Verbreitung von mikroelektronischen Technologien hat die Anforderungen an fast allen Arbeitsplätzen revolutioniert. Die Bedienung, Steuerung und Instandhaltung der neuen flexiblen computergestützten Fertigungstechnologien können durch den Einzelnen nicht mehr ausreichend bewältigt werden. Nicht nur die Lernanforderungen, sondern auch die Komplexität der Arbeitssysteme ist durch diese Technologien erheblich gestiegen. Durch die Nutzung von Gruppenarbeitskonzepten in solchen hochtechnisierten Arbeitssystemen können die geforderten Qualifikations- und Problemlösepotenziale effektiver bereitgestellt werden. Wertewandel bei den Mitarbeitern. Gruppenarbeit wird
von vielen Menschen im Vergleich zur Einzelarbeit als attraktive Arbeitsform angesehen. Gerade für die jüngere Generation steht nicht mehr ausschließlich die Sicherung materieller Bedürfnisse im Vordergrund, sondern aufgrund besserer und höherer Bildung, wächst zugleich der Anspruch an die Arbeit nach Selbstverwirklichung und Übernahme von Verantwortung. Diese Ansprüche lassen sich im Rahmen gruppenorientierter Arbeitsformen meist besser realisieren und befriedigen. Vor diesem Hintergrund stellt sich die Frage, was Gruppenarbeit leisten kann bzw. leisten soll. Die Ziele, die mit der Einführung von Gruppenarbeit verfolgt werden, sind im Gegensatz zu den Humanisierungsprogrammen in den 70er Jahren nicht nur an Human-, sondern auch an Wirtschaftlichkeitskriterien geknüpft. Die Steigerung der Wettbewerbsfähigkeit und Produktivität in Verbindung mit einer menschengerechten und persönlichkeitsförderlichen Arbeitsgestaltung ist für viele Unternehmen daher ein ausreichender Grund, um auf den »Zug aufzuspringen«. . Tab. 23.1 zeigt weitere wirtschaftlichkeits- und mitarbeiterorientierte
. Tab. 23.1. Übersicht zu bedeutsamen Zielen bei der Nutzung von Gruppenarbeit. (Nach Wegge, 2004) Wirtschaftlichkeitsorientierte Ziele
Mitarbeiterorientierte Ziele
4 4 4 4 4 4 4 4
4 4 4 4 4 4 4 4
Erhaltung der Wettbewerbsfähigkeit für Organisationen Verbesserung der Produktivität Kosten- und Personalreduktion Verbesserung der Qualität Steigerung der Flexibilität Senkung von Fehlzeiten und Fluktuation Erhöhung der Kundenzufriedenheit Förderung von »Mitdenken« und Eigenverantwortung der Mitarbeiter
Zielsetzungen, die mit der Nutzung von Gruppenarbeit verfolgt werden. 23.2
Definitorische Merkmale und Klassifikationsansätze der Gruppenarbeit
Unter dem Schlagwort Gruppenarbeit als moderne Form der Arbeitsorganisation lassen sich teilweise sehr unterschiedliche Formen der Zusammenarbeit subsumieren. Antoni (1996, S. 7) spricht in diesem Zusammenhang gar von einem »Wildwuchs der Begriffe«, welche die zugrunde liegenden Annahmen und Voraussetzungen im Hinblick auf die einzelnen Gruppenarbeitskonzepte eher verschleiern als verdeutlichen. Da nicht jede organisatorische Zusammenfassung von Mitarbeitern mit Gruppenarbeit gleichzusetzen ist, soll zunächst geklärt werden, wann von Gruppenarbeit gesprochen werden kann und anhand welcher Merkmale sich Arbeitsgruppen beschreiben lassen. Definitorische Merkmale von Arbeitsgruppen Von einer Gruppe wird meist gesprochen, wenn eine Mehrzahl von Personen, die relativ überdauernd in direkter Interaktion zueinander stehen, durch Rollendifferenzierung und gemeinsame Normen gekennzeichnet sind und die ein Wir-Gefühl verbindet (vgl. hierzu auch Kap. 8). Für eine eindeutige Charakterisierung von Gruppenarbeit reichen jedoch die bereits genannten Merkmale einer Gruppe nicht aus. Diese wären z. B. auch zur Beschreibung einer Schulklasse geeignet. Um von Gruppenarbeit im Kontext von Organisationen sprechen zu können, ist zusätzlich eine gemeinsame Aufgabenstellung erforderlich. Dabei ist nach Hacker (2006)
Bessere Arbeitsbedingungen Abbau von Belastungen Förderung der Qualifikation Bessere Kommunikation Erhöhung der Arbeitszufriedenheit Förderung der Arbeitssicherheit Förderung der intrinsischen Arbeitsmotivation Persönlichkeitsförderung
entscheidend, dass ein objektiver Arbeitsauftrag im Sinne einer vorgegebenen Zielsetzung gemeinsam interpretiert und als Arbeitsaufgabe übernommen wird. Er definiert folglich Gruppenarbeit als Arbeitsform, bei der 4 mehrere Arbeitende 4 einen Auftrag bzw. eine Aufgabe gemeinschaftlich erfüllen, 4 dazu gemeinschaftliche Zielstellungen (die Gruppenziele) verfolgen 4 eine Ordnung ihres Zusammenwirkens aufweisen und 4 in Kommunikation miteinander stehen. Unter Gruppenarbeit fällt nach diesem Verständnis weder das gleichzeitige Arbeiten mehrerer Personen an unterschiedlichen Aufgaben im gleichen Raum (Kolonnenarbeit) noch die klassische Fließbandarbeit, bei der z. B. mehrere Personen nacheinander unterschiedliche Aufgaben am gleichen Gegenstand bearbeiten (Sukzessivverband der Aufgaben). Dennoch werden diese Arbeitsformen in der betrieblichen Praxis als Gruppenarbeit bezeichnet und sind relativ häufig anzutreffen (Bungard & Jöns, 1997). Die Möglichkeiten zur Kooperation sind in beiden Fällen allerdings stark eingeschränkt. Erst wenn eine Aufgabe tatsächlich arbeitsteilig ausgeführt wird, d. h. wenn die einzelnen Teilaufgaben gleichzeitig ausgeführt werden können (Integrativverband der Aufgaben), ist eine unmittelbare Zusammenarbeit möglich und somit ein größeres Ausmaß an Kooperation erforderlich. Um Arbeitsgruppen näher zu beschreiben, können unter Einbeziehung der Definitionen von Gruppen und Gruppenarbeit (demzufolge) die Merkmale Gruppengröße, Zeitdauer der Zusammenarbeit, Zielsetzung, Regeln und Normen, Rollenverteilung, Kooperation, WirGefühl und der Arbeitsauftrag herangezogen werden
23 Mit freundlicher Genehmigung von Hogrefe, Göttingen. © Hogrefe 2004
403 23.2 · Definitorische Merkmale und Klassifikationsansätze der Gruppenarbeit
404
Kapitel 23 · Gruppenarbeit in der Produktion
Kernmerkmale von Arbeitsgruppen Gruppengröße. Kommunikations- und Abstim-
23
mungsprozesse verlaufen am besten in Gruppen mit 5 bis 6 Mitgliedern. Die Wahl der Gruppengröße hängt in Arbeitsgruppen allerdings entscheidend von der Art des Arbeitsauftrags und von der vorgesehenen Dauer der Zusammenarbeit ab. Auch sollten zusammenhängende Arbeitsprozesse nicht durch die Bildung zu kleiner Gruppen getrennt werden.
Zeitdauer der Zusammenarbeit. Von der Zeitdauer der Zusammenarbeit hängt ab, inwieweit eine Gruppe gemeinsame Regeln, Normen und ein Wir-Gefühl entwickelt. Je kürzer demzufolge die Zusammenarbeit angelegt ist, desto weniger kann von Gruppenarbeit gesprochen werden. Eine erforderliche ›Mindestzeit‹ der Zusammenarbeit zu benennen, ist dennoch schwierig. Die Zusammenarbeit im Rahmen eines nur wenige Tage dauernden Workshops dürfte allerdings einen Grenzfall von Gruppenarbeit darstellen. Gemeinsame Ziele. Die gemeinsamen Ziele sind eng an den Arbeitsauftrag geknüpft und regulieren die Arbeitsprozesse in der Gruppe. Die Verständigung über den zu erfüllenden Arbeitsauftrag in der Gruppe ermöglicht es, einen gemeinsamen Arbeitsauftrag und gemeinsame Ziele zu formulieren. Während die Ziele zur Steuerung der Arbeitsprozesse in der Gruppe dienen, geben Normen und Regeln Aufschluss über die Art und Weise der Zusammenarbeit.
(Antoni, 1996). Die Relevanz dieser Merkmale für die Konstituierung von Arbeitsgruppen wird im 7 Kasten »Kernmerkmale von Arbeitsgruppen« näher erläutert. Zusammenfassend bleibt festzuhalten, dass die hier vorgestellten Merkmale zur Beschreibung von Arbeitsgruppen sich wechselseitig beeinflussen und dass das Fehlen auch nur eines dieser Merkmale Zweifel berechtigt, ob tatsächlich von Gruppenarbeit gesprochen werden kann. Ansätze zur Klassifizierung von Arbeitsgruppen Wie lassen sich die verschiedenen Formen der Gruppenarbeit klassifizieren? Das zunehmende Interesse an
Rollenverteilung. Die Rollenverteilung in einer Gruppe hilft Klarheit über die Verantwortlichkeiten für Teilaufgaben herzustellen. Sie zeigt somit an, wer welche Funktionen in der Gruppe übernimmt. Ausmaß der Zusammenarbeit. Das Ausmaß der Zusammenarbeit bzw. Kooperation hängt entscheidend von der Arbeitsaufgabe ab. Je weniger die Gruppe gemeinsam planen und Arbeitsprozesse miteinander abstimmen muss, desto weniger kann von Gruppenarbeit gesprochen werden. Erfolgt in der Gruppe sowohl die Bearbeitung von Primär- als auch Sekundäraufgaben (die eigentliche Aufgabenausführung unterstützende Teiltätigkeiten), desto höher sind in der Regel auch die Kooperationserfordernisse und das Ausmaß der wechselseitigen Beeinflussung.
Wir-Gefühl. Das Wir-Gefühl beschreibt das Ausmaß wechselseitiger positiver Gefühle in der Gruppe. Dies hängt unter anderem von der Gruppengröße (vorteilhafter sind nicht zu große Gruppen) und der Form der Kooperation in der Gruppe ab. Arbeitsauftrag. Der Arbeitsauftrag, genauer gesagt Art und Umfang der übertragenen Arbeitsaufgaben, ist von großer Bedeutung für die konkrete Ausgestaltung der Gruppenarbeit und prägt die Gruppe als Ganzes besonders stark.
Gruppenarbeit in Organisationen zeigt sich auch im Bestreben der Forschung, geeignete Kategoriensysteme bereitzustellen, von denen inzwischen eine ganze Reihe vorliegt. Eine sehr grobe Einteilung von Gruppenarbeitsformen nehmen z. B. Schumann und Gerst (1997) vor. Sie unterscheiden zwischen strukturkonservativen und strukturinnovativen Formen der Gruppenarbeit. Strukturkonservative Varianten der Gruppenarbeit sind durch traditionelle bzw. tayloristische Strukturen (Trennung von Planung und Ausführung) und Prinzipien (z. B. hohe Arbeitsteilung oder hierarchische Führung) der Arbeitsorganisation (7 Kap. 2) gekennzeichnet. Strukturinnovative Varianten hingegen sind auf
405 23.2 · Definitorische Merkmale und Klassifikationsansätze der Gruppenarbeit
Einer der bekanntesten Klassifikationsansätze von Gruppenarbeit stammt von Antoni (1996). Er unterscheidet fünf verschiedene Gruppenarbeitsformen im Sinne von Grundtypen, in die sich die meisten Gruppenarbeitskonzepte einsortieren lassen: Qualitätszirkel, Projektgruppen, klassische Arbeitsgruppen, Fertigungsteams und teilautonome Arbeitsgruppen. Die fünf Grundtypen können weiter danach eingeteilt werden, inwieweit die Gruppenarbeit in der Aufbauorganisation verankert ist. Gruppenarbeit kann demnach als integrierter Bestandteil der regulären Arbeitsorganisation eine dauerhafte Zusammenarbeit erfordern. Zu den dauerhaft in
der Organisationsstruktur verankerten Gruppenarbeitsformen werden klassische Arbeitsgruppen, Fertigungsteams und teilautonome Arbeitsgruppen gezählt. Nach Högl und Gemünden (2005) werden diese unter den Arbeitsteams zusammengefasst. Gruppenarbeit kann aber auch nur lose in der Aufbauorganisation verankert sein und lediglich eine temporäre Zusammenarbeit der Mitglieder beinhalten. Letztere Formen der Gruppenarbeit sind gewissermaßen parallel zur regulären Arbeitsorganisation angelegt. Qualitätszirkel und Projektgruppen sind somit Beispiele für Arbeitsgruppen, die nicht dauerhaft in der Aufbauorganisation angelegt sind. Nach Gemünden und Högl (2005) sind hierunter insbesondere Innovationsteams zu verstehen. . Tab. 23.2 vermittelt einen Überblick zu den verschiedenen Gruppenarbeitsformen nach Antoni (1996) entsprechend ihrer Verankerung in der Organisationsstruktur. Als zusätzliche Beschreibungsdimensionen der verschiedenen Gruppenarbeitsformen können darüber hinaus Merkmale des Arbeitsauftrags bzw. der Arbeitsaufgabe herangezogen werden (Antoni, 1996). Geeignete Kriterien zur Unterscheidung von Arbeitsgruppen sind diesbezüglich 4 Art und Umfang der Entscheidungsmöglichkeiten (Grad der Autonomie), 4 Art und Umfang der Gruppenaufgaben (Vielfalt bzw. Variabilität der Tätigkeiten) und 4 das Ausmaß der aufgabenbedingten Interaktion (Kooperationsanforderungen). Zusammenfassend bleibt festzuhalten, dass die hier dargestellten Klassifikationsansätze unterschiedliche Vorzüge und Schwächen aufweisen. Zum Beispiel stützen
. Tab. 23.2. Überblick zu unterschiedlichen Formen bzw. Grundtypen der Gruppenarbeit. (Nach Antoni, 1996) Nicht in die Arbeitsorganisation integrierte, temporäre Gruppen
In die Arbeitsorganisation integrierte, dauerhafte Gruppen
4 Qualitätszirkel 4 Projektgruppen
4 4 4 4 4 4 4 4
Klassische Arbeitsgruppen Fertigungsteams Teilautonome Arbeitsgruppen Montageinseln Fertigungsinseln Servicegruppen Vertriebsinseln Produktinseln
Mit freundlicher Genehmigung von H. Antoni.
eine Änderung tayloristischer Prinzipien der Arbeitsgestaltung ausgerichtet und zielen auf einen Abbau von Hierarchie und Arbeitsteilung innerhalb und im Umfeld der Arbeitsgruppen ab. Andere Autoren (z. B. Frieling & Freiboth, 1997) erarbeiteten sehr differenzierte und umfangreiche, an der Gruppenarbeitspraxis orientierte Kategoriensysteme, die allerdings für eine übersichtliche Klassifikation von Gruppenarbeit aufgrund der Vielzahl an unterscheidbaren Merkmalen (insgesamt 43 Bewertungskriterien) weniger geeignet sind. Die in der sozialpsychologischen Gruppenforschung eingesetzten Taxonomien, die für sich genommen zur Beschreibung von Gruppenarbeit in Organisationen zu kurz greifen, bieten bei stärkerer Berücksichtigung des betrieblichen Kontexts eine vielversprechende Basis und wurden entsprechend weiterentwickelt. So unterscheiden Högl und Gemünden (2005) drei Grundformen von Gruppenarbeit: Arbeitsteams, Entscheidungsteams und Innovationsteams. Diese unterscheiden sich hinsichtlich ihrer zeitlichen Dauer und ihrer Aufgabeninhalte. 4 Arbeitsteams (z. B. teilautonome Produktionsgruppen oder Kundenserviceteams) erledigen überwiegend operative Aufgaben und sind kontinuierlich angelegt. 4 In Entscheidungsteams (z. B. Topmanagementteams oder Steuerungskomitees) überwiegen planende und dispositive Aufgaben. Diese Teams können sowohl zeitlich befristet als auch kontinuierlich zusammenarbeiten. 4 Innovationsteams (z. B. bereichsübergreifende Produkt- und Organisationsentwicklungsteams) sind häufig nur für eine bestimmte Zeit vorgesehen, wobei ihre Tätigkeiten sowohl Planungs- und Entwicklungsaufgaben beinhalten als auch die operative Realisierung der Innovationen.
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Kapitel 23 · Gruppenarbeit in der Produktion
sich die Klassifikationsansätze von Antoni (1996) bzw. Högl und Gmünden (2005) auf eine typologische Beschreibung von Gruppenarbeitsformen und differenzieren damit nicht bzw. nur ungenügend zwischen Formen der Gruppenarbeit, die sich vor allem durch unterschiedliche Merkmalsausprägungen unterscheiden. Alle Klassifikationssysteme nehmen außerdem darauf Bezug, dass verschiedene Formen von Gruppenarbeit mit unterschiedlichen Problemen und Chancen für die Gruppenmitglieder als auch die Organisation einhergehen. So sind einige Gruppenarbeitsformen im Hinblick auf die Ziele, die mit der Nutzung von Gruppenarbeit verbunden werden, vielversprechender oder zur Bewältigung bestimmter Anforderungen besser geeignet. Dabei darf allerdings nicht aus dem Blick verloren werden, dass die Wirkung und Effektivität verschiedener Gruppenarbeitsformen letztlich immer auch vom jeweiligen organisationalen Kontext abhängig ist. Dieser Aspekt wird von den genannten Klassifikationssystemen kaum berücksichtigt. 23.3
Formen der Gruppenarbeit
In Anlehnung an die Einteilung von Gruppenarbeitsformen nach Antoni werden im Folgenden die verschiedenen Formen in Hinblick auf ihre Charakteristika, Gestaltungsvoraussetzungen und -bedingungen sowie bezüglich ihrer empirischen Bewährung vorgestellt. Neben Qualitätszirkeln, Projektgruppen, teilautonomen Arbeitsgruppen, Fertigungsteams und klassischen Arbeitsgruppen werden auch betriebliche Gesundheitszirkel als eine besondere Variante der Projektgruppen beschrieben. 23.3.1
Qualitätszirkel
Das Qualitätszirkelkonzept stammt ursprünglich aus Japan und war dort entscheidend mit dafür verantwortlich, dass die Qualitätsstandards japanischer Produkte stiegen und die japanische Wirtschaft eine stabile Position im internationalen Konkurrenzkampf erreichte. Dieses Konzept wurde Anfang der 80er Jahre in deutschen, aber auch anderen westlichen Ländern übernommen und in betriebsspezifischen Varianten umgesetzt. Qualitätszirkel finden sich heute in nahezu allen Branchen, wobei ein zentraler Schwerpunkt nach wie vor im industriellen Bereich liegt. Qualitätszirkel wurden bereits 1985
von ca. 40% der umsatzstärksten Industrieunternehmen eingesetzt, 1990 waren es 50% und 1994 schließlich 56% (Antoni & Bungard, 2004). Danach stagnierte die Verbreitung und ähnliche Konzepte, z. B. in Form von KVPGruppen, gewannen an Bedeutung. KVP steht für einen kontinuierlichen Verbesserungsprozess und zielt darauf, betriebliche Arbeitsprozesse und Standards durch Mitwirkung aller Beteiligten kontinuierlich zu verbessern. Grundidee des Qualitätszirkelkonzepts ist die stärkere Einbeziehung der Mitarbeiter der ausführenden Ebenen in betriebliche Problemlösungsprozesse. In kleinen Gruppen, in der Regel 5–10 Mitarbeiter, werden Probleme und Schwachstellen im eigenen Arbeitsbereich identifiziert, Lösungsvorschläge erarbeitet und diese wenn möglich auch selbst umgesetzt sowie deren Erfolg kontrolliert. Die Gruppen werden im Problemlösungsprozess durch einen geschulten Moderator (z. B. den Meister oder einen gewählten Kollegen aus der Gruppe) unterstützt. Die Mitarbeiter treffen sich freiwillig und wählen ihre Themen in der Regel selbst aus. Produktqualität ist dabei nur ein mögliches Thema, viel häufiger geht es um Verbesserungen der Arbeitsabläufe und Zusammenarbeit, Fragen der Arbeitssicherheit oder der Arbeitsplatzgestaltung. Die Gruppe trifft sich regelmäßig (alle 2–4 Wochen) meist während der Arbeitszeit für jeweils 1–2 Stunden. Qualitätszirkel besitzen allerdings in der Regel keine oder nur eingeschränkte Entscheidungskompetenz. Sie können lediglich Verbesserungsvorschläge erarbeiten, über deren Realisierung dann von der Bereichsleitung entschieden wird. Die Mitbestimmungsmöglichkeiten liegen in der Auswahl der Inhalte und der internen Organisation der Qualitätszirkelarbeit. Die grundsätzliche Arbeitsweise eines Qualitätszirkels lässt sich anhand von 6 Schritten beschreiben (7 Kasten). Die erfolgreiche Einführung eines Qualitätszirkelkonzepts hängt von vielen Faktoren ab. Als wesentliche Erfolgsdeterminanten sind die Art der vorherrschenden Arbeitsorganisation, die Führungsstruktur und die Organisationskultur zu nennen. Da Qualitätszirkel parallel zur regulären Organisationsstruktur arbeiten und folglich auch nicht die vorhandene Funktions- und Arbeitsteilung in den Arbeitssystemen ändern, ist eine grundsätzliche Akzeptanz des Konzeptes auf Managementebene und bei den potenziellen Teilnehmern selbst essenziell. Dazu ist es insbesondere in der Startphase wichtig, dass das Management kontinuierliches Interesse und Bereitschaft zeigt, die Gruppen zu unterstützen. Ak-
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Grundsätzliche Arbeitsweise eines Qualitätszirkels in 6 Schritten (nach Strasmann, 2006) 1. Sammlung von Problemen oder Themen aus dem unmittelbaren Arbeitsbereich der Gruppe 2. Priorisierung der Probleme anhand bestimmter Kriterien (z. B. Dringlichkeit oder Kosten) 3. Genaue Beschreibung des ausgewählten Problems und Analyse möglicher Ursachen 4. Gemeinsame Erarbeitung von Lösungsvorschlägen 5. Vorlage der Lösungsvorschläge zur weiteren Entscheidung beim Unternehmens- bzw. Bereichsmanagement 6. Bei positiver Entscheidung Durchführung der Verbesserungsmaßnahme durch die Gruppe und eigenverantwortliche Überprüfung der erfolgreichen Umsetzung
zeptanz kann in diesem Fall nur durch Überzeugung der Beteiligten entstehen und wird durch frühzeitigen Erwartungs- oder Erfolgsdruck eher beeinträchtigt. Die Einführung von Qualitätszirkeln im Unternehmen löst nicht selten heftige innerbetriebliche Konflikte aus. Insbesondere das mittlere Management fühlt sich durch die Anerkennung und Aufwertung der Problemlösekompetenz der Mitarbeiter vor Ort »gefährdet«. In Unternehmen mit zentralisierten Entscheidungsstrukturen, starker Funktionsteilung und hierarchischer Führungskultur können Qualitätszirkel schnell ins Leere laufen. Die Einführung solch eines Konzepts sollte daher in eine umfassende Managementstrategie eingebunden sein und im Rahmen eines Organisationsentwicklungsprozesses eingeführt werden (auch 7 Abschn. 23.5). Die Effektivität von Qualitätszirkeln wurde im Rahmen von empirischen Studien zum einen durch Befragungen von Qualitätszirkelverantwortlichen und zum anderen anhand betrieblicher Fallstudien und quasi-experimenteller Studien untersucht. Die Befragungen von betrieblichen Experten zeigen, dass die motivationalen und sozialen Effekte, wie z. B. die Verbesserung der Zusammenarbeit, der Mitsprachemöglichkeiten, der Qualifikation und der Arbeitsbedingungen in höherem Maße realisiert werden als die häufig bei der Einführung
vorrangig beabsichtigten ökonomischen Auswirkungen, wie z. B. Verbesserung der Qualität und der Produktivität. Die Untersuchungen, die im Rahmen von betrieblichen Fallstudien zu Qualitätszirkelmodellen durchgeführt wurden (ohne Kontrollgruppen), zeigen überwiegend positive Effekte sowohl auf ökonomische als auch auf soziale Kriterien (z. B. Antoni, 1992; Bungard & Wiendieck, 1992). Die wenigen quasi-experimentellen Studien, die in der Literatur berichtet werden (z. B. Moses & Stahelski, 1999), konnten positive Auswirkungen zwischen der Teilnahme an Qualitätszirkelgruppen und Produktivitäts- sowie Arbeitszufriedenheitskriterien feststellen. In einer quasi-experimentellen Studie von Marks, Hacket, Mirvis und Grady (1986) wurden beispielsweise die Auswirkungen der Teilnahme an Qualitätszirkeln auf Einstellungen zur Qualität des Arbeitslebens und in Bezug auf ökonomische bzw. leistungsbezogene Indikatoren anhand eines Vorhernachher-Designs mit einer nicht äquivalenten Kontrollgruppe untersucht. Hierbei zeigte sich, dass Qualitätszirkelteilnehmer ihre Einschätzungen der sozialen Indikatoren im Vorher-nachher-Vergleich nicht veränderten, während sich diese Einschätzungen bei der Kontrollgruppe nach der Qualitätszirkeleinführung verschlechterten (z. B. in Bezug auf die Möglichkeiten zur Mitwirkung an Entscheidungen bei Umstrukturierungsprozessen). In Bezug auf die ökonomischen Indikatoren wurde festgestellt, dass die Qualitätszirkelteilnehmer weniger Maschinenstillstandszeiten und Ausschuss sowie mehr Teile produzierten. Das Qualitätszirkelkonzept ist kein Selbstläufer. Häufig geht der Schwung nach den ersten erfolgreich gelösten Problemen verloren. Die anfängliche Begeisterung über zusätzliche Handlungsspielräume und die tatsächlich vom Management unterstützten Lösungsvorschläge machen zunehmender Routine und möglicherweise auch Bürokratie Platz. Auf Dauer kann das Qualitätszirkelkonzept daher nur überleben, wenn es fest in die Organisationsstrukturen integriert wird und neue Einsatzpotenziale genutzt werden. Neue Einsatzperspektiven könnten sich z. B. richten auf die zielgerichtete Nutzung von Qualitätszirkeln zur Mitarbeiterqualifizierung, als funktionale Ergänzung zur täglichen Gruppenarbeit und zur Gestaltung neuer Techniken (Bungard, 1999). Die bisherigen Erfahrungen in der Praxis zeigen, dass Qualitätszirkeln oftmals eine wichtige Eisbrecherfunktion bei betrieblichen Veränderungs- bzw. Anpassungsprozessen zukommt.
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Kapitel 23 · Gruppenarbeit in der Produktion
23.3.2
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Projektgruppen und betriebliche Gesundheitszirkel
Stärker expertenorientierte Problemlösungsgruppen, die neuartige, komplexe und oftmals bereichsübergreifende bzw. gesamtbetriebliche Problemstellungen bearbeiten, werden als Projektgruppen bezeichnet. Eine besondere Variante dieses Typus, die sich auf die Bearbeitung von gesundheitsbezogenen Themen im Arbeits- bzw. betrieblichen Umfeld bezieht und darüber hinaus Elemente des Qualitätszirkelkonzepts aufweist, sind sog. betriebliche Gesundheitszirkel. Projektgruppen Projektgruppen bearbeiten meist einmalige umfangreiche Aufgaben bzw. Aufträge, die von der Unternehmensleitung vorgegeben werden. Häufig setzen sich Projektgruppen aus Experten unterschiedlicher Fachbereiche zusammen, die nicht freiwillig der Projektgruppe beitreten, sondern gezielt aufgrund ihrer Sachkompetenz ausgewählt werden. Mitglieder von Projektgruppen sind weniger Personen der unteren Hierarchieebenen, sondern in erster Linie Mitglieder der mittleren Führungsebene. Projektgruppen können im Vergleich zu Qualitätszirkeln einen größeren Kontroll- und Handlungsspielraum haben, etwa wenn verbindliche Vorschläge durch das Projektteam erarbeitet werden sollen. Das hängt natürlich wiederum von der Art des Arbeitsauftrags ab, der in der Regel eher einmalig, klar von anderen Vorhaben abgrenzbar, meist komplex und neuartig sowie mehr oder weniger dringlich ist. Der Arbeitsauftrag und das Ziel werden im Unterschied zu Qualitätszirkeln vom Management vorgegeben. In Abhängigkeit von der gewählten Projektorganisation treffen sich die Projektmitglieder entweder nur von Zeit zu Zeit oder arbeiten kontinuierlich zusammen und werden dementsprechend für die Zeit der Projektdauer, die zeitlich befristet ist, teilweise oder ganz von ihren Arbeitsaufgaben freigestellt. Die Projektorganisation und die zur Verfügung gestellten Ressourcen (z. B. Zeit, Finanzen, Personal) bestimmen wesentlich die Erwartungen an die Projektgruppe und deren Effektivität. Im Vordergrund steht die effiziente Bearbeitung eines Arbeitsauftrags, der aufgrund seines einmaligen und neuartigen Charakters nicht optimal innerhalb der regulären Arbeitsprozesse bearbeitet werden kann. Der Projektauftrag stellt dabei je nach Projektorganisation die Primäraufgabe oder eine Zusatzaufgabe der Projektmitglieder dar. Der Abschluss
eines Projekts bedeutet in der Regel auch die Auflösung der Arbeitsgruppe. Projektgruppen werden vor allem in größeren Unternehmen und hier insbesondere in den Forschungs- und Entwicklungsabteilungen eingerichtet und genutzt. In einer Erhebung von 1990 wurde ermittelt, dass 33% der befragten deutschen Betriebe mit weniger als 100 Mitarbeitern Projektgruppen einsetzen im Vergleich zu 69% der umsatzstärksten deutschen Industrieunternehmen. Bis 1994 erhöhte sich der Anteil der umsatzstärksten Unternehmen mit Projektgruppen sogar auf 90% (Antoni & Bungard, 2004). Evaluationsuntersuchungen von Projektgruppen im Bereich der Softwareentwicklung ergaben, dass die Zusammensetzung und Führung von Projektteams die Qualität der Zusammenarbeit und darüber wiederum den Teamerfolg maßgeblich beeinflusst. Effektive Teamprozesse finden sich in Projektgruppen mit sozial kompetenten Personen, die dem Gruppenziel verpflichtet sind, einen ähnlichen Wissens- und Fähigkeitsstand aufweisen und gleichberechtigt in der Gruppe sind (Högl & Gemünden, 2000). Brodbeck (2001) berichtet darüber hinaus einen positiven Zusammenhang zwischen Kommunikationsdichte und Projekterfolg in solchen Gruppen, d. h., dass durch häufigen aufgabenbezogenen Informationsaustausch die Koordination und Konsensbildung in Projektgruppen besser gelingt. Betriebliche Gesundheitszirkel Eine weitere Form der Gruppenarbeit, in der Mitarbeiter an der Optimierung der Arbeitsgestaltung im Unternehmen mitwirken, sind Gesundheitszirkel. Diese Projektgruppen werden als Teil des betrieblichen Gesundheitsmanagements eingesetzt, um die Gesundheitsförderung und den Gesundheitsschutz in Organisationen zu unterstützen (auch 7 Kap. 28). Das Ziel von Gesundheitszirkeln besteht darin, Arbeitsbelastungen zu identifizieren, vorhandene Gesundheitsressourcen zu stärken, neue zu entwickeln sowie konkrete umsetzbare Maßnahmen betrieblicher Gesundheitsförderung zu erarbeiten. Übergeordnetes Ziel ist dabei die Steigerung der Qualität der Arbeitsbedingungen, der Arbeitszufriedenheit der Mitarbeiter, aber auch die Reduktion krankheitsbedingter Fehlzeiten für das Unternehmen. Themenschwerpunkte, die von den Gesundheitszirkeln bearbeitet werden, erstrecken sich über die gesamte Bandbreite von Arbeitsbedingungen und -abläufen, die für ein gesundes Arbeiten relevant sind. Sie umfassen sowohl Aspekte der physikalischen Arbeitsumwelt als auch körperliche und
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psychosoziale Belastungen. Ende der 80er Jahre wurden zeitgleich zwei unterschiedliche Ansätze zur Gestaltung und Durchführung von betrieblichen Gesundheitszirkeln entwickelt, das »Düsseldorfer Modell« (Schröer & Slesina, 1997; 7 Kasten) und das »Berliner Modell« (Friczewski, 1994).
Merkmale von Gesundheitszirkeln nach dem Düsseldorfer Modell 4 Eine gemischte Kleingruppe von Beschäftigten, Meister, Sicherheitsfachkraft, Betriebsrat, Betriebsarzt und Betriebsleiter 4 trifft sich in regelmäßigen Abständen 4 über eine begrenzte Zeit, ca. 8- bis 10-mal; 4 die Vertreter der Beschäftigten werden von ihren Kollegen gewählt, und 4 unter Leitung eines geschulten externen Moderators 4 sollen sämtliche Arbeitsanforderungen im eigenen Arbeitsbereich, die die Beschäftigten als gesundheitlich beeinträchtigend erleben, bearbeitet und 4 Lösungsvorschläge für ihre Bewältigung durch technische, organisatorische sowie personenbezogene Maßnahmen gemeinsam entwickelt werden.
Das Düsseldorfer Modell favorisiert eine heterogene Zusammensetzung von betrieblichen Mitarbeitern unterschiedlicher Hierarchiestufen. Damit profitiert die Zirkelarbeit nicht nur von den Erfahrungen der Mitarbeiter vor Ort an den Arbeitsplätzen, sondern auch vom Fachwissen z. B. der Arbeitsschutzexperten. Zudem besteht durch die Beteiligung der Betriebsleitung nach Abschluss der Zirkelarbeit eine höhere Chance, die erarbeiteten Maßnahmen auch umzusetzen. Im Berliner Modell wird im Unterschied dazu eine homogene Zusammensetzung von Mitarbeitern einer Hierarchiestufe bevorzugt, um den Beschäftigten eine mögliche Befangenheit gegenüber der Betriebsleitung zu nehmen und eine freie Meinungsäußerung und sanktionsfreie Problembearbeitung zu ermöglichen. Ausgehend von beiden Modellen wurden in Deutschland zahlreiche Gesundheitszirkel bzw. Kleingruppen, die sich mit dem Thema Gesundheit befassen und sich
mehr oder weniger an den Grundgedanken der Gesundheitszirkelmodelle orientierten, ins Leben gerufen und verstärkt eingesetzt (Schröer & Sochert, 1997). Gemäß Ergebnissen einer repräsentativen Befragung deutscher Betriebe in den Jahren 2002 und 2004 des Instituts für Arbeitsmarktforschung konzentrieren sich Maßnahmen der betrieblichen Gesundheitsförderung allerdings vorwiegend auf größere Firmen, wobei hier lediglich 4% der befragten Unternehmen Gesundheitszirkel implementierten (Hollederer, 2007). Zur Bewertung von betrieblichen Gesundheitszirkeln liegen neben Erfahrungsberichten und Bewertungen der Zirkelarbeit durch Beteiligte oder Moderatoren auch mehr oder weniger systematische Evaluationen der Struktur-, Prozess- und Ergebnisdimensionen von Gesundheitszirkeln vor (vgl. Slesina, 2001). Eine umfangreiche Studie in diesem Bereich wurde in den Jahren 1994 bis 1997 vom Bundesverband der Betriebskrankenkassen durchgeführt, der seit 1992 mehr als 80 Gesundheitszirkelprojekte in deutschen Unternehmen unterschiedlicher Branchen und Größen realisierte und begleitete (Sochert, 1998). Im 7 Kasten »Evaluation der durch Betriebskrankenkassen geförderten Gesundheitszirkel« sind die wichtigsten Ergebnisse
zusammengefasst. Die Evaluationsergebnisse zeigen zusammengefasst, dass durch Gesundheitszirkel eine Arbeitsverbesserung im Sinne einer Belastungsreduktion und Ressourcenförderung der Mitarbeiter erreicht werden kann (Slesina, 2001). 23.3.3
Teilautonome Arbeitsgruppen
In den 90er Jahren stieg das Interesse der Industrieunternehmen an der Einführung von teilautonomen Arbeitsgruppen merklich. Während in den 70er Jahren entsprechende Pilotprojekte in Skandinavien (z. B. bei Volvo) und das deutsche Programm zur Humanisierung der Arbeit auf eine menschengerechtere Arbeitsgestaltung durch mehr Selbstbestimmung am Arbeitsplatz abzielten, stand angesichts der schwierigen wirtschaftlichen Situation zwei Jahrzehnte später vor allem eine Erhöhung der Produktivität, Qualität und Flexibilität im Vordergrund. Das Konzept der teilautonomen Arbeitsgruppen stellt aufgrund des Einsatzes neuer Technologien und der zunehmenden Kundenorientierung in der Produktion inzwischen oftmals eine funktionale Notwendigkeit dar (Ulich, 2005). Zur Verbreitung von teilauto-
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Kapitel 23 · Gruppenarbeit in der Produktion
Evaluation der durch Betriebskrankenkassen geförderten Gesundheitszirkel
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In einer groß angelegten Studie (vgl. zum Folgenden Sochert, 1998) sollte eine möglichst breite Einschätzung von Wirkungen des Gesundheitszirkelkonzeptes auf alle betroffenen Mitarbeitergruppen, auch die der nicht beteiligten Mitarbeiter, vorgenommen werden.
Untersuchungsgegenstand. 41 Gesundheitszirkelprojekte nach dem Düsseldorfer Modell in 16 verschiedenen Unternehmen (sowohl aus der Produktion als auch dem Dienstleistungsbereich), die im Zeitraum von 1995 bis 1997 vom Bundesverband der Betriebskrankenkassen durchgeführt wurden.
Evaluationsdesign und Durchführung. Die Datenerhebung erfolgte mittels standardisierter Fragebögen. Im Vordergrund standen hierbei die Struktur- und Prozessbewertung der Gesundheitszirkel. Zusätzlich wurde eine Ergebnisevaluation durchgeführt, die im Wesentlichen durch Vorher-nachher-Befragungen der Mitarbeiter der Interventionsbereiche und die Auswertung der Zirkelprotokolle realisiert wurde. Die Befragten wurden in zwei Gruppen eingeteilt, die Gruppe der aktiven Zirkelteilnehmer (N=386), die direkt an der Zirkelarbeit beteiligt waren, und die Gruppe der Mitarbeiter aus Interventionsbereichen (N=2.244), die nicht an der Zirkelarbeit beteiligt waren. Ergänzend zu den Befragungsergebnissen wurden betriebliche Informationsquellen wie z. B. Fehlzeitenstatistiken herangezogen. Beide Befragungsgruppen wurden 6 Monate nach Abschluss der regulären Zirkelarbeit nochmals befragt. Zu diesem Zeitpunkt waren bereits 60% der erarbeiteten Verbesserungsvorschläge umgesetzt worden.
nomen Arbeitsgruppen liegen allerdings nur ältere Erhebungen vor: Teilautonome Arbeitsgruppen fanden sich 1990 nur bei etwa 25% der umsatzstärksten Industrieunternehmen. Bis 1995 stieg der Anteil von teilautonomen Arbeitsgruppen auf 32% und bis zum Jahr 1999 verdoppelte er sich auf 64% (Antoni & Bungard, 2004). Merkmale teilautonomer Arbeitsgruppen Worin liegen die Besonderheiten teilautonomer Arbeitsgruppen? Im Gegensatz zu Qualitätszirkeln und Projektgruppen sind teilautonome oder sich selbst regulierende
Ergebnisse. Insgesamt wurden im Rahmen der 41 Gesundheitszirkel 1.468 beanspruchende Arbeitsaspekte sowie 2.052 Verbesserungsvorschläge identifiziert und erarbeitet, was einem Durchschnitt von 36 Belastungsaspekten und 50 Verbesserungsvorschlägen pro Zirkelgruppe entspricht. Schwerpunktmäßig wurden dabei in den Zirkelgruppen körperliche Belastungen und Belastungen durch Umgebungseinflüsse besprochen. Der größte Teil der Verbesserungsvorschläge war diesen Belastungstypen zuzuordnen. Der höchste Anteil an Umsetzungen wurde zum Befragungszeitpunkt allerdings im psychosozialen Bereich erreicht (67%), wobei 80–95% der Zirkelteilnehmer diese als bedeutsamste Arbeitsbelastungen und Verbesserungsvorschläge ansahen. Die Mehrheit der Zirkelteilnehmer aller Hierarchiestufen äußerte sich positiv hinsichtlich der Zusammensetzung der Gesundheitszirkel, der Anzahl der Treffen, der Möglichkeit einer offenen und weitgehend sanktionsfreien Kommunikation, der Besprechung wichtiger Arbeitsbelastungen, über die Anzahl und die Qualität der Verbesserungsvorschläge und der durchgeführten Änderungsmaßnahmen. Insgesamt wurden von 40–55% der befragten Mitarbeiter des Interventionsbereichs starke oder partielle Verbesserungen in sechs wesentlichen Bereichen ihrer Arbeit berichtet: soziale Unterstützung, Arbeitsmittel, Handlungsspielraum, Umgebungsbedingungen und gesundheitliche Beschwerden, wobei in den ersten drei genannten Bereichen die deutlichsten Verbesserungen erzielt werden konnten.
Arbeitsgruppen als Bestandteil der regulären Arbeitsorganisation verankert. Eine kleine Gruppe von Mitarbeitern, die konstant zusammenarbeitet, ist mehr oder weniger verantwortlich für die Erstellung eines kompletten (Teil-)Produktes oder einer Dienstleistung. Durch die Integration von indirekten Tätigkeiten, wie z. B. die Qualitätskontrolle, kleine Wartungs- und Reparaturarbeiten, Materialdisposition oder Transportarbeiten, handelt es sich für die Mitarbeiter nicht nur um eine quantitative Arbeitserweiterung (»job enlargement«), sondern auch um eine qualitative Arbeitsbereicherung (»job enrich-
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Mit freundlicher Genehmigung von H. Antoni.
23.3 · Formen der Gruppenarbeit
. Abb. 23.1. Aufgabenintegration in teilautonomen Arbeitsgruppen. (Nach Antoni, 1994)
ment«). Innerhalb der Gruppe findet ein regelmäßiger Wechsel zwischen den verschiedenen Arbeitsplätzen statt (»job rotation«). Dieser flexible Einsatz der Mitarbeiter setzt eine entsprechende Qualifizierung sowohl für direkte als auch indirekte Tätigkeiten voraus. Die angestrebte Mehrfach- bzw. polyvalente Qualifizierung hängt wiederum von der Heterogenität der einzelnen Teilaufgaben sowie von den Fähigkeiten der Mitarbeiter ab. Je homogener die Teilaufgaben desto größer ist prinzipiell die Einsatzflexibilität der Gruppenmitglieder. Die Gesamtzahl der Tätigkeiten, die ein Mitarbeiter einer Gruppe ausführen kann, nimmt also zu. Dennoch können die Tätigkeiten an den einzelnen Arbeitsplätzen stark arbeitsteilig organisiert sein. Daher ist es entscheidend, den tatsächlichen Handlungsspielraum der Mitarbeiter im Sinne ganzheitlicher Aufgaben zu vergrößern. . Abb. 23.1 verdeutlicht, in welcher Form und in welchem Ausmaß indirekte Tätigkeiten in die Verantwortung der Gruppe integriert werden können. Ein entscheidendes Kennzeichen teilautonomer Arbeitsgruppen ist, dass die Planung, Steuerung und Kontrolle der übertragenen Aufgaben zumindest teilweise selbst durchgeführt wird. Die bereits angesprochene Funktionsintegration stellt eine Möglichkeit hierzu dar,
die Erweiterung von Möglichkeiten zur Selbstregulation der Gruppe eine weitere. Das kann sich beispielsweise auf die Planung der Arbeitszeiten, die interne Arbeitsverteilung, die Feinsteuerung von Fertigungsaufträgen oder die Optimierung von Arbeitsabläufen beziehen (Frieling & Freiboth, 1997). Die Selbstregulation der Gruppe hängt allerdings von den tatsächlichen Freiheitsgraden bei der Auftragsausführung ab. Hier ist insbesondere die technische Verkopplung mit vor- und nachgelagerten Gruppen entscheidend. Je unabhängiger die Gruppen voneinander sind bzw. je größer die technische und organisatorische Teilautonomie ist, desto größer ist für die Gruppen der Spielraum zur Selbstregulation. Eine Möglichkeit zur gemeinsamen Planung und Koordination bieten Gruppensitzungen. Diese werden regelmäßig (z. B. wöchentlich) oder bei Bedarf abgehalten und können darüber hinaus auch aktuelle technische, organisatorische oder zwischenmenschliche Probleme zum Thema haben. Ähnlich wie in Qualitätszirkelgruppen können diese Besprechungen zur Verbesserung der Qualität der Arbeit genutzt werden. Im Unterschied zu Qualitätszirkeln besitzen teilautonome Arbeitsgruppen jedoch Entscheidungskompetenzen. Ergänzend können innerhalb der Gruppe oder auch
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Kapitel 23 · Gruppenarbeit in der Produktion
gruppenübergreifend Probleme in Qualitätszirkeln bearbeitet werden. Die interne und externe Koordination teilautonomer Arbeitsgruppen erfolgt durch einen Gruppensprecher, der entweder von der Gruppe selbst gewählt oder vom Management und Betriebsrat vorgeschlagen wird. Der Gruppensprecher ist Ansprechpartner für den Vorgesetzten und für andere Gruppen und moderiert in der Regel auch die Gruppensitzungen. Die Einführung teilautonomer Arbeitsgruppen im Unternehmen hat weitreichende Auswirkungen auf die vertikale und horizontale Funktions- und Arbeitsteilung. Durch die Integration indirekter Funktionen in das Aufgabenspektrum der teilautonomen Arbeitsgruppen ändern sich Aufgaben und Strukturen der »indirekten« Abteilungen, wie z. B. der Qualitätssicherung und der Arbeitsvorbereitung. Aber auch das bisherige Führungsverständnis, die Führungsaufgaben und die Führungsstruktur unterliegen Veränderungen. Einzelne Führungspositionen können dabei komplett wegfallen, wie z. B. im Fall der Vorarbeiter. Die Führungsaufgaben von Meistern oder Gruppenleitern verändern sich. Insgesamt ist aufgrund der eigenverantwortlichen Aufgabenausführung und der Selbstregulation der Gruppe eine zielorientierte und partizipative Führung erforderlich (Antoni, 1996; Wegge, 2004); d. h., die Mitarbeiter bzw. Gruppen werden anhand von Zielvereinbarungen geführt und wirken bei Entscheidungen in Bezug auf ihre Arbeitssysteme mit. Eine zielorientierte partizipative Führung sollte nicht nur auf Gruppenebene realisiert werden, sondern im gesamten Management. Die Einführung von teilautonomen Arbeitsgruppen funktioniert somit nicht als Insellösung innerhalb einzelner Abteilungen und sollte daher als gesamtbetrieblicher Organisationsentwicklungsprozess gestaltet werden (7 Abschn. 23.5).
um 11 Kriterien, von denen 10 auf Gruppen- und eines auf Individualebene angesiedelt sind (7 Kasten »Kriterien für die Autonomie von Arbeitsgruppen«).
Autonomiegrade teilautonomer Arbeitsgruppen Ein besonderes Kennzeichen teilautonomer Arbeitsgruppen ist die Selbstregulation der Gruppe. Das Ausmaß, in dem eigenständig Ziele bzw. Teilziele gesetzt werden können, Planungs- und Dispositionsfunktionen übernommen und gemeinsam Entscheidungen getroffen werden können, kann zwischen teilautonomen Arbeitsgruppen allerdings erheblich differieren. Dazu wurden Kriterienkataloge entwickelt, die eine Einordnung konkreter Entscheidungs- bzw. Autonomieaspekte und -grade für die jeweilige Gruppe ermöglichen. Am bekanntesten in diesem Zusammenhang sind die Autonomiekriterien von Gulowsen (1972). Es handelt sich dabei
Kriterium auf Individualebene 4 Die einzelnen Gruppenmitglieder entscheiden, wie die von ihnen zu erledigenden Aufgaben auszuführen sind.
Kriterien für die Autonomie von Arbeitsgruppen (nach Gulowsen, 1972) Kriterien auf Gruppenebene 1. Die Gruppe hat Einfluss auf die für sie geltenden Zielvorstellungen a) hinsichtlich qualitativer Aspekte, b) hinsichtlich quantitativer Aspekte. 2. Innerhalb der übergeordneten Rahmenbedingungen kann die Gruppe entscheiden, a) wo sie arbeitet, b) wann sie arbeitet (z. B. Überstundenregelungen, Freistellungen), c) welche zusätzlichen Tätigkeiten übernommen werden. 3. Die Gruppe entscheidet über die Wahl der Produktionsmethode, insofern Alternativmethoden vorhanden sind. 4. Die Gruppe entscheidet über die interne Aufgabenverteilung, insofern Alternativen zur Verfügung stehen. 5. Die Gruppe entscheidet über die Fragen der Mitgliedschaft. 6. Die Gruppe entscheidet in Führungsfragen, a) ob sie in Bezug auf gruppeninterne Vorgänge einen Leiter haben will und wer das sein soll, b) ob sie zur Regelung von gruppenexternen Vorgängen einen Leiter haben will und wer das sein soll.
Gulowsen (1972) nahm dabei eine hierarchische Abhängigkeit der Kriterien an. Er ging davon aus, dass Gruppen langfristig bindende Entscheidungen nicht fällen können, wenn sie nicht auch kurzfristige Entscheidungen treffen können und dass Entscheidungen auf höheren Systemebenen Entscheidungsbefugnisse auf niedrigeren Ebenen voraussetzen. Auch wenn die angenommene
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hierarchische Reihenfolge kritisiert wurde und bisher nicht empirisch bestätigt werden konnte, sind die Gulowsen-Kriterien nach wie vor eine zentrale Grundlage zur Beschreibung und Bewertung von Autonomieaspekten bei Arbeitsgruppen, die darüber hinaus eine Reihe von Weiter- und Neuentwicklungen ausgelöst haben (Ulich, 2005; Weber, 1997). In der Praxis zeigt sich allerdings, dass von den theoretischen Möglichkeiten zur Selbstregulation nur ein kleiner Teil genutzt wird und sich dieser überwiegend auf Entscheidungen innerhalb des Arbeitssystems der Gruppen bezieht. Gestaltungsansatz für teilautonome Arbeitsgruppen Das Konzept der teilautonomen Arbeitsgruppen ist eng mit dem soziotechnischen Systemansatz verknüpft. Dieser Ansatz bezieht sich sowohl auf die Organisation als Ganzes als auch auf die Gruppen- und Individualebene und berücksichtigt in besonderem Maße die Wechselwirkungen zwischen sozialen und technischen Komponenten von Arbeitssystemen. Unternehmen werden dabei als komplexe offene soziale und technische Systeme verstanden. Das soziale Teilsystem umfasst die Beschäftigten mit ihren individuellen Qualifikationen und Bedürfnissen. Das technische Teilsystem umfasst die Betriebsmittel, Maschinen und Anlagen sowie räumliche Gegebenheiten. Die Verknüpfung der Teilsysteme erfolgt durch die Arbeitsrollen der Beschäftigten. Die Rollen repräsentieren somit die im Produktionsprozess wahrzunehmenden Funktionen und kennzeichnen gleichzeitig die Kooperationsanforderungen zu Kollegen, Vorgesetzten und Mitarbeitern. Unternehmen und ihre Organisationseinheiten werden durch unterschiedlichste und teilweise nur schwer vorhersehbare interne und externe Einflüsse bzw. Schwankungen beeinflusst. Um mit solchen Einflüssen und Veränderungen erfolgreich und effizient umzugehen, sind Organisationseinheiten zu schaffen, die sich weitgehend selbst regulieren können. Diese können internen und externen Systemschwankungen (z. B. in Form von veränderten Kundenansprüchen) flexibler und besser begegnen als zentral gesteuerte Organisationseinheiten. Sie sollten daher eine gewisse technische und arbeitsorganisatorische Unabhängigkeit besitzen und die gemeinsame Verantwortung für eine möglichst ganzheitliche Aufgabe übernehmen, für die sie auch mit den erforderlichen Entscheidungskompetenzen ausgerüstet sind. Dafür ist eine gemeinsame Optimierung des
technischen und sozialen Teilsystems notwendig (»joint optimization«; Ulich, 2005). Für die Gestaltung von teilautonomen Arbeitsgruppen bedeutet dies: 4 Die einzelnen Gruppen sollten voneinander relativ unabhängig sein. 4 Die in einer Gruppe zusammengefassten Aufgaben sollten inhaltlich zusammenhängen. 4 Die Gruppen sollten produktorientiert gebildet werden. Je unabhängiger die Gruppen insbesondere im Hinblick auf die technischen Rahmenbedingungen voneinander sind, desto weniger wirken sich Schwankungen oder Störungen in einer Gruppe auf andere Gruppen aus. Die Integration mehrerer Teilaufgaben fördert das Bewusstsein einer gemeinsamen Aufgabe. Außerdem ermöglicht die Schaffung eines inneren Aufgabenzusammenhangs eine bessere arbeitsbezogene Kommunikation und gegenseitige Unterstützung. Insbesondere eine »produktorientierte« Gruppenbildung erleichtert die Gestaltung einer entsprechenden technischen und organisatorischen Unabhängigkeit der Gruppe. Weiterhin erleichtert sie die quantitative und qualitative Zuordnung von Arbeitsergebnissen zu den einzelnen Gruppen und stellt die Grundlage für eine zielorientierte Führung dar. Bei der Einführung von teilautonomen Arbeitsgruppen werden diese Gestaltungsprinzipien jedoch häufig durch die bereits vorhandene Fertigungstechnik bzw. durch den Investitionsaufwand bei erforderlichen Veränderungen begrenzt. In Abhängigkeit von den technischen Rahmenbedingungen lassen sich verschiedene Ausprägungsformen teilautonomer Arbeitsgruppen unterscheiden. In Fertigungsinseln erfolgt die komplette Bearbeitung eines (Teil-)Produktes durch Zusammenführung aller notwendigen Maschinen und Mitarbeiter. Dieses auch als Gruppentechnologie oder Gruppenfertigung bezeichnete Fertigungskonzept strebt mithilfe der produktorientierten Anordnung der Fertigungsmittel die technische Teilautonomie der einzelnen Produktionsbereiche an. Alle zur Komplettbearbeitung notwendigen Fertigungsmittel sind räumlich und organisatorisch zusammengefasst und alle planenden und steuernden Tätigkeiten in eine Gruppe integriert. Fertigungsinseln sind demzufolge nicht nur durch eine Zusammenfassung fertigungstechnisch ähnlicher Teile gekennzeichnet, sondern auch durch eine (horizontale und vertikale) Integration von indirekten Tätigkeiten.
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Kapitel 23 · Gruppenarbeit in der Produktion
Im Montagebereich findet man darüber hinaus Montageinseln oder Produktinseln bei Gruppen mit Fertigungs- und Montagearbeiten. Insbesondere im Montagebereich ist es aufgrund des hohen Teile- und Arbeitsumfangs bei komplexeren Produkten, des damit verbundenen hohen logistischen Steuerungsaufwandes und der hohen Qualifikationsanforderungen an den einzelnen Mitarbeiter jedoch nicht immer einfach, teilautonome Arbeitsgruppen zu realisieren. Teilautonome Arbeitsgruppen finden sich auch in Dienstleistungsbereichen. Servicegruppen fassen Mitarbeiter der Arbeitsvorbereitung, der Logistik oder der Instandhaltung zusammen. Im Bereich der Auftragsabwicklung werden Mitarbeiter zur Auftragsannahme, Auftragsklärung, zum Einkauf, zur Auftragskonstruktion und Arbeitsplanung in sog. Verwaltungs-, Vertriebsoder Planungsinseln zusammengefasst. Sie bearbeiten Kundenaufträge eigenverantwortlich von der Anfrage bis zur Auslieferung. Evaluationsstudien zu teilautonomen Arbeitsgruppen Vor allem in den 1980er und 1990er Jahren wurde eine Reihe von betrieblichen Fallstudien, quasi-experimentellen Längsschnittstudien und Metaanalysen durchgeführt, in denen neben anderen Formen der Gruppenarbeit teilautonome Arbeitsgruppen hinsichtlich ihrer ökonomischen und sozialen Effekte untersucht wurden (vgl. Wall, Kemp, Jackson & Clegg, 1986; Beekun, 1989; Bettenhausen 1991; Lemke & Knauth, 1997; Schumann & Gerst, 1997; Antoni, 1997). Nach Antoni (1997) ergeben diese Studien insgesamt eine eher ernüchternde Bilanz des Forschungsstandes, da bis zu diesem Zeitpunkt überwiegend retrospektive Fallstudien zur Evaluation von teilautonomer Gruppenarbeit dominierten, und dabei wichtige Einflussgrößen sowie Wirkungsmechanismen teilautonomer Arbeitsgruppen vernachlässigt wurden. Aus diesen Forschungsergebnissen lassen sich nur wenig eindeutige Effekte teilautonomer Gruppenarbeit ablesen. Positive ökonomische und soziale Effekte teilautonomer Arbeitsgruppen werden vor allem in den betrieblichen Fallstudien erwähnt. In ausgewählten quasiexperimentellen Längsschnittstudien finden sich eher uneinheitliche oder gar widersprüchliche Effekte. Durchgängig positive Effekte konnten hier in Bezug auf die wahrgenommene Komplexität der Arbeitsaufgaben und der Arbeitszufriedenheit festgestellt werden. Einige Studien zeigten allerdings auch keine oder sogar negative
Effekte teilautonomer Gruppenarbeit (als Beispiel für eine quasi-experimentelle Untersuchung 7 Kasten »Mitarbeiterbezogene und betriebswirtschaftliche Effekte teilautonomer Gruppenarbeit in einem Automobilwerk«). In
den Metaanalysen wurden als einheitlicher positiver Befund Produktivitätssteigerungen durch teilautonome Gruppenarbeit identifiziert (vgl. Antoni, 1997). 23.3.4
Fertigungsteams und klassische Arbeitsgruppen
In den letzten Jahren haben viele Betriebe insbesondere in Montagebereichen der Automobilindustrie die Einrichtung von teilautonomen Formen der Arbeitsorganisation wieder aufgegeben und sind zum herkömmlichen Fließband zurückgekehrt (Springer, 1999). Die in diesen Arbeitssystemen auszuführenden Tätigkeiten sind wieder in hohem Maße standardisiert und durch kurze Taktzyklen gekennzeichnet. Damit hat man sich in den Unternehmen dem Konzept der japanischen Fertigungsteams deutlich angenähert, die ähnlich wie klassische Arbeitsgruppen zentrale Charakteristika der Gruppenarbeit nur in sehr eingeschränktem Maße realisieren. Beide Formen werden im Folgenden beschrieben. Daten zur Verbreitung dieser beiden Gruppenarbeitsformen liegen leider nicht vor. Klassische Arbeitsgruppen Klassische Arbeitsgruppen sind durch eine starke Funktions- und Arbeitsteilung geprägt. Die Aufgaben der Gruppenmitglieder liegen fast ausschließlich im produzierenden Bereich. Die Arbeitsverteilung, die Personalund Arbeitszeitplanung und die Kontrolle der Mitarbeiter sowie die Lösung auftretender Probleme fallen in den Verantwortungsbereich des Meisters. Unterstützende Tätigkeiten, wie z. B. Wartung und Instandhaltung sowie vor- und nachgelagerte Tätigkeiten wie z. B. Transport und Qualitätssicherung werden von anderen Funktionsbereichen übernommen. Jeder Mitarbeiter hat seine eigene Aufgabe, was den Handlungsspielraum des Einzelnen, letztlich auch den der Meister, enorm einschränkt. Im engeren Sinne kann kaum von Gruppenarbeit gesprochen werden, da weder eine gemeinsame Gruppenaufgabe noch gemeinsame Ziele bestehen. Fertigungsteams In Fertigungsteams findet sich im Vergleich zu den klassischen Arbeitsgruppen eine stärkere Integration indi-
415 23.3 · Formen der Gruppenarbeit
Mitarbeiterbezogene und betriebswirtschaftliche Effekte teilautonomer Gruppenarbeit in einem Automobilwerk Im Auftrag der Geschäftsleitung und des Betriebsrates sollte in einem Automobilwerk die Einführung teilautonomer Arbeitsgruppen in einem Pilotbereich hinsichtlich betriebswirtschaftlicher und mitarbeiterbezogener Effekte überprüft werden (vgl. zum Folgenden Lemke & Knauth, 1997).
führt. Die Vorbefragung erfolgte vor Einführung der Gruppenarbeit in der Experimental- und Kontrollgruppe, die Nachbefragung nach 13 Monaten. Insgesamt füllten 228 Mitarbeiter die Fragebögen aus, 87% davon waren auswertbar. Die betriebswirtschaftlichen Kenngrößen wurden über einen Zeitraum von 22 Monaten verfolgt.
Untersuchungsdesign. Die Untersuchung sollte un-
Ergebnisse. Die mitarbeiterbezogenen Daten wurden mittels deskriptiver Statistik, korrelations-, regressionsund varianzanalytischer Verfahren ausgewertet. Signifikante Unterschiede zwischen der Experimental- und Kontrollgruppe ergaben sich lediglich in der im positiven Sinne veränderten Wahrnehmung der Zufriedenheit mit dem sozialen Klima und den Entfaltungsmöglichkeiten. Entgegen der Erwartungen gab es keine Verbesserung der allgemeinen Arbeitszufriedenheit und der intrinsischen Arbeitsmotivation. Ein signifikanter Unterschied im negativen Sinne zeigte sich bei der Einschätzung der Zufriedenheit mit dem Vorgesetzten. Auch in der Entwicklung der betriebswirtschaftlichen Kenngrößen konnten über den Untersuchungszeitraum keine signifikanten Unterschiede zwischen Experimental- und Kontrollgruppe gefunden werden. Die Autoren führen als Erklärung für diese Ergebnisse die unzureichende Gestaltung des Einführungsprozesses der Gruppenarbeit und dabei insbesondere die mangelhafte Vorbereitung der Meister, den nur in begrenztem Maße veränderten Aufgaben- und Verantwortungsbereich sowie die unzureichende Weiterbildung der Gruppe u. a. im Bereich der sozialen Kompetenzen an.
ter kontrollierten Bedingungen erfolgen. Dazu wurden die Mitarbeiter in einem Zweischichtbetrieb in eine Experimentalgruppe und Kontrollgruppe eingeteilt. Nur für die Experimentalgruppe wurde die Arbeitsorganisationsform auf Gruppenarbeit umgestellt. Die Arbeitsplätze und Arbeitstätigkeiten blieben weitestgehend konstant. Merkmale der Arbeitsorganisation, die sich für die Experimentalgruppe änderten, lagen vor allem in der Führungsorganisation und der Selbstverwaltung. Darüber hinaus wurde in begrenztem Maße eine Aufgabenrotation eingeführt und die Meister für die neue Aufgabe als Gruppensprecher und »Dienstleister« der Gruppe qualifiziert. Zur Erfassung der mitarbeiterbezogenen Effekte der Interventionen wurde der »Job Diagnostic Survey« (Hackman & Oldham, 1975) verwendet. Zur Erfassung betriebswirtschaftlicher Effekte wurde zusätzlich der Krankenstand, die Rückläuferquoten von Fahrzeugen sowie Kenngrößen der Produktivitäts- und Leistungsrechnung erhoben.
Durchführung. Insgesamt wurden zwei Befragungen im Sinne einer Vorher-nachher-Untersuchung durchge-
rekter Funktionen in den Produktionsbetrieb. Dieses Gruppenarbeitskonzept, welches insbesondere in japanischen Unternehmen (z. B. Toyota) praktiziert wird, löst sich nur teilweise von tayloristischen Prinzipien der Arbeitsorganisation. Es finden sich nach wie vor die taktgebundene Fließbandfertigung und sehr kurze Arbeitszyklen. Die Variabilität der Arbeitsaufgaben ist im Vergleich zu klassischen Arbeitsgruppen größer, insofern von jedem Mitarbeiter erwartet wird, dass er mehrere Stationen am Band beherrscht. Dennoch bleibt der gesamte Arbeitsumfang auch bei Mitarbeitern, die für alle Stationen qualifiziert sind, aufgrund der kurzen
Taktzeiten insgesamt meist unter 20 Minuten. Neben den produktionsbezogenen Aufgaben ist jeder Mitarbeiter für die Qualität seiner Arbeit und die der Gruppe verantwortlich. Die erwartete strikte Einhaltung der vorgegebenen Arbeitsstandards führt zu einer genau vorgeschriebenen Ausführung jedes einzelnen Arbeitsschrittes. Werden Fehler in der eigenen Arbeit oder der eines anderen Teammitgliedes festgestellt, so sind diese möglichst selbst zu beheben. Die Rolle des Meisters ist durch einen wesentlich größeren Verantwortungs- und Kompetenzbereich gekennzeichnet. So ist der Meister nicht nur für die Einteilung der Mitarbeiter zu den einzelnen
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Kapitel 23 · Gruppenarbeit in der Produktion
Arbeitsstationen und die Bestimmung der Teamleiter verantwortlich, sondern ebenfalls für die Ausbildung und Lohneinstufung, die Arbeits- und Prozessgestaltung und die Überwachung der festgelegten Arbeitsstandards. Die vorgeschriebene Einhaltung der Arbeitsstandards und -abläufe verbunden mit der weitgehenden Beseitigung von zeitlichen Puffern im Produktionsprozess erhöht den Druck zur kontinuierlichen Verbesserung auf den Einzelnen und verdeutlicht die entschiedene Verfolgung der Unternehmensziele mithilfe dieses Vorgehens. Fertigungsteams lassen sich nach Schumann und Gerst (1997) als strukturkonservative Form der Gruppenarbeit bezeichnen. Auch hier stellt sich die Frage, inwieweit tatsächlich von Gruppenarbeit gesprochen werden kann, da jeder Mitarbeiter hauptsächlich für die ihm übertragene Aufgabe verantwortlich ist und die Steuerung der Arbeitsgruppe durch den Teamleiter bzw. Meister erfolgt. Sowohl in klassischen Arbeitsgruppen als auch in Fertigungsteams bleibt die kooperative inhaltliche Bearbeitung einer Aufgabe (z. B. die gemeinsame Lösung eines Problems) auf die Arbeit in begleitenden Qualitätszirkeln beschränkt. Fertigungsteams stellen die typische Form der japanischen Gruppenarbeit, wie sie z. B. bei Toyota praktiziert wird, dar. Im Gegensatz zu teilautonomen Arbeitsgruppen sind Fertigungsteams Teil einer umfassenden Managementstrategie, für die der Begriff »lean production« geprägt wurde (Womack et al., 1991). . Tab. 23.3 zeigt in zusammengefasster Form die Unterschiede der beiden zum Teil sehr kontrovers diskutierten Konzepte. Besonders hervorzuheben ist, dass bei Fertigungsteams viele Merkmale der tayloristischen Arbeitsgestaltung erhalten bleiben, wie z. B. die starke Arbeitsteilung, die hohe Arbeitsstandardisierung und die Fließbandmontage. Eine technische und somit auch organisatorische Teilautonomie ist nicht gegeben. Durch das Just-in-Time-Fertigungsprinzip, d. h. nur genau die Arbeiten durchzuführen und Teile zu liefern, die für den nächsten Arbeitsschritt benötigt werden und dadurch keine Material- und Zeitpuffer entstehen zu lassen, wird die sequenzielle Abhängigkeit der Arbeitsplätze in den Gruppen als auch zwischen den Gruppen weiter erhöht. Unterschiede zeigen sich außerdem in der Führungsstruktur der Gruppen. Während bei teilautonomen Arbeitsgruppen die Teamleiter viele Aufgaben und Entscheidungen, wie z. B. Arbeitsverteilung oder Urlaubsregelung, an die Gruppe delegieren, übernehmen dies bei Fertigungsteams die
. Tab. 23.3. Unterschiede zwischen Fertigungsteams und teilautonomen Arbeitsgruppen. (Mod. nach Antoni, 1996) Fertigungsteams
Teilautonome Arbeitsgruppen
Fließband
Boxenfertigung, Fertigungsinseln
Hohe Abhängigkeit zwischen den Teams
Geringe Abhängigkeit zwischen den Gruppen/Arbeitssystemen
Just-in-Time-Fertigung, geringe Zeitpuffer
Gewährung von Material- und Zeitpuffern
Hohes Ausmaß an Arbeitsteilung
Geringes bis mittleres Ausmaß an Arbeitsteilung
Fokus auf »job enlargement«
Fokus auf »job enlargement« und »job enrichement«
Hohes Ausmaß an Arbeitsstandardisierung
Hohe individuelle und kollektive Freiheitsgrade bei der Arbeit
Meister steuern das Team
Meister als Coach
Teamleiter wird von oben bestimmt
Gewählter Gruppensprecher
Hohes Ausmaß der Arbeitskontrolle
Fokus auf Mitarbeiterpartizipation
Unternehmensziele stehen im Vordergrund
Ausgleich zwischen mitarbeiterund unternehmensbezogenen Zielen
Hoher Leistungsdruck
Vereinbarte Leistungsziele/ -grenzen
Meister. Der zentralen Rolle der Meister in der Führung und Steuerung von Fertigungsteams steht die eher koordinierende Funktion der Gruppensprecher in teilautonomen Arbeitsgruppen gegenüber. Gemeinsam ist beiden Konzepten die angestrebte, zumindest partielle Integration indirekter Funktionen, wie z. B. Qualitätssicherung oder Instandhaltung oder auch die vorgesehene polyvalente Qualifikation der Mitarbeiter und der damit verbundene Arbeitswechsel. Allerdings bleibt dies bei Fertigungsteams oft auf das Beherrschen mehrerer eher kurzzyklischer Tätigkeiten begrenzt, die nicht mit den ganzheitlichen Arbeitsaufgaben von teilautonomen Arbeitsgruppen zu vergleichen sind. Letztlich steht bei den Fertigungsteams die Leistungsmaximierung eindeutig im Vordergrund, was sich in einem enormen Leistungsdruck und Stress aufseiten der Mitarbeiter niederschlägt. Dagegen spielen bei teilautonomen Arbeitsgruppen im Sinne eines Interessensaus-
Mit freundlicher Genehmigung von H. Antoni.
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417 23.4 · Leistungsdeterminanten der Gruppenarbeit
gleichs auch soziale Kriterien bei der Arbeitsgestaltung eine Rolle. 23.4
Leistungsdeterminanten der Gruppenarbeit
In den Anfängen der arbeits- und organisationspsychologischen Forschung zur Gruppenarbeit ging es vor allem darum, Gruppenprozesse hinsichtlich ihrer Wirkung auf das Denken und Verhalten des Individuums zu untersuchen. Faktoren wie Arbeitszufriedenheit und Arbeitsmotivation standen hierbei im Vordergrund. Mit der zunehmenden Verankerung der Gruppenarbeit als einer Erfolgsgröße im Unternehmen verlagerte sich der Schwerpunkt des Forschungsinteresses weg von den Gruppenprozessen hin zur Betrachtung von (wirtschaftlichen) Ergebnissen der Arbeitsform Gruppenarbeit. Die zentrale Frage war nun, wie man die Leistung einer Arbeitsgruppe erhöhen kann, was zwangsläufig zu einer intensiven Beschäftigung mit den Bedingungen erfolgreicher Gruppenarbeit führte (Kleinbeck & Schmidt, 2004). Gruppenmerkmale und -prozesse wurden nun unter dem Gesichtspunkt, wie sie das Ergebnis der Gruppenarbeit als wirtschaftlichen Faktor beeinflussen, betrachtet. Es entstanden verschiedene Modelle, in denen die Faktoren beschrieben wurden, durch die sich erfolgreiche von nicht erfolgreichen Gruppen unterscheiden (Campion, Medsker & Higgs, 1993; Guzzo & Dickson, 1996; Hackman, 1987; Shea & Guzzo, 1987; Tannenbaum, Beard & Salas, 1992; Brodbeck, 2004). Definition von Gruppenleistung Um die Determinanten von Gruppenleistung identifizieren zu können, muss man sich zunächst fragen, was unter Gruppenleistung bzw. erfolgreicher Gruppenarbeit zu verstehen ist. Dies gestaltet sich im Hinblick auf die einschlägige Forschungsliteratur nicht einfach, denn dort findet man eine verwirrende Vielzahl von Begrifflichkeiten und Definitionen. So werden Termini wie Output, Produktivität, Leistung, Effizienz und Effektivität im Zusammenhang mit Gruppenarbeit häufig nicht klar voneinander abgegrenzt und oftmals auch synonym verwendet. In der arbeits- und organisationspsychologischen Forschungsliteratur findet man darüber hinaus Begriffsbestimmungen, die sich etwas von den klassischen wirtschaftswissenschaftlichen Definitionen unterscheiden.
So definieren Pritchard und Watson (1992) Effizienz als das Verhältnis von Inputs, die zur Bewältigung einer Aufgabe aufgewendet werden gegenüber den Outputs, den Arbeitsergebnissen, beispielsweise die Anzahl der Platinen, die eine Arbeitsgruppe herstellt im Verhältnis zu den dafür aufgewendeten Arbeitsstunden. Effektivität einer Arbeitsgruppe hingegen bezeichnen die Autoren als das Verhältnis von Output relativ zu den Zielvorgaben bzw. Erwartungen, beispielsweise die Anzahl der tatsächlich hergestellten Platinen im Verhältnis zur erwarteten oder vorgegebenen Anzahl. Produktivität definieren Pritchard und Watson (1992) als das Verhältnis von Outputs einer Arbeitsgruppe relativ zu den aufgewendeten Inputs, zu den Zielen oder zu beidem. Definition Hackman (1987) definiert den Begriff der Effektivität, indem er drei Kriterien für den Erfolg einer Arbeitsgruppe nennt: 4 Das Gruppenergebnis muss die Leistungsstandards der Personen erfüllen oder übertreffen, die dieses Ergebnis erhalten oder beurteilen. 4 Die sozialen Prozesse bei der Gruppenarbeit erhalten oder fördern die Fähigkeit der Gruppenmitglieder, auch bei künftigen Aufgaben zusammenzuarbeiten. 4 Die Erfahrung der Gruppenarbeit sollte die Bedürfnisse der einzelnen Gruppenmitglieder mehr befriedigen als frustrieren.
Diese Definition von Effektivität ist die in der Literatur wohl am häufigsten zitierte und entstand im Zusammenhang mit der Entwicklung des Modells zur Effektivität von Gruppenarbeit durch Hackman (1987). Hierbei handelt es sich um ein normativ orientiertes Rahmenmodell, was drei große Variablengruppen unterscheidet: Inputvariablen, Prozessvariablen und Outputvariablen. Die Outputvariablen beziehen sich auf die oben genannten Effektivitätskriterien: Gruppenleistungen, Fähigkeit der Gruppe zur Zusammenarbeit und Wohlbefinden der Gruppenmitglieder in der Gruppe. Auf die Effektivitätskriterien wirken unmittelbar die Prozessvariablen, die durch die Anstrengungsbereitschaft, das Wissen und die Fertigkeiten der Gruppenmitglieder sowie ihre Strategien bei der Aufgabenbearbeitung charakterisiert sind. Den Status von Inputvariablen, die wiederum auf die Prozessvariablen wirken, haben in diesem
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Kapitel 23 · Gruppenarbeit in der Produktion
Modell Merkmale des organisationalen Kontexts (insbesondere das Belohnungs-, Ausbildungs- und Informationssystem für die Gruppe) und das Gruppendesign (z. B. die Gestaltung der Gruppenaufgabe und die Zusammensetzung der Gruppe). Weitere Einflussgrößen der Gruppeneffektivität sind u. a. die vorhandenen materiellen, technischen und finanziellen Ressourcen, die im Sinne moderierender Einflüsse wirken; d. h., nur bei angemessener Bereitstellung entsprechender Ressourcen sind auch gute Gruppenleistungen zu erwarten. Im Vergleich zur frühen, eher deskriptiven Forschung zur Gruppenarbeit rückt hier die Frage in den Vordergrund, welche Bedingungen des Gruppenhandelns als zielgerichteter Prozess zu ganz bestimmten Arbeitsergebnissen führen und an welcher Stelle man eingreifen kann, um die Effektivität der Gruppe im Sinne der oben genannten Definition zu steigern (Kleinbeck & Schmidt, 2004). Wichtig hierbei ist, dass damit nicht nur Arbeitsergebnisse im Sinne von bezifferbaren Outputs der Gruppe gemeint sind, sondern auch Aspekte des persönlichen Wohlbefindens bzw. der Bedürfnisbefriedigung einzelner Gruppenmitglieder durch die Zusammenarbeit in der Gruppe. Determinanten der Gruppeneffektivität Das Modell von Hackman (1987) ist nicht das einzige, welches sich mit den konkreten Bedingungen von erfolgreicher Gruppenarbeit beschäftigt. Antoni und Bungard (2004) unterscheiden zwei Richtungen von Modellen der Gruppeneffektivität: soziotechnische Ansätze der Gruppenarbeit und sozial-/motivationspsychologische Ansätze. In beiden Richtungen werden Prozesse sowie der Input und der Output einer Gruppe hinsichtlich möglicher Bedingungsfaktoren der Gruppeneffektivität untersucht (Input-Prozess-Output-Modelle). Die soziotechnischen Modelle sind eng mit der Entstehung des Konzeptes der teilautonomen Arbeitsgruppen verbunden, wobei die Selbstregulation der Gruppe die zentrale Prozessvariable der Gruppeneffektivität darstellt. Die Annahme ist, dass Organisationen offene Systeme sind, die im Austausch mit der Umwelt stehen und sich Umweltveränderungen anpassen müssen, um die Transformation von Input zu Output erfolgreich zu bewältigen. Diese Anpassung gelingt Organisationen mit sich selbst regulierenden Organisationseinheiten besser. Damit eine Arbeitsgruppe sich erfolgreich selbst regulieren kann, sind wiederum bestimmte Bedingungen des sozialen und des technischen
Systems notwendig. Wichtige Einflussfaktoren auf die Effektivität einer Gruppe sind somit z. B. Merkmale der Gruppe, Merkmale der einzelnen Person, Art der Gruppenarbeit sowie organisationale und technische Rahmenbedingungen. Die sozial- und motivationspsychologischen Ansätze der Gruppeneffektivität hingegen knüpfen an die sozialpsychologische Grundlagenforschung und die motivationspsychologische Forschung an. Hierunter fällt auch das Modell der Gruppeneffektivität von Hackman (1987). Wichtige Prozessvariablen sind hier z. B. Anstrengungsbereitschaft, Wissen und Kenntnisse der Mitarbeiter sowie Strategien der Aufgabenbewältigung. Zu den Input-Variablen gehören das Gruppendesign, der organisationale Kontext der Gruppe sowie Synergieeffekte. Ein »Metamodell« der Gruppeneffektivität Campion, Medsker und Higgs (1993) versuchten, die Erkenntnisse aus einschlägigen Modellen zur Gruppeneffektivität in einem konzeptuellen Rahmenmodell zu integrieren. Die Autoren betonen, dass Gruppeneffektivität durch beides, Aspekte der Produktivität und der Mitarbeiterzufriedenheit, definiert ist. Sie fassen die in den Modellen untersuchten Bedingungsfaktoren der Gruppeneffektivität in 5 große Bereiche zusammen: 1. Arbeits-/Aufgabengestaltung, 2. Interdependenzen in der Gruppe, 3. Zusammensetzung der Gruppe, 4. Kontext der Gruppe, 5. Gruppenprozess. Den Bereichen sind jeweils 3–5 einzelne Gruppencharakteristika zugeordnet. Darüber hinaus werden 3 Effektivitätskriterien benannt (Produktivität, Zufriedenheit der Gruppenmitglieder und Beurteilung der Gruppe durch die Organisationsführung), auf die diese Charakteristika wirken (vgl. . Abb. 23.2). Diese 5 Bereiche mit insgesamt 19 Charakteristika wurden von Campion et al. (1993) mittels Korrelationsund Regressionsanalysen bei 80 Arbeitsgruppen dahingehend überprüft, ob sie wirksame Determinanten der Gruppeneffektivität in Bezug auf die genannten subjektiven und objektiven Effektivitätskriterien darstellen. Die Ergebnisse zeigen, dass die untersuchten Charakteristika sich als wirksame, wenn auch unterschiedlich starke Determinanten von Gruppeneffektivität herausstellten. Die Merkmale der Arbeits- und Aufgabengestal-
419 23.4 · Leistungsdeterminanten der Gruppenarbeit
. Abb. 23.2. Das integrative Modell der Gruppeneffektivität von Campion et al. (1993)
Mit freundlicher Genehmigung der Blackwell Publishing Ltd.
tung (die sich an die Aufgabenmerkmale des Job Characteristics Model von Hackman und Oldham anlehnen; 7 Kap. 21) erwiesen sich mit Ausnahme der Wahrnehmung von Ganzheitlichkeit bei der Gruppenaufgabe als brauchbare Pädiktoren der Gruppeneffektivitätskriterien. Bei den Interdependenzmerkmalen, d. h., ob die individuellen Aufgaben, Ziele und Rückmeldungen auch ausreichend in Bezug zur übergeordneten Gruppenaufgabe bzw. dem Gruppenziel stehen, korrelierte vor allem »interdependentes Feedback und Belohnung« mit dem Kriterium »Zufriedenheit der Gruppenmitglieder«. Die Merkmale zur Zusammensetzung der Gruppe korrelier-
ten insbesondere mit der »Beurteilung der Gruppe durch die Organisationsführung«, aber teilweise auch mit den beiden anderen Effektivitätskriterien. Bei den Kontextmerkmalen (insbesondere Art des Gruppentrainings und Unterstützung durch die Organisationsführung) konnten Zusammenhänge vor allem mit den Managementbeurteilungen und dem Zufriedenheitskriterium festgestellt werden. Als sehr bedeutsame Prädiktoren stellten sich außerdem die Prozessmerkmale Teamgeist und Teilen der Arbeitsbelastung heraus, die insbesondere mit dem Produktivitätskriterium und der Managementbeurteilung korrelierten.
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Kapitel 23 · Gruppenarbeit in der Produktion
Es würde den Rahmen dieses Kapitels sprengen, auf alle in den einschlägigen Modellen genannten Determinanten der Gruppeneffektivität ausführlich einzugehen (hierzu auch 7 Kap. 8). Alternativ sollen daher im Folgenden einige Bedingungsfaktoren näher erläutert werden, die im Zusammenhang mit Problemen der Gruppenarbeit verstärkt untersucht wurden. Zusammensetzung der Gruppe und Gruppenkohäsion In verschiedenen Studien konnte gezeigt werden, dass die Heterogenität einer Gruppe ein wichtiger Bedingungsfaktor für deren Effektivität ist, allerdings in Abhängigkeit davon, welche Aspekte der Heterogenität man betrachtet (vgl. Campion et al, 1993; Antoni & Bungard, 2004). Vor allem bei einer hohen Aufgabendiversität und Entscheidungsaufgaben erzielt eine heterogen zusammengesetzte Gruppe (in Bezug auf die Erfahrungen und Fähigkeiten der Gruppenmitglieder) bessere Leistungen. Heterogenität, insbesondere bezogen auf die Einstellungen, Persönlichkeit, Werte und Zielvorstellungen der einzelnen Mitarbeiter, kann allerdings auch zu einer geringeren Gruppenkohäsion, einer schlechteren Kommunikation und geringerer Arbeitszufriedenheit führen. So kann z. B. eine unterschiedliche Interpretation des Gruppenziels, die unterschiedliche Einstellung zu Gruppenarbeit sowie eine unterschiedliche Arbeitsmotivation und Gewissenhaftigkeit zu Problemen innerhalb der Gruppe führen, die sich wiederum in geringeren Leistungen widerspiegeln. Nach Kleinbeck und Schmidt (2004) ist daher darauf zu achten, dass bei der Zusammensetzung der Arbeitsgruppe die kognitiven, fachlichen und sozialen Kompetenzen der Mitarbeiter genauso wie deren Persönlichkeitsmerkmale und Motive der Gruppenaufgabe entsprechen. Eine gut funktionierende Gruppe, die durch die richtige Zusammensetzung eine hohe Gruppenkohäsion aufweist, kann in Bezug auf die Unternehmensziele dennoch wenig effektiv sein. Die Gefahr einer hohen Gruppenkohäsion besteht vor allem in dem Phänomen des »Groupthink«, d. h., dass sich die Gruppe gegen Einflüsse von außen, die das Gleichgewicht der Gruppe stören könnten, abgrenzt (7 Kap. 8). Dies kann dazu führen, dass Entscheidungsprozesse der Gruppe nur noch schwer kontrollierbar und korrigierbar sind, dass neue Mitglieder sich nur schwer in die Gruppe integrieren lassen und dass sich die Ziele der Gruppe nicht mehr mit den Zielen des Unternehmens decken.
Gestaltung der Arbeitsaufgabe Die Arbeitsaufgabe ist ein zentraler Faktor der Gruppenarbeit. Durch die Arbeitsaufgabe werden Ziele definiert sowie Arbeitsprozesse, Rollen und Verantwortlichkeiten festgelegt. Die Gestaltung der Arbeitsaufgabe kann einen wesentlichen Einfluss auf die Effektivität der Gruppe haben, wenn sie auf die Merkmale der Gruppe, wie kognitive, fachliche und soziale Leistungsfähigkeit der einzelnen Mitglieder, abgestimmt ist und auch bestimmte Motivierungspotenziale beinhaltet. Diese Motivierungspotenziale zielen auf die Befriedigung bestimmter Motive der Mitarbeiter ab und können sich z. B. auf das Bedürfnis nach einer verantwortungsvollen, vollständigen und kognitiv anspruchsvollen Arbeit beziehen, aber auch auf Spaß, Vergnügen und Interesse an der Tätigkeit (Wegge, 2004). Bietet die Arbeitsaufgabe diese Möglichkeit der Bedürfnisbefriedigung, beeinflusst sie wesentlich den Zielsetzungsprozess der Gruppe. Dies kann sich auch auf die Stärke der Zielbindung auswirken (Kleinbeck & Schmidt, 2004). In einer Metaanalyse von Mullen und Cooper (1994) konnte gezeigt werden, dass der Zusammenhang von Gruppenkohäsion und Arbeitsleistung wesentlich von der Attraktivität der Gruppenaufgabe beeinflusst wird. Gruppen, die eine hohe Kohäsion aufweisen, sind vor allem deshalb effektiver, weil sie sich schwierigere Leistungsziele setzen und sich diesen Zielen auch stärker verbunden fühlen. Leistungsbeurteilung und Entlohnungssysteme als Kontextbedingungen Für die Beurteilung der Leistung einer Arbeitsgruppe und der einzelnen Mitarbeiter müssen klare Kriterien definiert werden. Die Mitarbeiter müssen regelmäßig Rückmeldung darüber bekommen, ob ihre Arbeitshandlungen zur Erreichung der gemeinsam erarbeiteten Zielstellungen beitragen oder ob sie diese ändern müssen. Den Mitarbeitern muss ein Maßstab an die Hand gegeben werden, mit dem sie ihre eigene Leistung und die Gruppenleistung bewerten können. Beispiele für umfassende Leistungsbewertungssysteme finden sich bei Kleinbeck und Schmidt (2004; PPM – »Produktivitätsmess- und Rückmeldesystem«) und bei Muck, Schuler, Becker und Diemand (2003). Weiterhin müssen Entlohnungssysteme angewendet werden, die zum einen die Leistung der Gruppe honorieren, zum anderen aber auch die Einzelleistung. Dies ist wichtig, um z. B. Phänomene wie »Trittbrettfahren« und »soziales Faulenzen« (7 Kap. 8) zu vermeiden und sicherzustellen, dass sich
421 23.5 · Einführung von Gruppenarbeit als Organisationsentwicklungsprozess
kein »Einzelkämpfertum« innerhalb der Gruppe entwickelt. Einen Überblick zu Lohnmodellen für die Gruppenarbeit geben Bullinger und Menrad (2001). Die Darstellung zu Leistungsdeterminanten der Gruppenarbeit verdeutlicht, dass Gruppenarbeit nicht automatisch zu einem Mehrwert, zu einer höheren Leistung des Einzelnen und einer höheren Effektivität der Gruppe führt. Vielmehr sind unterschiedliche Faktoren aufseiten des Individuums, der Gruppe als soziales Gefüge und der darin ablaufenden Prozesse, der Handlungssituation sowie der übergeordneten organisationalen Rahmenbedingungen zu beachten. Insgesamt ist es wichtig, dass Gruppenarbeit nicht nur deklariert, sondern auch mit allen »Mühen« bei der Einführung und Implementierung geplant und umgesetzt wird. Kritisch anzumerken ist hierbei, dass die Einführung von Gruppenarbeit häufig als ein Schritt zur Humanisierung der Arbeit »verkauft«, von den betreffenden Mitarbeitern aber oft als ein »Rationalisierungs- und Arbeitsverdichtungsprogramm« erlebt wird (Bungard & Jöns, 1997), was sich zumindest merklich auf die Arbeitszufriedenheit als Effektivitätskriterium auswirken dürfte. 23.5
Einführung von Gruppenarbeit als Organisationsentwicklungsprozess
Die Einführung von Gruppenarbeit sollte sorgfältig geplant und vorbereitet werden. Eine genaue Analyse der Ausgangssituation hinsichtlich technischer, mitarbeiterbezogener und marktbezogener Anforderungen und eine klare Zielformulierung sind dabei unerlässlich. Es wird daher empfohlen, zunächst in Pilotprojekten eine auf die betriebsspezifischen Bedingungen und Bedarfe zugeschnittene Gruppenarbeitsform zu entwickeln und zu erproben. Management und Betriebsrat sollten in diesem Kontext auch ein gemeinsam getragenes Personal- und Organisationsentwicklungskonzept (7 Kap. 12) entwerfen. Nur ein auf die spezifischen betrieblichen Bedingungen zugeschnittenes Gesamtkonzept kann die Akzeptanz aller Beteiligten sicherstellen. Die Einführung von Gruppenarbeit bedeutet letztlich, sich gemeinsam auf einen offenen Lern- und Entwicklungsprozess einzulassen. Dabei ist die Berücksichtigung folgender vier Aspekte förderlich (Antoni & Bungard, 2004):
Heuristisches, partizipatives Vorgehen. Unter Beteili-
gung aller betroffenen Mitarbeiter sollte ein betriebsspezifisches Gruppenarbeitskonzept erarbeitet werden. Das Topmanagement legt gemeinsam mit dem Betriebsrat die Rahmenbedingungen fest, die bereichsspezifische Ausgestaltung obliegt den Führungskräften unter Einbeziehung der Mitarbeiter und die konkrete Ausgestaltung einer teilautonomen Arbeitsgruppe sollte durch die Gruppenmitglieder selbst erfolgen. Durch dieses schrittweise Vorgehen, welches genügend Raum für Modifikationen zulässt, können die spezifischen Gegebenheiten vor Ort und die Bedürfnisse der Mitarbeiter in besonderem Maße berücksichtigt werden. Es stärkt gleichzeitig die Bereitschaft, sich auf diesen Veränderungsprozess einzulassen. Frühzeitige Information und Qualifizierung aller Betroffenen. Gemäß einer zentralen Grundregel der Organisa-
tionsentwicklung und um Partizipation zu ermöglichen, sind Führungskräfte und Mitarbeiter frühzeitig über die geplante Einführung von Gruppenarbeit zu informieren und entsprechend zu qualifizieren. Im Zentrum stehen dabei kontinuierliches projektbegleitendes und selbstorganisiertes Lernen der Betroffenen vor Ort am Arbeitsplatz, das durch entsprechend geschulte Moderatoren oder Experten unterstützt wird. Für eine solche prozessbegleitende Qualifizierung können auch Qualitätszirkel und Projektgruppenarbeit genutzt werden. Eine zentrale Rolle spielt dabei der Vorgesetzte, der den alltäglichen Lernprozess unterstützen und fördern muss. Sind nicht alle Mitarbeiter vom Einführungsprozess betroffen, sollte bei der Zusammensetzung der Gruppen auf die Auswahl teamfähiger Mitarbeiter geachtet werden. Besonders wichtig ist auch die Auswahl und Qualifizierung der Führungskräfte, da diese häufig eine wichtige strategische Rolle im Einführungsprozess spielen. Schaffung strukturellerVoraussetzungen. Zur Steuerung
des Einführungsprozesses ist eine Projektstruktur mit einem verantwortlichen Auftraggeber, Projektleiter und Projektteam einzurichten. Während der Auftraggeber Rahmenbedingungen festlegt, steuert das Projektteam die partizipative Entwicklung und Umsetzung des Gruppenarbeitskonzepts. Eine weitere wichtige Voraussetzung betrifft die Sicherstellung von ausreichenden personellen, materiellen, finanziellen, zeitlichen und räumlichen Ressourcen sowohl für den Einführungsprozess als auch die spätere Gruppenarbeit. Teilautonome Arbeitsgruppen be-
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Kapitel 23 · Gruppenarbeit in der Produktion
nötigen außerdem geeignete Planungs- und Steuerungssysteme, die gruppenbezogene Informationen und Kennwerte möglichst verständlich darstellen und einfach zu handhaben sind. Ebenso müssen Arbeits- und Entgeltsysteme gruppengerecht gestaltet werden, um die Selbstregulation der Gruppen zu fördern. Entwicklung günstiger Rahmenbedingungen. Wie bereits angesprochen, wirkt sich Gruppenarbeit auf fast alle Unternehmensbereiche aus, selbst wenn sie nur in einem Teil des Unternehmens eingeführt wird. Die Delegation von Verantwortung und Kompetenzen, die mit der Einführung von Gruppenarbeit einhergeht, zieht Verände-
rungen der Aufbau- und Ablauforganisation sowie der Informations- und Entscheidungsprozesse nach sich. Die sich daraus ergebenden potenziellen Konflikte sollten frühzeitig angesprochen und konstruktiv bewältigt werden. Dies betrifft nicht nur sachliche Probleme, wie z. B. die Klärung von Schnittstellen, sondern insbesondere auch Machtfragen. Hier ist die Unternehmensleitung gefordert, das Konzept zu unterstützen und gegebenenfalls ihren Einfluss zur Konfliktlösung einzusetzen. Letztlich setzt die erfolgreiche Einführung von Gruppenarbeit voraus, dass die Arbeitsprinzipien und das Führungsverständnis nicht im (dauerhaften) Gegensatz zu denen anderer Unternehmensbereiche stehen.
Zusammenfassung 4 Arbeitsgruppen lassen sich vor allem anhand folgender Merkmale charakterisieren: Gruppengröße, Zeitdauer der Zusammenarbeit, Zielsetzung, Regeln und Normen, Rollenverteilung, Kooperation, Wir-Gefühl und Arbeitsauftrag. 4 Als bedeutsame Formen der Gruppenarbeit können Qualitätszirkel, Projektgruppen, betriebliche Gesundheitszirkel, teilautonome Arbeitsgruppen, Fertigungsteams und klassische Arbeitsgruppen unterschieden werden. 4 Qualitätszirkel sind Problemlösegruppen mit Mitarbeitern unterer Hierarchieebenen, die parallel zur Arbeitsorganisation eingerichtet werden und die sich mit der Optimierung von Arbeitsprozessen, -bedingungen und der Produktqualität befassen. 4 Projektgruppen sind Problemlösegruppen mit Experten und Führungskräften unterschiedlicher Fachbereiche, die komplexe neuartige gesamtbetriebliche oder bereichsbezogene Problemstellungen bzw. Aufträge bearbeiten. 4 Ein betrieblicher Gesundheitszirkel ist eine Variante der Projektgruppen, die sich auf die Bearbeitung von gesundheitsbezogenen Themen im Arbeits- bzw. betrieblichen Umfeld bezieht und darüber hinaus Elemente des Qualitätszirkelkonzepts aufweist.
4 Teilautonome Arbeitsgruppen sind integrale Bestandteile der Arbeitsorganisation, die ein komplettes (Teil-)Produkt oder eine Dienstleistung inklusive indirekter Tätigkeiten erstellen und die durch ein hohes Maß an Autonomie und Selbstregulationskompetenzen gekennzeichnet sind. 4 Fertigungsteams enthalten zwar durch die Integration von indirekten Tätigkeiten und die Förderung einer höheren Einsatzflexibilität der Mitarbeiter Elemente der Gruppenarbeit, lösen sich aber aufgrund einer hohen Standardisierung der Tätigkeiten und der Beibehaltung des Fließbandprinzips nur teilweise von tayloristischen Gestaltungsprinzipien. 4 Wesentliche Einflussfaktoren der Gruppeneffektivität sind die Zusammensetzung der Gruppe und die Gruppenkohäsion, die Gestaltung der Gruppenaufgabe und ihrer Motivierungspotenziale sowie die Art der Leistungsrückmeldung und Entlohnung im Rahmen der Gruppenarbeit. 4 Die Einführung von Gruppenarbeitskonzepten sollte auf der Grundlage eines sorgfältig vorbereiteten und auf die spezifischen betrieblichen Rahmenbedingungen zugeschnittenen Organisations- und Personalentwicklungsprozesses erfolgen.
423 Literatur
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24
24 Arbeitsmotivation und Arbeitszufriedenheit 24.1
Motiv, Anreiz und Motivation
24.2
Arbeitszufriedenheit – 427
24.2.1 24.2.2 24.2.3 24.2.4
Begriff und Messung – 427 Theorien der Arbeitszufriedenheit – 429 Bedingungen der Arbeitszufriedenheit – 432 Konsequenzen der Arbeitszufriedenheit – 433
24.3
Theorien der Arbeitsmotivation – 434
24.3.1 24.3.2 24.3.3
Wahl von Handlungszielen: Die VIE-Theorie – 434 Zielrealisierung: Die Theorie der Zielsetzung – 436 Bewertung der Zielrealisierung: Erlebte (Un-)Gerechtigkeit
Literatur
– 441
– 426
– 439
426
Kapitel 24 · Arbeitsmotivation und Arbeitszufriedenheit
> Motivation gibt Antwort auf die Frage nach dem »Warum« bzw. dem »Wozu« menschlichen Verhaltens, d. h., es werden damit die Ursachen bzw. die Ziele des Verhaltens erklärt. Mit dem Konzept Motivation kann allerdings nicht Verhalten schlechthin erklärt werden – Verhalten ist ein Merkmal des Lebens, das erst im Tode endet –, vielmehr wird damit wissenschaftlich die Richtung, Intensität und Ausdauer menschlichen Verhaltens erklärt (Thomae, 1965; vgl. zum Folgenden Nerdinger, 2006). 4 Richtung bezeichnet die Entscheidung für ein bestimmtes Verhalten: Warum entscheidet sich z. B. ein Bewerber, der zwei Stellenangebote hat, für das eine Angebot und lehnt das andere ab? 4 Intensität betrifft die eingesetzte Energie: Warum setzt sich ein Mitarbeiter mit voller Kraft für seine Aufgabe ein, während ein anderer eher lustlos arbeitet? 4 Ausdauer beschreibt die Hartnäckigkeit, mit der ein Ziel angesichts von Widerständen verfolgt wird: Warum lässt sich der eine Mitarbeiter durch kein Hindernis von seinem Weg abbringen, während ein anderer bei der ersten Schwierigkeit resigniert?
24
Motivation gibt demnach nicht zuletzt Antwort auf die aus Sicht der Organisation entscheidenden Fragen nach den Ursachen für den Einsatz und die Leistung der Mitarbeiter (7 Kap. 25). Um diese Antwort zu verstehen, müssen zunächst die grundlegenden Konzepte »Motiv«, »Anreiz« und »Motivation« geklärt werden. Anschließend wird die Arbeitzufriedenheit als Ziel und als Teil der Motivation erläutert. Schließlich werden wichtige Ansätze zur Erklärung der Motivation vorgestellt.
24.1
Motiv, Anreiz und Motivation
Motivation kann aus zwei Richtungen betrachtet werden, mit Blick auf den Mitarbeiter oder auf die Situation, in der er handelt (Heckhausen & Heckhausen, 2005). Menschen verfolgen die unterschiedlichsten Handlungsziele, wobei prinzipiell unendlich viele Formen und Ausprägungen solcher Ziele denkbar sind. Handlungsziele werden daher nach gemeinsamen Themen zusammengefasst und mit allgemeinen Begriffen wie z. B. Leistung, Macht oder sozialer Anschluss umschrieben. Solche Klassen von Handlungszielen bilden inhaltlich zusammenhängende Beweggründe des Handelns, die als Motive bezeichnet werden. Definition Motive sind Wertungsdispositionen, die für einzelne Menschen charakteristische Ausprägungen haben (Schneider & Schmalt, 2000).
Menschen lassen sich danach unterscheiden, wie sie zeitlich überdauernd bestimmte Merkmale von Situationen bewerten und darauf reagieren. Zum Beispiel: Ein Mit-
arbeiter, der dieselben Aufgaben hat wie seine Kollegen, erzielt deutlich bessere Leistungsergebnisse als diese. Zudem bleibt er – wenn spezielle Probleme in der Arbeit auftreten – abends länger im Unternehmen und macht spontan Vorschläge zur Verbesserung von Arbeitsabläufen. Dieser Mitarbeiter bewertet also Situationen, in denen er sich mit einem Leistungsstandard auseinandersetzen kann, positiv. Einem solchen Mitarbeiter würde man ein hoch ausgeprägtes Leistungsmotiv zuschreiben. Bei der Erklärung des Verhaltens müssen aber immer auch die Situationen betrachtet werden, in denen das Verhalten beobachtet wird. Vielleicht verhält sich der Mitarbeiter nur dann auf die beschriebene Art, wenn er weiß, dass der Vorgesetzte ihn beobachtet und bleibt sonst eher unauffällig. Möglicherweise engagiert er sich auch nur für ganz bestimmte Aufgaben, die er interessant findet. Zur Erklärung von Verhalten muss also immer auch die Situation berücksichtigt werden, in der man es beobachtet. Situationen wirken auf die menschlichen Motive ein, regen sie an und lösen dadurch Verhalten aus. Zum Beispiel wird einem Mitarbeiter eine neue Aufgabe zugewiesen, die er als sehr herausfordernd erlebt. Diese Herausforderung regt sein Leistungsmotiv an – er
427 24.2 · Arbeitszufriedenheit
möchte die Aufgabe möglichst gut erfüllen – und er entwickelt ein bislang nicht gekanntes Engagement. Definition Merkmale der Situation, die Motive anregen können, werden als Anreize bezeichnet.
Situationen bieten die Gelegenheit, Wünsche und Ziele zu realisieren, sie können aber auch Bedrohliches signalisieren. Alles, was Situationen in diesem Sinne an Positivem oder Negativem verheißen, sind Anreize. Anreize fordern dazu auf, bestimmte Handlungen auszuführen und andere zu unterlassen. Deshalb müssen sie bei der Erklärung von Verhalten immer mit berücksichtigt werden. Definition Motivation ist das Produkt aus individuellen Merkmalen von Menschen, ihren Motiven, und den Merkmalen einer aktuell wirksamen Situation, in der Anreize auf die Motive einwirken und sie aktivieren.
Der Begriff Motivation bezeichnet demnach eine momentane Ausrichtung auf ein Handlungsziel (Heckhausen & Heckhausen, 2005), die vielfältigen Gedanken und Gefühle, die ein Verhalten auf Handlungsziele ausrichten, bilden die Motivation eines Menschen. Der Begriff der Motivation ist für die Wissenschaft wie die Praxis der Unternehmen so zentral, weil damit die Leistung der Mitarbeiter erklärt wird (7 Kap. 18, 25). Das ist allerdings eine starke Vereinfachung, neben der Leistung finden sich weitere Ergebnisse der Motivation, von denen die Arbeitszufriedenheit aus Sicht der Arbeits- und Organisationspsychologie das wichtigste ist. Gleichzeitig wird aber auch angenommen, dass Arbeitszufriedenheit zu Leistung führt, also selbst eine motivierende Größe darstellt. Daher soll dieses Konzept etwas genauer betrachtet werden. 24.2
Arbeitszufriedenheit
Arbeitszufriedenheit ist wahrscheinlich das am intensivsten untersuchte Konzept der Arbeits- und Organisationspsychologie – bis zum Jahre 2000 wurden bereits über 11.000 Untersuchungen veröffentlicht, die sich in irgendeiner Weise mit Arbeitszufriedenheit beschäftigen
(Judge, Parker, Colbert, Heller & Ilies, 2001). Ursprünglich wurde Arbeitszufriedenheit vor allem aufgrund der plausiblen Hypothese untersucht, dass zufriedene Mitarbeiter mehr leisten, eine Hypothese, die zeigt, dass sich Arbeitszufriedenheit als eine motivationale Größe, als Ursache von Verhalten verstehen lässt. Die intensive Kritik an dieser, vor allem unter Praktikern weit verbreiteten Zusammenhangsvermutung, die häufig mit dem Spruch »Glückliche Kühe geben mehr Milch!« verspottetet wurde, konnte das Interesse daran aber nicht auf Dauer abschwächen. Arbeitszufriedenheit wird nach wie vor in den verschiedensten Zusammenhängen intensiv untersucht (vgl. Six & Felfe, 2004) und zwar als 4 Evaluationskriterium (z. B.: Steigt die Zufriedenheit, wenn die Mitarbeiter an Entscheidungen beteiligt werden?), 4 Prädiktor (z. B.: Hängt die Bindung der Mitarbeiter an ihr Unternehmen von ihrer Arbeitszufriedenheit ab?) und als 4 moderierende Größe, die über die Enge des Zusammenhangs zwischen anderen Größen entscheidet (z. B.: Hängen Mitarbeiterbeteiligung und Leistung nur dann zusammen, wenn die Mitarbeiter mit ihrer Arbeit zufrieden sind?). Die Komplexität dieser verschiedenen Blickwinkel erfordert die genauere Untersuchung dieses Konzepts. 24.2.1
Begriff und Messung
Definition Arbeitszufriedenheit wird gewöhnlich als Einstellung definiert und umfasst dann die emotionale Reaktion auf die Arbeit, die Meinung über die Arbeit und die Bereitschaft, sich in der Arbeit in bestimmter Weise zu verhalten (Six & Felfe, 2004).
Nach einer psychologischen Grundannahme entstehen positive Einstellungen, wenn Wünsche erfüllt oder Bedürfnisse befriedigt werden – so betrachtet ist Arbeitszufriedenheit ein Ergebnis der Motivation (Neuberger, 1974). Da die Arbeit viele Facetten hat, können sich Einstellungen auf die unterschiedlichsten Merkmale beziehen: die Aufgabe, äußere Arbeitsbedingungen, Beziehungen zu Vorgesetzten, Kollegen und Unterstellten, Aufstiegschancen, Bezahlung und vieles mehr. Die Zu-
24
428
24
Kapitel 24 · Arbeitsmotivation und Arbeitszufriedenheit
friedenheit mit den verschiedenen Facetten der Arbeit mag bei einer Person durchaus unterschiedlich ausfallen, z. B. kann man mit seiner Tätigkeit sehr zufrieden und gleichzeitig mit der Bezahlung und der Unternehmenspolitik äußerst unzufrieden sein (Nerdinger, 2006). Als Einstellung lässt sich Arbeitszufriedenheit prinzipiell auf zwei Arten messen. Als globale Zufriedenheit, die gewöhnlich mit einem Item erfasst wird, z. B. durch die Frage: »Einmal alles zusammengenommen betrachtet: Sind Sie mit Ihrem gegenwärtigen Arbeitsplatz im Großen und Ganzen zufrieden oder unzufrieden«? Die Antwort kann auf einer mehrstufigen Skala erfolgen, die gelegentlich durch eine Abstufung von sehr traurig bis sehr fröhlich blickenden Gesichtern verankert ist (nach dem Forscher, der sie entwickelt hat, auch als Kunin-Skala bezeichnet; Kunin, 1955). Oder aber die Befragten sollen verschiedene Facetten der Arbeit daraufhin einstufen, wie zufrieden sie damit jeweils sind. Solche Messun-
gen erfolgen gewöhnlich mit getesteten Instrumenten, unter denen der »Arbeits-Beschreibungs-Bogen« (ABB) von Neuberger und Allerbeck (1978) in Deutschland der bekannteste ist (7 Kasten »Der ABB«). Der ABB hat sich in einer Vielzahl von Untersuchungen als reliables und valides Instrument erwiesen. Die Messung einer globalen Zufriedenheit mit einem Item wird dagegen häufig mit dem Hinweis auf die mangelnde Reliabilität abgelehnt, eine Annahme, die sich so nicht bestätigen lässt: So fanden Wanous, Reichers und Hudy (1997), dass Messungen der Arbeitszufriedenheit mit einem Item eine Reliabilität von .67 erreichen. Das ist durchaus respektabel, allerdings sind die meisten Messungen durch mehrere Items noch deutlich reliabler. Die Messung verschiedener Facetten der Arbeit, wie es beim ABB der Fall ist, dürfte daher gewöhnlich zu besseren Ergebnissen führen, die zudem differenziertere Urteile über die Einstellungen der Mitarbeiter ermöglichen.
Der »Arbeits-Beschreibungs-Bogen« (ABB) Der »Arbeits-Beschreibungs-Bogen« (ABB) ist eine deutschsprachige Version des »Job Descriptive Index« von Smith, Kendall und Hulin (1969), eines der weltweit am häufigsten eingesetzten Instrumente zur Erfassung der Arbeitszufriedenheit, das über gesicherte Reliabilität und Validität verfügt. Der ABB erfasst die Zufriedenheit mit neun verschiedenen Facetten der Arbeit, außerdem verfügt er über eine Skala der Gesamtzufriedenheit mit der Arbeit und eine mit dem Leben als Ganzes. Eine dieser Facetten bilden die Kollegen, die auf folgende Weise erhoben werden:
Meine Kollegen Gemeint sind die Kolleginnen und Kollegen, mit denen Sie unmittelbar zusammenarbeiten und arbeitsbezogenen Kontakt haben (es ist uns klar, dass Sie hier nur ein Durchschnittsurteil abgeben können). 7 Skala unten In dieser Weise wird auch die Zufriedenheit mit dem Vorgesetzten, der Tätigkeit, den Arbeitsbedingungen, der Organisation und Leitung, der persönlichen Entwicklung und der Bezahlung erhoben. Die Zufriedenheit mit der Arbeitszeit und der Sicherheit des Arbeitsplatzes wird mit je einer Frage gemessen.
1.
stur
ja
eher ja
eher nein
nein
2.
hilfsbereit
ja
eher ja
eher nein
nein
3.
zerstritten
ja
eher ja
eher nein
nein
4.
sympathisch
ja
eher ja
eher nein
nein
5.
unfähig
ja
eher ja
eher nein
nein
6.
guter Zusammenhalt
ja
eher ja
eher nein
nein
7.
faul
ja
eher ja
eher nein
nein
8.
angenehm
ja
eher ja
eher nein
nein
9.
Alles in allem: Wie zufrieden sind Sie mit Ihren Kollegen?
24
429 24.2 · Arbeitszufriedenheit
24.2.2
Theorien der Arbeitszufriedenheit
Der Bedeutung des Konzepts entsprechend wurde eine Vielzahl von verschiedenen Theorien der Arbeitszufriedenheit entwickelt (vgl. Neuberger, 1974; Fischer, 2006). Zwei davon sind besonders wichtig: die Zwei-FaktorenTheorie von Herzberg, Mausner und Snyderman (1959) und das Job Characteristics Model von Hackman und Oldham (1980). Die Zwei-Faktoren-Theorie In einer wegweisenden Studie – nach dem Ort ihrer Entstehung auch als »Pittsburgh-Studie« bezeichnet – haben
Herzberg und seine Mitarbeiter (Herzberg et al., 1959) untersucht, welche Anreize in der Organisation wirken und was ihre Konsequenzen sind (7 Kasten »Die Pittsburgh-Studie«). In dieser Anordnung entdecken die Autoren zwei verschiedene Kategorienklassen: 4 die Kontext- und 4 die Kontentfaktoren. Die Kontextfaktoren thematisieren Erlebnisse, die mit dem Arbeitsumfeld verbunden, d. h. der Arbeit extrinsisch – außerhalb der Tätigkeit liegend – sind (7 Übersicht »Kontextfaktoren«).
Die Pittsburgh-Studie Herzberg und seine Mitarbeiter (Herzberg et al., 1959) befragten in der Pittsburgh-Studie 203 Ingenieure und Buchhalter mit der Methode der kritischen Ereignisse (Flanagan, 1954; 7 Kap. 21). zu ihrer Berufserfahrung: »Denken Sie an eine Zeit, zu der Sie bei Ihrer jetzigen Arbeit oder einer anderen Arbeit, die Sie je hatten, außergewöhnlich zufrieden (bzw. außergewöhnlich unzufrieden) waren. Erzählen Sie mir, was sich damals ereignet hat!«
Mit dieser Methode werden sehr positive bzw. sehr negative Erlebnisse in einer halbstandardisierten Befragung erhoben. Die Aussagen der Befragten müssen daher in einem zweiten Schritt nach einem bestimmten Inhaltsschlüssel kategorisiert werden. Herzberg und seine Mitarbeiter haben zu diesem Zweck 16 Kategorien entwickelt, die sich wie in . Abb. 24.1 wiedergegeben über die positiven und negativen Erlebnisse verteilen.
© Kohlhammer 1974
. Abb. 24.1. Die Ergebnisse der Pittsburgh-Studie. (Nach Neuberger, 1974)
430
Kapitel 24 · Arbeitsmotivation und Arbeitszufriedenheit
Kontextfaktoren
24
4 Gehalt 4 Statuszuweisungen 4 Beziehung zu Untergebenen, Kollegen und Vorgesetzten 4 Führung durch den Vorgesetzten 4 Unternehmenspolitik und -verwaltung 4 Konkrete Arbeitsbedingungen 4 Persönliche, mit dem Beruf verbundene Bedingungen 4 Sicherheit des Arbeitsplatzes
Da die Kontextfaktoren überwiegend in negativen, mit Unzufriedenheit verbundenen Situationen genannt wurden, bezeichnen die Autoren sie auch als Hygienefaktoren. Darin liegt bereits der wesentliche Gedanke der Zwei-Faktoren-Theorie. Die medizinische Hygiene beseitigt Gesundheitsrisiken aus der Umwelt des Menschen und verhindert damit Krankheit. Dem vergleichbar sollen Hygienefaktoren Unzufriedenheit in der Arbeit verhindern. Wenn also z. B. das Gehalt als zu niedrig empfunden wird, die Zusammenarbeit mit anderen nicht funktioniert, die Organisation und Politik des Unternehmens abgelehnt wird, dann führt das zu Unzufriedenheit. Sind aber all diese Aspekte der Arbeitsumgebung hinlänglich erfüllt, entsteht daraus nicht Zufriedenheit, sondern ein neutraler Erlebniszustand, der als Nicht-Unzufriedenheit bezeichnet wird. Zufriedenheit erzeugen dagegen Kontentfaktoren, die überwiegend intrinsische Aspekte, d. h. in der Arbeit liegende Faktoren, thematisieren (7 Übersicht »Kontentfaktoren«)
Kontentfaktoren 4 4 4 4 4 4
Leistungserlebnisse Anerkennung Arbeitsinhalt Übertragene Verantwortung Beruflicher Aufstieg Gefühl, sich in der Arbeit entfalten zu können
Da diese Faktoren in erster Linie im Zusammenhang mit Erlebnissen außerordentlicher Zufriedenheit genannt werden, vermuten die Autoren, dass sie Annäherungsverhalten auslösen. Motivation bedeutet aber allgemein Annäherung, weshalb die Kontentfaktoren auch als Motivatoren bezeichnet werden. Motivatoren führen zur Zufriedenheit, werden sie nicht erfüllt, resultiert daraus aber nicht Unzufriedenheit, sondern wiederum ein neutraler Zustand, die Nicht-Zufriedenheit. Motivatoren und Hygienefaktoren werden demnach als zwei voneinander unabhängige Faktoren betrachtet, woraus sich der Name der Theorie ableitet. Dieses Modell wurde vielfach untersucht, wobei sich zeigte, dass es sich nur unter bestimmten Bedingungen bestätigen lässt. Die Ergebnisse der Pittsburgh-Studie lassen sich nur mit der Methode der kritischen Ereignisse nachweisen und das auch nur, wenn das gleiche Kategorienschema wie von Herzberg und seinen Mitarbeitern verwendet wird. Gerade dieses Schema ist aber sehr problematisch. So sind einige Hygienefaktoren doppeldeutig – z. B. kann Gehalt oder Status subjektiv auch als Anerkennung interpretiert werden und wäre dann ein Motivator. Außerdem ist das Modell nur gültig, wenn alle Aussagen der Befragten zusammengezählt werden, d. h., alle Motivatoren zusammen werden häufiger in Zusammenhang mit positiven, alle Hygienefaktoren zusammen häufiger mit negativen Situationen genannt. Die grundlegende Idee der Theorie ist wohl auf einen Artefakt der eingesetzten Methode zurückzuführen: Sollen Menschen rückblickend positive und negative Ereignisse aus ihrer Arbeit beschreiben, besteht die Neigung, extrinsische Faktoren für die Unzufriedenheit verantwortlich zu machen, intrinsische dagegen für die Zufriedenheit. Offensichtlich dient eine solche Erklärung auch der Stützung des eigenen Selbstbildes. Dazu ein Beispiel: In einer Untersuchung wurden angehende Rechtsanwälte nach ihren Motiven für eine berufliche Karriere in der Justiz gefragt, außerdem sollten sie angeben, welche beruflichen Motive nach ihrer Meinung ihre Kollegen bewegen (Heath, 1999). 64% bezeichneten sich selbst als intrinsisch motiviert – sie gaben an, dass sie eine Karriere aus Interesse an Rechtsfragen anstreben bzw. weil sie diese als intellektuell herausfordernd einschätzen. Bezogen auf die Kollegen glaubten das nur 12%, dagegen meinten 62%, die Kollegen seien vor allem an einem hohen Einkommen interessiert! Trotz dieser Begrenzungen hat das Modell von Herzberg auch heute noch große Bedeutung für die Erklä-
431 24.2 · Arbeitszufriedenheit
24
© Pearson 1980
. Abb. 24.2. Das Job Characteristics Model. (Nach Hackman & Oldham, 1980)
rung der Motivation. Es widerspricht den in der Praxis weit verbreiteten Vorstellungen, wonach die Mitarbeiter allein durch ökonomische, speziell finanzielle Anreize zur Arbeit motiviert werden. Es ist das bleibende Verdienst von Herzberg und seinen Mitarbeitern, dass sie als erste die Bedeutung intrinsischer Aspekte der Tätigkeit für die Zufriedenheit und die Motivation der Mitarbeiter erkannt haben. Das Job Characteristics Model Herzberg hat gezeigt, dass die Tätigkeit besonders wichtig für die Zufriedenheit und die Motivation von Mitarbeitern ist. Welche Merkmale der Tätigkeit dafür letztlich entscheidend sind und über welche psychischen Prozesse diese Wirkungen vermittelt werden, beschreibt das Job Characteristics Model von Hackman und Oldham (1980; . Abb. 24.2). Damit Arbeit zufrieden macht (und intrinsisch motivierend wirkt), muss sie nach diesem Modell drei psychologische Grundbedingungen erfüllen: 4 die Tätigkeit muss als bedeutsam erlebt werden; 4 die Arbeitenden müssen sich für die Ergebnisse ihrer Tätigkeit verantwortlich fühlen und 4 sie müssen die aktuellen Resultate ihrer Tätigkeit, besonders die Qualität der Ergebnisse, kennen.
Diese psychologischen Erlebniszustände werden durch fünf Merkmale der Aufgabe ausgelöst: 1. Anforderungsvielfalt: Die Aufgabe sollte nicht nur eine einzelne bzw. wenige Fähigkeiten der Mitarbeiter beanspruchen, sondern möglichst viele motorische, intellektuelle und soziale Fähigkeiten. In diesem Fall können sie unterschiedliche Fähigkeiten und Kenntnisse in der Arbeit einsetzen und werden zudem nicht einseitig beansprucht. 2. Ganzheitlichkeit: Gemeint ist damit der Grad, in dem ein Mitarbeiter ein zusammenhängendes Produkt oder eine vollständige Dienstleistung fertigstellt. Das Gegenteil veranschaulichen einfache Tätigkeiten, bei denen nur reduzierte Teilaufgaben ausgeführt werden. Ganzheitliche Aufgaben vermitteln den Mitarbeitern den Sinn und den Stellenwert ihrer Tätigkeit. 3. Bedeutsamkeit: Hier sind die Auswirkungen der Aufgabe für das Leben und die Arbeit anderer gemeint: Wer erkennt, wie seine Tätigkeit den Kunden nützt, wie sie mit den Aufgaben seiner Kollegen, aber auch mit der Arbeit anderer Abteilungen des Unternehmens zusammenhängt, der wird seinen Beitrag zu den Zielen des Unternehmens verstehen und damit die Bedeutung seiner Arbeit erkennen.
432
24
Kapitel 24 · Arbeitsmotivation und Arbeitszufriedenheit
Diese drei Merkmale bestimmen zusammen, ob die Tätigkeit als bedeutsam erlebt wird, d. h., diese Merkmale können sich in ihrer Wirkung auch wechselseitig kompensieren. Die beiden verbleibenden Merkmale sind dagegen eigenständig zu betrachten. 4. Autonomie: Dieses Merkmal liegt vor, wenn die Mitarbeiter eigenverantwortlich die Mittel ihrer Arbeit wählen und Teilziele selbstständig festlegen können. Dadurch erleben sie, dass sie nicht einfluss- und bedeutungslos sind, was wiederum ihr Selbstwertgefühl stärkt und die Bereitschaft zur Übernahme von Verantwortung erhöht. 5. Rückmeldung aus der Tätigkeit, also solche Rückmeldungen, die unmittelbar in der Aufgabe angelegt sind. Rückmeldung ermöglicht es den Mitarbeitern, selbstständig Fehlentwicklungen zu korrigieren und sie wissen immer, wie sie auf dem Weg zum Ziel liegen.
und die Arbeitszufriedenheit eine korrigierte Korrelation von ρ=.50 aufweisen. Weiter zeigt eine Metaanalye von 10 Studien, dass bei Mitarbeitern mit einem hohen Bedürfnis nach persönlicher Entfaltung der Zusammenhang zwischen den Merkmalen der Arbeit und der Arbeitszufriedenheit deutlich höher ist als bei Mitarbeitern, denen dieses Bedürfnis nicht so wichtig ist (vgl. dazu Judge et al., 2001). Dabei finden sich aber auch für diese Mitarbeiter signifikante Zusammenhänge, d. h., eine gezielte Gestaltung der Arbeitsbedingungen gemäß dem Modell der Job Characteristics führt durchgängig zu größerer Arbeitszufriedenheit. Nicht eindeutig belegt ist dagegen die vermittelnde Wirkung der psychologischen Grundbedingungen, und auch die postulierte Kausalrichtung bedarf noch der genaueren Prüfung. 24.2.3
Die wichtigsten Folgen dieser Tätigkeitsmerkmale sind – vermittelt über die drei genannten psychologischen Grundzustände – hohe Arbeitszufriedenheit und intrinsische Arbeitsmotivation, aber auch die Qualität der Arbeitsleistung soll sich verbessern, die Mitarbeiter sollen nicht so oft wegen Krankheit fehlen und seltener den Arbeitsplatz wechseln. Diese Wirkungen seien wiederum von einem Merkmal der Person abhängig, dem Bedürfnis nach persönlicher Entfaltung. Das Bedürfnis nach persönlicher Entfaltung beeinflusst demnach zum einen, ob die Aufgabenmerkmale tatsächlich zu den drei Erlebniszuständen führen, zum anderen bestimmt es, ob die dargestellten Folgen eintreten. Bei Mitarbeitern mit einem hohen Bedürfnis nach persönlicher Entfaltung wäre folglich ein enger Zusammenhang zwischen den Aufgabenmerkmalen und den Auswirkungen auf die Motivation zu erwarten. Bei niedrigem Entfaltungsbedürfnis sollte sich dagegen kein solcher Zusammenhang nachweisen lassen. Das bedeutet, dass nicht alle Menschen auf eine bestimmte Arbeit gleich reagieren (vgl. Nerdinger, 1995). Für die zentralen Aussagen des Modells finden sich mittlerweile diverse direkte und indirekte Belege (vgl. Judge et al., 2001). Indirekt zeigt sich immer wieder, dass von allen wichtigen Merkmalen der Arbeit – Bezahlung, Aufstiegsmöglichkeiten, Beziehung zu Kollegen und Vorgesetzten sowie die Arbeit selbst – die Zufriedenheit mit dem Inhalt der Arbeit am höchsten mit der Gesamtarbeitszufriedenheit korreliert. Direkte Tests des Modells kommen zu dem Ergebnis, dass die Merkmale der Arbeit
Bedingungen der Arbeitszufriedenheit
Die Bedingungen der Arbeitszufriedenheit lassen sich in zwei große Klassen unterteilen: 4 Merkmale der Arbeit und 4 Merkmale der Person. Bei den Merkmalen der Arbeit sind es – wie vom Job Characteristics Model postuliert – besonders die genannten Aspekte der Tätigkeit, die mit der Arbeitszufriedenheit zusammenhängen. Darüber hinaus tragen aber auch die Möglichkeiten zur Partizipation, d. h. zur Teilhabe an Entscheidungen, ebenso dazu bei wie Merkmale des Führungsverhaltens (vgl. zusammenfassend Six & Felfe, 2004). Dagegen fällt der Zusammenhang mit der Höhe der Bezahlung durchweg gering aus. Viel wichtiger als die Höhe der Bezahlung erscheint die Frage, wie gerecht und fair die Vergütung eingestuft wird. Die Frage, ob Arbeitszufriedenheit auch mit Merkmalen der Person zusammenhängt, hat in den letzten Jahren eine Vielzahl von Studien angeregt. Judge und seine Mitarbeiter (2001) unterscheiden dabei indirekte von direkten Studien. Indirekte Studien versuchen die personale Basis der Arbeitszufriedenheit durch Schlussfolgerungen aus empirischen Zusammenhängen abzuleiten. Exemplarisch ist dafür eine Untersuchung von Staw und Ross (1985), auf die letztlich das große Interesse an dieser Frage zurückzuführen ist. Die Autoren konnten zeigen, dass Messungen der Arbeitszufriedenheit auch nach 5 Jahren noch relativ hoch korrelieren
433 24.2 · Arbeitszufriedenheit
(r=.29; p<.01). In einer Metaanalyse der vorliegenden Untersuchungen fanden Dormann und Zapf (2001) für eine im Schnitt 3-jährige Messperiode einen durchschnittlichen (korrigierten) Zusammenhang von ρ=.50. Dabei bleiben die signifikanten Zusammenhänge auch bestehen, wenn die Befragten in der Zwischenzeit ihren Arbeitsplatz gewechselt haben, allerdings verringern sich die Zusammenhänge in diesem Fall ebenso wie mit zunehmender Dauer, die zwischen den Untersuchungen verstreicht. Diese Befunde werden durch eine spektakuläre indirekte Untersuchung von Arvey, Bouchard, Segal und Abraham (1989) untermauert, in der 34 getrennt aufgewachsene, eineiige Zwilling untersucht wurden: Auch deren Arbeitszufriedenheit korrelierte signifikant, wobei nach Schätzung der Autoren genetische Faktoren ca. 30% der Varianz in der Arbeitszufriedenheit erklären können! Wie sind solche Studien zu interpretieren? Da Menschen vermutlich nicht mit einem für die Arbeitszufriedenheit verantwortlichen Gen auf die Welt kommen, müssen diese Befunde durch andere, nicht direkt gemessene Merkmale erklärt werden. Dafür bietet sich die Persönlichkeit der Befragten an, die als zeitlich überdauerndes Merkmal verstanden wird: Aus solchen indirekten Studien wird also auf die Wirksamkeit der Persönlichkeit für die Arbeitszufriedenheit geschlossen, ohne diesen Zusammenhang direkt zu belegen. Diesen Ansatz wählt die zweite Gruppe von Untersuchungen, die Judge und seine Mitarbeiter (2001) entsprechend als direkte Studien bezeichnen. In diesen Untersuchungen werden Persönlichkeitsmerkmale gemessen und in Beziehung zur Arbeitszufriedenheit gesetzt. Vertieft untersucht wurden solche Zusammenhänge u. a. zu den Merkmalen Positive und Negative Affektivität. Positive Affektivität ist durch hohe Energie, Enthusiasmus und Engagement gekennzeichnet, Negative Affektivität durch Nervosität und Stressempfinden. Metaanalytisch wurde gezeigt, dass Negative Affektivität eine korrigierte Korrelation von ρ=–.40, Positive Affektivität von ρ=.50 mit Arbeitszufriedenheit aufweist (Thoresen, Kaplan, Barsky, Warren & de Chermont, 2003). Demnach zeigt die emotionale Gestimmtheit im Sinne eines zeitlich relativ überdauernden Persönlichkeitsmerkmals beachtlich enge Zusammenhänge mit der Arbeitszufriedenheit. Die entsprechenden Persönlichkeitsmerkmale können wiederum direkt oder indirekt wirken. So kann z. B. Negative Affektivität dazu führen, dass dadurch gekennzeichnete Mitarbeiter besonders sensibel auf die negativen Aspekte ihrer Arbeit reagieren und sich auch ver-
stärkt an solche Aspekte erinnern, wodurch die Arbeitszufriedenheit beeinflusst wird. Es können aber auch indirekte Wirkungen vorliegen, die über die Wahl von Aufgaben vermittelt werden: So entscheiden sich z. B. durch Neurotizismus gekennzeichnete Personen besonders häufig für Situationen, die negative Gefühle auslösen (vgl. dazu und zu einem integrierenden theoretischen Modell: Bowling, Beehr, Wagner & Libkuman, 2005). 24.2.4
Konsequenzen der Arbeitszufriedenheit
Wie bereits erwähnt wurde Arbeitszufriedenheit zunächst vor allem deshalb so intensiv untersucht, da diese Einstellung als eine wesentliche Bedingung der Leistung von Mitarbeitern angesehen wurde. Allerdings kam bereits Vroom (1964) bei der Untersuchung von zwanzig Studien zu dem Ergebnis einer durchschnittlichen Korrelation von .14, die er als bedeutungslos betrachtete. Zudem verwies er darauf, dass die Zusammenhänge extrem variieren, d. h., nur in manchen Tätigkeiten sollte die Arbeitszufriedenheit Einfluss auf die Leistung haben, in anderen dagegen sogar negativ mit der Leistung korrelieren. Dies galt lange Zeit als »Schulmeinung«, bis Judge, Bono, Thoresen und Patton (2001) eine Metaanalyse von 312 Stichproben mit insgesamt 54.417 Personen vorgelegt haben. Dabei zeigte sich ein durchschnittlicher korrigierter Zusammenhang der globalen Arbeitszufriedenheit mit Leistung von ρ=.30. Das deutet auf einen zwar moderaten, aber immerhin zu beachtenden Zusammenhang hin. Neben diesem direkten Zusammenhang sind zudem noch Moderatorwirkungen zu berücksichtigen. So fiel in der Metaanalyse von Judge et al. (2001) der Zusammenhang bei Aufgaben, die anspruchsvoller und komplexer sind, deutlich größer aus. Entsprechend fanden sich auch unterschiedliche Zusammenhänge in Abhängigkeit von der untersuchten Berufsgruppe: Bei Krankenschwestern hängt die Arbeitszufriedenheit kaum mit der Leistung zusammen, bei akademischen Berufsgruppen wie Ingenieuren oder Lehrern, aber auch bei Verkäufern und Managern ist er dagegen sehr ausgeprägt. Demnach ist der Zusammenhang zwischen Zufriedenheit und Leistung zumindest in den Berufsgruppen, die über anspruchsvollere Tätigkeiten bei höherer Autonomie verfügen, sehr bedeutsam. Allerdings konnte auch in dieser Untersuchung die Frage der Wirkrichtung nicht eindeutig geklärt
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434
24
Kapitel 24 · Arbeitsmotivation und Arbeitszufriedenheit
werden. Demnach sind weiterhin beide Richtungen plausibel – hohe Zufriedenheit führt zu mehr Leistung bzw. Leistungserlebnisse führen zu hoher Zufriedenheit! Vermutlich wirken die beiden Größen reziprok, d. h., sie beeinflussen sich wechselseitig (Fischer & Fischer, 2005) Schließlich finden sich auch negative Zusammenhänge der Arbeitszufriedenheit mit unerwünschten Konsequenzen, speziell mit Absentismus und Fluktuation (wobei es natürlich auch eine aus Sicht der Unternehmen erwünschte Fluktuation gibt; 7 Kap. 25). Diese Zusammenhänge sind zwar nicht sehr hoch (vgl. Six & Felfe, 2004), allerdings werden Absentismus und Fluktuation auch durch sehr viele personale und situative Merkmale beeinflusst. Aus diesen Zusammenhängen lässt sich schließen, dass Arbeitszufriedenheit eine Bedingung des körperlichen und psychischen Wohlbefindens und ein Indikator »gesunder« Arbeitsbedingungen ist: So können z. B. in Betrieben mit hoher Fluktuation auch höhere Belastungen der Mitarbeiter bei gleichzeitig geringeren Ressourcen zur Bewältigung dieser Belastungen nachgewiesen werden (Ducki, 2000; 7 Kap. 28). Zusammenfassend betrachtet weisen all diese Befunde darauf hin, dass Arbeitszufriedenheit auch in Zukunft eines der wichtigsten Konzepte der Arbeits- und Organisationspsychologie sein wird. 24.3
Theorien der Arbeitsmotivation
Theorien der Arbeitsmotivation versuchen zielorientiertes Handeln zu erklären. Nach Kuhl (1983) sind beim zielorientierten Handeln zwei Aspekte zu unterscheiden: 4 das Setzen von Zielen als Resultat der Abschätzung ihrer erwarteten Werte sowie der Erwartung, die Ziele zu erreichen, und 4 das Zielstreben in Form von zielrealisierenden Handlungen. Zur Erklärung beider Aspekte wurden unterschiedliche Theorien entwickelt (Brandstätter & Frey, 2004): Die Wahl von Handlungszielen wird vor allem durch kognitive Theorien erklärt, wobei den sog. Erwartungs-WertTheorien besondere Bedeutung zukommt. Deren wichtigste ist die VIE-Theorie von Vroom (1964). Davon zu unterscheiden sind volitionale, d. h. den Willen thematisierende Theorien, in deren Mittelpunkt die Frage steht, welche Bedingungen und Mechanismen die Realisierung von Handlungszielen fördern. Zur Beantwortung
dieser Frage hat in der Arbeits- und Organisationspsychologie die Theorie der Zielsetzung von Locke und Latham (1990; 2002) die größte Beachtung gefunden. Diese Zweiteilung von Kuhl (1983) lässt sich noch um die theoretisch wie praktisch wichtige Frage ergänzen: Was passiert, wenn Ziele erreicht (bzw. verfehlt) wurden? Die Antwort lautet: Die Ergebnisse und der dafür betriebene Aufwand werden bewertet, wobei vor allem das Gefühl des gerechten Ausgleichs entscheidend ist. Dieses Problem wird abschließend anhand der Gerechtigkeitstheorien untersucht. 24.3.1
Wahl von Handlungszielen: Die VIE-Theorie
Bei der Wahl zwischen Handlungsalternativen werden die Werte oder – wie in der Psychologie häufig gesagt wird – die Valenzen im Sinne der Attraktivität möglicher Ergebnisse des Handelns und die Erwartung, d. h. die subjektive Wahrscheinlichkeit, die entsprechenden Ergebnisse zu erreichen, gegeneinander abgewogen. Diesen Prozess beschreiben die sog. Erwartungs-WertTheorien. Vroom (1964) hat darauf verwiesen, dass bei wichtigen Entscheidungen das Abwägen von Valenz und Erwartung nicht ausreichend ist, da Handlungsergebnisse Folgen nach sich ziehen, die wiederum bewertet werden. Nach seiner Meinung muss daher berücksichtigt werden, in welcher Beziehung Handlungsergebnisse zu wahrgenommenen Folgen stehen. Diese Beziehung nennt er Instrumentalität, d. h., Handlungsergebnisse können günstige oder ungünstige Auswirkungen haben. Damit berücksichtigt Vroom (1964) drei Größen: Valenz, Instrumentalität und Erwartung. Seine Theorie wird nach den Anfangsbuchstaben dieser Größen als VIE-Theorie bezeichnet. Die Logik der VIE-Theorie lässt sich am Beispiel der Entscheidung über beruflichen Aufstieg verdeutlichen (vgl. zum Folgenden Nerdinger, 2006). Angenommen, einem erfolgreichen Mitarbeiter der Personalabteilung wird deren Leitung angeboten. Nach der VIE-Theorie hat die Position »Abteilungsleitung« in diesem Beispiel keinen eigenständigen Wert, vielmehr erhält sie ihren Wert über die Instrumentalität der Position für die damit verbundenen Folgen. So wird die Übernahme der Position vermutlich zu einer erheblichen Einschränkung der Freizeit führen, die Position hat demnach eine negative Instrumentalität für die Freizeit oder anders formuliert:
435 24.3 · Theorien der Arbeitsmotivation
Die Übernahme der Position ist hinderlich für die Realisierung der Freizeitwünsche. Ist dem Anwärter auf die Position seine Freizeit sehr wichtig, d. h., sie hat für ihn eine hohe Valenz, dann ergibt sich aus der Verknüpfung der hohen Valenz von Freizeit mit der negativen Instrumentalität der Position für die Realisierung der Freizeitwünsche eine geringe Valenz der Position. Unter diesem Blickwinkel erscheint die Abteilungsleitung als wenig attraktiv. Dem steht aber möglicherweise entgegen, dass die Position gut dotiert und angesehen ist, die Position hat in diesem Fall eine positive Instrumentalität für Folgen, die der Mitarbeiter vielleicht hoch bewertet. In diesem Sinne werden von der VIE-Theorie alle denkbaren Konsequenzen der Position hinsichtlich Valenz und Instrumentalität untersucht. Der Wert der Position lässt sich dann bestimmen als Summe der Produkte der Valenz der Handlungsfolgen und der Instrumentalität der Position für diese Folgen. Weiter wird sich der Mitarbeiter überlegen, ob er sich die damit verbundenen Aufgaben zutraut, d. h., er bildet sich eine Erwartung darüber, ob er die Position erfolgreich ausfüllen kann. Diese Erwartung setzt er in Beziehung zur Valenz der angebotenen Position, der subjektiven Wertschätzung der Leitung der Personalabteilung (die nach dem eben dargestellten Muster kalkuliert
24
wird). Wenn die Erwartung eines Erfolgs in der Position hoch ist und die Position gleichzeitig hoch bewertet wird – höher als die Alternativen, z. B. in der aktuellen Position zu verbleiben –, dann wird er sich für die Position entscheiden. Die Logik der Verknüpfung von Valenz, Instrumentalität und Erwartung veranschaulicht . Abb. 24.3. Im gewählten Beispiel bildet die Übernahme der Position das Handlungsergebnis, Handlungsfolgen sind alle Auswirkungen des Handlungsergebnisses auf andere Lebens- und Arbeitsbereiche (Freizeit, Ansehen, Einkommen etc.). Wie . Abb. 24.3 verdeutlicht, lässt sich die Valenz des Handlungsergebnisses als Summe der Produkte von Instrumentalität und Handlungsfolgen berechnen, die Entscheidung über eine Handlung ergibt sich aus dem Produkt von Erwartung und Valenz des Ergebnisses. Diese Berechnung ist für alle Entscheidungsalternativen durchzuführen und letztlich wird – einem ökonomischen Kalkül entsprechend – die Alternative mit dem höchsten Wert gewählt. Die mathematische Formulierung der VIE-Theorie ermöglicht die präzise empirische Überprüfung der Theorie, gleichzeitig setzt an diesem Merkmal eine grundlegende Kritik an dem Menschenbild der Theorie ein: Der Mensch wird hier als rational kalkulierendes
© Kohlhammer 1995
. Abb. 24.3. Die VIE-Theorie. (Nach Nerdinger, 1995)
436
24
Kapitel 24 · Arbeitsmotivation und Arbeitszufriedenheit
Wesen betrachtet, das allein seinem Selbstinteresse folgt. Diese Einschränkung wird aber der Komplexität der menschlichen Motive nicht gerecht (Cropanzano, Goldman & Folger, 2005). Auch die empirische Überprüfung der Theorie hat zu eher enttäuschenden Ergebnissen geführt. So zeigt eine Metaanalyse (Van Eerde & Thierry, 1996), dass jede einzelne der Variablen die Arbeitsleistung besser erklärt als das komplizierte Modell von Vroom. Allerdings verweist Donovan (2001) darauf, dass die meisten bislang durchgeführten Untersuchungen, die auch in dieser Metaanalyse ausgewertet wurden, methodisch den Aussagen der Theorie nicht angemessen sind – betrachtet man allein die wenigen adäquaten Modelltests, so bestätigen diese die Theorie weitgehend. Demnach ist die VIE-Theorie durchaus als ein brauchbares Modell der Vorgänge bei der Wahl von Handlungszielen zu betrachten, obwohl es noch weitergehender Untersuchungen bedarf, um diese Aussage auch quantitativ überzeugend zu belegen. 24.3.2
Zielrealisierung: Die Theorie der Zielsetzung
Die VIE-Theorie erklärt die Wahl von Handlungszielen, aber wie werden diese Ziele realisiert? Das ist ein Problem des Willens oder wie heute gesagt wird: der Volition (Kehr, 2004). Darunter lassen sich die mentalen Fähigkeiten verstehen, die es ermöglichen, Handlungen auch bei inneren oder äußeren Widerständen aufrechtzuerhalten. Im Rahmen der Arbeits- und Organisationspsychologie ist vor allem der Zusammenhang zwischen den gewählten bzw. den mit dem Vorgesetzten vereinbarten Zielen und dem Leistungshandeln entscheidend. Locke und Latham (1990; 2002; vgl. Schmidt & Kleinbeck, 2004) haben in ihrer Theorie der Zielsetzung den Zusammenhang zwischen Zielen und der Leistung in zwei Hypothesen gefasst: 1. Schwierige, herausfordernde Ziele führen zu besseren Leistungen als mittlere oder leicht zu erreichende Ziele. 2. Herausfordernde und präzise, spezifische Ziele führen zu besseren Leistungen als allgemeine, vage Ziele (im Sinne eines »Geben Sie Ihr Bestes!«). Die Schwierigkeit von Zielen ist subjektiv definiert, dieselbe Zielsetzung kann der eine Mitarbeiter leicht, ein anderer dagegen nur sehr schwer erreichen. »Schwierig-
keit« meint, die Ziele sollen in einem realistischen Maße über den bislang in vergleichbaren Aufgaben gezeigten Leistungen liegen. Nur dann werden sie als herausfordernd erlebt und führen zu Willensanstrengungen, um das Ziel zu erreichen. Das sei an einem einfachen Beispiel im 7 Kasten »Die Schwierigkeit, Lastwagen zu beladen« verdeutlicht.
Die Schwierigkeit, Lastwagen zu beladen Die Lastkraftwagenfahrer eines Holzunternehmens sollten dazu gebracht werden, ihre LKW möglichst mit dem höchsten zulässigen Gewicht zu beladen (Latham & Baldes, 1975). Bislang hatten die Fahrer die Kapazität ihrer LKW lediglich zu rund 60% ausgelastet. Als Arbeitsziel wurde die Beladung von durchschnittlich 94% des zulässigen Ladegewichts festgelegt und jedem Mitarbeiter das entsprechende Ziel vorgegeben. Innerhalb von 3 Monaten erreichten die Fahrer eine durchschnittliche Auslastung ihrer LKW von ca. 90% und hielten dieses Leistungsniveau langfristig bei. Bei Nachfragen zeigte sich, dass die Zielvorgabe den Fahrern zum ersten Mal verdeutlicht hat, was die Vorgesetzten von ihnen erwarten. Als Folge richteten sie ihre Aufmerksamkeit auf die optimale Beladung ihrer LKW und bemühten sich, das Ziel zu erreichen. Im Laufe der Zeit haben sie gelernt, ihren LKW optimal zu beladen und konnten dadurch die Zielvorgabe relativ leicht, d. h. ohne zusätzlichen Arbeitsaufwand erreichen.
Nach der Theorie der Zielsetzung führen spezifische und herausfordernde Ziele zu höherer Leistung als vage formulierte. Ziele können sehr unterschiedlich formuliert sein, von sehr vage (»Erledigen Sie diese Aufgabe!«) bis sehr spezifisch (»Verkaufen Sie bis Ende der Woche drei Gebrauchtwagen im Wert von mindestens 30.000 Euro!«). Vage Zielsetzungen der Art »Geben Sie ihr Bestes!« stimmen aus Sicht der Mitarbeiter mit vielen verschiedenen Ergebnissen überein, auch solchen, die unter ihren Möglichkeiten bleiben. Bei vagen Zielen kann deshalb nahezu jedes Ergebnis positiv bewertet werden, spezifische Ziele dagegen machen eindeutig klar, was eine effektive Leistung darstellt. Herausfordernde und spezifische Ziele führen also zu hohen Leistungen. Damit diese positiven Wirkungen
437 24.3 · Theorien der Arbeitsmotivation
. Abb. 24.4. Die Theorie der Zielsetzung. (Nach Locke & Latham, 1990)
Mit freundlicher Genehmigung von Edwin A. Locke und Gary Latham.
eintreten, müssen allerdings einige Bedingungen beachtet werden, die zusammen mit den beiden Hypothesen die Theorie der Zielsetzung bilden (. Abb. 24.4). Wie in . Abb. 24.4 veranschaulicht, unterscheidet die Theorie vermittelnde Prozesse im Sinne der Wirkmechanismen und moderierende Variablen, die über die Enge des Zusammenhangs zwischen Zielen entscheiden. Wirkmechanismen Ziele als bewusst vorgestellte Ergebnisse des Handelns lösen volitionale Prozesse aus, die zu ihrer Realisierung beitragen: Herausfordernde, spezifische Ziele wirken unmittelbar auf die Richtung, die Anstrengung und die Ausdauer des Handelns, mittelbar wirken sie über die Stimulierung aufgabenspezifischer Pläne und Strategien (Nerdinger, 2006). Ziele bestimmen die Richtung des Handelns durch die Steuerung der Aufmerksamkeit: Mitarbeiter mit spezifischen Zielen suchen solche Informationen, die für die Zielerreichung bedeutsam sind. Informationen, die in keinem unmittelbaren Zusammenhang zu den Zielen stehen, werden dagegen ausgeblendet. In der Praxis kann diese Wirkung durchaus problematisch sein: Werden z. B. Verkäufern allein umsatzbezogene Ziele gesetzt, dann besteht die Gefahr, dass sie andere Aufgaben – wie die längerfristige Kundenbindung oder die Lagerhaltung – vernachlässigen. Menschen regulieren die Anstrengung bei ihren Handlungen entsprechend der Schwierigkeit der Aufga-
ben – dieser Zusammenhang wurde bereits von der deutschen Willenspsychologie zu Beginn des 20. Jahrhunderts entdeckt und als »Schwierigkeitsgesetz der Motivation« bezeichnet (vgl. dazu Kuhl, 1983). Liegt das Ziel in einem realistischen Maß über dem bislang gezeigten Leistungsniveau, werden automatisch mehr Energien mobilisiert, um das Ziel zu erreichen. Herausfordernde und spezifische Ziele können die Ausdauer erhöhen, mit der Handlungen über die Zeit aufrechterhalten werden. Dieser Effekt zeigt sich allerdings nur, wenn keine zeitlichen Begrenzungen für die Realisation der Ziele gesetzt werden. Bei zeitlichen Begrenzungen wird schneller oder härter gearbeitet, um die Ziele zu erreichen. In diesem Fall verrechnen Mitarbeiter ihre Anstrengung mit der Dauer, um die eigene Leistungsfähigkeit zu erhalten. Das wird besonders deutlich beim sog. Menge-Güte-Austausch (Schmidt & Kleinbeck, 2004): Werden allein quantitative Ziele gesetzt, besteht die Gefahr der Realisierung dieser Ziele auf Kosten der Qualität der Leistungen. Schließlich wirken Ziele vermittelt durch aufgabenbezogene Pläne und Strategien auf die Leistung ein. Hierbei lassen sich gespeicherte Pläne von der Entwicklung neuer Pläne unterscheiden (Locke & Latham, 2002). Für die Lösung wenig komplexer Aufgaben liegen häufig bereits gelernte Pläne und erprobte Vorgehensweisen vor. Herausfordernde Ziele begünstigen das Abrufen solcher Pläne und führen somit zu einer besseren Aufga-
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438
Kapitel 24 · Arbeitsmotivation und Arbeitszufriedenheit
benbewältigung. Bei komplexeren Aufgaben dagegen müssen erst neue Strategien und Vorgehensweisen entwickelt werden, u. a. durch Studium der Problemlage, Versuch-Irrtum-Strategien, Einsatz kreativer Problemlösetechniken etc. Der damit verbundene Zeitaufwand erklärt, warum in solchen Fällen herausfordernde Ziele keine größere Leistung bewirken.
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Moderierende Größen Die Wirksamkeit von Zielen hängt nach dieser Theorie von einer Reihe von Moderatoren ab. Moderatoren entscheiden, wie eng der Zusammenhang zwischen zwei Größen ist. Im vorliegenden Fall entscheiden sie also darüber, wie eng der Zusammenhang zwischen schwierigen, spezifischen Zielen und der Leistung der Mitarbeiter ist. Die wichtigsten Moderatoren der Beziehung zwischen Zielen und Leistung sind Zielbindung, Selbstwirksamkeit, Rückmeldung und die Komplexität der Aufgabe. Zielbindung umschreibt das Gefühl der Verpflichtung gegenüber einem Ziel. Je stärker sich Mitarbeiter an ihre Ziele gebunden fühlen, desto enger ist der Zusammenhang zwischen Zielen und Leistung (Klein, Wesson, Hollenbeck & Alge, 1999). Entscheidend ist die Frage, wie Zielbindung entsteht. Dabei ist zunächst an die Wirkung von Partizipation zu denken: Können Mitarbeiter über die Ziele im Sinne einer Zielvereinbarung mitentscheiden, sollten sie sich stärker an die Ziele gebunden fühlen. In empirischen Untersuchungen zeigt sich zwar eine höhere Zielbindung durch Zielvereinbarung im Vergleich zu reinen Zielvorgaben, allerdings findet sich kein Unterschied zu sog. »Tell-and-sell«-Zielen. Bei »Tell-and-sell«-Zielen wird die Zielhöhe vorgegeben und lediglich erläutert, warum es wichtig ist, dieses Ziel zu erreichen. Warum »Tell-and-sell«-Ziele genauso wirksam sind wie Zielvereinbarungen, ist momentan noch nicht vollständig geklärt: Möglicherweise ist der Effekt auf die Autorität dessen, der die Ziele setzt, zurückzuführen – verschiedene Untersuchungen belegen, dass Ziele, die anerkannte Autoritäten vorgeben, als sehr verpflichtend erlebt werden (Locke & Latham, 2002). Denkbar ist allerdings auch, dass »Tell-and-sell«-Ziele nicht dauerhaft zu Zielbindung führen. Zwar ist einleuchtend, dass die Mitarbeiter eine glaubhafte Darstellung der Notwendigkeit für bestimmte Zielhöhen ein oder zur Not auch mehrere Male akzeptieren, erleben sie dieses Vorgehen dagegen als Strategie des Vorgesetzten zur dauernden
Leistungssteigerung, können sich Mitarbeiter dadurch manipuliert fühlen und in der Folge würden Ziele ihre Wirkung verlieren. Einen weiteren wichtigen Moderator bildet die Selbstwirksamkeit, das aufgabenspezifische Selbstvertrauen (Bandura & Locke, 2003). Selbstwirksamkeit ist in allen Phasen des Motivationsprozesses wichtig: Es beeinflusst die Wahl in Entscheidungssituationen, die Ansprüche an die eigene Leistung, den erlebten Stress bei der Aufgabenerfüllung und die Anfälligkeit für Selbstanklagen als Folge des Scheiterns in Leistungsaufgaben. In der Phase der Zielsetzung ist vor allem bedeutsam, dass Selbstwirksamkeit die Zielbindung und das Leistungshandeln positiv beeinflusst. Wer sich als selbstwirksam erlebt, fühlt sich auch eher an herausfordernde Ziele gebunden. Außerdem wirkt Selbstwirksamkeit direkt auf die Leistung ein, da in Leistungsaufgaben mehr Energie investiert wird und die Ausdauer angesichts von Schwierigkeiten und Rückschlägen bei der Zielverfolgung größer ist (Stajkovic & Luthans, 1998). Verschiedene empirische Studien belegen, dass Rückmeldung ohne Zielsetzung keine Wirkung auf die Leistung hat, aber bei schwierigen und spezifischen Ziele die Wirkung auf die Leistung deutlich verstärkt (Schmidt & Kleinbeck, 2004). Rückmeldung kann als ein ganz wesentlicher Moderator der Beziehung zwischen Zielen und Leistung betrachtet werden. Rückmeldung ist aber lediglich eine Form der Information, entscheidend ist, wie der Empfänger die Daten interpretiert, bewertet und welche Folgerungen er daraus zieht. Wenn Rückmeldung signalisiert, dass die Ziele erreicht werden, wird gewöhnlich das Leistungsverhalten beibehalten. Weist Rückmeldung dagegen auf ein Defizit in Bezug auf die Zielerreichung hin, erfolgt eine Leistungssteigerung unter der Bedingung, dass der Empfänger unzufrieden mit dem Erreichten ist, das Gefühl hoher Selbstwirksamkeit hat und sich vornimmt, die bisherige Leistung zu steigern. Schließlich hat auch die Komplexität der Arbeitsaufgabe erheblichen Einfluss auf den Zusammenhang zwischen herausfordernden, spezifischen Zielen und der Leistung. Komplexe Aufgaben sind durch eine Vielzahl von Handlungsschritten und informationshaltige Hinweise gekennzeichnet, die untereinander zu koordinieren sind und sich im Zeitablauf ändern können. Auch bei solchen Aufgaben führen Ziele zu besseren Leistungen, allerdings ist der Zusammenhang nicht so eng wie bei einfachen Aufgaben (Locke & Latham, 2002). Die Bewältigung komplexer Aufgaben erfordert gut ausgearbeitete Pläne
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439 24.3 · Arbeitszufriedenheit
und Strategien des Vorgehens, sodass die Leistung stark von der Qualität dieser Pläne und Strategien abhängt. Bei einfachen Aufgaben dagegen genügt häufig der bloße Wille zur Leistung und auf diesen wirken Zielsetzungen unmittelbar ein (vgl. dazu Schmidt & Kleinbeck, 2004). Die Theorie der Zielsetzung ist eine der empirisch am besten bestätigten Modelle der Arbeits- und Organisationspsychologie. Ihre große Popularität ist sicher auch dadurch begründet, dass sie eine gute Veranschaulichung des Kurt Lewin zugeschriebenen Satzes »Es gibt nichts Praktischeres als eine gute Theorie« darstellt: Aus diesem Ansatz lassen sich unmittelbar Handlungsempfehlungen für Führungskräfte zur Optimierung der Leistung ihrer Mitarbeiter ableiten! 24.3.3
Bewertung der Zielrealisierung: Erlebte (Un-)Gerechtigkeit
Menschen neigen dazu, im Anschluss an die Zielerreichung bzw. -verfehlung die Ergebnisse des Handelns und ihre Konsequenzen zu bewerten. Solche Prozesse der Bewertung bilden eine wichtige Erfahrungsquelle: Sie beeinflussen künftige Entscheidungen und die Bereitschaft, sich für fremdgesetzte Ziele zu engagieren. Im Rahmen dieser Prozesse fragen sich Mitarbeiter u. a., ob sich der Einsatz für das Unternehmen »gelohnt« hat. Bei der Beantwortung dieser Frage ist für ihr weiteres Verhalten entscheidend, ob sie sich gerecht behandelt fühlen. Die Wirkungen erlebter Ungerechtigkeit hat Greenberg (1990) in einem ingeniösen Feldexperiment belegt (7 Kasten »Die Wirkung erlebter Ungerechtigkeit«). Die Untersuchung von Greenberg (1990) verdeutlicht, dass sich Gerechtigkeit auf unterschiedliche Aspekte der
Realität beziehen kann, gewöhnlich werden drei Formen erlebter (Un-) Gerechtigkeit unterschieden: 4 Verteilungsgerechtigkeit: Mitarbeiter investieren in die Arbeit Energie, Gesundheit, Intelligenz und vieles mehr, dafür erhalten sie vom Unternehmen Bezahlung, Sozialleistungen, Anerkennung und andere Belohnungen. Ungerechtigkeit wird erlebt, wenn ein Mitarbeiter das Verhältnis seiner Erträge zu seinen Einsätzen im Vergleich zum Verhältnis der Erträge zu den Einsätzen einer Vergleichsperson als ungleich erlebt. 4 Verfahrensgerechtigkeit: Damit wird die Fairness des Verfahrens bezeichnet, das zur Vorbereitung von Entscheidungen dient, die sich speziell auf die Verteilung und den Austausch von Ressourcen beziehen. 4 Interaktionale Gerechtigkeit: Sie bezieht sich auf die Berücksichtigung von Fairness in Interaktionen; wird in der Interaktion keine Fairness vorgelebt, kann das entscheidend zum Misserfolg eines Verfahrens beitragen, das der Verteilung dient. In Organisationen bezieht sich interaktionale Gerechtigkeit vor allem auf das Verhältnis Vorgesetzter–Mitarbeiter. Bislang liegt nur zur Verteilungsgerechtigkeit eine ausformulierte psychologische Theorie vor (Adams, 1965). Aufgrund ihrer Vagheit ermöglicht diese Theorie allerdings nur Post-hoc-Erklärungen, nicht jedoch empirisch überprüfbare Verhaltensprognosen (Donovan, 2001). Ganz im Gegensatz zum unbefriedigenden Stand der theoretischen Entwicklung liegt aber zu den Wirkungen der verschiedenen Formen erlebter Ungerechtigkeit mittlerweile eine Vielzahl von Untersuchungen vor, die von Colquitt, Conlon, Wesson, Porter und Ng (2001) einer äußerst differenzierten und gründlichen Metaanalyse unterzogen wurden. . Tab. 24.1 zeigt die Zusammenhänge der Gerechtigkeitsformen mit der Leistung, der
. Tab. 24.1. Zusammenhänge der Gerechtigkeitsformen mit Leistung, Arbeitszufriedenheit und negativem Verhalten. (Nach Colquitt et al., 2001) Leistung
Arbeitszufriedenheit
negatives Verhalten
N
k
r
ρ
N
k
r
ρ
N
k
r
ρ
Verteilung
2.294
13
.13
.15
57.515
24
.46
.56
3.782
13
–.26
–.30
Verfahren
6.925
18
.30
.36
4.958
11
.33
.40
3.563
13
–.33
–.38
389
2
.03
.03
1.795
2
.31
.35
2.702
7
–.30
–.35
Interaktional
N Anzahl untersuchter Personen; k Anzahl der Untersuchungen; r mittlere Korrelation; ρ mittlere korrigierte Korrelation
© American Psychological Association 2001
Gerechtigkeit
440
Kapitel 24 · Arbeitsmotivation und Arbeitszufriedenheit
Die Wirkung erlebter Ungerechtigkeit
Arbeitszufriedenheit und sog. negativem Verhalten, zu dem u. a. auch Diebstahl und andere Formen des kontraproduktiven Verhaltens zählen (vgl. dazu Nerdinger, 2008; . Tab. 24.1). Demnach finden sich sehr beachtliche Zusammenhänge zwischen der Verfahrensgerechtigkeit und der
dabei kein Schuldgefühl, da sie ja »nur« eine Ungerechtigkeit der Firmenleitung korrigierten. Die ausführlichen Erklärungen des Managements haben aber in der einen Fabrik zum Erleben eines von Respekt geprägten Umgangs der Geschäftsleitung mit den Mitarbeitern geführt. Die Interaktion zwischen Manager und Mitarbeitern wurde in diesem Fall als fair eingestuft. In der Folge wurde aber vermutlich auch das Verfahren der Lohnkürzung eher als gerecht bewertet, weshalb hier der Materialschwund insgesamt sehr viel geringer als in der anderen Fabrik ausfiel. Ein als gerecht erlebtes Verfahren der Verteilung von Ressourcen bzw. eine faire Interaktion zwischen Vorgesetzten und Mitarbeitern kann also die negativen Folgen einer ungerechten Verteilung erheblich abschwächen (Greenberg, 1990).
© American Psychological Association 1990
24
Ein amerikanisches Unternehmen hatte wichtige Aufträge verloren und beschloss daraufhin, in zwei ihrer Fabriken die Löhne 10 Wochen lang um 15% zu kürzen. Greenberg (1990) nutzte diese Situation, um die Wirkung unterschiedlicher Arten der Vermittlung dieses Beschlusses zu erforschen. In der ersten Fabrik wurden die Lohnkürzungen auf einer Betriebsversammlung, die rund 90 Minuten dauerte, durch einen Vertreter der Geschäftsführung ausführlich begründet und mit den Mitarbeitern diskutiert. In der zweiten Fabrik wurden dagegen die Mitarbeiter am Ende eines Arbeitstages durch denselben Manager lediglich kurz über die Tatsache informiert, dass eine Lohnkürzung um 15% für 10 Wochen erfolgt. Weder wurde die Grundlage der Entscheidung erläutert noch fand der Vertreter der Geschäftsführung ein Wort des Bedauerns oder des Respekts gegenüber den Mitarbeitern. Die Anzahl der Diebstähle vor, während und nach den Lohnkürzungen wurde durch ein im Unternehmen übliches Verfahren zur Erfassung der »Schrumpfung des Materialbestands« gemessen. In einer dritten Fabrik, die nicht von den Lohnkürzungen betroffen war, wurde die Schrumpfung zum Vergleich erfasst (. Abb. 24.5). In beiden Fabriken verschwand während der Phase der Lohnkürzungen mehr Material als in der Vergleichsfabrik ohne Lohnkürzung. Aber in der Fabrik, in der die Entscheidung ausführlich begründet wurde, verschwand in dieser Zeit nur halb so viel Material wie in der zweiten Fabrik. Außerdem kündigten sehr viel weniger Mitarbeiter in der Fabrik, in der die Lohnkürzungen ausführlich begründet wurden. Dass als Folge der Lohnkürzungen der Materialschwund sprunghaft ansteigt, verdeutlicht die Wirkung einer als ungerecht erlebten Verteilung von Ressourcen. Offensichtlich haben manche Mitarbeiter versucht, die Lohnkürzung durch Erhöhung ihrer Ergebnisse zu kompensieren. Vermutlich empfanden sie
. Abb. 24.5. Die »Schrumpfung des Materialbestands« in Abhängigkeit von Lohnkürzungen und deren unterschiedlicher Bekanntmachung. (Nach Greenberg, 1990)
Leistung, die Verteilungsgerechtigkeit korreliert dagegen deutlich schwächer mit dieser entscheidenden Größe (zum Zusammenhang mit interaktionaler Gerechtigkeit liegen zu wenig Untersuchungen für ein aussagekräftiges Ergebnis vor). Noch ausgeprägter sind die Zusammenhänge mit der Arbeitszufriedenheit. So findet sich eine
441 Literatur
extrem hohe korrigierte Korrelation der Verteilungsgerechtigkeit mit der Arbeitszufriedenheit (rk=.56; dies dürfte allerdings eine Überschätzung aufgrund der Tatsache sein, dass die meisten Untersuchungen die wahrgenommene Gerechtigkeit und die Arbeitszufriedenheit gleichzeitig bei den Befragten erheben). Vor allem aber deuten die Ergebnisse darauf hin, dass alle drei Formen erlebter Ungerechtigkeit in direktem Zusammenhang zu negativem Verhalten stehen. Die Untersuchung von
Greenberg (1990) konnte für diesen Fall auch eine kausale Richtung belegen – das Gefühl ungerechter Behandlung führt zu negativem Verhalten! Das zeigt, dass das Erleben von Gerechtigkeit eines der wichtigsten Motive menschlichen Handelns ist, oder – wie es der Philosoph Immanuel Kant ausgedrückt hat: »Niemals empört etwas mehr als Ungerechtigkeit. Alle anderen Übel, die wir ausstehen, sind nichts dagegen.«
Zusammenfassung 4 Motivation erklärt Richtung, Intensität und Ausdauer menschlichen Verhaltens. 4 Aufseiten der Person werden Motive wirksam, aufseiten der Situation wirken Anreize auf die Motive, regen diese an und führen zu Verhalten. 4 Motivation dient zur Erklärung von Leistung und Zufriedenheit von Mitarbeitern, wobei Arbeitszufriedenheit nicht nur Ergebnis der Motivation ist, sondern auch selbst motivierende Wirkungen hat. 4 Arbeitszufriedenheit ist eine Einstellung zur Arbeit, die sich auf verschiedene Facetten der Arbeit bezieht. 4 Zur Erklärung wurde die Zwei-Faktoren-Theorie entwickelt, die auf die große Bedeutung der Tätigkeitsinhalte für die Zufriedenheit und die Motivation verweist. 4 Das Job Characteristics Model erklärt, wie Tätigkeiten beschaffen sein müssen, damit sie zufrieden machen. 4 Arbeitszufriedenheit wird auch durch Persönlichkeitsmerkmale beeinflusst, besonders durch das Merkmal Negative Affektivität.
L Weiterführende Literatur Brandstätter, V. & Frey, D. (2004). Motivation zu Arbeit und Leistung. In H. Schuler (Hrsg.), Organisationspsychologie 1 – Grundlagen und Personalpsychologie. Enzyklopädie der Psychologie, Bd. D/ III/3 (S. 295–341). Göttingen: Hogrefe. Fischer, L. (2006). Arbeitszufriedenheit (2. Aufl.). Göttingen: Hogrefe. Heckhausen J. & Heckhausen, H. (2005). Motivation und Handeln (3. Aufl.). Berlin: Springer. Nerdinger, F.W. (1995). Motivation und Handeln in Organisationen. Eine Einführung. Stuttgart: Kohlhammer.
4 Bei den Konsequenzen der Zufriedenheit wurde vor allem der Zusammenhang zur Leistung intensiv untersucht, wobei sich eine moderate Korrelation nachweisen lässt. 4 Bei der Arbeitsmotivation lassen sich drei Phasen unterscheiden: die Wahl von Handlungszielen, die Zielrealisierung und die Bewertung der Ergebnisse des Handelns. 4 Die Wahl von Zielen wird gewöhnlich durch Erwartungs-Wert-Theorien erklärt, deren wichtigste die VIETheorie ist. 4 Die Zielrealisierung lässt sich anhand der Theorie der Zielsetzung beschreiben. 4 Für die Bewertung der Konsequenzen des Handelns haben Fragen des Erlebens von Gerechtigkeit besondere Bedeutung. 4 Erlebte Ungerechtigkeit wirkt negativ auf Leistung und Arbeitszufriedenheit und führt zu negativem, die Organisation schädigendem Verhalten.
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24
442
24
Kapitel 24 · Arbeitsmotivation und Arbeitszufriedenheit
Brandstätter, V. & Frey, D. (2004). Motivation zu Arbeit und Leistung. In H. Schuler (Hrsg.), Organisationspsychologie 1 – Grundlagen und Personalpsychologie. Enzyklopädie der Psychologie, Bd. D/ III/3 (S. 295–341). Göttingen: Hogrefe. Colquitt, J.A., Conlon, D.E., Wesson, M.J., Porter, C.O.L.H. & Ng, K.Y. (2001). Justice at the millenium: A meta-analytic review of 25 years of organizational justice research. Journal of Applied Psychology, 86, 425–445. Cropanzano, R., Goldman, B. & Folger, R. (2005). Self-interest: Defining and understanding a human motive. Journal of Organizational Behavior, 26, 985–991. Donovan, J.J. (2001). Work motivation. In N. Anderson, D.S. Ones, H.K. Sinangil & C. Viswesvaran (Eds.), Handbook of industrial, work and organizational psychology, vol. 2: Organizational psychology (pp. 53–76). London: Sage. Dormann, C. & Zapf, D. (2001). Job satisfaction: A meta-analysis of stabilities. Journal of Organizational Behavior, 22, 483–504. Ducki, A. (2000). Diagnose gesundheitsförderlicher Arbeit. Zürich: vdf. Fischer, L. (2006). Arbeitszufriedenheit (2. Aufl.). Göttingen: Hogrefe. Fischer, L. & Fischer, O. (2005). Arbeitszufriedenheit: Neue Stärken und alte Risiken eines zentralen Konzepts der Organisationspsychologie. Wirtschaftspsychologie, 7 (1), 5–20. Flanagan, J. G. (1954). The critical incident technique. Psychological Bulletin, 51, 327–258. Greenberg, J. (1990). Employee theft as a reaction to underpayment inequity: The hidden cost of pay cuts. Journal of Applied Psychology, 75, 561–568. Hackman, J.R. & Oldham, G.R. (1980). Work redesign. Reading, MA.: Addison-Wesley. Heath, C. (1999). On the social psychology of agency relationships: Lay theories of motivation overemphasize extrinsic incentives. Organizational Behavior and Human Decision Processes, 78, 25–62. Heckhausen J. & Heckhausen, H. (2005). Motivation und Handeln (3. Aufl.). Berlin: Springer. Herzberg, F., Mausner, B. & Snyderman, B. (1959). The motivation to work. New York: Wiley. Judge, T.A., Parker, S., Colbert, A.E., Heller, D. & Ilies, R. (2001). Job satisfaction: A cross-cultural review. In N. Anderson, D.S. Ones, H.K. Sinangil & C. Viswesvaran (Eds.), Handbook of industrial, work and organizational psychology, vol. 2: Organizational psychology (pp. 25–52). London: Sage. Judge, T.A., Thoresen, C.J., Bono, J.E. & Patton, G.K. (2001). The job satisfaction-job performance relationship: A qualitative and quantitative review. Psychological Bulletin, 127, 376–407. Kehr, H.M. (2004). Motivation und Volition. Göttingen: Hogrefe. Klein, H.J., Wesson, M.J., Hollenbeck, J.R. & Alge, B.J. (1999). Goal commitment and the goal setting process. Journal of Applied Psychology, 84, 885–896. Kuhl, J. (1983). Motivation, Konflikt und Handlungskontrolle. Berlin: Springer.
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25
25 Formen des Arbeitsverhaltens 25.1
Die Vielfalt des Arbeitsverhaltens – 444
25.2
Produktives Verhalten: Leistung und Leistungsergebnisse
– 446
25.3
Extraproduktives Verhalten
25.3.1 25.3.2 25.3.3
Entwicklung verschiedener Konzepte des extraproduktiven Verhaltens – 447 Dimensionalität und Bedingungen extraproduktiven Verhaltens – 449 Konsequenzen extraproduktiven Verhaltens – 450
25.4
Kontraproduktives Verhalten – 451
25.4.1 25.4.2 25.4.3
Zum Begriff »kontraproduktives Verhalten« – 451 Bedingungen kontraproduktiven Verhaltens – 454 Maßnahmen zur Vermeidung kontraproduktiven Verhaltens
25.5
Die Beziehung zwischen extraproduktivem und kontraproduktivem Verhalten – 456 Literatur
– 457
– 447
– 455
444
Kapitel 25 · Formen des Arbeitsverhaltens
> Arbeitsverhalten ist ein Schlüsselbegriff der Arbeits- und Organisationspsychologie – methodisch betrachtet ist das Verhalten in der Arbeit die wichtigste abhängige Variable, die es zu erklären und zu prognostizieren gilt. Der Grund dafür liegt natürlich in der Bedeutung des Arbeitsverhaltens für die ganze Organisation: Unternehmen brauchen Mitarbeiter, die ein optimales Arbeitsverhalten zeigen, um ihre Ziele zu erreichen, die für ihr Überleben notwendigen Produkte und Dienstleistungen herzustellen und dabei möglichst Wettbewerbsvorteile zu erringen. Dies zeigt bereits, dass gewöhnlich bei dem Begriff Arbeitsverhalten spontan an die Leistung der Mitarbeiter gedacht wird. Nimmt man aber den Begriff weiter im Sinne des Verhaltens in der Arbeit, zeigt sich schnell, dass zum Arbeitsverhalten sehr viel mehr zählt als »nur« die Bewältigung der zugewiesenen Aufgaben. Offensichtlich ist Arbeitsverhalten ein mehrdimensionales Konzept, das im Folgenden etwas aufgeschlüsselt wird.
25
25.1
Die Vielfalt des Arbeitsverhaltens
Wann immer Menschen ihre Arbeitskraft gegen Entgelt zur Verfügung stellen, wird von ihnen erwartet, diese im Sinne dessen (eines Kunden, Klienten, der Gesellschaft) einzusetzen, der dafür eine Gegenleistung erbringt. Im Falle von abhängig Beschäftigten besteht diese Erwartung darin, einen Beitrag zu den Zielen einer Organisation zu leisten. (Marcus & Schuler, 2006, S. 434; Hervorhebungen im Original)
Da Mitarbeiter für die Zeit, die sie in der Organisation bzw. bei der Arbeit verbringen, bezahlt werden, wird von ihnen erwartet, dass sie einen Beitrag zu den Zielen der
Organisation leisten. Dieser Beitrag entspricht im weitesten Sinne ihrer Leistung, das Verhalten, das dazu führt, kann daher als produktives Verhalten bezeichnet werden. Nun kann man aber auch fragen, auf welchem Wege sie dies erreichen, d. h., ob sie sich dabei an den allgemein akzeptierten Verhaltensregeln orientieren oder aber dagegen verstoßen. Nach dieser Logik kann Arbeitsverhalten zum einen danach unterschieden werden, ob es den Zielen der Organisation dient oder diesen schadet, und zum anderen danach, ob es den dort geltenden Regeln entspricht oder nicht. Unter der Annahme, dass diese beiden Dimensionen unabhängig sind, kann Arbeitsverhalten in das in . Abb. 25.1 wiedergegebene Schema eingeordnet werden.
. Abb. 25.1. Struktur des Arbeitsverhaltens. (Mod. nach Neuberger, 2006)
Mit freundlicher Genehmigung der Lucius & Lucius Verlagsgesellschaft mbH.
445 25.1 · Die Vielfalt des Arbeitsverhaltens
Geht man davon aus, dass die »normale Leistung«, die durch produktives Verhalten erzielt wird, in diesem Schema einen schwer abgrenzbaren Bereich in der Mitte der Darstellung einnimmt (vgl. Neuberger, 2006), lassen sich aufgrund dieser Einteilung einige extreme Ausprägungen des Arbeitsverhaltens unterscheiden. Ein Verhalten, das den Zielen der Organisation dient und jeglichen Regeln vollständig entspricht – und gerade deshalb gewissermaßen als Idealfall aus der Sicht der Organisation zu bezeichnen ist –, wird als extraproduktives Verhalten bezeichnet. Bereits früh wurde in der Managementliteratur darauf verwiesen, dass eine Organisation nur dann funktionieren kann, wenn die Mitglieder bereit sind, sich für das System über das in formalen Arbeitsverträgen Geforderte hinaus einzusetzen. Umschrieben wurde diese Bereitschaft mit Begriffen wie Loyalität, Solidarität oder »esprit de corps«. Katz (1964) hat dies als innovatives und spontanes Verhalten charakterisiert, das die formalen Anforderungen übersteigt und zur Funktionsfähigkeit der Organisation beiträgt. Dazu zählte er 1. Kooperation mit Kollegen, 2. Handlungen zum Schutze der Organisation, 3. spontane Verbesserungsvorschläge, 4. freiwillige Weiterbildung, 5. Handlungen, die zum positiven Image der Organisation in der Öffentlichkeit beitragen. Die meisten der fraglichen Handlungen werden gewöhnlich als völlig regelkonform und daher als selbstverständlich erachtet, entsprechend hat auch die organisationspsychologische Forschung diese Handlungen lange Zeit nicht beachtet. Erst in den letzten Jahrzehnten wurde ihre Bedeutung erkannt und seitdem entsprechend intensiv untersucht. Da die damit verbundenen Verhaltensweisen über das vertraglich geforderte hinaus gehen und den Zielen der Organisation dienen, werden sie hier als extraproduktives Verhalten bezeichnet. Ein Beispiel für ein Verhalten, das den Zielen der Organisation dient und dabei u. U. gegen ihre Regeln verstößt, ist das sog. Intrapreneurship. Mit dieser Wortschöpfung – die aus dem Begriff Entrepreneurship, d. h. dem Unternehmertum abgeleitet ist – werden Mitarbeiter beschrieben, die sich wie Unternehmer im Unternehmen verhalten (Wunderer & Kuhn, 1995). Von Intrapreneuren wird erwartet, dass sie im eigenen Arbeitsbereich Erfolgschancen aufspüren, das Risiko bei der Verwirklichung von Innovationen selber managen und dafür auch
noch die Verantwortung übernehmen. Unternehmerisches Verhalten von Mitarbeitern wird gern plakativ durch die im 7 Kasten aufgeführten »zehn Gebote« veranschaulicht (Wunderer & Kuhn, 1995).
Die zehn Gebote des Intrapreneurs 1. Komme jeden Tag mit der Bereitschaft zur Arbeit, gefeuert zu werden. 2. Umgehe alle Anordnungen, die Deinen Traum stoppen können. 3. Mach alles, was zur Realisierung Deines Ziels erforderlich ist – unabhängig davon, wie Deine eigentliche Aufgabenbeschreibung aussieht. 4. Finde Leute, die Dir helfen. 5. Folge bei der Auswahl von Mitarbeitern Deiner Intuition, und arbeite nur mit den besten zusammen. 6. Arbeite so lange es geht im Untergrund – eine zu frühe Publizität könnte das Immunsystem des Unternehmens mobilisieren. 7. Wette nie in einem Rennen, wenn Du nicht selbst darin mitläufst. 8. Denke daran – es ist leichter um Verzeihung zu bitten als um Erlaubnis. 9. Bleibe Deinen Zielen treu, aber sei realistisch in Bezug auf Möglichkeiten, diese zu erreichen. 10. Halte Deine Sponsoren in Ehren.
Diese »zehn Gebote« zeichnen das Bild von einem Mitarbeiter, der einen heroischen Kampf mit den bürokratischen Verkrustungen des Unternehmens aufnimmt, um dieses zur retten (warum er das tun sollte, d. h., die Frage nach der Motivation für dieses Verhalten, bleibt dabei unbeantwortet). Der Intrapreneur ist damit ein Beispiel für ein Verhalten, das den Zielen des Unternehmens dienen soll und dabei gleichzeitig gegen dessen Regeln verstößt (vgl. auch Solga & Blickle, 2003). Ein Verhalten, das den Zielen der Organisation schadet und ihren Regeln widerspricht, wird als kontraproduktives Verhalten bezeichnet. Kontraproduktives Verhalten betrifft einen Bereich über den zwar ungern gesprochen wird, der aber große Bedeutung für die Organisation hat (vgl. Nerdinger, 2008). Das Phänomen ist eigentlich allgemein bekannt – im Lager verschwindet regelmäßig Material, an Montagen liegen die krankheits-
25
446
25
Kapitel 25 · Formen des Arbeitsverhaltens
bedingten Ausfälle besonders hoch, manche Mitarbeiter trinken gerne mal »ein Bier über den Durst« und unliebsame Kollegen werden gelegentlich verbal oder gar körperlich »abgestraft«, wenn sie sich nicht an die ungeschriebenen Regeln und Gesetze der Arbeitsgruppe halten. In der Arbeits- und Organisationspsychologie wurde solches Verhalten lange Zeit kaum beachtet. Erst in den letzten Jahren ist hier ein Umdenken zu beobachten, seitdem werden die Ursachen verschiedenster Formen problematischen Mitarbeiterverhaltens wissenschaftlich verstärkt untersucht. Als übergreifendes Konzept für solches Verhalten setzt sich dabei zunehmend der Begriff kontraproduktives Verhalten durch. Schließlich findet sich auch ein absolut regelkonformes Verhalten in der Arbeit, das gerade aufgrund dieses Merkmals den Zielen der Organisation schaden kann. Katz (1964) hat darauf hingewiesen, dass eine Organisation, deren Mitglieder nur genau das formal vorgeschriebene und belohnte Verhalten zeigen, kaum überleben kann. In Deutschland wurde das durch eine Form des Streiks bei Fluglotsen bekannt, die als Dienst nach Vorschrift bezeichnet wird: Wer sich strikt an den Vorschriften für die Arbeit orientiert, kann gerade dadurch die Arbeit lahm legen. Der Grund liegt darin, dass ihre erfolgreiche Bewältigung im Sinne produktiven Verhaltens gewöhnlich eine der alltäglichen Vernunft entsprechende Verletzung der Regeln erfordert. Dienst nach Vorschrift und Intrapreneurship sind nicht so weit verbreitete bzw. empirisch wenig erforschte Fälle des Arbeitsverhaltens, daher konzentrieren sich die folgenden Ausführungen auf die drei zentralen Bereiche, das produktive , das extraproduktive und das kontraproduktive Verhalten. 25.2
Produktives Verhalten: Leistung und Leistungsergebnisse
Obwohl produktives Verhalten bzw. allgemein die Variable »Leistung« für die Arbeits- und Organisationspsychologie von zentraler Bedeutung ist, wird der Begriff sehr unklar gehandhabt. Besonders die Unterscheidung zwischen Leistungsverhalten und Leistungsergebnis wird selten explizit getroffen. In Anlehnung an Campbell, McCloy, Oppler und Sager (1993) lassen sich Leistungsverhalten (»performance«), Leistung und Produktivität unterscheiden.
Definition Leistungsverhalten umfasst das Verhalten im Rahmen aller betrieblichen Aufgaben, in die Mitarbeiter in einer Organisation eingebunden sind; statt Leistungsverhalten wird im Folgenden auch von produktivem Verhalten gesprochen. Leistung im Sinne einer Bewertung der Arbeitsergebnisse – häufig auch als Effektivität bezeichnet – umfasst die Beiträge des Mitarbeiters zur Erreichung der Ziele der Organisation. Leistungsverhalten ist demnach das Mittel, um Leistung zu erzielen. Produktivität bezieht sich auf die Leistung in Relation zu den Kosten; sie wird gewöhnlich in globalen Maßen erfasst und gibt an, wie gut eine Arbeitsgruppe oder die ganze Organisation funktioniert.
Psychologisch betrachtet sind Leistung und Leistungsverhalten die entscheidenden Größen (vgl. Sonnentag & Frese, 2002). Zur Erfassung der Leistung im Sinne der Effektivität bieten sich verschiedene objektive Maße an: Bei einem Verkäufer können das z. B. Umsatz in einer festgelegten Periode, Anzahl der Verkäufe pro Zeiteinheit, Stornoquoten u. Ä. sein. Bei genauer Betrachtung lässt sich aber keines dieser Maße allein auf das Leistungsverhalten des Mitarbeiters zurückführen, da die Ergebnisse immer auch durch verschiedene Faktoren der Umwelt beeinflusst werden. Dazu zählen die Bedingungen am Markt, technologische Entwicklungen, aber auch das Verhalten der Vorgesetzten gegenüber den einzelnen Mitarbeitern und anderes mehr. In dem Maße, in dem diese Umweltfaktoren Einfluss auf die Ergebnisse nehmen und nicht für alle Mitarbeiter eines Unternehmens gleich sind, sind die Maße kontaminiert, d. h., sie erlauben keinen eindeutigen Rückschluss auf den Anteil des Mitarbeiters an der Leistung. Damit nicht genug können objektive Maße wichtige Aspekte des produktiven Verhaltens von Mitarbeitern nicht erfassen, z. B. den Beitrag, den sie durch ihr Verhalten für ein positives Image der Organisation leisten oder ihre Bemühungen um die Qualität der Beziehung zu den Kunden. Außerdem ergeben sich bei der zeitlichen Zurechnung Probleme: Leistungen können sich mit dem gezeigten produktiven Verhalten einstellen, unmittelbar danach oder auch nach längeren Zeitperioden (Schmidt & Kleinbeck, 2004). Während sich die Leistung eines Verkäufers häufig sofort im Umsatz zeigt, lässt sich das
447 25.3 · Extraproduktives Verhalten
produktive Verhalten eines Wissenschaftlers oder eines Entwicklungsingenieurs oftmals erst nach Jahren in greifbaren Ergebnissen erfassen. Daher bietet es sich sowohl in der Forschung als auch in der Praxis an, das produktive Verhalten (Leistungsverhalten) als Bezugspunkt psychologischer Analysen oder betrieblicher Interventionen zu wählen, da auf diesem Wege bei der Bewertung der Leistung nur das berücksichtigt wird, was der einzelne Mitarbeiter kontrollieren kann und damit auch selbst verantworten muss. Das wird z. B. im Rahmen regelmäßiger Mitarbeiterbeurteilungen versucht, wobei der Vorgesetzte das Leistungsverhalten der ihm unterstellten Mitarbeiter auf verschiedenen Dimensionen einstuft (7 Kap. 18). Verbindet man eine solche Beurteilung mit einem Mitarbeitergespräch, das den Vorgesetzten zwingt, seine Schlussfolgerungen durch konkrete Beobachtungen zu belegen und mit der Sicht des Mitarbeiters abzustimmen (7 Kap. 5), erlebt der Mitarbeiter die Bewertung als fairer im Vergleich zur bloßen Berücksichtigung objektiver Maße. Wird in wissenschaftlichen Untersuchungen die abhängige Variable »Leistung« in Form von Mitarbeiterbeurteilungen operationalisiert, ist dagegen mit systematischen Verzerrungen aufgrund der Subjektivität der Beurteilenden zu rechnen. Solche Verzerrungen sind u. a. abhängig von der Vertrautheit des Vorgesetzten mit seinen Mitarbeitern: Bei geringer Vertrautheit unterschätzen sie deren Leistung, sind sie sehr vertraut mit ihnen, neigen sie zur Überschätzung. Gewöhnlich werden solche Befunde darüber erklärt, dass die Beurteilung der Leistung von Mitarbeitern auf verschiedenen Dimensionen einem Halo-Effekt unterliegt, d. h., dass ein generell positiver oder negativer Gesamteindruck die Einzelurteile überschattet. Viswesvaran, Schmidt und Ones (2005) haben metaanalytisch gezeigt, dass Vorgesetztenurteile tatsächlich einem starken Halo-Effekt unterliegen, unabhängig davon findet sich aber auch ein Generalfaktor des produktiven Verhaltens. Das ist vermutlich darauf zurückzuführen, dass einige wenige Fähigkeiten und Eigenschaften zur Leistung in (fast) allen Dimensionen produktiven Verhaltens beitragen. Dazu zählen vor allem kognitive Fähigkeiten und das Persönlichkeitsmerkmal »Gewissenhaftigkeit«. Obwohl sich in dieser Untersuchung ein Generalfaktor nachweisen ließ, wird gewöhnlich davon ausgegangen, dass produktives Verhalten mehrdimensional ist. Diese Auffassung geht zurück auf die Untersuchungen im sog. US Army Selection and Classification Project
(Project A), einer der umfangreichsten personalpsychologischen Untersuchungen, die bislang durchgeführt wurden. Auf den dabei gefundenen Ergebnissen aufbauend haben Campbell et al. (1993) eine generelle Theorie der beruflichen Leistung entwickelt, deren Struktur . Abb. 25.2 zeigt. In dieser Theorie wird die Leistung durch drei Determinanten erklärt: deklaratives (statisches) Wissen, prozedurales Wissen (Wissen über Verfahren) und Fertigkeiten (»gewusst wie«) sowie die Motivation zur Leistung. Diese drei Determinanten werden multiplikativ verknüpft, was bedeutet, dass jede dieser Determinanten wenigstens in einem Mindestmaß vorliegen muss, damit eine berufliche Leistung zustande kommt (Marcus & Schuler, 2006). Diese setzt sich aus acht Komponenten des produktiven Verhaltens zusammen, wobei zumindest die sechste Komponente – Kooperation und Unterstützung von Kollegen – gewöhnlich als extraproduktives Verhalten betrachtet wird. Leider ist die Theorie bislang noch nicht hinlänglich empirisch getestet. In einer Untersuchung der Autoren (Campbell et al., 1993) konnte zumindest bestätigt werden, dass die Leistung durch die drei in . Abb. 25.2 genannten Determinanten erklärt wird, wobei die Motivation mit Abstand am wichtigsten war. Ein Großteil der arbeits- und organisationspsychologischen Forschung zielt darauf, Leistung bzw. produktives Verhalten zu erklären oder zu optimieren, insofern stehen die meisten Kapitel dieses Lehrbuchs in direktem oder indirektem Zusammenhang mit dieser Größe. Im Weiteren wird daher das »übrige« Arbeitsverhalten etwas genauer betrachtet, das man in extra- und kontraproduktives Verhalten einteilen kann. 25.3
Extraproduktives Verhalten
25.3.1
Entwicklung verschiedener Konzepte des extraproduktiven Verhaltens
Das hier als extraproduktiv bezeichnete Verhalten wurde lange Zeit von der arbeits- und organisationspsychologischen Forschung ignoriert (vgl. zum Folgenden Nerdinger, 2004). Erst als dafür ein einprägsamer Namen gefunden wurde, entstand eine eigene Forschungsrichtung. Das war die Leistung von Denis Organ (Smith, Organ & Near, 1983), der den Begriff »organizational citizenship behavior« (OCB) geprägt hat.
25
448
Kapitel 25 · Formen des Arbeitsverhaltens
© John Wiley & Sons, Inc. 1993
25
. Abb. 25.2. Theorie der beruflichen Leistung von Campbell et al. (1993; nach Marcus & Schuler, 2006)
Definition Organizational Citizenship Behavior ist freiwilliges Verhalten, das sich positiv auf die Funktionsfähigkeit der Organisation auswirkt und im Rahmen des formalen Anreizsystems nicht direkt oder explizit berücksichtigt wird.
Es handelt sich also um ein produktives Verhalten, das weder aufgrund formaler Rollenvorschriften einklagbar noch durch erwartete betriebliche Belohnungen motiviert ist. Der Begriff »freiwillig« ist dabei insofern missverständlich, als im Kontrast dazu das »normale« produktive Verhalten als »erzwungen« erscheint. Gemeint ist vielmehr ein selbstbestimmtes im Gegensatz zu fremdbestimmtem Verhalten. Den Ausgangspunkt der Untersuchungen zum OCB bildeten die empirisch gefundenen Zusammenhänge zwischen Leistung und Zufriedenheit, die nach damaligem Stand der Erkenntnis eher gering eingeschätzt wurden (7 Kap. 24). Organ entwickelte nun die Hypothese, dass Zufriedenheit nicht direkt auf die Leistung wirkt,
sondern auf OCB. Dieses soll wiederum die Ergebnisse ganzer betrieblicher Einheiten auf aggregiertem Niveau beeinflussen. Zur Überprüfung dieser These haben Smith et al. (1983) ein Messinstrument entwickelt, das in seiner ersten Fassung aus 16 Items besteht, die auf 2 Faktoren laden und bezeichnet wurden als 1. Altruismus im Sinne von Hilfeleistungen für Kollegen, Kunden oder Vorgesetzte und 2. Gewissenhaftigkeit im Sinne besonders sorgfältiger Erfüllung der Aufgaben. Später erweiterte Organ (1988) das Konzept um die Verhaltensbereiche 3. arbeitsrelevante Höflichkeit: sich zuerst mit anderen abstimmen, bevor Handlungen gezeigt werden, die deren Arbeitsbereich betreffen; 4. Sportsmanship: gelassenes Ertragen der Ärgernisse, die unweigerlich aus der Zusammenarbeit zwischen Menschen entstehen; 5. Bürgertugenden: die Teilhabe am »öffentlichen Leben« der Organisation.
449 25.3 · Extraproduktives Verhalten
Konzepte des extraproduktiven Verhaltens Neuberger (2006) hat die wichtigsten Konzepte des extraproduktiven Verhaltens zusammengestellt. Dazu zählen u. a.: 4 Organizational Citizenship Behavior: freiwilliges Verhalten, das sich positiv auf die Funktionsfähigkeit der Organisation auswirkt und im Rahmen des formalen Anreizsystems nicht direkt oder explizit berücksichtigt wird (Smith et al., 1983). 4 Prosoziales Verhalten: Verhalten, das von einem Organisationsmitglied ausgeführt wird, auf das Wohlergehen von bestimmten Personen, einer Gruppe oder der ganzen Organisation zielt und während der Ausübung der beruflichen Rolle auftritt (Brief & Motowidlo, 1986). 4 Eigenverantwortliches Verhalten: Mitarbeiter orientieren sich an Zielen, die der Organisation dienen und die ihnen nicht direkt vorgegeben sind, sondern die sie selbst gewählt oder aber als fremdgesetzte verinnerlicht haben (Koch, Kaschube & Fisch, 2003). 4 Contextual Performance: unterstützt die organisationale, soziale und psychologische Umwelt, in
Diese Erweiterung hat allerdings eher zur begrifflichen Unklarheit beigetragen. Nicht zuletzt aufgrund der begrifflichen Unklarheiten von OCB wurde in der Folge eine Vielzahl von Konzepten des extraproduktiven Verhaltens entwickelt (7 Kasten). Aufgrund dieser begrifflichen Vielfalt ist es einigermaßen schwierig, den Stand der Forschung zum extraproduktiven Verhalten darzustellen. Die folgenden Ausführungen beschränken sich daher auf Ergebnisse zu dem Konzept, das am intensivsten untersucht wurde, dem OCB. 25.3.2
Dimensionalität und Bedingungen extraproduktiven Verhaltens
LePine, Erez und Johnson (2002) haben in einer Metaanalyse 76 empirische Studien untersucht, in denen das Konzept OCB verwendet wurde. Die Analyse verfolgte zwei grundlegende Fragestellungen: Zum einen sollte die Dimensionalität des Konstrukts OCB überprüft werden,
der das aufgabenbezogene Handeln stattfindet (Borman & Motowidlo, 1993). 4 Organizational Spontaneity: Vertraglich nicht festgelegtes, impulsives wie geplantes Verhalten, das zur Effektivität der Organisation beiträgt (George & Brief, 1992). 4 Persönliche Initiative: Verhalten, das mit den Unternehmenszielen übereinstimmt, langfristig ausgerichtet ist, Ziel- und Handlungsorientierung aufweist, angesichts von Widerständen und Barrieren persistiert und proaktiv ist (Frese & Fay, 2001). 4 Freiwilliges Arbeitsengagement: Die Bereitschaft der Mitarbeiter, sich freiwillig über das vertraglich vereinbarte Maß hinaus zu engagieren und dadurch die Abläufe in der Organisation zu optimieren (Müller & Bierhoff, 1994). Der gemeinsame Nenner all dieser Konzepte ist die Idee eines Verhaltens, das freiwillig gezeigt wird und den Zielen der Organisation dient. Ein solches Verhalten kann entsprechend auch als extraproduktives Verhalten bezeichnet werden.
denn seit der Untersuchung von Smith et al. (1983) wird OCB – wie die meisten anderen Konstrukte des extraproduktiven Verhaltens – als mehrdimensionales Konstrukt betrachtet, d. h., es wird angenommen, Altruismus, Gewissenhaftigkeit, Höflichkeit etc. seien voneinander unabhängige Verhaltensindikatoren dieses Konstrukts. Zum zweiten wurde untersucht, welche Beziehungen zu den wichtigsten Bedingungen und Folgen bestehen. Als übergreifendes Ergebnis stellen die Autoren fest, dass alle Dimensionen von OCB sehr hoch untereinander korrelieren und alle dieselben Beziehungen zu den wichtigsten Bedingungen und Folgen aufweisen. Demnach sind die fünf Dimensionen, die gewöhnlich als Merkmale von OCB betrachtet werden, lediglich äquivalente Indikatoren eines zugrunde liegenden, latenten Konstrukts OCB. Dieses lässt sich am besten als eine positive Bereitschaft zur Kooperation bei der Arbeit beschreiben, als eine allgemeine Tendenz, sich am Arbeitsplatz kooperativ und hilfreich zu verhalten. Da dieser Aspekt in fast allen Konzepten des extraproduktiven Verhaltens berücksichtigt wird, ist zu vermuten, dass es
25
450
Kapitel 25 · Formen des Arbeitsverhaltens
. Tab. 25.1. Bedingungen der Kooperationsbereitschaft (als Kern des OCB; vgl. LePine et al., 2002)
25
Bedingungen
N
k
ρ
Arbeitszufriedenheit
7.100
72
.24
Commitment
5.133
54
.20
Fairness
1.975
40
.23
Unterstützung durch Vorgesetzten
4.349
41
.32
Gewissenhaftigkeit
848
15
.23
k Anzahl der Korrelationen; N Zahl der untersuchten Personen; ρ korrigierte durchschnittliche Korrelation
sich bei der Kooperationsbereitschaft um den Kern dieses Verhaltensbereiches handelt. Die Zusammenhänge dieses Merkmals mit den wichtigsten Bedingungen von OCB zeigt . Tab. 25.1 (in der Metaanalyse wurde Kooperationsbereitschaft über die Dimension Altruismus erfasst, wobei gezeigt wurde, dass die anderen Dimensionen keinen eigenständigen Beitrag zur Erklärung dieser Variablen leisten). Demnach ist die wichtigste Bedingung der Kooperationsbereitschaft, die wiederum als Kern des OCB zu betrachten ist, die wahrgenommene Unterstützung durch den Vorgesetzten (korrigierte mittlere Korrelation ρ=.32). Die übrigen Arbeitseinstellungen zeigen zwar auch signifikante positive Zusammenhänge, fallen aber etwas niedriger aus. Demnach lässt sich die Hypothese von Organ (1988), wonach Arbeitszufriedenheit nicht direkt auf das produktive Verhalten wirkt, sondern vermittelt über das OCB, zumindest teilweise aufrechterhalten: Da natürlich die wahrgenommene Unterstützung durch den Vorgesetzten in engem Zusammenhang zur Arbeitszufriedenheit steht, wird zumindest dieser Teil der Hypothese durch die Metaanalyse von LePine et al. (2002) gestützt. Leider haben die Autoren den Zusammenhang zwischen OCB und produktivem Verhalten bzw. von Indikatoren des betrieblichen Erfolgs als Folge des produktiven Verhaltens nicht untersucht. Joireman, Kamdar, Daniels und Duell (2006) weisen in diesem Zusammenhang auf einen interessanten Aspekt hin: OCB kann als eine Art soziales Dilemma betrachtet werden, da kurzfristige Opfer der Mitarbeiter zu langfristigem Nutzen der
Organisation werden. In empirischen Untersuchungen können die Autoren zeigen, dass Mitarbeiter, die eine langfristige Perspektive mit der Organisation verbinden, häufiger OCB zeigen als solche, die mit einem baldigen Wechsel liebäugeln. Entsprechend haben bereits Van Dyne und Ang (1998) nachgewiesen, dass Zeitarbeiter weniger OCB zeigen als »normale« Angestellte. Das bedeutet, dass Unternehmen, die ihre Mitarbeiter längerfristig an sich binden, eher in den Genuss der (vermuteten) positiven Konsequenzen des OCB gelangen. 25.3.3
Konsequenzen extraproduktiven Verhaltens
Wenig Beachtung haben die Konsequenzen des Extra-Rollenverhaltens gefunden, was besonders erstaunlich ist, wenn man bedenkt, dass das eigentliche Ziel der ganzen Forschungsrichtung der Nachweis eines Beitrags zur Effektivität der Organisation ist. Alle Konzepte des extraproduktiven Verhaltens unterstellen positive oder negative Auswirkungen auf die Leistung der Arbeitseinheit (Gruppe) bzw. die Ergebnisse der ganzen Organisation. In der empirischen Forschung hat aber die Frage, welche Konsequenzen sich für die Person, die regelmäßig OCB zeigt, ergeben, bislang die meisten Untersuchungen angeregt. Individuelle Konsequenzen Im Zentrum des Interesses an individuellen Konsequenzen stehen die Auswirkungen des OCB auf Leistungsbeurteilungen (7 Kap. 18). Das erscheint überraschend, da OCB definitionsgemäß nicht in die individuelle Leistung eingeht. Da aber OCB darauf ausgerichtet ist, die Organisation zu unterstützen, sollten solche Verhaltensweisen von den Vorgesetzten geschätzt werden. Durch OCB wird zudem die Führungsaufgabe erleichtert, was die Vorgesetzten möglicherweise im Gegenzug durch bessere Leistungsbeurteilungen vergelten. In ihrem Überblicksartikel, in dem 8 Feldstudien zu dieser Frage analysiert wurden, kommen Podsakoff, McKenzie, Paine und Bachrach (2000) zu dem Ergebnis, dass in diesen Untersuchungen OCB einen eigenständigen, z. T. sogar größeren Anteil der Varianz von Leistungsbeurteilungen als die jeweils verwendeten Ergebniskriterien aufklärt. Zum Beispiel wurde in einer Untersuchung der Leistungsbeurteilungen von Computerverkäufern 12% der Varianz durch die objektiven Verkaufsergebnisse erklärt, 48% dagegen durch deren OCB und 3% ließen sich auf die Wechselwirkung zwi-
451 25.4 · Kontraproduktives Verhalten
schen OCB und objektiver Leistung zurückführen (Avila, Fern & Mann, 1988). Die meisten vorliegenden Studien zeigen vergleichbare Ergebnisse, d. h., man kann davon ausgehen, dass Führungskräfte OCB ihrer Mitarbeiter sehr wohl wahrnehmen und bei Leistungsbeurteilungen mit mindestens so großem Gewicht berücksichtigen wie das produktive Verhalten! Kollektive Konsequenzen OCB soll sich auf die Leistung der Arbeitseinheit (Gruppe) bzw. der ganzen Organisation auswirken. Dieser Zusammenhang wurde durch verschiedene theoretische Überlegungen begründet (Podsakoff et al., 2000): OCB kann die Ergebnisse der Organisation verbessern, da diese Verhaltensweisen 4 die Notwendigkeit reduzieren, knappe Ressourcen für Funktionen der Aufrechterhaltung betrieblicher Abläufe einzusetzen; 4 diese Ressourcen für produktive Zwecke frei werden; 4 die Produktivität der Kollegen bzw. Vorgesetzten steigern; 4 effektive Mittel zur Koordination der Aktivitäten zwischen den Mitgliedern von Arbeitsgruppen bzw. zwischen Arbeitsgruppen darstellen; 4 die Attraktivität der Organisation als Arbeitgeber erhöht wird und damit gute Mitarbeiter angezogen bzw. behalten werden. Empirisch überprüft wurden diese Hypothesen noch nicht, es finden sich lediglich einige Untersuchungen zum Zusammenhang von OCB mit aggregierten Leistungsmaßen (zum Überblick: Podsakoff et al., 2000). In einer Untersuchung der Auswirkungen von OCB auf die Quantität und Qualität der Arbeitsergebnisse von 40 Arbeitsgruppen in einer Papiermühle korrelierte hilfreiches Verhalten mit der Quantität und der Qualität, »Sportsmanship« nur mit der Quantität der Arbeitsergebnisse. Walz und Niehoff (1996) haben die bislang einzige Studie vorgelegt, in der die Auswirkungen von OCB auf das Ergebnis ganzer Organisationen untersucht wurden. Sie konnten Fast-Food-Restaurants mit gutem bzw. schlechtem Umsatz diskriminanzanalytisch durch Faktoren des OCB unterscheiden. Die Dimension »Altruismus« erklärte die Kundenzufriedenheit, die von Kunden wahrgenommene Qualität des Service, die Sauberkeit des Restaurants und die Effizienz der Organisation. Weitere Studien weisen in die gleiche Richtung (vgl. Podasakoff et al., 2000).
Zusammenfassend deuten diese Ergebnisse darauf hin, dass OCB bzw. allgemein extraproduktives Verhalten tatsächlich von großer Bedeutung sowohl für das Verständnis psychologischer Prozesse im Betrieb als auch für dessen Ergebnisse ist. Unterstützendes Verhalten durch Führungskräfte und Arbeitszufriedenheit kann demnach OCB auslösen, das wiederum zu positiven Leistungsbeurteilungen führt und mit positiven betrieblichen Ergebnissen einhergeht. Führungskräfte tun also gut daran, nicht nur auf das produktive Verhalten zu achten, sondern auch auf das extraproduktive Verhalten. Bleibt noch die Frage, was unter kontraproduktivem Verhalten zu verstehen ist und wie man damit umgehen soll. 25.4
Kontraproduktives Verhalten
25.4.1
Zum Begriff »kontraproduktives Verhalten«
Kontraproduktives Verhalten tritt in den verschiedensten Formen auf, das macht es so schwierig, zu einem einheitlichen Begriffsverständnis zu kommen. Allerdings teilen praktisch alle Akte kontraproduktiven Verhaltens folgende Merkmale (vgl. zum Folgenden Nerdinger, 2008): Definition Kontraproduktives Verhalten verletzt die legitimen Interessen einer Organisation, wobei es prinzipiell deren Mitglieder oder die Organisation als Ganzes schädigen kann.
Diese Definition, die – wie es der Begriff der Kontraproduktivität nahelegt – aus der Sicht der Organisation formuliert ist, umfasst drei wesentliche Merkmale (Marcus & Schuler, 2004). 4 Unabhängig von den Ergebnissen des Verhaltens müssen absichtliche Handlungen vorliegen: Ein Gabelstaplerfahrer kann bei der Arbeit aus Versehen ein Regal rammen, wodurch dem Unternehmen ein großer Schaden entsteht – in diesem Fall handelt es sich um Pech oder ein Unglück, aber nicht um kontraproduktives Verhalten. Beschädigt er aber absichtlich sein Arbeitsgerät, z. B. mit dem Ziel, sich eine kleine Arbeitspause zu verschaffen, liegt kontraproduktives Verhalten vor (auch wenn der Schaden relativ gering und leicht zu beheben ist).
25
452
Kapitel 25 · Formen des Arbeitsverhaltens
Kategorien kontraproduktiven Verhaltens
25
4 Diebstahl und verwandtes Verhalten (unter anderem Verschenken von Produkten oder Dienstleistungen des Unternehmens) 4 Beschädigung oder Zerstörung von Firmeneigentum (Sabotage etc.) 4 Missbrauch von Informationen (Fälschung von Akten, Verrat vertraulicher Informationen) 4 Missbrauch von Arbeitszeit und Ressourcen (Manipulation der Anwesenheitsdauer, Abwicklung von Privatgeschäften in der Arbeit)
4 Das Verhalten muss prinzipiell in der Lage sein, der Organisation Schaden zuzufügen, wobei dieser Schaden nicht notwendig auch eintreten muss: Wenn sich ein Kraftfahrer betrunken ans Steuer setzt, handelt er kontraproduktiv, auch wenn er keinen Unfall hat. Umgekehrt kann die Kreditvergabe einer Bank immer auch zu einem Verlust führen, z. B. weil der Kreditnehmer irgendwann aus nicht vorhersehbaren Gründen nicht mehr in der Lage ist, den Kredit zu bedienen. Trotz des Schadens liegt aber in diesem Fall kein kontraproduktives Verhalten des Mitarbeiters vor, der den Kredit vergeben hat. 4 Das Verhalten muss den legitimen Interessen der Organisation entgegenstehen und dabei nicht durch andere, ebenfalls legitime Interessen aufgewogen werden: »Blaumachen«, d. h. sich krank zu melden, ohne krank zu sein, ist kontraproduktives Verhalten; bei Krankheit zu Hause bleiben ist dagegen nicht nur gerechtfertigt, sondern im Interesse der Person und der Organisation. Nach der hier zugrunde gelegten Definition ist kontraproduktives Verhalten ein sehr weites Feld, weshalb Marcus und Schuler (2004) im vorliegenden Fall auch von allgemeinem kontraproduktivem Verhalten sprechen. Dieses Konzept muss inhaltlich noch präzisiert und von anderen, in der Wissenschaft gebräuchlichen Begriffen abgegrenzt werden. In einer gründlichen Analyse vorliegender Literatur (Gruys & Sackett, 2003) wurden 87 Formen kontraproduktiven Verhaltens nachgewiesen, die man in elf Kategorien zusammenfassen kann (7 Übersicht).
4 Verhalten, das die Sicherheit vernachlässigt (fahrlässige Verstöße gegen Sicherheitsvorschriften) 4 Absentismus (unentschuldigte Abwesenheit, Verspätungen etc.) 4 Geringe Arbeitsqualität 4 Alkoholmissbrauch 4 Drogenvergehen (Besitz, Gebrauch oder Verkauf von Drogen) 4 Unangemessenes verbales Verhalten 4 Unangemessene physische Handlungen (Aggressionen, sexuelle Belästigungen)
Bei dieser Vielfalt von unterschiedlichen kontraproduktiven Verhaltensweisen ist es nicht verwunderlich, dass in der wissenschaftlichen Forschung fast ebenso viele Konzepte zu ihrer Untersuchung herangezogen werden. Die wichtigsten sind im 7 Kasten »Konzepte kontraproduktiven Arbeitsverhaltens« kurz beschrieben. Robinson und Bennett (1995) haben 45 verschiedene Formen des von ihnen als abweichendes Verhalten bezeichneten Bereiches von 180 Berufstätigen auf ihre Ähnlichkeit beurteilen lassen und anschließend einer multidimensionalen Skalierung unterzogen. Die Ergebnisse zeigt . Abb. 25.3. Die Befragten gruppieren die Verhaltensweisen nach den beiden Dimensionen: 4 Intensität, die von relativ harmlosen Regelverstößen bis zu schweren Formen der Sabotage, Aggression oder des sexuellen Missbrauchs reicht; 4 Objekt, d. h. person- vs. organisationsbezogenes abweichendes Mitarbeiterverhalten. So lassen sich vier Klassen kontraproduktiven Verhaltens unterscheiden, die als Produktionsschädigung, Eigentumsschädigung, politische Abweichung und Aggressionen bezeichnet werden (in . Abb. 25.3 finden sich jeweils ausgewählte Beispiele für die Verhaltensweisen auf den einzelnen Dimensionen). Diese Vierfeldertafel ergibt sich, wenn Menschen die verschiedenen Verhaltensweisen hinsichtlich ihrer Ähnlichkeit einstufen, das Ergebnis sagt aber nichts darüber aus, ob als ähnlich wahrgenommenes Verhalten auch häufiger gemeinsam auftritt. So werden z. B. sexueller Missbrauch und Bestehlen von Mitarbeitern als ähnliche
453 25.4 · Kontraproduktives Verhalten
25
Konzepte kontraproduktiven Arbeitsverhaltens 4 Emotionaler Missbrauch (»emotional abuse«): verbales und nonverbales Verhalten, das immer wieder auftritt, von den Zielpersonen als unerwünscht erlebt wird, zwischenmenschliche Standards verletzt, andere schädigt und vom Handelnden absichtlich gezeigt wird, wobei er oder sie ihre Machtposition im Unternehmen missbraucht (Keashley & Harvey, 2005). 4 Soziale Unterminierung (»social undermining«): auf andere Personen gerichtetes Verhalten, das 1. negative Affekte ausdrückt (Ärger, Antipathie), 2. die Zielperson negativ bewertet und/oder 3. die betroffene Person daran hindert, ihre Ziele zu erreichen (Duffy, Ganster & Pagon, 2002). 4 Aggressionen am Arbeitsplatz (»workplace aggression«): jede Form des Verhaltens, das von einer oder mehreren Personen am Arbeitsplatz ausgeht mit dem Ziel, ein oder mehrere andere Personen am Arbeitsplatz oder die ganze Organisation zu schädigen (Neuman & Baron, 2005). 4 Mobbing: Mitarbeiter werden von einem oder mehreren Kollegen oder Vorgesetzten regelmäßig und für längere Zeit systematisch terrorisiert (Zapf & Einarsen, 2005; mit Blick auf den Täter wird dasselbe Phänomen auch als Bullying bezeichnet).
© Academy of Management (NY) 1995
4 Unzivilisiertes Verhalten am Arbeitsplatz (»workplace incivility«): jedes die Normen des Respekts in interpersonalen Beziehungen verletzende Verhalten, d. h. rüdes, andere Menschen nicht respektierendes Verhalten (Pearson, Andersson & Porath, 2005). 4 Abweichendes Arbeitsverhalten (»deviant behavior«): freiwillig gezeigtes Verhalten, das in signifikanter Weise gegen Normen der Organisation verstößt und damit das Wohlergehen der Organisation, ihrer Mitglieder oder beider Seiten bedroht (Robinson & Greenberg, 1998). 4 Vergeltendes Verhalten in Organisationen (»organizational retaliation behavior«): Reaktionen unzufriedener Mitarbeiter auf wahrgenommene Ungerechtigkeit – dazu zählen verdeckte Racheakte (z. B. die Verweigerung freiwilliger Mehrarbeit), psychologisches Rückzugsverhalten und schwache Formen des Widerstands (Skarlicki & Folger, 1997). 4 Fehlverhalten in Organisationen (»misbehavior in organizations«): absichtlich herbeigeführte Handlungen von Mitgliedern einer Organisation, die zentrale Normen der Organisation und/oder der Gesellschaft verletzen (Vardi & Weitz, 2004).
. Abb. 25.3. Eine Typologie kontraproduktiven Verhaltens. (Nach Robinson & Bennett, 1995)
454
25
Kapitel 25 · Formen des Arbeitsverhaltens
Delikte eingestuft, das bedeutet aber nicht, dass Mitarbeiter, die einen sexuellen Missbrauch begangen haben, auch mit größerer Wahrscheinlichkeit Kollegen bestohlen haben! Sackett und DeVore (2001) haben die vorliegenden Untersuchungen daraufhin untersucht, ob sich Hinweise auf gemeinsame Auftretenshäufigkeiten der verschiedenen Verhaltensweisen finden. Sie kommen zu dem Ergebnis, dass alle kontraproduktiven Verhaltensweisen positiv zusammenhängen (vgl. auch Marcus & Schuler, 2004). Dieser Befund rechtfertigt es, von einem übergreifenden Begriff des allgemeinen kontraproduktiven Verhaltens auszugehen, in dem alle Verhaltensweisen zusammengefasst werden, die in irgendeiner Weise direkt oder indirekt der Organisation schaden. In diesem Sinne wird der Begriff im Folgenden verwendet. Damit erfolgt aber eine sehr umfassende, abstrakte Beschreibung des betreffenden Verhaltens. Der Begriff »kontraproduktives Verhalten« sollte daher besser im Sinne eines hierarchischen Modells als allgemeine Spitze einer Begriffspyramide betrachtet werden. Darunter finden sich etwas konkretere Gruppierungen spezifischer Verhaltensweisen, die mit Begriffen wie unzivilisiertes, aggressives oder vergeltendes Verhalten bezeichnet werden. Auf der konkretesten Ebene finden sich schließlich Verhaltensbeschreibungen wie z. B. Lügen, Diebstahl, Täuschung, Drogen- und Alkoholmissbrauch, Absentismus und vieles mehr (vgl. Sackett & DeVore, 2001). 25.4.2
Bedingungen kontraproduktiven Verhaltens
Die Frage zu beantworten, welche Variablen direkten Einfluss auf kontraproduktives Verhalten ausüben, ist relativ schwierig: Zum einen werden gewöhnlich sehr spezifische kontraproduktive Verhaltensweisen untersucht (z. B. Diebstahl, Fehlzeiten oder sexuelle Belästigung), zum anderen ist die Validität der Maße, mit denen solche Verhaltensweisen erhoben werden, aufgrund ihrer delikaten Natur immer eingeschränkt. In generalisierender Betrachtung bilden aber drei Gruppen von Variablen relativ gesicherte Einflussgrößen: erlebte Ungerechtigkeit, Persönlichkeitsmerkmale und Selbstkontrolle im Sinne der Theorie von Gottfredson und Hirschi (1990). Erlebte Ungerechtigkeit ist eine sehr gut gesicherte Einflussgröße kontraproduktiven Verhaltens. Greenberg (1990) hat in einem ungewöhnlichen Feldexperiment
gezeigt, dass eine Gehaltskürzung dann zu besonders hohem Materialschwund führt, wenn die Erklärung für diesen Schritt inadäquat ist und daher das Vorgehen der Geschäftsleitung als ungerecht erlebt wird (7 Kap. 24). Damit in Verbindung steht auch die Erklärung kontraproduktiven Verhaltens über erlebte Frustrationen. Spector (1997) bezeichnet Frustrationen als Zustände, die auftreten, wenn Arbeits- oder persönliche Ziele von Mitarbeitern behindert oder blockiert werden. In der Folge soll es zu starken Frustrationen kommen, die sich in Rückzugsverhalten wie Absentismus oder Unternehmenswechsel bzw. in Aggressionen gegen Personen oder die Organisation äußern (z. B. Diebstahl, Verrat von Unternehmensgeheimnissen etc.). Für diese Zusammenhänge findet sich mittlerweile einige empirische Evidenz (Conlon, Meyer & Nowakowski, 2005). Weiterhin zeigen Persönlichkeitsmerkmale nachweisbare Einflüsse auf kontraproduktives Verhalten. Sackett und DeVore (2001) haben vorliegende Metaanalysen u. a. zur Bedeutung von Integrity-Tests und dem Fünf-Faktoren-Modell auf ihren Einfluss auf das interessierende Verhalten untersucht. Integrity-Tests verfolgen das Ziel, Bewerber mit problematischen Verhaltensneigungen frühzeitig zu identifizieren, damit sie gar nicht erst eingestellt werden. Integrity-Tests finden sich in zwei Varianten, die man als einstellungs- bzw. eigenschaftsorientierte Instrumente bezeichnen kann. Einstellungsorientierte Verfahren bestehen aus Fragen darüber, was die Befragten über bestimmte, problematische Sachverhalte in Verbindung mit Diebstahl glauben. Diese beziehen sich auf Bereiche wie die Häufigkeit und das Ausmaß, die Strafwürdigkeit oder weit verbreitete Verharmlosungen von Diebstahl. Eigenschaftsorientierte Verfahren erheben in erster Linie Selbstbeschreibungen der Befragten und lehnen sich damit an gebräuchliche Persönlichkeitstests an. Sie sind breiter angelegt und beschränken sich nicht auf den Bereich des Diebstahls. Beispielitems für beide Arten von Verfahren sind im 7 Kasten »Formen von Integrity-Tests« zusammengestellt (vgl. Marcus, 2000). Ergebnisse von Integrity-Tests korrelieren zwischen .20 und .27 mit kontraproduktivem Verhalten, Gewissenhaftigkeit als wichtigster Persönlichkeitsfaktor erreicht eine korrigierte Korrelation von ρ=.26 mit diesem Verhalten. Da Gewissenhaftigkeit wiederum die Varianz in Integrity-Tests am besten erklärt, ist dieses Persönlichkeitsmerkmal als wichtiges Korrelat kontraproduktiven Verhaltens anzusehen.
455 25.4 · Kontraproduktives Verhalten
Formen von Integrity-Tests Einstellungsorientierte Tests 4 Würde jedermann stehlen, wenn die Bedingungen günstig sind? 4 Haben Sie jemals daran gedacht, Geld von Ihrer Arbeitsstelle zu entwenden, ohne es dann tatsächlich zu tun? 4 Glauben Sie, dass eine Person, die häufiger Waren aus ihrer Firma mitgenommen hat, eine zweite Chance bekommen sollte?
Geht man davon aus, dass kontraproduktives Verhalten mit kriminellem Verhalten verwandt ist, kann man auf Erklärungsansätze aus der Kriminologie zurückgreifen. Gottfredson und Hirschi (1990) erklären kriminelles Verhalten in erster Linie durch das Merkmal der Selbstkontrolle. Sie verstehen darunter die Tendenz, Handlungen zu vermeiden, deren langfristige negative Folgen den kurzfristigen Vorteil übersteigen. Die Autoren konnten anhand einer Vielzahl empirischer Belege zeigen, dass sich kriminelles Verhalten am besten durch einen Mangel an Selbstkontrolle erklären lässt. Markus und Schuler (2004) haben diesen Ansatz auf die betriebliche Situation übertragen und gezeigt, dass Selbstkontrolle auch das stärkste Korrelat von kontraproduktivem Verhalten darstellt. Zwar wurde auch in dieser Studie kontraproduktives Verhalten über Selbstaussagen erfasst, aufgrund der Höhe des Zusammenhangs (r=–.63) und der deutlichen Überlegenheit in der Erklärungskraft gegenüber einer Vielzahl alternativer Variablen kann Selbstkontrolle aber als eine entscheidende Bedingung auch von kontraproduktivem Verhalten im Betrieb angesehen werden. 25.4.3
Maßnahmen zur Vermeidung kontraproduktiven Verhaltens
Zur Vermeidung kontraproduktiven Verhaltens werden verschiedene Maßnahmen diskutiert, die sich nach dem jeweiligen Ansatzpunkt in individuen- und umfeldbezogene Interventionen gruppieren lassen (Nerdinger, 2008). An den Individuen setzen Maßnahmen der Selektion und des Trainings an. Selektionsmaßnahmen sollen verhindern, dass Personen, die zu kontraprodukti-
Eigenschaftsorientierte Tests 4 Sie sind eher vernünftig als abenteuerlustig. 4 Sie neigen dazu, Entscheidungen auf der Grundlage Ihrer ersten, spontanen Reaktion auf eine Situation zu treffen. 4 Es macht Ihnen wenig aus, wenn Ihre Freunde in Bedrängnis sind, solange es Sie nicht selbst betrifft.
vem Verhalten neigen, eingestellt werden. Denkbar sind hier verschiedene Methoden (Neuman & Baron, 2005). Zur Entdeckung von Personen mit aggressiven Neigungen wird empfohlen, möglichst viele Hintergrundinformationen einzuholen (über das Verhalten an früheren Arbeitsplätzen, beim Militär, über die Schufa etc.) bzw. Referenzen genau auf Hinweise für Fehlverhalten zu analysieren. Dem dienen auch situative und Stressinterviews, wobei vor allem Fragen zu früher erlebter unfairer Behandlung hilfreich sind, da wahrgenommene Ungerechtigkeiten wesentlich zur Motivation aggressiven Verhaltens am Arbeitsplatz beitragen. Schließlich ermöglicht auch der Einsatz von Integrity-Tests die Prognose gewalttätigen und kontraproduktiven Verhaltens (Marcus, 2000). Der Wert von Selektionsmaßnahmen zur Vermeidung kontraproduktiven Verhaltens darf allerdings nicht überschätzt werden. Sie sollten daher durch Maßnahmen zur Kontrolle abweichenden Verhaltens ergänzt werden, auf der Ebene des Individuums z. B. in Form von Trainings. Empfohlen werden speziell zur Begrenzung aggressiven Verhaltens Trainings zur Verbesserung der sozialen Fähigkeiten im Umgang mit Aggressionen oder Konfliktbzw. Stressmanagementtrainings (Nerdinger, 2008). Darüber hinaus lassen sich für die Führung von Mitarbeitern, die kontraproduktives Verhalten zeigen, aus der Forschung Maßnahmen ableiten. Besondere Beachtung verdient die Verfahrensgerechtigkeit zur Vermeidung von Gefühlen ungerechter Behandlung. Da Aggressionen und Diebstahl häufig auf Gefühle der Ausbeutung bzw. Wahrnehmungen absichtlicher Provokationen zurückzuführen sind, müssen Führungskräfte die Würde der Mitarbeiter achten, ihnen Respekt entgegenbringen und Ressourcen sensibel verteilen. Zu-
25
25
Kapitel 25 · Formen des Arbeitsverhaltens
dem kann auch ein partizipativer Führungsstil zur Verringerung abweichenden Verhaltens beitragen. Partizipation erhöht das Kontrollerleben und schwächt damit einen personalen Faktor aggressiven Verhaltens ab. Schließlich werden auch Maßnahmen empfohlen, die auf der Ebene der Organisation anzusiedeln sind. Dazu zählen z. B. Betriebsvereinbarungen, in denen Sanktionen bei gewalttätigem oder sexuell belästigendem Verhalten festgelegt werden. Zur Erhöhung der Wahrnehmung von Bezahlungsgerechtigkeit mit der Folge verringerter Diebstähle werden in der Praxis häufig Hotlines eingeführt, über die Mitarbeiter z. B. Informationen über die Verfahren der Gehaltsermittlung erhalten können. Kontraproduktives Verhalten kann aber auch durch die zunehmend wichtiger werdende Organisation in Form von Profitcentern erklärt werden, die über strenge Zielvorgaben und ein Controlling des kurzfristigen »Return on investment« (ROI) geführt werden. Negative Auswirkungen auf das Mitarbeiterverhalten zeigen sich dann besonders, wenn hochgesteckte Ziele knapp verfehlt werden (Schweitzer, Ordónez & Douma, 2004). Darüber hinaus wird in vielen Unternehmen allein in Umsatzzahlen gemessene Leistung hoch belohnt, Zielverfehlung dagegen empfindlich bestraft. Dadurch entsteht leicht ein enormer Druck zur Präsentation »guter Ergebnisse«, der wiederum ein positives Klima für bestimmte Formen des kontraproduktiven Verhaltens erzeugen kann. Demnach sollte immer auch berücksichtigt werden, welche Bedingungen in der Unternehmensstruktur und -politik kontraproduktives Verhalten begünstigen können. 25.5
Die Beziehung zwischen extraproduktivem und kontraproduktivem Verhalten
Die Begriffe extra- und kontraproduktives Verhalten legen nahe, dass es sich hier um die gegensätzlichen Pole einer (Leistungs-)Dimension handelt. Das suggeriert auch die Darstellung in . Abb. 25.1, wonach extraproduktives Verhalten der Organisation dient und dabei ihren Regeln vollständig entspricht, kontraproduktives Verhalten ihr dagegen schadet und gegen die Regeln verstößt. Der Frage der Beziehung zwischen beiden Konstrukten haben sich mittlerweile so viele Untersuchungen gewidmet, dass Dalal (2005) bereits eine Metaanalyse vorlegen konnte. Die Analyse von 45 Untersuchungen
. Tab. 25.2. Zusammenhänge zwischen extra- bzw. kontraproduktivem Verhalten mit den wichtigsten Bedingungen. (Nach Dalal, 2005) Bedingungen
Extraproduktives Verhalten
Kontraproduktives Verhalten
N
k
ρ
N
k
ρ
Arbeitszufriedenheit
6.106
25
.16
6.106
25
–.37
Commitment
5.582
22
.28
5.582
22
–.36
Wahrgenommene Gerechtigkeit
1.997
10
.20
2.130
11
–.25
Gewissenhaftigkeit
3.280
10
.30
3.280
10
–.38
N Zahl der untersuchten Personen; k Anzahl der Korrelationen; ρ korrigierte durchschnittliche Korrelation
mit insgesamt 16.721 Befragten kommt dabei zu einer mittleren korrigierten Korrelation von ρ=–.32 (wobei für extraproduktives Verhalten in erster Linie Studien zu OCB herangezogen wurden). Demnach besteht zwar wie erwartet ein negativer, aber lediglich moderater Zusammenhang zwischen den beiden Konstrukten. Dieser Zusammenhang wird auch nicht sehr viel enger, wenn das jeweilige Objekt der Verhaltensweisen – richten sie sich an die Organisation oder an Kollegen – berücksichtigt wird. Der Vergleich der beiden Verhaltensweisen mit den wichtigsten Bedingungen zeigt darüber hinaus etwas unterschiedliche Korrelationsmuster, wie . Tab. 25.2 belegt. Wie die Ergebnisse der . Tab. 25.2 zeigen, werden zwar beide Verhaltensbereiche durch die gleichen Bedingungen erklärt, die (negativen) Zusammenhänge der Bedingungen mit kontraproduktivem Verhalten sind aber deutlich größer ausgeprägt. Demnach bilden extraund kontraproduktives Verhalten keineswegs die gegensätzlichen Pole einer Dimension. Das erscheint auf den ersten Blick merkwürdig. Unter Umständen liegt die Lösung für dieses Problem in der Betrachtung der Quelle dieser Verhaltensweisen, der Person des Mitarbeiters. Demnach könnten beide Verhaltensweisen aus der Sicht der Mitarbeiter Reaktionen darstellen, die an die Arbeitsumwelt angepasst sind (Dalal, 2005). Möglicherweise dienen beide Verhaltensweisen aus der Sicht der Mitarbeiter demselben Ziel – der Auslösung positiver Gefühle oder eines hohen künftigen Zufriedenheitsniveaus.
© American Psychological Association 2005
456
457 Literatur
So können sich Mitarbeiter nach Aggressionen gegenüber einem als feindlich empfunden Kollegen ebenso gut fühlen wie nach einem unterstützenden Verhalten gegenüber einem als sympathisch erlebten. Diese Hypothesen müssen aber noch genauer untersucht werden. Bislang kann man feststellen, dass das Arbeitsverhalten eine Funktion von drei relativ breiten Klassen von Verhalten ist: produktivem, extraproduktivem und kontraproduktivem Verhalten. Demnach – und das sind nur beispielhafte Folgerungen aus diesem Befund – erhält man durch die gezielte Vermeidung der Einstellung von Mitarbeitern, die zu kontraproduktivem Verhalten neigen, nicht automatisch Personal mit einer hohen Neigung zu extraproduktivem Verhalten. Und durch ein Führungsverhalten, das extraproduktives Verhalten erhöht, wird nicht automatisch kontraproduktives Verhalten verhindert! Zusammenfassung 4 Arbeitsverhalten ist die wichtigste abhängige Variable, die es zu erklären und zu prognostizieren gilt. 4 Unter produktivem Verhalten wird das Leistungsverhalten verstanden, das die Bewältigung der betrieblichen Aufgaben, in die Mitarbeiter in einer Organisation eingebunden sind, beschreibt. 4 Zur Beschreibung des Bereichs des extraproduktiven Verhaltens wurde eine Vielzahl von Konzepten entwickelt, von denen das Organizational Citizenship Behavior (OCB) am bekanntesten ist. 4 Hinter OCB steht eine allgemeine Tendenz, sich am Arbeitsplatz kooperativ und hilfreich zu verhalten, die am besten durch ein unterstützendes Führungsverhalten erklärt wird. 4 Kontraproduktives Verhalten verletzt die legitimen Interessen einer Organisation, wobei es prinzipiell deren Mitglieder oder die Organisation als Ganzes schädigen kann. 4 Kontraproduktives Verhalten wird am besten erklärt durch erlebte Ungerechtigkeit, Persönlichkeitsmerkmale wie Gewissenhaftigkeit und speziell durch einen Mangel an Selbstkontrolle. 4 Metaanalytische Untersuchungen zeigen, dass extra- und kontraproduktives Verhalten nur moderat negativ korreliert sind, Arbeitsverhalten ist demnach eine Funktion von produktivem, extraproduktivem und kontraproduktivem Verhalten.
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25
Kapitel 25 · Formen des Arbeitsverhaltens
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26
26 Aus- und Weiterbildung: Konzepte der Trainingsforschung 26.1
Gegenstände der Aus- und Weiterbildung
26.1.1 26.1.2
Begriffliche Bestimmungen – 462 Gegenstände und aktuelle Formen beruflichen Lernens
– 462
26.2
Bestimmung des Lern- und Trainingsbedarfs
– 463
– 464
26.3
Lerntheoretische Grundlagen
26.3.1 26.3.2 26.3.3
Lernen als Wissenserwerb – 466 Erwerb von Handlungskompetenzen – 467 Lernen als konstruktiver Prozess – 468
26.4
Spezifische Formen und Methoden der Ausund Weiterbildung – 469
26.4.1 26.4.2 26.4.3 26.4.4 26.4.5
Sensumotorische und kognitive Trainings – 469 Behavior Modeling Training – 470 Trainingssimulatoren – 471 Computer- bzw. netzgestützte Lehr-Lern-Formen – 473 Formen arbeitsnahen Lernens – 475
26.5
Personen- und organisationsbezogene Einflussfaktoren der Trainingseffektivität sowie Maßnahmen zur Transfersicherung – 476
26.5.1 26.5.2 26.5.3
Personenbezogene Faktoren der Trainingseffektivität – 476 Organisationale Faktoren der Trainingseffektivität – 478 Maßnahmen zur Transferförderung und -sicherung – 479
26.6
Evaluation von Trainingsmaßnahmen Literatur
– 482
– 465
– 480
460
26
Kapitel 26 · Aus- und Weiterbildung: Konzepte der Trainingsforschung
> Psychologische Aspekte der Aus- und Weiterbildung sind Forschungsgegenstand und Praxisfeld der Arbeits- und Organisationspsychologie. Im Zentrum steht dabei die Analyse, Planung, Gestaltung und Evaluation von Lernprozessen, die auf den Erwerb beruflicher Kenntnisse und Fähigkeiten bzw. Kompetenzen gerichtet sind. Im angloamerikanischen Bereich spricht man auch von Training und der darauf bezogenen Trainingsforschung. Enge Verknüpfungen bestehen in diesem Zusammenhang auch mit dem Begriff der Personalentwicklung (7 Kap. 19). Das Kapitel gibt einen Überblick zu Zielsetzungen, lerntheoretischen Grundlagen, spezifischen Formen der Aus- und Weiterbildung, personalen und organisationalen Einflussfaktoren sowie Evaluationszielen und -kriterien beruflicher Aus- und Weiterbildungsmaßnahmen. Dabei sollen folgende Fragen beantwortet werden: Was sind Ziele und Inhalte beruflicher Aus- und Weiterbildung? Wie bestimmt man die Inhalte und Ziele beruflicher Trainings? Welche Lerntheorien werden zur Gestaltung beruflicher Aus- und Weiterbildungsprozesse herangezogen? Welche spezifischen Methoden werden im Rahmen beruflicher Trainings verwendet und wie haben sie sich bewährt? Durch welche individuellen Merkmale der Lernenden und organisationalen Rahmenfaktoren wird der Erfolg von Trainingsmaßnahmen zusätzlich beeinflusst? Wodurch wird der Lerntransfer von beruflichen Trainings bestimmt und was kann man zur Transfersicherung tun? Was ist bei der Evaluation beruflicher Aus- und Weiterbildungsmaßnahmen zu beachten und welche Kriterien können hierzu herangezogen werden? Der 7 Kasten »Implementation arbeitsintegrierter Lernumgebungen für die Berufsausbildung« verdeutlicht an einem konkreten Beispiel, vor welchen Analyse-, Gestaltungs- und Evaluationsaufgaben Anwender von arbeits- und organisationspsychologischen Trainingskonzepten stehen.
Implementation arbeitsintegrierter Lernumgebungen für die Berufsausbildung (vgl. Schaper, 2004a; Sonntag & Stegmaier, 2007a) In einem Modellversuch sollten neue didaktisch-methodische Konzepte zur Förderung einer optimaleren arbeitsintegrierten beruflichen Ausbildung in einem Produktionsstandort eines großen Automobilproduzenten entwickelt und erprobt werden. Konkrete Zielsetzung des Modellversuchs war es, die betrieblichen Versetzungsstellen während der Ausbildung durch einen neuen Typ arbeitsintegrierter Lernumgebungen zu ergänzen, um die angehenden Facharbeiter besser auf die Anforderungen der Arbeitsrealität vorzubereiten. Zur Implementation der neuen Lernorte wurde ein Vorgehen mit den betrieblichen Partnern vereinbart, das folgende sechs Schritte beinhaltete:
1. Analyse der Anforderungen in den zukünftigen Arbeitssystemen Um eine bedarfs- und anforderungsgerechte Auswahl und Gestaltung von Lernorten zu gewährleisten wur-
de vereinbart, in einem ersten Schritt die Tätigkeits- und Qualifikationsanforderungen in den Arbeitssystemen zu ermitteln, in denen die Auszubildenden später arbeiten sollen. Hierzu wurden halbstandardisierte Aufgabenund Anforderungsanalysen mit Facharbeitern und deren Vorgesetzten durchgeführt, um entsprechende Anforderungsprofile und qualifikationsrelevante Problemund Defizitbereiche zu identifizieren.
2. Auswahl von Arbeitssystemen für die arbeitsintegrierte Ausbildung Bei der Auswahl geeigneter Arbeitssysteme für die neuen Lernorte wurde darauf geachtet, dass die Anforderungen weitgehend mit den ermittelten Anforderungen der späteren Zielarbeitssysteme der Facharbeiter übereinstimmten. Weiterhin wurden Arbeitssysteme ausgewählt, die ausreichend Spielräume in Bezug auf die Produktionsauslastung boten, sodass Ausbildungsbelange
6
461 26 · Aus- und Weiterbildung: Konzepte der Trainingsforschung
nicht durch zu hohe Produktionsvorgaben beeinträchtigt wurden. Beide Kriterien trafen z. B. auf einen Fertigungsabschnitt der Getriebegehäusefertigung zu, der überwiegend zur Produktion von Kleinserien und zur Nachbearbeitung von Gehäusen genutzt wurde. Auf einer flexiblen Transferstraße mit sechs Bearbeitungsstationen wurden hier entsprechende Getriebegehäuse und -deckel gefertigt. Die Auszubildenden sollten in diesem Arbeitssystem die Beschaffung und den Transport der Rohteile und bearbeiteten Teile übernehmen, die Fertigungsstraße in Betrieb nehmen und bedienen, den Produktionsablauf überwachen sowie die Qualität der Fertigung kontrollieren und sicherstellen, die Fertigungsmaschinen mit Hilfsstoffen versorgen und diese instand halten und warten.
3. Auswahl und Qualifizierung von Ausbildungsbeauftragten Die Lernenden wurden an den Lernorten durch erfahrene Facharbeiter und Meister betreut, die diese Aufgabe »nebenberuflich« erfüllten. Da diese »Ausbildungsbeauftragten« keine pädagogische Ausbildung besaßen, mussten sie auf diese Aufgabe erst durch eine Schulung vorbereitet werden. Bei der Schulung wurde darauf Wert gelegt, dass die Beauftragten nicht nur gut fachliche Dinge vermitteln konnten, sondern durch ihr Betreuungsverhalten auch das selbstständige und kooperative Lernen der Auszubildenden gefördert wurde.
4. Analyse der Lernpotenziale an den arbeitsintergrierten Lernorten Bei diesen Analysen wurden von den Modellversuchsbetreuern und den Ausbildungsbeauftragten die Arbeitsaufgaben, Arbeitsabläufe, Arbeitsstationen und die technisch-organisatorischen Bedingungen am Lernort systematisiert und unter fachlichen und arbeitspädagogischen Gesichtspunkten bewertet. Hierdurch sollte ein breites Spektrum lernförderlicher Arbeitsaufgaben identifiziert werden, die den zukünftigen Arbeitsanforderungen möglichst gut entsprechen sollten. Außerdem wurden die für die spezifischen Arbeitsaufgaben erforderlichen Wissensvoraussetzungen ermittelt.
5. Gestaltung der Lerninfrastruktur Zunächst wurden die Lernziele für die Ausbildung am Lernort bestimmt, die in erster Linie aus den auszuführenden Tätigkeiten und dem zur Tätigkeitsausübung erforderlichen Wissen abgeleitetet wurden. Es wurde ein Lernzielbogen entworfen, mit dem erfasst wurde, in welchem Ausmaß die Auszubildenden die Lernziele nach bestimmten Abschnitten des Lernorteinsatzes erreicht haben und welche Maßnahmen sich daraus für die weitere Lernplanung ergeben. Außerdem wurde ein Plan für das systematische Durchlaufen der verschiedenen Arbeitsstationen am Lernort während des vierwöchigen Einsatzes entwickelt, um sicherzustellen, dass jeder Auszubildende alle Stationen und Aufgaben innerhalb des Lernorts kennenlernt. Zum Aufbau einer Lerninfrastruktur wurden außerdem lernrelevante Unterlagen (z. B. Maschinenpläne, Handbücher und Programmdokumentationen) zusammengestellt und spezifische Lehr-LernMaterialien für den Lernort erstellt (z. B. Arbeits- und Lernhefte für Auszubildende, Fragenlisten für bestimmte Problemstellungen und Aufgabenstellungen zur Erkundung bestimmter technischer und organisatorischer Abläufe), die jedem Auszubildenden zu Beginn der Lernortausbildung in einem Ordner übergeben wurden.
6. Evaluation der Lernortgestaltung und Lernergebnisse Um die Gestaltung des Lernortes kontinuierlich zu verbessern, wurden die Auszubildenden gebeten die Aufgaben, die Arbeitsbedingungen und die Betreuung anhand eines Fragebogens zu bewerten. Der Lernerfolg des Lernorteinsatzes wurde außerdem mithilfe von Arbeitsproben und Wissensfragen ermittelt. Die Ergebnisse wurden lernortspezifisch zurückgemeldet, sodass die Ausbildungsbeauftragten diese Evaluationsergebnisse zur Optimierung ihrer Betreuung und der Ausbildungsbedingungen am Lernort nutzen konnten. Regelmäßige Treffen der Ausbildungsbeauftragten aller beteiligten arbeitsintegrierten Lernorte dienten außerdem zum Erfahrungsaustausch in Bezug auf die Ausbildungsund Gestaltungsaspekte sowie -probleme. Die aggregierten Evaluationsergebnisse erlaubten außerdem eine zusammenfassende wissenschaftliche Bewertung des Ausbildungsansatzes.
6
26
462
Kapitel 26 · Aus- und Weiterbildung: Konzepte der Trainingsforschung
Mit diesem Beispiel wird die Systematik des Vorgehens eines an arbeits- und organisationspsychologischen Konzepten orientierten Lehr-Lern-Arrangements zur beruflichen Ausbildung verdeutlicht. Die Implementation beinhaltet dabei teilweise kontextspezifische Elemente (z. B. die Analyse der Lernpotenziale an den arbeitsintegrierten Lernorten). Die Anforderungsanalyse, die Auswahl und Gestaltung der
26
26.1
Gegenstände der Ausund Weiterbildung
26.1.1
Begriffliche Bestimmungen
Definition Unter Ausbildung versteht man das Erlernen bestimmter Fähigkeiten und Fertigkeiten, die zur Ausübung eines Berufes hinführen. Die entsprechenden Ausbildungsberufe sind staatlich anerkannt und ihre Ausbildung ist durch Ausbildungsordnungen geregelt.
In Deutschland wird berufliche Ausbildung in erster Linie in Form dualer Ausbildungsgänge praktiziert, wobei der praktische Teil der Ausbildung in den Betrieben und der theoretische Teil in den Berufsschulen vermittelt wird. Bei der Ausbildung geht es somit um den Erwerb grundlegender beruflicher Handlungskompetenzen, um die Auszubildenden zu befähigen, in einem bestimmten beruflichen Einsatzfeld tätig zu werden und die damit verbundenen beruflichen Aufgaben effektiv zu bewältigen. Da Lernprozesse auch nach der Ausbildung z. B. bei der Einarbeitung in spezifische Tätigkeitsfelder, bei der Anpassung an veränderte Arbeitsprozesse oder bei der Übernahme neuer beruflicher Positionen erforderlich sind, geht es beim beruflichen Lernen auch um Weiterbildung. Definition Unter Weiterbildung versteht man Lernaktivitäten von Personen zur Weiterentwicklung von Qualifikationen bzw. Kompetenzen im Anschluss an grundlegende berufliche Ausbildungsphasen.
Lernorte, die Qualifizierung der Ausbilder und die Evaluation von Gestaltungsaspekten der Lernumgebung sowie den Lernwirkungen stellen jedoch verallgemeinerbare Elemente einer arbeits- und organisationspsychologischen Trainingsgestaltung dar. Über die Konzeption der arbeitsintegrierten Lernorte und die Evaluationsergebnisse wird im Verlauf des Kapitels noch berichtet (7 Abschn. 26.4.5).
Diese Lernaktivitäten finden in Form der Teilnahme an Veranstaltungen (z. B. betriebliche Fortbildungslehrgänge, Umschulungsmaßnahmen) von unterschiedlichen Weiterbildungsträgern (z. B. betriebliches Bildungswesen, Bildungszentren der IHK oder Handwerkerschaft, Arbeitsagentur, Volkshochschulen) statt. Neben diesen institutionalisierten Formen gewinnen in letzter Zeit außerdem nichtinstitutionalisierte Formen der Weiterbildung stark an Bedeutung (Schaper & Sonntag, 2007). Darunter werden Weiterbildungformen verstanden, die selbstorganisiertes oder kooperatives Lernen in informellen Zusammenhängen beinhalten (z. B. am Arbeitsplatz oder in sozialen Kontexten). Im angloamerikanischen Raum spricht man eher von Training, wenn man berufliche und betriebliche Aus- und Weiterbildungsprozesse behandelt. Definition Unter Training wird hierbei die systematische Aneignung von Wissen, Fähigkeiten oder Einstellungen verstanden, die zu effektiven bzw. besseren Leistungen bei einer beruflichen Tätigkeit führen (Goldstein, 1997).
Zur Gestaltung und Unterstützung entsprechender systematischer Aneignungsprozesse wird in der Trainingsforschung auf verhaltensbezogene und kognitive Lerntheorien sowie Ansätze des Instructional System Design (d. h. die systematische und pädagogisch-psychologisch fundierte Gestaltung von Lernprozessen) Bezug genommen. Der Trainingsbegriff umfasst zwar sowohl Aus- als auch Weiterbildungsprozesse. Der Bezug zu Weiterbildungsaspekten ist allerdings deutlich stärker ausgeprägt. Im Rahmen der Trainingsforschung dominiert außerdem die Betrachtung der lernpsychologischen Aspekte.
463 26.1 · Gegenstände der Aus- und Weiterbildung
Das Lernen ist hier vor allem auf die Optimierung der Aufgabenbewältigung ausgerichtet. 26.1.2
Gegenstände und aktuelle Formen beruflichen Lernens
Gegenstand von Aus- und Weiterbildungsprozessen sind Kompetenzen zur Ausübung bestimmter beruflicher Tätigkeiten. Der Kompetenzbegriff (auch 7 Kap. 15) ist in diesem Zusammenhang weiter gefasst als der Qualifikationsbegriff, der sich auf relativ präzise definierte berufliche Fertigkeiten, Kenntnisse und Fähigkeiten bezieht. Kompetenzen schließen auch fach- und berufsübergreifende sowie persönlichkeitsnahe Leistungsvoraussetzungen mit ein, die Individuen zur Bewältigung von Aufgaben befähigen, für die sie noch keine fertigen und direkt abrufbaren Handlungsprogramme und Wissensvoraussetzungen besitzen. Der Kompetenzbegriff ist somit in einem ganzheitlichen und integrativen Sinne zu verstehen und bezieht neben fachlich-funktionalen auch soziale, motivationale, volitionale und emotionale Aspekte menschlichen Arbeitshandelns mit ein (Weinert, 2001). Zur Operationalisierung und Klassifizierung unterschiedlicher Kompetenzen hat sich eine Aufteilung in die Bereiche Fach-, Methoden-, Sozial- und Personal- bzw. Selbstkompetenz eingebürgert und bewährt (7 Kap. 15; Sonntag & Schaper, 2006): 4 Fachkompetenz beinhaltet spezifische Kenntnisse und Fertigkeiten, die zur Bewältigung beruflicher Aufgaben benötigt werden (z. B. Wissen und Fertigkeiten zur Überprüfung der Abgaseinstellungen im Auto oder Kenntnisse über Produkteigenschaften bei Verkäufern von Fernsehgeräten). 4 Unter Methodenkompetenz werden situationsübergreifend einsetzbare kognitive und metakognitive Fähigkeiten (z. B. zur Problemlösung, Entscheidungsfindung oder zum selbstorganisierten Lernen) verstanden, die zur selbstständigen Bewältigung komplexer Aufgaben (z. B. Störungssuche in komplexen Fertigungsmaschinen oder zur Ausarbeitung eines Angebots für den Bau eines Wintergartens) gefordert sind. 4 Sozialkompetenz beinhaltet Wissen, Fertigkeiten und Fähigkeiten zum erfolgreichen Realisieren von Zielen und Plänen in sozialen Interaktionssituationen. Dies zeigt sich in kommunikativen und kooperativen Verhaltensweisen von Organisationsmitglie-
dern (z. B. Führen von Verkaufsgesprächen oder Leiten von Teambesprechungen). 4 Personale oder Selbstkompetenz umfasst einerseits persönlichkeitsbezogene Dispositionen wie Einstellungen, Werthaltungen und Motive, die das Arbeitshandeln beeinflussen (z. B. Zuverlässigkeit oder Kundenorientierung). Andererseits sind mit diesem Kompetenzbereich auch Fähigkeiten zur Selbstwahrnehmung (z. B. zur Reflexion eigener Fähigkeiten) und zur Selbstorganisation (z. B. Zeitmanagement) angesprochen. Bedingt durch die veränderten Rahmenbedingungen der Arbeitswelt (z. B. breiter Einsatz von Informationsund Kommunikationstechniken, Einführung von teamund projektorientierten Arbeits- und Organisationsstrukturen, Verkürzung von Innovationszyklen sowie Globalisierung der Wirtschaft; auch 7 Kap. 29) werden andere Formen der Aus- und Weiterbildung erforderlich bzw. propagiert. Zunehmende Bedeutung erlangen in diesem Zusammenhang vor allem Formen des arbeitsintegrierten bzw. arbeitsplatznahen Lernens (Sonntag & Stegmaier, 2007a). Die Aus- und Weiterbildung erfolgt hierbei entweder direkt am Arbeitsplatz oder in der Nähe davon (z. B. in Lernwerkstätten) und bezieht sich auf die unmittelbaren Arbeitsinhalte bzw. die damit verbundenen Arbeitszusammenhänge. Man verspricht sich davon, dass das Lernen bedarfsorientierter, kontinuierlicher, selbstorganisierter und flexibler erfolgt. Es bedarf allerdings auch einer gezielten Förderung und gestalterischen Unterstützung, damit diese Art des Lernens effektiv erfolgt (vgl. Schaper, 2000). Allein quantitativ sind arbeitsplatzbezogene Weiterbildungsformen mittlerweile von erheblicher Bedeutung (vgl. BMBF, 2006). An Bedeutung gewinnen auch selbstorganisierte und kooperative Formen der Weiterbildung, die die Steuerung des beruflichen Wissens- und Kompetenzerwerbs deutlich stärker in die Verantwortung des lernenden Individuums bzw. von Gruppen legen. Beispielsweise um mit den sich rasch verändernden Anforderungen bei modernen Arbeitsplätzen (durch kontinuierliche wirtschaftliche, technische und organisatorische Änderungen) durch eigeninitiative Lern- und Weiterbildungsanstrengungen mitzuhalten und damit die eigene »Beschäftigungsfähigkeit« zu erhalten. Dieser Trend zur Individualisierung von Aus- und Weiterbildungsanforderungen ist einerseits unter den beschriebenen Rahmenbedingungen als folgerichtig und pädagogisch angemessen zu bewerten. Allerdings
26
464
26
Kapitel 26 · Aus- und Weiterbildung: Konzepte der Trainingsforschung
kann dies nicht heißen, dass betriebliche und andere institutionelle Förderungsformen reduziert werden können. Selbstorganisierte und kooperative Lernformen bedürfen im Gegenteil eher intensiver Unterstützungsangebote und der Gestaltung förderlicher Rahmenbedingungen (Reinmann-Rothmeier & Mandl, 2001). Berufliche Aus- und Weiterbildung verändert sich schließlich auch in Bezug auf die verwendeten medialen Formen. Dies beinhaltet insbesondere den verstärkten Einsatz von computer- und netzbasierten Lernangeboten (vgl. Schaper & Konradt, 2004). Die Verwendung solcher Lernmedien verspricht vor allem, dass das Lernen selbstorganisierter und arbeitsplatzbezogener erfolgen kann. Allerdings ist einschränkend festzustellen, dass die zurzeit verfügbaren computer- und netzbasierten Medien in der überwiegenden Mehrzahl selbstorganisiertes und arbeitsplatzbezogenes Lernen nicht adäquat unterstützen, da sie noch zu sehr auf klassische Formen der Wissensvermittlung (z. B. durch Vorträge oder Seminare) ausgerichtet sind. Zusammenfassend lässt sich somit feststellen, dass heute deutlich gestiegene Anforderungen an die berufliche Aus- und Weiterbildung in Bezug auf das Spektrum der zu erlernenden Kompetenzen sowie die Kontinuität und die Formen des Lernens gestellt werden. 26.2
Bestimmung des Lern- und Trainingsbedarfs
Berufliche Trainings- bzw. Aus- und Weiterbildungsprozesse sollten abgestimmt sein auf die Anforderungen, die an die Ausübung bestimmter Berufe bzw. betrieblicher Tätigkeiten oder Aufgaben gestellt werden, und an den tatsächlichen Lernbedarf, der bei bestimmten Personen und Mitarbeitergruppen vorhanden ist, um diesen Anforderungen gerecht zu werden. Diese fast selbstverständlich klingende Forderung wird jedoch nicht immer erfüllt (Arnold, Silvester, Patterson, Robertson, Cooper & Burnes, 2003). Analysen zur Bestimmung entsprechender Trainingsanforderungen und -bedarfe sind aufwändig und methodisch teilweise sehr anspruchsvoll. Ein Verzicht auf solche Analysen kann aber leicht dazu führen, dass berufliche Trainings ihre Ziele und Zwecke nicht erfüllen und damit den in der Regel hohen Kosten ein nur unzureichender Nutzen gegenübersteht. Vor diesem Hintergrund soll daher ein Überblick über grundlegende Vorgehensweisen und ausgewählte Ana-
lysemethoden zur Bestimmung des Trainingsbedarfs gegeben werden. Goldstein (1997) hat eine mittlerweile weithin akzeptierte Strukturierung des analytischen Vorgehens bei der Bestimmung von Trainingsbedarf vorgenommen und dabei drei Analyseebenen unterschieden. Leitfragen auf den jeweiligen Ebenen sind: 4 Wo wird Training gebraucht (organisationsbezogene Merkmale)? 4 Was soll trainiert werden (tätigkeits- bzw. aufgabenbezogene Merkmale)? 4 Wer soll trainiert werden (personenbezogene Merkmale)? Auf den einzelnen Ebenen sollten jeweils folgende Aspekte analysiert und geklärt werden: Ebene organisationsbezogener Merkmale. Auf dieser
Ebene werden Aussagen und Daten zu übergeordneten oder zukünftigen Zielen bzw. Bedarfen der Personalentwicklung und Mitarbeiterförderung ermittelt. Analysen auf dieser Ebene beinhalten Dokumentenanalysen oder Befragungen zu Unternehmenszielen, -strategien und -leitlinien in Bezug auf Bedarfe der Mitarbeiterentwicklung oder Auswertungen geeigneter organisationsdiagnostischer Erhebungen (z. B. Mitarbeiterbefragungen) (auch 7 Kap. 10). Ebene tätigkeitsbezogener Merkmale. Hier werden die
zur Aufgabenbewältigung erforderlichen Kenntnisse, Fertigkeiten und Fähigkeiten bei einer Tätigkeit oder Position erfasst, um die aktuellen und zukünftigen Anforderungen an Stelleninhaber zu identifizieren und zu beschreiben. Hierzu lassen sich eine Reihe von aufgaben- und arbeitsanalytischen Verfahren auf der Basis von Beobachtungen und Befragungen von Stelleninhabern nutzen (für ein Beispiel 7 Kasten »Verhaltensorientierte Aufgabenanalysen zur Ermittlung von Trainings- bzw. Lernbedarf«; auch 7 Kap. 15 und 21).
Ebene personenbezogener Merkmale. Auf dieser Ebene
werden die Leistungsvoraussetzungen sowie die Entwicklungspotenziale von Mitarbeitern im Hinblick auf die Anforderungen bei bestimmten Tätigkeiten bzw. Positionen ermittelt. Dies erfolgt beispielsweise durch Mitarbeitergespräche, Methoden der Leistungsbeurteilung, psychologische Tests oder Assessment-Center (auch 7 Kap. 17 und 18).
465 26.3 · Lerntheoretische Grundlagen
Auf der Grundlage entsprechender Trainingsbedarfsanalysen lassen sich in einem weiteren Schritt differenzierte Aussagen darüber ableiten, welche Kompetenzen bei einzelnen Mitarbeitern oder Gruppen neu ausgebildet, trainiert oder weiterentwickelt werden sollen. In Abhängigkeit von den eingesetzten Analyseverfahren und ermittelten Analyseinhalten werden unterschiedliche Zwecke unterstützt (Schaper & Sonntag, 1998) wie beispielsweise 4 eine strategieorientiertere Personalplanung und -entwicklung (z. B. welche Kompetenzen zur Umsetzung eines neuen Servicekonzeptes benötigt werden), 4 die Ableitung von Lernzielen und -inhalten für Ausund Weiterbildungsmaßnahmen (als methodische Hilfsmittel können hierzu Ansätze der Lernzieloperationalisierung und Lernzieltaxonomien, wie sie aus der pädagogischen Psychologie bekannt sind, herangezogen werden; vgl. z. B. Gage & Berliner, 1996), 4 die Ableitung und Gestaltung von konkreten Lernaufgaben und/oder 4 die Ableitung von Kriterien für die Evaluation von Aus- und Weiterbildungsmaßnahmen. Die Ermittlung von Trainingsbedarf ist – insbesondere auf der Ebene personenbezogener Merkmale – auch durch subjektive Faktoren und Interessen (z. B. welche
beruflichen oder karrierebezogenen Ziele angestrebt werden) geprägt. Man sollte daher versuchen, durch die Berücksichtigung der Sichtweisen aller Beteiligten einen Ausgleich zwischen diesen zu erzielen. Dies erfordert die Partizipation von allen Beteiligten bei der Bestimmung der Entwicklungsbedarfe. Schließlich sollten Bedarfserhebungen keine einmaligen oder nur punktuellen Aktionen sein, sondern möglichst kontinuierlich, z. B. einmal jährlich erfolgen, um eine fortlaufende und rechtzeitig auf Veränderungen reagierende Aus- und Weiterbildung zu unterstützen. 26.3
Lerntheoretische Grundlagen
Die arbeits- und organisationspsychologische Trainingsforschung orientiert sich bei der Gestaltung und Fundierung von Aus- und Weiterbildungsmaßnahmen auch an grundlegenden theoretischen Konzepten des Lehrens und Lernens. Von zentraler Bedeutung sind in diesem Zusammenhang kognitionspsychologische Theorien des Wissens- und Fertigkeitserwerbs, handlungstheoretische Ansätze des Lernens, Studien zum Erwerb von Expertise sowie konstruktivistische Lehr-Lern-Auffassungen.
Verhaltensorientierte Aufgabenanalysen zur Ermittlung von Trainings- bzw. Lernbedarf Gegenstand verhaltensorientierter Aufgabenanalysen ist das beobachtbare Verhalten bei der Aufgabenausführung (vgl. Schaper & Sonntag, 1998). Unter einer Aufgabe versteht man abgrenzbare Teile einer Tätigkeit, denen ein bestimmtes Ziel in Form eines Arbeitsauftrags (z. B. Anfertigen eines Angebots für einen Kunden) zugrunde liegt und die durch bestimmte Ausführungsbedingungen (z. B. zeitliche und finanzielle Vorgaben) gekennzeichnet sind. Ziel der Aufgabenanalyse ist eine Beschreibung der Verhaltenselemente, die zur Ausführung der Aufgabe erforderlich sind, sowie der Bedingungen und Leistungsanforderungen unter denen die Ausführung erfolgen sollte. Zum verhaltensorientierten Ansatz liegen eine Vielzahl spezifischer Verfahrensentwicklungen vor (für einen Überblick s. Kirwan & Ainsworth, 1992). Typische Vertreter dieser Methodengruppe sind »task invento-
6
ries« oder Aufgabeninventare. Sie dienen dazu, die Bestandteile einer Tätigkeit in Form von Aufgaben und Funktionen zu identifizieren und aufzulisten. Solche Inventare werden auf der Basis von Experten- und Stelleninhaberbefragungen sowie Dokumentenanalysen (z. B. Stellenbeschreibungen) entwickelt. Die Beschreibung von Aufgaben erschöpft sich meist in der Angabe eines Tätigkeitswortes und des dazugehörigen Objektes (z. B. Durchführen einer Programmkorrektur). Darüber hinaus werden die Aufgaben von Stelleninhabern oder Experten hinsichtlich ihrer Bedeutsamkeit und ihres Zeitanteils (. Abb. 26.1) sowie weiterer Aspekte (z. B. Schwierigkeit der Aufgabe) beurteilt. Auf der Grundlage solcher Daten können curriculare Inhalte für Trainings bestimmt werden oder Hinweise zu Ausmaß und Art des Trainingsbedarfs ermittelt werden.
26
466
Kapitel 26 · Aus- und Weiterbildung: Konzepte der Trainingsforschung
Mit freundlicher Genehmigung des Deutsche Gesellschaft für Personalführung e. V.
26
. Abb. 26.1. Items des Aufgabeninventars zur Erfassung und Bewertung der Aufgaben und Funktionen von Poststel-
26.3.1
Lernen als Wissenserwerb
Die Form, wie Wissen erworben, mental repräsentiert und abgerufen bzw. genutzt wird, wird in entscheidendem Maße durch die kognitive Struktur des Informationsverarbeitungssystems bestimmt. Bei der Planung und Gestal-
lenbeamten bei der Schweizer Post. (Nach Sonntag & Schmidt-Rathjens, 2004)
tung von kognitiven Lernprozessen ist daher einerseits der Stand des Vorwissens eines Lernenden zu berücksichtigen, andererseits sind bei der Lerngestaltung Mechanismen menschlicher Informationsverarbeitung zu beachten. Je nach Art und Funktion des Wissens werden unterschiedliche Repräsentationsformen im Gedächtnis un-
467 26.3 · Lerntheoretische Grundlagen
terschieden. In der kognitionspsychologischen Forschung werden in diesem Zusammenhang vor allem drei Gruppen von Modellen unterschieden (Sonntag & Schaper, 2006): schematheoretische Ansätze, Ansätze des prozeduralen Lernens und Ansätze zum Aufbau mentaler Modelle. Auf diese Ansätze soll etwas genauer eingegangen werden. Schemata sind Wissensstrukturen, in denen aufgrund von Erfahrungen typische Zusammenhänge eines Realitätsbereichs repräsentiert sind (z. B. die Qualitätsmerkmale eines Produkts). Dazu gehört auch das Wissen über häufig wiederkehrende Handlungs- bzw. Ereignisfolgen (z. B. wie man einen Brief schreibt). In Schemata ist vorwiegend begriffliches Wissen repräsentiert. Beim Erwerb von Wissensschemata werden verschiedene Modi unterschieden: Bei der »Erweiterung« kommt es zur Ausbildung neuer Schemata, bei der »Feinabstimmung« erfolgt eine Ausdifferenzierung bestehender Schemata, und bei der »Umstrukturierung« gilt es vorhandene Schemata grundlegend zu verändern. Zur Erweiterung und Feinabstimmung von Schemata sind insbesondere Methoden der Visualisierung von Wissen (z. B. »mind maps«) zu empfehlen, die den Lernenden aktiv in den Wissenserwerbsprozess einbeziehen. Zur Umstrukturierung von Schemata bedarf es besonderer Lernaufgaben, die einen »konzeptuellen Konflikt« erzeugen (sodass alte Schemata nicht mehr zur Aufgabenbewältigung ausreichen). Durch die Präsentation neuer Erklärungsformen wird dann ein Konzept- bzw. Schemawechsel unterstützt (Seel, 2003). Ansätze des prozeduralen Lernens beschäftigen sich in erster Linie mit dem Erwerb von (kognitiven) Fertigkeiten. Insbesondere Anderson (2001) hat die Lernmechanismen beim Erwerb prozeduralen Wissens beschrieben (z. B. wie man lernt, ein Computerprogramm zu schreiben). Die zugrunde liegenden Wissensstrukturen sind in Form von hierarchisch verschachtelten Bedingungs-Aktions-Regeln (wenn ..., dann ...) aufgebaut. Beim Erwerb solchen regelbasierten Wissens sind drei Phasen zu durchlaufen: 4 Phase der Anwendung deklarativen Wissens: Hier geht es zunächst um das Verstehen der Aufgabenanforderungen. Es wird eine mentale Repräsentation erzeugt, was bei der Aufgabe gegeben ist und was getan werden muss, um das gesetzte Ziel zu erreichen. 4 Phase der Prozeduralisierung von Wissen: Durch zahlreiche Wiederholungen von Teilschritten und -fertigkeiten der Aufgabe wird das deklarative Hand-
lungswissen »prozeduralisiert«, d. h. zu einer ausführbaren Prozedur zusammengesetzt, die als Handlungsschema der Aufgabenlösung zugrunde gelegt werden kann. 4 Phase der Wissensoptimierung: Durch weiteres Üben kommt es schließlich zu einer Automatisierung der erworbenen Fertigkeiten, was zu einer größeren Schnelligkeit und Genauigkeit der Ausführung sowie einer geringeren Fehleranfälligkeit und Reduzierung der erforderlichen Aufmerksamkeit bei der Ausführungssteuerung führt. Zur Gestaltung eines entsprechenden Lernprozesses werden vor allem Methoden der Verhaltensmodellierung (7 Abschn. 26.4.2) oder des angeleiteten Übens verwendet (Seel, 2003). Für den Ansatz mentaler Modelle ist schließlich die Annahme zentral, dass Menschen interne Modelle der äußeren und inneren Realität aufbauen (z. B. über das Funktionieren eines technischen Systems). Solche mentalen Modelle stimmen in ihren strukturellen Merkmalen, d. h. ihren zeitlichen, räumlichen, kausalen oder symbolischen Relationen mit einem Realitätsausschnitt mehr oder weniger gut überein und ermöglichen dem Individuum, Vorhersagen zu machen, Phänomene zu verstehen, Entscheidungen zu treffen und Ereignisse stellvertretend zu erfahren. Annahmen über den Erwerb von mentalen Modellen spielen z. B. bei der Gestaltung von computergestützten Simulationen für Lernzwecke eine Rolle (z. B. van Merriënboer, Seel & Kirschner, 2002). Solche kognitionspsychologischen Modellvorstellungen beschreiben zwar konkret, welche Informationsverarbeitungsprozesse und Repräsentationsformen beim Wissenserwerb von Bedeutung sind. Die beschriebenen Modelle bleiben aber indifferent in Bezug auf das Erlernen von Handlungskompetenzen. Hiermit beschäftigen sich unter einer theoretischen und lernpraktischen Perspektive handlungstheoretische Ansätze des Lernens. 26.3.2
Erwerb von Handlungskompetenzen
Handlungstheoretisch fundierte Lernkonzepte (Sonntag & Schaper, 2006) gehen davon aus, dass Lernen die aktive und kognitiv-reflektierende Auseinandersetzung mit den Handlungsanforderungen bei einer Aufgabe bzw. Tätigkeit erfordert. Dabei sollten insbesondere wesent-
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Kapitel 26 · Aus- und Weiterbildung: Konzepte der Trainingsforschung
liche Phasen der Handlungssteuerung wie Orientierungs-, Zielbildungs- und Planungsphase sowie Ausführungs-, Kontroll- und Reflexionsphase durchlaufen und explizit behandelt werden. Werden diese Phasen nicht oder nur unvollständig im Lernprozess abgehandelt, entwickeln sich Fehlverhaltensweisen. Durch kognitive Trainings (z. B. anhand von sog. Leittexten, die aus Leitfragen, Leitsätzen und Teilaufgaben bestehen) wird z. B. die Auseinandersetzung mit den unterschiedlichen Anforderungen in den einzelnen Phasen der Handlungssteuerung lernmethodisch gefördert. Der Erwerb von Handlungskompetenzen erfolgt außerdem durch den Aufbau »operativer Abbildsysteme« bzw. mentaler Repräsentationen, die tätigkeits- oder aufgabenspezifisches Wissen über die Ausgangsbedingungen, Zielzustände und Wege des Handelns beinhalten. Dieser Erwerbsprozess erfordert eine aktive und zunehmend selbstständige Auseinandersetzung mit der Tätigkeit bzw. Aufgabe, die erlernt werden soll. Der Lernprozess ist dabei so zu gestalten, dass mit einfachen Formen der Tätigkeit begonnen wird, die bereits wesentliche Elemente der Handlungsstruktur einer Aufgabe bzw. Tätigkeit repräsentieren (z. B. zum Erlernen des Umgangs mit einem Textverarbeitungssystem werden zunächst folgende Schritte behandelt: Dokument aufrufen, Text erstellen, Text formatieren, Dokument abspeichern). Im weiteren Verlauf werden die Lernaufgaben stufenweise komplexer, bis sie schließlich die Schwierigkeit und Vielfalt realer Aufgaben repräsentieren (z. B. indem die verschiedenen Möglichkeiten zur Textformatierung anhand von konkreten Textbeispielen behandelt werden). In der Handlungsregulationstheorie wird »Handeln lernen« schließlich als Prozess eines angeleiteten hin zum selbstständigen Handeln beschrieben. Das Ausführen von Handlungen bedarf somit am Anfang des Lernens strukturierter und massiver Anleitungen von außen (z. B. indem ein Ausbilder bei der Ausführung einer Aufgabe beobachtet wird und dieser sein Tun erläutert). Mit zunehmender Beherrschung von Teilen der Gesamthandlung und Prozessen der Handlungskontrolle können dann entsprechende Anleitungen zurückgenommen werden (indem z. B. nur noch die konkrete Zielsetzung, nicht mehr aber das Vorgehen bei der Aufgabe benannt wird). Auf der Grundlage dieser Annahmen zum handlungsorientierten Lernen werden vor allem folgende Konsequenzen für die Lerngestaltung gesehen (Frese & Zapf, 1994):
4 die Gestaltung von Lernaufgabensystemen, um ein aktives, aufgabenorientiertes und vollständiges Lernhandeln zu fördern, 4 der Einsatz von kognitiven Trainings, um die kognitive Durchdringung der Handlungsstrukturen zu unterstützen und die Lernenden von einem angeleiteten zu einem selbstständigen Handeln zu führen, 4 die Gestaltung von Lernprozessen am Arbeitsplatz, um die Ausdifferenzierung von Handlungswissen zu fördern und hocheffizientes Expertenverhalten zu entwickeln. 26.3.3
Lernen als konstruktiver Prozess
Eine weitere Gruppe einflussreicher lehr-lern-theoretischer Ansätze nimmt Bezug auf eine konstruktivistische Auffassung von Lernprozessen (vgl. z. B. Schaper & Sonntag, 2007). Der Erwerb von Wissen wird dabei als Konstruktionsleistung verstanden und erfordert somit aktive Aneignungsprozesse des Lernenden (insbesondere durch das Anwenden von Wissen auf relevante Aufgaben- und Problemstellungen und überwiegend selbstgesteuertes Lernen). Das Lehren erfolgt daher im Sinne einer Anregung, Unterstützung und Beratung der Lernenden. Der Lehrende hat dabei die Aufgabe, Problemsituation und Werkzeuge zur Problembearbeitung zur Verfügung zu stellen und auf Unterstützungsbedarf der Lernenden zu reagieren. Außerdem wird angenommen, dass die Interpretation, Bedeutung und Repräsentation eines Sachverhalts je nach Kontext, Perspektive und Person wechselt, d. h. Lernen somit auch »situiert« erfolgt. Für das Lernen folgt daraus, dass Lernenden Situationen angeboten werden müssen, in denen eigene (Wissens-)Konstruktionsleistungen möglich sind und in denen kontextgebunden gelernt werden kann. Man spricht daher auch von situierten Lernumgebungen, deren wesentliche Gestaltungsprinzipien darin bestehen, dass sie 4 auf authentischen Aufgaben oder komplexen Anwendungskontexten beruhen (um die Anwendbarkeit des zu erlernenden Wissens sicherzustellen), 4 die Anwendung des Wissens in vielfältigen Zusammenhängen und/oder unter unterschiedlichen Sichtweisen vorsehen (um die Lernenden zu befähigen, das erworbene Wissen flexibel und in verallgemeinerter Form einzusetzen) und
469 26.4 · Spezifische Formen und Methoden der Aus- und Weiterbildung
4 ein kooperatives Lernen in sozialen Kontexten fördern (um den Wissensaustausch und eine vertiefte Aneignung des Gelernten zu fördern).
ben systematisch zu vermitteln. Beide Ansätze sind außerdem lerntheoretisch fundiert und wissenschaftlichempirisch erprobt.
Neuere Studien und Gestaltungsansätze zeigen allerdings auch, dass situiertes Lernen der Anleitung bedarf. Effektives Lernen erfolgt in solchen Lernumgebungen erst wirklich dann, wenn sie mit instruktionalen Elementen (z. B. Wissensinputs oder Anleitungen zur Aufgabenbewältigung) verknüpft werden. Umgesetzt werden diese Prinzipien einer konstruktivistischen Lehr-Lern-Auffassung z. B. bei der Gestaltung problemorientierter Lernumgebungen (vgl. Schaper & Sonntag, 2007). Hierunter werden Lernumgebungen verstanden, die Ereignisse, Situationen und Phänomene in den Mittelpunkt stellen, die entweder sehr realitätsnah sind oder erkennbaren Bezug zu realitätsnahen Situationen bzw. Ereignissen haben, die zweitens entsprechendes Interesse oder Neugier wecken und drittens Problemcharakter haben, indem sie Fragen aufwerfen, Kontroversen auslösen und verschiedene Interpretationen zulassen.
Sensumotorische Trainings Mit sensumotorischen Trainingstechniken soll der Erwerb sensumotorischer Fertigkeiten für berufliche Aufgaben (z. B. Mikro- oder Feinmontagetätigkeiten) unterstützt werden. Ihre Entwicklung beruht auf Konzepten der Handlungsregulationstheorie (Hacker, 2006; 7 Kap. 20). Um sich das innere Handlungsabbild einer Arbeitstätigkeit anzueignen, werden bei diesen Trainingsverfahren die Beobachtungs-, Vorstellungs-, Denk- und Sprechtätigkeit der Lernenden systematisch in den Unterweisungs- und Lernvorgang einbezogen. Hierzu werden verschiedene Trainingsarten miteinander kombiniert: 4 das systematische Beobachten der zu erlernenden Ausführungsweisen (observatives Training), 4 das mentale Nachvollziehen der Handlungsabläufe (mentales Training), 4 die sprachliche Unterstützung von aktiven eigenen Übungsversuchen (verbales Training), 4 das systematische Üben der Abläufe unter Bedingungsvariationen bzw. erhöhten Schwierigkeitsstufen (aktives Training).
26.4
Spezifische Formen und Methoden der Aus- und Weiterbildung
Im Rahmen der arbeits- und organisationspsychologischen Trainingsforschung wurden in Abhängigkeit von theoretischen und praxisorientierten Fragestellungen eine Vielzahl von spezifischen Methoden zur beruflichen Aus- und Weiterbildung entwickelt, erprobt und evaluiert. An dieser Stelle kann nur eine beschränkte Auswahl thematisiert werden. Vorgestellt werden einerseits besonders bewährte Methoden wie sensumotorische und kognitive Trainings, das Behavior Modeling Training sowie Trainingssimulatoren und andererseits aktuellere Methodenentwicklungen wie computer-/ netzgestützte sowie arbeitsnahe Lehr-Lern-Formen. 26.4.1
Sensumotorische und kognitive Trainings
Sensumotorische und kognitive Trainings beruhen auf dem Einsatz spezifischer Methoden zur Lernunterstützung, um bestimmte Wissensinhalte, Fertigkeiten oder Strategien zur Bewältigung von konkreten Arbeitsaufga-
Sensumotorische Trainingstechniken wurden z. B. erfolgreich zum Training komplexer Montagearbeiten (Witzgall, 1984) oder zum Training laparoskopischchirurgischer Eingriffe (Immenroth, 2003) eingesetzt. Kognitive Trainings Diese Trainingsverfahren wurden entwickelt, um Kompetenzen zur Bewältigung komplexer Arbeitsaufgaben zu trainieren, die Planungs-, Entscheidungs- und Problemlösefähigkeiten erfordern. Hierbei sollen nicht konkrete Tätigkeitsabläufe erlernt werden, sondern Denkleistungen wie gedankliches Probehandeln und Fähigkeiten zum situationsangemessenen Planen und Entscheiden bei bestimmten Arbeitsaufgaben (z. B. Fehlersuche in komplexen technischen Anlagen). Kognitive Trainingsverfahren beruhen auf der Anwendung und Kombination verschiedener Lehr-Lern-Methoden (z. B. heuristische Regeln oder Selbstreflexionstechniken), die auf Konzepten der Handlungsregulationstheorie und der Problemlösepsychologie beruhen. Spezifische kognitive Trainingsmethoden (7 hierzu Sonntag & Schaper, 2006) sind beispielsweise heuristische Regeln und Selbstreflexionstechniken:
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Kapitel 26 · Aus- und Weiterbildung: Konzepte der Trainingsforschung
Heuristische Regeln. Hierunter sind denkpsychologische Hilfen bei der Planung, Realisierung und Kontrolle komplexer Arbeitstätigkeiten zu verstehen. Heuristische Regeln oder Verfahrensvorschriften basieren auf der Formulierung und Vermittlung von möglichst knappen, aber eindeutigen Anweisungen, die den Lernenden zu einer präziseren Situationsanalyse, zum Bestimmen problemadäquater Denk- bzw. Handlungsalternativen und zur Reflexion und Bewertung bereits vollzogener Handlungs- und Denkschritte auffordern (z. B. »Erfasse das Ziel«, »Mache dir gedanklich ein Bild von der Steuerung« usw.). Ein kognitives Training mit heuristischen Regeln zur Vermittlung von Strategien der Fehlersuche in komplexen steuerungstechnischen Schaltungen beschreiben Schaper und Sonntag (1997). Selbstreflexionstechniken. Hierbei werden die Lernen-
den mittels Fragen (z. B. »Was habe ich gut gemacht?« und »Was habe ich schlecht gemacht?«) im Anschluss oder während des Problemlösungsprozesses zur Reflexion und Modifikation ihres Denkens und Handelns angeregt. Hiermit werden einerseits der Erwerb und die Optimierung entsprechender aufgabenspezifischer Handlungskompetenzen (z. B. zur Planung und Steuerung des Vorgehens bei technischen Konstruktionsaufgaben) gefördert. Andererseits werden dadurch auch metakognitive Fähigkeiten zur selbstständigen Reflexion und Verbesserung des eigenen Handelns in problemhaltigen Arbeitssituationen ausgebildet. Ein evaluiertes Anwendungsbeispiel für ein kognitives Training mit Selbstreflexionstechniken findet sich ebenfalls bei Schaper und Sonntag (1997). Der Einsatz kognitiver Trainingstechniken setzt meist ein ausreichend entwickeltes Vorwissen über die Aufgabe und entsprechende Problemlösefähigkeiten voraus. Leistungsschwache Lernende sind daher leicht überfordert mit der Anwendung z. B. heuristischer Regeln und müssen durch zusätzliche Betreuung und Anleitung unterstützt werden. Die Entwicklung und Durchführung kognitiver Trainings ist außerdem relativ aufwändig. Die zu trainierenden Aufgaben müssen z. B. im Vorfeld sehr detailliert bezüglich ihrer kognitiven Anforderungen analysiert werden. Der enge Aufgabenbezug der Trainingstechniken schränkt andererseits die Generalisierbarkeit des Trainings stark ein. Oft werden daher nur besonders risikoreiche oder leistungskritische Tätigkeitselemente bzw. Aufgaben solch einem Training unterworfen.
26.4.2
Behavior Modeling Training
Eine weitere Trainingstechnik, die allerdings auf den Erwerb sozial-kommunikativer Fähigkeiten ausgerichtet ist, stellt das Behavior Modeling Training dar. Dieser auf der »Theorie des sozialen Lernens« von Bandura (1977) aufbauende Ansatz geht davon aus, dass menschliches Verhalten überwiegend durch Beobachtung an aktuellen oder symbolischen Modellen gelernt wird. Im Kern des Trainings steht daher die Präsentation von Verhaltensmodellen, die demonstrieren, anhand welcher Verhaltensweisen eine Arbeits- bzw. Problemsituation erfolgreich bewältigt werden kann. Die Modelle werden üblicherweise als Film präsentiert oder durch Akteure unmittelbar dargestellt. Für einen erfolgreichen Lern- und Trainingsprozess sind im Sinne dieses Ansatzes vor allem folgende Aspekte bzw. Prozesse zu unterstützen und lernförderlich zu gestalten: 4 Aufmerksamkeitsprozesse (hierbei muss der Lernende die relevanten Merkmale des Modellverhaltens und der Situation erkennen und wahrnehmen), 4 Gedächtnisprozesse (in dieser Phase muss das zu erlernende Modellverhalten sprachlich oder bildhaft im Gedächtnis kodiert werden), 4 motorische Reproduktionsprozesse (in dieser Phase gilt es die neu erworbenen Verhaltensweisen aktiv zu erproben und einzuüben) und 4 motivationale Prozesse (der Lernende oder das Modell muss beim Zeigen des Modellverhaltens positiv verstärkt werden, ansonsten ist er nicht ausreichend motiviert, das neue Verhalten zu zeigen) Das Behavior Modeling Training orientiert sich dazu in der Regel an dem im 7 Kasten dargestellten Ablauf (Latham & Saari, 1979). Behavior Modeling Trainings wurden überwiegend im Bereich des Führungskräftetrainings (z. B. zum Führen von Mitarbeitergesprächen) eingesetzt und evaluiert (Taylor, Russ-Eft & Chan, 2005). Ein aktuelles Trainingsbeispiel verdeutlicht, dass Behavior Modeling aber auch zur Vorbereitung von Auszubildenden auf sozial-kommunikative Anforderungen bei Teilautonomer Gruppenarbeit effektiv genutzt werden kann (vgl. Sonntag & Stegmaier, 2007b). In verschiedenen Metaanalysen (z. B. Arthur, Bennett, Edens & Bell, 2003) konnte außerdem gezeigt werden, dass Behavior Modeling Training eine der effektivsten Trainingsmethoden ist. Der Transfer des Gelernten ist dann am größ-
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Ablauf des Behavior Modeling Training 4 Einführung in den Problembereich durch den Trainer 4 Entwicklung von Lernpunkten (Lernpunkte entsprechen den einzelnen Lernzielen des Trainings und lassen sich in Form von Verhaltensweisen oder -prinzipien formulieren) 4 Filmdarbietung des Verhaltensmodells (z. B. eines Vorgesetzten, der entsprechende Führungssituati-
ten, wenn sowohl positive als auch negative Verhaltensmodelle präsentiert werden, die Teilnehmer selbst entwickelte Anwendungsszenarien bearbeiten und sie sich klare Ziele für den Transfer nach dem Training setzen (Taylor et al., 2005). Auch Auswirkungen auf »harte« Kriterien wie Verkaufsleistung oder Unternehmensproduktivität, Absentismus und Fluktuation konnten belegt werden (ebd.). 26.4.3
Trainingssimulatoren
Trainingsimulatoren zeichnen sich dadurch aus, dass sie in der Lage sind, eine Arbeits- bzw. Systemumgebung synthetisch wiederzugeben und dabei auch die Systemdynamik widerzuspiegeln. Ziel der Darstellung ist insgesamt die Realisierung einer hohen Realitätsnähe in Bezug auf die System- und Aufgabenanforderungen, um sowohl spezifische Fertigkeiten als auch komplexere Fähigkeiten zur Aufgabenbewältigung anwendungsnah zu üben. Simulatoren für Trainingszwecke besitzen darüber hinaus Möglichkeiten zur lehr-lern-bezogenen Gestaltung der Simulation (z. B. bezüglich des Feedbacks). Trainingssimulatoren haben als Lern- bzw. Trainingsmedium im Vergleich zu einem Training an realen Systemen folgende Funktionen: 4 Sie lassen sich zur Darstellung von Systemen nutzen (z. B. der Ablauf eines chemischen Produktionsprozesses) oder zur Demonstration von bestimmten Vorgehensweisen (z. B. zum Abschalten eines Kraftwerks). 4 Sie stellen Übungsmöglichkeiten für praktische Fähigkeiten in Standardsituationen, seltenen bzw. besonders schwierigen Situationen (z. B. das Landen eines Flugzeugs bei dichtem Nebel) und Notfallsituationen (z. B. beim Ausfall eines Flugzeugtriebwerks) zur Verfügung.
onen effektiv nach vorgegebenen Lernpunkten bewältigt) 4 Gruppendiskussion über die Effektivität des Verhaltensmodells 4 Übung der zu erlernenden Verhaltensweisen im Rollenspiel 4 Rückmeldung über das Rollenspielverhalten durch die Gruppe
4 Sie stellen besondere Möglichkeiten zur Analyse und Bewertung von Verhaltensleistungen im Training zur Verfügung (indem z. B. die Verhaltensreaktionen in bestimmten Trainingssituationen den Lernenden sehr detailgenau und anschaulich rückgespiegelt werden können). 4 Schließlich können mithilfe von Trainingssimulatoren Lernanforderungen und -chancen auch in besonderer Form optimiert werden. Dies ist insbesondere gegeben durch Möglichkeiten zum »Zuschneiden« von Trainingsszenarien (z. B. indem verschiedene Bedingungsvariationen einer Situation präsentiert und entsprechende Entscheidungsregeln eingeübt werden können) und durch das Bereitstellen eines lernförderlichen Umfelds ohne Gefahren für Lernende und Material (z. B. in Bezug auf gefährliche Situationen beim Fliegen von Verkehrsmaschinen). Im 7 Kasten »Beispiel für ein Simulatortraining in der Anästhesie« werden die Gestaltung eines Simulators und entsprechenden Trainings, um den Umgang mit Komplikationen bei der Narkoseführung im Operationssaal zu trainieren, beispielhaft beschrieben. In Zusammenhang mit der Gestaltung von Trainingssimulatoren hat die Frage, welche Realitätsnähe der Simulator für das Training aufweisen sollte, eine besondere Bedeutung. Die Realitätsnähe (»fidelity«) eines Simulators bezeichnet den Grad der Ähnlichkeit zwischen Trainings- und Anwendungssituation an einem Arbeitsplatz. Dabei wird zwischen physikalischer und funktionaler Realitätsnähe unterschieden (Hays & Singer, 1989). Erstere bezieht sich auf die visuelle, räumliche und kinästhetische Gestaltung von realen Aspekten, die im Simulator wiedergegeben bzw. dargestellt werden. Die funktionale Realitätsnähe nimmt im Unterschied
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Kapitel 26 · Aus- und Weiterbildung: Konzepte der Trainingsforschung
Beispiel für ein Simulatortraining in der Anästhesie pharmakologischen Prozesse simuliert, die an der Puppe (z. B. als Atembewegungen des Brustkorbes, Herztöne, Pulse, Pupillenreflexe) und an den Monitoringgeräten (z. B. als EKG, Blutdruck, CO2-Konzentration, und O2-Sättigung) mit einer hohen physikalischen und funktionalen Realitätsnähe wiedergegeben werden. An der Puppe sind außerdem fast alle gebräuchlichen medizinischen Eingriffe zur Narkoseführung möglich (z. B. tracheale und bronchiale Intubation, Maskenbeatmung, i.v.-Narkose etc.). Die simulierten Prozesse der Puppe beruhen auf einem computergestützten pharmakophysiologischen Modell, bei dem flexibel unterschiedliche Patientenparameter (z. B. Alter, Geschlecht, physische Fitness), Risikofaktoren (z. B. Herzinfarktgefährdung, starker Raucher, Allergien) und verschiedene vorprogrammierte Zwischenfallverläufe eingestellt werden können. Die situations- und prozessabhängige Steuerung der Modellparameter ist au-
Mit freundlicher Genehmigung von Pabst Science Publishers.
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Um die Bewältigung von riskanten Zwischenfällen bei der Narkoseführung im Operationssaal (OP) zu trainieren, wurden in der Anästhesie – ähnlich wie z. B. in der Luftfahrt oder bei Kernkraftwerken – Simulatoren entwickelt, um Fähigkeiten zum Zwischenfallmanagement zu trainieren (vgl. Gaba, Fish & Howard, 1998). Dies erfolgt meist in entsprechenden Simulationszentren von Universitätskliniken, die ein- oder mehrtägige Simulatortrainings anbieten (Schaper, Schmitz, Graf & Grube, 2004). Das Training beruht im Kern auf dem sehr realitätsnahen Durchspielen von mehreren Zwischenfallszenarien (z. B. Komplikationen bei der Narkoseführung wie ein Kreislaufzusammenbruch durch erhöhten Blutverlust). In Vorbereitung zu den Zwischenfallszenarien werden zunächst Prinzipien bzw. Heuristiken des Zwischenfallmanagements wie z. B. »Denke vorausschauend und handle planvoll!«, »Erkläre eine Situation lieber früh als zu spät zum Notfall!« durch Lehreinheiten und Videodemonstrationen vermittelt. In den simulierten Zwischenfällen sollen die Zwischenfallprinzipien dann angewandt und eingeübt werden. Nach der Simulation eines Falls wird mit den beteiligten Anästhesisten das Geschehen zusammen mit einem Instruktor in sog. Debriefings durchgesprochen. Dies erfolgt anhand einer Videoaufzeichnung des Zwischenfalls. Beim Debriefing werden sowohl die zur Zwischenfallbewältigung relevanten medizinischen als auch verhaltensbezogenen Aspekte angesprochen. Die Zwischenfallszenarien werden realisiert anhand einer hochrealistischen Patientenpuppe – dem eigentlichen Simulator, die sich in einem nachgestellten Operationssaal befindet (. Abb. 26.2). In diesem OP ist eine vollständige Ausrüstung zur Narkoseführung mit Beatmungsgeräten, Medikamenten, Spritzen, Infusionsbesteck, Monitoringgeräten etc. vorhanden. Als »Mitspieler« werden außerdem ein Anästhesiepfleger zur Unterstützung des Anästhesisten und ein Chirurg sowie je nach Szenario weitere Personen (z. B. ein Pädiater) mit eingebunden. Anhand der Patientenpuppe werden alle für die Narkoseführung relevanten physiologischen und
. Abb. 26.2. Bildliche Darstellung eines Anästhesienotfallsimulators mit Patientenpuppe und Instrumenten zur Narkoseführung. (Aus Schaper et al., 2004)
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473 26.4 · Spezifische Formen und Methoden der Aus- und Weiterbildung
ßerdem über einen Simulatorfahrer anhand einer Kontrollkonsole möglich. Entsprechende Trainings dienen vor allem dazu, folgende Aufgaben und Fähigkeiten zu vermitteln: 4 das Vorgehen bei seltenen klinischen Ereignissen (z. B. allergische Schockreaktionen), 4 die Sensibilisierung für zwischenfallkritische Einstellungen und Verhaltensweisen (z. B. einen Zwischenfall nicht unbedingt allein bewältigen zu wollen), 4 die Veränderung zwischenfallrelevanten Problemlöseverhaltens (z. B. auf Anzeichen für Notfälle frühzeitig zu reagieren),
dazu Bezug auf die Verfügbarkeit aufgabenrelevanter Informationen und die Handlungsmöglichkeiten, die man in der Simulationsumgebung hat. Für die Trainingsgestaltung ist zu klären, welche Ausprägungen der physikalischen und funktionalen Realitätsnähe für die Erreichung der Trainingsziele tatsächlich benötigt werden. Verschiedene Untersuchungen zu dieser Fragestellung haben gezeigt (vgl. hierzu Hays & Singer, 1989), dass es nicht immer notwendig ist, hohe Grade der physikalischen und funktionalen Realitätsnähe bei der Gestaltung eines Trainingssimulators zu realisieren. In Abhängigkeit von der zu erlernenden Aufgabe und dem Kompetenzstand der zu Trainierenden muss daher sorgfältig überlegt werden, welche Ausprägungen der Realitätsnähe tatsächlich benötigt werden. So kann z. B. das Training von Entscheidungssituationen bei der Flugzeugführung auch anhand einer computergestützten Simulation mit geringer physikalischer, aber mittlerer bis hoher funktionaler Realitätsnähe mit gutem Erfolg durchgeführt werden. Für das Training von Entscheidungsfähigkeiten ist vor allem die realistische Wiedergabe der informationellen Bedingungen der Entscheidungssituation bedeutsam (Jentsch & Bowers, 1998). 26.4.4
Computer- bzw. netzgestützte Lehr-Lern-Formen
Der Einsatz von computer- bzw. netzgestützten LehrLern-Formen hat infolge der enormen Verbreitung von Informations- und Kommunikationstechniken in der
4 das Training von situationsrelevanten Stressbewältigungsstrategien (z. B. durch das Delegieren von Aufgaben) und 4 das Training notfallrelevanter Kommunikations- und Teamverhaltensweisen (z. B. Anweisungen präzise und direkt zu geben oder das geplante Vorgehen zur Notfallbewältigung laut mitzuteilen). Evaluationsstudien zeigen, dass mithilfe solcher Simulatortrainings zwischenfallrelevante Einstellungen und Fähigkeiten im Umgang mit solchen Situationen wirkungsvoll vermittelt werden können (vgl. Schaper et al., 2004).
Arbeitswelt auch in der beruflichen Aus- und Weiterbildung Einzug gehalten. Standen in den 70er und 80er Jahren vorwiegend Programme zur Verfügung, die nur ein individuelles, ausschließlich verbal gestütztes Lernen unterstützten, so ist durch die heutigen technischen Möglichkeiten auch die Integration von audiovisuellen Medien in das computergestützte Lernen möglich geworden. Darüber hinaus sind durch die Vernetzung von Computern und das Internet vielfältige Möglichkeiten der Interaktion und Kooperation beim Lernen mit dem Computer entstanden. Man unterscheidet mittlerweile zwischen vielfältigen Formen des computer-/netzgestützten Lernens bzw. E-Learnings (Schaper & Konradt, 2004; . Tab. 26.1 für einen Überblick). Exemplarisch wird jeweils eine nicht netzbasierte (Hypertext- oder Hypermediasysteme) und eine netzbasierte Form (kooperative Lernszenarien) des E-Learnings vorgestellt. Hypertext- oder Hypermediasysteme Hypertext- oder Hypermediasysteme – als Beispiel für eine nicht netzbasierte Form des E-Learnings – repräsentieren die Inhalte eines Lernstoffs in Form eines Informationsnetzwerks. Die Bewegung und Orientierung im Programm wird durch Navigationssysteme ermöglicht und unterstützt. Dies erlaubt dem Lernenden je nach Lern- bzw. Informationsbedarf einen flexiblen Zugriff auf beliebige Informations- bzw. Lerneinheiten. Solche Lernumgebungen erfordern einen selbstständigen Umgang mit den Lern- bzw. Wissensinhalten, da diese weitgehend selbstgesteuert gesucht und verarbeitet werden müssen. Hypertext- bzw. Hypermediasysteme eig-
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Kapitel 26 · Aus- und Weiterbildung: Konzepte der Trainingsforschung
. Tab. 26.1. Übersicht zu Formen des E-Learnings und ihrer Anwendung im Rahmen von beruflichen Aus- und Weiterbildungsprozessen. (Nach Schaper & Konradt, 2004) Formen des E-Learnings
Anwendungsmöglichkeiten in der beruflichen Aus- und Weiterbildung (Beispiele)
Tutorielle Lernprogramme
4 Sprachtraining 4 Prüfungsvorbereitung 4 Training komplexer Fertigkeiten (z. B. Programmierskills)
Hypertext-/ Hypermediasysteme
4 Handlungsorientierte Wissensvermittlung (z. B. kaufmännische Ausbildung) 4 Problemorientierte Wissensvermittlung (z. B. Führen von Mitarbeitergesprächen)
Simulative Lernumgebungen
4 Training mentaler Modellbildung (z. B. Steuerung von Kraftwerken) 4 Strategietraining (z. B. technische Fehlersuche)
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Netzbasierte E-Learning-Formen Online-Teachings
4 Information von Mitarbeitern 4 Einführung in Themen 4 Systematische Wissensvermittlung (z. B. Sicherheitstechnik)
Online-Tutorials
4 Coaching beim Erwerb von Handlungskompetenzen (z. B. beim Softwaretraining) 4 Mentoring zur Karriereförderung
Kooperative Lernszenarien
4 Gruppenbezogenes Lernen (z. B. gemeinsamer Entwurf eines Software-Rollouts) 4 Exploratives, erfahrungsbasiertes Lernen (z. B. Einführung von Wissensmanagementsystemen)
Hybride Lernarrangements Hybride Lernarrangements bzw. Blended Approaches
4 Umfangreiche modulare Fortbildungsprogramme (z. B. zur Führungskräfteentwicklung)
nen sich für die Darstellung komplexerer Wissens- und Lerninhalte und erlauben die integrierte Darbietung von unterschiedlichen Darstellungsmedien wie Text, Graphik, Ton und Video. Sie unterstützen insbesondere fallund problemorientiertes Lernen meist im Rahmen »situierter Lernumgebungen«, in denen ein Lernen anhand realitäts- und anwendungsnaher Darstellungskontexte ermöglicht wird (z. B. das Hypermediaprogramm zum Erwerb von Techniken zielorientierter Führung von Konradt, 2004). In Reviews und Metaanalysen (z. B. Chen & Rada, 1996) wurden die Lernwirkungen von Hypertext- bzw. Hypermediasystemen analysiert. Sie zeigen, dass eine Überlegenheit von Hypertext- bzw. Hypermediasystemen nur bei Lernaufgaben festzustellen ist, die eine schnelle Informationssuche durch unfangreiche und multiple Informationsbestände erfordern. Die Erhöhung von Freiheitsgraden zur eigenständigen Exploration von Informationsressourcen in Hypermediasystemen scheint darüber hinaus je nach Voraussetzungen der Lernenden
unterschiedliche Lerneffekte zu bewirken. Bei schwachen Lernenden resultiert dies in unzureichenden Lernstrategien und Lernerfolgen, während leistungsfähigere Lernende von diesen Freiheitsgraden profitieren. Kooperative Lernszenarien Bei kooperativen Lernszenarien – als Beispiel für eine netzbasierte Form des E-Learnings – steht das Lernen in einer Gruppe im Zentrum, wobei der kommunikative Austausch über Lerngegenstände und/oder die arbeitsteilige Bearbeitung von Lernaufgaben mithilfe von Informations- und Kommunikationstechniken gefordert und gestaltet wird. Typische Formen des kooperativen Lernens im Netz sind z. B. Online Discussions oder netzbasierte Learning Communities. Bei Online Discussions (Seufert, Back & Häusler, 2001) steht die netzbasierte Interaktion und Diskussion über die Lerninhalte im Vordergrund. Sie werden angewandt, um Lerninhalte zu vertiefen und die Auseinandersetzung damit aus unterschiedlichen Perspektiven zu
Mit freundlicher Genehmigung von Hogrefe, Göttingen. © Hogrefe 2004
Nicht netzbasierte E-Learning-Formen
475 26.4 · Spezifische Formen und Methoden der Aus- und Weiterbildung
fördern. Die Diskussion kann in freier oder strukturierter Form erfolgen, wobei die strukturierte Form Vorgaben zum Ablauf und inhaltlichen Positionen sowie die Moderation durch einen Lehrenden beinhaltet. Online Discussions können sowohl in asynchroner Form (meist im Rahmen von Diskussionsforen) und synchroner Form (z. B. im Rahmen von Videokonferenzen mit Unterstützung durch Whiteboards) erfolgen. Die Wirkung netzbasierter kooperativer Lernszenarien wurde z. B. von Fischer, Bruhn, Gräsel und Mandl (2000) untersucht. Sie verglichen die Bearbeitung von Lernaufgaben in einer Face-to-Face-Bedingung mit netzbasierten Kooperationsformen, die jeweils zu zweit zu bearbeiten waren. Hierbei zeigte sich, dass sich weder beim individuellen Lernerfolg noch im Hinblick auf die Konvergenz der Lernergebnisse innerhalb der Dyaden signifikante Unterschiede zwischen den Kooperationsbedingungen ergaben. Dies zeigt, dass kooperatives Lernen mittels telekommunikativer Medien keineswegs ineffektiver sein muss als ein direkter Lernaustausch von Angesicht zu Angesicht. Weitere Untersuchungen zur netzbasierten Kommunikation und Kooperation verdeutlichen aber auch (vgl. Hron, Hesse & Friedrich, 2002), dass sie im Vergleich zur Face-to-Face-Kommunikation Besonderheiten bzw. Probleme aufweist: Beispielsweise fehlen bei asynchronen Kommunikationsmedien (z. B. Diskussionsforen) bestimmte Informationsarten (Mimik, Stimme etc.), sodass bestimmte Mechanismen und Regeln der sozialen Interaktion (z. B. Sprecher-Hörer-Wechsel) aufgehoben sind und die Themenkohärenz verloren gehen kann. Hybride Lernarrangements Für eine sinnvolle und effektive Anwendung neuer Medien in der Aus- und Weiterbildung empfiehlt es sich in vielen Fällen, dass diese gezielt mit Präsenzveranstaltungen verknüpft werden. Im Rahmen solcher »hybriden Lernarrangements« (Kerres, 2001), die auch als Blended Approaches bezeichnet werden, haben E-LearningKomponenten z. B. die Funktion, 4 Wissen vorbereitend auf Präsenztrainings zu vermitteln, 4 die Lernenden für bestimmte Problemstellungen zu sensibilisieren, 4 im Nachgang von Seminaren einen Austausch unter ihnen bezüglich ihrer Umsetzungserfahrungen zu ermöglichen oder 4 sich vom Trainer möglichst direkt Rat und Hilfestellungen bei Umsetzungsproblemen zu holen.
Ein Beispiel für ein solches hybrides Lernarrangement ist das Programm »Basic Blue«, das bei der Firma IBM zur Führungskräfteentwicklung implementiert wurde (Kleestorfer, 2003). Im Rahmen eines ca. einjährigen Entwicklungsprogramms sollen sich die Führungsnachwuchskräfte Lerninhalte zu fünf Bereichen aneignen (Managementgrundlagen, Entscheidungsfindung, Coaching von Mitarbeitern, Mitarbeiter einstellen und halten, Teamarbeit steuern). Diese Inhalte werden in drei gestuften Phasen vermittelt, wobei netzbasiertes Training, Seminarveranstaltungen und die Umsetzung der Inhalte in die Praxis mithilfe von Gruppenarbeit und Mentoring kombiniert werden. 26.4.5
Formen arbeitsnahen Lernens
Unter arbeitsnahen Lernformen sind Gestaltungsansätze zu verstehen, die ein Lernen anhand realer Arbeitsaufträge und unter möglichst authentischen Arbeitsbedingungen ermöglichen. Als Lernkontext stehen somit bestimmte Arbeitsplätze bzw. Arbeitstätigkeiten mit ihren vielfältigen Anforderungen im Mittelpunkt. Der Lernende soll hierbei mit der gesamten Komplexität der zu bewältigenden Aufgaben und mit dem spezifischen organisatorischen, technischen und sozialen Umfeld einer Tätigkeit bzw. eines Arbeitsplatzes vertraut gemacht werden. Die Bedeutung dieser Lernformen wird vor allem darin gesehen, dass die Vermittlung beruflicher Handlungskompetenz und die Motivation zum selbstständigen Lernen wirkungsvoll durch Lern- und Entwicklungspotenziale in der Arbeitstätigkeit bzw. durch Lerntätigkeit im Arbeitsumfeld erreicht werden kann. Aus lernpsychologischer Sicht verspricht man sich von diesen Lernformen, dass sie einen engeren Bezug zu den Anforderungen herstellen, ein kontinuierliches Lernen gewährleisten und fachübergreifende Fähigkeiten (z. B. soziale Kompetenzen) kontextbezogen fördern. Konkrete Gestaltungsansätze arbeitsnahen Lernens existieren in Form von arbeitsintegrierten Lernorten, die auch als »Lerninseln« bezeichnet werden, oder von sog. betrieblichen Arbeitsund Lernaufgabensystemen (vgl. zu letzterem Ansatz Großmann, Krogoll, Meister & Demuth, 2005). Arbeitsintegrierte Lernorte zeichnen sich dadurch aus, dass Auszubildende direkt im Produktionsprozess mitarbeiten und/oder Maschinen warten. Die Arbeitsumgebung wird dabei zusätzlich um eine Lerninfrastruktur (z. B. durch Bereitstellung von Lernaufgaben
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Kapitel 26 · Aus- und Weiterbildung: Konzepte der Trainingsforschung
und -materialien sowie fachbezogenen Hand- und Lehrbüchern, Durchführung von Lernziel- und Feedbackgesprächen etc.) erweitert, die als Hilfestellung und Anleitung zur Reflexion des Arbeitshandelns, der sozialen Prozesse und der gesamten Umfeldbedingungen dient (Sonntag & Stegmaier, 2007a). Die Lern- und Arbeitsgestaltung an diesen Lernorten orientiert sich dabei an aktuellen Formen der Arbeitsorganisation (z. B. teilautonome Gruppenarbeit) und integriert auch indirekte Funktionsbereiche (z. B. Qualitätssicherung oder Materialdisposition) in die Lern- und Arbeitstätigkeit. Damit ausreichend Spielraum für Lernprozesse besteht, wird in der Regel ohne verbindliche Vorgaben zur Produktionsmenge produziert. Die Auszubildenden werden schließlich durch sog. Ausbildungsbeauftragte betreut, d. h. Facharbeiter, die auch pädagogische Funktionen in diesem Zusammenhang übernehmen und dafür speziell geschult werden. Ergebnisse einer Evaluationsstudie (Schaper, 2004a) zeigen, dass arbeitsintegrierte Lernorte gegenüber herkömmlichen Fertigungseinsätzen tatsächlich günstigere Gestaltungsmerkmale in Bezug auf die Lern- und Arbeitsbedingungen aufweisen. Außerdem wirkt sich das Arbeiten und Lernen an diesen Orten positiv auf die Entwicklung von beruflichen Handlungskompetenzen – insbesondere der Methoden- und Sozialkompetenz – aus (7 Kasten »Evaluationsuntersuchung zurWirkung arbeitsintegrierter Lernorte auf die Kompetenzentwicklung«).
Die Wirksamkeit bzw. der Lernerfolg arbeitsnaher Lernformen ist in hohem Maße davon abhängig, ob 1. die ausgewählten Arbeits- und Lernaufgaben bzw. Lernorte auch lernförderlich gestaltet sind und ausreichende Lernpotenziale (z. B. in Form von anspruchsvollen Aufgaben) aufweisen und 2. eine hinreichende Lerninfrastruktur vorhanden ist (z. B. pädagogische Schulung der Ausbildungsbeauftragten, Formulierung von Lernzielen und Lerninhalten). Eine suboptimale Nutzung arbeitsplatznaher Lernformen liegt auch dann vor, wenn die Zielsetzung auf eine reine Anpassungsqualifizierung ausgerichtet ist (wenn beispielsweise nur die Bedienung einer Maschine geschult wird). Arbeitsplatznahes Lernen heißt somit mehr als nur die Orientierung an konkreten Arbeitsanforderungen an einem Arbeitsplatz. Die Lern- und Arbeitsgestaltung sollte immer auch auf die Förderung fachübergreifender Fähigkeiten und Verständniszusammenhänge ausgerichtet sein.
26.5
Personen- und organisationsbezogene Einflussfaktoren der Trainingseffektivität sowie Maßnahmen zur Transfersicherung
Der Erfolg beruflicher Aus- und Weiterbildungsmaßnahmen ist nicht nur von einer fundierten und effektiven Analyse, Konzeption und Durchführung der Maßnahmen abhängig, sondern wird darüber hinaus auch von bestimmten personen- und organisationsbezogenen Einflussfaktoren geprägt. Dies gilt insbesondere für den Transfererfolg beruflicher Trainings, der durch besondere Unterstützungsmaßnahmen gefördert bzw. gesichert werden sollte. 26.5.1
Personenbezogene Faktoren der Trainingseffektivität
Einfluss auf die Wirkungen von Aus- und Weiterbildungsmaßnahmen üben auch bestimmte personale Charakteristika aus, die das Lernverhalten während des Trainings mitbestimmen und die Anwendung bzw. den Transfer des Gelernten unterstützen oder beeinträchtigen. Hierzu gehören u. a. 4 die kognitiven Fähigkeiten von Lernenden, (z. B. Intelligenz), 4 Persönlichkeitseigenschaften (z. B. Gewissenhaftigkeit oder Kontrollüberzeugungen), 4 arbeitsbezogene Einstellungen (z. B. »job involvement«), 4 Art und Ausprägung der Zielorientierung beim Lernen, 4 Kompetenzerleben (z. B. Selbstwirksamkeitserleben) sowie 4 Trainings- und Transfermotivation. Im Folgenden wird vor allem die Rolle des Selbstwirksamkeitserlebens und der Trainingsmotivation für die Trainingseffektivität betrachtet: Selbstwirksamkeitserleben ist ein bedeutsamer Prädiktor von Lernleistungen (vgl. z. B. Stajkovic & Luthans, 1998). Dieses Konstrukt bezieht sich auf die Erwartung bzw. Überzeugung, ob man in der Lage ist, bestimmte Aufgaben zu bewältigen bzw. bestimmte Leistungen zu erbringen. Im Rahmen von vielfältigen Trainingsstudien konnte gezeigt werden, dass Selbstwirksamkeit sich positiv auf das Lernverhalten und die Transfermotivation aus-
477 26.5 · Personen- und organisationsbezogene Einflussfaktoren der Trainingseffektivität
Evaluationsuntersuchung zur Wirkung arbeitsintegrierter Lernorte auf die Kompetenzentwicklung (nach Schaper, 2004a) In einem Modellversuch zur Einrichtung und Evaluation arbeitsintegrierter Lernorte in der betrieblichen Berufsausbildung eines Automobilwerks wurde untersucht, welche Kompetenzveränderungen sich durch eine Ausbildung an den neuen arbeitsintegrierten Lernorten im Vergleich zu herkömmlichen Betriebseinsätzen ergeben. Hierzu wurden speziell dafür entwickelte Arbeitsproben sowie Wissens- und situative Fragen eingesetzt, um Veränderungen der fachlichen, methodischen und sozialen Kompetenzen mithilfe objektiver Leistungstests zu erheben. An der Untersuchung nahmen 42 Auszubildende der Ausbildungsrichtungen Industriemechaniker und Industrieelektroniker im 3. Lehrjahr teil. Diese wurden den beiden unterschiedlichen Lernorttypen in gleichem Verhältnis zugeteilt (neue arbeitsintegrierte Lernorte: n=21, herkömmliche Betriebseinsätze: n=21). Beide Versuchsgruppen unterschieden sich nicht hinsichtlich bedeutsamer Voraussetzungsmerkmale (z. B. betriebliche Vorerfahrungen). . Tab. 26.2 gibt die deskriptiven und inferenzstatistischen Ergebnisse für die Gesamtwerte zur Fach-, Methoden- und Sozialkompetenz wieder. Die Ergebnisse zu den fachlichen Arbeitsproben und Wissensfragen (z. B. Qualitätskontrolle eines bearbeiteten Werkstücks) zeigen, dass im Rahmen der neuen arbeitsintegrierten Lernorte eine deutlich höhere fachliche Kompetenz erworben wird als bei herkömmlichen Betriebseinsätzen. Veränderungen im Ausmaß der Methodenkompetenz wurden mithilfe von Ar-
beitsproben erhoben, die problemhaltige Anforderungen an die systematische Informationsbeschaffung und -auswertung beinhalteten (z. B. Identifizieren von Werkzeugfehlern an Fräs- und Schabmaschinen durch die Auswertung von Messprotokollen). Die Ergebnisse zu diesem Kompetenzbereich zeigen, dass Auszubildende an den neuen Lernorten einen deutlicheren Zuwachs an Problemlöse- und Informationsverarbeitungsfähigkeiten zu verzeichnen haben als solche, die an herkömmlichen betrieblichen Versetzungsstellen eingesetzt waren. Zur Erfassung von Veränderungen bei sozialen Kompetenzen wurden Arbeitsproben mit Kommunikations- und Kooperationserfordernissen (z. B. einen anderen Auszubildenden in den Lernort und seine Aufgaben einführen) sowie situative Fragen zur Bewältigung kritischer sozialer Situationen am Arbeitsplatz (z. B.: Wie würde der Auszubildende damit umgehen, wenn er fahrlässiges Sicherheitsverhaltens bei anderen Kollegen bemerkt?) eingesetzt. Auch hier zeigt sich, dass die Auszubildenden an den Qualifizierungsstützpunkten ein höheres Ausmaß an sozialer Kompetenz entwickelt haben als die Probanden in den herkömmlichen Betriebseinsätzen. Insgesamt lässt sich somit anhand der geschilderten Ergebnisse feststellen, dass die Gestaltung des arbeitsplatzbezogenen Lernens an arbeitsintegrierten Lernorten gegenüber herkömmlichen Betriebseinsätzen zu deutlich höheren Lernzuwächsen führt. Dies gilt nicht nur für fachspezifische Kenntnisse und Fertigkeiten, sondern auch für fachübergreifende methodische und soziale Kompetenzen.
. Tab. 26.2. Ergebnisse des Lernortvergleichs bei den Arbeitsproben, Wissensfragen und situativen Fragen zur Fach-, Methoden- und Sozialkompetenz (multivariate Varianzanalysen) Kompetenzbereich
Pretest
Posttest
HB
AL
HB
AL
F(3,32)
Fachkompetenz
19,7 (14,5)
20,9 (18,1)
28,7 (13,9)
52,8 (20,3)
9,33**
Methodenkompetenz
10,3 (26,0)
14,8 (19,6)
7,5 (19,4)
45,3 (42,3)
8,74**
Sozialkompetenz
48,4 (10,4)
44,1 (9,6)
51,3 (15,3)
62,4 (12,0)
6,76*
HB herkömmliche Betriebseinsätze; AL Arbeitsintegrierte Lernorte; * p<0,05; ** p<0,01
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Kapitel 26 · Aus- und Weiterbildung: Konzepte der Trainingsforschung
wirkt. Selbstwirksamkeit ist darüber hinaus ein wünschenswertes Ergebnis von Trainingsprozessen, da es sich positiv auf das Transferverhalten, d. h. die Übertragung des Gelernten auf Anwendungssituationen, auswirkt. Ein günstiges Selbstwirksamkeitserleben ist daher auch im Rahmen von Aus- und Weiterbildungsmaßnahmen zu fördern. Auch der Einfluss von Trainingsmotivation auf die Lernleistungen wurde in vielfältiger Form untersucht und bestätigt (vgl. Colquitt, LePine & Noe, 2000; Salas & Cannon-Bowers, 2001). Dieses Konstrukt wird definiert als Richtung, Anstrengung, Intensität und Ausdauer mit der Individuen Lernaktivitäten vor, während und nach einem Training ausüben. Vor einem Training ist sie vor allem gekennzeichnet durch die Erwartungen, die mit dem Training verbunden werden (z. B. zu lernen, wie man sich in Kundengesprächen besser verhält). Insbesondere der erwartete Nutzen in Bezug auf die Erfüllung eigener Ziele (z. B. die Kundenbindung zu erhöhen) wirkt mit bei der Entscheidung, an einem Training teilzunehmen, sich aktiv und engagiert zu beteiligen und das Erlernte anzuwenden. Einen integrativen Ansatz zu den unterschiedlichen Facetten der Trainingsmotivation sowie ihren Voraussetzungen und Wirkungen entwickelten Colquitt et al. (2000). In ihrer Metaanalyse zeigen sie, dass Trainingsmotivation einen sehr bedeutsamen Einfluss auf den Wissens- und Fertigkeitserwerb, die Bewertung des Trainings und den Lerntransfer hat, der sogar höher ist als der Einfluss von kognitiven Fähigkeiten. Trotz dieser Erkenntnisse über die Bedeutsamkeit personaler Einflussfaktoren auf die Wirksamkeit von Trainings, gibt es noch wenig differenzierte Konzepte, wie dies bei der Gestaltung von Aus- und Weiterbildungsmaßnahmen berücksichtigt werden kann (Campbell & Kuncell, 2001). Das heißt, es gilt immer noch eher die Maxime, dass eine einheitliche Gestaltung des Trainings für alle passt. Durch die steigende Bedeutung von computerbzw. netzgestützten Lernformen ist aber zu erwarten, dass Ansätze einer differenziellen und adaptiven Trainingsgestaltung in zunehmendem Maße entwickelt werden. 26.5.2
Organisationale Faktoren der Trainingseffektivität
Neben den personalen Faktoren sind es bestimmte organisationale Merkmale, die auf das Lernverhalten und die Lernerfahrungen sowohl direkt als auch vermittelt über
die Trainingsmotivation und die Erwartungen und Einstellungen gegenüber den Aus- und Weiterbildungsmaßnahmen Einfluss ausüben (Salas & Cannon-Bowers, 2001). Hierzu gehören beispielsweise 4 die Unternehmensphilosophie in Bezug auf den Lerngegenstand und berufsbezogenes Lernen allgemein, 4 die Form der Teilnehmerrekrutierung sowie 4 finanzielle und zeitliche Restriktionen in Bezug auf Art und Form des Lernens. Auch nach dem Training wirken verschiedene organisationale Faktoren auf die Anwendung bzw. den Transfer des Gelernten (Tracey, Tannenbaum & Kavanagh, 1995; Schaper, 2004b). Über den Einfluss der Unternehmensphilosophie auf Lernverhalten und Lernergebnisse ist zurzeit noch relativ wenig bekannt. Unter dem Begriff der Lernkultur, verstanden als Werte und Normen des Unternehmens in Bezug auf das Lernen seiner Mitarbeiter und deren Umsetzung bei der Gestaltung lernförderlicher Rahmenbedingungen und Fördermaßnahmen, wird aber zurzeit intensiv darüber diskutiert und untersucht, welche Bedeutung unterschiedliche Ausprägungen einer Lernkultur auf das Lernen und die Kompetenzentwicklung der Mitarbeiter haben (vgl. Schaper, Friebe, Wilmsmeier & Hochholdinger, 2006). So konnten z. B. Tracey et al. (1995) nachweisen, dass die Ausprägung einer »continuous learning culture« positive Auswirkungen auf Lernverhalten und -ergebnisse hat. Einen Einfluss auf Lernverhalten und -ergebnisse haben weiterhin frühere Erfahrungen mit anderen Trainings ähnlicher Art, die Art, wie das Training angekündigt wird (z. B. als Maßnahme zur Weiterentwicklung oder zur Behebung von defizitärem Verhalten) oder wie die Teilnehmer für das Training rekrutiert werden (Salas & Cannon-Bowers, 2001). Weiterhin wirken sich auch zeitliche und finanzielle Restriktionen direkt auf die Gestaltung des Trainings (z. B. zu geringes Zeitbudget) oder das Teilnehmerverhalten im Training aus (z. B. verspätetes Eintreffen oder Unterbrechen von Trainings aufgrund von Arbeitsüberlastung). Die genannten Faktoren wirken sich je nach Ausprägung günstig oder ungünstig auf die Trainingsmotivation und die Einstellung gegenüber dem Training aus. Es ist daher wünschenswert – wenn möglich – auf diese Faktoren im Vorfeld eines Trainings Einfluss zu nehmen.
479 26.5 · Personen- und organisationsbezogene Einflussfaktoren der Trainingseffektivität
26.5.3
Maßnahmen zur Transferförderung und -sicherung
Auf der Grundlage von Baldwin und Ford (1988) und weiterer Transferförderkonzepte wurden von Schaper (2004b) verschiedene Maßnahmen abgeleitet, die ein transferförderliches Lernen unterstützen sollen. Dabei werden die in der Übersicht aufgeführten Interventionsbereiche unterschieden.
Mit freundlicher Genehmigung der Blackwell Publishing Ltd.
Eines der zentralen Anliegen von beruflicher Aus- und Weiterbildung ist es, die Anwendung erlernten Wissens oder neu erworbener Strategien bzw. Verhaltensweisen am Arbeitsplatz zu unterstützen. Begriffe wie »Transferdilemmata« (Hesketh, 1997) weisen aber darauf hin, dass es nicht einfach ist, die in Lernsituationen erworbenen Kompetenzen am Arbeitsplatz umzusetzen und auf neue Aufgabenstellungen zu übertragen. Zur Erklärung und insbesondere Förderung transferorientierten Verhaltens wurde eine Vielzahl von Konzepten und Maßnahmen entwickelt (z. B. Bergmann & Sonntag, 2006). Baldwin und Ford (1988; vgl. auch Ford & Weissbein, 1997) haben ein Rahmenmodell vorgelegt, das die Vielzahl der angenommenen Wirkfaktoren und Ansatzpunkte zur Transferförderung ordnet und systematisiert (. Abb. 26.3). Der Transferprozess wird im Rahmen dieses Modells zunächst in drei übergeordnete Bereiche eingeteilt: 4 Trainingsinput (Charakteristika der Lernenden, Trainingsdesign und Arbeitsumgebung), 4 Trainingsoutput (Ausmaß und Qualität des Gelernten sowie dessen längerfristige Verfügbarkeit) und 4 Transfer (Verallgemeinerung des Gelernten im Arbeitskontext und Aufrechterhaltung der Wissens-/ Fähigkeitsanwendung).
Sehr differenziert werden in diesem Modell vor allem die drei zentralen Inputkomponenten diskutiert, da sich Transfereffekte vor allem über diese Komponenten beeinflussen lassen: 4 Als Charakteristika der Lernenden beeinflussen z. B. Vorwissen und Vorerfahrungen der Lernenden deren Trainings- und Transfermotivation, deren Einstellung zur Arbeit und verschiedene Persönlichkeitsvariablen Transfereffekte. 4 Beim Trainingsdesign sind z. B. der Anwendungsbezug der Lerninhalte, die Art und das Ausmaß der praktischen Übungsmöglichkeiten sowie weitere didaktisch-methodische Elemente für die Transferförderung relevant. 4 Im Arbeitsumfeld spielt die Unterstützung des Mitarbeiters bei der Umsetzung des Gelernten durch Vorgesetzte und Kollegen sowie das Vorhandensein von verschiedenen organisationalen Anreizen und Rahmenbedingungen eine wesentliche Rolle im Transferprozess.
. Abb. 26.3. Modell zu Einflussfaktoren des Transferprozesses. (Nach Baldwin & Ford, 1988)
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Kapitel 26 · Aus- und Weiterbildung: Konzepte der Trainingsforschung
Interventionsbereiche beim transferförderlichen Lernen
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4 Gestaltung der Lernumgebung (z. B. durch die eindeutige Herstellung von Anwendungsbezügen bei der Wissensvermittlung oder durch das Angebot praktischer Übungsmöglichkeiten) 4 Anleitung des Transfers (z. B. durch die Vereinbarung von Zielsetzungen zur Anwendung des Gelernten und die Antizipation von »Transferproblemen« sowie eines angemessenen Umgangs damit) 4 Einbindung des Arbeitsumfeldes (z. B. durch Vor- und Nachbereitungsgespräche mit Vorgesetzten oder durch das Anbieten von Anreizen für erfolgreiche Wissensanwendungen) 4 Soziale Einbettung (z. B. durch die Bildung von Lern- und Umsetzungsgruppen oder die Begleitung und Unterstützung des Umsetzungsprozesses durch einen erfahrenen Mitarbeiter)
26.6
Evaluation von Trainingsmaßnahmen
Um Konzepte und Maßnahmen der Aus- und Weiterbildung zuverlässig bewerten und auf dieser Grundlage weiterentwickeln zu können, ist es erforderlich, die implementierten Maßnahmen zu evaluieren. Derartige Bewertungen mithilfe systematisch angewandter wissenschaftlicher Techniken werden in der betrieblichen Praxis, aber auch in vielen wissenschaftlichen Studien leider noch immer vernachlässigt. In der Praxis wird unter Evaluation meist nur eine Erfolgskontrolle der Maßnahme durch die Befragung der Teilnehmer nach ihrer Zufriedenheit und bestenfalls die Überprüfung der unmittelbaren Lernergebnisse sowie ein kostenorientiertes Bildungscontrolling verstanden. Evaluation im Sinne einer umfassenden Qualitätssicherung schließt allerdings eine Reihe von weiteren Aspekten mit ein. Dies beginnt mit der sorgfältigen Präzisierung der Ziele einer Aus- und Weiterbildungsmaßnahme in der Vorbereitungsphase, geht weiter mit der Qualitätsanalyse durch Experten und potenzielle Nutzer in der Entwicklungsphase und
schließt ab mit der Wirkungsanalyse sowie der Kosten-Nutzen-Analyse in der Anwendungsphase der Maßnahme. Weiterhin wird auf die zunehmende Bedeutung von Selbstevaluationen hingewiesen, um die Nutzer in ihrer Rolle als Lernexperten stärker herauszustellen und um deren aktive Teilnahme am Prozess der Qualitätssicherung zu fördern. Als Trainingseffekte können in Anlehnung an das Evaluationsmodell von Kirkpatrick (1994) vier unterschiedliche Ebenen oder Arten von Effekten differenziert werden: Trainingsbewertungen (»reaction«), Lernresultate (»learning«), Transferleistungen (»behavior«) und organisationale Effekte (»results«). Auch wenn der Kirkpatrick’sche Ansatz mittlerweile in vielerlei Hinsicht zu Recht kritisiert worden ist (vgl. z. B. Alliger & Janak, 1989), bietet die Einteilung in die genannten Evaluationsebenen zumindest unter pragmatischen Gesichtspunkten ein noch immer brauchbares Raster zur Ableitung und Einordnung von Evaluationskriterien (7 Kasten »Evaluationsebenen für Trainingseffekte«). Abschließend sei auf Ergebnisse einer relativ umfassenden Metaanalyse zur Effektivität von beruflichen Trainingsmaßnahmen hingewiesen, die eine Einschätzung darüber erlaubt, wie effektiv berufliche Trainingsmaßnahmen i. Allg. sind. Der Metaanalyse von Arthur, Bennett, Edens und Bell (2003) liegen 162 Primärstudien zugrunde, die zwischen 1960 und 2000 veröffentlicht wurden und bestimmten methodischen Standards genügen (z. B. dass ein Kontrollgruppendesign vorliegt). Mithilfe der Metaanalyse sollte untersucht werden, ob die Effektivität von Trainings in Abhängigkeit von den verwendeten Evaluationskriterien (Reaktionen, Lernerfolg, Transfer bzw. Verhalten und organisationale Resultate in Anlehnung an die vier Evaluationsebenen nach Kirkpatrick) variiert, welchen Einfluss die Verwendung von Bedarfsanalysen auf die Trainingseffektivität hat und ob es Zusammenhänge zwischen spezifischen Trainingsmethoden (die u. a. danach klassifiziert wurden, ob sie sensumotorische, kognitive oder interpersonale Fähigkeiten trainieren) und bestimmten Evaluationskriterien gibt. Die Autoren stellten zunächst fest, dass berufliche Trainings je nach zugrunde liegendem Evaluationskriterium mit einem durchschnittlichen d=.60 bis d=.63 eine mittlere Effektstärke aufweisen, die im Vergleich zu Effektstärken anderer organisationaler Interventionen (z. B. Zielvereinbarungen mit
481 26.6 · Evaluation von Trainingsmaßnahmen
Evaluationsebenen für Trainingseffekte (nach Kirkpatrick, 1994) Trainingsbewertung. Die Ebene der Trainingsbewertung stellt vor allem die subjektiven Reaktionen der Trainingsteilnehmer in Bezug auf das Training in den Vordergrund. Dabei wird oft zwischen Aspekten der Zufriedenheit mit dem Training bzw. ausgewählten Gestaltungselementen und Aspekten zur Bewertung von Nutzen oder Relevanz des Trainings unterschieden (vgl. Cannon-Bowers, Salas, Tannenbaum & Mathieu, 1995). Lernresultate. Als Lernresultate sind die Kenntnisse, Fähigkeiten und Einstellungen, die im Training erlernt wurden, zu verstehen. Zur Operationalisierung dieser Variablen ist in erster Linie Bezug auf die für das Training formulierten Lernziele zu nehmen. Für eine theoretisch fundiertere Auswahl und Ableitung von Evaluationskriterien auf dieser und der nächsten Evaluationsebene sind allerdings weitere Konzepte heranzuziehen. Von Bedeutung sind hier spezifische oder allgemein orientierte Taxonomien von Trainingsoutputs (vgl. z. B. Kraiger, Ford & Salas, 1993). Transferleistungen. Unter Transferleistungen sind Verhaltensänderungen, die auf das Arbeitshandeln
d=.12 oder Leistungsbeurteilungen inkl. Rückmeldungen mit d=.35) durchaus hoch ist und die Effektivität von beruflichen Trainingsmaßnahmen generell unterstreicht. Eine vertiefte Analyse, bei der die Ergebnisse innerhalb der Studien für die verschiedenen Evaluationsebenen analysiert wurden, zeigt, dass die mittleren Effektstärken von der Lernerfolgsebene aus zu den nachfolgenden Ebenen (Verhalten bzw. Transfer, organisationale Resultate) zumeist abnehmen. Der Lerntransfer und die organisationalen Resultate von Trainings werden somit durch weitere Einflussfaktoren generell gemindert. Die Frage, ob Bedarfsanalysen im Vorfeld eines Trainings sich positiv auf die Effekte auswirken, kann bestätigt werden, wobei die Ergebnisse aufgrund zu kleiner Datensätze mit Vorsicht zu inter-
übertragen werden, zu verstehen. Hierbei geht es um die Anwendung bzw. den Transfer der gelernten Kenntnisse und Fähigkeiten. Zur Operationalisierung dieser Ebene kann einerseits auf die Lernziele des Trainings und andererseits auf Bedarfsanalysen und die dabei identifizierten Verhaltensdefizite Bezug genommen werden. Theoretisch fundiertere Kriterien sind wiederum anhand von aufgaben- und kontextadäquaten Transfertheorien ableitbar (vgl. hierzu z. B. Lemke, 1995). Für die Effektivität von Aus- und Weiterbildungsmaßnahmen sind Kriterien auf dieser Evaluationsebene der entscheidende Effektivitätsnachweis.
Organisationale Effekte. Die Erfassung von organisationalen Effekten eines Trainings nimmt Bezug auf die Ziele der Organisation, die mit der Durchführung der Trainings verbunden sind. Zur Operationalisierung sind daher Kriterien heranzuziehen, die die Zielerreichung im Hinblick auf diese organisationalen Ziele verdeutlichen. Problematisch ist bei dieser Art von Evaluationskriterien allerdings, dass sie mit anderen Faktoren konfundiert sind; d. h. eine Veränderung nicht allein auf die Trainingsintervention zurückgeführt werden kann.
pretieren sind. Darüber hinaus wurden auch differenzielle Effekte für spezifische Trainingsmethoden in Abhängigkeit von den betrachteten Evaluationskriterien ermittelt. Exemplarisch kann hiervon berichtet werden, dass die Vortragsmethode über die verschiedenen Evaluationskriterien hinweg relativ stabile und mittlere bis hohe Effektstärken aufweist. Diese Trainingsmethode scheint damit besser als ihr Ruf zu sein. Auch scheinen Trainings sensumotorischer Fähigkeiten im Durchschnitt etwas effektiver zu sein als Trainings kognitiver Fähigkeiten und Trainings interpersonaler Fähigkeiten. Da die Datensätze in Bezug auf die verschiedenen spezifischen Trainingsarten teilweise jedoch sehr gering sind und die Lernzielbereiche nicht immer klar getrennt werden können, sind auch diese Aussagen mit Vorsicht zu interpretieren.
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Kapitel 26 · Aus- und Weiterbildung: Konzepte der Trainingsforschung
Zusammenfassung
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4 Sowohl im Rahmen der Ausbildung als auch bei der Weiterbildung sollte ein ganzheitlicher Kompetenzerwerb durch die integrierte Förderung fachlicher, methodischer, sozialer und personaler Kompetenzen angestrebt werden. 4 Die Gestaltung von Aus- und Weiterbildungsprozessen beinhaltet ein systematisches Vorgehen zur Analyse, Planung, Gestaltung und Evaluation von beruflichen Lernprozessen. 4 In einem ersten Schritt der Trainingsgestaltung sind Trainingsanforderungen und -bedarf auf den Ebenen organisationsbezogener, tätigkeitsbezogener und personenbezogener Merkmale zu bestimmen. 4 Auf der Grundlage der Anforderungs- und Bedarfsanalysen sind Lernziele und -inhalte abzuleiten und Lern- bzw. Trainingsprozesse zu planen. Dies erfolgt meist vor dem Hintergrund unterschiedlicher lerntheoretischer Annahmen wie kognitionspsychologischen, handlungstheoretischen sowie konstruktivistischen Lehr-Lern-Auffassungen. 4 Bei der Trainingskonzeption sind außerdem Ansätze und Erkenntnisse zu spezifischen Formen und Methoden der Aus- und Weiterbildung zu nutzen. Bewährte Methoden sind in diesem Zusammenhang sensumotorische und kognitive Trainingstechniken, das Behavior Modeling Training sowie Trainingssimulatoren. Aktuelle Formen der beruflichen Aus- und Weiterbildung beziehen sich außerdem
L Weiterführende Literatur Noe, R.A. (2003). Employee training and development (3. ed.). Boston: McGraw-Hill. Schaper, N. & Sonntag, Kh. (2007). Weiterbildungsverhalten. In D. Frey & L. von Rosenstiel (Hrsg.), Wirtschaftspsychologie. Enzyklopädie der Psychologie, Bd. D/III/6 (S. 573–648). Göttingen: Hogrefe. Sonntag, Kh. & Stegmaier, R. (2007). Arbeitsorientiertes Lernen. Zur Psychologie der Integration von Lernen und Arbeit. Stuttgart: Kohlhammer.
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auf computer- und netzgestützte sowie arbeitsnahe Lehr-Lern-Formen. Bei der Trainingsgestaltung ist zu berücksichtigen, dass der Erfolg von Aus- und Weiterbildungsmaßnahmen auch von Ausprägungen bestimmter personenund organisationsbezogener Einflussfaktoren abhängig ist. Als bedeutsam haben sich in Bezug auf personenbezogene Einflussfaktoren vor allem allgemeine kognitive Fähigkeiten, das Selbstwirksamkeitserleben und die Trainingsmotivation erwiesen. Als bedeutsame organisationale Einflussfaktoren haben sich vor allem die Lernkultur, frühere Erfahrungen mit Trainingsmaßnahmen, die Art der Teilnehmerrekrutierung, aber vor allem auch die Unterstützung und Sicherung des Lerntransfers im Arbeitsumfeld erwiesen. Zur Sicherung des Lerntransfers sind nicht nur Maßnahmen zur transferförderlichen Gestaltung der Lernumgebung oder Maßnahmen zur Anleitung des Lerntransfers, sondern auch die gezielte Einbindung des Arbeitsumfeldes bei der Umsetzung des Gelernten und die soziale Einbettung und Unterstützung des Lern- und Transferprozesses zu berücksichtigen. Die Qualität von Aus- und Weiterbildungsmaßnahmen ist durch sorgfältig geplante und aussagekräftige Evaluationsansätze zu sichern. Dies beinhaltet die Überprüfung der Maßnahmewirkungen auf unterschiedlichen Evaluationsebenen (subjektive Trainingsbewertung, Lern- und Transfererfolg, organisationale Effekte).
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484
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Kapitel 26 · Aus- und Weiterbildung: Konzepte der Trainingsforschung
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27
27 Psychologie der Arbeitssicherheit 27.1
Begriffsbestimmungen, Zielsetzungen und Maßnahmen des betrieblichen Arbeitsschutzes – 486
27.1.1 27.1.2
Ermittlung und Analyse der Gefahren – 489 Planung und Durchführung von Maßnahmen – 490
27.2
Konzepte und Modelle sicherheitskritischen Verhaltens
27.2.1 27.2.2 27.2.3 27.2.4
Individuelle Einflussfaktoren sicherheitskritischen Verhaltens – 492 Organisationale Einflussfaktoren sicherheitskritischen Verhaltens – 493 Erkennen von Gefahren und Risikoverhalten – 494 Psychologische Modelle fehlerhaften Handelns – 496
27.3
Systemsicherheit und Sicherheitskultur
27.3.1 27.3.2 27.3.3
Ansätze organisationaler Faktoren – 501 Sicherheitskulturansätze – 504 Instrumente zur Implementierung einer Sicherheitskultur und zur Erhöhung der Systemsicherheit – 507
Literatur
– 510
– 501
– 491
486
Kapitel 27 · Psychologie der Arbeitssicherheit
> Arbeitssicherheit beschäftigt sich mit den Gefahren und Gefährdungen in der Arbeitswelt und den Strategien, um diese abzuwenden bzw. zu bewältigen. Mangelnde Arbeitssicherheit macht sich vor allem durch Unfälle und Verletzungen der arbeitenden Personen bemerkbar, wie z. B. Verletzungen der Hand beim (falschen) Verwenden eines Werkzeugs, das Einklemmen von Gliedmaßen in einer Maschine oder schwerste Verletzungen bis zur Todesfolge durch das Explodieren eines chemischen Reaktors in einer Chemieproduktion. Die Beispiele zeigen, dass mangelnde Arbeitssicherheit zu erheblichen Konsequenzen und »Kosten« sowohl für die betroffenen Mitarbeiter als auch das Unternehmen führen kann. Da Arbeitssicherheit nicht allein durch technische Vorrichtungen zu gewährleisten ist, sind bei der Analyse und Gestaltung von Sicherheitsfragen auch verhaltens- und einstellungsbezogene, d. h. psychologische Faktoren in bedeutendem Maße mit ins Kalkül zu ziehen. Mit diesen »psychologischen« Faktoren der Arbeitssicherheit beschäftigt sich dieses Kapitel im Besonderen. Zunächst werden begriffliche Bestimmungen für grundlegende Konzepte des betrieblichen Arbeitsschutzes vorgenommen, Zielsetzungen des Arbeitsschutzes vorgestellt und ein Überblick zu Arten und Vorkommen von Gefährdungen sowie Unfällen in der Arbeitswelt gegeben. Sodann werden das Vorgehen bei der Unfallanalyse und grundlegende Maßnahmen zur Prävention von Arbeitsunfällen beschrieben. Um aus psychologischer Sicht besser zu verstehen, wie es zu Unfällen kommt, werden anschließend verschiedene Modelle zur Erklärung sicherheitskritischen Verhaltens vorgestellt und erläutert. Im Zentrum stehen dabei folgende Fragen: Welche individuellen und organisationalen Faktoren weisen Zusammenhänge mit sicherheitskritischem Verhalten auf? Wie kommt es zu Fehlverhaltensweisen beim arbeitenden Menschen? Welche Arten von Fehlhandlungen sind dabei zu unterscheiden, und welche Faktoren fördern Fehlhandlungen? Um zu verdeutlichen, dass Arbeitssicherheit in hohem Maße auch durch Aspekte des Arbeitssystems und der Organisation als Ganzes beeinflusst wird, werden abschließend verschiedene Ansätze zur Systemsicherheit behandelt. Dabei geht es um Fragen, wie Unfälle auch durch latente Bedingungen der Arbeitsabläufe und der organisationalen Strukturen ausgelöst bzw. durch Faktoren einer Sicherheitskultur vermieden werden können. Hierzu werden außerdem verschiedene Instrumente zur Förderung der Systemsicherheit und Sicherheitskultur vorgestellt.
27
27.1
Begriffsbestimmungen, Zielsetzungen und Maßnahmen des betrieblichen Arbeitsschutzes
Obwohl die Zahlen in Bezug auf Arbeitsunfälle seit Beginn der statistischen Auswertungen (1960) kontinuierlich rückläufig sind, ist die Anzahl meldepflichtiger Arbeitsunfälle in Deutschland nach wie vor beträchtlich (Lehder & Skiba, 2005): Die absolute Unfallhäufigkeit gemessen anhand der Anzahl meldepflichtiger Arbeitsunfälle lag 2001 bei ca. 1,4 Mio. Fällen. Die Anzahl tödlicher Arbeitsunfälle betrug 2001 ca. 1.100 Fälle. Die Anzahl tödlicher Unfälle im häuslichen Kontext (2001 ca. 5.900 Fälle) und im Straßenverkehr (2001 ca. 7.000 Fäl-
le) lag zwar deutlich höher, nichtsdestotrotz ist jeder Arbeitsunfall und insbesondere jeder tödliche Unfall mit menschlichem Leid und teilweise erheblichen negativen Konsequenzen verbunden, was – wenn möglich – verhindert werden sollte. Da Arbeitsunfälle in der Regel mit Arbeitsausfallzeiten (2001 im Durchschnitt ca. 12,3 Tage pro angezeigtem Arbeitsunfall) und teilweise erheblichen Kosten für die medizinische Behandlung (2001 betrugen die Nettoaufwendungen der Unfallversicherungsträger ca. 12,5 Mrd. Euro für Renten, Heilbehandlungen, Maßnahmen zur beruflichen Wiedereingliederung etc.) verbunden sind, entstehen darüber hinaus beträchtliche finanzielle Schäden für den Staat, die Unternehmen und die Betroffenen selbst. Allein vor diesem
487 27.1 · Begriffsbestimmungen, Zielsetzungen und Maßnahmen des betrieblichen Arbeitsschutzes
Hintergrund ist die Prävention von Arbeitsunfällen eine in hohem Maße bedeutsame gesellschaftliche und betriebliche Aufgabe. Geht man weiterhin davon aus, dass Fragen der Arbeitssicherheit und die Ursachen von Unfällen in hohem Maße auch mit psychologischen Faktoren verknüpft sind, ist die Beschäftigung mit Fragen der Arbeitssicherheit und ihrer Gewährleistung auch für die Arbeits- und Organisationspsychologie nach wie vor ein sehr bedeutsames Themengebiet. Bevor wir zu Fragen der Unfallanalyse und -prävention kommen, sind einleitend grundlegende Konzepte der Arbeitssicherheit begrifflich zu bestimmen. Arbeitssicherheit wird als ein weitgehend gefahrenfreier Zustand bei der Berufs- bzw. Arbeitsausübung verstanden, den es anzustreben gilt. Gefahren sind in diesem Zusammenhang vor allem als Sicherheitsdefizite eines Systems bzw. Systemelements charakterisiert, wobei bestimmte unerwünschte Wirkungen eines Objekts als Gefahrenträger auf ein anderes durch Energieübertragung (z. B. durch Bewegungskräfte, Strahlung, Verätzung etc.) ausgeübt werden. Der Begriff der Gefährdung beschreibt darüber hinaus den Sachverhalt, dass Menschen in den Einwirkungsbereich eines Gefahrenträgers (z. B. die schwebende Last eines Kranes) geraten. Eng verknüpft mit der Arbeitssicherheit ist der Begriff des Arbeitsschutzes, der ebenfalls die Bewahrung des Menschen vor Gefahren und Beeinträchtigungen in Verbindung mit seiner Berufsarbeit beinhaltet. Als Ziel des Arbeitsschutzes wird – umfassender als bei der Arbeitssicherheit – die Gewährleistung der Gesundheit und die Schaffung des Wohlbefindens am Arbeitsplatz definiert (Hoyos, 1987). Schließlich ist darauf hinzuweisen, dass Arbeitssicherheit und Arbeitsschutz eingebunden sind in eine noch umfassendere Integration von Schutzzielen, bei der neben dem Arbeits- und Gesundheitsschutz auch der betriebliche Umweltschutz dazugehört. Ziel eines solchen integrierten betrieblichen Systems des Arbeits-, Gesundheits- und Umweltschutzes (AGU) ist es, schädigende Auswirkungen der Arbeit innerhalb und außerhalb der Organisation zu vermeiden (Wenninger, 1999). Dieses umfassende Verständnis beinhaltet, dass Unfälle, Berufskrankheiten und für die Umwelt schädliche Emissionen nicht nur verhütet werden sollen. Vielmehr gilt es, verstärkt präventiv in diesen drei Feldern tätig zu werden. Dazu bedarf es einer Sichtweise, die Sicherheit, Gesundheit und intakte Umwelt als primäre Ziele verfolgt sowie Unfälle, Krankheiten und Umweltschädigungen
als Folge von defizitären betrieblichen Bedingungen und Strukturen begreift, die es zu verändern gilt. Betrieblicher Umweltschutz bedeutet somit z. B. auch ressourcenverschwendende Produktionsprozesse und Verhaltensweisen in den Blick zu nehmen und zu verändern. Fragen der Arbeitssicherheit sind komplexer Natur und berühren nicht nur unterschiedliche fachliche Disziplinen (Ingenieurwissenschaften, Arbeitswissenschaft, Organisations-, Arbeits- und Ingenieurpsychologie), sondern sind auch in Bezug auf relevante Einflussfaktoren (Technik, Verhalten, Organisation) vielschichtig zu analysieren. Im Zentrum der Betrachtung von Arbeitssicherheit steht somit immer das Arbeitssystem inklusive des Arbeitsprozesses als Ganzem. Arbeitssicherheit ist dann gewährleistet, wenn die Beziehungen zwischen Mensch und gegenständlicher Arbeitsumwelt zuverlässig und reibungslos im Arbeitsprozess verlaufen und zusammenwirken. Eine mangelnde Anpassung von Mensch (z. B. mangelnde Eignung) und gegenständlicher Arbeitsumwelt (z. B. ungünstige Gestaltung der Überwachungs- und Bedienungselemente) bewirkt hingegen, dass Mensch und Systemelemente nicht optimal bzw. unzuverlässig zusammenwirken. Es kommt zu einer Über- bzw. Unterbeanspruchung des Menschen und in der Folge zu Gesundheitsbeeinträchtigungen sowie einer nachlassenden Leistung des Arbeitssystems. Ebenso unerwünscht sind darüber hinaus Störungen des Zusammenwirkens von Mensch und gegenständlicher Arbeitsumwelt durch Personen- und Sachschäden. Bei Personenschäden spricht man auch von Arbeitsunfällen, die ein von außen auf den Menschen einwirkendes, körperlich schädigendes, zeitlich begrenztes Ereignis mit Verletzungsfolgen umschreiben (z. B. Schnittwunden, Quetschungen, Knochenbrüche, Verbrennungen, Verätzungen, Vergiftungen etc.). Arbeitsunfälle stehen Berufskrankheiten gegenüber, die durch spezifische, längerfristige Einwirkungen am Arbeitsplatz verursacht werden, denen bestimmte Personengruppen durch ihre Arbeit in erheblich höherem Grade als die übrige Bevölkerung ausgesetzt sind (z. B. Rückenbeschwerden durch Zwangshaltungen am Arbeitsplatz oder Hautallergien durch den berufsbedingten Umgang mit allergenen Materialien). Arbeitsunfälle grenzen sich von Berufskrankheiten durch das plötzliche Eintreten der Schädigung ab. Arbeitsunfälle sind eher seltene Ereignisse und je schwerer der Unfall ist, umso seltener wird das Ereignis. Am seltensten sind Unfälle mit Todesfolgen. Deutlich häufiger treten jedoch sog. Beinaheunfälle auf (z. B.
27
27
Kapitel 27 · Psychologie der Arbeitssicherheit
wenn in der oben genannten Situation der Mitarbeiter auf dem Ölfleck ausrutscht, ohne sich dabei aber zu verletzten). Legt man die Zeit des Arbeitsausfalls als Kriterium der Unfallschwere zugrunde kann man von einer sog. Unfallpyramide sprechen (Lehder & Skiba, 2005; . Abb. 27.1). Allerdings entspricht die Zahl der Unfälle mit Ausfallzeiten von 4–14 Tagen nicht ganz dem zu erwartenden Kurvenverlauf, was möglicherweise mit der Anzeigepflicht nach 3 Kalendertagen Arbeitsausfall und der Praxis der ärztlichen Bescheinigung der Arbeitsunfähigkeit zusammenhängt. Darüber hinaus ist zu beachten, dass die Unfallpyramide für einzelne Unfalltypen oder -klassen unterschiedlich aussehen kann. Beispielsweise sind Elektrounfälle überdurchschnittlich schwer, sodass die Unfallpyramide in diesem Fall durch den hohen Anteil schwerer und tödlicher Unfälle »kopflastig« wird. Fast jeder Unfall hat mehrere Ursachen, wobei diese meist in gefährlichen Zuständen oder Eigenschaften der Arbeitsumwelt und/oder risikoreichen Verhaltensweisen, Unterlassungen oder Vorgängen der unmittelbar und indirekt beteiligten Personen liegen. Allgemein kann man unterscheiden zwischen 4 personengebundenen Unfallursachen (Verhalten der unmittelbar Beteiligten), 4 organisatorischen Unfallursachen (Verhalten der indirekt beteiligten Personen oder organisationalen Vorgänge) und 4 technischen Unfallursachen (Verhalten technischer Gegenstände) Auch wenn menschliches Fehlverhalten oft eine unmittelbar auslösende Funktion bei Unfällen hat, sind es . Abb. 27.1. Unfallpyramide für gewerbliche Arbeitsunfälle in der Bundesrepublik Deutschland; Werte aus berufsgenossenschaftlichen und betrieblichen Angaben für 1998 entnommen. (Nach Lehder & Skiba, 2005)
meist bestimmte Verknüpfungen oder Verkettungen von Ursachen, die zum Unfall führen. Wenn z. B. ein Mitarbeiter auf einem Ölfleck in einem unbeleuchteten Gang ausrutscht und mit dem Kopf auf eine scharfe Kante eines dort lagernden Ersatzteiles fällt und sich eine Kopfverletzung zuzieht, dann beruht dieser Unfall u. a. auf folgenden unmittelbaren Ursachen: ungenügende Beleuchtung des Ganges, unsauberer Boden, Tragen ungenügend rutschfester Schuhe, fehlendes Tragen eines Kopfschutzes, das Ersatzteil befindet sich außerhalb eines sicheren Lagers. Indirekt sind an dem Unfall darüber hinaus u. a. folgende Ursachenbereiche beteiligt: unzureichende Kontrolle der Sicherheitsvorschriften in Bezug auf das Tragen von Schutzkleidung, mangelnde Instandhaltung der Beleuchtungselektrik, überfülltes Lager etc. Der Unfall hätte sich möglicherweise nicht ereignet, wenn eine der unmittelbaren oder indirekt beteiligten Ursachenkomplexe im Vorfeld beseitigt worden wäre. Um Unfälle zu verhüten und Arbeitssicherheit zu gewährleisten, ist ein systematisches Vorgehen erforderlich, das folgende Schritte beinhaltet: 4 Ermittlung und Analyse der Gefahren: In diesem Schritt gilt es einerseits Unfälle, die sich in einem bestimmten Arbeitskontext ereignet haben, sowohl qualitativ und quantitativ zu ermitteln und zu beschreiben. Andererseits können auch in einer prospektiven Form (z. B. für ein geplantes Arbeitssystem) mögliche Unfallereignisse bestimmt und bewertet werden. Anschließend sind Hergang, Ursachen und Folgen der Unfälle zu analysieren. Eine detaillierte Analyse und Beschreibung der Gefahren und Gefährdungen sind somit wichtige Voraussetzungen für die Unfallverhütung.
Mit freundlicher Genehmigung von Eirch Schmidt Verlag GmbH & Co.
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489 27.1 · Begriffsbestimmungen, Zielsetzungen und Maßnahmen des betrieblichen Arbeitsschutzes
4 Ableitung und Festlegung von Schutzzielen: Hierbei sind die Schutzziele anhand der ermittelten und analysierten Unfälle zu bestimmen und zu formulieren. Den Zielen entsprechende Schutzmaßnahmen werden nach folgenden Kategorien klassifiziert: Vermeidung der Entstehung einer Gefährdung (z. B. Gefahrstoffsubstitution), Vermeidung der Ausbreitung eines Gefährdungsfaktors (z. B. Abschirmung bewegter Maschinenteile), Vermeidung der Einwirkung des Gefährdungsfaktors (z. B. durch Tragen einer persönlichen Schutzausrüstung). 4 Planung und Durchführung von Maßnahmen: Bei diesem Schritt werden mögliche Maßnahmen zur Erreichung der Schutzziele entwickelt und bestimmt. Unter Berücksichtigung ihrer Wirksamkeit und der Kosten werden die Maßnahmen sodann verglichen und ausgewählt. Bei der Durchführung sind außerdem entsprechende Verantwortlichkeiten klar zu regeln. 4 Erfolgskontrolle: Auch für Arbeitsschutz- und Arbeitssicherheitsmaßnahmen gilt, dass ihre Wirkungen und ihr Erfolg evaluiert werden sollte. Entsprechende Evaluationsschritte sollten Aussagen über erreichte Effekte (Veränderungen von Einstellungen und Verhalten, Unfallkennzahlen) und wenn möglich auch unerwünschte Nebenwirkungen erlauben. Außerdem sollten in diesem Zusammenhang Kosten und Nutzen der Maßnahmen sowie Hinweise zu ihrer Optimierung ermittelt werden. Auf die Ermittlung und Analyse der Gefahren sowie die Planung und Durchführung von Maßnahmen wird im Folgenden detaillierter eingegangen. 27.1.1
Ermittlung und Analyse der Gefahren
Ziel dieses ersten Schrittes ist es, systematische Erkenntnisse über die Gefahrensituation und sicherheitsrelevante Aspekte des Arbeitssystems zu erhalten, um auf dieser Grundlage Ziele sowie Maßnahmen zur Erhöhung der Arbeitssicherheit ableiten zu können. Hierzu werden unterschiedliche Verfahrensweisen je nach Ausgangssituation im Arbeitskontext und der angestrebten Analysereichweite herangezogen: Am gebräuchlichsten in der Praxis ist die Einzelunfalluntersuchung. Darüber hinaus werden auch Auswertungen von Unfallstatistiken sowie Unfallschwerpunktermittlungen vorgenommen und
Gefahrenanalysen bei bestehenden und geplanten Arbeitssystemen durchgeführt (s. Lehder & Skiba, 2005). Mithilfe der Einzelunfalluntersuchung sollen Erkenntnisse über Umstände und Ursachen der zu einem bestimmten Unfall führenden Gefahren gewonnen werden. Außerdem soll die Frage geklärt werden, ob Anordnungen oder Vorschriften übertreten wurden. Schließlich dient die Einzelunfalluntersuchung als Grundlage für die Unfallanzeige bei Aufsichtsbehörden. Die Einzelunfalluntersuchung wird entweder von einer betrieblichen Fachkraft für Arbeitssicherheit oder dem Vorgesetzten der verunglückten Person bzw. durch beide gemeinsam durchgeführt. Zur Untersuchung des Vorfalls und zur Erstellung des Unfallberichts sind eine Ortsbesichtigung mit entsprechender Beweisaufnahme (Unfallskizze, Fotografieren des Unfallorts, Überprüfung der Funktionsfähigkeit von Geräten, Sicherstellung von beschädigten Gegenständen etc.) und eine Befragung zum Unfallhergang (insbesondere des/der Verletzten sowie weiteren Zeugen des Unfalls) durchzuführen. Bei der Befragung der Unfallbeteiligten und -zeugen geht es allerdings nicht um die Ermittlung von Schuldigen, sondern um die Bestimmung von Anhaltspunkten, wie ähnliche Vorfälle in Zukunft vermieden werden können. Abschließend ist ein Unfallbericht zu erstellen, der Unfallhergang und -folgen detailliert beschreibt, Auskunft gibt über technische, verhaltensbezogene und organisatorische Unfallursachen sowie Maßnahmen zur Verhinderung ähnlicher Unfälle in Zukunft benennt. Bei Arbeitsunfällen werden bestimmte Betrachtungsebenen unterschieden (Lehder & Skiba, 2005): 4 Ebene der Unfallursachen: beinhaltet Angaben zu den Unfallursachen, z. B. Konstruktionsmangel als technische Ursache, nicht rechtzeitige Wartung der Maschine als organisatorische Ursache oder unsachgemäßer Gebrauch von Arbeitsmitteln als personenbezogene Verhaltensursache, 4 Ebene des Unfallhergangs: beinhaltet Angaben zum Unfallgegenstand, z. B. Art der Maschine, zur Tätigkeit zum Zeitpunkt des Unfalls, z. B. Einrichten der Maschine, und zum Unfallvorgang, z. B. Quetschen der Finger, 4 Ebene der Unfallfolgen: beinhaltet Angaben zur Verletzungsart und zur Schwere des Personenschadens, z. B. Verbrennungen oder Schnittwunden, als Verletzungsarten und anzeigepflichtiger oder entschädigungspflichtiger Unfall als Kategorien zur Klassifikation der Schwere des Schadens.
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490
Kapitel 27 · Psychologie der Arbeitssicherheit
Während bei der Aufklärung der Unfallursachen die Identifikation der Gefahren und Gefährdungen im Vordergrund steht, wird auf der Ebene des Unfallhergangs das eigentliche Ereignis beschrieben. Auf der Ebene der Unfallfolgen geht es schließlich um die Erfassung der durch den Unfall verursachten Personen- und Sachschäden. 27.1.2
27
Planung und Durchführung von Maßnahmen
Wie lassen sich Arbeitsunfälle verhüten? Im Folgenden werden die klassischen Konzepte und Instrumente der Unfallverhütung vorgestellt. Grundsätzlich kann man vier verschiedene Formen der Unfallverhütung unterscheiden: 4 Beseitigung der Gefahr: Eine Schädigung ist in diesem Fall nicht mehr möglich, da die Gefahr durch andere, meist technische Lösungen eliminiert wird (z. B. durch den Einsatz von Kleinspannung statt Niederspannung an Signalanlagen). 4 Trennung oder Beseitigung der Gefährdung: Die Gefahr bleibt bestehen; Verletzungsmöglichkeiten werden jedoch dadurch ausgeschaltet, indem sichergestellt wird, dass sich die Einflussbereiche von Mensch und Maschine nicht überschneiden (z. B. durch Automatisierung gefährlicher Arbeitsabläufe). 4 Abschirmung oder Verringerung der Gefährdung: Die Gefährdung bleibt bestehen. Eine Verletzungsmöglichkeit wird jedoch erschwert, indem Gefährdungsmöglichkeiten im Gefahrenbereich durch Abschirmungsmaßnahmen verringert werden (z. B. durch die Verwendung von Schutzgittern zur Abschirmung sich bewegender Teile von Maschinen oder durch das Tragen von Schutzausrüstung). 4 Anpassung an die Gefährdung: Durch Information über Gefahren und durch das Training sicherheitsgerechten Verhaltens werden die beteiligten Personen in die Lage versetzt, sicherheitsbewusst und angemessen mit risikobehafteten Arbeitssituationen umzugehen (z. B. Ausbildung von Chemiefacharbeitern im Umgang mit gesundheitsgefährdenden Stoffen; s. für ein Beispiel den 7 Kasten »Erstunterweisung in Arbeitssicherheit mithilfe von Videos«). Die beschriebenen vier Arten der Unfallverhütung lassen sich auch als Formen der Verhältnis- bzw. Verhaltens-
prävention kennzeichnen (7 Kap. 28). Die ersten drei Arten der Unfallverhütung stellen Formen der Verhältnisprävention dar, da hierbei sicherheitsgefährdende arbeitsplatzbezogene Aspekte abgestellt werden, während die letzte Art der Unfallverhütung als Verhaltensprävention bezeichnet werden kann, da der Fokus auf der Änderung individuellen sicherheitskritischen Verhaltens liegt. Während die ersten drei Formen der Unfallverhütung vor allem in den Aufgabenbereich von Ingenieursund Arbeitswissenschaftlern fallen, ist der vierte Maßnahmenkomplex insbesondere Gegenstand psychologischer Konzepte der Arbeitssicherheit. Generell gilt allerdings auch, dass die beschriebenen Formen der Unfallverhütung in ihrer Wirksamkeit abnehmen, je mehr sie vom menschlichen Verhalten abhängen. Die Abschirmung von Gefährdungen ist somit nur bedingt wirksam, da entsprechende Maßnahmen durch nicht sicherheitsgerechtes Verhalten unwirksam gemacht werden können (z. B. mangelndes Tragen der persönlichen Schutzausrüstung oder Umgehen der Schutzgitter bei laufendem Betrieb der Maschine). Insbesondere Maßnahmen zur Anpassung an die Gefährdung im Sinne einer Verhaltensbeeinflussung sind ebenfalls mit Risiken und Fehlermöglichkeiten verbunden, da Menschen mehr als technische Systeme fehleranfällig sind und nicht immer das erlernte Wissen und Können über Sicherheitsaspekte zur Anwendung bringen, wenn sie es eigentlich sollten. Es bedarf daher einer besonderen Ausbildung und/oder Auswahl geeigneter Personen sowie eines entsprechenden Sicherheitsbewusstseins der Beteiligten, damit die vorhandenen Gefährdungen nicht wirksam werden. Außerdem müssen Unfallverhütungsmaßnahmen ergänzt werden durch Maßnahmen, die die Folgen tatsächlich realisierter Gefahren lindern sollen, d. h. man sollte auch auf den Notfall bzw. Unfall ausreichend vorbereitet sein. Hierzu gehören beispielsweise die Bereitstellung von Erste-Hilfe-Maßnahmen, die Einübung von Notfallprozeduren sowie die Bereitstellung von Brandschutzeinrichtungen und Fluchtwegen. Schließlich können auch vor dem Hintergrund technischer, wirtschaftlicher und organisatorischer Restriktionen (z. B. sind aus Gründen der Zugänglichkeit zu bestimmten Produktionsprozessen nicht alle Gefahrenquellen verkapsel- oder eliminierbar) nicht immer alle Maßnahmen zur Beseitigung, Trennung und Abschirmung von Gefährdungen realisiert werden. Somit bestehen in Arbeitssystemen stets Restgefahren und es entstehen auch immer wieder
491 27.2 · Konzepte und Modelle sicherheitskritischen Verhaltens
Erstunterweisung in Arbeitssicherheit mithilfe von Videos (nach Konradt, Vibrans, König & Hertel, 2002) Gemäß Betriebsverfassungs- und Arbeitsschutzgesetz muss ein Unternehmer bzw. Arbeitgeber dafür Sorge tragen, dass alle Mitarbeiter zu Beginn der Beschäftigung und bei Aufnahme einer neuen Tätigkeit ausreichend und angemessen über die Gefahren und die Schutzmaßnahmen am Arbeitsplatz unterwiesen werden (Erstunterweisung). Gerade bei neuen Mitarbeitern stellen Unterweisungen einen ersten direkten Kontakt mit den Themen Arbeitssicherheit und Gesundheitsschutz dar. Solche Sicherheitsunterweisungen werden daher sehr häufig mündlich durch Vorgesetzte oder Sicherheitsbeauftragte vorgenommen. Zur Unterstützung der Erstunterweisungen werden in zahlreichen Unternehmen mittlerweile aber auch Medien eingesetzt, wozu insbesondere kurze Arbeitssicherheitsfilme dienen. Im Rahmen solcher Unterweisungen können entsprechende Filme folgende Funktionen ausüben: 4 emotionale (Angst, Empathie oder Hilfsbereitschaft erzeugen), 4 sensitivierende (Aufmerksamkeit auf mögliche Gefährdungen lenken und Antizipation von negativen Konsequenzen sicherheitskritischen Verhaltens anregen) und 4 instruktionale (Vermittlung von Wissen über mögliche Gefährdungen, Unfallabläufe und sichere Handlungsweisen). Damit soll also nicht nur Wissen in effektiver Form vermittelt, sondern mithilfe solcher Filme sollen auch Einstellungsänderungen bewirkt werden. Für Zwecke der Sicherheitsunterweisung bei Betriebsneulingen (z. B. Mitarbeiter von Partnerfirmen), die in einem großindustriellen Chemiewerk handwerkliche Tätigkeiten ausüben sollten, wurde ein Video entwickelt, das diese zu Gefahren und Schutzmaßnahmen
neue Gefahrenmomente, was Verhaltensanforderungen an die betroffenen Mitarbeiter beinhaltet. Das Verhalten des Menschen in gefährlichen Situationen bleibt damit ein wichtiger Angelpunkt der Sicherheitsarbeit, denn die Sicherheitstechnik und verwandte Maßnahmen werden auch in Zukunft an Grenzen ihrer Wirksamkeit stoßen (Hoyos, 1987).
im Werk unterweisen sowie Informationen über sicherheitsgerechtes Verhalten im Werk vermitteln sollte. Das Video wurde unter Berücksichtigung von Gestaltungsprinzipien eines konstruktivistisch orientierten Vermittlungsansatzes (»anchored instruction«) konzipiert (z. B. narrative Präsentation der Informationen, Zeigen verschiedener Anwendungskontexte, Einbettung der Lösungshinweise in die Geschichte etc.). Hiermit sollte die Wissensvermittlung anwendungsbezogen erfolgen und Einstellungsänderungen bewirkt werden. Im ersten Teil des Videos wurden das Werk, die Produktionsverfahren und allgemeine Sicherheitsvorschriften sowie Verhaltensregeln für das Werksgelände erläutert. Im zweiten Teil wurden detaillierte Erläuterungen und Hinweise für Facharbeiter, die Arbeiten in technischen Anlagen verrichteten, gegeben. Unter anderem wurden verschiedene Stationen von der Anmeldung bis zur Arbeitsaufnahme beschrieben, technische Schutzvorrichtungen erläutert und das sichere Verhalten im Gefahrenfall dargestellt. Die persönliche Schutzausrüstung und sicherheitsgerechtes Arbeiten wurden durch reale Arbeitsszenen demonstriert. Außerdem wurden wichtige Aspekte des Arbeitsschutzes durch Interviewaussagen einzelner Mitarbeiter hervorgehoben. Die Evaluation der Unterweisungseffekte zeigte, dass sowohl ein Wissenszuwachs als auch eine Einstellungsänderung zu den thematisierten Sicherheitsfragen festgestellt werden konnte. Der Film wurde außerdem von einem sehr hohen Prozentsatz der Probanden als informativ, glaubwürdig, interessant, authentisch sowie leicht verständlich bewertet. Die Ergebnisse sind allerdings mit Vorsicht zu interpretieren, da die Evaluation deutlichen methodischen Einschränkungen unterliegt (z. B. fehlende Kontrollgruppe, Deckeneffekte und hohe Interkorrelationen der Bewertungsskalen zum Film).
27.2
Konzepte und Modelle sicherheitskritischen Verhaltens
Wie kommt es zu Unfällen in der Arbeitswelt? Aus psychologischer Sicht stellt sich hier insbesondere die Frage nach den Ursachen oder Einflussfaktoren gefährlichen und sicherheitskritischen Verhaltens, das zu Unfällen führt.
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Kapitel 27 · Psychologie der Arbeitssicherheit
Definition Unter sicherheitskritischem Verhalten ist Verhalten bzw. Handeln zu verstehen, das Gefahren auslöst bzw. die Person in den Wirkbereich von Gefährdungen bringt und somit zu gefährlichen Arbeitssituationen führt. Dies kann in mehr oder weniger bewusster bzw. beabsichtigter Form (riskantes, sicherheitswidriges Verhalten) oder nicht bewusster bzw. nicht beabsichtigter Form (fehlerhaftes Verhalten) geschehen.
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Zur Erklärung solchen Verhaltens existiert eine Vielzahl unterschiedlicher Modelle. Globalere Ansätze beinhalten in erster Linie eine Klassifikation von unfallauslösenden Faktoren (z. B. die oben genannte Einteilung in personen-, organisations- und technikgebundene Ursachen). Frühe Modelle der Unfallforschung konzentrierten sich insbesondere auf persönlichkeitsbezogene Faktoren im Sinne einer Unfallneigung. Darüber hinaus wurde die Rolle von Stress bzw. Stressoren bei der Unfallentstehung eruiert. Weiterhin wurde auch die Rolle organisationaler Faktoren (z. B. Sicherheitsklima bzw. -kultur) analysiert. Neuere Modelle untersuchen u. a. die Interaktion von individuellen und organisationalen Faktoren. Dargestellt werden außerdem Ansätze zur Gefahrenkognition und zum Risikoverhalten. Bedeutung haben in diesem Zusammenhang schließlich Modelle zur Entstehung von Fehlverhaltensweisen bzw. -handlungen erlangt, da Unfälle auch durch Fehler verursacht werden; d. h., dass die Aufklärung von Ursachen, wie Fehlhandlungen entstehen, auch in bedeutsamen Maße zur Unfallprophylaxe genutzt werden kann. 27.2.1
Individuelle Einflussfaktoren sicherheitskritischen Verhaltens
Zwar wird immer wieder darauf hingewiesen, dass ca. 80% aller Unfälle durch menschliche Faktoren – insbesondere Fehlhandlungen – verursacht werden. Allerdings dürfte der größte Teil personenbedingter Unfälle auf mangel- bzw. fehlerhaft gestaltete Arbeitsbedingungen zurückgehen (z. B. mangelhafte Gestaltung des Arbeitsplatzes oder ungenügende Wartung und Instandsetzung der Arbeitsmittel; 7 Kap. 22). Verschiedene Autoren schätzen diesen Anteil auf ca. 50–80% (vgl. Zimolong, 1990). Bei der Aufklärung von Unfallursachen sollte da-
her der Blick immer auch auf die Bedingungen, die menschliches Fehlverhalten verursacht haben können, gerichtet werden, um eine nachhaltige Unfallprävention zu betreiben. Dabei ist zu berücksichtigen, dass nur ein geringer Anteil von Unfällen durch absichtliches Fehlverhalten ausgelöst wird. Selbst bei risikoreichem Verhalten realisieren die Handelnden oftmals nicht, welche dramatischen Konsequenzen ihr Handeln auslösen kann (Wagenaar & Hudson, 1998). Verschiedene Analysen von Unfallstatistiken zeigen, dass die Unfallrate bei bestimmten Personengruppen deutlich höher ausgeprägt ist als bei anderen. Welche individuellen und persönlichkeitsbezogenen Faktoren tragen somit dazu bei, dass es zu Unfällen in Arbeitskontexten kommt? Miner (1992) weist beispielsweise darauf hin, dass hohe Unfallhäufigkeitsraten insbesondere im Alter von 17–30 Jahren vorkommen. Danach sinkt die Häufigkeitsrate konstant und deutlich bis zum Pensionierungsalter. Jüngere Mitarbeiter sind somit eher anfällig für Unfälle als ältere, was möglicherweise auf die Unerfahrenheit, aber auch eine höhere Risikoneigung der jüngeren Mitarbeiter zurückzuführen ist. Andere Analysen zeigen darüber hinaus, dass bestimmte Personen mit hohen Unfallraten in einem Jahr auch in den folgenden Jahren hohe Unfallraten aufweisen. Diese Beobachtung spricht für die Bedeutsamkeit von persönlichkeitsbezogenen Ursachefaktoren. In einer aktuellen Metaanalyse (Clarke & Robertson, 2005) zum Zusammenhang der »Big-Five«-Persönlichkeitsfaktoren und Unfallhäufigkeiten konnte gezeigt werden, dass vor allem eine geringe Verträglichkeit (d. h. eine geringe Neigung mit anderen zufriedenstellende soziale Beziehungen aufrecht zu erhalten) mit höheren Unfallraten zusammenhängt (r=.607). Gemäß Salgado (2002) geht eine geringe Verträglichkeit außerdem mit sozial problematischem Verhalten am Arbeitsplatz einher (z. B. Disziplinprobleme oder Verstöße gegen betriebliche Regeln; 7 Kap. 25). Auch Hansen (1988) hatte bereits in einer vergleichbaren Überblicksstudie festgestellt, dass sozial unangemessenes Verhalten am Arbeitsplatz mit deutlich erhöhten Unfallraten korreliert. Für die weiteren BigFive-Merkmale gilt, dass eine gering ausgeprägte Gewissenhaftigkeit sowie hoch ausgeprägte Offenheit für neue Erfahrungen und Neurotizismus ebenfalls Korrelationen mit höheren Unfallhäufigkeiten aufweisen. Allerdings streuen die analysierten Korrelationen in allen drei Fällen sehr hoch. Dies lässt darauf schließen, dass keine eindeutigen Zusammenhänge zwischen den ge-
493 27.2 · Konzepte und Modelle sicherheitskritischen Verhaltens
nannten Persönlichkeitsmerkmalen und Unfallhäufigkeiten vorliegen. Sie werden vermutlich durch weitere Faktoren (z. B. Ausmaß der Routine bei der Arbeit) moderiert. Außerdem konnten – entgegen den Ergebnissen früherer Analysen – keine Zusammenhänge zwischen hoch ausgeprägter Extraversion und hohen Unfallraten ermittelt werden. Nach Iverson und Erwin (1997) ist eine negative Affektivität (generelle Gefühle der Anspannung, Angst und Traurigkeit sowie negative Einstellungen gegenüber anderen und Situationen, als Facette des Neurotizismus) in geringem Maße ebenfalls mit erhöhten Unfallhäufigkeiten verbunden, während positive Affektivität (allgemein positive Einstellungen gegenüber Menschen und Situationen, als Facette der Extraversion) mit geringeren Unfallraten verknüpft ist. Hansen (1988) weist außerdem in seinem Review von Studien zum Zusammenhang von Persönlichkeitsfaktoren und Unfallhäufigkeit auf Folgendes hin: 4 Es gibt einen deutlichen Zusammenhang zwischen einer »externalen Kontrollorientierung« (d. h. eigenes Verhalten wird als durch äußere Bedingungen bestimmt und verursacht wahrgenommen) und hohen Unfallraten. 4 Es konnten relativ hohe Zusammenhänge zwischen der Neigung zu aggressivem Verhalten (als Facette geringer Verträglichkeit) und höheren Unfallraten festgestellt werden. 4 Die Neigung zu impulsivem Verhalten (als Facette des Neurotizismus) ist ebenfalls konsistent mit höheren Unfallraten verbunden. 27.2.2
Organisationale Einflussfaktoren sicherheitskritischen Verhaltens
Ein weiterer einflussreicher Ursachenkomplex für die Entstehung von Unfällen ist das erhöhte Vorkommen von Stresssituationen bzw. hohem Leistungsdruck im Arbeitskontext (7 Kap. 28). Welche Stressoren tragen dazu bei und wie kommt es durch bestimmte Stressoren zu sicherheitskritischem Verhalten und in Folge davon zu Unfällen? Murphy, DuBois und Hurrell (1986) nehmen an, dass unterschiedliche Stressoren am Arbeitsplatz (z. B. Zeitdruck oder unklare Rollenanforderungen) aber auch im privaten Bereich (z. B. familiäre Konflikte) zunächst Reaktionen wie Angst, Übermüdung, Motivationsverlust oder unangemessene Bewältigungs-
reaktionen (z. B. Alkoholmissbrauch) auslösen. Mögliche Konsequenzen daraus sind eine verminderte Aufmerksamkeit und Reaktionsgeschwindigkeit sowie fehlerhaftes Urteils- und Entscheidungsverhalten. Dies ist wiederum die Basis für riskantes und sicherheitskritisches Verhalten, das letztlich Unfälle und Beinaheunfälle auslöst. Weitergehende Annahmen spezifizieren dieses Modell: Insbesondere wird angenommen, dass hoher Leistungsdruck sicherheitskritisches Verhalten in Form von sog. »Abkürzungen« fördert (z. B. mangelnde Ausführung von Sicherungsmaßnahmen oder Nichtverwendung von bewegungseinschränkenden Schutzausrüstungen); d. h. langwierigere, aber sicherere Arbeitsmethoden werden zugunsten unsicherer, aber rationellerer Vorgehensweisen aufgegeben (Hofman, Jacobs & Landy, 1995). Durch konstanten Zeitdruck nehmen die Mitarbeiter ihre Situation schließlich so wahr, dass das Eingehen von Risiken bei ihrer Arbeit ein normaler Zustand ist – insbesondere dann, wenn das sicherheitskritische Verhalten nicht sanktioniert wird. Die Wahrnehmung einer Rollenüberlastung führt somit dazu, dass die betroffenen Mitarbeiter sich nicht mehr an Sicherheitszielen, sondern nur noch an den zu erreichenden Arbeitsergebnissen orientieren. Die Forschung zu Einflussfaktoren auf sicherheitskritisches Verhalten hat außerdem den Blick auf organisationale Faktoren wie Sicherheitskultur bzw. -klima gerichtet (Zohar, 1980; 7 Abschn. 27.3). Hierunter ist die Haltung der Unternehmensleitung und der Kollegen gegenüber den Sicherheitsaspekten zu verstehen. Dies drückt sich beispielsweise in dem Ausmaß der Teilnahme von Führungskräften an Sicherheitsarbeitskreisen oder der Berücksichtigung von Sicherheitsfragen bei der Arbeitsplatzgestaltung aus. Verschiedene Studien konnten zeigen (z. B. Hofman & Stetzer, 1996), dass das Sicherheitsklima tatsächlich mit der Unfallrate im Unternehmen zusammenhängt. Mitarbeiter, die beispielsweise erleben, dass ihr Vorgesetzter Sicherheitsfragen nicht anspricht, werden in der Regel solchen Aspekten selber keine besondere Bedeutung zumessen. Umgekehrt führt eine ausgeprägte Sicherheitskultur dazu, dass die Mitarbeiter bei entsprechenden Fragen in höherem Maße eigene Verantwortung dafür übernehmen (James, James & Ashe, 1990). Neben Sicherheitskultur bzw. -klima wurden u. a. auch die Rolle des Teamklimas bzw. von Teamnormen oder die Haltung von Vorgesetzten und Kollegen gegenüber Sicherheitsfragen als organisationale Einflussfaktoren des sicherheitskritischen Verhaltens untersucht.
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Kapitel 27 · Psychologie der Arbeitssicherheit
Reproduced with permission from the Journal of Occupational and Organizational Psychology © The British Psychological Society
. Abb. 27.2. Strukturmodell zu organisationalen und personalen Bedingungen der Unfallrate. Neben den Prädiktor- und Kriteriumsvariablen sind die standardisierten Beta-Koeffizienten des
Strukturgleichungsmodells dargestellt (N=525, * p<.05, ** p < .01, n. s. p>.05). (Nach Oliver et al., 2002)
In komplexeren Untersuchungsansätzen wird mittlerweile auch das Zusammenwirken bzw. die Interaktion von individuellen, arbeitsplatzbezogenen und organisationalen Faktoren in ihrem Einfluss auf sicherheitskritisches Verhalten analysiert. Dies erfordert allerdings Untersuchungsdesigns die mithilfe von Strukturgleichungsmodellen oder hierarchischen Regressionsanalysen ausgewertet werden können. Beispielsweise untersuchten Oliver, Cheyne, Tomas und Cox (2002) direkte und indirekte Effekte der organisationalen Sicherheitskultur sowie von Bedingungen und Gefahren am Arbeitsplatz auf Kennwerte der Unfallhäufigkeit und -formen. Als individuelle Einflussfaktoren und mediierende Variablen wurden außerdem das Gesundheitsempfinden und die Ausprägung sicherheitsgerechten Verhaltens erfasst. . Abb. 27.2 veranschaulicht das der Studie zugrunde liegende Strukturmodell inklusive der ermittelten Beziehungskoeffizienten. Die Zusammenhänge verdeutlichen, dass die Wahrnehmung der Sicherheitskultur (im Sinne der betrieblichen Sicherheitsphilosophie und der Unterstützung von sicherheitsorientiertem Arbeitsverhalten durch Vorgesetzte und Kollegen) eine zentrale Variable darstellt, die einerseits eng mit der Wahrnehmung der Arbeitsbedingungen und Gefahren (physische Arbeitsumgebung) verbunden ist, aber auch in hohem Maße sicherheitsgerechtes Verhalten vorhersagt und in mittlerem Ausmaß mit der Unfallrate und dem Gesundheitsempfinden zusam-
menhängt. Die Wahrnehmung der Arbeitsbedingungen und Gefahren (physische Arbeitsumgebung) sagt hingegen nur in geringem Maße das Gesundheitsempfinden und die Unfallrate vorher und steht in keiner Beziehung zum sicherheitsgerechten Verhalten. Schließlich sind die beiden individuellen Faktoren Gesundheitsempfinden und sicherheitsgerechtes Verhalten jeweils in reziproker Form mit der Unfallrate verbunden. Darüber hinaus mediieren beide Variablen zumindest partiell Einflüsse der Sicherheitskultur auf die Unfallrate. 27.2.3
Erkennen von Gefahren und Risikoverhalten
Wenn Personen arbeitsbedingt in den Einwirkungsbereich von Gefahren kommen, stellt sich u. a. die Frage, wie sie solche Situationen wahrnehmen, beurteilen und bewältigen. Es geht somit um das Handeln in gefährlichen Situationen, das von den betroffenen Personen bestimmte kognitive und regulatorische Leistungen erfordert. Hiermit beschäftigen sich kognitions- und handlungstheoretisch orientierte Ansätze der Sicherheitspsychologie (Hoyos, 1987). Die Wahrnehmung von Gefahren stellt eine erste Teilaufgabe im Rahmen des Handelns in gefährlichen Kontexten dar. Sie bildet die Voraussetzung für weitere Phasen (z. B. Beurteilen der Gefährdungen und Hand-
495 27.2 · Konzepte und Modelle sicherheitskritischen Verhaltens
lungsentscheidungen) und dient der Orientierung in solchen Situationen. Kognitionspsychologisch handelt es sich um einen Prozess der Informationsverarbeitung, bei dem aus dem kontinuierlichen Reizstrom Signale herausgefiltert werden, die Gefahren anzeigen bzw. im Sinne von »Vorsignalen« Hinweise auf sich anbahnende Gefahren geben. Hierzu muss die Person über ein Kategoriensystem verfügen, das Erscheinungsweisen, zeitliche Eigenheiten und Zugänglichkeit der Gefahrensignale ordnet. Das heißt, nicht alle Gefahren werden direkt signalisiert, sondern müssen in vielen Fällen aus »Indikatoren« erschlossen werden. Hoyos (1987) unterscheidet dabei zwischen Gefahrenzuständen, die 4 sensorisch direkt erkennbar sind (z. B. Feuer, fallende oder spitze Gegenstände etc.), 4 durch diagnostische Eingriffe erkennbar sind (z. B. Feststellen einer elektrischen Spannung mithilfe eines Spannungsprüfers), 4 aus der Kenntnis allgemeiner Gesetzmäßigkeiten oder Erfahrungen erschließbar sind (z. B. herabfallende Steine beim Klettern in Felswänden). Gemäß dieser unterschiedlichen Beschaffenheit von Gefahrenindikatoren werden auch unterschiedliche Anforderungen an die Wahrnehmungs- und Beurteilungsvorgänge des Handelnden gestellt, je nachdem, welche Indikatoren wie zugänglich sind und wie gefährlich die Arbeitssituation ist. Die Anforderungen lassen sich hinsichtlich verschiedener Dimensionen der Gefahrenindikatoren charakterisieren (7 Übersicht).
Dimensionen von Gefahrenindikatoren 4 4 4 4 4 4 4
Anschaulichkeit Zugänglichkeit Kodierung Regelmäßigkeit im Auftreten Vorwarnzeit Gefährdungswahrscheinlichkeit Signalisierte Schadensfolgen
Als einflussreich für die Gefahrenbeurteilung und -kontrolle erwies sich insbesondere die Dimension »signalisierte Schadensfolgen«, da offenbar die Tendenz besteht, sich weniger intensiv um Gefahren zu kümmern, wenn nur Bagatellschäden signalisiert werden. So werden Sprünge aus geringer Höhe (z. B. von einer Laderampe)
als wenig gefährlich erlebt und eingeschätzt, während die Gefahr in Bezug auf Stürze aus größerer Höhe (z. B. bei Arbeiten auf einem Hallendach) zu einer deutlich intensiveren Gefahrenwahrnehmung und -einschätzung führt. Aus einer praktischen Perspektive geben solche Konzepte der Gefahrenwahrnehmung z. B. Hinweise darauf, dass Gefahren oftmals besser und deutlicher »signalisiert« werden müssen. Wenn die handelnde Person die Situation als gefährlich erkannt und bestimmte Gefahren wahrgenommen hat, muss sie über ihr weiteres Vorgehen entscheiden. Gemäß Hoyos (1987) kann sie dies auf zwei Ebenen tun: Erstens kann sie versuchen, die Gefährdung zu steuern, d. h., sie entscheidet darüber, wie weit und wie lange sie sich in den Gefahrenbereich begibt. Hierbei spricht man von Gefahrenexposition. Zweitens kann sie die möglichen Folgen einer Gefahrenexposition kontrollieren, indem sie Vorsorgemaßnahmen ergreift (z. B. Schutzausrüstungen tragen). Im weiteren Verlauf konzentrieren wir uns auf Aspekte der Gefahrenexposition. In Bezug auf erkannte Gefahren muss der Einzelne entscheiden, ob und in welchem Umfang er sich Gefahren aussetzt (z. B. eine Maschine mit drehenden Teilen zu bedienen, auf einem hohen Gerüst zu arbeiten, sich bestimmten Gefahrstoffen auszusetzen etc.). In der Gefahrenexposition drückt sich somit die individuelle Bereitschaft aus, sich Gefahren mehr oder weniger auszusetzen und das Eintreten von Personen- und Sachschäden mit einer gewissen Wahrscheinlichkeit in Kauf zu nehmen. Dies wird auch als Risikoverhalten bezeichnet und durch unterschiedliche Faktoren beeinflusst. Beispielsweise hängt das Risikoverhalten von der Beurteilung des Risikos ab. Zur Beurteilung von Risiken werden Heuristiken oder Daumenregeln herangezogen, mit deren Hilfe die vorherrschenden Unfall- und Schadenswahrscheinlichkeiten geschätzt werden. Solche Schätzheuristiken funktionieren in vielen Fällen durchaus erfolgreich und führen zu angemessenen Schätzungen. Sie werden teilweise aber auch verzerrt durch Faktoren, wie »mentale Verfügbarkeit über Unfallhergänge«, d. h., wie leicht man sich das betreffende Ereignis vorstellen kann. Zimolong (1979) ließ beispielsweise Rangiertätigkeiten im Bahnbetrieb auf ihre Gefährlichkeit hin einschätzen. Tätigkeiten, die besonders anschaulich in Bezug auf ihre Gefährlichkeit waren (z. B. auf Puffern oder Tritten mitfahren oder in Gleisen gehen), wurden hierbei bezüglich ihrer Unfallrisiken eher überschätzt, während Routinehandlungen, die die Rangierer mehr-
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Kapitel 27 · Psychologie der Arbeitssicherheit
mals täglich ausführen, bezüglich Ihrer Gefährlichkeit eher unterschätzt wurden. Einen anderen Einflussfaktor der Risikobewertung stellt das Ausmaß der Kontrolle dar, die man über die Situation meint ausüben zu können. Die Einschätzung einer hohen Kontrollierbarkeit einer Situation führt in diesem Fall zu einem riskanteren Arbeitsverhalten. Weiterhin konkurriert das Sicherheitsstreben oftmals mit anderen Motiven, z. B. spart sicherheitswidriges Verhalten vielfach Zeit, was Beschäftigten unter Zeitdruck oder Akkordlohnbedingungen entgegenkommt. Beispielsweise konnte Sundström-Frisk (1984) zeigen, dass die Unfallrate von Holzarbeitern nach einem Übergang von Zeitlohn zu einem Akkordlohn drastisch zunahm. In diesem Zusammenhang ist es darüber hinaus ungünstig, dass sicherheitsgerechtes Verhalten sehr häufig nicht zu spürbaren positiven Folgen führt; sicherheitswidriges Verhalten jedoch in vielen Fällen keine negativen Konsequenzen zeitigt, aber Zeit spart und den persönlichen Gewinn steigert. Sicherheitswidriges Verhalten wird damit durch verstärkende Mechanismen aufrechterhalten, während sicherheitsgerechtes Verhalten in vielen Fällen Bedingungen der Löschung (7 Kap. 20) unterliegt. Unter praktischen Gesichtspunkten lässt sich hieraus wiederum folgern, dass sicherheitsgerechtes Verhalten explizit unterstützt, anerkannt bzw. verstärkt werden muss, um es dauerhaft aufrechtzuerhalten (7 Kap. 20). Schließlich orientieren sich Menschen beim Handeln in gefährlichen Situationen an Sollwerten, die das (Führungs-)System vorgibt (z. B. Unfallverhütungsvorschriften, Beachtung von expliziten Warnhinweisen, Strafen für fahrlässiges Verhalten etc.), was letztlich zur Ausbildung eines akzeptierten Risikoniveaus (einem inneren Sollwert, mit dem gegebene Gefahren in einem Arbeitssystem verglichen werden) führt. In gefährlichen Situationen orientiert sich somit der Handelnde auch an diesem akzeptierten Risikoniveau und steuert seine Gefahrenexposition in Abhängigkeit von diesem inneren Sollwert. Leider führt dies in bestimmten Fällen auch dazu, dass zusätzliche Sicherheitsvorkehrungen in »Anpassungsreaktionen« resultieren, die ein risikoreicheres Verhalten unter »sichereren« Bedingungen erlauben (z. B. durch bessere Scheinwerfer im Durchschnitt schneller in der Dunkelheit zu fahren). Bei der Einführung neuer technischer Sicherheitssysteme sollte daher vorher geklärt werden, ob das System zu einem risikoreicheren Verhalten der Nutzer »verführt«.
27.2.4
Psychologische Modelle fehlerhaften Handelns
Arbeitsunfälle entstehen zu einem hohen Prozentsatz durch fehlerhaftes Handeln von Menschen. Hier stellt sich die Frage, welche Fehler in diesem Zusammenhang gemacht werden und wie das fehlerhafte Handeln selbst verursacht wird. Bereits Weimer (1931) führte umfangreiche Analysen zum Wesen und den Arten von Fehlern durch und unterschied dabei insbesondere zwischen Fehlern und Irrtümern. Während Erstere durch ein Versagen von psychischen Funktionen (z. B. Aufmerksamkeits- oder Gedächtnisfunktionen) entstehen, beruhen Letztere auf Unkenntnis oder mangelhafter Kenntnis bestimmter Sachverhalte. Diese Unterscheidung wird auch von späteren Autoren vorgenommen (z. B. Hacker, 2006). Bekannt geworden ist insbesondere der Ansatz von Norman (1981), der auf der Basis der Schematheorie, einem kognitionspsychologischen Konzept zur Repräsentation von Wissen im Gedächtnis, und anhand einer umfangreichen empirischen Analyse von Fehlerfällen zwischen folgenden Fehlerformen unterscheidet: 4 Irrtümer in der Zielbildung (Irrtümer, die bei der Planung, Entscheidung und Problemlösung entstehen und vor allem auf mangelnden Kenntnissen bzw. Fehlannahmen beruhen), 4 Aktivierungsfehler (betrifft Handlungen, die hoch geübt sind und unabsichtlich durch bestimmte Situationsmerkmale ausgelöst werden; z. B. betritt jemand sein Schlafzimmer, um sich für das Essen umzuziehen und findet sich im Bett wieder), 4 falscher Aufruf aktiver Schemata (durch falsche oder fehlende Auslösebedingungen werden aktive Schemata zur falschen Zeit oder nicht aufgerufen; z. B. vergessen einen Brief einzuwerfen oder eine Besorgung zu erledigen). Insbesondere die zweite und dritte Fehlerkategorie, die als »action slips« bezeichnet werden und den Fehlern gemäß Weimer entsprechen, machen deutlich, dass viele Fehlhandlungen eher unabsichtlich durch bestimmte Eigenschaften des menschlichen Informationsverarbeitungssystems entstehen (7 Kap. 20). Offensichtlich besteht ein Zusammenhang zwischen den auf verschiedenen Ebenen ablaufenden Kontrollprozessen und den daraus resultierenden Fehlerarten. Das GEMS-Modell (»Generic Error Modelling System«) von Reason (1990), ein weiteres sehr einflussrei-
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Mit freundlicher Genehmigung von Cambridge University Press. © Cambridge University Press 1990
. Abb. 27.3. Schematische Darstellung des Generic-Error-Modeling-System-(GEMS-)Modells. (Nach Reason, 1990)
ches Fehlermodell, nimmt auf diese unterschiedlichen Ebenen der Handlungssteuerung bzw. Informationsverarbeitung Bezug. Ähnlich wie Hacker (2006) und Rasmussen (1986) wird zwischen drei Ebenen der kognitiven Steuerung von Handlungen unterschieden: die fertigkeitsbasierte, die regelbasierte und die wissensbasierte Ebene (7 Kap. 20). Das Modell geht von der Grundannahme aus, dass unsere Handlungen in erster Linie auf der fertigkeits- und regelbasierten Ebene gesteuert werden, da die Informationsverarbeitung auf diesen Ebenen
besonders effizient und ohne großen Aufwand durch den parallelen Verarbeitungsmodus (gemäß dem primären Verarbeitungssystem von Rasmussen; 7 Kap. 20) erfolgt (. Abb. 27.3). Treten Probleme beim Handeln auf, wird in der Regel zunächst versucht, diese auf der regelbasierten Ebene durch die Verwendung bekannter und in ähnlichen Situationen erfolgreicher bzw. bewährter Handlungsschemata zu lösen. Erst wenn dies nicht gelingt, wird das Handlungsproblem auf der wissensbasierten Ebene behandelt, wobei auch hier zunächst eher
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Kapitel 27 · Psychologie der Arbeitssicherheit
einfach gehaltene Lösungsschemata (z. B. die VersuchIrrtum-Strategie) zur Anwendung kommen. Umfangreiche Situationsanalysen und Lösungsüberlegungen werden daher, so lange es geht, möglichst vermieden. Im Kontext dieser Verarbeitungsmodi bzw. dieses Verarbeitungssystems können aber Fehler auftreten. Dies betrifft einerseits Prozesse, die ohne eine bewusste Aufmerksamkeitszuwendung ablaufen (fertigkeits- und teilweise auch regelbasierte Steuerungsprozesse). Andererseits ist das Generic Error Modelling System (GEMS) auch auf das Entdecken und Korrigieren von Fehlern beim Handeln ausgerichtet, indem Erwartungen über Handlungsergebnisse gebildet und Abweichungen davon registriert und überprüft werden. Jedoch können auch diese Erwartungsbildungen und Überprüfungen fehlerhaft sein oder nicht zur richtigen Zeit erfolgen. Vor dem Hintergrund dieses Rahmenmodells werden charakteristische Fehlertypen auf den einzelnen Ebenen abgeleitet und beschrieben. Fertigkeitsbasierte Fehler: Ausrutscher und Versehen
Bei Fehlern auf der fertigkeitsbasierten Ebene wird zwischen Ausrutschern und Versehen unterschieden. Ausrutscher entstehen beispielsweise durch Gewohnheiten, die in einer Situation unabsichtlich ausgelöst werden (z. B. wenn man ein Werkstück in einer neuen Vorrichtung falsch verspannt, weil in der noch vor kurzem benutzten alten Vorrichtung bestimmte zusätzliche Spannvorgänge vorgesehen waren, die in der neuen nicht mehr notwendig sind). Versehen sind dadurch gekennzeichnet, dass beispielsweise das Ziel des Tuns während der Handlung verloren geht (z. B. wenn man in den Keller geht, um ein Werkzeug zu holen, unten angekommen aber nicht mehr weiß, was man holen wollte). Versehen sind problematischere Fehler in Bezug auf sicherheitsrelevantes Verhalten, da sie schwieriger zu identifizieren und damit zu korrigieren sind. Beispielsweise treten solche Fehler beim Abarbeiten von Checklisten im Bereich der Instandhaltung auf, sodass bestimmte Überprüfungs- oder Reparaturhandlungen vergessen werden und die entsprechende Maschine nicht hinreichend instand gesetzt wurde. Fertigkeitsbasierte Fehler zeichnen sich dadurch aus, dass der Handlungsplan zwar richtig, aber dessen Ausführung fehlerhaft ist. Regelbasierte Fehler: Verwechslungs- und Erkennungsfehler
Fehler auf der regelbasierten Ebene sind dadurch gekennzeichnet, dass ein falsches Handlungsschema für
eine Situation gewählt wurde. Meist liegt eine Fehleinschätzung der Situation zugrunde, die durch eine schematisierte oder übervereinfachte Situationswahrnehmung, durch Voreingenommenheiten oder durch die mangelnde Verfügbarkeit eines angemessenen Handlungsschemas ausgelöst wurde. Verwechslungsfehler sind gekennzeichnet durch eine falsche Klassifikation der Situation, die zum Abruf einer mit dieser Situationsklassifikation verbundenen, in diesem Fall aber unangemessenen Aktion führt. Die Verwechslung ist meist bedingt durch relativ ähnliche Situationsmerkmale, in denen im einen Fall bestimmte Handlungsmuster dominieren (z. B. wenn zum Löschen einer brennenden Pfanne mit Öl Wasser benutzt wird und dadurch der Brand noch verstärkt wird). Ein Erkennungsfehler liegt dann vor, wenn direkt erkennbare Rückmeldungen aus der Umgebung übersehen oder verwechselt werden (z. B. wenn ein Warnhinweis der Maschine in Bezug auf mangelnde Kühlflüssigkeit übersehen wird und das Fertigungsprogramm erneut gestartet wird, sodass es zu einem Werkzeugbruch kommt). Bei regelbasierten Fehlern verhält es sich somit umgekehrt wie bei den fertigkeitsbasierten: Der Handlungsplan ist falsch, aber seine Ausführung erfolgt in richtiger Form. Wissensbasierte Fehler: Denk- und Urteilsfehler
Wissensbasierte Fehler entstehen bei neuartigen oder seltenen Situationen, für die keine fertigen Handlungsprogramme zur Verfügung stehen. Die Arbeitskräfte sind somit gefordert, eigene Lösungswege zu entwickeln. Diese können Fehler aufweisen, weil entscheidende Gesichtspunkte bei der Situationsanalyse nicht berücksichtigt wurden, unangemessene Ziele aufgestellt wurden, wichtige Teilhandlungen bei der Planung vergessen wurden usw. Es handelt sich hierbei um Denkfehler in der Planungsphase, da prinzipiell zur Verfügung stehendes Wissen zur Handlungsplanung nicht richtig genutzt wurde (z. B. wenn beim Spülen einer Anlage mit chemischer Lauge nicht berücksichtigt wurde, dass bestimmte Ventile zu schließen sind, sodass die Spüllauge in die Umgebung austritt). Urteilsfehler treten hingegen nicht in der Planungs-, sondern in der Rückmeldungsphase der Handlung auf, wenn Reaktionen des Systems, mit dem man interagiert, falsch beurteilt werden (wenn beispielsweise bei der Herstellung eines neuartigen Flüssigkeit-Gas-Gemisches anhand bestimmter Anzeigen nicht erkannt wird, dass der Siedepunkt des Gemisches bereits überschritten wurde und Explosionsgefahr droht). Wis-
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499 27.2 · Konzepte und Modelle sicherheitskritischen Verhaltens
Vor dem Hintergrund der geschilderten theoretischen Konzepte fehlerhaften bzw. sicherheitskritischen Verhaltens dürfte deutlich geworden sein, dass dieses nicht durchgängig durch Verbote oder durch Überzeugungsarbeit verhindert werden kann. Riskantes oder sicherheitskritisches Arbeitsverhalten wird oftmals eher ausgelöst durch eine unzureichende Informationsverarbeitung, wie die oben beschriebenen Konzepte fehlerbasierten Handelns, aber auch Verhaltensanalysen bei Schiffsunfällen zeigen (. Tab. 27.1; Wagenaar & Groeneweg, 1987). Der Prozess der Gefahrenkognition, der sicherheitskritischem Verhalten vorangeht, kann als Entscheidungsvorgang auf mehreren Stufen betrachtet werden. In einer ersten Phase benötigt man Informationen über die Gefahr; die retrospektiven Unfallanalysen zeigen allerdings, dass in 21% der analysierten Unfälle entsprechende Informationen bzw. Hinweise über die sich anbahnende Gefahr nicht in ausreichendem Maße vorlagen. In einem weiteren Schritt müssen die Informationen auch als bedeutsame Indikatoren von Gefahren verstanden werden. Dies war in 27% der Unfälle nicht der Fall. Im dritten Schritt, wenn die Gefahr erkannt wurde, müssen alternative Handlungspläne entwickelt werden. In 15% der Unfälle wurde nur eine Verhaltensalternative für richtig gehalten. Im vierten Schritt gilt es, die verschiedenen Handlungsalternativen in Bezug auf ihre möglichen Risiken zu bewerten. Tatsächlich wurden in . Tab. 27.1. Fehleranalysen zu 57 Schiffsunfällen des niederländischen Shipping Councils in den Jahren 1984 und 1985; die Angaben beziehen sich auf Art und Anzahl fehlerhafter Entscheidungen über alle 57 Schiffsunfälle; pro Fall wurden teilweise mehrere Fehler ermittelt. (Nach Wagenaar & Groeneweg, 1987) Entscheidungsphase
Anzahl der Schiffsunfälle, in denen fehlerhafte Entscheidungen getroffen wurden Anzahl der Fehler pro Phase
%
Empfang von Informationen
17
21
Problementdeckung
21
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Suche nach Lösungen
12
15
Bewertung von Konsequenzen
19
36
1
1
Bewusstes Eingehen von Risiken
© Elsevier Science & Technology Journals, Academic Press 1987
sensbasierte Fehler sind vor allem durch die »begrenzte Rationalität« des Menschen beim Problemlösen bedingt. Aufgrund ihrer eingeschränkten Informationsverarbeitungskapazitäten (7 Kap. 20) neigen Menschen dazu, im Umgang mit (komplexen) Problemsituationen Vereinfachungsstrategien anzuwenden, die zum Übersehen, Auslassen und Nichtberücksichtigen von Sachverhalten sowie zur Verwendung unvollständiger und suboptimaler Entscheidungsregeln führen. Bei Unfällen in Kernkraftwerken konnte man in den nachträglichen Ereignisanalysen oftmals feststellen, dass z. B. Hinweise auf die sich anbahnenden, ernsten Störungen falsch interpretiert oder sogar ignoriert wurden, sodass einerseits »Verwechslungen« mit weniger gravierenden, aber relativ häufig auftretenden Störungen auftraten und andererseits die Bedrohlichkeit der Situation viel zu spät erkannt wurde. Bedingt durch solche Fehleinschätzungen wurden dann oftmals Maßnahmen ergriffen, die die Situation erheblich verschlimmerten. Von den beschriebenen Fehlerarten, die in der Regel eher unabsichtlich begangen werden, unterscheiden Wagenaar und Hudson (1998) außerdem sog. Regelverletzungen, die absichtliche Übertretungen von Sicherheitsbestimmungen beinhalten (z. B. wenn Schutzkleidung nicht getragen wird oder Sicherheitsvorrichtungen »überbrückt« werden). Ursachen solcher Regelverletzungen sind nicht nur inadäquate Einstellungen oder mangelnde Bereitschaften in Bezug auf Sicherheitsfragen, sondern auch Unkenntnis oder eine falsche Interpretation entsprechender Bestimmungen. Die Befolgung von Sicherheitsbestimmungen wird vonseiten der Organisation teilweise auch durch überhöhte Zeit- und Ergebnisvorgaben konterkariert bzw. ihre Übertretung sogar toleriert, um die Zielvorgaben zu erreichen. Regelverletzer sind teilweise auch durch übertriebenes Selbstvertrauen und ein spezifisches Kompetenzgefühl charakterisiert; d. h., sie glauben in der Lage zu sein, die Bestimmungen ohne Gefahr übertreten zu können. Allerdings sollte man nicht annehmen, dass mit Regelverletzungen gleichzeitig auch immer böse Absichten verbunden sind. Vielmehr können sie auch als Irrtümer von Personen angesehen werden, die die Konsequenzen ihres Tuns nicht überblicken bzw. falsch einschätzen oder glauben, dass diese Konsequenzen nicht eintreten, wenn sie die Situation »richtig« kontrollieren. Aufgrund solcher Einstellungen und Überzeugungen stellen allerdings Regelverletzungen die gefährlichste Kategorie menschlicher Fehlhandlungen dar.
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Kapitel 27 · Psychologie der Arbeitssicherheit
36% der Unfälle entsprechende Risken nicht erkannt. Nur bei 1% der Unfälle wurde bewusst ein Risiko eingegangen. Die Fehleranalyse von Wagenaar und Groeneweg (1987) zeigt noch einmal anschaulich, dass gezielte Regelverletzungen nur sehr selten auftreten. In der Mehrzahl der Unfälle sind sicherheitskritische Handlungen daher durch Versehen und Irrtümer verursacht worden und mit bestimmten Vorläufern assoziiert. Sicherheitskritische Verhaltensweisen sind nur schwierig zu verändern, wenn die Bedingungen unter denen sie entstehen und auftreten, nicht bekannt sind. Nach dem GEMS-Modell ist davon auszugehen, dass je nach Regulationsebene unterschiedliche psychologische Vorbedingungen wirksam werden. Im 7 Kasten »Beispielhafte
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Vorläufer von Fehlhandlungen auf der fertigkeits-, regel- und wissensbasierten Ebene« werden exemplarisch besonders
typische psychologische Vorläufer für fehlerhaftes bzw. sicherheitskritisches Verhalten beschrieben. Generell gilt, dass die Ausführung von Aufgaben unter Zeitdruck sowie bei unzureichender Kommunikation oder unzureichen-
dem Wissen Bedingungen sind, die mit sehr hoher Wahrscheinlichkeit zu fehlerhaftem Handeln auch bei noch so guten Absichten führen. Auch Aufgaben, in denen ein wenig geübter Wechsel von unteren zu höheren Regulationsebenen gefordert ist, wie z. B. bei komplexen Aufgaben, die selten zu bearbeiten sind, sind ebenfalls sehr fehleranfällige Handlungskontexte. In solchen Fällen ist man oft besser beraten, wenn Spezialistenteams für die Aufgabenausführung ausgebildet oder beauftragt werden (z. B. für hochkomplexe Instandsetzungsaufgaben). Der praktische Wert von Analysen psychologischer Vorläufer fehlerhaften Handelns ist allerdings begrenzt. Da es sich bei diesen Vorläufern überwiegend um dynamische mentale Aspekte bzw. Faktoren handelt, sind sie nur schwierig zu erfassen und effektiv bzw. zuverlässig zu beeinflussen. Vielversprechender sind Maßnahmen, die Bezug nehmen auf die objektiveren fehlerverursachenden Bedingungen der Handlungssituation. Auf entsprechende Analyse- und Interventionskonzepte gehen wir im nächsten Abschnitt ein.
Beispielhafte Vorläufer von Fehlhandlungen auf der fertigkeits-, regel- und wissensbasierten Ebene Vorläufer von Fehlhandlungen auf der fertigkeitsbasierten Ebene 4 Bei der Ausführung einer neuen Handlung treten Interferenzen durch ein sehr ähnliches hochautomatisiertes Handlungsschema auf: z. B. Vorbereiten eines neuen Gehäuserohlings für die maschinelle Bearbeitung, der sich nur wenig aber in einem Punkt bedeutsam von einem alten Gehäusetyp unterscheidet 4 Ausführung von zwei Handlungsschemata gleichzeitig: z. B. gleichzeitig auf die Steuerung eines Eingriffs und die Überwachung eines Systemparameters achten zu müssen
Vorläufer von Fehlhandlungen auf der regelbasierten Ebene 4 Die Situation ist schwer zu klassifizieren, weil verschiedene missverständliche oder zu viele Signale vorliegen: z. B. wenn Störungsmeldungen einer Maschine nicht eindeutig zu interpretieren sind und relevante Einzelinformationen an verschiedenen Displays auftauchen
4 Die Situation ähnelt in hohem Maße anderen Situationen, für die »dominierende« Handlungsregeln existieren: z. B. beim plötzlichen Auftauchen von Nebelschwaden auf der Straße scharf zu bremsen
Vorläufer von Fehlhandlungen auf der wissensbasierten Ebene 4 Selektivität der Informationsverarbeitung: z. B. wenn bei einem Feuer in einem Kaufhaus die Feuerwehr sich nur auf die Löschung des Brandes konzentriert, die Rettung der Kunden aber vernachlässigt 4 Präferenz für bestätigende Informationen: z. B. bei einer Fehlersuche in einem technischen System die Störungssymptome nur im Sinne einer bevorzugten Ursachenhypothese zu interpretieren und zu suchen 4 Unterschätzung der Komplexität: z. B. die Unzufriedenheit der Mitarbeiter nur auf die schwierigen und sehr fordernden Aufgaben zurückzuführen, die mangelnde Unterstützung der Mitarbeiter bei der Aufgabenbewältigung und weitere Faktoren aber nicht zu berücksichtigen
501 27.3 · Systemsicherheit und Sicherheitskultur
27.3
Systemsicherheit und Sicherheitskultur
Sicherheit beinhaltet nicht nur die Gewährleistung von Arbeitssicherheit, sondern ist auch in Zusammenhang mit Aspekten der Systemsicherheit zu betrachten (Fahlbruch & Wilpert, 1999). Sicherheit ist somit mehr als das Verhüten von Unfällen. Es kann auch als Merkmal eines gesamten Organisationssystems verstanden werden. Dabei geht es im Kern um eine präventionsorientierte Sicherheitsarbeit. Dies kommt im Begriff der Systemsicherheit zum Ausdruck. Diese Betrachtungsweise wird insbesondere auf komplexe Systeme bzw. Organisationen mit einem hohen Gefährdungspotenzial angewandt. Beispiele für solche Systeme sind die zivile Luftfahrt, Kernkraftwerke oder chemische Anlagen. Durch bestimmte Eigenschaften solcher Systeme (z. B. die enge Kopplung der Subsysteme miteinander und die Komplexität des Gesamtsystems) kann es trotz strenger technischer und organisatorischer Sicherheitsvorkehrungen immer wieder zum Systemversagen kommen. Aufgrund der weitreichenden Konsequenzen, die Systemunfälle in solchen Kontexten haben können, reicht es somit nicht aus, »nur« potenzielle Gefahren bei der Arbeit und ihre Folgen zu analysieren, sondern es gilt, sich Gedanken darüber zu machen, wie die Sicherheit solcher – aber auch anderer – Systeme aktiv durch Leistungen des Managements, der Führungskräfte und der Beschäftigten »erzeugt« werden kann. Systemsicherheit ist somit nicht nur ein Zustand, sondern darüber hinaus als »Leistung« eines organisationalen Systems anzusehen, das bestimmte Sicherheitskriterien erfüllen sollte (z. B. sicherheitsförderlicher Führungsstil, systematische Auswertung von Fehlhandlungen und Beinaheunfällen etc.). Definition Systemsicherheit ist die Eigenschaft komplexer Systeme, die es dem System gestattet, ohne größere Zusammenbrüche unter vorgegebenen Bedingungen und mit einem Minimum unbeabsichtigten Kontrollverlusts oder Schadens für die Organisation und die Umwelt zu funktionieren. (Fahlbruch & Wilpert, 1999, S. 56)
Bei der Analyse großer Systemzusammenbrüche wie Kernkraftwerksunfällen (z. B. Tschernobyl oder »Three Miles Island«), Chemieunfällen (z. B. Bhopal) oder Schiffs- und Flugzeugunfälle (z. B. das Sinken der »He-
rald of Free Enterprise«) zeigte sich, dass neben technischem Versagen und Bedienfehlern auch organisationale und Umweltfaktoren wesentlich zum Entstehen der genannten Katastrophen beigetragen haben. Zunehmend richtet sich daher auch das Interesse der Forschung auf die Analyse des Beitrags des Managements und der Organisationsumwelt bei solchen Systemunfällen. Die entsprechenden wissenschaftlichen Ansätze lassen sich in vier Gruppen einteilen: 4 Ansätze organisationaler Faktoren, 4 Sicherheitskulturansätze, 4 »High Reliability Organisations« und 4 interorganisationale Ansätze. Im Folgenden wird auf die beiden erstgenannten Ansätze etwas genauer eingegangen, während die letzten beiden Ansätze nur kurz im Verlauf der Darstellung charakterisiert werden. 27.3.1
Ansätze organisationaler Faktoren
Systemsicherheit wird in Systemen mit hohem Gefährdungspotenzial zunächst durch umfangreiche Sicherheitsvorkehrungen auf unterschiedlichen Ebenen gewährleistet. Diese Sicherheitsvorkehrungen bzw. -barrieren (»defences«) beinhalten technische Sicherheitseinrichtungen (z. B. Alarmschaltungen), organisatorische Sicherheitsregelungen (z. B. Vorschriften für eine sichere Systemführung) und ausbildungsbezogene Maßnahmen (z. B. zur Erhöhung des Sicherheitsbewusstseins). Das »Swiss Cheese Model« von Reason (1997) geht davon aus, dass Systemunfälle in solchen Organisationen vor allem dann entstehen, wenn die oben genannten Sicherheitsbarrieren in Kombination versagen. Zur Erklärung dieser Art des Systemversagens zieht Reason (1997) die Metapher eines Schweizer Käses heran (. Abb. 27.4). Die unterschiedlichsten Sicherheitsvorkehrungen können leider nicht perfekt umgesetzt und gewährleistet werden (z. B. fallen technische Sicherheitsvorkehrungen aus oder es werden Regeln für eine sichere Systemführung vom Bedienpersonal nicht eingehalten). Dies entspricht den Scheiben eines löcherigen Schweizer Käses im Bild. Solange Ausfälle nur auf einer Ebene der Sicherheitsvorkehrungen auftreten, aber auf den anderen Ebenen greifen, kann die Systemsicherheit trotzdem gewährleistet werden (»defences in depth«). Fallen die Sicherheitsvorkehrungen durch eine Verkettung un-
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Kapitel 27 · Psychologie der Arbeitssicherheit
. Abb. 27.4. Schematische Darstellung des »Swiss Cheese Model«. (Nach Reason, 1997)
© Managing the risks of organizational accidents, Reason, J., Burlington: Ashgate
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glücklicher Umstände jedoch auf mehreren Ebenen aus, führt dies – wenn auch selten – zu einem Systemversagen, was allerdings weitreichende Konsequenzen hat. Im Bild bzw. der Metapher wird dies anhand des durchgehenden Pfeils durch die Löcher der Sicherheitsbarrieren auf allen Ebenen gekennzeichnet. Reason (1997) geht außerdem davon aus, dass das Versagen der Sicherheitsbarrieren durch zwei Typen von Fehlern entsteht: aktive und latente Fehler. Aktive Fehler sind Fehlhandlungen, die von Operateuren direkt im Ar-
beits- bzw. Produktionsprozess an der Mensch-Maschine-Schnittstelle begangen werden (z. B. Versehen, Irrtümer etc. im Sinne sicherheitskritischer Verhaltensweisen; 7 Abschn. 27.3). Latente Fehler werden hingegen zeitlich und räumlich weit entfernt von der Unfallentstehung begangen (z. B. werden Wartungs- oder Instandhaltungsprozeduren fehlerhaft ausgeführt oder bereits bei der Entwicklung des Systems wurden entsprechende Konstruktionsfehler angelegt; für ein Beispiel 7 Kasten »Das Unglück der ›Herald of Free Enterprise‹ «).
Das Unglück der »Herald of Free Enterprise« als Beispiel für einen Systemunfall Die »Herald of Free Enterprise«, eine Fähre mit Bugund Heckklappen knapp über der Wasserlinie, die das schnelle Be- und Entladen des Schiffes im Hafen ermöglichten, wurde im Liniendienst der Reederei Townsend Thoresen zwischen Zeebrügge und Dover eingesetzt. Um die Stillstandszeiten im Hafen und damit die Kosten zu minimieren, war es gängige Praxis, die Bugklappen erst nach dem Ablegen auf dem Weg zur Hafenausfahrt zu schließen. Als das Schiff am 6. März 1987 um ca. 18:20 Uhr mit 459 Passagieren und 80 Besatzungsmitgliedern sowie 81 PKW und 38 LKW an Bord den Hafen von Zeebrügge in Richtung Dover verließ, geschah dies jedoch nicht. Nach der Hafenausfahrt wurde das Schiff beschleunigt. Bei leichtem Seegang drang schnell eine große Menge Wasser durch die offenen Bugklappen in das Schiff ein. Durch die Wassermenge und die verrutschende Ladung geriet das Schiff sehr schnell in eine
instabile Lage, neigte sich nach Backbord und kenterte innerhalb von 2 Minuten. Beim Kentern lief die »Herald of Free Enterprise« auf eine Sandbank in etwa 9 m Tiefe auf und blieb auf der Backbord-Seite liegen, sodass sie nicht komplett unterging. Mithilfe der schnell eintreffenden Rettungsmannschaften und den noch handlungsfähigen Besatzungsmitglieder konnten mehr als 350 Menschen aus dem Schiff gerettet werden. Für mindestens 188 Menschen kam jedoch jede Hilfe zu spät. Den Untersuchungsergebnissen (Department of Transport, 1987) zufolge waren an dem Unglück als unmittelbare Ursachen folgende Faktoren beteiligt: 4 Die Bugklappen wurden beim Auslaufen der Fähre nicht geschlossen, da der dafür verantwortliche Bootsmann in seiner Kabine schlief. Da die Bugklappen von der Brücke aus nicht zu sehen waren und es auch keine Kontrollleuchten gab, die den Verantwortlichen auf der Brücke die Schließung der Klap-
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503 27.3 · Systemsicherheit und Sicherheitskultur
pen hätten bestätigen können, wurde die offene Bugklappe nicht von den verantwortlichen Personen auf der Brücke bemerkt. Allerdings war es Aufgabe des Oberbootsmannes, das Schließen der Bugklappe zu kontrollieren. Der Oberbootsmann hatte sich laut Vorschrift aber während des Auslaufens auch auf der Brücke aufzuhalten, weshalb er die Kontrolle der Bugklappen einem Bootsmann übertrug. Dieser hatte sich aber während des Hafenaufenthalts schlafen gelegt und wurde durch das Signal zur Abfahrt des Schiffes nicht geweckt. Hierdurch kümmerte sich keiner um das Schließen der Bugklappe. 4 Das offene Bugtor allein hätte auch bei voller Fahrt das Schiff mit aller Wahrscheinlichkeit nicht zum Kentern gebracht, da die Bugwelle normalerweise nicht an die Unterkante des Autodecks heranreicht. In der Vergangenheit fuhren Schiffe der Reederei auch mit offenen Bugtoren, ohne dass dies zu Unfällen führte. Um im Hafen von Zeebrügge mit seinen niedrig liegenden Laderampen festmachen zu können, musste die »Herald of Free Enterprise« allerdings die Ballasttanks fluten, um es auf die Höhe der Hafenanlagen abzusenken. Durch den dadurch verursachten Tiefgang des Schiffes entstand während der Fahrt eine Sogwirkung, die das Schiff weiter nach unten zog und erst so den Wassereintritt im Autodeck ermöglichte. Das Schiff war außerdem überladen, was den Tiefgang zusätzlich verstärkte. 4 Das schnelle Eindringen und Ausbreiten des Wassers auf dem Autodeck der »Herald of Free Enterprise« (200 t pro Minute) wurde außerdem dadurch begünstigt, dass das Deck nicht mit wasserdichten Trennwänden (Schotten) unterteilt war. Dies führte sehr schnell zu einer gefährlichen Instabilität des Schiffs, das infolge das Kentern auslöste. Als mittelbare oder latente Fehler, die das Unglücks mit verursacht haben, können folgende Aspekte laut Untersuchungsbericht (Department of Transport, 1987) genannt werden: 4 Ein zentraler latenter Fehler bzw. mittelbarer Ursachenfaktor des Unglücks waren unklare und nicht an der Sicherheit des Schiffes orientierte Aufgabenverteilungen und Verantwortlichkeiten sowohl bei den Offizieren als auch der Mannschaft des
Schiffes. So konnte es geschehen, dass die Abwesenheit des Bootsmanns von keinem der anderen Verantwortlichen entdeckt wurde. Es wurde darüber hinaus nicht ausreichend durch Regularien sichergestellt, dass das Schiff die Laderampe bzw. den Hafen nicht mit einer offenen Bugklappe verließ. 4 Verstärkt wurden die Fehler bei der Aufgabenausführung außerdem durch eine mangelnde Kommunikation zwischen dem Kapitän, seinen Offizieren und dem Rest der Mannschaft. So wurde vor Abfahrt des Schiffes nicht durch ein entsprechendes Meldesystem sichergestellt, ob das Schiff tatsächlich abfahrbereit ist. Lagen keine gegenteiligen Meldungen in Bezug auf die Abfahrtbereitschaft vor, wurde routinemäßig davon ausgegangen, dass das Schiff fertig zum Ablegen und Verlassen des Hafens ist. Dies widerspricht allerdings allen Regeln einer sicheren Schiffsführung. 4 Ein weiterer sicherheitskritischer Faktor bestand in dem hohen Zeitdruck, dem sich die gesamte Mannschaft beim Beladen und Verlassen der Rampe ausgesetzt sah. Dies führte beispielsweise dazu, dass der verantwortliche Offizier des Schiffes das Autodeck in der Regel vor Beendigung des Verladevorgangs verließ, um zur Abfahrt aus dem Hafen »rechtzeitig« auf der Brücke des Schiffes zu sein. Der Zeitdruck wurde außerdem durch die Verfügbarkeit nur einer Laderampe in Zeebrugge verstärkt. 4 Darüber hinaus lassen sich auch beim Management der Reederei wesentliche Beiträge zur Verursachung des Unglücks feststellen. Ein grundlegendes Problem bestand vor allem darin, dass die verantwortlichen Manager kein professionelles Verständnis darüber entwickelt hatten, was ihre Aufgaben in Bezug auf die Gewährleistung eines sicheren Fährbetriebs sind (z. B. in Bezug auf die Überwachung der Einhaltung sicherer Betriebspraktiken). Beispielhaft wird dies an einem Beschluss einer Leitungsrunde der Reedereigeschäftsführung deutlich. Bei einer Diskussion darüber, wie die Aufgaben der ersten Offiziere der Fährschiffe zu definieren seien, wurde dem Argument gefolgt, dass die Aufgaben dieser Position nicht festgelegt werden sollten, sondern dass man diesen den Raum lassen sollte, sich aus den Erfordernissen heraus zu entwickeln.
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Kapitel 27 · Psychologie der Arbeitssicherheit
Solche latenten Fehler ruhen unbemerkt wie Krankheitsherde im System (z. B. die mangelnde Kommunikation zwischen Kapitän und Mannschaft der »Herald of Free Enterprise«, wodurch nicht festgestellt wurde, dass das Schiff mit offener Bugklappe den Hafen verließ) und wirken sich zunächst nicht oder nur indirekt auf das System aus. Hierbei handelt es sich u. a. um fehlerhafte Entscheidungen des Managements (z. B. zu geringe Personalkapazitäten für sicherheitskritische Bereiche), Mängel im Linienmanagement (z. B. mangelndes Thematisieren von Sicherheitsfragen in den Arbeitsteams durch deren Leiter) und psychologische Vorläufer sicherheitskritischer Verhaltensweisen (7 Abschn. 27.2). Erst die Kombination aktiver und latenter Fehler in Zusammenhang mit lokalen Umständen schwächen das System so weit, dass es zum Versagen der Sicherheitsbarrieren und zum Systemunfall kommt (z. B. führte die unklare Aufgabenverteilung zum »Vergessen« des Schließens der Bugklappen; dies hatte wiederum das Fluten des mittleren Decks der »Herald of Free Enterprise« zur Folge, wodurch eine gefährliche Instabilität und schließlich das Kentern des Schiffes verursacht wurde). Latente Fehler lassen sich in vielen Fällen durch systematische Analysen identifizieren, wenn man weiß, welche Bedingungen zu Unfällen in bestimmten Systemen führen bzw. welcher Art solche Fehler generell sind. Vor dem Hintergrund vielfältigster Unfallanalysen haben Wagenaar, Hudson und Reason (1992) Manifestationen latenter Fehler in elf generelle Fehlertypen kategorisiert und detaillierter beschrieben (7 Übersicht).
Anhand dieses Kategoriensystems wurden Analyseinstrumente (Fragebogen und Checkliste) entwickelt, die zur Identifizierung entsprechender latenter Fehler geeignet sind. Anhand weiterer Befragungen von Operateuren und Teamführern in unterschiedlichen Anwendungsfeldern (z. B. zu Sicherheitsfragen auf Ölfördertürmen) konnten die genannten Fehlertypen empirisch bestätigt werden. Weitere Validierungsstudien zeigen außerdem, dass anhand der Anzahl und Art der identifizierten latenten Fehler tatsächlich bestimmte Unfallprofile der Systeme vorhergesagt werden können (Wagenaar & Hudson, 1998). Der interorganisationale Ansatz stellt schließlich eine Ausweitung der Ansätze organisationaler Faktoren dar. Hierbei wird dem wechselseitigen Einfluss aller an der Sicherheit Beteiligten Rechnung getragen. Allerdings existiert nur für den Bereich der Kerntechnik eine entsprechende Konkretisierung und Anwendung dieses Ansatzes. Mithilfe des interorganisationalen Ansatzes wird erfasst, welche gegenseitigen Abhängigkeiten zwischen Aufsichtsbehörden, Gutachtern, Forschungsinstituten, Energieversorgungsunternehmen und Kernkraftwerken bestehen und wie diese die Sicherheit beeinflussen (Bamberg & Fahlbruch, 2004). 27.3.2
Sicherheitskulturansätze
Der Begriff Sicherheitskultur wurde im Zusammenhang mit der Verbesserung der Sicherheit von Kernkraftwerken in Folge der Tschernobyl-Katastrophe entwickelt.
Generelle Fehlertypen (nach Wagenaar et al., 1992) 4 Hardwareschwächen (z. B. Vorhandensein veralteter Geräte in Bezug auf Sicherheitsstandards) 4 Unzureichende Ergonomie (z. B. zu viele falsche Alarme) 4 Unzureichende Wartungsprozeduren (z. B. Fehlen kontinuierlicher Wartungsintervalle) 4 Unzureichende Arbeitsprozeduren (z. B. Erfordernis zum Improvisieren bei sicherheitsrelevanten Vorgängen) 4 Unzureichende Pflege der Gesamtanlage (z. B. fehlende Inventarisierung von wichtigen Geräten) 4 Inkompatible Zielvorgaben (z. B. mit der Sicherheit unvereinbare Systemziele)
4 Unzureichende Kommunikation (z. B. fehlende Erreichbarkeit von wichtigen Personen in Notfällen) 4 Schlechte organisationale Strukturen (z. B. fehlende Auswertung von Unfällen und Beinaheereignissen) 4 Ineffektives Training der Operateure (z. B. fehlende Auffrischung des Sicherheitstrainings bei Operateuren) 4 Fehler fördernde Bedingungen (z. B. Auftreten häufiger Störungen bei wichtigen Routineprozeduren) 4 Unzureichende Sicherheitsstandards (z. B. fehlende Alarmpläne oder Notfallübungen)
505 27.3 · Systemsicherheit und Sicherheitskultur
Eine der ersten Konzeptionen ist die einer Arbeitsgruppe der Internationalen Energie-Aufsichtbehörde (INSAG), die wesentliche Sicherheitsprinzipien für Kernkraftwerke zusammenfasst. Die INSAG (1991) definiert Sicherheitskultur als jene Verbindung von Merkmalen und Einstellungen in Organisationen und den sie bildenden Individuen, die mit höchster Priorität den Sicherheitsfragen in kerntechnischen Anlagen die ihrer Bedeutung entsprechende Aufmerksamkeit widmet. Sicherheitskultur wird dabei als systemumfassendes Konzept der Verantwortlichkeit auf drei Ebenen aufgefasst: 4 Verantwortlichkeit der Politik (z. B. die Verantwortlichkeit der Regierung und ihrer Aufsichts- und Kontrollbehörden, die Festlegung der gesetzlichen Grundlagen und allgemeinen Sicherheitsprinzipien etc.), 4 Verantwortlichkeit des Managements (z. B. durch die Festlegung der innerbetrieblichen Verantwortlichkeiten, die Bestimmung und Kontrolle der Sicherheitspraktiken, die Personalentwicklung in Sicherheitsfragen etc.), 4 Verantwortlichkeit des Personals bzw. der Individuen (z. B. eine kritische Haltung in Bezug auf Sicherheitsmängel, sorgfältiges und umsichtiges Handeln, regelmäßige Kommunikation in Sicherheitsfragen etc.). Grote und Künzler (1996) definieren Sicherheitskultur vor dem Hintergrund eines theoretisch fundierten Verständnisses von Organisationskultur (gemäß dem DreiEbenen-Ansatz von Schein, 1995; 7 Kap. 9) als Gesamtheit der von der Mehrheit der Mitglieder einer Organisation geteilten sicherheitsbezogenen Grundannahmen und Normen, die ihren Ausdruck im konkreten Umgang mit Sicherheit in allen Bereichen der Organisation finden. Die Autoren unterscheiden dabei zwischen materiellen und immateriellen Merkmalen der organisationalen Sicherheitskultur. Unter materiellen Merkmalen sind die gemeinsame Optimierung von Technikeinsatz und Arbeitsorganisation, um Störungen am Entstehungsort besser steuern zu können, sowie die Verankerung der Sicherheit in der Aufbau- und Ablauforganisation zu verstehen. Bei den immateriellen Merkmalen sind insbesondere die von allen Organisationsmitgliedern geteilten Normen und Werte, die die Integration von Sicherheit in den Arbeitsprozess fördern, gemeint. Diese Definition verweist mit dem Bezug auf geteilte Normen und Werte indirekt auf soziale Vermittlungs- und Kommunikationsaspekte der Sicherheitskultur.
Diesen Aspekt der kollektiven Aneignung und Repräsentation von Sicherheitskultur hebt auch Wilpert (1991) hervor. Sicherheitskultur ist gemäß dem Autor das geteilte Bewusstsein und korrespondierende Verhalten aller Systemmitglieder, das die Sicherheit des Gesamtsystems fördert. Zudem macht Wilpert (1991) deutlich, dass Sicherheitskultur nicht an einzelne Teilsysteme (z. B. die Sicherheitsabteilung) delegiert werden kann, sondern als Leistung des Gesamtsystems zu betrachten ist. Sie bedürfe daher eines kontinuierlichen Prozesses organisationaler Entwicklung des Gesamtsystems, um bei allen Systemmitgliedern eine mentale Repräsentation über die Rolle der Sicherheit als bedeutendes Organisationsziel und das entsprechende Verhalten zu erreichen. Allerdings sollte das Konzept der Sicherheitskultur neben den kognitiven und behavioralen Komponenten auch strukturelle Aspekte der Organisation berücksichtigen (z. B. Verteilung von Verantwortlichkeiten in Bezug auf Sicherheitsaspekte im Rahmen der Führungsstruktur). Zur Entwicklung und Umsetzung einer Sicherheitskultur weist Reason (1997) vor allem auf folgende vier Merkmale bzw. Aspekte im Sinne einer gestaltbaren organisationalen Kultur hin (7 Kap. 11): Berichtskultur. Hierbei geht es darum, ein funktionieren-
des Berichtssystem für sicherheitsrelevante Vorfälle in der Organisation zu implementieren. Eine wichtige Voraussetzung dafür ist, dass ein organisationales Klima erzeugt wird, in dem die Mitarbeiter bereit sind, eigene Fehler einzugestehen, auch von Beinaheunfällen zu berichten und auf latente Risikofaktoren aufmerksam zu machen. Dies kann man beispielsweise durch folgende Maßnahmen erreichen: möglichst keine Sanktionierungen berichteter Fehlhandlungen vornehmen; die Berichte zu den kritischen Vorfällen von einer eigenen Abteilung – unabhängig von bestimmten Leitungsstrukturen – sammeln und analysieren lassen; Vertraulichkeit im Umgang mit den Berichten zusichern und ein unkompliziertes Verfahren zur Erstellung der Berichte zur Verfügung stellen. Gerechte Vertrauenskultur. Eine effektive Berichtskultur
ist auch davon abhängig, dass klar nachvollziehbar ist, welches Verhalten sanktioniert wird und welches nicht. Nicht jedes sicherheitskritische Verhalten kann von einer Organisation ohne Konsequenzen hingenommen werden (z. B. bei Fehlhandlungen unter Alkoholeinfluss), sonst verliert sie an Glaubwürdigkeit. Zu einer Sicherheitskultur gehören somit auch Transparenz und ein gerechtes Sanktions-
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Kapitel 27 · Psychologie der Arbeitssicherheit
system dazu, was akzeptables und inakzeptables Verhalten im Umgang mit Sicherheitsfragen ist. Andererseits müssen Mitarbeiter aber auch Vertrauen darin haben können, dass eingestandene Fehlhandlungen nicht sanktioniert werden, wenn sie nicht vorsätzlich und leichtfertig begangen wurden und nicht gegen geltendes Recht verstoßen. Flexible Kultur. Hiermit ist die Fähigkeit des organisati-
onalen Systems verbunden, sich bei Gefahrensituationen flexibel zu verhalten und mit den Anforderungen umgehen zu können. Konkret bedeutet dies vor allem, dass
trotz einer generellen hierarchischen Führungsorganisation in Phasen mit erhöhtem Sicherheitsrisiko die Führungsverantwortung auf die Experten vor Ort verlagert wird (z. B. die Schichtführer oder Teamleiter einer Bedienmannschaft eines Kernkraftwerks). Auch weitreichende Entscheidungen werden in solchen Situationen somit nicht hierarchisch getroffen, sondern von den Experten vor Ort. Dies ist eine wesentliche Erkenntnis der Analysen charakteristischer Merkmale hoch zuverlässiger und sicherer Organisationen (7 Kasten zu »Kennzeichen von High Reliability Organisations«). Eine wichtige
Kennzeichen von High Reliability Organisations
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In seiner Analyse von industriellen Systemen mit hohen Gefährdungspotenzialen ging Perrow (1987) von der zentralen Annahme aus, dass es in solchen Systemen aufgrund bestimmter Systemeigenschaften (Komplexität des Gesamtsystems und enge Kopplung der Subsysteme etc.) zwangsläufig zu Systemunfällen kommen muss. Im Unterschied zu Perrows pessimistischer Sichtweise gehen die Entwickler des Ansatzes der High Reliability Organisations (HRO) (Roberts, Rousseau & La Porte, 1994) jedoch davon aus, dass Sicherheit und Zuverlässigkeit durch organisationale Gestaltungsmaßnahmen gewährleistet werden können. Mithilfe von jeweils mehrmonatigen Befragungen, Interviews und Beobachtungen untersuchten sie Beispiele für HRO wie Flugzeugträger, Kernkraftwerke und Flugsicherungszentren, um Faktoren zu identifizieren, die diese Art von Organisationen besonders zuverlässig machen und sie von anderen Organisationen unterscheiden. Alle drei Organisationstypen zeichneten sich durch die Handhabung sehr komplexer und risikoreicher Technologien aus. Bei den untersuchten Organisationen konnte aber gleichzeitig eine äußerst geringe Anzahl von Störfällen und Unfällen in den vorangegangenen Jahren festgestellt werden. Anhand ihres aufwändigen Forschungsansatzes zeigte die HROForschungsgruppe um Roberts, dass HRO sich insbesondere durch folgende Merkmale auszeichnen: Das Ziel der Prozesszuverlässigkeit ist dem Ziel der Produktzuverlässigkeit gleichgesetzt oder sogar übergeordnet. Die HRO konzentrieren sich auf Ersteres, weil ohne Prozesszuverlässigkeit eine Zuverlässigkeit
des Systems nicht erreicht werden kann. Darüber hinaus wird von HRO erwartet, dass sie in einem hohen Tempo über lange Zeiträume handeln und diese Fähigkeit fortlaufend aufrechterhalten können (z. B. Flugsicherungszentren). Die dabei zu bewältigenden Risiken bzw. Gefahren sind beträchtlich. Das von Perrow (1987) postulierte Dilemma zwischen Anforderungen einer zugleich zentralen und dezentralen Organisation bewältigen HRO durch eine flexible Anpassung der Arbeitsorganisation an die jeweilige Betriebssituation und ihr Risikopotenzial. Die Fallstudien zeigten, dass HRO im Routinebetrieb stark hierarchisch organisiert sind und durch formalisierte Abläufe gesteuert werden. In Zeiten mit einem hohen Arbeitsvolumen und weiteren schwierigen Bedingungen (z. B. Schlechtwetterphasen bei der Flugsicherung) werden die Arbeitsprozesse jedoch aufgabenbezogen und dezentral gesteuert und strukturiert. In Notfallsituationen – als dritter Organisations- bzw. Operationsmodus – stand die Befolgung standardisierter und hochtrainierter Prozeduren im Vordergrund. Voraussetzung für solch eine flexible Anpassung der Arbeitsabläufe an entsprechende Betriebsbedingungen ist eine Organisationskultur, die in Phasen einer notwendigen Dezentralisierung die Ordnung und sichere Regelung der Abläufe aufrechterhält und damit wesentliche Funktionen der zentralen Systemorganisation ersetzt. Weitere Kennzeichen von HRO sind die Förderung eines kontinuierlichen Lernens aus Betriebserfahrungen sowie Belohnungsmechanismen für Fehlerentdeckung und Fehlermeldung, die ebenfalls in bedeutsamem Maße zur Zuverlässigkeit und Sicherheit solcher Systeme beitragen.
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Voraussetzung dafür ist allerdings, dass organisationsweit eine homogene Entscheidungs- und Führungsphilosophie vorhanden ist und gelebt wird. Lernkultur. Schließlich sollte eine Sicherheitskultur auch
durch eine Lernkultur geprägt sein, d. h. die Bereitschaft und Fähigkeit die richtigen Schlussfolgerungen aus sicherheitsrelevanten Informationen (z. B. des Berichtssystems) zu ziehen und die notwendigen Reformen bzw. Maßnahmen umzusetzen und zu implementieren. Organisationales Lernen beinhaltet, dass auf allen Ebenen gelernt wird, d. h. auch alle Führungsebenen lern- und veränderungsbereit sein müssen, dass auf allen Ebenen eine Bereitschaft zu einer selbstkritischen Reflexion des eigenen Verhaltens vorhanden sein sollte und dass bei Unfall- und Vorfallanalysen auch höhere Managementebenen einbezogen sowie die daraus entwickelten Schlussfolgerungen zügig umgesetzt werden sollten. 27.3.3
Instrumente zur Implementierung einer Sicherheitskultur und zur Erhöhung der Systemsicherheit
Die Gestaltung einer effektiven Sicherheitskultur ist von einer Reihe unterschiedlicher Faktoren und Gestaltungselemente abhängig. Neben den bereits genannten Aspekten weist Reason (1997) darauf hin, dass sich eine effektive Sicherheitskultur auch in der Berücksichtigung von Sicherheitsfragen in der Führungsstruktur und -kultur einer Organisation widerspiegelt. Hierbei deutet der Autor auf mögliche Indikatoren in Form von Fragen hin, z. B.: 4 Welche Vorstandsmitglieder tragen Verantwortung für Sicherheitsfragen? 4 Werden Sicherheitsaspekte bei den Vorstandstreffen regelmäßig thematisiert? 4 Wer analysiert und informiert über sicherheitsrelevante Aspekte in der Organisation und auf welcher Führungsebene ist diese Person, Gruppe bzw. Abteilung positioniert? 4 Sind Führungspositionen, die sich mit dem Management von Sicherheitsfragen befassen, ein Sprungbrett für weitere Karriereschritte oder ist es eher eine Karrieresackgasse? Die Entwicklung und zielgerichtete Gestaltung einer Sicherheitskultur sollte außerdem eine systematische Analyse der organisationalen Bedingungen und Aus-
gangssituation beinhalten. Hierzu existieren mittlerweile Mess- und Bewertungsinstrumente, die auch für die Evaluation von Entwicklungsmaßnahmen genutzt werden können. Büttner, Fahlbruch und Wilpert (1999) unterscheiden hier zwischen methodischen Ansätzen, die eher Sicherheitseinstellungen und Aspekte des Sicherheitsklimas in der Regel auf der Basis von Fragebogenverfahren erfassen und solchen, die explizit Sicherheitskultur anhand verschiedener Indikatorenlisten durch multimethodische Zugänge (Beobachtungen, Interviews, Befragungen) ermitteln. Ein Beispiel für die erste Gruppe stellt der Questionnaire of Employee Attitudes to Safety von Cox und Cox (1991) dar. Der Fragebogen, der im Rahmen eines Beratungs- und Entwicklungsprojekts zur Verbesserung der Sicherheitskultur in Unternehmen der Gasförderung und -verarbeitung in verschiedenen europäischen Ländern entwickelt wurde, thematisiert ausschließlich Einstellungen der Befragten zur Sicherheit in ihrem Unternehmen. Erfragt werden Einstellungen zu guten Sicherheitspraktiken, Einstellungen zur Sicherheitsphilosophie und -kultur des Unternehmens, Wahrnehmungen zur Sicherheitsverpflichtung des Unternehmens und Vorschläge zur Verbesserung der Einstellungen zur Sicherheit (offenes Antwortformat). Faktorenanalysen zur dimensionalen Struktur ergaben folgende Hauptfaktoren: 4 individuelle Skepsis (z. B.: Nicht alle Unfälle sind vermeidbar.), 4 Individuelle Verantwortung (z. B.: Die Arbeitsschutzkleidung sollte immer getragen werden.), 4 Sicherheit der Arbeitsumgebung (z. B.: Die Sicherheit am Arbeitsplatz ist in dieser Firma höher als in anderen.), 4 Effektivität der Sicherheitsvorkehrungen (z. B.: Die Mitarbeiter verstehen die Arbeitsprozeduren des Unternehmens.) und 4 individuelle Immunität (z. B.: Unfälle passieren nur den anderen.). Mithilfe dieses Instruments kann somit nur ein Teilaspekt der Sicherheitskultur ermittelt werden. Durch die Befragungsmethodik können aber repräsentative Erhebungen zum Ist-Stand oder Veränderungen der Sicherheitseinstellungen der Mitarbeiter in einem bzw. mehreren Unternehmen durchgeführt werden. Zielsetzung der sog. ASCOT-Leitlinien (IAEA, 1994) – ein Beispiel für den zweiten Verfahrenstyp – ist es, Grundlagen für die Beurteilung der Sicherheitskultur
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Kapitel 27 · Psychologie der Arbeitssicherheit
sowie für die Identifizierung von Verbesserungsmöglichkeiten in kerntechnischen Anlagen bereitzustellen. Die Leitlinien stellen eine Weiterentwicklung der INSAG-Richtlinien dar (7 oben) und konzeptualisieren Indikatoren der Sicherheitskultur auf drei Ebenen (Politik, Management und Individuum). Sie beziehen damit das gesamte System von Kontrollorganen bis hin zu den Operateuren in die Analyse mit ein. Insgesamt umfassen die Leitlinien 96 Fragenkomplexe, die entsprechend dem beschriebenen Mehrebenenansatz auf folgende Zielgruppen und Themen Bezug nehmen: 4 Regierung und ihre Organisationen (Verpflichtung der Regierung zur Sicherheit, Aufsichtsbehörden), 4 Betreiberorganisation, 4 Unternehmensebene (Sicherheitspolitik, Sicherheitspraktiken), 4 Werksebene (Sicherheit als Schwerpunkt, Festlegung von Verantwortlichkeiten, Managerauswahl, Sicherheitsüberprüfungen, Sicherheitstraining, Arbeitsbelastung, Sicherheitseinstellungen der Führungskräfte und Mitarbeiter), 4 Forschungsorganisationen (Forschungsbeitrag zur Sicherheitsanalyse), 4 Organisationen für die Konstruktion und Gestaltung ( Sicherheitsrichtlinien für die Konstruktion und Gestaltung, Prozesse zur Überprüfung der Konstruktion und Gestaltung). Jeder Fragenkomplex besteht aus mehreren Leitfragen und Schlüsselindikatoren zur Einschätzung der Antworten. Zur Durchführung der Analysen sind Interviews und Gespräche auf allen Ebenen des Systems (Politik, Management und Mitarbeiter) anhand der Leitlinien und Indikatorenliste zu führen. Ziel dieser Gespräche ist weniger die Bewertung der Indikatoren, vielmehr sollen Bereiche und Probleme aufgedeckt und besprochen werden, die einen Beitrag zur Verbesserung der Sicherheit leisten können. Das ASCOT-Konzept ist somit relativ offen gehalten, um partnerorientierte Gespräche mit einer internationalen und politisch sensiblen Zielgruppe (Kernenergie-Wirtschaft) führen zu können. Eine Standardisierung des Leitfadens für wissenschaftliche Zwecke ist daher auch nicht vorgesehen. Insgesamt stellt das Konzept einen durch seinen umfassenden Analyseanspruch durchaus beeindruckenden Ansatz dar, der allerdings spezifisch auf den Kontext der Kernenergie zugeschnitten ist und damit auf andere Anwendungskontexte nur begrenzt übertragen werden kann.
Ein weiteres Element zur Verbesserung der Systemsicherheit und des Umgangs mit sicherheitskritischen Ereignissen stellt das sog. Incident Reporting dar. Wie bereits im Gestaltungsansatz zur Sicherheitskultur von Reason (1997; 7 oben) deutlich wurde, sind entsprechende Reporting-Ansätze bedeutsame Elemente im Rahmen der Implementierung einer effektiven Sicherheitskultur. Incident-Reporting-Ansätze haben sich mittlerweile in vielen hoch technisierten und mit hohen Gefährdungspotenzialen verknüpften Arbeitsbereichen etablieren können (z. B. Luftfahrt, chemische Industrie, Kernkraftwerke, Medizin). Die Erfassung und Analyse von kritischen sicherheitsrelevanten Ereignissen stellt ein Instrument dar, um Schwachstellen in den Arbeitsabläufen hoch riskanter Arbeitssysteme zu entdecken und aus den aufgetretenen Fehlern zu lernen (Staender, 2003). Zielsetzung der Berichtssysteme ist somit nicht, anhand der Anzahl kritischer Ereignisse zu beurteilen, wie sicher oder unsicher ein System oder Unternehmen ist, oder diejenigen Personen ausfindig zu machen, denen die Zwischenfälle passieren. Es geht vielmehr darum, aus der Analyse der kritischen Ereignisse Hinweise für fehlerverursachende Faktoren zu erhalten und Konsequenzen zur Vermeidung gleicher oder ähnlicher Fehler und Probleme abzuleiten. Der Kerngedanke des Incident Reportings beruht auf der Annahme, dass die kritischen Ereignisse Hinweise dazu geben können, wie sich tatsächliche Unfälle entwickeln. Incidents oder kritische Ereignisse sind somit Vorfälle in einem Arbeitssystem, die zwar auf der Grundlage von menschlichen, technischen oder organisatorischen Fehlern entstanden sind und eine gefährliche Situation wiedergeben, die aber nicht zu Schäden oder Unfällen geführt haben. Man bezeichnet solche Situationen auch als Beinaheunfälle oder »near misses«. Solche Incidents treten häufiger auf als Unfälle und bieten damit eine breitere Datenbasis für eine Sicherheitsanalyse und für die Ableitung von präventiven Maßnahmen. Praktisch funktionieren solche Reporting-Systeme meist so, dass den Berichtenden – gewöhnlich in anonymer Form – Formulare oder Leitfäden zur systematischen Beschreibung des Vorfalls zur Verfügung gestellt werden, ohne nach persönlichen Details oder Betroffenen zu fragen. Die Fragen zielen auf eine detaillierte Beschreibung der Situationsbedingungen, des Vorgehens zur Bewältigung sowie der Konsequenzen des Vorfalls. Meist werden auch die daraus abgeleiteten Präventionsmaßnahmen erfragt. Im weiteren Verlauf wird der jeweilige Vor-
509 27.3 · Systemsicherheit und Sicherheitskultur
fall einer Plausibilitätsprüfung unterzogen und für eine weitere Analyse oder »Veröffentlichung« aufbereitet. Wichtige Voraussetzungen bzw. Rahmenbedingungen für ein funktionierendes Reporting-System sind die schon oben berichteten Aspekte, d. h., 4 dass Fehlhandlungen, sofern sie nicht gegen explizite Richtlinien verstoßen, nicht sanktioniert werden, 4 dass die Berichte in anonymisierter Form erhoben und behandelt werden, mindestens aber eine vertrauliche Behandlung zugesichert wird, 4 dass das Berichten über kritische Ereignisse freiwillig erfolgt, 4 dass kontinuierlich Rückmeldungen über die aus der Analyse von Vorfällen abgeleiteten Veränderungen und Verbesserungen gegeben werden. Der Nutzen von Incident Reporting Systemen besteht nicht nur darin, dass Hinweise zu unfall- bzw. fehlerverursachenden Faktoren und Systemschwachstellen ermittelt werden (Staender, 2003). Oftmals geben die Berichte auch Hinweise darüber, durch welche Strategien oder welche Kompetenzen ein Schaden in der Situation abgewendet werden konnte. Darüber hinaus tragen sie in einem potenziell risikoreichen Umfeld, in dem es lange zu keinen Unfällen mehr gekommen ist, dazu bei, dass bei den Nutzern dieser Systeme ein gewisser Grad an Wachsamkeit in Bezug auf sicherheitskritische Aspekte bzw. sicherheitsrelevantes Handeln aufrechterhalten wird. Abschließend sei darauf hingewiesen, dass der seltene Umgang mit Zwischenfällen in riskanten Arbeitsfeldern wie z. B. der Luftfahrt oder der operativen bzw. anästhesiologischen Medizin ebenfalls ein Sicherheitsproblem darstellt. Um sich Fähigkeiten für einen effektiven Umgang mit riskanten Zwischenfällen (z. B. bei der Narkoseführung im OP) anzueignen, reicht es somit in der Regel nicht aus, sich auf den Erwerb praktischer Erfahrungen mit Zwischenfällen, die im Rahmen der täglichen Arbeit (z. B. im OP oder bestimmten klinischen Ausbildungsphasen) erworben werden, allein zu verlassen. Zum einen ist die Auftretenshäufigkeit solcher Zwischenfälle relativ gering, sodass keine ausreichenden Erfahrungsmöglichkeiten für die Entwicklung entsprechender Kompetenzen gegeben sind. Zum anderen wird unerfahrenen Mitarbeitern in solchen Fällen die Verantwortung zur Bewältigung des Zwischenfalls nur selten überlassen, da Fehlentscheidungen und -reaktionen viel zu riskant sind und daher – wenn möglich – sehr schnell erfahreneren Personen übertragen werden. Auch das
schränkt die Lernmöglichkeiten in realen Fällen erheblich ein. Vor diesem Hintergrund wurden daher Trainingsansätze (z. B. in der Luftfahrt, bei Kernkraftwerken oder in der Anästhesiologie) entwickelt, um Fähigkeiten zum Zwischenfallmanagement anhand von simulierten Zwischenfallszenarien zu trainieren (vgl. Schaper, Bayer, Röhricht Graf & Grube, 2005; 7 Kap. 26). Hierzu benötigt man Simulatoren, die eine Nachbildung bzw. Modellierung sowie Standardisierung und Kontrolle der Trainingsbedingungen erlauben. Das Training des Zwischenfallmanagements im Rahmen solcher »Full-Scale«-Simulatoren dient vor allem folgenden Funktionen (vgl. Schaper, Schmitz, Graf & Grube, 2004): 4 dem Training des Managements seltener Ereignisse, 4 der Sensibilisierung für zwischenfallkritische Einstellungen und Verhaltensweisen (z. B. einen Zwischenfall unbedingt allein bewältigen zu wollen), 4 dem Erwerb und der Veränderung zwischenfallrelevanten Problemlöseverhaltens (z. B. auf Anzeichen für Notfälle frühzeitig zu reagieren und Führungsaufgaben in solchen Situationen zu übernehmen), 4 dem Training von situationsrelevanten Stressbewältigungsstrategien (z. B. durch das Delegieren von Aufgaben) und 4 dem Training notfallrelevanter Kommunikationsund Teamverhaltensweisen (z. B. Anweisungen präzise und direkt zu geben oder das geplante Vorgehen zur Notfallbewältigung laut mitzuteilen). Gegenstand des Trainings von Zwischenfallmanagementfähigkeiten z. B. in der Anästhesie sind in Anlehnung an Gaba, Fish und Howard (1998) meist eine Reihe von Verhaltensprinzipien, die sich nicht nur auf fachlich-medizinische Kompetenzen, sondern vor allem auch auf die spezifischen kognitiven, sozial-kommunikativen und emotional-motivationalen Anforderungen solcher Situationen beziehen; z. B. »Denke vorausschauend und handle planvoll!«, »Übernimm die Führungsrolle in Zwischenfallsituationen!« oder »Verteile die Arbeitslast und nutze alle zur Verfügung stehenden Ressourcen!«. Evaluationsstudien zeigen, dass mithilfe solcher Simulatortrainings zwischenfallrelevante Kompetenzen im Umgang mit solchen Situationen wirkungsvoll vermittelt werden können und damit auch die Systemsicherheit erhöhen (vgl. Schaper, Schmitz, Graf & Grube, 2004; zur Beschreibung eines entsprechenden Zwischenfallmanagementtrainings in der Anästhesie mithilfe eines »Full-Scale«-Simulators 7 Kap. 26).
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510
Kapitel 27 · Psychologie der Arbeitssicherheit
Zusammenfassung
27
4 Arbeitssicherheit beschäftigt sich mit den Gefahren und Gefährdungen in der Arbeitswelt und den Strategien, um diese abzuwenden bzw. zu bewältigen. 4 Arbeitsunfälle sind Ausdruck mangelnder Arbeitssicherheit und lassen sich meist auf mehrere Ursachen zurückführen, die nach personengebundenen, organisatorischen und technischen Unfallursachen klassifiziert werden können. 4 Zur Aufklärung und Verhütung von Unfällen ist ein systematisches Vorgehen erforderlich, das Schritte der Unfallanalyse, Ableitung von Schutzzielen, Planung und Durchführung von Maßnahmen sowie eine Erfolgskontrolle beinhaltet. 4 Unfallverhütungsmaßnahmen lassen sich einteilen in Maßnahmen zur Beseitigung der Gefahr, Trennung von der Gefährdung, Abschirmung oder Verringerung der Gefährdung sowie verhaltensbezogene Anpassung an die Gefährdung. 4 Individuelle Einflussfaktoren sicherheitskritischen Verhaltens sind das Alter, geringe Verträglichkeit, negative Affektivität, externale Kontrollorientierung sowie Neigungen zu aggressivem und impulsivem Verhalten. 4 Als organisationale Faktoren sicherheitskritischen Verhaltens wurden insbesondere Stresssituationen, hoher Leistungsdruck, eine ungünstig
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ausgeprägte Sicherheitskultur sowie unangemessene Teamnormen identifiziert. Das Handeln in gefährlichen Situationen wird durch die Wahrnehmung und Erkennung von Gefahren anhand von Gefahrenindikatoren und die Beurteilung von Risiken bzw. das daraus folgende Risikoverhalten geprägt. Arbeitsunfälle entstehen zu einem hohen Prozentsatz durch fehlerhaftes Handeln, wobei zwischen fertigkeitsbasierten, regelbasierten und wissensbasierten Fehlern sowie Regelverletzungen unterschieden wird. Systemsicherheit wird nicht nur als Zustand, sondern als Leistung eines organisationalen Systems verstanden, die aktiv durch bestimmte Führungsstrukturen und -praktiken erzeugt werden kann. Systemsicherheit in Systemen mit hohen Gefährdungspotenzialen wird insbesondere durch latente Fehler, die meist sicherheitsrelevante organisationale Schwachstellen betreffen, gefährdet. Eine effektive Sicherheitskultur kann durch ein funktionierendes Berichtssystem, ein gerechtes und transparentes Sanktionssystem sicherheitskritischen Verhaltens, die Fähigkeit zur flexiblen Anpassung an schwierige Prozessbedingungen sowie eine auf allen Ebenen entwickelte Lernkultur gestaltet werden.
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27
28
28 Wirkungen der Arbeit 28.1
Belastung, Beanspruchung und Stress
28.1.1 28.1.2 28.1.3
Belastung und Beanspruchung – 514 Stressoren, Stressreaktionen und Stress – 515 Definition von Stress – 515
28.2
Stressmodelle – 516
28.2.1 28.2.2 28.2.3
Reizorientierte Stressmodelle – Stress durch Belastungsfaktoren – 516 Reaktionsorientierte Stressmodelle – 517 Kognitive Stressmodelle – Das transaktionale Modell von Lazarus – 518
28.3
Moderatoren, Einflüsse und Bedingungen von Stress
28.3.1 28.3.2 28.3.3
Ressourcen zur Stressbewältigung – 518 Individuelle Unterschiede – 520 Balance von Ressourcen und Anforderungen
28.4
Spezifische Auswirkungen von Stress – 523
28.4.1 28.4.2 28.4.3
Kurzfristige und mittelfristige Auswirkungen von Stress Langfristige negative Auswirkungen von Stress – 524 Positive Wirkungen von Stress – 525
28.5
Stressbewältigung und Gesundheitsförderung – 526
28.5.1 28.5.2
Maßnahmen zur Verhaltensprävention – 526 Maßnahmen zur Verhältnisprävention – 528
28.6
Arbeit, Freizeit und Persönlichkeit – 529
28.6.1 28.6.2
Arbeit und Persönlichkeit – 529 Arbeit und Freizeit – 530
Literatur
– 532
– 514
– 522
– 523
– 518
514
Kapitel 28 · Wirkungen der Arbeit
> Beruf und Arbeit sind zentrale Faktoren unseres Lebens und haben großen Einfluss auf die Gestaltung des Alltags, indem sie ihn maßgeblich strukturieren und bestimmen. In der arbeitspsychologischen Forschung beschäftigt man sich seit langem mit der Bedeutung der Arbeit für den Menschen, ihren Wirkungen und Folgen. Die Frage, inwiefern sich eine ungesunde und risikoreiche Arbeitsumgebung negativ auf die Gesundheit auswirken kann, ist aber schon eine viel ältere und wurde insbesondere im Zuge der industriellen Revolution des 19. Jahrhunderts und ihren Folgen für das Arbeitsleben der Menschen aufgeworfen. Lag in den 60er und 70er Jahren des letzten Jahrhunderts der Fokus gesundheitsbezogener Überlegungen am Arbeitsplatz noch auf der Prävention von Unfällen und der Reduktion physischer Belastungen, zeigte sich in den letzten Jahrzehnten ein Wandel hin zur Betonung von arbeitsbedingten psychischen Belastungen und Erkrankungen (Buunk, de Jonge, Ybema & de Wolff, 1998). Arbeitsplatzunsicherheit, stetig zunehmende Anforderungen sowie steigender Zeit- und Leistungsdruck bestimmen den heutigen Arbeitsalltag und fordern von vielen Arbeitnehmern ihren Tribut. So geht seit den 70er Jahren der Krankenstand, also die Dauer der krankheitsbedingten Abwesenheit vom Arbeitsplatz, in Deutschland zwar stetig zurück (Busch, 2006). Gleichzeitig steigt aber der Anteil an psychischen Erkrankungen als Ursache für Arbeitsunfähigkeit stetig an. Im Vergleich zum Jahr 2000 stieg der durch psychische Erkrankungen verursachte relative Anteil der Arbeitsunfähigkeitstage um 20% und lag im Jahr 2006 an vierter Stelle der Ursachen für Arbeitsunfähigkeit (Lademann, Mertesacker & Gebhardt, 2006). Dennoch werden trotz objektiv gleicher Arbeitsbelastungen nicht alle Menschen auf gleiche Weise beeinträchtigt. Es stellt sich die Frage, warum manche Menschen unter bestimmten belastenden Umständen krank werden, andere hingegen nicht. In diesem Kapitel soll der Frage nachgegangen werden, wie sich Anforderungen der Arbeit auf die Gesundheit des Menschen auswirken. Der Fokus liegt hier insbesondere auf Stress als arbeitsbedingte psychische Belastungserscheinung sowie seinen Entstehungsbedingungen und gesundheitlichen Folgen. Weiterhin werden Präventionsmaßnahmen und Maßnahmen zur Gesundheitsförderung vorgestellt sowie Zusammenhänge zwischen Arbeit, Freizeit und Persönlichkeit genauer beleuchtet.
28
28.1
28.1.1
Belastung, Beanspruchung und Stress Belastung und Beanspruchung
In der neueren deutschsprachigen arbeitswissenschaftlichen Literatur werden die Begriffe Belastung und Stress häufig synonym verwendet, was nicht zuletzt durch den unscharfen Stressbegriff einige terminologische Unklarheiten mit sich bringt (Richter & Hacker, 1998). Da in diesem Kapitel auf Stress als eine Wirkung von Arbeit eingegangen wird, soll zunächst eine Abgrenzung des Stressbegriffes vom Belastungs- und Beanspruchungskonzept bzw. eine begriffliche Klärung dieser Konzepte vorgenommen werden.
Definition Nach Rohmert und Rutenfranz (1975) sind Belastungen allgemein objektive Faktoren und Größen (z. B. Lärm, Zeitdruck oder Störungen des Arbeitsablaufs), die von außen auf den Menschen einwirken und Auswirkungen im Menschen und auf den Menschen haben. Diese Auswirkungen werden als Beanspruchungen (z. B. in Form von Müdigkeit, Gereiztheit oder fehlerhaftem Arbeitsverhalten) bezeichnet. Genauer wurden die Begriffe der »psychischen Belastung« und »psychischen Beanspruchung« im Rahmen ihrer Normierung durch den Normenausschuss Ergonomie definiert, demzufolge psychische Belastung verstanden wird als »die Gesamt-
6
515 28.1 · Belastung, Beanspruchung und Stress
heit der erfassbaren Einflüsse, die von außen auf den Menschen zukommen und auf ihn psychisch einwirken« und psychische Beanspruchung verstanden wird als »die individuelle, zeitlich unmittelbare und nicht langfristige Auswirkung der psychischen Belastung im Menschen in Abhängigkeit von seinen individuellen Voraussetzungen und seinem Zustand« (vgl. Greif, 1991, S. 25).
Physiologisch betrachtet ist Beanspruchung durch die Aktivierung von Körperfunktionen und dadurch ausgelöste physiologische und endokrine Veränderungen wie erhöhte Hormonausschüttung, Blutdruck- und Pulsveränderungen etc. gekennzeichnet. Häufig wird Beanspruchung daher auch im Zusammenhang mit den allgemeinen Konzepten der Aktivierung (»arousal«) untersucht, indem z. B. durch Blutdruckmessungen oder Messungen der Hormonausschüttung Hinweise auf das Ausmaß der Beanspruchung identifiziert werden sollen. Beanspruchung kann sich körperlich, mental und auch emotional zeigen und bestimmte Funktionen des Körpers wie z. B. Muskel-, Wahrnehmungs-, Gedächtnis- und Entscheidungsfunktionen hemmen (Richter & Hacker, 1998). Gemäß der oben genannten allgemeinen Definition von Belastung und Beanspruchung können sehr unterschiedliche und vielfältige Umweltfaktoren als Belastungen bezeichnet werden, die Menschen auf irgendeine Weise beanspruchen und bei ihnen Reaktionen hervorrufen. Es wird dabei allerdings nicht spezifiziert, welcher Art diese Reaktionen sein können bzw. wie diese Reaktionen von den Personen selbst wahrgenommen werden. 28.1.2
Stressoren, Stressreaktionen und Stress
Wie Greif (1991) ausführt, wird in der deutschsprachigen Forschungsliteratur der Stressbegriff meist dem allgemeinen Belastungs- und Beanspruchungskonzept untergeordnet, wobei Stressoren und Stressreaktionen mit den Begriffen Belastungen und Beanspruchungen korrespondieren. Stressoren werden als externe und interne psychische Stimuli aufgefasst, die mit erhöhter Wahrscheinlichkeit zu Stressreaktionen in Form von psychischen Zuständen und Verhaltensweisen führen
(Semmer, 1994). Im alltäglichen Sprachgebrauch werden Stressoren und Stressreaktionen meist gleichermaßen mit dem Wort »Stress« bezeichnet. Greif (1991) betont aber die Wichtigkeit, die einzelnen Begriffe vor allem im wissenschaftlichen Sprachgebrauch zu unterscheiden und genau zu spezifizieren, ob im Einzelnen Stressoren, Stressreaktionen oder Stresssituationen gemeint sind, um begriffliche und konzeptionelle Unklarheiten zu vermeiden. 28.1.3
Definition von Stress
In der Definition von Stress wird deutlich, durch welche Merkmale sich Stressoren von Belastungen und Stressreaktionen von Beanspruchungen unterscheiden. Obwohl es Ansätze gibt, positiven und negativen Stress zu unterscheiden (»Distress« und »Eustress«, vgl. Selye, 1981, oder Mohr & Semmer, 2002), stehen in der Forschung vor allem die negativ getönten Stresszustände im Vordergrund. So sehen z. B. Greif, Bamberg und Semmer (1991) als Kern der Stressdefinition die durch Stressoren ausgelöste Empfindung »unangenehmer Spannungszustände« einer Person. Um den Stressbegriff zu präzisieren, berücksichtigen die genannten Autoren in ihrer Stressdefinition auch die Qualität, Intensität und Dauer der durch Stressoren ausgelösten subjektiven Empfindungen sowie die subjektiven Erwartungen und Bewertungen der Person in Bezug auf den Stressor. Definition Stress ist ein subjektiv intensiv unangenehmer Spannungszustand, der aus der Befürchtung entsteht, dass eine 4 stark aversive, 4 subjektiv zeitlich nahe (oder bereits eingetretene), 4 subjektiv lang andauernde Situation 4 sehr wahrscheinlich nicht vollständig kontrollierbar ist, 4 deren Vermeidung aber subjektiv wichtig erscheint. Stressoren sind Faktoren, die mit erhöhter Wahrscheinlichkeit Stress (oder Stressempfindungen) auslösen.
28
516
Kapitel 28 · Wirkungen der Arbeit
Belastungen in der Arbeitswelt (nach Richter & Hacker, 1998)
28
1. Belastungen aus der Arbeitsaufgabe 4 Zu hohe qualitative und quantitative Anforderungen 4 Unvollständige, partialisierte Aufgaben 4 Zeit- und Termindruck 4 Informationsüberlastung 4 Unklare Aufgabenübertragung, widersprüchliche Anweisungen 4 Unerwartete Unterbrechungen und Störungen 2. Belastungen aus der Arbeitsrolle 4 Verantwortung 4 Konkurrenzverhalten unter den Mitarbeitern (Mobbing) 4 Fehlende Unterstützung und Hilfeleistung 4 Enttäuschung, fehlende Anerkennung (Gratifikationskrisen) 4 Konflikte mit Vorgesetzten und Mitarbeitern
Stressoren können ganz unterschiedlicher Art sein und Umweltfaktoren oder auch Faktoren innerhalb der Person darstellen. In der Fachliteratur finden sich viele Möglichkeiten, die Vielzahl von Stressoren zu gruppieren. Eine allgemeine Klassifikation wird von McGrath (1981) vorgeschlagen, in der die Quellen von Beanspruchung in drei Bereiche unterteilt werden: 4 Faktoren aus dem materiell-technischen System (z. B. Zeit- und Termindruck oder Lärm), 4 Faktoren aus dem sozialen System (z. B. Konflikte in der Familie) und 4 Faktoren aus dem personalen System (z. B. persönliche Dispositionen wie Ängstlichkeit). Speziell für Belastungen in der Arbeitswelt (7 Kasten) differenzieren Richter und Hacker (1998) in Anlehnung an McGrath mögliche stressauslösende Faktoren. Das Auftreten dieser Faktoren allein reicht aber oft nicht aus, um die Entstehung des Stresserlebens bei einer Person zu erklären. Etwas verallgemeinert kann hier auch gefragt werden, warum sich bei einigen Menschen durch die Konfrontation mit (potenziellen) Stressoren Stress entwickelt und bei anderen nicht. Es existieren eine Reihe von Stressmodellen, mit denen versucht wird, die Entstehung von Stress zu erklä-
3. Belastungen aus der materiellen Umgebung 4 Umgebungseinflüsse: Lärm, mechanische Schwingungen, Kälte, Hitze, toxische Stoffe 4. Belastungen aus der sozialen Umgebung 4 Betriebsklima 4 Wechsel der Umgebung, der Mitarbeiter und des Aufgabenfeldes 4 Strukturelle Veränderungen im Unternehmen 4 Informationsmangel 5. Belastungen aus dem »behavior setting« 4 Isolation 4 Dichte, Zusammengedrängtheit (Pferchung) 6. Belastungen aus dem Personsystem 4 Angst vor Aufgaben, Misserfolg, Tadel und Sanktionen 4 Ineffiziente Handlungsstile 4 Fehlende Eignung, mangelnde Berufserfahrung 4 Familiäre Konflikte
ren. Diese Modelle unterscheiden sich z. T. in ihrer Definition von Stress und in der Komplexität, mit der die Entstehung von Stress beschrieben wird. 28.2
Stressmodelle
28.2.1
Reizorientierte Stressmodelle – Stress durch Belastungsfaktoren
In reizorientierten Konzeptionen stellt Stress eine unabhängige Variable dar und wird durch Belastungsfaktoren aus der Umwelt definiert. So können z. B. einzelne Lebenssituationen, kritische Lebensereignisse oder auch berufliche Aufgaben Faktoren bzw. Stressoren sein, die auf eine Person einwirken und eine Beanspruchung hervorrufen. Zu dieser Gruppe von Stressmodellen gehört auch das sog. Anforderungs-/Belastungs-Konzept von der Arbeitsgruppe um Walter Volpert (s. insbesondere Oesterreich & Volpert, 1998). Hierbei wird dezidiert unterschieden zwischen Anforderungen einerseits und Belastungen andererseits. Psychische Anforderungen kennzeichnen positive Aspekte von Arbeitsbedingungen. Dazu gehören insbesondere Entscheidungsanforderun-
517 28.2 · Stressmodelle
gen (z. B. Entscheidungsspielräume über Art und Abfolge von Arbeitsschritten) bei der Bearbeitung von Aufgaben, die selbstständiges Denken und Planen fördern und Möglichkeiten zur Nutzung und Verbesserung beruflicher Qualifikationen bieten. Zu den positiven psychischen Anforderungen gehören auch Kommunikationsund Kooperationsanforderungen. Arbeitsaufgaben sollten daher auch ein hohes Maß an Kooperation erfordern und Möglichkeiten zur direkten Kommunikation bieten (z. B. in Form von Abstimmungserfordernissen mit Kollegen zum Vorgehen bei Aufgaben oder dem gemeinsamen Bewältigen von Aufgaben in Arbeitsgruppen). Psychische Anforderungen werden somit in diesem Zusammenhang nicht als Stressoren angesehen. Psychische Belastungen, die bei der Erledigung der Arbeitsaufgabe entstehen, sind hingegen negative Aspekte von Arbeitsbedingungen bzw. Stressoren. Es handelt sich dabei entweder um Hindernisse, die Zusatzaufwand erzwingen (z. B. Erschwerungen des Arbeitshandelns durch unvollständige oder fehlende Informationen oder ständige Unterbrechungen der Arbeitstätigkeit durch Kollegen) oder um Überforderungen aufgrund monotoner Arbeitsbedingungen (z. B. bei Überwachungsaufgaben eines Arbeitsprozesses mit geringen Eingriffserfordernissen) oder Zeitdruck (z. B. durch zu enge Zeitvorgaben zur Aufgabenerledigung). Im Rahmen dieses Konzepts wird außerdem angenommen, dass Anforderungen und Belastungen voneinander unabhängige Dimensionen sind; d. h., die Höhe der Anforderungen sagt nichts über die Belastungshöhe aus. Geringe Belastungen können sowohl bei stark vorstrukturierten Tätigkeiten als auch bei anspruchsvoller Arbeit auftreten. So hat beispielsweise ein Personalsachbearbeiter, der für das Führen der Personalakten zuständig ist, viel Zusatzaufwand, weil jede Änderung z. B. der Eingruppierung oder Adresse auf formale Richtigkeit überprüft werden muss, bevor sie im Stammdatensatz erfasst werden kann, weil die Änderungsmitteilungen oft handschriftlich und schlecht leserlich erfolgen, weil das Personaldatenprogramm oft »spinnt« oder viele Briefe zurückkommen, da die Adresse nicht stimmt. Diese Belastungen sollten unbedingt reduziert werden. Dies allein stellt aber noch keine gelungene Arbeitsgestaltung dar, da die Anforderungen der Arbeitsaufgabe unverändert niedrig bleiben. Empirische Studien der Arbeitsgruppe um Volpert (z. B. im Rahmen des AIDA-Projekts; s. Leitner, 1998) zeigen, dass das Ausmaß an Anforderungen einerseits und das Ausmaß an Belastungen ande-
rerseits verschiedene Wirkungen für die arbeitenden Personen hat. Es konnte insbesondere nachgewiesen werden, dass höhere Anforderungen die Wahrscheinlichkeit für reichhaltigere Freizeitbetätigungen und ein größeres Selbstvertrauen erhöhen und höhere Belastungen zu vermehrten Gesundheitsrisiken führen (z. B. in Bezug auf vermehrte psychosomatische Beschwerden). Die in diesem Zusammenhang untersuchten Anforderungen und Belastungen sind keine Personenmerkmale, sondern bedingungsbezogene Merkmale der Arbeitstätigkeit, die durch Änderungen der Arbeitsorganisation und der Arbeitsmittel bzw. Fertigungstechnologien beeinflusst werden können. Sie besitzen somit eine hohe Bedeutung für eine gesundheitsgerechte Gestaltung der Arbeit im Sinne einer Verhältnisprävention (auch 7 Abschn. 28.5.1). Das Anforderungs-/Belastungs-Konzept weist außerdem Analogien zum AnforderungsKontroll-Modell nach Karasek und Theorell (1990) auf (7 Abschn. 28.3.1). Schwachstelle der beschriebenen reizorientierten Stressmodelle ist, dass sie keine Aussagen über Unterschiede bezüglich der Reaktionen auf die Belastung machen, d. h., interindividuelle Unterschiede in der Bewertung und Bewältigung von Belastungsfaktoren werden nicht berücksichtigt. Diese Modelle wurden durch Ansätze, die sich mit der Analyse kritischer Lebensereignisse als Belastungsfaktoren beschäftigten, teilweise um wichtige Aussagen erweitert, z. B. dass Belastungsfaktoren erst dann zu Stressoren werden, wenn zusätzlich zur Belastung persönliche Ziele infrage gestellt werden und die Belastungsfaktoren damit eine aversive Bedeutung bekommen (Richter & Hacker, 1998). 28.2.2
Reaktionsorientierte Stressmodelle
Reaktionsorientierte Stressmodelle sind vor allem auf Selye (1981) zurückzuführen, der Stress als »unspezifische Reaktion des Körpers auf jede Anforderung« definierte. Hier wird Stress als abhängige Variable, also als Beanspruchung (Stressreaktion) verstanden. In diesen biologisch orientierten Modellen wird Stress hauptsächlich mit Erregung gleichgesetzt. Dabei können alle beliebigen Faktoren zu Stressoren werden, die das physiologische »allgemeine Adaptionssyndrom« auslösen (AAS, 7 Abschn. 28.4.1). Auch in diesen Modellen werden die individuellen Unterschiede in der Wahrnehmung und Bewältigung von Belastungen nicht ausreichend berück-
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518
Kapitel 28 · Wirkungen der Arbeit
sichtigt, um zu erklären, warum Personen auf bestimmte Belastungen (Stressoren) mit Stress reagieren und andere nicht. Reaktionsorientierte Ansätze beschreiben eher kurzfristige Prozesse der Erregung und des Stressempfindens als die längerfristigen gesundheitlichen Folgen von Stress. Zur Verdeutlichung des Unterschieds von reiz- und reaktionsorientierten Ansätzen lassen sich sehr gut zwei gebräuchliche Alltagsaussagen anführen. So wird durch den Ausspruch »Ich habe Stress« meist auf äußere Umstände (Reize) wie Zeitdruck etc. hingewiesen, wohingegen mit dem Satz »Ich bin gestresst« Zustände der Person (Reaktionen) wie z. B. Gereiztheit und innere Unruhe gemeint sind. 28.2.3
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Kognitive Stressmodelle – Das transaktionale Modell von Lazarus
Im Gegensatz zu den reiz- und reaktionsorientierten Stressmodellen gehen kognitive Modelle nicht von einem einfachen Wirkungsschema eines Reizes aus, der eine Reaktion hervorruft, sondern betrachten Prozesse der kognitiven und emotionalen Bewertung einer Situation und die für die Person verfügbaren Bewältigungsmöglichkeiten (Richter & Hacker, 1998). Nach dem für die Stressforschung wohl einflussreichsten Stressmodell von Lazarus (transaktionales Stressmodell; Lazarus & Folkman, 1984) werden Stresssituationen als »komplexe und dynamische Interaktions- und Transaktionsprozesse zwischen den Anforderungen der Situation und dem handelnden Individuum« beschrieben (Greif, 1991, S. 9). Ob bei einer Person Stress entsteht oder nicht, hängt von den vorausgehenden Bewertungsprozessen ab. Lazarus unterscheidet bei einer Situationsbeurteilung zwischen drei Bewertungsprozessen, die durch eine Person vorgenommen werden. Zunächst wird eine neue Situation daraufhin eingeschätzt (z. B. Übernahme einer neuen Aufgabe), ob in ihr potenzielle Stressoren vorhanden sind, d. h., ob Umweltbedingungen oder Anforderungen vorliegen, die eine veränderte Verhaltensweise von der Person erfordern (»primary appraisal«). Wenn die Situation als potenziell bedrohlich eingeschätzt wird (z. B. Wenn ich bei der neuen Aufgabe Fehler mache, erhalte ich unangenehme Rüffel vom Abteilungsleiter.), erfolgt eine zweite Einschätzung der Person dahingehend, ob sie ausreichende Ressourcen (z. B. ausreichende Fähigkeiten und ausreichend
Zeit, um sich in die neue Aufgabe einzuarbeiten) besitzt, um die Anforderungen zu bewältigen (»secondary appraisal«). Diese Ressourcen können alle möglichen Merkmale der Situation (wie z. B. das Vorhandensein finanzieller Mittel oder sozialer Unterstützung) und der Person (z. B. Persönlichkeitseigenschaften und Handlungsstile) sein. Nach dieser Bewertung der zur Bewältigung verfügbaren Ressourcen wird eine erneute Einschätzung der Situation vorgenommen (»re-appraisal«), um zu prüfen, ob die Anforderungen bewältigt wurden oder ob die Situation immer noch gefährlich ist (z. B. Fühle ich mich schon ausreichend sicher in der Aufgabenbeherrschung?). Diese Bewertungsprozesse können sich mehrmals wiederholen. Weiterer Bestandteil des transaktionalen Modelles sind unterschiedlich effektive Bewältigungsmuster bzw. -strategien, auf die eine Person zur Abwendung von bedrohlichen Situationen zurückgreifen kann. Hier unterscheidet Lazarus zwischen instrumentellen und emotionsbezogenen (palliativen) Bewältigungsformen (7 Abschn. 28.3.2). Stress entsteht nach dem transaktionalen Modell also dann, wenn eine Bewältigung von Situationsanforderungen durch die für die Person verfügbaren Ressourcen (z. B. Eine ausreichende Zeit für die Einarbeitung) und durch ineffektive Bewältigungsstrategien (z. B. sich nur oberflächlich mit der neuen Aufgabe vertraut machen) nicht erreicht wird. Im Gegensatz zu den reiz- und reaktionsorientierten Ansätzen erlaubt dieses Modell Aussagen über die Ursachen längerfristiger Auswirkungen von Stress (chronische Folgen), wie z. B. wiederholte ineffektive Bewältigung, und ist daher gut als Grundlage für Präventionsmaßnahmen geeignet (7 Abschn. 28.5.1). 28.3
Moderatoren, Einflüsse und Bedingungen von Stress
28.3.1
Ressourcen zur Stressbewältigung
Das Vorhandensein von bestimmten Ressourcen wurde bereits im transaktionalen Stressmodell als eine wichtige Bedingung für die erfolgreiche Bewältigung (Coping) von Umgebungsanforderungen genannt. Ressourcen können dabei alle Faktoren sein, auf die eine Person zurückgreifen kann, um den Umgang mit einer bedrohlichen Situation zu erleichtern. Dabei können sowohl die Person (7 Abschn. 28.3.2) als auch die Situation als Quelle von Ressourcen fungieren. Ressourcen der Situation
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können z. B. durch die physikalische Umwelt (z. B. Arbeitsplatzbedingungen) oder durch die soziale Umwelt (z. B. Freunde und Familie) bereitgestellt werden. In den ersten Bereich der physikalischen Umgebung fallen vor allem Faktoren wie Arbeitsplatzbedingungen (z. B. Beleuchtung, Möglichkeiten zur Regeneration, Arbeitszeitgestaltung etc.). Eines der wichtigsten und am meisten untersuchten Konzepte aus diesem Bereich ist der Handlungsspielraum. Dieser beschreibt die Möglichkeiten einer Person, eine Situation zu kontrollieren und sie nach den eigenen Interessen zu beeinflussen. Dieses Streben nach Durchschaubarkeit, Vorhersehbarkeit und Beeinflussbarkeit von Lebenssituationen zählt zu den Basiskomponenten einer gesunden Lebensführung (Richter & Hacker, 1998). Ein Modell, das dieses Erleben von Kontroll- und Handlungsmöglichkeiten in Bezug auf die Entstehung von Stresssymptomen prägnant beschreibt, ist das Anforderungs-Kontroll-Modell (»job strain model«; Karasek & Theorell, 1990). In diesem wird Stress als eine Funktion der Anforderungen einer Arbeitsaufgabe (»demands«) und dem Entscheidungsspielraum einer Person (»decision latitude«), mit diesen Anforderungen umzugehen, definiert. Unter Anforderungen verstehen Karasek und Theorell allerdings eher Belastungen als Anforderungen im Sinne des Anforderungs-/Belastungs-Konzepts der Volpert-Gruppe (7 Abschn. 28.2.1). Während der Entscheidungsspielraum eher die Anforderungskomponente des Anforderungs-/Belastungs-Konzepts repräsentiert (. Abb. 28.1), führen Tätigkeiten, die durch hohe Anforderungen/Belastungen und hohe Entscheidungsspielräume gekennzeichnet sind (aktive Tätigkeiten), nicht in dem Maße zu Stressempfindungen wie Tätigkeiten mit hohen Anforderungen/Belastungen und geringen Kontrollmöglichkeiten (hoch beanspruchende Tätigkeiten). Tätigkeiten mit hohen Entscheidungsspielräumen und geringen sowie hohen Anforderungen/Belastungen (niedrig und hoch beanspruchende Tätigkeiten) unterscheiden sich von Tätigkeiten mit niedrigem Entscheidungsspielraum und Anforderungen/Belastungen (passive Tätigkeiten) vor allem darin, dass Letztere zu einem passiven Freizeitverhalten führen. Karasek und Theorell (1990) konnten durch Längsschnittstudien nachweisen, dass die Beeinträchtigung des Wohlbefindens, die Einnahme von Medikamenten und die Dauer zeitweiliger Arbeitsunfähigkeit sowohl mit steigender Anforderung bzw. Belastung als auch abnehmenden Kontrollmöglichkeiten ansteigt. Gesundheitliche Risi-
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© Perseus Books Group, Basic Books 1990
28.3 · Moderatoren, Einflüsse und Bedingungen von Stress
. Abb. 28.1. Job-Strain-Modell. (Nach Karesek & Theorell, 1990)
ken entwickeln sich somit insbesondere bei einer Kombination beider Faktoren. Höherer Entscheidungsspielraum – insbesondere in Kombination mit hohen Anforderungen/Belastungen – fördert hingegen ein günstigeres Bewältigungsverhalten bei Stress in der Arbeit im Sinne eines aktiveren Freizeitverhaltens. Im Modell von Karasek und Theorell (1990) stehen vor allem die Charakteristika der Tätigkeit im Vordergrund, d. h. die objektiv krank machenden Bedingungen. Das Modell macht aber keine Aussage darüber, inwiefern Menschen individuelle Unterschiede in der Wahrnehmung, der Bewältigung dieser Bedingungen und in der Entwicklung von Stresssymptomen zeigen. Genau diesen individuellen Aspekt berücksichtigt Siegrist (1996) in seinem Modell beruflicher Gratifikationskrisen, das als Erweiterung des Job-Strain-Modells angesehen werden kann. Hier werden individuelle Bewertungsprozesse (z. B. eine übersteigerte Bereitschaft sich für berufliche Belange zu vorausgaben) als wichtige vermittelnde Faktoren zwischen objektiv krank machenden Arbeitsbedingungen und der Entstehung von Stress betont. Eine wichtige Ressource aus dem Bereich der sozialen Umwelt ist die soziale Unterstützung. Sie bezieht sich auf unterschiedliche Formen der sozialen und emotionalen Unterstützung durch andere, die zusammengenommen als Moderatoren bei der Stressentstehung wirken. Diese Unterstützung kann sowohl durch Kollegen und Vorgesetzte am Arbeitsplatz geleistet werden (z. B.
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Kapitel 28 · Wirkungen der Arbeit
durch Wertschätzung) als auch durch die Familie bzw. das private Umfeld einer Person (z. B. durch finanzielle Unterstützung, gemeinsame Zeit verbringen etc.). Durch die wahrgenommene Unterstützung erfährt die Person u. a. eine Aufwertung ihres Selbstwertes, was dazu führt, dass sie sich selbst als kompetent und den Anforderungen gewachsen einschätzt und sich somit durch schwierige Situationen weniger schnell verunsichern lässt. Soziale Unterstützung wirkt aber auch als Puffer zwischen Stressoren und Gesundheit (z. B. wenn Vorgesetzte den betroffenen Mitarbeiter aktiv unterstützen oder Orientierung in schwierigen Situationen geben). 28.3.2
28
Individuelle Unterschiede
Nicht nur die Umwelt stellt stressreduzierende Ressourcen bereit, auch die Person selbst verfügt über eine Reihe von Ressourcen, die den Umgang mit Stresssituationen erleichtern können. Neben allgemeinen Persönlichkeitsmerkmalen wie Selbstvertrauen, Optimismus oder Neurotizismus sind hier vor allem komplexere situationsübergreifende Handlungsmuster und kognitive Überzeugungssysteme (Kontrollüberzeugungen) zu nennen, die einen Einfluss darauf haben, wie »anfällig« eine Person für potenzielle Stressoren ist. In der Forschung werden mittlerweile eine ganze Reihe von Konzepten und Konstrukten zu personalen Ressourcen diskutiert, von denen in den folgenden Abschnitten überblicksartig die wichtigsten »klassischen« und neueren Konzeptionen vorgestellt werden sollen (vgl. auch Bamberg, Ducki & Metz, 1998; Hart & Cooper, 2001). Kontrollüberzeugungen und Kohärenzerleben Kontrollüberzeugungen beschreiben, inwiefern eine Person der Meinung ist, die Geschehnisse um sie herum kontrollieren zu können oder nicht. Dabei werden im Konzept des Locus of Control von Rotter (vgl. Wallston, 2001) zwei Arten von Kontrollüberzeugungen unterschieden, internale und externale. Internal orientierte Personen sind eher der Überzeugung, ihr Schicksal selbst zu lenken und Gegebenheiten beeinflussen zu können. Diese Personen handeln aktiv, um die Situation kontrollieren zu können. Im Gegensatz dazu glauben external orientierte Personen, dass sie einer Situation ausgeliefert sind und die Veränderung dieses Zustandes nicht in ihrer Macht liegt. Sie verhalten sich eher defensiv und passiv. Da sie nicht der Überzeugung sind, Kontrolle über
eine Stresssituation zu haben, reagieren diese Menschen mit höheren Stressempfindungen als internal orientierte Personen. Ähnlich verhält es sich mit dem Kohärenzgefühl einer Person. Menschen mit einem hohen Kohärenzgefühl erleben die Welt um sich herum als begreifbar und beeinflussbar. Nach Antonovsky (1997) haben Personen mit dieser globalen Orientierung ein generalisiertes, überdauerndes aber auch dynamisches Gefühl des Vertrauens, dass 4 Ereignisse strukturiert, vorhersehbar und erklärbar sind, 4 Ressourcen zur Verfügung stehen, um diese Anforderungen zu bewältigen, 4 Anforderungen Herausforderungen darstellen, die es wert sind, Einsatz und Engagement zu zeigen. Menschen, die ein solches Kohärenzerleben haben, können besser mit Bedrohungen umgehen und zeigen in höherem Maße Merkmale seelischer Gesundheit. Situationsübergreifende Handlungsmuster Neben kognitiven Überzeugungssystemen können in schwierigen Situationen auch ungünstige Handlungsmuster stressfördernd sein. Solche Handlungsmuster bzw. Verhaltensstile erschweren oder verhindern die erfolgreiche Bewältigung von Anforderungen und führen nicht selten zu einer generalisierten Ineffizienz im Umgang mit potenziellen Stressoren, was wiederum mit Kontrollverlust und erhöhtem Stressempfinden aufseiten der Person einhergeht. Das im Zusammenhang mit Stress wohl am intensivsten untersuchte Verhaltensmuster ist das Typ-AVerhalten (vgl. Schaarschmidt & Kieschke, 2004). Dieses Verhaltensmuster zeichnet sich u. a. durch eine hohe Leistungs- bzw. Wettbewerbsorientierung, beruflichen Ehrgeiz, verstärktes Konkurrenzverhalten, Ungeduld, ständige Kontrollambitionen und einen erhöhten Muskeltonus aus. Personen mit Typ-A-Verhalten haben zudem häufig ein labiles Selbstwerterleben. Dieses Verhaltensmuster wurde zuerst bei Herzpatienten beobachtet, was zu der Annahme führte, dass insbesondere Personen mit dem Typ-A-Verhalten anfälliger für Stress und damit einhergehende längerfristige körperliche Beschwerden sind als Personen, die diese Verhaltensweisen nicht zeigen (Typ-B-Verhalten). Neuere Untersuchungen haben ergeben, dass eher Aggression, Misstrauen und Feindseligkeit und weniger Wettbe-
521 28.3 · Moderatoren, Einflüsse und Bedingungen von Stress
werbsorientierung, beruflicher Ehrgeiz und Ungeduld für die längerfristigen körperlichen Symptome wie Herz- und Kreislaufkrankheiten ausschlaggebend sind, wobei die erstgenannten Komponenten bei Personen mit Typ-A-Verhalten nicht zwangsläufig vorhanden sein müssen (vgl. Schaarschmidt & Kieschke, 2004). Die Entwicklung von Aggressivität und Feindseligkeit im beruflichen Kontext führt häufig zu sozialer Isolation, was den Wegfall wichtiger sozialer Ressourcen und damit auch erhöhte Stressanfälligkeit bedeuten kann. Ein anderes Konzept, welches zu erklären versucht, warum sich Personen bzw. Mitarbeiter darin unterscheiden, ob sie durch Stresssituationen empfänglich für stressbedingte Krankheiten sind oder nicht, ist das Hardiness-Konzept (Kobasa, 1982). Dieser Begriff steht für Widerstandskraft bzw. Unempfindlichkeit. Personen mit einem hohem Hardiness-Wert sind durch drei Merkmale gekennzeichnet: 4 Sie sehen Anforderungen ihrer Umwelt eher als Herausforderungen denn als Bedrohungen (Herausforderungen). 4 Sie nehmen die Gegebenheiten ihrer Umwelt eher als beeinflussbar wahr (Locus of Control). 4 Sie zeigen ein verstärktes Engagement bzw. fühlen sich stärker verpflichtet (Commitment). Dieses Konzept wurde bei Führungskräften untersucht, wobei die Ergebnisse zeigten, dass sich Führungskräfte, die sich durch hohe Stressbelastung und keine Krankheitssymptome auszeichneten, in der Ausprägung aller drei Komponenten des Hardiness-Konzeptes (Herausforderungen, Locus of Control, Commitment) signifikant von den Führungskräften unterschieden, die eine hohe Stressbelastung und zusätzlich auch starke Krankheitssymptome zeigten. Coping-Stile Personen unterscheiden sich nicht nur darin, inwieweit sie Ressourcen besitzen, sondern auch in der Art und Weise, wie sie in Stresssituationen reagieren. Für die Entstehung von Stress spielt hier auch eine Rolle, ob und wie vorhandene Ressourcen bei der Stressbewältigung eingesetzt werden. Die beiden wichtigsten Bewältigungsbzw. Coping-Arten, problembezogenes (instrumentelles) und emotionsbezogenes (palliatives) Coping, wurden bereits in Zusammenhang mit dem transaktionalen Stressmodell von Lazarus erwähnt (7 Abschn. 28.2.3). Personen, die eher einen instrumentellen bzw. problem-
bezogenen Bewältigungsstil zeigen, sind dadurch gekennzeichnet, dass konkrete Aktionen unternommen werden (z. B. gezielte Informationssuche, Handlungen gegen die Bedrohung, aber auch die Unterlassung von Handlungen, um die Bedrohung nicht zu verschärfen), um die aktuelle Bedrohung abzuwenden. Als Beispiele hierfür können Veränderungen der eigenen Arbeitsweise, Aneignung neuer Kompetenzen, offenes Ansprechen und Austragen von Konflikten etc. genannt werden. Für emotionsbezogene Bewältigungsformen hingegen sind nicht direkte Handlungen, sondern Emotionsregulationen (z. B. Bagatellisierung, Ablenkung, aber auch die Einnahme von Psychopharmaka und Alkoholkonsum) charakteristisch, die zwar eine vorübergehende Entlastung mit sich bringen, die Ursache der Stressempfindung aber nicht verändern. Es konnte gezeigt werden, dass emotionsbezogenes Coping mit schlechterem Befinden einhergeht (Krohne, 1997). Allerdings muss darauf hingewiesen werden, dass Personen zwar durchaus zu einer dieser Coping-Arten tendieren können, die Art der Coping-Strategie aber auch immer von der jeweiligen Situation abhängig ist. So wird Coping als ein dynamischer Prozess gesehen, der zum einen von den überdauernden Eigenschaften einer Person und ihren aktuellen Zuständen und zum anderen von der physikalischen und sozialen Umwelt abhängig ist. Ein neuerer Ansatz, der sowohl die genannten personalen Ressourcen als auch Coping-Strategien zur Erklärung der Entstehung von Stress heranzieht, ist AVEM (arbeitsbezogene Verhaltens- und Erlebensmuster; Schaarschmidt & Fischer, 2003). Der AVEM-Ansatz geht davon aus, dass die Art und Weise, wie Menschen beruflichen Belastungen und Anforderungen begegnen, ein wichtiges Gesundheitskriterium darstellt. Im Vordergrund steht die Erfassung relativ stabiler Verhaltensund Erlebensmerkmale, die als Ressourcen zur Bewältigung von beruflichen Anforderungen eingesetzt werden und die in ihrer Summe betrachtet Aussagen über gesundheitsförderliche bzw. gesundheitsgefährdende Verhaltens- und Erlebensmuster am Arbeitsplatz möglich machen. Es werden vier Muster unterschieden, die mittels elf Dimensionen arbeitsbezogenen Verhaltens und Erlebens ermittelt werden: 4 Muster G (gesundheitsförderliches Verhältnis zur Arbeit): gekennzeichnet durch Engagement, Widerstandskraft und Wohlbefinden; 4 Muster S (Schonungsmuster): gekennzeichnet durch Schonverhalten;
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Kapitel 28 · Wirkungen der Arbeit
4 Risikomuster A (Risikomuster mit überhöhtem Arbeitsengagement): gekennzeichnet durch Selbstüberforderung; 4 Risikomuster B (Risikomuster mit starker Resignationstendenz): gekennzeichnet durch Überforderung und Resignation. Die Muster A und B gelten hier als Indikatoren für Gesundheitsgefährdungen, die Ausprägung von Muster G bei einer Person weist hingegen auf gesundheitsförderliches Verhalten und Erleben hin. Muster S schließlich bezieht sich eher auf motivationale Aspekte. 28.3.3
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Balance von Ressourcen und Anforderungen
Die Bedeutsamkeit von Ressourcen als elementare Komponente der Stressbewältigung soll abschließend anhand von zwei für die Stressforschung einflussreichen Modellen verdeutlicht werden, dem Person-Environment-FitModell (P-E-Fit-Modell; Edwards, Caplan & van Harrison, 1998) und dem Modell der Ressourcenkonservierung von Hobfoll (1988). Gemäß dem P-E-Fit-Modell kommt es bei der Entstehung von Stress insbesondere auch auf das Gleichgewicht von Anforderungen und Ressourcen an. Dies bedeutet, dass die Ressourcen (Fähigkeiten), die eine Person zur Verfügung hat (z. B. benötigte Qualifikationen und Kenntnisse, aber auch Persönlichkeitseigenschaften und Verhaltensweisen), den Anforderungen der Arbeitsaufgabe entsprechend vorhanden sein müssen. Umgekehrt sollten auch die Merkmale der Arbeitstätigkeit den Bedürfnissen der Person entsprechen. Ist dies nicht der Fall, herrscht eine Diskrepanz zwischen erwünschten und vorhandenen Merkmalen (»ability-demands misfit« und/oder »needs-supplies misfit«), die für die Entstehung von Stress entscheidend ist. Stress kann auch dazu führen, dass eben die Ressourcen, die zur Bewältigung benötigt werden, geschwächt werden oder ganz wegfallen (z. B. durch Trennung von einem Partner). Gemäß dem Modell der Ressourcenkonservierung von Hobfoll (1988) streben Menschen danach, für sie bedeutsame Ressourcen aufzubauen und zu erhalten, was mit Gesundheit und Wohlbefinden einhergeht. Stress wird in diesem Modell dadurch definiert, dass 4 die Gefahr des Ressourcenverlustes besteht, 4 ein aktueller Verlust von Ressourcen auftritt oder
4 auf die Investitionen von Ressourcen kein angemessener Gewinn von Ressourcen folgt. Weiterhin streben nach diesem Modell Menschen danach, den Verlust von Ressourcen durch den Einsatz anderer verfügbarer Ressourcen zu verhindern und verlorene Ressourcen nach Möglichkeit zu ersetzen oder zu kompensieren. Gelingt es nicht, ein Gleichgewicht von investierten und konservierten Ressourcen herzustellen, d. h., wenn die investierten Ressourcen nicht kompensiert werden können, kann eine Stresssituation nicht erfolgreich bewältigt werden und Stress entsteht. Objekte (Dinge der materiellen Umwelt), Lebensumstände, persönliche Merkmale und Energien (z. B. Informationen, Wissen), die von einer Person wertgeschätzt werden, können hier ebenso als Ressourcen fungieren wie Mittel, um diese wertgeschätzten Ressourcen zu erreichen (vgl. Hobfoll, 1988). Zusammenfassend kann man festhalten, dass die Entstehung von Stress ein dynamischer Prozess ist, der von mehreren Faktoren abhängt, die zum einen in der Umwelt angelegt sind und zum anderen in der Person selbst liegen (7 Kasten »Wichtige Komponenten der Entstehung von Stressempfindungen«).
Wichtige Komponenten der Entstehung von Stressempfindungen 4 Vorhandensein von objektiv belastenden Bedingungen bzw. Anforderungen 4 Wahrnehmung bzw. Bewertung dieser Bedingungen als für die eigene Person bedrohlich (Stressoren), welche u. a. von dem Vorhandensein unterschiedlicher Ressourcen abhängt 4 Art der Bewältigung (effiziente und ineffiziente Bewältigungsstile) von Stresssituationen 4 Daraus folgendes Gleichgewicht bzw. Ungleichgewicht zwischen Anforderungen und Ressourcen
Obwohl die auf Ressourcen fokussierten Modelle bisher gegenüber der Belastungs- und Beanspruchungsforschung eher vernachlässigt wurden, bieten sie wichtige Ansatzpunkte für Maßnahmen zur Stressprävention und Stressbewältigung (z. B. durch Ressourcenstärkung). Durch die Einteilung in personale Ressourcen
523 28.4 · Spezifische Auswirkungen von Stress
und Ressourcen der Umwelt kann zum einen am Verhalten der Person (verhaltensorientierte Maßnahmen) und zum anderen an den Umgebungsbedingungen (verhältnisorientierte Maßnahmen) angesetzt werden, um Belastungen und Stress zu vermeiden und zu reduzieren. Bevor auf diese Maßnahmen näher eingegangen wird, sollen zunächst exemplarisch Folgen von Stress als mögliche Wirkungen der Arbeit auf den Menschen vorgestellt werden. 28.4
Spezifische Auswirkungen von Stress
Die im letzten Abschnitt beschriebenen moderierenden und intervenierenden Variablen im Stressgeschehen sind bedeutsame Faktoren für die Erklärung und Prognose kurz- oder langfristiger Stressfolgen. So kann der Umgang mit Belastungsfaktoren z. B. durch ungünstige persönliche Dispositionen wie Ängstlichkeit und Neurotizismus, durch negative kognitive Überzeugungssysteme wie ein geringes Kohärenzgefühl und durch habituelles Fehlverhalten wie ineffiziente Bewältigungsstile negativ beeinflusst werden. Je nach Konstellation dieser Faktoren lassen sich die Folgen von Stresserleben relativ gut vorhersagen. Man unterscheidet zwischen kurz-, mittelund langfristigen Folgen von Stress, die sich sowohl physisch als auch psychisch zeigen können. . Tab. 28.1 gibt
einen Überblick zu möglichen Folgen bzw. Auswirkungen von Stress. 28.4.1
Kurzfristige und mittelfristige Auswirkungen von Stress
Unter kurz- und mittelfristigen Auswirkungen von Stress fasst man die Reaktionen zusammen, die in der Stresssituation und bei andauernden Stresszuständen beim Menschen stattfinden. Wie bereits beschrieben, werden Stressoren und das Erleben von Stress von jedem Menschen anders wahrgenommen und verarbeitet. Dementsprechend zeigen sich große interindividuelle Unterschiede bei den Auswirkungen von Stress. Im Allgemeinen kann man bei kurz- und mittelfristigen Stressreaktionen eine Veränderung der physiologischen Aktiviertheit, Befindlichkeitsbeeinträchtigungen und Leistungsminderung beobachten. So kommt es bei einem Stresserlebnis zunächst zu kurzfristigen Veränderungen der Körperfunktionen nach dem von Selye (1976) beschriebenen allgemeinen Adaptationssyndrom (AAS) mit den Phasen der Alarmreaktion, des Widerstandes und der Erschöpfung. In der Alarmphase wird der Körper durch die vermehrte Ausschüttung von Hormonen wie Adrenalin und Noradrenalin in eine erhöhte Aktiviertheit versetzt, was zu einer besseren Durchblutung und Sauerstoffversorgung und somit zu einer höheren
. Tab. 28.1. Klassifikation möglicher Beanspruchungen und Beanspruchungsfolgen. (Nach Kaufmann, Pornschlegel & Udris, 1982) Kurzfristige, aktuelle Reaktionen
Mittel- bis langfristige chronische Reaktionen
Physiologisch, somatisch
4 Erhöhte Herzfrequenz 4 Blutdrucksteigerung 4 Adrenalinausschüttung (Stresshormon)
4 Allgemeine psychosomatische Beschwerden und Erkrankungen 4 Unzufriedenheit, Resignation, Depression
Psychisch (Erleben)
4 4 4 4
Anspannung Frustration Ärger Ermüdungs-, Monotonie-, Sättigungsgefühle
Verhaltensmäßig
individuell
4 4 4 4
Leistungsschwankung Nachlassen der Konzentration Fehler Schlechte sensumotorische Koordination
sozial
4 4 4 4
Konflikte Streit Aggression gegen andere Rückzug (Isolierung) innerhalb und außerhalb der Arbeit
4 Vermehrter Nikotin-, Alkohol- und Tablettenkonsum 4 Fehlzeiten (Krankheitstage)
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Kapitel 28 · Wirkungen der Arbeit
Leistungsbereitschaft des Körpers führt. Dauert die Stresssituation länger an, wird in der Widerstandsphase eine Gegenreaktion gestartet, in der die ausgeschütteten Stresshormone langsam wieder abgebaut werden und der Körper auf ein normales Niveau zurückgebracht wird, um ein völliges »Auspowern« zu verhindern. Der Körper erholt sich wieder. Gelingt dem Menschen diese Anpassungsleistung allerdings nicht, weil z. B. ungenügend Ressourcen zur Bewältigung der Stresssituation vorhanden sind oder ineffektive Bewältigungsstrategien gewählt werden, kommt es zu einer andauernden Aktivierung des Körpers und schließlich zur Erschöpfung. Mittelfristig kann es durch solche Anpassungsprobleme zu Störungen auf der kognitiven, der emotionalen, der vegetativ-hormonellen und der muskulären Ebene kommen. Beispiele für Störungen im emotionalen Bereich sind Befindlichkeitsstörungen wie Gereiztheit, Ängstlichkeit, Unsicherheit aber auch Aggressivität (Greif, 1991). Weitere Folgen von andauerndem Stress können verzerrte Wahrnehmungen und Denkweisen (kognitive Ebene), verminderte Leistungsfähigkeit, ineffiziente Handlungsweisen sowie allgemeine Überforderung und Erschöpfung sein. Diese zeigt sich darin, dass der Körper schneller in den genannten Aktivierungszustand gerät, die Aktivierung intensiver ist und der Körper sich nur langsam wieder erholt (vegetativhormonelle Ebene). Ist ein Mensch ständig Phasen erhöhter Aktiviertheit ausgesetzt, kann es zu ernsthaften Langzeitschädigungen kommen. 28.4.2
Langfristige negative Auswirkungen von Stress
Neben kritischen Lebensereignissen werden Dauerbelastungen als zweite wesentliche Quelle von Stress angesehen, die in unterschiedlichen Lebensbereichen auftreten können. Besteht keine Möglichkeit Stresssituationen zu vermeiden (z. B. durch anhaltende Arbeitsbelastung, durch Unter- oder Überforderung, aber auch durch chronische Krankheiten), kommt es zu lang anhaltenden Stresszuständen, die ernsthafte gesundheitliche Folgen für den Menschen haben können. Als die häufigsten langfristigen Auswirkungen von Stress können hier die lang anhaltende Beeinträchtigung des Wohlbefindens, psychosomatische und psychische Störungen und Krankheiten (z. B. MagenDarm-Krankheiten, Hautkrankheiten, Schlafstörun-
gen, Depression) sowie ein allgemein erhöhtes Risiko für Bluthochdruck und Herz-Kreislauf-Krankheiten genannt werden (vgl. Faltermaier, 2005). Dabei zeigte sich in den letzten Jahren ein Trend, dass vor allem der Anteil an psychischen Krankheiten als Ursache für Arbeitsunfähigkeit gestiegen ist (Lademann et al., 2006). Unter den langfristigen Auswirkungen von Stress, die durch Arbeitsbelastungen entstehen, wurde vor allem die Entstehung von Herz-Kreislauf-Krankheiten (vgl. Siegrist, 1996) und das Burnout-Syndrom untersucht. Im Folgenden soll exemplarisch das arbeitspsychologisch sehr gut untersuchte Burnout-Syndrom genauer dargestellt werden. Das Burnout-Syndrom Das Burnout-Syndrom wurde ursprünglich vor allem in Sozial- und Pflegeberufen untersucht und bezeichnet einen besonderen Zustand berufsbezogener chronischer Erschöpfung. Es gibt unterschiedliche Definitionen von Burnout, die danach unterteilt werden, ob sie entweder das Individuum (Persönlichkeit des Helfers), die organisatorischen Bedingungen oder gesellschaftliche Prozesse fokussieren (vgl. Burisch, 2006). In der bekanntesten Definition nach Maslach und Jackson (1984) wird Burnout als ein Syndrom emotionaler Erschöpfung, Depersonalisierung und reduzierter Leistungsfähigkeit beschrieben. 4 Emotionale Erschöpfung ist durch hohe interpersonelle Anforderungen und die Beanspruchung emotionaler Ressourcen gekennzeichnet. Die Betroffenen fühlen sich durch den Kontakt mit anderen Menschen emotional überanstrengt und ausgelaugt. 4 Depersonalisation beinhaltet negative, gefühlslose und zynische Einstellungen gegenüber Klienten, Kunden oder Patienten. Ein Zustand, in dem die Betroffenen gefühlslose und abgestumpfte Reaktionen gegenüber ihren Klienten zeigen. 4 Persönliche Leistungseinbußen beschreibt die Tendenz, die eigene Arbeit negativ zu bewerten und ein Gefühl mangelnden bzw. schwachen beruflichen Selbstwerts zu entwickeln. Der Aspekt der Depersonalisation, der am stärksten mit dem Kontext der helfenden Berufe verbunden ist, wurde in späteren, allgemeiner gefassten Definitionsversuchen auch als »Zynismus«-Aspekt bezeichnet, womit eine gleichgültige und distanzierte Haltung gegenüber der Arbeit sowie ihren Inhalten und Mitteln bezeichnet wird.
525 28.4 · Spezifische Auswirkungen von Stress
Als entscheidender Faktor für die Entstehung von Burnout gilt die enge emotionale Beziehung zwischen Klient und Betreuer. Durch unrealistisch hohe Erwartungen des Betreuenden an seine Wirkungsmöglichkeiten im Rahmen solcher Beziehungen kann eine chronische emotionale Belastung entstehen, die nicht erfolgreich bewältigt wird und bis hin zu Zynismus gegenüber den zu betreuenden Klienten als Extremform der Depersonalisation führt. Die Entstehung von Burnout ist ein komplexer Prozess und wird durch unterschiedliche Faktoren beeinflusst. Zum einen sind dies Anforderungen des Berufes und der Tätigkeit, zum anderen Persönlichkeitseigenschaften und Merkmale der persönlichen Lebenssituation. So wird insbesondere für die Tätigkeiten in helfenden Berufen ein hohes Maß an persönlicher Zuwendung und emotionaler Anteilnahme verlangt, die häufig nicht ausreichend gegeben werden kann, weshalb sich als Folge Gefühle des Versagens einstellen. Zudem sind die Tätigkeiten in diesem Bereich häufig körperlich belastend und es gibt nur wenige Möglichkeiten, auf die Arbeitsbedingungen Einfluss zu nehmen, was zu Unzufriedenheit, Hilflosigkeit und zu Resignation führen kann. Andere Faktoren können sich aber als Puffer gegen die Belastungen erweisen, so z. B. Merkmale der persönlichen Lebenssituation wie eine intakte Familie und intakte soziale Netze sowie bestimmte Persönlichkeitsmerkmale (wie z. B. Hardiness), die als Bewältigungsressourcen fungieren. Obwohl der Fokus der Burnout-Forschung lange Zeit auf den betreuenden und beratenden Berufen ins-
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besondere im medizinischen Bereich lag, ist das Burnout-Syndrom auch in anderen Berufen zu finden. Hier spielt weniger die Betreuer-Klienten-Beziehung eine entscheidende Rolle bei der Entstehung der Symptomatik, sondern vielmehr das hohe Engagement, um Ziele zu erreichen und Leistung zu erbringen sowie die hohe persönliche Involviertheit in die Arbeit (. Abb. 28.2). Das Burnout-Syndrom entwickelt sich demnach über einen längeren Zeitraum und kostet die betroffenen Personen sehr viel Kraft. Sie sind ständigem Stress ausgesetzt, ohne diesen effizient bewältigen zu können, weil entweder keine Ressourcen wie soziale Unterstützung oder Kontrollmöglichkeiten vorhanden sind oder mobilisiert werden können, weil keine effektiven Bewältigungsstile genutzt werden oder weil beides zutrifft. 28.4.3
Positive Wirkungen von Stress
Bisher wurden nur die negativen Folgen von Stress betrachtet. Dabei muss beachtet werden, dass Stress immer in Abhängigkeit von der subjektiv wahrgenommenen Dauer und Intensität von Belastungszuständen entsteht. Was für eine Person eine Herausforderung sein kann, ist für eine andere Person schon in hohem Maße Stress. Positiver Stress wird häufig unter dem Begriff des Eustress, negativer Stress unter dem Begriff des Distress (Selye, 1981; Mohr & Semmer, 2002) betrachtet. Entscheidend für das Erleben von positivem Stress ist dabei, dass der
© Academy of Management (NY) 1990
. Abb. 28.2. Modell der Burnout-Entstehung. (Nach Cordes & Dougherty, 1993)
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Kapitel 28 · Wirkungen der Arbeit
Körper durch das Auftreten von Stressoren zwar Stress im Sinne einer erhöhten Aktiviertheit (reaktionsorientierter Stressbegriff; 7 Abschn. 28.2.2) erlebt, die Stressoren aber nicht als bedrohlich empfunden werden, sondern als Herausforderungen. Diese Art von Stress ist sogar wichtig, da er den Menschen anregt und zu höherer Leistung anspornt, und weil sich ohne Herausforderungen schnell Unterforderung einstellt, die ebenso negative Auswirkungen haben kann wie Überforderung. Häufig ist es allerdings schwierig, eine trennscharfe Linie zwischen positivem und negativem Stress zu ziehen, da Herausforderungen schnell zu Belastungen werden können, insbesondere dann, wenn die Situation falsch eingeschätzt wird und man die eigene Handlungskompetenz oder die Ressourcen, die man zur Verfügung hat, überschätzt.
28
28.5
Stressbewältigung und Gesundheitsförderung
Im Alltag lassen sich Stresssituationen kaum vermeiden. Täglicher Stress, der durch den Beruf oder das Privatleben entsteht, ist praktisch an der Tagesordnung. Damit das Wohlbefinden nicht langfristig beeinflusst wird, ist es wichtig, mit den Belastungen umzugehen und den Stress effektiv zu bewältigen. Diesem Bewältigungsprozess wird eine zentrale vermittelnde Rolle zwischen auf-
tretenden Stressoren und möglichen Krankheitsfolgen zugeschrieben (Faltermaier, 2005). Es gibt dabei zwei Gruppen von Faktoren, die großen Einfluss auf den Bewältigungsprozess haben. Zum einen sind dies Merkmale der Person wie dispositionelle Voraussetzungen, stabile Verhaltensmuster (z. B. das Typ-A-Verhalten) und Denkmuster (Kontrollüberzeugungen) und die Art der angewendeten Bewältigungsstile (problembezogene versus emotionsbezogene Bewältigung). Zum anderen sind dies die Merkmale der Situation und der Umwelt wie z. B. Arbeitsbedingungen, Merkmale des Berufs, Kontrollmöglichkeiten und das Vorhandensein von Ressourcen wie soziale Unterstützung. Aus diesen beiden Faktorengruppen lassen sich zwei wesentliche Präventionsstrategien innerhalb der betrieblichen Gesundheitsförderung ableiten, die der Entstehung von Stress und langfristigen Belastungen entgegenwirken sollen: verhaltens- und verhältnisorientierte Präventionsmaßnahmen (vgl. auch Bamberg & Busch, 2006; . Tab. 28.3).
28.5.1
Maßnahmen zur Verhaltensprävention
Im Mittelpunkt dieser Präventionsmaßnahmen steht der Einzelne als eigenverantwortliches Individuum, das be-
. Tab. 28.2. Betriebliche Gesundheitsförderung: verhaltens- und verhältnisorientierte Interventionen. (Nach Ulich, 2005 und Frieling & Sonntag, 1999) Betriebliche Gesundheitsförderung Verhaltensorientierte bzw. personbezogene Interventionen
Verhältnisorientierte bzw. bedingungsbezogene Interventionen
Bezogen auf
Einzelne Personen bzw. individuumsorientiert
Arbeitssysteme und Personengruppen bzw. strukturorientiert
Beispiele für Maßnahmen
Rückenschule, Stressimpfungstraining, Kurse zur Veränderung gesundheitsschädlicher Verhaltensweisen
Vollständige Aufgaben, Gruppenarbeit, Arbeitszeitgestaltung, Arbeitsplatzgestaltung, Entlohnungssysteme, Gesundheitszirkel
Wirkungsebene
Individuelles Verhalten
Organisationales, soziales und individuelles Verhalten
Personbezogene Effekte
Gesundheit, Leistungsfähigkeit
Positives Selbstwertgefühl, Kompetenz, Kohärenzerleben, Selbstwirksamkeit, internale Kontrolle, Erhöhung des Handlungsspielraums, Motivation, Gesundheit, Leistungsfähigkeit
Wirtschaftliche Effekte
Reduzierung krankheitsbedingter Fehlzeiten
Verbesserung von Produktivität, Qualität, Flexibilität und Innovationsfähigkeit, geringere Fehlzeiten und Fluktuation
Effektdauer
Kurz- bis mittelfristig
Mittel- bis langfristig
527 28.5 · Stressbewältigung und Gesundheitsförderung
fähigt werden soll, mit belastenden Arbeitsbedingungen erfolgreich umzugehen und gesund zu bleiben. Dabei sollen vor allem gesundheitsgefährdende Verhaltensweisen (wie z. B. Alkoholkonsum als ineffektive CopingStrategie), Einstellungen und Haltungen (wie z. B. Kontrollüberzeugungen) geändert werden. Zu diesen Maßnahmen gehören z. B. Kurse und Schulungen zur Raucherentwöhnung, Gewichtsreduktion, Ernährungsberatung, Rückenschule und zum Stressmanagement. Insbesondere in Maßnahmen zum Stressmanagement sollen die Beschäftigten lernen, Stressoren zu reduzieren, zu neutralisieren oder erfolgreich zu bewältigen. Bei-
spiele hierfür sind Kommunikationstrainings, Trainings zum Zeitmanagement und zu Entspannungsverfahren oder Stressimpfungstrainings. Bei Letzteren steht vor allem die Kompetenz zur Reflexion der eigenen Stress (bewältigungs)mechanismen im Vordergrund, die durch die Vermittlung und Schulung effektiver und handhabbarer Bewältigungsstrategien entwickelt werden soll (vgl. Meichenbaum, 1991; 7 Kasten »Ablauf und Inhalte des Stressimpfungstrainings«). Mohr und Udris (1997) zufolge bilden die verhaltensorientierten, personbezogenen Präventionsstrategien den größten Teil der betrieblichen Maßnahmen zur Ge-
Ablauf und Inhalte des Stressimpfungstrainings Das Stressimpfungstraining (Meichenbaum, 1991) steht für eine Kombination von verschiedenen Methoden zur Verbesserung des Umgangs mit Stresssituationen, das flexibel auf unterschiedliche Anwendungsbereiche (insbesondere im Arbeitsalltag) und Zielgruppen zugeschnitten werden kann. Es beruht auf dem transaktionalen Stressmodell von Lazarus und Folkman (1984; 7 Abschn. 28.2.3). Der Begriff Stressimpfung verdeutlicht, dass vergleichbar mit einer medizinischen Impfung »psychologische Antikörper« mit dem Training aufgebaut werden sollen und die Widerstandsfähigkeit der Teilnehmer gegenüber Stress erhöht werden soll. Das Stressimpfungstraining lässt sich in drei Phasen gliedern: In der Informationsphase werden die Teilnehmer eingeführt in das transaktionale Stressmodell und informiert über die Rolle von Kognitionen und Emotionen bei der Auslösung und Aufrechterhaltung von Stress. Sie werden außerdem angeleitet, ihre eigenen Stressreaktionen und Bewältigungsstile in Stresssituationen zu analysieren. Hierzu werden Vorstellungs- und Selbstbeobachtungsübungen sowie Fragebögen und gegenseitige Interviews verwendet. Eine differenzierte und bewusste Wahrnehmung des Stressprozesses ist eine wichtige Voraussetzung für die Veränderung der eigenen Stressreaktionen und Verhaltensweisen. In der Lern- und Übungsphase werden neue und effektivere Bewältigungsstrategien erlernt und eingeübt. Beispielsweise werden Techniken der kognitiven Verhaltenstherapie zum Erkennen kognitiver Fehler und irrationaler Kognitionsstile (z. B. beson-
ders schlimme Konsequenzen beim Versagen in Leistungssituationen zu erwarten) erläutert und anhand persönlicher Problemstellungen eingeübt. Darüber hinaus werden Entspannungstechniken wie z. B. die progressive Muskelrelaxation nach Jacobson (1996) gezeigt und trainiert. Hierbei lernen die Teilnehmer, unterschiedliche Muskelgruppen vom Kopf bis zu den Füßen durch einen bewussten Wechsel von An- und Entspannung zu entspannen. Eine weitere Technik beinhaltet das Relativieren durch sozialen Vergleich und kognitive Umstrukturierung unter Entspannung. Hierbei sollen die Teilnehmer bei der Wahrnehmung von Stresssignalen innehalten, sich entspannen und der Stresssituation mit den negativen Bewertungen ihre Aufmerksamkeit zuwenden. Wenn dies erfolgt ist, sollen die Teilnehmer die Bedrohlichkeit der Situation relativieren durch den Vergleich mit anderen selbstbewussteren Personen in derselben Situation oder den Vergleich mit anderen weniger bedrohlichen Situationen und anschließend einen Handlungsplan entwerfen. Außerdem wird der Einsatz von Selbstinstruktionen (z. B. »Eins nach dem anderen!« oder »Ich bleibe ruhig und behalte einen klaren Kopf!«) zur Emotionskontrolle und Situationsumbewertung in besonders stressigen Situationen vermittelt. In der Anwendungs- und Posttrainingsphase wird dann der Transfer der erlernten Bewältigungsstrategien auf Alltagssituationen eingeübt. Hierzu werden Vorstellungsübungen und Rollenspiele eingesetzt und die Teilnehmer mit den Stressoren in einer schrittweisen bzw. abgestuften Form konfrontiert.
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Kapitel 28 · Wirkungen der Arbeit
sundheitsförderung. Problematisch dabei ist allerdings, dass viele der erwähnten Maßnahmen nicht unbedingt als präventiv zu bewerten sind, sondern sich vielmehr auf die Reduzierung aktueller Belastungssymptome wie z. B. Kreuz- und Rückenschmerzen als Folgen arbeitsbedingter Zwangshaltungen des Körpers richten. Ohne die Reduzierung von Stressoren durch die gesundheitsförderliche Veränderung des Arbeitsplatzes und der Arbeitsorganisation zeigen einige dieser verhaltensbezogenenen Maßnahmen nur geringfügige und nur wenig dauerhafte Effekte. Gut belegt ist allerdings die Wirkung von sog. Stressmanagementtrainings (Bamberg & Busch, 2006). Gegenstand solcher Trainings ist das Erlernen von emotionsund problembezogenen Bewältigungstechniken zum besseren Umgang mit stressauslösenden Bedingungen und Situationen. Den Teilnehmern werden dazu Entspannungstechniken (z. B. autogenes Training), Problemlöse- und Zeitmanagementtechniken und bestimmte Methoden der kognitiven Verhaltenstherapie (z. B. wie man Angstgedanken in sozialen Situationen durch Perspektivenwechsel und Gedankenexperimente reduzieren kann) vermittelt. Meist handelt es sich um eine Kombination von verhaltens- und kognitionsbezogenen Trainingsmethoden, die mit Mitgliedern einer Berufsgruppe oder Beschäftigten einer Organisation über durchschnittlich 12 Wochen mit ca. 2-stündigen Sitzungen pro Woche durchgeführt werden (für ein Beispiel 7 Kasten »Ablauf und Inhalte des Stressimpfungstrainings«). Die Ergebnisse verschiedener Metaanalysen (z. B. van der Klink, Blonk, Schene & van Dijk, 2001) zeigen, dass mithilfe von Stressmanagementtrainings vor allem Stresssymptome und Befindensbeeinträchtigungen (insbesondere Angstgefühle) reduziert und der Aufbau von Ressourcen (z. B. Selbstvertrauen) gefördert werden kann. Bei diesen Variablen werden im Durchschnitt mittlere Effektstärken erreicht. Nur geringe Effekte erzielen diese Trainings allerdings in Bezug auf die Steigerung von Arbeitszufriedenheit und Leistung sowie die Reduktion von Absentismus und psychophysiologischen Stresssymptomen (z. B. Herz-Kreislauf-Beschwerden). 28.5.2
Maßnahmen zur Verhältnisprävention
Durch Maßnahmen der Verhältnisprävention sollen physische und psychosoziale Arbeitsbelastungen redu-
ziert und gesundheitsbeeinträchtigende betriebliche Verhältnisse geändert werden, um aufseiten der Beschäftigten eine höhere Arbeitsmotivation und Arbeitszufriedenheit zu erreichen. Im Allgemeinen kann man dabei zwischen Maßnahmen unterscheiden, die an der Verbesserung der Arbeitsumgebung (Arbeitsplatz) oder der Arbeitsaufgabe ansetzen. Zu Ersteren gehören z. B. die Reduzierung von Lärm- oder Schmutzbelastung sowie die ergonomische Gestaltung von Computerarbeitsplätzen und Arbeitsmitteln (z. B. in der Krankenpflege). Zu den Maßnahmen, die an der Arbeitsaufgabe ansetzen, zählen vor allem die Erhöhung der Autonomie des Einzelnen (Kontrollspielraum; 7 Abschn. 28.3.1), die Schaffung ganzheitlicher Tätigkeiten und die Möglichkeit, seine Arbeits- und Pausenzeiten flexibel zu gestalten. Hinzu kommen noch Bemühungen, gesundheitsfördernde Verhaltensweisen wie eine gesunde Ernährung z. B. durch ein entsprechend ausgewogenes Kantinenangebot zu unterstützen. In vielen Betrieben werden zur Verbesserung der Arbeitsbedingungen mittlerweile Gesundheitszirkel eingerichtet, in denen durch die Beteiligung von Beschäftigten und ihren Erfahrungen Vorschläge zur gesundheitsgerechten Arbeitsgestaltung erarbeitet werden (vgl. Westermeyer & Bähr, 1994; 7 Kap. 23). Die Bemühungen der Unternehmen, gesundheitsgerechte und persönlichkeitsförderliche Arbeitsbedingungen zu schaffen, sind in den letzten Jahren stetig angestiegen. So sind nach Wienemann und Wattendorf (2004) »Gesundheits- und Arbeitsschutz, Gesundheitsförderung und Suchtprävention zu unverzichtbaren Bestandteilen eines modernen Personalmanagements geworden«. Maßnahmen zur Verhältnisprävention sollten innerhalb des betrieblichen Gesundheitsmanagements verhaltensorientierten Präventionsmaßnahmen vorangestellt bzw. mit diesen kombiniert werden. Ohne die längerfristige Veränderung der Arbeitsbedingungen werden veränderte Denk- und Verhaltensweisen der Beschäftigten kaum über die kurzfristige Reduzierung von Belastungssymptomen hinausgehen. So ermöglichen insbesondere Veränderungen der Arbeitsbedingungen wie die Erhöhung der Anforderungen, eine vollständige Tätigkeit, Erhöhung der Autonomie und das Fördern kollektiver Selbstregulation ein persönlichkeits- und gesundheitsförderliches Verhalten. Dies ist vor allem dann der Fall, wenn die Beschäftigten maßgeblich an
529 28.6 · Arbeit, Freizeit und Persönlichkeit
den Veränderungen der Arbeitsbedingungen mitwirken können (Ulich, 2006). Die Effektivität solcher bedingungs- bzw. verhältnisbezogener Präventionsmaßnahmen ist allerdings noch wenig geklärt (vgl. Bamberg & Busch, 2006). Es mangelt vor allem an qualitativ guten wissenschaftlichen Untersuchungen. Die wenigen kontrollierten Studien, die hierzu existieren, verdeutlichen eher geringe Effekte verhältnisbezogener Präventionsmaßnahmen. Die untersuchten Interventionen zielen auf Veränderungen von Arbeitsinhalten (z. B. durch die Reduktion von Kontrollerfordernissen) und der Rahmenbedingungen der Arbeitssysteme (z. B. des Schichtsystems) u. a. durch den Einsatz von Gesundheitszirkeln und sind hinsichtlich ihrer inhaltlichen Schwerpunkte und der Komplexität der Veränderungsprozesse sehr unterschiedlich angelegt. Die geringe Effektivität der Maßnahmen ist möglicherweise darauf zurückzuführen, dass die entsprechenden Interventionen nicht ausreichend umgesetzt und/oder die betroffenen Mitarbeiter nicht ausreichend an den Veränderungen beteiligt und darüber informiert werden.
28.6
Arbeit, Freizeit und Persönlichkeit
Die bisherigen Betrachtungen haben gezeigt, dass sich die Erwerbsarbeit nachhaltig auf den Menschen auswirken kann. Die Arbeit als zentraler Faktor unseres Lebens hat aber noch weit mehr Wirkungen auf den Menschen, wobei hier vor allem die persönlichkeitsprägende und sozialisierende Funktion der Arbeit zu nennen ist. Die Erwerbsarbeit hat somit einen hohen psychosozialen Nutzen, der insbesondere bei der Betrachtung der psychosozialen Funktionen der Erwerbsarbeit und der Folgen von Erwerbslosigkeit deutlich wird (7 Kasten »Psychosoziale Funktionen der Erwerbsarbeit«). 28.6.1
Arbeit und Persönlichkeit
Der Einfluss der Erwerbsarbeit auf die Persönlichkeitsentwicklung wurde insbesondere im Zusammenhang mit beruflichen Sozialisationsprozessen untersucht. Hier wird der Frage nachgegangen, welche Auswirkungen die eigene Berufswahl (Selbstselektion) und die Sozialisation der Person durch den Beruf auf die Entwick-
Psychosoziale Funktionen der Erwerbsarbeit (nach Semmer & Udris, 2004) Aktivität und Kompetenz. Die Aktivität, die mit Arbeit verbunden ist, ist eine wichtige Vorbedingung von Qualifikationen. In der Bewältigung von Arbeitsaufgaben erwerben wir Fähigkeiten und Kenntnisse, zugleich aber auch das Wissen um diese Fähigkeiten und Kenntnisse, also ein Gefühl von Handlungskompetenz. Für Erwerbslose fehlt diese Grundlage, sie müssen sich andere Felder für sinnvolle Aktivitäten suchen. Zeitstrukturierung. Die Arbeit strukturiert unseren Tages-, Wochen- und Jahresablauf und die gesamte Lebensplanung. Sie gibt uns eine Ordnung, an der wir uns orientieren können. Dies zeigt sich darin, dass viele zeitbezogene Begriffe wie Freizeit, Urlaub oder Rente nur in ihrem Bezug zur Arbeit definierbar sind. Erwerbslosen zerrinnt häufiger die Zeit zwischen den Fingern.
Kooperation und Kontakt. Die meisten beruflichen Aufgaben können nur in Zusammenarbeit mit anderen Menschen ausgeführt werden. Dies bildet eine
wichtige Grundlage für die Entwicklung kooperativer Fähigkeiten und schafft ein wesentliches soziales Kontaktfeld. Erwerbslose müssen auch hier andere Kooperationsmöglichkeiten außerhalb der Arbeit selbst suchen.
Soziale Anerkennung. Durch die eigene Leistung sowie durch die Kooperation mit anderen erfahren wir soziale Anerkennung, die uns das Gefühl gibt, einen nützlichen Beitrag für die Gesellschaft zu leisten. Bei Erwerbslosen besteht die Gefahr, dass ihnen diese Anerkennung versagt wird, dass sie als faul betrachtet werden und sich auch selbst nutzlos fühlen.
Persönliche Identität. Die Berufsrolle und die Arbeitsaufgabe sowie die Erfahrung, die zur Beherrschung der Arbeit notwendigen Kenntnisse und Fähigkeiten zu besitzen, bilden eine wesentliche Grundlage für die Entwicklung von Identität und Selbstwertgefühl. Wir sind »jemand« durch Arbeit. Erwerbslosigkeit entzieht den Betroffenen diese Grundlage.
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Kapitel 28 · Wirkungen der Arbeit
lung von Persönlichkeitsmerkmalen haben und welche Wechselwirkungsprozesse dabei bestehen. Es hat sich somit eine interaktionistische Sichtweise etabliert, in der eine wechselseitige Beeinflussung von Arbeit und Persönlichkeit im Arbeitshandeln bzw. im Berufsverlauf angenommen wird (Schaper, 2007). So konnte beispielsweise in Bezug auf die Entwicklung von Werthaltungen gezeigt werden, dass Personen, die in ihrer Arbeit nur wenig Autonomiechancen und Qualifizierungsmöglichkeiten haben, eine negativere Einstellung zur Arbeit zeigten und Arbeit generell als fremdbestimmte Tätigkeit auffassten. Weiter konnte verdeutlicht werden, dass Personen in ein anderes Arbeitsumfeld wechselten, wenn deren Werthaltungen nicht mit dem aktuellen Arbeitsumfeld übereinstimmten (Semmer & Udris, 2004). Ein anderes, viel untersuchtes Forschungsfeld in diesem Bereich ist die Bedeutung der Arbeit für die intellektuelle Leistungsfähigkeit. Bei der Bewältigung von Arbeitsanforderungen finden Lernprozesse statt, in denen bereits erworbenes Wissen und vorhandene Fähigkeiten eingesetzt und selbstständig weiterentwickelt werden können. Hier wird vor allem der Frage nachgegangen, ob eine komplexe und fordernde Arbeitstätigkeit sich positiv auf kognitive Fähigkeiten auswirkt und ob Tätigkeiten mit nur geringen intellektuellen Anforderungen Prozesse der Qualifikation und Kompetenzentwicklung sogar behindern. Durch Ergebnisse von Längsschnittstudien von Kohn und Schooler (1983) konnte gezeigt werden, dass die Entwicklung von intellektueller Flexibilität positiv durch als gering wahrgenommene Arbeitsrestriktionen beeinflusst wird. Die Effekte, die in den Längsschnittstudien gefunden wurden, sind allerdings als eher gering zu bezeichnen. In anderen Untersuchungen konnte auch gezeigt werden, dass die erfolgreiche Bewältigung von anspruchsvollen Arbeitsanforderungen mit positiven Gefühlen sowie der Steigerung des Selbstvertrauens und der erlebten Kompetenz einhergeht und dass Personen mit hohem Kompetenzerleben sich wiederum anspruchsvolle Arbeitstätigkeiten suchen (vgl. Ulich, 2006). 28.6.2
Arbeit und Freizeit
Begriffe wie Freizeit, Urlaub oder Rente sind nur in Bezug auf die Arbeit zu definieren und verdeutlichen, wel-
chen Stellenwert die Arbeit in unserem Leben einnimmt. Der Begriff der »Work-Life-Balance« ist nach Resch und Bamberg (2005) zwar eine populär gewordene, aber schlecht gewählte Bezeichnung für unterschiedliche, teils traditionsreiche Fragestellungen, die die Qualität und das Verhältnis verschiedener Lebensbereiche betreffen. Häufig wird im Bereich der Work-Life-Balance das Verhältnis von Arbeit und Freizeit, Arbeit und Familie sowie die Arbeitszeitforschung und Forschungen zu beruflichen Laufbahnen und Biographien thematisiert. Im Bereich der Arbeitszeitforschung geht es vor allem darum, welche Auswirkungen (Chancen und Risiken) die Entgrenzung (z. B. durch orts- und zeitungebundene Nutzung von Informationstechnologien) der Arbeitszeit auf die Abgrenzung einzelner Lebensbereiche hat. Untersucht wird dabei u. a., wie Menschen Grenzen zwischen der Arbeit und anderen Lebensbereichen ziehen und wie flexibel und durchlässig diese Grenzen sind. Im Bereich der beruflichen Biographien werden sehr häufig Berufsverläufe von Männern und Frauen analysiert und verglichen, um u. a. den Einfluss geschlechtsbezogener Rollenvorstellungen auf die Gestaltung von Arbeits- und Familienleben aufzuzeigen (vgl. Abele, 2005). Annahmen zu Wechselwirkungen von Arbeit und Freizeit werden z. B. in der Generalisations- und der Kompensationshypothese konkretisiert. Die Generalisationshypothese besagt, dass der »lange Arm der Arbeit« im positiven und auch im negativen Sinne das Privatleben beeinflusst (Hoff, 2005). So fanden Karasek und Theorell (1990) Hinweise dafür, dass hohe Anforderungen bei gleichzeitig hoher Autonomie im Arbeitsleben mit einer aktiveren Freizeitgestaltung einhergehen. In der Kompensationshypothese wird angenommen, dass negative Erfahrungen durch positive in einem anderen Bereich kompensiert werden (Hoff, 2005), die Freizeit z. B. als Erholung von den Belastungen und Anforderungen der Arbeit dient. In der aktuellen Forschungsliteratur wird aber verstärkt darauf hingewiesen, dass diese beiden Hypothesen nicht getrennt voneinander zu betrachten sind. Vielmehr kann die Freizeit sowohl generalisierte Merkmale der Arbeitstätigkeit aufweisen als auch kompensatorisch wirken. In Bezug auf die Wechselwirkungen von Arbeit und anderen Lebensbereichen wie Freizeit und Familie werden u. a. auch Be- und Entlastungsprozesse über den Tagesverlauf untersucht. Hier wird z. B. der Frage nachgegangen, inwieweit und unter welchen Bedin-
531 28.6 · Arbeit, Freizeit und Persönlichkeit
gungen Belastungen im Arbeitsleben durch Ressourcen in Freizeit und Familie abgefedert werden können. Das Gelingen, Arbeit und Freizeit im Sinne einer »guten« Work-Life-Balance miteinander in Einklang zu bringen, wird häufig als persönliche Leistung angesehen. So findet man unter Work-Life-Balance viele Strategien und Programme, in der Freizeit selbstständig Erholungsmöglichkeiten zu schaffen oder Konflikte zwischen Er-
werbs- und Privatleben zu vermeiden. Hier geht es primär um den subjektiven Umgang mit und die Koordination von beruflichen und privaten Lebensbereichen und um die eigenständige erfolgreiche Bewältigung von Konflikten zwischen Arbeit und Beruf. Institutionelle und organistionsbezogene Rahmenbedingungen und Restriktionen werden dabei bisher nur wenig oder gar nicht beachtet (Resch & Bamberg, 2005).
Zusammenfassung 4 Es existiert eine Vielzahl von Stresstheorien bzw. -modellen, die die Entstehung von Stress erklären. Man unterscheidet insbesondere zwischen reizund reaktionsorientierten sowie kognitiven Stressmodellen. 4 Das transaktionale Stressmodell verdeutlicht das komplexe Zusammenspiel von personalen Faktoren und Umweltbedingungen bei der Entstehung von Stress. Eine Situation wird gemäß diesem Konzept von einer Person erst dann als bedrohlich bzw. stressauslösend bewertet, wenn sie ihre eigenen Ressourcen, diese Situation erfolgreich zu bewältigen, als nicht ausreichend einschätzt. 4 Bei der Bewältigung von Stress spielt die Verfügbarkeit von Ressourcen eine wesentliche Rolle. Diese beziehen sich auf Merkmale der Arbeitstätigkeit (Handlungsspielraum), des sozialen Umfeldes (soziale Unterstützung) sowie Merkmale der Person selbst (Kontrollüberzeugungen, Bewältigungsstile). 4 Übersteigen die Arbeitsanforderungen unsere Bewältigungsmöglichkeiten, kann es zu kurzfristigen sowie anhaltenden Stresszuständen kommen. Kurzfristig wird eine Alarmreaktion mit erhöhter Aktiviertheit sowie spezifischen physiologischen, kognitiven, emotionalen und verhaltensbezogenen Reaktionsmustern ausgelöst. Bei anhaltenden Stresszuständen kommt es zu mittel- und längerfristigen Beeinträchtigungen des Wohlbefindens (Gereiztheit, Unsicherheit, Burnout etc.) und der Gesundheit (Magen-Darm-Krankheit, Depressionen).
4 Durch Stresspräventionsmaßnahmen am Arbeitsplatz wird versucht, belastende und stressauslösende Bedingungen zu reduzieren und zu vermeiden sowie Ressourcen zu schaffen, die eine effektivere Bewältigung von Arbeitsanforderungen ermöglichen. 4 Maßnahmen zur Verhältnisprävention zielen auf die Änderung bzw. Verbesserungen belastender Arbeitsbedingungen (z. B. Lärmreduktion, Pausenregelungen, ergonomische Arbeitsgestaltung). 4 Durch Maßnahmen der Verhaltensprävention wird versucht, gesundheitsförderliche Verhaltensweisen (z. B. sportliche Aktivitäten) zu fördern und effektivere Strategien zur Stressbewältigung (z. B. Selbstinstruktionstechniken) zu vermitteln. 4 Arbeit hat nicht nur negative, sondern auch positive Wirkungen in Form von persönlichkeitsprägenden, sozialisierenden und sinnstiftenden Funktionen. 4 Wechselwirkungen zwischen Arbeit und Privatleben werden diskutiert unter der Annahme der Generalisationshypothese einerseits, d. h., dass Arbeit sich je nach Gestaltung positiv und/oder negativ auf das Privatleben auswirkt, und der Annahme der Kompensationshypothese andererseits, d. h., dass negative Erfahrungen bei der Arbeit durch gezielte positive Erfahrungen im Privatleben (z. B. Suche nach Erholung) kompensiert werden. 4 Im Rahmen von Ansätzen der Work-Life-Balance wird untersucht, welche Auswirkungen die Entgrenzung der Arbeitszeit auf die Abgrenzung einzelner Lebensbereiche hat und mithilfe welcher Strategien man Konflikte zwischen Erwerbs- und Privatleben vermeiden kann.
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28
29
29 Neue Formen der Arbeit: Das Beispiel Telekooperation 29.1
Veränderungstrends in der Arbeitswelt – 537
29.1.1 29.1.2
Organisationsbezogene Veränderungen – 537 Veränderungen der Arbeitswelt – 540
29.2
Telekooperation und Telearbeit – 543
29.2.1 29.2.2 29.2.3 29.2.4 29.2.5 29.2.6
Definition und Formen – 543 Zielsetzungen sowie Vor- und Nachteile der Telearbeit – 544 Gestaltungsaspekte der Telearbeit – 546 Arbeitspsychologische Untersuchungen zur Telearbeit – 548 Gestaltung virtueller Teamarbeit – 548 Ausblick – 551
Literatur
– 552
536
29
Kapitel 29 · Neue Formen der Arbeit: Das Beispiel Telekooperation
> Arbeitsbedingungen und Märkte verändern sich immer rascher und damit ändern sich neben den Anforderungen an die Organisation auch die Anforderungen an die Arbeitnehmer. In diesem Zusammenhang ergeben sich insbesondere erhöhte Anforderungen an die Flexibilität der Unternehmen und Mitarbeiter sowie die Nutzung der neuen Informations- und Telekommunikationsmedien. Im 7 Kasten »Telearbeit und Telekooperation« ist ein typisches Beispiel für telekooperatives Arbeiten dargestellt. Dieses Beispiel macht deutlich, wie vielfältig und komplex die Möglichkeiten und Anforderungen bei der Gestaltung telekooperativer Arbeit mittlerweile sind. Unter anderem sollen folgende Fragen in diesem Kapitel beantwortet werden: Welche Arten und Formen der Telearbeit und Telekooperation kann man unterscheiden, und welche Zielsetzungen sowie Vor- und Nachteile sind damit verbunden? Darüber hinaus wird erörtert, welche Anforderungen eine durch telekooperative Technologien unterstützte virtuelle Teamarbeit stellt und welche Aspekte bei der Gestaltung dieser überwiegend netzgestützten Kooperationsform zu berücksichtigen sind. Zu Beginn des Kapitels werden allgemeine Trends der Organisations- und Arbeitsveränderung vorgestellt. Hier handelt es sich einerseits um Veränderungen auf einer organisationsbezogenen Ebene, die durch Begriffe wie Modularisierung, Virtualisierung, Netzwerkbildung sowie Internationalisierung und Globalisierung beschrieben werden. Andererseits werden Veränderungen in Bezug auf die Arbeitsebene wie Wissensarbeit und Flexibilisierung angesprochen.
Telearbeit und Telekooperation Frau Gerber ist Diplom-Informatikerin und hat sich auf das Programmieren von Datenbanken spezialisiert. Die 44-jährige Fachkraft ist Mutter von 2 Kindern, die beide im Kindergartenalter sind. Seit 2 Jahren ist sie Leiterin einer Arbeitsgruppe von bis zu 16 Programmierern in einem Unternehmen der Kommunikationstechnik. Die Übernahme der Leitungsposition wäre eigentlich mit einem Ortswechsel von Münster in das 450 km entfernte Berlin verbunden gewesen. Aufgrund ihrer Verbundenheit mit Münster und dem vorhandenen sozialen Netzwerk (ihre Mutter kümmert sich nach dem Kindergarten um ihre Kinder) hat sich Frau Gerber allerdings mit dem Bereichsmanagement darauf geeinigt, die Leitung der Arbeitsgruppe unter Verwendung telekooperativer Kommunikationstechniken zu übernehmen, sodass sie weiterhin überwiegend in Münster leben und arbeiten kann. Die im Unternehmen bestehenden Infrastrukturen sind für einen solchen Fall vorbereitet und unterstützen Frau Gerber bei dieser Art von telekooperativer Arbeit.
Neben ihrem Arbeitsplatz im Münsteraner Büro arbeitet Frau Gerber die Hälfte ihrer Arbeitszeit an ihrem häuslichen Arbeitsplatz. Das Programmieren von Datenbanken eignet sich gut für die Ausführung dieser Aufgaben als Telearbeit. Die Programmierergruppe zu führen stellt allerdings eine komplexere Aufgabe dar: Einige der Programmierer des Teams arbeiten selbst an unterschiedlichen Standorten und sind viel unterwegs, sodass auch dadurch ein hoher Anteil an telekooperativer Zusammenarbeit erforderlich ist. Durch ein ausgefeiltes Telemanagement gelingt es Frau Gerber die Koordination und Führung der standortverteilten Gruppe zu übernehmen. Dies ist für sie mit einem nicht unerheblichen Mehraufwand verbunden, da sie viel Kommunikationsarbeit im Team leisten muss. Seit Beginn der Übernahme ihrer Leitungsfunktion konnte ihre Gruppe aber ihre Produktivität halten. Frau Gerber sieht ihr Team an nur einem festen Tag im Monat. Alle weiteren Arbeitsbesprechungen laufen per Videokonferenz, per Mail oder per Telefon.
537 29.1 · Veränderungstrends in der Arbeitswelt
Veränderungstrends in der Arbeitswelt
29.1.1
Organisationsbezogene Veränderungen
Unternehmen sind heute gezwungen, neue Kompetenzen und Strukturen zu entwickeln, die Flexibilität und Innovation ermöglichen. Ziel dabei ist, sich schnell an verändernde Märkte anzupassen, durch Vernetzung neue Kooperationspartner zu gewinnen und die Mitarbeiterpotenziale effektiver auszuschöpfen. . Abb. 29.1 zeigt, dass in Abhängigkeit von verschiedenen Wettbewerbsbedingungen und der Produktkomplexität verschiedene unterschiedliche Organisationsformen geeignet sind. Liegen stabile Bedingungen auf dem Markt vor und handelt es sich um einfache Produkte, dann bietet die hierarchische Organisation (die z. B. durch eine hohe funktionale Arbeitsteilung sowie die Optimierung von Arbeitsvorgängen durch Zeit- und Bewegungsstudien im Sinne der tayloristischen Betriebsorganisation gekennzeichnet ist; 7 Kap. 2 und 4) eine angemessene Lösung. Sind jedoch komplexere Produkte herzustellen und ist das Unternehmen mit unsicheren Märkten konfrontiert, dann sollten andere Grundstrategien der organisatorischen Aufgabenverteilung und Innovation gewählt werden. In diesem Zusammenhang ist insbesondere die Modularisierung der Geschäftsprozesse und Unternehmensstrukturen zu nennen, die durch neue . Abb. 29.1. Wettbewerbsbedingungen und Organisationsstrategien. (Nach Pribilla, Reichwald & Goecke, 1996)
Koordinationsformen alte Grenzbeziehungen im Unternehmen aufbricht. Bisherige Abgrenzungen zwischen Unternehmen werden z. B. durch die »Netzwerkorganisation« aufgebrochen. Hierdurch werden u. a. neue Verbindungen zwischen den Unternehmen in Form von Allianzen und Kooperationen ermöglicht. Die Virtualisierung von Geschäftsprozessen sorgt schließlich für dynamische Vernetzungen und Koordinationsformen sowohl innerhalb der Organisation als auch zwischen Organisationen. Modularisierung Definition Modularisierung beinhaltet die Restrukturierung der Unternehmensorganisation auf der Basis integrierter, kundenorientierter Prozesse in relativ kleine, überschaubare Einheiten (Module). Diese zeichnen sich durch dezentrale Entscheidungskompetenz und Ergebnisverantwortung aus, wobei die Koordination zwischen den Modulen verstärkt durch nichthierarchische Koordinationsformen erfolgt (Reichwald & Möslein, 1999).
Bei der Modularisierung handelt es sich um eine intraorganisationale Strategie. Durch eine starke Prozessorientierung (d. h. eine Verknüpfung und Anordnung von Arbeitsfunktionen und Organisationselementen gemäß der Reihenfolge der Herstellungs- bzw. Bearbeitungs-
© 1996 Schäffer-Poeschel Verlag für Wirtschaft·Steuern·Recht GmbH & Co. KG, Stuttgart
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Kapitel 29 · Neue Formen der Arbeit: Das Beispiel Telekooperation
schritte) sollen Arbeitsabläufe vereinfacht werden. Dies führt auch zu einer Reduktion von organisatorischen Schnittstellen (Picot & Franck, 1995). Außerdem wird die Philosophie einer durchgängigen Kundenorientierung nicht nur auf externe Bereiche beschränkt. Auch interne Einheiten (z. B. Abnehmer von Zwischenleistungen) werden als Kunden angesehen und behandelt. Unter dem Aspekt der Integriertheit der Aufgaben wird die Abgeschlossenheit der in einem Modul bearbeiteten Aufgabe(n) verstanden. Ein Produkt (z. B. eine Getriebewelle) wird dabei in verschiedenen Schritten (z. B. Fräsen, Drehen und Schaben einer Welle) in einem Modul bearbeitet bis ein bestimmter Grad der Fertigstellung (wie z. B. die mechanische Bearbeitung der Welle) erreicht ist. Ab hier kümmert sich ein neues Modul (das sich z. B. mit dem Härten der Welle befasst) um die weiteren bzw. nächsten Arbeitschritte, bis wieder ein bestimmtes abgeschlossenes Zwischenergebnis erreicht ist. Bei der Modulgliederung wird darauf geachtet, dass kleine überschaubare Einheiten gebildet werden (z. B. Arbeitssysteme mit 8–20 Fertigungsmaschinen). Die jeweilige Arbeitsgruppe (mit etwa 8–12 Mitarbeitern), die für ein Modul verantwortlich ist, besitzt daher auch entsprechende Entscheidungskompetenzen und Ergebnisverantwortung für die Teilergebnisse des Fertigungsprozesses (z. B. zur Überprüfung und Einhaltung der Qualitätskriterien und zur termingetreuen Herstellung und Lieferung von angeforderten Wellenchargen). Die Entscheidungskompetenzen werden demnach so weit wie möglich in den eigentlichen Wertschöpfungsprozess verlagert, d. h. auf die untersten Hierarchiestufen bzw. die dezentralisierten Moduleinheiten. Man verspricht sich von einer solchen ganzheitlichen Aufgabengestaltung eine Motivationssteigerung bei den Mitarbeitern (7 Kap. 24) und versucht darüber hinaus unternehmerisches Handeln zu fördern. Virtualisierung Definition Grundgedanke der Virtualisierung ist eine aufgabenorientierte Vernetzung von räumlich verteilten Organisationseinheiten (oft über Ländergrenzen hinweg), die sich als Partner an einem arbeitsteiligen Wertschöpfungsprozess verstehen.
Beispiel für ein virtuell arbeitendes Unternehmen ist ein Verlag. Neben einem Hauptstandort arbeitet der Verlag
mit verschiedenen Freiberuflern weltweit vernetzt zusammen. Virtualisierte Unternehmen finden sich u. a. in der IT-Branche – bedingt durch die Nähe zu den technologischen Grundlagen der Virtualisierung. Auch in dieser Branche spielt der computer-, medien- und netzbasierte Austausch von Informationen, Wissen und Arbeitsresultaten (z. B. Software oder Medienerzeugnisse) eine große Rolle. Eine räumliche und zeitliche Verteilung der einzelnen Arbeitsmodule steht im Vordergrund. Vorteile dieses Organisationsprinzips sind neben der hohen Flexibilität vor allem in einer breiteren und effektiveren Nutzung von Ressourcen und Spezialisten zu sehen. Nachteile des Virtualisierungsansatzes liegen evtl. in der fehlenden Praktikabilität und in einer Profillosigkeit des Unternehmens (z. B. können die Kunden nur schwer nachvollziehen, was genau das Unternehmen ausmacht). Die Virtualisierung stellt auch veränderte Anforderungen an die Mitarbeiter, die deutlich flexibler sein müssen und vor allem eine hohe Medienkompetenz besitzen sollten (7 Abschn. 29.3). Netzwerkbildung Definition Der Grundgedanke der Netzwerkbildung ist die längerfristig angelegte Entwicklung und Pflege von Netzwerken mit anderen (mehr oder weniger selbstständigen) Unternehmen (Corsten, 2001).
Hierbei handelt es sich um eine interorganisationale Strategie. Durch die Vernetzung mit anderen Unternehmen wird eine Absicherung und Aufteilung von unternehmerischen Risiken erreicht (z. B. wenn es um die gemeinsame Entwicklung von neuen Produkten geht). Es gibt eine Vielzahl von Netzwerkformen. Zum Beispiel unterscheidet man zwischen vertikaler und horizontaler Kooperation (Schreyögg, 2003). Unternehmen mit aufeinander folgenden Stufen der Wertschöpfung (Kunde und Lieferant) sind typisch für vertikale Kooperationen. Unternehmen auf der gleichen Stufe der Wertschöpfung (z. B. Forschungs- und Entwicklungskooperationen) kennzeichnen horizontale Kooperationen. Andere Beispiele von Netzwerken sind Joint Ventures und strategische Allianzen. Bei Joint Ventures handelt es sich um Gemeinschaftsunternehmen bzw. Kooperationen von Unternehmen, bei denen es zur Gründung einer neuen, rechtlich selbstständigen Geschäftseinheit kommt, an der beide Gründungsunterneh-
539 29.1 · Veränderungstrends in der Arbeitswelt
men mit ihrem Kapital und anderen Ressourcen beteiligt sind. Strategische Allianzen beinhalten dagegen eine Zusammenarbeit zwischen verschiedenen Unternehmen zur Durchführung von Großprojekten. Abhängigkeiten sind im Falle der Netzwerkbildung eher negativ und Synergien eher positiv zu bewerten. Nachteile von Netzwerken liegen möglicherweise im Know-howVerlust und in einem erhöhten Koordinationsaufwand. So muss z. B. eine Prozessveränderung nicht nur im eigenen Unternehmen, sondern auch in den Netzwerkunternehmen kommuniziert werden. Für die Mitarbeiter bringen solche Unternehmensnetzwerke einerseits Vorteile mit sich, da die Unternehmensgrenzen in Netzwerken durchlässiger werden und sich damit oftmals erweiterte Arbeitsmärkte und Entwicklungsmöglichkeiten ergeben. Andererseits erfordert die Kommunikation und Kooperation in Unternehmensnetzwerken auch zusätzliche Kenntnisse und Fähigkeiten der Mitarbeiter, da aufgabenbezogene Transaktionen nicht nur im Unternehmen selbst, sondern in besonderem Maße auch mit den Netzwerkpartnern auszuführen, zu gestalten und zu überwachen sind. Internationalisierung und Globalisierung Definition Allgemein beschreibt Globalisierung die Entstehung weltweiter Märkte aufgrund der Internationalisierung des Handels und der zunehmenden Verflechtung von Finanz-, Waren- und Dienstleistungsmärkten (vgl. Picot, Reichwald & Wigand, 2003). Hauptakteure dieses Prozesses sind große multinationale Konzerne.
In der Betriebswirtschaft wird der Globalisierungsbegriff zum Teil enger gefasst (Welge & Holtbrügge, 2003). Globalisierung wird hier als eine besondere Unternehmensstrategie unter mehreren verstanden. Sie erlaubt es der Organisation, über die Grenzen des Stammlandes hinaus aktiv zu sein. Dabei können vier verschiedene Internationalisierungsstrategien unterschieden werden: 4 Selektionsstrategie, 4 Integrationsstrategie, 4 Interaktionsstrategie und 4 Einzelmarktstrategie. Bei der Selektionsstrategie werden die Produkte für den Heimatmarkt entwickelt. Bei der Internationalisierung
erfolgt eine selektive Übertragung der Produkte in unveränderter Form in ausgewählte Länder. Beispiel hierfür sind die Herstellung und der Verkauf von Textilien. Die Anforderungen an die Arbeit bleiben hier fast unverändert, da nur die Ländermärkte bedient werden, die für das Produkt passend sind. Im Gegensatz dazu erfolgt bei der Einzelmarktstrategie eine Produktentwicklung für die individuellen Bedürfnisse des jeweiligen Landes. Hierbei sind die Wertschöpfungsketten der Landesgesellschaften voneinander unabhängig. Beispiele hierfür sind Versicherungen oder die Produktion von Nahrungsmitteln und Möbeln. Hier ist mit größeren Anforderungen an die Arbeits- und Prozessgestaltung zu rechnen, da die Produkte individuell an die Bedingungen in den jeweiligen Ländern angepasst und an verschiedensten Stellen koordiniert werden müssen. Die Integrationsstrategie verfolgt eine Entwicklung der Produkte und Dienstleistungen für den Weltmarkt. Die Wertschöpfungsaktivitäten werden zentral koordiniert. Beispiele hierfür sind die Produktion und der Verkauf von Flugzeugen, Uhren und Schmuck sowie von Photogeräten und -zubehör. Die wichtigste Anforderung an die Arbeits- und Prozessgestaltung besteht in einer zentralen Entwicklung und dezentralen Distribution der Waren. Bei der Interaktionsstrategie erfolgt zwar auch eine weltweite Koordination von Wertschöpfungsaktivitäten, jedoch durch intensive Interaktion mit Kunden und Geschäftspartnern vor Ort in den Ländern. Wichtig ist hierbei, dass eine Anpassung an lokale Erfordernisse der Auslandsmärkte erfolgt. Als Beispiele für diese Strategie sind die Rüstungsindustrie und die Telekommunikationsbranche zu nennen. Diese Strategie stellt die höchsten Anforderungen an die Arbeits- und Prozessgestaltung, da eine kontinuierliche Anpassung der Prozesse und intensive Interaktionsanforderungen zu bewältigen sind. Wegge und Dreißen (2000) haben Faktoren benannt, die den Erfolg internationaler Kooperationen beeinflussen. Es wird nach kontrollierbaren und teilweise kontrollierbaren Variablen unterschieden. Auf der Seite der Situationsvariablen, die teilweise kontrollierbar sind, sind interne und externe Einflussgrößen zu finden. Interne Einflussgrößen sind Unternehmensmerkmale und Unternehmensressourcen (z. B. Fachpersonal und Investitionsliquidität). Externe Faktoren sind die globale Umwelt und die Wettbewerbsumwelt (z. B. konjunkturelle Schwankungen). Die kontrollierbaren Faktoren liegen alle zum größten Teil innerhalb des Unternehmens: Unternehmenskultur, -systeme und -struktur, Personal und
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Kapitel 29 · Neue Formen der Arbeit: Das Beispiel Telekooperation
Ähnlichkeit der Unternehmen als Moderator des Erfolgs strategischer Allianzen In einer Studie von Oudenhoven und Zee (2002) wurde der Frage nachgegangen, welchen Einfluss die Ähnlichkeit der Unternehmen bei strategischen Allianzen hat. Sie untersuchten dazu 78 internationale Kooperationen niederländischer Unternehmen. Davon waren 67% Joint Ventures, 22% Allianzen und 11% Fusionen. Als potenzielle Moderatorvariablen wurden die Ähnlichkeit der nationalen Kultur und der Unternehmenskultur sowie strategische Unterschiede (z. B. im Marketing) und vorherige Erfahrungen (mit dem Land und der Kultur) untersucht.
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die Strategie des Unternehmens. Als Ergebnisvariablen, die den Erfolg einer internationalen Kooperation erfassen, sind objektive Daten (z. B. Umsatz) und subjektive Einschätzungen (z. B. Expertenurteile) zu nennen. Besonders wichtige Erfolgsfaktoren bei internationalen Organisationen sind: 4 eine flexible und innovative Unternehmenskultur, 4 unternehmensweit zugängliche Personalentwicklungsangebote, 4 die regelmäßige Arbeit von Führungskräften in internationalen Teams (Auslandseinsätze), 4 die Nutzung moderner Informations- und Kommunikationstechnologien.
Ein zentrales Ergebnis dieser Studie war, dass der Erfolg strategischer Allianzen groß ist, wenn die nationalen Kulturen und Unternehmenskulturen der beteiligten Partner ähnlich ausgeprägt sind. Zudem spielt die Erfahrung der Organisation mit dem Land des Kooperationspartners eine bedeutsame Rolle. Partnerschaften, in denen verschiedene strategische Unterschiede bewusst als Grundlage der Kooperation beachtet wurden, waren besonders erfolgreich.
dienstleistungsorientierte Tätigkeiten entwickelt hat. In entsprechenden Arbeitsumgebungen (z. B. in der Softwareentwicklung oder Unternehmensberatung) spielt die »Wissensarbeit« mittlerweile eine zentrale Rolle. Berufe mit ausgeprägten und typischen Anforderungen an Wissensarbeit sind Ingenieure, Softwareentwickler, Wissenschaftler und Manager. Was ist somit unter diesem Begriff zu verstehen? Definition
Wesentliche Veränderungen der Arbeitswelt können durch die Zunahme von Wissensarbeit und die Flexibilisierung von Arbeitsverhältnissen charakterisiert werden.
»Knowledge workers are defined here as high level employees who apply theoretical and analytical knowledge, acquired through formal education, to develop new products or services« (Drucker, 1994). Demnach sind Wissensarbeiter hoch qualifizierte Fachkräfte, mit theoretischem und analytischem Wissen, welches sie für die Entwicklung neuer Produkte und Serviceangebote verwenden. Wissensarbeit wird auch als »discovery and capture of knowledge, the filtering and arrangement of this knowledge, and the value derived from sharing and using this knowledge throughout the organization« definiert (Bernbom, 2001, S. XIV). Bei dieser Definition steht der Gedanke, dass dieses Wissen innerhalb der Organisation weitergegeben wird, im Vordergrund.
Wissensarbeit Das Wesen von Arbeit hat sich seit Mitte des 20. Jahrhunderts drastisch verändert (Barley & Kunda, 2001). Festzustellen ist vor allem, dass sie sich von einer Ausrichtung auf industrielle Tätigkeiten hin zu einer Ausrichtung auf eher professionalisierte, technisierte und
Wissensarbeit ist meist eine komplexe und auf spezifische Kontexte bezogene Arbeit. Es gibt selten ein einfaches richtiges Resultat und einen korrekten überprüfbaren Weg, diese Form der Arbeit zu erledigen. Mit Wissensarbeit sind meist Aufgaben bzw. Tätigkeiten mit
Welche Rolle die Ähnlichkeit der kooperierenden Unternehmen als Moderator des Erfolgs bei strategischen Allianzen spielt, wird im entsprechenden 7 Kasten anhand eines Beispiels erläutert. 29.1.2
Veränderungen der Arbeitswelt
541 29.1 · Veränderungstrends in der Arbeitswelt
seltenen oder wenig wiederkehrenden Abläufen verbunden. Das zur Aufgabenbewältigung bzw. Problemlösung erforderliche Wissen wird in solchen beruflichen Kontexten nicht etwa allein durch Fachausbildung und Professionalisierung erworben und dann angewendet. Vielmehr erfordert Wissensarbeit im hier gemeinten Sinn, 4 dass das relevante Wissen kontinuierlich revidiert, 4 permanent als verbesserungsfähig angesehen, 4 prinzipiell nicht als Wahrheit, sondern als Ressource betrachtet wird und 4 untrennbar mit Nichtwissen bzw. Wissensunschärfen gekoppelt ist, sodass mit Wissensarbeit spezifische Risiken verbunden sind (z. B. indem aktuelle wirtschaftliche und technologische Trends bei der Beratung von Kunden nicht ausreichend berücksichtigt werden). Aus diesen Gründen ist es auch nicht einfach, die Ergebnisse und Leistungen von Wissensarbeitern zu quantifizieren und zu bewerten. Eine Zusammenstellung der Charakteristika von Wissensarbeit findet sich im entsprechenden 7 Kasten. Wissensarbeit stellt somit auch neue Anforderungen an das Management. Nach Amar (2002) sind Führungseigenschaften wie Kreativität und Innovationsbereitschaft in diesem Bereich besonders wichtig, um Wissensarbeiter bzw. entsprechende Teams bei ihren komplexen und oft neuartigen Herausforderungen wirkungsvoll zu unterstützen und zu motivieren. Janz, Colquitt und Noe (1997) konnten darüber hinaus zeigen, dass Prozesse der Teamentwicklung und das Gewähren von Autonomie für die Effektivität von Wissensarbeiterteams besonders bedeutsam sind. Führungskräfte von Wissensarbeitern sind daher gezielt in Bezug auf die genannten Kompetenzen auszuwählen und zu trainieren. May Korczynski und Frenkel (2002) weisen außerdem darauf hin, dass Wissensarbeiter intensiver an übergeordneten Entscheidungsprozessen beteiligt werden sollten und ihnen im Unternehmen Laufbahn- und Karrierewege angeboten werden sollten, um das organisationale Commitment, den Einsatz für organisationale Ziele und die Bindung ans Unternehmen zu verstärken. Flexibilisierung der Arbeitswelt Aufgrund betrieblicher Flexibilisierungsprozesse in Bezug auf die Fertigungstechnologie, den Vertrieb sowie den Personaleinsatz, werden auch deutlich höhere Flexibilitätsanforderungen an die Beschäftigten gestellt. So wird
zunehmend gefordert, dass sich Arbeitnehmer flexibel auf die veränderte wirtschaftliche Situation und Arbeitsmarktlage einstellen, indem sie notwendige Kompetenzen erwerben, auf die Sicherheit langfristiger Beschäftigung verzichten und wenn notwendig sogar ihren Beruf wechseln. In diesem Zusammenhang wird auch von einem neuen psychologischen Kontrakt zwischen Arbeitgeber und Arbeitnehmer gesprochen. Dieser beinhaltet, dass die Unternehmen anstatt Beschäftigungsgarantien zu geben, die Erhaltung der Beschäftigungsfähigkeit (»employability«) ihrer Mitarbeiter ins Zentrum des Personalmanagements stellen (Rousseau, 1995). Das Konzept des psychologischen Kontrakts stellt die wechselseitigen Erwartungen und Verpflichtungen von Arbeitgeber und Arbeitnehmenden in den Fokus der Betrachtung und thematisiert dessen aktuelle Veränderung. Forschungsergebnisse zeigen, dass sich der Kontrakt insbesondere mit der Erfahrung von Personalabbau und Reorganisation verändert (auch 7 Kap. 13): Arbeitsplatzunsicherheit wird Teil der Erwartungen, es nimmt eher das Commitment gegenüber der Arbeitsaufgabe statt der Organisation zu und die Verantwortung für die eigene Laufbahn verschiebt sich zum Individuum (vgl. z. B. Cavanagh & Noe, 1999). Der Mitarbeiter wird hierdurch in eine neue Verantwortung gerückt: Konnte er bisher mit sich eher langsam verändernden Arbeitsinhalten und weitgehend gesicherten Beschäftigungsverhältnissen in seinem Betrieb rechnen, so ist mittlerweile eine kontinuierliche berufliche Weiterentwicklung und die Anpassung an sich stetig verändernde Arbeitsgegebenheiten und die damit verbundenen Herausforderungen gefordert. Mitarbeiter, die sich mit solchen neuen Beschäftigungsverhältnissen auseinandersetzen müssen, werden in der Literatur als »Arbeitskraftunternehmer« (Pongratz & Voß, 2003) oder »owner of the career« (York, 1994) beschrieben. Den Mitarbeitern werden einerseits mehr Freiräume bei der Arbeitsausführung eingeräumt, andererseits wird jedoch auch der Leistungsdruck auf die Mitarbeiter deutlich erhöht. Maßnahmen zur Flexibilisierung der Arbeit sind Werkverträge, befristete Arbeitsverträge oder Leiharbeit. Oft werden Mitarbeiter bis zu einem bestimmten Zeitpunkt bzw. einer bestimmten Dauer angeworben und projektbezogen eingesetzt. Für die Unternehmen hat dies den Vorteil, dass sie sich über die weitere Beschäftigungsdauer keine Gedanken machen brauchen und Kosten nur in Zeiten von Arbeit bzw. Beschäftigung anfallen.
29
542
Kapitel 29 · Neue Formen der Arbeit: Das Beispiel Telekooperation
Charakteristika von Wissensarbeit (nach May, Korczynski & Frenkel, 2002)
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Besondere Anforderungen an die Expertise der Wissensarbeiter Die Aufgaben- bzw. Problemstellungen von Wissensarbeitern sind meist sehr komplex und problemhaltig (z. B. Entwicklung eines neuen Patientenverwaltungsprogramms für ein großes Krankenhaus) sowie außerdem durch Unsicherheiten in Bezug auf Aktualität und Relevanz der Wissensgrundlagen geprägt (z. B. Welche Entwicklungstools eignen sich für die Erstellung des Verwaltungsprogramms?). Darüber hinaus sind besondere Erfordernisse in Bezug auf Kundenwünsche und -bedarfe bei der Problemlösung zu berücksichtigen (z. B. die Kompatibilität der Verwaltungssoftware mit bereits in der Organisation vorhandenen EDV-Systemen). Zur Aufgabenbearbeitung bzw. Problemlösung müssen oftmals neue Wege beschritten bzw. Vorgehensweisen entwickelt werden (z. B. kann es für den betrachteten Fall erforderlich sein, für das Patientenprogramm eine vollkommen neue Nutzer- bzw. Datenein- und -ausgabeschnittstelle von Patientendaten für unterschiedlichste Abteilungen des Krankenhauses, mit denen der Patient zu tun hat, zu entwickeln). Die zur Bewältigung solcher Aufgaben erforderliche Expertise beruht einerseits auf einem sehr guten und aktuellen theoretisch-konzeptionellem Wissen sowie ausgezeichneten analytischen Fähigkeiten. Wissensarbeiter müssen aber auch in der Lage sein, kontextuelles Wissen über den Kunden bzw. die Organisation, für die sie arbeiten, in die Entwicklung von Problemlösungen mit einzubeziehen und kreativ zu nutzen (z. B. gilt es die unterschiedlichen Nutzererfordernisse in Bezug auf Patientendaten zunächst differenziert zu analysieren und zu modellieren, bevor ein konkretes Nutzerschnittstellendesign entworfen wird). Arbeitsorganisatorischer Kontext von Wissensarbeit Der arbeitsorganisatorische Rahmen von Wissensarbeit ist oftmals durch intensive interdisziplinäre Teamarbeit, hohe Autonomie bei der Aufgabenausführung, gegenseitige Unterstützung und gemeinsames Lernen sowie ein hohes Ausmaß an Selbstregulation im Team gekennzeichnet. Die genannten arbeitsorganisatori-
schen Kontextbedingungen von Wissensarbeit führen oftmals dazu, dass sich enklavenartige Arbeitsstrukturen bilden, in denen die Teams der Wissensarbeiter zwar einerseits sehr autonom und effektiv arbeiten, andererseits dadurch auch etwas isoliert und nicht ausreichend eingebettet sind in die anderen bzw. übergreifenden Organisations- und Arbeitsstrukturen. Hier gilt es in Zukunft optimalere Lösungen zu entwickeln, die sowohl ausreichend Autonomie gewähren als auch eine hinreichende organisatorische Einbettung solcher Teams und Mitarbeiter sicherstellen. Aspekte der Management-Mitarbeiter-Beziehung bei Wissensarbeitern Wissensarbeiter werden vor allem durch intrinsische Aspekte ihrer Tätigkeit motiviert: Dies gilt insbesondere für die hohen fachlichen Herausforderungen, die ausgeprägte Autonomie bei der Aufgabenbearbeitung und die enge Zusammenarbeit mit anderen Spezialisten. Instrumente zur Führung und Motivation von Wissensarbeitern sind bisher demgegenüber eher unterentwickelt. Im Vordergrund stehen ergebnisorientierte Zielvereinbarungen sowie leistungsbezogene Entgeltbestandteile und Prämienzahlungen. Teamleiter und Vorgesetzte von Wissensarbeitern haben darüber hinaus oftmals eher koordinierende statt führende Funktionen. Auch spezifische Instrumente zur Personalentwicklung (z. B. Laufbahnstrukturen) oder zur Verbesserung der Unternehmensbindung und Mitarbeiterpartizipation existieren für diese Gruppe von Mitarbeitern nur in geringem Ausmaß. Das Commitment von Wissensarbeitern ist daher in der Regel eher an der jeweiligen Profession und/oder dem jeweiligen Team, in dem diese Personen arbeiten, orientiert. Das organisationale Commitment fällt meist deutlich gegenüber den genannten Commitment-Formen zurück. Wissensarbeiter sind somit eher gegenüber ihrem Team oder ihrer Berufs- bzw. Professionsgruppe loyal als gegenüber ihrer Organisation. Dies führt u. a. zu einer geringen organisationalen Bindung bzw. höheren Fluktuationsneigung von Wissensarbeitern.
543 29.2 · Telekooperation und Telearbeit
Aufseiten der Arbeitnehmer bedeutet dies jedoch, dass sie vermehrt unsichere, teilweise auch prekäre Arbeitsverhältnisse (z. B. immer wieder befristete Arbeitsverträge oder ständig wechselnde Arbeitsplätze) annehmen müssen und mit deutlich höheren Risiken in Bezug auf ihre materielle Lebensbasis und Altersversorgung leben und umgehen lernen müssen. Eine Konsequenz, die sich aus solchen Arbeitsverhältnissen ergibt, ist, dass die Beschäftigten in deutlich höherem Maße Verantwortung auch für ihre eigene berufliche (Weiter-)Entwicklung übernehmen müssen. Dies erfordert zum einen Fähigkeiten zur Mitgestaltung ihrer eigenen Beschäftigungsverhältnisse (z. B. in Bezug auf Ausrichtung und Vielfalt der Aufgaben) und zum anderen eine stärkere Eigenverantwortung und -initiative für die eigene Personalentwicklung. Sattelberger (1999) rät zukünftigen Arbeitnehmern daher, eigene Kernkompetenzen zu identifizieren und zu pflegen. Berufliche Vielseitigkeit sollte Teil der Laufbahnentwicklung sein, Netzwerke müssen aufgebaut werden und alternative Formen der Beschäftigung bedacht und gegebenenfalls erprobt werden. Auch der »worst case« als möglicher Fall eines Krisenszenarios sollte durchgespielt sowie Kompetenzen im Bereich der Selbstvermarktung aufgebaut werden. Darüber hinaus sollte ein selbst gesteuertes Weiterbildungsverhalten (Schaper & Sonntag, 2007) zur Unterstützung der Karriereentwicklung erlernt werden. Konzepte, die Erfordernissen der Flexibilisierung der Arbeitswelt entsprechen, wie die Telekooperation und die Telearbeit, werden im folgenden Abschnitt erläutert. 29.2
Telekooperation und Telearbeit
29.2.1
Definition und Formen
Definition »Telekooperation bezieht sich auf die mediengestützte arbeitsteilige Leistungserstellung von individuellen Aufgabenträgern, Organisationseinheiten und Organisationen, die über mehrere Standorte verteilt sind« (Reichwald, Möslein & Oldenburg, 1996, S. 65). Telekooperation beinhaltet somit die Teilnahme an Arbeitsprozessen mithilfe von Computern und Telekommunikationsmedien, die unabhängig von bestimmten Arbeitsplätzen bzw. Orten und teilweise auch Zeiten erfolgt.
Die Gestaltung von Telekooperationsprozessen richtet sich auf Arbeitsplätze, d. h. auf die raum-zeitliche Verteilung oder Anordnung der betroffenen Arbeitsplätze (z. B. als mobile Telearbeit), auf Wertschöpfungsprozesse in und zwischen Organisationen, d. h. die Flexibilisierung von Leistungsprozessen (insbesondere in Form vielfältiger Teledienstleistungen wie z. B. Service-Hotlines), und auf organisatorische Veränderungen in Richtung einer Modularisierung, Netzwerkbildung und Virtualisierung (z. B. als internationale Joint Ventures im Bereich der Produktentwicklung). Telearbeit ist somit ein Element von Telekooperation. Definition Unter Telearbeit werden Arbeitstätigkeiten verstanden, die räumlich entfernt vom Auftraggeber bzw. der Betriebsstätte unter Nutzung von Informations- und Kommunikationstechnik verrichtet werden. Der Telearbeiter ist dabei elektronisch mit der zentralen Betriebsstätte oder anderen Telearbeitern verbunden.
Das Anwendungsfeld von Telearbeit bzw. Telekooperation ist weit und reicht von lokalen über regionale und nationale zu globalen Einsatzmöglichkeiten. Mögliche Szenarien sind z. B. das Arbeiten in dezentralen Satellitenbüros oder in internationalen Unternehmenskooperationen oder auch die Erledigung von Aufgaben am häuslichen Arbeitsplatz; alle drei genannten Formen gehören zur Telekooperation. . Abb. 29.2 verdeutlicht drei wesentliche Dimensionen der Telekooperation: 4 die Telearbeit, 4 das Telemanagement und 4 die Teledienstleistungen. Die Telearbeit befasst sich mit der Gestaltung menschlicher Arbeit unter den Bedingungen der Verteilung und Mobilität, die vernetzte Arbeit steht hier im Vordergrund. Beim Telemanagement ist dies die vernetzte Führung, es wird untersucht, wie eine über größere räumliche Distanzen verteilte Aufgabenerfüllung koordiniert und gesteuert werden kann. Die Perspektive der Teledienstleistungen fragt schließlich nach den resultierenden Leistungen, deren Markt und Abnehmern, d.h., welche Informationsprodukte und Dienstleistungen lassen sich telekooperativ erbringen und welche Konsequenzen ergeben sich daraus für die Organisation und den Markt.
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Kapitel 29 · Neue Formen der Arbeit: Das Beispiel Telekooperation
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Telearbeit kennt viele Ausprägungsarten und -formen, die sich insbesondere durch den Ausführungsort charakterisieren lassen (z. B. Teleheimarbeit, Telearbeiten in Satellitenbüros, mobile Telearbeit). Es haben sich mittlerweile vier Grundformen der Telearbeit herausgebildet, die als Grundformen räumlicher Dezentralisierung für Unternehmen neue Flexibilisierungspotenziale bieten (. Abb. 29.3 und 7 Kasten »Grundformen der Telearbeit«). Schließlich ist auch die alternierende Telearbeit eine häufiger vorkommende Form der Telearbeit. Hiermit ist der systematische Wechsel zwischen Teleheimarbeitsplatz und betrieblicher Arbeitsstätte gemeint. Der Telearbeiter verrichtet seine Arbeit zu einem hohen Anteil an seinem Heimarbeitsplatz, ist aber weiterhin auch regelmäßig an seinem Arbeitsplatz im Betrieb. Zum Beispiel ein angestellter Bauingenieur in einem größeren Projektteam, der seine Entwurfsarbeiten überwiegend zu Hause anfertigt und hierbei per Datenleitung auf zentrale Rechner zugreifen kann, durch den intensiven Abstimmungsbedarf mit den restlichen Teammitgliedern aber an 2 Tagen in der Woche im zentralen Büro der Baufirma arbeitet. Nach neueren Schätzungen sind in der EU im Durchschnitt etwa 13%, in Deutschland sogar 16,6% der Arbeitnehmer (d. h. jeder siebte deutsche Berufstätige) als Telearbeiter tätig, wobei die größte Gruppe die alternierende Telearbeit darstellt (Empirica, 2003). Fasst man darüber hinaus Telearbeit in einem erweiterten Sinne als Arbeit unter Einsatz von Telemedien zur Überbrückung organisationaler Grenzen auf, so liegt der Anteil der telekooperativ tätigen Arbeitnehmer sogar bei 8–56% in Europa bzw. 46 % in Deutschland (Empirica, 2003). Welche Arten von Tätigkeiten stehen bei Telearbeit bzw. Telekooperation im Vordergrund? In einer Studie
© Springer-Verlag GmbH 2000
© Springer-Verlag GmbH 1996
. Abb. 29.2. Dimensionen der Telekooperation. (Nach Reichwald & Möslein, 1996)
. Abb. 29.3. Grundformen der Telearbeit. (Nach Reichwald et al., 2000)
von Godehardt (1997) zeigt sich, dass vor allem Programmier- (60%) und Managementaufgaben (18%) sowie Sachbearbeitungs- und Vertriebstätigkeiten (14%) als Telearbeit ausgeübt werden, während Textbearbeitung und Datenerfassung (4,5%) einen geringen Anteil ausmachen. Bei Sekretariats- und Unterstützungstätigkeiten kommt Telearbeit darüber hinaus praktisch nicht vor, was mit dem hohen Abstimmungsbedarf bei diesen Assistenzdiensten zu tun hat. Aufgaben, die wenig unmittelbare Kooperation erfordern, eignen sich somit eher für Telearbeit. Außerdem ist festzustellen, dass die Telearbeit Einzug in fast alle Bereiche der betrieblichen Arbeit gehalten hat, d. h., auch anspruchsvolle Arbeitsaufgaben werden mittlerweile in dieser Form verrichtet. 29.2.2
Zielsetzungen sowie Vorund Nachteile der Telearbeit
Telearbeit ermöglicht eine bessere Anpassung an neue, flexible Organisationsstrukturen. Als orts- und zeitflexible Arbeitsform passt sie sich gut entsprechenden or-
545 29.2 · Telekooperation und Telearbeit
Grundformen der Telearbeit Teleheimarbeit. Hierzu gehören informationstechnisch vernetzte Arbeiten vom häuslichen Arbeitsplatz aus. Man spricht dann von Teleheimarbeit, wenn der Arbeitnehmer bzw. Auftragnehmer zu Hause arbeitet, anstatt zur Betriebsstätte des Arbeitgebers bzw. Auftraggebers zu pendeln. Ein Beispiel hierfür ist der Softwareentwickler, der die Konzeption und Umsetzung von Softwareprogrammen von zu Hause aus ausführt. Telezentren. Hier werden Zentren geschaffen, in denen Telearbeitsplätze gebündelt sind. Zum einen können dies Telearbeitszentren sein. Verschiedene ausgelagerte Arbeitsplätze bzw. -stätten eines Unternehmens werden an einem Standort zusammengefasst. Zum anderen sind dies Teleservicezentren, deren Ziel es ist, kundenorientierte Teledienstleistungen anzubieten. Beide Zentren ermöglichen den Telearbeitern das Arbeiten mit modernster Ausstattung an Telekommunikationseinrichtungen. Beispiele hierfür sind Callcenter oder Zweigstellen von Firmen, die Arbeitsplätze
ganisationalen Anforderungen an. Hinzu kommt die zunehmende Bedeutung von computergestützter Arbeit sowie die rasante Entwicklung in puncto Leistung, Vernetzung und Kostenverfall der Technologien, die neue Qualitäten von Telearbeit ermöglichen (z. B. Andriessen & Roe, 1994). Die hierdurch erreichte potenzielle Flexibilität kann sowohl für die Beschäftigten als auch die Unternehmen Vorteile bringen. Aus Sicht der Unternehmen kann Telearbeit wesentlich zur Erhöhung der Produktivität beitragen. Befragungen in den USA und England weisen auf Produktivitätssteigerungen von 20– 70% hin (z. B. Caudron, 1992). Vergleichbare Erhebungen in Deutschland (Kordey, 2002) fallen ebenfalls positiv, aber mit 20–50% zurückhaltender aus. Allerdings sind diese Werte mit Vorsicht zu interpretieren, da die Nachhaltigkeit der Produktivitätssteigerungen nicht belegt ist und die Angaben von den Telearbeitern selbst geschätzt wurden. Worin liegen die Kosten- und Nutzenvorteile von Telearbeit? Neben geringeren Betriebskosten durch eine z. B. nicht erforderliche Arbeitsplatzbereitstellung sowie
für ihre Mitarbeiter für einen bestimmten Zeitraum (oft nur einen Tag in der Woche) zur Verfügung stellen.
Telearbeit vor Ort. Hier wird am Standort des Kunden (z. B. ein Lieferant) gearbeitet und über Telemedien wird ein enger Kontakt zur eigenen Organisation gehalten. Ein spezielles Beispiel für diese Art von Telearbeit ist, wenn Softwareentwickler oder Unternehmensberater für eine festgelegte projektbezogene Zeit am Kundenort arbeiten und sich primär über Telemedien mit ihrem eigenen Unternehmen austauschen. Mobile Telearbeit. Dies ist die wohl häufigste Form der Telearbeit. Jede Arbeit, die an einem mobilen Arbeitsplatz durchgeführt wird und durch die Unterstützung mobiler Informations- und Kommunikationstechnologie möglich ist, zählt zu dieser Kategorie. Dies kann der Malergeselle sein, der über Mobilfunk mit seinem Meister in Kontakt steht oder auch der Außendienstmitarbeiter einer Versicherung, der sich via Internet mit seinem Laptop in das Firmennetzwerk einloggt, um Verträge zu erstellen.
Raum- und Energieeinsparungen liegen diese auch im Bereich der Personalkosten (z. B. weniger Überstunden und Schichtzuschläge oder die Verlagerung der Arbeit in Gebiete mit niedrigeren Löhnen; vgl. Neuhaus, 2002). Es lassen sich aber auch Nachteile der Telearbeit identifizieren. Hier sind ein erhöhter Koordinierungsbedarf mit Kollegen sowie erhöhte Anforderungen an die Führungskraft zu nennen. Bei der Betrachtung der Vor- und Nachteile der Telearbeit lassen sich generell drei unterschiedliche Perspektiven identifizieren: die Perspektive der Unternehmen, der Beschäftigten und die gesellschaftlich-soziale Perspektive (. Tab. 29.1). Aus der Perspektive der Unternehmen liegen die Hauptvorteile der Telearbeit in einer Kostenreduktion und in einer höheren Flexibilisierung der Arbeitszeiten. Dies ist jedoch auch mit einer erhöhten Koordinierung und einer Verschlechterung der Kommunikation verbunden. Die Vorteile für die Beschäftigten liegen im Bereich der Verbesserung der Arbeitsqualität (Eigenverantwortung wird erhöht, störungsfreies Arbeiten etc.) und in einer Erhöhung der Arbeits- und
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546
Kapitel 29 · Neue Formen der Arbeit: Das Beispiel Telekooperation
. Tab. 29.1. Vorteile und Herausforderungen der Telearbeit für Arbeitgeber, Arbeitnehmer und Gesellschaft. (Nach Kurland & Bailey, 1999; Büssing & Konradt, 2006) Vorteile
Nachteile
Unternehmen
4 Qualitative und quantitative Verbesserung der Arbeitsergebnisse 4 Kostenreduktion, u. a. durch Einsparung von Büroräumen, Zulagen (z. B. Fahrgeldzuschuss), Energie (Strom- und Heizkosten), Parkplätze 4 Erhalt und leichtere Wiedereingliederung von qualifizierten Mitarbeitern 4 Geringerer Absentismus 4 Flexiblere Gestaltung der Arbeitszeiten 4 Bessere Arbeitsmoral 4 Mehr Kundennähe
4 Erhöhter Koordinierungsbedarf 4 Kosten für Einrichtung und Unterhalt des Telearbeitsplatzes 4 Verlust an Einfluss der Vorgesetzten; Führung und Kontrolle auf Distanz 4 Verschlechterung der Kommunikation mit den Mitarbeitern 4 Geringere Datensicherheit 4 Leistungsmessung und -kontrolle ist schwieriger
Arbeitnehmer
4 Einsparung an Zeit und Stressminderung durch verringerten Berufsverkehr 4 Erhöhte Eigenverantwortlichkeit und Selbstorganisation in der Arbeit 4 Störungsfreies Arbeiten, d. h. keine ungeplanten Gespräche mit Kollegen/Kunden 4 Bessere Vereinbarkeit von Berufs- und Familienleben 4 Erhöhung der Arbeits-, Familien- und Freizeitzufriedenheit 4 Verbesserung des Zeitmanagements
4 Soziale Isolation 4 Verlust sozialer und berufsbezogener Kompetenzen; verringerte Karrierechancen 4 Störungen durch die Familie 4 Fehlende Trennung von Beruf und Familie 4 Verlust an organisationaler Bindung 4 Höhere intrinsische Motivation nötig
Gesellschaft
4 Sicherung bestehender Arbeitsplätze (wenn diese z. B. aufgrund von Erziehungszeiten oder gesundheitlichen Problemen aufgegeben werden müssten) 4 Verbesserung der Integration von Behinderten 4 Entlastung der Verkehrswege und Entzerrung der Verkehrsstoßzeiten 4 Erschließung strukturschwacher Regionen
4 Bedeutungsverlust persönlicher und sozialer Kontakte 4 Entkopplung von gesellschaftlichen Zeitrhythmen 4 Erhöhung von Freizeitverkehr
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Freizeitzufriedenheit. Nachteile können eine soziale Isolation und verringerte Karrierechancen sein sowie eine verringerte Bindung an das Unternehmen. Unter einer sozialen und gesellschaftlichen Perspektive verspricht man sich von Telearbeit ebenfalls bestimmte Nutzenpotenziale. Unter dieser Perspektive könnte die umfangreichere Verbreitung von Telearbeit und -kooperation mit einer Entlastung der Verkehrswege verbunden sein und zu einer Sicherung bestehender Arbeitsplätze führen. Ein möglicher Nachteil könnte darin bestehen, dass persönliche und soziale Kontakte weiter an Bedeutung verlieren. Zusammenfassend lassen sich somit vielfältige Vorteile aber auch Nachteile der Telearbeit und -kooperation identifizieren. Da diese im individuellen Fall einzeln gewichtet und betrachtet werden sollten, lassen sich somit nur schwer allgemeine Aussagen treffen.
29.2.3
Gestaltungsaspekte der Telearbeit
Welche Bedingungen werden an die Arbeit im Umfeld der Teleheimarbeit gestellt? Hierbei sind bestimmte Anforderungen an die Gestaltung des Arbeitsplatzes, die Arbeitszeit und die Kommunikation zu berücksichtigen (vgl. Büssing, Drodofsky & Hegendörfer, 2003). Arbeitsplatz Der Teleheimarbeiter richtet sich in seinem häuslichen Umfeld einen Bildschirmarbeitsplatz ein. Ebenso wie bei der Arbeitsplatzgestaltung in der Organisation, ist der Arbeitgeber bei der ergonomischen Gestaltung der häuslichen Arbeitsplätze an Gesetze und Verordnungen gebunden (Richenhagen, Prümper & Wagner, 1998). Neben DIN-Normen (Deutsches Institut für Normung) ist das Arbeitsschutzgesetz (ArbSchG), die Arbeitsstätten-
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verordnung (ArbStättV) und die Bildschirmarbeitsverordnung (BildscharbV) zu beachten (vgl. Bundesministerium für Arbeit und Soziales, 2007). Ziel dieser Normen bzw. Gesetze ist es, die Sicherheit und den Gesundheitsschutz der Beschäftigten bei der Arbeit – und somit auch bei Telearbeit – zu sichern und zu verbessern. Bei der Arbeitsumgebung (Lärm, Klima, Beleuchtung und Strahlung) und den Arbeitsmöbeln (Tisch, Stuhl, Vorlagenhalter und Fußstütze) gelten ebenfalls die gleichen ergonomischen Anforderungen an einen Teleheimarbeitsplatz wie an einen Büroarbeitsplatz. Die technische Ausstattung besteht in der Regel aus bestimmten Hardwarekomponenten (Zentraleinheit, Monitor, Tastatur und Eingabehilfen) und Softwareprogrammen (z. B. zur Textverarbeitung, Tabellenkalkulation oder Graphikbearbeitung). Ein weiteres Gestaltungselement bezieht sich auf die Vernetzung des Computerarbeitsplatzes. Gab es vor einiger Zeit noch Wählleitungen, bei denen durch Einwahl in das Inter- bzw. Intranet ein Datenaustausch ermöglicht wurde, so sind heute Standleitungen auf DSL-Niveau (»digital subscriber line« bzw. digitale Teilnehmeranschlussleitung) Standard. Somit können heute auch Verfahren, die einen größeren Datenaustausch benötigen (wie z. B. Videokonferenzen) problemlos durchgeführt werden. Bei dem Datenaustausch muss auch Datenschutz gewährleistet werden. Gesicherte Leitungen bzw. Netzwerke sollen hier z. B. den Zugriff von Dritten auf sensible Daten verhindern. Arbeitszeit Telearbeit stellt einen neuen Ansatz im Umgang mit der Flexibilisierung der Arbeitszeit dar. Ein Telearbeiter hat die Möglichkeit, seine Arbeitszeit deutlich flexibler zu gestalten. Somit kann die Arbeitszeit an private (Familie) und geschäftliche Gegebenheiten (Kunden) angepasst werden. Es empfiehlt sich aber, gewisse Zeiten der täglichen Erreichbarkeit (z. B. zu bestimmten Stunden am Tag) einzurichten. Dies erleichtert vor allem die Kommunikation mit Kollegen bzw. anderen Personen der Institution. Es gelten jedoch bei der Teleheimarbeit die gleichen arbeitsrechtlichen Regelungen des Arbeitszeitgesetzes wie bei der betrieblichen Arbeitsstätte (vgl. Bundesgesetzblatt Teil 1, Jahrgang 1994, 1170 und 1171). Die höhere Flexibilität birgt neben Vorteilen auch Risiken. Neben erhöhten Koordinationskosten und einer lockereren Bindung des Arbeitnehmers an sein Unternehmen kann es auch zu Mehrarbeit kommen. Außerdem können durch eine mangelnde Abgrenzung von Privat- und Arbeitsle-
ben Spannungen entstehen (z. B. durch Störungen und Unterbrechungen bei der Ausübung der Telearbeit durch Familienmitglieder oder Bekannte). Andererseits kann die Ausübung einer Telearbeit aber auch Entlastungen durch geringeren Pendlerstress, Möglichkeiten zu konzentrierterer Arbeit und größeren Spielräumen zur besseren Vereinbarkeit von beruflichen und außerberuflichen Anforderungen bewirken. Kommunikation und soziale Beziehungen Bei der Kommunikation kann zwischen formellen und informellen Kommunikationsformen unterschieden werden. Erstere beziehen sich auf die Arbeitsaufgabe und sind an organisatorische Regeln und Strukturen gebunden. Mit Letzteren ist der spontane und gelegentliche Austausch zwischen Mitarbeitern gemeint. Da die informelle Kommunikation insbesondere über Face-to-FaceKontakte verläuft (7 Kap. 5), wird diese Art der Kommunikation durch Telearbeit eher eingeschränkt. Dadurch können sich soziale Beziehungen lockern oder lassen sich nur schwer aufbauen und es besteht das Risiko sozialer Isolation (Rensmann & Gröpler, 1998). Als Folge der reduzierten Kommunikation kann außerdem das Vertrauen in Kollegen und Organisation schwinden und die organisationale Bindung abnehmen (Büssing, 2001). Von Bedeutung ist bei der Kommunikation unter Telearbeit darüber hinaus die Art des Medieneinsatzes. Hier stellt sich die Frage, zu welchem Zweck und wann welche Medien in welcher Weise zur Organisation und Durchführung kommunikativer und kooperativer Akte im Arbeitsalltag eingesetzt werden sollten. Erste Antworten werden hierzu im Rahmen der Theorie der medialen Reichhaltigkeit formuliert (»media richness theory«, Trevino, Lengel & Daft, 1987), die dazu die Reichhaltigkeit von Medien sowie die Mehrdeutigkeit und Komplexität der zu bearbeitenden Aufgabenstellungen analysiert (7 Kap. 5). In Bezug auf die Reichhaltigkeit der Medien unterscheidet die Theorie zwischen »ärmeren« (z. B. Brief, E-Mail) und »reichhaltigeren« Medien (z. B. Videokonferenz oder Faceto-Face-Kommunikation) und sagt vorher, dass bei mehrdeutigen Aufgaben eine Benutzung von Medien mit hoher Reichhaltigkeit günstiger und leistungsförderlicher ist als die Nutzung von Medien mit geringer Reichhaltigkeit. Allerdings wurde bisher nicht so sehr die Mediennutzung, sondern die Medienwahl untersucht. Außerdem konnte noch nicht eindeutig bestätigt werden, dass bei mehrdeutigen Aufgaben reichhaltigere Medien gewählt werden. Tatsächlich werden auch bei komplexeren und mehrdeu-
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Kapitel 29 · Neue Formen der Arbeit: Das Beispiel Telekooperation
tigen Telearbeitsaufgaben eher »ärmere« Medien gewählt bzw. eingesetzt (Dennis & Kinney, 1998). In einer neueren Theorie zur Mediensynchronizität (Dennis & Valachich, 1999) wird zusätzlich der Kommunikationsanlass betrachtet. Die mit Medien zu bewältigenden Aufgaben werden dabei klassifiziert nach divergenten (z. B. Verteilen von Informationen oder Unterrichten) und konvergenten Kommunikationsprozessen (z. B. Entscheidungen herbeiführen). Die Theorie zur Mediensynchronizität besagt, dass die Effektivität der Kommunikation von der Passung der Mediencharakteristika (Unmittelbarkeit der Rückmeldung, Symbolvielfalt, Anzahl paralleler Informationskanäle, Überarbeitbarkeit und Wiederverwendbarkeit von Nachrichten) mit den Kommunikationsprozessen abhängt. Mediensynchronizität liegt demnach in dem Ausmaß vor, wie Individuen diejenigen Medienmerkmale vorfinden, die für die Zusammenarbeit erforderlich sind (bei konvergenten Prozessen trifft dies z. B. auf Medien zu, die eine hohe Unmittelbarkeit der Rückmeldung aufweisen). Allerdings liegen auch für diesen Ansatz bisher noch wenige empirische Erkenntnisse vor. 29.2.4
Arbeitspsychologische Untersuchungen zur Telearbeit
Um sich ein Bild von den Anforderungen und Belastungen der Telearbeit zu machen, können dieselben Ansätze der arbeitspsychologischen Tätigkeits- und Arbeitsanalyse verwendet werden wie bei anderen (Büro-)Arbeitsformen. In einer Studie von Konradt und Schmook (1999) wurden insgesamt 67 Teleheimarbeiter, alternierende Telearbeiter und eine Kontrollgruppe in Bezug auf Dimensionen des Belastungs- und Beanspruchungserlebens untersucht. Generell zeigten sich keine Unterschiede zwischen Telearbeitern und der Kontrollgruppe in Bezug auf die Belastungsfaktoren, wozu Aspekte wie Zeitdruck, Arbeitskomplexität, Unsicherheit etc. zählten. Unterschiede ergaben sich hinsichtlich geringerer Kommunikationsmöglichkeiten der Telearbeiter. Die Telearbeiter erlebten darüber hinaus weniger Arbeitsunterbrechungen und hatten einen höheren Zeitspielraum. Eine weitere Untersuchung zu Bedingungen und Anforderungen der Telearbeit wurde von Büssing, Drodofsky und Hegendörfer (2003) durchgeführt. Die Aquatel-Studie vergleicht die Telearbeit und Qualität des Arbeitslebens von Tele- und Büroarbeitern. Beide Arbeits-
formen wurden vergleichend im Quer- und Längsschnitt sowie in verschiedenen Organisationstypen bzw. Unternehmen untersucht. An der Untersuchung nahmen drei große Unternehmen teil, von denen insgesamt 56 Telearbeiter und 32 Büroarbeiter befragt wurden (durch Interviews, Fragebögen, etc.). Die zentralen Ergebnisse dieser Studie sind im 7 Kasten zusammengefasst. In Bezug auf die Aquatel-Studie kann resümiert werden, dass die spezifischen Nachteile, die häufig für Telearbeit befürchtet werden, zumindest in den untersuchten Unternehmen nicht zu einer gravierenden Senkung der Arbeitsqualität führen. Im Gegenteil scheint es eher so zu sein, dass die vorteilhaften Aspekte, die sich durch diese Arbeitsform ergeben, überwiegend realisiert werden. Aufgrund der nicht repräsentativen Stichprobe, die hier in Bezug auf beide Arbeitsformen untersucht wurde, ist jedoch vor einer vorschnellen Generalisierung dieser Einschätzung zu warnen. Müller (2001) untersuchte darüber hinaus dispositionelle Bedingungsfaktoren von Telearbeit. In seiner Studie verglich er 24 Telearbeiter mit 21 normalen Büroangestellten und fand heraus, dass Telearbeiter in höherem Maße selbstständigkeitsrelevante Eigenschaftsausprägungen besitzen. Unterschiede bei der Stärke des Leistungsmotivs, der Problemlöseorientierung und beim Unabhängigkeitsstreben weisen demnach auf besondere Eignungsmerkmale für Telearbeiten hin. Um die Chancen von Telearbeit effektiv nutzen zu können, sind somit auch bestimmte personelle Voraussetzungen zu berücksichtigen. 29.2.5
Gestaltung virtueller Teamarbeit
Eine weitere Variante telekooperativer Arbeit stellen sog. virtuelle Teams dar. Definition Konradt und Hertel (2002) definieren virtuelle Teams als flexible Gruppen standortverteilter und ortsunabhängiger Mitarbeiter, die auf der Grundlage von gemeinsamen Zielen bzw. Arbeitsaufträgen geschaffen werden und informationstechnisch vernetzt sind.
Konkrete Ausprägungen virtueller Teams sind z. B. Projektgruppen zur Entwicklung, Implementierung und Betreuung von konzernweit eingesetzten Kommunikati-
549 29.2 · Telekooperation und Telearbeit
Zentrale Ergebnisse der Aquatel-Studie (nach Büssing et al., 2003) Arbeitszeit. Die Aufteilung in betriebliche und häusliche Arbeitstage wird bei Telearbeitern sehr individuell gelöst, verallgemeinerbare Muster sind nicht zu erkennen. 40% der befragten Telearbeiter geben an, dass ihre Arbeitszeiten mehr oder weniger anders gelagert sind als früher, während 60% eine eher typische Verteilung der Arbeitszeit praktizieren. Bei 42% der Telearbeiter sind darüber hinaus Zeiten der telefonischen bzw. elektronischen Erreichbarkeit zu Hause festgelegt.
Qualifikationsanforderungen. Überraschenderweise schätzen Büroarbeiter die zur Ausführung ihrer Tätigkeit erforderlichen qualifikatorischen Voraussetzungen deutlich höher ein als Telearbeiter. Letztere sehen allerdings größere Chancen, ihre Qualifikationen anforderungsadäquat einzusetzen. Bezüglich des Zugangs zu Qualifizierungsmöglichkeiten wurden keine Unterschiede zwischen Büro- und Telearbeitern gefunden.
überforderungen bei beiden Gruppen in einem noch verträglichen Bereich.
Kommunikation und Medieneinsatz. Büroarbeiter haben deutlich mehr Kontakt zu Vorgesetzten und Kollegen als Telearbeiter. Zur Kommunikation werden von Telearbeitern überwiegend Telefon und E-Mail eingesetzt, kaum eine Rolle spielen Video- bzw. Computerkonferenzen. Sowohl die Tele- als auch die Büroarbeiter nutzen vor allen Dingen das Telefon, wenn bei der Kommunikation oder Informationsweiterleitung Schnelligkeit erforderlich ist.
Führung. In 40% der Fälle legen Vorgesetzte die Arbeitsziele gemeinsam mit den Telearbeitern fest, bei Büroarbeitern gilt dies nur in 24% der Fälle. Bei Telearbeitern wird in höherem Maße die Art der Aufgaben und der Zeitrahmen thematisiert, bei Büroarbeitern steht hingegen eher die Menge und Qualität der Arbeit im Vordergrund.
Widersprüchliche Anforderungen und Regulationsüberforderungen. Die Belastungen durch wider-
Arbeitsplatz und Familie. Bei den meisten Telearbei-
sprüchliche Anforderungen (z. B. widersprüchliche Aufgabenziele oder Widersprüche zwischen Aufgaben und Ausführungsbedingungen) und Regulationsüberforderungen (z. B. Zeitdruck) liegen für Büroarbeiter deutlich höher. Allerdings liegt das Niveau widersprüchlicher Anforderungen und von Regulations-
tern (93%) ist die Wohnung groß genug, um Arbeitsund Privatsphäre zu trennen und um ungestört zu arbeiten. Bei den Büroarbeitern zeigten sich im Vergleich zu den Telearbeitern häufiger Konflikte zwischen Arbeit und Familie (z. B. Kinder vom Kindergarten abholen und Verpflichtungen am Arbeitsplatz erfüllen).
onseinrichtungen oder Vertriebsteams für komplexe Softwareprodukte, die neben dem Verkauf auch Anpassungen der Software an kundenspezifische Anforderungen sowie die weitere Betreuung der Kunden übernehmen. Virtuelle Teams finden sich zurzeit noch überwiegend im Bereich von IT-Entwicklungen und -Dienstleistungen. Generell lässt sich feststellen, dass virtuelle Teams durch die gleichen Merkmale wie traditionelle Arbeitsgruppen charakterisiert sind (7 Kap. 8). Sie haben ein gemeinsames Ziel und einen gemeinsamen Arbeitsauftrag. Der Unterschied virtueller Teams zu traditionellen Gruppen liegt in ihrer Arbeit an dezentralisierten und delokalisierten Arbeitsorten. Die Gruppe ist somit nur der Struktur nach vorhanden und die Teammitglieder erbringen ihre Leistungen orts- und teilweise auch zeitunabhängig. Ebenso kommunizieren virtuelle Teams und tauschen ihre Informationen in erster Linie durch elektronische
Kommunikationsmedien (E-Mail, Netmeeting, Internetdienste, Telefon etc.) aus. In der Praxis kommen unterschiedliche Formen virtueller Teamarbeit vor. . Abb. 29.4 verdeutlicht zentrale Differenzierungsaspekte. Was ist beim Management und der Führung von virtuellen Teams zu beachten? Das lässt sich an den Phasen und Aufgaben des Managements virtueller Teams verdeutlichen (vgl. Hertel, Geister & Konradt, 2005). Der erste Schritt liegt in der Konfiguration und dem Aufbau eines virtuellen Teams. Zunächst muss ein geeigneter Teamleiter gefunden werden, der vor allem in der Lage ist, ergebnisorientiert mithilfe von Zielen, partizipativen Zielvereinbarungen und zielorientiertem Feedback zu führen. Die genannten Techniken der Zielvereinbarung sind in diesem Zusammenhang allerdings auf die Bedingungen von Gruppen anzupassen (d. h., es sollten sowohl Teamziele als auch individuelle Ziele vereinbart
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Kapitel 29 · Neue Formen der Arbeit: Das Beispiel Telekooperation
Mit freundlicher Genehmigung von Beltz, Weinheim. © Beltz 2002
. Abb. 29.4. Zentrale Aspekte zur Differenzierung unterschiedlicher Arten virtueller Teams. (Nach Konradt & Hertel, 2002)
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werden; ebenfalls sollten beim Feedback sowohl Rückmeldungen zu den Arbeitsfortschritten und dem Zusammenspiel des Teams als auch zu den Leistungen der Einzelnen gegeben werden). Für die Führung von virtuellen Teams wird darüber hinaus angenommen, dass kooperative und delegative Führungsstile von Bedeutung sind (Orlikowski, 2002), um den Teammitgliedern ausreichend hohe Entscheidungsbefugnisse zu gewähren. Zur Konfiguration des Teams gehört außerdem, die Mitglieder für das Team auszusuchen und die Aufgaben des Teams festzulegen. Von Bedeutung ist darüber hinaus, welche Tools für die Aufgabenerledigung ausgewählt und eingesetzt werden (z. B. welches »Groupware«-System mit unterschiedlichen Kommunikations-, Informationsund Kooperationsmodalitäten geeignet ist). Der Start der Teamarbeit erfolgt durch eine initiative Kick-off-Veranstaltung, die wenn möglich als Face-toFace-Treffen durchgeführt werden sollte. Hier lernen die einzelnen Teilnehmer sich kennen und es werden Regeln der Zusammenarbeit besprochen und vereinbart (z. B. wie das Team Entscheidungen trifft). In der Phase der Teamarbeit gilt es, diese Regularien umzusetzen und einzuhalten. Wichtig ist darüber
hinaus für den Teamleiter, die Motivation der Teammitglieder aufrecht zu erhalten, Vertrauen untereinander zu fördern und Konfliktmanagement zu betreiben, wenn erforderlich. Neben dem Kontakt über elektronische Medien sollten – wenn möglich – auch Face-to-Face-Kontakte realisiert werden zur Förderung der Zusammenarbeit und als Führungsinstrument. In dieser Phase sollten vor allem die Formen der Zusammenarbeit optimiert werden (z. B. mit welchen Medien man bei welchen Themen kommuniziert und in welcher Form und Ausführlichkeit der Teamprozess dokumentiert werden sollte). Um Risiken in Bezug auf die Motivation und das Vertrauen virtueller Teams als Folge des geringen persönlichen Kontakts der Teammitglieder untereinander und mit dem Teamleiter zu begegnen, empfehlen Konradt und Hertel (2002) vor allem folgende Faktoren im Kontext des Managements virtueller Teams zu berücksichtigen und zu fördern: 4 Die Bedeutung der Gruppenziele für das Team und die einzelnen Mitglieder verdeutlichen (z. B. indem die Gruppenziele mit den individuellen Zielen der Gruppenmitglieder verknüpft werden).
551 29.2 · Telekooperation und Telearbeit
4 Die Bedeutung des eigenen Beitrags zur Gruppenleistung herausarbeiten (z. B. Feedback für die Teammitglieder unter Berücksichtigung der Bedeutung ihrer Arbeit für den Teamerfolg geben). 4 Das Selbstvertrauen des Teams fördern (z. B. positives Feedback auf der Teamebene geben, um den Glauben des Teams an sich selbst zu fördern). 4 Vertrauen in die anderen und das System fördern (z. B. persönliche Kommunikation fördern, auch wenn sie nicht aufgabenbezogen ist). Die Beendigung der virtuellen Teamarbeit sollte schließlich mit einer Würdigung der geleisteten Arbeit einhergehen. Auch die Wiedereingliederung der Mitarbeiter in alte bzw. neue (virtuelle) Strukturen steht hier im Mittelpunkt. 29.2.6
Ausblick
Telekooperation und -arbeit nehmen heute einen immer größer werdenden Anteil an den Arbeitstätigkei-
ten und -aufgaben ein. Die rasante Fortentwicklung der Informations- und Kommunikationsmedien ermöglicht in zunehmendem Maße das (kooperative) Arbeiten an unterschiedlichen Orten und zu unterschiedlichen Zeiten. Sowohl von Angebots- als auch von Nachfrageseite, wird der Telearbeit daher ein beachtliches Potenzial zugesprochen (Büssing et al., 2003). Unter der Annahme, dass sie mindestens einen Tag in der Woche ihre Arbeit als alternierende Telarbeit ausüben sollen, könnten sich dies 32% der Arbeitnehmer in der EU bzw. 38% in Deutschland laut einer Empirica-Erhebung (2003) als realistische Möglichkeit vorstellen. Die zunehmende Verbreitung von Telearbeit und -kooperation ist allerdings wie beschrieben sowohl mit Chancen als auch Risiken verbunden. Telearbeit kommt insbesondere den Ansprüchen an eine zunehmende Flexibilität aufseiten der Unternehmen aber auch der Mitarbeiter entgegen. Bei der Einführung, Gestaltung und Umsetzung von Telearbeit in Unternehmen sind allerdings auch die Anforderungen insbesondere an eine veränderte Führung und Kommunikation nicht zu vernachlässigen.
Zusammenfassung 4 Trends der Organisationsveränderung sind gekennzeichnet durch Konzepte der Modularisierung, Virtualisierung, Netzwerkbildung sowie Internationalisierung und Globalisierung. 4 Wissensarbeit und die Flexibilisierung von Arbeit beschreiben besondere Trends veränderter Arbeitsanforderungen. 4 Telekooperation beinhaltet die gemeinschaftliche Teilnahme an Arbeitsprozessen mithilfe von Computern und Telekommunikationsmedien, die unabhängig von bestimmten Arbeitsplätzen bzw. Orten und teilweise auch Zeiten erfolgt. 4 Unter Telearbeit werden Arbeitstätigkeiten verstanden, die räumlich entfernt vom Auftraggeber bzw. der Betriebsstätte unter Nutzung von Informations- und Kommunikationstechnik verrichtet werden. Der Telearbeiter ist dabei elektronisch mit der zentralen Betriebsstätte oder anderen Telearbeitern verbunden. 4 In Bezug auf unterschiedliche Formen der Telearbeit wird zwischen Teleheimarbeit, Telezentren, Telearbeit vor Ort, mobiler Telearbeit und alternierender Telearbeit unterschieden.
4 Bei der Gestaltung von Telearbeit sind vor allem Fragen der ergonomischen Arbeitsplatzgestaltung, der Arbeitszeitgestaltung und zeitlichen Verfügbarkeit, der Kommunikation und Kooperation, der Führung und der Abgrenzung von Arbeit und Privatleben zu berücksichtigen. 4 Telearbeit und Telekooperation eröffnen und unterstützen neue Möglichkeiten zur Flexibilisierung von Arbeit, indem Arbeitsleistungen orts- und zeitunabhängiger erbracht werden können. Die dadurch entstandenen neuen Formen der Telearbeit sind sowohl für die Mitarbeiter als auch für die Unternehmen mit spezifischen Chancen und Risiken verbunden. 4 Virtuelle Teams sind flexible Gruppen standortverteilter und ortsunabhängiger Mitarbeiter, die auf der Grundlage von gemeinsamen Zielen bzw. Arbeitsaufträgen geschaffen werden und informationstechnisch vernetzt sind. 4 Beim Management virtueller Teams sind die Phasen der Konfiguration, des Starts der Teamarbeit, der Teamarbeit selbst und der Beendigung der Teamarbeit zu beachten.
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Kapitel 29 · Neue Formen der Arbeit: Das Beispiel Telekooperation
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V Die Schnittstelle Organisation–Markt: Dienstleistungen 30
Dienstleistungstätigkeiten
– 557
31
Dienstleistungsqualität – Erklärung und Messung
32
Steuerung der Dienstleistungsqualität – 579
– 571
Organisationen können als offene Systeme betrachtet werden. Das wesentliche Merkmal solcher Systeme ist der Austausch mit ihrer Umwelt. Im Zentrum dieses Austausches stehen die Mitarbeiter, die mit der Umwelt – vor allem vertreten durch ihre Kunden – in Kontakt treten. Dieses sog. Kundenkontaktpersonal bildet damit die entscheidende Schnittstelle zum Markt, die Mitarbeiter mit Kundenkontakt vertreten die Organisation und wirken auf die Umwelt ein, nehmen den Einfluss der Umwelt auf und vermitteln ihn in der Organisation. Diesen Mitarbeitern widmet sich der letzte Abschnitt dieses Lehrbuches. Die Tätigkeit des Kundenkontaktpersonals kann im weitesten Sinne als Dienstleistung bezeichnet werden: Die Mitarbeiter treten mit Kunden in Kontakt mit dem Ziel, Probleme der Kunden zu lösen. Die wichtigsten Merkmale von Dienstleistungen und den dabei verrichteten Tätigkeiten werden in 7 Kap. 30 dargestellt. Dabei zeigt sich, dass Dienstleistungen – arbeitspsychologisch analysiert – letztlich Interaktionen zwischen Mitarbeiter und Kunde, zwischen Dienstleistungsgeber und Dienstleistungsnehmer sind. Dies stellt die Arbeits- und Organisationspsychologie vor ganz besondere Aufgaben, die in den folgenden Kapiteln beschrieben werden. Mittelbar muss es das Ziel von Unternehmen sein, ihre Kunden zufriedenzustellen: Unternehmen können nur dann überleben, wenn ihre Kunden hinreichend zufrieden sind und deshalb weiterhin die Produkte und Dienstleistungen kaufen bzw. sie sogar anderen Menschen empfehlen. Darüber hinaus kann man argumentieren, dass in der Befriedigung menschlicher Bedürfnisse ein wesentlicher Grund für das Bestehen von Organisationen liegt – die Zufriedenheit der Kunden wird damit zu einem zentralen Ziel von Unternehmen. Kunden sind zufrieden mit Unternehmen, wenn sie von der angebotenen Qualität der Produkte und Dienstleistungen überzeugt sind. Die Qualität von Dienstleistungen einzuschätzen ist aber sehr viel schwieriger als im Falle von Produkten. In 7 Kap. 31 werden daher die Grundlagen der Kundenzufriedenheit und der Dienstleistungsqualität etwas genauer dargestellt und im abschließenden 7 Kap. 32 die psychologisch wichtigen Ansatzpunkte zur Steuerung der Dienstleistungsqualität diskutiert.
30
30 Dienstleistungstätigkeiten 30.1
Dienstleistung: Bedeutung und Problem
30.2
Taxonomie der Dienstleistungen
– 558
– 559
30.3
Die Dienstleistungsdyade
30.3.1 30.3.2 30.3.3 30.3.4
Struktur der Beziehung – 560 Ebene instrumentellen Handelns: Ein Modell der Interaktion – 561 Ebene des sozialen Handelns: Kommunikation und Gefühlsarbeit – 563 Soziale Organisation der Beziehung – 565
30.4
Der dritte Akteur: Die Organisation Literatur
– 568
– 560
– 567
558
Kapitel 30 · Dienstleistungstätigkeiten
> In allen entwickelten Volkswirtschaften arbeiten die meisten berufstätigen Menschen im Bereich der Dienstleistungen. Im Gegensatz zu Tätigkeiten in der (industriellen) Produktion, mit denen sich die Arbeitspsychologie bevorzugt beschäftigt, werden Dienstleistungen im mehr oder weniger direkten Kontakt mit dem Kunden produziert. Dieses spezifische Merkmal der Tätigkeit wirft besondere Probleme für die Arbeits- und Organisationspsychologie auf, da die wahrgenommene Qualität der Leistung in hohem Maße von der Einschätzung der Person und des Verhaltens des Dienstleisters durch den Kunden abhängt. Die psychologischen Aspekte der Tätigkeiten im Dienstleistungsbereich werden im Folgenden etwas genauer analysiert.
30.1
30
Dienstleistung: Bedeutung und Problem
Bereits Mitte des vorigen Jahrhunderts wurden Dienstleistungen als »die große Hoffnung des 20. Jahrhunderts« bezeichnet (Fourastié, 1954; vgl. zum Folgenden Nerdinger, 1994, 2005). Diese Hoffnung basierte auf Entwicklungen der Volkswirtschaften industrialisierter Länder, die mit deren weit verbreiteter Gliederung in drei Sektoren verdeutlicht wurden. Der primäre Sektor – auch als »Urproduktion« bezeichnet – umfasst nach dieser Konzeption Land- und Forstwirtschaft, Viehzucht und Fischerei. Zum sekundären oder industriellen Sektor zählen Industrie, Bergbau, Energiewirtschaft und Handwerk. Verbleibt eine Restkategorie, der gemeinhin mit dem Etikett »Dienstleistungen« versehene tertiäre Sektor. . Abb. 30.1. Die Entwicklung der Beschäftigung in den Sektoren der Volkswirtschaft
Nach Fourastié (1954) ist der Übergang von der vorindustriellen zur industriellen Gesellschaft durch eine Abnahme der Beschäftigung im primären Sektor bei gleichzeitiger Zunahme im sekundären Sektor gekennzeichnet. Für die zweite Hälfte des 20. Jahrhunderts prognostizierte er einen weiteren, noch dramatischeren Wandel von der industriellen zur Dienstleistungsgesellschaft – demnach wird im sekundären Sektor zunächst eine Stagnation und dann eine stetige Abnahme der Beschäftigung erfolgen, im Dienstleistungssektor dagegen ein überproportionales Wachstum der Arbeitskräfte einsetzen. Im Jahre 2000 erwartete Fourastié ca. 80% der Beschäftigten im tertiären Sektor, eine Prophezeiung, die sich annähernd erfüllt hat: In den USA machte der Anteil des tertiären Sektors zu diesem Zeitpunkt bereits weit über 70% aus, in Deutschland rund 70% (Wolff, 1998; . Abb. 30.1).
559 30.2 · Taxonomie der Dienstleistungen
Ein zentrales Problem bei der Interpretation dieser Entwicklung bildet allerdings die Frage, was unter dem tertiären Sektor zu verstehen ist. In der Statistik wird diesem Feld alles zugeschlagen, was nicht eindeutig zum primären oder sekundären Sektor zählt: Handel, Verkehr, Nachrichten, Kreditinstitute, Versicherungen, Dienstleistungen von Unternehmen und freie Berufe, Organisationen ohne Erwerbscharakter, private Haushalte, Gebietskörperschaften u. a. m. – dies alles bildet den tertiären Sektor der Dienstleistungen. Dienstleistungen bilden in der offiziellen Statistik eine residuale Sammelkategorie, in die alles eingeordnet wird, was sich in den gängigen Branchen nicht unterbringen lässt. Das ist auf eine Reihe von Besonderheiten zurückzuführen, in denen sich Dienstleistungen von Produkten unterscheiden. Die folgenden beiden Merkmale werden am häufigsten genannt (Meffert & Bruhn, 2003): 4 Intangibilität bzw. Immaterialität: Dienstleistungen sind ein materiell nicht greifbares Gut. Dieses Merkmal führt u. a. dazu, dass Kunden Schwierigkeiten bei der Bewertung der Qualität von Dienstleistungen haben. 4 Uno-actu-Prinzip: Produktions- und Konsumtionsprozess fallen räumlich und zeitlich zusammen, wobei der Kunde an der Erstellung der Leistung mehr oder weniger beteiligt ist. Für den Betrieb folgt daraus u. a. eine Einschränkung des Leistungsangebots – Dienstleistungen sind nicht lager- und transportfähig – und der Leistungsfähigkeit sind zeitliche (und körperliche) Grenzen gesetzt. Diese Merkmale von Dienstleistungen sind auf interpersonale, für die psychologische Forschung entscheidende Qualitäten des Prozesses der Erstellung und Vermarktung von Dienstleistungen zurückzuführen: Definition Letztlich besteht eine Dienstleistung aus der Interaktion zwischen Anbieter und Kunde, zwischen Dienstleistungsgeber und Dienstleistungsnehmer (Nerdinger, 2005).
Da die Handlungen des Anbieters die eigentliche Leistung bilden, wobei die Erstellung der Leistung immer eine gewisse Beteiligung des Kunden erfordert, kann die Produktion von Dienstleistungen nicht wie im industriellen Bereich standardisiert, gesteuert und kontrolliert werden.
30.2
Taxonomie der Dienstleistungen
Aufgrund der unklaren Definition bilden Dienstleistungen ein äußerst heterogenes Feld, das zu gliedern große Probleme bereitet. Aus psychologischem Blickwinkel eignet sich dazu ein Merkmal, das im Zentrum der Tätigkeit steht und selbst einen (sozial-)psychologischen Forschungsgegenstand bildet: die Interaktion zwischen Dienstleistungsgeber und Dienstleistungsnehmer (7 Kap. 5). Aufgrund der Art und Intensität der Interaktion kann das Feld des tertiären Sektors in unterstützend-interaktive, problemorientiert-interaktive und persönlich-interaktive Dienstleistungen unterteilt werden (Klaus, 1984; Nerdinger, 2007; . Abb. 30.2): Unterstützend-interaktive Dienstleistungen. Bei unterstützend-interaktiven Dienstleistungen ist das Objekt der Leistung häufig ein Sachgut, das der Dienstleistungsnehmer einbringt. Beispiele sind Reparaturwerkstätten oder Autowaschstraßen. Der Prozess der Leistungserstellung kann in diesem Fall durch den Einsatz von Maschinen unterstützt werden, die Interaktion zwischen Dienstleistungsnehmer und Kontaktpersonal des Anbieters ist auf die Auftragsannahme und die Herausgabe des Sachgutes beschränkt. Problemorientiert-interaktive Dienstleistungen. Bei der Produktion problemorientiert-interaktiver Dienstleistungen werden die zur Leistungserstellung notwendigen Informationen entweder indirekt über verschiedene Medien oder im direkten Kontakt vom Dienstleistungsnehmer vermittelt. Beispiele dafür bilden Anwaltsbüros oder Werbeagenturen. Der Dienstleistungsnehmer steuert in diesen Fällen durch seine Vorstellungen und Wünsche die Produktion der Dienstleistung in starkem Maße, daher hat die Interaktion entscheidende Bedeutung für das Ergebnis. Persönlich-interaktive Dienstleistungen. Schließlich bildet bei persönlich-interaktiven Dienstleistungen die Person des Dienstleistungsnehmers das Objekt der Leistungserstellung, Beispiele sind psychotherapeutische Behandlungen oder Weiterbildungsveranstaltungen. Die Dienstleistung besteht in der Einwirkung auf den intellektuellen, emotionalen oder physischen Bereich des Dienstleistungsnehmers, entsprechend erschöpft sich die Leistung weitgehend in der Interaktion mit dem Dienstleistungsgeber.
30
560
Kapitel 30 · Dienstleistungstätigkeiten
. Abb. 30.2. Das Spektrum der Dienstleistungen. (Mod. nach Klaus, 1984)
Aufgrund der zentralen Bedeutung der Interaktion für die Erstellung der Dienstleistung sind persönlichinteraktive, aber auch problemorientiert-interaktive Dienstleistungen psychologisch besonders interessant. Die folgenden Ausführungen verdeutlichen, wie solche Dienstleistungen erstellt werden. 30.3
Die Dienstleistungsdyade
30.3.1
Struktur der Beziehung
Gewöhnlich gehen Dienstleistungsnehmer wegen eines Problems zu einem Dienstleistungsgeber, um im Tausch gegen finanzielle Mittel eine Lösung ihres Problems zu erhalten (Goffman, 1973; Nerdinger, 1994, 2005). Damit ist die ökonomische Basis der Beziehung benannt, die Transaktion »Leistung gegen Geld«. Die psychologisch zentrale Frage ist aber, wie die gegen Geld getauschte Leistung erbracht wird. Von besonderer Bedeutung sind dabei alle Leistungen, die Dienstleistungsnehmer und Dienstleistungsgeber gemeinsam erstellen, wobei sich zwischen den beiden Akteuren eine Interaktion – in der Regel »face-to-face« – entwickelt. Dabei lassen sich zwei Handlungsformen unterscheiden: für die Problemlösung instrumentelle, rein technische Handlungen und auf die Persönlichkeit gerichtete soziale Handlungen der
Mit freundlicher Genehmigung des Verlags Duncker & Humblot GmbH.
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. Abb. 30.3. Die Dienstleistungsdyade. (Nach Nerdinger, 2005)
Akteure. Diese Struktur der Begegnung zwischen Dienstleistungsgeber und Dienstleistungsnehmer ist idealtypisch in . Abb. 30.3 veranschaulicht. Das Problem »gehört« dem Dienstleistungsnehmer, was durch die verbundene Linie angedeutet wird. »Problem« ist hier im weitesten Sinne zu verstehen: Es kann sich um Objekte der Dienstleistungsnehmer handeln, die einer Reparatur bedürfen; es können Probleme sein, zu deren Lösung der Dienstleistungsgeber die adäquaten Produkte anzubieten hat; aber auch körperliche und psychische Probleme fallen darunter. Dabei müssen dem Kunden seine Probleme noch nicht einmal bewusst sein:
561 30.3 · Die Dienstleistungsdyade
Manchmal gehört es zur Aufgabe eines Dienstleistungsgebers, den – in diesem Falle potenziellen – Kunden überhaupt erst klar zu machen, dass sie ein Problem haben. Das ist es, was z. B. Berater von Versicherungen so erfolgreich praktizieren! In jedem Fall ist es die Aufgabe der Dienstleistungsgeber, die Probleme der Dienstleistungsnehmer zu lösen – das wird durch den einseitig gerichteten, durchgezogenen Pfeil in . Abb. 30.3 veranschaulicht. Diese Aufgabe erfordert von ihnen technische Fähigkeiten, sie müssen die notwendigen technischen, für die Lösung des Problems instrumentellen Handlungen beherrschen. Bei deren Ausführung ist der Dienstleistungsgeber aber auf die Zusammenarbeit mit dem Dienstleistungsnehmer angewiesen, d. h., Letzterer ist mehr oder weniger an der Leistungserstellung beteiligt (Voß & Rieder, 2005). Das wird in . Abb. 30.3 durch den gestrichelten Pfeil angedeutet. Die Leistungserstellung verlangt also eine bestimmte Form der Kooperation zwischen den beiden Akteuren, die auf das Ziel der Problemlösung abgestimmt ist. Um diese Zusammenarbeit realisieren zu können, müssen beide Akteure als Persönlichkeiten in Beziehung treten, was in . Abb. 30.3 durch einen wechselseitigen Pfeil veranschaulicht wird. Gelegentlich beschränken sich die damit bezeichneten sozialen Handlungen auf rituelle Achtungsbezeugungen vor der Persönlichkeit des anderen, wichtiger ist allerdings die gewöhnlich stattfindende kommunikative Abstimmung über die Problemlösung. In jedem Fall wird durch solche soziale Handlungen eine Beziehungsebene im kommunikationspsychologischen Sinn definiert (Nerdinger, 2003a). Die grundlegenden psychologischen Annahmen zum instrumentellen und zum sozialen Handeln der beteiligten Akteure werden im Folgenden dargestellt. 30.3.2
Ebene instrumentellen Handelns: Ein Modell der Interaktion
Den Ausgangspunkt der Dienstleistungserstellung bildet ein Problem des Dienstleistungsnehmers bzw. sein Vertrauen darauf, dass es in unserer Gesellschaft Menschen gibt, die gegen Bezahlung bereit sind, ihre Fähigkeiten zur Lösung seiner Probleme bereitzustellen. Diese Fähigkeiten zeigen sich als instrumentelle oder technische Handlungen. Darunter werden hier alle auf die Lösung der Probleme von Dienstleistungsnehmern gerichteten
Handlungen gefasst (Nerdinger, 1994; Weihrich & Dunkel, 2003): Diese Handlungen richten sich immer auf Objekte, wobei es zunächst egal ist, ob es sich dabei um eine Maschine, einen menschlichen Körper oder gar seine Psyche handelt. Wichtig ist nur, dass die »Gegenstände« des Handelns wie Objekte behandelt werden – dadurch unterscheidet sich instrumentelles von sozialem Handeln –, Letzteres ist auf Subjekte gerichtet. Bei den instrumentellen oder »technischen« Aspekten der Dienstleistung kommen mit Blick auf den Dienstleistungsgeber die verschiedensten Handlungen in Betracht: die Steuerung des Autos durch den Taxifahrer, die Techniken der Scherenführung durch den Friseur, die knetenden Handgriffe des Masseurs, das Ansetzen des Stethoskops an den Körper des Patienten durch den Arzt, die erläuternden Ausführungen eines Kreditberaters und – besonders schwierig als technische Handlungen zu erkennen – die Fragen und Antworten eines klinischen Psychologen, die allein auf Diagnose oder Therapie der Störungen des Patienten gerichtet sind. Instrumentelle Handlungen richten sich auf die Lösung der Probleme des Dienstleistungsnehmers. Für das Verständnis von Dienstleistungen ist dabei entscheidend, dass die Dienstleistungsnehmer immer an der Lösung ihrer Probleme beteiligt sind, was auch als Koproduktion der Dienstleistung bezeichnet wird (Grün & Brunner, 2002; Voß & Rieder, 2005). Gewöhnlich beschränkt sich ihre Teilnahme auf die Vermittlung von Informationen, über die Dienstleistungsgeber verfügen müssen, um die notwendigen technischen Handlungen ausführen zu können. Gelegentlich müssen sie – den Anweisungen der Dienstleistungsgeber gehorchend – ihre Körper in bestimmte Stellungen bringen oder aber sie müssen selbst aktiv werden, indem sie z. B. Formulare ausfüllen oder Informationen verbal vermitteln. In manchen psychologischen Dienstleistungen schließlich scheinen sie fast die ganze Arbeit selbst zu übernehmen, was gewöhnlich als »Hilfe zur Selbsthilfe« umschrieben wird. Für die Analyse instrumenteller Handlungen wurde in der Arbeitspsychologie die Tätigkeitstheorie entwickelt (7 Kap. 20), mit der sich die innerpsychischen Prozesse zielgerichteten Arbeitshandelns erklären lassen. Die Übertragung der Tätigkeitstheorie auf den Bereich der Dienstleistungen führt aber zu spezifischen Problemen: Diese Theorie wurde für Tätigkeiten im Bereich der industriellen Produktion entwickelt, die sich auf Objekte richten. Deren Verhalten lässt sich aber relativ genau berechnen bzw. vorhersagen. Dienstleistungen rich-
30
Kapitel 30 · Dienstleistungstätigkeiten
ten sich dagegen auf Subjekte, die buchstäblich eigenwillig sind und deren Verhalten sich eben nicht immer eindeutig vorhersehen lässt. Aufgrund der Koproduktion muss die Erstellung von Dienstleistungen als Interaktion analysiert werden, in der die Akteure ihre Handlungen in bestimmter Weise sozial aufeinander abstimmen (Dunkel & Voß, 2004; Nerdinger, 2005). Die verschiedenen Möglichkeiten der Abstimmung von Handlungen schlagen sich in unterschiedlichen Formen der Interaktion nieder, weshalb zu ihrer Analyse auch ein Modell der Interaktion gefordert ist. Jones und Gerard (1967) unterscheiden in ihrer Klassifikation vier Formen der Interaktion (7 Kasten): Pseudo-, asymmetrische, reaktive und totale Interaktion. Formal lassen sich diese Formen wie in . Abb. 30.4 veranschaulichen. Akzentuierend lässt sich sagen: Im Rahmen von unterstützend- und problemorientiert-interaktiven Dienstleistungen dominieren gewöhnlich Pseudointeraktionen, in persönlich-interaktiven Dienstleistungen dagegen to-
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© John Wiley & Sons, Inc. 1967
562
. Abb. 30.4. Formen der Interaktion. (Nach Jones & Gerard, 1967)
Formen der Interaktion Pseudointeraktionen. Bei Pseudointeraktionen sind die Reaktionen der Interaktionspartner jeweils auf individuell vorbestimmte Ziele ausgerichtet, auf Stichworte oder Verhaltenssignale hin werden die Einzelaktivitäten abgewickelt. Dadurch wirkt diese Interaktionsform auf den Beobachter, als würde sie allein durch gesellschaftlich festgelegte Rituale reguliert. In Pseudointeraktionen stimmen die Verhaltenspläne der Akteure weitgehend überein. Ein typisches Beispiel für diesen Fall bildet die Interaktion am Counter eines Fast-Food-Restaurants. Asymmetrische Interaktionen. Bei asymmetrischen Interaktionen spult eine Person ihr Verhaltensprogramm ab und wirkt durch ihr planmäßiges Vorgehen stark auf das Verhalten der anderen Person ein. Diese wiederum reagiert lediglich, gewöhnlich ohne dadurch die weiteren Aktionen der dominanten Person zu modifizieren. Solche Interaktionen kennzeichnen Situationen, in denen Dienstleistungsgeber deshalb Anordnungen erteilen können, weil die Dienstleistungsnehmer in hohem Maße von ihnen abhängig sind. Ärzte praktizieren dies äußerst gekonnt.
Reaktive Interaktionen. Bei der reaktiven Interaktion liegt eine wechselseitige Orientierung an der Reaktion des Partners vor, wobei keiner der Akteure eigene Verhaltenspläne verfolgt. »Small Talk« ist ein typisches Beispiel reaktiver Interaktion. Aufgrund ihres ungerichteten Charakters bezeichnet dies allerdings keine eigenständige Interaktionsform in Dienstleistungen, vielmehr begleiten und erleichtern reaktive Interaktionen die instrumentellen Handlungen. Totale Interaktionen. Sie sind durch eine Mischung aus planvollen und reaktiven Verhaltensweisen gekennzeichnet, wodurch eine beiderseitige Korrektur von Plänen und Einzelaktivitäten entstehen kann. Beide Interaktionspartner möchten bestimmte Ziele verwirklichen, sie zeigen jedoch kein vorprogrammiertes Verhalten, sondern stimmen sich auf die Reaktionen des Partners ab. Die beratenden, auch die meisten psychotherapeutischen Dienstleistungen kommen diesem Ideal sehr nahe.
563 30.3 · Die Dienstleistungsdyade
tale oder – und das bezeichnet die Ausnahmestellung professioneller Dienstleistungsgeber, vor allem der Ärzte – asymmetrische Interaktionen. Zum Verständnis der Abstimmung der Akteure bei diesen Interaktionen müssen zudem die sozialen und d. h. in erster Linie kommunikativen Handlungen der Akteure analysiert werden. 30.3.3
Ebene des sozialen Handelns: Kommunikation und Gefühlsarbeit
Soziale Handlungen sind dadurch gekennzeichnet, dass sie sich in bestimmter Weise auf Subjekte richten (Dunkel & Voß, 2004). Zu den sozialen Handlungen in Dienstleistungen zählt zum einen der rituelle Austausch von Höflichkeiten und Achtungsbezeugungen. Zum anderen gehört dazu die Form der kommunikativen Abstimmung bei der Lösung der Probleme des Dienstleistungsnehmers. Wie die sozialen Handlungen ausgeführt werden, d. h., über die dabei eingesetzte verbale und nonverbale Kommunikation entfaltet sich die Beziehungsebene der Akteure, da in jeder Mitteilung immer auch eine Stellungnahme zum Interaktionspartner enthalten ist (Nerdinger, 2003a). Durch ihre Handlungen präsentieren die Akteure eine bestimmte Persönlichkeit, die bei den Interaktionspartnern einen entsprechenden Eindruck hinterlässt. Die Erfahrung der Problemlösung ist daher immer auch Erfahrung von Menschen. Das ist eine Folge der Kommunikation, wobei gewöhnlich durch nonverbale Kommunikation verdeutlicht wird, wie eine verbale Nachricht verstanden werden soll. Durch Mimik, Gestik, Körperhaltung und auch durch die Modulation der Stimme können Botschaften übermittelt werden, wobei häufig erst die begleitenden nonverbalen Signale deutlich machen, wie eine verbale Botschaft gemeint ist (Sundaram & Webster, 2000). Evolutionspsychologisch betrachtet dient nonverbale Kommunikation u. a. der Übermittlung und Beeinflussung von Gefühlen (Schwab, 2004). Die erlebten Gefühle sind häufig mit nonverbalem Verhalten verbunden: Wird das Verhalten von anderen Menschen wahrgenommen, schließt man oft unwillkürlich aus dem nonverbalen Verhalten auf die Gefühle dessen, der das Verhalten gezeigt hat. Nonverbale Kommunikation bildet damit das Medium der sog. Gefühlsarbeit, die eine reibungslose Abwicklung der Interaktion im Rahmen der Erstellung von Dienstleistungen ermöglicht (7 Kap. 28).
Der Begriff Gefühlsarbeit wird unterschiedlich verwendet (Nerdinger, 2001): Anselm Strauss und seine Mitarbeiter (1980), die diesen Begriff in die Literatur eingeführt haben, verstehen darunter die Beeinflussung der Gefühle des Dienstleistungsnehmers, die sie als Erfolgsbedingung der Arbeit ansehen. Die Autoren definieren Gefühlsarbeit – von ihnen als »sentimental work« bezeichnet – als diejenigen Handlungen, die für die Hauptarbeitslinie notwendig sind. Der Begriff Hauptarbeitslinie bezieht sich auf die für die Durchführung der Arbeit notwendigen instrumentellen Handlungen. In ärztlichen bzw. pflegerischen Handlungen, für deren Untersuchung dieses Konzept entwickelt wurde, kann die Hauptarbeitslinie z. B. im Beseitigen verbrannter Hautreste bestehen; die dafür notwendigen instrumentellen Handlungen bestehen im Abschruppen der Haut. Diese für den Patienten enorm schmerzhafte Prozedur begleiten Pfleger mit Handlungen, die auf dessen Gefühle Einfluss nehmen, ihn z. B. trösten oder beruhigen sollen. So verstandene Gefühlsarbeit steht also im Dienst der Arbeitsaufgabe, sie ermöglicht oder erleichtert zumindest die Ausführung der instrumentellen Arbeitshandlungen. Damit diese Form der Gefühlsarbeit effektiv ist, müssen Dienstleistungsgeber aber auch ihre eigenen Gefühle kontrollieren, sie dürfen z. B. keinen Ekel zeigen und sollen stattdessen zuversichtlich wirken und Ruhe ausstrahlen. Die Bewältigung dieser Anforderung bezeichnen die Autoren als »emotional work«. Der zweite, in der Literatur sehr viel häufiger anzutreffende Begriff der Gefühlsarbeit konzentriert sich auf diese »emotional work«, die Präsentation von Gefühlen. Dabei interessiert die Regulation und Bearbeitung der eigenen Gefühle durch den Dienstleistungsgeber mit dem Ziel, einen – in der Regel vom Unternehmen erwünschten – Gefühlsausdruck hervorzurufen. In vielen Dienstleistungen finden sich Darstellungsregeln, die vorschreiben, welchen Gefühlsausdruck die Mitarbeiter im Kontakt mit den Kunden zeigen sollen (Hochschild, 1990). Darstellungsregeln beruhen auf Normen der Organisation oder des Berufs, sie werden im Rahmen der beruflichen bzw. organisationalen Sozialisation erlernt und bilden einen wesentlichen Teil der beruflichen Rolle. Die Herstellung und Präsentation eines Gefühlsausdrucks, der in Einklang mit den normativen Darstellungsregeln einer Arbeitssituation steht, bezeichnet Hochschild (1990) als Gefühlsarbeit. Auch im Alltagsleben müssen Menschen ihre Gefühle regulieren. Im Rahmen von Dienstleistungstätigkeiten, die eine Interaktion mit Kunden erfordern, wird
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564
Kapitel 30 · Dienstleistungstätigkeiten
aber der Gefühlsausdruck zu einem wesentlichen Teil der Arbeit: Der Wert und die Qualität einer Dienstleistung wird auch nach der Form, in der sie erbracht wird, beurteilt (Meffert & Bruhn, 2003). Dienstleistungsgeber müssen nicht nur ihre Aufgaben erfüllen und sich dabei körperlich und geistig anstrengen, sie müssen darüber hinaus beim Dienstleistungsnehmer auch einen – in der Regel positiven – emotionalen Eindruck auslösen. Da sich der beruflich geforderte Ausdruck bestimmter Gefühle nicht immer automatisch einstellt, sondern der Dienstleistungsgeber ihn häufig bewusst herstellen muss, ist diese Arbeit mit psychischer Anstrengung verbunden. Daher kommen Morris und Feldman (1996) zu folgender Definition: Definition Gefühlsarbeit ist der Aufwand, den die Planung und die Kontrolle des von der Organisation erwünschten Gefühlsausdrucks in beruflichen Interaktionen erfordert.
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Wie wird Gefühlsarbeit verrichtet? Nach Hochschild (1990) lassen sich zwei Strategien unterscheiden, die sie Oberflächenhandeln (»surface acting«) bzw. Tiefenhandeln (»deep acting«) nennt. Beim Oberflächenhandeln versuchen Dienstleistungsgeber, die sichtbaren Anteile der Emotion – den Gefühlsausdruck – unabhängig von den erlebten Gefühlen in Einklang mit den Darstellungsregeln zu bringen. Allerdings ist der nonverbale Ausdruck von Gefühlen nicht so leicht zu beeinflussen wie das verbale Verhalten und wirkt daher leicht unglaubwürdig. Beispielsweise unterliegen die um den Mund liegenden Muskeln der willkürlichen Kontrolle, weshalb es relativ leicht ist, mit dem Mund ein Lächeln zu simulieren. Wird aber das zugehörige Gefühl der Freude nicht erlebt, bleibt die Muskulatur um die Augen unbewegt, da diese unwillkürlich auf die erlebten Gefühle bzw. die damit verbundenen physiologischen Änderungen reagieren (Ekman, 1988). Gerade deshalb orientieren sich Menschen im Rahmen von Interaktionen an bestimmten nonverbalen Signalen, um herauszufinden, ob sie dem anderen »trauen« können. Oberflächenhandeln hat zudem den Nachteil, dass sich dargestellte und erlebte Gefühle widersprechen können, ein Zustand, den Hochschild (1990) als emotionale Dissonanz bezeichnet hat. Emotionale Dissonanz wiederum kann zu Burnout (7 Kap. 28) führen, wodurch das Wohlbefinden des
Dienstleistungsgebers ebenso beeinträchtigt wird wie die Qualität seiner Leistung. Solche Probleme vermeidet das Tiefenhandeln. In diesem Fall versuchen Dienstleistungsgeber, das zu fühlen, was sie darstellen sollen. Beim Tiefenhandeln rufen sie aktiv Gedanken, Bilder und Erinnerungen hervor, die mit den erwünschten Gefühlen verbunden sind. Zum Beispiel stellen sich manche Flugbegleiter angesichts schwieriger Fluggäste vor, dass sich diese wie Kinder vor der Situation im Flugzeug fürchten und daher für ihr ungebührliches Verhalten nicht verantwortlich sind. Sofern ihnen dies gelingt, werden sie ähnliche Gefühle wie gegenüber Kindern erleben und den entsprechend fürsorglichen Gefühlsausdruck automatisch zeigen. Allerdings soll Tiefenhandeln nach Meinung von Hochschild (1990) längerfristig zur Entfremdung von den eigenen Gefühlen führen. Demnach sollte nach ihrer Meinung sowohl Oberflächen- als auch Tiefenhandeln negative Konsequenzen für den Dienstleistungsgeber haben, eine Vermutung, die sich empirisch nicht bestätigen lässt. Das belegt u. a. die im 7 Kasten »Konsequenzen der Gefühlsarbeit für das Wohlbefinden« dargestellte Studie. Ob Gefühlsarbeit zu Burnout führt, hängt demnach von der Einstellung zu diesem Aspekt der Arbeit ab. Darüber hinaus sind aber auch Aspekte der Führung und der Tätigkeit relevant. Den Vorgesetzten und ihrem Verhalten gegenüber den Dienstleistern kommt besondere Bedeutung zu: Je stärker sie die Bedeutung einer bestimmten Gefühlsdarstellung für den Erfolg der Tätigkeit betonen, desto ausgeprägter ist das Burnout ihrer Mitarbeiter (Wilk & Moynihan, 2005). Damit dürfte ein weiterer Befund zusammenhängen – Handlungsspielraum kann die Auswirkungen von Gefühlsarbeit abpuffern: Haben Mitarbeiter hohen Handlungsspielraum in der Tätigkeit, findet sich kein Zusammenhang zwischen der Häufigkeit von Gefühlsarbeit und dem Burnout (Grandey, Fisk & Steiner, 2005). Da Vorgesetzte auch auf den Handlungsspielraum ihrer Mitarbeiter großen Einfluss haben, ist ihr Verhalten entscheidend für die Konsequenzen von Gefühlsarbeit. Die Fähigkeit zur Gefühlsarbeit ist eine wesentliche Voraussetzung für eine erfolgreiche Problemlösung durch den Dienstleistungsgeber. Der Dienstleistungsnehmer ist – im Sinne der Koproduktion (Voß & Rieder, 2005) – in die Erstellung der Dienstleistung mit einbezogen und Gefühlsarbeit bildet eine Möglichkeit, ihn zu einer reibungslosen Zusammenarbeit zu bewegen. Wird dabei Gefühlsarbeit aus Überzeugung geleistet, so kann dies negative Folgen für das Wohlbefinden verhindern.
565 30.3 · Die Dienstleistungsdyade
Konsequenzen der Gefühlsarbeit für das Wohlbefinden Nerdinger und Röper (1999) haben die Konsequenzen der Gefühlsarbeit bzw. der dabei erlebten emotionalen Dissonanz im Pflegebereich eines Krankenhauses untersucht. In Anlehnung an Rafaeli und Sutton (1987) haben sie vermutet, dass Gefühlsarbeit in zwei verschiedenen Haltungen durchgeführt werden kann: Die Betroffenen können Gefühle darstellen, die sie nicht erleben, weil sie der Überzeugung sind, dass die Dienstleistungsnehmer einen Anspruch darauf haben – Rafaeli und Sutton nennen das »faking in good faith«. Zum Beispiel kann eine Pflegekraft einem sterbenskranken Patienten hoffnungsvolle Zuversicht »vorspielen«, weil sie davon überzeugt ist, dass sie damit dem Patienten die letzten Tage erleichtert. Sie kann das aber auch gegen die eigene Überzeugung machen – allein, weil es in der Arbeit verlangt wird. Eine solche Gefühlsdarstellung entge-
30.3.4
Soziale Organisation der Beziehung
Dienstleistungsbeziehungen sind nicht durch feste institutionelle Ordnungen wie z. B. innerbetriebliche Beziehungen geregelt, daher stellt sich die Frage nach der sozialen Organisation der Beziehung. Diese lässt sich durch die Rollentheorie beschreiben. Konzepte der Rollentheorie Die Rollentheorie basiert auf der dramaturgischen Metapher: Vergleichbar einem Schauspieler auf der Bühne spielen demnach alle Menschen in sozialen Situationen eine Rolle (Solomon, Surprenant, Czepiel & Gutman, 1985). Rolle wird dabei verstanden als ein Bündel normativer Erwartungen, die an den Inhaber einer bestimmten sozialen Position gerichtet sind. Die Position im sozialen System wird in erster Linie über den Beruf bzw. die ausgeübte Tätigkeit festgelegt. Da Rolle über die Erwartungen an die Inhaber solcher Positionen definiert ist, kann das Verhalten von Personen, die beruflich Dienste anbieten, anhand der an sie gerichteten Erwartungen verstanden werden. Darüber hinaus ist der Rollenbegriff komplementär angelegt – jede Rolle existiert nur in Bezug zu anderen, komplementären Rollen (Arzt und Patient, Käufer und Verkäufer, Versicherungsgeber und Versicherungsnehmer etc.) –, woraus
gen der eigenen Überzeugung wird als »faking in bad faith« bezeichnet. Diese beiden Formen der Gefühlsarbeit wurden bei 293 Pflegekräften eines Krankenhauses der Allgemeinversorgung erhoben. Zudem wurden als Indikatoren des individuellen Wohlbefindens die Symptome des Burnout gemessen. Die regressionsanalytische Überprüfung zeigte, dass die überzeugte Gefühlsarbeit (»faking in good faith«) signifikant negativ mit emotionaler Erschöpfung – dem wichtigsten Indikator des Burnout – korreliert, eine Gefühlsarbeit entgegen der Überzeugung (»faking in bad faith«) korreliert dagegen positiv! Das bedeutet, dass Gefühlsarbeit, von deren Wert der Beschäftigte überzeugt ist, emotionale Erschöpfung verhindern kann. Nur wer gegen seinen Willen bzw. gegen seine Überzeugung Gefühlsarbeit leisten muss, wird darunter leiden.
folgt, dass Menschen als Rollenträger aufeinander angewiesen sind. Um die wechselseitige Vertrauenswürdigkeit und Verlässlichkeit der Partner, die sich im Falle von Dienstleistungsinteraktionen ja gewöhnlich fremd sind, zu sichern, müssen Rollenverpflichtungen sozial sanktioniert sein, d. h. auf sozialen Normen basieren. Das Rollenkonzept kann somit u. a. erklären, warum Menschen in ihrer Funktion als Dienstleistungsnehmer mehr oder weniger fremden Menschen gelegentlich die intimsten Details aus ihrem Leben anvertrauen: Die gesellschaftliche Definition von Dienstleistungstätigkeiten ermöglicht Vertrauen in die Person bestimmter Dienstleistungsgeber, ohne die im Alltag notwendige, vorgängige Klärung der Identität und der Vertrauenswürdigkeit des Interaktionspartners. Der Begriff Rollenset beschreibt diejenigen Positionen, die direkt mit der Rolle verbunden sind (Katz & Kahn, 1978) – bei einem Dienstleistungsgeber sind dies z. B. sein Vorgesetzter, seine Kollegen, möglicherweise die Sekretärin, in besonderem Maße aber die Dienstleistungsnehmer. Die Personen innerhalb des Rollensets entwickeln Erwartungen darüber, wie sich die Bezugsperson angemessen verhalten sollte. Zum Beispiel erwarten im Verkaufsbereich
30
Kapitel 30 · Dienstleistungstätigkeiten
4 die Vorgesetzten, dass ihre Verkäufer möglichst viele Termine mit Kunden vereinbaren, dem Kunden die neuesten Produkte verkaufen etc., 4 Kunden eine angemessene Beratung und nicht bedrängt zu werden, 4 die Kollegen solidarisches Verhalten, 4 die Sekretärin die Anerkennung ihrer Leistungen usw.
30
Alle diese Erwartungen definieren zusammen die Rolle des Dienstleistungsgebers. Rollenerwartungen werden der Bezugsperson kommuniziert. Diese Kommunikationen werden als »gesendete Rolle« bezeichnet, die jeweils kommunizierende Person entsprechend als Rollensender. Die »wahrgenommene Rolle« beschreibt, wie die Bezugsperson, die auch als Rollenempfänger bezeichnet wird, diese Kommunikationen wahrnimmt und versteht. Die Reaktionen des Rollenempfängers auf die wahrgenommenen Erwartungen werden als Rollenverhalten bezeichnet. Jedes Verhalten, das eine Person in ihrer sozialen Position zeigt, ist damit als Rollenverhalten zu verstehen. Für Dienstleistungen ist nun folgender Aspekt besonders wichtig: Erwartungen, die sich an den Inhaber einer sozialen Position richten, sind gewöhnlich nicht eindeutig, in spezifischen Rollenbezügen können sie zu den verschiedensten Konflikten führen. Rollenkonflikte Allgemein lassen sich Interrollenkonflikte, Person-Rollen-Konflikte und Intrarollenkonflikte unterscheiden, wobei Letztere wiederum nach Intersender- und Intrasenderkonflikte unterschieden werden (Nerdinger, 1997). Ein Interrollenkonflikt gründet in der Tatsache, dass eine Person verschiedene gesellschaftliche Positio. Abb. 30.5. Rollenkonflikte in Dienstleistungspositionen. (Nerdinger, 2003b)
nen einnimmt (z. B. Dienstleistungsgeber, Ehemann, Katholik etc.). Dieser Konflikttypus kann letztlich alle Menschen betreffen, für den Bereich der Dienstleistungen sind dagegen die übrigen Konfliktarten zentral, da sie häufig in der Arbeitssituation angelegt sind. . Abb. 30.5 veranschaulicht diese für das Verständnis der Situation von Dienstleistungsgebern zentralen Konfliktarten. Ein Intrarollenkonflikt tritt auf, wenn an einen Rolleninhaber unterschiedliche oder uneindeutige Erwartungen gerichtet werden. Der erste Fall wird als Intersenderkonflikt bezeichnet. Bei angestellten Dienstleistungsgebern stellen sich solche Probleme gehäuft ein, da sie an der »Grenze« ihrer Organisation arbeiten: Dienstleistungsnehmer und Organisation – gewöhnlich vertreten durch Vorgesetzte – können unterschiedliche Rollenerwartungen senden, Dienstleistungsgeber stehen dann im Schnittpunkt verschiedener Interessen. So erwartet z. B. der Vorgesetzte eines Kundenberaters im Bankbereich, dass dieser die Renditeziele erreicht, seine Kunden erwarten dagegen möglichst großes Entgegenkommen bei der Kreditvergabe (Nerdinger, 1997). Aber auch ein und derselbe Sender kann Rollenerwartungen senden, die sich widersprechen – in diesem Fall liegt ein Intrasenderkonflikt vor: So können Vorgesetzte eines Kundenberaters gleichzeitig die Einhaltung hoher Renditeziele und die Bindung der Kunden an die Bank fordern. Das Renditeziel legt den Einsatz gewisser Einflussstrategien nahe, die den Dienstleistungsnehmer gelegentlich verärgern und einer längerfristigen Beziehung abträglich sind. Kommt der Dienstleistungsgeber stattdessen dem Kunden entgegen, fördert das zwar die Bindung des Kunden an das Unternehmen, damit sinkt aber die erzielte Rendite. Wenn die Vorgesetzten die »Lösung« dieses Problems den Dienstleistungsnehmern überlassen – d. h. nicht
Mit freundlicher Genehmigung von Hogrefe, Göttingen. © Hogrefe 2003
566
567 30.4 · Der dritte Akteur: Die Organisation
klar sagen, welches der beiden Ziele wichtiger ist –, dann erleben diese Rollenambiguität. Häufig finden sich im Dienstleistungsbereich auch Person-Rollen-Konflikte. Ein solcher Konflikt entsteht, wenn die an den Dienstleistungsgeber gesendeten Erwartungen mit dessen Persönlichkeit, seinen Wertorientierungen oder allgemein seinem Selbstbild kollidieren. Dienstleistungsgeber werden nicht selten von den Kunden als »Diener« betrachtet und entsprechend behandelt. Eine solche Definition widerspricht aber wohl dem Selbstbild der meisten Dienstleistungsgeber, die sich gewöhnlich eher als Experten auf ihrem Gebiet betrachten. Dieser Person-Rollen-Konflikt wird in der Gesellschaft nicht selten als Ursache für die angeblich mangelnde Qualität der Dienstleistungen in Deutschland – Stichwort: »Servicewüste« – betrachtet. Psychologisch sind Rollenkonflikte von großer Bedeutung, da sie wichtige Stressoren bilden, die das Wohlbefinden und die Gesundheit der Betroffenen beeinträchtigen (7 Kap. 28). In ökonomischer Sicht können sie zu Leistungsminderungen führen, die vor allem im Dienstleistungsbereich negative Auswirkungen auf den ökonomischen Erfolg haben: Da Dienstleistungsgeber ihre Arbeit im direkten Kontakt mit Kunden verrichten, wird deren Zufriedenheit mit der Leistung unmittelbar durch das Befinden des Dienstleistungsgebers mit beeinflusst. Negative Auswirkungen auf den Kunden können wiederum nicht im Interesse des Unternehmens sein. Die Rollentheorie bietet damit auch eine Verknüpfung zum dritten Akteur, der Dienstleistungsbeziehungen entscheidend prägt: das Unternehmen bzw. allgemein die Organisation, die bestimmte Dienstleistungen anbietet.
zepten der Rollentheorie beschreiben. Je nach Blickwinkel werden Mitarbeiter, die sog. Grenzrollen einnehmen, als »gatekeeper«(Pförtner) bezeichnet, die den Informationsfluss von außen nach innen kontrollieren, oder aber als »boundary spanner« (Grenzgänger), denen es obliegt, die Verbindung der Organisation zur Umwelt aufrecht zu erhalten (Nerdinger, 1994; 2005). Zu den Inhabern solcher Grenzrollen zählen demnach auch Dienstleistungsgeber. Umgekehrt kann auch das Verhalten der Dienstleistungsnehmer als Rollenverhalten interpretiert werden, wobei das Wissen um den Ablauf von Transaktionen im Laufe verschiedener Kontakte mit Organisationen erworben wird. Im Prozess des Rollenerwerbs sind Organisationen nicht passiv, sondern sie versuchen durch verschiedene Maßnahmen die Rollenübernahme der Dienstleistungsgeber und -nehmer in ihrem Sinne zu steuern. Organisationen entfalten also eine eigene Dynamik, die Dienstleistungsbeziehung wird durch die Organisation zu einer Triade erweitert (. Abb. 30.6). Wie in . Abb. 30.6 durch Pfeile angedeutet, wirkt die Organisation auf beide Elemente der Dienstleistungsbeziehung ein. Im Prinzip können auch die Individuen auf die Organisation einwirken, weshalb eigentlich wechselseitig gerichtete Pfeile angemessener wären. Gewöhnlich sind die Einflüsse einer konkreten, einzelnen Person auf eine Organisation aber eher geringfügig, daher wird hier nur die Haupteinflussrichtung betrachtet. Mit Bezug auf die Beeinflussung der Mitarbeiter sind dabei alle personalwirtschaftlichen Maßnahmen zu bedenken, die Beeinflussung der Kunden, d. h. der Dienstleistungsneh-
Der dritte Akteur: Die Organisation
Wird die Arbeit von Dienstleistungsgebern nach den übergeordneten Zielen des Unternehmens organisiert, verändert sich die Konstellation entscheidend. Organisationen lassen sich als offene Systeme verstehen, die u. a. dadurch charakterisiert sind, dass sie Rand- oder Grenzelemente haben, die Relationen zu anderen Systemen aufweisen (Katz & Kahn, 1978; Nerdinger, 2005). Diese Randelemente sorgen für den nötigen Austausch zwischen der Organisation und ihrer Umwelt und haben daher besondere Bedeutung für die Funktionsfähigkeit des Systems. Das Verhalten der Elemente des Systems und damit auch der Randelemente lässt sich mit Kon-
Mit freundlicher Genehmigung des Verlags Duncker & Humblot GmbH.
30.4
30
. Abb. 30.6. Die Dienstleistungstriade (nach Nerdinger, 2005)
568
Kapitel 30 · Dienstleistungstätigkeiten
mer, erfolgt über die Marketingmaßnahmen, die mit dem Konzept des Marketingmix beschrieben werden. Da aber Dienstleistungsnehmer und -geber im Rahmen der Leistungserstellung durch eine Interaktion verknüpft sind, haben beide Formen der Beeinflussung immer
auch indirekte Auswirkungen auf den jeweiligen Interaktionspartner. Die Formen der Beeinflussung sind Gegenstand des übernächsten Kapitels, im nächsten Kapitel werden die dafür grundlegenden Modelle der Dienstleistungsqualität und deren Messung dargestellt.
Zusammenfassung
30
4 Dienstleistungen umfassen auf Menschen gerichtete Handlungen, in ihrem Zentrum stehen Interaktionen des Kundenkontaktpersonals mit Kunden. 4 Das Kundenkontaktpersonal bildet die Schnittstelle der Organisation zum Markt, wodurch diese Mitarbeiter besondere Bedeutung bekommen. 4 Instrumentelle Handlungen im Rahmen von Dienstleistungen zielen auf die Lösung der Probleme von Dienstleistungsnehmern. 4 Soziale Handlungen dienen vor allem der kommunikativen Abstimmung bei der Erstellung der Dienstleistung. 4 Die Erstellung von Dienstleistungen erfolgt nach dem Prinzip der Koproduktion, d. h., der Kunde muss bei der Lösung seiner Probleme mitarbeiten. 4 Im Rahmen von Dienstleistungen lassen sich Pseudo-, asymmetrische, reaktive und totale Interaktionen unterscheiden, diese Formen der Interaktion kennzeichnen wiederum unterschiedliche Formen von Dienstleistungen.
L Weiterführende Literatur Dunkel, W. & Voß, G.G. (2004). Dienstleistung als Interaktion. Beiträge aus einem Forschungsprojekt. Mering: Hampp. Nerdinger, F.W. (2007). Dienstleistung. In L. von Rosenstiel & D. Frey (Hrsg.), Marktpsychologie. Enzyklopädie der Psychologie, Bd. D/ III/5 (S. 375–418). Göttingen: Hogrefe. Voß, G.G. & Rieder, K. (2005). Der arbeitende Kunde. Wenn Konsumenten zu unbezahlten Mitarbeitern werden. Frankfurt/M.: Campus.
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4 Gelingt es dem Dienstleistungsgeber, die Gefühle des Dienstleistungsnehmers in seinem Sinne zu beeinflussen, dann kontrolliert er die Beziehung und kann seine Tätigkeit einfacher bewältigen. 4 Daher bildet Gefühlsarbeit einen zentralen Bestandteil der Tätigkeit von Dienstleistungsgebern. 4 Gefühlsarbeit hat negative Konsequenzen für das Wohlbefinden, wenn sie entgegen der eigenen Überzeugung geleistet wird. 4 Die soziale Organisation der Beziehung kann mit der Rollentheorie erläutert werden. 4 Damit lassen sich auch die auftretenden Konflikte analysieren, wobei Intersender- und Intrasenderkonflikte besonders wichtig für das subjektive Stresserleben in Dienstleistungsberufen sind. 4 Aufgrund ihrer Grenzrolle verbinden Dienstleistungsgeber die Organisation mit ihrer Umwelt, entsprechend versucht die Organisation beide Akteure der Dienstleistungsdyade zu beeinflussen.
Grandey, A.A., Fisk, G.M. & Steiner, D.D. (2005). Must »service with a smile« be stressful? The moderating role of personal control for American and French employees. Journal of Applied Psychology, 90, 893–904. Grün, O. & Brunner, J.-C. (2002). Der Kunde als Dienstleister. Von der Selbstbedienung zur Co-Produktion. Wiesbaden: Gabler. Hochschild, A. (1990). Das gekaufte Herz. Zur Kommerzialisierung der Gefühle. Frankfurt/M.: Campus. Jones, E.E. & Gerard, H.B. (1967). Foundations of social psychology. New York: Wiley. Katz, D. & Kahn, R.L. (1978). The social psychology of organizations (2nd ed.). New York: Wiley. Klaus, P.G. (1984). Auf dem Weg zu einer Betriebswirtschaftslehre der Dienstleistungen: Der Interaktionsansatz. Die Betriebswirtschaft, 44, 467–475. Meffert, H. & Bruhn, M. (2003). Dienstleistungsmarketing (3. Aufl.). Wiesbaden: Gabler. Morris, J.A. & Feldman, D.C. (1996). The dimensions, antecedents, and consequences of emotional labor. Academy of Management Review, 21, 986–1010. Nerdinger, F.W. (1994). Zur Psychologie der Dienstleistung. Stuttgart: Schäffer-Poeschel.
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30
31
31 Dienstleistungsqualität – Erklärung und Messung 31.1
Dienstleistungsqualität und Kundenzufriedenheit
31.2
Modelle der Dienstleistungsqualität
31.2.1 31.2.2 31.2.3
Diskonfirmationsparadigma – 573 Gap-Modell – 574 Motivatoren-Hygienefaktoren-Modell – 575
31.3
Messung der Dienstleistungsqualität
31.3.1 31.3.2
SERVQUAL – 576 Methode kritischer Ereignisse
Literatur
– 578
– 576
– 573
– 575
– 572
572
Kapitel 31 · Dienstleistungsqualität – Erklärung und Messung
> Die Qualität angebotener Dienstleistungen wird gewöhnlich als das wichtigste Instrument im Wettbewerb um die Kunden angesehen: Hohe Dienstleistungsqualität kann die von den Kunden häufig erlebte Austauschbarkeit der verschiedenen Angebote verringern, die Beziehungen zwischen Organisation und Kunden festigen und den Gefahren des Preiswettbewerbs entgegenwirken. Die Qualität hat für den Unternehmenserfolg im Dienstleistungssektor – verglichen mit dem Durchschnitt aller Branchen – sehr viel größere Bedeutung (Buzzell & Gale, 1989): Durch Qualitätsführerschaft kann der Erfolg von Dienstleistungsunternehmen langfristig gesichert werden, denn die von den Kunden wahrgenommene Dienstleistungsqualität beeinflusst die Absicht, den Dienstleistungsgeber zu wechseln, in hohem Maße. Damit kommt der Erklärung und Messung der Dienstleistungsqualität besondere Bedeutung zu.
31.1
Dienstleistungsqualität und Kundenzufriedenheit
Bei der Beurteilung der Qualität von Dienstleistungen ergeben sich einige Probleme, da man Dienstleistungen nicht wie Produkte beurteilen kann. In Anlehnung an Zeithaml (1981) lassen sich drei Merkmale der Bewertung von Produkten und Dienstleistungen unterscheiden: Prüf-, Erfahrungs- und Vertrauensqualitäten (. Abb. 31.1).
Mit Prüfqualitäten sind Eigenschaften gemeint, die der Kunde bereits vor dem Kauf beurteilen kann. Erfahrungsqualitäten basieren auf dem Erleben und können deshalb erst während oder nach dem Kauf und der Nutzung bewertet werden. Vertrauensqualitäten entziehen sich generell der Beurteilung durch den Kunden.
. Abb. 31.1. Beurteilungsschema für Güter und Dienstleistungen. (Nach Zeithaml, 1981)
© American marketing Association 1981
31
Definition
573 31.2 · Modelle der Dienstleistungsqualität
Während Produkte überwiegend durch Prüfqualitäten gekennzeichnet sind, dominieren bei Dienstleistungen Erfahrungs- oder Vertrauensqualitäten. Aufgrund dieser Merkmale ist das Ergebnis von Dienstleistungen kaum objektiv zu erfassen. Damit erhebt sich die Frage, wie sich die Qualität von Dienstleistungen definieren lässt. Nach der Definition der Deutschen Gesellschaft für Qualität wird allgemein unter Qualität die »Gesamtheit von Eigenschaften und Merkmalen eines Produktes oder einer Tätigkeit, die sich auf deren Eignung zur Erfüllung gegebener Erfordernisse bezieht«, verstanden. Aufgrund der Immaterialität der Dienstleistungen und der Beteiligung der Kunden an der Leistungserstellung ist die Erfassung einer so verstandenen Qualität im Feld der Dienstleistungen sehr viel schwieriger als im Produktbereich. Daher wird die Dienstleistungsqualität gewöhnlich aus Sicht der Kunden definiert, d. h. letztlich, was die Kunden als Qualität erleben, ist die Qualität der Dienstleistung (Groß-Engelmann, 1999). Aus dieser Sicht entsteht aber das Problem der Abgrenzung von wahrgenommener Qualität zum Konzept der Kundenzufriedenheit (Nerdinger & Neumann, 2007). In der Dienstleistungsforschung wird zwischen der Zufriedenheit der Kunden mit einer spezifischen Transaktion und der globalen Bewertung der Qualität von Dienstleistungen unterschieden (Parasuraman, Zeithaml & Berry, 1985). Definition Zufriedenheit bezeichnet im Konsumbereich ein kurzfristiges Erlebnis, das als Diskrepanz zwischen erwarteter und erlebter Leistung definiert wird und nach der Nutzung eines Produkts bzw. nach der Erfahrung einer Dienstleistung auftritt.
Ein solches Zufriedenheits- oder Unzufriedenheitserlebnis bildet den Input zu einer relativ stabilen Einstellung, die als (wahrgenommene) Dienstleistungsqualität bezeichnet wird. Kundenzufriedenheit kann demnach als ein wichtiger Einflussfaktor für die wahrgenommene Dienstleistungsqualität betrachtet werden. Entsprechend zeigen sich bei empirischen Überprüfungen hohe Korrelationen zwischen den beiden Konzepten (Nerdinger, 2007). Für die Steuerung der Dienstleistung ist die von den Kunden wahrgenommene Qualität der Leistung entscheidend, daher widmen sich die folgenden Ausführungen dieser Frage.
31.2
Modelle der Dienstleistungsqualität
Mittlerweile liegen eine Vielzahl von Modellen der Dienstleistungsqualität vor (zum Überblick: Matzler, 1997), wobei die meisten von dem sog. Diskonfirmationsparadigma ausgehen. Der wichtigste Ansatz – das Gap-Modell von Parasuraman, Zeithaml und Berry (1985) – wird im Anschluss etwas genauer dargestellt. Das Motivatoren-Hygienefaktoren-Modell überträgt Überlegungen aus dem Feld der Mitarbeiterzufriedenheit auf die Dienstleistungsqualität. 31.2.1
Diskonfirmationsparadigma
Nach dem Diskonfirmationsparadigma richten Kunden Erwartungen an eine Dienstleistung, die auf vorhergehenden Erfahrungen, dem Image des Unternehmens, dem Preis der Dienstleistung und anderen Einflussgrößen beruhen. Diese Erwartungen werden mit dem wahrgenommenen Verlauf einer Dienstleistungsbegegnung verglichen: Übertreffen die Wahrnehmungen die Erwartungen, wird der Dienstleistung hohe Qualität zugeschrieben, bleibt die wahrgenommene Realität hinter den Erwartungen zurück, kommt es zu negativen Urteilen über die Qualität. Entsprechen sich Erwartung und wahrgenommene Dienstleistung, folgt eine neutrale Einschätzung der Qualität. Bei diesen Vergleichen werden – so die grundlegende Annahme – auch die Angebote der Konkurrenz sowie deren Preis und Wert berücksichtigt. Das Diskonfirmationsparadigma liegt den meisten Untersuchungen zur Dienstleistungsqualität und -zufriedenheit zugrunde, es enthält aber eine Vielzahl von ungeklärten Problemen (Stauss, 1999). Hier ist zunächst die Unklarheit des zugrunde liegenden Erwartungsbegriffes zu nennen. Unter Erwartungen werden antizipierte Leistungen verstanden, wobei sich unterschiedliche Formen unterscheiden lassen (Hentschel, 1999): 4 Ideal: Die Leistung soll genau dem entsprechen, was man sich wünscht. 4 Typisch: Die Leistung sollte dem entsprechen, was üblicherweise zu erwarten ist. 4 Kalkuliert: Die Leistung sollte den Kosten entsprechen. 4 Tolerierbar: Die Leistung sollte einen unteren Grenzwert nicht unterschreiten.
31
Kapitel 31 · Dienstleistungsqualität – Erklärung und Messung
Den empirischen Studien liegen häufig unterschiedliche Erwartungskonzepte zugrunde, sodass ein Vergleich der Ergebnisse nur schwer möglich ist. Schwierigkeiten bereitet auch die Erfahrungs- oder Ist-Komponente des Modells. Gewöhnlich wird lediglich festgestellt, dass es sich dabei um die subjektiv wahrgenommene Leistung handelt. Die damit implizierte Annahme der Unabhängigkeit von Wahrnehmung und Erwartung widerspricht aber wahrnehmungspsychologischen Erkenntnissen, wonach Erwartungen und Wahrnehmungen sich wechselseitig beeinflussende Größen sind. Das ist auch der Grund, warum sich in empirischen Untersuchungen, in denen wahrgenommene Leistung und Erwartung getrennt erhoben werden, zeigt, dass der Ist-Soll-Vergleich nicht mehr erklärt als die wahrgenommene Leistung allein (Hentschel, 1999). Trotz dieser Probleme liegt das Diskonfirmationsparadigma praktisch allen Modellen der Dienstleistungsqualität zugrunde. Das gilt auch für das am häufigsten untersuchte sog. Gap-Modell.
31
31.2.2
Gap-Modell
Im Gap-Modell von Parasuraman et al. (1985) wird die Diskrepanz zwischen erwartetem und erlebtem Service auf Prozesse im Unternehmen zurückgeführt, die selbst wiederum als Ist-Soll-Abweichungen (Lücken bzw. »gaps«) konzipiert werden. (. Abb. 31.2). Eine Lücke zwischen erwartetem und erlebtem Service bildet den Orientierungspunkt für unternehmerisches Handeln (. Abb. 31.2, Lücke 5). Diese Erwartungen der Kunden werden durch mündliche Empfehlungen von Bekannten, durch persönliche Bedürfnisse und durch bisherige Erfahrungen mit der Dienstleistung geprägt. Das Unternehmen beeinflusst diese Erwartungen durch kommunikative Maßnahmen – in erster Linie durch Werbung –, in denen gewöhnlich eine bestimmte Qualität der Dienstleistung versprochen wird. Damit solche Kommunikation gelingt, sollte das Management wissen, was die Kunden von der Dienstleistung erwarten. Das herauszufinden ist eine Aufgabe der Marktforschung. Besteht hier eine Diskrepanz (Lücke 1), dann
. Abb. 31.2. Das Gap-Modell von Parasuraman et al. (1985)
© American marketing Association 1985
574
575 31.3 · Messung der Dienstleistungsqualität
sollte durch weitere Marktforschung, aber auch durch Befragung des Kundenkontaktpersonals das Management die notwendigen Informationen erhalten. Das Management ist auch verantwortlich für die Normen der Dienstleistungsqualität, d. h., das Management sollte die Erwartungen der Kunden in Vorschriften für das Verhalten des Kundenkontaktpersonals übersetzen. Die Divergenz zwischen den wahrgenommenen Erwartungen und den bestehenden Vorschriften bildet die Lücke 2. Die Lücke 3 kann sich zwischen diesen Vorschriften und den tatsächlich geleisteten Diensten eröffnen: Gemeint ist, dass die Normen den Kundenerwartungen entsprechen und das Verhalten des Kundenkontaktpersonals diesen Normen widerspricht. Diese Lücke tritt vor allem in Unternehmen auf, deren angebotene Dienstleistungen sehr arbeitsintensiv sind, die Zusammenarbeit vieler Mitarbeiter verlangen und die an vielen, weit verstreuten Filialen angeboten werden. Ursachen für diese Lücke sind dann Rollenkonflikte und Rollenambiguität (7 Kap. 30): Die Mitarbeiter werden über die Ziele, die sie in der Arbeit erreichen sollen, im Unklaren gelassen oder aber dem Unternehmen ist der Umsatz wichtiger als die Qualität der Dienstleistung (Zeithaml et al., 1992). Auch wenn die Lücken 1–3 geschlossen sind, kann die Kommunikation nach außen den geleisteten Diensten widersprechen, da Werbung häufig von den angebotenen Leistungen relativ unabhängig ist. In diesem Fall öffnet sich eine Lücke 4, die ebenfalls negativen Einfluss auf die Qualität der wahrgenommenen Dienstleistung hat. 31.2.3
Motivatoren-HygienefaktorenModell
Herzberg und seine Mitarbeiter (1959; 7 Kap. 24) haben bei der Untersuchung der Arbeitszufriedenheit Motivatoren und Hygienefaktoren unterschieden. Werden Hygienefaktoren als negativ erlebt, entsteht Unzufriedenheit. Aus einem positiven Erleben folgt aber keine Zufriedenheit, sondern ein neutraler Zustand, der als Nicht-Unzufriedenheit bezeichnet wird. Zufriedenheit erzeugen nach diesem Modell die sog. Motivatoren, zu denen im Arbeitsbereich vor allem Merkmale des Arbeitsinhaltes zählen. Übertragen auf Dienstleistungen bedeutet das, es lassen sich unzufrieden machende (»dissatisfier«) und zufrieden machende Faktoren (»satisfier«) unterscheiden. Dissatisfier nehmen im Wesentli-
chen zwei Zustände ein: Sie sind adäquat oder inadäquat. Werden sie als inadäquat eingestuft, folgt eine Wahrnehmung geringer Qualität mit der Konsequenz hoher Unzufriedenheit, werden sie als adäquat eingeschätzt, ist die Leistung so, wie sie sein soll – ein Anlass zu Zufriedenheit besteht deshalb nicht. Ist z. B. das Besteck in einem Restaurant nicht sauber, dann spricht das für geringe Qualität, nur weil das Besteck sauber ist, wird aber kaum ein Kunde dem Restaurant hohe Qualität zubilligen oder gar deshalb zufrieden sein. Satisfier sind dagegen Faktoren, die – werden sie über einen adäquaten Zustand hinaus verbessert – zur Wahrnehmung besonderer Qualität und zu Zufriedenheit oder gar Begeisterung führen. Eine geringe Leistung in diesen Faktoren führt aber nicht unbedingt zur Wahrnehmung niedriger Qualität. Erinnert sich ein Kellner nicht daran, ob ein Kunde vor einigen Wochen in seinem Lokal war, so ist das gewöhnlich kein Problem. Erkennt er jedoch den Kunden wieder und erinnert er sich vielleicht sogar noch an den bevorzugten Wein, kann das Begeisterung auslösen. Zusätzlich zu diesen beiden Faktoren lassen sich noch zwei weitere unterscheiden: kritische und neutrale (Johnston & Heineke, 1998). Kritische Faktoren können sowohl zu Zufriedenheit als auch zu Unzufriedenheit führen: So kann z. B. ein langsamer Service verärgern, ein ungewöhnlich flotter Service dagegen führt in der Regel zu Zufriedenheit. Neutrale Faktoren sind wenig sensitiv für Veränderungen, versucht das Management sie zu verbessern, wird das kaum Folgen für die Wahrnehmung von Qualität haben. Solche Faktoren müssen aber trotzdem beachtet werden, denn mit steigender Konkurrenz können aus neutralen schnell unzufrieden machende Faktoren werden. 31.3
Messung der Dienstleistungsqualität
Die Modelle der Dienstleistungsqualität verdeutlichen, dass die Beurteilung der Qualität von Dienstleistungen ein komplexer Prozess ist. Will man auf der Basis dieser Modelle die Dienstleistungsqualität beeinflussen, so muss diese zunächst gemessen werden. Das wiederum setzt geeignete Messmethoden voraus. Dies sei an zwei der am häufigsten eingesetzten Methoden verdeutlicht: Dem SERVQUAL-Fragebogen und der Methode der kritischen Ereignisse.
31
576
Kapitel 31 · Dienstleistungsqualität – Erklärung und Messung
31.3.1
31
SERVQUAL
SERVQUAL – ein Kunstwort, das aus den Begriffen »service« und »quality« gebildet wurde – ist ein Fragebogen, den Zeithaml, Parasuraman und Berry (1992) zur Erfassung der Lücke 5 in ihrem Gap-Modell der Dienstleistungsqualität entwickelt haben. Das Gap-Modell geht davon aus, dass sich die Erwartungen der Kunden auf verschiedene Aspekte der Dienstleistung beziehen, die wiederum empirisch zu bestimmen sind. Zu diesem Zweck wurden zunächst Fokus-Gruppeninterviews über die Erwartungen, die Kunden an Dienstleistungen richten, durchgeführt. Es handelte sich dabei jeweils um 3 Gruppeninterviews mit Kunden von Banken, Kreditkartenunternehmen, Wertpapiermaklern und Reparaturwerkstätten. Jede Gruppe bestand aus 8–12 Teilnehmern, die nach Alter und Geschlecht homogen waren und in den letzten 3 Monaten vor dem Interview mindestens einmal die diskutierte Dienstleistung in Anspruch genommen hatten. Die berichteten Erwartungen wurden inhaltsanalytisch in folgende 10 Kategorien eingeteilt: 4 Materielles: das Erscheinungsbild von Einrichtungen und Ausrüstungen sowie des Personals und der gedruckten Kommunikationsmittel; 4 Zuverlässigkeit: die Fähigkeit, den versprochenen Service verlässlich und präzise auszuführen; 4 Entgegenkommen: die Bereitschaft, Kunden zu helfen und sie prompt zu bedienen; 4 Kompetenz: die Beherrschung des notwendigen beruflichen Könnens und Fachwissens zur Ausführung der Dienstleistung; 4 Zuvorkommenheit: die Höflichkeit und Freundlichkeit des Personals; 4 Vertrauenswürdigkeit: die Glaubwürdigkeit und Ehrlichkeit des Unternehmens; 4 Sicherheit: das Bemühen, die Kunden keinen Gefahren oder Risiken auszusetzen; 4 Erreichbarkeit: wie leicht Kunden Zugang zu Ansprechpartnern finden; 4 Kommunikation: den Kunden zuhören und sie in verständlicher Sprache informieren; 4 Kundenverständnis: der Grad der Mühe, der aufgewendet wird, um die Kunden und ihre Bedürfnisse kennenzulernen. Auf diesen Befunden aufbauend wurde der SERVQUALFragebogen entwickelt. Dazu wurden Items der Art »sosollte-es-sein« zur Erfassung der Erwartungen formu-
liert, d. h., es wird bei dieser Messung eine ideale Erwartung unterstellt. Mit Umformulierungen der Art »so-ist-es« wird die erlebte Leistung erfasst und aus der errechneten Diskrepanz auf die Dienstleistungsqualität geschlossen. Orientiert am Vorgehen der klassischen Testkonstruktion wurden 97 Items entwickelt, die alle 10 Dimensionen abdecken. Über verschiedene empirische Prüfungen gelangten die Autoren zu einer Version mit 22 Items, die 5 Skalen bilden: Kompetenz, Zuvorkommenheit, Vertrauenswürdigkeit und Sicherheit bilden die Skala »Souveränität«, die sich auf die Person des Dienstleistungsgebers richtet. Einen weiteren Aspekt der Person erfasst die Skala »Einfühlung«, die aus den Dimensionen Erreichbarkeit, Kommunikation und Kundenverständnis gebildet wird. Das verdeutlicht die überragende Bedeutung der Mitarbeiter für die Qualitätswahrnehmung in diesem Instrument. Die Erwartungen an Entgegenkommen, Zuverlässigkeit und Materielles führen dagegen zu eigenen Skalen. Um die relative Bedeutung dieser 5 Skalen zu bestimmen, wurde der Fragebogen Kunden von 5 großen Unternehmen aus den Bereichen Banken, Versicherungen und Fernsprechvermittlung vorgelegt. Dabei erwies sich »Zuverlässigkeit« durchweg als wichtigstes, »Materielles« als unwichtigstes Bewertungskriterium. Beispiele für »So-sollte-es-sein«und »So-ist-es«-Items aus dem SERVQUAL-Fragebogen (Zeithaml et al., 1992) zeigt der 7 Kasten »SERVQUAL«. Als Fazit der kritischen Diskussion um das weit verbreitete Instrument des SERVQUAL ist festzuhalten, dass der Anspruch eines universell einsetzbaren Instrumentes zur Erhebung der Dienstleistungsqualität damit nicht vollständig eingelöst wird (vgl. Hentschel, 1990; 1999). Vielmehr müssen für jede spezielle Dienstleistung die charakteristischen Merkmale neu erhoben und die Messungen durch andere Verfahren, die für die speziellen Probleme multiattributiver Messung weniger anfällig sind, ergänzt werden. 31.3.2
Methode kritischer Ereignisse
Die Methode kritischer Ereignisse geht auf das Arbeitsanalyseverfahren von Flanagan (1954; 7 Kap. 21) zurück und wurde von Bitner, Nyquist und Booms (1985) auf die Erforschung der Kundenzufriedenheit übertragen. Diese Methode wird im Dienstleistungsbereich in verschiedenen Varianten eingesetzt (Nerdinger, 2007).
577 31.3 · Messung der Dienstleistungsqualität
SERVQUAL Diese(r) Meinung stimme ich voll zu
lehne ich völlig ab
Die technische Ausrüstung der Büros sollte dem neuesten Stand entsprechen
7 6 5 4 3 2 1
Die Angestellten sollten ordentlich angezogen sein und einen sympathischen Eindruck machen
7 6 5 4 3 2 1
Kundenprobleme sollten ernst genommen und mitfühlend behandelt werden
7 6 5 4 3 2 1
Die Dienstleistung sollte zu dem Zeitpunkt ausgeführt sein, zu dem sie versprochen wurde
7 6 5 4 3 2 1
Die technische Ausrüstung der Büros von XY entspricht dem neuesten Stand
7 6 5 4 3 2 1
Die Angestellten der Firma XY sind ordentlich angezogen und machen einen sympathischen Eindruck
7 6 5 4 3 2 1
Kundenprobleme werden bei XY ernst genommen und mitfühlend behandelt
7 6 5 4 3 2 1
Bei XY wird die Dienstleistung zu dem Zeitpunkt ausgeführt, zu dem sie versprochen wurde
7 6 5 4 3 2 1
Gewöhnlich werden Kunden lediglich aufgefordert, sich an Ereignisse in der Begegnung mit einem Dienstleistungsgeber zu erinnern, die sie besonders zufrieden bzw. besonders unzufrieden gemacht haben. Sofern überhaupt eine methodische Restriktion vorgenommen wird, besteht sie im »Flanagan-Kriterium«, wonach so lange eine Stichprobe gezogen wird, bis die letzten hundert Ereignisberichte zu nicht mehr als drei neuen Ereigniskategorien führen. Die Ereignisse werden aufgezeichnet und anschließend über Kategorienbildung ausgewertet. Untersucht wurde mit diesem Verfahren u. a. die Qualität von Dienstleistungen aus Sicht der Kunden bzw. aus Sicht der Dienstleistungsgeber, die Ursachen für den Wechsel eines Dienstleistungsgebers, die Kosten der Dienstleistungsqualität für den Kunden, der Einfluss anderer Kunden auf die Erfahrung der Dienstleistung und der Einfluss von Selbstbedienungstechnologien auf die Zufriedenheit mit Dienstleistungen (vgl. dazu Nerdinger, 2007). Da sich mit diesem Verfahren konkrete Satisfier und Dissatisfier ermitteln lassen, kommt ihm einige praktische Bedeutung zu. Dem stehen allerdings der hohe Erhebungs- und Auswertungsaufwand, ungeklärte Probleme der Klassifizierung sowie die mangelnde Repräsentativität der Ergebnisse entgegen.
Letzteren Mangel vermeidet die Methode der sequenziellen Ereignisanalyse (Stauss & Weinlich, 1997). Anhand eines Kundenpfaddiagramms, in dem der Ablauf einer Dienstleistung aufgezeichnet ist, werden Kunden gebeten, diesen Ablauf gedanklich durchzugehen und alle Ereignisse zu schildern, die sie bei der Inanspruchnahme der Dienstleistung erlebt haben. Dadurch werden nicht nur kritische, sondern auch »normale« Ereignisse erfasst. Mit dem Verfahren liegen noch wenige Erfahrungen vor, der Erhebungs- und Auswertungsaufwand scheint allerdings sehr hoch zu sein. Außerdem kann die Technik nur bei klar definierten und weitgehend standardisierten Kundenprozessen eingesetzt werden (Stauss, 1999). Zudem sind die psychometrischen Eigenschaften des Verfahrens noch unklar. In der Praxis haben schließlich die Beschwerdeanalyse und die – aufgrund mangelnder Daten wohl eher selten durchgeführte – Lobanalyse hohe Bedeutung. Als kundeninitiierte Aussagen über die Unzufriedenheit stellen Beschwerden extrem kritische Ereignisse dar, da eine aktive Beschwerde mit hohem Aufwand verbunden ist und deshalb nur in gravierenden Fällen vorkommt. Aus Sicht des Unternehmens haben diese Informationen den Vorteil, dass sie eindeutig, aktuell und kostengünstig sind (Stauss, 1999). Daher sind sie betriebswirtschaftlich
31
578
Kapitel 31 · Dienstleistungsqualität – Erklärung und Messung
natürlich hoch relevant, ihr Wert für die wissenschaftliche Untersuchung der Dienstleistungsqualität wurde aber bislang noch nicht genauer überprüft. Zusammenfassend lässt sich sagen, dass eine Reihe von Verfahren vorliegt, mit denen sich die Qualität von Dienstleistungen erfassen lässt. Ermittelt ein Unternehmen auf diesem Wege Schwächen in den angebotenen Dienstleistungen, kann das als Ausgangspunkt für geeignete Maßnahmen der Intervention dienen (7 Kap. 32) Zusammenfassung
31
4 Eine hohe Dienstleistungsqualität kann die Beziehungen zwischen Organisation und Kunden festigen, das führt zu höheren Wiederverkäufen und positiven Aussagen gegenüber anderen potenziellen Kunden. 4 Nach dem Diskonfirmationsparadigma richten Kunden Erwartungen an eine Dienstleistung, die sie mit dem wahrgenommenen Verlauf einer Dienstleistungsbegegnung vergleichen. 4 Die Messung der Dienstleistungsqualität erfolgt am häufigsten durch den SERVQUAL-Fragebogen. Dabei werden den Kunden Eigenschaftslisten in Form geschlossener Skalen zur Bewertung vorgelegt. 4 Das wichtigste qualitative Verfahren ist die Methode der kritischen Ereignisse, mit der sich zufrieden machende und unzufrieden machende Aspekte von Dienstleistungen ermitteln lassen.
L Weiterführende Literatur Hentschel, B. (1999). Multiattributive Messung von Dienstleistungsqualität. In M. Bruhn & B. Stauss (Hrsg.), Dienstleistungsqualität. Konzepte, Methoden, Erfahrungen (3. Aufl., S. 289–320). Wiesbaden: Gabler. Nerdinger, F.W. (2007). Dienstleistung. In L. von Rosenstiel & D. Frey (Hrsg.), Marktpsychologie. Enzyklopädie der Psychologie, Bd. D/ III/5 (S. 375–418). Göttingen: Hogrefe.
Literatur Bitner, M.J., Nyquist, J.D. & Booms, B.H. (1985). The critical incident technique for analyzing the service encounter. In T.M. Bloch, G.D. Upah & V.A. Zeithaml (Eds.), Services marketing in a changing environment (pp. 48–51). Chicago, Ill.: AMA. Buzzell, R.D. & Gale, B.T. (1989). Das PIMS-Programm. Strategien und Unternehmenserfolg. Wiesbaden: Gabler. Flanagan, J.G. (1954). The critical incident technique. Psychological Bulletin, 51, 327–358. Groß-Engelmann, M. (1999). Kundenzufriedenheit als psychologisches Konstrukt. Köln: Lohmar. Hentschel, B. (1990). Die Messung wahrgenommener Dienstleistungsqualität mit SERVQUAL. Eine kritische Auseinandersetzung. Marketing – ZFP, 10, 230–240. Hentschel, B. (1999). Multiattributive Messung von Dienstleistungsqualität. In M. Bruhn & B. Stauss (Hrsg.), Dienstleistungsqualität. Konzepte, Methoden, Erfahrungen (3. Aufl., S. 289–320). Wiesbaden: Gabler. Herzberg, F., Mausner, B. & Snyderman, B.B. (1959). The motivation to work. New York: Wiley. Johnston, R. & Heineke, J. (1998). Exploring the relationship between perception and performance: Priorities for action. The Service Industries Journal, 18, 101–112. Parasuraman, A., Zeithaml, V.A. & Berry, L.L. (1985). A conceptual model of service quality and its implications for future research. Journal of Marketing, 49, 41–50. Matzler, K. (1997). Kundenzufriedenheit und Involvement. Wiesbaden: Gabler. Nerdinger, F.W. (2007). Dienstleistung. In L. von Rosenstiel & D. Frey (Hrsg.), Marktpsychologie. Enzyklopädie der Psychologie, Bd. D/ III/5 (S. 375–418). Göttingen: Hogrefe. Nerdinger, F.W. & Neumann, C. (2007). Kundenzufriedenheit und Kundenbindung. In K. Moser (Hrsg.), Wirtschaftspsychologie (S. 127–146). Heidelberg: Springer. Stauss, B. (1999). Kundenzufriedenheit. Marketing – ZFP, 21, 5–24. Stauss, B. & Weinlich, B. (1997). Process-oriented measurement of service quality. Applying the sequential incident technique. European Journal of Marketing, 31, 33–55. Zeithaml, V.A. (1981). How consumer evaluation processes differ between goods and services. In J.A. Donnelly & W.R. George (Eds.), Marketing of services (pp. 186–190). Chicago, IL: AMA. Zeithaml, V., Parasuraman, A. & Berry, L.L. (1992). Qualitätsservice. Was Ihre Kunden erwarten – was Sie leisten müssen. Frankfurt/M.: Campus.
32
32 Steuerung der Dienstleistungsqualität 32.1
Dienstleistungsmarketingmix
32.2
Wahrgenommene Prozesse: Dienstleistungsklima
32.2.1 32.2.2 32.2.3
Verbindung von Mitarbeiter- und Kundeneinstellungen Dienstleistungsklima – 582 Gestaltung des Dienstleistungsklimas – 583
32.3
Gestaltung des Umfeldes – 584
32.3.1 32.3.2
Beeinflussung des Erlebens durch Raumgestaltung Steuerung des Zeiterlebens – 586
32.4
Personen
32.4.1 32.4.2 32.4.3
Erwartungen der Kunden an das Personal Auswahl geeigneter Mitarbeiter – 590 Training der Mitarbeiter – 590
Literatur
– 580
– 588
– 592
– 589
– 581 – 582
– 584
580
Kapitel 32 · Steuerung der Dienstleistungsqualität
> Zur Steuerung der Dienstleistungsqualität nehmen Organisationen Einfluss auf Mitarbeiter und Kunden. Um die Mitarbeiter zu beeinflussen, eignen sich die meisten personalwirtschaftlichen Maßnahmen. Die Beeinflussung der Kunden erfolgt dagegen über die verschiedenen Maßnahmen des Marketing, die als »Marketingmix« bezeichnet werden. Da aber Dienstleistungsnehmer und -geber im Rahmen der Leistungserstellung durch eine Interaktion verknüpft sind, haben beide Formen der Beeinflussung – die personalwie die marktbezogenen – immer auch indirekte Auswirkungen auf den jeweiligen Interaktionspartner. Das legt es nahe, die verschiedenen Maßnahmen der Beeinflussung durch Organisationen mit einem Konzept zu erfassen. Dazu eignet sich das Konzept des Dienstleistungsmarketingmix. Dieses Konzept wird kurz vorgestellt, anschließend werden die wichtigsten Ansatzpunkte zur Steuerung der Dienstleistungsqualität beschrieben.
32.1
Dienstleistungsmarketingmix
Das absatzpolitische Instrumentarium zur Steuerung von Austauschprozessen wird gewöhnlich als Marketingmix bezeichnet – es umfasst die Gestaltung von 4 Produkt, 4 Preis, 4 Werbung und 4 Absatzmethode (Meffert, 2000).
32
Die Übertragung dieses Ansatzes auf den Bereich der Dienstleistungen gelingt – abgesehen von der Absatzmethode, die in der wissenschaftlichen Diskussion selten thematisiert wird – nicht problemlos (vgl. zum Folgenden Nerdinger, 2007). Besonders problematisch ist die Frage nach dem Produkt: Das Marketing setzt an der subjektiven Bewertung der Leistung an, die Bewertung von Sach- und Dienstleistungen stützt sich aber auf unterschiedliche Merkmale. Zeithaml (1981; 7 Kap. 31) hat drei Merkmale der Bewertung von Produkten und Dienstleistungen unterschieden: Prüf-, Erfahrungs- und Vertrauensqualitäten. Während Produkte überwiegend durch Prüfqualitäten gekennzeichnet sind, dominieren bei Dienstleistungen Erfahrungs- oder Vertrauensqualitäten. Die »Produktgestaltung« erfordert daher im Bereich der Dienstleistungen ein anderes Vorgehen als im Bereich materieller Produkte. Aber auch die Übertragung der anderen Faktoren des Marketingmix bereitet Probleme. Im Konsumgüterbereich erhält der Konsument für sein Geld ein bestimmtes Produkt, dessen betriebswirtschaftlich kalkulierten Wert er vielleicht nicht unbedingt genau abschätzen kann, das er aber immerhin in Besitz nimmt. Dadurch entsteht ein Preisbewusstsein, das bei immateriellen Leistungen nicht
in gleicher Weise vorhanden ist (Woratschek, 2001). Schließlich funktioniert auch die Werbung für Dienstleistungen in anderer Weise – Produktdifferenzierung durch Werbung muss im Dienstleistungsbereich vor allem über wahrnehmbare Qualitäten erfolgen. Das bedeutet: Werbung muss in diesem Fall nicht zuletzt personale Qualitäten der Mitarbeiter bzw. Versprechungen über deren Verhalten kommunizieren (Meyer, 1998). Werbung für Dienstleistungen hat daher immer auch mehr oder weniger direkte Auswirkungen auf die betroffenen Mitarbeiter mit Kundenkontakt: Jedes Werbeversprechen, das sich auf den Service bzw. das Verhalten der Mitarbeiter bezieht, beeinflusst deren Arbeit in Form der Erwartungen, die von Kunden an sie gerichtet werden (7 Kap. 30). Aufgrund dieser Unterschiede zu Konsumgütern wurde die Frage aufgeworfen, ob die herkömmlichen Technologien des Marketingmix für die Verbreitung von Dienstleistungen genügen. Bitner (1990a) hat die bekannten Faktoren des Marketingmix um drei weitere, für die Steuerung von Dienstleistungen spezifische Faktoren erweitert: 4 Prozesse (»process«), 4 Umfeld (»physical evidence«) und 4 Personen (»participants«). Diese bilden zusammen mit den vier klassischen Faktoren den Dienstleistungsmarketingmix. Definition Prozesse sind solche Prozeduren und Abläufe von Aktivitäten, die in der Organisation – unsichtbar für den Kunden – die Leistungserbringung vorbereiten (Bitner, 1990).
581 32.2 · Wahrgenommene Prozesse: Dienstleistungsklima
Psychologisch wird dieses Feld über die Wahrnehmung durch die Mitarbeiter relevant. Als Dienstleistungsklima, d. h., als wahrgenommene Ausrichtung der organisationalen Prozesse auf die Bedürfnisse der Kunden und als Unterstützung der Dienstleistungsgeber bei ihrer Tätigkeit kann es als eine entscheidende Voraussetzung der Qualität von Dienstleistungen gesehen werden (Schneider, Bowen, Ehrhardt & Holcombe, 2000). Von unmittelbarer psychologischer Bedeutung ist auch der Faktor Umfeld. Definition Umfeld thematisiert die gezielte Gestaltung des Setting, in dem die Dienstleistung erbracht wird.
Auf der Basis umweltpsychologischer Erkenntnisse versuchen Unternehmen, das Erleben von Raum und Zeit durch den Kunden mit spezieller Zielrichtung auf seine Wahrnehmung der Qualität zu beeinflussen (Blümelhuber, 1998). Darüber hinaus zählen zum Umfeld alle konkret wahrnehmbaren Merkmale der Organisation, aus denen Kunden Rückschlüsse auf die Qualität der Dienstleistung ziehen. Von besonderer Bedeutung für den Absatzerfolg von Dienstleistungen ist der dritte Faktor, die Personen. Definition Mit Personen sind alle Menschen gemeint, die an der Erstellung der Dienstleistung beteiligt sind und deshalb die Wahrnehmung der Kunden beeinflussen.
Dazu zählen andere Kunden, sofern sie bei der Dienstleistungsinteraktion zugegen sind, in erster Linie aber natürlich das Kundenkontaktpersonal. Selektion, Schulung, Führung, Motivation und Kontrolle der Mitarbeiter mit Kundenkontakt werden auf die Erwartungen der Kunden abgestimmt und in den Dienst des Absatzerfolges gestellt. Die Wirkung der Personen und der Umwelt auf die Bewertung der Qualität der Dienstleistung kann allerdings in Abhängigkeit von der Art der Dienstleistung unterschiedlich groß sein (vgl. dazu Conlon, van Dyne, Milner & Ng, 2004). Begründet wird die Erweiterung des klassischen Marketingmix und speziell die Ausrichtung der Personalpolitik an Marketingzielen mit der Bedeutung der
Qualität der Dienstleistung: Marketing ist für die Verbreitung der Dienstleistungen zuständig, Dienstleistungen lassen sich aber nur verbreiten, wenn sie qualitativ den Erwartungen der Kunden entsprechen (George & Grönroos, 1999). Da Dienstleistungen in erster Linie durch Erfahrungs- bzw. Vertrauensqualitäten gekennzeichnet sind, wird den Kunden die Qualität der Leistung über das Ambiente, in dem sie erbracht werden, vor allem aber durch das Verhalten der Dienstleistungsgeber vermittelt. Deren Verhalten wird wiederum auch durch ihre Wahrnehmung der Prozesse in der Organisation bestimmt. Die folgenden Ausführungen beschränken sich auf die für Dienstleistungen spezifischen Faktoren des Marketingmix. 32.2
Wahrgenommene Prozesse: Dienstleistungsklima
Als Prozesse werden solche Prozeduren und Aktivitäten bezeichnet, die in der Organisation – unsichtbar für den Kunden – die Leistungserbringung vorbereiten und unterstützen. Psychologisch besonders wichtig werden so verstandene Prozesse über die Wahrnehmung durch die Mitarbeiter. Die Verbindung zwischen Organisation und Kunde erfolgt über die Dienstleistungsgeber, sie kennen sowohl die Wünsche, Bedürfnisse, Erwartungen und Ansprüche der Kunden, als auch die Bereitschaft und Fähigkeit der Organisation, diese zu erfüllen. Gerade die Wahrnehmung, ob organisatorische Prozesse sie in der Interaktion mit den Kunden unterstützen oder behindern, bleibt daher nicht ohne Folgen für ihr eigenes Verhalten gegenüber den Kunden. Den Kunden wird diese Wahrnehmung organisatorischer Prozesse durch verbale und nonverbale Kommunikation des Kundenkontaktpersonals vermittelt (Sundaram & Webster, 2000; 7 Kap. 30). Das Verhalten der Dienstleistungsgeber verknüpft also Prozesse der Organisation mit dem Erleben der Kunden. In diesem Verhalten reflektiert sich die Wahrnehmung eben dieser Prozesse: Sehen sich Mitarbeiter von der Organisation in ihrer Tätigkeit unterstützt, so werden sie sich auch kundenorientiert verhalten. Solche Wahrnehmungen der Organisation werden allgemein als Organisationsklima (7 Kap. 11), in der hier diskutierten inhaltlichen Ausrichtung als Dienstleistungsklima bezeichnet (Schneider et. al., 2000).
32
582
Kapitel 32 · Steuerung der Dienstleistungsqualität
32.2.1
32
Verbindung von Mitarbeiterund Kundeneinstellungen
Erste empirische Belege für den Zusammenhang von Mitarbeiter- und Kundeneinstellungen finden sich in den Untersuchungen im Finanzdienstleistungsbereich durch Schneider und seine Kollegen (Schneider, Parkington & Buxton, 1980; Schneider & Bowen, 1985; vgl. zusammenfassend: Nerdinger, 2007). In diesen Untersuchungen zeigte sich, dass das Kundenkontaktpersonal von Banken die Qualitätsbeurteilung seiner Kunden sehr genau einschätzen kann. Kunden gaben ihr Urteil über die Qualität des Service in der jeweiligen Bank auf Skalen an, Schalterangestellte sollten auf den gleichen Skalen einstufen, wie ihre Kunden die Qualität des Service einschätzen. Die beiden Maße korrelieren zu .67 (Schneider et al., 1980), in einer Replikationsstudie fand sich eine Korrelation von .63 (Schneider & Bowen, 1985). Demnach kennen zumindest im Bereich der Finanzdienstleistungen die Mitarbeiter mit Kundenkontakt die Qualitätswahrnehmungen ihrer Kunden sehr genau. In diesen Studien findet sich ein wesentlicher Zusammenhang zwischen der Qualitätswahrnehmung der Kunden und dem Dienstleistungsklima, das als von Dienstleistungsgebern wahrgenommene Ausrichtung organisationaler Prozesse an den Bedürfnissen der Kunden definiert und erfasst wurde. In der ersten Studie korrelierte das vom Kundenkontaktpersonal wahrgenommene Dienstleistungsklima und die von Kunden wahrgenommene Qualität der Dienstleistungen zu .71 (Schneider et al., 1980), in der Replikation findet sich eine signifikante Korrelation von .37 (Schneider & Bowen, 1985). Das Dienstleistungsklima korreliert wiederum mit der Arbeitszufriedenheit der Dienstleistungsgeber und kann daher als entscheidende intervenierende Variable zwischen der Person des Dienstleistungsgebers und der wahrgenommenen Qualität der Dienstleistung durch die Kunden verstanden werden (zu weiteren Untersuchungen mit vergleichbaren Ergebnissen vgl. Nerdinger, 2003b). Dabei ist zu beachten, dass die Beziehung zwischen Dienstleistungsklima und den Wahrnehmungen der Kunden durch verschiedene Größen moderiert wird (Dietz, Pugh & Wiley, 2004): Wenn sich das Klima auf eine spezifische Einheit – z. B. eine Zweigstelle – bezieht, ist der Zusammenhang enger als im Falle, dass es die ganze Organisation betrifft. Außerdem: Je höher die Kontaktfrequenz zwischen Mitarbeiter und Kunden, desto enger ist diese Beziehung.
Von grundlegender Bedeutung ist demnach, ob die konkret erlebten Praktiken und Strukturen der Organisation von den Mitarbeitern als dienstleistungsorientiert wahrgenommen werden. Das Erleben der Organisation reflektiert sich wiederum im Verhalten des Kundenkontaktpersonals und dadurch bedingt in der Einschätzung der Qualität der Dienstleistung durch die Kunden. Eine solche Wahrnehmung der Organisation beschreibt das Konzept »Dienstleistungsklima«. 32.2.2
Dienstleistungsklima
Die Wahrnehmung der Organisation durch die Mitarbeiter wurde in den Untersuchungen von Schneider auf den in der folgenden Übersicht dargestellten Dimensionen erfragt.
Dimensionen des Dienstleistungsklimas (nach Schneider et al., 1980) 4 Dienstleistungsorientierung – die Flexibilität, mit der auf Bedürfnisse der Kunden eingegangen wird 4 Unterstützung durch das Management – die wahrgenommene Unterstützung durch die Führungskräfte 4 Unterstützung durch das System – inwieweit die Zusammenarbeit mit anderen Abteilungen hilfreich für die im Kontakt mit dem Kunden zu erbringende Dienstleistung ist 4 Beachtung der Kundenbindung – welche Aufmerksamkeit das Management auf die Kundenpflege richtet 4 Logistische Unterstützung – ob die bereitgestellte Technologie für die Dienstleistung hilfreich ist
Alle diese Dimensionen des Dienstleistungsklimas korrelieren mit der Einschätzung der Qualität der Dienstleistung durch die Kunden. Die wahrgenommene Dienstleistungsorientierung der Organisation korreliert zudem signifikant negativ mit der erlebten Frustration, der Bereitschaft zum Arbeitgeberwechsel sowie erlebtem Rollenkonflikt und Rollenambiguität der Dienstleistungsgeber (Schneider & Bowen, 1985; 7 Kap. 30).
583 32.2 · Wahrgenommene Prozesse: Dienstleistungsklima
Diese Ergebnisse haben insofern besondere Bedeutung, als das vom Kundenkontaktpersonal wahrgenommene Dienstleistungsklima auch den finanziellen Erfolg des Unternehmens beeinflussen kann. Borucki und Burke (1999) haben die Auswirkungen des Dienstleistungsklimas auf das Verhalten von Verkäufern und dessen Wirkungen auf den geschäftlichen Erfolg von Einzelhandelsgeschäften untersucht. Dem Dienstleistungsklima liegen nach dieser Untersuchung zwei Faktoren zugrunde: Im ersten Faktor spiegelt sich das Interesse der Organisation an den Verkäufern wieder, der zweite Faktor bildet das Interesse der Organisation an den Kunden ab. Beide Faktoren des Dienstleistungsklimas haben Einfluss auf dienstleistungsorientiertes Verhalten der Verkäufer, das wiederum signifikante Anteile an der Varianz des finanziellen Erfolgs der Geschäfte erklärt. Das bestätigen auch die Befunde an Hotel- und Restaurantmitarbeitern: Demnach führt deren Arbeitsengagement zu besseren Leistungen, ein Zusammenhang, der durch das Dienstleistungsklima vermittelt (mediiert) wird (Salanova, Agut & Peiró, 2005). Schließlich haben Schneider, Ehrhart, Mayer, Saltz & Niles-Jolly (2006) an einer Stichprobe von 56 Supermarktabteilungen folgende Wirkungskette nachgewiesen: Das Führungsverhalten beeinflusst sehr stark das Dienstleistungsklima, das wiederum das kundenorientierte Verhalten der Mitarbeiter beeinflusst. Dieses Verhalten steht in engem Zusammenhang mit der Kundenzufriedenheit, die wiederum auf die Umsätze der Abteilungen wirkt. Das Dienstleistungsklima wird durch Führung und Unternehmenspolitik beeinflusst. Demnach kann ein dienstleistungsorientiertes Management, das sich sowohl um den Kunden als auch um das Kundenkontaktpersonal bemüht, dessen Verhalten in Richtung Dienstleistungsorientierung steuern (vgl. Hartline, Maxham & McKee, 2000). Die Frage der Kausalität, die in diesen Beziehungen wirksam wird, ist momentan noch nicht eindeutig geklärt. Schneider, White und Paul (1998) haben herausgefunden, dass die wahrgenommene Unterstützung der Dienstleistungsarbeit und der wahrgenommene Service zwischen den Abteilungen einer Bank das globale Dienstleistungsklima bestimmen. Das wiederum wirkt auf die bei Kunden 3 Jahre später erhobene, wahrgenommene Dienstleistungsqualität. In einer sog. »cross-lagged Panel-Analyse« – ein Verfahren, das eine statistisch fundierte Abschätzung der Wirkungsrichtung von Längsschnittdaten ermöglicht –, zeigten sich allerdings reziproke Effekte. Demnach beeinflussen sich das vom
Kundenkontaktpersonal wahrgenommene Dienstleistungsklima im Unternehmen und die von den Kunden erlebte Dienstleistungsqualität wechselseitig. 32.2.3
Gestaltung des Dienstleistungsklimas
Theoretisch ist das Dienstleistungsklima über die Wahrnehmung der für die Funktion einer Organisation wesentlichen Subsysteme im Sinne von Katz und Kahn (1978; vgl. Nerdinger, 2007) erklärbar. Nach Katz und Kahn finden sich in Organisationen fünf Grundfunktionen, die jeweils an Subsysteme delegiert werden. Als Schlussfolgerung ihrer Untersuchungen fordern Schneider und Bowen (1995) die gezielte Gestaltung dieser fünf Subsysteme zur Herstellung eines Dienstleistungsklimas: 4 Das Produktionssystem muss demnach so gestaltet werden, dass Kunden möglichst rasch und unter optimalen Bedingungen ihre Dienstleistungsbedürfnisse befriedigen können. 4 Die Unterstützungssysteme müssen für die notwendigen Informationen und Ressourcen sorgen, damit die Dienstleistung richtig ausgeführt wird. 4 Die Systeme der Anpassung haben die Funktion, künftige Entwicklungen vorwegzunehmen und die größere Umwelt der Organisation zu explorieren. Durch partizipative Entscheidungen – z. B. über die Implementierung von Qualitätszirkeln (Antoni, 1999) – soll das Wissen des Kundenkontaktpersonals über die Wünsche und Erwartungen der Kunden stärker in die Anpassungssysteme integriert werden. 4 Dem Leitungssystem kommt zentrale Bedeutung zu, da es die Subsysteme so koordinieren muss, dass durch reibungslose Zusammenarbeit optimale Bedingungen für das Kontaktpersonal ermöglicht werden. 4 Schließlich muss das System zur Aufrechterhaltung der Dienstleistung, das in erster Linie die Leistungen der Personalabteilung umfasst, den Vorstellungen der Kunden entsprechend gestaltet werden. Durch Rekrutierung, Selektion und Training des Kundenkontaktpersonals sind die nötigen Fähigkeiten und Fertigkeiten aufseiten der Dienstleistungsgeber zu sichern (Nerdinger, 1999), durch Gestaltung des Anreizsystems in Einklang mit dem Ziel der Dienstleistung muss kundenorientiertes Verhalten unterstützt werden.
32
584
Kapitel 32 · Steuerung der Dienstleistungsqualität
Am System zur Aufrechterhaltung der Dienstleistung zeigt sich die wechselseitige Bezogenheit von Dienstleistungsklima und organisationspsychologischen Interventionen: Bei der Untersuchung der Mitarbeiter einer Bank wurde festgestellt, dass die dienstleistungsorientierten Mitarbeiter besonders unter einem bürokratischen Klima der Organisation gelitten haben, da sie ein solches Klima als Behinderung bei der Realisierung ihrer Arbeitseinstellung erleben (Nerdinger, 1992). Demnach genügt nicht allein die Auswahl der »richtigen« Mitarbeiter, vielmehr müssen auch alle Subsysteme der Organisation auf die »richtigen« Mitarbeiter abgestimmt werden. 32.3
Gestaltung des Umfeldes
Empfehlungen zur Gestaltung des Settings, in dem die Dienste geleistet werden, zielen direkt auf die Steuerung des Erlebens der Kunden durch die Organisation. Mit der Ausweitung des traditionellen Marketingmix wird die Gestaltung der Interaktionsumwelt zum spezifischen Instrument des Dienstleistungsmarketingmix. Durch Gestaltung der objektiven Umwelt soll damit die wahrgenommene Dienstleistungsqualität so verändert werden, dass langfristig ertragreiche Folgen für das Unternehmen erzielt werden. Im Feld der Dienstleistungen
lassen sich dabei zwei Ansatzpunkte unterscheiden: Die Gestaltung des Raums, in dem die Interaktion stattfindet und die Steuerung des Zeiterlebens. 32.3.1
Beeinflussung des Erlebens durch Raumgestaltung
Trotz der allgemein betonten, hohen Bedeutung der Umweltgestaltung für den Erfolg von Dienstleistungen (Blümelhuber, 1998) finden sich kaum theoretische Erklärungsansätze für deren Erforschung. Eine Ausnahme stellt das Modell von Bitner (1992) dar, das . Abb. 32.1 zeigt. Das Modell geht von einer grundlegenden umweltpsychologischen Annahme aus, wonach sich individuelle Reaktionen auf räumliche Merkmale durch zwei generelle Verhaltensformen kennzeichnen lassen: Annäherungs- bzw. Vermeidungsverhalten. Definition Unter Annäherungsverhalten wird alles gefasst, was sich als Ausdruck des Wunsches, an einem Ort zu bleiben, interpretieren lässt. Vermeidungsverhalten umschreibt dagegen die gegensätzlichen Verhaltenstendenzen.
32
© American marketing Association 1992
. Abb. 32.1. Das Modell der Umwelt-Nutzer-Beziehungen von Bitner (1992)
585 32.3 · Gestaltung des Umfeldes
Zum Annäherungsverhalten zählt u.a. die Tendenz, den Ort zu erforschen und sozialen Kontakt aufzunehmen. Ein typisches Beispiel für Vermeidungsverhalten bildet die »Schwellenangst«, ein Begriff, mit dem die Wirkung beschrieben wird, die früher z. B. von Bankgebäuden ausgegangen ist: Die klassischpompöse und vornehme Raumgestaltung, die im Bankbereich gezielt den Eindruck von Sicherheit, Vertrauenswürdigkeit und Beständigkeit vermitteln sollte, löst demnach in bestimmten Schichten der Bevölkerung Vermeidungsverhalten aus. (Empirisch kann das heute aber kaum mehr bestätigt werden: Zum Beispiel führte in einer Studie an Kunden einer amerikanischen Bank die Wahrnehmung einer luxuriösen Ausstattung zu dem Eindruck, die Bank würde das Geld der Kunden unangemessen verwenden; Baker, Berry & Parasuraman, 1988). In der Frage der räumlichen Gestaltung konzentriert sich das Modell auf drei Dimensionen (vgl. zum Folgenden Nerdinger, 2007): 4 Ambiente, 4 Raum/Funktion sowie 4 Zeichen, Symbole und Artefakte. Zum Ambiente zählen Merkmale wie die Temperatur, die Qualität der Luft, Lärmpegel, Gerüche, Musik etc. Damit wird auf alle Sinne des Kunden gezielt. Besonderes Interesse im Dienstleistungsbereich hat die Wirkung von Hintergrundsmusik gefunden. So bleiben Kunden bei langsamer Musik länger in einem Restaurant und trinken mehr als bei schneller Musik. Angenehme Hintergrundmusik kann auch den Wunsch, mit Beratern einer Bank in Kontakt zu treten, erhöhen. Die Musik beeinflusst sowohl die Einschätzung der Freundlichkeit der Berater als auch die Bereitschaft, ihnen gegenüber freundlich zu sein und mit ihnen zu kommunizieren (Dubé, Chebat & Morin, 1995). Vermittelt werden diese Wirkungen nicht nur über kognitive Schlussfolgerungen, sondern auch durch die Gefühle, die eine Umwelt auslöst: Die über das Ambiente von Einzelhandelsläden ausgelösten angenehmen Gefühle können die längere Aufenthaltsdauer und die höheren Ausgaben von Kunden erklären. Schließlich kann im Freizeitbereich die Gestaltung des Settings – z. B. von Freizeitparks – die Begeisterung über die Dienstleistung erklären, die wiederum die Bereitschaft zur wiederholten Nutzung und die Absicht, die Dienstleistung weiterzuempfehlen, beeinflusst.
Dienstleistungsumwelten sollten letztlich auf das Ziel der Leistungserstellung ausgerichtet sein, was mit der Dimension Raum/Funktion erfasst wird. Die gezielte Planung und Gestaltung von Räumlichkeiten wird unter dem Begriff »Gebrauchsarchitektur«, d. h. einer Architektur, die auf die Nützlichkeit für die Benutzer abzielt, diskutiert. Architekten berücksichtigen dabei in zunehmendem Maße Erkenntnisse der Arbeits- und der Umweltpsychologie zur Gestaltung von Produktionsstätten und Wohnanlagen, gerade für bestimmte Dienstleistungsbereiche wie Krankenhäuser und Arztpraxen ist dieser psychologische Blick auf die Funktionalität von Räumen – und das heißt immer auch die Funktionalität für die Interaktion zwischen Dienstleistungsgeber und Kunde – besonders wichtig. So wurde z. B. beim Bau einer Klinik in Kanada der Eindruck eines Krankenhauses bewusst vermieden – sie erinnert eher an einen GolfClub – und versucht, durch die bauliche Gestaltung den Genesungsprozess zu unterstützen: Durch farbliche Gestaltung und Anordnung einzelner Elemente der Szenerie, die den Patienten dazu bringen, das Bett möglichst oft zu verlassen (Blümelhuber, 1998). Repräsentationsarchitektur wird dagegen unter dem Aspekt der Imageförderung gerade von Dienstleistungsunternehmen wie Banken und Versicherungen als wichtiger Zugang zur Kompensation der Immaterialität der angebotenen Leistungen angesehen: Da die Dienstleistung selbst nicht »fassbar« ist, bilden sich Kunden über wahrnehmbare Umweltqualitäten ein Bild der Leistung. So kommen Kunden aufgrund der Hinweisreize aus der Umwelt zu unterschiedlichen Attributionen von Servicefehlern: Ist das Büro, in dem eine Dienstleistungsinteraktion stattfindet, sehr unordentlich, werden auftretende Fehler dem Dienstleistungsgeber zugeschrieben, wirkt es dagegen aufgeräumt, werden die Fehler in anderen Ursachen gesucht – mit entsprechenden Folgen für die Zufriedenheit mit der Dienstleistung (Bitner, 1992). Die Imagefunktion von Architektur überlappt mit der dritten Dimension, der Bedeutung von Zeichen, Symbolen und Artefakten. Zeichen dienen in erster Linie der Orientierung im Raum bzw. informieren über Funktionen. Sie erhalten ihre Bedeutung für die Dienstleistungsinteraktion vor allem über die Einstimmung der Kunden. Wer sich z. B. auf einem Flughafen nicht zurechtfindet, weil die Beschilderung fehlt oder die Hinweise nicht eindeutig gestaltet sind, der macht die verunsichernde Erfahrung des Kontrollverlustes (van Raaij & Pruyn, 1998). Vor diesem, für die Einschätzung der Qua-
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Kapitel 32 · Steuerung der Dienstleistungsqualität
lität negativen Erleben sollen Schalter symbolisch schützen: Am »klassischen« Schalter ist dieser Schutz noch physisch gesichert, durch dickes Glas und perforierte Stellen mit dem Hinweis »Hier sprechen«. Durch den modernen Counter dagegen wird den Dienstleistungsgebern hinter der Barriere symbolisch eine offizielle Funktion zugewiesen, die es ihnen ermöglichen soll, die Interaktion besser zu kontrollieren. Bei der Gestaltung der Dienstleistungsumwelt kommt schließlich bestimmten Artefakten besondere Bedeutung zu: So schätzen Patienten, die nichts über die Reputation eines Arztes wissen, seine Kompetenz auch aufgrund der in seiner Praxis vorfindbaren Artefakte – Diplome an der Wand, Größe des Schreibtisches etc. – ein (Nerdinger, 2007). Bitner (1992) verweist mit dem Begriff »servicescape« – eine Verbindung von »service« und »landscape« – darauf, dass sich alle diese Einzelaspekte der Umwelt zu einem Gesamteindruck verdichten. Dieser Gesamteindruck repräsentiert das ganze Angebot der Organisation und vermittelt dabei ein umfassendes Image der Organisation und der Qualität der Dienstleistung. Der Gesamteindruck bildet sich aus den verschiedenen Dimensionen der Umwelt und führt zu unterschiedlichen psychischen Reaktionen. Die Wirkung des »servicescape« wird dabei durch Merkmale der Persönlichkeit der beteiligten Akteure moderiert. Dazu zählt das von Berlyne (1960) ermittelte Prinzip des optimalen Stimulationsniveaus, demzufolge für jede Person in einer gegebenen Situation ein mittleres Niveau der Stimulation existiert, das für ihre Leistung optimal ist oder von ihr am meisten geschätzt wird. Daneben wirken auch der Zweck des Aufsuchens einer bestimmten Umwelt, die Stimmungslage und die vorab gebildeten Erwartungen moderierend. Die psychischen Reaktionen berücksichtigt das Modell jeweils getrennt für Dienstleistungsgeber und Kunden nach den Dimensionen Kognition, Emotion und Physiologie – vorliegende Untersuchungen beschränken sich allerdings auf die Reaktionen von Kunden. Auf der kognitiven Ebene werden die Hinweisreize der Umwelt dekodiert und daraus Rückschlüsse auf Aspekte der Dienstleistung gezogen, die davon ganz unberührt sind. So manche Kunden schließen z. B. aus der mangelnden Sauberkeit eines Restaurants auf die Qualität der Bedienung und des Essens. Emotionale Reaktionen auf Umwelten lassen sich auf den grundlegenden Dimensionen »Lust–Unlust« und »Erregung« verorten (vgl. KroeberRiel & Weinberg, 2003). Aufgrund unterschiedlicher Adaptationsniveaus sind aber auf beiden Dimensionen für
Dienstleistungsgeber und Dienstleistungsnehmer unterschiedliche emotionale Reaktionen zu erwarten. Die vom spezifischen Setting ausgelösten Emotionen, die bei Kunden vor der Inanspruchnahme der Dienstleistung auf den Dimensionen Gefallen und Erregung erfasst wurden, beeinflussen ihre nach der Inanspruchnahme erfasste Zufriedenheit und die Absicht zum Wiederkauf (Mattila & Wirtz, 2000). In der Frage der physiologischen Reaktionen liegt schließlich bislang kaum Forschung vor. Das Modell von Bitner (1992) ordnet die wesentlichen Variablen, die bei der Gestaltung der Umwelt zu beachten sind. Als Ausgangspunkt für die Gestaltung von Dienstleistungsumwelten ist es gut geeignet. 32.3.2
Steuerung des Zeiterlebens
Ein spezielles, mit der Gestaltung der Umwelt eng verknüpftes Problem der Bewertung von Dienstleistungen stellt das Zeiterleben dar. Besondere Bedeutung hat das Warten, von dessen Erleben gravierende Auswirkungen auf die Kundenzufriedenheit und die Qualitätswahrnehmung ausgehen (Baker & Cameron, 1996; Nerdinger, 2005). Definition Psychologisch betrachtet bedeutet Zeit immer subjektiv erlebte Zeit. In der Konsumentenforschung wird entsprechend gefragt, wie der Konsument die objektiv gemessene Zeit, die er mit Konsum verbringt, subjektiv erlebt.
Exemplarisch für diesen Ansatz ist eine Studie von Hornik (1984), der mehrere hundert Konsumenten beim Warten in einem Supermarkt, einem Kaufhaus und einer Bank beobachtet und anschließend befragt hat, wie lange nach ihrer Meinung die Wartezeit dauerte. Die Dauer von Wartezeiten wurde prinzipiell überschätzt, besonders extreme Fehlschätzungen stellten sich ein, wenn die Kunden die Wartezeit passiv verbracht hatten. Diese Ergebnisse geben bereits einen Hinweis, warum Warten das zentrale Zeitproblem von Dienstleistungen ist: Bedientwerden ist aktive Zeit. Kunden sind in das Geschehen einbezogen, indem sie mitarbeiten oder aber es wird etwas mit ihnen gemacht. Das genügt gewöhnlich, um gar nicht erst die Gedanken auf die Dauer des Ereig-
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1. Passive Zeit wird im Vergleich zu aktiver Zeit als länger dauernd erlebt. Taylor (1995) hat die Auswirkungen
der Wartezeit auf eine Karriereberatung untersucht und gefunden, dass die Unzufriedenheit mit der Dienstleis-
a
. Abb. 32.2. »Warteschlangen-Systeme«: a Warten »ums Eck«; b multiple Schlangen; c mehrstufige Systeme. (Nach Meyer & Blümelhuber, 1998, S. 924)
tung abhängig ist von der subjektiven Einschätzung der Ausgefülltheit des Wartens. Wenn sich Menschen während des Wartens beschäftigen können, erleben sie die Wartezeit als kürzer. Kunden ergreifen auch von sich aus die Initiative, um die Wartezeit abzukürzen. Im Supermarkt schlagen manche Kunden den Kassierern Methoden vor, mit denen sie Zeit sparen können; häufiger unterstützen sie die Kassierer, indem sie selber nach Preisen suchen, die Produkte mit oben liegenden Preisen auf dem Förderband platzieren usw. Aktivität kann aber auch in die Warteschlange eingebaut werden (Meyer & Blümelhuber, 1998; . Abb. 32.2). In den Disney-Vergnügungsparks werden Warteschlangen »ums Eck« geführt, damit die weiter hinten Stehenden nicht die ganze Länge abschätzen können. Außerdem wird versucht, die Schlange immer in Bewegung zu halten. Im Fast-Food-Bereich sind zwei verschiedene »Schlangentechniken« verbreitet: Das System
b
c
© 1997 Schäffer-Poeschel Verlag für Wirtschaft·Steuern·Recht GmbH & Co. KG, Stuttgart
nisses zu richten. Darauf warten zu müssen, bis man bedient wird, ist dagegen sehr problematisch – in verschiedenen Untersuchungen zeigen sich enge negative Korrelationen zwischen der Wartezeit und der Kundenzufriedenheit (vgl. Nerdinger, 2007). Trotz dieser hohen Bedeutung finden sich kaum theoretische Modelle des Zeiterlebens. In der Praxis des Dienstleistungsmanagements wird dagegen ein ganzes Arsenal an Techniken zur Beeinflussung des Zeiterlebens eingesetzt, die auf Einsichten der Alltagspsychologie beruhen. Maister (1985) hat diese Techniken gesammelt und durch verschiedene Maßnahmen illustriert (vgl. Unzicker, 1999). Die wichtigsten sind die Folgenden.
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Kapitel 32 · Steuerung der Dienstleistungsqualität
multipler Schlangen (z. B. McDonalds – jede Bedienung hat ihre eigene Schlange) und das mehrstufige System (z. B. Wendys – der erste Dienstleistungsgeber nimmt die Bestellung entgegen, der zweite bereitet das Essen, der dritte die Getränke usw.). Beim ersten System ist die Schlange kürzer, sie bewegt sich aber nicht so schnell, dagegen bewegt sich die längere Schlange des zweiten Systems in kontinuierlichen kleinen Schritten, wodurch sich das Zeiterleben verkürzt.
gative Einschätzung der Dienstleistungsqualität bewirkt (Taylor, 1995). Hier liegt auch eine Erklärung für den Befund, wonach die Erwartung, dass sich Dienstleistungsgeber freundlich verhalten sollen, negativ mit der Länge der Warteschlange bzw. dem Kundenandrang im Laden korreliert: Die Wartenden deuten in einer langen Schlange jedes freundliche Wort des Dienstleistungsgebers gegenüber anderen Kunden als ungerechtfertigte Verlängerung ihrer Wartezeit.
2. Auf den Prozess zu warten dauert länger als während des Prozesses zu warten. Die Zeit bis zum ersten Kon-
4. Unfaire Wartezeiten dauern länger als faire. Warte-
takt mit dem Dienstleistungsgeber wird als länger erlebt, auch wenn die Zeit nach Aufnahme der Bestellung objektiv länger dauert. Nach der Feldtheorie von Kurt Lewin steigen die psychischen Kräfte mit der Annäherung an das Ziel (Lewin, 1951/1963). Eine Barriere vor dem Ziel – z. B. in Form des Wartens – sollte daher als unangenehmer erlebt werden als eine Barriere, die während der Zielerreichung auftritt. Darüber hinaus sollte eine Wartezeit nach Beendigung der Dienstleistung als ebenso unangenehm erlebt werden. Die Aktivität will beendet werden, u. U. werden bereits neue Ziele verfolgt, weshalb eine neuerliche Barriere verärgert (Dubé-Rioux, Schmitt & Leclerc, 1991).
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3. Unsichere und unerklärteWartezeiten dauern länger als bekannte, begrenzte Wartezeiten. Der Zusammen-
hang zwischen der Wartezeit und der Bewertung einer Dienstleistung wird durch negative affektive Reaktionen auf die Verzögerung vermittelt. Solche negativen Emotionen sind letztlich auf die erlebte Unsicherheit über die Dauer des Wartens zurückzuführen, die sich wiederum durch geeignete Informationen beeinflussen lässt. Die Vorabinformation über die Dauer der Wartezeit hat keinen Einfluss, wenn die objektive Wartezeit gering ist. Bei einer mittleren bzw. längeren Dauer kann Vorabinformation dagegen das Erleben positiv beeinflussen. Darüber hinaus ist unter der Bedingung mittlerer Wartezeit die Wirkung größer als bei einer Information über die Position in der Warteschlange, bei längerer Wartezeit zeigt sich eine umgekehrte Wirkung der Information (Hui & Tse, 1996). Informationen, die den Kunden nahelegen, dass die Verzögerung entschuldbar ist, beeinflussen das Erleben des Wartens positiv. Kann aber der Dienstleistungsgeber nach Meinung der Kunden die Wartezeit kontrollieren, so führt Warten zu Verärgerung, die wiederum eine ne-
schlangen bilden ein soziales System, d. h., sie sind durch Rollendifferenzierung und soziale Normen (7 Kap. 8) – vor allem die Norm der Gleichbehandlung – bestimmt. Kunden, die sich in eine Warteschlange drängen, erzeugen mehr Ärger und größere Bereitschaft zur Wiederherstellung der verletzten Normen als Dienstleistungsgeber, die willkürlich ihren Platz verlassen und signalisieren, sie würden in wenigen Minuten zurück sein (Schmitt, DubéRioux & Leclerc, 1992). Die Aufgabe, den »Eindringling« zu maßregeln, fällt dabei automatisch demjenigen zu, der dem Ort des Eindringens am nächsten steht. Houston, Bettencourt und Wenger (1998) haben versucht, den Zusammenhang zwischen dem Warten und der Bewertung der Dienstleistungsqualität systematisch zu überprüfen (7 Kasten »Warten und die Qualität von Dienstleistungen«). 32.4
Personen
»Personen« bezeichnet den dritten Faktor des Dienstleistungsmarketingmix (Bitner, 1990). Damit sind alle Personen gemeint, die an der Erstellung der Dienstleistung beteiligt bzw. physisch anwesend sind. Dazu zählt natürlich in erster Linie das Kundenkontaktpersonal, aber auch andere Kunden, sofern sie bei der Dienstleistungsinteraktion zugegen sind und dadurch Einfluss auf die Bewertung der Dienstleistung nehmen. Die Bedeutung weiterer anwesender Kunden wurde bislang aber kaum erforscht (vgl. Grove & Fisk, 1997), weshalb sich die folgende Darstellung auf das Kundenkontaktpersonal konzentriert. Im Sinne des Marketinggedankens kommt es darauf an, die Erwartungen an und die Wahrnehmung des Verhaltens bzw. der Persönlichkeit der Menschen, die in unmittelbaren Kontakt zu den Kunden treten, zu ermitteln und dann mittels personalpsychologischer Methoden –
589 32.4 · Personen
Warten und die Qualität von Dienstleistungen Vor dem Hintergrund von Kurt Lewins Feldtheorie haben Houston et al. (1998) ein Modell entwickelt, das den Einfluss des Wartens auf die Einschätzung der Qualität einer Dienstleistung erklären soll. Demnach bestimmt die wahrgenommene Länge des Wartens dessen Akzeptanz, diese wiederum beeinflusst die negativen Gefühle, die durch das Warten ausgelöst werden. Je negativer die ausgelösten Gefühle, desto schlechter soll die Bewertung der Dienstleistungsqualität ausfallen. Die Akzeptanz des Wartens wird nach diesem Modell u. a. durch die subjektiven Kosten des Wartens und die (positive) Widerlegung der vorab vermuteten Wartezeit bestimmt. Die Höhe der negativen Gefühle wird beeinflusst, wenn sich der Dienstleister für die Wartezeit entschuldigt und die Attribution der Ursachen der Wartezeit (Kontrollierbarkeit durch den Dienstleister und Stabilität der Ur-
Rekrutierung, Selektion und Training (vgl. dazu Nerdinger, 1999) – das gewünschte Personal bzw. dessen adäquates Verhalten anzubieten. 32.4.1
Erwartungen der Kunden an das Personal
Welche Wünsche und Erwartungen Kunden an das Verhalten des Kundenkontaktpersonals richten, haben Bitner, Booms und Tetreault (1990) erforscht. Mithilfe der Methode der kritischen Ereignisse wurden Kunden von Fluglinien, Hotels und Restaurants nach besonders zufrieden bzw. unzufrieden machenden Interaktionen mit dem Kundenkontaktpersonal befragt. Die 719 kritischen Ereignisse (347 zufriedenstellende, 352 Unzufriedenheit auslösende) ließen sich folgenden drei Kategorien zuordnen: 1. Reaktionen der Dienstleistungsgeber auf Fehler im System: Wenn Probleme in der Kerndienstleistung auftreten, entscheidet die Reaktion der Dienstleistungsgeber über Zufriedenheit oder Unzufriedenheit. Entschuldigen sich die Angestellten für den Fehler und suchen ihn zu kompensieren, wird das ganze Erlebnis als positiv erinnert. 2. Reaktionen der Dienstleistungsgeber auf Kundenbedürfnisse und -wünsche, d. h. solche Kun-
sache, d. h., es wird erwartet, dass es künftig wieder passieren kann). Diese Variablen wurden in einem Fragebogen operationalisiert, den 191 Kunden einer amerikanischen Bank ausgefüllt haben. Die regressionsanalytische Überprüfung konnte die meisten Zusammenhänge bestätigen (lediglich die Dimension »Stabilität« der Attribution hatte keinen signifikanten Effekt). Nach diesen Ergebnissen können die Unternehmen die Wirkungen des Wartens auf verschiedene Weise abmildern. Sie können die Akzeptanz erhöhen, indem sie vor allem in den Fällen, in denen Warten mit hohen Kosten verbunden sind, die objektive Wartezeit verkürzen. Sie können den Grad der Verärgerung zusätzlich in ihrem Sinne beeinflussen, indem sie sich für Wartezeiten entschuldigen und Attributionen der Ursachen nahelegen, die aus Sicht des Dienstleisters nicht kontrollierbar sind.
denforderungen, die über die herkömmlichen Leistungen hinausgehen. Wenn sich z. B. eine Stewardess ganz besonders um das flugkranke Kind eines Passagiers gekümmert hat, wird das zum positiven Erlebnis. Hat man seinen Flug verpasst und die Angestellten weigern sich, einen alternativen Flug bei einer anderen Fluglinie zu finden, führt das zu großer Unzufriedenheit. 3. Spontane Handlungen von Dienstleistungsgebern: Eine besonders zuvorkommende Behandlung oder eine unerwartete Freundlichkeit führt zu Zufriedenheit, negative Verhaltensweisen – Unhöflichkeit, Diebstahl, Diskriminierung oder Ignorieren – dagegen zu Unzufriedenheit. Hinter diesen Einstufungen steht ein Kernmerkmal des Verhaltens von Dienstleistungsgebern: die Anstrengung, wie sie von den Kunden wahrgenommen wird. In einer Studie, in der wiederum kritische Ereignisse aus der Sicht von Kunden erhoben wurden, nahmen rund 50% aller Ereignisse Bezug auf die Anstrengung des Dienstleistungsgebers (Mohr & Bitner, 1995). Die Zufriedenheit mit der Dienstleistung steigt in Abhängigkeit von der wahrgenommenen Anstrengung, wobei sich ein Einfluss der Anstrengung auch dann nachweisen lässt, wenn das Ergebnis der Dienstleistung negativ bewertet wurde.
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Kapitel 32 · Steuerung der Dienstleistungsqualität
Kunden erklären die wahrgenommene Anstrengung in erster Linie über die Einstellung des Dienstleistungsgebers gegenüber dem Kunden bzw. seiner Arbeit – d. h. letztlich, ob sich der Mitarbeiter kundenorientiert verhält. Solche Befunde geben Hinweise für entsprechende Verhaltenstrainings bzw. zur kundenorientierten Führung der Mitarbeiter (vgl. dazu Nerdinger, 2003a). 32.4.2
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Auswahl geeigneter Mitarbeiter
Für die Selektion geeigneter Mitarbeiter ist ein Wissen über die Persönlichkeitsstruktur erfolgreicher Dienstleistungsgeber wesentlich. Zu dieser Frage findet sich bislang erstaunlich wenig Forschung (Hurley, 1998). Einige Untersuchungen haben die Auswirkung positiver Affektivität des Dienstleistungsgebers auf die Wahrnehmung der Kunden untersucht. Demnach korreliert eine positive Stimmung bei der Arbeit mit prosozialem und kundenorientiertem Verhalten, zudem hat positive Affektivität der Dienstleistungsgeber einen positiven Einfluss auf die Dienstleistungsqualität aus Sicht der Kunden (Kelley & Hoffman, 1997). Zwischen dem Verhalten in der Rolle als Dienstleistungsgeber und einer speziellen Kombination von Persönlichkeitsmerkmalen bestehen signifikante Zusammenhänge (Hogan, Hogan & Busch, 1984). Diese Kombination wird als Kunden- oder auch Dienstleistungsorientierung bezeichnet. Unter Dienstleistungsorientierung wird die »nichttechnische« Seite einer Dienstleistung, die sich im Verhalten gegenüber Kunden als Höflichkeit, Rücksichtnahme und Takt äußert, verstanden. Ein solches Verhalten setzt Sensibilität für die Bedürfnisse der Kunden und die Fähigkeit, angenehme und angemessene Kommunikation zu betreiben, voraus. Dienstleistungsorientierung ist auf eine bestimmte Persönlichkeitsstruktur zurückzuführen. Zur ihrer Erfassung legten Hogan et al. (1984) einen Persönlichkeitstest – das »Hogan Personality Inventory« (HPI), in dem umgangssprachliche Eigenschaftsbegriffe zur Selbstbeschreibung auf 6 Skalen gruppiert sind – einer Stichprobe von Krankenschwestern vor und ließen gleichzeitig deren Vorgesetzte die am stärksten bzw. am wenigsten dienstleistungsorientierten Krankenschwestern benennen. Mitarbeiterinnen, die von ihren Vorgesetzten als dienstleistungsorientiert eingestuft wurden, zeichneten sich durch ein Syndrom von Angepasstheit (im Sinne von Selbstkontrolle), Liebenswürdigkeit und der Bereitschaft,
Regeln zu befolgen, aus. Im Krankenhaus korreliert die so gemessene Dienstleistungsorientierung signifikant mit der Dienstleistungsqualität aus Sicht der Patienten. Eine Metaanalyse verschiedener Studien, in denen Dienstleistungsorientierung erfasst wurde, kommt zu einer durchschnittlichen Korrelation dieses Clusters von Persönlichkeitsmerkmalen mit Vorgesetztenbeurteilungen des Arbeitsverhaltens von .50 (Frei & McDaniel, 1998). In der Metaanalyse zeigten Liebenswürdigkeit, emotionale Stabilität und Gewissenhaftigkeit den höchsten Zusammenhang mit Maßen der Dienstleistungsorientierung. Hurley (1998) hat einen Test zur Erfassung der Dienstleistungsorientierung entwickelt, der die Persönlichkeitsmerkmale Extraversion, Angepasstheit und Liebenswürdigkeit umfasst. In einer Studie des Kundenkontaktpersonals eines Fast-Food-Unternehmens konnten diese Merkmale ein positiv bewertetes Dienstleistungsverhalten erklären. Weiter zeigte sich, dass dieser Zusammenhang in Abhängigkeit von der Art der Dienstleistung unterschiedlich ausfällt: In Dienstleistungen, in denen der Beziehungsaspekt wichtig, die Erwartungen der Kunden an den Service hoch und die Kosten für den Wechsel des Dienstleistungsgebers gering sind, hat die Persönlichkeit des Dienstleistungsgebers besonders großen Einfluss. Ein Beispiel für eine so gekennzeichnete Dienstleistung bilden Managementtrainings (vgl. auch Conlon et al., 2004). Die vorliegenden Untersuchungen lassen noch keine eindeutigen Aussagen über die Dienstleistungspersönlichkeit zu, Selektion sollte daher auf der Basis von Instrumenten erfolgen, die anhand spezifischer Anforderungsanalysen der zu besetzenden Tätigkeiten entwickelt wurden (Nerdinger, 2003a). 32.4.3
Training der Mitarbeiter
Durch gezielte Auswahl wird versucht, eine Zuordnung von Mitarbeitern zu Arbeitstätigkeiten zu erreichen, wobei die Fähigkeiten der Mitarbeiter den Anforderungen der jeweiligen Tätigkeit entsprechen sollen (7 Kap. 17). Gewöhnlich gelingen solche Zuordnungen nicht vollständig, in der Regel müssen den neuen Mitarbeitern die speziellen Anforderungen des Arbeitsplatzes vermittelt und die zu ihrer Bewältigung notwendigen Fähigkeiten trainiert werden (vgl. zum Folgenden Nerdinger, 1999). Im Bereich der Dienstleistungstrainings lassen sich prinzipiell zwei Arten unterscheiden: Für einfache, standardisier-
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te Dienstleistungen werden in der Regel nur kurze Instruktionen eingesetzt, häufig in Form von Videos. Darin sind die grundlegenden Fähigkeiten dargestellt und die Botschaft »der Kunde ist König« wird in verschiedenen Variationen präsentiert. Ziel ist es, den neuen Mitarbeitern ein Skript über den Ablauf der notwendigen Handlungen zu vermitteln, damit diese die Interaktion mit den Kunden weitgehend automatisiert abwickeln können. Ein Beispiel bietet das »script-based training«, das in einer Fast-Food-Kette zur schnellen Schulung neuer Mitarbeiter für den Service an der Theke eingesetzt wird.
Script-based Training im Fast-Food-Bereich Das Training umfasst einen Prozess einzelner Schritte, die ein Mitarbeiter an der Theke bei der Bedienung eines Kunden abwickeln muss: »Mitarbeiter werden gelehrt, wie sie 1. Kunden begrüßen und 2. nach ihrer Bestellung fragen müssen (dazu gehört auch ein Skript, wie man zusätzliche Produkte empfiehlt). 3. Es folgt eine standardisierte Prozedur, wie die Bestellung abzuarbeiten ist (z. B. kalte Getränke zuerst, dann heiße), 4. wie die verschiedenen Produkte auf dem Tablett zu platzieren sind und 5. für eine Positionierung des Tabletts (damit der Kunde es nicht erreichen kann). 6. Es folgt ein Skript und eine Prozedur, wie das Geld zu kassieren ist und wie man Wechselgeld herausgibt. 7. Schließlich gibt es ein Skript, wie man‚danke’ sagt und den Kunden bittet, wiederzukommen« (Tansik, 1990, S. 164). Diese einzelnen Schritte werden videogestützt so lange geübt, bis ein stabiles kognitives Skript des Ablaufes ausgebildet wurde, das es ermöglicht, die Interaktion weitgehend automatisch abzuwickeln.
Script-based Trainings setzen natürlich Arbeitsplätze voraus, die auf mechanische Interaktionsformen reduziert wurden. Bei komplexeren Tätigkeiten setzt die Ausbildung dagegen an der Vermittlung sozialer Schlüsselqualifikationen wie der kommunikativen Kompetenz an,
die gewöhnlich »off the job« durchgeführt werden. Die arbeitspsychologische Forschung hat Verfahren entwickelt, die eine gezielte und nachweisbar effektive Ausbildung sozialer Kompetenz ermöglichen (z. B. Udris, 1998; 7 Kap. 26). Daneben werden in der Praxis eine Vielzahl Trainings angeboten, die für die spezifischen Anforderungen bestimmter Unternehmen entwickelt wurden. Zusammenfassung 4 Im Dienstleistungsmarketingmix werden zusätzlich zu den gängigen Faktoren des Marketingmix – Produkt, Preis, Kommunikation und Vertrieb – Prozesse (»process«), Umfeld (»physical evidence«) und Personen (»participants«) betrachtet. 4 Als Prozesse werden solche Prozeduren und Aktivitäten bezeichnet, die in der Organisation – unsichtbar für den Kunden – die Leistungserbringung vorbereiten und unterstützen. 4 Die Dimensionen des Dienstleistungsklimas korrelieren mit der Einschätzung der Qualität der Dienstleistung durch deren Kunden. 4 Durch die gezielte Gestaltung der Dimensionen des Dienstleistungsklimas kann die Qualitätswahrnehmung der Kunden beeinflusst werden. 4 Empfehlungen zur Gestaltung des Settings zielen direkt auf die Steuerung des Erlebens der Kunden durch die Organisation. 4 Die Gestaltung des Raums ermöglicht es, bei den Kunden Annäherungs- oder Vermeidungsverhalten auszulösen. 4 Das Zeiterleben kann durch verschiedene Maßnahmen beeinflusst werden mit der Folge einer positiven Einschätzung der Qualität. 4 Mit Personen sind alle diejenigen gemeint, die an der Erstellung der Dienstleistung beteiligt bzw. physisch anwesend sind. 4 Durch gezielte Auswahl wird versucht, solche Mitarbeiter zu ermitteln, die den Anforderungen an die Tätigkeit im Kundenkontakt entsprechen. 4 Ein besonders wichtiges und gut messbares Persönlichkeitsmerkmal zur Auswahl von Mitarbeitern ist die Dienstleistungsorientierung. 4 Durch Training kann das Verhalten der Mitarbeiter im Kontakt mit Kunden gezielt verbessert werden, wobei sowohl aufgabenspezifische Trainings als auch die Ausbildung von Schlüsselqualifikationen wie der sozialen Kompetenz in Frage kommt.
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Kapitel 32 · Steuerung der Dienstleistungsqualität
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Anhang Glossar
– 596
Quellenverzeichnis Sachverzeichnis
– 619
– 623
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Glossar
Glossar Adaptive Leistung. Erfolgreiche Anpassung von Personen an sich ändernde und veränderte Arbeitsbedingungen. Aktionsforschung. Bei der Aktionsforschung versuchen Forscher und Betroffene gemeinsam, die Probleme einer Organisation zu klären und zu lösen. Dabei wird das klassische Verhältnis des Forschers zu seinem Forschungsgegenstand, das Subjekt-Objekt-Modell der Forschung, aufgehoben und durch ein Subjekt-SubjektModell ersetzt, d. h., Forscher und Mitglieder der Organisation sind gleichberechtigte Kooperationspartner. Bei der Problemlösung wechseln sich Phasen der Forschung und der Aktion, d. h. der Umsetzung von Änderungsmaßnahmen ab. Aktuelles Kriterium. Die Art und Weise, wie ein konzeptuelles Kriterium (z. B. Arbeitsleistung) in einer konkreten Situation erfasst wird, z. B. durch Vorgesetztenbeurteilung. Allgemeines Adaptationssyndrom. Das Allgemeine Adaptationssyndrom beschreibt die kurz- und mittelfristigen körperlichen Reaktionen auf Stress in Form von drei Phasen. In der Alarmphase wird der Körper durch die vermehrte Ausschüttung von Hormonen in eine erhöhte Aktiviertheit versetzt, was zu einer höheren Leistungsbereitschaft des Körpers führt. Dauert die Stresssituation länger an, wird in der Widerstandsphase eine Gegenreaktion gestartet, in der die ausgeschütteten Stresshormone langsam wieder abgebaut werden und der Körper auf ein normales Niveau zurückgebracht wird. Gelingt dem Menschen diese Anpassungsleistung allerdings nicht, weil z. B. keine ausreichenden Ressourcen zur Bewältigung der Stresssituation vorhanden sind, kommt es zu einer andauernden Aktivierung des Körpers und schließlich zur Erschöpfung. Allgemeine Intelligenz (»general mental ability«, GMA). Relativ stabiles, global psychologisches Fähigkeitsmerkmal von Personen. Je höher die allgemeine Intelligenz einer Person ist, desto leichter fällt es ihr, neuartige und komplexe geistige Probleme zu lösen und sich neues Wissen schnell und gründlich anzueignen. Alternativhypothese. Die Alternativhypothese besagt, dass eine systematische Beziehung (z. B. Zusammenhang oder Unterschied) zwischen mindestens zwei Variablen in einer Population besteht. Anfordungsanalyse. Untersuchung der erfolgskritischen Personenmerkmale für eine bestimmte Stelle oder Laufbahn. Anforderungs-Kontroll-Modell. Im Anforderungs-Kontroll-Modell wird Stress als eine Funktion der Anforderungen einer Arbeitsaufgabe und dem Entscheidungsspielraum einer Person, mit diesen Anforderungen umzugehen, definiert. Dieses Modell geht davon aus, dass Tätigkeiten, die durch hohe Anforderungen bzw. Belastungen und hohe Entscheidungsspielräume gekennzeichnet sind (aktive Tätigkeiten), nicht in dem Maße zu Stressempfindungen wie Tätigkeiten mit hohen Anforderungen/Belastungen und geringen Kontroll- bzw. Entscheidungsmöglichkeiten (hoch beanspruchende Tätigkeiten) führen. Ausgeprägte Entscheidungsmöglichkeiten wirken
somit als Ressourcen zur Kompensation der stressauslösenden hohen Anforderungen. Außerdem wird angenommen, dass Tätigkeiten mit hohen Entscheidungsspielräumen und geringen sowie hohen Anforderungen bzw. Belastungen (niedrig und hoch beanspruchende Tätigkeiten) sich von Tätigkeiten mit niedrigem Entscheidungsspielraum und Anforderungen/Belastungen (passive Tätigkeiten) vor allem darin unterscheiden, dass Letztere ein passives Freizeitverhalten bewirken. Höherer Entscheidungsspielraum – insbesondere in Kombination mit hohen Anforderungen bzw. Belastungen – fördert somit ein günstigeres Bewältigungsverhalten bei Stress in der Arbeit im Sinne eines aktiveren Freizeitverhaltens. Anforderungsprofil. Zusammenstellung der erfolgskritischen Personenmerkmale für eine bestimmte Stelle oder Laufbahn. Anreize. Merkmale der Situation, die Motive anregen können. Situationen bieten die Möglichkeit, Wünsche und Ziele zu realisieren, sie können aber auch Bedrohliches signalisieren. Alles, was Situationen in diesem Sinne an Positivem und Negativem verheißen, sind Anreize. Antezedenzvariable. Als Antezedenzvariable (unabhängige Variable, Prädiktor) bezeichnet man die Wenn- bzw. Bedingungskomponente einer empirischen Wenn-Dann-Aussage (Hypothese). Wenn beispielsweise Aufgaben schwierig, aber erreichbar sind, strengen sich Personen mehr an als bei leichten Aufgaben. Die Variable Aufgabenschwierigkeit ist hier die Antezedenzvariable. Arbeit. Arbeit lässt sich bestimmen als jede auf ein wirtschaftliches oder organisationales Ziel gerichtete planmäßige menschliche Tätigkeit, bei der sowohl körperliche als auch geistige Kräfte eingesetzt werden. Bei der Arbeit geht es somit um planmäßige Handlungen, die auf die Erfüllung von Aufgaben im Rahmen wirtschaftlicher oder organisationaler Prozesse unter bestimmten Bedingungen und unter Nutzung unterschiedlicher Ressourcen (insbesondere Werkzeuge bzw. technische Mittel sowie menschliche Fähigkeiten und Leistungen) gerichtet sind. Arbeitsanalyse, psychologische. Gegenstand der psychologischen Arbeitsanalyse ist die Analyse und Bewertung von Arbeitstätigkeiten und ihrer Bedingungen sowie der Wirkungen der Arbeitsbedingungen und Anforderungen auf das Individuum. Dabei werden in systematischer Form Informationen über die Tätigkeit eines arbeitenden Individuums erfasst und beurteilt. Arbeitsaufgaben. Arbeitsaufgaben sind abgrenzbare Teile einer Tätigkeit, denen ein bestimmtes Ziel in Form eines Arbeitsauftrags zugrunde liegt und die durch bestimmte Ausführungsbedingungen gekennzeichnet sind. Arbeitsbewertung. Auf der Grundlage von Arbeitsanalysen werden Arbeitstätigkeiten anhand bestimmter Kriterien bewertet, um Schlussfolgerungen über den Gestaltungs- bzw. Optimierungsbedarf zu ziehen und um konkrete Empfehlungen zur Arbeitsgestal-
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tung ableiten zu können. Hierzu werden meist die Kriterien humaner Arbeitsgestaltung Ausführbarkeit, Schädigungslosigkeit, Beeinträchtigungsfreiheit und Persönlichkeitsförderlichkeit herangezogen. Arbeitsgestaltung. Der Begriff Arbeitsgestaltung steht für die systematische Veränderung technischer, organisatorischer und (oder) sozialer Arbeitsbedingungen mit dem Ziel, diese an die Leistungsvoraussetzungen des arbeitenden Menschen anzupassen, sodass sie der Erhaltung und Entwicklung der Persönlichkeit sowie der Gesundheit der arbeitenden Menschen im Rahmen effizienter und produktiver Arbeitsprozesse dienen. Arbeitsintegrierte Lernorte. Arbeitsintegrierte Lernorte zeichnen sich dadurch aus, dass Auszubildende direkt im Arbeitsprozess mitarbeiten. Die Arbeitsumgebung wird dabei zusätzlich um eine Lerninfrastruktur (z. B. Lernaufgaben und -materialien sowie Handund Lehrbücher, Lernziel- und Feedbackgespräche) erweitert, die Hilfestellungen und Anleitungen zur Reflexion des Arbeitshandelns, der sozialen Prozesse und der gesamten Umfeldbedingungen gibt. Arbeitsintegriertes Lernen. Arbeitsintegriertes Lernen beinhaltet Lernprozesse, die bei der Ausführung realer Arbeitsaufträge unter möglichst authentischen Arbeitsbedingungen erfolgen. Als Lernkontexte stehen dabei Arbeitsplätze bzw. -tätigkeiten mit ihren vielfältigen Anforderungen im Vordergrund. Arbeitsleistung. Die individuelle tätigkeitsbezogene Arbeitsleistung ist die Summe der Erwartungswerte – bewertet aus Sicht der Organisation – des Arbeitsverhaltens eines Beschäftigten im jeweiligen Beurteilungszeitraum. Arbeitsorganisation. Sie beinhaltet Regelungen und Maßnahmen zur Steuerung des Ablaufs von Arbeitsschritten bzw. -prozessen. Arbeitsphysiologische Messmethoden. Sie dienen der Erfassung körperlicher und biochemischer Reaktionen des Organismus (z. B. Herzschlagfrequenz, Hautleitfähigkeit, Körpertemperatur etc.). Sie werden eingesetzt, um spezifische (objektive) Beanspruchungen der Arbeitenden zu erheben. Arbeitsplatzexperten (»subject matter experts«, SME). Personen, die qualifizierte Auskunft über die Anforderungen eines spezifischen Arbeitsplatzes geben können. Dazu zählen der Stelleninhaber, Kollegen, Vorgesetze, Mitarbeiter, Sachbearbeiter in der Personalabteilung, Arbeitswissenschaftler sowie Arbeits- und Personalpsychologen. Arbeitsproben. Unter Arbeitsproben versteht man diagnostische Verfahren, die aus einer realitätsnahen Simulation wichtiger Arbeitsaufgaben bestehen. Andere Bezeichnungen für diese Vorgehensweise lauten situative Tests oder Leistungstests. Arbeits- und Gesundheitsschutz. Beim Arbeits- und Gesundheitsschutz geht es um die Bewahrung des Menschen vor Gefahren, Beeinträchtigungen und Krankheiten in Verbindung mit seiner Berufsarbeit. Ziel des Arbeits- und Gesundheitsschutzes ist darüber
hinaus die Gewährleistung der Gesundheit und die Schaffung des Wohlbefindens am Arbeitsplatz. Arbeitssicherheit. In Bezug auf Arbeitssicherheit beschäftigt man sich mit den Gefahren und Gefährdungen in der Arbeitswelt und den Strategien, um diese abzuwenden bzw. zu bewältigen. Arbeitssicherheit wird als ein weitgehend gefahrenfreier Zustand bei der Berufs- bzw. Arbeitsausübung verstanden, den es anzustreben gilt. Mangelnde Arbeitssicherheit macht sich vor allem durch Unfälle und Verletzungen der arbeitenden Personen bemerkbar. Arbeitsteams oder -gruppen. Arbeitsteams oder -gruppen bearbeiten gemeinsam eine Arbeitsaufgabe in einem organisationalen Kontext. Zur gemeinsamen Aufgabenbewältigung müssen die Gruppenmitglieder miteinander kooperieren, indem sie die Arbeit aufteilen, hierzu eine gemeinsame Handlungsorganisation entwickeln und gemeinsam Entscheidungen auf der Grundlage von zeitlichen und inhaltlichen Tätigkeitsspielräumen treffen. Arbeitsgruppen sind dabei auch wie andere Gruppen durch intensive Interaktionsprozesse, gemeinsame Normen, ein Wir-Gefühl und Rollendifferenzierungen gekennzeichnet, die allerdings in Abhängigkeit von der gemeinsamen Arbeitsaufgabe entwickelt und ausgeformt werden. Arbeitsunfall. Ein Arbeitsunfall beinhaltet ein plötzlich von außen auf den Menschen einwirkendes, körperlich schädigendes, zeitlich begrenztes Ereignis mit Verletzungsfolgen, die auch als Personenschäden bezeichnet werden. Arbeitszufriedenheit. Arbeitszufriedenheit bezeichnet die Einstellung zur Arbeit. Nach dem Drei-Faktoren-Modell der Einstellung umfasst Arbeitszufriedenheit die emotionale Reaktion auf die Arbeit, die Meinung über die Arbeit und die Bereitschaft, sich in der Arbeit in bestimmter Weise zu verhalten. ASA-Modell. Das ASA-Modell (»attraction-selection-attrition-model«) erklärt, warum die Varianz der Persönlichkeitsmerkmale in Organisationen geringer ist als zwischen Organisationen. Demnach werden bestimmte Menschen durch bestimmte Organisationen angezogen, die von der Organisation als passend Eingestuften werden ausgewählt, und wer sich nicht einfügt, verlässt von selbst die Organisation oder wird entlassen. Assessment-Center-Verfahren. Das Assessment-Center-Verfahren besteht aus einer Kombination mehrerer verhaltensorientierter Simulationsübungen. Jeweils mehrere Teilnehmer werden gleichzeitig von mehreren geschulten Beobachtern in Bezug auf mehrere vorab definierte Anforderungen hin beurteilt. Wichtige Simulationselemente sind die Postkorbübung, die mündliche Präsentation, das Rollenspiel und die Gruppendiskussion. Diese Elemente können noch durch Fallstudien, Tests und Interviews ergänzt werden. Aufgabenanalyse. Gegenstand von Aufgabenanalysen ist das beobachtbare Verhalten bei der Aufgabenausführung. Ziel ist eine Beschreibung der Verhaltenselemente, die zur Ausführung der Aufgabe erforderlich sind, sowie der Bedingungen und Leistungsanforderungen, unter denen die Ausführung erfolgen sollte.
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Glossar
Aufgabeninventare. Aufgabeninventare dienen dazu, die Bestandteile einer Tätigkeit in Form von Aufgaben und Funktionen zu identifizieren und aufzulisten. Sie werden auf der Basis von Expertenund Stelleninhaberbefragungen sowie Dokumentenanalysen entwickelt. Die Beschreibung von Aufgaben erschöpft sich meist in der Angabe eines Tätigkeitswortes und des dazugehörigen Objektes. Außerdem werden die Aufgaben von Stelleninhabern oder Experten hinsichtlich ihrer Bedeutsamkeit und ihres Zeitanteils sowie weiterer Aspekte beurteilt. Augenscheinvalidität. Der unbewiesene Anschein, dass die Items eines Tests das zu messende Merkmal gut erfassen. Augenscheinvalidität trägt zur Akzeptanz eines Verfahrens bei Laien bei. Ausbildung. Unter (Berufs-)Ausbildung versteht man das Erlernen bestimmter Fähigkeiten und Fertigkeiten, die zur Ausübung eines Berufes hinführen. Die entsprechenden Ausbildungsberufe sind staatlich anerkannt und ihre Ausbildung ist durch Ausbildungsordnungen geregelt. Auswahlgespräch. Das Auswahlgespräch ist ein personaldiagnostisches Verfahren, bei dem zwischen dem Bewerber und einem oder mehreren Repräsentanten der auswählenden Organisation Informationen über den Bewerber und die auswählende Organisation ausgetauscht werden. Autonomie von Arbeitsgruppen. Die Gestaltung von Gruppenarbeit unterscheidet sich insbesondere in Bezug auf das Ausmaß der Selbstregulation, das einer Arbeitsgruppe gewährt wird. Sie bezieht sich beispielsweise auf das Ausmaß, in dem eigenständig Ziele bzw. Teilziele gesetzt werden können, Planungs- und Dispositionsfunktionen übernommen und gemeinsam Entscheidungen getroffen werden können, z. B. wer in die Gruppe aufgenommen wird. Zur Bestimmung der Autonomiegrade von Arbeitsgruppen wurden Kriterienkataloge entwickelt, die eine Einordnung konkreter Autonomieaspekte und -grade für die jeweilige Gruppe ermöglichen. Grundsätzlich kann angenommen werden, dass höhere Autonomiegrade von Arbeitsgruppen lern- und persönlichkeitsförderlich wirken, aber auch höhere Anforderungen an die Gruppenmitglieder stellen. BARS (»behaviorally anchored rating scale«). Verhaltensverankerte Einstufungsskala zur Leistungsbeurteilung. Basisrate. Anteil geeigneter Bewerber in der Grundgesamtheit (Population) der Bewerber.
oder symbolischen Modellen gelernt wird. Im Mittelpunkt des Trainings steht daher die Präsentation von Verhaltensmodellen, die demonstrieren, anhand welcher Verhaltensweisen eine Arbeitsbzw. Problemsituation erfolgreich bewältig werden kann. Die Modelle werden üblicherweise als Film präsentiert oder durch Akteure unmittelbar dargestellt. Belastungen. Belastungen sind objektive Faktoren und Größen (z. B. Lärm, Zeitdruck oder Störungen des Arbeitsablaufs), die von außen auf den Menschen einwirken und Auswirkungen im Menschen und auf den Menschen haben. Diese Auswirkungen werden als Beanspruchungen (z. B. in Form von Müdigkeit, Gereiztheit oder fehlerhaftes Arbeitsverhalten) bezeichnet. Psychische Belastungen beziehen sich auf die Gesamtheit der erfassbaren Einflüsse, die von außen auf den Menschen zukommen und auf ihn psychisch einwirken. Unter psychischer Beanspruchung wird die individuelle, zeitlich unmittelbare und nicht langfristige Auswirkung der psychischen Belastung im Menschen in Abhängigkeit von seinen individuellen Voraussetzungen und seinem Zustand verstanden. Beobachtungsinterview. Bei dieser Erhebungsform beobachtet der Verfahrensanwender den Beschäftigten bei der Ausübung seiner Tätigkeit in einer halbstandardisierten Form und stellt währenddessen gezielte, ebenfalls halbstandardisierte Fragen an die arbeitende Person zu den Arbeitsaufgaben, den Anforderungen sowie den Belastungen und Beanspruchungen. Auf dieser Basis beantwortet er die im Rahmen der Datenerhebung für ein bestimmtes Verfahren gestellten Fragen und nimmt Einschätzungen von Analysemerkmalen vor. Durch die Kombination der Beobachtungs- mit Befragungsmethoden wird versucht, die jeweiligen Schwächen der beiden Methoden zu kompensieren. Beruf. Der Beruf dient nicht nur dem kurzfristigen Einkommenserwerb, sondern auch der langfristigen Schaffung, Erhaltung und Weiterentwicklung der Lebensgrundlagen für den Berufstätigen und seine Familie. Berufliche Entwicklung. Berufliche Entwicklung ist ein lebenslanger Prozess, der von der Laufbahnentwicklungstheorie in fünf Phasen eingeteilt wird, nämlich: Wachstums-, Explorations-, Etablierungs-, Erhaltungsphase und Ausscheiden aus dem Erwerbsleben. Berufsberatung. Unterstützung bei der Findung eines individuell geeigneten Berufes. BES (»behavior expectation scale«). Verhaltenserwartungsskala zur Leistungsbeurteilung.
Bedingungsbezogene Analyseverfahren. Sie zielen darauf ab, Anforderungen und Ausführungsbedingungen der Arbeitstätigkeit unabhängig von konkreten Personen mithilfe von Beobachtungen und Befragungen zu erfassen. Es wird daher von individuellen Besonderheiten der Aufgabenbewältigung und der Beurteilung von Arbeitsmerkmalen abgesehen und verallgemeinernd auf Regulationserfordernisse, Motivationspotenziale und Bewältigungsmöglichkeiten geschlossen.
Betriebsklima. Als Betriebsklima wird gewöhnlich die Stimmung oder die Atmosphäre bezeichnet, die für einen ganzen Betrieb oder seine Teileinheiten typisch ist und von den Mitarbeitern bewertet wird. In der Wissenschaft bezeichnet das Konstrukt Betriebs- bzw. Organisationsklima auch die subjektiv wahrgenommenen Organisationsstrukturen.
Behavior Modeling Training. Dieser auf der »Theorie des sozialen Lernens« aufbauende Trainingsansatz geht davon aus, dass menschliches Verhalten überwiegend durch Beobachtung an aktuellen
Bindung. Bindung (Commitment) an die Organisation liegt vor, wenn ein Mitarbeiter deren Werte und Normen internalisiert hat, bereit ist, sich für die Organisation zu engagieren, und in der Orga-
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nisation bleiben möchte. Kalkulative Bindung entsteht, wenn die Kosten für das Verlassen des Unternehmens zu hoch sind; affektive Bindung liegt vor, wenn man sich gefühlsmäßig mit dem Unternehmen identifiziert; normative Bindung beruht auf dem Gefühl der Verpflichtung gegenüber dem Unternehmen. Biographieorientierte Verfahren der Personalauswahl. Verfahren der Bewerberauswahl, die den bisherigen Lebenslauf (biographischer Fragebogen) und die bisherige berufliche Entwicklung (Analyse und Interpretation der Arbeitszeugnisse) zur Entscheidung heranziehen. Das Prinzip lautet dabei: Vergangenes Verhalten sagt zukünftiges Verhalten vorher. BOS (»behavioral observation scale«). Verhaltensbeobachtungsskala zur Leistungsbeurteilung. Burnout. Burnout bezeichnet einen besonderen Zustand berufsbezogener chronischer Erschöpfung insbesondere in Sozial- und Pflegeberufen. Es wird meist als ein Syndrom aus emotionaler Erschöpfung, Depersonalisierung und reduzierter Leistungsfähigkeit beschrieben. Emotionale Erschöpfung ist durch hohe interpersonelle Anforderungen und die Beanspruchung emotionaler Ressourcen gekennzeichnet. Die Betroffenen fühlen sich durch den Kontakt mit anderen Menschen emotional überanstrengt und ausgelaugt. Depersonalisation beinhaltet negative, gefühlslose und zynische Einstellungen gegenüber Klienten, Kunden oder Patienten. Ein Zustand, in dem die Betroffenen gefühlslose und abgestumpfte Reaktionen gegenüber ihren Klienten zeigen. Persönliche Leistungseinbußen beschreibt die Tendenz, die eigene Arbeit negativ zu bewerten und ein Gefühl mangelnden bzw. schwachen beruflichen Selbstwerts zu entwickeln. Chancenungleichheit. Berufliche Chancenungleichheit besteht, wenn Personen trotz des gleichen einschlägigen Leistungspotenzials unterschiedliche berufliche Erfolgschancen haben. Die PISAStudie zeigte, dass in Deutschland die soziale Herkunft bei gleichem Leistungspotenzial die beruflichen Erfolgschancen stark unterschiedlich beeinflusst. Charisma. Charisma ist im Sinne des Soziologen Max Weber die außeralltägliche Qualität einer Persönlichkeit, um derentwillen sie als mit übernatürlichen oder übermenschlichen oder mindestens spezifisch außeralltäglichen, nicht jedem anderen zugänglichen Kräften oder Eigenschaften begabt oder als gottgesandt oder als vorbildlich und deshalb als »Führer« gewertet wird. Coaching. Unter dem Begriff Coaching versteht man im modernen Personalwesen einen individuell unterstützenden Beratungsprozess, bei dem ein Berater, der Coach, mit einer anderen Person, dem Coachee, eine Beratung durchführt. Coping-Stile. Personen unterscheiden sich in der Art und Weise, wie sie in Stresssituationen reagieren. Hierbei unterscheidet man zwischen problembezogenem (instrumentellem) und emotionsbezogenem (palliativem) Coping. Personen, die eher einen instrumentellen bzw. problembezogenen Bewältigungsstil zeigen, sind dadurch gekennzeichnet, dass konkrete Aktionen unternommen werden (z. B. gezielte Informationssuche), um die aktuelle Bedro-
hung abzuwenden. Als Beispiele hierfür können Veränderungen der eigenen Arbeitsweise, offenes Ansprechen und Austragen von Konflikten genannt werden. Für emotionsbezogene Bewältigungsformen hingegen sind nicht direkte Handlungen, sondern unterschiedliche Formen der Emotionsregulationen (z. B. Bagatellisierung, Ablenkung, aber auch die Einnahme von Psychopharmaka) charakteristisch, die zwar eine vorübergehende Entlastung mit sich bringen, die Ursache der Stressempfindung aber nicht verändern. Demographischer Wandel. Veränderung des Bevölkerungsumfanges sowie der Bevölkerungszusammensetzung in einem bestimmten Land und die daraus resultierenden gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Konsequenzen. Design. Als Design bezeichnet man die Anlage einer wissenschaftlichen Studie. Wichtige Designunterschiede sind z. B. die experimentelle versus die korrelative oder die längsschnittliche versus die querschnittliche Anlage einer Studie. Deskriptive Statistik. Mathematische Verfahren zur Beschreibung der in einer Studie untersuchten Variablen. Typische Größen der deskriptiven Statistik sind Maße der zentralen Tendenz (z. B. Mittelwert) und Variation (z. B. Varianz). Dienstleistungen. Dienstleistungen sind selbstständig marktfähige Leistungen, die auf die Bereitstellung und/oder den Einsatz von Potenzialfaktoren gerichtet sind. Damit wird an einem Dienstobjekt – dem Kunden oder einem Objekt des Kunden – Nutzen gestiftet. Dazu muss gewöhnlich ein Kontakt zwischen Anbieter und Kunden stattfinden, daher ist letztlich deren Interaktion entscheidend für die Erstellung von Dienstleistungen. Differenzielle Arbeitsgestaltung. Mithilfe der differenziellen Arbeitsgestaltung werden Arbeitsformen realisiert, bei denen die Beschäftigten zwischen verschiedenen Arbeitsstrukturen wählen können. Es wird also nicht eine für alle Mitarbeiter einheitliche Arbeitsstruktur entwickelt und vorgegeben. Die Betroffenen entscheiden selbst unter Berücksichtigung ihrer Kompetenzen, Bedürfnisse und ihres Potenzials, welche Arbeitsstruktur für sie geeignet ist. DIN. Deutsche Industrie Norm; die DIN 33430 legt die Standards zur betrieblichen Eignungsbeurteilung (Anforderungsbeurteilung, Personalauswahl, Qualitätssicherung) fest. Diskonfirmationsparadigma. Das Diskonfirmationsparadigma ist das wichtigste Modell zur Erklärung der Dienstleistungsqualität und der Kundenzufriedenheit. Demnach richten Kunden Erwartungen an eine Dienstleistung und vergleichen diese mit dem tatsächlichen Verlauf der Leistungserfüllung. Übertreffen die Wahrnehmungen die Erwartungen, wird der Dienstleistung hohe Qualität zugeschrieben. Bleiben sie hinter den Erwartungen zurück, kommt es zu negativen Urteilen. Dokumentation. Dokumentation ist ein Gütekriterium bei Personalauswahlverfahren. Es betrifft die Informationen zur Entwicklung des Auswahlverfahrens sowie zur Erfüllung von Gütestandards wie z. B. Objektivität, Reliabilität und Validität durch das Verfahren.
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Glossar
Doppelanalyse. Die Doppelanalyse ist eine Methode zur Überprüfung der Reliabilität von bedingungsbezogenen Arbeitsanalyseverfahren. Hierbei wird eine bestimmte Arbeitstätigkeit, die von unterschiedlichen Beschäftigten ausgeführt wird, von verschiedenen Untersuchern analysiert. Das Ausmaß der Untersucherübereinstimmung kennzeichnet zum einen, inwieweit das Verfahren unabhängig von den jeweiligen Untersuchern ist (Objektivität), da Analyseergebnisse mehrerer Untersucher verglichen werden. Zum anderen können Aussagen darüber getroffen werden, wie stabil das Verfahren gegenüber den verschiedenen Auftragsbearbeitungen ist, da zum Zeitpunkt der Analyse die Beschäftigten jeweils unterschiedliche Arbeitsaufträge bearbeiten.
Entscheidungsspielraum. Der Entscheidungsspielraum bezieht sich auf das Ausmaß an Entscheidungskompetenzen von Beschäftigten, Arbeitsaufgaben selbst festzulegen und voneinander abzugrenzen.
Dual-Concern-Modell. Das Dual-Concern-Modell postuliert, dass das Verhalten der Parteien im Kontext eines sozialen Konflikts durch zwei Motive bestimmt werde, durch ein als Eigeninteresse bezeichnetes Selbstbehauptungsmotiv und ein Unterstützungsoder Kooperationsmotiv, das als Fremdinteresse bezeichnet wird. Aus den unterschiedlichen Kombinationen von Eigen- und Fremdinteresse resultieren fünf typische Verhaltensweisen im Konfliktverlauf: Vermeiden, Sichanpassen, Kompromisseschließen, Problemlösen und Kämpfen.
Eskalation. Dieser Begriff kennzeichnet die Verschlimmerung eines sozialen Konflikts im Zuge der Interaktion der Konfliktparteien. In der Literatur werden unterschiedliche Stufenmodelle und diverse Mechanismen der Konflikteskalation diskutiert.
Dynamische Arbeitsgestaltung. Mithilfe der dynamischen Arbeitsgestaltung werden parallel zum Lernfortschritt des Beschäftigten solche Arbeitsbedingungen geschaffen und weiterentwickelt, die den Mitarbeiterkompetenzen entsprechen. Das kann in der betrieblichen Praxis bedeuten, dass einem Mitarbeiter nach längerer beruflicher Erfahrung solche Aufgaben übertragen werden, die ein höheres Kompetenzniveau erfordern. E-Learning. E-Learning bezeichnet Lehr-/Lernformen, die auf dem Einsatz moderner Informations- und Kommunikationstechniken beruhen und vielfältige Formen des didaktisch gestalteten computer- und internetbasierten Lehrens und Lernens beinhalten. Emotionale Dissonanz. Emotionale Dissonanz liegt vor, wenn sich erlebte und dargestellte Emotionen widersprechen. Emotionale Dissonanz ist die Folge von Gefühlsarbeit und kann zu negativen Konsequenzen, u. a. zu Burnout, führen. Emotionale Intelligenz. Ein (umstrittenes) Konstrukt, das sich auf die Fähigkeit von Personen bezieht, in sozialen Interaktionssituationen eigene und fremde emotionale Reaktionen erfolgreich zu steuern. Employability. Employability bezeichnet die individuellen Faktoren, die dazu beitragen, dass eine Person ihre Erwerbstätigkeit auch angesichts unsicherer und sich wandelnder Arbeitsmarktchancen erhalten kann. Sie werden eingeteilt in »knowing why« (Identität), »knowing how« (Qualifikation) und »knowing whom« (Kontakte und Netzwerke). Entgrenzung. Wegfall von betrieblichen, tariflichen oder gesetzlichen Regelungen der Erwerbsarbeit, die einerseits die individuellen Freiräume der Erwerbstätigen erhöhen, aber andererseits auch mit einem höheren Beschäftigungs- und Einkommensrisiko verbunden sind.
Entwicklungsaufgaben. Entwicklungsaufgaben sind geteilte normative Erwartungen, die an Personen in unterschiedlichen Lebensabschnitten herangetragen werden. Sie stellen wichtige Auslöser individueller Entwicklungsprozesse dar. Die erfolgreiche Bewältigung einer Entwicklungsaufgabe führt zu Zufriedenheit und Anerkennung, Versagen führt dagegen zu Unzufriedenheit und Ablehnung. Die Laufbahnentwicklungstheorie hat die beruflichen Entwicklungsaufgaben über die Lebensspanne herausgearbeitet.
Ethisch-moralische Grundrechte. Ethisch-moralische Grundrechte von Personen (wie z. B. das Recht auf rationale Selbstbestimmung, Würde, psychische und soziale Unversehrtheit) dürfen weder in psychologischen Untersuchungen noch in betrieblichen Verfahren (z. B. Personalauswahl, Personaleinsatz) verletzt werden. Experiment. Als Experiment bezeichnet man Studien, bei denen die Untersuchungsteilnehmer zufällig unterschiedlichen Bedingungen zugeteilt wurden (z. B. unterschiedlichen Arbeitspausen). Diese Bedingungen müssen systematisch vom Versuchsleiter hergestellt worden sein (experimentelle Manipulation), um den Einfluss einer unabhängigen auf eine abhängige Variable zu untersuchen (z. B. Pausenanzahl auf die Arbeitsleistung pro Tag). Alle anderen möglichen Einflüsse auf die abhängige Variable (z. B. Arbeitsbedingungen, Ausbildung, Alter, Geschlecht, etc.) müssen dabei kontrolliert werden. FAA (»Fragebogen zur Arbeitsanalyse«). Deutsche Bearbeitung des »Position Analysis Questionnaire« (PAQ) von Frieling und Hoyos. Fachkompetenz. Kenntnisse, Fertigkeiten und Fähigkeiten, die der Bewältigung bekannter beruflicher Problemsituationen in einem bestimmten Tätigkeitsbereich dienen. Fähigkeiten (»abilities«). Grundlegende und stabile individuelle Handlungsgrundlagen zur erfolgreichen Bewältigung verschiedenartiger Aufgaben und Situationen. Faktorenanlyse (FA). Mathematisches Verfahren zur Entdeckung (explorative FA) oder Überprüfung (konfirmatorische FA) von gemeinsamen Dimensionen der verschiedenen Items eines Messinstrumenetes (z. B. eines Tests). Fehlerarten. Fehler entstehen durch Regulationsprobleme auf den unterschiedlichen Handlungs- bzw. Informationsverarbeitungsebenen. Nach Rasmussen und Reason werden Fehlerarten danach unterschieden, ob sie auf der fertigkeits-, regel- oder wissensbasierten Ebene entstanden sind. Auf der regelbasierten Ebene spricht man beispielsweise von Ausrutschern und Versehen, auf der regelbasierten Ebene von Verwechslungs- und Erkennungs-
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fehlern und auf der wissensbasierten Ebene von Denk- und Urteilsfehlern. Fehler, aktive und latente. Aktive Fehler sind Fehlhandlungen, die von Operateuren direkt im Arbeits- bzw. Produktionsprozess an der Mensch-Maschine-Schnittstelle begangen werden. Latente Fehler werden hingegen zeitlich und räumlich weit entfernt von der Unfallentstehung begangen. Sie ruhen unbemerkt wie Krankheitsherde im System und wirken sich zunächst nicht oder nur indirekt auf das System aus. Hierbei handelt es sich z. B. um fehlerhafte Entscheidungen des Managements, Mängel im Linienmanagement und psychologische Vorläufer sicherheitskritischer Verhaltensweisen. Fehlhandlungen. Fehlhandlungen sind Handlungen, die Fehler bei der Zielbildung, Planung und Ausführung von Handlungen beinhalten. Fertigkeiten (»skills«). Erlernbare Verhaltensweisen zur erfolgreichen Bewältigung spezifischer Aufgaben. Fertigungsteams. Dieses aus Japan stammende Gruppenarbeitskonzept löst sich nur teilweise von tayloristischen Prinzipien der Arbeitsorganisation. Es beinhaltet weiterhin eine taktgebundene Fließfertigung und sehr kurze Arbeitszyklen. Die Variabilität der Arbeitsaufgaben ist im Vergleich zu klassischen Arbeitsgruppen größer, da von jedem Mitarbeiter erwartet wird, dass er mehrere Stationen am Band beherrscht. In Fertigungsteams erfolgt auch eine Integration indirekter Funktionen in den Produktionsbetrieb. Neben den produktionsbezogenen Aufgaben ist jeder Mitarbeiter für die Qualität seiner Arbeit und die der Gruppe verantwortlich. Die erwartete strikte Einhaltung der vorgegebenen Arbeitsstandards führt allerdings zu einer genau vorgeschriebenen Ausführung jedes einzelnen Arbeitsschrittes. Flexible Arbeitsgestaltung. Bei der flexiblen Arbeitsgestaltung werden interindividuelle Differenzen bei der Bewältigung von Arbeit einbezogen und eine persönlichkeitsförderliche Aufgabengestaltung unterstützt. Demnach sollten Arbeitssysteme so gestaltet werden, dass der Beschäftigte unterschiedliche Arbeitsweisen innerhalb einer vorgegebenen Arbeitsstruktur realisieren kann; d. h., es werden Freiheitsgrade und Spielräume bei der Aufgabenbearbeitung zugelassen. Forschungsethik. Sie dient der Sicherstellung der unverfälschten Publikation von Forschungsergebnissen, der Vermeidung unnötigen Leides von Versuchspersonen oder Versuchstieren sowie der angemessenen Berücksichtigung aller am Forschungsprozess beteiligten Personen. Freie Eindrucksschilderung. Unsystematische Methode der Leistungsbeurteilung. Führung. Führung ist die bewusste und zielbezogene Einflussnahme auf Menschen mittels Kommunikation. Führungsverhalten. Beim Führungsverhalten lassen sich zwei Dimensionen unterscheiden: Consideration und Initiating Structure. Consideration erfasst Wärme, Vertrauen, Freundlichkeit, Achtung
der Mitarbeiter und wird deshalb als mitarbeiterorientiertes Führungsverhalten übersetzt. Mit Initiating Structure wird die aufgabenbezogene Organisation und Strukturierung, die Aktivierung und Kontrolle der Mitarbeiter gemessen. Daher wird diese Dimension im Deutschen als aufgabenbezogenes Führungsverhalten bezeichnet Fünf-Faktoren-Modell. Das Fünf-Faktoren-Modell der Persönlichkeit postuliert, dass sich die Persönlichkeit über fünf zentrale Persönlichkeitsmerkmale (die »Big Five«) vollständig beschreiben lässt. Es handelt sich dabei um Gewissenhaftigkeit, Extraversion, Neurotizismus, Verträglichkeit und Offenheit für Erfahrung. Funktionen der Erwerbsarbeit. Als Funktionen der Erwerbsarbeit bezeichnet man im Anschluss an Maria Jahoda die den Betroffenen z. T. bewussten (manifeste Funktionen), aber auch z. T. nicht bewussten Auswirkungen (latente Funktionen) der Erwerbsarbeit, nämlich Sicherung des Lebensunterhaltes, Strukturierung der Zeit, sozialer Kontakt, Bezug zu überindividuellen Zielen, Identität, Status sowie psychophysische Aktivierung. Gefahren. Gefahren sind als Sicherheitsdefizite eines Systems bzw. Systemelements charakterisiert, wobei bestimmte unerwünschte Wirkungen eines Objekts als Gefahrenträger auf ein anderes durch Energieübertragung (z. B. durch Bewegungskräfte, Strahlung, Verätzung) ausgeübt werden. Der Begriff der Gefährdung beschreibt den Sachverhalt, dass Menschen in den Einwirkungsbereich eines Gefahrenträgers (z. B. die schwebende Last eines Kranes) geraten. Gefühlsarbeit. Gefühlsarbeit ist der Aufwand, den die Planung und die Kontrolle des von der Organisation erwünschten Gefühlsausdrucks in beruflichen Interaktionen erfordert. Gerücht. Ein Gerücht ist eine mit Tagesereignissen verbundene Behauptung, die geglaubt werden soll. Gewöhnlich werden Gerüchte von Mensch zu Mensch mündlich weitergegeben, wobei keine konkreten Belege vorhanden sind, die deren Richtigkeit bestätigen könnten. Gestaltungsspielraum. Der Gestaltungsspielraum kennzeichnet das Ausmaß an Variabilität bei der Aufgabenausführung, d. h. dass die Aufgabe selbstständig nach eigenen Zielsetzungen strukturiert und gestaltet werden kann. Gesundheitszirkel. Gesundheitszirkel werden als Teil des betrieblichen Gesundheitsmanagements eingesetzt, um Arbeitsbelastungen zu identifizieren, Gesundheitsressourcen zu entwickeln und konkrete Maßnahmen betrieblicher Gesundheitsförderung zu erarbeiten. Die Zirkel setzen sich meist aus einer Gruppe von Beschäftigten, Meister, Sicherheitsfachkraft, Betriebsrat, Betriebsarzt und Betriebsleiter zusammen, die sich in regelmäßigen Abständen über eine begrenzte Zeit unter Leitung eines externen Moderators trifft. Bei den Treffen sollen sämtliche Arbeitsanforderungen im eigenen Arbeitsbereich, die die Beschäftigten als gesundheitlich beeinträchtigend erleben, bearbeitet und Lösungsvorschläge für ihre Bewältigung durch technische, organisatorische sowie personenbezogene Maßnahmen gemeinsam entwickelt werden.
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Gewissenhaftigkeit. Wichtiges Persönlichkeitsmerkmal zur Vorhersage beruflicher Leistung mit den Facetten Selbstvertrauen, Ordnungsliebe, Pflichtbewusstsein, Selbstdisziplin, Leistungsmotivation und Besonnenheit. Globalisierung. Globalisierung beschreibt die Entstehung weltweiter Märkte aufgrund der Internationalisierung des Handels und der zunehmenden Verflechtung von Finanz-, Waren- und Dienstleistungsmärkten. Hauptakteure dieses Prozesses sind große multinationale Konzerne.
Handlungsorientiertes Lernen. Handlungstheoretisch fundierte Lernkonzepte gehen davon aus, dass Lernen die aktive und kognitivreflektierende Auseinandersetzung mit den Handlungsanforderungen bei einer Aufgabe bzw. Tätigkeit erfordert. Dabei sollten insbesondere wesentliche Phasen der Handlungssteuerung wie Orientierungs-, Zielbildungs- und Planungsphase sowie Ausführungs-, Kontroll- und Reflexionsphase durchlaufen und explizit behandelt werden. Werden diese Phasen nicht oder nur unvollständig im Lernprozess abgehandelt, entwickeln sich Fehlverhaltensweisen.
Gruppe. Eine Gruppe ist eine Mehrzahl von Personen, die über längere Zeit in direktem Kontakt stehen, wobei sich Rollen ausdifferenzieren, gemeinsame Normen entwickeln und Kohäsion (WirGefühl) entstehen können.
Handlungsregulationstheorie. In der Handlungsregulationstheorie wird davon ausgegangen, dass eine effektive Arbeitsanalyse-, -bewertung und -gestaltung nur dann möglich ist, wenn bekannt ist, wie Arbeitstätigkeiten psychisch reguliert werden. Ein wesentlicher Ausgangspunkt ist dabei die Annahme, dass Arbeitsverhalten bzw. -handeln durch Ziele geleitet und gesteuert wird. Das Arbeitshandeln wird im Rahmen der Theorie aus zwei Perspektiven betrachtet: Gemäß der ersten prozessorientierten Perspektive schreitet eine Handlung von einem Ziel zu einem Plan, dann zur Ausführung des Plans und schließlich zum Handlungsergebnis bzw. einer entsprechenden Rückmeldung voran. Unter einer zweiten eher strukturellen Perspektive wird betrachtet, wie der Handlungsverlauf durch bestimmte hierarchisch strukturierte Formen der Informationsverarbeitung gesteuert bzw. reguliert wird. Unter der jeweiligen Betrachtungs- bzw. Analyseperspektive wurden eine Reihe von theoretischen und methodischen Konzepten zur Beschreibung, Erklärung und Vorhersage sowie zur Analyse, Gestaltung und dem Training von Arbeitshandlungen entwickelt.
Gruppenarbeit. Gruppenarbeit ist eine Arbeitsform, bei der mehrere Arbeitende einen Auftrag bzw. eine Aufgabe gemeinschaftlich erfüllen, dazu gemeinschaftliche Zielstellungen (Gruppenziele) verfolgen, eine Ordnung ihres Zusammenwirkens aufweisen und in Kommunikation miteinander stehen.
Handlungsspielraum. Der Handlungsspielraum bezieht sich auf die Flexibilität bei der Aufgabenbewältigung und umfasst die objektiv vorhandenen und subjektiv wahrgenommenen Wahlmöglichkeiten wie z. B. zeitliche Organisation, Auswahl der Arbeitsmittel und des Vorgehens.
Gruppeneffektivität. Gruppeneffektivität kann über drei Kriterien für den Erfolg einer Arbeitsgruppe definiert werden: 4 Das Gruppenergebnis muss die Leistungsstandards der Personen erfüllen oder übertreffen, die dieses Ergebnis erhalten oder beurteilen. 4 Die sozialen Prozesse bei der Gruppenarbeit erhalten oder fördern die Fähigkeit der Gruppenmitglieder, auch bei künftigen Aufgaben zusammenzuarbeiten. 4 Die Erfahrung der Gruppenarbeit sollte die Bedürfnisse der einzelnen Gruppenmitglieder mehr befriedigen als frustrieren.
Hardiness. Hardiness steht für Widerstandskraft bzw. Unempfindlichkeit. Personen mit einem hohen Hardiness-Wert sind durch folgende Merkmale gekennzeichnet: Sie sehen Anforderungen ihrer Umwelt eher als Herausforderungen denn als Bedrohungen. Sie nehmen die Gegebenheiten ihrer Umwelt eher als beeinflussbar wahr. Sie zeigen ein verstärktes Engagement bzw. fühlen sich stärker verpflichtet.
Gravitation. Gravitation bezeichnet die Prozesse, die dazu führen, dass Organisationen bestimmte Menschen anziehen und für die Mitarbeit auswählen. GRS (»graphic rating scale«). Graphische Einstufungsskala zur Leistungsbeurteilung. Groupthink. Groupthink bezeichnet einen Denkmodus, in den Personen verfallen, wenn sie Mitglied einer hoch kohäsiven Gruppe sind. Dieser Denkmodus ist gekennzeichnet durch das Bemühen der Gruppenmitglieder um Einmütigkeit, die auch ihre Motivation, alternative Wege realistisch zu bewerten, übertönt.
Gruppenkohäsion. Gruppenkohäsion bezeichnet den Zusammenhalt einer Gruppe bzw. die Bindung der Gruppenmitglieder an die Gruppe. Teilkomponenten der Gruppenkohäsion sind die interpersonelle Attraktivität, der Gruppenstolz und die Attraktivität der Gruppenaufgabe. Gruppenkohäsion ist nicht nur günstig für das Gruppenklima, sondern wirkt sich unter gewissen Bedingungen auch positiv auf die Gruppenleistung aus. Handlungen. Handlungen sind Verhaltensweisen, die auf ein konkretes, bewusst angestrebtes Ziel ausgerichtet sind. Handlungen werden durch Prozesse der Zielbildung, Orientierung, Planung Ausführung und Kontrolle gesteuert.
High Reliability Organisations (HRO). Sie zeichnen sich durch eine äußerst geringe Anzahl von Störfällen und Unfällen bei der Handhabung sehr komplexer und risikoreicher Technologien (z. B. Flugsicherung) aus. HRO bewältigen die schwierigen Sicherheitsanforderungen durch eine flexible Anpassung der Arbeitsorganisation an die jeweilige Betriebssituation und ihr Risikopotenzial. In Zeiten mit einem hohen Arbeitsvolumen und schwierigen Bedingungen (z. B. Schlechtwetterphasen bei der Flugsicherung) werden die Arbeitsprozesse aufgabenbezogen und dezentral gesteuert, während im Routinebetrieb HRO stark hierarchisch organisiert sind und durch formalisierte Abläufe gesteuert werden. Voraussetzung dafür ist eine Organisationskultur, die in Phasen einer notwendigen Dezentralisierung die Ordnung und sichere Regelung der Abläufe aufrechterhält und damit wesentliche Funktionen der zentralen Systemorganisation ersetzt. Außerdem zeichnen sich HRO durch
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die konsequente Förderung eines kontinuierlichen Lernens aus Betriebserfahrungen sowie Belohnungsmechanismen für Fehlerentdeckung und Fehlermeldung aus. Homo oeconomicus. Menschenbild der Wirtschaftswissenschaften. Es besagt, dass Personen sich in Knappheitssituationen als rationale Nutzenmaximierer verhalten und dabei auch nicht vor Arglist und Täuschung zurückschrecken. Humanisierung der Arbeit. Der Begriff bezieht sich auf ein umfangreiches und sehr breit angelegtes Förderprogramm der Bundesregierung in Deutschland in den 70er und 80er Jahren des letzten Jahrhunderts, bei dem die Analyse und Gestaltung humangerechter Arbeitsstrukturen und -bedingungen durch unterschiedliche Formen der Aufgabenerweiterung und der Gruppenarbeit und durch eine Abkehr von tayloristischen Formen der Arbeitsorganisation im Vordergrund stand. Humankapital. Bildung, Ausbildung, Berufserfahrung und spezielle berufliche Qualifikationen des Personals. Human-Relations-Bewegung. Die Human-Relations-Bewegung ist als Reaktion auf die Hawthorne-Studien entstanden, in denen gezeigt wurde, dass Arbeitsverhalten sehr stark durch soziale Prozesse beeinflusst wird. In der Folge wurde im Rahmen dieser Bewegung propagiert, dass es vor allem wichtig sei, die Mitarbeiter zufriedenzustellen, um die Unternehmensziele zu erreichen. Hypothese. In einer wissenschaftlichen Hypothese wird der Zusammenhang zwischen zwei oder mehreren Variablen vorhergesagt. Eine wissenschaftliche Hypothese bringt also zum Ausdruck, welche Erwartungen die forschende Person darüber hat, wie z. B. der Zusammenhang zwischen der Trainingsmodalität (mit oder ohne Zielsetzung) und der Leistung nach dem Training ausfallen wird. Image von Organisationen. Die von den Mitgliedern der Organisationsumwelt geteilte Einschätzung der Organisation. Das Organisationsimage hat einen starken Einfluss auf das Verhalten potenzieller Bewerber. Deswegen zielen viele Maßnahmen des Personalmarketing auf eine Erhaltung und Steigerung eines positiven Organisationsimages ab. Incident-Reporting-Systeme. Sie dienen zur Erfassung und Analyse von kritischen sicherheitsrelevanten Ereignissen in hoch riskanten Arbeitsbereichen (z. B. der Luftfahrt). Zur Meldung und Darstellung der kritischen Ereignisse werden Formulare und Leitfäden im Berichtssystem vorgegeben. Außerdem wird eine anonymisierte bzw. vertrauliche Behandlung der Berichte zugesichert. Dadurch sollen Schwachstellen in den Arbeitsabläufen hoch riskanter Arbeitssysteme entdeckt und aus den aufgetretenen Fehlern gelernt werden. Aus der Analyse der kritischen Ereignisse will man Hinweise für fehlerverursachende Faktoren erhalten und Konsequenzen zur Vermeidung gleicher oder ähnlicher Fehler und Probleme ableiten. Individueller Fehler der Personalauswahl. Ein geeigneter Bewerber wird abgelehnt (Beta-Fehler, Fehler zweiter Art, »false negative«).
Inferenzstatistik. Mathematische Verfahren zur Überprüfung, ob sich Zusammenhänge oder Unterschiede, die in einer Stichprobe gefunden wurden, auf eine Grundgesamtheit (Population) verallgemeinern lassen. Dazu werden Signifikanztests durchgeführt. Informationsverarbeitungsansatz. Der Informationsverarbeitungsansatz beruht auf Annahmen über interne (kognitive) Strukturen und Prozesse zur Aufnahme, Weiterleitung und Verarbeitung von Informationen sowie deren Einfluss auf Verhalten und Handeln. Der Informationsverarbeitungsprozess funktioniert demnach folgendermaßen: Zunächst werden über das sensorische System z. B. visuell, auditiv oder haptisch Informationen aufgenommen, welche dann an einen zentralen Prozessor weitergeleitet werden. In dem Prozessor werden nach einem bestimmten Schema elementare Operationen zur Kodierung, Verarbeitung und Speicherung ausgeführt. Beim Gedächtnis wird zwischen Kurzzeit- und Langzeitgedächtnis unterschieden, wobei Ersteres im Wesentlichen für die zeitlich relativ begrenzte Bereitstellung von Informationen zur Verarbeitung im Prozessor zuständig ist und Letzteres vor allem die langfristige Speicherung von symbolisch kodierten Informationen in Form von Wissensrepräsentationen übernimmt. Nachdem eine Information dann über zahlreiche Operationen verarbeitet wurde, führt sie schließlich zu einem bestimmten Verhalten oder Handeln (Antwortgenerator). Inhaltsvalidierung. Der Nachweis, dass ein Personalauswahlinstrument den Gegenstandsbereich (z. B. Leistungsmotivation), auf den es sich bezieht, in relevanten Bereichen abdeckt. Institutioneller Fehler der Personalauswahl. Ein ungeeigneter Bewerber wird eingestellt (Alpha-Fehler, Fehler erster Art, »false positives«). Integrity-Tests. Integrity-Tests verfolgen das Ziel, Bewerber mit Neigungen zu betriebs- oder mitarbeiterschädlichem (kontraproduktivem) Verhalten zu identifizieren. Es gibt einstellungs- und eigenschaftsorientierte Verfahren. Einstellungsorientierte Verfahren fragen danach, was die Befragten in Bezug auf bestimmte, problematische Sachverhalte in Verbindung mit Diebstahl glauben. Eigenschaftsorientierte Verfahren erheben in erster Linie Selbstbeschreibungen und lehnen sich dabei an gebräuchliche Persönlichkeitstests an. Interaktion. Soziale Interaktion bezeichnet die Einwirkung verschiedener Personen aufeinander, wobei der Einwirkung nicht notwendigerweise eine Absicht, ein Plan oder auch nur das Wissen der Personen über die wechselseitige Einwirkung zu unterstellen ist. Interdependenztheorie. Die soziale Interdependenztheorie postuliert, dass das Verhalten der Parteien im Kontext eines sozialen Konflikts von der wechselseitigen Abhängigkeit ihrer Ziele abhängig sei. Sind die Ziele gleichsinnig (positiv interdependent), so ist die Wahrscheinlichkeit groß, dass der Konflikt friedlich und konstruktiv beigelegt werden kann. Sind die Ziele der Parteien gegensätzlich (negativ interdependent), so ist die Wahrscheinlichkeit groß, dass der Konflikt feindschaftlich und eskalierend ausgetragen wird.
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Interessen. Relativ stabile psychologische Merkmale von Personen, die das individuelle Hingezogensein zu und die positive subjektive Bewertung von (Freizeit-)Aktivitäten, beruflichen Tätigkeiten, Umwelten oder sozialen Gruppen kennzeichnen. Internationalisierungsstrategien. Zur Globalisierung von Unternehmen werden in Abhängigkeit vom Produkt, dem Markt und den Unternehmensvoraussetzungen unterschiedliche Internationalisierungsstrategien angewandt. Es können vier verschiedene Strategien unterschieden werden: Bei der Selektionsstrategie werden die Produkte für den Heimatmarkt entwickelt. Bei der Internationalisierung erfolgt eine selektive Übertragung der Produkte in unveränderter Form in ausgewählte Länder. Im Gegensatz dazu erfolgt bei der Einzelmarktstrategie eine Produktentwicklung für die individuellen Bedürfnisse des jeweiligen Landes. Hierbei sind die Wertschöpfungsketten der Landesgesellschaften voneinander unabhängig. Die Integrationsstrategie verfolgt eine Entwicklung der Produkte und Dienstleistungen für den Weltmarkt. Die Wertschöpfungsaktivitäten werden zentral koordiniert. Bei der Interaktionsstrategie erfolgt zwar auch eine weltweite Koordination, jedoch durch intensive Interaktion. Wichtig ist hierbei, dass eine Anpassung an lokale Erfordernisse der Auslandsmärkte erfolgt. Intrapreuneurship. Intrapreuneurship ist ein Kunstwort, das in Anlehnung an den Begriff Entrepreneur (Unternehmer) gebildet wurde. Wenn sich Mitarbeiter wie Unternehmer verhalten, werden sie als Intrapreneure bezeichnet. Job. Jobs sind durch folgende Merkmale gekennzeichnet: Es handelt sich um Erwerbsarbeit, die allein dem Gelderwerb dient. Solche Tätigkeiten sind kurzfristig angelegt, sie stellen geringe Qualifikationsanforderungen, deren qualifizierte Ausführung schnell erlernbar ist. Es findet seitens der Ausführenden und der Arbeitgeber ein häufiger Wechsel statt und seitens der Ausführenden liegt in der Regel nur eine geringe und instabile Identifikation mit der Aufgabe vor. Job Enlargement. Job Enlargement beinhaltet, dass zur ursprünglichen Tätigkeit weitere vor- oder nachgelagerte Aufgaben hinzukommen, die allerdings keine zusätzlichen Qualifikationen erfordern. Es handelt sich um eine sog. »horizontale« Erweiterung von Arbeitsaufgaben. Die dahinter stehende Überlegung ist, dass einseitige physische und psychische Belastungen des Mitarbeiters vermieden werden. Job Enrichment. Job Enrichment besteht darin, den Verantwortungsbereich des Arbeitenden anzuheben oder schwierige Aufgaben einzuführen, so dass die Handlungs- und Entscheidungsspielräume erweitert und die Kompetenzentwicklung gefördert wird. Dies erfordert, dass die Arbeitsorganisation so verändert wird, dass die Arbeitenden ein höheres Ausmaß an Kontrolle und Autonomie über ihre Aufgaben und Tätigkeiten erhalten und es zu einer qualitativen und nicht nur quantitativen Erweiterung der Aufgaben kommt. Insgesamt wird durch Maßnahmen der vertikalen Aufgabenerweiterung die wahrgenommene Verantwortung und Anerkennung gesteigert und dadurch auch die Produktivität und die intrinsische Arbeitsmotivation der Mitarbeiter gefördert.
Job Rotation. Job Rotation bezeichnet eine Form der Arbeitsstrukturierung, bei der die Mitarbeiter systematisch den Arbeitsplatz oder das Aufgabenfeld wechseln. Die Tätigkeiten liegen dabei entweder auf dem gleichen Qualifikationsniveau (horizontaler Positionswechsel) oder auf unterschiedlich hohen Anforderungsniveaus (vertikaler Positionswechsel). Durch diese Maßnahme sollen der Tätigkeitsspielraum des Einzelnen sowie dessen fachliche und soziale Kompetenzen erweitert werden. Es soll eine Abwechslung bei der Bewältigung der Arbeitsaufgabe stattfinden und eine einseitige Belastung am Arbeitsplatz verhindert werden. Klassische Arbeitsgruppen. Klassische Arbeitsgruppen sind durch eine starke Funktions- und Arbeitsteilung geprägt. Die Aufgaben der Gruppenmitglieder liegen fast ausschließlich im produzierenden Bereich. Die Arbeitsverteilung, die Personal- und Arbeitszeitplanung und die Kontrolle der Mitarbeiter sowie die Lösung auftretender Probleme fallen in den Verantwortungsbereich des Meisters. Unterstützende Tätigkeiten, wie z. B. Wartung und Instandhaltung, sowie vor- und nachgelagerte Tätigkeiten, wie z. B. Transport und Qualitätssicherung, werden von anderen Funktionsbereichen übernommen. Jeder Mitarbeiter hat seine eigene Aufgabe, was den Handlungsspielraum des Einzelnen stark einschränkt. Klassische Konditionierung. Die klassische Konditionierung ist ein grundlegendes Prinzip der Verhaltensänderung, das folgendermaßen beschrieben werden kann: Ein unkonditionierter Stimulus, welcher automatisch bzw. reflexartig eine unkonditionierte Reaktion hervorruft, wird mit einem weiteren Reiz bzw. Stimulus assoziiert, d. h., mehrfach in enger Verknüpfung miteinander präsentiert. Von einer Konditionierung wird dann gesprochen, wenn der weitere, dann konditionierte Reiz die gleiche, dann konditionierte Reaktion hervorrufen kann wie der unkonditionierte Reiz. Kognitive Trainings. Sie beruhen auf der Anwendung und Kombination verschiedener Lehr-Lernmethoden (z. B. heuristische Regeln oder Selbstreflexionstechniken), die sich auf Konzepte der Handlungsregulationstheorie und der Problemlösepsychologie beziehen. Sie dienen dazu, Kompetenzen zur Bewältigung komplexer Arbeitsaufgaben zu trainieren, die Planungs-, Entscheidungs- und Problemlösefähigkeiten erfordern. Hierbei sollen nicht konkrete Tätigkeitsabläufe erlernt werden, sondern Denkleistungen wie gedankliches Probehandeln und Fähigkeiten zum situationsangemessenen Planen und Entscheiden bei bestimmten Arbeitsaufgaben. Kohärenzgefühl. Menschen mit einem hohen Kohärenzgefühl erleben die Welt um sich herum als begreifbar und beeinflussbar. Personen mit dieser globalen Orientierung haben ein generalisiertes und überdauerndes Gefühl des Vertrauens, dass Ereignisse strukturiert, vorhersehbar und erklärbar sind, Ressourcen zur Verfügung stehen, um diese Anforderungen zu bewältigen, und Anforderungen Herausforderungen darstellen, dies es wert sind, Einsatz und Engagement zu zeigen. Menschen, die ein entsprechendes Kohärenzerleben haben, können besser mit Bedrohungen umgehen und zeigen in höherem Maße Merkmale seelischer Gesundheit. Kommunikation. Kommunikation bezeichnet die Übermittlung oder den Austausch von Informationen. Kommunikation kann verbal oder nonverbal erfolgen. Während verbale Kommunikation auf der
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Übermittlung sprachlicher Zeichen beruht, bedient sich nonverbale Kommunikation der Mimik, Gestik und der Körperhaltung.
z. B. allgemeine Intelligenz, emotionale Stabilität, Leistungsmotivation etc.
Kommunikationsorientierte Verfahren der Personalentwicklung. Sie zielen auf die Förderung der Präsentations-, Moderations-, Unterweisungs-, Gesprächsführungs- sowie Inspirationskompetenz ab.
Konstruktvalidierung. Überprüfung der faktoriellen, konvergenten und diskriminanten Validität eines psychologischen Messinstrumentes.
Kompensationsmodell der Personalauswahl. Defizite der Bewerber bei einem Prädiktor können durch besondere Stärken bei einem anderen Prädiktor ausgeglichen werden.
Kontextbezogene Leistung. Der Beitrag einer Person zur Aufrechterhaltung ihrer organisationalen Arbeitsumgebung. Zwei wichtige Komponenten der kontextuellen Leistung sind Arbeitsengagement (»job dedication«) und soziale Erleichterung (»social facilitation«).
Kompetenzen. Kompetenzen schließen fach- und berufsübergreifende sowie persönlichkeitsnahe Leistungsvoraussetzungen mit ein, die Individuen zur Bewältigung von Aufgaben befähigen, für die sie noch keine fertigen und direkt abrufbare Handlungsprogramme und Wissensvoraussetzungen besitzen. Der Kompetenzbegriff ist somit in einem ganzheitlichen und integrativen Sinne zu verstehen und bezieht neben fachlich-funktionalen auch soziale, motivationale, volitionale und emotionale Aspekte menschlichen Arbeitshandelns mit ein. Kompetenzentwicklung. Kompetenzentwicklung bezieht sich auf den Prozess des Erwerbs und der Weiterentwicklung von Kompetenzen durch sowohl selbstgesteuerte informelle als auch stärker fremdgesteuerte formelle Lehr-/Lernprozesse in unterschiedlichen arbeitsnahen und anderen Lernkontexten. Konfigurationsmodell der Personalauswahl (Modell mehrfacher Hürden). Jeder zu akzeptierende Bewerber muss bei allen Prädiktoren eine Mindestleistung zeigen. Konflikt. Der Begriff des sozialen Konflikts kennzeichnet das spannungsvolle Erleben einer Unvereinbarkeit der Ansichten oder Interessen mindestens zweier Parteien und ferner sämtliche Aktivitäten dieser Parteien, die empfundene Anspannung zu reduzieren. Konflikttypen. Soziale Konflikte lassen sich anhand ihres Gegenstands, d. h. anhand des Inhalts der erlebten Unvereinbarkeit, klassifizieren. Eine weit verbreitete Typologie unterscheidet vier Konflikttypen: Bewertungskonflikte beruhen darauf, dass zwei oder mehr Parteien die Bedeutsamkeit eines Ziels unterschiedlich bewerten; Beurteilungskonflikte entstehen, wenn zwei oder mehr Parteien zwar bereit sind, dasselbe Ziel zu verfolgen, sich aber darin uneins sind, wie es am besten erreicht werden kann; Verteilungskonflikte liegen vor, wenn zwei oder mehr Parteien um knappe (und nicht teilbare) Ressourcen streiten; Beziehungskonflikte entstehen, wenn sich eine Person durch die Aktivitäten ihrer Interaktionspartner herabgesetzt oder zurückgewiesen fühlt. Konsequenzvariable. Als Konsequenzvariable (abhängige Variable, Kriterium) bezeichnet man die Dann- bzw. Folgenkomponente einer empirischen Wenn-dann-Aussage (Hypothese). Wenn beispielsweise Aufgaben schwierig, aber erreichbar sind, strengen sich Personen mehr an als bei leichten Aufgaben. Die Variable Anstrengung ist hier die Konsequenzvariable. Konstruktorientierte Verfahren der Personalauswahl. Personalauswahlverfahren auf der Basis psychologischer Konstrukte, wie
Kontraproduktives Verhalten. Kontraproduktives Verhalten verletzt die legitimen Interessen einer Organisation, wobei es prinzipiell deren Mitglieder oder die Organisation als Ganzes schädigen kann. Dazu zählt sowohl die Schädigung anderer Organisationsmitglieder (z. B. Mobbing oder sexuelle Belästigung am Arbeitsplatz) als auch die Schädigung der Organisation durch Diebstahl, Sabotage, Unfälle oder Störfälle. Kontrolltechniken. Als Kontrolltechniken bezeichnet man Gestaltungsformen von psychologischen Untersuchungen mit Bedingungsvariation, die darauf abzielen, den Einfluss von potenziellen Störvariablen auf die untersuchte abhängige Variable auszuschalten. ‚Die wichtigsten Kontrolltechniken sind Konstanthalten, Randomisieren, Parallelisieren und Ausbalancieren. Kontrollvariable. Als Kontrollvariable bezeichnet man vermutete Einflussgrößen auf eine Konsequenzvariable, die die Wirkung von im Mittelpunkt einer Untersuchung stehenden Antezedenzvariablen so überlagern könnten, dass der eigentliche Effekt der Bedingungsvariablen abgeschwächt oder vollkommen überdeckt werden könnte. Um dies zu verhindern, werden diese Variablen in der Studie kontrolliert, z. B. durch Konstanthalten. Wenn man z. B. die Auswirkung verschiedener Trainingsmethoden auf die Leistung untersuchen will und vermutet, dass die Leistung auch vom Geschlecht und Alter abhängt, sollte man die Studie mit geschlechts- und altersgleichen Gruppen durchführen. Kann man Geschlecht und Alter aber nicht konstant halten, sollte man sie erfassen und ihren Einfluss auf die Konsequenzvariable Leistung ermitteln, ehe man den Einfluss der verschiedenen Trainingsmethoden untersucht. In diesem Fall sind Alter und Geschlecht die Kontrollvariablen. Konzeptuelles Kriterium. Das Konstrukt (z. B. Arbeitsleistung), das der aktuellen Kriteriumsmessung (z. B. Vorgesetztenbeurteilungen) zugrunde liegt. Korrektive Arbeitsgestaltung. Von korrektiver Arbeitsgestaltung spricht man, wenn Arbeitssysteme und betriebliche Abläufe nach ihrer Einführung und der Identifizierung von Mängeln verändert werden. Sie wird meist dann notwendig, wenn sicherheitstechnische, ergonomische, physiologische und psychologische Erfordernisse nicht oder nicht angemessen berücksichtigt wurden und ist daher unumgänglich, um sich anbahnende oder potenzielle Beeinträchtigungen und Schädigungen der physischen und psychischen Gesundheit von Beschäftigten zu vermeiden.
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Korrelationskoeffizient. Der Korrelationskoeffizient ist ein statistisches Maß für die Richtung und Stärke des Zusammenhangs von zwei Variablen. Er kann zwischen –1 und +1 variieren. Ein Korrelationskoeffizient von null besagt, dass kein Zusammenhang zwischen zwei Variablen vorliegt. Kriteriumsdefizienz. Der Anteil des konzeptuellen Kriteriums, der nicht mit dem aktuellen Kriterium gemessen wird. Kriteriumskontamination. Der Anteil am aktuellen Kriterium, der nichts mit dem konzeptuellen Kriterium zu tun hat. KriteriumsorientierteValidierungvonPersonalauswahlverfahren. Überprüfung der Gültigkeit eines Auswahlverfahrens anhand von externen Kriterien wie z. B. Arbeitsleistung, Weiterbildungserfolg, Unfallhäufigkeit etc. Kriteriumsrelevanz. Der Anteil des konzeptuellen Kriteriums, der vom aktuellen Kriterium gemessen wird. Kulturelles Kapital. Unter kulturellem Kapital versteht man eine wichtige Einflussgröße der sozialen Herkunft auf die schulische und berufliche Entwicklung der Kinder. Das kulturelle Kapital manifestiert sich in der Beherrschung der gesellschaftlichen Verkehrssprache, der Ausbildung der Eltern sowie ihrer kulturellen Praxis. Die PISA-Studie zeigte, dass das kulturelle Kapital einen starken Einfluss auf die Schulleistungen und den Schulerfolg in Deutschland hat. Kundenzufriedenheit. Kundenzufriedenheit bezeichnet ein kurzfristiges Erlebnis, das als Diskrepanz zwischen erwarteter und erlebter Dienstleistung bzw. der Produktqualität definiert wird und nach der Nutzung eines Produkts bzw. nach der Erfahrung einer Dienstleistung auftritt. Laufbahnplanung. Systematische Gestaltung der Laufbahn von Mitarbeitern durch die Organisation, z. B. durch die Definition von Führungs- und Fachlaufbahnen. Laufbahnsequenz. Typische Abfolge von unterschiedlichen Aufgaben und Tätigkeiten im Verlauf einer bestimmten beruflichen oder betrieblichen Laufbahn. Das Potenzial einer Person bezieht sich darauf, in wieweit sie intellektuell, motivational und emotional in der Lage ist, eine solche Abfolge von Aufgaben und Tätigkeiten erfolgreich zu durchlaufen. Leistungsverhalten. Leistungsverhalten umfasst das Verhalten im Rahmen aller betrieblichen Aufgaben, in die Mitarbeiter in einer Organisation eingebunden sind. Leistungsverhalten wird auch als produktives Verhalten bezeichnet. Lernkultur. Unter dem Begriff Lernkultur werden die Werte und Normen des Unternehmens in Bezug auf das Lernen seiner Mitarbeiter und deren Umsetzung bei der Gestaltung lernförderlicher Rahmenbedingungen und Fördermaßnahmen verstanden. Lern- und Trainingsbedarf. Berufliche Trainings- bzw. Aus- und Weiterbildungsprozesse sollten abgestimmt sein auf die Anforde-
rungen, die an die Ausübung bestimmter Berufe bzw. betrieblicher Tätigkeiten oder Aufgaben gestellt werden, und den tatsächlichen Lernbedarf, der bei bestimmten Personen und Mitarbeitergruppen vorhanden ist, um diesen Anforderungen gerecht zu werden. Zur Bestimmung des entsprechenden Lern- bzw. Trainingsbedarf gibt es eine Reihe von Methoden und analytischen Zugängen. Dabei werden vor allem drei Analyseebenen unterschieden, die durch folgende Leitfragen gekennzeichnet sind: Wo wird Training gebraucht (Erfassung organisationsbezogener Merkmale)? Was soll trainiert werden (Erfassung tätigkeits- bzw. aufgabenbezogener Merkmale)? Wer mit welchen Wissens- und Fähigkeitsvoraussetzungen soll trainiert werden (Erfassung personenbezogener Merkmale)? Locus of Control. Ein persönlichkeitspsychologisches Konstrukt, das sich auf die von einer Person wahrgenommene Verursachung von Situationen bezieht. Personen mit einem sog. internalen Locus of Control sind der Überzeugung, dass Ereignisse stark von ihren eigenen Fähigkeiten und ihren Anstrengungen gesteuert werden können. Personen mit einem sog. externalen Locus of Control gehen dagegen davon aus, dass Situationen entweder von mächtigen anderen oder von Zufall und Schicksal bestimmt werden. Makrostruktur der Tätigkeit. Die Makrostruktur der Tätigkeit – als eines der zentralen Konzepte der Tätigkeitstheorie – beschreibt den Zusammenhang und die hierarchische Ordnung der Konzepte Tätigkeit, Handlung, Operation und Bewegung einerseits und Motiv, Ziel und Bedingung andererseits. Tätigkeiten bilden die hierarchisch am höchsten angesiedelte Analysekategorie. Sie werden durch Motive ausgelöst (z. B. das Motiv der Existenzsicherung bei Arbeitstätigkeiten) und anhand von Handlungen, Operationen und Bewegungen realisiert. Handlungen auf der nächst tiefer gelegenen Stufe verkörpern die einem bewussten Ziel untergeordneten Prozesse, die schließlich in Operationen umgesetzt werden. Operationen auf der dritten Analyseebene sind Verrichtungen, welche von den gegebenen Bedingungen abhängen und damit als unselbstständige Teilhandlungen zu verstehen sind. Auf unterster Ebene sind schließlich die Bewegungen als sichtbare und gleichzeitig kleinste Einheiten der Tätigkeit zu betrachten. Markt. Ein Markt stellt den ökonomischen Ort des Tauschs bezüglich bestimmter Güter unter dem Aspekt der Preisbildung und unter Berücksichtigung von Bedingungen der Angebots- und Nachfrageregelung dar. Der Austausch zwischen Organisationen und ihrer Umwelt findet dabei insbesondere im Rahmen von Verkäufer-Käufer- bzw. -Kunden-Beziehungen statt. Media-Richness-Theorie. Die Media-Richness-Theorie unterscheidet zwischen »ärmeren« (z. B. Brief, E-Mail) und »reichhaltigeren« Medien (z. B. Videokonferenz oder Face-to-Face-Kommunikation). Die Theorie sagt vorher, dass bei mehrdeutigen Aufgaben eine Benutzung von Medien mit hoher Reichhaltigkeit günstiger und leistungsförderlicher ist als die Nutzung von Medien mit geringer Reichhaltigkeit. Mediatorvariable. Eine Mediatorvariable ist ursächlich für die Verknüpfung einer Bedingung und deren Wirkung. Beispielsweise bewirkt die Bedingung »spezifische, schwierige, aber erreichbare
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Ziele« eine Erhöhung der Arbeitsleistung, weil ein solches Ziel u. a. zu einer Anstrengungssteigerung führt. Die Anstrengungssteigerung verknüpft hier also eine Bedingung und deren Wirkung. Mediensynchronizität. Die Theorie zur Mediensynchronizität besagt, dass die Effektivität der Kommunikation von der Passung der Mediencharakteristika (Unmittelbarkeit der Rückmeldung, Symbolvielfalt, Anzahl paralleler Informationskanäle, Überarbeitbarkeit und Wiederverwendbarkeit von Nachrichten) mit den Kommunikationsprozessen abhängt. Die mit Medien zu bewältigenden Aufgaben werden dabei klassifiziert nach divergenten (z. B. Verteilen von Informationen oder Unterrichten) und konvergenten Kommunikationsprozessen (z. B. Entscheidungen herbeiführen). Mediensynchronizität liegt demnach in dem Ausmaß vor, wie Individuen diejenigen Medienmerkmale vorfinden, die für die Zusammenarbeit erforderlich sind (bei konvergenten Prozessen trifft dies z. B. auf Medien zu, die eine hohe Unmittelbarkeit der Rückmeldung aufweisen). Menschenbilder. Annahmen über grundlegende Motive, Bedürfnisse und Verhaltenskonstanten bei Menschen, die sowohl Rechtsordnungen als auch wissenschaftlichen Theorien, aber auch dem Handeln von Menschen, z. B. subjektive Theorien von Führungskräften über ihre Mitarbeiter, implizit oder explizit zugrunde liegen. Bekannte Beispiele für solche Menschenbilder sind der Homo oeconomicus oder das Bild des sozialen, des nach Selbstverwirklichung strebenden oder das Bild des komplexen Menschen. Mentale Modelle. Mentale Modelle repräsentieren interne Wissensmodelle über Ausschnitte der äußeren und inneren Realität. Sie stimmen in ihren strukturellen Merkmalen, d. h. ihren zeitlichen, räumlichen, kausalen oder symbolische Relationen, mit einem Realitätsausschnitt mehr oder weniger gut überein und ermöglichen dem Individuum, Vorhersagen zu machen, Phänomene zu verstehen, Entscheidungen zu treffen und Ereignisse stellvertretend zu erfahren. Mentor. Ein Mentor ist von der Wortbedeutung her ein väterlicher Freund oder Lehrer. Im Personalbereich wird damit eine höherrangige, einflussreiche Person männlichen oder weiblichen Geschlechts im Arbeitsumfeld einer Nachwuchskraft bezeichnet, die über große berufliche Erfahrung sowie breites berufliches Wissen verfügt und der daran gelegen ist, die berufliche Entwicklung der Nachwuchskraft zu fördern und ihren Aufstieg zu unterstützen. Mentoring. Mentoring ist eine persönlich gestaltete Beziehung zwischen einer beruflich erfahrenen, erfolgreichen und einer weniger erfahrenen Person mit Karriereambitionen. Mergers & Acquisitions. Mit dem Begriff Mergers & Acquisitions wird ein gemeinsames Forschungsgebiet bezeichnet. Bei Mergers (Fusionen) geht es im Sinne des Kartellrechts darum, dass ein Unternehmen das Vermögen eines anderen ganz oder teilweise erwirbt, Unternehmen sich zusammenschließen oder eine sonstige Verbindung eingehen. Dagegen wechselt bei einer Acquisition (Unternehmensübernahme) oder einem Unternehmenskauf eine Einheit in den Einfluss- und Entscheidungsbereich einer anderen und verliert damit teilweise oder ganz ihre Autonomie.
Merger-Syndrom. Das Merger-Syndrom beschreibt eine Reihe von charakteristischen Reaktionen, die häufig nach Fusionen auftreten. Dazu zählen Befangenheit, verstärkte Gerüchtebildungen, Stressreaktionen, eingeschränkte Kommunikation, das Management wird als unglaubwürdig erlebt, es finden Kämpfe zwischen Kulturen statt, und es kommt zum Zusammenschluss in der eigenen Gruppe, wobei zwischen Gewinnern und Verlierern differenziert wird. Metaanalyse. Die Metaanalyse ist eine mathematische Zusammenfassung der Befunde aus verschiedenen Stichproben oder Studien zu einem bestimmten Untersuchungsgegenstand, wie z. B. zum Zusammenhang von Intelligenz und Leistung am Arbeitsplatz. Methode der kritischen Ereignisse (»critical incident technique«). Verfahren der verhaltensbezogenen Anforderungsermittlung (s. Anforderungsanalyse, Leistungsbeurteilung). Methodenkompetenz. Fähigkeiten, die erforderlich sind, um neuartige und komplexe berufliche Aufgaben in einem bestimmten Tätigkeitsbereich erfüllen zu können. Mobbing. Von Mobbing spricht man, wenn Mitarbeiter von einem oder mehreren Kollegen oder Vorgesetzten regelmäßig und über längere Zeit terrorisiert werden. Modelfit. Unter Modelfit versteht man das Ausmaß der Übereinstimmung (Passung) zwischen einem statistischen Modell und den vorliegenden Daten. Moderatorvariable. Als Moderatorvariable bezeichnet man eine Variable, die die Beziehung zwischen zwei anderen Variablen beeinflusst. Wenn z. B. bei geringen Fähigkeiten kein Zusammenhang von Anstrengung und Leistung besteht, aber bei hohen Fähigkeiten mehr Anstrengung auch mit höherer Leistung verbunden ist, bezeichnet man die Variable Fähigkeiten als Moderatorvariable. Modularisierung. Modularisierung beinhaltet die Restrukturierung der Unternehmensorganisation auf der Basis integrierter, kundenorientierter Prozesse in relativ kleine, überschaubare Einheiten (Module). Diese zeichnen sich durch dezentrale Entscheidungskompetenz und Ergebnisverantwortung aus, wobei die Koordination zwischen den Modulen verstärkt durch nichthierarchische Koordinationsformen erfolgt. Motive. Motive sind Wertungsdispositionen, die für einzelne Menschen charakteristische Ausprägungen haben. Sie führen dazu, dass bestimmte Personen immer wieder die gleichen Person-Situations-Interaktionen aufsuchen, wie z. B. leistungsstärker sein wollen als andere (Leistungsmotiv), andere lenken, leiten und steuern wollen (Machtmotiv), andere schädigen wollen (Aggressionsmotiv), oder von anderen gemocht werden wollen (Affiliationsmotiv). Motivation. Motivation thematisiert die Frage nach dem Warum bzw. dem Wozu menschlichen Verhaltens: Motivation liegt vor, wenn in einer konkreten Situation Motive durch Anreize angeregt werden und Verhalten auslösen.
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Motivationspotenzial. Das Motivationspotenzial der Arbeit leitet sich aus dem Job Characteristics Model ab. Dieses Modell spezifiziert, wie Arbeitsaufgaben gestaltet sein sollten, um motivations- und leistungsfördernd zu wirken sowie dem Arbeitsplatzinhaber Entfaltungsmöglichkeiten bei der Arbeit zu bieten. Die Ausprägung des Motivationspotenzials einer Arbeitstätigkeit ist gemäß dem Modell von folgenden fünf Aufgabenmerkmalen abhängig: Ausmaß der Anforderungsvielfalt, Ganzheitlichkeit der Aufgabe, Bedeutsamkeit der Aufgabe, Autonomie im Sinne von Freiheitsgraden für selbstständige Zielstellungen und Entscheidungen über die Aufgabeninhalte, Rückmeldung über die Tätigkeitsergebnisse. Das Motivationspotenzial der Arbeit wird berechnet aus dem Produkt der Merkmale Anforderungsvielfalt, Ganzheitlichkeit und Bedeutsamkeit und der anschließenden Addition der Merkmale Autonomie und Rückmeldung. Multimodales Interview. Strukturiertes Interview zur Personalauswahl, bei dem neben Kontaktfragen auch biographische Fragen, situative Fragen sowie Persönlichkeitsfragen gestellt werden. NEO-FFI. Persönlichkeitsinventar zur Erfassung der fünf grundlegenden Dimensionen der Persönlichkeit nach Costa und McCrae mit 60 Items. NEO-PI-R. Persönlichkeitsinventar zur Erfassung der fünf grundlegenden Dimensionen der Persönlichkeit mit je sechs Facetten in jeder Dimension nach Costa und McCrae mit 240 Items. NEO Job Profiler. Instrument zur Ermittlung von Persönlichkeitsanforderungen auf der Basis des Fünf-Faktoren-Modells der Persönlichkeit (»Big Five«) nach Costa und McCrae. Networking. Unter Networking versteht man den Aufbau, die Pflege und Nutzung von persönlichen Kontakten zu einflussreichen und mächtigen Personen innerhalb und außerhalb der eigenen Person als Karrierestrategie. Neurotizismus. Persönlichkeitsmerkmal zur Vorhersage individueller, beruflicher Stressresistenz; je höher der Neurotizismus, desto geringer die Stressresistenz. Wichtige Facetten des Neurotizismus sind Ängstlichkeit, Impulsivität, Selbstaufmerksamkeit, Reizbarkeit, Verletzlichkeit und Depressivität.
Nutzen von Personalauswahlverfahren. Der finanzielle Nutzen eines Personalauswahlverfahrens für die Organisation hängt von folgenden Größen ab: Der Leistungsvarianz der Beschäftigten, der Validität der Auswahlverfahren, der Strenge der Auswahlverfahren (geringe Selektionsquote) sowie den Kosten des Verfahrens pro Bewerber. Objektivität. Unter Objektivität als Gütekriterium von Instrumenten der Personalauswahl versteht man, dass die Ergebnisse einer begutachteten Person unabhängig davon sein sollen, wer das Auswahlinstrument administriert, Verhaltensübungen beobachtet oder ein Interview durchführt (Durchführungsobjektivität), auswertet (Auswertungsobjektivität) oder interpretiert (Interpretationsobjektivität). O*NET. Berufliche Informationsplattform des amerikanischen Arbeitsministeriums, die von Personalpsychologen entwickelt wurde. Operante Konditionierung. Diese Form des Konditionierens, beruht auf der Wirkung von positiven oder negativen Folgen eines Verhaltens für die weitere Auftretenswahrscheinlichkeit dieses Verhaltens. Die Auftretenswahrscheinlichkeit des Verhaltens bei positiven Konsequenzen wird erhöht (Verstärkung) und bei negativen verringert (Bestrafung). Operative Abbilder. Operative Abbilder stellen relativ stabile, invariante Abbildungen der zu erreichenden Ziele, Pläne und der dabei zu berücksichtigenden Bedingungen des eigenen Handelns dar. Sie sind somit wesentliche kognitive Grundlagen des menschlichen (Arbeits-)Handelns. Hierbei erfüllen sie verschiedene Funktionen: Als Repräsentationen über Ziele und Teilziele dienen sie dem Handelnden zur Antizipation des Arbeitsergebnisses. Sie beinhalten darüber hinaus Repräsentationen der Ausführungsbedingungen von Arbeitshandlungen und dienen damit zur Orientierung über den Handlungskontext. Drittens beziehen sie sich auf Repräsentationen der Transformationsmaßnahmen des Ist- in den Soll-Zustand (z. B. Handlungspläne) und unterstützen damit die Handlungsplanung und -ausführung.
Normierung. Gütekriterium von Auswahlverfahren. Ein allgemeines Bezugssystem, um die Ergebnisse bzw. das Abschneiden von einzelnen Personen im Vergleich zur Gesamtgruppe (Population) einordnen zu können.
Organisational-Behavior-Modification-Ansatz. Im Fokus dieses Verhaltensmodifikationsprogramms steht die Identifikation kritischer Verhaltensweisen, die im Zusammenhang mit guten Arbeitsleistungen bzw. -ergebnissen stehen und durch Prinzipien der operanten Konditionierung verstärkt, reduziert oder verändert werden sollen. Bei der Umsetzung sind folgende Vorgehensschritte zu beachten: Identifikation kritischer Verhaltensweisen (beobachtbares Verhalten, das in Zusammenhang mit organisationalen Erfolgs- bzw. Leistungskennziffern steht und suboptimal ausgeprägt ist), Messung der Basisrate des kritischen Verhaltens, funktionale Analyse (Identifikation der Stimuli der Arbeitssituation, welche das kritische Verhalten hervorrufen), Ausarbeitung einer Interventionsstrategie (Anwendung von Prinzipien der operanten Konditionierung), Evaluation (Überprüfung, ob die Interventionsstrategie zur gewünschten Verhaltensveränderung geführt hat).
Nullhypothese. Die Nullhypothese besagt, dass keine systematische Beziehung (z. B. Zusammenhang oder Unterschied) zwischen mindestens zwei Variablen in einer Population besteht.
Organisationen. Organisationen bezeichnen den Zusammenschluss von Menschen zur Erreichung bestimmter Ziele, die hierfür eine zielgerichtete Ordnung bzw. Regelung von Aufgaben in be-
Normen. Normen sind Regeln für Verhaltensweisen, die in bestimmten Situationen (nicht) auftreten sollen. In Gruppen geben Normen Orientierung über das angemessene Verhalten in unsicheren Situationen, sie stabilisieren das Verhalten und machen es berechenbar und sie tragen zur Koordination des Verhaltens bei.
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stimmten sozialen Gebilden (z. B. Betriebe oder gesellschaftliche Institutionen) entwickelt haben bzw. sich dieser Ordnung unterwerfen. Organisationen sind in der Regel durch bestimmte formale und zweckgerichtete Strukturen bzw. Regelsysteme gekennzeichnet, in denen festgelegt ist, was Organisationsmitglieder in welcher Situation wie zu tun haben, wer wem Anweisungen gibt und wer diese zu befolgen hat, wer über was durch wen zu informieren ist und wer in welcher Hinsicht wie zu behandeln ist. Diese Funktions-, Führungs- und Kommunikationsstrukturen weisen je nach Zielsetzung, Größe und Selbstverständnis der Organisation sowie wirtschaftlichen und kulturellen Rahmenbedingungen unterschiedliche Aufbau- und Ablaufformen auf. Organisationale Sozialisation. Prozess der Vermittlung und des Erwerbs von Kenntnissen, Fertigkeiten, Fähigkeiten, Überzeugungen, Werthaltungen und Normen, der eine Person dazu befähigt, die von der Organisation an sie gestellten Handlungsanforderungen zu erfüllen. Organisationsdiagnose. Die psychologische Organisationsdiagnose dient dazu, das regelhafte Erleben und Verhalten der Organisationsmitglieder zu beschreiben, zu erklären und zu prognostizieren mit dem Ziel, organisationale Handlungsfelder aufzudecken und Organisationsentwicklungsmaßnahmen vorzubereiten. Organisationsentwicklung (OE). Organisationsentwicklung ist durch folgende Merkmale gekennzeichnet: 4 OE ist eine geplante Form des Wandels; 4 OE ist langfristig angelegt; 4 OE betrifft ganze Organisationen (Betriebe, Schulen, Krankenhäuser etc.) und nicht nur einzelne Abteilungen oder Gruppen; 4 am OE-Prozess sind die Betroffenen beteiligt; 4 der Wandel wird durch erfahrungsgeleitete Lern- und Problemlöseprozesse herbeigeführt; 4 das Lernen und Problemlösen wird durch Verfahren der angewandten Sozialwissenschaften ausgelöst und unterstützt; 4 OE zielt weniger auf die Beeinflussung der Produktivität, als vielmehr auf die Verbesserung der Lebensqualität und der Problemlösefähigkeit in einer Organisation. Organisationsklima. Organisationsklima ist definiert als die relativ überdauernde Qualität der inneren Umwelt der Organisation, die durch die Mitglieder erlebt wird, ihr Verhalten beeinflusst und durch die Werte einer bestimmten Menge von Merkmalen der Organisation beschrieben werden kann. Organisationskultur. Muster gemeinsam geteilter, grundlegender Annahmen, die von einer Gruppe bei der Lösung von Problemen der Anpassung an die Umwelt sowie der Integration ihrer Mitglieder gelernt wurden, die sich als hinreichend erfolgreich bei der Lösung dieser Probleme erwiesen haben und neuen Mitgliedern als die richtige Art und Weise, in der solchen Problemen zu begegnen ist, gelehrt wird. Organizational Citizenship Behavior. Freiwilliges Verhalten, das sich positiv auf die Funktionsfähigkeit der Organisation auswirkt und im Rahmen des formalen Anreizsystems nicht direkt oder explizit berücksichtigt wird.
Outplacement. Bewerbungstrainings für zu entlassende Beschäftigte, die vom Arbeitgeber für die zu entlassenden Beschäftigten initiiert und finanziert werden, um deren berufliche Wiedereingliederung zu erleichtern. Passung (Match, Fit). Übereinstimmung von Anforderungen und Befriedungspotenzialen einer Stelle oder einer Laufbahn einerseits und den Qualifikationen, den Bedürfnissen und dem Potenzial einer Person andererseits. Patensystem. Bei einem Patensystem wird einem neuen Mitarbeiter ein erfahrener Kollege – der Pate – zur Seite gestellt, der ihn in der Zeit der Einarbeitung betreut und zur Beantwortung aller wichtigen Fragen zur Verfügung steht. P-E-Fit-Modell. Gemäß dem P-E-Fit-Modell kommt es bei der Entstehung von Stress insbesondere auch auf das Gleichgewicht von Anforderungen und Ressourcen an. Dies bedeutet, dass die Ressourcen (Kenntnisse und Fähigkeiten, aber auch Persönlichkeitseigenschaften und Verhaltensweisen), die eine Person zur Verfügung hat, den Anforderungen der Arbeitsaufgabe entsprechend vorhanden sein müssen. Umgekehrt sollten auch die Merkmale der Arbeitstätigkeit den Bedürfnissen der Person entsprechen. Ist dies nicht der Fall, herrscht eine Diskrepanz zwischen erwünschten und vorhandenen Merkmalen, die für die Entstehung von Stress entscheidend ist. Personal. Mit dem Begriff Personal bezeichnet man die in Organisationen in abhängiger Stellung arbeitenden Menschen, die innerhalb einer institutionell abgesicherten Ordnung eine Arbeitsleistung erbringen. Es geht somit um die Mitarbeiter eines Unternehmens oder einer Organisation, die zur Realisierung von Geschäfts- und Arbeitsprozessen eingesetzt und bezahlt werden. Personal wird im betriebswirtschaftlichen Sinne als eine Ressource aufgefasst, die es zu managen bzw. zu steuern gilt. Dabei geht es sowohl um die Verhaltenssteuerung im Sinne einer Mitarbeiterführung als auch die Gestaltung von Systemen zur Steuerung der Personalfunktionen wie Beschaffung, Auswahl, Entwicklung, Beurteilung, Vergütung etc. Personalentwicklung. Systematische Weiterentwicklung der Mitarbeiterqualifikationen mit dem Ziel, Stärken auszubauen und Schwächen zu verringern. Personalmarketing. Sämtliche Aktivitäten einer Organisation, die auf die Gewinnung und Bindung geeigneter Mitarbeiter und die Freisetzung ungeeigneter bzw. nicht mehr geeigneter Mitarbeiter abzielen. Persönlichkeitsförderlichkeit. Persönlichkeitsförderlichkeit als Kriterium humangerechter Arbeitsgestaltung beinhaltet, dass die arbeitsgestalterischen Lösungen bei einer längerfristigen Ausübung der Tätigkeit lern- und persönlichkeitsförderlich wirken sollen; d. h., die Arbeit sollte einen ausreichenden Spielraum für Lernen und Weiterentwicklung sowie zur Bedürfnisbefriedigung (im Sinne von Wohlbefinden und Zufriedenheit) enthalten. Dies wird beispielsweise überprüft anhand von erforderlichen Lernaktivitäten zur Tätigkeitsausübung oder Zeitanteilen für selbstständige Verrichtungen.
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Persönlichkeits- und erlebnisorientierte Verfahren der Personalentwicklung. Diese Verfahren umfassen Sensititvitätstrainings, gruppendynamische Trainings sowie Persönlichkeitstrainings. Ihre Wirkungen sind umstritten. Personenbezogene Arbeitsanalysen. Bei personenbezogenen Arbeitsanalysen steht die subjektive Wahrnehmung und Einschätzung der Arbeitstätigkeit und ihrer Ausführungsbedingungen durch individuelle Personen im Vordergrund. Damit wird nicht eine objektive, sondern eine »redefinierte« Wahrnehmung und Einschätzung von Tätigkeitsmerkmalen und Arbeitsbedingungen meist mittels schriftlicher Befragungen (standardisierte Fragebögen) erfasst. Im Vordergrund steht die Einschätzung spezifischer Arbeitsmerkmale, -aufgaben und -bedingungen in einem kognitiv interpretierenden bzw. evaluativen Sinne. Physikalische Messmethoden. Mithilfe physikalischer Messmethoden lassen sich Umgebungsbedingungen der Arbeitstätigkeit relativ exakt erfassen. Das Ziel besteht meist darin, diese mit den subjektiven Beanspruchungen und Beanspruchungsfolgen des Arbeitenden zu vergleichen bzw. in Beziehung zu setzen. Zu den Methoden, die im Rahmen von Felduntersuchungen unkompliziert einsetzbar sind, gehören Messungen des Lärms, der Beleuchtung und des Klimas. Platzierung. Entscheidung, welcher von unterschiedlichen Behandlungen, die zur Verfügung stehen, eine Person zugeführt werden soll. Population. Als Population bezeichnet man die Grundgesamtheit von Personen, auf die Forscher ein Untersuchungsergebnis verallgemeinern möchten (z. B. Mitarbeiter, Vorgesetzte, Kunden etc.). Deshalb ist eine Population die Gesamtheit aller einschlägigen Stichproben. Potenzialanalyse. Wichtiges Element der Personalentwicklungsplanung. Überprüfung der Eignung einer Person für eine bestimmte betriebliche Laufbahn. Präventive Arbeitsgestaltung. Bei der präventiven Arbeitsgestaltung werden mögliche gesundheitliche Schädigungen und psychosoziale Beeinträchtigungen der Beschäftigten, die durch die Auseinandersetzung mit der Arbeitstätigkeit auftreten können, gedanklich vorweggenommen. Das beinhaltet, dass arbeitswissenschaftliche Konzepte zum Arbeits- und Gesundheitsschutz schon frühzeitig im Prozess der Arbeitsgestaltung herangezogen werden. Prekäre Beschäftigungsverhältnisse. Unsichere und/oder gering entlohnte Erwerbsarbeit (zeitlich befristete Beschäftigung, Teilzeitbeschäftigung, Scheinselbstständigkeit). Projektgruppen. Projektgruppen bearbeiten meist einmalige umfangreiche Aufgaben bzw. Aufträge, die von der Unternehmensleitung vorgegeben werden. Häufig setzen sie sich aus Experten unterschiedlicher Fachbereiche zusammen, die nicht freiwillig der Projektgruppe beitreten, sondern gezielt aufgrund ihrer Sachkompetenz ausgewählt werden. In Abhängigkeit von der gewählten Projektorganisation treffen sich die Projektmitglieder entweder nur
von Zeit zu Zeit oder arbeiten kontinuierlich zusammen und werden dementsprechend für die Zeit der Projektdauer, die zeitlich befristet ist, teilweise oder ganz von ihren Arbeitsaufgaben freigestellt. Prospektive Arbeitsgestaltung. Bei der prospektiven Arbeitsgestaltung gestaltet man bereits bei der Planung bzw. Neugestaltung von Arbeitsstrukturen Aufgaben, Anforderungen und Arbeitsplätze so, dass sie sich positiv auf die Gesundheit und Persönlichkeitsförderlichkeit des Arbeitnehmers auswirken. Dazu gehört zum einen das Schaffen von Tätigkeitsspielräumen für die Beschäftigten mit der Möglichkeit, das Aufgabenfeld selber zu gestalten. Zum anderen schließt dieses Konzept auch die Gestaltung lernförderlicher Aufgaben mit ein. Proteanisches Laufbahnmodell. Proteus ist der Meeresgott, der sich nach Wunsch und Bedarf in einen Löwen, eine Schlange, einen Panther etc. verwandeln kann. Eine solche von selbstbestimmten Zielen geleitete berufliche Wandlungsfähigkeit wurde als modernes Leitbild für Erwerbstätige vorgeschlagen. Protégé (wörtlich: Schützling). Neueinsteiger oder berufliche Nachwuchskraft, die von einer erfahreneren und hochrangigen Person in ihrer beruflichen Entwicklung persönlich unterstützt wird. Andere Bezeichnung ist auch Mentee. Prozessberater (»change agents«). Prozessberater begleiten Prozesse der Organisationsentwicklung, wobei ihre Hauptaufgabe in der Hilfe zur Selbsthilfe besteht. Im Sinne der Aktionsforschung sollen sie dabei mit den Klienten ein gemeinsames, kooperatives Handlungssystem bilden. Psychologischer Kontrakt. Die Art der Austauschbeziehung zwischen einem erwerbstätigen Organisationsmitglied und der Organisation. Beim sog. transaktionalen Kontrakt steht der Leistungstausch (Arbeit gegen Bezahlung) im Vordergrund. Beim sog. relationalen Kontrakt steht der Ausbau, die Festigung und Erhaltung der Beziehung im Vordergrund. Psychotechnik. Den Begriff Psychotechnik hat William Stern eingeführt, der darunter die Wissenschaft von der Menschenbehandlung als geeignete Handlungsweise für wertvolle Zwecke verstanden hat. Hugo Münsterberg hat sie als die Wissenschaft von der praktischen Anwendung der Psychologie im Dienste der Kulturaufgaben definiert. Qualitätszirkel. Grundidee des Qualitätszirkelkonzepts ist die stärkere Einbeziehung der Mitarbeiter der ausführenden Ebenen in betriebliche Problemlösungsprozesse. In kleinen Gruppen, in der Regel 5–10 Mitarbeiter, werden Probleme und Schwachstellen im eigenen Arbeitsbereich identifiziert, Lösungsvorschläge erarbeitet und diese wenn möglich auch selbst umgesetzt sowie deren Erfolg kontrolliert. Die Gruppen werden durch einen geschulten Moderator unterstützt. Die Qualitätszirkelmitglieder treffen sich freiwillig regelmäßig alle 2–4 Wochen, meist während der Arbeitszeit, für jeweils 1–2 Stunden und wählen ihre Themen in der Regel selbst aus. Quasi-Experiment. Ein Quasi-Experiment ist eine Studie mit systematischer Bedingungsvariation, bei der jedoch keine vollständige
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randomisierte Zuweisung der Untersuchungsteilnehmer zu den variierten Bedingungen vorliegt, wie z. B. häufig dann, wenn Geschlechtsuntersschiede untersucht werden. Rangordnungsverfahren der Leistungsbeurteilung. Zu beurteilende Personen werden entsprechend ihrer Leistung in eine Rangreihe gebracht. Realistische Tätigkeitsvorschau (»realistic job preview«). Der einzustellende Mitarbeiter erhält vom zukünftigen Arbeitgeber realistische Informationen über seine zukünftige Tätigkeit während des Bewerbungsgespräches, sodass sowohl die positiven als auch die weniger angenehmen Seiten der neuen Tätigkeit von Anfang an für ihn erkennbar sind. Dies führt zu einer Absenkung der Erwartungen und des Anspruchsniveaus beim einzustellenden Mitarbeiter. Recruiter. Firmenrepräsentant zur Ansprache potenzieller Bewerber z. B. auf Jobmessen. REFA. Früher Reichsausschuß für Arbeitszeitermittlung, heute Verband für Arbeitsstudien und Betriebsorganisation. Regelverletzungen. Unter Regelverletzungen versteht man absichtliche Übertretungen von Sicherheitsbestimmungen (z. B. wenn Schutzkleidung nicht getragen wird). Ursachen solcher Regelverletzungen sind nicht nur inadäquate Einstellungen oder mangelnde Bereitschaften in Bezug auf Sicherheitsfragen, sondern auch Unkenntnis oder eine falsche Interpretation entsprechender Sicherheitsbestimmungen. Regressionsanalyse. Als Regressionsanalyse bezeichnet man ein statistisches Auswertungsverfahren, bei dem eine oder mehrere Konsequenzvariablen (Kriterien) in Beziehung zu einer oder mehreren Antezedenzvariablen (Prädiktoren) gesetzt werden, um zu ermitteln, in welche Richtung und in welchem zahlenmäßigen Umfang sich die Kriterien verändern, wenn sich die Prädiktoren um eine bestimmte Maßeinheit verändern. Regulationsebenen. Im Rahmen der Handlungsregulationstheorie wird davon ausgegangen, dass die Handlungsregulation auf qualitativ verschiedenen Regulationsniveaus erfolgt. Hierbei werden drei Niveaus bzw. Ebenen unterschieden: Auf der sensomotorischen bzw. untersten Ebene wird die motorisch koordinierte Ausführung einzelner Handlungsschritte bzw. Bewegungen gesteuert. Bei der mittleren bzw. perzeptiv-begrifflichen Ebene erfolgt die Steuerung von mehreren zu einer Teilaufgabe gehörenden Schritten anhand von bereits gut beherrschten Handlungsschemata. Mithilfe der obersten bzw. intellektuellen Regulationsebene werden übergeordnete oder neuartige Handlungspläne zur Zielerreichung entworfen und kontrolliert. Speziell das Vorgehen in neuartigen und wenig vertrauten Handlungssituationen erfordert eine Steuerung auf dieser Ebene anhand analytischer und problemlösender Denkoperationen. Reliabilität. Unter Reliabilität versteht man die Genauigkeit, mit der ein Verfahren in einer bestimmten Stichprobe oder Population misst, was es messen soll.
Ressourcen. Unter Ressourcen versteht man im Stressgeschehen alle Faktoren, auf die eine Person zurückgreifen kann, um den Umgang mit einer bedrohlichen Situation zu erleichtern. Dabei können sowohl die Person als auch die Situation Quelle von Ressourcen sein. Ressourcen der Situation können z. B. durch günstige Arbeitsbedingungen (z. B. Möglichkeiten zur Regeneration, Arbeitszeitgestaltung) oder durch die soziale Umwelt (z. B. Freunde und Familie) bereitgestellt werden. Eine sehr bedeutsame arbeitsplatzbezogene Ressource ist der Handlungsspielraum. Eine wichtige Ressource aus dem Bereich der sozialen Umwelt ist die soziale Unterstützung. Zentrale individuelle, persönliche Ressourcen sind das Selbstwirksamkeitserleben in einer Situation sowie Kohärenzerleben und internale Kontrollüberzeugungen. Ressourcenkonservierung. Gemäß dem Modell der Ressourcenkonservierung streben Menschen danach, für sie bedeutsame Ressourcen aufzubauen und zu erhalten, was mit Gesundheit und Wohlbefinden einhergeht. Stress wird in diesem Modell dadurch definiert, dass die Gefahr des Ressourcenverlustes besteht, ein aktueller Verlust von Ressourcen auftritt oder auf die Investitionen von Ressourcen kein angemessener Gewinn von Ressourcen folgt. Menschen streben außerdem danach, den Verlust von Ressourcen durch den Einsatz anderer verfügbarer Ressourcen zu verhindern und verlorene Ressourcen nach Möglichkeit zu ersetzen oder zu kompensieren. Gelingt es nicht, ein Gleichgewicht von investierten und konservierten Ressourcen herzustellen, d. h. wenn die investierten Ressourcen nicht kompensiert werden können, kann eine Stresssituation nicht erfolgreich bewältigt werden und es entsteht auch daraus Stress. Ringstruktur der Tätigkeit. Mit der Ringstruktur der Tätigkeit werden die durch Tätigkeiten und Handlungen hervorgerufenen bzw. vermittelten Wechselwirkungen zwischen Umwelt und Person im Rahmen der Tätigkeitstheorie beschrieben. Diese Wechselwirkungen haben auf der einen Seite eine Veränderung der Umwelt zur Folge, die durch eine in die Umwelt eingreifende Tätigkeit hervorgerufen wird. Auf der anderen Seite wirkt die Umwelt über die Tätigkeit auf die handelnde Person ein bzw. zurück und verändert diese, worunter in erster Linie Veränderungen in Bezug auf die Tätigkeitsauffassung und der Ausführungskompetenzen der Person (z. B. indem man Interesse an einer zunächst uninteressanten Tätigkeit entwickelt) zu verstehen sind. Risikobewertung. Risikobewertung bezieht sich auf die Wahrnehmung und Beurteilung von Gefahren und ist erforderlich, wenn Personen arbeitsbedingt in den Einwirkungsbereich von Gefahren kommen. Sie bildet die Voraussetzung für weitere Phasen des Handelns in gefährlichen Kontexten und dient der Orientierung in solchen Situationen. Zur Beurteilung von Risiken werden Heuristiken oder Daumenregeln herangezogen, mit deren Hilfe die vorherrschenden Unfall- und Schadenswahrscheinlichkeiten mehr oder weniger gut eingeschätzt werden. Risikoverhalten. Die individuelle Bereitschaft, sich Gefahren mehr oder weniger auszusetzen und das Eintreten von Personen- und Sachschäden mit einer gewissen Wahrscheinlichkeit in Kauf zu nehmen.
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Rolle. Rolle bezeichnet die Summe der Erwartungen, die an den Inhaber einer sozialen Position gerichtet werden. In einer funktionierenden Gruppe sind die Rollen so ausdifferenziert, dass sie sich wechselseitig ergänzen. Rückzugsverhalten. Unter Rückzugsverhalten versteht man die Abwesenheit vom Arbeitsplatz während der Arbeitszeit (Absentismus) sowie Kündigungen. Schlüsselqualifikationen. Allgemeine Kompetenzen, die als zentral für den beruflichen Erfolg betrachtet werden. Dazu zählen Methoden-, Sozial- und Selbstkompetenz. Selbstkompetenz. Fähigkeit zur emotionalen und motivationalen Steuerung des eigenen beruflichen Handelns. Selbstmanagementtraining. Durch Selbstmanagementtrainings soll die zielgerichtete Beeinflussung des eigenen Verhaltens gefördert werden. Dazu werden kognitiv-behaviorale Techniken wie Verhaltensbeobachtung, Zielvereinbarung, Selbstverstärkung, Selbstbestrafung, Stimuluskontrolle und Rückfallprävention vermittelt. Selbstwirksamkeitserwartung (»self-efficacy«). Persönlichkeitspsychologisches Konstrukt, das sich auf die positive Einschätzung einer Person bezieht, Herausforderungen und Ereignisse in ihrer Umwelt im eigenen Sinn erfolgreich steuern zu können. Selektion. Entscheidung, ob einer Person ein Arbeitsplatz angeboten werden soll oder nicht. Selektionsrate. Anzahl der einzustellenden Bewerber bezogen auf die Gesamtzahl der Bewerber. Sensumotorisches Training. Mit sensumotorischen Trainingstechniken soll der Erwerb sensumotorischer Fertigkeiten für berufliche Aufgaben unterstützt werden. Ihre Entwicklung beruht auf Konzepten der Handlungsregulationstheorie. Um sich das innere Handlungsabbild einer Arbeitstätigkeit anzueignen, werden bei diesen Trainingsverfahren die Beobachtungs-, Vorstellungs-, Denk- und Sprechtätigkeit der Lernenden systematisch in den Unterweisungsund Lernvorgang einbezogen. Sicherheitsbarrieren. Sicherheitsbarrieren beziehen sich auf unterschiedliche miteinander verknüpfte Sicherheitseinrichtungen in Systemen mit hohem Gefährdungspotenzial, die die Systemsicherheit trotz sporadisch auftretender Fehlhandlungen und technischer Probleme gewährleisten sollen. Sie beinhalten insbesondere technische Sicherheitseinrichtungen (z. B. Alarmschaltungen), organisatorische Sicherheitsregelungen (z. B. Vorschriften für eine sichere Systemführung) und ausbildungsbezogene Maßnahmen (z. B. zur Erhöhung des Sicherheitsbewusstseins). Sicherheitskultur. Sicherheitskultur ist die Gesamtheit der von der Mehrheit der Mitglieder einer Organisation geteilten sicherheitsbezogenen Grundannahmen und Normen, die ihren Ausdruck im konkreten Umgang mit Sicherheit in allen Bereichen der Organisation finden. Sicherheitskultur ist außerdem als Gestaltungsvariable bzw. Leistung
in Organisationen mit hohen Gefährdungspotenzialen zu verstehen, die dazu dient, die Sicherheit des Gesamtsystems zu fördern. Sicherheitskritisches Verhalten. Unter sicherheitskritischem Verhalten ist Verhalten bzw. Handeln zu verstehen, das Gefahren auslöst bzw. die Person in den Wirkbereich von Gefährdungen bringt und somit zu gefährlichen Arbeitssituationen führt. Dies kann in mehr oder weniger bewusster bzw. beabsichtigter Form (riskantes, sicherheitswidriges Verhalten) oder nicht bewusster bzw. nicht beabsichtigter Form (fehlerhaftes Verhalten) geschehen. Sicherheitsunterweisungen. Sicherheitsunterweisungen werden durchgeführt, um Mitarbeiter zu Beginn der Beschäftigung und bei der Aufnahme neuer Tätigkeiten ausreichend und angemessen über die Gefahren und die Schutzmaßnahmen am Arbeitsplatz zu unterweisen. Signifikanz. Unter Signifikanz versteht man die statistische Wahrscheinlichkeit einer systematischen Beziehung von zwei oder mehr Variablen. Je höher die Signifikanz, desto geringer ist die Wahrscheinlichkeit, dass die Beziehung der Variablen rein zufällig ist. Ab einer zufälligen Restwahrscheinlichkeit von 5% spricht man von einem signifikanten Ergebnis. Simulationsorientierte Verfahren der Personalauswahl. Verfahren der Personalauswahl, die das Zielverhalten simulieren, wie z. B. Arbeitsproben oder das Assessment-Center. Bei diesen Verfahren können die Bewerber ihr maximales Leistungsvermögen zeigen. Situation Awareness. bezeichnet die kontinuierliche Aufmerksamkeitsverteilung über ein komplexes Situationsgeschehen, um ein tiefer reichendes Verständnis der aktuellen Vorgänge zu erhalten und um Erwartungen über das Voranschreiten des Geschehens zu entwickeln. Sie ist verbunden mit einer fortlaufend aktualisierten Wahrnehmung und Einschätzung der Situationsentwicklung. Situation Awareness wird als bedeutsame Kompetenz von Operateuren hochdynamischer Mensch-Maschine-Systeme aufgefasst (z. B. bei der Flugzeugführung), die diese befähigt, bereits erste, noch relativ »harmlose« Anzeichen für gefährliche Situationsentwicklungen frühzeitig wahrzunehmen und rechtzeitig Gegenmaßnahmen einzuleiten. Social Facilitation. Social Facilitation (oder Mere Presence) bezeichnet die Auswirkung der bloßen Anwesenheit anderer Menschen auf die individuelle Leistung. Bei der Ausübung einfacher, gut gelernter Tätigkeiten wirkt dies leistungssteigernd, bei neuen und komplexen Tätigkeiten dagegen leistungsmindernd. Soziales Kapital. Das soziale Kapital einer Person bezeichnet die Quantität und Qualität ihrer sozialen Beziehungen. Die PISA-Studie zeigte, dass das soziale Kapital der Herkunftsfamilie einen starken Einfluss auf die Schulleistungen und den Bildungserfolg der Kinder hat. Soziale Unterstützung. Soziale Unterstützung bezieht sich auf unterschiedliche Formen der sozialen und emotionalen Unterstützung durch andere, die als Moderatoren bei der Stressentstehung wirken. Diese Unterstützung kann sowohl durch Kollegen
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und Vorgesetzte am Arbeitsplatz geleistet werden (z. B. durch Wertschätzung) als auch durch die Familie bzw. das private Umfeld einer Person (z. B. durch Zuwendung). Durch die wahrgenommene Unterstützung erfährt die Person u. a. eine Aufwertung ihres Selbstwertes, was dazu führt, dass sie sich selbst als kompetent und den Anforderungen gewachsen einschätzt und sich durch schwierige Situationen weniger schnell verunsichern lässt. Soziale Unterstützung wirkt auch als Puffer zwischen Stressoren und Gesundheit (z. B. wenn Vorgesetzte den betroffenen Mitarbeiter aktiv unterstützen oder Orientierung in schwierigen Situationen geben). Soziale Validität von Auswahlverfahren. Ausmaß, in dem ein Auswahlverfahren Elemente beinhaltet (z. B. Ergebnisrückmeldungen, direkt erkennbarer Tätigkeitsbezug), die seine Akzeptanz bei den Bewerbern sichern bzw. erhöhen. Sozialkognitives Lernen. Beim Ansatz des sozialkognitiven Lernens geht es im Kern um Prozesse der Beobachtung und des Nachahmens von Verhaltensweisen anderer Menschen. Es wird angenommen, dass wir uns unser soziales, aber auch anderes (Arbeits-) Verhalten in hohem Maße über diese Form des Beobachtungsbzw. Modelllernens aneignen. Untersuchungen zeigen, dass die Ausrichtung der Aufmerksamkeit auf bedeutsame Verhaltensaspekte, die angemessene Einübung und Kodierung des beobachteten Verhaltens sowie Prozesse der stellvertretenden Verstärkung (hierbei wird beobachtet, wie die Modellperson verstärkt wird) und Selbstverstärkung (z. B. durch eigene Belohnung) zentrale Einflussfaktoren dieser Art des Lernens sind. Sozialkompetenz. Kooperative und kommunikative Fertigkeiten zur Realisierung von Zielen in sozialen Interaktionssituationen in einem bestimmten Tätigkeitsbereich. Soziotechnische Systemgestaltung. Der Grundgedanke dieses Ansatzes besteht darin, dass die in enger Beziehung zueinander stehenden Teilkomponenten eines soziotechnischen Systems – die Technik, die Organisation und der Mensch – nur gemeinsam optimiert werden können und sollten. Dabei sind folgende Prinzipien zu beachten: Bildung relativ unabhängiger Organisationseinheiten, denen ganzheitliche Aufgaben übertragen werden. Die verschiedenen Aufgaben bzw. Tätigkeiten in der Einheit sollten einen inhaltlichen Zusammenhang aufweisen, sodass das Bewusstsein einer gemeinsamen Aufgabe entsteht und die gegenseitige Unterstützung nahelegt. Der technisch-organisatorische Ablauf sollte schließlich so gestaltet sein, das das Arbeitsergebnis in seiner qualitativen und quantitativen Form auf die Organisationseinheit rückführbar ist. Unter Berücksichtigung dieser Prinzipien wird davon ausgegangen, dass die gemeinsame Optimierung von Technik, Organisation und Mensch besser gelingt und keine »technischen« Sachzwänge entstehen. Soziotechnische Systemtheorie. Die soziotechnische Systemtheorie postuliert, dass das soziale und das technische System nicht unabhängig voneinander sind und deshalb beide Systeme immer gemeinsam optimiert werden müssen. Spiele. Spiele in Organisationen bezeichnen die regelgebundene und zielbewusste Auseinandersetzung mit Aufgaben oder Men-
schen. Dabei lassen sich Spiele zum Aufbau von Macht, Spiele zum Widerstand gegen Autorität sowie – als Reaktion darauf – Spiele gegen Widerstandsspiele unterscheiden. Stichprobe. Als Stichprobe bezeichnet man die Teilnehmer einer Studie. Stress. Stress ist ein subjektiv intensiv unangenehmer Spannungszustand, der aus der Befürchtung entsteht, dass eine stark aversive, zeitlich nahe (oder bereits eingetretene) und lang andauernde Situation sehr wahrscheinlich nicht vollständig kontrollierbar ist, deren Vermeidung aber subjektiv wichtig erscheint. Stressimpfungstraining. Das Stressimpfungstraining steht für eine Kombination von verschiedenen Methoden zur Verbesserung des Umgangs mit Stresssituationen, das flexibel auf unterschiedliche Anwendungsbereiche (insbesondere im Arbeitsalltag) und Zielgruppen zugeschnitten werden kann. Es beruht auf dem transaktionalen Stressmodell von Lazarus. Der Begriff Stressimpfung verdeutlicht, dass vergleichbar mit einer medizinischen Impfung »psychologische Antikörper« mit dem Training aufgebaut und die Widerstandsfähigkeit der Teilnehmer gegenüber Stress erhöht werden soll. Das Stressimpfungstraining lässt sich in drei Phasen gliedern: In der Informationsphase werden die Teilnehmer eingeführt in das transaktionale Stressmodell und angeleitet, ihre eigenen Stressreaktionen und Bewältigungsstile in Stresssituationen zu analysieren. In der Lern- und Übungsphase werden neue und effektivere Bewältigungsstrategien erlernt und eingeübt. In der Anwendungs- und Posttrainingsphase wird schließlich der Transfer der erlernten Bewältigungsstrategien auf Alltagssituationen eingeübt. Stressoren. Stressoren sind Faktoren, die mit erhöhter Wahrscheinlichkeit Stress (oder Stressempfindungen) auslösen. Grob kann man hier zwischen Faktoren aus dem materiell-technischen System (z. B. Zeit- und Termindruck oder Lärm), Faktoren aus dem sozialen System (z. B. Konflikte in der Familie) und Faktoren aus dem personalen System (z. B. persönliche Dispositionen wie Ängstlichkeit) unterscheiden. Stressmanagementrainings. Gegenstand solcher Trainings ist das Erlernen von emotions- und problembezogenen Bewältigungstechniken zum besseren Umgang mit stressauslösenden Bedingungen und Situationen. Den Teilnehmern werden dazu Entspannungstechniken, Problemlöse- und Zeitmanagementtechniken und bestimmte Methoden der kognitiven Verhaltenstherapie (z. B. wie man Angstgedanken in sozialen Situationen durch Perspektivenwechsel und Gedankenexperimente reduzieren kann) vermittelt. Meist handelt es sich um eine Kombination von verhaltensund kognitionsbezogenen Trainingsmethoden, die mit Mitgliedern einer Berufsgruppe oder Beschäftigten einer Organisation über mehrere Wochen in 1- bis 2-stündigen Sitzungen pro Woche durchgeführt werden. Stressprävention. Stressprävention bezieht sich auf Konzepte und Maßnahmen, die einerseits das Entstehen von Stresssituationen wirkungsvoll reduzieren und andererseits Kompetenzen für einen besseren Umgang mit Stresssituationen vermitteln können. Man
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unterscheidet dabei zwischen Maßnahmen der Verhaltensprävention und Maßnahmen der Verhältnisprävention. Durch Maßnahmen der Verhältnisprävention sollen physische und psychosoziale Arbeitsbelastungen reduziert und gesundheitsbeeinträchtigende betriebliche Verhältnisse geändert werden, um aufseiten der Beschäftigten eine höhere Arbeitsmotivation und Arbeitszufriedenheit zu erreichen. Im Allgemeinen kann man dabei zwischen Maßnahmen unterscheiden, die an der Verbesserung der Arbeitsumgebung (z. B. verbesserte Arbeitsbedingungen) oder der Arbeitsaufgabe (z. B. durch Erweiterung von Handlungsspielräumen) ansetzen. Bei der Verhaltensprävention soll das Individuum befähigt werden, mit belastenden Arbeitsbedingungen erfolgreich umzugehen und gesund zu bleiben. Dabei sollen gesundheitsgefährdende Verhaltensweisen (z. B. Alkoholkonsum), Einstellungen und Haltungen (z. B. ungünstige Kontrollüberzeugungen) geändert werden. Zu diesen Maßnahmen gehören z. B. Kurse zur Ernährungsberatung, Rückenschule und zum Stressmanagement. Survey-Feedback. Beim Survey-Feedback werden mit den Methoden der empirischen Sozialforschung – schriftliche und mündliche Befragung, Vorgabe von Einstellungsskalen etc. – Daten erhoben (»survey research«) und die Ergebnisse anschließend an die Befragten rückgekoppelt (Feedback). Wird im Rahmen der Organisationsentwicklung gerne in der Phase des Auftauens verwendet, um Änderungen herbeizuführen.
und Kompetenzentwicklung verbunden sind. Selbst gestaltete, vielseitige und teamorientierte Arbeitsaufgaben bieten mehr Entwicklungsangebote und sind motivierender als fremdbestimmte, monotone und sozial isolierte Tätigkeiten. Einem größeren Tätigkeitsspielraum entspricht außerdem eine höhere Handlungsverantwortung, sodass sich Arbeitende außerdem mehr als Verursacher eigener Handlungen und eine größere Kontrolle über ihre Handlungen und Handlungsergebnisse erleben. Der Tätigkeitsspielraum setzt sich aus drei Komponenten zusammen: dem Handlungs-, Gestaltungs- und Entscheidungsspielraum. Taylorismus. Taylorismus bezeichnet ein Konglomerat von Methoden zur Steigerung des betrieblichen Outputs, wobei vier Prinzipien dominieren: Zergliederung der Arbeitsaufgaben, Auswahl und Schulung von Mitarbeitern, Trennung von Hand- und Kopfarbeit und Einvernehmen zwischen Arbeitgebern und Arbeitnehmern. Teamentwicklung. Teamentwicklung (Teambuilding) zielt auf soziale und aufgabenbezogene Prozesse innerhalb bereits bestehender Teams, um in direkter Interaktion mit den Teammitgliedern Barrieren abzubauen, Rollenbilder zu klären und zwischenmenschliche Beziehungen zu verbessern.
Systemsicherheit. Systemsicherheit ist eine Eigenschaft komplexer organisationaler Systeme mit hohem Gefährdungspotenzial (z. B. Kernkraftwerke), die es dem System gestattet, ohne größere Zusammenbrüche unter vorgegebenen Bedingungen und mit einem Minimum unbeabsichtigten Kontrollverlusts oder Schadens für die Organisation und die Umwelt zu funktionieren
Teilautonome Gruppen. Teilautonome Gruppen sind als sich selbst regulierende Arbeitsgruppen in der regulären Arbeitsorganisation verankert. Eine kleine Gruppe von Mitarbeitern, die konstant zusammenarbeitet, ist mehr oder weniger verantwortlich für die Erstellung eines kompletten (Teil-)Produktes oder einer Dienstleistung. Durch die Integration von indirekten Tätigkeiten, wie z. B. die Qualitätskontrolle oder kleine Wartungs- und Reparaturarbeiten geht es nicht nur um eine quantitative Arbeitserweiterung (Job Enlargement), sondern auch um eine qualitative Arbeitsbereicherung (Job Enrichment). Innerhalb der Gruppe findet außerdem ein regelmäßiger Wechsel zwischen den verschiedenen Arbeitsplätzen statt (Job Rotation). Entscheidendes Kennzeichen teilautonomer Arbeitsgruppen ist, dass die Planung, Steuerung und Kontrolle der übertragenen Aufgaben zumindest teilweise selbst durchgeführt wird.
Systemunfall. Systemunfall bezeichnet das Versagen eines (Sicherheits-)Systems mit hohem Gefährdungspotenzial (z. B. Kernkraftwerke), das weitreichende schädigende Konsequenzen nicht nur für das System selbst und seine Bediener, sondern auch für die Umwelt bzw. Nutzer des Systems hat.
Telearbeit, alternierende. Hiermit ist der systematische Wechsel zwischen Teleheimarbeitsplatz und betrieblicher Arbeitsstätte gemeint. Der Telearbeiter verrichtet seine Arbeit zu einem hohen Anteil an seinem Heimarbeitsplatz, ist aber weiterhin auch regelmäßig an seinem Arbeitsplatz im Betrieb.
Tätigkeit. Eine Tätigkeit ist auf einer höheren Ebene als die Handlung anzusiedeln und bezieht sich auf ein übergeordnetes Ziel oder Motiv. Das Motiv des Tätigwerdens ist auf ideelle oder materielle Gegenstände gerichtet, durch deren Veränderung individuelle und gesellschaftliche Bedürfnisse erfüllt werden. Eine Tätigkeit umfasst dabei sowohl geistig-mentale als auch praktische, gegenstandsbezogene Prozesse, welche den erwähnten Motiven oder Oberzielen zugeordnet sind.
Telearbeit, mobile. Dies ist die häufigste Form der Telearbeit. Jede Arbeit, die an einem mobilen Arbeitsplatz durchgeführt wird und durch die Unterstützung mobiler Informations- und Kommunikationstechnologie möglich ist, zählt zu dieser Kategorie (z. B. der Außendienstmitarbeiter einer Versicherung, der sich via Internet mit seinem Laptop in das Firmennetzwerk einloggt, um Verträge zu erstellen).
Symbolische Führung. Symbolische Führung setzt gezielt darauf, durch Führungsverhalten die Werte und Überzeugungen des Unternehmens zu symbolisieren. Wenn also durch symbolische Gesten, durch Gestaltung von Ritualen oder gezielten Einsatz von Artefakten bei Mitarbeitern ein erwünschter Eindruck erzielt werden soll, spricht man von symbolischer Führung.
Tätigkeitsspielraum. Das Tätigkeitsspielraumkonzept beinhaltet die grundlegende Annahme, dass unterschiedliche Spielräume bei der Arbeit mit verschiedenen Möglichkeiten zur Persönlichkeits-
Telearbeit vor Ort. Bei dieser Art von Telearbeit wird über längere Zeiträume am Standort des Kunden (z. B. ein Generalunternehmer) gearbeitet und über Telemedien ein enger Kontakt zur eigenen Organisation gehalten. Ein spezielles Beispiel für diese Art von
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Telearbeit ist, wenn Softwareentwickler oder Unternehmensberater für eine festgelegte projektbezogene Zeit am Kundenstandort arbeiten und sich primär über Telemedien mit ihrem eigenen Unternehmen austauschen. Teleheimarbeit. Hierunter versteht man Arbeiten, die an einem informationstechnisch vernetzten häuslichen Arbeitsplatz ausgeführt werden. Man spricht dann von Teleheimarbeit, wenn der Arbeitnehmer bzw. Auftragnehmer zu Hause arbeitet, anstatt zur Betriebsstätte des Arbeitgebers bzw. Auftraggebers zu pendeln. Telekooperation. Telekooperation bezieht sich auf die mediengestützte arbeitsteilige Leistungserstellung von individuellen Aufgabenträgern, Organisationseinheiten und Organisationen, die über mehrere Standorte verteilt sind. Telekooperation beinhaltet somit die Teilnahme an Arbeitsprozessen mithilfe von Computern und Telekommunikationsmedien, die unabhängig von bestimmten Arbeitsplätzen bzw. Orten und teilweise auch Zeiten erfolgt. Telemanagement. Unter Telemanagement versteht man Formen der Führung, mit denen über größere räumliche Distanzen eine verteilte Aufgabenerfüllung koordiniert und gesteuert werden kann. Telezentren. Hiermit sind Zentren gemeint, in denen Telearbeitsplätze gebündelt werden. Zum einen können dies Telearbeitszentren sein, d. h., verschiedene ausgelagerte Arbeitsplätze bzw. -stätten eines Unternehmens werden an einem Standort zusammengefasst. Zum anderen handelt es sich um Teleservicezentren, deren Ziel es ist, kundenorientierte Teledienstleistungen anzubieten. Test. Unter psychologischen Tests versteht man standardisierte, routinemäßig anwendbare Verfahren zur Messung individueller Verhaltensmerkmale, aus denen Schlüsse auf Eigenschaften der betreffenden Person oder ihr Verhalten in anderen Situationen gezogen werden können. Es handelt sich dabei häufig um publizierte Verfahren, die über den Testhandel bezogen werden können. Testfairness. Die Ähnlichkeit der Validität eines Tests in unterschiedlichen Bewerbergruppen, sodass keine Bewerbergruppe durch den Test systematisch diskriminiert wird. T-Gruppen. T-Gruppen (auch Sensitivity-Training oder Laboratoriumsmethode genannt) wurden entwickelt mit dem Ziel, Menschen die Möglichkeit zu geben, effektiver mit menschlichen Beziehungen und Problemen umzugehen. In T-Gruppen gelten die Prinzipien der Unstrukturierheit der Situation (die Mitglieder haben keine gemeinsame Vergangenheit und keine gemeinsame Zukunft), Hier und Jetzt (es darf nur über die aktuellen Vorgänge in der Gruppe gesprochen werden) und Feedback (die Teilnehmer geben sich wechselseitig Rückmeldung darüber, wie sie die anderen sehen). Theorie. Eine Theorie stellt in der wissenschaftlichen Psychologie ein Modell zur Erklärung eines bestimmten Phänomens dar. TOTE-Modell. Das TOTE- bzw. Test-Operate-Test-Exit-Modell entstammt der Kybernetik und stellt eine Erweiterung behavioristischer Reiz-Reaktions-Modelle dar. Es wurde zur Untersuchung
zielstrebigen Verhaltens eingeführt, und diente dazu, menschliches (Arbeits-)Handeln unter Berücksichtigung der jeweiligen Situation ganzheitlich zu erklären. Verhalten ist gemäß dem TOTE-Modell hierarchisch organisiert und läuft nach folgendem Muster ab: In einem ersten Schritt erfolgt ein Vergleich zwischen Soll- und Ist-Situation (Test 1). Daran schließt sich eine bestimmte Operation an, durch welche die Umwelt verändert wird (Operate 1). Hiernach erfolgt eine Rückmeldung über das erzielte Veränderungsresultat (Test 2). Diese Test-und-Operate-Einheiten wiederholen sich so lange, bis das gewünschte Resultat erreicht wird (Exit). Tradeoff im Verhandlungsprozess. Dieser Begriff kennzeichnet eine bestimmte Technik im Rahmen des integrativen Verhandelns. Jede Verhandlungspartei bildet zunächst eine Rangfolge ihrer Interessen. Anschließend tauschen die Parteien systematisch Zugeständnisse aus und zwar so, dass die erste Partei in einem unwichtigen Punkt nachgibt, der für die Gegenseite von großer Bedeutung ist, während die zweite Partei ihrerseits in einem bedeutungslosen Punkt nachgibt, welcher der ersten Partei wichtig ist. Training. Unter Training wird die systematische Aneignung von Wissen, Fähigkeiten oder Einstellungen verstanden, die zu effektiven bzw. besseren Leistungen bei einer beruflichen Tätigkeit führen. Trainingseffektivität. Der Erfolg beruflicher Aus- und Weiterbildungsmaßnahmen ist nicht nur von einer fundierten und effektiven Analyse, Konzeption und Durchführung der Maßnahmen abhängig, sondern wird darüber hinaus auch von bestimmten personen- und organisationsbezogenen Einflussfaktoren geprägt. Bestimmte personale Charakteristika üben Einfluss aus, indem sie das Lernverhalten während des Trainings mitbestimmen und die Anwendung bzw. den Transfer des Gelernten unterstützen oder beeinträchtigen. Hierzu gehören z. B. die kognitiven Fähigkeiten von Lernenden, Persönlichkeitseigenschaften (z. B. Gewissenhaftigkeit), arbeitsbezogene Einstellungen oder die Trainings- und Transfermotivation. Neben den personalen Faktoren sind es bestimmte organisationale Merkmale, die auf das Lernverhalten und die Lernerfahrungen sowohl direkt als auch vermittelt über die Trainingsmotivation und die Erwartungen und Einstellungen gegenüber den Aus- und Weiterbildungsmaßnahmen Einfluss ausüben. Hierzu gehören beispielsweise die Erwartungen des Unternehmens in Bezug auf Aus- und Weiterbildung der Mitarbeiter, die Form der Teilnehmerrekrutierung sowie finanzielle und zeitliche Restriktionen in Bezug auf Art und Form des Lernens. Trainingsevaluation, Ebenen. Trainingseffekte können in Anlehnung an das Evaluationsmodell von Kirkpatrick auf vier unterschiedlichen Ebenen oder Arten von Effekten erfasst werden: Trainingsbewertungen (Aspekte der Zufriedenheit mit dem Training bzw. ausgewählten Gestaltungselementen und Aspekten zur Bewertung von Nutzen oder Relevanz des Trainings), Lernresultate (Kenntnisse, Fähigkeiten und Einstellungen, die im Training tatsächlich erlernt wurden), Transferleistungen (Verhaltensänderungen, die auf das Arbeitshandeln übertragen werden) und organisationale Effekte (nehmen Bezug auf die Ziele der Organisation, die mit der Durchführung der Trainings verbunden sind).
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Trainingsmotivation. Trainingsmotivation wird definiert als Richtung, Intensität und Ausdauer mit der Individuen Lernaktivitäten vor, während und nach einem Training ausüben. Vor einem Training ist sie vor allem gekennzeichnet durch die Erwartungen, die mit dem Training verbunden werden. Insbesondere der erwartete Nutzen in Bezug auf die Erfüllung eigener Ziele (z. B. die Kundenbindung zu erhöhen) wirken mit bei der Entscheidung, an einem Training teilzunehmen, sich aktiv und engagiert zu beteiligen und das Erlernte anzuwenden. Trainingssimulatoren. Trainingssimulatoren zeichnen sich dadurch aus, dass sie in der Lage sind, eine Arbeits- bzw. Systemumgebung synthetisch wiederzugeben und dabei auch die Systemdynamik widerzuspiegeln. Ziel der Darstellung ist insgesamt die Realisierung einer hohen Realitätsnähe in Bezug auf die Systemund Aufgabenanforderungen, um sowohl spezifische Fertigkeiten als auch komplexere Fähigkeiten zur Aufgabenbewältigung anwendungsnah zu üben. Simulatoren für Trainingszwecke besitzen darüber hinaus Möglichkeiten zur lehr-/lernbezogenen Gestaltung der Simulation (z. B. bezüglich des Feedbacks). Trait (Persönlichkeitsmerkmal). Relativ stabiles, globales psychologisches Temperamentsmerkmale von Personen wie z. B. emotionale Stabilität, Extraversion, Offenheit für Erfahrung, Gewissenhaftigkeit oder Umgänglichkeit. Transfersicherung. Bei Personalentwicklungs- und Trainingsmaßnahmen ist darauf zu achten, dass und in welchem Ausmaß die durchgeführten Interventionen auch zu Konsequenzen im Arbeitsfeld und in den Tätigkeiten der betroffenen Personen führen. Transaktionale Führung. Transaktionale Führung beruht auf dem lerntheoretischen Prinzip der Verstärkung: Die Führungskraft kontrolliert sowohl den Weg, den die Mitarbeiter bei der Verfolgung ihrer Ziele einschlagen, als auch die Zielerreichung. Transformationale Führung. Transformationale Führung setzt bei der normalen Anstrengung der Mitarbeiter an und erhöht – d. h. transformiert – sie zu einer Extra-Anstrengung. Trefferquote. Anzahl der geeigneten Bewerber im Verhältnis zur Gesamtzahl eingestellter Bewerber. Typ-A-Verhalten. Dieses Verhaltensmuster zeichnet sich durch eine hohe Leistungs- bzw. Wettbewerbsorientierung, beruflichen Ehrgeiz, verstärktes Konkurrenzverhalten, Ungeduld, ständige Kontrollambitionen und einen erhöhten Muskeltonus aus. Personen mit Typ-A-Verhalten haben zudem häufig ein labiles Selbstwerterleben. Dieses Verhaltensmuster wurde zuerst bei Herzpatienten beobachtet, was zu der Annahme führte, dass Personen mit Typ-A-Verhalten anfälliger für Stress und damit einhergehende längerfristige körperliche Beschwerden sind. Neuere Untersuchungen haben jedoch ergeben, dass eher Aggression, Misstrauen und Feindseligkeit und weniger Wettbewerbsorientierung, beruflicher Ehrgeiz und Ungeduld für die längerfristigen körperlichen Symptome wie Herz- und Kreislaufkrankheiten ausschlaggebend sind.
Unfallrate. Die Unfallrate bezeichnet die relative Häufigkeit bzw. Anzahl von Unfällen in einem Zeitraum für eine bestimmte Personengruppe. Sie wird auf der Grundlage quantitativer Unfalldokumentationen bestimmt. Unfalluntersuchung. Mithilfe einer Unfalluntersuchung sollen Erkenntnisse über Umstände und Ursachen der zu einem bestimmten Unfall führenden Gefahren gewonnen werden. Die Unfalluntersuchung wird von einer betrieblichen Fachkraft für Arbeitssicherheit und/oder dem Vorgesetzten der verunglückten Person durchgeführt. Zur Untersuchung des Vorfalls und zur Erstellung des Unfallberichts sind eine Ortsbesichtigung mit Beweisaufnahme (Unfallskizze, Fotografieren des Unfallorts, Überprüfung der Funktionsfähigkeit von Geräten etc.) und eine Befragung zum Unfallhergang durchzuführen. Abschließend ist ein Unfallbericht zu erstellen, der Unfallhergang und -folgen detailliert beschreibt, Auskunft gibt über technische, verhaltensbezogene und organisatorische Unfallursachen sowie Maßnahmen zur Verhinderung ähnlicher Unfälle in Zukunft benennt. Unfallursachen. Unfallursachen beziehen sich auf die unfallauslösenden Faktoren. Jeder Unfall hat meist mehrere Ursachen, wobei diese meist in gefährlichen Zuständen oder Eigenschaften der Arbeitsumwelt und risikoreichen Verhaltensweisen, Unterlassungen oder Vorgängen der unmittelbar und indirekt beteiligten Personen liegen. Grob kann man zwischen personengebundenen, organisatorischen und technischen Ursachen unterscheiden. Auch wenn menschliches Fehlverhalten oft eine unmittelbar auslösende Funktion bei Unfällen hat, sind es meist bestimmte Verknüpfungen oder Verkettungen von Ursachen, die zum Unfall führen. Unfallverhütung. Um Unfälle zu verhüten und Arbeitssicherheit zu gewährleisten, ist ein systematisches Vorgehen erforderlich, das die Schritte Ermittlung und Analyse der Gefahren und Gefährdungen, Ableitung und Festlegung von Schutzzielen, Planung und Durchführung von Maßnahmen zur Erreichung der Schutzziele sowie die Erfolgskontrolle der umgesetzten Arbeitssicherheitsmaßnahmen beinhaltet. Uno-Aktu-Prinzip. Das Uno-Aktu-Prinzip besagt, dass bei der Erstellung von Dienstleistungen Produktion und Konsumtion räumlich und zeitlich zusammenfallen. Urteilstendenzen bei der Leistungsbeurteilung. Zur Mittelwertstendenz gehören die Milde- und Stengetendenz. Varianzeinschränkungen bei Leistungsbeurteilungen bezeichnet mal als Streuungstendenz. Den Halo-Effekt bezeichnet man als Korrelationstendenz. Validität. Nach traditionellem Verständnis ist die Validität eines Instrumentes dann gegeben, wenn ein Instrument das gültig bzw. zutreffend erfasst, was es erfassen soll. Als Validität bezeichnet man daher die Gültigkeit von Schlussfolgerungen, die bei Vorliegen eines bestimmten Ergebnisses gezogen werden dürfen. Ist beispielsweise eine Skala zur Leistungsmessung valide, dann kann man aus einem Skalenwert, der im Bereich der höchsten 10% liegt, schließen, dass eine Person, die einen solchen Skalenwert hat, zu den 10% der Leistungsbesten gehört.
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Validitätsgeneralisierung. Möglichkeit zur Verallgemeinerung von Befunden aufgrund eines metaanalytischen Verfahrens nach Hunter und Schmidt auf eine Grundgesamtheit über unterschiedliche Situationen und Stichproben hinweg. Variable. Eine Variable ist ein Merkmal eines Sachverhaltes (z. B. ein Trainingsprogramm für Mitarbeiter) oder von Personen (z. B. die Leistung eines Mitarbeiters), das unterschiedliche Ausprägungen hat. Vergleichs-Veränderungs-Rückkopplungs-Einheiten. Sie entsprechen inhaltlich den TOTE-Einheiten und stellen in sich vernetzte und hierarchisch organisierte zyklische Einheiten der Handlung dar. Unter zyklischen Einheiten sind Grundbausteine menschlichen Handelns zu verstehen, die aus einem Ziel bzw. Zwischenziel sowie mehreren Transformationen, die auf das Ziel bezogen sind, bestehen. Im Unterschied zu den TOTE-Einheiten nehmen die Vergleichs-Veränderungs-Rückkopplungs-Einheiten Bezug auf Ziele als Resultate und Vergleichsmuster des Handelns und weisen deutlicher auf umweltverändernde Wirkungen des Handelns hin. Verhaltensorientierte Maßnahmen der Personalentwicklung. Diese Maßnahmen umfassen die Verhaltensmodellingung, simulationsorientierte Verfahren sowie die Fallstudienmethode. Verhandeln. Verhandeln bezeichnet den Versuch zweier Parteien, einen Verteilungskonflikt – einen Streit um die Aufteilung knapper Ressourcen – durch das wechselseitige Kommunizieren von Angeboten und Zugeständnissen beizulegen. Die Parteien tauschen Vorschläge und Gegenvorschläge aus, bis eine Lösung bzw. Vereinbarung gefunden ist, die von beiden Seiten akzeptiert werden kann. Nehmen die Verhandlungspartner hierbei die Unterstützung einer neutralen dritten Partei in Anspruch, wird von Mediation gesprochen. Der Mediator steuert den Kommunikations- und Verhandlungsprozess mit dem Ziel, eine allseits zufriedenstellende Konfliktlösung herbeizuführen; die Entscheidungsmacht verbleibt bei den Konfliktparteien. Man spricht von integrativem Verhandeln, wenn die Parteien versuchen die Menge der aufteilbaren Ressourcen kooperativ zu vergrößern und die Erträge aller Parteien zu maximieren. Virtualisierung. Virtualisierung ist eine aufgabenorientierte Vernetzung von räumlich verteilten Organisationseinheiten (oft über Ländergrenzen hinweg), die sich als Partner an einem arbeitsteiligen Wertschöpfungsprozess verstehen. Virtuelle Teams. Virtuelle Teams sind flexible Gruppen standortverteilter und ortsunabhängiger Mitarbeiter, die auf der Grundlage von gemeinsamen Zielen bzw. Arbeitsaufträgen geschaffen werden und informationstechnisch vernetzt sind. Vollständige Aufgabe bzw. Tätigkeit. Das Konzept der vollständigen Aufgabe bzw. Tätigkeit beschreibt, welche Merkmale bei der Gestaltung von Arbeitsaufgaben im Sinne einer persönlichkeitsförderlichen Arbeitsgestaltung berücksichtigt werden sollten. Dazu gehört die Möglichkeit, eigenständig Entscheidungen zu treffen (z. B. Ziele zu setzen, Arbeitsmittel auswählen) und Arbeitstätigkeiten mit planenden, ausführenden und kontrollierenden Aufgaben auszuführen. Neben einer zyklischen Vollständigkeit, d. h., ob
Anteile aller Handlungsphasen bei der Tätigkeit im beschriebenen Sinne vertreten sind, wird zusätzlich eine hierarchische Vollständigkeit von Aufgaben gefordert. Hierunter wird das Ausmaß, in dem wechselnde Anforderungen der Handlungsregulation auf unterschiedlichen Regulationsebenen (sensumotorische, perzeptivbegriffliche und intellektuelle Regulationsebene) gegeben sind, verstanden. Weiterbildung. Unter Weiterbildung versteht man Lernaktivitäten von Personen zur Weiterentwicklung von Qualifikationen bzw. Kompetenzen im Anschluss an grundlegende berufliche Ausbildungsphasen. Wissen. Unter deklarativem Wissen wird Wissen über die Realität verstanden, welches der Mensch in der Lage ist mitzuteilen. Dies kann auf der einen Seite die Erinnerung an ein (Arbeits-)Ereignis der vergangenen Tage sein (sog. episodisches Wissen), aber auch das Wissen über Aufbau und Funktionsweise einer bestimmten Maschine (sog. semantisches Wissen). Mit prozeduralem Wissen ist Wissen in Form von Handlungsabläufen gemeint (insbesondere Bedienungswissen, z. B. wie eine Fertigungsmaschine zu Beginn der Schicht angefahren wird). Dieses Wissen entsteht über die Wiederholung und »Einübung« von Handlungsabläufen oder durch wiederholten Umgang mit bestimmten Situationen. Implizites Wissen beschreibt die Nutzung von Informationen, die wahrgenommen, jedoch nicht bewusst gespeichert wurden (z. B. in Bezug auf Motorengeräusche, die Hinweise auf den Regelungsbedarf der Motorkraft geben). Explizites Wissen beschreibt hingegen den bewussten Abruf vorher eingeprägter Informationen (z. B. in Bezug auf Werte zur Justierung von Messvorrichtungen). Wissensarbeiter. Wissensarbeiter sind hoch qualifizierte Fachkräfte, mit theoretischem und analytischem Wissen, welches sie für die Entwicklung neuer Produkte und Serviceangebote verwenden. Die von ihnen ausgeführte Wissensarbeit ist meist eine komplexe und auf spezifische Kontexte bezogene Arbeit. Hiermit sind meist Aufgaben bzw. Tätigkeiten mit seltenen oder wenig wiederkehrenden Abläufen verbunden. Das zur Aufgabenbewältigung bzw. Problemlösung erforderliche Wissen wird in solchen beruflichen Kontexten nicht allein durch eine Fachausbildung oder Professionalisierung erworben und dann angewendet. Vielmehr erfordert Wissensarbeit, dass das relevante Wissen kontinuierlich revidiert, permanent als verbesserungsfähig angesehen, prinzipiell nicht als Wahrheit, sondern als Ressource betrachtet wird und mit Nichtwissen bzw. Wissensunschärfen gekoppelt ist. Wissensschemata. Wissensschemata sind Wissensstrukturen, in denen aufgrund von Erfahrungen typische Zusammenhänge eines Realitätsbereichs repräsentiert sind (z. B. die Qualitätsmerkmale eines Produkts). Dazu gehört auch das Wissen über häufig wiederkehrende Handlungs- bzw. Ereignisfolgen (z. B. wie man einen Brief schreibt). In Schemata ist vorwiegend begriffliches Wissen repräsentiert. Work-Life-Balance. Der Begriff der Work-Life-Balance bezieht sich auf Fragestellungen, die die Qualität und das Verhältnis verschiedener Lebensbereiche betreffen. Häufig wird im Bereich der WorkLife-Balance das Verhältnis von Arbeit und Freizeit, Arbeit und Familie sowie die Arbeitszeitforschung thematisiert. Im Bereich der
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Arbeitszeitforschung geht es darum, welche Auswirkungen die Entgrenzung (z. B. durch die orts- und zeitunabhängige Nutzung von Informationstechnologien) der Arbeitszeit auf die Abgrenzung einzelner Lebensbereiche hat. Untersucht wird dabei, wie Menschen Grenzen zwischen der Arbeit und anderen Lebensbereichen ziehen und wie flexibel und durchlässig diese Grenzen sind. Arbeit und Freizeit im Sinne einer »guten« Work-Life-Balance miteinander in Einklang zu bringen, wird darüber hinaus häufig als persönliche Leistung angesehen. Unter einer praktischen Perspektive beinhaltet Work-Life-Balance somit Strategien und Programme, in der Freizeit selbstständig Erholungsmöglichkeiten zu schaffen oder Konflikte zwischen Erwerbs- und Privatleben zu vermeiden. Zurechnungsproblem der Leistungsbeurteilung. Das Zurechnungsproblem der Leistungsbeurteilung besteht darin, dass in der Regel nicht beurteilt werden kann, ob Leistungsunterschiede zwischen Personen durch unterschiedliches Leistungsverhalten oder durch unterschiedlich günstige situative Bedingungen zustande gekommen sind. Deswegen wird nicht die objektive Leistung, sondern das Leistungsverhalten beurteilt. Zwei-Faktoren-Theorie. Die Zwei-Faktoren-Theorie stellt die Inhalte der Arbeitstätigkeit als zentralen Einflussfaktor der Arbeits-
motivation heraus. Die grundlegende Annahme dieses Ansatzes beinhaltet, dass bestimmte Merkmale der Arbeitsumgebung (Kontextfaktoren) bei unzureichender Ausprägung Unzufriedenheit aber keine bzw. nur begrenzt Arbeitszufriedenheit hervorrufen, während andere Merkmale, die mit dem Arbeitsinhalt (Kontentfaktoren) verknüpft sind, Leistungsmotivation und Arbeitszufriedenheit bei einer günstigen Ausprägung erzeugen. Zwischenfallmanagement. Zwischenfallmanagement beinhaltet Maßnahmen und Fähigkeiten zum effektiven Umgang mit kritischen Situationen und Notfallereignissen in hochriskanten Arbeitsfeldern (z. B. bei der Narkoseführung im Rahmen von Operationen). Zwischenfallmanagementtraining. Zwischenfallmanagementtraining beinhaltet Trainingsmaßnahmen zum Erwerb von Kompetenzen für das Zwischenfallmanagement relativ seltener, aber hochriskanter Ereignisse. Es erfolgt meistens auf der Basis simulierter Zwischenfallszenarien. Das Training dient zur Sensibilisierung für zwischenfallkritische Einstellungen und Verhaltensweisen, zum Erwerb und zur Veränderung zwischenfallrelevanten Problemlöseverhaltens, zum Training von situationsrelevanten Stressbewältigungsstrategien und zum Training notfallrelevanter Kommunikations- und Teamverhaltensweisen.
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Sachverzeichnis A Abbild, bewegungsorientiertes 344 Abbildsystem, operatives 345, 347, 468 A-priori-Strategie 268 Absentismus 162, 434 Abwärtsmobilität 193 Adaptationssyndrom, allgemeines 517, 523 Affektivität 433 – negative 433, 493 – positive 433, 493 Aggression am Arbeitsplatz 453 Aktionsforschung 162 Aktivierung 515 Akzeptanz 221 – durch die Bewerber 237 Anerkennung, soziale 529 Anforderung 350, 358, 366, 464, 516 – Denk- 366 – emotionsregulatorische 393 – geistige 350 – kognitive 358, 394 – Planungs- 366 – psychische 516 Anforderungs-Kontroll-Modell 519 Anforderungs-Konzept 516, 519 Anforderungsanalyse 210-220, 356 Anforderungsart 218 Anforderungsprofil 210 Anforderungsvielfalt 384 Angst, soziale 112 Annäherungsverhalten 584–585 Anpassungsqualifizierung 476 Anreiz 6, 427 – motivationaler 6 Ansatz , multimodaler-multimethodaler 221 Antworttendenz 360, 363 – sozial erwünschte 360 Anwerbungsertragspyramide 226, 227 Aptitude 197 Aquatel-Studie 548, 549 Arbeit – Stellenwert 5, 189-191 – stressrelevanter Aspekt 366 Arbeitsablauf 379 Arbeitsanalyse 354 – bedingungsbezogene 356 – Methode 359 – personenbezogene 212-213, 215-220, 356
– psychologische 354 – zeitliche und personelle Ressourcen 372 Arbeitsanalyseverfahren 356 – bedingungsbezogene 363, 364, 366 – funktionsorientierte 358 – informationstheoretisch orientierte 358 – methodisches Problem 363 – motivationspsychologisch orientierte 358 – Objektivität 372 – personenbezogene 215-220, 363, 368 – Reliabilität 372 – tätigkeitstheoretisches Konzept 359 – theoretische Fundierung 358 – Validität 372, 373 – Ziel 356 Arbeitsanalytiker 374 – Interrater-Reliabilität 374 Arbeitsaufgabe 7, 354, 357, 365, 383, 384, 394, 469 – ganzheitliche 394 – hierarchische Vollständigkeit 385 – komplexe 469 – lernförderliche 461 – persönlichkeitsförderliche 357 – stufenkennzeichnende Merkmale 365 – vollständige 384 – zyklische Vollständigkeit 385 Arbeitsauftrag 383, 403 Arbeitsbewertung 370 – Referenzwert 371 Arbeitsengagement 285 – freiwilliges 449 Arbeitsform 14, 391 – gruppenorientierte 402 – neue 391 – telekooperative 14 Arbeitsgedächtnis 337 Arbeitsgestaltung 24, 346, 357, 378 – biologisch orientierter Gestaltungsansatz 393 – differenzielle 387 – dynamische 387 – flexible 387 – Gegenstandsbereich 378 – gesundheitsförderliche 381, 388 – korrektive 386 – humane – – Kriterien 370 – lernförderliche 381 – mechanistisch orientierte Gestaltungsperspektive 393
– menschengerechte 409 – mitarbeiterbezogene Ziele 379, 388 – motivational orientierter Gestaltungsansatz 385, 393 – persönlichkeitsförderliche 381, 383 – präventiv-prospektive 388 – präventive 386 – prospektive 387, 391 – tätigkeits- und handlungstheoretisch fundiertes Konzept 383 – tayloristische 393 – unternehmensbezogene Ziele 380 – wahrnehmungsbezogen-motorisch orientierter Gestaltungsansatz 394 – wirtschaftliches Ziel 388 Arbeitsgruppe 414 – Ausmaß der Zusammenarbeit 404 – Autonomie 412 – definitorische Merkmale 403 – gemeinsames Ziel 404 – Gruppengröße 404 – in die Arbeitsorganisation integrierte 405 – Klassifizierung 404 – nicht in die Arbeitsorganisation integrierte 405 – Rollenverteilung 404 – Selbstregulation 411 – teilautonome 163, 409, 410, 416 – – Ausprägungsform 413 – – Autonomiegrade 412 – – Evaluation 414 – – Merkmal 410 – Wir-Gefühl 404 – Zeitdauer der Zusammenarbeit 404 Arbeitshandeln 340 Arbeitsinhalt 379 Arbeitskraftunternehmer 541 Arbeitsmarkt – externer 231 – interner 231 Arbeitsmittel 379, 390 Arbeitsmotivation 24, 162, 369, 385 – intrinsische 385 Arbeitsorganisation – Form 387, 388 Arbeitsplatz 379 – ergonomische Gestaltung 546 – Klima am 361 – unzivilisiertes Verhalten am 453 Arbeitsplatzbeobachtung 360 Arbeitsplatzexperten 221 Arbeitsplatzunsicherheit 201–204 541
A
624
Sachverzeichnis
Arbeitsprobe 249, 477 Arbeitsschutz 357, 487 Arbeitssicherheit 487 Arbeitsstandard 415 Arbeitsstruktur 14, 394 – flexibilisierte 14 – hoch arbeitsteilige 394 Arbeitssystem 382 – hochtechnisiertes 402 Arbeitstätigkeit 7, 340, 380 – Entwicklungspotenzial 475 – Gestaltungsmerkmal 396 – Lernpotenzial 475 – Motivationspotenzial 358, 368, 393 – partialisierte 395 Arbeitsteam (7 auch Arbeitsgruppe) 405 Arbeitsteilung 5 Arbeitsumgebung 354, 379, 390 Arbeitsunfall 486 – Betrachtungsebene 489 Arbeitsverhalten, abweichendes 453 Arbeitszeit 379 Arbeitszufriedenheit 56, 88, 94, 140, 149–153, 164, 427–434 – Arbeits-Beschreibungs-Bogen (ABB) 428 – Facettenanalyse 149, 150 – globale 428, 433 – Zwei-Faktoren-Theorie 385, 429–431 Arbeitszyklus 415 ASCOT-Leitlinie 507 Assessment-Center 36, 251 – Beobachtertrainings 251 – Disputation 251 – Gruppendiskussion 251 – Postkorbübung 251 – Präsentationsübung 251 – Rollenspiel 251 Attraction-selection-attrition-Modell 76 Aufbauorganisation 50 Aufgabe 341, 383, 413, 465 – entwicklungsförderliche 314 – ganzheitliche 413 – unvollständige 385 – vollständige 346, 383 Aufgabenanalyse 49, 338, 371, 465 – kognitive 338 – psychologische 371 Aufgabenerweiterung 386 – horizontale 385 – qualitative 386 – quantitative 386 – vertikale 386 Aufgabengestaltung 346, 384 – ganzheitliche 346 – restriktive 394 Aufgabengliederungsplan 49 Aufgabeninventar 465
Aufgabenmerkmal 368 Aufgabensynthese 50 Aufklärung 30 Ausbildung, berufliche 460, 462 Ausbildungsbeauftragter 461, 476 Ausführbarkeit 370, 379 Auswahlentscheidungen 264 – false accecpts 264 – false rejects 264 – geeignete Abgelehnte 265 – geeignete Akzeptierte 265 – institutionelle Fehler von 264 – true accepts 264 – true rejects 264 – ungeeignete Abgelehnte 265 – ungeeignete Akzeptierte 265 Auswahlinterview 250 – multimodales 250 Auswahlverfahren, soziale Validität 237 Autonomie 384, 386, 432–433
B Basisrate 226, 228, 267 – Erhöhung 228 Beanspruchung 362, 392, 514 – psychische 392, 515 Beanspruchungsanalyse 389 – prospektive 389 Beanspruchungskonzept 515 Beeinträchtigungsfreiheit 370, 379 Befragung – mündliche 372 – schriftliche 363, 372 Befragungsmethode 359 – schriftliche 359 Behaviorally anchored rating scale (BARS) 287 – Einstufungsverfahren 287 – Verhaltensbeobachtungsskalen 287 – verhaltensverankerte Einstufungsskalen 287 Behavior expectation skale (BES) 288 Behavioral observation scale (BOS) 287 Behaviorismus 328 Behavior Modeling Training 306, 332, 470, 471 – Ablauf 471 – Lernpunkte 306 Beinaheunfall 487, 508 Belastung 393, 410, 514- 516, 519 – körperliche 393 – psychische 514, 517 Belastungs-Beanspruchungs-Modell 328 Belastungsfaktor 362, 516 Beleuchtungsverhältnisse 361
Beobachtungsinterview 360, 363, 365 Beobachtungslernen 332 Beobachtungsmethode 360 Beratung 245 Berichtskultur 505 Beruf 189 Berufsberatung 211 Berufsfindung 196, 199 – Haupthindernis 199 – Laufbahnproblembelastung 199 Berufsforschung 358 Berufskrankheit 487 Berufswahlreife 196 Berufswunsch 194 Beschäftigungsfähigkeit 15, 210–203, 463, 541 Beschäftigungsverhältnis, prekäres 201 Beschwerdeanalyse 577 Beschwerden 357 – körperliche 357 Betriebsführung, wissenschaftliche 52 Betriebsklima 137, 148–153 Beurteilungsfehler 290 – Akkuratheit 290 Beurteilungsverfahren 281 – Aussagelisten 282 – einfache Rangreihenbildung 283 – Einstufungsverfahren 284, 288 – forced-distribution method 283 – freie Eindrucksschilderung 282 – graphische Einstufung 284 – Paarvergleichsmethode 284 – Rangbildungen mit Quotenvorgaben 283 – Rangordnungsverfahren 283 – Rating 284 – Verfahren der erzwungenen Verteilung 283 Bewältigungsstrategie 518 Bewegungskoordination 344 Bewerberansprache 235 – im Internet 229 Bewerberstichprobe, Vorselektion 229 Big-Five 215–216, 300–301, 492 Bildschirmarbeitsplatz 390, 546 Bildungschancen 193 Bildungsplanung 212 BMS II 391 Brainstorming 109, 166 Bullying 453 Burnout 524, 525, 564–565 Büroarbeit 392 Bürokratietheorie 53
625 Sachverzeichnis
C Callcenter 388, 391 Callcenteragent 390 Callcenterarbeitsplatz 392 Callcentertätigkeit 391 Ceteris-paribus-(c. p.-)Bedingung 34 Change Management 160, 177 – partizipatives 177 Charisma 89, 94 Coaching 163, 291, 316 – Hintergrund 317 – Methoden 317 Commitment 84, 164 – affektives 84 – kalkulatives 84 – normatives 84 – organisationales 542 Coping 521 – emotionsbezogenes 521 – problembezogenes 521 Coping-Stil 521
D Datenschutz 547 Debriefing 472 Denkfehler 498 Denkprozess 364 Depersonalisation 524, 525 Design, prädiktives 37 Dienstleistung 558–568 – (s)gesellschaft 558 – Koproduktion 561, 564 – persönlich-interaktive 559–560 – problemorientiert-interaktive 559–560 – unterstützend-interaktive 559 Dienstleistungsklima 149, 581–584 – Dimensionen 582–583 – Gestaltung 583 Dienstleistungsmarketingmix 580–581, 584 – Person 580–581, 588–592 – Prozess 580–584 – Umfeld 580–581, 584–588 Dienstleistungsorientierung 590 Dienstleistungsqualität 8, 451, 568, 572–578, 580–591 – Erfahrungsqualität 572–573 – Motivatoren-Hygienefaktoren-Modell 575 – Prüfqualität 572–573 – Vertrauensqualität 572–573 Dienstleistungstätigkeit 6, 8, 14 – räumliche Gestaltung 585–586
– Ambiente 585 – Artefakte 585–586 – Raum/Funktion 585 – Symbol 585–586 – Zeichen 585–586 DIN zur Eignungsbeurteilung (DIN 33430) 258 Diskonfirmationsparadigma 573–575 Diskriminierung, ungerechtfertigte 269 Dissonanz, emotionale 392, 564 Distress 525 Diversity 14, 114 Doppelanalyse 39, 373 – unabhängige 373 – vollständige 39 – vollständige Wiederholungsanalyse 39 Dual-Concern-Modell 128
E Eichung 257 Eignungsanforderung 212–213, 357 Eignungsdiagnostik 24, 212–213, 245–272 Einflusstaktik 98 Einheit, zyklische 342 Einsatzflexibilität 411 Einstufungsskala 366 Einstufungsverfahren 288 Einzelunfalluntersuchung 489 E-Learning 473 – Blended Approaches 475 – netzbasierte Formen 474 – nicht netzbasierte Formen 473 Entlohnungssystem 358, 420 Entscheidungskompetenz 411, 413 Entscheidungsspielraum 347, 383, 396, 519 Entscheidungstheorie – verhaltenswissenschaftliche 57 Entwicklungs-AC 303 Entwicklungsabteilung 408 Entwicklungsaufgabe 193 Entwicklungsmöglichkeit 384 Erhaltungsphase 201 Erholungsfähigkeit 395 Erlebensmuster, arbeitsbezogenes 521 Erschöpfung, emotionale 524 Erwartung 140, 434, 573–575 – ideale 573 – kalkulierte 573 – tolerierbare 573 – typische 573 Erwartungsniveau 239 Erwerbsarbeit 529 – psychosoziale Funktion 529
Erwerbslosigkeit 191, 529 Etablierungsphase 199 Eustress 525 Evaluationskriterium 256, 480 Evidence-based-Management 10 Experiment 34, 362 – Feldexperimente 35 – Laborexperimente 35 – Quasi-Experimente 35 Expertise 542 Explorationsphase 195
F Fachkompetenz 212–213, 463 Fähigkeit 212–213, 470 – metakognitive 470 – sozial-kommunikative 470 Fallstudienmethode 307 Falsifikation 42 360°-Feedback 302 Feedbackverarbeitung 341 Fehlbeanspruchung 381, 392 – psychische 392 Fehlbeanspruchungsfolge 389, 391 Fehler 496 – aktive 502 – der mangelnden Spezifität 214 – der Übergeneralisierung 215 – fertigkeitsbasierte 498 – individuelle 264 – institutionelle 264 – latente 502, 504 – regelbasierte 498 – wissensbasierte 498 Fehlertyp 504 Fehlhandlung 492, 496, 500 – Vorläufer von 500 Fehlverhalten in Organisationen 453 Fehlzeiten (7 Absentismus) Feldstudie 12 Feldtheorie 588–589 Fertigungsinsel 413 Fertigungsnest 388 Fertigungsteam 414, 416 Flexibilisierung 15, 381 – der Arbeitswelt 201–-204, 41 – der Arbeitszeit 547 Fließbandarbeit 403 Fließbandfertigung 415 – taktgebundene 415 Fluktuation 85, 162, 181, 434 Follow-up-Gespräch 303 Fördergespräch 303 Forschungsethik 42 Forschungsprozess 31
A–F
626
Sachverzeichnis
Frage, situative 477 Fragebogen zur Arbeitsanalyse (FAA) 218 Fragebogen zur Vorgesetzten-VerhaltensBeschreibung (FVVB) 93 Fragebögen, biographische 249 Free riding 112 Fremdselektion 76 Frustration 454 Führung 88, 166, 311, 412 – aufgabenbezogene 93 – charismatische 311 – (s)erfolg 88 – mitarbeiterorientierte 93 – partizipative 412 – Substitute der 90 – symbolische 90, 96 – transformationale 89, 311 – von unten 90, 98 Führungskräftetraining 304–324, 470 Führungskultur 507 Führungsverhalten 57, 89 – aufgabenorientiertes 89 – mitarbeiterorientiertes 57, 89 – transformationales 94 »Full-Scale«-Simulator 509 Funktion der Erwerbsarbeit 190 – Aktivierung 191 – Identität und Status 191 – latente 190 – manifeste 190 – soziale Kontakte 191 – Zeitstrukturierung 191 Fusion (7 Merger & Acquisitions)
G Gap-Modell 574–575 Gatekeeper 111 Gedächtnis 333 – Kurzzeit- 333 – Langzeit- 333, 337 – transaktives 108 Gefahr 487 – Analyse 489 – Beseitigung 490 Gefährdung 487 – Abschirmung 490 – Anpassung 490 – Trennung oder Beseitigung 490 Gefahrenbeurteilung 495 Gefahrenexposition 495 Gefahrenindikator 495 Gefahrenkognition 499 Gefühlsarbeit 6, 381, 392, 563 – Darstellungsregel 563 – Oberflächenhandeln 564
– Tiefenhandeln 564 GEMS-Modell 496, 497 Generalisationshypothese 530 Gerechtigkeit 178–180, 454–456 – distributive (Verteilungs-) 178, 238, 439–441 – informationale 238 – interaktionale 178–180, 439–441 – interpersonale 238 – prozedurale (Verfahrens-) 178–180, 237, 439–441 Gerücht 72 Gesprächsführungskompetenz 310 Gestaltungsspielraum 383, 388 Gesundheit 378 Gesundheitsbeschwerden 393 Gesundheitsförderung, betriebliche 526 – verhaltensorientierte Intervention 526 Gesundheitsmanagement 408 – betriebliches 408 Gesundheitsschutz 357, 487 Gesundheitszirkel 408, 528 – Berliner Modell 409 – Düsseldorfer Modell 409 – Evaluation 409, 410 – Merkmal 409 Gewissenhaftigkeit 301, 454, 456, 492 Globalisierung 14, 201–203, 539 Gravitation 76 Gravitationshypothese, berufliche 198 Grenzrolle 567 Großraumbüro 393 Groupthink 110 Grundlagenforschung 9 Gruppe/Team 104, 166 – Gestaltung der Arbeitsaufgabe 420 – Heterogenität 420 – Koordinationsfunktion 104 – Motivationsgewinne 108 – Motivationsverluste 112 – nominale 108 – Repräsentationsfunktion 104 – Romantik des Teams 114 – Teamdesign 113 – Verantwortungsfunktionen 104 – virtuelle 106, 548, 549 – – Formen 549 – Zielsetzungsprozess 420 – Zusammensetzung 420 Gruppenarbeit 104 – Einführung 421 – mitarbeiterorientiertes Ziel 403 – strukturinnovative Variante 404 – strukturkonservative Variante 404 – teilautonome 415 – – betriebswirtschaftliche Effekte 415 – – Einführung 415 – – mitarbeiterbezogene 415
– wirtschaftlichkeitsorientiertes Ziel 403 Gruppenbildung 113, 413 – Forming 105 – Norming 105 – Performing 105 – produktorientierte 413 – Storming 105 Gruppendesign 418 Gruppendynamik 110 Gruppeneffektivität 417, 418 – Bedingungsfaktor 418 – Metamodell 418 – soziotechnischer Ansatz 418 – sozial- und motivationspsychologischer Ansatz 418 Gruppenleistung 417, 420 Gruppenleiter 412 Gruppensprecher 412, 416 Gütekriterien 252 – Akzeptanz 252 – Dokumentation 252 – Einsatzbreite 252 – Fairness 252 – Normierung 252 – Nützlichkeit 252 – Objektivität 252 – Ökonomie 252 – Reliabilität 252 – Validität 252
H Halo-Effekt 290–291, 360 Handlung 341, 347, 348, 349 – hierarchisch-sequenzielle Organisation 342 – prozessuale Struktur 340 – Ziel 342, 348 – Zwischenziel 342 Handlungsanforderung 467 Handlungsausführung 341 Handlungsbedingung 341, 348 Handlungsebene 343 Handlungsfehler 346 – Taxonomien 346 Handlungskompetenz 467 – berufliche 357, 462, 476 – Erwerb 468 Handlungskontrolle 341 Handlungsorganisation 343 – heterarchische 343 Handlungsplanung 341 Handlungsprogramm 344 – automatisierte 344 Handlungsregulation 341, 344, 364 – Fünf-Ebenen-Modell 345, 364
627 Sachverzeichnis
– Zehn-Stufen-Modell 365 Handlungsregulationstheorie 309, 340, 468, 469 Handlungsschema 344 Handlungsspielraum 347, 366, 383, 388, 390, 391, 392, 396, 519 – erweiterter 347 Handlungsspielraumkonzept 383 Handlungssteuerung 339 Handlungstheorie 338, 339 – Trainingsansatz 311 Handlungswissen 467 Hardiness 521 Hawthorne-Studie 25, 148, 401 – Effekt 56 Herausforderung 314–315, 526 Hexagonales Berufswahlmodell von Holland 196 High Reliability Organisation 506 Homans Gesetz 105 Homo oeconomicus 231 Human-Relations-Bewegung 25, 55, 148, 401 Humanisierung der Arbeit 402 Humanisierungsziel 371, 381 Hygienefaktor 430 Hypermediasystem 473 Hypertextsystem 473 Hypothese 32 – Nullhypothese 41 – Unterschiedshypothese 41 – Zusammenhangshypothese 41
I Identität 177–178 – persönliche 529 – Theorie der sozialen 177–178 Incident Reporting 508 – System 509 Inferenzstatistik 41 Informations- und Kommunikationstechnologie 14 Informationsdarstellung 338 Informationsverarbeitung 466 Informationsverarbeitungsansatz 333 Initiative, persönliche 449 Innovation 165–166 Innovationsteam 405 Instrumentalität 434–436 Integrity-Test 454–455 Intelligenz 91, 197–198, 300–301 – allgemeine 197 Interaktion 62, 559–564 – asymmetrische 562 – Pseudo- 562
– reaktive 562 – totale 562 Interdependenztheorie 127 Internet, informationshaltige Spiele 229 Interrater-Reliabilität 374 Interessen, berufliche 198 Intervention 9 Interview 359 Intransparenz 226 Intrapreneurship 314, 445–446 ISTA-Verfahren 366 Itemformulierung 360
J Job 189 Job-Strain-Modell 519 Jobbörse 231 Job Characteristics Model 368, 431 Job Diagnostic Survey 368, 415 Job Enlargement 385, 410 Job Enrichement 386, 393, 410 Job Rotation 386, 390, 411 Joint Venture 538 Just-in-Time-Fertigungsprinzip 416
K Kapital – kulturelles 192 – soziales 192 Kohärenzgefühl 520 Kohäsion (Wir-Gefühl) 82, 107, 115, 403, 420 Kommunikation 62 – Filtertheorie der 63 – formale 64, 547 – informative 64 – informelle 69, 547 – interpretative 64 – intuitive 64 – (s)kanal 65 – mündliche 63 – nonverbale 62 – schriftliche 63 – Sender-Empfänger-Modell 65 – zufällige 64 Kompensationshypothese 530 Kompetenz 212, 396, 463, 529 – Fach- 212 – Methoden- 212 – Selbst- 212, 463 – Sozial- 167, 212, 460 Kompetenzentwicklung 477
Kompetenzerleben 530 Konditionieren 329, 330 – klassisches 329 – operantes 330 Konflikt, sozialer 122 Konflikteskalation 126, 127 Konfliktfolge 130 – Leistung 131 – Zufriedenheit 130 Konfliktforschung – deskriptive Ansätze 123 – erklärende Ansätze 125 – präskriptive Ansätze 132 Konflikttyp 124 – Aufgabenkonflikt 123 – Beurteilungskonflikt 124 – Bewertungskonflikt 124 – Beziehungskonflikt 123, 124 – Verteilungskonflikt 124 Konfliktursache 125 – Ambiguität 126 – Knappheit der beanspruchten Ressourcen 126 – Kommunikationsbarriere 126 – unklare Verantwortlichkeiten und Entsc heidungsbefugnisse 126 – unterschiedliche Wissensgrundlagen 125 – unterschiedliche Werthaltungen 125, 126 – unvereinbare Zielsetzungen und Bedürfnisse 125 – Verletzung des Selbstwertgefühls 126 – Wettbewerbsklima 126 Konfliktverhalten 124 – attackieren 125 – integrieren 124 – kämpfen 124 – Kompromisse schließen 124 – konfrontieren 125 – nachgeben 124 – Problemlösen 124 – Prozesskontrolle 125 – Sich anpassen 124 – Sich durchsetzen 124 – Untätigkeit 124 – vermeiden 124 – Widerstand 125 Konfliktverlauf 126 – Anker-Effekte 129 – conflict framing 129 – Dual-Concern-Modell 128 – Fixed-Pie-Überzeugung 130 – Interdependenztheorie 127 – Reaktive Abwertung 130 – urteilsverzerrende Voreinstellung 129 – wahrgenommene Durchführbarkeit 129
F–K
628
Sachverzeichnis
Konstruktvalidität 247 Kontentfaktor 385, 430 Kontextfaktor 385, 429–431 Kontrakt – psychologischer 201, 226, 541 – relationaler 233 – transaktionaler 233 Kontrolle, erlebte 177 Kontrolltechniken 35 – Ausbalancieren 35 – Konstanthalten 35 – Parallelisierung 35 – Randomisierung 35 Kontrollüberzeugung 520 Kontroverse, konstruktive 128 Kooperation 403 – in Organisationen 310 Kooperationsbereitschaft 450 Kooperationsverhalten 285 Korrelation 36 Kosten-Nutzen-Modell 11 Kreuzvalidierung 260 Kriterium 36, 256 – aktuelles 256 – konzeptuelles 256 Kriteriumsdefizienz 256, 280 Kriteriumskontamination 256, 280 Kriteriumsrelevanz 256, 280 Kriteriumsvalidität 247 Kundenorientierung 160 Kundenzufriedenheit 8, 451, 573–578 Kündigungsabsicht 85 Kurzpause 390 Kurzzeitspeicher 337 KVP-Gruppe 406
L Laboratoriumsmethode 160–161 Laborforschung 362 – arbeitspsychologische 362 Längsschnittstudie 38 Lärm 361 Laufbahnentwicklungstheorie 193, 198 Laufbahnkonzept 298 Laufbahnmodelle 202 – Employability 202 – Konzept der entgrenzten Laufbahn 202 – proteanische 202 Lean production 416 Lehr-Lern-Arrangement 462 Lehr-Lerntheorien – konstruktivistische 468 Leistung 88, 94, 280–281 – aufgabenbezogene 280–285
– maximale 280 – typische 280 Leistungsbeurteilung 276–279, 289, 450–451 – als Verhaltensbeurteilung 278 – aufgaben- und zielorientierte Beurteilungsverfahren 289 – berufliche 276 – tätigkeitsbezogene 276, 279 – Zwecke von 277 Leistungsdruck 392, 493 Leistungsfähigkeit, intellektuelle 107–108, 300–301, 530 – Bedeutung der Arbeit für 530 Leistungsvoraussetzung 196–197, 246, 300–302 354, 463 Leitungsspanne 105 Lernarrangement, hybrides 475 Lernaufgabe 468 Lernaufgabensystem 468 Lernbedarf 464 Lernen 167, 332 – adaptives 167 – double loup learning 167–168 – generatives 167–168 – handlungsorientiertes 468 – organisationales 507 – prozedurales 467 – single loop learning 167 – situiertes 468 – sozialkognitives 332 – transferförderliches 480 Lernformen 464 – arbeitsplatznahe 463, 475 – computergestützte 464, 473 – kooperative 464 – netzgestützte 464, 473 – problemorientierte 474 – selbstorganisierte 464 Lerninfrastruktur 461, 475 Lerninsel 475 Lernkultur 137, 478, 507 Lernort 460, 475, 477 – arbeitsintegrierter 461, 475, 477 Lernpersönlichkeit 301 Lernpotenzial-Assessment-Center 301 Lernprozess 347 – arbeitsnaher 347 Lernszenarium, kooperatives 474 Lerntheorie, sozialkognitive 312 Lerntransferklimas 319 Lernumgebung 468 – arbeitsintegrierte 460 – problemorientierte 469 – situierte 468 Lichtverhältnisse 361 Lobanalyse 577
M Manipulationstechniken 305 Marketingmix 568 Matrixorganisation 50 Media richness theory 547 Mediation 132 Mediator 33 Meister 415, 416 Mensch-Maschine-Interaktion 362 Mensch-Maschine-System 336, 337, 338 Menschenbild 232 Mentoring 83, 200, 318–319 – formelles 83 – informelles 83 Merger & Acquisitions 172–182 – Merger-Syndrom 173–174 – realistische Fusionsvorschau 182 Messinstrumente 39 Messmethode 360, 362 – arbeitsphysiologische 362 – physikalische 360 Metaanalyse 12, 42, 374, 414, 470, 474, 478, 480, 492, 528 – Bare-Bone-Analyse 43 – narrativer Review 43 – quantitativer Review 43 Metamorphose 79 – antizipatorische 79 Methode der kritischen Ereignisse 216, 279, 429–431, 575–577 – erfolgskritische Verhaltensweisen 279 Methode der sequenziellen Ereignisanalyse 577 Methodenkompetenz 212–213, 463 Missbrauch, emotionaler 453 MIT-Studie 402 Mitarbeiter 388 – leistungseingeschränkte 388 Mitarbeiterbefragung 15, 141, 238 Mitarbeiterbeteiligung 402 Multifactor Leadership Questionnaire (MLQ) 95 Mobbing 107, 453 Modell, mentales 311, 337, 338, 467 Modell beruflicher Gratifikationskrise 519 Modell der Ressourcenkonservierung 522 Moderationstraining 308 Moderator 33, 406 Moderatortestungen 257 Modularisierung 537 Motiv 348, 426 – Leistungs- 426 Motivation 24, ,108, 139, 162, 368, 369, 385426–441, 447–448 – intrinsische 368, 385 – extrinsische 385
629 Sachverzeichnis
Motivator 430 Multiple Job Description Questionnaire 394
N NEO Job Profiler 215 Networking 200 Netzwerkbildung 538 Netzwerkform 538 – horizontale Kooperation 538 – vertikale Kooperation 538 Netzwerkorganisation 537 Neurotizismus 301, 433 Norm, soziale 588 Normen 106 Nullsummenspiel 128 Nutzen 11 – wirtschaftlicher 11 – von Auswahlverfahren 268
O O*NET 213 Operation 348 Organigramm 50 Organisation 136 – lernende 167–168 – (s)ziel 6 Organisationsdiagnose 136, 138, 356 – fallorientierte 138 – Phasen der 140 Organisationseinheit 413 Organisationseintritt 239 Organisationsentwicklung 57, 160–168, 421 – Change Agents 164–165 – personaler Ansatz 163–165 – Prozessberatung 163–164 – prozessualer Ansatz 163–165 – strukturaler Ansatz 163–165 Organisationsimage 234 Organisationsklima 148–153, 164 – Dimensionen 152–153 Organisationskultur 58, 77, 137, 153–157, 505 – Messung 154–155 Organisationsökonomik 231 Organizational-Behaviour-ModificationAnsatz 331, 332 Organizational citizenship behavior (OCB) 447–451, 456–457 Organizational Spontaneity 449 Outplacement 204, 238
P Partizipation 177, 390, 421, 432, 438 Passung 196, 246 – bedürfnisbezogene 196, 246 – der Person für die Stelle 246 – der Stelle für die Person 246 – Matching-Ansatz 196 – potenzialbezogene 196, 246 – qualifikatorische 196, 246 Patensystem 82 P-E-Fit-Modell 522 Personal(an)werbung 226, 227 Personalauswahl 298 Personalbedarfsplanung 298 Personalbeurteilung 211 Personalerhaltung 226 Personalforschung 226 – organisationale 226 Personalmanagement 6 Personalmarketing 298 Personalplanung 298 Personenmerkmal 212 – erfolgskritisches 222 – Fähigkeit 212 – Fertigkeit 212 – Interesse 212 – Persönlichkeitseigenschaft 212 – Verhaltensweise 212 – Werthaltung 212 – Wissen 212 Persönlichkeit 89, 215–216, 300–301 – Fünf-Faktoren-Modell 92 Persönlichkeitsentwicklung 347, 349, 529 Persönlichkeitsförderlichkeit 370, 379, 380, 383 – Kriterien 380 Persönlichkeitsmerkmal 217, 300–301, 396 Persönlichkeitstraining 305 PISA-Studie 192 Planspiele 307 Planungsprozess 364 Planungssystem 422 Platzierung 245 Potenzial 197 Potenzialanalyse 300 – Instrumente 300 Potenzialbeurteilung 291, 292 – tägliche Rückmeldungen 291 Prädiktor 36 Prädiktorenkombination – gemischtes Modell 262 – Kompensationsmodell 262 – Konfigurationsmodell 262 Präsentationstraining 308
Prävention 381, 526 – gesundheitliche Beschwerden 391 Primary appraisal 518 Problemlösefähigkeit 469 Problemlösungsgruppe 408 Problemlösungsprozess 406 – betrieblicher 406 Produktivität 278, 417, 545 Produktivitätssteigerung 378 Produktivitätsziel 381 Professionalisierung 541 Progressive Muskelrelaxation 527 Projektgruppe 408 – Evaluationsuntersuchung 408 Projektorganisation 408 Projektstruktur 421 Prophezeiung, sich selbst erfüllende 37, 232 Psychologie – allgemeine 10 – angewandte 9 – differenzielle 10 Psychotechnik 22 – industrielle 22 – soziale 25
Q Qualifikationsanforderung 357, 460 Qualifikationsbegriff 463 Qualifizierung 421 – prozessbegleitende 421 Qualitätszirkel 163, 238, 406, 407 – Arbeitsweise 407 – Einführung 406 – Effektivität 407 Questionnaire of Employee Attitudes to Safety 507
R Realitätsillusion 213 Realitätsnähe 471, 473 – funktionale 471, 473 – physikalische 471, 473 Realitätsschock 80, 227 – Inhalte 80 Recruiting 226 REFA 213 Regel, heuristische 470 Regelbeurteilung 291, 292 Regelverletzung 499 Regressionsanalyse, hierarchische 37
K–R
630
Sachverzeichnis
Regulationsebene 343 – heuristische 345 – intellektuelle 343, 344 – perzeptiv-begriffliche 343, 344 – sensomotorische 343, 344 Regulationserfordernis 365 Regulationsniveau 343 Regulationssystem 348 – motivational-antriebsregulatorisches 348 – zielgerichtet-ausführungsregulatorisches 348 Reiz-Reaktions-Verknüpfung 330 Reliabilität 39, 253 – Cronbachs alpha 253 – Interne Konsistenz 253 – Paralleltest-Reliabilität 253 – Retest-Reliabilität 253 Reliabilitätsprüfung 373 Repräsentation 333 – Ausführungsbedingungen von Arbeitshandlungen 345 – dynamische innere 334 – handlungsregulierende psychische 345 – symbolische 333 – Transformationsmaßnahme 345 – Ziel und Teilziel 345 Ressource 5, 366, 518, 522 Ressourcenverlust 522 RHIA-Verfahren 346 Richtlinien, ethische 271 Risikobewertung 496 Risikoverhalten 495 Rolle 106, 565–567 – Differenzierung 106, 588 Rollenambiguität 567, 575, 582 Rollenkonflikt 566–567, 575, 582 – Interrollenkonflikt 566 – Intersenderkonflikt 566 – Intrarollenkonflikt 566 – Intrasenderkonflikt 566 – Person-Rollen-Konflikt 567 Rollenspiele 307 Rollentheorie 565–567 – Rollenempfänger 566 – Rollensender 566 – Rollenset 565 – Rollenverhalten 566 Rückkopplungskreislauf 338 Rückmeldung 291, 341, 432–433 Rückmeldungsgespräch 303 Rückmeldungstheorie 33 Rückzugsverhalten 278
S Sanktionierung 331 Schädigungslosigkeit 370, 379 Scheinselbstständigkeit 202 Schema 70, 467 – Wissens- 344 Schlüsselqualifikationen 212 Schullaufbahn 192 Schutz ethisch-moralischer Grundrechte 269 – rationale Selbstbestimmung 269 Schwachstellenermittlung 357 Script-based training 591 Secondary appraisal 518 Selbstinstruktion 527 Selbstkonkordanz 96 Selbstkontrolle 455 Selbstkonzeptvalidierung 199 Selbstmanagement 15, 312 – Training 312 Selbstreflexionstechnik 470 Selbstselektion 229 Selbstwirksamkeit 438, 476 Selektion 245 Selektionsquote 266 Selektionsrate 226, 228 – Absenkung 228 Self-Promotion 259 Sensitivitätstraining 304 Sensitivity Training (7 Laboratoriumsmethode) Servicescape 586, 588 SERVQUAL 575–577 Sicherheitsbarriere 501 Sicherheitsklima 493 Sicherheitskultur 493, 494, 504, 505, 508 Sicherheitsunterweisung 491 Signal 344 Simulation 362, 363 Simulatortraining 472, 509 »Situation-Awareness«-Konzept 336 Social Compensation 108 Social Facilitation 25, 62, 108 Social Impairment 108 Social Labouring 108 Social Loafing 112 Soldiering 112 S-O-R-Modell 329 Sozialisation 76 Spiele 70 S-R-Modell 328 Stabilität, emotionale 301 Stab-Linien-System 50 Statistik, deskriptive 40 – Korrelationskoeffizient 40 – Mittelwert 40
– Streuung 40 Stellenbeschreibung 211 Stellenwahl 196 Stellung, sozioökonomische 192 Stereotyp vom guten Mitarbeiter 214 Steuerungssystem 422 Stichprobe 38 – anfallende 38 – echte Zufallsstichprobe 38 – geschichtete Zufallsstichprobe 38 Stichprobenmortalität 38 Strategische Allianz 539, 540 Stress 112, 180, 515, 523 – Auswirkungen von 523 Stressbewältigung 518 – Maßnahmen zur Verhaltensprävention 526 Stressfaktor 368 Stressimpfungstraining 527 Stressmanagement 391 Stressmanagementtraining 528 Stressmodell 516, 517 – reaktionsorientiertes 517 – reizorientiertes 516 – transaktionales 518, 527 Stressor 366, 493, 515, 516, 567 – sozialer 366 Stressprävention 522 Stressreaktion 515 Strukturgleichungsmodelle 38 Sucker effect 112 Survey Feedback 160–162 Swiss Cheese Model 501 System, sensorisches 333 Systemanalyse, soziotechnische 359 Systemgestaltung, soziotechnische 382, 402 Systemsicherheit 501 Systemtheorie, soziotechnische 160–163, 413 Systemunfall 501, 502, 504 Systemversagen 501
T Tacit knowledge 314 Tätigkeit 347, 390, 410 – Entwicklungspotenzial 349 – Ganzheitlichkeit 349 – gegenständlicher Charakter 347 – indirekte 410 – lernförderliche 346 – Makrostruktur 348 – persönlichkeitsförderliche 346 – Ringstruktur 349 – Subjekt, Tätigkeit und Umwelt 349
631 Sachverzeichnis
– Tüchtigkeit in der 281 – vollständige 390 – Wechselwirkungsprozess zwischen Mensch und Umwelt 349 Tätigkeitsanalyse 371 Tätigkeitsbewertungssystem 346 Tätigkeitsspielraum 366, 383 Tätigkeitstheorie 347, 561 Tätigkeitsvorschau, realistische 81, 182, 238, 271 Taylorismus 21 Team (7 Gruppe/Team) Teamentwicklung 115, 161 Telearbeit 14, 536, 543 – alternierende 544, 551 – Anforderungen und Belastungen 548 – Gestaltung 546 – mobile 545 – vor Ort 545 Teledienstleistung 543 Telefoninterview 372 Teleheimarbeit 545 Telekooperation 14, 536, 543 Telemanagement 543 Telezentren 545 Tests, psychologische 248 Theorie der Arbeitsanpassung 196 Theorien der Arbeitsmotivation 434–441 – Gerechtigkeitstheorien 439–441 – Theorie der Zielsetzung 436–439 – VIE-Theorie 434 Theorie der beruflichen Leistung 447–448 Theorie der Berufsinteressen von Holland 219 Theorie der medialen Reichhaltigkeit 68 Theorie des sozialen Lernens 470 Theorie zur Mediensynchronizität 548 TOTE-Modell 339 Traineeprogramm 82, 232, 300 Training 297, 338, 462 – kognitives 338, 468, 469 – sensomotorisches 469 Training on the Job 291 Trainingsbedarf 464 – Analysemethoden zur Bestimmung 464 – organisationsbezogene Merkmale 464 – personenbezogene Merkmale 464 – tätigkeitsbezogene Merkmale 464 Trainingsbedarfsanalyse 465 Trainingseffekte, Evaluationsebene 481 – Lernresultat 481 – organisationaler Effekt 481 – Trainingsbewertung 481 – Transferleistung 481 Trainingseffektivität 476, 478 – organisationaler Faktor 478 – personenbezogener Faktor 476 Trainingsforschung 462, 465, 469
– arbeitspsychologische 465 T(rainings)-Gruppe (7 Laboratoriumsmethode) Trainingsmaßnahme 480 – Evaluation 480 Trainingsmotivation 478 Trainingssimulator 338, 471 – Realitätsnähe 471 Transferförderung 479 Transferprozess 479 Transfersicherung 319 Transparenz 270 – psychische und soziale Unversehrtheit 270 Trefferquote 228, 268 Tschernobyl-Katastrophe 504 Typ-A-Verhalten 520
U Üben 467 Überforderung 517 Überlastung 337 – informationelle 337 Umweltschutz 487 Unfallanalyse 499, 504 Unfallpyramide 488 Unfallrate 494 Unfallursache 488, 489 Unfallverhütung 488, 490 Uno-actu-Prinzip 559 Unterforderung 526 Unterminierung, soziale 453 Unternehmenskommunikation 181 Unternehmenskultur 176 Unternehmensplan 298 Unterstützung, soziale 519 Untersucherübereinstimmung 373 Unterweisungen 309 Urteilsfehler 498 Urteilstendenz 290 – Halo-, Überstrahlungs-, Irradiationsoder Hof-Effekt 290 – Korrelationstendenz 290 – Mildetendenz 290 – Mittelwertstendenz 290 – Strengetendenz 290 – Streuungstendenz 290
V Valenz 140, 434 Validität 39, 41, 226, 228, 254 – Augenscheinvalidität 259
– differenzielle 257 – diskriminante 255 – externe 41 – faktorielle Validierung 255 – Inhaltsvalidierung 254 – konkurrente Validierung 256 – Konstrukt- 255 – konvergente 255 – prädiktive 255 Validitätsgeneralisierung 257, 261 Variable 32 – abhängige 34 – Antezedenzvariable 33 – Konsequenzvariable 33 – Kontrollvariable 37 – Mediatorvariable 33 – Moderatorvariable 33 – unabhängige 34 – unbekannte Drittvariable 38 Varianzkorrektur 257 – Attenuationskorrektur 257 – Minderungskorrektur 257 VERA-Verfahren 346, 364 Veränderungsmanagement 15 Veränderungsprozess 15 Verarbeitungsprozess – paralleler 334 – sequenzieller 334 Verarbeitungssystem 334, 336 – primäres 334, 335 – sekundäres 334, 336 Verbesserungsvorschlag 406, 410 Verfahren – biographieorientierte 247 – konstruktorientierte 247 – simulationsorientierte 247 Verhalten 329 – adaptives 281 – eigenverantwortliches 449 – extraproduktives 445, 447–451, 456–457 – kontextbezogenes 281 – kontraproduktives 233, 278, 445, 451–457 – produktives 444–447 – prosoziales 449 – sicherheitsgerechtes 494, 496 – sicherheitskritisches 329, 331, 491, 492, 493 – vergeltendes 453 Verhaltensänderung 329 Verhaltensbeobachtungsskala 287 Verhaltenserwartungsskala 288 Verhaltensmodellierung 306 Verhaltensmodifikationsprogramm 331 Verhaltensmuster, arbeitsbezogenes 521 Verhaltensprävention 490
R–V
632
Sachverzeichnis
Verhaltenssteuerung 8 Verhaltensstrategie 340 Verhaltenstaktik 340 Verhältnisprävention 490, 528 Verhandeln 132 – Explikation zugrundeliegender Anliegen 132 – integratives Verhandeln 132 – Kosten reduzieren 133 – systematisches Prüfen von Lösungsmöglichkeiten 133 – Tradeoff oder Logrolling 133 – unspezifische Kompensationen 133 Vermeidungsverhalten 584–585 Verstärker 331 – primärer 331 – sekundärer 331, 332 Verstärkung 330 – negative 331 – positive 330 – Selbst- 332 – stellvertretende 332 Verstärkungsplan 332 Verträglichkeit 492 Verwechslungsfehler 498 Vier-Stufen-Methode zur Unterweisung von Mitarbeitern (REFA) 309 Virtualisierung 538 Vitaminmodell der Arbeitsbedingungen 190 Volition 436 Vorgehen, multimodales 262 – Modell mehrfacher Hürden 263 Vorschlagswesen 137 VVR-Einheit 342
W Wahrnehmung 335 Wahrnehmungssystem 336 Wandel, demographischer 114, 204 Weiterbildung 462 Weiterbildungsbereitschaft, berufliche 203 Weiterbildungsverhalten 543 Weltmodell 335 – dynamisch internes 336 Werte 156–157 Wertewandel 402 Werthaltung 530 Wertorientierung 77, 157 – alternatives Engagement 78 – Freizeitorientierung 78 – Karriereorientierung 78 Wertschöpfungsprozess 538 Wiederholungsanalyse 373 Wissen 337, 466 – deklaratives 337, 467 – explizites 337 – implizites 337 – prozedurales 337, 467 – Prozeduralisierung von 467 Wissensarbeit 540, 542 Wissensarbeiter 540 Wissenserwerb 466 Wissensstruktur 467 Wohlbefinden 357 – Beeinträchtigung 524 – psychosoziales 357 – subjektives 395 Work-Life-Balance 530, 531
Z Zeitdruck 392, 517 Zeiterleben, Steuerung des 586–588 Zeitmanagementproblem 312 Zeitspielraum 392 Ziel 341 – Eigenschaft 341 Zielbildung 340 Zielbindung 438 Zielsetzungstheorie 33 Zielvereinbarungsgespräch 292 Zufallsauswahl auf der Basis der Grundquote 268 Zurechnungsproblem 279 Zusatzaufwand 517 Zwischenfall 509 Zwischenfallmanagement 472, 509 – Verhaltensprinzipien 509 Zwischenfallmanagementtraining 509