Jörg Kersten
ASIEN Ein Lesebuch für Globetrotter
Edition Aragon
Titelbild: Buddhistischer Novize in Xishuangbanna, ...
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Jörg Kersten
ASIEN Ein Lesebuch für Globetrotter
Edition Aragon
Titelbild: Buddhistischer Novize in Xishuangbanna, Südchina
© 1. Auflage 1995 Edition Aragon Verlagsgesellschaft mbH Neumarkt 7-9 47441 Moers Lektorat: Peter Kiwitz, Willi Klauke Gestaltung: Willi Klauke Photos: Jörg Kersten, Eva Handke DTP: S&ES, Vettelschoß Belichtung: Klaußner, Köln ISBN 3-89535-305-1
Inhaltsverzeichnis Vorwort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . INDONESIEN Irian Jaya . . . . . . . . . . . . Das Tal . . . . . . . . . . . . . Mäusetwist im Männerhaus . . Danitanz mit Kochtopfgefühlen Die Straße . . . . . . . . . . .
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Tanah Toraja . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Totenkult der Toraja . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
29 31
SUMBA Die Sandelholzinsel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Hinkelsteintransport auf Sumbaart . . . . . . . . . . . . . . . . Nele . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
36 45 49
MADURA kerapan sapi – das Rennen der Stiere . . . . . . . . . . . . . .
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SULAWESI
NEPAL
Kathmandu . . . . . . . . . . Kumari – die lebende Göttin Ausflüge ins Kathmandu-Tal Den Schneebergen ans Knie
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56 59 63 66
CHINA Kunming . . . . . . . . . . . . . . . . . . Andere Länder, andere Sitten . . . . . . Xishuangbanna – Land der Blumendais . Dschungelstriptease, Disco und Pagoden Chengdu . . . . . . . . . . . . . . . . . . Der größte Buddha der Welt . . . . . . . Die Pfirsichflußstadt Lijiang . . . . . . . . Grüne Seide, türkise Jade . . . . . . . .
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. 77 . 80 . 84 . 88 . 91 . 94 . 96 . 105
PHILIPPINEN Weihnachten . . . . . . . . . . . . . Bantayan . . . . . . . . . . . . . . . Ati Atihan und alle werden verrückt Stufen zum Himmel . . . . . . . . . Die Höhlen von Sagada . . . . . . . Kalinga – Stamm der Kordillera . . Guerilla . . . . . . . . . . . . . . . .
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BORNEO Banjarmasin – Venedig des Ostens . . . Der Mahakam . . . . . . . . . . . . . . . In den Langhäusern der Dayak . . . . . . Moderne . . . . . . . . . . . . . . . . . . Zwei Seelen auf dem Weg in den Himmel
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INDIEN Kalkutta . . . . . . . . . . . . . . . . Zugfahrt in den Süden . . . . . . . . Puri – Stadt der Pilger . . . . . . . . Sightseeing . . . . . . . . . . . . . . Mahabalipuram . . . . . . . . . . . Die Utopie von Auroville . . . . . . . Tempel, Götter und Brahmanen . . Fersengeld . . . . . . . . . . . . . . Backwaters . . . . . . . . . . . . . . Kovalam oder das Ende einer Reise
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Vorwort Wie verstrickt wir in unseren Alltag sind, haben wir erst so richtig wahrgenommen, nachdem der Entschluß feststand, für ein Jahr nach Asien zu reisen. Es galt Vermietern, Arbeitgebern und Versicherungen beizubringen, daß wir nun für lange Zeit unerreichbar bleiben. Es kostete mehr Kraft, sich aus den alltäglichen Bindungen zu winden, als eine Reise nach Asien zu planen. Aber endlich, nachdem wir unseren Nachmietern erklärt hatten, wie die Heizung funktioniert und wieviel Wasser unsere Blumen vertragen, und nachdem wir unseren Freunden und Eltern poste restante Adressen hinterlegt hatten, konnte das Abenteuer Asien für uns beginnen. Zwölf Monate per Flugzeug, Schiff, Bus und Bahn durch Indonesien, Nepal, China, die Philippinen, Borneo und Indien – welch ein ungebundenes Vergnügen. Einen Zeitplan, eine festgelegte Route oder gar gebuchte Unterkünfte hat es nicht gegeben. Kritikern eines solchen Vagabundenlebens (und kritische Stimmen hat es gegeben) müssen wir entgegenhalten, daß die Erfahrungen, die wir machten, unbezahlbar sind. Die Länder Asiens, die sogenannte „Dritte Welt“, überflügelt uns, trotz relativer Armut, in punkto Lebensqualität bei weitem. Tiefe Religiosität, eine lebendige Kultur und ausgeprägter Gemeinschaftssinn haben uns auf die Unzulänglichkeiten der eigenen Wohlstandsgesellschaft verwiesen. Überall trafen wir liebenswürdige und gastfreundliche Menschen, die uns mit einer Herzlichkeit und Offenheit begegneten, die uns Europäer nachdenklich werden ließ. Sie ließen uns Reisende teilhaben an Ritualen, Wettkämpfen und rauschenden Festen und an ihrem einfachen Alltagsleben, ohne uns je das Gefühl zu geben, daß wir Fremde sind. Es bleibt zu hoffen, daß die Länder Asiens trotz rasanter Entwicklung ihren Charme behalten und ihre unschätzbare Kultur, sowie ihre bezaubernden Landschaften nicht dem vielgepriesenen Fortschritt opfern werden. Jörg Kersten 7
INDONESIEN Irian Jaya Wenn ich aus dem Fenster des Losmens Najak schaue, sehe ich die Dani unter einem Baum sitzen, ein Grüppchen, nackt im strömenden Regen. Es regnet viel hier im Baliem-Tal, in Irian Jaya, dem indonesischen Teil Papua Neuguineas. Ich fröstel und staune über die Dani, die, die Hände unter die Achseln geklemmt, seelenruhig im Gras hokken und dem Unwetter trotzen. Eine vage Vorstellung von Irian Jaya hatten meine Partnerin Eva und ich schon über Bücher erhalten. Als mir aber bei unserem Zwischenaufenthalt in Singapur ein kleiner Bildband über dieses Land in die Hände fällt, fasse ich mir beim Anblick stolzer furchterregender Danikrieger an den Kopf und mag kaum glauben, bald selbst diesem Steinzeitvolk gegenüberzustehen. Nach Stops in Jarkarta und Jayapura, der Provinzhauptstadt Irian Jayas, wird das Abenteuer Realität. Ausgerüstet mit dem Permit der indonesischen Regierung trudeln wir in einer Fokker durch schwere Regenwolken hin zu jenem Tal, das erst in der Mitte dieses Jahrhunderts entdeckt wurde. Selten nur reißt der Himmel auf und gibt den Blick frei auf den unendlichen Dschungel mit seinen bis zu 5000 Meter hohen Bergen und gewundenen Flüssen. Es ist nicht nur das widrige Flugwetter, das uns den Schweiß aus den Poren treibt, sondern auch das Alter der Merpati-Maschine, die sich durch die dicken Wolken quält. Zerschlissene Sitze, eine wakkelnde Nottür und ungleichmäßige Motoren zeigen, daß die Propellermaschine schon einiges auf dem Buckel hat. Nach einstündigem Flug liegt das herrliche, von Bergen gesäumte Baliem-Tal unter uns. Die in tiefes Schweigen versunkenen Passagiere, malaiischer Abstammung finden ihre Sprache wieder, und voll Spannung schauen alle durch die Fenster nach unten, auf Rauchfahnen, quadratische Felder, Strohhütten und gewundene Pfade. Endlich, nach einer Reise von fünfzig Stunden, haben wir direkt aus Europa kommend unser Ziel am Ende der Welt erreicht. Holpernd 8
und schlingernd landen wir auf dem kleinen Flugfeld von Wamena, dem zentralen und größten Verwaltungsort des Tales. Am Zaun des Flugfeldes erwarten uns die ersten Eingeborenen, die ersten penisköcherbekleideten Dani. Soll man überrascht sein oder erstaunt? Darf man ungeniert den Blick auf das richten, was in unseren europäischen Köpfen sofort als anrüchig identifiziert wird? Vorsichtig wandert das Auge auf die stramm hochgereckte Kalebasse, ein über den Penis gestreifter Kürbisschaft. Dieses Rohr, genannt „holim“, vermittelt den Eindruck einer immerwährenden Erektion. Aufrechtgehalten wird es durch eine kaum sichtbar um die Hüften geschlungene Schnur. Als Zeichen der Stammeszugehörigkeit und des Ansehens ihrer Träger unterscheiden sich die Köcher in Form und Größe. Während bei den einen der Schaft gerade bis zum Bauchnabel reicht, reckt sich bei anderen ein beachtliches Halbmeterrohr hinauf zum Brustkorb. Nein, unser neugieriger Blick wird von den Dani-Männern nicht als Beleidigung verstanden, ist der holim doch nichts weiter als ein Kleidungsstück – so, wie für uns die Hose. Wamena zeigt sich als ein aus dem Boden gestampfter Vorposten der Zivilisation. Gerade Straßen mit wenigen eigens eingeflogenen Bemos, den öffentlichen Sammeltaxis Indonesiens, ein paar Lädchen mit dürftigem Angebot, eine Schule, ein Militärposten, Polizei, Verwaltungsgebäude und kleine Wohnhäuser mit gepflegten Vorgärtchen. Im Zentrum der Ansiedlung liegt der Markt, ein Geviert aus offenen Markthallen, in das wir noch unbedarft hineinstolpern. Da hocken sie, die Dani, ein Gewirr von schwarzen Körpern, ein Gesumm von fremden Stimmen, nicht laut, nicht marktschreierisch, einfach ein gedämpftes Summen. Wir sind überrascht, gehen hinein in den Dani-Film und bewegen uns unsicher durch das Gewimmel. Sie hocken im Matsch und haben neben Pfützen das Wenige ausgebreitet, das sie anzubieten haben: Süßkartoffeln, Bananen, Yamswurzeln, Tomaten, Bohnen, Zuckerrohr – nicht viel, aber mit Bedacht zu Häufchen aufgebaut. Die ersten Kontakte sind seltsam. Während die Frauen sich sehr zurückhalten, kommen einzelne Männer auf uns zu, um unsere Hände zu erfühlen. Eingeleitet wird dies durch ein Nicken und Lächeln. Für mich ist es fast ein körperlicher Kontakt mit der Urzeit. Es kann Minuten dauern, bis das Schnuppern durch Fühlen ein Ende gefunden hat. Drahtig und klein stehen die Männer in ihren Penisköchern 9
vor mir, streicheln meine Hände, streicheln die Fremdheit fort und schnell fange ich an, sie zu mögen. Fremd für meine Nase aber bleibt der Geruch von Schweinefett, mit dem sie sich zum Schutz gegen die Kälte einschmieren. Als wohlriechende Körperseife mag das Fett einen Dani betören, ist mir aber doch zu streng. Zeigen die einen sich noch neugierig und vorsichtig freundlich, haben die anderen schon das Geschäft mit den Fremden entdeckt. Ein Dani-Krieger bietet sich mit seinem aus roten Vogelfedern kunstvoll gestalteten Kopfschmuck für ein Foto an. Pantomimisch bedient er immer wieder einen imaginären Fotoapparat, mit großem Ernst bemüht, mich zum Fotografieren zu animieren. „Gut“, denke ich, „der weiß schon, was er will“ und solcherlei ermuntert, lichte ich ihn ab. Kaum ist das „Klick“ verklungen, fordert er mit ernster Miene 100 Rupiah. Ich bin verunsichert und enttäuscht, selbst bei diesen Ureinwohnern solch kapitalistisches Unternehmertum anzutreffen. Aber er hat durchaus auch sein Recht, und so drücke ich ihm, mit dem beklemmenden Gefühl, ein wahrer Tourist zu sein, eine Münze in die Hand. Beim Anblick des silbernen Metalls verdüstert sich seine Miene. Er beißt kurz auf das Geldstück und wirft es, nun recht böse, in den Matsch. Ich verstehe die Welt nicht mehr, aber nach einigem aufgeregten Hin- und Her wird klar, daß er einen Hundert-Rupiah-Schein wünscht. Zufrieden stopft er diesen in die Öffnung seines Penisrohres und macht sich von dannen. Nicht der Wert des Geldes an sich, sondern der Schein in seiner roten Farbe ist Objekt des Begehrens. Wie ich später feststelle, werden alle Früchte für diesen roten Schein verkauft, wobei es egal ist, ob man eine oder einen ganzen Bund Bananen ersteht. Der Regen trommelt noch immer auf das Wellblechdach des kleinen Najak-Hotels. Unsere Propellermaschine auf dem Flugfeld gegenüber scheint bereit, nach Jayapura zurückzukehren. Noch immer hocken die Dani im Gras, unbeirrt durch den Regen und unbeeindruckt durch das Tosen der Motoren. Mit Hilfe eines kleinen Handspiegels schminkt sich ein Krieger das Gesicht. Gut sieht er aus mit seinen geflochtenen Haaren, seinem Federschmuck und den Fellen, die er sich um die muskulösen Oberarme geschlungen hat. „Gut sieht er aus“, denke ich und schaue dem Flugzeug nach, das uns erst morgens hier abgesetzt hat – hier im Baliem-Tal, am Ende der Welt. 10
Das Tal Gut gelaunt machen wir uns schon bald auf zu einer mehrtägigen Tour, die uns Richtung Kimbim in den nördlichen Teil des Tales führt. Gespannt sind wir auf unsere ersten Begegnungen mit den Hochlandpapua außerhalb des schon recht zivilisierten Ortes Wamena. Die ersten Kilometer werden wir von zwei krausköpfigen schnatternden Kindern begleitet. In ihren löchrigen Shorts gehören sie schon der neuen Generation Dani an, die es vorzieht, statt des traditionellen Holim Billigsynthetik zu tragen. Der indonesischen Sprache zumindest in Grundzügen mächtig, gelingt uns eine freundliche und von den beiden mit großer kindlicher Ernsthaftigkeit geführte Unterhaltung. Offenbar haben sie mehr Spaß daran, mit fremden Weißen einen Spaziergang zu unternehmen, als irgendeine harte Missionsbank zu drücken. Hinter Wamena verabschieden sie sich, und wir sind allein in der Stille des Tales, das Richard Archbold 1938 auf einer Forschungsreise entdeckte, dessen vollkommene Abgeschiedenheit aber erst 1954 von protestantischen Missionaren aufgebrochen wurde. Die Männer Gottes meinten, das Paradies gefunden zu haben, ein Eindruck, den wir gut nachempfinden können. Herrlich ist die noch frische Morgenluft des 600 Meter hoch gelegenen Tales, beeindruckend die wabernden weißen Wolken, die an den Bergspitzen links und rechts festsitzen und hinter dem satten Grün wie leuchtender Schnee erscheinen. Munter stapfen wir die Trampelpfade entlang, vorbei an kleinen sorgfältig angelegten Äckern und Gärten, Zeichen einer intensiven Landwirtschaft, die von den Eingeborenen schon seit 300 Jahren betrieben wird. Deutlich können wir die Stellen erkennen, an denen die Papua erst kürzlich Urwald gerodet haben, um den Boden für den Anbau vorzubereiten. Die von Wurzeln und Steinen gesäuberte Erde wird zu Hochbeeten aufgeworfen, eine Arbeit, die ausschließlich von Männern durchgeführt wird. Um die Fruchtbarkeit des Bodens zu garantieren, werden viele Felder erst nach längerer Brachzeit wieder für den Anbau präpariert. Zur Abgrenzung der Felder und Siedlungen haben die Eingeborenen Zäune aus Buschwerk errichtet. Über eigens dafür vorgesehene Holztreppchen überwinden wir Dutzende dieser Hindernisse, bis wir 11
die ersten Dörfer sichten. Es sind kleine, hinter Bäumen und Palisadenzäunen versteckte Weiler. Wir trauen uns nicht, duch die engen Pforten zu schlüpfen und in das Refugium der Dani einzudringen, obwohl erste Blicke auf kleine runde gedrungene Grashütten und Langhäuser unsere Neugier ins Unermeßliche steigern. Kindergeschrei und Hundegebell deuten auf fröhliches Sippenleben. Unsere Unkenntnis aber über die Reaktion der Dani beim Anblick bleicher Europäergesichter hält uns zunächst von einem möglicherweise als aufdringlich verstandenen Dorfbesuch ab. Wir verhalten uns vorsichtig, schreibt man den Bewohnern doch eine überaus kriegerische Vergangenheit zu. Die ersten Frauen, die uns auf dem Pfad begegnen, sind offenbar wenig erstaunt über die „Bleichgesichter“, die in ihren Vorgärten herumstolpern. Es sind kleinwüchsige, barbrüstige Eingeborene, gebeugt von den schweren Lasten, die sie in ihren Netztaschen tragen. Die eine schleppt einen kiloschweren Haufen Süßkartoffeln, die andere ein sie überragendes Holzbündel, auf dem zusätzlich ein Kleinkind thront, während die dritte Frau mit einer Lage Heu im Netz weniger belastet zu sein scheint. Dieses Netz, über Nacken und Rücken geworfen, wird mit einem Riemen an der Stirn getragen und als Transportmittel für alles genutzt, was dem Dani wichtig ist. Zugleich ist das Netz aber auch Kleidungsstück, denn mit ihm bedecken die Frauen ihren Nacken, jenen Teil des Körpers, der einen Dani-Mann sexuell durchaus verlockt. Zur Abwehr aufdringlicher Verehrer, mehr aber als Feldwerkzeug genutzt, tragen alle drei Frauen einen hapiri bei sich, einen angespitzten, speerähnlichen Stock. Freundlich schauen sie auf zu uns und begrüßen uns mit einem „La-Uk“, der den Frauen vorbehaltenen Grußform. Ihr Verhalten ist so selbstbewußt, als seien wir alte Bekannte, denen man täglich auf dem Weg begegnet. Unsere Aufmerksamkeit erregt die dritte Frau, deren Heubündel plötzlich voller Leben steckt. Man zeigt uns gern, was dort verborgen im Grasnest liegt. In trauter Eintracht mit einem Ferkel strampelt ein wenige Tage altes Kind. Babytransport im Baliem-Tal. Alle schauen wir in das Netz hinein, wir ungläubig erstaunt, die Dani-Frauen in sanfter Art. Nach Stunden erreichen wir Kimbim, noch rechtzeitig, den allwöchentlichen Markt zu erleben. Hunderte von Dani verkaufen ihre Feld12
fruchte, nackt in Grüppchen oder zivilisiert missioniert in bedruckten T-Shirts und bunten Shorts. Wir wandern umher und genießen das Marktgeschehen in Momentaufnahmen: Danikrieger mit riesigem Penisrohr vor einem Verkaufsstand mit den Erzeugnissen der Zivilisation. Neben billigem Plastikramsch scheinen ihnen Spaten und Äxte von besonderem Interesse. Junge Männer spazieren Hand in Hand durch das Gewimmel, der eine noch mit Peniskalebasse, der andere in Hose. Dort eine trauernde Frau im Gras, deren nackter Körper über und über mit Lehm beschmiert ist und getrocknet gelb auf ihrer Haut blättert. Ihre Erscheinung paßt so gar nicht zu jener Dani, die angetan mit Synthetikrock und Büstenhalter erstandene Früchte in Plastiktüten stopft. Während Männer wie zum Zeitvertreib Bastarmreifen flechten, drehen Jungen mit zusammengesteckten Köpfen an einem plärrenden Kassettenradio. Sie scheinen mächtig stolz auf dieses lärmende Produkt der Zivilisation. Kleinkinder saugen an Mütterbrüsten genauso mit Genuß, wie das Schwester- oder Brüderchen an importierten Coca Cola-Dosen. Ein Lehrer, der sich als Augustinus vorstellt, bietet uns für die Nacht das Schulgebäude als Übernachtungsmöglichkeit an. Nicht nur für seine Familie, sondern für halb Kimbim bedeutet unser Besuch eine besondere Abwechslung in einem sonst eher tristen Alltag, denn der kleine Ort mit seinen Wellblechhütten und seiner Missionsstation hat recht wenig zu bieten. Während wir uns nach der langen Wanderung Tee und ein leichtes Mal aus Reis und Dosenthunfisch schmecken lassen, füllt sich nach und nach der Wohnraum mit leise schnatternden Papuas, und es gibt kein Fenster, das nicht von krausköpfigen Kindern belagert wäre. Unser Gastgeber genießt es, unversehens in den Mittelpunkt der Szene geraten zu sein. Mit seinem recht guten Englisch beweist er allen, daß er ein Weltmann ist. Er befragt uns über Deutschland, über Schulsystem, Wetter und Sitten, und alle haben sie Anteil an der Unterhaltung, auch wenn die meisten mit Sicherheit nichts verstehen. Man lacht eben, wenn Augustinus lacht, und wird ganz still, wenn Augustinus mit ernstem Interesse bei der Sache ist. Früh schon ziehen wir uns in das Schulgebäude zurück, aber wir können keine Ruhe finden. Eingemummt in unsere Schlafsäcke wispern wir noch lange auf zusammengeschobenen Schulbänken. 13
Sollen die bisherigen Eindrücke und Begegnungen der Kontakt mit dem Steinzeitvolk gewesen sein? Eingeborene, missioniert und hineinkatapultiert in das 20. Jahrhundert? Die Kultur der Dani ersetzt durch Plastik, Coca Cola und Wellblech? Gibt es die Dani überhaupt noch so, wie wir sie uns vorgestellt haben? Wir vertrösten uns auf die nächsten Tage und lauschen dem Hundegebell, das das einzige ist, was wir in der Nacht in Kimbim hören.
Mäusetwist im Männerhaus Früh weckt uns Hahnenschrei im fahlen Morgenlicht. Nach einem Keksfrühstück und Versorgung mit Früchten im dorfeigenen Laden schultern wir unser leichtes Gepäck und setzen unseren Weg nach Augustinus Anweisung fort. Bald schon ist das Gefühl des Vorabends vergessen, denn immer wieder tauchen urplötzlich wild aussehende Männer aus dem Busch auf, die sich zu uns gesellen und uns nach der üblichen Streichelzeremonie wortlos ein Stück begleiten. Die Sorge um das Verhalten der Papua uns gegenüber verflüchtigt sich angesichts der ruhigen Selbstverständlichkeit, mit der sie uns begegnen. Die Spannung steigt, denn ihre Nacktheit und Anwesenheit in der bezaubernden Natur des Tales lassen uns das Gefühl der ersten Entdecker nachempfinden, Shangri-La, das verlorene Paradies, wiedergefunden zu haben. In kurzen Wegpausen sitzen wir mit ihnen im Gras, genüßlich rauchend, im stillen Zwiegespräch. Der Dani dort, das bin ich vor Tausenden von Jahren. Sein Anblick, nackt und geschmückt mit Penisköcher, Armbändern und Halsbeuteln aus Schweinehoden, wirft uns auf unser eigenes Menschsein zurück. In der Hitze des Nachmittags machen wir Halt an einem kleinen Fluß. Verborgen hinter einer Wegbiegung haben wir uns auf einen glattgeschliffenen Felsen niedergelassen, um unsere Füße im klaren Naß zu kühlen. Eine Gruppe Eingeborener biegt um die Ecke, keineswegs erstaunt, in dieser Gegend so urplötzlich weiße Europäergesichter vor sich zu sehen. Fröhlich brabbelnd lassen auch sie sich an dem idyllischen Fleckchen nieder. 14
Während der Anführer ungeniert sein Kind laust, stecken sich die Frauen Ungetüme von gerollten Tabakblättern in den Mund. Mir fallen ihre Hände auf – keine der Frauen hat, außer dem Daumen, auch nur einen ganzen Finger. Offensichtlich sind diese bis zum zweiten Glied amputiert. Sie bemerken unsere gezielten Blicke und präsentieren stolz die Stummel. Als Zeugnis der Trauer über verstorbene Verwandte haben sie sich einfach nach und nach die Glieder mit der Steinaxt abgehackt. Man bedeutet uns, ihnen zu folgen, und nach halbstündigem Marsch erreichen wir ihr verstecktes Gehöft, das aus fünf traditionellen Rundhütten und einem Langhaus besteht. Die Gebäude fügen sich fast harmonisch in die Natur, die sie umgibt. Die Wände der Hütten bestehen aus groben Holzbrettern, die Dächer sind vollgepackt mit pelzigem weit herunterhängendem braunem Gras. Kaum mannshoch, ja erdnah erscheinen uns die Kuppeln und Firste der Hütten. Durch die Palisadentür betreten wir den aus Lehm gestampften Dorfplatz, wo wir sogleich von den restlichen Mitgliedern der Sippe umringt werden. Man zeigt sich ernst, distanziert, aber nicht feindlich gesinnt. Die anwesenden Männer sind ausnahmslos mit dem holim, die Frauen mit Schamschurz und Netztasche bekleidet. Der Schritt durch das Palisadentor hinein in diesen versteckten Weiler, hinein in eine Welt, die sich seit 5000 Jahren nicht verändert hat, empfinden wir als unbeschreiblich lebendige Konfrontation mit unserer eigenen längst vergangenen Menschheitsgeschichte. Das einzig Moderne oder wenn man so will „Zivilisierte“ in dieser Situation und Umgebung sind wir selbst, unsere Kleidung, unser Gepäck, unsere Erfahrung, unser Denken. Wie Paradiesvögel müssen wir der Sippe erscheinen, aber auch wenn es so ist, die Dani lassen es uns nicht spüren. Von dem Alten, der uns hierher geführt hat, werden wir zum Männerhaus geleitet, einer aus Holz und Stroh gebauten langgestreckten Hütte. Der Eingang ist so niedrig gehalten, daß wir regelrecht in das Innere des Hauses kriechen müssen. Das hat seinen guten Grund, denn Geistern und Dämonen mit schädlichen Einflüssen soll der Zugang gerade zum Männerhaus mit seiner zentralen Funktion erschwert werden. Gerade ein Meter hoch ist der Raum, geschwärzt vom Rauch der in der Mitte glimmenden Feuerstelle. Es riecht modrig, und niedergelassen auf trockenem Heu fühlen wir uns im Dämmerlicht wie Kanin15
chen in ihrer Höhle. Die Sparren der Decke sind behängt mit dämonenvertreibenden Utensilien: Farnen, Kräutern, Schweineschwänzen und Kiefernknochen irgendwelcher Beutetiere, und soweit wir den Zeichen des Alten entnehmen können, den in Blätter gewickelten Fingern trauernder Frauen. Das Männerhaus, das bilai, gilt als Wohnbereich der Männer und Jungen eines Gehöftes. Hier schlafen sie, hier werden Entscheidungen getroffen oder palavert, hierhin zieht man sich zu einem Nikkerchen zurück oder versorgt Verwundete. Das bilai ist auch Zentrum aller zeremoniellen Abläufe im Leben der Dani. So verbringt ein Verstorbener in Hockstellung an die Wand gelehnt die letzte Nacht im bilai, bevor er eingeschmiert mit Schweinefett im Hof des Weilers von der Sippe verbrannt wird. Das Männerhaus ist aber auch selbstverständlicher Empfangs- und Aufenthaltsraum für Besucher aus anderen Dörfern. Daß Eva dieses Refugium betreten darf, ist wahrscheinlich ihrer weißen Haut zu verdanken, denn Dani-Frauen ist der Zutritt des Männerhauses strikt untersagt. Ich biete den Papua, die mit uns an der Feuerstelle sitzen, Zigaretten an, die begierig genommen werden. Mein Feuerzeug findet so großes Interesse, daß ich es vorziehe, es dem Alten zu überlassen, als dieser mit offenbar vergrätzter Miene die Übergabe fordert. Zum Glück erheitert er sich auch gleich beim Anblick vergeblich gezündeter Funken und ist dann schenkelklatschend außer sich, den richtigen Weg zur Flamme gefunden zu haben. Immer wieder versuchen sich die Männer, das hochragende Penisrohr zwischen den gekreuzten Beinen, mit neuen Zigaretten an dem Produkt westlicher Zivilisation. Im schwachen Glimmen der Feuerstelle enthält die Situation für uns das Unheimliche endloser zeitlicher Ferne. Unablässig und wortlos mustern uns die Krieger, die sich nach Daniart schön gemacht haben. Der eine hat sein mit Grasasche behandeltes Haar kunstvoll frisiert, der andere sich mit Vogelfedern geschmückt. Der nächste wiederum trägt einen Latz aus unendlich vielen Meeresschnecken, und besonders unheimlich wirkt jener auf uns, der sein Gesicht mit geschwärztem Schweinefett beschmiert hat, so daß die durch die Nase gezogenen weißen Hauer eines Ebers besonders furchteinflößend blinken. Alle aber haben sich kräftig mit Schweinefett parfümiert, denn ohne ordentliche Fettschicht kommt sich ein Dani regelrecht schlampig vor. 16
Wie zu unserer Beruhigung, auf jeden Fall aber zum Zeichen allgemeiner Zustimmung und Behaglichkeit zieht der Alte eine Maultrommel aus Bambus hinter dem Ohr hervor und erfreut uns mit dumpf klingenden Tönen. Vielleicht ist dies der beste Weg einer Verständigung, denn eine Unterhaltung gelingt uns nicht. Zu entfernt sind unsere unterschiedlichen Welten. Selbst eine versuchte Unterhaltung per Zeichensprache führt zu keinem sichtbaren Erfolg. Das kräftige Kneifen des Clanchefs in meinen Oberarm scheinen außer uns alle zu verstehen, denn alle außer uns biegen sich vor Lachen. Gesten unsererseits werden mit wenig Interesse verfolgt oder sogar mit einer recht unwilligen seitlichen Neigung des Kopfes beantwortet. Erst als ich unsere bröselnden Schokoladenkekse verteile, äußert sich eine sichtbare Zustimmung unter den Männern. Kaum ist es dunkel geworden, ziehen sich die Männer wortlos auf eine Art Dachboden zurück. Wir versuchen ein wenig Schlaf zu finden, was uns kaum gelingt. Dutzende von Mäusen huschen im trokkenen Gras um uns herum. Ständig in Bewegung versuchen wir, sie von unseren Schlafsäcken fernzuhalten. Mäusetwist im Männerhaus, in einer Welt, die nicht die unsere ist und es doch war zu urdenklichen Zeiten.
Danitanz mit Kochtopfgefühlen Daß die Mäuse unsere Körperwärme zu schätzen wußten, zeigen die Köttel, die wir am nächsten Morgen in unseren Schlafsäcken vorfinden. Offenbar haben auch unsere bescheidenen Vorräte Geschmack gefunden – die Dani jedenfalls stört es nicht, angeknabberte Kekse und Früchte zu essen. Eine der Frauen hält ihr Ferkel wie ein Baby zwischen den Brüsten und bereitet diesem ein eigenes Frühstück. So als ginge es um das Wohlergehen ihres Kindes, kaut sie Zuckerrohr und spuckt den süßen breiigen Saft in die hohle Hand. Das Ferkel darf daraus schmatzend Vorgekautes süffeln. Überhaupt sind Schweine, die auch in diesem Gehöft zahlreich zwischen den Hütten herumrüsseln, das wohl höchste Gut der Dani. Das Ansehen der Männer wird daran bemessen, wieviele Schweine 17
und nicht wieviele Frauen er sein eigen nennt. Die zentrale Stellung des Schweins ist für den Dani schon in der Legende seiner Abstammung begründet, denn der Mensch und das Schwein haben einen gleichen Vorfahren – Wamake, wörtlich übersetzt Schweineschwanz, ein schweinemenschliches Mischwesen. Unser Abzug gestaltet sich wie unsere Ankunft ohne großes Aufheben, nur ein Junge begleitet uns ein Stück. In der Nacht hat es wieder geregnet, so daß die matschigen und glitschigen Pfade nur schwer zu begehen sind. Es sind aber nicht nur die schlüpfrigen Pfade, das Wirrwarr umgestürzter Bäume und die wild wucherndeVegetation, es sind auch die abenteuerlichen Brückenkonstruktionen, die unser Fortkommen erschweren. Eva traut sich kaum über schwankende Hängebrükken, aber auch mir wird bei dem Anblick von archaisch anmutenden, mit Lianen und Rotanschlingen befestigten Plankengestellen ganz schön mulmig, insbesondere dann, wenn sie tief unter uns liegende reißende und gischtschäumende Flüsse überspannen. Aber uns bleibt keine andere Wahl, als allen Mut zusammmenzunehmen und mit schweißnassen Händen über die schaukelnden Hindernisse zu tasten, die sich letztendlich dann doch als erstaunlich fest erweisen. Unser Tagesziel ist der Ort Usilimo auf der anderen Talseite, um von dort nach Wamena zurückzukehren. Wir sollten diesen Ort mit Puddingbeinen erreichen, denn es kommt zu einer überaus spannenden Begegnung, deren mögliche Gefahr wir nicht einzuschätzen wissen. Keiner Menschenseele sind wir begegnet, bis wir an ein Flußbett gelangen, dessen ausgetrocknetes Geröllfeld gletschergleich ins Tal „fließt“. Der eigentliche Fluß, der hier in der Regenzeit mächtig und gefährlich zum Baliem-River stürzen muß, plätschert jetzt als breiterer Bach hinab. Diesen zu überqueren ist nicht einfach, zumal eine glitschige matschige Böschung einige Versuche scheitern läßt. Wir suchen gerade eine Furt, als plötzlich schrille Schreie und eine Art Gesang unsere Aufmerksamkeit auf die andere Seite des Flußtales lenken. Zunächst noch durch Buschwerk verdeckt, erscheinen sie auf einer Anhöhe: Drei Danikrieger in voller Pracht, die, von unserem Anblick offenbar überrascht, wie angewurzelt stehenbleiben. Es werden mehr – zehn, zwanzig, ja, etwa fünfzig Männer, die nach und nach am Ufer erscheinen. Wohlbewehrt mit Bogen, Pfeilen und Steinäxten schauen sie auf uns ins Flußbett hinab. Kein Laut ist zu hören. Es ist, als seien wir alle erstarrt. 18
Und dann stürzen sie wie auf Kommando schreiend und johlend den Hang hinab. Braune Körper, bemalt, mit Federschmuck und Waffen, daß uns Angst und Bange wird. „Das war’s also“, denke ich „... und dabei hat unsere Reise doch erst begonnen.“ Behend und mit unglaublich finsteren Gesichtern springen die Krieger über den Bach. Im Nu sind wir umringt von den nackten, wild aussehenden Gestalten. Trotz butterweicher Knie setze ich das strahlendste Lächeln auf und warte auf das, was da noch kommen wird. Neben stolz hochgereckten Penisköchem scheinen sie sämtliche zu einem Danikrieger gehörende Accessoires angelegt zu haben: um Oberarme geschlungene Fellstreifen, garniert mit bunten Paradiesvogelfedern, um den Hals gelegte Bänder aus verfilzten Spinnweben und Schwänzen von Beutetieren, bestickt mit Muscheln und Schnekken oder durch die Nase gezogene Schweinehauer, nebst geflochtenen und eingefetteten Haaren. Jeder von ihnen ist bewaffnet mit Pfeil und Bogen oder einer Steinaxt, und ihre muskulösen Körper glänzen vor triefendem gefärbtem Schweinefett. Erscheinung und Gebaren geben dieser Truppe ein derart gefährliches, aber auch prächtiges Äußeres, daß ich unwillkürlich neben dem „Kochtopf“ auch an meine Kamera denke, die ich angesichts dieser Situation lieber nicht aus der Tasche fische. Ein über und über rot bemalter Krieger, wohl der Anführer dieser Ansammlung, mißachtet meine Hand, die ich ihm entgegenstrecke, obwohl doch sonst „Händefühlen“ beliebte Daniart ist, und er schreit mich an, wobei seine mit weißer Farbe umränderten Augen besonders böse zu funkeln scheinen. Natürlich verstehen wir nicht, was dieser offenbar erboste Krieger von uns erwartet und diesen veranlaßt, in seinen körperlichen Gebaren und in seiner Stimme noch bedrohlicher zu werden. Angesichts der hochgerüsteten Kriegerschar, die ganz offensichtlich nichts Gutes im Schilde führt, denke ich unwillkürlich daran, daß die wichtigste Lebensregel für jeden Ureinwohner des Tales bis vor kurzem noch hieß: „Töte jeden Fremden, sowie du ihn siehst, falls du am Leben bleiben willst.“ Auseinandersetzungen mit tödlichem Ausgang hat es im BaliemTal schon immer gegeben. Entweder ging es den Kriegern darum, die allgegenwärtigen Geister zu besänftigen, nach dem Motto: Wir müssen einen Gegner töten, weil sonst die Geister verärgert sind. Oder darum, mit anderen Sippen offene Rechnungen zu begleichen. Daß 19
der Krieg für einen Dani kulturell genauso selbstverständlich ist wie Ackerbau oder Schweinezucht, mag einen Ethnologen interessieren, uns aber steht der Angstschweiß auf der Stirn. Während die Männer uns immer enger auf die Pelle rücken, führt der Rote die Bewegung des Rauchens aus. Natürlich bin ich beglückt, ihm Gutes tun zu können, und strecke ihm zitternd ein Päckchen entgegen. Er greift hinein und zieht mehrere Zigaretten heraus, ein Zeichen für andere, sich bedienen zu dürfen. Im Nu ist die Schachtel leer, und ich hoffe, wenn auch nicht alle, so doch manche Gemüter beruhigt zu haben. Irgendeiner fängt plötzlich an, rhythmisch zu tanzen, und das ganze Volk um uns herum tut es ihm gleich. Ich mache mit, habe ich doch irgendwo einmal gelesen, daß Spaß und Verrücktheit bei Eingeborenen Vertrauen schafft. Tatsächlich führt mein überzeichnetes Hinternherausstrecken zur Erheiterung aller. Da stehen wir, eingekreist von einer tobenden Kriegerschar, die uns ohne große Umstände mit Pfeilen und Äxten ins Jenseits befördern könnte, und sekundenschnell erinnere ich mich an die Forscher und Missionare, die in der Vergangenheit ihr Leben lassen mußten. Auf uns aber scheint man es nicht abgesehen zu haben, denn plötzlich brüllt der Rote eine Art Befehl, und Minuten später sind die Männer verschwunden. Tief beeindruckt von dieser Begegnung stehen wir da mit weichen Knien, was auch der Grund dafür sein mag, daß ich bei der Bachüberquerung in voller Länge in den Matsch falle. Tage später erfahren wir den Grund dieser Kriegeransammlung im nördlichenTeil des Tales: Ein Dani hatte den ausgehandelten Brautpreis von fünf Schweinen nicht in voller Höhe entrichtet. Anlaß genug für die Sippe der Braut, einen Krieg anzuzetteln. Das geschieht weniger um der Braut als um der Schweine willen. Wenn es um Schweine geht, versteht ein Dani eben keinen Spaß. Das Ergebnis dieser Auseinandersetzung: Zwei Tote und drei Verletzte, bevor man sich einigte.
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Die Straße Vollkommen verdreckt, aber glücklich erreichen wir Usilimo – vielleicht ein wenig glücklich auch, weil uns der „Kochtopf“ erspart geblieben ist. Der Ort bietet sich uns als ärmlicher Marktflecken, als eine Ansammlung von schäbigen Holzhütten und verlassenen Marktständen. Usilimo liegt an der Straße, die von Wamena kommend eines Tages das Baliem-Tal mit Jayapura, der Provinzhauptstadt, verbinden soll. Sudin Setiawan lebt mit seiner fünfköpfigen Familie in einer der Holzhütten, die ihm Wohnung und Geschäft zugleich ist. Glücklich ist Sudin nicht im Land der Papua, das nicht seine Heimat ist. Wie so viele andere ist er vor fünf Jahren nach Irian Jaya übergesiedelt und fristet ein einsames und recht karges Leben zwischen Colabüchsen und Kekspackungen, deren Haltbarkeitsdatum weit überschritten ist. Das Geschäft geht schlecht, denn außer an Markttagen ist in Usilimo nichts los, und die wenigen Papua, die seinen Laden passieren, können sich die importierten Waren kaum leisten. Sudin klagt nicht, und dennoch ist seinen Erzählungen zu entnehmen, daß ihn tiefes Heimweh nach seinem javanischen Heimatdorf und seiner zurückgelassenen Verwandtschaft quält. Als Sohn eines armen Reisbauern hat er sich zur Transmigration entschlossen und in einer Provinz wiedergefunden, die wohl die unindonesischste des ganzen Archipels ist. Die Regierung fördert die Umsiedlung von Indonesiern aus anderen Regionen des Inselarchipels, um den Bevölkerungsdruck in das gering besiedelte Irian Jaya abzuleiten. Daß dies auch geschieht, um den indonesischen Einfluß auf diesen Teil Neuguineas zu festigen, dürfte unbestritten sein. Von dieser „hohen“ Politik freilich ahnt Sudin nichts. Wie viele andere junge Javaner sah er die Chance, in Irian Jaya mit viel Engagement etwas Neues zu beginnen. Nur daß es ein Leben inmitten einer Steinzeitkultur sein sollte, davon hatte er keine Ahnung. Nackte Papua in Penisköchern, die „orang primitiv“, wie Sudin die Eingeborenen bezeichnet, ja, die ganze Lebensweise der Urbevölkerung paßt so gar nicht in Sudins javanisches Weltbild. „Ein Flug nach Java ist zu teuer, und so werde ich meine Eltern wohl kaum lebend wiedersehen.“ Sudin ist Realist und würde wohl 21
gänzlich verzweifeln, wenn nicht der Hoffnungsschimmer wäre, daß sich seine Situation eines Tages doch noch zum Guten wenden wird. Er deutet auf die lehmige Piste, die zwischen brandgerodeten Hügeln hinter dem Ort im Nichts verschwindet: „Die Straße nach Jayapura wird bald fertig sein – vielleicht in zwei oder drei Jahren – und dann werden mehr Menschen kommen...“ Autos und Menschen sind Sudins Vision eines neuen, besseren Lebens, eine neue Chance für ihn, doch noch zu Wohlstand zu gelangen, wenn mit der Straße die Isolation des Tales durchbrochen sein wird. Und die Papua? Welchen Einflüssen wären diese Menschen dann ausgesetzt? Es liegt auf der Hand, daß ihre einzigartige Kultur bedroht wäre, und das scheinen auch die Papua zu wissen. Ihre Sorge, Minderheit in der eigenen Heimat zu werden, hat schon häufiger zu Konflikten geführt. Immer wieder gab es blutige Aufstände verschiedener DaniGruppen gegen die indonesische Verwaltung. Wer bei den Auseinandersetzungen der Unterlegene ist, dürfte auf der Hand liegen. Mit Hubschraubern und Maschinengewehren haben die Indonesier gegen das Steinzeitvolk die besseren Argumente. Das ursprüngliche Dani-Dorf Pyramid wurde 1977 im Zuge eines solchen Aufstandes dem Erdboden gleichgemacht. Daß die Eingeborenen unter der indonesischen Herrschaft zu leiden haben, zeigt sich uns schon am nächsten Tag auf unserem Rückweg nach Wamena in einer bedrückenden Szene. Kurz hinter Usilimo buddeln etwa zwanzig Dani-Männer mit einfachsten Werkzeugen im Dreck herum. Sie sind dabei, jene Straße zu bearbeiten, die durch den Dschungel nach Jayapura getrieben wird. Zwei bewaffnete indonesische Soldaten überwachen die Gruppe. Die Atmosphäre ist gespannt und aufgeladen, denn freiwillig tun diese Krieger die Arbeit nicht. Ihr Gesang klingt nicht fröhlich, sondern rhythmisch dumpf. Beim Anblick zweier indonesischer Zivilisten, die auf dem Weg nach Jiwika die Gruppe passieren müssen, steigert sich der Gesang aggressiv und böse zu einem Geheul unterdrückter Wut. Angesichts dieser Entwicklung bringen die Soldaten ihre automatischen Gewehre in Anschlag und fuchteln nervös und fahrig damit herum. Den Dani bleibt nichts anderes übrig, als sich zu fügen und für ein paar Dosen Comed Beef an der Straße zu arbeiten, die sie verfluchen. 22
Sie ahnen sehr wohl, was nach der Fertigstellung der Straße kommen wird. Das Tal mit seinen Menschen wird dann endgültig der Zivilisation preisgegeben. Fremde und Alkohol werden ihren Weg ins Paradies finden. Als Aborigenes des Baliem-Tales aber werden die Ureinwohner ein elendes Leben fristen. Es ist Nachmittag, als wir Jiwika erreichen, ein kleines an der Straße gelegenes Dorf und Endstation der wenigen Sammeltaxis, die zwischen dem Ort und Wamena verkehren. Schon ziemlich erschöpft schauen wir uns noch ein für Jiwika bekanntes Kuriosum alter Dani-Kultur an: die zweihundert Jahre alte Mumie eines Stammeshäuptlings. Offenbar schon den Besuch Fremder gewohnt, führt uns ein imposant bemalter Krieger in das Geviert seines Hofes. Aus der dunklen Höhle des Männerhauses schleppt er seinen Ahnen. Da hockt er, der Alte, niedergesetzt auf einen Baumstumpf, schwarz verschrumpelt mit aufgerissenem Mund. Er wurde vor zweihundert Jahren am Feuer getrocknet, um ihn der Nachwelt zu erhalten – zum Schutz der Sippe gegen Feinde und Dämonen. Er muß ein erfolgreicher Krieger gewesen sein, denn um seinen Hals liegen Schnüre mit Dutzenden geknüpfter Knoten – jeder Knoten ein getöteter Feind. Tagelang noch erkunden wir das Tal in alle Richtungen – manchmal verschwitzt in heißer Sonne, manchmal vollkommen durchnäßt in reichlichem Platzregen. Die vielfältigen Eindrücke einer überwältigenden Natur und so mancher Kontakt mit den Dani aber lassen uns Anstrengung und wunde Füße vergessen. Wir erhalten Einblicke in eine Region der Welt, in der man bis vor 40 Jahren noch nichts von der Zivilisation wußte. Der Kontakt mit der Steinzeitkultur der Dani führt uns immer wieder auf unsere eigenen Ursprünge zurück. Es ist ein Gefühl, das uns bis ins Innerste trifft und so manches Mal nachdenklich stimmt. Die Veränderung dieser Kultur durch die Einwanderung fremder Volksgruppen wird weiterschreiten. Die neu Hinzugezogenen beherrschen die Verwaltung und das Geschäftsleben, während die Dani zwar geduldete, aber wenig geliebte Bewohner ihres eigenen Landes sind. Ausländische Konzerne wüten in den ausgedehnten Dschungelgebieten, indem sie tropische Hölzer für den internationalen Markt schlagen und durch Kupferbergbau ganze Flüsse verseuchen. Vielleicht geschieht dies aus reiner Profitsucht und Habgier, ganz sicher aber auch aus der Arroganz des sogenannten zivilisierten Menschen. 23
Nach zweiwöchigem Aufenthalt verlassen wir das Tal mit einer kleinen Propellermaschine. Ein alter Dani am Flugfeld streichelt uns die Hände, als wäre er eigens zu unserem Abschied gekommen. Beim Start noch kann ich ihn erkennen, wie er dort am Zaun steht, nackt mit seinem Holim und dem Flugzeug nachschaut. In einer weiten Kurve gleiten wir aus dem Tal und werfen einen letzen Blick auf angelegte Felder, qualmende Feuer und Dani-Hütten – auf Shangri-La, das verlorene Paradies.
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Irian Jaya, Danikrieger im Baliem Tal 25
Auf dem Markt von Wamena 26
Hängebrücke im Baliem Tal
Kimbim, Hochlandpapua bestaunen die Produkte der Zivilisation 27
Jiwika, die 200 Jahre alte Mumie eines Stammeshäuptlings
Pyramid: noch ist der Besuch von Fremden eine Seltenheit 28
SULAWESI Tanah Toraja Der indonesische Archipel umfaßt nicht weniger als 13 677 Inseln, die sich über eine Entfernung von 5120 Kilometern entlang des Äquators erstrecken. Der Inselstaat reicht in seiner Ausdehnung vom asiatischen Kontinent bis nach Australien, eine Entfernung, die mir erst im europäischen Vergleich die wirkliche Dimension dieses Landes bewußt macht. Er würde vom Nordkap bis nach Marokko reichen. Schiffe und Flugzeuge sind die gängigsten Transportmittel innerhalb des Archipels und, wie es scheint, grundsätzlich ausgebucht. Ein Ticket zu besitzen, heißt nicht unbedingt, einen Sitzplatz zu bekommen, auch wenn die Indonesier Touristen gerne den Vorzug geben. Fahrpläne sind abhängig vom Zustand der meist überalteten Verkehrsmittel, und es kann passieren, daß man Tage auf einen Anschluß warten muß. Wir haben Glück und erwischen in Jayapura eine Maschine, die uns über die Molukken nach Sulawesi bringt. Mit einigen Stunden Verspätung erreichen wir Ujung Pandang, die Hauptstadt des ehemaligen Celebes – ohne Gepäck. Irgendwo auf der Strecke sind unsere für ein Jahr bereiteten Rucksäcke hängengeblieben. Mit nichts als uns selbst im Flughafen zu stehen, ist schon ein seltsames Gefühl. Die Indonesier, in solchen Situationen immer sehr hilfsbereit, sind voller Zuversicht, unsere Rucksäcke in den nächsten Tagen auftreiben zu können. Wir bitten, sie bis zu unserer Rückkehr aufzubewahren, denn tatenlos in Ujung Pandang herumsitzen wollen wir nicht. Die hektische, reizlose Stadt hat bis auf die Reste eines holländischen Forts, drückende Schwüle und eine Menge Moskitos nicht viel zu bieten. Unser Weg nach Tanah Toraja führt uns durch vergessene Provinzorte der Südküste mit ihren traumhaften unberührten Stränden. In den vom Tourismus noch weitgehend verschont gebliebenen Dörfern sind wir die Sensation. Trauben von Kindern heften sich lachend und schreiend an unsere Fersen. Die Fenster der Holzhäuser füllen 29
sich mit strahlenden Gesichtern von Familien ungeahnter Größe. Jeder Bissen, den wir in einem Rumah Makan zu uns nehmen, wird verfolgt, bis er in unseren bestaunten Mündern verschwindet. Selbst an Bemoscheiben drückt man sich die Nase platt, bevor man uns johlend verabschiedet. Daß die Bugis, das seefahrende Volk dieser Gegend, einst gefürchtete Piraten waren, ist angesichts der warmen Gastfreundschaft dieser Menschen kaum zu glauben. Hervorragende Schiffbauer sind sie geblieben. Sie stellen die Segelschoner her, die heute noch in der Inselwelt Indonesiens kreuzen. Uns aber treibt es weiter in das zentrale Hochland der Insel, zu jenem fruchtbaren Plateau, das umgeben von zerklüfteten Bergen die Heimat der Toraja ist. Dort hoffen wir, die Totenfeiern sehen zu können, für die die Toraja berühmt geworden sind. Das Land, das wir hinter den Bergen erreichen, enttäuscht uns nicht. Vor uns liegt Tanah Toraja mit wunderschön ins Landschaftsbild gefügten Reisterrassen, einer Landschaft, die regelrecht zu Wanderungen von Dorf zu Dorf verführt. Die Ortschaften, die aus einer Ansammlung ganz eigenwilliger und kunstvoll gestalteter Bauten bestehen, finden auch bei Ethnologen großes Interesse. Sie meinen, daß die Konstruktion der TorajaHäuser ein Hinweis auf die Herkunft ihrer Bewohner ist. Vor tausend Jahren hätten diese als Seefahrer ihre südchinesische Heimat verlassen und sich hier niedergelassen. So seien die Dächer der Häuser einem Schiffsrumpf nachgebildet und die Ausrichtung nach Norden sei ein Hinweis auf die Heimat der Vorfahren. Midian, der Wirt eines kleinen Rumah Makan in Rantepao, widerspricht der wissenschaftlichen Theorie: „Schöne Dinge denken sich die Professoren da aus. Als Toraja weiß ich, daß die Ausrichtung unserer Häuser mit unserer Religion verbunden ist. Im Norden liegt das Reich der Lebenden, im Süden aber herrscht der Tod. Wie alle Toraja lege auch ich mich mit dem Kopf nach Süden ins Bett.“ Auch die „Schiffsrumpftheorie“ erfährt bei Midian entschiedenen Widerspruch: „Wenn ihr die Augen richtig aufmacht, werdet ihr sehen, daß die Dächer unserer Häuser wie Büffelhörner aussehen.“ Und tatsächlich, die geschwungenen Giebel der Häuser könnten dem Gehörn der Wasserbüffel nachempfunden sein, denn der Besitz dieser Tiere zeugt von Wohlstand und Reichtum. Als sichtbares Statussymbol schmücken die Toraja ihre Häuser mit Dutzenden mächti30
ger Büffelhörner. Sie zeugen von vergangenen Totenfeiern, bei denen nicht selten mehr als hundert der wertvollen Tiere geopfert werden. Midian, der sich Englisch mittels Dictionary und Touristenkonversation selbst beigebracht hat, kredenzt uns die Spezialität seiner kleinen Hütte: in Bambusrohr gedämpftes Huhn. Gut gesättigt und schon leicht besäuselt von dem süßen Palmwein, den er aus langen Bambusrohren in unsere Gläser füllt, lauschen wir noch bis spät in die Nacht seinen Erzählungen über die Totenfeiern der Toraja. Unsere Spannung steigt ins Unermeßliche.
Totenkult der Toraja Eine der berühmten Totenfeiern zu verpassen, stellt sich als überflüssige Sorge heraus. Schon am nächsten Morgen erhalten wir den Hinweis, daß eine solche Zeremonie im Dorf Marante stattfindet. Im überfüllten Bemo zuckeln wir los – auf dem Dach ein quiekkendes Schwein, unter den Sitzen vorwitzige Hühner, denen es Spaß macht, nach unseren Füßen zu picken. Die Mitfahrer nicken wohlwollend, als wir auf die Frage „darimana?“ ( wohin?) den Zielort angeben. Alle wissen von dem Spektakel, und ich meine, ein wenig Stolz in den Gesichtern der Toraja wahrnehmen zu können, Stolz auf jene Zeremonie, die zu der wichtigsten im Leben ihres Volkes zählt. Schon weit vor dem Dorf Marante überholen wir einen unendlichen Strom von Gästen, die im Gänsemarsch dem Dorf zustreben. Frauen und Mädchen, herausgeputzt in bunten Sarungs, und junge Burschen, die geschmückte Büffel an der Leine zum Opfer führen. Kaum einer kommt ohne Geschenk, und so werden geschulterte Schweine, Körbe von Reis, Tabak und in langen Bambusrohren eine Unmenge von Tuak, dem milchig herben Reiswein, zur Feier getragen. Baso, ein Enkel der Toten, nimmt sich unserer an. Indem er uns zum Gästehaus führt und uns Tee und Kuchen anbietet, macht er uns zu offiziellen Teilnehmern der Feier. Durch ihn erfahren wir, daß das Fest zu Ehren seiner Großmutter (Nenek) Karmaria stattfindet. Er deu31
tet auf einen tonnenähnlichen, mit roten Ornamenten verzierten Sarg, der auf einer hölzernen Ballustrade aufgebahrt ist. So erhöht wird sie Zeugin eines würdigen Abschieds sein. Ziemlich verblüfft hören wir, daß Nenek Karmaria bereits vor 34 Jahren das Zeitliche gesegnet hat, denn es kann Monate, ja Jahre dauern, bis der Clan sich auf einen Termin für die Feierlichkeiten geeinigt hat. Lachend gesteht Baso, daß die Verzögerung der Bestattung mit der Geldfrage verbunden ist, gilt es doch Hunderte von Menschen zu beköstigen. Bis zu diesem Tag hat Nenek Karmaria mumifiziert im Hause der Familie gesessen und Anteil am Leben gehabt, denn nach dem alten Glauben der Toraja ist sie nur krank und ihre Seele irrt in der Umgebung umher, bis das Totenritual erfüllt ist. 34 Jahre hindurch wurde Karmaria besucht, und ihre Kinder, Enkel und Urenkel füllten täglich Schälchen mit Tabak und Früchten, galt es doch die Seele zu beruhigen, bis auch sie die Reise ins Jenseits antreten kann. Der erste Tag, den wir erleben, ist bestimmt durch den Empfang und die Beköstigung der Gäste. Eigens für diese hat Basos Familie über zwanzig ineinander verschachtelte Unterkünfte aus frischem Bambus errichtet, die so gestaltet sind, daß sie den Besuchern als Schlafstätte und Aussichtspunkt zugleich dienen können. Gespannt verfolgen ganze Torajafamilien den Einzug immer neuer Prozessionen. Mit Rufen des Lobes und Staunens kommentieren sie die Geschenke, während Baso uns erklärt, daß Wert und Anzahl der Mitbringsel von alten Schulden abhängen, die die Besucher bei Nenek Kamaria abzutragen haben. „Meine Großmutter hat in ihrem Leben viele Begräbniszeremonien besucht und im Laufe der Jahre eine Menge Schweine und Büffel verschenkt. Wir Toraja erwarten nun, daß sich die Familien revanchieren. Tun sie dies nicht, wären sie im ganzen Torajaland als Geizhälse verschrien.“ Offenbar will sich niemand dem Spott der Torajagemeinde aussetzen und mit Schande beflecken, denn gewaltig sind die Mengen von Feldfrüchten, fetten Schweinen und stattlichen Büffeln, die unter den Augen aller zum Zeremonienplatz geschleppt werden. Basos Familie ihrerseits läßt sich auch nicht lumpen und versorgt die Gäste unablässig mit Reiswein, Kaffee, Tee und dem Fleisch der Schweine, die hinter den Bambushütten kreischend ihr Leben lassen müssen. 32
Für Abwechslung sorgen eigens initiierte Büffelkämpfe. Angespornt werden die massigen Tiere von Hunderten von begeisterten Torajastimmen. Zeigen die recht sanften Kolosse keinerlei Lust, aufeinander loszugehen, werden sie auch schon einmal in den Schwanz gekniffen, um sie zu reizen. Hölzern klingt es, wenn die mächtigen Hörner aneinanderkrachen. Jeiiiii, welch Gejohle, als einer der Büffel in blinder Flucht die Rampe hinauf in ein Gästehaus jagt und sich die Gesellschaft mit Sprüngen aus den Fenstern rettet. Jeiiii – sie alle haben großen Spaß. Die Büffel spielen am zweiten Tag der Feierlichkeiten eine eher traurige Hauptrolle im Totenritual der Toraja. In ihrem Leben von kleinen Jungen gebadet, gehätschelt und gepflegt, werden die riesigen Tiere nun mit einem Schwertstreich in die Kehle getötet. Ein junger Toraja nähert sich langsam dem nichtsahnenden riesigen Tier, um ihm die Machete in den Hals zu schlagen. Er weiß, daß er von hundert Augenpaaren beobachtet wird und sein Hieb entschieden und fest sein muß, damit man später nicht über ihn spöttelt. Tänzelnd umrundet der Toraja den Büffel und schlägt das Kurzschwert plötzlich und unter dem Geschrei der Zuschauer mit aller Kraft in dessen Kehle. Ein Schwall von Blut bricht aus der klaffenden Wunde. Das Tier geht in die Knie, stolpert im Kreis herum, so daß sich der Krieger mit einer gewandten Drehung in Sicherheit bringen muß, um nicht von dem massigen Körper zermalmt zu werden. Fast verdutzt, mit sanften Augen, steht der Büffel dann vor dem Tongkonan, bis er nach minutenlangem Todeskampf zusammenbricht und still in einer Lache aus Blut und Kot verendet. Fünfundzwanzig Büffel sterben solcherlei getötet, nach und nach, neben ihren Artgenossen – zur Beruhigung meiner Nerven hilft mir bei diesem Anblick eine Zigarette. Baso kann meine Aufregung nicht verstehen. „Wir müssen die Büffel opfern, damit ihre Seelen Nenek Karmaria nach Puja, ins Reich der Toten, begleiten können.“ Im Glauben der Toraja ist das jenseitige Leben eine Fortsetzung des Daseins auf Erden. Die Ahnen sollen in Puja nichts entbehren. Damit sie aber auch das Leben ihrer Nachkommen wohlwollend schützen und lenken, müssen die Büffel geopfert werden. Nebenbei, so bekennt Baso lachend, ist auch weltlicheren Bedürfnissen Genüge getan. Er deutet auf einen alten Bauern, der mit einem blutigen 33
Fleischlappen dem Gästehaus zustrebt. „Seht den dort“, sagt er, „ein Jahr hat er mit seiner Familie nur von Reis und Früchten gelebt. Jetzt endlich kann er sich einmal an saftigem Büffelfleisch sattessen.“ Die noch dampfenden Leiber werden fachgerecht zerlegt und nach Rang und Ansehen verteilt, was nicht selten zu handfesten Reibereien führt, wenn Qualität und Größe des Fleisches nicht dem sozialen Status der Trauergäste entsprechen. Die kleinen Toraja-Kinder indes interessiert die „Politik des Fleisches“ wenig. Sie nutzen die Gelegenheit, mit Büffelhufen und schwänzen neue Spielmöglichkeiten zu entwickeln. Ein Mädchen führt uns anschaulich unsere Entfremdung von dem Natürlichen vor – ihren Zeigefinger schiebt sie weit in die Nüstern eines abgetrennten Büffelkopfes. Am dritten Tag schließlich wird von Nenek Karmaria Abschied genommen. Die Männer des Dorfes tanzen im Kreis, rhythmisch gleichmäßigen Schrittes. In schwarzen Sarungs, fest untergehakt wiegen sie sich mit ihren Gesängen und sprechen mit den Ahnen, die in Puja, dem Paradies, auf Nenek Karmaria warten. Ein protestantischer Pfarrer in schwarzem Talar gibt zu all dem seinen Segen. Es scheint nicht ungewöhnlich, daß Missionare Rituale animistischen Glaubens mit Elementen christlicher Religion verbinden. Ohne besondere Widersprüche kann dies geschehen, denn auch die Toraja glauben an einen allmächtigen, allgegenwärtigen Gott, der als Schöpfer des Himmels und der Erde Puang Matua genannt wird. Schließlich aber wird der Sarg unter großem „Hallo“ auf eine Bahre geschoben, deren Abdeckung dem Dach eines Torajahauses nachgebildet ist. Ohne stille Trauer, sondern heiter, lachend und schwatzend wird der Sarg in Richtung der Berge getragen. Er wird mächtig geschüttelt und gedreht, um die bösen Geister zu verwirren. Nenek Karmaria wird am Fuße der Berge in einem Mausoleum beigesetzt. Sie kann zufrieden sein, haben ihr doch die Nachkommen ein angemessenes Leben in Puja ermöglicht. Und sie wird weiterhin Opfergaben in Form von Bethelnüssen und Früchten erhalten, genauso wie die vielen Tau Tau Figuren, jene an Felsengräbern postierten Holzfiguren, die Nachbildungen der Toten sind. Mit ausgestreckten Armen fordern sie ihren Tribut von den Lebenden. So ist gewährleistet, daß Nenek Karmaria und all die Ahnen der Toraja das Schicksal ihrer Nachkommen wohlwollend lenken. 34
Beim abendlichen Tuak in Midians Rumah Makan sprechen wir noch lange über das Erlebte. Midian erzählt, daß es Touristen gäbe, die sich besonders über das Büffelschlachten ereifern und in den Toraja Barbaren sähen. „Wir Toraja haben keine Raketen und Panzer erfunden, um Menschen zu töten“, sagt er mit erregter Stimme und schließlich: „Barbaren sind doch die Touristen, die alte Tau Tau Figuren kaufen und als Souvenir nach Hause schleppen.“
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SUMBA Die Sandelholzinsel Zum Glück können wir in Ujung Pandang unsere Rucksäcke unbeschadet in Empfang nehmen. Ein Angestellter des Flughafens kümmert sich rührend um uns. Wie so viele in diesem Land, scheint auch er ein besonderes Verhältnis zu den Ahnen und Göttern zu haben: Im Anzug unverkennbar schon der modernen Welt zugehörig, flüstert er geheimnisvolle Beschwörungen, bevor er die Tür der Gepäckaufbewahrung öffnet. Und siehe da, unsere Rucksäcke liegen friedlich beieinander, bereit, die Reise mit uns fortzusetzen. Am Touristenstrand von Kuta auf der Insel Bali erholen wir uns erst einmal von den vielfältigen Eindrücken der letzten Wochen. Für ein paar Tage genießen wir die angenehmen Seiten des Touristenlebens. Wir faulenzen, baden und futtern uns durch sämtliche kulinarische Köstlichkeiten, aber bald schon zieht es uns weiter nach Sumba, der Sklaven- und Sandelholzinsel. Sumba scheint sowohl bei Einheimischen als auch bei Europäern gänzlich unbekannt. Südlich Sumbawas gelegen, ist Sumba eine der abgelegensten Inseln Indonesiens. Mit einer Ausdehnung von 200 Kilometern Länge und 80 Kilometern Breite ist sie aber auch eine der größten Nusa Tenggaras, der südöstlichen Inseln des Landes. In der Kolonialzeit war Sumba nur bekannt als Quelle von Sklaven, wendigen Pferden und dem duftenden Sandelholz, dessen Wälder einst die ganze Insel bedeckten. Nur wenige Missionare haben es geschafft, Einfluß auf die Bewohner Sumbas zu nehmen. Die meisten der Bewohner sind bis heute Animisten geblieben. In Berlin war uns vor einem Jahr ein winziger Zeitungsartikel über Sumba aufgefallen, der unsere Neugier auf diese „vergessene“ Insel weckte. Es wurde berichtet, daß ein langhaariger blonder Australier von Sumbanesen gesteinigt wurde, als er mit Kindern an einem Brunnen spielte. Die Einheimischen dachten, der Fremde sei ein in Legenden angekündigter böser Geist, der versuchen würde, ihre Kinder zu entführen. 36
Sulawesi: voller Symbolik sind die verzierten Häuser der Toraja 37
Bestattungsprozession der Toraja
Sulawesi: die Tau Tau Figuren sind Abbildungen der Toten 38
Bei den Totenfeiern der Toraja sterben bis zu 100 Büffel 39
Totengemeinde der Toraja lauscht den Worten eines Priesters 40
Sulawesi: Torajajungen kümmern sich um die kostbaren Büffel
Typisches traditionelles Dorf auf Sumba 41
Auch auf Sumba gibt es kein Totenfest ohne Büffelopfer 42
Sumba, auf dem Markt von Waikabubak
Madura: Zuschauer beim Rennen der Stiere 43
Sumbanese mit typischer Kopfbedeckung 44
Statt steinewerfender Wilder treffen wir auf nette gastfreundliche Menschen, in einem Land, das mit seinen traditionellen Dörfern und seinen Megalithen fast ein wenig an Asterix und Obelix und Gallien erinnert. Die Ortschaft Waikabubak ist das Verwaltungs- und Handelszentrum des westlichen Teils der Insel und wird für uns zum Ausgangspunkt unserer Entdeckungstouren. Aufgenommen werden wir von den Brüdern Satya und Siang Be, junge Indonesier chinesischer Abstammung. Erst kürzlich von Java hierher verschlagen, versuchen sie sich in diesem abgelegenen Teil der Welt als Manager eines kleinen Losmens. Rührend sind sie darum bemüht, uns jeden Wunsch von den Lippen zu lesen. Erscheint die Dusche zu kalt, wird gleich kübelweise kochendes Wasser herbeigeschleppt. Erscheint dagegen das Bier zu warm, scheuen sie keine Mühe, Eis zu besorgen. Als unsere guten Geister aufschnappen, daß in Deutschland viel Kartoffeln gegessen werden, kredenzen sie uns mit einem verschmitzten Chinesenlächeln Pellkartoffeln zum Frühstück. Kaum haben wir geäußert, daß ein Moped zur Erkundung der Insel ideal wäre, steht eine kleine vollgetankte Honda vor der Tür. Mit Sicherheit sind wir die ersten Touristen, die sich auf einem Moped durch Landschaft und Dörfer bewegen – die Sumbanesen jedenfalls schauen uns fassungslos nach, so als sei gerade ein Geist auf einer Knatterkiste an ihnen vorbeigehuscht.
Hinkelsteintransport auf Sumbaart Von Schlagloch zu Schlagloch holpern wir die Windungen der Straße entlang nach Anakalang, vorbei an Reisfeldern, weiten Grasebenen und Kokoshainen. Im Gegensatz zum östlichen Teil der Insel mit seinen durch Waldrodung zerstörten Naturflächen bietet sich uns hier, im westlichen Teil, eine Landschaft mit tropischer Vielfalt. Abseits der Straße liegen die auf Hügelkuppen gebauten SumbaDörfer, wobei jedes Dorf für sich wie eine Burg wirkt, deren Zinnen in Form der traditionellen hohen Hausdächer auf uns herabschauen. Dieser Eindruck hat einen realen Hintergrund, denn die Sumbanesen 45
haben vor nicht allzu langer Zeit noch blutige Stammesfehden geführt. In einer Staubfahne knattern wir hinein ins Sumbadorf. Hühnerflattern, Hundegebell und große Kinderaugen. Im Nu sind wir von der Jugend des Dorfes umringt. Man staunt, man kreischt und strahlt über die unvorhergesehene Abwechslung eines eintönigen Alltags. Das Dorf ist, wie fast alle in dieser Gegend, kreisförmig angeordnet. Meterhoch ragen die Strohdächer in den Himmel. Der Dorfplatz ist angefüllt mit Dutzenden tonnenschweren behauenen Steinen, den Megalith-Gräbern der Sumbanesen. Wir stellen uns vor und fragen nach dem Kapala Desa, dem Vorsteher des Dorfes, zu dessen Haus man uns auch gleich aufgeregt führt. Dort steht er, auf der Veranda seines Hauses. Er ist der Maramba, der uneingeschränkte Herr über den Stamm. Er ist der Wächter des Adat, Wächter über das ungeschriebene Stammesgesetz. Weder Federn noch Krone zieren diesen Mann, sondern ein strahlend weißer Sommerhut, der bestimmt der einzige in ganz Sumba ist. Sich seiner Position durchaus bewußt, schaut er mit finsterer Miene auf sein Volk und uns herab. Ein scharfer Befehl zwingt die schnatternde Menge zum Flüsterton, und ich sehe keinen Kopf, der sich nicht vor seiner Autorität beugt. Mit einer förmlichen Handbewegung werden wir in sein Haus geladen und etwas eingeschüchtert nehmen wir unter mächtigen Büffelhörnern Platz. Sie sind wohl die größten, die ich je gesehen habe. Nach dem Woher und Wohin befragt, gibt er sich freundlich herablassend, bestätigt aber unser Wissen um die Erstellung eines tonnenschweren Grabes in der Nähe des Dorfes. Sein Sohn Umlapura erhält den Auftrag, uns zu begleiten. Mit einem festen Händedruck sind wir als Besucher akzeptiert und entlassen. Umlapura führt uns zu einem weit hinter dem Dorf gelegenen Hügel. Schon von fern hören wir den Gesang vieler Männer, und dann dürfen wir Zeugen sein, wie etwa sechzig Sumbakrieger in schweißtreibender Arbeit einen der Megalithkolosse den Hügel hinaufziehen. Auf zwei Seiten stemmen sich je dreißig Mann in Seile und Lianen, jenen behauenen Quader zu bewegen, der den unteren Teil eines mächtigen Grabes bilden wird. Obwohl Baumstämme als Gleithilfe dienen, gelingt es ihnen nur schwer, Stück für Stück. Unter dem rhythmischen Gesang, einem 46
wohlklingenden sumbanesischen „Hau ruck“, bewegt sich der tonnenschwere Stein Zentimeter für Zentimeter den steilen Hang hinauf. Nur ein alter Sumbanese scheint sich nicht abmühen zu müssen. Er thront „unverschämterweise“ auf dem Koloß und bestimmt mit seiner Stimme den Rhythmus des Gesanges. Der Alte kräht und dumpf antworten die Krieger, während sie sich mit angespannten Muskeln in die Seile stemmen – der Quader aber bewegt sich nur ein winzig kleines Stück. Umlapura erklärt uns, daß dieser Mann der Rato, der Priester ist und sich zusammen mit dem Maramba die Herrschaft über den Stamm teilt. Von unserer Anwesenheit lassen sich die mit Stirnband und Dolch gerüsteten Krieger nicht beeindrucken. Man beobachtet uns aus Augenwinkeln und raucht höchstens eine angebotene Zigarette. Umlapura zieht uns in den Schatten eines Baumes, denn Stunden wird es dauern, bis der Stein an seinen vorbestimmten Platz gezogen ist. Der Junge erzählt, daß er der Enkel des schon längst verstorbenen Rajas von Anakalang sei. Zur Untermauerung seiner fürstlichen Abstammung deutet er auf einen schon betagten Sumbanesen und sagt: „Der dort ist mein Sklave.“ Forschenden Blickes wartet er auf unsere Reaktion. Wir glauben an einen Witz, denn die Sklaverei wird doch wohl auch in diesem Teil der Welt abgeschafft sein. Um uns zu beweisen, daß Umlapura seine Sache ernst meint, bellt der gerade vierzehnjährige einen Befehl. Der Sumbanese, der durchaus sein Vater sein könnte, klettert sofort und ohne Widerspruch in die Krone einer Palme, um mit der Machete frische Kokosnüsse abzuschlagen. „Dieser Mann und seine Familie“, erklärt Umlapura, „muß als Ata alle Arbeiten verrichten, die ich befehle.“ Nein, schlagen oder in Ketten legen würde er sie nicht, aber es sei ihnen verboten, sich ohne seine Einwilligung vom Haus zu entfernen oder zu heiraten. Als „Sklaven“ des Maramba, dessen Sohn er sei, genössen sie sogar gewisse Vorteile: Seine Familie gewähre der Ata-Familie Schutz, besorge die Heirat und finanziere deren Kindern, wenn möglich, einen Schulbesuch. Uns wird klar, daß der Begriff „Leibeigener“ wohl besser das Verhältnis des Rajaenkels zu dem Sumbanesen beschreibt, der uns soeben mit einem Schwert die tropische Köstlichkeit öffnet. Die Zeiten, in denen man Sklaven tötete und dem Raja als Grabbeilage mitgab, sind Gott sei Dank auch in Sumba schon vorbei. 47
Kaum ist der Grabstein an seiner vorbestimmten Stelle plaziert, wetzen die Krieger ihre Säbel und töten zur Feier des Tages zwei Büffel in schon bekannter Weise mit einem Schwertstreich in die Kehle. Fleisch und Innereien werden von Frauen gewaschen und auf Palmwedeln ausgebreitet, während die Männer unermüdlich das letzte Stück des Grabes, die Platte, nach oben schaffen. Noch bevor diese unter der gemeinsamen Anstrengung aller männlichen Angehörigen des Clans auf den massigen Block gehievt wird, bereiten Mädchen und Frauen den Platz um das Grab zum Fest. In riesigen Bottichen kochen sie das Fleisch, bereiten auf ausgelegten Bananenblättem den Reis, und in der einsetzenden Dunkelheit beleuchten eine Unzahl von Öllämpchen und die Feuer der Kochstellen das Geschehen. Urtümliche Gongs in allen Größen und sehr alt werden an Holzgestängen gehängt und tönen dumpf durch die Nacht. Auf der Veranda einer nahen Hütte hat man uns eine Bastmatte ausgerollt, auf der wir gemeinsam mit dem Maramba und dem Rato im Schneidersitz thronen, sie zu unseren, wir zu ihren Ehren. Ein Befehl des Maramba, und ein riesiges Schwein, gesperrt in einen Koben aus Bambusrohren, wird kaum einen Meter vor uns abgesetzt und ehe wir es uns versehen von Kriegern mit Lanzen abgestochen, daß das Blut bis zu unserer Matte spritzt. Mädchen und Jungen, gekleidet in wunderbar gewebten Ikatstoffen, stellen sich auf zum Reigen. Die Mädchen mit rotem Stirnband und glänzend schwarzem langem Haar, mit Wedeln aus Palmblätterstreifen in den Händen. Die Jungen mit kunstvoll geschnitzten Schildern und blitzenden Schwertern. Sie tanzen mit gleichmäßigen Schritten zum Takt der Trommeln und Gongs, und wir können uns des Eindrucks nicht erwehren, daß die Dorfjugend angehalten wird, sich wegen unserer Anwesenheit besondere Mühe zu geben. Zähes Büffelfleisch kauend nicken wir immer wieder anerkennend, was den Maramba und den Rato, der es vorzieht, sich das Fleisch roh zwischen die Zähne zu schieben, sichtlich mit Zufriedenheit erfüllt. Bis weit nach Mitternacht wird in Anakalang noch kräftig gefeiert, lauschen wir im Anblick des für die nächsten Jahrhunderte geschaffenen Grabes alten Gesängen. Erst in der Dämmerung des Morgens ist es uns vergönnt, ein wenig auf der Veranda zu schlafen, bevor wir uns auf den Heimweg machen, nicht ohne uns beim Maramba für die Gastfreundschaft zu bedanken. 48
Nele Einige Tage später lernen wir auf recht unkonventionelle Weise Nele kennen. Um unsere vom Mopedfahren steifen Glieder etwas in Bewegung zu bringen, entschließen wir uns, per pedes Sumbaland zu entdecken. Die Reaktion zweier Sumba-Frauen, die uns auf einem schmalen Pfad begegnen, deutet darauf hin, daß wir frappante Ähnlichkeit mit Geistern haben müssen. Zuerst noch durch hohes Buschwerk verdeckt, stehen wir uns plötzlich gegenüber. Mit vor Schreck weit aufgerissenen Augen tun sie das, was wohl jeder bei einer Geisterbegegnung tun würde – sie werfen ihre Rattankörbe ins Gebüsch und rennen, so schnell sie können, bis sie hinter Baumstämmen genug Schutz gefunden haben, um uns fremde Wesen aus sicherer Entfernung zu studieren. Erst nachdem wir mit Rufen wie „salamat pagi“ (guten Morgen) und „apa kabar“ (wie geht es euch) unter Beweis gestellt haben, daß wir aus Fleisch und Blut bestehen, reicht es zu einem vorsichtigen Winken – Geister sprechen nun einmal kein Indonesisch. Weniger Scheu zeigt ein Sumbakrieger, der uns kurz darauf begegnet. Er bietet uns freundlicherweise sogar sein Reittier an. Es ist einer jener kleinwüchsigen Sumbagäule, die wegen ihrer Zähigkeit und Tropentauglichkeit schon in Kolonialzeiten Berühmtheit erlangten. Kaum habe ich den Rücken dieses „lieben“ Pferdchens erklommen, galoppiert das Tier los, als hätten es Hornissen gestochen. Verzweifelt versuche ich, das rennfreudige Pferd zum Stehen zu bringen, aber all meine Reitkünste versagen. Gutes Zureden und Fluchen auf Deutsch, Englisch und Indonesisch fruchten nicht. Statt dessen galoppiert der Gaul noch schneller und rast den Pfad entlang, als hätte er einen dieser Geister auf dem Rücken. Für die Bewohner des nächsten Kampungs muß es wahrhaft ein göttliches Bild sein, wie da ein Weißer mit halber Glatze in ihr Dorf rast – jedenfalls nehme ich im Vorbeihuschen erstaunt entsetzte Gesichter wahr. „Jetzt oder nie“, denke ich und stemme mich mit aller Kraft in die Zügel. So abrupt der Galopp begonnen hat, so abrupt endet er, und ich rutsche mehr oder weniger galant über den Hals des Pferdes zur Erde. Das Dorfvolk gröhlt und Nele biegt sich vor Lachen. 49
Nele thront auf einem der Steingräber, direkt auf ihren Ahnen, und lacht sich kaputt über diesen schlacksen Europäer, der soeben mit Volldampf in ihren Stammesalltag hineingaloppiert ist. Nele ist eines jener indonesischen Mädchen, die uns durch ihre überzeugende Lebenslust, ihre Fröhlichkeit und ihr Selbstbewußtsein beeindrucken. Unbefangen führt sie uns in ihr Haus, wo wir auf ausgerollten Bastmatten Platz nehmen und Betelnüsse probieren, die uns Neles Großmutter als Gastgeschenk reicht. Kaum angekaut bildet sich ein furchtbar bitterer Geschmack im Mund und rot gefärbter Speichel, den wir alle durch Bambuslücken hindurch in das Reich der Hühner und Schweine spucken, quillt ohne Ende. Nele lacht über unsere konzentrierten Betelnußgesichter und empfiehlt uns schelmisch, diese tapfer zu kauen, denn eine Betelnuß als Gabe abzulehnen, hieße nach Sumbabrauch, dem Gastgeber die kalte Schulter zu zeigen. Eine Nuß gar wegzuwerfen, käme einer Kriegserklärung mit unabsehbaren Folgen gleich. Also kauen wir tapfer auf beiden Backen und erfahren einiges über Neles Leben: Nach dem Besuch der christlichen Missionsschule in der Nähe des Kampungs war es Nele erlaubt, die weiterführende Mittelschule in Waikabubak zu besuchen. Sie hat es bisher abgelehnt, nach dem Willen der Stammesältesten eine Heirat einzugehen. Mit großem Ernst erzählt sie, daß viele Kämpfe durchzustehen waren, Kämpfe gegen die Tradition der Alten und ihre Gesetze. Dank der Unterstützung einer Missionsschwester und ihrer Eltern könne sie aber nun doch in absehbarer Zeit eine Lehrerbildungsstätte besuchen. Ihr Traum ist es, Lehrerin zu werden. Eifrig zeigt Nele uns das Heim ihrer Familie. Wie alle traditionellen Sumbahäuser ist auch dieses ein Kosmos für sich. Das in den Himmel ragende, etwa sechs Meter hohe Dach symbolisiert die göttliche Welt, die Welt des allmächtigen Marapu. Hier bewahrt die Familie ihre Schätze auf: wunderbar gewebte Ikatstoffe, riesige uralte Gongs und Familienschmuck. Der luftige aus Bambus gebaute Wohnbereich ist ausgestattet mit Kochstelle, Schlafplätzen und Gerätschaften. Hier lebt die Großfamilie, hier werden Kinder geboren und sterben die Alten. Es ist die Welt der Menschen. Der untere Teil des Kosmos aber wird von Schweinen und Hühnern bevölkert. Ständig auf der Suche nach Eßbarem wühlen und 50
scharren sie zwischen den Stelzen des Hauses und entsorgen auf diese Weise den Abfall, der von den Bewohnern hinabgeworfen wird. Nele, die schnell mit uns Freundschaft schließt, lädt uns ein, am folgenden Tag einer Begräbniszeremonie beizuwohnen. Daß dies keine Selbstverständlichkeit ist, sollten wir erst später erfahren. Der Maramba des Dorfes jedenfalls läßt noch in der Nacht ein Huhn schlachten, um dessen Innereien nach dem Wohlwollen des allgegenwärtigen Marapu zu befragen. Die Sache scheint in Ordnung, denn am nächsten Tag werden wir wie alte Bekannte begrüßt. Nachdem wir dem Maramba Kaffee und Zucker als Gastgeschenk überreicht haben, werden wir zu einem abseits des Kampungs gelegenen Haus geführt. Im Dämmerlicht der Hütte warten die Gebeine dreier Sumbanesen auf ihre Bestattung. Sie sind in wunderbar gewebte Ikatstoffe gehüllt, die so gestaltet sind, daß sie drei Puppen ähneln. Unter Geschrei und Trällern müssen wie in Anakalang auch hier Büffel und Schweine sterben, und man scheint allgemein zufrieden, uns solch blutiges Ereignis vorführen zu dürfen. Das Blut der Tiere, das Geschrei der Menschen und die dumpfen Töne geschlagener Trommeln und Gongs lassen uns Sumba empfinden, wie es ist – eine vergessene, noch wilde Insel. Entsetzen und allgemeine Unruhe kommt auf, als wir uns angesichts der einbrechenden Dämmerung verabschieden. Nele erklärt, daß sich das Dorf für unsere Anwesenheit und die Geschenke erkenntlich zeigen will. Uns einfach so ziehen zu lassen, wäre ein furchtbarer Verstoß gegen die Gastfreundschaft und könne zur Katastrophe zürnender Mächte führen. Erst nach längerer Diskussion findet man die Lösung: Der Rat der Alten beschließt, uns drei rohe Fleischlappen mitzugeben. Wir verabschieden uns vom Dorf und von Nele, die so erfrischend lachte, als der Geist in ihr Kampung galoppierte, und mit riesigen Fleischstücken in den Händen knattern wir auf unserem Moped zurück nach Waikabubak. Siang und Satya sind begeistert, denn Büffelfleisch ist auch für unsere Chinesen eine begehrte Köstlichkeit. Ohne Umstände verarbeiten sie unsere übergroßen Steaks zu köstlichem Büffelsate, das wir gemeinsam verspeisen. Es ist unser letzter Abend in Waikabubak und uns wird schmerzhaft bewußt, daß wir Indonesien bald verlassen müssen. Unendlich 51
viel Zeit brauchte man, um dieses Wunderland unterschiedlichster Kulturen, bezaubernder tropischer Landschaften und Heimat aller großen Religionen kennenzulernen. Aber leider ist unser Visum nur zwei Monate gültig und eine Verlängerung nicht möglich. Ohne größere Pausen tingeln wir also per Schiff, Bus und Bahn nach Jarkarta. Aber Indonesien entläßt uns nicht, ohne uns, quasi zum Abschied, noch ein weiteres, ganz eigenes Kulturereignis vorzuführen: die Stierrennen von Madura.
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MADURA kerapan sapi – das Rennen der Stiere Schon früh morgens nähern sich überfüllte Bemos dem weiten staubigen Feld, dem Austragungsort der Stierrennen, die alljährlich im Sommer veranstaltet werden. Ganz Madura scheintauf den Beinen, um ja nicht den Ausgang des sportlichen Wettkampfes zu verpassen. Auch wir haben uns nach dem „kerapan sapi“ durchgefragt, jenem aufregenden Ereignis, das auf der Welt einzigartig ist und nur auf Madura, der vor Surabaya gelegenen Insel, stattfindet. Man hat sich schön gemacht für dieses gesellschaftliche Ereignis: die Frauen im Kebaya, der farbfreudigen Spitzenbluse, die Männer in verwirrend gemusterten Batikhemden. Typisch für indonesische Moslems aber sind ihre Kopfbedeckungen: das aus Spitzen gearbeitete feine Kopftuch und der aus glänzendem schwarzem Samt gearbeitete krempenlose Hut. Ausgelassene Ausflugsatmosphäre liegt in der Luft und albernde Menschenmassen schieben sich vorbei an Imbißständen hin zu den Bambustribünen. Quasi im Vorübergehen genehmigen sich die Familien ein Glas Jeruk, jenen süßen bonbonfarbenen Saft, der aus riesigen Glasballons geschöpft, für ein paar Rupiah ausgeschenkt wird. Hastig wird der Becher in einem Zug geleert und der Mund mit dem Handrücken gewischt – das Rennen kann jeden Moment beginnen. Auch wir lassen uns von der Atmosphäre anstecken und drängeln mit den Einheimischen in die Arena, die erfüllt ist vom aufgeregten Gesumm vieler Maduranerstimmen. Dicht gedrängt harren die Familien unter bunten Plastiksonnenplanen auf den Beginn des spannenden Wettkampfes, während die Mannschaften noch damit beschäftigt sind, ihre Stiere zu präsentieren. Die hellbraunen Tiere sind mit allerhand Buntpapier, Bändern und Blumen geschmückt, so als hätten sie die Siegerehrung bereits hinter sich gebracht. Neben den prächtigen Kampfbullen geraten wir unversehens in den Mittelpunkt des Interesses, denn Reisende verirren sich nur selten nach Madura, und unüberhörbar schallt das „Hello Mister“ von 53
den Tribünen. Wir ziehen es vor, den Hauptakteuren nicht die Show zu stehlen und erklimmen mit Hilfe zupackender Maduranerhände eine der luftigen Bambusplattformen, auf denen man uns gleich recht gastfreundlich in die erste Reihe schiebt, damit wir auch ja nicht das sportliche Ereignis verpassen. Inzwischen haben Ordner das letzte Volk vom Rennplatz vertrieben und eifrige Trainer ihren Jockeys letzte Anweisungen gegeben. Das Rennen kann beginnen. Jeweils zwei Stierpaare werden einen Lauf für sich entscheiden. Auf Kommando geht es los. Angefeuert von Hunderten Maduranerkehlen donnern die Tiere den staubigen Parcour hinab. Nur Sekunden benötigen sie, um ihre volle Schnelligkeit zu entfalten. Man sagt, die Stiere von Madura erreichten eine Geschwindigkeit von 50 km/h, und ich glaube es, denn die Tiere fliegen, für Bullen erstaunlich flink, regelrecht dem Ziel entgegen. Die Jockeys, leichtgewichtige und mutige Maduranerjungen, liegen fast auf den Deichseln, die die Stierpaare miteinander verbinden, wobei sie noch das Kunststück fertigbringen, den Vierbeinern die Schwänze zu zwirbeln, denn schließlich geht es darum, das Rennen für ein ganzes Dorf zu entscheiden. Nicht selten passiert es, daß die Gespanne die Orientierung verlieren. Unter dem Brüllen der Menschenmassen geraten sie in die Diagonale und krachen in die Tribünen, unter die sich die Neugierigen retten, die sich zu weit auf das Feld vorgewagt haben. Dramatisch wird es, wenn die Deichsel bricht und der Jockey unter die Hufe seiner Zugtiere gerät. Für diese Unglückseligen ist das Rennen der Saison zu Ende, ehe es richtig begonnen hat. Gedemütigt und mit schmerzverzerrtem Gesicht muß so mancher von ihnen auf einer Bahre vom Platz getragen werden. Die Bullen interessiert das nicht. Irritiert und führungslos traben sie kreuz und quer durch die Arena, bis sie unter dem Grummeln der Zuschauer irgendwo ein Grasbüschel finden, an dem es sich lohnt, aus Verlegenheit zu knabbern. Sind die Tiere aber erst einmal auf den richtigen Kurs gebracht, preschen sie unglaublich flink den Parcour hinab und rasen wie Geschosse über das Ziel. Nichts und niemand kann sie bremsen. Und so wird so mancher fanatische Maduraner, der sich aus eigenem Sportsgeist am Ende der Rennstrecke aufgebaut hat, von den anstürmenden Bullen einfach überrannt. Erst weit hinter der Ziellinie, inmit54
ten von Imbißständen kommen die Gespanne endlich zum Stehen. Daß dies nicht ohne Unfälle, gebrochene Knochen und zerborstene Verkaufstische abgeht, gehört nun mal zum Nervenkitzel dieses Rennens. Das kerapan sapi auf Madura hat eine lange Tradition. Ursprünglich waren es Pflugmannschaften, die über die Länge eines Reisfeldes ihre Kräfte maßen. Die Tiere, die wir in der Arena sehen, brauchen sich nicht mit profaner Feldarbeit abzumühen. Sie gehören zu einer, eigens für die Rennen auserwählten Zucht, deren Qualität nach Kraft, Gewicht, Ausdauer und Schnelligkeit bemessen wird. Um ihre Qualitäten noch zu steigern, greifen die Maduraner auch gern zu anderen Mitteln, denn es gilt, das Finale in der Inselhauptstadt Pamekassan zu gewinnen. Die schweren Tiere werden mit einer Mischung aus Bier, Eiern und Peperoni gedopt, ein legitimes und offenbar wirksames Mittel. – Noch nie habe ich solche behäbigen Tiere so schnell sprinten sehen. Mit diesem Erlebnis entläßt uns das Wunderland Indonesien. Es entläßt uns anders, als wir gekommen sind: reicher an Erfahrungen, aber auch ruhiger und gelassener. Kein Berufstermin vergällt uns die letzten Tage bis zur Ausreise, kein Gefühl von „das war’s dann für lange Zeit...“ vermiest uns den Weiterflug nach Singapur. Statt dessen wird uns mehr und mehr bewußt, daß wir uns noch ein Jahr treiben lassen dürfen, neugierig und gespannt auf das, was da noch so alles auf uns zukommen wird. Von Heimweh jedenfalls ist noch nichts zu spüren. Wir machen uns keine Gedanken mehr darüber, wo wir die nächsten Nächte verbringen werden, und da wir nicht an die vorgeplante Reiseroute gebunden sind, peilen wir immer häufiger Orte an, die in unserer Planung nicht vorgesehen waren. Mit dem Gefühl von Freiheit fangen wir an, uns unbeschwert treiben zu lassen, wann und wohin wir wollen, wobei allein Abenteuerlust und Neugier den Fortgang der Reise bestimmen. So entsteht einige Tage später in einem Straßenrestaurant in Singapur die spontane Idee, nach Nepal zu reisen, ein Land, das wir noch nicht kennen, das uns aber schon Jahre zuvor interessiert hat. Also machen wir uns, mit kurzen Stops in Melakka, Langkawi und Penang, auf ins schwüle Bangkok, der lebendigen und stets vom Verkehrschaos bedrohten Hauptstadt Thailands, wo wir uns Flüge und Visa für eine Reise in das Königreich Nepal besorgen. 55
NEPAL Kathmandu Kathmandu mit seinem Gewirr von Gassen und Plätzen hat etwas mittelalterlich Dörfliches an sich. Ein erster Spaziergang durch die Altstadt ist faszinierend und ohne weit aufgerissene, staunende Augen kaum zu bewältigen. Ein Strom von Menschen schiebt, zieht uns durch die schattigen Gassen, bis wir, ausgespuckt auf kleine Plätze, Atem schöpfen und dann erneut zwischen altnepalesischen Holzbauten vollkommen die Orientierung verlieren. Überall quirrlt es, staubt es. Das Scheppern von Fahrradrikschas mischt sich mit Händlerrufen. Gebimmel, Gehupe, Frauen in knallfarbenen Saris, ärmliche Bauern, Sherpas und unter riesigen Lasten gebeugte Träger. In jeder Ecke finden sich Figuren von Göttern und Dämonen, beschmierte Fratzen, golden und geschmückt mit Blüten. Blutige Altäre mit Resten von Ziegenfell zeugen vom morgendlichen Opfer zum Wohle der Götter. Daß die Götter das Leben der Hindus bis tief in das tägliche Leben bestimmen, ist überall zu sehen und zu spüren: Kinder turnen auf Skulpturen, unter den Mäulern von kupfern blitzenden Löwenköpfen stapeln Frauen ihr Obst zum Verkauf, Sherpas dösen im Schatten alter, von Taubendreck überzogener Tempeldächer. Die starren Augen Buddhas ziehen uns in den ruhigen Hof eines Tempels, dessen meditative Atmosphäre, untermalt von gemurmelten Gebeten und Taubengegurr, überrascht. Ein junger Nepali löst sich aus dem Schatten des Stupa. Barfuß und schmutzig, sieht er in seiner zerrissenen europäischen Kleidung sehr ärmlich aus. Höflich spricht er uns an, fragt nach unserem Woher und Wohin, fragt, ob er uns durch den Tempel führen kann. Er schaut vorsichtig geduckt und wir denken sofort: „Der will sich ‘ne Mark verdienen.“ 56
Wir verhalten uns distanziert, wollen uns nicht einspinnen lassen, denn Touristen, die hereinfallen, gibt es viele. Das perfekte Deutsch aber, das er spricht, überrascht uns und er erzählt, er habe mit seinen Eltern in Deutschland gelebt, in Bonn wie in Berlin. Er kenne Kreuzberg und Rudow. Sein Vater sei Botschaftsangestellter gewesen und bald nach der Rückkehr seien seine Eltern gestorben. In Deutschland aufgewachsen, sei Nepal fremd für ihn, aber ein Zurück gäbe es nicht. Krankenpfleger habe er in Deutschland gelernt und er finde hier in Kathmandu keine Stelle. Schließlich kommt die erwartete Frage nach etwas Geld und wir geben es ihm. Er hat den Vorteil, deutsch zu sprechen und eine glaubwürdige Geschichte präsentieren zu können. Andere können es nicht, kämpfen wortlos um ihre Existenz. Und Armut gibt es viel in Kathmandu: Ein Kind hockt sich auf die Tempelstufen, erledigt sein Geschäft, Durchfall, kranke Farbe. Eine Alte wischt mit Papier darüber, Sand erledigt den Rest. Abgerissene Sherpas beugen sich für Pfennige unter unvorstellbaren Lasten. Für ein paar Gummilatschen reicht es bei vielen nicht. Dreck treibt in Abwasserrinnsalen links und rechts der Straße, es stinkt, es staubt, und der Staub trägt als miese Mischung Amöbenruhr bis in die letzte Ecke. Oft halten wir die Hand vor Mund und Nase, mögen nicht atmen, aber dem Staub entrinnt man in Kathmandu nicht. Armes Kathmandu, schönes Kathmandu. Wieder tauchen wir ein in den Strom bunten Treibens, drücken uns an alte Hausfassaden, um uns vor Fahrradrikschas in Sicherheit zu bringen und können uns dann nicht mehr lösen, so gefesselt sind wir vom Anblick wunderschön geschnitzter Holzbalken, Fenster und Balkons. Fast schon überfordert durch tausenderlei Eindrücke stolpern wir wie betrunken durch Kathmandus Gassen. Es ist unmöglich, den Blick auf das holprige Pflaster zu konzentrieren. Winzig kleine Lädchen ducken sich kaum kinderhoch in den Holzfassaden. Der Händler thront im Schneidersitz zwischen hineingestopften Waren. Gegen zerfledderte Rupienscheine reicht er den Kunden das Erstandene in hundertmal gebrauchten Plastiktüten. Frauen und Kinder, aus deren schwarzem Haar feiner Goldschmuck blitzt, schauen aus den darüberliegenden Stockwerken auf das Treiben. Sie folgen gefesselt dem alltäglichen bunten Kathmandufilm, nicht ohne sich ab und zu mit dem Nachbarn auf der anderen Straßenseite zu unterhalten. 57
Irgendwann werden wir aus den dämmrigen Gassen auf den weiten Durban Square, dem Herzen Kathmandus, gespült. Hier stehen mehr als fünfzig bedeutende Tempel hinduistischer Gottheiten, prächtige Statuen und der strahlend weiß getünchte Königspalast. Wir genießen die Weite des riesigen Plateaus, bummeln in der Sonne von Bauwerk zu Bauwerk oder beobachten, auf Tempelmäuerchen sitzend, das Treiben: Nepalesen opfern dem grimmig dreinschauenden Kai Bhairav Früchte und Blumen. Unheimlich wirkt der mit Totenköpfen geschmückte und mit verquollenen Augen schauende Gott. Sein Gesicht ist gewöhnlich hinter einem Holzgitter verborgen, das nur einmal im Jahr während des Indra / Kumari Jatra Festes abgenommen wird. An der Seite des Königspalastes fällt uns die Statue des Affengottes Hanuman ins Auge, der Gott, der kriegerischen Aktionen immer zum Erfolg verhilft. Da hockt er, in einen roten Umhang gehüllt, unter einem kleinen Schirm. Sein Gesicht ist bedeckt mit einer dichten Schicht roter Paste. Seine Verehrer opfern Reiskörner, Münzen oder auch auf Papierfetzen geschriebene Bitten. Nicht weit davon fesselt uns der Jagannath-Tempel, den wir immer wieder umwandern, um die reichen Schnitzereien der Dachsparren zu bewundern. Aufreizende erotische Darstellungen sind es, die von den Erbauern vor uralten Zeiten abgebildet wurden. In einer Platzecke liegt der Kasthamandap, das „Haus aus Holz“ – kleine Schreine und Heiligtümer überall. Zwei große Löwen bewachen den Eingang. Geduldige Träger warten hier auf Kundschaft. Erdfarben gekleidet, spielen sie Karten oder dösen einfach, an Götterfiguren gelehnt, im Schatten. Daneben bieten Kleinhändler Chilli, Ingwer, Kartoffeln, Süßigkeiten, geweihtes Pulver oder Silbermünzen an, während „Gurus“ in orangefarbenen Gewändern mit Dreizack und weisem Blick sich von Touristen gern für ein paar Münzen ablichten lassen. Auf dem Durban Square sind Herr und Frau Meier im vierzehntägigen Pauschalangebot genauso vertreten wie der übriggebliebene Freak aus Goa. Die Nepalesen lassen sich nicht in ihrer Alltäglichkeit stören. Sie zeigen allgemein eine ruhige freundliche Gleichmut – eine Art, die wir immer wieder schätzen und die uns gestreßten Europäern schon längst abhanden gekommen zu sein scheint. Am sogenannten Kot, einem großen Paradeplatz seitlich des Durban Square, finden wir eine kleine Post. Der Platz ist aus jener Zeit 58
berühmt, als anläßlich des Durga Puja Festes Hunderte von Büffeln und Ziegen von Soldaten des Königs geopfert wurden. Ihnen war die Aufgabe gestellt, den Kopf der Tiere mit einem einzigen Hieb vom Leib zu trennen. Von diesem blutigen Ereignis ist freilich nichts mehr zu sehen. Statt dessen reihen sich auf hundert Meter Verkaufstische mit Touristenramsch. Die Post besteht aus einem geduckten Raum mit wackeligem Holztisch. Drei Beamte sind hier beschäftigt. Der erste zieht die Marken für unsere Postkarten aus einer alten Holzkiste, der zweite klebt sie sorgfältig mittels Paste fest, und der dritte stempelt gewichtig ab, so daß der Tisch ins Schwanken kommt. Ich überlege lange, was ich auf die Karten schreiben soll. Wie Kathmandu ist, kann man kaum beschreiben, schon gar nicht auf Postkartengröße, und so beschränke ich mich auf „Uns-geht-es-gutGrüße“ aus Kathmandu ins herbstliche Deutschland.
Kumari – die lebende Göttin Der 27. September entwickelt sich für uns in so mancher Hinsicht zu einem ereignisreichen Tag. Früh morgens radeln wir zum wenige Kilometer außerhalb Kathmandus gelegenen Stupa von Bodhnath. Einer Legende zufolge wurde dieser Stupa von der Gänsehirtin Kangma errichtet, die wegen Blumendiebstahls von Indra aus dem Himmel vertrieben wurde. Auf Erden zu Reichtum gelangt, verlangte sie vom König ein Stück Land, so groß, daß sie es mit einer Kuhhaut bedecken könne, um dort einen Tempel für Buddha Amitabha zu errichten. Der König war einverstanden. Die schlaue Kangma aber schnitt die Kuhhaut in Streifen, nähte diese zusammen und grenzte die Fläche ein, auf der heute der Buddha von Bodhnath steht. Der Stupa von Bodhnath ist der größte im Kathmandutal und wird allein von tibetischen Mönchen verehrt. Es ist der 42. Jahrestag der Besetzung Tibets durch China. Dichtgedrängt sitzen Mönche jeden Alters in ihren tiefroten Gewändern auf dem strahlendweißen Sockel des Stupa und murmeln die magische Formel „Om mani padme hum.“ Ein fast schüchterner Zettel erinnert an die brutale Unterwerfung Tibets durch die Chinesen, an 59
jenes geschichtliche Ereignis, das von der Weltöffentlichkeit weitgehend unbeachtet blieb. Tibetanerinnen sitzen im Schatten des Stupa und drehen unentwegt die Gebetsmühlen. Andere werfen sich unter den gütigen Augen Buddha Amitabas zu Boden oder berühren in Ehrfurcht ein Portrait des Dalai Lamas. Ihr Alter läßt vermuten, daß sie noch Zeuge der Ermordung Tausender Mönche und der Zerstörung Hunderter von Klöstern waren. Es scheint, als seien die im Exil Verbannten tief versunken in den Gedanken an ihre Heimat. Wir lernen Georg kennen, der als deutscher Tourist seine eigenen Erfahrungen mit chinesischer Besatzungspolitik gemacht hat. Er sei, so erzählt er uns, in China wegen des Tragens einer Plakette mit der Aufschrift „Free Tibet“ einer recht rüden Behandlung durch die chinesische Polizei ausgesetzt gewesen. Von der Straße weg habe man ihn verhaftet, für Tage ins Gefängnis gesteckt und des Landes verwiesen. – Die Chinesen lassen, wenn es um Tibet geht, nicht mit sich spaßen. Auch heute noch werden antichinesische Demonstrationen in Tibet brutal im Keim erstickt. Wir schauen auf die Gruppe von Mönchen, die stundenlang in der prallen Sonne ausharren, und wir fragen uns, warum das Leid dieser Menschen, das wir deutlich spüren, in Europa so wenig Beachtung gefunden hat. Aneinandergereihte Butterlämpchen werden entzündet. „Free Tibet“ sind die Worte, die sie bilden, so daß auch wir ihre Sehnsucht verstehen können. Dieser Tag, der uns durch die Erfahrung in Bodhnath recht nachdenklich stimmt, endet mit einem Knall. Und dabei beginnt es ganz harmlos: Mit Georg verabreden wir uns für den Abend auf dem Durban Square, um ein Schauspiel ganz besonderer Art mitzuerleben. Die Kumari, die lebende Göttin, wird in einem hölzernen Karren durch die Straßen Kathmandus gezogen. Die Kumari gilt den Hindus als Inkarnation der Parvati, der Frau Shivas. Die lebende Göttin, ein vier- bis fünfjähriges Mädchen, stammt aus Gold- und Silberschmiedefamilien, wobei verschiedene Gesichtspunkte darüber entscheiden, welches Mädchen letztendlich zur Göttin erwählt wird. Ihr Körper hat makellos zu sein und zweiunddreißig besondere Merkmale aufzuweisen. In einem gruseligen Furchtlosigkeitsritual hat sie göttliche Ruhe zu bewahren, und wenn ihr Horoskop dann noch 60
mit dem des Königs übereinstimmt, zieht sie in den Bahal ein, ein klosterähnliches Gebäude, das sie nur anläßlich verschiedener religiöser Festtage verlassen darf. Zu beneiden ist die Kumari nicht. Kaum hat sie die Pubertät erreicht, übernimmt ein anderes Mädchen ihre Rolle. Obwohl man sie reich beschenkt ins weltliche Leben entläßt, wird sie als Heiratskandidatin gemieden. Ihr sagt man nach, sie bringe Unglück und dem Ehemann einen frühen Tod. Hunderte von Menschen haben sich an diesem Tag auf dem Durban Square versammelt und harren geduldig auf den Tempelstufen aus, um einen Blick auf die Kumari werfen zu können. Stunde um Stunde verstreicht und es passiert nichts, bis endlich in der Dämmerung, ohne Vorankündigung, ein schwerer Holzwagen durch die Menge rast. Das grobe Gefährt, von Männern im Laufschritt gezogen und geschoben, ist offenbar nur schwer zu lenken. Jeder, der sich in der Bahn des holpernden Wagens befindet, versucht sich panikartig in Sicherheit zu bringen, wobei so mancher Zuschauer im allgemeinen Gedränge stürzt und droht, von den schweren Holzrädern des Kumariwagens zermalmt zu werden. Schon viele Nepali sollen bei einem derartigen Spektakel zu Tode gekommen sein. Großes Gejohle setzt ein, als der Wagen in voller Fahrt und offenbar außer Kontrolle gegen den Shiva Tempel Maju Deval rummst, bevor er wie ein Schatten in Richtung der Altstadt verschwindet. „Das war’s schon“, denken wir einigermaßen enttäuscht, hatten wir doch gehofft, bei dieser seltenen Gelegenheit, die Kumari sehen zu können, und wir wundern uns über die gut gelaunten Nepalesen, die offenbar schon ein derartiges „Blitzereignis“ als wahren Göttersegen empfinden. Also machen wir uns mit dem Strom der Menschenmassen auf, zurück nach Thamel, jener Touristengegend, in der auch wir Quartier bezogen haben. Plötzlich fahren Militärlastwagen auf, vollbesetzt mit Polizisten und Soldaten in Kampfmontur. Ihre Helme, Schilder und Knüppel erinnern uns an Kreuzberger Maientage. Ein Grund für den Aufmarsch dieser hochgerüsteten Truppe ist aber nicht zu erkennen. Wir rätseln gerade über die Vorgänge, als der Kumariwagen wie ein bissiges Tier die zur Altstadt ansteigende Straße herabrast und direkt in einen der Lastwagen kracht, um dann sogleich gespenstisch schnell wieder in den Gassen zu verschwinden. 61
Daß die Kumari, die lebende Göttin, es mit des Königs Truppen aufnimmt, kann für die Nepalesen nur Zeichen für den göttlichen Beistand einer Straßenschlacht sein. Was wir nun erleben, knüpft an den Aufstand der Bevölkerung Kathmandus gegen König Bir Birendra Shah Dev im März 1990 an. Gedrückt zu bitterer Armut, Hunger und mangelnder Lebensversorgung, forderte die Bevölkerung ein demokratisches Mitspracherecht der bis dahin unterdrückten Opposition. Der König ließ den Aufstand blutig niederschlagen, war aber gezwungen, Befugnisse abzugeben und das klassische monarchische System einzuschränken. Vielleicht ist es die Erinnerung an diese Tage, die die Stimmung der Nepali nun eskalieren läßt. Steine fliegen, Soldaten und Polizisten knüppeln wahllos in die flüchtende Menge, zu der wir plötzlich ungewollt auch gehören. Wir verdrücken uns in eine kleine Gasse, schleichen an dunklen Hauswänden entlang und versuchen, auf Umwegen unser Guesthouse zu erreichen. Aber die Götter haben es auf uns abgesehen und wollen uns nicht ohne Nervenkitzel ziehen lassen, denn an einer spärlich beleuchteten Kreuzung steht direkt vor uns, wie eine böse Erscheinung, der Kumariwagen, der aus der Nähe noch gewaltiger wirkt. Allein seine aus schweren Planken gezimmerten Räder sind fast drei Meter hoch, während sich der Aufbau bis hinauf zum zweiten Stockwerk der Häuser erhebt. Vollkommen erstarrt stehen wir vor der mächtigen Holzkarre, denn jetzt sehen wir die Göttin, grell rot gekleidet, in glitzerndem silbernem Schmuck, angestrahlt von einem unsichtbaren Licht, und es ist, als schaue sie uns mit ihren durch Kajalstift besonders hervorgehobenen geschminkten Augen direkt an. Wie hypnotisiert stehen wir vor dieser Erscheinung, gefesselt von dem Blick dieses Mädchens, inmitten einer unfaßbaren Stille, denn den herumstehenden Nepali scheint es nicht anders zu gehen. Minuten später wird die gespannte Atmosphäre jäh durch eine Polizeitruppe gebrochen, die mit dicken Knüppeln eine Bresche in die Menge schlägt. Der Wagen der Kumari setzt sich schwerfällig in Bewegung. Immer schneller werdend, ist er eine Gefahr für jeden, zermalmt oder gegen die Wand gequetscht zu werden. Zwischen knüppelnde Polizisten und Kumari geraten, wissen wir nicht wohin. Zudem hat die spärliche Straßenbeleuchtung gänzlich ihren Geist aufgegeben, so daß es uns schwerfällt, in der Dunkelheit und dem allgemei62
nen Durcheinander die Orientierung zu finden. Schemenhaft sehe ich den verdammten Wagen auf uns zurollen, sehe uns, gefangen in einer engen verstopften Gasse, schon von göttlicher Macht blutig niedergestreckt-da zieht ein Schneideruns in seinen kleinen Laden und mir ist, als erbebe der Boden, als das massige Göttergefährt mit beachtlicher Geschwindigkeit vorbeirumpelt. Im Schein von Öllampen, zwischen Tuch und besorgter Schneiderfamilie warten wir ab, bis draußen einigermaßen Ruhe eingekehrt ist, bevor wir im Strom ausgelassener Nepalimenschenmengen weiterschwimmen. Die Dunkelheit ist ideal für Diebe. Immer wieder spüre ich, wie Hände in Bruchteilen von Sekunden meine Hosentaschen abtasten. Trotz erhöhter Aufmerksamkeit wird Georg das Opfer von Taschendieben. Man hat ihm den Bauchgurt einfach abgeschnitten. Flugtikkets und Cheques sind weg. „Ärgerlich, aber nicht unersetzbar“ – Georg trägt’s mit bewundernswertem Gleichmut. Wir verziehen uns nach Thamel in irgendeine Touristenkneipe und trinken ein Bier auf das Wohl der Kumari – immerhin hat sie uns einen aufregenden Abend beschert.
Ausflüge ins Kathmandu-Tal Zu entdecken gibt es viel im Kathmandu-Tal. Wir nutzen das Fahrrad als bestmöglichstes Fortbewegungsmittel. Eine eigene Zunft von Fahrradvermietern und Reparateuren hat sich in Kathmandu entwikkelt. Vom modernen Mountainbike bis hin zum alten Drahtesel indischer Produktion ist jedes Modell zu haben. Täglich strampeln wir in alle möglichen Richtungen über brökkelige Asphaltstraßen oder glitschige Feldwege, von Sehenswürdigkeit zu Sehenswürdigkeit, von Dorf zu Dorf. Der Straßenverkehr ist nicht anders als „nepalesisch“ zu nennen. Uralte Busse, manche zurückgelassen von europäischen Indienfahrern, knattern verrostet und in jedem Fall überladen an uns vorbei und hüllen uns in blaugraue Abgasdämpfe. Rikschas, Lastwagen, Bussejedes Gefährt bahnt sich hupend, klappernd, klingelnd und dröhnend 63
seinen Weg. Dazwischen Bauern mit Ziegenherden und Eseln und manchmal ein hilflos trillernder Polizist. Nur auf Seitenwegen wird es ruhig, ja still, ist man versetzt in mittelalterliches Landleben. Der Stupa von Swayambhunath, auf einer Hügelkuppe vor Kathmandu gelegen, ist nicht zu verfehlen. In alle vier Himmelsrichtungen schauen die Augen Buddhas ins Kathmandutal und ziehen auch uns Reisende magisch an. Über dreihundert Stufen nähern wir uns dem Sockel des Stupa, unerbittlich beäugt von Buddhas Blick. Schaut er nun verächtlich böse oder buddhagemäß voller Mitleid und Erbarmen? Jeder wird wohl seine eigene Interpretation finden. Wir jedenfalls fühlen uns wie „nicht aus den Augen gelassen“, bis wir die Plattform erklommen haben. Aber das seltsame Gefühl des „Beobachtetwerdens“ löst sich angesichts des phantastischen Ausblicks auf das Tal und der eigenen religiös – mystischen Atmosphäre dieses Platzes. Inmitten kleiner Tempelchen und Buddhas ragt der mächtige Hügel und Turm des Stupa. Golden und geschmückt mit bunten Wimpeln ist er gegen den klaren blauen Himmel nicht nur schön anzuschauen, er steckt auch voller Symbolik. Der strahlendweiße „Bauch“ symbolisiert die vier Elemente – Erde, Feuer, Luft und Wasser. Seine dreizehn goldenen Ringe bilden als Stufen der Weisheit die Leiter, die ins Nirwana führt, nachgestaltet als Schirm, der auf der Spitze sitzt. Die ruhige Atmosphäre des Ortes und die Andacht der Pilger schlägt uns in den Bann. Frauen werfen sich in besten Saris vor dem Hauptschrein zu Boden. Ihre Stirn trägt die Aika, den roten Punkt aus geweihtem Zinnoberrot. Andere setzen murmelnd die Gebetsmühlen in Gang und umrunden langsam den Stupa. Von den dargebrachten Opfern profitieren die herumturnenden Affen, von denen sich so manch einer einen heiligen Schrein als Wohnung ausgeguckt hat. Ich bin eben dabei, einen Film zu wechseln, da ruft es „Hello misten…“ . Indische Touristen, die zwar im Besitz eines Films, nicht aber eines Fotoapparates sind, nutzen die Gunst des Augenblicks. Sie bitten mich darum, ihren Film in meine Kamera einzulegen und sie abzulichten. Es gilt, sechsunddreißig Aufnahmen von zwei indischen Pärchen in wechselnden Positionen zu machen. Pärchen vor Stupa, Pärchen vor Schrein, Pärchen vor Landschaft fürs Familienalbum. Die silberne Uhr und die einzige Sonnenbrille wechseln ständig den Besitzer. Ich 64
gebe mir alle Mühe, sage „cheese“ und „that’s nice“, bevor ich auf den Auslöser drücke. Die neueste Idee kommt dem einen Inder beim achtzehnten Bild. „Please natural...“, was so viel meint wie „nicht gestellt“ und uns allen, bei dem Bemühen um „natürliche“ Positionen, den Schweiß auf die Stirn treibt. Das beste Bild ist dann das dreiundzwanzigste: Die Dame im grünen Sari rutscht in Affenmist aus und hängt schreiend in den Armen ihres Mannes. Richtig sauer ist sie, obwohl das Bild mit Sicherheit „natural“ geworden ist. Wir radeln nach Patan und Bhaktapur, Städte vor den Toren Kathmandus. Patan, die „Stadt der tausend goldenen Dächer“, von der man sagt, sie sei die älteste buddhistische Stadt der Welt, wirkt ruhiger und ländlicher als Kathmandu. Auch hier gibt es einen Durban Square, gibt es Dutzende großer und kleiner Tempel. Auch hier streunen wir stundenlang durch enge Gassen. Wir sind stille Beobachter eines kleinen Tempelfestes. Festlich gekleidete Frauen sitzen in langen Reihen auf dem Boden des Tempelhofes. Jede hat Blüten, Lichter, Reis und Früchte vor sich, die eine versunken, die andere mit der Nachbarin tratschend und über all dem der Qualm von wohlriechenden Räucherstäbchen. Bhaktapur mit seinen immerhin fünfzigtausend Einwohnern erscheint uns als überdimensionales Dorf. Tatsächlich gilt Bhaktapur als „Schaufenster mittelalterlichen Lebens“. Touristen sind hier schon seltener anzutreffen, was deutlich an den Blicken der ansässigen Nepali zu spüren ist. Fast erscheint es uns, als träten wir als Voyeure einer modernen Zeit in die seit Jahrhunderten unveränderte Lebenswelt einer in sich geschlossenen Gemeinschaft. Nicht verwunderlich, daß ein deutsches Stadtsanierungsprojekt mit Skepsis, ja Unruhe betrachtet wurde. Aber es wäre ein Jammer, gingen die alten Bauten, an denen der Zahn der Zeit schon kräftig genagt hat, verloren. Sie sind Kulisse einer, wie es uns scheint, fast unwirklichen, schon vergangenen Zeit. Nicht stinkender Autolärm, sondern ruhiges nepalesisches Alltagsleben auf Plätzen, in Gassen und Höfen. Da sitzt eine Frau auf den Stufen des Rameshwar Tempels und stillt ihr Kind. Riesige Tempelwächter wachen über die Harmonie dieser Szene. Keinen Steinwurf entfernt schrubbt eine Frau nicht gerade zimperlich ihren kleinen Sohn. Eine Plastikschüssel dient als Wanne, die öffentliche Zapfstelle als frische Dusche. Während sie das Kind 65
von oben bis unten einschäumt, lacht sie über die Späße der anderen Frauen, die Waschtag haben. Überall sind Matten in der Sonne ausgebreitet, auf denen das Korn in der Sonne trocknet. Auf dem Töpfermarkt stapeln sich in endlosen Reihen Gefäße unterschiedlicher Größe. In einfachen Werkstätten hocken Nepali vor riesigen Töpferscheiben und produzieren ihre Waren. Kinder schauen einem Scherenschleifer zu, Bauern verkaufen ihre Ziegen, Sherpas bieten ihre Dienste an. Wir lassen uns faszinieren von dieser Atmosphäre, sind eingelullt von den rotbräunlich gelben Farben dieses Ortes. Wir besuchen Pashupatinath, eine Tempelanlage, in der Shiva verehrt wird. Sein Zugang bleibt uns als Ungläubigen aber verwehrt. Hier am Dhobi-Khoda Fluß befinden sich unterhalb des Tempels die Ghats, Plätze, an denen sich Hindus waschen und baden, während auf der gegenüberliegenden Seite Leichen verbrannt werden. Am Wegesrand und unter Dächern kleiner steinerner Tempelchen stehen Dutzende von Lingams, Phallussymbole, denen man Shiva zu Ehren opfert. So manche Frau erhofft sich in der Anbetung dieses Fruchtbarkeitssymbols reichen Kindersegen. Unbeirrt trödeln Kühe durch Pashupatinath. Schritt für Schritt, als wären sie sich ihrer Heiligkeit bewußt, stöbern sie in Abfallhaufen und futtern alte Plastiktüten. Gurus mit verfilzten Haaren, nackt und dünn, hocken auf den Stufen der Ghats und meditieren. Wir indes finden die Ruhe nicht. Zu bunt und interessant ist die Szenerie überall im Kathmandutal, und in dem Bedürfnis, viel davon zu sehen, gönnen wir uns keine Pause.
Den Schneebergen ans Knie Busfahrten in Nepal sind ein holpriges, zum Teil gefährliches, vor allem aber ein staubiges Unternehmen. Mit Tüchern vor Mund und Nase gepreßt rasen wir im vollbesetzten Bus nach Pokhara. Vertrauen habe ich weder zu dem höchstens achtzehnjährigen Busfahrer, der kaum über das Steuerrad hinwegschauen kann, noch zu dem Bus, der schon rein äußerlich beim TÜV durchfallen würde. Mit Entsetzen beobachte ich, wie der Fahrer das Bremspedal kräftig pumpen muß, um überhaupt eine Wirkung zu erzielen. 66
Der Blick hinunter in tiefe Schluchten ist zwar phantastisch, treibt mir aber den Schweiß auf die Stirn. Die Augen schließe ich, wenn wir an steilen Abhängen notdürftig geräumte Erdrutsche auf einspuriger Geröllbahn überwinden. Einige Nepali, nicht weniger besorgt als wir, stellen sich an die offene Tür, jederzeit bereit, im Unglücksfall aus dem Bus zu springen. Dann irgendwann ein riesiges Schlagloch, ein Knall, der Bus neigt sich deutlich nach rechts und schlittert, rutscht am Abhang entlang. Wir krallen uns in unsere Sitze und sehen uns schon zweihundert Meter tief in den reißenden Trisuli-Fluß stürzen. Mit Mühe gelingt es dem Fahrer, das angeschlagenen Gefährt zum Stehen zu bringen. Bei genauer Betrachtung stellt sich heraus, daß nicht nur die hinteren Federn gebrochen sind, sondern auch die Achse betroffen ist. Die Hinterräder stehen verdreht nach außen. „No problem“ – und weiter geht es, immer noch viel zu schnell, in das nächste Dorf. Nun ernsthaft um unsere Sicherheit besorgt, stoppen wir den nächsten Kathmandu-Pokhara-Express und bleiben prompt nochmals liegen, dieses Mal mit geplatztem Reifen. Nach gut zwölf Stunden haben wir müde, verdreckt, aber heil die Zweihundert-Kilometer-Strecke geschafft. Pokhara ist im Vergleich zu Kathmandu ein Kurort. Dörflich ruhig am Phewa See gelegen, fühlen wir uns in eine Art nepalesisches Allgäu versetzt. „Nepalesisch“ auch nur deshalb, weil uns die nahen Himalayagipfel unübersehbar an unseren wahren Aufenthaltsort erinnern. Shiba, der gute Geist unserer kleinen Unterkunft, weckt uns täglich im Morgengrauen mit unnachgiebigem Klopfen an die Zimmertür. „Good mountainview“, ruft er mit fröhlich frischer Stimme in zehnminütigem Abstand, bis wir uns aus den Betten schälen und verschlafen zerzaust auf der Dachterasse stehen. Da sind sie, die Achttausender, rot flammend im fahlen Morgenlicht, ein Panorama, das uns jeden Morgen aufs neue fasziniert – und Shiba scheint dies genau zu wissen. Immer wieder erklärt er uns die Namen der Berggipfel: Annapurna, Himalchuli, Macchapucchare, Daulagiri... Die touristische Infrastruktur macht es einfach, sich in Pokhara zu erholen und auf den bevorstehenden einwöchigen Trek in die Berge vorzubereiten. So baden wir im reichlich frischen Seewasser, unternehmen kleine Fahrradtouren in die Umgebung oder lümmeln einfach in einem der zahlreichen Restaurants und futtern genüßlich westliches Travellerfood. 67
Über eine Karte gebeugt erklärt uns Shiba den Weg. Wir werden dem sogenannten Jomsom-Trek bis zum 3400 m hoch gelegenem Poon Hill folgen. Dort wechseln wir hinüber zum Annapurna Sanctuary Trek, auf dem wir nach Pokhara zurückkehren. In der Morgendämmerung brechen wir auf, den 8000ern ans Knie. Das Dorf Suiket ist Ausgangspunkt unserer einwöchigen Tour, die angesichts der klaren Luft und der so nah wirkenden Schneeberge vielversprechend anzufangen scheint. In Suiket weist uns ein alter Nepali auf einen sich den Berghang hinaufwindenden Pfad, dem wir für Stunden folgen. Straßen gibt es jetzt keine mehr. Schmale, uralte Handelswege sind es, auf denen wir von Ort zu Ort wandern. Stufenförmig angelegt, winden sie sich die Berghänge hinauf und hinab, teils eingefaßt durch zu Mauern gestapelte Felssteine. In einem ungeheuerlichen Arbeitsaufwand müssen diese Wege im Laufe der Jahrhunderte angelegt worden sein. Hier gibt es keine Autos mehr, keine Busse oder Lastwagen, die Menschen und Waren befördern. Hier wird gelaufen, bergauf, bergab, tagelang. Während wir schon bald unter der geringen Rucksacklast stöhnen, schleppen die Nepali das Vielfache des Gewichts in Körben verpackt von Ort zu Ort. Es herrscht ein recht reger Verkehr auf diesen Straßen eigener Art. Da wird alles Erdenkliche geschleppt. Vom Heuballen über Coca Cola-Flaschen bis hin zur Zimmereinrichtung – oft barfuß, Meter für Meter die steilen Hänge hinauf. Eselkarawanen, Schafherden, Bauern und Sherpas in einer wunderschönen Postkartenlandschaft. Satte grüne Bergwiesen und Reisfelder, reißende klare Bergflüsse, Hängebrücken, fast idyllisch anmutende Bergdörfer vor dem Hintergrund der riesigen Schneegipfel und einem tiefblauen klaren Himmel. Während wir bergauf ächzen, jauchzen wir angesichts der tollen Aussicht auf den Bergkämmen und stöhnen beim Abstieg wegen zittriger Puddingbeine und schmerzender Knie. Die Schönheit der Landschaft und die Anstrengung des Weges scheinen die Menschen auf eigene Art zu verbinden. Man grüßt sich, man plaudert ein wenig, fragt nach dem Woher und Wohin, geht zusammen ein Stück des Weges und begrüßt sich überschwenglich beim Wiedersehen im nächsten Dorf. Unsere erste Nacht verbringen wir in Birethani, einer kleinen in einer Schlucht gelegenen Ortschaft. Für Pfennige mieten wir ein Zimmerchen mit Bretterwänden, überschütten uns mit kaltem Wasser in 68
Straßenszene in Kathmandu, kleine Läden und alte Holzfassade
Kathmandu, aus den oberen Stockwerken beobachtet man gern das Straßenleben 69
Neugier oder Andacht? Hahn vor einer der Götterfiguren
Überall zu spüren ist die tiefe Religiosität der Nepalesen 70
Seit der Besetzung Tibets durch China flüchten viele buddhistische Mönche nach Nepal
Bhaktapur, das „Schaufenster mittelalterlichen Lebens“ 71
Die Augen von Swayambhunath 72
dem abseits gelegenen Duschhäuschen, dessen Tür beim Öffnen aus den Angeln fällt. Und dann ist da nichts als das Rauschen eines kleinen reißendes Flusses, die einbrechende Dunkelheit, das Licht von Öllampen und das Gefühl, weit weg von der Welt zu sein. Körperlich geschafft genießen wir das auf offenem Feuer zubereitete Nepaliessen und gehen mit dem guten Gefühl schlafen, den Einstieg in unsere Tour gefunden zu haben. Schon mit dem ersten Morgenlicht deutet allgemeines Rumoren im Haus Aufbruchstimmung an. Nepali und Touristen schlürfen dampfenden Morgentee und knabbern warmes tibetanisches Brot. Weiter geht es stetig bergan durch ein herrliches Tal in die Ortschaft Hille. Hier treffen wir einen Engländer mit angeknackstem Fuß, der, angeschwollen und blaurot als Folge eines Fehltrittes, nicht gut aussieht, ihm bleibt wohl keine Wahl, als sich auf dem Rücken eines Sherpas oder Esels wieder nach Pokhara hinunterbringen zu lassen. Es wird heiß in der Mittagszeit, und skeptisch beäuge ich das Stück Arbeit, das noch vor uns liegt. Ein Berghang von etwa fünfhundert Metern erhebt sich steil vor uns auf der anderen Seite der Talsohle. Wir bestellen und trinken einen Lemontee nach dem anderen, mögen nicht die kleine Lodge verlassen, mögen nicht die paar Kilo dort hinaufschleppen. Aber irgendwann muß es dann doch sein, wenn wir den nächsten Ort vor Anbruch der Dunkelheit noch erreichen wollen. Etwa zwei Stunden benötigen wir, um uns die fünfhundert Meter hinaufzuschrauben. Zwei Minuten klettern, eine Minute absetzen. Irgendwann schalten wir ab, setzen nur noch automatisch die Füße Schritt für Schritt nach vorn. Die Nachmittagssonne leistet ihren eigenen Beitrag, uns diesen Teil der Strecke gründlich zu versauern. Die Kleidung klebt am Körper, Schweißtropfen brennen in den Augen. Zwei Stunden wirklich harte Arbeit sind es, diesen Hang hinauf nach Ulleri, einem kleinen Dorf, gerade einen Kilometer Luftlinie von unserem letzten Rastpunkt entfernt gelegen. Zwei Stunden harter Arbeit belohnt mit einem phantastischen Blick auf das achttausend Meter hohe Annapurnamassiv, das sich atemberaubend hinter der nächsten Bergkette erhebt. Hier in schon gut zweitausend Metern Höhe wird es nachts empfindlich kalt. Schnupfen haben offenbar alle Trekker, denn Schnupfen bekommt man schnell durch das Aufhitzen und Abkühlen des Körpers. Ich habe es aufgegeben, Toilettenpapier an die ständig laufende 73
Nase zu verschwenden und löse das Problem künftig wie die Nepali durch Fingerschneuzen. Im Gastraum unserer Unterkunft drängen wir uns mit zwei österreichischen Touristen und einer handvoll Träger um einen glühenden Kanonenofen. Berghüttenatmosphäre mit Gesprächen und Erzählungen bei dampfendem Tee. Irgendwann gehe ich hinaus und beobachte ein Naturschauspiel eigener Art. Blitze erleuchten die Schneegipfel in Sekunden – Wetterleuchten wie gigantische Explosionen. Starr und staunend stehe ich und schaue, und alle Mühsal ist längst vergessen. Am nächsten Morgen kommt es fast zur Katastrophe. Auf dem schmalen Pfad begegnen wir einer Karawane von Maultieren. Die sanften Tiere tragen, wie Zirkuspferde geschmückt, in einer Reihe Lasten über Stock und Stein. Unglücklicherweise beherzigen wir nicht den, wie sich gleich zeigen soll, wohlgemeinten Rat eines Bergbauern, bei solch einer Begegnung auf der Bergseite zu laufen. Ich höre einen Schrei, drehe mich um und sehe nur noch Evas Kopf am Wegesrand liegen – der Rest des Körpers hängt frei schwebend über dem tiefen Abgrund. Einzig ein paar Brennesselbüsche, an denen sie sich festgekrallt hat, retten sie vor dem tödlichen Absturz. Die Maultiere sind ins Drängeln geraten und haben Eva einfach über die Kante geschubst. Der Maultiertreiber scheint den Ernst der Lage schneller zu erkennen als ich, jedenfalls ist er sofort zur Stelle, packt einen Arm und hält sie fest. Gemeinsam gelingt es uns dann, Eva auf den Pfad zurückzuziehen. Ein Blick in die Tiefe läßt uns schaudern und mitwakkeligen Knien, brennenden Händen und Armen setzen wir unseren Weg fort, nicht ohne uns bei künftigen Tierbegegnungen fest an den Berg zu pressen. Erstaunlich ist, daß in dieser Höhe die Vegetation eher an tropisches Tiefland erinnert. Der Pfad schlängelt sich dschungelartig und stetig nach oben. Ein seltsames juckendes Gefühl an den Beinen stellt sich als Blutegelangriff heraus. Mit einer Zigarette brenne ich die Viecher vorsichtig ab. Das Blut läuft noch eine Weile die Beine hinab und färbt Socken und Schuhe Rot. Unterwegs sehen wir weißbärtige Affen, die neugierig schauen, wer dort des Weges kommt. Sie scheinen an den Nüssen und Früchten interessiert, die die wandernden Nepali Mara Ganesha mit der Bitte um eine glückliche Reise opfern. Auch wir spenden den Affen 74
ein paar Kekse und hoffen nach dem heutigen Erlebnis auf einen guten Abschluß der Reise. Nach dreitägiger Wanderung erreichen wir auf einem Paß in 3000 Metern Höhe Gorapani. Von hier aus wollen wir den Poon Hill besteigen, von dem man sagt, man habe den schönsten Blick auf den Himalaya in ganz Nepal. Schon um sechs Uhr morgens stapfen wir ohne Gepäck zum 3400 Meter hoch gelegenem Aussichtspunkt – im Nebel. Kalter nasser Nebel treibt in Fetzen um uns herum. Verschnupft und hustend warten wir darauf, daß der Wind die Wolken fortschiebt. Aber nur für Sekunden können wir durch ein Nebelloch einen Blick auf den 8167 Meter hohen Daulagiri erhaschen. Trotz versagter Aussicht beschließen wir, unsere Wanderung noch am gleichen Tag fortzusetzen. Es bleibt neblig regnerisch. Wir verlassen Gorapani in Richtung Annapurna Sanctuary Trek. Matsch und Blutegel lassen die Wanderung bis in die Ortschaft Ghandrung zu einer weniger erfreulichen Angelegenheit werden. Schweißnaß gelaufen sind wir in den kurzen Ruhepausen sofort unterkühlt. Wir wagen eine Abkürzung durch einen Nebelwald, dessen Bäume so mit Moos und Flechten verwachsen sind, daß sie uns an vergangene Märchen erinnern. Da wir für Stunden keiner Menschenseele mehr begegnen, fühlen wir uns angegruselt und verunsichert, ob wir überhaupt den richtigen Weg eingeschlagen haben. Um so erleichterter sind wir, als wir endlich in der einbrechenden Dunkelheit ein nepalesisches Gehöft erreichen, dessen Bewohner uns gastfreundlich aufnehmen und ein Zimmerchen zur Verfügung stellen. Ja, richtig glücklich sind wir, als man uns für eine sparsame Dusche einen Eimer heißes Wasser anbietet – ein in dieser Gegend außergewöhnlicher Luxus. Die Wirtin lädt uns in das nepalesische Heiligtum eines jeden Haushalts, die Küche, ein. Eva zeigt sich durch kleine Handreichungen in der Zubereitung einer einfachen Mahlzeit erkenntlich, was bei der Wirtin geradezu überschwengliche Gefühle auslöst. Eingehüllt in unsere Daunenschlafsäcke sitzen wir noch lange gemeinsam rauchend und teeschlürfend, ohne viel Worte, denn die Sprache der Fremden spricht man nicht. Zum Glück klart das Wetter am nächsten Tag auf, und phantastische Ausblicke auf Annapurna und Maccapucchare entschädigen uns für das, was uns auf dem Poon Hill versagt geblieben ist. 75
Vier Tage noch wandern wir entlang der riesigen Berge, bis wir auf den Annapurna Trail nach Pokhara zurückkehren. Wir haben keine Expedition ausgerüstet, haben keine Schneegipfel erklommen, nicht die dünne Luft der Achttausender geatmet. – Superlative wollen wir anderen überlassen. Verzaubert aber sind wir von der Landschaft aus Grün, Weiß und Blau, von der klaren Luft, die so rein ist, daß man meint, in die Unendlichkeit schauen zu können. Wir genießen die Ruhe einer Himalayalandschaft, deren Schneemassive uns fast zur Bescheidenheit zwingen. Nein, wir sind keine Gipfelstürmer, die in die Wohnung der Hindugötter vordringen müssen. Diese Landschaft aber werden wir nie vergessen, ebensowenig wie die Freundlichkeit der Nepali, die dort oben, abgeschieden von der Welt, ein hartes und armes Leben führen. Am 15. 10. verlassen wir Nepal, ganz sicher eines Tages zurückzukehren, um den Schneebergen nochmals ans Knie zu laufen. Wir fliegen zurück nach Bangkok, um von dort nach China zu reisen, neuen Eindrücken und Abenteuern entgegen.
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CHINA Kunming Die chinesische Taxifahrerin sieht gut aus – westlich moderner Kurzhaarschnitt, Sonnenbrille, dezent geschminkt, Lederhandschuhe, kurzer Rock. Ihr Chinesisch in hohen Tönen aus dem Fenster jubiliert, kann nur als Frage nach unserem Wohin gedeutet werden. Englisch ist nicht, also probiere ich es mit dem Wort „Fandian“, was soviel wie „Hotel“ bedeutet. Aber „Fandian“ ist auch nicht. Also führe ich pantomimisch den Wunsch nach Bett und schlafen vor. Endlich scheint sie zu verstehen und ab geht’s in ihrem Taxi chinesischer Produktion. Gerade aus Bangkok kommend, sind wir in Kunming, der Provinzhauptstadt Yunnans im Südwesten Chinas, gelandet. Anheimelnd ist der erste Eindruck dieser Zweimillionenstadt gerade nicht: Graue Betonplattenbauten und „sozialistische“ Plätze, gemischt mit dem unverwechselbaren Geruch schwefelhaltiger Braunkohle, erinnern frappant an die Atmosphäre vergangener DDR-Zeiten. Rar gesäte Geschäfte und nur geringer Kraftfahrzeugverkehr unterstützen diesen Eindruck. Aber es gibt den unablässigen Strom Tausender radelnder Chinesen, so wie ich es mir immer vorgestellt habe. Unsere Fahrerin indes verzieht keine Miene und setzt uns vor einem großen Gebäude ab, das sich als Hauptbahnhof herausstellt. Nicht „Bahnhof“, sondern „Hotel“ versuche ich zu vermitteln, aber unerschütterlich befördert uns die Dame hier aus ihrem Fahrzeug und macht sich aus dem Staub. Das Hotel, das wir schließlich in der Nähe des Bahnhofs finden, ist eines jener typischen Mittelklassehotels, deren äußere Architektur und innere Ausstattung eher an eine Mischung aus Kaserne und Krankenhaus erinnert. Zu den Zimmern führen ewig lange gekachelte, kalte Flure, deren einziger Schmuck blecherne Spucknäpfe sind. Die Zimmer selbst machen einen nicht gerade einladenden Eindruck. Abgewetzte rote Auslegware, zerschlissene Sessel und eine gelb angelaufene Wanne mit stetig tropfenden Armaturen. Lediglich das Bett ist frisch bezogen und macht einen sauberen Eindruck. Uns er77
staunt, daß jedes Zimmer mit einem Farbfernseher japanischen Ursprungs ausgestattet ist. Die Bediensteten der staatlich geführten Hotelbetriebe zeigen, wie wir noch oft erleben sollen, nur wenig Interesse, ihre Arbeitskraft für den Erhalt der Hotels einzusetzen. Hotels der oberen Klasse werden zwar überall in China unter Mithilfe amerikanischer Konsortien gebaut, überfordern aber in ihrer Preisklasse unser Budget bei weitem. Wir bummeln durch die Altstadt Kunmings, die von der Spitzhacke sozialistischer Bauwut weitgehend verschont geblieben ist. Vor alten Holzhäusern üben sich Bauern als Privatunternehmer, indem sie fein säuberlich gestapelte Früchte feilbieten. Hier dampfen offene Küchen, hier sitzen Chinesen in Freiluftrestaurants vor undefinierbaren aber köstlich aussehenden Gerichten. Alte Männer im blauen Maolook hocken schwatzend in Teehäusern, spielen Karten oder Majong und ziehen an riesigen Rohrpfeifen, den sogenannten Bongs. Alte Frauen auf kleinen Bambusstühlchen häkeln und stricken vor ihrer Haustür und lassen bei unserem Anblick so manche Masche fallen. Überhaupt scheint man hier, der Privatatmosphäre entwöhnt, alle möglichen Aktivitäten auf die Straße zu verlegen, obwohl es in diesen Novembertagen schon recht kalt geworden ist in Kunming. Friseure scheren ihre Opfer direkt an einer Straßenkreuzung, blinde Masseure kneten verspannte Muskeln auf einer Brücke und unter den interessierten Blicken seiner Landsleute popelt ein Ohrreiniger mit langem Stab in zugefallenen Ohrgängen. Neben Arbeiterinnen in blauem Maolook sehen wir junge Chinesinnen in kurzen schwarzen hautengen Röcken, raffiniert geschminkt und frisiert. Nicht nur die Mode ist ein Zeichen dafür, daß das Land sich nach Westen orientiert. Die Geschäfte bieten Produkte aus dem kapitalistischen Ausland an. Video, Fernseher, Radios aus Japan sind ebenso zu haben wie Schokolade und Zahncreme aus Europa. Kunming besitzt einen großen zentralen Platz, auf dem sich sonntags die Bevölkerung sammelt. Geschmückt mit roten Fahnen und unter dröhnenden Lautsprechern wird Parteiatmosphäre verbreitet. Ein Trupp Soldaten gibt sich nach kommunistischer Propagandamusik tanzend recht volksnah. Großes Interesse finden aufgestellte Plakatwände mit Fotos irgendwelcher Verbrechen, den Tätern und ihren Opfern. Dokumentiert sind Prozesse ebenso wie die Aufstellung der Kriminellen in Sportstadien zur öffentlichen Exekution. Mit Kriminel78
len geht man in China nicht gerade zimperlich um. Wir sehen ein paar Tage später einen ertappten Ladendieb bewacht von einem Polizisten. Die Arme hochgestreckt, hält er gezwungenermaßen einen Staubwedel zwischen den Händen. Blaß und zitternd steht er dort in der Öffentlichkeit – eine demütigende und schmerzhafte Prozedur. Auf der Suche nach diesem oder jenem Tempel fahren wir mit den Stadtbussen kreuz und quer durch die Stadt. Die Busse sind überfüllt, aber für den Preis von umgerechnet zwei Pfennigen unglaublich billig. Die Fahrgäste zeigen sich im Alltagsstreß nicht gerade zimperlich und so wird mancher Streit um einen Sitzplatz lauthals ausgefochten. Beeindruckt sind wir vom nahe dem Stadtpark gelegenen Yuantang Tempel mit seinen mächtigen Drachen und Buddhaskulpturen. Eine handvoll Mönche wacht darüber, daß Besucher keine Fotos vom Innenraum des Tempels machen. Riesig sind die in dem typischen Rot chinesischer Tempel gehaltenen Gebäude und Säulen. Nur wenige Chinesen opfern schüchtern ein paar Räucherstäbchen. Flüchtig schnell verbeugen sie sich, als fürchteten sie in der Ausübung ihres Glaubens ertappt zu werden. Berühmt wegen seiner fünfhundert eigentümlich und volksnah gestalteter Luoha-Figuren ist der Bambustempel. Die Mönchsfiguren aus Ton sind so lebensnah gestaltet, daß wir das Gefühl haben, uns inmitten einer sehr lebendigen Versammlung zu bewegen. Es sind lustige Figuren, die dort in der Tempelhalle stehen oder sitzen. Jede der lebensgroßen Figuren trägt ihre eigenen Charakterzüge. Offenbar waren die Schöpfer dieser Puppen besonders darauf bedacht, in den Gesichtszügen den Witz des Lebens nachzuzeichnen. Vor den Toren Kunmings liegt der Drachentorfelsen. Vorbei an Klosteranlagen und in den Fels geschlagenen buddhistisch-daoistischen Skulpturen keuchen wir den sieben Kilometer langen Weg hinauf zum Drachentor, ein Pavillon, von dem aus man einen wunderbaren Blick auf Kunming und den Dianchi See hat. Die Chinesen sind natürlich begeistert, ihren Ausflug um die Sensation von Langnasen bereichert zu sehen. Bevorzugter Sport ist, uns möglichst heimlich abzulichten, denn an Fotoapparaten mangelt es den Chinesen nicht. An besonders spektakulären Aussichtspunkten bieten geschäftstüchtige Kleinunternehmer gegen einen Mietpreis Kostüme an. Mütter in goldenen Brokatkleidern, Väter in Tarnanzügen einschließlich deutschem Schäferhund und Kinder in Ballarinaröckchen posieren mit ernster Miene fürs Familienalbum. 79
Zu entfernteren Sehenswürdigkeiten zu gelangen, wird in der Regel zu einem nervenaufreibenden Unternehmen. Niemand spricht Englisch und die von uns benannten Orte führen zu Reaktionen aller Art. Die einen gucken uns nur entgeistert an, die anderen zeigen hierhin und dorthin, und manch einer rennt einfach fort, so schnell er kann. Es ist ein netter Lehrer, der uns endlich den richtigen Bus zum „Steinwald“ zeigt. Unterwegs steigt ein Bauer mit dem typischen Lastgestell, bestehend aus zwei Eimern und Bambusstange, zu. An sich wäre dies nichts Ungewöhnliches, aber was da so über die Eimerränder schwappt, ist nichts anderes als penetrant stinkende Jauche. Während wir nach Luft schnappen, scheinen die anderen Passagiere den Gestank gar nicht zu bemerken. Der „Steinwald“ liegt einhundertzwanzig Kilometer östlich Kunmings im Kreis Lunan. Die „Bäume“ dieses dreihundert Hektar großen Waldes ragen in bizzaren Formen fünf bis dreißig Meter hoch in den Himmel. Studenten, Städter und Bauern, Chinesen aller Berufe und gesellschaftlicher Schichten schnattern durch diese Besonderheit der Natur. Einige Besucher lassen sich eingeklemmt in Mini-Karren von Ziegen durch das steinerne Wirrwarr ziehen. Geführt werden sie von bunt gekleideten Angehörigen der Sani-Minorität, die hier aufgewachsen den „Wald“ wie ihre Westentasche kennen. Wir indes verfransen uns heillos in dem unüberschauberen Labyrinth grauer Kalksteinfelsen und sind froh, den Bus zurück nach Kunming gerade noch rechtzeitig zu erreichen.
Andere Länder, andere Sitten In keinem anderen Land haben wir die Binsenwahrheit „andere Länder, andere Sitten“ in ihrem Kern so tief erlebt wie in China. Aus europäischer Sicht mögen einige chinesische Gewohnheiten befremdlich erscheinen, aber gerade sie lassen das Reisen in diesem Land zu einem Vergnügen eigener Art werden. Einen Schlüssel für unser Hotelzimmer bekommen wir nicht. Chinesinnen, die Tag und Nacht über die Flure wachen, schließen den Hotelgästen die Tür auf, die zwar von innen mittels Druckknopf verrie80
gelt, aber von außen jederzeit mit dem Schlüssel geöffnet werden kann. Und geöffnet wird sie zu den unmöglichsten Zeiten, eine Sitte, die mich so manches Mal auf die Palme bringt. In erster Vorkontrolle klopft es morgens um sechs Uhr, wobei Klopfen und das Öffnen der Tür ein Vorgang ist. Da steht sie, die Chinesin, mit Mundschutz vor dem Bett und guckt erst mal, was die Europäer da wohl so machen, und wenn sie sich ausgeguckt hat, schleppt sie klappernd die allgegenwärtige Thermoskanne heißen Wassers nach draußen, nicht ohne die Tür geräuschvoll hinter sich zuzudonnem. Kaum eingedöst wiederholt sich der Vorgang. OP-mundschutzbewehrte Putzkolonnen erledigen ihre sozialistisch aufgeteilten Aufgaben im viertelstündlichen Takt. Alles Zetern meinerseits stößt auf taube Ohren, und so müssen wir uns in den nächsten Wochen daran gewöhnen, beim ersten Augenaufschlag rüde Trupps durch unser Hotelzimmer wuseln zu sehen. Restaurantbesuche sind für uns anfänglich mit kleinen Problemen verbunden. Die Auswahl an Gerichten ist unermeßlich, eine gezielte Bestellung à la carte aber scheitert an den „Hieroglyphen“ chinesischer Schriftzeichen. So bleibt uns nur die Bestellung per Fingerzeichen, indem wir die riesigen Restauranttische umrunden und auf dieses oder jenes Mahl deuten. Akzeptable Gerichte lassen wir uns vom Personal auf einen Zettel schreiben, wobei das Zeichen für Schweinefleisch das von uns am meisten genutzte ist. – Schwein verstehen die Chinesen in allen Regionen köstlich zuzubereiten. Ein Restaurantbesuch in China gestaltet sich zu einem unvergeßlichen Erlebnis: Ganze Sippen nehmen auf Höckerchen um den großen runden Holztisch Platz. Einleitend spült jeder sein Eßgeschirr mit heißem Wasser oder Tee und schüttet die Flüssigkeit in hohem Bogen aus der offenen Tür, wobei so mancher unbeteiligte Passant akut gefährdet ist. Man schnappt dann mit seinen Stäbchen nach jenen Köstlichkeiten, die in einer unübersehbaren Zahl von Schälchen auf dem Tisch ausgebreitet sind. In einer unglaublichen Geschwindigkeit werden Gemüse und Fleisch, getunkt in Soße, zwischen die Zähne geschoben. Reis, als eigentliche Beilage jeden Gerichtes verstanden, wird regelrecht hinterhergeschaufelt. Unüberhörbar schmatzend schlemmt sich die ganze Crew wortlos durch das Mahl und verschwindet in ihrem eigenen Abfall. Essensreste, Gräten, Knochen, Papier, alles wandert direkt auf den Tisch oder den Fußboden. 81
Keiner ziert sich, einen oder mehrere Finger weit in die Mundhöhle zu schieben und die Teile zu entfernen, die in Zahnlücken hängengeblieben sind. Verschnupfte Nasen werden per Fingermethode und einer leichten Seitenbewegung des Kopfes freigeschneutzt und etwaig Hängengebliebenes am Tischtuch abgewischt. Setzt dann das allgemeine Rülpsen ein, ist die Tafel aufgehoben. Kaum aus der Tür getreten, werden die Reste überflüssigen Schleims unüberhörbar aus den tiefsten Tiefen chinesischen Innenlebens gezogen und auf die Straße gespuckt. Zurück bleibt ein wahres Schlachtfeld, das kaum geräumt von der nächsten hungrigen Truppe auf gleiche Weise „eingesaut“ wird. Wir unsererseits wünschen uns erstmals eine Videokamera herbei, um die Tischmanieren zu dokumentieren, die uns zu Hause mit Sicherheit keiner glauben wird. Eines muß man den Chinesen dennoch lassen, ihre Eßkultur scheint uns alles in allem sozialer als die unsere. Während in Europa das Stochern auf des Nachbars Teller als unfein gilt, essen die Chinesen grundsätzlich aus allen gemeinsam bestellten Schälchen. Über die Bezahlung der Gesamtrechnung gibt es hier keine Diskussion. Es bezahlt der, der gerade „flüssig“ ist. Während in unseren Landen Rülpsen und Spucken sich nicht geziemt, verbindet der Chinese mit diesen Tätigkeiten ein selbstverständliches Sichentledigen von Krankheiten und bösen Dämonen. Und ob es feiner ist, bei Tisch ins Taschentuch zu schneuzen und dieses dann feucht gebraucht in die Hosentasche zu stopfen – na ja, auch darüber kann man unterschiedlicher Meinung sein. Und was geschieht, wenn einem „die Natur“ kommt?“ „Eva“, sage ich, „ich muß mal dringend aufs Klo.“ Aber wohin? Auf Englisch nach dem Örtchen zu fragen, ist sinnlos, also bleibt nur die Verständigung mittels Körpersprache. Pantomimisch führe ich der Kellnerin meine Not vor, die sie sofort begreift. Ohne Zeichen peinlicher Berührtheit führt sie mich auf die Straße und deutet unbestimmt in eine Richtung. „Was“, denke ich, „auf die Straße soll ich machen?“ Nein, das wäre mir dann doch zu peinlich. Aber irgendwo muß doch das Örtchen sein. Nach gut einem halben Kilometer rieche ich es schon von weitem. Was mich erwartet, ist ein großer ebenerdiger dämmriger Raum, die öffentliche Toilette eben, die dermaßen stinkt, daß man noch Stunden nach einem Besuch den penetranten Geruch nicht aus der Nase bekommt. 82
Toiletten sind rar in China und ein Gang dorthin keine private Angelegenheit. Eingelassen in den Boden sind Dutzende von Löchern, über denen so mancher Hintern schwebt. Trennwände gibt es nicht. Gemeinsam erledigt man mit aller Hingebung und sehr geräuschvoll sein Geschäft. Zwar lerne ich schnell, mich möglichst flach atmend einzureihen, aber an das allgemeine Interesse der Chinesen an meinem weißen Europäerhintern werde ich mich bis zum Schluß unseres Aufenthaltes nicht gewöhnen können. Ja, es gibt Fälle, in denen ganz Neugierige sich vor mich hinhocken und unmißverständlich auszumachen suchen, ob das, was ich da hinter mir lasse, auch das ist, was ein Einheimischer produziert. Ist das Geschäft erledigt, wird einfach die Hose hochgezogen. Papier und Wasser gibt es nicht. Meine Verwendung von Toilettenpapier verfolgt man mit großem Staunen und wird vielleicht so manchen Nachahmer finden. Ich jedenfalls meide diese Toiletten, so oft es nur geht. Allein das Fahrradfahren bekommt in China für uns eine ganz neue Dimension. Welch ein Vergnügen ist es, mit den Massen durch die Straßen zu radeln. Und jeder radelt: der Bauer, der Städter, der Soldat, Handwerker, Jung und Alt, ob zur Arbeit oder zum Vergnügen. Es gibt Fahrräder, die zum Lastwagen oder zum Straßenkreuzer ausgebaut sind. Hochgestapelte Kisten, herabbaumelnde Gänsetrauben, Hausstände und Kohlehaufen – alles wird mit dem Fahrrad transportiert, und so mancher Familienvater strampelt seine Schützlinge auf Sightseeingtour durch die Straßen. Man rast nicht, keiner rast, man trödelt, ja man schleicht so sehr, daß ich denke, dieser oder jener müsse gleich umfallen. Ein zehngängiger Mountainbikeraser aus Deutschland hätte in diesem allgemeinen Zeitlupenstrom keine Chance oder würde ein furchtbares Verkehrschaos anrichten. Bei aller Gemächlichkeit rummst es dann doch immer wieder, was nicht selten zu Volksaufläufen und handgreiflichen Aktionen führt. Ein Fahrradunfall auf Chinas Straßen ist etwa gleichzusetzen mit einem Autounfall in unseren Landen. Blechschäden, krumme Speichen oder abgerissene Teile können die sonst so scheinbar emotionslosen Chinesen direkt in Rage bringen. Ein gerade angeschrappter und umgefallener Verkehrsteilnehmer steht mitten im Kreisverkehr. Außer sich schüttelt er die Fäuste, 83
stampft mit den Füßen und brüllt hinter dem Unfallgegner her, der mächtig in die Pedale tretend Fahrerflucht begeht. Der Gehörnte läßt die Wut am eigenen Fahrrad aus, tritt dagegen, ja stemmt es sogar hoch, um es auf das Pflaster zu schmettern, daß es kracht. Die Szene ist derart tragisch-komisch, daß wir uns das Lachen nicht verkneifen können. Über einem neuen Hochhaus prunkt das VW-Embleme. Was wäre, wenn...? Das ruhige fahrradklingelnde Kunming würde in einer stinkenden und lärmenden Blechlawine versinken. Unsere Gänge durch die Stadt werden von den Passanten aufmerksam verfolgt. Während die einen uns verstohlen mustern, scheuen sich die anderen nicht, dies in engem Kontakt mit uns zu tun. Bushaltestellen bieten den Chinesen die Gelegenheit, die fremden Wesen aus westlichen Landen genaustens zu studieren. Mit ernster Miene und unverhohlener Neugier wandert ihr Blick vom Scheitel bis zur Sohle – Zentimeter für Zentimeter und dann wieder zurück. Faxen meinerseits führen zu keinerlei Reaktion. Mütter deuten mit Fingern auf uns, haben ihre Kinder doch noch nie eine „Langnase“ gesehen, und so mancher Fahrradfahrer droht zu stürzen, weil er seine Augen nicht von uns abwenden kann. Auch an dieses unverhohlen gezeigte Interesse müssen wir uns erst einmal gewöhnen. So ist die erste Woche unseres Wartens auf einen Flug nach Xishuangbanna angefüllt mit vollkommen neuen Erfahrungen. So manches Mal haben wir Tränen gelacht, aber auch oft geflucht, wenn wir an Grenzen der Verständigung gestoßen sind. Allein die Organisation des Flugtickets wird zu einem Verständigungsirrsinn bei wechselnden Personen. Aber letztendlich klappt es doch, und so fliegen wir Anfang November nach Xishuangbanna, ins tropische China.
Xishuangbanna – Land der Blumendais Yu hält uns stolz und aufgeregt einen Überweisungsschein aus Deutschland unter die Nase. In gebrochenem Englisch bittet er uns, mit nach Jinghong zur Post zu fahren, ihm zu helfen, dort Geld abzuholen. 84
Yu ist einer jener orangefarben gekleideten Mönche, die uns überall in Xishuangbanna begegnen. Mit einer deutlichen Alkoholfahne vollführt er regelrechte Luftsprünge, als er hört, wieviel Yuan er, zumindest auf dem Papier, in Händen hält. Allein ist Yu nicht. Ein Trupp Bauern aus dem Dorf Menghan, alle ein wenig angeschikkert, begleitet ihn per Fahrrad. Natürlich wollen wir ihm helfen und ab geht es – Mönch, Bauern und Touristen – die Hauptstraße entlang hinein nach Jinghong zur Post. Yu ist wohl der lebenslustigste Mönch, den ich kennengelernt habe. Jauchzend sitzt er auf dem Gepäckträger eines der Bauernräder und reißt einen Witz nach dem anderen, bis die ganze Truppe nach einstündiger vergnügter Fahrt gröhlend in den Schalterraum der Post eindringt, nicht ohne einiges Aufsehen zu erregen. Wir unterstützen Yu in seiner Geldforderung eher als Statisten. Dem Beamten ist deutlich anzumerken, daß er noch nie eine Postanweisung in Händen gehalten hat und schon gar keine, die aus Deutschland stammt. Geld jedenfalls gibt es keins, genausowenig wie in der anschließend besuchten Bank. Wir sind uns sicher, daß die von einem Deutschen überwiesene Spende irgendwo zwischen Peking und Jinghong hängengeblieben ist, denn Jinghong ist weit. Die kleine Stadt liegt im Süden der Provinz Yunnan, im Grenzgebiet zu Burma und Laos. Xishuangbanna ist der klangvolle Name des Kreises, der als Heimat der Dais, Yao, Lahu, Yi, Bulang, Lishu, Aini und anderer Minoritätenvölker gilt. Fast alle diese Stämme haben in den vergangenen Jahrhunderten den südostasiatischen Raum besiedelt – daß die Thais ursprünglich aus Xishuangbanna stammen, dürfte unbestritten sein. So ist in der traditionellen Pfahlbauweise der Thais und Dai kein wesentlicher Unterschied zu finden. Yu indes interessiert weniger die Geschichte, als die Ablehnung seines Cheques durch die volkschinesischen Beamten. Grund genug für ihn, sich lautstark über die Sturheit gewisser Chinesen zu äußern, aber einen Abbruch seiner Reisweinstimmung tut dies nicht. Ein Cheque aus Deutschland ist in jedem Fall ein Grund zum Feiern. Also lädt er uns ein in sein Kloster nach Menghan, wo wir noch lange auf wurmstichigen Holzbänken plaudern. Wir erfahren, daß seine Eltern 1967 im Zuge der Kulturrevolution nach Thailand flüchteten. Nach dem Willen des Vaters wurde er dort in buddhistischen Klöstern erzogen, bevor er erst vor vier Jahren die Erlaubnis erhielt, in sein Heimatdorf Menghan zurückzukehren. Natürlich ist er glücklich, 85
durch die Liberalisierung der Religionsausübung in China am Wiederaufbau religiösen Lebens mithelfen zu dürfen. Tatsächlich ist es kaum zu übersehen, daß es an Mönchsnachwuchs nicht mangelt. Während wir uns angeregt unterhalten, ist eine johlende Gruppe halbwüchsiger Mönche dabei, einem Ball nachzujagen. Andere basteln fachmännisch an einem Fahrrad, während die jüngsten tief in einem Murmelspiel versunken sind. Nachdem wir uns an Wein und Kuchen gestärkt haben, zeigt uns Yu sein Kloster. Die Gebäude sind vornehmlich aus Tropenholz errichtet. Auch wenn der Zahn der Zeit so manchen Spalt in Dach und Wände gefressen hat, machen die alten Gebäude einen recht stabilen Eindruck. Wunderbare in das Holz geschnitzte Ornamente, feste Säulen und bunt bemalte Buddhafiguren geben dem Tempel trotz seiner architektonischen Einfachheit in Material und Aufbau die Atmosphäre religiöser Intimität. In allen Orten Xishuangbannas herrscht religiöse Aufbruchstimmung. Mönche rekonstruieren an den aus Lehm bestehenden Grundmauern Malereien mit Motiven aus Buddhas Leben. Tempeldächer werden repariert, Figuren geschnitzt, und so mancher Daibauer pinselt in seiner Freizeit an Pagoden und Drachenfiguren. Am späten Nachmittag versammeln sich Dorfbewohner zum Gottesdienst. Sie lassen sich auf Bambusmatten nieder, die Beine nach hinten gewinkelt, so wie es in allen buddhistischen Klöstern der Welt Sitte ist. Man deutet uns an, neben ihnen Platz zu nehmen und dem jungen Mönch zu lauschen, der aus buddhistischen Schriften liest. Es sind auf Bambusstreifen geritzte Gebetsformeln, versteckt und aufbewahrt für bessere Zeiten, die offenbar für die Buddhisten Xishuangbannas angebrochen sind. Die Bauern lächeln uns zu, und eine alte Dai zeigt Eva erst einmal, wie hier gebetet wird. Es herrscht eine familiäre Atmosphäre von Freundlichkeit, Gemütlichkeit und Schläfrigkeit. Yu schnarcht leise am Rand des Geschehens, was niemanden zu stören scheint. Bei all der Freude über die großzügige Spende aus Deutschland, die ihn hoffentlich eines Tages noch erreichen wird, hat er wohl doch zu tief ins Glas geschaut. Der klangvolle Name Xishuangbanna hat eine recht profane Bedeutung, meint er doch in der Daisprache soviel wie „zwölf Verwaltungseinheiten“. So farblos platt der Name auch erscheinen mag, die Natur Xishuangbannas ist es nicht. 86
Auf unseren Radtouren bietet sich eine immergrüne tropische Landschaft, weite Ebenen grüngelber Reisfelder, von Hügeln umrahmte Täler, in denen exotische Früchte wie Mangos, Kiwis und Papayas gedeihen. Die ausgedehnten Urwälder sollen noch heute Heimat wilder Tiere sein, die in anderen Gebieten nur noch selten zu finden sind: Elefanten, Leoparden, Malaienbären, Tiger, Nashornvögel und natürlich eine Unmenge Affen. Radelt man durch Xishuangbanna, hat man unweigerlich das Gefühl, durch ein Paradies zu fahren. Aber es ist nicht nur die Landschaft, die uns dieses Gefühl gibt, sondern es sind auch die Menschen, die dazu beitragen. Besonders die Kinder scheinen unbeschwert glücklich in diesem Teil Chinas zu leben. Die Dai-Frauen präsentieren sich zierlich hochgewachsen und schön. Nicht bäuerlich plump gehen sie zum Markt oder zur Feldarbeit, nein, sie schreiten in langen bunten Kleidern einher, als gingen sie zu einem besonderen Fest. Ihre weiten weichen Strohhüte und ihr sorgfältig aufgestecktes schwarzes Haar sind geschmückt mit Orchideen, denn nicht umsonst werden sie „Blumendais“ genannt. Ihre traditionellen Dörfer sind hineingestreut in die Landschaft, und traditionell leben die Dais in bäuerlich sozialer Gemeinschaft. Überall sehen wir ganze Familien bei der Feldarbeit, Jung und Alt schneiden und dreschen den Reis, werfen die Spreu in den Wind oder bereiten die gefluteten Felder für eine neuerliche Aussaat. Welch ein Bild, die Dais zu sehen, die am Abend Hunderte von Enten die Landstraße entlangtreiben. Mit meterlangen Stangen helfen sie der Führungsente, die Richtung zu halten. Eine trippelnde, schnatternde Kolonne auf dem Weg nach Hause. Welch ein Bild, die Jungen zu sehen, die, auf Büffeln reitend, ihrem Dorf zustreben, gehänselt von so manchem Mädchen, das, herausgeputzt wie die Mutter, Wasser vom Brunnen trägt. Und wie bunte Tupfer in der grünen Tropenlandschaft die kleinen orangefarben gekleideten, kahlrasierten Mönchsjungen, Arm in Arm oder jauchzend bei Fahrradwettfahrten.
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Dschungelstriptease, Disco und Pagoden Jinghong, eine fast typische chinesische Kleinstadt mit grauen Bauten und vornehmlich volkschinesischer Bevölkerung, mag gar nicht so recht in diese Landschaft passen. Das Banna-Hotel ist Anlaufpunkt der chinesischen Reisegruppen, die durch dieses wunderbare Land wie durch ein Freilichtmuseum geschleust werden. Tagestouren werden auf einer Tafel in chinesischen Schriftzeichen angezeigt und mündliche Informationen nur spärlich gegeben. Dennoch gelingt es uns, uns einer kleinen Gruppe anzuschließen, deren Ziel ein im Urwald gelegener Wasserfall ist. Frühmorgens starten wir mit sechs sehr distanzierten Volkschinesen im Minibus. Ein junger Dai soll uns zu besagtem Wasserfall führen. „Dschungeltour, kein Problem, das kennen wir.“ Ab geht’s mit den schon etwas betagten Touristen in den Busch. Nach zwei Stunden schweißtreibender Arbeit durch das Gehölz erreichen wir einen Fluß, der wild reißend durch den Dschungel stürzt. Die einzige Möglichkeit, dieses Hindernis zu überwinden, ist ein ewig langer wackeliger Baumstamm, bei dessen Anblick wir glatt das Grausen kriegen. Bei einem Sturz von dieser „Brücke“ würden wir unweigerlich fortgezogen. „Na gut“, denken wir, „hier ist unsere Tour zu Ende.“ Aber weit gefehlt, der Professor aus Shanghai und die Lehrerin aus Kanton testen bereits den Stamm. Professor Junior sucht eine Furt durch das Wasser. Der Dai indes schwebt unglaublich sicher an das andere Ufer. Mehr oder weniger wackelig tun es ihm unsere Ausflugschinesen gleich. Nur wir deuten an, daß für uns hier die Tour zu Ende ist, denn selbst kriechend würde Eva sich nicht über die rutschige Brücke wagen. Aber da kennen wir die Chinesen schlecht – wir sind ‘ne Gruppe und wir bleiben ‘ne Gruppe. Bisher noch ziemlich schweigsam, ruft man uns Ermutigendes zu. Man spannt eine Liane, die zumindest als psychologisches Geländer eine Hilfe ist. So ausgetrickst gelingt schließlich auch uns unter anfeuernden Rufen das scheinbar Unmögliche. Weiter geht es auf allen Vieren durch das Gehölz einen matschigen Hang hinauf. Auf der anderen Seite des Dschungelhügels dann wieder dieser Fluß, breit und reißend mit hineingestreuten Felsbrok88
ken. „Na“, denken wir, „jetzt ist aber wirklich Schluß“, und beobachten, wie sich unsere Begleiter mühen, eine Furt durch das Wildwasser auszumachen. Eine Stunde dauert es, bis der geeignete Punkt in dem tosenden Naß gefunden scheint. Wir sind ‘ne Gruppe, wir bleiben ‘ne Gruppe und müssen mit. Die wichtigsten Utensilien binden wir uns in Plastiktüten verstaut um den Hals und steigen bis auf die Unterhose entkleidet in die reißenden Fluten. Anfangs wird unser Dschungelstriptease noch mit Skepsis beobachtet, aber die Lehrerin aus Kanton tut es uns verschämt forsch nach, und da wir nun mal ‘ne Gruppe sind, fallen auch bei den anderen die Hüllen. Hand an Hand ziehen wir uns von Fels zu Fels durch das Getöse ans andere Ufer. Nach weiterem Stundenmarsch erreichen wir dann den Wasserfall, der wahrlich gigantisch ist, und beim Anblick des Regenbogens über der sprühenden Gischt meinen wir, daß sich der Aufwand gelohnt hat. Zurück im Dorf sind unsere, zunächst so distanzierten Begleiter rührend um uns bemüht. Jeder schiebt uns lächelnd Köstlichkeiten zu. Nach und nach versuchen sie sich sogar in englischer Konversation. Englisch, so bekennen sie verschämt, hätten sie aus Fernsehprogrammen gelernt. Das kleine Dschungelabenteuer hat Vertrauen geschaffen, und es wird, wenn auch vorsichtig, politische Kritik geübt. Reisefreiheit, Demokratie und Luxus wünschen sich alle im eigenen Land, und man zeigt sich optimistisch: Eines Tages wird auch er ein eigenes Auto fahren, sagt der Professor aus Shanghai, und die Lehrerin aus Kanton ist sich sicher, noch in diesem Leben Hongkong zu sehen. Zum sonntäglichen Markt nach Mengzhe starten wir bereits um sechs Uhr morgens. Die Gemeinschaftstoilette im Hotel ist verstopft, eine Ratte rennt mir über die Füße und es regnet Bindfäden – kein guter Tagesanfang, wie mir scheint. Unsere Lehrerin aus Kanton und der Professor aus Shanghai begrüßen uns mit einem fröhlichen „good morning“, stolz auf zwei Plätze weisend, die sie uns im Minibus freigehalten haben. „Wegen der langen Beine“, wie sie liebenswert erklären. Über eine Schlammpiste erreichen wir den Minoritätenmarkt. Die Angehörigen umliegender Tribes in ihren farbenprächtigen Trachten trotzen, unter Plastikplanen verborgen, dem Regen. Durch knöcheltiefen Schlamm waten wir durch das Marktgeschehen, weniger an den zum Verkauf gebotenen Feldprodukten interessiert als an ein 89
paar Schnappschüssen. Die Hani-Frauen in ihren bunten mit Silbermünzen bestickten Käppchen reißen so manchen Witz über unsere Bemühungen, im Regen doch noch das eine oder andere gute Bild zu knipsen. Als eine riesige Sau mich dann in wilder Flucht vor irgendwem umrennt und ich samt Fotoapparat im Schlamm verschwinde, ist die Begeisterung allgemein. Angetan sind wir von dem „weißen Stupa des Fliegenden Drachen“ in Damelong. Er zählt zu den schönsten Tempeln des dai-buddhistischen Raums und ist Buddha Shakyamuni geweiht. Sein goldfarbener Fersenabdruck ist am Fundament der Pagode zu bewundern. Auch hier herrscht religiöse Aufbruchstimmung. Bauern in ihren typischen Strohhüten sind dabei, der Pagode mit bunter Farbe einen neuen Anstrich zu geben. Eine europäische Touristin, die wir hier treffen, betritt mit Schuhen das Tempelgebäude. Sie sei zu faul, jedesmal ihre Schnürsenkel aufzudröseln, ist ihre Bemerkung zum Verstoß gegen die allgemeine Regel, buddhistische Heiligtümer nur barfuß zu betreten. Als sie dann noch verbotenerweise mit spleenigen Sprüchen einem Novizen über den Stoppelkopf streichelt und der Ärmste erblaßt die Flucht ergreift, sind wir über dieses unsensible Verhalten genauso entsetzt wie die beistehenden Einheimischen. Zum Glück hat der Regen nachgelassen, so daß wir wenigstens in Damelong den Markt trockenen Fußes erleben können. Drei Mönche scheuen sich nicht, ihrem sonntäglichen Vergnügen nachzugehen. Sie versuchen, an einem provisorisch eingerichteten Schießstand Luftballons mit der Flinte zu erledigen. Mit zusammengekniffenen Augen, konzentriert über das Gewehr gebeugt, fehlt im Mundwinkel auch die Zigarette nicht. Bauernjungen hingegen vertreiben sich die Zeit mit Billardspielen. Wie überall in China sind die Tische im Freien aufgestellt. Rentner haben die Aufgabe übernommen, abzukassieren und die Kugeln neu aufzubauen. Daß die Filzbeläge vor jedem Spiel mit einer Drahtbürste behandelt werden, läßt auch mir die Haare zu Berge stehen. An einem Stand locken weißbekittelte „Doktoren“ Kundschaft mit gruseligen Abbildungen der übelsten Krankheiten. Unter jedem Gruselfoto steht ein Schälchen mit Kräutern, die offenbar als Naturmedizin Verwendung finden können. Unser Professor äußert sich abfällig über diese „Mediziner“. Verkleidete Scharlatane seien dies, so meint er, die ihr Geschäft mit der Gutgläubigkeit der Bauern machen. 90
Ein Wochenendvergnügen ganz eigener Art dürfen wir dann am Abend genießen. Am Rande Jinghongs hat man eine Art Freilichtdisco eingerichtet. Verteilt zwischen Bäumen und Rasen finden sich in einem Park bunt beleuchtete Tanzflächen, die sich nach und nach füllen. Einleitend zeigt eine Hani-Frau in bunter Tracht und Silbermütze den Besuchern, was ein Hanitanz ist. Animiert und vergnügt hüpfen bald chinesische Touristen aus allen Teilen der Volksrepublik mit Bambusrohren herum. Andere üben sich mit konzentrierter Miene im traditionellen „Bambustanz“, wobei die Kunst darin besteht, die Füße möglichst so schnell zu heben, daß sie nicht im Rhythmus zweier am Boden gegeneinandergeschlagener Bambusstangen eingeklemmt werden. Auf einem anderen Platz spielen alte Männer mit Zupfinstrumenten auf. Im Rhythmus einer einfachen Tonfolge „schlappen“ sie um einen Baum herum. Der Kreis der Tanzenden wird immer größer. Vom Parkwächter mit riesiger Taschenlampe und Gummistiefeln bis hin zum uniformierten Polizisten, vom beschlipsten Touristen aus Peking bis hin zum rockerähnlichen Halbwüchsigen, vom traditionell gekleideten Hani-Mädchen bis hin zum modernen Girl in hautengen Jeans. Alle tanzen sie vergnügt und ausgelassen um den Baum herum. Man nickt uns zu, man lacht uns an und fordert uns auf, es ihnen gleichzutun. Also bereichem wir als einzige Europäer den bunten Reigen, und es ist, als habe man der ausgelassenen Gesellschaft ein besonderes Geschenk bereitet. Offenbar muß sich hier niemand betrinken, um glücklich zu sein.
Chengdu Chengdu, die Hauptstadt der Provinz Sichuan, erleben wir für Tage nur als Novemberloch, was für diese Gegend normal ist, soll doch hier im feuchten Klima die Sonne lediglich tausend Stunden im Jahr scheinen. Und es ist kalt, zu kalt für uns nach der tropischen Wärme Xishuangbannas. Auf der Suche nach Sehenswürdigkeiten schleichen wir mit eingezogenen Schultern und kalten Füßen durch die Viermillionenstadt. Das Marqui Wu-Haus in der Tempelanlage, wie man sie heute sehen kann, wurde 1672 in der Regierungsperiode Kangxi der Quing91
Dynastie wieder aufgebaut. Es dient dem Andenken Zhuge Liangs, dem Kanzler von Shu und Herzog von Wuxuang. Daß die Anlage alt ist, ist schon an dem Muff des Holzes zu erkennen, daß die Anlage schön ist, können wir zumindest erahnen. Bei Sonnenschein muß es herrlich sein, zwischen geschwungenen chinesischen Tempelbauten und Pavillons umherzuwandern oder am phantastisch gestalteten Lotosteich von alten Kaiserzeiten zu träumen. Uns aber bietet sich das Ganze in grauen Nebelfarben. Nur die vierzig Skulpturen aus der Shubzw. Hanzeit lassen uns für Momente die kalten Füße vergessen. Auf dem Weg zum Wen-Shu-Kloster kommen wir durch Wohnstraßen der Altstadt, in der, wie es uns scheint, noch echte chinesische Originale leben. Meist alte Leute hocken in Maoblau vor ihren gedrungenen Häuschen mit einer Lieblingstätigkeit der Chinesen, dem Essen, beschäftigt. Während sie nach vorn gebeugt aus dampfenden Eßschälchen lange Nudeln schlürfen, lassen sie das vorbeiziehende Leben nicht einen Moment aus den Augen. Die Türen zu ihren Wohnstuben stehen offen und geben den Blick frei auf kleine Zimmerchen. Ebenerdig mit Betonboden und nichts anderem als einem Bett, Tisch und Stuhl als Inventar sehen sie recht ärmlich aus. Spätestens nach zwei Tagen wäre ich unter solchen Verhältnissen eingefroren. Erkältung und Rheuma würden mich plagen, denn geheizt wird nicht. Gegen die Kälte hilft da nur eine fünffache Kleiderschicht, die die Menschen offenbar auch hier unter ihren blauen Kitteln tragen. Die Kinder begegnen uns ohne Angst, und mit Stolz lächeln die Eltern, wenn wir ihren Kleinen unsere Aufmerksamkeit schenken. Ohne die Konkurrenz eines Schwesterchens oder Brüderchens genießen sie besondere Privilegien, denn Einzelkinder sind sie alle durch die verordnete Politik der Einkindehe. So mancher Yuan wird von den verwöhnten Kleinen an einem fahrbaren Stand in Lose umgesetzt. Als Gewinn gibt es was zu naschen: Phantasiefiguren, gegossen und mit einem Spatel gestaltet, hauchdünn, ein Kunstwerk – Drachen, Vögel und Blumen aus einer Art flüssigem Karamel. Das Kloster Wen-Shu, das 1691 ebenfalls in der Quing-Dynastie neu aufgebaut wurde, umfaßt als riesige Anlage mehrere Innenhöfe, ausgestaltet in den typischen roten Farben chinesischer Tempelanlagen und den geschwungenen Formen der Dächer. Schwaden kokelnder Räucherstäbchen durchziehen die Höfe, und ausgestellte Bilder 92
gut besuchter Zeremonien zeugen davon, daß das Kloster nicht ohne Leben ist. Jedes Gebäude enthält eine Anzahl buddhistischer Bronzefiguren. Über hundert sollen es insgesamt sein. Aus riesigen dampfenden Kesseln bieten grauberockte Mönche heißen Tee an, den die Besucher im Freien schlürfen. Wir indes ziehen es vor, in Bewegung zu bleiben. Leuchtende Frühlingsblumen ziehen uns in den Volkspark von Chengdu. Jung und Alt widmen sich hier allen möglichen Formen des Freizeitvergnügens. Auf einer Art Schwebebahn treten sich ganze Familien in drei Metern Höhe durch den Park. Kinder turnen auf Klettergerüsten oder jauchzen in Karussels, Liebespaare dümpeln in kitschigen Phantasiebooten auf Teichen, und alte Leute üben sich zeitlupengleich im Tai Chi, dem chinesischen Schattenboxen. Unglaublich fingerfertig kneten Künstler aus Gummi bunte Figuren für die Kleinen, die mit großen Augen staunen. Eine Art Kaffeetantentruppe schnattert sich lachend durch den Park und grüßt uns mit dem „Victoryzeichen“. Irgendwo zwischen den Büschen üben sich Paare in klassischen Tänzen – einfach so, ohne Musik. Alte Männer in Blau haben sich Klappstühlchen mitgebracht und zocken mit ernster Miene Karten. Andere trinken seelenruhig grünen Tee im parkeigenen Freiluftrestaurant und schmauchen Zigaretten. Ein derart „sonniges“ Freizeitleben im smogig-nebligen Volkspark zu sehen, scheint uns schier unglaublich, und ziemlich durchgefroren ziehen wir uns in das Jinjang Hotel zurück. Dieses Hotel ist mit Sicherheit das mondänste unserer ganzen Reise. Helmut Kohl und Jimmy Carter haben hier genächtigt – ihre Fotos sind in der Hotelhalle zu bewundern. Mit unseren schmuddeligen Rucksäcken und ausgebeulten Travellerklamotten kommen wir uns unter glitzernden Kronleuchtern, zwischen Marmorsäulen und getönten Spiegelwänden etwas schlampig vor. Das Zimmer ist im Gegensatz zu unseren sonstigen Erfahrungen ein Traum von Sauberkeit und Bequemlichkeit: Handtücher, Zahnbürsten, Seife, Shampoo, Toilettenpapier, heißes Wasser, Briefpapier, Einweghausschuhe – und sogar eine funktionierende Heizung! Ja, es gibt ein leuchtendes Schild vor der Tür, das per Knopfdruck vom Bett aus angeschaltet werden kann. „Do not disturb!“ , ein Zeichen, das hier sogar Beachtung findet. Überhaupt gibt es Dutzende vom Bett aus zu bedienende Knöpfe. Ich fühle mich drei Tage wie ein Pascha, lümmel auf der breiten französischen Liege, regel ständig die Be93
leuchtung per Knopfdruck oder schalte mich von Kanal zu Kanal durch das chinesische Fernsehprogramm. An diesem Abend läuft „Casablanca“, und man glaubt es kaum: „Dallas“ mit chinesischen Untertiteln. Nicht ganz frei von mulmigen Gefühlen muß ich da an die Wohnbedingungen in der Altstadt denken. Die Volksrepublik überrascht uns auch mit ihren Widersprüchen.
Der größte Buddha der Welt Wir bitten Dutzende von Passanten, uns den richtigen Bus nach Leshan zu zeigen, aber man versteht uns nicht, schüttelt den Kopf oder wendet sich einfach ab. Offenbar sprechen wir den Ortsnamen derart falsch aus, daß keiner weiß, was wir wollen. Erst ein Busbahnhofsvorsteher mit roter Armbinde, dem ich die chinesischen Zeichen des Ortsnamens aus dem Reiseführer unter die Nase halte, schleust uns zu einem klapprigen Überlandbus. Der Fahrer fährt „Kamikaze“. In China gibt es zwar Verkehrsregeln, aber kaum einer hält sich daran. Der Stärkere hat Vorfahrt. In der Rangordnung rangieren natürlich die Lastwagen und Busse an erster Stelle. Es folgen die PKWs, Fahrräder und Fußgänger. Oft erleben wir, wie Autofahrer, ohne die Geschwindigkeit zu reduzieren, auf Fußgängerüberwege zurasen und ohne Rücksicht auf Verluste passieren. Erfolglos sind die Versuche abgeordneter Rentnerinnen, mittels roter Fahnen Ordnung in das Chaos zu bringen. So klappern wir durch die graue Novemberlandschaft Sichuans, das mit seinen ausgedehnten Reisfeldern als eine der Reiskammem Chinas gilt. Die Provinzstädte, durch die wir fahren, erscheinen uns weder heimelig noch schön. Da reihen sich graue Mietskasernen, da dampfen halbverfallene Fabrikbauten, da plagen sich Massen von blauberockten Arbeitern mit schwerbepackten Karren oder wühlen ohne die Hilfe von Maschinen an Baustellen. Leshan dagegen überrascht uns durch seine angenehme Atmosphäre. Die Stadt zählt zu den bedeutendsten buddhistischen Kultstätten, denn hier steht der größte Buddha der Welt. Mit zweiundsiebzig Metern Höhe ist der sitzende Buddha von Jiading, „Dafu“ genannt, eine gigantische in den Fels gehauene Statue. 94
In einem Kutter voller Ausflügler nähern wir uns auf dem Min Jiang Fluß dem berühmten Bauwerk, das buddhistische Mönche im 8. Jahrhundert in neunzigjähriger Arbeit geschaffen haben. Hinter einer Flußbiegung sitzt der riesige Buddha und schaut auf uns herab. In seinem Angesicht fühlen wir uns wie die Ameisen. Dröhnend kämpfen die Motoren des Kutters gegen die starke Strömung des Flusses an. Der Kapitän versucht, das Boot auf der Stelle zu halten, um den Passagieren einen möglichst langen Blick auf den „Dafu“ zu ermöglichen. Wie auf Kommando stürzen alle zum Heck des gedrehten Bootes. Es ist nicht leicht, sich aus dem Geschiebe und Gedränge zu retten, denn jeder, aber auch wirklich jeder will vor dem „Dafu“ abgelichtet werden. Verständlicherweise, denn imposant schaut er aus, wie er dort in einer Größe von über siebzig Metern im Felsen des steilen Flußufers sitzt. Seine Hände fest auf die Knie gelegt, den Blick über den Fluß nach Leshan gerichtet, so sitzt er wie für die Ewigkeit geschaffen schon über tausend Jahre da. Flußabwärts werden wir am Ufer abgesetzt und klettern den Lingyunshan, den „Berg, der bis zu den Wolken reicht“, hinauf, um den Dafu auf dem Landweg zu erreichen. Die meisten Ausflügler bleiben schon bei den ersten Souvenirständen und Imbißbuden hängen, während wir neugierig die auf dem parkähnlichen Areal verteilten Klöster und Tempelgebäude besuchen. Das Wuyusi-Kloster und der Lingyun-Tempel, beide in der Tang-Zeit (618-907) errichtet, enthalten Kalligraphien, Malereien und aus Holz gefertigte Buddhafiguren. Die Seelenpagode, Lingbaota, erhebt sich achtunddreißig Meter hoch als viereckiger, in der Song-Zeit (9601270) entstandener Ziegelbau. Jedes der dreizehn Stockwerke ist mit einer Buddhastatue verziert. Am frühen Nachmittag erreichen wir dann den Kopf des Buddhas von Jiading. Allein dieser Kopf ist fünfzehn Meter hoch und zehn Meter breit und mit über tausend schneckenförmigen Haarknoten verziert. Schaut man hinunter in die Tiefe, sieht man ganze Gruppen von Chinesen auf den neun Meter breiten Fußrücken herumturnen. Auch wir machen uns die Mühe, auf nicht ungefährlichen „Feuerleitern“ hinabzuklettem und uns zwischen den Zehen des „Dafu“ abzulichten. Es sind die kleinen zwischenmenschlichen Erlebnisse, die solchen Ausflügen in China immer wieder ihren besonderen Reiz geben. Eine Gruppe von Studenten macht sich einen besonderen Spaß daraus, mit verbundenen Augen auf eine Tempelmauer zuzulaufen, in die das 95
chinesische Symbol für Glück eingeschlagen ist. Wer mit ausgestreckten Armen die Mitte des Symbols trifft, hat Gutes im Leben zu erwarten. Ein junges Mädchen läuft los, und ich stelle mich, zur heimlichen Gaudi aller, vor das Symbol. Tastend steuert sie auf mich zu und trifft ins Schwarze, d. h. meine Brust. Entsetzt reißt sie das Tuch von den Augen und fängt furchtbar an zu schreien. Ihre chinesischen Freunde drumherum kugeln sich vor Lachen. Auf dem Rückweg nach Leshan’ reitet uns dann plötzlich Zorro entgegen. Das darf nicht wahr sein. Zorro mitten in China, ganz in Schwarz, mit Schlapphut, Maske und Pistole. Zorro scheint Mühe mit seinem Pferd zu haben. Wild gestikulierend versucht er, sein Pferd von Pfaden durch das Gehölz abzulenken, während wir wie angewurzelt vor dieser Erscheinung stehenbleiben. Erst eine aufgeregte, mit Fotoapparat und Stativ gerüstete Dame klärt das Unheimliche. Bei Zorro handelt sich um eine der üblichen Fotomaskeraden an Ausflugsorten. Furchtbar stolz ist er, als ich mich bereit erkläre, sein Pferd zu halten und mich mit ihm ablichten zu lassen. „Zorro mit Langnase“ – dieses Bild wird wohl eines Tages ein chinesisches Wohnzimmer zieren.
Die Pfirsichflußstadt Lijiang In Leshan beschließen wir, uns auf dem Bahn- und Busweg nach Lijiang, nordwestlich von Kunming gelegen, durchzukämpfen. Es wird eine Reise mit Hindernissen. Den nahen Bahnhof von Emeishan werde ich wohl nie vergessen. Zwölf Stunden müssen wir auf den Zug warten, der von Chengdu kommend uns zunächst nach Jinjiang bringen soll. Der Bahnhof liegt in „the middle of nowhere“ und zudem ist es bei nahe 0°C unglaublich kalt. Uns bleibt nichts anderes übrig, als auf dem Bahnhofsvorplatz zu verharren, wo wir bestaunt von Dörflern ein Bier nach dem anderen konsumieren. Vollkommen durchgefroren erscheint uns um Mitternacht das Bett im Schlafwagen der 1. Klasse wie das Himmelreich auf Erden. Weiche Polster, Spitzendeckchen, frisch bezogene Daunenbetten, 96
Noch immer tragen Sie die traditionellen Trachten, Angehörige der Volksgruppen Xishuangbannas 97
In den Dörfern der Naxi und Bai hat man noch die Zeit für ein Schwätzchen
Xishuangbannas Mönche haben auch an weltlichen Dingen ihren Spaß 98
Lijiang, der „Jadedrachenberg“ vom „Teich des Schwarzen Drachen“ aus gesehen
Die kegelförmigen Berge und Hügel am Li-Fluß 99
In der Altstadt Lijiangs
Chengdu: Rentner treffen sich im Stadtpark zum Spiel 100
heißer Tee und eine resolute Schaffnerin, die sich weigert, die Toilette aufzuschließen. In Jinjiang steigen wir in einen alten überfüllten Bus um, der für zwanzig Stunden unsere Heimat ist. Zwei Fahrer teilen sich die Arbeit. Während der eine den Bus über Staubpisten die Berge hochquält, döst der andere auf einer Art selbstgebauten Beifahrerbett. Nach sechs Stunden Serpentinenzockelei ist Schluß. Kurve um Kurve stauen sich in beiden Richtungen die schweren typisch grünen Lastwagen – nichts geht mehr für Stunden. In einer Kurve haben sich zwei Trucks ineinander verkeilt, jedoch nicht so schlimm, daß es nicht möglich wäre, die Fahrzeuge beiseite zu schieben. Nach zwei Stunden Warterei deuten wir pantomimisch an, daß eine Aktion in dieser Richtung sinnvoll wäre. Unsere Nervosität aber überzeugt die chinesischen Kraftfahrer keineswegs. Während die einen schweigen und gucken, nutzen die anderen die Zeit für Reparaturarbeiten oder verkriechen sich in ihr Führerhaus zu einem Nickerchen. Nach fünf Stunden schreie ich „Hilfe“ ins Tal. Es wird dunkel und hier in ca. 2000 Metern Höhe recht kalt. Die Schweine im Transporter hinter unserem Bus quieken gequält und verbreiten einen furchtbaren Gestank, aber eine neuerliche Eingabe an die Unfallpartner, ihre Fahrzeuge zu beseitigen, wird mit dem einzigen offenbar bekannten englischen Wort „money“ strikt abgelehnt. Strittig ist, wer von wem Geld erhält. Woher das Geld in dieser Pampa kommen soll, ist ein Rätsel. Palle, ein ebenfalls hier steckengebliebener Tourist aus Hamburg, kennt das chinesische Wort für „Revolution“, aber eine von uns initiierte Demonstration in dieser Richtung stößt nur auf undurchsichtig schauende Gesichter. Statt dessen scheint man allgemein dankbar, für Stunden Europäer studieren zu dürfen. Wir hingegen holen uns Frostbeulen und träumen von einem anständigen Essen. Endlich, nach acht Stunden Warterei, hat der Spuk ein Ende. Qualmende Dieselmotoren schieben sich in beide Richtungen aneinander vorbei. Steil aufragende Felswände rechts, tiefe Abgründe links und dazu eine recht schmale Schotterpiste, die für ein solch plötzliches Verkehrsaufkommen nicht geschaffen ist. Im gelben Lichtkegel der Scheinwerfer quetschen die Fahrer ihre überladenen LKWs regelrecht aneinander vorbei. An besonders engen Stellen wird mit abschätzendem Blick aus dem Führerhaus der zentimeterbreite Streifen zum Abgrund hin gemessen oder in engen Kurven so rangiert, daß 101
das Heck unseres Busses über unendlichen Schluchten schwebt. Obwohl ich friere, rinnt mir der Schweiß über die Stirn, und ich bete, daß wir nicht in die Tiefe stürzen. Vollkommen gerädert und übermüdet finden wir uns gegen zwei Uhr nachts auf einer Straßenkreuzung in Lijiang wieder. Schlotternd rütteln wir an dem verschlossenen Tor der einzigen, Ausländern zugänglichen Unterkunft. Wir rütteln, rufen, fluchen, bis sich endlich ein schlecht gelaunter Wächter bequemt aufzuschließen. Eine ebenso verschlafene und schlecht gelaunte Bedienstete im Morgenrock verschwindet, kaum daß sie uns gesehen hat, wieder in ihrem Zimmer und läßt uns in der zugigen Vorhalle stehen. Erst als wir, nun vollkommen entnervt, an ihrer Tür trommeln und Unflätiges brüllen, ist sie bereit, uns ein Zimmer zu geben. Nach achtunddreißig Stunden Reiserei mit Hindernissen schlafen wir wie die Steine. Wie so oft ist die Mühsal einer anstrengenden Fahrt am Zielort schnell vergessen. Lijiang meint es gut mit uns und präsentiert sich im strahlenden Sonnenschein von seiner schönsten Seite. Bilderbuchgleich ragt vor uns vom „Teich des Schwarzen Drachen“ aus gesehen der „Jadedrachenberg“ auf. Mit seinem höchsten Gipfel, dem 5596 Meter hohen Shanzidou, überragt er mächtig und unangefochten die weitflächige Lijiang-Ebene. Bis in die heutige Zeit hat der schneebedeckte Berg, der bereits zu den Ausläufern des tibetischen Plateaus gehört, dem Menschen getrotzt – noch keiner Expedition ist bisher die Gipfelbesteigung gelungen. Frauen aus dem nahen Tibet sind es, die sich der Handvoll Westtouristen, die sich hierher verirrt haben, annehmen. Sie führen ein kleines Restaurant direkt hinter der Mao-Statue Lijiangs. Unter den Augen des etwa zehn Meter großen Meisters räkeln wir uns in der Sonne und speisen köstliche tibetische Gerichte. So mancher Passant bleibt neugierig stehen und guckt wechselnd auf uns und die Tellergerichte. Es sind schillernde Persönlichkeiten, die wir hier kennenlernen. Da ist zum Beispiel Michael, ein Münchner, der auf den Spuren von Alexandra David-Neel versuchte, zu Fuß Lhasa zu erreichen. Während es Alexandra David-Neel als Frau Anfang dieses Jahrhunderts unter abenteuerlichen Umständen gelang, heimlich in die Verbotene Stadt vorzudringen, hat man Michael nach 270 km abgefangen und nach Lijiang zurückgeschickt. Trotz des nahenden Winters zeigt er sich zuversichtlich, es doch noch mit Hilfe eines Einheimischen zu schaffen. 102
Da ist auch Cai, der im Zuge der Kulturrevolution verhaftet wurde und zwanzig Jahre seines Lebens in Umerziehungslagern verbrachte. Der ehemalige Lehrer und Angehörige des hier ansässigen Naxi-Volkes widmet sich heute ganz der Bewahrung alter traditioneller NaxiMusik. Ein Konzert dieser Musik erleben wir abends in der Altstadt Lijiangs. In einem alten Haus haben sich ein Dutzend Musiker versammelt. Das Durchschnittsalter der Männer ist 72 Jahre, so versichert uns Cai. Auf Instrumenten, die mindestens genauso alt sind wie die Künstler selbst, flöten, zupfen, trommeln sie uns ihre Musik vor, und ich habe das Gefühl, in eine uralte Welt Chinas hineinversetzt zu sein. Nach dem Konzert verabschiedet sich der mit 91 Jahren älteste Musiker von uns Touristen. In Maoblau, weißem Spitzbart und faltigem Gesicht bedankt er sich, von Cai übersetzt, für unser Interesse. Uns allen wünscht er eine schöne Reise und eine glückliche Heimkehr, und ich hoffe, während wir dem Alten die Hände schütteln, daß ihre so wunderbare Naxi-Musik nicht sterben wird. Die Bewohner Lijiangs scheinen überhaupt eine besondere musische Begabung zu haben, denn schon am nächsten Tag führt uns Cai zu einem kleinen Haus am Rande der Altstadt, wo anläßlich einer Familienfeier eine Oper aufgeführt wird. Mit großem Aufwand geschmückte Darsteller piepsen und trällern sich durch verschiedene Szenen chinesischer Opern. Es scheint niemanden zu stören, daß im Hintergrund des Hauses geräuschvoll Essen zubereitet wird und kleine Kinder vergnügt zwischen den Beinen der Darsteller spielen. Es ist die Enge des Raumes, die Unbefangenheit der Darsteller und die Selbstverständlichkeit der gastgebenden Familie, was uns die menschliche Wärme der Situation spüren läßt. Kein Psst, kein Wispern, kein Schleichen, es ist eben so, wie es ist, und tapfer zupfen drei Bauern auf ihren Instrumenten. Sobald die Sonne hinter dem Jadedrachenberg untergeht, wird es hier zu dieser Jahreszeit eiskalt. Wie in allen Teilen Chinas südlich des Jangtse ist aber das Heizen aus Energiespargründen verboten. Unsere tibetanischen Frauen nehmen sich der bibbernden Traveller an. Sie verschließen Fenster und Türen ihrer Hütte und heizen heimlich. Im Kreis sitzen wir um ein spärliches, aber Wärme spendendes Holzkohlefeuerchen und lauschen Cai, der uns ein wenig von den Eigenarten seines Volkes erzählt: 103
Die Naxi, so sagt er, seien berühmt wegen ihrer ganz eigenen Bilderschrift. Sie erzählt, sofern man sie entschlüsseln kann, einiges über die Mythologie und Geschichte des Volkes. Schamanen praktizieren heute noch nach alten Schriften im Tal von Lijiang mit dem Wissen magischer Feuer- und Messertänze. Da die Frauen bei den Naxi das Sagen haben, flüchten sich die Männer in allerlei Vergnügungen. Sie sind begeisterte Sänger, Tänzer und Musiker geblieben. Die Frauen gelten heute noch als Oberhaupt der Familie, sie allein entscheiden über die Partnerwahl. Der Mann darf zwar Nächte bei seiner Frau verbringen, arbeitet und lebt aber nach wie vor für Jahre im Haushalt seiner Mutter. Die Mädchen erhalten eigene Zimmer, um ihre Liebhaber empfangen zu können, während die Jungen sich ein Zimmer teilen müssen. Cais Erzählungen werden von unseren Tibetanerinnen kichernd mit frotzelnden Kommentaren versehen, aber auch sie scheinen von der musischen Begabung der Naxi angesteckt und singen leise Lieder aus ihrer Heimat. Bei dem Gesangswettbewerb, der sich nun entspinnt, fällt uns natürlich kaum ein Lied ein, und wenn, reicht es gerade zur gebrummten ersten Strophe. Lijiang besitzt nicht nur eine traumhafte landschaftliche Umgebung, sondern auch eine herausragende Altstadt. Was sich uns dort zwischen uralten Holzhäusern bietet, ist nichts anderes als das China, wie es wohl vor tausend Jahren war. Dicht gedrängt stehen die meist schiefen, zweistöckigen Häuschen. Klare Wasserläufe, geschwungene Brücken, Kopfsteinpflaster, niedrige Teestuben, Lädchen und kleine Plätze bilden die Kulisse mittelalterlichen Lebens. Hier haben die Naxi noch Zeit, an der Ecke im wärmenden Sonnenschein zu tratschen, den Wäscherinnen am Bach zuzuschauen, Karten zu spielen oder an langen Pfeifen zu schmauchen. Auf dem allmorgendlichen Markt, im Kern der Stadt, verhökern Naxi in bunten Trachten Gemüse und Kleinvieh. Im Marktgeschehen hat ein Dentist seinen Bohrer aufgestellt und behandelt unter dem fachmännischen Blick der Marktbesucher seine Patienten. Der Bohrer wird mittels Fußbetrieb bewegt. Ein Rattenfänger vertreibt sein Gift. Ausgestopfte Opfer in allen Größen sind Beweise der Wirksamkeit seines Mittels. An Leinen gehaltene Schweine versuchen quiekkend, ihre Besitzer fortzuziehen, um nicht dem gleichen Schicksal ihrer Artgenossen zu erliegen, deren Kopf ihnen vom Schlachttisch 104
entgegenblickt. Bauern mit derben faltigen Gesichtern wiegen auf alten Kupferwaagen ihr Gemüse, das von jungen Frauen in kiloschweren Körben nach Hause getragen wird – stundenlang, tagelang, hinauf in ein Dorf in den Bergen. Man kennt sich, man trifft sich, man hält ein Schwätzchen. Hier scheint die Zeit stehengeblieben zu sein. Kein Auto drängt sich laut und stinkend in dieses Bilderbuchleben. Für uns sind es wunderbare Tage dort unter den schneebedeckten Gipfeln des Jadedrachenberges, wo sich nach den Dongba-Schriften der Naxi Himmel und Erde begegnen. Mit Reiseproviant im Gepäck, das uns die Tibetanerinnen zum Abschied schenken, tuckern wir im Überlandbus über Dali zurück nach Kunming. Dali, als Heimatort der Bai bekannt, liegt malerisch eingerahmt vom Cangshan-Gebirge am Erhai-See. Ähnlich wie in Lijiang geht hier das Leben noch geruhsam zu. Um so mehr gestaltet sich die Nachtfahrt im Bus nach Kunming zum vierzehnstündigen Horrortrip. Lediglich ein Fahrer bestreitet die ganze Strecke im irren Tempo die Berge hinab. Wracks abgestürzter Lastwagen und das entsetzte Aufstöhnen aller, wenn das Gefährt in den Kurven schleudert, halten ihn nicht davon ab, mit durchgetretenem Gaspedal nicht nur sein Leben, sondern auch das der Passagiere aufs Spiel zu setzen. Wir jedenfalls sind heilfroh, im Morgengrauen Kunming unbeschadet wiederzusehen.
Grüne Seide, türkise Jade „Gipfel der einzigartigen Schönheit, Grotte der zurückgegebenen Perle, Tausend-Buddha-Felsen, Berg der farbigen Schichten, Kamelberg, Sieben-Sterne-Park, Schilfrohrflötenhöhle, Elefantenrüsselberg...“ sind die klangvollen Phantasienamen jener Hügel und Höhlen, die in Guilin zu finden sind. Hineingestreut in die Provinzstadt der Region Guanxi, im Süden Chinas, gehören sie zu einer einzigartigen karstigen Hügellandschaft. Ich denke, daß diese Landschaft mit Recht zu der schönsten ganz Chinas gezählt wird. Dreißig Stunden benötigten wir, die Stadt per Zug von Kunming aus zu erreichen – in der ersten Klasse ein eher kurzweiliges Vergnü105
gen. So wunderschön die Landschaft ist, so wenig hat Guilin zu bieten. Um die anstürmenden Massen von einheimischen und auswärtigen Touristen aufnehmen zu können, hat man in den letzten Jahren riesige Hotels gebaut. Als moderne Klötze überragen sie eher schäbige Häuser. Bei unserer Ankunft mitten in der Nacht zeigt man sich nicht bereit, noch ein Zimmer herauszurücken. In China heißt das, Ruhe bewahren und abwarten. Schon mehrmals erprobt, rollen wir unsere Schlafsäcke direkt vor der Rezeption aus, und siehe da, nach kurzer Zeit steht ein Zimmer zur Verfügung. Wie sich am nächsten Tag herausstellt, ist im ganzen Hotel kaum ein Raum belegt. In den Restaurants Guilins bekommt man alles, was die chinesische Küche an eßbaren Tieren zu bieten hat. In schmuddelige Käfige gezwängt, warten Schlangen, Frösche, Katzen, Schildkröten, ja Ratten und Gürteltiere auf hungrige Kunden, die sich das begehrte Viehzeug frisch auf den Tisch setzen lassen. Die Menschen, den Anblick von Europäern gewohnt, zeigen sich von ihrer geschäftstüchtigen Seite. Mit weit überhöhten Preisen versuchen private Restaurantbesitzer im Schatten der Luxushotels am boomenden Tourismus teilzuhaben. Große Enttäuschung erfahren wir denn auch durch eine chinesische Restaurantbesitzerin, die uns zum Essen einlädt, ja uns sogar in ihre Wohnung führt, was für chinesische Verhältnisse von großer Intimität zeugt. Kaum haben wir die Adressen ausgetauscht, erhalten wir die Rechnung für die „Einladung“ – 180 Yuan, umgerechnet 60 DM, für etwas Huhn mit Gemüse. Geschäft ist Geschäft und wir fallen fast vom Hocker. Nein, hier bleiben wir nicht, und so machen wir uns auf in freundlichere Gefilde. Die Bootsfahrt auf dem Li-Fluß in das 60 km entfernte Yangshuo ist, was die Landschaft betrifft, so einmalig schön, daß wir vor Staunen den Mund kaum zukriegen. Links und rechts des Flusses ragen bizarre Hügel und kegelförmige Berge in den Himmel, phantastisch, gespenstisch, hunderte, tausende, dicht an dicht. Was von uns als Märchen bestaunt wird, ist Ergebnis eines geologisch-historischen Prozesses. Vor 300 Millionen Jahren wurde der Kalksteinboden eines Meeres nach oben gedrückt. Die Erosion hat dann in vielen Millionen Jahren jene Landschaft von Kegeln geschaffen, die auch einen nüchternen Geologen ins Schwärmen bringen muß. 106
Recht hatte der Tang-Gelehrte Han Yu, als er vor 1100 Jahren schrieb: „Der Fluß ist wie ein grünes Band aus Seide, und die Hügel sind wie türkise Haarnadeln Jade.“ Genauso traumhaft wie die Bootsfahrt sind die Fahrradtouren, die wir täglich von Yangshuo aus durch das Land unternehmen. Grüne Reisfelder und Bambushaine, Wasserbüffel, idyllische Dörfer, Bauern mit hochgekrempelten Hosen und spitzen Strohhüten, Kormoranfischer und badende Kinder in diesem Märchenland sind Bilder, die wir nie vergessen werden. Hier nehmen wir Abschied von China, ein Land, das uns wie kein anderes so fremd erschien.
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PHILIPPINEN Weihnachten
Frühmorgendliches Hämmern an der Bungalowtür reißt uns aus tiefem Schlaf. Kein zartes Knöchelklopfen, kein Fäustebollern, nein, ein Hammer muß es sein, der gegen das Holz geschwungen wird. Mehr verschreckt als neugierig öffne ich vorsichtig und entgegen strahlt mir Milli, die gute Fee unserer Unterkunft: „Guten Morgen, bald ist Weihnachten.“ Eifrig deutet sie auf den aus Stroh gefertigten Adventskranz, den sie soeben an unsere Tür genagelt hat. „Weihnachten“, denke ich und schaue blinzelnd in die schon recht warme Tropensonne. Palmen, weißer Sand, blaues Meer – eine Postkartenidylle vor unserer Bambushütte. Kein Schnee, keine düsteren Wintertage, aber Milli hat recht, Weihnachten steht vor der Tür. Ich denke an Deutschland, denke an vermummte Gestalten, die sich in die U-Bahn zwängen und fröstelnd von Kaufhaus zu Kaufhaus hetzen. „Weihnachten“, denke ich und stürze mich in die blauen Fluten dort am Palmenstrand auf der Insel Bohol – und ich stelle fest, daß mir gar nicht weihnachtlich zumute ist. Nach den oft anstrengenden, vor allem aber nervenaufreibenden Reiseerfahrungen in China sind wir, nach kurzem Aufenthalt in Hong Kong, auf die Philippinen gereist und genießen das Strandleben dieser Inselwelt in vollen Zügen. Schwimmen, Shakes trinken, Volleyball spielen oder einfach klönen, Spaziergänge unter Palmen unternehmen, Muscheln sammeln, träumen und lesen – welch ein Leben! Während wir recht faul die Vorweihnachtszeit verstreichen lassen, sind die Filipinos mit Begeisterung dabei, kunstvoll gestaltete Weihnachtsbäume aufzustellen. Als Ersatz für fehlende Tannen dienen geschmückte Tropenpflanzen oder Kunstbäume aus Muscheln und Stroh. Der Phantasie scheinen keine Grenzen gesetzt. Girlanden aus Gold – und Silberpapier verkünden „Merry Christmas“, und so mancher Plastiknikolaus in dickem Pelz und Mütze muß in der feuchtwarmen Tropenluft schwitzen. 108
Für den christlichen Filipino ist Weihnachten das großartigste aller religiösen Feste. Jeder, auch der Ärmste, wird betteln und borgen, um Freunden und Bekannten ein Geschenk machen zu können. Je näher das Fest heranrückt, desto nervöser werden die Filipinos. Alle halbe Stunde klärt man uns darüber auf, daß jetzt endlich bald Weihnachten ist. Sängergruppen formieren sich und trällern mit Begeisterung Weihnachtslieder, wobei „Jingle Bells“ nicht fehlen darf. Weihnachtslaternen, sogenannte Farols, leuchten schon lange vorher in Türen und Fenstern mit Lichterketten der Weihnachtsbäume um die Wette. Vielleicht tummeln sich in Europa schon die ersten Skifahrer auf verschneiten Pisten. Für mich jedenfalls ist erster Tauchgang angesagt. Mulmig ist mir schon, wenn ich an all die Haigeschichten denke, die unter Tauchern am Strand kursieren, und es dauert Tage, bis mich Dave überreden kann, mir die Welt einmal aus einer anderen Perspektive zu betrachten. Letzte Instruktionen, ein letzter Blick auf diese schöne Welt und ich sinke nach unten – und dann ist da nichts als ein großer blauer Raum und das gluckernde Verströmen der Atemluft. Im ersten Moment meine ich, ich müßte wieder an die Oberfläche, Luft holen und den Himmel sehen. Ich zwinge mich, ruhig zu bleiben, regelmäßig aus dem Automaten zu atmen und taumle, beschwert von Bleigewichten, in die Tiefe. Da hocke ich im Sand, schaue mich um und denke, daß das Gefühl einer Landung auf dem Mond nicht anders sein kann. Ich sehe Fische, eine Landschaft aus Sand und Korallen und eine unendlich blaue Weite. Dave führt mich zur Riffkante, die über siebzig Meter steil nach unten abbricht, aber anstatt zu stürzen, schwebe ich über den Rand und denke, ich fliege. Ich bin ein Vogel und doch ein Fisch, einer der Tausenden bunten Tropenfische. Zitronengelbe tänzeln wie Schmetterlinge um einen Korallenbusch. Schwärme von grün, blau, gelb schillernden Papageienfischen ziehen ruhig und stetig durch das tiefe Blau. Anemonenfischchen, rot, weiß, braun gestreift klopfen frech an meine Taucherbrille. Offenbar sind sie über die Eindringlinge nicht sonderlich erbaut. Eine Moräne schaut mit kaltem Blick aus ihrem Felsenloch, und Feuerfische tanzen mit roten Federn angetan zwischen den Korallenstöcken – ich kann mich kaum satt sehen an dieser stillen bunten Welt. Das Zeitgefühl habe ich verloren und fast bin ich enttäuscht, als Dave mir das Zeichen zum Auftauchen gibt. Glücklich, 109
mein Leben tatsächlich um eine weitere Dimension erweitert zu haben, steige ich aus dem Wasser – es ist der 20. 12., mein Geburtstag. Eine Tagestour führt uns in das Innere Bohols. Wir fahren mit dem „Jeepney“, das heißt, wir fahren mit einer philippinischen Offenbarung. Was wären die Philippinen ohne jene umgebauten Jeeps, die die Amerikaner zurückgelassen haben? Mit einem verlängerten Fahrgastraum werden sie in allen Teilen des Landes als billiges Verkehrsmittel genutzt. Jeepneys sind keine schnöden Autos, Jeepneys sind bunte, chromblitzende Kitschkarossen, die sich röhrend durch Stadt und Land bewegen. Aller überflüssigen Armeeteile beraubt, präsentieren sie sich in neuem Make up: Scheinwerfer in allen Größen, Antennen hier, Antennen dort, chromblinkende Schutzbleche, Plastikwimpel, Goldgirlanden und spleenige Sprüche in bunten Lettern. Ab und an thronen Nickelhengste auf der Motorhaube, in jedem Fall aber werden die Passagiere quadrophonisch rock-bestrahlt. Aus grünen Militärfahrzeugen entpuppen sich bunte Phantasiegefährte. Die Jeepneys gehören zu den Philippinen oder umgekehrt, jedenfalls ist das eine ohne das andere nicht zu denken. Mit Kopfschütteln lese ich in der Zeitung, daß Präsident Ramos diese stolzen Karossen zumindest aus dem Stadtbild Manilas verbannen will. Welch unsinniges Vorhaben, wenn man bedenkt, daß es derzeit keine Alternative öffentlicher Verkehrsmittel gibt. Zudem wären 350 000 Arbeitsplätze, die direkt und indirekt mit dem Jeepney verbunden sind, bedroht. Wie auf dem Rücken eines Pferdes galoppieren wir in solch einem stolzen Teil durch Bohols Tropenlandschaft. Bei jedem Hubbel aus dem Sitz gehoben, krachen wir mit dem Kopf gegen die Wagendekke. „God is with us“ prunkt an der Windschutzscheibe. Grund genug für den Fahrer, das Gaspedal bis zum Anschlag durchzutreten. Im Angesicht der Mutter Maria, die als Abziehbild auf dem Armaturenbrett klebt, erübrigt sich die Bitte um göttlichen Beistand bei dieser Höllenfahrt. Ziel unserer Fahrt sind die Chocolate Hills, jene Schokoladenhügel, die als Naturphänomen beschrieben, auch wir uns nicht entgehen lassen. Von einer Anhöhe aus haben wir einen phantastischen Blick auf die 1268 Bergrücken, die sich in sanften Höckern aus der Ebene heben. 30 bis 120 Meter hoch präsentieren sie sich uns in verschiedenen Grüntönen. Erst zum Ende der Trockenzeit, wenn das Gras ver110
dorrt, werden sie die braune Färbung erhalten, der sie ihren Namen verdanken – Schokoladenhügel. Neben profanen geologischen Erklärungen von vulkanischen Eruptionen und Erosionen rankt sich so manche Legende um die Entstehung dieses Naturkonfekts. Arogo, ein kräftiger Riese, so heißt es, habe sich in Aloya, einer gewöhnlichen Sterblichen, verliebt. Von Arogo verschleppt, fürchtete sich Aloya so sehr, daß sie stirbt. Arogo weinte bitterlich über den Tod der Geliebten. Seine Tränen rollten in Bohols Ebene, wo sie zu Hügeln versteinerten. Alle Erklärungen aber verblassen beim Anblick der runden Bergrücken, die im wechselnden Schattenspiel vorbeiziehender Wolken blinken. Es ist ein Naturschauspiel, von dem wir uns lange nicht lösen können.
Bantayan „Gretchen“ heißt das alte, eher einem Mississippi-Dampfer ähnelnde Holzschiff, mit dem wir von Bantayan, einer kleinen nordwestlich von Cebu gelegenen Insel, nach Negros übersetzen. Vollgepackt mit dem philippinischen Einheitsbier San Miguel, Reissäcken, gackernden Hühnern, Schweinen und verwirrten Kühen tuckern wir als eine Art Arche Noah durch die Visaya See. Mit den Hauptinseln Leyte, Bohol, Cebu, Negros und Panay bildet sie quasi das Zentrum des philippinischen Archipels. „God bless our trip“, so lautet die Bitte um Gottes Segen, deutlich sichtbar für alle Passagiere in einem bestickten Wandbild formuliert. Mit dem Segen Gottes auf diesen Gewässern zu dümpeln, ist durchaus angebracht, denn daß wir überladen sind, zeigt allein schon der Tiefgang, mit dem sich „Gretchen“ nach Negros schaufelt. Schnaufend bahnt sich das alte Mädchen ihren Weg durch die noch ruhige See. Auf den Philippinen kann sich das in kürzester Zeit ändern, denn man bewegt sich hier durch einen Teil der Welt, der Jahr für Jahr von schweren Taifunen heimgesucht wird. Im November erst hat ein 111
schwerer tropischer Wirbelsturm die Insel Leyte überrannt und eine Verwüstung ungeheuren Ausmaßes hinterlassen. „Gretchen“ in solch einem Sturm wäre mit Sicherheit das Ende der Reise und ein Fest für die Haie. Aber noch ist der Himmel blau, und in einer sanften Dünung dösen wir gemeinsam mit den anderen Passagieren. Über Neujahr haben sie ihre Familien auf Bantayan besucht und kehren nun zur Arbeit auf die Zuckerrohrplantagen der Insel Negros zurück. Bantayan ist eine der philippinischen Inseln, die ein ärmliches Leben fristet. An den Stränden reihen sich elende löchrige Fischerhütten, bewohnt von Menschen, die sich ihren Lebensunterhalt mehr schlecht als recht durch Fischfang verdienen müssen. Abgerissene unterernährte Kinder, dünne Straßenköter, durch Fäkalien verschmutzte Strände – das ist die Realität der von Touristenpfaden abgelegenen Inseln. Hier lernen wir Marylin kennen, deren Schicksal stellvertretend für viele steht. Ihr Mann, so erzählt sie uns, sei vorletztes Jahr ums Leben gekommen. Vom Taifun überrascht ist er auf See geblieben und hat sie mit ihren drei Kindern zurückgelassen. Seitdem schlägt sich Marylin mittellos durchs Leben. Mit ihren 25 Jahren bietet sie das Bild einer abgearbeiteten Frau, die ständig kleine Dienstleistungen anbietet, um ihren Kindern das Nötigste zu beschaffen. In all diesem elenden Leben hat Marylin sich ein herzhaftes Lachen bewahrt. Zuwendung und Späße quittiert sie uns wie ein glückliches Kind. Und sie hat Träume, aus denen sie ihre Kräfte schöpft: „Eines Tages“, so sagt sie, „gehe ich mit meinen Kindern nach Manila, tanzen.“ Manila ist in ihren Vorstellungen das Paradies und daran ändern auch alle unsere geäußerten Bedenken nichts. Wir wissen, was „tanzen“ bedeutet. Marylin würde in einem der Sexschuppen Manilas ihre Haut zu Markte tragen. Angetan mit einer Nummer müßte sie sich auf einer Bühne prostituieren und auf Abruf jedem Manne gefällig sein. Es sind diese armen Leute, mit denen wir Silvester feiern – in einer dampfenden Stelzenhütte, direkt am Pier. Während sich die ältere Generation im hinteren Teil der Hütte aus Literflaschen mit San Miguel betrinkt, übt sich die jüngere Generation Coca Cola-beschwipst unter lauter Discomusik in wilden Tänzen. In einem explosiven Stimmungsgemisch rutschen wir mit ihnen auf wackeligen Planken hinüber in das Neue Jahr. Punkt Zwölf erinnert uns ein alter verrosteter Frachter 112
unablässig tutend daran, daß es Zeit ist, sich zu umarmen. Und dann tanzen wir alle bis in den Morgen dort im Wind am Pier vor der dampfenden Hütte. Müde vom Feiern scheinen alle Gretchenpassagiere, bis ein Ruck uns aus dem Schlummer reißt. „Gretchen“ ist auf Grund gelaufen. Stundenlang hängen wir auf einer Sandbank fest. Negros ist zum Glück schon zu sehen, aber es wird tiefe Nacht, ehe uns die Flut freigibt und „Gretchen“ den Hafenort Cadiz anlaufen kann. Cadiz, eher als Durchgangsort geplant, hält uns drei Tage fest. Die Jugend nutzt jede Abwechslung mit Begeisterung, und die einzige Abwechslung in der kleinen Stadt scheinen wir zu sein. Im Nu wird Rubies kleiner Imbiß zur Discothek umfunktioniert. Stühle und Tische sind schnell beiseite geschoben, das Licht auf Weihnachtsbaumglimmen reduziert und die allgegenwärtige Stereoanlage mit heißer amerikanischer Musik gefüttert. Bekannte, Verwandte, Freunde schauen vorbei und los geht’s, denn die Filipinos tanzen gern – stundenlang, tagelang. Wir schließen Freundschaften, und nach drei Tagen kennen wir den Basketballverein von Cadiz, die Fraktion der Busfahrer, die halbe Jugend und ganze Familien. So hüpfen wir von Insel zu Insel nach Panay, das Ati Atihan Fest in der Stadt Kalibo zu sehen.
Ati Atihan und alle werden verrückt Unser „Stützpunkt“ für einen Besuch des Ati Atihan Festes ist die an der Nordspitze Panays gelegene kleine Insel Boracay. Man nehme türkisblaues, klares Wasser, einen sechs Kilometer langen, gleißend weißen Strand, mehligen Sand, fächelnde Palmen in kräftigem Grün vor strahlend blauem Himmel und lasse am Abend einen knallroten Sonnenball in diesen unvergeßlichen Südseetraum fallen. Man schlürfe, schmecke, genieße das Ganze und gebe sich berauscht dem Leben hin. Das ist Boracay, viel Strand, viel Sonne – aber wenig Philippinen. Bungalowdorf an Bungalowdorf versteckt sich unter den Palmen, manchmal so dicht gebaut, daß das Schnarchen des Nachbarn Oropax zum unbedingten Reiseutensil macht. Restaurants im Konkur113
renzkampf versuchen, sich gegenseitig mit Billigangeboten auszutricksen. Touristen, denen die einheimische Küche im Magen liegt, brauchen von Pizza und Wiener Schnitzel nicht zu träumen. Drei Discotheken sind so klug am Strand verteilt, daß die dröhnende Musik der einen dort anfängt, wo die Beschallung tropischer Nächte durch die andere aufhört. Allein bleibt man auf Boracay nicht, und das scheinen insbesondere die Männer zu wissen, die bierbauchgeschwängert ihre abgeschleppte Filipina spazierenführen. Ganze Horden angeschickerter Europäer pflügen sich unüberhörbar gröhlend durch den Sand der Strandpromenade, damit ein jeder weiß, wer hier die Platzhirsche sind. Man zeigt sich leger, schnipst mit dem Finger nach dem fünften Whisky und versäuft an einem einzigen Tropenabend ein ganzes philippinisches Monatsgehalt. Nach Hause zurückgekehrt wird man den Kneipenkumpanen Fotos einer Robinsonade einschließlich knackiger Inselbraut präsentieren. So mancher Ausländer hat sich auf der Insel niedergelassen und kämpft mehr oder weniger desillusioniert mit harten Bandagen um das wirtschaftliche Überleben. Die Einheimischen haben sich nach Balabag zurückgezogen. Angesichts einer Koprakrise mögen sie die Anfänge des Tourismus noch als wahren Segen empfunden haben. Gerät man mit ihnen ins Plaudern, machen sie aber auch ihrem Herzen Luft. Die Moralvorstellung der Insulaner wird zum Beispiel durch jene Touristinnen angekratzt, die meinen, nicht nur am Strand, sondern auch im Dorf barbusig herumlaufen zu müssen. Quasi kolonialisiert, verdingen sich viele der Einheimischen für wenig Geld und unfreundliche Worte bei den zugewanderten Europäern. Dies führt zu Revolutionen: Während unseres Aufenthaltes hat man einfach einen solchen Tyrannen erschossen. Auch für die Umwelt bleibt der Massentourismus nicht ohne Folgen, wie die verklumpten Algenherden, die farblich angepaßt, giftgrün in kleinen Wellen an den Strand schwappen, deutlich zeigen. Der Müll, mittels Büffelkarre entsorgt, stapelt sich im Landesinnern. Boracay – ein unvergeßlicher Südseetraum, wenn nicht auch uns der bittere Beigeschmack des Tourismus den Genuß verderben würde. Einmal im Jahr, kurz nach Jahreswechsel, wird die träge „Südseeidylle“ von einer undefinierbaren Unruhe gestört. Eine gewisse Spannung macht sich auf Boracay bemerkbar, und endlich erfahren auch 114
die letzten, daß in Kalibo auf der nahen Insel Panay das alljährliche Ati Atihan Fest stattfindet, ein Stück wirkliches Philippinen. Am dritten Januarwochenende bringen ganze Flotten weißer Auslegerboote Einheimische und Touristen hinüber auf die Insel Panay. Aber auch aus anderen Teilen des Landes strömen die Menschen herbei, um für drei Tage in das spektakulärste Festival der Philippinen hineinzutauchen. Auch wir lassen uns in das Fest ziehen, in den Strudel unglaublicher Menschenmassen, die sich torkelnd drei Tage durch die Stadt bewegen. Von Hunderten geschlagenen Trommeln und Xylophonen vibriert die Stadt, steigert sich der Marschrhythmus farbenfroh gekleideter Phantasiegestalten, zuerst noch morgendlich kühl, allmählich zu einem schweißigen Inferno. Wochenlang, monatelang haben die Filipinos an den farbenprächtigen Kostümen genäht, gefärbt, gestickt – nicht monströs mit Gold und Glitter, sondern mit den einfachsten Mitteln: So mancher umfrisierte Handfeger ist nun stolze Kriegermähne. Eingefärbte Kokosnüsse wogen heeresgleich glitzernd in der Sonne. Zerfranste Jutesäcke täuschen Federbüsche vor, in denen stattliche Caballeros zur Kirche tänzeln. Das Krachen der Trommeln bestimmt den Schritt der Kostümierten. Bumm, Krach – im Tänzelschritt, Bumm, Krach – Meter für Meter hinein in die Stadt. Bumm, Krach – stundenlang, tagelang, zuerst geordnet, kontrolliert, dann fast ekstatisch tänzelnd tanzend, bis der ganze Körper wie eine Trommel vibriert und die bebende Stadt in Trance verfällt, Bumm, Krach – jeden mit sich reißend. Vom Rhythmus der Trommeln fast taub geschlagen, fassen die Augen noch klaren Blickes die rußgeschwärzten Gestalten: Knallgelb, knallrot bahnen sich indianergleich stolze Kriegerscharen aus anderen Sphären ihren Weg. Kannibalen, fast nackt mit Knochen im aufgesteckten Haar und Sonnenbrille schrecken schweißig schwarz die Leute. Büffelschädel tanzen mit Phantasiedoktoren, Feuerspeier zündeln in die Menge, Vampire umarmen zarte Blumenmädchen, wilde Rambos mit Holzgewehren lassen sich von Muschelomas küssen. Junge Mädchen, kurzberockt, tanzen durch die Straßen, Cowgirls im Sambaschritt. Bumm, Krach – der Phantasie sind keine Grenzen gesetzt. Ati Atihan und langsam werden wir alle verrückt. Die Anfänge dieses Festes liegen weit zurück: Anfang des 13. Jahrhunderts flohen unter der Führung des Ministers Datu Puti meh115
rere Familien aus Bomeo vor dem Sultan Makatunaw, der die Bevölkerung tyrannisierte. Nordöstlich segelnd trafen sie auf Panay und auf die dort lebenden Ureinwohner, die Atis, kleine schwarze Negritos. Zum lächerlichen Preis eines Kopfschmuckes, einer Halskette und eines Schlüssels erwarben die hellhäutigen Neuankömmlinge gutes Land von den Atis. Die neue Freundschaft wurde mit einem Fest besiegelt, und die Angelandeten färbten sich zum Zeichen der Verbundenheit die Gesichter schwarz. Auf der Plaza herrscht unbeschreibliches Chaos: ein Tosen, Wogen und Branden schweißnasser Körper. Immer wieder ruft man uns an: „Hey Joe“, in der üblichen Anrede von Weißen. „Hey Joe – dance with us“, und ehe wir uns versehen, sind unsere Gesichter mit Ruß beschmiert, werden wir am Arm in die Reihen der Tanzenden gezogen. Jeder Widerstand ist zwecklos, der Strudel der Massen reißt uns mit, und bald schon haben wir zwischen den Maskierten einer bunten Truppe den richtigen Tanzschritt gefunden. „Hey Joe, you like drink benzine?“ Von allen Seiten hält man uns Bier und Rumflaschen entgegen. Die Einheimischen, die feuchtfröhlich die Straßen säumen, prosten uns zu „Mabuhay!“, und wir tänzeln gemeinsam mit Hausfrauen, Fischern, Bauern, Studenten und Bossen Stunde um Stunde in den Abend hinein. Die scheinbar so profane Fiesta ist für den katholischen Fillipino nicht ohne tiefen religiösen Sinn. Das Ati Atihan ist in der Hauptsache das Fest des Santo Nino, des Jesuskindes, und Santo Ninos, als Püppchen getragen, gibt es viele. Der Glaube an die Wunderkraft des Jesuskindes ist bei den katholischen Fillipinos ungebrochen, seit Ferdinand Magellan 1521 vor der Küste Cebus landete und dem König Humabon als Zeichen friedlicher Absichten eine hölzerne Santo-Nino-Figur schenkte. So manche Legende spinnt sich um das göttliche Kind. So soll es den Spaniern einst gelungen sein, feindliche Moslems von der Eroberung Kalibos abzuhalten. Die Bewohner, die ihre Körper schwarz färbten, sich kriegerisch verkleideten und wild tanzten, wirkten auf die Sklavenjäger aus Mindanao so furchterregend, daß sie die Flucht ergriffen. Daß bei diesem Ereignis Santo Nino erschienen ist, wird von keinem Fillipino ernsthaft in Zweifel gezogen. Unter Geläut geht es hinein in die Kirche. Jeder schreitet oder tänzelt zum Altar, egal ob Phantasieazteke oder Transvestit im aufreizenden Dessous. Der Priester heilt sie alle an Leib und Seele, indem er mit dem Nino-Bildnis ihren Körper berührt. 116
„Stufen zum Himmel“, die Reisterrassen Nordiuzons 117
Abendstimmung am Strand von Panglau (Bohol)
Bohol, Chocolate Hills – die Tränen des Riesen Arogo 118
Kalingafrau mit Schlangenskelett im Haar 119
Das Ati Atihan-Fest in Kalibo gilt Santo Nino, dem Christuskind 120
Ati Atihan-Fest in Kalib: mit viel Phantasie kostümieren sich die Filipinos 121
Kalingafrau in den Bergen Nord-Luzons 122
„Stufen zum Himmel“, die Reisterassen Nordluzons
Immer guter Laune, Passagiere im Jeepney 123
Strand von Panglau (Bohul)
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Nun fromm befreit, gibt sich die Gemeinde einem allgemeinen Saufgelage hin. Der noch wache Blick verschwimmt, geordnete Reihen verlieren sich im Gedränge, und so manche stolze Kostümierung verrutscht zu einem Clownskostüm. Vergessen sind Korruption, Pinatubo und Taifune. Die Stadt versinkt in einer Orgie aus Tuba, Bier, Schweiß und Lärm. Drei Tage und Nächte kommt das bunte Treiben nicht zum Stehen. Die Erschöpften machen Rast auf der Plaza mitten im Geschehen, aber sie bleiben, denn am Sonntagmorgen geht das Fest seinem Höhepunkt entgegen. Wie jedes Jahr betritt der Bischof von Panay am dritten Januarsonntag das hölzerne Podium, das direkt unter der Statue des Santo Nino errichtet wurde. Freundlich und gelassen überblickt die steinerne Figur aus einer Fassadennische der Kathedrale die Menge, während der Bischof seine Stimme zur Messe erhebt: „In nomine Patris, et Filii, et Spiritus Sancti, amen !“ Das tobende Volk verstummt, während der Geistliche die Festmesse zu Ehren des Santo Nino liest. Ehrfürchtig lauscht die Menge, bis der Oberhirte die Hände zum Segen erhebt und ausruft: „Viva kay Senor Santo Nino, es lebe das Heilige Kind !“ „Viva Santo Nino ! Viva !“ brandet es zurück. Erneut erbebt die Stadt von Trommeln und Instrumenten, und alle Jesuskindstatuen, Figuren und Figürchen werden in festliche Kleidchen gehüllt in einer farbenprächtigen Prozession durch die Straßen getragen. Und die Atis? Wo sind die kleinwüchsigen dunklen Ureinwohner geblieben, die heute im Hinterland siedeln? Sie, die einst gemeinsam mit den Malaien das Ati-Ati, das Ritual eines jeden Festes, tanzten und sich großzügig verbrüderten, sind auch erschienen. Nicht viele, ein kleines Grüppchen, irgendwo an den Rand der Plaza abgedrängt. Sie, die eigentlich neben Santo Nino im Mittelpunkt des Geschehens stehen müßten, liegen in der Gosse oder starren apathisch auf das Geschehen. Die Atis, deren Kultur einst von den Spaniern zerschlagen wurde, haben sich auch noch von der Moderne überrollt schon längst dem Trunk ergeben.
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Stufen zum Himmel Wir werfen einen letzten Blick auf das 1200 Meter hoch gelegene Banaue-Tal, einen letzten Blick aus dem Sammeljeep, der sich schaukelnd den serpentinenartigen matschigen Feldweg in Richtung Bontoc hinaufschraubt. Weit unten liegt das Tal mit seinen in der Morgensonne glitzernden Reisterrassen, die als „achtes Weltwunder“ oder „Stufen zum Himmel“ apostrophiert eine auf der Welt einzigartige Kulturlandschaft prägen. Benguet, Bontoc, Ifugao, Kalinga und Apayao heißen die hier ansässigen Igorot-Bergstämme, die als Bewohner der Kordillera Ungeheuerliches leisteten. In dem Bemühen, der schroffen Bergwelt Nordluzons ein Maximum an fruchtbaren Böden abzugewinnen, haben sie im Laufe der Jahrhunderte gigantische Reisterrassen geschaffen. Mehr als hundert Terrassen sind wie mächtige Treppen an den Berghängen übereinandergestaffelt – von der Talsohle über tausend Meter hoch. Die häufig nur wenige Meter breiten Parzellen bedecken 2 eine Fläche von 250 km . Ihre 4-6 Meter hohen Wälle aus Stein und Lehm würden aneinandergereiht mit 22 000 km Länge den halben Erdball umspannen. Zwar mögen schon diese Zahlen imponieren, aber der Anblick der von bloßer Menschenhand geschaffenen, grünsilber schimmernden Himmelsstufen ist noch beeindruckender. Und es ist Bewunderung, die uns angesichts dieses technischen und architektonischen Meisterwerkes erfüllt. Ein letzter Blick, bevor dichter naßkalter Nebel uns die Sicht auf das Tal raubt. Keiner der Filipinos spricht. Fröstelnd in die Sitze des Jeeps gedrückt, widmet sich jeder seinen Gedanken – oder ist es das Unbehagen, jenen 1700 Meter hohen Paß zu erreichen, der quasi den Eingang zu einer gefährlichen Gegend bildet? Der Motor jault im ersten Gang um kaum fahrzeugbreite Kurven, holpert über hinabgestürzte Felssteine hinein in undurchdringliche Nebelwände. Niemand spricht, alle starren wir in die milchigen Schwaden und ziehen die Jacken noch fester zusammen. Plötzlich stehen sie wie Gespenster aus dem Nichts am Wegesrand – vermummte Gestalten mit Maschinengewehren. Mit eindeutiger Geste werden wir zum Halten gezwungen und mit Gewehrlauf126
schwenk zum Verlassen des Fahrzeuges aufgefordert. Uns bleibt keine Wahl, als ihren Befehlen zu gehorchen und Aug in Aug mit dieser hochgerüsteten Truppe in gespannter Nebelatmosphäre auf die Dinge zu warten, die da kommen sollen. Wir mögen kaum glauben, daß es sich um Regierungssoldaten handelt, denn Kleidung und Gebahren erinnern eher an ein Gruppe verwegener Piraten. Mit ihren Stirnbändern, Pudelmützen, Sonnenbrillen, Turnschuhen, Cowboystiefeln und zerfledderten Kampfanzügen nebst Kippe im Mundwinkel und legerer Haltung machen die Männer auf uns einen nicht gerade vertrauenswürdigen Eindruck. Nein, die durchnäßten Gestalten lehren uns eher das Gruseln. Der Militärposten setzt deutliche Zeichen, daß wir uns von nun an in einem Gebiet bewegen, das schon Jahre von Krisen geschüttelt ist. In einem verzweifelten und unerbittlich geführten Guerillakampf führen die ansässigen Bontoc und Kalinga Krieg gegen die Regierung. Grund der blutigen Auseinandersetzung ist die Planung eines gigantischen Staudamms, der eine Kultur bedroht, die mit 3000 Jahren älter ist als das Christentum. Der Chico River soll in vier aufeinanderfolgende Stufen zwischen Bontoc und Lubuagan gestaut werden. Die Heimat von 100 000 Menschen würde unter Wasser gesetzt. Eine wirtschaftlich autarke Kultur, Reisterrassen und heilige Grabstätten wären für immer verloren. Für die Bontoc und Kalinga bedeutet dies den Untergang des eigenen Volkes und den Zusammenbruch eines ausgeklügelten sozialen Systems. Bontoc und Kalinga, eben noch befeindet, schlössen sich zusammen und führen, unterstützt von Rebellen der kommunistischen NPA, einen Krieg gegen die Regierung. Rebellen töten Soldaten und Bauarbeiter, das Militär brandschatzt, plündert und vergewaltigt in den Dörfern der Stämme. Ein Kaugummi kauender Rambo mit geschwärztem Gesicht durchsucht unser Fahrzeug und das Gepäck. Mit todernstem Gesicht wühlt er in Taschen und Kisten und scheut sich auch nicht, den Inhalt unserer Rucksäcke durcheinanderzubringen. Erst nach seinem Rapport, daß offenbar nichts Verdächtiges zu finden ist, entspannt sich die Atmosphäre – sogar zum Lächeln entblößen sich manche Soldatenzähne. Dennoch sind wir froh, diesen ungastlichen Ort verlassen zu dürfen, und als der Nebel sich lichtet, plappern auch die Passagiere gelöst und munter in bekannter Weise. Als vor uns im strahlenden Son127
nenschein das Tal von Bontoc liegt, ist der Vorfall fast vergessen, aber während wir noch Quartier in Bontoc beziehen, knattern maschinengewehrbestückte Hubschrauber im Tiefflug über die Stadt hinweg, so als wollte man uns daran erinnern, in welches Gebiet wir vorgedrungen sind. Reynold, den wir noch am Abend im Guesthouse kennenlernen, wird für die nächsten Tage unser Begleiter sein. Mit den Umständen seiner Heimat vertraut, vermittelt er Kontakte zu den Stammesangehörigen, bietet uns Schutz in dieser unsicheren Gegend und wird uns bald zum wahren Freund.
Die Höhlen von Sagada Ich spüre genau, daß irgend etwas auf meinem Fuß liegt. Im fahlen Dämmerlicht des Höhleneingangs erkenne ich, daß es ein menschlicher Schenkelknochen ist – braun, porös und nicht gerade appetitlich liegt er auf dem Spann des linken Fußes. Angegruselt schnippe ich den Knochen beiseite, ein wenig auch besorgt, denn, nach Aussage Reynolds, bringt die Berührung der Knochen Unglück und Krankheit. Gebeine und alte verwitterte Särge liegen massenhaft herum in den Grabhöhlen von Sagada, einem kleinen Bergort nordwestlich von Bontoc. Hunderte von grob getischlerten Särgen stapeln sich an den Wänden dieser Höhlen. Herabgefallene halboffene Kästen ermöglichen uns einen Blick auf das reinste Gruselkabinett grinsender Schädelköpfe und in Geweberesten eingesponnener Skelette. Manche der Särge sind hoch in düstere Nischen geschoben, andere thronen auf Felsvorsprüngen außerhalb der Höhlen. Reynold erzählt, daß die Vorfahren der um Sagada lebenden Einheimischen einstmals aus Sulawesi eingewandert sind. Von dort stamme auch die Tradition dieser Bestattung. Und tatsächlich, solch Art der „hängenden Särge“ haben wir im Torajaland auf Sulawesi schon gesehen. Selbst in dem Dialekt der Bergstämme können wir so manches Wort als indonesisches identifizieren. Kaum sind wir dem modrigen Verwesungsgeruch dieser Bestattungshöhlen entronnen, steigen wir, ausgerüstet mit Seilen und Kero128
sinlampe, an anderer Stelle nochmals durch ein riesiges dunkles Loch in die Unterwelt. Etwa fünfzig Meter schlittern wir steil hinab in die undurchdringliche Schwärze der Sumaging Höhle. Wir wandern, klettern, kriechen durch ein Labyrinth verschieden großer Gewölbe. Wir durchwaten klare, plätschernde Höhlenbäche und stehen staunend, die Kerosinlampe hocherhoben, vor Höhlenwänden, die wie Diamanten glitzern. Bis zum Bauchnabel im kalten Wasser durchqueren wir Schritt für Schritt ausgewaschene glatte Tunnels und zwängen uns durch phantastisch gewachsene Säulen von Stalagmiten und Stalaktiten. Irgendwann versagt meine Taschenlampe, und insgeheim beten wir alle, daß wenigstens die Kerosinlampe uns nicht im Stich läßt. Zum Glück scheint sich Reynold gut auszukennen. Er weiß genau, wo er das Seil einzusetzen hat, damit wir uns das Genick nicht brechen. Weit im Höhleninnem stehen wir dann vor einem türkisen See, dessen Wellen unablässig an Decken und Wänden wie Blitze schillernd blinken. Das Echo unserer Stimmen wirft uns verzerrt und hohl auf uns zurück, und ich habe das Gefühl, in ein Märchen hinabgestiegen zu sein. Auf dem Rückweg verletze ich mir einen Zeh – ausgerechnet an jenem linken Fuß, auf dem der Schenkelknochen lag. Es ist nur eine kleine Wunde, die aber Wochen später durch Infektion zum Verlust des Nagels führt. Noch beeindruckt von unserem Höhlengang, sitzen wir im Gras über der Hochebene von Sagada, über den in der Abendsonne funkelnden Reisterrassen. Still beobachten wir einen Trupp von Soldaten, der sich weit unten durch die Felder schlängelt. Ob es Guerillas oder Armeesoldaten sind, vermag auch Reynold nicht zu erkennen. Oft, so sagt er, wissen selbst die Kämpfer nicht, wen sie vor sich haben, denn in ihrer Piratentracht sind sie nur schwer auseinanderzuhalten. Während wir der Kolonne nachschauen, wird von uns allen ein Beschluß gefaßt – wir wollen in das Gebiet der Kalinga vordringen, auch wenn es nicht ungefährlich ist.
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Kalinga – Stamm der Kordillera In ein Tricycle gepreßt schlingern wir auf einem gerölligen Feldweg nach Bugnay, dem Ausgangspunkt unseres Fußmarsches in die Kalingadörfer. Der Fahrer hat sich gegen den Staub ein Halstuch über Mund und Nase gezogen und kämpft wie ein Cowboy mit den Unwegsamkeiten der Piste, die an steilen Felswänden klebt. Weit unten in der Tiefe strömt der reißende Chico River. In unendlichen Kurven hat er sich tief in die 3000 Meter aufragenden Bergzüge der Kordillera gesägt. Bei unserer Ankunft sehen wir so aus, als hätten wir die Tour bereits hinter uns. Von oben bis unten vollgepudert mit feinem braunen Staub steigen wir jene Trampelpfade hinauf, die uns tiefer in die schroffe Bergwelt der Kalinga führen. Nach stundenlangem Aufstieg, mit zum Teil lebensgefährlichen Kletterpartien, entlang an stürzenden Berghängen, sehen wir das erste Dorf. Wie eine Oase liegt es in der Wildnis. Auf einem steilen Hügel erbaut, ist die Ansiedlung nur schwer zugänglich, was ein Zeichen einer immerwährenden Bereitschaft der Verteidigung sein mag. In unablässiger Nachbarfehde galten die Kalinga noch vor ein bis zwei Generationen als gefürchtete Kopfjäger. Zum Glück aber sind die Zeiten blutiger Kriege zwischen Dörfern und Stämmen vorbei. Ein kompliziertes System von Friedensverträgen garantiert den Kalinga heute ein weitgehend ruhiges Leben mit ihren Nachbarn. So kann zum Beispiel eine verletzte Kalingaehre mit einem Büffelgeschenk wiederhergestellt werden und erfordert nicht die Kopftrophäe des Gegners – Krieger aber sind die Kalinga im Kampf gegen das Staudammprojekt dennoch geblieben. Ein unsichtbares Meldesystem hat unsere Ankunft im Dorf bereits bekannt gemacht. Uns erwarten nicht lanzenbewehrte Krieger im Lendenschurz, wie wir sie vereinzelt in Banaue gesehen haben, sondern eine Gruppe Frauen und Kinder in zerrissenen Textilien moderner Zivilisation. Daß darunter „wahre“ Kalinga stecken, ist an den blauschwarzen Tätowierungen zu erkennen. Das Dorf wird von einem Kalinga im Tarnanzug geschützt. Eher zurückhaltend lehnt er am Pfahl einer Hütte und raucht, während er uns nicht aus den Augen läßt, seine sebstgedrehte Zigarette. An seiner Schulter baumelt eine Kalaschnikow. Von Überraschung oder gar Feindschaft ist aber nichts zu spüren. 130
Alle reden durcheinander und bitten Reynold um Auskunft über den Zweck unseres Besuches. Als die Gruppe hört, daß wir von weither gekommen sind, um die Kalinga zu besuchen, zeigt man sich zufrieden und geleitet uns gastfreundlich zu einer Hütte, die für die Nacht unser Quartier sein soll. Zum Schutz gegen Witterungseinflüsse bauen die Kalinga ihre Unterkünfte, im Gegensatz zu den Bontoc, auf Stelzen. Die Hütten sind recht klein und ausschließlich aus Holz und Reisstroh erbaut. Wie Mahagoni glänzen die Dielen des behaglichen Wohnraums. In einer Ecke glimmen die Reste eines Feuers. Aus Schilfrohr geflochtene Korbwaren aller Größe stehen in fast penibler Ordnung neben sorgfältig aufgestapeltem modernen Plastikgeschirr. Feldwerkzeuge aus Holz hängen fast dekorativ neben bunt bedruckten T-Shirts an der Wand. Zweimeterspeere mit blinkend scharfer Klinge lehnen neben einer Kalaschnikow mit bananenförmigem Stutzen. Kinder, kleine Hängebauchschweine und Hunde begleiten uns bei unserem Gang durch das Dorf. Wie zu Urzeiten sind Kalingamädchen damit beschäftigt, Reis in ausgehöhlten Baumstämmen zu stampfen. So mancher Dreikäsehoch wirft mit kunstvoll geflochtener Schilfpfanne die Spreu in den Wind und trägt dabei sein kleines Geschwisterchen auf dem Rücken. Auf dem Dorfplatz stapeln sich riesige Ballen von Marihuanapflanzen, die die Kalinga zum Trocknen in der Sonne ausgebreitet haben. So manches Schwein scheint die Vorzüge dieses Rauschmittels zu kennen. Marihuanaschmatzend liegen sie in flachen Kuhlen – wie Halluzinationen müssen wir ihnen erscheinen. Ein alter Mann lädt uns zu einem Mahl aus Reis und Gemüse in seine Hütte. Reynold rät uns, nicht zu viel zu essen, denn weitere Einladungen könnten folgen. Prompt erscheint ein anderer Kalinga und fordert uns auf, sein Gast zu sein. Auf diese Art lernen wir vier verschiedene Häuser von innen kennen. Eine Einladung in das Haus oder gar ein Essen abzulehnen, hieße, die Gastfreundschaft einseitig aufzukündigen. Schon reichlich satt, bleibt uns keine andere Wahl, als pro forma weiterzuessen und eifrigen Kalingaworten zu lauschen. Auf der anderen Seite des Dorfes erstrecken sich ganze Amphitheater von Reisterrassen. Auf den gerade 20 bis 30 Zentimeter breiten Lehm- und Steinbegrenzungen balancieren wir zu den mit Feldarbeit beschäftigten Kalinga-Frauen. 131
Das, was uns vor dem Hintergrund gigantischer Bergwelten fast romantisch erscheint, ist knochenharte Arbeit. Den ganzen Tag stehen die Frauen bis zu den Waden im nassen Schlamm – stets gebückt. Den linken Arm auf das Knie gestützt, stecken sie die Reissetzlinge, Reihe für Reihe, Parzelle für Parzelle. Dabei ist so manche Alte, die sich nicht mehr aufrichten kann. Die Arbeitsteilung beim Reisanbau folgt alter Tradition. Während die Frauen pflanzen, legen die Männer Terrassen an, reparieren die Mauern oder pflügen und lockern den schlammigen Boden. Den Feierabend und uns Europäer vor Augen entwickelt sich bei den Frauen eine spaßige Atmosphäre. Sie bewerfen uns mit Matsch, scherzen und versuchen, uns zur Arbeit zu motivieren. Wir sitzen auf der Mauer, hören ihre Lieder, und ich kann mich des Gefühls nicht erwehren, doch so etwas wie Romantik zu spüren – dort am Abend zwischen den Reisfeldern in den Bergen Nordluzons.
Guerilla Schmunzelnd beantwortet die alte Kalingafrau unsere Frage nach irren Lebensjahren. Oh, alt sei sie, jedenfalls älter als wir. Ihr runzeliges Gesicht lacht in tausend Falten. Die Jahre wisse sie nicht. Warum sollte sie sie auch zählen? Etwas gebückt sitzt sie auf einem Baumstamm im Feuerschein, ein wenig schüchtern, sich bewußt, in den Mittelpunkt der Szene geraten zu sein. Während ihre noch flinken Hände Blütenstände aus getrockneten Marihuanapflanzen raufen, erzählt sie den versammelten Kalinga und uns aus ihrem Leben. Lange Zeit sei es her, daß das Flötenspiel eines jungen Kalingakriegers sie so betört habe, daß sie mit ihm die Nacht im Ebgan, dem Haus der Liebenden, verbrachte. Damals sei es noch üblich gewesen, daß die Jungen den umworbenen Mädchen Lieder vorsangen, Geschichten erzählten oder auf der Nasenflöte spielten. Das Flötenspiel des Kalinga war schön, aber das Schlitzohr habe sie mit einem Kind sitzen lassen. Ein Mädchen aus dem Nachbardorf habe es ihm angetan. Später habe sie noch sechs Kinder in die Welt 132
gesetzt, wovon aber drei sehr früh gestorben sind. Die anderen seien nach Bontoc, in die Stadt gegangen. Sehr sehr lange sei das her und es habe sich viel verändert seitdem. Heute würden die Jungen keine Lieder mehr singen oder auf der Flöte spielen, heute lauschen sie nur noch der Musik, die aus Transistorradios kommt und die sie nicht versteht. Eifrig schaltet sich ein alter Kalinga in das Gespräch ein. Auch seine Kinder hätten das Dorf verlassen. Einer seiner Söhne sei sogar nach Manila gegangen. Sie hätten nicht genug Hände, die Felder zu bestellen und zu reparieren. So manche Terrassen seien aufgegeben, da die Arbeitskraft fehle. Einig sind sich alle, daß sich viel verändert hat, seit vor zehn Jahren amerikanische Missionare das Dorf aufgesucht haben und ihnen neben dem Evangelium auch die Kleider aufschwatzten, die sie heute tragen. Es sind Kleider, die schnell kaputtgehen und sehr teuer sind. Ein Kalinga deutet mit dem Finger in die Dunkelheit und verrät, sichtlich zufrieden, daß sie dem Missionar, der sich hier niederließ, das Haus über dem Kopf angezündet haben. Als wir nach dem Staudamm fragen, ist die Aufregung groß. Hubschrauber, so erzählen sie, würden oft über die Dächer ihrer Dörfer hinwegfliegen. Die Erinnerung an knatternde Flugmaschinen schreibt ihnen deutlich Angst in die Gesichter. Viele, so erzählen sie, seien nicht mehr am Leben, und es fallen Namen von Männern, die in dem Kampf um ihre Existenz gefallen sind. Am knisternden Feuer, das schemenhaft die Hütten erleuchtet, betrachte ich die Kalinga, beobachte ihre Gesichter und sehe, daß ich ein Bergvolk vor mir habe, dessen menschliche und kulturelle Existenz der Moderne und der Profitgier des Staates zum Opfer fallen wird. Die Nacht verbringen wir mehr schlecht als recht. Schuld sind Hunderte von Kakerlaken, die erstaunlich lautstark ihr Terrain erkunden. Sie scheuen sich auch nicht, auf unseren Gesichtern herumzukrabbeln. Dennoch brechen wir sehr früh am Morgen auf. Der Weg führt uns zunächst durch labyrinthartig angelegte Reisterrassen, die nur mit einem ortskundigen Führer begehbar sind. Im Tal hängen dichte Nebelwolken, die sich langsam heben und in Fetzen über die Parzellen wirbeln. Die Flächen der gefluteten Felder blitzen im blaßweißen Licht der Morgensonne wie überdimensionale Spiegel. Ein ausgeklügeltes Bewässerungssystem aus Kanälen, Bambusrohrleitungen und Gräben versorgt sogar die in 1500 Metern gelege133
nen Reisterrassen. Das Wasser aus weit oben liegenden Bächen wird über dieses System gleichmäßg auf alle Parzellen verteilt. Reynold ist gerade dabei, uns die Architektur der Terrassen zu erklären, da stehen plötzlich, zunächst noch durch hohes Gras verdeckt, etwa fünfzehn Guerillas vor uns. Tarnanzüge, Maschinengewehre – und uns rutscht das Herz in die Hose, denn Überfälle auf Unbeteiligte, Forderungen nach Wegegeldern, ja sogar Entführungen sind in dieser Gegend nichts Ungewöhnliches. Beim Anblick der Kämpfer bereuen wir sofort, in das Kalingagebiet vorgedrungen zu sein. Die Kämpfer lächeln nicht. Die Maschinengewehre im Anschlag mustern sie uns mit ernster und konzentrierter Miene. Wir sehen ihnen an, daß sie die Waffen nicht zum Spaße tragen, blicken in schwarze Mündungen, fühlen uns hilflos ausgeliefert und wagen an den Ausgang dieser Begegnung nicht zu denken. Wir haben Angst. Zwischen Reynold und dem offensichtlichen Anführer der Truppe kommt es zu einem Wortwechsel. Ob es ein unwilliges, mißmutiges oder sogar gefährliches Gespräch für uns ist, können wir der Tonlage und den Mimiken nicht entnehmen. Wir ziehen es vor, in dieser Situation zu schweigen und freundlich vorsichtig zu grinsen. Am liebsten würden wir uns in Luft auflösen. Dann kommt das Erwartete. Wir werden aufgefordert, Geld für die Guerilla zu bezahlen. Wegezoll also und keine Entführung mit ungewissem Ausgang. Der Betrag von 750 Peso, umgerechnet 50 DM, ist angesichts dieser Situation geradezu lächerlich, aber anstatt erleichtert zu sein, Geld und nicht Freiheit oder gar Leben geben zu müssen, bin ich total entsetzt – denn das geforderte Geld haben wir nicht. Wir haben es zusammen mit unseren Papieren in Bontoc deponiert. Natürlich zeigt sich der Anführer mißtrauisch und läßt uns auspakken, was auszupacken ist. Ein Kalinga mit narbigem Gesicht tastet uns ab und fummelt in Hosentaschen. Reynold, dem die Angelegenheit sichtlich unangenehm ist, redet, scherzt und lacht, als ginge es um sein Leben. Immer wieder deutet er in die Richtung, aus der wir gekommen sind, und ich meine zu verstehen, daß er den Guerillas klarmachen will, daß wir, eben noch Gäste eines Kalingadorfes, nun unmöglich deren Opfer sein können. Letztendlich zeigt man nur noch an unseren mitgeschleppten Naturalien Interesse. Kekse, Zigaretten und Dosen wechseln den Besitzer. Und dann, wir können es kaum glauben, klopft uns der eine oder 134
andere Krieger freundschaftlich auf die Schultern. Ja, die ganze Truppe winkt uns nach, als wir mäßigen Schrittes, aber bestimmt, den Ort verlassen. Erst nach einiger Zeit fangen wir an zu reden. Wir sind furchtbar aufgeregt und doch erleichtert, daß diese gefürchtete Begegnung keine größeren Folgen für uns hatte. Reynold erzählt, er habe den Guerillas klargemacht, daß wir gekommen seien, um etwas über die Kalinga zu erfahren und um der Welt von ihrem Kampf zu erzählen. Außerdem habe der Umstand, daß wir Gäste eines Kalingadorfes waren, dazu beigetragen, daß die Begegnung so glimpflich abgelaufen ist. Wir wollen nicht die Helden spielen und ziehen nach kurzer Beratung vor, ins Tal hinabzusteigen und nach Bontoc zurückzukehren. Den Kalinga aber, die um ihre angestammte Heimat fürchten, gilt unsere Sympathie, und wir hoffen, daß bald in ihrer Jahrtausend alten Heimat Frieden einkehren wird. – Die einzigen „Stufen zum Himmel“ darf man nicht zerstören.
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BORNEO Banjarmasin – Venedig des Ostens „Ich habe noch nie so glückliche Menschen gesehen“, sage ich zu Eva, während wir am frühen Morgen durch die Kanäle Banjarmasins tuckern. Ganze Familien haben sich zur gemeinsamen großen Morgentoilette versammelt, damit beschäftigt, sich einzuseifen, mit Wassereimern zu begießen oder sich mit dem trüben Wasser des Kanals die Zähne zu putzen. Das Badezimmer ist ein Floß aus schwimmenden Baumstämmen, gekrönt von einer kleinen Holzbude, die als Toilette dient. Es scheinen glückliche Familien zu sein, die sich auf ihren schaukelnden Open Air-Badezimmern tummeln. Fröhlich lachen und winken sie, wenn sie uns sehen. Voller Übermut hüpfen vergnügte Kinder in das bräunliche Naß und versuchen, unser Boot zu fassen. Morgentoilette in Banjarmasin – ein Bild für die Götter, denn diese Menschen scheinen dem Tag mit Freuden entgegenzusehen. Die Kanäle der Stadt sind gesäumt von gedrängt stehenden Holzhäusern auf Stelzen und kleinen Moscheen mit glänzenden Zwiebeltürmen. Brücken und Brückchen überspannen die weit verzweigten Wasserwege. Von Banjarmasin sagt man, es sei das „Venedig Borneos“, und die Stadt trägt diese Bezeichnung zurecht. Das gesamte Leben spielt sich hier auf dem Wasser ab. Kanäle bilden die Hauptverkehrswege, auf denen sich im regen Verkehr Kanus, Motorboote und Kähne hin und her bewegen. Boote kommen uns entgegen, beladen mit Früchten, Holz und bunten Menschen. Sie lachen und winken. „Salamat pagi! Guten Morgen!“ Irgendwann mündet der Kanal in den großen Barito River. Es ist die Stelle, an der jeden Morgen der „Schwimmende Markt“ von Banjarmasin stattfindet. Da drängeln sich die Kanus der Marktleute, da wird gefeilscht und getauscht. Dicht an dicht dümpeln Kanus und Boote, vollgepackt mit allerhand Waren. Frauen mit riesigen Strohhü136
ten auf dem Kopf paddeln durch das Gewühl, wobei es keine Rolle spielt, wenn ihr Kanu an andere Boote rummst. Wir legen an einem schwimmenden Imbißkahn an, kaufen für Pfennige bunte Reis- und Kokoskuchen, trinken Kaffee und schaukeln inmitten von Leben. Salamat pagi – ein guter Morgen. Hätte mir jemand in Manila erzählt, daß wir schon eine Woche später auf dem Schwimmenden Markt von Banjarmasin frühstücken, ich hätte ihn für verrückt erklärt. Daß wir es tatsächlich tun, ist jener Schnapsidee zu verdanken, nicht direkt nach Indien zu fliegen, sondern einen Stop in Kalimantan, dem indonesischen Teil Borneos, einzulegen. Ein weiser und guter Entschluß, wie ich jetzt beim süßen Frühstück in der Morgensonne denke. Banjarmasin ist die größte Stadt Südkalimantans und liegt auf einer Insel, die sich im Zusammenfluß von Martapura und Barito gebildet hat. Der Hafenort sprudelt vor Lebendigkeit, ist er doch einer der bedeutendsten Handelsorte Indonesiens. Holz, Öl, vor allem aber Edelsteine sind das Kapital, von dem diese exotische Stadt lebt. Hier wohnen Chinesen, Malaien, Javaner, deren Vorfahren als Fischer, Händler und Piraten an die Küsten Borneos verschlagen wurden und heute hauptsächlich dem Handwerk nachgehen und Handelsgeschäfte betreiben. Schon früh unter den Einfluß des Islam geraten, sind die Bewohner der Stadt strenggläubige Moslems geblieben. Der Muezzin jedenfalls ist in Banjarmasin nicht zu überhören. Die unzähligen Kanäle, die hochstelzigen Holzhäuser und Tausende von Wasserfahrzeugen lassen uns erahnen, daß Banjarmasin heute noch ist, was Bangkok einmal vor hundert Jahren war. Nur schwer können wir uns vom Charme dieser Stadt lösen, aber nach drei Tagen brechen wir auf nach Tenggarong, dem Ausgangsort einer Flußtour auf dem Mahakam River. Unser Ziel ist es, die Dayak, die Kopfjäger Borneos zu besuchen.
Der Mahakam Stunde um Stunde, Tag um Tag kämpft sich das Flußboot gegen die Strömung den Mahakam hinauf. Vorbei geht es an vergessenen Dörfern, errichtet von Menschen, die sich auf gerodeten Urwaldflächen 137
eine zweifelhafte Lebensgrundlage geschaffen haben. Dort, wo früher dichter Regenwald bis an die Ufer des Mahakam reichte, erstrekken sich heute Viehweiden und Bananenplantagen. Immer wieder begegnen uns Schlepper, die die riesigen Stämme gefallener Urwaldriesen den Fluß hinunterschaffen – ein bedrückendes Bild, bedrückend auch in Zahlen: 1967 waren noch 77 Prozent Kalimantans von Urwäldern bedeckt. Heute sind es noch knapp 60 Prozent. 423 000 Hektar werden jährlich in Kalimantan gerodet. Manchmal stoppt das Boot an einem der Klohäuschen, die am Ufer vor Dörfern dümpeln. Das immergleiche Vibrieren des Bootes und das Geräusch des Motors ist dann ersetzt durch aufgeregtes Hin und Her aus- und einsteigender Passagiere und durch das Be- und Entladen von Kisten und Säcken. Wie in den meisten Teilen Borneos ist der Fluß die Lebensader dieser vorgeschobenen Posten der Zivilisation, denn Straßen gibt es hier im Innern Borneos nicht. Unter einer Plane haben wir uns häuslich eingerichtet und fahren den Windungen des Flusses folgend hinein in dieses unbekannte Land. Mit den anderen Passagieren dösend oder plaudernd verschwimmt das Zeitgefühl. Nur das Lichtspiel der aufgehenden Sonne, die Hitze des Mittags und beeindruckende Sonnenuntergänge über dem Fluß zeigen uns an, daß der Tag vergeht. Irgendwann weckt man uns, ist doch allen Passagieren inzwischen bekannt, daß wir in Murai Muntai aussteigen wollen. Uns erwartet einer jener Flußorte, die ausschließlich aus Tropenholz errichtet sind, ja, deren Straßen sogar aus Holzplanken bestehen. Nach den luftigen Bootsnächten kommt uns der Bretterverschlag der Herberge muffig und eng vor. Ratten tummeln sich über der Zimmerdecke und Moskitos stürzen sich mit Appetit auf uns Neuankömmlinge. Der unfreundliche Chinese, der sich als Herbergswirt in diesem Teil der Welt seine Lebensgrundlage geschaffen hat, verkauft uns ein karges Mahl und Bier für einen weit überzogenen Preis. Die Hoffnung auf Reichtum zieht die Menschen in diese einsamen Dschungelorte. Das erträumte goldene Leben aber entpuppt sich für viele als hartes Dasein inmitten einer undurchdringlichen Wildnis. Nicht jedem gelingt es, sich ein Stück vom Kuchen aus Gold, Diamanten, Edelhölzern und Land abzuschneiden. Wir haben keine Lust, uns als goldene Ersatzgänse ausnehmen zu lassen und machen uns daher bald auf, die Langhäuser der Dayak in Tanjung Isui und Mancong zu besuchen. Diese Orte liegen etwas ab138
seits des Mahakam an den Ufern des Jempang Sees und sind mit kleinen öffentlichen Booten in wenigen Stunden zu erreichen.
In den Langhäusern der Dayak Ein wenig enttäuscht sitzen wir auf der Veranda des Langhauses von Mancong, das einsam und verlassen am Rande des eigentlichen Dorfes steht. Mit seinen gut siebzig Metern Länge, mit seinen Schnitzereien von Ahnen, Geistern und Dämonen ist es ein Langhaus, wie ich es mir vorgestellt habe, aber es ist ein Haus ohne Leben. Wir werden die einzigen sein, die hier verloren auf siebzig Metern Raum nächtigen. Wie das Langhaus in Tanjung Isui, das wir am Nachmittag besucht haben, ist auch dieses nur noch ein Museum, ein Ausstellungsstück für Touristen, die sich hierher verirren. Viele Dajakfamilien ziehen es inzwischen vor, in Einzelhäusern zu wohnen. An die Stelle der schutzbietenden Gemeinschaft von mehreren hundert Menschen, die in einem Haus wohnten, ist die Privatsphäre kleinerer Familien getreten. Gefördert wurde diese Entwicklung von der indonesischen Regierung. Im Sinne eines nationalen Verständnisses von Identität wurden javanische Wertvorstellungen des Zusammenlebens auch nach Borneo transportiert, und diese Wertvorstellungen waren nicht zu vereinbaren mit dem „Lotterleben“, das sich nach Meinung der Regierung hinter Langhauswänden verbarg. So unterstützte man bewußt die Familien, die aus den Langhäusern auszogen und in Einfamilienhäusern siedelten, was nicht zuletzt auch eine bessere Kontrolle über die Dayak ermöglichte. Erst in jüngster Zeit hat die Regierung in Jarkarta erkannt, daß der Erhalt von Langhäusern auch ökonomische Vorteile bietet, denn die Touristen kommen, um eben jene Häuser zu sehen, die für die Dayak typisch sind – nur es sind Häuser ohne Leben. Aufbereitet, museal und konserviert stehen die einstigen Dayakdomizile da als tote Zeugen einer vergangenen Dayakkultur. Statt fröhlicher Sippen beherbergen sie heute nur noch stumme Holzfiguren, die als Souvenir zum Kauf geboten werden. 139
So sitzen wir enttäuscht auf der Veranda des stillen Hauses und studieren die Landkarte. Wir deuten hinein auf grüne Flächen und sind sicher, dort doch noch irgendwo „wirkliche“ Dayak zu finden. Unser Anliegen, eines der flachen Motorkanus zu mieten, um weiter ins Innere Borneos vorzudringen, stößt bei den Männern des Dorfes auf Skepsis. Das Wasser des Sees stehe dieses Jahr zu niedrig und der Weg hinauf nach Melak oder gar nach Long Iram sei weit. Man läßt uns schmoren. „Tidak bisa“, es geht nicht. Wir sitzen fest. Die Einheimischen wissen, daß wir uns ohne Boot nicht weiter fortbewegen können, es sei denn, wir riskierten einen Trek durch unwegsames Dschungelgebiet. Sie haben die besseren Karten in der Hand, den Preis für ein Boot zu diktieren, und weichgeschmort sind wir sicherlich bereit, mehr zu bezahlen. Zudem muß geklärt werden, wer den Job übernehmen soll und wer was dabei verdient – eine Entscheidung, die auf politischer Ebene dorfintern geregelt sein muß und die ihre Zeit braucht. Endlich in der zweiten Nacht erscheint eine Abteilung Männer des Dorfes. Sie verkünden, daß sie bereit sind, uns für einen entsprechenden Preis zu den Dayak flußaufwärts zu bringen. Nach einiger Feilscherei ist der Handel perfekt. Karyo und der Bootsjunge Agus werden uns begleiten. Unsere Laune bessert sich, denn der Geschmack von Abenteuer liegt über der letzten Nacht von Mancong. Der Jempang See ist als See kaum noch zu erkennen. Schilf, zu schwimmenden Inseln verwachsen, verdeckt die Sicht auf offene Wasserflächen. Immer wieder verfranst sich unser Boot in dem Labyrinth, immer wieder muß Karyo sich erheben, um dem Jungen am Motor Anweisungen zu geben, welche Richtung er einzuschlagen hat. So manches Mal sind wir eingekreist von undurchdringlichem Gestrüpp und müssen mit dröhnendem Motor Anlauf nehmen, um die Schilfbarrieren mit Gewalt zu durchbrechen. Zudem ist der See so flach, daß das Kanu ständig auf dem Seegrund schrappt. Agus macht seine Sache gut. Er muß die Zweimeterschraubenwelle rechtzeitig aus dem Wasser hieven, damit sie sich nicht verheddert und das Boot auf dem „Trockenen“ liegenbleibt. Aber irgendwann hängen wir doch fest, sitzen auf einem verborgenen Baumstamm mitten im Gestrüpp. Da heißt es aussteigen, hinein in den morastigen Seeboden, der gluckernd und faulig unter unseren Füßen nachgibt. Da heißt es Blutegel wegschnippen, die die Gunst des Augenblickes nutzen, wenn wir im blauen Abgasgestank des Au140
ßenborders an Leinen zerren, um das Kanu wieder freizubekommen. Kaum bleibt uns Zeit, bis zum nächsten Mal auszuruhen, denn auch das Boot leidet unter den Strapazen. Unentwegt müssen wir brakkiges Wasser schöpfen, das sich in kleinen Rinnsalen seinen Weg durch angeschlagene Planken sucht. Stunden benötigen wir, den See zu überwinden, naß vom Wasser und Schweiß mühseliger Aktionen. Was der Junge am Motor wohl denken mag über die Europäer, die so verrückt sind, jene Benuaq Dayak zu besuchen, von denen ihm bekannt ist, daß sie Wilde sind. Welch Unsinn dafür auch noch das Boot zu ruinieren – aber die Männer im Dorf haben beschlossen, daß er den Tuan mit seiner Frau zu den Dayak am Sungai Lawa begleiten soll. Der Tuan hat bezahlt, also ist es besser, keine großen Fragen zu stellen. Während Agus keine Miene verzieht, plaudert Karyo mit uns in aufgedrehter freundlicher Weise. Ihn scheint die Abenteuerlust gepackt zu haben und vergnügt greift er nach jenen Seevögeln, die aus dem Schilf aufgescheucht das Weite suchen. Endlich finden wir die Rinne, die den See mit dem Mahakam verbindet. Wir sind froh, schließlich den großen Fluß zu erreichen, an dessen Ufer sich unsere Begleiter erst einmal daran machen, die Schäden am Kanu zu reparieren. Nach flotter Fahrt erreichen wir Muara Pahu, einen kleinen Handelsort, der am Zusammenfluß des Mahakam und des Pahu-Flußsystems liegt. Hier schaukeln am Ufer auf Pontons errichtete Läden und Imbißstuben, hier ist für Dschungelprodukte einiges von dem zu haben, was die zivilisierte Welt zu bieten hat. Bauern und Jäger aus den Gebieten des Lawa und Pahu Flusses kommen hierher, um sich im Tausch gegen Bananen, Kokosnüsse, Reis, Chili und Fisch mit Petroleum, Tabak, Seife und Bier einzudecken. Wir stoppen lediglich, um die lädierte Schraube auszutauschen und uns mit Benzin zu versorgen, bevor wir den Sungai Lawa hinauffahren. Die Dschungelvegetation dieses Seitenarmes des Mahakam gibt uns das Gefühl, nun endlich in das wahre Borneo zu schlüpfen. Ganze Baumstämme haben sich in den Fluß gelegt, Stämme, die verborgen unter der Wasseroberfläche uns so manches Mal in Gefahr bringen, mit Sack und Pack umzukippen. Kreischende Affenherden, aufgeschreckt durch den Motor, hetzen in Baumwipfel. Raubvögel mit riesigen Schwingen stoßen sich von Ästen und kreisen über unseren Köpfen. Immer wieder entdecken unsere verwunderten Au141
gen bunt schillernde Tropenvögel und sogar einen Tapir, der sich aus dem Busch gewagt hat, um am Fluß zu trinken. Und dann, wir können es kaum fassen, sehen wir im Geäst über uns Dutzende von rotbraunen Nasenaffen, die stoisch ruhig auf uns Eindringlinge hinabschauen. Diese nur auf Borneo vorkommenden Affen mit ihren bis zu 15 Zentimeter langen Nasen sehen so lustig aus, daß wir uns ein leises Lachen nicht verkneifen können. Wir haben großes Glück, diese Tiere zu sehen, denn in Borneo sind sie selten geworden. Karyo, der am Bug des Bootes sitzt und mit einer langen Bambusstange nach möglichen Hindernissen stochert, wirft diese wie aus heiterem Himmel mit aller Kraft ins Ufergebüsch und springt hinterher. Ein Knistern von Ästen, ein Gerangel unter Büschen – wir wissen nicht, was dort vor sich geht. Nach einiger Zeit erscheint er zerkratzt, aber über beide Backen strahlend mit einem Tier, das er triumphierend an den Hinterläufen hochhält. Das, was das Jägerauge des Dayak erspäht und mit gezieltem Wurf lahmgeschlagen hat, ist ein Deer, eine kaum fünfzig Zentimeter hohe Kleinhirschart. Ohne große Umstände wird dem zappelnden Tier mit einem rostigen Messer die Kehle durchgeschnitten. „Ein Geschenk für die Benuaq.“ Karyo lächelt zufrieden. Im letzten Tageslicht endlich erreichen wir Bintas, eine kleine Siedlung, in dessen Nähe wir eines jener Langhäuser finden, die noch heute von den Dayak bewohnt sind. Malerisch liegt das etwa hundert Meter lange Haus auf einem gerodeten Platz inmitten des Regenwaldes. Die Dayak bitten uns, nach Vermittlung durch Karyo, in ihr Domizil, wobei sein Wildbret Anerkennung findet und als willkommenes Gastgeschenk gerne genommen wird. Über einen der grob geschnitzten Baumstämme, die wie Leitern an den Eingängen lehnen, balancieren wir in das hoch auf Pfählen gebaute Haus, vorbei an schützenden Geisterfiguren, die die Türen bewachen. Männer, Frauen und Kinder laufen neugierig zusammen, gespannt zu erfahren, was es mit dem späten Besuch dieser Fremden auf sich hat. Eine Bastmatte wird ausgerollt, und so nehmen wir Platz inmitten von Dayakleben. Es sind die Alten, die uns mit Respekt und großer Gastfreundschaft begegnen und uns zu Ehren bei uns sitzen. Wir bekommen Tee, Reis 142
und freundliche Worte von jenen Menschen, die vor hundert Jahren nicht gezögert hätten, uns den Kopf vom Rumpf zu trennen. Nur langsam gewöhne ich mich an das diffuse Licht von Öllämpchen, die die Weite des Raumes nur erahnen lassen. Palawer überall, das ganze lange Haus ein summender Bienenstock im leichten Qualm glimmender Feuerstellen. So manche der Dyakmänner hokken in der typischen Stellung von Asiaten und dampfen Nelkenzigaretten, andere liegen ausgestreckt auf Bambusmatten und dösen. Die einen essen, die anderen spielen Karten, Frauen stillen ihre Kinder, Mädchen flechten Körbe, Jungen schnitzen an Schleudergabeln – jeder macht und tut offenbar, wozu er Lust hat. Ein Bild für die Götter sind die Babys, die wie Kokons überall von der Decke hängen. Fest eingepackt sitzen sie in schaukelnden Tüchern und schlafen. Vom allgemeinen Trubel lassen sie sich nicht stören. Gerne zeigt man uns das Haus, das im wesentlichen aus einem langen Raum besteht, der sich über die Gesamtlänge des Gebäudes erstreckt, also etwa hundert Meter. Dieser Raum ist Aufenthaltsort für jeden, ist sozusagen das gemeinschaftliche Wohnzimmer aller Familien. An der Rückseite des Gebäudes aber sind Kammern abgetrennt, die von einzelnen Familiengruppen quasi als privates Refugium genutzt werden können. Daß die gesamte Anlage auf etwa vier Meter hohen Eisenholzpfählen thront, hat seinen guten Grund, denn feindliche Überfälle waren in früheren Zeiten stets zu erwarten. Zum Schutz der Sippe wurden die Treppen nachts heraufgezogen und ein Arsenal von Waffen strategisch klug verteilt. Angreifende Feinde konnten so von oben mit Blasrohren, Steinen und Lanzen beschossen werden, bis sie sich in den Dschungel zurückzogen. Die einzige Möglichkeit, die schwer einnehmbaren Langhäuser zu erobern, bestand darin, sie auszuräuchern, was häufig in einem Massaker endete, denn Köpfe waren bei allen Dyakgruppen Borneos eine beliebte, ja notwendige Trophäe. War solch ein Kopf erst einmal in die Gewalt der Sippe gebracht, war die Seele gezwungen, den Siegern zu dienen. Ein menschlicher Schädel war voller magischer Kräfte und schützte die Gemeinschaft vor allem Bösen. In Körben gesammelt und an Balken gehängt, wurde den Köpfen Opfer in Form von Früchten und Tabak dargebracht, damit sie sich in ihr Schicksal fügten. Irgendwann aber erlahmte die magische Kraft der Schädel, und dann hieß es, erneut auf Kopfjagd zu gehen. Gefangene Frauen und Kinder 143
hatten nichts zu lachen – sie wurden zu Sklaven ihrer Feinde gemacht. Zum Glück brauchen wir einen solchen Überfall diese Nacht nicht zu fürchten, denn die Zeiten der Kopfjagd sind schon lange vorbei. 1894 wurde zwischen den Holländern und den Dyakhäuptlingen in Tumbang Anoi am Kahayan Fluß ein Vertrag geschlossen, in dem sich die Dyak bereit erklärten, diese rüde Sitte zu beenden. Obwohl die Kopfjagd der Vergangenheit angehört, tragen fast alle Dyak noch heute die tödliche Waffe, mit der die Häupter abgeschnitten wurden. Es ist das sogenannte Mandau, eine Art Kurzschwert. Die Männer verwenden viel Zeit darauf, Griff und Scheide kunstvoll zu schnitzen und mit Haaren, Zähnen und Klauen zu schmücken. Ich bin gerade dabei, mir solch eine Waffe genauer anzuschauen und unter dem Blick des stolzen Besitzers mit dem Finger die Schärfe der Klinge zu testen, als ein monotoner Gesang, der weit aus dem hinteren Teil des Hauses zu mir herüberdringt, meine Neugierde weckt. Ich überwinde meine Scheu, mich der Gruppe zu nähern, die sich dort versammelt hat. Bereitwillig macht man mir Platz und gibt den Blick frei auf ein am Boden liegendes Mädchen, das offenbar krank ist und mit großen Augen um sich schaut. Ein Schamane betastet den Bauch der Kleinen, bevor er sich im Rhythmus seines Sprechgesanges bewegt, ein paar Schritte vor, ein paar Schritte zurück. Den Kopf gen Himmel gerichtet, scheint er einen guten Geist zu rufen, der ihm die Kraft gibt, das Kind zu heilen. In der rechten Hand bewegt er rhythmisch klirrende Eisenringe und trinkt mit der linken aus einer flachen Schale eine geheimnisvolle Flüssigkeit, die er auf den Bauch des Mädchens spuckt. Fasziniert beobachte ich das Geschehen, lasse mich mitreißen von der Langhausatmosphäre, vom rauchigen Dämmerlicht, von halbnackten Dayakgestalten, von kunstvollen Palmengewinden einer vergangenen Zeremonie und von dem alten Schamanen, der das Kind auf seine Art behandelt. Man gewöhnt sich an unsere Anwesenheit, und nach und nach schließen wir Freundschaften. Besonders Eva erschließt sich die Herzen der Kinder, denn als sie ihren Namen hören, ist der Bann gebrochen, werden doch sofort drei Mädchen gleichen Namens vorgeführt. Als ob sich der Headman dieses Langhauses den Ruf eines Kopfjägers bewahren wolle, präsentiert er uns einen Bärenschädel. Er er144
klärt, daß er das Tier vor nicht allzu langer Zeit im Busch mit dem Blasrohr erlegt habe, und ich bewundere den Schädel, so wie es sich gebührt. Der Alte scheint uns zu mögen, denn er wünscht, daß wir den Abend unter seiner Obhut verbringen. An einen Balken gelehnt betrachtet er zufrieden sein Reich und raucht mit uns eine Menge Kretekzigaretten, bis nach und nach die Stimmen verstummen und gegen Mitternacht das ganze Dayakvolk zu schlafen scheint. Nur das Knistern des Feuers, leises Hüsteln und das Stöhnen der Träumenden ist zu hören. Während Eva, Karyo und Agus schon lange in tiefen Schlummer gesunken sind, kann ich keine Ruhe finden. Unruhig wälze ich mich auf meiner Bastmatte, denn zu fremd sind für mich Langhausatmosphäre und nächtliche Dschungelgeräusche. 130 Menschen wohnen, schlafen und essen in diesem Haus. 130 Menschen, die nie alleine sind. „Für europäische Gemüter unvorstellbar“, denke ich, während ich einen schnüffelnden Hund von meiner Matte scheuche.
Moderne Schon im ersten Morgenlicht erwacht das ganze Haus zu neuem Leben. Es ist, als würde nach und nach ein Radio lauter gedreht, bis das ganze Haus erfüllt ist vom Stimmengewirr der vielen Menschen. Ganz in der Nähe finden wir, eingebettet im Regenwald, einen wunderschönen Naturpool, angefüllt mit glasklarem Wasser und gespeist von kleinen Wasserfällen, die zwischen Felsen stürzen. Zur Begeisterung der nußbraunen Dayakkinder stürzen wir uns in das frische Naß und schrubben uns im sprudelnden Becken den Schweiß und den Dreck des Vortages vom Körper. Sie zeigen uns voller Stolz, wie sie gegen die Strömung unter die Wasserfälle schwimmen können, bis sie in Höhlen verschwinden, um an anderer Stelle prustend wieder aufzutauchen, nicht ohne unseren Beifall zu erwarten. Es ist herrlich, hier inmitten des dichten Tropenwaldes den Tag zu verbringen, dem Rauschen zu lauschen und in leuchtende Kindergesichter zu schauen. Ein besonderer Ferientag nicht nur für uns. 145
Die Erwachsenen sind unterdessen damit beschäftigt, ihren alltäglichen Verrichtungen nachzugehen. Frauen flechten an den Eingängen des Hauses Rattankörbe, die später dem Transport von Feldfrüchten dienen werden. Männer hacken Holz oder ordnen Stangen von Zimt in der Sonne. Junge Mädchen stampfen den Reis der Sippe, während sie mit jenen Alten scherzen, die die Wurfnetze für den Fischfang flicken. Unverkennbar über all dem aber liegt der Einfluß der Moderne, denn nicht weit fließt der Mahakam, auf dem die Zivilisation in das Innere Borneos gelangt. So manche Dachschindeln sind durch Wellblech ersetzt, und zwischen den Pfählen des Langhauses liegen Bootsmotoren, an denen offenbar nicht ohne technisches Verständnis herumgebastelt wird. Die Innereien dieser Außenborder zu beherrschen, hat schon längst die Techniken erfolgreicher Kopfjagd ersetzt, denn selbst in abgelegenen Gebieten dient das Kanu mit Außenborder den Dayak als Fortbewegungsmittel. Tee trinken wir aus billigem Plastikgeschirr mit Mickey Mouse-Emblem made in Taiwan, und an den Holzwänden der Wohnparzellen kleben Bilder aus Illustrierten, von denen wir uns fragen, wie sie ihren Weg in diese Dschungelecke gefunden haben – der Eiffelturm von Paris nebst Harley Davidson – in vergilbten Farben. Ein junger Dayak stolziert als eine Art Gigolo umher. Im steifen knallblauen Synthetikhemd trägt er mit ernster Miene eine übergroße schwarze Plastiksonnenbrille, die er selbst nachts nicht von der Nase nimmt. Der Headman kann sich Eigner einer protzigen Silberuhr nennen, während seine Frau riesige Klunker eines Modeschmuckes mit Würde trägt. Selbst ein Kofferradio dödelt in der Ecke. Es rauscht, knackt und versucht weit entfernte Radiowellen einzufangen. Es sind nervende Geräusche, denen sowieso niemand seine Aufmerksamkeit schenkt. Verwundert sind wir, am Nachmittag unser Gepäck aus dem Langhaus ausgelagert zu sehen. Man weist uns eine etwas abseits gelegene Hütte zu. Haben wir uns etwa daneben benommen? Karyo kann uns beruhigen. Er erklärt, daß das Langhaus heute für uns tabu sei, denn in einer Art Erntedankfest dürfen wir die Geister der Sippe nicht stören. Wie die meisten Dayakgruppen bekennen sich auch die Benuaq zum Christentum, das von den Holländern und Briten in die Wildnis importiert wurde. Dennoch lebt auch heute der animistische Glaube 146
weiter. Trotz einkehrender Moderne sind es die Geister, die in den Langhäusern eine übergeordnete Rolle spielen. Die Kaharingan-Religion, wie der traditionelle Glaube der Dayak weithin benannt wird, spiegelt sich wider in Praktiken der Krankenheilung durch Schamanen, Totenrituale, Tätowierungen, Geisterfiguren, Jagd – und Erntefeste. Unsere Verbannung sorgt, im ansonsten recht harmonischen Langhausleben, für Verstimmung, wobei sich schließlich jene Fraktion durchsetzt, die unsere Anwesenheit während des abendlichen Festes wünscht. Also schleppt man unser Gepäck wieder zurück in die Headman-Ecke, ein Grund mehr, unsere sämtlichen Vorräte an Kretekzigaretten zu verteilen, denn die Dayak rauchen viel und gern. Der Mangel an kulturellem Dschungelleben wird in diesem abgelegenen Teil offenbar häufig und intensiv mit eigenen Festivitäten ausgeglichen. Frauen stapeln Früchte und Reis unter den Palmengewinden, wobei so mancher Hund, der sich an die Köstlichkeiten schleicht, mit einem Fußtritt aus dem Haus befördert wird, denn die Früchte werden den Geistern serviert zum Dank für eine gute Ernte. Während der ganze Schwärm fröhlich brabbelt, schlagen vereinzelte Dayak ihre Trommeln im Rhythmus dumpfer Schläge. Uralte riesige Gongs ertönen mit einem „Wumm“, und der Headman stampft in kleinen Schritten um das Palmengewinde. Hohle und verzierte Eisenringe geben dazu einen Klang von Schellen. Der Alte mit seinen dünnen Beinen und seinen Tätowierungen auf den Armen, die ihm schon in früher Jugend zum Schutz gegen Krankheiten, aber auch zum Zeichen der Macht, mit Nadel und Pflanzenfarbe eingeritzt wurden, bestimmt den Ablauf des Geschehens. Er ist es, der mit den Geistern spricht und der die alten Gesänge kennt. Die Jüngeren, die ihm folgen, scheinen nur noch Nachahmer zu sein. Sie tanzen mit dem alten Mann, weil es die Tradition so will, aber es ist deutlich zu sehen, daß ihnen die Geister nichts mehr zu sagen haben. Sie machen Scherze hinter seinem Rücken, Stupfen sich und scheinen verlegen – nur der Alte zieht andächtig seine Kreise. Wir Europäer, auf der Suche alter kultureller Werte vergessener Völker, lauschen und schauen fasziniert, während insbesondere die jüngeren Bewohner mehrheitlich dösen, Karten spielen oder versuchen, dem knatternden Radio die moderne Musik der Außenwelt zu entlocken. Der Alte tut mir leid. Seine Sprache scheinen die Jungen 147
nicht mehr zu verstehen. Er scheint der letzte „wahre“ Dayak zu sein in dieser großen Familie. Bis tief in die Nacht herrscht reges Treiben. Trotz des Lärms schlafe ich ein und lasse mich von Hahnenschrei und Hundegebell wekken. Die Dayak zeigen keinerlei Anzeichen von morgendlichem Kater. Wie gewohnt erheben sie sich im ersten Dämmerlicht von ihren Matten. Wir indes tuckern mit Karyo und Agus zurück zum Mahakam hinauf nach Melak, wo wir uns von ihnen verabschieden.
Zwei Seelen auf dem Weg in den Himmel Melak ist der letzte Vorposten der Zivilisation am Sungai Mahakam, der letzte Ort, in dem man sich mit Toilettenpapier und Zigaretten eindecken oder per Radiotelefon Kontakt zur Außenwelt herstellen kann. Viele Muslime, einstmals aus Java eingewandert, treiben hier regen Handel mit den Farmern, die ein Stück Land und eine Handvoll Vieh ihr eigen nennen und mit Landsleuten, die sich im Busch als Holzfäller verdingen. Es sind die Arbeiter, die im Auftrag inländischer und ausländischer Kompanien Planierraupen und Raupenschlepper in den Busch treiben und die Urwaldriesen schlagen, die dann zu Flößen gebunden den Mahakam hinab zu den Sägewerken Samarindas treiben. Der tristen Atmosphäre ihrer Barackenlager nach Melak entflohen, erwartet sie nicht viel, weder Spielhöllen noch leichte Mädchen. Aber ein paar Bier am Warung, ein vernünftiges Nasi Goreng und vielleicht sogar eine schlecht empfangene javanische Sendung im Fernsehen, das ist schon Paradies genug, wenn man der grünen Hölle für ein paar Tage entkommen ist. Uns dagegen treibt es weiter hinein in das Landesinnere, zu den Langhäusern von Eheng und Engkuni. In ihnen sollen wir das erleben, was in der Kaharingan-Religion der Dayak noch heute äußerste Wichtigkeit hat – tiwah, das zweite Begräbnis. Samuel, so heißt der Lehrer, der uns in Eheng empfängt und uns in erstaunlich gutem Englisch zum Bleiben auffordert. Wir hätten großes Glück, denn heute beginnt der Tag des zweiten Begräbnisses, eine Totenzeremonie, die vier Wochen dauern wird. 148
Abendstimmung am Mahakam
Von Banjarmasin sagt man, es sei das „ Venedig von Bomeo“ 149
Schamane der Dayak bei einer Heilung eines kranken Kindes 150
Die vergnügten Kinder von Banjarmasin
Der schwimmende Markt von Banjarmasin 151
Der Gott, der auf das Büffelopfer wartet 152
Nein, vier Wochen werden wir nicht bleiben, obwohl der Gedanke, für längere Zeit in das Leben eines Langhauses hineinzutauchen, sehr reizvoll ist. Vier Wochen Trubel, das ist die andere Seite der Medaille, sozusagen ein Test, soziales Riesenfamilienleben auf Dauer zu ertragen. Wir bleiben drei Tage und Nächte, die gefüllt sind mit Dayaktänzen und Gesängen. Ich bewundere so manchen Alten, der in seiner Ausdauer religiöser Praktiken unermüdlich ist. Vom stundenlangen Singsang heiser, könnte ich keinen Laut mehr sagen, und lahm von wilden Tänzen, würde ich erschöpft zu Boden sinken. Im Langhaus von Eheng gibt es in diesen Tagen kein ruhiges Plätzchen. Der Schlafentzug macht uns jedenfalls nach und nach sehr zu schaffen. Abgesehen davon steigert sich, nach immergleichem Frühstück, Mittag- und Abendessen aus Reis, Chilli und Bananen, unser Bedürfnis nach einem „vernünftigen“ Mahl zu süßen Speichelträumen. Nachdem unsere Körper von Wanzen, die sich in Scharen aus Bastmattenritzen auf uns stürzen, zerbissen sind und unsere Hände nicht mehr ausreichen, das Jucken zu bewältigen, da zusätzlich Moskitoschwärme die Abende zur Hölle machen, stellen wir fest: Nein, Dayak sind wir nicht. Bei einem Vierwochentest wären wir glatt durchgefallen. Samuel, dessen Name ihn eindeutig als christianisierten Eingeborenen ausweist, führt uns etwas abseits in den Busch zu einem überraschenden Ereignis. Fast still buddeln einige Männer in jenem Bereich des Waldes, der den Toten vorbehalten ist. Auf unsere Frage, was dies zu bedeuten habe, schweigt sich Samuel aus, reizt unsere Spannung ins Unermeßliche und tatsächlich, das, was wir erahnen, wird gruselige Realität. Nach und nach erscheinen die Gebeine eines verwesten Ahnen – Schädel, Rippen, Knochen, ein vollständiges, wenn auch zerfallenes Skelett. Was uns in unserer europäischen Einstellung zum Tod so befremdlich erscheint, ist für den Dayak religiöse Pflicht. „Wir glauben, daß unsere Verstorbenen zwei Seelen besitzen und daher zweimal beerdigt werden müssen, um den höchsten Punkt des Himmels zu erreichen.“ Die erste Seele ist nach dem Glauben der Dayak mit der ersten Beerdigung in den Himmel eingegangen. Die zweite Seele aber irrt im Bereich des Langhauses umher, bis auch sie zur Tiwah, der zweiten Bestattung, gerufen wird. 153
„Beide Beerdigungen sind nötig, um uns Lebende vor den bösen Kräften erzürnter Seelen zu schützen.“ Samuel bekennt, daß er selbst nicht mehr an diese Geschichten glaubt, aber er sei eigens aus Melak hierher gekommen, um an den Feierlichkeiten teilzunehmen. Seine Abwesenheit würde die Gemeinschaft des Langhauses von Eheng, aus dem er stammt, nicht akzeptieren. Sorgsam werden die Knochen gereinigt, auf einer Bastmatte gesammelt und in einer Prozession zum Langhaus getragen. Dort werden sie in einem „Mausoleum“, einem geschnitzten und mit Ornamenten bemalten Kasten, hängen und vier Wochen auf das zweite Begräbnis, auf den Weg in das Paradies, warten. Samuel unterrichtet uns, daß es die Überreste von vier Dayak sind, die dort im „Kasten“ leise schaukeln. Es ist üblich, daß sich mehrere Familien zusammentun, um eine kollektive Beerdigung auszurichten, denn solch ein Ritus fordert seinen Preis. Angesichts des kargen Mahls und bescheidener nächtlicher Dayaktänze stellt sich uns die Frage, was denn das Ritual so teuer macht. Eine Antwort erhalten wir nach drei Tagen, denn Samuel weiß von einem zweiten Begräbnis, das in Engkuni sein spektakuläres Ende findet. Der Weg nach Engkuni ist nicht weit und an diesem Tag ein belebter Dschungelpfad. Die sonst so stille Urwaldluft ist angefüllt mit fröhlicher Ausflugsatmosphäre, denn ganze Familien aus Barong Tonkok, ja sogar aus Melak, ziehen zu dem Ort, an dem die „zweite Beerdigung“ ihrem Höhepunkt entgegengeht. Obwohl das Fußvolk schon im Vorfeld eine größere Dayakansammlung erwarten läßt, sind wir überrascht, den Platz um das Langhaus von Engkuni als quirrlig bunten Jahrmarkt vorzufinden. Da drängeln sich Hunderte von Menschen zwischen Verkaufsbuden und Essensständen, die schon Tage vorher errichtet wurden. Auf Holzbänken sitzen dicht gedrängt Alt und Jung. Sie widmen sich kulinarischen Köstlichkeiten und lassen den Tuak in Strömen fließen. Händler bieten sinnige und unsinnige Produkte der Zivilisation an: Plastikkämme nebst Handspiegel, Nagelknipser und Plastikgeschirr, Blechspielzeug, Bälle und Taschenlampen, eben alles, was das Dayakherz begehrt, aber wenig haltbar ist. Weiter im Hintergrund liegt die Zockerecke. So manche sauer verdienten Rupiah landen in den Taschen fingerflinker Unternehmer. „Auf welcher Karte ist die schöne Frau mit den schwarzen Haaren? 154
Linke Karte, rechte Karte oder in der Mitte?“ Schnell gemischt und hin und her geschoben. „Linke Karte, die Wette gilt.“ – Aber zu flink ist der Taschenspieler, der sich zufrieden einen weiteren Rupiahschein in sein Notenbündel steckt. Andere geben sich mit weniger zufrieden. Sie haben es auf die Kinder abgesehen, die, erwartungsvoll vorgebeugt, Münzen schmeißen. Bleibt sie auf einem schwimmenden Holzstück liegen, ist ihnen ein Gewinn gewiß. Ansonsten sinkt sie taumelnd in die Tiefe einer Wasserschale. Wenn es klappen würde, wär’s ein wahres Meisterstück. Also investieren die Kleinen, um der Ehre willen, Münze für Münze in die nasse Sparbüchse, die nicht die ihre ist. Weit abseits, im Dämmerlicht des Busches, haben sich Männer aus Engkuni und Benung versammelt. Sie sind die wahren Zocker, sie gehen aufs Ganze. 40 000, 60 000 Rupiah und mehr liegen in der Luft, gebündelt und gewettet auf den blaugrün schillernden Kampfhahn, der ein wahres Prachtstück ist. Seine Halsfedern sträuben sich zu einem Kragen, während er hochgereckt in die Gegend kräht und siegesgewiß in die Runde äugt. Aber ist nicht jener weiße Hahn, dessen Schenkel ungeheuere Muskelkraft verheißen, noch kräftiger? Er gellt zurück, ein selbstbewußter Ruf voller Kampfeslust. Auch die anderen Hähne, zu Dutzenden im Busch versteckt, krähen nun aus Leibeskräften. Sie alle wollen sich im Kampf gegen die eigenen Artgenossen messen. „Awas, awas !!“ („Achtung, Vorsicht !!“) raunt es durch die verschworene Gemeinschaft von Dayakzockern bei unserem Anblick. Sie kennen uns nicht, und vorsichtig wird abgecheckt, ob nicht ein Offizieller, ein Verwaltungsmensch in unserem Fahrwasser in diese Open-Air-Spielhölle dringt. Nein, der Tuan scheint allein hier zu sein mit seiner Frau, und außerdem wettet er auf den weißen Hahn aus Benung. Scharfe Klingen werden den Hähnen an das Bein gebunden, tödliche Waffen, geeignet, den Gegner aufzuschlitzen. 8000, 10 000, ein letztes Hauchen in den Schnabel der Tiere, ein letztes Kitzeln und Massieren, ein letztes Reizen Schnabel an Schnabel, und dann ist da nur noch ein Gewirr von Federn und Flügeln zu sehen. Der Weiße ist gut, hoch kann er springen, hoch genug, um dem Bunten seinen Sporn in den Rücken zu rammen. Er wird gewinnen – seht nur, wie der Bunte sich duckt, wie er das Gleichgewicht verliert und sich mit den Flügeln stützt, um nicht zu stürzen, und sich jetzt 155
schon verletzt, dem Todesstoß preiszugegeben. Ein Flattern, Federn und Daunen, und ich schaue mit Entsetzen, wie der Weiße sich rot verfärbt, wie er plötzlich in der Kraft erlahmt, dem Bunten Chancen bietet, mit messerscharfem Dorn in seinen Leib zu springen. Die Dayak aus Benung brüllen mit mir, der Weiße solle nicht den Mut verlieren, während die Leute aus Engkuni von ihrem Bunten den Todesstoß fordern. Nach kaum zwei Minuten ist der Kampf entschieden. Verdreht und blutig zuckt der weiße Hahn im Staub, während der bunte, selbst angeschlagen, seinen Sieg lauthals in die Gegend schreit. Das Stimmengewirr verebbt zu einem Murmeln, der Kampf ist vorbei. Man klopft mir auf die Schulter, aber was sind meine 3000 Rupiah, die ich verloren habe, gegen das Geldbündel, das sich die Engkuni – Leute zufrieden in die Taschen stopfen. Vielleicht ist es nur eine kurze Freude, der nächste Kampf wird es zeigen. Samuel begleitet uns zu dem Langhaus, in das wir ohne Umstände hineingebeten werden. Die Bewohner sind mit großem Ernst darum bemüht, uns einen Platz im überfüllten Gemeinschaftsraum zu verschaffen, damit uns auch ja nichts entgeht. Ähnlich wie in Eheng hängt das „Mausoleum“ mit den Gebeinen der Toten im Gemeinschaftsraum. Priester und Headman führen einen Reigen von Mädchen an, die um die Gebeine tanzen. Hell und dumpf tönen die uralten Gongs, die den Schritt der Tanzenden begleiten. Während Frauen Früchte unter das „Mausoleum“ stellen, flüstert Samuel uns zu, daß er sich nur einmal beerdigen lassen wird. „Der Himmel steht uns allen offen und das für einen wesentlich billigeren Preis.“ Ja, teuer muß es sein, all die Gäste zu beköstigen und zudem die Beamten zu schmieren, denn alle drei Tage muß sich die Familie bei der Polizei in Melak eine neue „Feiererlaubnis“ kaufen. Bis zu 10 000 Rupiah für einen Dreitagesschein – da kommt bei vier Wochen Totenfeier so einiges zusammen. Samuel rümpft die Nase: „Natürlich ist so eine Kontrolle über unsere Dayakzusammenkünfte gewährleistet. Mißtraut uns die Distriktverwaltung, gibt es eben keinen Schein, und die Ahnen müssen weiter auf einen Platz im Himmel warten.“ Unterdessen ist eine Gruppe Dayak dabei, den Geistern ein Opfer zu bringen. Ohne viel Federlesen wird ein Schwein, das sich, in einen Sack geschnürt, durch Quieken und Strampeln als solches zu erken156
nen gibt, mit einer Lanze abgestochen. Das Blut wird mit dem eines Huhnes in Schalen aufgefangen – die Geister versammeln sich zum Fest. Sie sollen Zeugen des rituellen Hahnenkampfes sein, der unter den Augen aller stattfindet und nicht verborgen bleiben muß. Es ist der symbolische Kampf zwischen Gut und Böse, dessen Ausgang das Schicksal der Gemeinschaft in nächster Zukunft bestimmen wird. Beschwörend hebt der Priester beide Tiere gen Himmel, bevor sie sich in einen Kral aus Bambus gesetzt aufeinander stürzen. Ich staune, wie der Kampf zu Gunsten des guten Geistes entschieden wird: Der Hahn, in dem das Böse sitzt, wird in Sekundenschnelle mit Knüppeln erschlagen. „Betrug, ja Selbstbetrug“, versuche ich bei Samuel zu insistieren. „Warum“ fragt er „das Böse ist tot, das Gute lebt. Die Dayak können zufrieden sein und mit Zuversicht in die Zukunft blicken.“ Keiner der Beistehenden sieht das anders. „Yaooo, Yaiiii“, tönt es aus Dutzenden von Dayakkehlen. Was danach geschieht, läßt sowohl Eva als auch mir die Haare zu Berge stehen. In einer Prozession schreitet die Familie zu einem abgelegenen Feld, auf dem das eigentliche Opfertier, der Büffel, wartet. Im Nu leeren sich Imbißstände und Freiluftgeschäfte, denn alle, selbst die Zocker, wollen an dem Ereignis teilhaben. Das Tier, das unter einem eigens errichteten Sonnendach aus Bambus und Palmwedeln wartet, ahnt offenbar nichts Böses. Warum auch, streicheln doch zarte Frauen- und Kinderhände sein dünnes Büffelfell. Ahnungslos knabbert er seine letzten Bambussprößlinge, bevor ihm ein grausiges Ende bereitet wird. Eine dreißig Meter lange Rattanstrippe verbindet den Büffel mit dem Gott, der auf sein Opfer wartet, und Unglaubliches geschieht: Die Männer jagen das schwerfällige Tier im Kreis und traktieren es mit Messern in Hinterteil und Beine. Natürlich versucht der Büffel seinen Peinigern zu entkommen, er hetzt im Kreis und versucht, panisch auszubrechen. Aber einen Fluchtweg gibt es nicht, zu stark ist das Rattanseil, zu unbeweglich der Totempfahl, dessen Gott mit starrem Blick auf sein Opfer wartet. Plötzlich verwandeln sich die Männer, die heute schon Synthetik tragen, an Bootsmotoren herumzubasteln verstehen und Holz durch Wellblech ersetzen, zu den Kriegern vergangener Zeiten. Es ist, als ob sie in 157
einen Blutrausch verfielen, als schlügen sie die Messer in den Leib ihrer Feinde, so wie es vor hundert Jahren war. Äußerlich mögen sie viel von den Fremden, die in ihr Land eingedrungen sind, übernommen haben, im Herzen aber sind sie die Dayak Borneos geblieben. Langsam windet sich die verhängnisvolle „Kette“ um den Gott, der erst zufrieden ist, wenn das Tier zu seinen Füßen liegt. Langsam, viel zu langsam endet das grausige Spiel, bis der Büffel endlich am Pfahl verheddert sich nicht mehr bewegen kann. Blutüberströmt wartet er auf das Ende, das nur eine Erlösung ist. Die Dayak hebeln das schwere Tier mit Stangen zu Boden und schlagen ihre Mandau in seine Kehle. Samuel bemerkt unsere skeptisch entsetzten Blicke, denn lange, viel zu lange dauert die Qual, die das Opfer zu erleiden hat. „Früher waren es Sklaven, die man auf diese Art tötete“ – ein schwacher Trost für uns im Anblick des geschundenen Tieres, das in einem letzten Aufbäumen sein Leben läßt. Büffelblut wird in flüchtiger Geste in das Gesicht des Gottes geschmiert. Es ist, als ob er weine, und die Dayak tanzen um das Opfertier, das, sorgsam mit gewebten Stoffen und Früchten geschmückt, unter dem Totem liegt. Keine bösen Kräfte werden die gefährliche Reise in das Jenseits stören, die Seelen der Ahnen sind erlöst, wenn die Gebeine zum zweiten Mal bestattet sind. Einige Tage später verlassen wir Melak auf einem der Flußboote, die den Mahakam zur Küste hinunterfahren. Samuel ist überraschend zum Abschied erschienen. Wir tauschen Adressen aus und versprechen, Photos zu schicken an ihn und seine Familie. Lange noch sehen wir ihn am Pier stehen, bevor die nächste Flußbiegung unsere Blicke trennt. Ruhig fließt der Mahakam, gleichmäßig und still und wenig interessiert an den Veränderungen, die im Land der Dayak vor sich gehen.
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INDIEN Kalkutta Kalkutta spuckt uns schnell wieder aus. Die größte Stadt Indiens wirkt auf uns, vom ersten Moment der morgendlichen Ankunft an, bedrückend, häßlich, hoffnungslos und traurig. Dieser Eindruck ist verständlich, denn die Wochen in Borneo gaben uns das Gefühl, weit weg von der Welt zu sein. Viel zu schnell ist das Panorama grüner Dschungelwildnis ersetzt durch die graubraune Fassade der Acht-Millionen-Stadt, die überquillt von Lärm, Gestank und Elend. Im Morgendunst schert sich die Stadt Kalkutta wenig um die Not ihrer Kinder, die abgerissen auf mülligen Gehwegen die Nacht verbracht haben, häufig in Grüppchen aneinandergepreßt, um sich Schutz und Wärme zu geben. Kalkutta in der Hitze des Mittags kümmert es nicht, wenn es im Chaos versinkt, überbevölkert und hoffnungslos verstopft durch stinkenden und lärmenden Verkehr. Doppeldeckerbusse, die derart überladen sind, daß sie drohen zusammenzubrechen, drängeln sich durch die Straßen mit unzähligen Rikschas, Ambassadortaxen, Ochsenkarren, Herden von Radfahrern und natürlich Millionen von Menschen. Kalkutta am Abend kümmert es nicht, wenn die offenen Feuer unter den Brücken angezündet werden, wo ganze Familien unter zerrissenen Juteplanen hausen. Und wer kümmert sich schon um die, die nicht mehr die Kraft haben, sich fortzubewegen und vielleicht noch in dieser Nacht auf nackten Pflastersteinen sterben. Anfang dieses Jahrhunderts war Kalkutta die Hauptstadt des britischen Indiens. Im Jahre 1686 bestimmten die Engländer die Dörfer Govindapur, Satanute und Kalikata zu Handelsposten der East India Company. Kalkutta erhielt seinen Namen nach dem letzten dieser drei Dörfer. Ein Fort wurde gebaut, und die Stadt begann zu wachsen. Am 20. Juni 1756 wurde der Ort von Siraj-ud-Daula, dem Nawab von Bengalen, eingenommen und die britischen Bewohner flohen. Diejenigen, die nicht entkamen, wurden in ein Verlies gesperrt. Der 159
Raum, in den die 146 Gefangenen gepfercht wurden, war so klein, daß schon in der ersten Nacht 113 von ihnen erstickten. Diese Kerkernacht ist als „Tragödie vom Schwarzen Loch“ in die Geschichte Kalkuttas eingegangen. – Ein „Schwarzes Loch“, in dem auch wir das Gefühl haben zu ersticken, bleibt für uns die ganze Stadt. Es ist die Armut, die bedrückt und uns überall begegnet: In der Autorikscha, rote Ampel – ein Mädchen mit verfilzten Haaren schlängelt sich durch den Verkehr, fünf Jahre alt, mit flehenden Augen. „Paisa, Paisa“ , flüstert sie mit heiserer Stimme und berührt meine Füße. „Paisa, Paisa“ und immer wieder die Bewegung der Hände zum Mund, als wolle sie essen. „Paisa, Paisa Mister“ und dann verschwindet sie im Gedröhn der anfahrenden Fahrzeuge. Auf dem Gehweg der lebendigen Bentinck Street hockt eine Bettlerin auf dem nackten Boden. Sie trägt ein Baby im Arm, das sie einfach auf den Asphalt legt, um den Passanten eine Blechdose hinzuhalten. „Paisa, Paisa“ ruft auch sie und deutet auf das kleine Bündel. Ein Junge mit nach innen verkrüppelten Füßen versucht auf der Chowringhee Road, mit uns Schritt zu halten. Er stellt sich uns in den Weg und hofft auf eine Münze. Wie Tausende andere wird er durch Bettelei seine Familie miternähren, und daß er, wie so viele andere, eben zu diesem Zweck verunstaltet wurde, ist in Indien nichts Ungewöhnliches. Bettler begegnen uns überall auf Schritt und Tritt, denn das Heischen nach Almosen gilt in Indien als normales Geschäft. Das Bettlerdasein wird lediglich als Resultat einer früheren Existenz angesehen, und die milde Gabe gibt dem Hindu Gelegenheit, religiösen Verdienst zu sammeln. Häufig erleben wir, wie das gespendete Geld an wohlgenährte Männer weitergegeben wird. Es sind die Bosse der Syndikate, die die Bettlerszene der Stadt beherrschen. In mafiaähnlichen Strukturen organisiert, haben sie die Stadtteile in Claims abgesteckt und kassieren die Miete für einen Bettelplatz. Bettler gibt es viele, ja unzählige, und sie sind schwer abzuschütteln. Gibt man eine Münze, spricht es sich schnell herum. Im Nu ist man umringt von einer Schar von Straßenkindern, die ihre kleinen Hände entgegenstrecken. „Paisa, Paisa“, ein paar Pfennige und es liegt ein Hoffnungsschimmer in ihren Augen. Die Armen, ob auf Bahnhöfen, Plätzen oder Straßen, entlassen uns nicht aus der Peinlichkeit, zu den Begüterten zu gehören. Unser 160
Gewissen beruhigt sich nicht, allein durch die Willkür, mit der wir in die Dose der einen etwas hineingeben und die Hände der anderen leer lassen. Sie alle sind auf die Wohltätigkeit der Mitmenschen angewiesen, denn eine Sozialversicherung gibt es nicht. Mit ein paar hingeworfenen Münzen schleppen sie sich durch das Heute und hoffen im nächsten Leben zu den Begüterten zu gehören. Kalkutta ist nicht nur Smog, Elend und Chaos, Kalkutta ist auch vital und rührig, ist bunt und exotisch. Wir bummeln durch die Basare südlich der Bentinck Street, durch den Tirettamarkt und den alten chinesischen Basar. In winzigen Verschlagen, in garagenähnlichen Geschäften und unter Planen wird gepriesen, gefeilscht, gehämmert, gesägt. Quirrlige Händler, Handwerker, Lastenträger und Passanten machen die Basare zu Orten phonstarker Geschäftigkeit, die unsere Sinne bis hinein in die Nervenenden beanspruchen. Kaum ist man mit einem Sprung den Holzrädern eines Ochsenkarren entkommen, jagt ein stets klingelnder Radfahrer uns hinein in Gemüsestände, wo kreischende Händler uns in die Ohren brüllen. Kaum können wir die Arbeit der Schneider bewundern, die sich mit konzentriertem Blick durch Seidenstoffe steppen, bis uns ein Lastenträger, versteckt unter einem riesigen Ballen Baumwollflocken, in eine Geflügelecke treibt, wo unter elendem Gegacker und Geschnatter Hühner und Gänse, aus mistigen Käfigen gezerrt, ihr Leben lassen. Ein paar Schritte weiter werden unsere Nasen voll beansprucht von den Wolken der Gewürzdüfte, die uns einlullen. Betäubt von einer brisanten Mischung aus Muskat, Safran, Chilli, Curry, Knoblauch, Pfeffer, Nelken schweifen unsere Blicke über reich sortierte bunte Naschereien von rasagulla, sandesh, rasamalai, und während wir unsere Mägen mit süßem Milchkuchen beruhigen, sind uns die Mandel- und Nußdealer mit ihren Bauchläden auf den Fersen. Immer wieder bewundere ich die Schläfer, die in dem Gewimmel, in dem Gedröhn, das unsere Nerven bis auf das Äußerste reizt, ihre Ruhe finden. Die Inder verstehen es auf wundersame Art, alle Sinne zu verschließen, die Welt des Scheins, das Trugbild vorgespiegelter Wirklichkeit zu verlassen und in andere höhere Sphären zu entschweben. Da lugen die Beine eines solchen Schläfers unter dem Stand eines Teeverkäufers vor, da nutzt ein Rikschakuli das Polster seiner Karre als bequemes Bett oder da hat sich der Tagelöhner auf einen Haufen Holzkisten ausgestreckt. Entspannte Schläfer inmitten eines 161
akustischen Höllentanzes, hineinversetzt in andere Sphären – nur in Indien habe ich das gesehen. Uns erscheint der Maidan der geeignete Ort, unsere überreizten Sinne zu beruhigen. Der Maidan ist das um das Fort William gelegene Parkgelände. Er ist sozusagen die grüne Lunge Kalkuttas und wird als solche vielfältig genutzt. Hier trotzen Standbilder der Königin Victoria, Lord Curzons und anderer britischer Persönlichkeiten dem Smog der Millionenstadt. Hierher kommen die wohlhabenderen Familien, um unter schattigen Bäumen ihr Picknick abzuhalten. Eingestreut in den Park sind Fußballfelder, Kricketplätze, Teiche und Wiesen, auf denen Ziegen und heilige Kühe grasen. Hier wird gebummelt und diskutiert. Jogger umkreisen jene, die in Yoga-Sitzungen Entspannung suchen, aber auch jene, die verteilt unter den Büschen sich anderweitig erleichtern müssen. Am Südende des Maidan erhebt sich strahlend weiß die St. Paul’s Cathedral, die, 1839-1847 erbaut, zu den bedeutendsten Kirchen Indiens gehört. Am Nordende des Parks erinnert das Victoria Memorial an die Zeiten, in denen Kalkutta noch britisch war. Das als riesiges Museum genutzte Gebäude aus weißem Marmor bietet sich uns als befremdliche Kombination aus klassischer europäischer Architektur und dem Stil der Moguln-Zeit. Böse Zungen behaupten, den Engländern sei mit der Errichtung des Gebäudes der Versuch mißlungen, sich in einer Art Taj Mahal zu verewigen. Zu den ruhigen Ecken der Stadt gehört auch das Indische Museum aus dem Jahre 1875. Es ist sicher das interessanteste und kurioseste Museum, das wir kennenlernen. Der große koloniale Säulenbau mit Innenhof und weiten Sälen birgt verstaubte Sammlungen von Tempelschätzen, religiösen Skulpturen, Fossilien, Skeletten und ausgestopften Tieren, denen die Motten im Laufe der Jahrzehnte deutlich zu Leibe gerückt sind. Während unseres Besuches haben wir das Gefühl, in die Kolonialzeit der Briten hineinversetzt zu sein. Mich würde es nicht wundern, hochnäsige Ladies und Gentlemen zwischen den Schaukästen herumwandeln zu sehen. Den Rest einer kolonialen Atmosphäre gönnen sich einige Touristen im Fairlawn Hotel, das von Reiseführern als ein „Muß“ beschrieben wird. Da lassen sich Touristen aller Herren Länder das Gepäck in die englischen Zimmer tragen und erscheinen auf Gongschlag geschlossen zum Essen. „Sahib, Memsahib, dinner is ready“ , ein Ruf, der wahre Kolonialatmosphäre vermittelt. Die Touristen spielen ein 162
Stück aus vergangenen Zeiten, während draußen auf der Straße ganze Horden von Bettlern auf ein paar Paisa lauern. Mit 50 US Dollar die Nacht gerät das Theaterstück zur Farce, so daß wir es vorziehen, in einem weit billigeren Hotel zu übernachten. Kalkutta, das „Schwarze Loch“, spuckt uns im ersten Morgenlicht über den Bahnhof Howrah wieder aus, nicht ohne uns, quasi zum Abschied, nochmals das Elend vorzuführen. Der Bahnhof wird zum Asyl obdachloser Menschen, die nichts weiter als eine Matte ihr eigen nennen. Der Sarung ist ihnen Kleidung und Decke zugleich. Dicht an dicht liegen die Menschen auf dem Boden der Hallen, so als suchten sie Schutz in der Gemeinschaft ihrer Schicksalsgenossen. Wir steigen hinweg über Menschen jeden Alters, steigen hinweg über das Elend Indiens. Mit einem 300 Rupie-Ticket der ersten Klasse in der Tasche sind wir unglaublich reich und belastet mit dem schlechten Gewissen, zu den Priviligierten dieser Welt zu gehören. Auf dem Bahnsteig verkriechen sich Mütter mit ein, zwei, ja drei Kindern unter Bänken, die sie als Nachtlager besetzt haben. Ihnen dient Pappe als Unterlage für einen unruhigen Schlaf zwischen Lautsprecheransagen, donnernden Loks, quietschenden Waggons, Händlergeschrei und Passagiergedränge. Aber damit nicht genug. Zu den Unzähligen, denen das Schicksal Obdachlosigkeit und einen leeren Magen beschert, kommen die Verwachsenen und Verkrüppelten, die das Leben nicht einmal mehr anschaut. Ein Zwerg versucht ein paar Rupies zu erbetteln. Auf einen Stock gestützt, stemmt er sich Meter für Meter den Bahnsteig entlang, denn seine verkrüppelten Füße tragen ihn nicht. Ein Mädchen, mit nur halbem Gesicht schielt uns an. Daß auch sie ein paar Münzen erhofft, kann ich nur erahnen, denn sprechen kann sie nicht, und mit den unter den Schultern verwachsenen Händen ist es ihr nicht möglich, Zeichen zu geben. Ein Mann ohne Beine zieht seinen in Lumpen gehüllten Körper über den Betonboden – dreißig Meter hin zu uns mit einem Hoffnungsschimmer in den Augen.
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Zugfahrt in den Süden Howrah Station, Gleis 19, cabin B, upper berth and lower berth – unseren Zug, den richtigen Waggon, das richtige Abteil zu finden, ist nicht schwer. Die Namen der Passagiere sind in Schaukästen auf dem jeweiligen Gleis ausgehängt und an den Waggontüren angeschlagen. Da stehen unsere- Namen, gestochen scharf auf Computerausdruck. Schon bei der Reservierung ist mir aufgefallen, daß in Indien jede Anstrengung unternommen wird, die Bahn zu modernisieren. Computerreservierung und kitschige Videoshows an Bahnsteigen stehen dabei in einem krassen Gegensatz zu Gedrängel, Geschubse, zu Müll und Obdachlosen. Mit einem Streckennetz von 60 000 Kilometern steht die indische Eisenbahn an 4. Stelle der Weltrangliste, und eine Fahrt mit der Bahn ist für jeden Indienreisenden ein eigenes Erlebnis. Etwas verwundert, daß auf der Reservierungsliste unseres Abteils sechs anstatt vier Namen, entsprechend den vorhandenen Liegeplätzen, eingetragen sind, machen wir es uns bequem und warten auf die Abfahrt des Zuges. Auf dem Bahnsteig bietet sich ein auch für Inder ungewohntes Bild. Zwei offenbar gut betuchte Männer spazieren, ihre Dobermänner an der Leine, auf und ab. Die Art, wie sie ihre Hunde streicheln, sie tätscheln und ihnen ins Ohr flüstern, zeugt von einem innigen Verhältnis der Besitzer zu ihren Rassetieren. Wohlgenährt und gut gepflegt kläffen die Köter jene ausgemergelten Gestalten an, die ihnen zu nahe kommen. Wir frotzeln über die „lieben“ Tierchen und ihre Herrchen, haben wir doch solch eine Art der Hundeliebe bisher in Indien nie gesehen. Dann passiert das, was wir nicht zu ahnen wagten – die Inder steigen mit ihren Tieren in unseren Waggon, direkt in unser Abteil, hinein in cabin B. Evas Miene wandelt sich zu dem einer Lady, und ich schaue dumm in hechelnde Hundegesichter. Sabbernd hocken die nicht kleinen Vierbeiner uns gegenüber auf Erste-Klasse-Sitzen, während sich ihre Besitzer in die Abteilecken quetschen müssen. Sie seien auf dem Weg zu einer Hundeshow in Bubaneshwar, so erzählen uns strahlend die stolzen Besitzer. Auf meinen Einwand, daß es doch wohl nicht möglich sei, mit Hunden die erste Klasse zu befahren, werde ich aufgeklärt, daß ein Verbot nur für die zweite Klasse 164
gilt. Die Hunde besäßen ein Ticket und seien, wie wir Menschen, namentlich auf der Reservierungsliste geführt. „Ach so“, sage ich und versuche einen der Dobermänner abzuwehren, der auf meinen Schoß wechseln will, um mir das Gesicht zu lecken. Während ich mir überlege, wie denn die vier Schlafplätze aufgeteilt werden sollen, fängt cabin B an, fürchterlich nach Hund zu stinken. „Auch das ist Indien“, denke ich, während der Zug an Bahnsteigen vorbeitrödelt, auf denen sich das Elend von seinem Schlafplatz erhebt. In der Hitze des Mittags pennen Hunde und Besitzer hingestreckt auf ihrer Liege, wenig interessiert an Landschaft und indischem Leben. Wir rattern vorbei an ländlichen Szenen, vorbei an den trockenen Dörfern Orissas, deren Lehmhütten graugelb kleine Höfe umrahmen. Blitzschnell und wie gerafft nimmt unser Auge indischen Alltag auf. Hier ein paar Kühe, die im Schatten der Höfe dösen, Ochsen, die vor ihren großrädrigen Karren liegen, deren Deichseln in den Himmel ragen. Dort Kinder und Frauen, die sich anmutig und im Gänsemarsch auf staubigen Feldpfaden bewegen. Auf den Köpfen tragen sie literschwere Wasserkrüge. Schnell nimmt das Auge kleine Details auf – blinkende Armreifen, schwarze Haut, nackte Füße und eine leichte Wendung hin zu unserem Zug. Vorbei geht es an Bauern, die sich auf den Feldern abplagen, mit ihren dünnen dunklen Körpern, schweißnaß und geschützt gegen die sengende Sonne durch weithin sichtbare weiße Tücher, die wie Turbane um ihre Köpfe geschlungen sind. Wir huschen durch kleine Städte, deren Bahnübergänge kurze Einblicke geben in staubige Hauptstraßen, die sich hinter der Schranke angefüllt haben mit Rikschas, Ochsenkarren und Menschen. Am mülligen Bahndamm dieser Städte ist öffentliche Toilette. Da hocken Männer auf ihren Fersen und erledigen unter hochgeschlagenen Lungis ihr Geschäft, vor sich eine Kanne aus silbernem Blech, die mit dem Wasser gefüllt ist, mit dem sie sich anschließend den Allerwertesten reinigen. Alle zehn Meter sitzt da einer mit auf Knien gestützten Armen und beobachtet den Zug, der donnernd durch seine Freiluft-Toilette fährt. Nur manchmal stoppen wir an Bahnhöfen, auf denen fliegende Händler warten und Erfrischungen bieten: Bananen, Mandarinorangen, peanuts, Bonbons und Zigaretten neben Samosas und einfachen, in Bananenblätter gewickelten Curryreisgerichten. Jungen und 165
Mädchen stemmen ihre Angebote korbweise in die Höhe, den Reisenden unter die Nase. Sie unterbrechen ihren anpreisenden immergleichen Singsang nur für einen kurzen Handel, nur bis Ware und Rupies durch die Gitterstäbe der Zugfenster gereicht sind. „Chai Chai“, lebhaft und fröhlich klingt das Angebot der Teeverkäufer, die ihr Getränk heiß und viel zu süß in Gläsern reichen und es noch vor Abfahrt des Zuges schaffen, die Becher vollständig wieder einzusammeln. Von dem reichhaltig angebotenen Reiseproviant haben wir nicht viel, denn sobald sich einer der Händler auch nur unserem Fenster nähert, veranstalten unsere Dobermänner ein derartiges Theater, daß die Verkäufer es für klüger halten, unser Fenster auszusparen. Weiter geht es, Stunde um Stunde, hinein in den Abend, und wir strecken uns bis Bubaneshwar auf die Liegen. Mit unseren Reisegefährten einigen wir uns, daß Eva und ich die oberen Betten nutzen, während sich Hunde und Herrchen die unteren Liegen teilen. – Nur, die Hunde teilen nicht. Sie träumen lang hingestreckt auf Polsterliegen, während ihre Besitzer auf dem harten Boden schnarchen. In Bubaneshwar finden wir direkt hinter dem Bahnhof ein Hotelzimmer, wo wir den Rest der Nacht verbringen, um schon am nächsten Tag mit dem Bus nach Puri zu fahren, einer kleinen Küstenstadt, die, 60 km von Bubaneshwar entfernt, als einer der vier heiligsten Orte Indiens gilt.
Puri – Stadt der Pilger „Misterrr, firsttime in Puri? Misterrr, good Hotel, cheap ! Misterrr, rikscha six rupie only, cheap price !“ Ishwar, der Rikschafahrer, der uns in Puri empfängt, gibt uns keine Zeit, uns zu orientieren. Kaum haben wir den Bus verlassen, zerrt er auch schon an uns und unserem Gepäck, entschlossen, sich seine Beute nicht mehr abjagen zu lassen. Ishwar strampelt uns vom Busbahnhof in Richtung Strand – hagere Gestalt, Schweißperlen auf dem braunen muskulösen Rücken, das Hemd als Schweißtuch um den Nacken geschlagen. Bei jedem Tritt richtet er sich auf und stemmt die Füße in die Pedalen. Es ist nicht 166
einfach, das Gefährt, das mit zwei Touristen plus Gepäck beladen ist, von der Stelle zu bringen. Ishwar ist einer der Millionen Rikshafahrer, die sich, wie überall in Indien, ihren bescheidenen Lebensunterhalt durch den Transport von Waren und Passagieren verdienen, Pfennige für Kilometer. Und Ishwar erzählt uns, schon sichtlich außer Atem, von seiner Frau, vielen Kindern und armem Leben. „Misterrr, three Rupies more, ok?“ Wie die meisten Rikshafahrer Indiens hat Ishwar nicht das Geld, sich ein eigenes Gefährt anzuschaffen. Einen Großteil seines bescheidenen Einkommens muß er einem zwielichtigen Unternehmer als Miete für das Dreirad abliefern. Ishwar bezahlt die nötigen Reparaturen selbst. Da bleibt nicht viel und die Konkurrenz ist gewaltig. Ishwar muß absteigen, denn seine Muskelkraft schafft den Hügel nicht mehr, der als letztes Hindernis vor dem Strandbereich Puris liegt. Festgekrallt an Sattel und Lenkstange zerrt Ishwar sein schon rostiges Vehikel in schweißtreibender Arbeit Richtung Hügelkuppe. – Wie soll man da noch aus weichgepolsteter Bank die Aussicht auf die Umgebung genießen? Der dünne Kuli schuftet, und mich plagt das schlechte Gewissen, auch wenn ich mir ständig klarmache, daß Ishwar froh sein kann, mit dieser Fuhre ein paar Rupies zu verdienen. Aber im Angesicht des schuftenden jungen Mannes ist meine Entspannung dahin, und ich mache Anstalten abzusteigen. Ishwar protestiert vehement, denn was ist ein Rikschafahrer, der für alle Leute sichtbar, seine Kundschaft laufen läßt? Schnell würde sich herumsprechen, daß Ishwar zu schwach ist, und er würde seinen Job verlieren – eine Katastrophe für ihn und seine Familie. Endlich hat er es geschafft, und er kann sich auf der abschüssigen Straße ausruhen. Ich stelle ihm die Frage, die mich beschäftigt: „Was passiert, wenn du krank bist?“ Ishwar gibt uns zu verstehen, daß er im Krankheitsfall vom Unternehmer unverzüglich hinausgeworfen werden würde. Selbst malariakrank müßte er sich weiter auf dem Sattel halten, denn Hunderte von Arbeitslosen lauerten auf jede freiwerdende Stelle. Endlich erreichen wir den weiten Strand von Puri, und ich gebe Ishwar ein gutes Trinkgeld, vielleicht, weil es mich aus meinem Gefühl des Bedauerns entläßt, vielleicht auch, weil er kein Geschrei um die Bezahlung macht wie so viele andere. In Puri verweilen wir einige Tage, denn die Stadt mit ihrer ruhigen Atmosphäre scheint uns der richtige Platz, sich von Kalkutta zu erho167
len. Die eigentliche Stadt, die sich zwei Kilometer hinter dem Strand erstreckt, wurde um den großen Jagannath-Tempel errichtet. Im Pantheon der hinduistischen Götterwelt ist Jagannath der Gott des Weltalls. Er ist ein beliebter Gott, weil für ihn Kastenunterschiede keine Bedeutung haben und Hindus aller Kasten seinen Tempel betreten dürfen – mit Ausnahme von uns, die wir als Christen zu den Ungläubigen zählen. Ein ganzes Heer Priester und Tempelbediensteter ist für das Wohlergehen der Gottheiten Jagannath, seines Bruder Balbhadra und seiner Schwester Subhadra verantwortlich. Man schätzt, daß etwa 6000 Menschen im Tempelbezirk beschäftigt sind, dessen 58 Meter hoher pyramidenartiger weißer Turm schon von weitem sichtbar ist. Tempelwächter und eine 6 Meter hohe Mauer machen uns den Zutritt unmöglich. Wir dürfen lediglich die beiden Steinlöwen am Haupttor und hölzerne Nachbildungen der Gottheiten bewundern, die als Miniaturausgaben der im Tempel befindlichen Originale in Andenkenläden verkauft werden. Im Schatten einer solchen Bude trinken wir Thumps Up, die süße indische Cola, und beobachten die Pilgerströme. Ein buntes Gemisch aus Mittelklassefamilien, Bauern und Sadhus strebt dem Tempeltor zu, vorbei an Leprakranken, die den Gläubigen aus groben Holzkarren ihre verfaulten Hände entgegenstrecken. Sie haben ihren Bettelplatz klug gewählt, denn im Schatten des Jagannath profitieren sie von den Almosen der spendenfreudigen Pilger. Zusammen mit aschebeschmierten Heiligen, die mit verfilzten Haaren und Bettelschale an der Mauer hocken, versprechen sie jedem Frommen, der eine Münze erübrigt, religiösen Verdienst. Von Puri sagt man, daß hier der berühmte Buddhazahn versteckt gewesen sei, der auf abenteuerlichen Wegen nach Sri Lanka gelangte und heute dort im Tempel von Kandy aufbewahrt wird. Die Heiligkeit und Mystik des Ortes erfahren wir am Strand von Puri, wenn die Kiefern im Abendwind wispern und in der unheimlichen Stille die Muschelhorntöne eines Shivaanhängers zu uns herübertönen. Den Pilgern, die an den Strand kommen, scheint es ähnlich zu gehen. Sie flüstern mehr, als daß sie reden, und ein Bad im Meer, traditionsgemäß in vollen Gewändern, gehört für sie zum Höhepunkt ihrer Reise nach Puri. Die einheimischen Fischer indes sind, unbeeindruckt von den Fremden, damit beschäftigt, ihrem Fischfang nachzugehen. Unge168
wöhnlich sind ihre Boote. Drei ungeheuer schwere und klobige Baumstämme werden zu einer Art flachen Kanu zusammengebunden, das lediglich durch die Masse seines Holzes schwimmt. Mit diesen wenig vertrauenerweckenden „Flößen“ bewegen sich die Fischer auch in der hohen Brandung der Wellen, wobei nicht die Gefahr besteht, daß ihr Boot untergeht, sondern sich in seine drei Einzelteile auflöst. Der Fang scheint gut. Pralle Netze, gefüllt mit kleinen silbernen Fischleibern, werden von den Männern an den Strand gezogen und von den Frauen unter Geschrei verhökert. Die resoluten Damen nehmen kein Blatt vor den Mund, schmauchen dicke Zigarren und lassen so manchen Händler abblitzen, dessen Gebot ihnen nicht genug erscheint. Es ist eine solche Fischerin, die Eva in ihre Hütte zieht und mit Kajal europäische Brauen, Wimpern und Lider zu verschönern sucht. Evas Einwand, daß das Zeug in den Augen brenne, wird mit einem „Ach was“ im Keim erstickt, und zur besonderen Zierde wird ein roter Punkt auf die Stirn gesetzt. Bei dieser intimen Zeremonie diene ich eher als Statist. Selbst mit einer angebotenen Zigarette kann ich mir bei den Frauen keine Zuneigung erkaufen. „Hier hat offenbar das weibliche Geschlecht das Sagen“, denke ich, und so verziehe ich mich zu den Männern, die die Netze flicken. Sie sind kaum verwundert, einen Europäer in ihrem ärmlichen Schilfdorf herumschleichen zu sehen, denn als Einheimische sind sie den Anblick von Touristen gewöhnt, auch wenn es nicht viele sind, die sich in die heilige Stadt verirren. Die wenigen Traveller oder Aussteiger, denen wir begegnen, sind eher an Ganja, dem Marihuana interessiert als an Fischerleben oder Tempeln. Vollgedröhnt belagern sie die zwei Strandrestaurants und ziehen sich den Stoff hinein, der in Puri legal in staatlichen Läden verkauft wird. Gedacht ist das Rauschmittel aber weniger für bunte Freakträume als für die Pilger und Sadhus, die sich aus religiösen Gründen so manche Pfeife genehmigen. Warum auch nicht, denn Shiva, der wohl berühmteste Gott Indiens, hat seine Zeit im Himalaya mit Ganja-Rauchen verbracht. Da uns diese Form des Travellerlebens weniger zusagt, beschließen wir, eine Sightseeingtour indischer Art zu unternehmen.
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Sightseeing Schon um 6 Uhr morgens starten wir in einem klapprigen Bus, dessen Plastiksitze derart eng gestellt sind, daß selbst kleinwüchsige Inder Schwierigkeiten haben, ihre Beine unterzubringen. Unser Tourleiter, ein schon recht betagter Inder mit grauem Zwirbelbart und dünnen weißen Haaren, hat für sich das Wunder der Technik entdeckt. Von seinem Mikrophon und der knarrenden Lautsprecheranlage ist er derart begeistert, daß er die Anlage während der dreizehnstündigen Tour unentwegt nutzt. „One, two, three. Twentyfiveminutestoolatefromstartingpoint.“ Diesen Satz, der uns darüber aufklären soll, daß wir 25 Minuten zu spät losgefahren sind, kreischt er die ersten zwei Stunden regelmäßig in das Mikrophon und zwar so schnell, daß wir das Gefühl haben, uns eher auf einer Auktion als auf einer Sightseeingtour zu befinden. Versagt dem eifrigen Alten endlich einmal die Stimme, werden wir mit einem Video beschallt. Gezeigt werden indische Reißer von Liebe, Gewalt und Schmalz – bunt und ebenfalls sehr laut. So rumpeln wir mit anderen indischen Familien und einer fröhlichen Mädchenschulklasse von Sehenswürdigkeit zu Sehenswürdigkeit, von Konarak nach Pipli und Dhauli, von Bhubaneshwar nach Udayagiri und den Khandagirihügeln – dreizehn Stunden auf einer Strecke von 250 km. Hauptattraktion ist sicherlich der Sonnentempel Konorak, der im 13. Jahrhundert errichtet wurde. 1200 Handwerker sollen damit beschäftigt gewesen sein, diesen Tempelkomplex zu errichten, der dem Sonnengott Surja geweiht ist. Mit Dutzenden anderen Ausflugsindern umrunden wir das gewaltige Hauptgebäude, das als eine Art Sonnenwagen für Surja gedacht war. Der Tempel „rollt“ auf 24 riesigen behauenen Steinrädern und wird von sieben ungestümen Pferden gezogen. Die ganze Anlage ist übersät mit Plastiken, Skulpturen, Figuren und Feldreliefs. Wir können uns kaum sattsehen an Nymphen, Göttern, Musikanten und Tänzern, an Blumen- und Tiermotiven und natürlich an den aufreizenden erotischen Plastiken von Liebespaaren, die in ihrer Art wohl nur hier und in den Tempeln von Khajuraho zu finden sind. Beim Anblick der verschlungenen Paare, die sich in phantasievollen sexuellen Praktiken ergötzen, kichern die recht prüden Inder und wagen nur verschämt, die „anzüglichen“ Reliefs näher zu studieren. 170
Unbekannt ist, ob der Tempel, der einst Seeleuten als Navigationspunkt diente, je vollendet wurde. Der Tempelturm, das Deul, das zusammengestürzt ist, hätte sich dann 70 Meter hoch in den Himmel erheben müssen. Gern würden wir noch länger in diesem Tempelbezirk verweilen, aber die Zeit drängt: „One, two, three. Twentyfiveminutestoolatefromstartingpoint...“ und ab geht es hinein in die Hitze des Mittags nach Dhauli, wo einst König Ashoka in Felsen geschlagene Berichte über die Schrecken des Krieges hinterließ und zum Buddhismus übertrat. Die Inschriften sind auch nach 2000 Jahren deutlich lesbar. Wie ein Ufo strahlt uns an dieser Stelle eine riesige weiße Friedenspagode entgegen, an deren Grundmauern Buddha abgebildet ist. Im Schatten des Denkmals lernen wir Hasari Narayan kennen, einen Exilinder, der schon in jungen Jahren nach Kanada auswanderte und dort als erfolgreicher Geschäftsmann eine neue Heimat gefunden hat. Jetzt, nach zwanzig Jahren, ist er als Tourist zurückgekehrt, um auf den Spuren der Vergangenheit seine Identität als Inder wiederzufinden. Hasari wirkt desillusioniert. Das Indien seiner Kindheit kann er nicht finden. Es ist die Armut, die ihm zu schaffen macht. Er erzählt uns, daß er Wut empfindet über Korruptionsskandale und die Gleichgültigkeit, ja Apathie, in der seine Landsleute versunken sind. „Wie soll denn Solidarität entstehen, wenn allein die Kastenmentalität nicht aus den Köpfen zu kriegen ist?“ Hasari denkt in diesem Punkt ganz westlich, ist ein dem Wesen der Inder entfremdetes Kind. Wie wir, so sieht auch er Bildung und soziale Entwicklung durch Kastenvorurteile behindert. Anstrengungen seitens der Regierung, die Aufstiegschancen der Unterpriviligierten zu verbessern, scheitern meist am Widerstand der Höherkastigen. Der jüngste Beschluß der Zentralregierung in Delhi, die Chancen der Shudras und der Unberührbaren an Schulen und Universitäten zu verbessern, hatte fatale Folgen. Angehörige der Brahmanen, Kschatriya und Vaishya meinten, ihre angeborenen Kastenvorrechte verteidigen zu müssen, und lieferten sich blutige Straßenschlachten mit der Polizei. Und tatsächlich, über Tage können wir in der Indian Post den Fortgang eines Kastenstreites verfolgen. Da wollen die Harijans der Ortschaft Devodi einen ihrer Toten verbrennen. Um an den dafür vorgesehenen Platz zu gelangen, müssen sie aber das Wohngebiet höherer Kasten durchqueren, was diese aber mit dem Hinweis auf 171
die religiöse Reinheit und unter Androhung von Gewalt strikt untersagen. Erst nach einer Woche wird der Konflikt unter Vermittlung der Verwaltung beigelegt. Die Harijans, immerhin nach Gandhi auch Kinder Gottes, müssen den Wohnbezirk der Kasteninder umgehen. Trotz der angestrebten Offenheit seitens der Regierung gegenüber niederen Kasten sind Stellenanzeigen in der Zeitung ein deutliches Signal, daß die Gemeinde der Begüterten unter sich bleiben will. Da suchen Banken und öffentliche Institutionen Mitarbeiterinnen „aus gutem Hause“. Ihre Qualifikation wird nicht nach Zeugnissen, sondern neben dem Horoskop und dem Aussehen in erster Linie nach ihrer Kastenzugehörigkeit bemessen. „Alles ist Karma. Jeder erhält das, was er sich mit seinen Taten im vorherigen Leben verdient hat. – Wenn man so denkt“, sagt Hasari, „kann es nie eine Revolution in meinem Lande geben.“ „Alles ist Karma“, und ich fange an zu begreifen, warum schniecke gekleidete Inder im Straßenbild Bubaneshwars keinen Blick für verlauste Kinder, schmutzige Bettler und Leprakranke haben. Der Lingaraj-Tempel in Bhubaneshwar, den wir am frühen Nachmittag erreichen, soll der großartigste Tempel der Stadt sein. Er ist Tribhuvaneswar geweiht, dem Gott der drei Welten. Die Granitblöcke, die den Gott im Tempelinnem darstellen, sollen täglich mit Wasser, Milch und Haschischöl gebadet werden. Leider ist uns auch hier der Zugang zum Tempel verwehrt. Man verweist uns auf eine bröckelige Aussichtsplattform, die schon zu Zeiten der Briten unter Lord Curzon errichtet wurde und einen Einblick in den Tempelhof ermöglicht. Wie im Reisebuch angekündigt, erwartet uns ein Inder, der, mit der Begründung einer dringend nötigen Plattformrenovierung, Rupien fordern wird. – Eine Renovierung aber hat und wird es wohl nie geben. Ich steuere direkt auf diesen abgestellten Touristenjäger zu und ersetze seinen Redefluß durch meinen: „Was“, so sage ich, „Du stehst immer noch hier? Vor zehn Jahren hast Du mir schon Geld für die Plattform abgenommen und nichts ist bisher passiert? Die Treppen sind ja immer noch nicht renoviert ...“ Dem eifrigen Rupiensammler klappt die Kinnlade herunter und er verzieht sich flugs, ohne auch nur noch ein Wort zu sagen. Der bescheidene Blick in den Tempelhof bestätigt, daß jede Rupie hinausgeworfenes Geld gewesen wäre. Außer dem etwa 40 Meter 172
hohen Turm können wir nur die Skulpturen von Löwen erkennen, die gegen Elefanten kämpfen. Sonst ist nicht viel zu sehen. Den kleinen Megeswar Tempel dürfen wir betreten. „Schuhe aus“, dröhnt uns einer der Brahmanen an. „Schuhe aus, am Eingang lassen und Rupien zahlen ...“. Unfreundliche Worte, die nur für uns bestimmt sind, denn die Inder flanieren, die Schuhe in den Händen, auf heißen Platten im Tempelbezirk umher. Natürlich ist uns schnell klar, daß auch hier „Rupie“ das Thema ist. Die Brahmanen schreien, wir würden den Tempel entweihen, ich brülle, daß sie nicht so schreien sollen, und flüchte aus BrahmanenKlauen. „Ein guter Nebenverdienst für die Priester“, sagt Hasari, und er schüttelt den Kopf über das rüde Verhalten seiner Landsleute, die der höchsten Kaste angehören. Schon ziemlich geschafft von soviel Kultur, bietet der indische Tourleiter mit seiner näselnden Auktionsstimme zur Erholung den Besuch des Zoos von Bhubaneshwar an. Kostenpunkt, quasi außer der Reihe, 5 Rupien. Schnell stellt sich heraus, daß der eigentliche Eintritt nur 2 Rupien beträgt, unser betagter Leiter also einen erstaunlich guten Verdienst von 120 Rupien erhält, denn alle wollen den Zoo sehen. Verständlich, denn als Alternative bleibt nur eine Zweistundenwarterei in der Mittagshitze. Auf den sanft angedeuteten Hinweis des Preisunterschiedes von 5 zu 2 wird auch unser Sprachkünstler ausfällig. Er krächzt herum und die eingeschüchterten Tourgäste ziehen es vor, zu schweigen. Im Zoo selbst sind Eva und ich offenbar interessanter als die Tiere. Schulkinder aus nah und fern umringen uns bleiche Gestalten wie Filmstars und sammeln unsere Adressen. Nur der weiße Tiger macht uns Konkurrenz. Er döst, weniger gestreßt als wir, im Schatten eines Baumes und schert sich wenig um die Massen, die hinter dem Wassergraben fröhlich brabbeln. Die letzte Attraktion in der schon einsetzenden Dämmerung sind die Höhlen von Udayagiri und Khndagiri, die aus dem zweiten vorchristlichen Jahrhundert stammen. Die meist mehrgeschossigen Höhlen enthalten Reliefs von Elefanten, Schlangen, Tigern, Blumen und Frauen – und sie stinken fürchterlich nach Urin, denn so mancher Ausflügler sieht hier endlich die Gelegenheit, sich in einer der künstlich gehauenen Höhlenkammern zu erleichtern. Auf der Rückfahrt nach Puri nicken wir trotz lärmenden Videoklamauks immer wieder ein. Ein paar Kilometer vor dem Strand wirft der Tourchef alle aus dem Bus, die in Strandnähe eine Unterkunft gefun173
den haben. Während die Inder klein beigeben und auf freier Strecke aussteigen, protestiere ich gegen den Rauswurf und bleibe sitzen. Der Alte befiehlt dem Fahrer, dem diese Geschichte sichtbar unangenehm ist, das klapprige Fahrzeug weiter in die Richtung zu lenken, die nicht die unsere ist. Als der Unerbittliche dann versucht, die Volksseele der Übriggebliebenen mit Mikrophon und kreischender Stimme auf seine Seite zu bringen, entringe ich ihm dasnervende Gerät und gebe einen entsprechenden Kommentar nach hinten. Mit großen Augen verfolgen die Passagiere nun das Gerangel und lauschen fasziniert den Wortfetzen, die über Lautsprecher zu ihnen dringen. Die Situation enthält so viel Komik, daß ich noch lache, nachdem wir endgültig auf einer einsamen Straße abgesetzt worden sind. Mit Genugtuung sehe ich noch einige winkende Hände, bevor unser Tourbus in der Dunkelheit entschwindet. „Misterrr, Rikscha? Cheap price“ Erleichtert lümmel ich im Rikschasitz und strecke meine malträtierten Beine. „One, two, three. Twentyfiveminutestoolatefromstartingpoint...“, klingt es in meinen Ohren und dabei ist die Abendluft in Puri doch besonders still.
Mahabalipuram „Don’t look at me, look to the dancers!“ – Mahabalipuram die dritte, das dritte Mal die gleiche Szene: Zwei Tänzerinnen tanzen einen Tanz Shivas, den Lasya, in Glitter und göttergleich geschminkt unter Pinien vor den Kulissen der Felsentempel von Saluvan Kuppan. Unser Blick folgt weniger den geschmeidigen Bewegungen der Tänzerinnen als dem Filmteam, das die Kamera auf einer Schiene der Szene entgegenschiebt. „Please look to the dancers, not at me“, bittet der Regisseur zum wiederholten Male mit verzweifelter Stimme. Mahabalipuram die vierte, und ehe wir uns versehen, sind wir engagierte Statisten eines Filmteams aus Madras geworden. Als zufällige Zeugen hocken wir auf einem Felsen hinter den Tänzerinnen und tun ernst, fasziniert, denn die Szene soll ja gelingen. In Indien für den Film entdeckt zu werden, scheint nicht schwierig, ist doch Indien der größte Filmproduzent der Welt. Pro Jahr werden 174
500-600 Spielfime produziert, Unterhaltungsfilme, die den geplagten Indern Illusionen schenken. Ein indischer Film muß „Masala“ sein, eine bunte Mischung aus Action, Musik, Tanz, Liebe, Romantik, Dramatik, genauso also wie das undefinierbare Gewürz Masala, das man Gerichten zufügt, um sie schmackhafter zu machen. Unser Filmteam ist dabei, eine Dokumentation über die Tempelstädte Tamil Nadus abzudrehen. Nach der fünften Klappe ist der Regisseur zufrieden und engagiert uns gleich für den nächsten Tag, vor der Kamera etwas über Mahabalipuram zu erzählen, ein Ort, der es verdient, in Szene gesetzt zu werden. Unter den großen Dynastien, die das Gesicht Südindiens prägten, waren es die Pallavan-Könige, die Mahabalipuram neben Kanchipuram zur zweiten Hauptstadt machten. Die meisten Tempel des einstigen Seehafens sind im 6. und 7. Jahrhundert entstanden. Es sind schlichte, aus Sandstein gehauene Heiligtümer, die entweder Shiva oder Wishnu geweiht sind und jetzt romantisch, vom Seewind zerzaust, am Strand von Mahabalipuram stehen. Angestrahlt von der Abendsonne leuchten sie rot vor dem dunkelblauen Meer – ein Anblick, den wir jeden Abend genießen. Die Strandtempel von Mahabalipuram sind berühmt, und so wundert es nicht, daß gegen Mittag Dutzende von Ausflugsbussen anlanden. Ganze Schulklassen werden dann von ihren Lehrern durch die Tempel geschleust und ergießen sich an den weiten Strand. Wie blaue Perlen an einer Schnur, so stehen die Kinder in ihren Schuluniformen erwartungsvoll am Wasser, bis kühle Wellen die kleinen nackten Füße umspülen. Grund genug für alle, in ein allgemeines Kreischen auszubrechen. Andere Tourbesucher haben weniger die Tempel und das Meer als Attraktion im Sinn als die Handvoll europäischer Touristen, die sich in Bikini und Badehose am Strand räkeln. Um einen Blick auf leichtgeschürztes weißes Fleisch werfen zu können, spazieren die indischen Voyeure meilenweit am Strand entlang, wobei sie sich nicht scheuen, bis auf Tuchfühlung über Sonnenmatten zu stolpern. Ihr „Hello Mister“ plus Handschlag gilt der Einleitung einer Kommunikation so nebenbei, während gierige Blicke über Schenkel und Brüste gleiten. Dies ändert sich auch nicht, wenn die Freundin sich schon leicht genervt unter ihrem Sarung versteckt. In Stoßzeiten indischer Ausflugsvoyeure regel ich den Verkehr, indem ich wie ein Polizist das Spannervolk an unserer Matte vorbeileite. 175
Unsere Schadenfreude kennt keine Grenzen, als solch ein Spanner melonemümmelnd an uns vorüberschleicht und vor lauter Gucken komplett mitsamt der Melone in einem Sandloch verschwindet, das Muschelsammler zuvor gegraben haben. Kaum haben sich die Ausflügler auf den Heimweg gemacht, wird es still in Mahabalipuram. Das heißt, Stille gibt es in Mahabalipuram eigentlich nie, denn das „Pling Pling“ der Bildhauer tönt vom frühen Morgen bis spät in die Nacht über der kleinen Stadt. In unzähligen Werkstätten meißeln die Künstler aus groben Granitblöcken, aus Speckstein und Marmor Skulpturen hinduistischer Gottheiten. Vom Ganescha in Fingergröße bis hin zum zentnerschweren Vishnu oder Shiva, die eines Tages die Tempel Indiens oder gar Sri Lankas zieren werden, ist alles zu haben. Abends bummeln wir durch die wenigen Straßen des Ortes, bewundern die Arbeit der Bildhauer, plaudern mit dem Händler, der Krimskrams an der Ecke verkauft, und scherzen mit dem freundlichen Jungen, der durch unseren täglichen Zigarettenkonsum ein ganz gutes Geschäft macht und uns mal nicht übers Ohr haut. Bald schon kennen wir den Postbeamten, der von 14 bis 16 Uhr – und auch nur in diesem Zeitraum – die Post abstempelt, und wir schäkern mit dem bekifften Buchhändler, der für den Tausch von Büchern Geld nimmt, aber nicht für deren Verleih. Und wir wissen, daß der alte Dicke mit dem schwarzen Schirm, der schwer schnaufend auf dem immergleichen Stuhl hockt, der Oberdealer des Ortes ist. Fast magisch aber werden wir jeden Tag von „Arjunas Buße“ angezogen, ein riesiges in Stein gehauenes Relief, das die Geschichte des Ganges darstellt. Es zeigt Götter, Tiere und eben Arjuna bei der Buße, um den Segen Shivas zu erlangen. Jeden Tag entdecke ich in dieser fein gearbeiteten Bildgeschichte, die auf einem großen Felsen im Ortskern zu bewundern ist, neue Einzelheiten. Der Reiz Mahabalipurams liegt in seiner Mischung aus Strand, Kulturschätzen und indischem Kleinstadtleben. Es ist eine beschauliche freundliche Stadt, die uns länger verweilen läßt, als wir geplant hatten, wobei sicher auch eine Rolle spielt, daß sich die Bediensteten unserer Unterkunft alle Mühe geben, uns den Aufenthalt so angenehm wie möglich zu machen. Das Tollste ist, daß wir allabendlich das stets frisch bezogene Bett geschmückt in einer Blütenpracht vorfinden. „Das muß eine Verwechslung sein....“, denken wir beim Anblick von bunten Ornamen176
ten, Vögeln und Schmetterlingen auf weißen Laken und Kopfkissen. „Die denken bestimmt, wir seien auf Hochzeitsreise“, sage ich und will den Umstand klären, daß „Honey moon“ bei uns nicht das aktuelle Thema ist. Nein, eine Verwechslung sei das nicht, sondern ein Dank an unsere Freundlichkeit und an unser Glück, das wir offenbar ausstrahlen. – Auch das ist Indien. Gegen Ende unserer Woche in Mahabalipuram wird eine gewisse Unruhe im Ort spürbar. Der Grund ist das Nahen eines Tempelfestes, das in einem nahegelegenen Dorf stattfindet. Velu, der Koch unserer hoteleigenen Küche, der wohl das köstlichste vegetarische Essen in ganz Indien bereitet, fragt uns, ob er uns mit zum Fest nehmen kann. Natürlich sagen wir nicht „nein“ und schunkeln in seinem klapprigen Ambassador die löchrige Landstraße entlang, hin zu dem besagten Ort. Fünfzehn Kilometer hupt sich Velu durch eine nächtliche Karawane aus Ochsenkarren, Fahrrädern und Fußgängern. Alles, was Beine hat, schiebt sich hin zu jenem Tempel, dessen Lage sich durch Böllerschüsse und Feuerwerkskörper auch für den Ortsunkundigen offenbart. Das Tempelfest, das wir erleben, gilt Wischnu, dem Erhalter und Bewahrer, dem Gott, der schon neunmal die Erde besucht hat. Hunderte von Hindus bewegen sich hinein in den Tempel, dorthin, wo der Schrein des Wischnu steht. Mit den Massen werden wir in Richtung des zentralen Heiligtums geschoben, bis wir uns in einem kleinen Raum wiederfinden, der derart dampft und qualmt, daß die Vorgänge nur schemenhaft wahrzunehmen sind. Ein Polizist zwingt die Hindus in eine geordnete Reihe, so daß alle Gläubigen die Gelegenheit bekommen, an ihrer Gottheit vorbeizuhuschen und für Sekunden mit zusammengelegten Händen ihre Referenz zu erweisen. Brahmanen reichen den Pilgern, zum Zeichen der Reinigung, heiliges Feuer und Asche, die sich die Hindus auf die Stirn reiben. Schon halb erstickt vom Qualm heiliger Feuer und Räucherstäbchen erkämpfe ich mir den Rückweg hin zu dem Teil des Tempels, in dem ein Abbild der Lakschmi, Göttin des Reichtums und des Glücks, die Frau des Wischnu, langsam in Opfergaben aus Blumen und Früchten versinkt. Ich schlittere durch Blumenkohl und Bananenmatsch, verbrenne mir die Füße an glühenden Steinen, Überbleibsel der Kochstellen zur Zubereitung des Göttermahles, und finde mich 177
orientierungslos geworden in einer Szene weiterer Götterhingebung wieder. Der Boden dieser Tempelecke, in die ich gerate, ist knöcheltief bedeckt mit schwarzem Haar. Für ihren Lieblingsgott und zum Zeichen eines Gelübdes lassen sich die Tamilen die Köpfe scheren. Ob Kind, Frau oder Mann, sie alle erdulden die schmerzhafte Rasur, um dann als Glatzköpfe weiter in der Menge zu schwimmen. Die Götter werden es danken, denn Opfer und die liebende Hingabe an sie sind Möglichkeiten für den Hindu, sich aus dem Kreislauf des Lebens zu befreien und Erlösung zu erlangen. Irgendwann entdecke ich in dem Hexenkessel fanatischer Wishnuanhänger Eva und Velu wieder, und gemeinsam werden wir in dem Strudel der Menschenmassen zum tempeleigenen Becken gespült, jenem Tank, der in fast allen Tempelbezirken Südindiens zu finden ist und Gläubigen wie Göttern als Badeplatz dient. Auf dem Wasser treibt ein riesiges Floß, das als eine Art Götterschiff herumgestakt wird. Spät in der Nacht, so erfahren wir von Velu, wird Wishnu auf diesem Boot eine Fahrt unternehmen. Vor dem Hintergrund frischer Blütengewinde und angestrahlt von zehntausenden bunter Glühbirnchen wird Wischnu erstrahlen und die Gläubigen gänzlich verrückt machen, bis sie dann alle in Ekstase mit den ersten Sonnenstrahlen in das reinigende Wasser springen. Überall dort, wo wir uns aufhalten, wird das Gedränge besonders eng. So mancher Inder nutzt die Gunst des Augenblicks, uns Fremde in Hintern und Schenkel zu kneifen. Die Täter aus dem Gewirr von Leibern auszumachen, ist unmöglich. Ein wenig Luft schöpfen können wir auf dem Jahrmarkt, denn ein indisches Tempelfest ist nicht nur Ort religiösen Spektakels, sondern auch ein Ort des Vergnügens. Da reihen sich Verkaufsstände mit Plastikkitsch neben Buden voller bunter Götterbilder für den Hausgebrauch. Wahrsager, die kleine Papageien dazu abgerichtet haben, den erwartungsvollen Kunden ein Schicksalskärtchen zu ziehen, erläutern die Zukunft, während sich einfache Holzkarussells und Miniriesenräder mit großem Effekt im Kreise drehen. Die Gondeln werden durch die Muskelkraft von Männern bewegt, die wie Hamster das innere Gestänge des Rades treten. Von den angebotenen Magicshows wählen wir das Spiegelkabinett. Zerrspiegel von minderer Qualität sollen uns zum Lachen bringen. Das Zelt, eben noch leer, ist in nullkommanichts rappelvoll, denn 178
Europäer auch einmal verzerrt zu sehen, das ist so manchem Inder schon einen Rupie Eintritt wert. Es ist spät geworden, und so machen wir uns auf den Heimweg über jene Besucher hinweg, die sich schon ihren Schlafplatz gesucht haben. Sie liegen einfach so im Dreck, inmitten von Trubel und Lärm, einzeln und ganze Familien.
Die Utopie von Auroville Ziemlich lädiert von der langen Busfahrt suchen wir uns eine Unterkunft in Pondicherry, eine Stadt, die etwa hundert Kilometer südlich von Mahabalipuram liegt. Als einstige französische Enklave wurde sie erst in den frühen 50er Jahren Teil der indischen Union. Die Orientierung fällt uns nicht schwer, denn die Straßen der Stadt sind wie ein Gitternetz angelegt. Der Ort scheint ruhiger, sauberer, übersichtlicher als andere indische Orte. Keine herumstreunenden heiligen Kühe bringen den Verkehr durcheinander, kein Gewühl auf den Straßen, durch das man sich kämpfen muß. Statt dessen erinnern Uferpromenade und Boulevards ein wenig an die Atmosphäre französischer Mittelmeerstädte. Auffällig ist die Zahl der jungen Europäer, die uns überall begegnen. „Hello, Bon jour...“, man grüßt sich im Vorübergehen. Was viele Besucher aus aller Herren Länder vereint, ist das Bewußtsein, zu einer Gemeinde von Gleichgesinnten zu gehören. Auf der Suche nach einer besseren Welt, nach Erkenntnis und friedlichem Miteinander hat es die jungen Leute vor allem aus Frankreich, Deutschland, Holland und Amerika hierher verschlagen. Yoga und Meditation, gesunde Lebensführung und Gemeinschaft ist die Devise der sinnsuchenden Fremden. Und sie haben sich ihre eigene Welt gebaut. Etwa 13 km vor der Stadt liegt Auroville, eine Ansiedlung, die laut gemeindeeigenem Prospekt ein „Ort der Menschlichkeit“, eine „Brücke zwischen Vergangenheit und Zukunft“ und ein „Ort des Friedens und der Harmonie“ sein soll. „Toll“, denken wir, heuern eine Motorrikscha und schauen, was es mit diesem Paradies auf Erden auf sich hat. Nach wenigen Kilome179
tern wird die Rikscha zur Zeitmaschine und über holprige Feldwege verlassen wir Indien, reisen direkt hinein in die Utopie Auroville. Verteilt auf einer Fläche von 20 km2 zwischen Rasen, Plantagen, Parks und Gärten liegen die 14 Siedlungen, deren Häuser uns wahrlich die Vision einer Zukunftsreise vorgaukeln. Wäre nicht die Realität unserer knatternden Rikscha und des schlechtgelaunten Fahrers, die Illusion fremden Planetenlebens wäre perfekt. Wir umrunden Wohnhäuser, Farmen, Kulturstätten und Versammlungsgebäude, die von dem Franzosen Roger Anger entworfen wurden. Die architektonisch raffiniert gestalteten Gebäude können auch einem Sciencefiction-Film als Kulisse dienen. Uns erscheinen sie wie in Beton gegossene Raumschiffe oder gelandete Ufos von anderen Sternen. Im Zentrum liegt, quasi als Herz Aurovilles, das Matri Mandir. Etwa 40 Meter hoch, ein überdimensionaler Ball aus Betonwaben und Spiegelglas. Im Innern birgt die riesige Kugel eine Meditationshalle, Versammlungsplatz und Ort der Stille für Siedler und Besucher. Der „geistige Vater“ Aurovilles war Schri Aurobindo Gosch (18721950). Der in Kalkutta geborene Arztsohn gelangte nach anfänglichen politischen revolutionären Jahren über Auditionen und Visionen zu einer positiven Ansicht der Menschen und der Welt. Bis zu seinem Tode lebte er als Yogi in Pondicherry. Nach Aurobindos Tod übernahm eine Französin die geistige Führung des Ashram. Sie erdachte Auroville, ein „Experiment internationalen Zusammenlebens, in dem Männer und Frauen in Frieden und dauernder Harmonie ohne Rücksicht auf Konfession, Politik und Nationalität zusammenleben.“ So jedenfalls beschreibt es der Prospekt. 1968 wurde der Grundstein für Auroville gelegt. In einem symbolischen Akt der Einigkeit füllten Vertreter von 127 Staaten Erde ihrer Heimatländer in eine Urne, die auf einem freien Feld bei Pondicherry niedergesetzt wurde. Mit Unterstützung der UNESCO begann der Aufbau der Stadt, von der man sich so viel erhoffte. Im geistigen Sinne Aurobindos und der „Mutter“ sollte Auroville ein Ort sein, den keine Nation als alleinigen Besitz beanspruchen kann. Ein Ort, an dem alle Menschen freien Willens nur einer Autorität zu gehorchen haben – der höchsten Wahrheit. Es sollte ein Ort sein, an dem die Entwicklung der menschlichen Seele und des Geistes Vorrang hat, und ein Platz, an dem Konkurrenz und Zwist zwischen den Menschen ersetzt ist durch Beziehungen wirklicher Bruderschaft. 180
Was daraus geworden ist, erfahren wir von Rainer, den wir unweit des Matri Mandir, in einem der gemeinnützigen Speisesäle kennenlernen. Rainer, der seit fünf Jahren mit Frau und Kind in Auroville lebt, erinnert sich an gute und an schlechte Zeiten. Nach dem Tod der „Mutter“ 1973 kam es schnell zu Führungskämpfen der Sri Aurobindo Society in Pondicherry einerseits und der Gemeinschaft in Auroville andererseits. Die Uneigennützigkeit des Gründungsgedanken war schnell ersetzt durch menschliche Unzulänglichkeit und Bitterkeit. Vorwürfe und Beschuldigungen wuchsen von beiden Seiten. Während die Gemeinschaft in Auroville der Society in Pondicherry vorwarf, die Gelder zu mißbrauchen, klagte die Society über ein falsch verstandenes Konzept der Gemeinschaft, die mit Sex und Drogen zu freizügig umgehe. Die Society, die Empfänger finanzieller Unterstützung aus aller Welt war, drehte der Gemeinschaft in Auroville den Geldhahn zu. Die Siedler versuchten nun auf eigenen Füßen zu stehen. Sie trennten sich endgültig von der Society und versuchten mit großer Energie, die Versorgung ihrer Gemeinschaft zu sichern. 1976 aber war das Elend dann doch so groß, daß sich Frankreich, Deutschland und die USA genötigt sahen, Mittel zur Verfügung zu stellen, um die Bewohner der außergewöhnlichen Stadt vor dem Hungertod zu bewahren. Schließlich übernahm die indische Regierung die Verwaltung des Projekts. Es wurde ein Gremium gegründet, in dem alle Interessengruppen ein Mitspracherecht haben. „Heute geht es uns nicht schlecht“, sagt Rainer, der einst in Köln Medizin studierte. Er zählt uns die Einrichtungen auf, die die Gemeinschaft inzwischen unterhält. Neben einer Farm mit Obst- und Gemüseanbau gibt es ein Projekt zur Umweltforschung und Aufforstungszentren. Viele der Bewohner arbeiten in der Landwirtschaft und in Handwerksbetrieben. Schulen, ein Theater und Sporteinrichtungen sind entstanden, und Rainer kann seine medizinischen Kenntnisse in der gemeinschaftseigenen Gesundheitsstation anwenden. „Unser Leben hier ist ruhig. Besucht doch einmal meine Frau! Sie unterhält in Pondicherry unseren gemeinnützigen Kunstgewerbeladen.“ „Promesse, Hope, Udavi, Dicipline, Fertile, Fraternity, Aspiration …“, die Namen der Siedlungs- und Projekteinheiten klingen nicht nur exotisch, das ganze Projekt selbst erscheint uns exotisch – jedenfalls inmitten indischen Lebens. 181
Wie lange Rainer noch bleiben will, weiß er nicht. „Manchmal überkommen mich Zweifel, ob ich nicht doch nach Europa zurückkehren soll. Ich vermisse die Wechsel der Jahreszeiten. Aber wenn ich an Konsumterror und Karrieredienst denke ...“ Auf das im Bau befindliche Matri Mandir, auf die riesige Meditationskugel weisend, setzt sich Rainer eigene Grenzen: „Seit 20 Jahren werkeln wir am Mantri Mandir. Ich werde bleiben, bis es fertiggestellt ist, und mich dann entscheiden.“Wie immer seine Entscheidung ausfallen mag, wir wünschen ihm Glück und hoffen, daß die Utopie eines Paradieses auf Erden, so wie es sich Shri Aurobindo Gosch einst gedacht hatte, verwirklicht werden kann. Auf der Rückfahrt stoppen wir an der aurovilleeigenen Biobäckerei und genehmigen uns köstlichen Kuchen, körnig und frisch. Und dann knattern wir zurück ins wirkliche Indien, und ich sehe, daß der Fahrer unserer „Zeitmaschine“ endlich lächelt.
Tempel, Götter und Brahmanen Chidabaram, Tanjore, Kumbakonam, Tiruchirappalli und Madurai sind die Tempelstädte , die wir im indischen Bundesstaat Tamil Nadu besuchen. Schön sind sie, die hinduistischen Tempel Südindiens, schön, gewaltig, bunt und voller Leben. Auch wenn sie sich gleichen, stehen wir doch jedesmal aufs neue fasziniert vor den sagenhaft ausgeschmückten Tempeltürmen, den Gopurams, die sich pyramidengleich über den Eingangstoren erheben. Bis zu 70 Meter ragen sie empor, übersät mit Skulpturen von Göttern, Dämonen und Fabelwesen. Ihre Welt, die disneygleich gen Himmel ragt, sprüht vor Lebendigkeit, ja führt uns das ganze quirrlige Leben Indiens vor, nur daß es eben die Götter sind, die sich an Tempeltürmen tummeln. Und es sind Tausende von Wesen, die den Himmel der Hindus bevölkern und in ihren Tempelwohnungen so verehrt werden, als seien es Geschöpfe mit menschlichen Eigenschaften. Man setzt ihnen 182
Speise und Trank vor, badet und kleidet sie, man bringt sie abends zu Bett oder führt sie anläßlich bestimmter Festtage auf riesigen Wagen in der Stadt spazieren. Neben Brahma, dem Schöpfer, und Wischnu, dem Erhalter, wird in den meisten Tempeln Shiwa, der Zerstörer, verehrt. Allein seine vielfachen Erscheinungen lassen uns erahnen, wie kompliziert und vielschichtig der Götterhimmel der Hindus ist. Allein Shiwa trägt 1008 Namen und kann sich in unzählig vielfältiger Weise darstellen. Da ist Shiwa dargestellt als Tänzer im Flammenkranz. Er tanzt einen Tanz, der die Erhaltung des Lebenskreislaufes symbolisiert. Oder Shiwa, dargestellt als Halb-Mann, Halb-Frau, als Symbol der Einheit des männlichen und weiblichen Prinzips. Shiwa, als Yogi, der die Erkenntnis verbildlicht, daß das höchste Wesen nur auf dem Wege der Konzentration und der Meditation erfaßt werden kann. Und Shiwa hat eine Frau, Parwati, die als Uma voll weiblicher Grazie ist, als Durga aber wild und als Kali blutrünstig erscheint. Shiwa hat auch Söhne, die kriegerischen Karttikeja, die auf einem Pfau reiten und Säbel und Degen schwingen. Auch der sympathische Ganesha, der Gott mit dem Elefantengesicht, gehört zu dieser Familie, wobei er sein Aussehen dem ungestümen Shiwa verdankt. Als dieser nämlich von einer Reise zurückkehrte, so erzählt die Legende, ertappte er Parwati mit einem jungen Mann im Bett. Außer sich vor Wut schlug er dem Konkurrenten, der sein eigener Sohn war, den Kopf ab. Parwati aber verlangte, daß Shiwa seinen Sohn wieder zum Leben bringe. Möglich war dies aber nur dadurch, daß er ihm den Kopf des ersten Lebewesens aufsetzte, dem Shiwa begegnete. Zufällig war es ein Elefant. Als Gott der Weisheit ist Ganesha bei den Hindus sehr beliebt, sagt man doch von ihm, er beseitige alles Hinderliche. Im Reigen der Götter spielt bei den Hindus auch Wischnu eine herausragende Rolle. Wischnu, der Erhalter, steigt immer dann herab, wenn die Ordnung der Welt ins Wanken gerät. Die bekanntesten Inkarnationen dieses Gottes sind Rama und Krischna, deren Taten in den Heldenepen des Ramayana und Mahabharata dargestellt werden. Rama gilt dem Volk als Held, weil es ihm mit Hilfe des Affengottes Hanuman gelungen ist, die Menschheit von den Greueltaten des Dämonenkönigs Rawana zu erlösen. Prinz Rama besiegte den Bösewicht, der Ramas Frau nach Ceylon entführte und gefangenhielt. Der 183
Sieg Ramas gilt als Sieg des Guten über das Böse, ein Ereignis, das in Indien Jahr für Jahr ausgiebig gefeiert wird. So ist der Himmel über Indien gefüllt mit unendlich vielen Göttern und Dämonen, Mythen und Symbolen, die für den Hindu wahrhaftiger sind als die sogenannten historischen Tatsachen. Welchen Lieblingsgott man sich aus dem Pantheon heraussucht, bleibt jedem selbst überlassen, denn all diese Gottheiten sind letztlich nur wechselnde Erscheinungsformen des Einen, des Absoluten, des Brahman. An den Tempeltoren von Tanjore und Trichy werden wir von einem mit farbigen Ornamenten bemalten Elefanten empfangen, der den Pilgern und uns entgegenrüsselt. Ob Vater, Mutter oder Kind, allen angelt das Tier hingereichte Paisa aus der Hand, um dann den Spender für seine Gabe zu „segnen“. Ehrfürchtig und ein wenig ängstlich erwarten die Gläubigen mit gebeugtem Kopf und aneinandergelegten Händen den segensreichen Klaps. Der Elefant weiß, was er zu tun hat. Er reicht die Münze an seinen Wärter weiter und haut das Rüsselende mehr oder weniger sanft auf das Haupt der Gläubigen, die sich sogleich erleichtert zurückziehen, froh, die Prozedur ohne Schaden überlebt zu haben. Eine Legende erzählt, daß Elefanten einst Flügel hatten und sich mit Wolken paarten. Eines Tages ließen sich die Kolosse auf einem Baum nieder, unter dem ein heiliger Mann seine Schüler unterrichtete. Natürlich brachen die Äste unter dem Gewicht, und die Wesen begruben die Schüler unter ihren Körpern. Voll Empörung bat der Heilige die Götter darum, den plumpen Elefanten ihre Flügel zu nehmen. Eine Bitte, die die Götter erfüllten. Die Elefanten aber blieben mit den Wolken gut Freund, und so steht es heute noch in ihrer Macht, es auf die Erde regnen zu lassen. Einen Einblick in die komplizierte Welt der Götter und deren Mythologie zu bekommen, ist für einen Ausländer nicht einfach, und das wissen die Inder, die in den Tempeln auf kulturinteressierte Reisende lauern. Es sind geschäftstüchtige selbsternannte Fremdenführer, die ein paar Götternamen herunterleiern und dann die Hand ausstrecken. Auch Brahmanen beteiligen sich offensiv an diesem einträglichen Geschäft. Als Priester sind sie es, die über Tempel, Rituale, Götter und Gläubige wachen – und natürlich über die Touristen, die so verrückt sind, sich bei über 40°C die Sohlen auf Tempelhöfen zu verbrennen. Zu einer eher unangenehmen Begegnung mit solch einem Brahmanen kommt es im Sri Ranganathaswamy-Tempel in Trichy. 184
Kaum haben wir die Anlage durch das Haupttor betreten, stürzt sich ein kleinwüchsiger Priester auf uns und verspricht in einem unendlichen Redefluß nicht nur einen Ausflug in die Welt der Götter, sondern auch Zugang zum Allerheiligsten, dem Schrein im Zentrum des Tempels. Daß der Zutritt Ungläubigen untersagt ist, wissen wir, und dieses Verbot kann auch ein Brahmane nicht außer Kraft setzen. Nein, wir wollen uns alleine umschauen. Der Brahmane, eben noch freundlich grinsend, sieht die Rupien schwinden. Mit strenger Miene fordert er nun Geld für die Fotoapparate, die „wir doch sicher in den Taschen haben.“ Wir wehren ab und machen klar, daß bei all den Tempeln, die wir gesehen haben, unsere Fotoapparate Ruhe verdient hätten. Mit finsterer Miene zieht sich unser Brahmane vorerst zurück und läßt uns unserer Wege gehen. Der Komplex, den wir nun betreten, soll einer der größten Indiens sein. Der innerste Bezirk ist von 7 konzentrischen Mauern umgeben. Über den Toren, die wir durchschreiten müssen, erheben sich die riesigen Gopurams. Es sind insgesamt 21 bis zu fünfzig Meter hohe Türme. Wir wandern langsam von Hof zu Hof und studieren die feinen Steinmetzarbeiten, die die unterschiedlichsten Götter darstellen. Jedesmal freuen wir uns königlich, wenn wir anhand der Symbole schon den einen oder anderen Gott bestimmen können. Wir bummeln hinüber zur „Tausend-Säulen-Halle“, die nur 940 Säulen zählt und zwischen denen einst Gottesdienerinnen tanzten. Heute stapeln sich im Dunkel der Halle, die als Vorratslager dient, Hunderte von Reissäcken. Solche Säulenhallen gibt es in fast allen größeren Tempelanlagen Tamil Nadus, aber 1000 Säulen, wie der Name sagt, hat keine von ihnen. Beim Bau des Sri Ranganathaswamy-Tempels zwischen dem 14. und 17. Jahrhundert wirkten viele Herrscher mit. Nach und nach vervollständigten und vergrößerten die Cheras, Pandayas und Cholas den Komplex. Besonders unter den Cholas wurde der Tempel zum Mittelpunkt religiösen, gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Lebens ausgestaltet. So reihen sich an den Versammlungshallen Pilgerunterkünfte und Wirtschaftsbauten, Küchen und Krankenhäuser. Der Tempelteich diente der körperlichen Reinigung genauso wie dem religiösen Ritual. Der Tempelbezirk wuchs zur Tempelstadt. Stunden halten wir uns in der Anlage auf und beobachten die Pilger, die als fromme Tamilen das glückverheißende Tilaka aus Vermil185
Ion als rotes Mal auf der Stirn tragen. An einem der Schreine reicht auch uns ein Brahmane Feuer und Asche und drückt uns das rote Mal auf die Stirn, das sich bald schon als farbiges Schweißgemisch seinen Weg über unsere Nasenrücken bahnt. Kaum haben wir auf dem Rückweg die dritte Mauer durchschritten, kaum habe ich mich entschlossen, nun doch ein Foto von einem der schönen Gopurams zu machen, da steht der kleine Brahmane hinter uns, bewaffnet mit einem mächtigen Holzprügel. „Foto, Foto...“, schreit er und fuchtelt furchterregend mit seinem Stock herum. Ich mache ihn darauf aufmerksam, daß wir uns jetzt im Basarviertel des Tempels befinden, dem Bereich, in dem unter schattenspendenden Binsenmatten reger Handel betrieben wird und es wahrlich nicht mehr „heilig“ zugeht. Unserem Priester überschlägt sich die Stimme. Krächzend und drohend fordert er eine Menge Rupien von uns – kein Wunder, muß er uns doch stundenlang hinterhergeschlichen sein. Heiliger Boden sei dies hier und er sei berechtigt, uns Geld abzunehmen, streitet er weiter und prügelt auf die Mauer ein. Als ich ihm zeige, daß der so „heilige“ Boden von den zu einem Pulk aufgelaufenen Indern mit Gummischlappen getreten wird, brüllt er diese an, sie hätten alle die Schuhe auszuziehen, was mit großer Verwunderung aufgenommen wird. Es ist deutlich zu sehen, daß das Volk diesen jähzornigen Brahmanen genauso für verrückt hält wie wir, und einige machen sich sogar daran, hinter seinem Rücken Grimassen zu schneiden. Wir lassen den Tobenden stehen, nicht ohne ihm klarzumachen, daß er sicher als ein Tier wiedergeboren wird. Als ich mich umdrehe, sehe ich, wie er im strahlendstem Lächeln auf ein Touristenpaar zustürzt, wahrscheinlich mit dem uneigennützigen Vorhaben, sie in die Welt der Götter einzuführen und ihnen das Allerheiligste zu zeigen, dessen Zutritt für Ungläubige strikt verboten ist.
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Fersengeld Höflichkeit und Aufrichtigkeit, im europäischen Sinne, sind Attribute, die man auf einer Fahrt durch Indien nicht zu ernst nehmen sollte. Beizeiten müssen wir lernen, nicht jeder Auskunft zu trauen, nicht jede noch so ernst vorgetragene Geschichte zu glauben, nicht jedes Versprechen beim Wort zu nehmen und in so manchen Situationen unsere Höflichkeit durch ein entschiedenes Auftreten zu ersetzen. Straßenszene in Tanjore: Im Schatten einer Straßenmauer hockt ein Inder, der sich sein Geld durch eine Tiervorstellung verdient. Ein halbes Dutzend Schlangen und ein abgemagerter Mungo sind die Hauptakteure seiner Show. Lautstark lockt der „Dompteur“ das Volk, preist auf Tamil den Kampf wilder Tiere, bis sich eine sensationslüsterne Menschentraube um ihn versammelt hat. Auch wir bleiben stehen und schauen dem Spektakel zu, was den Showmaster ungemein motiviert, noch dramatischer zu werden, denn Europäer als Zuschauer zu haben, so weiß er, kann das Geschäft nur beleben. Endlich fischt er aus dem Korb eine Kobra, die, durch Bewegungen und Berührungen gereizt, den Kopf eher zur Verteidigung als zum Angriff aufrichtet. Der Mungo wird, ob er will oder nicht, auf die Schlange zugeschupst, und er tut das, was seiner Natur entspricht – blitzschnell umrundet er die aufgeregt züngelnde Kobra, beißt zu, um dann erneut von einer anderen Seite anzugreifen. Zu flink ist der Mungo, denn die Schlange stößt mit aufgerissenem Maul jedesmal ins Leere. Inzwischen habe ich meinen Fotoapparat aus der Tasche gefischt, um die Szene zu dokumentieren. Ich will gerade den Auslöser drükken, da verdeckt mir ein Kopf die Sicht. „Entschuldigung, können Sie bitte ein wenig zur Seite gehen?“ Höflich mache ich meinem Vordermann klar, daß es um ein Foto geht. Erneut rücke ich die Szene, hockender Inder, Mungo und Schlange, ins Bild, erneut verhindert mein Vordermann das Foto, indem er sich dazwischen schiebt. Nun werde ich deutlicher: „Ich möchte fotographieren, was soll denn das?“ „Twenty Rupie“ ist die selbstbewußte Antwort des Störers, der mit dem Tiereigner nicht das Geringste zu tun hat. Mit der Bemerkung, er spinne wohl, schiebe ich mein Objektiv über seinen Scheitel, was ihn dazu veranlaßt, sich auf die Zehen zu stellen, so daß ich Mungo und Schlange nur noch durch 187
schwarzes dichtes Haar erahnen kann. Wieder heißt es „twenty Rupie“ mit ernster wildentschlossener Miene. Nun schon angesäuert rücke ich den unverschämten Kerl unsanft zur Seite, und endlich, nach kleinen Handgreiflichkeiten, gelingt mir das Bild. Der Dompteur freut sich über die Münze, die ich ihm hinüberreiche, der Trittbrettfahrer aber folgt uns noch auf hundert Meter und zetert nach seinen 20 Rupien, die er so nebenbei zu verdienen hoffte. Vor Hotels und an Straßenkreuzungen lauern jene Autorikschafahrer, die häufig schon bei unserem Anblick ihr dreirädriges lärmendes Gefährt anwerfen und in einem waghalsigen Wendemanöver auf uns zuhalten, um uns als Kunden zu werben. Normalerweise sind die schwarzgelben Zweitakter mit einem Taxameter ausgestattet, der aber nur bei indischen Fahrgästen selbstverständlich eingeschaltet wird. Bei Touristen ist der Taxameter grundsätzlich „kaputt“, und so muß um den Fahrpreis gehandelt werden – eine aufreibende Prozedur, die von vornherein für den Fahrer von Vorteil ist, da er die Entfernungen besser kennt. Und so stellt man am Zielort meistens fest, daß man mal wieder viel zu viel bezahlt. So mancher Scooterfahrer läßt uns einfach stehen und verzichtet auf das Geschäft, wenn er seinen überzogenen Preis nicht durchsetzen kann. Per Fingerzeichen oder in der für uns nicht verständlichen Landessprache übermittelt er den Kollegen „seinen“ angesetzten Preis, an den sich nun plötzlich alle halten. Zahlt man nicht, muß man das Gepäck durch die Hitze in neue Regionen schleppen. „Schluß“, sage ich eines morgens in Madras und denke mir für künftige Rikschafahrten einen Schlachtplan aus. Ohne auf irgendeinen Handel einzusteigen, lassen wir uns, den Indern gleich, wie selbstverständlich im Fond der Scooter nieder und schalten den Taxameter ein. Die Reaktionen unseres forschen Auftretens sind unterschiedlich. Die einen leiern ihre Taxameter-kaputt-Geschichte herunter, die anderen wollen uns gleich an die Luft setzen. Wir aber bleiben stur sitzen und spielen das Taxameter-an-aus-Spiel, bis der Fahrer, nun seinerseits genervt, sein Vehikel in Bewegung setzt und uns für den offiziellen Preis befördert. Bei ganz hartnäckigen Naturen zücke ich meinen roten Taschenkalender und tue so, als notierte ich die Rikschanummer. – „Okay mister, no problem“ und los geht’s. 188
Die Reaktion eines Fahrers in Madras auf unser Taxameter-an-ausSpiel ist so gut, daß er gleich unsere Sympathie gewinnt. Er macht uns mit einem breiten Grinsen klar, daß er einen großen Umweg fahren wird, wenn er den Taxameter anschaltet. Uns gefällt die Ehrlichkeit, mit der er uns über seine Absicht aufklärt – die folgende „Stadtrundfahrt“ wird zum Genuß und ist uns sogar ein gutes Trinkgeld wert. Häufig kommt es vor, daß uns Rikschafahrer vor einer Unterkunft abladen, die wir gar nicht wollten. Der Grund hierfür ist, daß der Fahrer in dem Hotel, das er ansteuert, mehr Provision erhält als in dem, das wir ursprünglich meinten. Als Begründung hören wir, daß unser anvisiertes Hotel belegt sei, daß es renoviert werde oder geschlossen ist. Ja, von Gaunern und Dieben ist die Rede. Ob die uns „aufgezwungenen“ Unterkünfte unbedingt besser sind, ist fraglich, denn einmal in die Klauen der Hotelcrew gelangt, versprechen sie alles und halten nichts. So sagt man uns zu, die Bettwäsche, auf der noch die Spuren des Vorgängers zu sehen sind, am Nachmittag zu wechseln, denn die frische Wäsche käme erst um 15 Uhr. Der Ventilator, der nur müde an der Decke kreist, soll gegen 19 Uhr mehr Power haben, und der tote Wasserhahn wird um 20 Uhr zum Leben erwachen. Mit überzeugenden Argumenten wird versprochen, bis wir bleiben, aber weder das eine noch das andere geschieht. Letztendlich nächtigen wir auf eigenen Laken, schwitzen und können uns nicht waschen. Wenn’s ums Geld geht, lassen auch so manche Bedienstete allen Respekt fallen. In Pondicherry bitte ich einen Hoteljungen, mir eine Flasche Cola zu besorgen, das Geld für Flasche und Pfand drücke ich ihm in die Hände. Wenig später überreicht er mir das erstandene Getränk mit der Bemerkung, daß ich es in einer halben Stunde auszutrinken habe. Der Grund seiner übertriebenen Eile ist klar, denn für die leere Flasche erhält er eine Rupie als Pfand zurück. „Na, nun warte mal ein bißchen“, sage ich, „ich möchte das Naß nicht gleich hinunterstürzen.“ Aber kaum ist die halbe Stunde vergangen, klopft der Vierzehnjährige an die Tür, öffnet und greift nach der Flasche, die halb getrunken auf dem Tisch steht. Ich kann den Eindringling gerade noch stoppen und versichere ihm, daß wir am nächsten Tag nicht mit der leeren Flasche abreisen werden. Als der Junge aber um Mitternacht und morgens um 4 Uhr wie ein Irrer gegen die Tür bollert, bis ich mich aus Bett und Moskitonetz gequält habe, reißt mir die Geduld. Ich brülle, er brüllt, von Respekt vor dem Alter keine Rede. 189
Selbst wenn man bedenkt, daß die guten Geister der Hotels und Guesthäuser mit einem Hungerlohn, nebst freier schmaler Kost und Logie auf irgendeinem Tisch, entlohnt werden, kann solch ein unhöfliches respektloses Verhalten auch einen Menschenfreund auf die Palme bringen. Der Disput endet damit, daß ich dem Kerl eine lange und dabei mich und die Welt nicht mehr verstehe. In Madras mache ich den „Fehler“, einem Angestellten ein sattes Trinkgeld zu geben. Schnell spricht sich die Nachricht über meine Großzügigkeit herum und so erscheint alle 15 Minuten ein neues Gesicht, um irgendwelche Dienste anzubieten. Sogar morgens um 6 Uhr versucht eine ganze Putzkolonne in das Zimmer einzudringen, um ein paar Rupie zu erheischen. Als wir die Rechnung bezahlen, stehen acht der guten Geister vor der Tür, nicht um uns Lebewohl zu sagen, sondern um uns mit ausgestreckter Hand zu bedrängen. Sie folgen uns mit Trinkgeldforderungen bis auf die Straße, wo wir mit der nächstbesten Rikscha flüchten. So manchesmal erleben wir, wie junge Inder versuchen, sich unser Vertrauen zu erschleichen. Ob im Restaurant, am Strand oder auf der Straße, in jedem Fall aber propper gekleidet, beginnen sie ein Gespräch über Indien, über Gesellschaft und Politik, über Familie und Biographie, über die „Nöte“ der Touristen, über Themen also, von denen sie meinen, daß sie uns interessieren könnten. Sie verhalten sich höflich und freundlich, um, wenn sie sich unserer Freundschaft sicher sind, die Rechnung zu präsentieren. Meist geht es dann nach Tagen darum, ein kleines Geschäft, dringend benötigte Studienbücher, den Krankenhausaufenthalt der Mutter oder Geld für eine nötige Zugfahrt mitzufinanzieren. Und wer kann schon einem so netten „Freund“ die kleine finanzielle Hilfe verweigern? Er könnte doch tatsächlich in Nöten sein. Kaum aber hat man einen kleinen Betrag gegeben, ward er nicht mehr gesehen. Eine wasserdichte Geschichte liefert uns ein gutgekleideter Inder auf dem Busbahnhof von Tanjore. Er sei, so erzählt er, ausgeraubt worden und benötige nun das Geld für die Fahrt nach Cochin in Kerala, woher er stamme. Auf die Frage, warum er gerade uns anspreche, meint er, wir seien sein letzter Strohhalm, denn die Tamilen sprächen weder Malayalam noch Englisch. Er sei also verloren. Die Inder am nahen Chai Stand, die teilweise recht gut Englisch sprechen, verfolgen grinsend die Prüfung, die wir dann auch bestehen. Wir lassen den guten Mann ins Leere laufen und sehen später vom Bus 190
aus, wie er sich offenbar als guter Bekannter lachend mit dem Teemixer unterhält. Von sprachlichen Problemen jedenfalls keine Spur. Es gibt auch einige, die sich eine „Behinderung“ zulegen, um über Mitleid ein paar Rupien zu erlangen. Ein solcher nimmt am Strand von Kovalam die Touristen aus. Als Blinder mit halbheruntergeklappten Augenlidern und weißem Taststock stolpert er am Strand herum. Das Seltsame ist, daß er die weitverstreut liegenden Touristen zielsicher trifft, während er die Ausflugsinder ausspart. Entweder hat der Blinde eine extrem gute Nase, oder da kann etwas nicht mit rechten Dingen zugehen. Und tatsächlich, er überwindet nach seiner Betteltour schnellen Schrittes und trittsicher alle Hindemisse zwischen Restaurants und Palmenwald. Von Blindheit jedenfalls auch hier keine Spur. Neben den großen Schauspielern, Scharlatanen und Märchenerzählern, sind es unzählige „Fremdenführer“, die uns täglich ansprechen und das Leben schwer machen. In der Pilgerstadt Madurai ist die Nerverei jener, die, trotz eindeutiger Geste unsererseits, nicht aufgeben, so extrem, daß ich mir eine eigene Show überlege, diese Geister abzuschütteln. Kaum setzt mal wieder einer an, uns die Ohren vollzusäuseln, unterbreche ich seinen Redefluß, schüttele ihm die Hand, klopfe auf seine Schultern und gratuliere. Er sei, so sage ich, der Hundertste an diesem Tag und habe daher eine Waschmaschine gewonnen. „Herzlichen Glückwunsch.“ Meist ist die Reaktion die gleiche: erstaunter Ausdruck und ein Lachen – man hat verstanden und läßt uns leicht Verrückten in Ruhe unserer Wege gehen. Jeder Tourist in Indien zahlt Fersengeld, und trotz vielfacher Erfahrungen fallen auch wir so manches Mal herein. Zu gut sind die Geschichten und Geschichtchen, die die Abzocker präsentieren, daß selbst kritische Naturen von schlauen Märchenerzählern ausgetrickst werden. Nach Wochen dieser Art Reisestreß fangen wir an, uns nach ruhigeren Gegenden zu sehnen. Zudem steigt die Temperatur, jetzt Ende Mai, während des Tages auf über 40°C. Der Besuch von Tempeln und anderen kulturellen Sehenswürdigkeiten wird zur Qual und ist nur noch in den kühleren Abend- und Morgenstunden zu machen. Bei unseren Bummeltouren durch staubig heiße Provinzstädte hangeln wir uns von Laden zu Laden, um alle hundert Meter eine Soda hinunterzustürzen. Fasziniert beobachten wir, wie die Flüssigkeit sofort wieder aus allen Poren perlt. 191
Die Inder, die es sich leisten können, kehren dem unerträglich heißen Tiefland Tamil Nadus den Rücken und machen sich auf nach Ooty, in die Gebirgsgegend, die mit über 2000 Metern Höhe Abkühlung verspricht. Wir hingegen beschließen, uns nach Kerala aufzumachen, jenem grünen Land, das mit seinen Stränden und Seen lockt.
Backwaters Der einst bedeutende Hafenort Quilon ist unser Ausgangspunkt für eine Bootsfahrt durch die malerischen Kanäle der Backwaters. Als eine Art indischer Spreewald durchzieht hinter dem schmalen Küstenstreifen der Malabarküste ein Netz von Wasserwegen das Land. Rund siebenhundert Kilometer, von Mangalore bis CapeComorin, reicht dieses Paradies aus Wasser, Palmen, tropischen Gärten, grünen Inseln und saftigen Reisfeldern. Kaum hat das kleine Dampfboot am Pier von Quilon abgelegt und den Kayankulam See durchquert, ist es, als sei die Zeit stehengeblieben. Nichts ist mehr von der Hektik zu spüren, unwirklich und weit entfernt scheinen uns Hitze, Nerverei und anstrengende Touren. Der Kapitän bietet uns für die Fahrt einen Platz auf dem Wellblechdach seines betagten Kutters an. „Von hier oben könnt ihr alles sehen“, so sagt er und macht uns zu Passagieren der „ersten Klasse“, indem er uns seinen Schirm reicht, damit wir in solch luftiger Höhe nicht schutzlos der Sonne ausgeliefert sind. Wie die Könige hocken wir auf dem Dach im fächelndem Fahrtwind und lassen das Paradies an uns vorüberziehen. Wir tuckern durch die von Palmen gesäumten Kanäle, durchqueren flache Seen, in denen Fischer bis zur Brust im Wasser stehen und ihre Netze werfen. Ruhig gleiten Lastkähne an uns vorüber, die von Indern in langsamen Bewegungen vorübergestakt werden. Sie sind beladen mit Kokosnüssen und Kopra, mit Schwemmsand oder Säcken voller Cashewnüsse. Wie chinesische Dschunken erscheinen uns die Boote, die in den weiten Lagunen den Wind des nahen Meeres nutzen und mit aufgeblähten zerfledderten Jutesegeln an uns vorüberziehen. Immer wieder stoppt der Kapitän an wackeligen Stegen, auf denen Einheimische auf das Wassertaxi warten. Männer in gestärkten 192
Mädchen am Strand von Kovalam 193
Heilige Kühe sind nicht immer gern gesehen 194
Auf 24 Steinrädern ruht der Sonnentempel Konorak
„Arjunas Buße“, das größte Steinrelief der Welt in Mahabalipuram 195
Gopurams, mächtige Türme überragen die Tempel Süd Indiens 196
Tanjore, mit einem Klaps verteilt ein Tempelelefant seinen Segen
Madurai, Straßenszene 197
Motorrikscha – für Touristen ist der Taxameter stets kaputt
Kinder an einem Tempelteich in Kanchipuran 198
Puri, Staßenszene
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Shiwa – dargestellt als Halb-Mann und Halb-Frau 200
schneeweißen Hemden und kunstvoll gewickelten Lungis, Frauen in farbenfrohen Seidensaris mit geölten und sorgsam zu einem Zopf geflochtenen Haaren. Schön haben sie sich gemacht, wenn sie die manchmal winzigen Flecken festen Landes verlassen, vielleicht, um auf der nächst größeren Insel einzukaufen oder einen Besuch zu machen. Weit jedenfalls fahren sie nicht, und dennoch winken sie uns nach, als wären wir alle gemeinsam um die Welt gefahren. Manchmal ist das Land, auf dem diese Menschen leben, nur wenige Meter breit. Ein kleines buntes Häuschen unter schattenspendenden Kokospalmen, ein Gemüsegärtchen, Hühner, Schweine und Enten und eine Handvoll vergnügter nackter Kinder, die kreischend Badefreuden genießen. Sie lachen alle von ihrem kleinen Paradies hinüber, bis wir uns durch die grünen Windungen der Kanäle aus den Augen verlieren. Stunde um Stunde tuckern wir durch die endlosen Backwaterwasserstraßen und versinken in die unbeschreibliche Schönheit satter grüner Farben. An besonders schönen Stellen lugen bunte Hindutempelchen und weiße Kirchen zwischen den Palmen hervor. Die Bewohner der amphibischen Welt mögen diese dort im Bewußtsein errichtet haben, daß nur eine göttliche Kraft solchen Garten Eden für den Menschen vorgesehen haben kann. Im rötlich gelben Abendlicht spiegeln sich Bäume, Boote und die Gestänge weit ausladender chinesischer Netze im ruhigen Wasser der Kanäle, eine Abendstimmung, die auch der Kapitän zu genießen scheint. Auf dem Dach raucht er mit uns seine Feierabendzigarette, und indem er auf einen Pulk von Booten deutet, deren Bug in Form eines Drachen geschnitzt ist, erzählt er uns von dem „Schlangenbootrennen“, das während des Onam-Festes, dem Erntefest, alljährlich im Sommer in den Backwaters stattfindet. „Dann“, so sagt er mit begeisterter Stimme, „gehe ich mit meinem Dampfboot vor Anker und paddle mit den Männern meines Dorfes, dem Hindukönig Bali zu Ehren, gegen andere Dörfer um die Wette.“ Natürlich hätten wir dies farbenprächtige Rennen gern gesehen, aber leider nähert sich unser Jahr dem Ende, und so bleibt uns nichts, als uns das Rennen vorzustellen, während die ersten Lichter von Alleppey, dem Endpunkt der Tour, zu sehen sind. Noch während wir am Pier die Rucksäcke schultern, entsteigen zwei Touristen dem Bus der Linie Ouilon – Allepey. Für die Strecke ha201
ben sie nur zwei Stunden benötigt, aber ich bin sicher, daß die Fahrt durch die Backwaters mit dem langsamen Dampfboot zeitlich nicht aufzuwiegen ist, denn diesen Tag im Paradies werde ich nie vergessen.
Kovalam oder das Ende einer Reise Zu fünft haben wir uns in die Motorrikscha gepreßt – mit Gepäck! Neben dem Fahrer teilen wir uns mit zwei Studenten aus Cochin das wackelige Gefährt, das nur mühsam die sanften Hügelstraßen hinter Trivandrum hinaufröhrt. Das nahe Meer ist schon zu riechen, ein Grund mehr, in ausgelassener Ferienstimmung zu plaudern und zu scherzen. Während der Fahrt kommen wir auf das Thema „Religion“ und stellen fest, daß wir den unterschiedlichsten Glaubensrichtungen angehören. Der zurückhaltende Niamat, der stets darauf bedacht ist, daß seine Studienmappe nicht zerquetscht wird, ist wie wir Christ, der zu Späßen aufgelegte Rashid, mit seinem weißen Häckelkäppi auf dem Kopf, bekennt sich zum Islam und Gopal, unser Fahrer, der, weit vorgebeugt, aus seiner überladenen Karre alles herauszuholen sucht, ist Hindu. „Kein Problem in Kerala“, so versichert Rashid, indem er Niamat demonstrativ einen freundschaftlichen Klaps versetzt. Und tatsächlich, neben den Hindus, die den größten Teil der Bevölkerung Keralas stellen, bekennen sich ein Viertel der Einwohner zum Christentum und ein Fünftel zum Islam. Ja, sogar eine kleine jüdische Gemeinde lebt in Cochin. Das Christentum ist schon 50 n. Chr. mit dem Apostel Thomas nach Kerala gekommen. Er landete an der Malabarküste und gründete die erste christliche Gemeinde. Als die Portugiesen 1498 unter Vasco da Gama an Land gingen, staunten sie nicht schlecht, bereits Christen vorzufinden, denen der Papst unbekannt war. Von den Juden nimmt man gar an, daß sie bereits 587 v. Chr. nach Kerala flüchteten, als Nebukadnezar Jerusalem eroberte, während die Moslems im Zuge reger Handelsbeziehungen im 12. Jh. nach Kerala gelangten. 202
Während wir uns weniger über geschichtliche Fakten als über die Intensität unseres Glaubens unterhalten, unterbricht Gopal unsere angeregte Unterhaltung und erweitert sie um einen weiteren Aspekt: Er sei nicht nur Hindu, so sagt er, sondern auch überzeugter Kommunist. Überraschend ist dieser Beitrag offenbar für alle nicht, denn in Kerala stellen die Kommunisten, mit Unterbrechung, seit 1957 die größte Partei. Das kommunistische Parlament dieses indischen Bundeslandes kann auch Erfolge vorweisen: Gerechtere Landverteilung, Fortschritte im Gesundheits- und Bildungssystem und eine bessere Verteilung des Wohlstandes. Vielleicht ist dies der Grund, daß wir die extreme Armut, wie wir sie in anderen Landesteilen erlebt haben, in Kerala nicht sehen. Daß ein Marxist in Kerala auch gläubiger Hindu sein kann, scheint kein Widerspruch zu sein, denn als ich Gopal frage, ob er als überzeugter Kommunist auch den Göttern opfere, nickt er eifrig: „Jeden Tag Mister, das ist gut für mich und das Geschäft.“ Rashid bemerkt nicht ohne Witz, als wir drohen zwischen zwei lärmenden Bussen zermalmt zu werden, daß wir bis Kovalam wohl alle einen gnädigen Gott brauchten. „Ob Hindu, Moslem, Jude, Christ oder Kommunist, ich bin froh, wenn wir diese Fahrt überleben.“ Dies sagt er mit schmerzverzerrtem Gesicht, während er versucht, mit Körperverrenkungen die Erschütterungen der offenbar stoßdämpferkranken Karre auszugleichen. Dann endlich liegt, eingerahmt von Felsen, die Bucht von Kovalam vor uns – blau und aufgewühlt der indische Ozean, weißer Sand, windzerzauste Palmen und das Wahrzeichen, der rot-weiß gestreifte Leuchtturm. Auch wenn der Tourismus inzwischen Einzug gehalten hat, geht der Alltag der Einheimischen an diesem Strand wie eh und je seinen Gang. Die Fischer lassen sich nicht von den Sonnenanbetern stören, hieven die riesigen Holzboote ins Wasser, paddeln durch die Brandung hinaus aufs Meer und zerren die ausgeworfenen Netze zurück an den Strand. Im Hinterland widmet man sich den Reisfeldern, erntet Kokosnüsse, Bananen, Papaya und Gemüse, auch wenn man Besitzer eines der unzähligen Guesthäuser ist, die den Touristen zur Verfügung stehen. An diesem schönen Strand zählen wir die letzten Tage unserer Reise. Wir öffnen die letzte Post, die uns hierher geschickt wurde, und erfahren, daß es auch in Deutschland endlich Sommer geworden ist. 203
Ein Jahr waren wir unterwegs und stellen verwundert fest, daß wir so etwas wie Heimweh nicht verspüren. „Weißt Du noch...“ ist die Devise der letzten Tage, wenn wir bei abendlichen Kerzenlicht in den Liegestühlen unseres Strandrestaurants lümmeln. „Weißt Du noch...“ heißt es da unter klarem Tropenhimmel, und an uns ziehen Bilder und Erinnerungen der Reise vorbei. Wir erinnern uns an Irian Java, an die Dani, mit ihren streichelnden Händen und den vorwitzigen Penisköchern. Wir denken an Nenek Kamaria, die ein würdiges Begräbnis bekam, denn viele Büffel mußten sterben, und da ist Nele auf Sumba, die auf der Grabplatte ihrer Ahnen saß und lachte, weil ein Geist in ihren Alltag galloppierte. Vor unseren Augen erscheint Kathmandu mit seinen mittelalterlichen Gassen, und wir stoßen an auf das Glück, daß Eva in den Bergen nicht zu Tode gestürzt ist. Wir witzeln über die uns so fremden Chinesen und fragen uns, ob Yu in Xishuangbanna inzwischen das Geld aus Deutschland bekommen hat. Wir hören noch einmal die Musik der Naxi und radeln zwischen den phantastischen Karstkegeln und satten Reisfeldern Guilins. Wir denken an Weihnachten auf Bohol und das verrückte Ati Atihan Fest in Kalibo. Unser Herz klopft bei dem Gedanken an die Höhlen von Sagada und die Kalingaguerilla. „Weißt Du noch...?“ Banjarmasin, das Venedig des Ostens mit seinen glücklichen Menschen, und der Mahakam mit den Langhausnächten. Da ist Kalkutta, das Elend Indiens, heilige Kühe, Götter und Tempel und das blumenbekränzte Bett. Auroville, die Utopie von einem friedlichen Leben, und die Backwaters, das von Gott erdachte Paradies. Unsere Erinnerungen enden meist in dem melancholischen Gefühl des Abschieds von Asien. Und meist kommen wir an diesen Abenden zu dem gleichen Schluß: „Ach, wenn es doch bloß für immer wär...!“
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