Ulrich vom Hagen (Hrsg.) Armee in der Demokratie
Schriftenreihe des Sozialwissenschaftlichen Instituts der Bundeswehr...
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Ulrich vom Hagen (Hrsg.) Armee in der Demokratie
Schriftenreihe des Sozialwissenschaftlichen Instituts der Bundeswehr Band 3
Ulrich vom Hagen (Hrsg.)
Armee in der Demokratie Zum Verhältnis von zivilen und militärischen Prinzipien
Bibliografische Information Der Deutschen Bibliothek Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über abrufbar.
1. Auflage Januar 2006 Alle Rechte vorbehalten © VS Verlag für Sozialwissenschaften/GWV Fachverlage GmbH, Wiesbaden 2006 Lektorat: Monika Mülhausen Der VS Verlag für Sozialwissenschaften ist ein Unternehmen von Springer Science+Business Media. www.vs-verlag.de Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Die Wiedergabe von Gebrauchsnamen, Handelsnamen, Warenbezeichnungen usw. in diesem Werk berechtigt auch ohne besondere Kennzeichnung nicht zu der Annahme, dass solche Namen im Sinne der Warenzeichen- und Markenschutz-Gesetzgebung als frei zu betrachten wären und daher von jedermann benutzt werden dürften. Umschlaggestaltung: KünkelLopka Medienentwicklung, Heidelberg Druck und buchbinderische Verarbeitung: MercedesDruck, Berlin Gedruckt auf säurefreiem und chlorfrei gebleichtem Papier Printed in Germany ISBN 3-531-14926-1
Inhaltsverzeichnis Einleitung Ulrich vom Hagen Militär in Demokratien ......................................................................... 9 I
Gesellschaft / Krieg
Christian Leuprecht Die unvollendete Revolution: Post-nationale Streitkräfte ..................... 31 Berthold Meyer Die Parlamentsarmee – zu schön, um wahr zu sein? ............................ 51 II
Krieg / Militär
Stefan Goertz Warum die Streitkräfte mancher Staaten den Kleinen Krieg verlieren – Eine Kritik der westlichen Counter-insurgency-Doktrinen ............................................................. 75 Maren Tomforde „Einmal muss man schon dabei gewesen sein ...“ – Auslandseinsätze als Initiation in die ‘neue’ Bundeswehr .................... 101 III Militär / Gesellschaft Maja Apelt Einige Überlegungen zur (Ent-)Professionalisierung des Soldatenberufes ..................................................................................... 125 Jörg Keller Mythos Auftragstaktik .......................................................................... 141 Angelika Dörfler-Dierken Befehl – Gehorsam – Mitmenschlichkeit .............................................. 165
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Florian Müller, Martin Elbe & Ylva Sievi „Ich habe ich mir einfach einen kleinen Dienstplan für das Studium gemacht“ – Zur alltäglichen Lebensführung studierender Offiziere ........................................................................... 189 Gregor Richter Betriebswirtschaftliche Instrumente im Militär – Eine strukturationstheoretische Annäherung ........................................ 219 Autorenverzeichnis ............................................................................... 242
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Einleitung
Militär in Demokratien Ulrich vom Hagen „Eigentlich und unmittelbar ist es zwar allerdings wahr, dass die innerliche Glükseligkeit durch Zwangsmittel nicht befördert werden kann, aber mittelbar ist es möglich. Der Staat kann Anstalten, Einrichtungen machen, durch welche auch der moralische Charakter der Bürger gewinnt.“ Wilhelm von Humboldt „Aus Kleins Vorträgen über Naturrecht.“ VII–2: 472.
Innerhalb der modernen Militärsoziologie besteht bislang der kleinste gemeinsame Nenner in der Feststellung, dass die Herrschafts- und Ordnungsvorstellungen des Militärs von denen einer zivilen Gesellschaft mal mehr, mal weniger abweichen. Allein schon diese Spannung macht das ‘Militär’ als Dimension sozialwissenschaftlicher Betrachtung der sozialen Welt so interessant. Der US-amerikanische Militärsoziologe James Burk (2002: 20) erwartet, dass mit dem allgemeinen Trend zur Abschaffung der Wehrpflicht und dem Verschwinden des Ideals des Bürgersoldaten es schwieriger werden wird, demokratiegerechte zivil-militärische Beziehungen aufrechtzuerhalten. Dies hängt u. a. damit zusammen, dass der Freiheitsbegriff des modernen Liberalismus grundsätzlich auf individuelle Freiheit vor dem Staat und die Verteidigung des Privateigentums vor Vergemeinschaftung reduziert ist, aber kann das Prinzip der Verantwortung für den Mitmenschen und das Gemeinwohl berücksichtigt. Die Frage der Vereinbarkeit oder Unvereinbarkeit des Gleichheits- und Freiheitspostulats der Demokratie mit militärischen Prinzipien besitzt freilich weitreichende Implikationen für die jeweiligen Gemeinwesen, denn unterschiedliche Demokratiemodelle schreiben dem Militär unterschiedliche gesellschaftliche Rollen und Funktionen zu. Während der Liberalismus aus Gründen der gesellschaftlichen Arbeitsteilung für ein stehendes Heer aus hauptberuflichen Soldaten plädiert, betrachtet der Republikanismus1 den Militärdienst seiner Bürger als notwendigen Beitrag zum Erhalt des Gemeinwohls und demokratischer Grundlagen. Weltweit wird nun die allgemeine Wehrpflicht durch Freiwilligenarmeen und Söldnertum in Frage gestellt. Der Bürgersoldat wird zu einer romantischen Figur des 19. Jahrhunderts degradiert. Unter dem Zeichen der Professionalisierung von Militär und der scheinbaren Zivilisierung westlicher Gesell1
Republikanismus leitet sich vom lateinischen ‘res publica’ her und steht für ein politisches Ideen- und Theoriegebäude, welches die öffentliche Wohlfahrt und die allgemeine Verantwortung für ein Gemeinwesen in den Vordergrund stellt.
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schaften wird eine republikanische Institution geschliffen, die scheinbar nur zur Militarisierung der zivilen Gesellschaft geführt hat. Zu Recht wurde die Wehrpflicht als Instrument zur Kasernierung von Nationen im Zuge des Nationalismus bezeichnet (Frevert 2001). Im Rahmen der Ideologie von der Nation und ihrer Verklärung im Zuge eines nationalistischen Militarismus wurden die älteren Ideale der republikanistischen2 Idee vom Volke in Waffen grundlegend diskreditiert. Darüber hinaus zählte lange Zeit zum Volk nur wer Waffen trug, wobei dieses Recht lediglich Männern vorbehalten war. „Als politische Volksgenossen erkennt der Waffentragende nur den Waffentüchtigen an. Alle anderen, Nichtwaffengeübte und Nichtwaffentüchtige gelten als Weiber und werden in der Sprache primitiver Völker ausdrücklich als solche bezeichnet. Freiheit ist innerhalb dieser Waffenvergemeinschaftungen identisch mit Waffenberechtigung.“ (Weber 1972: 517) Warum also nicht mit verpflichtenden gesellschaftlichen Bürgerdiensten wie z. B. der Wehrpflicht aufräumen, so wie die meisten Großmächte und der globale Hegemon USA es bereits vormachen? Weil der Militärdienst und andere allgemeine Dienste am Gemeinwesen nicht nur Zwangsdienste, sondern auch ein Bürgerrecht sind. Dieses Recht auf Wehrdienst ist eine Errungenschaft des Bürgertums, das in Frankreich Ende des 18. Jahrhunderts und in Preußen am Anfang des 19. Jahrhunderts der Aristokratie und dem Monarchen abgetrotzt werden musste. Doch bis heute stimmt selbst der demokratische Staat nicht notwendigerweise mit dem gesamten ‘Volk’ und seinen Bedürfnissen überein, so dass die Herrschenden gegenüber der Volksbewaffnung vorsichtig und zurückhaltend sind, wenn militärische Gewalt zur Konfliktregelung im Inneren als bedeutend eingeschätzt wird (Kernic 2004: 72). Die parlamentarisch verfassten Gemeinwesen drohen sich mit der weitverbreiteten Einführung von Berufsarmeen einen Teil des demokratischen Bodens unter den eigenen Füßen wegzuziehen. Diese These und ihre Implikationen werde ich im ersten Teil dieses Einleitungsbeitrages weiter ausführen, bevor ich im zweiten Teil die einzelnen Aufsätze dieses Sammelbandes vorstelle. Der Staat, verstanden mit Max Weber (1972 [1921]) ist das Gesellschaftliche und damit ein sozialer Aushandlungsprozess von gesellschaftlichen Interessen. Die Interessen von sozialen Akteuren können sich einerseits gegenüber dem anderen als Mitmenschen ausdrücken, sich aber andererseits auch in Form der rücksichtslosen Interessenverwirklichung des Starken gegenüber dem Schwächeren niederschlagen. Zur gesellschaftlichen Regeneration unserer Gemeinwesen bedarf es aus republikanistischer Sicht daher einer verant2
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Ich verwende ‘republikanistisch’ bzw. ‘liberalistisch’ um den konzeptionellen und ideengeschichtlichen Gehalt dieser Termini von der umgangssprachlichen Verwendung der Begriffe ‘republikanisch’ bzw. ‘liberal’ abzugrenzen.
wortungsethischen Massenorientierung, welche die praktizierte Bürgerschaft und die allgemeine Wohlfahrt in den Vordergrund stellt. Die Wiederbelebung der caritas im Sinne einer Zuneigung zu den Menschen als Grundlage der Idee von der amor patriae gilt es in diesem Sinne wiederzuentdecken. Erst diese mitmenschliche Form der ‘Liebe zur Heimat’ kann die Grundlage für eine amor humanitas sein (Kantorowicz 1965), welche die isolationistischen Tendenzen des Republikanismus zu überwinden hilft. In diesem Sinne stehen sich daher Patriotismus und Nationalismus wesensmäßig diametral gegenüber, ja sind noch nicht einmal Stufen zueinander, da der Patriotismus aus empathischem Überfluss schöpft, während der Nationalismus aus Hochmut und Missgunst besteht. Der bundesrepublikanische Militärreformer Wolf Graf von Baudissin drückt diesen Gedanken aus, indem er an die Ideen und Ideale der preußischen Reformer des frühen 19. Jahrhunderts und der europaweiten Bürgerrevolution von 1848/49 erinnert. „Gerade die freiheitlichen Traditionskräfte unserer Geschichte – nicht zuletzt die preußischen – sind es, die den zu eng gewordenen Rahmen des Nationalen sprengen und uns über die deutschen Grenzen hinaus mit jenen Völkern verbinden, die den Kern ihrer Staatlichkeit in solchen Überlieferungen sehen.“ (von Baudissin 1966: 292) Liberalismus und Republikanismus haben gemein, dass sie beide nach dem Ideal der Freiheit streben, wodurch sie sich vom klassischen Konservatismus, der besagt, die Menschen seien ungleich geschaffen und das solle man aufgrund einer gottgegebenen Ordnung nicht zu ändern versuchen,3 unterscheiden. Für den Liberalismus ist Freiheit eine Angelegenheit des Individuums, für den Republikanismus findet sich Freiheit vor allem in der Freiheit des anderen. Für den Republikanismus ist Gleichheit vor dem Gesetz mit Chancengleichheit in der sozialen Welt verbunden. Dieses egalitäre Ideal ist unabdingbar für gleichberechtigtes Leben in der Demokratie. Philipp Pettit (1997: 126) drückt es folgendermaßen aus: „To want republican liberty, you have to want republican equality; to realize republican liberty, you have to realize republican community.“ Wenn man sich in dieser Hinsicht fragt, wozu Freiheit das zentrale Anliegen eines guten Gemeinwesens sein soll, dann lautet die schlichte Antwort: Glück.4 Für den modernen Liberalismus ist Glück eine Privatangelegenheit, die durch die Philosophie des Privateigentums und das kapitalistische Wirtschaftsprinzip geregelt wird. Die liberalistische Weltanschauung stellt die individuelle Freiheit in den Mittelpunkt aller Überlegungen und will die Bürgerrechte vor Eingriffen des Staates schützen. Freiheit und Bürgerrechte sind 3 4
Vgl. dazu Burke 2001: passim. Vgl. dazu u. a. W. von Humboldt „Aus Kleins Vorträgen über Naturrecht.“ VII-2, S. 478; Layard 2005: passim.
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freilich sehr begrüßenswert, doch das Problem ist, dass wir deshalb noch lange nicht wissen wie alle gemeinsam glücklich leben können. Von der Idee des ‘pursuit of happiness’ für die Massen wie es in der US-amerikanischen Unabhängigkeitserklärung (1776) von Thomas Jefferson festgeschrieben wurde, ist nun nicht mehr viel übrig geblieben, da die Verfolgung des Glücks zur Privatangelegenheit nutzenmaximierender Individuen umdefiniert wurde. Damit Demokratie ihren Ansprüchen gerecht wird, bedarf es daher der Freiheit für die öffentlichen Dinge und das Gemeinwohl. Die gesellschaftliche Wohlfahrt eines Landes bzw. einer Republik drückt sich zentral in der sozialen Chancengleichheit ihrer Einwohner aus. Die Würde des Menschen ist dann mehr als eine Floskel, sondern ein Kriterium für Politik, da Menschenwürde durchaus verletzbar ist; jedes Leben ist schwach, verletzlich und begrenzt. Daher bedarf es einer aktiven und engagierten Bürgerschaft, die wachsam und bereit ist, die Menschenwürde und den gesellschaftlichen Bund, der diese universelle Forderung aufrichtig vertritt und ermöglicht, zu verteidigen. Doch Staatsbürger (citoyen) werden nicht geboren, sondern gemacht. Dazu bedarf es des Vorbildes in der Familie, im sozialen Umfeld und in der Politik. Insbesondere braucht es aber gute öffentliche Schulen und weitere Bildungseinrichtungen. Die Einübung von Bürgerschaftlichkeit gelingt jedoch nicht allein durch das Lesen von Büchern, sondern insbesondere durch zwischenmenschliche Gemeinschaftserfahrung. Die regulären Schulen könnten im Rahmen von Klassenverbänden prinzipiell die Möglichkeit bieten, dass junge Menschen aus unterschiedlichen sozialen Hintergründen und Erfahrungswelten viele Jahre gemeinsam miteinander lernen und einander kennen lernen. Doch damit ist es nicht genug, denn im Anschluss an die Schule brauchen junge Erwachsene die Möglichkeit ihre Erfahrungen gesellschaftlich anzuwenden und stetig weiter auszubauen. Ein obligatorischer Allgemeiner Bürgerdienst für alle jungen Frauen und Männer eines Landes ist daher, neben allen weiteren Formen bürgerschaftlicher Emanzipation, im Rahmen einer gesellschaftlichen Regeneration eine Notwendigkeit für die Pflege demokratischen Bewusstseins. Der allgemeinen Dienstpflicht würden alle im Land lebenden Einwohner im Alter zwischen 18 und 28 Jahren unterliegen.5 Der Allgemeine Bürgerdienst könnte in allen zivilen öffentlichen Einrichtungen, sonstigen nichtkommerziellen Organisationen und im Militär über einen Zeitraum von sechs Monaten geleistet werden und käme letztlich
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Ähnliche Vorschläge machten bereits der ehemalige Vorsitzende des Verteidigungsausschusses des Deutschen Bundestages Reinhold Robbe (WAMS, 17.10.04), Bundeskanzler a. D. Helmut Schmidt (Hamburger Abendblatt, 26.08.05) und der designierte Verteidigungsminister Franz Josef Jung (FR, 19.10.05). Die Umsetzung dieser Vorschläge in der Bundesrepublik Deutschland würde gesetzliche Änderungen bedingen.
dem Gemeinwesen, seinen Einwohnern und vor allem den Bürgerdienstpflichtigen selbst zugute. Es bestände für alle Bürgerdienstpflichtigen die Möglichkeit ihren Dienst auch als Bürgersoldat im Militär abzuleisten, denn solange nicht alle volljährigen Einwohner eines Landes auch als Bürgersoldaten einer Milizarmee oder echten Wehrpflichtarmee6 (Haltiner 1998: 48, 51; Werkner 2005: 105) dienen können, bleibt selbst eine noch so defensive ‘Armee für den Frieden’ ein Fremdkörper in der Demokratie, da die sozialen Welten von Zivilisten und Soldaten deutlich unterschiedlichen Bedingungen unterliegen. In der republikanistischen Denktradition verwirklicht der Staatsbürger sein ureigenstes Interesse, indem er sich beispielsweise durch den Militärdienst als Bürgersoldat für das Gemeinwesen engagiert und Verantwortung für das Gemeinwohl übernimmt. Durch Handeln im Sinne eines solchen ‘wohlverstandenen Eigeninteresses’ im Sinne Kants werden politische und soziale Tugenden gepflegt und zum physischen wie sittlich-moralischen Erhalt des Gemeinwesens beigetragen.7 „Nur was erlebt wird, wirkt als Erziehung. Wir haben daher von dem überschaubaren Kreis auszugehen, in den der junge Soldat hineingestellt ist. Im täglichen Zusammenleben mit Vorgesetzten und Kameraden lernt er sich frei, natürlich bewegen und wächst so ganz von selbst in eine demokratische Lebenshaltung hinein, ohne daß das Wort ‘Demokratie’ fällt.“ (Knauss 1953: 18) Eine demokratieverträgliche Bildungs-, Führungs- und Organisationsphilosophie wie die Konzeption Innere Führung der Bundeswehr ist bestens geeignet, Ansprüche an das Militär als Bildungsanstalt mit der Notwendigkeit militärischer Effizienz zu verbinden, da diese Konzeption mit ihren Grundsätzen bereits bewährte Eckpunkte für eine Wehrpflichtarmee in der Demokratie nennt. Zu den Prinzipen der Inneren Führung zählen: – – – – –
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Anerkennung des Soldaten als grundsätzlich freier Mensch, Respekt vor der Menschenwürde, Toleranz gegenüber Andersdenkenden, Verantwortung vor dem eigenen Gewissen und Verantwortung gegenüber dem Gemeinwesen, Anerkennung demokratischer Grundsätze.
Der Milizionärs- bzw. Wehrpflichtigenanteil in solchen Streitkräftestrukturen beträgt über 50 Prozent. Beispiele dafür sind Finnland, Griechenland, Norwegen, Polen, die Schweiz und die Türkei. (Stand 2004) Münkler (1992: 38f.) hat darauf hingewiesen, dass durch Kants gesteigertere Rationalitätszumutung wie er sie in ‘Zum ewigen Frieden’ formuliert, die liberalistische Theorie eines voraussetzungslosen und rein interessegeleiteten Gesellschaftsvertrages hinfällig geworden sei.
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Gelebte Innere Führung bedeutet letztlich die Führung des Einzelnen durch sich selbst. Hierzu benötigt er andere Menschen zur Seite. Somit ist Menschenführung – nicht nur im Militär – die Anleitung zur Selbsterkenntnis durch den Mitmenschen. Das Militär bietet als eine Bildungsanstalt der Republik (neben vielen anderen gesellschaftlichen Bildungsinstitutionen) den Rahmen in dem sich junge Erwachsene aus allen sozialen Schichten begegnen, soziale Kompetenzen ausbauen und ihrem Verantwortungsbewusstsein als „Bürger in Waffen“ (Gneissenau) nachkommen können. „Ziele und Methoden der Menschenführung müssen der Grundordnung entsprechen und im Einklang mit denen der anderen Bildungsinstitutionen stehen, soll das Verteidigenswerte nicht verraten und die Opposition der Besten herausgefordert werden.“ (von Baudissin 1966: 300f.) Schon ein Blick in die europäische Geschichte genügt, um zu erkennen warum sowohl eine Freiwilligenarmee als auch eine Wehrpflichtarmee alten Typs für ein demokratisches Gemeinwesen prinzipiell problematisch sind. In einer viel beachteten Schrift machte der Freiburger Staatswissenschaftler Carl von Rotteck bereits 1816 klar, dass eine Militarisierung des gesamten Volkslebens mittels der ‚Konskription‘ ebenso wie eine stehende Freiwilligenarmee eine Bedrohung der Freiheit darstellen. „Soll der Schutz des Staates fortan einem stehenden Heer, soll er der Nationalmiliz anvertraut werden? Wollen wir die Nation selbst zum Heer oder wollen wir die Soldaten zu Bürgern machen?“8 Die Armee sollte nicht Erziehungsschule zur königstreuen Gesinnung der breiten Massen sein, sondern die ‘Nationalmiliz’ war als Schule der Staatsbürger im Konstitutionalismus gedacht. Angesichts der sicherheitspolitischen Lage im Europa der damaligen Zeit verlangte von Rotteck ein kleinstmögliches stehendes Heer, das aber weitestgehend Elemente einer Landwehr bzw. Nationalmiliz besitzen solle, da nur so die freie Entfaltung von Kultur, Recht und Menschlichkeit gewährleistet werden könne. Nicht von ungefähr legte auch Alfred Nobel in seinem für die Verleihung des Friedensnobelpreises maßgeblichen Testament fest: „Ein Teil dem, der am meisten oder besten für die Verbrüderung der Völker gewirkt hat und für die Abschaffung oder Verminderung der stehenden Heere sowie für die Bildung und von Friedenskongressen.“ Bis in unsere Tage wird überwiegend die Notwendigkeit der Landesverteidigung angenommen. Aus liberalistischer Sichtweise ist aufgrund der funktionalen Differenzierung arbeitsteiliger Gesellschaften eine stehende Freiwilligenarmee das naheliegendste Modell für Streitkräfte. Von einem republikanistischen Standpunkt aus gilt es hingegen, vor allem unter demokratiepraktischem Blickwinkel, die Struktur der Streitkräfte in einer freien und volksnahen Wehrform zu gewährleisten. Dies kann durch eine hohe 8
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Zit. n. Conze 1978: 17.
Wehrpflichtigenquote der Wehrpflichtarmee und durch die Aufstellung einer zusätzlichen Landwehr geschehen. Während im Falle Deutschlands die Erhöhung der Wehrpflichtigenquote nur durch Vergrößerung der Streitkräfte oder durch Verkleinerung des Anteils der hauptamtlichen9 Soldaten möglich wäre,10 könnte eine neu zu schaffende ‘Landwehr’ sich zunächst an Freiwilligenmilizen wie sie bereits in Skandinavien, den USA, dem Vereinigten Königreich und dem Baltikum erfolgreich bestehen, orientieren (vgl. Klein 2004: 21f.). Dieser republikanistische Gedanke ist gar nicht so neu. Im Zuge des geplanten Aufbaus der Bundeswehr schreibt Robert Knauss, Mitverfasser der Himmeroder Denkschrift und Mitstreiter des Grafen von Baudissin: „Wir brauchen daher eine ‘Deckungs-Truppe’, die stündlich einsatzbereit ist. Ihr Kern muß aus sorgfältig ausgesuchten und ausgebildeten, langdienenden Berufssoldaten bestehen. Sie umfaßt vor allem die am höchsten technifizierten Waffengattungen, die lange Ausbildung erfordern: Luftwaffe, Panzertruppe, Nachrichtentruppe, Küstenschutz. Es ist jedoch zu prüfen, ob nicht neben der ‘Deckungs-Truppe’ eine ‘Landwehr’ mit Milizcharakter aufzustellen ist, in der ein Teil der Wehrpflichtigen nur kurz für eine bestimmte und begrenzte Aufgabe ausgebildet wird.“ (Knauss 1953: 15) Im Kern besitzen Knauss’ Überlegungen und Vorschläge bis heute große Relevanz, um die gesellschaftliche Integration des Militärs in die zivile Gesellschaft zu erleichtern, den Prinzipien der Subsidiarität besser gerecht zu werden und das staatsbürgerliche Engagement der Einwohner eines Landes auch in sicherheitspolitischen Bereichen möglich zu machen. Darüber hinaus könnten dadurch, auch ganz im Sinne des Generalinspekteurs der Bundeswehr, Wolfgang Schneiderhan, angelehnt an ein ‘Regimentssystem’, „geschlossene Bataillone für einen geschlossenen Einsatz“ eingerichtet werden.11 Für die hauptamtlichen Soldaten wären die Stehzeiten in ihrem Bataillon so lange wie möglich zu halten und lediglich durch Lehrgänge innerhalb oder außerhalb der Streitkräfte unterbrochen. Dies könnte dazu beitragen, das Vertrauen zueinander zu erhöhen, die versetzungsbedingten Abwesenheiten der Soldaten von ihrem privaten Umfeld zu verringern, den Zusammenhalt zu stärken und familiäre Belastungen zu reduzieren. Die feste regionale Verankerung solcher geschlossenen Bataillone würde für die hauptamtlichen Soldaten und die Bürgersoldaten zudem gewährleisten, dass mit dem militäri9 10
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Ich fasse unter diesem Begriff Soldaten auf Zeit und Berufsoldaten zusammen. Ihnen allen ist zu eigen, dass sie mit dieser hauptamtlichen Tätigkeit ihr Geld verdienen. Auf diese Art und Weise könnte dazu beigetragen werden, dass die Bundeswehr mit ihren derzeit (August 2005) insgesamt 250 000 Soldaten mit einem Anteil von 15,2 Prozent Grundwehrdienstleistenden (GWDL) und 9,8 Prozent Freiwillig zusätzlichen Wehrdienst Leistenden (FWDL) nicht mehr als „Pseudowehrpflichtarmee“ (Haltiner 1998: 46) gälte. Vortrag an der Akademie für Information und Kommunikation der Bundeswehr, Strausberg, am 05.09.05.
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schen Dienst eine stärker regional verankerte Heimatverbundenheit erlebt werden könnte und sich eventuell über Generationen hinweg familiäre Traditionen des guten Zusammenlebens in den Standorten entwickeln könnten. Heißt das nun, dass Krieg einfach hinzunehmen ist und sich die Länder der Erde weiter bekriegen sollen, nur damit Miliz- oder Wehrpflichtarmeen in den Krieg ziehen können um republikanistische Ideale zu verwirklichen, weil es „süß und ruhmvoll ist für das Vaterland zu sterben“? Bestimmt nicht, aber ohne weiteres kriegt man die Gewaltsamkeit aus den zwischenstaatlichen Beziehungen nicht heraus. Solange es Staaten gibt, wird es notwendigerweise Gewaltsamkeit geben, da der Staat für sich ein Gewaltmonopol beansprucht und daher in der Lage sein will dieses auch durchzusetzen (Weber 1992: 6). Wir müssen nun aber lernen mit der Gewaltsamkeit in den internationalen Beziehungen umzugehen ohne die Bevölkerungen der unterschiedlichen Gemeinwesen auszublenden, denn sie sind letztlich der leidtragende Teil dieser gewaltsamen Ordnung. Just diese Bevölkerungen müssen verantwortungsbewussten Gemeinsinn und Solidarität pflegen, weil es ohne derart gelebte Demokratie keine Freiheit und keine soziale Gerechtigkeit gibt. Eine derart gestaltete Republik bedarf jedoch des Ideals des mündigen Bürgers, der allerdings nicht von Natur aus geschaffen ist. Das Konzept lebenslangen Lernens kann helfen, diese Forderung zu erfüllen. ‘Schule’ hört daher nicht spätestens mit dem Hochschulabschluss auf, sondern ‘Schule’ bedeutet allzeit bereit zu sein mittels Vorbild am Gegenüber zu lernen. Um bürgerschaftlichen Verantwortungssinn wieder zu beleben, braucht es Bildungsanstalten verschiedenster Couleur, in denen bürgerschaftlicher Dienst eingeübt werden kann. Diese Institutionen geben den Einwohnern eines Landes die Möglichkeit gemeinsame Erfahrungen zu machen und auf diese Art und Weise trotz unterschiedlicher sozialer Hintergründe einander kennen zu lernen und reziproke Verpflichtungen untereinander einzugehen.12 Auf diese Art und Weise werden sittlich-moralische Grundwerte als eine Form gesellschaftlicher Regulation immer wieder aufs Neue konstituiert und das Gemeinwohl gestaltet. Dazu bedarf es aber eines Gegenübers und es bedingt auch gesellschaftlicher Anstalten, in denen man seinem Mitmenschen begegnen kann und gemeinsam lernt. Dies trägt zur gesellschaftlichen Regeneration bei, ohne dass die Rückbesinnung auf soziale und politische Tugenden zu reaktionärem Rückschritt führen müsste.
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Vgl. diesbezüglich zu den US-amerikanischen Erfahrungen Janowitz 1983: 56.
Ausblick13 In Europa sind die Länder mit allgemeiner Wehrpflicht mittlerweile in der Minderheit. Dies wird u. a. mit den Erfordernissen eines veränderten sicherheitspolitischen Umfeldes begründet, die nach interventionsfähigen Armeen und professionellen Soldaten verlangen würden. Es wird der Eindruck erweckt, dass eine Armee mit hohem Wehrpflichtigenanteil dem ‘erweiterten Aufgabenspektrum’ des Militärs in einer gewandelten sicherheitspolitischen Lage nicht gerecht werden könne. Angesichts des hohen Bedarfs an ziviler Expertise bei der Stabilisierung und dem Wiederaufbau kriegsgeschüttelter Länder ist dies einigermaßen erstaunlich. Vielmehr wird es doch gerade in einer globalisierten Welt zur moralischen Pflicht der Bürger stabiler und wohlhabender Gemeinwesen, nicht nur an sich selbst zu denken und der eigenen Sicherheit zu dienen, sondern u. a. als Bürgersoldat auch zur friedensverträglichen Stabilisierung anderer Gemeinwesen bzw. ihrer Reste beizutragen. Kommt es trotz aufrichtiger friedenspolitischer Bemühungen zum Ernstfall kriegerischer Handlungen und zu Toten, so wird darüber hinaus die Ungeheuerlichkeit der hinter einer reinen Freiwilligenarmee stehenden Idee deutlich: „Wir sind im Begriff, von einem Soldaten zu verlangen, daß er sein Leben gebe, ohne ein emotionales Äquivalent für das verlorene Leben zu bieten, das mit diesem Schicksal versöhnt. Wenn der Tod des Soldaten im Kampf – vom Tod der Zivilpersonen in von Bomben verwüsteten Städten zu schweigen – jeder Idee bergender humanitas, sei es Gott oder König oder patria, beraubt ist, wird er auch der adelnden Idee des Selbstopfers beraubt sein. Er wird zu einem kaltblütigen Abschlachten oder, schlimmer noch, er nimmt den Wert und die Bedeutung eines politischen Verkehrsunfalls an einem Feiertag ein.“ (Kantorowicz 1998: 313) In den USA, dem globalen Hegemon und einziger militärischer Supermacht, wird in den Beziehungen zwischen Militär und ziviler Gesellschaft bereits eine zunehmende Kluft festgestellt, da u. a. überwiegend Menschen aus unterprivilegierten Schichten im Militär dienen (Feaver/Kohn 2001: passim). Der US-amerikanische Historiker Fritz Stern merkt kritisch an, dass sich die USA einer Plutokratie näherten und George W. Bush dies mit christlich-fundamentalistischen Thesen und biblischen Werten verbräme. Bush’ Bruch mit den Prinzipien der US-amerikanischen Außenpolitik und mit den Traditionen der Innenpolitik habe einen radikalen Rechtsruck zur Folge (Interview in der FAZ, 20.01.05). Zudem kommt es aufgrund der seit 2001 zunehmend militarisierten Außenpolitik Washingtons (Mann 2003) zu bisweilen erheblichen Spannungen zwischen Teilen der Streitkräfte – insbesondere 13
Dieser Abschnitt weist zum Teil inhaltliche Überschneidungen auf mit Hagen (2005).
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dem Heer – und der zivilen Regierung, da seitens der aktiven und ehemaligen Soldaten ein übertriebener und unangemessener Einsatz militärischer Mittel in den staatlichen Außenbeziehungen durch die ‘ungedienten’ zivilen Machthaber wahrgenommen wird (Hagen 2003). Liberalistische Freiheit bedeutet immer auch, dass viele Bürger lediglich frei von Besitz an Produktionsmitteln und Lebenschancen sind. Die daherrührende Chancenungleicheit führt dazu, dass dem Gemeinwesen potenzielle Talente verloren gehen und eigentlich mögliche Lebensentwürfe verbaut werden. Die prekäre Eigentumslosigkeit breiter Schichten eines Gemeinwesens an den für die Reproduktion des gesellschaftlichen Reichtums notwendigen Mitteln stellt sich dem Wirtschaftsliberalismus aber nicht als gesamtgesellschaftliches Problem dar, sondern ist seine Grundbedingung, da für den Profit und nicht für den Bedarf produziert werden soll. Wie diesbezüglich bereits Albert Einstein (1949: passim) feststellte, führt solch ein Weg zur Lähmung des sozialen Bewusstseins der Einzelnen. Als Rückzugsgebiet vor den Konsequenzen der neo-liberalen Weltanschauung bleibt den ‘kleinen Leuten’ bestenfalls die „Privatheit“ (Geuss 2001) eines zurückgezogenen Familienlebens, eigentlich die klassische Domäne des gutbetuchten liberalen Bürgertums. Doch auch der republikanistische Demokratieansatz hat seine Schwächen, denn er ist bislang sehr stark isolationistisch konzipiert und berücksichtigt daher andere Länder als Partner nur unzureichend. Angesichts der Internationalisierung des Staates (Cox 1987: 254) und seiner weltweiten Reorganisation sowie des allgemeinen Geltungsanspruchs von Menschenrechten bedarf der Republikanismus einer Anpassung an die Bedingungen des 21. Jahrhunderts. Wenn wir davon ausgehen, dass das Ideal des Bürgersoldaten nicht nur für die Schaffung von demokratischen Verhältnissen im Zuge von Revolutionen sondern im Weiteren auch für den Erhalt von Demokratie unabdingbar ist, dann müssen wir uns langfristig fragen wie dieses Ideal zum Ausbau von wirklich demokratischen Verhältnissen in einer langsam zusammenwachsenden Welt beitragen kann. Sich notfalls für den militärischen Schutz der Menschenwürde einzusetzen sollte daher nicht nur an hauptamtliche Soldaten delegiert werden, wenn auch zur Sicherung von hoher kurzfristiger Kampfkraft in akuten Bedrohungssituationen weiterhin Fachleute militärischer Gewaltanwendung (Lasswell 1941) als Kader erforderlich sind. Schwerlich kann sich ein demokratischer Bürgersoldat in seinem Verantwortungssinn nur auf den Schutz seines Gemeinwesens und seines Landes beschränken, denn das Prinzip der menschlichen Gleichheit verpflichtetet dazu, die Menschenwürde auch andernorts zu schützen. Das Ideal des Bürgersoldaten sollte sich deshalb, im Gleichklang mit einer Entwicklung zu einem neuen Bürgerverständnis unter Verzicht auf die Nation als Bezugsrahmen, fort18
entwickeln. Damit könnten nicht zuletzt auch die mit dem Nationalismus einhergehenden Feindbilder zukünftig der Vergangenheit angehören. Vor diesem Hintergrund bedarf es eines transnationalen Föderalismus, der in der Lage ist, die Errungenschaften des demokratischen Republikanismus auf weltweite Strukturen von politischem Handeln zu übertragen. Bürgerschaftliches Bewusstsein (citizenry) kann als Voraussetzung für den Weg zu einer transnationalen Bürgerschaft gelten (Janowitz 1983: xi). Den bislang am weitesten ausgearbeiteten Vorschlag hat David Held (1995, 2002) mit dem Modell Kosmopolitischer Demokratie gemacht. Das kosmopolitische Modell hebt die Dichotomie der identitären Demokratietheorie gegenüber der Konkurrenztheorie von Demokratie auf, indem sowohl das partizipative (direkte Demokratie) als auch das repräsentative (Parlamentarismus) Demokratiemodell zu einem einzigen kosmopolitischen Modell demokratischer Ordnung integriert werden (Held 2002: 235ff.). Dass dieser Transformationsprozess mitunter konfliktreich sein wird, ist nicht auszuschließen, ändert aber nichts an seiner Notwendigkeit. Die Vielzahl der weltweit von ausuferndem Neo-Liberalismus betroffenen Menschen und die Mannigfaltigkeit der zivilgesellschaftlichen und globalisierungskritischen Gegenbewegungen ist offenkundig (Hardt/Negri 2004: passim). Die Fortentwicklung demokratietheoretischer Modelle ist auf lokaler, regionaler und globaler Ebene unter der Perspektive einer verantwortungsethischen Massenorientierung notwendig, da nur so eine weltweite gesellschaftliche Regeneration humanitärer Werte möglich ist, die Demokratien vor ihrem stets inhärenten Verfall schützt. Dies muss unter gleichzeitiger Entwicklung eines kosmopolitischen Demokratiemodells geschehen, das in der Lage ist, weltweit den Schutz der Menschenwürde durchzusetzen. Die Rückbesinnung auf republikanistische Ideen und deren Weiterentwicklung wird bei der Umsetzung demokratieverträglicher Politik in allen Gemeinwesen der Welt notwendig sein. Den Anfang dazu muss die Vielzahl der Menschen in den Ländern der Erde wagen. Zur Konzeption des Sammelbandes und zu den einzelnen Beiträgen Im Rahmen aktuell stattfindender Transnationalisierungs- und Globalisierungsprozesse verändern sich die politischen Gemeinwesen. So wird ein scheinbarer Souveränitätsverlust des herkömmlichen Nationalstaates konstatiert, während das Wirtschaftsmodell der freien Marktwirtschaft zunehmend absolute Züge annimmt und die Kapital- und Warenströme an Landesgrenzen immer seltener Halt machen. Ob dies zu einem friedlicheren Miteinander und demokratischeren Formen weltweiten Regierens führt, bleibt freilich offen. Für die Streitkräfte verändert aber das schwindende Gebot der Landesver19
teidigung ihre herkömmliche Legitimierung als äußere Beschützer der bestehenden inneren Ordnung. Im Rahmen militärischer Interventionen des weltweiten Einsatzspektrums westlicher Streitkräfte verändert sich seit den 1990er Jahren der Charakter militärischer Aufgaben zunehmend weg von der Verteidigung und hin zur weltweiten Ordnungswahrung. In globaler Hinsicht wird also die Aufteilung in Innen und Außen nach und nach aufgehoben, wodurch aber auch die Trennung in Militär und Polizei hinfällig wird. Das Militär westlicher Staaten, wo in Europa bis ins 19. Jahrhundert hinein – und mancherorts bis heute – die Streitkräfte u. a. als Gendarmerie auch Ordnungsaufgaben im Landesinneren wahrnahmen, tritt angesichts einer international neuartigen sicherheitspolitischen Situation mittlerweile als NeoGendarmerie der neuen monopolaren Weltordnung in vielen Teilen der Welt als Ordnungsmacht auf. Eine pluralistische Staatenordnung wie sie sich mit den Vereinten Nationen (VN) präsentiert und hegemoniale Weltordnung schließen sich nicht notwendigerweise aus, sondern überlagern und ergänzen einander. Die Gliederung der Beiträge des Sammelbandes ist durch ein Analysemuster inspiriert, das von Heins/Warburg (2004: 14ff.) zur Strukturierung der Wechselbeziehung von drei Problemfeldern (Militär, Gesellschaft, Krieg) vorgeschlagen wird. Die Dreiecksbeziehung dieser Felder und die sich daraus ergebenden Kombinationen verdeutlichen vor allem, dass nicht nur Militär und Krieg sondern auch nichtmilitärische Gesellschaft und Krieg verschwistert sind. Heins/Warburg (2004) versäumen es erstaunlicherweise in ihrem Analyseraster den Staat als relevante Größe zu diskutieren. Zum einen ist der moderne Staatsbegriff zwar von der bürgerlichen Gesellschaft getrennt und konkurriert mit dieser, da er in Form politischer Institutionen weiterhin das Primat vor etwa kulturellen und ökonomischen Institutionen beansprucht (Eder 2001: 21). Das Militär stellt dabei eine derjenigen Institutionen dar, aus denen sich die politische Ausübung von staatlicher Macht begründet. Zum anderen birgt jedoch auch die nichtmilitärische, bürgerliche Gesellschaft insofern den Staat in sich, da der Staat auch als Repräsentation gesellschaftlicher Herrschaftsverhältnisse zu verstehen ist (Bourdieu 1998: 99ff.). Daher findet sich der Staat sowohl in Gesellschaft als auch im Militär, das zum einen ein Teil des Staates und zum anderen Teil der Gesamtgesellschaft ist. Auf eine eigene Analysekategorie „Staat“ wird darum bewusst verzichtet, ohne die Bedeutung des Staates für die Aufrechterhaltung der herrschenden Ordnung relativieren zu wollen. Angesichts des oben dargelegten Bedingungs- und Wechselverhältnisses der drei Größen Gesellschaft, Krieg, Militär entstehen Überschneidungen, welche als Problemfelder einer friedlichen oder gewaltsamen sozialen Ordnung identifiziert werden können. Die Zuordnung der Beitrage dieses Sam20
melbandes erfolgt anhand der sich daraus ergebenden Dreiteilung. Die für die Ausübung der physischen Gewalt des Staates im Militär konzentrierten Kräfte setzen die symbolische Anerkennung und Legitimität ihrer Existenz voraus. Damit gehen spezifische Prinzipien und Werte bei der Produktion der sozialen Ordnung im Militär einher. Da aber ‘Werte’ letztlich allem Sozialen zugrunde liegen, kann man sich ihnen nur indirekt nähern, denn sie entfalten erst durch soziales Handeln ihre Wirkung. Die Analyse der praktischen Unterschiede oder auch Gemeinsamkeiten zwischen Soldaten und Zivilisten hinsichtlich ihrer Denkschemata und Handlungsmuster u. a. bei internationaler Sicherheitspolitik, gesellschaftspolitischer Einstellungen, Gewissensfragen etc. erlaubt eine Annäherung an die zugrunde liegenden Prinzipien des sozialen Handelns. Diese Prinzipien zeichnen sich dadurch aus, dass sie zwar nicht direkt beobachtet, aber durch die Praktiken der sozialen Akteure rekonstruiert werden können. Die Beiträge des Sammelbandes setzen sich daher u. a. mit den militärischen Wahrnehmungs-, Denk- und Bewertungsstrukturen und den Beziehungen des Militärs zu anderen gesellschaftlichen und staatlichen Bereichen auseinander: Gesellschaft / Krieg: Da nicht nur das Militär in einer Wechselbeziehung zum Phänomen des Krieges steht, sondern auch die zivile Gesellschaft ein Opfer von militärischer Gewalt und gleichzeitig mitverantwortlich für militärische Gewalt sein kann, muss der Blickwinkel der herkömmlichen Militärsoziologie um kriegssoziologische und gesellschaftstheoretische Aspekte erweitert werden. Daher gilt es nicht nur die zivil-militärischen Beziehungen in all ihren Facetten, sondern auch das Verhältnis von nichtmilitärischer Gesellschaft und gewaltsamer Konfliktlösung in den Innen- und Außenbeziehungen eines Landes zu problematisieren. Die Rede vom ‘New Security Environment’ (NSE) bleibt ambivalent, da die dementsprechenden politischen Schlussfolgerungen die Spannbreite humanitärer Interventionen mit Mandat der VN bis hin zu völkerrechtswidrigen Angriffskriegen aufweisen. Die Wechselbeziehung von Gesellschaft, Krieg und Militär ist für Christian Leuprecht die Ausgangsbasis für seine Analyse der demokratischen und funktionalen Anforderungen an Streitkräfte der Spätmoderne. Anhand veränderter sicherheitspolitischer Rahmenbedingungen der internationalen Ordnung und der sich daraus abgeleiteten neuen Aufgaben westlicher Streitkräfte zeigt er, dass funktionale Forderungen nach hoher Einsatzfähigkeit und demokratische Forderungen nach gesellschaftlicher Repräsentation im Militär sich nicht notwendigerweise ausschließen, sondern angesichts eines sich wandelnden internationalen Konfliktszenarios geradezu ergänzen. Dazu gilt es aber den demographischen Wandel westlicher Gesellschaften zu erkennen und deren ethnische Diversität anzuerkennen.
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Angesichts einer neuartigen internationalen Lage sah sich Deutschland und seine politische Führung schon kurz nach der Deutschen Einheit und der wiedererlangten Souveränität mit Forderungen nach Beteiligung an militärischen Interventionen außerhalb des NATO-Gebietes gegenüber. Während in den Ansätzen zu den zivil-militärischen Beziehungen sich entweder Politologen mit der zivilen Kontrolle der Streitkräfte durch die Exekutive oder Soziologen mit dem Bedingungs- und Wechselverhältnis von nichtmilitärischer Gesellschaft und Militär befassen, fragt Berthold Meyer vor dem Hintergrund eines veränderten sicherheitspolitischen Umfeldes nach der Rolle der Legislative in den zivil-militärischen Beziehungen. Krieg / Militär: Die potenzielle Kriegführungsfähigkeit macht den Kern jeder Militärorganisation aus. Angesichts der Unwahrscheinlichkeit des Großen Krieges und der Veränderung der politischen Aufträge an das Militär westlicher Länder, die von friedensermöglichenden Stabilisierungsaufgaben in bürgerkriegsgeschüttelten Regionen wie dem westlichen Balkan in sog. ‘Operations other than War’ (OOTW) bis hin zu den Irak-Feldzügen unter Anführung der USA reichen, wird seit den 1990er Jahren von der ‘Revolution in Military Affairs’ (RMA) gesprochen. Mit dem Wandel der politischen Aufträge an das Militär zur Erfüllung der außenpolitischen Ziele eines Landes verändern sich die Militärorganisation, der Soldatenberuf und die gesellschaftliche Rolle des Militärs eines Landes. Mit dem sich wandelnden Einsatzspektrum der Bundeswehr vollzieht Deutschland in militärischer Hinsicht so etwas wie eine nachholende Entwicklung, da bereits nach dem 2. Weltkrieg einige westliche Staaten wie das Vereinigte Königreich, Frankreich und die USA dem Kleinen Krieg begegneten. Stefan Goertz legt äußerst nüchtern dar, welche diesbezüglichen Fehler auf Seiten Frankreichs in Algerien und der USA in Vietnam begangen wurden und erklärt warum die britischen Besatzungskräfte mit einer klugen Anwendung der ‘Counter-insurgency-Doktrin’ in Malaysia sowohl die Zivilbevölkerung als auch die eigenen Truppen schonen konnten und den Gegner besiegten. Die Parallelen zu den westlichen Militärinterventionen im Mittleren Orient seit dem Ende des Kalten Krieges sind offenkundig. Aus militärethnologischer Perspektive heraus befasst sich Maren Tomforde mit dem militärischen Auslandseinsatz als Initiationsritus der neu strukturierten Bundeswehr. Der Weg zum Einsatzsoldaten findet seinen Abschluss in den inoffiziellen Abschiedsfesten und den Auszeichnungen, die im Rahmen offizieller Zeremonien übergeben werden. Diese Übergangsriten besitzen die Kraft den einsatzerfahrenen ‚Neuen Soldaten‘ zu schaffen. Militär / Gesellschaft: Je nach Zweck des Militärs eines Landes und der gesellschaftlichen Verhältnisse prägt sich das Militär im geschichtlichen und 22
internationalen Vergleich unterschiedlich oder gleich aus. Eine große Rolle spielt hierbei das Wehrsystem. Umgekehrt besitzt auch das Militär als gesellschaftliche Teilkultur und Institution des staatlichen Gewaltmonopols einen formativen Einfluss auf seine zivile Umwelt. Die regulären Streitkräfte eines Landes unterliegen diversen Rekrutierungssystemen, was nachhaltigen Einfluss auf das Militär, aber auch auf die zivile Gesellschaft hat. Der Anspruch des Primats der Politik der zivilen politischen Führung gegenüber der militärischen Führung der Streitkräfte bedingt das Prinzip von Befehl und Gehorsam im Militär, da vom Militär grundsätzlich die Unterordnung unter die zivile politische Führung verlangt wird. Daran ist zu erkennen, dass es niemals reicht allein die Binnenorganisation des Militärs zu betrachten. Die drastisch eingeschränkte Autonomie des Soldatenberufes ist Ausdruck des Primats der Politik. Zur Diskussion der Frage nach dem professionellen Charakter des Soldatenberufes zieht Maja Apelt sowohl professionssoziologische als auch militärsoziologische Ansätze heran. Sie veranschaulicht, wie wir es angesichts von auftragsbedingten Umstruktierungen des militärischen Feldes derzeit mit einem gleichzeitigen Prozess von Professionalisierung und Entprofessionalisierung zu tun haben. Die in den meisten westlichen Armeen derzeit virulente Professionalisierungsdebatte findet sich auch in der Bundeswehr wieder. In diesem Zusammenhang kommen in den deutschen Streitkräften regelmäßig die Begriffe soldatische Tugenden, Innere Führung und Auftragstaktik vor. Mittels eines systemtheoretischen Ansatzes beleuchtet Jörg Keller die Doktrin des Führens mit Auftrag als Verfahrensprinzip in komplexen Situationen in ihrer Bedeutung für die Militärorganisation. Er stellt fest, dass Führen mit Auftrag – ursprünglich ein Steuerungsverfahren in Gefechtssituationen – in der militärischen Praxis immer weniger anzutreffen ist und in den Mythos der Organisation überzugehen droht. Der Begriff Auftagstaktik findet immer öfter in Anknüpfung an die Vergangenheit eine neue Verwendung. Neben der Auftragstaktik findet sich seit der Gründung der Bundeswehr die Konzeption der Inneren Führung als eine Besonderheit der bundesrepublikanischen Streitkräfte. Sie stellt die Führungs- und Organisationsphilosophie der Bundeswehr dar und bietet den deutschen Soldatinnen und Soldaten einige Möglichkeiten zu eigenverantwortlichem Handeln innerhalb der Grenzen des bedingten Gehorsams. Die Prinzipien der Inneren Führung muten aber den Uniformträgern auch zu, unter den Bedingungen von Befehl und Gehorsam dennoch gewissensgeleitet zu handeln. Angelika Dörfler-Dierken veranschaulicht anhand einer konstruierten aber praxisnahen Dilemmasituation die unterschiedlichen Bewertungs- und Denkmuster bei jungen studierenden Offizieren im Vergleich zu Studierenden der Theologie. Ganz
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im Sinne des Grafen von Baudissin mahnt Doerfler-Dierken die Mitmenschlichkeit als höchste Soldatentugend an. Im Rahmen der gewünschten Professionalisierung des Offizierberufes qua akademischer Ausbildung und der Attraktivitätssteigerung des Militärs als Arbeitgeber vergeben mittlerweile die Militärakademien vieler Länder staatlich anerkannte Hochschulabschlüsse an ihre uniformierten Absolventen. In Deutschland findet das Studium für Offiziere an bundeswehreigenen, aber zivilen Universitäten statt. Die Laufbahn des Offiziers der Bundeswehr verläuft in seiner Anfangsphase somit in militärischen und zivilen Welten. Mittels des Konzepts der Alltäglichen Lebensführung und anhand von narrativen Interviews mit studierenden Offizieren verdeutlichen Florian Müller, Martin Elbe und Ylva Sievi die Bedeutung des nichtmilitärischen Studiums für einen zivilkompatiblen Offizierhabitus. Angesichts dieses Ergebnisses betonen die Autoren die Bedeutung akademisch gebildeter Offiziere für eine mit demokratischen Grundsätzen kompatiblen Armee. In organisationaler Hinsicht sehen sich die Armeen westlicher Länder zunehmend komplexen Veränderungsprozessen ausgesetzt, da die Einführung und Nutzung betriebswirtschaftlicher Instrumente in der Militärorganisation den jahrtausendealten Prinzipien des „Kameradschaftskommunismus des Heeres“ bzw. „Kriegerkommunismus“ (Weber 1972: 80, 684) von Streitkräften – Kommunismus versteht Weber als des Fehlen von ‘Rechenhaftigkeit’ beim kollektiven Güterverbrauch – entgegensteht. Die auf der Außeralltäglichkeit des Kampfes beruhende militärische Gesinnung geht mit einer unmittelbar empfundenen Solidarität der Kämpfer einher und findet sich vor allem in überwiegend charismatisch legitimierten Militärorganisationen; aus der Besonderheit des militärischen Auftrags wurde und wird das Anrecht auf umfassende Ausstattung mit Gütern und deren Verbrauch abgeleitet. Mit dem Wegfall des Systemgegners im Zuge des Endes des Ost-West-Konflikts haben die westlichen Armeen zunächst eine Legitimierung für ihren hohen Ressourcenverbrauch verloren. Die seitdem dominierende neoliberale Denkweise führt darüber hinaus dazu, dass sich moderne Militärorganisationen einem rationalistischen Legitimierungszwang ausgesetzt sehen, was sich in der Einführung betriebswirtschaftlicher Instrumente widerspiegelt. In seinem Beitrag verdeutlicht Gregor Richter die Effekte der Einführung von ‘Controlling’ in die Bundeswehr als Führungs- und Managementinstrument. Unter Heranziehung der Theorie der Strukturation macht Richter deutlich, das Controlling in der Bundeswehr seinem eigentlichen Zweck, der darin besteht die Bundeswehr ökonomisch effizienter zu machen, nur eingeschränkt gerecht wird. Gleichwohl ist Controlling als Verfahren der Verantwortungszuschreibung auch heute schon ein administratives Herrschaftsmittel. 24
Die Mannigfaltigkeit, in der sich die Beiträge des vorliegenden Sammelbandes mit Streitkräften und deren Rolle gegenüber der nichtmilitärischen Gesellschaft sowie dem Phänomen gewaltsamer Konflikte befassen, erlaubt einen Einblick in die Gemeinsamkeiten und Unterschiede ziviler und militärischer Prinzipien. Der Sammelband kann zu multiperspektivischer Betrachtung der Formen institutioneller Gewalt in Staat und Gesellschaft beitragen. Doch auch die (Sozial-)Wissenschaft selbst befindet sich in den gesellschaftlichen Prozessen und Konflikten nicht auf einem Feldherrenhügel, sondern mitten im Getümmel. Daher kann eine interdisziplinäre Militärsoziologie nur selbstkritisch anstreben die soziale Welt zu erkennen und zu verstehen sowie begründet zu interpretieren. Den Autorinnen und Autoren gebührt Dank sich u. a. mit ihren hier veröffentlichten Beiträgen an diesem Unterfangen zu beteiligen. Ganz herzlichen Dank auch an das Sozialwissenschaftliche Institut der Bundeswehr, welches großzügig die materiellen und personellen Mittel für diesen Sammelband zur Verfügung gestellt hat und damit mithilft die kritische Betrachtung der zivil-militärischen Beziehungen zu fördern.
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I Gesellschaft / Krieg
Die unvollendete Revolution: Post-nationale Streitkräfte Christian Leuprecht Streitkräfte in demokratischen Staaten behaupten gerne, dass die Verteidigung der Demokratie nur durch undemokratisches Verhalten innerhalb der Streitkräfte möglich ist. Demnach ist ihre Aufgabe die Verteidigung der Demokratie, nicht deren Vollstreckung. Dieser Beitrag hat zum Ziel, diese Annahme als falsch zu erweisen. Zum einen breitet sich Aufgrund des demographischen Wandels in fortgeschrittenen industrialisierten Demokratien der ethno-kulturelle Pluralismus aus. Zum anderen ist aufgrund von neuartigen Einsätzen, die Notwendigkeit gesellschaftlichen Umbruchs in den Institutionen des Staates zu legitimieren. Von der sich ändernden Kosten-NutzenRechnung was Nachwuchs bedarf, sind Streitkräfte gezwungen sich zu fragen, wie sie ihre Aufgabe am besten wahrnehmen können. In den guten alten Zeiten war das Leben für ‘westliche’ Streitkräfte doch so viel einfacher: Ihr Sinn und Zweck bestand darin, Gegenpol zum Warschauer Pakt zu sein. Dessen Ende schwörte die „Revolution in Military Affairs“ (RMA) herauf. Eigenartig war sie, diese Revolution, da niemand sie so wirklich ahnte oder wollte. Zu Anfang sollte sie helfen, bei Verteidigungshaushalten zu sparen. Der Feind, hatte sich ja nun mal aufgelöst. Aber die angepreiste Friedensdividende (Gleditsch 1996) verwirklichte sich nicht (Gupta et al. 2002). Stattdessen wurden Sicherheits- und Verteidigungspolitik komplizierter: Somalia, Bosnien, Kosovo, Mazedonien, Ost Timor, Haiti, Afghanistan, Irak. Eine Revolution ist freilich ein Ereignis welches drastische und langwierige Änderungen bei Denk- und Verhaltenweisen hervorruft. Der Auslöser der RMA war primär, aber nicht endogen. Stattdessen wurde diese ‘Revolution’ von exogenen Ereignissen ausgelöst. In ihrer Gesamtheit sind diese als das „New Security Environment“ (NSE) bekannt: Bürgerkrieg, schwache und scheiternde Staaten sowie transnationaler Terrorismus. Streitkräfte mussten sich den neuen Umständen anpassen. In erster Linie hatte das materielle Konsequenzen. Das ist genau was man sich von einer westlichen, rational geprägten, technokratischen Armee erwartet, doch dieses materielle Umdenken ist unzureichend. Das Merkmal der NSE sind kulturell komplexe Aufgaben. Diese werden in fremder Umgebung unter sprachlichen, kulturellen und religiösen Gegebenheiten ausgeführt, die sich wesentlich vom Westen unterscheiden. Einsatzmäßig müssen westliche Streitkräfte dementsprechend ihre Talente anpassen. Dies ist leichter gesagt, als getan. Die Situation wird für Streitkräfte weiter dadurch kompliziert, dass der Anpassungsdruck nicht nur exogen ist. Der demographische Wandel ist dabei, das Gesicht westlicher Gesellschaften irreversibel neu zu prägen. Dieser 31
Prozess wirkt sich auf militärischen Nachwuchs und Politik aus. Durch die Alterung z. B. der deutschen Gesellschaft ergibt sich eine doppelte Herausforderung. Die anzuwerbende Kohorte verdünnt sich. Es wird prognostiziert, dass der Anteil der unter Zwanzigjährigen von 17,1 Prozent in 2002 bis 2050 auf 10,7 Prozent fallen wird. Bei einem verhergesagten Bevölkerungsrückgang von 82,5 Millionen in 2002 auf 69,7 Millionen bis 2050, heißt das, dass sich die Kohorte, die man anwerben könnte, über das bevorstehende halbe Jahrhundert etwa halbieren wird. Noch dazu haben aber Einwanderer im Durchschnitt mehr Kinder als ‘Einheimische’. Die Herausforderung der schwindenden Anwerbungskohorte wird daher durch ethno-kulturelle Ausdifferenzierung gesteigert. Soziale Fragmentation aber wirft sowohl für Militär als auch Gesellschaft ein Dilemma auf. Wenn Einwanderern an einem so strategischen Sektor des Staates wie militärischer Sicherheit die Teilnahme – und somit die Chancengleichheit – verwehrt wird, fördert das nur deren Entfremdung und treibt somit die soziale Fragmentierung voran. Doch deren Teilnahme trägt vermeintliche Sicherheitsrisiken und würde derartige Kompromisse herbeiführen, dass das non plus ultra jeder Streitkräfte – deren Kohäsion – gefährdet werde. Im Endeffekt ist die Reaktion von Streitkräften auf ethno-kulturellen Pluralismus immer die gleiche: Gegen Nicht-Diskriminierung und mehr Diversität haben sie im Prinzip nichts1, so lange dies keine Auswirkungen hat und Soldaten und Offiziere ihre ‘bewährten’ Methoden nicht anpassen müssen. Dieser Beitrag argumentiert, dass diese Meinung höchst problematisch ist und auf unzureichenden Annahmen ruht. Aufgrund räumlicher Beschränkungen wird sich dieser Beitrag nicht eingehend mit der RMA und dem NSE befassen. Selbst ein oberflächliches Verständnis dieser beiden Konzepte reicht, um sich mit der These dieses Beitrags auseinanderzusetzen: Dass der aktuelle Zustand unzureichend ist und dass es überzeugende Gründe gibt, wieso westliches Militär heterogener werden muss. Diese Auffassung basiert auf drei Hypothesen: H1: Der Status quo beeinträchtigt Einsätze, größere Diversität aber erleichtert sie; H2: Streitkräfte haben sich in der Vergangenheit bereits als Integrationsinstrument im Nationalstaat erwiesen; H3: wirtschaftliche und ethische Notwendigkeiten stehen in einem Wechselverhältnis. 1
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Der Ausdruck Diversität bezieht sich auf alle Arten, wie wir uns von einander unterscheiden (James 2000). Er beinhaltet Unterschiede die auf Hautfarbe, Geschlecht, Alter, Sprache, Herkunft, Religion, Meinung, Orientierung und Umfeld zurückgehen (Rutherford 1990; Shuster/van Pelt 1991; James 1994). Er bezieht sich auch auf Unterschiede in persönlicher Erfahrung, Charakter, Verhalten und Position in einer Hierarchie (Griggs/Louw 1994).
Die folgenden Teile behandeln diese drei Themen.
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Kulturell komplexe Einsätze: Ethnische Demographie als Multiplikationsfaktor
Der Widerstand gegen ethno-kulturellen Pluralismus in Streitkräften ist von zwei Argumenten geprägt: Deren Kohäsion und das Sicherheitsrisiko. Weder das eine noch das andere Argument sind vollkommen grundlos. Doch lassen sich diese Vorbehalte entkräften. Zum Beispiel war bereits Friedrich II. klar, dass instrumentelle Argumente für Diversität von Streitkräften weitaus wichtiger sind, als die dagegen: Aus Gründen von Einsatzaufgaben und reiner Größe professionalisierte er das Preußische Heer in dem er aufgrund von Verdienst statt Geburt aussuchte und beförderte (Fulbrook 2004: 4. Kapitel). In einem von kultureller Komlexität geprägten Aufgabengebiet sind Sprache, Kultur und Religion unentbehrlich. Der Bedarf an Civil-MilitaryCooperation (CIMIC)- und Psychological Operations (PSYOPS)-Einheiten ist noch nie größer gewesen. Während militärischer Einsätze etablieren, beeinflussen, erklären und halten CIMIC-Einheiten die Beziehung zwischen Streitkräften, Zivilbehörden und der zivilen Gesellschaft aufrecht. CIMICExpertise war in allen militärischen Expeditionen der amerikanischen Streitkräften in den letzten Jahren sehr gefragt: in Somalia, Haiti, Bosnien, Kosovo, Afghanistan und im Irak. Und nachdem sie auch zivile Rekonstruktionsarbeiten leiten, werden sie aus humanitären und Sicherheitsgründen weiterhin recht gefragt sein (Fuller 1996: 14–19). PSYOPS-Einheiten haben ebenso ausgiebige Erfahrung und Training in Sprache und Kultur. Mit der Aufgabe vertraut Einstellungen und Verhalten zu beeinflussen, ist ihr Ziel ein fremdes Publikum durch die Verbreitung gezielter Information freundlich zu gesinnen. Wie ihre CIMIC-Partner sind auch PSYOPS-Einheiten zur Unterstützung von humanitären Einsätzen wichtig. Ihre öffentliche Diplomatie und Sicherheitsaktivitäten haben sich in Somalia, Haiti, Kurdistan, auf dem Balkan, in Afghanistan und im Irak als unentbehrlich erwiesen (Fitzsimmons 2003: 208). Im Prinzip handelt es sich dabei um nichts anderes als ‘community policing’ auf größerer Breite. Das Community Policing-Modell wurde entworfen, um bessere Verhältnisse mit entfremdeten Gemeinschaften herzustellen. Polizisten werden in Stadtteilen eingesetzt, wo sie mit den dortigen ethnischen Gruppen bereits eng vertraut sind. Dazu kommt, dass anstatt passiv mit dem Auto durch die Gegend zu fahren, die Sicherheitsbeamten nun zu Fuß die Gegend abklappern und dabei strategische Beziehungen aufbauen (Leighton 1991; Friedman 1992; Gramckow 1995; Fielding 1995; Ziembo-Vogl et al. 1996; Olivier et al. 1998). Es ist nicht das Ziel, sich hier mit den Vor- und 33
Nachteilen dieses Modells auseinanderzusetzen. Es geht rein um die Feststellung, dass Einsätze in den letzen Jahren sich mehr und mehr Leuten bedienen, die sich in der Landessprache verständigen können und die lokale Kultur und Religion teilen oder wenigstens verstehen. Nehmen wir z. B. das US Marine Corps, dessen Vorbereitungen auf den zweiten Irak-Krieg auf 1994/1995 zurückgehen. Um mehr über die auf kulturelle Ignoranz zurückzuführenden Fehler, welche den Franzosen in Algerien und den Amerikanern in Vietnam unterlaufen sind, zu lernen, begann das Marine Corps einen Plan zu entwerfen, der die erfolgreiche Navigation des kulturellen Terrains als Leitmotiv hatte. Dabei kam das Marine Corps’ Centre for Advanced Operational Culture Learning (CAOCL) heraus. Es ist damit beauftragt, ein aufgabenbezogenes „(…) understanding of the people we are trying to help and the people we are fighting: their culture, what they think is unimportant, what they think is important“ zu entwickeln. Es „promotes a grasp of culture and language as regular, mainstream components of the operating environment – the human terrain – throughout the full spectrum of military operations“. Sein Zweck ist „to ensure that Marines are equipped with operationally relevant regional, culture, and language knowledge to allow them to plan and operate successfully in the joint and combined expeditionary environment: In any region of the world as well as in current and potential operating conditions by targeting persistent and emerging threats and opportunities.“2 Sein Angebot beinhaltet „Military Intelligence Cultural Awareness Training“ und einen Kurs zum Thema „Cultural Awareness and Terrorism“. Trotz des neuen Paradigmas des Marine Corps bleibt in seinen Reihen der ‘Wunsch’ bestehen, einen konventionellen Krieg zu führen. Ob das Kulrur-Paradigma effektiv sein kann, ist empirisch nicht nachvollziehbar, doch wissen wir, dass das konventionelle Paradigma wohl zu sub-optimalen Resultaten führt. Bessere kulturelle Empathie kann auch dabei helfen offenbare Widersprüche zu identifizieren, die möglicherweise den Erfolg einer Mission schnell in Frage stellen können. Aufgrund von Diaspora-Netzwerken und Massenmedien sind die Bevölkerungen der betroffenen Regionen nämlich mit der ethno-kulturellen Diversität westlicher Gesellschaften vertraut. Wie glaubwürdig wird daher eine ausländische Friedensmission mit einem Mandat, Normen wie Respekt für Minderheiten zu übermitteln, sein, wenn die entsandten Streitkräfte sich von Aussehen und Religion stets gleichen? Da wird wohl zu erwarten sein, dass den Einheimischen solche Inkonsistenz schnell auffallen wird. Um einschlägig und vertrauenswürdig zu sein, müssen Einsatzkräfte auch selber praktizieren, was sie anderen empfehlen. Die Royal Canadian Mounted Police geht mit gutem Beispiel voran. Bei öffentlichen 2
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http://www.tecom.usmc.mil/caocl/
Auftritten sind generell zwei Gesetzeshüter anwesend: ein Mann und eine Frau, eine(r) davon französischsprachig, die(der) andere englischsprachig und seit kürzerem kommt eine(r) der beiden normalerweise auch von einer ethnischen Minderheit oder ist ein Ureinwohner.
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Streitkräfte als ein Vorbild des sozialen Wandels im Nationalstaat
Alle entwickelten Demokratien sind auf verantwortungsvolle Verwaltungsverfahren besonnen. Dabei hat sich Repräsentation zu einem der wichtigsten Prinzipien entwickelt. Man ist sich mehr und mehr im Klaren, dass Regierungen und die Institutionen des Staates die Interessen der Bevölkerung nur wirklich wahrnehmen können, wenn sie dieses intern widerspiegeln. Denn eines der Hauptmerkmale einer liberal demokratischen Gesellschaft besteht darin, inwieweit individuell errungener Status den zugeschriebenen Gruppenstatus vormoderner Zeiten im öffentlichen Leben ersetzt (Dahrendorf 1979). Diversität ist dabei, sich unwiderruflich als zentrales Paradigma im Verstehen von sozialer Kohäsion zu etablieren. Zu den Schlüsselvariablen zählen z. B. Identität, effektive Staatsbürgerschaft, Einbezug oder Entfremdung, Werte und Einstellungen sowie Governance. Durch Gleichberechtigungs- und Menschenrechtsgesetzgebung versuchen liberale Gesellschaften sicherzustellen, dass Unterschiede und individuelle Entscheidungen respektiert werden, indem sie einen Rahmen bereiten, wo das Universelle mit dem Einzelnen zu vereinbaren ist, ohne Gegensprüche heraufzubeschwören. Dies ist nun mal der Zweck einer liberalen Demokratie. Der Liberalismus ist bedacht auf Selbstverwirklichung. Sein Hauptwert ist daher die Freiheit des Individuums. In einer Demokratie regiert die Mehrheit. Insofern sind Gleichheit und Gerechtigkeit die beiden Nebenwerte der liberalen Demokratie, denn die Stimme eines jeden Einzelnen besitzt ceteris paribus genau den gleichen Wert. In der liberalen Demokratie herrscht daher eine Spannung zwischen Liberalismus (dem Einzelnen) und Demokratie (dem Universellen). Wenn wir annehmen, dass Individuen nicht atomistische Tabula Rasa sind, sondern stattdessen ihre Weltanschauung auf einem ‘Horizont des Verstehens’ basiert, der von Variablen wir Sprache, Kultur und Religion beeinflusst wird (Taylor 1985), dann ist das Konzept der Staatsbürgerschaft mannigfaltig und basiert nicht nur auf individuellen sondern auch auf kollektiven Rechten (Kymlicka 1995). In dieser Debatte gibt demographische Notwendigkeit den Ton an. Durch Fortschritte im Kommunikations- und Transportwesen, steigen Diasporas an und sind allgegenwärtig. Etwa drei Prozent der Weltbevölkerung – 175 Millionen Leute – wohnen außerhalb des Landes wo sie geboren wurden. Sech35
zig Prozent aller internationalen Migranten residieren in industrialisierten Ländern: 56 Millionen davon in Europa, 41 Millionen in Nordamerika. Knapp eine Person von zehn in entwickelten Regionen ist daher ein Migrant. Und deren Anzahl steigt. Zwischen 1995 und 2000 stieg die Zahl der Migranten um 12 Millionen an. Im Jahr 2002 alleine waren es weitere 2,3 Millionen. Migration ist dabei, die Zusammensetzung westlicher Länder von Grund auf zu ändern. Was jährliche durchschnittliche netto Migration betrifft waren die westlichen Hauptzielstaaten zwischen 1995 und 2000 britische angelsächsische Einwanderungsländer – Australien, Kanada und die Vereinigten Staaten – gefolgt von Deutschland, Italien und Großbritannien (United Nations International Migration Report 2002). Die westliche Demokratie mit dem höchsten Anteil an auswärtig geborenen Leuten in seiner Bevölkerung ist Australien (24 %), gefolgt von Kanada (18,9 %). Die Vereinigten Staaten, Frankreich, Deutschland, Großbritannien, Italien und die meisten westeuropäischen Staaten liegen zwischen 12 und 13 Prozent (United Nations International Migration Report 2002). Ausnahmen sind die Schweiz (25,1 %) und Luxemburg (37,3 %). Obgleich der Anteil der auswärtig geborenen Bevölkerung in den meisten dieser Länder recht stabil ist, ändert sich die Zusammensetzung deren nationalen Bevölkerungen doch ansehnlich. Erstens tendieren Einwanderer dazu jünger zu sein, als der nationale Altersdurchschnitt. Zweitens haben sie daher trotz ihrer relativ kleinen Anzahl einen überdurchschnittlichen Anteil an Frauen im gebärfähigen Alter. Drittens tendieren sie dazu, überdurchschnittlich große Familien zu haben. Diese Abweichung gibt sich erst nach zwei oder drei Generationen wenn sich die Einwanderer mit dem staatlichen sozialen Sicherungssystem vertraut gemacht haben und somit den Werten des Großteils der Bevölkerung angleichen. Viertens ändern sich die Herkunftsländer (vgl. Citizenship and Immigration 2002: 27–35; Pendakur/Hennebry 1998). Vor 1960 kamen die meisten Immigranten aus anderen westlichen Ländern. Seit den 1970er Jahren aber übertrifft der Anteil an Einwanderern aus dem Rest der Welt die Anzahl derer aus dem Westen. Für diesen Trend gibt es drei Gründe. Erstens reduzierte ein verbesserter Arbeitsmarkt den ‘push’ Faktor für potenzielle Migranten. Zweitens fiel aufgrund des Wohlfahrtstaates die Geburtenrate, da dieser Kinder als soziale Sicherung ablöste (Easterlin/Crimmins 1985). Drittens hatte der Holocaust den Horror den Diskriminierung hervorrufen kann, klar und deutlich gemacht. Eine der Folgen des 2. Weltkrieges ist daher die (langsame) Entdiskriminierung der Einwanderungspolitik westlicher Länder in Betracht auf Rassenmerkmale. Während der Anteil an Einwanderern aus westlichen Ländern seit den 1960er Jahren am fallen ist, steigt der Anteil der Immigranten aus dem Rest der Welt seither rasant an. Das überdurchschnittliche Wachstum des nicht-‘weißen’ Anteils 36
unter westlichen Bevölkerungen ist auf dieses Zusammentreffen von Faktoren zurückzuführen. Ansteigende ethno-kulturelle, sprachliche und religiöse Diversität treibt die soziale Fragmentierung und Stratifizierung voran. Nicht nur ist dieser Trend irreversibel, sondern er wird auch weiter fortbestehen, da niedrige Geburtenraten im Westen ausländische Arbeitskräfte – insbesondere qualifizierte Arbeitskräfte – unumgehbar machen. Aufgrund des demographischen Wandels in fortgeschrittenen Industriestaaten stehen Regierungen eigentlich nur vor folgender Entscheidung: Sollten die Institutionen des Staates dem sozialen Wandel nachkommen indem sie eine Arbeitnehmerschaft anstreben die die nationale Demographie besser widerspiegelt und sollten öffentliche Institutionen mit gutem Beispiel, d. h. mit einer pluralistischen Arbeitnehmerschaft, vorangehen, um somit den Staatsbürgern ein wirklich liberal-demokratisches Bild darzustellen, d. h. ein Bild einer Gesellschaft deren Mitglieder wirkliche Chancengleichheit genießen. Das ist eine Schlüsselfrage, denn historisch ist der moderne Staat seit jeher auf Assimilierung und Homogenisierung bedacht (Bourdieu/Passeron 1977; Dahrendorf 1959; Bobbitt 2004). Mit wachsendem ethno-kulturellen Pluralismus konfrontiert hat sich die Übermittlung von Normen zu einer der Hauptfunktionen des modernen Staates entwickelt. Dabei denkt man insbesondere an die (zuerst gewalttätige, später subversive) politische Sozialisierungsrolle des öffentlichen Schulsystems. Diesbezüglich spielen die Sicherheitskräfte aber eine bedeutende Rolle. Sicherheitskräfte – insbesonders Streitkräfte – sind bekannt für ihre relative Homogenität. Dies begrenzt sich nicht auf Hautfarbe und Mitglieder von Minderheiten. Wie Debatten über Frauen und Schwule im Militär und die latente Sprach- und Religionskohärenz ihrer Mitglieder aufweisen, trifft es auf so ziemlich alle vorstellbaren Varianten von Diversität zu. Die USamerikanischen Streitkräfte sind da wohl wegen der beachtlichen Anzahl an Afro-Amerikanern die Ausnahme. Doch bilden Afro-Amerikaner natürlich selber eine Ausnahme, da man sie weder als Einwanderer noch als Ureinwohner einstufen kann. Dazu kommt, dass Afro-Amerikaner unter Offizieren immer unterrepräsentiert und unter aktiven Soldaten grundsätzlich überrepräsentiert sind. Trotzdem ist das Beispiel der Afro-Amerikaner ein klassisches Beispiel dazu, wie nationalstaatliche Institutionen mit sozialem Wandel umgehen sollten und können. Wie Samuel Huntington’s klassische Studie zu den Beziehungen zwischen dem Militär und der zivilen Gesellschaft, Changing Patterns of Military Politics (1962), darstellt, änderten die US-amerikanischen Streitkräfte proaktiv in den 1940er und 1950er ihre Einstellung Afro-Ameri37
kanern gegenüber, um zielstrebig der US-amerikanischen Gesellschaft mit gutem Beispiel voranzugehen. Die praktische Umsetzung dieser Politik bleibt zwar unvollendet – Afro-Amerikaner sind in höheren Rängen und in manchen Aufgabengebieten weiterhin relativ zu ihrem demographischen Gewicht in der US-amerikanischen Gesellschaft unterrepräsentiert – doch ist AfroAmerikanern in den US-amerikanischen Streitkräften prinzipielle (wenn auch nicht immer praktizierte) Chancengleichheit gewährt. Das Beispiel beweist also, dass Streitkräfte dem gesellschaftlichen Wandel nicht unbedingt hinterherhinken müssen (Feaver 1996). Und wie schon der Titel von Huntingtons Klassiker andeutet, ist die Entscheidung, ob die Institutionen des modernen Staates sich dem gesellschaftlichen Wandel entgegenstellen oder davon zu profitieren, im Endeffekt eher politisch bedingt. Die Entscheidung Frankreichs die Wehrpflicht abzuschaffen ist dafür ein gutes Beispiel. Diese wurde damit gerechtfertigt, dass man so den Anforderungen der RMA und des NSE gerecht werde. Erstens müssten Streitkräfte schlanker und voll professionalisiert sein, um dem neuen Tatbestand nachzukommen. Zweitens sei die Wehrpflicht sowieso nur ein finanziell und führungsmäßig unnötiger Aufwand. Unter dem Zeichen des ‘new public management’ das nun alle westlichen Streitkräfte prägt, könnten diese Ressourcen woanders besser verwendet werden. Drittens könnten die Ersparnisse in Innovation und Technologie investiert werden um somit dem Geburtenrückgang gerecht zu werden. Doch wessen Geburten gehen zurück? Wie die oben aufgeführte Analyse zeigt, sind insbesondere die ‘traditionellen’ Nationalbevölkerungen vom Geburtenrückgang betroffen. Mehr als so ziemlich alle anderen westlichen Länder fürchten sich die Franzosen schon lange davor, von Einwanderern überwältigt zu werden (Le Bras 1991). Wie sich herausstellt, widmet sich ein Großteil der französischen demographischen ‘Wissenschaft’ diesem ‘Problem’. Die Abschaffung der Wehrpflicht ist nur eine weitere Ausartung dieser Debatte. Wie auch in den meisten anderen westlichen Ländern, ist der Großteil des französischen Bevölkerungswachstums auf ‘Neuankömmlinge’ beschränkt. Durch die Wehrpflicht wären die Auswirkungen dieses Wachstums auf die Zusammensetzung der französischen Streitkräfte dramatisch gewesen. Französische Politiker und Militärs standen vor einem Dilemma: Sich auf die neue pluralistische Realität einstellen oder unter dem Vorwand der ‘Professionalisierung’ dieser Tendenz durch die Abschaffung der Wehrpflicht entgegenzukommen. Der Elitekonsens zur letzteren Lösung treibt die internen Widersprüche in einem angeblich republikanischen System das unter dem Stern von liberté, égalité, fraternité steht, voran. Die Prämisse der französischen Entscheidung ist, dass (zu viele) Einwanderer die Institutionen des Nationalstaates ‘infiltrieren’ könnten und so38
mit die Identität der gesamten Nation in Frage stellen. Genau das ist die Samuel Huntingtons These zur ‘hispanischen Herausforderung’ in den Vereinigten Staaten (Huntington 2004b). Wegen massiver Einwanderung dieser Bevölkerungsgruppe und deren überdurchschnittlich hoher Geburtenrate habe Amerika vollkommen recht, sich institutionell gegen den dadurch ausgelösten sozial-kulturellen Wandel zu wehren. Einwanderer, so Huntington (2004a), gefährden die nationale Identität Amerikas. Erstens gäbe es mehr Einwanderer denn je. Zweitens gehöre ein Großteil der Einwanderer der gleichen ethnischen Gemeinschaft an. Drittens zeichneten sich ihre gesellschaftlichen Auswirkungen dadurch aus, dass sie sich hauptsächlich in nur ein paar Gebieten niederließen: insbesondere Kalifornien und Texas aber auch Florida und New Jersey. In New Jersey dominierten jetzt spanisch sprechende Einwanderer. Das wirke sich auf den Staatshaushalt und auf das Wahlverhalten aus. Doch ist der generelle demographische Trend, der Huntington besorgt, in westlichen Gesellschaften allgegenwärtig: Eine große Anzahl an Einwanderern von wenigen ethnischen Gruppen, die sich in wenigen Gebieten niederlassen. Huntington behauptet, dass diese Trends das auf Assimilierung beruhende Einwanderungsprojekt in Frage stellen. Die Dynamiken früherer Einwanderungwellen waren der Assimilierung gut gesonnen. Daher konnte Huntington (1962) den diesbezüglichen Avantgardismus der amerikanischen Streitkräfte in den Nachkriegsjahren befürworten. Manche Gruppen an Einwanderern haben jetzt aber eine genügend kritische Masse erreicht, dass sie gegen Assimilisation Widerstand leisten können. Stattdessen richten sie jetzt ihre eigenen kulturellen Ansprüche gegen den Staat, die Streitkräfte inbegriffen.3 Eine mögliche Reaktion des Staates ist sich solchen Ansprüchen zu widersetzen. Das entfremdet diese Gruppen allerdings nur weiter vom Staat und trübt zwangsläufig seine Beziehung mit diesen Gemeinschaften. Als Alternative kann man sich mit den demographischen Trends, und den Wandlungen, die sie hervorrufen, arrangieren. Das ist das Projekt Europas Postnationalisten (Preuss 1995, 1998; Preuss/Requejo 1998; MacCormick 1993, 1999; Buchanan 1999; Pogge 1997; Weale/Nentwich 1998; Weale/ Lehning 1997; Bellamy/Castiglione 1996; Bellamy 1996; Bellamy, Bufacchi/ Castiglione 1995; Castiglione/Bellamy 2002, 2003; Keitner 2001). Interessanterweise sind die in dieser Hinsicht fortschrittlichsten Streitkräfte nicht in einem Industrieland sondern in Bolivien zu finden. Die Initiative zu Diversität und Professionalisierung im bolivianischen Heer ist auf die Erkenntnis zurückzuführen, dass es aus Legitimations- und Einsatzgründen einen Weg zur Integration seines beachtlichen und wachsenden Ureinwohnerbevölke3
Huntingtons Behauptung ist allerdings etwas fragwürdig, da der Anteil des auswärtig geborenen Bevölkerungsteils im Großteil der westlichen Länder seit Jahrzehnten recht stabil ist.
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runganteils finden musste. Die kanadischen Streitkräfte haben einen ähnlichen Weg eingeschlagen. Im April 2004 haben sie als die ersten Streitkräfte der Welt, die ‘multikulturelle Führung’ zur Militärdoktrin erhoben (Canadian Forces 2003). Wir sollten nicht davon ausgehen, dass Massaker wie sie in Bolivien zum Umdenken führten, nicht auch hierzulande möglich wären. Denken wir nur an das Anti-Vietnamkriegssentiment auf dem Sunset Strip und der Überreaktion des Los Angeles Police Department zur Schließung des Nachtlokals Pandora’s Box, das 1966 in dem Lied „For What It’s Worth“ verewigt wurde: There’s something happening here What it is ain’t exactly clear There’s a man with a gun over there Telling me I got to beware I think it’s time we stop, children, what’s that sound Everybody look what's going down There’s battle lines being drawn Nobody’s right if everybody’s wrong Young people speaking their minds Getting so much resistance from behind I think it’s time we stop, hey, what’s that sound Everybody look what's going down What a field-day for the heat A thousand people in the street Singing songs and carrying signs Mostly say, hooray for our side It’s time we stop, hey, what’s that sound Everybody look what’s going down Paranoia strikes deep Into your life it will creep It starts when you’re always afraid You step out of line, the man come and take you away
Dieses Lied der Band „Buffalo Springfield“ erinnert daran, dass Institutionen des Staates die nur bedingt gesellschaftliche Interessen vertreten, dazu neigen oppressiv auszuarten. Solcher Unterdrückung ist vorzubeugen indem die Sicherheitskräfte das gesamte Volk und alle Interessen vertreten, deren Schutz man ihnen anvertraut hat.
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Die Konvergenz von Ethik und Wirtschaftlichkeit: das kanadische Beispiel
In allen liberalen Demokratien der Welt wirken sich ändernde Charakteristiken des Arbeitsmarktes auf die Anwerbungspolitik von Freiwilligenstreitkräften aus. Dies ist insbesondere in Staaten der Fall, wo die große Baby Boom Generation4 schwindet, d. h. der Zeitpunkt zu dem Sterbefälle die Geburten überwiegen werden, ist abzusehen. Aufgrund der Bevölkerungsalterung schrumpft die Anwerbungskohorte – 15- bis 24-Jährige – im Vergleich zur Entwicklung der kanadischen Bevölkerung. Die selbe Kohorte zeichnet sich allerdings durch ihre ethno-kulturelle Diversität aus. Auf eine Umfrage hin, die Qualifikationen und das Interesse an den Canadian Forces (CF) in Kanadas Hauptanwerbungskohorte feststellen sollte, stellten die CF 1999 ihre eigenen Anwerbungsziele auf: 3 Prozent Ureinwohner, 9 Prozent Minderheiten und 28 Prozent Frauen (Environics Research Group Limited 1997).5 Obgleich die Canadian Forces Recruitment Group (CFRG) ihre jährlichen Ziele für Designated Minority Groups (DGMs) einhält und dabei besser dasteht als so ziemlich alle anderen westlichen Streitkräfte, verfehlen die CF weiterhin gewisse Ziele, insbesondere was die aktiven Streitkräfte betrifft (Minister’s Advisory Board for Gender Integration and Employment Equity 2001; Holden 2003: 10). Der „Employment Equity“ (EE) Plan lässt verlauten: „In the year 2000, 80 percent of people entering the workforce will be designated group members [DGMs]. If CF policies and practices do not encourage DGMs to enroll, the CF will face a shrinking labour pool from which to seek the best and most qualified recruits.“ (Canadian Forces 1999: 9) Diese Beobachtungen lassen auf Herausforderungen bei Anwerbung und Ausscheiden schließen. Anwerbung und Verbleiben von Soldaten hängen von einander ab. Wenn auf das Anwerbungspotenzial gegenüber allen Zielgruppen sub-optimal zurückgegriffen wird, wird die gesamte Personalpolitik unstabil und es gehen die Kosten in die Höhe. Um diese Situation zu verbessern implementierten die CF letzthin eine Vierjahres-Strategie zur Anwer-
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Eine komplette Beschreibung und Diskussion der Baby Boomers und deren Auswirkung auf den Arbeitsmarkt und andere Teile der Gesellschaft und darauffolgende Generationen (Schirrmacher 2004; Foot 1996). Australien, Kanada, und die Vereinigten Staaten haben unter liberalen Demokratien den ausgeprägtesten Baby Boom Effekt. Dies ist hauptsächlich auf einen massiven Anstieg der Geburtenrate in den Nachkriegsjahren von 1946 bis etwa 1962 zurückzuführen. Identität ist berüchtigt schwer festzustellen. Das Resultat dieser Umfrage ist daher durch die Beschränkungen der deskriptiven Methode, d. h. dadurch dass Individuen sich selbst identifizieren mussten beeinträchtigt.
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bung und zum Verbleiben (Pinch 2002). Die langfristige Verwirklichung dieser Strategie hängt von ethno-kultureller Diversität ab. In Ländern mit Freiwilligenstreitkräften wie z. B. Kanada sind die Opportunitätskosten die mit Anwerbung zusammenhängen, eine Frage der Kohortengröße welche wiederum von Variablen wie der Volkswirtschaft und den Einstellungen gegenüber den Streitkräften abhängen. Die Opportunitätskosten steigen, wenn die Streitkräfte anwachsen. Je größer die Streitkräfte, desto schwieriger – und kostspieliger – ist es, die nötige Anzahl und das nötige Talent aufzutreiben.6 Der Erfolg der CF bei französischsprachigen Kanadiern steht den Schwierigkeiten bei Minderheiten und Ureinwohnern gegenüber. 2002 sackte der Anteil des französischprachigen Teils der kanadischen Bevölkerung auf einen historischen Tiefpunk von 22,9 Prozent ab (George et al. 2001). Dem steht 2004 eine französischsprachige Beteiligungsrate in den CF von 27,4 Prozent gegenüber. Trotz des Schwundes des französischsprachigen Teils der kanadischen Bevölkerung hat sich das proportionale Verhältnis zwischen französischsprachigen und englischsprachigen Soldaten in den CF in den letzten Jahren kaum geändert. Die CF schneidet also bei einer schwindenden Minderheit gut ab. Anders ist das bei anderen Minderheiten und Ureinwohnern. Zwischen 1986 und 2001 verdoppelte sich der Bevölkerungsanteil von Minderheiten in Kanada auf 13,4 Prozent (Statistics Canada 2003). In nochmals 20 Jahren werden diese vermutlich ein Drittel der kanadischen Bevölkerung stellen. Trotzdem sich der Anteil von nationalen Minderheiten in den CF in den letzten fünf Jahren verdoppelt hat, stellten sie 2003 nur 4,2 Prozent der normalen Streitkräfte. Diese Niveau liegt 50 Prozent unter dem Potenzial, dass sich bei der Umfrage 1997 ergab. Im Vergleich zu den übrigen Minderheiten stellen Ureinwohner den schnellst wachsenden Anteil der kanadischen Bevölkerung dar (Statistics Canada 2003). Daher sind sie für die CF ein wachsendes Potenzial. Achtzig Prozent der Ureinwohner sind unter 30 Jahre. Doch stellen sie nur 2,3 Prozent der normalen Streitkräfte (Canadian Forces 1999: 10). 1997 waren es allerdings nur 1,5 Prozent. Der Fortschritt beim Anwerben von Ureinwohnern überschreitet also deren Wachstumsrate (Indian and Northern Affairs Canada 2000). Das latente Potenzial welches 1997 herauskam ist damit sogar überschritten. Doch stellt ein Einführungsdokument für Anwerber fest „[i]f Aboriginals participated in proportion to their representation in the country’s population, there would be about 3,700 members, or two-and-one-half times
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D. h. die Kosten die sich auf quantitativen und qualitativen Anwerbungszielen ergeben hängen von der Größe der Streitkräfte ab (Cotton/Pinch 1985).
the number presently reported.“7 Dazu kommt, dass sich diese Entwicklung fast ganz auf Non-Status Indians beschränkt.8 Und im Gegensatz zu anderen Minderheiten, fehlen sie unter Offizieren fast ganz (Holden 2003: 8). Im Großen und Ganzen werben die CF zu viele französischsprachige Leute und nicht genug Minderheiten und Ureinwohner an. Trotz Fortschritten spiegelt die Beitrittsrate von Minderheiten und Ureinwohnern deren Bevölkerungsanteil, Wachstum, und Potenzial nicht wider. Das Maß zu dem eine Bevölkerungskohorte zu Rekrutierungszwecken ausgeschöpft werden kann, bestimmt gemäß „Canadian Forces Employment Equity Plan“ (1999: 9), die operative Effektivität der Streitkräfte. Meine Analyse aber lässt darauf schließen, dass die CF die Einsatzfähigkeit von Mannschaftsdienstgraden aufgrund von Rekrutierungsproblemen nicht aufrechterhalten können. Ganz im Gegenteil: die CF fallen diesbezüglich immer weiter zurück. Diese Betrachtung weist auf ein wachsendes Problem hin. 1950 gingen 92 Prozent von Kanadas Bevölkerungswachstums auf natürliche Fortpflanzung zurück. Zum Höhepunkt des Baby Booms 1959 lag die Geburtenrate bei 3,9 Kindern. Dreizehn Jahre später aber fiel die Geburtenrate unter das natürliche Fortpflanzungsniveau. Heutzutage liegt sie bei etwa 1,6 Kindern pro Frau und es ist anzunehmen, dass sie über die nächsten zwei Jahrzehnte auf 1,2 Kinder fallen wird (Chui 1996). Um seine derzeitige Bevölkerungsgröße zu gewährleisten, wird geschätzt, dass Kanada etwa 260 000 Einwanderer pro Jahr aufnehmen muss. Bis 2050 wäre dann die Hälfte der kanadischen Bevölkerung im Ausland geboren. Sollte die Immigration unverändert bleiben, wird Kanadas Bevölkerung 2036 mit 36 Millionen Einwohnern ihren Höchststand erreichen. Die CF könnte aus sozialer Fragmentation höheren Gewinn schlagen als das bisher der Fall ist. Während der weiße und französischsprachige Bevölkerungsanteil schwindet, steigt der Anteil an Minderheiten. Bis 2011 ist zu erwarten, dass Geburtenrückgang und Einwanderung den französischen Anteil der kanadischen Bevölkerung auf 14 Prozent und den angelsächsischen auf 47 Prozent reduzieren. Die restlichen 39 Prozent werden sich weder als angelsächsisch, noch als französisch verstehen. Das ist fast doppelt so 7
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Dieser Anteil wurde in der Vergangenheit übrigens überschritten. Ureinwohner und deren Familien haben eine lange Militärtradition. Obgleich die gesamte Anzahl an Ureinwohnern damals um ein Ganzes kleiner war als sie heute ist und obgleich sie von der Wehrpflicht ausgenommen waren (da sie legal noch nicht kanadische Staatsbürger waren), haben sie sich in der Vergangenheit in überdurchschnittlichen Zahlen gemeldet: 4 000 schlossen sich der Canadian Expeditionary Force während des 1. Weltkrieges an, 6 000 meldeten sich während des 2. Weltkrieges (McCue 1999: 28–29). „Non-Status Indian“ bezeichnet eine Person indianischer Herkunft die aber nicht als Indianer im Indian Register geführt wird. Viele dieser Individuen waren auf Listen einfach nicht gemeldet, als diese erstellt wurden oder wurden aufgrund von Einbürgerungsprovisionen gestrichen.
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viel wie in 2001 als dieser Bevölkerungsteil nur 18 Prozent ausmachte. Das Anwerbungspotenzial von Minderheiten dehnt sich aufgrund von Einwanderung und Familiengröße aus. Die jüngste Kohorte (0–24) ist die heterogenste. Derzeit weist fast die Hälfte aller kanadischen Kinder bereits eine nicht französische, angelsächsische oder kanadische Herkunft auf (Canadian Heritage 2000). Einwanderer machten 2001 zwar nur 13,1 Prozent der Bevölkerung aber 19,9 Prozent des Arbeitsmarktes aus. Dazu kommt, dass 70 Prozent des Arbeitmarktwachstums von Einwanderern gedeckt werden. Im Jahr 2000 stellten Minderheiten 10 Prozent und Ureinwohner 9 Prozent der Anwerbungskohorte dar (McCue 1999: 28). Bis 2011 wird Einwanderung fast das gesamte Arbeitsmarktwachstum stellen. Bis 2016 werden Minderheiten 24 Prozent der anzuwerbenden Kohorte ausmachen – 1 Million einer Kohorte von 3,5 Millionen (Tasseron 2001: 56). Die CF machen sich nichts vor. Sie wissen, dass der langsame Fortschritt unter DGMs für sie zu suboptimalen Arbeitskraftresultaten führt (Canadian Forces 1999: iv; National Defence 1997). Doch deutet der Vergleich zwischen derzeitigen Anwerbungstrends und der vorhergesagten weiteren ethnokulturellen Fragmentation der kanadischen Bevölkerung auf ein ernsthaftes Problem hin. Die eigenen Vorhersagen der CF weisen auf eine schwindende Kohorte unter 15- bis 24-Jährigen hin (Minister of National Defence 2002: 19). Die CF kann sich daher keineswegs auf ihre traditionellen Ansprechgruppen verlassen. Kanada hat derzeit 1,4 Millionen Ureinwohner, 5,5 Millionen Menschen, die nicht im Land geboren wurden und 4,2 Millionen, die Minderheiten angehören. Das Bevölkerungswachstum unter Kanadas Ureinwohnern ist rein auf natürliche Fortpflanzung zurückzuführen, während sich dieses unter Minderheiten aus Einwanderung und natürlicher Fortpflanzung ergibt. Zwischen 1991 und 2001 stieg der Bevölkerungsanteil von Minderheiten um etwa zwei Drittel an. Über den gleichen Zeitraum stieg die Ureinwohnerbevölkerung um 32 Prozent. Kanadas Ureinwohner sind im Schnitt jünger als Minderheiten, doch wächst deren Bevölkerungsanteil aufgrund von Einwanderung schneller.
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Schlussfolgerungen
Das Militär steht vor einem Dilemma: Sollten die Streitkräfte die Gesellschaft widerspiegeln oder sollten sie ihre Anwerbungsziele so kostengünstig wie möglich erreichen? Oftmals werden ethische und wirtschaftliche Gesichtspunkte für unvereinbar gehalten. Doch das Beweismaterial negiert das angebliche Nullsummenspiel. Aufgrund des demographischen Wandels ist 44
die ethisch richtige Entscheidung auch die wirtschaftlich richtige. Statt ‘social engineering’ sollten die Streitkräfte mehr auf Minderheiten zurückgreifen. Dabei ist auch zu bedenken, dass gewisse Staaten anhand ethnischer Diversität vergleichsmäßig einen Vorteil haben. Zum einen mag ein Land dadurch wie es seine Minderheiten behandelt einen politischen Vorsprung haben. Fortschrittliche Diversitätspolitik – welche mit bloßen Anti-Diskriminierungsmaßnahmen nicht zu verwechseln ist – hat in Ländern wie Kanada und Australien weitreichende ethnische Organisationen ins Leben gerufen die sich der Staat zugute macht und die sich mit dessen Interessen bereits überschneiden. Da diese Organisationen auch innerhalb ihrer ethnischen Gemeinschaften als legitim anerkannt sind, tendieren Staaten mit aktiver Diversitätspolitik zu besseren Verhältnissen mit diesen Gemeinschaften als andere liberale Demokratien. Staatlichen Sicherheitsinteressen wäre mit einer Diversitätspolitik der Streitkräfte somit besser gedient. Insofern wäre es in entwickelten Demokratien mit einem wachsenden Minderheitenanteil, welche die Wehrpflicht noch haben, wie Deutschland z. B., sinnvoll, diese beizubehalten. Zum einen wird die deutsche Bundeswehr aufgrund des demographischen Wandels gezwungenermaßen zu einer nationalstaatlichen Integrationsinstitution des sozialen Wandels. Dazu wird sich die Bundeswehr aber auch dementsprechend anpassen müssen indem sie stärker die Diversität der deutschen Bevölkerung berücksichtigt. Zum anderen gehen bei einer Umgestaltung zu reinen Freiwilligenstreitkräften unter (sehr wahrscheinlichen) Umständen über kurz oder lang quantitativ als auch qualitativ die nötigen Anwerber aus. Aus gesellschaftlichen Gründen, Wirtschaftlichkeit und den Einsatzerfordernissen ist die Prämisse, dass der Schutz der Demokratie eine undemokratische Vorgangsweise voraussetzt, nicht nachvollziehbar. Ganz im Gegenteil: Die Herausforderungen die das „New Security Environment“ an die westlichen Demokratien stellt, setzen eine demokratische Vorgangsweise voraus. Letztendlich geht es bei der „Revolution in Military Affairs“ nicht um Material, sondern um Leute. Die technokratische Natur des militärischen Daseins lädt leicht zur materiellen Ablenkung ein. In so ziemlich allen entwickelten Demokratien sind die Sicherheitskräfte generell, aber die Streitkräfte ganz besonders, ein Überbleibsel einer Einsatzära und einer politischen, demographischen Zeit, die schon lange nicht mehr aktuell ist.
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Die Parlamentsarmee – zu schön, um wahr zu sein? Berthold Meyer Wer im Spätsommer 2005 bei Google den Begriff „Parlamentsarmee“ eingab, wurde auf 987 Fundstellen verwiesen. Mit 952 Verweisen war die Ausbeute1 bei dem etwas engeren Begriff „Parlamentsheer“2 ähnlich groß oder bescheiden, je nachdem, welche Erwartungen man hegte. Ein näherer Vergleich zeigt, dass die beiden Begriffe fast ausschließlich auf die Bundeswehr bezogen und dabei vor allem im Kontext des neuen Parlamentsbeteiligungsgesetzes und seiner Vorbereitung sowie von Bundestagsdebatten um Auslandseinsätze vorkommen. Viel seltener tauchen sie im Zusammenhang mit den traditionellen Institutionen zur parlamentarischen Kontrolle der Bundeswehr, dem Verteidigungsausschuss und dem Wehrbeauftragten des Deutschen Bundestages auf. Ebenfalls nur am Rande findet sich der Begriff im Zusammenhang mit der Europäisierung der Streitkräfte, durch die es zu einer Aushebelung der nationalen parlamentarischen Einflussnahme auf Bundeswehreinsätze kommen könnte. Alle diese Zusammenhänge sind von Bedeutung, wenn der Frage nachgegangen wird, ob die Rede von der Parlamentsarmee ein Euphemismus ist, der die zunehmende Distanz zwischen der Gesellschaft und ihrer „Armee im Einsatz“ nur notdürftig überdeckt. Sie können hier jedoch nicht in voller Breite behandelt werden. Vielmehr konzentriert sich dieser Beitrag auf die Bemühungen der Abgeordneten3 um eine stärkere Beteiligung an Entscheidungen über Auslandseinsätze der Bundeswehr in den frühen 1990er Jahren und eine kritische Auseinandersetzung mit deren Realisierung seit 1994.
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Ich danke Dörthe Rosenow für ihre Unterstützung bei der Vorbereitung dieses Artikels, insbesondere für die Recherchen im Internet. Das Bundesverfassungsgericht prägte in seiner Entscheidung vom 12.07.1994 für die Bundeswehr den Begriff „Parlamentsheer“, verstand darunter aber selbstverständlich auch die anderen Teile der Armee. Leider gibt es nur wenige Begriffe, die so geschlechtsneutral verwendet werden können. Wenn im Folgenden bei Parlamentariern oder Soldaten des Öfteren nur die männliche Form gebraucht wird, dann geschieht dies nicht, um die ohnehin eine Minderheit bildenden weiblichen Abgeordneten und Soldatinnen zu vernachlässigen, sondern um der leichteren Lesbarkeit willen.
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Verfassungsrechtliche Grundlagen der parlamentarischen Kontrolle der Bundeswehr
Das Grundgesetz hat dem Bundestag weit reichende Kompetenzen in der Sicherheits- und Verteidigungspolitik eingeräumt: Ihm obliegt zunächst die Gesetzgebung (und damit auch die Ratifizierung internationaler Verträge nach Art. 59, 2 GG) und die Bestellung der Bundesregierung für die jeweilige Legislaturperiode verbunden mit der Möglichkeit, diese durch ein konstruktives Misstrauensvotum gegen den amtierenden Bundeskanzler auszuwechseln. Dies alles verschafft dem Parlament in umfassender Weise Einfluss auf den Gesamtbereich der Sicherheits- und Verteidigungspolitik. Konkretere Einflussnahme weist ihm das Grundgesetz durch die Beschlussfassung über den Bundeshaushalt und den darin enthaltenen Etat des Verteidigungsministeriums zu, aus dem nach Art. 87a, 1 GG die zahlenmäßige Stärke und die Grundzüge der Organisation der Bundeswehr ersichtlich sein müssen. Bis zu diesem Punkt unterscheiden sich die Befugnisse des Bundestages nicht wesentlich von denen anderer Parlamente in Demokratien. Darüber hinaus gibt es jedoch einige Besonderheiten, die ihren Ursprung darin haben, dass die westdeutschen Parlamentarier und Parlamentarierinnen der ersten Nachkriegsjahrzehnte großen Wert darauf legten, die zweite Republik gegen unkontrollierte Machtausübung durch die eigene Exekutive zu schützen. Hierzu dienen zum einen die Bestimmung über die mit zwei Dritteln der abgegebenen Stimmen des Bundestages zu treffende Feststellung des Spannungsfalls (Art. 80a, 1 GG) und des Verteidigungsfalls (Art. 115a, 1 GG) sowie die Regelung, dass der Einsatz von Streitkräften schon zu beenden ist, wenn der Bundestag (oder der Bundesrat) dies verlangt, ohne dass dafür eine besondere Mehrheit vorgesehen wäre (Art. 87a, 4 GG). Zum anderen soll die parlamentarische Kontrolle der Streitkräfte durch den Verteidigungsausschuss des Bundestages gewährleistet werden, dem als einzigem vom Grundgesetz das Recht zugeschrieben wurde, sich selbst als Untersuchungsausschuss zu konstituieren. „Ein Untersuchungsausschuss ist die stärkste Waffe des Parlaments, um Regierungsverhalten zu kontrollieren“, heißt es zu Recht in einer Selbstdarstellung des Verteidigungsausschusses (2005: 4). Dabei hat der Ausschuss auf Antrag von schon einem Viertel seiner Mitglieder die Pflicht, eine Angelegenheit zum Gegenstand seiner Untersuchung zu machen (Art. 45a, 2 GG), wodurch die Handlungsmöglichkeiten der jeweiligen Opposition gestärkt werden. Schließlich bestellt der Bundestag nach Art. 45b GG „zum Schutz der Grundrechte“ und als sein „Hilfsorgan (…) bei der parlamentarischen Kontrolle“ eine(n) Wehrbeauftragte(n). Diese(r) wird für die Dauer von fünf Jahren und damit über eine Legislaturperiode hinaus gewählt, was ihn/sie von 52
Regierungsmehrheiten unabhängig macht. Sie oder er besitzen ein umfassendes Informations- und Anregungsrecht gegenüber dem Parlament wie dem Verteidigungsminister sowie allen Truppenteilen. Soldaten und Soldatinnen sowie zivile Bedienstete der Bundeswehr können sich direkt an diese, skandinavischem Recht und Demokratieverständnis nachempfundene Ombudserson wenden, um über Missstände insbesondere bei der Inneren Führung zu informieren und sich in Fällen von Verstößen gegen Grundrechte zu beschweren. Das Parlament kann aus der jährlichen „Berichterstattung des Wehrbeauftragten über Mängel (…) Schlüsse ziehen und für Veränderungen sorgen. Der Wehrbeauftragte selbst kann das nicht. Er entscheidet eben nicht in der Sache selbst anstelle von Parlament und Regierung.“ (Penner 2005: 4) Hier liegt bei aller großen politischen Legitimation eine unabänderliche Grenze der Kontrollaufgabe dieses Amtes als parlamentarischem Hilfsorgan.
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Der Wandel des Auftragsspektrums der Bundeswehr nach 1990
Während der Jahrzehnte des Kalten Krieges stand die Landes- und Bündnisverteidigung im Zentrum des Auftrags der Bundeswehr. Sofern überhaupt Kapazitäten dafür frei waren, leisteten die Soldaten darüber hinaus auch humanitäre Hilfe im Inland wie im Ausland. Weiterreichende Ansinnen wurden stets unter Hinweis auf die Schranken des Grundgesetzes (Art. 24, 2 und Art. 87a, 1 und 2) abgelehnt. Dieser Grundposition entsprach es, dass die damals noch westdeutsche Bundesregierung dem Wunsch der Vereinten Nationen vom 26. August 1990, Seestreitkräfte der Mitgliedstaaten zur Durchsetzung des gegen den Irak verhängten Embargos bereitzustellen, nicht Folge leistete. Dabei konnte sie sich wenige Wochen vor der deutschen Vereinigung auch noch darauf berufen, die ‘vollständige’ Souveränität noch nicht wiedererlangt zu haben. Allerdings entsandte Bonn einen Marineverband ins östliche Mittelmeer, wo er sich noch im NATO-Gebiet befand, dessen Begrenzung durch den Vertrag von Washington bis dahin als maximale Reichweite für Bundeswehreinsätze angesehen wurde. Nachdem der Sicherheitsrat am 29. November 1990 in seiner Resolution 678 die Mitgliedstaaten ermächtigte, den Irak „mit allen erforderlichen Mitteln“ zum Rückzug aus Kuwait zu zwingen, folgte die nun gesamtdeutsche Bundesregierung dem Wunsch ihrer amerikanischen Verbündeten nicht und schickte keine Truppen an den Golf, sondern nur in die Südosttürkei. „Nach Beginn der alliierten Luftoffensive gegen den Irak wurde die Bundeswehrpräsenz in der Türkei (…) aufgestockt. Ein weiterer Flottenverband der Bundesmarine (…) lief im östlichen Mittelmeer ein, so dass Ende Februar rund 3 000 deutsche Soldaten in der Umgebung des 53
Kriegsgebietes Dienst taten, ohne allerdings in die Kampfhandlungen einzugreifen.“ (Mutz 1991: 225) Vor und während des Krieges half die Bundeswehr den Alliierten außerdem dabei, aus deren in Deutschland befindlichen Depots wie auch aus Bundeswehrdepots Gerät und anderes Material zu den amerikanischen Militärflugplätzen Ramstein und Rhein-Main zu schaffen, damit es von dort an den Golf transportiert werden konnte. Darüber hinaus zahlte die Bundesregierung 17 Mrd. DM (8,7 Mrd. €) in die alliierte Kriegskasse. Dies alles änderte jedoch nichts daran, dass im Ausland die fehlende Bereitschaft Deutschlands, sich unmittelbar am Krieg zu beteiligen, heftig als ‘Scheckbuchdiplomatie’ kritisiert wurde, mit der man sich habe freikaufen wollen. Als nach dem Wechsel an der Spitze des Auswärtigen Amtes von Genscher an Kinkel (beide FDP) im Mai 1992 die Bundesregierung Ansprüche auf einen Ständigen Sitz im UN-Sicherheitsrat anmeldete, stieß die Beibehaltung der Praxis militärischer Zurückhaltung auf immer weniger internationales Verständnis. Allerdings hatte schon im Frühjahr 1991 zwischen den Parteien des Deutschen Bundestages eine Debatte darüber begonnen, welche Aufgaben die Bundeswehr nach dem Ende des Ost-West-Gegensatzes über die reine Landesverteidigung und den Beistand für Verbündete hinaus übernehmen dürfe und solle. Sie war verbunden mit einer Auseinandersetzung darüber, mit welcher parlamentarischen Mehrheit über solche Einsätze entschieden werden müsse, die nicht nach Art. 115 a, 1 und 2 GG dem Verteidigungsfall gelten. CDU und CSU wollten die Bundeswehr über NATO-Einsätze hinaus sowohl im Rahmen der UNO als auch in Verbänden einer künftigen sicherheitspolitisch aktiven Europäischen Union einsetzen und hielten dafür die alleinige Entscheidung der Bundesregierung für ausreichend. Demgegenüber stimmte ihr damaliger Koalitionspartner FDP zwar der Ausweitung der Einsatzmöglichkeiten zu, hielt aber eine parlamentarische Zustimmung für solche Fälle für erforderlich und sprach sich grundsätzlich dafür aus, für verschiedenartige Einsätze unterschiedliche Zustimmungsquoten einzuführen. Die SPD war nur bereit, einer Ausweitung auf ‘klassische’, d. h. nur zur Selbstverteidigung berechtigte, UN-Blauhelmeinsätze zuzustimmen. Folgerichtig versuchte sie ein Jahr später, die weiter reichenden Beschlüsse der Bundesregierung im Zusammenhang mit den Jugoslawien-Konflikten als Verstöße gegen das Grundgesetz im Bundestag zu Fall zu bringen, womit sie jedoch scheiterte. Die kleineren Oppositionsparteien Grüne und PDS lehnten selbst eine Bundeswehrbeteiligung an Blauhelmmissionen ab (vgl. Meyer 2004: 4). Noch vor dem Wechsel an der Spitze des Verteidigungsministeriums von Stoltenberg zu Rühe (beide CDU) legte dieses im Februar 1992 dem Vertei54
digungsausschuss des Bundestags eine Studie über „Militärpolitische und militärstrategische Grundlagen und konzeptionelle Grundrichtung der Neugestaltung der Bundeswehr“ vor, die den Veränderungen der NATOStrategie in Richtung auf Out of Area-Einsätze (NATO 1991: 1034) ebenso Rechnung trug wie dem erweiterten Aufgabenspektrum der WEU (‘Petersberg-Aufgaben’, vgl. Meyer 2004: 6). Die Studie enthält einen Katalog deutscher Sicherheitsinteressen, der die bis dahin praktizierte Politik der Zurückhaltung den Geschichtsbüchern zuweist und stattdessen folgende Aufgaben nennt: „- Vorbeugung, Eindämmung und Beendigung von Konflikten jeglicher Art, die die Unversehrtheit und Stabilität Deutschlands beeinträchtigen könnten; - Förderung und Absicherung weltweiter politischer, wirtschaftlicher, militärischer und ökologischer Stabilität; - Aufrechterhaltung des freien Welthandels und des Zugangs zu strategischen Rohstoffen.“ (zit. n. Mutz 1992: 25) Mit dem Amtsantritt Rühes nahmen die Aktivitäten Out of Area sowohl quantitativ wie qualitativ deutlich zu, ohne dass der rechtliche Rahmen geklärt gewesen wäre: Unter anderem unterhielt die Bundeswehr ein Militärhospital für die UN-Mission in Kambodscha (UNTAC), beteiligte sie sich mit der Bundesmarine an der Überwachung des Embargos gegen die Bundesrepublik Jugoslawien (Serbien und Montenegro) und mit deutschen Soldaten in multinationalen Besatzungen von AWACS-Flugzeugen der NATO an der Überwachung des von der UNO verhängten Flugverbotes über BosnienHerzegowina und unterstützte neun Monate lang die UN-Mission in Somalia mit rund 1 700 Soldaten, dem bis dahin größten deutschen Kontingent.
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Das Karlsruher Urteil von 1994 und seine Vorgeschichte
Einige der genannten Maßnahmen galten als humanitäre Hilfe und waren daher unter den Parlamentariern kaum strittig. In drei Fällen, nämlich dem WEU/NATO-Einsatz in der Adria, den AWACS-Flügen über dem Balkan und der Beteiligung am UN-Einsatz in Somalia, hielt die damals oppositionelle SPD die Entscheidungen der Bundesregierung sowohl von der Sache wie vom Verfahren her für verfassungswidrig und rief das Bundesverfassungsgericht in Organklagen an. Auch die mitregierende FDP versuchte in dieser Angelegenheit, eine einstweilige Anordnung in Karlsruhe zu erwirken, nachdem ihre Regierungsmitglieder in diesem Punkt vorher am Kabinettstisch unterlegen waren. In ihrer Antragsschrift wird ein Aspekt problematisiert, der bei einem traditionellen Verteidigungseinsatz der Bundeswehr so nie thematisiert worden wäre, nämlich, „dass unter Umständen Leben und Gesundheit deutscher Soldaten auf dem Spiel steht, ohne dass dies 55
in seiner ganzen Tragweite parlamentarisch entschieden und verantwortet ist“. (zit. n. Meyer 2004: 8) Auch in der Antragsschrift der SPD zum Somalia-Einsatz spielen die betroffenen Soldaten eine wichtige Rolle. Dort heißt es, die Gesamtsituation in dem ostafrikanischen Land führe dazu, „dass auch Leben und Gesundheit der deutschen Soldaten in Somalia hoch gefährdet sind“. Da sich nicht vermeiden lasse, dass das deutsche Kontingent bei der logistischen Unterstützung der combat forces der VN in Situationen gerate, in denen es zur Selbstverteidigung genötigt sei, solle der deutsche Beitrag zu UNOSOM II bis zur Entscheidung in der Hauptsache ausgesetzt werden: „Soldaten der Bundeswehr werden unter Verletzung des Grundgesetzes eingesetzt und einer ganz erheblichen Lebensgefahr ausgesetzt. Diese Gefährdung von Leben und Gesundheit der Soldaten ohne verfassungsrechtliche Grundlage muss durch den Erlass einer einstweiligen Anordnung beendet werden.“ (zit. n. Meyer 2004: 8f.) Aus diesen Zitaten ist ersichtlich, dass es den klagenden Fraktionen nicht nur darum ging, die Rechte der Legislative gegenüber den Ansprüchen der Exekutive zu verteidigen und – so zumindest die SPD – die Verfassung weiterhin restriktiv auszulegen. Vielmehr wollten sie einer Situation vorbeugen, in der ihre Abgeordneten eines Tages für die Opfer eines militärischen Einsatzes politisch und moralisch mit zur Verantwortung gezogen werden könnten, den sie vielleicht gar nicht gewollt hätten und über dessen Zustandekommen sie selbst nicht hatten mit entscheiden können. Die Anträge auf einstweilige Anordnungen wurden in allen Fällen abgelehnt. Im Hauptverfahren ging es zunächst um die Frage, ob Bundeswehreinsätze, die weder im engeren Sinne des Art. 87a, 1 GG der (Landes-)Verteidigung noch im weiteren Sinne der Bündnisverteidigung dienen, sondern sogar außerhalb des Bündnisgebietes stattfinden, zu den Zwecken zählen, die das Grundgesetz nach Art. 87a, 2 GG ausdrücklich zulässt. Hier widersprach das Bundesverfassungsgericht in seinem Urteil vom 12. Juli 1994 der bis dahin praktizierten Deutung des Art. 24, 2 GG: Dieser Artikel „ermächtigt den Bund, sich zur Wahrung des Friedens einem System gegenseitiger kollektiver Sicherheit einzuordnen. Diese Ermächtigung berechtigt den Bund nicht nur zum Eintritt in ein solches System und zur Einwilligung in damit verbundene Beschränkungen seiner Hoheitsrechte. Sie bietet vielmehr auch die verfassungsrechtliche Grundlage für die Übernahme der mit der Zugehörigkeit zu einem solchen System typischerweise verbundenen Aufgaben und damit auch für eine Verwendung der Bundeswehr zu Einsätzen, die im Rahmen und nach den Regeln dieses Systems stattfinden.“ (BVerfGE 1994: 345) Demnach können auch Bündnisse kollektiver Selbstverteidigung Systeme gegenseitiger kollektiver Sicherheit im Sinne des Art. 24 Abs. 2 GG sein, – allerdings 56
setzte der Senat dann eine wichtige Einschränkung – „wenn und soweit sie strikt auf die Friedenswahrung verpflichtet sind“. (BVerfGE 1994: 3494) Der deutsche Gesetzgeber habe schon durch die Zustimmung zum Beitritt zum NATO-Vertrag auch der „Eingliederung deutscher Streitkräfte in integrierte Verbände der NATO“ zugestimmt. Dies umfasse auch den Fall, dass „integrierte Verbände im Rahmen einer Aktion der Vereinten Nationen, deren Mitglied die Bundesrepublik Deutschland ist, eingesetzt werden“. (BVerfGE 1994: 355) Diese Generalermächtigung bedeute jedoch nicht, dass der Bundestag sich deshalb aus Angelegenheiten, welche Einsätze der Bundeswehr betreffen, herauszuhalten hätte. Im Gegenteil: Er sei über Art. 59 Abs. 2 Satz 1 am Zustandekommen völkerrechtlicher Verträge beteiligt, die einen Einsatz zur Folge haben können. Vor allem aber müsse die Regierung, so der für den hier zu behandelnden Zusammenhang wichtigere Teil des Richterspruchs, vor jedem einzelnen Einsatz um seine konstitutive Zustimmung nachsuchen. Dieses „Erfordernis der vorherigen Zustimmung“ soll den Bundestag davor schützen, dass sein Kontrollrecht durch die völkerrechtliche Bindungswirkung eines Vertrages unterlaufen wird, „die durch eine spätere parlamentarische Missbilligung nicht mehr beseitigt werden kann“. (BVerfGE 1994: 357) Der Bundestag könne, „wenn er die Außenpolitik der Regierung missbilligt, insbesondere wenn er die Entstehung nicht erwünschter völkerrechtlicher Verpflichtungen befürchtet, der Bundesregierung mit den vielfältigen Mitteln der politischen Kontrolle entgegentreten“. Da sich derartige Entwicklungen unter den Augen der Öffentlichkeit vollziehen, sei das Parlament „tatsächlich jederzeit in der Lage, sich aus eigener Initiative (…) in den Willensbildungs- und Entscheidungsprozess einzuschalten, der sich zwischen den Staaten vollzieht“. (BVerfGE 1994: 364f.) Lassen sich diese Überlegungen zur Parlamentsbeteiligung nach Art. 59 Abs. 2 Satz 1 GG noch als bloße Empfehlung an die Bundesregierung deuten, sich in Zweifelsfällen der Zustimmung des Bundestages zu versichern, so fiel das Urteil des Senats beim Parlamentsvorbehalt im engeren Sinne sehr viel schärfer aus: Hier folgte der Senat den Antragstellern, dass die Bundesregierung gegen das Gebot des Grundgesetzes, „für einen Einsatz bewaffneter Streitkräfte die – grundsätzlich vorherige – konstitutive Zustimmung des Deutschen Bundestages einzuholen“, „verstoßen [habe], indem sie aufgrund ihrer Beschlüsse vom 15. Juli 1992, 2. April 1993 und 21. April 1993 bewaffnete Streitkräfte eingesetzt hat, ohne vorher die konstitutive Zustimmung des Bundestages einzuholen“. (BVerfGE 1994: 290) Die grundgesetzlichen Regelungen über die Wehrverfassung sehen „für den Einsatz bewaffneter Streitkräfte grundsätzlich eine Beteiligung des Par4
Diese Formel ging auch in die Punkte 5 a) und b) der Leitsätze des Urteils, S. 286f. ein.
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laments vor“. (BVerfGE 1994: 381) Sie sind „stets darauf angelegt, die Bundeswehr nicht als Machtpotenzial allein der Exekutive zu überlassen, sondern als ‘Parlamentsheer’ in die demokratisch rechtsstaatliche Verfassungsordnung einzufügen, d. h. dem Parlament einen rechtserheblichen Einfluss auf Aufbau und Verwendung der Streitkräfte zu sichern“. (BVerfGE 1994: 382) Die Richter beziehen sich in ihrer die Figur des „Parlamentsheeres“ und damit auch den konstitutiven Parlamentsvorbehalt begründenden Argumentation auf die deutsche Verfassungstradition seit 1918, als kurz vor dem Ende des 1. Weltkrieges Art. 11, 2 der Reichsverfassung von 1871 noch dahingehend geändert wurde, dass „zur Erklärung des Krieges im Namen des Reichs (...) die Zustimmung des Bundesrates und des Reichstages erforderlich“ sei. (BVerfGE 1994: 383) Dieser Grundgedanke sei von der Weimarer Reichsverfassung von 1919 in Art. 45, 2 übernommen worden, der bestimmte, dass Kriegserklärung und Friedensschluss aufgrund und in Vollzug eines vom Reichstag gefassten Beschlusses erfolgen sollten (BVerfGE 1994: 383). Mit der Aufstellung der Bundeswehr sei das Grundgesetz 1956 um einen Art. 59a ergänzt worden, der diesen Gedanken in zeitgemäßen Worten aufgegriffen und vorgeschrieben habe, dass die Feststellung des „Verteidigungsfalles“ vom Bundestag zu treffen sei. Als dieser Artikel 1968 durch Art. 115a, 1 ersetzt wurde, erhöhte der Gesetzgeber das parlamentarische Gewicht bei der Feststellung des Verteidigungsfalles sogar noch, indem er dort festlegte, dem Antrag der Bundesregierung müsse vom Bundestag mit Zweidrittelmehrheit der abgegebenen Stimmen, mindestens jedoch der Mehrheit seiner Mitglieder sowie vom Bundesrat zugestimmt werden. Die in diesen Vorschriften des Grundgesetzes „auf dem Hintergrund der deutschen Verfassungstradition seit 1918 zum Ausdruck kommende Entscheidung für eine umfassende parlamentarische Kontrolle der Streitkräfte lässt ein der Wehrverfassung zugrunde liegendes Prinzip erkennen, nach dem der Einsatz bewaffneter Streitkräfte der konstitutiven, grundsätzlich vorherigen Zustimmung des Bundestages unterliegt“. (BVerfGE 1994: 387) Dementsprechend heißt es in Absatz 3 a) der Leitsätze des Urteils: „Das Grundgesetz verpflichtet die Bundesregierung, für einen Einsatz bewaffneter Streitkräfte die – grundsätzlich vorherige – konstitutive Zustimmung des Deutschen Bundestages einzuholen.“ (BVerfGE 1994: 286) Mit dieser zusammenschauenden Interpretation gelang dem Bundesverfassungsgericht insofern ein „verfassungspolitischer Geniestreich“ (Wiefelspütz 2003: 27), als es mit der „Erfindung“ des „konstitutiven Parlamentsvorbehalts“ neues Recht schuf. Es vermochte dies, „weil die Verfassungsorgane Bundesregierung und Bundestag durch § 31 Abs. 1 Bundesverfassungsgerichtsgesetz an das Urteil gebunden sind, die Staatspraxis – jedenfalls bislang – durch das Urteil nicht vor unüberwindbare Probleme gestellt wurde und überzeugende Alternativen 58
in Gestalt von Änderungen des Grundgesetzes nicht ‘auf dem Markt’ sind.“ (Wiefelspütz 2003: 29) Da in der Auseinandersetzung um den Parlamentsvorbehalt auch strittig war, ob es für intensivere Einsatzformen höhere Quoren geben solle, beschied der Senat: Unabhängig davon, ob die Streitkräfte mit Zwangsbefugnissen nach Kapitel VII der UN-Charta mandatiert und wie die Kommandostrukturen ausgestaltet seien, sei die „vorherige Zustimmung des Bundestages (...) erforderlich“, aber „eine unterschiedliche Behandlung der verschiedenen Einsatzformen von Friedenstruppen verbietet sich, weil die Grenzen zwischen den traditionellen Blauhelmeinsätzen und solchen mit der Befugnis zu bewaffneten Sicherungsmaßnahmen in der Realität fließend geworden sind“. (BVerfGE 1994: 387f.) Bei einigen wenigen Ausnahmen kann indes dem Urteil zufolge auf die – vorherige – Zustimmung des Bundestages verzichtet werden: Generell sei dies bei nicht bewaffneten Unternehmungen der Fall, zu denen Soldaten der Bundeswehr „für Hilfsdienste und Hilfeleistungen“ eingesetzt werden sollten; „vorläufig“ bei „Gefahr im Verzug“, welche die Bundesregierung berechtige, „den Einsatz von Streitkräften zu beschließen und an entsprechenden Beschlüssen in den Bündnissen oder internationalen Organisationen ohne vorherige Einzelermächtigung durch das Parlament mitzuwirken und diese vorläufig zu vollziehen“. Doch dann müsse sich „in jedem Fall das Parlament umgehend mit dem so beschlossenen Einsatz befassen“. (BVerfGE 1994: 388) Zwar seien „die Streitkräfte (...) zurückzurufen, wenn es der Bundestag verlangt“ (BVerfGE 1994: 388), aber der Bundestag besitze keine Initiativbefugnis, d. h. er „kann lediglich einem von der Bundesregierung beabsichtigten Einsatz seine Zustimmung versagen oder ihn, wenn er ausnahmsweise ohne seine Zustimmung schon begonnen hat (...), unterbinden, nicht aber die Regierung zu solch einem Einsatz der Streitkräfte verpflichten“. (BVerfGE 1994: 389) Mit Blick auf das parlamentarische Entscheidungsverfahren über Einsätze bewaffneter Streitkräfte stellte der Senat fest, es genüge die einfache Mehrheit nach Art. 42, 2 GG, sofern es nicht, wie für den Verteidigungsfall, im Grundgesetz anders bestimmt sei. Form und Ausmaß der parlamentarischen Mitwirkung näher auszugestalten sei Sache des Gesetzgebers (BVerfGE 1994: 390). Auf den in den Klagen von SPD und FDP mit Blick auf das Wohl und Wehe der Soldaten angesprochenen Aspekt der Verantwortlichkeit geht der Senat vom 12. Juli 1994 nur an einer Stelle indirekt ein: Dabei beruft er sich auf die Einbringungsrede zu dem für den Aufbau der Bundeswehr relevanten Grundgesetzartikel von 1956, der dies impliziert. Damals erklärte die Be59
richterstatterin Schwarzhaupt, mit der Regelung solle „die schicksalhafte politische Entscheidung über Krieg und Frieden – soweit im Krisenfall überhaupt noch politische Entscheidungen gefällt werden können – von der obersten Vertretung des ganzen Volkes, um dessen Schicksal es geht, also von dem Parlament, getroffen werden“. (zit. in BVerfGE 1994: 384.) Daraus, dass das Verfassungsgericht – hieran anknüpfend – dem Bundestag auch für Auslandseinsätze die konstitutive Verantwortlichkeit zugewiesen hat, ergibt sich unter dem ethischen Aspekt der Verantwortung ein wichtiger Nebeneffekt: Die eigene Verantwortlichkeit des Parlaments und die individuelle Verantwortung der Abgeordneten für die Auslandseinsätze entlasten auch die Regierung von der Alleinverantwortung für die Folgen eventueller Fehlentscheidungen.5
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Zehn Jahre Auslandseinsätze ohne Entsendegesetz
Die Bundesregierung hielt sich seit 1994 weitestgehend an das Urteil des Bundesverfassungsgerichts und legte ihre Vorhaben, die Bundeswehr außerhalb des NATO-Gebietes einzusetzen, beizeiten dem Bundestag vor. Nur die geheime Operation ‘Libelle’, mit der am 14. März 1997 unter rein nationaler Führung etwa 100 Angehörige mehrerer Nationen mit Hubschraubern aus Tirana evakuiert wurden, wurde dem Bundestag erst nachträglich am 20. März zur Billigung vorgelegt. Insofern lässt sich zunächst einmal feststellen, dass die Regierung dem Diktum von der Parlamentsarmee Rechnung trägt. Einschließlich der mehrfachen Verlängerungen für die auf dem Balkan und in Afghanistan eingesetzten Truppen war der Bundestag bis zum 3. Dezember 2004 insgesamt 43 Mal mit Entscheidungen über Bundeswehreinsätze befasst. Bis zu diesem Zeitpunkt stimmten die Abgeordneten nach Art. 42, 2 GG ab, obwohl sie von Karlsruhe ausdrücklich ermuntert worden waren, hierfür ein Entsende- oder Beteiligungsgesetz zu verabschieden. In dieser Zeit wurde kein Antrag auf Genehmigung eines neuen oder Verlängerung eines laufenden Mandats abgelehnt, allerdings erfolgte die Zustimmung je nach Vorhaben mit unterschiedlichen Mehrheiten und zum Teil auch nach kontroversen Diskussionen. Dabei zeigten sich, ausgehend von der persönlichen Verantwortung der Abgeordneten als „Vertreter des ganzen Volkes, [die] an Aufträge und Wei5
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Diese Sichtweise unterstreicht die Erklärung des damaligen Bundesverteidigungsministers Struck vor Mitgliedern des Ausschusses für Wahlprüfung, Immunität und Geschäftsordnung des Deutschen Bundestages am 5. Juni 2003, wegen der Gefährlichkeit der Auslandseinsätze sei die Zustimmungspflicht des Bundestages wichtig; so referiert bei Wiefelspütz 2003: 39.
sungen nicht gebunden und nur ihrem eigenen Gewissen unterworfen“ sind (Art. 38, 1 GG), erhebliche Probleme einer angemessenen Ausübung des Parlamentsvorbehalts, was die nachfolgenden vier Beispiele verdeutlichen: Erstens: Die Entscheidung über die Beteiligung am Einsatz gegen die Bundesrepublik Jugoslawien (Serbien und Montenegro) kam am Ende der 13. Legislaturperiode am 16. Oktober 1998 in einer Sondersitzung zustande. Der Antrag war von der noch amtierenden schwarz-gelben Bundesregierung, jedoch in Absprache mit der designierten rot-grünen Regierung eingebracht worden. Obwohl das fehlende UN-Mandat für den Einsatz auf allen Seiten des Parlaments Besorgnisse wegen einer völkerrechtlich problematischen Selbstmandatierung der NATO bereitete, stimmten am Ende in namentlicher Abstimmung 500 Abgeordnete für die Beteiligung und nur 62 dagegen, während sich 18 enthielten (vgl. Meyer/Schlotter 2000: 29ff.). Offenbar spielten in diesem Fall sowohl die Sorge, durch eine Ablehnung einer Teilnahme die Geschlossenheit des Bündnisses zu gefährden, als auch die Angst, der neuen Regierung einen schlechten internationalen Start zu verschaffen, eine ganz erhebliche Rolle. Davon abgesehen handelte es sich jedoch um einen fragwürdigen Vorratsbeschluss, denn als die Luftwaffe ein halbes Jahr später tatsächlich in den von der UNO nicht legitimierten Kosovokrieg zog, war das Unbehagen mancher Abgeordneter noch größer, doch es konnte nicht handlungsrelevant werden, weil die Regierung – rechtlich korrekt – darauf verzichtete, erneut über den Einsatz abstimmen zu lassen, obwohl es sinnvoll gewesen wäre, seine Rahmenbedingungen zu überprüfen. Zweitens: Die Entscheidung über die Beteiligung der Bundeswehr am humanitären Einsatz der UNO in Ost-Timor am 7. Oktober 1999 war unter mehreren Aspekten problematisch: Zum einen hatte Außenminister Fischer schon am 22. September vor der UNO-Vollversammlung eine deutsche Beteiligung zugesagt, obwohl er zu diesem Zeitpunkt weder das Kabinett, noch die Fraktionen des Bundestages konsultiert hatte. „Angesichts dieser internationalen Festlegung, auch wenn ihr keine völkerrechtliche Verbindlichkeit zukam, war es Bundesregierung und Bundestag schlechterdings unmöglich, in der Sache anders zu entscheiden, um nicht das außenpolitische Ansehen Deutschlands zu beschädigen.“ (Limpert 2002: 80) Zum anderen hatte Verteidigungsminister Scharping noch am 6. Oktober in einer öffentlichen Anhörung des Haushaltsausschusses erklärt, die monatlichen Kosten von voraussichtlich etwa 5 Mio. DM (2,55 Mio. €) sollten nicht aus dem Verteidigungshaushalt bestritten werden. Als ihm jedoch die Oppositionsfraktionen von CDU/CSU und FDP am 7. Oktober zur Seite sprangen und beantragten, die Kosten dieses Einsatzes aus Allgemeinen Finanzmitteln zu bestreiten, wurde dies von der rot-grünen Mehrheit im Bundestag abgelehnt (vgl. http://www.bundestag.de/ 61
bp/1999/bp9909/99099017). Obwohl es sich hierbei um einen vergleichsweise kleinen und (was nicht absehbar war) kurzen Einsatz handelte, stellt sich an diesem Beispiel vor dem Hintergrund des engen Finanzrahmens der Bundeswehr die Frage, ob die antragstellende Regierung wie das beschließende Parlament nicht außenpolitischem Prestige haushaltspolitischen Notwendigkeiten gegenüber den Vorrang einräumen und sich dabei immer über die finanziellen Konsequenzen ihrer Entscheidungen im Klaren sind. Drittens: Vor der Abstimmung über die Beteiligung an der Operation Enduring Freedom am 16. November 2001, die innerhalb der rot-grünen Koalition umstritten war, wählte Bundeskanzler Schröder das stärkste Mittel, das ihm zur Verfügung stand, um das Mandat durch den Bundestag zu bekommen: Er verband die Entscheidung mit der Vertrauensfrage und sicherte sich dadurch eine wenn auch denkbar knappe Mehrheit der Koalitionsfraktionen – jedoch um den Preis, dass einerseits eine SPD-Abgeordnete, die sich ihr ‘Nein’ nicht verbieten lassen wollte, die Fraktion verließ, und acht Abgeordnete der Grünen, die ebenfalls von Gewissensbissen geplagt wurden, das Los warfen, um zu klären, wer von ihnen mit Ja und wer mit Nein stimmen durfte.6 Andererseits lehnten die beiden Oppositionsfraktionen CDU/CSU und FDP, die dem Mandat selbst von der Sache her zugestimmt hätten, den Antrag wegen der Bindung an die Vertrauensfrage ab. Dieser Art. 38, 1 GG Hohn sprechende Fall zeigt, wie auf die konkrete Entsendung bezogene Sacherwägungen (wie die Solidarität mit den USA einerseits und Zweifel am Sinn des Afghanistankrieges aus pazifistischer Grundorientierung andererseits) angesichts von innen- und machtpolitischen Argumenten an Gewicht verlieren können. Viertens: Nachdem die Türkei im Vorfeld des Irak-Krieges am 10. Februar 2003 um Unterstützung durch die NATO nachgesucht hatte, hatte diese am 19. Februar beschlossen, AWACS-Flugzeuge, in denen zu einem Drittel deutsche Soldaten Dienst tun, von Geilenkirchen nach Konya in der Türkei zu verlegen. Sie waren dort seit dem 26. Februar für die Luftraumaufklärung 6
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Vgl. dazu die Erklärung des Abgeordneten Winfried Hermann (Bündnis 90/Die Grünen) nach § 31 GO in der 202. Sitzung des 14. Deutschen Bundestages: „Trotz dieser gravierenden Einwände in einer sehr grundsätzlichen und letztlich auch nicht gefahrlosen Entscheidung der Bundesregierung, die Bundeswehr einzusetzen, müssen wir abwägen, ob wir die damit zwanghaft verbundene Vertrauensfrage bejahen oder die rot-grüne Regierung beenden. Wir haben als Gruppe von Kritikerinnen und Kritikern gemeinsam entschieden, weil der Einzelne das Entscheidungsdilemma nicht sinnvoll auflösen kann. Wir entscheiden politisch wohl begründet und in großer Verantwortung. Wir stimmen in einer freien Gewissensentscheidung ab. Einige von uns sagen Nein und machen deutlich, dass wir dieses Bundeswehrmandat nicht legitimieren wollen. Wir sagen Nein zur Kriegsbeteiligung. Einige sagen Ja zur Regierung Schröder und zum Fortbestand der Koalition. Wir wollen gemeinsam diese Reformkoalition und wir wollen eine vor allem zivile Außenpolitik.“ (Plenarprotokoll 14/202: 19904).
eingesetzt. Die FDP hatte daraufhin dem Bundeskanzler am 14. März schriftlich mitgeteilt, dass nach ihrer Überzeugung die Bundesregierung verpflichtet sei, auch für diesen Einsatz die konstitutive Zustimmung des Bundestages zu beantragen, weil es sich aufgrund der aktuellen politischen Lage nicht um Routineüberwachungsflüge der AWACS-Flugzeuge handle. Der Bundeskanzler lehnte dies in seiner Rede vor dem Bundestag am 19. März mit der Begründung ab, dass die NATO-Flugzeuge den Luftraum über der Türkei „räumlich getrennt von [den dort ebenfalls fliegenden US-AWACS-Flugzeugen, B. M.] und mit gänzlich unterschiedlichem Auftrag überwachen (...) und sichern. Hier liegt der Grund, warum wir davon überzeugt sind, dass es dazu keines Beschlusses des Deutschen Bundestages bedarf.“ (zit. n. Meyer 2004: 20) Als am Tag darauf die USA den Irak angriffen, brachte die FDPFraktion einen Entschließungsantrag mit dem Ziel ein, der Bundestag solle die Bundesregierung auffordern, der Verpflichtung durch das Grundgesetz nachzukommen und die konstitutive Zustimmung für die Beteiligung deutscher Soldaten an den Einsätzen über der Türkei unverzüglich zu beantragen. Dieser Antrag erreichte in namentlicher Abstimmung mit 274 gegen 303 Stimmen bei sechs Enthaltungen nicht die erforderliche Mehrheit. Der Versuch der FDP, im Wege einer einstweiligen Anordnung doch noch eine Abstimmung über die Beteiligung der Bundeswehrsoldaten zu erreichen, scheiterte am 25. März 2003 vor dem Bundesverfassungsgericht. Dieser Fall ist der bislang einzige, in dem die Bundesregierung sich weigerte, für einen Auslandseinsatz die Zustimmung des Bundestages zu erbitten, und dabei auch noch von den sie tragenden Fraktionen und vom Bundesverfassungsgericht unterstützt wurde, obwohl die Situation – anders als der ‘Libelle’Einsatz – nicht als ‘Gefahr im Verzug’ anzusehen war.
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Der Weg zum Parlamentsbeteiligungsgesetz
Unabhängig davon, wie man diese vier Fälle im Einzelnen beurteilen mag, hätten sie den Parlamentariern Anlass dafür sein müssen, bei der Vorbereitung des von Karlsruhe angeregten Spezialgesetzes für die Entscheidungen über Auslandseinsätze vor allem darüber nachzudenken, wie die Rolle des Bundestages gestärkt und er damit seiner Mitverantwortung für die eingesetzten Soldaten besser gerecht werden könnte. Zwar behaupten die Abgeordneten, dies mit dem am 3. Dezember 2004 verabschiedeten Parlamentsbeteiligungsgesetz erreicht zu haben, doch wenn man den Weg dorthin und auch das Gesetz im Einzelnen betrachtet, sind Zweifel angebracht. Schon in der 14. Wahlperiode war die FDP-Fraktion in dieser Angelegenheit initiativ geworden, hatte aber keinen Erfolg damit gehabt. Erst nachdem sie am 12. November 2003 einen eigenen Gesetzentwurf eingebracht 63
hatte (Deutscher Bundestag, Drucksache 15/1985), zogen die Fraktionen von SPD und Bündnis 90/Die Grünen am 23. März 2004 mit einem gemeinsamen Entwurf nach (Deutscher Bundestag, Drucksache 15/2742). Er lehnte sich in weiten Teilen an den FDP-Text an, unterschied sich aber in zwei wesentlichen Punkten von ihm, auf die noch einzugehen sein wird. Die am 25. März 2004 abgehaltene erste Lesung machte die Unterschiede zwar deutlich, zeigte aber auch, dass die Gegensätze hinsichtlich der Ausgestaltung des Parlamentsvorbehaltes nicht unüberbrückbar waren. Die Redner der CDU/CSU-Fraktion, die keinen eigenen Entwurf vorgelegt hatte, übten nur punktuell Kritik an beiden vorliegenden Entwürfen und sprachen sich dafür aus, die Ausschussberatungen dazu zu nutzen, einen fraktionsübergreifenden Gesetzestext zu erarbeiten. Dies gelang allerdings nicht. Vielmehr wurden die beiden Anträge trotz einer hochrangigen Expertenanhörung nahezu unverändert zur zweiten und dritten Lesung am 3. Dezember 2004 eingebracht. Zunächst einmal fällt auf, dass sich alle Fraktionen in der Zielsetzung einig waren, das Verfahren der Parlamentsbeteiligung bzw. Mitwirkung zu standardisieren und damit zu vereinfachen. Dabei ging in der Unionsfraktion das Vereinfachungs- und Beschleunigungsbedürfnis so weit, dass einige Abgeordnete dafür eintraten, „am Anfang einer Legislaturperiode einen generellen Parlamentsbeschluss zu fassen“ (von Klaeden, zit. n. Meyer 2004: 31), mit dem der Bundesregierung für die folgenden vier Jahre freie Hand für Einsätze gelassen würden. Dies sollte durch verstärkte Kontrollbefugnisse und ein allgemeines Rückholrecht des Parlaments kompensiert werden. Derartige Generalvollmachten hätten jedoch wohl kaum dem Votum des Bundesverfassungsgerichts für die konstitutive Beteiligung an jedem einzelnen Mandat entsprochen. Sie wurden daher sowohl von der Koalition als auch von der FDP abgelehnt. Trotzdem ließ sich angesichts der Grundintentionen der Entwürfe und der Debatte vermuten, „dass die Anfang der 1990er Jahre mit dem Gang nach Karlsruhe intendierte Entscheidungsmündigkeit nach über 30 teils sehr zäh verlaufenen, teils fast routinemäßig abgeschlossenen Verfahren einer gewissen Entscheidungsmüdigkeit gewichen ist“. (Meyer 2004: 25) Um die Vereinfachung zu erreichen, sollten beiden Entwürfen zufolge Mandate „geringer Intensität und Tragweite“, also humanitäre Hilfsmaßnahmen und Katastropheneinsätze, kleinere Erkundungs- oder Vorbereitungsunternehmungen einzelner Bundeswehrangehöriger oder deren Mitarbeit in ständigen internationalen Stäben nicht mehr Gegenstand des Parlamentsvorbehaltes sein, sondern nur „Einsätze bewaffneter Streitkräfte“ (§§ 1 und 2 beider Entwürfe). „Ein Einsatz bewaffneter Streitkräfte liegt vor, wenn (Soldatinnen und) Soldaten der Bundeswehr in eine bewaffnete Unternehmung einbezogen sind oder eine Einbeziehung in eine bewaffnete Unternehmung 64
zu erwarten ist“, heißt es, nur um die sprachliche Einbeziehung der Soldatinnen differierend, in § 1, 2 des FDP- und § 2, 1 des Koalitionsentwurfs. Ebenfalls dicht beieinander lagen die Formulierungen hinsichtlich der Informationen über den geplanten Einsatz, die ein Antrag der Bundesregierung an den Bundestag „mindestens“ bzw. „insbesondere“ enthalten soll, wozu neben der rechtlichen Grundlage, dem Auftrag, dem Umfang der einzusetzenden Streitkräfte und ihren Fähigkeiten, dem Gebiet und der Dauer des Einsatzes auch der wichtige Punkt der voraussichtlichen Kosten und ihre Finanzierung gehören (§ 3 beider Entwürfe). Doch was hier dem generellen Anspruch der Abgeordneten auf umfassende Information entsprechend formuliert ist, relativieren beide Anträge durch die Einführung eines „Ausschusses für besondere Auslandseinsätze“ (§ 5 des FDP-Entwurfs) bzw. durch das „vereinfachte Zustimmungsverfahren“ (§ 4 des Koalitionsentwurfs). Der von der FDP vorgesehene Ausschuss, der befugt gewesen wäre, über eilige, geheime oder geringfügige Einsätze zu beschließen, war letzten Endes ausschlaggebend dafür, dass sich beide Seiten nicht auf einen gemeinsamen Text einigen konnten, obwohl dieser Ausschuss anfangs von Teilen der SPD und insbesondere Verteidigungsminister Struck ebenfalls befürwortet worden war. Doch die Grünen wehrten sich entschieden und erfolgreich dagegen, weil sie darin die Rechte des Plenums verletzt sahen.
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Verantwortungsvolles Abnicken?
Inwieweit das am 3. Dezember 2004 nur mit den Stimmen von SPD und Grünen verabschiedete „vereinfachte Zustimmungsverfahren“ die Rechte des Plenums sichert oder gar verbessert, ist allerdings fraglich: Von nun an soll das Bundestagspräsidium Anträge der Regierung für Einsatzvorhaben „geringer Intensität und Tragweite“ nur noch den Fraktionsvorsitzenden sowie den Vorsitzenden und Obleuten des Auswärtigen Ausschusses und des Verteidigungsausschusses zuleiten und an die übrigen Abgeordneten als Bundestagsdrucksache verteilen. Die Zustimmung zu diesen Anträgen „gilt als erteilt, wenn nicht innerhalb von sieben Tagen nach der Verteilung der Drucksache von einer Fraktion oder fünf vom Hundert der Mitglieder des Bundestages eine Befassung des Bundestages verlangt wird“. (§ 4, 1) Das vom SPDAbgeordneten Erler in der Ersten Lesung „Verschweigungsfrist“ (Deutscher Bundestag, Stenografischer Bericht 15/100: 8979) genannte Verfahren mag geeignet sein, bei faktischer Nichtbefassung noch ein Minimum an Transparenz gegenüber dem Parlament zu wahren. Da es nach diesem Paragraphen in kritischen Fällen erst dann zu einer dem Urteil des Bundesverfassungsgerichts entsprechenden Beteiligung des Bundestages kommt, wenn das erforderliche Quorum rechtzeitig wach wird und eine Befassung des Plenums be65
antragt, sind die Mitwirkungsmöglichkeiten des Bundestages vor allem dann gefährdet, wenn die Bundesregierung einen Antrag in den Parlamentsferien vorlegt. Ein grundsätzliches Problem besteht darüber hinaus darin, dass in der Aufzählung von § 4, 2 des Parlamentsbeteiligungsgesetzes faktisch alles außer der „Beteiligung an einem Krieg“ zur minderen Art von Einsätzen zählen kann und die Regierung die alleinige „Definitionsmacht“ (Böckenförde 2004: 26) darüber hat. Deshalb lässt sich das Verfahren als stillschweigende Aushebelung des Parlamentsvorbehalts ansehen. Man fragt sich, wie dies von der SPD-Fraktion, die einst Karlsruhe angerufen hat, weil ihr die parlamentarischen Hürden für einen Auslandseinsatz nicht hoch genug sein konnten, und von den Grünen, die einst vehement gegen jede Art von Bundeswehreinsatz außerhalb Deutschlands polemisierten, in ein Gesetz geschrieben werden konnte. Keiner vorherigen Zustimmung bedürfen außerdem „Einsätze bei Gefahr im Verzug, die keinen Aufschub dulden“ und Rettungseinsätze, bei denen „durch die öffentliche Befassung des Bundestages das Leben der zu rettenden Menschen gefährdet würde“ (§ 5, 1). Vielmehr soll in diesen Fällen der Bundestag „vor Beginn und während des Einsatzes in geeigneter Weise“ unterrichtet werden (§ 5, 2, Hervorhebung B. M.). Auch in diesen Fällen behält die Regierung die Definitionsmacht darüber, welche Einsätze so eilig oder so geheim sind, dass sie dem Bundestag gar nicht vorgelegt werden. Die Bestimmung über die Unterrichtung der Abgeordneten nach § 5, 2 ist überdies so vage gehalten, dass im Zweifel erst sehr viel später festgestellt werden kann, ob sie die geeignete Information oder so unzulänglich war, dass Abgeordnete von ihrem in § 8 gegebenen Recht, einen Einsatz abzubrechen, nicht zeitig genug Gebrauch machen konnten. Bei solchen Fällen könnte es sich eines Tages als Fehler erweisen, dass die Mehrheit nicht der – in ihrer Ausführung verbesserungsbedürftigen (vgl. Meyer 2004: 28, 37) – Grundidee der FDP gefolgt ist, einen speziellen Ausschuss des Bundestages einzurichten, der „laufend zu unterrichten“ gewesen wäre und „auf Verlangen“ die Möglichkeit gehabt hätte, „Einsicht in die Akten und Dateien zu [nehmen], die in unmittelbarem Zusammenhang mit den genehmigten Einsätzen bewaffneter Streitkräfte stehen, und (...) Mitarbeiter“ anzuhören (FDP-Entwurf, § 8). Doch selbst bei den Einsätzen, für die eine Zustimmung erforderlich ist, steht es nach dem neuen Gesetz um die Parlamentsbeteiligung nicht zum Besten. Nach § 3, 3: kann „der Bundestag (...) dem Antrag zustimmen oder ihn ablehnen. Änderungen des Antrages sind nicht zulässig.“ Dieser Punkt wurde schon in der Ersten Lesung von Sprechern der Opposition kritisiert. „Ich halte es (…) für abwegig, dem Parlament nach dem Motto ‘Vogel, friss 66
oder stirb!’ einen umfangreichen und detaillierten Gesetzentwurf vorzulegen, an dem das Parlament noch nicht einmal ein Komma ändern darf.“ (von Klaeden CDU/CSU, zit. n. Plenarprotokoll 15/100: 8980). Dem hatte damals der SPD-Abgeordnete Bartels entgegnet: „In unserem Gesetz schreiben wir die bewährte Praxis fest, dass der Antrag der Bundesregierung, mit deutschen Soldaten an einer internationalen Operation teilzunehmen, vom Parlament nicht geändert oder ergänzt werden kann (…) Wir werden im Bundestag nicht Generalstab spielen und wir können es auch nicht.“ (Plenarprotokoll 15/100: 8986) Damit befand er sich zwar auf der Linie des Urteils des Bundesverfassungsgerichts (vgl. BverfGE 1994: 389, s. o. Kap. 3), doch dies löst nicht das Problem, das vor allem Abgeordnete der Opposition in einer Situation haben dürften, in der sie einerseits aufgefordert sind, den Soldaten vor einer schwierigen Mission den Rücken zu stärken, andererseits aber den Eindruck haben, die Regierung verfolge dabei mit unzulänglichen Mitteln vor allem ein Prestigeprojekt. Auch wenn die bisherige Praxis des Parlaments beibehalten wird, über einen Regierungsantrag auf Entsendung von Bundeswehreinheiten genau wie einem internationalen Vertrag ohne Änderungen abzustimmen, so darf nicht übersehen werden, dass jede Regierung großes Interesse daran haben wird, eine möglichst breite Zustimmung zu erhalten. Dementsprechend wurde bisher entweder schon im Vorlauf einer Abstimmung bei der Formulierung des Mandates Rücksicht darauf genommen, dass wenigstens die Koalitionsfraktionen zustimmen konnten. Darüber hinaus gibt es die Praxis, durch Protokollerklärungen von Mitgliedern der Bundesregierung die Entscheidung des Parlaments zu beeinflussen: So war die breite Zustimmung des Parlaments zur unbefristeten Mandatsverlängerung des KFOR-Mandats im Jahr 2000 „nur möglich, nachdem der Bundesaußenminister und der Bundesverteidigungsminister übereinstimmende Erklärungen abgegeben hatten, dass die Bundesregierung im Falle der Fortdauer des Mandats alle 12 Monate den Bundestag befassen werde“. (Wiefelspütz 2003: 51) Ein anderes Beispiel bietet die Vorbereitung der Entscheidung über die Beteiligung an der Operation Enduring Freedom. Damals brachten die Regierungsfraktionen begleitend zum Regierungsantrag einen Entschließungsantrag ein, der es ermöglichen sollte, eventuelle Abweichler einzubinden. In ihm hieß es, der Bundestag möge substanzielle Hilfe für den Wiederaufbau Afghanistans bereitstellen und die Initiativen der Bundesregierung unterstützen, „sich gemeinsam mit den Staaten der Europäischen Union und mit den Vereinigten Staaten aktiv in den politischen Planungs- und Vorbereitungsprozess für die politische Zukunft Afghanistans einzuschalten (Post-TalibanProzess) (...)“. (zit. n. FAZ,16.11.2001: 4) Jener Entschließungsantrag enthielt darüber hinaus eine Reihe weiterer Punkte, die darauf angelegt waren, 67
die Zustimmung zum Anti-Terror-Krieg in die wärmende Watte „ziviler Konfliktbearbeitung und Krisenprävention“, „einer globalen Friedenspolitik“ und der „kontinuierliche[n] Fortsetzung des Dialogs zwischen den Kulturen und mit den Religionen“7 zu packen, um die militärkritischen Besorgnisse innerhalb und außerhalb der rot-grünen Fraktionen abzufedern. Dass der Bundeskanzler trotzdem noch zum Disziplinierungsmittel der Vertrauensfrage greifen musste, um eine ‘eigene’ Mehrheit zu erhalten, wurde bereits erwähnt. Dass er damit zugleich die im Hohen Hause in dieser Situation erreichbare Zustimmung der Fraktionen von CDU/CSU und FDP verspielte, zeigt, wie heikel es ist, dieses Mittel anzuwenden. Das von allen Parteien befürwortete Rückholrecht, das sich eigentlich schon aus Art. 87 a, 4 GG ergibt, dürfte indes in der Praxis wohl kaum je zur Geltung kommen, denn ein den vorzeitigen Abzug des deutschen Kontingents fordernder Beschluss des Bundestages würde die Regierung international bloßstellen und deshalb kaum von den Abgeordneten der jeweiligen Mehrheitsparteien mitgetragen werden, zumal ein Bundeskanzler in einer solchen Situation von der Möglichkeit der Vertrauensfrage Gebrauch machen könnte. Insgesamt lässt sich feststellen, dass die Regierung durch das Parlamentsbeteiligungsgesetz mehr Spielraum für Auslandseinsätze erhalten hat. Zwar hat der Bundestag mit der Einführung der „Verschweigungsfrist“ seine Rechte formell nicht aufgegeben, aber es hängt von der Aufmerksamkeit der Abgeordneten ab, dass das Parlament sie auch künftig in dem bisher gewohnten und seiner Verantwortung für das Wohl und Wehe der Soldaten angemessenen Umfang wahrnimmt. Es ist überdies absehbar, dass eine Fraktion einen Fall, in dem sie meint, die Regierung habe ihre Definitionsmacht überzogen, wieder vor das Bundesverfassungsgericht trägt. Dann wird sich zeigen, ob das neue Gesetz Bestand hat.
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Die noch offenen Probleme
Jeder bewaffnete Streitkräfteeinsatz im Ausland ist nur bedingt vorausplanbar. Trotzdem lässt sich dafür Sorge tragen, dass die Aufgaben von den eingesetzten Truppen etwas rationeller, gewissermaßen unter weniger Ächzen und Stöhnen, zu bewältigen sind (vgl. Groß/Meyer 2005: 210ff.). Um dies zu erreichen, sollte der Gesetzgeber die von der Regierung nur zögerlich betrie7
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Aus demselben Antrag zit. n. FAZ vom 16.11.2001: 4. Die Entschließung selbst wurde jedoch nicht vom Plenum des Bundestages verabschiedet, vielmehr fanden einzelne Formulierungen Eingang in die Erklärungen des Bundeskanzlers und des Außenministers sowie in eine zu Protokoll gegebene Erklärung einer Gruppe von SPD-Abgeordneten nach Art. 31 GO (Plenarprotokoll 14/202).
benen Reformen der Bundeswehr beschleunigen, damit er einigermaßen sicher sein kann, seine Mitverantwortung für die Einsätze auch tragen zu können. In diesem Sinne ist den Abgeordneten zu raten, ihre Verantwortung für das Wohl und Wehe der Soldatinnen und Soldaten weiterhin ernst zu nehmen und sorgfältig darüber zu wachen, unter welchen Bedingungen Einsätze gebilligt und verlängert werden sollen. Letzteres kann am ehesten dadurch geschehen, dass die Bundesregierung verpflichtet wird, vier Wochen vor jedem Verlängerungsantrag (auch für kleine oder scheinbar ungefährliche Missionen) dem Bundestag einen Tätigkeits- und Lagebericht über die jeweilige Mission vorzulegen, der auch eine Einschätzung über die zu erwartende weitere Dauer des Einsatzes enthält. Auf diese Weise erhalten die Abgeordneten sowohl Zeit als auch Informationen, die es ihnen ermöglichen, über die Tragweite ihrer Entscheidung nachzudenken und ggf. zu debattieren, um dann abzustimmen. Schließlich darf mit Blick auf die Beteiligung an Einsätzen der Schnellen Eingreiftruppe der EU das Spannungsverhältnis zwischen dem Bedürfnis nach kurzfristiger Einsatzfähigkeit und dem deutschen Parlamentsvorbehalt nicht zu Lasten des Palaments aufgelöst werden. So lange es nicht möglich ist, ein vergleichbares Mitbestimmungsrecht des Europaparlaments einzuführen, darf der Bundestag auf sein Recht und seine Pflicht, am Zustandekommen jedes einzelnen Einsatzes konstitutiv mitzuwirken, nicht verzichten. Deshalb sollte sich die Bundeswehr bis dahin nur an solchen integrierten Einheiten der Eingreiftruppe beteiligen, in denen ihre Soldatinnen und Soldaten mit Angehörigen von Streitkräften zusammengefasst sind, deren Heimatländer ebenfalls großen Wert auf die Mitwirkung ihrer Parlamente an Einsatzentscheidungen legen (insbesondere Dänemark, Irland, Österreich und Schweden).
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Literaturverzeichnis Böckenförde, Stephan (2004). Die War Powers Resolution als ein mögliches Modell für ein Entsendegesetz/Parlamentsbeteiligungsgesetz. Deutsche Stiftung Friedensforschung. Osnabrück. Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts (1994). Bd. 90, Nr. 16, 12.07.1994. Entwurf (der Abgeordneten Jörg van Essen … und Fraktion der FDP) eines Gesetzes zur Mitwirkung des Deutschen Bundestages bei Auslandseinsätzen der Bundeswehr (Auslandseinsätzemitwirkungsgesetz). Deutscher Bundestag, 15. Wahlperiode, Drucksache 15/1985 vom 12.11.2003. Entwurf (der Fraktionen SPD und BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) eines Gesetzes über die parlamentarische Beteiligung bei der Entscheidung über den Einsatz bewaffneter Streitkräfte im Ausland (Parlamentsbeteiligungsgesetz). Deutscher Bundestag, 15. Wahlperiode, Drucksache 15/2742 vom 23.03.2004. Groß, Jürgen/Meyer , Berthold (2005). Unter Ächzen und Stöhnen: Die Bundeswehr im Einsatz. In: Ratsch et al. (2005): 210–218. Limpert, Martin (2002). Auslandseinsatz der Bundeswehr. Berlin. Meyer, Berthold (2004). Von der Entscheidungsmündigkeit zur Entscheidungsmüdigkeit? Nach zehn Jahren Parlamentsvorbehalt für Bundeswehreinsätze naht ein Beteiligungsgesetz. In: HSFK-Report, 4. Meyer, Berthold/Schlotter, Peter (2000). Die Kosovo-Kriege 1998/99. Die internationalen Interventionen und ihre Folgen. In: HSFK-Report, 1. Mutz, Reinhard (1991). Die Debatte über einen erweiterten Auftrag der Bundeswehr. In: Schwerdtfeger et al. (1991): 222–235. Mutz, Reinhard et al. (Hrsg.) (1992). Friedensgutachten 1992. Münster. Mutz, Reinhard (1992). Mobilmachung zum Krieg. Die Bundeswehr zwischen Verteidigungs- und Interventionsauftrag. In: Ders. et al. (1992): 18–30. NATO-Gipfelkonferenz in Rom. Tagung der Staats- und Regierungschefs des Nordatlantikrats am 07. und 08.11.1991 in Rom. Das neue strategische Konzept des Bündnisses. In: Presse- und Informationsamt der Bundesregierung, Bulletin, Nr. 128 vom 13.11.1991. Penner, Willfried (2005). Vortrag des Wehrbeauftragen des Deutschen Bundestages vor dem Informationszentrum des Verteidigungsministeriums der Republik Bulgarien, Sofia, März 2005. Ratsch, Ulrich et al. (Hrsg.) (2005). Friedensgutachten 2005. Münster. Schwerdtfeger Johannes et al. (Hrsg.) (1991). Friedensgutachten 1991. Münster.
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II Krieg / Militär
Warum die Streitkräfte mancher Staaten den Kleinen Krieg verlieren – Eine Kritik der westlichen Counter-insurgencyDoktrinen Stefan Goertz 1
Die Streitkräfte demokratischer Staaten und der Kleine Krieg
Organisatorisch und logistisch überlegene Streitkräfte eines demokratischen Staates sind häufig nicht in der Lage, den Kleinen Krieg gegen schwache irreguläre Kräfte zu gewinnen – eine Feststellung, die auf den ersten Blick paradox wirkt. Entscheidend scheint hier die Asymmetrie der Konfliktstruktur zu sein, die es dem nicht-staatlichen Akteur erlaubt, seine militärische Unterlegenheit durch Kleinkriegführung zu kompensieren. Zu beobachten ist, dass demokratische Staaten, die sich auf einen asymmetrischen Krieg mit nicht-staatlichen Akteuren einlassen, dazu neigen, konventionelle Strategien und Taktiken des Großen Krieges anzuwenden, die ungeeignet sind, den Kleinen Krieg zu führen (Arreguin-Toft 2001: 105). Im Spektrum militärischer Konflikte ist eine Verschiebung von den symmetrischen Großen Kriegen zwischen regulären Streitkräften souveräner Staaten zu den Kleinen Kriegen, in denen Guerillakriegführung und Terrorismus als strategische und taktische Mittel eingesetzt werden, zu konstatieren. Der Kleine Krieg, der asymmetrische Konflikt zwischen Staaten und nicht-staatlichen Akteuren, ist nach dem Ende des Kalten Krieges die dominierende Form der militärischen Konfliktaustragung geworden (Daase 1999: 12). Treffen zwei ungleich vergesellschaftete Akteure, also Staaten und nicht-staatliche Gruppen aufeinander, divergieren nicht nur die Interessenstrukturen, sondern auch die Präferenzen für den Austragungsmodus ihres Konflikts (Mitchell 2004: 30). In der symmetrischen Konfliktstruktur des Großen Krieges führen legitime Gegner mit regulären Streitkräften einen konventionellen Krieg, der zeitlich und räumlich begrenzt ist. Die asymmetrische Konfliktstruktur des Kleinen Krieges dagegen führt zu einem unkonventionellen Krieg, der zeitlich und räumlich entgrenzt ist und der von regulären Streitkräften einerseits und irregulären Verbänden andererseits, die sich gegenseitig als illegitim ansehen, ausgetragen wird. Das wesentliche strategische Element der Kleinkriegführung ist die Provokation zu Gegenmaßnahmen des starken Akteurs durch den schwachen. Strategisch mündet das Wechselspiel von Anschlägen und Gegenmaßnahmen – nach der Logik des schwachen Akteurs – in die Erschütterung der politischen Legitimität des demokratischen Staates. Der demokratische Staat verliert seine Legitimität, wenn er seine institutionellen Verfahren und Re75
geln bricht und die irreguläre Kriegführung des nicht-staatlichen Akteurs adaptiert. Im Kleinen Krieg wird der demokratische Staat dazu verleitet, sich solcher Mittel zu bedienen, die regelwidrig sind und seine demokratische Staatlichkeit untergraben. Im Verhältnis zu dem Maße, in welchem der Staat sich auf die irreguläre Kriegführung einlässt, gerät die Sozialintegration des staatlichen Akteurs in Gefahr: Die gesellschaftliche Kohäsion schwindet, die politische Legitimität zerfällt. Das demokratische Bekenntnis zu Rechtsstaatlichkeit und völkerrechtlicher Legitimität erschwert es Demokratien im Kleinen Krieg, die entsprechenden Taktiken zu ergreifen (Kitson 1974: 9). Der besondere politische Charakter des Kleinen Krieges trifft demokratische Staaten in ihrem Selbstverständnis der regulären Kriegführung eines Großen Krieges, welche auf der Jomini’schen Theorie (Jomini 1994: 370) der Zerschlagung der feindlichen Streitkräfte basiert. Demokratische Staaten scheinen auch im Kleinen Krieg dazu zu neigen, direkte Strategien des regulären Großen Krieges anzuwenden. 1. These: Das Versagen des demokratischen Staates im Kleinen Krieg gründet darin, dass es ihm nicht gelingt, Counter-insurgency-Doktrinen als führende Komponente eines interdisziplinären Ansatzes von militärischen und nicht-militärischen Mitteln zu entwickeln und auf den spezifischen Fall eines Kleinen Krieges anzuwenden. Der konventionelle Reflex der demokratischen Staaten, Strategien und Taktiken der konventionellen Kriegführung – dem Großen Krieg entlehnt – anzuwenden, verhindert eine institutionelle Anpassung der Doktrinen und Strategien sowie der Streitkräftegliederung. 2. These: Nach der quantitativen Studie von Arreguin-Toft (Arreguin-Toft 2001: 93–128) verliert der starke Akteur den Kleinen Krieg, wenn er gegenüber dem schwachen Akteur die direkte Strategie des regulären Krieges anwendet (direkter-indirekter Ansatz). Kurz: Kämpft der starke Akteur mit den konventionellen taktischen Mitteln des regulären Krieges und gelingt es ihm nicht, die indirekte Taktik des schwachen Akteurs zu adaptieren, so verliert er. Treffen ungleich vergesellschaftete Akteure, demokratischer Staat (starker Akteur) und irreguläre Kräfte (schwacher Akteur), aufeinander, divergieren sowohl die Interessenstrukturen als auch die Präferenzen für den Austragungsmodus ihres Konfliktes. 3. These: Der demokratische Staat verfolgt das Interesse, den Kleinen Krieg so zu führen, dass die Organisationsform seiner Streitkräfte nicht modifiziert werden muss. Stehen die westlichen Streitkräfte einem neuen politischen und militärischen Lagebild eines Kleinen Krieges gegenüber und werden von der uneingeschränkten, konventionellen Anwendung regulärer militärischer Strategien und Taktiken des Großen Krieges abgehalten, erweisen sie sich als institutionell schwach und der Kleine Krieg, den sie führen, als systemwidrig. 76
Die Streitkräfte demokratischer Staaten neigen zum Einsatz konventioneller Strategien, Taktiken und Streitkräftegliederungen, zeigen sich nicht als „learning institution“ und verlieren den Kleinen Krieg. Das Kapitel 2 zeigt anhand dreier Fallbeispiele (USA im Vietnamkrieg, Frankreich im Algerienkrieg und Großbritannien im Kleinen Krieg in Malaysia) das Versagen beziehungsweise den Erfolg westlicher Streitkräfte, effektive zivil-militärische Counter-insurgency-Doktrinen zu entwickeln und auf den spezifischen Fall eines Kleinen Krieges anzuwenden. Der Vietnamkrieg (bis zur Tet-Offensive) und der Algerienkrieg eignen sich als historisch abgeschlossene Prototypen eines Kleinen Krieges gut zur Untersuchung der strategietheoretischen Entwicklung und der taktischen Anwendung der Counterinsurgency-Doktrinen der USA und Frankreichs. Das dritte Fallbeispiel, Großbritannien im Kleinen Krieg in Malaysia, dient im Verlauf der ersten drei Jahre des Krieges der Bestätigung der Thesen zur Entwicklung und Anwendung der Counter-insurgency-Doktrinen. Im Verlauf des Kleinen Krieges in Malaysia gelang es den britischen Streitkräften – in einer Art Präzedenzfall –, den Reflex der konventionellen Kriegführung abzulegen, Verständnis für den spezifisch politischen Charakter des Kleinen Krieges zu gewinnen und indirekte Counter-insurgency-Methoden zur Kleinkriegführung zu entwickeln und anzuwenden. a)
Unterschiedliche Interessenstrukturen
Der demokratische Staat hat wenig Interesse an einem unbedingten Sieg im Kleinen Krieg, weil weder seine territoriale, noch seine politische, gesellschaftliche und kulturelle Existenz gefährdet ist. Eine Niederlage im Kleinen Krieg bedeutet für den starken Akteur kaum eine existenzielle Bedrohung (Betts 1980: 520–524). Demgegenüber hat der schwache nicht-staatliche Akteur ein vitales Interesse den Krieg zu gewinnen, weil nur ein Sieg sein territoriales, politisches und auch militärisches Überleben garantiert (Mack 1983: 181). Für den schwachen Akteur kann eine Niederlage im Kleinen Krieg jedoch existenzielle Folgen haben, während ein Sieg Unabhängigkeit bedeutet. Der schwache Akteur gewinnt den Kleinen Krieg demnach nicht durch seine Fähigkeit zu verletzen, sondern durch seine höhere Bereitschaft, verletzt zu werden. Während die Strategie des starken Akteurs auf der Fähigkeit zu verletzen basiert, ist die Strategie des schwachen Akteurs auf die Fähigkeit zu erdulden gegründet. Der strukturell überlegene starke Akteur verliert gegen den schwachen Akteur dadurch, dass er den Sieg nur über ein – für ihn strukturell und institutionell in seinem demokratischen Selbstverständnis – nicht tragbares Maß an Leidensfähigkeit erreichen kann (Rosen 1972: 168). Hier zeigt sich die rechtsstaatliche Ordnung des demokratischen Staates bedroht (Best 1983: 19; Howard 1979: 44). Die Logik der Strategien im Kleinen 77
Krieg zwischen dem starken und dem schwachen Akteur besteht darin, dass der schwache Akteur die Fähigkeit besitzt, durch seine höhere Leidensfähigkeit die Folgen der vom starken Akteur angewandten taktischen Mittel ertragen zu können, wohingegen der starke Akteur genau dies nicht kann. Danach ist jeder Krieg ein Test, der auf den Wechselwirkungen der Fähigkeit zu verletzen und der Fähigkeit zu erdulden beruht. Demokratien sind unfähig oder nicht willens, hohe Opferzahlen in entlegenen irregulären Konflikten zu akzeptieren (Laqueur 1998: 227). Auf der anderen Seite stehen die irregulären Kräfte des nicht-staatlichen Akteurs, die aufgrund einer anderen Gesellschaftsform abweichende Interessen ausbilden und in der Lage sind, eine andere Kriegführung als der demokratische Akteur zu wählen (Daase 1999: 93). Die nicht-staatliche, irreguläre Gruppe, die einen geringen Organisationsgrad besitzt und weder über die Kontrolle von Territorium und Bevölkerung verfügt, noch reguläre Streitkräfte unterhält, kann ihre Interessen weitgehend unabhängig von ordnungspolitischen und institutionellen Zwängen formulieren und auf eine irreguläre, dezentrale Kriegführung setzen, um durch Guerillakriegführung und Terrorismus den Willen des starken Akteurs zu zermürben. Nach dieser Logik müsste die demokratische Gesellschaft des starken Akteurs größere Toleranz für Brutalität und eigene Verluste aufbringen. Können demnach heutige Demokratien den Kleinen Krieg überhaupt noch erfolgreich führen, da er Folgen impliziert, welche von der demokratischen Öffentlichkeit – anders als in den Großen Kriegen – nicht toleriert werden? Zusammenfassend bleibt zu konstatieren, dass sich die Interessenstrukturen des starken und des schwachen Akteurs ebenso wie der Austragungsmodus (Strategie und Taktik) im Kleinen Krieg unterscheiden. Das strategische Ziel des schwachen Akteurs besteht – ob seiner strukturellen und organisatorischen Unterlegenheit – in der Provokation des starken Akteurs, um den Kleinen Krieg eskalieren zu lassen und die demokratische Legitimität des starken Akteurs in Zweifel zu stellen. Kurz: Der demokratische Staat verliert seine Legitimität, wenn er seine institutionellen Verfahren und Regeln bricht und die irreguläre Kriegführung seiner Gegner adaptiert. Das demokratische Bekenntnis zu Rechtsstaatlichkeit und völkerrechtlicher Legitimität erschwert es Demokratien im Kleinen Krieg, im Gegensatz zu totalitären Staatsformen, entsprechende Maßnahmen zu ergreifen. b)
Logik der Strategien im Kleinen Krieg
Das strategische Ziel des schwachen Akteurs besteht darin, den starken Akteur zu provozieren, um den Kleinen Krieg eskalieren zu lassen. Diese Eskalation erzeugt ökonomische Kosten und gefährdet die demokratische Legitimität des starken Akteurs. Dabei verfolgen beide Akteure das Interesse, den 78
Kleinen Krieg so zu führen, dass ihre eigene Organisationsform nicht mehr gefährdet wird als nötig. Während der staatliche Akteur anstrebt, seinen privilegierten politischen und militärischen Status zu erhalten und seine überlegenen militärischen Fähigkeiten zu nutzen, wird der nicht-staatliche Akteur versuchen, diesen Status zu unterminieren. Dieser wird bestrebt sein, den Krieg nach den eigenen und nicht nach den Regeln des staatlichen Akteurs zu führen. Die Asymmetrie der Konfliktstruktur und die Ungleichheit der militärischen Organisation zwingen den nicht-staatlichen Akteur, andere strategische und taktische Prinzipien anzuwenden als der militärisch überlegene Staat. Da ein Zerschlagen der staatlichen Streitkräfte nicht in Frage kommt, verbietet sich das direkte strategische Vorgehen des Großen Krieges (Heydte 1986: 74). Das militärische Kräfteverhältnis wird hier bedeutungslos, weil es nicht zur militärischen Entscheidung kommt. Daher ist das Ziel des schwachen Akteurs nicht das Zerschlagen der Streitkräfte des starken Akteurs, sondern das Brechen seines politischen Willens, den Krieg fortzuführen, ohne ihm je die Möglichkeit zu bieten, seine überlegenen militärischen Mittel einzusetzen. Insofern wird der Kleine Krieg von Seiten des nicht-staatlichen Akteurs strategisch eher defensiv geführt, taktisch hingegen offensiv (Daase 1999: 96). Dass dies kein Verzicht auf den politischen Sieg bedeutet, betonte Henry Kissinger, wenn er sagt: „the guerilla wins if it does not lose. The conventional army loses if it does not win.“ (Kissinger 1969: 214) Im Kleinen Krieg wirkt die Zeit uneinheitlich, sie schränkt die Handlungsfähigkeit des Staates stärker ein als die des nicht-staatlichen Akteurs. Der Faktor Zeit ist stets auf Seiten des schwachen Akteurs. Die irreguläre Kriegführung umfasst all jene Arten der Kriegführung, die der konventionellen Kriegführung (der entsprechenden Zeit) fremd sind. Sie wird gewöhnlich gegen den starken Akteur als Mittel zur Verringerung seiner relativen Vorteile angewendet, die sich entweder in seiner numerischen Stärke oder in der technisch-logistischen Überlegenheit seiner Bewaffnung äußern. Der Kleine Krieg ist per definitionem ‘entgrenzt’, ‘enthegt’, ‘entzivilisiert’, ‘barbarisiert’, da alle Mittel zum Einsatz gebracht werden (Matthies 2004: 418). Seine charakteristische Brutalität – insbesondere gegenüber Nichtkombattanten – nimmt Züge an, die mit dem Phänomen des totalen Krieges in Zusammenhang gebracht werden. Die Gesamtheit des Gegners, und nicht nur dessen Kombattanten, wird als Feind angesehen und bekämpft (Trotha 1999: 13, 29). Für den Kleinen Krieg ist die bewusst angestrebte Asymmetrie im Kampf gegen die verwundbarste Stelle des Gegners, eben die Nichtkombattanten, charakteristisch. Daher rührt der hohe Anteil von Zivilisten unter den Opfern des Kleinen Krieges. Auch reguläre Streitkräfte eines demokratischen Staates, die in einem Kleinen Krieg gegen irreguläre Kräfte eingesetzt werden, tendieren dazu, sich die regellose Kriegführung des Geg79
ners zu Eigen zu machen (Daase 1999: 100, 231–233). Dies ist „Ausdruck der Auflösung zivil-militärischer Beziehungen, deren Regelung im Sinne der Eindämmung interner Gewalt und legaler Ausübung polizeilicher und militärischer Gewalt als ein Kernstück des modernen Staates angesehen werden kann“, wie Chojnacki (2002: 45) betont. Die historisch bekannteste Form von Grausamkeit und Barbarei ist die Ermordung von Kriegsgefangenen und Zivilisten, der Einsatz von Konzentrationslagern und taktische Bombardements ziviler Ziele, welche keine militärische Bedeutung haben (Arreguin-Toft 2001: 102). So subsumiert man hierunter die systematische Verletzung von Gesetzen1 zugunsten eines militärischen oder politischen Erfolges, wie etwa durch den Einsatz verbotener, geächteter Waffen und insbesondere durch Übergriffe auf Nicht-Kombattanten. c)
Grundzüge der Counter-insurgency-Doktrin
Der Schwerpunkt im Kleinen Krieg liegt in der politisch-sozialen Umwelt. Das bedeutet, dass die Erlangung der politisch-psychologischen Legitimität innerhalb der Bevölkerung wichtiger als militärisch-taktischer Erfolg – durch konventionellen Streitkräfteeinsatz – ist. Eine erfolgreiche Counter-insurgency-Doktrin (CI-Doktrin) muss auf politisch-psychologischen Komponenten basieren – und der demokratische Staat nach Sir Robert Thompson die „hearts and minds“ („Herzen und Köpfe“) des Volkes gewinnen (Thompson 1966: 50). Eine CI-Doktrin müsse demnach darauf gerichtet sein, die Loyalität der Bevölkerung wiederzuerringen und zu erhalten, im Gegensatz zu konventionellen offensiven Operationen, die auf die physische Vernichtung irregulärer Kräfte hinzielen (Kitson 1974: 83–88). Die „hearts and minds“Strategie wurde erstmals von den Briten in Malaysia erfolgreich angewendet und später von vielen Staaten kopiert. Doch konnte der Erfolg, wie der Vietnamkrieg zeigt, nur selten wiederholt werden. Der „hearts and minds“Strategie liegt eine Idee zugrunde, die anerkennt, dass das strategische Ziel eines Kleinen Krieges nicht im operativ-taktischen Sieg, sondern in der Erlangung politischer Legitimität besteht. Die Autorität der Regierung muss wiederhergestellt werden, um schrittweise die Unterstützung der Bevölkerung zu gewinnen. „A person“, so schreibt Sir Robert Thompson, „can only be made to choose freely to support the government if the government can show him that what it has to offer is something better than the insurgents can offer him“, und er betont die Bedeutung von „improving the standard of living of peasants socially, politically, economically and culturally as a war measure“. (Thompson 1966: 143) Die „grievance-frustration“-Theorie (Berdal/Malone 2000) betrachtet die „Insurgency-Anfälligkeit“, also die Ursachen 1
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Vgl. Haager Landkriegsordnung (1899 und 1907), die vier Genfer Konventionen (1949), die beiden Zusatzprotokolle der Genfer Konventionen (1977).
und Entwicklung eines Aufstandes, im Wesentlichen ökonomisch und sozialstrukturell. Demnach müsse eine erfolgreiche Counter-insurgency-Doktrin also primär auf wirtschaftlichen und politisch-sozialen Komponenten basieren. Nicht die einzelnen Operationen der Guerillakriegführung sind entscheidend, sondern die Motivation, die sie trägt. Eine CI-Doktrin solle zunächst ökonomische Maßnahmen enthalten, um die wirtschaftlichen Grundlagen eines Landes aufrechtzuerhalten oder, wenn möglich, zu steigern; erst sekundär auch auf die Zerschlagung der subversiven Organisation hinzielen. Denn die wirtschaftliche Prosperität ist ein mächtiges taktisches Mittel gegen jene, die eine bestehende Ordnung beseitigen wollen.2 Weiter ist die Unterstützungsbereitschaft der Bevölkerung durch die Verwirklichung populärer Projekte und Reformen zu fördern. In diesem Zusammenhang kann man feststellen, dass die Bevölkerung unter gleichen Voraussetzungen einen von der (demokratischen) Regierung angebotenen begrenzten Fortschritt eher unterstützen wird als weitreichende, von den irregulären Kräften propagierte Reformen (Kitson 1974: 80). Counter-insurgency ist ein Krieg um das Volk. Der Schwerpunkt einer CI-Doktrin liegt nicht im Zerschlagen der feindlichen Streitkräfte, sondern im Gewinnen der Legitimität innerhalb der Bevölkerung.
2
Die Streitkräfte der USA, Frankreichs und Großbritanniens im Kleinen Krieg
Warum verloren die USA und Frankreich mit ihren organisatorisch und logistisch klar überlegenen Streitkräften den Kleinen Krieg gegen die irregulären Kräfte des Vietcong (VC) und der Front de Libération Nationale (FLN)? Weil sowohl die USA in Vietnam als auch Frankreich in Algerien die spezifisch politische Art des Kleinen Krieges verkannten, ihre Kriegführung auf einer überkommenen konventionellen „grand strategy“ basierte und die politische und militärische Führung eine Counter-insurgency-Doktrin zugunsten einer „strategy of attrition“ beziehungsweise „la coercition“ zur militärischphysischen Zerschlagung der irregulären Kräfte verwarf.
2
Quantitative Studien belegen, dass die Entwicklung von Insurgency wesentlich an die ökonomische Situation der Bevölkerung geknüpft ist. (Bloomfield/Leiss 1969: 35)
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a)
Vietnam – Niederlage der USA im Kleinen Krieg
„You know, you never defeated us on the battlefield“, sagt ein US-amerikanischer Oberst. Der nordvietnamesische Oberst verzögert seine Antwort ein wenig: „That may be so, but it is also irrelevant.“3 Warum verloren die USA mit ihren organisatorisch und logistisch klar überlegenen Streitkräften den Kleinen Krieg gegen die irregulären Kräfte des Vietcong und die regulären Streitkräfte der North Vietnamese Army (NVA)? Weil die „grand strategy“ der US-Streitkräfte4 bis zum Ende des Vietnamkrieges auf der Jomini’schen Theorie (Jomini 1994: 370) der Zerschlagung der feindlichen Streitkräfte basierte und sie verkannten, dass der Kleine Krieg – als spezifisch politischer Krieg – mit interdisziplinären Mitteln, unter dem Primat des Zivilen, zu führen ist. Der besondere politische Charakter des Kleinen Krieges traf die USA an ihrer verwundbarsten Stelle, dem Selbstverständnis der regulären Kriegführung eines Großen Krieges. Uneinigkeit im Pentagon und in den Streitkräften über die Art des Konfliktes in Vietnam bestimmte die Konzeptionalisierung der Maßnahmen im Vorfeld und Verlauf des Vietnamkrieges (Sarkesian 1993: 95). Lediglich eine Minderheit der politischen und militärischen Führung beurteilte die Lage als die eines Kleinen Krieges, die interdisziplinäre Maßnahmen einer Counter-insurgency-Doktrin verlangte. Die bestimmende Mehrheit jedoch ging vom Charakter eines konventionellen Krieges aus (Sarkesian 1993: 95). Daher wurde der Vietnamkrieg für den Einsatz großer Einheiten5 (Gefecht der verbundenen Waffen) in einem konventionellen Großen Krieg konzipiert, wobei die Grundzüge der Kriegführung aus dem Korea-Krieg übernommen wurden (Krepinevich 1986: 164). Die Kriegführung der USA basierte auf konventionellem Streben nach überlegener Feuerkraft und Luftwaffeneinsatz („war of attrition“), um die Verluste der North Vietnamese Army (NVA) und des Viet Cong (VC) größer als ihre Fähigkeit zur Rekrutierung zu gestalten. Das daraus abgeleitete taktische Vorgehen der „search and destroy“-Operationen basierte auf dem orthodoxen Denken des „find them, fix them, fight them“ der konventionellen USStreitkräfte. In der „Field Manual“ Ausgabe der US-amerikanischen Streitkräfte FM-100-56 von 1962 wird das strategische Ziel als „the destruction of 3 4 5
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Gespräch zwischen Oberst H. G. Summers, Chef der US-Negotiation Division und Oberst Tu, Chef der North Vietnamese (DRV) Delegation (zit. n. Summers 1981: 1). „The ultimate military objective of war is the destruction of the enemy’s armed forces and his will to fight“, in: Field Manual 100-5, 1962, US Army. Sog. „big-unit-war“. Dazu der kommandierende General Westmoreland: „I elected to fight a so called big-unit-war not because of Napoleonic impulse to maneuver units and hark to the sound of cannon but because of the basic fact that the enemy had committed big units and I ignored them at my peril.“ (Westmoreland 1976: 149). FM 100-5, 19.2.1962: 2.
the enemy’s armed forces and his will to fight“ angegeben, wohingegen in der Ausgabe von 1968 das Ziel auf „defeat of the enemy’s armed forces“7, also auf ein „Besiegen“ der gegnerischen Streitkräfte beschränkt wird. Die USA waren in ihrer Kriegführung stets dann erfolgreich, wenn die Kriege ihrem institutionellen Instrumentarium entsprachen. Wenn sie allerdings gleichzeitig einem neuen politischen und militärischen Lagebild gegenüberstanden und vom uneingeschränkten, regulären Einsatz militärischer Macht des Großen Krieges abgehalten waren, erwiesen sie sich als institutionell schwach und die Kriege, die sie führten, als systemwidrig. Präsident John F. Kennedy fragte sofort nach seinem Amtsantritt 1961 „what are we doing about guerilla warfare?“ (zit. n. Hilsman 1967: 413) und machte damit einen Wandel der US-amerikanischen Militärstrategie und die Entwicklung adäquater Militärkapazitäten für die begrenzte Kriegführung zu einer seiner politischen Prioritäten. Präsident Kennedy stand für die Suche nach einer neuen Strategie der „flexible response“ und der Abkehr von der Eisenhower’schen Theorie der „massive retaliation“ (Avant 1994: 55). Im Januar 1962 verlangte Kennedy in einem internen Strategiepapier die „gebührende Anerkennung in der ganzen US-Administration dafür, daß subversive Aufstände, Befreiungskriege, eine wichtige Form des militärischen Konflikts sind und die gleiche Bedeutung haben wie konventionelle Kriege“ (zit. n. Weighley 1973: 457). Um dieser Art Bedrohung zu begegnen, sei es notwendig, die konventionelle „limited war“-Theorie um eine unkonventionelle Strategie der Aufstandsbekämpfung (Counter-insurgency) zu ergänzen. Die US-Streitkräfte reagierten kaum auf Kennedys neuen Ansatz (Hilsman 1967: 424; Krepinevich 1986: 33). Das Pentagon entwickelte in Kürze eine rudimentäre Counterguerilla-Doktrin (Kampf gegen Guerilla-Gruppierungen)8, was allerdings keine umfassende Counter-insurgency-Doktrin, sondern eher eine strategietheoretische Anleitung darstellte; institutionelle und strategietheoretische Veränderungen blieben aus (Avant 1994: 57; Hilsman 1967: 425; Krepinevich 1986: 30). Kennedys Verständnis für den besonderen politischen Charakter des Kleinen Krieges, die Bildung unzähliger Arbeitsgruppen zur Aufstandsbekämpfung und seine Forderung, eine völlig neue Art der Strategie, eine völlig andere Art der Streitmacht und folglich eine neue und völlig andere Art der militärischen Ausbildung zu entwickeln, verursachten tiefes Unbehagen im US-Generalstab. Mehr als einmal verweigerten die US-Streitkräfte die ihnen verordnete Kooperation mit zivilen Stellen (Avant 1994: 57). Die Ausbildungsdirektiven der Kennedy-Regierung zur Aufstandsbekämpfung wurden von den US-Streitkräften nur rudimentär umgesetzt und die verfügten sozio-politischen Maßnahmen im Vietnamkrieg hin7 8
FM 100-5, 6.9.1968: 5. Field Manual 31–20, Operations Against Guerilla Forces.
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tertrieben. „I’ll be dammned if I permit the United States Army, its institutions, its doctrine, and its tradititions to be destroyed just to win this lousy war“, fasste diesen Standpunkt ein hoher anonymer US-Offizier zusammen (zit. n. Nagl 2002: 172). Die regulären US-Streitkräfte verfügten weder über das notwendige Wissen noch hegten sie den Wunsch, ihre Orientierung vom konventionellen Kriegsverständnis des Großen Krieges wegzulenken. Das Prinzip der „massive retaliation“ prägte die „grand strategy“ in den 1950er Jahren. Ein Generalstabsoffizier drückte dies in Bezug auf mögliche Differenzierungen der Kriegführung im Vorfeld eines Kleinen Krieges so aus: „The required forces, then, for the small war appear to be much the same as those for the atomic war against the Soviet Union.“9 Die US-Streitkräfte, im speziellen der US-Generalstab, suchten den militärischen Sieg durch konventionelles Zerschlagen der feindlichen Streitkräfte. Counter-insurgencyMethoden sollten parallel zur regulären Kriegführung angewendet werden. Doch können die US-amerikanischen Counter-insurgency-Maßnahmen („Advisory Missions“, „Strategic Hamlets“) nach dem französischen Rückzug 1954 bis zur Ermordung des südvietnamesischen Präsidenten Diem 1963 – in ihren konzeptionellen Ansätzen – als sinnvoll im Sinne der Counterinsurgency-Theorie bewertet werden. Blaufarb (1977: 287) urteilt: „There was a brief period in the late 1960s when military intellectuals were advancing the notion that the US Army was the arm of the government best equipped to carry out in the field the entire range of activities associated with nation-building.“ Die Counter-insurgency-Maßnahmen10 ab 1961 sollten vor allem eine wirtschaftliche Stabilisierung des südvietnamesischen Regimes bewirken (Summers 1981: 55). Das „Strategic-Hamlet“-Konzept dagegen, das im Wesentlichen auf Sir Robert Thompson, einer der Garanten der höchst erfolgreichen britischen Counter-insurgency-Doktrin in Malaysia, und auf seine „British Advisory Mission“ (BRIAM) zurückging, sollte die Legitimität der dörflichen Bevölkerung politisch, verwaltungstechnisch und kulturell gewinnen, um dadurch jegliche politische und materielle Unterstützung an den VC zu unterbinden (Sarkesian 1993: 83; Nagl 2002: 130; Thompson 1966: 121). Aus dem gescheiterten Vorgängerprogramm „Agrovilles“ hervorgehend, sollte es der agrarischen Komponente eine Komponente der Sicherheit hinzufügen, da der VC diese „lehrbuchmäßigen“ neuen Dörfer politisch als Bedrohung ansah und sie deshalb zunächst im irregulären Kampf attackierte. Dörfliche „civic-action-teams“ aus einheimischer Bevölkerung sollten durch US-amerikanische Ausbildung und Bewaffnung die Sicherheit 9 10
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Das Department of Combat Aviation, US Army Aviation School, Fort Rucker (zit. n. Doughty 1979: 28). Zivil-militärische Kooperationen, Einrichtung von Schulen und öffentlichen Gesundheitssystemen, Beratung der Polizei und des Verwaltungsapparates.
selbst garantieren, was wesentlich auf Thompson zurückzuführen ist. Als verhängnisvoll stellte sich die zu schnelle Ausweitung dieser Maßnahmen aufgrund der Ungeduld der hohen US-amerikanischen politischen Führung und der südvietnamesischen Regierung dar (Sarkesian 1993: 84).11 Die „civicaction-teams“ konnten nicht schnell genug zusammengestellt werden und der US-Generalstab stellte zu wenig US-Truppen für diese „defensive“ Aufgabe zur Verfügung, so dass die Angriffe des VC auf die Hamlets für große Verunsicherung unter der Bevölkerung sorgten; die beabsichtige Sicherheit konnte nicht mehr gewährleistet werden. Die nordvietnamesische Offensive im November 1965 im Ia-Drang-Tal veranlasste General Westmoreland dazu, den Counter-insurgency-Maßnahmen weniger Beachtung zu schenken und stärker auf eine beinahe rein konventionelle Kriegführung („strategy of attrition“) zu setzen. Ab 1965 begann sich weniger die Art des Krieges zu verändern, sondern die Art der US-Kriegführung: Die offensive Strategie der „attrition“, so viel Feuerkraft als möglich anzuwenden, um die Streitkräfte der NVA und die irregulären Kräfte des VC schneller zu dezimieren, als sie rekrutieren konnten (den „crossover point“12 zu überschreiten), stellte die völlige Rückkehr zur konventionellen Kriegführung eines Großen Krieges dar (Avant 1994: 69). Die „British Advisory Mission“ war nicht fähig, ihre Leitidee einer Counter-insurgency-Doktrin, gemäß der sie vor allem die Bevölkerung dazu gewinnen müsse, ihre Legitimität anzuerkennen, gegen die konventionelle Strategie der „attrition“ zu behaupten. Die britische CI-Maßnahme der „Strategic Hamlets“ scheiterte schließlich vor allem an der völlig überstürzten Implementierung (Dunbabin 1994: 118). Selbst nach zwei Jahren intensiver Kriegführung machte die US-Army keinerlei wesentliche Fortschritte in ihrer Counter-insurgency-Doktrin, als sie 1967 ein neues „Field Manual“ (FM 3116) für Counterguerilla-Operationen herausgab. Dieses „Field Manual“ bot keine operativ-taktischen Anleitungen, sondern stellte vielmehr eine sekundäre theoretische „Pflichtübung“ dar, welche die regulären Einsätze schlicht ergänzen sollte. Die US-Streitkräfte waren weder zu einem „Strategie-Mix“ (konventionelle und CI-Strategien) fähig, noch bereit, die Strategie der „Firepower“ zugunsten von „Insurgency“ zurückzunehmen (Hunt 1982: 26). Die „grand strategy“ der US-Streitkräfte verkannte die spezifisch politische Art des Kleinen Krieges in Vietnam. Ihre Kriegführung basierte bis zum Schluss auf der Strategie der „attrition“, welche einen konventionellen Großen Krieg hätte gewinnen können (so im 1. und 2. Weltkrieg sowie teilweise im Korea-Krieg), nicht aber den Kleinen Krieg in Vietnam. Die USA model11 12
Im Juli 1962 wurden 2 500 Hamlets geschaffen, im Dezember des gleichen Jahres 4 000 und im Juli 1963 über 7 200. (Thompson 1966: 138). Sorley 1999: 1.
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lierten nicht ihre Strategie auf die Lage, sondern suchten die Lage in Vietnam nach ihrer konventionellen Strategie des „big-unit-war“ und den Grundsätzen der „attrition through firepower“ zu modellieren. Die USA führten den falschen, weil konventionellen Krieg, der auf das Zerschlagen der feindlichen Streitkräfte ausgerichtet war. Die US-Army ging in die Falle, den Kleinen Krieg mit konventionellen Taktiken und der Bewaffnung des Großen Krieges zu kämpfen. „Attrition“ war eine Strategie, deren punktuelle taktischen Erfolge („we never lost a battle with the North Vietnamese“13) nicht in einen strategisch-politischen Durchbruch übersetzt werden konnten. Im Jahre 1968 konnte Nordvietnam auf schätzungsweise 2,3 Millionen wehrfähige Männer zurückgreifen. Sogar bei den Todeszahlen der Tet-Offensive hätte es 13 Jahre gedauert, die Fähigkeit zur Rekrutierung wehrfähiger Nordvietnamesen zu zerstören (Lewy 1978: 83). Taktischer Erfolg ist nicht gleich strategischer Erfolg und taktische Niederlage ist nicht gleich strategische Niederlage. Der punktuelle taktische Erfolg konnte nicht das Scheitern der US-amerikanischen Strategie verhindern – eine Strategie, die ihr Ziel der massiven Dezimierung („body count“) des Gegners nicht erreichte, dagegen die Bevölkerung des eigenen Verbündeten zu sehr traf (Grinter 1987: 39). Die strategisch-politischen Kosten überwogen die taktisch-militärischen Gewinne deutlich. Trotz Versuchen, das Maß an Opfern unter der Zivilbevölkerung und an Zerstörungen von zivilem Eigentum zu begrenzen, waren die Ergebnisse der regulären Kriegführung verheerend. Die Umsetzung dieser Taktik verursachte hohe Opfer unter der Zivilbevölkerung14, ohne im Verhältnis zur Zerschlagung gegnerischer Kräfte proportional zu sein und machte eine Überzeugung der Bevölkerung für das Vorgehen der US- und südvietnamesischen Streitkräfte unmöglich (Grinter 1982: 37; Klare/Kornbluh 1988: 40). Bis zum Ende des Vietnamkrieges erkannten das Pentagon und die US-Streitkräfte nicht, dass sie sowohl einen begrenzten konventionellen Krieg als auch einen unkonventionellen Kleinen Krieg geführt hatten und auf zwei unterschiedlichen Ebenen zu kämpfen gezwungen waren. In den Worten von Baritz: „America fought the wrong war in Vietnam, and almost everyone in Washington knew it. The enemy fought a political and psychological war, a war against American culture, and we fought a conventional war whose purpose was killing.“ (Baritz 1985: 225) Die NVA und der VC führten einen politischen und psychologischen Kleinen Krieg. Die konventionellen taktischen Mittel konnten den schwachen Akteur nur punktuell militärisch bedrohen, nie politisch. Das 13 14
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Summers 1981: 1. Guenter Lewy schätzt die Zahl der getöteten Zivilisten in Nord- und Südvietnam während der Jahre 1965 bis 1974 auf 248 000, die Zahl der Verwundeten auf 571 000. (Lewy 1978: 444).
Fehlen einer multidimensionalen Strategie, die es geschafft hätte, Counterinsurgency und Elemente einer regulären Kriegführung zu vereinen, offenbarte sich in den Dörfern, wo der Krieg um die „hearts and minds“ verloren wurde. Der Schwerpunkt im Kleinen Krieg in Vietnam hätte im politischsozialen Wirkungskreis liegen müssen. b)
Frankreich im Algerienkrieg
Die französischen Streitkräfte verloren den Krieg nicht militärisch-taktisch, sondern durch den Verlust der Legitimität in der französischen und algerischen Bevölkerung indem sie die ethischen Grundlagen ihrer Institution grundlegend verletzten. Durch die konventionelle Gliederung und Ausbildung, welche keineswegs auf einen lang andauernden Kleinen Krieg gegen irreguläre Kräfte in Algerien ausgerichtet war, zeigten sich die französischen Streitkräfte unfähig der Kleinkriegführung der FLN/ALN mit indirekten Counter-insurgency-Maßnahmen zu begegnen. Der starke Akteur, Frankreich, wandte konventionelle taktische Mittel des regulären Krieges an und es gelang ihm weder strategietheoretisch eine effiziente Counter-insurgencyDoktrin zu entwickeln, noch die indirekte Taktik des schwachen Akteurs zu adaptieren. Nach dem Debakel von Dien Bien Phu entwickelten die französischen Streitkräfte im „cinquième bureau“ – anhand der Erfahrungen aus dem Indochinakrieg – eine neue Theorie, die Theorie des „guerre révolutionnaire“, um die irregulären Kräfte eines kommunistischen Aufstandes zu bekämpfen.15 Doch die algerische Lage war zu verschieden vom kommunistischen Aufstand in Indochina. Dennoch legten der französische Generalstab und das Verteidigungsministerium dem Krieg in Algerien die Theorie des „guerre révolutionnaire“ zugrunde. Die Theorie des „guerre révolutionnaire“ bestand im Wesentlichen aus zwei Elementen, der „déstruction“ und der „construction“. „Déstruction“ sollte das Aufdecken des politisch-administrativen Netzwerkes der irregulären Kräfte und seine militärisch-physische Zerstörung bewirken. Die Unterstützung durch die Bevölkerung sollte durch Trennung von den irregulären Kräften garantiert werden (Derradji 1997: 195). Nach dieser Theorie sollten die irregulären Kräfte durch konventionellen Einsatz von Streitkräften physisch zerschlagen werden (Elsenhand 1976: 195; Merom 15
Die französischen Autoren waren beinahe ausschließlich Stabsoffiziere, welche den Kleinen Krieg in Indochina gekämpft hatten. Daher lag der Schwerpunkt der Theorie im theoretischen Ursprung der maoistischen Volkskriegstheorie. Der französische „Urheber“ der Theorie war der Luftwaffengeneral Lionel-Max Chassin mit seinem Buch „La conquête de la Chine par Mao Tse-Tung 1945–1949“, der im Indochinakrieg Inspekteur der französischen Luftwaffe war. Die Angaben über die Pflichtlektüre in den französischen Offizierschulen zeigen, dass beinahe ausschließlich soziologische Aspekte des Marxismus gelehrt wurden. (Planchais 1967: 323; Smith 1978: 170; Elsenhans 1976: 502–527).
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2003: 93). Diese Strategie setzte jedoch einen hohen Truppenansatz voraus, welcher breit über ländliche Regionen verstreut, aus mechanisierten Kräften und Fallschirmjägern bestehend, in Verbindung mit Luftschlägen massive Schläge konventioneller Art gegen irreguläre Kräfte durchführen sollte (Paret 1964: 31–34). Dieser Phase der „déstruction“ sollte die „construction“ (Bildung, Infrastruktur, ökonomische Maßnahmen, eigene Verteidigungsverbände16) folgen, um die öffentliche Ordnung wiederherzustellen (Derradji 1997: 195). Praktisch gelang es den französischen Streitkräften jedoch nicht, die politisch-administrativen Strukturen der FLN gänzlich zu zerschlagen. Frankreich konnte die Ebene der „déstruction“ nicht überschreiten. Das Konzept der „verbotenen Zonen“ (Umsiedlungen, vergleichbar den „strategic hamlets“ der US-Strategie in Vietnam) bewies sich als ineffektiv, „hearts and minds“ zu gewinnen, oder die Verbindung der Bevölkerung zur FLN zu unterbinden, beziehungsweise zu lösen. Der wesentliche Fehler der Theorie des „guerre révolutionnaire“ lag darin, dass sie gegen die Idee des kommunistischen Aufstandes gerichtet war und damit nicht die Perzeption der FLN/ALN in Algerien traf (Pimlott 1985: 60). Kurz: Mit der Theorie des „guerre révolutionnaire“ kämpften die französischen Streitkräfte gegen einen kommunistischen Aufstand, doch war der algerische Aufstand kein solcher. Der Generalstab vertrat die Theorie des kommunistischen Domino-Effektes in Algerien (Merom 2003: 92). Nach wenigen Wochen zeigte sich auf dem Gefechtsfeld das Dilemma der französischen Streitkräfte, dass der Generalstab keine verbindliche Entscheidung über die Bevorzugung eines rein konventionellen Kräfteansatzes oder der Theorie des „guerre révolutionnaire“ traf (Derradji 1997: 193). Die Ausrichtung der französischen Streitkräfte lag tendenziell auf mechanisierten Streitkräften, welche in den Bergen entscheidende Schwächen offenbarten (Derradji 1997: 202). Die Struktur der französischen Streitkräfte machte ein Anpassen an die Kleinkriegführung der FLN – respektive der Armée de Libération Nationale, ALN, der militärischen Struktur der FLN – unmöglich. Die Struktur der französischen Streitkräfte war nicht adäquat, weil die numerische Überlegenheit die Faktoren Mobilität und Irregularität nicht aufzuheben in der Lage war. Aus der Tatsache, dass die Befreiungsbewegung die Gewalt funktionalisierte, um die Bevölkerung zu mobilisieren, die koloniale „Ruhe und Ordnung“ zu stören und das französische Algerien durch den Nachweis ihrer Funktionsunfähigkeit zu zerschlagen, folgte für die französischen Streitkräfte eine doppelte Aufgabenstellung. Einerseits sollten sie die algerische Bevölkerung und die Siedler vor dem Terrorismus der FLN/ALN schützen und andererseits die bewaffneten irregulären Kräfte zerschlagen.
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Deon 1959: 77–79.
Doch wäre es falsch anzunehmen, die Theorie des „guerre révolutionnaire“ sei in Form einer Dienstvorschrift den französischen Streitkräften zu Beginn des Algerienkrieges 1954 an die Hand gegeben worden (Pimlott 1985: 60). Vielmehr wurde die Theorie des „guerre révolutionnaire“ in Zeitschriftenaufsätzen und Büchern bis ins Jahr 1957 hinein ausgebreitet und blieb bis dahin eher akademische Theorie, als dass aus ihr konkrete militär-taktische Anweisungen hätten abgeleitet werden können. Der Marine und Luftwaffe wurde die Theorie des „guerre révolutionnaire“ kaum zugänglich gemacht und auf das Heer hatte sie, trotz teilweiser Bekanntheit, keinen Einfluss; die Offiziere stimmten den taktischen Ansätzen zu, die strategischen und nichtmilitärischen Implikationen wurden jedoch weitgehend negiert (Paret 1964: 8). Das strategische Ziel der FLN bestand darin, den starken Akteur zu irregulären Maßnahmen zu provozieren und den Kleinen Krieg eskalieren zu lassen. Die Forderung der französischen Bevölkerung („kolonialer Konsens“) nach einem schnellen Sieg (Faktor Zeit) in diesem nationalisierten Krieg zwang die französischen Streitkräfte geradezu, eine Generalisierung der Folter anzuwenden, da der konventionelle Ansatz der Streitkräfte kein strategisches Mittel gegen die überwältigend breite materielle und informationelle Unterstützung der algerischen Muslime für die FLN/ALN bot. Doch genau diese massive Anwendung von Folter löste die militär-politische Strategie der Regierung und der Streitkräfte von den institutionellen und konstitutionellen Grundsätzen Frankreichs und musste somit zum Verlust der demokratischen Legitimität führen. Die konventionelle Strategie der französischen Streitkräfte in Algerien offenbarte sehr schnell den Mangel an nachrichtendienstlichen Informationen über die engen Verbindungen zwischen der FLN/ALN und der muslimischen Bevölkerung. Den strategischen Grundsätzen der „nécessité“ und „efficience“ folgend, wählten die französischen Truppen und Polizeiverbände eine generalisierende „Taktik“ der Folter (Talbott 1980: 90; Merom 2003: 113; Elsenhans 1977: 735). Die Übertragung von Kompetenzen auf die französischen Streitkräfte auf dem Gebiet des gerichtlichen Untersuchungsverfahrens Anfang 1956 führte zu einer Zunahme von Folterungen, um so mehr, als die französische Regierung ihnen die Aufgabe übertrug, nicht nur die ALN, sondern auch die politische Organisation FLN zu zerschlagen (Elsenhans 1977: 726). Die Herausbildung spezialisierter Apparate17 zur Anwendung der Folter setzte während der Schlacht um Algier ein. Andererseits entwickelten die Streitkräfte in der Stadt Algier neue Mechanismen zur Kontrolle der Bevölkerung, nämlich die Errichtung einer ununterbrochenen Linie von Verantwortlichen, die mit sich brachte, dass jeder Algerier von einem zur Rechenschaft verpflichteten Algerier überwacht wurde, das heißt die Einfüh-
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Dispositif Urbain de Protection (DPU), Centres de Tri et Transit (CTT), Organisation O.
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rung eines „Blockwartsystems“ (Elsenhans 1977: 727). Dies bedeutete eine drastische Karikierung jeglicher Form von Counter-insurgency. Frankreich, als strukturell überlegener, starker Akteur, verlor den Kleinen Krieg dadurch, dass sein demokratisches Selbstverständnis durch die Eskalation der französischen Mittel verletzt war. Die militär-politische Strategie der Regierung und der Streitkräfte hatte sich von den institutionellen und konstitutionellen Grundsätzen Frankreichs entfernt und musste somit zum Verlust der demokratischen Legitimität führen. Die Theorie des „guerre révolutionnaire“ griff daher nicht durch, weil sie auf einen kommunistischen Aufstand gerichtet war und damit die FLN/ALN verkannte. Die französischen Institutionen schienen nicht verstanden zu haben, dass der Kleine Krieg primär um die „hearts and minds“ der Bevölkerung, das heißt um die Legitimation in der örtlichen Bevölkerung zu führen gewesen wäre. Die französischen Streitkräfte zeigten sich nicht ausreichend in der Lage, die kooperationswilligen Teile der algerischen muslimischen Bevölkerung vor dem selektiven Terrorismus der FLN zu schützen. Der starke Akteur Frankreich wandte konventionelle taktische Mittel des regulären Krieges an. Durch die Unfähigkeit der konventionellen Strategie die engen Verbindungen zwischen der FLN/ALN und der muslimischen Bevölkerung („hearts and minds“) zu verhindern, sahen sich die französischen Streitkräfte gezwungen, die Taktik der Folter flächendeckend anzuwenden. Die französischen Streitkräfte zeigten sich nicht ausreichend in der Lage, die kooperationswilligen Teile der algerischen muslimischen Bevölkerung vor dem selektiven Terrorismus der FLN zu schützen. Die französischen Streitkräfte verloren den Krieg nicht militärisch-taktisch, sondern durch den Verlust der ethischen Legitimität in der französischen und algerischen Bevölkerung indem sie die ethischen Grundlagen und die Legitimität der demokratischen Öffentlichkeit grundlegend verletzten. c)
Malaysia – Sieg Großbritanniens im Kleinen Krieg (1948 bis 1960)
„The answer lies not in pouring more troops into the jungle, but in the hearts and minds of these people“, so Sir General Gerard Templer, 1952. (zit. n. Bulloch 1996: 16) Großbritannien gewann den Kleinen Krieg gegen die Malaysian Races Liberation Army (MRLA) in Malaysia (1948 bis 1960), weil sich die britischen Streitkräfte als „learning institution“ erwiesen, welche die konventionelle Kriegführung, die Gliederung und Ausbildung ihrer Verbände während des Krieges durch eine neue Counter-insurgency-Doktrin auf strategischer und taktischer Ebene ersetzten. Trotz aller Spezifität Kleiner Kriege muss der Kleine Krieg zwischen Großbritannien und MRLA auf seine taktischen und strategischen Implikationen für die Bekämpfung von Guerillakriegführung 90
und Terrorismus untersucht werden. Ohne Prototyp für eine Counterinsurgency-Strategie in spezifisch unterschiedlichen Fällen sein zu können, sollen die Grundlinien der britischen Counter-insurgency-Strategie aufgezeigt werden. Die Leitlinie einer Counter-insurgency-Doktrin der „British School“ war das Gewinnen der Legitimität in der Bevölkerung vor dem militärischen Zerschlagen der irregulären Kräfte des schwachen Akteurs. Zeitlich langsamere und geringere militärisch-taktische Fortschritte sollten gegenüber einer möglichst geringen Beeinflussung der zivilen Bevölkerung zurücktreten. Die britischen Streitkräfte des starken Akteurs Großbritannien erwiesen sich als „learning institution“, welche es nach drei Jahren des Kleinen Krieges schaffte, sich von der direkten, konventionellen militärischen Strategie (konventioneller Reflex) zu lösen und zivile ordnungspolitische Maßnahmen zum Schwerpunkt einer neu entwickelten CI-Doktrin zu machen. Nachdem die britischen Streitkräfte drei Jahre lang versuchten, die irregulären Kräfte der MRLA durch die konventionelle Strategie der „attrition“ zu zerschlagen, entwickelten die britischen Streitkräfte – strategisch und taktisch – eine CIDoktrin in Form einer Kombination aus zivilen und militärischen Maßnahmen und besiegten die irregulären Kräfte durch eine neue Gliederung und Taktik der „small units“, welche auf „intelligence“ basierte, auf wachsender Legitimität in der Bevölkerung aufbauend (Nagl 2002: 191). „My object is to break the insurgents’ concentration, to bring them to battle before they are ready, and to drive them underground or into the jungle, and then to follow them there, by troops in the jungles, and by police backed by troops and by the Royal Air Force outside of them. I intend to keep them constantly moving and deprive them of food and recruits, because if they are constantly moving they cannot terrorize an area properly so that they can get their commodities from it; and then ferret them out of their holes, wherever these holes may be.“18 Diese Sicht des kommandierenden britischen Generals Boucher (bis 1951) in Malaysia ließ wenig Raum für die Limitierung des Einsatzes konventioneller Taktiken. Die britischen Streitkräfte hatten den 2. Weltkrieg mit der Doktrin, Ausrüstung und Organisation des konventionellen Großen Krieges mit der Strategie der „attrition“ gewonnen und die britischen Kommandeure wandten – in einer Art konventionellem Reflex – in den ersten drei Jahren des Kleinen Krieges in Malaysia reguläre Grundsätze wie „attrition through firepower“ (in regulärer Bataillonsgliederung in den Dschungel) zur möglichst schnellen militärischen Zerschlagung der irregulären Kräfte an (Nagl 2002: 59). Die regulären militärischen institutionellen Strukturen sollten den Kleinen Krieg durch eine Strategie der „coercion and enforcement“ militärisch gewinnen. Über drei Jahre 18
General Boucher, kommandierender britischer General in Malaysia, 27.7.1948, zit. n. Short 1975: 136.
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setzte sich die Erkenntnis, dass die in Sandhurst gelehrten regulären Methoden der Kriegführung nicht gegen die irregulären Kräfte der MRLA anwendbar waren, die sich im Dschungel auf das Ausweichen beschränkten und deren strategisches Ziel die zeitliche Ausdehnung des Kleinen Krieges war, nur sehr langsam gegen institutionelle Widerstände durch. Die britische militärische regulär-offensive Taktik war für den asymmetrischen Kampf gegen die MRLA im malaiischen Dschungel schlicht ungeeignet (Dougherty 1963: 402). Die konventionelle militärische Taktik zeigte sich nicht fähig, die Zivilbevölkerung vor den Angriffen der irregulären Kräfte der MLRA zu schützen. Die Opfer der Guerillakriegführung und terroristischen Attentate unter der malaiischen Zivilbevölkerung lagen in dieser Zeit bei durchschnittlich 200 in der Woche, mehr als 100 Soldaten und Polizisten wurden wöchentlich getötet. Dagegen lagen die Ausfälle der irregulären Kräfte der MRLA bei nur ungefähr 50 bis 60 wöchentlich (Clutterbuck 1966: 55). Der Verlust der Legitimität der militärischen und zivilen Institutionen in der malaiischen Bevölkerung bahnte sich an. Die Ermordung des britischen Hochkommissars, Sir Henry Gurney, im Oktober 1951, brachte den Einsatz der Briten in der britischen Bevölkerung an den Rand der öffentlichen Unterstützung (Blaufarb 1977: 43; Nagl 2002: 75). Die Ermordung des Hochkommissars war der Anlass für eine Strategieanalyse des britischen Verteidigungsministeriums und des Premierministers Churchill, der einen neuen Kolonialsekretär, Oliver Lyttelton, sowie einen neuen Hochkommissar mit vereinigter militärischer und ziviler Kommandogewalt für Malaysia einsetzte, General Templer. Die konventionelle Anwendung von „attrition through firepower“ hatte sich als ineffizient, gar als kontraproduktiv insofern erwiesen, dass die Zivilbevölkerung zu sehr beeinträchtigt wurde. Templer drang – taktisch – auf eine radikale Wendung zu zivilen ordnungspolitischen Maßnahmen. Der Schwerpunkt der neuen britischen CITheorie lag – strategisch – nicht in der militärischen Zerschlagung der irregulären Kräfte, sondern im Gewinnen der Legitimität („hearts and minds“) in der Bevölkerung (Stubbs 1989: 1). Eine Grundannahme Templers war, dass militärische und zivile Maßnahmen „completely and utterly interrelated“ sein müssten (Clutterbuck 1966: 80). Die verwaltungstechnischen Institutionen wurden in überraschend kurzer Zeit vermehrt und das Prinzip der Zentralisierung gebrochen (Stubbs 1989: 156). Institutionelle Reformen gaben den Polizeileitstellen großen individuellen Ermessensspielraum und Souveränität gegenüber militärischen Stellen. Dazu wurde die Ausbildung der militärischen Verbände in Großbritannien sehr progressiv von „search and destroy“ auf Polizeiaufgaben und „Intelligence“ umgestellt (Stubbs 1989: 157). Die Gliederung der britischen Verbände war auf Polizeieinheiten konzentriert, der
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Anteil an Polizisten war stets größer als der Anteil an Soldaten.19 Des Weiteren brach Templer mit der britischen Dienstgradordnung und besetzte Stellen im Stab und operative Stellen in den Einheiten mit sehr jungen Offizieren und entsprechend niedrigen Dienstgraden. Die Betonung ging nun weg vom Primat des Militärischen und hin zum Primat der zivilen, polizeilichen, verwaltungstechnischen Maßnahmen. Nach der Logik der britischen CI-Doktrin musste zur Gewinnung der Legitimität in der Bevölkerung der Beweis erbracht werden, dass die malaiische Regierung und die britische Mandatsmacht die soziale und ökonomische Lage als strategisch wichtiger als die militärische Zerschlagung der MRLA ansahen, zunächst sollte aber die physische Sicherheit der Bevölkerung wiederhergestellt werden (Clutterbuck 1966: 85; Stubbs 1989: 156). Taktischer Ansatzpunkt der britischen CI-Doktrin war die Neutralisierung des logistischen Bindegliedes zwischen der MRLA und jener halben Million chinesischer Bauern, die in abgelegenen Teilen des Dschungels lebten, der Guerillakriegführung und dem Terrorismus der MRLA unterlagen und zu deren materiellen Unterstützung gezwungen wurden. Im britischen Umsiedlungsprogramm wurden Ende 1952 ungefähr 425 000 Dschungelbauern, vornehmlich chinesischer Herkunft, in den mehr als 500 „new villages“ angesiedelt (Kutger 1963: 94; Blaufarb 1977: 42; Clutterbuck 1966: 57). Dieses Umsiedlungsprogramm hatte zivilen ordnungspolitischen und militärisch-taktischen Nutzen. Die Umsiedlung des ärmsten Zehntels der Bevölkerung Malaysias in lebensfreundlichere Gebiete mit guten Straßen, Wasser, Kanalisation und Elektrizität trug zur Lösung eines der ernstesten sozialen Probleme des Landes bei (Beckett 2001: 27; Blaufarb 1977: 43). Gleichzeitig erhielten die ethnischen Minderheiten mehr Rechte, die Staatsbürgerschaft eingeschlossen. Die „neuen Dörfer“ waren mit Krankenhäusern und Schulen eingerichtet und Landrechte wurden großzügig verteilt. Wenngleich die Umsiedlungen zunächst Unzufriedenheit hervorriefen, erwiesen sie sich als militärisch-taktisch effizient um die Sicherheit der Bevölkerung zu gewährleisten; die materielle Versorgung der MRLA durch die Bevölkerung war unterbrochen, die Zahl der Angriffe durch die irregulären Kräfte verminderte sich um mehr als die Hälfte (Dougherty 1963: 404). Die logistischen Bande zwischen den irregulären Kräften der MRLA und der dörflichen Bevölkerung mussten getrennt werden. Dies ist im letzten Jahrhundert nirgendwo so wirksam und human geschehen wie in Malaysia (Sollom 1963: 52; Cloake 1985: 477). Politisch trug das Umsiedlungsprogramm zu einer Neuorientierung des Denkens unter den Dschungelbauern bei, die bis dahin das am wenigsten stabile und zuverlässige Element der Zivilbevölkerung dargestellt hatten (Dougherty 1963: 404). Flankierend wurde „psychological warfare“ („psywar operations“) ein19
40 000 reguläre britische Soldaten und 60 000 Polizisten (Blaufarb 1977: 45).
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gesetzt: In 100 Millionen Flugschriften, über Lautsprecher von tieffliegenden Flugzeugen und Hubschraubern (vornehmlich in chinesischer Sprache) wurde den irregulären Kräften der MRLA die Nutzlosigkeit des Kampfes verdeutlicht, seine Gefahren und Entbehrungen geschildert. Amnestieangebote führten zur massenhaften Kapitulation von irregulären Kräften der MLRA. Parallel zu diesen zivil-politischen Maßnahmen wurde die Taktik der britischen Streitkräfte im militärischen Vorgehen gegen die irregulären Streitkräfte modifiziert, die indirekte Kleinkriegführung adaptiert. Die britischen Streitkräfte des starken Akteurs Großbritannien erwiesen sich als „learning institution“, weil das britische „High Command“ in Malaysia erstaunliche Lernfähigkeit auf dem Wege des „bottom-up“-Ansatzes niedriger Offizierdienstgrade bewies. Die britischen Streitkräfte hatten in den ersten drei Jahren des Kleinen Krieges deutliche strategisch-organisatorische und taktisch-operationelle Schwächen offenbart. Der institutionelle Lernprozess ist vornehmlich mit den außerordentlichen militärischen und zivilen Gesamtbefugnissen General Templers zu erklären (Nagl 2002: 91). Das britische „High Command“ in Malaysia zeigte sich nach dem Wechsel des Oberbefehlshabers 1952 überaus offen gegenüber Innovationen niedriger Offizierdienstgrade – im „bottom-up“-Ansatz. Die strategische Innovation bestand in der Entwicklung eines strategisch-theoretischen CI-Field Manuals, welches Templer durch junge Stabsoffiziere forcieren ließ. 1952 wurde „The Conduct of Anti-Terrorist Operations in Malaysia“ (ATOM)20 im Taschenformat an jeden britischen Soldaten („soldier’s bible“) ausgegeben, Neuauflagen folgten 1954 und 1958. Taktische Innovationen bestanden in einer Neuaufstellung der „Ferret Force“ und des „Jungle Warfare Centres“ (Far Eastern Land Force Training Center, FTC) unter dem jungen Oberstleutnant Walter Walker (Nagl 2002: 79). Jedoch bewirkte ATOM und die Ausbildung im FTC keine Standardisierung einer Counter-insurgency-Strategie und Taktik, da den operativen Offizieren im Feld große Spielräume und vor allem inhaltliche Einflussnahme auf die Fortentwicklung von ATOM zugestanden wurden. Die britischen Streitkräfte in Malaysia erwiesen sich als „learning institution“, als Paradebeispiel einer militärischen Institution, die ihre Organisation, Doktrin und Ausbildung während eines Krieges verändert. Die Grundlinien der britischen Counter-insurgency-Strategie in Malaysia sind auf andere Fälle übertragbar. Das Prinzip der zivilen Führung aller CI-Maßnahmen vereinigte und zentralisierte die politische Steuerung mit dezentralen, weitgehend souveränen Entwicklungsprojekten in den Provinzen. Parallel zu der massiven wirtschaftspolitischen Hilfe gelang es den Briten, mit der Taktik der Umsied20
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Vgl. The Conduct of Anti-Terrorist Operations in Malaysia (1952). Ministry of Defence. London: 7.
lung in die „new villages“ und Adaptierung der Kleinkriegführung, die Sicherheit der bedrohten malaiischen Bevölkerung zu gewährleisten. Die Prämisse der britischen CI-Doktrin, die Bevölkerung so wenig wie möglich durch reguläre Kriegführung zu beeinträchtigen (Reduzierung von „Kollateralschäden“) und Prinzipien der Kleinkriegführung zu adaptieren, verlängerte die Dauer des Kleinen Krieges zwar, doch half sie die Legitimität in der malaiischen Bevölkerung (die „hearts and minds“) zu gewinnen (Blaufarb 1977: 47; Nagl 2002: 105). Die britischen Streitkräfte wählten zur Führung des Kleinen Krieges indirekte Strategien und Taktiken, bewiesen somit strategische Geduld und gewannen den Kleinen Krieg in Malaysia militärisch und politisch.
3
Resümee
Warum also neigen die Streitkräfte demokratischer Staaten dazu den Kleinen Krieg gegen nicht-staatliche Akteure zu verlieren? Das Versagen des starken Akteurs im Kleinen Krieg gründet darin, dass es ihm nicht gelingt, Counterinsurgency-Doktrinen als Leitprinzip eines interdisziplinären Ansatzes von militärischen und nicht-militärischen Mitteln zu entwickeln und auf den spezifischen Fall eines Kleinen Krieges anzuwenden. Die Streitkräfte der demokratischen Staaten präferieren die konventionelle Kriegführung des Großen Krieges – konventioneller Reflex – da sie in ihrer Kriegführung stets dann erfolgreich sind, wenn die Kriegführung ihrem institutionellen Instrumentarium, welches bis heute für die Führung eines Großen Krieges ausgerichtet ist, entspricht. Stehen die westlichen Streitkräfte einem neuen politischen und militärischen Lagebild eines Kleinen Krieges gegenüber und werden von der uneingeschränkten, konventionellen Anwendung regulärer militärischer Strategien und Taktiken des Großen Krieges abgehalten, erweisen sie sich als institutionell schwach und der Kleine Krieg, den sie führen, als systemwidrig. Die Kriegführung der (westlichen) Streitkräfte des 20. Jahrhunderts basierte auf der konventionellen Theorie der Zerschlagung der feindlichen Streitkräfte. Der Vietnamkrieg wurde von den USA ebenso wie der Algerienkrieg von Frankreich mit konventionellen Strategien und Taktiken konzipiert. Die Kriegführung der USA in Vietnam, die Frankreichs im Algerienkrieg und auch die der britischen Streitkräfte in der ersten Phase in Malaysia basierte auf der konventionellen Strategie der Zerschlagung der irregulären Kräfte durch überlegene Feuerkraft, um die Verluste der irregulären Kräfte größer als ihre Fähigkeit zur Rekrutierung zu gestalten. Der besondere politische Charakter des Kleinen Krieges in Vietnam traf die USA ebenso wie Frankreich im Algerienkrieg in ihrem Selbstverständnis der konventionellen Kriegführung eines Großen Krieges. 95
Die Counter-insurgency-Doktrinen der USA für den Kleinen Krieg in Vietnam sowie Frankreichs im Algerienkrieg stellten nur rudimentäre strategietheoretische Anleitungen dar; institutionelle und theoretische Anpassungen der militärischen Organisation und Doktrinen an den andersartigen Charakter des Kleinen Krieges blieben jedoch aus. Die USA verkannten in Vietnam ebenso wie Frankreich in Algerien, dass der Schwerpunkt im Kleinen Krieg die Legitimität in der Bevölkerung und nicht die militärische Zerschlagung der irregulären Kräfte darstellt. Die US-Streitkräfte in Vietnam zeigten sich ebenso wie die französischen Streitkräfte in Algerien nicht fähig, die Strategie der militärischen Zerschlagung der irregulären Kräfte zugunsten der grundlegenden Prinzipien einer Counter-insurgency-Doktrin zurückzunehmen. Operativ-taktischer Erfolg wiegt im Kleinen Krieg weniger als im Großen Krieg. Im Kleinen Krieg gelten andere Maßstäbe für das Bemessen operativ-taktischen Erfolges. Die strategisch-politischen Kosten der konventionellen Kriegführung der USA in Vietnam und Frankreichs im Algerienkrieg überwogen die militärisch-taktischen Gewinne deutlich. Die konventionelle Kriegführung gefährdete die Zivilbevölkerung in einem so hohen Maße, dass die Legitimität der US-amerikanischen und französischen Streitkräfte zu sehr schwand. Die konventionelle Strategie verlor den Krieg um die „hearts and minds“ der Zivilbevölkerung. Die USA führten im Vietnamkrieg, ebenso wie Frankreich im Algerienkrieg, – nach der „grand strategy“ des Kalten Krieges – die Debatte über Counter-insurgency-Doktrinen zu spät und ihre Streitkräfte mussten CI-Taktiken im Feld lernen. CI-Doktrinen des Kleinen Krieges wurden als theoretischer Zusatz (US-Streitkräfte in Vietnam und französische Streitkräfte in Algerien) des Großen Krieges gewertet und faktisch marginalisiert. Die Kleinen Kriege in Vietnam, Algerien und Malaysia zeigen, dass das militärische Kräfteverhältnis im Kleinen Krieg bedeutungslos wird, weil es nicht zur militärischen Entscheidung kommt. Die konventionelle Strategie der französischen Streitkräfte in Algerien offenbarte sehr schnell den Mangel an nachrichtendienstlichen Informationen über die engen Verbindungen zwischen der FLN/ALN und der muslimischen Bevölkerung. Der daraus resultierende Mangel an nachrichtendienstlichen Informationen führte zur Anwendung der irregulären Methode der Folter und karikierte jegliche Idee von Counter-insurgency („hearts and minds“). Demokratische Streitkräfte können – nach der Logik des Kleinen Krieg – Legitimität in der Bevölkerung nur gewinnen, wenn sie institutionelle und physische Sicherheit zu gewährleisten im Stande sind. Die Prämisse einer indirekten CI-Doktrin stellt die Gewinnung der Legitimität in der Bevölkerung über operativ-taktischen Erfolg und steht somit außerhalb der Gesetzmäßigkeit der regulären Kriegführung (Faktor Zeit). Die britische CI-Doktrin in Malaysia wandte dieses Prinzip, die Bevölkerung so wenig wie möglich 96
durch konventionelle Kriegführung zu beeinträchtigen (Reduzierung beziehungsweise Vermeidung von „Kollateralschäden“), an und verlängerte somit die Dauer des Kleinen Krieges zwar, doch half sie die Legitimität in der malaiischen Bevölkerung zu gewinnen (Blaufarb 1977: 47; Nagl 2002: 105). Indirekte CI-Maßnahmen zielen auf mittel- bis langfristige Erringung des Vertrauens der Bevölkerung und nicht auf kurzfristige operativ-taktische Gewinne ab. Die britische Kleinkriegführung in Malaysia wandte sich ab vom konventionellen Primat des Militärischen und hin zum Primat der zivilen, polizeilichen- und verwaltungstechnischen Maßnahmen. Die britischen Streitkräfte wählten indirekte Strategien und Taktiken zur Führung des Kleinen Krieges in Malaysia, bewiesen somit strategische Geduld und gewannen den Kleinen Krieg in Malaysia politisch und militärisch. Der starke Akteur verfolgt also das Interesse, den Kleinen Krieg so zu führen, dass seine Organisationsform nicht modifiziert werden muss. Die Streitkräfte demokratischer Staaten neigen zum Einsatz konventioneller Streitkräftegliederungen, zeigen sich oft nicht als „learning institution“ und verlieren deshalb den Kleinen Krieg. Die Schlüsselfähigkeit der US-amerikanischen Streitkräfte in Vietnam, sowie der französischen Streitkräfte in Algerien stellte in der Sicht ihrer militärischen Führung konventionelle Kriegführung im Gefecht der verbundenen Waffen dar („combined forces“). Ihren institutionellen Bestand sahen diese westlichen Streitkräfte in der Garantie des schnellen militärischen Sieges durch das Zerschlagen feindlicher Streitkräfte. Die Truppengliederung und Vorbereitung der US-Streitkräfte im Kleinen Krieg in Vietnam entsprach ebenso wenig wie jene der französischen Streitkräfte – strategisch wie taktisch – den Anforderungen einer modernen Kleinkriegführung. Auch die konventionellen Streitkräfte eines demokratischen Staates, die in einem Kleinen Krieg gegen irreguläre Kräfte eingesetzt werden, tendieren dazu, sich die regellose Kriegführung des Gegners zu Eigen zu machen (Daase 1999: 231–233). Die französischen Streitkräfte im Algerienkrieg entfernten sich durch den umfassenden Einsatz der Folter von den institutionellen und konstitutionellen Grundsätzen Frankreichs. Streitkräfte demokratischer Staaten verlieren den Kleinen Krieg nicht militärisch-taktisch, sondern durch den Verlust der Legitimität und das Unvermögen, ihre Streitkräfte strategietheoretisch und strukturell auf Leitprinzipien von Counter-insurgency zu adaptieren.
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„Einmal muss man schon dabei gewesen sein ...“ – Auslandseinsätze als Initiation in die ‘neue’ Bundeswehr Maren Tomforde Einleitung „Das deutsche Heer am Beginn des 21. Jahrhunderts ist ein Heer, das durch den Auslandseinsatz geprägt ist. Die neuen Herausforderungen an das Heer, nach über einem halben Jahrhundert Frieden in Deutschland, lauten: schnell und wirksam einsetzbare Kräfte verlegefähig zur Konfliktverhütung und Krisenbewältigung im Rahmen eines internationalen Mandats (UN, EU, WEU) bereitzustellen.“ (Klos/Langer 2001: 43)
Diese Sätze, die auf das Heer, also auf die Landstreitkräfte der Bundeswehr abzielen, treffen zweifelsohne auch auf die Teilstreitkräfte der Luftwaffe und der Marine sowie das Sanitätswesen und die Streitkräftebasis zu, obwohl das Heer von dem internen Modernisierungsprozess der Bundeswehr und der grundlegend veränderten sicherheitspolitischen Situation in Europa und der Welt sicherlich am stärksten betroffen ist (vgl. Feldmeyer 2005: 68). Seit dem Beginn der 1990er Jahre sieht sich die Bundeswehr mit neuen Aufgaben im Bereich „militärischer Operationen jenseits von Krieg“ (Kümmel 2005: 52) konfrontiert, die neben den beiden „klassischen“ Einsatzformen der deutschen Streitkräfte (Abschreckung und Verteidigung) nunmehr wahrzunehmen sind. Diese neuen Operationen umfassen Missionen unterschiedlichster Art, die friedenserhaltende sowie friedenschaffende Aufgaben beinhalten. Die Umstrukturierung der Bundeswehr bringt nicht nur neue Funktionen und Einsatzgebiete mit sich, sondern auch neue Aufgaben und Rollen für die Soldaten, die sich auch in ihrem soldatischen Selbstverständnis an die veränderten Gegebenheiten anpassen müssen. Bisher werden laut der vom Sozialwissenschaftlichen Institut der Bundeswehr (SOWI) jährlich durchgeführten Streitkräfteumfrage die Landesverteidigung sowie die Katastrophenhilfe im Inland von den Soldaten nach wie vor zu den beiden wichtigsten Aufgaben der deutschen Streitkräfte gezählt (vgl. Klein 2003: 187). Die Out of AreaEinsätze der Bundeswehr rangieren erst an fünfter Stelle hinter dem Einsatz bei Inlands-Rettungsdiensten und dem Schutz vor transnationalem Terrorismus. Nichtsdestotrotz spielen die Auslandsmissionen auch bei den Soldaten eine steigende Rolle und werden immer mehr als integraler Bestandteil der Bundeswehr gewertet. Der vorliegende Aufsatz geht der Frage nach, inwiefern die Teilnahme an den Auslandseinsätzen als rites de passage im Sinne des Ethnologen Ar101
nold van Gennep gewertet werden können und inwiefern diese dazu beitragen, dass die Soldaten1 in die neu strukturierte Bundeswehr sozialisiert werden. Ferner wird untersucht, ob Soldaten im Laufe eines sechs- oder viermonatigen Kontingents eine einsatzspezifische Identität entwickeln, die Einfluss auf das allgemeine soldatische Selbstverständnis innerhalb der Bundeswehr hat.
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Transformation der Bundeswehr
Seit den 1990er Jahren wird die Bundeswehr aufgrund einer veränderten Sicherheitslage in der Welt, des Endes des Ost-West-Konflikts, der Wiedervereinigung und neuen Bedrohungen, wie z. B. der transnationale Terrorismus, transformiert und den neuen Bedingungen strukturell angepasst. Übergeordnetes Ziel ist die auf eine konsequente Einsatzorientierung gerichtete konzeptionelle und strukturelle Neuausrichtung der deutschen Streitkräfte. Deutschland sieht sich „zu einer immer stärker werdenden Teilnahme an militärischen Operationen innerhalb wie außerhalb der NATO gezwungen. (...) Es ist die Tatsache, dass Deutschland seine außen- und sicherheitspolitischen Interessen als Mitglied der UN, der NATO und der EU verfolgt und die sich daraus ergebenden Abhängigkeiten berücksichtigen muss, wenn es nicht gegen seine Interessen verstoßen will.“ (Feldmeyer 2005: 70). Die Bundeswehr dient dementsprechend nicht mehr strukturbestimmend der Landesverteidigung, sondern vornehmlich der Erfüllung von Verpflichtungen gegenüber den VN, der NATO und der EU (vgl. Eitelhuber 2004). Die Bundeswehr soll strukturell dahingehend verändert werden, dass sie den Anforderungen internationaler Konfliktverhütung und Krisenbewältigung an der Seite anderer Bündnispartner in Out of Area-Einsätzen gerecht werden kann. „Das, was 1992 als Anpassung der Streitkräfte an die veränderte Weltlage begann, führt durch die neuen VPR [Verteidigungspolitischen Richtlinien, M. T.] von Struck zu einer Armee neuen Charakters.“ (Feldmeyer 2005: 71) Die konzeptionellen Grundlagen der Bundeswehr sind mit den Verteidigungspolitischen Richtlinien (VPR) vom 21. Mai 2003, der Weisung für die Weiterentwicklung der Bundeswehr vom 01. Oktober 2003, der Konzeption der Bundeswehr (KdB) vom 09. August 2004 und der auf den VPR fußenden „Bundeswehrstruktur 2010“ neu gefasst worden. Auftrag, Aufgaben und Fähigkeitsprofil der Bundeswehr wurden an die neue, veränderte Lage ange1
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Im Laufe des Textes wird aus vereinfachenden Gründen das generische Maskulinum verwendet, welches sich sowohl auf Männer als auch auf Frauen bezieht. In den Auslandseinsätzen gibt es einen Frauenanteil von fünf bis sechs Prozent. Allgemeine Aussagen über Einsatzsoldaten beziehen selbstredend auch die Frauen ein.
passt. Diese Lage bedingt, dass das Militär nunmehr einsatzorientierte Streitkräftestrukturen und eine für den Einsatz optimierte Führungsorganisation aufweisen soll. In den neuen Verteidigungspolitischen Richtlinien, die Verteidigungsminister Peter Struck am 21. Mai 2003 erlassen hat, werden die Aufgaben der Bundeswehr wie folgt beschrieben: „Internationale Konfliktverhütung und Krisenbewältigung – einschließlich des Kampfs gegen den internationalen Terrorismus – sind für deutsche Streitkräfte auf absehbare Zeit die wahrscheinlicheren Aufgaben und beanspruchen die Bundeswehr in besonderem Maße.“ (VPR 2003: Punkt 78) Nach 50-jährigem Bestehen und verschiedensten Transformationsprozessen wird die Bundeswehr zu einer globalen Einsatzarmee. In den letzten zehn Jahren hat sie mit die größten Truppenkontingente für internationale Friedensmissionen gestellt. In den neuen Einsatzgebieten verfolgt das deutsche Militär vornehmlich die Kooperation mit den Bündnispartnern sowie die Unterstützung der staatlichen Organe des Einsatzlandes bei der Aufrechterhaltung der Sicherheit. Im Jahre 2004 waren monatlich ca. 6 900 deutsche Soldaten im Einsatz (Deutscher Bundestag, Drucksache 15/5000, 2005: 24). Diese waren zu großen Zahlen in Bosnien und Herzegowina im Rahmen von SFOR (Stabilization Force), später umbenannt in EUFOR (EU Force), im Kosovo im Rahmen von KFOR (Kosovo Force) und in Afghanistan im Rahmen von ISAF (International Security Assistance Force) tätig.
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Der Weg zum Einsatzsoldaten
Das veränderte Einsatzspektrum und die gewachsene Anzahl an internationalen Einsätzen stellt nicht nur die Organisation Bundeswehr vor neue und vielfältige Aufgaben, sondern auch die Soldaten. Im Hinblick auf die tiefgreifenden Veränderungen stellt sich die Frage, wie die Soldaten auf die neuen Anforderungen reagieren bzw. inwiefern sich ihr Selbstbild und soldatisches Selbstverständnis verändern. Die Frage nach soldatischer Identität zu Zeiten von Globalisierung und militärisch-ziviler Friedensmissionen ist bereits mehrfach im Rahmen der internationalen Debatte um die Folgen der „Verpolizeilichung“ oder „Konstabulisierung“ des Militärs diskutiert worden (vgl. Kümmel 2005; Haltiner 2003, 2001; Geser 1994; Janowitz 1966). Militärsoziologische Analysen zu Auswirkungen von friedenserhaltenden und friedensschaffenden Auslandsmissionen (peacekeeping, peaceenforcement/making missions) auf das soldatische Selbstverständnis sehen auf der einen Seite die prinzipielle Unvereinbarkeit von Anforderungen im Rahmen „klassisch“ ausgerichteter Landesverteidigung und den neuen, erweiterten Anforderungen von „konstabularen“ Auslandsmissionen unter EU-, NATO- oder VN-Mandat (Segal/Segal 1993; Harris/Segal 1985). Auf der anderen Seite 103
zeigen militärsoziologische Studien, dass sich bei den Soldaten eine neue soldatische Identität herausbildet, welche die militärischen, politischen, soziokulturellen und psychologischen Erfahrungen der Soldaten in Auslandseinsätzen mit beinhaltet und während des Friedenseinsatzes generierte internalisierte Normen und Werte aufweist (Kümmel 2005: 59 ff.; siehe Projektgruppe „Sozialwissenschaftliche Begleitung von Auslandseinsätzen der Bundeswehr“ 2005; Franke 1999). Diese zwei unterschiedlichen Denkrichtungen der Unvereinbarkeit unterschiedlichster Rollen des Militärs einerseits und der Entwicklung eines neuen soldatischen Selbstverständnisses andererseits lassen sich auch innerhalb der Bundeswehr konstatieren: Soldaten, die bereits seit Jahrzehnten als Berufssoldaten tätig sind und unter der Prämisse einer Verteidigungsarmee zu Zeiten des Kalten Krieges der Bundeswehr beigetreten sind, fragen sich zum Teil, ob die heutige Bundeswehr noch die Armee ist, in der sie ursprünglich dienen wollten (vgl. Feldmeyer 2005: 73).2 Es wird eine Unvereinbarkeit alter und neuer militärischer Ziele gesehen, die den einzelnen Soldaten in einen Rollenkonflikt bringen kann. Viele Soldaten sehen aber auch, dass sich das Aufgabenspektrum der Bundeswehr positiv erweitert hat und verstehen ihre neue Rolle im Auslandseinsatz im Sinne eines „Weltbürgers in Uniform“ (Arenth/Westphal 1994: 125ff.). Insbesondere Frauen und Männer, die sich erst in den letzten Jahren in den Dienst des Militärs gestellt haben, sind bereits darauf eingestellt, an risikoreichen Einsätzen im Ausland teilzunehmen, die nicht der Verteidigung Deutschlands dienen. Die meisten wissen um die veränderte Aufgabenstruktur der Bundeswehr, die den „neuen Soldaten“, den „Staatsbürger in Uniform“ in globaler und europäischer Dimension erforderlich macht (vgl. Berger 2001). Mit anderen Worten werden im Zuge der Aufgabenveränderung der deutschen Streitkräfte die Soldaten mit zum Teil entgegengesetzten Anforderungen und neuen Rahmenbedingungen ihres Dienst- und Arbeitsumfeldes konfrontiert. Es gilt in diesem Spannungsfeld zwischen Kämpfer und „Helfer in Uniform“ das zukünftige soldatische Leitbild zu verorten (Seiffert 2004: 156f.). Trotz der tiefgreifenden Veränderungen, welche die Bundeswehr derzeit zu bewältigen hat, wurde bisher nur selten der wissenschaftliche Blick auf die Frauen und Männer gerichtet, die unmittelbar von diesen Umwälzungen betroffen sind (Seiffert 2004: 155). Für das Militär als auch für die Politik ist es jedoch von hohem Interesse zu erfahren, welche Auswirkungen die politische Umorientierung in der deutschen Außen- und Sicherheitspolitik, die Erweiterung des Bundeswehrauftrages, die strukturellen Veränderungen und die neue Auftragslage auf soldatische Orientierungen haben. Im Rahmen 2
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Diese Frage wird von vielen älteren bzw. konservativen Soldaten auch im Hinblick auf die Öffnung der Bundeswehr für den Dienst von Frauen in allen Bereichen der Streitkräfte gestellt (vgl. Kümmel/Werkner 2003).
dieses Aufsatzes wird der Frage nachgegangen, inwiefern die Auslandseinsätze für die Soldaten nicht nur ein neues Aufgabenfeld darstellen, sondern auch zu Veränderungen ihrer Berufsidentität führen. Wichtigste These dabei ist, dass die Teilnahme an einem oder mehreren Auslandseinsätzen dazu beiträgt, die Soldaten vor Ort in ihr neues Aufgabenfeld zu initiieren und sie in die (multi-)nationale „Einsatzkameradschaft“ zu sozialisieren. Der Einsatz kann somit im Sinne von Arnold van Gennep als wichtiger Übergang oder rites de passage auf dem Weg zum „neuen Soldaten-Typus“ innerhalb einer neu strukturierten Bundeswehr gewertet werden. Bereits eine im Jahre 1998 vom Sozialwissenschaftlichen Institut der Bundeswehr (SOWI) durchgeführte Studie zu Auswirkungen des Bosnieneinsatzes auf das soldatische Selbstverständnis verdeutlichte, dass „eine Einsatzteilnahme grundlegend als Sozialisationsinstanz auf das soldatische Selbstverständnis wirkt“. (Seiffert 2004: 160) Der vorliegende Aufsatz basiert auf quantitativen und qualitativen Untersuchungen, die in den Jahren 2003 bis 2005 in Bosnien-Herzegowina, im Kosovo und in Afghanistan von Mitarbeitern3 des Sozialwissenschaftlichen Instituts der Bundeswehr (SOWI) durchgeführt worden sind. Im Rahmen dieser mehrwöchigen Erhebungen wurden Angehörige der deutschen Einsatzkontingente zu verschiedensten Fragestellungen (z. B. Motivationsverlauf während des Einsatzes, Umgang mit fremder Kultur, soldatisches Selbstverständnis) mittels standardisierter Fragebögen und halb- oder unstrukturierter, qualitativer Interviews befragt. Parallel dazu wurden Daten durch teilnehmende Beobachtung in den Kontingenten erhoben. Die Struktur des Beitrages gliedert sich wie folgt: An die Einleitung schließt sich die Diskussion des Konzepts der Initationsriten von Arnold van Gennep an. Mittels dieses Konzepts wird im darauffolgenden Abschnitt überprüft, inwiefern die Einsatzteilnahme einen wichtigen, identitätsstiftenden Übergang zum Typus „Einsatzsoldat“ darstellt, der sich im Sinne eines „Weltbürgers in Uniform“ mit den Aufgaben und Zielen einer Armee identifiziert, die ihre Hauptfunktion in friedenserhaltenden sowie friedenschaffenden Maßnahmen in internationalen Auslandsmissionen sieht. Anhand einer Skizze eines idealtypischen Kontingentverlaufs wird aufgezeigt wie „Einsatzidentität“ geschaffen und offen bekundet wird. Das abschließende Fazit fasst die Kernaussagen des Aufsatzes zusammen.
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Jörg Keller, Maren Tomforde, Carola Reinholz sowie Heiko Biehl (Akademie der Bundeswehr für Information und Kommunikation, AIK).
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Arnold van Genneps Konzept der Inititionssriten
Der Übergangsbegriff bzw. der Begriff der Initiation oder der rites des passage ist in mehreren Disziplinen, wie z. B. in der Ethnologie, der Volkskunde oder der Psychoanalyse, ein terminus technicus. Das Konzept der Initiationsriten geht auf den Ethnologen Arnold van Gennep zurück. Dieser hat sich bereits in den 1930er Jahren mit Schwellenphänomenen beschäftigt, die Erfahrungskategorien von Individuen in bestimmten Entwicklungsstadien beschreiben. Mit Hilfe von Ritualen (meistens religiöser Art) werden Menschen von einem Zustand oder Sozialstatus in einen anderen begleitet (Gennep 1986: 101). Ziel ist, das Individuum aus einer genau definierten Situation in eine andere, ebenso genau definierte neue Situation hinüberzuführen (Gennep 1986: 15). Arnold van Gennep definiert Übergangsrituale4 sehr weit. Für ihn zählen sowohl die klassischen Initiationsriten, welche die Pubertät bei Völkern wie den Zuni, Navaho oder Massai kennzeichnen, als auch die allgemeine Aufnahme von Personen in bestimmte Statusgruppen, Klassen, Kasten oder auch Berufe zu der Kategorie der rites de passage (Gennep 1986: 100). Der Wechsel von der einen in die andere Gruppe wird somit nicht nur bei religiösen, sondern auch bei anderen sozialen Gruppen durch einen speziellen, nicht immer bewusst wahrgenommenen Initiationsritus begleitet (Gennep 1986: 14). Diese Zeremonien zeichnen sich durch eine Parallelität aus, da sie einer ähnlichen Logik folgen: Der Übergang von einem zum anderen Zustand ist buchstäblich gleichbedeutend mit dem Abstreifen des alten und dem Beginn des neuen Lebens (Gennep 1986: 175f.). Der Begriff des Übergangs impliziert dabei „in zeitlicher und räumlicher Hinsicht grundlegende und existentielle Bedeutungen“. (Rolshoven 2000: 110) Zygmunt Baumann (1999: 114) versteht die öffentliche Anerkennung der neu errungenen sozialen Qualität eines Individuums als den essenziellen Aspekt der rites de passage (siehe auch Paul 1983: 16). Initiationsriten oder rites de passage unterscheiden sich in ihrem Ablauf in drei Phasen: 1. Die Trennungsphase, in der die Trennung von der früheren Stellung oder dem früheren Leben vollzogen wird; 2. die Schwellenphase des Zwischenzustandes, in der sich die Individuen auf den Übergang vorbereiten und besondere Erfahrungen sammeln; und 3. die Aufnahme- und Wiedereingliederungsphase, in der die betroffenen Personen mit einem neuen Status in die Gesellschaft wieder eingliedert werden (Gennep 1986: 21). Die mit die4
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Rituale werden im Verlauf dieses Aufsatzes im weiteren, ethnologischen Sinne als „die Gesamtheit von nichtalltäglichen Handlungen, die mit traditionell festgelegtem Ablauf zu bestimmtem Anlass vollzogen werden“ (Koepping 1988: 406) verstanden. Rituale können dieser Definition entsprechend auch in einem nicht-religiösen Zusammenhang stehen.
sen Abschnitten verbundenen Zustandsveränderungen, insbesondere der Schwellenphase, gehen nicht vor sich, ohne das soziale und individuelle Leben zu einem gewissen Grade zu stören. Funktion der Übergangsrituale ist, den unsicheren Zwischenzustand beziehungsweise mögliche negative Auswirkungen der Übergangsphase abzuschwächen (Gennep 1986: 23). Rites de passage müssen nicht komplex oder langwierig sein, sondern können auch durch eine einfache und direkte Wirkungsweise gekennzeichnet sein. Ein Händeschütteln, ein gemeinsames Mahl, das Aussprechen einer Formel oder das Überreichen eines Geschenks oder einer Urkunde können bereits den offiziellen Übergang von einer (Status-)Gruppe zur nächsten markieren. „Das Strukturschema der Übergangsriten liegt also nicht allein Zeremonialkomplexen zugrunde, die den Übergang von einer Lebensphase oder einer sozialen Situation zur anderen begleiten, erleichtern oder beeinflussen, sondern auch mehreren eigenständigen Ritualsystemen, die man zum Wohle der Gesellschaft insgesamt, bestimmter Untersuchungsgruppen oder des Individuums einsetzt.“ (Gennep 1986: 179) Soldaten, die zum ersten Mal in den Einsatz gehen, durchlaufen in dem Sinne die drei Phasen der Initiationsriten, indem sie 1. sich bei Abflug aus dem Heimatland von ihrer gewohnten Umgebung und dem Status des „nicht einsatzerfahrenen Soldaten“ verabschieden; 2. im Einsatzland eine Schwellenphase durchlaufen, die durch Härten, Entbehrungen und unterschiedlichsten Erfahrungen gekennzeichnet ist; und 3. zu Kontingentende mit der Einsatzmedaille ausgezeichnet werden, die sie offiziell als „einsatzerfahrene Soldaten“ in eine neue Statusgruppe innerhalb der Bundeswehr aufnimmt. Van Gennep unterstreicht, dass der Austausch von Dingen, wie z. B. der Einsatzmedaille, nicht nur einen Übergang markiert, sondern auch eine soziale Verbindung zwischen Personen, die eine klar definierte Gruppe bilden, herstellen und verstärken kann.
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Der Auslandseinsatz als Initiation
Im Folgenden werden die drei oben vorgestellten Phasen, welche die rites de passage begleiten, anhand eines idealtypischen Kontingentablaufs nachgezeichnet. Es soll verdeutlicht werden, dass die Einsatzsoldaten in der Tat eine Trennungs-, Schwellen- und Wiedereingliederungsphase durchlaufen, die zum Teil von rituellen Handlungen begleitet oder markiert werden. Die kanadische Militärethnologin Donna Winslow hat bereits das Konzept der rites de passage auf die zum Teil abschreckenden, quälenden Aufnahmeriten angewandt, mittels derer Soldaten in eine der Kompanien der kanadischen Luftwaffe aufgenommen werden (Winslow 1999: 429f.). Diese Riten dienen 107
vornehmlich der Stärkung des Gruppenzusammenhalts und der Unterdrückung von Individualität zugunsten der Kameradschaft. Während eines „idealtypisch“ verlaufenden Auslandseinsatzes der Bundeswehr dienen „Tapsi5-Parties“, das „Bergfest“ und die offizielle Kontingentübergabe inklusive der unten beschriebenen medal parade der rituellen Begleitung eines Einsatzes, die bestimmte Kontingent-Phasen nach außen verdeutlicht und bestimmte Zeitpunkte eines sechs- bzw. viermonatigen Kontingents6 markiert. Diese Feste und Veranstaltungen dienen für die Soldaten als wichtige Markierungspunkte während einer Einsatzzeit, welche die Einsatzphase unterteilen helfen und überschaubarer gestalten. Parallel dazu verfügen viele Soldaten über Kalender, in denen sie die bereits überstandenen Tage im Einsatz durchstreichen und die noch verbleibenden Tage zählen können. Als Alternative dazu werden auch Maßbänder verwendet, an denen für jeden Einsatztag ein Zentimeter abgeschnitten wird. Die Maßnahme des „Tagezählens“ erleichtert den Kontingentangehörigen die Trennung von der Familie und der gewohnten Umgebung zu Hause; der Einsatzzeitraum scheint überschaubarer. Die Tatsache, dass viele Soldaten von Einsatzbeginn bis -ende die Tage auf die verschiedensten Weisen herunterzählen, verdeutlicht, dass Auslandsmissionen nicht mit einem beliebigen Truppenübungsplatzaufenthalt oder mehrwöchigem Lehrgang zu vergleichen sind. Durch die ungewisse Sicherheitslage, die mehrmonatige Trennung vom gewohnten sozialen Umfeld und die ungewohnte Tätigkeit in einem fremdkulturellen Umfeld wird die Teilnahme an einer Auslandsmission für viele Soldaten zu einer Erfahrung, die mit emotionalen Höhen und Tiefen verbunden ist. 4.1
Die Trennungsphase
Die Trennungsphase, die mit jeder Teilnahme an einer Auslandsmission zusammenhängt, kann nicht nur auf den Abflugtag begrenzt werden. Für viele Soldaten beginnt die Trennungsphase bereits einige Monate vor Einsatzbeginn. Die Monate vor dem Abflug sind gekennzeichnet von verschiedensten Truppenübungsplatzaufenthalten und Vorbereitungs-Lehrgängen, während derer die Kontingentteilnehmer bereits wochenlang von zu Hause getrennt
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Der inoffizielle Begriff „Tapsi“, der für „total ahnungslose Person sucht Infos“ steht, ist einer der vielen Akronyme und Begriffe, die Soldaten für bestimmte Phänomene des Auslandseinsatzes erfunden haben und die von Kontingent zu Kontingent, von Einsatzland zu Einsatzland weitergetragen werden. Von offizieller Seite wird dieser Terminus untersagt, da er diskriminierend wirken könnte. Begriffe wie dieser sind jedoch integraler Bestandteil einer informellen „Einsatzsprache“, die wiederum als wichtiger Aspekt subkultureller Strukturen im Auslandseinsatz gewertet werden kann (vgl. Soeters et al. 2003: 239). Im Jahre 2005 wurde die Kontingentdauer von sechs auf vier Monate gekürzt.
sind. Eine derzeit noch andauernde SOWI-Studie7 zu Aspekten der einsatzbedingten Trennung und der Stressbewältigung auf Seiten der Soldaten und ihrer Familien hat bereits ergeben, dass die Monate beziehungsweise Tage vor dem Abflug für beide Seiten die größten emotionalen Schwankungen, Schwierigkeiten, Zweifel und Ängste aufwerfen. Viele der Ehefrauen und Freundinnen der Soldaten sprechen von dem „Einsatz vor dem Einsatz“, da ihre Partner bereits vor Kontingentbeginn kaum zu Hause sind und sich die Paare nicht gemeinsam auf die noch anstehende Trennungsphase vorbereiten können. Dies trägt unter anderem dazu bei, dass sowohl die Ehefrauen/ Freundinnen als auch die Soldaten oftmals nicht genug Gelegenheit und Zeit finden, um ihre Probleme und Zweifel ausreichend mit dem Partner zu besprechen. Laut Aussage vieler Partnerinnen in der vom SOWI durchgeführten Familien-Studie scheint es den Männern ohnehin schwer zu fallen, ihre vor dem Einsatz bestehenden Ängste zu kommunizieren. Dies liegt einerseits daran, dass die Soldaten ihre Frauen nicht zusätzlich mit ihren eigenen Sorgen vor dem Einsatz belasten wollen; andererseits scheint es vielen Männern auch schwer zu fallen, über ihre eigenen Unsicherheiten und Ängste offen zu sprechen. Den Höhepunkt erreicht die Trennungsphase dann schließlich am Abflugtag, wenn sich die Soldaten nicht nur von ihren Familien, sondern in gewisser Weise auch von ihrem gewohnten zivilen Leben verabschieden müssen. Für die folgenden vier Monate werden sie die Uniform nur selten ablegen, jeden Tag mindestens 12 Stunden Dienst verrichten und ihre Soldatenrolle nur selten abstreifen können. Abgesehen von kleinen FamilienAbschiedsfeiern, einem Kurzurlaub8 und (emotionalen) Verabschiedungen in und vor der Kaserne kurz vor dem Abflug, wird die Trennung nicht von einem speziellen (rituellen) Ereignis begleitet. 4.2
Die Schwellenphase während des Einsatzes
Nach Ankunft im Einsatzland werden die Angehörigen des neuen Kontingents im Rahmen einer mehrtägigen Übergangsphase von den Kameraden des Vorgängerkontingents in ihre neuen Dienstbereiche eingewiesen. Neben den offiziellen Informationen zu Dienstabläufen und Formalien werden in dieser Phase auch etliche inoffizielle Informationen, beispielsweise zu Gepflogenheiten im Feldlager, zur Zusammenarbeit mit den Streitkräften anderer Nationen und den Bewohnern des Einsatzlandes, ausgetauscht. Diese In7 8
Diese Studie wird durchgeführt von der Projektgruppe „Sozialwissenschaftliche Begleitung der Auslandseinsätze der Bundeswehr“. Prinzipiell sollten alle Soldaten vor dem Einsatz einen Kurzurlaub, die sog. einwöchige „Kuschelwoche“, einlegen können. Nicht selten kann diese „Kuschelwoche“ von den Soldaten aufgrund ihres Dienstes und der vorbereitenden Ausbildungen jedoch nicht genommen werden.
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formationen erleichtern den Übergang von einem Kontingent zum nächsten und tragen dazu bei, dass sich bei stetig wechselndem Personal einsatzspezifische Strukturen und Praktiken herausbilden können. Zu Beginn eines jeden Kontingents werden die Neuankömmlinge größtenteils in großen Zelten untergebracht, von denen die Soldaten sukzessive in ihre (Container-)Unterkünfte ziehen können, wenn die Kameraden des Vorgänger-Kontingents in die Heimat zurückkehren. Oftmals übernehmen die Neuankömmlinge Gegenstände wie Teppiche, Fernseh- und Videogeräte ihrer Vorgänger, mit denen diese ihre Unterkünfte wohnlicher gestaltet haben. Angehörige des alten Kontingents begrüßen ihre Nachfolger durch „Tapsi-Annoncen“ in den wöchentlich erscheinenden Lagerzeitungen wie dem „Keiler“ (EUFOR, Bosnien-Herzegowina) oder der „Maz & More“ (KFOR, Kosovo) und veranstalten kleine Feste für sie. Die offizielle Abreise der Kameraden wird durch einen Appell gekennzeichnet, zu dem sowohl die „Abflieger“ als auch die Neuankömmlinge antreten, um der offiziellen Kontingentübergabe beizuwohnen. Soziale Kontakte, die eventuell zu Bewohnern des Einsatzlandes bestehen, werden meistens auch von einem Kontingent zum nächsten weiter vermittelt, insbesondere, wenn die Einheimischen schwer „vom Schicksal getroffen“ und in die informellen Hilfsstrukturen9 der Soldaten aufgenommen worden sind. Lokale Sprachmittler, die oftmals über Jahre hinweg in den Einsatzländern für die Bundeswehr tätig sind, helfen auch den Neuankömmlingen die Aufnahme ihres Dienstes (insbesondere in der Einsatzkompanie und der Abteilung CIMIC – zivil-militärische Kooperation) zu erleichtern. Zusätzlich fungieren die Sprachmittler als wichtiges und beständiges Bindeglied zwischen der einheimischen Bevölkerung und der Bundeswehr im Einsatzland und sind für die Soldaten eine zentrale Informationsquelle bei interkulturellen Fragen und Problemen. 4.3
Bildung von Einsatzidentität: Wir- und Sie-Gruppen
Im Laufe des Kontingents gewöhnen sich die Soldaten immer mehr an das Leben im Einsatz, richten sich im Feldlager ein und gestalten dieses zum Teil sogar nach eigenen Bedürfnissen um. So werden beispielsweise kleine, informelle Aufenthaltsräume und Sitzgruppen in den einzelnen Einheiten geschaffen oder umgestaltet und aus Restbeständen (zumeist in hinteren Teilen der Feldlager) kleine Schwimmbäder oder Aussichtsplattformen gebaut. Diese Räume, die neben den offiziellen Betreuungseinrichtungen und Versamm9
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Neben den offiziellen Hilfsmaßnahmen wie z. B. dem Soldatenverein „Lachen helfen“, unterhalten die Soldaten auch informelle Hilfsstrukturen, in dem sie besonders bedürftige Personen/Familien auf ihren Patrouillen besuchen und diesen selbst organisierte Sachspenden zukommen lassen.
lungsorten bestehen, sind wichtige Orte für die Soldaten. Hier können sie sich in kleineren Gruppen abends nach dem Dienst zurückziehen, in einem etwas privateren Ambiente als in den Betreuungseinrichtungen verweilen und sich dem Blick Dienstgradhöherer oder anderer Kameraden entziehen. Diese Rückzugsfunktion der inoffiziellen Treffpunkte ist nicht zu unterschätzen, da die Frauen und Männer während des Einsatzes aufgrund mangelnder Privatsphäre sehr gefordert sind: Fast immer sind sie in den Unterkünften mit mindestens einem weiteren Soldaten untergebracht, teilen sich die sanitären Anlagen mit einer Gruppe Kameraden, nehmen ihre Mahlzeiten in Großraumzelten ein und verrichten ihren Dienst von 8 bis 19 Uhr im Beisein anderer. Es gibt nur wenige Orte, an denen jemand komplett allein sein kann. Zudem bewegt man sich innerhalb des Feldlagers in einem relativ kleinen, eingegrenzten Raum, in dem die Schritte und Aktivitäten Einzelner prinzipiell immer zu beobachten sind. Diesen und anderen Belastungsfaktoren (wie z. B. Trennung von zu Hause, extreme klimatische Bedingungen, Konfrontation mit extremer Armut, latent vorhandene Gefahren, Monotonie des Feldlagerlebens) begegnen die meisten Soldaten mit einer hohen Arbeitsmotivation und einem wachsenden Zusammengehörigkeitsgefühl (Projektgruppe „Sozialwissenschaftliche Begleitung der Auslandseinsätze der Bundeswehr“ 2004: 29ff.). Der Umgang mit längeren Dienstzeiten, fehlenden Wochenenden, dem ständigen Dresscode auch außerhalb der Dienstzeiten und des Lagers verbindet die Soldaten. Die Schaffung einer corporate identity hilft, Schwierigkeiten vor Ort und die Trennung von zu Hause zu überwinden. Ein Beispiel für die im Auslandseinsatz entstehende corporate identity sind kleine Veränderungen der Uniform, die bei der Bundeswehr im Heimatland weder zu finden noch erlaubt wären. Beispielsweise tragen viele Kontingentangehörige aller Dienstgradgruppen während des Einsatzes Namensschilder, die einen flecktarnfarbenden Untergrund aufweisen, auf denen neben dem Namen auch die Flagge Deutschlands und der NATO aufgestickt sind. Teilweise tragen diese Namensschilder nicht den tatsächlichen Namen des Trägers, sondern den Spitznamen oder die Aufschrift „Urlauber“ zur Mitte oder „Abflieger“ zum Ende der Kontingentzeit. Zusätzlich werden neben dem ISAF-, EUFOR-, oder KFOR-Logo am Hemdsärmel noch kompaniespezifische Aufnäher mit eigens für das Kontingent entworfenem Logo getragen. Solche Aufnäher und Veränderungen der Uniform sind in der Regel innerhalb der Bundeswehr genehmigungspflichtig. Bei ISAF ist es auch üblich, bewusst die helle Tropenuniform anzuziehen, die bereits stark verwaschen ist und einen leichten Rosaton aufweist. Dies ist ein einfacher Weg für die Soldaten, um sich als Kontingentangehörige von den zahlreichen soldatischen Besuchergruppen abzuheben und zu demonstrieren, dass sie zur „In111
nengruppe“ des Einsatzes gehören. Auch in Deutschland ist diese Praxis innerhalb der Bundeswehr bekannt: Durch das Tragen von verwaschenen und zum Teil sogar verschlissenen Kampfanzügen setzten sich „alte Hasen“ von Soldaten ab, die erst seit kurzem dienen. Das Tragen einer Uniform, die „Identitätsmarker“ aufweist, verdeutlicht, wie wichtig es für die Kameraden ist, deutliche Zeichen der Zugehörigkeit zur „Wir-Gruppe“ zu tragen und sich gleichzeitig von der „Sie-Gruppe“, die situational aus Besuchern, Kameraden anderer Einheiten/Feldlager im Einsatzland/Nationen bestehen kann, zu unterscheiden (vgl. Barth 1969). Abgrenzung ist wichtig, um Zusammenhalt innerhalb der eigenen Gruppe zu schaffen. Ein Oberfeldwebel, der im Sommer auf dem Flughafen in Termes (Usbekistan) stationiert war, verdeutlicht die Relevanz einer gemeinsamen Identität: „Ich finde es gut, dass wir hier etwas offener sind. Wir können unsere Uniformen hier freier gestalten, da es 1. preisgünstig ist, sich von den Locals solche Sachen machen zu lassen und 2. die Führer die Anzugsordnung hier nicht so eng sehen, sondern solche ‘Abzeichen für einsatzerfahrene Insider’ auch selbst tragen. Ich finde, dass die TSKs [Teilstreitkräfte, M. T.] hier in Termes besser zusammenkommen als in Deutschland, schon allein weil wir alle die gleiche Uniform tragen. Dadurch lässt es sich viel besser arbeiten und die Monate hier besser ertragen. Die Uniform schafft eine TSKübergreifende Identität. Dadurch können wir unsere Kameradschaft besser leben.“ Der Zusammenhalt von soldatischen (Klein-)Gruppen im Einsatz wird auch durch die Praxis des Einladens gestärkt. Zum Beispiel ist es üblich, dass sich die Kameraden in den Betreuungseinrichtungen auf reziproker Basis gegenseitig zu (alkoholischen) Getränken einladen. Die günstigen Preise der steuerfreien Spirituosen erlauben es, auch größeren Gruppen von Kameraden eine Runde Getränke spendieren zu können – eine Einladung, die meist von den anderen am gleichen Abend oder später erwidert wird. So entstehen reziproke Beziehungen zwischen den Soldaten, die den Zusammenhalt fördern (vgl. Mauss 1968). Auch ist die Rolle von Alkohol im Auslandseinsatz nicht zu unterschätzen und nicht immer nur negativ zu bewerten. Mäßiger Alkoholkonsum kann nicht nur Entspannung und Freude bringen, sondern auch die Funktion eines social lubricant („sozialer Schmierstoff“) haben und damit den Gruppenzusammenhalt fördern (Garine 2001: 2). „Drinking is an important aspect of masculine identity. It can also be an important part of group bonding.“ (Winslow 1999: 438) Es steht außer Frage, dass der Alkoholkonsum gerade im Auslandseinsatz eine wichtige Rolle spielt und ein Abschalten von den Belastungen, wie unsichere Sicherheitslage, den Sieben-Tage-Dienst, die Isolation im Feldla-
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ger von der umgebenden Gesellschaft10 sowie die Trennung von der Familie ermöglicht (vgl. Haas/Kernic 1998: 158 f.; Klein 2003: 201). 4.4
Das Bergfest
Zur Hälfte eines jeden Kontingents wird ein offizielles „Bergfest“ gefeiert. Wenn Streitkräfte mehrerer Nationen in einem Feldlager untergebracht sind, wird dieses Fest oftmals gemeinsam mit den internationalen Kameraden ausgerichtet und es werden typische Speisen und Getränke der Ursprungsländer serviert. Das Bergfest ist für die Soldaten ein wichtiger Fixpunkt, der die Hälfte der Kontingentzeit markiert. Insbesondere bei den sechsmonatigen Einsätzen ist es von zentraler Bedeutung, während der Mission solche Fixpunkte, wie den Urlaub oder das Bergfest zu haben, da sie die Zeit einteilen helfen. Zusätzlich trägt das Bergfest auch zur Konstituierung einer gemeinsamen Kontingent-Identität bei. Die Kameraden feiern sich und die Tatsache, dass sie gemeinsam die Hälfte der Zeit bereits „durchgehalten“ haben. Die anfänglichen Monate des Eingewöhnens und der eventuellen Unsicherheit in bestimmten Bereichen sind überstanden; die Soldaten haben einen Statuswechsel durchlaufen: Sie gehören nicht mehr zu den „Tapsi“, sondern nunmehr zu den „Erfahrenen“ und den „Insidern“. 4.5
Der Übergang: Ende des Einsatzes
Das Ende eines Kontingents erstreckt sich meistens über einige Wochen, da nicht alle Einheiten und Kompanien das Einsatzland zum gleichen Zeitpunkt verlassen. Der erfolgreiche Abschluss eines Kontingents wird begleitet von den sog. „Abflieger-Parties, dem Austausch von Kontingent-CDs, der inoffiziellen, aber zeremoniellen Verabschiedung bereits abreisender Einheiten/ Kompanien, der medal parade und dem offiziellen Abschlussantreten. Die „Abflieger-Parties“ werden meistens in den einzelnen Einheiten oder Kompanien entweder in den Betreuungseinrichtungen oder in den eigenen Aufenthaltsräumen veranstaltet. Die Kontingent-CDs, die sowohl offiziell von der Kontingentführung als auch von einzelnen Soldaten zusammengestellt werden, enthalten eine Vielzahl von Einsatzbildern, die meist mit westlicher Rock- und Pop-Musik unterlegt sind. Diese Bilder vom Feldlager, den Kontingentangehörigen und Menschen des Einsatzlandes sollen einerseits dazu dienen, der Familie und den Freunden zu Hause einen Eindruck von der Mission zu vermitteln. Andererseits sind sie auch wichtige Erinnerungsstücke für die Soldaten selbst, die durch diese CDs zu Hause den Einsatz nochmals Revue passieren lassen können. Ferner werden diese CDs auch gerne Kame10
Siehe hierzu auch Sion 2004, Kapitel 6.
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raden gegeben, denen eine Einsatzteilnahme bevorsteht und die sich dadurch bereits ein Bild vom Einsatz machen können. Die CDs erleichtern es den Soldaten, auch „Außenseitern“ einen Eindruck ihrer Tätigkeit in den Krisenregionen zu vermitteln. Die CDs erlauben einen Einblick in die Sichtweisen der Soldaten über die Auslandsmissionen und in ihre damit zusammenhängenden Erfahrungen; zusätzlich transportieren sie eine einsatzspezifische Identität, die in allen Einsatzgebieten ähnliche Züge aufzuweisen scheint. Diese Identität wird auch deutlich, wenn die Einheiten oder Kompanien (in-)offiziell bereits abfliegende Kameraden verabschieden. Für diese Soldaten werden, wie allgemein in der Bundeswehr üblich, „Bilder gestellt“. (Groß-)Gerät wie gepanzerte Gefechtsfahrzeuge oder andere militärische Fahrzeuge, die den Dienstalltag der Soldaten prägen, wird für derartige „Bilder“ genutzt, um sich darzustellen und zu imponieren. Beispielsweise werden für die Verabschiedung von Soldaten Fontänen mittels Wasserwerfer aus Einsatzfahrzeugen am Tor des Feldlagers erzeugt oder gepanzerte Gefechtsfahrzeuge in Form einer Ehrengasse aufgestellt. Das Kontingentende und die gleichzeitige Übergangsphase von einem Kontingent zum nächsten ist auch von zahlreichen, feierlichen Appellen und Antreten begleitet. Am letzten Kontingenttag findet schließlich beim Abschlussappell der Wechsel im Kommando statt, der durch die Übergabe der Truppenfahne vom bisherigen zum zukünftigen Kommandeur symbolisch markiert wird. Die „alten“ und „neuen“ Soldaten treten dafür gemeinsam an; dieses Zeremoniell wird auch bei anderen Streitkräften und multinationalen Verbänden auf diese Weise durchgeführt. Der feierliche Rahmen dieses Appells wird oft auch für die Auszeichnung scheidender Offiziere genutzt. Bei den feierlichen Appellen der Kompanien beziehungsweise dem Abschlussantreten des Kontingents wird den Soldaten im Rahmen einer sog. medal parade die Einsatzmedaille verliehen, die sie für ihre Tätigkeit im Einsatz offiziell auszeichnet. Die Medaille mit dem Bundesadler im Lorbeerkranz ist eine vom Bundespräsidenten genehmigte nationale Auszeichnung, die an der Uniform getragen wird. Alle Soldaten und zivilen Mitarbeiter, die mehr als 30 Tage Dienst11 in einem Auslandseinsatz geleistet haben, erhalten diese im Jahre 1996 gestiftete Einsatzmedaille. Der Anspruch auf die Medaille verfällt jedoch, wenn eine Vorstrafe oder eine mit dem Einsatz zusammenhängende Disziplinarmaßnahme verhängt wurde. 11
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Die Medaille wird in den Stufen Bronze (30 Tage Einsatz), Silber (360 Tage Einsatz) und Gold (690 Tage Einsatz) verliehen. Zum Erhalt der silbernen oder goldenen Einsatzmedaille muss der Dienst nicht zusammenhängend geleistet werden. Bisher waren die Einsatzmedaillen nummeriert, um die Anzahl der geleisteten Einsätze anzuzeigen. Die Einsatzmedaille ist bisher 145 000 mal verliehen worden (Stand: 31. Dezember 2004). Neben der nationalen Einsatzmedaille wird zu Kontingentende auch die NATO-Medaille ausgehändigt, wenn es sich um einen NATO-geführten Einsatz wie bei ISAF oder KFOR handelt.
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Für die Soldaten ist die Medaille von hoher Bedeutung, da sie eine offizielle, nationale Anerkennung ihres Dienstes im Einsatz ist und auch im Inland als Symbol für die Einsatzerfahrung an der Uniform getragen werden kann. Sollte die Medaille einem Kontingentangehörigen fälschlicherweise nicht verliehen worden sein, bemühen sich die Soldaten auf dem Beschwerde- oder Rechtsweg, die Auszeichnung noch nachträglich ausgehändigt zu bekommen. Im Jahresbericht 2004 des Wehrbeauftragten (Deutscher Bundestag, Drucksache 15/5000, 2005: 29) lautet es dementsprechend: „Einsatzmedaillen haben für die Soldaten als Anerkennung für den geleisteten Dienst im Ausland große Bedeutung.“ Die Medaillen zeichnen die Kameraden offiziell für ihre Tätigkeit unter erschwerten Bedingungen im Einsatzland aus und stehen für eine symbolische Aufnahme der Kontingentangehörigen in den „Kreis der einsatzerfahrenen Soldaten“. Ein in Afghanistan eingesetzter Feldwebel sagte während eines Interviews dementsprechend: „Einmal muss man schon dabei gewesen sein, sonst kann man nicht wirklich mitreden, wenn andere Kameraden über die Einsätze reden. Und es wird schon viel darüber geredet.“ Für die Soldaten ist es nicht nur wichtig durch eine Einsatzteilnahme im Rahmen der neuen Aufgaben der Bundeswehr „mitreden“ zu können, sondern auch Einsatzerfahrung als karrierefördernde Qualifikation aufzuweisen. Laut den „Anforderungen an Stabsoffiziere in Spitzenverwendungen“, die in der Personalinformation 2005 (PSZ I 2005: 25) formuliert sind, gewinnt eine „Bewährung im Einsatz“ und Einsatzerfahrung zunehmend an Bedeutung bei Personalentscheidungen. Auch inoffiziell wird die Teilnahme an einem oder mehreren Einsätzen im Ausland von den bei den Forschungen befragten Soldaten als ein wichtiges Kriterium für weitere Beförderungen gesehen. 116
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Die medal parade und die Verleihung der Einsatzmedaille stellen somit ein bedeutsames Zeremoniell dar, mittels derer der Statuswechsel vom „einsatzunerfahrenen“ zum „einsatzerfahren“ Soldaten offiziell markiert wird. Im Sinne von Arnold van Genneps Konzept der rites de passage wird durch die medal parade der Statuswechsel der Soldaten formell und öffentlich anerkannt. Die Ethnologin Donna Winslow ist der Überzeugung, dass förmliche Anerkennungen nicht nur für das Individuum wichtig sind, sondern den Gruppenzusammenhalt stärken können. In Bezug auf die kanadische Luftwaffe schreibt sie: „At the end of the AIC [Airborne Indoctrination Course, M. T.], there would be a ceremony where new members would receive their Airborne coin – an important symbol of group membership.“ (Winslow 1999: 436) Wie auch Alfred McCoy (1995: 695) für das philippinische Militär aufgezeigt hat, ist der kameradschaftliche Zusammenhalt unter Soldaten und eine anhaltende Gruppenidentität das Resultat vom gemeinsamen Durchleben schwieriger Situationen. Starke Verbundenheit unter Kameraden ist ein wichtiger Aspekt militärischer Organisationen. Übergangs- oder Initiationsriten wie die medal parade sind somit wichtige Ereignisse, die diesen konzeptuellen und inneren Prozess nach außen verdeutlichen (Winslow 1999: 453).
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Fazit „Die Einsatzteilnahme wirkt grundlegend als Sozialisationsinstanz einerseits und unterstützt andererseits die Entwicklung einer ‘corporate identity’.“ (Seiffert 2004: 162)
Der Dienst im Einsatz mit dem Ziel der Stabilitätssicherung und dem Stiften von Sicherheit in anderen Regionen und Ländern der Welt bildet mittlerweile die Basis soldatischer Berufsidentität im Heer beziehungsweise in der Bundeswehr. Der vorliegende Beitrag hat verdeutlicht, dass sich während der Auslandsmissionen eine einsatzspezifische soldatische Identität herausbildet und dass die Einsatzteilnahme als wichtiger Übergang vom „klassisch“ ausgerichteten Soldaten zum Einsatzsoldaten einer neu strukturierten Bundeswehr zu werten ist. Mit anderen Worten haben die Einsatzerfahrungen kollektivierende Wirkung und tragen zu einem neuen Selbstverständnis in Richtung „militärischer Einsatzprofis“ bei. Obwohl die Einsatzerfahrung einen wichtigen Übergang für die Soldaten darstellt und die Einsatzteilnahme maßgeblich zur Sozialisation in den „neuen“ Soldatentypus mit einer „politisch-funktionalen soldatischen Berufsidentität“ (Seiffert 2004: 160) beiträgt, verstehen die Soldaten die Auslandsmissionen noch lange nicht als primäre Aufgabe ihrer Tätigkeit und ihrer Armee. 118
Friedenserhaltene Out of Area-Einsätze werden zwar als wichtige Aufgaben der Bundeswehr erachtet, Verteidigung bei Angriff und Katastrophenhilfe im Inland zählen nach wie vor zu den von den Soldaten selbst als zentral erachteten Aufgaben ihrer Armee. Die Realisierung politischer Zielsetzungen und die Androhung und Anwendung bewaffneter Gewalt stellen nach wie vor wichtige Bezugspunkte für die Bundeswehr und ihre Soldaten dar. Der scheinbare Widerspruch zwischen der als wichtig erachteten Landesverteidigung als traditionelle, zentrale Aufgabe der Streitkräfte auf der einen Seite und dem sich wandelnden Selbstbild der Frauen und Männer auf der anderen Seite ist Ausdruck des grundlegenden Transformationsprozesses, den das deutsche Militär zu durchlaufen hat. Dieser Beitrag hat aufgezeigt, dass die Teilnahme an einem oder mehreren Auslandseinsätzen dazu beiträgt, die Soldaten in den Einsatzgebieten in eine neu strukturierte Bundeswehr zu initiieren und sie in die (multi-)nationale „Einsatzkameradschaft“ zu sozialisieren. Die Auslandseinsätze im Allgemeinen und die Abschlussappelle im Besonderen zählen zu den wichtigen Initiationsriten, welche die konventionell-normativen, gesellschaftlich kontrollierten Übergangssituationen kennzeichnen.
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III Militär / Gesellschaft
Einige Überlegungen zur (Ent-)Professionalisierung des Soldatenberufes Maja Apelt Die Diskussion um den Charakter des Soldatenberufes hat bereits eine eigene Tradition. Diese ist von den Fragen geleitet, was vor dem Hintergrund der gravierenden Veränderungen in den letzten 60 Jahren den Kern des Berufes ausmacht, ob es sich um einen Beruf „sui generis“, also einer ganz besonderer Art handelt, und drittens ob der Beruf als Profession zu bezeichnen ist. Um diese Fragen soll es auch in dem folgenden Beitrag gehen, wobei die dritte Frage im Zentrum stehen wird. Davon abgeleitet ist die Frage, inwieweit mit den veränderten Anforderungen an den Soldatenberuf eine Professionalisierung oder Deprofessionalisierung einhergeht. Es werden die folgenden Thesen vertreten: 1. Der Professionsbegriff stellt einen Idealtypus dar, dem der Soldatenberuf in einigen aber nicht in allen Aspekten entspricht. 2. Die Veränderungen, denen der Soldatenberuf unterliegt, tragen Züge von Deprofessionalisierung und von Professionalisierung. 3. Die Veränderungen sind ähnlich denen in anderen (zivilen) Berufsfeldern, der Soldat ist insofern kein Beruf „sui generis“. Ausgangspunkt der Argumentation ist die Darstellung des Soldatenberufes als Profession. Dazu soll zunächst der Professionsbegriff hinterfragt und daraufhin der Bestimmung des Soldatenberufes durch Huntington gegenüber gestellt werden. Im zweiten Teil wird mit Janowitz und Ellwein gezeigt, wie die Veränderungen im Zuge der Einführung von Massenvernichtungswaffen sowohl als Professionalisierung als auch als Deprofessionalisierung bewertet werden können und welche Implikationen damit jeweils einhergehen. Im letzten Teil geht es um den gegenwärtigen Wandel des Soldatenberufes im Zuge der erweiterten Aufgaben der Bundeswehr. Diese sich ähnlich in anderen professionellen Feldern vollziehenden Umstrukturierungen haben in Teilen der Professionssoziologie theoretische Umstellungen provoziert, vor allem aber einen Wechsel der Leitbegriffe weg vom Professionsbegriff hin zu professionellem Handeln und Professionalität bzw. Professionalisierung. Es wird geprüft, welche Schlüsse daraus für die Konzeption und Analyse des Soldatenberufes gezogen werden können. Die Begriffe Profession, professionelles Handeln und Professionalisierung werden in den Überlegungen wie folgt verwendet: Laut Kurtz (2002) sind Professionen durch folgende Merkmale gekennzeichnet: –
Die Tätigkeit von Professionsangehörigen basiert auf einer besonderen Wissensbasis. Diese wird zumeist durch eine akademische Ausbildung 125
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erworben, die in der Hand von Hochschullehrern, selbst Mitglied der Profession, liegt. Die Tätigkeit unterliegt spezifischen Verhaltensregeln in Form einer Berufsethik, an die die Professionellen in ihrer beruflichen Praxis gebunden sind. Die professionelle Tätigkeit gilt als Dienst an der Allgemeinheit und ist auf zentrale gesellschaftliche Werte bezogen (Erziehung, Gerechtigkeit, Gesundheit, Seelenheil, Sicherheit). Die Mitglieder der Profession leisten ihren Dienst eher aus altruistischen denn aus egoistischen Motiven. Ihnen wird ein besonderes Verantwortungsbewusstsein, fachliche Kompetenz und moralische Integrität bei der Ausübung ihrer Tätigkeit zugeschrieben. Die Tätigkeit der Professionsangehörigen soll weitgehend autonom ausgeübt werden. D. h., dass die Professionellen aufgrund des besonderen Wissens gegenüber ihren Klienten oder Patienten in ihrem Tätigkeitsfeld als Experten fungieren und ihnen deshalb ein besonderes Vertrauen entgegengebracht werden soll. Dass die Problemlösung aber nicht selbstverständlich ist, verschafft der unter Risiko handelnden Profession zusätzliche gesellschaftliche Wertschätzung.
Der Begriff des professionellen Handelns ist dagegen nicht auf das Handeln von Professionen beschränkt. Es basiert allgemein auf Expertenwissen, auf umfassender solider Informationsbasis. Gehandelt wird systematisch und methodisch „nach allen Regeln der Kunst“ (Meuser 2005). Damit ist der Begriff um einiges umfassender als der der Professionen. Der Begriff Professionalisierung (Maiwald 2004) kann sich sowohl auf das professionelle Handeln wie auf die Organisationsform der Profession beziehen: Einmal wird damit ausgedrückt, dass ein Handeln professioneller oder eine berufliche Leistung qualitativ besser wird. Das andere Mal bedeutet es, dass Berufsgruppen die für Professionen charakteristischen Merkmale, insbesondere spezifisches Expertenwissen, Autonomie der Berufsausübung, Monopolisierung der Zuständigkeit und besondere Dienstethik, herausbilden.
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Der Soldatenberuf als Profession
Der Professionsbegriff lässt sich auf mindestens zwei Wegen von anderen Institutionen unterscheiden. Zum einen wird er begrifflich zu Beruf und Arbeit in Beziehung gesetzt, zum anderen von Markt und Bürokratie unterschieden. Hartmann (1972) geht von einem Kontinuum von Arbeit, Beruf und Profession aus. Dimensionen dieses Kontinuums sind systematisches Wissen 126
und soziale Orientierung. Professionen sind demnach durch ein besonderes Maß systematischen Wissens und sozialer Orientierung gekennzeichnet (vgl. auch Goode 1972). Freidson (2001) grenzt Professionen als besondere Form der Organisation und Kontrolle von Arbeit von Markt und Bürokratie ab und bestimmt sie über ein besonderes Maß an Autonomie, Selbstorganisation und Selbstkontrolle. Im Idealfall legen die Professionsangehörigen selbst die Inhalte ihrer Arbeit, die Ziele, Bedingungen und Umstände sowie die Kriterien fest, nach denen ihre Arbeit legitimerweise beurteilt wird (Heisig 2005a; Littek/Heisig/ Lane 2005). Wir haben also zur einen Seite hin Spezialwissen und soziale Orientierung und zur anderen Seite Autonomie und Selbstkontrolle als wesentliche Kriterien von Professionen. Huntington hat als einer der ersten das Offizierkorps als Profession gekennzeichnet „in the same sence in which it is characteristic of the physician or lawyer“. (Huntington 1972 [1957]) Professionen sind für ihn „a peculiar type of functional groups with highly specialized characteristics“. (Huntington 1972: 7) An Parsons’ funktionalistischer Perspektive orientiert, sieht Huntington die zentralen Kriterien einer Profession im Expertentum, ihrer Verantwortung und dem Korpsgeist. Das Expertentum besteht Huntington zufolge in spezialisiertem Wissen auf einem wichtigen Feld des menschlichen Seins, das nur in langjähriger Ausbildung und Erfahrung entwickelt wird und auf objektiven Standards der professionellen Kompetenz beruht. Für das Militär sei dabei grundlegend, dass die Offiziere zwar jeweils spezifische, zivilen Berufsfeldern entsprechende Kenntnisse benötigen, dass ihnen allen aber zentrale Fähigkeiten des „managements of violence“ (Lasswell 1941, zit. n. Huntington 1972: 11) gemeinsam seien. Der bewaffnete Kampf sei damit die zentrale Aufgabe der Streitkräfte. Notwendige Kompetenzen der Offiziere beziehen sich auf die Organisation, Ausstattung und das Training der Streitkräfte sowie die Planung und Führung von Operationen innerhalb und außerhalb des Kampfes. Die besonderen Fähigkeiten des Offiziers – so Huntington – sind zeit- und raumunabhängig, die gleichen in Zürich und New York oder Russland im 19. wie im 20. Jahrhundert. Die besondere Verantwortung des Offizierkorps erwächst aus seiner Expertise. Da die Gesellschaft ein besonderes Interesse an der Expertise der Offiziere hat, wird die militärische Profession nicht – wie im Falle anderer Professionen – nur vom Staat reguliert, sondern von ihm monopolisiert. Entsprechend seiner Verantwortung hat der Offizier eine professionelle Motivation zur Berufsausübung. Diese wird aktiviert durch die Kombination mehrerer Ansprüche: dem Willen, sich im Gewaltmanagement zu perfektionieren, 127
der Liebe zum militärischen Handwerk und dem Willen, das Handwerk in den Dienst der Gesellschaft zu stellen. Ökonomische Motive bleiben nachrangig. Während der Arzt dem Patienten und der Anwalt dem Klienten gegenüber verantwortlich sind, ist es der Offizier dem Staat gegenüber. Ähnlich dem Arzt kann der Offizier nicht selbst entscheiden, sondern den Staat nur beraten und ihm bei der Durchsetzung von Entscheidungen, die der Staat gefällt hat, unterstützen. Das Offizierkorps stellt eine bürokratisierte Profession dar. Der Zugang zum Korps, dessen Ausbildung und Training wird durch die militärische Organisation gewährleistet und kontrolliert. Die korporative Struktur beinhaltet Vereinigungen, eigene Schulen, Zeitschriften, Traditionen und Bräuche. Huntington begründet mit der Kennzeichnung des Offizierkorps als ausgereifte Profession, dass dessen Autonomie gegenüber dem militärisch unprofessionellen Staat gestärkt werden muss. Der Staat gibt zwar die sicherheitspolitischen Ziele vor, deren Durchsetzung aber muss in professioneller d. h. militärischer Hand liegen. Kritisch in dem hier zu verhandelnden Zusammenhang ist m. E., dass der Professionsbegriff bei Huntington auf das Offizierkorps beschränkt wird, obwohl die Grenzziehungen zwischen den Laufbahnen in keinem Merkmal (Aufstiegswege, Ausbildung, Aufgaben) so streng gezogen sind, wie wir es etwa im Krankenhaus zwischen Ärzten und anderem Personal haben. Besondere Folgen aber hat, wie wir später sehen, die Festschreibung der zentralen Aufgabe der Soldaten auf den bewaffneten Kampf. Gemessen an Hartmanns Professionsbestimmung lässt sich der Soldatenberuf – nach der Beschreibung Huntingtons – als Profession bestimmen. Schwieriger wird die Bestimmung des Militärs als Profession mit Freidson, denn das Militär ist neben der Kirche eine der wenigen sozialen Systeme, in denen Beruf und Organisation eine Einheit darstellen. Diese Einheit von militärischer Organisation und Soldatenberuf ist Ergebnis des Modernisierungsprozesses, der bis ins 19. Jahrhundert hineinreichte. Der Aufbau des stehenden Heeres, die Kasernierung und Ausrüstung der Soldaten, ihre feste Besoldung und die langfristige Beschäftigung waren Voraussetzungen für die Ausbildung und Disziplinierung der Soldaten. Der Staat sicherte sich das Gewaltmonopol, übertrug dieses Monopol auf die Streitkräfte und befriedete damit zugleich die Gesellschaft. Professionalisierung und Bürokratisierung waren damit aufs engste verbunden. Aus diesem Grund kann der Soldatenberuf auch als Semiprofession charakterisiert werden. Diese Bestimmung hat Larson (1974) aufgrund des Primats der Politik vorgenommen. Instrument dieses Primats ist aber die bürokratische Organisation, durch die der Staat sein Primat absichert und so die Autonomie der Berufsausübung einschränkt. 128
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Der Soldatenberuf im Kalten Krieg: (Ent-)Professionalisierung I
Im Zeichen des Kalten Krieges und der Einführung von Massenvernichtungswaffen ändert sich das Soldatenbild grundlegend. Im Zentrum steht nun die Aufgabe, sich auf einen Krieg bestmöglich und realistisch vorzubereiten. Das Ziel aber ist, diesen nie führen zu müssen. Während Janowitz (1965, 1971 [1960]) die damit einhergehenden Veränderungen als Professionalisierung bewertet, konstatiert z. B. Ellwein (1977) eine Deprofessionalisierung. Janowitz stellt ausgehend von Huntington den Status des Militärs als Profession bereits nicht mehr infrage. Auch er beschränkt den Professionsgedanken auf die Gruppe der Offiziere. Aber er löst sich von der engen Verknüpfung von Soldatenberuf und bewaffnetem Kampf. Auf Basis von Befragungen von Offizieren zu ihren Vorstellungen über die eigene Rolle, hält Janowitz fest, dass diese sich von dem Bild des „heroischen Kämpfers“, dessen Ziel der militärische Sieg sei, lösen und sich tendenziell eher mit dem Bild eines pragmatischen Managers, der den Waffeneinsatz zugunsten politischer Lösungen zurückstellt, identifizieren. Dementsprechend müsse das professionelle Ethos politisch geprägt sein. Da die Bedeutung spezialisierter Fachkenntnisse zunimmt, verändern sich auch die Autoritätsstrukturen: statt autoritärer Beherrschung muss mehr mit Überredung, Beeinflussung und Gruppenkonsens geführt werden. Die Annäherung an zivile Strukturen stellen so – folgt man Janowitz – kein Manko, sondern eine Notwendigkeit im Sinne von Professionalisierung und Effizienzsteigerung dar. Zentrale Aufgabe des Soldaten ist nicht der Kampf, sondern die Gewährleistung von Sicherheit. Während Janowitz also eine veränderte Professionalität diagnostiziert, steht für Ellwein (1977) im Mittelpunkt, dass mit der Ausdifferenzierung der Funktionen innerhalb der militärischen Organisation und den spezialisierten Aufgaben, Kompetenzanforderungen und Berufsorientierungen der Typus des Kämpfersoldaten und damit auch das Gemeinsame und Verbindende der Soldaten zurückgedrängt würde. Darauf aber müssten die Soldaten mit Absonderungsriten und -praktiken reagieren. Wenn aber nur der Kämpfersoldat die Professionalität garantiere, dann droht zum einen mit jeder Friedensphase eine Deprofessionalisierung, und zum anderen folgt daraus eine Hierarchisierung innerhalb der Streitkräfte; Kampftruppen erhalten so einen höheren Status als andere militärische Bereiche.
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Der Soldatenberuf seit den 90er Jahren: (Ent-)professionalisierung II
Nach dem Ende des Kalten Krieges verändert sich das Bild des Soldatenberufes noch einmal grundlegend. Statt der zunächst erwarteten Friedensdividende nehmen die asymmetrischen, Neuen oder Kleinen Kriege (Münkler 2002; Daase 1999; Kaldor 2000; van Crefeld 1998) zu. Die Streitkräfte bereiten sich nicht mehr auf möglichst nicht stattfindende Einsätze vor, sondern sind real im Einsatz. Dieser aber wird in der Regel als friedenssichernd, friedensschaffend und/oder deeskalierend charakterisiert. In diesen „Operations other then War“ (OOTW) bekommen die Streitkräfte neue Aufgaben, die von der Waffenstillstandskontrolle, der Sicherstellung von Wahlen, über logistische Unterstützungen und die Aufrechterhaltung von Ruhe und Ordnung in den Gebieten bis hin zur Sicherstellung der medizinischen Versorgung oder der Unterstützung beim Aufbau infrastruktureller Einrichtungen reichen (von Bredow 2004: 293). Die Streitkräfte müssen sich infolge dieser neuen Aufgaben mit zahlreichen Fragen und Problemen auseinandersetzen (vgl. Burk 2002; Geser 2005; Kuhlmann et al. 1996; Leonhard/Biehl 2005; Parmar et al. 1999): a.
Der Stellenwert der traditionellen Aufgaben
Ungeklärt ist der Stellenwert der Landesverteidigung. Die neuen Aufgaben sollen – so wird häufig betont – die Landesverteidigung nicht ersetzen, sondern ergänzen. Was aber Landesverteidigung heute bedeutet, welche Fähigkeiten und Ressourcen dazu erhalten oder ausgebaut werden müssen und wie dies parallel zu den Einsätzen möglich sein soll, bleibt weitgehend offen. Solche Formulierungen wie „wir sind von Freunden umzingelt“ oder „Die Sicherheit Deutschlands wird auch am Hindukusch verteidigt“ haben auch nicht zur Klärung dieser Fragen beigetragen. b.
Kooperation und Arbeitsteilung zwischen den Professionen
Die neuen Aufgaben erfordern von den Streitkräften ein hohes Maß an Kooperationsfähigkeit, einerseits zu anderen Streitkräften und andererseits zu lokalen, nationalen und internationalen staatlichen und nichtstaatlichen Akteuren. Die Kooperation ist in der Regel nicht hierarchisch strukturiert. Sie erfordert von den Soldaten vermehrt diplomatische, soziale und politische Kompetenzen. Kooperationsfähigkeit erfordert aber auch die Klärung, wer
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für welche Aufgaben und Funktionen zuständig ist, welche Strukturen verändert und welche neu geschaffen werden müssen (vgl. von Bredow 2005).1 c.
Effizienzkriterien professionellen Handelns
Ein besonderes Problem stellt dar, dass die Zielsetzungen der Einsätze und damit auch die Effizienzkriterien für den Erfolg der Einsätze unklar sind. Fragen, welche Kompetenzen in den Einsätzen erforderlich sind und wann ein Einsatz erfolgreich war und daher auch abgeschlossen werden kann, obliegen in hohem Maße politischer Beeinflussung. d.
Inhalte beruflicher Kompetenz und Sozialisation
Auseinandersetzungen gibt es auch um die Fähigkeiten, die alle Soldaten gemeinsam haben sollen. Welchen Stellenwert soll zum Beispiel die körperliche Leistungsfähigkeit oder auch die Kampfbereitschaft haben, welche Relevanz besitzen im Verhältnis dazu diplomatische, politische, kommunikative oder auch sozialpädagogische Fähigkeiten? Welche Rolle spielen Traditionen, Korpsgeist und eine spezifisch militärische Kameradschaft? Welche Bedeutung hat die militärische Grundausbildung und welche Inhalte soll sie vermitteln? Haltiner (2001) geht davon aus, dass diese veränderten Rahmenbedingungen für die Soldaten zu Stress führen können, die Soldaten demotivieren oder sie sogar handlungsunfähig machen können. Qua Sozialisation und militärischer Doktrin sind sie auf Gewaltanwendung orientiert, dies aber würde in den Einsätzen nicht abgefragt. Man könnte Haltiner so interpretieren, dass eine Deprofessionaliserung nicht nur ein theoretisches, sondern eben auch ein praktisches Problem darstellt. Moskos (2002) behauptet dagegen, dass gerade die neuen Aufgaben, dass Peacekeeping die Motivation der Soldaten und ihre Kampfbereitschaft sogar verbessere. US-amerikanische Soldaten sahen – so Moskos aufgrund eigener Interviews im Kosovo – in den Friedenseinsätzen, insbesondere in Patrouillen- und Kontrollposteneinsätzen eine gute Vorbereitung auf Kampfeinsätze. Sie waren aber auch der Ansicht, dass ein spezielleres Training im Umgang mit Zivilpersonen oder eine größere Vertrautheit mit lokalen Sitten und Gebräuchen nützlich wäre, d. h. die Professionalität wurde gestärkt. Die Veränderungen, die sich hinsichtlich der Strukturen professionellen Handelns im Militär vollziehen, sind nicht einzigartig, sondern lassen sich ähnlich in anderen professionellen Feldern wiederfinden. Dies hat eine Re-
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Beispiele dafür sind der Aufbau einer Europäischen Gendarmerie oder auch die Übertragung von Kompetenzen in der Aufklärung in den Einsatzgebieten von der Bundeswehr auf den Bundesnachrichtendienst.
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naissance der Professionsforschung aber zugleich auch eine neue Diskussion in der Professionssoziologie hervorgerufen. Lange Zeit war die Professionssoziologie dominiert vom neben- und gegeneinander funktionalistischer und konflikttheoretischer Positionen. Im Zentrum einer funktionalistischen Betrachtung von Professionen steht ihr spezifischer Beitrag für die Gesellschaft oder genauer: es werden „besondere gesellschaftliche Zentralwerte wie Glauben, Gerechtigkeit, Gesundheit und Erziehung abgedeckt“. (Kurtz 2005: 244) Die Autonomie des professionellen Handelns sichert die Funktionsfähigkeit eines Subsystems. Prestige, Einkommen und Privilegien dienen der Anerkennung der besonderen Leistung, der Kompetenz des Professionellen. Die konflikttheoretische Position dreht diese Perspektive um. Professionen verfolgen danach ein „professionelles Projekt“: Kompetenz und Spezialwissen dienen vorrangig der Monopolisierung von Märkten und der Statussicherung. Es dient der sozialen Schließung von Professionen, wenn diese ihren Nachwuchs selbst rekrutieren und das Curriculum notwendigen und anerkannten Wissens kontrollieren. Professionen unterliegen daher der Tendenz, nur diese Wissensinhalte und Fähigkeiten als notwendig anzuerkennen, die sie selbst kontrollieren können und Wissen aus anderen Kontexten z. B. von Laien als fragwürdig zu degradieren. Wenn die Einhaltung der spezifischen Verhaltensregeln ebenfalls nur durch die Angehörigen der Professionen erfolgt, so fördert dies die Tendenz, Verstöße der Kollegen systematisch unterzubewerten. Das ständische Element von Professionen äußert sich so einerseits in der Sicherung des sozialen Status und des Handlungsmonopols (vgl. auch Weber 1972) und andererseits in der Kontrolle des Wissensbestandes (vgl. Freidson 1979). Evetts (2003a, 2003b, 2002) kritisiert an den konflikttheoretischen Konzepten, dass sie den Eindruck vermitteln, „as if professions and professional assiociations do nothing else apart from protecting the market monopoly for their expertise“. (Evetts 2003a: 64, Evetts bezieht sich dabei auf Larson 1977) Funktionalistischen und konflikttheoretischen Theorien ist jedoch gemeinsam, dass sie den Professionsbegriff an sich, der letztlich nur einer spezifischen Gruppe von Berufen, insbesondere den Ärzten und Rechtsanwälten, vorbehalten ist (Wilensky 1972; Hartmann 1972), nicht infrage stellen. Kuhlmann (2004) kritisiert an diesem Professionsbegriff, –
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dass er die Arbeit anderer als die der Professionsangehörigen unsichtbar macht. In Krankenhäusern etwa wird die Arbeit von Krankenpflegern, Physiotherapeuten u. a. ausgeblendet. dass das professionelle Projekt von weißen männlichen Mittelschichtsangehörigen getragen wird. Sie sind über Bildung aufgestiegen und
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möchten jetzt den Zugang schließen. Andere soziale Gruppen bleiben aus dem Diskurs systematisch ausgeblendet. dass Professionen zudem ein paternalistisches männliches Projekt darstellen. Paternalistisch, weil es davon ausgeht, Ärzte und Rechtsanwälte wüssten besser als ihre Patienten und Klienten, wie deren Probleme zu lösen sind. Männlich, u. a. weil die klassische professionelle Tätigkeit auf dem Ausschluss von Reproduktionsarbeit beruht.
Diese Kritik an der Engführung des Professionsbegriffs ist vor allem davon getragen, dass sich die Bedingungen des professionellen Handelns ändern. Folgende Aspekte lassen sich dabei hervorheben: –
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Die Verknüpfung von Subsystem und Profession löst sich auf; in einem Feld arbeiten zunehmend verschiedene Professionen, die in keinem hierarchischen Verhältnis zueinander stehen. Professionelles Handeln unterliegt zunehmend der Fremdbeobachtung und -bewertung durch Klienten, Patienten, den Staat oder andere beteiligte oder betroffene Akteure, bzw. durch speziell geschaffene Kontrollorganisationen (Selbsthilfegruppen, Patientenorganisationen etc.). Daneben können sie auch häufiger einer marktlichen Deregulierung unterliegen. Die Wissensaneignung einzelner Professionen ist nicht mehr exklusiv: Internet, Fernsehen, Ratgeberliteratur öffnen den Zugang zu professionellem Wissen. Professionelle müssen sich zunehmend externes Wissen und Fähigkeiten aneignen; Lehrer benötigen sozialpädagogisches Können, Ärzte betriebswirtschaftliche oder auch soziale Kenntnisse, Anwälte greifen auf Wissen aus der Mediation zurück usw. Neben dem akademischen Wissen gewinnt Alltags- und Erfahrungswissen an Bedeutung.
Diese Veränderungen aus der Perspektive des klassischen Professionsbegriffs betrachtet, müssen als Entprofessionalisierung bewertet werden. Damit aber – so die Kritiker – wird die Perspektive auf nur wenige Berufsgruppen verengt. Wesentliche Wandlungsprozesse professionellen Handelns können nicht erfasst werden, so z. B. wenn Berufe breitere Kompetenzen oder höhere Qualifikationen erfordern, aber nicht zugleich an Status und Autonomie gewinnen. Unbemerkt bleiben Differenzierungen oder Statusverschiebungen innerhalb und zwischen Professionen. Der Begriff Deprofessionalisierung entspricht damit nur ungenügend den Anforderungen, die mit der Wissens- oder Expertengesellschaft an eine Professionstheorie gestellt werden. Gegenpositionen zu einem solchen Deprofessionalisierungskonzept nehmen zumeist ihren Ausgangspunkt bei Abbotts interaktionistischer Theorie. Abbott (1988) betrachtet Professionen nicht isoliert, sondern als „System of Professions“. Verschiedene Professionen konkurrieren um Zuständigkeit für 133
gesellschaftlich relevante Probleme. Wollen sie erfolgreich sein, müssen sie plausibel machen und – am Arbeitsplatz, in der Öffentlichkeit und im Rechtssystem – institutionell durchsetzen, dass sie mit ihrem Wissen und ihren Methoden das Problem am besten lösen können. Abbott lenkt damit die Aufmerksamkeit auf den Prozess der Professionalisierung, der vor allem durch inter- und innerprofessionelle Machtkämpfe aber auch durch Auseinandersetzungen mit bürokratischen Institutionen gekennzeichnet ist (vgl. RabeKleberg 2000: 214). Ein anderer Zugang lässt sich mit Bezug auf Foucault (Foucault 2000; Fournier 1999; Evetts 2003a; Kruse 2004) finden. Ausgangspunkt ist hier die inflationäre Nutzung des Begriffes Professionalisierung. Ob in betrieblichen, arbeitsmarktbezogenen oder beruflichen Kontexten: Umstrukturierungen werden von ihren Initiatoren gern als Professionalisierung bezeichnet. Dieser Begriff dient als Label für staatliche Regulierungs- wie Deregulierungsmaßnahmen, für Trainee- oder Weiterbildungsprogramme und hat Eingang in die Managementliteratur gefunden. Professionalisierung ist so zur Kampfvokabel geworden, damit sich betroffene Akteure (Beschäftigte, Vertreter von Berufsgruppen) den „Professionalisierungsprozessen“ nicht entgegenstellen, auch wenn manche der vermeintlichen Effizienzsteigerungen aus der Sicht der Betroffenen eher den Eindruck einer Bürokratisierung vermitteln. Andererseits reklamieren Berufsgruppen und ihre Vertreter den Begriff Professionalisierung aktiv für sich, um Ausbildungsstandards und Regeln der Berufsausübung durchzusetzen, Tätigkeitsfelder abzugrenzen oder Märkte für sich zu sichern. Der Begriff der Professionalisierung wird so zur Ideologie, im Foucaultschen Sinne zum Mittel der Gouvernementalität, als Herrschaftsinstrument zur Lenkung von Individuen und zugleich zum Mittel der Selbstbeherrschung der Individuen. Professionalisierung ist so Zwang von außen und zugleich Prozess durch den ein Subjekt sich selbst konstruiert (Foucault 2000; Lemke 2001).
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Resümee
Für die Analyse von Professionalisierungsprozessen des Soldatenberufes lassen sich daraus folgende Schlüsse ziehen: Die Streitkräfte stehen im Zuge der erweiterten Aufgaben vor dem Problem, den Soldatenberuf als Profession neu bestimmen zu müssen. Die damit verbundenen Diskurse und Probleme unterscheiden sich in ihren Grundstrukturen kaum von anderen professionellen Feldern. Der Soldatenberuf als Profession ist damit ein „Beruf wie jeder andere“ (vgl. Abbott 2002). Den sich vollziehenden Wandel des Soldatenberufes als „Deprofessionalisierung“ zu bezeichnen, nimmt mehr oder weniger explizit ein Verständnis des Soldatenberufes als „Kämpfer“ zum 134
Ausgangspunkt. Ausgeblendet werden die steigenden Ansprüche an die Expertise in den Einsätzen, die deutlichen Statusverschiebungen innerhalb der Profession u. a. m. Die Erlangung und Erhaltung von Zuständigkeit für bestimmte Problemfelder im Einsatz sollten deutlicher als bisher als politischer Prozess, in dem es auch um Ressourcen und Status geht, untersucht werden. Und nicht zuletzt bleiben diese Professionalisierungsprozesse nicht äußerlich, sie sind als Zuschreibung und Einschreibung für die Soldaten identitätsstiftend.
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Mythos Auftragstaktik Jörg Keller 1
Markenzeichen der Bundeswehr
Auf die Frage, ob es trotz aller Veränderungen im augenblicklichen Transformationsprozesses der Bundeswehr dennoch unverrückbare Grundsätze gebe, antwortete der Inspekteur des Heeres Generalleutnant Budde im März 2004: „Ja, selbstverständlich. Ich denke hier an das Rüstzeug, das uns die Gründerväter der Bundeswehr mit dem ‘Prinzip der Inneren Führung’ mitgegeben haben, an die ‘Auftragstaktik’ und an soldatische Grundwerte wie Tapferkeit, Loyalität und Kameradschaft. Damit verfügen wir über ein tragfähiges Fundament als Grundlage erfolgreicher Arbeit. Ziel ist ein neues Heer, hoch qualifiziert und mit einem umfassenden Fähigkeitsspektrum, das sich harmonisch in das Gesamtsystem unserer Streitkräfte einfügt.“ Dieses Statement ist die typische Kennzeichnung der Bundeswehr (Leistenschneider 2002: 1), ganz besonders jedoch im Kontext des Heeres: soldatische Tugenden, Innere Führung und Auftragstaktik, auch Führen mit Auftrag genannt, eine Kombination von Begriffen, die dem aufmerksamen Beobachter in vielfältiger Weise beim Umgang mit Medien der Bundeswehr ins Auge sticht. Es ist die ‘Trademark’ dieses speziellen Militärs der Bundesrepublik Deutschland. Ein spezifischer soldatischer Tugendkatalog gehört bei den meisten Armeen zur Beschreibung der Profession. Innere Führung und Auftragstaktik erscheinen dagegen in diesem Zusammenhang als typisch deutsche Erfindungen, die besonders bei offiziellen ‘Festreden und -schriften’ stark in den Vordergrund gehoben werden. Dennoch reißen gleichzeitig in der Geschichte der Bundeswehr die Ermahnungen, sich an diese Prinzipien insbesondere die Auftragstaktik zu halten, nicht ab. Schon Mitte der sechziger Jahre attestiert der damalige Bundestagsabgeordnete und spätere Verteidigungsminister Helmut Schmidt die Vernachlässigung der Prinzipien der Auftragstaktik und attestiert dem Offizierkorps einen „fatalen Hang zum immer stärkeren Verwaltungsdenken“ (zit. n. Leistenschneider 2002: 4). Hier tut sich ein Zwiespalt auf, welcher zur Nachfrage auffordert. Welche sachlogische Bedeutung hat Führen mit Auftrag, wie die Auftragstaktik auch genannt wird, für die Bundeswehr? Wie ist sie in einen Gesamtzusammenhang einzuordnen? Ist sie gelebte Realität oder nur ein Mythos der Organisation Bundeswehr? Diesen Fragen soll im Folgenden nachgegangen werden. Dabei wird ein dreistufiger Weg eingeschlagen: Zunächst erfolgte der Versuch, die Bedeutung eines Phänomens von der Qualität „Auftragstaktik“ für eine Organisation, hier die Bundeswehr, zu entschlüsseln, sie als Koordi141
nierungsverfahren zu begreifen; im Anschluss daran werden drei Systemzustände der Organisation Bundeswehr: Krieg, Einsatz und Friedensdienst beschrieben und untersucht, konkret welche spezifischen Koordinierungsleistungen in diesen Zuständen zu erbringen sind. Es sei gleich hier zu Beginn darauf hingewiesen, dass dies nur idealtypisch erfolgen kann, denn die Komplexität der Bundeswehr als Organisation und die ihres Umfeldes zwingen zur Reduzierung auf modellhafte Vorstellungen. Den dritten und letzten Schritt bildet die Nachfrage, ob denn Auftragstaktik tatsächlich die passende Koordinierung darstellt und ob sie denn tatsächlich angewandt wird oder ob sie vielmehr in den Bereich der organisationalen Mythen (May 1997: 76–80) einzuordnen ist.
2
Auftragstaktik und Organisation
2.1
Militär und Organisation
Zum Thema Militär, zu seiner Strukturierung, Geschichte und seinen Führungsverfahren existiert eine unübersehbare Fülle von Publikationen; einige wissenschaftliche, aber auch einige mehr normative, eher nicht den Wissenschaften zuzuordnende Schriften. Um die nachfolgende Untersuchung auf „festen Boden“ zu gründen, soll hier von einem in der Wissenschaft spätestens seit Max Weber fest verankerten theoretischen Konstrukt ausgegangen werden, der Organisation. Warum gerade dieser Blickwinkel auf das Problem? Büschges und Abraham schreiben in Ihrer Einführung in die Organisationssoziologie „Charakteristisches Merkmal und gestaltendes Element moderner Industrie- und Dienstleistungsgesellschaften sind Organisationen (...)“. (Büschges/Abraham 1997: 17) Sprechen wir über die Bundeswehr, sprechen wir automatisch über eine Organisation (König 1969). Sprechen wir über deren Bestandteile, über die Teilstreitkräfte, die Verbände und Einheiten, in die sie zergliedert werden kann, dann sprechen wir ebenfalls über Organisationen. Organisation scheint somit der ideale Blickwinkel zur Untersuchung des Phänomens „Bundeswehr“ zu sein. „Unter Organisation soll hier die Gesamtheit der auf die Erreichung von Zwecken und Zielen gerichteten Maßnahmen verstanden werden, durch die ein soziales System strukturiert wird und die Aktivitäten der zum System gehörenden Menschen, der Einsatz von Mitteln und die Verarbeitung von Informationen geordnet werden.“ (Hill/Fehlbaum/Ulrich 1974: 17) Diese instrumentelle Definition weist auf den operativen und zielgerichteten Charakter des Organisierens hin, der gerade Organisation von spontan gewachsenen (Hill/Fehlbaum/Ulrich 1974: 25) sozialen Systemen, wie Peergroups, Familienverbänden oder aus Sympathie entstehenden Koalitionen 142
unterscheidet. Das Produkt des Organisierens – aus einem allgemeinen systemtheoretischen Blickwinkel – ist die Organisation als Institution: „Organisationen werden systemtheoretisch als offene Systeme beschrieben, die entsprechend der jeweiligen Umweltstruktur Subsysteme bilden, die u. a. Inputs aus der Umwelt beziehen, die sie in Outputs transformieren, die ihrerseits funktional für andere Subsysteme oder Umweltsysteme sind und damit zu deren Zielerreichung beitragen.“ (Staehle 1994: 390) Die Bundeswehr lässt sich so als ein System begreifen, das innerhalb einer Umgebung, dies kann je nach Definition der Staat oder die Gesellschaft sein, existiert, von dieser Umwelt Inputs erhält und für diese über Transformationen einen Output herstellt. Andererseits lassen sich in diesem Bild die Bestandteile der Bundeswehr als immer tiefer gegliederte Subsysteme begreifen, die wiederum mit ihrem übergeordneten System, dem Supersystem, als jeweiliger Umwelt in einer Input-Output-Beziehung stehen. Abbildung 1: Umwelt
Input
Transformation
Output
Dieses stark reduzierende Bild eines offenen Systems wird bezeichnenderweise als triviale Maschine beschrieben (Wimmer 1989: 131–156), denn es vereinfacht die empirisch erfahrbare Welt doch in dramatischer Weise. Heinz von Foerster (1985: 12) dagegen erfasst lebende, psychische und soziale Systeme als nichttriviale Maschinen, die gerade nicht einem schlichten ReizReaktionsmuster gehorchen, die vielmehr als System durch den Input nicht eindeutig determiniert werden und somit auf der Basis seines eigenen Interpretationsmusters den Input verarbeiten und einen Output herstellen. Jeder, der Menschen geführt oder mit ihnen kommuniziert hat, wird diese Erscheinung, die teilweise Unvorhersehbarkeit des Handelns des anderen, aus eigener Anschauung bestätigen können. Niklas Luhmann stellt das eben aufgezeigte Phänomen der operationalen Geschlossenheit von Systemen ausführlich in seinen Arbeiten (Luhmann 1987, 1971: 76ff.) dar. Im Lichte dieses Verständnisses wird ein – durchaus auch komplexes – System durch seine 143
komplexe Umwelt angeregt, es interpretiert den Input nach seinen Erfahrungen und produziert einen Output, der dem „Verständnis“ des Systems der Umwelt gerecht wird. Während die triviale Maschine nur ein vorgegebenes Programm abarbeitet, ist die nichttriviale Maschine so prinzipiell in der Lage, die Komplexität der Umweltbedingungen zu verarbeiten, einen „sinn“-vollen Output zu liefern und sich somit der Komplexität der Umwelt stärker und damit gegebenenfalls besser anpassen zu können. Luhmann unterscheidet die beiden hier sehr grob dargestellten Verständnisse mit Konditionalprogrammen und Zweckprogrammen (Luhmann 1971: 76ff.). 2.2
Auftragstaktik und Organisation
Wie ist nun Auftragstaktik oder „Führen mit Auftrag“, wie sie in der Heeresdienstvorschrift (HDv) 100/900 (Führungsbegriffe), einer Definitionssammlung zum Thema Führung im Heer, auch genannt wird, in die Modellvorstellung der Organisation einzuordnen? Die HDv 100/900 beschreibt Führen mit Auftrag als „Führungsprinzip im Heer, das dem nachgeordneten Führer unter Zielvorgabe und Bereitstellung der für die Erfüllung des Auftrags erforderlichen Kräfte und Mittel Handlungsfreiheit bei der Ausführung seines Auftrags gewährt.“ (HDv 100/900) Um die obige Definition der Organisation von Hill et al. wieder aufzugreifen, kann man sagen, Führen mit Auftrag sei eine bestimmte Qualität der Maßnahmen, mit welchen „die Aktivitäten der zum System gehörenden Menschen, der Einsatz von Mitteln und die Verarbeitung von Informationen geordnet werden“, um ein Ziel zu erreichen. Auftragstaktik beschreibt also die Qualität der Koordination, mit welcher ein System ein Subsystem einbindet. Hierbei wird der Output, die „Zielvorgabe“, definiert, werden der Input in der Form der „für die Erfüllung des Auftrags erforderlichen Kräfte und Mittel“ bereitgestellt und ansonsten wird das Subsystem als „Black Box“ behandelt, in welcher für die Transformation „Handlungsfreiheit“ belassen wird. Damit entspricht die Grundidee der Auftragstaktik der oben kurz beleuchteten Zweckprogrammierung nach Luhmann, welche einen Zusammenhang über „Sinn“ herstellt, während die Befehlstaktik, oder Normaltaktik, wie sie im 19. Jahrhundert in Abgrenzung zur Auftragstaktik hieß, ein Modell der Konditionalprogrammierung darstellt. Leistenschneider entwickelt in seiner Arbeit „Auftragstaktik im preußisch-deutschen Heer 1871 bis 1914“ in einer sehr anschaulichen und plausiblen Weise, wie sich Führen mit Auftrag als sachlogisch notwendige Form der Führung als Antwort auf komplexer werdende Umwelten im Kriegs- und Gefechtsgeschehen entwickelt. „Im Gegensatz zu den ‘Normaltaktikern’ rechneten die ‘Auftragstaktiker’ mit der Selbständigkeit der einzelnen Truppenteile, die sich mit der modernen Bewaffnung zwangsläufig ergab, und 144
versuchten nicht, diese Selbständigkeit durch allerlei mechanische ‘Zwangsmittel’ künstlich einzuschränken. Durch die ‘Freiheit der Form’ wie auch durch die Führung des Gefechts nach Kommandoeinheiten, bei der jedem Truppenteil eine eigene, klar abgegrenzte Aufgabe, ein Auftrag zugewiesen wurde, sollten die Freiräume der unteren Führung für selbständiges Denken und Handeln erhalten, zugleich aber auch der Rahmen der Selbständigkeit vorgegeben werden.“ (Leistenschneider 2002: 145) Es ist wichtig, an dieser Stelle zu verdeutlichen, dass Auftragstaktik zunächst keinen primären Ursprung in einem bestimmten freiheitlichen Menschenbild hat, sie ist vielmehr ein Organisationsprinzip, mit welchem die militärische Organisation speziell in Deutschland auf zunehmende Komplexität der Umwellt systematisch durch „Nichttrivialisierung“ ihrer Elemente reagiert. In diesem Sinne beschreibt Leistenschneider in seiner Zusammenfassung „Die Auftragstaktik (...) [als] eine militärische Führungskonzeption, also ein umfassendes Leitprogramm für Führung, Ausbildung und Erziehung in einer Armee.“ (Leistenschneider 2002: 141)
3
Friede, Einsatz, Krieg
3.1
Drei Systemumwelten
Nachdem bis hierher die Rolle der Auftragstaktik prinzipiell im Modell einer Organisation, eines Systems geklärt wurde, soll nun der Blick nach außen auf die Systemumwelt gelenkt werden. Wie wir bereits festgestellt hatten, wird die Organisation durch den Input bzw. durch die Umwelt zur Aktion angeregt. Diese Umwelt ist nicht nur die Führung, sie ist darüber hinaus die augenblickliche Gesamtsituation, in welcher sich die Organisation befindet. Es ist augenscheinlich, dass die ‘Anregungen’, welche die Systemumwelten liefern, die mit „Feldlager in Kunduz“, „Luftwaffenausbildungsregiment in Strausberg“, „Marineunteroffizierschule in Plön“ und „Kampfeinsatz im Rahmen von Enduring Freedom“ beschrieben werden können, sich drastisch unterscheiden. Dennoch lassen sich die möglichen Umwelten auf drei Grundtypen reduzieren. Es sind dies: – – –
die „Friedensgesellschaft“ im heimatlichen Staat, der Einsatz, wie er derzeit in Bosnien, im Kosovo etc. stattfindet und der Krieg.
Jede dieser drei Systemumwelten bedeutet einen anderen Systemzustand. An sich sind diese möglichen wechselnden Umwelten noch keine spezifische Differenz des Militärs von anderen, denn Organisationen, wie Rotes Kreuz, THW und Katastrophenschutz kennen ähnliches. Doch für Militär kann hier 145
sozusagen eine Extremposition auf dem Kontinuum angenommen werden. Doch was bedeuten diese drei Umwelten für das Militär, hier die Bundeswehr? Ist für die eine oder die andere „Führen mit Auftrag“ eher ungeeignet, wie es manchmal am Beispiel der sog. Rules of engagement (ROE) für den Einsatz behauptet wird? Um dies zu klären, sollen im Folgenden mit Hilfe der Idee Systemzweck die drei Zustände genauer untersucht und unterschieden werden, um dann nach der Angemessenheit des Steuerungsinstruments zu fragen. 3.2
Systemzweck
In den beiden obigen Definitionen von Organisation treten die Begriffe Zwecke und Ziele auf. Das System hat einen Beitrag zur Zielerreichung des Supersystems zu leisten und gleichzeitig ist dies der existenzielle Zweck des Systems selbst. Begreift man das Militär als eine Input-TransformationsOutput-Kette, so stellt der Output den Zweck des Systems und gleichzeitig den nachgefragten Beitrag an das Supersystem dar, der reflexiv sinnstiftend für das System selbst wirkt. Der Output des Militärs ist extreme physische Gewalt, zumindest die Fähigkeit zu ihrer Produktion, für das Supersystem Staat. Militär reiht sich damit einerseits in die Phalanx staatlicher Gewalt (Produktion von Macht) ein, andererseits gliedert es sich durch die Form derselben Gewalt auch wieder aus. Dies lässt sich am Beispiel der Polizeigewalt, wie es Lutz Unterseher ausführlich getan hat, gut beleuchten. „Das Ideal der Polizei ist (...) ‘Friedlichkeit’ im Sinne der Vermeidung bzw. nichteskalatorischer Behandlung der Störung der öffentlichen Ordnung.“ (Unterseher 1999: 330). Sie stellt für Unterseher den Gegenpol zum Militär im Kontinuum der „zwangsanwendenden Organisationen“ (Unterseher 1999: 329) dar, in „dessen Sphäre, der des Krieges, (...) der Gesichtspunkt der Verhältnismäßigkeit schon immer als umstritten und äußerst problematisch“ (Unterseher 1999: 330) galt. Dass über den Einsatz von Streitkräften in Peacekeeping und Peaceenforcement heute durchaus differenziert und im Sinne von Verhältnismäßigkeit nachgedacht wird und wie Verwendung von Militär als „Verhältnis“ zu einer der drei oben beschriebenen Systemumwelten stimmig ist, ändert nichts an dieser grundsätzlichen Eigenschaft von Militär für den Kriegseinsatz. Mit diesem Punkt haben wir die zentrale differentia specifica erarbeitet, die das Militär von anderen Organisationen abhebt, die zugleich sinnstiftend und grenzziehend für das System Militär wirkt. Betrachtet man Militär unter dem Blickwinkel eines anderen Supersystems, dem der Gesellschaft und ihrer Kultur, so ist Krieg zumindest offiziell negativ belegt oder gar tabuisiert (Stephan 1998: 57). Ein Versuch dieses zu rationalisieren war das Konstrukt des Staatsbürgers in Uniform innerhalb der Konzeption der Inneren Führung. 146
Verteidigung, also Notwehr, war ureigene Aufgabe des Bürgers, die heutigen Einsätze sind jedoch als Nothilfe deklariert, was z. T. anzuzweifeln ist, was eine ganz andere moralische Rechtfertigung und vor allen Dingen Verpflichtung für den Bürger bedeutet. Das eigentliche Produkt der Organisation wird also vom Souverän, dem Volk, kulturell bedingt zumindest zwiespältig betrachtet. 3.3
Systemzweck und Umwelt
Beginnen wir die weitere Untersuchung mit der wohl anerkanntermaßen extremsten Umwelt für das System Militär, dem heißen Krieg. „Das Gefecht ist die eigentliche kriegerische Tätigkeit, alles übrige sind nur Träger derselben. (...) Gefecht ist Kampf, und in diesem ist die Vernichtung oder Überwindung des Gegners der Zweck; der Gegner im einzelnen Gefecht aber ist die Streitkraft, welche uns entgegensteht.“ (Clausewitz 1990: 204) Für Transformationen in dieser Systemumwelt, die Clausewitz hier beschreibt, war das Führen mit Auftrag entwickelt worden und hat sich als Verfahren der Koordination bewährt, wie Leistenschneider in seiner Arbeit zur Auftragstaktik im Schlusskapitel nochmals verdeutlicht (Leistenschneider 2002: 140–149). Das Gefecht als eigentliche kriegerische Tätigkeit bedeutet, die Handlungsfähigkeit in einem chaotischen Umfeld zu behalten und Kräfte und Feuer nach Zeit und Raum so zu ordnen, dass das Übergewicht über den Gegner gewonnen und behalten wird. Da die hier für Führung zu berücksichtigenden Variablen nicht mehr in einer Führungsinstanz (Supersystem) relationierbar sind, die Komplexität ist zu hoch, muss die Koordination auf nachgeordnete Subsysteme verlagert werden. Die dabei Kohäsion des Handelns stiftende Instanz ist der Sinn, die Absicht der übergeordneten Führung (des Supersystems). Ein anderer Weg mit der extremen Komplexität des Schlachtfeldes umzugehen, ist die Unterdrückung der Komplexität, die Reduktion auf einen Plan, der rücksichtslos mit einem extrem hohen Ressourcenansatz verfolgt wird. Diese Variante wurde bis zum Zusammenbruch durch den Warschauer Pakt verfolgt und ist in den dortigen Führungsvorschriften nachzulesen. Für das Gefecht besteht also die Wahl zwischen Annahme und Bearbeitung der Komplexität durch Zweckprogrammierung oder der rigorosen Komplexitätsreduktion durch Konditionalprogrammierung unter gleichzeitiger Bereitstellung sehr großer Ressourcen. Da westliche Industrie- und Dienstleistungsgesellschaften nur im parlamentarischen Wettstreit für hinreichend gehaltene Militärressourcen bereitstellen, fällt die Version zwei der Steuerung generell aus. Die Variante des Führens mit Aufträgen dagegen kann als weitentwickelte Form des ersten Typus angesehen werden. Doch zurück zur Grundstruktur des Gefechts, der kämpferischen Auseinandersetzung. Hier sei noch auf ein 147
häufig übersehenes Detail hingewiesen: Nicht das gesamte Militär der am Krieg beteiligten Streitkräfte befindet sich im Gefecht, in der heißen und chaotischen Zone. Alle Ämter, Ausbildungs- und rückwärtigen Logistikeinrichtungen etc. verbleiben in einem ähnlichen Umfeld, wie es der Friedensdienst darstellt. Nach der kurzen Beleuchtung der Systemumwelt Krieg soll nun zunächst das Umfeld Friedensbetrieb, unter Ausschluss des Einsatzes, der ja keinen Krieg darstellt, betrachtet werden. Diese Phase militärischen Handelns kann immer als Vorbereitungsphase auf Krieg betrachtet werden. Die Organisation ist sozusagen im Leerlauf, was die Produktion von Gewalt betrifft. Sie bereitet sich vielmehr durch Ausbildung, Übung, Neustrukturierung und Umorganisation auf mögliche Anwendungen von Gewalt vor. Alles was hier getan wird, lässt sich auf Transformationen vom Typus Ausbildung und Verwaltung zurückführen. Setzt man die gerade getroffene Unterscheidung auf die Bundeswehr um, so wird deutlich, warum es zu den seit Jahrzehnten (BMVg 1981; Hartmann/Strittmatter 1993) beklagten Bürokratisierungserscheinungen kommt: alle Ämter, höheren Kommandos und vor allem das BMVg mit den Führungsstäben setzen Regeln, d. h. sie treffen Regelungen, die auf Dauer gestellt sind und nicht für den Einzelfall gelten. Je „besser“ diese Teile der Armee ihre „Arbeit“ verrichten, desto mehr Regelungen erlassen sie, desto stärker entsteht das, was andere Teile der Streitkräfte als „Bürokratisierung“ empfinden und was in regelmäßigen Abständen angeprangert wird. Das Zitat von Helmut Schmidt in der Einleitung dieser Arbeit schlägt genau in diese Kerbe. Auch das sog. „Eckpfeilerpapier“ des Bundesministers der Verteidigung „Die Bundeswehr sicher ins 21. Jahrhundert. Eckpfeiler für eine Erneuerung von Grund auf“ aus dem Jahr 2000 beschreibt diesen Zusammenhang mit den Worten „Die Führungsorganisation der Bundeswehr wird gestrafft und an den Grundsätzen der Zusammenfassung truppendienstlicher und fachlicher Führung, der Trennung von Amts- und operativen Aufgaben und einheitlicher Führungsverantwortung ausgerichtet.“ Bürokratisierung ist demnach eine Form der „Überorganisation“, ein Versuch, die Komplexität der Organisation und ihrer Umwelt nicht durch Sinn (Zweckprogrammierung) zu bearbeiten, sondern ihrer durch Regelungen (Konditionalprogrammierung) Herr zu werden. Da aber diese Konditionalprogramme in ihrer Wirkung und Verbindlichkeit nicht im BMVg oder den Ämtern verbleiben, sondern sich vielmehr auf die gesamte Organisation erstrecken, ziehen sich diese auch als Koordinierungsmechanismus, und damit als strukturierendes Phänomen, in die Bereiche, die eigentlich durch
148
Zweckprogrammierung der Komplexität von Gefechtssituationen gewachsen sein sollen, durch die sog. „Truppe“1. Seit Mitte der neunziger Jahre gibt es für die Bundeswehr eine neue Systemumwelt, die sich von den beiden anderen unterscheidet, den Einsatz. Einsatz bedeutet dabei Nutzung des Gewaltpotenzials durch den Staat in einem Krisen- oder ehemaligen Kriegsgebiet zur Durchsetzung oder Einhaltung von Ordnung. Die Bundeswehr „wirkt [dabei] durch Stabilisierung und Abschreckung gegen die Verschärfung von Krisen und Konflikten und ermöglicht die Konsolidierung von Friedensprozessen“. (BMVg 2003) Wie oben bereits an den Überlegungen Untersehers zu Militär und Polizei aufgezeigt wurde, ist hier „‘Friedlichkeit’ im Sinne der Vermeidung bzw. nichteskalatorischer Behandlung der Störung der öffentlichen Ordnung“ (Unterseher 1990: 330) als Handlung des Systems gefragt. Analytisch sollte hier sehr genau unterschieden werden, was sich hinter den Worten „Peaceenforcement“ oder „Friedenserzwingung“ verbirgt. Es sind dies zwei Systemumwelten, die zwei unterschiedliche Handlungsformen des Systems „Einsatzkräfte“ erfordern: –
–
Erstens eine Situation welche die Erzwingung der Einstellung von Gewalthandlungen durch aktives „Niederringen“ der Konfliktgegner erfordert, dies entspricht der Systemumwelt Krieg/Gefecht. Zweitens eine Situation, welche die Erzwingung von Einstellung von Gewalthandlungen und Erhaltung eines gewaltfreien Zustandes zwischen den Konfliktparteien durch Präsenz von Militär, der Androhung und der nicht eskalatorischen Ausübung von Zwangsmitteln (Gewalt) erfordert, dies entspricht nicht der Systemumwelt Krieg/Gefecht. Dies entspricht einer zwar nicht friedlichen, aber aus systematischer Sicht beurteilt, Friedensumwelt für das System Einsatzkräfte.
Was bedeutet nun Einsatz für Auftragstaktik als Koordinationsverfahren des Systems? Für die erste Umwelt, welche der Gefechtssituation entspricht, war Auftragstaktik als angemessenes Mittel entwickelt worden. Die zweite Situation ist eher eine polizeispezifische, nicht ursprünglich mit dem Systemzweck des Militärs verbundene. Ohne hier in eine tiefergehende Untersuchung einzutreten, kann behauptet werden, dass diese Form des Einsatzes hochkomplex ist. Während die Anzahl der beteiligten Akteure sich im Gefecht prinzipiell auf Freund und Feind (und Unbeteiligte) beschränkt, sind bei Einsätzen die unterschiedlichsten Akteure mit den unterschiedlichsten Zielsetzungen zu berücksichtigen und zu „balancieren“. Dies kann am Beispiel des Kosovo und der dort Handelnden sicher gut nachvollzogen werden. Andererseits 1
Unter Truppe sollen hier die taktischen und operativen Verbände und Einheiten mit ihren Stäben verstanden werden, die für das Geschehen ‘Gefecht’ im oben erläuterten Sinn von Clausewitz vorgesehen sind.
149
werden die Soldaten durch die dort angewandten Einsatzformen der Patrouillen, der Checkpoints, der CIMIC-Trupps2 etc. zusätzlich vereinzelt und damit der Koordinationsbedarf weiter erhöht. Militärischer Einsatz nähert sich hier sehr stark dem gewöhnlichen Bild des Einsatzes der Schutzpolizei, die zur Aufrechterhaltung der Ordnung Streife geht und Kontrollen durchführt. Dies ist nur unter Gewährung eines hohen Maßes an Entscheidungsfreiheit der einzelnen Polizisten effektiv möglich, wie Unterseher (1990) es beschreibt. Anzahl der Akteure und Einsatzformen, die den Einzelnen stärker auf sich alleine stellen, deuten also auf eine hohe Komplexität der Koordinationsaufgabe in der Situation Einsatz hin und damit auf eine Systemumwelt, die Führen mit Auftrag erfordert. Andererseits werden gerade für den Einsatz immer wieder zwei große Hemmnisse für die Auftragstaktik beschrieben. Dies sind einerseits die sog. Rules of engagement, die Handlungen, hier insbesondere den Waffengebrauch im Einsatz festlegen. Darüber hinaus wird häufig die multinationale Zusammenarbeit, also die Zusammenarbeit mit Nationen, die nicht mit Aufträgen führen, hier angeführt (siehe hierzu u. a. Millotat 2001: 309). Prinzipiell ist es richtig, dass ROE die Handlungsmöglichkeiten einschränken, dennoch ist dies kein Widerspruch zum Prinzip Auftragstaktik, denn auch hier muss der Führende, um seiner Koordinierungsfunktion gerecht zu werden, Auflagen machen. Deutlich wird dies in den Schritten die dem militärischen Führer – hier am Beispiel des Heeres – vorgegeben werden, um einen Auftrag auszuwerten. Nach der Nummer 631 der HDv 100/200 (Führungsunterstützung im Heer) hat der Führer in der ersten Phase der Entscheidungsfindung herauszustellen, – – –
welche Absicht die übergeordnete Führung verfolgt, was als wesentliche Leistung verlangt wird, an welche Auflagen das eigene Handeln gebunden ist. (HDv 100/200: Nr. 631)
In die Diktion des einfachen Systemmodells gebracht, stellt die Absicht der übergeordneten Führung den Zweck dar, stiftet Sinn. Die wesentliche Leistung ist die Beschreibung des zu erbringenden Outputs, die Auflagen dienen zur Koordinierung des durch den Auftrag betroffenen Systems mit seinem übergeordneten und seinen benachbarten Systemen. Aus dieser kurzen Ausführung wird deutlich, dass ROE und Auftragstaktik prinzipiell vereinbar sind. Anders ist dies im Falle der multinationalen Einbindung und der Einbindung in ein System der Befehlstaktik, der Konditionalprogrammierung. Hier werden Auflagen gemacht, die nicht nur die Schnittstellen des Systems betreffen, hier werden die systeminternen Transformationen unmittelbar bestimmt. 2
150
CIVIL MILITARY COOPERATION, CIMIC.
3.4
Zwischenbilanz
In der bis hier durchgeführten Untersuchung kann festgestellt werden, dass Auftragstaktik als ein Verfahren der Koordination in einer Organisation verstanden werden kann. Weiter kann angenommen werden, dass dieses Verfahren für die drei grundsätzlichen Umwelten Friedensdienst, Einsatz und Krieg geeignet ist, da es ein hohes Maß an Kapazitäten bereitstellt, um mit Komplexität umzugehen. Auch die beiden herausgearbeiteten Systemzwecke, Gewaltproduktion für das Gefecht und Polizeigewalt, sind damit kompatibel. Dennoch haben sich zwei Problembereiche gezeigt, zunächst das Überborden der Regelungen durch den Bürokratiecharakter, den Teile der Organisation Militär haben, und zum anderen durch die Vermischung von Befehls- und Auftragstaktik in der multinationalen Integration. Das erste Problem ist prinzipiell lösbar, bedarf es doch ‘nur’ der Disziplin, dauerhafte Regelungen nur dort zu erlassen, wo dies zur Koordination notwendig ist. Diese sehr schlichte Feststellung ist in der Theorie sehr plausibel, trifft jedoch in der Praxis in einem verrechtlichten Staat auf große Schwierigkeiten. Das zweite Problem ist hingegen strukturell unlösbar, weil die beiden Steuerungsmechanismen konträr wirken. Befehlstaktik, Konditionalprogrammierung greift in das System ein und bestimmt die darin zu vollziehenden Transformationen durch den Input; Führen mit Auftrag vermeidet die Kontrolle der Transformationen durch Koordination an den Grenzen des Systems (Auflagen) und steuert über Sinn. Damit sind die ersten beiden Leitfragen, die zu Beginn der Arbeit aufgeworfen worden waren: – –
Welche sachlogische Bedeutung hat Führen mit Auftrag, wie die Auftragstaktik auch genannt wird, für die Bundeswehr? Wie ist Auftragstaktik in einen Gesamtzusammenhang einzuordnen?
an Hand eines einfachen Modell von Organisation und System abgearbeitet. Bleibt die Frage, ob dieses theoretisch der Situation angemessene Modell denn Organisationswirklichkeit ist.
4
Mythos oder Realität
4.1
Wird mit Auftrag geführt?
Dass Auftragstaktik in der Realität der Organisation Bundeswehr problematisch ist, deutete sich bereits in den oben gemachten Ausführungen zur Bürokratisierung an, die hier nicht weiter vertieft werden sollen. Ein weiteres Indiz sind Befragungen zum Führungsverhalten in den Streitkräften auch im Einsatz, die leider nicht veröffentlicht sind. Im Zuge von Untersuchungen des 151
Kommandeurs der Führungsakademie der Bundeswehr (FüAkBw) im Jahr 2003 zur Neustrukturierung der Akademie und der Lehre wurden 177 Offiziere des Dienstgrades Hauptmann/Kapitänleutnant durch die Abteilung Controlling der FüAkBw zu unterschiedlichen Dimensionen befragt, unter anderem zum eigenen Führungsverhalten. Dabei wurden 7 unterschiedliche Varianten von Führung angeboten, welche aus dem Handbuch Management von Staehle (Staehle 1998) stammten und deren Formulierungen nicht sofort Anklänge an Auftrags- und Befehlstaktik hatten. Die Typen reichten von autoritär bis zu stark partizipativ. Die ersten vier Typen lassen außer Kommentaren keine Teilhabe der Untergebenen zu und entsprechen eher dem Typus der Befehlstaktik. Der fünfte Typus umschreibt ziemlich genau das Verfahren der Stabsarbeit der Bundeswehr, bei welchem der Vorgesetzte das Problem vorgibt, der Stab Lösungsvorschläge erarbeitet und priorisiert und der Vorgesetzte aber entscheidet. Mit dem sechsten Typus wird ein Bild beschrieben, in welchem der Vorgesetzte einen Verantwortungsraum für den nachgeordneten Bereich konstruiert, in welchem die Untergeben dann Handlungsfreiheit haben. Die Formulierung des Items „Ich zeige das Problem auf und lege den Entscheidungsraum fest, die Gruppe erarbeitet Lösungen und entscheidet“ entspricht demnach dem Kern dessen, was Führen mit Aufträgen ausmacht.
152
153
26 36 69 22 18 1
Ich entscheide, gestatte jedoch Fragen, um durch Antworten Akzeptierung zu erreichen.
Ich informiere über meine beabsichtigte Entscheidung, die Untergebenen können sich vor Entscheidung äußern.
Die Gruppe entwickelt Lösungsvorschläge und priorisiert diese. Ich entscheide mich für die von mir favorisierte Lösung.
Ich zeige das Problem auf und lege den Entscheidungsraum fest, die Gruppe erarbeitet Lösungen und entscheidet.
Die Gruppe entscheidet, ich fungiere als Koordinator nach innen und nach außen.
2
Häufigkeit
Ich entscheide, bin aber bestrebt meine Untergebenen zu überzeugen.
Ich entscheide und ordne an.
Abbildung 2: Führungsverhalten
0,57
10,34
12,64
39,66
20,69
14,94
1,15
Prozent
100
99,43
89,09
76,44
36,78
16,09
1,15
Kumulierte Prozente
Drei Viertel der befragten Offiziere bleiben in der Selbstbeschreibung ihres Führungsverhaltens noch hinter dem Beteiligungsverfahren der Stabsarbeit zurück und nur 10 Prozent definieren für sich ein Verfahren, das eher der Auftragstaktik entspricht. Es kann nun der Einwand kommen, wenn hier bei den Items die bundeswehrtypischen Formulierungen gebraucht worden wären, hätten sich viel mehr Soldaten für die Auftragstaktik entschieden. Dem ist wohl so, diese Items beschreiben allerdings das tatsächliche Verhalten und rufen keine Reaktion auf ein wertgeladenes Schlagwort hervor. Wer Auftragstaktik verstanden hat und anwendet, kann unmöglich die Verhaltensweisen der ersten Items für sich in Anspruch nehmen. Dass diese 177 Offiziere keine Ausnahme sind, sondern eher auf eine Regel verweisen, darauf deuten die nicht veröffentlichten Befunde aus den Befragungen in den Auslandseinsätzen hin. 4.2
Auftragstaktik als Mythos
Bürokratie und tatsächliches Führungsverhalten sind Anzeichen für eine Diskrepanz zwischen Eigenwahrnehmung und Realität der Armee, ein Mythos hat allerdings noch eine andere Dimension. Nach Trice und Beyer (1984: 655) ist ein Mythos: „A dramatic narrative of imagined events, usually used to explain origins or transformations of something. Also an unquestioned belief about the practical benefits of certain techniques and behaviours that is not supported by demonstrated facts.“ Cohen (1969: 349) geht darüber hinaus und kennzeichnet Mythen in seinem Aufsatz Theories of Myth: „In my view, the fact that myths are narratives is of primary importance. A narrative is an ordering of specific events. This activity requires the establishment or creation of a moment of origin, or a moment of transformation (…) Thus, I would argue, one of the important functions of myth is that it anchors the present in the past.“ Oben wurde Auftragstaktik im Zusammenhang mit den Ideen von Organisation und System als sachlogisches Koordinationsverfahren dargestellt und auf eine rationale Ebene gehoben, wie soll sie dann die Qualität eines Mythos haben? Zunächst ist, wie oben aufgezeigt wurde, Führen mit Auftrag nicht unbedingt „supported by demonstrated facts“ und dann ist Führen mit Auftrag auch, wie in der Einleitung beschrieben, ein Teil der „narratives“ der Bundeswehr, eine Erzählung, welche bei allen Events, die auch der Selbstverständigung dienen, auf die Bühne1 gehoben wird. Wenn Auftragstaktik über die symbolische Instanz hinaus in der Bundeswehr verankert wäre, müsste zu ihr als Verfahren eine erhebliche Anzahl von Schriften, Erläute1
154
Siehe hierzu die Rede des Generalinspekteurs der Bundeswehr am Zentrum Innere Führung zum Festakt 50 Jahre Bundeswehr.
rungen und Anleitungen existieren. Doch Fehlanzeige: Leistenschneider (2002: 7) führt hierzu zur wissenschaftlichen Beschäftigung aus: „Tatsächlich sind seit 1945 nur wenige Beiträge erschienen, die sich ausschließlich mit der Entstehungsgeschichte der Auftragstaktik auseinandersetzen. Eine selbständige Publikation, die das Thema erschöpfend behandelt, fehlt vollends. Dies ist um so erstaunlicher, bedenkt man, dass gerade die Bundeswehr der Auftragstaktik einen außerordentlich hohen Stellenwert einräumt (...).“ Doch dieser Befund gilt auch für die engere Welt der militärischen Vorschriften, auch hier sucht man detailliertes Eingehen auf das, was Auftragstaktik ausmacht, vergebens. Das Heer, welches zum Thema Führung eine ganze Vorschriftenreihe von 9 Bänden, die zum Teil mehrere hundert Seiten umfassen, parat hat, verwendet für Auftragstaktik konkret nur zwei Nummern. Hier im Wortlaut: –
–
302. Die Auftragstaktik beziehungsweise das Führen mit Auftrag ist oberstes Führungsprinzip im Heer. Es beruht auf gegenseitigem Vertrauen und verlangt von jedem Soldaten neben gewissenhafter Pflichterfüllung und dem Willen, befohlene Ziele zu erreichen, die Bereitschaft zur Übernahme von Verantwortung, zur Zusammenarbeit und zu selbstständigem, schöpferischem Handeln im Rahmen des Auftrags. Der militärische Führer unterrichtet über seine Absicht, setzt klare, erfüllbare Ziele und stellt die erforderlichen Kräfte und Mittel bereit. Einzelheiten zur Durchführung befiehlt er nur, wenn Maßnahmen, die dem gleichen Ziel dienen, miteinander in Einklang zu bringen sind oder politische oder militärische Auflagen es erfordern. Unterstellten Führern gewährt er Freiheit bei der Durchführung des Auftrags. Sie ist Voraussetzung für schnelles, entschlossenes Handeln und stärkt die Eigenverantwortlichkeit. Militärische Führer werden dazu erzogen, diesen Freiraum zu nutzen. Führungsstil und Dienstaufsicht müssen dem Rechnung tragen. Auftragstaktik setzt die Bereitschaft des Vorgesetzten voraus, das Auftreten von Fehlern in der Durchführung hinzunehmen. Dies findet jedoch seine Grenzen, wenn die Erfüllung des Auftrags oder Leib und Leben von Soldaten unnötig gefährdet werden. 303. Ein hohes Maß an Übereinstimmung im Denken und Handeln ist Grundlage der Auftragstaktik und Voraussetzung für den Erfolg. Dies setzt gemeinsame Grundwerte, ein gleiches Verständnis von Pflichten und Rechten des Soldaten und die Beachtung des Rechts auch in außergewöhnlichen Lagen voraus. Es verlangt darüber hinaus einheitliche Ziele für Führung, Erziehung und Ausbildung.“ (HDV 100/100)
Bei der Fülle der Details, welche in den Vorschriften des Heeres zur Führung geschrieben wurden, verwundert die Knappheit zur Auftragstaktik etwas; der 155
unvoreingenommene Beobachter hätte vielleicht ein ganzes Kapitel in dieser zentralen Vorschrift erwartet oder gar einen eigenen Band. Doch macht diese Sparsamkeit Auftragstaktik allein noch nicht zum Mythos in der Organisation. Interessant erscheint eine Betrachtung der Begründung und Kommentierung der Auftragstaktik, also die Kommunikation über Auftragstaktik in der Organisation, im Verlauf der Geschichte der Bundeswehr. Beginnen wir diesbezüglich zunächst in der Zeit der Gründung und Aufstellung der Bundeswehr. Im Jahr 1956 schreibt Theodor Blank, der erste Verteidigungsminister, in einer Ausarbeitung, Der Weg der Bundeswehr: „Bei der heutigen Waffenentwicklung wird es dem Einheitsführer nicht immer möglich sein, der wechselnden Lage entsprechend immer wieder neue Befehle zu geben. Oft wird er nur einen Rahmenbefehl erteilen können, die Ausführung aber dem einzelnen Soldaten überlassen. Ein solcher Gehorsam erfordert den mitdenkenden Soldaten, verlangt Offiziere und Unteroffiziere, welche die Persönlichkeit achten und fördern. Vorgesetzte, die ihre Erziehungsaufgabe anders verstehen sind ungeeignet.“ (Blank 1956) Deutlich leitet er die Notwendigkeit des Führens mit Auftrag aus einer sachlichen Notwendigkeit ab und führt dann über zu einem bestimmten Menschenbild. Ähnliches beschreibt das Handbuch Innere Führung, ein Vorläufer der heutigen zentralen Dienstvorschrift 10/1 (ZDv) Innere Führung, aus dem Jahr 1957. „Zukünftig wird der Gefechtsverlauf noch unberechenbarer werden, die Belastungen noch härter, die fachlichen Anforderungen noch differenzierter; um so notwendiger wird es, Aufträge zu erteilen, die mit den gegebenen Mitteln in sachlich, zeitlich und räumlich klar begrenzter Verantwortung selbständig zu erfüllen sind.“ (BMVg 1960: 39) Diesem Zitat liegt die gleiche Argumentationslinie zugrunde wie dem ersten; aus der Analyse der Gefechtssituation wird auf das angemessene Steuerungsverfahren geschlossen. Auch Wolf Graf von Baudissin argumentiert 1954 in einem Vortrag, Zur Heranbildung des Bundeswehr-Soldaten, auf derselben Linie: „Ich möchte ausgehen vom modernen Gefecht, auf das hin nun einmal der Soldat erzogen und ausgebildet werden muss – auch und gerade dann, wenn er es durch seine Existenz verhindern helfen soll. Auf dem Gefechtsfeld sehen wir weder den allein verantwortlichen, die Aktion unmittelbar leitenden Feldherrn, der jedes Rädchen seiner Kriegsmaschine dirigiert und kontrolliert, noch aber den Einzelkämpfer, der seinen Kampf für sich allein besteht. Waffentechnik und Waffenwirkung haben das Gefecht aufgelöst und lassen es weithin durch Teams und kleine Gruppen führen, die ihre Waffen im Sinne der Gefechtsabsicht zur Wirkung bringen. Damit wird bei steigendem Verzicht auf starre, bindende Kommandos und Aufsicht von oben die Verantwortung immer stärker nach unten verlagert. Entscheidende Ent-
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schlüsse und entschlossenes Handeln liegen bei diesen kleinen Gruppen.“ (Baudissin 1969: 249) Wie die beiden zuvor zitierten Autoren erfolgt, ausgehend von der systematischen Analyse des Kriegsbildes, das er weit ausführlicher an vielen Stellen seiner Schriften vorlegt, der Schluss auf das Soll, auf die Art der Führung und das Zusammenspiel der Teile der Organisation. Anders als Blank, aber im gleichen Tenor wie das Handbuch Innere Führung, das über weite Strecken die Bedeutung der Teamarbeit und Gruppenselbstarbeit behandelt, setzt Baudissin rigoros auf Selbststeuerung und Zweckprogrammierung. Allen drei Autoren aber ist der Ausgangspunkt für ihre Argumentation gemeinsam: die Wirklichkeit des Gefechts und die daraus abzuleitenden Erfordernisse, in diesem Fall die Auftragstaktik. Darüber hinaus gehen sie alle noch auf das freiheitliche Menschenbild unseres Gemeinwesens ein und verknüpfen es mit dem Bild des Soldaten und seiner zu gewährleistenden Freiheit. Dennoch wird diese Freiheit nicht zum Ausgangspunkt der Argumentation für das Führen mit Auftrag, sie ist systematisch passend und das Führen mit Auftrag fördernd. Die Autoren dieser Zeit unterscheiden dabei implizit, dass es sich bei Innerer Führung und Auftragstaktik analytisch um zwei unterschiedliche Zusammenhänge handelt. Innere Führung mit dem Staatsbürger in Uniform hat seinen Bezug in dem Verhältnis Streitkräfte – Gesellschaft/Staat. Auftragstaktik leitet sich primär aus der komplexen Situation Gefecht ab. Dass beide in einer weiteren Gesamtschau des zivil-militärischen Verhältnisses stimmig sein müssen, ist dabei jedoch eine andere Frage, welche analytisch auf einer anderen Ebene gelöst werden sollte. Eine neue Qualität gegenüber den bisherigen Ausführungen haben die Argumentationslinien der heutigen Zeit. Hier wird Auftragstaktik, Innere Führung und das Menschenbild des Grundgesetzes verknüpft, und mehr oder weniger ideologisch normativ gesetzt. Führen mit Auftrag wird dabei nicht mehr unmittelbar als sachliche Notwendigkeit aus der Systemumwelt abgeleitet. „Die Auftragstaktik ist die Führungsform, die unserem Bild vom Staatsbürger in Uniform am besten entspricht, da er so seine Mitverantwortung für die Erreichung des gemeinsamen Ziels erlebt. Und gerade die Komplexität heutiger Aufgaben ist nur mit der Auftragstaktik lösbar“, erklärte der Generalinspekteur der Bundeswehr am 5. September 2005 am Zentrum Innere Führung. Dieses Führungsprinzip erfordere hohe Ansprüche an „ethische, intellektuelle und professionelle Kompetenz aller Soldaten“. Vertrauen und Einstellungen müssen „durch Vorbild erlebbar gemacht werden“.2 Mit der hier vorgebrachten Argumentation geht General Schneiderhan gerade den umgekehrten Weg der Gründerväter der Bundeswehr. Die Norm2
General Schneiderhan am 05.09.2005 anlässlich des Festakts 50 Jahre Bundeswehr im Zentrum Innere Führung in Koblenz.
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konformität der Auftragstaktik wird zuerst festgestellt, sie passt zum Staatsbürger in Uniform und erst in zweiter Linie wird sie dann auch noch als sachangemessen beurteilt. Der Fokus der Analyse, welche das Führungsverfahren begründet, liegt nicht primär auf der Systemumwelt, dem Output und den zu erbringenden Transformationen, der Focus wird auf ein Phänomen innerhalb des Systems gelegt, den Staatsbürger in Uniform. Das System begründet sein Verhalten aus sich selbst, es wird selbsterklärend. Noch weiter in dieser Richtung geht Millotat in seinen Schriften, dort wiederholt sich mehrfach dieselbe Argumentationsfigur: „Das Führungsprinzip der Auftragstaktik, wie es bis heute im Deutschen Heer und in den anderen Teilstreitkräften ausgeformt wurde, ist das Ergebnis eines langen historischen Prozesses in der Königlich-Preußischen Arme und in anderen Armeen des Deutschen Bundes nach 1815, im Reichsheer nach 1871, in der Wehrmacht und in der Bundeswehr. Auftragstaktik kommt jedoch nur zur vollen Wirkung, wenn sie als Führungsprinzip akzeptiert und eingeübt ist. Die Verfahren der Stabsarbeit, der Befehlsgebung und das Miteinander von militärischen Führern und Führergehilfen, die im 19. und 20. Jahrhundert mit besonderen Ausprägungen in den preußischen und deutschen Generalstäben entstanden, sowie die seit langem in deutschen Streitkräften geltende Auffassung, dass jeder Soldat zu selbständigen und entschlossenem Handeln erzogen werden soll, sind unverzichtbare Grundlagen auf denen sich Auftragstaktik entfalten kann. Das Führungsprinzip der Auftragstaktik ist unter den besonderen Bedingungen der früheren deutschen Streitkräfte entstanden. In Armeen mit anders verlaufenen historischen und gesellschaftlichen Prägungen hat eine vergleichbare Entwicklung nicht stattgefunden.“ (Millotat 2000: 10) „Das im preußisch-deutschen Generalstab im 19. Jahrhundert Zug um Zug entwickelte Führungsprinzip der Auftragstaktik – es wird in der HDv 100/100 von 1998 als Führen mit Auftrag bezeichnet – ist wie in deutschen Streitkräften der Vergangenheit auch in der Bundeswehr gültig geblieben.“ (Millotat ohne Jahresangabe: 31) Millotat verlegt den Anknüpfungspunkt für seine Argumentation in die Vergangenheit, in die Vor- und Entstehungsgeschichte und entwickelt damit etwas, was zu Beginn dieses Abschnittes als narratives bezeichnet wurde, eine historisierende Erzählung über das Organisationshandeln deutschen Militärs. Die Erzählung bleibt dabei komplett, man könnte boshaft sagen autistisch, innerhalb des Systems gefangen. Wie gegenteilig waren dagegen die Analysen Baudissins und Blanks, welche aus der Systemumwelt und dem Output, den Militär zu erbringen hat, auf die Systeminnenwelt schlossen. Rufen wir uns die Definition des Mythos nochmals ins Gedächtnis: eine Erzählung, die Ursprünge oder Wandel erklärt und die einen unhinterfragten Glauben an die Wirksamkeit und den Nutzen von bestimmtem Verhalten 158
oder Techniken darstellt. Genau diese Definition erfüllt eine Argumentationsfigur, wie Millotat sie auf der Grundlage der 100er Reihe der Heeresdienstvorschriften aus dem Jahr 1998, an welchen er nach eigener Aussage mitgearbeitet hat, vorlegt: „Das Führungsprinzip der Auftragstaktik wurde in der Bundeswehr auf der Grundlage der Inneren Führung zum modernen und zukunftsweisenden obersten Führungsprinzip im heutigen deutschen Heer, aber auch in den anderen Teilstreitkräften ausgeformt. Es gilt für jeden Soldaten bei jeder Dienstverrichtung. Die Verklammerung von Innerer Führung und Auftragstaktik wurde in der HDv 100/100 von 1998 vorgenommen. ‘Soldatisches Führen’, so heißt es dort, ‘verbindet überliefertes deutsche Führungsdenken und soldatische Tugenden mit dem von der Konzeption der Inneren Führung bestimmten Grundsätzen zeitgemäßer Menschenführung’.“ (Millotat 2001: 307) Hier werden zwei Narrative der Bundeswehr, Schilderungen von hohem Bedeutungsgehalt für die Organisation, verknüpft, Innere Führung und Auftragstaktik. Beide hängen, wie die Zitate von Blank und Baudissin zeigten, eng mit der Gründung der Bundswehr zusammen, können also als Bestandteile von Gründungsgeschichte und den damit verbundenen Gründungsmythen verstanden werden. Dass zwischen ihnen ein anderer Wirkungszusammenhang besteht, wurde bereits aufgezeigt, auch kann nicht von einer Weiterentwicklung von Auftragstaktik auf der Basis der Inneren Führung gesprochen werden. An dieser Stelle müsste Schriftgut existieren, Diskurse um bewährte und veraltete Elemente des Führens mit Auftrag. Nichts von alledem existiert in der Realität. Es ist so, wie Leistenschneider es verdeutlicht hat: nur über die Entstehungsgeschichte der Auftragstaktik wurde gearbeitet. Millotat und die Verfasser der HDv 100/100 von 1998 gehen aber weiter, sie binden die Organisation Bundeswehr wieder durch bewusst gepflegte Traditionslinien an frühere deutsche Armeen und an soldatische Tugenden. Dies ist eine andere Qualität als das bloße Bewusstsein, in eine Geschichte eingebunden zu sein. Überliefertes deutsches Führungsdenken und soldatische Tugenden, welche unter anderem zu den Katastrophen des 1. und 2. Weltkrieges geführt haben, werden neutralisiert, unbelastet und sogar als bewährte Techniken und Verhaltensweisen in einer Tradition („überliefertes“) verankert. Ein Führungsprinzip und Tugenden sind zunächst neutral, sie können, im Systemmodell gesprochen, funktional sein, so wie Auftragstaktik passend zu den oben aufgezeigten Systemumwelten – Frieden, Gefecht, Einsatz – ist, oder Innere Führung zur gesellschaftlichen Systemumwelt der Organisation Bundeswehr. Setzt man aber dieses Führungsprinzip oder die Tugenden durch das Wort bewährt in eine Traditionslinie, dann werden alle „Unbewährtheiten“ mit übernommen.
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Resümee
Die zu Beginn der Arbeit aufgeworfenen Fragen nach Qualität und Funktion des Phänomens Auftragstaktik, wurden mit einfach gehaltenen Gedanken zu Organisation und System beleuchtet. Es handelt sich um ein Prinzip der Koordination in komplexen Zuständen in und außerhalb der Organisation. Auch konnte darauf hingewiesen werden, dass es sich um ein auch in der Gegenwart in den Situationen Frieden, Einsatz und Krieg angemessenes Verfahren handelt. Die dritte Frage, ob Führen mit Auftrag inzwischen ein Mythos in der Organisation Bundeswehr ist, war schwieriger zu beantworten. Zum einen sind Anzeichen vorhanden, dass hier ein ‘gap’ zwischen Wunsch nach Führung mit Auftrag und Realität besteht. Die Indizien waren Bürokratie und das tatsächliche Führungsverhalten von Offizieren. Zum anderen verweist die Veränderung der Darstellung von Auftragstaktik weg, von der aus Krieg und Gefecht ableitbaren angemessenen Steuerung, hin zu einer normativen Setzung. Damit wandelt sich die analytisch begründete Handlungsweise zu einer in den Streitkräften gemeinsamen Erzählung, einem Narrativ. Die zeitgleiche Verknüpfung mit Innerer Führung, einem Phänomen, welches untrennbar mit der Gründung der Bundeswehr verbunden ist, verstärkt den Verdacht, dass Auftragstaktik nun in den Bestand der Mythen der Organisation übergegangen ist. Eine zusätzliche Erhärtung gewinnt dieser Verdacht durch die Argumentation der HDv 100/100 von 1998 und ihres Mitverfassers Millotat, welche dann noch den Bezugspunkt in der Vergangenheit festlegen. Auftragstaktik wird so zu einem Mythos der Organisation, der als Erzählung, die Ursprünge oder den Wandel erklärt und die einen unhinterfragten Glauben an die Wirksamkeit und den Nutzen von bestimmtem Verhalten oder Techniken darstellt, welche aber auch die Gegenwart in der Vergangenheit verankert.
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Befehl – Gehorsam – Mitmenschlichkeit Angelika Dörfler-Dierken Einführung Vor Auslandseinsätzen bereitet das Zentrum Innere Führung in Koblenz die Soldatinnen und Soldaten mental auf Situationen vor, mit denen diese sich mit einiger Wahrscheinlichkeit im Auslandseinsatz konfrontiert sehen werden, die jedoch weit ab von deren bisher vertrautem Alltagserleben liegen. Mag sein, dass deutsche Soldaten – wie vor Einsätzen in Afrika häufig befürchtet – Kindersoldaten gegenüber stehen; mag sein, dass sie – wie bereits jetzt in Afghanistan – mit Drogenbaronen zurechtkommen müssen, auch wenn Drogenbekämpfung nicht zum Mandat der Bundeswehr gehört. „Entscheiden und Verantworten. Konfliktsituationen in Auslandseinsätzen“ heißt die Broschüre, die das Zentrum Innere Führung zum Vorbereitungstraining für solche Situationen zusammengestellt hat. Die Broschüre, im Internet aufzurufen und also der Öffentlichkeit zugänglich, ist seit 1996 im Gebrauch. Die gegenwärtig vorliegende zweite Auflage wurde im Jahr 2003 erarbeitet und listet 15 mögliche Fälle auf, in denen Soldaten sich entscheiden und damit Verantwortung für ihr Handeln übernehmen müssen. Entscheidungen in Konfliktsituationen in Auslandseinsätzen müssen möglicherweise in Sekundenbruchteilen fallen. Gut also, wenn die Soldatinnen und Soldaten so umsichtig wie möglich ihre Urteile fällen können, wenn sie ihre Handlungsmöglichkeiten und deren Folgen in diversen „Lagen“ vorher geistig durchgespielt und sich klar gemacht haben, welche große Verantwortung sie tragen. Zwar wird jeder Mensch schnell eingestehen, dass es nicht möglich ist, alle Fragen moralisch verantwortlichen Urteilens, Entscheidens und Handelns im Vorhinein rational zu durchdenken. Aber es ist allemal besser, auf mögliche Dilemmasituationen eingestellt zu sein, als blauäugig sich auf den Auslandseinsatz einzulassen. Die Diskussion von Dilemmasituationen gilt in der Pädagogik derzeit als probates Mittel, Empathie- und Friedensfähigkeit zu fördern. (Lind 2003) Dazu tritt ein zweiter Gesichtspunkt, der es sehr sinnvoll erscheinen lässt, dass das Zentrum Innere Führung entsprechende Veranstaltungen durchführt: Gegenwärtig gilt mehr noch als früher, so Brigadegeneral Kretschmer: „Für den Beruf der Soldaten/Soldatinnen ist es charakteristisch, dass diese darauf vorbereitet sein müssen, in schwierigen Lagen trotz fehlender Information in die Ungewissheit hinein verantwortlich entscheiden und für die Folgen ihrer
Herzlich danke ich allen denen, die mit mir über diesen Fall gesprochen und mit ihren Anregungen beigetragen haben zur Entstehung dieses Aufsatzes.
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Handlungen einstehen zu müssen.“ (Zentrum Innere Führung 2003: 3) Die Wahrnehmung der individuellen Verantwortung des Untergebenen, möglicherweise des letzten und schwächsten Gliedes in der Befehlskette, wird im Zweifelsfall von deutschen Gerichten überprüft. Dessen müssen die Soldatinnen und Soldaten eingedenk sein. Dazu kommt, dass die Situationen, in denen die Soldatinnen und Soldaten im Auslandseinsatz urteilen, entscheiden und handeln müssen, sich vielfach dadurch auszeichnen, dass sie „dem eigenen Verständnis eines menschenwürdigen Lebens zutiefst widersprechen“. (ebd.: 5) Die Soldatinnen und Soldaten begegnen oftmals einem schier unvorstellbaren Maß an Gewalt und einem derart fundamentalen Mangel an allem Lebensnotwendigen, dass sie sich selbst tief betroffen und bei aller Professionalität doch auch mitleidend fühlen. Manche sind durch die gesehenen Gräuel, durch das unmittelbare Erleben von Elend und Not psychisch und physisch belastet. Deshalb will das Zentrum Innere Führung mit „Entscheiden und Verantworten“ Möglichkeiten eines soldatischen Selbstverständnisses ausbilden helfen, welches die Belastungen ertragen hilft. Die Soldatinnen und Soldaten sollen lernen, „die eigene moralische Urteils- und Handlungsfähigkeit zu bewahren, gerade in Situationen, in denen notwendige Entscheidungen unter Zeitdruck, Ungewissheit über die möglichen Folgen und oftmals einer Fremd- und/oder Selbstgefährdung getroffen werden müssen“. (ebd.) Gerade im Auslandseinsatz müssen Soldaten sich in solchen Situationen bewegen, die durch Vorschriften, Weisungen und Befehle nicht eindeutig normierbar sind; sei es, dass diese Situationen ihrer Natur nach nicht verrechtlicht werden können, sei es, dass sie aus übergeordneten Erwägungen nicht normiert werden dürfen. Es gibt im soldatischen Leben „Ermessensfragen, in denen die eigene verantwortliche, d. h. auf Recht und moralischer Urteilskompetenz gegründete Entscheidung gefordert ist, für deren Folgen man sich dann auch zu rechtfertigen hat.“ (Problemstellung Zentrum Innere Führung 1996: 6) Seitens des Zentrums Innere Führung wird als Messlatte für die Entscheidung jedes einzelnen Soldaten und jeder einzelnen Soldatin auf die Konzeption Innere Führung mit ihrem Leitbild des „Staatsbürger in Uniform“ verwiesen. Die Innere Führung schreibe fest, dass sich „effektives militärisches Handeln an rechtlichen und moralischen Grundsätzen [zu] orientier[en] habe“. Dazu gehöre auch, so fährt das Zentrum Innere Führung in seiner Einleitung zu „Entscheiden und Verantworten“ fort, „dass die Soldatinnen und Soldaten in einer außergewöhnlichen Situation sich in einem Gewissenskonflikt empfinden können. Gerade die Konzeption Innere Führung erlaubt es der einzelnen Soldatin und jedem einzelnen Soldaten, sich auf der Grundlage unveräußerlicher Werte zu entscheiden und zu handeln.“ In dieser Textpassage wird die Freiheit eines jeden einzelnen Soldaten und einer jeden 166
einzelnen Soldatin zum gewissensgeleiteten Handeln herausgestellt. Alle Soldaten sollen im Rahmen ihrer militärischen Ausbildung zu dieser Freiheit, der ‘Stimme des Gewissens’ – und das kann nur je die des eigenen Gewissens sein – zu folgen, befähigt werden. Der Dienstherr traut den Soldatinnen und Soldaten zu – ja mehr noch: er erwartet von ihnen – dass sie gewissenhaft im Sinne von gewissensgeleitet ihren Dienst versehen. Er erwartet von ihnen „mitdenkenden Gehorsam“ (Wolf Graf von Baudissin). In dieser Tradition heißt es in „Entscheiden und Verantworten“, dass „in bestimmten Einzelfällen auch das Abweichen von strikten Vorgaben“ notwendig ist. „Es ist geboten, wenn ein Handeln nach Grundsätzen der Menschlichkeit den Zweck der konkreten Vorgaben nicht beeinträchtigt.“ (ebd.) Das Zentrum Innere Führung weist darauf hin, dass die Verantwortung, die dem einzelnen Soldaten oder der Soldatin auferlegt wird, nicht zu groß werden darf. Deshalb müsse man die Zahl potenzieller Gewissenskonflikte dadurch möglichst gering halten, dass die Soldatinnen und Soldaten nach Möglichkeit nicht in solche Lagen gestellt werden, die sie absehbar in ihrem Gewissen herausfordern und möglicherweise überlasten. Entsprechend findet sich in dem Nachspann zur Fallsammlung explizit die Aufforderung an die politische und militärische Führung, auf die Sinnfragen der Soldaten Antwort zu geben. Der Dienstherr muss „seiner Pflicht nachkomm[en], die rechtliche und moralische Legitimität seiner Anordnungen gegenüber den Soldaten zu gewährleisten, um so die Möglichkeit auszuschließen, dass Soldaten in Gewissenskonflikte kommen“. An einem der geschilderten Fälle soll im Folgenden herausgearbeitet werden, welche Umgangsweisen mit dem Dilemma bei Soldaten, welche bei Zivilisten vorherrschen.
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Der Fall
Über die Entstehungsgeschichte der Fallsammlung und die Hintergründe der einzelnen geschilderten Fälle ist nicht viel bekannt. Sie sind sämtlich gut nachvollziehbar, einem jeden Zeitungsleser in ihrer Brisanz unmittelbar einsichtig – und sie basieren, wie es im Vorspann heißt – auf tatsächlichen Ereignissen. Die Beschreibung des konkreten Dilemma-Falles, den die Soldatinnen und Soldaten durchspielen sollen, lautet folgendermaßen: „Die in Be-
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led Weyne [gemeint ist Belet Uen, A. D.-D.]1 eingesetzten Soldaten werden ständig mit Not und Elend konfrontiert, am Rande von Konvois, in Ortschaften. Überall begegnen ihnen bettelnde Menschen, vor allem Frauen und Kinder. Es entsteht das dringende Bedürfnis, Lebensmittel abzugeben. Allerdings besteht strikter Befehl auf Unterlassung.“ Im Folgenden wird nicht der Befehl aus soldatenrechtlicher oder völkerrechtlicher Perspektive diskutiert und auch nicht die Frage nach der Rechtmäßigkeit eines solchen Befehls untersucht. Ausgeblendet wird auch die Frage, wie Menschen, die tatsächlich am Verhungern sind, medizinisch verantwortlich geholfen werden kann. Patrouillen im Ausland haben immer einen direkten Draht zu den Sanitätern, die in Situationen, die unmittelbare Hilfeleistungen erfordern, die Menschen versorgen sollen. Es geht also nicht um die medizinische oder organisatorische Dimension von Hilfeleistungen für Notleidende. Allgemein bekannt ist, dass Bundeswehrsoldatinnen und -soldaten sich während ihrer Auslandseinsätze in vielerlei Weise humanitär und karitativ betätigen. Sie haben viele Projekte in Krisenregionen in Gang gebracht und unterstützen häufig auch noch von Deutschland aus die während des Einsatzes aufgebauten Hilfsmaßnahmen. Bisher ist kein Fall bekannt, in dem einer Soldatin oder einem Soldaten der Bundeswehr unterlassene Hilfeleistung gegenüber einem Einheimischen vorgeworfen worden wäre. Es ist auch kein Fall bekannt, in dem einer Soldatin oder einem Soldaten vorgeworfen worden wäre, Zivilisten durch die Abgabe von Nahrungsmitteln geschadet zu haben.
2
Militärische und zivile Umgangsweisen
Wenn man Soldaten einerseits, Theologen andererseits befragt, was sie zu dem zitierten Fall denken und wie sie mit dem „Befehl auf Unterlassung der Herausgabe von Lebensmitteln“ umgehen würden, dann zeigen sich gravierende Unterschiede: Während die eine Gruppe von einer positiven Beurteilung des Befehls her denkt und argumentiert, steht bei der anderen das Stichwort Hilfe im Mittelpunkt. Zu den Beobachtungen im Einzelnen: Ich habe zwei Gruppen von jungen Männern befragt, junge Offiziere, Studenten an der Helmut-Schmidt-Universität der Bundeswehr in Hamburg und einsatzerfahrene Soldaten einerseits, Studenten vom Fachbereich Evangelische Theologie in Hamburg und erfah1
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Belet Uen liegt in Somalia, wo die Bundeswehr im Jahre 1994 einen ihrer ersten humanitär begründeten Auslandseinsätze absolvierte. In der 2. Aufl. von „Entscheiden und Verantworten“ ist als Ort der Handlung pauschal Afghanistan angegeben. (vgl. Zentrum Innere Führung 2003: 17)
rene Pastoren andererseits. Dabei zeigten sich jeweils typische Sprach-, Denk- und Argumentationsmuster von Angehörigen zweier Berufszweige und lebensmäßiger Orientierungen. Die im Folgenden ausgewerteten Äußerungen, 28 an der Zahl, erlauben keine verallgemeinerbaren Aussagen über die spezifischen Denkweisen der beiden Berufskulturen. Sie erlauben schon gar keine Aussage darüber, wie jemand in einer Situation mit seinen hungernden Mitmenschen umgeht. Trotzdem bieten die Aussagen eine Art ‘Blitzlichtaufnahme’ zweier unterschiedlicher Weisen der Selbstdeutung und Reflexion in einer herausfordernden Situation. 2.1
Angst vor der Übernahme von Verantwortung
Es fällt auf, dass die Antworten von jungen Offizieren nur selten eine innere Affiziertheit von der Situation, in der sie sich möglicherweise bald befinden werden, erkennen lassen. Die meisten erkennen die Konfliktsituation zwar verbal an, betonen aber, dass sie Sorge vor einer möglichen Bestrafung durch den Disziplinarvorgesetzten wegen Nichtbeachtung des Befehls hätten. Deshalb würden sie wider ihr mitmenschliches Empfinden dem Befehl Folge leisten. Weil der Vorgesetzte auf der eigenen inneren Werteskala als höher stehend eingeschätzt wird als das eigene Empfinden, fährt ein Befragter fort, dass er „in die Verlegenheit kommen [würde], diese Entscheidung [keine Nahrungsmittel abzugeben, A. D.-D.] vor mir selbst und meinem Gewissen zu verantworten“. Wichtig ist hier die Beobachtung, dass die eigene Empfindung als „Verlegenheit“ charakterisiert wird, also als eine Erfahrung des peinvollen Unwohlseins, ein Gefühl der Scham. Deshalb fragt der junge Offizier sich selbst, „ob ich wirklich alles getan habe, um den Leuten zu helfen, oder habe ich mich in diesen Situationen unmenschlich verhalten oder mich aus Angst vor Konsequenzen hinter Befehlen und einem Auftrag versteckt?“ Diese Problemexposition spricht von einem gewissermaßen natürlichen mitmenschlichen Empfinden und zudem von der Fähigkeit zur Selbstbeobachtung und Selbstkritik. Die Angst vor der Übernahme von Verantwortung wird explizit thematisiert. Eben weil die Bedrohung durch Negativempfindungen auf der Seite des Selbst einerseits und durch eine Bestrafung seitens des Disziplinarvorgesetzten so deutlich empfunden wird, beginnen junge Offiziere dann schnell mit einer Serie von Rechtfertigungen: Man helfe „mit [s]einer Anwesenheit und [s]einem Auftrag den Leuten nicht direkt oder unmittelbar, [arbeite] langfristig gesehen aber doch für besseres Leben“. Außerdem gefährde man so nicht seinen Auftrag „durch Handlungen, die zu einer Eskalation führen könnten, wenn zum Beispiel dann mehrere hundert Menschen Lebensmittel haben wollen“. Zudem wird bei diesem Typus von
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Argumentationen angeführt, dass Hilfsorganisationen verständigt worden seien beziehungsweise bald verständigt würden. 2.2
Mitmenschlichkeit in der dienstfreien Zeit
Ein Befragter mutmaßt, dass es „für die militärische Ebene (…) vermutlich die beste Lösung wäre“, wenn „man die äußeren Umstände ignorieren und sich von diesen Bildern des Elends nicht im Denken und Fühlen beeinflussen lassen“ würde. Im Gegensatz dazu stehe „natürlich der religiöse Grundsatz der Nächstenliebe. Es wäre demnach unchristlich, den Menschen in ihrer großen Not nicht zu helfen. Insofern müsste der militärische Befehl ignoriert und den Menschen durch kleine Gaben geholfen werden. Die beiden vorgenannten Möglichkeiten erscheinen jedoch beide unbefriedigend, da in jedem Fall ein Grundsatz gebrochen werden würde. Im Rahmen der Freizeitgestaltung könnte man allerdings Absprachen mit dem militärischen Vorgesetzten treffen, um Hilfe im Rahmen der Einheit der Zivilbevölkerung zukommen zu lassen.“ Hier wird das Dilemma als Konflikt zwischen zwei Prinzipien aufgefasst: dem Prinzip des Militärischen und dem Prinzip des Christlichen. Der Versuch, diese beiden zu verbinden, wird in den Bereich der dienstfreien Zeit verschoben. Humanitäre Hilfe soll allerdings auch dann nur nach „Absprache und Genehmigung mit dem Vorgesetzten“ geleistet werden. 2.3
Befolgung des Befehls gewährleistet Sicherheit der Soldaten
Ein anderer Befragter betont zwar als Ziel eines Einsatzes die Hilfe für die Menschen in der betroffenen Region, betont aber die Notwendigkeit einer geordneten und strukturierten Hilfsleistung. Individuelle Hilfe wird tendenziell als Anarchie empfunden. „Zunächst einmal existiert ein Befehl, den Menschen keine privaten Nahrungsmittel zu geben oder sie selbständig mit Nahrungsmitteln irgendeiner Herkunft zu versorgen. Dieser Befehl widerspricht keinem Gesetz oder der UN-Charta. Damit muss er befolgt werden. Gerade als Offizier wäre es ein schlechtes Vorbild, wenn man sich einem direkten Befehl widersetzen würde. Dieses wäre für die Disziplin der Truppe auf lange Sicht abträglich. Wenn es einmal zu einer ‘illegalen Versorgung’ der Bevölkerung kommen würde, hätte dieses zur Folge, dass die Bevölkerung immer energischer versucht, auf diesem Wege Nahrungsmittel zu erhalten. Dies hätte zwei negative Folgen: Zum einen würden die Soldaten bei energischem Vorgehen der Bevölkerung gefährdet. Zum anderen würden Nahrungsmittel ausgegeben, die an anderer Stelle fehlen. Dieses würde den Gesamtauftrag gefährden. Weiterhin besteht die Gefahr, dass die Nahrungsmittel durch unkontrollierte Ausgabe immer an dieselben und an die stärksten 170
Personen ausgegeben werden und die am meisten Hilfsbedürftigen in den Häusern verhungern. So könnten große Teile der Bevölkerung wohl möglich ohne Hilfe bleiben.“ Durch ihre Vorbereitungslehrgänge seien die Soldaten auf entsprechende Schwierigkeiten vorbereitet und könnten ihre Befehlsbefolgung „in das Gesamtkonzept einordnen, so dass sie wissen, dass sie den Menschen am besten helfen, wenn sie bei der Erfüllung des Auftrages helfen. Weiterhin muss der Auftrag in seiner Gesamtheit mit dem Ziel, allen Menschen zu helfen, betrachtet werden. Ich kann der Bevölkerung als Einzelner nicht helfen und trage dazu bei, den Auftrag zu gefährden, wenn ich eigenwillig handele. Nur wenn der Auftrag erfolgreich ausgeführt wird, kann allen geholfen werden. Dem Ziel, allen zu helfen, muss das Schicksal des Einzelnen untergeordnet werden, auch wenn dieses vor Ort unter Umständen scheinbar rücksichtsloses Verhalten impliziert.“ Diese klaren Worte lassen keine Fähigkeit erkennen, sich verunsichern zu lassen, sich anrühren oder erschüttern zu lassen durch die Erfahrung des elementaren physischen Leides anderer. Die Einordnung des Verzichts auf Hilfe in eine übergeordnete Hilfskonzeption kann dazu führen, dass die Not Einzelner aufgerechnet wird gegen die Hilfe für Tausende, dass Menschen wie Zahlen auf einer Liste behandelt werden. 2.4
Identifikation mit dem militärischen Führer
Zwar sind die Soldaten im Auslandseinsatz an die Rules of Engagement gebunden, die mit einem entsprechenden Befehl umgesetzt werden können, aber – so setzt ein junger Offizier ein: – die Soldaten sind „auch noch Mensch, Vater, Sohn oder Freund“. Als Mitmenschen sind sie aufgrund ihrer familiären „weiteren Rollen“ dazu gezwungen, „Entscheidungen zu treffen, die keinen vornehmlich militärischen Charakter haben, sondern rein menschlichen“. Sie müssen also zwischen der Befehlslage und der persönlichen Neigung „eine verträgliche Entscheidung treffen“. Die Verantwortung für diese Entscheidung wird den „Führungspersönlichkeiten“ aufgetragen. Sie seien besonders gefragt, „um den Soldaten in diesen schwierigen Situationen beizustehen“. Verantwortung wird in diesem Fall nach oben delegiert, was für die Ebene der unterstellten Soldaten stark entlastend, aber doch gegebenenfalls auch belastend sein kann. Dann wendet der Befragte sich der Frage zu, welche Folgen die Abgabe von Nahrungsmitteln haben könnte und baut ein Szenario auf, das die einfache mitmenschliche Hilfeleistung verunmöglicht: „Die Langzeitfolgen aus derartigen Nahrungsabgaben können verheerend sein. Dies hat sich auch schon im Gespräch mit Kameraden ergeben, die bereits im Einsatz waren. Man ist selbst im Einsatzland ein Fremder und kann selbst die genauen Strukturen nicht überblicken. Wie kann man dabei sicher171
stellen, dass man unbeabsichtigt eine bestimmte Volksgruppe bei der Nahrungsabgabe bevorteilt. Daraus können weitaus größere Probleme erwachsen, die über einen Befehlsverstoß hinausgehen.“ Wichtig für die ethische Beurteilung dieser Antwort ist, dass hier nicht der einzelne Hungernde dem einzelnen Soldaten gegenübergestellt wird. Hier wird vielmehr eine Interaktion von Gruppen inszeniert. Das Dilemma wird somit nicht individuell erfasst und in der Vorstellung durchlitten, sondern in die Frage eines Aufeinandertreffens von Kollektiven verschoben. Diese Methode, sich dem Drängenden der Frage zu entziehen, muss dann dazu führen, dass dem Befehl Folge geleistet wird. Deshalb erörtert der junge Offizier anschließend nur noch die Frage, wie er dafür sorgt, dass die ihm unterstellten Väter – mit Müttern rechnet er offensichtlich nicht – seiner Entscheidung zustimmen: „Aus einer rein menschlichen Perspektive betrachtet, könnte man sich dabei schlecht fühlen, wenn man täglich hungernde Kinder sieht und vielleicht selbst Vater ist. An diesem Punkt muss der militärische Vorgesetzte eingreifen und handeln. Zunächst gilt es, das Gespräch mit seinen Soldaten zu suchen. Es gilt, das Problem anzusprechen und schon zu Beginn gedankliche Lösungsmöglichkeiten aufzuzeigen. Die Abgabe von Nahrungsmitteln ist, wie bereits erläutert, als falsch einzustufen und abzulehnen. Ein Ausweg aus diesem Dilemma könnte folgender sein. Man verteilt nicht die Nahrungsmittel an die Menschen, sondern gibt ihnen die Werkzeuge, um sich selbst zu helfen. Die Hilfe besteht darin, dass man ihnen hilft, sich selbst zu helfen: Und genau dies muss man auch seinen Soldaten verdeutlichen. Die Einsatzkräfte sind zum Helfen in dem Krisengebiet und leisten Wiederaufbau und Erneuerung. Maßgeblich ist hier stets der militärische Vorgesetzte gefragt, um seinen Soldaten bei diesen schweren Fragen zur Seite zu stehen.“ Hier wird das Dilemma verlagert: Es handelt sich weniger um eine Frage, die mich angeht, als um ein Problem von anderen. Denen muss vermittelt werden, dass sie qua Vernunft und Einsicht ihre Rollenkonfusion dann lösen können, wenn sie ihrer militärischen Rolle Vorherrschaft über die zivil-familiäre einräumen. 2.5
Treues Dienen wider Mitmenschlichkeit
Die „Zerreißprobe zwischen den militärischen Erfordernissen des Auftrags (militärisch-ethische Dimension) und der Verantwortung als Christ (religiösethische Dimension) für meine Mitmenschen“ ist der Sache nach nur ein „vordergründiger Konflikt“. Das muss so sein, weil andernfalls – bei der Behauptung einer „Unvereinbarkeit“ zwischen Militär und Ethik – die „Handlungsunfähigkeit aller religiösen Soldaten“ die Folge wäre. Im Folgenden stellt dieser junge Offizier erst die militärisch-ethische Perspektive dar, dann die religiös-ethische und versucht sich abschließend in der Konstruktion einer 172
Synthese: „Das ‘Credo’ [d. h. Bekenntnis, Ausdruck der Glaubensüberzeugung, A. D.-D.] des Soldaten beziehungsweise seine erste Leitlinie und seine Verpflichtung sind in verdichteter Form dem Diensteid zu entnehmen. Der Soldat schwört [nur der Zeitsoldat schwört während der Wehrpflichtige ‘gelobt’, A. D.-D.], der Bundesrepublik Deutschland treu zu dienen und das Recht und die Freiheit des deutschen Volkes tapfer zu verteidigen. Den zweiten Teil [des Diensteids, A. D.-D.] außer Acht lassend steht in meiner Betrachtung im Zentrum die Pflicht zum treuen Dienen. Zur Umsetzung dieses Aspekts ist der Soldat in einem organisatorischen Gefüge platziert, dessen Führung den Erfordernissen einer Kriegssituation angepasst sein muss. Zwar herrscht im vorliegenden Fallbeispiel nicht der schärfste Kriegszustand für die Soldaten, sondern sie befinden sich in einem humanitären Einsatz, aber das Prinzip Befehl und Gehorsam gilt.“ Festzuhalten an diesem Votum ist die Beobachtung, dass die Härte gegen das Leid des Mitmenschen überhöht wird durch die Aufforderung zum treuen Dienen. Dagegen fordere die ethisch-religiöse Maxime „als Destillat ethischer Handlungsanweisung oder Verhaltenshilfe zum Beispiel die Zehn Gebote oder zum Beispiel das vorgelebte Handeln Jesu Christi heran[zu]ziehen. Das Gebot der Nächstenliebe, die Aufforderung zur Hilfe für Hilflose – (Beispiel Sankt Martinus2) – stehen hierbei im Vordergrund. Somit wäre aus christlich-ethischer Sicht das Helfen vordergründiger Aspekt. Das Lindern der Not [in diesem unmittelbaren Fall des Hungers, A. D.-D.] ist anzustreben.“ Entsprechend der selbst gesetzten Voraussetzung, dass es keinen prinzipiellen Widerstreit zwischen humanitärer Hilfeleistung und Befehlslage geben darf, entwickelt dieser Student eine übergeordnete Hilfsperspektive, die es ihm ermöglicht, der Frage nach individueller Hilfe auszuweichen. Er baut die Alternativen und die Conclusio folgendermaßen auf: „Die eine Perspektive sagt mir ‘Hilf!’, die andere: ‘Befehl ist Befehl!’. Doch wie erlange ich Konsens? Für die Antwort muss man sich von der unmittelbaren Situation lösen und etwas anderes bedenken: Als Soldat im humanitären Hilfseinsatz leiste ich Hilfe zum Aufbau und zur Linderung der Not, indem ich Voraussetzungen schaffe, die die Menschen dazu befähigen, aus eigener Kraft sich selbst zu helfen. Der Befehl, Bettelnden nichts zu geben, erfüllt lediglich eine Schutzfunktion, die den Soldaten hilft, ihrem Auftrag auch weiter nachzukommen und somit auch den Menschen, die sich in Not befinden [zu helfen, A. D.-D.]. Wenn also der Befehl zunächst hart und unmenschlich scheint, so 2
Der Befragte spielt hier auf den christlichen Ritter und späteren Bischof von Tours Martin von Tours (um 317–397) an, der als er einen Nackten am Wegesrand sah, seinen Umhang mit dem Schwert durchtrennte und dessen eine Hälfte vom Pferd herunter dem Armen reichte.
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ist sein Befolgen einer Zielsetzung verhaftet, die bei ihrer Betrachtung sogar sehr mit der religiös-ethischen Perspektive vereinbar ist.“ Das Problem dieser wie eine scholastische Disputation aufgebauten Äußerung liegt darin, dass die Conclusio nur unter ‘Opferung’ einzelner Bettelnder gelingt. 2.6
Ohne Begründung ist der Befehl sittenwidrig
Wenn man einen auslandserfahrenen langjährigen Offizier, gut zwanzig Jahre älter als die jungen Offiziere mit derselben Frage konfrontiert, dann fragt der als Erstes, was der Kommandeur mit seinem Befehl, dass keine Lebensmittel an hungernde Menschen außerhalb des Lagers abgegeben werden dürfen, bezwecken will. Der Offizier stellt sich vor, als Erstes seinen Kommandeur um eine Begründung zu bitten: „Der Befehl hat für mich so keinen Sinn, er muss einen militärischen Zweck haben, der ist mir in dem Augenblick nicht klar. So lange mir der Zweck nicht klar ist, entscheide ich ganz eindeutig für den Menschen, ich gebe Nahrungsmittel raus.“ Später heißt es: „Ohne die Begründung ist der Befehl aus meiner Sicht für einen normal empfindenden Menschen sittenwidrig.“ Auf den Hinweis hin, dass das Zentrum Innere Führung diesen Fall in seine Beispielsammlung aufgenommen hat, ohne dass dem Kommandeur eine Begründung in den Mund gelegt wurde, schweigt dieser Befragte erst einmal lange. Dann stellt er fest: „Das kann nicht meine Aufgabe sein, wenn ich das Vermögen habe, einem anderen zu helfen, die Hilfe zu verweigern. Das macht in der Situation in dem Augenblick keinen Sinn. Es könnte allerdings doch eine Möglichkeit geben, dem Befehl Sinn abzugewinnen, wenn nämlich in dem Augenblick, wo ich Nahrung ausgebe, sozusagen das ganze Land angezogen wird und das Elend dann nur noch auf einem Platz konzentriert wird und überhaupt nicht mehr geordnet werden kann. Das könnte ich mir vorstellen, aber das weiß ich nicht. [Aber:] In dem Augenblick habe ich eine Notsituation, wo es Menschen schlecht geht. Ich habe die Möglichkeit zu helfen, also helfe ich. Und ich vermag nicht einzusehen, aus welchem Grund ich es nicht tun sollte.“ Die Pflicht zur NotfallHilfe gilt ohne Einschränkung. Schließlich ist das „der Grund, warum Menschen überhaupt dahin geschickt werden. Die werden dahin geschickt, nicht um den Verhungernden zuzugucken, sondern um die Situation zu verändern. Der Einsatz ist ja nicht, um etwas zu gewinnen, sondern der Einsatz ist, um Menschenleben zu retten, zu helfen, zu schützen.“ Man dürfe auch nicht unterscheiden zwischen humanitärer Hilfe und militärischer und sich von der Pflicht zur Nothilfe am Mitmenschen dispensieren dadurch, dass man sich auf das eine beschränke und für das andere das Rote Kreuz verständige. „Das ist ein Abschieben von Verantwortung auf andere.“ Allerdings wird es im konkreten Fall durchaus nötig sein, dass der hel174
fende Soldat einen klaren Kopf behält und sich sicher in seinen Prinzipien ist: „Das kann passieren, dass die Situation so bedrohlich ist, dass, wenn ich mit dem LKW voll Lebensmittel draußen bin, dass sie sich tot trampeln. Das kann passieren, dann kann ich es nicht tun, weil ich mehr Schaden anrichte. Das muss ich in der Situation abwägen, aber im Prinzip geht die Hilfe für den Menschen für mich erst mal vor.“ Auf die Frage hin, aus welchen Gründen möglicherweise die jungen Offiziere auf das Problem so anders reagiert haben als er, gibt dieser Ältere die Antwort, dass „das wahrscheinlich mit militärischer Sozialisation nicht sehr viel zu tun [hat], sondern vielleicht eher mit einer Unsicherheit oder mit der Nichterziehung zum Übernehmen von Verantwortung, denn ich muss mich über Dinge hinwegsetzen, muss eine eigene Position haben.“ Wer Gründe suche, warum er den Befehl befolge, wolle „auf der sicheren Seite“ sein. Zudem wäre bei der Beurteilung des Verhaltens der jungen Offiziere zu bedenken, „dass Neulinge in einer bestimmten Gruppe die Regeln überinterpretieren. Die wollen erst recht richtige Offiziere sein und erst recht zu dem System gehören. Also erfüllen sie die Regeln auch erst recht, können das [aber] noch gar nicht, weil sie haben ihren Verhaltensspielraum selber noch gar nicht ausgekundschaftet, die wissen ja noch gar nicht, wie weit darf man Regeln verletzen, kann man sie verletzen, für die gelten erst mal die Regeln. Und die alten werden den Teufel tun, ihnen den Ungehorsam beizubringen, sie legen sich ja ihre eigene Mine.“ Eigens befragt daraufhin, ob er einen Bezug zwischen der Nichtbefolgung des Befehls und der christlichen Ethik herstellen könne, antwortet der Offizier: „Die christliche Dimension liegt in der höchsten Wertschätzung des anderen, des Gegenüber, also dass der andere gegenüber etwas ist, was eigentlich unschätzbar ist, und das darf ich nicht verletzen. Der Gegenüber ist ja nicht mehr wert als ich selbst und in dem Augenblick, wenn ich dem Gegenüber nicht helfe, verletze ich eine Grundregel. Für mich ist der Kernpunkt der christlichen Überzeugung, die unheimlich hohe Schätzung des Nächsten, des Gegenüber. Von daher ist die Handlung erst mal damit nicht vereinbar, da keine Hilfe zu leisten.“ Dann erzählt der einsatzerfahrene Offizier ein Beispiel, das er in Zusammenarbeit mit den Briten erlebt hat: „Die haben verletzte Frauen in den UN-Fahrzeugen transportiert, wir haben sie zur ärztlichen Versorgung gebracht, wir haben sie beschützt, auch wenn es verboten war, und die Briten gelten als harte Profis. Aber, die haben sich in dem Einsatz wirklich auch als Menschen gezeigt und verhalten und haben genau abgewogen, was können sie tun, um den Einsatz und ihren Auftrag nicht zu gefährden, die haben eine Balance gefunden, die haben pragmatische Lösungen gefunden. Was kann ich tun, um zu helfen, ohne dabei meinen Einsatzauftrag zu zerstören.“ Hier wird eine Tendenz erkennbar, zwischen Auftrag und Mitmenschlichkeit in 175
solcher Weise zu vermitteln, dass die Anerkennung der Berechtigung des Auftrages nicht in Frage steht, die Mitmenschlichkeit aber auch nicht auf der Strecke bleibt. Entsprechend führt der Offizier aus, dass es nicht darauf ankomme, zwischen Zivilisten und Soldaten zu unterscheiden, sondern darauf zu schauen, wessen Leben unmittelbar in höherem Maße bedroht ist. „Es gibt keinen Unterschied zwischen Zivilisten und Soldaten, sondern es gibt nur eine brennende oder eine weniger brennende Situation. Wenn der Soldat stärker gefährdet ist in dem Augenblick, helfe ich natürlich dem Soldaten, auch wenn der andere in zweiter Linie verhungert. Aber in dem Augenblick ist erst mal dieses Problem zu lösen, vielleicht kann ich ja in fünf Minuten später dem anderen auch helfen, aber es ist erst mal die bedrohlichere Situation zu lösen und es ist egal, ob es ein Zivilist oder ein Soldat ist.“ Explizit wird der Zusammenhang zwischen der Hilfe für einen Mitsoldaten und Kameradschaft verneint: Die Pflicht zur Kameradschaft „ist eine gesetzliche Pflicht, die dafür sorgt, dass Menschen ohne Ansehen der anderen Person in einer Organisation zusammenarbeiten“. Das Wort Kameradschaft werde völlig überzogen, wenn es zur Einteilung der Menschen in zwei Klassen mit unterschiedlichem Anspruch auf Hilfe und Unterstützung benutzt würde.
3
Zwischen zwei „Befehlen“
„Das Prinzip der Nächstenliebe“ fordert, so gesteht mancher Offizier ein, das Teilen von Nahrungsmitteln. „Als guter Christ sollte man sich geradezu verpflichtet fühlen, einem hilfsbedürftigen Menschen zu helfen und mit ihm die eigenen Nahrungsmittel zu teilen.“ Wie das Befolgen von Befehlen des Vorgesetzten wird auch in Bezug auf das Christentum das Befolgen von Geboten gefordert. So heiße es in der Heiligen Schrift etwa in der Ankündigung des Weltgerichts, zu dem Christus wiederkommen wird: „Ich bin hungrig gewesen, und ihr habt mir zu essen gegeben. Ich bin durstig gewesen, und ihr habt mir zu trinken gegeben. (…) Dann werden ihm die Gerechten antworten und sagen: Herr, wann haben wir dich hungrig gesehen und haben dir zu essen gegeben? (…) Und der König wird antworten: Wahrlich ich sage euch: Was ihr getan habt einem von diesen meinen geringsten Brüdern, das habt ihr mir getan.“ (Mt 25, 31–40) Zwar nennen die befragten Militärs nicht explizit diese oder andere Textstellen im Neuen Testament, die Nächstenliebe von den Jüngerinnen und Jüngern Jesu fordern. Trotzdem haben sie häufig eine deutliche Idee davon, was „ein guter Christ“ zu tun hätte. Dasselbe fordere auch das eigene Gewissen. Das Gewissen ist die Instanz, welche die Geltung des ethischen Urteils gewährleistet. Gewissen bezeichnet ein inneres Wissen des Menschen, das es ihm ermöglicht, zwischen Gut und Böse, ethisch-wünschenswert und ethisch-verwerflich, Recht und Unrecht zu unterscheiden. 176
Die Frage allerdings, „ob jemand mit ruhigem Gewissen an jemanden vorbeigehen kann, der hungert und dessen Leid man selber mindern kann“, bleibt vielfach unbeantwortet. Sie wird von den Soldaten meist unpersönlich gestellt. Die Perspektive des Ich, das sich in die virtuelle Situation hineinversetzt und für sich eine Lösungsmöglichkeit geistig zu antizipieren sucht, wird kaum eingenommen. Bevorzugt wird dagegen eine Perspektive der Selbstdistanz, welche die vorgestellte eigene menschliche Entscheidung auf die Ebene widerstreitender Prinzipien reduziert. Wenn aber zwei Prinzipien, die beide wie zwei Befehle einen hohen Geltungs- und Verbindlichkeitsanspruch erheben, einander gegenübergestellt werden, dann wird die Möglichkeit der individuellen Entscheidung auf zwei Pole verengt. Und wenn die Entscheidung für die einsinnige Unterstellung unter die militärische Befehlskette fällt, dann dürften Konflikte vorprogrammiert sein – schließlich kann kein Mensch auf Dauer wider sein eigenes inneres Empfinden und wider seine moralischen Überzeugungen handeln: Entweder führt die Entscheidung für Gehorsam in entsprechenden Situationen zu immer abstruseren Rechtfertigungen für die Geltung der Vorgaben der militärischen Vorgesetzten oder zu einem latenten Widerstreben, das sich letztlich bis hin zur Gleichgültigkeit gegen leidende Mitmenschen und gegen die eigene Organisation entwickeln kann. Es gibt auch die Möglichkeit, sich für den anderen Pol zu entscheiden, was ebenfalls eine Verengung der individuellen Handlungsmöglichkeiten zur Folge haben kann. In diese Richtung haben die befragten Theologen vorzugsweise argumentiert. Bei ihren Antworten fiel zuerst eine große Vielfalt ins Auge. Jeder hatte seine eigene Problemexposition und Antwort, wobei nur eines bei allen Befragten übereinstimmte: der Versuch, sich stärker in die Hungernden als in die Soldaten hineinzuversetzen. Alle Befragten hatten jeweils ein höheres Interesse, sich mit der individuellen Dimension des Dilemmas auseinander zu setzten, sich selbst und ihr Handeln unter dem Gesichtspunkt: was täte ich, wenn ich einem Hungernden in Afrika gegenüberstände, zu reflektieren. Deshalb mögen sie die militärische Dimension, die in dem vorgestellten Fall mit dem Stichwort „Befehl“ charakterisiert wird, nicht recht in den Blick nehmen. Stattdessen argumentieren die Theologen mit Theorien oder Theoriefragmenten, die es dem Einzelnen erlauben, sich von der militärischen Welt zu sondern und zu unterscheiden. 3.1
Wider die konventionelle militärische Ethik
Einer der befragten Theologen weist ausdrücklich darauf hin, dass Entwicklung des moralischen Bewusstseins der wissenschaftlichen Forschung zufolge einem von dem Pädagogen Lawrence Kohlberg (1927–1987) entwickelten Schema folgt: Es gebe „Stufen der moralischen Urteilsbildung“. (Kohlberg 177
1995) „Nach dem Kohlberg-Schema gefordert ist sozusagen militärische konventionelle Ethik“ seitens der Soldaten. „Also der strikte Befehl auf Unterlassung heißt, es gibt eine Regel, die muss beachtet werden, ein Verbot, das muss eingehalten werden und dadurch ist die Verhaltensorientierung oder auch die ethische Entscheidung bestimmt.“ Einen höheren Rang nehme in Kohlbergs ethischem Schema die „Weiterentwicklung des individuellen moralischen Bewusstseins zur Stufe einer eher prinzipiengeleiteten Orientierung [ein], die wie auch immer begründet werden kann.“ Die ethische Entwicklung nach Kohlberg sei bei Soldaten vornehmlich auf einer mittleren Stufe stehen geblieben, weil die Prinzipienleitung des individuellen Handelns durch das Prinzip Befehl nicht zu ersetzen sei. Ob das Urteil über die Soldaten stimmt, mag dahin gestellt bleiben. Auf jeden Fall spiegelt sich hier das Selbstbewusstsein, seinerseits jenseits dieser Stufe – auf einer höheren Stufe – argumentieren und handeln zu können, wider. Der Befragte weist aber auch darauf hin, dass kein Soldat auf der Stufe konventioneller Moral stehen bleiben müsse. Denn „die konventionelle Moral der Truppe“ ist „in unserer Rechtsordnung an das Grundgesetz“ gebunden, das „sozusagen prinzipiengeleitete moralische Orientierung ist“. Mit der Feststellung der Unantastbarkeit der Würde des Menschen ist „im Grunde jeder Kommandeur und jeder Soldat gefordert, ethische Abwägungen zu machen, und es kann, auch bei nichtchristlicher Orientierung, immer wieder dazu kommen, dass konventionelle Moral überschritten wird“. Der Interviewte weist übrigens eigens darauf hin, dass auch die christliche Religion „jede Menge konventionelle Moralvorstellungen“ enthält und nicht selten Gebote über die konkrete Zuwendung zum hilfsbedürftigen Menschen gestellt hat. „In den verschiedenen Lebensbereichen muss eine Entwicklung in Richtung einer prinzipiengeleiteten Abwägung zwischen aktueller Herausforderungssituation und den existierenden Regeln gefördert werden, damit sich im Sinne der prinzipiengeleiteten Moral die Menschen als Individuum und auch als soziale Gemeinschaft entwickeln können.“ Natürlich gebe es immer wieder auch Situationen, in denen sinnvoller Weise konventionell reagiert werden müsse. Schließlich müsse „jeder Christenmensch sich an die Verkehrsregeln halten“. Dieser Befragte gibt an, das Prinzip seines Handelns christlich begründen zu wollen. Er weist darauf hin, „dass in der ganzen biblischen Erzähltradition die Zuwendung zu den Armen und zu den in unmittelbarer Not befindlichen Menschen zwingenden Handlungsaufforderungscharakter hat. Das heißt also, ich würde in diesem Fall als Kommandeur entsprechend entscheiden und dafür sorgen, dass eben die Leute, die ich befehlige, sich entsprechend auch orientieren und ich würde auch selber gegen den Befehl – hoffentlich – handeln.“ Die christliche Handlungsmaxime wird der militärischen Forderung übergeordnet. Aber einschränkend und realistisch sich selbst gegenüber be178
merkt der Befragte: „Ob ich den Mut dazu habe, ist noch die zweite Frage.“ Dann wird von demselben Theologen auch überlegt, dass das individuelle befehlswidrige Handeln Folgen sowohl für die eigene Truppe wie für die Schutzbefohlenen haben kann. Deshalb müsse man „dafür sorgen, dass dadurch [die befehlswidrige Abgabe von Nahrungsmitteln, A. D.-D.] keine anderen Gefährdungen eintreten“. Auf weiteres Befragen hin erläutert der Theologe, welche Geschichten aus der biblischen Erzähltradition er im Blick hat, durch die er sein prinzipiengeleitetes Handeln bestimmen lassen will: „Erzählungen, Sozialgesetze, Verheißungen, die ganz deutlich machen, dass die Orientierung auf die Lebensperspektive der Armen für den Gott Israels und Vater Jesu Christi charakteristisch ist. Es gibt in der Sozialgesetzgebung des Alten Testaments, also in den Büchern Leviticus, Deuteronomium und vor allen Dingen auch Exodus, also im Bundesbuch, immer wieder Forderungen, Witwen und Waisen nicht zu bedrängen, die Äcker nicht vollständig abzuernten, dass also die Armen sich etwas holen können; es gibt das Verbot, Zins zu nehmen, weil eben dadurch die Armen in Schuldknechtschaft getrieben werden können und so weiter. Es gibt die Regelung des Sabbats und auch die des siebenjährigen Sabbatsjahres, wo eben halt Schuldverhältnisse wieder zurückgefahren werden und auch die Fantasie, die wahrscheinlich nie eine richtige Regelung gewesen ist, dass alle fünfzig Jahre alle Verschuldungssituationen aufgehoben werden, und es gibt im Neuen Testament, also in der Bergpredigt (Mt 5, 1– 10) beispielsweise oder auch eben halt in der Endgerichtsszene (vgl. oben) genauso deutlich die Aufforderung: ‘So wie ihr euch gegenüber dem Geringsten verhaltet, also den Ärmsten, so verhaltet euch gegenüber Jesus.’ Das ist also eine Linie, die durch die ganze biblische Erzähltradition durchgeht und für Christenmenschen ist die Bibel die verbindliche Erzähltradition. Christenmenschen werden eben dadurch zu Christenmenschen, dass sie sich von dieser Erzähltradition leiten lassen.“ Auf die Aufforderung hin, sich in die soldatische Situation hineinzuversetzen und gegebenenfalls als Christ einem Vorgesetzten gegenüber zu argumentieren, wird ausgeführt, dass man wohl am ehesten in die Situation geraten würde, als Untergebener sich einem Befehl widersetzt zu haben und nun in einer juristischen Untersuchung bestehen zu müssen. „Also, ich würde wahrscheinlich vorgeladen, ich muss mich rechtfertigen und so weiter und dann würde ich ganz deutlich sagen: Die Bundeswehr ist die Armee eines demokratischen Rechtsstaates, in dem die Ausübung von Religion grundrechtlich geschützt ist und die Armee hat nicht zuletzt den Auftrag, diese Grundrechte zu schützen. Das heißt, sie gelten auch für die Soldaten. Also, ich würde in diesem Fall wirklich sagen, wo es um die Behebung einer existenziellen Notsituation geht, die ich mit meinen Mitteln beheben kann, wenn 179
ich eben halt Nahrungsmittel habe, das ist ein unmittelbar religiöses Handlungsfeld.“ Damit wird festgestellt, dass ein Befehl auf Unterlassung der Herausgabe von Nahrungsmitteln für einen christlich geleiteten Soldaten nur insofern Geltung haben könnte wie die Gebote der Religion nicht verletzt werden. Ausführlich denkt der Theologe dann darüber nach, ob er tatsächlich entsprechend der von ihm aufgestellten Maxime hätte handeln können: „Die Frage ist immer, das finde ich auch ethisch relevant, hätte ich die Geistesgegenwart und auch den Mut, mich entsprechend so zu verhalten. Und das ist natürlich eine evangelische Perspektive, auch eine religiöse Frage, die Situation, dass Menschen genau wissen, wie sie sich verhalten müssten, sich aber tatsächlich anders orientieren.“ Eben das nenne der Apostel Paulus (Röm 6) Sünde, das „Besetztsein“ beziehungsweise „Unterworfensein“ durch Ängste und Zwänge, was auch „Sorge heißt, auch gegenüber Mächten, die mich daran hindern könnten und es möglicherweise auch werden, mich aktuell richtig zu verhalten in dem Sinne, wie ich es beschrieben habe“. Theologisch gesprochen tritt eben an dieser Stelle die Bitte um Vergebung auf den Plan. Der Zweifel an der eigenen Widerstandsfähigkeit „ändert aber nichts an der Richtigkeit der Perspektiven“, an den aus der christlichen Tradition heraus entwickelten Prämissen. Es handele sich beim Zweifel nur um die Einsicht in die eigene Begrenztheit „meiner Präsenz“, die Einsicht darein, dass ich mich in der konkreten Situation „meinem aktuellem Lebensmut entsprechend verhalte“. Auffällig an dieser Selbstpositionierung ist das völlige Fehlen eines Hinweises auf Hilfsorganisationen. Der Ansatz für alle Überlegungen liegt beim Individuum, das sich durch eine zufällig erfahrene Notsituation herausgefordert fühlt zur eigenen Hilfeleistung entsprechend seiner ethischen Überzeugung, die aus dem breiten biblischen Überlieferungsstrom zum Thema Nächstenliebe gespeist wird. Humanitäre Hilfe zu leisten ist eine an jeden Christen gerichtete Aufforderung. Diese Forderung ist unbedingt und unhintergehbar. Sie lasse sich nicht wegargumentieren oder unterdrücken. Es mag sein, so denkt der Befragte weiter, dass der Einzelne sich aufgrund seines individuellen Versagens als im religiösen Sinne schuldig sieht – dann wäre das der Ansatzpunkt für die Bitte um Vergebung. Auf Rückfrage hin, ob nicht die individuelle humanitäre Hilfe weniger die Aufgabe von Soldaten als die von zivilen Helfern sei, wird noch einmal eigens ausgeführt, dass es gerade „im Sinne der Friedenserhaltung ein schlechtes Signal ist“, wenn die Truppe nichts von dem abgäbe, was sie hat. Entscheidend für diese Position ist die Überzeugung: „Ich muss in der Situation selber entscheiden.“ Gegebenenfalls „fordert mich das Angesicht des anderen direkt und zwingend auf, mich zu ihm zu verhalten im Sinne seiner 180
Lebensförderung“. Diese Antwort ist natürlich der kritischen Kontrollfrage zu unterziehen, ob es sich dabei um eine eher theoretische Forderung handelt, die leicht zu erheben ist, wenn „das Angesicht des anderen“ in einem fernen Land, also faktisch nur im Fernsehen sichtbar ist, oder ob das immer und überall gilt. Deshalb reflektiert der Befragte im Folgenden darüber, wie er sich gegenüber Bettelnden in Hamburg verhält: „Ich sehe schon zu, wenn ich ins Kino gehe oder sonstwohin, dass ich Kleingeld dabei habe.“ Es gehe darum, dass Hilfe nicht an andere delegiert werden könne. 3.2
Gefährdung des Charakters im Militär
Ein evangelischer Gemeindepfarrer, lange Jahre im Gemeindedienst und in analytisch orientierten Gesprächsgruppen tätig, antwortete auf die im Fall ‘Beled Weyne’ angerissene Dilemmasituation aufgrund seiner psychologischen Schulung in anderer Weise: „Das ist ein Problem, das auf verschiedene Weise, auf verschiedenen Gebieten immer wieder kommt. Aus psychologischer Perspektive kann man sagen, dass eine Entweder-Oder-Entscheidung schon ein verengtes Wahrnehmungsvermögen voraussetzt. Im Grunde müsste man sehen, wie kommt man zu weiteren Entscheidungen und nicht zu einer solchen Verengung, wie sie da gegeben ist, und zu so einer Zuspitzung. Dieses Dilemma ist persönlich ja eigentlich gar nicht zu lösen. Als Individuum kann der Soldat nicht vorbei gehen, wenn jemand hungert; und als Untergebener einer Militärinstanz, in die er eingebunden ist, kann er nichts geben. Das heißt, in so einer Lage kommt man immer in eine besondere Entscheidungssituation und man wird sich, je nachdem, wo und wann einem das Herz übergeht, wahrscheinlich entscheiden, etwas zu geben mit einem schlechten Gewissen und wird auf der anderen Seite stinkesauer sein auf Leute, die solche Kommandos geben.“ Im Prinzip weiß der Soldat, dass er nichts geben darf, de facto aber – so vermutet dieser Theologe – wird der Soldat etwas geben. „Und das heißt also, wer solche Dinge von den Soldaten fordert, wird Normverstöße als Konsequenz erfahren und eine miese Stimmung in seiner Truppe erzeugen. Ob das sinnvolle Truppenführung ist, halte ich für sehr fraglich.“ Es würde nun aber nicht reichen, wenn der Militärpfarrer den zuständigen Kommandeur dahingehend beraten würde, nach Wegen zu suchen, in welche das Bedürfnis nach Hilfsbereitschaft bei seinen Soldaten kanalisiert werden könnte. Denn es sei unwahrscheinlich anzunehmen, dass der Kommandeur spontan aus eigener Entscheidung den Befehl erteilt habe. Es sei vielmehr damit zu rechnen, dass er selbst an entsprechende Richtlinien gebunden sei. Wichtig sei in jedem Fall, dass der Kommandeur es vermeidet, die Untergebenen in solche Gewissensentscheidungen hineinzudrängen, die die Schlagkräftigkeit der Truppe gefährden. 181
Wenn die jungen Offiziere von der Bundeswehruniversität vor allem mit dem Versuch der Rechtfertigung des Befehls reagierten – eine Information, welche die Interviewerin einbrachte –, so sei das wohl der Tatsache zu danken, dass sie „noch gar nicht in solchen Entscheidungssituationen drin waren und noch nicht im Ausland waren, wahrscheinlich auch keine Familie dort kennen gelernt haben oder gar eine eigene Freundin dort gehabt haben“. Dann zieht der Pfarrer eine Linie zur Wehrmacht, die die Bevölkerung von Sankt Petersburg ausgehungert habe: „Man kann nicht mit dem Finger darauf zeigen, wenn man selber nicht flexibler handelt.“ Wenn man die Versorgung der eigenen Truppe vor die Hilfe für die Zivilbevölkerung stelle, „dann ist man nicht weit von Wehrmachtspraktiken, die zwar bestimmte Wehrmachtsoffiziere für sich abgelehnt haben, die aber doch praktiziert worden sind“. Die Studenten hätten ihre Antworten gewiss nicht aus Herzlosigkeit, sondern viel eher aus jugendlicher Unerfahrenheit gegeben: „Die haben das theoretisch diskutiert.“ Wenn sie so wenig Empathie zeigten mit bettelnden Menschen, mit Kindern mit Hungerbäuchen, dann dürfte das damit zusammenhängen, „dass auf der Bundeswehruniversität eine hohe Identifikation mit Staat und Bundeswehr da ist, die Entscheidungsfreiheit in einer gewissen Weise beeinträchtigt und die auch wahrscheinlich von späteren Lebenserfahrungen eingeholt werden wird. Ich möchte die jungen Leute, die dort sind, nicht anders beurteilen als andere jungen Leute. Denn sonst würde das ja heißen, dass sie relativ herzlos sind. Das glaube ich nicht. Das ist einfach eine Identifikationsfrage und möglicherweise sogar mit Angst verbunden, dass man [bei einer anderen Entscheidung, A. D.-D.] etwas gegen den eigenen Lebensweg tut. Ich darf daran erinnern: Meine erste Begegnung mit unserer neuen Bundeswehr war, lange Zeit nach deren Gründung, eine Freizeit mit Bundeswehroffizieren und ich hatte das Thema vorgeschlagen: ‘Angst als geheime Triebfeder vieler Handlungen’. Und da sagte der General, das wäre kein Thema, ein Soldat habe keine Angst. Und in diese Richtung scheinen mir manche Dinge hier auch zu laufen, so in Richtung, und er [der General, A. D.-D.] erschloss messerscharf, was nicht sein kann, was nicht sein darf. (…) Später hatte ich eine Sache mit Stabsoffizieren und vorgeschlagen als Thema: ‘Charakterform oder -verformung’. Ich hatte das am ‘verlorenen Sohn’ [gemeint ist: Gleichnis vom verlorenen Sohn, Lk 15, 11–32, A. D.-D.] erarbeiten wollen und ließ die Dinge offen, um sie zum Erkennen kommen zu lassen. Aber die wollten aber immer eine Definition haben. Die Frauen der Offiziere haben das Thema verstanden, während die Offiziere stur marschierten auf eine Definition zu.“ Im Unterschied zu den allseits bekannten Gleichnisauslegungen bestimmt dieser Theologe als den ‘verlorenen Sohn’ den zu Hause gebliebenen Sohn. Das schiene doch der Sohn mit Charakter zu sein, der immer da ist und arbeitsam. „Aber freuen kann er sich nicht.“ 182
Es gehe also nicht nur darum, dass die jungen Offiziere zu älteren und lebenserfahrenen Menschen heranreifen müssen, sondern auch darum, dass sie im Militär Möglichkeiten erhalten, sich als Persönlichkeiten mit einem positiven Verhältnis zum Mitmenschen zu bilden. Nach Siegmund Freud (1856–1939) bestände die Notwendigkeit auch militärischer Selbst-Ausbildung darin, zu lernen, „sich mit möglichst unterschiedlichen, verschiedenen Seiten identifizieren zu können“. Identifikation kann mit dem Aggressor erfolgen. So könne man fragen, „ob bei den Antworten der jungen Offiziere nicht ein bestimmter Abwehrmechanismus dabei ist. Sie wehren das Leid von anderen ab. Ein Abwehrmechanismus ist immer nötig, um ein schwaches Selbst zu schützen. Und die Frage ist, wenn der Mann [gemeint ist der Kommandeur in dem Dilemma-Fall, A. D.-D.] so etwas macht, ob er nicht regressive Tendenzen fördert statt progressive.“ Junge Soldaten in einer solchen Haltung zu bestärken würde „völlig dem Muster widersprechen vom ‘Bürger in Uniform’. ‘Bürger in Uniform’ ist sicher jemand, der regredieren kann und progredieren, aber nicht in dieser Form. Bürger heißt doch, dass der Soldat mit einer gewissen Ich-Stärke entscheiden kann und so ein Befehl erfordert keine Ich-Stärke sondern Kadaver-Gehorsam. Und damit kann eine Armee im Sinne von de Maizière nicht überleben.“ Wenn die Soldaten ausschließlich systemkonform agieren, werden sie, wenn das nicht mehr geht, „in die innere Immigration gehen und werden sagen, die ganze Scheiß-Armee, der ganze Scheiß-Krieg und dieses dämliche System, das überhaupt nicht läuft, kann ja nicht laufen, wie kann man so etwas Idiotisches machen. Die Gefährdung besteht ja immer, kenne ich aus eigenem Leben, wie schnell man selber in einen regressiven Zustand kommt.“ Abschließend weist der Pfarrer noch einmal darauf hin, dass er mit dem Stichwort „Identifikation mit dem Aggressor“ nicht den militärischen Vorgesetzten als Angreifer und Gegner gezeichnet haben wollte. „Ich meine das nicht in dem Sinne von aggressiv, sondern ich meine, wenn solche Gesetzgebungen da sind, dann überwinden sich viele Menschen durch diese Form der Identifikation, aber natürlich mit schweren, mit ausgeblendeten oder überspielten oder nicht wahrgenommenen seelischen Verkümmerungen.“ Der Pfarrer überlegt dann weiter, „wie man dagegen steuert. Und hier halte ich euer Institut [gemeint ist das Sozialwissenschaftliche Institut der Bundeswehr, A. D.-D.] und auch die Militärseelsorge für notwendig“. Das Ziel dieser Einrichtungen müsse darin liegen, dass die Möglichkeit gegeben werden muss, dass ein anderer das Problem noch mal kritisch durchdenkt. „In diesem Sinne muss also immer etwas da sein in der Bundeswehr, das es ermöglicht, dass man sich kritisch mit bestimmten Dingen auseinander setzt.“ Dafür muss es jemanden geben, der dem Soldaten sagt: „Du brauchst keine Angst zu haben. Das heißt also, man muss eine Situation herstellen, in der 183
angstfrei noch einmal etwas überlegt werden kann. Und das ist für mich dafür die Voraussetzung, dass ein Mensch die Freiheit der Entscheidung behält. In einem im Grunde – wie soll man sagen – geschlossenen System müssen Leute drin sein, die das System noch einmal reflektieren, damit solche einseitigen Einbindungen nicht passieren.“ Jedes geschlossene System braucht demnach – systemisch gedacht – in sich einen Ort, in dem es sich geistig außerhalb seiner stellen kann, sich gleichsam von außen auf den Prüfstand stellt.
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Mitmenschlichkeit als höchste Soldatentugend
Mitmenschlichkeit gegenüber dem schutzbedürftigen Menschen gilt meist nicht als wichtigste Soldatentugend. Weder fordert das Soldatengesetz Mitmenschlichkeit, noch steht Mitmenschlichkeit im Mittelpunkt irgendwelcher Dienstvorschriften. Das ist von der Sache her richtig, denn Mitmenschlichkeit kann nur schwerlich eingefordert werden. Es gibt aber im Strafgesetzbuch die Pflicht zur Hilfeleistung und die Drohung, unterlassene Hilfeleistung zu bestrafen, wenn Hilfe möglich gewesen wäre (§ 323c): „Wer bei Unglücksfällen oder gemeiner Gefahr oder Not nicht Hilfe leistet, obwohl dies erforderlich und ihm den Umständen nach zuzumuten, insbesondere ohne erhebliche eigene Gefahr und ohne Verletzung anderer wichtiger Pflichten möglich ist, wird mit Freiheitsstrafe bis zu einem Jahr oder mit Geldstrafe bestraft.“ Jeder Deutsche ist also dazu verpflichtet, einer anderen Person Hilfe zu leisten, wenn die Situation das verlangt. Zudem heißt es im Grundgesetz (Art. 1, Abs. 1), dass es die „Verpflichtung aller staatlichen Gewalt“ sei, den Menschen „zu achten und zu schützen“. Und eben dafür besteht die Bundeswehr, dafür wird sie im Ausland eingesetzt: Sie soll den Menschen schützen, dessen Lebensmöglichkeit bedroht ist. Es handelt sich entsprechend den Vorgaben des Grundgesetzes um eine Armee, die denjenigen Menschen Hilfe bringen soll, die der handfesten Beweise von Mitmenschlichkeit bedürftig sind. Zu diesem Zweck arbeitet die Bundeswehr zusammen mit zivilen Hilfsorganisationen. Das entbindet den einzelnen Soldaten aber nicht von seiner Pflicht zur Hilfeleistung in einer konkreten Situation. Kann die Pflicht zum Gehorsam, wie er im Soldatengesetz (§ 11) gefordert wird, über das Strafgesetzbuch und das Grundgesetz gestellt werden? Wohl kaum. Es ist daran zu erinnern, dass selbst das Soldatengesetz unter dem Stichwort Gehorsam (§ 11) feststellt: „Ungehorsam liegt nicht vor, wenn ein Befehl nicht befolgt wird, der die Menschenwürde verletzt.“ Zugleich gilt aber auch, dass der Soldat in der Verantwortung für seinen Gehorsam wie für seinen Ungehorsam steht. 184
Mitmenschlichkeit ist die ins Säkulare gewendete Form der Nächstenliebe, wie sie Jesus als Kennzeichen seiner Jünger gefordert und ihnen vorgelebt hat. Mitmenschlichkeit ist die Konsequenz der Menschenwürde, die nach dem Grundgesetz jedem Mitmenschen gebührt. Die Idee der Menschenwürde ist der gesamteuropäischen Tradition abgeleitet aus der Idee einer Gottebenbildlichkeit des Menschen. In klassischer Form wird sie im Schöpfungsbericht der Bibel formuliert: „Gott sprach: Lasst uns Menschen machen nach unserem Bilde“ (1. Mose 1, 26). Dieses jüdisch-christliche Erbe, geprägt und gefiltert durch Humanismus und Aufklärung, steht im Hintergrund des europäischen Wertekanons. Diese Wurzeln werden gegenwärtig nicht immer genannt. Sie haben aber das Ethos der Verfassungsväter und -mütter bestimmt. In diesem Sinne sollte jeder Bundesbürger, auch der deutsche Soldat sein Handeln ausrichten. Auch der Soldat muss in diesem Sinne ein Mensch sein können, der sich menschlich gegenüber anderen Menschen verhält. Entsprechend ist in den frühesten offiziellen Schriften der Bundeswehr, etwa dem „Handbuch Innere Führung“ aus dem Jahr 1957 zu lesen: „Menschlichkeit ist nicht teilbar. Soll sie nur noch bestimmten Gruppen vorbehalten bleiben, so wird sie ganz und gar verloren gehen. Der Soldat, der keine Achtung vor dem Mitmenschen hat, – und auch der Feind ist sein Mitmensch – ist weder als Vorgesetzter noch als Kamerad oder Mitbürger erträglich.“ (Handbuch Innere Führung 1957: 64) Der Verfasser dieses Teiles des Handbuchs, Wolf Graf von Baudissin (1907– 1993), führt in einem Interview im Jahre 1959 weiter aus: „In Konfliktsituationen steht der Soldat – wie jeder andere Mensch mit Verantwortung für Mitmenschen und Auftrag – allein vor seinem Gewissen.“ (zit. n. DörflerDierken 2005: 173) Aus diesen Überlegungen ergibt sich ein Sachkriterium für das soldatische Handeln: Jeder einzelne Soldat hat sich immer so zu verhalten, dass sein Handeln dem bedürftigen Mitmenschen dient. Der Mensch, um den es geht, ist jeweils der Hilfsbedürftige, sei er Zivilist oder Kamerad. Der Mensch, um den es geht, ist aber auch der Soldat selbst, der sich nicht zwingen darf noch sich zwingen lassen darf, elementare menschliche Regungen zu unterdrücken. Entsprechend stellte schon Desiderius Erasmus von Rotterdam (1469– 1536) fest, man nenne „allgemein alles, was zum gegenseitigen Wohlwollen gehört, ‘menschlich’ (…), so daß das Wort ‘Menschlichkeit’ nicht schon unsere Natur bezeichnet, sondern das sittliche Verhalten eines Menschen, das seiner Natur würdig ist“. (Erasmus von Rotterdam 1995 [1517]: 367)
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Abschließende Bemerkung
Es konnte in der vorstehenden Auseinandersetzung mit dem Dilemma-Fall aus „Entscheiden und Verantworten“ nicht darum gehen, zwischen richtigen und falschen, guten und schlechten Antworten zu unterscheiden. Es ging vielmehr darum, den Blick zu öffnen für die verschiedenen Perspektiven, die verschiedene Menschen mit unterschiedlicher beruflicher Sozialisation und Perspektive auf dasselbe Problem werfen. Dabei fällt auf, dass in dem vorliegenden Fall zwei Denk- und Argumentationsperspektiven aufeinander treffen, die ihren Ausgangspunkt jeweils unterschiedlich wählen und deshalb auch zu unterschiedlichen Schlüssen und Ergebnissen kommen. Dient in der einen Argumentationskette der soldatische Gehorsam gegenüber dem Befehl dem Selbstschutz und dem Schutz der militärischen Gemeinschaft, so wird in der anderen Argumentationskette auf die individuelle Verantwortlichkeit für den Mitmenschen und das Selbst abgehoben. Beide Argumentationsketten haben ihre Berechtigung. Zu fördern wäre allerdings die Integration beider Perspektiven in der Selbstwahrnehmung und Argumentationskultur von Soldaten wie von Theologen – eine Argumentationskultur, die in Übereinstimmung mit den Werten und Traditionen Europas und des Grundgesetzes steht.
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Literaturverzeichnis Erasmus von Rotterdam, Desiderius (1995 [1517]). Querela pacis. Die Klage des Friedens. In: Welzig (1995): 359–451. Dörfler-Dierken, Angelika (2005). Ethische Fundamente der Inneren Führung. Baudissins Leitgedanken: Gewissensgeleitetes Individuum – Verantwortlicher Gehorsam – Konflikt- und friedensfähige Mitmenschlichkeit. SOWI-Berichte, Bd. 77. Strausberg. Sozialwissenschaftliches Institut der Bundeswehr. Kohlberg, Lawrence (1995). Die Psychologie der Moralentwicklung. Frankfurt am Main: Suhrkamp. Lind, Georg (2003). Moral ist lehrbar. Handbuch zur Theorie und Praxis moralischer und demokratischer Bildung. München: Oldenbourg. Zentrum Innere Führung (2003). Entscheiden und Verantworten. 2. Aufl. Koblenz. Welzig, Werner (Hrsg.) (1995). Desiderius Erasmus von Rotterdam. Ausgewählte Schriften, Bd. 5, Sonderausgabe. 2. unv. Aufl. Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft.
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„Ich habe mir einfach einen kleinen Dienstplan für das Studium gemacht“ – Zur alltäglichen Lebensführung studierender Offiziere Florian Müller, Martin Elbe & Ylva Sievi „Ich hatte einen Zug geführt, in allen Ausbildungsgängen, ich hatte eine Beurteilung bekommen, die mir bescheinigt hat, dass ich wirklich in der Lage dazu bin (...) was muss ich nun hier im Studium tun? Was ist das Ziel? Ich habe das dann alles sehr bundeswehrtechnisch betrachtet und mir dann einfach einen kleinen Dienstplan für das Studium gemacht, mit allen Zielvorgaben und Zeitstrukturen.“ (Rückblick auf die ersten Tage im Studium eines studierenden Offiziers der Universität der Bundeswehr München)
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Studentenalltag zwischen Dienst und Studienidentifikation
Die vielfach konstatierte Janusköpfigkeit militärischer Organisationen (Geser 1983: 149; Battistelli 1991: 3; Elbe/Richter 2005: 136) bildet sich auch in der Ausbildungssituation von Offizieren der Bundeswehr ab. Insbesondere während des Studiums an einer der Universitäten der Bundeswehr agieren die Offizieranwärter und Offiziere1 in zwei Welten. Einerseits prägt die Ausbildung zum und die Berufstätigkeit als Offizier die Lebenswelt der jungen Soldatinnen und Soldaten. Auf der anderen Seite absolviert der Großteil der Offiziere ein auf einen Zivilberuf ausgerichtetes, staatlich anerkanntes akademisches Studium an einer der Universitäten der Bundeswehr. So lässt sich die Laufbahn des Offiziers der Bundeswehr als eine in unterschiedlichen Welten ablaufende Sozialisation kennzeichnen, während sich militärische und akademische Prägung dabei durchaus überschneiden und überlagern können (Elbe/Müller, im Erscheinen). Es finden sich studierende Offiziere, die Studium und Militär als getrennte Welten interpretieren, anderen gelingt es, beide Aspekte ihres Berufes in ihrem Alltag relativ widerspruchsfrei zu integrieren. In diesem Beitrag soll der Frage nachgegangen werden, wie studierende Offiziere ihren Alltag an der Universität bewältigen. Wie wird die ein- bis dreijährige militärische Sozialisation vor dem Studium mit den Anforderungen und Erwartungen des akademischen Studiums verknüpft? Wie organisieren Studierende ihren Lebensalltag auf der Basis der militärischen Vorsozialisation? Zunächst soll in diesem Kapitel ein kurzer Überblick über diejenigen Studien und Konzeptionen gegeben werden, die sich mit Sozialisationsprozessen – im weiteren Sinne – von Studenten der Universitäten der Bundes1
Die männliche Form Offizier meint im Folgenden auch weibliche Offiziere.
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wehr befassen. Anschließend wird in Abschnitt zwei die theoretische Rahmung des Beitrags vorgestellt, wobei hier eine konzeptionelle Verknüpfung des Habituskonzepts (nach Pierre Bourdieu) mit dem Konzept der Alltäglichen Lebensführung (in Anlehnung an die Projektgruppe „Alltägliche Lebensführung“) vorgenommen wird. Im dritten Abschnitt wird eine Analyse der Lebensführung studierender Offizieranwärter und Offiziere anhand von zehn problemzentrierten Interviews aus dem laufenden Forschungsprojekt „Sozialer Aufstieg in der Bundeswehr – Offizierberuf als Aufstiegsberuf?“ vorgestellt.2 Schließlich werden im Kapitel vier die empirischen Ergebnisse auf der Basis der theoretischen Rahmung zusammengefasst. In den letzten beiden Dekaden sind regelmäßig Untersuchungen erschienen, die das Studium an den Universitäten der Bundeswehr direkt oder indirekt zum Untersuchungsgegenstand machten (z. B. Bonnemann 1982, 1984; Bonnemann/Bösand 1993; Bonnemann/Posner 2000; Domsch/Gerpott 1988; Koch/Kosub 1988; Landeck 1988; Marr 2001; Müller 2001a, 2001b; Winteler 1984). Das Forschungsinteresse fokussierte sich dabei vor allem auf Aspekte der Studienwahl, auf die Analyse von Lehr- und Lernprozessen oder auf Fragen der Hochschulsozialisation, wie beispielsweise die Veränderung von zivil- oder militärberuflichen Perspektiven während des Studiums oder auf die damit einhergehenden Ambiguitätskonflikte zwischen Soldatenberuf und akademischem Studium. Hinsichtlich der Lebensführung von studierenden Offizieren ist wenig bekannt. Für zivile Studierende wurden dagegen Studien vorgelegt, die Unterschiede von Handlungs- und Geschmackspräferenzen auf der Basis der Habitustheorie von Bourdieu analysieren (Engler 1993; Engler/FaulstichWieland 1999; Lange-Vester/Teiwes-Kügler 2004) oder Einstellungsmuster, Wertorientierungen sowie Motive des Studierens beziehungsweise Fachkulturunterschiede erheben (Bargel/Ramm/Multrus 2001; Brendel/Metz-Göckel 2002; Gapski/Köhler/Lähnemann 2000). Für die Offiziere der Bundeswehr ist aufgrund der doppelten Berufsausbildung die Integration von akademischer Ausbildung und Militärberuf – besonders während der Phase des Studiums – für die persönliche Entwicklung entscheidend. So weisen Bonnemann und Hofmann-Broll (1999) darauf hin, dass in den 1990er Jahren eine ausgesprochen akademische Orientierung und Identifikation während des Studiums zugunsten einer soldatischen Orientierung an Relevanz verloren hat. Dieser Trend ging auch mit der zunehmenden 2
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Das laufende Forschungsprojekt „Sozialer Aufstieg in der Bundeswehr – Offizierberuf als Aufstiegsberuf?“ wurde von Prof. Steffani Engler † an der Fakultät für Pädagogik der Universität der Bundeswehr initiiert. In diesem Beitrag, den wir Frau Prof. Steffani Engler widmen wollen, wird jener Teilaspekt des Projektes ausgewertet, der die Phase des Studiums an der Universität der Bundeswehr thematisiert.
Perspektive einher, nach zwölf Jahren Verpflichtungszeit die Laufbahn des Berufsoffiziers einzuschlagen (Bonnemann/Hofmann-Broll 1999; Elbe/Müller, im Erscheinen). Gleichzeitig scheinen jedoch zumindest in der ersten Phase des Studiums Ambiguitätskonflikte zwischen den beiden Kulturen Militär und akademisches Studium für die Offiziere weiterhin zu bestehen (Bonnemann/Hartmann 1995). Aber auch nach einem absolvierten Studium hinterlässt die Sozialisation an der Hochschule Spuren. So wird die wahrgenommene Unterschiedlichkeit der Lehr- und Lernkultur an der Universität und der Führungsakademie der Bundeswehr auf umgekehrte Weise für die Individuen evident (Bonnemann/Hartmann 1995). Die relativ restriktive und wenig transparente Lehrkultur an der Führungsakademie wird als nicht passend zu den im Studium erworbenen individualisierten Lernstilen und Anforderungen an das Selbstmanagement von den Lehrgangsteilnehmern erlebt (Bonnemann/Hartmann 1995: 396). Dieses Spannungsverhältnis wird auch für andere moderne Armeen beschrieben, die ihre Offizierausbildungen zunehmend stärker um akademische Anteile erhöhen und um zivil anerkannte Ausbildungsanteile erweitern (Oonincx 2003: 286; Caforio 2003: 153)3. Die Problematik, die die Ambivalenz zwischen militärischer und akademischer Ausbildung zum Thema hat, ist nicht neu. Schon in den 1970er Jahren untersuchte Ennenbach (1977) das Studienverhalten von Offizieren an der Universität der Bundeswehr und kam zu dem Ergebnis, dass die Individuen dazu neigen, ihr Studium als Dienst aufzufassen sowie private und akademisch-dienstliche Welt strikt voneinander trennen. Typischerweise drückt sich dies darin aus, dass die Studierenden einen sog. Di-Mi-Do Studienrhythmus bevorzugen. Dies heißt, dass Offiziere bevorzugt an drei Tagen in der Woche studieren und diese Phase als zeitlich und räumlich vom Privatleben (Wochenende) abgegrenzte Dienstzeit betrachten. Eine akademische Integration wird damit erschwert und der Ambiguitätskonflikt durch eine gelebte Trennung der beiden Welten „bewältigt“. Analysen auf Individualebene zeigen, dass ein akademisches Studium für Offiziere nicht immer konfliktreich verlaufen muss. In den meisten Studien wird durch die summative Betrachtung der Blick auf die individuellen Bewältigungsmuster verdeckt. Für viele Offiziere mit eindeutiger militärischer Karriereorientierung muss ein akademisches Studium nicht zwangsläufig zu Identitätskonflikten führen. Dies zeigt das hohe Studieninteresse und die Identifizierung mit dem Studi3
Die Gründe für die international festzustellende Akademisierung des Offizierberufs sind im gesellschaftspolitischen und professionsbezogenen Selbstverständnis der Streitkräfte zu sehen. Durch die Akademisierung sollen Grundlagen für das neue Aufgabenspektrum von Streitkräften („nontraditional military missions“) gelegt werden, die zivilberuflichen Karriereoptionen nach dem Ausscheiden aus den Streitkräften erhöht sowie die Integration der Streitkräfte in die Gesellschaft aufrechterhalten bzw. gefördert werden (siehe zusammenfassend: Caforio 2003:153).
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um von vorwiegend soldatisch orientierten Studierenden an der Universität der Bundeswehr (Ganslmaier 1999). In retrospektiven Untersuchungen konnte zusätzlich gezeigt werden, dass ehemalige Offiziere, die nun zivilberuflich tätig sind, die gesamte Laufbahn des Offizierberufes als stimmige Erzählung wiedergeben und Ambiguitätskonflikte zwischen Studium und Militärberuf nur als temporäre Erscheinung interpretieren (Elbe/Müller, im Erscheinen; Elbe/Prodzinski 2001). Die bisherige Forschung berücksichtigend, betrachten wir hier die soziale Praxis und die damit einhergehenden Orientierungen der individuellen Lebensführung des Offiziernachwuchses während der Phase des Studiums. Zunächst werden wir aber das theoretische Rahmenkonzept der Studie vorstellen.
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Alltägliche Lebensführung und Habitus
Die Vorstellung, dass Angehörige des Militärs und dabei insbesondere die Offiziere durch einen esprit de corps in Auftreten, geistiger Haltung und Handlungsdisposition geprägt seien und sich demgemäß grundsätzlich als Soldaten, bzw. insbesondere als Offiziere verhalten, nährt sich aus der ehemals ständischen Gebundenheit des Offizierkorps an den Geburtsadel und ab dem 19. Jahrhundert zumindest an einen zugeschriebenen Adel der Gesinnung (Elbe 2004: 418) – eben dies wird den Offizieranwärtern während ihrer militärischen Sozialisation vor dem Studium vermittelt. In jüngster Zeit wurde diese Handlungsdisposition vielfach mit dem Habitus-Konzept Pierre Bourdieus (z. B. Bourdieu 1976, 1983, 1987) erklärt, wobei der Habitus des Herkunftsmilieus in Verbindung mit dem spezifischen Aufbau insbesondere von kulturellem und sozialem Kapital im Rahmen der Offizierausbildung zu einem Offizierhabitus verschmilzt, der auch auf die asketischen und disziplinierenden Aspekte der protestantischen Ethik (in Anlehnung an Weber 1993) rekurriert (Elbe 2004; Hagen 2003; Moelker 2003). Bourdieu geht in seiner theoretischen Konzeption von der Herstellung und Reproduktion des klassen(respektive milieu-) spezifischen Habitus in der sozialen Praxis aus, bleibt dabei aber der Handlungsdisposition eines stilisierten Lebens (oder: Lebensstilen) verhaftet und abstrahiert vom tatsächlichen Tun zur Handlungsneigung: „Gegenstand der Erkenntnisweise schließlich, die wir praxeologische nennen wollen, ist nicht allein das von der objektivistischen Erkenntnisweise entworfene System der objektiven Relationen, sondern des weiteren die dialektischen Beziehungen zwischen diesen objektiven Strukturen und den strukturierten Dispositionen, die diese zu aktualisieren und zu reproduzieren trachten.“ (Bourdieu 1976: 147) Bourdieu bleibt damit einer sozialisationstheoretisch fundierten Analyse auf der Makroebene soziologischer Erklärung 192
verhaftet und erklärt die Veränderungstendenzen oder eben das Beharrungsvermögen eines klassenspezifischen Habitus. Trotz einer „Theorie der Praxis“ (Bourdieu 1976) bleibt das handelnde Individuum in seinem alltäglichen Tun hinter einer Nebelwand sozialstruktureller Verflechtungen verborgen.4 Dies zeigt sich auch in den angeführten Analysen des Offizierhabitus von Elbe 2004, Hagen 2003 oder Moelker 2003: Herkunft, Ausbildung und Berufsverlauf, protestantische Ethik und Ritterlichkeit werden in Bezug auf das Habituskonzept analysiert, der Alltag der Offizieranwärter und Offiziere bleibt hierbei weitgehend außen vor. Mit dieser Kritik soll nicht die grundsätzliche Erklärungskraft des Habitus-Ansatzes angezweifelt werden, es entsteht vielmehr aus handlungstheoretischer Perspektive ein Ergänzungsbedarf, der sich im Konzept der Alltäglichen Lebensführung (Voß 1991; Bolte 1993; Jurczyk/Rerrich 1993; Projektgruppe „Alltägliche Lebensführung“ 1995; Kudera/Voß 2000; Voß/Weihrich 2001; Weihrich/Voß 2002) finden lässt. „Die Form der Lebensführung einer Person besteht darin, zu welchen Zeitpunkten, an welchen Orten, in welcher inhaltlichen Form, in welchen sozialen Zusammenhängen und orientiert an welchen sozialen Normen, mit welchen sinnhaften Deutungen sowie mit welchen Hilfsmitteln oder Ressourcen und schließlich mit welchen emotionalen Befindlichkeiten eine Person im Verlauf ihres Alltags typischerweise tätig ist.“ (Voß 1995: 32) Anders formuliert: Die Frage ist, wie Menschen ihren Alltag typischerweise gestalten und welche Routinen sie etablieren, um die alltäglichen Probleme zu lösen (z. B. um die teilweise konfligierenden Ansprüche aus ihrer beruflichen Tätigkeit und aus ihrer familiären Einbindung zu integrieren) – wie sie deutenderweise zu einem Gesamtarrangement ihres augenblicklichen Lebens gelangen (ebd.). Aus Sicht der Alltäglichen Lebensführung ist es die Gesamtheit dieser individuellen Arrangements, die eine Gesellschaft prägt und eine Integration gesellschaftlicher Differenzierung in der Moderne bewirkt (Bolte 1993: 37ff.). Schmid (2001) kritisiert an diesem Forschungsprogramm die funktionalistisch-normative Grundausrichtung, die sich darin zeigt, dass es „das Gelingen der alltäglichen Koordinationsarbeit zum Problembezug der vorgetragenen Erklärungsvorschläge macht“ (Schmid 2001: 247) sowie die „induktive Vorgehensweise (...); ohne sich vorweg auf Hypothesen über den Stabilisierungsmechanismus von unterschiedlichen Methoden der Lebensführung festzulegen“ (ebd.: 252) und schlägt vor, dass das Akteurshandeln als interessengeleitet und die Stabilität der Sozialbeziehungen als Wirkungsvariable zu interpretieren seien (ebd.: 258). Weihrich (2001: 219) nimmt diesen Vorschlag ernst und steckt „die Alltägliche Lebensführung in die Colemansche 4
Vgl. zur Kritik hierzu aus der Perspektive der Lebensführungsforschung Voß 1991: 158ff. sowie Jürgens 2001: 48.
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Badewanne“, wobei auch sie eine rationale Entscheidungstheorie zugrunde legt. Der Begriff der Colemanschen Badewanne ist dabei eine Metapher für die Grundstruktur soziologischer Erklärung (Coleman 1995), mit der eben eine handlungstheoretische Fundierung (auf der Mikroebene) der Erklärung soziologischer Makrophänomene (insbesondere sozialstrukturellen oder institutionellen Wandels) vorgenommen wird. Der Problem- und Interessenorientierung Alltäglicher Lebensführung wird das rationaltheoretische Vorgehen durchaus gerecht, die Frage nach der sozialstrukturellen Verknüpfung wird aber nur auf der Folgenseite thematisiert – soziale Struktur und Institutionen, Status und Klassenlagen werden in Bezug auf die handlungsorientierte Erklärung nicht systematisch gebündelt. Der Begriff „Offizier“ beispielsweise meint eben mehr als nur eine Situationsdefinition, er ist Ausdruck eines Bündels an Verhaltenserwartungen und Kompetenzzuschreibungen, kurz: von spezifischer Vergesellschaftung, wie sie sich in der Konzeption des Habitus und den daran geknüpften Lebensstilen nach Bourdieu ausdrückt. „In dieser Verknüpfung zwischen Klassenlage und Lebensführung ist Bourdieus zentraler Beitrag zur Klassendiskussion zu sehen.“ (Krais/Gebauer 2002: 36) Dies entspricht der Forderung für die Lebensführungsforschung, die Müller (1992: 380) sowie Müller/Weihrich (1994) formuliert haben: „Die Lebensführung ist eine vermittelnde Kategorie zwischen gesellschaftlichen Bedingungen und individuellem Verhalten“ (ebd.: 45) und weiter: „Unser Vorschlag, Lebensstile als Muster von Lebensführung zu begreifen, soll zwischen der gesellschaftlichen Bedingtheit von Lebensweisen einerseits und der freien Wahl von Lebensstilen andererseits vermitteln.“ (ebd.: 47) Auch hier bleibt die Frage ungelöst, wie die Gesellschaft eigentlich in die Lebensführung kommt. Voß (1995: 37ff.) sieht diese Problematik und will sie im Begriff der Lebenslagen auflösen, einen systematischen Übergang schafft er indes nicht und genügt somit auch nicht den Ansprüchen an eine soziologische Erklärung, wie sie oben formuliert wurden. Diese Systematisierung sozialer Verortung des Individuums findet sich aber in Bourdieus Habituskonzept auf der Makroebene, das in den Lebensstilen den Übergang zur Alltäglichen Lebensführung des Individuums auf der Mikroebene ermöglicht. Somit lassen sich die Erklärungsdefizite der beiden Ansätze beheben und das Erklärungsmodell am Beispiel des Wandels des Offizierhabitus folgendermaßen darstellen (Abbildung 1):5 Ausgangspunkt der Modellierung ist hierbei der Offizierhabitus, der Ausdruck einer bestimmten sozialen Position ist. „Innerhalb des Militärs kann das Offizierkorps als spezifisches Kräftefeld mit eigener (fast noch ständisch empfundener) Logik verstanden werden, das einen auf elitärem Bewusstsein fußenden und mit Führungsanspruch versehenen 5
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Zur rationaltheoretischen Modellierung der Lebensführung im Makro-Mikro-MakroModell vgl. Weihrich 2001: 229.
Habitus des Offiziers begründet.“ (Elbe 2004: 420) Dieser Habitus drückt sich durch Handlungsdispositionen und Vorlieben in den Lebensgewohnheiten (z. B. Freizeitgestaltung, Musikgeschmack, Essensvorlieben, Umgang mit Medien) aus und kennzeichnet damit einen Lebensstil, der nicht nur Ausdruck einer Klassenlage im Sinne Bourdieus ist, sondern auch Selektionskriterium für den Übergang zur Mikroebene soziologischer Erklärung. Lebensstil als Geschmack und Handlungsdisposition rahmt die Situationsdefinition und korrespondiert mit der Problemwahrnehmung des einzelnen Offiziers. Die Fährnisse des Lebens, die Notwendigkeit der Abstimmung zwischen verschiedenen Anspruchsgruppen aus dem privaten Bereich (Partnerschaft, Herkunftsfamilie, Freundeskreis, sonstige soziale Kontakte) und dem Dienst (Vorgesetzte, Untergebene, Kameraden und der – abstrakte – Dienstherr) sowie natürlich die Realisierung eigener Interessen machen es notwendig, vor dem Hintergrund eines solchen Lebensstils den Alltag zu organisieren. Erst in der Lebensführung treffen Lebensstil, Problembewältigung sowie die Realisierung eigener Interessen zusammen und führen zu spezifischen Handlungen und damit zu einer Routine des Alltags. Die Alltagsroutine als individuelles Gesamtarrangement mag dem an den Habitus geknüpften Lebensstil – der Selektionskriterium im Übergang von der Makro- zur Mikroebene war – entsprechen (und damit zur Reproduktion des Offizierhabitus beitragen) oder aber zu einer Veränderung des Lebensstils führen (Lebensstil*). Über die Gemeinsamkeiten der Lebensstile von Offizieren anhand ihrer alltäglichen Lebensführung lässt sich durch Aggregation im Übergang von der Mikro- zur Makroebene soziologischer Erklärung der Offizierhabitus* konstruieren und damit eben der Wandel oder das Beharrungsvermögen im Habitus des Offizierkorps.
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196 Offizier
Lebensstil als Filter zur Problemdefinition
Offizierhabitus
Lebensführung (Mikroebene)
Sozialer Wandel (Makroebene)
Abbildung 1: Offizierhabitus und Lebensführung
Handlung
Lebensstil* als Aggregationslogik
Offizierhabitus*
Hierdurch ließe sich auch eine Differenzierung im Habitus des Offizierkorps, also eine Typisierung aufgrund von Handlungsbereichen vornehmen, die sich beispielsweise mehr auf den Bereich des Truppendienstes (z. B. in der Ausbildung) beziehen oder mehr in administrativen Tätigkeiten im Stabsdienst liegen (Elbe 2004: 429). Für uns ist es in diesem Zusammenhang interessanter, die mögliche Veränderung des Offizierhabitus studierter Offiziere aufgrund der Lebensführung im Studium zu analysieren. Es wurden studierende Offiziere der Universität der Bundeswehr München mit Hilfe problemzentrierter Leitfadeninterviews befragt (vgl. z. B. Mayring 2002; Witzel 1985). Dabei richteten sich die offenen Fragen auf das Alltagshandeln der Subjekte im Herkunftsmilieu, auf die Berufs- und Studienwahl, die erste Phase des Soldatenberufes sowie auf das Studium. Ferner wurden die Offiziere und Offizieranwärter zu ihren antizipierten zukünftigen beruflichen und privaten Perspektiven interviewt. Darüber hinaus wurden von den Interviewern spontan Ad-hoc-Fragen formuliert, wenn Sachverhalte von den Interviewpartnern nur angedeutet wurden oder der Erzählfluss ins Stocken geriet. Bei der Auswertung des empirischen Materials orientierten wir uns an einer inhaltsanalytischen Auswertungsmethode (vgl. Mayring 2002), wobei wir geleitet durch unser exploratives Forschungsinteresse offene Kategorien im Sinne von deskriptiven Beschreibungsdimensionen bildeten. Es ging uns darum, bestimmte Muster der Lebensführung zu identifizieren und zu beschreiben, ohne voreilig Verallgemeinerungen zu produzieren. Die Untersuchung erhebt damit keinen Anspruch auf Repräsentativität, vielmehr sollen existierende Muster der Lebensführung identifiziert und beschrieben werden. Im Folgenden werden nun zehn Interviews studierender Offiziere der Universität der Bundeswehr hinsichtlich relevanter Themen für die Lebensführung ausgewertet. Die Interviews lagen uns in transkribierter Form vor, wobei die Namen der Interviewpartner, anderer Personen, die in den Erzählungen erwähnt wurden sowie Ortsangaben anonymisiert wurden. Den Befragten haben wir Namen gegeben (von A wie Albert bis J wie Jörg), um die exemplarisch ausgewählten Zitate aus den Interviews für den Leser möglichst authentisch zu halten.
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3
Der Alltag studierender Offiziere an einer Universität der Bundeswehr
3.1
Der Alltag des Studiums
Die erste Phase des Studiums an der Universität der Bundeswehr wird von den befragten Studierenden oft als konfliktreicher Prozess des ‘Einlebens’ in eine fremde Lebenswelt beschrieben. Das bisher bekannte und allgemein gültige Werte- und Normengefüge der Organisation Bundeswehr, welches den Offizieren und Offizieranwärtern Handlungssicherheit vermittelte, scheint zumindest zu Beginn des Studiums wegzubrechen: „(...) man ist da ja noch sehr formal geprägt. Uniform, Mütze auf, Ärmel hochgekrempelt und dann kommt einem ein Obergefreiter entgegen und grüßt einen nicht. Da fällt’s einem schon das erste Mal wie Schuppen von den Augen. Denkst du, was ist denn hier los, kann ja nicht sein, gibt doch Dienstgrade und der kann doch auf meine Schulter gucken, ich bin ja in Uniform, kann ja jeder erkennen, was für’n Dienstgrad ich hab, da grüßt man doch (...).“ (Bernhard, S. 16, Z. 22ff.) Diese Ansicht ist insbesondere für Heeresoffiziere kennzeichnend, die im Gegensatz zu den Offizieranwärtern von Luftwaffe und Marine eine deutlich längere militärische Sozialisation vor dem Studium erfahren haben. Es lässt sich auch ein deutlicher Unterschied zwischen militärischen und studentischen Rollenzuschreibungen im (Arbeits-)Alltag der beiden Welten feststellen. Dies zeigt sich insbesondere darin, dass die Studierenden die organisierte und geordnete Welt des Militärs vermissen, in der den meisten angehenden Offizieren schon erhebliche Führungsverantwortung für ‘untergebene’ Soldaten übertragen wurde: „(...) ich denk manchmal so ein bisschen wehmütig an die Truppe zurück (...) und freu mich wenn ich wieder rein komme.“ (Hanna, S. 15, Z. 5ff.) Ilse erlebt die erste Erfahrung mit der akademischen Welt als „Furchtbar, absolut furchtbar.“ (Ilse, S. 23, Z. 11) und weiter: „(...) das habe ich bis heute nicht überwunden (...) rausgerissen zu sein aus diesen militärischeren Strukturen, man kann sich zivil anziehen, man meldet sich beim Chef per e-Mail, man ähm hat überhaupt nichts Militärisches mehr hier, das ist einfach so, steh ich heut nicht auf, steh ich morgen vielleicht auf. Geh ich zur Vorlesung? Ach nee, hab ich keine Lust. Das ist für mich wieder dieses Schwammige, was ich eigentlich nicht bevorzuge. (...) ich würde mir wünschen, dass es hier einfach ein bisschen klarer strukturiert wäre.“ (Ilse, S. 23, Z. 11ff.) Sich selbst zu organisieren und seinen Alltag im Studium zu strukturieren fällt nicht nur dieser Studierenden schwer. In neun Interviews finden sich Erzählpassagen, die den Übergang zum Studium als schwierig beschreiben. Besonders auffällig ist dabei der erlebte Wegfall von Macht, der sich als Verlust von Führungsaufgaben und Verantwortung für 198
andere konkretisiert. Dieser kann wiederum als Bruch mit den bisher erworbenen habituellen Strukturen des Offizierberufes interpretiert werden: „(...) man war wieder einer von vielen, man musste sich dran gewöhnen, man musste, ich musste grade loslassen von Verantwortung und Führung, was für mich die entscheidenden Punkte meines Berufes waren, ähm musste mich selbst finden (...) meinen Platz in dem System, der sich natürlich vorher recht einfach gestaltet hat, dadurch dass man den Dienstgrad hatte und einfach gesagt, du bist jetzt Zugführer.“ (Bernhard, S. 17, Z. 7ff.) In den jeweiligen Bewältigungsmustern dieser Übergangssituation vom Militär in das akademische Studium zeigt sich ein heterogenes Bild. Einige Studierende begannen die neue Situation mit Hilfe von bekannten Strategien zu bewältigen, die sie bei der Bundeswehr erworben haben. Wir möchten diese Form der Bewältigung als ‘Dienstplanstrategie’ bezeichnen, die sich durch eine starke Strukturierung des Studienalltags auszeichnet und nicht selten mit einer sehr langfristigen Planung im Studium einhergeht. So hat sich Erich „(...) einen Plan gemacht für das Jahr, einen Stundenplan, (...) Quartalsplan (...)“ und „(...) sich dabei wirklich am Militär orientiert“. (Erich, S. 20, Z. 14ff.) Aber auch die „(...) Tugenden, die man beim Militär erlernt hat (...) wie Disziplin und Zielstrebigkeit.“ (Gabriele, S. 6, Z. 5f.) helfen, den prekären Start in das Studium zu meistern. In diesem Zusammenhang werden im Militär erworbene Persönlichkeitseigenschaften als passend für die Bewältigung des Studiums interpretiert. Infolge dessen gehen die meisten Studierenden ihr Studium diszipliniert und motiviert an. Sie sehen die akademische Ausbildung dabei nicht selten als dienstlichen Alltag und betonen die Wichtigkeit des Studiums für den Offizierberuf und die eigene Laufbahn bei der Bundeswehr. Dabei motiviert zumindest bis zur Zwischenprüfung die Sorge, „(...) dass man rausfällt und die Karriere bei der Bundeswehr auf dem Spiel steht“. (Hanna, S. 14, Z. 41ff.; vgl. auch Ilse, S. 23, Z. 26ff. oder Christian, S. 11, Z. 18ff.) Neben dieser geplanten und strategischen Alltagsbewältigung finden sich zwei deutlich abweichende Muster. So hat z. B. Ilse bis zum Interviewzeitpunkt noch keine geeignete Strategie zur Lebensführung im studentischen Alltag gefunden. Sie vermisst die militärische Organisation, „(...) möchte am liebsten raus in den Wald und na ja (...)“. (Ilse, S. 23, Z. 21f.) Die Ausnahme scheint es eher zu sein, dass Studierende relativ schnell und problemlos den Wechsel in die akademische Welt vollziehen. Dies konkretisiert sich in der Aussage eines Interviewten: Er ist „(...) nie Soldat gewesen, sondern immer Mensch geblieben“. (Fabian, S. 17, Z. 6) und konnte eine „zivile Orientierung“ (ebd.) auch während der Bundeswehrzeit aufrechterhalten. Nach anfänglichen Übergangsproblemen gelingt den studierenden Offizieren die Einsozialisation in das Studium relativ gut. Sie stellen das Studium 199
in den Mittelpunkt ihres Lebens und identifizieren sich mit den akademischen Inhalten und Tätigkeiten: „Mir macht das Studium richtig Spaß und ich gehe darin auf.“ (Hanna, S. 15, Z. 8f.) oder „(...) das Studium hat für mich oberste Priorität“. (Christian, S. 11, Z. 17) Eine ausgeprägte und disziplinierte Arbeitsethik bleibt dabei im Studium erhalten. Insgesamt beschreiben die Studierenden in ihren Erzählungen eine Entwicklung, in der sie ihre militärische Ausrichtung der Alltagsgestaltung zumindest teilweise ablegen. Die Identifikation mit dem Studium, die Beschäftigung mit den Studieninhalten und der Kontakt zum wissenschaftlichen Personal führen zu einer ersten Aneignung eher akademischer Handlungs- und Umgangsformen. So betont Bernhard, dass er „(...) nicht [einer ist], der jetzt noch die Hacken zusammenschlägt (...)“ und „die [Dozenten] nun mit Herr Meier oder Frau Schmidt anspricht und nicht mit Herr Dr. und Frau Professor“. (Bernhard, S. 13, Z. 22f.) Infolgedessen veränderten sich bei einigen Studierenden auch deren Lernstile. Sie bevorzugen nun das Lernen in Gruppen oder lernen umfassender, d. h. Inhalte „wieder einzubauen, zu verknüpfen“ und „(...) nicht irgendwas nur stur auswendig zu lernen“. (Hanna, S. 15, Z. 22ff.; vgl. auch Dieter S. 11) Sowohl die zivile als auch die militärische Verwertbarkeit des Studiums ist für die Studierenden weiterhin wichtig. Parallel dazu wird im Verlauf der akademischen Ausbildung das Studium verstärkt als persönliche Entwicklungsmöglichkeit gesehen: „(...) ich mache die Sachen [im Studium] jetzt für mich (...) ich hab’s für mich geschafft und das war für mich einer der großen Wendepunkte im Studium.“ (Bernhard, S. 20, Z. 10ff.) Mit fortschreitender Integration in das Studium treten militärische Denk- und Handlungsmuster in den Hintergrund. Die militärische Parallelwelt bleibt jedoch bedeutsam, nicht für das alltägliche Studentenleben, aber als Hintergrundfolie akademischer Sozialisation. Besonders deutlich zeigt sich dies an der Strategie von Gabriele, die die beiden Welten für die Phase des Studiums strikt voneinander trennt: „(...) man hat so ähm zwo Personen in sich selber: Der Studierende und dann der Offizier. Und dies halt miteinander, muss man jetzt hier so’n bisschen trennen, find ich.“ (Gabriele, S. 5, Z. 29ff.) „Also das ist eigentlich auch nicht zu schwer von einem zum anderen zu switchen, ich hab eigentlich keine Probleme damit.“ (Gabriele, S. 6, Z. 8f.) 3.2
Studium als Dienst: der militärische Alltag
An der Universität der Bundeswehr spielen die militärischen Anteile, die jeweils an den Mittwochnachmittagen vom militärischen Studentenfachbereich organisiert werden und neben der Sportausbildung vorwiegend organisatorische Aufgaben beinhalten, eine untergeordnete Rolle im studentischen All200
tag. Die militärischen Nachmittage werden von den Studierenden z. T. sogar als störend für ein reibungsloses akademisches Studium wahrgenommen: „(...) [man] is mehr Student, es ist weniger Offizier, also ich meine die militärischen Nachmittage am Mittwoch oder so, wenn die überhaupt stattfinden, das wird eigentlich eher immer so als, na ja, unangenehm empfunden. Weil man hat besseres zu tun. Und tut sich lieber ne Stunde hier mit irgendwelchen Sachen beschäftigen als (...) zum Antreten zu gehen.“ (Erich, S. 20, Z. 6ff.; vgl. auch Dieter, S. 14 Z. 23ff.) Allerdings werden die militärischen Veranstaltungen von keinem der befragten Studierenden als völlig überflüssig betrachtet. Bernhard berichtet nicht nur, dass er es für sinnvoll erachtet „(...) dass der militärische Bereich nicht diese große Funktion für den studentischen Bereich hat.“ (Bernhard, S. 23, Z. 6), sondern er betont auch, dass er mit „(...) diesen reduzierten militärischen Anteilen ganz zufrieden ist“. (Bernhard, S. 23, Z. 8) Die studierenden Offiziere lehnen den militärischen Studentenbereich aber auch dann nicht völlig ab, wenn sie deutliche Kritik an den militärischen Nachmittagen äußern.6 Sie haben die Funktion, den Kontakt zum Militärischen aufrechtzuerhalten und für eine gewisse Verbindlichkeit, Regelmäßigkeit, Sicherheit aber auch Kontrolle, z. B. hinsichtlich Studienleistung und -motivation zu sorgen. Die zunehmende Distanz zum Militär zeigt sich nicht nur in der geringen Bedeutung des militärischen Alltags, sondern spiegelt sich auch im Erleben der jungen Offiziere wider. Dies lässt sich am Beispiel des Uniformtragens illustrieren: „Also die Uniform anzuziehen ist wie ein Fremdkörper sich überzustülpen mittlerweile (...).“ (Albert, S. 23, Z. 25ff.; vgl. auch Christian, S. 15, Z. 4f.) Insgesamt können die Befunde dahingehen interpretiert werden, dass „(...) die soldatische Welt im Moment eigentlich ziemlich hinten angestellt wird.“ (Hanna, S. 15, Z. 29), die Studierenden aber „(...) natürlich noch Soldaten sind und die meisten [militärischen] Sachen verinnerlicht haben“. (Hanna, S. 15 Z. 30f.) Die Erzählungen der Studierenden verdeutlichen, dass militärische Handlungsmuster vor allem zu Beginn des Studiums als Bewältigungsmöglichkeiten für den studentischen Alltag dienen können. Im Verlauf des Studiums überlagert allerdings eine eher zivile und individualisierte, stark an der akademischen Welt ausgerichtete Lebensführung den militärischen Habitus. Dabei wird das soldatische Selbstverständnis dennoch nicht aufgegeben, sondern tritt für die Phase des Studiums in den Hintergrund. 1
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Eine sehr deutliche Kritik an den militärischen Veranstaltungen während des Studiums kommt im nachfolgenden Interviewauszug zum Ausdruck: „(...) mit den oft sehr sinnlosen militärischen Veranstaltungen, ja, ne Selbstbeweihräucherungsveranstaltung, die kann ich auch machen, wenn die Langeweile haben und nicht, wenn wichtige Vorlesungen anstehen. Weil es wirklich stellenweise nichts anderes ist, als sich hinzusetzen und zu sagen, wir sind die Tollsten, wir sind die Besten. (...) es ist aber wie ich sehen musste, bei sehr vielen Leuten auch wichtig, dass doch ’n bissl Druck dahinter steht.“ (Fabian, S. 18, Z. 22ff.)
201
3.3
Freunde, Kameraden und Kommilitonen
Auch hinsichtlich des Erlebens von Kameradschaft7 unterscheidet sich die Studienphase grundlegend von der Phase der ersten militärischen Sozialisation. Das Studium stellt für die meisten der interviewten Offiziere eine Zäsur bezüglich der Gestaltung und Deutung des kameradschaftlichen Zusammenhalts dar. Indessen Kameradschaft durch das enge räumliche Zusammenleben in der Kaserne während der Ausbildung schon allein durch eine starke soziale Kontrolle zumindest formell gewahrt bleibt, stellt sich die Situation an der Universität anders dar. Durch die zivile Orientierung des Arbeitens und Wohnens fallen normative Zwänge zur Zusammenarbeit und gegenseitigen Hilfe weg. Daher finden sich die Offiziere im Studium in einer für sie ungewohnten Situation wieder, die sie häufig als persönlich enttäuschend interpretieren: „Und im Laufe der Zeit hat sich mein Verständnis von Kameradschaft sehr stark, äh eigentlich nicht mein Verständnis, sondern das was ich von anderen sehe, was die unter Kameradschaft verstehen, das hat sich sehr stark verändert. (...) Und wenn ich jetzt mal in die eigene Geschichte kucke, als Wehrpflichtiger, da war Kameradschaft wirklich etwas, wo man sich gegenseitig geholfen hat, hier ist es eher etwas, wo man gegeneinander arbeitet, und die Kameradschaft in den Hintergrund rückt, weil hier schätz ich mal auch mehr Konkurrenzdenken aufkommt als bei der Wehrpflicht beispielsweise (...).“ (Christian, S. 8, Z. 32ff.; vgl. auch Ilse, S. 31, Z. 28ff.) Ähnlich wie Christian sehen viele der interviewten Offiziere die Bedeutung von Kameradschaft im studentischen Alltag. Die gewohnte militärische Kameradschaft existiert für sie an der Universität nur noch rudimentär oder gar nicht mehr: „Aber das große Kameradschaftsgefühl find ich gibt’s hier nicht.“ (Ilse, S. 31, Z. 40f.; vgl. auch Jörg, S. 28, Z. 14ff.) Der eng mit dem Militärischen verbundene Begriff der Kameradschaft scheint daher in der Studienphase kein angemessener Begriff zur Beschreibung der Beziehung zwischen Offizieren zu sein. Aufgrund des geringer werdenden Zusammenhalts im Studium werden Kameraden nun eher als Kommilitonen gesehen, was den Wandel von einer wertrationalen Verbundenheit der Offiziere untereinander hin zu einer Zweckrationalität der Beziehungen im Studium ausdrückt. „(...) Kameradschaft ist so was Militärisches. Und das hab ich hier ich hab das relativ stark verloren. (...) Also normalerweise gibt es Leute, vielleicht sollte es das geben, aber es gibt nie, gibt nicht 2
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Kameradschaft im Militär wird durch Paragraph 12 des Soldatengesetzes als formelle und normative Pflicht definiert. Für die befragten Offiziere existiert diese Norm jedoch nicht nur auf dem Papier, sondern wird konkret in den verschiedenen Phasen der Offizierausbildung wie Grundausbildung, Einzelkämpferlehrgang und Offizierschule erfahren. Das Kameradschaftserleben basiert dabei besonders auf der gegenseitigen Hilfe und dem engen Zusammenhalt der Soldaten während der militärischen Ausbildung.
mal das, aber es sind jetzt nicht meine Kameraden, es sind hier gibt es das Ersatzwort Kommilitonen, das sind nur formelle Betitelungen, aber vom Gefühl her hab ich irgendwie gar kein Verhältnis zu Kameradschaft ist für mich keine Kategorie im Moment.“ (Albert, S. 23, Z. 24ff.) Gabriele und Dieter deuten Kameradschaft grundsätzlich zweckorientiert, wobei für sie auch im Studium durch das gemeinsame Lernen und die gegenseitige Unterstützung von Kommilitonen Kameradschaft weiterhin gewahrt bleibt: „Gibt’s denn einen Unterschied zu der Truppe, zu der Truppenkameradschaft? G: Ja, nur das sie sich eigentlich anders äußert. Also sie äußert halt sich jetzt nicht mehr, indem man jetzt den anderen irgendwohin schiebt oder halt den motiviert, dass er jetzt weiterläuft, sondern einfach, indem man jetzt ihm mit ihm beim, dass man halt jetzt Lerngruppen macht oder Kopiergruppen oder eben sich Sachen gegenseitig erklärt und zusammen lernt. (...) Dass man halt, also sich gegenseitig auch wieder hilft, nur an ’ner anderen Basis eben.“ (Gabriele, S. 39, Z. 3ff.; vgl. auch Dieter, S. 11, Z. 33ff.) Mit der veränderten Lebensführung im Studium nehmen zwar die Wahloptionen für Freundschaften zu, dennoch sucht die Mehrzahl der interviewten Offiziere ihre Freunde hauptsächlich unter den Kommilitonen in ihrem Studienfach und am Campus der Bundeswehruniversität. Aufgrund der Stadtrandlage der Universität der Bundeswehr München scheinen nur wenige Kontakte außerhalb des Campus zu bestehen, was von Fabian kritisiert wird: „Da macht dann jeder seins, alle zusammen machen ihrs, wollen mit dem, was hier draußen ist, eigentlich nicht viel zu tun haben, außer mal in ne Disko gehen, und ’n bisschen, ja Kontakte zur einheimischen Bevölkerung knüpfen (...). Ja, aber dass die zivile Welt auch weitergeht, das bekommen die wenigsten mit. (...) Wie auch, die Leute kommen aus der Uni nicht raus. Sind in das ganze Leben der Stadt nicht eingebunden.“ (Fabian, S. 19, Z. 41ff.) Auch wegen der häufig großen Entfernung der Universität vom Heimatort ist es für die studierenden Offiziere zudem schwierig, Kontakte zu alten Freunden aus der Schulzeit aufrechtzuerhalten, wie die Aussage von Erich zeigt: „Und, na ja gut, jetzt bin ich ja auch 600 Kilometer von zu Hause weg, und da kommt man auch selten zu solchen Sachen halt. Weil die, letztendlich die ganzen Kumpels und Freunde, die sind trotz, trotzdem ich die vielleicht einmal im Jahr sehe oder zwomal im Jahr, sind die alle eher in der Richtung.“ (Erich, S. 13, Z. 3ff.) Die Wahl der Freunde am Campus hängt bei einigen der interviewten Offiziere stark mit ihrem Ideal von Kameradschaft zusammen. Trotz der von ihnen konstatierten Veränderung des kameradschaftlichen Umgangs miteinander halten sie weiterhin am militärisch konnotierten Muster von Kameradschaft fest. Durch die Internalisierung des Kameradschaftsbegriffs im Zuge der militärischen Sozialisation entsteht ein hoher moralischer Anspruch an 203
das Verhalten eines Offiziers gegenüber seinen Kameraden. Der ‘ideale’ Offizier erscheint aus dieser Perspektive nicht nur als Ausführender seiner militärischen Pflichten, sondern soll sich durch mustergültiges Verhalten und Denken hervorheben. Dazu gehören sowohl gegenseitige Hilfe und Zusammenhalt als auch die Vorbildlichkeit und Tadellosigkeit des Auftretens im alltäglichen Miteinander. „Also für mich ist Kameradschaft ’n gelebtes Prinzip was aber nicht aus Formalia besteht, sondern ähm aus Offenlegung der Persönlichkeit und das bedeutet, dass ich und das hab ich glaub ich am Anfang des Interviews schon angedeutet, mich eben als Führungspersönlichkeit sehe in dem ich durch Vorbild führe.“ (Bernhard, S. 15, Z. 12ff.; vgl. auch Erich S. 23, Z. 21ff.) Der Blick auf Kameraden beziehungsweise Kommilitonen an der Universität ist daher häufig von diesem militärischen Ethos geprägt. Da das hohe moralische Ideal und die Praxis des Zusammenlebens an der Universität in Widerspruch zueinander treten können, grenzen sich viele der befragten Offiziere distinktiv von ihren Kommilitonen ab und üben starke Kritik an deren Lebensführung: „Also ich, also manchmal hab ich gedacht hier an der Uni, also das sind doch nur Arschlöcher. Ja. Also erst mal, Grundannahme, 99 Prozent von den Jungs da oben sind Arschlöcher und erst, wenn sie mich vom Gegenteil überzeugt haben, also dann haben se ne Chance äh aufgenommen zu werden in den Kreis netter Menschen. Weil es gibt hier so viel schwachsinnige Sachen, so viel Unsoziales (…).“ (Albert, S. 21, Z. 41ff.; vgl. auch Christian, S. 8, Z. 31ff.; Erich, S. 23, Z. 21ff.; Jörg, S. 28, Z. 14ff.) Gegenstände der Kritik sind insbesondere Diebstahl auf dem Campus, lautstarke Störungen durch Kommilitonen in den Wohnunterkünften sowie das Plagiieren von wissenschaftlichen Arbeiten. Durch ihr eigenes vorbildliches Verhalten und die bewusste Auswahl ihrer Freunde versuchen die Offiziere, das Musterbild eines ‘guten’ Offiziers hochzuhalten. Beispielhaft soll hier Christian zitiert werden: „Also ganz schlimm ist es jetzt wirklich hier an der Uni, da hab ja schon Sachen erlebt, da frag ich mich, was verstehen die eigentlich unter Kameradschaft? Das kann doch gar nicht sein, also gegenseitiges Ausnutzen, und äh Trittbrettfahren und solche Geschichten, rücksichtslos verhalten, ich bin ja froh, dass ich nicht hier auf ’m Campus wohne, aber wenn ich mir dann eben die Leute ankucke, die da hier wohnen und wo der Nachbar dann bis abends in die Puppen laut Musik anmacht beispielsweise, das kann doch gar nicht sein. (...) Diebstahl. Wie kann man denn bitte von ’nem Kameraden den man, den man doch in der Not auch helfen soll, wie kann man dem denn Sachen wegnehmen, äh dass kann, kann doch wirklich nicht sein. (...) Also Kameradschaft, ich für mich selbst leg da großen Wert drauf und die Leute, mit denen ich zu tun hab, anscheinend auch, aber ’n Großteil, den ich sonst noch beobachte, äh da frag ich mich, was verstehen die da drunter?“ (Christian, S. 8, Z. 43ff.) 204
Diejenigen Offiziere, die sich von ihren Kommilitonen abgrenzen und das studentische Leben am Campus kritisch betrachten, leben daher auch tendenziell in einer eigenen Wohnung außerhalb des Universitätsgeländes. Die eigene Wohnung ermöglicht ihnen neben der gezielten Auswahl des persönlichen Umfeldes auch einen größeren Gestaltungsspielraum bezüglich der eigenen Lebensführung, wie die Aussage von Fabian zeigt: „So, weil jeder Mensch seinen Entfaltungsfreiraum braucht, was ich da natürlich nicht gewährleisten kann. (...) Das außeruniversitäre Leben der Studenten ist bei mir nicht so erzwungen, ich geh mit den Leuten weg, mit denen ich gerne weggehen möchte, und bin nicht gezwungen, den gleichen dummen Gesichtern jeden Tag fünf Mal auf’m Flur zu begegnen. Und von daher kann man da sehr viel äh Brennpunkte vermeiden, indem man einfach nicht da wohnt.“ (Fabian, S. 20, Z. 17ff.) Zusammenfassend lässt sich sagen, dass sich durch die Zivilisierung der Lebensführung an der Universität die von einem engen Zusammenhalt geprägte militärische Kameradschaft nicht mehr aufrechterhalten lässt. Viele Offiziere tragen jedoch das von der Sozialisation im Militär geprägte Kameradschaftsideal weiter mit ins Studium und grenzen sich stark von denjenigen Kommilitonen ab, die dem Ethos des vorbildlichen Verhaltens nicht entsprechen. Dementsprechend werden Freunde auf dem Campus auch bewusst nach der Passung der Lebensführung ausgewählt. 3.4
Partnerschaft und Familie
Für die studierende Offizieranwärter und Offiziere stellen sich Partnerschaft und Familie als ein komplexer Lebensbereich dar, dessen Bewältigung zum einen mit der Besonderheit der Lebenssituation an der Universität der Bundeswehr verbunden ist, zum anderen aber mit den generellen Anforderungen an den Offizierberuf zusammenhängt. Der Universitätscampus ist als Lebensraum für Partnerschaft offensichtlich schwierig, da sich hier Arbeits- und Privatsphäre vermischen. So schildert Hanna, die auch schon eine Beziehung innerhalb der Bundeswehr hatte: „Ähm aber es gibt meistens auch immer sehr schnell viel falsche Gerüchte. Weil dadurch dass man halt eine von wenigen Frauen is, is ja die Möglichkeit, dass man Kontakt mit Männern hat ja größer als der mit Frauen. Und wenn man dann halt irgendwie auf ner Bude ist und (...) lernt zusammen, dann geht halt das Gequatsche ganz schnell los (...).“ (Hanna, S. 23, Z. 17ff.) Ilse kann diesem Problem entgehen, da sie nicht auf dem Campus wohnt: „Ähm, aber was ich positiv finde, ich wohn hier um die Ecke, und ich bin jetzt drei Jahre rum gereist von der Ausbildung her und find es schön jetzt einfach zu Hause zu sein. Des ist für mich toll. Ich hab mir ’n Traum erfüllt, mein eigenes Pferd, und des kommt am 1. März, 205
und da freu ich mich auch schon drauf, dass ich endlich Zeit habe, für mich, meinen Partner, zu Hause und halt meine Haustiere.“ (Ilse, S. 26, Z. 20ff.) Sie thematisiert damit ein Grundproblem, das mit den generellen Anforderungen des Offizierberufes zusammenhängt und von den meisten Befragten thematisiert wird: Die hohe Mobilitätsanforderung an Offiziere belastet das Zusammenleben mit dem Partner oder wird für das Scheitern von Partnerschaften verantwortlich gemacht (vgl. Albert, S. 14, Z. 4ff. sowie Christian, S. 24, Z. 38ff.). Dies führt in Bezug auf das Studium häufig dazu, dass – wie auch schon im Truppenalltag vor dem Studium – die eigentliche Privatsphäre vom Arbeitsalltag räumlich getrennt wird, die meisten Offiziere also auch während des Studiums ‘Wochenendheimfahrer’ bleiben: „(...) weil ich äh unter der Woche halt hier alles mach, dass ich möglichst viel abgeschlossen hab, dass ich ja dann am Wochenende nicht so wahnsinnig viel machen muss, wenn ich heim fahre, ich fahre auch nicht jedes Wochenende heim, aber ich kann das eigentlich gut trennen, weil das ja auch nicht direkt, weil sie ja nicht direkt hier wohnt, sondern es sind schon ein paar Hundert Kilometer (...).“ (Dieter, S. 13, Z. 14ff.) Damit bleibt das Grundproblem solcher Pendlerbeziehungen auch während des Studiums aufrechterhalten: „Du bist nie da, kommst am Wochenende an, bist da extrem komisch, lässt sich ja nicht vermeiden, wenn ich die ganze Woche so nen, na ja, merkwürdigen, von ner gewissen Gruppendynamik auch getriebenen Tagesablauf hab, dass mein Partner des am Wochenende nicht unbedingt toll findet, wenn der typische Bundi, wenn ich das mal so nennen darf, dann nach Hause kommt, ist verständlich.“ (Fabian, S. 23, Z. 32ff.) Generell zeigt sich: Obwohl bei vielen Offizieren eine große Sehnsucht nach einem traditionellen, intakten Familienleben besteht, ist ihnen dennoch bewusst, dass das Eingehen einer Partnerschaft oder die Gründung einer eigenen Familie nicht ohne weiteres mit der beruflichen Karriere in der Bundeswehr zu vereinbaren ist. Hier entsteht ein Konflikt zwischen zwei konträren Arten der Lebensführung: während der Woche als Offizier, bei dem die Arbeit oder das Studium im Vordergrund stehen; am Wochenende als gebundener, für die Familie verantwortlicher Partner. „All die Jungs, die jetzt angefangen haben zu heiraten, da möchte ich sehen, ob die in drei, vier Jahren noch verheiratet sind. Und drei, vier Jahre ist kurz getroffen. Also ich wünsch’s ihnen allen da, allen da, die ich kenne, weil da sind auch Freunde von mir dabei, da wünsch ich mir so sehr, dass es klappt, aber diese Belastung, die ganzen Beziehungstragödien, die man auch, also ich, und ich war bis jetzt immer so frei und haha, und hier ne Freundin und da und jetzt hab ich mich auch zum ersten Mal an jemanden gebunden und hab ich gedacht, hallo und ich merk grade, was das für Konflikte letztlich bringt.“ (Albert, S. 14, Z. 13ff.) 206
In Bezug auf Partnerschaft wird das Studium an der Universität der Bundeswehr als ein Mobilitätsabschnitt unter anderen betrachtet. Die Lösung, die Ilse realisiert hat, mit dem Partner eine gemeinsame Wohnung außerhalb des Campus zu nehmen, wird von den ca. 90 Prozent aller studierenden Offizieranwärtern und Offizieren während des Studiums allerdings nicht gewählt. 3.5
Campus, Freizeit und Konsum
Der Universitätscampus wird von den Studierenden ambivalent empfunden, zuerst einmal erscheint der Campus als ein weiteres Kasernengelände, wie es die Offizieranwärter und Offiziere schon mehrfach in ihrer militärischen Sozialisation als Lebensraum erfahren haben: „Ach das Studium. Das war natürlich, es ist, es ist immer wenn man in ne neue Einheit kommt oder ne neue Kaserne is es alles neu und so aber, na ja, man hat sich da dran gewöhnt (…).“ (Erich, S. 17, Z. 10ff.) Grundsätzlich bietet der Campus als Lebensraum eine ‘Rundumversorgung’ für die Studenten. An der Universität der Bundeswehr München gibt es neben den akademischen Einrichtungen, Sportanlagen, Schwimmbad sowie Mensa und Hochschulkirche eine Cafeteria mit Bar, ein Einzelhandelsgeschäft sowie die üblichen militärischen Betreuungseinrichtungen (Offizierheim, Unteroffizier- und Mannschaftsheim). Die Majorität der Studenten lebt auf dem Campus, doch lässt sich dies nicht für alle studierenden Offiziere realisieren, manche werden aufgrund von Unterkunftsknappheit auch außerhalb des Campus untergebracht: „Ähm, gut äh, einkaufen muss man ja drinnen auch, was halt hier ein bisschen anders ist, man muss halt, äh man ist schon mehr gezwungen hier, z. B. äh nicht in der Kantine zu Essen, man kann’s meistens so einrichten, dass man wenn man viele Vorlesungen hat jeden Tag in der Kantine Mittagessen kann, aber ansonsten muss man halt schon mehr sich selbst versorgen, das ist klar, und äh dann äh, schaut man halt mal, dass man sich zusammen tut mit den Anderen, das man was einkauft oder man muss halt dann hier in der Umgebung halt selber rausfinden, wo es welche Läden gibt, aber das ist ja eigentlich hier noch ziemlich gut ausgestattet, so mit Supermärkten und mit den kleinen Läden da vorn, Gemüsehändler oder so, das geht eigentlich.“ (Dieter, S. 14, Z. 10ff.) Für diejenigen unter den Studenten, die nicht auf dem Campus leben, nehmen haushaltsbezogene Tätigkeiten einen deutlichen Stellenwert im Alltag ein: „Dann hab ich halt ’n Tag zu Hause Zeit mal Haushalt zu machen, sauber zu machen, Wäsche zu waschen, was man halt so machen muss (...).“ (Ilse, S. 26, Z. 42ff.) Haushaltseinkäufe und -tätigkeiten werden dabei unter ein ökonomisches Postulat gestellt: Eingekauft wird bei Discount-Märkten (Bernhard, S. 22, Z. 10ff.; Christian, S. 14, Z. 25ff.), gekocht wird auf Vorrat 207
(Christian, S. 14, Z. 12ff.). Manche nutzen die Möglichkeiten einer CampusUniversität auch absichtlich nur begrenzt und suchen sich eine Wohnung außerhalb des Campus: „Also ich hab jetzt nicht nur an der Uni, sondern vorher auch schon ähm ungern in Kasernen gewohnt, also bei Lehrgängen, wo ich jetzt 600 Kilometer von zu Hause weg war, klar. Aber die normale Dienststelle war 35 km von zu Hause weg, bin ich mit’m Auto gefahren. Jeden Tag gependelt.“ (Fabian, S. 23, Z. 13ff.) Auffällig ist hierbei, dass diejenigen, die freiwillig nicht auf dem Campus wohnen, das Campusleben negativ thematisieren und lauter Musik oder ‘Eifersüchteleien’ ausweichen wollen (Christian, S. 8, Z. 40ff.; Fabian, S. 19, Z. 38ff.; vgl. auch Kap. 3.3). Für die ‘Heimschläfer’ gestaltet sich der Alltag abseits von Vorlesungen oder militärischen Veranstaltungen somit auch anders als für diejenigen, die auf dem Campus wohnen: „Also erst einmal hab ich den Vorteil, auch wieder mit subjektiven Perspektive, nicht auf dem Campus wohnen zu müssen, sondern ähm draußen im [Stadtteil A] in einer größeren Wohnung mit meiner zukünftigen Frau zusammen und einer kleinen Katze. Das is so mein war im Dienst der Hort meiner Ruhe, wo ich mich zurückziehen konnte von der Bundeswehr. Und das ist auch so meine Lernumgebung, da fühl ich mich wohl, das ist so ja, wie soll man das sagen, wie der Korb für den Hund. Da geh ich gerne zurück.“ (Bernhard, S. 21, Z. 28ff.) In Bezug auf die Freizeitgestaltung der studierenden Offiziere wird das Studium als zeitliche Restriktion thematisiert, wobei das „Privatleben hintenan steht“. (Christian, S. 13, Z. 41) Auffallend ist dabei, dass alle Befragten die besondere Bedeutung von sportlicher Aktivität als wichtigste Form der Freizeitgestaltung beschreiben. Der Alltag wird von Studium und Sport dominiert: „Nja, des ist halt so, jetzt zum Beispiel so Tage wie heute, wo halt überhaupt keine Vorlesung haben. Dann geh ich halt eigentlich normalerweise in der Früh erstmal in die Fitnesshalle, für mich halt selber Sport machen. Dann geh ich zurück und les halt entweder die Texte, die wir lesen sollen, oder die halt gut wären zu lesen. Äh, bring meine Ordner auf Vordermann und les mir einfach mal das durch, was ich die letzten, was mir halt die letzten Vorlesungen mitgeschrieben hab. Und dann geh ich halt entweder so’n bisschen in die Stadt oder so, oder mach halt mit den anderen noch was, je nachdem wie viel Zeit halt dann noch übrig bleibt. Und dann am Abend geh ich halt dann noch mal Sport machen. (...) Ansonsten, wenn jetzt halt Vorlesung ist, dann geh ich halt nach der Vorlesung Sport machen und mach, wiederhol halt dann den Stoff nach der Vorlesung oder les halt dann (...).“ (Gabriele, S. 37, Z. 35ff.) Teilweise wird von den studierenden Offizieren beklagt, dass künstlerische Aktivitäten zu kurz kommen – insbesondere eigenes Musizieren, Malen oder Photographieren (Erich S. 21, Z. 3ff.; Fabian, S. 24, Z. 3; Ilse, S. 27, Z. 10ff.), die verbleibende Freizeit wird eher genutzt, um 208
gemeinsam zu grillen (Bernhard, S. 22, Z. 28ff.; Christian, S. 14, Z. 42ff., Dieter, S. 14, Z. 1ff.) und mit Freunden zusammen zu sein (Gabriele S. 38, Z. 15ff.; Hanna, S. 17, Z. 1). Das Studium scheint für die Offizieranwärter und Offiziere die Möglichkeit zu bieten, den Alltag zivil zu strukturieren. Nicht das sprichwörtliche ‘Studentenleben’ wird dabei stilisiert, vielmehr genießen die Studenten es, „(...) ’n richtigen, normalen Alltag, wie man sich des vorstellt (...)“ (Ilse, S. 27, Z. 7) zu leben und durchschnittliche Konsumgewohnheiten realisieren zu können.8 Die Lebensbedingungen in der Studienzeit bieten somit die Stabilität und Planbarkeit, die in der vorangegangenen militärischen Sozialisationsphase vermisst wurde, stilisiert wird die Bewältigung des Alltags, das Normale und Geregelte selbst wird zum Lebensstil. 3
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Offizierhabitus und alltägliche Lebensführung im Studium
Die Rückgewinnung eines ‘normalen’ Lebensstils steht für die studierenden Offiziere, nach der Sozialisationserfahrung des ersten militärischen Ausbildungsabschnitts während des Studiums im Zentrum ihrer Lebensführung. Es geht für sie darum, eine Integrationsleistung zwischen militärischem Offizierhabitus und Handlungsdispositionen, die sich aus Alltags- und Leistungsanforderungen im Studium ergeben, zu erbringen. Die Studierenden der Universität der Bundeswehr bringen aus ihrer militärischen Vorsozialisation eine Disposition in Richtung eines elitären Offizierlebensstils mit (siehe Elbe 2004), der neben der Prägung hinsichtlich eines unhinterfragbaren Führungsanspruches auch durch deutliche Belastungen in Hinblick auf Mobilitäts- und Flexibilitätsanforderungen geprägt ist. Hierunter leidet ihre bürgerlich-konservative Auffassung von Partnerschaft bzw. Familie, wobei das Studium die Chance bietet, über einen planbaren Zeitraum von über drei Jahren Stabilität im Alltag sicherzustellen. Diese Chance wird von den jungen Soldatinnen und Soldaten angenommen, wobei sich auch Unterschiede in der Ausgestaltung der Lebensführung während des Studiums zeigen. In der Phase der Einsozialisation in den neuen Lebensabschnitt Studium treten Ambiguitätskonflikte zwischen militärischem Offizierhabitus und stu8
Als (beinahe exzentrisch zu wertende) Ausnahme hierzu stellt sich allerdings Fabian dar: Er betont die Exklusivität seines Geschmacks, die stilvolle Einrichtung seiner Wohnung, die Ästhetik von Friedhöfen (S. 1, Z. 1ff.), er geht nicht nur gerne ins Fitnessstudio, sondern auch ins Kosmetikstudio (S. 24, Z. 3ff.). Ihn interessiert der Umgang mit psychischen Problemen, weshalb er sich beim Roten Kreuz in Krisenintervention ausbilden lässt (S. 27, Z. 1ff.) und würde gerne Urlaub machen in einem Land „(...) wo’s auch mal ein bisschen, na ja, härter zugeht (...)“ (S. 32, Z. 18) oder aber auf einem luxuriösen Kreuzfahrtschiff.
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dentischer Lebensführung auf (vgl. Bonnemann/Hartmann 1995 sowie Abschnitt 3.1 dieses Artikels). Militärische Handlungs- und Denkmuster prägen zwar die Eingangsphase des Studiums, doch treten diese mit fortschreitender Integration im Studium hinter die persönlichen Entwicklungsmöglichkeiten und die Freiheitsgrade in der Gestaltung des Alltags und der Lernsituation zurück. Die studierenden Offiziere bleiben zwar noch Soldaten, doch wird ihr Alltag von ihrem neuen Auftrag, das Studium zu absolvieren, nicht nur geprägt sondern auch aktiv gestaltet, sie genießen die Freiheiten des Studentenalltags, ohne eine disziplinierende militärische Grundhaltung aufzugeben. Dies zeigt sich auch im Umgang mit den militärischen Dienstanforderungen, die in rudimentärer Form auch während des Studiums aufrechterhalten bleiben (Abschnitt 3.2). Die militärischen Anforderungen, die sich an einem Nachmittag der Woche und in Form des Führungsanspruchs ihres jeweiligen militärischen Vorgesetzten konkretisieren, werden von den studierenden Offizieren für sich selbst akzeptiert und für viele ihrer Kommilitonen zur Disziplinierung für notwendig erachtet. Das militärische Werte- und Normengefüge bleibt somit grundsätzlich erhalten, sollte sich aber wenn irgend möglich nicht in Handlungsanforderungen, die an einen selbst heran getragen werden realisieren. Hier zeigt sich eine erste Relativierung des Ausgangshabitus der Offiziere durch die Lebensführung im Studium: Militärische Handlungsdispositionen werden grundsätzlich für richtig gehalten, sollten aber nicht als Zumutung in die Gestaltung des eigenen Alltags eindringen. Das militärische Ethos wirkt jedoch weiterhin als Hintergrundfolie. Für die meisten Offizieranwärter und Offiziere zeigt sich dies auch im Umgang mit den Sozialbeziehungen in ihrem nahen Umfeld (Abschnitt 3.3). Die Bedeutung des Kameradschaftsbegriffs nimmt während des Studiums ab. Die wertrationale Verbundenheit der Soldaten, die mit Kameradschaft bezeichnet wird, weicht in der Regel einer Zweckrationalität von Lerngemeinschaften, die Mit-Offiziere werden im Studium zu Kommilitonen. Das Schließen von Freundschaften schließlich bleibt einer kleinen Gruppe von Mit-Studenten vorbehalten, die einen ähnlichen Lebensstil pflegen – in diesem Sinne bleibt die Exklusivität des Offizierkorps erhalten: Aus den Mit-Studierenden/Mit-Offizieren werden diejenigen zu Freunden erwählt, mit denen eine Passung der Lebensführung vorliegt. Für die Ausgestaltung von Freizeit und Partnerschaft (Abschnitte 3.4 und 3.5) scheint die Entscheidung, auf dem Campus zu leben oder sich eine Wohnung außerhalb des Campus zu suchen, das entscheidende Indiz zu sein. Obwohl nur ein geringer Anteil der Studenten außerhalb des Campus wohnt, ist es insbesondere diese Gruppe, die in einer stabilen Partnerschaft lebt und ihren Lebensmittelpunkt an den Studienort verlegt hat. Diejenigen Offiziere, die während des Studiums auf dem Campus wohnen, orientieren sich in Bezug auf Freundschaften oder Partnerschaft ebenso wie in der Phase 210
der militärischen Ausbildung in Richtung ihrer Herkunftsregion. Für die Majorität gestaltet sich somit auch die Studienphase vielfach als kontinuierliche Mobilitätserfahrung und das Studium als Arbeitsalltag, dessen Aufwand zu minimieren und auf möglichst wenige Tage der Woche zu begrenzen ist (vgl. auch Ennenbach 1977). Freizeit ist für diese Gruppe studierender Offiziere nicht am Studienort realisierbar, sondern nur an den Wochenenden in einem entfernten Zuhause. Zur Kontinuität aus der militärischen Ausbildungszeit trägt die hohe Bedeutung von Sport als wichtiges Element zur Gestaltung des Alltags bei. Gemeinsam ist beiden Gruppen (sowohl den ‘Heimschläfern’ als auch denjenigen, die auf dem Campus wohnen) das Streben nach einem bürgerlichen Normalalltag, den sie im Studium eher realisieren können als im bisher erfahrenen Alltag des Militärischen in ihrem ersten Ausbildungsabschnitt. Das Gesamtarrangement studentischer Lebensführung von Offizieren an der Universität der Bundeswehr ist somit von der Rückgewinnung eines normalen, einem bürgerlichen Ideal verpflichteten Alltags geprägt, zeigt aber Unterschiede in Bezug auf die Realisierung dieses Ideals während des Studiums (für diejenigen, die ihren Lebensmittelpunkt an den Studienort verlegen bzw. für jene, die ihren Lebensmittelpunkt an einem entfernten Heimatort beibehalten). Für beide Gruppen gilt jedoch, – unabhängig vom Andauern der Mobilitätserfahrung – dass die zivile Ausgestaltung der alltäglichen Lebensführung während des Studiums einen relativierenden Effekt auf die in der militärischen Ausbildungsphase gewonnenen Handlungsdispositionen des Offizierhabitus hat. Dies schlägt sich insbesondere in der später zu treffenden Entscheidung nieder, Berufssoldat werden zu wollen oder die Bundeswehr nach (im Durchschnitt) zwölfjähriger Verpflichtungszeit zu verlassen. Die Majorität der Offiziere mit Studium wechselt nach Ablauf ihrer Verpflichtungszeit in ein ziviles Berufsleben (vgl. Marr 2001) und selbst diejenigen, die als Berufssoldaten bei der Bundeswehr bleiben, zeigen veränderte Erwartungshaltungen in ihrem weiteren Berufsleben (vgl. Bonnemann/Hartmann 1995). Die militärische Prägung des ersten Ausbildungsabschnitts der Offiziere erfährt durch das Studium eine Verschiebung hin zu einer stärker zivilen Handlungsdisposition – für die Elite der Bundeswehr gilt somit, dass das Studium auch beabsichtigt, dem vermittelten Ideal des militärischen Offizierhabitus durch die Lebensführung der jungen Offizieranwärter und Offiziere während des Studiums ein ziviles Korrektiv beizugeben, das zu einem der Zivilgesellschaft angepassten Offizierhabitus* (vgl. Abb. 1) führt (vgl. auch Ellwein/Müller/Plander 1974). Auf der Basis des theoretischen Modells, welches die habituelle Veränderung auf der Mikroebene durch das Konzept der
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Alltäglichen Lebensführung erklärt, konnten wir eine Anpassung des Offizierhabitus in Richtung Zivilgesellschaft nachweisen. Der Garant eines in die Zivilgesellschaft integrierten Militärs ist demnach die Ermöglichung von ziviler Lebensführung im Alltag der Soldaten. Für die militärische Organisation bedeutet dies, die Janusköpfigkeit des Militärs ernst zu nehmen und zivilen Alltagserfahrungen (wie im Studium als institutionalisierten Ausbildungsabschnitt von Offizieren) neben Einsatzerfordernissen ihren Platz einzuräumen.
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Betriebswirtschaftliche Instrumente im Militär – Eine strukturationstheoretische Annäherung Gregor Richter „The facade that an organization presents to the world may have little to do with its internal structures, processes or ideologies. This is particularly true in connection with reforms. It is important that researchers do not simply register facades; they should also look behind them.“ (Brunsson/Olsen 1993: 13)
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Problemstellung
Betriebswirtschaftliche Instrumente und Denkweisen halten seit geraumer Zeit auch in den Armeen der westlichen Demokratien Einzug. Von der Übernahme von ursprünglich in privaten Unternehmen entwickelten Instrumenten wie Kostenrechung, Controlling und Qualitätsmanagement versprechen sich politische Leitung, Verwaltung und militärische Führung nicht nur ein Mehr an Wirtschaftlichkeit bei der Erfüllung der unterschiedlichen militärischen Aufgaben; betriebswirtschaftliche Methoden sollen vielmehr den Führungsprozess auf allen Ebenen umfassend unterstützen. Noch bevor man die Frage stellen kann, ob und inwieweit diese dem zivilen Bereich entnommenen Prinzipien in einem Spannungsverhältnis zu militärischen Prinzipien stehen, d. h. ob und inwieweit ökonomisches Denken und Handeln den Funktionsbedingungen und der Logik militärischen Handelns widerspricht, sollte geprüft werden, welche Effekte die Einführung und Nutzung betriebswirtschaftlicher Instrumente tatsächlich in militärischen Organisationen hat. Vorschnelle Unterstellungen, Militär und Ökonomie bildeten einen wie auch immer gearteten Gegensatz, tragen kaum zu einem differenzierten Verständnis der zurzeit in den westlichen Armeen beobachtbaren komplexen organisationalen Veränderungsprozesse bei. In diesem Beitrag wird vorgeschlagen, die in jüngster Zeit auch in der Betriebswirtschaftslehre und Managementforschung rezipierte „Theorie der Strukturation“ des britischen Soziologen Anthony Giddens (1988) als Ausgangspunkt auch für die Untersuchung der Wirkungen von betriebswirtschaftlichen Instrumenten im Militär zu wählen. Die Argumente werden am Beispiel der Bundeswehr entwickelt; hier wiederum wird eine Eingrenzung auf Controlling vorgenommen.
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Kostenrechungssysteme in den US-amerikanischen Streitkräften: Eine Fallstudie
Die internationale Accounting-Forschung und Controllingwissenschaft hat das Militär als Untersuchungsgegenstand bislang weitgehend ausgespart. Eine Ausnahme bildet eine bemerkenswerte Langzeitstudie in den USamerikanischen Streitkräften, die in den 1980er Jahren durchgeführt wurde (Ansari/Euske 1987). Der Hintergrund: Im Jahr 1975 wurde vom Department of Defence (DoD) ein Kostenrechungssystem mit Berichtswesen in Instandsetzungseinheiten und Depots flächendeckend eingeführt (uniformed cost accounting, UCA). Alle Depots hatten in jährlichem Rhythmus Kostendaten über Materialverbrauche, Arbeitsleistungen und Gemeinkostenanteile nach Leistungsbereichen differenziert an die vorgesetzte Ebene zu berichten. Das Gesamtvolumen der mit der Instandhaltung der Waffensysteme angefallenen Kosten belief sich 1984 auf 14 Mrd. US-$. Interessanterweise wurde das UCA parallel zu bereits vorhandenen kostenrechnerischen Informationssystemen aufgebaut und betrieben. Der Anstoß für das UCA geht zurück bis auf die Amtszeit von Robert McNamara (Ansari/Euske 1987: 562). Die verhaltenswissenschaftliche Entscheidungstheorie hat Zweifel an der Gültigkeit von Rational-Annahmen in Modellen über Informationsverarbeitung und Entscheidungsprozesse in Organisationen angemeldet.1 Genau hier setzt auch die UCA-Studie an. Durch den verwendeten Methoden-Mix (Interviewdaten, Dokumentenanalyse, Betriebsbesichtigungen) konnten sich die Forscher einen detaillierten Einblick verschaffen, wozu und auf welche Art und Weise die durch das UCA bereitgestellten Informationen verwendet wurden. Bei ihrer Analyse gingen Ansari/Euske (1987: 553) davon aus, dass es drei alternative theoretische Perspektiven über die Nutzung von Kosteninformationssystemen in Organisationen gibt. In der technisch-rationalen Perspektive dienen Kosteninformationssysteme der Beeinflussung von Entscheidungsprozessen in Richtung auf mehr Effizienz und Effektivität. Dies kommt der Rationalitätssicherungsfunktion von Kostenrechung und Controlling in der Betriebswirtschaftslehre sehr nahe (siehe unten). In sozio-politischer Per1
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Siehe hierzu klassisch: Simon 1976 [1945] und in Fortführung: Cohen/March/Olsen 1972. Eine kompakte Zusammenfassung liefern: Berger/Bernhard-Mehlich 2002. Die verhaltenswissenschaftliche Entscheidungstheorie geht von folgenden Annahmen über menschliches Entscheidungsverhalten aus: Entscheider verfügen nur über unvollständiges Wissen, sie formulieren inkonsistente und unoperationale Ziele und können nur eine begrenzte Anzahl von Entscheidungsalternativen in Betracht ziehen, d. h. Entscheider verfügen nur über begrenzte kognitive Informationsaufnahme- und -verarbeitungskapazitäten (bounded rationality). Es liegen auch Untersuchungen über Entscheidungsprozesse im Militär vor, die dem Forschungsprogramm der verhaltenswissenschaftlichen Entscheidungstheorie folgen (March/Weissinger-Baylon 1986).
spektive dienen Kosteninformationssysteme organisationspolitischen Zwecken: Sie dienen dem Aufbau und der Erhaltung von Macht und Einfluss, d. h. Kosteninformationssysteme werden von den Akteuren strategisch genutzt, um Entscheidungen in eine gewünschte Bahn zu lenken und um eigene mikropolitische Interessen zu verfolgen. In institutionalistischer Perspektive dienen Kosteninformationssysteme der Aufrechterhaltung einer „rationalen Fassade“ gegenüber den Stakeholdern der Organisation. Die Einführung neuer Organisationselemente wie eines modernen Kostenrechnungssystems folgt dann eher „Moden & Mythen des Organisierens“ (Kieser 1996) als objektivrationalen Kriterien. Durch den Einsatz von gesellschaftlich akzeptierten Verfahrensweisen und Techniken wie modernen Kostenrechnungssystemen kann gerade das Militär seine eigene Modernität und Rationalität demonstrieren. (vgl. Elbe/Richter 2005: 143ff.) Sehr deutlich zeigte sich, dass die eigentliche Funktion des Kosteninformationssystems UCA nicht in einer technisch-rationalen Beeinflussung organisationaler Prozesse bestand: „None of the personal interviewed could identify a decision of any consequence that was made on the basis of the UCA data.“ Die Forscher fanden hingegen heraus, dass „(...) most line managers in depots were unfamiliar with the UCA system. This includes the majority of the commanding officers who were either not familiar with it or did not consider it important to their job.“ (Ansari/Euske 1987: 559). Dass die Kostendaten keine Wirkung im militärischen Führungsprozess entfalteten, konnte zurückgeführt werden auf eine fehlende Qualifikation der Nutzer, ein kaum ausgeprägtes Sinnverständnis für das neue System bei den Nutzern und zudem auf zu kurze Stehzeiten auf den entsprechenden Dienstposten (ebd.). Mehr Erklärungskraft dafür, weshalb das UCA eingeführt und dann am Leben erhalten wurde, finden die Forscher in der sozio-politischen und in der institutionalistischen Perspektive. Das UCA kann als Vehikel des DoD beschrieben werden, mit dem sich die Kontrolle über die nachgeordneten Bereiche durch das Ministerium steigern lies. Wenngleich die Kosteninformationen keinen Effekt auf die internen Entscheidungsprozesse in den nachgeordneten militärischen Einheiten hatten, so wurden doch Kostenberichte kontinuierlich an die vorgesetzte Ebene gemeldet. Diese lieferten dann eine durch die „Macht der Zahlen“ (Vormbusch 2004) abgesicherte Grundlage für Entscheidungen des Ministeriums, die den nachgeordneten Bereich betrafen – was nicht bedeutete, dass die Entscheidungen ihren politischen Charakter zugunsten technisch-rationaler Überlegungen eingebüßt hätten. Zudem erlaubten die Kosteninformationen dem DoD wiederum eine positive Außendarstellung, womit die institutionalistische Perspektive angesprochen ist: „With respect to the DoD’s relationship to congress, the objectives are important means to demonstrate rationality.“ (Ansari/Euske 1987: 563). 221
Alles in allem kommen die Forscher zu dem Ergebnis: „Our findings show a great deal of disparity between the formally stated objectives, which are oriented to efficiency considerations and the way the system was designed and implemented.“ (Ansari/Euske 1987: 557) Hier setzen die folgenden Überlegungen zur Einführung von Kostenrechungssystemen und Controllingverfahren in der Bundeswehr an. Zweifellos lässt sich der Antrieb dieses organisationalen Veränderungsprozesses in technisch-rationalen Argumenten ausfindig machen: Kostenrechnung und Controlling sollen die Arbeits- und Führungsprozesse in der Bundeswehr effektiver und effizienter gestalten. In betriebswirtschaftlichen Kategorien formulierbare Effekte des Controllings in der Bundeswehr stehen allerdings im Folgenden weniger im Zentrum der Überlegungen. Vielmehr soll unter Zuhilfenahme eines erweiterten theoretischen Bezugsrahmens analysiert werden, wie das organisationale System „Bundeswehr“ durch Controlling „strukturiert“ wird. Einen solchen Bezugsrahmen für die empirisch-verhaltenswissenschaftliche Controllingforschung entwickelt Albrecht Becker (2001, 2003). Als Ausgangspunkt dient ihm die Theorie der Strukturation von Anthony Giddens (1988).2 Als allgemeine Sozialtheorie beansprucht sie eine Grundlage für alle sozialwissenschaftlichen Theorien zu legen. So eignet sie sich auch als Theorierahmen für die Analyse organisationaler Phänomene und somit für die Analyse des Controllings. Dieser Beitrag verfolgt das Ziel, die Potenziale dieses Ansatzes für den Anwendungsfall „Controlling in der Bundeswehr“ aufzuzeigen. Hierzu wird folgender Bogen gespannt: Referenzpunkt nicht nur für die Controllingwissenschaft, sondern auch für die Konzeption des Controllings in der Bundeswehr sind normative Controllingkonzeptionen in der Betriebswirtschaftslehre (Abschnitt 3). In einem nächsten Schritt folgt ein Überblick über das Controlling in der Bundeswehr, seine Konzeption, Organisation und Ausgestaltung (Abschnitt 4). Es schließt sich eine Rekonstruktion der für den weiteren Gang der Überlegung zentralen Kategorien der Theorie der Strukturation an (Abschnitt 5). Das von Becker (2003) entwickelte controllingwissenschaftliche Forschungsprogramm (Abschnitt 6) kann als heuristischer Bezugsrahmen auch für eine Analyse der Wirkungen betriebswirtschaftlicher Instrumente im Militär am Beispiel der Bundeswehr genutzt werden (Abschnitt 7).3
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Neuberger (1995: 285ff.), Walgenbach (2002) und Ortmann/Sydow/Windeler (1997) zeigen die Potenziale des Giddensschen Ansatzes für die Organisationsforschung auf. Die hier angestellten Überlegungen entspringen einem zurzeit am Sozialwissenschaftlichen Institut der Bundeswehr (SOWI) durchgeführten Forschungsprojekt mit dem Titel: „Controlling und Führungsprozesse in der Bundeswehr“ (Informationen unter: www.sowi-bundeswehr.de)
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Normative Controllingkonzeptionen in der Betriebswirtschaftslehre
Controlling als Praxis in Unternehmen und als Erfahrungsobjekt der Betriebswirtschaftslehre findet in Deutschland erst ab den 1960er Jahren Aufmerksamkeit. Die historische Controllingforschung zeigt, dass dem heutigen Controlling ähnliche Funktionen bereits in staatlichen Einrichtungen und privaten Unternehmen seit dem 15. Jahrhundert existieren (vgl. Rupp 2002: 7ff.; Weber 2002: 5ff.). Der moderne Begriff „Controlling“ leitet sich aus dem „Countroller“ ab, dessen Aufgabe am englischen Königshof in Aufzeichnungen über ein- und ausgehende Gelder bestand. Ähnliche Aufgaben übernahm der „Comptroller“, der in den USA seit 1778 das Gleichgewicht zwischen Budget und Staatsausgaben zu überwachen hatte. Der heute in deutschen Unternehmen als Controlling bezeichnete Aufgabenkomplex wird erst ab 1960 und dann verstärkt in den 1970er Jahren nach amerikanischem Vorbild ausgebildet (vgl. Weber 2002: 9). In den meisten größeren Unternehmen gehört heute eine eigenständige Controllingfunktion, als Stabsabteilung oder als Teilfunktion des Rechnungswesens, auch in Deutschland zum Standard. Zunehmend findet sich Controlling im öffentlichen Sektor (Rupp 2002; Berens/Hoffjan 2004) und neuerdings auch in den Streitkräften (Hippler 2001; Richter 2004). Aus der umfassenden Verbreitung des Controllings kann aber weder geschlossen werden, dass ein einheitlicher Entwicklungsstand, noch dass eine einheitliche Vorstellung in Wissenschaft und Praxis darüber herrscht, was man unter diesem Aufgabenkomplex zu verstehen hat. Nach Rupp (2002: 10) lassen sich drei Grundrichtungen des Verständnisses von Controlling unterscheiden: –
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rechnungswesenzentrierte Ansätze, bei denen die externe und vor allem die interne Rechnungslegung als Kerngebiete des Controllings gesehen werden, informationsorientierte Ansätze, bei denen der Schwerpunkt auf der Informationsversorgungsfunktion des Controllings liegt. Dieses Controllingverständnis beinhaltet die Aufgaben und Instrumente der rechnungswesenzentrierten Ansätze, erweitert diese jedoch um die Bereitstellung von Informationen aus allen Bereichen der Unternehmung, führungs- und koordinationsorientierte Ansätze, die das Controlling als Subsystem der Führung betrachten und eine starke Verzahnung von Management und Controlling zum Inhalt haben.
Rechnungswesenorientierte und informationsorientierte Ansätze können keine eigenständige betriebswirtschaftliche Teildisziplin „Controlling“ begrün223
den, da sie letztlich lediglich umfassendere Betrachtungsweisen der betrieblichen Informationswirtschaft darstellen (vgl. Becker 2003: 8f.). Dennoch ist die Entwicklung des Rechnungswesens und entsprechender Informationssysteme eine notwendige Voraussetzung für die Arbeit des Controllings, d. h. einer Nutzung des Controllings als umfassende Führungsunterstützung und Führungskoordination. Die betriebliche Praxis besteht in vielen Fällen faktisch in einer Sammlung und Aufbereitung von Daten des Rechnungswesens, weniger in der Wahrnehmung von Aufgaben im Sinne eines Subsystems der Unternehmensführung. Zwei Konzeptionen mit umfassenderem Anspruch beherrschen heute den Diskurs um das Controlling: Dies sind der koordinationsorientierte Ansatz von Peter Horváth (2003) und der rationalitätssicherungsorientierte Ansatz von Jürgen Weber (2002). Beide Ansätze bauen auf den rechnungswesenund informationsorientierten Ansätzen auf, sehen die differentia specifica des Controllings aber in einer Koordination von betrieblichen Führungsfunktionen. Funktional hochgradig ausdifferenzierte Organisationen zeichnen sich heutzutage nicht nur durch ein hohes Maß an Arbeitsteilung auf der Ausführungsebene aus, sondern auch in Hinblick auf das Leitungs- und Führungssystem. Zu unterscheiden sind hier das Planungssystem, das Kontrollsystem, das Informationssystem und das Personalführungssystem – je nach Grad der Komplexität und Ausgestaltung im Unternehmen entsprechend institutionell differenziert. Dem Verständnis von Controlling bei Horváth nähert man sich am besten über die Unterscheidung von Primär- und Sekundärkoordination: „Die Koordination wird als eine spezifische Führungsfunktion angesehen. (...) Die Koordinationsfunktion der Führung bezieht sich primär auf das Ausführungssystem. Die Führung hat hier durch Systembildung und Systemkopplung den Leistungsvollzug im Sinne der gesetzten Ziele zu sichern. Es gibt jedoch eine weitere Koordinationsaufgabe, die diese Primärkoordination überhaupt erst ermöglicht. Innerhalb des Führungssystems sind Koordinationsvorgänge notwendig, um die einzelnen Subsysteme der Führung miteinander zu verbinden. Die Koordinationsaufgabe des Controlling bezieht sich auf diese sekundäre Koordination innerhalb der Führung, die die primäre Koordination überhaupt erst ermöglicht.“ (Horváth 2003: 127) Demnach kommt dem Controlling weniger eine bloße Dienstleistungsfunktion gegenüber der Unternehmensführung zu, etwa die der Bereitstellung von führungsunterstützenden Informationen, sondern vielmehr eine gestaltende Funktion. Das Controlling entwickelt Budgetierungssysteme, Ziel- und Kennzahlensysteme, Kostenrechnungssysteme usw. und stellt deren Betrieb sicher; seine Hauptaufgabe besteht dann in der Abstimmung und Anpassung dieser Teilfunktionen untereinander: „Controlling ist – funktional gesehen – 224
dasjenige Subsystem der Führung, das Planung und Kontrolle sowie Informationsversorgung systembildend und systemkoppelnd ergebniszielorientiert koordiniert und so die Adaption und Koordination des Gesamtsystems unterstützt.“ (Horváth 2003: 151) Becker (2003: 41) zufolge weist der rationalitätssicherungsorientierte Ansatz von Weber (2003) erhebliche Überschneidungen mit koordinationsorientierten Konzeptionen à la Horváth auf. Die Rationalität von Führungshandeln, wie generell von allen menschlichen Handlungen, bemisst sich an dem Ausmaß, in dem eine Sequenz von Aktionen so organisiert und strukturiert ist, dass sie mit einem Maximum an Effizienz zu einem vorher bestimmten Ziel führt. Rationalität sichern bedeutet also dazu beizutragen, dass Handlungsziele festgelegt werden, dass diese im erforderlichen Umfang konkretisiert und spezifiziert sind und dass Wege und Mittel gesucht werden, wie diese Ziele mit einem Minimum an Ressourceneinsatz erreicht werden können. Dem Controlling als „Rationalitätssicherer“ kommen alle diese Aufgaben zu, was nicht bedeutet, dass sich Controlling um die Richtung der Ziele zu kümmern hat. Dies ist und bleibt Aufgabe der Unternehmensführung – so die normative Controllingkonzeption. Führung kann auf eher intuitivem oder auf explizitem Wissen beruhen, also einem Wissen, bei dem der Wissensträger die Gründe und Argumente für oder gegen seine Entscheidungen angeben und falls erforderlich nach innen und nach außen kommunizieren kann. Dem Controlling kommt die Aufgabe zu, Informationen zu sammeln und Informationssysteme so abzustimmen (Stichwort: Koordinationsfunktion), dass der Umfang an explizitem Wissen steigt und somit letztlich der Grad der Rationalität von Führungsentscheidungen. Dieses Wissen ist selbstverständlich ein sozial-konstruiertes Wissen und selbst scheinbar objektivierbare ökonomische Wissensbestände können ihren konstruierten und konstruierenden Charakter nicht abstreifen. Die verhaltenswissenschaftliche Controllingtheorie arbeitet heraus, dass Controllingsysteme ja geradezu zur Konstruktion von Organisationen als ökonomische Sachverhalte beitragen (siehe unten). Die Rationalitätssicherungsfunktion des Controllings besteht dann in der „Sicherung des Primats der Planung und der plandeterminierten Unternehmensführung“ (Becker 2003: 39). Im Gegenzug sollen Ad-hoc-Entscheidungen zurückgedrängt werden und alternative Koordinations- und Führungsmodi, wie die persönliche Weisung und die Selbstabstimmung, tendenziell substituiert werden. Insofern ist Controlling nicht nur bloße Führungsunterstützung, sondern strukturiert vielmehr Führungshandeln nach den ihm eigenen Rationalitätskriterien. Der starke Bezug der Controllingkonzeption der Bundeswehr auf die Entwicklung, Fortschreibung und Überwachung der Ziele und der Zielerrei225
chungsgrade, die sich eine organisatorische Einheit setzen, lässt eine Nähe zu rationalitätssicherungsorientierten Konzepten erkennen. Ebenso zeigt sich eine Nähe zum koordinationsorientierten Ansatz, was durch die Rolle des Controllings im militärischen Führungsprozess zum Ausdruck kommt. Dies soll im Folgenden nachgewiesen werden.
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Betriebswirtschaftliche Instrumente in der Bundeswehr: Sachstand und Perspektiven
Der Grundstein für die Einführung betriebswirtschaftlicher Instrumente und Denkweisen wurde Anfang der 1990er Jahre mit dem bundeswehreigenen Konzept der „Kosten- und Leistungsverantwortung“ gelegt. (Richter 2004: 44 f.)4 Das Konzept, verstanden als eine ökonomisch orientierte Führungsphilosophie, „(...) will den wirtschaftlichen Umgang mit den anvertrauten Ressourcen als einen wesentlichen Maßstab des Denkens und Handelns in der Bundeswehr stärker als bisher verankern“. (Hubbert 2000: 79) Im Einzelnen umfasst das Konzept folgende Programmelemente: – –
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die wirtschaftliche Erstellung aller militärischen und zivilen Leistungen der Bundeswehr (Wirtschaftlichkeitsgebot); die Herstellung der Kosten- und Leistungsverantwortung durch die Zusammenführung von Fach- und Ressourcenverantwortung und eine Flexibilisierung der Mittelbewirtschaftung; die Schaffung von Kosten- und Leistungstransparenz durch den Aufbau einer Kosten- und Leistungsrechnung in allen Dienststellen der Bundeswehr; die Erschließung von Kreativitätspozentialen durch das „Kontinuierliche Verbesserungsprogramm“ (KVP).
In jüngster Zeit wurde die ursprüngliche KLV-Konzeption zu einem umfassenden Controllingansatz weiterentwickelt. Neben der Verbesserung der Wirtschaftlichkeit und Leistungstransparenz soll ein vertikales Controlling auch entsprechende führungs- und planungsrelevante Informationen für die ‘Transformation’ der Bundeswehr bereitstellen. Der Aufbau eines durchgängigen Controllingsystems setzt sich aus einer Reihe von Teilprojekten (beispielsweise die Entwicklung von Management Cockpits und Balanced Score-
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Nicht berücksichtigt werden im Folgenden die Privatisierungsvorhaben im Servicebereich der Bundeswehr, die auch einen wesentlichen Bestandteil der „ökonomischen Modernisierung“ (Biederbick 2005) der Bundeswehr bilden und – ebenso wie die betriebswirtschaftlichen Reformen im engeren Sinne – dem Versuch entspringen, das „Neue Steuerungsmodell (NSM)“ auch im Militär zu etablieren (vgl. Richter 2004).
cards, vgl. Hubbert 2005) und flankierenden Maßnahmebündeln (an prominenter Stelle die Einführung von SASPF5) zusammen. Das heutige Konzept von Controlling fußt hauptsächlich auf der im Mai 2002 vom Bundesminister der Verteidigung in Kraft gesetzten „Rahmenweisung für das Controlling im Geschäftsbereich des BMVg“, die Zielsetzung, Gegenstand, Grundsätze, Aufgaben und die Organisation des Controllings in der Bundeswehr regelt. Betrachtet man alleine die Rahmenanweisung, so lässt sich das darin zum Ausdruck kommende Controllingverständnis in der Typologie von Rupp (2002: 10, siehe oben) den informationsorientierten Ansätzen zuordnen: „Controlling hat zum Ziel, der jeweiligen Führungsebene die notwendigen Informationen zur erfolgreichen Steuerung und Leitung des Verantwortungsbereiches zur Verfügung zu stellen und das Handeln der Entscheidungsträger dauerhaft am Prinzip der Wirtschaftlichkeit auszurichten.“ (Rahmenweisung Controlling). Deutlich wird hier auch auf das bereits im KLV-Konzept verankerte Wirtschaftlichkeitsprinzip rekurriert. Die Fokussierung des Controllings auf Informationsversorgung und Sicherstellung der Wirtschaftlichkeit von Entscheidungen wird auch erkennbar in der Liste der wesentlichen Aufgaben des Controllings. Vor allem wird aber die Funktion des Controllings für die Entwicklung und Fortschreibung des Zielsystems (Stichwort: Rationalitätssicherung) auf der jeweiligen Führungsebene herausgearbeitet: – – – – –
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„Unterstützung bei der Analyse der Rahmenbedingungen und Vorgaben, Unterstützung bei der Systematisierung der Zielsetzung, Unterstützung bei der Formulierung der Zielvorgaben, Operationalisierung der Ziele und Zielvorgaben, Kontinuierliche Bewertung des Zielerreichungsgrades sowie Überwachung von Effizienz, Effektivität und Qualität der Zielerreichung mittels eines regelmäßigen Berichtswesens, Erstellen von Analysen, insbesondere zu Prozessen, Strukturen und Ergebnissen (Produkten), Aufzeigen von Handlungsalternativen für den Führungsverantwortlichen sowie Durchführung von Sonderanalysen „(Bewertung von Forderungen, leitungsrelevanten Projekten und dgl.).“ (Rahmenweisung Controlling)
Gegenüber früheren Konzeptionen signalisiert die Rahmenweisung den Wechsel hin zu einem durchgängigen Top-down-Ansatz: Zielsysteme auf den oberen Führungsebenen sollen dem Sinn nach von den jeweiligen unterstell5
=Standard-Anwendungs-Software-Produkt-Familien. SASPF ist ein einheitliches Fachinformationssystem mit dem die Bundeswehr künftig auch verstärkt nach betriebswirtschaftlichen Grundsätzen geführt werden soll.
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ten Bereichen übernommen werden, gleichzeitig soll eine ebenengerechte Ausgestaltung und Konkretisierung der Zielperspektiven die führungsunterstützende Funktion des Controllings vor Ort gewährleisten. Hierbei kommt das Instrument der „Balanced Scorecard“6 zum Einsatz, mit dem sowohl eine perspektivische Harmonisierung der Zielsysteme von Organisationseinheiten ermöglicht wird, ebenso aber ausreichend Spielraum für die Dienststellen gewahrt bleibt, das Ziel- und Kennzahlensystem auf ihre individuellen Bedürfnisse hin zu gestalten. Im Gegenzug fungieren die unterstellten Dienststellen als Datenlieferant für die jeweils vorgesetzten Führungsebenen mit einem Informationsbedarf auf einer höheren Aggregationsebene. Die Organisation des Controllings in der Bundeswehr folgt diesen Anforderungen. Die Spitze der Controllingorganisation nimmt dabei der Stab Leitungscontrolling (LC) ein, der die Richtlinien für die Weiterentwicklung und Implementierung des Controllings im Geschäftsbereich des BMVg formuliert. In den ministeriellen Führungsstäben und zivilen Abteilungen werden die Grundlagen für das Controlling in den militärischen und zivilen Organisationsbereichen entwickelt, bevor sie stufenweise über die Höheren Kommandobehörden bzw. Bundesober- und -mittelbehörden der Wehrverwaltung bis zu den Einheiten und Dienststellen ausgefächert werden (vgl. Hubbert 2005: 59). Die flächendeckende Einführung des Controllings ist großteils abgeschlossen. Eine Recherche des Sozialwissenschaftlichen Instituts der Bundeswehr ergab, dass heute (Stand September 2005) in dem BMVg nachgeordneten Bereich über 700 Soldaten/Soldatinnen und zivile Mitarbeiter/innen Controllingdienstposten (sog. Controller A und Controller B) in Haupt- oder Nebenfunktion wahrnehmen. Hinzu kommt das Unterstützungspersonal an Sachbearbeiter/innen (Controller Bürosachbearbeiter/innen, BSB), die im Wesentlichen die Buchungen in der Kosten-Leistungs-Rechnung durchführen und DV-technische Aufgaben übernehmen. Das BMVg beschäftigt im Leitungsbereich, in den Führungsstäben und zivilen Abteilungen noch einmal an die 40 Soldaten/innen und zivile Mitarbeiter/innen mit Controllingfunktionen. Anhand dieser Zahlen kann man einen Eindruck davon erhalten, welchen personellen Aufwand die Bundeswehr für ihre Controllingorganisation betreibt und welchen Stellenwert sie ihr damit zumisst. Die Federführung für die Entwicklung und Fortschreibung des Ausbildungskonzepts zum Controlling hat der Stab Leitungscontrolling (LC). Die Ausbildungsaufgaben werden von der Bundesakademie für Wehrveraltung und Wehrtechnik (BAkWVT) in Mannheim und Berlin wahrgenommen. Im Wesentlichen schöpft die Bundeswehr ihr Controllingfunktionspersonal aus 6
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Zum Grundmodell der BSC siehe: Kaplan/Norton 1997; zu den Grenzen dieses Managementinstruments: Marr/Elbe 2001; für Anwendungen beim Heer: Hippler 2001.
eigenem vorhandenen Personal, das in mehreren gestuften Lehrgängen, die zusammen etwa 6–8 Wochen dauern, auf seine Verwendung als Controller vorbereitet wird. Die Logik des controllingunterstützten Führens von Unternehmen lässt sich in einem Stufenmodell, angefangen von der Sammlung von Informationen über die Ausgangssituation (=Ist-Analyse), über die Bestimmung von strategischen und operativen Zielen (=Zielvorgaben oder Zielvereinbarungen), einer Ermittlung des Grades der Zielerreichung (=Soll-/Ist-Vergleich) bis hin zu einem letzten Schritt, dem des operativen Nachsteuerns bzw. der strategischen Neuausrichtung, abbilden. Eine ähnliche Logik liegt militärischen Führungsprozessen mit den Stationen „Lagefeststellung“, „Planung“, „Befehlsgebung“, und „Kontrolle“ zugrunde. Insofern sind der militärische und der betriebswirtschaftliche bzw. controllingbasierte Führungsprozess – zumindest in der Theorie – miteinander kompatibel. Die Einführung des Controllings stellt dennoch einen weitreichenden Eingriff hinsichtlich der Systematik, des Umfangs, der Verbindlichkeit und der Formalisierung ökonomischen Denkens und Handelns im Militär und in der Bundeswehr dar (vgl. Kantner/Richter 2004: 59). „Controlling vollzieht sich im Zusammenspiel zwischen Manager und Controller.“ (Weber 2002: 52) Auf die Organisation Bundeswehr angewandt heißt dies: Controlling vollzieht sich im Zusammenspiel von Dienststellenleiter/in bzw. Kommandeur und Controller/in in den Dienststellen und Einheiten. Welche Bedeutung dem Controlling in einer Dienststelle bzw. einer Einheit beigemessen wird, in welchem Umfang Controllingdaten für Entscheidungsprozesse herangezogen werden und welche Definitions- und Organisationsmacht dem Controlling somit zukommt, hängt in hohem Maße von der Dienststellenleitung ab. Controlling ist deshalb in erster Linie als ein Führungsinstrument zu sehen, dass seine Wirkung nur entfalten kann, wenn es auch als solches verstanden und genutzt wird. Systematische Erkenntnisse darüber, ob, inwieweit und in welcher Weise Controlling in den Dienststellen tatsächlich eingesetzt wird, d. h. Controllingsysteme auch in Controllingpraxis übergehen, existieren noch nicht. Die folgenden Überlegungen können daher noch nicht empirisch abgesichert werden, erlauben aber im Sinne einer theoretischen Analyse die Bildung von begründeten Hypothesen zu den Auswirkungen von Controllingsystemen in militärischen Einrichtungen und Dienststellen.
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Anthony Giddens’ Theorie der Strukturation7
In Anschluss an Neuberger kann aus Sicht der Organisationstheorie und auch für die Controllingwissenschaft festgestellt werden, dass „die Strukturationstheorie vor allem wegen ihres heuristischen Potentials relevant erscheint“. (Neuberger 1995: 285) Insofern kann es an dieser Stelle nicht darum gehen, die Strukturationstheorie – das 1984 erschienene Hauptwerk „The Constitution of Society“ (Giddens 1988) ist das Ergebnis einer vorausgehenden jahrzehntelangen Rekonstruktions- und Theoriearbeit und bildet den Stand der Giddensschen Theorie ab – in ihrer Gesamtheit darzustellen, sondern vielmehr die für die weiteren Überlegungen fruchtbaren, d. h. heuristischen Kernkonzepte einzuführen. Organisationstheorien neigen dazu, entweder den handelnden bzw. entscheidenden Akteur zu stark in den Mittelpunkt zu rücken und dabei institutionelle Faktoren unberücksichtigt zu lassen, oder aber die Akteure werden als von strukturellen Zwängen kontrolliert und determiniert modelliert, wobei Freiheitsgrade im Handeln (Voluntarismus) nicht in den Blick geraten (vgl. Walgenbach 2002: 355). Genau hier setzt Giddens mit seiner theoretischen Leitfigur der „Dualität von Struktur“ an, durch die eine die Soziologie seit ihrer Entstehung durchziehende Kluft überbrückt werden soll: Die beiden Analyseebenen „Handlung“ und „Struktur“ bilden kein Gegensatzpaar mehr, sondern können strukturationstheoretisch direkt aufeinander bezogen werden. Handelnde reproduzieren durch ihre Handlungen die Bedingungen, d. h. die Strukturen, die ihr Handeln selbst wieder (in der nächsten Periode) ermöglichen und restringieren. Auf diese Weise wird der Faktor Zeit zum integralen Modellbestandteil; die Strukturationstheorie als dynamische Theorie eignet sich somit für die theoretische Auseinandersetzung mit dem (organisationalen) Wandel: „Gemäß dem Begriff der Dualität von Struktur sind die Strukturmomente sozialer Systeme [beispielsweise von Organisationssystemen, G. R.] sowohl Medium wie Ergebnis der Praktiken, die sie rekursiv organisieren.“ (Giddens 1988: 77) Unter Strukturen versteht Giddens „Regeln und Ressourcen, die in rekursiver Weise in die Reproduktion sozialer System einbezogen sind“. (ebd.: 432) Strukturen beschränken und ermöglichen einerseits die Handlungen der Akteure, gleichwohl determinieren sie sie nicht. So zeigt das eingangs skizzierte Beispiel der Einführung des UCA in den US-amerikanischen Streitkräften, dass diese neuen Strukturmomente in der militärischen Organisation zwar einen Referenzpunkt für sinnhaftes oder strategisches Handeln der Ak7
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Alternativ zur „Strukturation“ wird in der einschlägigen Literatur zuweilen von „Strukturierung“ gesprochen – dies aber ohne erkennbare semantische Differenz. Aus Gründen der Vereinheitlichung wird im Folgenden die erste Begriffsvariante verwendet.
teure boten, das beobachtete organisationale Geschehen aber erheblich von dem abwich, was ursprünglich mit der Einführung der Kostenrechnungssysteme intendiert wurde. Gleichzeitig erwies sich das UCA als ein System, das über die Zeit hinweg bestehen bleib, denn als Strukturmoment wurde es in rekursiver Weise in die Reproduktion des sozialen Systems einbezogen. Giddens behauptet, dass Strukturationsprozesse anhand von drei analytisch trennbaren Strukturationsdimensionen beschrieben werden können: „Signifikation“, „Herrschaft“ und „Legitimation“ (Giddens 1988: 81ff.). Ungeachtet der berechtigten Kritik, dass nicht schlüssig hergeleitet werden kann, warum gerade diese Dimensionen gewählt werden, noch dass die Vollständigkeit von drei Dimensionen (warum nicht vier?) geklärt ist (vgl. Neuberger 1995: 322), bieten sie einen fruchtbaren heuristischen Rahmen auch für die Analyse des Controllings am Beispiel der Bundeswehr. Gerade die nichtintendierten Handlungsfolgen, die mit der Einführung von betriebswirtschaftlichen Instrumenten im Militär verbunden sind, können hiermit in den Blick genommen werden.
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Strukturation, Organisation und Controlling
Mit seiner theoretischen Untersuchung, die die betriebswirtschaftliche Controllingforschung mit organisationstheoretischen Analysen verbindet, verfolgt Becker (2003) im Kern drei Anliegen: Erstens unterzieht er den Stand der Controllingwissenschaft einer kritischen Analyse mit dem Ergebnis, dass insbesondere empirische Arbeiten zu den Verhaltenswirkungen von Controllingsystemen fehlen. So zeigen Untersuchungen zum Entwicklungsstand des Controllings (Amshoff 1993; Niedermayr 1994) vielfältige Differenzen zwischen der faktischen Ausgestaltung und Wirkungsweise von Controllingsystemen in Organisationen auf der einen Seite und normativen Controllingkonzeptionen auf der anderen Seite; gleichzeitig werden durch dieses methodische Vorgehen der Spiegelung der Controllingpraxis an normativen Konzepten „Phänomene, die nicht in das normative Controllingkonzept passen (...) nur als Pathologien bzw. Fehl- und Unterentwicklung interpretiert“ (Becker 2003: 257). Zweites Anliegen von Becker ist eine umfassende Sichtung der angelsächsischen Accounting-Forschung und eine Extraktion von theoretischen Grundpositionen auf Accounting und Controlling. Mit seiner Untersuchung liegt erstmalig eine derartige Synopse im deutschsprachigen Raum vor. Sein Hauptanliegen besteht allerdings darin, die vorliegenden Konzepte und Theorien zu einer „konsistenten deskriptiven Theorie des Controllings als organisationalem Phänomen [zu] integrieren“ (ebd.: 258). Die für sein Hauptanliegen geeignete Basis findet er in der Theorie der Strukturation. Controllingsysteme sind Teil der Formalstruktur von Organisa231
tionen. Die Organisationsmitglieder, sei es nun die Führung oder das Management, das Controllingfunktionspersonal oder externe Akteursgruppen, rekurrieren in ihren Handlungen auf Controllingsysteme als formale Systeme von Regeln und Ressourcen, also auf das, was Giddens „Strukturen“ nennt. Gemäß dem Prinzip der Dualität von Struktur werden somit soziale Beziehungen – in diesem Fall: die Beziehungen unter den organisationalen Akteuren – rekursiv strukturiert. Ergebnis ist eine Strukturation des sozialen Systems „Organisation“ über Raum und Zeit hinweg. Auf Controlling bezogen lassen sich die drei Strukturationsdimensionen „Signifikation“, „Herrschaft“ und „Legitimation“ in ihrer Funktionsweise wie folgt beschreiben: „Erstens sind Controllinginstrumente Verfahren bzw. Praktiken der Herstellung von Diskursivität. Das bedeutet, dass sie organisationale Sachverhalte in bestimmter steuerungsrelevanter Weise sichtbar machen. (...) Zweitens sind sie Instrumente/Praktiken der Steuerung, d. h. sie zielen auf die Beeinflussung organisationaler Prozesse bzw. organisationalen Handelns. Drittens schließlich sind sie Instrumente/Praktiken der Legitimation bzw. der Zuweisung von Verantwortung.“ (Becker 2003: 210f.) Hieran wird deutlich, dass Controllingsysteme, wenn sie in Organisationen eingeführt werden und organisationale Akteure ihr Handeln an ihnen und mit ihnen (mikropolitisch-strategisch?) orientieren, die Regel- und Ressourcensysteme von Organisationen grundlegender verändern können, als dies koordinations- und rationalitätsorientierte Konzepte der normativen Betriebswirtschaftslehre in den Blick bekommen. Controllingsysteme sind nicht nur der organisationalen Praxis beiseite gestellte, koordinierende oder rationalitätssichernde Praxisformen, die bestehende organisationale Handlungsabläufe effizienter gestalten helfen sollen; Controllingsysteme werden in der Controllingpraxis genutzt und fungieren als Interpretationsschemata, administrative und ökonomische Machtmittel sowie als organisationale Normen (Becker 2003: 215).
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Wie strukturiert Controlling Organisationssysteme in der Bundeswehr?
Wie sich die Einführung und Nutzung von Kostenrechnungssystemen und Controlling im Militär bzw. in der Bundeswehr aus der Perspektive der Strukturationstheorie heraus darstellt, soll im Folgenden skizziert werden. „Trying to study accounting in the contexts in which it operates“ (Hopwood 1983; vgl. Becker 2003: 2) bedeutet nicht zuletzt den spezifischen rechtlichen, ökonomischen und kulturellen Umweltbedingungen der Organisation gebührend Aufmerksamkeit zu schenken. Dies gilt gerade für den Fall des Militärs und der Militärbürokratie. 232
Signifikation: Ohne Zweifel hatten Ökonomie und ökonomisches Denken immer einen zentralen Platz im Militär, nicht nur in der Kriegsökonomie, sondern auch bei der Beschaffung und Bewirtschaftung von Wehrmaterial und im Personalmanagement in Friedenszeiten (vgl. Richter 2004: 43). Dennoch werden Handlungszusammenhänge, Dinge und Prozesse in militärischen Organisationen durch Kostenrechung und Controlling in nicht vorher bekanntem Ausmaß als ökonomische Größen konstituiert. Durch die Definition einer militärischen Einheit als Kostenstelle oder die Erfassung eines Lehrgangs als Kostenträger werden nicht nur die wirtschaftlichen Aspekte eines Objekts oder eines Prozesses sichtbar gemacht; mit der Signifikation, also der Bezeichnung eines Gegenstandes, geht oft eine erweiterte Bedeutungsgenerierung oder wenigstens Bedeutungsverschiebung einher: „Controlling stellt als Interpretationsmuster Kriterien zur Verfügung, mit deren Hilfe zwischen relevanten oder weniger relevanten Objekten und Prozessen unterschieden werden kann.“ (Becker 2001: 106) Eine solche Bedeutungsverschiebung lässt sich beispielsweise an den Effekten der in vielen Ausbildungseinrichtungen der Bundeswehr betriebenen Kostenträgerrechnung verdeutlichen. Die Kostenträgerrechung verfolgt das Ziel, die in einer Rechnungsperiode angefallenen Kosten für die Leistungen bzw. Produkte einer Ausbildungseinrichtung zu ermitteln. Dieses Rechungssystem operiert mit einer Unterscheidung zwischen sog. externen und internen Kostenträgern. Alle Kosten von internen Kostenträgern, also etwa administrative und logistische Unerstützungsleistungen, werden auf die externen Kostenträger verrechnet. Letztere repräsentieren die eigentlichen Produkte der Organisation, die an „Externe“ abgegebenen Leistungen. In Ausbildungseinrichtungen der Bundeswehr sind dies v. a. die durchgeführten Lehrgänge. Worin liegt nun die durch das Kostenrechnungssystem induzierte Bedeutungsverschiebung für die Organisation? Durch die Unterscheidung von externen und internen Leistungen werden Gruppen von organisationalen Aktivitäten und Handlungszusammenhängen in eine vorher in dieser Form nicht explizierte Wertigkeitsstufung gebracht. Die an externe Dritte abgegebenen Kernleistungen besitzen eine andere Bedeutung und Wertigkeit als die internen Vorleistungen. Kostenrechungssysteme strukturieren (hierarchisieren?) somit die Organisation in ähnlicher Weise wie ihre formale Aufbaustruktur – dies aber oft entlang unterschiedlich verlaufender Differenzoperationen. Zudem trägt die Rede von Produkten, externen Leistungen und Kernaufgaben zur Konstitution des Dienstleistungsgedankens in einer Organisation bei. Noch deutlicher kann der Strukturationsprozess in der Dimension der Signifikation anhand der Wirkungsweise von Ziel- und Kennzahlensystemen gezeigt werden. In vielen Dienststellen der Bundeswehr kommt das in der Unternehmenswelt mittlerweile stark verbreitete Balanced-Scorecard (BSC) 233
zum Einsatz. Die BSC ist ein Controllinginstrument, mit dem eine Organisation ihre Zielsetzungen transparent macht, Strategien zu ihrer Umsetzung entwickelt und den Grad der Zielerreichung messen kann. Ausgangspunkt für die Erarbeitung des BSC-Konzeptes war Anfang der 1990er Jahre die Beobachtung, dass amerikanische Unternehmen ihr Managementsystem zu stark auf finanzielle Ziele ausrichten und somit andere Geschäftsinhalte vernachlässigen. Ziel der BSC ist eine ausgewogenere Berücksichtigung der unterschiedlichen Bereiche eines Unternehmens, die ihrerseits wiederum zur Erreichung von Finanzzielen beitragen. In ihrer klassischen Formulierung von Kaplan/Norton (1997) umfasst eine BSC vier strategische Perspektiven, die sich um eine Unternehmensvision gruppieren: finanzwirtschaftliche Perspektive, Kundenperspektive, interne Prozessperspektive und Lern- und Entwicklungsperspektive. Jeder dieser Perspektiven sind in etwa fünf strategische Ziele zugeordnet, die aktionsorientiert formuliert werden. Insgesamt umfasst eine BSC somit etwa 20 Einzelziele („twenty is plenty“). Innerhalb einer Perspektive werden den jeweils fünf strategischen Zielen – soweit möglich – finanzielle oder nichtfinanzielle Messgrößen zugeordnet. Für die jeweils folgende Periode werden die Zielwerte selbst und entsprechende strategische Aktionen zur Erreichung dieser Zielwerte bestimmt. Die BSC ist so zu konzipieren, dass sich die Perspektiven bzw. die Ziele nicht wechselseitig ausschließen. Vielmehr bauen die Perspektiven systematisch aufeinander auf: Eine bessere Qualifikation der Mitarbeiter (Lern- und Entwicklungsperspektive) führt zu einer optimierten Arbeitsablauforganisation (interne Prozessperspektive), was wiederum die Produkte verbilligt (Kundenperspektive) und infolge den Umsatz steigert (Finanzperspektive). Wie für Controlling generell, so gilt gerade auch für die BSC, dass sie sich als „(...) Interpretationsmuster beschreiben [lässt], das bestimmte organisationale Sachverhalte sichtbar macht, in dem ihnen ökonomische Bedeutung eingeschrieben wird“. (Becker 2001: 114) Wenn ein bestimmter organisationaler Sachverhalt als Ziel, Kennzahl oder Messgröße Eingang in eine BSC findet, wird er gegenüber anderen, nicht in der BSC erwähnten Sachverhalten, herausgestellt. Im Idealfall orientieren sich die Organisationsmitglieder in ihren Handlungen an den Zielvorgaben, die in der BSC formuliert wurden; die BSC fungiert dann als Referenzsystem für das organisationale Handlungssystem. Die Protagonisten des Konzepts sehen in der BSC die Chance für eine Organisation, sich während der Entwicklungsphase der BSC in einem Prozess der Selbstvergewisserung über ihre Kernaufgaben und grundlegenden Zielsetzungen Klarheit zu verschaffen. Systemtheoretisch betrachtet geht mit der Einblendung eines Sachverhaltes immer auch die Ausblendung des Nichteingeblendeten einher; die BSCLogik entspricht somit der Logik von Konstruktion und Selektion. Dabei fin234
den in der Praxis gerade solche Aspekte des organisationalen Handelns besondere Aufmerksamkeit, die quantifizierbar sind. Die Erfinder des BSCKonzepts stellen diesen Umstand sogar als Forderung an die Nutzer der BSC heraus: „If you can’t measure it, you can’t manage it.“ (Kaplan/Norton 1997: 20) Im Ergebnis werden also solche Sachverhalte und Bereiche einer Organisation wertend in den Vordergrund gestellt, die messbar und kalkulierbar sind – was nicht bedeutet, dass sie auch beeinflussbar oder steuerbar sein müssen. Gerade für militärische Organisationen oftmals essenzielle „weiche Faktoren“ (Einsatzmotivation, Organisationsklima) können durch die Nutzung von Managementinstrumenten, die eine Präferenz für quantifizierbare Sachverhalte aufweisen, tendenziell in den Hintergrund treten. Herrschaft: Unabhängig von der konkreten Ausgestaltung der Controllingfunktion in Unternehmungen, besteht ihre Hauptaufgabe in der ökonomischen Steuerung der Organisation und in der Allokation von finanziellen Ressourcen. Der Sinn und Zweck der Plankostenrechung beispielsweise besteht darin, einzelnen Akteuren, Arbeitsteams, Abteilungen oder Unternehmensbereichen einen finanziellen Handlungsrahmen für künftige Aktivitäten aufzuzeigen. Im Modell werden bei Abweichungen zwischen „Soll“ und „Ist“ Gegensteuerungsmaßnahmen ergriffen. Die Aufstellung und Überwachung von Plänen und Budgets hat v. a. auch den Effekt, das organisationale Herrschafts- und Kontrollsystem zu reproduzieren. Durch Zuteilung, aber auch Verweigerung bzw. Abzug von (finanziellen) Ressourcen werden Handlungen ermöglicht, ebenso aber auch beschränkt. Controlling strukturiert somit das Organisationssystem in Hinblick auf die Herrschaftsdimension. (vgl. Becker 2001: 105) Dies ist soweit unstrittig für privatwirtschaftliche Unternehmen. Gilt dies auch für den Fall der Bundeswehr? Controlling wirkt in der Bundeswehr im gegenwärtigen Entwicklungsstand nicht als allokatives Herrschaftsmittel, allenfalls als administratives Herrschaftsmittel. Nicht zuletzt aufgrund des erheblichen Personalumfangs für Controllingaufgaben und der im Großen und Ganzen abgeschlossenen Ausfächerung des Controllings verfügen heute, wie in der Rahmenweisung Controlling gefordert, viele Dienststellenleiter über „(...) die notwendigen Informationen zur erfolgreichen Steuerung und Leitung des Verantwortungsbereiches“. Die Informationen über Kostenstrukturen, Mittelverwendung und allgemein über in Kennzahlen ausgedrückte organisationale Sachverhalte in den Dienststellen sind aber nur eine der beiden Vorraussetzungen für eine effiziente Ressourcenallokation. Die haushaltsrechtlichen Rahmenbedingungen blockieren aber nach wie vor eine echte Zusammenführung von Fachund Ressourcenverantwortung, d. h. die zweite Voraussetzung für eine effiziente Ressourcenallokation ist nicht gegeben. Controlling wirkt somit nicht als allokatives Herrschaftsmittel, da nur ein Bruchteil der Kosten und Ausga235
ben innerhalb einer militärischen Dienststelle kurz- und mittelfristig selbstbestimmt sind. Gleichwohl ist Controlling auch heute schon ein administratives Herrschaftsmittel: Es fungiert als Verfahren der Verantwortungszuschreibung in den Dienststellen. Dies kann auch an der Praxis der Kostenrechnung in den Bundeswehrdienststellen verdeutlicht werden: Der überwiegende Anteil der in sog. Betriebsabrechnungsbögen (BAB) einer Dienststelle aufgeführten Kostenpositionen wird zwar einer Dienststelle zugeschrieben, ist aber nicht von ihr beeinflussbar. Zu nennen sind hier beispielsweise die Dienstleistungen der Standortverwaltungen, die als Verwaltungs- und Infrastrukturkosten in der Kostenkalkulation einer militärischen Dienststelle ausgewiesen werden, auf deren Entstehung die Dienststelle aber keinen Einfluss hat. Viel bedeutsamer dürften allerdings Verantwortungszuschreibungen sein, die aus der Nutzung von Instrumenten wie der BSC erwachsen können. „Durch Kennzahlensysteme werden [...] die Voraussetzungen geschaffen, Leistungen zu messen und darauf basierend Verantwortung für Erfolg und Misserfolg zuzurechnen.“ (Becker 2001: 105) Controlling – dies wird immer wieder hervorgehoben – ist nicht mit „Kontrolle“ zu verwechseln.8 Dies ist soweit richtig. Damit ist aber nicht ausgeschlossen, dass Leistungsmessungen, Kosteninformationen und Kennzahlensysteme – explizit oder implizit – mit zur Grundlage der (dienstlichen) Bewertung derjenigen Organisationsmitglieder herangezogen werden, die für bestimmte abgrenzbare organisationale Bereiche (etwa eine Kostenstelle) oder Sachverhalte (etwa eines Projektes) verantwortlich gemacht werden, gleichwohl diese Organisationsmitglieder in den wenigsten Fällen einen Einfluss auf die Zusammensetzung und Höhe der entstandenen Kosten haben dürften. Zu denken ist hier nur an mittlere Führungspersonen in zivilen und militärischen Dienststellen, die als sog. Kostenstellenleiter eingesetzt werden, somit eine Kostenstelle angeblich „leiten“, aber in den wenigsten Fällen einen Einfluss auf entstehende Kosten haben, geschweige denn über allokative Steuerungskompetenzen, etwa in Form eines Budgets, verfügen. Hier wird eine Steuerungsillusion erzeugt, die zwar keine materiale Basis hat, aber Verantwortlichkeiten konstruiert. Die kritische Accounting-Forschung weist darauf hin, dass, wenn entsprechende Controllinginformationen vorhanden sind, diese auch zur Bewältigung des Transformationsproblems von Arbeit bei unvollständigen Verträgen herangezogen werden (vgl. Becker 145 ff.). Insofern dürfte es interessant sein zu beobachten, wie Controlling das Organisationssystem „Bundeswehr“ in Hinblick auf die Herrschaftsdimension strukturiert. 8
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So geben etwa auch Kaplan/Norton (1997: 36) den Nutzern der BSC Folgendes mit auf den Weg: „Die Balanced Scorecard sollte vielmehr als Kommunikations-, Informations- und Lernsystem, und nicht als Kontrollsystem verwendet werden.“
Legitimation: Ein wesentliches Ergebnis der eingangs zitierten Studie über das Kostenrechungssystem UCA in den US-amerikanischen Streitkräften bestand darin, dass die bloße Existenz eines solchen Systems der Organisation eine positive Außendarstellung verschaffte, ohne dass die Daten und Informationen faktisch in den Führungsprozess vor Ort eingingen. Damit werden neoinstitutionalistische Perspektiven auf Organisationen gestützt (Brunsson/Olsen 1993; Elbe/Richter 2005): Organisationen adoptieren moderne Verfahren und Techniken wie das Controlling nicht nur weil sie sich erhoffen, interne Arbeitsprozesse dadurch effizienter gestalten zu können, sondern aus Gründen eines erwarteten Legitimitätszuwachses. Controllingverfahren genießen gemeinhin den Nimbus von Rationalität, effizientem und zielgerichtetem Organisieren und Handeln. Der Verweis auf die Tatsache, dass eine Organisation Controlling verwendet, erzeugt bei Außenstehenden den Eindruck, dass die Organisation Entscheidungen in ökonomisch rationaler Weise trifft und dass sie ihre Prozesse mit einem Höchstmaß an Effizienz gestaltet. Das Beispiel des UCA zeigt zudem, dass sich mit seiner Einführung Parallelstrukturen in der Organisation herausgebildet haben. Bei der Institutionalisierung des Kostenrechnungssystems steht seine symbolische Nutzung im Vordergrund, also sein Sinn besteht in der Erzeugung einer rationalen Fassade nach außen. Die tatsächlichen Aktivitäten der Organisation mussten aber unabhängig von dieser Fassade aufrechterhalten bleiben, d. h. bereits bestehende Führungs- und Entscheidungsstrukturen blieben weiterhin existent; durch sie wurden die alltäglichen Aktivitäten koordiniert. Der organisationssoziologische Neoinstitutionalismus spricht in diesem Zusammenhang von „Entkopplung“ (Meyer/Rowan 1983). Eine ähnliche Parallelität bzw. Entkopplung von bestehenden politisch geprägten Entscheidungsstrukturen auf der einen Seite und den durch moderne betriebswirtschaftliche Methoden geprägten Handlungsstrukturen auf der anderen Seite findet sich auch im Fall der Bundeswehr. Zwar verfügt die Bundeswehr in ihren Dienststellen auf nahezu allen Ebenen heute über ein kostenrechnerisches Informationssystem und dadurch über mehr Transparenz in ökonomischer Hinsicht als noch vor zehn Jahren. Die Verantwortlichen vor Ort können die Informationen aber nicht aktiv nutzen; der Handlungsspielraum durch haushaltsrechtliche Bestimmungen ist nach wie vor zu eng. Gleichwohl werden Kosteninformationen und wirtschaftlich relevante Kenngrößen ermittelt und nach innen wie nach außen kommuniziert. Die tatsächliche Allokation von Ressourcen erfolgt demgegenüber weitgehend ohne Bezug auf das Controllingsystem über das Aufstellen von Haushaltsplänen und in STAN-Verhandlungen – also in einem politischen Steuerungssystem aus Zuteilungen und Verhandlungen.
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Dennoch ist auch für die Bundeswehr zu erwarten: „Eine vollständige Entkopplung von Controllingsystem und organisationaler Praxis dürfte aber nur ein vorübergehendes Phänomen sein. Denn Controllingsysteme bieten, gerade weil sie so umfassend die Strukturation von Organisationen beeinflussen können, weil sie also auch allokative und autoritative Machtmittel darstellen, die Chance zur materiellen Durchsetzung von Interessen. Insofern ist es wahrscheinlich, dass sie dazu auch genutzt werden.“ (Becker 2001: 108) So sind Instrumente wie Leitbilder und Zielsysteme nicht nur Formen der Selbstvergewisserung der Organisation, sondern Instrumente, die eine Organisation an ihre eigene Vergangenheit und Zukunft bindet. Entscheidungen in der Gegenwart können etwa unter Rekurs auf Ziele in einem in der Vergangenheit formulierten Leitbild besser legitimiert werden.
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Zusammenfassung und Ausblick
Mit dem Controlling übernimmt das Militär ein in der privaten Wirtschaft entwickeltes Führungs- und Managementinstrument. Die Frage zu beantworten, ob und inwieweit Instrumente dieser Art mit militärischen Prinzipien in einem Spannungsfeld stehen, setzt die Erkenntnis voraus, welche Effekte sie in der Organisation „Bundeswehr“ tatsächlich hinterlassen. Es wurde deutlich, dass Controllingsysteme, wenn sie in einer Organisation implementiert werden, nicht nur organisationales Handeln und Entscheiden abbilden und der Leitung ebenengerechte Führungsinformationen zur Verfügung stellen. Controlling erzeugt vielmehr selbst organisationale Wirklichkeit. Ein über eine engere betriebswirtschaftliche Controllingwissenschaft hinausweisender Forschungsansatz konnte in der Theorie der Strukturation gefunden werden. Entlang der Dimensionen „Signifikation“, „Herrschaft“ und „Legitimation“ wurde am Beispiel der Bundeswehr aufgezeigt, wie Controllingsysteme Organisationen strukturieren. Die Darstellung beschränkte sich allerdings auf einige ausgewählte Aspekte des Controllings. Dennoch konnte gezeigt werden, dass die Strukturationstheorie das „heuristische Potenzial“ vorhält, auf ihrer Basis eingehendere (empirische) organisationswissenschaftliche Untersuchungen betriebswirtschaftlicher Instrumente in der Bundeswehr anzuleiten.
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Autorenverzeichnis Ulrich vom Hagen, Lehrbeauftragter an der Humboldt-Universität zu Berlin, der Universität Potsdam und Verstärkungsdozent an der Führungsakademie der Bundeswehr, Hamburg sowie bis 2005 wissenschaftlicher Mitarbeiter am Sozialwissenschaftlichen Institut der Bundeswehr, Strausberg. Er hat an den Universitäten Konstanz und Angers/Frankreich Verwaltungswissenschaft studiert und schreibt eine Dissertation über ‘Militärkultur’ an der HU Berlin. Seine derzeitigen Forschungs- und Interessenschwerpunkte sind zivil-militärische Beziehungen, das Militär als Organisation und Institution, soziologischer Neo-Institutionalismus sowie politische Ideengeschichte und Staatstheorie. Christian Leuprecht, Prof. Dr., geboren in München, unterrichtet Politische Wissenschaften am Royal Military College of Canada und an der Queen’s University in Kingston, Ontario. Er ist Fellow am Institute for Intergovernmental Relations an der School of Policy Studies der Queen’s University und am Queen’s Centre for International Relations. Berthold Meyer, Prof. Dr., Politikwissenschaftler und Soziologe; Forschungsschwerpunkt: Beziehungen zwischen Zivilgesellschaft und Militär in Demokratien; Leiter des Akademieprogramms der Hessischen Stiftung Friedens- und Konfliktforschung (HSFK), Frankfurt; Honorarprofessor am Zentrum für Konfliktforschung der Philipps-Universität Marburg. Stefan Goertz, Dipl. Politologe, beendete 2005 sein Studium an der Freien Universität Berlin mit einer Arbeit über den Kleinen Krieg. Studium in Marburg, Damaskus, Berlin. Interessen- und Forschungsschwerpunkte: Internationale Beziehungen und „Strategic Studies“. Maren Tomforde, Dr. phil. des., Studium der Ethnologie und Politikwissenschaft in Münster, Paris und Hamburg. Promotion über kulturelle Räumlichkeit am Beispiel der Hmong in Nordthailand. Derzeit wissenschaftliche Mitarbeiterin am Sozialwissenschaftlichen Institut der Bundeswehr in Strausberg und Lehrbeauftragte am Institut für Europäische Ethnologie an der Humboldt-Universität zu Berlin. Maja Apelt, Dr. rer. pol., Studium der Soziologie und Wirtschaftswissenschaften in Berlin und Moskau, derzeit wissenschaftliche Assistentin an der HelmutSchmidt-Universität der Bundeswehr, Hamburg. Fachbereich Wirtschafts- und Organisationswissenschaften, Leiterin des DFG-Forschungsprojektes „Organisation und Geschlecht am Beispiel der Bundeswehr“.
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Jörg Keller, ist seit 1973 Soldat, war in unterschiedlichen Truppen-, Stabs- und Lehrverwendungen eingesetzt und lehrte von 1992–2003 an der Führungsakademie der Bundeswehr in den Fachbereichen „Führung und Management“ und „Sozialwissenschaften“. Seine Arbeitsschwerpunkte dort waren Innere Führung, Organisationslernen und Organisationskultur. Zuletzt beschäftigte er sich mit Gender und der Konstruktion von Männlichkeit und Weiblichkeit in den Streitkräften. Seit Februar 2004 ist er Leiter des Forschungsprojekts „Sozialwissenschaftliche Begleitung der Auslandseinsätze der Bundeswehr“ am Sozialwissenschaftlichen Institut der Bundeswehr in Strausberg. Angelika Dörfler-Dierken, Dr. theol., apl. Prof. an der Theologischen Fakultät der Universität Heidelberg, ist seit Februar 2003 am Sozialwissenschaftlichen Institut der Bundeswehr tätig. Sie leitet ein Projekt zur Ethik der Inneren Führung. Martin Elbe, Dr., Dipl.-Kfm., Dipl. Soz., von 1983–1986. Ausbildung und Berufstätigkeit als Industriekaufmann; 1988–1997 Ausbildung und Berufstätigkeit als Bundeswehroffizier, dabei Studium der Wirtschafts- und Organisationswissenschaften; 1998/1999 Studium der Soziologie; bis 2005 wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Universität der Bundeswehr München, Fakultät für Wirtschafts- und Organisationswissenschaften sowie Fakultät für Pädagogik; ab Oktober 2005 Hochschullehrer an der Fachhochschule für angewandtes Management, Erding. Florian H. Müller, Dr., M. A., von 1989–1995 Studium der Pädagogik an der Ludwig-Maximilians-Universität München und der Universität Twente (Niederlande); 1995–1996 Projektmitarbeiter an der Universität der Bundeswehr München; 1996–1999 freiberufliche Tätigkeit in der Berufsberatung sowie im Bereich Jugendschutz in der Bayerischen Landeszentrale für Neue Medien (BLM); Projektmitarbeiter im Bereich Neukonzipierung und Evaluation Ambulanter Erziehungshilfen (Stadtjugendamt München); seit 1999 wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Universität der Bundeswehr München, Fakultät für Pädagogik. Sievi, Ylva, Dipl. Soz., 1997–2003 Studium der Diplomsoziologie an der LudwigMaximilians-Universität München; seit 2003 wissenschaftliche Angestellte an der Universität der Bundeswehr München, Fakultät für Pädagogik. Gregor Richter, Dr. phil., studierte von 1990–1996 Soziologie, Volkswirtschaftslehre und Statistik an der Ludwig-Maximilians-Universität München. Von 1997– 2002 war er wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Soziologie und Gesellschaftspolitik der Universität der Bundeswehr München. 2003 wechselte er an das Sozialwissenschaftliche Institut der Bundeswehr, Strausberg. Dort leitet er den Forschungsschwerpunkt „Ökonomisierung in der Bundeswehr“. In Nebenfunktion ist er Controller am Sozialwissenschaftlichen Institut der Bundeswehr. Lehraufträge an der Universität der Bundeswehr München und der Universität Potsdam.
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