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Reihe Germanistische Linguistik
286
Herausgegeben von Armin Burkhardt, Heiko Hausendorf, Damaris Nbling und Sigurd Wichter
Britt-Marie Schuster
Auf dem Weg zur Fachsprache Sprachliche Professionalisierung in der psychiatrischen Schreibpraxis (1800–1939)
De Gruyter
Reihe Germanistische Linguistik Begrndet und fortgefhrt von Helmut Henne, Horst Sitta und Herbert Ernst Wiegand
ISBN 978-3-11-023117-5 e-ISBN 978-3-11-023118-2 ISSN 1867-8203 Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet ber http:// dnb.d-nb.de abrufbar. 2010 Walter de Gruyter GmbH & Co. KG, Berlin/New York Druck und buchbinderische Verarbeitung: Huber & Co, GmbH & Co. KG, Gçttingen
¥ Gedruckt auf surefreiem Papier Printed in Germany www.degruyter.com
Dank Die vorliegende Untersuchung ist das Produkt einer langjährigen Auseinandersetzung mit psychiatrischen Texten, die zu einer Habilitationsschrift geführt hat, die nun in überarbeiteter Fassung vorliegt. Reizvolle Texte, sofern es sich um die frühen Texte, die zwischen 1800 und 1850 geschrieben worden sind, handelt. Die „Naturbeschreibungen des Wahnsinns“, die jeder Regung, jeder Stimmung, jedem noch so verrückten Einfall des Patienten nachgehen, können bedenkenlos jedem literarisch Interessierten empfohlen werden. Sperrige Texte jedoch auch, sofern es sich um Texte handelt, die nur wenige Jahrzehnte später von renommierten Psychiatern geschrieben worden sind und die alle Vorurteile zu bestätigen scheinen, die man fachlichen Texten entgegenbringen kann. Diesen Übergang zwischen leicht verständlichen, bisweilen unterhaltenden zu schwer verständlichen, fast hermetischen Texten darzustellen und zu erklären, ist wesentlicher Ansatzpunkt der Untersuchung. Sie spiegelt jedoch auch den Versuch wider, die Potentiale offen zu legen, die sich durch einen sprachwissenschaftlichen und –historischen Zugang zur Psychiatrie und verwandten Disziplinen gegenüber medizin-, sozial- und ideengeschichtlichen Betrachtungsweisen ergeben. Deshalb ist sie auch als ein Vorschlag unter anderen zu sehen, welchen Beitrag die Sprachgeschichte prinzipiell zu Gesellschafts- und Kulturgeschichte erbringen könnte. Dass ich derartige Interessen habe entwickeln können, ist das Ergebnis aufmerksamer Begleitung, wohl wollender Ermunterung und Vertrauen sowie Förderung, die ich am Institut für Germanistik an der Justus-Liebig-Universität Gießen und besonders als langjährige Assistentin am Lehrstuhl von Prof. Dr. H. Ramge erfahren habe. Viele der in die Untersuchung eingeflossenen Ideen wären ohne eine Schulung, welche Faktoren auf den Sprachgebrauch wirken und wie diese zu beschreiben und zu interpretieren sind, nicht entwickelt worden. Auch den wieteren Gutachtern der Habilitationsschrift – Prof. Dr. H. Feilke, Prof. Dr. G. Antos und Prof. Dr. W. Speitkamp – sei an dieser Stelle ausdrücklich gedankt. Ihnen habe ich manche Anregung und manch schwierige, nun vielleicht gelöste Denkaufgabe zu verdanken. Ferner gilt mein Dank all jenen, die diese Arbeit von ihren Anfängen bis heute mitverfolgt haben und es mir ermöglicht haben, mein Projekt in Vorträgen oder Diskussionen vorzustellen, so Prof. Dr. J. Riecke, Prof. Dr. Anja Voeste und Dr. J. Berouzhi-Rühl. Ferner gilt mein Dank besonders K. Scheuermann und H. Wiebe. Diese Untersuchung hätte jedoch kaum realisiert werden können, wenn mein Mann, Michael Rinker, sich nicht durch großes Entgegenkommen ausgezeichnet hätte. Ihm sei dafür gedankt, jedoch auch unserem Sohn, der alle Phasen seines jungen Lebens ohne viel Aufhebens gemeistert hat. Auf die Gefahr hin, dass beide dieses Buch nie lesen werden (und es auch nicht müssen), widme ich es ihnen. Im Februar 2009 Britt-Marie Schuster
Inhaltsverzeichnis
1. 1.1 1.2 1.2.1 1.2.2 1.3 2. 2.1 2.2 2.2.1 2.2.2 2.2.3 2.3 2.3.1 2.3.2 3. 3.1 3.1.1 3.1.2 3.1.3 3.2 3.2.1 3.2.2 3.2.3
Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Gegenstand und Ziele der Untersuchung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Einbettung der Untersuchung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die Ziele der Untersuchung im Verhältnis zur Fachsprachenforschung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Der potentielle Ertrag der Untersuchungen für die jüngere Sprachgeschichte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Aufbau der Untersuchung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Historische Rahmenbedingungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Der sprachwissenschaftliche Zugriff auf die Psychiatriegeschichte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Institutionell-kommunikative Rahmenbedingungen . . . . . . . . . . . Die Etablierung der Psychiatrie als Institution in der Initialphase . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die Weiterentwicklung der Institution „Psychiatrie“ und die Entstehung der medizinischen Teildisziplin . . . . . . . . . . . . . . . . . . Historische Rahmenbedingungen: Hinweise für den sprachlichen Gestaltungsspielraum . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Das sprachliche Profil früher Psychiatrietexte . . . . . . . . . . . . . . . . Zwischen Erfahrung und kultureller Prägung: Eine sprachwissenschaftliche Annäherung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Bildungssprache: Die Sprache der Gebildeten und die Sprache des Bildens . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
1 1 6 6 10 13 17 17 24 24 40 43 47 47 60
Sprachliche Professionalisierung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 67 Fachsprachenforschung als möglicher Bezugspunkt. . . . . . . . . . . 67 Das Kartografieren von Fächern . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 67 Zentrum und Peripherie der Fachsprachenforschung . . . . . . . . . . 73 Psychiatrische Fachsprache als Praxis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 79 Sozialphänomenologische Rekonstruktion von Sprachwandelprozessen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 90 Konstitution von Typen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 90 Wandel von Typen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 99 Typenbildung und sprachliche Professionalisierung . . . . . . . . . . . 104
VIII Historische Studien. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 115 Von der philosophischen Anthropologie zur ärztlichen Beschreibungssprache: Initialphase . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.1 Sprachliche Voraussetzungen der Psychiatrie . . . . . . . . . . . . . . . . 4.2 Sprachliche Merkmale früher Monographien: Zwischen Philosophie und Belletristik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.3 Den psychisch Kranken beobachten: „Naturbeschreibungen des Wahnsinns“. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.3.1 Krankengeschichten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.3.1.1 Narrative Organisation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Exkurs: Relativ stabil – zur Rolle vorgeprägten Ausdrucks in frühen Psychiatrietexten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.3.1.2 Typisierungsroutinen als Hinweise auf Dispositionen und Ursachen von psychischen Erkrankungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.3.2 Wortschatzressourcen und der Aufbau sprachlicher Demarkationslinien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.3.2.1 Die Adaption und Verfremdung des physiologischen Wortschatzes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.3.2.2 Die Adaption und Verfremdung des philosophischen Wortschatzes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.3.2.3 Die Anverwandlung und Verfremdung von Metaphern auf der Symptomebene . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.3.2.4 Die pragmatische Regularisierung von Bezeichnungsalternativen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.3.2.5 Zwei Übersetzungen des Werkes von Esquirol – der Einfluss der französischen Psychiatrie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.3.2.6 Graduierungen und ihre sprachlichen Realisationsformen . . . . . . 4.3.3 Der Beitrag anderer Textsorten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.3.3.1 Krankenakten und Krankengeschichten im Spannungsverhältnis 4.3.3.2 Berichte aus den Heilanstalten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.3.3.3 Theoretische Abhandlungen und der Streit zwischen Psychikern und Somatikern . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.3.4 Zusammenfassende Charakterisierung der Initialphase . . . . . . . . 4.3.5 Revision des Erreichten: Die Zeitschrift für die Beurtheilung und Heilung krankhafter Seelenzustände . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.
115 116 131 157 163 163 170 176 194 195 205 210 224 230 234 239 239 250 251 264 274
IX 5. 5.1 5.1.1 5.1.2
5.2 5.3 5.3.1 5.3.2 5.3.3 5.3.4 5.3.5 5.4 6. 6.1 6.1.1 6.1.2 6.1.3 6.2 6.2.1 6.2.2
7.
Die Entwicklungen in der Ausbau- und Konsolidierungsphase am Beispiel wissensvermittelnder Texte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Wortschatzentwicklung im Anschluss an die Initialphase . . . . . . Nivellierung des Traditionsbestandes: Ersetzung und Überblendung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Unkommentierte Weiterführung und morphologische Bearbeitung von Traditionsbeständen: Der Psychiater als Bricolateur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Lexikalische und syntaktische Entwicklungen in Interdependenz mit textlichen Entwicklungen . . . . . . . . . . . . . . . Die Lehrbuchentwicklung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Der Weg der Induktion: Jacobi (1844) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Auf dem Weg zum Standard: Die Stellung von Griesingers Lehrbuch (21867) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Professionalisierungsschübe: Die unterschiedlichen Ausgaben von Kraepelins Psychiatrie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Psychiatrie als deutsche Wissenschaft? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Das Verschwinden des Kranken: Andere Lehrbücher im Vergleich zu Kraepelin . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Zusammenfassung: Die Herausbildung eines einheitlichen Stils Psychiatrie und Gesellschaft: Hysterie und Schizophrenie . . . . . Die Karriere des Krankheitsbildes „Hysterie“ (1870–1930): Die sprachliche Erfassung eines unbegriffenen Phänomens . . . . . . . . Die sprachliche Konstitution des Krankheitsbildes in der Nachfolge Charcots . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Degenerierte, lasterhafte Backfische und verweichlichte Kriegszitterer: Die Rückkehr der sozialen Typen . . . . . . . . . . . . . Die Rückkehr der Individualität: Die Krankengeschichten der Psychoanalyse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die Erfindung der Schizophrenie zu Beginn des 20. Jahrhunderts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die Versprachlichung von schizophrenen Symptomen . . . . . . . . Die Konstitution von Krankheiten auf der Basis von Krankenakten in der Giessener Universitätspsychiatrie (1897–1939) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
281 286 287
290 293 296 296 301 313 320 334 351 357 364 364 375 389 399 399
409
Schlussbetrachtung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 431
X 8. 8.1 8.1.1 8.1.2 8.2
Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Quellen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Ungedruckte Quellen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Gedruckte Quellen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Sekundärliteratur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
443 443 443 443 457
1.
Einleitung
1.1
Gegenstand und Ziele der Untersuchung
Der angesehene Reformpsychiater Wilhelm Griesinger (1817–1868) äußert sich in seinem Standardwerk Die Pathologie und Therapie der psychischen Krankheiten (21867) folgendermaßen zur Untersuchung psychisch kranker Patienten: Im concreten Fall entnehmen wir die ätiologischen Momente aus der Anamnese und diese ist überall mit grösster Sorgfalt und genauestem Eingehen ins Einzelne zu eruieren. Sie hat sich hier zuerst vor den groben Fehlern zu hüten, die Hypothesen der bisherigen Umgebung des Kranken, seiner Angehörigen etc. über die Entstehung der Krankheit ohne genaue Prüfung anzunehmen, oder – was so häufig geschieht – theils schon entschiedene Symptome des beginnenden Irreseins, theils nur die zufälligen Impulse seines deutlichen Ausbruchs für die wahren Ursachen zu halten. Sie darf sich aber überhaupt nicht bloss mit den auffallenden körperlichen oder geistigen Ereignissen, die dem Irresein vorangingen, begnügen, sondern sie muss sich auf den Standpunkt stellen, wo der jetzige krankhafte Zustand als das endliche Ergebniss aller früher vorhandenen Lebenszustände erscheint. Es muss sich die anamnestische Untersuchung auf die Gesamtheit der leiblichen und geistigen Antecedentien einer Persönlichkeit erstrecken; sie muss ab ovo, ja schon bei früheren Generationen – Familienanlage – anfangen, die körperliche Entwicklung, den habituellen Gesundheitszustand, die Krankheitsdispositionen und vorgefallenen Erkrankungen genau verfolgen und in gleicher Weise auf psychischem Gebiete das Verhältnis der Anlagen und angeborenen Gemüthseigenthümlichkeiten, ihre Ausbildung durch Erziehung, die herrschenden Neigungen des Individuums, seine Lebensrichtung und Weltansichten, seine äusseren Schicksale und die Art des psychischen Verhaltens zu ihnen treu und einsichtig auffassen und so ein allseitiges Bild der Geschichte der Individualität zu gewinnen suchen. Nur auf diesem Wege ist eine Einsicht in die wirkliche Bildungsgeschichte dieser Krankheiten möglich, nur so gelingt es, an ihren Ursprüngen die feineren Fäden zu fassen, die sich am Ende zu Wahngespinnsten verschlungen haben, nur so kann man in manchen Fällen, wo Irresein plötzlich und scheinbar ganz unmotivirt zum Ausbruche kommt, die längst gegebene Vorbereitung der Erkrankung und die fast mathematische Nothwendigkeit ihres Eintritts erkennen. (ebd., 132)
Was Griesinger beschreibt – die kontrollierten Verfahren der Datengewinnung und -interpretation bei der Anamnese –, ist heute im klinischen Alltag selbstverständlich. Die Anamnese, hier verstanden als Bildungsgeschichte, führt zu weiteren Anschlusshandlungen: Durch die Sammlung relevanter Daten, gestützt durch flankierende Untersuchungen und bewährte Tests, ergibt sich eine Arbeitsgrundlage, um Hypothesen zum bestehenden Krankheitsbild
2 aufzustellen und entsprechende therapeutische Maßnahmen einzuleiten. Der durch unterschiedliche kommunikative Handlungen bestimmte Alltag in der Klinik, sei es nun das Befragen des Patienten oder das Notieren von Untersuchungsergebnissen, wird in der Krankenakte, einem heterogenen Textsortenensemble, dokumentiert. Diese hat eine Filterfunktion, indem sie aus den real stattgefundenen kommunikativen Handlungen die Informationen über den Patienten selektiert, die relevant sind und den Heilungsprozess unterstützen. Zur Selektion und Interpretation relevanter Daten, die zu diesem Zeitpunkt schon nicht mehr in der Hand nur eines behandelnden Arztes liegen, bedarf es einer Einschätzung darüber, welche Informationen überhaupt wichtig sind, mit welchen (nicht eigens textualisierten) Begründungen die Gewichtung erfolgt und welche Schlussfolgerungen, v. a. praktischer Natur, daraus gezogen werden können. Die Durchführung der einzelnen Schritte hat zur Voraussetzung, dass der behandelnde Psychiater unterschiedliche Arten psychischer Krankheiten bezeichnen kann und er zudem in der Lage ist, das Beobachtete zu beschreiben, er die möglichen Ursachen psychischer Erkrankungen kennt und sie auf körperliche und/oder psychische Symptome beziehen kann, und er wissen sollte, welche Behandlung dem Patienten wann helfen könnte. Die Vertextung von Beobachtungen, von erfolgten Untersuchungen, von Hypothesen zur Krankheitsentstehung und von Prognosen zum weiteren Krankheitsverlauf müssen sowohl den jeweiligen Erkenntnisstand der Psychiatrie widerspiegeln als auch im Rahmen der klinischen Binnenkommunikation anschlussfähig sein. Die Anschlussfähigkeit zeigt sich am sprachlichen Arbeitsinstrumentarium, nicht nur am Wortschatz, sondern auch an den, abhängig von unterschiedlichen Textsorten, bevorzugten Darstellungsformen. Dabei ist es im Rahmen der Institution „Psychiatrie“ wesentlich, dass es möglich wird, aus dem Einzelfall das potentielle Typische des Krankheitsverlaufs herauszufiltern und zu verbalisieren. Um 1800, im Zuge der ersten Psychiatriegründungen, gibt es keine Klassifikation psychischer Krankheiten, die intersubjektiv geteilt würde, sondern nur eine Vielzahl konkurrierender Vorschläge, die auf unterschiedlichen und zum Teil auf nicht miteinander zu vereinenden Traditionen fußen. Welche Symptome Ausdruck welcher Erkrankung sind, welche Stadien für bestimmte Krankheitsformen anzunehmen sind und v. a. welche Ursachen und/oder auslösenden Faktoren ihnen zu Grunde liegen, ist unklar. So sollen ein Mückenstich, eine ausbleibende Menstruation, emsiges Studieren, eine Erkältung oder die Erschütterung durch unerwartete Ereignisse, um nur einige Auslöser zu nennen, eine psychische Erkrankung hervorrufen können. Während um die Wende zum 19. Jahrhundert Einzelfälle eher selten beschrieben werden, prägen in den Folgejahrzehnten weitschweifige, geradezu literarische und am Einzelfall orientierte Schilderungen psychisch Kranker, die nur in Rudimenten spätere Anamnesen erkennen lassen, das Bild. Diesen stehen theoretische
3 Erörterungen gegenüber, die dem philosophischen Leib-Seele-Diskurs 1 bzw. der Anthropologie oder natur- und kulturphilosophischen Überlegungen zuzurechnen sind. Ein eigenständiger psychiatrischer Fachwortschatz, gar eine vergleichbare syntaktische Gestaltung der Schriften existieren nicht. Frühe psychiatrische Schriften profitieren zunächst von fremden Disziplinen wie der Philosophie und von angrenzenden bereits etablierten medizinischen Teilgebieten, die sich im adaptierten Wortschatz ebenso wie in der textlichen Gestalt niederschlagen, was an etlichen Text-Textmuster-Beziehungen (vgl. Fix et al. 2001, 114f.) deutlich wird. Nach einer Initialphase bis in die 1840er Jahre, 2 die wesentlich durch die Anverwandelung heterogener Traditionsbestände gekennzeichnet ist, entwickelt sich die Psychiatrie rasant: Es etabliert sich nicht nur die Institution „Psychiatrie“ und setzt sich gegenüber familiären Formen der Betreuung psychisch Kranker durch, sondern es bildet sich in der Ausbauphase bis in die 1870er Jahre auch die wissenschaftliche Teildisziplin „Psychiatrie“ heraus. Mit ihrer Entwicklung korrespondiert eine sich durchsetzende naturwissenschaftliche Sichtweise auf das Phänomen „psychische Erkrankung“, die bspw. in Griesingers bekanntem Postulat, dass Geisteskrankheiten Gehirnkrankheiten seien, zum Ausdruck kommt. Die naturwissenschaftliche Phase findet auf der Schwelle zum 20. Jahrhundert mit den Veröffentlichungen Emil Kraepelins ihren Höhepunkt (1856–1926, Professor für Psychiatrie erst in Heidelberg und später in München), so mit seinem Lehrbuch Psychiatrie (Erstveröffentlichung als Compendium der Psychiatrie, 1883), dessen Einfluss bis in die Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg reicht. Im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts bildet die Psychiatrie zudem für das moderne Weltverständnis charakteristische Diskurse aus, wie die Diskussionen um die Zivilisations______________ 1
2
Diskurs wird hier und in der gesamten Untersuchung im Sinne von Busse/Teubert (1994, 10–28) verstanden: „Unter Diskursen verstehen wir im forschungspraktischen Sinn virtuelle Textkorpora, deren Zusammensetzung durch im weitesten Sinne inhaltliche (bzw. semantische) Kriterien bestimmt wird. Zu einem Diskurs gehören alle Texte, die – sich mit einem als Forschungsgegenstand gewählten Gegenstand, Thema, Wissenskomplex oder Konzept befassen, untereinander semantische Beziehungen aufweisen und/oder in einem gemeinsamen Aussage-, Kommunikations-, Funktions- oder Zweckzusammenhang stehen, – den als Forschungsprogramm vorgegebenen Eingrenzungen im Hinblick auf Zeitraum/ Zeitschnitte, Areal, Gesellschaftsausschnitt, Kommunikationsbereich, Texttypik und andere Parameter genügen, – und durch explizite oder implizite (text- und kontextsemantisch erschließbare) Verweisungen aufeinander Bezug nehmen bzw. einen intertextuellen Zusammenhang bilden.“ (ebd., 14). Eine Auseinandersetzung mit dem Diskursbegriff Foucaults erfolgt in Kap. 2.1.1. Dieser Zeitraum orientiert sich an psychiatriegeschichtlichen Darstellungen (vgl. Dörner/Plog 61990, 465; Kaufmann 1995, 59ff.).
4 krankheit „Neurasthenie“, um die milieubedingte Degeneration des Erbmaterials und den daraus abgeleiteten Kampf gegen den Alkoholismus. Zwischen einer Welt „ohne Psychiatrie“ um 1800 (jedenfalls ohne die Institution – erste Psychiatriegründungen erfolgen dann kontinuierlich, z. B. 1811 der berühmte Sonnenstein bei Dresden) und einer Welt, in der Psychiatrie als medizinisches Prüfungsfach anerkannt wird (1901, vgl. Eulner 1970, 261f.), liegt ein relativ kurzer Zeitraum von gut 100 Jahren. In diesem Zeitraum bildet sich allmählich ein Fachwortschatz heraus, der eine Abgrenzung von ehemals benachbarten Disziplinen ermöglicht. Die Entwicklung des Fachwortschatzes ist Ausdruck einer Entwicklung, in der sich Sichtweisen auf das Phänomen „psychische Abweichung“ entwickeln, die sich von den personalen Typen des Beginns (z. B. der Melancholiker) ablösen und zu Krankheitstypen (z. B. die Depression) führen. In diesen Prozess ist die Entstehung von präferierten textlichen Aneignungsformen eingelagert, die sich schrittweise zu den heute noch gebrauchten Fachtextsorten entwickeln. Damit ist wiederum verbunden, dass in dem Maß, wie die Psychiatrie als eigenständiges Fach sichtbar wird, auch der Übergang von einer Zeitschrift- zu einer Handwissenschaft im Sinne von Fleck (1935/1980) erkennbar wird, wodurch auch ein eigener „Erkenntnisstil“ (Schütz/Luckmann 1979, 49), bzw. kollektiver „Denkstil“ (Fleck 1935/1980, 129–180) sichtbar wird. Für den einzelnen Psychiater bedeuten diese Entwicklungen, dass die Anschlussfähigkeit des eigenen Schreibens sich zunehmend an anderen Faktoren als zu Beginn des 19. Jahrhunderts misst. Während eine wesentliche Leistung der frühen Psychiater darin besteht, die Traditionsbestände anderer Disziplinen wie bspw. der Philosophie in lexikalischer und textlicher Hinsicht zu adaptieren, wird das Schreiben späterer Psychiater durch schon entstandene, selten allerdings metakommunikativ reflektierte Konventionen hinsichtlich aller textkonstitutiver Ebenen bestimmt. Ziel der folgenden Untersuchungen zur Soziogenese des psychiatrischen Schreibens von 1800–1939 ist es nun, die Entwicklung hin zu einer in unterschiedlichen Praxisfeldern (relativ) verbindlichen sprachlichen Gestaltung, deren Traditionsbestand zunächst heterogen ist, zu beschreiben und zu begründen. Die sich zu Beginn des 19. Jahrhunderts kaum abzeichnende Verbindlichkeit wird über Professionalisierungsschübe erreicht, die in eine kommunikative Dynamik eingebettet sind. Diese Dynamik wird auf der Grundlage eines umfangreichen Quellenmaterials aus dem Zeitraum 1800 bis 1939 herausgearbeitet. Da der Gegenstand psychiatrischen Schreibens Abweichungen im Fühlen, Denken und Handeln eines Menschen sind, für die es zu Beginn des 19. Jahrhunderts schon unterschiedliche Beschreibungstraditionen gibt, korrespondieren diese Professionalisierungsschübe kaum mit Erfindungen und Entdeckungen (s. u.). Zudem gelingt es während des gesamten 19. Jahrhunderts nicht, obwohl zahlreiche Initiativen dazu vorhanden sind, sich
5 auf eine einheitliche Terminologie zu einigen. Noch 1987 – und dies steht in einer langen Reihe ähnlicher Äußerungen – kann Feer feststellen: „Psychiatrie besteht darin, dass man mit unzureichender Beobachtung, mit nicht-konsistenter Theorie und mit fragwürdigen sprachlichen Begriffen arbeitet und dennoch vorankommt.“ (ebd., 4). Im Mittelpunkt der theoretischen Auseinandersetzung und der empirischen Untersuchungen steht die Frage, wie man überhaupt dazu gekommen ist, voranzukommen. Es soll herausgearbeitet werden, von welcher Art das psychiatrische Schreiben ist und wie es intersubjektive Verbindlichkeit erreicht, ohne dass ein vom „Gegenstand“ quasi induzierter konsistenter Wortschatzaufbau erfolgt und ohne dass bis zum Ende des 19. Jahrhunderts von einer engen Verbindung zwischen normsetzenden Instanzen und entsprechenden Schreibprodukten auszugehen ist. Formen sprachlichen Wandels, die sich im historischen Längsschnitt zeigen, sollen auf die dem thematisch gebundenen Schreiben inhärenten Veränderungspotentiale zurückgeführt werden. Da für das psychiatrische Schreiben gezeigt werden kann, dass es wesentlich von einer veränderten Typenbildung abhängig ist, bilden die Sozialphänomenologie und Wissenssoziologie (v. a. Schütz 21981, Schütz/Luckmann 1979, Berger/ Luckmann 1980 und Waldenfels 1980, 21994, 31998) und besonders ihre Vorstellungen von Typen und ihrer Modifizierung einen theoretischen Hintergrund, um Wandelerscheinungen zu erfassen und zu begründen. Ebenfalls der Sozialphänomenologie ist die Vorstellung verpflichtet, dass Schreiben eine Betätigung in einem offen-begrenzten Kontext ist, bei der sowohl reine Produktion als auch reine Reproduktion als Grenzfälle zu werten sind. Aus dem Spannungsfeld zwischen Produktion und Reproduktion entsteht die zunächst metakommunikativ kaum reflektierte Vorstellung, dass man so und nicht anders über psychisch Kranke schreiben kann. Das Schreiben verschiebt sich verstärkt zu einem Aufgaben-Bewältigen mit entsprechenden sprachlichen Routinen. Allerdings ermöglichen diese wiederum eine Form fachgebundener sprachlicher Kreativität. Dass hier von Schreiben die Rede ist, ist nicht so zu verstehen, dass eine historische Rekonstruktion tatsächlicher Schreibakte versucht wird. Vielmehr soll herausgearbeitet werden, dass der Wandel von Texten, der die anfängliche Konturierung, dann Konstitution und schließlich Weiterentwicklung der Psychiatrie bestimmt, in ein textliches Umfeld eingebettet ist. Der der historischen Textpragmatik vertraute Gedanke, dass Textsorten Produkte thematisch gebundener interaktiver Konstellationen sind, die u. a. bestimmte sprachliche Handlungen und ein lexikalisches Profil erwartbar machen (vgl. bspw. das Textmodell von Sandig 1997, 25– 44), wird hier insofern erweitert, als dass Textproduzenten sich immer entlang bestimmter, schon etablierter Texttraditionen bewegen und diese durch das Schreiben partiell und auf unterschiedlichen Ebenen umgestalten können. Fachtextsorten sind vom historischen Blickwinkel aus das Ergebnis eines re-
6 konstruierbaren Prozesses, dessen Anfang zumeist Text(sorten)hybride bilden und erst an dessen Ende eine erkennbare Textsorte stehen kann, die wiederum in eine bestimmte Schreibpraxis eingebettet ist. Neben dem Ziel, die Genese einer relativ verbindlichen Schreibpraxis nachzuzeichnen, soll auch gezeigt werden, dass die einzelnen Sprachwandelprozesse – bspw. die Herausbildung eines Fachwortschatzes und die Entwicklung von bevorzugten textlichen Aneignungsstrategien – nicht unabhängig voneinander gesehen werden können. Es kann nicht nur eine Interdependenz zwischen lexikalischer und textlicher Ebene nachgewiesen, sondern auch gezeigt werden, dass sich morphosyntaktischer Wandel erst als Nachhut vorgängiger Entwicklungen erweist. So führen die Verfasser früher Krankengeschichten zwischen 1820–40 bei melancholischen Patienten oft an, dass diese vor sich hin dämmerten. Der Zustand selbst wird z. T. ausführlich beschrieben, was mit einer syntaktisch komplexen Gestaltung korreliert. In späteren Veröffentlichungen fallen diese Schilderungen zugunsten des wissenssensitiven Verweises auf einen Dämmerzustand weg, eingebettet in die nun stichworthafte Vertextung von Symptomen, wovon dann wiederum dämmerig als Hauptsymptom abgleitet wird.
1.2
Einbettung der Untersuchung
1.2.1
Die Ziele der Untersuchung im Verhältnis zur Fachsprachenforschung
Das psychiatrische Schreiben bzw. die psychiatrische Fachsprache in ihrer Entwicklung ist in der Sprachwissenschaft noch nicht untersucht worden, abgesehen von einigen Untersuchungen zur Sprache Sigmund Freuds von Pörksen (vgl. 1986, 150–182, 1994, 155–175, 21998, 193–210) sowie von Hinweisen zur Sprache der Psychologie von Ickler (1987, 9-38, 1997) und Bergenholtz (1978, 102–115). Dass sich bisher noch wenige Sprachwissenschaftlerinnen mit der psychiatrischen oder vergleichbaren Fachsprachen beschäftigt haben, 3 ist bemerkenswert, da sich die Geschichtswissenschaft und So______________ 3
Dem steht die große Anzahl gesprächsanalytischer Arbeiten zur Psychoanalyse und zur Gesprächstherapie gegenüber, so: Habermas (91988), Klann (1977, 129– 167, 1978, 52–66), Lorenzer (1971, 21973, 1976, 1977), Flader (1982), Baus/Sandig (1985) und Wrobel (1985). Einen weiteren Forschungszweig stellen die besonderen Merkmale psychisch auffälligen Sprechens dar, so: Blankenburg (1991, 140–151), Goeppert/Goeppert (1975), Klauser (1995, 263–273), Schmidt-Knäbel (1983) und Steingart (1977, 175–198).
7 ziologie mit Ordnungsprinzipien der Psychiatrie stark auseinandergesetzt haben. Die geringe Aufmerksamkeit, die der Psychiatrie und verwandten Disziplinen bisher gezollt worden ist, lässt sich damit begründen, dass der Fokus der historischen Fachsprachenforschung eher auf naturwissenschaftlich-technischen Fachsprachen liegt, deren Genese in den sozialgeschichtlichen Kontext der Industrialisierung und entsprechender Erfindungen, sprachlich in den Kontext lexikalischer Innovationen gestellt wird. Eine Schwierigkeit bei der Untersuchung der Soziogenese der psychiatrischen Schreibpraxis ist, dass die Psychiatrie, allein schon bedingt durch ihren Gegenstand und trotz der skizzierten naturwissenschaftlichen Ausrichtung im späteren 19. Jahrhundert, auch nach ihrer Konsolidierung nur einige fachsprachliche Kennzeichen besitzt. Zum einen wird das Schreiben über psychisch Kranke erst zu einem späten Zeitpunkt – und dann auch nur in Grenzen – von der Vertikalität des Fachwortschatzes (von wohl definierten Termini bis zu lediglich pragmatisch eingespielten Fachjargonismen, vgl. Rehbein 1998, 689–710), von morphosyntaktischen Besonderheiten und der Bevorzugung synthetisch-integrativer Verfahren (z. B. Nominalisierungen, Univerbierungen, vgl. Roelcke 1999b, 71–85) sowie von standardisierten Fachtextsorten gesteuert. Zum anderen weisen selbst Texte noch im 20. Jh. Kennzeichen auf, die den der Fachsprachenforschung unterstellten Objektivierungstendenzen nicht entsprechen. Es handelt sich um kontextuelle (u. a. Deiktika) und Plausibilitätsindikatoren, Rudimente strategischer Argumentationsweisen sowie um viele Hinweise auf die Sprechhaltung und Subjektivität des Verfassers. Die Funktion noch vieler Texte des späten 19. Jahrhunderts erschöpft sich nicht im Darstellen, was sich an der Reihung bedeutungsverwandter Lexeme, an Personifizierungen, syntaktischen Parallelismen, Nachträgen oder schmückenden Adjektiven zeigt (vgl. allgemein für medizinische Texte auch: Ylönen 2001, 168–179). Die Kriterien der Fachsprachenforschung (so Präzision, Eindeutigkeit, Ökonomie oder expressive Neutralität) geben in dieser Untersuchung nicht den Maßstab vor, an dem das psychiatrische Schreiben zum jeweiligen Zeitpunkt gemessen wird und gemessen werden kann. Vielmehr soll gezeigt werden, wie sich aus der Dynamik des Schreibens eine Entwicklung ergibt, mit der die Handlungsbeteiligten eine Sprache hervorbringen, die professionelles Arbeiten ebenso wie die Abgrenzung gegenüber anderen Disziplinen ermöglicht, ohne dass alle fachsprachlichen Kriterien zutreffen. Die mit der synchronen Fachsprachenforschung verbundene Kartierung von Fächern lässt sich nur bedingt auf die Genese von Fachsprachen übertragen. Die Erfassung der historischen Dimension moderner, im 18./19. Jahrhundert erst entstehender Fachsprachen bezieht sich bisher vornehmlich auf die Verwaltungs- und Rechtssprache sowie Fachsprachen aus dem technischnaturwissenschaftlichen Bereich. Da sich gerade letztere mit neuen Gegens-
8 tandsbereichen verbinden lassen, ergibt sich eine Konzentration auf Formen der sprachlichen Innovation (z. B. Fratzke 1980, 1–63; Unger 1980, 130– 201; Hums 1988, 43–56; Fluck 1989, 56–75, 51996). 4 Durch eine Orientierung an begrifflichen Neuerungen, am vermeintlich konsistenten Aufbau eines Fachwortschatzes (bspw. durch Entlehnungen, Derivationen oder Konversionen) und schließlich an den für das 19. Jh. charakteristischen Vereinheitlichungsbestreben im Bereich der Termini wird kaum nach einer in dieser Arbeit angestrebten wechselseitigen Durchdringung von textlicher Formung, lexikalischer und syntaktischer Gestaltung gefragt. Es dominiert damit eine eher statische Vorstellung von Sprachverwendung, so dass sich eine Art Dreiklang von Taufakt und Gegenstandsbindung, (relativer) Eindeutigkeit der Terminiverwendung und Musterhaftigkeit von Textexemplaren ergibt, die durch den festen Rahmen einer entstehenden Institution und hypostasierte Zwecke gewährleistet werden soll. Obwohl bspw. die Entstehung von Fachjargonismen als Produkt pragmatischer Regularisierungen in historischer Sicht ohne die textlich-kommunikative Dimension nicht zu erklären ist, werden lexikalische und textliche Dimension häufig voneinander entkoppelt (Ausnahmen: Ylönen 2001 sowie Pörksen 1986, 1994). Im Bereich der Psychiatrie zeigt sich jedoch, dass oft allein die kotextuelle Positionierung, so die Relationierung mit einer bestimmten Krankheitsform, über Bedeutungsdifferenzierung gegenüber der Gemeinsprache Aufschluss gibt (z. B. stumpf für das Verhalten eines Depressiven, läppisch für das Verhalten eines Dementen). Warum es gerade diese und nicht andere Lexeme sind, kann wiederum nicht ohne Rekurs auf textvermittelte Selektionsprozesse (so bspw. die stillschweigende Tilgung religiös konnotierter Lexeme) erklärt werden. Die mit der Fachsprachenforschung – grosso modo – verbundene, eher statische Vorstellung von Sprache könnte ein Grund dafür sein, dass eine Bereicherung der synchron ausgerichteten Fachsprachenforschung um eine historische Dimension zwar häufiger gefordert worden ist (vgl. z. B. Hoffmann 1988, 23–34; Seibicke 1985, 1998–2008; von Hahn 1993, 9–17; Kalverkämper 1993, 18–47; Fluck 51996, 241–244; Kalverkämper/Hoffmann 1998, 366), jedoch diese Forderungen bisher kaum eingelöst worden sind. Dass bei der Beschäftigung mit der historischen Dimension moderner Fachsprachen nicht nur eine Rückübersetzung fachsprachlicher Theoreme gefordert ist, machen Untersuchungen zu frühneuzeitlichen „Fachsprachen“ 5 und Studien zum ______________ 4
5
Damit folgt man dem Mythos vom bloßen Erkennen und Bezeichnen von Gegenständen: „Das erkennende Subjekt figuriert als eine Art Eroberer vom Typus Julius Cäsars, der nach der Formel veni-vidi-vici seine Schlachten gewinnt.“ (Fleck 1935/1980, 111) Es ist zu betonen, dass hier die Genese einer modernen Fachsprache im Vordergrund steht. Die Beschäftigung mit mittelalterlichen und frühneuzeitlichen Gebrauchstexten als Teil der artes-Literatur (z. B. Keil/Assion 1974; Haage 1983,
9 18. und 19. Jahrhundert deutlich, die nicht fachlexikographisch orientiert sind und bspw. die wichtige Rolle von Metaphern bei der Erschließung neuer Sachgebiete hervorheben (z. B. Jakob 1991, Hundt 1995). Gilt es, bei historischen Texten oft das gesamte lexikalische Profil in seinem Zusammenspiel zu betrachten, um bspw. die Kanalisierung des späteren Metaphernbestandes herauszuarbeiten, ist gerade auch bei der Genese des Schreibens die Hinwendung zu Texttraditionen und möglichen Textallianzen, wie diese Arbeit zeigen möchte, oft unumgänglich. Auch dies ist verschiedentlich bemerkt worden: 6 „Die Geschichte von Textsorten und Gattungstypen, die (zeitweilig) zwischen der Fachliteratur und anderen ‚Literaturen‘ vermitteln (z. B. die Biographie oder die Reiseliteratur), könnte dabei von speziellem Interesse sein.“ (Schlieben-Lange/Kreutzer 1983, 17; vgl. auch Weinrich 1989, 190). Für den deutschsprachigen Raum liegen im Gegensatz zu einigen Monographien und Aufsatzsammlungen im Englischen (vgl. Gross et al. 2002; Dossena 2006) bisher nur vereinzelte, umfassendere Untersuchungen zur Genese wissenschaftlicher Textsorten bzw. zu ihren stilistischen Veränderungen vor, so von Pörksen (1986; 1994) zur Sprache der Naturwissenschaft oder von Ylönen (2001) zur medizinischen Schriftlichkeit. In beiden Schriften liegt das Hauptaugenmerk, 7 anders als in dieser Untersuchung, jedoch nicht auf der ______________
6
7
1985–205; Haage 1993, 228–268; Habermann 2002) hat ein anderes Erkenntnisinteresse: Die entsprechenden Texte werden unter dem Gesichtspunkt der volkssprachlichen Schriftlichkeitsexpansion, besonders seit der frühen Neuzeit, der damit verbundenen „Übersetzungsvorgänge“ (vgl. Pörksen 1986, 42–72, 1994, 37– 85) und der Polyfunktionalisierung des Deutschen untersucht. Dabei kann man grundsätzlich zwei wichtige Traditionslinien ausmachen: a) Das Verhältnis von deutscher Übersetzung und fremdsprachlichen Vorbildern und die damit verbundene Rolle von Entlehnungen und syntaktischen Formprizipien und b) das Hineinwachsen in Formen konzeptioneller Schriftlichkeit, sofern es keine fremdsprachlichen Vorbilder gibt. Die langsame Ablösung vom oralen Bezugsrahmen zeigt bspw. Giesecke (1992) anhand von Handwerkertexten. So gilt, wie ich meine, noch heute das Urteil von v. Hahn: „Über wenig Gebiete in der Fachsprachenforschung ist so viel formal Aufmunterndes … und gleichzeitig so wenig substantiell Inhaltliches geschrieben worden, wie über die fachliche Textstruktur.“ (1983, 119f.) Bei Pörksen, besonders in seiner Auseinandersetzung mit Goethes Botanik (1986, 72–97, 1994, 109–131) und Freud (1986, 150–182, 1994, 155–175), wird, da beide ein bildungssprachliches Schreiben bevorzugten, auf die Nähe zum literarischen Schreiben verwiesen, in dem bspw. verstärkt Kontakt- und Appellfunktionen hervortreten würden und unterschiedliche sprachliche Techniken der Annäherung an den Gegenstand (so die Synonymenvariation bei Goethe im Unterschied zu Linné oder der auf der Basis des Erbwortschatzes gebildete Terminus bei Freud) gebraucht würden. Die Novellistik Freuds wird jedoch nicht auf ihre möglichen Traditionen hin beleuchtet, z. B. als Revitalisierung der für die Psychiatrie wichtigen Krankengeschichte (vgl. Kap. 6.1.3).
10 Vernetzung unterschiedlicher Texttraditionen, ihre möglichen Konvergenz und damit auf dem Textsortenwandel generell, sondern vornehmlich – in Abhängigkeit von der syntaktischen und lexikalischen Gestaltung – auf dem Wandel des Stils einzelner Textsorten. Während bisher also Formen der sprachlichen Innovation im Vordergrund standen, geht es in dieser Arbeit um Formen sprachlicher Kreativität auf dem Boden schon etablierter Diskurse, Texttraditionen und Termini anderer Disziplinen, aus denen heraus sprachliche Professionalität erwächst. Dabei richtet sich der Blick auf die Anverwandlung und kohärente Verformung der Gemein- und Bildungssprache (und das heißt auch von kulturellen Topoi, z. B. der angenommenen Prädisposition von Schwarzhaarigen zur Melancholie) sowie der schon etablierten Fachsprachen, was mit der Erzeugung geradezu hybrider Textformen verbunden. Für die Psychiatrie, jedoch auch für andere medizinische Teildisziplinen gilt: „… ob wir wollen oder nicht, wir können nicht von der Vergangenheit … loskommen. Sie lebt in überkommenen Begriffen weiter, in Problemfassungen schulmäßiger Lehre, im alltäglichen Leben, in der Sprache und Institutionen. Es gibt keine Generatio spontanea der Begriffe, sie sind, durch ihre Ahnen sozusagen, determiniert.“ (Fleck 1935/1980, 31). Wie sich die Psychiatrie erst allmählich aus der Tradition löst, zeigt sich bspw. anhand der Melancholie, der Hypochondrie, der in der Frühen Neuzeit entstandenen Nostalgia oder dem „spleen“ (Zivilisationskrankheit der Engländer). Die Darstellung der Melancholie wird durch unterschiedliche sprachliche Reminiszenzen geprägt (z. B. der melancholische Dunst, der das Gehirn vernebele, vgl. Lambrecht 1994, 69). Dabei sind es nicht nur ältere medizinische Theorien wie die Humoralpathologie (die VierSäfte-Lehre) oder die Temperamentenlehre, die in die Beschreibung des Melancholikers eingehen, sondern auch die Belletristik (z. B. Goethes Werther, vgl. die Briefe vom 18. August, 27. Oktober und 3. November). Erst im Laufe des 19. Jahrhunderts wird die Melancholie als Krankheitsform allmählich verschwinden, sich auf ein symptomologisches Zustandsbild verschieben und schließlich vollständig aus der psychiatrischen Nosologie verbannt werden. Damit verschwinden viele, jedoch bei weitem nicht alle der jahrhundertealten sprachlichen Reminiszenzen. Sowohl das allmähliche Ausblenden von alten Krankheitsbezeichnungen als auch die Skelettierung von Erscheinungsformen zeigen die rasante Entwicklung im 19. Jahrhundert.
1.2.2
Der potentielle Ertrag der Untersuchungen für die jüngere Sprachgeschichte
Hauptsächlich soll die Genese der psychiatrischen Fachsprache aus einem heterogenen und bearbeitbaren Bestand im Zeitraum von 1800–1939 anhand
11 unterschiedlicher Korpora, die als Bestandteile übergreifender Kommunikationsprozesse gesehen werden, gezeigt werden (s. u.). Wesentlich für die gesamte Arbeit ist, dass – auch naturwissenschaftliche – Fachsprachen ein Vorläuferstadium, m. E. eine transitorische Varietät, besitzen, in dem bestimmte textliche Aneignungsformen prämiert, Kollektivstile erkennbar und lexikalische Demarkationslinien aufgebaut werden. Die sprachlichen Prozesse werden als Ausdruck einer kommunikativen Dynamik gesehen, die aus dem Übergang von personalen Typen zu Krankheitstypen wesentlich gespeist wird. Insofern versteht sich diese Arbeit als ein Vorschlag, wie die historische Dimension von Fachsprachen erfasst werden kann. Diese Erfassung kann parallel besonders auf die Textsortengeschichte und auf die historische Semantik bezogen werden und zeigt bspw. beim Aufbau lexikalischer Demarkationslinien unterschiedliche Pfade der Bedeutungsdifferenzierung. Daneben möchten die Untersuchungen jedoch auch auf die Bedeutung des Fachlichen für die jüngere Sprachgeschichte hinweisen: Neben der Psychiatrie entstehen im 19. Jahrhundert viele weitere Fächer (viele medizinische Teilfächer ebenso wie natur-, sozial- oder sprachwissenschaftliche Fächer), andere bereits bestehende – so die Medizin generell und viele Naturwissenschaften (z. B. Chemie, Physik) – werden erheblich umgestaltet. Für das 19. Jahrhundert ist generell ein Erstarken des Fachlichen anzunehmen (vgl. von Polenz 1999, 485). In der sprachhistorischen und in den letzten zwei Jahrzehnten intensiven Bearbeitung des 19. Jahrhunderts (z. B. Cherubim/Mattheier 1989; Cherubim/Grosse/Mattheier 1998b) stehen bisher Sprachstandardisierung/-normierung, ihre Motivation (so bspw. durch die Wechselwirkung von Sprachreflexion und sozialdistinktiver Sprachverwendung: Linke 1996a; Cherubim 1998c, 197–233) und zuletzt ihr kommunikativer Radius in Hinblick auf die Sprachverwendung (so bspw. die Profilierung des Schreibens „kleiner Leute“, vgl. Schikorsky 1989a, 1989b, 229–245; Klenk 1997, 1998, 317–340; Elspaß 2005) im Vordergrund. Mit der zunehmenden Standardisierung hin auf eine weitere Heterozentrierung gestaltet sich das Varietätengefüge der deutschen Sprache erheblich um. Die entsprechenden Veränderungen werden mit sozial- und mentalitätsgeschichtlichen Veränderungen korreliert: So in Hinsicht auf die Interdependenz zwischen Industrialisierung/Verstädterung und sprachlichen Ausgleichsprozessen (z. B. Mihm 1998, 282–316), so in Hinsicht auf die Interdependenz zwischen dem Aufstieg des Bürgertums und dem Einleiten sprachkultivierender Prozesse (vgl. Cherubim 1983, 398–442; Linke 1996a, 1996b, 85–103, 1998, 234–258), so in Hinsicht auf die Interdependenz zwischen gesellschaftlichen Demokratisierungsprozessen und der Herausbildung politischer und medialer Handlungsformen (z. B. durch die Entstehung des Parlamentarismus; vgl. Holly 1982, 10–48, 1998, 420–443; Burkhardt 2003).
12 Mit dem Erstarken des Fachlichen ist zwar nicht im engen Sinne eine Schriftlichkeitsexpansion, jedoch im Verlauf des 19. Jahrhunderts eine bedeutende Ausweitung und Differenzierung des Textsortenspektrums verbunden, die sich am Beginn des 19. Jahrhunderts erst abzeichnet. Wie schon bei der Entstehung von Pressetextsorten (Püschel 1994, 163–174, 1997, 176– 194, 1998, 360–383), politischen Reden (Polenz 1999, 523–545), Verwaltungstexten (Cherubim/Objartel/Schikorsky 1987, 144–176), jedoch auch bei medizinischen Texten (Herman/Enck 1997, 45–48; Ylönen 1993, 81–98, 2001, 168ff.) und allgemein für die moderne Naturwissenschaft bemerkt worden ist (Haßler 1999, 2445–2447; Schlieben-Lange 1989, 1–17; Hoppe 1989, 115–169 für die Romania), ist mit der Herausbildung der entsprechenden Textsorten eine allmähliche Ablösung und Neupositionierung von rhetorischen Textorganisationsformen (z. B. eine Ablösung von der religiösen Predigtrhetorik bei der politischen Rede) verbunden. Da sich Ähnliches bspw. auch bei den eher theoretischen Abhandlungen zum Leib-Seele-Problem oder bei dem Übergang von der Krankengeschichte zur Fallschilderung dokumentieren lässt (vgl. Kap. 4.3.1), gehe ich davon aus, dass sich im 19. Jahrhundert eine für das 20. Jahrhundert bedeutende Entwicklung zeigt, für die das Erstarken des Fachlichen eine wesentliche Rolle spielt: der Wandel der elaborierten Schriftlichkeit auf der Grundlage der jeweils im thematischen Horizont eines Faches liegenden Texttraditionen und ihrer Zusammenführung. Das führt zu einer Differenzierung zwischen gelehrter Fachprosa und dem professionellen Schreiben und dem damit verbundenen Arkanwissen. In der Dimension des Fachlichen bildet sich eine Fülle textlicher Aneignungsformen heraus, die mit der Organisation der Wissenschaft als Wissenschaft, mit Bürokratisierungs- und Entsubjektivierungstendenzen einhergehen. Das heißt auch: An der Entwicklung der psychiatrischen Fachsprache lassen sich nicht nur die Stadien hin zu einer Fachsprache nachvollziehen, sondern es lassen sich an ihrer Entwicklung beispielhaft Prozesse zeigen (so die Ablösung von rhetorischen Traditionen), die Ausgangspunkt für sprachliche Entwicklungen im 20. Jahrhundert sind. Trotz aller Besonderheiten psychiatrischer Texte setzt sich – relativ unabhängig von Textsortenspezifika – eine Tendenz zum Aufbau morphosyntaktischer Besonderheiten und zum Abbau explizit hypotaktischer Konstruktionen durch. Für das 19. Jahrhundert darf man wohl eine Doppelbewegung annehmen: Die Differenzierung des Textsortenspektrums geht mit einer tendenziellen Homogenisierung des Fachlichen einher, wobei bspw. narrative und stark persönliche Zugriffsweisen zunehmend verdrängt werden. Mit der Ausdifferenzierung und tendenziellen Homogenisierung des Fachlichen ist auch verbunden, dass die sich etablierende Fachsprache und Bildungssprache in einem produktiven Austauschprozess stehen. Während die Entwicklung der Psychiatrie sich zunächst von der Bildungssprache profitiert, die Entwicklung eher unidirektional verläuft, verschiebt sich die Ent-
13 wicklung hin zu einer Bidirektionalität. Die alltägliche Sicht auf den Menschen und psychiatrische Fachsprache stehen auch heute noch in einem produktiven, wechselseitigen Abhängigkeitsverhältnis. Nicht nur Freud, dessen immenser Einfluss auf unser Selbstbild (man denke nur an: Unterbewusstsein, Über-Ich, Flucht in die Krankheit, Widerstand gegen, Fehlleistung oder Verdrängung) auf der Hand liegt, sondern auch die psychiatrische Fachsprache als solche hinterlassen Spuren bei der Beschreibung unseres Selbst. So fühlen sich Menschen ausgebrannt – eine lange tradierte Bezeichnung für das Endstadium einer Depression, selbst der Nervenzusammenbruch, der nervöse Erschöpfungszustand, die Überanstrengung, die Abspannung u. v. m. haben ihre Wurzeln im Nachdenken über psychische Krankheiten. Der Siegeszug nicht nur der Psychoanalyse, sondern auch der Psychiatrie verändert den traditionellen Gefühlswortschatz des 18. Jahrhunderts und die Typisierung sozialer Abweichung (z. B. des Grillenfängers, Grüblers und Hypochonders) in erheblichem Ausmaß, was auch an der schnellen Aufnahme des entsprechenden Vokabulars und entsprechender Argumentationslinien in der Belletristik ersichtlich wird.
1.3
Aufbau der Untersuchung
Im Einzelnen soll nun die Genese der psychiatrischen Sprache von ihren Ausgangsbedingungen herausgearbeitet werden. Im ersten Kapitel werden zum einen die Rahmenbedingungen gezeigt, unter denen sich die psychiatrische Fachsprache entwickelt. Zum anderen wird versucht, die Bedeutung eines linguistischen Zugriffs gegenüber v. a. ideen- und sozialhistorischen Zugangsweisen darzustellen (Kap. 2.1/2.2). Im darauf folgenden Kapitel (vgl. Kap. 2.3) wird als Überleitung zu den Theoriekapiteln anhand von vier Beispielen aus der Zeit um 1830 das sprachliche Profil früher Psychiatrietexte herausgearbeitet. Im dritten Kapitel wird nach einer Abgrenzung von der Fachsprachenforschung und einem Plädoyer, wie der Begriff „Fach“ zukünftig verwendet werden könnte (Kap. 3.1), der theoretische Bezugsrahmen der Untersuchungen weiter präzisiert (Kap. 3.2). Es wird die Sozialphänomenologie und die aus ihr entsprungene Wissenssoziologie genutzt, um die sprachlichen Prozesse nachzuzeichnen, die zur Konstituierung einer Fachsprache beitragen. Sowohl das Ziel der Sozialphänomenologie, zu erklären, wie Ordnung und Rationalität aus der Erfahrung entstehen und wie Sinn „verfertigt“ wird, als auch die von ihr gebrauchten Begriffe wie „Typus“, „Gestalt“ oder „Struktur“ prädestinieren, wie gezeigt werden soll, die Sozialphänomenologie für die Erforschung eines bis 1800 kaum erfahrenen und kaum begriffe-
14 nen „Gegenstandes“. Sowohl die institutionengeschichtliche Skizze als auch der theoretische Bezugsrahmen stellen eine Basis für die sprachhistorischen Studien dar. Das vierte Kapitel beschäftigt sich mit der Initialphase des psychiatrischen Schreibens, in der sich sprachlich allmählich Abgrenzungstendenzen zu anderen Fächern zeigen lassen. Im fünften Kapitel steht die Entwicklung der Psychiatrie zu einer Handbuchwissenschaft in der Ausbau- und Konsolidierungsphase im Vordergrund. Anhand von ausgewählten Lehrbüchern soll gezeigt werden, wie sich aus der Initialphase heraus der Wortschatz weiter entwickelt und wie Texte entstanden sind, die in den Kontext der Wissensvermittlung gestellt werden können. Anhand der Krankheitsformen „Hysterie“ und „Schizophrenie“ (Kap. 6.) soll exemplarisch herausgearbeitet werden, welche enge Verzahnung sich zwischen psychiatrischen Überlegungen und öffentlichen Diskursen ergibt und wie der immense Prestigegewinn der Psychiatrie ab dem Ende des 19. Jahrhunderts zu begründen ist. Da dieser Prestigegewinn u. a. dazu führt, dass sich Psychiater, verstärkt nach dem Ersten Weltkrieg, in den Dienst der „Volksgesundheit“ stellen, wird am Material von Krankenakten überprüft, inwieweit sich das Schreiben von Psychiatern wiederum verändert und wie es auch im klinischen Bereich an der Konstitution von sozialen Stereotypen beteiligt ist. Die Untersuchung basiert auf unterschiedlichen Korpora: a) auf allen, von der Psychiatriegeschichte als wichtig erachteten Schriften des Zeitraums von 1800 bis 1845, wobei auch die Übersetzungen der französischen Werke (so von Philippe Pinel oder Jean-Étienne Dominique Esquirol) hinzugezogen werden (Auswertung in Kap. 4.); b) auf Beiträgen im Zeitraum von 1818 bis 1844, die in wichtigen, zum Teil schon spezialisierten Zeitschriften (so der Zeitschrift für psychische Ärzte) erschienen sind; herangezogen wurden daneben alle in der Rubrik „Seelenkrankheitskunde“ erschienenen Abhandlungen im Magazin für Erfahrungsseelenkunde (Auswertung in Kap. 4.); c) auf 50 Krankenakten, die von 1806 bis 1850 in der Modellpsychiatrie Sonnenstein bei Dresden verfasst worden sind, ergänzt von einem von Niedergassel (1978) medizinhistorisch ausgewerteten Korpus, das Krankenakten aus der Psychiatrie im Kloster Eberbach umfasst (Auswertung in Kap. 4.), sowie aus 87 Krankenakten, die in der Universitätspsychiatrie Gießen zwischen 1897 und 1939 erstellt worden sind (Auswertung in Kap. 6.); d) auf ausgewählten Lehrbüchern, die im Zeitraum von 1838 bis in die 20er Jahre des 20. Jahrhunderts veröffentlicht wurden, wobei – wegen ihrer psychiatriegeschichtlichen Bedeutung – ein deutliches Schwergewicht auf den Veröffentlichungen Wilhelm Griesingers und Emil Kraepelins liegt (Auswertung in Kap. 5.);
15 e) auf, ebenfalls nach ihrer psychiatriegeschichtlichen Bedeutung, ausgewählten Monographien und Aufsätzen zu den Themen „Hysterie“ und „Schizophrenie“, die von der Mitte des 19. Jahrhunderts bis in die 20er Jahre des 20. Jahrhunderts hinein veröffentlicht worden sind (Auswertung in Kap. 6.). Die Korpora sind unter folgenden Gesichtspunkten erstellt worden: Es stehen generell Monographien/Aufsätze im Blickpunkt, die mit anderen vernetzt sind, da sie von anderen Psychiatern zitiert und kritisiert werden oder als besonders innovativ gelten, in den Traditionsbestand der sich konstituierenden Disziplin eingegangen und einem Diskurs zuzurechnen sind. Es werden bei der Charakterisierung der Initialphase alle Texte analysiert, die in den o.g. spezialisierten Journalen erschienen ist. Dies geschieht aus dem Grund, dass sich – flankiert von zeitgleich erscheinenden Monographien – hier das Spektrum psychiatrischen Schreibens und die Prämierung bestimmter textlicher Zugangsweisen beobachten lässt. Da es sich oftmals auch um Übersetzungen französischer oder englischer Texte handelt, wird gleichzeitig Nähe und Abstand zur Entwicklung anderer psychiatrischer Entwürfe markiert. Krankenakten werden hier deshalb analysiert, weil ihre Anfertigung nicht nur einen wesentlichen Bestandteil alltäglicher Schreibaktivitäten von Ärzten dokumentiert. Sie stehen in einem historisch variablen, produktiven Wechselverhältnis zu anderen Schreibaktivitäten. So werden sie im 19. Jahrhundert zunehmend zu einer Textressource, die das Schreiben von anderen Textsorten der psychiatrischen Binnenkommunikation, Halböffentlichkeit (Schreiben von Gutachten auf ihrer Basis) und der Ausbildungssituation (Lehrbücher) leiten. Grundsätzlich sind die Texte auf der Basis eines unterschiedlichen Relevanzgesichtspunktes ausgewählt worden – Relevanz in Hinsicht auf den Traditionsbestand, Relevanz in Hinsicht auf die präferierten textlichen Zugangsweisen und auch Relevanz in Hinsicht auf die potentielle Neuartigkeit des Zugriffs. Da um 1800 und in der Folgezeit keine intersubjektiv geteilten Schreibstandards vorhanden sind, sondern sich erst herausbilden, ist der Umgang – gerade mit den ersten Teilkorpora – dadurch gekennzeichnet, dass die Rekurrenz sprachlicher Erscheinungen thematisiert wird, die eine Folie für die nachfolgenden Wandelprozesse darstellen. Den Kern bilden der Textsortenwandel, der lexikalische und semantische Wandel sowie der (morpho)syntaktische Wandel, der sich allerdings erst im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts zeigt. Es werden keine frequenzorientierten Untersuchungen im engeren Sinne angestrebt, sondern es sollen sprachliche Verfahren gezeigt werden, die in Initial-, Ausbau- und Konsolidierungsphase und zur sprachlichen Professionalisierung wichtig sind und die sich anhand der Teilkorpora zeigen lassen. Dazu gehören bspw. die Amalgamierung und pragmatische Regularisierung bestimmter Wortschatzressourcen oder der
16 Übergang von einer narrativen zu einer deskriptiven Ausgestaltung des Falls. Leitfragestellungen sind: a) Welche Gemeinsamkeiten weisen die Texte zu einem bestimmten Zeitpunkt sowohl in Hinsicht auf die Textstruktur, die Themenabfolge, die Darstellungsformen und die syntaktische sowie lexikalische Gestaltung auf? b) Wie und auch warum verändern sich die Texte im Laufe eines Jahrhunderts in Hinblick auf die genannten sprachlichen Ebenen? Auf welcher Folie lassen sich diese Veränderungen beschreiben? c) In welchem Zusammenhang stehen textliche Aneignungsformen und lexikalische sowie syntaktische Gestaltung? d) Inwiefern ist es gerechtfertigt, sowohl unterschiedliche Phasen anzunehmen, als auch die Veränderungen als Form sprachlicher Professionalisierung zu deuten? Insgesamt bleiben die Ausgangstexte als Texte und nicht nur als Träger isolierter sprachlicher Einheiten erhalten. Die Dokumentation der entsprechenden Belege ist für die Initialphase vollständig. Die vollständige Dokumentation von Einzelbelegen in ihren kotextuellen Umgebungen wird von längeren Zitaten flankiert, die für den Leser interpretiert werden und die unterschiedlichsten sprachlichen Einheiten in ihrem Zusammenspiel zeigen. Die späteren Untersuchungen orientieren sich am Typischen, wobei sich das Typische letztlich an den vorherigen Untersuchungen misst.
2.
Historische Rahmenbedingungen
2.1
Der sprachwissenschaftliche Zugriff auf die Psychiatriegeschichte
In einem kurzen Zeitraum von nur 100 Jahren etabliert sich die Psychiatrie als Institution und ab dem letzten Drittel des 19. Jahrhunderts als Teildisziplin der universitären Medizin. Die Entwicklung der Psychiatrie ist aus der Perspektive unterschiedlicher Disziplinen – der Medizin- und Psychiatriegeschichte (vgl. z. B. Bodamer 1953, 511–535; Ackerknecht 21967; Leibbrand/Wettley 1961; Eulner 1970; Jetter 1971, 1981; Nissen/Keil 1985; Schrenk 1973; Müller 1993; Shorter 1997), der Geschichtswissenschaft und hier besonders der Sozial- und Geistesgeschichte (vgl. z. B. Güse/Schmacke 1976; Blasius 1980, 1986, 1994; Labisch/Spee 1989; Thom 1984; Radkau 1998; Walter 1996; Weingart/Kroll/Bayertz 1992) und der an Foucaults Wahnsinn und Gesellschaft. Eine Geschichte des Wahns im Zeitalter der Vernunft (121996) anschließenden Diskursgeschichte – bearbeitet worden (s. u.). Sofern die Darstellung aus einem engen medizinhistorischen Blickwinkel erfolgt, liegt das Erkenntnisinteresse auf der Sichtung des eigenen Traditionsbestandes, so dass die Darstellung referierend ist und Aspekte fokussiert, die die spätere Entwicklung prägen. Neben einem allgemeinen Überblick stehen entweder der Prozess der Institutionalisierung am Beispiel einzelner Heilanstalten/Regionen (vgl. z. B. Beck 1984 zu Illenau; Braum 1986 zu Frankfurt; Heinemeyer/Pünder 1983 zu Hessen) oder die Rolle einzelner Psychiater, Gelehrter oder Beamter (z. B. Wahrig-Schmidt 1985 zu Griesinger) im Vordergrund, die diesen Prozess theoretisch begleitet oder praktisch unterstützt haben. Daneben wird die Konstitution und Entwicklung der Psychiatrie daraufhin untersucht, welchen kultur- und geistesgeschichtlichen Strömungen (z. B. der romantischen Naturphilosophie) sie verpflichtet ist (vgl. z. B. Dessori 1902/1964; Benzenhöfer 1993). Breiten Raum nimmt in der ideengeschichtlichen Rekonstruktion die Auseinandersetzung zwischen Psychikern und Somatikern und die damit verbundene allmähliche Durchsetzung der Körpermedizin ein (vgl. Kap. 4.3.3). Bei diskursgeschichtlichen Untersuchungen können Veröffentlichungen, bei denen die thematisch-intertextuelle, z. T. begriffliche Vernetzung von zumeist theoretischen Abhandlungen und ihre Interpretation dominiert (vgl. Dörner 1975; Herzog 1984; Roelcke 1999), von solchen getrennt werden, die nach der Bedeutung der Psychiatrie und verwandter Disziplin für die Konstitution des modernen Sub-
18 jekts und der Moderne generell fragen (vgl. Beck 1984; Kaufmann 1995; Lepenies 1998; Sarasin/Tanner 1998; Sarasin 2001). Generell wird der für die psychiatrischen Texte charakteristische Sprachgebrauch nur am Rande und deshalb punktuell beleuchtet. Der Rekurs auf den gängigen Sprachgebrauch bezieht sich auf einzelne Termini, auf diskursiv reflektierte Zentralbegriffe und auf einzelne, nicht jedoch nicht systematisch betrachtete textliche Aneignungsformen. Da Foucaults Untersuchungen zur Psychiatriegeschichte gerade in der Geschichtswissenschaft, jedoch auch in Nachbardisziplinen sehr einflussreich waren, möchte ich kurz auf Foucault eingehen und eine sprachhistorische Zugangsweise von seinen Überlegungen abgrenzen. Die Veröffentlichung von Wahnsinn und Gesellschaft. Eine Geschichte des Wahns im Zeitalter der Vernunft (frz. 1961, dts. 1969) und von Die Geburt der Klinik. Eine Archäologie des ärztlichen Blicks (frz. 1963, dts. 1972) bilden den Auftakt einer Reihe von historischen Studien, so die bekannten Überwachen und Strafen. Die Geburt des Gefängnisses (frz. 1975, dts. 1976) und Sexualität und Wahrheit. Der Wille zum Wissen (frz. 1976, dts. 1977). Obwohl zwischen den Veröffentlichungen die Profilierung seiner Methode [so von Die Ordnung der Dinge (frz. 1966, dts. 1971) und Die Ordnung des Diskurses (frz. 1972, dts. 1974)] und seines Geschichtsverständnisses liegt, lässt sich doch eine Linie von Wahnsinn und Gesellschaft zu den späteren Veröffentlichungen ziehen (vgl. z. B. Eribon 1993, 218). Beim späteren Foucault ist die Betrachtung des Wahnsinns in ein Geschichtsbild eingebettet, das die Entstehung der Moderne wesentlich an ein Zusammenspiel von diskursiver Produktion, damit verbundener Wissensakkumulation und der Entfaltung von Machtdispositiven koppelt (vgl. Habermas 31991, 279–344; Honneth 21986, 169–223). Die Moderne zeichnet sich nicht mehr durch eine erkennbare zentralistische, souveräne und repressive Macht, sondern durch produktive strukturelle Machtbeziehungen, eine „Mikrophysik der Macht“ aus, die mit der Erzeugung von Wissen, getrieben vom Willen zur Wahrheit, korrespondiert und in Disziplinartechnologien mündet (z. B. in den Geständniszwang). Da für Foucault moderne Macht v. a. Bio-Macht ist, sich auf die Funktionsbasis des menschlichen Körpers ebenso wie auf elementare Lebensvorgänge (Geburt, Sexualität etc.) bezieht und mit Verhaltenskontrolle und Selbstoptimierung arbeitet, stellt die Entwicklung der Psychiatrie für Foucault einen Paradefall dar. Er nimmt eine der Geschichte der Psychiatrie immanente Logik an, die zur Ausgrenzung des Wahnsinns aus der Vernunft, zur Konstitution von Wahnsinn als Geisteskrankheit und zu seiner Domestizierung führt. Im Vordergrund stehen nach Honneth „institutionelle und kognitive Strategien der Sozialintegration“ (21986, 172). Der polymorphe Machtbegriff integriert sprachliche Prozesse nur, indem sie Verweise auf ihre virtuelle soziale Bedeutung, i. d. R. auf ihre Positionierung im gesellschaftlichen
19 Gefüge, zulassen. In Wahnsinn und Gesellschaft lassen sich folgende Verweise entnehmen: a) ein Mehr an Sprechen/Schreiben über Wahnsinnige und ein Mehr oder Weniger an Explizitheit im Sprechen/Schreiben über Wahnsinn als genereller Motor der diskursiven Aneignung des Phänomenbereichs; b) das Verhältnis zwischen Sprechen/Schreiben und Schweigen. Foucault hält den Dialog zwischen Irren und Vernunftmenschen für abgebrochen: Die Konstituierung des Wahnsinns als Geisteskrankheit am Ende des achtzehnten Jahrhunderts trifft die Feststellung eines abgebrochenen Dialogs, gibt die Trennung als bereits vollzogen aus und lässt all die unvollkommenen Worte ohne feste Syntax, die ein wenig an Gestammel erinnerten und in denen sich der Austausch zwischen Wahnsinn und Vernunft vollzog, im Vergessen versinken. Die Sprache der Psychiatrie, die ein Monolog der Vernunft über den Wahnsinn ist, hat sich nur auf einem solchen Schweigen errichten können. Ich habe nicht versucht, die Geschichte dieser Sprache zu schreiben, vielmehr die Archäologie dieses Schweigens. (Foucault 121996, 8; Hervorh. v. d. Verf. – B-M. Sch.) 1
c) eine häufig nur ikonische Deutung textueller Aneignungsstrategien, wobei schon hier Klassifikationsbemühungen im 18. und 19. Jahrhundert (so Nosologie und Kasuistik) eine besondere Rolle spielen (vgl. Foucault 121996, 170–206); d) eine punktuelle Sichtung psychiatrischer Begriffe, die fast im emphatischen Sinne als willkürliche Bezeichnungen gedeutet werden 2 und wiederum an ihrer Ikonizität gemessen werden, die die dispersen und heterogenen Erscheinungsformen des Wahnsinns zu erfassen versuchen und die Irren in ihrem Wahnsinn isolieren. Die Konventionalität sprachlicher Zeichen wird auf den Gesichtspunkt der Form und der taxonomischen Ordnung von Zeichen, der Relation zwischen Zeichenträgern verengt und die ______________ 1
2
Foucault selbst bringt bei der Verteidigung seiner grande thèse (Wahnsinn und Gesellschaft ist Teil des Promotionsverfahrens) zum Ausdruck, „dass ‚der Wahnsinn keine Gegebenheit der Natur‘ ist, sondern ein ‚Zivilisationsprodukt‘ sei. Der Wahnsinn ist in einer gegebenen Gesellschaft noch immer ‚ein anderes Verhalten‘, eine ‚andere Sprache‘. Folglich kann es auch keine Geschichte des Wahnsinns geben ‚ohne eine Geschichte der Kulturen, die ihn als solchen bezeichnen und verfolgen.‘“ (Foucault, zit. n. Eribon 1993, 177) Vgl. auch die folgende Projektbeschreibung Foucaults: „Da habe ich noch versäumt, mein Projekt genauer zu definieren, das eben nicht darin besteht, eine Geschichte der Entwicklungen der psychiatrischen Wissenschaft zu schreiben. Sondern eher eine Geschichte des sozialen, moralischen und imaginären Kontextes, in dem sie sich entwickelt hat. Denn für mich hat es den Anschein, daß es bis zum 19. Jahrhundert, um nicht zu sagen bis heute, kein objektives Wissen vom Wahn gegeben hat, sondern nur die Formulierung einer bestimmten (moralischen, sozialen usw.) Erfahrung von Unvernunft in analogen wissenschaftlichen Begriffen.“ (Foucault, zit. n. Eribon 1993, 139f.)
20 Relation von Zeichenträger und Bedeutung in einem bestimmten Sinne erfasst. Dem entspricht auch, dass Foucault kaum von Sprache, sondern eher vom „Herstellen und In-Umlauf-Bringen signifikanter Elemente“ spricht (Foucault 1982, 252). Es sollte deutlich werden, dass Foucault sich kaum für den Sprachgebrauch, die Rekurrenz sprachlicher Erscheinungen in Texten oder Genese von Veränderungsprozessen interessiert. Noch nicht einmal ansatzweise wird somit – in Opposition zu einem ideengeschichtlichen Zugriff – das Arbeitsinstrumentarium der „textualistischen Diskursanalyse“ (i.S.v. Warnke 2008, 37) erkennbar. Zudem entzieht sich Foucaults Arbeitsweise bewusst einem verstehenden, hermeneutischen Zugriff und der Rekonstruktion der Akteursperspektive. Dies ist – daran sollte bei der heutigen Indienstnahme Foucaults (z.B. Warnke 2008, 35–45, Warnke/Spitzmüller 2008) erinnert werden – innerhalb der Forscherbiographie und gerade für den frühen Foucault nur konsequent. In einem Interview 1966 antwortet er auf die Frage „Wann haben Sie aufgehört, an den ‚Sinn‘ zu glauben?“ folgendermaßen: „Die Bruchstelle hat sich an dem Tage gezeigt, als uns Lévi-Strauss für die Gesellschaften und Lacan für das Unbewußte gezeigt haben, daß der ‚Sinn‘ wahrscheinlich nur eine Art Oberflächeneffekt, eine Spiegelung, ein Schaum ist und, was uns im Innersten durchquert, was vor uns liegt, was uns in der Zeit und im Raum trägt, das ‚System‘ ist.“ (Foucault 1966, zit. n. Eribon 1993, 250). Er definiert gegenüber dem linguistischen, ethnologischen und theologischen Strukturalismus einen Strukturalismus, der eine Aktivität ist, anhand deren die nichtspezialisierten Theoretiker sich bemühen, die tatsächlichen Beziehungen zu definieren, wie sie zwischen dem oder jenem Ereignis unserer Kultur, der oder jener Wissenschaft, diesem praktischem und jenem theoretischen Bereich existieren können. Anders ausgedrückt: Es handelt sich um eine Art verallgemeinerten und nicht mehr auf einen genau umrissenen wissenschaftlichen Bereich bezogenen Strukturalismus. (Foucault 1967, zit. n. Eribon 1993, 261)
So werden wissenschaftliche Erörterungen zwar als sinnlos, als bloße Oberflächenphänomene bezeichnet, sie besitzen jedoch eine „soziale Bedeutung“. Dass damit Sprachfunktionen im Zentrum stehen, die Sprache nicht als soziale Matrix und als Medium sozialer Interaktion, sondern als ein behaviouristisches Verhalten profilieren – die Dynamik zwischenmenschlichen Kommunizierens sowie die dadurch gegebene Erzeugung sozialen Sinns werden ausgeblendet (vgl. auch Habermas 31991, 337) –, ist nicht zufällig, sondern korrespondiert mit dem skizzierten, eher metaphorischen Zugriff auf den Strukturalismus, vgl.: Während die Archäologie des Wissens die Schicht der diskurskonstituierenden Regeln rekonstruiert, versucht die Genealogie ‚die diskontinuierliche Abfolge an
21 sich unbegründeter Zeichenordnungen, die den Menschen in den semantischen Rahmen einer bestimmten Weltauslegung zwängen‘, zu erklären – und zwar erklärt sie die Herkunft der Diskursformationen aus Machtpraktiken, die sich in einem ‚Hasardspiel der Überwältigungen‘ miteinander verflechten. (Habermas 3 1991, 300)
Professionalisierung ist damit eine Falange von diskursiver Produktion, Wissensgenerierung und dem Aufbau von Machtdispositiven, was vor der Folie der Konstitution des modernen Subjekts und seiner Unterwerfung durch unterschiedliche Ermittlungsprozeduren gesehen wird. Trotz der zunehmenden Nivellierung des Strukturalismus 3 in seinen Schriften bleibt eine ähnliche Sicht auf Sprache erhalten. Die Ordnung des Diskurses (1974, 15–30) thematisiert Formen der Ausschließung (Verbot, Tabu), die „Grenzziehung“ und „Verwerfung“ (die das Reden über Irre leiten) und der „Wille zur Wahrheit“. Innerhalb des Diskurses wirken der „Kommentar“, die „Individualität des Autors“, die „Disziplinen“ (die das Wissen ordnen und klassifizieren und alles, was sich nicht assimilieren lässt, jenseits ihrer Grenzen verweisen) sowie Formen der praktischen Umsetzung ausschließend. Es dominiert ein ähnliches Sprachverständnis wie in Wahnsinn und Gesellschaft. Zwar hat Foucault die gesellschaftsabhängigen, historisch variablen Konstruktionen des Körperlichen in den Blickpunkt gerückt und den Körper selbst als Ansatzpunkt von Machtpraktiken ausgewiesen, ein Zugriff auf sprachliche Erscheinungen ist damit nicht verbunden. Was Foucault für diese Arbeit jedoch wieder interessant macht, ist, dass die medizinischen Schriften Foucaults eine Folie und Interpretationsrahmen vorgeben, der, wie sich an unterschiedlichen Stellen der Arbeit zeigt, sprachwissenschaftlich bzw. textanalytisch gefasst werden kann. Wenn Foucault sozusagen hinter den Texten die Genese eines ärztlichen Blicks und die Domestizierung des Wahnsinns vermutet, was mit der Ausgrenzung anderer Sichtweisen auf den Wahnsinn korrespondiert, so muss eine sprachwissenschaftliche Perspektive gerade die sprachlichen Zugangsweisen zum Phänomen „psychisches Kranksein“ herausarbeiten, die derartige Hypothesen plausibilisieren könnten. Vieles, was bei Foucault metaphorisch zu verstehen ist, seien es Grenzziehungen, Verwerfungen, Tabus und auch das Klassifizieren selbst sind direkt in das sprachliche Hervorbringen des Gegenstandes „psychisch Kranker“ eingebettet und können an sprachliche Erscheinungsformen rückgebunden werden. In dieser Untersuchung steht der Sprachgebrauch im Vordergrund, aus dessen Dynamik die Genese professionellen Schreibens, die Prozesse der ______________ 3
So heißt es im Vorwort zur Geburt der Klinik in der Erstauflage: „Hier soll eine strukturale Analyse eines Signifikats – des Signifikats der ärztlichen Erfahrung – einer Epoche versucht werden“, was dann 1972 in „Hier soll die Analyse eines bestimmten Diskurses versucht werden, des Diskurses der medizinischen Erfahrung einer Epoche …“.
22 sprachlichen Sinnherstellung und die Verbindlichkeit sprachlicher Routinen ermittelt und erklärt werden sollen. Das Erkenntnisinteresse liegt darin, diejenigen sprachlichen Prozesse, vornehmlich Typisierungsroutinen, nachzuzeichnen, die über Formen der Professionalisierung zu einer Praxis einer bestimmten Art mit eigenen Maßstäben der Vortrefflichkeit und zur Veränderung von Schreibhaltungen führen (vgl. Kap. 3.2). Ein formbezogener, homogenisierender und letztlich statischer Blick auf sprachliche Äußerungen, der den variablen „Spielstand“ der in Diskursformationen gefangenen, etablierten Machtbeziehungen, bzw. Disziplinartechnologien ermittelt, ist damit kaum zu verbinden. Grundsätzlich führt eine sprachwissenschaftliche Perspektive zu den Primärquellen zurück, die hinsichtlich ihrer sprachlichen Verfasstheit, ihrer Heterogenität und ihrer Veränderung betrachtet werden. Sofern sie interpretiert werden, bezieht sich die Interpretation auf die, im Prozess des Schreibens eingelagerten, unterschiedlichen Gründe von Veränderungen und nicht auf eine, der Kommunikation entkoppelte, fast transzendental zu verstehende Erzeugungsmacht. Die Konstituierung, institutionelle Verankerung und spätere Verwissenschaftlichung der Psychiatrie werden damit primär von der Sprache her betrachtet und soweit möglich, die jeweiligen Äußerungsbedeutungen rekonstruiert. Denn für die Psychiatrie gilt: „Die Wissenschaft und besonders das wissenschaftliche Wissen ist in hohem Grade sprachlich verfasst, und der Prozess der (oder einer bestimmten) wissenschaftlichen Erkenntnis ist von seinem Anfang bis zu seinem Ende ein kommunikativer Prozess.“ (Wiegand 1996, 95). 4 Im Gegensatz zu einer ideengeschichtlichen Rekonstruktion der Psychiatriegeschichte richtet sich das sprachwissenschaftliche Interesse an der Entwicklung der Psychiatrie darauf, wie das soziale Objekt „psychisch ______________ 4
Dass Sprache ein eigenständiger Faktor in der Fach- und Wissenschaftsgeschichte ist, hat Pörksen wiederholt an der „Anstößigkeit unerwarteter Sprache“ (1994, 17– 35; 156) gezeigt: „Die Wahl der unerwarteten Gattung (bei Freud der „Novelle“ – Anm. d. Verf., B-M. Sch.) führt zur Apperzeptionsverweigerung: zum Sichverschließen, zur Unfähigkeit, das Dargebotene zu erkennen. Eine quer zur Erwartung liegende Ausdrucksweise kann die Aufnahme neuer wissenschaftlicher Erkenntnisse verhindern. Man ist anscheinend geneigt, zu verlangen, daß, auch was das Medium der Sprache, der Ausdrucksweisen und Gattungen angeht, alles in gewohnten Geleisen weitergeht. Eingeführte Sprachen sind Bahnungen, Ordnungsformen, innerhalb deren einer sich möglichst zu halten hat. Ein Autor wähle Gegenstände, die in sein Fach fallen, halte sich an die dafür vorgesehene Gattung und bediene sich der eingeführten Ausdrucksweisen! Unser Medium, die Sprache, wird hier als Zwischenwelt erkennbar, die an der Geschichte der Erkenntnisse einen selbständigen Anteil hat und als selbständiger Faktor der Wissenschaftsgeschichte Beachtung verdient.“ (ebd., 156). Die Anstößigkeit unerwarteter Sprache ist gerade in der englischen Wissenschaftslinguistik mehrfach dokumentiert worden (vgl. Kretzenbacher 1999, 136f.).
23 Kranker“ mit welchen textlichen Aneignungsformen und auf der Grundlage welcher Wortschatzressourcen sprachlich „hervorgebracht“, intersubjektiv bestätigt wird und Kontextfortbildungen so ermöglicht, dass sprachliche Demarkationslinien zu anderen Disziplinen entstehen. Selbst neue Ideen und bahnbrechende Erkenntnisse müssen in der Regel in Hinblick auf das textkulturelle Umfeld, dominante Texttraditionen und Darstellungsformen sowie den bis dato etablierten Wortschatz anschlussfähig sein. Das bedeutet auch, da einerseits Texte zu einem bestimmten Zeitpunkt betrachtet werden, andererseits jedoch auch die Sukzession von Texten im Blickpunkt steht, dass die transtextuelle Ebene auch im Sinne einer epistemologischen Diskursanalyse (vgl. Warnke 2008, 38) notwendig in den Untersuchungen mitgedacht wird. So reflektieren ebenso das eingespielte Textmuster als auch präferierte sprachliche Selektionen immer auch die Doppelbödigkeit zwischen einer subjektiv deklarierten Textproduktion und dem Vorliegen sprachlich vermittelteter sozialer Orientierungsmuster, die bspw. als Argumentationstopoi erfassbar werden und selbstverständlich Wissenstrukturen ebenso zeigen, wie sie auch dadurch konstituiert werden (vgl. Kap. 4.3.). Zudem lässt, wie gezeigt werden wird, eine Orientierung an theoretischen Abhandlungen, die meist in der Ideen- und Kulturgeschichte bevorzugt wird, einen wesentlichen Teilbereich psychiatrischen Schreibens, der in Auseinandersetzung mit psychisch Kranken erfolgt, außer Acht (eine Ausnahme: Kaufmann 1995). Bei der Gestaltung und Umgestaltung des Fachwortschatzes verdient jedoch gerade diese Dimension psychiatrischen Schreibens besondere Beachtung. Da mit dem Schreiben über psychisch Kranke spätestens seit dem ersten Drittel des 19. Jhs. eine „Verzeitlichung“ korrespondiert, wird eine wesentliche Modernisierung erreicht, was die Ablösung der Psychiatrie von der räumlich orientierten Naturgeschichte ablöst (vgl. Lepenies 1976). Zudem besitzen theoretische Kontroversen und die in der Psychiatriegeschichte besonders virulente Auseinandersetzung mit dem einmal erreichten Stand der Disziplin oft nicht unmittelbaren Einfluss auf die relevanten Schreibdomänen, weil sie vielfach die Legitimation der gesamten Disziplin in den Vordergrund rücken. Ihre sprachlichen Wirkungen erfolgen in der Regel zeitlich verzögert (z. B. durch die allmähliche Vermeidung der Schibboleths der Kontrahenten oder die Vermeidung eines religiös konnotierten Vokabulars). In den folgenden Kapiteln (2.2.1/2.2.2) soll nun im Rückgriff auf medizin-, psychiatrie- und sozialgeschichtliche Forschungen herausgearbeitet werden, welche historischen Eckdaten bei der Herausbildung und Weiterentwicklung der Psychiatrie bedeutend sind. Gleichzeitig soll dargestellt werden, wer unter welchen Bedingungen auf der Grundlage welcher Erfahrungen und welcher interaktiven Konstellationen über psychisch Kranke schreibt. Dabei wird nur grob skizziert, welcher textlichen Aneignungsformen sich die Psy-
24 chiater bedienen. Wie sie schreiben, wird in Kap. 2.3 kurz gestreift und in den historischen Studien systematisch bearbeitet (Kap. 4. –6.).
2.2
Institutionell-kommunikative Rahmenbedingungen
2.2.1
Die Etablierung der Psychiatrie als Institution in der Initialphase
In der Zeitspanne zwischen 1800 bis in die 1840er Jahre etabliert sich die Psychiatrie als Institution: Erste Heil- und Pflegeanstalten modernen Typs werden gegründet, die die alten „Zucht-, Korrektions-, Verwahrungs-, Arbeits-, Findel-, Narren- und Tollhäuser“ und das dominante Verwahrungs-, Asylierungs- und auch Strafprinzip (so in den „houses of correction“, deutsch: Korrektionshäuser) ablösen, die zunächst teils unter städtischer, teils unter kirchlicher, später dann unter staatlicher Obhut stehen. Die Zucht- und Arbeitshäuser des 17. Jahrhunderts sind vielfach thematisiert worden: als Stätte der Sozialdisziplinierung und als Ausdruck von Modernisierungs- und Repressionsprozessen in feudal-absolutistischen Staaten. Als „historischer Merkposten“ gilt es nach Blasius festzuhalten: Die vom absolutistischen Staat betriebene Internierung der Geisteskranken war eine Polizeimaßnahme, die den Gedanken der „Sicherheit des Publikums“ in den Mittelpunkt stellte. Die Interessen der Allgemeinheit legten den Schutz vor dem Irren, nicht den Schutz des Irren nahe. In der Frühen Neuzeit hat dieser Grundsatz ohne Frage zu einer Brutalität im Umgang mit Geisteskrankheiten geführt. Aber damals versteckte sich diese Brutalität nicht hinter Barmherzigkeit. Die Ausgrenzung der Irren wurde mit offenem Visier betrieben … Hier ist sicherlich ein strenges historisches Urteil angebracht. Dennoch muß hinzugefügt werden, daß gerade vom Sicherheitsgedanken her der Anstaltsbedürftigkeit im 17. und 18. Jahrhundert äußerst enge Grenzen gezogen waren. Der harmlose Irre behielt seine Freiheit, nur eine begrenzte Zahl von Geisteskranken verschwand hinter den Mauern von Detentionshäusern (das sind Straf- und Arbeitshäuser). Der Kranke traf hier auf Hausgenossen, die er von früher sehr gut kannte: Arme, Sieche, Säufer, Müßiggänger und Prostituierte, kurz, die vielen Randgänger der frühneuzeitlichen Gesellschaft. (1994, 17)
Seit dem 17. Jahrhundert nehmen Tollhäuser und ähnliche Einrichtungen eine Doppelfunktion von Fürsorge und Disziplinierung ein: Zwar werden die Wahnsinnigen wie Arme und Hilflose versorgt, jedoch müssen sie sich der zum Teil strengen Ordnung der Anstalten unterwerfen und sind bspw. gezwungen, in Manufakturen oder Spinnsälen zu arbeiten (vgl. Jetter 1981,
25 121f.). Erst im letzten Drittel des 18. Jahrhunderts geraten die Anstalten selbst und besonders die „Internierung“ von Kranken in den Fokus des öffentlichen Interesses. Der erste Anwalt einer humaneren Behandlung von psychisch Kranken ist der Hallenser Prediger Heinrich Balthasar Wagnitz, der 1791–1794 Historische Nachrichten und Bemerkungen über die merkwürdigsten Zuchthäuser in Deutschland verfasste. Die Nachrichten sind Produkt eigener Reisen durch die Zucht-, Korrektions- und Arbeitshäuser des deutschsprachigen Raums und sind ihrerseits vom englischen Prediger und Reformer John Howard inspiriert worden, der 1789 in An account of the principal Lazarettes in Europe (London 1789, dts.: Nachricht von den vorzüglichsten Krankenhäusern und Pesthäusern in Europa, Leipzig 1791) die Zustände in deutschen Anstalten scharf kritisiert. Einer der ersten Psychiater, Johann Christian Reil, widmet bezeichnenderweise Wagnitz und Howard sein Buch Rhapsodieen über die Anwendung der psychischen Curmethode auf Geisteszerrüttungen (1803). Er schildert die Zustände in den Anstalten wie folgt: Wir sperren diese unglücklichen Geschöpfe gleich Verbrechern in Tollkoben, ausgestorbene Gefängnisse, neben den Schlupflöchern der Eulen in öde Klüfte über den Stadtthoren, oder in die feuchten Kellergeschosse der Zuchthäuser ein, wohin nie ein mitleidiger Blick des Menschenfreundes dringt, und lassen sie daselbst, angeschmiedet an Ketten, in ihrem eigenen Unrath verfaulen. Ihre Fesseln haben ihr Fleisch bis auf die Knochen abgerieben, und ihre hohlen und bleichen Gesichter harren des nahen Grabes, das ihren Jammer und unsere Schande zudeckt … Die Erhaltung der Ruhe und Ordnung beruht auf terroristischen Principien. (Reil 1803, 115)
Kranke werden zunehmend zum Gegenstand literarischer Aufklärung: in Zeitschriftenaufsätzen, populäraufklärerischen Sammelwerken, in psychologischen Magazinen, in Reisejournalen, Tagebuchberichten für fiktive und reale Leser, biographischen Sammlungen und Briefen (vgl. insbesondere: Osinski 1983; Kaufmann 1995). 5 Direkte Auswirkungen hat die Anstaltskritik und die Literarisierung zunächst kaum, doch sicherlich gibt sie – zusam______________ 5
Einige wichtige sind: der Bericht Carl Friedrich Pockels, dem Mitherausgeber des Magazins für Erfahrungsseelenkunde, Meine Beobachtungen im Zellischen Zuchtund Irrenhause (1794); dieselbe Anstalt schildert Johann Christian Gottlieb Schaumann im Fragment eines Briefes (1790). Garlieb Merkel beschreibt im 35. seiner Briefe über Hamburg und im 5. seiner Briefe über Lübeck (1801) eigene Anstaltsbesuche, ebenso Heinrich von Kleist, der in Briefen an Wilhelmine von Zenge vom 13.–18. September 1800 das Würzburger Juliushospital skizziert. Gleichzeitig setzt die Literarisierung des Wahnsinns durch die Romantik ein (vgl. Dörner 1975, 225f.). Einen Überblick über die Entwicklung der Wahnsinnthematik in der Literatur bietet Reuchlin (1986), der auch die Literarisierung der Psychopathologie thematisiert, zum Beispiel durch die Vorbildwirkung Rousseaus, JungStillings oder Lavaters (ebd., 208ff.).
26 men mit anderen philantrophisch-literarischen Schriften – argumentative Linien vor, so die Ermittlung von Ursachen und den Heilgedanken, die bei der Institutionalisierung der neuen Psychiatrien eine Rolle spielen. Die Auseinandersetzung mit psychisch Kranken ist insgesamt Ausdruck englischer und besonders französischer Einflüsse. In Deutschland setzt damit verzögert eine Entwicklung ein, die mit William Battie (1704–1776) und seinem aus privaten Spenden getragenen Irrenhaus St. Lukes Hospital beginnt. Durch sein Buch A Treatise of Madness 6 wird das therapeutische Prinzip des „moral treatment“ popularisiert und in Deutschland von Reil als „psychische Kurmethode“ prolongiert. Die Behandlung der Kranken stützt sich vor allem auf Milieugestaltung (meist auf dem Land, fernab vom gewohnten familiären Kontext), eine pragmatisch begründete somatische Therapie (mit Anwendung von Opium, Kampfer etc.) und auf das Heranziehen von Patienten zu sinnvoll erscheinenden Arbeiten. Neben Battie läutet Philippe Pinel (1745–1826) in Frankreich und in ganz Europa ein neues Zeitalter der Irrenfürsorge ein: 1793 befreit Pinel, eigentlich Arzt für Hygiene und innere Medizin, Direktor des Hôpital de Bicêtre und des Hôpital de la Salpêtrière, die dort „inhaftierten“ Irren von ihren Ketten – eine Tat, die durch die französische Revolution beeinflusst ist und starke symbolische Sprengkraft besitzt. Pinel beschäftigt sich stark mit den somatischen Ursachen und der Pathologie der psychischen Krankheiten und entwickelt eine entsprechende Nosologie in seinem Buch Traité medico-philosophique sur l’aliénation mentale (das im Jahr seiner Veröffentlichung 1801 auch unter dem Titel Philosophisch-medizinische Abhandlung über Geistesverirrungen oder Manie, Wien, von Wagner ins Deutsche übersetzt wurde). Pinel orientiert sich – anders als viele seiner deutschen Kollegen, die sich auf Idealismus und Naturphilosophie berufen (s. unten) – theoretisch und praktisch am Sensualismus von Étienne Bonnot de Condillac (1715–1780) und begründet eine Naturlehre, die auf Beobachtung rekurriert und auf der Basis von Beobachtungen systematisch induziert (dazu genauer: Kap. 4.3): Eine der Eigenthümlichkeiten der verschiedenen Zweige der Naturlehre besteht darin, daß wir die Gegenstände hier durch äußere Merkmale bezeichnen, daß wir sie nach ihren eigenthümlichen Verwandtschaften einander nähern, und auf diese ______________ 6
In England führte dieses Buch zur Eröffnung einer ganzen Reihe von Irrenanstalten: 1766 in Manchester, 1776 in Newcastle, 1777 in York, 1790 in Liverpool und 1794 in Lancester. Die ersten werden von Deutschen kritisch beurteilt, weil sie an Gefängnisse erinnerten: „Die Engländer lieben daher auch in ihren Irrenanstalten die durch den Bau bedingte und erleichterte Beaufsichtigung, welche man, bezeichnend genug, im Gegensatz der frischen, lebendigen, durch Wärter u.s.w. bewirkten, die todte, faule nennen kann. Das ächte geistige Leben wird überhaupt im Innern der Englischen Irrenanstalten oft genug vermisst …“ (Damerow 1840, 27)
27 Weise zu einer methodischen Klassifikation bringen können, in welcher dann anderen ähnlichen Gegenständen ihr natürlicher Platz angewiesen werden kann: und eine Folge dieses Verfahrens ist die, daß wir durch dasselbe in den Stand gesetzt werden, die Gegenstände anzugeben, welche noch zweifelhaft und dunkel sind und über die deshalb zur Ausfüllung in der Wissenschaft noch vorhandenen Lücken eine neue Untersuchung erforderlich ist. Auf diese Weise ist man denn auch dazu gelangt, die frisch eingetretene Manie den akuten Krankheiten einzureihen. (Pinel 1819, ZfpÄ, 291) 7
Fortgeführt wird sein Werk durch seinen Schüler Jean-Étienne Dominique Esquirol (1772–1840), der später den als mustergültig erachteten Spitälern Ivry und Charenton vorstand. Als konsequenter Somatiker setzt Esquirol v. a. Pinels pathologische Forschungen über das Auftreten von Verletzungen und Verformungen von Schädel und Gehirn bei Geisteskrankheiten fort. 1838 erscheint sein Werk (Les maladies mentales. 2 Bde. Paris 1838, deutsch: Die Geisteskrankheiten in Beziehung zur Medizin und Staatsarzneikunde. Berlin 1838) über die Arbeitsprinzipien des menschlichen Gehirns, mit der Unterstützung seiner frz. Kollegen Francois Xavier Bichat (1771–1802) und Francois Joseph Victor Broussais (1772–1838). Die in Frankreich wirkenden Somatiker und ihr starker Szientismus begründen bis zur Jahrhundertmitte eine Vormachtstellung der französischen Psychiater. Ihre Vorbildwirkung für die praktisch arbeitenden deutschen Psychiater ist nicht zu unterschätzen. Im deutschsprachigen Raum werden zunächst in Preußen, das durch seine Reformbürokratie die Weichen für einen Verbürgerlichungsschub der feudal geprägten Gesellschaft einleitet, die ersten reinen Heilanstalten gegründet: zunächst 1801 in der Kurmark (Neuruppin) und 1803 in Bayreuth unter der Leitung von Johann Gottfried Langermann (1768–1832, zu dieser Zeit Chef des preußischen Medizinalwesens). Ihrer Gründung gehen zumeist längere Diskussionen voraus, da die vorher etablierten „Siechen- und Armenhäuser“ etc. kostengünstiger sind. Trotzdem folgen: Sonnenstein 1811 bei Pirna in ______________ 7
Damit werden jedoch auch alte Klassifikationsformen entschieden abgelehnt: „Dasselbe wiederholt sich im 18. Jahrhundert mit dem Aufkommen der ‚Botaniker‘, z. B. Linné (1707–1778), aber auch Boissoir de Sauvages (1706– 1767). Wie im Pflanzenreich werden hier die seelischen Störungen nach Klassen geordnet, unterteilt und in großer Vielfalt ausgebreitet. Dies entsprach offensichtlich dem damals vorherrschenden Ordnungsfimmel in den Naturwissenschaften, ergab jedoch eine pseudopsychiatrische Landschaft, die uns Heutigen völlig skurril und wirklichkeitsfremd vorkommt. Tatsächlich handelt es sich ja bei diesen Versuchen einer Klassifizierung um ein abstraktes, durch sehr wenig konkrete Beobachtung untermauertes Unterfangen, das viel eher einem spielerischen Umgang mit dem Objekt als einem Niederschlag von Erfahrungen und Beobachtungen entsprach. Diese schnörkelhaften, quasi allegorischen Darstellungen wurden von Männern wie Chiarugi und insbesondere Pinel über den Haufen geworfen.“ (Müller 1993, 117; Hervorhebung v. d. Verf. – B-M. Sch.)
28 Sachsen unter Ernst Pienitz („Der Sonnenstein war in der That die Morgensonne eines neuen Tages des öffentlichen Irrenwesens in und für Deutschland“ – Damerow 1840, 45), 1814 Marsberg im Königreich Westfalen unter der Leitung von Wilhelm Ruer, 1820 Schleswig unter Peter Wilhelm Jeesen, 1825 Sachsenberg-Schwerin unter Carl Friedrich Flemming, im rheinischen Siegburg 1825 unter Carl Wigand Maximilian Jacobi (der 1822 die geplante Einrichtung der Anstalt genau darstellt), Winnenthal 1833 unter der Leitung von Ernst August Zeller, 1827 Hildesheim im Königreich Hannover unter G.H. Bergmann (allerdings als gemischter Typus von Heil- und Pflegeanstalt) und 1842 Illenau (Baden) unter Ernst Roller, jun. 8 Obwohl Institutionalisierungsschübe von Preußen ausgehen, besitzt Sachsen sowohl durch die enger als übliche Verflechtung von Universitätsmedizin (Johann Christian Reil in Halle, Johann Christian Heinroth in Leipzig) und Anstaltspragmatik (s. unten) und durch eine starke Orientierung am französischen Vorbild eine Vorreiterrolle: So sehen wir den Anfang und das Ende, den Ausgang und das Ziel zweier grosser Epochen in der Entwickelungsgeschichte der Irrenanstalten in Sachsen concentrirt, in dem Theile Deutschlands, in welchem die Namen von daselbst gebornen oder wirkenden Irrenärzten auch auf eine wahrhaft, überraschende Weise concentrirt sind. Es sei erinnert an: Greding, Hayner, Pienitz, Heinroth, Langermann, Neumann, Martini, Flemming, Ideler, Reil und A. Mecke,; Carus, Clarus, von Nostitz und Jänckendorff reihen sich diesen Männern in anderer, jedoch verwandter Beziehung an. … Pommern scheint mit seinen Irren-Angelegenheiten entweder nicht recht von der Stelle zu kommen, oder den weitesten Weg zum Ziel einzuschlagen. (Damerow 1840, 82)
In die 1820er Jahre fällt die Etablierung von psychiatrischen Kliniken in größeren Hospitälern: 1828 die Irrenklinik in der „Alten Charité“ unter der Leitung von Karl Wilhelm Ideler oder 1834 die Irrenklinik im Juliushospital Würzburg unter der Leitung von Karl Marcus. Es handelt sich zumeist um universitär angebundene Kliniken, denen bis 1870 folgen: 1849 Erlangen, 1856 Basel, 1861 München und Bern, 1866 Göttingen, 1869 Halle, 1870 Wien und Zürich. Nur in Ausnahmefällen ist damit jedoch eine spezielle Professur verbunden. Parallel zu den Anstaltsgründungen etablieren sich „Irrenabteilungen“. Durch die Anbindung an ein Krankenhaus wird zumindest eine formale Gleichstellung von körperlich und psychisch Kranken erreicht und diese nicht mehr in Hinsicht auf ihre Gemeingefährlichkeit und ihre mögliche „Besessenheit“ beurteilt. Die Anstalten, die zunächst mit großer Skepsis be______________ 8
Nicht immer sind die Anstaltsleiter Ärzte, so studierte bspw. Philipp Heinrich Lindpainter, der der Irrenanstalt Eberbach vorstand, nach den Angaben von Niedergassel (1977, 8) u. a. folgende Studienfächer: Ideal- und Naturphilosophie, Botanik, theoretische und praktische Landwirtschaft, Technologie, Forstwissenschaft und Staatsökonomie.
29 äugt werden, bewähren sich, denn es lässt sich festhalten, dass „um 1840 in organisatorischer Hinsicht der Prozess der Herauslösung der psychisch Kranken aus dem vorher diffusen Heer der als asozial und gefährlich geltenden asylierten Personen abgeschlossen war und zugleich ein neues System der ärztlichen Betreuung in speziellen Heil- und Vewahranstalten seine Konturen gewonnen und seine Praxisbewährung nachgewiesen hatte.“ (Thom 1984, 19). 9 In der ersten Phase der Anstaltsgründungen ist die Zahl der aufgenommenen Patienten relativ gering. 10 Unter den ersten Anstalten ragt die Heil- und Pflegeanstalt Sonnenstein hervor, die für den deutschsprachigen Raum als Modelleinrichtung gilt. Gegründet wird sie auf Initiative des Adeligen G.A.E. von Nostitz und Jänckendorff, der – inspiriert durch den Geist der Romantik – sich stark für psychisch Kranke interessiert 11 und die Entwicklung der Anstalt publizistisch begleitet, so durch die Beschreibung der Königlichen Sächsischen Heil- und Verpflegungsanstalt Sonnenstein – Mit Be______________ 9
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Gleichzeitig muss mit Dörner (1975, 203) betont werden, dass es auch die so genannte „Sprechstundenpsychiatrie“ der allgemeinen Ärzte gab, die bspw. Melancholie und Hypochondrie behandelten und so genannte psychologische Kuren durchführten. Herzog (1984, 63) ist folgende Auflistung zu entnehmen, die sich allerdings nur in Einzelfällen mit den Gründungsjahren deckt: Sonnenstein (1811) – 250 Plätze, Zwiefalten (1812) – 70 Plätze [Kloster auf der schwäbischen Alb], Marsberg (1814) nur 30 Plätze, Schleswig (1820) – 122 Plätze, Siegburg (1825) – 200 Plätze, Leubus (1830) – 112 Plätze, Sachsenberg (1830) – 150 Plätze, Illenau (1842) – 290 Plätze, Nietleben (1844) – 400 Plätze. Auch in Winnenthal (1834), wie in vielen frühen Psychiatrien, versorgte man noch um 1860 nur etwa 100 Kranke. Daneben gibt es einige Anstalten, deren Profil zwischen „alter Tollhausaufgabe und neuem Heilungsanspruch“ (Kaufmann 1995, 157) changiert – so die Kurmärkische Irrenanstalt in Neuruppin, die schon 1801 gegründet worden ist. Dies ist vor allem durch die Skepsis an der Heilungskompetenz der Ärzte begründet (ebd., 157). Die neue Anstalt wurde entsprechend rezipiert: „Zum neuen Locale wurde ihr das Schloss Sonnenstein bey Pirna angewiesen, gelegen in dem reizendsten Theile von Sachsen, auf einer Anhöhe, die die ganze umliegende Gegend beherrscht: hier, wo überall Fruchtbarkeit waltet, wo das eilige Zuströmen der Bäche aus den umliegenden Gebürgen in die vorbeyfliessende Elbe nie stehende Gewässer duldet, und einen freyen Luftzug unterhält, wo von den nahen felsigen Hügeln die reine frische Gebirgs-Luft, und aus dem schönen Elbthale der zeitige Frühling erfreuet, wo epidemisch contagiöse Krankheiten mit bösem Charakter eine Seltenheit, und endemische kaum dem Namen nach bekannt sind, hier also, wo dem finsteren Gemüte die lachendsten Umgebungen, und der beengten Brust aus den anmuthigen Fernen die freyeste und reinste Luft gegeben sind.“ (Leipziger Literatur-Zeitung vom 3.10.1812, Nr. 245, zit. n. Eichhorn 1984, 57). Der Geist der Romantik ist bei der Planung von Irrenabteilungen von zentraler, auch therapeutischer Bedeutung. So plante nach Hesselberg (1981, 130) auch Autenrieth im Garten des Tübinger Klinikums einen künstlichen Sturzbach einrichten zu lassen, dessen Anblick die Kranken von ihren Zimmern aus genießen sollten.
30 merkungen über Anstalten für Herstellung oder Verwahrung der Geistesanstalten (Dresden 1829). Von Nostitz und Jänckendorff ist dem Leiter der Anstalt, Ernst Gottlob Pienitz, freundschaftlich verbunden, der seinerseits nicht nur mit Hayner, der 1807 in Waldheim Pinels Kettenbefreiung nachahmte, befreundet ist, sondern der auch intensiven Kontakt mit Pinel und Esquirol pflegte. Sonnenstein ist Ausbildungsanstalt für die nächste Generation von Anstaltsleitern: Für Jessen (Schleswig), Roller (Illenau) oder Flemming (Sachsenberg-Schwerin), die zur Gruppe der Somatiker (vgl. Kap. 4.3.3) gerechnet werden können. International erreichte diese Anstalt auch durch die Jahresnachrichten, die Pienitz unter dem Titel Jahresbericht über die Irrenanstalt auf dem Sonnenstein, nebst Krankengeschichten (1822ff.) herausgab, größere Bekanntheit. Gleichzeitig lassen auch die Widmungen im Fremdenbuch darauf schließen, dass viele frühe Psychiater die Anstalt selbst besuchten. 12 Sie ist – trotz der Schwierigkeit, Heilbare und Unheilbare überhaupt voneinander abzusondern – eine reine Heilanstalt. Erst 1829 erfolgt die Gründung einer Pflegeanstalt unter Hayner im Schloss von Colditz. Welche therapeutischen Prinzipien werden auf dem Sonnenstein befolgt? Zunächst ein kurzer Blick auf die Irrenabteilung der Berliner Charité unter der Leitung von Ernst Horn (1774–1848), der – wie bei Langermann – auf strikte Disziplinierung der Kranken gesetzt, was durch einen ethisch-religiösen Rigorismus gekennzeichnet ist: Die Kranken sollen bspw. durch ein großes Pensum von Bibellektüre, Gartenarbeit, militärische Übungen für Geisteskranke etc. auf den „Pfad der Tugend“ zurückfinden. 13 Es wird eine ______________ 12
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So bspw.: „Ich schätze mich glücklich, diese Anstalt, nebst dem verdienstvollen, hochherzigen, dirigierenden Arzt derselben, kennen gelernt zu haben. – Diese Anstalt verdient gewiß die Sonne aller andern jetzt bestehenden Irrenanstalten Deutschlands genannt zu werden – da die darin waltende Heilungsmaxime wohlthuendes Licht in die dunkelste Region der Heilkunde verbreitet.“ (Ruer 11.08.1817). „Nach dem mehrwöchentlichen Aufenthalte in der hiesigen Anstalt glaube ich meine Ueberzeugung von ihrer Vortrefflichkeit nicht besser an den Tag legen zu können, als durch die Versicherung, daß sie in meinem künftigen Wirkungskreise mir stets als Muster und Vorbild vor Augen schweben soll. Daß freundlicher Ernst, Wohlwollen und Liebe über diese Unglücklichen unendlich mehr vermögen, als Härte und Strenge, daß sie um so vernünftiger sind, je mehr man sie als Vernünftige behandelt – dieß hat mich der Augenschein gelehrt; und diese schöne, dem menschlichen Gefühle so wohltuende Erfahrung achte ich für einen unendlichen Gewinn.“ (P. W. Jessen 11.07.1820), „Rüstig schreitest du den Schwestern vor, preiswürdige Anstalt; – wie vor einem Jahrzehnt bist du noch jetzt Muster der übrigen, - Wohl diesen, wenn sie, während sie dich zu übertreffen suchen, dir gleich kommen!“ (E.F. Flemming, ohne Datum) (zit. n. Pienitz 1829, 246, 251 und 255 „Aus dem Fremdenbuche“) Dörner führt zu Langermanns Vorschlägen aus: „Diese preußische Kurmethode war mithin weniger ärztliche Kunst als eine pädagogisch-militärische und autoritäre Administration der Vernunft und der sittlichen Pflicht – in liberaler Absicht.
31 Eigengesetzlichkeit und Manipulierbarkeit des psychischen Lebens angenommen, die entsprechende Therapiemaßnahmen rechtfertigt und als Modifikation der alten Korrektionshäuser zu deuten ist: Man sorge deshalb für hinreichende Beschäftigung und Arbeit. Dann werden die meisten dieser verderblichen Richtungen der Geisteskrankheiten von selbst aufhören. Diese Arbeiten müssen geschehen mit Ordnung und Pünktlichkeit und unter strenger Aufsicht. Sie zu empfehlen und anzuordnen, ist nicht genug; es muß an Aufsehern und Gehülfen nicht fehlen, die auf pünktliche Ausführung dieser Anordnung sorgfältig wachen. Diese Arbeiten müssen erzwungen werden; ihre Wirkungen sind in der Regel nützlicher und wohlthätiger, wenn der Kranke sie ungern treibt, als wenn die Besorgung ihm Vergnügen gewährt.“ (Horn 1818, 244f.) Zum Beispiel „Ziehen und Fahren des Wagens für Irre“: Das Ziehen und Fahren eines Wagens ist ebenfalls von mir eingeführt … Ich habe hierzu einen leichten, viersitzigen Wagen bauen lassen, in welchem 4 Geisteskranke sitzen und gefahren werden können. An einer gewöhnlichen Deichsel sind Handhaben mit Strängen so befestigt, daß 25 bis 30 Geisteskranke sich hintereinander aufstellen und diesen Wagen im Irrengarten, nach ihnen vorgeschriebenen Richtungen, zu bestimmten Stunden, unter Aufsicht, ziehen können … Viel Vergnügen soll dies nicht gewähren; nur eine nützliche Abwechslung in der Bewegung und Arbeit. (ebd., 227) 14
Arbeit und Betätigung haben bei Horn keinen selbstverwirklichenden Effekt oder werden den Fähigkeiten der Kranken angepasst, sondern sie werden lediglich im disziplinierenden Sinne gebraucht. Pienitz verwehrt sich wiederholt gegen eine entsprechende Moralisierung, was eine Bewertung der Kranken prinzipiell jedoch nicht ausschließt. Lange vor den „no-restraint“-Ideen, die auf den Engländer John Conolly (1794–1866) zurückgehen, 15 führt er ______________
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Für den Irren war an die Stelle des willkürlichen Zwanges des Absolutismus der streng gesetzmäßig applizierte Zwang der Gesellschaft getreten …“ (1975, 248). Ähnlich äußert sich auch Hirsch, der die „Irrenanstalt“ in Bayreuth führt und Langermanns Ideen fortsetzt: „Kein Irrkranker, der nicht im höchsten Grade tobsüchtig ist, darf unbeschäftigt gelassen werden; daher denn sogleich Morgens beim Aufstehen die Wärter ihre ihnen zugetheilten Kranken zur Reinigung der Gemächer, der Kleidungsstücke und ihres Körpers ermahnen, nach dem Frühstücke aber sie zu ihren angewiesenen Arbeiten, als Graben, Schaufeln, Harken, Holzfällen, bei Handwerkern zur Ausübung ihrer Zunftarbeiten, bei Künstlern zur Uebung ihrer Kunstfertigkeit, und bei Beamten zu Verfertigung schriftlicher Aufsätze, zu Lieferung von Reinschriften, von Bureau = Arbeiten und Oekonomie = Gegenständen, und zu litterarischen Unterhaltungen…“ (Von Hirsch 1822, 114f.) Conolly äußert sich folgendermaßen: „Das kalte Bad wird wenig angewandt, aber kalte Aufschläge auf den Kopf, während die Füsse oder der ganze Körper warm gebadet werden, benutzt man häufig und im ganzen mit Vorteil. Der Guss des kalten Wassers auf den Kopf nutzt manchmal ausserordentlich, und es gibt Kranke, die zu dieser Erleichterung aus eigenem Antriebe ihre Zuflucht nehmen ... Bewegung im Freien ist nicht hoch genug zu schätzen, gleiches gilt von der Beschäftigung, die jedoch nicht zu früh erfolgen darf. Drehstühle, Überraschungs-
32 eine sog. extramurale Betreuung ein und gilt als Begründer der Milieu- und Soziotherapie im deutschen Raum. Pienitz sieht sich selbst als Vertreter der französischen Schule in Deutschland, wie er 1829 in der Kurzen Andeutung der in der Heilanstalt Sonnenstein vom Endesunterzeichneten befolgten psychischen (Moralischen) und somatischen (physischen) Behandlungsweise der Seelenkranken schreibt: Es sei mir erlaubt, voll warmer Gefühle des Dankes und der Hochachtung gegen meinen allgemein gefeierten Lehrer, damit zu beginnen, daß ich mich als einen Schüler Pinel’s bezeichne. Ich hatte das Glück, in den Jahren 1805 und 1806 demselben bei seinen Besuchen der Seelenkranken folgen zu können. Oft geschah das gemeinschaftlich mit Esquirol, seinem würdigen Nachfolger. Pinel’s Grundsatz, daß eine warme Nächstenliebe, ein für fremdes Unglück empfindsames Herz und eine in jedem Kranken den Stand und die Erziehung, und in jedem Stande die Menschenwürde ehrende Humanität den psychischen Arzt auf jedem seiner Schritte begleiten müsse, ist stets auch die meinige gewesen … (1829, 109)
Einen ähnlichen Modellcharakter besitzt die Heilanstalt Siegburg, die 1825 in der preußischen Rheinprovinz gegründet wird. An der Heilanstalt Siegburg, deren Geschichte von Blasius (1994) aufgearbeitet worden ist, wird deutlich, welche enormen Kosten für ihre Unterhaltung von den rheinischen Regierungsbezirken aufgebracht werden mussten: 190 Taler für jeden Kranken bspw. im Gegensatz zu 66 Talern für Pfleglinge im Armenhaus Trier, was immer wieder zu Auseinandersetzungen führt, da nur etwa 200 Kranke in Siegburg aufgenommen werden. Diesen Kranken stehen 50 Wärter und 10 Wärterinnen gegenüber. Daneben gibt es Dienstleute, Köchinnen, Tischler und Gärtner. Ohne den engagierten, liberalen Idealen verpflichteten Leiter Carl Wigand Maximilian Jacobi (1775–1868) hätte diese Infrastruktur und das medizinisch intensive Betreuungsangebot nicht aufrechterhalten werden können (vgl. Kap. 4.3 und Kap. 5.3.1). Die therapeutischen Prinzipien von Sonnenstein, Siegburg und etwas später Illenau, ähneln sich – bei Unterschieden im Detail – stark: Man setzt auf räumliche Isolation, da die Psychiater die Auffassung vertreten, der Kranke müsse sich von seinen, die Krankheit bedingenden Lebens- und familiären Verhältnissen distanzieren (die sog. Milieutherapie). Insofern sind die Psychiatriegründungen auch eng mit der zeitgenössischen Zivilisationskritik verbunden. Die Anstalten werden bewusst als eigener Mikrokosmos konzipiert, mit einem geregelten Tagesablauf, der prinzipiell für alle Patienten gilt und die fortwährende Beobachtung des Kranken garantiert. 16 Beck – bezogen auf ______________
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bäder, gewaltsame Übergiessungen, prologierte Eintauchungen und alle dergleichen Erfindungen werden durchgängig verworfen.“ (zit. nach Thom 1987, 11; Hervorhebung der Verf. – B-M. Sch.) Die Anforderungen an einen Psychiater lauten 1831: „Es muß für diese Stelle nicht nur eine gründliche, wissenschaftliche Kenntnis der Heilkunde selbst und der ihre
33 Illenau unter Roller – beschreibt, vielleicht etwas überspitzt, das therapeutische Konzept: Es ermöglicht eine allumfassende Strategie totaler Vereinnahmung des Irren, die ihn äusserlich und innerlich in genau definierte und detailliert organisierte Abläufe zwingt, um ihm die „falsche Freiheit“ willkürlicher Bewegungen, krankhafter Assoziationen, phantastischer Ideen und wahnhafter Konstruktionen zu entziehen. Auf diese Weise in seiner Bewegungsfreiheit beschnitten und in die Enge getrieben, wird ihm auf der anderen Seite ein Feld möglicher Bewegungen nahegebracht und angeboten, das in wahlloser Kombination von Elementen der Dressur, der Verhaltenstherapie, im weiteren Sinne des Gesprächs, der sozialen Reintegration usw. durchzogen und in einer Weise organisiert wird, die den „kranken Geist“ im „rechten Gebrauch der Freiheit“ unterweisen soll, ihn zum Vergnügen zurückführen und ihn zugleich den selbstheilenden Kräften der Natur, der Regelmäßigkeit, der Arbeit, der Mitmenschlichkeit zuführen soll. (1984, 25)
Dem liegt generell eine Vorstellung von Geisteskrankheit zugrunde, nach der sie eine aus einer Vielzahl möglicher Ursachen entstandene Verselbstständigung und realitätsinadäquate Verknüpfung von Vorstellungen und Affekten ist. Bewusst, wie schon das Beispiel Siegburg deutlich macht, werden alle sozialen Bedürfnisse in die Anstalt verlegt: in Illenau sind allein für das Jahr 1867 174! in der Anstalt stattfindende Freizeitaktivitäten zu verzeichnen (Musikveranstaltungen, Theateraufführungen, Begehen von Feiertagen etc.). Bei aller räumlichen Isolation und bei aller Regelung des Tagesablaufs bleibt der Patient als bürgerliches Subjekt mit typisch bürgerlichen Interessen erhalten. Der Kranke ist dabei Teil einer großen Familie, dem der Anstaltsleiter als Patriarch vorsteht. Insgesamt wirken in diesen therapeutischen Prinzipien alte diätetische Vorstellungen der „sex res non naturales“ nach, an denen sich der Lebensstil eines Menschen auszurichten hat. Dazu gehören das Klima und die Luft, mäßiges Essen und Trinken, das Einhalten einer regelmäßigen Abfolge von Wa______________
Grundlagen bildenden sogenannten Hülfswissenschaften, namentlich der physiologischen im weitern Sinne, sondern auch speciell eine nähere Vertrautheit mit der Anthropologie oder der Kunde von der geistig-leiblichen Natur des Menschen, gründliche Kenntnis des Gegebenen in der psychischen Heilkunde, eigenes philosophisches und combinatorisches Talent, verbunden mit dem Talent der Naturbeobachtung für das eben so reiche, als vielfach noch dunkle und rauhe Gebiet der psychischen Krankheiten, sodann wahres Interesse, Neigung und Liebe für dieses eigenthümliche Feld der Thätigkeit, dabey Kenntnis der Menschen, der Verhältnisse des Lebens und der verschiedenen Classen der Gesellschaft, ein gewisser Grad von Welterfahrenheit und von der Gewandtheit, die Menschen nach ihrer Individualität aufzufassen und zu behandeln, endlich … ein nach Aussen und Innen gebildeter, zugleich fester und menschenfreundlich-milder Charakter und eine wohltätig wirkende Persönlichkeit gewünscht werden.“ (zit. n. Kaufmann 1995, 205)
34 chen und Schlafen, Arbeit und Muße, regelmäßige Ausscheidungen (auch Menstrualblutungen) sowie die Regulierung des Affektlebens (vgl. Klibansky et al. 1999, 53ff.). Die Behandlungsmethoden weisen auf der einen Seite eine große Kontinuität auf, erfahren jedoch im institutionellen Rahmen jedoch auch eine Veränderung. Dass die Etablierung von Heilanstalten oder Irrenabteilungen nicht reibungslos verläuft, lässt sich den Berichten einzelner Anstaltsleiter entnehmen (z. B. Müller 1824a). Schwierigkeiten bereitet der administrative, z. T. sehr komplizierte Ablauf, der den Einweisungen von Kranken vorausgeht und der oft mehrere Monate in Anspruch nimmt. Nach Bekunden vieler Psychiater werden dadurch die Heilungschancen beeinträchtigt – mit dem Ergebnis, dass sie ihrer Meinung nach v. a. veraltete Fälle sehen. Die textliche Begleitung von Kranken und Krankheitsprozessen gestaltet sich ebenfalls oft schwierig, da manchmal nur oberflächliche Hintergrundinformationen zum Kranken beim Eintritt in die Anstalt vorliegen, der leitende Arzt oft durch administrative Aufgaben gebunden ist und nur wenig medizinisch ausgebildetes Personal zur Verfügung steht, um entsprechende Schreibaufgaben zu übernehmen. Oft ist der Anstaltsleiter auf sich und seine allgemeinmedizinischen Kenntnisse bei der Behandlung von psychisch Kranken verwiesen. Gleichzeitig dürfte der Legitimationsdruck aufgrund der entstehenden Kosten jedoch erheblich gewesen sein. Hinzu kommt, dass Psychiater oft ihren staatsarzneikundlichen Verpflichtungen nachgehen mussten, so der Erstellung von Gutachten zu vermeintlich geisteskranken Verbrechern. Allerdings lassen sich die psychiatrischen Einrichtungen aus heutiger Sicht trotz ihrer Neuartigkeit und trotz des Beginns psychiatrischen Schrifttums auch kritisch beurteilen. Die Annahme von fehlgeleiteten Affekten und Geistestätigkeiten ist mit einer Ambivalenz versehen: Einerseits erlaubt sie die Vorstellung einer im Kern erhalten gebliebenen Vernunft („Heilung meinte die Wiederherstellung eines selbstkontrollierten und sich ‚vernünftig‘ verhaltenden Individuums.“ – Kaufmann 1995, 197) und erlaubt somit den Aufbau der therapeutischen Familie, andererseits beurteilt sie das Verhalten und Handeln des Kranken auf der Grundlage eines bürgerlichen Wertekanons. Ähnlich äußert sich auch Foucault zu Pinel: Die Ketten fallen also, und der Irre wird befreit. Und in diesem Augenblick entdeckt er erneut die Vernunft oder vielmehr; es ist nicht die Vernunft, die in sich selbst und für sich wiedererscheint. Es sind völlig fertige, gesellschaftliche Arten, die lange Zeit unter dem Wahnsinn geschlummert haben und sich in einem Block in einer perfekten Konformität mit dem, was sie darstellen, ohne Veränderung und Verzerrung erheben. Es ist, als erreiche der von der Animalität, zu der ihn die Ketten zwangen, befreite Irre die Zugehörigkeit zur Menschheit nur in einem sozialen Typus. … Zwischen ihm [einem Patienten, Anm. d. Verf. – B-M. Sch.] und Pinel handelt es sich nicht um zwei Vernünftige, die sich erkennen, sondern um zwei wohl determinierte Personen, die in ihrer exakten Anpassung an Typen auftauchen und eine Beziehung nach ihren
35 völlig vorgegebenen Strukturen herstellen. … Für Pinel wird die Heilung des Irren durch die Stabilisierung in einem gesellschaftlichen, moralisch anerkannten und gebilligten Typ gebildet. (121996, 499f.)
Es dürfte allerdings für den Kranken einen großen Unterschied gemacht haben, ob die in dieser Ambivalenz angelegte Asymmetrie zwischen Arzt und Patient zum intensiven Einsatz von brutalen Zwangsmaßnahmen oder lediglich zur Einhaltung der, wenngleich strengen Anstaltsordnung geführt hat. Insofern steht der „diskursiven“ Formierung der Psychiatrie der Gestaltungsspielraum und die prinzipiell immer mögliche, je unterschiedliche Rolleninterpretation und die sprachlich gefasste Wahrnehmung und Wahrnehmbarkeit der Kranken gegenüber. Nicht unwichtig ist, ob man sich wie Pienitz auf die französische Tradition beruft, die sich wie Pinel hauptsächlich der Zwangsweste bedient, oder eher auf Reil, Langermann oder Horn zurückgreift. Rigorismus zeigt sich nicht nur an solchen Äußerungen wie der folgenden, immerhin von Johann Gottfried Langermann, einem der Protagonisten der psychischen Kurmethode auf deutschem Boden, der zu der 1801 gegründeten Anstalt in Neuruppin schreibt: Die Disciplin in der Anstalt ist zu milde und zu nachsichtig gegen die Unarten und Bosheiten mancher Narren und diese werden dabei eher schlimmer, als besser, sowie denn die Besserungsfähigen dadurch beständig irritiert werden, dass Schwätzer, Zänker und Prahler etc. zu wenig in ihren Gewohnheiten und Störungen des Hauses gehindert werden. (1810/1888, 148)
Es ist auch nicht ungewöhnlich ist, Kranke wegen Renitenz oder auffälligen Verhaltens zu bestrafen: z. B. durch Einsperren in kalte Zimmer, Entzug von schon erreichten Vergünstigungen, Schläge oder gar Nahrungsentzug (vgl. dementsprechende Angaben von Niedergassel 1977, 135ff.). Die eher somatisch ausgerichteten Behandlungsmethoden sind zum großen Teil solche, bei denen der Patient zur Herstellung des Kräftegleichgewichts, das mit Gesundheit – auch geistiger – assoziiert wird, erregt oder gedämpft werden sollten: „Die Zähmungen haben keinen andern Zweck, als daß der Kranke sich und andern nicht schade. Ueber denselben dürfen sie also auch nicht hinausgehen. Meistens ist freier Platz oder ein bewegliches Rad ausreichend. In bösen Fällen legt man ihm eine Zwangsweste an …“ (Reil 1803, 385). Der therapeutischen Ausformung scheinen dabei keine Grenzen gesetzt zu sein: Oft sind Sturzbäder, Duschen, Vorrichtungen wie der Drehstuhl, die Drehmaschinen oder das sog. Coxsche Schwungrad, aber auch Zwangswesten (das so genannte „Zwangskamisol“), Zwangsstühle und auch Tollriemen vorhanden. 17 Obgleich sich der Einsatz von Zwangsmaßnahmen stark unterscheidet, ______________ 17
Einen Überblick über mechanische Vorrichtungen, die den Patienten zumeist beruhigen sollen, findet man bei Hayner (ZfpÄ 1818, 341ff.). Darunter u. a. das sog. „hohle Rad“: „Reil, der vielleicht diese Idee, wie so viele in seinen Rhapsodieen
36 werden in allen Heilanstalten, um den Säftehaushalt zu regulieren, Aderlässe und Ekelkuren bzw. Mittel wie die sog. Brechweinsteinsalbe angewendet. Letztere führt zu einem eitrigen Hautausschlag, der – so die Theorie – wiederum eine Krise hervorbringen und zur Heilung führen soll. Hinter diesen „medizinischen Behandlungen“ verbergen sich z. T. wirkliche Torturen, deren medizinische Wirksamkeit nicht gesichert ist. Die Einreibung mit Salben und das zu Grunde liegende mechanistische Körperbild schildert Pelman: Im allgemeinen dachte man sich die Wirksamkeit der Einreibungen so, als ab durch den gewaltigen Chok der Entzündung und des Fiebers das Gefäßsystem des Gehirns in eine vermehrte Tätigkeit … geriete, durch welche die vorhandenen Krankheitsstoffe auf den Trab gebracht und mechanisch aus dem Gehirn entfernt würden … Zunächst wurde auf der Höhe des Scheitels … ein talergroßes Stück ausrasiert und mehrmals täglich mit einer starken Quecksilbersalbe eingerieben. Dies wurde so lange fortsetzt, … bis die Haut des Schädels aufgetrieben, die Augen verschwollen und das Gesicht bis zur Unkenntlichkeit verstrichen war. Dann wurden die Einreibungen eingestellt und die Einreibungsstelle mit feuchtwarmen Breiumschlägen behandelt. Mittlerweile war das eingeriebene Stück der Kopfhaut schwarz und brandig geworden und fing an, sich unter dem Einfluß der warmen Umschläge zu lösen, bis man es mit der Pinzette fassen und herausnehmen konnte. (1912, 35f.) Unter Jacobi soll diese Behandlung besonders häufig ausgeführt worden sein. Die tiefe Delle, die sie bei Kranken hinterließ, war als „Siegburger Siegel“ bekannt.
Neben Abführmitteln werden auch Beruhigungsmittel eingesetzt, seit dem zweiten Drittel des 19. Jahrhunderts auch echte Narkotika wie Opium, die das aufgeregte Gemüt des Patienten besänftigen helfen sollen. Herzog führt dazu aus: Die ‚somatisch‘ eingestellten Irrenärzte versuchten die Wirkung ihrer Mittel medizinisch zu erklären. Ihr Kenntnisstand ist hier nicht zu erörtern, wohl aber die offene Kluft zwischen den Ansprüchen ihrer somatologischen Lehren, die schon robust Gewissheiten zu behaupten beanspruchen, und den Behandlungsmethoden, bei denen eine unklare Empirie im Vordergrund stand und Zusammenhänge zwischen gesicherten Erkenntnissen und den behandelten Erscheinungen oft nicht zu erkennen ist. (1984, 70)
Und Sahmland fasst zusammen, ______________
vorkommende, von dem sinnreichen Langermann lieh, erwähnt beiläufig ein hohles Rad, worin die Stieglitze laufen, als einen Mechanismus, den man benutzen könnte. Es kam darauf an, dieß so zu construieren, daß der Kranke Ruhe genießt, so lange er ruhig ist, hingegen fortgerissen wird, sobald er sich bewegt, … Das hohle Rad ist derart gestaltet, daß ein Irrer, sobald er sich in dem Rad bewegt, dieses sofort zum Drehen bringt. Er selbst kommt so zu Fall oder zwingt sich zu fortwährendem Laufen.“
37 dass für die Behandlung der Geisteskrankheiten eben auch das Arsenal der therapeutischen Möglichkeiten eingesetzt wurde, das für die Kur anderer innerer Krankheiten probat erschien, allen voran der Aderlass in verschiedenen Formen sowie reinigende Mittel in Form von Klistieren und Brechmitteln, und zwar relativ unabhängig davon, auf welcher pathophysiologischen Grundlage einzelne Krankheitsbilder verstanden und erklärt wurden. (2001, 101) 18
Gerade zur somatischen Fundierung von psychischen Krankheiten könnte die Universitätspsychiatrie etwas beigetragen haben. In der ersten Phase ist sie allerdings überschaubar: Es gibt einen Lehrstuhl für psychische Heilkunde in Leipzig, der von Johann Christian August Heinroth besetzt wird, und einen – für heutige Verhältnisse ungewöhnlichen – Lehrstuhl für Philosophie und Medizin in Tübingen, den Adolph Karl August von Eschenmayer besitzt. Frühe psychiatrische Lehrstühle, so auch der ab 1826 unter Friedrich Groos in Heidelberg, entfalten zunächst wesentlich weniger Wirkung als die frühen Heilanstalten. 19 Professoren der Medizin verstehen sich eher als Gelehrte denn als Praktiker. Der praktischen Tätigkeit widmen sich nicht universitär ausgebildete Hebammen, Wundärzte und Laienheiler; der Arzt selbst verschrieb nur Arzneien oder war im administrativen Bereich tätig (z. B. als Kreisphysicus). Viele Professoren und universitär ausgebildete Ärzte betrieben neben ihrer Tätigkeit auch Studien zur Chemie, Botanik und anderen Naturwissenschaften. Eine Vertrautheit mit der klassischen Bildung und Literatur ist ebenso selbstverständlich. Praktische Übungen, v. a. im Bereich der Chirurgie, etablieren sich zögernd erst ab 1825 (vgl. Huerkamp 1985, 45ff.), und der allgemein bildende Teil des Medizinstudiums wird ebenfalls nur allmählich zurückgedrängt. 20 Interessant ist, dass noch, als sich die Anstaltspsy______________ 18
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20
Vgl. insgesamt zu den Behandlungsmethoden auch: Schrenk (1973, 1976, 133– 148) sowie Wunderlich (1981). Dörner nennt mögliche Gründe für die Wirkungslosigkeit der ersten Jahre: „Fasst man die (von den Professoren geschaffene) direkt oder indirekt naturphilosophische Produktion zusammen, so steht man vor einer Flut von Literatur, die sich in das Kranke des Gemüts und des Geistes versenkt, ohne der wirklichen Irren, von denen sie doch die sie faszinierenden Phänomene bezieht, überhaupt gewahr zu werden, ohne in nennenswertem Umfang auf Erfahrungen mit Irren zu basieren und ohne einen Anlass zu sehen, das Denken in einen verbindlichen Zusammenhang mit der sozialen Realität des armen Irren zu bringen ...“ (1975, 269) „Dementsprechend kann man die Rolle des praktischen Arztes noch für den größten Teil des 19. Jahrhunderts am ehesten mit der eines ‚rationellen Empirikers‘ umschreiben. Er wandte aufgrund von Erfahrung und Beobachtung diejenigen Arzneimittel an, die ihm bei ähnlich gelagerten Krankheitsfällen und bei vergleichbaren Symptomen anderer Patienten schon einmal geholfen hatten; auf wissenschaftlich gesicherte ‚bewiesene‘ Erkenntnisse konnte er sich im allgemeinen nicht stützen … Bei solchem elektistischen, von der Empirie abgeleiteten Vorgehen konnten dem akademischen Arzt seine auf der Universität erworbenen Kenntnisse
38 chiater fast geschlossen zu den Somatikern rechnen (also verstärkt nach einer körperlichen Begründung von psychischen Abweichungen suchen), die Medizin ein starkes Beharrungsvermögen zeigt. Die universitäre Psychiatrie koppelt sich von der französischen und englischen Entwicklung ab. Während die am Sensualismus geschulte „analytische Methode“ als an der Beobachtung orientierte Erfahrungswissenschaft, als sog. „Naturforschung“, konzipiert wird, löst sich in Deutschland die Beschäftigung mit psychisch Kranken zunächst nicht von der philosophischen Anthropologie und Naturphilosophie. Die romantische oder spekulative Phase der Psychiatrie, ja der gesamten Medizin findet ihre Gewährsmänner eben nicht in einem strengen Empirismus Condillacscher oder Lockscher Prägung, sondern bspw. in der metaphysisch überhöhten Naturphilosophie Friedrich Wilhelm August Schellings (1775– 1854, besonders wirkungsmächtig hier: Ideen zur Philosophie der Natur). Sich mit psychisch Kranken zu beschäftigen, heißt demnach lange Zeit auch, Anthropologie/Naturphilosophie zu betreiben, mit bedeutenden Folgen für die psychiatrische Begrifflichkeit: Das Wissen über psychische Erkrankungen reicht weder über die antike Trias (Manie, Melancholie, Phrenitis) noch über die Temperamentenlehre hinaus. Allerdings ist die französische Traditionslinie spätestens ab den 20er Jahren durch die „Somatiker“ auch in Deutschland präsent, allerdings müssen sie – anders als ihre europäischen Nachbarn – zunächst argumentativ ihr Terrain abstecken, was in teilweise heftig geführte Auseinandersetzungen zwischen Somatikern und Psychikern mündet. Dennoch, wie unten noch zu sehen sein wird, befinden sich erstere bald in einer privilegierten Situation: Dadurch dass die meisten von ihnen in der Anstaltspraxis täglichen Umgang mit psychisch Kranken haben, entsteht ein Experten- oder Sonderwissen, das sich zudem mit einer auf Innovation zielenden Zeitschriftenproduktion verbindet. Die Kompetenz, die sie sowohl bei der Organisation einer Institution neuen Typs als auch bei der Betreuung von „Irren“ gewonnen haben, basiert auf einem eigenen Erleben und Beobachten psychisch Kranker. Der wechselseitige Informationsaustausch sorgt für die Artikulation eines neuen Selbstbewusstseins und -verständnisses. Ein Selbstverständnis, das nach und nach auch die theoretischen Erörterungen über das Wesen der psychischen Erkrankungen beeinflusst. Da die frühen psychiatrischen Lehrstühle noch kein Ausbildungsmonopol besitzen, werden Psychiater der zweiten Generation wie Flemming nicht in Leipzig bei Hainroth, sondern auf dem Sonnenstein ausgebildet. 21 ______________
21
von Nutzen sein, sie mußten es jedoch in der ersten Jahrhunderthälfte keineswegs.“ (Huerkamp 1985, 96) In Heidelberg entsteht sogar die absurde Situation, dass zunächst eine psychiatrische Universitätsklinik in der Stadt vorhanden ist, aber der ehemalige Assistenzarzt von Groos, Roller, jun., es bewerkstelligt, diese zugunsten der 1842 fertig gestellten Heil- und Pflegeanstalt Illenau zu schließen. Obwohl Roller eine
39 Die akademische Psychiatrie, die zu Beginn nur ein Zwitterwesen zwischen Medizin und Philosophie, entsprechend randständig ist, bildet sich im eigentlichen Sinne erst heraus, als sich namhafte Mediziner (so Griesinger) zur hirnanatomischen und neurologischen Forschung hin orientieren und die naturphilosophische Schule auch in dieser Disziplin an Boden verliert. Lehrstühle für Psychiatrie im heutigen Sinne entstehen 1863 an den preußischen Universitäten Berlin und Göttingen und dann in Verbindung mit dem Aufbau psychiatrischer Universitätskliniken in den achtziger Jahren an fast allen weiteren Hochschulen Deutschlands. Bis zum Jahr 1900 sind in Deutschland bereits 19 Ordinariate und 39 Extraordinariate und Dozenturen eingerichtet worden. Die eigentliche Abschlussphase dieser akademischen Etablierung umfasst dann schließlich den Kampf um die Anerkennung der Psychiatrie als obligatorisches und Examensfach in der medizinischen Ausbildung, was erst 1901 erreicht wird. Von großer Bedeutung für ihre Anerkennung dürfte die Tatsache sein, dass sich in den 40er Jahren die Psychiater stärker organisieren: „1844 wurde dann … auf Initiative von Damerow die ‚Allgemeine Zeitschrift für Psychiatrie und psychisch-gerichtliche Medicin‘ geschaffen. Die 69 Herausgeber und Mitarbeiter verstanden sich gleichzeitig als Mitglieder der ‚Gesellschaft von Deutschlands Irrenärzten‘, die aber noch keine Rechtsform hatte“ (Müller 1993, 99). Allerdings wurden erst 1864 die Statuten des Deutschen Vereins der Irrenärzte verabschiedet, 1903 wurde dann die Änderung des Namens in „Deutscher Verein für Psychiatrie“ beschlossen. Die Herausbildung und Weiterentwicklung psychiatrischer Behandlungsmethoden ist dementsprechend zunächst nicht dominant akademisch geprägt, sondern wird von frühen Anstaltsleitern übernommen. Die Anstaltsleiter machen ihre Erkenntnisse einer größeren Öffentlichkeit bekannt, vornehmlich durch die Berichte ihres Wirkens in den entsprechenden Anstalten, jedoch auch durch Aufsätze zur Entstehung des Wahnsinns o. ä., die in den frühen psychiatrischen Zeitschriften veröffentlicht werden. Den Anstaltsleitern fehlen allerdings die Mittel und die Theorie, den Verlauf psychiatrischer Erkrankungen auf körperliche Substrate zurückzuführen. Zwar haben sie, schenkt man ihren Ausführungen Glauben, den einen oder anderen Erfolg bei der Behandlung, über den Einzelfall hinausgehende Erkenntnisse bleiben ihnen allerdings verwehrt.
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vorbildliche Klinik führt, gestattet er nahezu keine Kliniksbesuche von Universitätsmitgliedern, so etwa dem Nachfolger Groos’, Hermann, einem Schüler von Jacobi, so dass die Ausbildung von psychiatrischen Ärzten im universitären Kontext stagniert (vgl. zur genaueren Auseinandersetzung mit den Heidelberger Verhältnissen: Middelhoff 1979, 33–50).
40 2.2.2
Die Weiterentwicklung der Institution „Psychiatrie“ und die Entstehung der medizinischen Teildisziplin
Ab 1840 wird nach einer ersten Phase der Anstaltsgründungen das psychiatrische Betreuungssystem noch einmal entscheidend ausgebaut: Anstaltsgründungen erfolgen nun parallel zur wissenschaftlichen Etablierung der Psychiatrie laufend, besonders jedoch nach der Reichsgründung in den 70er Jahren. Auf die „Initialphase“ (bis in Jahrhundertmitte) folgt zunächst eine „Ausbau-“ (bis in die 70er Jahre) und dann eine „Konsolidierungsphase“ (ab den 70er Jahren). Die Ausbauphase ist vom starken medizinischen Optimismus auf der einen Seite und bürgerlichen Humanismus auf der anderen Seite geprägt. Beide Strömungen sind in der Person Griesingers vereint, der das alte, in unterschiedlichen Landesteilen noch voll erhaltene System der Verwahrpsychiatrie auflösen möchte. Er leistet entscheidende Argumentationshilfe bei dem Vorantreiben der „Irrenreform“. 22 So heißt es bspw. in seinem Lehrbuch: Uebrigens müssen sich die Irrenanstalten durch ihre Einrichtungen und durch den in ihnen herrschenden Geist empfehlen. Diese Einrichtungen und dieser Geist müssen nicht nur im Allgemeinen den humanen Ideen unserer Zeit entsprechen, sie müssen auch – und hierauf ist vor allem zu dringen – durchaus ärztliche sein. Jede Anstalt ist nichts Anderes, als ein Hospital für Gehirnkranke; jede, ganz besonders aber die Heilanstalten, müssen durchaus den Charakter eines Krankenhauses, und nicht etwa den eines Besserungs-Instituts, einer Fabrik, oder gar eines Gefängnisses darbieten. Hiermit ist zugleich gesagt, dass die Anstalt durchaus unter ärztlicher Leitung stehe, dass also die Direction in den Händen des ersten Arztes sein muss, der mit einer gewissen Unumschränktheit alle sonstigen Kräfte zum Besten des Ganzen verwendet, aber auch, dass die Irrenärzte wirkliche Aerzte, und nicht etwa Moralisten, welche sich zugleich etwas mit Medizin beschäftigen, aber zu jeder Untersuchung ihrer Kranken der Beihülfe eines weiteren Arztes bedürfen, sein sollen. (21867, 529)
Da die frühen Psychiatrien sich zum einen bewährt haben und als gesellschaftlich legitimiert gelten können, zum anderen sich die Somatiker, gestützt durch erste Erfolge, durchgesetzt und organisiert haben und zum dritten auf______________ 22
Blasius (1994, 51) zitiert einen Ständevertreter, dessen Worte noch von Optimismus getragen sind: „Es ist für uns alle eine Freude, konstatieren zu können, daß die Wissenschaft zur Entdeckung gekommen ist, daß der Irre ein Kranker ist, der geheilt werden kann und in vielen Fällen geheilt wird. Die sogenannte Geisteskrankheit beruht in den meisten Fällen auf körperlichen Störungen, mit deren Regulierung sie gewöhnlich verschwindet. In früherer Zeit glaubte man, diese Krankheiten von Zaubereien und dergleichen, ja von der Einwirkung dämonischer Einflüsse herleiten zu können. Diese Zeit ist glücklicherweise vorüber, sie liegt hinter uns, und jetzt leben wir in einer Zeit, wo wir wissen, daß auch der Irre das Objekt eines erfolgreichen Heilverfahrens sein kann.“
41 grund der verstärkten Wahrnehmung von psychischen Erkrankungen, werden Psychiatrien eines neuen Typs gegründet, die eine weitaus größere Zahl von Patienten aufnehmen können. Im Rheinland bspw. werden, fußend auf einem dadurch begründeten Optimismus, 1868 die gemischten Heil- und Pflegeanstalten gegründet: die Landeskrankenhäuser Grafenberg, Düren, Andernach, Bonn und Merzig. Auch diese Entwicklung fordert zu einer zwiespältigen historischen Betrachtung heraus: Die eigentlich erfreuliche Entwicklung, die psychisch Kranken nun ihren Sonderstatus nimmt und sie wie andere Kranke in das medizinische Versorgungssystem eingliedert, hat jedoch den Nachteil, dass die für die erste Phase beschriebene Betreuungsintensität abnimmt. Die großen Landeskrankenhäuser sind Ausdruck einer immer effektiveren Anstaltsorganisation, durch die Kranke „durchgeschleust“ werden. Die Konsequenzen liegen auf der Hand: Statt der Nachbildung der bürgerlichen Familie mit den Mitteln der Anstaltsorganisation und der dadurch erhalten gebliebenen „Wir“-Beziehungen schaffen die großen Krankenhäuser keinen übergeordneten Zusammenhang, so dass die Rollen von Arzt und Patient neu gestaltbar und zunehmend anonymisiert werden. Der psychisch Kranke der Krankenhäuser ist nicht mehr das im Kern erhalten gebliebene bürgerliche Subjekt, sondern ein Träger einer Krankheit, die zunehmend unabhängig von ihren individuellen Entstehensbedingungen gesehen wird. In der Loslösung von der im Einzelfall wirkenden Individualität werden die Kranken zunehmend nur als Gruppe sichtbar (zumindest im Regelfall). Statt eines – unter welchen Vorzeichen auch immer – Miteinanders und der persönlichen Begegnung, die aus vielen frühen Krankengeschichten und Krankenakten spricht (vgl. Kap. 4.3), schiebt sich, wie man am Wandel des Textsortenensembles „Krankenakte“ sehen kann, ein semiliteraler Verwaltungsakt. Allerdings könnte die verstärkte Orientierung an der Gruppe auch dazu beigetragen haben, dass die Psychiatrie dabei, unter etwas anderen Vorzeichen als früher, zur Lösung gesellschaftlicher Probleme herangezogen wird: Psychiatrien werden wieder verstärkt genutzt, um v. a. arbeitsunfähige Personen zu verwahren. Damit verlieren die Psychiatrien ihre Exklusivität und gelangen immer mehr in den Sog gesellschaftlicher Funktionalisierung. Auch hier ergibt sich wieder eine Ambivalenz: Psychisch Kranke als Gruppe zu sehen, ist vom medizinischen Standpunkt aus gerechtfertigt, sie allerdings auch so zu behandeln, ist fragwürdig und gar rückschrittlich und ist sicherlich von den „Männern des Fortschritts“ wie Griesinger nicht intendiert worden. Während Griesinger durch neue Betreuungsformen eine Art Demokratisierung anstrebt, nach der eine solide psychiatrische Behandlung nicht nur dem Bürgertum zukommen soll, bewirkt die Gruppierung von psychisch Kranken eben nicht die Nivellierung ihres Standes, sondern geradezu ihr Gegenteil – forciert durch so genannte Degenerationslehren, die beim städtischen Proletariat
42 ansetzen. Besonders in der Psychiatrie im Kaiserreich verbinden sich Armenund Irrenfrage, so dass sich die Entwicklung wie folgt darstellt: … unbestritten ist die schichtspezifische Erfassung von Geisteskrankheit. Die Grundlagen dafür wurden im 19. Jahrhundert gelegt, zu einer Zeit, als die ersten Landeskrankenhäuser entstanden. Als Stätten der armen Irren stehen sie in der Kontinuität der alten Repressionsmechanismen gegenüber sozialen Unterschichten. In den Landeskrankenhäusern bestanden zwar vier Verpflegungsklassen, doch das Gros der Anstaltsbevölkerung befand sich in der vierten Klasse, der sogenannten Normalklasse. Während man sich in den anderen Klassen auf eigene Kosten versorgen lassen konnte, war hier die kommunale bzw. provinziale Bürokratie der Kostenträger psychiatrischer Versorgung. In den Anstalten wurde mit dem Irrenproblem zugleich ein Armutsproblem verwaltet. Das sollte den medizinischen Heilzweck der Anstalten nachhaltig negativ beeinflussen. Die Hinwendung zum armen Irren erfuhr eine bürokratische Perversion, indem Armut katexochen dem Verdacht von Irresein ausgesetzt wurde. (Blasius 1994, 69f.)
Dieser historisch wahrnehmbare „Hospitalisierungsschub“ ist Ausdruck einer Ordnungspsychiatrie, die letztlich auch den Heilgedanken ausdünnt (vgl. dazu insgesamt: Schindler 1990, Walter 1996). Diese psychiatriegeschichtliche Zäsur weist auf ein sich wandelndes Verhältnis von Staat und Gesellschaft hin. Nach einem bürgerlichen Gestaltungsschub nach der Jahrhundertmitte gerät der Liberalismus in die Defensive, was u. a. eine zunehmende Bürokratisierung und staatliche Erfassung der psychisch Kranken zur Folge hat. Die durch die große Depression ausgelöste Wirtschaftskrise stiftet zudem soziale Unsicherheit, die zu einer Renaissance des Irrenproblems führt und eine Phase verstärkter polizeilicher Überwachung einleitet. Der psychisch Kranke als Sicherheitsrisiko beherrscht erneut – wie schon im 18. Jahrhundert – den öffentlichen Diskurs. Als Ursachen dieser Entwicklung, in deren Folge auch die Zahl der spezialisierten Anstaltspsychiater rasch wächst, können gelten: … mikrosoziale Wandlungen in den Familienstrukturen, die zur Abweisung der Problempatienten an soziale Institutionen drängten; eine mit den bürgerlichen Lebensverhältnissen eng verbundene und von administrativen Organen perfekt betriebene Politik der sozialen Ausgrenzung leistungsunfähiger und die soziale Ordnung störender Personen sowie die inneren Konsequenzen einer therapeutisch weitgehend ineffektiven Anstaltsverwahrung, die darin bestanden, daß ein sehr großer Teil der aufgenommenen Krankheitsfälle chronifizierte und als „unheilbar“ in Dauerbetreuung aufgenommen wurde. (Thom 1984, 310)
Vorschub wird dieser Entwicklung auch durch das verstärkte Auseinanderbrechen von Anstalts- und Universitätspsychiatrien geleistet, da letztere ihre Autonomie gegenüber dem staatlichen Zugriff eher behaupten können. Doch auch die Universitätspsychiatrie arbeitet zunehmend mit Kategorien, die ihre Verflechtung mit Stereotypen des öffentlichen Diskurses erkennen lassen, mit Konsequenzen für die psychiatrische Nosologie: z. B. periodische Trunk-
43 sucht als Teil der periodischen Manie. Zudem bestimmen Hereditätslehren zunehmend das Bild, die in der Vorstellung kulminieren, Trunksucht und asoziales Verhalten seien vererbbar und damit eine Gefahr für jede prosperierende Gesellschaft. Während diese Überlegungen vor dem Ersten Weltkrieg eher einen Spezialdiskurs bilden, okkupiert dieser Diskurs die Nachkriegsjahre: In den Jahrzehnten vor dem ersten Weltkrieg teilte die deutsche Psychiatrie die parvenühaften Züge der deutschen Politik; sie rang um Anerkennung, entwickelte eine Art Sonderstolz gegenüber konkurrierenden Wissenschaften und nutzte ab 1914 den Existenzkampf des deutschen Volkes, um der eigenen Sache nationale Bedeutung zu verleihen. Der so verhängnisvolle Schritt der Psychiatrie in die große Politik wurde in den Jahren des Ersten Weltkrieges getan. Staatsnähe hatte die Psychiatrie schon immer ausgezeichnet; sie war gleichsam systembedingt, hing mit den Strukturen des staatlich verantworteten psychiatrischen Versorgungssystems zusammen. Doch die Psychiatrie war nie eine Psychiatrie im Großen gewesen, angeschlossen an die großen Fragen über Krieg und Frieden. Der Erste Weltkrieg veränderte das Gesicht und das Gewicht der Psychiatrie. Sie öffnete ihre Flanke zur Politik hin und wollte teilhaben an der ‚deutschen Erhebung‘ von 1914.“ (Blasius 1994, 118)
Die Weimarer Republik bildet z. T. wieder reformistische Tendenzen aus, so die „offene Psychiatrie“ und die Arbeitstherapie, die die nun dominante Bettbehandlung erweitert; die reformistischen Tendenzen werden, wie in Kap. 6. gezeigt werden wird, jedoch im nationalen Diskurs wieder instrumentalisiert. Die nationalsozialistische Gesundheits- und Bevölkerungspolitik greift Debatten aus den 20er Jahren auf, so v. a. um die Sterilisation psychisch Kranker, und bindet sie gesetzlich ein. Den Psychiatern fällt nicht mehr die Rolle zu, den Kranken zu helfen oder sie zu heilen, sondern durch entsprechendes Handeln zur „Gesundung des Volkskörpers“ beizutragen – eine Rolle, der die Psychiater eher wenig Widerstand entgegensetzen, sondern die sie größtenteils bereitwillig annehmen. Die „Vernichtungspsychiatrie“ ab 1939 bildet den grausamen Höhepunkt der Entwicklungen (vgl. für ergänzende Informationen Kap. 6.).
2.2.3
Historische Rahmenbedingungen: Hinweise für den sprachlichen Gestaltungsspielraum
Die Darstellung der Rahmenbedingungen verfolgte den Zweck, Schreiber, Schreibdomänen, Artikulationsmedien und potentielle interaktive Konstellationen bestimmen zu können. Dass Rahmenbedingungen nichts dem Kommunizieren Äußerliches sind, wird schon daran deutlich, dass Standort des Schreibenden und textuelle Aneignungsformen oft nicht voneinander entkop-
44 pelt werden können. Der Anstaltsleiter, der nur eine geringe Anzahl von „Irren“ zu betreuen hat und zumeist die Erkrankung vom Eintritt in die Anstalt bis zum Verlassen verfolgt, schreibt anders über Kranke als der medizinische Kliniker, der den Krankheitsverlauf oft aus den Krankenakten rekonstruieren muss. Durch den psychiatriegeschichtlichen Abriss lässt sich nun beantworten, wer wann auf der Grundlage welcher Erfahrungen und Textsorten über psychisch Kranke schreibt. In der Initialphase schreiben neben Universalgelehrten, Literaten, Anstaltsleitern und Kreisärzten wenige Universitätsmediziner, deren Spezialisierung zumeist in einem anderen Fach liegt, über psychisch Kranke. In den folgenden Phasen verschiebt sich diese Gleichrangigkeit der Schreibenden zunächst zugunsten der Anstaltsleiter, dann zugunsten der Universitätspsychiater, wobei die Anstaltsleiter und die in Psychiatrien angestellten Ärzte sich zumeist nicht mehr am Schreiben innovationsorientierter und didaktischer Textsorten beteiligen, die die folgenden Phasen prägen. Während in der ersten Phase das soziale Netz der über psychische Krankheiten Schreibenden relativ engmaschig ist und durch wiederholte persönliche Begegnungen gestützt wird, ist für die weiteren Phasen anzunehmen, dass das gesamte kommunikative Netz – allein schon die größere Anzahl an Psychiatern – zunehmend loser wird. Die Verbindungen zwischen Psychiatern ergeben sich nach der Initialphase neben zweifelsohne immer noch vorhandenen engen Verbindungen zunehmend durch Institutionen (Vereine und Interessensverbände) und damit durch eine neuartige öffentliche Präsenz. Die unterschiedlichen Phasen unterscheiden sich auch hinsichtlich der bevorzugten Darstellungsformen: Den Schwerpunkt der Initialphase bilden von Seiten der Anstaltsleiter Verlaufs- und Hintergrundberichte über ihre Tätigkeit, über die Organisation sowie die baulichen Vorrichtungen der Psychiatrien sowie einzelne Fallschilderungen. Den Anstaltsleitern und (möglichen) Hilfsärzten obliegen die Organisation der Kommunikation mit der Öffentlichkeit, die gesamte Binnenkommunikation sowie die textliche Begleitung des Krankheitsprozesses (Krankenakten), wobei diese oft nur punktuell erfolgt (vgl. Kap. 4.3). Die gleichen Anstaltsleiter sind es auch, die Berichte und Krankengeschichten in neu geschaffenen Zeitschriften veröffentlichen. Das Interesse an psychischen Auffälligkeiten artikuliert sich schon recht früh in folgenden Zeitschriften: 23
______________ 23
Vgl. zu diesen besonders Keil (1985, 28–35). Eine weitere, zumeist kurzlebige Zeitschriften werden bei Eckardt (2001, 183) genannt, die allerdings eine starke psychologische oder anthropologische Orientierung bieten: so das Psychologische Magazin (1796–1798, erst herausgegeben von J.G. Heyning, dann von C.C.E. Schmid) und das Anthropologische Journal (1803–1804), das ebenfalls von C.C.E. Schmid herausgegeben wurde.
45 im Magazin für Erfahrungsseelenkunde, das von 1783 bis 1793 in Berlin erscheint und von Karl Philipp Moritz (1756–1793), Karl Friedrich Pockels (1757–1814) und Salmon Maimon (1753–1800) gegründet wird. Alle drei Autoren sind keine praktisch tätigen Ärzte. in der Nachfolgezeitung, dem Allgemeinen Repetorium für empirische Psychologie und verwandte Wissenschaften unter der Leitung von Immanuel David Mauchart (1764–1811). Er selbst ist Diakonus und vornehmlich pädagogisch und philanthropisch motiviert. im Magazin für die psychische Heilkunde, das 1805 und 1806 in jeweils drei Heften bei der Langeschen Buchhandlung in Berlin erscheint. Herausgeber sind: Adalbert Kayssler (1769–1821), der erst Privatdozent in Halle und später Professor für Philosophie in Breslau ist, und Johann Christian Reil (1759–1813). Zum ersten Mal taucht ein Mediziner, der direkt mit der Betreuung psychisch Kranke betreut ist, als Herausgeber auf. in den Beyträge(n) zur Beförderung einer Kurmethode auf psychischem Wege, die 1808 und 1812 in der Curt’schen Buchhandlung unter der Leitung von Reil und dem Philosophieprofessor Johann Christian Hoffbauer (1766–1827) erscheinen. Mit den folgenden Zeitungen verlagert sich das Interesse auf die Institution „Psychiatrie“: Mit der Zeitschrift für psychische Ärzte, die vierteljährlich von 1818–1822 in Leipzig erscheint, tritt unter der Leitung von Friedrich Nasse (1778–1851) eine Zeitschrift an die Öffentlichkeit, die in der Tat als Sprachrohr der praktisch tätigen Psychiater begriffen werden kann (im Folgenden: ZfpÄ). Die genannte Zeitschrift wird unter dem Titel Zeitschrift für Anthropologie, was schon einen deutschen Sonderweg aufweist, fortgesetzt und erscheint von 1824–1826 beim selben Verlag (im Folgenden: ZfAnthro). Nur ein Band erschien 1830 von den Jahrbücher für Anthropologie und zur Pathologie und Therapie des Irreseyns (unter der Leitung von Friedrich Nasse) ebenso wie die Blätter für Psychiatrie (unter der Leitung von Friedreich und Blumröder), die nur 1837 erschienen. Etwas langlebiger war das Magazin für philosophische, medizinische und gerichtliche Seelenkunde (1829–1834), das ebenfalls von Friedreich herausgegeben worden ist. Den Schwerpunkt schreiberischer Aktivitäten stellen bei den Universitätsmedizinern theoretische Abhandlungen zum Wesen der psychischen Erkrankungen, die ohne den Einfluss der Philosophie (v. a. Anthropologie, Naturphilosophie, Erkenntnistheorie) nicht denkbar wären. Über die philosophische Fundierung hinaus schreiben sie ebenfalls über die soziale Bedeutung, oft zivilisationskritisch, der psychischen Krankheiten. Es stehen sich damit
46 zwei Reflexionsebenen gegenüber: das Reflektieren über das Wesen psychischer Erkrankungen und das Nachdenken über das eigene Handeln und die Begleitung von Kranken in der Psychiatrie. Trotz dieser Aufgabenteilung und damit auch unterschiedlichen „Schreibaufgaben“ lassen sich intertextuelle Bezüge ausmachen, die allerdings eher unidirektional verlaufen und durch unterschiedliche Wahrnehmungsfelder zu begründen sind: Zwar kontextualisieren manche der Krankengeschichten philosophische Diskurse, ohne ihren Gesamtzusammenhang zu evozieren, jedoch rekurriert die andere Schreibgruppe kaum auf die Erfahrungen der Anstaltsleiter. Im Laufe des 19. Jahrhunderts – dies berührt den Kern der folgenden Untersuchungen – verschieben sich Aufgaben und Inhalte des Schreibens grundlegend, so dass die hauptsächlich schreibenden Mediziner in der Doppelrolle von Klinikern und Forschern auftreten, wobei bspw. die Rolle philosophischer Betrachtungen allmählich schwächer wird, die Beschreibung von Experimenten ebenso wie Beobachtungen in der Klinik in den Vordergrund treten. Wie schon betont, werden frühe Anstalten mit einer eher geringen Anzahl an aufgenommenen Patienten nach dem Vorbild der bürgerlichen Familie und eines entsprechenden Tagesablaufes gebildet – die Architektur der Anstalten spiegelt, insofern es sich um neue Einrichtungen handelt, die Vorstellung wider. Dem Anstaltsdirektor fällt als Organisator und als moralische Instanz eine exponierte Rolle zu. Psychiater und Kranker begegnen sich zwar in ihren Rollen, wobei diese auf aus der philosophischen Anthropologie, der Temperamentenlehre und der (literarischen) Erfahrungsseelenkunde gebildeten Typen basieren, die Beziehung selbst teilt aber noch Elemente einer erfahrbaren Wir-Beziehung, was für eine eher am Einzelfall orientierte Behandlung spricht und sich entsprechend auch in Krankengeschichte artikulieren dürfte. Die frühen Anstalten setzen im weitesten Sinne auf Heilmittel und auf eine Umgebung, die die bürgerliche Integrität des Kranken wiederherzustellen sucht. Der unzureichende Umgang mit Kranken führt in den theoretischen Abhandlungen lange Zeit zu einem empirisch zu füllenden Vakuum. Mit Bewährung der alten Psychiatrien setzt eine Ausweitung der psychiatrischen Betreuung ein, die nunmehr nicht nach dem Vorbild der älteren Betreuungsformen gestaltet sind und in der, wie gezeigt werden wird, die Rolle der textlichen Begleitung von Krankheitsprozessen sich verändert. Mit der stärkeren Orientierung an körperlichen Auffälligkeiten und Prozessen, vornehmlich geleistet durch die universitäre Medizin, ihrerseits Produkt einer heftig umstrittenen Neuorientierung im Nachdenken über psychische Krankheiten, und, wie noch zu zeigen sein wird, der dadurch erlangten, verstärkten Operationalisierbarkeit klinischer Handlungsabläufe und Schreibprodukte verändern sich Organisationsformen von Kliniken radikal: Das bürgerliche Individuum wird von der Krankheit überlagert und wird vollständig zum Krankheitstyp. Die Rolle der Psychiatrie, bzw. das Verhältnis zwischen Psychiatrie,
47 Staat und Gesellschaft wird dabei grundlegend umgestaltet und deutet auf die Adaption anderer Diskurse hin. Als eigentlich gegenläufiger Trend zur naturwissenschaftlichen Orientierung ergibt sich eine neuerliche Durchlässigkeit der Psychiatrie für gesellschaftliche Typen: den Asozialen und den „Degenerierten“. Vererbungslehren mit einem hohen sozialen Prestige (so der Darwinismus) werden, z. T. gefiltert durch den öffentlichen Diskurs, auf die psychiatrische Theoriebildung projiziert. Bei allen Gegenbewegungen (sei es die Psychoanalyse oder die dynamische Psychiatrie) bleibt dieser Trend bis in den Nationalsozialismus hinein ebenso bestimmend wie eine immer effektivere Anstaltsorganisation. Bisher wurde das Wie des Schreibens nur angedeutet und Zusammenhänge mit anderen Disziplinen nur postuliert. Gleichzeitig wurde kein Hinweis auf die Art und die mögliche Erklärung wahrnehmbarer Wandelprozesse gegeben. Im Kap. 3. wird zunächst anhand von vier Beispielen ein Einblick in die Art und Weise der sprachlichen Konstitution des Gegenstandes gegeben.
2.3
Das sprachliche Profil früher Psychiatrietexte
2.3.1
Zwischen Erfahrung und kultureller Prägung: Eine sprachwissenschaftliche Annäherung
Im letzten Kapitel wurde skizziert, in welchem Rahmen sich das frühe psychiatrische Schreiben entwickelt. Es wurde darauf aufmerksam gemacht, dass die frühen Psychiater stark von anderen Disziplinen beeinflusst werden, die Zulieferer für soziale Typen (vgl. zu diesem Begriff Kap. 3.2) sind. Ich werde nun die Sprache charakterisieren, die die Konstitution der Disziplin überhaupt möglich gemacht hat. Anhand von vier Textausschnitten aus psychiatrischen Monographien und Zeitschriftenaufsätzen wird das Profil einer Sprache gezeigt, die – zumindest nach den gängigen Kriterien der Fachsprachenforschung (Exaktheit, Ökonomie, Reduktion von Vagheit oder Polysemie) – nicht umstandslos als Fachsprache bezeichnet werden kann. Wie das sprachliche Profil der gewählten Abschnitte zeigt, verbietet sich jedoch auch der Schluss, die Texte gehörten der Gemeinsprache an und deckten sich bspw. mit Formen alltäglichen Erzählens. Auf der Basis ihrer sprachlichen Merkmale kann dafür argumentiert werden, zwischen Gemein- und Fachsprache zumindest das Wirken einer dritten Varietät anzunehmen: der bildungssprachlichen (s. Kap. 2.3.2). Die frühen Texte greifen auf andere Diskurse zurück und kontextualisieren diese, so dass sich sowohl lexikalische
48 und syntaktische als auch textstrukturelle Versatzstücke finden. Die Texte adaptieren andere Diskurse, machen einen potentiellen Traditionsbestand sichtbar und erarbeiten erste sprachliche Abgrenzungen zu anderen Disziplinen. Deshalb – und im dritten Kapitel wird dies näher ausgeführt – werde ich mit Blick auf Texte zwischen 1800 und ca. 1840 grundsätzlich von einer transitorischen Varietät sprechen. Die vier Textausschnitte stammen von in ihrer Zeit wirkungsmächtigen Psychiatern: Die erste Fallschilderung ist den Beobachtungen über die Pathologie und Therapie der mit dem Irreseyn verbundenen Krankheiten (1830) von Jacobi, dem Leiter der Heil- und Pflegeanstalt Siegburg, entnommen. Der zweite stammt vom Leipziger Universitätsmediziner Hainroth, der stark in die Debatten zwischen Psychikern und Somatikern eingebunden ist. Das darauf folgende Beispiel ist ein Ausschnitt aus der allgemeinen Symptomologie der Melancholie, die von Esquirol und in ihrer deutschen Fassung von Hille 1827 (Esquirol’s allgemeine und specielle Pathologie der Seelenstörungen) vorgelegt worden ist. Der vierte Textausschnitt stammt aus einem Beitrag von Nasse (aus der Zeitschrift für psychische Ärzte, 1818), einem Bonner Professor für Medizin. Ohne Nasses Bemühungen, psychiatrisches Wissen in Kommunikationsorganen zugänglich zu machen, hätte die frühe psychiatrische „Landschaft“ ein anderes Profil. Die Texte sind nicht nur in Hinsicht auf ihre prominenten Verfasser ausgewählt worden, sondern auch in Hinsicht darauf, dass Fallschilderung, Symptombeschreibung/-erklärung in einer Monographie und der sprachreflexive Beitrag in einer spezialisierten Zeitschrift in etwa die Artikulationsmöglichkeiten darstellen, die Psychiatern zur Verfügung stehen, um ihr eigenes Tun zu verbalisieren, zu reflektieren und auch zu legitimieren. Die sprachlichen Profile der Textausschnitte – von den Formulierungsroutinen über die syntaktischen Muster bis hin zu Strategien des Textaufbaus – sind nicht einzigartig, sondern stellen charakteristische Möglichkeiten dar. Bei aller Ähnlichkeit jedoch sind die Texte noch Ausdruck individueller Formulierungskünste und in diesem Sinne nicht reproduzierbar. Textausschnitte I und II: M*. Die Tochter eines der evangelischen Kirche angehörigen Landmannes aus R. im Herzogthum Berg, ein gutherziges und frommes Mädchen von acht und zwanzig Jahren, hatte eine Neigung zu einem jungen Manne ihres Standes gefaßt, welche von diesem auch erwiedert ward. Während beyde aber schon auf die Vollziehung ihrer Verbindung dachten, trat ein naher Freund des jüngst verstorbenen Vaters des Mädchens, ein schon mehr als sechszigjähriger Mann mit Ansprüchen auf ihre Hand hervor, indem er, und wie es schien nicht ganz ohne Grund, behauptete, daß ihr Vater ihm auf seinem Sterbebette die sonderbare Zusage ertheilt, daß sie ihn heirathen sollte. Das arme Mädchen, durch die Zudringlichkeit dieses Mannes unablässig gequält, und ungewiß in wie weit sie den angeblichen
49 Wünschen ihres Vaters nachzugeben schuldig sey, auf der andern Seite aber dieser Verbindung im höchsten Grade abgeneigt, und schon durch ihre frühere Liebe gefesselt, ward, da sie den hierdurch erregten inneren Kampf nicht zu schlichten vermochte, zuletzt durch diese anhaltende und tiefe Gemütserregung in Krankheit und Wahnsinn gestürzt. Bis dahin ausgezeichnet lebhaft, kräftig, thätig, wohlgenährt und von gesunder Farbe, ward sie jetzt mager, blaß, verlor die Eßlust und verweigerte sogar oft den Genuß der Nahrungsmittel gänzlich; die monatliche Reinigung blieb aus; sie ward träge und unlustig, ängstlich, trübsinnig, schweigsam, und zuletzt zeigte sich entschiedenes Irreseyn, mit dem Charakter der Schwermuth … (Jacobi 1830, 245) Ein hagerer, cholerischer, geistvoller Mann von einigen vierzig Jahren, betrieb im Auslande ein kaufmännisches Geschäft, zu dem er gegen seine Neigung erzogen, und an dem er durch die Umstände festgehalten war. Von Jugend auf heftig grübelnd, von dem Triebe, etwas Großes wie etwas Gutes, zu leisten angespornt, durch die ihm widerlichen Geschäfte stets verstimmt und mißmuthig, dabei durch eine jugendliche, Körper und Geist zerrüttende, Verirrung krankhaft reizbar, ward er endlich des mühevollen Alltagslebens überdrüssig. Speculative Ruhe, und in dieser Ruhe das Ausbrüten eines Staunen erregenden, den Menschen belehrenden und bessernden schriftstellerischen Werks, wozu er Beruf und Drang in hohem Maaße in sich fühlte, ward sein unablässiges Streben, das Geschäft seiner einsamen Stunden, und der Grund von Vorstellungen, die, unablässig verfolgt, zuletzt sich seines Denkvermögens, seiner Phantasie, dergestalt bemeisterten, daß sie ihn in einen geistig und körperlich gespannten, krankhaften Zustand versetzten. In solchem unternahm er die Reise nach Leipzig zu einem nahen Verwandten. (Heinroth 1818a, ZfpÄ, 241)
Die Textausschnitte ähneln sich: Die dargestellten Fälle folgen einem narrativen Schema, bei dem eine Biographie die Spannungskurve vorgibt, die ihren Höhepunkt mit der Erkrankung des jeweiligen Individuums erreicht, später gelöst durch einen situationsmächtigen Psychiater. Ein personaler oder auktorialer Erzähler arrangiert die einzelnen Erzählschritte – so ähneln die Textstücke einer erzählerischen Introduktion –, die auch für einen „Fachfremden“ als geschlossene, kohärente Texte zu lesen sind. Die Fälle weisen nur einen geringen Verallgemeinerungsgrad auf, orientieren sich am individuell Erfahrenen, mit z. T. sichtbarer Sympathie für die Handlungsträger („gutherziges und frommes Mädchen“, „das arme Mädchen“). Das syntaktische Profil der Texte ist nur insofern markiert, als die aufwändige Schilderung einen hypotaktischen, wenig ökonomischen Stil bedingt. Anzeichen von fachlicher Neutralität sind nicht vorhanden, sondern eher das Gegenteil: Antithetische Gegenüberstellungen von lebhaft, kräftig, wohlgenährt etc. und mager, blass …, und Synonymenreihungen, die sich dem „Gegenstand“ aus unterschiedlichen Perspektiven annähern. Allerdings weisen diese Textausschnitte auch Unterschiede zu einer beliebigen Alltagserzählung auf, die neben der Textstruktur (hier in der Zuspitzung auf das krankheitsauslösende Moment) v. a. im Wortschatz liegen. Es finden sich einige Lexeme und Lexemverbindungen (z. B.
50 entschiedenes Irreseyn, cholerisch, Denkvermögen, krankhaft reizbar), die auf nicht mehr eigens textualisierte Merkmalbündel verweisen. Es treten die Wortschatzressourcen auf, die, wie im Kap. 4.3 detailliert herausgearbeitet wird, für die Frühphase charakteristisch sind: die Temperamentenlehre (cholerisch), die philosophische Vermögenslehre (Denkvermögen) und die Physiologie (krankhaft reizbar, verstimmt und gespannt als Qualitätsattribuierungen). Auffällig ist zudem die variantenreiche Ausformulierung von Extremzuständen mit Hilfe von graduierenden oder durativen Adjektiven/Adverbien, die die Handlungsträger „ergreifen“: unablässig gequält/unablässiges Streben, höchsten Grade / hohem Maße. Die Wortschatzbestandteile stehen insgesamt einer Modellierung offen. Das Schreiben orientiert sich, abgesehen von der Darstellung der krankhaften Befindlichkeit, nicht an bestimmten Selektions- und Relevanzkriterien, die eine Kondensation auf das für die jeweilige Krankheit Typische vorgeben würden. Der intertextuelle Bezug zur Erfahrungsseelenkunde wie zum Schreiben von Krankenakten scheint offensichtlich: so zu dem von Karl Philipp Moritz, Karl Friedrich Pockels und Salomon Maimon herausgegebenen Magazin für Erfahrungsseelenkunde und zu dem von Mauchart herausgegebenen Allgemeine Repertorium der empirischen Psychologie und verwandte Wissenschaften, in denen auch frühe Psychiater wie Langermann veröffentlichten. Doch sind die frühen Psychiatertexte nicht wirklich mit den Magazin-Texten vergleichbar: Das Erzählen ist, anders als im Magazin, auf ein verwertbares Ergebnis hin gerichtet; der Unterhaltungswert ist eher zufällig und nicht intendiert – die Erzählungen sollen belehren, nicht erfreuen. Damit überlagert der „ärztliche Blick“ die Funktion der bürgerlichen Selbstbeschau, die ein konstitutives Merkmal der Erfahrungsseelenkunde ist (vgl. Dörner 1975; Kaufmann 1995).
51 Textausschnitt III: Symptome der Melancholie. Der Melancholische hat einen magern und schlanken Körper, schwarze Haare und eine blasse gelbliche Hautfarbe, die bisweilen ins schwärzliche übergeht, während die Nase dunkelroth ist. Seine Physiognomie ist unbeweglich, aber die Muskeln des Schrecken und Furcht ausdrückenden Gesichtes sind in einem Zustande krampfhafter Anspannung. Die Augen sind stier, zur Erde gesenkt, oder gespannt in die Ferne sehend: der Blick ist unruhig und mißtrauisch. Die Einheit der Empfindung und des Gedankens macht auch die Handlungen des Melancholischen gleichförmig und langsam; er scheut jede Bewegung und verbringt seine Zeit einsam und unthätig: geht er, so geschieht es langsam und mit einer Vorsicht, als wollte er irgend eine Gefahr vermeiden, oder er geht hastig, immer aber in einer Richtung, als wenn sein Geist sehr beschäftigt und vertieft wäre. Einige zerreißen sich die Hände, die Spitzen der Finger, oder reißen sich die Nägel aus. Manche Melancholische verweigern hartnäckig alle Nahrung, und bringen mehrere Tage zu, ohne zu essen, obgleich sie Hunger haben, allein ihre eingebildete Furcht hält sie zurück. Der eine fürchtet Gift, der andere Entehrung, dieser glaubt seinen Verwandten und Freunden Schande zu machen, jener hofft sich von dem Leben und seinen Qualen zu befreien; man hat beobachtet, daß sie dreizehn bis zwanzig ja bis vierzig Tage sich aller Nahrung enthalten haben. Oft sind diese Kranken nach den Mahlzeiten weniger düster und traurig. … Die Melancholie zeigt zwei sehr markirte Grade. In dem ersten sind die Kranken von einer außerordentlichen Empfänglichkeit und Beweglichkeit; Alles macht auf sie einen sehr lebhaften Eindruck, und die kleinste Ursache erregt bei ihnen die größten Wirkungen: die einfachsten und gewöhnlichsten Dinge scheinen ihnen besondere und neue Phänomene, die bloß für sie bereitet worden sind, um sie zu quälen und ihnen zu schaden. Die Kälte und die Wärme, der Regen und der Wind machen sie vor Schmerz und Schreck schaudern; Geräusch stört sie, und bringt sie zum Zittern, Stille ergreift und erschreckt sie; mißfällt ihnen eine Sache, so stoßen sie solche mit Hartnäckigkeit von sich; … Ihr Urtheil ist noch nicht verwirrt, aber Alles ist gezwungen und überspannt, und ihre ganze Art zu empfinden, zu denken und zu handeln übertrieben. Diese übermäßige Empfänglichkeit macht, daß sie immer in äußern Gegenständen neue Ursachen des Schmerzes finden. In dem andern Grade scheint die Empfänglichkeit sich nur für einen Gegenstand und auf einen Punkt concentrirt, und alle andern Organe verlassen zu haben. Der Körper scheint für alle Eindrücke, die dem Gegenstande des Wahnes fremd sind, unempfänglich zu seyn, während der Geist dennoch mit um so größerer Thätigkeit sich mit den daran knüpfenden Ideen beschäftigt. Aus diesen beiden Zuständen entspringt der Verdruß, die Traurigkeit, die Furcht, das Mißtrauen und die Entmuthigung, mit einem Worte alle die deprimierenden Leiden des Herzens, welche, indem sie auf den Geist rückwirken, den partiellen Irrwahn erzeugen, von dem nichts den Melancholiker ab zu ziehen vermag. In dem zweiten Grade ist die Uebertreibung nicht wie in dem ersten da, allein der Melancholiker ist außer den Grenzen der Vernunft, die Gegenstände die ihm in einen dicken Neben gehüllt, oder von einem schwarzen Vorhange verdeckt zu seyn scheinen, sieht er schlecht, und selbst diese Täuschungen allein characterisiren sein Delirium; er bildet sich mehr oder weniger lächerliche Hirngespinnste ein, … Der Selbstmörder, satt des Lebens, das er ausgeschöpft hat, verläßt dasselbe, unempfindlich für Lust und
52 Schmerz, die ihn nicht mehr an sein Bestehen erinnern, ja von dem ihn Alles anekelt; Der Tod ist ihm nichts, als der letzte Act des materiellen Lebens, der ihm eben so gleichgültig ist, wie es ihm die übrigen sind. … Das Alter. Die Melancholie tritt vorzüglich in der Jugend und im männlichen Alter auf. Die Beweglichkeit des Kindes schützt es vor heftigen Leidenschaften und auch vor der Melancholie, und nur bisweilen vergiftet die Eifersucht der Kinder die süßen unschuldigen Freuden dieses Alters. Einige über die Liebkosungen und Zärtlichkeiten ihrer Mütter gegen andere eifersüchtige Kinder werden blaß, magern ab, verfallen in Marasmus und sterben; auch dem Heimweh sind sie, jedoch in seltenen Fällen, ausgesetzt. Mit der Pubertät jedoch und der Entwickelung neuer Thätigkeiten werden auch neue Bedürfnisse und Gefühle erregt, in dem Jünglinge und Mädchen erwachsen neue Leidenschaften; sie verbringen ihre Tage in Lust und Freude und ohne Besorgniß für die Zukunft, die primitiven Leidenschaften, wie die Liebe, üben noch ihre ganze Macht auf die Individuen dieses Alters, und nur die Erotomanie trübt zuerst die Freuden dieser Zeit; etwas später und zum Ende dieser Lebensepoche ist die religiöse Melancholie nicht mehr selten, und wenn die Onanie oder das Uebermaß im Studieren die reinen Freuden dieses Alters verdrängen, dann hat man oft eine unheilbare Melancholie zu fürchten. In dem Alter der Erwachsenen ist die Einbildungskraft weniger thätig, dafür erlangen die übrigen Fähigkeiten des Geistes eine größere Stärke: die Leidenschaften verdrängen die liebenden Gefühle, die Verhältnisse zu dem geliebten Gegenstande erschlaffen, während häusliche Sorgen, persönliches Interesse und der Trieb nach Auszeichnung sich vermehren, verstärken und sich des ganzen Menschen und seiner Fähigkeiten bemeistern. Bei dem geringsten Anstoß und bei dem kleinsten Unfall wird er düster, traurig und bekümmert, und endlich melancholisch. Vorzüglich ist zum Ende dieses Lebensabschnitts das weibliche Geschlecht sehr der Melancholie ausgesetzt, wo ohnehin die Stürme der aufhörenden Regeln, das Verlassen der großen Welt und ihrer Vergnügungen es zu tausend verschiedenen Leiden geneigt macht; diejenigen dieses Geschlechts aber ins Besondere sind zur Melancholie disponirt, welche die Eitelkeiten der Welt und die Coquetterie zur einzigen Beschäftigung ihres frivolen Lebens gemacht haben. (Esquirol 1812, übers. von Hille 1827, 205–216)
Auch in der vorliegenden Symptom- und Ursachenbeschreibung liegt eine charakteristische, thematisch bedingte Aneignung kultureller Angebote vor. Sie und ähnlich gelagerte Beschreibungen besitzen eine spezifische Indexikalität: Es werden erstens textuelle Gliederungsprinzipien medizinischer Schriftlichkeit übernommen, zweitens Bezüge zum schon erarbeiteten medizinischen und psychiatrischen Vokabular hergestellt und drittens – unverkennbar im Abschnitt „Das Alter“ – Ursachen in Abhängigkeit vom zivilisationskritischen und anthropologischen Diskurs der Zeit formuliert. Bei der Suche nach Erklärungen für abweichende Verhaltensweisen nehmen zivilisationskritisch fundierte Analysen zur Depravation zunächst eine prominente Rolle ein. Auch die Differenztheorie der Geschlechter, die um 1800 in Europa in unterschiedlichen Spielarten vorliegt, klingt im zitierten Textstück an: „diejenigen dieses Geschlechts aber ins Besondere sind zur Melancholie dis-
53 ponirt, welche die Eitelkeiten der Welt und die Coquetterie zur einzigen Beschäftigung ihres frivolen Lebens gemacht haben.“ (ebd., 216), wobei zu betonen ist, dass Völlerei, Müßiggang schon in der frühen Neuzeit mit der Melancholie identifiziert werden (vgl. Burton 1621, in: Horstmann 1992, 35– 40). Dass Erkennen und Wahrnehmen stark von kulturellen Beschreibungsroutinen überlagert wird, zeigt sich besonders an der Eingangsbeschreibung von körperlichen Merkmalen: Seit dem antiken Schrifttum gilt als verbürgt, dass Melancholiker bspw. eine gelbliche (oder gelblich-grünliche) Gesichtsfarbe besitzen und schwarzhaarig sind. Dort werden sie auf die schwarze Galle, später in der Humoralpathologie auf das verseuchte Blut des Melancholikers zurückgeführt (vgl. Klibansky et al. 1999, 29–49). Der gesenkte und stiere Blick des Melancholikers verweist auf eine lange tradierte Emblematik (vgl. Panofskys Dürer-Interpretation 1999). Die Verweise sehen im Einzelnen folgendermaßen aus: Unter dem Stichwort „Melancholie“ wird zunächst die Krankheit grob umrissen und von anderen abgegrenzt, dann folgen Symptome (Alter, Geschlecht etc.), Ursachen, Verlauf, Behandlung. Auch hier zeigen sich lange Traditionslinien: In der Vier-Säfte-Lehre wird die schwarze Galle nicht nur mit einer bestimmten Jahreszeit, sondern auch mit auch mit einem bestimmten Lebensabschnitt identifiziert. So gilt die Jugend bspw. eher sanguinisch, was hier auch dargestellt wird. Als nähere Einflussgröße ist jedoch anzunehmen, dass die Themenabfolge die Handlungsabfolge von Pinels analytischer Methode fortgesetzt, die er in seiner Praktischen Heilkunde (1803) entwickelt hat und die auch die Subthematisierung beeinflusst. So heißt es (227): „Die Melancholie ist anhaltend, remittierend oder intermittierend.“ Neben medizinischem Fachvokabular (Remission, Crisis, disponieren, prädisponirend) lehnt sich die Bezeichnung von Krankheiten an den Traditionsbestand an (Manie, Melancholie mit den entsprechenden Unterformen Erotomanie, religiöse Melancholie etc.) und verweist rudimentär – durch die Verwendung einzelner Begriffe – auf Spezialpublikationen hin: – Delirium/delirieren sind polysem. Auf der einen Seite gehören sie zum allgemeinen medizinischen Vokabular, auf der anderen Seite evozieren sie unterschiedliche Bedeutungen im psychiatrischen Diskurs. In diesem Textstück ist mit Delirium nicht viel mehr als Wahn/Wahnsinn gemeint (vgl. Kap. 4.3.2.5), woran sich auch viele deutsche Psychiater orientieren. Allerdings wird „Delirium“ häufig auch im Anschluss an den Psychiater William C. Cullen (1712–1790) verwendet: Für ihn ist der Ausgangspunkt aller krankhaften Vorgänge im Nervensystem zu suchen, das mit einem Nervenfluidum erfüllt ist, dessen vermehrte oder verminderte Bewegung Krankheiten verursache. Unter dem Begriff „Seelenstörungen“ unterscheidet Cullen als Hauptformen „Delirium“ als Verkehrtheit der Ur-
54 teilskraft und „Fatuitas“ als Schwäche der Urteilskraft. Deren Ursprung ist auf übermäßige Aufregung, „excitement“, oder Depression der Hirntätigkeit, „collapse“ bzw. der Nervenkraft zurückzuführen. Manie und Melancholie sind die entsprechenden Ausdrucksformen. – Die Einbildungskraft verweist hingegen auf die philosophische Begriffsbildung, die ihrerseits zu Analogiebildungen wie „Lebenskraft“ (Johann Christian Reil), einem „Schlagwort“ der frühen psychiatrischen Schriftlichkeit führt. Lebenskraft wiederum führt auf den Begriff „Nervenkraft“ zurück, der von Johann August Unzer (1727–1799) geprägt worden ist. Nach ihm muss die Nervenkraft von der Seele verschieden sein, da äußere Nerveneindrücke auch ohne Vermittlung der Seele auf die Bewegungen reflektorisch wirken können. Damit tritt neben die Seele und die organische Materie ein drittes Prinzip. Erst mit der Umwandlung, die der Stahlsche Animismus 24 in der Lehre von der Nervenkraft erfährt, gewinnt er Bedeutung für die weitere Entwicklung in der Psychiatrie (u. a. für Reil). Der bedeutende Einfluss der Philosophie, über die Erkenntnistheorie hinaus, zeigt sich auch hier. Formulierungen wie daran knüpfenden Ideen, die primitiven Leidenschaften oder die Dreiteilung: empfinden, denken und handeln gehören nur scheinbar zum alltäglichen Wortschatz, sondern sind Phraseologismen und syntaktisch-semantische Prägungen (vgl. Exkurs in Kap. 4.3.1.1), die fest im philosophischen Reflektieren verankert sind. Sie werden zwar in der sich konstituierenden eigenen Disziplin nutzbar gemacht und dadurch semantisch gefiltert, sind jedoch Brücken und z. T. Prestigeanleihen – in diesem Fall – zum sensualistischen Denken Condillacs, mit dem der französische Verfasser Esquirol vertraut war, da sein Lehrer Pinel seine gesamte Nosologie auf ihn aufbaute. Deprimierende Leidenschaften oder exaltieren verweisen direkt auf Lehnbildungen zum französischen Ausgangstext. Gleichzeitig evozieren sie eine Verbindung zu physiologischen Denkmodellen, bspw. des englischen ______________ 24
Mit Georg Ernst Stahl (1660–1734) gerät die Seele zuerst in den Blickpunkt ärztlichen Denkens. Stahl nimmt an, dass die so genannte anima den belebten Organismus steuere (die Seele ist also ubiquitär im Körper präsent), und zwar alle vegetativen, sensitiven und rationalen Vorgänge. Geisteskrankheit entstehe ihm zufolge dann, wenn die Seele durch irgendwelche Einflüsse gehindert werde, ihre den Körper agierende Funktion regelrecht zu vollziehen. Er teilt die Geisteskrankheiten in „pathetische“ und „sympathetische“ Krankheiten ein. Die einfachen, „primären“ Geisteskrankheiten sind idiopathischer Natur, während die sympathetischen durch ein somatisches Leiden verursacht werden. Die Naturphilosophie Schellings fußt auf den Überlegungen Stahls. Haller versuchte 1752 Stahl zu widerlegen, indem er zeigte, dass man kein unkörperliches Prinzip brauchte, um Körperlichkeit zu erklären. Auch ohne Seele seien Organe irritabel, während Nerven Sensibilität aufweisen würden (vgl. Sarasin 2001, 55f.). Die Hallersche Reiztheorie wird von Reil aufgegriffen und weiter verarbeitet.
55 Psychiaters John Brown (1735–1788; vgl. auch: Henkelmann 1981). Brown nimmt an, der lebende Organismus besitze eine spezifische Kraft der Erregbarkeit, „Excitabilität“. Jede Erscheinung, die den Körper reize, wirke auf diese Weise als Stimulans und bewirkt damit das natürliche und gesunde Funktionieren des Organismus. Eine Zunahme der Reize erzeuge Sthenie, eine Abnahme direkte Asthenie. Ist die Erregung übermäßig, so verursacht sie ebenfalls eine Erschöpfung: indirekte Asthenie. Daraus ergibt sich ein Therapiekonzept, dem viele Psychiater gefolgt sind: Sthenie erfordert die Entziehung, Asthenie die Vermehrung der Reize. Brown folgt dem therapeutischen und in der Nachfolge sehr einflussreichen Prinzip: „contraria contrariis curantur.“ Daneben werden rekurrente sprachliche Strategien sichtbar: a) eine Fülle von Graduierungen, die die Abweichung vom Normalmaß bestimmt – z. B. übermäßig, übertrieben, ungemein, überspannte religiöse Ideen, außerordentliche Empfänglichkeit, sowie Superlative: heftigste Leidenschaften; b) sprachliche Formulierungen, die das Ausmaß der Krankheit deutlich machen, meist mittels Verben, Kollokationen und Phraseologismen: bemeistern, ausgesetzt sein, beherrschen oder sich tausend Übertreibungen … überlassen, Absorbieren der Denkkraft und c) Aufzählungen ohne entsprechende Gewichtungen („der andere …, dieser …, jener“). Die an dieser Textstelle ebenfalls sichtbaren sprachlichen Phänomene: Reihung bedeutungsähnlicher Lexeme („der Verdruß, die Traurigkeit, die Furcht, das Mißtrauen und die Entmuthigung“), Verwendung von Metaphern, tradierten Bildern und Vergleichen („die ihm in einen dicken Nebel gehüllt, oder von einem schwarzen Vorhange verdeckt zu seyn scheinen“) und eine mit vielen Beispielen arbeitende Vertextung sind charakteristisch für die Initialphase. Diese Merkmale sind als Versuche zu deuten, sich dem Phänomenbereich „psychisch Kranker“ anzunähern und den gesehenen Fällen gerecht zu werden. Gleichzeitig jedoch wird die Erfassung von gesellschaftlichen Filiationen von sozialen Typen überlagert: Die eigentlich geforderte Abstraktionsleistung beim Beschreiben des Melancholikers am Beginn der Textstelle verrät mehr die kulturelle Prägung als das eigene Anschauungsmaterial. Es zeigt sich ein Nebeneinander von noch nicht pointierten Einzelerfahrungen und dem Zugriff auf Vorerfahrenes. Die Beschreibung des Melancholikers und die Nennung der koketten Frau sind sozial angereichert: Es sind charakteristische Figuren, die an der Peripherie der bürgerlichen Gesellschaft angesiedelt sind, von denen sie sich absetzt und deren Eigenschaften und deren Habitus in ikonographischen Darstellungen quasi eingefroren sind (ähnliches gilt für Hypochonder oder „Tobsüchtige“) – erst spät, wie zu zeigen sein wird, gewinnt dieses „eingefrorene“ Bild an Dynamik, erst dann, wenn der an Melancholie Leidende zu einem Individuum wird, dessen Krankheitsverlauf quasi im Gegenzug abseits aller biographischen Kontingenz Merkmale mit anderen
56 Individuen teilt. Es werden andere Typisierungsroutinen sichtbar, die andere Erfahrungs- und Handlungsschemata freisetzen. Neben thematischer Gliederung und dem Versuch, über besondere Strategien Normalität und abweichende Beispiele darzustellen, gibt es im gesamten Text noch eine dritte Ebene, die das schreibende Ich selbst fokussiert, das sich einerseits auf die medizinische Tradition mit solchen Formulierungen wie „Die Alten sagten“ bezieht, „Pinel erzählt …“, andererseits metakommunikativ, z. B. durch Begriffsarbeit, auf ihn Bezug nimmt und oft seine epistemische Einstellung überdeutlich mit „Es ist sehr wahr“ u. ä. kenntlich macht. Ähnlich wie in den Krankheitsschilderungen bleibt der Psychiater als Beteiligter, z. T. emotional involvierter Textproduzent erhalten, der sich über „die Unglücklichen“ äußert. Zu den interessanten Erscheinungen gehört dabei auch, dass beim Schließen bspw. von einem Symptom auf eine Ursache, bei der Erklärung von Krankheitsbildern überhaupt, nicht nur eigene Erfahrungen (oder die anderer Praktiker), sondern Erfahrungssurrogate aus unterschiedlichen Bereichen angeführt werden: so Sprichwörter/Aphorismen, ein ganzes Arsenal literarischer Gestalten, Verhältnisse in anderen Ethnien, die man nur vom Hören-Sagen kennt u. ä. Anders ausgedrückt: Bestimmte argumentative Standards sind noch für Revision offen. Ähnlich wie bei der Symptombeschreibung gibt es hier Bruchstellen und Enklaven für die Veränderung des Schreibens. Charakteristisch für die Initialphase, jedoch auch für die Psychiatrie allgemein, ist die Suche nach einer soliden sprachlichen Arbeitsgrundlage. Dabei ist immer wieder strittig, welche Gattungs- und Krankheitsbezeichnungen überhaupt anzunehmen sind. Textstück IV Die erste in Betrachtung zu nehmende Frage wäre wohl unstreitig die: mit welchem Namen sollen wir das ganze Geschlecht der psychischen Krankheiten benennen? Es fehlt uns in unserer deutschen Büchersprache ein solcher allgemein anerkannter, allgemein gebrauchter Name. … Als Gattungsnamen der psychischen Krankheiten finden wir in den Schriften deutscher Aerzte und Psychologen die Ausdrücke: Seelenkrankheit, Seelenverwirrung, Seelenstörung, Geisteskrankheit, Geistesverwirrung, Geisteszerrüttung, Geistesverwirrung, Gemüthskrankheit, Gemüthsstörung, psychische Krankheit, psychische Deflexe, Verfinsterung der Psyche, Verrückung, Verrücktheit, Verwirrtheit, Unsinnigkeit, Verkehrtheit; auch Wahnsinn und Narrheit kommen hier und da als solche Gattungsnamen vor … (Nasse 1818a, Zeitschrift für psychische Ärzte 1,1, 19)
Aus diesen Äußerungen lässt sich entnehmen, dass zum Zeitpunkt ihrer Veröffentlichung kein Konsens darüber besteht, wie der Gegenstand der sich formierenden Disziplin zu bezeichnen ist. Für das Für und Wider muss argumentiert werden, wobei in gewisser Weise historisch gewachsene Inkonsequenzen zu beseitigen sind. Die Gattungsbezeichnungen sind zudem
57 Indiz dafür, welche unterschiedlichen Traditionslinien zusammenfließen und auf welche kulturellen Ressourcen Nasse zugreifen kann. Wenn man sich nun die Konstitutionsphase der Psychiatrie ansieht, so ist auffällig, dass das, was im engeren Sinne Gegenstand der Disziplin sein soll, längere Zeit umstritten ist, z. B. ob und wann jemand krank und in welchem Maße er krank ist. Manchmal ist aus den frühen Texten kaum zu ersehen, wann ein Begriff als Oberbegriff, wann als Unterbegriff fungiert. 25 Als Determinantien der Kompositabildungen konkurrieren bei Nasse Gemüth, Seele und Geist miteinander, die auf eine jeweils unterschiedliche Verortung im philosophisch-anthropologischen Diskurs hinweisen. Durchgesetzt hat sich bis zu diesem Zeitpunkt noch nicht der mögliche Alternativbegriff Psyche. Aufschlussreich ist zudem, dass „Krankheit“ mit deverbal gebildeten Substantiven konkurriert, die auf einen spezifischen Zustand rekurrieren und hinsichtlich ihrer Verallgemeinerbarkeit begrenzt sind: Zerrüttung bspw. beschreibt eher ein bestimmtes Stadium im Verlauf einer psychischen Krankheit. Wahnsinn und Narrheit verweisen auf tradiertes Vokabular und bieten sich nicht als Obergriff an. Daran lässt sich auch zeigen, dass die unterschiedlichen Bereiche, die eine Krankheit vermuten lassen, noch relativ unverbunden nebeneinander stehen: die spätere Klassifikation in Neurosen, Psychosen, Dementien bildet sich hier noch nicht ab. Die mangelnde Trennschärfe der Klassifikation wird von Nasse auch beklagt: Was man auch unter dem modischen Wort: Gemüth verstehen möge, so viel ist gewiß, daß wir es nicht da gebrauchen können, wo Andere sich sprachrichtig der Wörter: Geist oder Seele, bedienen. Wollte man daher auch, über den Mangel des Beweises hinweggehend, bei den Irren ein Krankseyn dessen, was in uns denkt, fühlt oder will, annehmen, so könnte dies doch nicht durch den Ausdruck Gemüthskrankheit bezeichnet werden. (1818a, ZfpÄ, 22)
Zudem besteht noch kein Wissen darüber, welche Erscheinungsformen für eine spezifische Krankheit stehen und welche auf der Basis eines intersubjektiven Konsens’ verallgemeinerbar wären. Zwar werden zustandsbeschreibende Lexeme vermieden (z. B. Verfinsterung, Zerrüttung), am Ende des 19. Jahrhunderts nicht mehr als Oberbegriffe verwendet, rücken in die ______________ 25
Hesselberg arbeitet anhand von Vorlesungsmitschriften der Nosologie-Vorlesungen Autenrieths Theorie heraus. Autenrieth verwendet die Begriffe „Narrheit“, „Manie“, „Verrücktheit“, „Wahnsinn“, „Verwirrung“, „Geisteskrankheit“ und „Seelenstörung“ synonym. Verwirrend sei „in Autenrieths Terminologie der Gebrauch des Begriffs Manie, seltener auch Moria genannt, der als Oberbegriff im Sinne von Wahnsinn, Narrheit verwandt wird und alle psychiatrischen Krankheitsformen von den furiosen, im engeren Sinne manischen Formen bis hin zu den melancholischen umfaßt. Die Manie wird damit gleichzeitig als Oberbegriff zur Melancholie verwendet und als Unterbegriff zur Bezeichnung der manischen Krankheitsform des Wahnsinns.“ (1981, 22f.)
58 Reihe anderer krankheitsbeschreibender Adjektive, und das Bewusstsein, dass psychische Auffälligkeiten Krankheiten seien, setzt sich durch, aber es bleibt eine Reihe von alternativ gebrauchter Begriffspaaren übrig, z. B. „Gemüthskrankheiten“ und „Nervenkrankheiten“, die Ausdruck für die jeweilige Verortung des Psychiaters in einem bestimmten Diskurs sind. Alternativbezeichnungen bleiben auch in der Folgezeit die Regel und nicht die Ausnahme von dieser Regel. Der Versuch, eine Sprache, zunächst nur einen „Gattungsnamen“ zu finden und sprachkritisch zu argumentieren, ist ein charakteristisches sprachliches Verfahren. Allerdings bedarf es des gesamten 19. Jahrhunderts, um sich von der philosophischen Anthropologie und Erkenntnistheorie zu lösen – d. h. zunächst gruppieren sich die diversen Vorschläge darum, einen Begriff wie „Seele“ im Verhältnis zu „Leib“ zu bestimmen. Vieles, was ab 1818 in der von Friedrich Nasse herausgegebenen Zeitschrift für psychische Ärzte erscheint, ist als ein Beitrag zum Leib-Seele-Problem zu lesen. Allerdings gibt es beträchtliche Unterschiede zwischen den Psychiatern, Philosophen und Theologen, die scheinbar einträchtig nebeneinander veröffentlichen – und diese beziehen sich zunächst nicht auf die Klassifikation psychiatrischer Krankheiten, sondern auf eine jeweils unterschiedliche Modellierung des Leib-Seele-Problems: Während einige einen Monismus postulieren, bei dem die Seele den Körper determiniert, so z. B. der Psychiater Heinroth 26, setzt bspw. Friedrich Nasse dabei an, dass Seelenkrankheiten in erster Linie körperliche Krankheiten seien. Dieser Unterschied wird in der psychiatriegeschichtlichen Literatur etwas scharf mit dem Unterschied „Psychiker“ und „Somatiker“ konturiert, da sie verkennt, dass auch Nasse, Jacobi und Friedreich zunächst anthropologisch argumentieren, menschliche Eigenschaften spekulativ deduzieren, und dass sie zwar den Boden für die spätere naturwissenschaftliche Forschung bereiten, 27 doch mit dem Somatizismus eines Wilhelm Griesinger noch wenig zu tun haben. 28 ______________ 26
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Heinroth ist insofern ein Sonderfall, weil seine Lehre deutliche religiöse Implikationen besitzt, Geisteskrankheiten s. E. durch sündhaften Lebenswandel verschuldet sind, was dann später zu scharfem Protest führt. Besonders der Leidenschaft weist er eine exponierte Rolle zu: „Der in Leidenschaft Befangene täuscht sich über die Gegenstände und über sich selbst; und diese Täuschung, und der daraus entstehende Irrthum heißt Wahn. Der Wahn ist kein krankhafter Zustand des Gemüthes, aber im Gemüthe, nehmlich in der Leidenschaft, liegt der Grund des Wahns. … Vom Wahn wird der Mensch nicht eher befreyt, als bis er von der Leidenschaft frey ist.“ (1818, 27, § 41) Trotzdem lassen sich von führenden „Somatikern“ z. T. scharfe Polemiken gegen die Psychiker finden. Ein herausragendes Beispiel ist der Aufsatz „Vom Irreseyn der Thiere“, den Nasse 1820 in der Zeitschrift für psychische Ärzte publiziert (vgl. 3.3). In seiner Psycho-Physiologie geht bspw. Nasse davon aus, dass das Blut, die Atmung und das Herz Auslöser psychischer Erkrankungen seien: „Daß das bei Irren, und vorzüglich bei Melancholischen gelassene Blut, oft von dem gesunder Men-
59 Ausdruck für den Wandel hin zu den Somatikern ist die schon genannten medizinisch-psychiatrische Zeitschrift für die Beurtheilung und Heilung der krankhaften Seelenzustände. Sie entsteht in „Verbindung mit den Irrenanstalt-Directoren“ Carl Friedrich Flemming (1800–1880, der die 1825 gegründete Irrenanstalt Sachsenberg-Schwerin leitet), Peter Jeesen (1793–1875, der bereits 1820 zum Direktor der neuerrichteten Irrenanstalt Schleswig wird) und Ernst A. Zeller (1804–1877), ein enger Freund von Jacobi, der ab 1833 Leiter der Irrenanstalt Winnenthal ist. Diese Zeitschrift hat deshalb eine Indikatorfunktion, weil sie Ausdruck eines ab 1820 entstandenen kommunikativen Netzwerkes ist und gleichzeitig Ausdruck einer neuen, eigentlich der zweiten Generation der in Deutschland tätigen Psychiater. Sie bilden so etwas wie die Keimzelle der progressiven Psychiatrie im deutschen Sprachraum. Diese Zeitschrift ist Vorläufer der 1844 gegründeten Allgemeinen Zeitschrift für Psychiatrie und Nervenkrankheiten unter der Leitung des Berliner Vorgängers von Wilhelm Griesinger, Heinrich Damerow (1798–1866). Vor dieser Entwicklung lässt sich die Situation folgendermaßen charakterisieren: Alle an der Psychiatrie Interessierten bewegen sich in einem kulturellen, z. T. fachlich kaum dissoziierten Raum, auf den sie in charakteristische Weise zugreifen und den sie sich produktiv aneignen, indem sie erfahrungsunterstützt selegieren (s. Tabelle unten). Man findet verwertbare Textformen: so die Fallschilderung, die Momente des alltäglichen, aber auch des literarischen Schilderns von Vorfällen übernimmt, die Übernahme eines thematischen Gerüsts, das in der medizinischen Praxis dazu dient, die Phänomenebene zu untergliedern. Die Formen der innovationsorientierten Darstellung werden dem sprachkritischen Argumentieren der Philosophie entlehnt. Das lexikalische Profil der frühen Texte ist auffällig: Zum einen findet man ein recht schmales, immer wieder kehrendes Arsenal von Fachausdrücken, allerdings zumeist aus der Philosophie, jedoch auch schon vorhandene Bedeutungsdifferenzierungen. Zum anderen werden rekurrente Formulierungsroutinen verwendet, die als gemeinsamen Orientierungspunkt die Abweichung vom Normalen besitzen und Vorformen späteren Schreibens abbilden. Selbstverständlich teilen diese Lexeme, obgleich sie sich schrittweise von ihren alltagssprachlichen Bedeutungen emanzipieren, mit der Alltagssprache ihre Konnotationen, ihre Vagheit und z. T. ihre Bildhaftigkeit. Daneben finden sich interessante Strategien, um sich dem Phänomenbereich anzunähern: Metaphern, metaphorische und eher alltagssprachliche Vergleiche. Man kann ______________
schen auffallend verschieden aussieht, ist eine Thatsache, die Niemand, der bei Aderlässen von solchen Kranken mehrmals zugegen gewesen ist, in Abrede stellen kann.“ („Über die psychische Beziehung des Blutes“ 1822, 94). Er wehrt sich dezidiert gegen die bspw. von Gall vertretene Auffassung, dass psychisches Kranksein auf Störungen im Gehirn zurückzuführen sei.
60 zusammenfassen: In den frühen Texten ist die Kontextualisierung anderer Diskurse ebenso auffällig wie der Versuch, das Beobachtete nah am Fall zu verbalisieren. Merkmale früher psychiatrischer Schriftlichkeit
Fallschilderung
ļ WISSENSVERMITTLUNG
WORTSCHATZ
Adaption des medizinischen Vokabulars (v. a. Stadien); Nutzung von Kernbegriffen des psychiatrischen Traditionsbestandes (v. a. Krankheitsbezeichnungen); Verwendung von Qualitätsattribuierungen aus Temperamentenlehre, Physiologie oder Philosophie (v. a. Symptomenbeschreibung, Festlegung von Ursachen); Nutzung von kulturphilosophischen Kernbegriffen (v. a. bei der Festlegung von Ursachen); Rekurrente Versprachlichungsstrategien: Graduierungen/Superlative, Verwendung von idiomatischen Prägungen.
Schreibstrategie
Nicht ökonomisch o Affinität zur Hypotaxe, zum komplexen Aufbau von Nominalgruppen und zur Reihung; Nicht wertneutral o elaboriert-rhetorischer Stil (v. a Nutzung von Antithese, Hyperbel und Metapher); Nicht objektivierend o Kennzeichnung der eigenen Subjektivität (viele Bewertungen).
2.3.2
Bildungssprache: Die Sprache der Gebildeten und die Sprache des Bildens
Vagheit, syntaktische Komplexität, Indienstnahme der Rhetorik oder die Bezugnahme auf kulturphilosophische und common-sense-Erklärungen ist nicht das, was man von einem fachsprachlichen Text erwarten kann, folgt man bspw. der recht strikten Definition von Steger:
61 Charakteristische linguistische Eigenschaften sind: (1.) Die einzelnen Bedeutungen/Sprachbegriffe sind bei fachlichen Begriffssystemen (möglichst) scharf und einheitlich eingegrenzt, weil ‚definiert‘. (2.) Konnotative Wertungen als semantische Merkmale sind möglichst zurückgedrängt. (3.) Die einzelnen Begriffe haben festgelegte Stellenplätze in semantischen (Teil-) Systemen, die über Definitionsketten erreicht werden. (4.) Jede Bedeutung ist im Rahmen solcher Systeme je nur einem Ausdruck zugeordnet und bedarf auch keiner Inbezugsetzung zu speziellen Situationstypen mehr, um ihren genauen Sinn kognitiv einschätzen zu können. Dies bewirkt insgesamt, daß die speziell definierten Fachbegriffe bereits im isolierten Terminus und nicht erst im Satz eindeutigen Sinn erhalten können. (Steger 1988a, 297)
Was liegt jedoch in frühen Darstellungen abweichenden Verhaltens vor? Stegers Darstellung der Varietäten des Deutschen arbeitet mit einer Gegenüberstellung von Fach- und Alltagssemantik, wonach letztere durch die folgenden Merkmale charakterisiert ist: (1.) Die Bedeutungen bei den einzelnen Sprechern sind begrifflich nicht scharf und gleichartig umgrenzt. Sie weisen (2.) gewöhnlich konnotative Wertungselemente als semantische Merkmale auf, die allerdings ebenfalls nicht durchwegs gleich sind, so daß im sozialen Durchschnitt der Eindruck einer Plastizität entsteht. (3.) Sehr oft werden mehrere solcher alltäglichen Bedeutungen einem einzigen Ausdruck zugeordnet, so daß das jeweils Gemeinte erst in Verbindung mit Grammatik und ggf. weiteren Begriffen, bezogen auf einen Situationstypus, in seinem genaueren Sinn kommunizierbar wird. (Steger 1988a, 296)
Gerechtfertigt wird diese Unterscheidung dadurch, „daß sich die ihnen jeweils zugrundeliegende Zwecke/Motive unterscheiden lassen, ferner, daß die (interpretatorisch gewonnenen) Gegenstände/Themen und Gegenstandsbegrenzungen, die für sie charakteristisch sind, und die Art und Weise, wie in ihnen ‚Wahrheit‘ festgestellt wird … funktionsspezifisch unterscheiden lassen.“ (ebd., 300). Nach dieser Darstellung, berücksichtigt man die oben dargestellte „Sprachosmose“, bietet es sich kaum an, in den frühen Texten eine Art Alltagssprache zu sehen. Steger selbst räumt ein, dass die scharfe Grenzziehung eher eine idealtypische Modellierung ist. Mit Hartmann u. a. kann sie kritisiert werden: Die Zerlegung in Fachsprachen und Gemeinsprache als komplementäre Begriffe ist deswegen verfehlt, weil sich damit recht unterschiedliche Nähe bzw. Ferne einzelner Fachsprachen zur Gemeinsprache sowie die Benutzung gemeinsprachlicher Mittel durch Fachsprachen nicht erfassen läßt. Es werden bei diesem Ansatz zu scharfe Grenzen gezogen, die mit den empirischen Befunden eines oft fließenden Übergangs von Fach- und Alltagssprache nicht mehr in Übereinstimmung gebracht werden können. (1980, 32f.)
Es ist gerade für einen historischen Zugriff auf eine Fachsprache sinnvoll, gleitende Skalen anzunehmen, die sich nicht nur auf den Transfer einzelner Begriffe begrenzen. Pörksen führt mit Blick auf die frühe „Gelehrtenprosa“ aus:
62 Die wissenschaftliche Darstellung bewegt sich zwischen den Polen einer hohen Frequenz des Spezialwortschatzes, der denotativen, monosemantischen Terminologie und der Formalisierung, des hohen Abstraktionsgrades, der hohen Informationsdichte und der übersichtlichen Anordnung der Information auf der einen Seite und der geringen Frequenz des Spezialwortschatzes, des konnotativen und polysemantischen Wortschatzes, der hohen Redundanz und verstreuten Information auf der anderen Seite. (1986, 15)
Der zweite Pol scheint nun den vorliegenden Textauszügen am ehesten zu entsprechen. Allerdings sieht Pörksen in diesen ein Hervortreten solcher Sprachfunktionen wie der Kontakt-, der poetischen und appellativen Funktion und begründet dies mit einer stärkeren Empfängerorientierung. Dieses Sprachprofil bietet sich s. E. dafür an, zwischen Fach- und Gemeinsprache zu vermitteln (vgl. ebd., 16), wofür z. B. von Becker (2001) der Begriff „Vermittlungsvarietät“ vorgeschlagen worden ist. Das z. T. vergleichbare Profil der frühen Psychiatertexte lässt sich so dennoch nicht begründen: Polyseme Ausdrücke werden nicht aufgrund eines gesteigerten Ausdruckswillens oder aufgrund besserer Vermittelbarkeit beibehalten, sondern deshalb, weil es im Horizont der adaptierten kulturellen Traditionen noch keine Alternativen gibt. Ihre Leistungen liegen darin, dass sie eine Annäherung an den „Gegenstand“ ermöglichen, Wissen über diesen textlich synthetisiert wird und zu diesem Zweck schon vorhandenes Sprachmaterial absorbiert wird – die Texte sind eine Art Filter und dienen der „kohärenten Verformung“ (dazu ausführlich: Kap. 3.2). Ändert man die Perspektive, nämlich von der Gemein- zur Fachsprache, treten andere Leistungen von Sprache in den Vordergrund: so Gegenstände nicht nur zu bezeichnen, sondern sie kommensurabel zu machen und in diesem Sinne den Gegenstand „psychisch Kranker“ erst hervorzubringen und zu konstituieren. Es liegt auf der Hand, dass die sprachlichen Verfahren dabei grundsätzlich andere sein können als bei der didaktischen Vermittlung: Bei letzterer wird etwas reproduziert, nicht produziert. Die sprachlichen Verfahren sind solche, die einerseits unter den Stichworten „Aneignung“, „Verknüpfung“ „Abweichung“ oder „Verformung“ eines Traditionsbestandes gesehen werden können (vgl. Waldenfels 21994, 51). Dieser Traditionsbestand wurde in Kap. 2.2.1 annäherungsweise versucht zu skizzieren – so die Texttraditionen oder das lexikalische Profil (fortgeführt wird dies in Kap. 4.1–4.4). mit denen sich andererseits etwas Neues und/oder Interessantes sagen lässt. In dem Umkreisen des Gegenstandes mit bedeutungsähnlichen Lexemen, in dem „Ausprobieren“ von neuen Begriffen, in Vergleichen oder in Metaphorisierungsprozessen, in der Eigensuggestion von Stimmigkeit (d. h. mit starker Markierung der eigenen Sprecherhaltung und Bewertungsperspektive) oder in einer Syntax, die fast einen Überschuss an Redundanz erzeugt, sehe ich den Versuch, neue Erkenntnisse zu formulieren (auch dazu: Kap. 4. und 5.).
63 Ich möchte vorschlagen, in dieser Sprache eine transitorische Varietät zu sehen, die immer dann hervortritt, wenn sich neue „Sprachen“ herausbilden. Der Begriff „Bildungssprache“ 29 lässt sich auf der einen Seite stellt sich auf der einen Seite im Sinne eines Reservoirs verwenden: Ihren lexikalischen Bestand bezieht sie zu einem Teil aus der historischen kulturellen Tradition der Sprachgemeinschaft, zum anderen Teil aus einem Querschnitt durch solche Fächer und Wissenschaften, die für eine ‚Theorie des Alltags(lebens)‘ von Bedeutung sind. Die bildungssprachliche Varietät läßt sich aufgrund ihres Stellenwertes im Kontinuum von Fach-, Wissenschafts-, Gemeinsprache usw. einerseits dadurch bestimmen, daß bestimmte Wissenschaften und Fächer über sie mit öffentlichem Bewußtsein kommunizieren. Sie ist andererseits kommunikativ gesichert aufgrund ihrer übergreifenden gesellschaftlichen Funktion im Bereich der ‚Öffentlichkeit‘, … (Strauß/Zifonun 1985, 89)
Auf der anderen Seite lässt sich Bildung auch im Sinne von „einer Sache Gestalt und Wesen geben“ verwenden. In diesem Sinne wird Bildung von Rorty im Anschluss an Gadamer bestimmt. „Bildungssprache“ und neuer „Erkenntnisstil“ sind dabei aufeinander bezogen: Das Unternehmen, (uns und andere) zu bilden, kann in der hermeneutischen Tätigkeit bestehen, Verbindungen zwischen unserer eigenen Kultur und irgendeiner exotischen Kultur oder Geschichtsepoche herzustellen oder zwischen unserem eigenen Fach und einer anderen Disziplin, die mit einem inkommensurablen Vokabular inkommensurable Ziele zu verfolgen scheint. Oder es kann in der „poetischen“ Tätigkeit bestehen, sich neue Ziele, eine neue Terminologie oder neue Disziplinen auszudenken, an die sich sozusagen das Gegenteil von Hermeneutik anschließt: die Reinterpretation unserer vertrauten Umwelt in der noch unvertrauten Begrifflichkeit unserer Innovationen. (1987, 360)
Zwischen dem Fortbilden und dem Bilden im eben skizzierten Sinne liegt eine gleitende Skala. Pörksen sieht Bildungssprache nicht nur als eine Vermittlungsvarietät, sondern auch als eine Spielart wissenschaftlichen Schreibens, die die Darstellungen Goethes, der Gebrüder Humboldt, Freuds, Heisenbergs und Lorenz’ prägt (vgl. Pörksen 1994, 124f.). Die Merkmale der von ihm skizzierten Bildungssprache sind eng damit verbunden, einer ‚Sache Gestalt und Wesen‘ zu geben: Sie sei sachgebunden, schließe aber Kontakt-, Appell- und poetische Sprachfunktionen nicht aus. Zudem verbinde sie u. a. Abstraktion und Konkretion, verstehe es, „komplexe Sachverhalte und dynamische Wechselbeziehungen knapp abzubilden“ (ebd., 125), verfüge über „eine große Vielfalt der Mittel – ______________ 29
Der Begriff „Bildungssprache“ ist einigen anderen Begriffen v. a. aus inhaltlichen Gründen vorzuziehen: a) Gruppensprache betont v. a. die sozialsymbolischen Funktionen interaktiven Miteinanders in Abgrenzung zu anderen Gruppen. b) Register: Beim Register handelt es sich (z. B. Ammon 1998, 227 zufolge) eher um eine situationsspezifische Varietät, die benutzt wird, um v. a. auf eine (institutionell) vorgegebene Situation zu reagieren.
64 vom Wortschatz bis zu den Gattungen.“ (ebd., 125) und habe häufig einen andeutenden, offen haltenden Charakter. Bei der Entwicklung psychiatrischen Schreibens, wie die Fallstudien in den Kapiteln 4 und 5 deutlich machen sollen, findet sich zunächst ein bildungssprachliches Profil, das im Sinne einer Fortbildung und kohärenten Verformung eines heterogenen Traditionsbestandes zu lesen ist. In der Ausbau- und Konsolidierungphase, in denen sich die Psychiatrie als Fach profiliert, löst sich die gebrauchte Sprache immer stärker von den Ursprungsdisziplinen ab und wird als eigenständig erkennbar. Trotz dieser Tatsache finden sich gerade in der Ausbauphase Texte, die der von Pörksen charakterisierten Bildungssprache nicht vollständig, jedoch punktuell entsprechen (z. B. die perspektiven- und aspektreiche Annäherung an das Beobachtete). Tendenziell wird diese, im Bereich individuellen Sprachvermögens liegende sprachliche Zugangsweise in den Folgejahrzehnten nivelliert, schließlich fast vollständig verdrängt und weicht einer homogenisierenden Fachlichkeit. Allerdings, wie das folgende Beispiel zeigen soll, finden sich Momente dieser investigativen, bisweilen geradezu tastenden und einkreisenden Bildungssprache gerade dann, wenn die Sichtweise auf bestimmte Krankheiten in einer unvertrauten Weise verbalisiert wird. Sie ist in diesem Fall jedoch unerwartet und markiert, vgl.: In denjenigen akuten Anfällen, die man früher als Manien und Melancholien bezeichnete, fehlt natürlich der Affekt nicht; er bekommt aber ein spezifisches Timbre, das oft schon die Erkennung der Krankheit erlaubt. An Stelle der klaren, tief empfundenen beim manisch-depressiven Irresein haben wir den Eindruck einer Gemütsbewegung, die nicht in die Tiefe geht. Vor allem fehlt sehr leicht die Einheitlichkeit der Affektäußerung … Der Mimik fehlt die Einheit; die hochgezogene Stirn drückt z. B. etwas aus wie Verwunderung, die Augen können mit den Krähenfüßen den Eindruck des Lächelns machen und zugleich mögen die Mundwinkel traurig gesenkt sein. Oft ist der Eindruck ungemein übertrieben, pathetisch und theatralisch im schlimmen Sinne. Daß die Steifigkeit der Bewegungen hier besonders auffällt, ist selbstverständlich. Klagen wie Jauchzen bekommen etwas Eintöniges. Alle Dinge sind leichter zu fühlen als zu beschreiben. (Bleuler 1911, 34; Hervorhebung v. d. Verf. – B-M. Sch.)
Wir finden: zuallererst den Beobachter Bleuler selbst, am Ende des Zitats legt er sogar seine Beschreibungskriterien offen, einen eindeutigen Verweis auf die Traditionsbezogenheit psychiatrischen Beobachtens (die man früher als Manien und Melancholien bezeichnete), eine Reihe von Plausibilitätsindikatoren, die die Position des Psychiaters nur bei einer oberflächlichen Betrachtungsweise zu stärken scheinen (natürlich, selbstverständlich), Formulierungen, die kontextuell angereichert und beobachtungssensitiv sind (er bekommt aber ein spezifisches Timbre),
65 Formulierungen, die zwischen Bewertung und gradueller Abstufung changieren (ungemein übertrieben, im schlimmen Sinne), eine sukzessive Erschließung des Phänomenbereichs, was sich bspw. an der Verwendung bedeutungsähnlicher Lexeme zeigt (ungemein übertrieben, pathetisch und theatralisch im schlimmen Sinne). Bleuler war zum Zeitpunkt der Veröffentlichung schon Leiter der Züricher Klink Burghoelzli, einer der wichtigsten Kliniken des 20. Jahrhunderts, und hatte schon einige wichtige Publikationen vorgelegt. Die sind alles Anzeichen eines souverän in seinem Fach arbeitenden Psychiaters. Die zitierten Zeilen scheinen nun zunächst eine andere Sprache, die der Verunsicherung, zu sprechen; es scheint kein eindeutiges Begriffssystem vorzuliegen, sondern z. T. eine Verwendung der Gemeinsprache mit ihren verschwommenen Rändern, mithin ein Vokabular, das eben nur in Bezug auf eine bestimmte Praxis explikationsfähig ist. Dieses Zitat ist auch deshalb aufschlussreich, weil sich Bleuler mit einem nicht mehr und noch nicht verstandenen Phänomen konfrontiert sieht, für das er den Begriff „Schizophrenie“ prägen wird. Allerdings kann diese Tatsache nicht darüber hinwegtäuschen, dass Bleuler überwiegend mit Fachausdrücken operiert. Wir finden bspw. Bedeutungsverengungen basierend auf metaphorischen Übertragungen (z. B. theatralisch). Man kann dies mit Foucault folgendermaßen deuten: Lange Zeit wird das, was man die klassische Psychiatrie nennt, also annähernd die, die von Pinel bis Bleuler reicht, Begriffe bilden, die im Grunde nur Kompromisse, unaufhörliche Oszillationen zwischen jenen beiden Erfahrungsgebieten sind, die das neunzehnte Jahrhundert nicht zu vereinen gemocht hat: das abstrakte Feld einer theoretischen Natur, in der man die Begriffe von der ärztlichen Natur abschneidet, und der konkrete Raum einer Internierung, die künstlich eingerichtet worden ist und in der der Wahnsinn für sich selbst zu sprechen beginnt. Es hat gewissermaßen eine „medizinische Analytik“ und eine „Internierungswahrnehmung“ gegeben, die nie miteinander gleich gewesen ist. Die Manie der Psychiater des vergangenen Jahrhunderts, unbedingt zu klassifizieren, zeigt wahrscheinlich eine immer neue Hemmung vor diesen beiden Quellen der psychiatrischen Erfahrung und die Unmöglichkeit, sie zu verbinden. (121996, 405f.)
Die Besonderheiten des psychiatrischen Fachwortschatzes sind durch den wahrgenommenen Gegenstand selbst bedingt: den „Menschen“, der in auffälliger Weise spricht, sich benimmt oder handelt. Seine Erfahrung und Betrachtung, dafür ist die gesamte Psychiatriegeschichte ein beredtes Beispiel, können immer wieder umgestaltet, wahrgenommene Typen können verändert werden. Da nach Schütz/Luckmann (1979, 279) ein Typ „gleichsam als eine Demarkationslinie [vorstellen], die zwischen den auf Grund der ‚bisherigen‘ Relevanzstrukturen ausgelegten Bestimmungen … und den prinzipiell unbeschränkten Bestimmungsmöglichkeiten der Erfahrung verläuft“ vorzustellen ist, also zwischen Bestimmtem und Bestimmbarem, zwischen Vertrautem und Vertraut-zu-Machendem verläuft, sind immer wieder Veränderungen, Typ-Modifizierungen möglich.
66 Es ergeben sich Kontextfortbildungen, deren Movens zumeist das Unvertraute ist. Trotz der prinzipiellen Bestimmbarkeit auf der Phänomenebene entwickeln sich Beschreibungsroutinen durch „koproduktive Genese“ (etwas, was zwischen Interagierenden entsteht), durch Kombination (thematische Kohärenz) und Selektion: „… als Normalität erscheint eine Betätigung in einem offen-begrenzten Kontext“ (Waldenfels 1980, 178). Trotzdem etablieren sich im 19. und 20. Jahrhundert – jenseits des individuellen Sprachvermögens (das bei den meisten Psychiatern ausgeprägt ist) und idiolektaler Verschriftlichungen –, Sprachroutinen, die auch einem nicht beteiligten Psychiater einen intersubjektiven Anschluss ermöglichen. So ähnelt die Beschreibung eines Manikers in Griesingers Lehrbuch bspw. schon stark heutigen Beschreibungen manischen Verhaltens: Das Grundleiden in den maniacalischen Zuständen besteht nemlich in der Störung der motorischen Seite des Seelenlebens, der Strebung, und zwar von der Art, dass diesselbe frei und, losgelassen, ungebunden gesteigert sich zeigt, und dass damit das Individuum das Bedürfnis erhöhter Kraftäusserung empfindet … Oder es kann, indem mit der freieren Entwicklung der Kraft des Wollens als deren unmittelbares Ergebniss eine übermüthige Stimmung, eine erhöhte Selbstempfindung und daraus eine anhaltende Selbstüberschätzung sich entwickelt, zu Erklärungsversuchen dieser Stimmungen, zu Wahnideen kommen, welche nun das geistige Leben beherrschen, und die erhöhte Willensthätigkeit in ihren Dienst nehmen. (Griesinger 21867, 276)
Die Stimmung ist situationsinadäquat gehoben und kann zwischen sorgloser Heiterkeit und fast unkontrollierbarer Erregung schwanken. Die gehobene Stimmung ist mit vermehrtem Antrieb verbunden und führt zu Überaktivität, Rededrang und vermindertem Schlafbedürfnis. Übliche soziale Hemmungen gehen verloren, die Aufmerksamkeit kann nicht aufrechterhalten werden, stattdessen kommt es oft zu starker Ablenkbarkeit. Die Selbsteinschätzung ist überhöht, Größenideen und maßloser Optimismus werden geäußert.“ (ICD 1991, 122)
Zwischen 1800 und den 1840er Jahren finden wir eine transitorische Varietät, die Gemein-, Bildungs- und Fachsprache vereinigt. Die frühen Psychiater sind keine Anthropologen, Kulturphilosophen oder Literaten und nutzen jedoch diese Disziplinen. Gleichzeitig versuchen sie auf der Folie kultureller Traditionen z. T. etwas Neues zu sagen. Diese Grundsituation zwischen kultureller Einbettung und neuen Erfahrungen-Machen halte ich für grundlegend für die Formierung neuer „Fächer“, sofern kein radikaler Paradigmenwechsel vorliegt. Im Folgenden werden Vorschläge dazu gemacht, wie man den Weg psychiatrischen Schreibens trotz des sperrigen Gegenstandes und den Schwierigkeiten seiner sprachlichen Aneignung dennoch begehen kann. Dazu wird einerseits versucht zu präzisieren, was eigentlich eine Fachsprache ist, wobei der alternative Begriff „Praxis“ eingeführt wird, und welche sprachlichen Besonderheiten jenseits der schon gezeigten das Schreiben über psychisch Kranke besitzt.
3.
Sprachliche Professionalisierung
3.1
Fachsprachenforschung als möglicher Bezugspunkt
3.1.1
Das Kartografieren von Fächern
In diesem Kapitel soll versucht werden, den Begriff „Fachsprache“ im synoptischen Durchgang durch die Fachsprachenforschung zu präzisieren. Es sollen Grundprämissen der zeitgenössischen Fachsprachenforschung referiert und diskutiert werden. Dabei wird gezeigt, dass sich die Fachsprachenforschung trotz der postulierten „kommunikativen Trendwende“ aufgrund ihres Sprach- und Wissenschaftsverständnisses eher mittelbar als Bezugsdisziplin anbietet. Ein Großteil der fachsprachlichen Veröffentlichungen orientiert sich heute an einer voll ausgebildeten und institutionell gebundenen Fachsprache, deren Merkmale sprachwissenschaftlich zu erfassen bzw. zu optimieren sind. Die Fachsprachenforschung versteht sich als eine angewandte Disziplin (vgl. Patocka 1987, 53f.; Kalverkämper 1998c, 48–56), und das in zwei Hinsichten: Rückeroberung oder Unterstützung der Fachdisziplin bei der Terminologielehre und bei der Fachlexikographie und kritische Reflexion der in den unterschiedlichen Disziplinen gebrauchten Fachkommunikation, insb. bei der Experten-/Laien-Kommunikation. Die synchrone Orientierung der Fachsprachenforschung führt dazu, sprachliches Handeln auf das Handeln in einem festen Rahmen zu begrenzen. Ein „Fach ist, was (a) als solches institutionalisiert ist, (b) von der (sozialen und sachlichen) Bedarfslage her sich als ganzheitlicher Komplex motiviert und (c) als identifizierbares Arbeitsfeld mit Effizienz funktioniert und (d) durch soziale Konvention (von welchen Gruppen auch immer) akzeptiert wird.“ (Kalverkämper 1998a, 8). Zwar sind wohl „institutionalisiert“, „ganzheitlicher Komplex“ und „akzeptiert“ – gemessen an etablierten Fächern – intuitiv plausibel. Dass ein Arbeitsfeld mit „Effizienz funktioniert“ weist jedoch über die genannten Bestimmungen hinaus, da hier ein qualitatives Merkmal angegeben wird, bei dem zweckrationale Bearbeitungsstandards anklingen. Es fällt jedoch schwer, bspw. die Sprachwissenschaft als Fach wieder zu erkennen: Zwar ist die Sprachwissenschaft an den Universitäten als „Fach“ institutionalisiert, jedoch dürfte ihre Abgrenzbarkeit gegenüber anderen „Fächern“ schwieriger sein. Dass sie allerdings mit „Effizienz“ funktioniert, ist kontraintuitiv angesichts verschiedener Lehrmeinungen, angesichts unterschiedlicher Diskurse und angesichts z. T. ganz unterschiedlicher Bearbeitungsstrategien (empirisch/theoretisch). Zuzu-
68 stimmen ist Busse (1989): „Deutlicher noch und offener als z. B. in den Naturwissenschaften stellt sich die Sprachwissenschaft als Konglomerat konkurrierender, auf unterschiedlichen bis gegensätzlichen philosophischen, wissenschaftstheoretischen oder forschungsgeschichtlichen Voraussetzungen beruhender Theorien, Modelle und Erkenntnisziele da.“ (ebd., 27). Die postulierte „kommunikative Wende“ in der Fachsprachenforschung rückt das Handeln von Spezialisten in unterschiedlichen Kommunikationssituationen in den Mittelpunkt (vgl. Hoffmann/Kalverkämper 1998, 355– 372). Ausdruck dieser Trendwende ist u. a. die häufig zitierte Definition von Hoffmann: „Fachsprache – das ist die Gesamtheit aller Mittel, die in einem fachlich begrenzbaren Kommunikationsbereich verwendet werden, um die Verständigung der dort tätigen Fachleute zu gewährleisten.“ (1988, 24). Die mit dem Begriff „Verständigung“ mögliche Orientierung an der Dynamik sozialer Interaktionen, in denen Fachlichkeit erzeugt werden könnte, wird allerdings von der Statik des gebrauchten Fachbegriffs überlagert. Ein „Fach“ ist etwas, was von anderen erkennbar abzugrenzen ist, da es über eigene, auf den sozialen/sachlichen Zweck des Faches passgenau abgestimmte Handlungsroutinen verfügt, die, blickt man auf weite Teile der Fachsprachenforschung, von den Interagierenden eher reproduktiv vollzogen als gestaltet werden. Die Vorstellung eines in diesem Sinne festen Rahmens korreliert mit der Vorstellung, dass Fächer horizontal und vertikal gegliedert seien, bzw. sich als Zusammensetzung von solchen Faktoren wie „Mündlichkeit/ Schriftlichkeit“, „Kommunikationsdistanz“ und „Kommunikationsziel“ bestimmen ließen (vgl. v. Hahn 1983, 72f., Fluck 51996, 20f., Arntz/Picht 1989, 10–22, Roelcke 1999b, 38–42) und sich hinsichtlich charakteristischer Kommunikationssituationen festlegen ließen. Kriterien für die vertikale Schichtung sollen nach Hoffmann sein: „(a) die Abstraktionsstufe, (b) die äußere Sprachform, (c) das Milieu, (d) die Kommunikationspartner u. a. Aus der Berücksichtigung ergibt sich eine unterschiedliche Zahl von Schichten und Zwischenschichten für die einzelnen Fachsprachen, die sich auch durch bestimmte Textsorten, z. B. Zeitschriftenaufsatz, Patentschrift, Bedienungsanleitung, belegen lassen.“ (1998b, 191). Durch die Festlegung unterschiedlicher Rahmen, die mündliches und schriftliches Handeln determinieren und ein funktional differenziertes Textsortensystem erzeugen, ergeben sich auch differenzierte Verwendungsmodalitäten der Fachlexik. Im Zentrum der Beschäftigung steht der Terminus, der sich durch Eindeutigkeit/Präzision und genaue Denotationsvorschriften auszeichnen soll; „vertikal“ absteigend nimmt dann beim Fachjargonismus, bei der Fachumgangssprache, die Eindeutigkeit ab. Dabei stehen die Rahmenbedingungen des Kommunizierens, so die Wissensvoraussetzungen der Interagierenden im Vordergrund, nicht aber, wie vielleicht denkbar, wie sich aus dem Sprachgebrauch heraus differenzierte Verwendungsmodalitäten der Fachlexik ergeben: „Werden in der Fachkommunika-
69 tion professionelle Fachausdrücke verwendet, wird ein systematisiertes Wissen über die spezifischen Sachbereiche, ein professionelles Wissen, das nicht ad hoc, sondern von den Agenten in einem institutionalisierten Ausbildungsprozess erworben wird, aktiviert. Die professionellen Fachausdrücke sind meist terminologisch.“ (Rehbein 1998, 693). Die Entstehung des lexikalischen, syntaktischen und textuellen Profils einer Fachsprache wird häufig auf eine Auswahl – relativ zum Kommunikationsgegenstand – zurückgeführt. Dabei koppelt sich der Begriff „Auswahl“ an die Konzeption der Fachsprache als Subsprache sowie an die Funktionalstilistik. Eine Fachsprache wird als „eine besondere kommunikativ und inhaltlich determinierte Auswahl sprachlicher Mittel aus dem Gesamtbestand der Sprache“ (Hoffmann 1984, 47) gesehen oder als eine: „Variante der Gesamtsprache, die der Erkenntnis und begrifflichen Bestimmung fachspezifischer Gegenstände sowie der Verständigung über sie dient und damit den spezifischen kommunikativen Bedürfnissen im Fach allgemein Rechnung trägt.“ (Möhn/Pelka 1984, 26ff.). Die Konzeption einer Subsprache 1 die „aus dem vollständigen Potential aller sprachlichen Zeichen und konstitutiven Regeln für Sprachhandlungen (langue)“ (Hoffmann 1998b, 190) auswählt, was zur Häufigkeit oder Seltenheit bestimmter sprachlicher Erscheinungen führt, lässt durch die Orientierung an einem diffusen status quo allerdings unbestimmt – vernachlässigt man den etwas schillernden Verweis auf kommunikative Bedürfnisse u. ä. –, von welchen möglichen Maximen die Auswahl oder ihr Gegenteil, die Vermeidung von bspw. expressiven Sprachhandlungen, geleitet wird oder worden ist. 2 Wie und in welchem Sinne ausgewählt wird, ob das Auswählen eine intentionale Handlung ist, bleibt vage. Die m. E. mit dem Subsprachenkonzept verbundene Unidirektionalität (Auswahl von x aus y) verschiebt sich mit dem Varietätenkonzept auf eine durch den Gebrauch stabilisierte Interdependenz von Fach- und Gemeinsprache: „Eher ist es so, daß sich die fachsprachlich signifikanten Merkmale einfügen in das gesamtsprachliche Ganze und ihre Signifikanz durch Präferenz im Gebrauch und demnach mit deutlicher Funktionenbesetzung – nämlich auf das Signal ‚fachsprachlich‘ hin – erlangt haben.“ (Kalverkämper 1998b, 35). Mit dem, Varietätenkonzept (vgl. z. B.: Nabrings 1981, Löffler 21994) scheint zunächst einmal gewonnen, dass sich die Vorstellung einer Fachsprache von der mit dem Begriff „Subsprache“ verbundenen Homogenität sprachlicher Erscheinungsformen zugunsten eines eher heterogenen Bestandes löst. Ihre fachsprachliche Markiertheit im Gesamtgefüge der Sprache ergibt sich durch die ______________ 1 2
Zur allgemeinen Kritik am Subsprachenkonzept, siehe Ammon (1998, 219). Die durch den Handlungsgegenstand und die Handlungsabsicht gesteuerte Auswahl sprachlicher Elemente dominiert auch die sog. Funktionalstilistik. Der Funktionalstil wird von Gläser (1998, 200) definiert als: „Ergebnis der Auswahl, Anordnung und Anpassung bestimmter Sprachmittel und Kompositionsmuster.“
70 Orientierung an solchen Stilprinzipien wie „Sachlichkeit“, „Neutralität“, oder „Objektivierbarkeit“. Dies wird durch die Orientierung an bestimmten Sprachfunktionen begründet und damit wiederum an schon bestehende Fächer zurückgebunden. Während Varietäten, seien es Dialekte, Soziolekte etc., in ihren Erscheinungsformen in einem „Varietätenraum“ zusammenwirken und aufeinander bezogen sind (vgl. Mattheier 1984, 772, Steger 1988a, 311, Löffler 21994, 86), scheint sich für die Varietät „Fachsprache“ nur die Korrelation mit „sozialem Status“ und eine Betonung ihrer sozialsymbolischen Funktion anzubieten, auf die dann die „multilektale“ Kompetenz des Sprechers projiziert wird. Dass die Vorstellung von „Varietäten“ wiederum an die Statik des Fachbegriffs gebunden bleibt, macht folgendes Zitat deutlich: Fachsprachen können als Varietäten definiert werden. Für sie gelten die genannten Charakteristika der Varietäten: Fachsprachen liegen auf der Dimension der funktional-zweckhaften Leistung der Sprache, haben aber darüber hinaus auch eine sozialsymbolische Funktion. Die (verschiedenen) Fachsprachen bilden eine Varietätengruppe im Varietätensystem des Deutschen. Einzelne Fachsprachen sind demnach Varietäten neben anderen. Fachsprachen sind nicht in sich homogen, sondern ebenfalls gegliedert. … Die Ursachen für die Genese von Fachsprachen liegen im außersprachlichen Bereich. (Becker 2001, 87; Hervorhebung v. d. Verf. – B-M. Schuster)
Der Fachbegriff wird in der synchronen Fachsprachenforschung von räumlichen Vorstellungen überlagert: Fächer sind voneinander „abgezäunte“ Gebiete. Damit korreliert eine Zugangsweise zum Fachlichen, die ich als kartografisch bezeichnen möchte. Dabei leitet eine Kartierung von Kommunikationssituationen zu den mit diesen verbundenen Gesprächs- und Texttypen und diese wiederum zu dem jeweils realisierten Fachwortschatz und auch zu den syntaktischen Spezifika über (vgl. z. B. von Hahn 1983). Dieser Zugriff erlaubt einen synchronen Schnitt durch die bekannte fachliche Welt, in die sich leicht „unbekannte Länder“ integrieren lassen (vgl. Einleitung, Kap. 1.2), ermöglicht jedoch kaum einen Zugang zu den Veränderungen des schon Bestehenden. Das mit einer kommunikativen Trendwende möglicherweise zu verbindende Potential wird jedoch zumeist nicht ausgeschöpft. Ein produktiver Zugriff auf die Dynamik des Kommunizierens wird v. a. in den gesprächsanalytischen Forschungen zur Experten-Laien-Kommunikation und zum Wissenstransfer (z .B. durch Vertikalitätsuntersuchungen wie Busch 1999) erzielt. Im Blickpunkt steht außerhalb der Gesprächsanalyse nicht, was in der Institution passiert, wie sich das sprachliche Handeln in einer Institution verändert oder wie sich die Zwecke einer Institution überhaupt herausgebildet haben. Das Handeln von Akteuren ist nur insoweit präsent, wie es eine Symptom-, bzw. Abgrenzungsfunktion besitzt (z. B. durch das Herstellen fachlicher Autorität). Die damit verbundene Bestimmung des Status der Fachsprache als Gruppen- oder
71 Sondersprache hat bisher durch seine idealtypischen Modellierungen m. E. nicht dazu beigetragen, die Prozesse zu beschreiben, die bspw. zu Veränderungen und Erfindungen oder zur Entstehung und Fortentwicklung von Fachsprachen beitragen. Außerdem verändert die „kommunikative Orientierung“ kaum die Vorstellung von Textsorten, die m. E. oft auf ein Medium „funktionaler Dienstleistung“ reduziert werden (siehe dazu Kap. 3.1.2). Jedoch ist auch zu betonen, dass durch die kommunikative, z. T. verbunden mit einer eher psycholinguistischen Orientierung, die Rezeptionsbedingungen von Texten, ihre Verstehbarkeit, stärker ins Blickfeld gerückt und gerade die Wissenssensivität der Terminiverwendung herausgearbeitet werden konnte, die die kommunikative Reichweite von Fach- und Wissenschaftssprachen einschränkt: Termini sind folglich textuell kondensierte Instruktionen an den Rezipienten, daß er an der Textstelle, an der der Terminus steht, „expansiv“ verstehen und spezifisches Vorwissen einbringen soll, und zwar in der Weise, daß der Rezipient einen möglichst gleichen Systembezug zum Sender herstellt. Während die nichtterminologisierten Wörter eine semantische Einengung durch die Determinationen im Textverlauf erfahren – von der weitgespannten, vagen, sozialen und abstrakten Code-Bedeutung zu der engumgrenzten, präzisen, individuellen und konkreten Text-Bedeutung … – veranlassen die Termini im Text, ganz im Gegenteil ihr Verständnis nicht primär aus dem umgebenen Kontext herauszuholen, sondern es als Vorwissen, als Wissenshorizont, als systematisierter Texthintergrund, als Modalität spezifischer Sehweise präsent zu haben. (Kalverkämper 1983, 155)
Das kartografische, am synchronen Schnitt orientierte Verfahren überlagert nicht nur die kommunikative Dynamik generell, sondern scheint auch den Blick auf das historische Gewordensein von Fächern zu verstellen. Dort, wo die Genese von Fächer thematisiert wird, zeigt die Vorstellung einer „wissenschaftlich-rationalen Kolonialisierung der Welt“ (vgl. Geist 1992, 243). Das ist dadurch bedingt, dass die Fachsprachenforschung sich eher an Naturwissenschafts- und Techniksprachen orientiert (vgl. Ylönen 2001, 45). Es überwiegt zudem ein progressionsorientiertes Modell, das den Mythos „Aufklärung“, nicht aber die „Dialektik der Aufklärung“ fortzuführen scheint: „Fachsprachen entstehen und entwickeln sich im Prozess der Arbeitsteilung und im Gefolge der ständigen Höherentwicklung der Produktivkräfte und der Vervollkommnung der Produktionsprozesse, aber auch im Zusammenhang mit Fortschritten im abstrakten theoretischen Denken.“ (Hoffmann 1988, 117). Unverkennbar ist hier ein bestimmtes Sprachverständnis, dass Sprache gegenüber technischen Entwicklungen eine nachgeordnete Rolle zuweist. 3 ______________ 3
Die fachsprachlichen Veröffentlichungen durchziehen Äußerungen wie die folgenden: „Die Geschichte der Fachsprachen und Fachtexte ist unlösbar verbunden mit der Wissenschafts- und Technikgeschichte: Jene ist insofern geradezu ein Teil von dieser, als ein bestimmter Entwicklungsstand von Technik/ Wissenschaft die
72 Vielmehr bestimmen Äußerungen wie „mit der Ausdifferenzierung der Gesellschaft differenzieren sich auch Fachwortschätze aus“ das Bild, geleitet von einer möglichen Höherentwicklung (vgl. kritisch dazu auch Ylönen 2001, 32). Die sprachliche Formierung von relevanten Teilausschnitten der Wirklichkeit, die soziale Konstruktion von Wirklichkeit wird allenfalls am Rande wahrgenommen. Nach Geist (1992, 243) entsteht eine „paradoxale“ Situation: „Zwei entgegengesetzt gerichtete Bewegungen also, die eine etwas paradoxale Situation schaffen: eine stark expandierende Fachsprachenforschung, die fest in einem Verständnis von Fachlichkeit verankert ist, das im wissenschaftlichen Denken der 80er Jahre in steigendem Maße problematisiert wird.“ 4 Fachlichkeit ist, wie Kalverkämper selbst auch bemerkt, ein nicht definierter, bzw. zirkulär definierter Begriff, der sich am Vorfindbaren orientiert – mögliche Grenzbereiche des Fachlichen bleiben außen vor. So entsteht bspw. die Vorstellung ein wirklich fachsprachlicher Text sei einer, der möglichst viele Termini, Abkürzungen, Symbole, eine klare Makrostruktur, ein dem Zweck des Textes adäquates sprachliches Handeln sowie eine reduzierte Syntax mit Deagentivierungsschüben oder ähnlichem hervorbringe. Das soll allerdings nicht heißen, dass die Fachsprachenforschung beim Kartieren von Fächern stehen bleiben muss. Vielmehr zeigt gerade die verstärkte Auseinandersetzung mit der Fachlexik (z. B. vgl. Fraas 1998, 428– 438), dass Synonymie, Polysemie oder Vagheit zumindest einen Verweis auf konkurrierende Lehrmeinungen und damit auch auf die historische Gewordenheit von Fächern enthalten. Dabei zeigt sich auch, dass, sobald auch nur die unmittelbare Vergangenheit thematisiert wird, besonders in Hinblick auf Geistes- und Sozialwissenschaften, eine Differenzierung möglich wird. 5 Da sich vom historischen Blickwinkel aus – und dies gilt nicht nur für die ______________
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5
Bereitstellung entsprechender sprachlicher und textueller Verfahren erfordert und umgekehrt die Entwicklung dieser Verfahren Entwicklungsschübe in der betreffenden Technik/Wissenschaft auslösen kann. Der fachsprachlichen Auswirkung eines ‚Paradigmenwechsels‘ (im Sinne Kuhns) wäre nachzugehen.“ (SchliebenLange/Kreutzer 1983, 17) Die Ausblendungen auch der aktuellen Fachsprachenforschung sind m. E. bemerkenswert: Nicht nur postmodere Vorstellungen vom „Ende der großen Erzählungen“ (Lyotard 1986, 1987; vgl. auch Welsch 1990) und die Chaostheorie mit ihrer These vom Wechselspiel von Ordnung und Unordnung, sondern auch den „philosophischen Diskurs der Moderne“ zeichnet insgesamt aus (sensu Habermas 9 1988; vgl. auch: Wellmer 1985), die naturwissenschaftliche Vergegenständlichung der Welt in Frage zu stellen. Zur Entstehung der Naturwissenschaftssprache gibt es allerdings eine Reihe von Untersuchungen, die sich jedoch stark auf den Fachwortschatz und die Diglossie konzentrieren (eine Zusammenstellung der Veröffentlichungen findet sich bei Pörksen 1998, 193–210).
73 Psychiatrie – Prämissen der Fachsprachenforschung hinterfragen lassen, möchte ich im Folgenden nicht nur zeigen, welche Hinweise sich aus der Fachsprachenforschung heraus für die Genese der psychiatrischen Fachsprache ergeben, sondern kurz auch begründen, warum einer diachron angelegten Fachsprachenforschung eine bedeutende Rolle zukommen könnte.
3.1.2
Zentrum und Peripherie der Fachsprachenforschung
Die Fachsprachenforschung wird, vermutlich durch die dominante Beschäftigung mit naturwissenschaftlich-technischen Fachsprachen, von einer bedeutungsrealistischen Sprachauffassung geprägt, die dem Fachwortschatz eine eindeutige Gegenstandsbindung und einen eindeutigen Benennungs-/ Taufakt zuweist. Zuzustimmen ist Gardt: Insgesamt vermittelt die Lektüre von Texten der Fachsprachenforschung jedenfalls den Eindruck, daß die Fachsprache als die sachlichste, ontologisch zuverlässigste aller Varietäten gilt, als diejenige Form der Sprache, bei der erkenntnistheoretische Relativierungen unangebracht sind, weil sie unserer gesamten alltäglichen Erfahrung der empirischen Präsenz der Dinge zuwiderzulaufen scheint. (1998, 33; vgl. auch Roelcke 1995, 394–409)
Verbunden mit dieser realistischen Sprachauffassung ist das Eindeutigkeitspostulat, 6 das aus der Gegenstandsbindung resultiert und sich an wohl definierten Termini orientiert, die in ihrem intersubjektiven Gebrauch festgelegt seien (vgl. v. Hahn 1998, 376ff.). In die gleiche Reihe sind Begriffe wie „Explizitheit“ und „Ökonomie“ zu stellen, die jedoch nicht für die Lexik, sondern auch für die (Text)Syntax gelten sollen. Der „Explizitheit“ sind sprachliche Merkmale zuzurechnen, die nicht exklusiv für Fachsprachen gelten: Umgang mit Synonymen, klare Identifizierbarkeit von Referenten und eine klare Inferenzumgebung sowie ein rezeptionsstrategischer Umgang mit Prä______________ 6
Zweifel an den Grundpositionen werden auch von Roelcke formuliert: „Denn die Feststellung, daß Vagheit, Mehrdeutigkeit und Kontextabhängigkeit als Eigenschaften von Fachwörtern anzusehen sind, welche, wenn auch in unterschiedlicher Ausprägung und Gewichtung, jederzeit in nahezu jeder Fachsprache auftreten können, legt den Schluß nahe, daß diese Eigenschaften nicht als mehr oder weniger unvermeidliche Defizite fachsprachlichen Wortgebrauchs anzusehen sind, so wie dies einige Fachsprachenforscher glauben machen. Im Gegenteil: Vagheit, Mehrdeutigkeit und Kontextabhängigkeit von Fachwörtern erscheinen vielmehr als Eigenschaften, die einen wichtigen Beitrag zur fachlichen Kommunikation leisten. Worin dieser Beitrag besteht, ist bisher kaum untersucht worden; ein möglicher Ansatzpunkt liegt meines Erachtens darin, einen vagen Fachwortgebrauch als Assoziation der fachsprachlichen Kommunikation hinsichtlich ihrer Gegenstände und Sachverhalte zu betrachten.“ (1995, 408f.)
74 suppositionen (vgl. v. Hahn 1998, 383ff.). „Ökonomie“ bezieht sich nach Oksaar (1998, 391ff.) ebenso auf Kürzungen oder Termini wie auf den Gebrauch von Verbal- und Prosubstantiven, Partizipialkomposita oder auf den relativ geringen Gebrauch von Subjunktionen. In den letzten zwei Jahrzehnten bekommt dieses Bild, gerade auf der lexikalischen Ebene, Schattierungen: Es ist verschiedentlich herausgearbeitet worden, dass es synonyme Fachbegriffe gibt, die auch in den Naturwissenschaften auf unterschiedliche Sehweisen, Definitionsstandpunkte, jedoch auch auf das historische Gewachsensein dieser Disziplinen verweisen: Nicht nur für die Medizin gilt, daß Mehrfachbenennungen unvermeidbar und für den Erkenntnisgewinn innerhalb eines Faches sogar unverzichtbar sind. Die unterschiedlichen Benennungen heben jeweils auf einer bestimmten Stufe des Erkenntnisprozesses verschiedene Gesichtspunkte des zu benennenden Objektes oder Sachverhalts hervor. Auf diese Weise können Aspekte unterschiedlich gewichtet und gegebenenfalls gewertet werden. Erscheint eine tradierte Benennung dem gegenwärtigen Erkenntnisstand nicht mehr angemessen, sind Fachleute oft bemüht, stattdessen eine neue, durch tradierte Lösungsvorstellungen „unbelastete“ Benennung einzuführen. In diesem Fall existieren beide Benennungen eine Zeitlang nebeneinander. … Fachlicher Meinungsstreit findet wesentlich auf der Ebene der begrifflichen Klärung, Festlegung oder auch Uminterpretation statt. Auf diese Weise entsteht Polysemie, d. h. formal gleiche Fachwörter weisen verschiedene Bedeutungsvarianten auf. (Fraas 1998, 432, ähnlich auch: Wiese 1984, 37) 7
Nach Wiese (1984, 33) ist die medizinische Fachsprache durch eine große Bezeichnungsvielfalt gekennzeichnet. Verschiedentlich ist auch darauf aufmerksam gemacht worden, dass bspw. der Gebrauch von anatomischen Bezeichnungen stark von der Verwendungssituation gesteuert wird: „Der Wortschatz des Klinikers ist nicht einfach kleiner, sondern anders als der des Anatomen. Anstelle der internationalen Nomina anatomica bemüht er vielmehr deutsche und eindeutschende Ausdrücke.“ (vgl. Lippert 1974, 506, zit. n. Wiese 1999, 1280; vgl. auch Wiese zur Unterscheidung von Klinikern und Praktikern, wissenschaftlicher und Alltagskommunikation 1984, 66f.). Außerdem verwendeten Kliniker „sowieso eine Mischung der verschiedenen Nomenklaturen“ (Lippert 1993, 4). Fraas führt zu diesem Widerspruch aus: Dieser Widerspruch besteht darin, daß Termini und Terminologien erklärtermaßen nach Verbesserung der Fachkommunikation streben, dabei aber sowohl einen idealistischen Terminusbegriff als auch unrealistische Vorstellungen von Fachkommunikation zugrunde legen. Synonyme und Uneindeutigkeiten werden als Haupthindernis der Verständigung abgelehnt. Der heuristische Wert sprachlicher Unschärfe wird zumeist nicht gesehen, Eindeutigkeit und Exaktheit von Termini als absoluter Anspruch vertreten. (1998, 429) ______________ 7
Für die Sprachwissenschaft nennt Fraas (ebd., 429) die polyseme Verwendung des Begriffs „Diskurs“.
75 Entsprechend wird in Anlehnung an Pinkal (1985) verstärkt die Unvermeidlichkeit von Vagheit herausgearbeitet und betont, dass Vagheit die Verständigung nicht belaste, sondern z. T. sogar erst ermögliche. Von Hahn (1998, 379ff.) führt den Nachweis, dass illokutive Unbestimmtheit, syntaktische Ambiguität, referentielle Vieldeutigkeit, Porosität oder auch Inexaktheit durchaus in Fachsprachen anzutreffen sind. Ferner wird herausgestellt, dass der Bezeichnungsbedarf in Fachsprachen weder ausschließlich durch Neuschöpfungen noch durch einen konsistenten Aufbau von Terminologiesystemen geleistet wird. Fraas (1998, 435) weist auf Entlehnungsvorgänge, Metaphorisierung, Metonymie und Wortbildungsverfahren, aber auch auf Prozesse der Terminologisierung und Determinologisierung hin. Sie zeigt auch, was in den folgenden Untersuchungen wesentlich ist, das Prestige lexikalischer Strukturen auf (vgl. ebd., 435). Eher am Rande des fachsprachlichen Diskurses hat sich spätestens seit den, auch in der deutschsprachigen Linguistik breit rezipierten Veröffentlichungen von Lakoff/Johnson („Our ordinary conceptual system, in terms of which we think and act, is fundamentally metaphorical in nature“– 1980, 31; Lakoff 1987)8 die Erkenntnis durchgesetzt, dass metaphorische Rede nicht nur unvermeidlich, also keine Form devianten Sprachgebrauchs ist, sondern auch zur Formierung von Fächern beiträgt (auch in der Linguistik, wie Busse 1989, 27–38, Brünner 1987, 100–119 und Homberger 1994, 34–47 nachgewiesen haben). Gessinger (1992) führt aus: Nach meinem Verständnis handelt es sich bei Metaphern um die auf einen einzigen Redegegenstand fokussierte zweifache Anschauungsweise, die zu einer Rekonzeptualisierung von Wirklichkeit führt. Die Dynamisierung kognitiver Prozesse auf der Basis eines sinnlichen Substrats und ihre gleichzeitige sprachliche Fokussierung auf die Sprachform Metapher scheint mir ein ganz wesentlicher Aspekt zu sein, der zahlreiche Metaphern in Texten empirischer Wissenschaften auszeichnet, Metaphern sind in diesem Sinne eine besondere Form anschauenden Denkens … (ebd., 34). Metaphern sind eine besondere Form anschauenden Denkens – oder einer sprachlichen Extension der Sinne und in gewissen theoretischen Kontexten deshalb nicht ersetzbar, weil sie eine notwendige Versinnlichung des Gegenstandes garantieren.“ (1992, 45; vgl. in diesem Sinne auch Geist 1992, 262)
Jäkel (2003, 229–252) kann nachweisen, dass mit unterschiedlichen Wissenschaftstraditionen auch Metapherntraditionen verbunden sind. So dominiere bei Descartes die Vorstellung von Wissenschaft als Reise, bei Kant die Vorstellung von Wissenschaft als Gebäudebau, während bei Popper die Wissenschaft eher als bewaffneter Kampf um das Überleben der „fittesten“ Theorie gesehen werde (vgl. auch: Liebert 1996b, 103–139; Netzel 2003; Scholz ______________ 8
Einen zusammenfassenden Überblick über die Rezeption von Lakoff/Johnson gibt Jäkel (2003, 13–85) in seinem Buch Wie Metaphern Wissen schaffen.
76 1983, 23–33). 9 Metaphern sind aufgrund ihrer Eigenschaften unentbehrlicher Bestandteil der Wissenschaften. Angesichts der Bedeutung von Metaphern in den Wissenschaften und bei der „Fabrikation“ wissenschaftlicher Erkenntnis (vgl. Knorr-Cetina 1991) ist es nicht nachvollziehbar, von einem Metapherntabu zu sprechen (z. B. Kretzenbacher 1995, 15–39), zumal in der Philosophie schon lange die Bedeutung von Metaphern für Einzelwissenschaften thematisiert wird (z. B. Hesse 1966). Nicht nur das Vorhandensein von Metaphern ist bei der Untersuchung von Fachsprachen relevant, sondern auch die Tatsache, dass die Metaphernselektion ein Movens der Verfachsprachlichung ist, da Metaphern oft in einer anderen Gebrauchsvariante als in der Standardsprache verwendet werden und somit einer Terminologisierung offen stehen. Vagheit, Metaphorisierungsprozesse und die historische Dimension von Synonymen/Polysemen sind erste Bausteine, mit denen das sprachliche Profil der psychiatrischen Texte umrissen werden kann. Die Fachsyntax ist noch schwieriger zu beschreiben, weil sie anders als der Fachwortschatz nicht zur Abgrenzung einzelner Fächer beiträgt und textgebundene Präferenzen für bestimmte syntaktische Muster (z. B. der ‚Nominalstil‘) sich in ganz unterschiedlichen Kommunikationsbereichen finden lassen. Die Fachsyntax ist demnach nicht qualitativ, sondern eher quantitativ zu bestimmen. Es gehört mittlerweile zu den Topoi der Fachsprachenforschung, dass die Syntax über mehr Frequenz- als Bestandsspezifika verfüge (vgl. v. Hahn 1983, 111; Oksaar 1998, 395). Als gut abgesichert darf gelten, dass sich in Fachsprachen eine starke Tendenz zu integrativen sprachlichen Verfahren zeigt (im Sinne von Raible 1992). In der neueren Fachsprachenforschung spielen auch Fachtextsorten eine wichtige Rolle (vgl. zu den unterschiedlichen Phasen der Entwicklung z. B.: Baumann 1995, 19–34). Auch hier wird eine voll ausgebildete und funktionstüchtige Fachsprache vorausgesetzt: Der Fachtext ist Instrument und Resultat der im Zusammenhang mit einer spezialisierten gesellschaftlich-produktiven Tätigkeit ausgeübten sprachlich-kommunikativen Tätigkeit; er besteht aus einer endlichen, geordneten Menge logisch, seman______________ 9
Dass gerade Mediziner, besonders in der Kommunikation mit Laien, metaphernreich sprechen und damit auf metaphorisch strukturierte Alltagstheorien (z. B. auf die Vorstellung, dass das Herz eine Pumpe sei) rekurrieren, die gleichzeitig auch von Patienten benutzt werden, zeigt die Beiträge im 2002 herausgegebenen Band Krankheit verstehen von Brünner/Gülich (besonders ebd., 17–95). Da die Studien synchron und an der mündlichen Kommunikation orientiert sind, liegt das Hauptinteresse der Herausgeberinnen in der Ermöglichung der Interaktion zwischen Laien und Experten. Nicht nur mündliche, sondern auch schriftliche Vermittlungsvarietäten weisen einen ähnlichen Metaphernreichtum auf (vgl. Liebert 1992; 1996, 789–811; 1996b, 103–139).
77 tisch und syntaktisch kohärenter Sätze (Texteme) oder satzwertiger Einheiten, die als komplexe sprachliche Zeichen komplexen Propositionen im Bewußtsein des Menschen und komplexen Sachverhalten in der objektiven Realität entsprechen. 10 (1988, 126; siehe auch: Hoffmann 1998b, 196f.)
Ähnlich wie in der Textlinguistik selbst lassen sich in der Fachtextlinguistik Versuche unterscheiden, Fachtextsorten v. a. hinsichtlich funktionaler Kriterien (z. B. Löning 1981, 79–92; Göpferich 1995) oder hinsichtlich einer Kombination aus strukturell-formalen (textinterner) und funktionalen (textexterner) Kriterien zu bestimmen. Dadurch, dass der fachliche Rahmen gesetzt und letztlich auf textexterne Bindungen projiziert wird, wird sowohl nicht deutlich, was – außer der lexikalischen Gestaltung – das Fachliche am Fachtext ist und welche Textualitäts- und Kohärenzkriterien vorhanden sein müssen, um sie von anderen Gebrauchstextsorten abzugrenzen. Das Unterscheidungskriterium zu anderen Texten ist in der oben zitierten Definition lediglich die „spezialisierte, gesellschaftlich-produktive Tätigkeit“ und die „komplexen Sachverhalte“, was Knobloch nicht unberechtigt als „vollmundige Leerformel“ (1998, 446) bezeichnet. Es bleibt dabei eine Korrelation von Fachexterna (Kommunikationsumgebung etc.) und Fachinterna erhalten, so dass zwar fachsprachliche Spezifika in den Zusammenhang von Textualität gerückt werden, sie jedoch schon vorher als definiert gelten. Die Anforderungen an die Genauigkeit werden postuliert, ohne rückbezogen zu werden. So wird nicht gesagt, welche Makrostruktur die Anforderungen an Genauigkeit erfüllt und welche im Gegensatz dazu nicht. Es wird zudem nicht gesagt, wie ein Text gestaltet sein müssen (z. B. redundant?), um den geforderten Grad von Genauigkeit zu erreichen und wie präsuppositionslastig ein Text sein darf oder sollte. Ebenso unbeantwortet bleibt die Frage, wie sich die Kohärenz unterschiedlicher Fachtexte unterscheiden kann. Gerade interessante Fälle von Fachtextsorten (v. a. geisteswissenschaftliche Texte) werden ausgeblendet. Nach Knobloch sind die angegebenen Kriterien für Fachlichkeit v. a. diejenigen, die sich in einem Fach eingespielt hätten (sie sind also zirkulär): ______________ 10
Da die Definition von Fachtexten, wie Hoffmann selbst erkennt, einzelne Fachtextsorten nur unzureichend voneinander unterscheidet, schlägt er die sog. kulminative Textanalyse vor, die sich auf Makrostruktur, Kohärenz (im Sinne von Koreferenz), Textsyntax (Prädikats- und Subjektphrasen, Satztypen und Typen der aktuellen Satzgliederung), Lexik (nach Wortbildungstyp und Herkunft), grammatische Besonderheiten (Kasus und Numerus der Substantive) und Symbole, Ziffern stützt. Ergänzt wird dies durch eine funktionale Matrix mit charakteristischen Kommunikationsverfahren, Kommunikationssituationen und Kommunikationsgegenständen. In der Korrelation der Daten soll sich eine Unterscheidung von Fachtextsorten ergeben.
78 Die sog. textinternen oder strukturellen Kriterien der Fachlichkeit (Stil, Terminologie, Gliederung, Progression etc.) stehen für die andere Hälfte der Paradoxie. Oder ist ein gekonnter Essay, der ohne Gliederungen a la 5.3.4.1, ohne terminologischen Ballast und ohne didaktische Krücken auskommt, kein Fachtext, wenn er ein komplexes wissenschaftliches Problem einem breiteren Bildungspublikum nahe bringt? (Knobloch 1998, 445)
Da sich auch die Fachtextlinguistik nur am Vorgefundenen orientiert, bleibt auch die Genese von Texttraditionen und expliziten Textnormen unberücksichtigt, auf die in der Fachtextlinguistik häufiger nur verwiesen wird, z. B.: Die Textsorte ist ein historisch entstandenes, gesellschaftlich akzeptiertes, produktives und in der Regel beherrschtes, graphisch oder akustisch materialisiertes Textverarbeitungsmuster zur geistig-sprachlichen Verarbeitung eines komplexen Sachverhaltes. … Die Fachtextsorte ist ein Bildungsmuster für die geistig-sprachliche Verarbeitung eines tätigkeitsspezifischen Sachverhalts, das in Abhängigkeit vom Spezialisierungsgrad von kommunikativen Normen bestimmt ist, die einzelsprachlich unterschiedlich ausgeprägt sein können. (Gläser 1990, 29; Hervorhebung v. d. Verf. – B-M. Sch.)
Noch 1998 fordert Kalverkämper: Die Chronizität (Diachronie/Synchronie) muß ein unabweisliches Anliegen der Fachsprachenforschung sein, indem sie die historische Komponente mit einbezieht, und dies nicht nur als relativ eigenständige Disziplin (im Sinne einer historisch-fachsprachlich interessierten Philologie: Artes-Forschung, mittelalterliche Fachprosa-Forschung; …). Selbstverständlich sind Fachtexte auch Vorkommen in Text- und Textsortentraditionen, sind die Manifestationen von Konventionen, die sich ja ausschließlich historisch, in Zeitausdehnung, definieren. (1998b, 55, Hervorhebung v. d. Verf. – B-M. Sch.)
Synchron lässt sich eine Textsorte hinsichtlich rekurrenter funktionaler und formaler Merkmale zwar beschreiben, der Prozess von der Normalisierung über die Standardisierung bis hin zur potentiellen Normierung eines Textes bleibt bisher jedoch zumeist unbeleuchtet. Die historische Fundierung dieses Prozesses ist nicht nur eine mögliche Ergänzung der Fachsprachenforschung, sondern ermöglicht auch eine Einschätzung des Grades bspw. der Standardisierung und damit auch potentieller Gestaltungsspielräume. Ihre Bestimmung ist jedoch ohne die Analyse von Texttraditionen und des textkulturellen Umfelds kaum möglich. Anhand schon vorliegender Längstschnittuntersuchungen wird deutlich (so: Ylönen 2001, Haßler 1999, 2441–2451), dass Fachtextsorten keine statischen Größen sind und sich ständig verändern, obwohl sich bspw. institutionelle Zwecke nicht oder nur kaum verändern. Nicht nur schon etablierte Textsorten können verändert werden, sondern es können Textsorten mit verbindlichem Charakter aus dem Schreiben heraus auch erst entstehen.
79 Im Folgenden wird nun gezeigt, welche Besonderheiten der psychiatrischen Texte anzunehmen sind, die nicht mit den gängigen Kriterien der Fachsprachenforschung zu bestimmen sind. Trotzdem ist unverkennbar, dass sich die Psychiatrie als Disziplin durchsetzt und zu einem „Fach“ wird. Ich werde in meiner Argumentation den Begriff „Fach“ zwar beibehalten, jedoch ihn alternativ zu z. B. Kalverkämper bestimmen.
3.1.3
Psychiatrische Fachsprache als Praxis
Im Gegensatz zu technisch-naturwissenschaftlichen Fachsprachen ist der „Gegenstand“ der Psychiatrie ein Mensch, der in auffälliger Weise spricht, sich benimmt oder handelt. Die Psychiatrie will Handlungsweisen etc. begreifbar machen (indem sie bspw. auf ihre Ursachen zurückführt), die sich einem verstehenden Zugriff zunächst zu verschließen scheinen. Eine realistische Sprachauffassung, die von den Gegenständen zur Sprache schreitet, ist allein schon deshalb nicht angemessen, weil die Psychiatrie ihren Gegenstand mittels Sprache erst schafft. Bei der Entstehung und Entwicklung hin zu einer Fachsprache besteht kein rekonstruierbares Entwicklungsverhältnis zwischen Innovationen auf der Gegenstandsebene und einer diese bezeichnenden Fachsprache. Das hat zur Folge, dass bei der sprachwissenschaftlichen Betrachtung der Psychiatrie gerade das in den Vordergrund rückt, was eher am Rande und nicht im Zentrum der fachsprachlichen Reflexion liegt. Die Verbalisierung des als abnorm wahrgenommenen Verhaltens, Handelns etc. kann nur eine Annäherung an das Wahrgenommene und nie eine vollständige Bestimmung des Wahrgenommenen bedeuten (vgl. Kap. 2.2.1). Diese ist eine ständig veränderbare Konstruktion der Wirklichkeit und gleichzeitig eine Kontextualisierungsleistung (im Sinne von Auer 1986, 22–47, Lerchner 1990, 315–326), die als Anschluss an soziale Typisierungen und damit verbundene Interpretationsrelevanzen kenntlich sein muss, 11 um akzeptabel zu sein. Die intersubjektive Anschließbarkeit beinhaltet, dass der Rekurs auf vorgängige Typisierungen notwendig ist, um „Resonanz“ zwischen Diskursteilnehmern zu erzeugen, gleichzeitig muss eigenes Erleben und Erfahren typisiert werden, um Konsistenz überhaupt zu erreichen. Das dazu notwendige „Rahmungswissen“ ist ein kulturelles „Verfügungswissen über Interpretationsanweisungen zu denjenigen Anzeigehandlungen und Zeichen, mit deren Hilfe andere Zeichen zu einer in sich stimmigen ______________ 11
„Zahlreiche psychiatrische Termini, eigentlich die ganze psychiatrische Sprache, haben den Nachteil, daß man die Referenzen nicht ohne weiteres vorzeigen kann. Die Psychiatrie ist in einer weit schwierigeren Lage als die Naturwissenschaften, die sichtbare und für jedermann erfahrbare Referenzobjekte beschreiben.“ (Feer 1987, 31)
80 Deutungseinheit zusammengebunden werden sollen.“ (vgl. Soeffner 1986, 76). Während sich die Akzeptabilität etablierter Fachsprachen zumeist aus ihrer auf sich selbst verweisenden Indexikalität ergibt, die für einen Außenstehenden nicht erkennbar oder verständlich sein muss, ist der Psychiater der Initialphase gezwungen, sprachliche Versatzstücke zu verwenden, die auf andere Disziplinen verweisen und/oder in der Gemein- und Bildungssprache verankert sind. Bei der Beschreibung von Kranken muss er auf Ausdrücke zurückgreifen, die auf bestimmte andere Diskurse verweisen und diese kontextualisieren. Eine eigene Indexikalität des verwendeten Begriffssystems, die nach Hüllen (1984, 119) Ausweis von Fachsprache ist, gibt es nicht. Damit ist verbunden, dass die Definitionshoheit über viele, in der Auseinandersetzung mit psychisch Kranken wichtige Begriffe und Basisdichotomien wie vernünftig/ unvernünftig nicht bei der Psychiatrie, sondern bei der philosophischen Anthropologie und Erkenntnistheorie liegt. 12 Vgl.: … aber er [Psychiater] müßte doch wohl wissen, wie sich das Daseyn der Vernunft in dem Benehmen, in den Reden, in den Handlungen des Menschen äußert. Welches sind nun aber die Aeußerungen der Vernunft? Er wird nicht umhin können, wenigstens zu dieser Entscheidung die Resultate der Philosophie in Betracht zu ziehen. Soll er die Vernunft nun erkennen mit Kant in der Fähigkeit eines Menschen, von dem Allgemeinen das Besondere abzuleiten und dieses nach Prinzipien als nothwendig darzustellen, oder mit F.H. Jacobi in der Betrachtung des Übersinnlichen, oder mit Fichte in dem absoluten Abstraktionsvermögen, oder mit Schelling in der Erkenntniß des Absoluten … (Nasse 1826, ZfAnthro, 327; Hervorh. v. d. Verf. – B-M. Sch.)
Die Beobachtungssprache der Psychiatrie ist ebenfalls von der Gemeinsprache „kontaminiert“. Grundsätzlich sind es die unscharfen Ränder der Gemeinsprache, ihre Porosität 13 und die damit vebundene Unbestimmtheit, die den Psychiatern Probleme bereiten: „Wenn wir also im Folgenden bei der Begriffsbestimmung der Seelenkrankheiten der Unbestimmtheit des gewöhnlichen Sprachgebrauchs, so gut es sich thun lassen ______________ 12
13
Der Einfluss der Philosophie schreibt sich auch in die zeitgenössischen Wörterbücher ein. Campes Erläuterungen zum Begriff „Vernunft“ zeigen so einen eindeutigen Bezug zu Kant: „das gesammte Begehrungsvermögen des Menschen, sowol das vernünftige als das sinnliche, nach Kant ‚das die gegebenen Vorstellungen zusammensetzende und die Einheit der empirischen Apperception (des erfahrungsmächtigen Bewußtseins) bewirkende Vermögen‘. Seit einigen Jahren ist es zum Modeworte für Seele geworden.“ (Campe, Bd.1, 304) „Umgangssprachliche Prädikate haben einen gewissen Vagheitsspielraum, sie sind offen und porös, wie man auch gesagt hat. Wenn sie für wohlbestimmte Begriffe stünden, dürfte es nicht sein, daß es in ihrem Definitionsbereich Gegenstände gibt, denen man das Prädikat mit ebensoviel Recht zu- wie absprechen kann.“ (Kutschera 1975, zit. n. Feer 1987, 10)
81 will, den wissenschaftlichen anpassen, das in der Willkühr der wissenschaftlichen Namengebung begründete Schwanken aber durch unsere Vorschläge zu beseitigen suchen werden, so müßen wir uns in Bezug auf die letzte in der Seele selbst begründete Unbestimmtheit begnügen, dieselbe, wie sie in der Natur der Seelenentwicklung selbst gegeben ist, unverändert darzustellen und durch Beispiele zu erläutern.“ (Beneke 1822, ZfpÄ, 9; Hervorhebung v. d. Verf. – B-M. Sch.)
Ist es schon im Einzelfall problematisch, abnormes Verhalten zu versprachlichen – und die richtige Versprachlichung im Einzelfall auch relativ (vgl. auch Kap. 4.1) –, so ist es z. T. noch schwieriger, das Präskriptive und Konnotative der Gemein- und Bildungssprache abzuschütteln. Die Textur verrät deshalb immer etwas von der Perspektive des Beobachters und ist von dem Wunsch nach Eindeutigkeit bestimmt, der jedoch nicht immer eingelöst werden kann. Selbst bei einem zunehmend naturwissenschaftlichen Blick auf die Phänomenebene muss die psychiatrische Sprache eine Vagheit und Unbestimmtheit beibehalten, die der Gemeinsprache vergleichbar ist, um zu einer angemessenen Verbalisierung des im Einzelfall Beobachteten zu gelangen. Die eigene Indexikalität erarbeiten sich die beteiligten Psychiater stückweise, indem sie die oftmals vagen Assoziationen der Alltagssprache abschütteln und eigene Explikationsroutinen aufbauen. Denn: … wenn die Sprache des Selbstausdrucks nicht objektiviert und nicht zu einer Orthosprache gemacht werden kann, so bedeutet das nicht, daß sie gar keiner Veränderung und Verbesserung zugänglich ist … Man könnte von einer Erweiterung des Symptomrepertoires sprechen. Teils sind nicht alle psychischen Phänomene (wie man sagt), die bekannt sind, auch benannt gewesen und werden es nun erst; teils kann man annehmen, daß neue psychische Phänomene erst erkannt werden. (Ickler 1997, 20)
Allerdings bleibt der Bezug zur Gemeinsprache, wie aus der Analyse des Bleuler-Zitats schon deutlich geworden sein sollte, erhalten (vgl. Kap. 2.3.2). Es gibt viele psychiatrische Fachbegriffe, bei denen die alltagssprachliche Bedeutung mitschwingt und als Sediment erhalten geblieben ist (vgl. Knobloch 1998, 452). Von Strauß/Zifonun (1985, 376ff.) wird der Bezug zur Gemeinsprache und damit auch zu (sozialen) Wertorientierungen in ihrer Auseinandersetzung mit der Sprache der Sozialwissenschaften „Rahmenbezug“ (ebd., 381) genannt. Luhman (1979, 38; zit. n. Strauß/Zifonun 1985, 391) macht grundsätzlich auf die Schwierigkeit des Traditionsanschlusses aufmerksam: Der erste Gesichtspunkt betrifft die Traditionsanschlüsse. Man kommt nicht umhin, etablierte Begriffe zu brauchen: Politik, öffentliche Meinung, Reflexion, Macht, Liebe, um nur einige zu nennen. Zugleich werden von wissenschaftlicher Arbeit aber Fortschritte, also Änderungen erwartet. Sobald diese Änderungen auf anspruchsvolleren Theorieniveaus liegen, steht man immer wieder vor der Frage, was besser ist: Terminologien zu kontinuieren, obwohl sich ihre Bedeutung ändert,
82 oder sie aufzugeben und damit auf Identifikationslinien zur Tradition hin zu verzichten.
Darüber hinaus führen sie zur übergreifenden Charakterisierung sozialwissenschaftlicher Ausdrücke a) die „Diachronie“ (ebd., 376) und b) den „Theoriebezug“ (ebd., 379) an. Unter Diachronie ist Folgendes zu verstehen: Verschiedentlich ist darauf aufmerksam gemacht worden, dass geisteswissenschaftliche Termini eine größere Unschärfe und Homogenität als naturwissenschaftliche aufwiesen. Nach Jahr (1993, 43) ist dies ein Produkt „der Überlagerung, sogar partiell unverträglicher Konzeptualisierungen.“ Hervorgerufen wird dies nach Strauß/Zifonun durch: Ein Aspekt semantischer Instabilität sozialwissenschaftlicher Begrifflichkeit ist der einer Art innerdisziplinären diachronen Bedeutungswandels. Im Laufe der Wissenschaftsentwicklung verändert sich der Bedeutungsgehalt theoretischer Begriffe im Kontext von Erkenntniszuwachs und wissenschaftlichem Paradigmenwechsel. … Solche Veränderungen hat Habermas (1977: 42) z. B. an dem Begriff ‚Emanzipation‘ mit dem Wandel von ‚Erlangung eines Status‘ zu ‘Loslösung von Abhängigkeit‘ auf dem Hintergrund einer Wandlung von einer statusorientierten elitären Gesellschaft zu einer nivellierten egalitären Gesellschaft gezeigt. … Diese historische Dimension der Instabilität kann jedoch auch synchron als Faktor der Bedeutungsvarianz sichtbar werden. (1985, 377)
Gleichzeitig sind konkurrierende Bedeutungen von Begriffen nicht immer voneinander abzugrenzen. Manche „Begriffe haben … einen Konglomeratcharakter, der sich durch Ablagerungen und Sedimentation aus den verschiedenen Konzeptualisierungen ergibt.“ (Fiehler 1990, 100). Fiehler macht darauf aufmerksam, dass „die Konzeptualisierungen das Ergebnis eines gesellschaftlichen und wissenschaftlichen Prozesses sind, nicht eine Frage der Eigenschaften eines Dings“. „Diachronie“ und „Theoriebezug“ hängen also eng zusammen. Begriffe wie „Bewusstsein“ oder „Erfahrung“ können eine jeweils andere deskriptive Bedeutung besitzen. Die herausgearbeiteten Kennzeichen der Sprache der Sozialwissenschaften, die auch für die Psychiatrie gelten, haben zur Folge, dass Polysemie entsteht, die varietätentranszendent (z. B. „Valenz“) oder „varietätenimmanent“ (z. B. „Sozialismus“) auftreten kann (zu den Polysemiearten siehe Strauß/Zifonun 1985, 281–336). Für die Psychiatriesprache tritt noch ein weiteres Moment hinzu, das ich mit dem Begriff „Diskursivität“ belegen möchte. Damit soll zum Ausdruck gebracht werden, dass der Traditionsbestand der psychiatrischen Fachsprache immer neue Parallelbildungen erlaubt, die nur bedingt äquivalent sind, weil mit ihnen andere deskriptive Bedeutungen verbunden sind: Als Bleuler 1911 in seinem bahnbrechenden Werk Dementia praecox und die Gruppe der Schizophrenen den Begriff „Schizophrenie“ einführt, konkurriert eine Reihe von Krankheitsbezeichnungen miteinander, u. a.: Dementia praecox, De-
83 mentia dissecans, Dementia sejunktiva, Psychose catatonique degenerative, Dementia paratonica progressiva, Dysphrenie und Dysgesis. Die alternativen Krankheitsbezeichnungen werden einem Traditionsbestand entnommen, der unter Ausnutzung bestimmter Wortbildungsmorpheme Parallelbildungen ermöglicht: Phrenitis und Demenz werden mit entsprechenden Präfixen gebildet, bzw. es werden qualifizierende Adjektive gebraucht. Zurückgedrängt werden dabei gemeinsprachliche Bildungen. Eine besondere Schwierigkeit dabei ist, dass die neu in den Diskurs eingeführten Begriffe, die oftmals nur eine Paraphrase voneinander zu sein scheinen, oft nur minimale fachliche Differenzen andeuten. Das heißt: Das Ringen um die richtige Begrifflichkeit ist nicht nur für die erste Phase nachweisbar, sondern auch für die psychiatrische Fachsprache als solche (zumindest im 19. Jahrhundert). Eindeutigkeit und verwandte Eigenschaften, die als Kennzeichen von Fachsprache gelten, sind allenfalls ein kurzfristiges, für Revision offenes Produkt des psychiatrischen Diskurses. Es sei denn, bestimmte, in einem historischen Moment erreichte Kenntnisse über das Wesen oder die Ätiologie erlauben die Verwendung bestimmter Begriffe nicht mehr. So hat sich wohl auch deshalb Bleulers Begriffsbildung durchgesetzt, weil er argumentativ Unstimmigkeiten anderer Konzeptionen ausräumte. Das heißt wiederum: Die psychiatrische Fachsprache bewegt sich in einem Spannungsfeld zwischen ihrem sprachlichen Traditionsbestand und neuen medizinischen/empirischen Erkenntnissen, die in eine neue Begrifflichkeit einfließen. So wundert es denn auch nicht, dass Psychiater, auch heute, immer wieder ihr Vokabular hinterfragen, sich kritisch mit ihm auseinandersetzen und es korrigieren. Festzuhalten bleibt: der psychiatrische Fachwortschatz basiert weder zu Beginn noch im Laufe seiner Entwicklung auf einem eindeutigen Begriffssystem; er rekurriert auf die Gemein- und Bildungssprache mit ihren Vagheiten, verschwommenen Rändern und Familienähnlichkeiten: der Rahmenbezug. das psychiatrische Begriffssystem speist sich – auch zu einem recht späten Zeitpunkt seiner Entwicklung – aus einem tradierten Vokabular, in das neue Erkenntnisse einfließen, wodurch es zu einer Reihe von Polysemen kommt (z. B. Manie im Sinne von ‚Wahnsinn‘, im Sinne einer Krankheit und im Sinne eines Zustands): die Diachronie. der tradierte Wortschatz erlaubt eine Reihe von Parallelbildungen durch entsprechende Wortbildungen und Kollokationen, deren Bedeutungen sich überlappen, jedoch nicht identisch sind: die Diskursivität und der Theoriebezug. Welcher Begriff sich durchsetzt, ist Produkt eher zufälliger denn/ als geregelter Allianzen. Begriffe sind nahezu immer für Revision offen. Es gibt erst ab dem 20. Jahrhundert einen ausbaufähigen Rahmen und
84 sozusagen eine intrinsische Logik. Kulturelle Bindung und Veränderung der Tradition sind ständig Anlass für erkenntnistheoretische und metakommunikative Reflexion. Grundsätzlich muss die psychiatrische Sprache zudem beobachtungsadäquat sein. Bei der Verbalisierung der Beobachtungen gibt es generell keine von der sprachlichen Konstitution eines sozialen Objektes unabhängige Wirklichkeit, so dass der Verweis auf gesellschaftliche Deutungen ebenso unumgänglich wie der Bezug auf den jeweils erreichten Stand der Professionalisierung ist, obgleich dieser fragwürdig erscheinen kann: Bereits das Sammeln der Information und der Identifikation der Symptome ist nicht bloß rezeptiv, sondern ein sprachlicher Akt. Die Feststellung eines bestimmten Symptoms ist ein illokutionärer Akt, eine (primär) performative Äußerung. … Die Fehlschläge, die bei jedem Sprechakt möglich sind, auch bei der Benennung eines einzelnen psychiatrischen Symptoms, bleiben allerdings meist unberücksichtigt. So kann man über die psychische Energie nur dann etwas aussagen, z. B. ihr Potential sei reduziert, wenn es psychische Energie überhaupt gibt. Die Depersonalisation als Symptom ist eine Entfremdung wovon (ist eine depersonalisierte Person noch eine Person)? (Feer 1987, 11)
Durch den Bezug zur Wahrnehmung von und zur Erfahrung mit Kranken sowie zu einer Interpretation des Erlebten, selbst bei starker Habitualisierung, löst sich die Konstitution des sprachlichen Objektes – trotz eines immer stärkeren Aufbaus einer relevanten Kontextumgebung – nicht vollständig in sprachlicher Routine auf. Die sprachlichen Einheiten, die potentiell die Beobachtungen versprachlichen, bleiben über die Initialphase hinaus relativ und randbereichsunscharf (im Sinne von Pinkal 1991, 250–261), polysem oder metaphorisch. Ihre Fachlichkeit ist an der Rekurrenz ihrer Verwendung, an ihrer pragmatischen Regularisierung zu erkennen, nicht aber daran, dass sie über ihren fachlichen Verwendungskontext hinaus eine Kontexttranszendenz und mithin Eindeutigkeit gewönnen. Sie sind ähnlich der gemeinsprachlichen Verwendung oft nur situativ bzw. kotextuell aufzuschlüsseln. Auch heute verwendet die Psychiatrie solche Begriffe wie Angst, Affekt, Spaltung, Besonnenheit oder Depression, die intrapsychische Erlebnisse bezeichnen. Das Erkennen einer Depression beruht darauf, nicht nur die entsprechenden Verweisungen auf die Erlebnisse zu erkennen, sondern der Verstehensakt selbst schließt, zumindest in Residuen, eine Form empathischer, personalen Simulation 14 (vgl. zu diesem Begriff: Vielmetter 1998, ______________ 14
Grundlegend für den Ansatz von Vielmetter ist die Auffassung, dass zum Verstehen der Handlungen anderer Personen nicht die Unterstellung von Rationalität, sondern die Unterstellung von Ähnlichkeit wichtig ist: „Grundlegend für das Verständnis fremden Verhaltens soll nicht sein, daß es rational ist, sondern dem unseren ähnlich. Zentraler Mechanismus der AP (Alltagspsychologie, Anm. der
85 95–112) und Teilprojektion ein, die ihrerseits zu einem besonderen sprachlichen Profil führt: Nur in der Psychiatrie und Psychologie sind seelische Ereignisse anderer Personen das letzte Ziel der Intentionen, nur in diesen Disziplinen sind sie Objekt der (wissenschaftlichen) Erkenntnis und der Sprache. Diese Sprache fehlt aber zunächst. Man muß deshalb aus der Umgangssprache Vergleiche heranziehen und für die seelischen Ereignisse bekannte Begriffe in verfremdeter Bedeutung verwenden. Die experimentelle Psychologie kann ihre Begriffe operational definieren, die Psychiatrie, die es mit pathologischem Verhalten zu tun hat, häufig noch nicht … Es gibt in der Psychopathologie nur ausnahmsweise experimentelle Situationen wie in der Psychologie. Deshalb sind zahlreiche Begriffe der Psychiatrie metaphorisch. (Feer 1987, 24)
Dieses Problems, Beobachtungsadäquatheit bei gleichzeitiger sprachlicher Traditionsbindung herzustellen, sind sich die Psychiater ebenfalls über Jahrzehnte hinweg bewusst: Alle Symptome der Manie, selbst bei einem einzigen Individuum aufzufassen, möchte ein schwieriges Unternehmen seyn, da sie zu vielgestaltig ist, sich unter allen Formen verbirgt, sich der Beobachtung des geübtesten und aufmerksamsten Auges entzieht, und dadurch von der Melancholie ganz verschieden ist … (Esquirol/Hille 1827, 420; Hervorhebung v. d. Verf. – B-M. Sch.)
Die „Unbeschreiblichkeit der Zustände“ könnte man einen Diskurstopos nennen, der fast zwangsläufig in Einleitungen und allgemeinen Reflexionen zum Gegenstand erscheint: Und nun gar jene Unglücklichen, deren religiöser Wahn sie mit der schrecklichen Gewißheit ihrer ewigen Verdammniß foltert; da ihr irre geleitetes Gewissen sie mit dem Fluch völlig erdichteter Frevel belastet; oder jene, welche von Verläumdern, Mördern, Gespenstern, Teufeln, von reißenden Thieren, fürchterlichen Naturerscheinungen sich umringt sehen, … – in welcher Sprache findet der Seelenmaler Ausdrücke, mit denen er mehr als matte Andeutungen solcher Zustände geben kann? (Ideler 1841, V) ______________
Verf. – B-M. Sch.) ist nicht ein abstrakter rationaler Kalkül über normativ adäquates Verhalten, sondern die Projektion eigenen Verhaltens in andere Situationen bzw. die Simulation solchen Verhaltens. Kurz, es wird nicht gefragt: Was sollte er in dieser Situation tun?, sondern: Was würde ich in dieser Situation tun?“ (Vielmetter 1998, 96). Vielmetter unterscheidet eine Form von situativer Simulation oder vollständiger Projektion, die einen Großteil unseres Alltagshandelns bestimme, während die personale Simulation immer erst dann eintrete, wenn ein Verhalten, Äußerungen etc. den unseren zu unähnlich sei, wobei auch hier eine minimale Ähnlichkeit unterstellt werden darf (das Prinzip der größtmöglichen Ähnlichkeit). Vielmetter ist der Auffassung (ebd., 116), dass der Simulationsansatz auf der phänomenalen Ebene plausibler und mit den Ergebnissen empirischer Forschung besser als eine rationale Konstruktion zu vereinen sei.
86 Im Folgenden möchte ich unter als Alternative zur kartografischen Ausdeutung des Fachbegriffs, den Begriff „Praxis“ einführen. Während der Fachbegriff eine fast abgeschlossene reproduktive Ordnung umfasst, soll der Praxisbegriff gleichermaßen die Dynamik des Kommunizierens konturieren, jedoch auch die mit dem Kommunizieren verbundene Verbindlichkeit herausstellen, die u. a. auch einen immanenten Rückverweis auf die Traditionsgebundenheit von Fächern enthält. Grundsätzlich möchte ich den Begriff „Fach“ beibehalten, ihm aber eine andere Bedeutung geben: Für mich ist ein Fach eine Praxis, an der man teilhat und die man erfährt, indem man sie hervorbringt. Der Begriff „Fach“ evoziert – das sollte das vorherige Kapitel deutlich gemacht haben – die Vorstellung, dass sprachliche Interaktionen unterschiedlicher Reichweite prädeterminiert wären und bestimmte Handlungsroutinen vorgäben. In der Linguistik gehört der Begriff „Praxis“ zu jenen m. E. nicht definierten, aber häufiger gebrauchten Begriffen, so: „Kommunikationspraxis“, „diskursive Praxis“, „gesellschaftliche Praxis“, „kulturelle Praxis“, jedoch auch im Plural: „historische Praxen“ oder auch „Praktiken“. Bei der Verwendung von „Kommunikationspraxis“ wird Praxis im Sinne eines konkreten Vollzugs sprachlicher Handlungen gebraucht, wobei er unter kulturwissenschaftlichem Einfluss und mit häufigem Bezug zu Foucault auch im Sinne einer Aufführungspraxis (Inszenierung) sprachlicher Handlungen, z. B. unter Berücksichtigung von Prosodie, Gestik und Mimik gebraucht wird (Überblick bei Wirth 2002). Interessanter sind die anderen Verwendungsweisen, und zwar in folgenden Hinsichten: Verwendungen wie „gesellschaftliche Praxis“ oder „kommunikative Praxis“, bei denen der Praxis ähnlich wie dem Fach implizit eine integrative Kraft zugesprochen wird, z. B. bei Busse in Anlehnung an das Sprachspiel-Konzept von Wittgenstein: Sinnkonstitution, und damit die Entstehung symbolischen Wissens als Ausdruck eines sprachlich vermittelten Weltbildes, geschieht in kommunikativen Handlungen, die Teil einer übergeordneten Praxis sind. … Durch den Praxis-Begriff wird deutlich, daß Wissen bzw. kommunikativ realisierter Sinn nicht abstrakte Ideen sind, sondern Ausdruck einer gesellschaftlichen Praxis, in die sie eingeordnet werden müssen. (1987, 254)
„Historische Praxen“ und ähnliche Verwendungen verweisen auf ein mögliches Nebeneinander von sprachlichen Realisationsformen. Gleichzeitig ist mit ihnen verbunden, dass sie über sprachliche Indikatoren zu identifizieren, voneinander abzugrenzen und wiederholbar seien. Ohne dass dies im Einzelnen ausgeführt wird, sind „historische Praxen“ [analog: „kommunikative(r) Haushalt(e)“] m. E. Integrationsmoment für „Kommunikationsformen“, „Kommunikationsrituale“ (Dialogforschung) oder „kommunikative Stile“ (interaktive Soziolinguistik) und besitzen eine ihnen inhärente Struktur. Mit Ausnahme eines eher emphatischen Praxisbegriffs lassen sich folgende Kernkomponenten ausweisen: Praxis als eine Einordnungsinstanz und als Zu-
87 lieferer grundlegender Handlungskategorien, die Einfluss auf Produktion und Rezeption sprachlicher Äußerungen haben und durch die Erkennbarkeit, Abgrenzbarkeit und Wiederholbarkeit von Handlungsabläufen gewährleistet werden kann – in diesem Sinne ist Praxis auch mit kommunikativer Routine und Erfahrung verbunden. Die Vorstellung, dass sich durch sprachliche Handlungen eine Praxis manifestiere, führt häufiger zu einer Form der Sozialontologie, denn Wiederholbarkeit und Routinisierung leiten nicht nur zur Regelmäßigkeit, sondern auch – je nach theoretischem Zuschnitt – zur Regelhaftigkeit (Regel/Regelfolgen) oder Musterhaftigkeit über, so dass sich folgende Argumentationskette ergibt: a) Menschliche Gesellschaften bestehen aus verschiedenen Praxen, Lebensformen, Kommunikationssphären etc.; b) diese stellen grundlegende Handlungskategorien bereit, weil sie ja sonst nicht als Einordnungsinstanz dienen könnten; c) soziale Phänomene (Handlungen/sinnhaftes Verhalten, soziale Beziehungen) konstituieren sich durch Bezug auf Praxen etc., die Kriterien vorgeben, die Regelhaftigkeit von Verhalten zu identifizieren (wobei die Akteure die Regeln nur anwenden können und nicht kennen müssen); d) diese Regeln lassen sich vom Sprachwissenschaftler ermitteln. In dieser Fassung ähnelt der Praxis-Begriff dem Fach-Begriff, wobei bei letzterem die Vorstellung der Funktionalität von Handeln, gesteuert durch die Institution, stärker im Vordergrund steht. Demgegenüber möchte ich versuchen, einen anderen Praxis-Begriff vorzuschlagen: a) Praxen fußen darauf, dass sich die an der Praxis beteiligten Akteure ähnlich verhalten, b) Ähnlichkeit garantiert Wiederholbarkeit und Weitergabe, wobei, da Praxen immer wieder sprachlich hergestellt werden, durch das Medium der Sprache bzw. des Schreibens selbst Veränderungen möglich sind (es müssen also keine Regeln verändert werden, um sich anders zu verhalten – vgl. genauer Kap. 3.2), c) im und durch das Kommunizieren werden die der Praxis inhärenten Güter und Maßstäbe der Vortrefflichkeit erzeugt, die die Abgrenzbarkeit einer Praxis von einer anderen erlauben und gleichzeitig eine Bindung der Akteure durch eine gemeinsame thematische Orientierung an diese Praxis erlauben. 15 Die folgenden historischen Fall______________ 15
Ich leihe diesen Praxis-Begriff der philosophischen Ethik, besonders A. MacIntres Buch After Virtue (dt. 1987 Der Verlust der Tugend): „Mit ‚Praxis‘ meine ich jede kohärente und komplexe Form sozial begründeter, kooperativer menschlicher Tätigkeit, durch die dieser Form von Tätigkeit inhärenten Güter im Verlauf des Versuchs verwirklicht werden, jene Maßstäbe der Vortrefflichkeit zu erreichen, die dieser Form von Tätigkeit angemessen und zum Teil durch sie definiert sind … Schiffe-Versenken ist kein Beispiel für eine Praxis in diesem Sinn, und auch das geschickte Werfen des Balles beim Football nicht; aber das Footballspiel selbst ist ein Beispiel, und das Schachspiel auch. Mauern ist keine Praxis, wohl aber Architektur. Rüben-Setzen ist keine Praxis, wohl aber Landwirtschaft. Und ebenso die Untersuchungen der Physik, Chemie und Biologie, und auch die Arbeit des Historikers, die Malerei und die Musik.“ (ebd., 251f.). Inhärente werden von ihm
88 studien werden zeigen, dass bei der Genese des psychiatrischen Schreibens sich ein Grundbestand gemeinsam geteilter Begriffe herausbildet, die unbedingt verwendet werden müssen, und andere, die unbedingt nicht verwendet werden sollten. Zwischen dem einen Ende der Skala „unbedingt zu verwenden“ und „unbedingt nicht zu verwenden“ liegt ein relativ großer Raum von akzeptablen Begriffen. Ähnlich verhält es sich bspw. mit Krankenakten: Zwar werden diese um 1900 durch Vordrucke strukturiert, allerdings wird das textliche „Korsett“ noch relativ individuell genutzt und reicht vom Eintrag reiner Symbole bis hin zu immer noch recht ausführlichen Krankenbeschreibungen – zwar verfügen die einzelnen Ärzte über Routinen, diese können sich jedoch unterscheiden (nach von Burg 1990 ist dies bis heute so). Allerdings werden Gutachten, die häufig am Ende eines Klinikaufenthalts verfasst werden, sehr ähnlich aufgebaut und weisen einen Teilbereich von Formulierungstraditionen auf. Damit soll gesagt werden: Eine Praxis weist eine Reihe von Soll-Vorschriften auf, die die Praxisteilnehmer kennen, die in einem Zusammenhang mit Maßstäben der Vortrefflichkeit stehen und die Praxis als Praxis identifizierbar machen. Interessanterweise engt eine Praxis auf der einen Seite ein, auf der anderen Seite erlaubt sie relativ freies Formulieren von Sachverhalten. Die Teilhabe an einer Praxis bedeutet, die der Praxis inhärenten Güter zu kennen, 16 die ihr einen sozialen Sinn geben – so die „Vergesellschaftung gemeinsamer Relevanzen“ (Schütz/Luckmann 1979, 342). Die Güter sind im Zusammenhang mit den Maßstäben der Vortrefflichkeit zu sehen und werden von den Praxisteilnehmern immer wieder aufs Neue hergestellt, ohne dass sie notwendig propositional ausdifferenziert werden müssten. Die Praxisteilnehmer müssen wissen, was es bspw. heißt, ein guter Psychiater oder ein guter Linguist zu sein und das bspw. Freud ein hervorragender Psychiater und Chomsky selbstverständlich ein hervorragender Linguist ist. Das heißt auch, dass eine Praxis ohne ihre eigene Geschichte nicht auskommt. Personen, die an einer Praxis teilnehmen, haben zuallererst das Interesse Weiter______________
16
gegenüber externen Gütern folgendermaßen definiert: „Auf der anderen Seite stehen die Güter, die der Praxis des Schachspiels inhärent sind; sie können nur durch das Spielen dieses oder eines anderen Spiels dieser Art erreicht werden. Wir bezeichnen sie aus zwei Gründen inhärent: erstens können wir sie nur … in Kategorien des Schachs oder eines anderen Spiels dieser speziellen Art und mit Hilfe von Beispielen aus solchen Spielen spezifizieren …; zweitens können sie nur durch die Erfahrung der Teilnahme an der betreffenden Praxis bestimmt und definiert werden.“ (ebd., 253) Jemand kann auch an einer Praxis teilnehmen, um externe Güter (z. B. Erfolg, soziales Ansehen) zu erreichen. Aber er wird diese kaum erreichen, wenn er die der Praxis inhärenten Güter nicht kennt.
89 Machen-zu-Können und Anschlussfähigkeit zu erhalten. 17 Praxen funktionieren, indem sie es ermöglichen, dass sich Praxisteilnehmer in relevanten Bereichen ähnlich verhalten können. Sich ähnlich zu verhalten, heißt die Rollen von anderen übernehmen zu können, die an einer Praxis beteiligt sind, also die relevanten Rollen simulieren zu können. Die Praxis kann institutionalisiert sein, sie muss es aber nicht. Sofern sie institutionalisiert ist, sorgen die Praxisteilnehmer dafür, die praxisinhärenten Rollen weiterzugeben. Praxen sind nur insofern von anderen abgegrenzt, als dass ihre inhärenten Güter und ihre Maßstäbe für Vortrefflichkeit eine Abgrenzung erlauben; allerdings sind die Grenzen immer fließend. Eine Praxis zerfällt oder verschwindet, wenn sie beides (inhärente Güter und Maßstäbe für Vortrefflichkeit) nicht mehr herstellen kann. Eine Veränderung der Praxis als ein für Praxisteilnehmer „fraglos Gegebenes“ erfolgt durch Weiterbestimmung und durch das Kenntlich-Werden der Praxis selbst (s. Kap. 2.2), die als solches oder deren Elemente fragwürdig werden können: z. B. dadurch, dass die Rollen für die Bewältigung der Praxis nicht mehr hinreichend sind, dass konfligierende Güter entstehen, dass die Güter selbst opak werden oder dadurch, dass sie mangelhaft legitimiert sind. Die Unterschiede zum Fachbegriff der Fachsprachenforschung sind die folgenden: Entscheidend ist nicht das Funktionieren des Fachs als solchem, sondern die Art und Weise, wie es möglich ist, die inhärenten Güter, die Maßstäbe der Vortrefflichkeit und die damit verbundenen (Vermittlungs-) Rollen aufrechtzuerhalten und zu verändern. Eine Praxis ist darüber hinaus – trotz ihrer möglichen institutionellen Einbettung – ein fragiles Etwas, das nie in toto bestimmt ist, sondern einen ______________ 17
Dazu noch zwei Anmerkungen: a) Die einer Praxis inhärenten Güter sind historisch variabel und hinsichtlich ihrer Bezugsbereiche offen. Die relativ offene Bestimmung ergibt sich dadurch, dass ich der Auffassung bin, dass es wenig sinnvoll ist, die Zwecke menschlicher Tätigkeit zu hypostasieren. b) Die Vorstellung der Praxis kann mit Fleck (1935/1980) auch mit der Vorstellung eines Denkkollektivs und mit einem Denkstil verbunden werden, der von ihm – allerdings nur am Rande – mit der sprachlichen Konstitution von Gegenständen verbunden wird: „Jeder Denkstil besteht, wie jeder Stil, aus einer bestimmten Stimmung und der sie realisierenden Ausführung. Eine Stimmung hat zwei eng zusammenhängende Seiten: sie ist Bereitschaft für selektives Empfinden und für entsprechend gerichtetes Handeln. Wir können also Denkstil als gerichtetes Wahrnehmen, mit entsprechendem gedanklichen und sachlichen Verarbeiten des Wahrgenommenen, definieren. Ihn charakterisieren gemeinsame Merkmale des Probleme, die ein Denkkollektivs interessieren; der Urteile, die es als evident betrachtet; der Methoden, die es als Erkenntnismittel anwendet. Ihn begleitet eventuell ein technischer und literarischer Stil des Wissenssystems.“ (ebd., 130; Hervorhebung im Text). „Auch ist Wahrheit nicht Konvention, sondern im historischen Längsschnitt: denkgeschichtliches Ereignis, in momentanen Zusammenhange: stilgemäßer Denkzwang.“ (ebd., 131; Hervorhebung im Text)
90 offen-begrenzten Kontext besitzt. Was getan wird, um inhärente Güter zu erreichen, ist zwar in einem gewissen Maße vorhersagbar und muss es sein, um Anschluss- und Simulationsfähigkeit zu erhalten, ist jedoch nur in Teilbereichen vorbestimmt und reproduktiv. Der Gang von einer transitorischen Varietät zu einer Fachsprache bedeutet das Entstehen einer Praxis insofern, als am Beginn der Entwicklung nur ein vager thematischer Horizont besteht. Wie etwas auszulegen ist und welche Handlungen dies potentiell nach sich ziehen kann, ist in dem Wechselspiel von Erfahrung und Vorerfahrung ein eher individueller Entwurf – bei allen Ähnlichkeiten zu anderen Entwürfen. Das über das Schreiben erzeugte Wissen über psychisch Kranke hat Anklänge an kulturelle (Text)Traditionen, ist aber selbst nur in einem bestimmten Sinne tradierbar, zumal noch keine Vermittlungsroutinen existieren. Das Schreiben von Jacobi bspw. ist zwar eine Folie (vgl. Kap. 2.3.1), an die angeschlossen werden kann und initiiert einen „Dialog“, ist aber als solches zunächst nicht reproduzierbar. Dazu muss erst koproduktiv erarbeitet werden, welchen sozialen Sinn dieses Schreiben besitzt, was es heißt, ein guter Psychiater zu sein und warum ein guter Philosoph oder Gesellschaftskritiker noch kein guter Psychiater ist: Um zu vermitteln, ähnliches Verhalten zu garantieren und gleichzeitig die inhärenten Güter aufrechtzuerhalten, bedarf es einer entsprechenden Sprache, auch wenn dieses „sperrige“ Kennzeichen beibehalten wird. Im folgenden Kapitel werde ich Hinweise geben, wie die Praxis entsteht und wie der Weg zur Fachsprache übergreifend charakterisiert werden kann. Im Anschluss an den hier entworfenen Begriff „Praxis“ soll auf Basis der sozialphänomenologischen Tradition das Entstehen und die Weiterentwicklung charakterisiert werden.
3.2
Sozialphänomenologische Rekonstruktion von Sprachwandelprozessen
3.2.1
Konstitution von Typen
Die Phänomenologie und in ihrer Nachfolge die Sozialphänomenologie gehen von der Grundthese aus, dass die Naturwelt immer schon eine Kulturwelt sei, so dass es keinen „Naturalismus reiner Tatsachen“ gebe, sondern sie immer wieder zu verfertigen sei. „Schlicht gegeben“ seien die Dinge unserer Lebenswelt, der „natürlichen Ordnung“ (Schütz/Luckmann 1979, 25) nur durch Bekanntheitsstrukturen: „Jedes lebensweltliche Auslegen ist ein Auslegen innerhalb des Rahmens von bereits Ausgelegtem, …“ (ebd., 29), ohne
91 dass uns die auslegende Tätigkeit, die unsere Sinnorientierungen vorgibt, als solche noch bewusst ist: „Das Wissen über den Alltagsvollzug verwächst mit unserer Erfahrung wie eine Brille, die wir tragen, ohne dass sie uns auffällt.“ (Waldenfels 21994, 51). Das, was die Sozialphänomenologie nun für die Beschreibung von Sprachwandelprozessen und besonders für die Analyse der psychiatrischen Sprache prädestiniert, ist Folgendes: Sie erklärt auf der einen Seite, wie das „fraglos Gegebene“ entsteht, auf der anderen Seite jedoch auch, wie „fraglos Gegebenes“ wiederum fragwürdig wird. Hinzu tritt, dass mit der Sozialphänomenologie erklärt werden kann, wie durch Formen der Habitualisierung, verbunden mit entsprechenden Relevanzsetzungen, Institutionen entstehen, sich verfestigen, sich jedoch auch verändern. Die Sozialphänomenologie beschreibt das Wechselspiel zwischen Wahrnehmung und unterschiedlich zu charakterisierenden Wissens- bzw. Relevanzstrukturen in unterschiedlichen Rahmen und kommunikativen Praxen, damit ihre Verfestigung ebenso wie die möglichen Veränderungen und ihre Habitualisierung, die aus der Dynamik des Kommunizierens selbst und dem parallelen Wissenserwerb resultieren. Obwohl die Modellierung von Kommunikationsprozessen in der Sozialphänomenologie eher im Hintergrund der Theoriebildung erscheint und in der Traditionslinie der Ethnomethodologie sich eher auf die mündliche Kommunikation bezieht, sehe ich durch den Rückbezug auf die „Konversationsmaschine“ Wirklichkeit (vgl. Berger/Luckmann 1980, 170) ein Potential, die Genese von Fächern und im Speziellen der Psychiatrie zu beschreiben. Dazu bedarf es einer Ergänzung der Sozialphänomenologie v. a. in Hinsicht darauf, welche Rolle welche sprachlichen Einheiten bei der „Verfertigung von Sinn“ in der schriftsprachlichen Kommunikation, vornehmlich im institutionellen Rahmen, spielen. Deshalb werde ich nach einem Referat sozialphänomenologischer Grundpositionen den Versuch machen, diese auf sprachliche Einheiten und Kommunikationsprozesse zu beziehen. Das Wechselspiel von fraglos Gegebenem und Fragwürdigem wird von Schütz/Luckmann folgendermaßen gesehen: Das Fraglose bildet nicht einen geschlossenen, eindeutig gegliederten und übersichtlichen Bereich. Das in der jeweiligen lebensweltlichen Situation Fraglose ist umgeben von Unbestimmtem. Man erlebt das Fraglose als einen Kern der schlichten und inhaltlichen Bestimmtheit, dem ein unbestimmter und folglich nicht in gleicher Schlichtheit gegebener Horizont mitgegeben ist. Zugleich ist dieser Horizont aber als grundsätzlich bestimmbar, als auslegungsfähig erlebt. … Schon das Fraglose hat demnach seine Auslegungshorizonte, also Horizonte der bestimmbaren Unbestimmtheit. … Das Fraglose ist gewohnheitsmäßiger Besitz: es stellt Lösungen zu Problemen meiner vorangegangenen Erfahrungen und Handlungen dar. Mein Wissensvorrat besteht aus solchen Problemlösungen. (1979, 31f.) Im Vorhergehenden haben wir wiederholt von dem Begriff des FraglosGegebenen Gebrauch gemacht. … Fraglos gegeben ist jeweils diejenige Tiefen-
92 schichte, welche sich in einem bestimmten Jetzt und So der reflexiven Blickzuwendung (infolge deren pragmatischer Bedingtheit) als nicht weiter auflösungsbedürftig darbietet. … Immerhin ist klargestellt, daß durch einen Wandel der attention à la vie das Fraglos-Gegebene zum Objekt besonderer Zuwendung, zu einem ‚Problematischen‘ werden kann. (Schütz 1934/21981, 99)
Der Einbruch des Fragwürdigen misst sich daran, dass eine aktuelle Erfahrung einer Typik widerspricht, d. h.: Wohl das wichtigste Element meiner Erfahrung ist, was ich im direkten Zugriff meines Bewußtseins in unmittelbarer Evidenz habe. Jedoch gehören zu jener Erfahrung, neben der Retention vergangener Bewußtseinsphasen, auch Antizipationen weiterer Bewußtseinsphasen, die ihrer Typik nach mehr oder minder bestimmt sind. … Wir können sagen, daß die Fraglosigkeit meiner Erfahrung ‚explodiert‘, wenn appräsentierte Aspekte eines Gegenstandes bzw. antizipierte Phasen meines Bewußtseins, zur Selbstgegebenheit gekommen, mit der vorangegangenen Erfahrung inkongruent sind. Das bishin Fraglose wird im Nachhinein in Frage gestellt. Die lebensweltliche Wirklichkeit fordert mich zur Neuauslegung der Erfahrung auf und unterbricht den Ablauf der Selbstverständlichkeitskette. (Schütz/Luckmann 1979, 33; Hervorhebung d. Verf. – B-M. Sch.)
Während Vertrautheit immer eine Vertrautheit in Bezug auf Typisches ist, gehen Veränderungen und Anpassungen von Erfahrungen zumeist mit TypModifizierungen einher, die ihrerseits wiederum „vereinnahmt“ und in eine „Sedimentierung“ von Auslegungen nun bewältigter Situationsproblematiken überführt werden können. Wissenserwerb äußert sich in der Sedimentierung von Erfahrungen, die in Situationen erfolgt und „biographisch artikuliert“ ist. Wissenselemente erhalten dadurch den „Status von Gebrauchsanweisungen“ und bedingen die Aufrechterhaltung des lebensweltlichen Apriori und „Erlebnis- und Erkenntnisstils“ des „Und so weiter“ und „Ich kann immer Wieder“ (vgl. ebd., 42). Ein Bruch dieses „Erkenntnisstils“ ist als „Sprung“ oder „Schock“ denkbar. Grundsätzlich ist darauf hinzuweisen, dass es in der Sozialphänomenologie einen wichtigen Unterschied zwischen Vertrautheit und Bekanntheit gibt, der auch in dieser Arbeit eine Rolle spielen wird. So kann mir etwas sehr vertraut, aber nicht bekannt, und deshalb nicht bestimmt, sondern unbestimmt sein: Alle Typisierungen des bloß Vertrauten, aber nicht weiter Bekannten, sind daher vom Evidenzmodus der lediglich ‚offenen Möglichkeit‘. Begründen sie ein Urteil, so kann ihm kein Gewicht im Sinne einer Wahrscheinlichkeit des Abwägens zwischen der einen oder anderen Möglichkeit zugesprochen werden. Das nur Typische ist stets ‚offen‘. (Grathoff 1995, 354)
Problematisierung oder das Problematisch-Werden von Typen setzen also voraus, dass es schon Bestimmungen gibt, die über das bloß Typische hinausweisen. „Typ“ ist ein Kardinalbegriff der Sozialphänomenologie. Typen entstehen in der Lebenswelt, der fraglos gegebenen Welt, in der die
93 Intersubjektivität von Standpunkten und Relevanzsystemen (mit)gegeben ist. Sie konstituieren sich beim Übergang von der unmittelbar erlebten „Du“ bzw. „Wir“-Einstellung zur mittelbaren Erfahrung der Sozialwelt, im Übergang zur „Ihr“-Einstellung: „Während ich also einen Mitmenschen unmittelbar in seinem Dasein und seinem So-Sein in der sozialen Begegnung konkret erfahre, erfasse ich Dasein und So-Sein eines Zeitgenossen nur vermittelt abgeleiteter Typifizierungen.“ (Schütz/Luckmann 1979, 104), bzw. „Der Bezugspunkt der Ihr-Einstellung ist ein Typus von bewußten Vorgängen typischer Zeitgenossen und nicht das Dasein eines konkret und unmittelbar erfahrenen Alter Ego, … Der Bezugspunkt der Ihr-Einstellung ist von meinem Wissen um die Sozialwelt überhaupt abgeleitet und steht notwendig in einem objektiven Sinnzusammenhang.“ (ebd., 105). Um letzteres zu gewährleisten, wird versucht, typische Attribute invariant zu halten, wobei diese durch die konkrete Erfahrung in der „Du“-Einstellung wiederum belebt werden können. „Zeitgenossen“ jedoch begegnen sich in einer sinnadäquaten komplementären Typisierung, wobei – und dies ist auch für die psychiatrische Fachsprache von großer Wichtigkeit – die Anonymität einer Typisierung sich umgekehrt proportional zu ihrer „Inhaltserfülltheit“ verhält: Auf je mehr Typisierungen ein individualisierter Typus aufgebaut ist, um so anonymer ist er und um so weiter ist der Bereich der im Typ als selbstverständlich vorausgesetzten Deutungsschemata. Mit dem Prozess der Typenbildung ist, wie Berger/Luckmann (1980, 57) herausarbeiten, gleichzeitig eine Habitualisierung des Handelns verbunden, die Institutionalisierung begründet; der habitualisierte Hintergrund selbst ist eine notwendige Bedingung für Einfall und Innovation. Ein Movens für Wandelprozesse ist zunächst die Erfahrung, in der Typisierungen in Frage gestellt, modifiziert oder gar „explodiert“ werden können, wodurch neues Wissen entsteht. Typ-Modifizierung erfolgt folgendermaßen: Typen zeichnen sich dadurch aus, dass sie Bestimmtes und Unbestimmtes, Vertrautheit und Unvertrautheit ausbalancieren: Vertrautheit ist also dadurch gekennzeichnet, daß neue Erfahrungen mit Hilfe eines in Vorerfahrungen konstituierten Typs bestimmt werden können und sich diese Bestimmung in der Bewältigung der Situation bewährt. Den Stufen der Vertrautheit entspricht die relative Fraglosigkeit, mit der sich die – allerdings schon ‚selektiv wahrgenommenen‘ – Bestimmungsmerkmale der Situation bzw. Erfahrung in die typische Einheit des Situations- bzw. Erfahrungstypus fügen. … Das Erfahrungsobjekt erweist sich ohne Auslegungsvorgang als typisch: typischen Aspekten der Vorerfahrung gleich, ähnlich, ähnelnd. Je fraglicher die Übereinstimmung zwischen Typ und den Bestimmungsmerkmalen der aktuellen Erfahrung, um so weniger vertraut erscheint mir diese. Wenn mir vollends die aktuelle Erfahrung zur Bestimmung und Bewältigung der Situation nicht ‚genügend typisch‘ erscheint, werden Auslegungsvorgänge ausgelöst, in denen neue Typisierungen auf anderen Bestimmtheitsstufen in neue Vertrautheit überführt werden. (Schütz/Luckmann 1979, 184f.)
94 Der Typ konstituiert sich in den Auslegungen der Erfahrungen und gibt die Linie zwischen Unbestimmtem und Bestimmtem, Vertrautem und Unvertrautem vor: „Die Bestimmtheit des Typs gründet in der Bestimmtheit der in ihm sedimentierten Erfahrungen; die Bestimmtheit des Typs bedingt ihrerseits den Bestimmungsgrad der aktuellen Erfahrung, …“ (ebd., 191). Dass Veränderungen möglich sind, wird durch die grundsätzliche „Undurchschaubarkeit der Lebenswelt“ bedingt, die immer, wie am Anfang schon betont, von prinzipiell Unbestimmtem umgeben ist. Der Wissensvorrat bzw. der Vorrat der sedimentierten Erfahrungen ist dementsprechend lückenhaft. Gesteuert wird die Typenbildung nicht nur von den Erfahrungen selbst, sondern von prozessual aufeinander bezogenen Relevanzen: von der thematischen Relevanz, der Interpretationsrelevanz und der Motivationsrelevanz (den so genannten Wieund Um-Zu-Relationen). Durch die Annahme unterschiedlicher Relevanzen ergibt sich eine weitere Präzisierung des Typisierungsvorgangs: So kann Typisieren als Ergreifen der Bestimmungsmöglichkeiten gedeutet werden, die in einem thematisch abgehobenen Feld quasi verborgen waren: „Mit anderen Worten, ein Typ entsteht in der situationsadäquaten Lösung einer problematischen Situation durch die Neubestimmung einer Erfahrung, die mit Hilfe des schon vorhandenen Wissensvorrates, das heißt also hier mit Hilfe einer ‚alten‘ Bestimmungsrelation, nicht bewältigt werden konnte.“ (ebd., 279). Bestimmungsmöglichkeiten können sich auf den inneren Horizont eines Typs (dem Typ zuzurechnende Qualitäten) und auf den äußeren Horizont beziehen (z. B. die Bestimmung relevanter Beziehungen). Es lässt sich feststellen, dass „der Bestimmungsgrad eines Wissenselements um so höher ist, je weiter die Auslegung des inneren und äußeren Horizonts der betreffenden Erfahrung fortgeschritten ist, während eine Erfahrung, die nur vage als Einheit im Erfahrungsablauf abgehoben ist, einen entsprechend niedrigen Bestimmungsgrad hat.“ (ebd., 189). Dabei ist grundsätzlich bei der Neubestimmung zu beachten, dass der gesellschaftliche Teilbereich, in dem Wissen problematisiert wird, die Art der Problematisierung bestimmt: Ferner ist, wie schon angedeutet, die Gliederung der Lebenswelt in verschiedene Wirklichkeitsbereiche geschlossener Sinnstruktur von entscheidender Bedeutung für den Fortgang – und korrelativ dazu die Unterbrechungen – des Wissenserwerbs. Der Erlebnis- bzw. Erkenntnisstil des Bereichs … bestimmt die Fraglosigkeiten und Probleme der Erfahrungs- und Auslegungsverläufe innerhalb des Bereichs. Wie noch zu zeigen sein wird, bedingen sowohl ‚motivierte‘ als auch ‚auferlegte‘ Übergänge (bzw. Sprünge) von einem Wirklichkeitsbereich zum anderen Unterbrechungen von thematisch zusammenhängenden Erfahrungsabläufen und Auslegungsvorgängen; folglich bedingen sie auch Unterbrechungen im Fortgang des Wissenserwerbs. (ebd., 161)
95 Dabei enthält der Typ jeweils einen Rückverweis auf seine Konstitution, und das heißt auch auf seine Geschichte – so ein Schwanken zwischen dem individualisierten und personalen Typus. Die Problemlage, das fragwürdig Gewordene kann zu neuen kommunikativen Gattungen führen: „Communication genres are solutions to specifically communicative problems.“ (Bergmann/Luckmann 1995, 298). Damit kann man auch wie Tophinke verbinden: „Texttypen entstehen in der sozialen Praxis nicht aus dem Nichts, sondern sie sind durch Problemlagen motivierte Bearbeitungen und Weiterentwicklungen schon vorhandener Texttypen. Die Texttypik bestimmt nicht das gesamte Geschehen einer Textproduktion; es bleibt notwendig ein Gestaltungsspielraum für den Produzenten.“ (1999, 27). Sprache spielt die folgende Rolle: Sie wird als ein System typisierender Erfahrungsschemata 18 gedeutet, die ihrerseits auf Idealisierungen und Anonymisierungen, d. h. auf einer weitgehenden Entkoppelung von identischen Erfahrungs- und Relevanzstrukturen, beruht. Mit den folgenden Hauptaspekten: Typen haben eine ihnen eigene Historizität. „Die Sprache ‚enthält‘ in einem einheitlich objektivierenden Medium die über viele Generationen angehäuften und als bewährt bestätigten Ergebnisse der Typenkonstitution und Typenabwandlung. Jeder Typ findet durch sprachliche Objektivierung einen ‚Stellenwert‘ in der semantischen Gliederung der Sprache.“ (1979, 282), sprachliche Zeichen sind in diesem Sinne ein soziales Apriori, in das man hineingeboren wird und deren „Bedeutungsmatrizen“ anonym sind (nicht alles, was versprachlicht ist, beruht auf eigener Erfahrung). 19 Typkonstitution und Abwandlung sind kulminativ, d. h. die Abwandlung eines Typs hat Folgen für den „Stellenwert“ eines anderen Typs. ______________ 18
19
„Ein Schema unserer Erfahrung ist ein Sinnzusammenhang unserer erfahrenden Erlebnisse, welche zwar die in den erfahrenden Erlebnissen fertig konstituierten Erfahrungsgegenständlichkeiten erfaßt, nicht aber das Wie des Konstitutionsvorganges, in welchem sich die erfahrenden Erlebnisse zu Erfahrungsgegenständlichkeiten konstituierten.“ (Schütz 1934/21981, 109; Hervorhebung im Text) Ohne hier eine Deckungsgleichheit annehmen zu wollen, verbindet sich die Sozialphänomenologie mit den sprachtheoretischen Vorstellungen Feilkes (1996), durch die Verwiesenheit auf die Kommunikationserfahrung, durch den Verweis auf die Historizität sprachlicher Zeichen und der damit verbundenen Ablösung von genuiner Wahrnehmung und referentiellem Bezug: „Das Prinzip der Entkoppelung gilt nicht nur für die soziogenetisch stabilisierten Formen der Grammatik, es gilt gerade auch dort, wo es der Intuition am deutlichsten zuwiderläuft, nämlich im Bereich der für die Kommunikation zentralen Semantik. Auch diese ist wesentlich entkoppelt von konkreten stofflichen und substantiellen Bezügen individueller Wahrnehmung und Kognition. Wesentlich ist der Sprache nicht die Abbildung, sondern geradezu die ‚Auflösung‘ des Referenten mittels semantischer Prozesse. Entscheidend ist die Entbindung von den konkreten Beziehbarkeiten sprachlicher Ausdrücke zugunsten einer selbstreferentiell und für die Zwecke der Kommunikation stabilisierten genuin sprachlichen Ordnung.“ (ebd., 60)
96 Bedeutungswandel kann als eine Folge von Veränderungen der sozialen Relevanz gegebener Erfahrungsschemata betrachtet werden (vgl. Schütz/ Luckmann 1979, 298). Sozialisiert werden die über Sprache gesicherten sozialen Relevanzen durch die soziale Vermittlung von Wissen, gebunden an soziale Rollen, wobei das Abschleifen und die Verbesserung von Problemlösungen thematisiert werden. Neues Wissen wird objektiviert durch: Analogiebildung, metaphorische Ausdrücke und neue Worte, also durch schöpferische Akte (vgl. ebd., 340). Mit Blick auf diese Bestimmungen der Sozialphänomenologie lässt sich der Weg zur Fachsprache genauer rekonstruieren. Zunächst jedoch eine Zusammenfassung: a) Da die Lebenswelt prinzipiell undurchschaubar ist, Typen deshalb nie ganz vertraut/bestimmt sind und gefiltert über die erfahrungsgesteuerten Relevanzen gleichermaßen unbestimmt und bestimmt sind, ergibt sich ein Ansatzpunkt für Wandel und Dynamik. b) Die Erfahrbarkeit von Typen macht es möglich, sie näher zu bestimmen, zu individualisieren und sie bspw. von tendenziell anonymen, wenigen inhaltlichen Bestimmungen genügenden sozialen Typen abzulösen. Fraglos Gegebenes und Fragwürdiges stehen in einer engen Verbindung zueinander. c) Da über Sprache und besonders über ihren Wortschatz typisierende Erfahrungsschemata zugänglich sind, artikuliert sich Typ(neu)bestimmung mithilfe von Sprache, die jedoch nie isoliert auftritt. Die Historizität von Sprache hält ein Reservoir auf Basis schon sedimentierter Erfahrungen und entsprechender Relevanzen bereit. Sprache als soziales Apriori, in das man hineingeboren wird, sichert generell die Anschlussfähigkeit neuer Typbestimmungen. d) Da Typen zum sprachlich vermittelbaren und sprachlich zu verändernden Wissen gehören, ist es prinzipiell möglich, dass neue Typen zu neuem Wissen führen, im folgenden Prozess: „Im allgemeinen wird der polythetische Aufbau von Erfahrungen ‚gerafft‘ und nur ihr typisch relevanter Sinn ‚monothetisch‘ erfaßt, geht ‘endgültig‘ als merkenswert in den Wissensvorrat ein.“ (ebd., 155) So auch bei Soeffner: Typen repräsentieren also nicht lediglich sedimentierte kompositorische Erfahrungen. In problematischen, ungewohnten oder neuartigen Situationen verändern sie sich, oder es entstehen neue Typen durch neue Relationierungen und eine ‚Neubestimmung‘ der Erfahrung. In der Variabilität der Typen drücken sich so die unbegrenzten Bestimmungsmöglichkeiten der Erfahrung und eine prinzipiell offene Semantik sowohl der ‚Bausteine‘ als auch ‚Kompositionen‘ und ‚Inszenierungen‘ aus. Daraus resultiert: Typen haben eine Geschichte, und sie bilden die
97 Voraussetzung für die Erfahrung von Geschichte. Ihr Weg von der ‚ursprünglichen‘ kompositorischen Erfahrung über die spezifischen Anwendungen in unterschiedlichen Situationen bis hin zu Neurelationierungen drückt aber nicht nur Geschichtlichkeit aus, sondern macht Geschichte tendenziell rekonstruierbar – sofern die Kontexte spezifischer Typenverwendung erhalten sind und sofern es eine schriftliche oder bildliche Aufzeichnung und Dokumentation der Typen und ihrer Verwendung gibt. Erst in diesem Zusammenhang kommt der Sprache bzw. der sprachlichen Typik eine besondere Stellung zu. Jedoch nicht der sprachlichen Typik an sich … sondern einer historisch späten Qualität der Sprache: der Schriftlichkeit … Schriftlichkeit garantiert die Unveränderbarkeit der überlieferten Einzeltexte und dokumentiert zugleich die historische Veränderung in der Fortschreibung und Dokumentation der Textreihen … Sie dokumentieren vielmehr die Geschichte der gesellschaftlichen Produktion ‚stimmiger‘ Deutungen der jeweiligen Wirklichkeiten. (Soeffner 1986, 88)
Für die Entwicklung der psychiatrischen Praxis zu einem Konglomerat aus inhärenten Gütern, Rollen und Maßstäben der Vortrefflichkeit bedeutet das m. E. folgendes: Am Beginn des Prozesses stehen personale Typen, die im Horizont einer Kultur als sedimentierte Erfahrungsbestandteile in Hinsicht auf entsprechende Relevanzen vorliegen: Sie gelten lange Zeit als das Fraglos Gegebene. Diese personalen, sprachlich manifesten Typen (z. B. der Melancholiker, der Tobsüchtige oder der Hypochonder) werden durch ein neues thematisches Interesse einer Neubestimmung zugänglich. Im Rahmen der frühen Psychiatrietexte werden die Typen z. T. anders erfahren, wobei sich die Erfahrung – und dies scheint mir interessant – z. T. so stark individualisiert wird, dass sie der Herstellung einer „Du“ bzw. „Wir“-Einstellung gleicht; die sprachlichen Merkmale jedenfalls weisen Elemente starker Personalisierung und auch Emotionalisierung auf. Das Individualisieren verweist selbst auf mögliche textliche Aneignungsformen: das Beschreiben und Erzählen. Erst im Laufe des Schreibprozesses werden die erfahrenen Fälle wieder so typisch, dass sie sprachlich gehandhabt in den Wissensvorrat eingehen können. Ihr typisch relevanter Sinn ist zunächst nicht monothetisch und kann kaum anders als über die direkte Erfahrung vermittelt werden. Erst wenn das möglich ist, kann Wissen aufgebaut und Wissen vermittelt werden. Eine Typenkonstitution, die in den Wissensvorrat eingeht, wird in der Psychiatrie erst möglich, wenn zum einen Erfahrenes synthetisiert zugänglich wird, zum anderen, wenn die Interpretationsrelevanzen auf der Basis abgehobener Themen abgesichert sind. Diese Auslegungsvorgänge – den thematischen Relevanzen nachgeordnet –, wie noch zu sehen sein wird, setzen da an, wo ein Thema zum Problem wird. Dieses Problematisch-, dieses Fragwürdig-Werden artikuliert sich in unterschiedlicher Weise, z. B. in den Kontroversen zwischen Psychikern und Somatikern. Frei nach Husserl, handelt es sich nicht mehr um ein „In-den-Relevanzen-Leben“, sondern um ein „Auf-die-Relevanzen-Hinsehen“. Erst in dem Moment, in dem die
98 körperlichen Ursachen einiger psychischer Krankheiten (vornehmlich Demenzerkrankungen) offen zu Tage liegen, werden die nun auch institutionell abgesicherten Auslegungsvorgänge wiederum zu einer Vertrautheit, zu einer Selbstverständlichkeit. Da das Nachdenken über und das Erfahren von psychischen Krankheiten, wie im vorherigen Kapitel herausgearbeitet, immer von einem Rahmenbezug, hin auf die Gemeinsprache und die prinzipiell undurchschaubare Lebenswelt geprägt ist, eröffnet sich schon deshalb immer die Möglichkeit einer Typ-Modifizierung. Die fortwährende Veränderung und Abwandlung von Typen erklärt sich dabei durch den Charakter von Typen selbst: im Hin- und Hergleiten von Unbestimmtheit und Bestimmtheit. Immer, wenn etwas Neues im Werden ist, z. B. bei Bleulers Schizophrenie, erfolgt zum einen ein Angriff auf den schon konsolidierten Typ, eine Abarbeitung am „Institutionellen“, zum anderen ein Versuch, das Beobachtete neu oder anders zu bestimmen. Typen enthalten in diesem Sinne „rekursive Momente.“ Prinzipiell erweist sich die Sprache und der Wortschatz dabei als sperrig: Zeichen sind Handlungsgegenständlichkeiten oder Artefakte, welche nicht nach jenen Deutungsschemata ausgelegt werden, die sich aus Erlebnissen von ihnen als selbständigen Gegenständlichkeiten der Außenwelt konstituierten oder für derlei Erlebnisse von Gegenständlichkeiten der physischen Welt im jeweiligen Erfahrungszusammenhang vorrätig sind (adäquate Deutungsschemata), sondern welche kraft besonderer vorangegangener erfahrender Erlebnisse in andere (inadäquate) Deutungsschemata eingeordnet werden, deren Konstitution sich aus polythetischen Setzungen erfahrender Akte von anderen physischen oder idealen Gegenständlichkeiten vollzog. (Schütz 1934/21981, 168) Sprache vergegenständlicht gemeinsame Erfahrung und macht sie allen zugänglich, die einer Sprachgemeinschaft angehören. Sie wird so zugleich Fundament und Instrument eines kollektiven Wissensbestandes. Darüber hinaus stellt sie Mittel zur Vergegenständlichung neuer Erfahrungen zur Verfügung und ermöglicht deren Eingliederung in den bereits vorhandenen Wissensbestand. Außerdem ist sie das wichtigste Medium, durch das die vergegenständlichten und zu Objekten gewordenen Sedimente als Tradition der jeweiligen Gemeinschaft überliefert werden. … Sprache wird zum Depot einer gigantischen Häufung gemeinsamer Sedimente, die monothetisch erfaßt werden können, das heißt als in sich verbundene Einheiten, deren Entstehungsprozeß nicht rekonstruiert werden muß. (Berger/Luckmann 1980, 72f.)
Auch aufgrund der Konventionalität und Arbitrarität des Zeichensystems, um in einem etwas vertrauteren Jargon zu bleiben, wird man das Entstehen einer Fachsprache eher als einen Ausdruck sprachlicher Kreativität im Kommunikationsprozess und nicht als dominanten Ausdruck sprachlicher Innovation auszubuchstabieren haben. Allerdings ist es mit Sprache natürlich auch möglich Neuartiges zu sagen:
99 Das Zeichensystem kann allerdings auch nicht-routinemäßige Objektivierungsmöglichkeiten enthalten. Deren Verwendung erfordert gleichsam schöpferische Akte, in denen ‚neues‘ Wissen des einzelnen und die im Zeichensystem sedimentierte Geschichte der Gesellschaft mitspielen. Denken wir hier an die nahezu unerschöpflichen Möglichkeiten der Analogiebildungen, des metaphorischen Ausdrucks usw., die in einem differenzierten Zeichensystem wie der Sprache ‚vorhanden‘ sind. (Schütz/Luckmann 1979, 341)
Ich sehe nun in der Bestimmung von Krankheitstypen als Bestimmung der Phänomenebene und in der Festlegung von Interpretations- und Motivationsrelevanzen zwei Momente des Wandels von der Bildungs- zur Fachsprache als Praxis einer bestimmten Art. Zunächst möchte ich versuchen – vornehmlich in Anlehnung an Waldenfels (1980, 21994, 31998) –, den Prozess der Typ-Modifizierung etwas genauer zu bestimmen. Danach folgt eine Auseinandersetzung damit, an welchen sprachlichen Handlungen sich die Veränderung vorwiegend von Interpretationsrelevanzen festmachen lässt. Danach sollen im Begriff „Soziogenese“ beide Erscheinungen wiederum zusammengeführt werden.
3.2.2
Wandel von Typen
Typen sind für die Konstitution von Wissen in einer Gesellschaft zentral, wobei ein Typ nicht hinsichtlich aller seiner Merkmale festgelegt und bestimmt ist. Typen sind flexibel, indem sie zwar Anschlussfähigkeit, Wiederholen und Wiedererkennen, gewährleisten, allerdings sind ihre Grenzen auch so unmarkiert, dass eine Fortbildung möglich ist: Die Typik ist „eine Umrißgestalt, wie sie der Stempel hinterläßt, kein freischwebendes Eidos und kein abgelöster Begriff“ (Waldenfels 1987, 64) – der Typ selbst ist ein Wesen auf Zeit (ebd., 66). Dadurch dass Typen Wiederholbarkeit ermöglichen, ermöglichen sie auch eine Schriftpraxis nach entsprechenden Relevanzkriterien. In vielerlei Varianten hat Waldenfels versucht, Wandel als Spannung von Kombination und Selektion zu beschreiben. Vergleichsmoment ist die dialogische Situation und dort insbesondere das Verhältnis von Frage und Antwort: Jede Frage schlägt, indem sie etwas auf etwas hin befragt, ein Thema an, sie eröffnet ein thematisches Feld und drängt andere Äußerungen als nicht zugehörig und unpassend an den Rand. Schon diese elementare Ordnungsleistung bedeutet Selektion und Kombination in eins und erlegt dem Dialog die Grenzen eines mehr oder weniger fest umschriebenen Betätigungsfeldes auf. Die Abhebung von Gestalt und Hintergrund, mit der wir es hier zu tun haben, widersetzt sich einer schlichten Koordination von Perspektiven. (Waldenfels 21994, 48, Unterstreichung v. d. Verf. – B-M. Sch.)
100 Das Spiel von Frage und Antwort ist nach Waldenfels eine „Koproduktion“, weder reine „Produktion“ noch reine „Reproduktion“. Produktion und Reproduktion liegen auf einer Handlungsskala. Gewöhnlich ist Reproduktion ist mehr als bloße Reproduktion, denn die Wiederholung des Selben geschieht unter wechselnden Umständen, so daß sich das Selbe als dieselbe Gestalt oder Struktur immerzu anders realisiert, … Eine reine Reproduktion wäre nur denkbar im Falle gleichbleibender Umstände. Das Handeln nähert sich diesem Extrem, je mehr es einem künstlichen Zeremoniell, einer pathologischen Form der Stereotypie oder schließlich einem maschinellen Ablauf gleichkommt. … Umgekehrt ist reine Produktion ein ebensolcher Grenzfall. Eine solche Urproduktion hätte buchstäblich nichts, was sie produziert. Dieses Haben setzt ein Re-, ein Wieder- voraus bis hin zum Immer-wieder, … Die Reproduktion ist so gesehen kein Sündenfall. Gewöhnliche und außergewöhnliche Handlung, Routine und Innovation gehören nicht zwei verschiedenen Welten an, sondern schieben sich ineinander. (Waldenfels 31998, 95f.)
In Auseinandersetzung mit Peter Winchs The Idea of Social Science (1958) werden diese Bestimmungen noch weiter präzisiert: Winch sieht in der Regelbefolgung ein Motor sozialen Verhaltens, da Regeln soziales Verhalten konstituieren, so bspw. die Sprechaktregeln oder die Kommunikationsmaximen, mit denen wir unser Verhalten aufeinander abstimmen, z. B. so, dass auf eine Frage eine Antwort folgt. Dabei bleibt jedoch weitestgehend unberücksichtigt, dass wir uns in einem „offen-begrenzten Kontext“ bewegen und dass auch Regeln eine graduelle Offenheit besitzen (die Regeln im Tennis sind klar, wie hoch man aber den Ball zu werfen hat, ist unklar) – je nach Handlungstyp. Denn: „Menschliche Handlungen, welcher Art und welcher Entwicklungsstufe auch immer, lassen sich nur dann auf funktionale Dienstleistungen reduzieren, wenn der Handelnde vor Probleme gestellt ist, die weder einen Formulierungs- noch einen Erwiderungsspielraum zulassen, wo es also eine einzig richtige oder zumindest eine beste Lösung gibt.“ (Waldenfels 31998, 91f.). M. E. können LinguistInnen aus diesen Betrachtungen für die Modellierung von Sprachwandelprozessen, hier bezogen auf die psychiatrische Sprache, Folgendes lernen: a) Das Schreiben über psychisch kranke Patienten ist als Fragwürdigwerden des Fraglos-Gegebenen schon eine thematische Fokussierung. Dieses Schreiben ist keine „reine Produktion“, sondern schließt an schon gegebene Formulierungen an. Es ist auch keine reine Reproduktion, sondern eine „Koproduktion“, d. h. ein zerdehnter Dialog mit der Tradition, in dem selektiert, kombiniert und ausgelassen wird. In jedem neuen Exemplar verschieben sich, wie minimal auch immer, die Beschreibungen eines Typs. Fragen ebenso wie neue Antworten sind gleichermaßen möglich. Im Anschluss an Tophinke (1999, 30f.) kann man den Veränderungsprozess folgendermaßen modellieren: Es gibt einen Kontext im Sinne einer Vor-
101 geschichte; der Kontext wird fortgebildet, indem kombiniert wird, d. h. eine thematische Abstimmung mit dem Vorangegangenen gesucht wird (im weiteren Sinne: thematische Kohärenz) und versucht wird, die Form (im Sinne von Texttraditionen) beizubehalten. Gleichzeitig wird selegiert, indem eine neue Perspektive hinzugefügt und möglicherweise die sprachliche Form (einzelne sprachliche Elemente) verändert wird. Letzteres kann Vorgänge wie Entlehnung, Ableitung, Konversion, Mehrwortbezeichnung etc. ebenso meinen wie solche Vorgänge, die sich mit Ickler (1997, 25ff.) als Entagentivierung, expressive Neutralität, Vergegenständlichung, Enthistorisierung etc. beschreiben lassen und übergreifend in die Stadien von der Normalisierung bis zur Institutionalisierung münden. Bei der Kombination ist zu beachten, dass die Auslotung der in Themen enthaltenen Relevanzen zu anders gearteten Interpretationsrelevanzen führt: so kann die Vorstellung vom psychisch Kranken von der Folie des LeibSeele-Problems und auf der Folie der Empirie anders gelesen werden. b) In jeder Kommunikation ist ein Spielraum/Zwischenraum angelegt, der Einfallstor für Veränderungen ist. Um Veränderungen zu erklären, bedarf es keiner Veränderung von Kommunikationsmaximen, Regeln o. ä. Um mit Husserl zu sprechen, lassen sich die meisten Wandelprozesse als Weiterbestimmung deuten, nicht als neue Umbestimmung, Gesamtbestimmung oder gar Höherbestimmung. Für die psychiatrische Sprache trifft dabei noch im besonderen Maße zu, wahrscheinlich jedoch auch für andere Fachsprachen: Sie „widersteht“ der reflexiven Aufhebung („Höherbestimmung“) ebenso wie der uneingeschränkten Verallgemeinerung („Gesamtbestimmung“) – beides bedeutete im Kern eine Neubestimmung. Dabei ist noch auf etwas anders hinzuweisen, was für moderne Gesellschaften wesentlich ist, die Interdependenz von gesellschaftlichen Sphären und den ihnen eigenen Erkenntnisstilen: Das gleiche gilt aber allgemein für alle Unterbrechungen des Erfahrungsablaufes bzw. Wissenserwerbs, die mit einem Sprung von einem Wirklichkeitsbereich, von einem Erlebnis- bzw. Erkenntnisstil in einen anderen zusammenhängen. Es werden „Lücken“ hinterlassen, die prinzipiell in den Relevanzstrukturen des anderen Wirklichkeitsbereiches ausgelegt werden können. (Schütz/Luckmann 1979, 163)
Bei dem bisher Ausgeführten dürfte klar sein, dass der Veränderung von Sprache, hier der Herausbildung einer Fachsprache, nie die Leistung eines einzelnen Individuums und seinen Intentionen zugrunde liegen kann. Letztere werden überhaupt erst kenntlich, wenn sie nach Feilke (1994, 74f.) mit sozialem Sinn verfügbar sind. Gerade letzteres trifft für die Psychiater der ersten Generation in besonderer Weise zu. Allerdings sollte der individuelle Beitrag auch nicht unterschätzt werden, da reine Reproduktion, vor welcher Schreibleistung wir auch immer stehen, auch ein Grenzfall der Kom-
102 munikation ist. Aus den genannten Gründen – Bezug auf ein soziales Apriori und Typengestaltung in einem koproduktiven Prozess – sollte die Genese einer Fachsprache als eine Soziogenese zu begreifen sein, als ein Miteinander, wo das schon Geschriebene immer schon den potentiellen Auslegungshorizont des Einzelnen bedeutet. Dadurch entsteht als Resultat eine Praxis einer besonderen Art mit inhärenten Gütern und Maßstäben der Vortrefflichkeit. Wie sich trotz der prinzipiellen Offenheit von Kommunikation so etwas wie institutionalisierte Kommunikation herausbilden kann, beantwortet Feilke folgendermaßen, obgleich mit Verweis auf eine etwas anders geartete Theorietradition: Jedes Verhalten A’s unter den Bedingungen wechselseitiger Wahrnehmung ist, wenn auch eine eindeutige Intention zugrunde liegen mag, sozial mehrdeutig. Es bietet immer mehrere Möglichkeiten der Interpretation gleichzeitig; daß die von B vollzogene Interpretation mit der von A intendierten übereinstimmt, ist unwahrscheinlich. Das gleiche gilt dann auch für B’s Reaktion. Die Effekte der Kommunikation verändern die Bedingungen für Intentionen. Über die wechselseitige Orientierung an Effekten kann dabei Mehrdeutigkeit in dem Maße reduziert werden, bzw. kommt es in dem Maße zu einer Engführung der Orientierungen von A und B, wie sie auf Resultate ihrer Kommunikation als vorrausetzbares intersubjektives Wissen zurückgreifen können. So bildet sich ein Common sense. Gleichzeitig erlangt dieses Wissen über die Verständigungsbasis einen erhöhten Grad von sozialer Verbindlichkeit, denn es ist – mit Luhmann gesprochen – die Voraussetzung für die Anschließbarkeit von Kommunikation an Kommunikation: Es ist konventionalisiert. (Feilke 1994, 142; Hervorhebung im Text)
Ich fasse zusammen: Sprachwandel bei der sprachlichen Erfassung psychisch Kranker gewinnt seine Dynamik durch die prinzipielle Auslegbarkeit von Typen, die nie ganz bestimmt sind und zumindest alternative Beschreibungen ermöglichen. Gewährleistet werden die Veränderungen durch eine Soziogenese, in den schon veröffentlichte Texte und das jeweils aktualisierende Schreiben die Rolle von Dialogpartnern übernehmen – kein Text gleicht dem anderem, ist ihm aber hinreichend ähnlich. Die Soziogenese schafft eine Praxis bzw. ist zu einem späteren Zeitpunkt ihr Ausdruck. Tendenziell bleibt im gesamten historischen Prozess die Praxis als Ordnung innovationsfähig. Die Spannung zwischen Produktion und Reproduktion in der Soziogenese trifft dabei nicht nur für Texte, sondern gleichermaßen auch für lexikalischen und syntaktischen Wandel zu, der im Schreiben selbst hergestellt und hervorgebracht wird, ohne dass man parallel von einer Veränderung von Intentionen oder gar Abweichung von Regeln sprechen müsste. Idiomatische Kreativität im Sinne von Feilke gewährleistet sowohl Anschluss als auch Neubildung und ist prinzipiell so lange adaptionsfähig, wie Verständnis und Dialogizität und mithin auch pragmatische Regularisierung erzielt werden können:
103 Es geht bei der sprachlichen Kreativität nicht eigentlich um eine Aktualisierung der Sprache als System im Sprecher, denn, unter dem Systemaspekt aufgefasst, ist Sprache notwendig immer Resultat einer kategorial intendierten extrakommunikativ-linguistischen Reflexion. Gleichwohl aber scheint die Konstruktion von Äußerungen sinnvoll nur vorstellbar als Aktualisierung und Motivierung der in ihrer Relevanz gekannten, intersubjektiven und relativ abstrakten Voraussetzungselemente des Sprachwissens. Man würde deshalb vielleicht besser von einer idiomatischen Kreativität sprechen, die sich in der Ausdrucksbildung zeigt. Diese Kreativität macht sich die pragmatische Motiviertheit von Ausdruckselementen, und das heißt auch ihren kommunikativen Funktionswert, zunutze. Insofern ist die idiomatische Kreativität, obwohl ‚neu‘ bildend, immer zugleich auch konservativ bestimmt. (Feilke 1996, 95)
Der Kern der idiomatischen Kreativität beruht m. E. auf der Bricolage, d. h. beispielsweise auf der Zusammenführung heterogener sprachlicher Bestandteile: „This treatment can best be described as bricolage: picking up pieces of roughly the right shape or with meanings of a reasonable kind, but with no particular system. … The ‘language builder‘ in at least some cases is a bricoleur, not a “rational agent‘ operating under some clearly defined ‘hermeneutic imperative‘. The essential impression is opportunism, not rationality (conscious or unconscious), and the results are disorderly and unpredictable. (ebd., 313)
Durch den Aufbau eines thematischen Feldes und durch die Kontextualisierung ähnlicher Diskurse ergeben sich in den Psychiatrietexten sprachliche Ähnlichkeiten, die in eine sprachliche Typik und Idiomatisierung münden können, jedoch nicht müssen. Im Akt des Schreibens selbst ergeben sich semantische Verschiebungen, die nicht als kommunikativer, zweckreduzierter Funktionalismus und in einem nur willkürlichen und weiten Sinne als das Wirken kommunikativer Maximen zu deuten sind. Die durch das Schreiben selbst induzierte Weiterbestimmung bezieht sich darauf, dass alles, was in Texten erscheint, den Charakter eines Vorschlags hat, eine Art Einladung zur Weiterführung ist und einen sequentiellen Wiederaufgriff (Handlungen des zweiten Zuges) ermöglicht, so zum Beispiel: es werden Meinungen dargelegt: es wird etwas behauptet (BEHAUPTEN), es wird versucht, Wissen zu transferieren, z. B. indem Erfahrungen weitergegeben werden: es wird etwas mitgeteilt (MITTEILEN), es werden Erklärungen zur Ursache psychischer Erkrankungen gemacht (ERKLÄREN). Grob zu unterscheiden ist hier zwischen empirischen und rationalistisch-introspektiven Erklärungen. Die empirischen können – wie sich zeigen wird – selbst noch einmal subklassifiziert werden, z. B. in physiologische Erklärungen, Erklärungen durch akute somatische Erkrankungen, etc.,
104 es werden „Vorschläge“ gemacht zu unterschiedlichen Bereichen der psychischen Erkrankungen (KLASSIFIZIEREN/TYPISIEREN), es werden Schlussfolgerungen auf der Basis von Beobachtung oder medizinischer Untersuchung gezogen, die als Typisierungsleistungen zu betrachten sind (TYPISIEREN). Davon sind direkte, metakommunikativ reflektierte Antworten auf einen anderen Text zu unterscheiden, bzw. das Problematisch-Werden einer Wahrnehmung kann auch direkt thematisiert werden. Bei Kontroversen, z. B. beim Streit zwischen Psychikern und Somatikern, geraten thematische Felder und ihre Auslegungen selbst ins Visier, so dass die vorher implizit geltenden Standards reflektiert werden und die eigene Position gegenüber anderen gekennzeichnet und ausgezeichnet wird. Die Zurückweisung einer gegnerischen Position, bei der direkt auch streitspezifische Handlungen eingesetzt werden, führt zur Präzisierung und Darstellung der eigenen Argumentationsgrundlagen. Der Versuch, sich der Phänomenebene (mit dem oben skizzierten Sprachhandlungsprofil) anzunähern, was zur Kontextfortbildung führt, und der Versuch, bestimmte Erklärungen zu sanktionieren, indem das thematische Feld begrenzt wird, sind aufeinander bezogene Prozesse. Einerseits emanzipieren sich die Erfahrungen der Psychiater von ihren kulturellen Konnotationen, tragen zur Bestimmung von Typen bei, andererseits bedingen diese Erfahrungen, dass es nun konkurrierende Sichtweisen auf die Ursachen psychischer Erkrankungen und das heißt unterschiedliche Interpretations- und Motivationsrelevanzen gibt: Der „Naturforscher“ ist nun der gute Psychiater, nicht der Philosoph oder Literat.
3.2.3
Typenbildung und sprachliche Professionalisierung
Während die bisher referierten Bestandteile der sozialphänomenologischen und wissenssoziologischen Theoriebildung sich eher auf die Dynamik der zwischenmenschlichen Kommunikation beziehen und ihrer Veränderung als solcher nachzugehen versuchen, ist nun zu klären, wie sie mit dem Entstehen einer Fachsprache zusammenhängen. Grundsätzlich gehe ich von folgenden Thesen aus: Institutionalisierung bedeutet im Kern eine Einschränkung des Spektrums schriftsprachlicher Handlungsmöglichkeiten, so dass der reproduktive und habitualisierte Anteil schriftsprachlicher Artikulationsmöglichkeiten tendenziell zunimmt, nie jedoch vollständig bestimmt ist. Institutionalisierung setzt voraus, dass sich die die Institution herstellenden Akteure schriftsprachlich hinreichend ähnlich verhalten und Wissen an „Novizen“ so vermittelbar ist, dass der Fortbestand der Institution gewährleistet ist. Institutionalisierung schafft eine eigene Kontextumgebung, von der ihr Fortschritt abhängig ist, jedoch nicht sein muss.
105 Im Fokus sozialphänomenologischer Theoriebildung steht verständlicherweise nicht die sprachliche Professionalisierung. Es werden die Bedingungen und Möglichkeiten von Typ-Modifizierungen auf der Grundlage kommunikativer Prozesse beschrieben, nicht jedoch die sprachliche Realisierung von Typen selbst. Deshalb möchte ich hier einige Hinweise zur Verbindbarkeit von Sozialphänomenologie und Linguistik geben. Ein erster Zusammenhang ergibt sich über den Begriff der notwendigen Kontextfortbildung und der Bestimmung des Schreibens als „offen-begrenzt“. Die Behauptung, die Kontextfortbildung bestehe in der kohärenten Verformung, in der Kombination und Selektion schon bestehender Elemente, lässt sich linguistisch so verstehen: Die textlichen Aneignungsformen, ihre Kompositions- und Darstellungsformen (z. B. die Argumentationsführung), sind zu Beginn nicht psychiatriespezifisch und fußen auf einer Adaption, wie schon in Kap. 2.3 gesehen, unterschiedlicher Aneignungsformen, die für andere Texte, bspw. aus der philosophischen Anthropologie oder die Naturgeschichte, charakteristisch sind und sowohl zu einer referentiellen als auch texttypologischen Intertextualität führen. Die Zusammenführung ergibt sich über das eröffnete thematische Feld „psychische Abweichungen“. Die dadurch entstehenden „Texthybride“ weisen – im Anschluss an den ethnomethodologischen Stilbegriff von Auer 20 – keinen einheitlichen Stil, keine thematische Zentrierung und ähnliche Problembehandlung auf. Kontextfortbildung ist notwendig auf im thematischen Feld liegende intertextuelle Beziehungen verwiesen: so als Nennung anderer Autoren, als das Zitat anderer Texte und die Übernahme der Textarchitektonik. Von der Intertextualität, die einen anderen Text in gewisser Weise noch als Text erkennbar werden lässt, möchte ich die Kontextualisierung unterscheiden, die ebenfalls nicht unerheblich zur Kontextfortbildung beiträgt. Unter Kontextualisierung soll hier verstanden werden: zum einen die Übernahme von bestimmten Haltungen (Habitus) und ihre sprachliche Markierung, die auf andere Diskurse hinweisen, was den Aspekt der sprachlichen Inszenierung betrifft und zum anderen die Übernahme von vornehmlich Lexemen, Kollokationen und Phraseologismen, deren primäre Verwendungskontexte mehr und weniger stark evoziert werden (z. B. die Sprache des Herzens, der Sturm der Leiden-
______________ 20
„Eine Differenzierung ist möglich, wenn Stil als eine Menge kookkurrierender, sozial interpretierender Merkmale aufgefaßt wird. Von Stil kann nicht erst die Rede sein, wenn Strukturelemente zu einem gewissen Grad über eine längere Textpassage harmonieren, sondern auch zusammen oder jeweils individuell von den Mitgliedern einer Kultur bzw. Sprechgemeinschaft konsistent interpretiert werden. Diese Interpretation impliziert immer auch den Vergleich mit anderen verfügbaren, alternativen Stilen …“ (Auer 1989, 29)
106 schaften, der freie Wille). 21 Der hier bevorzugte Kontextualisierungsbegriff schließt sich eher mittelbar an die Kontextualisierungsforschung in der Konversationsanalyse (so bei Gumperz 1982) an, in der Kontextualisierung ein auf die mündliche Kommunikation bezogener Prozess von Interpretation und Reinterpretation gesehen wird, mit dem soziale Realität hergestellt wird. Nach Selting (1995, 11) bedeutet Kontextualisierung immer die Nahelegung eines Interpretationsrahmens für die Interpretation einer konkreten Äußerung in einer konkreten Interaktionssituation. Einerseits möchte ich den Aspekt der Interpretierbarkeit im Anschluss an die Konversationsanalyse übernehmen, andererseits aber auch die kulturelle Gebundenheit gerade von mehr oder weniger festen und wiederkehrenden Verbindungen betonen, im Sinne der von Feilke thematisierten pars-pro-toto-Konstitution von Bedeutung (möglicherweise könnte man auch hier eher von Rekontextualisierung sprechen): Idiomatisch geprägte Ausdrücke funktionieren als arbiträr-konventionelle und relativ motivierte Figur-Hintergrund-Zeichen. Der in aller Regel strukturell komplexe Ausdruck (Figur) indiziert ein Schema (Hintergrund). Die in dieser Weise auf idiomatische Prägung gestützte pars-pro-toto-Konstitution von Bedeutung (Kontextualisierungssemantik) ist kommunikationstheoretisch prioritär gegenüber kompositioneller Bedeutungskonstitution (Mead, Bateson, Gumperz, Auer). (2003, 60) … ein die semantischen Selektionen koordinierender linguistischer Common sense, in dem die Kontingenz grammatisch und semantisch möglichen Zeichenausdrucks zu einer sozial bestimmten, d. h. individuell nicht optionalen Ausdruckstypik verdichtet ist, über die die semantische Koorientierung u. a. bewerkstelligt wird. Auch für diesen Common sense gilt, daß nicht denotative Repräsentations- und Widerspiegelungsfunktion seiner Elemente den Wert bestimmt. Die primäre Norm der Zeichenverwendung und des Zeichenausdrucks ist die Anschließbarkeit an einen semiotischen Habitus. (Feilke 1994, 103)
Kontextfortbildung meint nicht nur die Kontextfortbildung in Hinsicht auf Adaption, sondern Kontextfortbildung fokussiert auch die sprachliche Aktivität im Sinne des (Fort)Bildens (vgl. Kap. 2.2.3). Um 1800 existiert keine eigenständige psychiatrische Terminologie, sondern eine adaptierbare philosophische, naturgeschichtliche und medizinische Begrifflichkeit sowie eine adaptierbare Bildungssprache. Die Texte weisen also eine heterogene Traditionsschichtung auf, sind zudem varietätenimmanent polysem und bedienen sich einer thematisch gebundenen Sprache, wobei sowohl Prozesse ______________ 21
Bei der syntaktischen Gestaltung sind mögliche Verweisungen diffus, da es nur die Gemeinsamkeit eines expliziten hypotaktischen Stils gibt. Es muss sich wiederum in der Terminologie der Sozialphänomenologie erst eine eigene Sinnprovinz oder Enklave mit einem spezifischen „Erkenntnisstil“ (der in den sedimentierten Erfahrungen mit einem ‚Vorzeichen‘ konnotiert wird) und einer angemessenen sprachlichen Konstitution herausbilden (vgl. Schütz/Luckmann 1979, 51ff.).
107 einer Weiterbestimmung (z. B. Weiterentwicklung durch Metaphern und Analogien sowie durch die okkasionelle Amalgamierung von Wortschatzressourcen, die später in Kollokationen lexikalisiert werden) als auch Selektionsprozesse schon zu Beginn sichtbar werden (so die Vermeidung eines religiös konnotierten Vokabulars). Im Bereich der Psychiatrie erweist sich die Form der Kontextfortbildung als besonders interessant, die mit Eigenschaftszuschreibung und sprachlicher Typisierung korreliert. Die über das bloße Vertrautsein notwendige Bestimmung und Weiterbestimmung von Typen erfolgt auf unterschiedlichen sprachlichen Ebenen, die später präzisiert, hier jedoch zumindest annäherungsweise genannt werden sollen. Auf der Symptomebene finden sich als textuelles Produkt von Interpretationsleistungen sprachliche Handlungen des Prädizierens: sowohl ist-Prädikationen als auch ist-wie-Prädikationen. Gleichzeitig sind auf der Symptomebene alle Möglichkeiten der Attribuierung besonders relevant, so durch: Gattungs- und Krankheitsbezeichnungen („ist melancholisch“), Generizität ausdrückende Lexeme und entsprechende nomina agentis („ist ein Phantast“), attributiv (und prädikativ) gebrauchte, zumeist qualifizierende Adjektive und Partizipien („ein stürmischer und wilder Patient“), die Nutzung von Kollokationen und Phraseologismen aus der Gemeinund Bildungssprache, besonders zur Verhaltenscharakterisierung und oft in reduzierter Form („gespannt wie eine Feder“), gemein- und bildungssprachliche Metaphern sowie Bilder bzw. metaphorische Vergleiche und Kompositabildungen, ebenfalls zur Bezeichnung von Eigenschaften und Handlungen („verhält sich wie ein wildes Tier“), die bildungssprachliche Verfügbarkeit und Aneignung von Termini aus der Philosophie zur Eigenschaftszuschreibung („hat keine willkürliche Verstandestätigkeit“), charakteristische syntagmatische Verknüpfungen bzw. charakteristische Kookkurrenzpartner zur Handlungs- und Eigenschaftszuschreibung („besitzt eine lebhafte Einbildungskraft/Phantasie“), charakteristische Verknüpfung von Wortschatzressourcen („zeigt imbecille Willenshandlungen“, hier aus Philosophie und Medizin). Neben Attribuierungen sind hier noch zu nennen: die direkte und metakommunikative Konstitution von Relevanzen (inter- und transdiskursive Begriffsarbeit), die der Bestimmbarkeit zu Grunde liegen; die Verknüpfung von Relevanzstrukturen mit einem textlichen Aneignungsmuster, bspw. in einer bestimmten temporalen Anordnung, so dass eine Art textueller Ikonismus von Darstellungsformen als Reflex von Relevanzstrukturen entsteht. Gleich-
108 zeitig müsste sich „bestimmen“ auch darauf beziehen, die entsprechenden Handlungen in Gang zu setzen und medizinisch zu interpretieren. Grundsätzlich ist mit einer Kontextfortbildung die intersubjektive Anschließbarkeit notwendig mitgegeben, die u. a. entsprechende thematische Verbindungen von jedem Textproduzenten erfordert (z. B. die Orientierung an bestimmten physiognomischen Bildern). Sprachliche Professionalisierung (angedeutet durch das -ung) bedeutet im Rahmen der Kontextfortbildung, dass es eine Richtung des Forschens ausgehend vom thematischen Interesse der Textproduzenten gibt, ohne dass dies in irgendeiner Weise teleologisch zu verstehen ist. Der gemeinsame Nenner der unterschiedlichen Formen sprachlicher Professionalisierung ist, dass der reproduktive Anteil in der Soziogenese, bezogen auf eine eigene Indexikalität, tendenziell zunimmt. Die Vorstellung der Soziogenese der psychiatrischen Schreibpraxis, die sich über Kombination und Selektion speist, hat erkenntnis- und wissenschaftstheoretische Implikationen, die sich mit dem der Gestalttheorie, Sozialphänomenologie und Wissenssoziologie verwandten Denken des Mediziners Ludwik Flecks (1935/1980) verbinden lassen, da er auf die Historizität und Denkstilabhängigkeit jeglichen Wissens aufmerksam macht. Wesentlich ist die Auffassung, dass sich zwischen den Erkennenden und das Zu-Erkennende der jeweilige Wissensstand schiebt, der einem bestimmten Denkkollektiv und einem bestimmten Denkstil verpflichtet ist. Erkennen ist „kein individueller Prozeß eines theoretischen ‚Bewußtseins‘ überhaupt; es ist das Ergebnis sozialer Tätigkeit, da der jeweilige Erkenntnisstand die einem Individuum gezogenen Grenzen überschreitet.“ (ebd. 54) bzw. „Das Erkennen ist die am stärksten sozialbedingte Tätigkeit des Menschen vor und die Erkenntnis ist das soziale Gebilde katexochen. Schon in dem Aufbau der Sprache liegt eine zwingende Philosophie der Gemeinschaft, schon im einzelnen Worte sind verwickelte Theorien gegeben.“ (ebd., 58). Damit sind auch Kombinationsprozesse verbunden: „Ob Erkenntnisse vom individuellen Standpunkte Wahrheit oder Irrtum, ob sie richtig oder missverstanden scheinen, sie wandern innerhalb der Gemeinschaft, werden geschliffen, umgeformt, verstärkt oder abgeschwächt, beeinflussen andere Erkenntnisse, Begriffsbildungen, Auffassungen und Denkgewohnheiten.“ (ebd. 58). Jede empirische Entdeckung „kann also als Denkstilergänzung, Denkstilentwicklung und Denkstilergänzung“ (ebd., 122) gesehen werden, wobei eine die Entwicklung eines Denkstils überhaupt mit dem der Entwicklung kanonischen Wissens und der Ausblendung möglicher Widersprüche verbunden werden soll. Mit dieser allgemeinen erkenntnistheoretischen Annotation verbindet Fleck jedoch auch eine spezifische Entwicklungslinie (z. T. jedoch auch ein Nebeneinander), da er im Bereich des Wissenschaftlichen den Übergang zwischen einer Zeitschriftwissenschaften zu einer Handbuchwissenschaft, in dem Bereich des Vorläufigen, Persönlichen und des Verworrenen unter-
109 schiedlicher Stile (ebd., 121), zunehmend zurückgenommen werde und mit einer Denkstilentwicklung korreliere, verantwortlich macht (vgl. Kap. 5.). Dabei lassen sich die Auffassungen Flecks gut auf einen Kommunikationsprozess beziehen: „Man kann also kurz sagen, jeder interkollektive Gedankenverkehr habe eine Verschiebung oder Veränderung der Denkwerte zur Folge.“ (ebd., 143). Sprachliche Professionalisierung selbst ist gebunden an: a) die Ablösung von Text(sorten)hybriden über die Präferenzbildung zu einer bestimmten Darstellungsform bis hin zu praxisnahen, didaktischen und innovationsorientierten Textsorten, die in gewissen Teilen reproduzierbar sind und die Praxis identifizierbar machen. Textsorten sind mehr als ein Konglomerat von struktur- und/oder funktionsbezogenen Charakteristika, sondern sind Konstitutionsformen einer sich (entwickelnden) Praxis, auf deren Grundlage ihr Entstehen erklärt werden kann. Dies entspricht der Vorstellung von kommunikativen Gattungen ebenso wie dem genreBegriff. Für diesen Professionalisierungsprozess ist dabei sehr wichtig, die relevanten Texttraditionen zu bestimmen, die sich ihrerseits zu bestimmten Textsorten ausdifferenzieren. Dabei ist die Entwicklung einer Textsorte nicht unabhängig von den „constellations of genres“ und „genre networks“ (Swales 2004, 12ff., 21f.) zu bestimmen, die ihrer sowohl Hierarchien als auch Interdependenzen („genre chains“) ausbilden. Das Schreiben tendiert damit von einem kreativen, in dieser Form unnachahmlichen Akt zu einem vorgabezentrierten Aufgaben-Bewältigen mit entsprechend kanalisierten Erwartungen auf der einen Seite, zur Ermöglichung von kreativen Schreibakten im Rahmen etablierter Texte auf der anderen Seite, wobei betont werden sollte – das zeigen schon unterschiedliche Formen, eine Anamnese zu verschriftlichen –, dass immer Gestaltungsfreiraum beibehalten wird; dieser Gestaltungsfreiraum zeigt sich in unterschiedlichen Textsorten auf unterschiedliche Weisen. b) die Ablösung von stilistischer Inhomogenität durch stilistische Homogenität, verbunden mit dem Erwerb eines für einige Textsorten verpflichtenden Kollektivstils (z. B. durch die Vermeidung sekundärer Mündlichkeit, die in den frühen Schriften noch auftritt). Dies betrifft v. a. die Begrenzung des Gestaltungsspielraumes sprachlicher Handlungen: in Hinsicht auf die sekundäre Mündlichkeit und die ihr inhärente Emotionalisierung und die damit verbundenen expressiven, appellativen oder persuasiven sprachlichen Handlungen. Gleichzeitig gilt dies zunächst nicht für die syntaktische Gestaltung, so dass sich lange Zeit keine präferierten syntaktischen Erscheinungen zeigen. Gerade im Hinblick auf den Stil gilt es im Auge zu behalten, inwiefern sich dieser seinerseits von unterschiedlichen rhetori-
110 schen Traditionen (z. B. dialogförmige Aufbereitung durch sermonicatio, concessio, ältere Kontroversemuster, siehe Kap. 4.3) emanzipiert. c) die Ablösung von der Kontextualisierung anderer Diskurse über den Aufbau lexikalischer Demarkationslinien zum Aufbau einer eigenen Kontextumgebung, die dann zur Indexikalität anderer Begriffe führt. Hauptsächliches Movens ist die Indienstnahme von Lexemen anderer Diskurse. Die tendenzielle und notwendige Vagheit und Porosität der Gemeinsprache, die zur situativen Passgenauigkeit sprachlichen Handelns im Alltag notwendig ist, wird auf einen Wortschatz begrenzt, der die situative Passgenauigkeit im disziplinenspezifischen Rahmen gewinnt bzw. diesen erst hervorbringt. Damit ist ausdrücklich nicht gesagt, dass dieser Wortschatz in irgendeiner Weise genauer sein muss als der der Gemeinsprache (in weiten Teilen psychiatrischen Formulierens kann er das überhaupt nicht sein), er muss allerdings eine fortgesetzte Verständigung und Wissensvermittlung gewährleisten. Allerdings ist zu bemerken, dass mit einer Professionalisierung nicht nur eine Stabilisierung nach innen (esoterisch), sondern auch eine Abgrenzung nach außen (exoterisch) verbunden ist, die eine Identifizierbarkeit der Praxis ermöglicht. In diesem Sinne ist sprachliche Professionalisierung m. E. mit Differenzmarkierungen verbunden, die eine besondere Beachtung verdienen. Diese Markierungen beziehen sich zunächst nicht so stark auf eine mögliche eigene Terminologie, sondern auf die Nivellierung des eigenen sprachlichen Ursprungs (hier z. B. die Abgrenzung von der Philosophie) und die sprachliche Verdeckung von Eingangsdiskursen. Ebenso wichtig wie die Nivellierung und die damit einhergehende Verfremdung sind die Anverwandelung von Kernbegriffen und die prestigeträchtigen Anleihen aus anderen Disziplinen (der Strahlungskraft sozialdarwinistischer Lehren entgeht auch die Psychiatrie nicht). Im Falle der Psychiatrie sehr spät werden Typisierungen/ Idiomatisierungen „im Prozeß der Institutionalisierung als institutionalisiertes semiotisches Wissen miterzeugt.“ (Feilke 1994, 147) Die unterschiedlichen Formen der Professionalisierung wirken, wie in dieser Untersuchung gezeigt wird, zusammen: Die Entwicklung einer psychiatriespezifischen Indexikalität steht im Wechselverhältnis mit reduzierten Vertextungen in der Klinik (eine Art von fachsprachlichen Notizen in den Krankenakten), die bspw. die Verdrängung des Patientensubjekts und konkreter Fälle aus dem Schreiben von Lehrbüchern bedingen (vgl. auch Kap. 5.). D.h. jede im Schreiben selbst entwickelte sprachliche Einheit eröffnet einen disziplinenspezifischen Möglichkeitsraum, der vorher nicht unbedingt gegeben war. Die übergreifenden Effekte der Professionalisierung sind: Enthistorisierung (das hindert nicht daran, auch immer wieder prestigeträchtige Anleihen bei anderen Disziplinen zu machen), Habitualisierung und Vereinheitlichung sowie Legitimierung des eigenen Tuns (bei Erhaltung des inhä-
111 renten Dialogpotentials). Die Dynamik der Entwicklung speist sich aus der Dynamik eines immer offen-begrenzten Schreibens, einer immer präsenten Kontextfortbildung selbst, aus den entsprechenden Formen der Bestimmbarkeit und dem eröffneten thematischen Feld, das ein Richtungsempfinden vorgibt – dazu muss eine entsprechende Dialogizität immer beibehalten und gewährleistet werden. Eine in Grenzen vereinheitlichte Kommunikationspraxis (denn in toto ist eine Vereinheitlichung nicht möglich) erfordert die Weitergabe von Wissen, die den Einstieg in eine institutionalisierte Praxis möglich macht. Gleichzeitig ist damit verbunden, dass eine institutionenspezifische Rollenverteilung von Meistern und Novizen etabliert wird. Institutionalisierung ist für die sprachwissenschaftliche Beschäftigung in drei Hinsichten relevant: Zum ersten in Bezug auf die Wege und Kanäle, durch die institutionenspezifisches Wissen vermittelt wird (durch Lehrbücher ebenso wie durch praktische Handlungsweisen im institutionellen Kontext: „Potentielle Akteure für institutionalisierte Akteure müssen daher systematisch mit institutionalisiertem Sinn bekannt gemacht werden. Ein Erziehungsprozeß wird nötig.“ – Berger/Luckmann 1980, 74), zum zweiten in Hinsicht auf die Rollenverteilung Arzt-Patient in der Institution selbst und zum dritten in der selbstständigen Aneignung mittels bestimmter, zum Lernen geeigneter Texte. Man kann die dadurch gewährleistete Form des Wissens als ein Art Rezeptwissen verstehen. Wir haben es hier mit einer sekundären Sozialisation bzw. in einem gewissen Rahmen auch Resozialisation zu tun: Die sekundäre Sozialisation erfordert das Sich-zu-eigen-Machen eines jeweils rollenspezifischen Vokabulars. Das wäre einmal die Internalisierung semantischer Felder, die Routineauffassung und –verhalten auf einem institutionalen Gebiet regulieren. Zugleich werden die ‚stillen Voraussetzungen‘, Wertbestimmungen und Affektnuancen dieser semantischen Felder miterworben. Die ‚Subwelten‘, die mit der sekundären Sozialisation internalisiert werden, sind im allgemeinen partielle Wirklichkeiten im Kontrast zur ‚Grundwelt‘, die man in der primären Sozialisation erfaßt. (Berger/Luckmann 1980, 149). Dabei: …, muß doch bemerkt werden, daß die typische Übernahme vergesellschafteter Fertigkeiten, Verhaltensrezepte und ‚Traditionen‘ meist in einer Verflechtung von nachahmender Übernahme der im Verhalten des Anderen ‚objektivierten‘ Muster, ‚eigenständigen‘ Schritte des Erwerbs und expliziter Wissensvermittlung auf der sprachlichen Ebene zustande kommt. So enthalten ein typischer Gehstil, ein typischer Arbeitsstil und ein typischer Kunststil diese Komponenten des Wissenserwerbs in verschiedenen Proportionen. (Schütz/Luckmann 1979, 322)
Gleichzeitig schafft sich eine einmal institutionalisierte Praxis eigene Legitimationsformen, wobei sie am Beginn eher pragmatisch sind (dazu gehören bspw. Sprichwörter) und noch keinen Bezug auf explizite Theoriegebäude (explizite Legitimation) herstellen. Damit verbunden ist eine synoptische eigene Traditionsbildung bzw. die Organisation und Herstellung
112 des eigenen Wissensvorrats zu den Konstitutionsbedingungen einer Fachsprache (Regeln für Objektivationen, Sedimentbildung und Ansammlung von Wissen). Ich fasse an dieser Stelle noch einmal zusammen: Der Weg von der Bildungs- zur Fachsprache ist ein Weg sprachlicher Professionalisierung, der, wie zu sehen sein wird, allerdings nicht linear erfolgt. Sprachliche Professionalisierung korreliert mit Sprachwandelprozessen, die sich auf die notwendigen Kontextfortbildungen beziehen und insofern nie ad-hoc und radikal verlaufen, sondern von der Dynamik der koproduktiven Genese abhängig sind. Kontextfortbildungen werden allerdings auch von psychiatriespezifischen Kontroversen mitbestimmt. Sprachliche Professionalisierung im Zusammenhang und im Wechselspiel mit Institutionalisierung verläuft auf drei Ebenen: a) Schaffung eines eigenen Textsortenpools mit einem relativ homogenen Stil (d. h. alle denkbaren Textsortenebenen sind unmittelbar betroffen), b) Erstellen von Textsortenhierarchien und c) Aufbau einer eigenen fachspezifischen Kontextumgebung. Gleichzeitig ermöglicht diese auch die Weitergabe von Wissen. Da wir es gerade im Bereich der Psychiatrie mit zunächst auf personalen Typen beruhenden Typisierungen und entsprechender Ursachenforschung zu tun haben, beziehen sich die Sprachwandelprozesse ebenso auf alle prädikationsfähigen sprachlichen Einheiten (Bestimmbarkeit) wie auf explizit verbalisierte als auch präsupponierte Schlüsse und Angaben von Motivations- und Interpretationsrelevanzen. Folgende Thesen werde ich in den folgenden Untersuchungen zu plausibilisieren und zu begründen versuchen: Die psychiatrische Fachsprache ist nicht aus dem Nichts entstanden, bestimmte Diskurse und Texttraditionen werden adaptiert und anverwandelt; Die Genese der psychiatrischen Fachsprache beruht nur am Rande auf Formen sprachlicher Innovation (genuine Taufakte sind selten), sondern auf Formen sprachlicher Kreativität auf dem Boden bereits etablierter Diskurse, Texttraditionen und Termini; Die psychiatrische Fachsprache in ihrem Werdegang weist eine heterogene Traditionsschichtung, eine Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen auf, was sich auf unterschiedlichen sprachlichen Ebenen zeigt; Die psychiatrische ebenso wie andere Fachsprachen, was durch die synchron und anwendungsorientiert arbeitende Fachsprachenforschung und durch die minimale Metapher „Fach“ oft verdeckt wird, engen den sprachlichen Gestaltungsfreiraum nie vollständig ein und bestehen nie aus-
113 schließlich aus reproduktiven Schreibakten (was z. B. manchmal durch die Hypostasierung unterschiedlicher Zwecke nahe gelegt wird); Die Sozialisation in die Praxis einer bestimmten Art, hier der Psychiatrie, besteht nicht ausschließlich nur aus Erlerntem, sondern auch aus simulativen Vorgängen – jede Fachsprache ist nur teilweise erlernbar (im Sinne eines Lehrbuchwissens); In jeder Fachsprache, so auch in der Psychiatrie, scheint es bestimmte Bereiche zu geben, die die Erkennbarkeit der Praxis sichern und gleichzeitig eine Fülle von fachsprachlichen Indikatoren in dem hier dargestellten Sinne aufweisen (im Gegensatz zur Anamnese, die relativ freies Formulieren zulässt, die Epikrise) – es gibt in jeder Fachsprache wiederum abgegrenzte Bereiche, in denen man so und nicht anders schreiben kann, es sei denn, man möchte etwas über den eigenen sozialen Status mitteilen. In den folgenden historischen Studien soll nun in Kap. 4.1–4.5 gezeigt werden, welche Traditionslinien das frühe Schreiben (von 1800 bis in 1840er Jahre) prägen und wie die dadurch überlieferten personalen Typen und deduktiv ermittelten Erklärungen durch die Psychiater der ersten Generation umgestaltet, weiterbestimmt werden und wie sich ein Fach, bzw. eine entsprechende Praxis etabliert: mit inhärenten Gütern und Maßstäben der Vortrefflichkeit. In Kap. 5.1–5.3 wird gezeigt werden, wie sich wissensvermittelnde Texte in der Konsolidierungs- und Ausbauphase der Psychiatrie entwickeln und in welcher Weise sie Novizen eine sekundäre Sozialisation ermöglichen. Auf der Basis von Lehrbüchern wird gleichzeitig gezeigt, wie sich das Schreiben in der Psychiatrie selbst fortentwickelt. In Kap. 6.1 und 6.2 wird am Beispiel der Hysterie und der Schizophrenie sowie der parallelen Popularisierung der Rassenhygiene gezeigt, wie Typen quasi wieder „resozialisiert“ werden und die Praxis erneut umstrukturieren.
Historische Studien
4.
Von der philosophischen Anthropologie zur ärztlichen Beschreibungssprache: Initialphase
In der psychiatriehistorischen Literatur wird die Zeitspanne von 1800 bis in die 1840er Jahre mit der Gründung und Institutionalisierung moderner Heilund Pflegeanstalten verbunden (vgl. Kap. 2.1.2). Ab den 1840er Jahren ist das Schreiben über psychisch Kranke im Gegensatz zur Jahrhundertwende nicht mehr beliebig, insofern konkurrierende Zugangsweisen toleriert würden. Im Gegensatz zu den Postulaten der Psychiatriegeschichte sind es nicht nur die theoretischen Debatten (z. B. zwischen Psychikern und Somatikern), die den sprachlichen Zugang zur Phänomenebene und die Praxis des Schreibens in der Institution „Psychiatrie“ regeln, sondern zumindest gleichrangig das Erzählen über psychische Krankheiten. Erst dieses weist überhaupt den Weg zur Deskription, indem Beobachtungen und Erfahrungen nicht nur zugänglich, sondern auf einer abstrakteren Ebene synthetisierbar werden. Im folgenden Kapitel werde ich zunächst die generellen sprachlichen Voraussetzungen der Psychiatrie darstellen und die Argumentationsgrundlage des Kapitels 3.1.3 erweitern (vgl. Kap. 4.1). Dann erfolgt eine Auseinandersetzung mit Schriften, vornehmlich Monographien, die noch vor oder parallel zur Gründung der ersten modernen Heilanstalten verfasst worden sind (vgl. Kap. 4.2). Diese Darstellung, die aus noch näher zu thematisierenden Gründen v. a. charakteristische Textstrukturen und dominante sprachliche Handlungen umfasst, ist deshalb notwendig, weil sie die Grundlagen psychiatrischen Schreibens beleuchtet, von denen sich Psychiater in der Folgezeit ablösen und die sie umgestalten. Den Schwerpunkt des Kapitels 4.3. bilden Abhandlungen, die ab 1818 in den unterschiedlichen Zeitschriften erschienen sind, so in der Zeitschrift für psychische Ärzte (1818–1822) und der Zeitschrift für Anthropologie (1823–1826), sowie Monographien zu psychischen Krankheiten, die bis Mitte der 40er Jahre erstellt worden sind (s. Quellenverzeichnis). Besonders wichtig sind hier die Herausbildung der psychiatrischen Krankengeschichte und die vorliegenden lexikalischen Ähnlichkeiten. Es werden hauptsächlich sprachliche Prozesse dokumentiert wie bspw. die pragmatische Regulierung von Begriffsverwendungen (so die Ablösung von seelisch durch psychisch) oder die Herausbildung und Anverwandelung („kohärente Verformung“) metaphorischer Modelle, die in der Ausbauphase nutz-
116 bar gemacht werden. Das Kapitel schließt mit der Darstellung der Zeitschrift für die Beurtheilung und Heilung krankhafter Seelenzustände, die 1838 erschien und die den Abschluss der Initialphase vorbereitet, da ihre Verfasser nicht nur auf unterschiedliche Weise versuchen, Bilanz zu ziehen und vorgängige Entwicklungen zu bewerten, sondern auch da sich hier der Übergang von der am Individualfall orientierten Erzählung zur typisierenden Deskription vollzieht.
4.1
Sprachliche Voraussetzungen der Psychiatrie
Parallel zur Institutionalisierung der Psychiatrie geraten Begriffe, mit denen psychische Krankheiten klassifiziert werden, in den Fokus der Aufmerksamkeit von Psychiatern. Vielen nun professionell arbeitenden Psychiatern der Anfangszeit ist bewusst, dass sie sich mit einem schwierigen Gegenstand auseinanderzusetzen haben, dessen sprachliche Hervorbringung problembehaftet ist. Grundprobleme wurden schon im dritten Kapitel (vgl. Kap. 3.1.3) beleuchtet und mit den Stichwörtern „Rahmenbezug“, „Diachronie“, „Diskursivität“ und „Beobachtungsadäquatheit“ belegt. Damit ist verbunden, dass die Definitionshoheit über viele, in der Auseinandersetzung mit psychisch Kranken wichtige Begriffe nicht bei der Psychiatrie, sondern bei der philosophischen Anthropologie und Erkenntnistheorie liegt. Während unterschiedlich definierte philosophische Termini 1 als das eine Ende eines Kontinuums zu begreifen sind, stellen gemeinsprachliche Lexeme (der „Rahmenbezug“), wie gesehen, das andere Ende dar, von dem sich die Psychiater abgrenzen wollen. Diese Probleme – was später noch ausführlich thematisiert wird – werden zunächst nicht durch empirisches Arbeiten, sondern nach dem Vorbild der Philosophie sprachanalytisch, durch das Festlegen von Verwendungsweisen gelöst. Gerade im Bereich Symptomologie gibt es zunächst kaum Wortschatzbestandteile, der sich in irgendeiner Form von der Philosophie auf der einen und von der Gemein- bzw. Bildungssprache auf der anderen Seite abgrenzen ließen. Die Konstruktion einer vermeintlichen Objektivität betrifft allerdings nicht nur die Symptome – sozusagen das Sichtbare –, sondern auch die Ursachen für den Ausbruch und die Entwicklung einer psychischen Krankheit. Auch sie werden von noch nicht genuin medizinisch ______________ 1
Roelcke (1989, 106f.) zeigt 23 (!) unterschiedliche Bedeutungen des Terminus „Vernunft“ bei Kant; unterschiedliche Bedeutungen sind auch anzunehmen für weitere Begriffe, die auch von den frühen Psychiatern verwendet werden: so Einbildungskraft, Sinn, Sinnlichkeit oder Verstand.
117 geprägten Interpretationsrelevanzen bestimmt. Die Klage über die unzureichende Begrifflichkeit begleitet die „Erfindung“ der Psychiatrie (sensu Kaufmann 1995), jedoch auch die Konsolidierung der Psychiatrie wie einen Subtext: Gleich die vielfachen Benennungen dieser Krankheiten bei uns: Geistes-SeelenGemüthskrankheiten, Krankheiten des Vorstellungsvermögens, mit ihren überwiegend psychischen Symptomen, Verrücktheit, Irrseyn, Seelenstörungen etc. deuten auf das Vage, Unbestimmte des Ursächlichen mehr denn Mancher glauben mag. Die Ursachen werden nun gesucht: bald im Leibe, bald in der Seele, bald im Geiste, gemischt, oder einzeln für sich. Seele und Geist werden abwechselnd für gleiche und für nicht gleiche Begriffe genommen; oder sie werden unterschieden, aber der Unterschied wird nicht bestimmt, … (Damerow 1829, 250; Hervorhebung v. d. Verf. – B-M. Sch.)
Etwas düster zeichnet er einige Seiten vorher das Bild: Die Lehre vom Wahnsinn steht auf dem Gebiete der Wahrnehmung, Meinung, wo ich mein Meinen für wahr nehme. Die Meinung mag dem Einzelnen subjective Wahrheit seyn, einem Andern ist es eine andere; aber alle diese Meinungen haben dadurch noch nicht objectiven Inhalt und allgemeine Gültigkeit für sich. – Den Gegenstand in seiner Totalität begriffen, ist nicht läugnen: daß es das Bewußtseyn des Wissens vom Nichtwissen ist, was bei dem empirischen Studium der Seelenkrankheiten an sich herausgekommen ist. (Damerow 1829, 243)
Für die Initialphase der Psychiatrie ist die Vielzahl von kookkurrierenden und konkurrierenden Begriffen auffällig, mit denen sowohl die Krankheitsgruppe als auch unterschiedliche Krankheitsformen bezeichnet werden. Die Vielzahl begrifflicher Alternativen ergibt sich durch eine Vernetzung mit dem bis in die Antike zurückreichenden medizinischen Diskurs. Wie komplex das Zusammenspiel sich verschränkender Traditionslinien sein kann – lateinisch, griechisch, volkssprachlich – zeigt eine der ersten Veröffentlichungen: Arnolds Beobachtungen über die Natur, Arten, Ursachen und Verhütung des Wahnsinns oder Tollheit (1784): Die Griechen sind, mit einem Wort, nicht so glücklich als wir in Rücksicht auf die Auswahl ihrer Worte in diesem Betracht gewesen, daß ihre mania, ihrer Meinung nach, nicht so ganz genau auf diejenige Art der Zerrüttung des Gemüths anwendbar ist, die im strengsten Verstand moralisch ist und den eigentlichen Namen stultitia, oder Narrheit hat, wie wohl unsere insania: – daß sie kein Wort haben, wodurch sie diejenige Art von Wahnsinn unterscheiden, … die, mit Narrheit verbunden, von weiterem ist, und sehr genau mit dem übereinstimmt, was ich Wahnsinn in Rücksicht auf die Begriffe nennen, und ihre melancholia zugleich mit dem furor der Lateiner einerley ist, und eigentlich diejenigen Arten des furor nicht in sich begreift, die von ausschweifender Leidenschaft, und nicht von der schwarzen Galle entstehen. (Arnold 1784, 85)
118 Aus diesem für Arnold charakteristischen Zitat geht hervor, 2 dass mit unterschiedlichen bedeutungsähnlichen Lexemen leichte Bedeutungsnuancen verbunden sind. Das bedeutet wie beim charakterisierenden und klassizierenden Vokabular der Philosophie auch, dass mit der Verwendung eines bestimmten Begriffs gleichermaßen die Verortung in einer bestimmten Traditionslinie verbunden ist. 3 Gleichzeitig stellt sich das Problem der Angemessenheit der Übersetzung: Was man mit einem ganz deutschen Ausdrucke die wüthende Tollheit, oder wüthende Raserey, nennen könnte, ist unstreitig dasjenige, was man in den Schriften der Aerzte gewöhnlich unter dem Namen der Manie verstanden hat … Die Manie bringt zuvörderst einen Hang zu gewaltsamen zerstörenden Handlungen hervor. … Zweytens überlassen Rasende sich gern Ausbrüchen eines wilden jovialischen Muthwillens. … In der wilden Lustigkeit, wie in Ausbrüchen des Zorns, fühlt der Mensch in hohem Grade seine Kräfte. … (Hoffbauer 1802, Bd. III, 320f.; Hervorhebung v. d. Verf. – B-M. Sch.)
Die schwierige sprachliche Ausgangssituation wiederholt sich bei den Krankheitsformen, wie die deutsche Übersetzung Esquirols deutlich macht: Der Blödsinn oder Stumpfsinn (idiotisme nach Pinel, idiotie, amentia, imbecillitas ingenii, fatuitas nach Sauvages, Sagar und Vogel, morosis nach Linné, der ursprüngliche oder angeborne Blödsinn nach Cullen I) ist derjenige Zustand des Menschen, in welchem die intellectuellen Fähigkeiten sich niemals gehörig offenbarten und zeigten, …(Esquirol/Hille 1827, 492)
Auch die aus der lateinischen Tradition stammenden Unterteilungen der Krankheitsformen, z. B. melancholia attonita, melancholia errabunda oder mania lactea, die teils beibehalten, teils (partiell) übersetzt, teils jedoch auch volkssprachlich erscheinen, z. B. als stille Melancholie, Mutterwuth, Wahnsinn der Wöchnerinnen stellen ihrerseits wiederum abwandelbare und inhaltlich unterschiedlich zu füllende Formulierungsalternativen dar (vgl. auch Hypochondrie, Grillenkrankheit, Einbildungskrankheit sowie die französische Malade imaginaire). Schwierig einzuordnen sind zudem solche Krankheitsbezeichnungen, bei denen andere Krankheitsbezeichnungen ihrerseits zum ______________ 2
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Arnold triff die Kritik von Pinel: „Man übersetzte und commentirte das Beste und Vernünftigste, was griechische und lateinische Schriftsteller über Manie geschrieben haben, aber man schränkte sich blos auf eine abergläubische Verehrung ein, ohne in den Fußstapfen dieser Muster weiter zu gehen …“ (1801, IV) Die Bezugnahme auf die Tradition muss nicht immer affirmativ sein. So führen Bayle/Hohnbaum aus: „Es würde zu weit führen, wenn ich alle Meinungen der Schriftsteller über die Natur der Geisteskrankheiten anführen sollte. Sie sind zum Teil so leer, so hypothetisch, so irrig und selbst oft so lächerlich, dass es unnütz und ermüdend sein würde, sich auf eine Widerlegung derselben einzulassen.“ (1824, ZfpÄ, 107)
119 Hauptsymptom werden, z. B. bei der mania hysterica. Die Vielzahl potentiell diskursfähiger Lexeme kann folgende Übersicht aus Beiträgen deutlich machen, die von 1818 bis 1822 in der Zeitschrift für psychische Ärzte und von 1823 bis 1826 in der Zeitschrift für Anthropologie sowie in diesem Zeitraum veröffentlichten Monographien erschienen sind. Schon bei den Oberbegriffen ist eine beträchtliche Anzahl von konkurrierenden Begriffen vorhanden, was im Hinblick auf die Krankheitsformen von Bedeutung ist, da sie die Subklassifikation vorgeben. Sie entsprechen weitestgehend den Krankheitsbezeichnungen, die Nasse in seinem grundlegenden Eröffnungsaufsatz der Zeitschrift für psychische Ärzte (1818, Bd.1) thematisiert und hinsichtlich ihrer Güte überprüft (vgl. Kap. 2.2.1): Gattungsnamen/Oberbegriffe Irrer/ Sinnenirrer/Irresein, Geisteskranker/Geisteskrankheit, Wahnsinniger/Wahnsinn, Delirant /Delirium, 4 Verrückter/Verrücktheit, Verkehrtheit, 5 Gestörte/Störungen/Seelenstörungen, 6 psychische Krankheiten, Seelenkrankheiten, Gemütskrankheiten. Mit bspw. Geisteskrankheiten verbinden sich eine Positionierung im sich etablierenden Diskurs und nicht notwendig kenntlich gemachte Rezeptionslinien. Die aufgelisteten Lexeme sind mehr als Alternativen, die austauschbar sind, da sie das thematische Feld (zur Erläuterung des Begriffs s. u.), das gerade in den ersten drei Jahrzehnten noch diffus ist, in unterschiedlicher Hinsicht begrenzen. Über die Grenzen selbst besteht indes kein intersubjektiver Konsens. Die Wahl von Geisteskrankheit bedeutet zunächst, bei den Verstandestätigkeiten und bei der philosophischen Reflexion anzusetzen, im Sinne von Campe: „die Krankheit des Geistes, der Zustand des Geistes, da der freie und vollständige Gebrauch seiner Kräfte durch innere Ursachen gehindert, unmöglich gemacht worden; auch ein mildernder Ausdruck für Wahnsinn“ (Campe, Bd. 1, 281) oder Pinel: „Der Ausdruck (alienation mental) Geistesverwirrung ist sehr glücklich gewählt, um die verschiedenen ______________ 4
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Durch die Verwendung als Gattungsbegriff wird hier der Einfluss des Französischen sichtbar (s.u.). Dieses Lexem ist erst seit der Mitte des 18. Jhs. mit entsprechenden Kollokationen wieder im Gebrauch (vgl. DWB, Bd. 12, 1. Abt., Sp. 637). Dieses Lexem verweist nach DWB (Bd. 10, 3. Abt., Sp. 439) schon auf den medizinischen Traditionsbestand der frühen Neuzeit.
120 Störungen des Verstandes in ihrem ganzen Umfange auszudrücken; …“ (Pinel/Wagner 1801, 144). 7 Im Gegensatz dazu kann Geisteskrankheit auch eine eigene Krankheitsgruppe neben anderen bilden: Bei Grohmann (1819, ZfpÄ, 191f.) finden sich sensorielle oder Gemütskrankheiten, Verstandes- und Geisteskrankheiten und Krankheiten des Willens. Selbst wenn ein anderer Oberbegriff gewählt wird, können die Krankheitsgruppen wiederum Ähnlichkeiten aufweisen: So sind es bei Reil (1803, 111) die Seelenkrankheiten, die nach „Anomalieen des Selbstbewußtseyns, der Besonnenheit und der Aufmerksamkeit“ unterschieden werden. Wie sehr die Wahl des entsprechenden Oberbegriffs jedoch die Krankheitsformen beeinflusst, dürfte an der folgenden Zusammenstellung der Krankheitsformen deutlich werden, bei der nahezu alle Oberbegriffe auch in untergeordneter Position erscheinen. Allerdings: Grundsätzlich werden psychische Störungen in den Bezugsrahmen der Vermögenslehre gesetzt und sind ohne diesen kaum denkbar. Eine Ausnahme bildet jedoch die so genannte Anstaltspragmatik. 8
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Auch „Pinels Psychologie erfaßt mit der Selbstverständlichkeit der Tradition das Krankhafte des Wahnsinns als moralische und kognitive Abweichung.“ (Herzog 1984, 55). „In der Ordnung der fünf Krankheitsformen setzt sich bei Pinel freilich das Gewicht der Tradition durch: sie erfolgt – der eigenen klinischen Beschreibung zum Trotz – nach dem Prinzip der Verstandesstörung.“ (Dörner 1975, 157) Allerdings muss betont werden, dass Geisteskrankheit nicht mehr theologisch begründet wird, wie noch in Zedlers Universallexikon, in dem es heißt: „Die unmittelbare Ursache dieser höchst beschwerlichen und Erbarmungs=würdigen Kranckheit [der Raserei] ist zuweilen übernatürlich, wenn nehmlich der Teuffel auf Gottes Zulassung so viel Gewalt bekommt, daß er die Menschen in Raserey bringt.“ (Zedlers Universallexikon Bd. 49, Sp. 2046f.)
121 Bezeichnungsalternativen Pinel (dts. 1801)
Pienitz (ZfpÄ, Amelung 1818a, 120f.) (ZfAnthro, 1824, 327f)
Nasse (ZfAnthro, 1825a,2 f.)
Grohmann (ZfAnthro 1825, 325f.)
Melancholie oder ein auf einen einzigen Gegenstand gerichtetes Delirium; Manie ohne Delirium; Manie mit Delirium; Blödsinn (Demence) ohne Aufhebung des Denkvermögens; Idiotismus; Unterdrückung der Verstandesund Willensfähigkeit.
Manie; Wahnsinn; Melancholie; Narrheit; Blödsinn.
Wahnsinn mit Neigung zur Tobsucht /Manie; Narrheit / moria; Tiefsinn / Melancholie; Wahnsinn mit fixer Idee / Monomanie; allgemeiner Wahnsinn / Dementia (Demence); Wahnsinn mit Epilepsie; Schwachsinn; Blödsinn; Amentia (Idiotisme).
Tobsucht; Wahnsinn; Melancholie; Hypochondrie.
Raserei; Wahnsinn; Melancholie; Manie; Blödsinn.
Bayle/Hohnbaum (ZfAnthro, 1826, 223f.)
Hayner (ZfpÄ, 1821, 127)
Ruer (ZfpÄ, 1819, 90f.)
Haslam/Horn (ZfpÄ, 1819, 153f.)
Von Hirsch (ZfpÄ, 1822, 119f.)
Manie; Monomanie; Dementia; Mania hysterica; melancholischer Wahnsinn.
Manie; fixer Wahnsinn; Blödsinn; Epilepsie.
Permanentes allgemeines Irreseyn mit ruhigem Verhalten; allgemeines Irreseyn mit Tobsucht; partielles Irreseyn (sowohl Melancholie als auch Narrheit); periodisches Irreseyn; Blödsinn.
Tobsucht; Mutterwuth/ Hysterie; Schwermuth/Melancholie; Partiell Verrückte; Schwachsinn; Blödsinn.
Tobsucht; Melancholie; Tiefsinn; Wahnsinn; Blödsinn; Cretinismus; Stumpfsinn; Phrenitis; Gehirnentzündung.
122 In dieser Auflistung lassen sich die Grundformen psychischer Erkrankungen erkennen, die auf den tradierten Bestand zurückverweisen: So unterschied schon Hippokrates nach Dörner/Plog (61990, 462) Manie, Depression, Fieberdelir, Wochenbettpsychose und Epilepsie. Ebenso deutlich ist der Einfluss der frz. Schule (z. B. erkennbar an der Aufnahme des fixen Wahns /der Monomanie). 9 Die Hauptformen der Krankheiten bleiben bis in die Mitte des 19. Jahrhunderts weitgehend konstant, so bei Jacobi (1844, XXXIV): „Tobsucht, Raserei, Wuth“, „Schwermuth, Melancholie“, „Wahnsinn“, „Blödsinn“, „Delirium“ und „Narrheit“. Oder bei Ideler (1841, X): „fixer Wahn“, „Tobsucht“, „Melancholie“ und „Verwirrtheit“. Trotz großer Ähnlichkeiten dürfte allerdings auch deutlich werden, dass der „Teufel eher im Detail steckt“: Wie lässt sich z. B. der Unterschied zwischen Raserei und Manie begründen? Ist die Hypochondrie wirklich eine eigene Krankheitsform? Oder: Warum sprechen einige nur von „Melancholie“, Bayle/Hohnbaum jedoch von einem melancholischen Wahnsinn? An den Reihen Manie – Wahnsinn mit Neigung zur Tobsucht – Tobsucht – Raserei – allgemeines Irreseyn mit Tobsucht und Melancholie – Tiefsinn – melancholischer Wahnsinn – partielles Irreseyn (Melancholie) wird deutlich, dass das, was einigen eine Krankheitsform anderen wiederum nur ein Hauptsymptom ist, und dass die Autoren von unterschiedlichen Prämissen ausgehen: Bei dem einen ist das abweichende Verhalten eines Kranken (z. B. eines Melancholischen) nur mit einem partiellen Irresein, bei dem anderen wiederum direkt mit einem umfassenden Wahnsinn verbunden. Insgesamt lässt sich jedoch zeigen, dass die gewählten Krankheitsbezeichnungen keine Neuschöpfungen sind, sondern sich auf unterschiedliche Traditionslinien beziehen. Die Wertung der Melancholie als partielles Irresein lässt sich bspw. auf eine Traditionslinie beziehen, die in der Melancholie eher eine Verstimmung sieht, während sich die Vorstellung eines melancholischen Wahnsinns von einer schon im Mittelalter prominenten Vorstellung leiten lässt, die als übergreifendes Kennzeichen der Melancholie Wahnvorstellungen aussondert (vgl. Schipperges 1999, 49–77). Da die unterschiedlichen Autoren intertextuelle Bezüge in kürzeren Texten und Krankengeschichten allerdings nicht offen legen, kann über entsprechende Bezüge nur spekuliert werden. Darüber hinaus versuchen die Psychiater, mit einem klassifizierenden Adjektiv oder einer Komitativangabe den Grundcharakter der Krankheit zu bestimmen, wobei sie häufig von Latinismen Gebrauch machen. Ob mit solchen Klassifizierungen wie die von Schneider (1820, ZfpÄ, 344) auf ein vollständiges System rekurriert wird, so melancholia ex enormi ambitione, melancholia enthusiastica (351) oder me______________ 9
In diesen Klassifikationen erscheint häufig die Narrheit. Die Aufnahme ist durch Bestimmungen wie die folgenden begründet: „Narrheit ist allgemeine Verkehrtheit und Schwäche der Seelenkräfte, ohne Tobsucht und Blödsinn, doch dem letzten am nächsten verwandt.“ (Reil 1803, 396)
123 lancholia vera (369) ist nicht zu entscheiden. Und ob sich die jeweiligen Autoren auf eine bestimmte Traditionslinie berufen, machen sie sehr oft nicht deutlich: „…, daß hier der plötzliche Ausbruch des rasenden Wahnsinns (einer Mania furibunda) statt hatte.“ (Ulrich 1820, ZfpÄ, 151) oder „Ob sie überhaupt bei der Mania stupida weniger passen, als bei lärmender Narrheit, weiß ich nicht.“ (ebd., 153). Im Regelfall greifen die Autoren nicht auf ein einheitliches System zurück, sondern übernehmen unterschiedliche Klassifikationen unterschiedlicher Autoren. Aus der Ähnlichkeit der Krankheitsbezeichnungen, Ergebnisse späterer Kapitel vorwegnehmend, darf also nicht geschlossen werden, dass sich die Bestimmungen der Krankheitserscheinungen nicht auch unterschieden und die teils explikativen, teils auf Bedeutungsähnlichkeit beruhenden Definitionen nicht voneinander abwichen. Auffällig ist zunächst, dass die Bestimmungen der Krankheitsformen sich nicht nur unterscheiden, sondern auch einen vagen und offenen Horizont besitzen und Lexeme wie regelwidrig selbst wiederum als „pars pro toto-Ausdrücke“ (Feilke 2003, 60; 1996, 46–51) zu werten sind. So bspw. Hayner: Ich bemerke, daß ich hier der Kürze wegen unter Manie alle Arten allgemeiner Verworrenheit oder regelwidriger Tätigkeiten, unter Wahnsinn alle Arten partieller Verrücktheit, oder regelwidriger Thätigkeit der Seelenvermögen nur in Rücksicht mancher Gegenstände, unter Blödsinn jeden Grad von krankhafter Schwäche der Seelenvermögen verstehe und begreife. (1821, ZfpÄ, 127)
Erschwerend tritt hinzu, dass die Handhabung einzelner Kernbegriffe selbst bei einem Autor nicht konsequent durchgeführt wird. Zum Tübinger Medizinprofessor Autenrieth 10, Lehrer von Griesinger und Zeller, führt Hesselberg aus: ______________ 10
Autenrieth hat zwar nur eine Schrift zur Psychiatrie (Über den Cretinismus, 1802) vorgelegt, jedoch konstant Vorlesungen an der Tübinger Universität gehalten (zwischen 1812 und 1834), die in Teilen von Hesselberg (1981) ediert worden sind. Eine Vorlesungsmitschrift ist von Carl Ludwig Reinhard unter dem Titel „Specielle Nosologie und Therapie. Nach dem Systeme eines berühmten deutschen Arztes und Professors“ publiziert worden (1834/36). Vorbildhaft könnte gewirkt haben, dass er anders als Eschenmayer der Schellingschen Naturphilosophie und Ideenlehre, überhaupt der Philosophie eher fern stand: „… ich habe … allein dafür auch kein Bewunderungs-Gefühl für Philosophen; ich glaube fest, es ist nicht wahr, was sie gerne von sich glaubten …; sie sind keine besondere Art von Menschen; was ein Mensch denken kann, muß der andere auch denken können!“ (Autenrieth o.J., zit. n. Hesselberg 1981, 121). Größere Bekanntheit dürfte Autenrieth dadurch erreicht haben, dass er den Dichter Johann Christian Friedrich Hölderlin (1770–1843) behandelt hat, wobei allerdings direkt nur das Rezeptbuch der Behandlung vom 16.9. bis zum 21.10. 1806 erhalten ist. Wahrscheinlich litt Hölderlin an Katatonie oder Schizophrenie. Krankenakten – wie auch im Fall des wahrscheinlich an Schizophrenie erkrankten Robert Schumann – haben sich nicht
124 Verwirrend ist in Autenrieths Terminologie der Gebrauch des Begriffs Manie, seltener auch Moria genannt, der als Oberbegriff im Sinne von Wahnsinn, Narrheit verwandt wird und alle psychiatrischen Krankheitsformen von den furiosen, im engeren Sinne manischen Formen bis hin zu den melancholischen umfaßt. Die Manie wird damit gleichzeitig als Oberbegriff zur Melancholie verwendet und als Unterbegriff zur Bezeichnung der manischen Krankheitsformen des Wahnsinns. (Hesselberg 1981, 22) 11
Sehr große Unterschiede ergeben sich zudem bei der Subklassifikation der Krankheitsformen selbst, was zur Folge hat, dass fast jeder Psychiater, möglicherweise abhängig von jeweils aktuellen Erfahrungen, eigene Vorschläge macht. Charakteristisch ist auch hier wieder die Aufteilung von Maniearten bei Autenrieth: a) Manien bei Frauen: „Nymphomnie“, „Manie im Kindbett“, „Manie während der Schwangerschaft“, „Manie während der Geburt“, „Narrheiten“, „Verwirrungen des weiblichen Geschlechts“, b) Manie bei Männern: „Manie von Onanie“, „Manie von zu grosser Keuschheit“, eine „Manie vom Pfort Adersystem aus“, „apolectische Manie“, c) andere Manieformen: „Moria ex inanitione“, „Manieen, die periodisch zu bestimmten Jahres Zeiten auftreten“, „Satyriasis“, „Delirium tremens“, „religiöser Wahn“, „Narrheit von vertriebenen Hautausschlägen“, „Narrheit von Hämorrhoidalschärfe“ und „das Heimweh“ (vgl. Hesselberg 1981, 26).
Der Traditionsbestand kann bricolageartig zusammengeführt werden, indem bspw. zur unterschiedlichen Subklassifikation des Blödsinns wiederum auf die lateinische Tradition zurückgegriffen wird: Es giebt auch unter den sogenannten Blödsinnigen, selbst wenn die Krankheit schon über Jahr und Tag gedauert hat, heilbare. Es sind diejenigen, bei denen alle Symptome des wirklichen Blödsinns höheren Grades wahrgenommen werden und die doch nicht wirklich blödsinnig sind; mit anderen Worten solche, bei denen die Geisteskräfte nicht fehlen, verloren, vernichtet, sondern nur unterdrückt, latent sind, also die Möglichkeit (potentia) des freien Wiedergebrauchs des Verstandes (actu) immer noch bleibt. Diese lange nicht genug beachteten, mit amentia sympathica, spuria zu bezeichnenden Formen kommen nach meinen Beobachtungen am reinsten und häufigsten im jugendlichen Alter bei krankhafter allgemeiner Plethora venosa mit Prävalenz jener bekannten höchst schwer oder gar nicht zu überwindenden Congestionen nach dem Gehirn, also bei Dickköpfen mit stieren, ______________
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erhalten, so dass man die jeweiligen Klinikaufenthalte nur noch sekundär rekonstruieren kann (z. B. im zweiten Fall aus den Berichten Bettine von Arnims). Offensichtlich liegt hier der Grundgedanke einer Einheitspsychose vor: „Hypochondrie und Melancholie stehen als Störungen des Affektes am Anfang des manischen Krankheitsprozesses, der über Narrheit, Wahnsinn und Tobsucht zur völligen Lähmung des Trieb- und Verstandesvermögens, zum Blödsinn als dem letzten Stadium der Geisteserkrankung führen kann. … Diese Auffassung entspricht dem Einheitsgedanken der Romantik.“ (Hesselberg 1981, 114)
125 runden, hervortretenden hellen Augen und blaurothen dicken Backen vor. (Damerow 1840, 136)
Neben der Verwendung von klassifizierenden (Pseudo)Termini werden die Untergliederungen von Krankheitsformen auch rein beschreibend vorgenommen, was zu einer Vielzahl okkasioneller, z. T. kotextuell zu motivierender ad-hoc-Bildungen führt, die durch die Schreibdynamik bedingt sind: … begreift alle Verschiedenheiten unter sich, die ich in der Folge unter dem Nahmen des mit seltsamen Einfällen verbundenen, grillenfängerischen, heftigen, Luftschlösser bauenden und hypochondrischen Wahnsinn beschreiben werde. Sie zeigt sich unter fast allen Arten einer ungezähmten und ausschweifenden Einbildungskraft oder ungewöhnlicher Grillen: in einer unüberwindlichen Neigung jedem Trieb der Leidenschaft oder Einbildung zu folgen, in Hochmuth und Eitelkeit, in Witz, Lebhaftigkeit und Verschlagenheit, in Lachen, Singen, Plaudern, Narrenspossen, Phrahlen und Lügen, in einer heftigen Neigung zu ausschweifendenst romantischen, kindischen, ungeschickten Erdichtungen, … (Arnold 1784, 70; Hervorhebung v. d. Verf. – B-M. Sch.) Die Tollheyt heißt Raserey, in so fern sie sich in heftigen Ausbrüchen äußert; oder vielmehr nur der Zustand ihrer heftigen Ausbrüche ist es, was wir Raserey nennen. Die Tollheit kann still und in sich verschlossen seyn, eine stille Raserey würde aber etwas sich selbst widersprechendes seyn.“ (Reil 1803, 310). Doch zuweilen äußert sich die Raserey auch durch wilde und zusammenhängende Ausbrüche eines jovialischen Muthwillens: oft sind die Handlungen in Rücksicht ihres absoluten Grades gleichgültig.“ Später heißt es dann: „Die jovialische Tobsucht ist ohne Angst. (ebd., 377; Hervorhebung v. d. Verf. – B-M. Sch.)
Alternativ treten Bildungen mit -sucht oder -wut zur Subklassifikation auf, wobei oftmals unklar bleibt, ob es sich um eine eigenständige Krankheit oder nur um Symptome bestimmter Erkrankungen handelt: Schreisucht (Nasse 1825, ZfAnthro, 2); Mordsucht (Grohmann 1825, ZfAntro, 303), Schlafsucht (Jacobi 1830, 612), schlafsüchtiger Zustand (Sc. Pinel 1821b, ZfpÄ, 150), daneben auch: Selbstmordsucht oder Mordlust/Mordwuth, jedoch auch schon Zerstöhrungswuth (Diez 1834, 44). Bei Esquirol/Hille sind auch solche Bildungen nachzuweisen: „Die Wuth zu reisen, der Trieb nach Veränderung …“ (1827, 47). In diese Auflistung gehören auch Komposita mit dem Bestimmungsglied -Wahnsinn, so der „Greisenwahnsinn (delirium senile)“ von Friedreich (1834, 217). 12 ______________ 12
Obwohl die Krankheiten oft nur unzureichend voneinander abgegrenzt werden, ist dies nicht unbedingt an der Textur ersichtlich. Diese suggeriert zumindest, dass es Trennlinien zwischen den einzelnen Krankheitsformen gäbe, z. B. durch solche Formulierungen wie „manieartig“, „maniehaft“ und „an Manie grenzende Krankheit“ oder in solchen Belegen wie: „… die das Bild der Manie in derer wahrer Gestalt bestimmt charakterisieren …“ (Schneider 1820, ZfpÄ, 360) oder „drücken der Seelenstörung diesen oder jenen Charakter auf …“ (Esquirol/Hille 1827, 64). In
126 Es gibt also einen Grundbestand an Krankheitsformen, auf den die Psychiater unterschiedlich zugreifen. Ihre Subklassifikation unterliegt der individuellen Gestaltung, die allerdings eine ähnlich geartete sprachliche Form besitzt und hauptsächlich durch Adjektive, Komitativangaben und Kompositabildungen hergestellt wird. Der Spielraum individueller Gestaltung wird auch dadurch begrenzt, dass nur thematisch gebundene Ausdrücke eingesetzt werden, die entweder Stadium, Grad oder Hauptcharakter der Erkrankung angeben. Es gibt damit einen sprachlichen, formgebundenen Orientierungsrahmen, dessen Verfestigung den Folgejahrzehnten vorbehalten sein wird. Obwohl es eine z. T. verwirrende Vielfalt von Krankheitsbezeichnungen gibt, ist darauf hinzuweisen, dass im 17. und 18. Jahrhundert gängige Krankheitsbezeichnungen wie acedia (Trägheit) nicht oder wie nostalgia kaum auftauchen. Die Hypochondrie – nach Fischer-Homberger (1970, 35) die verbreiteste Diagnose des 18. Jahrhunderts – taucht ebenfalls in den o. g. Klassifikationen kaum auf. In einigen der in Kap. 4.3 thematisierten Krankengeschichten ist eher von hypochondrischer Melancholie die Rede, entsprechend stehen die von FischerHomberger (1970, 35–38; 64f.) genannten Alternativen wie spleen, vapours, Milzsucht,melancholie/morbus anglica, passio hyponchondrica, der Gelehrten Krankheit nicht im Zentrum. Die verwirrende Vielfalt von Krankheitsbezeichnungen wird immer wieder reflektiert, ohne dass sich eine intersubjektiv verbindliche Lösung in den ersten Jahrzehnten abzeichnen würde: Leider ist noch keine Eintheilung dieser Klasse von Krankheiten allgemein bestimmt und nach einem festen Typus geordnet. … Wie oft werden die Namen Wahnsinn, Verrücktheit, Narrheit, Melancholie oder Manie miteinander verwechselt und eins für das andere betrachtet. (Amelung, 1824, ZfAnthro, 329) Ist doch die alte, ehrwürdige Eintheilung des Wahnsinns in Manie, Narrheit, Melancholie und Blödsinn vielfachen Widersprüchen und Zweifeln ausgesetzt. In den Büchern klingt und paßt Alles sehr gut, aber in den Irrenhäusern ists ein Anderes. Hält der eine nicht für Manie, was den anderen Narrheit ist? Giebt es ______________
diese Reihe gehören auch: „ausgebildeter Wahnsinn“ (Graff 1820, ZfpÄ, 160), „offenbar im Zustande des vollen Wahnsinns war.“ (Nasse 1821a, ZfpÄ, 161) oder „… hatte sie eine ziemlich ausgebildete Form dieser Gattung von Wahnsinn“ (Müller 1824, 256). Ebenfalls häufig ist die Verwendung von „Spur“: „Ein Kranker, welcher einen Anfall von Tobsucht überstanden hat, behält gewöhnlich noch Spuren seines früheren Zustandes an sich, …“ (Haslam/Horn 1819, ZfpÄ, 144); „… von Geistesverwirrung keine Spur mehr zu entdecken …“ (Schneider 1820, ZfpÄ, 367); „In dieser Zeit bemerkte ich immer mehr auffallende Spuren herannahender Besserung …“ (Ruer 1819, ZfpÄ, 101) oder „… in seinen Reden und seiner Aufführung war er weit vernünftiger und kaum konnte man noch Spuren von zurückgebliebener Geistesverwirrung entdecken …“ (Busch 1824, ZfAnthro, 214)
127 nicht Zweifel, ob der Seelenkranke ein Narr, oder schon ein Blödsinniger ist? Ist nicht der Begriff der Melancholie ein höchst schwankender durch die fixe Idee mit oder ohne Exaltation und Depression, Freude und Kummer? Denn Esquirols Trennung in Lypemanie und Monomanie hat dem Schwanken kein Ende gemacht. (Damerow 1829, 253) Indem man sein neustes Werk durchliest [des frz. Psychiaters Pierre Guislain, Anm. d. Verf. – B-M. Sch.], glaubt man den vielerfahrenen Irrenarzt und den flüssigsten Redner auf dem Gange durch seine grosse Irrenanstalt zu begleiten. Jeder Kranke, den er sieht, giebt ihm Gelegenheit zu individuellen Bemerkungen. Wir befinden uns in der Abtheilung der Schwermüthigen; wir treffen da einen betrübten Mann, der sich einbildet, seine Frau verloren zu haben; dies ist eine einfache spezielle Melancholie; der Kranke deliriert nicht dabei, es ist folglich eine Melancholie ohne Delirium. Er bildet sich ein, sehr krank zu sein; ein schlagendes Beispiel der hypochondrischen Melancholie. Ein anderer verlangt nach Hause; der Unglückliche leidet an der nostalgischen Melancholie. Der nächste leidet in Folge von unglücklicher Liebe; das nennt man Erotomelancholie. Indem wir weiter gehen, finden wir noch den misanthropischen, panophobischen, angstvollen, religiösen, dämonophobischen und desperaten Melancholiker. Wir verlieren nach diesen zehn einfachen Melancholieen die Lust, den Verfasser auf seiner Wanderung durch die zusammengesetzten Formen zu begleiten … um uns endlich zu fragen, ist das Klassification? Heisst das Licht in eine dunkle Sache zu bringen? (Neumann 1859, 179)
Allerdings ähneln sich die Versprachlichungsstrategien auf der Ebene der Symptome. Es ist auch zu betonen, dass nahezu keine der genannten Krankheitsformen erhalten bleiben wird. Gerade die Bezeichnung der psychischen Krankheiten, besonders ihrer Obergruppen, bleibt jedoch ein Problem, das bis ins letzte Drittel des 19. Jahrhunderts im Bewusstsein der Psychiater nicht ansatzweise gelöst wird. Erst in dem Moment, in dem die Psychiatrie sich als gesellschaftliche Institution etabliert und erst in dem Moment, als die führenden Psychiater eine Anerkennung der Psychiatrie als reguläres medizinisches Prüfungsfach anstreben, wird gemeinsam – mit großem Aufwand – nach einer gemeinsamen Terminologie gesucht: 1867 regt sich der Wunsch, die „Irren“ reichsweit in einer „Irrenstatistik“ zu zählen – nach dem Vorbild eines Projektes in Frankreich unter der Federführung und Anregung von L.J.J. Lunier. Bei diesem Statistik-Projekt kommt es zu einer heftigen Auseinandersetzung, die sich an der Struktur und den Kategorien des Zählblattes entzündet: Die Opponenten sind auf der einen Seite die Berliner Gruppe um W. Griesinger im Archiv für Psychiatrie und Nervenkrankheiten (ab 1867), auf der anderen Seite der Verein deutscher Irrenärzte und die Allgemeine Zeitschrift für Psychiatrie (ab 1844 von der Leitung von H. Damerow, C.F. Flemming und C.F.W. Roller). In dieser Diskussion geht es z. B. darum, ob es eine Einheitspsychose gebe und ob diese primäre Seelenstörung als Wahn oder Verrücktheit zu bezeichnen sei, was zeigt, dass die Psychiater auch Generationen später mit Begriffen ringen und tradiertes Vokabular immer noch
128 wichtig ist. Viele Psychiater sprechen auch gerade hier von einer „babylonischen Sprachverwirrung“ o. ä. 13, die zur Folge habe, dass selbst solche fundamentalen Begriffe wie Manie oder Melancholie nicht einheitlich verwendet würden. Spannungsvoll ist dabei das oben schon angedeutete Verhältnis von Theorie und Praxis, da selbst neue wissenschaftliche Erkenntnisse, besonders im Bereich der Neurologie nicht dazu führten, dass sich Heilungserfolge einstellten. Nach Flemming (1875, 254) erfolge die Behandlung der Irren leider „nicht nach den zur Zeit unentdeckten unverbrüchlichen Gesetzen der Wissenschaft, sondern … nach den Regeln einer der Erfahrung abgewonnenen Kunst.“ (zit. nach Roelcke 2002, 176). Mit Emil Kraepelins Lehrbuch, das in erster Auflage 1883 unter dem Titel Compendium der Psychiatrie (in den späteren Auflagen nur: Psychiatrie) erscheint, wird sich langsam eine Orientierung für die psychiatrische Nosologie ergeben; eine übergreifende Normierung der psychiatrischen Krankheitsbezeichnungen erfolgt erst mit der Übernahme der ICD Mitte der 80er Jahres des 20 Jhs. Obwohl Kraepelins Nosologie seit der sechsten Auflage seines Werks (von 1899) dominiert, bleibt auch seine Einteilung nicht unwidersprochen bzw. wird nur als ein Zwischenergebnis gesehen, was auf die kontinuierliche Begriffsarbeit in der Psychiatrie hindeutet. So schreibt Hoche (1912, 546) von begrifflichen Fiktionen, die allerdings unverzichtbare „Handwerksvoraussetzung für die klinische Arbeit“ darstellten: „Es sind nur logisch-dialektische Fiktionen, wenn wir etwa Gefühl und Wille, oder Empfindung und Gefühl usw. voneinander isolieren wollen.“ (ebd., 546). Er appelliert an die Psychiater: Jetzt, da in äußerlicher Beziehung vieles besser geworden ist und die Lage der Gesamtdisziplin in gewissem Sinn als konsolidiert erscheint, hat ein konzentriertes Besinnen auf die Grundlagen unserer Wissenschaft, auf die Möglichkeiten der Erkenntnis, auf die Aussichten und Ziele eingesetzt, ein lebhaftestes Bemühen, der Erfahrungsmasse, die wir vorläufig mit dem Sammelnamen der Geisteskrankheiten bezeichnen, von jeder möglichen Facette her beizukommen. (1912, 540)
Die genannten Grundprobleme: die Deutungsmacht philosophischer und eher am Rande auch theologischer Entwürfe und damit die Definitionshoheit über zentrale Kernbegriffe (z. B. solcher philosophischer Termini wie „Vernunft“), ______________ 13
Dieses scheint ein Topos der späteren Jahre zu sein, da auch Kraepelin schreibt: „Es hat bisweilen den Anschein, als ob nicht einmal das gemeinschaftliche Bindemittel der wissenschaftlichen Sprache immer ganz gesichert sei, wenn neue Richtungen auch einer neuen Benennung bekannter Dinge nicht entrathen zu dürfen glauben. Noch jeden Tag kann es sich ereignen, daß den Anhängern verschiedener Systeme angesichts des concreten Falles ähnliche Schwierigkeiten der gegenseitigen Verständigung sich darbieten, wie einstmals den Erbauern des babylonischen Thurmes.“ (Kraepelin 1887, 4, zit. n. Hoff 1988, 328–336)
129 die damit verbundene notwendige Verortung im philosophischen Diskurs, der auch ein bestimmtes Menschenbild und Klassifikationsmuster durch die Vermögenslehre vorgibt, das Vage und Indexikalische zum Teil parallel in Gemein- und Bildungssprache verwendeter Begriffe und ihre dadurch bedingte Polysemie (z. B. Seelenkrankheiten), die im gemeinsprachlichen Kontext funktional, im psychiatrischen Schreiben jedoch zu modifizieren ist, der medizinische Traditionsbestand konkurrierender und kookkurrierender Krankheitsbezeichnungen, was durch die Vorreiterrolle der französischen Psychiatrie noch verstärkt wird (Wahnsinn/Manie), was aber im Allgemeinen zu ähnlichen Klassifikationen, im Besonderen aber zu recht heterogenen, z. T. zu okkasionellen, insbesondere zu latinisierten, Bildungen führt, die Notwendigkeit, auch bei der Symptombeschreibung auf die Gemeinund Bildungssprache verwiesen und auf gesellschaftliche überformte Typisierungen (z. B. von Melancholikern in der Literatur) angewiesen zu sein, um Kontextualisierung und Anschlussfähigkeit zu gewährleisten, charakterisieren die Ausgangssituation, sind aber noch solange virulent, bis die Psychiatrie selbst diskursfähig geworden ist und die Grenzen des thematischen Feldes im Sinne von Gurwitsch (1974, 259f.) reifiziert sind. Sieht man sich die sprachlichen Entwicklungen bis zur Jahrhundertmitte an, so ist meines Erachtens die Annahme einer transitorischen Varietät gerechtfertigt. Darunter möchte ich, in Abgrenzung vom bisher in der Linguistik verwendeten Begriff „Übergangsvarietät“ (im Sinne von Vermittlungsvarietät – vgl. Kap. 3.1.1), Folgendes verstehen: Es handelt sich um eine Varietät, die weder reine Bildungssprache noch abgrenzbare Fachsprache ist. Dennoch ist sie funktional in dem Sinne, dass sie Verständigung gewährleistet und sich sprachliche Formen der Abgrenzung zu anderen Disziplinen herausarbeiten lassen. Dass ich hier von transitorischer Varietät spreche, ist auf einen Begriff der Sozialphänomenologie zurückzuführen. Für diese ist Vagheit der Begriffsbildung sowie der Schlüsse ein notwendiges Erststadium der Verwissenschaftlichung von Erkenntnissen, wobei der Übergang zur Überzeugung, von „flying stretches“ zu „resting places“ als ein transitiver Bereich vermutet wird. Besonders in seinem Aufsatz „How to make our ideas clear?“ ist von William James (1965, 391ff.) betont worden, dass es beim Denken zwei Zustände gäbe, die „resting-places“ und die „places of flight“. James und in einer ähnlichen Weise Peirce sind davon überzeugt, dass der transitive Übergang vom Zweifel oder der Irritation über einen „belief“ bis hin zu einer Überzeugung als ein transitiver Bereich gedacht werden kann, indem sich thematische Felder bzw. Themen absondern, entkoppeln und profilieren und eine Richtung des Forschens präzisieren.
130 Die frühen Monographien und die entsprechenden Verfasser verbindet zunächst ein thematisches Interesse, das ein notwendiges Movens und generativer Kern eines Forschungsprozesses ist. Das Thematisch-Machen eines Gegenstandes ist eine motivierte thematische Relevanz, wobei die Motivation zunächst eher ein „Streben ist, dem Gegenstand näher zu kommen“, verbunden mit einem „positiven Gefühl“. Gurwitsch weist darauf hin, dass das Auftauchen eines Themas stets mit einem umgebenen thematischen Feld verbunden ist, wobei dieses thematische Feld intersubjektiv bestimmt und ein Thema wiederum als „Schema von Beziehungen“ zu denken ist. Themen enthalten sowohl Retentionen und Erinnerungen, die auf die ursprüngliche Konstitution des Themas zurückweisen. Er enthält allerdings auch Protentionen und Erwartungen, die auf mögliche Weiterentwicklungen des Themas verweisen. Der Zusammenhang wird folgendermaßen beschrieben: Wie diffus, unbestimmt und unentfaltet das thematische Feld auch sein mag, es hat nichtsdestoweniger eine spezifische Färbung … Die Verweisung kann die Form des Bewußtseins einer bloßen Richtung annehmen. Allerdings ist es immer eine spezifische Richtung; es ist das Bewußtsein eines ‚Woher‘ im Gegensatz zu einem ‚Wohin‘. Die Forschung ist in derart unbestimmten Situationen von einem ‚Richtungsempfinden‘ geleitet. Vom thematischen Feld aus wird eine ‚Perspektive‘ oder ‚Orientierung‘ auf das Thema übertragen, es wird so ein ‚Positionsindex‘ festgelegt, der das Thema innerhalb des thematischen Feldes verortet. Während Relevanz den wechselseitigen Verweisungszusammenhang zwischen dem bezeichnet, was in einer Situation (wie sie sich präsentiert) gegeben ist, kennzeichnet ‚Positionsindex‘ das korrelative ‚Richtungsempfinden‘, das sogar einem diffusen und unbestimmten thematischen Feld eigen ist. (Grathoff 1995, 260)
In Themen selbst sind wiederum Typen eingelagert, deren Modifizierung, wie gesehen (vgl. Kap. 3.2), selbst immer möglich ist: „Alle Typisierung ist problemrelativ, es gibt somit keinen Typus schlechthin, sondern nur Typen, die einen problemverweisenden ‚Index‘ mit sich führen.“ (Schütz, zit. nach Grathoff 1995, 254). Thema und Typus sind immer in Übereinstimmung zu bringen, in Themen eingelagerten Typen, die umgestaltet werden. Ähnliches gilt für den Zusammenhang mit den Motivationsrelevanzen: Ein sich herausbildendes Thema kann sich sogleich routinemäßig mit Wissenselementen, die mit Bezug auf die vorherrschende Einstellung und auf die Um-ZuMotivationsketten des Handlungsablaufes hinreichend bestimmt sind, decken. Wenn andererseits eine routinemäßige Deckung mit Wissenselementen, die im Wissensvorrat schon in hinreichender Bestimmtheit und Vertrautheit vorhanden sind, nicht zustande kommen kann, wird das aktuelle Thema als auslegungsbedürftiges Problem erfahren. Mit anderen Worten, es besteht ein Motiv zur Auslegung des aktuellen Themas. (Schütz/Luckmann 1979, 271)
Relevanzen können sich immer wieder als veränderbar oder eben irrelevant für die Behandlung eines bestimmten Themas herausstellen. Es erscheint mir
131 nicht unplausibel, eine transitorische Varietät so zu verstehen, dass in ihr durch ein gegebenes diffuses thematisches Feld, auf dem z. T. neue Erfahrungen, durch Kontextfortbildungen eine sprachliche Aneignungsform erprobt wird, in der sich Spuren dieses Richtungsempfindens finden lassen. Die Genese nachzuzeichnen, heißt deshalb, sich stärker als bisher mit sprachlichen Formen zu beschäftigen, aus denen in der Folge eine gemeinsame Verständigungsbasis entsteht. Unter einer transitorischen Varietät möchte ich versuchsweise Folgendes verstehen: Bei einem gegebenen thematischen Feld (z. B. Zustände, die als abweichend wahrgenommen werden) konkurrieren u. a. Begriffe (z. B. Melancholie, Schwermut oder Depression), die sprachliche Erfassung von Zuständen (z. B. Schwatzhaftigkeit, Geschwätzigkeit, Plaudersucht, Irrereden), sprachliche Verfahren der Phänomenerfassung (z. B. Deduktion vs. Induktion), Darstellungsarten und Formen der textlichen Präsentation miteinander und verweisen auf unterschiedlich zu kombinierende Traditionsbestände. Diese Varietät ist ein Sammelbecken heterogener und sich z. T. wechselseitig ausschließender Versprachlichungstraditionen; sie zeichnet sich jedoch auch dadurch aus, dass sie den sprachlichen Traditionsbestand als solchen verfügbar und erkennbar werden lässt und gleichzeitig neuartige diskursive Einheiten (so Kollokationen) hervorgebracht werden (z. B. durch die Amalgierung unterschiedlicher Wortschatzressourcen). Gleichzeitig bestimmt sie das Ausmaß an Typisierung und individueller Bestimmbarkeit. Mit transitorischer Varietät möchte ich nicht nur das Ineinandergreifen sprachlicher Traditionen oder das Konglomerat von Traditionen bezeichnen, sondern auf die Tatsache aufmerksam machen, dass zu jeder Verfachsprachlichung ein Vorgängerstadium gehört und dass dieses mit solchen Begriffen wie „Vagheit“, „Offenheit“ und „Bildlichkeit“ zu umreißen ist. Nur wenige Fach- und Wissenschaftssprachen dürften abrupt entstanden sein, sondern die meisten von ihnen durch Kontextfortbildung, damit verbundener Kontextualisierung und parallel oder nachgängiger „kohärenten Verformung“.
4.2
Sprachliche Merkmale früher Monographien: Zwischen Philosophie und Belletristik
Zu Beginn der Entwicklung, bis ca. 1820, ist die Anzahl der Veröffentlichungen zu psychischen Krankheiten überschaubar. Zwar werden immer wieder Initiativen zur Gründung von psychiatrischen Zeitschriften angeregt, die jedoch nicht besonders lange bestehen und immer wieder mit denselben Namen verbunden sind – zu ihnen gehören Johann Christian Reil, Johann Christoph
132 Hoffbauer, Alexander Haindorf oder – mit Abstrichen – auch Johann Christian August Heinroth: So das Magazin für die psychische Heilkunde (erschienen 1805 und 1806 in drei Heften unter der Leitung von Johann Christian Reil und Adalbert Kayssler) oder die Beyträge zur Beförderung einer Kurmethode auf psychischem Wege (1808 und 1812 unter der Leitung von Johann Christian Reil und Johann Christoph Hoffbauer). Es werden hier v. a. die deutschsprachigen Werke betrachtet, die in den Folgejahren und –jahrzehnten als Referenzliteratur angegeben werden, so das Werk von Arnold (Beobachtungen über die Natur, Arten, Ursachen und Verhütung des Wahnsinns oder Tollheit, 1784), die dreibändige Monographie von Hoffbauer (Untersuchungen über die Krankheiten der Seele und die verwandten Zustände, 1803), die den Diskurs vielleicht prägenste Veröffentlichung von Johann Christian Reil (Rhapsodieen über die Anwendung der psychischen Curmethode auf Geisteszerrüttungen, 1803) sowie frühe Schriften von Ernst Horn (Oeffentliche Rechenschaft über meine zwölfjährige Dienstführung als zweiter Arzt des Königl. Charité=Krankenhauses zu Berlin nebst Erfahrungen über Krankenhäuser und Irrenanstalten, 1818), Alexander Haindorf (Versuch einer Pathologie und Therapie der Geistes- und Gemüthskrankheiten, 1811) und Johann Christian August Hainroth (Lehrbuch der Störungen des Seelenlebens oder der Seelenstörungen und ihrer Behandlung. Vom rationalen Standpunkt aus entworfen, 1818). 14 Zur kommunikativen Einbettung der frühen Monographien gehört, dass ihre Verfasser an den Universitäten als Mediziner beschäftigt sind (vgl. Kap. 2.1.1). Wer sich an den medizinischen Fakultäten mit Psychiatrie beschäftigte, tat dies meist mit nur wenigem eigenen Anschauungsmaterial (d. h. ohne Universitätspsychiatrie), ohne alltäglichen, selbstverständlichen Umgang mit Kranken und oft aus naturphilosophischem Blickwinkel im Gefolge von Schelling. Professoren sind bis in das 19. Jahrhundert hinein keine Praktiker, sondern eher „Lehrer und Übermittler von literarischen Traditionen.“ (Herzog 1984, 40). Die medizinischen Fakultäten vermittelten … den Medizinstudenten des 18. Jahrhunderts ein vorwiegend theoretisches Wissen. Das Interesse der medizinischen Wissenschaft richtete sich in erster Linie darauf, das ‚Wesen‘ der Krankheiten zu erkennen und diese nach ihren äußerlichen Symptomen in Familien, Gattungen und Arten zu klassifizieren, um eine phänomenologische Ordnung in ‚das Reich der Krankheiten‘ zu bringen. (Huerkamp 1985, 30)
______________ 14
So bestimmt Damerow (1840, 29f.) die psychiatrische Traditionsbildung über Reil (1803), Horn (1818), Heinroth (1818), Neumann (1822), v. Nostitz und Jänckendorff / Pienitz (1829), Roller (1831) und Jacobis Veröffentlichungen (besonders von 1822).
133 Die Auseinandersetzung mit Kranken erfolgt also kaum empiriegeleitet, was sich auch an der Struktur der entsprechenden Monographien zeigt. Diese sind als Texthybride mit diversen Textallianzen zu anderen Texten (vgl. Simmler/Wich-Reif 2004) zu werten, die weder ein fest gelegtes Kompositionsmuster noch ein besonderes Themenrepertoire oder einen durchgängigen Stil aufweisen, so dass sie vielfältige und verschiedenartige sprachliche Bezüge zeigen. Dies zeigt schon ihre uneinheitliche Zweckorientierung, die zwischen didaktischer Vermittlung, erörternder Darstellung der medizinischen und philosophischen Theorie und philanthropisch motiviertem Appell anzusiedeln ist: Reil bspw. begründet die Notwendigkeit, sich mit Irren zu befassen, zivilisationskritisch, als eine Spielart der Abweichungen vom Naturzustand: Wir rücken Schritt vor Schritt dem Tollhause näher, sowie wir auf dem Wege unserer sinnlichen und intellectuellen Kultur fortschreiten. … Im Zustande der Natur, sagt Kant, kann der Mensch nur wenig Thorheiten begehen …“ (ebd., 12f.). Auch: In der bürgerlichen Verfassung finden sich eigentlich die Gährungsmittel zu allen diesen Verderben, die, wenn sie es gleich nicht hervorbringen, gleichwohl es zu unterhalten und zu vergrößern dienen. (ebd., 14)
Ebenso sind die Monographien im Vergleich hinsichtlich ihrer textuellsprachlichen Ausprägung heterogen. Bei einem vage umrissenen Feld gibt es unterschiedliche Verfahren der subthematischen Gestaltung, der thematischen Progression, der Darstellungsmuster (deskriptiv-erörternd), der Handlungsverknüpfung und Propositionenintegration, der syntaktischen Gestaltung und der lexikalischen Verflechtung. Es wird die sprachliche Gestalt des jeweiligen thematischen Bezugsbereichs übernommen, so dass bspw. Anekdotisches, eigene Anschauung, Verweise auf mythologische Gestalten neben deduktiv-erörternden Passagen stehen. In diesen Texten spiegelt sich interessanterweise die Konkurrenz zwischen einer empiriefernen Philosophie und einer Selbstbetrachtung, wie sie die Erfahrungsseelenkunde vorgibt. Es gibt keinen einheitlichen sprachlichen Modus, keinen epistemischen Anschlusstyp, in dem etwas behandelt wird (selbst intratextuell nicht): Die sprachliche Gestalt ist als solche nicht reformulier- und nachahmbar. Die Rhapsodieen von Johann Christian Reil (1803) zeichnen sich bspw. dadurch aus, dass der thematische Gang nicht auf einige Themen hin zentriert wird, sondern von einer eher freien Themenentwicklung zu sprechen ist, in dem eine Vielzahl von Bezügen zu unterschiedlichen Diskursen nachweisbar ist. Sein Werk entspricht also nicht nur dem Namen nach der literarischen Form der Rhapsodie: „Rhapsodie …, in der Antike Bezeichnung für einzelne Abschnitte oder Gesänge der homer. Epen, dann für eine Dichtung oder ein Musikwerk, deren thematische Vielfalt, assoziative Reihungsform und improvi-
134 sative Darstellungsweise mit der Vortragspraxis antiker Rhapsode verglichen werden können.“ (Metzler Literaturlexikon 21990, 389). 15 Allerdings weisen die oben genannten, zumeist mehrere Hundert Seiten umfassenden Texte auch einige Gemeinsamkeiten auf, die für die weitere Entwicklung nicht unerheblich sind. So finden sich in allen Texten philanthropische Passagen, deren Nachklänge den psychiatrischen Diskurs bis ins letzte Drittel des 19. Jhs. begleiten. Charakteristisch sind die folgenden Ausführungen von Reil (1803), die einen appellativen Ton und einen rhetorischen, der sekundären Mündlichkeit verpflichteten Gestus besitzen: Eine andere Reflection! Ist unser Verhalten gegen diese Unglücklichsten unserer Mitbrüder der Gesetzgebung der Vernunft gemäß? Leider nein! Indolenz, Habsucht, Eigennutz, Intrigue und kalte Barbarey liegen auch hier, wie überall; im Hintergrunde versteckt und speien die Maximen aus, nach welchen die übertünchten Menschen-Gruppen gegenseitig auf einander wirken. (ebd., 10)
Gleichzeitig fällt die bildliche Darstellung von Krankheitsverläufen ins Auge, die eine Vielzahl okkasioneller metaphorischer Komposita aufweist: Wir stellen die Veränderungen in den Vorhöfen unseres Tempels als Lust und Schmerz, und die feineren Spiele im Allerheiligsten als Anschauungen und Imaginationen vor, knüpfen sie, als uns angehörig, in unserem Selbstbewußtsein zusammen, und werden dadurch instinctmäßig zum Begehren und Verabscheuen getrieben, und beschränkt von Zeit und Raum, durch Bastard-Vorstellungen geäst, in welchen wir das Ich und Nichtich wie die Grundfarben in der Grünen verlieren. (Reil 1803, 10; Hervorhebung v. d. Verf. – B-M. Sch.)
Eine weitere, übergreifende Gemeinsamkeit ist die, dass die Verfasser nicht nur den bis in die Antike zurückreichenden Diskurs rezipiert haben, sondern auch die Entwicklungen im Ausland, vornehmlich in England und Frankreich verfolgen, wobei sich ab den 1810er Jahren eine leichte Verschiebung zu ergeben scheint: Sind zunächst die englischen Kurversuche im Sinne des „moral treatment“ Zitierautorität, werden dann nach der Kettenbefreiung ______________ 15
Bei der Lektüre dieses Werks kann sich ein ähnlicher Lektüreeindruck einstellen wie der von Damerow: „… ja trotzte auf die Kraft seines Genius, selbst ohne die sichere Phalanx der Erfahrung hinter sich zu haben, und brachte als Trophäe von diesem kühnen Streifzuge die ‚Rhapsodieen‘ zurück, – einen Schatz von Reflexionen, Gedanken, Ideen, Phantasieen, Ahndungen, welche, wie sie auch im Einzelnen sein und beurtheilt werden mögen, noch heute, wenn gleich der erste Zauber längst vorüber, eine grosse dramatische Wirkung haben, ein Urtheil, welches seine tiefere Bedeutung darin hat, dass Psychologen und Aerzte der Zeit sich den Wahnsinnigen und Irrenhäusern, welche ihnen ideale Erscheinungen einer fremden unbekannten Welt waren, lediglich als blosse Zuschauer gegenüberstellten.“ (1840, 33). Dörner spricht von diesem Werk als einer „poetischliterarischen Anthropologie“ und hebt hervor, dass Reil so gut wie keine Erfahrungen mit Irren hatte (1975, 229).
135 Pinels die französischen Psychiater wirkungsmächtig und beeinflussen sowohl Vokabular als auch Theoriebildung. 16 Die Texte insgesamt: weisen Verbindungen zu argumentativen Darstellungsformen der philosophischen Anthropologie und Erkenntnistheorie sowie – abhängig von der theoretischen Ausrichtung – zur Naturphilosophie auf; beziehen Klassifikationssysteme der Biologie und angrenzender Wissenschaften ein, was v. a. an der Unterteilung in Gattungen, Arten, Varietäten und Modifikationen sichtbar ist. Carl von Linné (Genera Morborum, 1763) 17 und Francois Boissier de Sauvages (Nosologie méthodique, 1759) 18 sind entsprechende Bezugspunkte; weisen vergleichbare rhetorische Schachzüge wie das philanthropische Traktat auf, 19 ______________ 16
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Nicht alle teilen die Bewunderung für Pinel: „Sein Werk über den Wahnsinn ist eine Coq a l’ane, üppig in einzelnen Theilen, aber krank im Zusammenhang, ohne Principien und Orginalität, ob er gleich Nationaldünkel genug hat, sich alles dies anzumaßen.“ (Reil 1803, 31) Er unterscheidet wie viele Psychiater auch in: Phrenesie oder Tobsucht, Manie oder Wahnwitz, Delirium oder Blödigkeit und Melancholie oder Schwermut (Angaben von Sahmland 2001, 99). Dieser unterscheidet selbst 30 Krankheitsbilder, darunter die Melancholie, Manie, Lethargie, Demenz, zusammen mit Epilepsie, Migräne, Apolexie oder Hydrophobie. Auch aufgenommen ist bspw. die Nostalgie oder der Somnambulismus. Es ist auch nicht zu übersehen, dass die ersten Monographien Verbindungen zu einer vornehmlich im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts stark vertretenen Textsorte, dem Bericht über einen Besuch im Irrenhaus haben. Die Verbindung manifestiert sich sprachlich vorrangig dadurch, dass die konkrete Erfahrung sprachlich stilisiert wird, indem literarische Bilder die Wahrnehmung der psychisch Kranken überlagern, wie der Beginn des Berichts „Besuch bey den Irren und Wahnsinnigen in der Charite zu Berlin“ von Adalbert Kayssler (Magazin für psychische Heilkunde 1, 115–173) zeigt. Bei diesem 58seitigen Beitrag macht die konkrete Beschreibung von Irren gerade einmal fünf Seiten aus, die von weiteren Reflexionen überlagert werden: „Ich trat das erste Mal in die Schattenwelt der Nacht, in die wachende Traumwelt, in der man Parthieen der Dante’schen HöllenVision und der Griechen Ixione, nach abgestreiftem sinnlichen Bilde, in geistiger Wirklichkeit findet.“ (1805, 115; zit. n. Kaufmann 1995, 113). Ähnliche Schilderungen lassen sich in der romantischen Literatur nachweisen: „Die Wahnsinnigen lagen unrein wie Schweine in dunklen Behältern, bis an den Hals in faulem Stroh, mit wenigen Lumpen halb bekleidet, in so schauderhafter Vernachlässigung und Verwirrung, daß man nicht wusste, welches die Männer und welches die Frauen seien. Das Ungeziefer hatte sie mit Geschwüren bedeckt, die Rasenden hatten sich mit ihren Ketten tieffaulende Wunden geschlagen …“ (Novalis, zit. n. Sahmland 2001, 93)
136 beziehen sich – in noch näher zu charakterisierender Weise – auf Belletristik und Erfahrungsseelenkunde, die die narrative Konstitution des Gegenstandes prägen, zeigen allerdings auch Verbindungen zu dem in der Sozialphänomenologie so genannten Jedermann-Wissen. Die fünf Bezugspunkte sind nicht nur anhand expliziter intertextueller Bezüge und Zitate nachweisbar, sondern prägen auch als eher hintergründige Textallianzen die Textkomposition, dominante Darstellungsformen sowie Syntax und Lexik und verdichten sich so zu charakteristischen sprachlichen Verfahren, die in einer prototypischen Kombination für die weitere Entwicklung bestimmend werden. Die einzelnen Verfahren setzen sich aus charakteristischen sprachlichen Handlungen zusammen, die ihrerseits mit bestimmten Verbalisierungsstrategien verbunden sind. Die wichtigsten Verfahren bezeichne ich folgendermaßen (Erläuterungen s. u.): Das sprachanalytische Verfahren, verbunden mit der Bestimmung gemein- und bildungssprachlicher Gebrauchsbedingungen von Lexemen, bestimmt die Textorganisation auf mikro- und makrotextueller Ebene. Das panoptische Verfahren dient der reihenden Präsentation von typischen Charakteren (ähnlich einer Kuriositätensammlung, einem Schausaal oder einem Wachsfigurenkabinett), auf die bestimmte Merkmale psychischer Erkrankungen zutreffen. Das klassifikatorische, der Biologie/Naturgeschichte entlehnte Verfahren, das für Teile der Textkomposition bestimmend ist. Das anekdotische Verfahren dient der Darstellung von empirischem Material, „Fällen“, die in die Darstellung einfließen. Die Veröffentlichungen lesen sich wie groß angelegte Kompilationen zum Stichwort „psychische Erkrankung“. Sie zeigen den Übergang von der „Allopoiesis“ der frühmodernen im Gegensatz zur „Autopoiesis“ der modernen Wissenschaft an: Angesichts eines überkommenen und heterogenen Wissenskorpus, wie ihn die frühmoderne Wissenschaft besaß, ist der eigentlich relevante Erkenntnisakt der Wissenschaft enzyklopädisch-klassifikatorischer Art. Das heißt, es handelt sich darum, daß heterogenen Elementen des Wissens eine Struktur auferlegt wird, die das erreichbare Maß an Ordnung garantiert. Wissenschaft ist also primär Wissen in seiner Gegebenheit und in seinen Ordnungsmöglichkeiten, nicht ein sozialkommunikativer Zusammenhang der Erkenntnisproduktion. Dieses Wissen ist – und das gilt für Recht und für Wissenschaft – rezipiert und nicht selbstproduziert, ist im übrigen nicht in sich dynamisch, und die Erkenntnisleistung des Gelehrten ist das Hinzufügen einer Struktur … Die diesen Techniken entsprechende Technik der Erweiterung des Wissens ist die Logik – z. B. in der Disputation. Die Logik sichert mittels Deduktion eine Vollständigkeit des Wissens des nur latent
137 Gewußten, aber es fehlt ihr jede Technik der Öffnung des Systems, die neue Informationen zuließe. Auf Vernunfterkenntnis spezialisierte, mittels der Logik rationalisierte Erkenntnissysteme sind operational geschlossene Systeme mit normativer (nicht unbedingt faktischer) Unterbrechung des Umweltkontaktes. (Stichweh 1994, 56f.)
In den Monographien wird grundsätzlich zwischen allgemeiner Krankheitslehre und speziellen Krankheitsformen unterschieden. Die allgemeine Krankheitslehre setzt deduktiv bei den Fähigkeiten des Menschen (z. B. bei seiner Vernunftbegabung etc.) an. Im Duktus sind diese Ausführungen kaum von den in ihrer Zeit wirkungsmächtigen Anthropologien wie bspw. der von Kant (so die Anthropologie in pragmatischer Hinsicht, 1798/2000) oder der von Schelling (Erster Entwurf eines Systems der Naturphilosophie, 1799/1927) zu unterscheiden. Arnold setzt bei Locke an, v. a. bei seinen Ausführungen im Essay Concerning human understanding (1696) (Arnold 1784, 55f.). 20 Haindorf (1811, 302) bezieht sich auf Kant, der als Gewährsmann, z. T. auch als Feindbild des frühen psychiatrischen Diskurses präsent ist. Der Verweis auf die Philosophie erfolgt immer dann, wenn es darum geht, unterschiedliche Begriffe abzugrenzen und ihre Gebrauchsbedingungen anzugeben. 21 Mit der Deduktion ist ein sprachanalytisches Verfahren verbunden, das versucht, eine Systematik aus der Bedeutung der einzelnen Lexeme herzuleiten und diese gemäß ihrer semantischen Ähnlichkeit zu gruppieren; die Abgrenzung gegenüber früheren Entwürfen erfolgt sprachkritisch. Es handelt sich dabei im engeren Sinne um eine Systematisierung des bildungssprachlichen und/oder philosophischen Gebrauchs, und diese orientiert sich nicht an körperlichen Erscheinungen bzw. Abläufen, die mit einem Zustand verbunden sind, sondern an der Modellierung semantischer Netze und Isotopien. Die diesem Verfahren zuzuordnenden Handlungen sind: – das Nennen, Bestimmen und Festsetzen relevanter, semantisch ähnlicher Lexeme und das damit oft verbundene explikative Definieren sowie – das Postulieren eines Zusammenhangs zwischen ähnlich bestimmten Lexemen, bspw.: „… als Furcht festsetzen, welche überall unter der Leitung der Vorstellung steht, und nach allen Objekten gekehrt ist. Der höchste Grad der Furcht ist das Entsetzen.“ (Haindorf 1811, 153). Bei Haindorf bspw. (ebd., 133ff.) wird unter ______________ 20
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Für Arnold ist die allopoietische Form der Wissensvermittlung kennzeichnend: „Wir nennen außer ihm selbst: Arnold, der sich mit der Heilung in seinem Werke nicht abgiebt. Sein wesentlichstes ist, daß er den Inbegriff des historischen Wissens über Natur, Ursachen und Verhütung des Wahnsinns uns im Zusammenhange mit gründlicher Gelehrsamkeit auseinandersetzt.“ (Damerow 1829, 232) Schon Bolten (1751) strebt den Nachweis des Nutzens aller philosophischen Disziplinen an (z. B. auch der Logik, ebd. 83ff.).
138 der generellen Krankheitsform des „erkrankten Egoismus“ unterschieden zwischen: Faulheit, Sucht, Feigheit und Grausamkeit. Sucht wird folgendermaßen definiert: Und wenn bei der Faulheit durch Mangel an Erregung das rege Leben in reiner Vegetation erlischt, so wird dagegen bei der Sucht das Leben in unaufhörlicher und rastloser Thätigkeit consumirt. Diese Form dieses exaltirten Lebenstriebes, der Sucht, ist Thätigkeit aller Art. … Diese Sucht entspricht am meisten dem cholerischen Temperamente und ihre Formen sind so vielfach, als menschliche Thätigkeit selbst sein kann. Ihre auffallendste Form aber ist die Vielgeschäfigkeit und die Neugierde; diese theoretisch, jene praktisch. Sonst aber gehört unter die Idee der Sucht jedes Dahingegebenseyn eines menschlichen Gemüthes an irgend eine einseitige Thätigkeit, in welcher es seine humane Freiheit des Schauens verliert. … Die beste Definition der Sucht wäre daher, daß sie die Verdammniß zur Danaidenarbeit sey, denn jedes Treiben des Einzelnen aus dem Standpunkte des Einzelnen, ist für die Menschenseele, die ihre Heimat in der Idee des Ganzen hat, Danaidenarbeit und Verdammniß. (Hervorhebung v. d. Verf. – B-M. Sch.)
Die Orientierung am geläufigen Sprachgebrauch lässt sich auch als Verweis auf philosophische Texte deuten, die zumeist ohne Formulierungen wie „Man nennt“ nicht auskommen, wie folgende Beispiele von Kant zeigen (dieses „man nennt“ wird in der Ausbauphase verstärkt durch ein „man sieht“ ersetzt werden): Was man aber einen Wurm nennt …, ist mehrenteils ein an Wahnsinn grenzender Hochmut des Menschen …“ (Kant 1798/2000, 107), „Man kann jemand töricht nennen, ohne ihn zu beleidigen: ja er kann es sich selbst von sich gestehen; aber das Werkzeug der Schelme (nach Pope), Narr, genannt zu heißen, kann niemand gelassen anhören.“ (ebd., 117), „Wer seinem eigenen rechtmäßigen Vorteil gerade entgegen handelt, wird auch bisweilen Narr genannt, ob er zwar nur sich allein schadet. (ebd., 117)
Der Rekurs auf den herkömmlichen Sprachgebrauch ist bei Hoffbauer der hauptsächliche Anknüpfungspunkt: Schon Herr Erhard hat es als ein wesentliches Kennzeichen der Narrheit angegeben, daß sie in einer Versetzung in einen fremden Zustand, in der Absicht sich an der Vorstellung desselben zu ergötzen, bestehe …, und der Sprachgebrauch des gemeinen Lebens bestätigt das Treffende seiner Bemerkung. Die Menschen nämlich, die das Talent haben, die Manieren, Sprache und das ganze Benehmen anderer nachzuäffen, werden von der ungebildeten Gesellschaft, die daran ihre Unterhaltung findet, Narren genannt, nicht geschimpft. … Noch mehr: wir nennen unsere Kinder kleine Narren, wenn sie durch ihre unschuldigen Nachahmungen erwachsener Personen ergötzen.“ (Hoffbauer 1803, Bd. II, 300). Verwirrt nennen wir im gemeinen Leben nicht so wohl den Menschen, der ohne Plan handelt, als vielmehr denjenigen, der keinem Plane im Handeln folgen kann. Zunächst brauchen wir diesen Ausdruck freylich von seinen Handlungen, mittelbarer Weise aber von ihm selbst, dem Handelnden. Ehe ich diesen Begriff weiter verfolge, muß ich den
139 Leser bitten, den Begriff von einem Plane bey dem Handeln in seiner gehörigen Allgemeinheit zu nehmen. Wir sagen, … (Hoffbauer 1807, Bd. III, 22; Hervorhebungen v. d. Verf. – B-M. Sch.)
Bei den frühen psychiatrischen Texten ist Wahnsinn demnach etwas, was bspw. den angenommenen Fähigkeiten des Menschen zuwiderläuft und analytisch von der Verrücktheit abzugrenzen ist, da Verrücktheit eine andere Bedeutung besitzt, vgl.: … die vielleicht nicht unschicklich unter folgende Klassen geordnet werden können. Natürliche Unfähigkeit, oder habitueller Mangel an Aufmerksamkeit, Schwäche des Gedächtnisses, zu große Thätigkeit der Einbildungskraft und zu große Nachsicht gegen dieselbe: Verderbniß des Willens, und die natürliche Folge alles dessen, Ausschweifung der Leidenschaft, und körperliche Krankheit. Diese Fehler können sehr beträchtlich seyn, und der Verstand kann bey denselben sehr leiden, ohne daß sie eben die Tollheit bestimmen. Wenn sie diese Benennung verdienen sollen, so müssen sie in einer gewissen Größe, und unter gewissen Umständen und Einschränkungen erscheinen, die ich nun näher bestimmen werde. Doch muß man zugeben, daß es oft, besonders in Rücksicht auf die letztere Art der Irrthümer der Seele, schwer ist, genau zu bestimmen, wo Narrheit (stultitia der Lateiner) aufhört und Wahnsinn (insania) beginnt. (Arnold 1784, 62; Hervorhebung v. d. Verf. – B-M. Sch.) Eine Seelenkrankheit wäre also der Zustand, in welchem die Seelenvermögen sich auf eine ihrer Naturbestimmung zuwiderlaufende Art und unwillkürlich äußern.“ (Hoffbauer 1802, Bd.I, 266). Später: Am besten wird es also seyn, daß man die Seelenkrankheiten nach ihrem Sitze eintheilt: oder nach den Vermögen, in Ansehung dessen der Mensch krank ist, würde ich sagen, wenn alle Krankheiten in einzelnen Vermögen wären. Allein es kann eine Krankheit auch in dem Verhältnisse mehrerer Vermögen zueinander liegen, wenn gleich keines dieser Vermögen für sich genommen leidet. (ebd., 288)
Einzelne Krankheitsformen werden also voneinander abgegrenzt, indem dargestellt wird, in welcher Art und welcher Reichweite sie von den menschlichen Grundvermögen abweichen, wobei sich eine Verzahnung zwischen der Systematisierung gemeinsprachlichen Gebrauchs und philosophischen Erkenntnissen ergibt. Aus den folgenden Zitaten geht hervor, dass als Krankheit all das gelten kann, was in irgendeiner Weise eine Abweichung von einem Normalzustand, der philosophisch gesetzt wird, bedeutet und nicht notwendigerweise eine körperliche Ausdrucksform besitzt: Die erste dieser Modificierung und Abweichung der positiven Seite des egoistischen Triebes, welche wir auf menschlicher Stufe wahrnehmen, ist die Umwandelung des Spieltriebes der Thiere und Kinder in den Beschäftigungs= und Zeitverkürzungs=Trieb … Die Sehnsucht nach solchen stets neuen Empfindungen, mit äusserer Passivität gepaart, erscheint als Gemüthskrankheit Langeweile, welche gern das Gemüth verstimmt und es trübe und mißmuthig macht. (Haindorf 1811, 142f.; Hervorhebung v. d. Verf. – B-M. Sch.), Die zwei Krankheitsformen,
140 welche der negativen Seite des Egoismus – dem Verteidigungstrieb entsprechen, sind die Feigheit und Grausamkeit. (ebd., 135), Zu den erworbenen Krankheiten, welche die freie Conversation stören, gehört der Menschenhaß und der Hang zum Anachoritenleben. (ebd., 189) Noch erwähne ich zweier Krankheiten der Seele, der Zerstreuung und der Vertiefung, die sich auf Anomalieen der Besonnenheit und Aufmerksamkeit beziehen. (Reil 1803, 107; Hervorhebung v. d. Verf. – B-M. Sch.)
In ähnlicher Weise finden wir bspw. bei Hoffbauer (1802, Bd. II, 276) neben der Freßsucht auch die Modesucht der Frauen, den Trübsinn 22 und den Unmuth neben der Narrheit (ebd., 294f.). Letztere sollen sich folgendermaßen unterscheiden: Es bedarf wohl keines Beweises, daß der Unmuth, so wie der Mißmuth, wenn man darunter nicht einzelne vorübergehende Stimmungen versteht, als Krankheiten und zwar als Gemüthskrankheiten zu betrachten sind. Der erste ist insbesondere als eine Krankheit, in welcher der Muth fälschlich gereitzt, und der letzte als eine solche, in welcher er unterdrückt ist, anzusehen. … Man hat sich hierüber um so weniger zu verwundern, da der Unmuth, sowohl wie die Schwermuth, in Narrheit übergehen kann, man verstehe unter der Narrheit den wirklichen Wahnsinn, … Von der Narrheit der ersten Art, welche ich zum Unterschiede von der zweiten die wahnsinnige Narrheit, so wie diese die bloße Narrheit, nennen will, … (ebd., 296)
Krankheit wird generell also nicht im heutigen Verständnis verstanden: Die Auffassung von Krankheit als biologischer Erscheinung, ja überhaupt als wesentlich körperlicher Zusammenhang war in der Medizin und damit auch in der Psychiatrie bis tief ins 19. Jhdt. noch schwankend und unfest. Sie mußte es sein, weil sich Krankheiten als biologische Erscheinungen erst definieren ließen, nachdem sich die Naturwissenschaft als umschriebenes Erkenntnis- und Methodengebiet herausgebildet hatte und in die Medizin eingewandert war. Erst in diesem Zusammenhang schafft die Unterscheidung von „Körper“ und „Seele“ überhaupt verschiedenartige wissenschaftliche Aspekte. Vor dieser Wende mochte der Arzt sich für Seelenstörungen, religiöse Phänomene, philosophisch-moralische Zusammenhänge und Staatsangelegenheiten zuständig fühlen, weil sein Wissensgebiet nicht im Sinne der heutigen Wissenschaftsgrenzen umschrieben war. (Herzog 1984, 39)
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Bei Trübsinn soll es sich um ein spät literarisiertes, also erst in der Mitte des 18 Jhs. gebräuchliches Lexem handeln, das entweder von trübsinnig rückgebildet oder eine Analogiebildung zu älteren Bildungen mit Sinn ist (vgl. DWB, Bd. 12, 1.Abt., Teil 2, Sp. 1222f.).
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Für die Psychiater der ersten Generation stellt die Abgrenzung zwischen „moralischem Gebrechen“ und „Krankheit“ eine große Schwierigkeit dar. 23 Mit dem weiten Krankheitsbegriff, der Krankheiten letztlich nur deduziert/bestimmt, ist eine Besonderheit verbunden, die späterhin – als konkrete Fallschilderungen den Diskurs dominieren – in dieser Form nicht mehr auftritt: die Orientierung an personalen Typen 24, zu denen neben dem Schwärmer, auch der Grübler oder der Phantast gehören und die in ein Panoptikum von Figuren 25 münden, die an das Narrenschiff von Sebastian Brant erinnern (der Schwärmer taucht im Nachklang bspw. auch bei Grohmann 1819, ZfpÄ, 197 auf). 26 So schreibt Hoffbauer (1802, Bd. III) zur der von ihm so benannten „Verrückung des Grüblers“ bzw. zur „Grübelsucht“: … und das Mißverhältniß zwischen dem Verstande und den Sinnen, in welchem jener zu stark ist, um sich dieser gehörig bedienen zu können, will ich die Ver______________ 23
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Teilweise wird dies allerdings explizit gefordert: „In der allgemeinen Seelenpathologie würde der Begriff der Seelenkrankheit exponirt, und ihr Unterschied von moralischen Gebrechen und körperlichen Krankheiten festgesetzt.“ (Reil 1803, 39). Die Erinnerung an den lebendigen Mitmenschen durchdringt noch die Typisierungen, die aktuell anstelle des Mitmenschen stehen. Solche individualisierten Typen wollen wir personale Typen nennen.“ (Schütz/Luckmann 1979, 113). In dem Moment allerdings, wo sie eher als soziale Kollektiva aufzufassen sind, bleibt die Individualisierung nicht erhalten, sondern die Darstellung ist hochanonym. Panoptisch meint auch eine Form der aufzählenden Präsentation, bei der die gebrauchten Lexeme generisch und typisierend zu verstehen sind. Diese Präsentationsweise bleibt weit über die Initialphase hinaus erhalten, z. B. bei Damerow: „Ein sehr grosser Theil dagegen … aus allen Formen und Stadien der Seelenkrankheiten: scheinbar völlig Verthierte, an completer Aboulie und bis zur Starrsucht ausgebildeter Melancholie Leidende und fälschlich oft genug für Blödsinnige gehaltene; die haufenweise, besonders bei niederen Ständen vorkommenden, unausgebildeten, unentwickelten, man möchte sagen rohen psychischen Krankheitszustände, die halb gesunden halb kranken ‚fixen Ideen‘, Hallucinationen, Illusionen u.s.w.; jener hypochondrisch-melancholische Grübler, durch und durch verdreht der Welt gegenüber erscheinend, … – solche und ähnliche Individuen, …, müssen, wie gesagt, die Versetzung in die Pflegeanstalt als ein Unglück ansehen, …“ (1840, 94; Hervorhebung v. d. Verf. – B.-M. Sch.) Vgl. dazu auch den Prolog im Magazin für psychische Heilkunde, das 1805 erstmalig von Johann Christian Reil und Adalbert Kayssler herausgegeben wurde: „Ich habe wenig zu sagen. Der Zweck dessen, was wir geben, ist klar: wir wollen die Narrheit, nicht wie im Lustspiel zur Belustigung darstellen, sondern mit ernster Mühe abstellen. Das Interesse des Gegenstandes ist nicht für alle Menschen, denn es wird von Mitleid erzeugt und von Furcht genährt, aber doch für diejenigen, zu denen ich spreche; das Interesse der Darstellung soll, wie im Schauspiel, immer höher steigen, wenn ihr nur Geduld habt, die Entwicklung abzuwarten – übrigens spielt das Stück lang oder kurz, wie es Euch belieben wird.“
142 rückung des Grüblers nennen.“ (ebd., 21). „Diese Krankheit ist auch in einem hohen Grade unheilbar. Denn es kann nicht fehlen, daß der Grübler, wenn er handeln will, fast immer verkehrt handelt, und daß ihn fast jeder Blick, den er in die wirkliche Welt wirft, mit Unmuth erfüllen muß. (ebd., 27f.)
Ebenso interessant ist die metonymische Verwendung von Kopf, die heute v. a. in der phraseologischen Verbindung ein heller Kopf begegnet. In der Frühzeit, lange tradiert, tritt häufiger der stumpfe Kopf auf: „Die Aesthetick lehret ferner, wie man die Scharfsinnigkeit verbessern soll. Wenn es eine Kranckheit der Seele ist, ein stumpfer Kopf zu seyn, so lehrt die Aesthetick, diese Kranckheit psychologisch zu curiren.“ (Bolten 1751, 71). Das panoptische Verfahren, verbunden mit charakterisierenden, generisch zu verstehenden Identifikationen ebenso wie charakteristischen Metonymien, ist auch deshalb wichtig, weil durch dieses Verfahren ein Verbindungsglied zwischen abstrakt postulierten menschlichen Vermögen, ihren Abweichungen und der Ebene der verallgemeinerten Wahrnehmung hergestellt wird. Die sprachliche Dynamisierung dieser Typen wird indes den Krankengeschichten vorbehalten bleiben. Dass es sich beim panoptischen Verfahren um ein Verfahren handelt, das nicht in der Psychiatrie genuin entwickelt worden ist, sondern bei dem die Philosophie Pate gestanden hat, lässt sich erneut auch an den folgenden Textstellen von Kant nachweisen: Wer bei seinen Einbildungen die Vergleichung mit den Gesetzen der Erfahrung habituell unterläßt (wachend träumt), ist Phantast (Grillenfänger); ist er es mit Affekt, so heißt er Enthusiast. … Der Einfältige, Unkluge, Dumme, Geck, Tor und Narr unterscheiden sich vom Gestörten nicht bloß in Graden, sondern in der verschiedenen Qualität ihrer Gemütsverstimmung …“ (Kant 1798/2000, 107). Oft auch verbunden mit dem Rekurs auf den gängigen Sprachgebrauch: „Man nennt den, welcher diese Vermögen im vorzüglichen Grade besitzt, einen Kopf; dem, dem sie in sehr kleinem Maße beschert sind, einen Pinsel (weil er immer von anderen geführt zu werden bedarf); den aber, der sogar Originalität im Gebrauch desselben bei sich führt …, ein Genie. (Kant 1798/2000, 24)
Das sprachanalytische Verfahren – so auch bei Reil – leitet Abweichungen aus angenommenen menschlichen Eigenschaften her, vgl. noch einmal: Das kranke Bewußtsein hat mancherley Gestalten, je nachdem diese oder jene Beziehungen desselben, allein oder hervorstechend, afficirt sind. Zuerst will ich seiner Anomalieen erwähnen, sofern sie sich vorzüglich durch ein fehlerhaftes Bewußtseyn der Objektivität äußern. … (Reil 1803, 64ff.)
Den Anomalien der Objektivität folgen konsequenterweise dann die Anomalien der Subjektivität (ebd., 71f.). Flankiert wird das sprachanalytische durch das klassifikatorische Verfahren, das auf naturkundliche Darstellungen ver-
143 weist. Die Klassifikationsroutinen – auch bei Pinel – entsprechen den Arbeiten von Linné, Sauvages und Condillac (vgl. dazu: Trabant 1983, 27–47) und gliedern bspw. den Reilschen Text nach der Hierarchie von Gattungen, Arten, Varietäten und Modifikationen: Was sind wesentliche, was zufällige Differenzen? Wie unterscheiden sich Arten und Varietäten? Arten beziehn sich auf verletzte Qualitäten, die einer Thierart überhaupt eigen sind, Varietäten auf Modifikationen derselben durch Individuen der gegebnen Thierart. Arten der Geisteszerrüttungen sind specifisch-eigenthümliche Verletzungen der Dynamick des Gehirns, … (Reil 1803, 299)
Die an die Naturgeschichte angelehnten Gliederungen bestimmen bei Reil auch die Darstellung von Krankheitsformen, vgl.: Oben habe ich schon bemerkt, daß der fixirte Wahnsinn unendlich viele Modifikationen nach seinen Graden, nach seiner Dauer, Zusammensetzung, entfernten Ursachen und nach der Art und Weise habe, wie er auf das Begehrungsvermögen einfließt, … Diese Variationen müssen, wenn sie einige Selbstständigkeit haben sollen, entweder allein nach der specifischen Differenz der fixen Ideen, oder nach der Wirkung bestimmt werden, die dieselben in der Seele hervorbringen. (Reil 1803, 333)
Bestimmte Symptome werden wiederum unterteilt. So gehören zu den „fixen Ideen“ „fixirte Vorwürfe“ (ebd., 334; genauere Auseinandersetzung unten), „Einbildungen zu verarmen und vor Hunger sterben zu müssen“ (ebd., 336), „fixe Vorstellungen, die sich auf Verwandelungen des Körpers und der Persönlichkeit beziehen (mania metamorphosis)“, „Fixe Ideen, die sich auf Aberglauben beziehen.“ (ebd., 345), „fixer Wahn, der sich auf religiöse Gegenstände bezieht.“ (ebd., 345), „fixer Wahn, der sich auf Liebe bezieht“ (ebd., 346), „die fixe Idee der Todesfurcht entgegen.“ (ebd., 356), „Fixer Wahn, durch Aufopferungen sich bekannt zu machen, die Menschen zu verwirren, …“ (ebd., 358) oder der „Wahnsinn, der sich auf Schwärmerey bezieht.“ (ebd., 359). Die Hierarchie von Gattungen bis hin zu Modifikationen gibt in diesen Teilen die Textkomposition vor, wobei es nicht körperliche und psychische Krankheitsbilder sind, die die textliche Ordnung bestimmen, sondern die semantisch-hierarchische, paradigmatische Struktur der Begriffe, die die wechselseitigen Paraphrase- und damit auch Definitionsmöglichkeiten bestimmt.
Ein weiteres und vielleicht das wichtigste Moment ist, dass Erfahrung einen eher illustrativen Charakter besitzt. Die Verarbeitung von Erfahrung ist das Gegenstück zum Aufbau der semantischen Ordnung. Erfahrungswissen fließt in den folgenden Formen in die Texte ein: Häufig ist der Rekurs auf selbst schon erfahrungssynthetisierende sprachliche Einheiten in unterschiedlichen
144 argumentativen Positionen (so Sprichwörter oder Gemeinplätze). „Der Wucherer oder der Erwerbsüchtige nimmt oft die Maske des Großmüthigen an; und hier gilt das Sprichwort: der Wolf im Schaafpelz.“ (Haindorf 1811, 151). Nahezu gleichwertig ist die Allusion: Zum Beleg wird des öfteren auf fiktionale Texte angespielt, der literarische Kontext wird allerdings nur ansatzweise evoziert und eher präsupponiert, wobei der Unterschied zwischen realer und fiktiver Erfahrung gelegentlich nivelliert wird. Gleichzeitig sind die Texte reich an Gemeinplätzen oder nicht-psychiatriespezifischen Argumentationstopoi: „In Zeitläuften, die an großen, allgemeines Interesse erregenden Begebenheiten reich sind, hat man diese letzte Schwärmerei häufig zu beobachten Gelegenheit.“ (Hoffbauer 1802, Bd. I, 302). Größere Bedeutung besitzen Fallschilderungen, die das Aussehen späterer psychiatrischer Texte prägen (vgl. Kap. 2.2.1). Allerdings: Da in den seltensten Fälle unmittelbares Erleben zu Grunde liegt und die „Fälle“ selbst nicht Produkte der eigenen Anschauung sind, finden sich zwar Bestandteile späterer Krankengeschichten, die jedoch charakteristische Leerstellen aufweisen. Fallschilderungen dokumentieren nicht eigenes ärztliches Handeln, dienen nicht vordringlich zur Weitergabe induktiv vermittelten Wissens, sondern belegen allgemeine Aussagen. Dadurch werden immer nur die Momente des Krankheitsverlaufs fokussiert, die besonders interessant, dramatisch, kurios oder verblüffend sind. Das Zuschneiden der Fälle auf besonders mitteilenswerte Aspekte hat wenig mit der späteren textlichen Aneignungsstrategie zu tun, da die Krankengeschichten eher der Attraktivitätssteigerung und dem rhetorischen delectare zuzurechnen sind. Da die Krankengeschichten oder reduzierten Fallbeispiele eher der Unterhaltung dienen, möchte in diesem Zusammenhang von Anekdoten 27 sprechen, die eine ähnliche kommunikative Funktion wie diese besitzen.
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„Heute bezeichnet A. v.a. eine ep. Kleinform, die auf eine überraschende Steigerung oder Wendung (Pointe) hinzielt und in gedrängter sprachlicher Form (häufig in Rede und Gegenrede) einen Augenblick zu erfassen sucht, in dem sich menschliche Charakterzüge enthüllen oder die Merkwürdigkeit oder die tieferen Zusammenhänge einer Begegnung zutage treten … Dabei ist es zweitrangig, ob das Erzählte histor. verbürgt ist; bedeutsam ist allein, ob es möglich, treffend und charakteristisch ist. Die A. soll im Episod. Typisches (nicht selten mit satir. oder frivolem Einschlag) aufzeigen, sie kann jedoch auch Geheimes, Privat-Intimes aufzeigen.“ (Metzler Literatur-Lexikon 21990, 15)
145 Struktur von Fallschilderungen Ein Tanzmeister zu Allais verfiel nach vorhergegangenen Erhitzungen in ein hitziges Fieber. Am vierten Tage gesellte sich zu demselben eine anhaltende Schlafsucht, und darauf folgte ein wüthendes und dumpfes Irrereden, bei dem er sich unaufhörlich bemühte, aus dem Bette zu springen. Einer seiner Freunde nahm die Violine und spielte ihm einige Stücke vor. Dieses machte einen solchen angenehmen Eindruck auf ihn, daß er sich aufrichtete und mit den Armen die Manieren des Stückes ausdrückte. Das Rasen hörte auf, der Kranke fiel in einen tiefen Schlaf, und während desselben stellte sich eine Crise ein, durch die er genas. Auch David heilte die Melancholie des Sauls, durch das Spiel seiner Harfe. (Haindorf 1811, 218).
Rudimentäre räumliche und keine zeitliche Situierung des Falls Komplikation
Eine Jungfer verfiel nach einem Nervenfieber in den Wahn, ihr Kopf, als die Quelle ihrer Schmerzen müsse abgeschnitten werden. Zufällig war man genöthiget, ihr dickes und langes Haupthaar wegzuschneiden, weil es durch die Krankheit in Verwirrung gerathen war. Schon während dieser Operation fand sie sich erleichtert. Endlich, rief sie voller Freuden aus, schneidet ihr mit den Kopf ab, nun werde ich gewiß gerettet! Und in der That verlohr sich von diesem Augenblicke an ihr Wahnsinn und kehrte nie wieder zurück. Wahrscheinlich war der Eindruck des verworrenen Haars aufs Gehirn, die Ursache ihres fixen Wahns gewesen. (Reil 1803, 271).
Keine zeitliche und räumliche Situierung des Falls, gleichzeitig Komplikation
Resolution
Folgen
Einordnung des Falls
Resolution
Spekulation über Ursachen
146 Al-Raschid’s schöne Beischläferin hatte sich in den Umarmungen ihres Gebieters mit so vieler Inbrunst getreckt, daß einer ihrer Arme starr blieb. Man versuchte alles zu ihrer Herstellung; Balsame von Gilead und Mekka flossen in Strömen, Narden und Ambra dampften in dem Rauchfasse, aber umsonst. Es wurde also ein neuer Arzt, Gabriel, herbeigerufen. Dieser heilte die Kranke in einem Augenblick, durch einen psychologischen Versuch. Er stellte sich als wollte er ihren Unterrock berühren, und dies in Gegenwart von Zeugen. Schnell entbrannte der Zorn in der Brust des schönen Mädchens, ihr Krampf schwand, … (Reil 1803, 28f.). Hieraus erklärt sich folgender Fall. Ein äußerst heftiger rasender Mann, den man nicht zu bändigen wußte, weil er alle Stricke und Fesseln zerriß, erzählt Chiarugis Übersetzer, wurde dadurch in einigen Stunden wieder zu Verstande gebracht, daß man ihn mit einer langen Leine, die man gewöhnlich zum Trocknen der Wäsche gebrauchte, umwunden und gleichsam darin eingepackt, in die Höhe zog.“ (Hoffbauer 1807, Bd. 3, 330).
Keine zeitliche und rudimentäre räumliche Situierung des Falls Komplikation
Resolution
Rudimentäre zeitliche und räumliche Situierung des Falls
Komplikation/Resolution
Diese Darstellungen zeichnen sich dadurch aus, dass spezifische, orientierende Angaben zu den erkrankten Individuen fehlen, vage sind oder vom Rezipienten selbst hergestellt werden müssen und der Fokus der Darstellung auf der z. T (dramatisierenden) Zuspitzung liegt, auf die eine „wundersame“ Heilung erfolgt. Im Zentrum steht ein einzelnes Ereignis, das sich hinsichtlich eines möglichen Krankheitsverlaufes nicht beurteilen lässt. Die Darstellungen können auch äußerst knapp ausfallen, was im Übrigen auch ein Indiz für die Sekundär- und Tertiärverwertung von bestimmten Fällen ist: „So erzählt Pinel von einem Menschen, der sich sonst mit mechanischer Kunst beschäftigte, …, welcher an solchem Anfalle von Wuth und Neigung zur Grausamkeit litt.“ (Haindorf 1811, 135). Fälle tauchen nicht nur als Anekdoten auf, sondern sie werden oft nur erwähnt. Die Erwähnung bspw. literarischer Gestalten dient den Verfassern als Anknüpfungspunkt, um zum Teil selbst gesehene Fälle an den Erfahrungshorizont des Lesers anzubinden. Man findet:
147 – literarische Gestalten als Bezugspunkt: … eine Ideenfolge, die sich blos durch das düstere Colorit und das einförmige Thema von der Ideenfolge einer gesunden Seele unterscheidet. Spuren einer solchen Melancholie, findet man in Ossians, Youngs, Tassos und Petrakas Werke. Geht aber dieses Spiel der Begeisterung in verschiedenem und abgebrochenem Zusammenhange fort; so hat sich schon zur Melancholie Aberwitz und Wahnwitz hinzugesellt wie dieses z. B. im König Lear der Fall ist. Ähnliche Beobachtungen habe ich selbst bei geistesschwachen Individuen, und bei gefühlvollen Mädchen gemacht, welche, nachdem sie einige Zeit an Melancholie gelitten hatten, endlich auch in Wahnwitz und Aberwitz verfielen. (Haindorf 1811, 205; Hervorhebung v. d. Verf. – B-M. Sch.); Ein Mensch, erzählt Pinel, der sich einbildete, daß man ihm durch Gift nach dem Leben trachtete, nahm keine Nahrungsmittel, die man ihm gab; sondern aß nichts, als was er heimlich aus der Küche entwenden konnte. Mehrere und erstaunenswerte Beyspiele dieser Art erzählt Richerz, und diese Empfindsamkeit läßt auch Shakespeare den König Lear, wie er schon in den tollsten Wahnsinn verfallen ist, an einem Orte sehr natürlich äussern. (Hoffbauer 1802, Bd. I, 310; Hervorhebung v. d. Verf. – B-M. Sch.) Als Medicin wurde ihm vorzüglich häufige Laxir= und Purgiermittel gereicht, wodurch der Rest seiner Körperkraft ihm gänzlich geraubt wurde; und ob er sich nun gleich völlig geschwächt fühlte, so war doch seine Eitelkeit, ein charakteristischer Zug aller Schwindsüchtigen, gleich einem Tasso und Werther psychisch zu leiden, so groß, daß er sich seine eigentlichen physischen Leiden selbst verleugnete, … (Haindorf 1811, 301; Hervorhebung v. d. Verf. – B-M. Sch.) Die Verarbeitung von Literatur wird auch durch eine Bezugnahme auf La Bruyere 28 deutlich: Charakteristisch ist auch das Gemählde, welches La Brüyere von einem höchst unbesonnenen Menschen, einem Herrn von Bourcas, entworfen hat. (Haindorf 1811, 324). Ein äußerst leichtfertiger Geist, eine närrische Zerstreuung, außerordentliche und ohne Unterlaß wiederhohlte Unschicklichkeiten, bizarre und dumme Streiche, die den Charakter des Menalks in dem Werke des la Bruyere (Kap. III) ausmachen, sind keineswegs eingebildete Gemählde, die nirgends ausser den Romanen zu finden wären. (Pinel/Wagner 1801, 172). Schön ist das Gemälde, welches La Bruyere von einem höchst unbesonnenen Menschen, einem Herrn von Brancas entworfen hat. Nur einige Züge aus demselben. Menalk, so nennt la Brüyere sein Original, … (Reil 1803, 106; Hervorhebungen v. d. Verf. – B-M. Sch.)
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Bezieht sich auf Jean de LaBruyeres (1645–1696) Über die Charaktere und Sitten der Zeit (oder auch: Die Charaktere oder die Sitten des Jahrhunderts, frz. in der ersten Auflage von 1688, dts. Augabe 1947). Im Kapitel „Über die Menschen“ wird die Zerstreutheit von Herrn Menalk (oder: Menalque) dargestellt: „Derselbe Menalque heiratet am Morgen, hat es aber am Abend schon wieder vergessen und schläft in der Hochzeitsnacht außer Hause; …“ (ebd., 233)
148 – Legenden und Mythen als Bezugspunkt: Düfour erzählt ein ähnliches Beispiel: Die Königin Anna von Frankreich schlief auf dem weichsten Battist, der ihr, nebst Hemden von holländischer Leinewand, hart und rauhe zu seyn schien. (Haindorf 1811, 239) Thrasylaus, dem in seiner Einbildung alle Schiffe im Piräeus gehörten, hing an einer ihm angenehmen Vorstellung; der Mahler, der Fürst zu seyn glaubte; ingleichen auch Sgambari; alle hingen an einer ihrer Eitelkeit oder ihrem Stolze schmeichelhaften Vorstellung: …; und zur Erfahrungsseelenkunde: Matthias Klug, dessen Geschichte aus Moritz Magazine bekannt ist, hatte sich in den Kopf gesetzt, gegen den König von Preußen (Friedrich I.) oder dessen Meinungen in Ansehung der Religion ein Buch verfaßt, und dadurch sich des Königs Ungnade und Verfolgungen zugezogen haben … (Hoffbauer 1802, Bd. III, 95ff.)
Zu den Krankheiten öfter der sog. Tarantismus gerechnet. Auch hier macht es den Anschein, als kenne man die Krankheit bzw. die sich um sie webende Legende lediglich vom Hören-Sagen: Die besondere Hypochondrie, womit einige Menschen in dem untern Theile von Neapel plötzlich befallen werden, und welche man dem Bisse der Tarantel zuschreibt, wird auch durch die Musik kurirt.“ (Haindorf 1811, 217), oder: „Endlich rechne ich hierher noch den Tarantelbiß, der in Apulien einheimisch ist: eine Krankheit, bei welcher die Patienten einen unwiderstehlichen Trieb zum Tanz und zur Musik an den Tag legen. (Reil, Kleinere Schriften, 62; auch Hoffbauer 1802, Bd. II, 321)
– „Fälle“ aus der Praxis als Bezugspunkt. Darunter fallen u. a. sehr alte, im kulturellen Gedächtnis sedimentierte Fallschilderungen: Im Jahre 1373 sahe man häufig in Holland eine Krankheit, welche man den St. Johannestanz nannte. Gemeine Leute, die von derselben befallen waren, liefen, ganz oder zum Theil entkleidet, mit Blumenkränzen geschmückt, singend und tanzend durch die Gassen und Kirchen der Städte und Dörfer. (Hoffbauer, Bd. II, 327)
Gleichzeitig ist damit die relativ ungebrochene, ihrerseits gemeinsprachliche Verwendung späterer Kernbegriffe unmittelbar verbunden, was auch eine Kontinuität mit dem Magazin für Erfahrungsseelenkunde anzeigt – hier zeigt sich auch eine Sekundär- oder Tertiärverwertung: Ein Mann von 64 Jahren wurde am 2. Sept. 1797, nachdem er drey Monate vorher verrückt geworden war, in das Hospital gebracht. Er war schon vor sieben Jahren ungefähr zwey Monate hindurch verrückt gewesen, … (Hoffbauer, Bd. III, 129)
Diese Erfahrungssurrogate, sozusagen Erfahrungen aus zweiter Hand, dominieren die Texte gegenüber eigenen Erfahrungen, die selten in aller Ausführlichkeit geschildert werden. Allerdings zeigen auch diese Auffälligkeiten: Anders als in späteren Fallschilderungen, ist die geschilderte Person ein Typ,
149 eine gesellschaftliche Filiation, was auch an generischen sprachlichen Formulierungen deutlich wird (der Wahnsinn des Grüblers). Der individuelle Fall wird durch Attribuierungen überlagert, wahrgenommene Anzeichen sind immer die bekannten und oft wiederholten. Deutlich wird dies z. B. an der Darstellung von Onanisten, Melancholischen oder Schwärmern: Einen solchen Onanisten von gebildetem Geist lernte ich in dem Irrenhause zu Pforzheim kennen. Sein schlanker und zarter Habitus seine scharfe hervorragende Gesichtsbildung, sein gravitätisch schwebender Gang, verbunden mit einer hellgellenden Stimme verrieth mir schon auf den ersten Anblick sein Leiden.“ (Haindorf 1811, 109). Dass Krankheiten gleich an Körperbau und Physiognomie erkennbar seien, gilt auch später: „… allein sein Ansehen ganz verdächtig, dem eines Melancholischen gleich … (Graff 1820, ZfpÄ, 160) 29
Durch die Sekundär- und Tertiärbildung, die zu einer Reduktion des Falls führt, wird eine psychiatrieimmanente Legenden- oder Anekdotenbildung betrieben: Arnold erzählt von einer Frau, die nach einer an ihr versuchten Nothzüchtigung wahnsinnig wurde, und nachher glaubte, sie würde jeden Augenblick von einem Kinde entbunden. Selbst Männer haben sich für schwanger gehalten. Hipocrates erwähnt einer Melancholie reicher Soythen, die durch vieles Reiten ohne Steigbügel bey ihren merkantilischen Geschäfften, das Vermögen zum Beischlaf verlohren hatten, sich einbildeten in Weiber verwandelt geworden zu seyn, und dieser Idee gemäß, weibliche Kleidungen anzogen, und sich mit dem Spinnrocken beschäfftigen. (Reil 1803, 338)
Obwohl bspw. auch Pinel direkt die Wahnsinnigen studiert, weisen seine „Krankengeschichten“ oft noch nicht über das Anekdotische hinaus: Ein einziger, unter den Augen einer schwachen und nachgiebigen Mutter erzogener Sohn gewöhnte sich an, sich allen seinen Launen, allen Regungen seines ungestümen und regellosen Herzens zu überlassen. Die Heftigkeit seiner Neigungen nahm zu, und hat sich mit den Jahren befestigt. … Wollte man sich ihm entgegensetzen: so wurde seine Laune gereitzt; er griff mit Tollkühnheit andere an, suchte durch Gewalt zu herrschen, und lebte unaufhörlich in Zänkereyen und Streitigkeiten. … Auf der andern Seite war er zur Zeit der Ruhe voller Vernunft. … Wunden, Processe, Geldstrafen waren die einzige Furcht seiner unglück______________ 29
In den ersten Jahrzehnten des 19. Jhs. wird die Entstehung von psychischen Erkrankungen noch häufiger mit der Onanie begründet werden: „Die Onanie, diese Plage des menschlichen Geschlechts, ist häufiger, vorzüglich bei den Reichen, die Ursache zu Seelenstörungen, als man selbst noch glaubt, und es scheint, als wenn dieses Laster dem männlichen Geschlechte schädlicher, als dem weiblichen wäre.“ (Esquirol/Hille 1827, 63). Das Laster „Onanie“ wurde international angeprangert. Der Amerikaner Benjamin Rush zählte 1812 z. B. zu den Folgen (!) der Onanie Irrsinn sowie „Samenschwäche, Impotenz, Dysurie, Rückenmarksschwindsucht, Lungenschwindsucht … etc.“ (vgl. Gay 1986, 306f.)
150 lichen Zanksucht. Aber eine notorische That hat seinen Gewaltthätigkeiten ein Ende gemacht; er erzürnte sich eines Tages gegen eine Frau, die gegen ihn Schmähreden ausstieß, und warf sie in einen Brunnen. Der Proceß wurde vor den Gerichten geführt, und zufolge einer Menge von Zeugen über seine Narrenstreiche, wurde er zu einer ewigen Einsperrung in dem Irrenhause zu Bicêtre verurtheilt. (1801, 161f.)
Die Psychiater der ersten Generation rekurrieren also auf etwas, was in unterschiedlicher Form in den Wissensvorrat einer Gesellschaft eingegangen und sedimentiert, in diesem Sinne bestimmt ist und zunächst keiner Revision unterliegt. Sie erreichen durch ihr Schreiben eine Form von Diskurskontinuität und zeigen die entsprechenden Kontextualisierungsleistungen: Ihre Leistung besteht in der Kombination, nicht aber schon in der Hinzufügung. Dass vor 1820 die ausführliche Darstellung von Krankheitsgeschichten noch nicht zum psychiatrischen Alltag gehört, wird auch daran deutlich, dass der nun schon häufiger zitierte Hoffbauer den zweiten Band der Beyträge zur Beförderung einer Kurmethode auf psychischem Wege 1816 folgendermaßen ankündigt: Er will Krankengeschichten liefern, „die viel ausführlicher erzählt und mit ausführlicheren Anmerkungen begleitet sind, als man es sonst bey Fällen dieser Art in den Schriften der Ärzte gewohnt ist.“ (Hoffbauer 1816, 478, zit. n. Kaufmann 1995, 284). Es wird kritisiert, dass die bisher vorliegenden Krankengeschichten zu „summarisch“ seien und Informationen zum Stand, die häusliche Lage, Charakter des Menschen, sein Werdegang etc. fehlten, um so bspw. darauf zu schließen, ob die Krankheit eine Familienkrankheit sei. Auf einen wichtigen Punkt gilt es hier aus sozialphänomenologischer Perspektive aufmerksam zu machen: Durch die Sekundär- und Tertiärverwertung wird auf gesellschaftlich relevante Sedimentbildungen Bezug genommen und diese zudem neu aktualisiert. In dieser Bezugnahme – und gerade in Hinsicht auf die charakteristischen Mitteilungsformen – tendieren die entsprechenden Typen allerdings dazu, sowohl hochanonym zu werden als auch den Horizont des Bestimmbaren einzuengen. Der Wiederaufgriff bestätigt diese Tendenz noch: König Lear oder Werther werden zu Typen (im Sinne von „ein Werther“). Die sprachliche Bearbeitung, die Begrenzung des Narrativen auf das Anekdotische nähert diese Darstellungsform den erfahrungskondensierenden oder objektivierenden Phraseologismen an, gleicht einer auch sprachlichen Konventionalisierung, deren Entstehungskontext vom Rezipienten – allerdings abhängig von seinem Wissensstand – nur noch sekundär motiviert werden kann. Dadurch ergibt sich eine Gemeinsamkeit zwischen panoptischem und anekdotischem Verfahren. Im Sinne von Feilke (1996, 104) nimmt die fortschreitende Abstraktion vom individuellen Fall den Charakter einer semantisierten sprachlichen Typik (differenzierenden Ausdrucksbildung) an. Das Gemeinsame der charakteristischen sprachlichen
151 Verfahren der ersten Monographien ist: Bearbeitung des Sprachgebrauchs durch Festlegung von Verwendungsweisen ebenso wie die typisierende sprachliche Bearbeitung alles dessen, was als Erfahrungshorizont in den Schriften noch greifbar ist und seine sprachlichen Spuren hinterlassen hat. Damit schließen sich die Schriften jedoch an konventionalisierte Gewohnheiten unmittelbar an. Ähnliche Form reduzierten Erzählens findet man auch im Magazin für Erfahrungsseelenkunde, das von den Psychiatern der ersten Generation immer wieder lobend zitiert wird (so bspw. bei Hoffbauer 1802, Bd. 1, 293). 30 Karl Philipp Moritz eröffnet das „Magazin“ mit den folgenden Worten: „Was mich darüber beruhiget, daß ich die gegenwärtige Sündfluth von Büchern noch mit einem neuen Buche vermehren will, ist dieses, daß ich Fakta, und kein moralisches Geschwätz, keinen Roman, und keine Komödie, liefere, auch keine andern Bücher ausschreibe.“ (Bd. I, 1, 8). Die Aufgabe, „Fakta“ zu liefern, wird von den Beiträgern des Magazins – in der Hauptsache Theologen, Pädagogen, Philosophen und Mediziner – sehr unterschiedlich gelöst, so dass ein heterogenes Textsortenspektrum zu finden ist, das von Selbstbekenntnissen (Tagebuchauszügen oder Auszügen von Briefwechseln), über so genannte Bildungsgeschichten, den Bericht über „sonderbare“ und „kuriose Ereignisse“ bis hin zu von Medizinern verfassten Krankengeschichten reicht. Im Gegensatz zur Moritzschen Aufgabenstellung finden sich viele Abhandlungen, in denen ein Fall hinsichtlich seiner moralischen und sozialen Bedeutung ausgelotet wird. Für den Entwicklungsgang der Psychiatrie ist nicht das gesamte Magazin interessant, sondern v. a. die Beiträge zur „Seelenkrankheitskunde“, deren Richtlinien ebenfalls schon im ersten Band aufgestellt werden und aus denen eine Orientierung am Beobachten herauszulesen ist: In dem Magazine der Erfahrungsseelenkunde müssen, insbesondere anfänglich, der eingestreuten Reflexionen so wenige als möglich seyn. In der Folge kann es immer durch wichtige Reflexionen und wichtige Fakta wachsen, die sich wechselseitig einander zu Hülfe kommen. Alles ängstliche Hinarbeiten aber auf ein festes System muß dabei gänzlich vermieden werden … (Bd. I, 1, 28)
Der Begriff der Seelenkrankheit, definiert als „Mangel der verhältnismäßigen Übereinstimmung aller Seelenfähigkeiten ist Seelenkrankheit“ (ebd., 28), entspricht den Vorstellungen einer rein psychischen Fundierung von Krankheitszuständen, die bspw. als „Mangel an Thätigkeit, überspannte Thätigkeit, ______________ 30
Z. B. auch von Müller, der sogar noch Fallschilderungen aus diesem übernimmt: „Schon der Gedanke, in einem Tollhause gewesen zu seyn, ist einem Wiedergenesenen oft schrecklich. Folgende aus Moritz Magazin der Erfahrungsseelenkunde genommene Geschichte mag der obigen gleich zur Seite stehen.“ (1824, 41). Hier findet man eine noch gleichrangige intertextuelle Vernetzung bspw. zu Pinel.
152 zwecklose Thätigkeit u.s.w.“ (ebd., 29) gesehen werden. Es gilt das grundsätzliche Diktum: Die thätigen Kräfte müssen mit den vorstellenden Kräften in einem gewissen Verhältniß stehen; sind sie gegen dieselben zu stark, und bekommen das Übergewicht, so ist dieses Krankheit der Seele, …; sind sie gegen dieselben zu schwach, so ist dieses ebenfalls Krankheit; … schwinden sie ganz oder zum Theil, so ist dieses gleichsam eine Seelenlähmung … (ebd., 29)
Bei der Seelenkrankheitskunde fällt im Gegensatz zur postulierten Orientierung an Fakten auf, dass häufig nicht selbst erlebte Ereignisse oder Verhaltensweisen verarbeitet werden, sondern dass Ereignisse entweder vom Hören-Sagen weitergegeben werden bzw. eine Sekundär- oder sogar Tertiärverwertung vorliegt (z. B. „Geschichte des ehemaligen Inspektors am Joachimstalischen Gymnasium Johann Peter Drieß, nach einer mündlichen Erzählung des Herrn Moses Mendelssohn und einem schriftlichen Bericht des Herrn Assessor Hagen“ – Bd. I, 2, 103–110), bspw. wenn jemand Fälle aus Kriminalakten wiedergibt oder Erlebnisse eines Freundes verarbeitet. Allerdings erscheinen auch Texte, die auf selbst Erlebtem und Erfahrenem beruhen. Eine Verbindung von Fakta und Objektivität folgt einem anderen als dem heutigen Selbstverständnis. Interessant ist nun, dass Texte, die als narrativ zu werten sind, z. T. eine besondere Gewichtung der erzählerischen Elemente aufweisen. Es lassen sich unterscheiden: Texte, die zwar einen ausgearbeiteten Rahmen besitzen, das eigentlich erzählenswerte Ereignis aber nur kurz angedeutet und nicht elaboriert wird; Texte, die mit einer ausgearbeiteten Evaluation des Falles beginnen, die die Fallschilderung kaum zu rechtfertigen scheint (es handelt sich hier zumeist um stark moralisierende, häufig von Theologen und Pädagogen verfasste Texte); Texte, bei denen nicht klar zu entscheiden ist, ob sie berichtend-deskriptiv oder narrativ sind, was v. a. auf eine nicht ausgearbeitete Komplikation zurückweist. Zum Teil werden Fakten nur chronologisch geordnet und die Zuordnung der Fakten dem Leser überlassen; Texte, in denen nur punktuelle Ereignisse fokussiert werden und ein potentiell erklärend-genetisches Element nicht auftaucht. Ausgearbeitete Krankengeschichten – dies ein interessantes Indiz – erscheinen nur bei Ärzten oder bei den Herausgebern des Magazins („Genesungsgeschichte eines Jünglings von einem dreimonathlichen Wahnsinn“ – Bd. III, 2, 110–142 oder die von F. Pockels geschriebene Abhandlung: „Johann Hermann Simmen: ein braver Soldat, ein zärtlicher Vater, liebreicher Gatte, ehrbarer, ordentlicher, stiller Bürger und – kaltblütiger Mörder seiner Anverwandten“ – Bd. VII, 1, 26–57). Das oben genannte ungleichgewichtige En-
153 semble der erzählerischen Elemente zeigt sich in der „Gemüthsgeschichte Christian Gragerts eines Gensd’arms in Berlin“ (Bd. I, 1, 23f.), an der auch die Präsuppositionslastigkeit des Ausgeführten deutlich wird: Dieser Christian Gragert scheinet, bei einem übrigens gutem und stillem Naturell, immer etwas einfältig und leichtgläubig gewesen zu seyn. Wegen einer besondern Steifigkeit des Körpers und Ungelehrigkeit konnte er sich nicht gut beim Exerzieren behelfen, und mußte darüber manche Strafe leiden, welches ihm sehr nahe ging. Hierzu kamen noch dürftige Umstände, erlittene Unglücksfälle in seiner kleinen Haushaltung, und gänzliche Abneigung gegen das Soldatenleben. Darüber gerieth er endlich in eine ganz besondre, ungewohnte Ängstlichkeit, vorzüglich des Nachts, die ihn gar nicht schlafen ließ, und die er, seiner Aussage nach, bloß durch Lesen in geistlichen Büchern und Singen geistlicher Lieder, vertreiben konnte, worauf ihm immer leichter und besser ward. Indem er nun fleißig in der Bibel las, gerieth er unter andern auf den Propheten Daniel, den er nun zu seiner Lieblingslektüre machte. Und von der Zeit an entstand bei ihm die Idee von Wundern, die sich nachher seiner Einbildungskraft so sehr bemeistert hat, daß er selbst Wunder zu thun, im Stande zu seyn glaubte. Er war nehmlich fest überzeugt, daß durch seine Macht, auf einem von ihm gepfropften Apfelbaume Kirschen wachsen würden. Man gab ihm seinen Abschied, und er kam in das hiesige Arbeitshaus, wo er sich stille, ordentlich und fleißig betrug, und nichts vornahm, was eine Verwirrung des Verstandes vermuthen ließ. Es wurde daher beschlossen, ihn nach seiner Heimath zurückzuschicken, und der Doktor Phil untersuchte zu dem Ende des 25sten März 1781 seinen Gemüthszustand. Dies geschahe ohngefähr zwei Jahre nachher, da er die erste Ängstlichkeit empfunden hatte. Er gab auf alles sehr ordentliche und passende Antworten, nur wenn es auf die Wunder kam, so blieb er bei seiner alten Meinung, vertheidigte aber dieselbe nicht hartnäckig, sondern versicherte, wenn er zu Hause käme, und fände, daß es sich nicht so verhielte, wie er gedacht hätte, so wolle er gern zugeben, daß er sich geirrt haben könnte … Endlich wünschte er sich nichts mehr, als zu seiner Frau und Kindern nach Hause zu kommen, wo er sich redlich nähren, friedlich leben, und keinen Menschen mehr beunruhigen wolle. Worauf der Herr Doktor Pihl sein Gutachten gab, daß dieser Mensch ohne Gefahr entlassen, und wieder in seine Heimath geschickt werden könne.
Auffällig an dieser Erzählung ist, dass zwar zum Hauptereignis hingeführt und dieses benannt wird, gleichzeitig bleibt im Dunkeln, wodurch Gragert von seinem Irrglauben geheilt wird. Die Resolution, die Auflösung der Komplikation, wird nicht gegeben – ein nur punktuelles Ereignis wird fokussiert. Obwohl sich wenige Einsendungen an die Tradition der „monströsen Krankengeschichten“ 31 anlehnen, steht die Fokussierung des Abweichenden im Vordergrund. ______________ 31
Kaufmann ist also zuzustimmen: „Wenige Einsendungen an das Moritzsche Magazin, die vor allem in den ersten Jahren des Erscheinens abgedruckt wurden, knüpften noch an die Tradition monströser Krankengeschichten an. Sie lesen sich wie Stücke für Kuriositätenkabinette und naturgeschichtliche Sammlungen, wo ‚Ab-
154 Das sprachliche Profil der ersten Monographien lässt sich nun folgendermaßen umreißen: Unter dem thematischen Feld „psychische Erkrankung“ werden unterschiedliche Diskurse gebündelt und kombiniert – das thematische Feld bleibt in gewisser Weise noch diffus. Bei der grundsätzlichen Annäherung an die psychischen Krankheiten wird auf die philosophische Anthropologie/Erkenntnistheorie rekurriert. Dabei lässt sich unabhängig von der gerade gewählten philosophischen Bezugsstelle ein ähnliches Vorgehen nachweisen: Erst werden die Frage nach der Besonderheit des Menschen ggü. dem Tier beantwortet und die Fähigkeiten des Menschen voneinander abgegrenzt, wobei die Beseelung des Menschen eine übergeordnete Rolle spielt. Krankheitsgruppen werden deduktiv und d. h. vornehmlich sprachanalytisch voneinander abgegrenzt, wobei je nach Autor ein naturgeschichtlicher Zugang mehr oder weniger stark ausgeprägt wird. Die Darstellung der einzelnen Krankheitsformen beruht kaum auf eigener Anschauung, sondern bezieht sich auf die lange abendländische Tradition, ergänzt um solche Krankheiten, die offensichtlich gerade im Fokus gesellschaftlichen Interesses stehen und einen direkten Reflex auf kulturelle Werthaltungen darstellen. Die Bezugnahme zum gesicherten gesellschaftlichen Wissen zeigt sich besonders an sprachlichen Routinen, die erfahrungssynthetisierend sind und Wahrnehmungen zu Typisierungen bündeln, die sich bis zu Attribuierungen erstrecken: so die Bezugnahme auf vornehmlich satzwertige Phraseologismen, auf usualisierte Metaphern oder auf literarische Topoi. Hinsichtlich des gesellschaftlichen Wissensvorrats zeigt sich das Begrenzte des verwendeten sprachlichen Vokabulars, das sich in dieser Hinsicht nicht wesentlich von der Bildungssprache unterscheidet. Auch die textlichen Verarbeitungsformen sind dahingehend nicht innovativ, bzw. lehnen sich an Philosophie und Naturgeschichte an. Am Beginn stehen fraglos gegebene Typen – sichtbar am skizzierten panoptischen Verfahren. Auf sie wird entweder nur angespielt (so durch den Verweis auf literarische Figuren, häufig der „Werther“ oder „King Lear“) oder sie werden mit immer gleichen Attributen/Bestimmungen (schwächliche Konstitution des Onanisten) dargestellt. Es werden abweichende Zustände konstatiert, nicht aber Prozesse beschrieben. Die Rolle von Erfahrungen beschränkt sich auf die der Illustration und seltener der ______________
weichungen der Natur‘ wie z. B. Missbildungen zusammengetragen wurden. … Diese Kuriositätengeschichten haben gemeinsam, daß sie ein Tableau oder eine Szenerie abweichenden Verhaltens beschreiben. … Eine andere Perspektive der Veränderung fehlt, ebenso eine nähere Beobachtung des lebensweltlichen oder familialen Umfeldes der auffälligen Personen. Auch der Aspekt der Entwicklung abweichenden Verhaltens wird nicht angesprochen. Diese Fälle scheinen eingefrorenen Museumsstücken ähnlich, die einen gewissen Zooeffekt hervorrufen – im Sinne des Betrachtens merkwürdiger, exotischer (Verhaltens-)Weisen der menschlichen Natur, die gleichsam mechanisch agiert.“ (1995, 51f.)
155 Argumentationskondensation. Die Formen der Darstellung von psychisch Kranken sind typisierend, da es noch keine konkreten Fallschilderungen gibt: Es geht vornehmlich um die Darstellung einer mit der Vernunft unversöhnlichen Gegenwelt und nicht um die Darstellung von Individuen. Neben der Leistung der Aneignung und der Zusammenführung unterschiedlicher Diskurse, die sich um den Kern „psychische Erkrankung“ gruppieren lassen, lassen sich allerdings schon Spezifika des nun entstehenden Diskurses ausmachen. Sie liegen zum einen in der Rezeption ausländischer Schriften, die von Psychiatern geschrieben wurden und bilden eigene intertextuelle Verbindungen, obgleich die Fallschilderungen eher in reduzierter Form auftreten und wegen ihres wiederholten Zitats etwas Toposhaftes gewinnen, zum anderen in den Anleihen an die Medizin, die sich vor allem sozusagen auf die Strukturmomente psychischer Erkrankungen beziehen (vgl. Kap. 2.2.1). Während diese beiden Momente eher als Hinzufügung zu interpretieren sind – ebenso natürlich wie die Auseinandersetzungen um die richtigen Behandlungsmethoden, die den ausländischen Diskurs als solchen zugänglich machen – gibt es schon interessante Selektionsprozesse, die den weiteren Entwicklungsgang zumindest andeuten: Der Rahmenbezug und die Diachronie des gewählten Vokabulars ist – wie oben schon skizziert – virulent, allerdings sind Momente der Enthistorisierung wahrnehmbar, indem versucht wird, Abstand zur Standardsprache zu gewinnen. Diese Selektionsprozesse sind ggü. den kombinatorischen allerdings vereinzelt und kaum wahrnehmbar und werden in ihrer Fülle in den nächsten Kapiteln thematisiert. Eine Ausnahme stellt die Krankheitsgeschichte zu Goldhagen, 1817 von Reil veröffentlicht, dar, die hier kurz thematisiert werden soll, weil sie ihrerseits in den psychiatrischen Wissensvorrat eingehen soll und zu den späteren Krankengeschichten überleitet. Die sich über 30 Seiten erstreckende Krankengeschichte zeichnet sich neben der präzisen Darstellung des Krankheitsverlaufs mit entsprechenden chronologischen Signalen („Freitags nach Weihnachten am 28sten December 1787 befand sich der seelige Oberbergrath Goldhagen allem Anschein nach noch vollkommen wohl.“ – ebd., 8, oder: „Am 5ten Januar. Der erste Paroxysmus des Fiebers in der vorigen Nacht war noch schlaflos und unruhig und der Puls während desselben klein, geschwind und weich …“ – ebd., 15) auch dadurch aus, dass eine Vielzahl von rhetorischen Figuren eingesetzt wird. 32 Diese – wie auch viele ihr fol______________ 32
Diese Krankengeschichte weist eine Fülle von evaluativen und expressiven Signalen auf: „die ganz der guten Beschaffenheit und dem regelmäßigen und wirklich schönen Bau seines Körpers entsprachen …“ (ebd., 3f.). Auch Bewertungen sind häufig: „So konnte ein Mann den Erfahrungssatz, daß Laxirmittel bei bösartigen Krankheiten meistentheils schädlich, oft tödtlich sind, den er tausendmal vom Katheder gelehrt und eben so oft mit dem besten Erfolg am Krankenbette
156 gende Krankengeschichten – bauen durch die Rolle des behandelten Arztes, seine Sichtweise, seine Erfolge oder Misserfolge bei der Behandlung einen Spannungsbogen auf, der durch rhetorische Figuren noch verstärkt wird, zu denen Parallelismen, Wiederholungsfiguren, offensichtlich intendierte Satzabbrüche, appellative ebenso wie introspektive Formulierungen, Abschweifungen ebenso wie Pointierung und Akzentuierung durch Bilder zu zählen sind. Noch dominiert also eine Darstellungsform, bei der das Was ebenso wie das Wie eine Rolle spielt, was sicherlich mit der stark individualisierten Darstellung des Falls zu begründen ist. Die narrative, gleichsam auf die Position des Arztes zugeschnittene Zugangsweise findet sich gleich am Eingang des Textes: Ich finde eine Art von Beruhigung darin, die Geschichte der letzten Krankheit meines verewigten Freundes, des seeligen Oberbergraths Goldhagen, und die Behandlung dieser Krankheit, an der ich in ihrem letzten Abschnitt einigen Anteil hatte, der Welt vor Augen zu legen. (ebd., 3). Die individuelle Beziehung wird dann auch entsprechend häufig thematisiert: In den letzten drei Vierteljahren seines Lebens, die ich mit unter meine glücklichsten Tage zähle, weil ich sie fast ganz in seinem lehrreichen Umgange zugebracht habe … (ebd., 5)
Charakteristisch für den Duktus seiner Ausführungen ist – sozialphänomenologisch gesprochen – die „Du“-Einstellung, die mit einer „Wir“-Beziehung korrespondiert: das Gegenüber ist hier noch Mitmensch und nicht relativ anonymer „Zeitgenosse“ (vgl. Schütz/Luckmann 1979, 98). Im Gegensatz zu späteren Veröffentlichungen erscheinen die Agierenden nicht als Träger von Rollen. Entsprechend werden auch Dialogpassagen mit dem Ziel der Belehrung weitergegeben: „Ich warnte ihn ernstlich, mit dem Gebrauch der Laxirmittel vorsichtig zu seyn, da er nicht wisse, was seine Krankheit im Schilde führe.“ (ebd., 11). Oder: „‘Sehen Sie mal‘,“ sagte er mir heute, ‚die bläuliche Farbe des Ausschlags auf meiner Hand, was für ein giftiger Krankheitsstoff muß in meinen Säften stecken!‘“ (ebd., 16). Die Aetiologie und die Bezeichnung der Krankheitsursache bewegen sich ganz im Rahmen, den wir später noch näher kennen lernen werden, so wird ebenso die „Schwäche seiner Verdauungsorgane“ wie „seine sitzende Lebensart“ oder die „seltsamsten Grillen“ angeführt (ebd., 4), um seine Krankheit zu begründen. In ähnlicher Weise werden einzelne Symptome versprachlicht: „war die Beklemmung und Spannung im Unterleibe so groß, daß die freie und leichte Respiration auf ______________
ausgeübt hatte, bei seiner eigenen Krankheit läugnen.“ (ebd., 14). Daneben findet man fast literarisch anmutende Empathiesignale: „Sein Auge hatte besonders durch diese Anfälle sein Feuer verloren, war trübe und matt, und schwamm beständig in Thränen. Die Kräfte waren so heruntergekommen, daß er stets gegen das Fußbrett des Bettes zusammensank und beim Aufrichten eine außerordentliche Schwere des Körpers hatte.“ (ebd., 25)
157 eine merkliche Art dadurch verletzt wurde.“ (ebd., 12). Das auslösende Moment wird zudem durch ein temporales „plötzlich“ versprachlicht („Die Krankheit überfiel den seeligen Mann plötzlich, ohne daß sie sich erst durch Vorboten angekündigt hätte“ – ebd., 7), ohne dass die narrativen Schilderungen der Frühphase nicht zu denken sind und dem ein besonderer Funktionswert zuzumessen ist. Auch das Verbalsystem passt sich in die Tendenz der frühen Fallschilderungen prototypisch ein: so hängt Goldhagen Grübeleien nach und ist bestimmten Erscheinungen ausgesetzt. Darüber hinaus sind Kernlexeme des physiologischen Diskurses auch hier präsent: zerrüttet, abgemattet etc.
4.3
Den psychisch Kranken beobachten: „Naturbeschreibungen des Wahnsinns“
1818 wird von Friedrich Nasse die Zeitschrift für psychische Ärzte gegründet. Nasse selbst ist Schüler von Reil und übernimmt 1815 die Professur von Reil in Halle, seit 1819 ist er jedoch in Bonn tätig. Zwar ist auch er kein Anstaltsleiter, jedoch liegt sein Hauptarbeitsgebiet bei den psychischen Krankheiten. Mit der Gründung dieser Zeitschrift und dem zeitgleichen Erscheinen einiger Monographien zu psychischen Erkrankungen und Berichten aus Heilanstalten sowie der Übersetzungen der Werke französischer Psychiater erfährt der Themenbereich „psychische Erkrankungen“ eine subthematische Gliederung. Nasse eröffnet die Zeitschrift mit seinem sprachkritischen Aufsatz zur Bezeichnung und Einteilung der psychischen Erkrankungen (vgl. Kap. 2.2.1) und gibt damit eine Argumentationslinie vor, die diese, aber auch die ab 1823 erscheinende Zeitschrift für Anthropologie bestimmen wird: Es geht neben theoretisch-anthropologischer Reflexion um die Schaffung einer Arbeitsgrundlage für die in den Anstalten oder auch außerhalb tätigen Psychiater, und es geht auch darum, ein kommunikatives Netzwerk für professionelle und nicht nur im Nebenamt oder aus purem Interesse mit psychisch Kranken befassten Ärzte zu schaffen. Die Zeitschrift ist nicht, wie bspw. das Magazin für Erfahrungsseelenkunde oder andere vorher erschienene Zeitschriften, an den interessierten Gelehrten gerichtet, sondern dient zum Austausch und zur Artikulation von Erfahrungen, die nicht auf den deutschsprachigen Raum begrenzt sind, was viele Übersetzungen und Kompilationen der Schriften ausländischer Psychiater zeigen. Mit der Gründung etabliert sich indes nicht nur ein lockeres kommunikatives Netzwerk (nach z. B. Milroy 1992, 81–123, „weak social network“), das nicht mehr nur aus Universalgelehrten, sondern auch aus Medizinern besteht. Es ergibt sich zudem eine Präferenz für be-
158 stimmte textliche Verarbeitungsformen. Die tagtägliche Auseinandersetzung mit Kranken („dieses Segeln ohne Compaß auf dem Meer widersprechender Erfahrungen …“ – Groos 1822, ZfpÄ, 68) und die empfundene Unzulänglichkeit der bis dato etablierten Begrifflichkeit führen dazu, dass eine nichtargumentative, nicht deduzierende Textsorte besondere Bedeutung gewinnt: „die Kranken- oder Irrengeschichte“. In der Zeitspanne von 1818 bis 1822 erscheinen in der Zeitschrift für psychische Ärzte 103 Aufsätze, die folgenden Textsorten zuzurechnen sind: a) theoretische Abhandlung (37), b) Bericht über einzelne neu gegründete deutsche oder ältere Psychiatrien (9), c) Falldarstellungen von einzelnen oder unterschiedlichen Krankheitsformen (46), dazu kommen noch Abhandlungen mit teils sehr kuriosen Themen, z. B. die Wirkung der Musik auf Mäuse (11). Zusammen mit der Zeitschrift für Anthropologie ergibt sich eine Anzahl von 72 Krankengeschichten, wobei die Auseinandersetzung mit Krankheitsformen wiederum einzelne Fallschilderungen enthalten, z. B. zu den Wirkungen des Magnetismus (4). Im Gegensatz zur Zeitschrift für psychische Ärzte findet sich eine Reihe von theoretischen Abhandlungen, die sich allgemein anthropologischen Themen widmen, so insbesondere der Phylo- und Ontogenese menschlicher Vermögen (13). Auffällig sind dagegen auch einige Beiträge, die sich mit relativ spezifischen Aspekten der „Seelentätigkeit“ und ihren Wirkungen auseinandersetzen (bspw. Friedrich Nasses Beitrag „Ueber das gegenseitige Verhältniß der durch Erinnerungen verknüpften Zustände“, 1825, 24–32), was als Beginn einer fachspezifischen Auseinandersetzung zu werten ist. Neuartig ist eine psychiatriespezifische Auseinandersetzung zwischen A.L.J. Bayle („Neue Lehre von den Gemüthskrankheiten“, 104–149) und F. Amelung („Ueber die näheren materiellen Bedingungen der psychischen Krankheiten: Bemerkungen, veranlasst durch Bayle’s Lehre über diese Krankheiten“, 150–197) über die Rolle der Meningitis als Auslöser psychischer Störungen. Zwar hat somit die Zeitschrift für Anthropologie eine große textliche und thematische Vielfalt aufzuweisen, jedoch zeigen die Auseinandersetzung mit den Spezifika körperlicher Abläufe und kontroverse Annahmen zur Ätiologie psychischer Erkrankungen eine vorher nicht gegebene subthematische Gliederung des zunächst noch diffusen thematischen Feldes. Wichtiger als die Versuche, das Phänomen „psychische Krankheit“ theoretisch zu erfassen, sind die so genannten Kranken- und Irrengeschichten. Ihr Erscheinen ist auf einen, in unterschiedlicher Form immer wieder anzutreffenden Topos zurückzuführen: Um überhaupt einen Fortschritt bei der Behandlung psychischer Erkrankungen zu erzielen, bedürfe es der Darstellung eigener Fälle, die über ihre gemeinsamen Merkmale eine Klassifikation ermöglichen könnten. Die Orientierung am konkreten Fall wird allerdings nicht nur aus der Not geboren, sondern zeigt den Einfluss französischer Psychiater. Pinel wehrt sich mit dem Motto „Rien que des faits“ gegen seine
159 medizinischen Vorgänger mit ihren „Systemen, die leere Worte ohne Sinn enthalten, und mit unfruchtbarem Wortkrame der Schule behaftet waren.“ (1801, XII). 33 Vgl. dazu auch: Es war wohl viel leichter zu compiliren, als selbst zu beobachten; viel leichter unnütze Theorien, als bewährte Thatsachen aufzu stellen. … man hat ohne Unterlaß über Manie geschrieben, um sich bloß mit den leeren Wiederhohlungen und einer unfruchtbaren Schulsprache abzugeben. … sind nichts also isolirte Thatsache, bey denen die ächte beschreibende Methode vernachläßiget wurde, …“ (Pinel/Wagner 1801, 8f.). Es ist zu hoffen, daß die philosophische Medicin künftig diese unbestimmten und unrichtigen Ausdrücke, als: im Gehirn eingedrückte Bilder, ungleichen Antrieb des Bluts gegen die verschiedenen Theile dieses Eingeweides, unregelmäßigen Bewegungen der Lebensgeister etc. verbannen wird; … (Pinel/ Wagner 1801, 27; Hervorhebung v. d. Verf. – B-M. Sch.)
Die Skizze, die er von der Forschungssituation gibt, entspricht den Ergebnissen des vorherigen Teilkapitels: Die Lehre von den Geistesverwirrungen blieb wie vorher in dem allgemeinen System der Medicin mit eingeschlossen, oder vielmehr sie bestand aus einer blossen Complication dessen, was man ehedem darüber geschrieben hatte. Man schränkte sich darauf ein, einige besondere Geschichten des Wahnsinns entweder in den academischen Sammlungen oder in Journalen aufzuzeichnen und man fügte von Zeit zu Zeit einige Resultate der Untersuchungen in Rücksicht der organischen Verletzungen des Gehirns hinzu; aber dies diente mehr dazu, um das Publicum durch einige auffallende Sonderbarkeiten zu interessieren, als dadurch etwas zum Fortgang dieses Theils der Medicin beyzutragen. Die Monographien über den Wahnsinn, welche in der zweyten Hälfte dieses Jahrhunderts sowohl in England (a) als auch in Deutschland (b) geschrieben worden sind, haben schwerlich einen anderen Nutzen, als daß sie zerstreute Gegenstände gesammelt enthalten, oder diese darinn ______________ 33
Nicht nur die im engeren Sinne psychiatrischen Schriften, sondern auch die Praktische Heilkunde werden in Deutschland schnell übersetzt. Krauß begründet seine Übersetzung folgendermaßen: „Im niederschlagenden Gefühl über die seitherige Behandlung der Medizin, da man die willkührlichsten Meinungen, Einfälle und Erdichtungen, die nur das regeloseste Spiel einer ausschweifenden Einbildungskraft produziren konnte, für Theorien und Grundsätze ausgab, …, war schon von Iugend an, Pinel´s unablässiges Bestreben, die Arzneikunde zur Einfachheit oder Wahrheit zurückzuführen, was er durch reine Beobachtung am Krankenbette und durch die Anwendung der analytischen Methode, mit Beseitigung aller nichtigen Theorien und Erklärungen, zu erreichen, überzeugt ist.“ (Krauß 1803, VII). Er weist auch auf den Einfluss Condillacs hin: „Pinel ganz für Condilliac’s Ideen eingenommen, bedient sich ihrer besonders zur Zerlegung sämmtlicher Erscheinungen des Uebelseyns jeder einzelnen Krankheit, … Er will auf diese Weise vom Einfachen zum Zusammengesetzten übergehen, und sich lediglich an die durch bloße Beobachtung, mittelst Analogie und Induktion, gegebene Differenz und Verwandschaft der Krankheiten halten.“ (ebd., XVI)
160 in einer scholastischen Form auseinandergesetzt sind, oder auch zur Ausstellung einer glänzenden Hypothese dienen. (Pinel/Wagner 1801, XVIII)
Aus der Naturgeschichte leitet Pinel ein besonderes methodisches Herangehen ab, das auch das Abfassen von Krankengeschichten beinhaltet: Ich wählte mir also diejenige Methode zum Wegweiser, welche in allen Theilen der Naturgeschichte mit Nutzen angewendet wird, nämlich den Anfang damit zu machen, daß man jeden Gegenstand nach und nach mit Aufmerksamkeit und in keiner andern Hinsicht beobachtet, als um Materialien für die Zukunft zu sammeln, und zu suchen jede Täuschung, jede vorgefaßte und aufs Wort für wahr angenommene Meynung zu vermeiden … Dieß sind die Materialien und sonstige in den Irrenhäusern gesammelte Thatsachen, welche ich ein Werk zusammenfaßte, und zu dem gegenwärtigen Lehrgebäude aufgeführt habe. (Pinel/Wagner 1801, 2) Die psychischen Krankheiten sind unstreitig der dunkelste Gegenstand, welcher sich den Nachforschungen eines nur eben strengen Beobachters darbieten kann; und die vergleichende Aufzählung der Fälle ist ebenfalls das passendste Mittel, sowohl um den Ungewißheiten über das respektive Verhältniß der bewirkten Heilungen Einhalt zu thun, als um eine glückliche Anwendung der Wahrscheinlichkeitsrechnung auf diesen Gegenstand vorzubereiten. (Pinel/Wagner 1801, 297; Hervorhebung v. d. Verf. – B-M. Sch.)
Grundsätzlich ist das Vorgehen an der Erfahrung der Anstaltsroutine orientiert; ein Vorgehen, was auch im deutschsprachigen Kontext gefordert wird: Andere sind zurückgehalten worden durch die Schwierigkeiten des Gegenstandes und durch die Unzulänglichkeit der Sprache zur Beschreibung der krankhaften Gemütszustände, deren Eigenthümlichkeiten und rasche Veränderungen das Auge wohl zu erkennen und der Verstand wohl zu fassen vermag, zu deren genauer Bezeichnung es aber der Sprache leider noch an hinlänglichen und verständlichen Ausdrücken gebricht … Nach langer und reiflicher Überlegung bin ich überzeugt, daß in dem gegenwärtigen Augenblicke eine genaue und umständliche Erzählung einzelner Fälle von Wahnsinn noch am meisten zur Belehrung beitragen würde. Mancher einzelne Fall würde aber bei einer gehörigen Ausführlichkeit einen ganzen Band ausfüllen, … (Haslam/Horn 1819, ZfpÄ, 148; Hervorhebung v. d. Verf. – B-M. Sch.)
In diesem Sinne leitet auch Jacobi 1822 seine Sammlungen für die Heilkunde der Gemütskrankheiten: … bei den Nachforschungen über die zartesten somatisch-physischen Verhältnisse, wo der Boden auf dem wir wandeln, so schlüpfrig, und genaue Beobachtung so schwierig ist, wo wir daher den Täuschungen der Phantasie und den Trugschlüssen des Verstandes vielleicht mehr wie irgend einer andern wissenschaftlichen Untersuchung ausgesetzt sind, doppelt nöthig seyn muß, den Weg der nüchternsten Naturbeobachtung und der vorsichtigsten Induction strenge inne zu halten. Für ein zeitgemäßes Streben vermochte ich daher nur ein solches zu erkennen, welches dahin zielt, den vorhandenen Vorrrath von Erfahrungen genau zu ermitteln und zu
161 ordnen … und solchergestalt allmählig für eine spätere Zeit Grund und Materialien für ein haltbares wissenschaftliches Gebäude zu gewinnen. (Jacobi 1822, VIIf.)
und Müller seinen Bericht über die Behandlung von psychisch Kranken im Juliushospital ein: Die Bekanntmachung von psychischen Krankheitsgeschichten sey, sollte man glauben, bei der Menge schon bekannter, eine unnütze Sache. Aber wenn man bedenkt, wie demohngeachtet die Wesenheit und ursächlichen Momente der psychischen Störungen noch so wenig aufgedeckt und dargethan sind; wenn man ferner sieht, daß gerade die Mannigfaltigkeit der krankhaft-psychischen Erscheinungen, die Veränderung und Complicationen, die dieselben nach Alter, Geschlecht, Jahreszeit, Clima, Erziehung, Beschäftigung, Lebensweise, Temperament, eigentümlicher idiopathischer Organisation, psychisch-krankhafter Störung etc. machen, daß diese, trotz der großen Bemühungen, die sich Psychologen mehrerer Nationen geben, immer noch das Haupthinderniß zur Auffindung der Wesenheit psychischer Krankheiten abgegeben haben: so möchten die Aufzählungen noch weiterer Data so lange, bis in dieser Form menschlichen Wissens sich mehr Licht verbreitet hat, immer willkommene Erscheinungen seyn. (Müller 1824a, 139f.; Hervorhebung v. d. Verf. – B-M. Sch.)
Bis in die 30er Jahre hinein gilt das Diktum zu beobachten, und die Beobachtungen einer größeren Öffentlichkeit zugänglich zu machen. Dieses vielleicht unscheinbar wirkende Diktum besitzt eine Reihe von erheblichen Folgen: a) Konnte sich vorher noch jeder daran beteiligen, über psychisch Kranke zu sprechen, markiert nun die eigene Professionalität die Eintrittsschwelle in den sich etablierenden Diskurs. Damit geht b) eine Ablehnung aller Metaphysik (zumindest bei der Kranken- und Symptomenbeschreibung) einher. Das heißt, dass auch derjenige, der sich eher allgemein und theoretisch dem Phänomen annähert, dies zumindest mit einem Minimum an Erfahrung zu tun hat. So führt Nasse schon 1824 aus: Beobachtungsdata, nicht aber unbegründete Analogieen, oder psychologische Deductionen aus unerwiesenen Voraussetzungen geführt, müssen entscheiden, welcher von diesen beiden Fällen der in der Natur vorhandene sey.“ (ebd., 4). Ähnlich auch Günther: „Diesem letzten Ausspruch huldigend, verlassen wir den grundlosen Boden der Spekulation … (Günther 1824, ZfAnthro, 275)
Die Tatsache, das ab den 20er Jahren verstärkt Psychiater und Anstaltsleiter bzw. mit den institutionellen Abläufen vertraute Praktiker über ihre Erfahrungen im Umgang mit psychischen Kranken berichten, führt, die späteren Ergebnisse vorweg nehmend, zur Umgestaltung von Sprache: Unlike the earlier model which was centred around the abstract, arcane and esoteric issues of the metaphysical substance of the soul and the natural philosophy of the human body, the new language put a premium on the observation of an individual patient’s mind, which owners of madhouses had occasion to practise everyday. In short, the shift in the conceptions of madness had the effect of moving the
162 site of the production of medical discourse on madness from the metaphysical and natural philosophical speculation to the close day-to-day observation of insane patients. (Suzuki 1995, 437; Hervorhebung v. d. Verf. – B-M. Sch.)
Neben den Zeitschriftengründungen ist für die Initialphase zudem charakteristisch, dass sich die entsprechenden Textsorten „Abhandlung“, „Bericht“ und „Krankengeschichte“ auch in ausgearbeiteten Monographien finden lassen, vornehmlich in den Beschreibungen von neu gegründeten Heilanstalten, denen entsprechende Fallschilderungen beigefügt werden (z. B. von Nostitz und Jänckendorffs Beschreibung der Königl. Sächsischen Heil- und Verpflegungsanstalt Sonnenstein, 1829, von Müllers Vorstellung des Juliushospitals zu Würzburg von 1824 in dem Buch Die Irren-Anstalt in dem Königlichen Julius-Hospitale zu Würzburg und die sechs und zwanzigjährigen ärztlichen Dienstverrichtungen an derselben. Mit einem Anhange von Krankengeschichten und Sektionsberichten). Da die Dichte, mit der die Krankengeschichte auftritt, bemerkenswert ist und im psychiatrischen Rahmen quasi ein neu erobertes Verständigungsmittel darstellt, wird sie hier detailliert auf ihre sprachlichen Kennzeichen untersucht, zumal man von ihr aus sozialphänomenologischer Perspektive erwarten darf, dass sich in ihr sprachliche Prozeduren des Bestimmens und damit Formen sprachlichen Wandels finden lassen. Die Krankengeschichten werden zunächst auf ihre gemeinsamen sprachlichen Kennzeichen hin überprüft, und dann in Bezug zu frühen Krankenakten, die ja auch einen direkten Zugriff zur Formulierungspraxis erkennen lassen, gesetzt. Grundsätzlich wird die bedeutende Rolle, die die Krankengeschichte meines Erachtens auch bei der Institutionalisierung der Psychiatrie spielt 34, noch nicht ausreichend gewürdigt, obwohl Herzog betont: „In der mehr als 50jährigen Latenzzeit, die die naturwissenschaftliche Wandlung der Medizin in Deutschland nach 1800 hatte, finden wir in der Psychopathologie die Analogien und Abschattungen des Erzählens über die Irren, wie sie Somatologie und als Psychologie durch die biologische Leere der Erklärungsversuche freigesetzt wurden.“ (Herzog 1984, 56, Hervorhebung von der Verfasserin – B-M. Sch.).35 Psychiatriehistorische Darstel______________ 34
35
Zur Rolle der Krankengeschichte generell: Kaufmann 1990, 47–59; zu ihrer linguistischen Erfassung: Burg 1990, Schuster 1999, 182–205, Tsapos 2002, 301– 319 und Riecke/Feuchert o.J. Nach Müller (1993, 207) kann indes über den Wert von Krankengeschichte kein Zweifel bestehen, z. B. bei v. Weizsäcker: „Die Krankengeschichte hat den Wert und nimmt den Platz ein, welchen in den Naturwissenschaften die experimentellen oder systematischen Beobachtungen innehatten.“ Krankengeschichten sind für den deutschsprachigen Raum seit der Frühen Neuzeit nachweisbar, darunter das chronologische Tagebuch des Johannes Magenbuch (1500–1546), die Krankengeschichten von Felix Platter (1536–1614) oder Johann Peter Franck (1745–1821), der sich für ein phänomenalistisches Schreiben von Krankengeschichten einsetzt
163 lungen konzentrieren sich zumeist auf die eher theoretischen Abhandlungen (vgl. Kap. 2.1.1), wobei sprachliche Routinisierungsprozesse ausgeblendet werden.
4.3.1
Krankengeschichten
4.3.1.1 Narrative Organisation Mit Lepenies (1976, 41ff.) kann man die Bedeutung der Krankengeschichte als ein generelles Indiz für die „Verzeitlichung“ von Fällen sehen, die die Raumstrukturen der älteren Naturgeschichte ablösen. Zeitgleich mit ihrer Konstitution partizipiert die Psychiatrie also an einem Darstellungs- und Wissensparadigma. Im Folgenden möchte ich darstellen, dass die Darstellungsform der Textsorte „Krankengeschichte“ tatsächlich narrativ ist, bei der auch elaborierte Dramatisierungen und Inszenierungen nicht fehlen, wobei der Darstellung der temporalen Organisation und dem Aufbau von Temporalreferenzrelationen besonderes Gewicht zukommen wird. Grundsätzlich gilt für die narrative Organisation, dass die Simultanität, Partikularität und Fragmentarizität des Erlebten in eine geordnete Sukzession gebracht wird, wobei das Schreiben insofern integrativ ist, dass es vornehmlich vom Resultat her gedacht wird. Die textliche, lexikalische und syntaktische Gestaltung, mit der eine Art narrativer Kohärenz erreicht wird, weist eine z.T. frappierende Ähnlichkeit auf, was wiederum auf ähnlich adaptierte Wissensressourcen hindeutet. Ausführlich werde ich anknüpfend an Kap. 2.3.1, die Ressourcen des Wortschatzes (aus der Medizin allgemein, der Physiologie, Philosophie und Bildungssprache) darstellen und dominante Verfahren bei der Ermittlung eines Krankheitsbildes (Verknüpfungsmuster) darstellen. Besondere Aufmerksamkeit widme ich Metaphern und zu Grunde liegenden metaphorischen Modellen, die der Versprachlichung von Symptomen dienen. Krankengeschichten werden zu einer eigenen Textsorte, die flankiert von zeitgleichen Abhandlungen über das Wesen psychischer Erkrankungen, textliche, syntaktische und lexikalische Strukturen besitzt, die eine ausbau- und modellierbare (so bspw. durch Anverwandelung philosophischen Vokabulars) Basis für spätere Entwicklungen bildet. Die frühen Krankengeschichten weisen die folgenden Grundelemente aus: a) eine Rahmensetzung oder Orientierung, die zumeist in großer Ausführlichkeit den Werdegang des Kranken vor der Erkrankung thematisiert und ______________
und der seine Studenten zu Kinderkrankheiten ausführliche Krankengeschichten schreiben lässt.
164 anamnestische Grunddaten nennt. Diese Rahmensetzung fokussiert – und dies hängt auch mit den noch angenommenen Ursachen der psychischen Erkrankungen zusammen – nicht nur etwaige körperliche, sondern auch psychische bzw. geistige Besonderheiten. Der oder die Erkrankte wird in allen sozialen Bezügen gezeigt, wenngleich sie nicht unbedingt von erkennbarer Relevanz für die folgende Behandlung sind. b) Die Erkrankung selbst bzw. das Moment des Erkrankens stellt die Komplikation dar, die in ähnlicher Weise versprachlicht wird, verbunden mit einer darauf folgenden Schilderung der entsprechenden Verhaltensauffälligkeiten. Zwar ist bei den Krankengeschichten eine Temporalisierung des Objektsbereiches vorhanden, die Seelenstörung beginnt jedoch als „Überfall“ und „Einbruch“ in eine friedliche, geachtete und arbeitsame Existenz und steht nicht im Zusammenhang zur Lebensweise und skizziertem Charakterbild. Ist der Fortgang der Erkrankung direkt mit einer Einlieferung in eine Klinik verbunden, wird der entsprechende Zustand beim Eintritt dargestellt und das Verhalten und die Behandlung detailliert beschrieben, wobei auch die Rolle des behandelten Arztes in einer Spannungskurve dargestellt wird. Der behandelnde Arzt ist zumeist ein Ich-, selten ein auktorialer Erzähler. Gleichzeitig bedingt die ärztliche Rolle auch einen auf den Körper gerichteten Blick: Am sechs und zwanzigsten des Morgens fand ich sie sich immer mit dem vorgeblichen Verluste herumquälend; alles Ausreden half nichts, sie jammerte laut über ihre Armut. Den Puls fand ich eben so accelerirt als den Abend zuvor; ihr Gesicht war blaß, der Blick starr, die Stirn heiß, die Rede verwirrt. Sie trank Kaffee, spie denselben aber oft wieder aus und geberdete sich überhaupt als völlig wahnsinnig. … Am sieben und zwanzigsten Morgens hatte das Zugpflaster eine starke Ausätzung der Haut im Nacken bewirkt … (Vogt 1824a, ZfAnthro, 161) … der Augenstern blau, mit ziemlich erweiterter, bey der Einwirkung eines verschiedenen Grades von Lichtreiz nicht schnell veränderlicher Pupille; die Wangen wenig geröthet, die Zähne wohlgeordnet und erhalten; die Zunge mit weißem Schleim belegt; der Athem etwas unrein; der Hals lang, die Schultern nicht vorstehend, die Brust gut gewölbt und kein Zeichen von Lungenleiden bemerkbar; der Unterleib weich, nicht voll, an keiner Stelle beim Druck Schmerz oder große Empfindlichkeit verrathend. (Jacobi 1830, 207)
c) Zumeist gibt es in der Krankengeschichte eine Resolution, unter deren Blickwinkel diese Geschichte als mitteilenswert gilt und die bspw. von der Güte einer besonderen Behandlungsmethode zeugt. Ggfs. folgt dann auch eine Evaluation. Grundsätzlich ist zu betonen, dass sich die frühen Krankengeschichten erheblich von späteren Krankenberichten unterscheiden, da im Gegensatz zu den Berichten szenarische Darstellungsformen, längere Gesprächspassagen oder auch nur kürzere Zitate von Patientenäu-
165 ßerungen, mit rhetorischen Mitteln erreichte Dramatisierungen und expressive sprachliche Handlungen sowie Formen des Bewertens vorhanden sind, die die Erzählperspektive des behandelnden Arztes stützen und verstärken. 36 Das Hauptthema dieser Erzählungen ist also die Erkrankung und ihre Behandlung, wobei die Verlaufsform – und dies unterscheidet die Krankengeschichten erheblich von ihren fiktiven Pendants – durch medizinische Kernbegriffe organisiert und ggfs. auch kondensiert wird. Es ist hervorzuheben, dass die Ärzte nicht etwa abgrenzbare, einzelne „psychische Krankheiten“ (im heutigen Verständnis von Krankheit) beschrieben, sondern oft eher sich entwickelnde Zustandsbilder des Irreseins, die sich vermischten und ineinander übergehen konnten. Irresein selbst ist dabei die psychische Generalkrankheit, zu der es unterschiedliche somatologische und anthropologische Erzählungen gibt. Kaufmann resümiert: In den frühen psychiatrischen Fallgeschichten steht nicht die Frage der Verursachung, sondern der professionelle, individuell geführte Kampf des Arztes gegen die Krankheit im Vordergrund. Die Darstellung dieser Auseinandersetzungen steht im Zentrum der Krankengeschichten, die als dramatische Erzählungen verfaßt sind. Wie in den zeitgenössischen Kriminalgeschichten ist der Stoff um einen Konflikt organisiert, in dem es im Fall der Krankengeschichten jedoch weniger um einen innerseelischen Konflikt oder um den Widerstreit zweier sittlicher Anforderungen geht, als um die Auseinandersetzung mit der Krankheit als einer äußeren, transzendentalen Macht. Der Aufbau der Erzählungen folgt der im Drama geforderten Darstellung der kausalen Verknüpfung und des Ineinandergreifens von Einzelhandlungen bis zum sogenannten Handlungsergebnis, d. h. bis zur Heilung oder zum Tod, der, unter Umständen, den Charakter einer tragischen Notwendigkeit annimmt. (1995, 300)
Indizien sind solche Formulierungen wie die folgenden: „… indem es hier nicht anders war, als ob die personificirte Gutmüthigkeit tobsüchtig geworden sei.“ (Jacobi 1844, 76). Schon deshalb finden wir ein temporales Adverb besonders häufig, plötzlich treten nämlich die Krankheiten ein: „Genug, kurze Zeit nachher, im August desselben Jahres, ward, wie es in dem erhaltenen ärztlichen Berichte heißt, plötzlich, ohne daß wichtige Veranlassungen vorhergegangen, eine gewisse auffallende Albernheit an ihr wahrgenom______________ 36
Bei den vielen Kranken- und Irrengeschichten habe ich nur ein Beispiel gefunden, nämlich aus dem Jahr 1821 von einem Arzt aus Osnabrück, Dr. Richard, der die Informationen verhältnismäßig neu organisiert, da er Tabellen verwendet, um sowohl Symptome und Verlauf als auch Arzeneien und deren Wirkung zu dokumentieren. Es handelt sich um eine moderne Form der Aufbereitung, die allerdings – gemessen an den narrativen Texten – offensichtlich noch nicht durchsetzungsfähig ist.
166 men.“ (Jacobi 1830, 200). Ähnlich wie die folgenden Erzählungen gestalten sich viele Krankengeschichten: Sie theilte die frohen Empfindungen, Wünsche, Erwartungen Aller für die zur Schlacht ziehenden Helden. Man sah dem glücklichen Ausgange der Schlacht mit fester Sicherheit und vorempfundener Freude entgegen. Nach dem entscheidenden Kanonendonner des dritten Mai’s, und der darauf folgenden Stille, zieht plötzlich die russische Armee denselben Weg zurück, welchen sie gekommen war. Der russische Generalstaab erscheint wieder, und mit ihm die Gewißheit des schrecklichsten Unglücks. Dies sehend, vernehmend, erstarrt die Frau plötzlich, aus allen ihren Sinnen verscheucht. Auf einsamer Stube unbeweglich, taub für alles Zureden, sitzt sie nun Tag und Nacht … (Heinroth 1818a, ZfpÄ, 235; Hervorhebung v. d. Verf. – B-M. Sch.) Achtzehn Monate vor ihrer Aufnahme in das Institut erlitt sie aber einen heftigen Schreck und große Kränkung, indem der Vater ihre nunmehr verstorbene Mutter mißhandelte, wodurch die zu jener Zeit gerade eingetretene monatliche Periode sogleich zu fließen aufhörte und über drei Vierteljahre ausblieb, welches natürlich eine wichtige Störung in ihrem Organismus hervorbrachte … sie fing nach und nach an, eine Veränderung in den Geistesfunktionen blicken zu lassen, wurde ungestüm, jähzornig, unverträglich, kurz ihr Charakter und Benehmen wichen von dem vorigen völlig ab. (Pienitz 1818b, ZfpÄ 1,3, 391f.; Hervorhebung v. d. Verf. – B-M. Sch.)
Es sollte hier schon deutlich werden, dass die Aneignung einer narrativen Darstellungsform nicht mit den anekdotischen Fallschilderungen zu vergleichen ist (vgl. Kap. 4.2). Die Fallschilderungen besitzen m. E. eher Verwandtschaft zu Bildungsromanen, die sich an einem, allerdings schon strukturierten und biografischen Verlauf orientieren. Oft finden sich eingelagerte, detaillierte deskriptive Passagen: Oft bleibt er, wenn er einige Schritte vorwärts gethan hat, stehen, legt den Zeige- und Mittelfinger an die Stirne und verharrt lange in dieser Stellung, entweder schweigend oder mit deutlich oder undeutlich ausgesprochenen Worten wie zu unsichtbaren Wesen redend. Dabei blickt er gewöhnlich zur Erde nieder oder schaut zwischen dem Reden heiter und oft lächelnd vor sich hin; beschreibt dann auch wohl einmal mit dem Finger oder mit einem Staabe Kreise um sich her, oder geht selbst in einem kleinen Kreise umher, häufig mit dem Ausdrucke Peterchen, Peterchen, Peterchen! Redet man ihn an und fragt ihn, was er rede oder worüber er nachsinne, so erweist er sich in der Regel freundlich und sagt entweder, er rede mit Gott oder mit den Engeln, oder auch er bete, damit auch die Juden und Lutheraner sich noch vor dem jüngsten Tage bekehren möchten, … (Jacobi 1826, ZfAnthro, 83f.)
In den Krankengeschichten werden Stadien über das entsprechende medizinische Vokabular strukturiert. Dies hat zunächst eine Übernahme allgemeinmedizinischen Vokabulars zur Folge, das den zeitlichen Verlauf gliedert, markante Ereignisse im Krankheitsverlauf erfasst und den Grad der Krankheit benennt. Dabei sind Lexeme zu unterscheiden, die
167 das Hauptereignis bezeichnen (Anfall oder Rückfall), die dominanten Erscheinungsweisen thematisieren (Zufall/Symptom), Indiz der Temporalisierung des Krankheitsverlaufes sind (Intermission/ intermittierend, Rezidiven/recidiviren, remittirend/Remission, Reconvalescens/reconvalescirend, lucidum intervallum/freie, helle Zwischenräume, Paroxysmen, Crise/critisch). 37 Stadien dieses Krankheitsverlaufes klassifizieren und Einordnungsinstanzen schaffen [frisch/veraltet; partiell, acut/periodisch/permanent; jedoch auch allgemein im Sinne von allgemeines fieberloses Delirium; habituell94F38 (im Sinne von habituelles Delirium), disponirende Ursache und acessorische Gelegenheitsursache, primäre/primitive und sekundäre Ursache]. Die Verwendung des nosologischen Vokabulars deutet auf eine Abstraktionsleistung hin, da die Beobachtungen nicht nur dargestellt, sondern bestimmten Krankheitsstadien zugeordnet werden und so eine zeitliche Abfolge gewährleisten. Zur Darstellung der Komplikation bzw. markanter Wendepunkte im zeitlichen Verlauf werden vorwiegend nominal-verbale Verbindungen (Kollokationen) verwendet, die durch die verwendeten Verben eine Prozesshaftigkeit anzeigen. Dabei bedienen sich die Ärzte bzw. die Verfasser von Krankengeschichten im Sinne von Lakoff/Johnson (1980) oder Lakoff (21993) eines metaphorischen Modells, und zwar: „Die Krankheit ist ein Eindringling“, das in dieser Form in der weiteren Entwicklung der Psychiatrie nicht mehr nachzuweisen sein wird. Mit dieser Darstellung korrespondiert eine entsprechende Vertextungsstrategie. Die Krankheit wird durch die folgenden Verbindungen personifiziert: in X (eine Krankheit oder einen krankhaften Zustand) verfallen/fallen/gestürzt werden; von einem X (einer Krankheit oder einem krankhaften Zustand) überfallen, überwältigt oder ergriffen werden. Neben der Struktur „Präpositionalphrase + VP“ finden sich noch die Strukturen (NP im Akk., NP im Gen. + VP), so: sich einem X (einer Krankheit oder einem Krankheitszustand) nicht erwehren können oder X (die Krankheit oder der Krankheitszustand) bemächtigt sich (ihrer). Daneben stehen vereinzelte Belege wie Beute von X (einer Krankheit) werden. Parallel wird noch ein weiteres metaphorisches Modell verwendet: „Die Krankheit ist ein Naturereignis“, so wird häufiger von dem Ausbruch oder der Explosion einer Krankheit gesprochen, z. B.: ______________ 37
38
Zum Beispiel: „immer bei den Seelenstörungen, da sie sogar in der secundären Verwirrtheit wohltätig und critisch sind …“ (Esquirol/Hille 1827, 415). Hier liegen zum Teil ganz eindeutige Monosemierungen vor; „Complication“/“compliciert sein von Krankheiten“. Schon früh bei Reil: „Die Idee fesselt den Kranken durch ihr Interesse, aber auch ohne dasselbe, sofern sie ihm habituell geworden ist.“ (Reil 1803, 311)
168 … sprach er mit diesem zwar anfänglich sehr ruhig und vergnügt, brach aber dann plötzlich, wie auf einen Donnerschlag, in heftigste Manie aus. (Schneider 1820, ZfpÄ, 359); „gleichsam eine psychische Explosion“ (Jacobi 1830, 600), … war es ihm, als ob ein elektrischer Schlag ihn getroffen, und ihm den letzten Rest der Besinnung geraubt hätte. (Ideler 1848, 234), früh auch bei Haindorf: „… so wurde er wie vom Blitze getroffen und heftig erschüttert …“ (1811, 297)
Daran können sich ausgearbeitete und elaborierte Bildkomplexe anlagern (z. B. die Vorstellung vom Ausbruch eines Vulkans): „So sehen wir die verborgene Gluth eines Vulkans nicht; aber sie spiegelt sich an den über ihm gelagerten Wolken ab, welche man daher nicht ganz unschicklich mit den phantastischen Vorstellungen des Irreredens vergleichen kann …“ (Ideler 1841, 53). Dem entspricht die Vorstellung, dass X (eine Krankheit oder ein Krankheitszustand) sich einpflanze, fortpflanze, einniste oder Wurzeln schlage („Dieser Gedanke habe nun immer tiefere Wurzeln in ihm geschlagen“ – Jacobi 1826, ZfAnthro, 90). Im Individuum keime/wurzele (z. T. schon in bedeutungsdifferenzierender Verwendung von: „veraltet und eingewurzelt sind“ – Esquirol/Hille 1827, 74), entarte oder ausarte X (die Krankheit oder der Krankheitszustand), oder das Individuum brüte an einer Krankheit oder – als Variante des Phraseologismus – habe sie ausgebrütet. Neben diesen primären metaphorischen Modellen wird auch der Fortgang der Krankheit mit Hilfe des usuellen Miteinandervorkommens lexikalischer Komponenten dargestellt, die neben der Krankheit selbst auch Krankheitszustände umfassen können und so etwas wie die Kapitulation des bürgerlichen Subjektes anzeigen, so: sich etwas ergeben, etwas unterliegen, von etwas beherrscht werden, etwas unterworfen sein, sich etwas hingeben, befangen sein in, sich an etwas heften, in etwas versinken oder geraten, eingraben, von etwas untergraben werden oder etwas zerfließt unter den Händen und etwas kommt/gerät aus dem Geleise/ aus der Bahn. Dabei ergeben sich für einzelne Verbindungen bevorzugte Kookkurrenzpartner: So stehen bei etwas unterworfen sein, sich etwas hingeben und von etwas untergraben werden die Kollokationspartner Leidenschaften oder Ausschweifungen und stehen, was weiter unten noch ausführlicher thematisiert wird, im Zusammenhang mit der Genese der Krankheitsform „Manie“ (i. S. v. „Wahnsinn“). Befangen sein in und sich an etwas heften verweisen demgegenüber auf das Krankheitsbild „Melancholie“, die festgeprägten prädikativen Konstruktionen (nach Reichstein 1974, 212–222) etwas zerfließt unter den Händen verweisen ebenfalls auf diese Krankheitsform. Davon sind nominale-verbale Verbindungen (vornehmlich lexikalische Phrasen, s. u.) und z. T. auch satzwertige prädikative Phraseologismen zu unterscheiden, die nicht auf den Angriff und die spezielle Macht einer einzelnen Krankheit oder eines Zustandes hinweisen, sondern die bestimmte, mit den Krankheiten verbundene kurz- oder längerfristige Zustände thematisieren und
169 bei denen z. T. eine Verantwortung des beteiligten Subjektes mitschwingt: in etwas schwelgen (v. a. in Phantasie schwelgen), außer sich geraten, durch etwas gefesselt werden (wobei die phraseologische Analogiebildungen zu die Aufmerksamkeit fesseln möglich sind), von etwas sehr angegriffen sein, die satzwertigen prädikativen Phraseologismen etwas raubt jemanden die Fassung und etwas (v. a. eine Neigung) findet Nahrung sowie durch etwas aus den Angeln gehoben werden. Zumeist dominiert allerdings eine Vorstellung des Kranken, der unter seinen Krankheitszuständen leidet und von ihnen erlöst zu werden wünscht. Auch hier finden wir wieder ähnliche Verbalisierungsstrategien, die mit den oben genannten metaphorischen Modellen korrespondieren. So werden bestimmte reflexive Verben, Passivierungen oder Partizipbildungen bevorzugt gewählt: sich quälen/martern/gemartert werden oder sich peinigen. Neben lexikalischen Phrasen (s. u.) wie nahe von X (der Verzweiflung/dem Wahnsinn/der Tobsucht – mit je unterschiedlichem Idiomatisierungsgrad) sein oder von X (einer Krankheit oder einem Krankheitszustand) erschüttert werden finden sich auch expressiv-bildliche Phraseologismen: „An seinem Herzen nagte noch immer der alte Wurm …“ (Ideler 1848, 230) oder „durch kräftige Einwirkung den Stachel aus seiner Brust ziehen konnte.“ (Ideler 1841, 32). Das Empathische solcher Formulierungen wird z. B. auch am modifizierenden Einsatz von erweiterten Partizipialattributen deutlich, das als strukturell-syntaktisches Muster im späteren Diskurs nicht mehr verwendet wird: „diese sie schrecklich ängstigende Idee“ (Hayner 1822, ZfpÄ, 99). Erstaunlich ist, dass für die Heilung nur zwei Formulierungsalternativen zur Verfügung stehen, nämlich zur Besonnenheit/ Besinnung zurückkehren oder wieder hergestellt werden. Ist eine Heilung nicht geglückt, wird der Kranke möglicherweise sogar in eine Pflegeanstalt überwiesen, so wird dieser Endzustand als zerrüttet/Zerrüttung bezeichnet, ggfs. kann auch von verwirrt/Verwirrung gesprochen werden. Entsprechende Varianten sind: „wie denn nothwendig jede leidenschaftliche Stimmung als disponierendes Moment zu Geisteszerrüttungen erscheint; …“ (Vogt 1824, ZfAnthro, 164), Geisteszerrüttung (Busch 1824, ZfAnthro, 203/207, ebd. auch „zerrütteten Zustande“ – 204), „Verstandeszerrüttung“ – 206), daneben auch: Geistesverwirrung (205) bzw. Amelung: „bringt eine solche Verwirrung in ihren Ideen hervor“ (1826, ZfAnthro, 178) oder auch Haslam/Horn 1819, ZfpÄ, 117: „Da sein Verstand zerrüttet …“. Zur Organisation der eine Erzählung konstituierenden Temporalreferenzrelationen werden also verwendet: Temporalreferenzen in Form von Datumsangaben, temporale Sub- und Konjunktionen und Temporaladverbien (wie das charakteristische plötzlich). Die Temporalisierung erschöpft sich allerdings nicht in expliziten Temporalreferenzen, sondern wird zum einen auch durch medizinische, nosologische Kernlexeme erreicht, die semantisch Temporalität implizieren (z. B. Krise). Zum anderen werden alternative
170 metaphorische Modelle verwendet, die sich auf Kollokationen und Phraseologismen stützen. In mancher Verwendung sind diese als eine Art textueller Ikonismus zu werten, da die mit ihnen verbundenen Vorstellungen auch den Krankheitsverlauf treffen, z. B. den Einbruch einer Krankheit in ein ansonsten integeres Subjekt. Das Aufrechterhalten des bürgerlichen Subjektes durch die Vorstellung einer überfallartig wirkenden Krankheit gilt es auch in den folgenden Kapiteln im Auge zu behalten, weil sich sowohl die Vorstellung von dem, was Krankheit bedeutet, als auch der Blick auf den Kranken sich verändern wird und damit auch die Darstellungsmuster und entsprechenden Vertextungsstrategien.
Exkurs: Relativ stabil – zur Rolle vorgeprägten Ausdrucks in frühen Psychiatrietexten In den Psychiatrietexten spielen mehr oder weniger feste Wortverbindungen eine tragende Rolle. Ein Teilbereich der entsprechenden Erscheinungen ist den Phraseologismen zuzurechnen, da er häufig in der Phraseologie genannten Kriterien (z. B. Gréciano 1983, 232) entspricht: Die Erscheinungen erfüllen die Kriterien der Polylexikalität, relativen Stabilität, semantischen Irregularität sowie der transformationellen Defektivität und sind lexikalisiert. Sie fallen bspw. nach Burger (1982, 31) unter die „phraseologischen Ganzheiten“, „phraseologischen Vergleiche“ (ebd., 35) sowie z. T. unter die „phraseologischen Verbindungen“. Wie von der Phraseologieforschung wiederholt betont worden ist, sind auch diese Phraseologismen zumeist nur relativ stabil, da sie Expansionen, Reduktionen etc. und ggfs. dephraseologische Derivationen ermöglichen (detailliert bei Wotjak 1992, 99–172; Gréciano 1987, 91–103 oder Fleischer 1982, 202–230). Zu einem weiteren, leicht identifizierbaren, für die Krankengeschichten jedoch relativ bedeutungslosen Teilbereich gehören Sprichwörter, die teils als satzwertige Phraseologismen, Satzlexeme u. ä. zu den Phraseologismen gerechnet werden, teils jedoch vom engeren Forschungsgebiet der Phraseologie ausgeschlossen werden. Von den Routineformeln, die ebenfalls aus dem Zentrum der Phraseologieforschung herausfallen (Kühn 1987, 1989), sind nur solche bedeutsam, die man mit Burger (1982, 123) zu den schreibspezifischen Formeln zählen kann. Wie in einem späteren Kapitel gezeigt wird (Kap. 4.3), ist ihre Ausprägung in den Psychiatrietexten im Zusammenhang mit rhetorischen Traditionen zu sehen. 39 Zu den, ebenfalls eher an der Peripherie ______________ 39
Da es in dieser Untersuchung nicht um vorgeprägten sprachlichen Ausdruck als solchen, sondern um die Genese einer Praxis einer bestimmten Art geht, sind sie hier v. a. im Kontext einer stärker verbindlichen Form der Textorganisation interessant, die sich von tradierten Formen löst (z. B. von partitio, recapitulatio,
171 der phraseologischen Forschung angesiedelten sprachlichen Einheiten gehören die Gemeinplätze, die bspw. von Coulmas (1981, 62 f.) in Quasitautologien, Truismen und Erfahrungssätze unterteilt werden. Obgleich die frühen Psychiatrietexte dem ersten Anschein nach viele Gemeinplätze aufweisen, finden sich keine Gemeinplätze wie bspw. „Aller Anfang ist schwer“, „Wir sind alle nur Menschen“ oder „Zeit ist Geld“. Was sich hingegen gehäuft findet, sind Äußerungen wie „Männer besitzen ein aktives, Frauen ein passives Wesen“, „Schweizer neigen zum Heimweh, Engländer zum spleen oder zu Melancholie“ oder „Störungen der Menstruation führen zum Wahnsinn“ (vgl. Kap. 4.3.1.2). Bei den ersten Äußerungen handelt es sich in der Terminologie der Sozialphänomenologie um hochanonyme Typisierungen, die in der linguistischen und psychologischen Forschung als Stereotype (z. B. Ethnostereotype) bezeichnet werden (vgl. z. B. Hahn 1995 auch in historischer Perspektive; Klein 1994, 91–108; Quasthoff 1973, 1987, 785– 799; 1989, 181–196; Schäfer 1988, 11–65; Wenzel 1978). Sie bilden damit einen Kernbereich von Typisierungen, die ein hohes Maß an Beständigkeit und Unveränderbarkeit aufweisen und dienen in den Texten oft als Begründung (vgl. Kap. 4.3.1.2). Die dritte Äußerung „Störungen der Menstruation führen zum Wahnsinn“ kann aus mindestens zwei unterschiedlichen Perspektiven betrachtet werden: Zum einen als Erfahrungssatz, der auf entsprechenden Beobachtungen basiert, zum anderen jedoch auch als eine Form topisierter Rede (im Sinne von Klein 2002, 167–181). Da jedoch gezeigt werden kann, dass der angenommene ursächliche Zusammenhang nicht nachgewiesen, sondern nur behauptet wird, liegt es m. E. nahe, Äußerungen wie diese als topisiert (im Sinne der antiken Rhetorik) zu bezeichnen. Größere Bedeutung innerhalb der frühen psychiatrischen Texte haben Adjektiv-Substantiv-Verbindungen und nominal-verbale Verbindungen. Bei den Adjektiv-Substantiv-Verbindungen ist zumindest fragwürdig, ob Verbindungen wie die sitzende Lebensart oder beschränkter Verstand, als phraseologische Verbindungen (z. B. üble Nachrede, der kleine Mann, die kalte Dusche, harter Kern (eines Problems) u. ä.) oder als phraseologische Termini zu werten sind. Zwar ist – auf der einen Seite – die Verwendung von „Termini“ für so heterogene Erscheinungen wie das Rote Kreuz oder zäh fließender Verkehr nicht überzeugend, im letzten Fall handelt es sich allenfalls wohl um terminologische Nähe, jedoch ist bei diesen Verbindungen sowohl Stabilität, Polylexikalität als auch Idiomatizität gegeben (bei die sitzende Lebensart sogar eine syntaktische Auffälligkeit), und es ist in der Medizin resp. in der ______________
transitio, precisio, praeparatio oder praeteritio). Zu den unverbrüchlichen Bausteinen argumentativer Auseinandersetzung gehört bspw. auch, dass mündliches Sprechen imitiert wird, was zur Adaption fester, eigentlich auf das Gespräch verweisender mündlicher Formeln führt (zum formelhaften mündlichen Sprechen, siehe Stein 1995).
172 Philosophie von einer definitorischen Bestimmbarkeit auszugehen. In manchen Fällen wie bei geistiger Beweglichkeit ist nicht klar zu entscheiden, ob sie phraseologische Termini oder phraseologische Verbindungen sind, da sie zwar zu den pragmatisch eingespielten Fachausdrücken der Philosophie gehören (z. B. auch wie das öffentliche Leben oder die gesellschaftlichen Verhältnisse), aber im Gegensatz zum freien Willen oder reiner Vernunftanschauung in keinem Wörterbuch der Philosophie zu finden sein dürften. Eine Vielzahl der nominal-verbalen Verbindungen gehört zumeist nicht, wie man zunächst vermuten könnte, zu den „bevorzugten Analysen“, da sie den von Burger angegebenen Kriterien nicht entsprechen: „Der Typ liegt genau dann vor, wenn aus einer Anzahl möglicher Wortverbindungen zur Bezeichnung eines Sachverhalts oder Vorgangs durch den Sprachgebrauch eine bestimmte Kombination ausgewählt und als ‚Norm‘ verfestigt ist“ (1982, 34). Ebenso wenig können sie der Klasse der Phraseoschablonen (nach Fleischer 1982) zugerechnet werden. Bei den entsprechenden Beispielen ist nicht deutlich, ob sie schon zu den Phraseologismen oder noch zu den Kollokationen zu zählen sind. Das ist besonders dort der Fall, wo Verben mit einer relativ geringen Anzahl von drei oder vier Kookkurrenzpartnern, von semantisch ähnlichen Substantiven, auftreten (in Phantasie/Erinnerungen/Vorstellungen schwelgen) bzw. auch dort, wo eine Reihe von semantisch ähnlich Verben wiederum mit einer relativ geringen Anzahl von substantivischen Kookkurrenzpartnern auftritt (in Melancholie/Wahnsinn (ver)fallen). Und zuletzt auch dort, wo das Substantiv zusätzlich noch durch eine geringe Anzahl attributiver Adjektive ergänzt wird (eine lebhafte/rege/lebendige Erinnerung/Vorstellungskraft/Phantasie besitzen). Dass man verleitet sein könnte, sie zum Kernbereich der Phraseologismen zu zählen, hängt wohl damit zusammen, dass es heute bei diesen Verbindungen einen präferierten Kookkurrenzpartner gibt, m. E. in Erinnerungen schwelgen, eine lebhafte Phantasie besitzen, während lebendig heute bevorzugt mit Auffassungsgabe, rege wohl auch heute mehrere Kookkurrenzpartner besitzt. Zu bezweifeln ist, ob in X ausbrechen (in Wut/Freude/Heiterkeit ausbrechen, im letzen Fall wohl eher nominalisiert als Ausbrechen/Ausbruch von Heiterkeit), in X fallen/(in) X verfallen oder X nahe sein (der Verzweiflung, dem Zusammenbruch, dem Unglück nahe sein) noch zum Arbeitsgebiet der Phraseologie zu zählen sind bzw. in den entsprechenden Klassifikationen ihren Platz finden, da sie bspw. im Gegensatz zu solchen Formulierungen wie in der Lage sein, einen Beitrag leisten, zum Einsatz kommen oder Einfluss haben (bei Fleischer zu den „Phraseoschablonen“, bei Burger zu den „Streckformen des Verbs“ gezählt), zwar polylexikal und idiomatisch sind, jedoch das Kriterium der Stabilität/Fixiertheit – jedenfalls im historischen Schnitt – unterwandern (bzw. das Problem virulent werden lassen, wann Stabilität/Fixiertheit beginnt und wo sie aufhört). Gleichzeitig entsprechen sie nur bedingt der gängigen Vorstel-
173 lung von Kollokation, wie sie bspw. von Barz formuliert wird. Kollokationen sind … nach dieser Bestimmung nicht fest im Sinne einer restringierten Expandierbarkeit und Begriffsfixierung. Es sind ‚durchsichtige Verbindungen‘ …, die nicht den Typisierungseffekt der Komposition oder der phraseologischen Mehrwortbenennung aufweisen. Vielmehr ist das Ausschlaggebende für ihre Identifikation das usuelle Miteinandervorkommen. (1996, 129)
Der Gleichklang von usuellem Miteinandervorkommen und Durchsichtigkeit zeigt sich bei den thematisierten Erscheinungen nur bedingt. Da sie zudem konnotativ auch auf besondere Gebrauchszusammenhänge verweisen, kann man sie – quer zu den gängigen Klassifikationen der Phraseologie – mit Feilke (1996, 211ff.) unschwer auch zu den idiomatischen Prägungen zählen. Wie verschiedentlich schon angedeutet, geht Feilke von der These aus, dass jede Diskussion über Sprache als Mittel der Kommunikation im Begriff des Zeichens auf die Prozesse der Sinnkonstitution in der Kommunikation selbst zurückweist. Nach der hier zugrundegelegten Sprachauffassung sind Sprache und sprachliche Komponenten Zeichen in der Kommunikation genau dann – und nur dann –, wenn sie Zeichen für vorausgegangene Koorientierungen von Sprechern und Hörern sind. In diesem Sinne ist die Zeichenrelation wesentlich nicht durch Referenz, sondern durch Selbstreferenz, also Rückbezüglichkeit in der Kommunikation bestimmt. Diese formale Anforderung begründet auch die Notwendigkeit der Institutionalisierung des Ausdrucksverhaltens. (ebd., 35f.); auch „Kein Weg kann uns von der individuellen körperlichen und kognitiven Erfahrung zur Bedeutung führen. Nur über die kommunikativ bestimmte Ausdruckserfahrung gelangen wir zur Bedeutung.“ (ebd., 44)
Ein unabdinglicher Bestandteil der Ausdruckserfahrung ist die Kenntnis idiomatischer Typik (idiomatischer Prägung). Anhand der Diskussion des Unterschieds von in der Sonne und unter der Sonne (in Verbindungen wie er war der elendeste Kerl unter der Sonne) (ebd., 119f.) und kontrastiv im Mond sitzen/im Mondschein (ebd., 126f.) entwickelt Feilke die Idee eines idiomatischen Sprachwissens, das über die in der Phraseologie thematisierten sprachlichen Erscheinungen hinausweist. Er nimmt an, dass zwischen den in der Ausdrucksbildung noch wichtigen Motivbedeutungen und den Funktionen- und Gebrauchsbedeutungen, die aus diesem Prozeß heraus entstehen, eine Kluft liegt, die nur durch einen besonderen Typ des einzelsprachlichen Wissens überbrückt werden kann. Die Konzeptualisierung bedient sich semantisch motivierender Elemente, aber nicht im Sinne einer Optimierung des referentiellen Bezugs auf präkommunikative Sachverhaltsstrukturen, sondern als sprachliche Kennzeichnung des Gemeinten über ganz verschiedene Motivierungsstrategien. Im konzeptualisierenden Bezug auf das Gemeinte bleibt dabei der von Sprecher und Hörer mitwahrgenommene Verständigungshorizont notwendige Voraussetzung des zukünftigen Verstehens, … (ebd., 127)
174 Durch die Annahme unterschiedlicher „Motive der Ausdrucksbildung“ (so die „Motive des Meinens“ mit differenzierender und charakterisierender Ausdrucksbildung und die „Motive des Verstehens“ mit Ausdrucksbildung über Konnotationen) kann Feilke darstellen, dass von idiomatischer Prägung auch bei syntagmatischen Verbindungen gesprochen werden kann, die allenfalls zur Peripherie der Phraseologieforschung zu rechnen sind, so bspw. bei Die Sonne scheint, sonniger Lage (wobei Sonnenlage nicht möglich ist – ebd. 128), bei ein starker Schnupfen (nicht aber ein schwerer Schnupfen), junger Spargel (nicht aber junge Gurken), höchst leichtsinnig (aber nicht höchst überlegt) (ebd., 166), auch Kaffee trinken im Sinne eines sozialen Ereignisses (ebd., 179) und bei solchen Bildungen wie jung und schön, voll und ganz, Pfeffer und Salz und Kaffee und Kuchen (ebd., 169). Diesen Beispielen ist gemeinsam, dass sie nicht über lexikalische Solidaritäten zu erklären sind (also vom Aspekt der Motivierung her) noch darüber, dass mit sprachlichen Präferenzen kognitive Präferenzen verbunden seien. Vielmehr verweisen viele dieser Beispiele auf ein parallel zu der Ausdrucksbildung entstandenes Wissen (konnotatives semantisches Wissen): So weiß ich zum Beispiel, daß der Satz ‚Wo Rauch ist, da ist auch Feuer‘ kein Merksatz für den Brandfall ist, sondern für eine höchst spezifische Äußerungskonstellation eine idiomatische Reaktionsmöglichkeit bereitstellt … Dieses Wissen ist reflexiv als ein konnotatives semantisches Wissen zum Gebrauch des Ausdrucks entstanden. … Dieses Wissen ist ausdrucksextern, insofern es mit dessen sprachlicher Strukturiertheit oder Strukturierbarkeit primär nichts zu tun hat, aber es strukturiert gleichwohl sein Verstehen, weil ich den externen, schematisierten kontextuellen Bezugspunkt für den Ausdrucksgebrauch kenne. (ebd., 204f.)
Von Feilke (1996, 214) werden idiomatische Prägungen in die Typen „syntaktische“, „semantische“ und „pragmatische Prägung“ erweitert. Die oben zitierten Beispiele aus den frühen Psychiatrietexten, deren Platz in der Phraseologie nicht eindeutig zu bestimmen ist, gehören bei Feilke (ebd., 240) zu den syntaktischen Ausdrucksmodellen mit semantischer Prägung und noch genauer zu den verbalen lexikalisierten Phrasen (z. B. in X geraten). Im Einzelfall könnten einige Verbindungen auch zu den figuriert motivierten Prägungen gezählt werden (ebd., 252). Im Folgenden werde ich mich weiterhin des eingeführten Vokabulars der Phraseologie bedienen, da ein Großteil der sprachlichen Erscheinungen dem Kernbereich der Phraseologie zugerechnet und auch bei Feilke (ebd., 250) zu den semantischen, genauer zu den figurierten Prägungen gezählt wird. Nur an den Stellen, die eine Differenzierung notwendig machen, wird auf die idiomatischen Prägungen im Sinne von Feilke (vornehmlich auf die lexikalischen Phrasen) rekurriert. Idiomatische Prägungen selbst sind aber ein wesentliches Moment der Fachwerdung. Das oben thematisierte nosologische Vokabular stellt nicht die einzige Anleihe an die anderen, schon gefestigten medizinischen Disziplinen dar. Sofern
175 sich körperliche Erscheinungen mit einem medizinischen Begriff bündeln lassen, wird davon Gebrauch gemacht, wobei es – wahrscheinlich mit dem Charakter der Erscheinungen verbunden – nur wenige, immer wieder kehrende Begriffe sind, die diskurskonstituierend sind. Auffällig ist das Vokabular, das mit Herz-Kreislauf-Erkrankungen im Zusammenhang steht. Zu diesem gehören die Congestionen, die häufiger als auslösender Faktor für auffällige psychische Erscheinungen angesehen werden: …, denn die Heftigkeit der Congestion nach dem Kopfe drohete Apolexie=Abspannung des Blutgefäßsystems … (Heinroth 1818a, ZfpÄ, 243); B. ist von starker Constitution; Blutcongestionen nach dem Kopfe hin … (Ruer 1819, ZfpÄ, 98); daß die eingebildete Vollblütigkeit, die Congestionen gegen den Kopf … (Müller 1824a, 205); und die von Zeit zu Zeit eintretenden Blutcongestionen nach dem Kopfe. (Jacobi 1830, 204), Congestionen nach dem Kopfe … (Amelung 1824, ZfAnthro, 343) oder Eine zuweilen vorkommende insbesondere den periodischen Wahnsinn erzeugende Ursache ist die Vollblütigkeit und anhaltende Neigung zu Congestionen des Bluts nach dem Kopfe. (Amelung 1826, ZfAnthro, 153)
Im Zusammenhang mit Herz-Kreislauferkrankungen stehen ferner: Vollblütigkeit, Apolexie oder apolectischer Habitus. Auf Fieberkrankheiten verweisen die Begriffe Convulsionen/convulsivisch, Exacerbation/exacerbiren. Im Zusammenhang mit Nervenkrankheiten, die erst zu einem späteren Zeitpunkt zu den psychischen Erkrankungen, insbesondere zu den Neurosen gerechnet werden, stehen: Hysterie, Nymphomanie, Satyriasis, Marasmus oder entsprechend damit verbundene Zustände, z. B. paralytische, kataleptische oder stuporöse Zustände. Ein weiterer Begriff, der die späteren Auseinandersetzungen um die Hysterie betrifft, ist der Begriff der Aura, der bei Autenrieth in Anlehnung an die epileptische Aura, aura maniaca genannt wird. Einen gewissen Sonderfall stellt die Hypochondrie dar, da sie zum Teil zu den Nervenkrankheiten, zum Teil jedoch auch zu den psychischen Erkrankungen gerechnet wird. Daneben treten Lexeme hin, die auf die etablierte medizinische Metastasenlehre hinweisen: Metaschematismus, Metastase 40 (auch per metastasin oder per consensum). Schon an der Strukturierung des Narrativen wird deutlich, dass Krankengeschichten keine eher illustrativen Anekdoten mehr sind, obwohl, wie im nächsten Unterkapitel gezeigt wird, quasi als gegenläufige Tendenz soziale Typisierungen an Nahtstellen des Textes eine große Rolle spielen und die kulturelle Überlagerung des frühen psychiatrischen Diskurses zeigen. ______________ 40
Die sog. Metastasenlehre beruht im Kern darauf, dass ursprünglich nicht befallene Organe angefallen werden („metastasieren“) und in der Folge zu Sekretions- oder Funktionsstörungen führen. Diese Vorstellung beruht darauf, einen „Konsens“, einen inneren Zusammenhang, der Organe anzunehmen, so dass unterschiedliche Organe von einem Krankheitsstoff „konsensuell“ befallen werden.
176 4.3.1.2 Typisierungsroutinen als Hinweise auf Dispositionen und Ursachen von psychischen Erkrankungen Neben den ärztlich gefassten Beobachtungen machen die Verfasser der Krankengeschichten von anderen Diskursen Gebrauch. Zu diesem Reservoir ständig genutzter Versatzstücke gehören v. a. die Temperamentenlehre und die physiognomische Lehre (vgl. Kap. 2.2.1), bei der sich Wahrnehmung des Kranken und seine Typisierung überlagern. Interessant ist die Platzierung innerhalb der Erzählungen: Häufig finden sie sich am Textbeginn und sichern daneben Schlussfolgerungen ab: a) Temperamentenlehre Ein hagerer, cholerischer, geistvoller Mann von einigen vierzig Jahren … (Heinroth 1818a, ZfpÄ, 242); Ein drei und vierzigjähriger Präfekt, von sanguinischem Temperamente, war fälschlich des Hochverraths angeklagt worden. (Groos 1822, ZfphÄ, 72), ein robustes sanguinisches Mädchen (Spiritus 1822, ZfpÄ, 179), Vidon, sanguinisch-gallichter Konstitution … (Sc. Pinel 1821b, ZfpÄ, 143), Man darf den Mann nur ansehen, um auf den ersten Blick das Bild eines cholerisch-melancholischen Temperaments in ihm zu erkennen, wie es sich im Körperlichen ausdrückt, als da sind: muskulöser Körperbau mit scharfen Umrissen, schwarze Haare, schwarze glänzende Augen, braungelbliche Gesichtsfarbe und markirte Gesichtszüge. …. (Amelung 1824, ZfAnthro, 350), 41 Eine Frauensperson von 32 Jahren, von sanguinisch-phlegmatischem Temperament … (Amelung 1826, ZfAnthro, 181), Es möge hier die allgemeine Bemerkung genügen, daß sein kleiner, jedoch regelmäßig gebauter Körper den Habitus des melancholischen Temperaments zu erkennen gab, … (Ideler 1841, 39), R., 42 Jahre alt, von robuster Konstitution, cholerischem Temperament und untersetztem Körperbau, ist der Sohn eines Kolonisten in der Gegend von Uckermünde, … (Ideler 1841, 109)
b) Nervenkrankheiten Ein Soldaten-Mädchen, ein und zwanzig Jahr alt, irritabler, sensibler Constitution … (Schneider 1820, ZfpÄ, 334); Eine Frau auf dem Lande, sechs und dreißig Jahre alt, von einer ausgezeichnet-hysterischen Konstitution, hatte vermöge ______________ 41
Die Temperamentenlehre bietet sich offensichtlich auch für allgemeine, präskriptive Äußerungen an: „Das cholerische Temperament, vorzüglich bei einer atrabilarischen Constitution prädisponieren zur Wuth.“ (Esquirol/Hille 1827, 414) oder auch im selben Buch: „Das cholerische und sanguinische Temperament, und eine vollfastige, kräftige und starke Constitution prädisponieren sehr zur Manie …“ (ebd., 437). In der Diagnostik von Friedreich gilt die Temperamentenlehre noch unhinterfragt: … so daß dem melancholischen Temperamente die Melancholie, dem cholerischen die Manie, dem sanguinischen die Narrheit, dem phlegmatischen der Blödsinn, dem melancholisch-cholerischen die Complicationen von Verbindungen von Manie und Melancholie, … (Friedreich 1834, 211; Hervorhebung v. d. Verf. – B-M. Sch.)
177 ihrer Hysterie stets mit verschiedenen krankhaften Zufällen zu kämpfen … (Schneider 1820, ZfpÄ, 348), … von langem, hageren schwächlichem Körperbau und sehr reitzbaren Nerven (homo nervosus) … (Graff 1820, ZfpÄ, 159). … und nahm seines reitzbaren Temperamentes … wegen Zuflucht zu meinem geliebten Bilsenkraut. (Müller 1824a, 201)
c) Physiognomische Lehren Starke Menschen, und mit schwartzen Haaren, solche, die in kraftvollem Alter und für heftige ungestüme Leidenschaften empfänglich sind, scheinen ihren Charakter auch in ihren Anfällen beyzubehalten, … Nichts ist gewöhnlicher, als daß Menschen mit blonden Haaren eher in eine Art von sanfter Träumerey, als in Aufwallungen der Wuth verfallen, welche erstere in eine blödsinnige, unheilbare Imbecillität übergeht. (Pinel/Wagner 1801, 16). Etwas hämisch Duckmäusiges, nach Lichtenbergs Ausdruck, ist in ihrer Physiognomie unverkennbar; ein großer Eigennutz geht aus ihren unbewachten Äußerungen und Handlungen hervor; … (Vogt 1824, ZfAnthro, 157); … alles in der Nähe der Vereinigung der Scheitelbeine mit dem Stirnbeine, vorzüglich da, wo Galls theosophischer Sinn seinen Sitz haben soll … (Jacobi 1826, ZfAnthro, 81), Gall legt das Organ der Theosophie grade an diese Stelle des Schädels. (Vogt, ZfAnthro, 1824, 166, vgl. auch 169). Dass der äußere Eindruck überhaupt eine Bedeutung besitzt, zeigt sich an der folgenden Äußerung Schneiders: überhaupt lag in der ganzen Physiognomie etwas Verzogenes und Zerstörtes. (1819, ZfpÄ, 336)
Dass die Physiognomie allerdings ein bleibendes, wenn später auch verfremdetes Angebot für die Psychiatrie bereithält, zeigt noch 1838 bei Zeller, der sich Folgendes erhofft (auch später werden sich Jung und Kretschmer wieder stark mit Typen beschäftigen): Wie wahr ist das alte Sprichwort: „wie einer sein Haupt trägt, trägt er sein Leben“ … Diese ganze Mimik der Seele, wie sie uns jeden Augenblick das Leben, und seine Widerspiegelungen in Malerei, Plastik und im Drama vor Augen führt, ist für die Physiologie, Anthropologie und Psychiatrie noch lange nicht gewürdigt und ausgebeutet worden; … (ebd., 531) 42
d) Gestalten aus Literatur und bildender Kunst erscheinen als Vergleichsobjekte, um die Persönlichkeit des Kranken zu charakterisieren: Sooft ich dieses Gesicht erblicke, erinnere ich mich unwillkürlich an den herkulischen Fleischer in Paris, den der Jacobiner Klubb gegen seinen Willen zum Präsidenten gewählt und den der Italiäner Gorani – …– sowie den ehemaligen Marquis mit so meisterhaften Zügen geschildert hat. – Noch gebe ich die Hoffnung nicht auf, den gutmüthigen Mann den nächsten Sommer wieder zur Vernunft zu ______________ 42
Nicht immer allerdings erfolgt der Zugriff unkritisch: „Wir haben Ursache zu glauben, daß jedes Talent, jede Fertigkeit, das Gedächtniß u.s.w. seinen eigenen Sitz, seine eigene Stelle behauptet. Diese Ansicht kommt der Gallischen Theorie sehr nahe, nur dass Gall seiner Lehre durch Übertreibung sehr geschadet hat …“ (Amelung 1826, ZfAnthro, 157)
178 bringen. (Elser 1818, zit. n. Kaufmann 1995, 224). … in das Feld der Dichtkunst gewagt, seinen Pegasus zu sehr angespornt, daß er mit ihm stürzte, und der arme Jüngling den Kopf verlor. (Müller 1824a, 250)
Die Zuordnung des Kranken zu einem Typ wird von der Beschreibung von Symptomen, die von dem Typ ableitbar ist, und der Nennung körperlicher und seelischer Ursachen flankiert, wobei ein bestimmtes Temperament als ein bestimmter Konstitutionstyp einen Verweis auf die körperlichen Ursachen enthält. So neigen bspw. Sanguiniker zu Herz-Kreislauf-Erkrankungen, die ihrerseits in den Wahnsinn münden können. In geordnete Suzession unterschiedlicher Erzählzusammenhänge wird ein impliziter Begründungsund Erklärungszusammenhang eingeflochten. Grundsätzlich werden sowohl körperliche als auch psychische Ursachen ins Feld geführt, um eine Krankheitsform zu begründen. Inwieweit sie im engeren Sinne Ursachen sind oder nur zu den auslösenden Faktoren zu rechnen sind, kann oft nicht ermittelt werden und wird von den Verfassern von Krankengeschichten nicht immer trennscharf unterschieden. Wie schon betont, ist der Krankheitsbegriff relativ weit und von der naturwissenschaftlichen Beschreibung von Krankheitsprozessen entfernt. Körperliche Zusammenhänge bilden damit nur einen allgemeinen, nicht jedoch spezifischen Erklärungshintergrund für psychische Erkrankungen. Bei der Auffassung von Wahnsinn liegt der „ältere, naive und weite Krankheitsbegriff vor, der sich auf vage und allgemeine Störungen bezog und nicht deren naturwissenschaftliche Abgrenzung verlangte. Er schließt an die Auffassung von Laien unmittelbar an. … der ältere Typus des Deutenden hält sich in seiner Tätigkeit durch: deutend im Sinne des Einordnens in Bekanntes, Tradiertes und Gesetztes.“ (Herzog 1984, 55). Zwischen Monographien (auch der Vorgängergenerationen), theoretischen Abhandlungen und Krankengeschichten ergibt sich bei der Bestimmung von Ursachen ein intertextuelles Geflecht aufeinander verwiesender Ursachenbestimmungen. Daraus resultiert bei Krankengeschichten der folgende argumentative Zusammenhang: Im Vordergrund steht die Beschreibung des Kranken, die mehr oder weniger stark typisiert ausfallen kann, wobei das Ausmaß der Typisierung Hinweise auf die Disposition enthält, die unter Einfluss auslösender Faktoren in eine akute Erkrankung führen kann. Sofern die Typisierung sich nicht an Temperament oder Physiognomie bindet, sondern direkt auf einen sozialen Typus bindet (z. B. grübelnder Gelehrter) können schon allein die Lebensumstände (sitzende Lebensart) und ein durch diese bedingtes Einzelereignis zu einer akuten Erkrankung (Hypochondrie) führen. Daneben kann eine körperliche Ursache die in der Disposition angelegten Schwächen zu einer Erkrankung führen, oder eine körperliche Ursache begründet eine Erkrankung direkt. Praktisches Schließen wird dabei auf zwei Ebenen vertextet: Zum einen gewährleistet die Phänomenebene und ihre sprachliche Konstitution einen Rückschluss auf die
179 Dispositionen, die wiederum für bestimmte auslösende Faktoren sensibel sind, zum anderen geben auslösenden Faktoren und/oder Ursachen einen Hinweis auf die Behandlung der Erkrankungen und begründen dementsprechend Handlungsrelevanzen. Die Darstellung typischer auslösender Faktoren und physischer/psychischer Ursachen in den Monographien ist – auch bei den prominentesten Psychiatern – kompilativ: Es wird alles festgehalten, was schon einmal erfolgreich als auslösender Faktor oder Ursache angenommen worden ist, wobei sich Erfolg letztlich daran misst, ob eine Erkrankung erfolgreich behandelt worden ist. Dazu ist alles zu zählen, was durch abduktives Schließen (s. dazu unten) schon verfügbar gemacht worden ist: vom Sonnenstich oder Hautausschlägen als Ursachen psychischer Erkrankung bis hin zum Schreck über ein unerwartet eingetretenes Ereignis, in dessen Folge sich Krankheitserscheinungen ergeben. Zweifel – als spätere wissenschaftliche Haltung – an der eigenen Position und an möglichen Quellen und Gewährsmännern werden nicht geäußert und Glaubwürdigkeit unterstellt. Auch deshalb tauchen neben isolierten Fallschilderungen auch Topoi auf, die auf eine lange historische Tradition verweisen (z. B. die Vernetzung von Gebärmutterleiden und Hysterie und/oder Nymphomanie): Es stehen lange etablierten Typen (Choleriker, Schwärmer etc.) gerade erst erfolgte Typisierungen gegenüber und bilden eine Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen, die für das Sammeln und Adaptieren der frühen Psychiatrie charakteristisch ist. Alle Ursachen bestimmen den bruchlosen Übergang vom körperlichen Defekt in psychische Erscheinungen, zumeist ohne entsprechende Vermittlung und die Anzeige von Prozesshaftigkeit. Körperliche und psychische Begründungen für den Wahnsinn können bspw. sein (z. B. nach Vering 1818): Krankheiten der Hirnhäute, Epilepsie, Sonnenstich, Schädeltraumen, Unterleibsschmerzen, Aussatz, Zurückhalten/bleiben der Menstruation, Schwelgerei/Ausschweifungen, große Kälte, ein Zuviel an Bewegung etc. Zustände, die den Wahnsinn begünstigen, sind: Jahreszeit, Witterung, Mondwechsel, Nahrungsmittel oder belastende klimatische Umstände, jedoch auch „überspannte Ideen“, Leidenschaften und Affekte, Liebe, Eifersucht, Freude, Schreck, Furcht, Sorge, Phantasie sowie der „Mangel an Selbstbeherrschung.“ Eine ähnliche Auflistung findet sich bspw. auch bei Hayner (1822, 128f.): „Immoralität“ (z. B. Stolz und Eitelkeit) steht neben „heftigen Anstrengungen der Phantasie“ (z. B. „Poeterei“ und „emsiges Studieren“) und „deprimierenden Affekten“ (z. B. Liebe, „ehelicher Unfrieden“). Nach Autenrieth kann die Seele durch aufreizende „Leidenschaften“ wie übertriebenen Ehrgeiz, maßlosen Stolz, angestrengtes Studieren, Zorn, Hass, Liebesgefühle, krankhafte Eifersucht, Religionsschwärmerei oder auch durch revolutionäre Gedanken überreizt werden. Deprimierende „Leidenschaften“ wie Kummer, Sorgen, Angst vor Verlust,
180 Furcht, Schrecken oder Hoffnungslosigkeit stimmen dagegen die Seele krankhaft herab (vgl. Hesselberg 1981, 37). Erhöhte Erregbarkeit kann jedoch auch durch „krankhafte Schärfe“ wie Krätze, Hämorrhoiden, Urinschärfe, Würmer, Arthritis, Tripper, Flechten oder stockende Menstruation entstanden sein (ebd., 38). Bei Reil heißt es beispielsweise zusammenfassend zur Tobsucht: Die Ursachen der Tobsucht sind verschieden. Mittleres Alter, männliches Geschlecht, magerer Körper, cholerisches Temperament, heftiger und leidenschaftlicher Charakter, heißes Klima und eine vorhandene Melancholie fördern ihre Entstehung. Schwangerschaften, Geburt, heftige Anstrengungen des Seelenorgans, Zorn, Aerger, Schwächungen durch Ausleerungen, Onanie, Gefäßfieber, Anomalien der Menstruation und Hämorrhoiden erregen sie wirklich. … So erregen auch alle Pflanzengifte, die den Geist zerrütten, fast durchaus Raserey. (Reil 1803, 380)
Darüber hinaus muss berücksichtigt werden, dass bei manchen Krankheitsbildern (v. a. Epilepsie, Hypochondrie und Hysterie) die antike Ätiologie in die Schriften der ersten Zeitspanne hineinwirkt. So wird die Hypochondrie gelegentlich noch als Krankheit der hypochondrischen Organe gesehen, obwohl sich schon im 18. Jahrhundert die Auffassung durchgesetzt hat, dass diese neural bedingt, also eine Krankheit des vegetativen Nervensystems und speziell eine Krankheit im sympathischen Nervengeflecht des Gemeingefühls sei. Als Folge findet man auch hier unterschiedliche Traditionsschichten des Vokabulars (z. B. vollblütig als Verweis auf Melancholie). Dass Krankheiten kulturellen Deutungsmustern folgen und die Sichtweise auf sie noch von antiken Restbeständen beeinflusst wird, zeigt beispielsweise die Vorstellung, die auch in vielen Krankengeschichten wieder begegnet, dass die gehemmte Menstruation Auslöser psychischer Verstimmungen sein kann (dazu auch Fischer-Homberger 1984). Wie weit verbreitet diese Vorstellung gewesen sein muss, zeigt eine Äußerung von Müller: „Ueberhaupt bemerkte ich aus den vielen, von Aerzten erhaltenen Berichten, daß man die erregende Ursache der Geisteskrankheiten zu oft in der ausgebliebenen Menstruation zu finden glaubt, …“ (1824, 231). Neben Klima oder Lebensalter als begünstigende Faktoren begegnen auch häufiger Ethnostereotype, z. B. die vermeintliche Prädisposition der Engländer zur Melancholie („Noch eine Variation der geistigen Melancholie ist die der Engländer (Melancholia anglica).“ – Haindorf 1811, 210), das Heimweh der Schweizer und anderer abgeschiedener Völker („Das Heimweh ist eine wahre Gemüthskrankheit, die gerade bey solchen Völkern am leichtesten entsteht, die in der Einfalt ihrer Sitten den Begriff ihrer Glückseligkeit an wenige Gegenstände knüpfen, wie die Lappen, die Bergschotten und die
181 Schweizer.“ – Reil 1803, 292) 43, und selbst die Schwarzwäldler werden einbezogen (vgl. Groos 1822, ZfpÄ, 61). Bei genauerem Blick auf diese und ähnliche Auflistungen lassen sich unterschiedliche Tradierungslinien ermitteln: Es finden sich Ursachen und/oder auslösende Faktoren, die in der Medizin schon zu unterschiedlichen Zeitpunkten autorisiert worden sind. Obwohl Krankheiten seit dem 17. Jh. zunehmend neurophysiologisch erklärt werden, lässt sich an den Krankengeschichten das Nachwirken der Humoralphathologie und auch Diätetik beobachten. So bekommen Magen-Darm-Erkrankungen eine entscheidende Rolle zugewiesen, Abführmittel werden oft als Therapeutikum angegeben und entsprechend sind Ausscheidungen (z. B. Ausscheiden von schlechten und überflüssigen Stoffen) oder der Menstruationsfluss beim Heilungsprozess wichtig – die alte Vorstellung des verseuchten Blutes der Melancholiker ist damit nicht weit. Eine entsprechende Somatose von Melancholie und Hypochondrie („verdorbene Säfte“) wird allerdings schon seit dem 17. Jh. nicht mehr angenommen (Fischer-Homberger 1970, 17). Hier zeigt sich ein Vorgang, der sich bei der Loslösung schon vorhandener Typisierungen häufig zu zeigen scheint. Wie Fleck (1935/1980) am Beispiel der Syphilis und ihrer Erforschung im 18. und 19. Jahrhundert zeigt, werden – in seiner Begrifflichkeit – „Denkstilumwandlungen“ 44 manifest. Im Falle der Syphilis vollzieht sich der Übergang von einer „Lustseuche“ zu einer über die Wassermann-Reaktion nachgewiesenen Krankheitsentität nicht abrupt, alte Vorstellungen zeigen zunächst eine Beharrungstendenz und Fossilierung der Tradition. Für den Beginn des 19. Jahrhunderts führt er aus: So entstanden und entwickelten sich nebeneinander, miteinander und gegeneinander zwei Standpunkte: 1. die ethisch-mystische Krankheitseinheit „Lustseuche“; 2. die empirisch-therapeutische Krankheitseinheit. Keinen der Standpunkte hielt man konsequent ein, sie wurden, obwohl widersprechend, miteinander verquickt. Theoretische und praktische, aprioristische und rein empirische Elemen______________ 43
44
Die einzelnen „Ursachen“ sind z. T. schon früh nachzuweisen, der psychiatrische Diskurs muss entsprechende Ursachen erst selegieren: „Das Heimweh (nostalgia) ist ein solches Beispiel. Diese den Schweizern vor andern eigne Kranckheit bestehet darin, daß einer bei Gelegenheit einer ähnlichen Vorstellung, die er an einem Orte, wo er sich eine Zeitlang aufgehalten, gehabt, eine unbändige und brennende Begierde bekommt, denselben wieder zu sehen.“ (Bolten 1751, 44f.). Auch Autenrieth (1822) führt das Heimweh an, das sich auf zwei Arten äußern kann: das Heimweh der Europäer in den Tropen und das Heimweh der Gebirgsbewohner im Flachland (vgl. Hesselberg 1981, 41). „Denkstil ist nicht nur diese oder jene Färbung der Begriffe und diese oder jene Art sie zu verbinden. Es ist bestimmter Denkzwang und noch mehr: die Gesamtheit geistiger Bereitschaften, das Bereitsein für solches und nicht anderes Sehen und Handeln.“ (ebd., 85)
182 te durchdrangen einander, nicht nach den Regeln der Logik, sondern der Psychologie: Empirie wich vor der gemütsbetonten Apriorie stark zurück. (ebd., 9)
Neben den Ursachen und auslösenden Faktoren, die auch ein Konglomerat unterschiedlicher Traditionslinien hinweisen, werden auch Ursachen und/ oder auslösende Faktoren, die in der philosophischen Anthropologie und oder Kulturphilosophie erscheinen. Zudem erscheinen alle Gefühlszustände, die als Abweichungen von einem postulierten Normalzustand zu denken sind, als auslösende oder begünstigende Faktoren. Das Wissen und auch seine Versprachlichung gehen allerdings nicht über eine common-sense-Wahrnehmung hinaus. Es findet sich eine offene Reihe von Krankheiten, zu deren Begleiterscheinungen psychische Abweichungen gehören; hier erscheinen nicht psychiatriespezifische medizinische Deutungsmuster. Da darüber hinaus eine enge Verbindung zwischen Krankheit und fortschreitendem Wahnsinn (nur bei der progressiven Paralyse, auf die Bayle 1822 – allerdings kaum wahrgenommen – aufmerksam macht) zu diesem Zeitpunkt nicht bekannt ist, kann über das Modell der das Körperliche bestimmenden Lebenskraft alles, was diese hemmt oder steigert und im Prinzip „jedermann“ zugänglich ist, für den Ausbruch einer psychischen Erkrankung angeführt werden. Die kulturelle Gebundenheit zeigt sich besonders bei der Darstellung weiblicher und männlicher Fälle. Um 1800 etabliert sich mit unterschiedlichen Spielarten die Theorie der Geschlechterdifferenz, so beispielsweise durch die Ausführungen Rousseaus in seinem Erziehungstraktat Emile oder Über die Erziehung, in dem ein grundsätzlich anderer Geschlechtscharakter und eine andere geschlechtliche Wirksphäre angenommen wird (vgl. z. B. Steinbrügge 1987, Hauser 1987, Frevert 1988). Die Annahme der Geschlechterdifferenz und dadurch die geschlechtsspezifische Differenz für bestimmte psychische Erkrankungen ist ein früher, unverbrüchlicher Baustein des psychiatrischen Diskurses: Bei dem Mann ist der Geist, beym Weibe das Gemüth vorwaltend; jener trägt die schwere Last der Erhaltung seiner Familie auf seinen Schultern, indes das Weib die Obsorge der häuslichen Ordnung zu ihrem Geschäftstrieb wählt. Beim Mann herrscht Aktivität, beym Weibe Passivität, jene wirkt nach Aussen, diese nach innen … (Elser, zit. n. Kaufmann 1995, 225). Das Weib ist erregbar, mehr psychisch beweglich und bewegbar als der Mann, und während bei letzterem mehr die Geistesseite vorherrscht, herrscht bei ersterem mehr das Gemüth, … (Friedreich 1834, 234). Durch einen Aphorismus wird die Richtigkeit dieser Behauptungen untermauert: … so lange ein Weib liebt, sagt Jean Paul, liebt es in einem fort, ein Mann hat dazwischen zu thun … (ebd., 235)
Gerade bei Frauen höherer Stände – dies ist ein internationaler und transtextueller Topos des frühen psychiatrischen Diskurses – soll ungesteuerte Lektüre von Romanen zu psychischen Depravationen führen, wobei die psychische
183 Krankheitsform variieren kann (zur Überblendung dieses Topos auch noch im späten 20. Jahrhundert, s. Kap. 6.1): 45 Früh findet sich der Topos schon bei Reil in seinem Essay Über das Gemeingefühl: Mit dieser Krankheit des männlichen Geschlechts kommt die Mutterwuth (Nymphomania) bei dem weiblichen Geschlechte überein: Diese finden wir am häufigsten bei Weibern, die ein hitziges Temperament haben, durch Romane oder durch Schmeicheleien des männlichen Geschlechts gereizt sind, bei Nonnen, jungen Wittwen, Frauen die kalte oder unfähige Männer haben, oder endlich in heißen Klimaten. Die Geburtstheile dieser Weiber leiden an einer widernatürlichen Hitze, an Entzündung und Jucken. (1799, 62); … mit Lesung matter, empfindsam geschriebener Romane, die den Geist erschlaffen, und ihren Empfindungen eine schiefe, idealische Richtung geben. … Wenn die edlen und reinen Gefühle verstimmt, verzärtelt und zu sehr versinnlicht worden sind, wenn der Ton einer gewissen Empfindeley der herrschende in der Menschenseele geworden ist, wenn dadurch die Einblindungskraft angezündet, und das Nervensystem geschwächt worden ist; so ist nichts natürlicher, …, daß der Wahnsinn sehr leicht und geschwind Wurzel fassen kann. (Magazin, Bd. 6, 225) 46, … doch halte ich das Romanelesen für Frauenzimmer für eine der gefährlichsten Klippen. Viele brave, mit schönen Geistesanlagen ausgeschmückte Frauenzimmer sah ich an dieser Klippe scheitern. … Sie fielen in traurige Mißmuth, Melancholie, und endlich in Wahnsinn und Raserei. Die schönste Blüte ihres jugendlichen Geistes war dahin. (Müller 1824a, 211f.). Rechnet man zu diesen Ursachen noch die Lebensweise des weiblichen Geschlechts in Frankreich, den Mißbrauch, den sie mit den Vergnügungskünsten treiben, ihren übertriebenen Hang zur Romanlectüre, zur Putzsucht, zu allem Eitlen und Unnützen …, dann überraschen die Unordnungen der öffentlichen Sitten und des Privatlebens eben so wenig, als die Menge der Nervenkrankheiten und vorzüglich Seelenstörungen … (Esquirol/Hille 1827, 53). Auch Ideler spricht ironisch über die Romanlektüre, die nur dazu diene, damit das mit gelehrtem Flitterkram herausgeputzte Püppchen samt einer eleganten Toilette in den fashionablen Salons sich zur Schau stelle, und aus den Schmeicheleien der Gecken einen betäubenden Weihrauch für seine Eitelkeit einsauge, … (1848, 279). Jacobi widmet eine Krankengeschichte einem entsprechenden Fall, bei dem intellektuelle Beschäftigung bei Mädchen von Kindesbeinen an gefördert wurde, mit negativen Folgen: Nicht in gleichem Maaße wie die Ausbildung ihres Geistes, schritt die ihres Körpers fort. Sie wuchs langsam, ihre Gestalt blieb untersetzt; ihr Aussehen ______________ 45
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Auch unverkennbar bei solchen Äußerungen: „Wir sehen dies am deutlichsten, wenn wir das Leben der französischen Frauen und jenes der englischen miteinander vergleichen. In Frankreich öffnet die Stellung, welche die Frauen in socialer Beziehung einnehmen, auch ihnen zugleich mit die Pforte zur Irrenanstalt.“ (Freidreich 1834, 242). Zur Bedeutung von Diderots Rameaus Neffe (um 1760) und den Bekenntnissen, jedoch auch pädagogischen Vorstellungen von Rousseau siehe auch Dörner (1975, 125ff.). In allgemeiner Form auch bei Haindorf: „Im geringern Grade ist sie auch solchen Individuen eigen, welche von einer Leidenschaft, als da sind: Wollust, Jagd, Spiel, Romanlectüre etc. ganz beherrscht werden, wodurch den Individuen alle Besinnungskraft gänzlich geraubt wird.“ (1811, 319)
184 verrieth etwas kränkliches, sensibeles, …In dieser Epoche ihres Lebens wohnte sie großen rauschenden Zerstreuungen und Vergnügungen, z. B. großen Bällen, mit Lust und lebhafter, ja wie es zuweilen schien, mit leidenschaftlicher Theilnahme bey, … Ihr Charakter zeichnete sich im Ganzen durch große Heftigkeit, große Reizbarkeit, und große Herzensgüte aus. (1830, 634ff.) 47
Gleichzeitig soll Lektüre generell dabei helfen, Vernunft und Besonnenheit wieder zu erlangen: Aber dies ist nur eine Ursache mehr, seine Leidenschaften nach dem Rathe der Weisen zu überwinden, und seine Seele durch die moralischen Maximen der alten Philosophen zu stärken; die Schriften eines Plato, Plutarch, Seneca, Tacitus, die Quaestiones Tusculanae des Cicero werden gebildeten Köpfen nützlicher seyn, … (Pinel/Wagner 1801, 38), Häufig sind sinnliche und moralische Auswüchse Ursache der Geisteszerrüttungen. … Liebe, Ehre, Habe, Religion, Gesundheit und persönliche Sicherheit treten in einem falschen Lichte hervor. Das Heer der Leidenschaften wird rege und die Vernunft geht durch ihre Stürme zu Grunde. Diesen Übeln soll man durch Kultur des Verstandes begegnen, … (Reil 1803, 280). Eine Nymphomanie, welcher ein wilder Hang zur Begattung die Gestalt einer partiellen Verrücktheit gab, heilte ich nach vergeblichen Bemühungen blos dadurch, daß ich das Mädchen allmählig einer romantischen Empfindsamkeit näherte … Ein durch vernachlässigte Erziehung verwildertes Gemüth gelangt ja oft nur auf Umwegen zu einer moralischen Stimmung … (Hayner 1822, ZfpÄ, 100; Hervorhebung v. d. Verf. – B-M. Sch.)
Zu den immer wiederholten Topoi 48 der frühen Auseinandersetzungen mit psychischen Krankheiten gehört auch, dass die sitzende Lebensart der Gelehrten, ein lange tradierter referentieller Phraseologismus, eine starke Affinität zur Hypochondrie aufweise. 49 Der Zusammenhang ist dabei immer der ______________ 47
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In diesem Sinne auch Kant: „Das Romanlesen hat außer manchen anderen Verstimmungen des Gemüts auch dieses zur Folge, daß es die Zerstreuung habituell macht … so erlaubt es doch zugleich dem Gemüt, während dem Lesen Abschweifungen (nämlich noch andere Begegebenheiten als Erdichtungen) mit einzuschieben, und der Gedankengang wird fragmentarisch, so daß man die Vorstellungen eines und desselben Objekts zerstreut (sparsim), nicht verbunden (conjunctim) nach Verstandeseinheit im Gemüte spielen läßt.“ (Kant 1798/2000, 113) Zu den immer wiederholten Topoi gehört auch, daß die Engländer schneller als andere an Seelenstörungen litten: „In England, wo man alle Ab= und Ausschweifungen der Civilisation vereint sieht, sind Seelenstörungen häufiger als in andern Ländern. … So entartet alles unter den Händen der Menschen! sagt Rousseau.“ (Esquirol/Hille 1827, 50) „Neben der ‚Vollblütigkeit‘ und dem ‚Temperament‘, die uns als somatologische Überlieferungen schon von Pinel bekannt sind, treten die psychologischen Phantasien vom Wahnsinn, der durch ‚Überstudieren‘, Lesen religiöser Texte, zu angestrengte Arbeit etc. entstehen soll … Die beginnende naturwissenschaftliche Entwicklung läßt diese Lehren unberührt. Weiterhin dominieren spekulative, phantastische Somatologien und Psychologien.“ (Herzog 1984, 59)
185 folgende: Die sitzende Lebensart schwäche die Lebenskraft, mit beträchtlichen Auswirkungen für die Organisation des Organismus: Außerdem hatte er durch seine sitzende Lebensart und durch die anhaltenden und nachdrücklichen Anstrengungen seines Geistes beim Studiren, seinem Nervensystem eine Schwäche und widernatürlicher Beweglichkeit zugezogen, … (Reil 1807, 4); Unstreitig hatte Spinello, der den Teufel in einer gräßlichen Gestalt gemahlt hatte, und darüber in Wahnsinn verfiel, über diesem Bilde seine Einbildungskraft nicht wenig angestrengt, und gewiß nicht, weil der Gegenstand selbst ihn ergetzte. Entspringt aus einer solchen Anstrengung der Einbildungskraft ein Wahnsinn … (Hoffbauer 1802, Bd. III, 142); Das beständige krumme Sitzen, oft scharfes Nachdenken, und weitläufiges Überrechnen bei schweren und künstlichen Mustern, veranlaßt fast alle Leute, welche auf dem sogenannten Stuhl arbeiten, zur Hypochondrie … (Dohm 1783, Magazin Bd. 1,2, 11); Zu den ursächlichen Momente kommt noch, daß Schork eine sitzende Lebensart führte, … (Amelung 1824, ZfAnthro, 351); Eine sitzende Lebensart, wie sie die Reichen im Schooße ihrer Familie bei einem gewissen Müßiggange, oder die Armen in ihren Wohnungen bei der Ausübung ihrer Gewere führten, fand am gewöhnlichsten bei den von Seelenstörungen ergriffenen Individuen Statt. (Esquirol/Hille 1827, 46). … in Folge seiner sitzenden Lebensweise, an Stuhlverhaltung, während sich allmählig eine hypochondriasis auszubilden begann … (Jacobi 1830, 597)
Später verdichtet sich dieser Topos zur common-sense-Anschauung, auf den nur angespielt wird: „Der Gelehrte, der Dichter, der Künstler, sie fallen viel eher dem Wahnsinne anheim, als der alltägliche Philisterkopf, der nicht über die Schwelle der Haustür hinausdenken kann.“ (Friedreich 1834, 247). Wie weit verbreitet diese Theorie zur Entstehung der Hypochondrie/Melancholie gewesen sein muss, davon zeugt ein Wörterbuchartikel von Adelung (Bd. 2, 1345): … eine der beschwerlichsten Krankheiten, welche ihren Sitz vornehmlich in dem Unterleibe hat, von einer reitzenden auf die Nerven wirkenden Schärfe herrühret, Personen, welche viel sitzen am meisten und heftigsten anfällt, und oft in Schwermuth oder Melancholie ausartet; Malum hypochondriacum, Hypochondriasis, die Milzsucht, im Scherze die gelehrte Krankheit. … Oft ist es ein bloßes Modewort, manche Unarten des Herzens und der Erziehung zu bemänteln.
Ähnlich noch Zeller 1838: Ungleich seltener sehen wir den umgekehrten Fall, daß zuerst das erkennende Leben erkrankt; aber auch dabei wird man bei genauerer Nachforschung fast immer finden, daß mächtige Leidenschaften und Affekte mitgewirkt haben, besonders Ehrgeiz, der vielfachen Diätfehler nicht zu gedenken, die große und anhaltende Geistesanstrengungen zu begleiten pflegen. (ebd., 553)
Schon an diesen Topoi – schädlicher Einfluss von Romanlektüre und „sitzender Lebensart“ – wird deutlich, dass sich die Psychiater bei der Beurteilung von Kranken und ihren Handlungen zumeist nicht zurückhalten: Die Be-
186 schreibungen lösen den Anspruch nüchternster Naturbeobachtung nur bedingt ein. Während der fleißige Gelehrte meist mit Sympathie rechnen darf, ist dies bei der geistig interessierten Frau eigentlich nie der Fall. Die gemeinsame Klammer, die psychische mit physischen Ursachen verbindet und das toposhafte Wiederkehren bestimmter Ursachen erklärt, ist die folgende: Die Übergangsformen zwischen krank und gesund sind auf unterschiedliche Formen der Depravation bezogen, die für jedes Lebensstadium des Menschen ein Normalmaß festlegen. Zu Grunde liegt ein übergreifendes, letztlich naturphilosophisches Denkmodell, das den Idealzustand als ein harmonisches Zusammenspiel zwischen den Menschen (oder spezifischer: das Geschlecht) charakterisierender Fähigkeiten und Kräfte darstellt. Krankheit erscheint in dem Moment, in dem die Lebenskraft eine Überbeanspruchung, eine Schwächung oder gar eine Lähmung erfährt und somit das physische Organisationssystem beeinträchtigt. Dabei ist Krankheit immer dann gegeben, wenn der Organismus nicht fähig ist, auf entsprechende Reize zu reagieren, so dass entweder eine Reizüberflutung oder gegenteilig Reizverarmung entsteht. Die Ursachenlehre, die hinter diesen Vorstellungen steckt, wird von Reil in seinem Traktat Über das Gemeingefühl (1799/1817) thematisiert: „Die meisten und stärksten Erscheinungen bringt das Gemeingefühl in kranken Theilen des Körpers hervor, in welchen es nämlich sehr erhöhet ist. … Verhältnismäßig mit seiner Erhöhung werden die Nerven in stärkere Thätigkeit gesetzt, bringen stärkere Gefühle hervor, und diese stärkern Gefühle afficiren die Seele auf eine unangenehme Art.“ (ebd. 47). Durch den theoretischen Entwurf erklären sich die in den frühen Krankengeschichten ins Auge fallenden Lexeme, mit denen Abweichungen vom Normalmaß versprachlicht werden. Zu diesen gehören auf der einen Seite solche Lexeme wie Überspannung (s. Kap. 3.3.2.1), auf der anderen Seite solche Verbindungen wie geschwächte Lebenskraft. Die frühen Krankengeschichten prägen die folgenden Lexeme: matt/abgemattet/Ermattung; entkräftet/Entkräftigung; geschwächt/Schwäche des Bewusstseins/schwach/Schwachheit/Verstandesschwäche; Aberration, Mangel an Kraft/Imbecillität/Erschöpfung der Kräfte; gesunkene/sinkende Kräfte/Sinken der Kräft; erlahmen und gelähmt, eher seltener ggü. überspannt ist gesteigert vorhanden (z. B.“gesteigertes Selbstgefühl“ – Ideler 1841, 126). Zum Teil ist auch nur davon die Rede, dass die entsprechenden Kräfte verändert werden können, wobei allerdings nie das gemeinsprachliche verändert, sondern entweder alteriert oder das auf den französischen Diskurs hindeutende alieniert verwendet werden, bspw. schon bei Reil: „Wenn die alienirten Kräfte des Gehirns im Wahnsinn rectificirt werden sollen; …“ (Reil 1803, 49). Bei der Qualifizierung der Lebenskraft und entsprechender Zustände ergänzen sich Orientierungsmetaphern (nach Lakoff/Johnson 1980, 14: oben ist gut, unten ist schlecht) und, wie im Folgenden zu sehen sein wird, die Vor-
187 stellung von Kraft als etwas, was verbraucht und nicht zurückerobert werden kann – Kraft und Energie sind nur bis zu einem gewissen Maße zu reproduzieren: Der Grund dieser Erscheinungen liegt in der Consumtion des individuellen Lebensquantum … (Haindorf 1811, 236; ähnlich auch Hufeland 1790: „Selbstkonsumption des Menschen“ – nach Radkau 1998, 36); welches ihren Kräfte=Vorrath bedeutend verminderte (Schneider 1820, ZfpÄ, 379). seine physischen und moralischen Kräfte absorbirt sind … (Esquirol/Hille 1827, 48)
In diesen Zusammenhang gehört auch die Paralyse von Seelenorganen, die man schon zu Beginn des Jahrhunderts mit Blödsinn in Verbindung bringt und aus der sich dann die progressive Paralyse entwickeln wird. Die Lebenskraft und parallel die Lebensenergie sind, bevor gehirnanatomische und neurologische Forschungen die Psychiater eines Besseren belehren werden, die Kernbegriffe, die leibliche und seelische Verrichtungen integrieren. Vor der naturwissenschaftlichen Wende in der Psychiatrie sind die Erklärungen für ihr Zusammenwirken vermutet und bedingen probabilistische Erklärungen. Gerade dieser Kernbegriff wird es denn auch sein, an dem sich die zweite, z. T. direkt in den neuen Heilanstalten ausgebildete Gruppe von Psychiatern stoßen wird: Ihr ist daher die psychische Kraft (da wir doch einmal von Kraft zu reden gewohnt sind, wo wir die Processe und Veränderungen der Materie nicht verfolgen können) gleichbedeutend mit derjenigen Modification der organischen oder Lebenskraft, welche wir die empfindende Nervenkraft nennen. (Flemming 1838, 124)
Während die sprachliche Kodierung der psychischen Ursachen ohne einen vorgängigen kulturphilosophischen Diskurs nicht zu denken und, wo sie keine kulturphilosophische Notation verrät, sich vielleicht einfach auf den common-sense bezieht (im Sinne von Feilke 1994, 24 als sympathisch vermittelte „Zeichen für schematisierte Gebrauchszusammenhänge“), speist sich die Darstellung der körperlichen Ursachen auf medizinische Erfahrungswerte, erfährt indes noch keine psychiatrische Einpassung. Denn die Psychiater der ersten Generation scheuen sich nicht, auf Allgemeinplätze zurückzugreifen, um ihre Darstellung abzusichern: Gleichwohl wird man bei genauerer Erwägung finden, daß ein noch so ruhiges, durch Temperament und Umstände in dieser Ruhe eine lange Reihe von Jahren hindurch gehaltenes Seelenleben, – und das Leben des Menschen ist ja doch nur ein fortlaufendes Seelenleben –, … (Heinroth 1818b, 239)
Die medizinischen Traditionen, auf denen die Behandlung der psychisch Kranken basiert, sind v.a. humoralpathologisch und orientieren sich an der seit der Antike überlieferten Säftelehre, was sich auch an solchen sprachlichen Formulierungen zeigt wie: „und verloren sich am Ende unmerklich
188 zugleich mit den hervorstechendsten Zeichen scorbutischer Säfteverderbniß, …“ (Heinroth 1818b, 219). Der medizinische Professionalisierungsschub, der im 19. Jahrhundert das medizinische Wissen fundamental umgestaltet, lässt sich in den Veröffentlichungen nicht erkennen. Ergänzt wird die Säftelehre durch neurologisch-physiologische Erklärungen. Das zu Grunde liegende Denkmodell, wie die folgenden Ausführungen deutlich machen, ist mechanistisch und konstruiert interessante Kausalitäten, die sich noch nicht von Reils Annahmen („Arzneien können den Andrang des Bluts zum Kopf, Verstopfungen des Unterleibes, Würmer im Darmkanal, Reize im Sonnengeflecht und in den Geschlechtstheilen und andere Dinge, die den Wahnsinn erregen, fortschaffen“ – Reil 1803, 44f.) abgrenzen lassen. Die angenommenen physischen und psychischen Ursachen, die auf einer Adaption und Zusammenführung diskursfähiger Bearbeitungstraditionen basieren und deren gemeinsame Klammer das Wirken einer Lebenskraft ist, geben den Schlussprozeduren und argumentativen Handlungen, insofern vorhanden, eine charakteristische Struktur, die hier an drei typisierten Beispielen dargestellt werden soll:
Sanguiniker
Gelehrter
Lesende Frau
Störungen des Blutkreislaufes, auslösende Faktoren (meist Ausschweifungen)
Sitzende Lebensart, Verdauungsstörungen
Vernachlässigung der weiblichen Natur, auslösende Faktoren (z. B. Lebenswandel)
Gesteigerter Verbrauch der Lebenskraft o ihre Schwächung
Erschlaffen der Lebenskraft
Reizung und erhöhter Verbrauch der Lebenskraft o Schwächung
Wahnsinn/Manie
Hypochondrie/Melancholie
Hysterie/Wahnsinn
Im Gegensatz allerdings zu den ersten Monographien wird der soziale Typ nicht nur als solcher, also entindividualisiert präsentiert, sondern bildet einen jeweils immer wieder herzustellenden Orientierungsrahmen, innerhalb dessen die einzelne Krankheitsbiographie verortet wird. Der soziale Typ enthält sowohl den Verweis auf Eigenschaften als auch Prädispositionen zu bestimmten Erkrankungen, die sich zumeist in der gesteigerten oder ge-
189 schwächten Lebenskraft äußern. Die durch soziale Typen hergestellte Textur und die Annahme eines Kräftehaushalts geben der narrativen Darstellungsform eine implizite Schlussstruktur, wobei die entsprechenden Hintergrundannahmen größtenteils ebenso wenig vertextet wie durch argumentative Kon-, Subjunktionen oder Pronominaladverbien indiziert werden. Obgleich die Vorstellung eines prästabilen Gleichgewichts sicherlich nicht als Expertenwissen der frühen Psychiater zu deuten ist, ist die Anlage temporale Verlaufsform und gleichzeitige implizite Schlussstruktur m. E. selbst schon ein Professionalisierungshinweis, insofern sie sich deutlich von dem eher anekdotischen Verfahren emanzipiert und diverse intertextuelle Beziehungen zu angrenzenden Diskursen aufbaut, hier noch einmal ein typisches Beispiel: Achtzehn Monate vor ihrer Aufnahme in das Institut erlitt sie aber einen heftigen Schreck und große Kränkung, indem der Vater ihre nunmehr verstorbene Mutter mißhandelte, wodurch die zu jener Zeit gerade eingetretene monatliche Periode sogleich zu fließen aufhörte und über drei Vierteljahre ausblieb, welches natürlich eine wichtige Störung in ihrem Organismus hervorbrachte. Seit jener Zeit litt sie an mancherlei Beschwerden des afficirten Blutumlaufs; es traten häufige Kongestionen nach dem Kopfe ein; sie fieng nach und nach an, eine veränderte Thätigkeit in den Geistesfunctionen blicken zu lassen, wurde ungestüm, jähzornig, unverträglich, kurz ihr Charakter und Benehmen wichen von dem vorigen völlig ab. (Pienitz 1818b, ZfpÄ, 391) SCHRECK o BEEINTRÄCHTIGTE MENSTRUATION o KONGESTIONEN o MANIE. Die Annahme einer entsprechenden Schrittabfolge führt dann zur entsprechenden Behandlung. Hier wird eine Abfolge von Ereignissen thematisiert, Zusammenhänge werden lediglich nahe gelegt, allerdings nicht verbalisiert: Es handelt sich lediglich um eine Versprachlichung von Wahrnehmungsurteilen.
Dass ein Zusammenhang zwischen körperlicher Erkrankung (Herz-Kreislauferkrankungen, Nervenkrankheiten, Verdauungsstörungen, Leiden des Sexualapparates etc.) und psychischen Störungen besteht, wird von den Psychiatern vermutet, ohne dass der genaue Zusammenhang transparent wird. Dieser kann – und auch dann nur hypothetisch und probabilistisch – aus schon erfolgten und erfolgreichen Behandlungen geschlossen werden. Das Schließen von Ursachen auf ihre Behandlung bzw. eigentlich: von der Behandlungspraxis auf die möglichen Ursachen ist ebenfalls ein Professionalisierungshinweis, der in den Krankengeschichten in unterschiedlichen Formen erscheint. Eine besondere Rolle möchte ich hier dem abduktiven Schließen einräumen, das Peirce (1908) als erste Stufe des Forschens identifiziert. Die Struktur dieses Schließens – unterschieden von Deduktion und Induktion – macht Peirce an einem Beispiel aus der Medizin deutlich: Ein bestimmter Mann hatte die asiatische Cholera. Er war im Kollapszustand, bleifarben, ganz kalt und ohne wahrnehmbaren Puls. Er wurde reichlich zur Ader gelassen. Während dieses Verfahrens erholte er sich von seinem Kollaps, und am
190 nächsten Morgen war er wieder wohlauf. Also trägt der Aderlaß dazu bei, die Cholera zu heilen. (ebd., 470)
Beim abduktiven Schließen wird vom Ergebnis (die Gesundung des Patienten) auf die Voraussetzung (Aderlass hilft gegen Cholera) geschlossen. Gleichzeitig ist für die sozusagen „verkehrte Schlussrichtung“ des abduktiven Schließens charakteristisch, dass sie auf einer Hypothese fußt, die verifikationsbedürftig ist und die spätere Forschungsrichtung, das „Richtungsempfinden“ nach Gurwitsch vorgibt. 50 Abduktive Schlüsse und die ihnen inhärente Hypothesenbildung ermöglichen erst in einem zweiten Schritt Deduktionen, die mit nachgängigen Typisierungen verbunden sind. In der zweiten Phase wird die Hypothese erprobt, wobei zu untersuchen ist, „welche Auswirkungen diese Hypothese, falls sie unterstellt wird, auf die Modifizierung unserer Erwartungen hat, die sich auf die künftige Erfahrung beziehen.“ (Peirce 1908, 471f.). Als dritte Stufe ist dann die Induktion, die mit der Bildung von Typen verbunden ist und die nach Peirce sichern soll, „inwiefern die Konsequenzen, die sich aus der deduktiven Applikation der Hypothese ergeben, mit der Erfahrung übereinstimmen.“ (ebd., 472). Für Peirce ist die abduktive Struktur des Vagen eine potente Kraft des Forschens. Das abduktive Schließen stimmt zudem mit dem Grundcharakter der Psychiatrie als Erfahrungswissenschaft überein, für die bis heute trotz ihrer naturwissenschaftlichen Orientierung (zumindest im Rahmen der universitären Psychiatrie) gilt: „Bei psychischen Krankheiten ist die verborgene Struktur (die Pathogenese) des Krankheitsstereotyps mit wenigen Ausnahmen noch nicht bekannt, das Stereotyp ist also nur durch oberflächliche Merkmale gekennzeichnet.“ (Feer 1987, 26). In fast jeder Krankengeschichte, sofern die Behandlungen vertextet werden, findet man den Rekurs auf die durch abduktive Schlüsse erreichte Hypothesenbildung (nach Peirce also v.a. die zweite Stufe), vgl. exemplarisch: Die Indikation und die Indicata lagen daher nicht so auf platter Hand. Doch bestimmte mich sein jugendliches Alter, sein lebhaftes Temperament, seine Lebenskraft, sein vollblütiges Aussehen, selbst die lebhafte Aeusserung seiner Geisteskrankheit, seine Thätigkeit durch kühlende Arzneien und vegetabilische wässrige Diät herabzusetzen. Ich ordnete ihm daher Salpeter in einer Mixtur: ließ ihm zur ______________ 50
In ähnlicher Weise wie Peirce unterscheidet Pareto vom deduktiven Schließen die so genannte „Logik der Sentimente“: „In der gewöhnlichen Logik folgt die Konklusion aus den Prämissen. In der Logik der Sentimente folgen die Prämissen aus der Konklusion.“ (Pareto, zit. n. Grathoff 1996, 275). Oder: „Mit anderen Worten, eine Person, die einen Syllogismus vollzieht, ebenso wie eine Person, die diesem zustimmt, ist von vornherein überzeugt, daß einem Attribut A das Attribut B zukommt, und sie wünscht somit nur, ihrer Überzeugung einen logischen Anschein zu geben.“ (Pareto, zit. n. Grathoff 1995, 276)
191 Nahrung nur Suppen und Gemüß, zum Trunke Wasser geben. Als durch mehrere Tage lang fortgesetzten Gebrauch dieser kühlenden Mixturen nichts erweckt, er vielmehr aufbrausender wurde, die ganze französische Armee in Staub verwandelte, suchte ich, durch Erregung eines beständigen Reitzes im Magen und anhaltenden Eckels, ihn durch das unangenehme Gefühl in seinem Inneren auf ihn selbst aufmerksam zu machen, ihn von seiner Phantasie abzuleiten, und ließ ihm am 24ten Junius vier Gran Brechweinstein in sechs Unzen destillirtem Wasser aufgelöst mit einer Unze Oxym. Squillit., alle Stunde einen Löffel voll nehmen. (Müller 1824a, 100) MANISCHES VERHALTEN wird erfolglos auf VOLLBLÜTIGKEIT u.ä. überprüft (VOLLBLÜTIGKEIT o MANISCHEM VERHALTEN o BEHANDLUNG DURCH ARZNEIEN UND DIÄT); alternative Strategie ist die Ekelkur, wobei angenommen wird: ERZEUGUNG VON EKEL o ABLENKUNG UND BERUHIGUNG o AUFHÖREN DER MANIE. Müller rekurriert offensichtlich auf schon durch abduktives Schließen ermittelte Hypothesen und den daraus resultierenden Erwartungshorizont, zu dem zum einen gehört, dass Diät ein aufbrausendes Temperament mäßige, zum anderen, dass Ekel vom Selbst ablenke. Müllers Schreiben geht damit über Warnehmungsurteile hinaus: Er versucht Erfahrung und schon erreichte Typisierung in Einklang zu bringen.
Die explizite Verbalisierung abduktiver Schlüsse, die zur Lösung des Falles beitragen, indem bspw. der behandelnde Arzt unterschiedliche Medikamente mit unterschiedlichem Erfolg erprobt, und der Rekurs auf schon erprobte Behandlungsmethoden, die schon auf einem typisierten Zusammenhang bestimmter Sachverhalte beruhen und auf einer (vermeintlich) erreichten Verifizierung von Hypothesen beruhen, bestimmen die Darstellung der Komplikation und der nachgängigen Resolution innerhalb der narrativen Darstellungsform. Was zumeist fehlt, sind die Begründungen für die angenommenen Schlüsse, also im Toulminschen Sinne die Stützen, bzw. diese resultieren ausschließlich aus der Erfahrung. Obwohl körperliches Substrat der psychischen Erkrankungen vage ist, finden sich in Krankengeschichten und theoretischen Abhandlungen Formulierungen wie „zunächst die Hebung des inflammatorisch-gereizten Zustandes im Cerebralsystem“ (Jacobi 1830, 604). 51 Da diese Formulierungen nicht auf medizinischen Erkenntnissen basieren, stellt sich die Frage nach ihrer ______________ 51
Dies gilt nicht nur für die Anfangsphase, sondern überhaupt für die Annahme psychogener Kausalität: „Wie soll die Herabsetzung des Selbstwertgefühls zu Depression oder alternativ zu aggressiver Querulation (Kohlhaas-Syndrom) führen? Oder wie verursacht körperlicher oder psychischer Schmerz masochistische Erregung? Im somatischen Bereich geht die Notwendigkeit, die Ursache und Wirkung verbindet, schlußendlich auf allgemeine Eigenschaften und die Struktur der Materie zurück. Im psychischen Bereich gerade nicht. Doch sind auch die psychische Ursache und die psychische Wirkung miteinander verknüpft, wobei allerdings der gesetzmäßige Zusammenhang möglicherweise nur statistisch ist, also nur bei einer größeren Zahl von Beobachtungen sichtbar wird.“ (Feer 1987, 46)
192 Beurteilung. Mit vielen Formulierungen wird Körperlichkeit angedeutet, ohne dass eine körperliche Bestimmbarkeit oder Merkmalhaftigkeit gegeben wäre – dies trifft im Kern für das gesamte nervenphysiologische System der Frühphase und die entsprechenden Metaphern zu (vgl. Kap. 4.3.2). Dabei bleiben v. a. zwei sehr häufig angeführte Vorstellungen von zentraler Bedeutung: die Vorstellung einer krankhaften Schwächung bestimmter Organe oder gar Systeme und die Metamorphose von Anlagen in manifeste Krankheitsursachen, vgl.: Gewiß ist aber nach unzähligen Erfahrungen, daß vor allem Affecte und Leidenschaften bei der Metamorphose der Krankheiten in psychischen Störungen in acht Zehntheilen aller Fälle die Hauptrolle spielen und besonders heftige Gemütsbewegungen recht schmerzhafter Art, bei einer besonderen oder erworbenen Disposition aus vorhandenen oder disponiblen latenten Krankheiten, Seelenstörungen hervorrufen, indem sie aus einem lokalen oder partiellen Leiden irgend eines Organs oder Systems ein Central- oder Capitalleiden des Nervensystems machen. Höchstbedeutend sind hiebei besonders frühere Nervenleiden von geringerer oder größerer Ausbreitung, Gehirnerschütterungen, krampfhafte Übel, Nervenfieber … (Zeller 1838, 540) … (weil der) Hämmorhodialfluss … sei es durch irgend einen unvorhergesehenen Zufall oder selbst durch eine große Unvorsichtigkeit plötzlich unterdrückt wird, (entwickelt) sich hieraus, unter Mitwirkung vorhandener Anlagen oder anderer ungünstiger Umstände, eine Seelenstörung … (Jacobi 1830, 32) Was nun das Ursächliche der sich in diesem Falle darbietenden wichtigeren krankhaften Erscheinungen betrifft, so schien dieses, wie in so vielen Fällen von Irreseyn, in einer, theils durch unmittelbare schädliche Einwirkungen herbeygeführten Schwächung des Hirn- und Nervensystems (hier durch Selbstbefleckung, Trauer, Mißmuth, Furcht), verbunden mit gleichzeitig krankhaft erhöhter Reizbarkeit des Gefäßsystems zu beruhen … (Jacobi 1830, 210)
Es sind, wie man vielleicht sagen könnte, eher medizinische „Anmutungen“, die die Psychiatrie als Teilbereich der Medizin konnotieren, einen „Assoziationshof“ bereitstellen, ohne eine klare Denotation besitzen (zu können). Da sie Verständigung ermöglichen, rekurrent verwendet und Professionalität konnotieren, sind sie nicht leer (keine leeren Signifikanten im Sinne von Laclau 2002, 65–78), sondern für das psychiatrische Schreiben der Anfangszeit funktional. Es werden Bilder aus dem Körperinneren hergestellt, ohne dass diese Bilder eine Geltung außerhalb der selbst hervorgebrachten Bildlichkeit haben. In der Sprachwissenschaft existiert m. W. kein intersubjektiv geteilter Begriff, sondern nur eine Vielzahl konkurrierender und auf Metaphern basierender Begriffe (z. B. „Plastikwort“), um Lexeme zu klassifizieren, die Verständigung gewährleisten und tendenziell merkmalarm sind, wobei es sicherlich auch von der sprachtheoretischen Positionierung abhängig ist, ob eine einheitliche Begriffsbildung überhaupt sinnvoll und mög-
193 lich ist, da die Vagheit entsprechender Lexeme unterschiedlich begründet sein kann – z. B. je nachdem, ob es sich bspw. um politisches oder wissenschaftliches Sprechen handelt. Für das, was ich hier meine, bietet sich indes die folgende, selbstverständlich metaphorische Beschreibung von Knobloch (1987, 59f.) an, der von evokativen Termini spricht, „die das äußere Gewand von Wissenschaftlichkeit tragen, ohne doch für eine definite Begriffsbildung zu stehen.“ Und weiter: Darunter verstehe ich die Eigenschaft stark besetzter und evokativer Ausdrücke, Befindlichkeiten der Kommunikationsteilnehmer anzulagern und aufzusaugen, die unter der regulären Versprachlichungswelle als begrifflich nicht verarbeitete Erfahrung mitlaufen. … Solche kristallisationsfähigen Ausdrücke sind Scheinvergesellschaftungen. Sie geben heterogenen und unbegrifflichen Erfahrungen und Motiven eine vermeintlich kommunikationsfähige Form. (ebd., 63; Hervorhebung 52 v. d. Verf. – B-M. Sch.)
Aus der Annahme von Ursachen, der entsprechenden Vertextung oder auch nur hintergründigen Präsupponierung erwachsen entsprechende Behandlungen (vgl. Kap. 2.1.2). Die psychische Kurmethode setzt dabei auf vernünftig geführte, pädagogisch motivierte Gespräche, die dem Kranken Sinn oder Unsinn seines Tuns vor Augen führen sollen. Interessanterweise werden in den Krankengeschichten einzelne Gesprächssequenzen (v. a. Monologe) protokolliert und geben einen Einblick in das therapeutische Vorgehen, wobei die Parallelen zur heutigen Gesprächstherapie auf der einen, zu psychosomatischen Diagnosen auf der anderen Seite deutlich werden: Sein Gang ist ungewiß; seine Bewegungen ähneln in sehr vieler Rücksicht jenen des St. Veitstanzes; in allen seinen Handlungen liegt zwecklose Hastigkeit ohne Ausdauer; seine Reden sind undeutlich, verwirrt und ohne gehörigen Zusammenhang. Er sagt: er wisse nicht, was er rede, er könne sich des Vergangenen nicht erinnern, ja er wisse sogar nicht mehr, was er eben gesprochen habe; er fürchte sich stets, ohne eine Ursache davon angeben zu können … (Schneider 1820, ZfpÄ, 367f.; Hervorhebung v. d. Verf. – B-M. Sch.) ______________ 52
Pörksen arbeitet am Beispiel des im 18. Jh. populären Phlogiston (eine Art brennbaren Grundstoffes) die Arbitarität wissenschaftlicher Bezeichnungen heraus, die mit den evokativen Termini eine Verwandtschaft aufweisen: „Weil das sprachliche Zeichen jedoch fast unabhängig von der Wirklichkeit, auf die es sich bezieht, dazu gebraucht werden kann, sich mit seiner Hilfe zu verständigen – verschweißt es doch eine bestimmte Vorstellung mit einem fasslichen Laut und versieht als diese Verbindung eine gesellschaftliche Funktion – weil dies seine Natur ist, kann es auch in Gebrauch sein, wenn ihm in der Wirklichkeit gar nichts entspricht. Es kann eine imaginäre Zwischenwelt aufbauen, kann sie auch dann noch fortbestehen lassen, wenn ihr Erfahrungen direkt widersprechen. Fragt sich allerdings, wie lange.“ (1994, 88)
194 Es gilt also festzuhalten: Wir finden bei den Krankengeschichten eine elaborierte Narrativität, in die deskriptive Passagen eingelagert werden, die jedoch thematisch auf das Handeln des Arztes zentriert sind. Dadurch dass eine „Du“-Einstellung (z. B. aus den oben skizzierten Dialogen deutlich) dominiert, wird Krankheit oftmals als eine Verletzung bürgerlicher Integrität gesehen. Allerdings kann die sprachlich wahrzunehmende Nähe auch zu starken Evaluationen und Beurteilungen des Kranken führen. Der individualisierenden Tendenz steht in gewisser Weise die Bedeutung sozialer Typen entgegen, die sich aus der Adaption von Traditionsbeständen ergibt und die selbst schon Hinweise auf die Ursachen geben. Das Spektrum der angenommenen Ursachen selbst koppelt die Wahrnehmung des Kranken und mögliche Behandlungen aneinander, wobei in den Texten oft auf abduktiven Schlüssen basierende Hypothesen versprachlicht werden – zum Teil bleiben die Schlüsse jedoch spekulativ. Körperliche Vorgänge werden in Form von evokativer Begriffe, die die Texte als medizinisch ausweisen, angedeutet.
4.3.2
Wortschatzressourcen und der Aufbau sprachlicher Demarkationslinien
Hinter die Krankengeschichte gibt es kein Zurück mehr: Sie erreicht einen Grad intersubjektiver Verbindlichkeit, der Anschlusshandlungen und auch eine Weiterbearbeitung ermöglicht. Wie die Untersuchung der Krankengeschichte vielleicht schon hat deutlich machen können, erhält sie eine spezifische Formung, die über die bloße Adaption oder Reproduktion schon bestehender Krankengeschichten hinausweist. Im Bereich des Wortschatzes zeigen sich ähnliche Prozesse: Sie führen von Lexemen/Mehrwort-Lexemen bis hin zu idiomatischen Prägungen, die sie von schon etablierten Fächern abgrenzen – das fasse ich hier unter dem Begriff „lexikalischen Demarkationslinien“ – und die sich, obgleich sie in den seltensten Fällen psychiatrieimmanent definiert werden, in der Folgezeit weiter zu bearbeiteten lassen. Zu diesen Prozessen gehören neben Tilgungen (z. B. Wut oder Besessenheit), pragmatischen Regularisierungen von Bezeichnungsalternativen (der Aufstieg von psychisch ggü. seelisch) und damit auch funktionalisierbare registerdifferenten Dubletten sowie Prozesse der „kohärenten Verformung“ (Adaption, Anverwandlung und Verfremdung der schon skizzierten Wortschatzressourcen) (vgl. Kap. 4.3.2.1–4.3.2.7). Im Kern bedeutet das die Abstandnahme von religiösen Kontexten und von der allmählichen, bis zur Jahrhundertwende durchgeführten Emanzipation von unterschiedlichen philosophischen Teildisziplinen. In ihrem Gesamt bedingen sie damit eine unverwechselbare Textur.
195 4.3.2.1 Die Adaption und Verfremdung des physiologischen Wortschatzes Die frühen Krankengeschichten sind ein Indikator dafür, welche medizinischen Theorien auf besondere Resonanz stoßen. Im vorherigen Kapitel wurde schon dargestellt, dass die Krankengeschichten mit einem Menschenbild operieren, nach dem jeder Mensch über ein bestimmtes Quantum an Lebenskraft verfügt. Dieser Grundgedanke verweist auf die medizinische Teildisziplin „Physiologie“. Zu den physiologischen Traditionsbeständen gehört die Erregungstheorie von J. Brown, die sich um die Begriffe „Sthenie“ und „Asthenie“ gruppiert. Der in der ersten Phase sehr populäre Brownianismus verschwindet nach den Angaben von Radkau (1998, 49) spätestens ab der Jahrhundertmitte von der Bildfläche, die beiden genannten Begriffe gehören aber, wie die spätere Begriffsbildung „Neurasthenie“ 53 zeigt, zum lexikalischen „Spielmaterial“ der Psychiatrie, die einmal eingeführte Termini bricolagehaft und zyklisch organisiert wieder verwendet. Das Begriffspaar wird schon von Reil verwendet und taucht in sehr vielen Krankengeschichten auf: Dieser Zustand ist transitorisch, wenn er von überhäuften Eindrücken und flüchtigen Asthenieen; oder habituell, wenn er von einer permanenten Schwäche des Verstandes und der gesammten Seelenkräfte herrührt. (Reil 1803, 109) Doch muß ich einer Differenz der Geisteszerrüttungen, nemlich ihrer sthenischen oder asthenischen Natur erwähnen, ohne mich darauf einzulassen, ob dieselbe wesentlich oder zufällig, specifische oder generische Differenz sey. (Reil 1803, 303), Vorzüglich differieren die Delirien nach dem sthenischen oder asthenischen Charakter der Krankheit. (Haindorf 1811, 288). … nämlich daß sie sthenischer oder asthenischer, oder endlich gar ganz abnorm ausgearteter Natur seyn können (Grohmann 1819, ZfpÄ, 193); … auf einer gewissen Asthenie des höheren Nervensystems zu beruhen. (Schneider 1820, ZfpÄ, 339), … ergriff ihn ein Anfall von sthenischem Wahnsinne … (Hill 1821, ZfpÄ, 129), … hatte das Unglück, seit kurzer Zeit aus Hipersthenie seines psychischen und physischen Organismus in einen Wahnsinn zu fallen, … (aus dem Bericht eines Gerichtsarztes, zit. n. Müller 1824a, 249)
Die Vorstellung einer beeinflussbaren Lebenskraft, die bspw. durch heftige Leidenschaften geschwächt werden kann und in der Folge Krankheiten ausbildet, ist eine Vorstellung, bei der sich medizinische und philosophische Denkmodelle (so die Schellingsche Naturphilosophie), jedoch auch der Magnetismus (der gerade in den ersten Jahrzehnten des 19. Jahrhunderts populäre Mesmerismus) überkreuzen. Die immanente Dialektik des Denkmodells wird an folgenden Äußerungen sichtbar: „Oft wiederholte Anstrengung ______________ 53
Interessant hinsichtlich der „Neurasthenie“: „Der neue Name – so Möbius – bezauberte Ärzte und Laien. Genau genommen habe es das Wort schon vorher gegeben, aber es lag in der Rumpelkammer.“ (vgl. Radkau 1998, 54). Und: „Es gibt wohl keinen zweiten Fall in der Geschichte der Medizin, in dem ein bloßes Wort so große wissenschaftliche Wirkungen und zugleich den Anschein so vieler neuer Erkrankungen herbeigeführt hat, wie das Wort: ‚Neurasthenie‘. (ebd., 54)
196 des Organs, in gehörigen Zwischenräumen, die der Kraft des Organs angemessen sind, erhöhen die Tätigkeit desselben. Allein Anstrengungen, die zu stark, zu oft kommen und widernatürlich sind, stumpfen die Kraft des Organs ab.“ (Reil 1795, 80). Gleichzeitig gehören Begriffe wie stumpf, abstumpfen oder überspannt, die sich an die Vorstellung der Lebenskraft koppeln, wie Beiträge aus dem Magazin für Erfahrungsseelenkunde (vgl. Kap. 4.3.4) sowie Lexikoneinträge aus den Wörterbüchern von Adelung und Campe deutlich machen, schon um 1800 zur Bildungssprache. Während Adelung für abspannen noch keine uneigentliche Bedeutung anführt, finden wir bei Campe (Bd. 1, 58): Uneigentlich. Eine einförmige Beschäftigung, ein langes angestrengtes Nachdenken spannt endlich den Geist ab, schwächt ihn. Ich fühle mich heute ganz abgespannt, und zum scharfen Denken untüchtig … Die Kräfte abspannen, sie schwächen. In dieser Bedeutung wird bei den neueren Ärzten eine Heilart der Krankheiten, die sie von übergroßer Stärke oder Kraft (Hypersthenie) herleiten, die abspannende genannt, wodurch jene zu große Stärke oder Kraft geschwächt, und wodurch das Gleichgewicht im Körper, d. h. die Gesundheit hergestellt werden soll.
Bei der Verwendung einzelner Lexeme in den Krankengeschichten gibt es eine erstaunliche Bandbreite, die darauf beruht, dass jeweils andere Traditionsschichten und Vermittlungspfade kontextualisiert werden, so dass mit Blick auf das Gesamt der Krankengeschichten auf eine ihnen immanente Vertikalität zu verweisen ist, wobei sich in Grenzfällen allerdings nicht entscheiden lässt, ob eine Verwendung als physiologischer Terminus oder ein bildungssprachlicher Gebrauch vorliegt. Erschwert wird die Darstellung ebenfalls dadurch, dass zeitgleich metaphorische Übertragungen sichtbar werden. Bildungssprachlich war es vor der Konstitution der Psychiatrie schon möglich, jemanden als reizbar oder überspannt zu bezeichnen. Von dieser, auf Gefühle bezogenen Verwendung machen viele Psychiater Gebrauch: z. B. „Augenblicke, in denen er ohne betrunken zu seyn so überspannt religiös begeistert ist …“ (Jacobi 1826, ZfAnthro, 80). Gleichzeitig wird auch deutlich, dass bei einigen Verwendungen, sichtbar an den entsprechenden Isotopien, auch der fachliche Verwendungskontext evoziert wird, so dass unterschiedliche Bedeutungsschichten, zum Teil in einem Text, nebeneinander stehen. Bei Reil und anderen geht es nämlich nicht um Charaktereigenschaften oder Gefühlsäußerungen, sondern um die Reizbarkeit von Organen: „Die Reizbarkeit der Organe, oder ihre Empfänglichkeit für die Wirkungen der Außendinge ändert sich mit der Beibehaltung ihrer Natur ab. Die Empfänglichkeit für Reiz wird erhöht, erniedrigt oder ganz abgestumpft.“ (Reil 1795, 66) oder „weil sich wenigstens ein Zustand erhöhter Reizbarkeit und eines anhaltenden Erethismus des Nervensystems ergibt …“ (Jacobi 1826, ZfAnthro, 88). Um die Reizbarkeit eines Organs herum,
197 gruppieren sich solche Begriffe wie „Idiopathie“, „Antipathie“ und „Sympathie“: „Welche innige Sympathie herrscht zwischen Gehirn und Magen!“ (Amelung 1826, ZfAnthro, 151). Gerade Sympathie ist ein Lexem, für das zumindest drei Verwendungsweisen anzusetzen sind:
Sympathie steht für die Wechselwirkung von Körperteilen/Organen überhaupt, die auf einen Funktionsmechanismus des vegetativen Nervensystems zurückbezogen wird 54 („Die wesentlichen Symptome, die die Localaffektionen der Organe anzeigen, die sympathische[n] oder consensuelle[n] Symptome, 55 welche aus der Störung des Ganzen entstehen.“ – Eschenmayer 1822, 32). 56 Sympathie verbindet sich mit animistischen Vorstellungen, der Vorstellung eines lenkenden Spiritus animales (Willis 1664) oder mit der Lebenskraft (Reil 1799). Durch die Sympathie der Nerven steht eigentlich jeder Körperteil mit einem anderen in Verbindung, prominent ist die oben schon genannte Sympathie von Kopf und Magen (nach Whytt 1765, vgl. Fischer-Homberger 1970, 32f.). Im Magnetismus ist damit auch die Verbindung zwischen organischer und anorganischer Materie gemeint. So nimmt Eschenmayer in seiner Schrift von 1822 vier Stufen des magnetischen Traumzustandes an: 1. Stufe der innern sinnlichen magnetischen Anschauung, 2. Stufe des Hellsehens, 3. Stufe der magnetischen Sympathie, 4. Stufe der magnetischen Divination; 57 ______________ 54
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Diese eher medizinische Verwendung erscheint weder bei Adelung noch bei Campe. Das DWB (Bd. 10, Abt. 4, Sp. 1401) setzt diesen Gebrauch ab der Mitte des 18. Jahrhunderts an. Sympathisch und consensuell werden häufig, wie auch in diesem Beispiel, synonym verwendet. „Der tierische Körper modifiziert die Wirkungen der Atmosphäre vermöge der verschiedenen Wahlanziehung, die er und seine Organe zur Aufnahme feiner Stoffe besitzen. Hätte der menschliche Körper diese Einrichtung nicht: so wäre er ein wahrer Wetterprophet. Nur wenn seine Gesundheit verletzt, einzelne Organe desselben geschwächt, und ihre regelmäßigen Wahlanziehungen verändert sind, wirkt die Atmosphäre mehr nach ihrer absoluten Kraft, und die kranken Teile werden verändert, wie die Witterung verändert wird. Wir müssen uns daher wol hüten, die periodischen Veränderungen der Lebenskraft nicht allein nach dem Wechsel der Zeit zu bestimmen.“ (Reil 1795, 75) In diesem Sinne z. B. auch bei der folgenden Textstelle von Kant: „z. B. von seiner Gabe der Ahndungen, gewissen dem Genius des Sokrates ähnlichen Eingebungen, gewissen in der Erfahrung begründet sein sollenden, obgleich unerklärlichen Einflüssen, als der Sympathie, Antipathie, Idiosynkrasie (qualitates occultes), die ihm sogleich als Hausgrille im Kopfe schirpt, und die doch kein anderer hören kann.“ (Kant 1798/2000, 107). Allerdings auch in einer eher medizinischen Verwendung: „Das Irrereden in Fiebern, oder der mit Epilepsie verwandte Anfall von Raserei,
198 Sympathie beschreibt das Aneinanderzugeneigtsein von Personen, wobei nur die Verwendung „mit etwas sympathisieren“ nachzuweisen ist. 58 Eine Verwendung von „Peter ist mir sympathisch“ erscheint in den Krankengeschichten nicht, was sicherlich jedoch auch auf eine thematische Selektion zurückzuführen ist. 59 Zumindest in zwei Bedeutungsvarianten liegen die Lexeme „Stimmung“, „Mißstimmung“ und „Verstimmung“ vor: Ein Beleg wie „… ihre Reproductionsorgane empfanden die Verstimmung ihres Nervensystems so wenig …“ (Amelung 1824, ZfAnthro, 331) lässt sich nur vor dem Hintergrund der Reilschen Physiologie und der Naturphilosophie Schellings angemessen verstehen, vgl.: … wie dadurch abnorme Instinkte, Triebe und Begierden entstehn können, die theils unmittelbare Produkte der verstimmten Organisation sind, theils im Gefolge der falschen Ideen entstehn. (Reil 1803, 269); oder: Den natürlichen Grad der Lebenskraft, so wie er der Erhaltung des Individuums angemessen ist, werde ich die Stimmung (temperies) und einen widernatürlichen Grad derselben Missstimmung (intemperies) nennen. (Reil 1795, 72)
Auch Empfindlichkeit wird an das Nervensystem gebunden und erscheint nur zum Teil als eine Charaktereigenschaft: „Die Empfindlichkeit der gemeinen Nerven ist im gesunden Zustande so gering, daß diese in der Seele von dem, was nach den Gesetzen in den Organen vorfällt, kaum eine Vorstellung erregen.“ (Reil 1795, 72). Zum physiologischen Wortschatz gehört auch die Entnervung – nachzuweisen sind in Krankengeschichten allerdings nur laiisierte Varianten: „… daß sie schon einen hohen Grad von Verstandesschwäche voraussetzt, welche sich indeß aus der bedeutenden Entnervung … leicht erklärt.“ (Ideler 1848, 321) oder: „… deren Eintritt indeß oft durch entnervende Ausschweifungen beschleunigt worden war.“ (Pinel 1819, ZfpÄ, 295). Zwischen einer bildungssprachlichen und der Evozierung einer schon in einem bestimmten Kontext monosemierten Verwendung liegen okkasionelle Verwendungsmöglichkeiten, vgl.: Der Anfang des Wahnsinns wird durch eine Zunahme der Sensibilität bezeichnet … (Haslam/Horn 1819, ZfpÄ, 129). … die Empfänglichkeit, die Reizbarkeit des Subjektes so groß ist, … ist das Individuum selbst von reizbarem Karakter, hat ______________
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welcher bisweilen durch starke Einbildungskraft beim bloßen starren Anblick des Rasenden sympathetisch erregt wird …“ (Kant 1798/2000, 107) Z. B.: „… dessen mystische Gefühlsschwärmerei nur allzusehr mit ihrer Stimmung sympathisirte …“ (Ideler 1848, 293) Sensibilität verweist im 19. Jahrhundert noch direkt auf die Physiologie. So heißt es im DWB (Bd. 10, Abt. 1, Sp. 612): „als physiologischer Ausdruck die mit den nerven verbundene fähigkeit, äussere eindrücke wahrzunehmen und darauf zu reagieren …“.
199 es überhaupt viel Empfänglichkeit für die eine oder die andere Leidenschaft … (Amelung 1824, ZfAnthro, 350), zum Trunk, zum Zorn und anderen Leidenschaften gereizt werden, wodurch oft Rückfälle entstehen (Müller 1824a, 44), … und die moralische Sensibilität zeigt sich in gleichem Fortschreiten, so geht die Verrücktheit, die Melancholie und die Manie in einen chronischen Zustand über … (Esquirol/Hille 1827, 76)
Man sieht, alle Krankengeschichten und ihre Vorläufer zusammengenommen, unterschiedliche Stadien der Verwendung, die den lexikalischen Transfer von der fachlichen Verwendung in die Bildungssprache anzeigen, wo sie allerdings, wie noch zu zeigen sein wird, wiederum von der Psychiatrie monosemiert werden: a) Zunächst stehen die genannten Begriffe im Zusammenhang mit körperlichen Erscheinungen und nicht mit Charaktereigenschaften (so die Reizbarkeit eines bestimmten Organs, Ähnliches ließe sich auch vom ordentlichen/unordentlichen Blutflusse sagen). b) Es bietet sich an, die gleichermaßen in Physiologie, Naturphilosophie und z.T. in der Bildungssprache etablierten Kernbegriffe auf das gesamte Subjekt zu übertragen und die medizinischen Bedeutungen somit zu lockern. c) Der letzte Schritt stellt die metaphorische Übertragung auf die Gefühlswelt dar, die für die Beschreibungen von Abweichungen allerdings fruchtbar wird (vgl. auch Kap. 5.3.5 zur depressiven Verstimmung). Jedoch gibt es zu diesem Zeitpunkt auch Begriffe, die sich nicht einer metaphorischen Übertragung zugänglich erweisen, wozu der Begriff „Irritablität“ gehört, den wir heute im Kontext von Gefühlsschwankungen kennen, der als solcher in den Krankengeschichten nur in der physiologischen Verwendung auftaucht. Viele der bisher genannten Begriffe stehen in einem Zusammenhang mit der Schellingschen Naturphilosophie, die in der deutschsprachigen Medizin populär ist, an den Universitäten gelehrt wurde und von Damerow folgendermaßen bewertet wird: „Die prästabilirte Harmonie, oder diese Idee des Absoluten, ward bei den Ärzten die Idee des Lebens …“ (Damerow 1829, 213). Auch solche phraseologischen Termini wie der „Trieb zur Harmonie“ gehen auf sie zurück. Die Naturphilosophie verhält sich zur Physiologie wie eine Art Grundlagenwissenschaft, die sich allgemeine Prinzipien zur Erhaltung von Organismen deduziert, die ihrerseits durch die Physiologie präzisiert werden (dabei greift sie allerdings schon auf die physiologischen Termini zurück, wie den der „Irritabilität“, der nach Fischer-Homber (1970, 91) auf Albrecht von Haller zurückweist). Besonders wegweisend für die medizinische Rezeption sind die folgenden Sätze in seinem „Entwurf eines Systems der Naturphilosophie“ (1799/1927, 74ff.): a) Erster Satz. Die Thätigkeit des Organismus ist bestimmt durch seine Receptivität. [Aber nicht umgekehrt]. … b) Zweiter Satz. Die Receptivität des Organismus ist bedingt durch seine Tätigkeit. … Die Receptivität des Organismus ist
200 durch seine Thätigkeit bestimmt, ist also das Princip eines physiologischen Immaterialismus.
Das zu Grunde liegende Denkmodell stellt Schelling wie folgt dar: Aber Thätigkeit und Receptivität verhalten sich überhaupt zueinander wie Entgegengesetzte (+ und –). Also muß, wie der eine Factor steigt, der andere fallen, und umgekehrt. 1) Der Anfang des Lebens ist Thätigkeit, ist ein Losreißen von der allgemeinen Natur. Aber jene Thätigkeit ist selbst wieder Receptivität, denn nur das Minus von Thätigkeit ist überhaupt Receptivität. Thätigkeit und Receptivität entstehen also zugleich in einem und demselben untheilbaren Moment, und nur diese Simultaneität von Thätigkeit und Receptivität constituirt das Leben. Organische Thätigkeit ist nicht Thätigkeit ohne äußeren Andrang. Aber der äußere Andrang gegen innere Thätigkeit hat die gerad’ entgegengesetzte Wirkung, d. h. er vermindert die Receptivität, indem er die Thätigkeit erhöht. Das Maximum der Receptivität (das man beim Lebensanfang annehmen kann) geht also, vermöge des Gesetzes der Wechselbestimmung, erst in ein Minus, endlich in ein Minimum von Receptivität über.“ Darunter versteht Schelling auch die „ursprüngliche Duplizität des Organismus.
Sensibilität und Irritabilität sind verursachende Faktoren dieser Duplizität: Was ist denn nun nach den Bisherigen eigentlich Sensibilität? Alle Nebenvorstellungen, die diesem Wort anhangen, müssen nun ausgeschlossen werden, und darunter nichts als der dynamische Thätigkeitsquell gedacht werden, den wir in den Organismus so nothwendig als in die allgemeine Natur überhaupt setzen müssen … Aber Sensibilität ist nicht selbst Thätigkeit, sondern Thätigkeitsquell, d. h. die Sensibilität nur Bedingung aller Irritabilität. Aber Sensibilität ist an sich nicht, ist nur in ihrem Objekt (der Irritabilität) erkennbar, und darum freilich muß, wo diese ist, auch jene seyn, obgleich, wo sie unmittelbar in diese übergeht, eigentlich auch nur diese erkennbar ist. – Wie übrigens Sensibilität in Irritabilität übergehe, ist eben dadurch erklärt, daß sie nichts anderes als die organische Duplicität selbst ist. Der äußere Reiz hat keine andere Funktion, als diese Duplicität wiederherzustellen. Aber sobald die Duplicität wiederhergestellt ist, sind auch alle Bedingungen zur Bewegung wiederhergestellt. (ebd., 170) 60
Die Vorstellung einer ständigen Wechselwirkung von Tätigkeit und Rezeptivität legt die in psychiatrischen Texten häufige Beobachtung eines Mangels der einen oder des anderen nahe, wodurch es zu einer Beeinträchtigung vornehmlich der Sensibilität bzw. der Irritabilität komme, die bspw. die Abstumpfung des Individuums zur Folge habe. Zusammenfassend bietet sich wiederum die Darstellung von Damerow an: „… daß auf die Reproduction nur mittels der höheren Factoren, auf die Sensibilität nur durch die Irritabilität gewirkt werden ______________ 60
Schelling bezieht sich hier auf den Physiologen Albrecht von Haller (1708–1777), der die Sensibilität der Nervenfasern von der Irritabilität der Muskelfasern unterschied.
201 könne, daß also Irritabilität das einzige Mittelglied sey, durch welches auf den Organismus eingewirkt werden könne …“ (1829, 209f.). Die Physiologie und im Hintergrund die Naturphilosophie, die u. a. Reizbarkeit und Verstimmung von Organen für das Ausbrechen von Krankheiten verantwortlich macht, wird in den Krankengeschichten nicht nur aufgrund der mit ihr verbundenen Denkmodelle, sondern auch bei der Beschreibung von abweichendem Verhalten oder bei der Charakterisierung von Zuständen eingesetzt. Stärker noch als an physiologische Erklärungen knüpft die spätere Psychiatrie an diese Versprachlichung von Zuständen an, die dann weiterbearbeitet wird. Eines der wichtigsten Lexeme für stark depressive oder demente Zustände ist stumpf. Dieses Lexem wird sich als anschlussfähig erweisen: Es ist ein Kennwort der frühen psychiatrischen Abhandlungen. Der reizbare und empfindsame Mensch ist ein Prototyp des frühen 19. Jhs., nicht der nervöse, von Reizüberflutung geplagte Mensch des späten 19. Jhs. 61 Die Verarmung von Empfindungen stellt das zentrale Problem dar: Bei allem Wirrwarr der medizinischen Anschauungen über die Natur der Nervenleiden ergibt sich um 1800 zumindest im deutschen Sprachraum der durchgängige Zug, daß unter den pathologischen Erscheinungsformen nicht das Element der Überreizung, sondern das der Stumpfheit bei weitem überwiegt. (Radkau 1998, 38) … sein Gedächtnis war völlig stumpf, unbestimmt, schwankend und sein Geist zeigt in seinen Anstrengungen keine Dauer … (Schneider 1820, ZfpÄ, 359); Nach dem Erwachen zeigte sich, gleich in den ersten Tagen, statt der gewöhnlichen Stumpfheit, Düsterheit und Insichversunkenheit … (Heinroth 1818a, ZfpÄ, 237); Düster, stumpf, irre redend, und wenn man ihm widersprach, schimpfend, nach geringer Anstrengung in Abstumpfung versinkend … Sie war jetzt ein starres Bild von Stumpfheit (Hill 1821, ZfpÄ, 140); Die Gränze ist hin und her unübersteigbar, ______________ 61
Gerade bei der Übernahme des neuroasthenischen Krankheitsbildes des amerikanischen Psychiaters Beard 1869 (American Nervousness) sind die Kernbegriffe wie „Spannung“ und „Überreizung“ wiederum vertreten, obwohl sie nun anders bestimmt werden. Insbesondere die moderne Großstadt wird in ihrer Wirkung auf das Individuum in den Kategorien der Elektrizitätslehre und Neurophysiologie wahrgenommen, was wiederum direkte Rückwirkungen auf die Alltagssprache hat. Wie aus einer Übersetzung eines Beardschen Artikels von 1888 deutlich wird, gibt es eine Revision des Vokabulars durch einen veränderten Rahmen, die allerdings auch in vitalistische Konzepte rückübersetzt werden können: Es „wird angenommen, daß die von einer zentralen Maschine zur Verfügung gestellte Kraft begrenzt ist, und nicht über einen bestimmten Punkt hinaus beansprucht werden kann. Wenn nun die Anzahl der an einen Stromkreis angeschlossenen Lampen erhöht wird, wird auch eine zusätzliche Kraft von der Maschine verlangt. Das Nervensystem des Menschen ist das Zentrum der Nervenkraft, welches alle Organe des Körpers versorgt. … Seine Kraftvorräte sind limitiert, …“ (Radkau 1998, 98f.). Der Verbrauch der Nervenkraft kann auch durch „Kopfarbeit und Sitzberuf“ erfolgen, womit in modernem Gewand ein alter Topos fortgeführt wird.
202 und selbst die stumpfesten Blödsinnigen liefern den Beweis dafür. (Nasse 1824, ZfAnthro, 4)
Die häufige Verwendung von stumpf bei melancholischen, z. T. dem Blödsinn nahen Zuständen zeigt zum einen eine Präferenzbildung für bestimmte Lexeme. Zum anderen zeigen sich, der Rhetorik vergleichbar, mit bestimmten Krankheitsbildern verbundene Zwillings- und Drillingsformeln. Stumpf geht oft eine Verbindung mit dem ebenfalls häufig benutzten insichgekehrt oder düster ein, die allerdings morphologisch variiert werden. Ohne dass eine sprachliche Selektion zu diesem Zeitpunkt schon intendiert ist, wird eine Präferenzbildung erreicht: Die charakteristischen Symptome der Melancholie reduciren sich vorzüglich auf ein deprimirtes Gefühl; auf ein gänzliches in Sich=Gekehrtseyn und auf ein gestörtes, einseitiges und unfreies Schauen seiner Selbst und der Welt. (Haindorf 1811, 197), Diese Umstände zusammen wirkten im Monat September so auf die Kranke, daß der Hang zur Einsamkeit, ein Insichgekehrtseyn, … sich äußerten. (Müller 1824a, 234), … daß sein verdüsterter Sinn ihm die zur kritischen Behandlung der Theologie erforderliche Klarheit und Schärfe des Urtheils geraubt … (Ideler 1841, 29)
Neben den mit dem physiologischen Vokabular verbundenen kotextuellen, syntagmatischen Präferenzen zeigt sich in den auf die ersten Krankengeschichten folgenden Veröffentlichungen eine Tendenz zu metaphorischen Kompositabildungen (so zur Abspannung die Vorstellung von Spannkraft, die ihrerseits mit Triebfeder zu vernetzen ist), was als metaphorische Remotivierung zu verstehen ist: Moralische Eindrücke bewirken in der Fiber eine Bewegung und Erschütterung und verändern die Spannung der Kräfte; die festen Theile reagieren auf die flüssigen, bringen sie in die zur Gesundheit günstigen Schwingungen und Bewegungen … (Esquirol/Hille 1827, 84), Die Denkkraft des Verwirrten hat nicht genug Energie, sie ist der zur Integrität ihrer Verrichtungen nötigen Spannkraft beraubt … (Esquirol/Hille 1821, 471), die Triebfedern leidenschaftlicher Seelenstürme … (Friedreich 1834, 248), … Schlachtfeld des Ruhmes und wissenschaftlichen Kampfes ist stürmisch. Alle Triebfedern der ganzen organischen Maschine sind in Spannkraft versetzt, Gehirn und Nerven gereizt, der Blutumlauf gestört, der Rhythmus des Lebens ist außer Maas und Ziel gesetzt. (Friedreich 1834, 256), Wie wäre es wohl möglich, diese fast ausschließlich in ihrer Seele wirkende Triebfeder auf das rechte Maaß des Wirkens herabzuspannen, … (Ideler 1841, 187), … fortwährend eine große …daher die die zu hoch gespannten Federn in ihrem Inneren wieder zur Ruhe gebracht waren. (Ideler 1848, 237); … der Verlust der jugendlichen Spannkraft seiner Nerven machte sich ihm nur allzu fühlbar … (Ideler 1848, 319)
Eine Behandlung der physiologischen und naturphilosophischen Traditionsschichten, die partiell in den Krankengeschichten evoziert werden, kommt ohne einen Verweis auf die zeitgenössische Elektrizitätslehre und den
203 Galvanismus 62 nicht aus. Seit ihrer Konstitution als Disziplin hat die Elektrizitätslehre großen Einfluss auf andere Disziplinen, so auf die Philosophie und Theologie, besonders allerdings, seit Galvani (der von den Psychiatern auch des öfteren zitiert wird) die sog. tierische Elektrizität entdeckte. Neben der Auslotung syntagmatischer Potenzen und der metaphorischen Bearbeitung physiologischer Kernlexeme lässt sich früh nachweisen, dass Kraft und Energie austauschbar gebraucht werden und ähnliche Vorstellungen hervorrufen: Energie gehört damit zu den Initialmetaphern, wobei die Elektrizität (auch Energieerhaltungs- und Entropiesatz werden verwendet) die damit verbundenen metaphorischen Modelle vorgibt, die auch schon vor den Krankengeschichten nachzuweisen sind: Wenn sie [die Freude, B-M.S.] mässig ist, so teilt sie dem Schlagen des Herzens und den Arterien eine neue Energie mit … (Pinel/Wagner 1801, XXXIII) Dieser energielose Zustand des Magens wechselt oft mit einer abnormen und überspannten Thätigkeit desselben … (Haindorf 1811, 213). Bei Haindorf ist auch von der Energie des Charakters oder davon die Rede, dass die Lebenskraft nicht mit der gehörigen Energie wirke (ebd., 226). Dem Gehörsinne kommt eine große Lebensenergie überhaupt und eine vorzügliche psychische Lebendigkeit und ein enger Verband mit dem Seelenleben insbesondere zu. (Friedreich 1834, 331). Das körperliche Rüstigkeit und eine seltene Energie der Seelenkräfte … (Jacobi 1834, 597); Willensenergie eines Betrügers (Ideler 1848, 209) Waren hier nicht etwan die elektrischen Lebensströme mit der beharrlichen Materie in Mißverhältniß gerathen und dadurch die Polaritäten der Organisation umgetauscht? … Die innere positive und die äußere negative tauschten sich um. (Reil 1803, 78f.). So auch hier: Ganz analog diesem partiellen Wirken des Nervensystems im Traum [und] der Inversion der + und – Vitalität in den antagonisirenden Systemen ist der Zustand, der den Wahnsinn hervorbringt. (Reil 1803, 96). Die Vorstellung der Polarität wird auch von Eschenmayer übernommen, wird später allerdings nicht mehr ikonisch, sondern nur noch symbolisch dargestellt, auch Autenrieth operiert mit einer negativ-chemischen polarität (zit. n. Hesselberg 1981, 33). 63
An den alternativ gebrauchten metaphorischen Modellen lässt sich die Überlagerung unterschiedlicher Traditionsschichten zeigen: Auch die alte Nachbarschaft von Nerven und Muskeln hielt sich in der Vorstellung noch lange; in Begriffen wie Anspannung der Nerven, erschlaffte Nerven, ja sogar Nervenschwäche ist sie noch im 20. Jahrhundert präsent. Nervig bedeutete ______________ 62
63
Nach Luigi Calavani (1737–1798), der 1780 die Kontraktion präparierter Froschschenkel beim Überschlag elektrischer Funken entdeckte. Diese Entdeckung gab Anlass zu Spekulationen über die „Lebenskraft“. Heute ist Calvanismus eine Bezeichnung für alle elektrochemischen Erscheinungen, die auftreten, wenn sich verschiedenartige Stoffe berühren. Zu den an die Elektrizität angelegten Metaphern, siehe Gentner/Gentner (1983, 99–129).
204 muskulös. … Wer sich den Nerv als Sehne dachte, assoziierte damit gerne eine Bogensehne oder eine Geigensaite: Das paßte zur Spannung und Reizbarkeit der Nerven und erklärte auch, warum Dauerspannung zur Erschlaffung führt. (Radkau 1998, 28)
Die Elektrizitätslehre erfährt eine vitalistische Deutung, die erst mit der späteren Entdeckung des Nervenaktionsstroms durch Emil Du BoisReymond (1818–1896) oder der Nervenleitgeschwindigkeit durch Hermann von Helmholtz (1821–1894) in eine naturwissenschaftliche übergeht. 64 Die Verwendung von Formulierungen wie „Spannkraft der Nerven“ oder „energetische Lebensströme“ lässt eher an Chiffren denken, die einen selbstverständlichen Bedeutungsgehalt suggerieren, den sie allerdings nicht besitzen. In der Initialphase – das dürften die Belege gezeigt haben – dominiert eine vitalistische Anschauung, die sich zusätzlich noch konkurrierender Bilder bedient. Die Elektrizitätsmetaphern, die wir in der ersten Phase der Psychiatrie finden, sind also von späteren populären Metaphern unterschieden (die bspw. in der z. T. heftig umstrittenen Elektrotherapie gebraucht wurden) und verweisen z. T. auch auf einen rein spekulativen Rahmen, wie ihn bspw. der Mesmerismus vorgibt: Mesmer postulierte eine physikalisch verstandene kosmische Kraft („Fluidum“), die durch verschiedene Formen der Manipulation auf das Nervensystem kranker Organismen übertragen werden konnte. Die Elektrizitätslehre eröffnete somit im zweiten Drittel des 19. Jahrhunderts eine neue Dimension im Verständnis des Nervensystems. Umgekehrt begann das Nervensystem jetzt als System elektrischer Impulse, Leitungsbahnen und Energieströme betrachtet zu werden. Die Funktionen des Nervensystems wurden zunehmend in den Kategorien von Kraftfeldern und Energieimpulsen wahrgenommen und interpretiert. (Roelcke 1999, 110f.)
Neben physiologischen Lexemen, deren Bedeutungsebenen, deren kotextuelle Verbindungen und deren morphologische und konzeptuelle Weiterverarbeitung kurz gezeigt worden sind, gehen folgende Lexeme auf die Physiologie zurück: afficiert /Affek /Afficiertwerden; 65 exitiert/exaltiert; deprimiert; Erethismus des Nervensystems erethische Aufregung; überreizt/Über______________ 64
65
Das wäre eine interessante Geschichte zum psychiatrieinternen Bedeutungswandel: „Das Schicksal des Energiekonzeptes in der Nervenlehre war jedoch nicht an Elektrizität gebunden. Der Energiebegriff, einst von der Physiologie in die Physik eingewandert, sprang um 1900 auf die Lehre vom Leben zurück und erfuhr dabei eine erneute Psychisierung.“ (Radkau 1998, 236). Die Energielehre war nur Bestandteil eines neuen Vitalismus, z. B. in der Naturheilkunde, die auch vorgab, die Neuasthenie heilen zu können. Auch in der folgenden Verwendung: „Bisweilen, jedoch sehr selten, beruht sie auf einer Verletzung moralischer Affektionen, …“ (Bayle/Hohnbaum 1825, ZfAnthro, 112)
205 reizun; consensuell. 66 Nach dem DWB sind viele der hier aufgeführten Begriffe erst im 18. Jahrhundert als Lehnwörter vom Französischen ins Deutsche gelangt: so deprimieren von frz. déprimer, exaltieren von frz. exalté, während andere offensichtlich metaphorische Verschiebungen sind (z. B. abspannen). Die Traditionsschicht des gesamten physiologischen Vokabulars ist sehr modern, nicht dem Erbwortschatz zuzurechnen und damit auch von der traditionellen Sicht der psychischen Krankheiten verschieden. 4.3.2.2 Die Adaption und Verfremdung des philosophischen Wortschatzes Die Vorstellung einer Lebenskraft verbindet sich in den allermeisten psychiatrischen Texten – sowohl in innovationsorientierten als auch in narrativen Texten – mit der psychologischen Vermögenslehre, auf die die allermeisten Anthropologien rekurrieren. Zu den Grundbausteinen des psychiatrischen Diskurses gehört die Vorstellung einer Triplicität der Identität (vgl. z. B. Heinroth 1827, 15), die in einer anverwandelten Form auch die Lehrbücher prägen wird. Übergreifend wichtig ist die Dreivermögenslehre (Erkenntnis-, Empfindungs- und Begehrungsvermögen). Die Vorstellung dreier voneinander zu unterscheidender Vermögen mit entsprechenden Subgliederungen führt zu entsprechenden Nominalkomposita, von denen einige zu eingeführten philosophischen Termini gehören (so bspw. „Einbildungskraft“), andere wiederum neue Kompositabildungen sind, die den begrifflichen Rahmen der Physiologie mit dem der Philosophie verbinden und insofern einen psychiatriespezifischen Gebrauch aufweisen. KRAFT: Lebenskraft/Lebenskräfte, Kräftezustände, Einbildungskraft, 67 Erinnerungskraft, physische Kräfte, moralische Kräfte, intellektuelle Kräfte, Vorstellkraft, Thatkraft, Urtheilskraft alternativ zu Seelenkräfte auch Seelenvermögen/ Seelenfähigkeiten/Seelenstimmung. 68
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68
„… und sich mit diesen zur Vermehrung und Vergrößerung der Anlage vereinigen, auch sympathisch und consensuell Seelenstörungen erregen, …“ (Esquirol/Hille 1827, 66) „Einbildungskraft“ ist jüngeren Datums und verweist auf philosophische Reflexionen: „FICHTE, SCHELLING, und andere mehr gebrauchen das Wort in weitem Sinn und verstehen darunter alle erzeugung von vorstellungen, auch den unwillkürlichen und durch die sinne erregten … die phantasie ist eine kraft, ein vermögen der seele und es scheint überflüssig sie jedesmal ausdrücklich so zu benennen. Ebenso könnten die philosophen der schleppenden ausdrücke denkkraft und denkvermögen groszentheils entraten.“ (DWB, Bd. 3, Sp. 152f.) Vgl.: „Zuweilen kann ein plötzlicher und unerwarteter Eindruck der fixirten Seelenstimmung des Kranken plötzlich eine andere Richtung geben.“ (Reil 1803, 327)
206 Schon die Vielzahl der Komposita mit Kraft zeigt, dass sich die Psychiater „des neuen Modeworts“ (DWB, Bd.4/1. Abteilung, 2. Teil, Sp. 1897) relativ unreflektiert bedienten. GEMÜT: Gemüts(ver)stimmung, Gemütsleiden, Gemütsaffekte, Gemütszustand, Gemütskraft, Gemütsart, Gemütsrichtung, Gemütseinrichtung, Gemütserschütterungen, Gemütsruhe.
Die Auflistung der Komposita deckt sich mit denen, im DWB aufgeführten Verbindungen, eine Ausnahme bilden die Gemütsaffekte, die ein psychiatrisch determiniertes Kompositum darstellen könnten. Was genau unter Gemüt zu verstehen ist, ist dabei ebenso abhängig von der theoretischen Fundierung (sofern sie vorliegt: Umfasst Gemüt bspw. die Einbildungskraft?). GEIST/VERSTAND: Geisteszustand, Geisteskräfte, intellectuelle/geistige Fähigkeiten/Kräfte, Verstandesfähigkeiten, Erkenntnisvermögen.
Schon eine Modernisierung könnte angedeutet sein durch Verstandesfunktionen oder intellektuelle Funktionen (Jacobi 1834, 572). Seltene Kompositabildungen findet man mit Gefühl, was darauf hindeutet, dass dieses Lexem nicht zu den Kernbegriffen gehört. GEFÜHL: Gefühlsstimmungen, Gefühlsvermögen.
Der Einfluss der Philosophie bezieht sich nicht nur auf die Vermögenslehre, die Definitionshoheit über auch in der Psychiatrie parallel verwendeter Begriffe sowie auf die Adaption charakteristischer Verfahren, sondern auch darauf, dass (phraseologische) Termini auftreten, die auf die philosophische Anthropologie ebenso wie die Erkenntnistheorie verweisen und in Form von Gegensatzpaaren organisiert sind, zwischen denen ein Kontinuum anzunehmen ist. Die Indienstnahme philosophischer Fachlexeme, Phraseologismen (freier Wille, z. B.: „… der Wille freier und fester wird; wie die Begierden in Aufwallungen und Leidenschaften übergehen …“ – Ennemoser, ZfAnthro, 1824, 102) und Gegensatzpaare (niedere und höhere Gefühle), ohne dass der philosophische Kontext und entsprechende Erläuterungen evoziert würden, deutet darauf hin, dass die allermeisten Begriffe der Bildungssprache angehören. Es zeigt sich daneben: a) die Nutzung von philosophischen Kernbegriffen außerhalb der Vermögenslehre, z. B. Willkür im Sinne von ‚Bewusstheit‘/‚Freiheit‘ (so nennt Kant ein Kapitel seiner Anthropologie „Von dem willkürlichen Bewußtsein seiner Vorstellungen“ – 1798/2000, 14): 69 ______________ 69
Dementsprechend: „Aber sich zu zerstreuen, d. i. seiner unwillkürlich reproduktiven Einbildungskraft eine Diversion machen …“ (Kant 1798/2000, 112)
207 Die willkührliche Leitung der Vorstellungsthätigkeit … (Nasse 1824, ZfAnthro, 18), Der Wille wird freier, es erfolgen willkührliche Bestimmungen … (Ennemoser 1824, ZfAnthro, 101), … er sey seines Verstandes wieder mächtig geworden, könne frei und zusammenhängend über alles denken, wie er wolle (Jacobi 1826, ZfAnthro, 99), Denn bei einem großen Theile der Seelenkranken finden sich allerdings Erscheinungen, welche man Verlust der Willkühr nennen könnte. (Beneke 1822, ZfpÄ, 27), in welchen ihre willkürlichen Bewegungen nur etwas mehr als gewöhnlich erschwert, aber nicht unmöglich gemacht, auch das Wahrnehmungsvermögen und die Urtheilskraft nicht völlig aufgehoben waren. (Jacobi 1830, 620). … ihn im völlig freien Gebrauch seiner Geisteskräfte fand, … (Haslam/Horn 1819, ZfpÄ, 364), Das bildende Leben geschieht in seinen Funktionen mit relativer Nothwendigkeit (unwillkürlich), das vorstellende, bewußte Leben mit relativer Freiheit (willkürlich). (Leupoldt 1819, ZfpÄ, 60)
b) komplementäre Paare: Während die gestärkte und gehemmte Lebenskraft eine relative vage Semantik aufweisen, sind die komplementären Paare, die aus der Philosophie stammen, hinsichtlich ihrer semantischen Merkmale spezifischer. Dazu gehören: einfache und zusammengesetzte Gefühle, höhere und niedere Gefühle, gebundene und freie Gefühle, gebunden und frei, beharrlich und veränderlich, mittelbare und unmittelbare Vorstellungen, beschränkter und unbeschränkter Verstand, bildungsfähig und verbildet. Zum Beispiel: sein von Natur aus etwas beschränkter Verstand (Amelung 1824, ZfAnthro, 339), nicht die Gradabstimmung des schwachen, trägen, eingeschränkten Bewusstseins … (Grohmann 1825, ZfAnthro, 314), wo das Bewußtseyn den beschränktesten und kurzsichtigsten Umfang hat … (Grohmann 1825, ZfAnthro, 332), zwischen den Anfällen sind ihre Geisteskräfte sehr beschränkt, wenig unter sich zusammenhängend … (Bayle/Hohnbaum 1826, ZfAnthro, 141, dort auch 137: beschränkte Ideen), … setzt eine unbeschränkte Empfänglichkeit und Bildsamkeit seines Geistes voraus … (Ideler 1848, 215)
Interessant ist, dass diese komplementären Paare, die in bezug auf die Philosophie als terminologisch zu werten sind, erste Abwandelungen erfahren. Diese sind nicht als bloße Formulierungsalternativen zu deuten, sondern zeigen schon erste Tendenzen einer Verfremdung des philosophischen Ursprungs, so z. B. „Indifferentismus der Willenshandlungen“, „Die psychischen Paroxysmen der Fanatik zeigen sich in diesem abgebrochenen Verhalten des Kranken …“, „eine allgemeine Imbellicität des Willens“, „die schwächere und imbecillere Bewusstseinskraft“, „der psychischen Organisation“ (Belege aus: Grohmann 1825, ZfAnthro, 308f.).70 Eine Modernisierung des Vokabulars ist bei ______________ 70
Charakteristisch ist folgendes Zitat: „… so ist dies ein näheres Anzeichen, daß die Krankheit auf dem halben Wege zur Narrheit war und daß die Faseleien einen besonderen somatischen und psychischen Ursprung hatten. Mit solchen Zuständen des Gehirnlebens ist gemeinhin auch ein Indifferentismus aller Willenshandlungen, ein gestörtes äußeres Seyn und Werden verbunden. Der Kranke ist zwar an sich
208 Grohmann generell nachzuweisen. Dieser spricht ebenso von einer „sensuellen“ und „vegetativen Sphäre“ (ebd., 305), wie bspw. von der „Affektion des Seelenlebens“ (ebd., ZfAnthro, 304). Eine Zusammenführung unterschiedlicher Wortschatzressourcen ist auch in den folgenden Belegen zu erkennen: „Bisweilen jedoch beruht sie auf einer Verletzung moralischer Affektionen, auf einer Krankheit der Seele …“ (Bayle/Hohnbaum, ZfAnthro, 1825, 112), „Welche besondere Rücksichten erfordert nicht der weibliche Organismus bei seinem mehr körperlichen Erkranken, und sollte nicht ein Gleiches bei Geistes- und Gemütsalienationen statt finden!“ (Ruer 1819, ZfpÄ, 85), „Auffallend ist, wie der Wahn und die psychisch=niederen Störungen des Irren oft miteinander verschlungen sind.“ (Nasse 1822, ZfpÄ, 75) c) die Übernahme unterschiedlichster in der Philosophie etablierter, z. T. phraseologischer Termini: Denn so wie die Beschaffenheit der menschlichen Anlage, so trägt jede menschliche Urthätigkeit auch die Beschaffenheit des Dinges an sich, … (Beneke 1822, ZfpÄ, 31). … influieren auch mehr oder weniger den Geist, indem sie die objektiv richtige Erkenntniß durch den mangelhaften Sinnesgebrauch stören und zu Geistesverwirrung Anlaß geben. (Haindorf 1811, 237), … nach unserer reinen Vernunftanschauung … (Ennemoser 1824, ZfAnthro, 97)
An der Übernahme philosophischer Fachbegriffe wird ein sprachlicher Mechanismus erkennbar, der für das Stecken begrifflicher Grenzen in der Psychiatrie prägend ist, nämlich die Enthistorisierung des Wortschatzes und die allmähliche Tilgung eigener Anleihen, so dass aus geistigen Vermögen (vgl. Ennemoser 1824, 106), dann intellektuelle Fähigkeiten und schließlich intellektuelle Funktionen werden. Ähnliches ist zu beobachten bei: Leibesbeschaffenheit; körperliche oder physische Konstitution => psychische Konstitution (z. B. Amelung 1824, ZfAnthro, 349). Schon diese hier noch spärlichen Anverwandelungen belegen die These Bodamers (1953, 520): „Leitstern ihres psychiatrischen Wollens und psychotherapeutischen Wirkens ist die Idee einer philosophischen Anthropologie, die ins medizinische transformiert wird.“ Zwar könnten die angeführten Belege auch als Übernahme eines naturphilosophischen Duktus gewertet werden, doch zeigt sich eine für die Psychiatrie späterhin charakteristische Richtung: Die Indienstnahme körpermedizinischen Vokabulars, mit dessen Hilfe komplementäre Paare umgestaltet werden, so dass bspw. von psychischer Anästhesie gesprochen werden kann. ______________
ruhig, allein es ist eine mechanische Passivität; er geht eine Zeitlang ruhig den Weg der Geschäftigkeit, allein ohne Grund bricht er den Faden ab und läuft wieder in die Irre und dem Ueberdrusse einher. Die psychischen Paroxysmen der Fanatik zeigen sich in diesem abgebrochenen Verhalten des Kranken.“ (Grohmann 1825, ZfAnthro, 308f.)
209 Flankiert werden diese Mechanismen durch die oben schon skizzierte Kreativität bei der Zusammenführung unterschiedlicher Wortschatzressourcen (eine Art Bricolageprinzip). Bei ihrem Wirken zeigt sich eine Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen. Zwar gibt es eine Reihe von Schriften, bei denen die referierten Lexeme austauschbar gebraucht werden, doch zeichnet sich im Querschnitt eine Tendenz ab: Umso höher der Abstraktionsgrad der Texte, umso stärker gelingt die Ablösung vom tradierten Vokabular. Allerdings ist dies ein Phänomen, das sich interessanterweise nicht auf das Textsortenspektrum, sondern auf das Wie der Darstellung, die Formulierungsalternativen selbst bezieht. Besonders deutlich wie diese „Enthistorisierung“ oder „Entdiskursivierung“ des Vokabulars vor allem in den eher theoretisch ausgerichteten Schriften, die neben den Krankengeschichten verfasst werden. Die Verfremdungseffekte sind im Diskurs selbst angelegt, wie sie sich z. B. an der parallelen Verwendung von Beweglichkeit und Mobilität des Geistes zeigen lässt: In der Folge bekommen die Geisteskräfte und ihre Bewegungsfähigkeit wieder … (Bayle/Hohnbaum 1826, ZfAnthro, 140), … obgleich man immer in derselben eine gleiche Lebhaftigkeit und Beweglichkeit der intellectuellen und moralischen Fähigkeiten bemerkt … Diese Maniaci sind von einer außerordentlichen Empfänglichkeit, so daß sie durch Alles erregt und gereizt werden … (Esquirol/Hille 1827, 433). Auch hier finden sich schon relativ früh begriffliche Alternativen: Während daher bei der Exaltation des Gemeingefühls das Gemüth mobil, bizarr, bald düster, bald heiter ist, so ist dagegen bei der Depression desselben das Gemüth starr, unbeweglich und für innere und äussere Eindrücke unzugänglich. (Haindorf 1811, 119); Zuweilen kann eine andere Erschütterung die Mobilität des Seelenorgans wieder hervorbringen. (Reil 1803, 362). An Beweglichkeit/Mobilität können sich wieder entsprechende Bilder anlagern: Kräftige, elastische Gemüther raffen sich immer wieder aus der allgemeinen geistigen und körperlichen Erschlaffung als nothwendiger Wirkung jener Excesse auf, … (Ideler 1848, 320); So lange das Gemüth durch thatkräftiges Streben die frische Elastizität des Wirkens bewahrt hat, … (Ideler 1841, 138) (Hervorhebungen v. d. Verf. – B-M. Sch.)
Insgesamt ist jedoch Kaufmann zuzustimmen: Die Zusammensetzung der Zeitschrifteninhalte reflektiert, wie langwierig sich die Trennung von irrenärztlichem und philosophischem Diskurs gestaltete. Das wissenschaftliche Erklärungsmonopol über den Ursprung und das Wesen von seelischen, geistigen und „gemüthlichen“ Störungen lag Anfang des 19. Jahrhunderts noch nicht ausschließlich in den Händen der Medizin. Zudem gab es noch keine festumrissene Berufsgruppe von Ärzten, die – abgesehen von den wenigen Irrenanstaltsärzten – ausschließlich Irre behandelten. (1995, 287)
210 4.3.2.3 Die Anverwandlung und Verfremdung von Metaphern auf der Symptomebene Nicht nur hinsichtlich der präferierten Deutungsmuster psychischer Krankheiten und den entsprechenden Behandlungsmethoden ergeben sich Parallelen, sondern auch hinsichtlich der Versprachlichung von Symptomen. Oben wurde schon darauf hingewiesen, dass die im Hintergrund stehende, selten als Ganzes, sondern nur partiell evozierte Theorie der Lebenskraft zu rekurrenten Formulierungen führt, die Stärke oder Schwäche einer bestimmten Krankheit graduieren. Das gemeinsam adaptierte physiologische und philosophische Vokabular geben Beschreibungsroutinen vor, die zumeist – mit Ausnahme von stumpf – eher allgemeiner Natur sind. Auf der Ebene der Symptombeschreibung ist die Attribuierung und das heißt in sozialphänomenologischer Theorie die Bestimmung des Wahrgenommenen wichtig. Bei Krankheitsbildern wie der Melancholie finden sich folgende Adjektive, Substantive und Verben, die rekurrent verwendet werden: … nach kurzen hellen Zwischenräumen in dumpfen Hinbrüten überließ. Sein Zustand trug im Ganzen jetzt das Bild melancholischer Verrücktheit … (Heinroth 1818a, ZfpÄ, 249); … der die ersten Tage seines Hierseyns, seiner irren Phantasie hingegeben, müssig verbrütete. (Hayner 1822, ZfpÄ, 102); In dieser Zeit war er still, brütete düster vor sich hin; selten war er gesprächig, und dann war der falsche Sicherheitsschein die einzige Angel, um die sich seine Äußerungen drehten, und der ewige Gegenstand seines Gespräches, worauf er immer wieder zurückkam, und auf welchen er noch jetzt bei Gelegenheit verfällt. (Ruer 1819, ZfpÄ, 97); … im Gegenteil schien sie dabei in ein gedankenloses und dumpfes Hinbrüten zu verfallen. (Schneider 1820, ZfpÄ, 377), Sein ungeheurer Schmerz lößte sich in einen tiefen Gram auf, in welchem er meistens still vor sich hinbrütete. (Amelung 1824, ZFAnthro, 346). Dennoch versinkt sie keineswegs in ein leeres Träumen und Hinbrüten, sondern sie beschäftigt sich unausgesetzt mit weiblichen Arbeiten, welche sie mit großer Geschicklichkeit anfertigt. (Ideler 1841, 25)
Schon anhand dieser Belege wird erkennbar, dass usualisierte und damit lexikalisierte Metaphern, die das Wahrgenommene versprachlichen und sich so an den Erwartungshorizont des Rezipienten anschließen, besondere Bedeutung besitzen. Die einzelnen Metaphern koppeln sich im Sinne von Lakoff/Johnson (1980) an ein metaphorisches Modell, das mit der Modellierung der Krankheiten zusammenfällt. Grundsätzlich ist zu sagen, dass es wenige metaphorische ad-hoc-Bildungen gibt, die ansonsten nicht auftreten würden. Grundsätzlich sind mehrere Zugriffe auf schon lexikalisierte Metaphern feststellbar, die ich im Folgenden darstellen möchte: frühe Präferenzbildung für bestimmte Metaphern bei bestimmten Krankheitszuständen,
211 Kanalisierung von Metaphern, d. h. es gibt eine Reihe potentiell anschlussfähiger Metaphern, von denen in der Folgezeit eine bevorzugt wird,
unterschiedliche Wortschatzressourcen beim Aufbau von metaphorischen Komposita, und das Herausgreifen einzelner Metaphern aus aufgebauten Bildern, was in eine Fragmentarisierung ganzer Bilder mündet und wieder als eine Form der Typik gelesen werden kann. Bei der Genese von fachlichen Metaphern gibt es drei große Ressourcen: a) Der Gegensatz zwischen Gesundheit-Krankheit und v. a. der entsprechenden Bewusstseinszustände wird mit antonymischen Metaphern wie hell-dunkel, wachen-schlafen mit einer Reihe von Kollokationspartnern (z. B. helles Bewusstsein) verbalisiert. Bei diesen Gegensatzpaaren werden gerade Zwischenzustände für den Aufbau des Fachwortschatzes wichtig (z. B. dämmern). b) Es werden Koponyme unterschiedlicher Reihen wichtig, mit denen sich Stadien von Krankheitsprozessen verbalisieren lassen (z. B. glimmen-lodern-verbrennen mit potentiellen Konversionen/Derivationen und Prägungen wie glimmender Funke). c) Es werden Analogien aus Tier- und Technikwelt (z. B. Automaten, automatenartig) wichtig, mit denen sich der Subjektverlust eines psychisch Kranken verbalisieren lässt. Ohne Metaphern lassen sich Extremzustände menschlichen Verhaltens und Handelns offensichtlich nicht erfassen. Auffällig ist zunächst die Hell-Dunkel-Metaphorik: Diese besitzt einerseits eine religiös-theologische Verankerung, von der sie sich andererseits jedoch in der Aufklärung gelöst hat. 71 Zu diesem metaphorischen Modell gehört, wie man behaupten könnte, ein Submodell: Tag-Nacht, Schlafen-Wachen mit allen Zwischenzuständen. Metaphern prägen besonders die psychiatrische, philanthropische Essayistik: Er lebt im Lichte der Erkenntniß, die alles Dunkel verworrener Vorstellungen verscheucht, indem sie dasselbe wie mit der Helligkeit des Blitzes durchdringt und so den Tag der Einsicht erzeugt, wo vorher die Nacht der Unbegreiflichkeit herrschte, die den überwältigenden Geist mit ehernen Banden fesselte. (Heinroth 1827, 8)
Helligkeit wird mit einem gesunden Zustand („Allein der so schön und hell erschienene Stern gieng in der Nacht vom 7ten auf den 8ten Dezember ______________ 71
Diese Entwicklung wird in der Psychiatrie ebenso wie in anderen Wissenschaften vollzogen: „Die Lexik und Semantik der Theologiesprache, in der seit dem Mittelalter das Denken über die Gesellschaft überwiegend lexikalisiert wurde, wird abgelöst von der Wissenschaftssprache und der Semantik der Juristen einerseits und die Wissenschaftssprache der politischen Philosophen/Politologen andererseits.“ (Steger 1988b, 89). Allgemein konstatiert er, dass eine normative von der deskriptiven Begrifflichkeit abgelöst würde (ebd., 90).
212 traurig wieder unter …“ – Müller 1824a, 245), 72 Dunkelheit mit kranken Zuständen assoziiert (zum Maniker: „er lebt gleichsam von der physischen und geistigen Welt isolirt, wie in ein dunkles Zimmer gesperrt“ – Esquirol/Hille 1827, 421, „entweder die Seele versinkt in die finsterste Schwermuth, wenn die Gewißheit ihres Verlustes sie zu Boden wirft …“ – Ideler 1841, 18, „… und sich in eine Lebhaftigkeit zu versetzen, welche stets ein helleres Kolorit annimmt, und sogar in eine freudige Stimmung übergehen kann.“ – ebd., 55). Interessanter allerdings ist die metaphorische Verbalisierung von Zwischenzuständen, die vor allem für die Melancholie und zum Teil auch für den Blödsinn charakteristisch sind. Besonders produktiv ist die Metapher Nebel, die auf ältere Diskurse zur Melancholie verweist: … während sie von ihrer Krankheit befallen wurden, eine Art von neblichten Dunst empfunden zu haben glaubten, der sich aus den Hypochondrien gegen den Kopf zu erheben schien, und dort eine lebhafte und herrschende Vorstellung erweckte. (so Pinel/Wagner 1801, XIV in der Darstellung von Galen). Die Seele schwebt gleichsam in einem Nebel, in welchen sie theils sich selbst nicht finden kann, theils die Gegenstände wie aus weiter Ferne wahrnimmt. (Reil 1803, 69). … war der Kranke zum erstenmal ganz vernünftig; die Nebel seines Geistes waren zerstreut … (Heinroth 1818a, ZfpÄ, 248). …welche die trüben Nebel des Bewußtseins zu Schreckbildern gestaltet. (Ideler 1841, 138), Ein zu stetem Trübsinn eingeschüchtertes Gemüth erblickt sein vergangenes Leben unter dem Schleier eines dichten Nebels … (Ideler 1841, 181)
Interessant ist, dass mit einem Lexem wie trüb unterschiedliche Partner verbunden werden können, so das „trübe Glas“ oder die „trübe Gährung“. Für eine Verfachsprachlichung sind diese Reverbalisierungen der ursprünglichen metaphorischen Analogie eher hinderlich und werden in der Folgezeit, so z. B. bei Griesinger, auch entsprechend gemieden. Dahinter steckt eine Art Regel: Insofern eine Metapher die ihr zugrunde liegenden Analogien nicht mehr erkennen lässt und sie – als Zusatzbedingung – Derivationen ermöglicht, ist sie potentiell fachsprachenfähig, d. h. vor der Verfachsprachlichung muss sie verformbar sein: getrübtere Zustände (Nasse 1824, ZfAnthro, 13), kontrastierend dazu das Evozieren weit gespannter metaphorischer Netze oder Metaphernmodellen: … wenn man die trübe Gährung seiner trüben Vorstellungen wie einen langsamen Zersetzungsproceß seines ohnehin kümmerlichen Denkens in seinem ganzen Umfange übersehen könnte, … (Ideler 1848, 264; auch ders.: Sein Gemüth war daher in einer trüben Gährung begriffen, …, Ideler 1841, 180; … daß sie alle Ver______________ 72
Damit ist selbstverständlich auch die Assoziation zu Licht verbunden: „die geistigen Lebensäusserungen immer lichtartiger werden.“ (Ennemoser 1824, ZfAnthro, 98); „so ist dies doch bei dem höheren Geiste keineswegs der Fall, der nun immer mehr zu leuchten beginnt …“ (Ennemoser 1824, ZfAnthro, 107); „lichte Augenblicke“ (Jacobi 1826, ZfAnthro, 96).
213 hältnisse durch das trübe Glas ihrer verdüsterten Gemüthsstimmung angesehen, …, Ideler 1841, 182)
Gleichzeitig findet aber parallel schon eine Anverwandelung der Metaphorik statt, die eng mit dem Stecken begrifflicher Grenzen verbunden ist und schon die spätere Fachlichkeit sichtbar macht: So wird aus dem eher unspektakulären dämmern ein Dämmerzustand (im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts wird dieser Begriff sogar eindeutig terminologisiert und bildet bei Charcot in seinem Buch Epileptische Dämmerzustände schon eine eigene Krankheitsform): Wenn einige Augenblicke ein schwaches Bewußtsein ihn aufdämmerte, fiel es ihm sogleich ein, daß er in die frühere Irrenanstalt zurückversetzt sei, und sogleich wurde es wieder Nacht in seiner Seele. (Ideler 1848, 234); auch: So dämmert in seinem Bewußtsein die Besonnenheit wieder heller herauf … (ebd., 240)
Die Metaphernmodelle können sich aufgrund ihres ähnlichen Charakters überlagern bzw. isotopische Netze ausbilden: Der tösige Sinn kommt nie zur hellen äußeren Anschauung, sie erwacht nie aus dem Schlummer oder aus der inneren Benommenheit … ohne im Stande zuseyn, die erleuchtesten Strahlen in dem blinden schlaftrunkenen Selbst zu bewahren“ (Grohmann 1825, ZfAnthro, 327f.), und sie ist der Erfolg des wirrischen, verworrenen, halbschlaftrunkenen Gemütszustandes. (ebd., 329)
Insgesamt ist als eine Form der Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen wahrnehmbar, dass Metaphern, so sehr sie auch bildungssprachlich verankert sind, im medizinischen Kontext eine Bedeutungsdifferenzierung erfahren, die in der Folgezeit – vornehmlich mit dem sprachlichen Mittel der Nominalisierung – noch verstärkt wird und disziplinenspezifische Selektionsprozesse ermöglicht. Alle mit Feuer assoziierbaren Begriffe wie lodern, entbrennen, aber auch glimmen und verlöschen sind für die Versprachlichung von psychischen Abweichungen verwendbar. Zwar sind Verwendungen wie für etwas entbrennen o. ä. nachweisbar („durch das Feuer der Begeisterung aufgezehrt“ – Haindorf 1811, 207), doch ergibt sich im Zusammenhang mit Melancholie und Blödsinn eine klare Präferenzbildung zum „glimmenden Funken, der zu verlöschen droht“; auch diese Vorstellung prägt die frühste Metaphernschicht, wobei zudem entsprechende Loslösungen von präferierten Kollokationspartnern nachzuweisen sind. Hier ist also eine Kanalisierung potentiell anschlussfähiger Metaphern nachzuweisen: Manchmal scheint die Urtheilskraft während der Anfälle ganz erloschen zu seyn; der Wahnsinnige bringt nichts als Worte ohne Ordnung und ohne Zusammenhang vor … (Pinel/Wagner 1801, 24). Sobald er sich nun ganz erschöpft fühlte, und kaum noch ein Funken Lebens in ihm glimmte, erwachte auch sein Lebensegoismus … (Haindorf 1811, 201). Die allgemeine Reizbarkeit des Gemeingefühls und
214 des Sinnensystems ist eine erhöhte oder erloschene Reizbarkeit des Nervensystems, folglich eine Exaltation oder Depression desselben. (Haindorf 1811, 116), Es gleicht dem schnell vorübergehenden Auflodern eines Lämpchens, welches aufglimmt und wieder verlöscht … (Haslam/Horn 1819, ZfpÄ, 111), … tritt die Zerrüttung auf: der schwache Funken der Vernunft ist ohne Stütze, während die Leidenschaften ungezügelt und unbändig den schwachen Keim derselben vernichten … (Esquirol/Hille 1827, 52), Da die Energie der intellectuellen Fähigkeiten stets in Beziehung zu dem Gefühlvermögen und der Thätigkeit der Leidenschaften steht, so ist dies bei dem Verwirrten fast ganz erloschen, … (Esquirol/Hille 1827, 471), … daß man eben sowenig an dem geistigen, wie an dem leiblichen Scheintodte verzweifeln soll, weil selbst ein glimmender Lebensfunken durch sorgfältiges Bemühen wieder in helle Flammen angefacht werden kann. (Ideler 1848, 225). Eine etwas andere Tradition zeigt sich hier bei Arnold: … und daher werden wir, aus eben diesem Grund, in ähnlichen Fällen der Tätigkeit der Seele oft durch die wunderbaren Ausbrüche schneller Funken einer schnellen Einbildungskraft in Erstaunen gesetzt, der aber das bleibende Licht und der standhafte Schimmer fehlt, der sich bey einer regelmäßigen und lebhaften, aber nicht zu schnellen Ausübung dieser Seelenkraft äußert. (Arnold 1784, 74)
Die Vorstellung eines verlöschenden Körpers könnte auf Schelling (1799/ 1927, 88f.) basieren, bzw. durch ihn erneut popularisiert worden sein: Zweitens bietet diese Ansicht Analogien dar für eine höhere Ansicht mancher anderen Naturprocesse, z. B. die Aehnlichkeit des Lebens mit dem Verbrennungsprocesse wird dadurch erst einleuchtend. Die Wirkung der Hitze auf den verbrennlichen Körper ist Erregung seiner Thätigkeit, die man sich als Zurückstoßungskraft gegen die Wärme – (Erhitzung) – denken kann, und die, sobald sie bis zum Maximum gelangt ist, unmittelbar in das Minimum übergeht. … a) Es erhellt, daß jeder Reiz nur Reiz ist, inwiefern er die Receptivität vermindert, oder die Thätigkeit erhöht. Dadurch allein ist er Reiz, daß er sein (reell=)Entgegengesetztes (Thätigkeit) hervorbringt. … Es erhellt endlich aus diesem Begriff des Reizes (daß er sein Entgegengesetztes hervorbringe), warum aller Reiz endlich mit absoluter Erschöpfung der Reizbarkeit endet, und wie so die Natur in Ansehung jeder Organisation endlich ihren Zweck erreicht. Sie erreicht ihn auf dem gerad’ entgegengesetzten Weg von dem, worauf sie es versuchte, die Lebensthätigkeit ist die Ursache ihres eignen Erlöschens. Sie erlischt, sobald sie von der äußeren Natur unabhängig, d.h. für äußere Reize unempfänglich zu werden anfängt, und so ist das Leben selbst nur die Brücke zum Tode. 73
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Metaphorische Modelle können auch eine grundlegende Modernisierung erfahren (s. dazu auch Kap. 5):„Ein Neurastheniker gleicht einer schlecht isolierten flakkernden, zittrigen, elektrischen Lampe, ein Hysteriker einer solchen mit Kurzschlüssen, Brandstiftungen und Explosionen.“ (Schleich, zit. n. Radkau 1998, 239). Nach Radkau verglich ein amerikanischer Gynäkologe den weiblichen Genitalbereich mit einem „zentralen Telegraphenamt, wo die Drähte zu jeder Ecke und jedem Winkel des Systems ausstrahlen, …“ (1998, 240)
215 Für die Melancholie ist also folgendes Vokabular anzuführen: stumpf, düster/finster (mit Varianten), in-sich-gekehrt/versunken, verlöschender Lebensfunke, die auf die Physiologie zurückgehenden Lexemen wie matt oder abgespannt sowie die sprachliche Verbalisierung der verbrauchten Lebenskraft, das sich z. T. mit der Beschreibung des Blödsinns überschneidet, der jedoch auch seine eigenen Metapherngruppen produziert: … mit dem Aufhören des geistigen Lebens in reine Vegetation zurücksinken … (Haindorf 1811, 103); L. ist ganz blödsinnig, mit dem Aufhören des geistigen Lebens ist der Organismus in die reine Vegetation zurückgetreten: alle Sinne haben sich auf einen, den Hungersinn reducirt … (Elser 1817, 38f., zit. n. Kaufmann 1995, 200). Oder: prädisponieren zu Seelenstörungen, indem sie das Gemüth und den Geist zu einer Leere führen, … (Esquirol/Hille 1827, 47)
Während die bisher thematisierten Modelle ihre Bedeutung für den psychiatrischen Diskurs v. a. durch Prozeduren der Anverwandelung, Verfremdung und Bedeutungsverengung gewinnen, gibt es Metaphern, deren bildungssprachliches Korrelat keine Toposhaftigkeit für andere Diskurse besitzt. Dies ist insbesondere bei Erscheinungen der Fall, die keine eindeutige Parallele zu selbst erfahrbaren Zuständen besitzen, so bei der Katatonie. Die Vorstellungsbündelung durch den phraseologischen Vergleich starr wie eine Bildsäule/Statue 74 ist bis heute nachweisbar: „Es gibt schwere Störungen der Willkürbewegungen des Menschen, wobei jemand zur Bewegungslosigkeit erstarren, zur Statue werden kann“ (Dörner/Plog, 61990, 157) und Griesinger (21867) spricht von einer „statuenartigen Fixität“ (ebd., 234). Ähnlich dieser Melancholie ist jener Zustand, welchen Reil und andere Katalepsis nennen, …. Eine solche Person ist wie eine Bildseule, wenn eine solche cataleptische Person etwas in der Hand hat, so behält sie [es] darinn. – Sie fallen nicht um, und man kann ihnen eine Stellung geben, welche [man] will, sie sind wie von Wachs … (Autenrieth o.J., zit. n. Hesselberg 1981, 110), In dem dumpfen Wahnsinn ist der Kranke unbeweglich wie eine Bildsäule. Er steht, sitzt oder liegt auf einer Stelle, rührt weder Hand noch Fuß, hat die Augen geschlossen, oder starrt kurz und ängstlich herum, ohne die Eindrücke in ihrer Verbindung wahrzunehmen. Er begehrt weder Speise noch Trank, verschlingt sie aber ohne Besonnenheit, wenn sie ihm gebracht werden. (Reil 1803, 361), … einer von ihnen wurde in einem blutigen Gefecht an der Seite seines Bruders erschoßen; der andere erstarrte bey diesem Anblick wie eine Bildsäule. (Pinel/Wagner 1801, 180), … stand bewegungslos wie eine Bildsäule dar (Hill 1821, ZfpÄ, 164), … und sind ohne Leben und Empfindung, völlig einer Statue gleich. (Haindorf 1811, 200), Einmal, wie das anderemal stand sie den Tag hindurch wie eine Bildsäule, sprach- und bewegungslos … (Müller 1824a, 258), … verlohr sich der Krampf und der Zustand ging nun in Katalepsie über, wobei sie wie ______________ 74
Das Lexem „Bildsäule“ ist zuerst bei Luther nachweisbar. Der Vergleich selbst wird verstärkt im 18. Jahrhundert verwendet (vgl. DWB, Bd. 2, Sp. 21). In der Literatur wird dieser Verweis vielfach verwendet, z. B. in Schillers Räubern.
216 eine Statue dastand … (Müller 1826, ZfAnthro, 309), Sie glich einer Bildsäule, die da stehn oder liegen blieb … (Amelung 1826, ZfAnthro, 106), … und erschließt dann jede Empfänglichkeit und Bildsamkeit der Seele so vollständig aus, daß sie gleichsam zu einer Mumie erstarrt, welche dem Beschauer stets ihr versteinertes Antlitz darbietet. (Ideler 1848, 218). Auf das Krankheitsbild kann auch nur angespielt werden, was zur Fragmentarisierung des bildlichen Rahmens führt: Auch jetzt wechselten tobsüchtige Anfälle mit solchen, in denen er sich in einem Zustande psychischer Starrsucht befand, … (Jacobi 1830, 209) 75
Verbunden mit den kataleptischen, jedoch auch manischen Zuständen kann auch das Bild des Kranken als eines nur noch funktionierenden, aber nicht mehr eigenmächtig entscheidenden Automaten oder Uhrwerks sein: Der Melancholische handelt absurd im Gefolge kranker Vorstellungen, der Tobsüchtige im Gefolge eines blinden Impulses. Beide können zerstören, wüthen und morden, aber aus verschiedenen Bewegursachen, dieser wie ein Automat, jener nach Zwecken. (Reil 1803, 377); Das Leben des Kranken war automatisch, ihre Urtheilskraft verdunkelt; ihre Geschwätzigkeit ergoß sich in Einem fort. (Sc. Pinel 1821, ZfpÄ, 150), … mechanische Passivität (Grohmann 1825, ZfAnthro, 308). Einige Idioten haben ganz sonderbare Bewegungen, und scheinen Maschinen zu seyn, die man immer zu denselben Bewegungen aufzieht, … (Esquirol/Hille 1827, 505), Endlich fühlte er doch das Drückende seines Zustandes, den ein mechanischer Fleiß zu einem seelenlosen Uhrwerk gemacht hatte, und die empfundene Leere in seinem Inneren nötigte ihn zur Reflexion über das erwachte Verlangen nach freieren Regungen. (Ideler 1848, 253)
Ebenso wie bei depressiven Zuständen ein bestimmtes Vokabular bevorzugt wird, schaffen exaltierte Zustände ihr eigenes metaphorisches „Universum“. Anders allerdings als im Falle der Depression ist das metaphorische Modell und die konstitutive Analogie zum einen die Parallelität von Naturzuständen mit Exaltationszuständen, zum anderen die Verwandtschaft zwischen Tieren und Menschen, bzw. zwischen psychisch Kranken und Kindern. Am auffälligsten ist die Gleichsetzung von heftigen „Gemütsbewegungen“, Handlungen und allgemein Verhaltensweisen mit Stürmen. „Die Stürme der Leidenschaften“ oder der „Sturm der Leidenschaften“ sind ein literarischer Topos, der sich bis in die Frühe Neuzeit zurück verfolgen lässt und der seinerseits auf dem Mittellateinischen basiert, auf Konrad Summenharts Oratio funebris et luctuosa (1496) 76 – schon in der Renaissance werden die passions als Gefahr für den Seelenfrieden gesehen. In den Krankengeschichten erscheint dieser nominale Phraseologismus, der der Bildungssprache zuzurech______________ 75
76
Möglicherweise geht das auch auf die Condillacsche Bildsäule zurück: „Man weiß, daß Condillac um durch die Analyse auf den Ursprung unserer Kenntnisse besser zu gelangen eine belebte Bildsäule annimmt, …“ (Pinel/Wagner 1801, 22). Auch Albertus Magnus hatte allerdings schon im dreizehnten Jahrhundert versucht, eine redende Bildseule zu konstruieren. Dazu siehe: www.sfb541.uni-freiburg.de/B5/Eberhard/SU-Edition.html.
217 nen ist, häufig. Ebenso häufig wird bei der Schilderung von manischen Zuständen auf das wahrscheinlich dephraseologisierte metaphorische Verb stürmen, auf das Substantiv Stürme 77 und auf das Adjektiv stürmisch zugegriffen. Die Wortfamilie als solche kann geradezu als Schibboleth des frühen psychiatrischen Diskurses gewertet werden, zumal sich bei stürmisch Anzeichen einer frühen Monosemierung („stürmische Kranke“ als eigene Krankheitsgruppe, „stürmische Unruhe“ als häufige Verbindung) finden lassen. Gleichzeitig zeigen sich bei stürmisch Grammatikalisierungsprozesse, da sich dieses Adjektiv z. T. einer Graduierung oder Intensivierungsmarkierung annähert. So wie jetzt die leiblichen Regungen ruhiger werden, so legen sich auch die inneren Triebe und Wallungen; die Stürme der Leidenschaften hören auf zu brausen. (Ennemoser 1824, ZfAnthro, 105); …, mit welcher der seine Nerven durchtobende Sturm der Leidenschaften sein ganzes Lebensgefühl folterte … (Ideler 1841, 200) Die Wahnsinnigen jeder Art äußern eine Art von vorübergehender Aufwallung und stürmischer Unruhe bey Annäherung der Stürme oder bey einer sehr warmen Temperatur, … (Pinel/Wagner 1801, 11), Wüthende Kranke werden hierdurch gebändigt, stürmische und unruhige wurden zur Folgsamkeit und Ordnung gebracht, … (Horn 1818, 226); Viele Geisteskranke, besonders tobsüchtige, unruhige, stürmisch Wahnsinnige, … wurden in eine viel ruhigere Stimmung versetzt … (ebd., 232), Die freundlichen Anklänge aus der früheren genußreichen Zeit besänftigten den Sturm. (Hayner 1822, ZfpÄ, 103), Bald trat eine höchst stürmische Periode, eine so unleidliche Tobsucht ein … da die Kranke gerade zu stürmen anfing. (Richard 1822b, ZfpÄ, 129); Statt aber, nach meiner Absicht, ruhiger und weniger verwirrt zu werden, wurde er unruhiger und stürmender. (Müller 1824a, 201). Genoß er auch noch im Zirkel seiner Freunde manchmal ein Ruhestündchen, so folgten jedoch bald wieder schwere Stürme. (ebd., 268)
Im Zusammenhang mit körperlichen Erscheinungen: … indessen vermag ein allzuheftiger und stürmischer Einfluß des Blutes, die Sinne plötzlich umzuändern, … (Amelung 1826, ZfAnthro, 166); je nachdem die erregenden Ursachen langsamer oder stürmischer einwirken. (ebd., 168); Der Zeitraum der Katamenien ist für die gestörten Frauen immer ein stürmischer, selbst bei denen, wo sie in gehöriger Ordnung sind. (Esquirol/Hille 1827, 62), … der acute und stürmische Verlauf … (Esquirol/Hille 1827, 74); Die Oscillationen im Gefäßsystem waren viel heftig ungleich und stürmisch … (Jacobi 1830, 622) ______________ 77
Auch in den folgenden Verwendungen nachzuweisen; „… daß die Seelenstörungen, die seit dreißig Jahren in Frankreich ausgebrochen sind, immer den Character der Stürme, die Frankreich seit dieser Zeit in Bewegung setzten, annahmen …“ (Esquirol/Hille 1827, 49; „Die in Frankreich seit dreißig Jahren erfolgten Veränderungen der Sitten haben mehr Seelenstörungen herbei geführt, als die politischen Stürme.“ – ebd., 54)
218 Der Sturm der Leidenschaften ist nicht der einzige referentielle Phraseologismus, der in den frühen Texten verwendet wird. Daneben erscheinen: die Sprache des Herzens: „… sein beginnendes Lächeln vor allem sein Blick werden nun bedeutungsvoll. Es liegt die Sprache des Herzens in seinem Blick …“ (Nasse 1824, ZfAnthro, 14); Augen, „in denen die Sprache des Herzens und das Licht des Geistes ausgelöscht war“ und die ihn an die Augen eines „wilden Thiers“ erinnerten (Pockels 1794, 155); die Orientierung am Schönen, Wahren und Guten: „Die Richtung zum Guten, Schönen und Wahren …“ (Nasse 1824, ZfAnthro, 17); „wie im Gemüth das Gefühl des Wahren und Guten …“ (Ennemoser 1824, ZfAnthro, 104); „Er muß daher die Idee des Wahren, Guten, Schönen mit selbstsüchtigen Interessen vertauschen, welche ihn jedesmal zum Sklaven der bestehenden Verhältnisse machen, …“ (Ideler 1848, 217)
Während letztere schnell verschwinden und den psychiatrischen Diskurs fortan nicht mehr prägen, wahrscheinlich, weil ihre Kulturgebundenheit zu offensichtlich ist, werden die „Stürme der Leidenschaften“ aus ihrer Toposhaftigkeit gelöst, so dass stürmen/stürmisch neben wüten, toben zum Grundvokabular der sich nun etablierenden Beschreibungssprache gehören. Die Metapher „Sturm“ ist eine Kernmetapher des Initialdiskurses und wird variantenreich eingesetzt. Die zweite nachweisbare Analogie im Kontext von manischen Erkrankungen stellt die Analogie „Psychisch Kranke verhalten sich wie Tiere“ dar. Damit ist verbunden, dass sie wie Tiere gezähmt werden müssen. Das sich um die Analogie rankende metaphorische Modell lässt sich früh in Schriften nachweisen und gehört ebenfalls zu den bildungssprachlichen Ressourcen: 78 Die Tollheit (mania) heißt bei den Griechen Wuth, bei den Lateinern aber insania, furor, rabies, und diese Benennung kommt daher, weil die mit derselben Behafteten für Wuth rasend, verwegen, und wie Thiere wild sind. Tollheit ist also ein heftiges, fieberloses Irrereden. (Arnold 1784, 42); Der Tolle schwatzt viel, ist jähzornig, zänkisch, schreyt, sieht gräßlich aus, und ist unter den vermehrten Kräften seines Körpers nicht bey sich, so daß er auch, wie ein wildes Thier, die Beystehenden mit Zähnen, Nägeln und Fäusten, mit ungewöhnlicher Wut anfällt. (Arnold 1784, 48) ______________ 78
„Beide Erscheinungsformen dieser Verwandlung, das wilde Tier oder die wesenlose Maschine, bedeuteten in ärztlicher Interpretation den Abbruch menschlicher Verstandesfähigkeit und -bereitschaft. … Das erklärt die fast ungehemmte und in vielen Fällen verzweifelte Gewaltanwendung der Irrenärzte in ihrer Therapie, die Verabreichung der sogenannten heroischen Mittel. Körperlicher Schmerz, z. B. beim Brennen mit glühendem Eisen beigebracht, galt wenigstens bei den erwähnten schweren Krankheitsbildern von Rasenden und Tiefsinnigen als das letzte und geeigneste Mittel, die gespaltenen Teile des Ichs wieder zusammenzufügen.“ (Kaufmann 1995, 302)
219 Die Wahrnehmung von Kranken als tierähnlich, schließt sich direkt an die frühe Erfahrungsseelenkunde an. Der Erfahrungsseelenkundler und Pädagoge Friedrich Pockels spricht bei seinem „Höllengang“ in das Celler Zucht- und Irrenhaus von einer „bis tief unter das Thier gesunkenen Menschheit“ und betont die scharfe Grenze zwischen ihr und der „gesunden Vernunft“ (Pockel 1794, 148f.). Gleich vorn an der Tür stand eine unförmliche, stinkende, männliche, mit Lumpen nur halb bedeckte Fleischmasse, die nur noch wenige Züge der in ihr fast thierisch gewordenen Menschheit an sich trug … Neben ihm saßen mehrere Wahnsinnige mit wahren Orang-Outangs-Gesichtern, worauf jeder Zug den höchsten Grad der Dummheit, oder einer bloß durch die Furcht vor Strafen zurückgehaltener Bosheit ausdrückte. (ebd., 151) … wodurch ihr Gemüth, das früher ungezähmt, stürmisch, hart und wild war, … (Haindorf 1811, 126), So ward dieser thierisch unbändige Mensch zahm und umgänglich; er ward zusammenhängender und heller im Kopfe. (Hayner 1822, ZfpÄ, 103); … welche eine wohlgerichtete Irren-Anstalt zur Zähmung einer so unbändigen, rohen Natur darbietet … (Ulrich 1820, 145), brüllte dann fürchterlich wie ein wildes Thier. (Ulrich 1820, 151); … so fällt der Kranke immer tiefer in die Nacht des Irreseyns, er verliert immer mehr, sowohl geistiger als körperlicherseits den Adel der Menschenbildung, sein Wahnsinn geht in Blödsinn über, er sinkt zum Thier, ja unter das Thier herab … (Amelung 1826, ZfAnthro, 193). …der den Gebrauch seiner Glieder und seines Verstandes so verloren hatte, daß er einem Thiere ähnlich aus einer Schüssel die Speisen mit dem Munde herausschlappte, in allem wie ein Thier sich betrug, … (Müller 1824a, 47)
Seltener – vornehmlich im Kontext mit Blödsinn – werden die Kranken mit Kindern verglichen, die zu erziehen sind (interessanterweise ändert sich dies später): Es ist in mancher Hinsicht mit den Wahnsinnigen wie mit Kindern … (Haslam/Horn 1819, ZfpÄ, 123). Zwar stellte sich keine Reinigung ein, doch bekam sie allmählich mehr Lust an dem Umgange mit, ihr Jammern und Weheklagen hörte bereits auf, ob sie gleich noch oft wie ein Kind dummes Zeug schwätzte. (Müller 1824a, 243f.)
Parallel zu diesen metaphorischen Modellen verwenden die Psychiater die sich um die Wortfamilie Fessel oder Zügel gruppierenden metaphorischen Lexeme, wobei zu unterscheiden ist zwischen entfesselt/zügellos zur Bezeichnung manischer Zustände und gefesselt (an) zur Charakterisierung depressiver Verhaltensweisen. Gleichzeitig können diese metaphorischen Modelle mit usualisierten Phraseologismen wie Zügel der Vernunft abwerfen verbunden sein. … Zügel der Vernunft abwerfen (Hoffbauer 1802, Bd. III, 134), wie Zügellosigkeit der Geschlechtstriebe … (Ennemoser 1824, ZfAnthro, 104), … oder mit unablös-
220 lichen Fesseln sich an eine Felsenwand der Zeitumstände und scheinbaren Nothwendigkeit schmiedet. (Ennemoser 1824, ZfAnthro, 109) eine Besonnenheit … die auf das sonderbarste der Befangenheit seines Traumlebens, worin er demohnerachtet gefesselt blieb, kontrastirte. (Jacobi 1826, ZfAnthro, 84), So mit allen Neigungen und Leidenschaften, deren Sklaven wir sind. So auch mit den Geistes= und Willens=Fesseln, die wir uns leider nun gar oft in arger Verblendung selbst anlegen, … (Heinroth 1827, 11) (Hervorhebung v. d. Verf. – B-M. Sch.)
Die unterschiedlichen Metaphern können auch kombiniert werden: … die Seele durch mächtige Erschütterungen des sinnlichen Gefühls aus ihrem Todtenschlaf zu rütteln, wenn nicht ihre Kräfte unter der schweren Fessel erlahmen sollen, … (Ideler 1848, 224), aber doch so, daß nach dem Sturme der Affekte die Universalität des Gemüts sich wieder herstellen kann, indeß die Leidenschaften das gefangene Gemüth nie aus den Fesseln lassen. (Haindorf 1811, 141) (Hervorhebung v. d. Verf. – B-M. Sch.)
Die Metaphernmodelle zeigen enge Verbindungen zu lexikalisierten/usualisierten Phraseologismen und Metaphern. Die Leistung der Verfasser von Krankengeschichten und Monographien besteht darin, sie zum einen auf bestimmte Krankheitsformen zu beziehen und über die Rekurrenz der Verwendung die Möglichkeit einer spezifischeren Verwendungsweise zu erreichen. Zudem ist zum anderen charakteristisch, dass sich textsemantische Netze herausbilden, die auf der morphologischen Variation des Ausgangslexems fußen. Interessanterweise werden in der Folgezeit allerdings nur solche metaphorischen Modelle weiterverwendet und bearbeitet, die sich ihres kulturellen Kontextes entkoppeln lassen. Keine Darstellung manischer und wahnsinniger (bezogen auf den Geist) Zustände kommt ohne die metaphorischen Kompositabildungen Ideenjagd und Ideenflucht sowie ohne den phraseologischen Terminus fixe Idee aus. Sowohl Komposita als auch der Phraseologismus, deren bildungssprachliche Verbreitung angenommen werden darf, gehören zu den Lexemen, die in der Folgezeit monosemiert werden und noch heute zu den psychiatrischen Fachlexemen zu rechnen sind. Auch hier zeigt sich die Tendenz die einzelnen lexikalischen Komponenten nicht nur frei einzusetzen, sondern auch Verwendungen zu stabilisieren, die mit Blick auf die Gemeinsprache zur Polysemie führen, was bspw. bei flüchtig der Fall ist (i.S.v. „der Patient war flüchtig“ als „der Patient zeigt Anzeichen von Ideenflucht“). Auch bei der Ideenflucht ist es der Fall, dass das zugrunde liegende Bild in elaborierter Form erscheinen kann, wobei die bildlichen Merkmale in der Folgezeit stark bearbeitet und gekürzt werden (vgl. Kap. 5.1.2): Unmittelbar zur Zeit, wo die Tobsucht in seinen heftigsten Anfällen obwaltet, scheint das Vorstellungsvermögen entweder an einer schnellen Flucht der Ideen oder an einer Catalepsie zu leiden, … In dem ersten Fall braust ein loderndes Feuer in der Phantasie, isolierte und losgebundene Vorstellungen drängen sich und fliehn
221 pfeilschnell vorüber, daß die Aufmerksamkeit sie nicht festhalten, der Wille sie nicht zügeln, das Associationsvermögen sie in keine Verbindung bringen und das Gedächtniß sie nicht reproduciren kann. Es entstehen Verspätungen der Handlungen, weil der Wille und das Vermögen zu handeln nicht nachkommen, … Daher das wilde und zügellose Aufbrausen und der blinde Trieb zu eben so momentanen, isolirten, unzusammenhängenden, gleichsam convulsivischen Handlungen, in dem Augenblick, wo sie geschehen, ohne Vorstellung eines Zwecks geschehen. (Reil 1803, 373) … bei der Ideenjagd … Zuweilen folgen diese tumultarischen Bewegungen so rasch aufeinander, daß eine Idee die andere jagt, die Vorstellungen, ohne Haltung, wie losgebunden und irre, sich herumtreiben, Bild auf Bild vorrüberrennen, und wie Bäume und Häuser beim schnellen Fahren, dahin fliehen … (Haindorf 1811, 275), So sagt er, strömen bei der Ideenjagd, die Vorstellungen mit Macht herbei … (Haindorf 1811, 274), Die Vorstellungen jagen und treiben sich haltungslos, … (Haindorf 1811, 326), … ein noch zuweilen auf Momente bemerkbarer, etwas abnormer Ideenflug … (Ruer 1819, ZfpÄ, 102); Ich fand bei ihr keine herrschende oder sogenannte Hauptidee, sondern einen unaufhörlichen Wechsel von Ideen, eine sinnlose Geschwätzigkeit, Flatterhaftigkeit … (Schneider 1820, ZfpÄ, 349), … das tumultarische und zwecklose Jagen, Treiben und Schwatzen bei ihr verminderte … (ebd., 382), … er ist daher unruhig, unstät und flüchtig. (ebd., 367), Er war im höchsten Grade flüchtig. (Hill 1821, ZfpÄ, 176), dass ihm die flüchtige Idee gekommen war … (Busch 1824, ZfAnthro, 215), das Irreseyn ist allgemein, die Ideen sind sehr zahlreich, häufig ehrgeitzig, folgen einander mit der größten Geschwindigkeit der Seele, aber ohne Ordnung und Verbindung unter sich; die Geschwätzigkeit ist unaufhörlich und überschwänglich, … (Bayle/Hohnbaum 1826, ZfAnthro, 135). … die Gedanken folgen sich im Fluge, verwirren sich, springen von einem Gegenstand zum andern, das persönliche Verhältniß des Menschen zur Außenwelt wird entrückt … mit einem Worte; er ist seiner Vernunft nicht mehr mächtig … (Amelung 1826, ZfAnthro, 179); Bewegt, rasch, kühn, gleichsam begeistert, sprach und handelte er mit der größten Energie und Gewandtheit; die Ideen drängten einander mit wunderbarer Schnelligkeit … (Jacobi 1830, 600). 79 So sehr sich die Bilder auch gleichen, so sind sie z. T. auch kreativ und werden nicht rekurrent verwendet: Es war zuweilen wie wahres Flechsenspringen. (Nasse 1821a, ZfpÄ, 171). Wir sehen namentlich fast immer in der Tobsucht, wo die Vorstellungen zügellos durcheinander schweifen, zu den entlegensten Gegenständen überspringen, … In wilder Hast fliehen gehässige oder erschreckende Bilder vor dem Bewußtsein vorüber, wodurch das Gemüth seine innere Empörung austobt. (Ideler 1841, 5f.); … wo sie im irren Fluge gleichsam einen Streifzug durch die ganze Welt macht, indem sie immerfort zu den ent______________ 79
Nicht alle Metaphern jedoch sind dazu geeignet, Anschlüsse an den späteren Diskurs zu ermöglichen: „bis sie sich über alle Räume in das reine Licht der Geister erhebt, gleich dem symbolischen Schmetterling, der aus dem kleinen unsichtbaren Eipunkt sich zur schweren irdischen Raupe entwickelt, … (Ennemoser 1824, ZfAnthro, 99). Manche sind schlichtweg misslungen: „… trägt der fanatische Wahnsinnige gleich jedem Dominikaner von ächtem Schrot und Korn nicht das geringste Bedenken, seine Faust in das Blut der Schlachtopfer seiner Raserei zu tauchen …“ (Ideler 1848, 364)
222 ferntesten Dingen und Verhältnissen überspringt. (Ideler 1841, 53) (Hervorhebungen v. d. Verf. – B-M. Sch.)
Mit den thematisierten metaphorischen Modellen können auch andere verbunden oder an diese angelagert werden: Damit ist bspw. das metaphorische Modell des roten Fadens verbunden: So erweiset es sich hier, wie überall, daß dem Geisteskranken der Faden seiner Vorstellungen plötzlich abreißt, wenn die aus seinem Wahn sich nothwendig ergebenden Folgerungen gezogen werden sollen, … (Ideler 1841, 10). Die Vorstellung vom Faden taucht zumindest bei Ideler (1841, 195) auch im Kontext von Gewebe auf: … sie bildeten gleichsam den Aufzug des Gewebes, in welches als Einschlag die verschiedenartigsten, theils durch Ideenassociationen, theils durch augenblickliche Gefühlsstimmungen hervorgerufenen Nebenvorstellungen sich verflochten. (Ideler 1841, 195) Oft strömt aus ihrem Munde ein unversiegbarer Fluß von Worten, die einzig auf den Wahnsinn Bezug haben, der sie beherrscht (Bayle/Hohnbaum 1826, ZfAnthro, 125); … immerwährende und lächerliche Ebbe und Fluth von abenteuerlichen Vorstellungen, die einander begegnen, mit einander wechseln … (Pinel/Wagner 1801, 174) (Hervorhebung v. d. Verf. – B-M. Sch.)
Gleichzeitig zeigt sich ein Kernbereich von Formulierungen, die genuin psychiatriespezifisch sind bzw. die von Beginn an mit psychiatriespezifischen Konnotationen gebraucht werden: Dazu gehört die Übernahme der von Esquirol so benannten Monomanie, die sich dadurch auszeichnet, dass ein Wahnsinniger eine fixe Idee verfolge, i.S. von: „und um das Fortspinnen ihrer einmal fixirten Idee kennen zu lernen …“ (Haindorf 1811, 298; Hervorhebung v. d. Verf. – B-M. Sch.) oder: „Eben so geht es dem Hypochondristen. Ihn quälen fixe Ideen in Beziehung auf seinen körperlichen Zustand … Das Vermögen, den Ungrund der fixen Ideen einzusehn, stirbt in unmerklichen Graden ab. Von dem klarsten Bewußtseyn der Täuschung geht es durch ein Intervall des Zweifelns zur völligen Ueberzeugung, die fixe Idee sey reel, also zum Wahnsinn fort.“ (Reil 1803, 309; Hervorhebung v. d. Verf. – BM. Sch.). 80 Der schon im 18. Jahrhundert in der französischen Bildungssprache nachweisbare Phraseologismus ist ein Kernphraseologismus, wobei auch bei diesem deutlich wird, dass der Grad der morphologischen Variierbarkeit und die Nutzung der gesamten Wortfamilie ein interessanter Indikator der beginnenden Verfachsprachlichung ist, die sich v. a. an der Variante fixieren zeigt:
______________ 80
Z. T. lassen sich auch Varianten dieser Form der Kollokation in den Schriften ausmachen: „… er hängt seiner lieb gewordenen Idee so lange nach, bis ein gänzlicher Wahnsinn an die Stelle der Realität getreten ist.“ (Müller 1824, 198)
223 Liebe zum Leben, Sehnsucht nach Genesung besiegten den fixierten Kummer … (Hayner 1819, ZfpÄ, 100); Ihre Wahnvorstellung hatte sich nun fixiert; … (Vogt, ZfAnthro 1824, 160), Es fixierte sich bei ihr die Idee … (Müller 1824a, 234f.); Anhaltend war dagegen dabei der schnelle Wechsel der Vorstellungen und das gänzliche Unvermögen solche zu fixiren … (Jacobi 1844, 37) … mit einer Überfluthung nicht zu fixirender Vorstellungen … (Jacobi 1844, 39) (Hervorhebung v. d. Verf. – B-M. Sch.)
Zu den häufig – unabhängig von der Krankheitsform – benutzten Analogien gehört die Vorstellung, dass das Gefühlsleben sowie die körperliche Organisation mit Musik oder Musikinstrumenten zu vergleichen seien. Mag das Gehirn einmal als ein zusammengesetztes Kunstwerk aus vielen tönenden Körpern gedacht werden. (Reil 1803, 46), Der Körper gleicht einer Orgel; bald spielen diese bald jene Theile zusammen, wie die Register gezogen sind. Es werden gleichsam Provinzen abtrünnig, man verzeihe mir diese bildliche Sprache, die man in der Psychologie nicht entbehren kann. (Reil 1803, 64; Hervorhebung v. d. Verf. – B-M. Sch.) Wenn man den geschicktesten Musiker von der Welt vor ein unbezogenes und zerbrochenes Instrument setzte … (Armstrong 1821, ZfpÄ, 210), … Griff und Saiten geregelt, so tönt der schöne harmonische Einklang der Gatten- und Kinderliebe hell durchs Leben. Aber nur zu oft lassen sich hier Mißtöne hören und die Natur rächst sich an Jenen, die diesem Triebe entweder in ausgelassenem Sinnestaumel fröhnen oder ihn mit den Rechten der Natur frevelnder Hand zu ersticken suchen. (Friedreich 1834, 323)
Ein Element des damit verbundenen Bildfeldes wird sich als besonders langlebig erweisen, nämlich die Vorstellung von Gefühlstönen, die möglicherweise auf den in der Humanphysiologie schon verbreiteten Muskeltonus (Ruhetonus und gesteigerter Tonus der Muskelspannkraft) zurückgehen könnten. Das DWB hält den Gefühlston jedoch für eine metaphorische Übertragung: „ton und töne als ‚empfindungston‘, ‚gefühlstöne’, ‚stimmungen des gemüts‘. auch dieser gebrauch des worts ist unmittelbar aus der anwendung von ton auf den ausdruck, den inhalt der rede hervorgegangen, die ja oft nach dem gefühls- und empfindungsgehalt bestimmt werden; …“ (ebd., Bd. 11,1. Abt., Sp. 746). Die Vorstellung eines psychischen Tonus gibt den Grad von Spannkraft, Gelöstheit oder Verkrampfung an: Wie soll endlich ein Mensch behandelt werden, der durch übermäßige Anstrengungen seiner Seele zum Narren geworden ist? Diese Ursache zerstört den Ton der Eingeweide des Unterleibes, durch die sitzende Lebensart und greift das Nervensystem unmittelbar an. Sie macht finster, kleinmüthig, hypochondrisch und endlich toll. Tasso, Pascal, Peter Jurieu und andere sind davon redende Beweise. Man muß diese Kranke salben, reiben, zur Bewegung anhalten. … Das Gehirn gleicht einem Acker, der durch die Brache neue Kräfte sammelt. Ihre Diät muß erquickend, nahrhaft und leicht verdaulich seyn. (Reil 1803, 297f.)
224 4.3.2.4 Die pragmatische Regularisierung von Bezeichnungsalternativen In allen bisher thematisierten Fällen sind tradierte Metaphern und Phraseologismen das Spielmaterial, mittels derer sprachliche Präferenzen in bestimmten Kotexten und in der Folgezeit Formulierungsroutinen geschaffen werden. Den Verwendungspräferenzen liegt eine pragmatische Regularisierung, verbunden mit einem Rekurrenzkriterium, zu Grunde: „Die Beteiligten selbst konstruieren durch ihr Sprechen die für die Verständigung relevanten Kontexte.“ (Feilke 2003, 50) und „Die Leistungs-Einheiten einer idiomatischen Kompetenz werden durch die und in der Textproduktion selbst gewonnen und konstruiert.“ (ebd., 57). Im Kern bedeutet dies, dass der gerade durch Synonyme mögliche Gestaltungsspielraum durch das Schreiben selbst eingegrenzt und sich illokutionäre, propositionale und textuelle Ordnungsleistungen ergeben. Die pragmatische Regularisierung von Verwendungen basiert im Regelfall darauf, dass ein starkes Nebeneinander synonymer oder quasi-synonymer Begriffe verfügbar ist. Dazu gehören beispielsweise: Anlage/Disposition; aufgeregt/exaltiert; Erregung/Aufregung/Exaltation; 81 erregen/affizieren; moria/Narrheit; Schwermuth/Tiefsinn/Melancholie; Verstandesschwäche/Demenz; Zufall/Symptom; 82 Ausbruch/Explosion; Kraft/Energie; geistig/intellektuell; blöd/stupid; Blödheit/Stupidität; abnorm/annomal; Affectionen/ Leidenschaften; hemmen/deprimieren.
Auch Komposita sind nachweisbar wie: Ideenverbindung/Ideenassociation (z. B. Haslam/Horn 1819, ZfpÄ, 109) oder die Subgliederung von Vorstellungen z. B. durch Illusionen/Chimären, wodurch erste Ober-, Unterbegriffsrelationen aufgebaut werden. Bei den parallel verwendeten Begriffen sind auch einige echte Latinismen nachweisbar, z. B. in den folgenden Reihen: sanft/leicht/suvia oder Gemeingefühl/sensorium commune. Wie schon häufiger betont, werden in den frühen psychiatrischen Texten unterschiedliche Traditionslinien kontextualisiert, was zu einer Vielzahl bedeutungsähnlicher Lexeme führt, die dazu eingesetzt werden, um Krankheiten, Symptome oder Ursachen zu versprachlichen. Die Verteilung der Lexeme ist, wie ich zeigen möchte, aufschlussreich und provoziert zum Teil spekulative Antworten auf die Frage nach eben dieser Verteilung. Die Antworten weisen in folgende Richtungen: a) Vermeidung oder Adaption bestimmter Tradi______________ 81
82
Schon früh nachzuweisen: „Dieser Zustand der heftigen Exaltation kann nicht lange dauern, und geht in eine leichte Raserey, in Blödsinn, oder in den Tod über.“ (Reil 1803, 376) „Zufall“ wird im 19. Jh. allerdings in der gesamten Medizin verdrängt, vgl. DWB, Neubearb., 1416 (X/IV, Beleg „Symptom“), ist also nur ein relativ kurzlebiger Konkurrenzbegriff.
225 tionslinien, b) Versuche, sich von anderen Disziplinen abzusetzen und c) der Versuch, einen homogenen Stil zu erreichen. Die sich zeigenden Verschiebungen von Lexemverwendungen und damit verbundenen Selektionsprozesse lassen sich daran ablesen, wie die dem Traditionsbestand entstammenden Lexeme Raserei, Wut, Tobsucht, Furor und das durch die französische Schule stark propagierte Manie verwendet werden. Gerade die Lexeme aus dem Erbwortschatz scheinen zum Teil, wie an etlichen Koreferenzketten ersichtlich wird, austauschbar verwendet zu werden, z. B.: „Die Art, wie man es auch dem Wüthendsten anlegen kann, ist folgende. Drei Menschen gehen schnell auf den Rasenden zu …“ (Hayner 1822, ZfpÄ, 117) oder „Ist der Kranke neben seiner Tobsucht auch noch verkehrt, so kann die Raserey aufhören, aber die Verkehrtheit bleibt in den Intervallen zurück.“ (Reil 1803, 375). Allerdings reguliert die kotextuelle Umgebung und die gewählte Darstellungsform die Verwendung, die davon abhängig ist, ob Symptome beschrieben oder Krankheiten klassifiziert werden. Grundsätzlich ergibt sich das Bild, dass Tobsucht und Manie als Krankheitsbezeichnungen erhalten bleiben, Furor aber mit Ausnahme von Reil (1803, 364) nicht erscheint. Von Wut wird nicht und von Raserei und Tollheit nur auf der Ebene der Symptombeschreibung gesprochen. Alte Krankheitsformen werden also, wenn überhaupt, auf die Symptomenebene verlagert, auf der sich nun wiederum Versprachlichungspräferenzen ergeben. Die Zuschreibung von Zuständen mittels Adjektiven und Partizipien zeigt eine Präferenz zu rasend, weit vor manisch und dem sehr seltenen wütend (eine Ausnahme: „Unter dieser Behandlung nahm die Geisteszerrüttung von Tag zu Tag zu; sie wurde so wüthend, dass sie gefesselt im Bette gehalten werden musste …“ – Müller 1824a, 237). Weitaus häufiger als von wüten ist auch von rasen die Rede: „In der hiesigen Anstalt sind mehrere Irre, die periodisch rasen, und deren Paroxysmen zwei bis drei Wochen in grosser Heftigkeit fortdauern …“ (Hayner 1822, ZfpÄ, 110). Diese pragmatische Regularisierung könnte unterschiedliche Gründe besitzen: Zur Aussonderung von „Wut“ könnte der Umstand geführt haben, dass die mit Wut verbundenen Phraseologismen – wahrscheinlich weit verbreitet im Sprachgebrauch – wie vor Wut schäumen oder seine Wut an jemanden auslassen in ihrem biblischen Gebrauch wie: Sein Mund schäumte vor Wut. (Zacharias) noch präsent sind. Auch das DWB (Wut, Bd. 14, 2. Abt., Sp. 1960) verweist auf die religiöse Konnotation des Begriffes Wut: „seit dem ahd. ist wut bezeichnung verschiedener dämonistisch gedeuteter Krankheitsbilder …“. Das könnte auch die Tilgung von Raserei als Gattungsnamen zur Folge gehabt haben. Zu den stillschweigend vorgenommenen Tilgungen gehört generell die Aussonderung von Lexemen, die auf religiöse Tradierungslinien bezogen werden können: Besessenheit als Kernlexem des Mittelalters und der frühen Neuzeit ist demnach nicht nachweisbar, was auch widerspiegelt, dass der Verweis auf
226 biblische Erzählungen als Erfahrungssurrogat sehr selten ist – im Gegensatz zur schönen Literatur. Bei den nicht metakommunikativ reflektierten Tilgungen, die sich z. B. auch bei Tollheit und toll nachweisen lassen, zeigt sich – hier nur am Rande zu vermerken –, dass die ausgesonderten Lexeme im Kontext der Wahnsinnsthematik in die expressive Mündlichkeit überwechseln und starke Evaluationspotentiale besitzen. Eine Rede wie „das ist ja wahnsinnig toll“ ist im ersten Drittel des 19. Jahrhunderts noch undenkbar. 83 Die Tilgung von Wut verweist aber nicht nur auf die Ablehnung religiös konnotierter Lexeme, sondern auch auf den Einfluss der französischen Krankheitslehre. Diese lehnt Wut als Krankheitsbezeichnung ab, weshalb Manie in bestimmten Kommunikationsnetzwerken monosemiert wird: Die Wuth ist nur ein Zufall, ein Symptom, sie ist der Zorn des Deliriums, und wurde von den Alten und selbst von einigen Neueren, mit der Manie verwechselt, eben so wie man die Wasserscheu mit der Hundswuth verwechselt hat. Die Manie wird, wie wir gesagt haben, durch ein allgemeines fieberloses Delirium mit Aufregung der Kräfte charakterisiert … – dem ungeachtet sind nicht alle an Manie Leidende auch Wüthende … (Esquirol/Hille 1827, 413)
Allerdings führt dies nicht zu einem häufigen Gebrauch von manisch: Es ergibt sich eine Bevorzugung von rasend, die dadurch bedingt ist, dass manisch markiert ist bzw. das spätere terminologische Adjektiv zunächst nur in latinisierter Form vorhanden ist: „der Kranke war am folgenden Tag maniacus wie vorher …“ (Heinroth 1818b, 244). Da an Manie kein Verb gebunden ist, die Wortfamilie nur bedingt ausbaufähig ist, bleiben rasen, wüten und toben zunächst noch erhalten. Obgleich sich für das Tilgen von Verwendungsweisen Gründe ergeben haben können, ist davon auszugehen, dass es sich um pragmatische Regulierungen handelt. Fast nicht wahrnehmbar sind dabei Bedeutungsdifferenzierungen, die sich aus einer kotextuellen Neupositionierung von Lexemen ergeben. Solche Begriffe wie verwirrt und zerrüttet, die einen vagen und indexikalischen Charakter haben, werden zu Beginn, z. B. bei Hoffbauer (1802) oder im Magazin noch austauschbar verwendet („… daß meine Mitschüler die entsetzliche Zerrüttung nicht merkten, die dieser Vorfall bei mir verursacht hatte.“ – Bd. II, I). Anhand späterer Texte ist jedoch erkennbar, dass Geisteszerrüttung das Endstadium unterschiedlicher Krankheitsformen darstellt, der von der ihr vorausgehenden Verwirrung zu unterscheiden ist. Auch diese Bedeutungsdifferenzierung spielt sich nur mittels entsprechender Routinen ein und wird nicht metakommunikativ reflektiert. Das gilt auch für solche Lexeme wie unruhig, heftig („… war wieder so heftig“ – Amelung, ZfAnthro, 1824, 331; „Nicht ______________ 83
Das Korpus gibt keine Hinweise darauf, dass Tobsucht, wie Adelung meint, veraltet sei: „ein im Hochdeutschen größten Theils veraltetes Wort, Unsinn, Raserey oder Tollheit … zu bezeichnen … (Adelung, Bd. 4, 611)
227 selten sieht man sie heftig, tobend, besonders, wenn man ihnen widerspricht …“ – Bayle/Hohnbaum 1826, ZfAnthro, 130; „Sie wird immer hastiger, heftiger, Andern gefährlich …“ – Müller 1824a, 209) oder vernünftig werden, die Wahrnehmungen bündeln und bestimmte Handlungen, Verhalten oder Gefühle umfassen und einzelne Merkmale besitzen, die sie mit der gemeinsprachlichen Verwendung teilen – so stellen Unruhige oder Stille eine eigene Klasse von Kranken dar. Besondere Beachtung verdient die Tatsache, dass die Substantive Seele und Psyche und die entsprechenden Adjektive bei nur wenigen Autoren synonym verwendet werden und – wie im folgenden Beispiel – entsprechende Koreferenzrelationen ausbilden: „Wenn die Seele, die in uns wohnende Psyche, dem äußerlichen Sinn gänzlich entzogen …“ (Günther 1824, ZfAnthro, 274). Vielmehr ergibt sich auch hier früh eine metakommunikativ nicht reflektierte „Arbeitsteilung“. Grundsätzlich werden alle eingeführten Komposita mit Seele erhalten, jedoch so gut wie keine mit Psyche gebildet, wahrscheinlich aufgrund sprachlicher Restriktionen und dem noch nicht vorhandenen Konfix „psycho-“. Für die Adjektive gilt, dass umso unpräziser, vager ein Sachverhalt sich gestaltet, umso indexikalischer er ist, umso häufiger das Lexem „psychisch“ verwendet wird. Typisch ist die Verwendung beider Kernbegriffe in der Abhandlung „Von der Beseelung des Kindes“ von Nasse (1824, ZfAnthro, 1–22): Seelendaseyn, Seelenleben des Kindes oder Seelenzustand treten neben psychischer Beziehung, psychische Äusserungen des Kindes, psychische Tätigkeit auf, wobei seelisch zwar sprachlich möglich, jedoch verdrängt wird. Psychisch ist in vielen Fällen nicht mehr als eine nicht notwendige Intensivierungsmarkierung, das Adjektiv höchstens qualifizierend, nicht jedoch klassifizierend zu verstehen. Eine Tendenz, die sich auch in den folgenden Jahrzehnten bestätigt. Dabei zeigen sich bspw. bei Friedreich (1834, 203f.) sehr interessante Varianten: momentaner abnormer psychischer Zustand, momentaner anomaler psychischer Zustand und in einem psychisch abnormen Zustande. Ähnlich wie anverwandelte Begriffe aus der Philosophie ist die Verwendung von psychisch auch verfremdend, weil dieses Adjektiv relativ frei einsetzbar ist, ohne den Leib-Seele-Dualismus oder die entsprechenden Debatten zu evozieren (anders als seelisch). So ist unter der psychischen Exaltation (Friedreich 1834, 220) eigentlich nichts anderes als unter Gemütsaufregung/-erregung zu verstehen, oder unter psychischer Alienation nichts anderes als Seelenstörung („… aber in allen diesen Leuten ist eine Anlage, eine Annäherung ihres Charakters und Temperaments zur psychischen Alienation nicht zu erkennen.“ – Groos 1822, ZfpÄ, 80). Interessanterweise ist mit der Durchsetzung von psychisch auch verbunden, dass moralisch (z. B. in „moralische Kurmethode“ oder „moralische Krisen/Ursachen“) verdrängt wird. Bei der syntagmatischen Verbindung von Lexemen fällt zudem auf, dass sich
228 z. T. kotextuelle, zunächst noch okkasionell zu bewertende Lexemverbindungen finden, die unterschiedliche Wortschatzebenen verbinden, was auf eine Modernisierung des entsprechenden Vokabulars hindeutet: so Verbindungen wie „Exaberationen psychischer Zustände“. Hier zeigt die metaphorische Bedeutungsübertragung, dass ein eigentlich auf eine andere medizinische Disziplin hinweisendes Lexem aus der Fieberlehre auf die Psychiatrie übertragen und im Zusammenspiel mit anderen Lexemen nun charakteristische und psychiatriespezifische Kollokationen bildet. 84 Besonders gilt dies für medizinische Lexeme, die eigentlich körperliche Prozesse und besonders deren Höhepunkte bezeichnen, bspw. das lateinische inflammatio [Auch: „denn auch der Ausdruck subinflammatio, paraphlegmone, bezeichnet nur den mittleren Grad der Entzündung …“ (Amelung 1826, ZfAnthro, 180).]: „… alle weitere Erörterung über den psychischen Zustand der Mutter, die vielleicht in einem inflammatorischen Zustand, im Wahnsinn, die mörderische Hand an das Kind legte …“ (Grohmann 1825, ZfAnthro, 295). Alle Lexeme, die potientiell sowohl auf physische als auch auf psychische Prozesse bezogen werden können, werden in der Regel auch so verwendet. So die auf körperliche und psychische bezogenen Funktionen, Organisation/Desorganisation und Aktionen: „Weniger Schwierigkeiten als die Geistes- und Gemütsaktionen wird uns die Art und Weise machen, wie die physischen Ursachen Geisteszerrüttung zeigen.“ Parallelbeleg: „scheint mir ein großer Beweis für die große Bedeutsamkeit der erhöhten Aktion des Gefäßsystems … überhaupt zu liegen.“ (Amelung 1826, ZfAnthro, 175). Auch die im physiologischen angelehnten Bedeutungsebenen, wie oben schon skizziert, bieten sich dergestalt für den Aufbau lexikalischer Demarkationslinien an: Diese Störung mag auf materiellen Wege in der Art von statten gehen, daß hierdurch eine schleichende, sogenannte asthenische oder nervöse Entzündung oder entzündliche Affektion, um mit diesen Worten einen minderen Grad als die eigentliche Inflammation auszudrücken, entsteht, wonach denn, da das an Cruor arme Blut mit wässerichten Theilen überfüllt ist, auch umso leichter Abscheidungen von Serum in den Gehirnhäuten und in den Ventrikeln, auch wohl eine Erschlaffung der Gehirnsubstanz selbst, durch Infiltration der serösen Flüssigkeit in dieselbe, erfolgen werden. Auf diese Weise wird es uns erkennbar, wie wir auf dergleichen schwächende Einflüsse zuweilen Geisteskrankheiten, anfangs mit großer Aufregung, Wahnsinn mit Tobsucht, entstehen sehn, die aber selbst bald in den Karakter der Depression, der Lähmung übergehn, … (Amelung ebd., 184) ______________ 84
An einer Stelle ist dieses Verfahren allerdings auch schon bei Kant nachzuweisen: „Man sieht heraus: daß es eine (nicht gemeine) zur Diätetik des Gemüts gehörige Kunst für Beschäftigte gibt, sich zu zerstreuen, um Kräfte zu sammeln.“ (Kant 1798/2000, 113)
229 In Krankengeschichten und Abhandlungen, v. a. in denen von Amelung und Grohmann wirken zugleich die metaphorische Bedeutungsübertragung, die Aneignung physiologischen Vokabulars und die Verfremdung des philosophischen Vokabulars zusammen und erzeugen eine psychiatriespezifische Textur: „Alle diese Ursachen erregen, wenn sie Wahnsinn erzeugen, eine entzündliche Affektion im Gehirn, deren Produkte, die veränderte Organisation des Gehirns oder seiner benachbarten Theile, die Geistes= und Gemüthsfakultäten stören müssen.“ (Amelung 1825, ZfAnthro, 180). Die Übertragungsrichtung, wie schon am vorherigen Zitat ersichtlich, ist nicht immer unidirektional, sondern auch bidirektional: Krankhaft erhöhte Vitalität im Uternialsystem und eine dadurch gesteigerte Nervenerregbarkeit, verursacht durch regelwidrig schnelle Pubertätsentwicklung, schienen mir das Grundübel der Kranken … Um die Aufregung des Uternialsystems zu vermindern, um abzuleiten und zugleich die Intemperatur des Nervensystems zu reguliren, ließ ich einen reichlichen Aderlaß am Fuße … (Müller 1826, ZfAnthro, 314)
Während man eine Vielzahl pragmatischer Regularisierungen als Markierungen, mithin auch als Nähe und Distanz zu unterschiedlichen Diskursen deuten kann, könnte man die metaphorische Bedeutungsübertragung im Zusammenspiel bspw. mit der Bricolage bei der Kompositabildung auch vorsichtig als gruppenrelevantes „code-shifting“ interpretieren. 85 Ähnlich wie in der frühen Soziolinguistik Labovscher Prägung könnte man annehmen, dass Varianten niemals bloß Varianten, sondern auch soziale Markierungen („social marker“ oder „indicators“) sind, die Gruppen sprachlich aneinander binden. Die getilgten semantischen Paraphrasen früherer Formulierungen, so: „… indem sie als deprimirende psychische Potenzen auf die Leber und das Pfortadersystem wirken, eine Melancholie erzeugen …“ (Friedreich 1834, 323) 86 markierten dann die Grenzen zu anderen Diskursen, in denen die entsprechenden kotextuellen Partner und syntagmatischen Beziehungen nicht er______________ 85
86
Dazu bemerkt Suzuki: „…, in the late eigthteenth-century practitioners of the newmodel institutional psychiatry were provided with a new type of language, which enabled them, if they so wished (and a lot of them did), to upgrade their day-to-day experience of observing and caring for insane patients into learned knowledge. The device for turning the raw material of mad-doctoring into the science of diseased mind was absent before c. 1760. The shift in the medical concept of madness and the scheme in dualism contributed to transform the former site of craft and business into a site for the production of specialist knowledge.“ (1995, 419; Hervorhebung d. Verf. – B-M. Sch.) Ähnlich auch: „Die Seele begehrt durch das Gemüth das, was, wenn man sich so ausdrücken darf, für sie also psychisch assimilierbar ist …“ (Friedreich 1834, 226); „… daß für ein gesunkenes somatisches Begehren vicarierend ein gesteigertes somatisches Begehren auftritt …“ (Friedreich 1834, 227)
230 scheinen. Allerdings sind zu diesem Zeitpunkt – ab Mitte der 20er Jahre – diese Prozesse nur auf eine bestimmte textuelle Aneignungsstrategie begrenzt, die schon medizinische Einordnung von Krankheitssymptomen auf der Basis von Krankengeschichten, so dass ich geneigt bin, diese Formen eher auf die thematische Gebundenheit, d. h. das notwendige Zusammenführen von somatischen und psychischen Prozessen zu deuten. Dabei gilt es allerdings im Auge zu behalten, dass es genau diese direktionalen Übertragungen sind, die sehr stark zur sprachlichen Formierung der Disziplin beitragen werden und Medizinierung vorantreiben werden. In diesem Zusammenhang gilt es auch zu betonen, dass die hier gezeigten syntagmatischenkotextuellen Affinitäten meist nur punktuell auftreten und in diesem Sinne nicht stilbestimmend sind oder in eine stilistische Homogenität (möglicherweise Register) münden würden. Das Nebeneinander unterschiedlicher Aneignungsformen bestimmt die Texte. Im Folgenden möchte ich ein Beispiel präsentieren, an dem sich neben Diskurskontextualisierung, Differenzmarkierung und sozialer Indizierung noch ein weiterer Aspekt der Lexemverwendung zeigt: das Schaffen eines identifizierbaren Registers. Gleichzeitig wird dadurch ersichtlich, dass es kopräsente registerdifferente Dubletten gibt. 4.3.2.5 Zwei Übersetzungen des Werkes von Esquirol – der Einfluss der französischen Psychiatrie Das Vorhandensein von bedeutungsähnlichen Lexemen ist ein Kennzeichen des frühen psychiatrischen Diskurses. Die Tatsache, dass für fast jedes Lexem ein entsprechendes (Quasi-)Synonym vorhanden ist, weist auf das Zusammenführen unterschiedlicher Diskurse mit kürzerer oder längerer Tradition hin, so bspw. die Kookkurrenz gemein- und fremdsprachlicher Lexeme zur Bezeichnung von Krankheiten und Symptomen (vgl. Kap. 3.1). Neben der schon dadurch gegebenen Begriffsvielfalt führt die eben skizzierte Indienstnahme philosophischen und medizinischen Vokabulars, seine partielle Verfremdung und metaphorische Übertragung zur Erweiterung des Spektrums bedeutungsähnlicher Begriffe. Eine besondere Bedeutung kommt dem Französischen zu, das als Vermittlungssprache und als eine weitere Ressource für den deutschsprachigen Diskurs zu betrachten ist. Das Französische taucht dabei in zwei Rollen auf: Erstens als Sprache der französischen Psychiater und zweitens als Sprache der Essayistik, die auch für den deutschsprachigen Raum bestimmte Kollokationen vorgibt. Das Englische, obwohl in England früher als in Frankreich neue „Irrenhäuser“ entstehen, hat demgegenüber nahezu kein Gewicht – zu finden ist eigentlich nur die Verwendung von „spleen“ als Alternative zur „fixen Idee“. Dabei ergibt sich die folgende Wechselwirkung: Bestimmte Lexeme werden verstärkt aus
231 dem Französischen übernommen und sind Indiz einer sprachlichen Professionalisierung. Gleichzeitig werden aber auch verstärkt die Lexeme vermieden, die auf die Essayistik verweisen und eher Kennzeichen der oben skizzierten Texthybride sind. Die sprachbeeinflussende Rolle der französischen Psychiatrie bzw. der französischen Schule lässt sich u. a. an den zwei Übersetzungen des Lehrbuchs von Esquirol zeigen, wobei die spätere, 1827 von Peter Hille (Spezielle Pathologie und Therapie der Seelenstörungen), interessanterweise größere Popularität als die Übersetzung von Maximillian Jacobi erzielt hat, die 1822 erschienen ist, allerdings nur als Anhang seiner Sammlungen („Esquirol’s Abhandlungen von den Seelenstörungen“, 265ff.). Vergleicht man die unterschiedlichen Übersetzungsstrategien, so zeigt sich, dass Hille sehr viel näher am französischen Original bleibt, während Jacobis Übersetzung eine raffende Zusammenstellung für ihn wichtiger Textpassagen darstellt und stärker zweckorientiert ist, da ganz offensichtlich die Vermittlung psychiatrischen Wissens im Vordergrund steht. Anhand des Kapitels zur Melancholie möchte ich kurz die Übersetzungsstrategien darstellen. Trotz stellenweise großer Unterschiede sind sich beide Übersetzungen, wie die folgenden Textstellen zeigen, oft sehr ähnlich: Wollte man von der Langsamkeit und Einförmigkeit der Bewegungen und Handlungen des Melancholikers, und von der Niedergeschlagenheit, in der er versenkt ist, schließen, daß sein Geist eben so unthätig, wie der Körper wäre, so würde man sich täuschen. (Hille 1827, 211)
Die Langsamkeit und Einförmigkeit der Bewegungen und Handlungen des Melancholischen, die Niedergeschlagenheit, in die er versunken ist, würden uns täuschen, wenn wir daraus schließen wollten, daß sein Geist eben so unthätig sey wie sein Körper. (Jacobi 1822, 412)
Jacobi lässt grundsätzlich alle Textstellen des Originals weg, die metasprachlich sind, konkurrierende Begriffe nennen und reduziert so für die Rezipienten Komplexität. Ihn nicht überzeugende Fallschilderungen fallen ebenso weg wie Verweise auf die französische und ausländische Belletristik (z. B. der Verweis auf Rousseau, vgl. Hille 1827, 208). Gleichzeitig entnimmt er den vielen Tabellen nur die wichtigsten Informationen. Ebenso streicht er unkommentiert die Verweise auf Auseinandersetzungen in der französischen Psychiatrie. Außerdem werden bei Jacobi pathologische Befunde sehr sparsam wiedergegeben, auch die Behandlungsmethoden, sowohl die diätetischen als auch pharmazeutischen werden ausgespart und nicht aufgenommen. Von den unterschiedlichen Arten/Modifikationen der Melancholie werden nur diejenigen thematisiert, die für die Praxis wichtig sind: so erscheint bei Jacobi (ebd., 427) nur die religiöse Melancholie, während Hille hingegen unterteilt in: „die religiöse Melancholie oder Dämonomanie, die Erotomanie, die Panophobie, die Misanthropie, das Heimweh, der Selbstmord oder Spleen, und die Lycanthropie oder Zyanthropie.“ (Hille ebd., 250).
232 Eine übergreifende Übersetzungsstrategie von Jacobi ist die Vermeidung fremdsprachlicher Lexeme, so grundsätzlich Latinismen: „Die anhaltende Melancholie (melancholia continua) …“ (Hille ebd., 228) vs. „Die anhaltende Melancholie …“ (Jacobi ebd., 229). Bei Hille heißt es: Verlauf der Melancholie. Die Melancholie ist anhaltend, remittirend oder intermittirend; remittirend sind fast die meisten, und es giebt wenig Melancholien, wo das Delirium nicht einen Tag um den andern sich verstärkte. Bei mehreren bemerkt man am Abend und nach dem Essen in den späteren Nachmittagsstunden eine sehr deutliche Remission, während andere beim Aufwachen und mit Anbruch des Tages heftiger deliriren, was vielleicht den Kummer, den es ihnen macht, daß Sie ihre Existenz noch einen Tag, dessen Länge sie erdrückt, zu tragen haben, … (Hille ebd., 227)
Bei Jacobi hingegen: Die Melancholie ist anhaltend, nachlassend oder aussetzend; die nachlassende ist die bei weitem häufigere; und es giebt sehr wenige Melancholische, deren Gemüthskrankheit nicht alle zwei Tage exacerbirt; viele erfahren am Abend und nach dem Mittagessen einen sehr wichtigen Nachlaß, während andere beim Erwachen und mit dem Anfange des Tages eine starke Verschlimmerung erleiden. (Jacobi ebd., 420)
Er präferiert deutschsprachige Fachlexeme oder gemeinsprachliche Lexeme und Wendungen: „Der Scorbut, die Lähmung und der darauf folgenden Gangrän …“ (Hille ebd., 230) vs. „Scorbut, Lähmungen und der kalte Brand, als Folge derselben …“ (Jacobi ebd., 421). Er spricht von Schlagfluß (ebd., 422), wo Hille (ebd., 231) von Apolexien spricht. Jacobi vermeidet dabei auch schon eingeführte Lexeme: „deprimierende Leidenschaft“ (Hille ebd., 203) vs. „die Kräfte unterdrückende Leidenschaft“ (Jacobi ebd., 406). Selbst der Gebrauch von nicht-terminologischen Fremdwörtern wird vermieden: Geht man alle Ideen, welche die Melancholischen quälen, durch, so wird man leicht ihre Beziehung zu einigen traurigen und deprimirenden Leidenschaften finden, daher glaube ich, man könnte eine sehr gute Classification der Melancholien dadurch aufstellen, wenn man die verschiedenen Leidenschaften, die den Verstand modificiren und beherrschen, als Grundlagen annähme. (Hille ebd., 210f.) Indem man solchergestalt alle Ideen einzeln durchgeht, welche die Melancholischen quälen, führt man sie leicht auf irgend eine traurige und schwächende Leidenschaft zurück; was mich vermuthen läßt, daß man eine gute Eintheilung der Melancholien entwerfen könnte, wenn man dabei die verschiedenen Leidenschaften, die die Verstandesthätigkeit abändern und sich dieselbe unterwerfen, zu Grunde legte. (Jacobi ebd., 411) Vgl. auch: die einfachsten und gewöhnlichsten Dinge scheinen ihnen besondere und neue Phänomene (Hille ebd., 206) vs. die einfachsten, gewöhnlichsten Dinge stellen sich ihnen als neue und sonderbare Erscheinungen dar (Jacobi ebd., 408).
233 Die Physiognomie ist unbeweglich (Hille, 204), Die Züge starren unbeweglich (Jacobi ebd., 406), Die Melancholie zeigt zwei sehr markirte Grade (Hille ebd., 206) vs. Die Melancholie bietet zwei sehr scharf bezeichnete Grade dar. (Jacobi ebd., 408). Character (Hille z. B. 213) wird durch Beschaffenheit bei Jacobi (414), Subtilität (Hille, 211) durch Feinheit (Jacobi, 412) wiedergegeben. In nur einem Fall habe ich den umgekehrten Fall gefunden: Urtheilskraft (Hille, 211) vs. Raisonement (Jacobi, 412).
Während Hille den Kernbegriff „Seele“ eher meidet, taucht er bei Jacobi häufiger auf. Auf französischen Einfluss geht die Verwendung von Delirium zurück, die bei Jacobi im Gegensatz zu Hille nicht erscheint, möglicherweise auch deshalb, weil dieser Begriff zu diesem Zeitpunkt schon mehrere Bedeutungen besitzt. Grundsätzlich behält Hille Delirium bei, während Jacobi ihn in den allermeisten Fällen mit Wahnsinn oder Verstandesverwirrung übersetzt: … durch Träume, die ihnen die Gegenstände vorführen, welche ihr Delirium veranlaßten (Hille ebd., 205) vs. oft werden sie plötzlich durch Träume aufgeweckt, die ihnen Gegenstände darstellen, die ihre Geisteszerrüttung veranlaßt haben (Jacobi ebd., 407). … selbst diese Täuschungen allein characterisiren sein Delirium; er bildet sich mehr oder weniger lächerliche Hirngespinste ein, verknüpft die fremdartigsten Dinge, und hat eingebildete Meinungen und Vorurtheile. (Hille ebd., 207) vs. und diese Sinnestäuschungen allein schon bezeichnen seinen Wahnsinn; er schafft sich mehr oder minder lächerliche Chimären, er bringt die desperatesten Ideen und Dinge miteinander in Verbindung; er hat grillenhafte Meinungen und Vorurtheile. (Jacobi ebd., 410)
Wie schon gesagt, geht die Übersetzung von Hille in das Wissensreservoir der sich konstituierenden Psychiatrie ein, während der Vorläufer nahezu nicht zur Kenntnis genommen wird. Der Misserfolg von Jacobis Übersetzung könnte daraus resultieren, dass sie sich über ihre sprachliche Form eben nicht an die prestigeträchtige französische Medizin anschließt und so kein codeshifting erreicht wird. Begriffe wie Delirium oder deprimieren werden sich in der Folgezeit durchsetzen, obwohl gerade Delirium zu erneuten „Begriffsverwirrungen“ einlädt (Verwechselung von Zustand und Krankheitsbezeichnung). Gleichzeitig sollten die unterschiedlichen Übersetzungsstrategien zeigen, wie breit die horizontale Schichtung des psychiatrischen Vokabulars ist. Die Existenz von Alternativen ermöglicht, wie im Kap. 5. am Beispiel der Lehrbücher von Kraepelin noch gezeigt wird, nicht nur eine stilistische Homogenisierung, sondern ermöglicht auch die Vorrangstellung bestimmter Psychiatrieformen zu unterstreichen. Die Übersetzung von Hille schließt sich allerdings an eine weitere Tendenz an, die in den frühen Krankengeschichten besonders wahrnehmbar ist: die Präferenz zu französischen Entlehnungen.
234 Neben der phraseologischen Reduktion und der parallelen Nutzung frei gewordener, jedoch metaphorisch besetzter Lexeme ist schon im ersten Drittel wahrnehmbar, dass die Verwendung fremdsprachlicher Lexeme Bedeutungsnuancierungen ermöglicht, Gebrauchsbedingungen stabilisiert und Grenzen zu anderen verwandten Diskursen setzt. Jüngere Anleihen aus dem Französischen werden dabei zunächst besonders produktiv: Sonderbar oder wunderbar werden durch bizarr ersetzt (häufig natürlich in Übersetzungen: „Andere haben Vorgefühle, Ahnungen, Träume oder bizarre Gedanken …“ – Esquirol/Hille 1827, 73; auch bei Pinel: „Der Charakter derselben besteht mehr in zornigen Aufwallungen, als in verwirrten Vorstellungen und bizarren Sonderbarkeiten der Urtheilskraft.“ – 1801, 20). Auf französischen Einfluss gehen ebenfalls zurück: extravagant statt ausschweifend, idiotisch statt blödsinnig sowie excentrisch statt sonderbar oder unbeschreiblich, wobei gerade das letzte Adjektiv in einigen, für heutige Leser ungewöhnlichen Verwendungen vorliegt: „… ist oft nur ein gemeiner excentrischer Ausdruck seiner Rede.“ (Grohmann, ZfAnthro 1825, 310); „sich normal oder gesund äußern können, und umgekehrt, dass sie bei eigenem Missbrauche oder excentrischer Thätigkeit …“ (Amelung 1826, ZfAnthro, 154). An allen bisher genannten Adjektiven ist nicht nur die begriffliche Alternative als solche interessant, sondern auch die textuellen Potenzen und syntagmatischen Beziehungen, die durch sie verwirklicht und entwickelt werden. So wird es beispielsweise üblich, von den „Bizarrien oder Excentricitäten des Charakters“ zu sprechen (schon nachzuweisen bei Haindorf 1811, 210: „fallen sie oft in eine Bizarrerie und Strenge des Charakters“ oder „von den flüchtigsten vorübergehenden Bizarrerien des Begehrens“ – Diez 1834, 38). Bizarrerie ist damit auch eine Parallelbildung zu Abnormität. Daneben ist auffällig, dass Lexeme, die in anderen Verwendungen andere syntagmatische Beziehungen eingehen, in spezifischer Weise verwendet werden. Dies ist auch bei tumultarisch, barock oder manieriert der Fall. Zusammenfassend kann festgehalten werden, dass sich ein domänen-, d. h. psychiatriespezifischer Gebrauch einzelner fremdsprachlicher, verhaltenscharakterisierender Adjektive abzeichnet. Bevor eine beschließende Beurteilung der frühen Krankengeschichten und ihrer Leistungen erfolgt, müssen einige weitere lexikalische Kennzeichen des Vokabulars thematisiert werden. Dazu gehören: die unvermeidliche Indexikalität des Vokabulars und die Graduierungen. 4.3.2.6 Graduierungen und ihre sprachlichen Realisationsformen Wie schon gesehen, wird kaum ein Begriff, der zur Konstatierung, Beschreibung und Erörterung von psychisch auffälligen Zuständen und Handlungsweisen verwendet wird, erklärt. Gerade die Beschreibung von Zuständen erfolgt auf der Basis von Lexemen, deren konventionelle Bedeutung eher einen
235 Annäherungswert an das Gesehene darstellt. Das Vokabular ist insofern indexikalisch, als dass es auf der Vagheit der Gemeinsprache fußt und damit ein potentielles Vergleichsobjekt vage bleibt. Dies gilt besonders für solche gemeinsprachlichen Adjektive, die sowohl modifizierend als auch attribuierend eingesetzt werden, insbesondere für das häufig vertretene Lexem heftig: Die Krankheit wurde heftiger, der Wahnsinn um sich greifender. Die Kranke riß sich die Kleider vom Leibe, sprach vom Teufel … (Vogt 1824, ZfAnthro, 162), … war wieder so heftig … (Amelung 1824, ZfAnthro, 322, ebd. auch „Heftigkeit“; als allgemeine Graduierung zu werten).
Während heftig in modifizierender Verwendungsweise den Grad der Stärke eines Zustandes angibt, ist mit der Verwendung heftig in attribuierend/prädizierender-charakterisierender Weise eine Indexikalität verbunden, in der sich die „ich-origio“ einschreibt. In gewisser Weise geben diese und ähnliche Lexeme nur Annäherungswerte an die Wahrnehmung und sind als Entlastungsstrategien des Textproduzenten zu deuten. In eine etwas andere Richtung verweisen die Gebrauchsvarianten von empfänglich/Empfänglichkeit in den frühen Texten – beide Formen können mit oder ohne präpositionale Ergänzung verwendet werden. Dabei könnte eine Verwendungsweise ohne entsprechende Ergänzung (z. B. durch Kompositabildung) psychiatriespezifisch sein (i.S.v. ‚allen Reizen potentiell aufgeschlossen und von ihnen zu beeindrucken‘), vgl.: mit ihrer regen Empfänglichkeit (Nasse 1824, ZfAnthro, 4), auf einen Zustand des Fötus ohne psychische Empfänglichkeit (ebd., 5), wenigstens für fremde Leiden nicht sehr empfänglich … (Vogt 1824, ZfAnthro, 158), … und trotz eines sehr kräftigen Äußeren, von einer außerordentlichen Nervenempfänglichkeit, und ihre Regeln dabei in Unordnung … (Esquirol/Hille 1827, 84), empfängliche Gemüter (Ideler 1848, 187).
Dass durch das Weglassen von (präpositionalen) Ergänzungen zumindest psychiatriespezifische Bedeutungsnuancen erzeugt werden, lässt sich durch die Tatsache stützen, dass in späteren Texten (vgl. Kap. 5.2 und 5.3) Bestandteile aus lexikalische Phrasen herausgelöst werden, so dass bspw. aus in in X versinken ein versinken mit einer psychiatriespezifischen Gebrauchsvariante wird. In ähnlicher Weise indexikalisch sind alle Adjektive, die von Krankheitsgruppen und -formen abgleitet werden und denen keine Beschreibung oder Erklärung folgt, wie z. B. wahnsinnig, irre/irrig, verwirrt/verworren/wirrisch/unsinnig/verirrt („verirrten Ideengange“ – Schneider 1820, ZfpÄ, 337, „Über ihre sonstigen persönlichen Verhältnisse war sie aber noch ganz irre, und unterhielt darüber allerley Wahnvorstellungen …“ – Jacobi
236 1830, 625), tobsüchtig, wütend, verwirrt reden oder gestört. 87 Ihre Beschreibungs- und Erklärungskraft gewinnen die allermeisten Adjektive dadurch, dass ihnen ein komplementäres Gegenüber zugeordnet werden kann, so dass sich Basisdichotomien ergeben. Sie sind das sprachliche Material, auf dessen Grundlage sich in der Folgezeit Skalierungen entwickeln. Mit diesen Basisdichotomien verbinden sich entsprechende, sich wechselseitig informierende Vertextungsstrategien „… mich von einer Wahnsinnigen, welche mehrere Monate hindurch ruhig und sanft war, und plötzlich ohne irgend eine bekannte Ursache im höchsten Grade wüthend und rachgierig wurde; …“ (Haslam/Horn 1819, ZfpÄ, 110). Zu diesen gehören (z. T. auch kotextuell zu motivierende) Adjektivpaare, wobei Verwendungsvarianten solcher Lexeme wie ruhig vorliegen, die unterschiedliche Paare ausbilden und die jeweils Enden von Skalen darstellen. Hervorgehoben werden zudem Adjektive, die nur adverbial und/oder prädikativ [-], also ohne präferierten nominalen Kookkurrenzpartner verwendet werden. Sofern auch Nominalisierungen und Kompositabildungen ohne gravierende Sinnverschiebungen (Abstraktabildungen) möglich sind, werden diese vermerkt: ruhig 88/still – unruhig (Ruhe – Unruhe, Geistes- und Gemüts(un)ruhe), ruhig – aufgeregt/exaltiert 89 (Ruhe, Seelenruhe, Gemütsruhe, Exaltation), ruhig – stürmisch [-] (Ruhe – Sturm), vernünftig – unvernünftig (Vernunft – Unvernunft), vernünftig – irre (Vernunft – Irresein), vernünftig – wild/rasend/tobsüchtig/tobend[-]/unbändig [-] (Vernunft – Raserei, Tobsucht), normal – unnormal/anomal/abnorm/abnormal (Anomalität/Abnormität/Abnormalität/selten: Absurdität), ______________ 87
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Erhitzen, ein Kernbegriff im Magazin, wird jetzt nur noch sehr selten verwendet: „… wenn es sich im Gemüth mit großem Nachdruck geltend macht, die Phantasie zu prophetischen Bildern erhitzt, und deren Gaukelei den Verstand zum Schweigen bringt …“ (Ideler 1848, 262) Auch bei vermeintlich einfachen Lexemen wie Unruhe oder unruhig überlagern sich bei der Verwendung unterschiedliche Bedeutungsebenen, da es im 18. Jh. im Sinne eines nicht ruhigen Zustandes der Beinmuskeln verwendet werden kann. Auch hier liegt also eine Bedeutungsdifferenzierung vor, die zum Abstecken begrifflicher Grenzen geeignet sein dürfte und bspw. später in die Kollokation „nervöse Unruhe“ mündet. Exaltiert kann allerdings auch, jedoch selten mit evaluativen Bedeutungsnuancen verwendet werden: „von seinen exaltierten Ideen, die aus seinen Erinnerungen entspringen, fortgerissen …“ (Esquirol/Hille 1827, 421)
237 geordnet [-]/ordentlich/zusammenhängend – ohne Zusammenhang [-]/schlecht geordnet/ unordentlich 90/ungereimt/desorganisiert (Unordnung/Desorganisation), 91 heiter/heiterer Anstrich [-] – betrübt/getrübt[-]/trübsinnig 92 (Trübsinn), ungetrübt [-]/klar – getrübt [-] (Klarheit), passiv – aktiv (Passivität – Aktivität), frei – unfrei (Freiheit – Unfreiheit), besonnen – unbesonnen (Besonnenheit – Unbesonnenheit), verständig – unverständig (Verständnis – Unverständnis), excitiert/exaltiert/aufgeregt – deprimiert/unterdrückt/niedergedrückt [-] (Depression), natürlich 93 – unnatürlich/alieniert (Alienation), natürlich – entfremdet, harmonisch – disharmonisch (Harmonie – Disharmonie).
Neben (bildlichen) Phraseologismen, die früh genutzt und z. T. modifiziert werden, führen auch Kollokationen zu Versprachlichungspräferenzen. Diese Präferenzen verweisen ihrerseits zumeist auf die Philosophie. Zu den wichtigsten Verbindungen gehören: „die lebhafte/lebendige Einbildungskraft/Erinnerung“ und die oben schon thematisierte „Beweglichkeit des Geistes“: ihrer lebhaften Nachwirkung (Nasse 1824, ZfAnthro, 4), die Einbildungskraft verliert ihre Lebendigkeit … (Ennemoser 1824, ZfAnthro, 108), lebhafte Erinnerung (Amelung 1824, ZfAnthro, 333). In diese Reihe gehört auch die folgende ______________ 90
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Vgl.: „… wegen ihrer Sinnesschwäche, vielen Sinnestäuschungen und unordentlicher Erregung der Kräfte ausgesetzt sind.“ (Haindorf 1811, 213); „Die Arznei nahm er anfangs unordentlich …“ (Nasse 1821, ZfpÄ, 167); „… unordentliche Periode, etwas düsterer und noch mehr zurückgezogen …“ (Müller 1824, 223). Interessanterweise findet man in den Übersetzungen aus dem Französischen z. T. statt Organisation auch Ökonomie (z. B. Pinels „animalische Ökonomie“ – 1801, XXIV). Allerdings auch die interessante Zusammenführung: „Manchmal beobachtet man eine Art von Unsinnigkeit, eine Art von moralischer Desorganisation, …“ (Pinel/Wagner 1801, 146) Vgl.: „gaben allen ihren Worten und Handlungen einen trübsinnigen Anstrich“ (Sc. Pinel 1821, ZfpÄ, 121). Auch im folgenden Verständnis: „natürlichen Verhältnissen“ (Ideler 1848, 289), „natürlicher Charakter“ (Haslam/Horn 1819, ZfpÄ, 113) oder „wodurch der Lauf der Gedanken wiederum seine natürliche Ruhe geschöpft hatte …“ (Jacobi 1826, ZfAnthro, 94)
238 Kollokation: sehr lebhafter Einbildungskraft (Sc. Pinel 1821, ZfpÄ, 154). Hier trifft man auch auf z. T. begriffliche Veränderungen: … zugleich die Verstandesthätigkeit sich dem, nun nicht mehr in seinen dynamischen Verhältnissen beeinträchtigten, Zustandes des Gehirnes gemäß verhielt. (Jacobi 1844, 79)
Neben den komplementären Paaren, die einen sowohl metaphorischen als auch indexikalischen Charakter haben und ohne die eine Symptomenbeschreibung nicht denkbar ist, sind noch die Graduierungen zu betrachten, die Stärke oder Ausprägung eines Symptoms oder einer Krankheit angeben. Sie setzen eine Messlatte voraus, die noch nicht fachlich motiviert ist, da eine medizinische Vorstellung der entsprechenden Erkrankungen fehlt. 94 Die Graduierungen sind auch deshalb interessant, weil sie später in veränderter Form erscheinen: sehr/völlig/vollkommen/gänzlich/komplett, einen hohen/den höchsten Grad erreichen, größerer/geringerer Grad, höhere/höchste Stufe, über die Maßen erhöht sein, übermäßig/Übermaß an X, 95 unaufhörlich/ohne Aufhören/ohne Unterlaß/unausgesetzt, unerschöpflich.
Häufig findet man auch freie Formulierungen wie die folgenden: „einen solchen Grad von excessiver Höhe erreichen …“ (Friedreich 1834, 318); „… und wird ungestüm bis zur Unbändigkeit …“ (Ruer 1819, ZfpÄ, 97): „Kurz, die Manie war bei ihm in ihrer höchsten und gräßlichsten Gestalt zu schauen.“ (Schneider 1820, ZfpÄ, 373) oder „die kolossalsten Züge annehmen …“ (Ideler 1841, 139). Wie aus dieser Auflistung hervorgehen sollte, werden besonders Gradadverbien verwendet, die nach Weinrich (1993, 593f.) gleichzeitig als Intensitätsadverbien zu werten sind, die einen Sachverhalt als bemerkenswert stark ausgeprägt kennzeichnen, Schätzadverbien wie etwa, fast … spielen hingegen keine Rolle. Gleichzeitig wird auch die Superlativstufe von Dimensionsadjektiven wie hoch bzw. entsprechende Substantive oder Nominalphrasen mit dem semantischen Merkmal „Graduierung“ verwendet. Die Krankengeschichte darf nach den Untersuchungen als die vielleicht wichtigste Textsorte der Frühphase bezeichnet werden. Das verwendete Beispielmaterial, das den Krankengeschichten zugrunde liegt, stammt aus der ärztlichen Praxis und löst das anekdotische Verfahren der ersten Monographien ab. Dies ist durch eine eindeutige Zweckorientierung bedingt, für ______________ 94
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Zum Teil wird das mit Graduierungen verbundene Vagheitsproblem auch direkt thematisiert: „Wir versetzen freilich für die niedern Grade derselben keine specifischen Benennungen und können nur durch Komparative; größer und kleiner, stärker und geringer, ausdrücken, denn auch der Ausdruck subinflammatio, paraplegmone, bezeichnet etwa den mittleren Grad der Entzündung, unter welchen noch mehrere Grade zu stehn kommen.“ (Amelung 1826, ZfAnthro, 182) Auch: „excessiv wuchernd“ (Friedreich 1834, 239).
239 die sich stark essayistische Züge verbieten: Es sind in gewisser Hinsicht zum Gebrauch konzipierte Krankengeschichten. Dies eröffnet die Frage, in welchem Verhältnis diese einer größeren Öffentlichkeit zugänglichen Texte zu den halböffentlichen Krankenakten stehen. Dies ist deshalb interessant, weil die Verfasser z. T. dieselben sind. Welche Rückschlüsse lassen Krankenakten aus dem Zeitraum von 1800–1850 für die Schreib- und überhaupt Kommunikationspraxis in der Psychiatrie zu? Zeigen sich Ähnlichkeiten, zeigen sich Unterschiede?
4.3.3
Der Beitrag anderer Textsorten
4.3.3.1 Krankenakten und Krankengeschichten im Spannungsverhältnis Krankenakten aus der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts sind schwer zugänglich, allerdings sind die Krankenakten der „Modellanstalt“ Sonnenstein, der Ernst Pienitz vorstand und die internationale Anerkennung fand, erhalten (Bestand: LA Sonnenstein des Sächsischen Hauptstaatsarchives Dresden). Da Patienten aus der alten Pflegeanstalt Waldheim z. T. übernommen wurden, finden sich im Bestand auch Krankenakten, die älter als die Anstalt selbst sind (so aus den letzten zwei Jahrzehnten des 18. Jhs.). Ich ziehe 50 Krankenakten heran, die im Durchschnitt einen Umfang von 30 Seiten besitzen. Daneben wird die Dissertation von Niedergassel (1977) verarbeitet, 96 die sich auf 550 Krankenakten aus der Zeit von 1814–1849 aus der Heilanstalt Kloster Eberbach stützt. Allerdings ist das Interesse von Niedergassel eher medizinhistorisch, so dass dem textstrukturellen Aufbau und der sprachlichen Verfasstheit der Krankenakten keine Aufmerksamkeit gewidmet wird und nur aus seinem Beispielmaterial zu erschließen sind. Texte des Anstaltsleiters Pienitz sind in den Krankenakten aus Sonnenstein, die als solche ein Textsortenensemble darstellen, kaum vorhanden, so dass ein Vergleich zwischen den von Pienitz in der Zeitschrift für psychische Ärzte oder in den Jahresberichten der Heilanstalt verfassten Krankengeschichten kaum möglich ist. Pienitz in den Krankenakten dokumentiertes Schreiben hat einen eng definierten Rahmen und besitzt einen bestimmten Zweck: Der Anstaltsleiter Pienitz bestätigt die Entlassung oder Überweisung eines Patienten. Dazu werden Grunddaten des Krankheitsverlaufes rekapituliert [1], der jetzige Zustand bewertet [2] und in einem dritten Teil die daraus erfolgenden Konsequenzen [3] dargestellt. Dieses Schreiben ist nicht, wie ______________ 96
Die Psychiatrie zieht 1815 in das Kloster Eberbach; der Konversenbau wird zur Irrenanstalt umgebaut. 1820 werden ein Tropf- und Duschbad, zwei gewöhnliche Bäder und ein Erholungszimmer hinzugefügt.
240 man vermuten könnte, offiziell, da es formlos erfolgt und sich viele Korrekturen finden lassen (zumal es, wie viele andere Schriftstücke nicht in der präzisen deutschen Kanzleikurrent geschrieben worden ist). Das Schreiben ist damit eher selbstreferentiell, vgl.: [1] „Der auf hohe Verordnung vom 20 September 1820 der R.R. am 30 November desselben Jahres in hiesige Anstalt aufgenommen. Ehefrau des Postamtmeisters Karl Gottlob Bär zu Annaburg, Johanne Christiane gegenwärtig 59. Jahre alt leidet an einer tiefen Melancholie, welche bei einer erblichen Anlage, denn ihr Vater soll bei einem melancholischen Temperament selbst zu einer schwermüthigen Gemüthsstimmung geneigt gewesen seyn, durch einen vor annhero vier Jahren erlittenen heftigen Schmerz, und durch eine gehabte große Kränkung über ein begangenes Gebrechen einer ihrer Töchter entstanden ist. [2] Die Geisteskrankheit der Bärin äußert sich allen angewendeten Mitteln ohnerachtet immer noch in verkehrten Reden und Handlungen, besonders in dem Wunsche eines baldigen gewaltsamen Todes, in schamloßen Gebärden und Widerwillen gegen die ärztliche Hilfe. Dabei spuckt sie unaufhörlich zähen Speichel aus, welche krankhafte Erscheinung auf ein chronisches Eitern von der großen Magendrüse hindeutet. Nicht selten fällt auch der Mastdarm vor, und ihr ganzer Körper ist sehr abgemagert. [3] Erwäge ich, daß die schlimme Melancholie der Bärin nach dem einjährigen Gebrauch hilfsdienlicher Mittel derselbe blieb, daß erbliche Anlage bei ihr Statt findet, sie schon 59 Jahre alt ist und ihr ganzer Habitus einen hohen Grad von allgemeiner Schwäche darbeitet; so muß ich nach meinen ärztlichen Einsichten die Geisteskrankheit derselben für unheilbar erklären, und kann nur den Wunsch ausdrücken, daß diese arme Unglückliche von ihrem vielfachen körperlichen und Seelenleiden durch einen sanften Tod bald befreit werden möge. Sonnenstein, den 30sten November 1821 Dr. Ernst Pienitz (LA Sonnenstein 362).
Pienitz, dessen Schrift in den Krankenakten leicht zu identifizieren ist, unterschreibt gelegentlich auch nicht von ihm selbst verfasste Schreiben an Behörden. Die Korrespondenz mit den entsprechenden Behörden obliegt augenscheinlich allerdings dem Verwalter der Klinik. In den Krankenakten sind keine weiteren Schreibprodukte von Pienitz (also keine Gutachten oder ärztliche Bemerkungen zu den aufgenommenen Patienten) vorhanden. Über das, was in der Klinik passiert, wie sich die Krankheit eines Patienten entwickelt oder wie der Patient behandelt wird, erfährt man (vom heutigen Verständnis aus: überraschenderweise) so gut wie nichts, denn auch die Entlassungsschreiben bleiben in dieser Hinsicht sehr vage. Fortlaufende Kranken- und Wachberichte, die für das spätere Erscheinungsbild von Krankenakten prägend sind, erscheinen nicht. Ebenfalls fehlt die Dokumentation von Untersuchungen, später ebenfalls ein wichtiger Bestandteil von Krankenakten. Eine Ausnahme bilden Sonderfälle, wenn ein Arzt – möglicherweise die Pienitz zur Seite stehenden Hospitanten – das Urlaubsgesuch eines Patienten unterstützt, der Patient dauerhaft in eine Versorgungsanstalt überwiesen oder aus der Anstalt entlassen wird. An der parallelen, drei Bände umfassenden Veröf-
241 fentlichung der Beschreibung der Königl. Sächsischen Heil- und Verpflegungsanstalt (1829) wird bspw. auch deutlich, dass schon die Ausstellung von Urlaubsscheinen ein genau geregelter Prozess ist (ebd., 166f.). Dies zeigt allein schon, dass Krankenakten – im Gegensatz zu bspw. Exemplaren aus dem letzten Drittel des Jahrhunderts, die im Kap. 6.2.2 noch thematisiert werden – zunächst vor allem angelegt worden sind, um einen administrativen Ablauf nachvollziehbar und transparent zu machen und insofern eher ein juristisches als ein medizinisches Dokument sind. Sie dienen nur in Ausnahmefällen der psychiatrischen Binnenkommunikation. Das deutet darauf hin, dass die ärztliche Kommunikation über Patienten mündlich erfolgt (vornehmlich dann zwischen Anstaltsleitern und seinen Gehilfen) oder die Ärzte eigene Notizen anlegen (z. B. parallel in Rezeptbüchern), die nicht zum Bestandteil von Krankenakten werden. Daraus lässt sich jedoch auch die Hypothese ableiten, dass ein Krankheitsverlauf, den Pienitz, wie seine Krankengeschichten dokumentieren, hätte niederschreiben können (es dokumentiert sich also kein Unvermögen), erst in dem Moment zum Bestandteil von Krankenakten wird, in dem grundsätzlich mehrere Ärzte einen Kranken behandeln und ein intersubjektiver Austausch notwendig wird, um Anschlusshandeln zu gewährleisten. Ein anderer Aspekt ist der, dass der Anstaltsleiter den vor ihm ermittelten Daten von Laien noch grundsätzlich traut. Die Krankenakten enthalten nun in der Regel den Schriftverkehr mit den zuständigen Behörden von der Einweisung bis zur Entlassung oder dem Tod des Patienten sowie Verwaltungspapiere, Rechnungen, Kleiderlisten und Briefe von Angehörigen an den Leiter der Anstalt. Die Krankenakten haben dann den größten Umfang, wenn sich der potentielle Patient eines Vergehens schuldig gemacht hat und mit dem Gesetz in Konflikt geraten ist. Die entsprechenden Texte sind rechtssprachlich und erlauben deshalb verständlicherweise keinen Vergleich mit den thematisierten Krankengeschichten. Die intratextuelle Verbindung und kohäsive Vernetzung der unterschiedlichen Texte wird durch die behördlichen Routinen gewährleistet und hat zumeist die folgende Gestalt: Titelblatt, Inhaltsverzeichnis („Repetitorium“), Einweisungsersuchen auf der Basis von durch Stadtphysici geschriebenen, z. T. sehr ausführlichen Krankengeschichten, danach folgen: Einweisungs- und Übersendungsschreiben mit der behördlichen Festlegung der Versorgungsansprüche, die Bestätigung der Aufnahme durch Pienitz, das Verzeichnis der mitgebrachten Gegenstände und Kleidungsstücke, die „Signalements“. Weitere Schriftstücke sind von der Art der Einweisung, dem Verhalten des Patienten oder dem Krankheitsverlauf abhängig (z. B. Anträge um die Verlängerung von Versorgungsansprüchen o.ä.). Es findet sich bspw. auch die Korrespondenz mit Angehörigen (meist Nachfragen über Gesundheitszustand und möglichen Entlassungstermin, allerdings in der standardisierten Form der Supplication und mit oftmals aufwändiger grafischer Gestaltung), an der auch der
242 Anstaltsleiter beteiligt sein kann (jedenfalls als Unterzeichner). Dadurch dass Krankenakten eher eine Rechtsgrundlage sind und medizinisches Handeln kaum gleichzeitig dokumentieren, wirken sie durch den rechtstechnisch beengten Gestaltungsfreiraum allerdings auch homogener als spätere Akten. Unter den Standardtexten gibt es also solche, bei denen sich die Kommunikation mit Behörden und die Binnenkommunikation in der Psychiatrie überlagern. Dazu gehören: – Krankengeschichten, die zumeist von den so genannten Stadt- und Kreisphysici angelegt worden sind, worunter sich aber auch Krankengeschichten des Leipziger Professors Hainroth finden sowie Texte, die im Zusammenhang mit Rechtsprechung und Gerichtsbarkeit stehen und einen Eindruck vom Verhalten des Patienten in der Psychiatrie geben, wozu Gutachten gehören. Die Krankengeschichten, die zum Eintritt in die Psychiatrie führen, zeigen, verglichen mit den bisher thematisierten, veröffentlichten Krankengeschichten, keine großen Auffälligkeiten, wobei allerdings hervorgehoben werden muss, dass sie sich sprachlich eher konservativ verhalten (s. u.). Die Krankengeschichte, die der Leipziger Professor Hainroth verfasst, unterscheidet sich ausschließlich hinsichtlich ihrer Ausführlichkeit und dem Grad der sprachlichen Elaboriertheit von einer Krankengeschichte, die von einem medizinischen Beamten verfasst worden ist. Hinsichtlich des gebrauchten Wortschatzes ergeben sich nahezu keine Unterschiede (s. u.), wie auch die Krankengeschichten aus Eberbach deutlich machen: Offenbar lag der Krankheit ein bedeutender Blutandrang nach dem Kopfe zu Grunde. Ein molimen critic. waren die wenigen Blutstropfen aus der Nase. Der bedeutende Blutverlust bey dem Schröpfen über den ganzen Rücken scheint das Gehirn frei gemacht und den offenbar critischen Schlaf zur Sammlung neuer Ruhe und Kräfte im Kopfe beygetragen zu haben. (KG Nr. 276, 19.6. 1842; zit. n. Niedergassel 1977, 56)
Einen sprachwissenschaftlich interessanten Fund stellt die folgende Krankengeschichte dar, weil in dieser alle medizinischen und auch psychiatriespezifischen Lexeme deutlich im Schriftbild abgesetzt sind und – parallel zu den obigen Untersuchungen – die Adaption unterschiedlicher Wortschatzbereiche aus unterschiedlichen Disziplinen dokumentieren können. Es handelt sich neben dem Namen der Patientin, Augusta Emilie Bauer, die 1834 auf den Sonnenstein kommt, und neben textstrukturierenden Signale (Zeitraum des Entstehens, Anlagen des Geistes, aus den Kinderjahren, aus den Jahren des erwachsenen Alters, auessere Veranlassung – subthematische Gliederung), um die folgenden Lexeme: Wahnsinn, Wahne, allgemeiner Wahnsinn, sensibler und intelligibler Welt, sensu commune, Central, (körperlichen) Functionen, psychischen, Recidive, Dispositionen, Temperament, sanguinischen, phlegmatischen, deprimiert, Genies, exanthematisch, Constitution, diathesis scrophulosa, Habitus, constitutionelle, Congestionen, somatischen (Seite),
243 Affection der Ganglien des Nervensystems, excentrischen (Stimmung), Subjektives, Objektives, psychische Potenzen, Wahnsinn, Momente, pharmacertisch, moralisch (Heilmittel), antagonistisch. Es sind also genau die Wortschatzressourcen dokumentiert, die in den vorherigen Kapiteln als rekurrente sprachliche Erscheinungen thematisiert worden sind. Interessant ist nun, dass sich die Wortschatzressourcen mit einem ganz besonderen Duktus verbinden: Emilie Bauer, so erfährt man, leidet unter „allgemeinem Wahnsinn“: „Da nun dieser Mangel des Bewußtseins in allen Empfindungen und Handlungen, in der ganzen Sphäre der geistigen Tätigkeit bei Emilie Bauer sich zeigt …, so leidet dieselbe an allgemeinem Wahnsinn.“ Bei ihr habe sich ein Abwerfen der Gesetze der sensiblen und intelligibeln Welt gezeigt – die Beschreibung des Wahnsinns erfolgt also konsequent von der Folie der philosophischen Anthropologie aus. Ihr Leiden selbst wird zum einen auf eine anstrengende Reise (dies auch schon fast ein Topos des frühen Diskurses) und eine anschließende Erkrankung (Erkältung) zurückgeführt, die zur Folge hatte, dass sich das vorher „ordentliche, stille, sittsame und sorgsame Mädchen“ (das, wie die Ausführungen zu den Kinderjahren zeigen, in keinster Weise zum Wahnsinn veranlagt gewesen sei) zu einer „gewaltsamen … Person geworden“ sei. Diese Erkältung habe unter anderem zur Störung des „monatlichen Blutflußes“ geführt, was durch „Congestionen“ wiederum in den Wahnsinn gemündet sei: … und so von somatischer Seite eine krankhafte Störung der Thätigkeit des Gehirns herbeigeführt …, dadurch gleichzeitig Affection des Ganglien Nervensystems in Perversität des Gemeingefühls verursacht, von psychischer Seite über eine krankhaft gesteigerte Phantasie hervorgerufen, welche bei einer excentrischen Stimmung in einer selbst geschaffenen – im Wahn bestehenden – Welt wirkte, … (vgl. LA Sonnenstein 380, 1834)
Eine Krankengeschichte wie diese ist mit den in den entsprechenden Zeitschriften veröffentlichten Krankengeschichten zu vergleichen. Oben wurde allerdings schon von einem gewissen Konservatismus gesprochen. Es ist wahrnehmbar, dass der Differenzierungsgrad von Krankheitsformen geringer ist, sich keine Anzeichen eines physio-psychologischen Vokabulars und der Amalgierung von Wortschatzressourcen zeigen. Wie aus der Krankengeschichte der Emilie Bauer deutlich wird, finden wir keine Krankheiten klassifizierenden Adjektive oder Genitivattribute: Der Wortschatz der Bezugsdisziplinen wird übernommen, ohne in irgendeiner Hinsicht verfremdet zu werden (z. B. auch der der Temperamentenlehre). Dies zeigt allerdings auch, dass sich in der Initialphase zwar Professionalisierungsschritte markieren lassen, dass wir es jedoch noch nicht mit einem vertikal so stark geschichteten Vokabular zu tun haben, über das prinzipiell nicht auch ausgebildete Mediziner verfügen könnten, was sich auch an den Entlassungsbriefen zeigt:
244 … sein Wahnsinn äußerte sich hauptsächlich dadurch, das Bohlander überall Schreckbilder gewahrte, von Angst gepeinigt um her lief und sich verfolgt glaubte. Dabei war er in sich gekehrt und verwirrt und klagte über Spannung im Unterleib und Obstruction. Dieser Umstand und die schwarzgelbe Gesichtsfarbe und die düstere Gemütsstimmung ließ mich den Sitz des Übels im Unterleib, vorzüglich in gestörter Function des Pfortadersystems vermuthen. (zit. n. Niedergassel 1977, 59); Christian Krämer – Schullehrer – 42 J.a. von bedeutender Körpergröße, sehr magerer Leibesbeschaffenheit und melancholischem Temperament – wurde am 27. Nov. 1839 zum 3ten Mal wegen Geistesstörung in die Anstalt gebracht u. aus derselben am 3. Dez. l.J. geheilt nach Diez entlassen, wo er dem Schutze von Verwandten empfohlen ist. Sein Irrseyn bestand während des letzten Aufenthalts zu Eberbach, in Melancholie – herbeigeführt durch harte Schicksalsschläge. Bei seiner Ankunft in die Anstalt stellte er ein Bild des Jammers dar, durch auffallende Abmagerung, große Körperschwäche und scharf markierte Züge des Tiefsinns … Von körperlicher Seite zeigte sich großer Verfall der Reproductions-Schwäche der Eingeweide des Unterleibs. (zit. n. Niedergassel 1977, 81)
Allerdings bewahren die Krankengeschichten von Nicht-Psychiatern auch dann noch den narrativen Duktus und eine entsprechend vage Ätiologie bei, als Griesinger schon sein erstes Lehrbuch veröffentlicht und sich die Psychiatrie hin zu einer differenzierteren Körpermedizin entwickelt, vgl.: Krankheitsskizze: Am 17ten December d.J. wurde ich Nachts zum ersten mal zu den Gerichtsdiener Beckert gerufen und fand dort bald angekommen folgenden Krankheitszustand an ihm. Patient klaget vorzüglich über heftigen Kopfschmerzen welche mit Unruhe und Aengstlichkeit verbunden waren. Das Gesicht, obgleich stets bei ihm roth, war in hohem Grade geröthet, die Augen unstät und funkelnd, Durst, der Unterleib angespannt, hart und Ausleerungen seit einigen Tagen schon träge. Der Puls hingegen entsprach viel weniger dieser vorhandenen Aufregung, derselbe war sonst normal, etwa 70 Schäge zählend, weder voll noch hart. – Ich hielt den Krankheitszustand für starke Congestionen, wie den Kopfe und verordnete zunächst eine ableitende Heilmaßnahmen, durch Senfumschläge, Klistiere, Fußbäder und durch eine kühlende geling abführende Arznei und als sich nach einigen Stunden der congestionirte Zustand nicht verlor, wurden Patienten reichlich Blutigel hinter den Ohren und an den Schläfen applicirt und die Nachblutung unterhalten. Hierauf minderten sich zuerst die Congestionen, der Kopfschmerz aber verlor sich gänzlich erst nach zwei Tagen unter der Fortführung obiger Arzneien … Kurz nach einigen Tagen hatte Patient sich somit wieder von dem Sturme erholt, daß er anfing allerhand zweckmäßiger Beschäftigungen zu erf?hlen und solches auch mit Umsicht und Geschick … Dennoch beobachtete ich stets an ihm eine größtere Unruhe, Ängstlichkeit, große Besorgniß um kleine und unwichtige Hemmungen oder Funktionsstörungen … (LA Sonnenstein 412)
245 Der Zuschnitt des Vokabulars verweist jedoch im Falle des Sonnensteins nicht allein auf den Verfasser, sondern vielmehr darauf, dass entsprechende Ärzte ihr Schreiben auf die im Falle des Sonnensteins 1829 in der Beschreibung der Königl. Sächsischen Heil- und Verpflegungsanstalt abgefassten Vorschriften für einweisende Ärzte abstimmen (ebd. 163ff.), bei der folgende Fragen beantwortet werden müssen, so dass zumindest die Textstruktur und relevante Stichwörter vorgegeben und zunächst konstant gehalten werden: 1.) Welche Gattung von Geisteszerrüttung ist bei dem Kranken (dessen Vor= und Zuname, Alter und Wohnort anzugeben ist) zugegen? Hierbei sind der Zeitraum des Entstehens, die periodischen Rückfälle, die Art und Weise, wie die Krankheit ausbrach, die vorausgegangenen und begleitenden Umstände, die Zufälle vor, bei, und während der Paroxismen, die Abänderung der Form und Aeußerung der Krankheit während ihres Verlaufs, und die hervorstechenden Symptome, zur Zeit des Gesuches um Aufnahme in eine Heil- und Versorgungsanstalt, genau anzugeben. […] 4.) Durch welches Zusammentreffen innerer Anlagen und äußerer Veranlassungen hat sich wahrscheinlich die Krankheit erzeugt und entwickelt? Bei den Anlagen ist sowohl auf die geistigen, als körperlichen zu sehen, und in Rücksicht beider sind nicht nur die ursprünglichen und angebornen, sondern auch die, während Entwickelung der geistigen und körperlichen Fähigkeiten und Kräfte, von der Kindheit an bis zum Ausbruche der Krankheit, durch äußere Umstände erzeugten Dispositionen zu erforschen und anzuführen. A. in Rücksicht des Geistes: a) aus den Kinderjahren her: Erbliche Anlagen, Temperament, hervorstechende Aeußerungen des Vorstellungs= und Begehrungsvermögens, Geistescultur, Vernachlässigung, Ueberspannung derselben, Verbildung durch Lectüre, Schauspiele, Beispiele, harte Behandlung u.s.w. b) aus den Jahren des erwachsenen Alters: Das Verhältniß der Seelenvermögen gegen einander, der Charakter, hervorstechender Hang zu gewissen Beschäftigungen und Genüssen, gewisse Liebhabereien, vorzügliche Uebung oder übermässige Anstrengung einzelner Kräfte des Gemüths, Zerstreuungen, Benehmen, Arbeitsamkeit, Umgang u.s.w. B. in Rücksicht des Körpers: a) aus den Kinderjahren her: […] b) aus den Jahren des erwachsenen Alters: Krankheiten aller Art, besonders solche, wobei der Kopf vorzüglich gelitten hat, oder durch welche die Geistesfunctionen leicht zerrüttet werden können, als Kopfverletzungen, schnell geheilte Ausschläge und Geschwüre, versetzte Gicht, Hämorrhoiden, Würmer, Entkräftung durch Verlust von Säften, durch Ausschweifungen im Trunke und in der Wollust, Schwangerschaften, Kindbetten, Säugen, Fehler der monatlichen Epoche u.s.w. […] 5.) Welche Mittel, sowohl pharmaceutische, als moralische, sind
246 a) gleich beim Ausbruche, b) späterhin im Verlaufe der Krankheit angewendet worden?
Diese Richtlinien sind für die Professionalisierung der Psychiatrie nicht unerheblich, weil sie auf relativ geringem Raum Relevanzstrukturen bündeln, die Ursachen von psychischen Krankheiten mit Hilfe von Stichpunkten präsentieren und in gewisser Weise ein, wenngleich verkürztes Kompendium psychiatrischen Wissens um 1829 darstellen (zumindest der gängigsten Bilder) – ein entsprechendes textliches Korrelat gibt es in den Zeitschriftenaufsätzen nicht. Die Form ist – und dieses ist im psychiatrischen Kontext – neuartig auf Reproduktion angelegt. Zugleich wird durch die textliche Anordnung selbst eine Struktur für Einweisungsbriefe festgelegt, die ausbaufähig und an gewandelte Bedingungen prinzipiell anpassbar bleibt. Man kann in diesen Richtlinien auch das Gewährleisten von zuverlässiger Information sehen, das entsprechendes Anschlusshandeln in der Anstalt – bspw. in Hinsicht auf die Medikamentenverabreichung – ermöglicht. Wird mit diesen Schreiben die Kommunikation mit der medizinischen Öffentlichkeit geregelt (also nicht nur administrative Abläufe gewährleistet), so finden sich in Krankenakten eher versteckt als offensichtlich vorwärtsweisende und neuartige Elemente unterschiedlicher Tragweite: Die abschließende Beurteilung des Kranken durch den Anstaltsleiter wird immer durch drei Absätze organisiert, die, ohne zu diesem Zeitpunkt entsprechend gekennzeichnet zu werden, die spätere Abfolge „Anamnese“, „status praesens“ und „Epikrise“ vorwegnehmen. Ohne hier zu weit gehen zu wollen, handelt es sich um den pragmatischen Zuschnitt der Kernkomponenten „Introduktion“, „Rahmensetzung“ sowie Hinführung zur „Komplikation“ der ausführlichen Krankengeschichten. Der pragmatische Zuschnitt, was jedoch durch eine weitaus größere Zahl von Beispielen noch bestätigt werden müsste, zeigt sich auch an einer, verglichen mit den Krankengeschichten, charakteristischen und ebenfalls veränderbaren syntaktischen Gestaltung. Durch die „Signalements“, die einer Karteikarte gleichen, auf denen relevante Daten zum Patienten vermerkt werden, tritt durch die tabellarische Form zudem eine textliche Komprimierung auf, die die später für die Krankenakten charakteristischen Vordrucke vorwegnimmt. Die Form der textlichen Komprimierung, die sich weder in Krankengeschichten noch in theoretischen Abhandlungen zeigt, ist also ausbaufähig und transformierbar. Ist anhand der „Signalements“ eine Form der textlichen Komprimierung nachweisbar, so zeigt sich des weiteren auch ein pragmatischer Zuschnitt der philosophischen Abhandlung, nämlich in Form von Gutachten, die in die Rechtsprechung eingelagert und mit ihr verbunden sind und von der Psychiatrie übernommen werden. Die Krankenakten sind also eher nicht hinsichtlich ihres Wortschatzes interessant, sondern hinsichtlich der textlichen Problemlösungen, die in den Psychiatriealltag eingebettet sind, jedoch auch über diesen hinausweisen. Krankengeschichten und Kran-
247 kenakten stehen insofern in einem (dialektischen) Spannungsverhältnis, da die Herauslösung und anders geartete Elaborierung von Bestandteilen der Krankengeschichten in Krankenakten dazu führen wird, dass die Darstellung des Krankheitsverlaufs in Krankengeschichten selbst einer Revision unterliegt. Die Dokumentation von in unterschiedlicher Form erreichten Grunddaten gehört somit zu den ersten fachbezogenen (nicht-administrativen) Handlungen innerhalb der Institution „Psychiatrie“. Allerdings stabilisiert sich die Institution noch eher extern als intrinsisch. Signalement der verpflegten Johanne Christiane Bär
Persons=Beschreibung
Lebensverhältnisse
Name: Johanna Christiane Bär Alter: 5. Fuß 5. Zoll, ? Statur: klein Gesichtsform: oval Gesichtsfarbe: gesund Haare: lichtbraun Augen: blau Augenbrauen: lichtbraun Nase: lang, Mund: proportionirt Kinn: rund Zähne: schwarz und schlecht Aeußeres Benehmen: ängstlich Besondere Merkmale: Keine
Geburtsort: Annaberg voriger Stand und Gewerbe: voriger Aufenthaltsort: Annaberg Ursache ihrer Einlieferung in die Anstalt: Gemüthskrankheit Einlieferungsbehörde: der Stadtrath zu Annaberg Tag und Jahr der Einlieferung: am 30. Nov. 1820 Zeit, wie lang sie in der Anstalt verbleiben soll: ein Jahr Sprache: deutsch und deutlich, erzgebz: Dialekt (?) Religion: evangelisch-lutherisch
Bei den Signalements ist auffällig, dass sie sich in ihrer Struktur in dem hier betrachteten Zeitraum von 1806 bis 1847 nicht verändern und dass die damit verbundene tabellarische Organisationsform nicht um weitere Punkte verändert wird. Dass es Anamneserichtlinien gibt, ist keine Besonderheit des Sonnenstein, sondern für jede größere Heilanstalt dokumentierbar. Es sind meist nur für den internen Gebrauch verfasste Schriftstücke, die allenfalls in den Berichten zu den Psychiatrien mitabgedruckt wurden: so bei Hayner (1819, ZfpÄ, 133ff.) und Ruer (1819, ZfpÄ, 78ff.). Sie vermitteln eine Art Rezeptwissen: So muss auch der einweisende Arzt in Eberbach die folgenden Fragen beachten: Name/Alter, Civilstand, Kinder, Temperament, Körperconstitution, Krankheiten, erbliche Disposition, Entwicklungsperioden, Frage nach Störungen von Menstruation, Wochenbett und Lactation, Schicksalsschläge,
248 Anlagen/Neigungen des Irren, Bildung, Auftreten des Irreseins, Charakter, geistige und körperliche Ursachen (Trunksucht etc.). Dieser Fragenkatalog gibt Einblick in die sprachliche Verfasstheit des Irreseins. So soll bei Krankheiten somatischen Ursprungs angegeben werden, a) welche Organe dadurch in ihren Functionen vorzüglich gestört worden sind?, b) ob das Gehirn besonders gelitten hat, durch mechanische Verletzung des Kopfs, durch Schlagfluß, Epilepsie?, c) ob die Dynamik des Nervensystems durch Ausschweifungen in der Liebe, Onanie, nächtliche Pollutionen gelitten hat?, d) ob gewohnte Blutflüsse, Hautausschläge, alte Geschwüre – künstliche oder natürliche – unterdrückt worden sind?, e) rheumatische gichtische, scrophulöse, syphilitische, oder andere Metastasen sich gebildet haben?, f) ob bei dem Irren vor dem Entstehen des Irrseyns übermäßiger Genuß von geistigen Getränken oder Trunksucht vorausgegangen ist? (zit. n. Niedergassel 1977).
Ein ähnliches, allerdings kürzeres Schema finden wir bei Horn, dem Leiter der Irrenabteilung der Charité, von der sich leider keine frühen Krankenakten erhalten haben, bei dem allerdings dieselben Stichwörter fallen: Temperament, erbliche Anlage, auslösende Momente und vorausgehende körperliche oder geistige Zustände, u. a. auch die oben genannten Gemüthsaffecte. Zu den auslösenden Momenten werden u. a. folgende Fragen gestellt: „Wirkten auf die Kranken ein heftiger Zorn, Kummer, Nahrungssorgen? Oder fand eine Kränkung seiner Ehre statt, oder ein Verlust des Vermögens oder geliebter Verwandten, oder eine verfehlte Hoffnung?“ (Horn 1818, 208). 97 Fünf Hauptpunkte führt auch Pinel für die Erstellung von Krankengeschichten an, wobei sich – ein großer Unterschied zu den bisherigen Richtlinien – der Fragenkatalog auf den behandelnden Arzt bezieht: Die Beschreibung des gegenwärtigen Zustandes, - das Zurückgehen an die Quelle der Krankheit, -die Aufsuchung der vorbereitenden und erregenden Ursachen: „man wird sie finden; 1) in dem Gewerbe und der Lebensart des Kranken, 2) in den, der gegenwärtigen Krankheit vorhergegangenen Einflüssen, in dem vorigen Gesundheitszustand; 3) manchmal in den Krankheiten, welche die Eltern des Kranken unterworfen waren.“ (1803, 7), – die „Berüksichtigung der Abänderungen, welche mit besonderen Umständen in Beziehung stehen, in welchen sich der Kranke befindet …“ (ebd., 7). Dabei sollen auch Alter, Geschlecht, Temperament und körperliche Konstitution Berücksichtigung finden. Für die fortlaufenden Berichte gilt: „Um Tag für Tag, von dem Verlauf der Krankheit, Rechenschaft zu geben, bleibt wenig mehr übrig zu tun: 1) Man bemerke, ob die Hauptzufälle sich ______________ 97
Wie sehr man sich gegenseitig zur Kenntnis nahm, wird auch daran deutlich, dass Müller sich explizit auf diesen bezieht: „Möchten doch die Aerzte unseres Vaterlands das von dem erfahrnen Dr. und Professor Horn in Berlin, in seiner Bekanntmachung seiner zwölfjährigen Dienstesleistung in der Irrenanstalt, zur Beantwortung den Aerzten vorgeschriebene Formulare bei Abfassung ihrer Krankengeschichten zur Norm nehmen, …“ (1824, 88)
249 vermehrt oder vermindert haben, oder ob sie noch dieselben sind; 2) man bemerke die neuen Zufälle, die sich gezeigt haben; 3) man zeichne den Zustand der Absonderungen, in Beziehung der 3 Perioden der Krankheiten, auf; 4) man nehme Rüksicht auf die Würkung der Arzeneien; 5) man bestimme bei der Abnahme, die Epoche der Wiedergenesung und die Vorschriften der Diät. (ebd., 8)
Diese Anamneserichtlinien bleiben sich auch in der Folgezeit strukturell sehr ähnlich, wobei allerdings folgende Erweiterungen sichtbar sind. Bei Roller (1846) in seiner Belehrung und Aufforderung wegen Benützung der Großherzoglichen Heil- und Pflegeanstalt Illenau und wegen Behandlung von Seelengestörten in ihrer Heimath zeigt sich der ganze bis dahin verfestigte Kanon der ärztlichen Beobachtung, bei dem sich offensichtlich bestimmte Begriffe dauerhaft durchgesetzt haben, jedoch auch ein höherer Präzisionsgrad erreicht worden ist. Es soll Folgendes angegeben werden: Angabe der Verhältnisse beim Wachen, Schlafen, Träumen, bei den Sinnes- und Geschlechtsverrichtungen (der Menstruation), dem Blutumlauf, dem Herz- und Arterienschlag, Athmen, der Temperatur und Farbe des Körpers und seiner einzelnen Theile, dem Hunger und Durste, der Verdauung und Ernährung, den verschiedenen Se- und Excretionen, der Reinlichkeit, Komplikation mit Lähmung (partieller) mit Epilepsie oder andern körperlichen Leiden und Schäden, spezielle Form der Seelenstörung, Zustand der geistigen Vermögen, dem Blödsinn, Grad desselben, Sinnestäuschungen (Stimmenhören, Funkensehen, Gerüche etc.), fixe Ideen und die mit denselben bestehenden Alienationen des Gemüthes. Exaltation oder Depression, Neigung zum Selbstmord, zu Gewaltthätigkeiten, zum Entweichen, Benehmen des Kranken überhaupt, Veränderungen im Gang, Geberden, Sprache, Lebensweise, Betragen gegen Angehörige und Fremde. (Roller 1846, 29)
Die in den Krankenakten des Beginns erreichte, allerdings noch bescheidene Informationsselektion, das Abarbeiten relevanter Stichworte, bleibt nicht ohne Folgen für die psychiatrische Entwicklung: die Kranken- und Irrengeschichte verliert als Hauptmedium psychiatrischen Erkenntnisgewinns an Bedeutung, obwohl es Phasen gibt, in denen sie revitalisiert wird (so, nach Freud, bei der psychoanalytischen „Novelle“ – vgl. Kap. 6.1.2). 98 Einerseits scheint es eine unumgängliche Phase der Psychiatrieentwicklung zu sein, in ______________ 98
Für die Wichtigkeit von detaillierten Fallschilderungen habe ich bei meinen Untersuchungen ein interessantes Indiz gefunden: In dem Buch von Karl Wilhelm Ideler Biographien Geisteskranker in ihrer psychologischen Entwickelung dargestellt (1841) finden sich Bearbeitungsspuren eines späteren Psychiaters, mindestens 50 Jahre später. Nach der Darstellung der jeweiligen Biographie findet sich ein handschriftlicher Eintrag mit der genauen Krankheitsbezeichnung: So wird bspw. ein Zustand anhaltender Verstandesverwirrung als „Dementia praecox“ bezeichnet. Offensichtlich schließt sich die Darstellung von Fällen an die Erfahrung eines wesentlich später arbeitenden Psychiaters an, der diese noch mit Gewinn rezipieren kann: Nicht immer ist sich der Psychiater aber hinsichtlich der korrekten Bezeichnung sicher!
250 möglichst elaborierter Form den Verlauf von Entwicklungen aufzuzeigen und so Fallschilderungen, die in den frühen Monographien fehlten, in das psychiatrische Wissen einzugliedern. Andererseits schafft sich die Psychiatrie in den Krankenakten ein textliches Korrelat, das zwar auf Krankengeschichten und andere Erfahrungsberichte verwiesen bleibt, jedoch eine textstrukturelle Form ausprägt, die von der ausführlicheren Krankengeschichte unterschieden ist und sich besonders bei der Durchsetzung des naturwissenschaftlichen Paradigmas, aus dem tradierten Rahmen lösen wird (d. h. es wird ein textueller Modus gefunden werden, der sowohl in den Krankenakten als auch in Fallschilderungen, bspw. in Lehrbüchern auftauchen wird – vgl. Kap. 5; Kap. 6.2.2). Es ergibt sich gerade in dem Moment, in dem Anstaltsleiter den Diskurs monopolisieren, eine Dialektik von Krankengeschichte und Krankenakte bzw. ihren eher berichtenden Teilen wie den „signalements“ und dadurch auch ein argumentativer Vorteil der somatisch arbeitenden Medizin. Während in den ausführlichen Krankengeschichten das Moment der chronologischen Darstellung überwiegt, werden in den Krankenakten – sozusagen im synchronen Schnitt – für die Institution relevante Bestimmungen eines Typs von Kranken und entsprechende Motivationsrelevanzen ausgesondert (Signalements werden verfasst, um den ordnungsgemäßen Eingang in eine Klinik zu dokumentieren), die die Anschlussfähigkeit im Klinikshandeln ebenso gewährleisten wie die Kommunikation mit der kliniksexternen Öffentlichkeit. Das Schreiben in der Institution ist Ausdruck von Rezeptwissen und setzt den psychisch Kranken notwendig voraus. Krankengeschichten werden hingegen dazu geschrieben, um das soziale Objekt „psychisch Kranker“ erst zu konstituieren und psychiatrisches Handeln als solches zu legitimieren. Holzschnittartig könnte man zweiteilen: Während bei der Konstitution des sozialen Objekts um Abgrenzbarkeit und Legitimität gerungen wird, was sie bspw. am Aufbau sprachlicher Demarkationslinien zeigt, wird in Krankenakten ein spezieller Ausschnitt textlicher Aneignungsformen „revolutioniert.“ Die wechselseitige Beeinflussung von Theorie und Praxis wird in den Folgejahrzehnten jedoch in einer bestimmten Weise verengt werden. 4.3.3.2 Berichte aus den Heilanstalten Im Zusammenhang mit den Krankengeschichten stehen die in den frühen Zeitschriften veröffentlichten Berichte, zumeist Jahresberichte, der Heil- und Pflegeanstalten. Die Zeitschriften bieten nicht nur Berichte aus dem deutschen Sprachraum, sondern liefern auch Übersetzungen von Berichten aus England und Frankreich. Die Berichte informieren über: die Organisation der Heilanstalt, so die baulichen Maßnahmen und die Unterteilung von Kranken, therapeutische Anwendungen und entsprechend angeschaffte Vorrichtungen, Tagesablauf in der Psychiatrie (Essensplan, Freizeitvergnügungen etc.), über
251 die Rolle des Personals (des Arztes ebenso wie die der Wärter) und über den Verlauf einiger repräsentativer Fälle, die besonders berichtenswert erscheinen, weil die Behandlung entweder erfolgreich oder auch ergebnislos verlaufen ist. Aus diesen Berichten geht hervor, dass diejenigen Heilanstalten, die sich dem neuen Paradigma „Heilen statt Verwahren“ verpflichtet fühlen, sehr ähnlich organisiert sind. Da es in ihnen vornehmlich um die Vermittlung sachlicher Informationen geht, weist die gebrauchte Sprache bzw. der verwendete Wortschatz nicht über die Krankengeschichten hinaus, gibt aber durchaus einen Einblick in die textlichen Routinen (z. B. zur Rolle von Krankenakten und überhaupt textlich vermittelnden Vorgängen in der Psychiatrie, vgl. Kap. 2.1.2). Dabei ist ersichtlich, dass die Rolle des Arztes noch nicht annähernd der entspricht, die wir heute kennen: Gegenüber dem Verwaltungspersonal, wie die Ausführungen von Müller deutlich machen, ist der Arzt in einer defensiven Rolle (vgl. dazu auch: Hayner 1819, 92). Zumeist ist der leitende Arzt ein Einzelkämpfer, der auch bei größeren Heilanstalten kaum medizinisches Personal (allenfalls Hilfsärzte) zur Verfügung hat, so dass es verwundert, dass die meisten Ärzte überhaupt Zeit gefunden haben, sich in Form von Aufsätzen oder gar Monographien zu äußern. Die Berichte machen deutlich, dass die Psychiater zunächst damit beschäftigt waren, eine kommunikative Praxis zu etablieren, die einen geregelten Ablauf gewährleistet: hinsichtlich der Unterbringung der Kranken, der Gewährleistung eines ungehinderten Informationsflusses (z. B. seriöse Informationen über den Werdegang eines eingelieferten Kranken, vgl. Kap. 3.2.1) und schließlich hinsichtlich der Behandlung von Kranken. Hinsichtlich der verwendeten Sprache, was die Einteilung der Kranken, die Bezeichnung von Krankheiten als auch vereinzelte Krankengeschichten anbelangt, verhalten sich diese Psychiater eher konservativ: Sie versuchen den Traditionsbestand zu sichern. Die Einteilung von Krankheiten bspw., wie aus der folgenden Einteilung von Pienitz hervorgeht, stellt einen Annäherungswert dar und ist eher deixisbehaftet und indexikalisch auf die Praxis bezogen. 4.3.3.3 Theoretische Abhandlungen und der Streit zwischen Psychikern und Somatikern Anders hingegen ist ein weiterer Baustein der frühen Veröffentlichungen über psychische Krankheiten zu bewerten: die theoretische Abhandlung über den Charakter und die Kennzeichen psychischer Erkrankungen. Wie oben schon bemerkt, würde man auch diese Abhandlungen ohne Vorkenntnis der Anthropologie oder anderen philosophischen Disziplinen zurechnen. Es geht nicht um die materielle-physische Fundierung von Krankheitsbildern, sondern um den Menschen als vernunftbegabtes Wesen, bei dem einige Vermögen aufgrund bestimmter Ursachen nicht ausgeprägt sind. Zwar wird in
252 den Beiträgen über körperliche Ursachen spekuliert, die Psychiatrie als spätere medizinische Spezialdisziplin bildet sich hier nur ansatzweise ab. Empirie und theoretische Annäherung stehen somit in einem Spannungsverhältnis. Folglich wird keine Brücke von der Wahrnehmung psychisch Kranker zu allgemeinen Erkenntnissen geschlagen. Im Vordergrund steht die Festlegung von Begriffsverwendungen, wobei keine intersubjektiv geteilte Begrifflichkeit nachzuweisen ist. Im Fokus aller Auseinandersetzungen steht die Frage, was unter Seele, was unter Körper zu verstehen ist, vgl. z. B. den Beginn von Nasses Abhandlung „Ueber die Abhängigkeit oder Unabhängigkeit des Irreseyns von einem vorausgegangenen körperlichen Krankheitszustande“ in der Zeitschrift für psychische Ärzte (1818, 128ff.): Soll sich uns das tiefe Dunkel, worin, wie schwerlich Jemand mit Recht läugnen kann, die Natur des psychischen Krankseyns unseren Blicken verborgen liegt, allmählich erhellen, so müssen wir wohl vor Allem Licht suchen bei der gründlichen Beantwortung der Frage: von welcher Seite geht jenes Krankseyn aus? giebt es ein bloß in der Seele entstehendes, oder ist dasselbe jedesmal abhängig von einer vorausgegangenen Regelwidrigkeit des Körpers? Je nachdem die Beantwortung dieser Frage für den einen oder den andern Fall entschiede, dürfte freilich auch unser Gewinn in dieser Erkenntniß jenes dunklen Gegenstandes verschieden seyn; … (Nasse 1818b, ZfpÄ, 128)
Oder andere theoretische Abhandlungen: Es drängt sich da vor Allem die uralte Frage auf: Wie verhalten sich Leib und Seele zu einander? immer als noch nicht gelöstes Räthsel. – Allein darin liegt gleich vornan der Knoten, daß man das Menschenleben von jeher passiren ließ, unter den beiden Namen „Leib und Seele“, von denen bald der eine, bald der andere zum Geschlechts oder Vornamen gebraucht wurde – man denkt sich diese zwei als Gegensätze: der einzelne Mensch ist eben diese Zweieinigkeit. (Leupoldt 1819, ZfpÄ, 57) Es scheint zwar jetzt noch viel zu zeitig, eine Eintheilung der psychischen Krankheiten zu versuchen, da noch nicht genug einzelne Fälle beobachtet worden sind, von denen man eine genügende und erschöpfende Eintheilung mit Grund ableiten könnte. Ja es scheint mir selbst für den wissenschaftlichen Fortgang der tiefern und weitern Untersuchung gefährlich, sich zu früh an eine solche Eintheilung zu wagen … Doch ist aber auch eine solche Eintheilung von einer andern Seite notwendig, mit Beziehung nämlich auf die mögliche, in den psychischen Krankheiten statt findende moralische Freiheit, damit man nach den verschiedenen Graden, Formen und ursächlichen Momenten der psychischen Krankheit die verschiedenen Grade der gestörten oder unterdrückten moralischen Freiheit abmessen kann, … (Grohmann 1819, ZfpÄ, 179)
Da die Abhandlungen die Phänomenebene nicht auf der nicht-individualisierten, sondern auf allgemeinstem Niveau thematisieren, besitzen sie schon zu diesem Zeitpunkt eine gemeinsame Schnittmenge. Es erfolgt Aneignung des philosophischen Vokabulars zur Einteilung der unterschied-
253 lichen Fähigkeiten und Vermögen des Menschen, wobei hier die charakteristischen Anverwandlungen und Enthistorisierungen noch deutlicher als in den Krankengeschichten zu Tage treten. Auffällig ist daneben, dass sie sich von den Krankengeschichten auch dadurch abheben, dass sie bei schon bestehenden Alternativen fremdsprachliches Material bevorzugen (z. B. krankhafte Affektionen entweder des Verstandes oder Willens, abnorm afficirt, sthenisch übertriebenen Charakteren, „und die Seelenverwirrung nimmt eine gewissere, höhere und breitere Peripherie der Thätigkeit oder Leidenheit ein“ – alles Grohmann 1819, ZfpÄ, 179ff.). Gleichzeitig können sie sich hinsichtlich des verwendeten Wortschatzes jedoch auch konservativer verhalten und von Raserei oder Tollheit sprechen. Bei ihnen ist ein größerer Formulierungsfreiraum und sprachlicher Gestaltungsspielraum deutlich, so dass bildungssprachliche Schibboleths, gemessen an den Krankengeschichten anachronistisches Vokabular und stark expressiv-evaluative Wendungen oder Sprichwörter noch erlaubt sind. Die mit den Versprachlichungspräferenzen der Krankengeschichten verbundenen Gebrauchsrestriktionen oder auch nur Dispräferenzen sind hier nicht wahrzunehmen. Eng mit den bisher thematisierten Erscheinungen hängt zusammen, dass durch die Zusammenführung unterschiedlicher Ressourcen neue Lexemverbindungen entstehen, auf deren Basis das psychiatrische Vokabular weiter ausgebaut wird. Eine besondere Rolle spielen die unter 4.3.2.1. schon skizzierten Bedeutungsübertragungen vom körperlichen auf den seelischen Bereich (so Inflammationen oder Exacerbationen des Willens). Während bei den Krankengeschichten die Rhetorizität der Ausführungen sich zumeist auf die Rolle des behandelten Arztes und seine Bemühungen, die richtige Behandlungsweise zu finden, beziehen, ist für die theoretischen Abhandlungen charakteristisch, dass das gebrauchte Bildmaterial zumeist das gesamte metaphorische Modell versprachlicht und eben nicht nur diesem Bildmaterial entliehene Metaphern. Die Texte verhalten sich auf unterschiedlichen Ebenen also wie eine FokusHintergrund-Gliederung zueinander: Während die Krankengeschichten bestimmte sprachliche Einheiten ins Zentrum rücken, evozieren die Abhandlungen die entsprechenden theoretischen Texte und haben auch die Möglichkeit, vollständiges Bildmaterial zu entwickeln, das bei den Krankenakten sicher fehl am Platze wäre. Im Gegensatz zu den Krankengeschichten nähern sich die Abhandlungen erörternd ihrem Gegenstand, z. T. kann dies jedoch auch kontrovers geschehen, so dass sich eine an der Rhetorik geschulte Abfolge von refutatioargumentatio ergibt. Die rhetorische Schulung der Verfasser ist unübersehbar: Nasse bspw. baut seine Abhandlung „Vereintseyn von Seele und Leib oder Einsseyn?“ (1820, ZfpÄ, 6–22) dialogisch auf und verwendet in dieser Abhandlung alle Schattierungen der aversio. Im Gegensatz zu späteren Zeitschriftenaufsätzen wird hier auf etablierte Aneignungsstrategien zurück-
254 gegriffen, die häufig nach dialogischen Mustern organisiert sind. Die unterschiedlichen rhetorischen Dialogtechniken (sermonicatio, imitatio/subiectio, dubitatio, concessio, apostrophe/interrogatio/exclamatio) bauen unterschiedliche Grundmuster der argumentatio-probatio-refutatio-Strukturen auf. In allen Abhandlungen wird zu Beginn und am Ende Publikumskontakt hergestellt, wobei – ganz in der Tradition der antiken Rhetorik – eine propositio ggfs. narratio vorangestellt wird. Entsprechend sind auch viele Figuren nachzuweisen, die im Zusammenhang mit dem z. T. emotionalisierenden Überzeugen stehen, so bspw.: die steigernde Amplifikation, der Vergleich (comparatio), die Antithese, die rhetorische Frage oder die variatio. Die rhetorische Gestaltung des textlichen Aneignungsmusters unterscheidet sich nicht wesentlich von der, sofern vorhanden, politischen Rede der Zeit, und es ist im Kontext der Professionalisierung generell für die Etablierung von Fachsprachen wohl zu fragen, ob und inwiefern auch diese Verfahren anverwandelt werden. Die nur bedingt spezifizierte Leib-Seele-Problematik erlaubt dies. Im Gegensatz zu späteren Veröffentlichungen, in denen die vornehmlich körperlichen Ursachen von psychischen Erscheinungen im Blickpunkt stehen, was eine andere Herangehensweise bedingt. In der Folgezeit können psychische Krankheiten präziser gefasst werden, vornehmlich durch Forschungen aus der Gehirnanatomie und Neurologie. Es hieße allerdings die Initialphase zu unterschätzen, wenn man sich nicht die Folgewirkungen des nun geschaffenen Vokabulars vor Augen führen würde, die hauptsächlich in der Anverwandelung philosophischen und kulturell verankerten Vokabulars bestehen. Diese Anverwandelung weist nämlich auf ein eigenes Diskursuniversum hin, dass die Psychiatrie nun nicht mehr mit anderen Disziplinen teilt. Da sich die Medizin selbst diversifiziert und „Generaltheorien“ wie die Säftelehre und die Physiologie alter Prägung sterben, die Medizin nur noch bedingt und auf andere Weise zum kulturellen Kaleidoskop wird, kann sich der psychiatrische Diskurs sprachlich produktiv an diese Entwicklungen anschließen. Während um 1800 ein Buch zu Fiebererkrankungen und eins zu psychiatrischen Störungen sich noch nicht grundsätzlich unterscheiden, 99 ist dies in der Folgezeit undenkbar. ______________ 99
So finden wir bei Gall (1791) dem psychiatrischen Diskurs ähnliche medizinische Begriffe (z. B. Störung, Konvulsionen, Anfall, Rückfall, Crisis, kritisch), Kollokationen (z. B. die Verdorbenheit der Säfte, so verdorbene Leibesbeschaffenheit – 329, auch ein interessanter Fall für einen Bedeutungswandel; Blut abzapfen – 387), weit verbreitete Metaphern („stürmische Heftigkeit ihrer Zufälle“ – 275, „ohne Vernunft, und just so, wie ein Vieh der dümmeren Gattung“ – 391, „jöhlte in einem fort, als wenn er ein stockendes Fuhrwerk in Gang bringen wollte“ – 535), entsprechende Graduierungen (höchsten Grade – 261, immerwährend – 327, immer fort – 375 u. ä.) und ähnliche Theoreme, so etwa das von der gehemmten
255 Zur sprachwissenschaftlichen Betrachtung von theoretischen Abhandlungen gehört auch die Darstellung der Kontroverse zwischen Psychikern und Somatikern, die in den unterschiedlichsten Monographien und theoretischen Abhandlungen auftaucht. Zur Gruppe der Somatiker sind zu rechnen: Neben F. Nasse die Anstaltsdirektoren M. Jacobi (Siegburg), C.F. Flemming (Sachsenberg-Schwerin), C.F.W. Roller (Illenau/Baden), E.A. Zeller (Winnenthal/Württemberg), die Gerichtsärzte J.B. Friedreich und G. Blumenröder und allgemein-medizinische Professoren wie K.F. Burdach. Zur Gruppe der Psychiker sind neben naturphilosophischen Medizinern wie J.Ch.A. Hainroth, C.G. Carus und der Berliner Professor K. W. Ideler (vgl. Kap.1.1) zu zählen. Die Kontroverse wird der Tendenz nach zwischen den Vertretern unterschiedlich organisierter Institutionen mit jeweils anderer thematischer Orientierung ausgefochten. Indizien dieses Streites findet man allenthalben: „Wie sehr in Deutschland unter den Aerzten; als Hauptparteiführer der Theorie des Wahnsinns gegenwärtig Nasse und Heinroth gelten, geht daraus hervor, daß man ganz im Ernst gefragt wird, ob man Nassianer oder Heinrothianer sey.“ (Damerow 1829, 240). Der Streit ebbt, wie aus dem folgenden Zitat von Nasse indirekt hervorgeht, schon 1838 ab: „Erst muß aber für die Diagnosis ursachlicher psychisch-somatischer Verhältnisse ein genaues Verfahren festgestellt werden. Vielleicht würde des Streitens über den psychischen und somatischen Ursprung eines Zustandes in neuerer Zeit weniger gewesen seyn, wenn man den Weg zu einer solchen Diagnosis sorgfältiger aufgesucht hätte.“ (1838, 12). Auch die Kontroversetexte zeugen von der schreibrhetorischen Schulung der Kontrahenten: In die Debatte gehen sowohl Traktate „mit einer systematischen, problembezogenen thematischen Struktur“ (Gloning 2002, 45) und Streitschriften mit einer „Punkt-für-Punkt-Zerlegung der gegnerischen Position“ (ebd., 45) ein, die eine dialogische Form annehmen kann oder artikelweise gegliedert ist (s. auch oben). Die Beiträge erscheinen sowohl als Teilkapitel im Rahmen einer Monographie als auch als Zeitschriftenbeiträge. ______________
oder gesteigerten Lebenskraft (212, 221f.), von den Temperamenten (327) und von der Reizbarkeit und der Überspannung bestimmter Personen (z. B. 285), deren Ursachen ebenfalls ähnlich sind und z. B. durch Gemütserschütterungen hervorgerufen werden (453). Auch ähnliche Basisdichotomien durch eine ähnliche Theorie sind vorhanden (z. B. ordentlich/unordentlich). Auch die kulturellen Stereotype ähneln sich: „Man vergleiche nun aber mit so einem Weibe ein junges vornehmes und nach der Mode lebendes Frauenzimmer, das von zärtlichen, ja vielleicht gar ungesunden Eltern gebohren ist … das nie seine Kräfte gehörig ausübt und anstrengt; … Sie wird bald mannbar, hat ihre monatliche Reinigung oft, und allemal häufig und lang; dergleichen Personen haben einen sehr zärtlichen und empfindlichen Karakter, und sind alle den Leidenschaften sehr unterworfen, die schwache Nerven so häufig zu erschüttern pflegen. Obgleich ihre Kräfte nicht groß sind, so sind es doch ihre Triebe.“ (308f.)
256 Das Spektrum der argumentativen „Züge“ deckt sich mit Kontroverseschriften aus der frühen Neuzeit: – eine (eigene oder gegnerische) Position formulieren, etwas stützen, – eine gegnerische Position angreifen oder die Person des Gegners angreifen. Erfahrungszüge überwiegen vor Autoritätszügen (Begriffe von Gloning 2002, 59). Dass die Kontroverse z. T. mit sehr großer Feindseligkeit geführt und dass das ganze Arsenal streitspezifischer Handlungen, bzw. von „Angriffszügen“ angeführt wird, wird an den folgenden Zitaten Friedreichs deutlich: Das Grundprincip Heinroth’s aber, dass alle psychische Krankheit nur aus der Sünde entstehe, wird niemals von der gerichtlichen Medicin und dem Strafrechte als leitender Grundsatz anerkannt werden. … Es wider streitet ebenso wohl jedem Rechtsgefühle als aber auch vorzüglich der Erfahrung, die Seelenkrankheit von der Sünde oder moralischen Verderbnis ableiten zu wollen. Wäre Heinroths Theorie richtig, so müssten alle Lasterhaften in Wahnsinn verfallen und die Tugendhaften davon befreit bleiben; … Wenn z. B. ein Gelehrter, indem er einen wissenschaftlichen Zweck mit grossem Eifer verfolgt, den ganzen Tag an seinen Schreibpult gefesselt bleibt, dabei in der Wahl der Nahrungsmittel nicht vorsichtig genug ist, sich eine plethora abdominalis und Hämorrhodialleiden zuzieht, aus dem sich nun allmählig eine Melancholie entwickelt; soll man nun über diesen Gelehrten das Heinroth’sche Anathema ausrufen und die Kapuzinade aufstellen, es sey diesem Manne der verdiente Lohn seines Abfalles von Gott, vom Principe des Guten zu Theil geworden? Es wäre fürchterlich ein solches Urtheil, schauerhafter als der Wahnsinn selbst; ein Frevel an der Menschheit, der aus einer solchen Lehre hervorgeht. (Friedreich 1839, 117) In jenen Fällen also, wo eine psychische Krankheit durch einen Affekt veranlasst wurde, ist letzterer nur die entfernte Ursache und die nächste ist in dem durch Zorn gestörten Lebersysteme, in dem durch Angst, Kummer abnorm ergriffenen Herzen u.s.w. zu suchen, … Aehnlich verhält es sich, wie ich schon im ersten Kapitel S. 7 u. f. angedeutet habe, wenn psychische Krankheiten durch moralische Gebrechen erzeugt werden. So wird nicht der Gram, sondern die durch Gram krank gewordene Leber die unmittelbare Ursache der psychischen Krankheit ist, so ist auch nicht der moralische Fehler, die sogenannte Sünde, die unmittelbare Veranlassung zum Wahnsinne, sondern diese ist in der durch die Immortalität erzeugten Zerrüttung des Körpers zu suchen. Der von Leidenschaften Bewegte und der Lasterhafte erkranken nicht eher psychisch, bevor die Leidenschaft oder das lasterhafte Leben eine somatische Störung, aus der sich eine psychische entwickeln kann, erzeugt haben. (Friedreich 1834, 434)
Wir finden streitspezifische Handlungen als solche: expressive Sprachhandlungen verwenden (TADELN, KLAGEN, …) Argumente ad hominem anführen: PERSONALISIEREN, persuasive Manöver einsetzen (z. B. Wortspiele), Markieren von Perspektivendivergenz.
257 Position des Gegners WIDERLEGEN durch: OFFENLEGEN von (absurden) Präsuppositionen, SCHILDERN eines empirisch beobachteten oder denkbaren Falls, ANFÜHREN von gegenteiligen Fakten, ERKLÄREN-WARUM, die Position des Gegners falsch ist, ANFÜHREN von Plausibilitätsargumenten. Semantische Kämpfe wie das ZURÜCKWEISEN der Konnotationen der vom Gegner gebrauchten Lexeme, das FESTLEGEN und damit ggf. ZURÜCKWEISEN der Gebrauchsbedingungen einzelner Lexeme finden sich allerdings nicht. Bei aller Heftigkeit der Debatten, die streit- und kontroversespezifische Mittel nicht vermissen lassen, muss betont werden, daß die Hinwendung zum Körper bei Nasse und anderen ‚Somatikern‘ wohl vorwiegend einen programmatischen Charakter hatte: Über eine Realisierung der geforderten systematischen Untersuchungen, insbesondere von Arzneimittelauswirkungen und körperlichen Krankheitszuständen auf psychische Störungen, oder systematische Sektionen, ist nichts bekannt. … Dem ‚Psychiker‘ Heinroth und dem ‚Somatiker‘ Nasse ist damit eine religiös inspirierte anthropologische Grundlage der Seelenheilkunde gemeinsam. Diese macht auf Seiten der ‚Somatiker‘ die Integrität der Seele, auf Seiten der ‚Psychiker‘ die Ausrichtung des psychischen Apparates und der seelischen Tätigkeit auf das göttliche Gebot zur Prämisse von Psychologie und Psychopathologie. (Roelcke 1999, 67)
Daneben sollte nicht außer Acht gelassen werden, dass in den frühen Zeitschriften sowohl Nasse als auch Heinroth, der Protagonist der Psychiker, als Herausgeber erscheinen und dass die unterschiedliche theoretische Ausrichtung zunächst keinerlei Auswirkungen darauf hatte, wie bspw. Krankengeschichten verfasst wurden: So ist die narrative Organisation und im übrigen auch ein Großteil des adaptierten Vokabulars identisch. Offensichtlich bleibt dieses Aneignungsmedium des frühen psychiatrischen Diskurses von diesen Streitigkeiten unberührt. Auch Herzog kommt zu dem Schluss: Die somatologische und psychologische Erzählweise führte bei den Psychiatern in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts in Deutschland zur Spaltung in „Somatiker“ und „Psychiker“. Ihre gegensätzlichen Auffassungen sorgen für Diskussionen in der Psychiatriegeschichtsschreibung. Für die Irren und ihre Behandlung waren diese Gegensätze vermutlich nicht sehr belangvoll. (1984, 61)
Worum geht es also im Kern? Heinroth schätzte nach Roelcke (1999, 51) „die französischen Autoren wegen ihrer genauen klinischen Beobachtungen und auch wegen ihrer Praxis im Umgang mit Irren. Er lehnte jedoch ihre an Symptomen orientierte Einteilung der Seelenstörungen als zu ‚oberflächlich‘ ab.“ Heinroth argumentiert deduzierend und explizit aus einer theologischen, z.T. vielleicht eher metaphysischen Perspektive. Die Seelenstörungen sind
258 nach Heinroth Folge einer „freihen Verzichtleistung auf die Freiheit“, sie werden damit definiert als „psychisch-unfreie Zustände“, oder, genauer, als „dauerhaft unfreie Zustände“ der Vernunft (vgl. Heinroth 1818b, 36). Sünde ist „die innere Bedingung zur Entstehung der psychisch-unfreien Zustände.“ (ebd., 25). Diesem Zustand versucht, Heinroth auch pädagogisch entgegenzuwirken. Die Auseinandersetzung gruppiert sich nun ganz wesentlich um das auf Heinroth zurückgehende Theorem, dass psychische Krankheiten Produkt einer Sünde seien, die darin bestehe, dass ein Mensch sein Lebensziel, nämlich das der Personenwerdung verfehle und die menschliche Vernunft verrate. Das Ziel eines selbstbestimmten Lebens – die Terminologie hat durchaus kantianische Anklänge – zu erreichen, liege in der Macht und in dem Willen des einzelnen Individuums, der einzelnen Person. In seiner Schrift von 1818 führt er aus: Verfällt der Mensch also in einen fortwährend unfreien Zustand, so kann dies nur dadurch geschehen, daß er, seiner Einrichtung entgegen, niederen Gewalten, wie Temperament, Trieb, Neigung, Begierde u.s.w., ein Recht einräumt, welches ihnen nicht zukommt und er ihnen versagen kann; denn er hat Vernunft und Willen so gewiß und so lang er Bewußtseyn hat, und ohne seine Einwilligung kann sich, eben seiner Einrichtung zufolge, weder das Temperament noch sonst eine Naturgewalt in dem Grad erheben, daß er von dem Strom dieser Gewalten fortgerissen wird. (1818, 6)
Gleichzeitig wird der Begriff „Sünde“ an den der „Seele“ gekoppelt: „Seele! Großes, bedeutungsvolles Wort! Einziger Schatz des Menschen, Wesenheit seiner selbst! Wie würdigt man dich herab, indem man dich zur Sklavin des Leibes, zur Sklavin von niedrigen, zerstörenden Lüsten und Begierden macht! (Heinroth 1827, 13). Heinroth nimmt daher „die wissenschaftliche Erstarrung in der trostlosen Lehre des Materialismus ein erthödtetes Gemüth bei jedem voraussetzt, der sich in ihr verliert.“ (ebd., 84) und „… und wenn es weiter nichts ist, so erscheint er eben nur als eine Denk- und Rechnungsmaschine, wie ein Uhrwerk, das schlagen muß, wie es eingerichtet ist, und aus dem wir uns die wechselreiche, wandelbare Welt unserer Vorstellungen nicht erklären können.“ (ebd., 88). Hauptsächlich gegen das Theorem, dass psychische Krankheit aus individuell verschuldeten Sünden bestehe (vgl. auch Heinroth 1827, 175), opponieren nun die Somatiker. Vgl.: …. und ist hiernach das Bestreben mancher Psychologen der neueren Zeit zu beurtheilen, die ein häufiges Hervortreten krankhafter psychischer Zustände zur Entschuldigung sündlicher und gesetzwidriger Handlungen, und zur Beschönigung unmoralischer und lasterhafter Neigungen plausibel zu machen trachten. Denn während ihre Annahme auf der einen Seite aller gründlichen Beobachtung widerspricht, läuft sie auf der anderen Seite offenbar darauf hinaus, unter dem einladenden Scheine humaner Gesinnungen, alles göttliche und menschliche Recht zu
259 erschüttern, und zugleich den Menschen seiner sittlichen Würde zu berauben und sein Gewissen zu betäuben, … (Jacobi 1838, 56)
Die kommunikativen Strategien der Somatiker basieren auf Erfahrungszügen: Es gebe Krankheiten, die eindeutig körperlichen Ursprungs sind, wobei sie auf die alte medizinische Tradition (z. B. auf die Sichtweise der Melancholie) rekurrieren. Außerdem sei die Behandlung der somatischen Ursachen in diesem Bereich Erfolg versprechend. Ferner gebe es Wechselfälle im Leben, die nicht in der Verantwortung des Einzelnen lägen und die von einem Individuum allein nicht mehr angemessen ver- und bearbeitet werden könnten. Neben der Strategie, Erfahrung ins Feld zu führen und den sündhaften Kern psychischer Erkrankungen zu bestreiten, grenzen sich die Somatiker von den Psychikern durch ihre Fassung des Kernbegriffs „Seele“ und damit auch von der skizzierten philosophisch-deduktiven Herangehensweise ab. Während Heinroth und andere Psychiker einen Leib-Seele-Dualismus und ein vom Körperlichen unabhängiges Funktionieren des Seelenlebens annehmen und damit in einer religiösen bzw. metaphysischen Tradition stehen, gehen die Somatiker, deren Theoreme, wie gesagt, noch nicht naturwissenschaftlich oder positivistisch verstanden werden können, einen anderen, man könnte fast sagen Wittgensteinischen Weg: Über die eigenständige Existenz einer Seele könne man nichts sagen, da sich für den Menschen die Seele nur in körperlichen Funktionen oder durch körperliche Reflexe zeigen könne, was vor allem bei niederen Seelenverrichtungen der Fall sei. Die Somatiker, wie auch Benzendörfer ausführt (1993, 75ff.), sind somit keine Materialisten, sondern – mit einem Begriff Benzendörfers – Psychophysiologen (ebd., 101ff.) 100. Es ist allerdings nicht nur die inhaltliche Füllung, sondern auch die Herangehensweise selbst, die von den Somatikern kritisiert wird: Die Lehre von dem Verhältniß zwischen Seele und Leib bildet, wie sich aus Gründen nicht in Abrede stellen läßt, die Basis der Lehre von den psychischen ______________ 100
Benzendörfer bewertet Nasses Vorgehen folgendermaßen: „Von der Psychophysiologie erwartete Nasse eine starke Wirkung auf die Psychiatrie: Sein ‚synthetischer Dualismus‘, die Lehre vom bloßen Vereintsein der ontologisch differenten Bereiche Leib und Seele mit der Betonung der unmittelbaren Beziehung eines jeden Körperteils zur Seele führte ihn zu vermehrter Aufmerksamkeit auf die psychischen Verrichtungen des ganzen Körpers. Er kombinierte diese Leib-Seele-Lehre mit seiner psychiatrischen Grundüberzeugung von der somatischen Genese des Irreseins. Das, was er als das Körperliche bezeichnete, war dabei jedoch nicht identisch mit dem Körperbegriff der späteren ‚naturwissenschaftlichen‘ Medizin, denn er nahm verschiedene Hauptlokalisationen (Kopf, Brust, Bauch) mit verschiedenen gestörten psychischen Verrichtungen (Vorstellung, Gefühl, Begehren) und verschiedenen Graden (Überwiegen der inneren Teile, Schwäche, Überwiegen der äußeren Teile) bei den drei Hauptformen des Irreseins (Wahnsinn, Blödsinn und Tobsucht) an.“ (1993, 10)
260 Krankheiten. Sie umfaßt sowohl den physiologischen als auch, in Betrachtung des kranken Zustandes, den pathologischen Teil dieser Lehre. Und so haben denn die psychischen Ärzte einen besonderen Beruf zum Anbau dieser Lehre. Sie sind aber auch besonders dazu geeignet. Die nichtärztlichen Psychologen abstrahiren, in Gemäßheit und zu Gunsten der ihnen obliegenden Forschung, streng von der Betrachtung des Leibes, und es wird uns daher, einzelne ausgezeichnete, jedoch mehr das Allgemeine angehende Arbeiten abgerechnet, von ihnen in der Regel kein Gewinn für jene Lehre zu Theil. Vielleicht ließe sich selbst nicht ganz mit Unrecht sagen, daß besonders die Mehrzahl der eigentlichen Psychologen es sey, deren Verfahren, den Menschen zu betrachten, eine Vernachlässigung der Lehre von dem Verhältniß zwischen Seele und Leib herbeigeführt habe. Obschon bei jeder wissenschaftlichen Betrachtung, die der Psycholog unternimmt, der Leib mitthätig ist, so stellen uns doch die Schriften der Psychologen das normale Denken, Empfinden und Wollen, ja selbst die Gemüthsbewegungen, die psychischen Krankheiten so dar, als wenn dies Alles bloß Seelen=Zustände seyen, bei denen die Beziehung zum Leibe höchstens als etwas Zufälliges in Betracht komme. (Nasse 1822, ZfpÄ, 12f.; Hervorhebung d. Verf. – B-M. Sch.)
Während die Somatiker nach dem körperlichen Korrelat psychischer Erscheinungen suchen und versuchen, für dieses Zusammenspiel Indizien zu finden, entspricht die folgende Darstellung der Ursachen psychischer Erkrankungen dem Verständnis der Psychiker: Grundlegend ist der Unterschied zwischen den Grenzen der Wirklichkeit und der Dynamik unerfüllter Wünsche: Eine solche, das Gemüth ganz durchdringende und beherrschende Sehnsucht muß entweder die Phantasie zum Erdichten einer ihr entsprechenden Weltvorstellung bestimmen, um in dieser eine erträumte Befriedigung zu finden (fixer Wahn); oder sie treibt das empörte Gemüth zum wilden Kampf gegen die verhaßte Wirklichkeit (Tobsucht); oder sie erfüllt dasselbe mit tiefster Traurigkeit aus dem Gefühl einer unmöglichen Befriedigung (Melancholie); oder sie zerrüttet endlich die Seelenkräfte durch ein allzu naturwidriges Verhältniß, und bringt dadurch die Verwirrtheit hervor. (Ideler 1841, X)
Der Vorstellung eines rein psychogenen Ursprungs der allermeisten psychischen Erkrankungen entspricht die Bevorzugung eines psychischen Heilverfahrens, das durch Medikamente und entsprechende Vorrichtungen lediglich unterstützt wird. Gegen dieses Vorgehen opponieren die Somatiker. Jacobi lässt sogar persönliche Anschuldigungen erfolgen: … zu bemerken, wie eine nicht geringe Anzahl vorzüglicher und zumal auch mit der Irrenheilkunde vertrauter Aerzte, welche eine längere Zeit hindurch das Kurverfahren des Herrn Ideler in der Irren=Abtheilung der Charitée zu beobachten Gelegenheit hatten und mir darüber Mittheilungen gemacht haben, während sie auf der einen Seite dem aufrichtigen, ernsten und in aller Hinsicht Achtung gebietenden Streben dieses Arztes, und seinen dabei an den Tag gelegten mannigfaltigen Gaben, volle Gerechtigkeit widerfahren ließen, ohne Ausnahme zugleich die Selbsttäuschung hervorhoben, die er bei der Annahme von Erfolgen seiner psychologisch=ärztlichen Bemühungen an den Tag legte … theils von der
261 Annahme von der Absicht entsprechenden psychologischen Einwirkungen auf die Kranken beruht, die von keinem Mitbeobachter wahrgenommen worden, theils auf der Nichtbeachtung des Einflusses des somatischen Factors bei den angewendeten psychischen sowohl als bedeutenden somatischen Agentien, z. B. Douchen, Fontanellen, Blasenpflastern, … (Jacobi 1838, 104; Hervorhebung d. Verf. – B-M. Sch.)
Dass Theorie und Realität auseinanderklafften, lässt sich auch aus manchen Ausführungen in der Zeitschrift für psychische Ärzte herauslesen: Das Heilmittel muß also vielmehr religiös=moralischer Art seyn. Allein auch diese Heilversuche von Seiten der würdigen Geistlichen der Anstalt, zumal des Herrn Pfarrers Gottschalk eben so kraft= und einsichtsvoll als unermüdet angestellt, mißglückten an dem krankkalten Herzen, dessen Empfänglichkeit, bei blühendem Kopfe, durch das geschwächte Nervensystem verloren gegangen ist. Und somit spricht auch dieser Fall gegen die Hrn. Heinroth’s Lehre, indem hier die nächste Ursache der Erkrankung des Gemüths offenbar im geschwächten und aliienirten Nervensystem, … (Groos 1822, ZfpÄ, 77f.)
Im vorherigen Kapitel wurde herausgestellt, dass das Erzählen über psychisch Kranke eine grundlegende Neuorientierung bei der Konstitution des sozialen Objekts „psychisch Kranke“ mit sich bringt und in einem dialektischen Wechselverhältnis mit der Datenaufnahme steht. Gleichzeitig wurde betont, dass zwar theoretische Abhandlungen zur Modernisierung des Vokabulars beitragen, jedoch auch auf textlichen Aneignungsformen fußen, die auf die rhetorische Tradition verweisen. In der Kontroverse zwischen Psychikern und Somatikern steht nun im Vordergrund, welche Legitimationsgrundlage die etablierende Disziplin besitzt. Gleichzeitig entsteht der erste selbstbezügliche Kommunikationszusammenhang, in dem Wissensbestände entweder akzeptiert oder abgelehnt werden, d. h. die Positionierung richtet sich letztlich nicht mehr danach, ob man Kantianer oder Schellinganhänger ist, sondern wie man über psychische Krankheiten denkt (obgleich dies über die Philosophie vermittelt wird). 101 Es entwickelt sich eine „antagonistische Intertextualität“ (vgl. Assmann 1992, 286): Wissensinhalte werden kritisch geprüft und je nachdem, ob sie der Prüfung standhalten oder nicht, tradiert oder verworfen. Mit dem Aufbau von Selbstreferentialität ist jedoch noch etwas anderes verbunden, was dem auf den ersten Blick entgegenzustehen scheint: die Organisation der gesellschaftlichen Außenwirkungen, die mit Institutionalisierung und beginnender Verwissenschaftlichung verbunden sind – interne und externe Legitimation sind somit aufeinander bezogen. Denn nach Knobloch: „Die gesellschaftliche Sichtbar______________ 101
Die Auseinandersetzung erfolgt nun nicht mehr im Rahmen einer anthropologischen und philosophischen Kontroverse, sondern verlagert sich, so dass jetzt eher darum gestritten wird, ob Amelung mit seiner Annahme Recht hat, dass nur das Gehirn respective Nervensystem für psychische Erkrankungen zuständig seien, was bspw. Jacobi vehement zurückweist (Jacobi 1838, 90ff.).
262 keit einer Disziplin hängt ebenso an den kommunikativen Außenwirkungen, die sie zu organisieren imstande ist, wie ein beträchtlicher Teil ihrer Legitimität.“ (1987, 58). Psychische Ärzte sind nämlich schon im 18. Jahrhundert immer dann gefragt, wenn die Zurechnungsfähigkeit eines Verbrechers, z. B. einer Kindesmörderin o. ä. zu bestimmen ist. Hier besitzen psychiatrische Bekundungen und Aussagen von Psychiatern öffentliche Wirksamkeit. Erkennbar wird dies daran, dass die wesentlichen Beiträge zu dieser Debatte vornehmlich in Aufsätzen und Abhandlungen erscheinen, in denen die eher gesellschaftspolitische Rolle der Psychiatrie betrachtet wird. Der Unterschied zwischen einer philosophischen, psychischen Betrachtungsweise und einer somatischen, an der Empirie geschulten wird schon früh, so an den Äußerungen von Horn aus dem Jahre 1818 deutlich: Ausgemachte Wahnsinnige und Blödsinnige schnell als solche zu erkennen, ist zwar sehr leicht; aber wie schwer ist häufig die Entscheidung über die geistige Gesundheit und Krankheit in Fällen, wo die offenbaren Äußerungen des Irreseins fehlen, wo der Wahnsinn nur periodisch oder nur partiell ist. Wie viel Mühe hat es mich gekostet, die Herrn Rechtsgelehrten von der Gegenwart des partiellen Wahnsinns in Fällen, wo die Kranken über eine Menge von Gegenständen des bürgerlichen Lebens sich vernünftig mit ihnen unterhalten konnten, zu überzeugen! (Horn 1818, 211)
Sehr ähnlich – eingebunden in die Kontroverse zwischen Psychikern und Somatikern – äußert sich auch später Diez: Ein Theil der Schuld jener Vernachlässigung fällt übrigens auch noch auf die gegenwärtige Form und Richtung der Philosophie; gerade die für das Studium empirischer Wissenschaften und für die Praxis fähigsten und brauchbarsten Köpfe werden sich immer am wenigsten mit der mystisch-nebelnden Richtung der heutigen Modephilosophie befreunden, und deshalb den in diesem Sinne verfassten psychologischen Schriften am wenigsten Geschmack abgewinnen können. … Dem aus dem Mangel psychologisch und psychiatrisch gebildeter Gerichtsärzte entspringenden Uebelstande ist auf zwei Wegen abzuhelfen. Entweder übertrage man die Begutachtung zweifelhafter Seelenzustände nur solchen Aerzten, die sich als Vorsteher von Irrenanstalten, Lehrer der Psychiatrie oder Schriftsteller in diesem Fache das Zutrauen erworben haben … Oder man sorge dafür – und diese Abhülfe dürfte in jeder Hinsicht erpriesslicher seyn, dass die Arzte überhaupt mehr als bisher mit der Seelenheilkunde vertraut werden … (1834, 69)
Gestritten wird also sowohl um „Maßstäbe der Vortrefflichkeit“ als auch um das öffentliche Auftreten der Psychiatrie, um ihre Selbstdarstellung und Positionierung im öffentlichen Raum. Dafür muss man sich vor Augen führen, dass die Psychiatrie in viel geringerem Maße als heute öffentlichkeitswirksam und eine eher kritisch beäugte Disziplin ist. Den Veröffentlichungen der Somatiker, betrachtet man sie als Gesamt von Ausführungen, kommt in der Psychiatriegeschichte sicherlich noch eine weitere Rolle zu:
263 Durch die Kontroverse mit den Psychikern – denn innerhalb des Streits werden auch die eigenen Positionen und die eigene Rolle besonders erkennbar – wird medizinisches Wissen über den Charakter psychischer Erkrankungen kanalisiert, ohne dass hier schon an eine vereinheitlichende Ätiologie zu denken wäre. Spätestens in der Mitte des 19. Jahrhunderts wird es still um die Debatte zwischen Psychikern und Somatikern, so dass Griesinger schon in der ersten Auflage seines Lehrbuchs, dessen zweite Fassung noch bis zum Ende des 19. Jahrhunderts wirkungsmächtig bleiben wird und das sogar von Emil Kraepelin empfohlen wird, behaupten kann, dass idealistische Auffassungen nichts zur Erklärung der psychischen Krankheiten beigetragen hätten. Für diese Ablehnung ist erstens von Bedeutung, dass das sich schon früh etablierende kommunikative Netzwerk der Somatiker immer engmaschiger wird und durch den Streit die Gruppenbindung eher noch verstärkt wird, so dass eine Profilbildung sowohl fach- als auch beziehungskommunikativ und imagebildend erreicht wird. Außerdem fungieren die neu gegründeten Heilanstalten, deren Anstaltsleiter fast ausnahmslos der Gruppe der Somatiker zuzurechnen sind, als Ausbildungsanstalten, obschon die Psychiatrie noch nicht als wissenschaftliche Disziplin festgeschrieben ist. Die somatische Sichtweise wirkt also diskurskonstituierend und in diesem Sinne auch traditionsbildend, 102 während die Psychiker, was ihre marginale Rolle in der Praxis ausmacht, trotz eigener Zeitschriftengründungen keine eigene psychiatrische Traditionslinie mehr aufbauen können (Kiesers Elemente der Psychiatrik von 1855 dürften als das letzte Werk eines Psychiker sein). Die traditionsbildende Macht der Somatiker wird auch dadurch gestützt, dass sie ______________ 102
Veröffentlichungen, die die Position der Psychiker zu präzisieren versuchen, sind eher selten und werden vor allem durch Theoretiker gefördert, die der psychischen Medizin angehören. Einen guten Überblick über interne Auseinandersetzungen bildet die Veröffentlichung von C. Ph. Möller Ueber den empirischen, theoretischen und praktischen Zweck der psychischen Medizin mit besonderer Rücksicht auf die Leistungen von Heinroth, Groos, Blumröder, Jessen und Leupoldt (1838). Dieser ist übrigens hessischer Medizinalrat, Physikus des Kreises und Gerichtsbezirks Nidda und „dirigirender Arzte der Sool=Bad=Anstalten zu Salzhausen“. Heinroth wird von ihm von einem anderen Standpunkt aus kritisiert, die sich wie eine Vorwegnahme der psychoanalytischen Vorstellung vom Selbst anhört: „Alle wesentlichen Erscheinungen des eigentlich psychischen Leidens oder der wahren Verrücktheit selbst können und müssen also nur, so wie jedes krankhafte Leiden, in der Empfindung, also in bewußtloserer, unfreiwilliger, schuldloser Selbstthätigkeit niederer Art bestehen, und alle psychische Irrungen sind demnach keine irrigen Vorstellungen und Willensäussserungen mehr, als Irrungen weltbewußter oder selbstbewußter Thätigkeit, sondern unbewußterer blos selbstfühlender Thätigkeit der niederen Reflexion von sich und anderem, blos irrige Empfindungen und Triebe, …“ (Möller 1838, 9). Im Gegensatz zu den Somatikern sieht er die niedere Seele nicht als somatisch bestimmt an.
264 durch ihr Forschungsprogramm und ihre thematische Orientierung sich wieder direkt an den internationalen psychiatrischen Diskurs und besonders an medizinischen Entwicklungen anschließen, so dass – sich stärker als je zuvor – ein wechselseitiger Austausch, vornehmlich mit französischen Psychiatern ergibt. Zudem: Ein Kontext, bei dem Institutionalisierung der Verfahrensabläufe, Professionalisierung der eigenen Rolle und sprachliche Gestaltung zusammenwirken, steht ihnen nicht zur Verfügung: psychogene Erklärungen werden erst später wieder populär werden, allerdings nicht auf den Psychikern basieren. Zur Traditionsbildung und zur psychiatrischen Textur wird es fortan gehören, dass der Streit zwischen Psychikern und Somatikern in den synthetisierten Wissensvorrat geraten ist und einen neuen Textbaustein bildet: So viel mir bekannt, ist Armstrong der erste englische Schriftsteller, der sich hierdurch in einigen Hauptpunkten zu denselben Grundsätzen für die Behandlung des Irreseyns bekennt, die nun schon seit einer Reihe von Jahren in Deutschland, wohl zuvörderst durch Nasse und mich, so wie später auch durch andere Ärzte, … geltend gemacht und entwickelt worden sind. (Jacobi 1838, 35)
4.3.4
Zusammenfassende Charakterisierung der Initialphase
In dem, was ich transitorische Varietät (vgl. Kap. 4.1) nenne, finden sich – offensichtlich zu diesem Zeitpunkt noch integrierbare – textliche Aneignungsformen, die jeweils Produkte unterschiedlicher Diskurse sind, jedoch für die Psychiatrie in den Dienst genommen werden. Es besteht keine Deckungsgleichheit zwischen Ursprungs- und anverwandelten Textsorten. Das Schreiben in einem frei-begrenzten Kontext führt über Kombination und Selektion zu einer ausbaufähigen Basis. Die textlichen Bearbeitungsformen des Beginns sind als Textsortenhybride zu werten, die sich in dem geschilderten Prozess ausdifferenzieren (vgl. Kap. 4.2). In der ersten Phase sieht man die typologische sowie referentielle Intertextualität im Sinne von Holthuis (1993, 51ff. und 89ff.) bzw. Text-Textmuster-Beziehungen und Text-Text-Beziehungen (vgl. Fix et al.2001), die sich m. E. als heterogene Verfahren und in einer Stilmischung in den Texten zeigen und recht vage eine Verbindung anzeigen. Dabei ist zu betonen, dass diese Hybride ihrerseits nicht traditionslos sind (so durch ausführliches Anführen von Autoritäten). Erst die Krankengeschichten weisen eine gewisse Vereinheitlichung auf und besitzen charakteristische Bestandteile: Unter einem vorgegebenen Thema folgen sie einer narrativen Darstellungsform, bei der die Handlungen des Arztes, die vereinzelt auch szenisch dargestellt werden, und verbunden damit die Erkrankung selbst den Spannungsbogen von der Komplikation zur Reso-
265 lution vorgeben. In die narrative Grundform werden deskriptive Passagen eingelagert, die sich vornehmlich auf Zustände, Handlungen und Eigenschaften des Kranken beziehen und den Patienten in seltenen Fällen direkt zitieren. Es fehlen diesen Krankengeschichten, von wenigen Ausnahmen abgesehen, anekdotische Züge. Die in der Medizin schon etablierte „Krankengeschichte“ wird adaptiert, wobei sich jedoch ein eigener Zuschnitt dieser Textform abzeichnet, da an den Nahtstellen der Erzählung, so am Textbeginn, bei der Schilderung der vorgängigen bürgerlichen Verhältnisse des Erkrankten oder beim Ziehen von Schlussfolgerungen auch sprachliche Handlungen angeeignet werden, die erörternden Textmustern aus der Philosophie oder Hilfswissenschaften wie der Physiognomie gleichzusetzen sind. Die grundsätzlich vorliegende temporale statt der räumlichen Anordnung, wie sie nach Lepenies (1976) für die Naturgeschichte (z. B. der Botanik) prägend ist, hat zur Folge, dass der Kranke selbst an Profil gewinnt und als Individuum und nicht nur als Typ erkennbar wird, weshalb panoptische Verfahren weitestgehend zurückgedrängt sind. Die junge Psychiatrie schließt sich damit auch einen Stil an, der für das 18. und frühe 19. Jahrhundert charakteristisch ist. In ihrer Auswertung von wissenschaftlichen Artikeln aus England, Frankreich und Deutschland charakterisieren Gross et al. (2002, 69) den wissenschaftlichen Stil der Epoche folgenermaßen: … during the 18th centry, we find the persistence of narrative and epistolary conventions, the continued presence of the explicitly personal and social in the communication of science, and a continued tolerance for emotional expression. At the same time, between the opening and closing passages of Newton’s articles, and many articles from the 18th century as well, the social and personal fade into the background as the author concentrates on describing and explaining the natural world by means of measurement, calculation, and empirical observation. (ebd., 69)
Die Orientierung am konkreten Fall zeigt andere, nun professionell erfahrungsgesteuerte Handlungsrelevanzen an: Wie an geradezu unzähligen Zitaten deutlich gemacht werden kann, werden Beobachtungen ins Zentrum gestellt. Prozesse sollen dokumentiert werden, um das Wissen über psychische Erkrankungen zu erweitern. Das hat eine Typ-Modifizierung zur Folge: Die schildernden Textpassagen, in denen Wahrnehmungen und Beobachtungen versprachlicht werden, tragen zunächst zur Individualisierung und Bestimmung bei, was auch daran deutlich wird, dass die Begegnung mit den Kranken oft als eine „Du“-Beziehung versprachlicht wird. Mit der Individualisierung ist eine charakteristische Selektion des Wortschatzes auf den geschilderten Ebenen verbunden, während die syntaktische Gestaltung noch explizit ist und noch nicht das spätere synthetisch-integrative Profil besitzt. Eine intersubjektiv geteilte syntaktische Formgebung zeichnet sich nicht ab und ebenfalls keine charakteristischen syntaktischen Muster (allerdings natürlich feste Syntagmen). Gleichzeitig löst sich die Darstellung nur punktuell
266 von tradierten Interpretationsrelevanzen (z. B. Temperamentenlehre), besonders bei der Benennung von Ursachen, wobei diese weitestgehend im Dunkeln liegen. Die Erklärungen, wie es zum Ausbruch einer Krankheit und ihrer weiteren Entwicklung gekommen ist, fußen auf nur vermuteten, nicht aber nachzuweisenden Zusammenhängen, so dass als Ursache nahezu alles – bis auf eine dezidiert religiöse Ätiologie – behauptet werden kann. Die mit diesen Erklärungen verbundene und charakteristische Form ist meines Erachtens das abduktive Schließen, das nach Peirce ein erstes Stadium der Verwissenschaftlichung darstellt. Für die Initialphase gilt also: Die Texte schwanken zwischen vorerfahrenen Typisierungen und stark individualisierten Beobachtungen, wobei, wie das Folgende zeigen wird, Erfahrungen schon insoweit synthetisiert werden, dass sie in einen gemeinsam geteilten Wissensvorrat eingehen. Die Krankengeschichten zeichnen sich v. a. aus durch: einen reichen Bestand von Synonymen aus dem Traditionsbestand (Wahnsinn, Irresein, Verrückung etc.) und bedeutungsähnlichen Lexemen, die auf unterschiedliche Traditionsschichten und Diskurse verweisen: So finden sich sprachliche Verweise auf die griechische Medizin ebenso wie auf die prestigeträchtige französische Schule (z. B. die Verwendung von Monomanie oder eine spezifische Gebrauchsweise von Delirium). 103 Obwohl sich in den Krankengeschichten viele quasisynonyme Lexeme finden lassen, werden nicht alle austauschbar verwendet: Sie unterliegen einer kotextuellen Positionierung, pragmatischen Regularisierung und sind z. T. Indikatoren für unterschiedliche Register. Die Kernbegriffe (Vernunft, Leidenschaft oder Willenshandlungen), mit denen Abweichungen versprachlicht werden, entstammen unterschiedlichen philosophischen Disziplinen, wobei nicht immer deutlich ist, ob sie eher bildungssprachlich (z. B. in Hinsicht auf das Modewort „Gemüt“), also kaum monosemiert, oder als Termini verwendet werden. Je nach Verfasser wird der dazu gehörige philosophische Kontext stärker oder schwächer evoziert. Die Philosophie, v. a. die vermögenspsychologische Lehre verwoben mit der Physiologie, durchziehen die Krankengeschichten und geben ihnen – neben der temporalen Achse – Struktur. Allerdings zeigt sich anhand der Krankengeschichten und anderer Texte, dass ein genuin philosophisches Vokabular z. T. verfremdet auftritt und seinen Ursprung nicht mehr erahnen lässt. Wegweisend in diesem Zusammenhang ist vor allem, dass die Verfremdung philosophischer Termini im Zusammenspiel mit metaphorischen Übertragungen aus anderen medizinischen Disziplinen auftritt („psychische Exaberationen von X“ o.ä.). Während das philosophisch-physiologische Vokabular dazu dient, Wahrnehmungen und Beobachtungen zu synthetisieren und sozusagen auf ______________ 103
So genannte Eponyme, die medizinische Phänomene nach dem Namen des Erfinders, Wiederentdeckers oder Kranken bezeichnen, sind noch nicht vorhanden.
267 den Begriff zu bringen, dienen die Modifikationen (bildungssprachlicher) lexikalischer Phrasen und Phraseologismen, verbunden mit entsprechenden metaphorischen Analogien dazu, Fälle zu individualisieren – die genannten sprachlichen Einheiten sind dabei eine nicht wegzudenkende Formulierungshilfe, da auch sie Wahrnehmungen „raffen“. Bei der Symptomenbeschreibung finden/findet sich:
sprachliche Präferenzen, anhand derer sichtbar wird, dass die Psychiater nicht frei formulieren, sondern nur bestimmte Versatzstücke anderer Diskurse nutzen und sie ordnen; metaphorische Modelle, die bestimmten Krankheitsbildern zugeordnet werden und wiederholt auftauchen, wobei sich nur solche Metaphernmodelle als „überlebensfähig“ erweisen werden, deren kulturelle Konnotationen die Beschreibungsebene nicht überlagern; die Nutzung von Kernkomponenten usualisierter Phraseologismen und Kollokationen. Dies erfolgt über den Anschluss an diskursfähige Wortfamilien, von denen einzelne Bestandteile sogar zu einem recht frühen Zeitpunkt Bedeutungsverengungen, zum Teil jedoch auch Monosemierungen aufweisen. wenige, eigene Begriffsprägungen, zumeist im Anschluss an die französische Tradition. Übergreifend kann man die sprachlichen Prozesse folgendermaßen beschreiben: nicht metakommunikativ reflektierte Tilgungen, Nutzung philosophischer Kernbegriffe, ohne zumeist ihren Ursprung zu thematisieren, parallel verbunden mit einer Amalgamierung und metaphorischen Übertragung medizinischer Fachlexeme vom physischen auf den psychischen Bereich und schließlich die Aneignung bildungssprachlicher metaphorischer Modelle, die lexikalisch ausgebaut werden, wobei einige Lexeme, wie gesagt, durch einen spezifischen Verwendungskontext monosemiert oder zumindest pragmatisch reguliert werden. Einzelne Metaphernfelder weisen dabei schon Verbindungen zu bestimmten Krankheitsbildern auf und werden auch späterhin noch verwendet (z. B. stumpf für das Verhalten eines depressiven Patienten). Daneben ist allerdings immer möglich, dass unterschiedliche Bedeutungsebenen (z. B. im Falle solcher Lexeme wie Sympathie) aktualisiert werden. Das alles lässt sich als Formen und Facetten sprachlicher Kreativität begreifen, die allerdings einen gemeinsamen Nenner haben: Es werden solche Lexeme und Lexemverbindungen präferiert – denn fast immer stehen noch andere Varianten zur Verfügung, was sich der Traditionsschichtung des Vokabulars verdankt –, die Abstand zu den Vorgänger- und Ursprungsdisziplinen garantieren und mit denen man, vorsichtig formuliert, ein code-shifting verbinden könnte.
268 Lexikalische Demarkationslinien werden also aufgebaut durch: Tilgung (vornehmlich religiöser Lexeme in allen Textsorten, z. B. Besessenheit, in allen Textsorten), registerdifferente Dubletten (bspw. Anschluss an prestigeträchtige, in der frz. Tradition gebrauchte Lexeme, z. B. Delirium), die pragmatische Regularisierung von Bezeichnungsalternativen (die allmähliche Ersetzung von Seele durch Psyche; in allen Textsorten), die Anverwandlung von Metaphern und die kohärente Verformung von Phraseologismen und idiomatischen Prägungen (z. B. die Anverwandlung der Hell-Dunkel-Metaphorik, vorwiegend in Krankengeschichten), unterschiedlich anschlussfähige Gebrauchsvarianten (Entstehung von Polysemie, z. B. Sympathie oder Verstimmung, in allen Textsorten), eine sich abzeichnende fachspezifische Verwendung frz. Entlehnungen (z. B. bizarr; in allen Textsorten)., die bricolagehafte Zusammenführung von Wortschatzressourcen mit den folgenden Unterpunkten: die Adaption philosophischer (phraseologischer) Termini (z. B. willkürlich, frei, beschränkt, vorwiegend in theoretischen Abhandlungen), die Bildung neuer Komposita im Querschnitt von Philosophie und Physiologie (z. B. Exacerabationen des Willens, vorwiegend in theoretischen Abhandlungen),innersprachliche Übersetzungen (z. B. eine Präferenz für agitiert statt unruhig; abhängig vom Verfasser, sonst in allen Textsorten), Evozierung von Bildern aus dem Körperinneren (z. B. Inflammationen des Gehirns, in allen Textsorten). => Das Funktionsprofil der Lexik lässt sich verbinden mit: a) der Nivellierung des Traditionsbestandes, b) Versuch, Prestige zu gewinnen und gleichzeitig im Kap. 3.1.3 skizzierten Sinne, Anschlussfähigkeit zu erhalten.
Sieht man sich die psychiatrischen Texte in ihrem Gesamt an, so wird deutlich, dass sie Unterschiedliches leisten: die Krankengeschichte führt in die psychische Krankheit nicht nur einen Verlauf ein, sondern sie trägt auch durch eine Vielzahl von Fällen auch zur Bestimmbarkeit von Symptomen bei, und bündelt, gerade wenn nur partielle Kontexte evoziert werden, die entsprechenden Krankheitsursachen. Was sie zur Bestimmung leisten, soll hier kurz im Überblick anhand der Hauptsymptome (Attribute) von Melancholie und Manie noch einmal gezeigt werden. Sie bilden den Basiswortschatz, an den sich alle späteren Entwürfe anlehnen. Aus deprimiert wird zunächst durch Nominalisierung die Depression von X [Gemüt] und dann die Krankheitsbezeichnung Depression, die ihrerseits die Melancholie ablöst. Einen ähnlichen Gang durchläuft verstimmt über Verstimmung bis hin zur depressiven Verstimmung. Andere Lexeme wie trübsinnig und tiefsinnig verschwinden hingegen vollständig (vgl. zu den Stadien Kap. 5.3).
269 Melancholie
Manie
deprimiert/gehemmt/niedergeschlagen
exaltiert/agitiert/ausschweifend/ stürmisch/erregt/aufgeregt/tumularisch/excitierend
stumpf/abgestumpft [ggü. Außenwelt] /apathisch vor sich hin dämmern abgespannt/reizbar
überspannt/überreizt/reizbar/excentrisch
verstimmt düster/verdüstert/trübsinning/tiefsinnig/ trübe/ im Nebel
flüchtig (Ideenflucht)/beschränkt /unbesonnen/bizarr/barock
in-sich-gekehrt/ versunken
zügellos/entfesselt/rasend/toll/wütend /wie ein wildes Tier/tierisch unbändig/ungezähmt
kraftlos/energielos/mechanisch
vor Kraft trotzend
Die Krankengeschichte selbst ist das geschlossene, obgleich beobachtungssensitive Pendant zur Krankenakte, beide stehen in einem dialektischen Wechselverhältnis. Neben der Krankengeschichte führt der Bericht zur Bildung eines Netzwerkes, basierend auf wechselseitiger Information. Sprachlich verhalten sich diese Texte allerdings stabilisierend-konservierend. Die theoretische Abhandlung führt nicht zu einer weiteren Präzisierung der Symptomebene, ebenso wenig zu einem intersubjektiven Konsens in Hinsicht auf die Krankheitseinteilungen. Ihre Leistung ist folgende: Sie ist darauf verwiesen, einen stärker allgemeinen Wortschatz anzubieten, wodurch sich eine Nivellierung des Ursprungskontextes und auch -kotextes aus der Philosophie ergibt und charakteristische sprachliche Verfahren besonders deutlich werden, so die: Amalgierung aufgrund von Ressourcenzusammenführung, verstärkter Einsatz von Fremdwörtern, die Nutzung von Nominalkomposita, Verfestigung lexikalischer Phrasen sowie die erste Nutzung wahrnehmungssynthetisierender Verfahren. Gleichzeitig fußen sie noch auf rhetorischen Texttraditionen sowohl bei der Erörterung eigener Positionen als auch bei
270 dem Angriff auf gegnerische Thesen. Eine Sonderstellung nimmt spätestens ab den 20er Jahren der Streit zwischen Psychikern und Somatikern ein. Hier werden Argumentationsstandards festgelegt und die Legitimationsbasis der Psychiatrie ermittelt, was auch Auswirkungen auf das öffentliche Auftreten der Psychiatrie besitzt. Gleichzeitig führen sie zu einer weiteren, mit den Texten korrespondierenden Vernetzung der Anstaltspsychiater. Also: Aus den Texthybriden der Anfangszeit entwickeln sich Textsorten, deren Standardisierungsgrad sich jedoch unterscheidet. In den 40er Jahren sieht das psychiatrische Textuniversum folgendermaßen aus: Krankengeschichten respektive Fallschilderungen, die zu Monographien ausgebaut werden können; Krankenakten, die den administrativen Bereich regeln und darüber hinaus die Form der Krankengeschichte auf Stichpunkte reduzieren, die im klinischen Prozess relevant sind; Abhandlungen, die vornehmlich die körperlichen Symptome und Ursachen von psychischen Erscheinungen in den Blickpunkt rücken, obwohl noch wenig über körperliche Abläufe bekannt ist: (Pseudo)philosophische Abhandlungen wandeln sich somit zu innovationsorientierten und thematisch nun begrenzten, nicht mehr das Leib-Seele-Problem in den Blick nehmenden Textsorten, womit aus der antagonistischen Intertextualität Selbstreferentialität entsteht. Daneben tauchen erste Versuche auf, allgemeine Erkenntnisse mit konkreten Erkenntnissen zusammenzubinden und in Form von wissensvermittelnden Texten zu synthetisieren und somit reproduzier- und erlernbar zu machen. Die Kontextfortbildung führt also zu einem relativ eng begrenzten Textsortenspektrum, das über einen besonderen Zuschnitt verfügt und in dem bestimmte Redestrategien nicht mehr geduldet werden, bzw. in der sich ebenso wie beim Wortschatz eine Nivellierung von Traditionen zeigt. Mit dieser Profilierung ergibt sich auch, die für die spätere Fachsprache typische Verteilung von Wortschatzressourcen, wobei wie schon hervorgehoben, Prozesse der Anverwandelung, die zur präziseren Bestimmung führen, in allen Texten, obgleich in unterschiedlichem Ausmaß, vorhanden. Um das Erreichte sichtbar zu machen, möchte ich kurz einen Blick auf das Wortschatzprofil des Magazins für Erfahrungsseelenkunde und dort insbesondere auf das der „Seelenkrankheitskunde“104 werfen und mit den Krankengeschichten ebenso wie mit den theoretischen Abhandlungen vergleichen. Bei dem Vergleich ergeben sich, neben der oben schon ausgearbeiteten Textorganisation, starke sprachliche Ähnlichkeiten, jedoch auch Unterschiede, die auf die ersten Professionalisierungsleistungen hindeuten. Anhand des Ver______________ 104
Dem Magazin wurde Folgendes vorgeworfen: „Die Deutschen gleichen einer dem anderen fast durchgängig in einer Liebe für das Wunderbare; und man müsse gestehen, daß diese Begierde, die nur von Schwachheit zeuge, hier ihre volle Nahrung erhalte. Die Geschichten prophetischer Träume, überraschender Eingebungen usw. nehmen zu viel Platz in dem Werke ein.“ (zit. n. Kaufmann 1995, 284)
271 gleiches wird zunächst deutlich, dass die Zahl der thematisierten Krankheitsformen ungleich geringer ist als bspw. schon in den ersten Veröffentlichungen von Haindorf, Hoffbauer oder Autenrieth. Dies ist offensichtlich darin begründet, dass die Versuche einer Klassifikation oder auch nur nach einer Ordnung von psychischen Krankheiten im Rahmen der Erfahrungsseelenkunde eine nur untergeordnete Rolle spielen; dies gilt besonders für die Gattungsbezeichnungen. Dabei werden Krankheitserscheinungen und -formen fast vollständig ausgeblendet, deren Erkenntniswert für eine Allgemeinheit gering ist und die direkt auf die Medizin verweisen. Dies lässt sich mit der These von Kaufmann (1995) verbinden, die das Magazin als ein Medium bürgerlicher Selbstbetrachtung und -bestimmung thematisiert. Eine größere Schnittmenge ergibt sich jedoch bei der Beschreibung der charakteristischen Symptome, und sie zeigen sich an: a) dem Bezug auf eine lange tradierte usualisierte Metaphorik, bildungssprachliche Phraseologismen oder idiomatische Prägungen (z. B. Stürme der Leidenschaften, Strahl von Menschenverstand, Strom von Gedanken/hinzuströmende Ideen, sitzende Lebensart, lebhafte Einbildungskraft, zur Besinnung kommen), b) der Adaption eines im 18. Jahrhundert offensichtlich schnell populär gewordenen Vokabulars, das im Rahmen einer Theorie der Nervenkrankheiten anzusiedeln ist, c) an dem von der Temperamentenlehre und Humoralpathologie gestellten Wortschatz und ihrer wahrnehmungssynthetisierenden Verfahren und d) der Nutzung von Kernbegriffen aus der philosophischen Anthropologie und Philosophie überhaupt, sofern sie um die Triplicität der menschlichen Existenz kreisen. Insgesamt kann dies wohl als Basisvokabular begriffen werden, auf das jenseits aller Professionalisierung von den Verfassern zurückgegriffen wird. Das auf die Medizin verweisende Vokabular wird im Magazin nur durch wenige Kernbegriffe repräsentiert, so durch lichte Zwischenräume etc, während wir in den ersten psychiatrischen Schriften ein relativ breites, thematisch gebundenes medizinisches Vokabular antreffen. Ein weiteres, m. E. sehr interessantes Moment unterscheidet die Schriften, was auch für die weitere Entwicklung und insbesondere für die Entkoppelung vom bildungssprachlichen Reservoir kennzeichnend sein wird: Auf der einen Seite finden sich im Magazin echte modesprachliche Begriffe wie Gemüt, auf der anderen Seite finden sich im Magazin so gut wie keine zumeist erst im 17. oder 18. Jahrhundert aus dem Französischen, jedoch auch aus dem Englischen entlehnten Lexeme, die ein Alternativvokabular zum Erbwortschatz bereit stellen und bspw. solche Lexeme wie sonderbar ablösen könnten, wodurch die Krankengeschichten noch einmal in ein neues Licht geraten und die These der Enthistorisierung stark stützen. Umgekehrt gilt indes auch: Solche Lexeme wie toll, die in der Erfahrungsseelenkunde anzutreffen sind und dort mit hoher Frequenz auftauchen, sind in den ersten Veröffentlichungen eher
272 Mangelware. Man kann darin schon erste Selektionsprozesse vermuten, die in der Folgezeit ständig weiter betrieben werden. Zu den Unterschieden darf zählen, dass die Rahmung des Krankheitsgeschehens am Textbeginn über solche unspezifischen und vagen Lexeme wie wunderbar, wunderlich oder sonderbar erfolgt (z. B. Schmidt, Bd. I, 2, 110 „Sonderbarer Gemütszustand eines Menschen von funfzehn Jahren“; „Das Leben dieses sonderbaren Mannes, sowie sein letztes trauriges Ende …“, auch: „… gehört unstreitig zu den sonderbarsten und seltsamsten Menschen, die es je gegeben hat“ – Gardono Bd. VI, 1, 76). Dazu treten indexikalische, nicht definierte Begriffe am Textbeginn („Im Jahre 1783, wurde mir ein junger Mann, …, der seit einiger Zeit trübsinnig geworden war, von meinem Freunde aus K. in P. empfohlen.“ – Bendavid, Bd. IX, 3, 246). Am Textbeginn stehen zudem präskriptive Äußerungen zum Charakter von Abweichungen, die Deutungen vorweg nehmen, z. T. eingebettet in allgemeine Betrachtungen, was zu einer Polythematizität der Texte führt („Robert G … war ein starker muthiger Junge, dergleichen Pommern noch viele hervorbringt …“ – Jakob, Bd. I, 3, 180; „Anna Maria Sirkin, kleiner Statur und magerer Komplexion, auf dem Lande geboren, in der katholischen und allem Aberglauben des rohesten Landvolkes erzogen …“ – Anoymer Verfasser, Bd. IX, 1, 116); darunter auch solche Gemeinplätze wie: „Man weiß, welcher Geist eine Gesellschaft rascher Jünglinge beherrscht …“ – Jakob, Bd. I, 3, 180). Die Texte durchziehen auf die Literatur verweisende Rezeptionsanleitungen, z. B.: „Es liegt kein Werther vor dir, der einem Mannesleben ein Knabenende machte, weil er sich in eines andern Weib vergafft hatte.“ (Bd. I, 3, 207), was mit stark moralisierenden Darstellungen verbunden sein kann und die pädagogische Zweckorientierung der Erfahrungsseelenkunde deutlich macht: Man müßte die Erziehungsgeschichte dieses unglücklichen Menschen, und mit allen moralischen und physicalischen Umständen, welche auf seine Bildung einen nähern oder entfernteren Einfluß hatten, genau und vom Anfang bekannt seyn, wenn man die psychologischen Gründe seines sonderbaren Charakters vollkommen richtig angeben wollte. (Anonymer Verfasser, Bd. V, 1, 27)
Krankheiten werden dementsprechend noch im Sinne moralischer Gebrechen gesehen: Ideenverknüpfungen also, die diesen Zustand der Gemächlichkeit unterbrechen, sind uns im Umgange mit dem gesellschaftlichen Leben unangenehm, und erregen entweder Ahndung höherer Geistesfähigkeiten oder auch widrigenfalls, wenn sie zu auffallend, rasch und sonderbar sind, Verdacht einer schwärmerischen Überspanntheit (P., Bd. V, 3, 216); z.T. auch verbunden mit dem oben skizzierten sprachanalytischen Verfahren: … so erheben wir den liebenswürdigen Schwärmer zu einem liebenswürdigen Enthusiasten. Sind es aber Kleinigkeiten, oder überhaupt nur sehr ein-
273 geschränkt interessierende Dinge, wofür sich der Kopf des Menschen erhitzt, so zeichnen wir ihn mit dem Namen eines Fantasten … (Bd. V, 3, 215)
Die medizinischen Referenzdisziplinen sind kaum vorhanden, wobei jedoch der in den parallelen Publikationen nicht vorhandene Verweis auf hitzig häufig erscheint und das hitzige Geblüte im Gegensatz zu den Krankenakten die hauptsächliche Adaption darstellen. Daneben findet sich die Verwendung literatursprachlicher Modebegriffe, so Grillen („wie der Soldat Matthiesen auf seine Schatzgräbergrillen gekommen ist; …“ – Pockels, Bd. VI, 3, 179) oder die deutlich häufigere Verwendung von toll (in der folgenden Variante: „Der Wahnsinnige Walock Flaccus, …, gehörte offenbar zu den tollen Leuten, bei welchen das Gehirn die meiste Zeit in Verwirrung gerathen ist, und die Anzahl der Wahnsinnigen ist die größte.“ – Pockels, Bd. VI, 3, 181). Nachzuweisen ist ebenfalls eine stärkere Verwendung von Adjektive, Metaphernstaffeten und expandierten Phraseologismen, die die Attraktivität des Textes steigern und sich in den Krankengeschichten nicht finden, z. B.: Kurz ich durchspähete jeden Schritt seiner Bahn, so gut ich konnte, um den Elenden in seiner ganzen Schwärze zu anderer weitern Benutzung kennen zu lernen. Das hauptsächlichste Studium des Volkslehrers ist nach der heiligen Schrift ja wohl Menschenkenntnis. – Frech war der Elende, und mit gezwungener Wehmuth entpreßte sein Kieselherz dem Lasterauge eine ungewohnte Thräne, das die Würde der Thränenquelle nicht kannte, bei dem Geständnis seiner wilden Lasterhaftigkeit und Verwerfung des Allmächtigen; jedoch beantwortete er freymüthig alle meine prämeditirte Fragen, und erfüllte meine Wünsche. (Hellen, Bd. VII, 2, 127) Die Gewohnheit, welche alle Menschen mit einem eisernen Zepter beherrscht … (P., Bd. V, 1, 77), auch Doppelformeln: … wenn nur meine ehrgeitzige Leidenschaft genährt und gesättigt werden kann … (Bd. V, 1, 62). In diesem Kontext vielleicht auch interessant: Die unschuldigsten Menschen werden oft, wenn die Gelegenheit es will, der Gegenstand seiner tigerischen Wuth, die er mit einer List anzufallen weiß, die oft einzig in ihrer Art ist; … (?, Bd. IX, 2, 119)
Daneben werden häufig Sprichwörter verwendet, was wohl rezeptionsstrategisch zu verstehen ist (z. B.: „Nachdem die Nacht vorbei war, schien sie ruhiger. … Hier, hofte man, sollte sie Ruhe erlangen, allein da führte der Teufel, wie er denn immer sein Spiel hat, einen schwärmerischen Mönch her“ – Anonymer Verfasser, Bd. IX, 2, 121; „… indem sie, nach dem bekannten Sprüchworte, das Kinde mit dem Bade ausschütten, und indem sie ihre Begierden und Leidenschaften zu unterdrücken suchen …“ – Anonymer Verfasser, Bd. IX, 2, 126, „Seine Zunge war nun gelöset und sein volles Herz suchte sich zu ergießen.“ – Bendavid, Bd. IX, 3, 254). Wie dieses Kapitel deutlich gemacht hat, gibt es spätestens ab den 40er Jahren eine ausbaufähige Basis, hinter der ein Psychiater nun nicht zurückbleiben konnte: Bloßes Erzählen ist ebenso wenig interessant wie bloßes Philosophieren. Ebenso ist ein Bezug auf das bloß Typische, als das vage
274 Vertraute, unmöglich geworden, weil zumindest auf der Symptomebene Bestimmungen sichtbar werden, die eine Kontextfortbildung innerhalb eines, obgleich vage abgesteckten Rahmens ermöglichen. Sprichwörter oder satzwertige Phraseologismen können allenfalls illustrativ, jedoch nicht mehr als Surrogat der eigenen Wahrnehmung eingesetzt werden, ebenso wenig wie soziale Typen. Ihre Legitimation, das macht auch die Kontroverse zwischen Psychikern und Somatikern deutlich, bezieht die Psychiatrie aus ihrer Beobachtungssprache. Gleichzeitig bleibt die Ätiologie der psychischen Erkrankungen, ihre Pathogenese relativ zweifelhaft und innerhalb des gesteckten thematischen Feldes problematisch.
4.3.5
Revision des Erreichten: Die Zeitschrift für die Beurtheilung und Heilung krankhafter Seelenzustände
Wie stark der Streit zwischen Psychikern und Somatikern zur Gruppenbildung beiträgt, lässt sich anhand der 1838 veröffentlichten Zeitschrift für die Beurtheilung und Heilung krankhafter Seelenzustände, wiederum unter der Federführung Nasses, entnehmen, bei der schon der Titel auf eine charakteristische subthematische Gliederung hinweist. Die meisten Aufsätze dieser Zeitschrift versuchen ein Zwischenfazit zu ziehen und die voran gegangenen Entwicklungen zu bewerten 105 . Während viele Ausgangsfragen immer noch nicht beantwortbar sind, treten Defizite und Desiderate klarer zu Tage: Demnach dünkt mich, daß wir noch zu weit von der Meisterschaft in Behandlung der Geisteskrankheiten entfernt sind, als daß wir uns so bald der schülerhaften Anstrengungen und Mühen werden überheben können, die wir bis jetzt darauf verwenden. Zu den Werkzeugen derselben gehören allerdings die Irrenanstalten. Denn sie bieten dem Arzte die Gelegenheit zu einer sorgfältig fortgesetzten, vielfältigen, umfassenden und ungestörten Beobachtung dar, … (Flemming 1838b, 707)
und daran anknüpfend auch, welche Fragen in diesem Bereich überhaupt wichtig sind: „So fehlt es also an einer vollständigen Anatomie und Physiologie des Nervensystems, an einer Semiotik, einer allgemeinen Pathologie, einer brauchbaren Nosologie, einer belehrenden pathologischen Anatomie, an einer allgemeinen und speciellen Therapie der Geisteskrankheiten, – und ______________ 105
Es dürfte sicherlich kein Zufall sein, dass Damerows 1840 erschienenes Buch Ueber die relative Verbindung der Irren- Heil- und Pflege-Anstalten in historisch-kritischer Beziehung ebenfalls die Funktion besitzt, die Entwicklung bis 1840 zusammenzufassen und Rückschau zu halten. Das Anfangsstadium wird dementsprechend folgendermaßen charakterisiert: „ein Mischmasch veralteter, obsoleter, falscher, unreifer, jugendlicher, ja abentheuerlicher und phantastischer Ansichten über Irre, Irrenpflege und Irrenanstalten zum Vorschein kam, …“ (Damerow 1840, 9)
275 doch will man schon von Annäherung zur Vollkommenheit reden?“ (Flemming 1838b, 705). Daraus zieht der Autor das Fazit: „Erst nachdem, wie man gewöhnlich glaubt, alles (meistens aber zuviel) geschehen ist, um die Geisteskrankheit als Krankheit, d.h. auf somatischem Wege zu beseitigen, wendet man sich an den sogenannten Psychiatriker.“ (Flemming 1838, 712). Allerdings darf auch nicht übersehen werden, dass sich in der somatischen Schule selbst unterschiedliche Richtungen zu formieren beginnen, von denen die naturwissenschaftliche durch Griesinger vertreten wird. Griesingers Affinität zur Gehirnanatomie bewertet bspw. Jacobi folgendermaßen: „es noch als der Mühe lohnend erachten kann, zur Fristung eines solchen Gehirnfabrikerzeugnisses von Seelenleben auch nur noch einen Bissen Brot in den Mund zu schieben.“ (zit. n. Bodamer 1953, 518). An der Zeitschrift wird ebenfalls ersichtlich, dass die Schilderung von Krankengeschichten zurückgeht. Dort, wo sie auftreten, sind es fokussierte Fallgeschichten, die sich – hinsichtlich der Textorganisation mit den Krankenakten – vergleichen lassen und sich nun um einzelne Stichwörter herum gruppieren. Das soll allerdings nicht heißen, dass die Krankengeschichte als solche ausgedient hätte: Die enge Verzahnung zwischen Modus des Erkenntnisgewinns, Beobachtung und Textsorte verliert allerdings an Bedeutung. Krankengeschichten erscheinen nun oft als eigenständige Monographien. In den Zeitschriftenaufsätzen wird ihre Narrativität zugunsten reiner Deskriptivität zurückgedrängt. Größeren Stellenwert gewinnt die ebenfalls an der Empirie geschulte Darstellung körperlicher Ursachen, wodurch die ursprünglich philosophische Begriffsarbeit auf einen medizinischen Rahmen begrenzt wird. Man könnte das auch als einen Übergang von einem rein konservierenden zu einem innovativ orientierenden Verfahren deuten, der sich sein eigenes Referenz- und Publikationssystem, seine eigene „Systemumgebung“ schafft. Argumentiert wird, wie wohl auch in anderen medizinischen Disziplinen, – wenn auch nicht rein – mit dem körperlichen Befund. Jacobi versucht in seinem programmatischen Aufsatz „Fortgesetzte Erörterungen zur Begründung der somatisch=psychischen Heilkunde“ Begriffsbestimmungen für einige, sich häufig benutzte Begriffe, die seiner Ansicht nach nicht ausreichend erläutert worden sind. Es handelt sich um: psychische Erscheinung, Physiologie der psychischen Erscheinungen, krankhafte psychische Erscheinungen, Pathologie der psychischen Krankheiten etc. Interessanterweise handelt es sich also um jene pragmatisch regulierten Verwendungen, deren Merkmale kaum je bestimmt worden sind. Es ist die Tendenz wahrnehmbar, einen einmal etablierten Begriffsrahmen, der sich allerdings nicht auf das Tradierte bezieht, sondern sich „ergeben“ hat, zu präzisieren und zu definieren. Es ergibt sich die folgende, aufschlussreiche Argumentationskette: Jede psychische Erscheinung hat ihr körperliches Korrelat, für das sich der Psychiater vornehmlich zu interessieren hat: „Seinem Standorte ist es
276 daher gemäß, alle psychischen Erscheinungen nur aus dem Gesichtspunkte ihrer organischen Bedingtheit zu beobachten, die organische Bedingung ihres Hervortretens, ihrer Veränderungen u.s.w. ins Auge zu fassen.“ (ebd., 41). Als Naturbeobachter ist der Psychiater Somatologe. Eine andere Betrachtungsweise wird in die Bereiche der Psychologie, Metaphysik und Philosophie verlagert, als mögliches Ergebnis der vorgängigen Auseinandersetzungen. Mit erstaunlicher Selbstverständlichkeit setzt sich Jacobi nun von anderen theoretischen Bemühungen (bspw. der Phrenologie) ab: … die von Gall und Spurzheim ausgegangenen und von ihren Schülern in Frankreich und England mit so großer Wärme aufgenommenen und weiter verfolgten craniologischen und phrenologischen Ansichten, in einer mehr wissenschaftlichen Form, und mit Benutzung der neuesten angeblichen phrenologischen Entdeckungen, auf die Irrenheilkunde zu übertragen, sey im Allgemeinen ihrem Schicksale mit der Bemerkung überlassen, daß den pathologischen und therapeutischen Grundsätzen, die aus dieser Lehre abgeleitet werden, billig keine allgemeinere Geltung zugestanden werden wird, so lange der anatomische und physiologische Theil derselben von den kundigen und nüchternsten Zergliederern und Physiologen unserer Zeit, nicht als übereinstimmend anerkannt worden ist, wozu es bis jetzt wenigstens den Anschein hat. (ebd., 87)
Psychische Erscheinungen werden an Organe gebunden, wobei das Gehirn einen herausgehobenen, jedoch noch nicht isolierten Platz besitzt 106 und die Physiologie als Grundlagendisziplin festgeschrieben wird. Dadurch ergeben sich auch Abgrenzungen zu früheren Auffassungen: „Sehr fern liegt es uns hierbei, die Seelenvermögen im Organismus aufzusuchen, nach dem Sitz der Seele in demselben, allenfalls mit einem Scalpel in der Hand, forschen …“ (ebd., 45). Das Forschungsprogramm – denn noch sind diese Vorstellungen Zukunftsvisionen – bedingt eine Gerichtetheit des ärztlichen Blicks, der den Kranken nun nicht mehr in allen seinen sozialen Bezügen, sondern auch vornehmlich als Krankheitsträger zu betrachten hat: … so werden wir es immer als unsere nächste Aufgabe zu betrachten müssen, auf das genaueste die Krankheitszustände zu beobachten, in deren Begleitung sich die Seelenstörungen zeigen, und zumal, so viel als möglich, in jedem gegebenen Falle den Zeitpunkt in welchem und die Zusammensetzung der Umstände bei welcher dieselbe zuerst hervortritt. Wir werden zu beobachten haben, welche, in einer speciellen Beziehung stehende Organe oder Sphären des Organismus, dabei vorzugsweise betheiligt sind, und wie etwa andere in anderer psychischer Beziehung stehende Seiten dieses Organismus allmählig beteiligt werden; dann wie durch den ______________ 106
„Mag es immer seyn, dass keine psychische Erscheinung ohne Betheiligung des Gehirns zu Stande kommt; mit gleichem Recht ist aber auf der anderen Seite auch anzunehmen, dass die vorzugsweise zu dem Gehirne in Beziehung stehenden psychischen Erscheinungen nicht ohne Mitwirkung anderer dabei ursprünglich interessirter Organe zu Stande kommen.“ (ebd., 47)
277 fernern Krankheitsverlauf die anomalen psychischen Erscheinungen in ihrer Aeußerung bestimmt werden, welchen Einfluß die vielleicht während der Krankheit eintretenden Krisen auf die Seelenstörung äußern, und wie die anomalen psychischen Erscheinungen auf den Organismus zurückwirken. (ebd., 64)
In den anderen Aufsätzen finden wir ebenso wie bei Jacobi neben dem Bilanzieren und Abgrenzen von anderen Betrachtungsweisen die Formulierung von zum Teil sehr detaillierten Forschungsprogrammen. Den Forschungsprogrammen ist gemeinsam, dass sie sich nicht nur auf eine differenzierte Wahrnehmung des Kranken beziehen, sondern Motivations- und Interpretationsrelevanzen, die vorher im Stichwort „Beobachtung“ kondensiert waren, festlegen oder zumindest nahe legen. Wir sehen – hier zunächst nur programmatisch – den anvisierten Übergang zum sozialen Typ und der individualisierten Fallschilderung zum Krankheitstyp, der vornehmlich als Träger einer Krankheit und nicht mehr als eigentlich integres bürgerliches Subjekt erkennbar wird. Die wiederholte Rede vom „Forschungsprogramm“ deutet schon darauf hin, dass Vieles noch nicht eingelöst wird. Allerdings – trotz der Orientierung am Bilanzieren als gemeinsames Handlungsmuster – tauchten auch naturphilosophische Betrachtungen auf. Jessen (1838, 271) bspw., der allerdings eher der Gruppe der Psychiker zuzurechnen ist, leitet seine Abhandlung noch folgendermaßen ein: Man kann nicht sagen, was psychische Krankheit sey, ohne zu wissen, was das psychische Leben ist, und dieses nicht bestimmen, ohne das Seelenleben im Allgemeinen erkannt zu haben. Die Seele, …, ist aber zu begreifen als ein für sich existierender göttlicher Gedanke …“. Wahrhaftes Seelenleben zeige sich demnach auch nur im reflektierten Selbstbewußtsein. (ebd., 277)
Dann folgen erkenntnistheoretische und anthropologische Bestimmungen, wobei man den Nachklang der Schellingschen Philosophie sieht: Gesundheit ist Harmonie, Krankheit hingegen Disharmonie, wobei hier eher ein Zustand als ein Prozess angenommen werden darf (ebd., 288). Es dominiert die Vorstellung von Mikro- und Makrokosmos, die sich nicht mit den anderen Aufsätzen vergleichen lässt: Gesundheit oder Krankheit des menschlichen Seelenlebens beruhen auf dem Verhältnisse zwischen dem Ich und der Außenwelt; der Mensch ist nur selbstständig in seinem Zusammenhange mit dem All, er ist als einzelnes Geschöpft ein Glied der ganzen Schöpfung, ein Einzelwesen, welches nur dann ist, was es seyn soll, nur dann seine Zwecke erfüllt, wenn es dem allgemeinen Wesen der Dinge sich unterordnet. (ebd., 289)
Vorstellungen wie diese passen so gar nicht dazu, dass sich parallel in den 30er Jahren die Bemühungen verstärken, die körperlichen Ursachen herauszuarbeiten und auf der Basis von Leichenöffnungen neue Erkenntnisse zu formulieren. Dabei sind es gerade Forschungen auf dem Gebiet der Gehirn-
278 anatomie und Neurologie, die zur Umgestaltung der psychiatrischen Landschaft führen sollen – zunächst allerdings noch im vertrauten Rahmen der Erregungstheorie. Griesingers, später unhinterfragtes Diktum, dass psychische Krankheiten Gehirnkrankheiten seien, lässt sich dabei schon weiter zurückverfolgen, als dies aus psychiatriegeschichtlichen Veröffentlichungen deutlich wird: „Wir haben alle Ursache, das Gehirn als den Centralpunkt dieser Organe zu fassen …“ (Amelung 1826, ZfAnthro, 155; noch früher Sc. Pinel 1821, ZfpÄ, 157: „Nach den hier erzählten Beobachtungen scheint es mir ausser Zweifel, daß das Irreseyn von organischen Veränderungen im Gehirn herrühren könnte …“). In den dreißiger Jahren, z. T. schon früher werden zudem vermehrt Stimmen laut, dass eine rein an Fällen orientierte Klassifikation von psychischen Krankheiten wenig erfolgreich sei, wodurch der über Beobachtung geleistete Zugang tendenziell nivelliert wird: „Im Allgemeinen finde ich hier zu bemerken, dass wir uns hier gerade vor einer zu großen und symptomatischen Klassifizierung zu hüten haben, wenn wir nicht durch eine zu große Zersplitterung der Arten und Varietäten mehr Dunkel als Licht in dieses Labyrinth bringen wollen.“ (Amelung 1826, ZfAnthro, 161). Später erfolgt die folgende Handlungsanweisung: „Wir müssen die Krankheiten nach ihrer Entwicklung beobachten, und die Reihe ihrer Erscheinungen sucessive verfolgen, und dann, durch Analogie und Induktion oder auch durch die Resultate der pathologischen Anatomie geleitet, auf ihren inneren Grund schließen.“ (ebd., 168). Die Zeitschrift verdeutlicht zudem, dass die für die Frühphase gegebene mangelnde Integrierbarkeit unterschiedlicher Betrachtungsebenen partiell aufgehoben wird. Damit ist, wie gesehen, die Entkoppelung von anderen Diskursen verbunden: von der Philosophie mit allen ihren Richtungen, der Kultursoziologie/-philosophie und der Erfahrungsseelenkunde, die alle eher in die Psychologie als in die Psychiatrie einmünden. Mit dieser Abkoppelung verbindet sich nur bedingt eine neue Sprache, sondern eine Sprache, die charakteristische Leerstellen aufweist und zu bestimmten Tilgungen führt – wie allgemeine und spezielle Psychiatrie aufeinander zu beziehen sind, ist dadurch noch nicht gelöst. Die Entkoppelung von den tradierten Diskursen lässt allerdings die Frage der Wissensvermittlung ganz besonders virulent werden, da nun nicht mehr auf alt her gebrachte Formen zurückgegriffen werden kann. Wie das Problem der Wissensvermittlung – immer noch recht heterogener Wissensbestände – gelöst werden kann, dafür sind wissensvermittelnde Texte, die ab den 30er Jahren erscheinen, entscheidend, so die Diagnostik von Friedreich (1834) und Jacobi (1844). Um nachzuzeichnen, wie sich die psychiatrische Sprache in den Folgejahrzehnten wandelt, werden in den folgenden Kapiteln zwei unterschiedliche Zugänge gewählt: Anhand von einflussreichen Lehrbüchern wird nachvollzogen, welche sprachlichen Verfahren verwendet werden, um begriffliche
279 Grenzen zu ziehen. Während die bisher gezeigten und anhand der Lehrbücher nachzuweisenden Hauptverfahren unter das Stichwort „Anverwandelung“ zu bringen sind, werden anhand der Krankheitsbilder „Hysterie“ und „Schizophrenie“ andere, für die Entwicklung des psychiatrischen Fachvokabulars relevante Verfahren beleuchtet: so der Bedeutungswandel eines Begriffs im 19. Jahrhundert anhand der „Hysterie“ und die sprachliche Kreativität, die mit der Begriffsschöpfung „Schizophrenie“ verbunden ist. Mit der Schizophrenie ist verbunden, dass ein Subjekt nicht mehr als prinzipiell durch die Vernunft integriert, sondern als disassoziiertes, gespaltenes Ich erscheint – eine Metaphorik, die in der Initialphase nur am Rande vorhanden ist. Anhand beider Krankheiten lässt sich wieder zeigen, dass Schreiben in einen offen-begrenzten Kontext stattfindet, da die Psychiatrie ab der Jahrhundertwende stark von Eugenik und der Adaption des Darwinismus gekennzeichnet sein wird. Allerdings – im Gegensatz zur Initialphase – ist die Psychiatrie nun in der Rolle, selbst gesellschaftliche Deutungen zu stimulieren und durchzusetzen (so die Rassenhygiene als Fortentwicklung der psychischen Hygiene). Im Nationalsozialismus übernimmt die Psychiatrie eine nicht unmaßgebliche Rolle bei der „Gesundung des Volkskörpers“. Der damit verbundene Paradigmenwechsel von der Heilung eines erkrankten Individuums zu potentiellen Erkrankungen, die den Volkskörper schädigen könnten, führt zu einem wieder breiteren Verständnis psychischer Erkrankung. Anhand von Krankenakten aus der Gießener Universitätspsychiatrie soll nachvollzogen werden, ob und inwieweit sich unter den kommunikativen Rahmenbedingungen einer Diktatur, die die Psychiatrie ganz besonders in den Dienst nimmt, das ärztliche Schreiben selbst umgestaltet.
5.
Die Entwicklungen in der Ausbau- und Konsolidierungsphase am Beispiel wissensvermittelnder Texte
Im vierten Kapitel wurden die relevanten textlichen Aneignungsformen der Initialphase skizziert. Diese ist dadurch gekennzeichnet, dass dissoziierte Schreibdomänen vorhanden sind: Noch gibt es keine gemeinsame Klammer, die die Dramaturgie der Krankengeschichten mit dem theoretischen Wissen, also die spezielle und allgemeine Symptomologie miteinander verbinden könnte (vgl. Kap. 4.3.4). Eine Integration beider Domänen zeichnet sich mit der Zeitschrift für die Beurtheilung und Heilung der krankhaften Zustände erst ab (vgl. Kap. 4.3.5). Für die Ausbauphase ist charakteristisch, dass neben der Gründung medizinisch-psychiatrischer Zeitschriften 1 zunehmend wissensvermittelnde Texte (in der Hauptsache Kompendium, Lehrbuch, Diagnostik) erscheinen. 2 Den Übergang zur Ausbauphase kann man im Sinne von Fleck (1935/1980, 156–165) als Übergang von einer Zeitschriftwissenschaft zu einer Handbuchwissenschaft sehen. Nach Fleck trägt die Zeitschriftwissenschaft „das Gepräge des Vorläufigen und Persönlichen.“ (ebd., 156). Das Vorläufige zeige sich daran, dass zwar die „Begrenztheit der bearbeiteten Probleme“ dominiere, wobei jedoch immer auch ein ganzheitliches Streben, z. B. die damit verbundenen Pläne und Hoffnungen betont würden. Das Persönliche – und das entspricht den in Kap. 4. skizzierten Zeitschriften – sieht Fleck u. a. in der „Fragmentarität der Probleme“ und in der Zufälligkeit des Materials (z. B. Kasuistik in der Medizin)“ (ebd., 157 u. 159f.). Der Übergang zur Handbuchwissenschaft wird folgendermaßen beschrieben: Man vermag aus Zeitschriftenartikeln kein Handbuch etwa durch einfache Addition zusammenzustellen. Erst das denksoziale Wandern persönlicher Wissens______________ 1
2
So die ab 1844 in Berlin erscheinende Allgemeine Zeitschrift für Psychiatrie und psychisch gerichtliche Medizi (eine Parallelgründung zu den 1843 gegründeten Annales médico-psychologiques unter der Leitung der französischen Ärzte Baillarger, Cérise und Moreau de Tours, die im regen Austausch mit deutschen Ärzten stehen, vgl. Bodamer 1953, 517), so das Archiv für Psychiatrie und Nervenkrankheiten, das ab 1867 veröffentlicht wird oder das Archiv der Deutschen Gesellschaft für Psychiatrie und gerichtliche Medizin (ab 1859). Mit dem Versuch, Wissen mittels Handbüchern zu systematisieren, steht die Psychiatrie in der Mitte des 19. Jahrhunderts nicht alleine da. Sie schließt sich vielmehr an eine allgemein-medizinische Tendenz im 19 Jh. an, Wissen in Form von Handbüchern u. ä. verfügbar zu machen (vgl. Dressler 1994, 70).
282 fragmente innerhalb des esoterischen Kreises und die Rückwirkung des exoterischen ändert sich so, daß aus persönlichen, nichtadditiven Fragmenten additive, unpersönliche Teile entstehen. (ebd., 156) Aus der vorläufigen, unsicheren und persönlich gefärbten, nicht additiven Zeitschriftenwissenschaft, die mühsam erarbeitete, lose Avisos eines Denkwiderstandes zur Darstellung bringt, wird in der intrakollektiven Gedankenwanderung zunächst die Handbuchwissenschaft. (ebd., 157f.)
Worin die Schwierigkeit bei der Überwindung der Fragmentarität und Unverbundenheit der Wissensbestände liegt, wird anhand der ersten psychiatrischen Diagnostik von Friedreich (1834) deutlich. Ihr textkompositorisches Gerüst orientiert sich zwar an der Tradition medizinischer Lehrbücher. Wie schon bei antiken Schriftstellern werden gelegentliche Ursachen, vorhergehende Zeichen und Krankheitsformen unterscheidende Symptome vorgestellt. Die Darstellung möglicher Ursachen erfolgt jedoch unter Rekurs auf alle verwertbaren Wissensbestände, ohne dass sich ihre Spezialisierung oder Hierarchisierung abzeichnete. Es werden die Topoi zur Erklärung der Krankheitsentstehung aufgeführt, die sich in den Krankengeschichten finden, und – ohne Bewertung ihres erkenntnistheoretischen Status‘ – kompiliert. Die Diagnostik führt also Wissensbestände lediglich additiv zusammen und gleicht deshalb einem enzyklopädischen Wissensreservoir, was von Zeitgenossen auch kritisiert wird: Den schlagendsten Beweis für diese Behauptung liefert die einzige allgemeine Diagnostik der psychischen Krankheiten, welche wir haben, nämlich die von Friedreich. Sie wirft, abgesehen von dem Werthe der vielen historisch-litterärischen Nachweisungen und Notizen, welche der, auf dem Gebiete der psychiatrischen Litteratur-Geschichte und Compilation unentbehrliche, hochverdiente, wenn auch mitunter gar zu leicht arbeitende Herr Verf. auch hier gesammelt hat, alle möglichen Beobachtungen, selbst die widersinnigsten und widerstrebendsten, ohne Kritik und Erfahrung, bunt und unverträglich zusammen, so dass jedem nur einigermaassen erfahrnen Irrenarzte die Vermengung des Wahren und Halbwahren mit Irrthümlichem und völlig Falschem auf jeder Seite entgegentritt. (Damerow 1840, 127; Hervorhebung d. Verf. – B-M. Sch.)
Weder in Hinsicht auf die möglichen Ursachen psychischer Erkrankungen (vgl. Kap. 4.3.1.2) noch in Hinsicht auf die Darstellung von Fällen zeigt sich bei Friedreich ein wesentlicher Unterschied zu den frühen Monographien. Bei der Krankendarstellung stehen literarische Beschreibungen und eigene, kurz genannte Erfahrungen nebeneinander: Eine mysteriöse und religiöse Melancholie ist eine in der weiblichen Entwicklungsperiode nicht selten auftretende Erscheinung. Schon der Araber Ali Abbas erwähnt, daß Leute zur Zeit der Mannbarkeit oft von einer religiösen Melancholie befallen werden. Nie ist ein Mädchen reiner, zärtlicher und stiller verliebt, sagt Osiander, nie geistiger, schwärmerischer und doch zugleich zum Sinn-
283 liche geneigter, verführerischer und brünstiger, als im Anfange der Entwicklungsjahre, gemeinlich ehe noch die monatliche Reinigung genommen, oder ihre rechte Ordnung erhalten hat. Eine mysteriöse Schwärmerei in den Jahren der Entwicklung war es, welche die Johanna d’Arc zu dem wundervollen Mädchen von Orleans machte. Sie war erst 19 Jahre alt, als sie verbrannt wurde, und hatte ihre monatliche Reinigung noch nicht gehabt. … Mir ist der Fall von einem 16jährigen Mädchen bekannt, welches während seiner Menstruationsevolution einen unwiderstehlichen Trieb hatte, in die entblösten Arme seiner Schwester zu beißen und es auch wirklich einige Mal tat. (Friedreich 1834, 223; Hervorhebung v. d. Verf. – BM. Sch.)
Auffällig an der Veröffentlichung ist zwar, dass auch neuere Fallschilderungen integriert werden und erste Auseinandersetzungen mit zeitgenössischen Psychiatern vorhanden sind (z. B. Esquirol/Hille 1827, 34). 3 Jedoch zeigt sich ein Konglomerat aus Ethnostereotypen, Gemeinplätzen und bloß behaupteten Meinungen. Trotz der Tendenz, das philosophische, kulturanthropologische und medizinische Vokabular zu verfremden, bleibt der Stil emotional und ist von expressiven Sprachhandlungen durchsetzt. Nur gelegentlich werden frühere Ansichten einer kritischen Revision unterzogen, z. B.: Ueber den Einfluß, den der Mond auf die Erzeugung und Gestaltung der psychischen Krankheiten hat, sind die Erfahrungen und Behauptungen der verschiedenen Schriftsteller so widersprechend, daß es uns an an einem bestimmten Resultate gänzlich fehlt. (Friedreich 1834, 252)
Im folgenden Kapitel soll gezeigt werden, wie sich wissensvermittelnde Texte entwickeln, die über eine reine Addition und Kombination von Wissensbeständen hinausgehen. Nach Fleck (1935/1980) verbinden sich mit dem Handbuch die Aufhebung des persönlichen Meinens und das Zurücktreten des Verfassers zugunsten einer „lebensfremden Sprache“ (ebd., 189), eines kollektiven Denkstils und eines „stilgemäßen, d. h. gerichteten und begrenzten Empfinden und Handeln“ (ebd., 111). Während im vorigen Kapitel die Ablösung von Texthybriden gezeigt und der Aufbau lexikalischer Demarkationslinien als erster Professionalisierungsschub gedeutet wurde, sind mit der Ausbauphase zum einen Entwicklungen verbunden, die sich unmittelbar an die Initialphase anschließen (besonders im Bereich des Wortschatzes), auf der anderen Seite werden andere sprachliche Formen der Professionalisierung – besonders die Ablösung von stilistischer Inhomogenität durch stilistische Homogenität und der Aufbau einer eigenen Kontext______________ 3
So: „Die Epilepsie ist schon an und für sich den psychischen Krankheiten so nahe verwandt, daß sie einige der Melancholie, andere der Tobsucht zur Seite stellen und Esquirol sie mit der Bezeichnung maladie convulsive avec pere de connaissance mit unter die psychischen Krankheitsformen aufführt.“ (Friedreich 1834, 360)
284 umgebung – sichtbar (vgl. dazu auch: Kap. 3.2.3). Im Prozess der Lehrbuchentwicklung unterliegen auch andere sprachliche Bereiche einer verstärkten Vereinheitlichung. Auf der Grundlage wissensvermittelnder Texte soll nicht nur beschrieben werden, welche Unterschiede sich zwischen ihnen im Längsschnitt ergeben (z. B. die allmähliche Zurückdrängung hypotaktischer Konstruktionen), sondern auch versucht werden, eine Begründung für die Entwicklung zu finden. Um die Veränderungen ermessen zu können, bedarf es zunächst einer Präzisierung, welche Ansprüche und Funktionen mit dem Schreiben wissensvermittelnder Texte verbunden sind. Ein wesentlicher Unterschied zum Schreiben von Zeitschriftenartikeln, die der Mitteilung dienen und die in der Initialphase durch eine Symmetrie von Produzenten und Rezipienten geprägt sind, setzen vermittelnde Texte eine interaktive Konstellation voraus, die tendenziell asymmetrisch ist und Autoritätszüge von Seiten des Schreibenden erwartbar macht. Die ausgewerteten Texte (s. u.), die sowohl an Studierende als auch an schon tätige Psychiater gerichtet werden, setzen eine sekundäre Sozialisation und eine institutionalisierte Rollenverteilung voraus (vgl. Schütz/Luckmann 1979, 353). Mit der Tatsache, dass jemand bspw. ein Lehrbuch schreibt, wird von den Adressaten nicht nur erwartet, dass dieser qua Rolle eine entsprechende Legitimation dazu hat, sondern auch, dass intersubjektive Relevanz und Objektivierbarkeit des Dargestellten gegeben ist. Die Funktion wissensvermittelnder Texte in der Psychiatrie besteht bis heute v. a. darin, praktisch handeln zu können und sich im Raum der Klinik bewegen zu können – sie dienen also auch der Instruktion. Es finden sich allerdings im hier betrachteten Zeitraum weder auf Memorierbarkeit angelegte Textpassagen noch Rudimente eines zerdehnten Lehr-Lern-Dialogs. Die interaktiven Konstellationen, der Funktionszusammenhang und in gewisser Weise auch die thematische Textstruktur psychiatrischer Lehrbücher bleiben in Ausbau- und Konsolidierungsphase konstant. Was sich hingegen verändert und als unterschiedliche Formen der Kontextfortbildung zu verstehen ist (vgl. Kap. 3.2.3), ist, wie die relevanten Gegenstände sprachlich konstituiert werden. Wesentliche Handlungen sind dabei, den psychisch Kranken oder, wie zu sehen sein wird, die Gruppe der psychisch Kranken zu beschreiben, über eigene Erfahrungen zu berichten und die Entstehung der unterschiedlichen Krankheitsform zu erklären (bspw. unter Rekurs auf psychische und physische Ursachen) – dies betrifft vorrangig die spezielle Symptomologie. Daneben bedarf es einer Positionierung, was überhaupt unter einer psychischen Krankheit zu verstehen ist, was die allgemeine Symptomologie betrifft. Im historischen Längsschnitt lässt sich beobachten, dass die Fallschilderung immer mehr an Bedeutung verliert. Die gut dokumentierbare Entwicklung: explizite Beschreibung eines Einzelfalls ĺ$XIO|VXQJGHU+HWHURJHnität von Fällen zugunsten der Bildung von Gruppen ĺ Bildung von Krankheitstypen, in die lexikalische und syntaktische
285 Wandelprozesse eingelagert sind, wird von einer Entwicklung flankiert, die traditionelle Krankheitsformen auflöst und unter einem medizinischen Blickwinkel neu formiert. Dabei wird sich zeigen, dass es von nicht unerheblicher Bedeutung ist, dass die Verfasser von Lehrbüchern nicht mehr kleineren Heil- und Pflegeanstalten vorstehen, sondern große Universitätskliniken leiten (vgl. Kap. 2.1.2). Unterliegt also die Konstituierung des psychischen Kranken einem Wandel, so zeigt sich dieses noch deutlicher beim Erklären. Während die Diagnostik Friedreichs rein additiv ist, werden Selektions- und auch Hierarchisierungsprozesse sichtbar (z. B. die vollständige Verdrängung der Temperamentenlehre), die wesentlich von der theoretischen Grundorientierung der Verfasser (z. B. psychische Krankheiten als Gehirnkrankheiten bei Griesinger), meist in der allgemeinen Psychiatrie dargelegt, geleitet werden. Im Durchgang durch ausgewählte Lehrbücher (Jacobis Hauptformen der Seelenstörungen in ihren Beziehungen zur Heilkunde, nach der Beobachtung geschildert, 1844; Griesingers Pathologie und Therapie der psychischen Krankheiten 1845, 21867, Kraepelins Psychiatrie 1883, 51896, Binswanger et al. Lehrbuch der Psychiatrie 1904, Sommer Diagnostik der Geisteskrankheiten 1894) werden unterschiedliche Entwicklungstendenzen skizziert. Auch hier soll wieder belegt werden, dass das Schreiben von Lehrbüchern eine Betätigung in einem offen-begrenzten Kontext ist. In der gesamten Zeitspanne zeigen sich Formen lexikalischen und am Rande semantischen Wandels, die sich unmittelbar an die Initialphase anschließen (vgl. Kap. 5.1). Danach folgen Entwicklungen, die zwar ohne die Vertextung von Erfahrungen mit Kranken nicht denkbar sind, aber hinsichtlich ihres sprachlichen Profils über diese hinausweisen, indem durch das Schreiben von Krankengeschichten bestimmte Erfahrungen synthetisierbar geworden sind (vgl. Kap. 5.2). Während die genannten Entwicklungen ab Jacobi durchgängig dokumentierbar sind, steht die Veränderung der wissensvermittelnden Texte ab Griesinger im Zeichen der stärkeren Profilierung der Psychiatrie als Wissenschaft. Diese Profilierung, wie in Kap. 5.3 gezeigt wird, ergibt sich darüber, dass eine Klassifikation der Krankheitsformen nach ätiopathogenetischen Kategorien angestrebt wird, wodurch der Erkrankte zunehmend nur als Krankheitsträger erscheint. Dadurch, dass alle nicht-medizinischen Sichtweisen auf psychische Krankheiten tendenziell abgelehnt werden, ergeben sich eine Eingrenzung des thematischen Feldes, eine Kanalisierung hin auf legitimierbare Wissensbestände und damit eine erhebliche Selektion des Traditionsbestandes. Dies findet seinen Ausdruck in dem Aufbau einer fachspezifischen, z. T. antagonistischen Intertextualität – sichtbar v. a. als referentielle Intertextualität –, womit korrespondiert, dass die ehemaligen textlichen und lexikalischen Anleihen unsichtbar werden. Flankiert wird dies auch dadurch, dass zunehmend Begriffe definiert oder neu definiert werden (z. B. Vorstellung,
286 Vernunft), die zum unhinterfragten Grundbestand der Initialphase gehörten. Darüber hinaus zeigen sich auch Formen der Originalität, die u. a. zu einem erheblich erweiterten lexikalischen Grundbestand führen. Insgesamt gelingt es, das thematische Feld einzuengen, die vorher getrennten Bereiche theoretische Abhandlung, Darstellung einzelner Krankheitsformen und Fallschilderung zusammenzuführen, wodurch nicht nur eine stilistische Homogenität, sondern auch ein bis heute gültiges Kompositionsmuster für Lehrbücher aufgebaut wird.
5.1
Wortschatzentwicklung im Anschluss an die Initialphase
Im Längsschnitt durch die analysierten Lehrbücher, die einen Zeitraum von 50 Jahren abdecken, ist der lexikalische Wandel besonders auffällig. Im Folgenden wird versucht, die Formen lexikalischen Wandels herauszuarbeiten, mit denen auch semantischer Wandel korrespondieren kann. Einige Formen lexikalischen Wandels sind nicht auf neue Erkenntnisse zurückzuführen. Bis heute (vgl. Kap. 7.) ist die Verwendung neuer Lexeme und die Bevorzugung bestimmter Lexeme auch dadurch bedingt, dass Loslösung – verstanden als Loslösung vom Diachronie- und Rahmenbezug – (vgl. Kap. 3.1.3), gelegentlich auch Verbundenheit mit der Tradition signalisiert wird. Der einfachste, aber nicht unwichtige Vorgang ist der der Ersetzung, der zumeist auf der Basis bedeutungsähnlicher Lexeme erfolgt (vgl. Kap. 5.1.1). Daneben ist die morphologische Bearbeitung schon eingeführter Lexeme auffällig. Hier verbinden sich vorwiegend Derivationen und Kompositabildungen, ggfs. auch mit semantischem Wandel (vgl. 5.1.2). Beide Entwicklungen haben ein fremdwortlastiges textliches Profil zur Folge. Nicht unerheblich zum lexikalischen Wandel trägt auch ein Vorgang bei, den ich als Überblendung bezeichnen möchte und der, wie auch bei der Auseinandersetzung mit der Hysterie im sechsten Kapitel gezeigt wird (vgl. Kap. 6.1.1), für die Ausbau- und Konsolidierungsphase charakteristisch ist. Überblendungen fußen vorwiegend darauf, dass alte, vornehmlich physiologische Denkmodelle von einem eher vagen medizinischen Orientierungsrahmen sprachlich neu konstituiert werden. 4 Während der Aufbau lexikalischer De______________ 4
Hier nur ein Beispiel: Die Theorie der Geschlechterdifferenz, die sich im 18. Jahrhundert etabliert und für das gesamte 19. Jahrhundert prägend bleibt, weist Frauen und Männern bestimmte Eigenschaften zu. Eine wesentliche weibliche Eigenschaft ist die Gefühlsbetontheit und Sprunghaftigkeit des Denkens und Handelns, was in den frühen Krankengeschichten häufig mit dem Lexem flatterhaft bezeichnet wird. Im Rahmen der Hysterielehre, die im letzten Drittel des 19.
287 markationslinien durch diese Formen fortgeführt wird, sind andere Formen lexikalischen Wandels auf den Umstand bezogen, dass sich der gebrauchte Wortschatz von der Beobachtungs- zur Wissenssensivität verschiebt. Damit ist Folgendes gemeint: Während in den Krankengeschichten Beobachtungen zum Verhalten genau beschrieben werden, ist es nun möglich, sich bspw. auf Depressionszustände zu beziehen, ohne diese genau zu beschreiben (vgl. Kap. 5.2) – ihre potentielle Ausprägung wird als bekannt vorausgesetzt. Da die genannten Formen lexikalischen Wandels zwar auch zum Übergang von der Zeitschrift- zu einer Handbuchwissenschaft beitragen, die Lehrbuchentwicklung jedoch nicht bestimmen, werden sie der Analyse der Lehrbücher vorgeschaltet. Andere Vorgänge, bspw. das allmähliche Ausblenden von Lexemen (z. B. Melancholie) und der parallele Aufstieg verwandter Lexeme (z. B. Depression) (vgl. Kap. 5.3.2), sind auf dem Hintergrund der im wissensvermittelnden Text transparent gemachten theoretischen Orientierung zu verstehen.
5.1.1
Nivellierung des Traditionsbestandes: Ersetzung und Überblendung
Zu den Konstanten der Entwicklung gehört, dass, sofern konkurrierende Lexeme vorliegen, tendenziell das Fremdwort bevorzugt wird. In der Regel ist die Wahl eines Fremdworts damit zu begründen, dass ein konkurrierendes Lexem obsolete Traditionsbestände kontextualisiert und Konnotationen besitzt, die vermieden werden sollen. Eine Entwicklung ist darin zu sehen, dass einige, auf die Philosophie verweisende deutschsprachige Lexeme fast durchgängig nicht gebraucht werden (Ausnahmen s. beim Exkurs zu Kraepelins unterschiedlichen Lehrbuchausgaben, Kap. 5.3.4). Von besonderer Bedeutung ist dabei die Vermeidung von Seele/seelisch und die schon bei Jacobi (1844) fast durchgängige Ersetzung durch die Lexeme Psyche/psychisch. Die Bezugnahme auf die Grundfähigkeiten des Menschen erfolgt bei ihm durch – gemessen an der Bildungssprache – ungewöhnliche Komposita und Nominalgruppen: so Verstandesalienation 5 (ebd., 7), Alienationen des Begehrungsvermögens, Alienation des intellectuellen Vermögens … (ebd., XXXIIf.). Während bei ihm fast nur die allgemeine Psychiatrie betroffen ist, zeigt sich bei Griesinger (21867) die durchgängige ______________
5
Jahrhunderts rasant an Bedeutung gewinnt, wird es sich durchsetzen, diese Eigenschaft vornehmlich mit stimmungslabil zu bezeichnen und den ursprünglichen diskursiven Kontext nicht mehr zu evozieren. „Alienatio“ gehört zwar seit der Antike zum Grundbestand, die häufige Verwendung in Texten der Jahrhundertmitte ist m. E. durch die französische Psychiatrie geleitet worden.
288 Ersetzung von Lexemen, die Schibboleths der Initialphase sind (inkohärent, 6 ebd., 65, 69 statt unordentlich; für ordentlich kann auch congruent, ebd., 71 auftauchen; intensiv ebd., 119 statt heftig; total ebd., 228 statt gänzlich; Antecedentien, ebd., 118 statt Vorgeschichte, weibliche Organisation, ebd., 171 statt Anlage, Oppression, ebd. 251 statt Bedrückung, stupid, ebd., 250 statt blödsinnig), wobei gerade solche Lexeme einer Revision unterliegen, die eher vage sind (unruhig – agitiert, ebd., 124 u. v. m.). Grundsätzlich ersetzt Anomalie die möglichen Abweichungen, so dass durchgängig bspw. von Gemüthsanomalien die Rede ist. Bei Griesinger ist darüber hinaus bemerkenswert, dass verstärkt Lexeme auftauchen, die eher der transtextuellen, allgemein wissenschaftlichen Terminologie angehören, z. B.: Transformation (ebd., 73), Epiphänomen (ebd., 260), constatiren (ebd., 118) oder successiv (ebd., 239). Die Nivellierung kann auch schon zu einem Zeitpunkt gut eingeführte fremdsprachliche Lexeme betreffen: So taucht durch die französische Psychiatrie popularisierte Alienation bei Kraepelin nicht mehr auf. Grundsätzlich werden auch Lexeme nicht weiter verändert, die mit einer metaphorischen Übertragung vom psychischen auf den physischen Bereich verbunden waren und deren Analogien medizinisch nicht aufrechterhalten werden können. Das gilt schon ab Griesinger für das bei Jacobi (1844) noch frequente, auf die Fieberlehre verweisende Lexem Exacerbation: „in den heftigsten Exacerbationen der Manie“ (ebd., 57), „Zweitens die sich in Remissionen wie den Exacerbationen der Tobsucht stets gleichbleibende grauenvolle Zerrüttung des Gemüthslebens, der Phantasie und des Begehrungsvermögens …“ (ebd., 24), „die tobsüchtigen Exacerbationen“ (ebd., 58). Zur produktiven Nutzung fremdsprachlichen Materials gehört auch, dass sich eine Affinität zur Verwendung von Latinismen zeigt. Hier lassen sich Unterschiede zwischen den Autoren ausmachen: Während sie bei Jacobi und Griesinger Verbundenheit mit der Tradition dokumentieren [„Maria Rauler ward, 35 Jahre alt, im Verlaufe ihres zweiten Wochenbettes mit mania puerperalis befallen.“ (ebd., 112), vgl. auch die Unterteilung der Melancholieformen bei Griesinger: so die melancholia agitans, Melancholie mit Stupor, melancholia religiosa, nostalgische Melancholie (ebd., 244ff.)], ist u. a. bei Krapelin die Nutzung und morphologische Anpassung von Latinismen wichtig, die bisher eher zur Peripherie psychiatrischer Lexeme zu zählen waren und zu Beginn kaum verwendet wurden [z. B. bei Kraepelin (51896) furibund als Ableitung von Furor statt rasend/wütend, furibunde Delirien, ebd., 30, 36]. Hier zeigt sich der interessante Tatbestand, dass einmal thematisch gebundene, z. T. auf die antike Medizin zurückweisende Lexeme ______________ 6
Mit der Verwendung von inkohärent ist gleichzeitig eine Bedeutungsverengung verbunden, weil es sich nun ausschließlich auf mentale Zustände und nicht auf körperliche Symptome bezieht.
289 durchaus in anderen Zusammenhängen wieder verwendet werden können. Die Verwendung von Latinismen ist hier keine Brücke mehr zur Tradition, sondern eher eine Nivellierung der Tradition. Neben diesen Vorgängen zeigen sich auch Überblendungen (vgl. auch: Kap. 6.1.1). Einen lehrreichen Fall stellt der Umgang mit der traditionellen Physiologie und Naturphilosophie dar, die sich, wie gesehen, um den Begriff „Lebenskraft“ gruppiert (vgl. auch Kap. 4.3.2.1). Der zum Traditionsbestand gehörige Grundgedanke ist der, dass Aufregungen und Erschütterungen, abhängig von der Gesamtkonstitution eines Menschen, eine Schwächung der Lebenskraft zur Folge haben und bspw. zur Melancholie führen. Anschließend an seine Theorie der Reflexaktionen (vgl. Kap. 5.3.2) wird dieses Denkmodell bei Griesinger (1843) nun gehirnanatomisch und physiologisch gedeutet, so dass Depressionszustände, die charakteristisch für die Melancholie sind, auf eine cerebrale Insuffizienz zurückgeführt werden, die verursache, dass Eindrücke, Wahrnehmungen u. ä. nicht mehr angemessen verarbeitet werden können. Erhalten bleibt jedoch die Vorstellung, zu großer Kräfteverbrauch führe – relativ zur Disposition (z. B. neuronal und gehirnanatomisch) – zur Erschöpfung. Die Lebenskraft (oder der Spiritus animales) als Movens alles Lebendigen hat damit schon bei Griesinger ausgedient. Dies bedeutet aber nicht, dass der mit der traditionellen Physiologie verbundene Wortschatz vollständig verabschiedet wird. Es finden sich wichtige Tradierungslinien: a) die einfache Übernahme von Lexemen, die den Status von Fachausdrücken erhalten (so bspw. stumpf, reizbar, verstimmt), b) die Tilgung von Lexemen (Lebenskraft) und c) das Vorliegen anderer Gebrauchsvarianten, Ausdruck einer Bedeutungsdifferenzierung, die auf der Definition einiger Kernbegriffe beruhen (Depression, s. Kap. 5.3.2). Auch bei Kraepelin gehört eine alles bestimmende Lebenskraft der Vergangenheit an. Jedoch bleibt die Vorstellung bestehen, dass ein Mensch sich gegenüber Umwelteinflüssen behaupten müsse und dazu mehr oder weniger gute Voraussetzungen in körperlicher Hinsicht habe. Kernbegriff ist die „Leistungs- und Widerstandsfähigkeit“ 7 (z. B. Widerstandsfähigkeit des Gehirns, 51896, 35), die geschwächt, herabgesetzt, gelähmt oder gesteigert vorliegen kann (z. B. Abnahme der psychischen Leistungen, ebd., 20), wobei Normalität und Abweichung anhand von experimentellen Überprüfungen nachgewiesen werden sollen. Es wird durchgängig von psychischen Reizungs- und Lähmungserscheinungen gesprochen (vgl. ebd., 19). Manche Verwendungen erscheinen wie die psychiatrische Übersetzung des Entropiesatzes: „Als Erschöpfung bezeichnen wir die Zerstörung der körperlichen Träger unseres Seelenlebens in Folge zu starken ______________ 7
Schon früher nachzuweisen, allerdings nur vereinzelt: „widerstandskräftiges Nervensystem“ (Ideler 1848, 236)
290 Verbrauchs oder ungenügenden Ersatzes.“ (ebd., 26) oder: „So sehen wir namentlich bei manischen Kranken ein dauerndes Fehlen der Müdigkeit trotz hochgradigen Kräfteverbrauchs, also schwerster Ermüdung.“ (ebd., 179). Die Widerstandsfähigkeit misst sich am „Kräftereservoir“, über das ein Mensch verfügt, das allerdings nicht nur verbraucht, sondern durch günstige Rahmenbedingungen auch wieder hergestellt werden kann. Die bei Kraepelin dominante Verbrauchsmetaphorik dynamisiert die vorher geltenden Vorstellungen eines Zuviel oder Zuwenig, wodurch sich eine Neupositionierung von Orientierungs- und Strukturmetaphern ergibt, so auch hier: „… schafft damit von selber die günstigen Bedingungen für den Ersatz des verbrauchten Nervenmaterials.“ (ebd., 64) oder „Solche Thätigkeit ist es, welche den Menschen rasch verbraucht, seine Leistungs- und Widerstandsfähigkeit dauernd herabsetzt, ihn stumpf und reizbar zugleich macht.“ (ebd., 65). Während Griesinger das physiologische Denkmodell auf der Folie der Neurologie und Gehirnanatomie sprachlich neu konstituiert, fasst Kraepelin das Modell auf der Folie einer empirisch zu überprüfenden Leistungs- und Widerstandsfähigkeit.
5.1.2
Unkommentierte Weiterführung und morphologische Bearbeitung von Traditionsbeständen: Der Psychiater als Bricolateur
Bereits gut eingeführte Lexeme, auch frz. Ursprungs, werden beibehalten (vgl. Kap. 4.3.2.5) und z. T. weiter ausgebaut. Ihre Beibehaltung erklärt sich dadurch, dass durch sie schon lexikalische Demarkationslinien (Excesse statt Leidenschaften) aufgebaut worden sind, z. B. bei Griesinger: geistige Bizarrerieen (21867, 171), Bizarrie des Charakters (ebd., 157) oder das Fixirtbleiben von Affecten (ebd., 212), fixirte, traurige Wahnvorstellungen (ebd., 239). Von fixer Idee abgeleitet sind auch fixe Herrschen eines Vorstellungskreises (ebd., 68) oder die statuenartige Fixität (ebd., 234) statt starr wie eine Bildsäule sowie die Derivate von Delirium wie delirirt oder Delirant (ebd., 80). In diesen Kontext gehören ebenfalls Ableitungen von medizinischen Termini, wie apolectiforme Anfälle (ebd., 351) von Apolexe. Ehemals entlehnte Lexeme, sofern sie morphologisch bearbeitet werden, unterliegen im Gebrauch einer Bedeutungsdifferenzierung. In diesen Zusammenhang gehört auch das Produktivwerden bisher selten gebrauchter Affixe und Superlative. Neu sind erst bei Kraepelin solche Bildungen wie Ueberempfindlichkeit (51896, 571) oder „gemüthliche 8 Ueber______________ 8
Die Psychiater partizipieren in ihren Schriften offensichtlich nicht am Bedeutungswandel von gemütlich, der allerdings auch im DWB (Bd. 4, 1. Abt., 2.
291 anstrengung.“ (ebd., 66). Obwohl an traditionelle Formulierungen erinnernd, finden sich auch superlativisch verwendete Adjektive/ Adjektivkomposita, die vorher nicht nachzuweisen sind: „… führt sehr bald zu hochgradigster Abschwächung der gesammten psychischen Leistungs- und Widerstandsfähigkeit.“ (ebd., 44). Eine neue Graduierung entsteht durch die Desemantisierung von tief bei graduierender Verwendung, so im tiefsten Blödsinn (ebd., 439). Daneben zeigt sich bei Kraepelin die Auflösung oder Komponentenreduktion alter und der Aufbau neuer Kollokationen: Auf der einen Seite bleiben Präferenzen dauerhaft erhalten: z. B. lebhafte Angstzustände (ebd., 36), auf der anderen Seite zeigt sich die Reduktion idiomatischer Prägungen: „Weit häufiger anscheinend schreitet der Krankheitsprocess bis zur tiefsten Verblödung fort. Die Kranken versinken allmählich mehr und mehr, werden blöde und theilnahmslos …“ (ebd., 434) sowie der Aufbau neuer Prägungen im Kontext der Psychiatrie: so Orientierung verlieren (ebd., 443). Damit können auch Kürzungen verbunden sein: Statt Gemütsverstimmung kann die Verstimmung erscheinen. Neue Kollokationen deuten sich durch spezifizierende Genitivattribute an, z. B. der Stupor der Entwicklungszeit (ebd., 457). Daneben zeigt sich besonders, dass der in der Initialphase schon kanalisierte Metaphernbestand erhalten bleibt, sofern es sich nicht um Schibboleths der Ausgangsdiskurse handelt. Durchgängig lässt sich im Zusammenhang mit manischen Zuständen die Ideenflucht und entsprechende Derivationen wie (ideen)flüchtig dokumentieren. Hier zeigt sich allerdings eine interessante Entwicklungslinie, die in Kap. 5.3.1/2 noch einmal aufgegriffen wird. Bei Jacobi (z. B., ebd., 64 u. 121) und Griesinger wird das Phänomen der Ideenflucht z. T. noch ausführlich und bilderreich beschrieben, so bei Griesinger: Denn gerade in diesen Zuständen, wo der bildenden geistigen Thätigkeit ein reichlicheres Material geboten wird, stellt sich sehr bald Unordnung und Verworrenheit ein. Wenn nämlich eine grosse Menge von Vorstellungen im Gehirn entstehen und ihr Lauf beschleunigt ist, so ziehen sie zwar lange Reihen nach und oft kommen hier längst vergessene Bilder und Ereignisse, Worte, Lieder u. dgl. mit der Frische der ersten Intuition wieder herauf; aber indem die Vorstellungen so rasch von einander gedrängt werden, dass sie nicht in die gehörigen Verbindungen eingehen können, indem ferner durch diese Mannigfaltigkeit der Gedanken leicht auch ein grosser Wechsel der Gemütszustände gesetzt wird, entsteht nur höchste Unruhe und eine haltlose Ideenjagd. In deren Strome wird dann Alles in bunter Flucht fortgerissen, und es ist ein Zufall, wenn in ihren Wirbeln hier und da Elemente zu einem baroken Gedanken zusammentreffen, der sich – wenigstens noch geistreicher – als seine Umgebung ausnimmt. (ebd., 68) ______________
Teil, Sp. 3328ff.) noch nicht verzeichnet ist. Alle Psychiater verwenden dieses Lexem ausschließlich im Sinne von ‚zum Gemüt gehörig‘, nicht indes in der im 18. Jh. schon verbürgten Verwendung: ‚lieb‘ oder ‚willkommen‘.
292 Derartig explizite Beschreibungen sind bei Kraepelin nicht nachzuweisen (vgl. ebd., 443). Trotz der bisweilen detaillierten Beschreibungen zeichnet sich schon bei Griesinger die Tendenz ab, nicht mehr das gesamte metaphorische Modell mit seinen konstitutiven Analogien zu präsentieren, sondern Metaphern isoliert von den ihnen zugrunde liegenden „bildspendenden“ Bereichen zu verwenden. Bei der Kanalisierung des Metaphernbestandes zeigen sich: die Beibehaltung des schon etablierten und entsprechend monosemierten Metaphernbestandes: „Wenn dagegen die Perioden, erst des stillen Hinbrütens, dann der Schläfrigkeit und Abspannung, …“ (Jacobi 1844, 122, s. auch Kap. 4.3.2.3). Zu den rekurrent verwendeten Metaphern gehören bei Griesinger stumpf (Melancholie mit Stumpfheit, 21867, 67, stumpfe Physiognomie, ebd., 255, vgl. auch Kraepelin, 51896, 20), insichgekehrt oder Dämmerzustand (mit der interessanten Ableitung verdämmern, ebd., 279; „Endlich beobachtet man, namentlich bei jugendlichen Kranken, Dämmerzustände mit eigenthümlicher läppischer Erregung.“ – ebd., 740). eine Verschiebung vom Zentrum in die Peripherie: Das gilt insbesondere für Metaphern, die auf die Elektrizitätslehre verweisen wie Reaktion, Energie und Widerstand, deren Aufstieg sich vornehmlich durch die Experimentalpsychologie erklären lässt (s. u.). Auffällig werden nun solche metaphorischen Übertragungen, die sich auf Blödsinn beziehen lassen, der vorher kaum beachtet bzw. nicht in seinem Bezug zu anderen Krankheitsbildern erkannt worden ist, so monoton oder leer, die eine schnelle Monosemierung erfahren: „Weit entfernt von der psychischen Leerheit des Blödsinns …“ (Griesinger ebd., 252). Die Art der Erkrankung, die nun nicht mehr pauschal mit Wahnsinn bezeichnet wird, führt zur Aufnahme von: faseln, passiv, läppisch (geradezu ein Kennwort der Konsolidierungsphase), albern/Albernheit, zerfahren/Zerfahrenheit („Gegenüber der Paranoia ist auf die raschere Entwicklung, die Dürftigkeit und Zerfahrenheit der etwa vorhandenen Wahnideen … hinzuweisen“ – Kraepelin 5 1896, 440), oder verschroben/Verschrobenheit (ebd., 434ff.). die Tendenz zur morphologischen Abwandelung, sei es durch Nominalisierungen, Bildung von metaphorischen Nominalkomposita (z. B. das von Kraepelin häufig gebrauchte Gefühlstöne, vgl. Kap. 4.3.2.3) oder Adjektiven („Dahin sind wol so manche der bereits erwähnten eigenthümlichen Stellungen und der automatenartigen Bewegungen zu rechnen, …“ – Kraepelin ebd., 449). Alles, was nicht durch Traditionen kontaminiert ist, kann zusammengefügt werden kann und gewinnt so zumeist eine eigene Indexikalität: z. B die deliriöse Bewusstseinstrübung (ebd., 571).
293 Für die Ausbauphase ist insgesamt charakteristisch, dass Wortschatzressourcen der Initialphase getilgt werden (z. B. Raserei, sitzende Lebensart, Zügellosigkeit der Vernunft oder cholerisch). Ein weiteres Merkmal ist, dass, sofern keine Tilgung vorliegt, diese durch konkurrierende Lexeme ersetzt werden (z. B. die Verwendung von Psyche statt Seele). Die Zurückdrängung unliebsamer Konnotationen basiert sowohl auf der Nutzung fremdsprachlichen Materials als auch auf dem Gebrauch von Lexemen, die in der Initialphase kaum verwendet werden. Die Dynamik der Wortschatzentwicklungen ergibt sich daraus, kulturelle Deutungsmuster des Wahnsinns – entsprechende Typisierungen ebenso wie Erklärungen des Wahnsinns – abzustreifen und sich ggü. der Philosophie, nun jedoch auch ggü. der Psychologie zu behaupten. Neben Tilgungs-, Ersetzungs- und Überblendungsvorgängen kann der erarbeitete Grundbestand erhalten bleiben (so stumpf, verstimmt, reizbar). Werden die schon aufgebauten lexikalischen Demarkationslinien selbst bearbeitet, zumeist durch die Bildung von Derivaten, liegt gegenüber der Bildungssprache meist eine Bedeutungsdifferenzierung vor, so dass die entsprechenden Lexeme eine psychiatriespezifische Indexikalität besitzen (z. B. flüchtig, barock, Gefühlstöne). Durch die Hinwendung zur körperlichen Prozesshaftigkeit werden Denkmodelle neu gestaltet. Die größte Konstanz ergibt sich im Bereich der speziellen Symptomologie (v. a. bei depressiven und manischen Zuständen). Erneuerungs-potentiale liegen vornehmlich im weiten Bereich des „Blödsinns“ und der größte Abstand, wie im Folgenden noch gezeigt wird, ergibt sich bei der allgemeinen Symptomologie.
5.2
Lexikalische und syntaktische Entwicklungen in Interdependenz mit textlichen Entwicklungen
Eine auffällige Wortschatzentwicklung, der auf eine zunehmende Homogenisierung des Stils hinweist, deutet sich schon bei Jacobi (1844) an. Wahrnehmungen werden durch das variantenreich eingesetzte -zustände gebündelt. Zumeist wird präzisiert, was unter diesen zu verstehen ist: „welches eines Theils die ursprünglichen angebornen psychischen Vitien und Mangelzustände: Cretinismus, angeborenen Blödsinn, Idiotismus usw. … (ebd., XXXV). Bei Jacobi ist der Rekurs auf Zustände nur vereinzelt, was sich schon bei Griesinger, bei dem ihre Nennung nicht unbedingt durch Erklärungen flankiert wird, ändert, z. B. Depressionszuständen (ebd., 65), Congestivzuständen (ebd., 168), Symptomencomplexen (ebd., 211). Bei Griesinger korrespondiert damit eine Verwendung solcher Präfixe wie dys-,
294 hyper- oder a(n)-, die in der Frühphase unsystematisch erscheinen. Gleichzeitig werden die psychiatriespezifischen Basisdichotomien umgestaltet, und nahezu jeder Zustand wird entsprechend graduiert oder klassifiziert (Anämie – Hyperämie, Anästhesie oder Analgesie eines Organs, ebd., 81, Hyperästhesieen, ebd., 162, allgemeinen und partialen Dys- und Anästhesien, ebd., 249). Erläuterungen oder Paraphrasen erscheinen nicht. Daneben findet sich – die in Kap. 5.1.2 thematisierte Entkoppelung von Metaphernbeständen deutet dies schon an –, die wissenssensitive, also nicht mehr eigens erläuterte Verwendung solcher Lexeme wie Apathie (ebd., 239), partiales Delirium (ebd., 74) oder transitorisches Irresein (ebd., 119). Diese Entwicklungen zeigen sich noch deutlicher bei Kraepelin. Er verwendet häufig der Plural, um eine Vielzahl von Erscheinungen zu bündeln (z. B. verwirrte Aufregungszustände statt Verwirrtheit), wobei auch die schon thematisierten metaphorischen Komposita genutzt werden: „Hysterische und epileptische Veranlagung kann sich … in ohnmachtsartigen Anfällen, Aufregungs- oder Dämmerzuständen äussern.“ (ebd., 53). Damit wird hier auf einer etwas anderen Ebene die Tendenz fortgesetzt, Derivate schon eingeführter Lexeme zu bilden, oftmals gepaart mit anderen Neuerungen: verblödet, Verblödungsprozesse/Verblödungsvorgange (auch: verblödete Endzustände, ebd., 459). Das Präfix ver- deutet dabei die Prozesshaftigkeit an, wobei der Prozess selbst nicht mehr vertextet wird. Über Jacobi – Griesinger – Kraepelin wird eine Entwicklung sichtbar, bei der sich das lexikalische Material von der Beobachtungs- zur Wissenssensivität verschiebt. Dies korrespondiert mit der Umgestaltung des Schreibens und wird bei Kraepelin durch eine Vielzahl klassifikatorischer Lexeme deutlich, die die qualifizierenden Lexeme zunehmend verdrängen (vgl. auch Kap. 5.3.4). Die Verfachsprachlichung der Symptomebene wird nun nicht mehr allein anhand der Rekurrenz von Formulierungen oder anhand des Beibehaltens im Verhältnis zur Gemeinsprache schon archaischer Verwendungsweisen, sondern auch anhand analog zu Krankheitsbildern gebildeter Adjektive deutlich: „Am häufigsten sind unter solchen Umständen fortschreitender Blödsinn mit Lähmungen, häufig wiederkehrende Aufregungszustände oder epileptisches Irresein, namentlich psychisch-epileptische Anfälle.“ (51896, 21). Häufig verwendet wird das klassifikatorische Adjektiv psychisch (psychische Reizbarkeit, psychische Depression, ebd., 36, psychische Verblödungsprozesse, ebd., 37; jedoch auch ein vages psychisch wie der psychischen Verstimmung, ebd., 48). Der Rekurs kann jedoch auch explizit sein: „Eine sehr grosse ursächliche Bedeutung wird zumeist jenen allgemeineren Erkrankungen des Nervensystems zugeschrieben, die man als Neurosen bezeichnet.“ (ebd., 25). Damit verbindet sich ein selbstverständlicher Hinweis auf nah verwandte, jedoch unterschiedliche Krankheitsbilder, die Differentialdiagnose: „Die psychischen Störungen, welche der Alkoholmissbrauch er-
295 zeugt, sind ausser dem Rausche und dem chronischen Alkoholismus vor Allem das Delirium tremens, ferner der hallucinatorische Alkoholwahnsinn sowie der Verfolgungswahn der Trinker.“ (ebd., 43). Dazu gehört bei Kraepelin auch der wiederholte Verweis auf die Klinik: … wie sich auch klinisch alle Uebergangsformen vom typischen Delirium tremens bis zum gewöhnlichen Fieberdelirium hier beobachten lassen.“ (ebd., 29). „Auch diese Ergebnisse würden sich etwa mit den bekannten klinischen Erscheinungen erregter und apathischer Schwachsinnsformen einigermaßen in Verbindung bringen lassen.“ (ebd., 22). „Bis zu einem gewissen Grade spiegelt sich dieser Unterschied der ursächlichen Bedingungen auch in dem klinischen Bilde der Erschöpfungspsychosen wieder.“ (ebd., 31), oder „allgemeine Abnahme der psychischen Leistungen, das Bild des Schwachsinns bis zum tiefsten Blödsinn darbieten.“ (ebd., 31); „Die klinischen Bilder sind demgemäss einmal schwere neurasthenische Zustände und Schreckpsychosen, andererseits Gehirnerschütterungspsychosen, Erschöpfungspsychosen und ganz besonders die Paralyse, … (ebd., 67)
Während bei Jacobi und mit gewissen Abschwächungen bei Griesinger Wahrnehmungen explizit vertextet werden, beruft sich Kraepelin auf den Erfahrungsbereich der Klinik und setzt sowohl einen entsprechenden Erfahrungshorizont als auch eine medizinische Grundausbildung voraus. Dass mit dem Schreiben von Kraepelin jedoch noch kein Endpunkt erreicht ist, zeigt sich am Lehrbuch von Binswanger et al. (1904). Bei ihnen erscheinen:
Konfix-Bildungen mit Neuro-, Hystero- und Psycho-, z. B. Neuropsychosen (ebd., 2), Hysteroneurasthenie (ebd., 4), hystero-kataleptische Krankheitszustände (ebd., 48), psychomotorisch (ebd., 12), psychophysisch (ebd., 13) und neuro-, resp. psychopathischer Prädisposition (ebd., 52). In diese Reihe gehören auch Bindestrichkomposita wie neurasthenischhypochondrischen Krankheitszustände (ebd., 4). Durch diese morphologischen Mittel werden neue Krankheitsbezeichnungen bzw. symptomatisch nicht eindeutige Zustände (Mischformen) klassifiziert. Im Gegensatz zu Kraepelin bspw. sprechen sie nicht nur von Erschöpfungszuständen, sondern auch von Erschöpfungsneurosen und Erschöpfungspsychosen (ebd., 25). die Bildung heteronymischer Reihen mit entsprechenden Präfixen, die die Auflistung von Symptomen dominieren (Anästhesien, Hypästhesie, Hyperästhesien, ebd., 3; Analgesien, Hypalgesien und Hyperalgesien, ebd., 4; Hyphedonien und Hyperhedonien, ebd., 4; Hyper- als auch Afunktion, ebd., 4; hypnagogischen Halluzinationen, ebd., 5; halluzinatorische Diplopie und Polyopie, ebd., 7; Hyperprosexie, ebd., 20 und Aprosexie, ebd., 21; ein Zustand transcortikaler Paraphasie und Paragraphie, ebd., 26; auch Pseudopraxie, ebd., 29). In nur seltenen Fällen finden wir tradiertes Material, bei der so genannten Grübel- und Fragesucht (ebd.,
296 28), bei dem allerdings in Anführungsstriche gesetzten „Wortsalat Forels“ (ebd., 49) oder beim Stehltrieb (Kleptomanie) und Brandstiftungstrieb (Pyromanie) (ebd., 51). die konsequente Nutzung fremdsprachlichen Materials bei komplementären Paaren, die teils im Initialdiskurs angelegt sind, teils jedoch auch neuartig sind: totale oder partielle Amnesie (ebd., 14), retrograde und anterograde Amnesie (ebd., 15), Noctambulismus und Somnambulismus (ebd., 15), häufige Verwendung von primär, sekundär und z. T. auch pseudo (z. B. „primäre und sekundäre Dissoziation und Inkohärenz“, ebd., 23), Auto- und Fremdintoxikationen (ebd., 21). Binswanger et al. (1904) wählen einen Zugang zu psychischen Erkrankungen, der die Heterogenität psychischer Erkrankungen mittels einer summarischen, z. T. kaum vertexteten Aufzählung von Hauptsymptomen erfasst. Ein wesentliches Moment der Entwicklung ist der Verlust des Narrativen zugunsten des Deskriptiven, womit der Übergang von der Individualität des Falls zu einem Krankheitstyp verbunden ist: Die Krankengeschichte wird auf der Folie der klinikinternen Vermittlung gelesen. Um diese Entwicklung nachzuzeichnen, bedarf es einer Grundcharakterisierung der Lehrbuchentwicklung und setzt dementsprechend noch einmal bei Jacobi an.
5.3
Die Lehrbuchentwicklung
5.3.1
Der Weg der Induktion: Jacobi (1844)
Jacobi beginnt interessanterweise nach einer kurzen Einleitung, die die nun gängigen Diskurstopoi aufbietet, 9 mit Fallschilderungen, die erst nachrangig ______________ 9
Dazu gehören Einordnungen wie die folgenden: „Der Umstand, daß die Anthropologie bei der Betrachtung der Seelenstörungen so lange entweder zu gar keiner Geltung gelangte, oder aber bei dieser Betrachtung, theils der Psychologie, Ethik und Theologie entlehnten Elementen, theils den Ergebnissen anatomisch=physiologischer Forschungen von vorn herein untergeordnet und damit vermengt ward, während sich auch die Anthropologie ihrer Seits von einem solchen Hinüberstreifen in jene ihr fremden Gebiete nicht frei hielt, hat die Psychiatrie bis jetzt in ihren Fortschritten aufgehalten.“ (Jacobi 1844, XXVI). Gleichzeitig macht Jacobi unmißverständlich klar, für wen er schreibt: „Darüber nun, ob die von mir angenommene Classification der Seelenstörungen mit der Erfahrung zusammenstimmt, wolle der ärztliche Leser, nachdem ihm im Fortgange die Ergebnisse der Beobachtung, auf welche sie sich stützt, vorgelegt worden sind, entscheiden, in-
297 auf Gemeinsamkeiten hin befragt werden. Er setzt damit um, was Zeller, mit dem er eng befreundet war, als Grundsatz formuliert: Daher auch so viele Formen von Seelenstörungen als es geisteskranke Individuen gibt. (ebd., 558); … und derjenige Seelenarzt wird daher immer der glücklichste in seiner Behandlung seyn, der seine Seelenkranken am individuellsten zu erfassen und jedem das zu bieten vermag, was er gerade am meisten bedarf, … (Zeller 1838, 569)
Jacobis Monographie ist nun so aufgebaut, dass mehr als die Hälfte seines Buches (nämlich 335 Seiten) Fälle aus seiner Heilanstalt einnehmen; erst dann erscheinen die Symptome und Ursachen (also die allgemeine Symptomologie). Die Falldarstellungen erfolgen narrativ. Sie unterscheiden sich trotz größerer Länge nicht wesentlich von ihren Vorgängern: Er war dann im höchsten Grade unternehmend, vielgeschäftig, rastlos in Allem, was er angriff, vom frühesten Morgen bis zum spätesten Abend die schwersten Feldarbeiten selbst betreibend, legte dabei aber auch ein übermäßiges Selbstvertrauen, eine Neigung zu Zornesausbrüchen und zugleich eine in etwa geschwächte Urtheilskraft an den Tag, war übrigens abgeschlossen, mied die Gemeinsamkeit mit seinen Hausgenossen. Die Nächte brachte er in diesen Zeiten meist schlaflos zu, ohne dadurch doch für seine überspannte Thätigkeit über Tage weniger rüstig zu sein. (ebd., 3)
In solchen Beschreibungen bleibt der syntaktische Bau komplex und explizit und lässt spätere Entwicklungen nicht im Ansatz erkennen (vgl. Kap. 5.4): Stets dabei von Gewissensbissen gefoltert, selbst durch die Sorge geängstigt, daß die Anfälle von Geisteskrankheit der er unterlag, in diesem Laster ihren Ursprung haben möchten, immer neue Vorsätze fassend demselben zu entsagen, und nach kurzen Perioden einer standhaften Behauptung dieser Vorsätze immer wieder zu neuem Treubruch verleitet, immer durch seine Schwäche zur Verzweiflung getrieben und immer gleich unvermögend die Kraft zu andauernder Entsagung sich aufzubieten, immer im Bestreben diesem grauenvollen Abgrund zu entfliehen und immer von Neuem sich an denselben gebannt fühlend, litt seine Seele nicht minder wie sein Körper von diesen zerrüttenden Einflüssen, und der bleibende, bald mehr bald weniger gesteigerte krankhafte Zustand seines Gehirns und das vermöge der individuellen Beschaffenheit seines Organismus dadurch bedingte periodische Auftreten der oben geschilderten tobsüchtigen Aufregung war ohne Zweifel die Folge davon. (ebd., 5; Hervorhebung der Verf. – B-M. Sch.)
Es liegt ein für Jacobi charakteristischer Satzbau vor, dessen zumeist abperlende Satzgefüge zusätzliche Komplexität durch diverse Koordinationsstrukturen (von Nominalgruppen, Gliedsätzen und ihren Teilen) erhalten. Diese Komplexität erklärt sich durch den Versuch, möglichst viele Aspekte des ______________
dem ich selbstredend, nur in so ferne auf seine Zustimmung Anspruch mache, als er selbst sich auf diesem Wege überzeugt fühlen wird.“ (ebd., XXXVI)
298 Patientenverhaltens in ihren diversen Schattierungen zu erfassen. In seinen Fallschilderungen, die auf das Individuum abgestimmt werden, bleiben jedoch noch die Typisierungen der Temperamentenlehre erhalten: „Sie war von bedeutender Größe, schlank, von sanguinischem Temperament, und bei einer wenig entwickelten Muskulatur, lebhaft und gewandt in ihren Bewegungen.“ (1844, 26), „wobei die starke Ausbildung des Knochenbaus und der Muskulatur, der ins Bräunliche spielende Teint, das dunkle Haar, das feurige Auge, die marquirten Gesichtszüge, die große Bestimmtheit in allen Bewegungen und der kräftige Wille auf das vorherrschende cholerische Temperament deuteten.“ (ebd., 61). Dabei fließen noch etliche Bewertungen ein, so z. B.: „Die Paroxysmen von Tobsucht gewährten aber in diesem Falle das allerscheußlichste Bild dieser ohnehin schon furchtbaren Erscheinung.“ (ebd., 12). Bei Jacobi fehlen auch nicht appellative und expressive Handlungen: „Doch wie groß und beklagenswerth zeigte sich das Mißgeschick dieses Unglücklichen!“ (ebd., 21). Obwohl, wie schon gesehen, sich Jacobi auch an neuere Wortschatzentwicklungen anschließt, bleiben wegen mangelnder medizinischer Absicherung spekulative Schlüsse erhalten, unter Verwendung evokativer Lexeme: Daß aber dieser von den Geschlechtsorganen ausgehende Reiz hauptsächlich dahin gewirkt habe, von Zeit zu Zeit einen solchen Reizungszustand des schon durch die scrophulöse Anlage dazu disponirten Gehirns hervorzurufen, der sich in den Erscheinungen von Tobsucht kund gab, war nach dem Ergebniß dessen, was über die Entstehung und den Fortgang der Krankheit mitgetheilt worden, kaum zu bezweifeln. (ebd., 11f.)
Der Orientierung am Erfahrenen wird hier der größte Raum eingeräumt. Jacobi belässt es nicht bei Fallschilderungen, sondern führt übergreifende Merkmale der Tobsucht induktiv zusammen und gibt sie in Form von Stichpunkten tabellarisch wieder, wobei er sich auf wichtige Psychiater seiner Zeit bezieht. In den Folgeveröffentlichungen wird der erste Schritt, individuelle Krankheitsverläufe detailliert darzustellen aufgegeben werden, weil dort v. a. thematisch wird, was von Jacobi in den Tabellen erfasst worden ist. Die von Jacobi ermittelten, besonders auffälligen Merkmale der Krankengeschichten – und dies ist aufschlussreich – werden im Text dann mit anderen Lehrbüchern und Monographien in Bezug gesetzt, so mit denen von Esquirol, Pinel, Ideler, Rush, Hill, Chiarugi, Guislain und Burrows, z. T. werden auch die Veröffentlichungen von Jessen gestreift. Die Veröffentlichungen entstammen damit unterschiedlichen Professionalisierungsschichten. Nach der mitteilenden der relevanten Bezugsquellen versucht Jacobi, die Ansichten zu synthetisieren: Die Wissensgenese wird zum Zweck von Wissensakkumulation und -aufbau selbst transparent gemacht und in den Text hinein verlagert. Dazu gliedert er seinen Text subthematisch hinsichtlich der Punkte: erhöhte Muskelkräfte, Empfindlichkeit der Sinnesorgane, Blick der Tob-
299 süchtigen, Verhalten des Gemeingefühls und Verhalten des Sexualsystems. Nach diesen Ausführungen wendet sich Jacobi den eher psychischen Veränderungen zu, die mit der Tobsucht verbunden sind, und wendet dasselbe ausschließende Verfahren an. Nur Esquirol und Jessen werden hier als Referenzen angegeben und von Jacobi oft mehrseitig nahezu unkommentiert zitiert. Interessanterweise – und dies zeigt das Zirkuläre des Vorgehens – unterscheidet sich die Abhandlung der Ätiologie trotz des nachvollziehbaren induktiven Verfahren nicht von dem, was wir in den Krankengeschichten oder in Friedreichs Diagnostik kennen gelernt haben, obwohl einige Positionen einer kritischen Revision unterzogen werden. So wird die Prädisposition zu psychischer Erkrankung bei Leinenwebern und Strumpfwirkern negiert. Auch begriffliche Unklarheiten können noch nicht gelöst, sondern Verwendungsweisen lediglich kritisiert werden: 10 Eine besondere Schwierigkeit das richtige Proportionsverhältniß in Betreff dieses Punktes aus den vorhandenen Beobachtungen zu ermitteln, liegt, gleich wie bei der Feststellung so vieler anderer hierher gehöriger Fragen, in der Ungleichförmigkeit der Bestimmung des Begriffs, den die psychiatrischen Schriftsteller mit dem Worte Manie verbinden, indem der eine darunter einen ganz andern Zustand versteht als der andere, welches bei unsern vaterländischen Schriftstellern wenigstens nicht in gleichen Maße der Fall sein würde, wenn man sich dabei der deutschen Terminologie statt der lateinisch=griechischen bedienen wollte, indem der Ausdruck: Tobsucht nicht minder wie der Ausdruck Wahnsinn, Wahnwitz, Narrheit und Blödsinn jeden zweideutigen Gebrauch fast nothwendig ausschließt. (ebd., 575f.; Hervorhebung d. Verf. – B-M. Sch.)
Innerhalb der Forscherbiographie ergibt sich stellenweise die Zäsur, dass Jacobi 1822 Esquirols Abhandlungen zwar kompiliert und einiges weglässt, hinsichtlich der anthropologischen Parameter die Auffassungen von Esquirol aber unkommentiert übernimmt, so dass es 1822 heißen kann: „Das sanguinische, nervöse Temperament, eine vollblütige, starke, kräftige Leibesbeschaffenheit, machen häufiger zur Tobsucht geneigt; mehrere Individuen, die ich an dieser Gattung von Irreseyn leiden sah, zeigten eine große allgemeine Empfänglichkeit, besassen eine lebhafte, reitzbare, zum Zorn ge______________ 10
Interessant zu lesen ist auch die (allerdings so nicht intendierte) Genese besonderer Fälle ins Anekdotische hinein: „Der von J. Frank erwähnte Fall eines elfjährigen an Manie leidenden Knaben, den er im St. Lukas Spital in London sah, ist allen Umständen nach derselbe, den Haslam als den dritten an dem oben herangezogenen Orte beschreibt. Denn letzterer Knabe befand sich elfjährig in dem Bedlamspital, als J. Frank dasselbe im Jahre 1803 besuchte, und auch die übrigen beiderseitigen Angaben stimmen zusammen. Und wahrscheinlich betrifft nicht minder der von Spurzheim mitgetheilte Fall, von einem dreizehnjährigen tollen Knaben, den er im Bedlamhospitale gesehen, ebenfalls wieder dasselbe Subjekt, obwohl es jene Bezeichnung toll, selbst noch zweifelhaft läßt, an welcher Gattung von Seelenstörung er gelitten.“ (ebd, 583)
300 neigte Gemüthsart …“ (ebd., 367). 1844 wird – erstaunlicherweise – ein enger und kausaler Zusammenhang von psychischer Erkrankung, in diesem Falle Tobsucht, und den Faktoren „Körperbau und Constitution“ (ebd. 587) und „Temperament“ (ebd., 589) abgelehnt, obwohl dieser, wie gesehen, selbst vertextet wird. Die Ablehnung der Temperamentenlehre wird also schon vorangetrieben, ohne dass dies für die Schilderung von Fällen schon Konsequenzen hat. Ihre Ablehnung erfolgt schon bei Griesinger offensiv und apodiktisch: Nach dem in diesen beiden §§. Gesagten können wir von einer weiteren Besprechung der sogenannten Temperamente, insofern sie etwa zu Geisteskrankheiten disponiren sollen, abstehen. Wir so wenig als manche andere geschätzte Forscher vermögen diesen vier Categorien, aus der schwerlich festzuhaltenden, antiken Humoralpathologie hervorgegangen und niemals zu empirischem Nachweis oder nur der mindesten praktischen Brauchbarkeit gebracht, irgend einen Werth beizulegen. (ebd., 165) Alle nichtärztlichen, namentlich alle poetischen und moralistischen Auffassungen des Irreseins sind für dessen Erkenntnisse nur vom allergeringsten Werthe. Einzelne poetische Darstellungen Wahnsinniger sind in manchen, der Natur abgelauschten Vorstellungen vortrefflich (Ophelia, Lear, vor Allem Don-Quixote); aber indem der Dichter fast durchaus diese Zustände mit Umgehung ihrer organischen Grundlagen, nur von der geistigen Seite, als Resultate vorausgegangener sittlicher Conflicte auffassen, und nur das, was diesem Zwecke dient, hervorheben muss, wird seine Schilderung zum mindesten einseitig. (ebd., 10)
Anders als bei Jacobi führt das dazu, dass auch die mit der Temperamentenlehre vernetzten Lexeme nicht mehr gebraucht werden, so dass theoretisches Postulat und Vertextung von Fällen miteinander verbunden werden. Es verschwinden nicht nur die Lexeme Temperament oder Leidenschaften, sondern auch die mit diesen oder anderen traditionellen Theoremen verbundenen Phraseologismen wie bspw. die sitzende Lebensart in der Verbindung mit Melancholie und Hypochondrie oder die ausschweifenden Leidenschaften bzw. die literarischen Modewörter Grillen oder Grillenhaftigkeit (vgl. Kap. 4.3.1.2). Kraepelin nimmt mit nur einem Satz – und dann auch sehr indirekt – auf diese Traditionsbestände Bezug: „Gerade die speculative Psychologie mit ihren dürren Gedankenspielereien hat die Entwicklung der Seelenheilkunde zu einer klinischen Wissenschaft am stärksten gehindert.“ (51896, 6). Jacobi wendet insgesamt ein Verfahren an, das in konsequenter Weiterführung der Initialphase zu sehen ist, da das dort Postulierte – Orientierung an der Beobachtung, Beschreiben und Schlussfolgern – ein textliches Pendant findet. Anders als bei Friedreich werden die Erklärungen anderer Psychiater nicht nur additiv zusammengeführt, sondern gegeneinander abgegrenzt, auf der Basis von Erfahrungen argumentativ verifiziert oder falsifiziert.
301 Allerdings zeigen sich trotz der nachvollziehbaren Textgestaltung keine Professionalisierungsschübe, die über die Initialphase hinausführen würden.
5.3.2
Auf dem Weg zum Standard: Die Stellung von Griesingers Lehrbuch (21867)
Wie schon zitiert, lehnt Griesinger alle nicht-ärztlichen Versuche ab, die Ursachen psychischer Erkrankungen zu bestimmen. Anders als bei Jacobi rückt die Darstellung von Fällen in eine eher untergeordnete Position und ist somit nur bei der Darstellung einzelner Krankheitsformen vorhanden, während die allgemeine Psychiatrie, die dieser vorgeordnet ist, den ersten Teil seines Lehrbuches ausmacht. Tendenziell ist das Erklären psychischer Erkrankungen dem Beschreiben vorgeordnet. Berühmt sind die Eingangsäußerungen dieses Lehrbuchs: Das Irresein selbst, ein anomales Verhalten des Vorstellens und Wollens, ist ein Symptom; die Aufstellung der ganzen Gruppe der psychischen Krankheiten ist aus einer symptomologischen Betrachtungsweise hervorgegangen und ihr Bestehen ist nur von einer solchen aus zu rechtfertigen. Der erste Schritt zum Verständnis der Symptome ist ihre Lokalisation. Welches Organ muß also überall und immer notwendig erkrankt sein, wo Irresein vorhanden ist? … Zeigen uns physiologische und pathologische Tatsachen, daß dieses Organ nur das Gehirn sein kann, so haben wir vor allem in den psychischen Krankheiten jedesmal Erkrankungen des Gehirns zu erkennen. (1845, 1f.; Hervorhebung v.d. Verf. – B-M. Sch.)
Anders auch als Jacobi, der der Heil- und Pflegeanstalt Siegburg vorsteht, besitzt Griesinger eine Doppelrolle: Er ist Wissenschaftler und steht als Professor der psychiatrischen Universitätsklinik der Berliner Charité vor. Das wissenschaftliche Grundverständnis orientiert sich daran, dass er nach einer einheitlichen Ursache psychischer Krankheiten sucht und diese Ursachen von den eher zufälligen Entstehensfaktoren psychischer Krankheiten getrennt wissen will: Man darf nie vergessen, dass etwas, um Ursache zu sein, auch wirklich der vermeintlichen Wirkung vorangegangen sein muss; man darf z. B. nicht, wenn sich erst gleichzeitig mit dem beginnenden Irresein schwere Verdauungsstörungen zeigen, auf ein chronisches Unterleibsleiden als Ursache des Irreseins schliessen.“ (ebd., 135). Ebenso: Will man nun bei jenen Neurosen zur Erklärung eben eine – nicht näher zu bestimmende – besondere Disposition des Nervensystems annehmen, so hat man freilich nur ein leeres Wort für eine ganz unbekannte Sache. (ebd., 137; Hervorhebung v. d. Verf. – B-M. Sch.)
Gleichzeitig ist sein Kontakt zu psychisch Kranken weniger unmittelbar (vgl. Kap. 2.1.1). Im Folgenden soll gezeigt werden, welchen Einfluss diese Rahmenbedingungen auf die Gestaltung seines Lehrbuchs besitzen.
302 Als Wissenschaftler weist Griesinger Folgendes aus: Durch seine Theorie der Reflexaktionen (1843) schafft Griesinger einen theoretischen Rahmen (s. u.), um eine einheitliche Krankheitsursache für die tradierten Krankheiten (Manie, Melancholie und Blödsinn) zu finden. Seine Theorie enthält ein Zukunftsversprechen: Welche körperlichen Substrate nämlich tatsächlich die eine oder andere Krankheitsform bedingen, bleibt vielfach ungeklärt, was Griesinger jedoch bewusst ist. Es setzt sich damit ein wissenschaftlicher Bescheidenheitstopos durch. Das partielle Eingeständnis, sich hinsichtlich gewisser Krankheiten nur auf ungesicherte Erklärungen stützen zu können, deutet zudem auf eine Modifikation der „Maßstäbe der Vortrefflichkeit“ hin: Von der genauen Beobachtung und Beschreiben zum empirisch verifizierbaren Erklären. Während Friedreich und im gewissen Sinne auch Jacobi Autoren unterschiedlicher Professionalisierungsschichten heranziehen und kompilieren bzw. miteinander abgleichen, orientiert sich Griesinger – zumindest in der allgemeinen Psychiatrie – an den aktuellen, vornehmlich französischen Forschungen. Es zeigen sich daran nicht nur Selektions-, sondern auch Hierarchisierungsprozesse. In diesen Kontext gehört auch, dass Griesinger eine genaue Kenntnis benachbarter medizinischer Teildisziplinen besitzt, sofern sie – gerade in Hinsicht auf die Differentialdiagnose – für die Psychiatrie wichtig sind, z. B.: Beide Formen (von Meningitis, Anm. der Verfass.) können dem Gesagten nach gewiss nur sehr selten mit Geisteskrankheiten verwechselt werden; doch es gibt Fälle von etwas protrahirter mässiger tuberculöser Basilar-Meningitis, welche sich wieder sehr bessern können und welche die Erscheinungen der Tobsucht … setzen, und es kommen wirklich hier und da derlei frische, rasch tödtliche Fälle in eine Anstalt. (ebd., 129)
Die verstärkte fachspezifische Intertextualität zeigt sich auch in einer kritischen Sichtung des Traditionsbestandes und an einer verstärkten, sprachkritischen Auseinandersetzung mit dem Wortschatz. Es setzt also eine Sprachreflexivität ein, die anders als die schon skizzierten Formen sich nicht mehr auf angrenzende Diskurse und ihre potentielle Indienstnahme (vgl. Kap. 4.), sondern auf die schon etablierte und intersubjektiv geteilte Begrifflichkeit bezieht: So fängt eine kritische Auseinandersetzung mit dem vornehmlich aus der französischen Schule stammenden Wortschatz und lange (unhinterfragt) geltenden Kernbegriffen an, zu denen bspw. die „Monomanie“ oder die „fixe(n) Idee(n)“ gehören, vgl.: Von ‚fixen‘ Ideen sollte nur da gesprochen werden, wo sich die falschen Urteile vollständig und bleibend fixirt haben, nämlich bei den partiell Verrückten. In der Melancholie, der Tobsucht, dem Wahnsinn wechseln sie hier häufig. … Fast alle fixen Ideen sind in ihren letzten Anfängen Ausdrücke einer Beeinträchtigung oder einer Befriedigung der eigenen Gemüthsinteressen; deshalb führt ihre isolierte Betrachtung, als ob sie die Hauptsache beim Irresein wären, immer zu einer ein-
303 seitigen und beschränkten Auffassung und ihr Verständnis, wie ihre ärztliche Bekämpfung kann sich im einzelnen Falle nur auf die Einsicht in die ihrer Entstehung zu Grunde liegenden psychischen Zustände stützen. (ebd., 73) Die Aufstellung einer Classe der Monomanie (gegenüber der Manie), die sich übrigens weniger auf das Vorhandensein einer einzelnen fixen Idee, als auf das einseitige Herrschen eines gewissen Triebes (Mordmonomanie, Stehlmonomanie etc.) bezog, hat mit Beiseitsetzung des wichtigsten Verhältnisses, nämlich des psychischen Grundzustandes, nach äusseren Merkmalen Getrenntes vereinigt und innerlich Zusammenhängendes getrennt und ist deshalb nicht zu billigen. (ebd., 75)
Die Profilierung der Psychiatrie führt nicht nur zu bestimmten, intertextuelle Bezüge herstellenden sprachlichen Handlungen wie dem Kommentieren, Kritisieren oder Ablehnen, sondern sie beeinflusst auch die gesamte Textstruktur. Dadurch, dass ein einheitlicher Zugriff auf die Ursachen psychischer Krankheiten zumindest theoretisch postuliert wird, sind allgemeine und spezielle Psychiatrie auch stärker miteinander vernetzt. Das führt zu einer stärkeren intratextuellen Vernetzung der bei Friedreich und Jacobi noch desintegrierten, stilistisch variablen Darstellungsformen, obgleich die Zusammenhänge zwischen Erscheinungsbild und Ursache auch hier oft noch spekulativ sind. Dies mündet nun in eine sich andeutende Konvergenz schon ausdifferenzierter textlicher Aneignungsformen, die für das Schreiben von Lehrbüchern in der Folgezeit prägend sein wird. Es ist jedoch auch sichtbar, dass bei Griesinger eine Inhomogenität erhalten bleibt, was sich sowohl an sprachlichen Reminiszenzen an obsolete Traditionsbestände (Säftelehre) als auch an der Verflechtung mit dem kulturkritischen Diskurs seiner Zeit deutlich wird. Die folgenden Ausführungen zur Onanie bleiben im traditionellen Bezugsrahmen: … verhält es sich mit der Onanie, die gleichfalls eine wichtige und frequente Ursache des Irreseins, wie jeder andern physischen und psychischen Degradation abgibt. Ohne die Säfteentziehung und die directe Einwirkung dieser häufig fast permanenten Genitalienreizung auf das Rückenmark und Gehirn nieder zu taxiren, muss man doch gewiss den traurigen, psychischen Folgen der Onanie einen noch weit schädlicheren und auf das Irrewerden directeren Einfluss zuerkennen. (ebd., 178).
So sehr Griesingers Überlegungen auf Veränderungen hindeuten, so erhält sich größtenteils bei den „krankhaften Hirnprozessen“ der Gleichklang von „krank“ im physiologisch-theoretischen und im traditionell-metaphorischen Sinne. Krankhaftigkeit wird analog zur klassischen Anstaltswahrnehmung im Sinne sozialer Wahrnehmung und Wahrnehmbarkeit beschrieben: Wir finden in Griesingers Psychopathologie auf dem Hintergrund einer allgemeinen Theorie von der Verankerung des Seelischen in den Funktionen des Gehirns eine spezielle Krankheitslehre, in der die traditionelle Wahrnehmungsweise des Irreseins nicht naturwissenschaftlich aufgehoben wird; vielmehr werden die
304 naturwissenschaftlich erfassbaren Hirnerkrankungen gerade scharf von jenen getrennt, die traditionell durch ihre Auffälligkeit umschrieben sind und bei denen die lediglich hypothetische Hirnaffektionen die Verbindung zur naturwissenschaftlichen Betrachtungsweise darstellen sollen. (Herzog 1984, 158)
Trotz einer starken „Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen“ führt der theoretische Rahmen nicht nur zu einem lexikalischen, sondern auch zu einem semantischen Wandel. Mit Griesinger und anderen, die in der Ausbauphase wirken, werden m. E. auch Ausblendungsvorgänge eingeleitet, die mit Aufstieg bestimmter anderer Lexeme zu Leitbegriffen verbunden sind. Stellvertretend soll hier der Fall der Melancholie und der parallele Aufstieg der Depression beleuchtet werden, der für Ausbau- und Konsolidierungsphase von wesentlicher Bedeutung ist. Zwar verwendet Griesinger den Begriff „Melancholie“ noch, mit ihm steigt aber der Begriff „Depression“ zu einem Leitbegriff auf. Die Krankheitsform „Melancholie“ gehört in der Initialphase zum unhinterfragten Traditionsbestand (vgl. Kap. 4.1 und 4.3). Schwermut, Trübsinn und z. T. Grübelsucht sind Bezeichnungsalternativen, die teilweise schon in der Initialphase pragmatisch reguliert werden: Wie noch zu zeigen sein wird (vgl. Kap. 5.3.4), bleibt einzig Schwermut in der speziellen Symptomologie erhalten und wird bspw. bei Griesinger noch alternativ verwendet. Spätestens in der Konsolidierungsphase sind Verbindungen wie hypochondrische oder nostalgische Melancholie obsolet. Für die Initialphase ist darüber hinaus kennzeichnend, dass von nahezu allen Psychiatern eine Subklassifikation der Melancholieformen angestrebt wird, deren Vielfalt darin begründet ist, dass zum einen unterschiedliche medizinische Traditionslinien, zumeist ohne intertextuellen Verweis, rezipiert werden und zum anderen häufig nach dem vorherrschenden Hauptsymptom klassifiziert wird (z. B. hypochondrische, religiöse, erotische Melancholie). Während Griesingers Klassifikation der Melancholieformen (Varietäten der Melancholie, vgl. ebd., 244ff.) noch der Tradition verhaftet bleibt, löst sich Kraepelin (51896) von der symptomologischen Zugangsweise der Tradition und begrenzt die Melancholie auf eine ausschließlich im Alter erscheinende Krankheitsform, andere Formen korporiert er in der Darstellung des „circulären Irreseins“. Er schließt sich damit an eine für die Konsolidierungsphase charakteristische Entwicklung an, etablierte Krankheitsformen neu zu fassen, sofern sie nicht als Krankheitsentitäten, so durch das regelmäßige Eintreten von Symptomen, bestätigt werden können (vgl. auch: Kap. 5.2.3; zur Hysterie vgl. Kap. 6.1). 11 Die Krankheitsform ______________ 11
Kraepelin (51896) – im Gegensatz zu den ersten vier Ausgaben des Lehrbuch – löst alte, diagnostische Krankheitsbezeichnungen zunehmend in „Zustandsbilder“ (ein nach Fischer-Homberger 1970, 61 von Karl Ludwig Kahlbaum 1861 geprägter Begriff) auf, wodurch auch traditionelle, mit diesen Krankheiten verknüpfte Ursachen zunehmend an Gewicht verlieren.
305 „Melancholie“ wird allerdings nicht gänzlich verabschiedet und bleibt in der nicht naturwissenschaftlichen Psychiatrie, in der Phänomenologie und in der Psychoanalyse erhalten. Dass Melancholie – auch im Sinne einer Krankheitsentität – noch in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts verwendet wird, zeugt von der sich entwickelnden varietätenimmanenten Polysemie des Lexems und von der Diskursivität der gesamten Disziplin: Während in der naturwissenschaftlich orientierten Psychiatrie, die den kollektiven Denkstil dominant prägt, Melancholie nicht hinsichtlich des sich in ihr ausdrückenden Selbst- und Weltverständnisses gesehen wird, wird in anderen psychiatrischen Ansätzen gerade das Verhältnis von moderner Gesellschaft und abweichendem menschlichen Verhalten fokussiert. 12 Das allmähliche Ausblenden des ehemaligen psychiatrischen Leitbegriffs zeigt sich an mehreren, sich überlagernden Prozessen: a) an unterschiedlichen, in der Initialphase nicht nachzuweisenden Versuchen, Alternativbegriffe zu etablieren und sich damit auch vom bildungssprachlichen Gebrauch zu entfernen (z. B. Amentia, vgl. Binswanger et al. 1904), b) an der vollständigen Tilgung oder Verdrängung eng an die ehemaligen Melancholien gebundener Krankheitsvarietäten (z. B. Hypochondrie, hypochondrisch) und c) am parallelen Aufstieg der heute noch gebrauchten Depression. Jacobi verwendet Depression in nur wenigen Fällen (z. B. „tiefe geistige Depression“ – ebd., 62) im Sinne von ‚Hemmung‘, ‚Unterdrückung‘ oder ‚Niedergeschlagenheit‘. Daneben taucht nur deprimiert, nicht aber depressiv auf. Damit schließt er sich an den gängigen Sprachgebrauch des 18. Jahrhunderts an. Bahn brechend für die deutsche und internationale Psychiatrie ist nun Griesingers Abhandlung „Über psychische Reflexaktionen“ (1843), in der er sich allgemein als Physiologe mit dem Verhältnis des Geistigen und Psychischen zum Gehirn und zum Nervensystem beschäftigt und die zeitge______________ 12
Allerdings wird die Situation zwischenzeitlich – nach der Aufdeckung des circulären Irreseins und des manisch-depressiven Formenkreises – noch komplizierter. Dies kann hier nur angedeutet werden: Das circuläre Irresein fußt auf einem klar vorgeschriebenen Krankheitsverlauf, ist endogen und besitzt auch psychotische Züge, was auf die frühe Verknüpfung von Wahn und Melancholie zurückweist. Dieses musste wiederum von rein psychogenen Reaktionen abgegrenzt werden. Lang (1927) macht bspw. den Vorschlag, die erste Gruppe zu den Melancholien zu rechnen, die zweite, psychogene Form jedoch als reaktive Depression zu bezeichnen (vgl. Bucher 1977, 47, auch Tellenbach 1960 ist in dieser Traditionslinie zu sehen) – Melancholie ist damit die schwerste Erkrankung des Formenkreises. Auch hier ist das Anliegen nach entsprechender Differenzierung nachvollziehbar, führt jedoch zu einer kaum handhabbaren varietätenimmanenten Polysemie. Die Tatsache, dass Übergangsformen zwischen Reaktion und Endogenie möglich sind, führt wiederum zu Bildungen wie endo-reaktive Dysthymie, endogene Reaktionstypen, endothyme Depressionstypen, die wiederum die Melancholie zurückdrängen (vgl. Bucher 1977, 35–63).
306 nössischen Reflexlehren von Johannes Müller (1801–1858) und Alfred Wilhelm Volkmann (1800–1877) verarbeitet. Durch die stärkere naturwissenschaftliche Orientierung, die sich an rekurrenten Prozessabläufen orientiert, kommt es zur Definition tradierten physiologischen Vokabulars, zu dem Depression auch gehört (vgl. Kap. 4.3.2.1). Unter Reflexaktion versteht Griesinger nun den Übergang von sensorischer Erregung zum motorischen Impuls. Beim Menschen schiebt sich zwischen die Empfindung und den motorischen Impuls die „Vorstellung“, woraus Wollen ebenso wie das Ich entstehen. In der physiologischen Terminologie Griesingers heißt das: Die Vorstellung vom spinalen Reflexkreis, bei dem die „centripetale“ Empfindung über eine zentrale vermittelnde Schaltstelle im Rückenmark mit einer „centrifugalen“ Bewegung verknüpft ist, wird auf die „Actionen des Gehirns selbst“ übertragen. Den spinalen Komponenten des Reflexes, Empfindungen und Bewegungen entsprechen dabei die cerebralen „Vorstellungen“ und „Strebungen“ – entsprechend lassen sich traditionelle Krankheiten wie die Hypochondrie auch als Cerebralirritation 13 verstehen. Im Centralorgan (Rückenmark oder Gehirn) erfolgt eine „Zerstreuung der centripetalen Eindrücke“, wodurch diese „unter sich zusammengeleitet, vermischt, unendlich vielfach combinirt und in dem ganzen Organ so verbreitet werden, dass eben ein Zustand des Ganzen als Facit daraus hervorgeht.“ (1843, 12). Die „bewussten Vorstellungen“ oder „geistigen Inhalte“ sind ein Resultat von drei Faktoren: den neu ankommenden centripetalen Eindrücken, dem „vorhandenen geistigen Vorrath“ sowie der „Disposition des Gehirns“: Vom Zusammenwirken dieser Faktoren hängt es ab, ob aus dem neuen Eindruck „neue und klare Vorstellungen hervorgehen oder ob dieser ganze Process nur eine undeutliche Modification des ganzen geistigen Inhalts zur Folge hat.“ (1843, 24). Die „Masse der im Gehirn zerstreuten und unter sich combinirten Vorstellungen“ bildet einen Gesamtzustand, den „psychischen Tonus“, der nach Griesinger mit den herkömmlichen Begriffen „Gemüth“ und „Charakter“ korrespondiert (vgl. ebd., 25). Bei Griesinger handelt es sich also um den Versuch, traditionelle Begriffe wie „Vorstellung“ auf neurophysiologische Prozesse zurückzuführen, bzw. Begriffe wie Vernunft nicht durch die stärker messbare Intelligenz zu ersetzen, sondern auch zu verorten. Die postulierten Prozesse sind jedoch nicht im Einzelnen nachzuweisen. Griesinger muss eingestehen: Alles geistige Geschehen geschieht innerhalb des Vorstellens; dieses ist die eigentliche Energie des Seelenorgans, und alle die verschiedenen geistigen Thatsachen, die man früher zum Theil als verschiedene Vermögen bezeichnet hat (Phantasiren, ______________ 13
Rückenmarksentzündungen (Spinalirritationen) werden insgesamt für die Entstehung psychischer Erkrankungen immer wichtiger (vgl. Fischer-Homberger 1970, 81f.).
307 Wollen, Gemüthsbewegungen etc.) sind nur verschiedene Beziehungen des Vorstellens auf die Empfindung und Bewegung oder Resultate von Conflicten der Vorstellungen unter sich selbst. Was das Vorstellen eigentlich sei, d.h. was dabei im Gehirn vorgehe, weiss Niemand; aber die Formen seines Vonstattengehens sind der Beobachtung zugänglich, und der Ort, wo vorgestellt wird, ist nicht bekannt. Alles scheint dafür zu sprechen, dass es, wenigstens das recht klare, deutliche Vorstellen, Sache des grossen Gehirns ist. (21867, 25; Hervorhebung v. d. Verf. – BM. Sch.)
Depression ist für ihn nun als Resultat eine Hemmung und Antriebsschwäche, Manie hingegen eine Enthemmung oder fehlende Hemmung von „triebhaften Strebungen“: Seiner physiologischen Theorie nach unterscheidet er psychische Depressionszustände (die Melancholieformen) von psychischen Exaltationszuständen (die Manieformen) und definiert erstere folgendermaßen: Mit dem Ausdruck ‚psychische Depressionszustände‘ wollte nicht gesagt werden, dass das Wesen dieser Zustände in Unthätigkeit oder Schwäche, in Unterdrückung der psychischen oder sie begleitenden cerebralen Vorgänge beruhe. Wir haben vielmehr Grund zu der Annahme, dass sehr lebhafte Reizungszustände des Gehirns und Aufregungen in den psychischen Vorgängen hier sehr häufig zu Grunde liegen; aber das Gesamtresultat dieser (cerebralen und psychischen) Vorgänge für die Stimmung ist ein depressiver oder ein Schmerzzustand. Es genügt an die Analogie mit dem körperlichen Schmerz zu erinnern, und nur denjenigen, welche ‚Depression‘ und ‚Exaltation‘ durch Gehirntopor und Gehirnreizung zu verbessern glaubten, kann man mit Recht die Einwendung machen, in der Melancholie bestehe auch ein Reizzustand. (21867, 214)
Durch die durch cerebrale Insuffizienz/Irritation definierten Depressionszustände wird die Melancholie bestimmt, die noch als Bezeichnung einer Krankheitsform, nicht mehr aber einer Krankheitsgruppe aufrechterhalten wird. Kraepelin löst die Krankheitsentitäten „Melancholie“ und „Manie“ zugunsten eines circulären Irreseins auf, womit er die Erkenntnisse der französischen Psychiater Falret (1851) und Baillarger (1854) aufgreift, die den Wechsel von Zuständen als „folie circulaire“, bzw. als „folie à double form“ bezeichnet hatten. Neben der Krankheitsform der Altersmelancholie kennt Kraepelin nur noch die melancholia simplex und melancholia activa, die jedoch bestimmte Zustände bezeichnen, wobei activa selbst eine Alternativbildung zu traditionellen agitans oder agitata darstellt. Kennzeichnend für das circuläre Irresein ist der Wechsel zwischen depressiven und expansiven Zuständen. Die Verwendung von expansiv und die Vermeidung von manisch, exaltiert oder tobsüchtig zeigt wiederum nicht nur die Absetzbewegungen vom Traditionsbestand, sondern die Orientierung an thematisch gebundenem, wenngleich peripherem psychiatrischen Vokabular. Von der Annahme eines „circulären Irreseins“ mit zwei markierten Zuständen führt der Weg zur Annahme einer Gruppe manisch-depressiver Erkrankungen, die dann in der
308 späteren Entwicklung aufgrund ihres regelmäßigen Wechsels als zyklothym/ Zyklothymien und die depressiven Phasen oder Episoden dann als zyklothymes depressives Syndrom 14 bezeichnet werden können; gleichzeitig bildet sich schon durch Griesingers Reflexaktionen und ihrer Umdeutung zu psychischen Reactionen das spätere Vokabular vor (so die lange gebräuchliche Unterscheidung zwischen endogenen und reaktiven Depressionen, vgl. Bucher 1977, 36). Insgesamt werden beim Ausblenden der Melancholie drei für die Psychiatrie besonders charakteristische Prozesse sichtbar: Melancholie wird zu einer Unterform der depressiven Erkrankungen, die Bedeutung wird verengt und liegt damit in Verwendungsweisen vor, die sich sowohl vom bildungssprachlichen Gebrauch als auch vom traditionellen psychiatrischen Sprachgebrauch absetzen. Es wird als Gattungsbezeichnung ein Lexem gewählt, das zwar im Horizont der früheren Melancholie und physiologischer Erklärungsversuche liegt, jedoch tradierte Kontexte kaum evoziert, anders definiert werden kann und zunächst auch eine Abgrenzung vom bildungssprachlichen Gebrauch ermöglicht (vgl. genauer: 5.3.5.). c) Der tradierte Begriff kann, sofern sich überhaupt eine Anknüpfungsbasis ergibt, nach einer gewissen Zeit wieder verwendet werden (bspw. in der phänomenologisch, dynamischen Psychiatrie und in der Psychoanalyse), um sich von geltenden Theoremen abzugrenzen, was ggfs. wieder zur Polysemie führt. Neben den bei Griesinger schon nachweisbaren Ersetzungs-, Überblendungs- und Ausblendungsvorgängen im lexikalischen Bereich, die einerseits in der Nivellierung von Traditionsbeständen, andererseits im theoretischen Rahmen begründet liegen, zeigt sich, dass das Lehrbuch auf die Klinik als zentralen Bezugsrahmen für die Fallschilderung verweist. Somit lassen sich bei Griesinger wie bei allen nachfolgenden Psychiatern zwei Innovationsstränge ausmachen: die Adaption angrenzender medizinischer Forschungen, die die „allgemeine Psychiatrie“ prägen, und die Hinwendung zur klinischen Erfahrung. Die textliche Präsentation von Krankheitsformen setzt dabei – anders als bei Jacobi –, eine basale Vertrautheit mit Krankheitsbildern bzw. die Möglichkeit, Erfahrungen mit Kranken zu gewinnen, voraus. Auf der Grundlage von Erfahrungen und anstaltsspezifischen Wahrnehmungen, die vorher durch Krankengeschichten in, wie gesehen, sehr elaborierter Form dargestellt werden, werden sprachliche Verfahren der Ökonomisierung und Komprimierung und z. T. auch der neutralen Darstellungsweise eingesetzt. Die somatische Sichtweise räumt den (individuellen) Äußerungsformen des Wahnsinns damit einen weitaus geringeren Stellenwert ein. Die oben aufgeführten Nominalkomposita (vgl. Kap. 5.2) sind als ein Teilbereich der wahrneh______________ 14
Der Begriff „Syndrom“ geht auf Hoches und Bumkes Syndromenlehre zurück (vgl. Bucher 1977, 50).
309 mungssynthetisierenden Begrifflichkeit zu deuten, die auf schnelle Erkennbarkeit im klinischen Rahmen, eine Art Ökonomie der Wahrnehmung, zielt. In dem sich mit den Krankheitsformen beschäftigenden Teil („spezielle Psychiatrie“) besitzt der Text eine kondensierte, am Allgemeinen und Typischen orientierte Darstellung, die eine gemeinsame Klammer der Krankengeschichten bildet. Diese sind im psychiatrischen Diskurs aufgenommen worden und bilden einen gemeinsamen Erfahrungshorizont. Allerdings zeigt sich, dass die illustrativen Krankengeschichten noch keinen einheitlichen Stil aufweisen, so dass sich hier offensichtlich ein schreiberischer Gestaltungsraum ergibt. Es stehen kurze telegrammartige Vertextungsformen: B., 25 Jahre, Beamter, kommt nach Charenton am 12. August 1833. – Früher ein Anfall von Wahnsinn im 15ten, ein anderer im 22ten Jahre, der erste von sechs Wochen, letzterer von 14 Tagen. – B. litt sechs Wochen an einem intermittierenden Fieber, in dessen Reconvalescenz plötzlich, ohne bekannte Ursache, nach mehrtätigem heftigem Kopfweh, dieser Anfall ausbrach. Symptome einer Gehirnentzündung, mehrmals im Verlauf von drei Wochen Convulsionen; mehrere Selbstmordversuche. – Blasse Gesichtsfarbe, starre, weit offene, meist zur Erde gerichtete Augen, ausdruckslose, stumpfe Physiognomie; B. bleibt den ganzen Tag auf demselben Fleck sitzen und scheint aller seiner Umgebung ganz fremd. … Das Gedächtnis scheint ganz erloschen; man muss den Kranken füttern; er ist höchst unreinlich. Die Empfindung stumpf, der Schlaf lang; … (ebd., 255, zit. n. Baillarger, ohne weitere Angabe)
relativ ausführlichen Darstellungen gegenüber: Eine noch lebende Frau, jetzt (1821) drei und vierzig Jahre alt, hatte bisher in glücklichen Verhältnissen und ausser einem hysterischen Kopfschmerz und Dysmennorhoe gesund gelebt. Bis zum Jahre 1804 wurde sie von keinem Unfalle betroffen. Ihr Mann liebte sie zärtlich, ihre Kinder, die sie zum Theil selber genährt hatte, wuchsen kräftig auf und ihre Vermögensumstände waren sehr gut. Am 24. Juli dieses Jahres aber, nachdem sie einige Tage zuvor an ihrem gewöhnlichen Kopfschmerz gelitten hatte, der jetzt aber schon ganz verschwunden war, sitzt sie Nachmittags 3 ½ Uhr anscheinend heiter auf dem Flur ihres Hauses und beschäftigt sich mit Nähen. Plötzlich und ohne die geringste Veranlassung springt sie auf und ruft: ‚Ich muss mich ersäufen, ich muss mich ersäufen‘, rennt darauf fort … (ebd., 262, zit. n. Mende 1821, ohne weitere Angabe)
Allerdings gilt für die Falldarstellung die Grundtendenz: Der synthetisierte Erfahrungshorizont führt zu einer Orientierung an der Deskription gegenüber der Narration. Das Erzählen von Krankengeschichten nimmt – und das gilt für die Psychiatrie dieser Jahre generell – einen untergeordneten Stellenwert ein. Dabei sind erkennbar nur solche Fälle repräsentativ und nur solche können in einer illustrativen Rolle fungieren, die in den Anstalten selbst entstanden sind. Dennoch zeigen sich Besonderheiten, die auf die Initialphase zurückweisen, vgl. z. B.:
310 Das Grundleiden bei allen diesen Krankheitsformen besteht in dem krankhaften (§ 37) Herrschen eines peinlichen, depressiven, negativen Affekts, in einem psychisch-schmerzhaften Zustande. Dieser kann Anfangs, in der reinsten, primitivsten Form der Schwermuth, in der Art der objectlosen Gefühle von Beklemmung, Angst, Niedergeschlagenheit, Traurigkeit andauern, meistens aber geht eine solche dunkle, abstrakte Gefühlsbelästigung bald in ein einzelnes, concretes, schmerzliches Vorstellen aus einander, es erheben sich der Stimmung entsprechende, äusserlich unmotivierte (falsche) Vorstellungen und Urtheile, wahre Delirien von peinlichem, schmerzlichem Inhalt, während gleichzeitig das Vorstellen auch formal-abnorm, in seinem freien Flusse gehemmt, verlangsamt, träge, das Denken monotoner und leerer wird. Die psychische Reaktion ist entweder geschwächt und abgestumpft (psychische Anästhesie, Gleichgültigkeit bis zum Stumpfsinn), oder in der Weise gesteigert, dass alle psychischen Impressionen schmerzhaft werden (psychische Hyperästhesie), und sehr häufig kommen Mischungen und Wechsel dieser Reactionsweisen vor. (ebd., 214; Hervorhebungen v. d. Verf. – B-M. Sch.)
Auffällig ist die Vielzahl von attributiv und adverbial verwendeten Adjektiven und Partizipien, unter denen bedeutungsähnliche asyndetisch gereiht werden. Asyndetische Reihung, öfters an einen Klimax erinnernd, und antithetische Strukturen zeigen m. E. eine, der Nominalisierung gegenläufige noch nicht verdrängte rhetorische Tradition. Gerade der starke Gebrauch von Adjektiven ist bemerkenswert, weil die Verwendung von qualifizierenden und auch ornamentativen Adjektiven zugunsten von klassifizierenden zurückgedrängt werden wird (vgl. 5.3.5.). Dazu gehört generell ein am Rezipienten und am Patientensubjekt orientiertes kommunikatives Schreiben, das in folgenden Varianten bei Griesinger auftritt: a) als eine am Patientensubjekt orientierte Perspektivenübernahme des Psychiaters, der dem Rezipienten eine Art „Innenansicht“ bietet, vgl.: Besonders deutlich sind diese Wirkungen bei fortdauernden, aber innerlich verschlossenen Schmerzzuständen; jene verschluckten Thränen, jene inneren Wunden, die äusserlich lange mit Lächeln, mit Hochmuth und Lücke bedeckt geblieben sind, geben sich fast unfehlbar und meistens bald in der Ausbildung chronischer Krankheitszustände kund, denen dann erst sekundär die Gehirnaffection folgt. (ebd., 172)
b) als eine auf den Erfahrungshorizont des Lesers zielende Anbindung von Krankheitsdarstellungen: Auf die Dauer und die Heftigkeit der Phänomene kommt sehr vieles an, ob wir psychische Zustände als krankhaft beurtheilen. Jeder Mensch weiss aus eigener Erfahrung, wie zuweilen ohne äussere psychische Motive eine heitere oder trübe, weiche oder bittere Stimmung in uns entstehen kann, Seelenzustände, die sich gewöhnlich aus leisen, nur mittelst grosser Aufmerksamkeit erkennbaren Veränderungen der organischen Processe ergeben. (ebd., 62)
311 Der Stil verbleibt insgesamt im Rahmen einer elaborierten Schriftlichkeit. Reduzierte Satzformen wie Ellipsen, die unverbundene, stichwortartige Wiedergabe von Symptomen, so bspw. durch asyndetische Reihungen von Nominalkomposita, oder insgesamt ein telegrammartiger Stil werden im Gegensatz zu späteren Veröffentlichungen selten verwendet. Hypotaxen dominieren gerade dort, wo es gilt, charakteristische Symptome herauszuarbeiten, z. B. Griesinger zur religiösen Melancholie: Es ist häufig ganz in äusseren zufälligen Einwirkungen begründet, dass die innere Angstempfindung gerade als Sündenangst sich äussert, oder dass der Kranke in seiner traurigen Verstimmung den Trost der Religion sucht, der hier freilich nicht die erwartete Wirkung, sondern häufig nur die Steigerung der Angst zur Folge hat, und es hier die Wirkung nicht mit der Ursache zu verwechseln. Denn so wenig geläugnet wird, dass das stete Hervorrufen von Zerknirschung und Furcht von Höllenstrafen, überhaupt eine stete Bearbeitung im Sinne einer trübsinnigen und ascetisch-eifernden Weltanschauung die geistige Energie lähmen, das Vorherrschen trauriger Vorstellungen begünstigen, und schwache Köpfe in inneren Zwiespalt und traurige Affecte versetzen, damit aber auch zur Entstehung der Schwermuth wesentlich beitragen kann, so sind doch in der grossen Mehrzahl der Fälle die von den Melancholischen geäusserten religiösen Anfechtungen als Symptome der schon bestehenden Krankheit, nicht als deren Ursachen zu betrachten. (ebd., 244)
Damit ist die Tatsache verbunden, dass Formen der Passivierung und des Subjektverlustes, wenn Kranke im Fokus stehen, kaum erscheinen. Griesinger versucht – und größtenteils gelingt ihm das auch – eine Sprache zu finden, die sich nicht mehr nur an der Individualität des einzelnen Falles orientiert, jedoch die Erscheinungen auch nicht nur auf das Krankheitstypische begrenzt. Die Variabilität des Schreibens zeugt von dem Versuch, Attraktivität und Verständnis seines Textes zu sichern. Griesingers Lehrbuch verliert sich dennoch nicht in der Präsentation von Einzelfakten, sondern bietet einen Orientierungsrahmen für die klinische Wahrnehmung. Bei Griesinger zeigt sich also insgesamt Folgendes: Durch die Orientierung an naturwissenschaftlich zu fassenden Krankheitsverläufen werden tradierte Wahrnehmungs- und Erklärungsmuster verdrängt (z. B. Temperamentlehre), das thematische Feld beengt und der Traditionsbestand auf seine Legitimität hin überprüft. Dies korrespondiert nicht nur mit dem Aufbau einer fachspezifischen Intertextualität, sondern hat auch zur Folge, dass sich eine stärkere Konvergenz der einzelnen Bestandteile des Lehrbuchs abzeichnet. Auffällig ist jedoch auch, dass Griesingers eigener Erfahrungshintergrund durch detailreiche Beschreibungen sowie der Standpunkt des Schreibens transparent bleiben und der Stil des Schreibens im Rahmen einer elaborierten Schriftlichkeit (mit der Ausnahme einiger übernommener Falldarstellungen) verbleibt. Obwohl sich in lexikalischer Hinsicht eine starke Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen zeigt, finden sich Formen lexikalischen
312 und semantischen Wandels: Dies betrifft sowohl einzelne schibbolethartige Lexeme, die mit ihnen verbundene Kollokationen als auch vorher angenommene Begründungsstützen. Dadurch finden sich neben Tilgung und Verdrängung auch Redefinitionen (z. B. Depression, Intelligenz), wobei nicht gesagt ist, dass Griesinger sich vollständig von kulturellen Topoi löste. Gleichzeitig ist eine starke Nutzung von Fremdwörtern auffällig, die wohl darauf zurückgeführt werden kann, dass die Psychiatrie versucht, sich von anderen Diskursen zu lösen. Allerdings kann eine – wie auch immer bewusste – Enthistorisierung nicht allein ins Feld geführt werden, sondern auch die Tatsache, dass erschlossene Phänomenbereiche nun stärker abstrahierbar und synthetisierbar geworden sind und ein einheitlicher theoretischer Rahmen sichtbar geworden ist. Tendenziell werden solche Lexeme aufgegeben, die stark polysem sind und im 19. Jh. in der Gemeinsprache selbst eine Veränderung erfahren haben, auf die von psychiatrischer Seite reagiert wird, bzw. die bspw. aufgrund ihrer langen Tradierung ihre konnotativen Potenzen offensichtlich nicht einbüßen können. Eine bemerkenswerte Tatsache ist es, dass die gemeinsam erarbeitende Beschreibungssprache, die in weiten Teilen ja auf metaphorischen Modellen und entsprechenden Analogien basiert, nur die Weiterführung bestimmter Metaphern ermöglicht. Auch hier ist wieder ein enthistorisierendes Potential anzunehmen: Metaphern, die eine starke Transdiskursivität oder Intertextualität aufweisen und z. B. direkt auf Literatur, Religion oder allgemeine Anthropologie verweisen, werden bevorzugt ausgesondert. Einige andere Metaphern werden monosemiert, d. h. an eine bestimmte Krankheit gebunden, und gehören bis heute zum lexikalischen Grundbestand der Psychiatrie. Während bei Jacobi die für die transitorische Varietät typische Zugangsweise konsequent zu Ende gedacht wird, zeigen sich bei Griesinger andere Zugriffe, die auf der Folie der Verfügbarkeit von Traditionsbeständen zu lesen sind. Lexikalische und textliche Perspektive sind miteinander verschränkt, weil sich zum einen eine Affinität zwischen Darstellungsform und Vokabular ergibt, zum anderen kotextuelle Verwendungskontexte in unterschiedlicher Richtung Basis für Veränderung sind: – als begriffliche Kondensate detaillierter Beschreibungen, – als Individualisier- und Bestimmbarkeit von Typisierungen und – als Bilder, die den späteren Metaphernbestand generieren und wie im Falle von „Dämmerzuständen“ oder „ausgebrannt“ gerade zu Kennzeichen des psychiatrischen Diskurses werden. Bei Griesinger sind das Prägen einer eigenen Indexikalität und das Prägen einer fachspezifischen „Kontextualisierungwelt“ noch nicht abgeschlossen.
313 5.3.3
Professionalisierungsschübe: Die unterschiedlichen Ausgaben von Kraepelins Psychiatrie
Griesingers Veröffentlichungen deuten auf die Ablösung der alten Verwobenheit von Psychiatrie und unterschiedlichen Disziplinen der Philosophie hin. Ab ca. 1870 stehen in der Psychiatrie weitere Projekte an, die von dem Bemühen zeugen, sich als wissenschaftliche Disziplin zu etablieren. Im letzten Drittel des 19. Jhs. sind es nach Roelcke (2003, 170) v. a. drei Projekte, die im Brennpunkt psychiatrischer Debatten stehen: 1. die Diskussion um die sog. „Irrengesetzgebung“ im Rahmen der „deutschen CivilProcess-Ordnung“, 2. Aktivitäten mit dem Ziel, die Psychiatrie als obligatorisches medizinisches Unterrichts- und Prüfungsfach zu etablieren und 3. das Projekt einer reichsweiten Irrenstatistik. Nach Roelcke „stießen die Psychiater immer wieder auf eine gemeinsame Problematik, nämlich die kritische Frage nach Autorität, Validität und prognostisch-praktischer Relevanz psychiatrischer Urteile für die breitere community der Mediziner, sowie für die Obrigkeit.“ (ebd., 170). 15 1901 – als Produkt zum Teil heftig geführter Debatten – wird das Fach Eingang in die ärztliche Studien- und Prüfungsordnung gefunden haben und neue Lehrstühle werden etabliert worden sein. Mit dieser Phase ist v. a. ein Name verbunden, Emil Kraepelin. Er verfolgt, wie Griesinger, die Idee einer spezifischen Krankheitsursache gegenüber den tradierten krankheitsunspezifischen prädisponierenden und auslösenden Faktoren. Er versucht das Konzept der spezifischen Krankheitsursache über die Zergliederung von Nervenaktionen und psychischen Phänomenen zu erreichen. Im Anschluss an Wundt sucht er nach so genannten Elementarprozessen: „Konstitutiv für diesen Wissenschaftsbegriff war nicht mehr nur die systematisierte klinische Beobachtung und theoretische Reflexion, sondern der Rekurs auf die Naturwissenschaften, deren Kausalitätsbegriff sowie auf das Experiment als privilegierte Methode des Erkenntnisgewinns.“ (Roelcke 2003, 188). Damit schließt sich Kraepelin an die moderne Krankheitslehre an, die eine Klassifikation nach ätiopathogenetischen Kategorien anstrebt (vgl. Wiese 1999, 1281; Schluchter 1996, 95f.). Mit der Experimentalpsychologie versucht Wundt, experimentell Bewusstseinsvorgänge auf ihre möglichen körperlichen Substrate zurückzuführen. Seine Methode fußt wesentlich darauf, die Intensität von Reizen systematisch zu variieren und die durch die ______________ 15
Der damit verbundene Versuch, die psychiatrische Nomenklatur zu normieren, schließt sich an Bestrebungen zur Vereinheitlichung der gesamten Terminologie im medizinischen Bereich an (vgl. Wiese 1999, 1280), 1895 wird bspw. eine einheitliche anatomische Nomenklatur gefunden, die Basler Nomina Anatomica (BNA). Wie in der Psychiatrie selbst kommt es immer wieder zu Revisionen der entsprechenden Nomenklaturen.
314 Reize bedingten Wahrnehmungen zu registrieren, wodurch die subjektive Willkür bei der Beobachtung von psychischen Elementarerscheinungen ausgeschaltet und psychische Kausalgesetze ermittelt werden soll. Kraepelin sieht Wundt als Begründer einer echten Erfahrungswissenschaft, will die Ergebnisse der experimentellen Psychiatrie für die Psychiatrie fruchtbar machen und forscht zunächst über die Beeinflussung psychischer Vorgänge durch Arzneimittel bei Gesunden und Kranken. Die Grundüberlegung ist, dass „gewisse Formen der Geistesstörung psychischen Störungen vergleichbar seien, die sich experimentell, aber auch durch gezielte Intervention in die Lebensführung, etwa durch Schlafentzug, herstellen lassen.“ (Schluchter 1996, 102). Bei seinen Interventionsstudien mittels Zeit-, Empfindlichkeitsund Schlafmessungen sowie Zeitschätzungen und Messungen von Muskelbewegungen rückte er das Problem von Leistungsfähigkeit und Ermüdung zunehmend ins Zentrum, denn „immer wieder würden, so Kraepelin, körperliche und geistige Überanstrengung, ungenügend Schlaf und mangelnde Ernährung ‚als hauptsächlich oder doch mitwirkende Ursachen geistiger Erkrankung namhaft gemacht.‘“ (Schluchter 1996, 102). Diese Form der Ursachenermittlung hielt Kraepelin für wesentlich aussichtsreicher als hirnphysiologische Forschungen. Auf der Grundlage der Idee, dass sich das Seelenleben, mithin die Einheit der Person aus einer Anzahl physiologischer Grundeigenschaften (z. B. Erholungsfähigkeit, Schlaffestigkeit, Widerstandsfähigkeit) bestehe, deren Ursachen zu ermitteln seien, entwickelt Kraepelin die in unterschiedlichen Gebiete rezipierte Idee der Arbeitskurve, so in den sozialpolitischen Überlegungen und in die Handlungstheorie Max Webers (vgl. Schluchter 1996, 116f.; Fromm 1997, 190–206). Kraepelins Lehrbuch unterscheidet sich bedeutend von anderen, die während der Auseinandersetzungen um die Irrenstatistik erscheinen: so Emminghaus (1879), Schüle (1878), Krafft-Ebing (1879) oder Dittmar (1878). Man findet in seinem Lehrbuch weder die sonst obligatorischen Auseinandersetzungen mit der Geschichte der Psychiatrie – diese werden sehr kurz gehalten – noch ausführliche Darstellungen von psychischen Elementarerscheinungen wie Gefühl, Wille und Verstand. Die folgenden Ausführungen beziehen sich zunächst auf die fünfte Auflage von 1896 (spätere Ausgaben werden in Kap. 6. thematisiert). Der Kausalitätsbegriff gibt dabei einen Maßstab vor, an dem er bisher nur postulierte Zusammenhänge misst: So wendet er sich gegen die Überschätzung des Verdauungsapparates (ebd., 49) und gesteht ein: „Im Ganzen wissen wir über all diese Verhältnisse sehr wenig Sicheres.“ (ebd., 50). Wie bei Griesinger werden alte Erkenntnisse relativiert, ohne gleich schon neue Vermutungen oder Spekulationen in das nun entstandene Vakuum zu setzen: „Trotzdem ist es heute kaum möglich, bestimmte klinische Krankheitsformen in ursächliche Beziehung zu heftigen Gemüthsbewegungen oder gar zu den einzelnen Arten derselben zu setzen.“
315 (ebd., 62). Kraepelin opponiert gegen die durch abduktive Schlüsse erreichten, jedoch nur wahrscheinlichen Erklärungen. Gleichzeitig wird verstärkt auf die gesellschaftliche Einbettung der Psychiatrie oder auf den allgemeingesellschaftlichen Mehrwert der Psychiatrie verwiesen: „Die wissenschaftliche Erkenntnis der Geistesstörungen bildet die unentbehrliche Grundlage für die Lösung der ausserordentlich wichtigen praktischen Aufgaben, welche die Psychiatrie zu lösen hat. Zunächst wird es sich dabei um die Verhütung des Irreseins handeln.“ (51896, 8). In den Folgeausgaben seines Lehrbuchs wird die soziale und nationale Bedeutung der Psychiatrie immer weiter ausgebaut werden (vgl. Güse 1974, 161ff.). Dabei sind die Orientierung an der Experminentalpsychologie Wundts und die Hervorhebung der außerordentlichen Bedeutung der Psychiatrie nicht unabhängig voneinander zu sehen. Mit der oben skizzierten Orientierung am Experiment will Kraepelin laut Engstrom (1997, 171f.) Folgendes erreichen: Zum einen soll es Hilfsmittel bei der Ermittlung des status prasens eines Patienten und damit Orientierungshilfe für die klinische Arbeit sein. Daneben soll es Aufschlüsse über Elementarvorgänge im Bewusstsein geben und damit die psychiatrische Nosologie verbessern, und es soll, kriminalpsychologisch, forensisch gewendet, Aufschluss über die Grenzlinie zwischen Krankheit und Gesundheit geben. Das Kriterium der Zurechnungsfähigkeit erscheint Kraepelin als zu wenig aussagekräftig und sollte durch eine Typologie der psychologischen Eigenarten von Verbrechern ersetzt werden. Triebfedern des Verbrechens sind s. E. kausale Gesetze, die am physischen Körper ansetzten, und nicht etwa die Willensfreiheit. Dabei verengt sich das Bild allerdings auf verbrechertypische Entartungszustände, vor denen die Gesellschaft geschützt werden müsse. In den Veröffentlichungen von Kraepelin nach der Jahrhundertwende verschiebt sich das Bild dementsprechend immer stärker auf einen „Kampf gegen die Entartung“ und dem „Schutz des Volkskörpers“, was sich besonders stark in seinem Engagement gegen Alkoholismus und Syphilis zeigt (vgl. Kap. 6.). Kraepelin unterscheidet sich von seinen Vorgängern dadurch, dass er die traditionelle Kapiteleinteilung des Lehrbuchs verändert und dadurch den wissenschaftlichen Anspruch der Psychiatrie unterstreicht: Ursachen werden Symptomen vorgeordnet, worauf dann erst entsprechende Krankheitszeichen und die Differentialdiagnose folgen. Fallschilderungen erfolgen nicht oder äußerst spärlich (das gilt nicht für spätere Ausgaben). Dieser Einteilung entsprechend folgen den „äusseren Ursachen“ die „inneren Ursachen“, die aber vergleichsweise knapp gehalten werden. Mit dieser Neuorganisation des Lehrbuchs und der Hervorhebung der Naturwissenschaften sowie der Ursachenlehre sind nun die Grundlinien einer neuen Krankheitslehre und damit auch einer neuen Organisation der klinischen Tätigkeit
316 und des psychiatrischen Blicks auf den kranken Menschen gegeben. (Roelcke 2003, 185; vgl. zu diesem Komplex auch: Hoff 1988, 328–336)
Anthropologische Gegebenheiten, die Einwirkungen auf psychische Erkrankungen haben sollen, werden auf ein Minimum begrenzt, so dass eine Loslösung von lange tradierten gesellschaftlichen Typen erreicht wird. Lediglich Lebensalter und Geschlecht werden etwas breiter diskutiert, ihr Einfluss aber stark eingeschränkt. Geschlechterdifferenzen werden allerdings auch hier beibehalten: „Alle jene Schädlichkeiten, die der Kampf ums Dasein mit sich bringt, treffen in erster Linie und vorwiegend den Mann, dem die Sorge für die Familie obliegt, wenn auch die Mühsalen des Lebensunterhaltes für das unverheirathete Weib vielfach weit grösser sein mögen.“ (ebd., 78). 16 Mit dem Herausstreichen von Ursachen durch die Lehrbuchorganisation wird Kraepelin eher ein Außenseiter bleiben – grundsätzlich erfolgt wie bspw. bei Krafft-Ebing (1879) und den noch zu thematisierenden Lehrbüchern zunächst eine Behandlung der „allgemeinen Symptomologie“, dann der Ursachen und dann der Krankheitsformen in der „speziellen Symptomologie“. Neben der Ablehnung der Spekulation und der gleichzeitigen Orientierung an einem Kausalitätsbegriff, dessen Anwendung zur Revision vorher nur vermuteter Zusammenhänge führt, gibt es weitere Merkmale des Kraepelinschen Lehrbuch, die den Status der Psychiatrie als Wissenschaft unterstreichen und mit dem Aufbau fachspezifischer Intertextualität verbunden ist. Besonders dann, wenn Kraepelin eigene Auffassungen darstellt, erfolgt immer ein Verweis auf den Forschungsstand in dem jeweiligen Gebiet, z. B.: „Unter dem Namen Katatonie hat Kahlbaum ein Krankheitsbild beschrieben, welches der Reihe nach die Zeichen der Melancholie, der Manie, des Stupors, bei ungünstigem Verlaufe auch der Verwirrtheit und des Blödsinns darbietet und ausserdem durch das Auftreten gewisser motorischer Krampf- und Hemmungserscheinungen, eben der ‚katatonischen‘ Störungen gekennzeichnet ist.“ (ebd., 441). Sofern sich Anknüpfungspunkte ergeben, werden diese referiert oder zitiert: So Kahlbaum (Ueber Hebephrenie, insbesondere deren schwere Form. Dorpat 1892) oder Hecker (1871, Virchows Archiv LII, 394 f.). Die verstärkte Indexikalität der Begriffe ist eine disziplinenspezifische, die kulturell bedingte Kontextualisierungen ablöst. Zwar sind sie indexikalisch, jedoch mit Verteidigungsverpflichtungen verbunden, sofern eine Begründung erwartet wird. Dies trifft auch für Subklassifizierungen als solche und besonders für klassifizierende Adjektive zu (s. u.). Der Rekurs auf schon ______________ 16
Stereotype Darstellungen wie auch die folgenden, bleiben jedoch vereinzelt: „Dieser Vergleich ergiebt, dass wenigstens in Deutschland die Juden in erheblich höherem Maasse zu geistiger und nervöser Erkrankung veranlagt sind.“ (ebd., 80). Allerdings heißt es wesentlich defensiver in der Erstausgabe von 1883: „bei den Juden in der That eine grössere Neigung zu psychischen und nervösen Erkrankungen zu ergeben“ (ebd., 58)
317 etablierte Krankheitsbilder erfolgt auch implizit: dazu gehören bspw. die multiple Sklerose, die progressive Paralyse 17 oder die Hebephrenie. Die Bezeichnung von Krankheiten ist Ausdruck neuer Erfahrungen oder einer neuen Sichtweise auf alte Erfahrungen, die nicht auf den oben skizzierten Übersetzungsvorgängen beruhen. Vom Rezipienten wird z. T. erwartet, dass er den Forschungsstand zu einzelnen Krankheitsbildern kennt, so dass er in der Lage ist, die mit bestimmten Lexemen evozierten Kontexte zu entschlüsseln und Präsuppositionen zu erkennen. So geht Stigmata auf den französischen Psychiater Charcot zurück, der nicht eigens genannt wird: „Von grosser Bedeutung für das Krankheitsbild des hysterischen Irreseins sind natürlich auch die körperlichen Functionsstörungen, die wir als die Kennzeichen der allgemeinen Neurose zu betrachten pflegen (‚Stigmata‘).“ (ebd., 739). Während sich der Rekurs auf entwickelte Fachbegriffe, die Ablehnung nur vermuteter Zusammenhänge sowie das Eingeständnis, der Komplexität bestimmter Krankheitsformen beim erreichten Stand der Erkenntnis nur unzureichend gerecht werden zu können, auch bei Griesinger findet, wird auf der einen Seite die Wissenssensivität der verwendeten Lexeme verstärkt, auf der anderen Seite jedoch auch Gebrauchsbedingungen von Lexemen fixiert. Ein Begriff wie „Melancholie“, mit dessen Gebrauch man sich auf einen lange geltenden, intersubjektiven Konsens zu berufen schien, wird festgelegt und in eine Differentialdiagnose eingebettet: „Mit dem Namen der Melancholie bezeichnen wir alle krankhaften, traurigen oder ängstlichen Verstimmungen der höheren Lebensalter, welche nicht Verlaufsabschnitte des Irreseins darstellen.“ (ebd., 561). Die wissenschaftliche seriöse Darstellung Kraepelins schützt ihn allerdings nicht vor starken Bewertungen. Die Perspektive auf den Kranken ist nicht neutral, sondern verrät die Sprecherhaltung des Psychiaters. Emotionale Distanz zum Patienten ist bspw. an der folgenden Textstelle erkennbar: „Alles in theatralischem und selbstgefälligem Aufputze, pressen den Kranken bei jeder passenden Gelegenheit ganze Sturzbäche von Thränen aus den Augen, während sie gleichzeitig einen sehr ausgeprägten, wenn auch bemäntelten Sinn für die Freuden des Lebens besitzen …“ (ebd., 733). Interessanterweise lassen gerade die Krankheitsformen, über deren objektiven Krankheitsverlauf so gut wie nichts bekannt ist, starke Subjektivität erkennen: Es wird hier nicht nur etwas beschrieben, sondern auch beurteilt. Anders als bei Griesinger wird von Visualisierungen Gebrauch gemacht: Die Ausführungen zu einzelnen Krankheitsformen werden durch entsprechende Fotografien der Kranken unterstützt. Kraepelin steht in der Tradition von H.W. Diamonds (1809–1886), Direktor des ______________ 17
Es gilt als eine der größten medizinischen Leistungen, dass es möglich war, die progressive Paralyse auf eine Spirochäten-Infektion zurückzuführen (nach Dörner/ Plog 61990, 470). Es litten rund die Hälfte der Anstaltspatienten unter dieser Krankheit.
318 psychiatrischen Krankenhauses von Springfield bei London, der 1852 bereits beginnt, seine Patienten zu fotografieren. 18 Diese ersetzen die vorher schon häufig gebrauchten Zeichnungen einzelner Patienten. Aufschlussreich ist der Aufbau der Fotografien bei Kraepelin: Es wird nun nicht mehr ein einzelner Kranker in Zivilkleidung dargestellt, sondern eine Gruppe von Kranken in der anstaltsüblichen Kleidung. Die Fotografien sollen wahrnehmbare Veränderungen in Gestik, Mimik und körperlicher Haltung dokumentieren und ergänzen die textlichen Ausführungen. In den Krankenakten wird es sich zudem generell durchsetzen, Fotografien des Kranken beim Eintritt in die Psychiatrie anzufertigen. Die Gruppenbilder der psychisch Kranken sind in gewisser Weise das visuelle Pendant zur tendenziellen Entsubjektivierung von Krankheitszeichen und der sprachlichen Deagentivierung, was sich bei Kraepelin, wie gesagt, v. a. an den schwach ausgeprägten Fallschilderungen zeigt. Bei Kraepelin tritt eine Fülle neuer Lexeme auf, die bei Griesinger nicht nachzuweisen sind. Während bis ins letzte Drittel des 19. Jahrhunderts gilt, dass sich die Psychiatrie sich durch die geschilderten Verfahren die Begrifflichkeit anderer Disziplinen aneignet und verfremdet, zeigen sich bei Kraepelin Wortschöpfungen, die nur sehr mittelbar auf den traditionellen lexikalischen Bestand zurückführbar sind: Die Anverwandelung betrifft nun andere Gegenstandsbereiche und bspw. nicht mehr die Philosophie. Während die bisher referierten Merkmale mit Verwissenschaftlichung insofern im Zusammenhang stehen, dass sie Intersubjektivität über Intertextualität und Visualisierung herstellen, stehen die folgenden Kennzeichen mit Originalität in einem Zusammenhang. Bei Kraepelin zeigen sich: – die Nomination ist nicht nur als Übernahme von Bezeichnungen, sondern auch als textbezogene Umbezeichnung mit entsprechenden Gebrauchsfixierungshandlungen vertreten: „Als Dementia praecox bezeichnen wir die Entwicklung eines einfachen, mehr oder weniger hochgradigen geistigen Schwächezustandes, unter den Erscheinungen einer acuten oder subacuten Geistesstörung.“ (ebd., 426). Die Umbezeichnung wird durch Textdeixis abgesichert: „Als eine letzte Art von psychischen Veränderungen, die durch Hirnerkrankungen bedingt werden, hatten wir die Erzeugung ______________ 18
„Kurz nachdem 1839 Daguerre den Durchbruch erzielt hatte und die ersten seiner Fotografien erschienen, bemächtigte sich gewissermaßen die Medizin dieser Technik. Stanley B. Burns, einer der hervorragendsten Spezialisten der Geschichte der Fotografie in der Medizin geht noch weiter, wenn er aufzeigt, dass es Ärzte waren, die nach und nach die Technik des Fotografierens verbesserten.“ (Müller 1993, 104)
319 eines dauernden Zustandes verminderter psychischer Widerstandsfähigkeit bezeichnet.“ (ebd., 20). – der Rekurs auf neue Begriffe, mit denen Phänomenbereiche gebündelt und/oder subklassifiziert werden. Für bestimmte, immer wieder zu beobachtende Phänomene, interessanterweise gerade in Bezug auf einen krankheitsspezifischen Sprachgebrauch, werden neue Begriffe gefunden (Mutacismus, ebd., 444, Echolalie oder gar der Echopraxie, ebd., 446 oder Verbigeration, ebd., 449, s. auch Kap. 6.2). Dazu gehören z. B. auch: Stereotypie (mit entsprechenden Kompositabildungen wie Bewegungsstereotypen, ebd., 452), Suggestibilität (ebd., 442) 19 und Abstrakta mit – ismus und mit deadjektivischem oder denominalem Ableitungszentrum wie Negativismus (ebd., 444, 446) oder cretinistisch (ebd., 36). Einzelne Halluzinationen bspw. werden durch neu gebildete Komposita differenziert, so dass bspw. Gehörshallucinationen von solchen des Gesichtes unterschieden werden (ebd., 47). Auch bei der Angst erscheint die subthematische Gliederung in unterschiedlichste Ängste, z. B. die Präcordialangst. – die Einführung neuer gemeinsprachlicher Lexeme in den psychiatrischen Kontext, deren Bedeutung im psychiatrischen Kontext zumindest differenziert wird. Dazu gehören Verarbeitung („Erschwerung der Auffassung und Verarbeitung äusserer Eindrücke, Unbesinnlichkeit, Gedächtnisschwäche, Ideenarmuth und Verlangsamung des Vorstellungsverlaufes, ….“ – ebd., 20) ebenso wie Oberflächlichkeit (ebd., 35) oder Beklemmung (ebd., 47) und Beklemmungsgefühle (ebd., 48). An vielen Textstellen wirken die oben skizzierten Neuerungen zusammen, z. B.: „Bei der chorea sieht man hauptsächlich erhöhte psychische Reizbarkeit, kindisches, launenhaftes Wesen, raschen Stimmungswechsel, Schlaflosigkeit, in schweren Fällen verwirrte Aufregungszustände wie ähnlich dem Collapsdelirium oder der Amentia …“ (ebd., 25). Hier findet man außer Funktionswörtern nur ein Lexem, das in der gleichen Weise gemeinsprachlich gebraucht werden könnte und nicht direkt auf die Psychiatrie verweist: Schlaflosigkeit. Neben der Bezeichnung von Krankheitsformen (chorea, amentia), dem charakteristischen „sieht man“ (neben dem definitorischen und letztlich philosophischen „Man nennt“ oder „nennt man“) erscheinen die aus der Physiologie anverwandelten psychische Reizbarkeit und der Stimmungswechsel, wobei das psychisch hier klassifizierend gemeint ist. Die zum Teil früh begonnenen pragmatischen Regularisierungen von kindisches, launenhaftes oder verwirrte „Aufregungszustände“ setzt die schon bei Jacobi angelegte Tendenz fort, auf der Symptomebene eine Vielzahl von Zuständen anzunehmen. Bei der Darstellung einzelner Krankheitsformen (also nicht in ______________ 19
Suggestibilität ist ein Lexem, das Charcot verweist (s. Kap. 6.1.1).
320 der allgemeinen Ätiologie und Symptomologie) ist allerdings auch ein Wortschatz nachzuweisen, der stark an die Initialphase erinnert: Das Bewusstsein der Kranken ist meist ungetrübt. (ebd., 566), Das Handeln des Kranken pflegt bei den einfachen Formen der Melancholie regelmässig die Kennzeichen der Gebundenheit und Unfreiheit zu tragen. (ebd., 572) oder: Bei den ängstlichen Kranken tritt dem gegenüber mehr die Unruhe und Erregung in den Vordergrund. Die Kranken sind unfähig, ein geordnetes Gespräch zu führen oder sich zusammenhängend zu beschäftigen. (ebd., 573) oder von trüber Stimmung und schweren Gedanken wieder völlig beherrscht zu sein. (ebd., 577). Die Kranken werden freier in ihren Bewegungen, geordneter in ihren Handlungen, sind aber vollkommen stumpf, theilnahmslos, vermögen keinerlei oder doch nur sehr einfache Auskunft zu geben … (ebd., 458)
An diesen Beispielen wird deutlich, dass sich die sprachliche Produktivität vornehmlich auf die allgemeine und weniger auf die speziellere Psychiatrie bezieht, was auch an Nachfolgeveröffentlichungen sichtbar wird (s. u.). In unterschiedlichen Textteilen sind also unterschiedliche Adaptionsvorgänge nachweisbar. Die begrifflichen Alternativen, z. T. Synonyme, bleiben bei einzelnen Krankheitsformen im Gegensatz zum allgemeinen Teil erhalten. Ein bedeutender Unterschied zeigt sich in der generellen Zugangsweise dennoch: Zwar spricht Kraepelin noch davon, dass „öfters … ausgeprägte Ideenflucht“ (ebd., 443) vorliege, wobei er diese Feststellung nicht durch Beschreibungen stützt. Detaillierte Beschreibungen verschwinden zugunsten von Abstrakta. Auffällig ist der Gebrauch von generalisierenden Adjektiven: Statt genaue Positionen bei kataleptischen Zuständen zu beschreiben, wird bspw. von gezierter Haltung gesprochen (ebd., 435), ohne also die genaue Haltung anzugeben. Wie schon betont, wirkt die Darstellung einzelner Krankheitsformen wesentlich traditioneller als der erste Teil. Wie Lehrbücher in der Folge deutlich machen (z. B. Binswanger et al. 1904), bestehen hier Potentiale einer weiteren Ökonomisierung, Komprimierung und wissenssensitiven Prägung. In späteren Veröffentlichungen wird die Symptomebene auf die Indexikalität klinischer Beobachtung zurechtgeschnitten, und es finden sich kaum noch rhetorische Anzeichen (s. unten zu Sommer 1894 und Binswanger et al. 1904).
5.3.4
Psychiatrie als deutsche Wissenschaft?
Bevor ich die Unterschiede zwischen Kraepelins theoriegeleiteter Lehrbuchdarstellung und der eher rezeptartigen Vermittlung von Wissen bei Sommer (1894) und Binswanger et al. (1904) darstelle, möchte ich kurz auf ein weiteres interessantes Merkmal des Kraepelinschen Textes eingehen, das sich
321 durch den Vergleich mit vorherigen Ausgaben, besonders aber mit der nur 13 Jahre vorher veröffentlichten Erstausgabe von 1883 erschließt. Die fünfte Auflage stellt quantitativ eine erhebliche Erweiterung des Umfangs dar: 375 Seiten in der Erstausgabe; 815 Seiten in der fünften Ausgabe, also mehr als eine Verdoppelung der Seitenzahl in einem relativ kurzen Zeitraum. Während die „allgemeine Pathologie“ trotz der Erweiterungen noch eine ähnliche Struktur wie in der Erstausgabe besitzt, lässt sich die „spezielle Pathologie“ durch den erheblichen Zuwachs an Krankheitsformen und eine grundsätzliche Neuordnung und Klassifikation kaum miteinander vergleichen. In der fünften Auflage erscheinen wenige, allenfalls rudimentäre Krankengeschichten – allerdings nicht durchgängig zu den einzelnen Krankheitsformen –, während sie in der ersten Auflage nicht vorhanden sind. Die sprachlichen Veränderungen, v. a. in der „allgemeinen Pathologie“, weisen in eine interpretationsbedürftige Richtung: Sofern es sich nicht um Krankheitsbezeichnungen und medizinische Termini handelt, wird der fremdsprachliche Wortschatz zurückgedrängt. Mehr noch: Trotz der oben skizzierten Kennzeichen einer zunehmenden Professionalisierung macht der spätere Text den Eindruck, als sei in ihm ein Sprachreiniger am Werke gewesen – unabhängig davon, ob es sich um eher fach- oder bildungssprachliche Lexeme handelt. Zu den Veränderungen gehören nicht nur Verbindungen mit psychisch, die für die lexikalische Entwicklung charakteristisch sind (z. B. psychische Anomalien/Alienationen/Alterationen/Individualität/individueller Faktor), sondern auch die Zurückdrängung des nervenphysiologischen Vokabulars und eine erneute pragmatische Regularisierung (z. B. Gemütsaffekte/ Gemütsreaktionen/Gefühlsreaktion). Fast alle Fremdwörter, für die sich ein gemeinsprachliches Lexem leicht finden lässt, werden zurückgenommen, sofern erstere nicht einen terminologischen Status erlangt haben. Man kann diese Veränderungen in drei große Gruppen unterteilen: a) Man findet neben der Zurückdrängung der allgemeinen Wissenschaftssprache (z. B. different/intensiv/intellektuell/Kausalmomente/subjektiv/Paradigma) die Zurückdrängung von eingebürgerten Entlehnungen (z. B. Excesse/enorm/involvire/social/ ökonomisch/Individualität, individuell). 1883
1896
absolute Apathie (19), absurde Wahnideen (39), analog (24), analoge psychische Degenerationsformen (33), analoge (61),
völlige Apathie (20), unsinnige Wahnideen (52), verwandt (30), --- [psychische Erkrankung (44)], ähnliche (85),
Analyse (61),
Zergliederung (85),
322 Ernährungsanomalien in der Hirnrinde (23), Anomalien der Blutvertheilung (36), Verdauungsanomalien (37), Innervationsanomalien (65), charakterisirt (20), Charakterfestigkeit des Individuums (38), differente pathologische Prozesse (27), Differenzen (45), (57), (59), (63), direkt (16), direkt (20), direkt (23), direkt (24), direkt (38), direkt (63), indirekt (63), exakt (17), exakt (35), sexuelle Excesse (38), Excesse (44), (57), (59), (60), (63), „und – last, not least – die verderbliche Wirkung der Excesse in Baccho et Venere (Syphilis!).“ (55),
Experiment beiderseitiger Karotidenkompression (19), exponirten Manne (57), exponirt (60), Faktoren (47), Faktoren (50), intellektuelle Verarbeitung (39), intellektuelle Funktionen (52), intellektuelle Funktionen (57), intellektuelle und moralische Kraft des Einzelnen (59), intellektuelle Ausbildung des Kindes (65), Generationen (64), Gewaltakte (24), (42), Gouvernanten (59), Humanität (59), (66), Individuen (40),
[Giftwirkungen auf die Hirnrinde (29)] Störungen der allgemeinen Blutvertheilung (39), Verdauungsstörungen (49), Innervationsstörungen (90), ist gekennzeichnet (21), Willensfestigkeit des Menschen (51), verschiedenartige krankhafte Veränderungen (33), Unterschiede (61), (78), (79), (87), greifbar (16), --unmittelbar (28), unmittelbar (30), --unmittelbar (86), mittelbar (86), genau (16), sicher (47), geschlechtliche Ausschweifungen (50), Ausschweifungen (60), (78), (82), (87), „ganz besonders auch die verderbliche Wirkung der Ausschweifungen in Trunk und Liebe, nebst deren tückischer Begleiterin, der Syphilis.“ (75). Versuch beiderseitiger Karotidenkompression (17). gefährdeten Manne (78), ausgesetzt (84), Einflüsse (63), Eigenschaften (70), geistige Verarbeitung (52), höheren Geistestätigkeit (72), Ausbildung des Verstandes (78), geistige und moralische Kraft des Einzelnen (81), verstandesmässige Ausbildung des Kindes (92), Geschlechtsfolgen (88), Gewaltthaten (30), (56), Erzieherinnen (84), Menschenliebe (?), (82). Personen (53),
323 individueller Faktor (45), psychische Individualitäten (45), individuelle (50), Individuum (50), psychische Individualität (51), der weiblichen Individualität (57), individuellen Prädisposition (61), erblich belasteten Individuen (65), Individuums (65), Individualität (65), individuelle Entwicklung (66), involvirt (51), Pädagogik (65), intakt (16), Intelligenz (27), intensive (38), intensive (42), Intensität (59), Intensität (67), intensivsten (63), konstruirt (38), kontingent (59), korrigirend (66), Kultur (58), lokalisirt (16), lokalisirte mechanische Einwirkungen (17), lokale Erkrankungen (43), Mechanismus (44), parallel geht (47), partielle (19), permanenter (36), Phänomene (50), Race (58), Reaktion (45), relativ (57), repräsentiert (19), repräsentierte (20), rigorose Strenge und Pedanterie (66), Selbstmordfrequenz (58), sexuelle (39), sexuelle Befriedigung (39), Situation (49), socialen und ökonomischen Unabhängig-
persönliche Eigenart (60), psychischen Persönlichkeiten (61), persönliche (70), Personen (70), psychische Persönlichkeit (71), der weiblichen Natur (78), persönlichen Anlage (85), erblich belasteten Personen (90), Personen (90), Persönlichkeit (90), persönliche Entwicklung (92), in sich schliesst (72), Erziehung (85), unbeeinflusst (16), Verstandes (33), starke (51), --Wirksamkeit (83), Art und Stärke (87), stärksten (86), aufgebaut (50), Beitrag (82), bessernd (92), allgemeine Lebensverhältnisse (81), ihren Sitz haben (16), durch örtlichen Druck entstehende (17), örtliche Erkrankungen (59). Wirkungsweise (59), vergesellschaftet (63), unbegrenzte (19), dauernder (49), Vorgänge (71), Volkscharakter (79), Verarbeitung (61), verhältnismässig (78), gegeben (17), erzeugten (21), übermässige Strenge und Peinlichkeit (92), Selbstmordhäufigkeit (81), geschlechtlich (52), natürlicher Geschlechtsverkehr (51), Lebenslage (65), gesellschaftlichen und
324 keit (57), die socialen und klimatischen Unterschiede (58), socialen Individuums (65), spezielle (28), stationär (20), statistische Methode (35), subjektives Ermessen (36), sucessive (64), tabula rasa (50), unkompensirten Klappenfehlern (37), unmotivirter triebartiger Geschäftigkeit (28), Vagabunden (59), Zwischenkategorie (44),
wirthschaftlichen Unabhängigkeit (78), Verschiedenheiten in den äusseren Lebensbedingungen (79), des Einzelnen (92), schwierige (38), unverändert (21), durch grosse Zahlen (47), persönliches Ermessen (47), nach einander (88), leeres Blatt (71), unausgeglichenen Klappenfehlern (48), triebartiger Geschäftigkeit (33), Landstreicher (83), Zwischengruppe (59).
b) Daneben erscheint die Zurückdrängung der allgemein-medizinischen Terminologie (z. B. Konvexität/Disposition/Ovaluation/Gravidität/Pathogenese), vgl.: akute Volumsvermehrung des Schädelinhalts (19), akute Hirnlähmung (19), akute … psychische Erkrankung (20), in Alcoholicis (60), Alterationen der Cirkulation (16), psychische Alterationen (21), Bewusstseinsalterationen (51), elementare Alterationen des Vorstellungsablaufes (52), psychische Alterationen (57), Anämie (18), Anämisierung der Hirnrinde (19). ätiologisch (22), bekannten ätiologischen Beziehungen (21), ätiologische Moment (25), in ätiologischer Beziehung (29),
rasche Vermehrung des Schädelinhalts (19), rasche Hirnlähmung (20), anderweitige psychische Erkrankung (20), im Trunke (84), Störungen der Blutverteilung(16), Seelenstörungen (23), psychische Veränderungen (72), --psychische Erkrankungen (79), Blutleere (18), Erstickung der Hirnrinde (19), ursächlich (25), bekannten Beziehungen (24),
ätiologischen Kategorie von Geistesstörungen (41),
ursächlichen Bedingungen (31), in ursächlicher und klinischer Beziehung (38), jene Gruppe von Geistesstörungen (56),
Aetiologie (44),
Entstehung (60),
325 ätiologische und symptomatische Gruppen des Irreseins (55), ätiologischen Faktoren (61), Ascendenten (64) aktive Hyperämie (17), aktive Hyperämien (36), apolektische Zufälle (28), Apolexien (63), Blutcirkulation (18), Blutcirkulation (36), Cirkulationsstörungen (43), Veränderungen der Cirkulation (44), Cirkulationsstörungen (47), fluxionäre Hyperämie (17), febrile Temperatursteigerungen (51), Genitalien (43), Genitalapparat (57), Gravidität (43), (65), hereditärer Verhältnisse (62), hereditären Kausalzusammenhang (62), hereditären Einflüsse (63), (65), Palpitationen (36), komplicirter (35), komplicirten (50), Komplikation (58), Konvexität (17), (27), Laktation (26), (41), (57), Obliteration ihres Lumens (28), Organisation (50), Organisation (51), Organisation (61). Pathogenese (23), pathologische Alteration der Genitalorgane (37), pathologische Zustände (38), pathologische Grade (41), Pathogenese (42), Pathogenese des Irreseins (44), pathologische Störung des psychischen Lebens (47), Pathogenese psychischer Krankheiten (62), physischen (55), (57), Prädisposition (20), disponirten Personen (36), Prädisposition (45),
verschiedenartiger Formen des Irreseins (75), Krankheitsursachen (85), Vorfahren (88), Blutüberfüllung (17), gelegentliche Blutwallungen (36), schlagartige Zufälle (33), Schlaganfälle (87), Kreislaufgeschwindigkeit (18), Blutkreislauf (36), Kreislaufänderungen (57), Blutkreislaufes (60), Kreislaufstörungen (63), Blutüberfüllung des Schädelinhalts (17), fieberhafte Temperatursteigerungen (72), Geschlechtsorgane (59), Geschlechtsleben (78), Schwangerschaft (59), (85), Erblichkeitsverhältnisse (86), ererbten Zusammenhang (86), krankhafte Einflüsse (87), Herzklopfen (48), verwickelter (47), verwickelten (71), grossen Schwierigkeit (79), Hirnoberfläche (17), (33), Säugegeschäft (32), (56), (78), Verschlusse der Hirnarterien (33) Veranlagung (70), Anlage (71), Veranlagung (85), Entstehung (28), krankhafte Vorgängen in den Geschlechtsorganen (50), Krankheitszustände (50), krankhafte Grade (53), Entstehung (57), Entstehung des Irreseins (60), krankhafte Störung des Seelenlebens (63), Einflusse der Erblichkeit (85). körperlichen (57), (78). Disposition (21), veranlagten Personen (36), krankhaften Anlage (61),
326 prädisponirende Wirkung (48), Disposition (50), Disposition (52), Disposition (55), Prädisposition (57), prädisponirenden Einfluss von Race und Nationalität (58), psychopathische Disposition (65), Laktationsperiode (43), Prodromalstadium (23), für das Prodromalstadium die Symptome (24), Pubertäts- und Involutionsperiode (37), Puerperiums (41), (43), Puerpera (42), respiratorischen Oberfläche (36), sekretorische Fläche (37), somatischen Ursachen (16), somatischen Faktoren (47), somatischen Widerstandsfähigkeit (50), Symptome (17), Symptome (20), (28), Symptome (62), Symptomenkomplex (19),
Symptomenkomplex (28), Symptomenkomplex (64), symptomatischer Ausdruck (60), Trauma (19), traumatische Einwirkungen (20), Traumen (66), unkompensirten Klappenfehlern (37), venöse Stauungen (18), Verdauungstraktus (36), vikariierenden Eintretens (16),
krankmachende Wirkung (64), Anlagen (70), Neigung (71), Verletzlichkeit (75), Veranlagung (78), Frage der Neigung der einzelnen Volksstämme (79), psychopathische Veranlagung (90), Lactationszeit (59), Vorläuferstadium (28), einleitende Symptome (30), Entwicklungs- und Rückbildungszeit (50), Wochenbett (56), (59), Wöchnerin (57), Atmungsfläche (47), ausscheidende Fläche (50), körperlichen Ursachen (16), körperlichen Einflüsse (63), körperlichen Widerstandsfähigkeit (70), Krankheitszeichen (17), Anzeichen (21), (38), Störungen (82), verschiedenartigsten Formen aus den Zeichen der Reizung und Lähmung (20), das ganze Krankheitsbild (33), Erkrankung (89), klinischer Ausdruck (84), schwere Kopfverletzungen (20), schwere Kopfverletzungen (20), Verletzungen (92), unausgeglichenen Klappenfehlern (48), Stauungen (18), Verdauungswerkzeuge (48), weitgehenden Stellvertretung gesunder Rindenpartien (16).
c) Die Zurückdrängung des auf bestimmte psychiatrische Diskurse verweisenden fremdsprachlichen Wortschatzes (z. B. Affekt, Degeneration, psychopathisch, Labilität, manikalisch, Descendenten, Apathie) und partiell auch die Zurückdrängung der auf Verfremdungseffekte der Philosophie beruhenden Verbindungen und anderer lexikalischer Demarkationslinien (z. B. intellektuelle Funktionen, psychische Organisation, Re-
327 produktionsfähigkeit, Elasticität der kindlichen Konstitution) ist auch wahrnehmbar, vgl.: Abnormitäten (62), körperliche Abnormitäten (64), Affekte (19), Affektionen (20), Affekte (28), Affekte (44), Affekte (46), [Teilüberschrift] chronischen depressiven Affekte (47), Störungen des affektiven Lebens (52), chronisch (19), (20), (24), chronischen depressiven Affekte (47). cumulative Vererbung (63), Kumulation (48), ähnliche Degenerationszustände (34),
degenerirten Geschlechtes (63), progressive erbliche Degeneration (63), depravirenden Einfluss (38), sittliche Depravation (63), depravirend (66), Descendenz (63), (64), (65), Elasticität der kindlichen Konstitution (51), epileptische Insulte (28), epileptiforme Insulten (35), Funktionen (16), psychische Funktionen (19), psychische Funktionen (36), sexuelle Funktionen (38), psychische Funktionen (44), intellektuelle Verarbeitung (39), intellektuelle Funktionen (52), intellektuelle Funktionen (57), intellektuelle und moralische Kraft des Einzelnen (59), intellektuelle Ausbildung des Kindes (65), gemüthliche Torpidität (19),
Abweichungen (86), Abweichungen (88), Gemüthsbewegungen (18), Leiden (23), Gemüthsbewegungen (33), Gemüthsbewegungen (60), Gemüthsbewegungen (61), dauernden depressiven Gemütsbewegungen (63), gemüthliche Schwankungen (72), dauernd (19), (20), (27), dauernden depressiven Gemüthsbewegungen (63), gehäufte Vererbung (86), erst allmählich sich ausbildenden Zustandsveränderungen (64), hochgradigster Abschwächung der gesamten psychischen Leistungs- und Widerstandsfähigkeit (44), entarteten Geschlechtes (87), fortschreitende erbliche Entartung (87), entsittlichenden Einfluss (51), sittliche Unfähigkeit (87), untergrabend (92), Nachfahren (88), (89), Spannkraft der kindlichen Konstitution (72), epileptische Anfälle (33), epileptiforme Krämpfen (47), Leistungen (17), psychische Verrichtungen (19), psychische Vorgänge (47), sexuelle Vorgänge (50), psychische Leistungen (59), geistige Verarbeitung (52), höheren Geistestätigkeit (72), Ausbildung des Verstandes (78), geistige und moralische Kraft des Einzelnen (81), verstandesmässige Ausbildung des Kindes (92), weinerliches, verdriessliches
328 Generationen (64), progressiver Blödsinn (20), Psychosen (48), Impressionabilität (51), psychische Impressionabilität (59), Jaktation (18), Kritiklosigkeit (65), melancholische Verstimmung (24), melancholischen und maniakalischen Aufregungszuständen (27), maniakalische und melancholische Zustände mit Selbstmordneigung (28), verwirrten maniakalischen oder melancholischen Aufregungszuständen (35), melancholische Depression (39), melancholische Verstimmung (42), maniakalische Erregung (52), neuropathischer Disposition (62), nervöse Centralorgane (24), nervösen Organismus (38), Nostalgie (47), progressiver Blödsinn (20), progressive Abnahme (39), progressive erbliche Degeneration (63), psychische Alienation (22), psychische Alienation (23), Psychopathologie (31), psychopathisches Gesamtresultat (44), psychopathische Krankheitsbilder (53), Reproduktionsfähigkeit (50), reizbare Schwäche (17),
erhöhte psychische Reizbarkeit (20), Zustand erhöhter Reizbarkeit (20), Unfähigkeit zu intellektueller Erfassung (19),
Wesen (20), Geschlechtsfolgen (88), fortschreitender Blödsinn (21), Irresein (64), Empfänglichkeit (71), gemüthliche Empfänglichkeit (83), Unruhe (17), Urtheilslosigkeit (92), traurige Verstimmung (30), depressiven und expansiven Aufregungszuständen (33), psychische Depression mit Selbstmordneigung, seltener Aufregungszustände (38), verwirrten expansiven oder depressiven Aufregungszuständen mit Sinnestäuschungen (46), depressive Verstimmung (52), psychische Depression (56), expansive Erregung (72), Erscheinungsformen krankhafter Veranlagung (86), Hirnrinde (30), Nervensystems (50), Heimweh (63), fortschreitender Blödsinn (20), fortschreitende Abnahme (51), fortschreitende erbliche Entartung (87), Formen des Irreseins (25), psychischer Störung (28), welche im Stande sind, Geistesstörungen zu erzeugen (38), krankhaftes Gesamtergebnisses (60), --- [Krankheitsbilder (73)], Erinnerungsfähigkeit (71), Herabsetzung der psychischen Leistungs- und Widerstandsfähigkeit (17), verminderte psychische Widerstandsfähigkeit (20), verminderter Widerstandsfähigkeit (20), Erschwerung der Auffassung (20),
329 der intellektuellen Funktionen (28), intellektuellen Verarbeitung (39), intellektuellen Operationen (44).
Verstandesleistungen (38), geistiger Verarbeitung (51), ---
Die Ersetzungen betreffen alle fremdsprachlich infiltrierten Wortschatzbereiche. Sie werden bei einzelnen Lexemen konsequent durchgeführt (z. B. bei Individuen, Symptome, Intellektualität oder auch Blutzirkulation). Die Möglichkeit eines so systematischen Eingriffes zeigt, dass die im psychiatrischen Wortschatz angelegten Synonyme unterschiedlich aktualisiert werden. Sie zeigt – vor jeder eindeutigen Interpretation – auch, dass in der psychiatrischen Sprache, selbst zu einem relativ späten Zeitpunkt der Professionalisierung, die Rücknahme des schon Erreichten möglich erscheint. Die Existenz von (Quasi)Synonymen wurde in der Fachsprachenforschung zumeist im Sinne einer Kontextanpassung gedeutet, die v. a. die Kommunikation zwischen Experten und Laien ermöglicht. Die flexible Handhabung von Traditionsbeständen besitzt einen „Mehrwert“, was nicht, denn auch dies machen die Ersetzungen Kraepelins deutlich (z. B. bei der reflektierteren Verwendung des Kausalitätsbegriffes), im Gegensatz zu Formen der sprachlichen Professionalisierung steht, da es manche Lexeme und Lexemverbindungen gibt, die ab einem bestimmten Zeitpunkt nicht mehr verwendet werden können. Außerdem berühren die „sprachpuristischen“ Bemühungen trotz des systematischen Zugriffs nur bestimmte Wortschatzsegmente, während bspw. die Terminologisierung von Krankheitsbezeichnungen und Symptomen vorangetrieben wird. Die Rückübertragungen kontextualisieren m. E. nun einen Diskurs, der im Lehrbuch Kraepelins stark auftritt: die Rolle der Psychiatrie bei der Aufrechterhaltung, Stärkung und Gesundung des Volkskörpers, wie sie auf der einen Seite im vehementen Kampf gegen den Alkoholismus und ein bestimmtes soziales, nämlich kriminelles Milieu und auf der anderen Seite durch die immer stärkere Zuwendung zur Heredität psychischer Erkrankungen sichtbar wird. Dabei bereiten Kraepelin und andere die Nationalisierung der Disziplin – trotz aller gegenläufigen und innovativen Tendenzen – vor, die ihren bis dahin stärksten Ausdruck nach dem Ersten Weltkrieg findet und rassehygienische und völkische Denkweisen salonfähig macht (vgl. Kap. 2.1.2, Kap. 6.). Allerdings muss auch hervorgehoben werden, dass der Purismus Kraepelins selbst eine bestimmte Richtung in der Psychiatrie markiert und dass andere zeitgleiche oder spätere Lehrbücher durchaus weiterhin zur Nivellierung des eigenen Ursprungs und zur Weiterführung eines fremdwörterlastigen Vokabulars beitragen (wie Binswanger et al. 1904). Während wir also auf der einen Seite sehen, dass das Finden eigener textlicher Aneignungsformen, die Durchsetzung bestimmter Standards intersubjektiver Vermittlung und der Aufbau eines eigenen Diskurs-
330 universums sowie der Aufbau sprachlicher Demarkationslinien und das Schaffen einer eigenen Kontextumgebung von Wichtigkeit sind, zeigt sich bei Kraepelin die Möglichkeit der Anpassung und Durchstrukturierung des Vokabulars als seismografisches Reagieren auf andere kulturelle Strömungen, die die Vorstellung der Psychiatrie als deutsche Wissenschaft begünstigen. Es bedürfte an dieser Stelle einer eingehenderen Recherche, inwieweit Kraepelin Kenntnis von den Sprachreinigungsbemühungen hatte oder ob umgekehrt von der Psychiatrie selbst initiativ Sprachreinigungsbemühungen in Gang gesetzt worden sind. Als gesichert kann jedoch gelten, dass Kraepelin, wie viele seiner Schüler und Biographen betonen, eine nationale Einstellung hatte und stolz auf die Errungenschaften der deutschen Psychiatrie war, die er für die weltweit beste hielt: „Kraepelin war ein leidenschaftlicher Patriot. Die Kraft und Zähigkeit seines Willens traten vielleicht niemals so deutlich zutage wie in den letzten Kriegsjahren, als er mit Gleichgesinnten alle Hebel in Bewegung setzte, um den Kampf- und Siegeswillen bei Volk und Regierung zu stärken.“ (Gaupp, zit. n. Güse 1974, 179). Die nationale Komponente wird auch von Avenarius (1979, 62–73) und Schneider (1956, 1–7) hervorgehoben. Die Ersetzung und die partielle Zurücknahme lexikalischer Demarkationslinien sind allerdings nicht im jeden Fall (sprach)ideologisch zu deuten, da sie, wie die folgende Aufstellung der Belege zeigen soll, auch fachlich motiviert sind, und z. T. zu einer größeren fachlichen Präzisierung und Bedeutungsverengung beitragen, vgl. die folgenden Fälle:
ätiologischen Kategorie von Geistesstörungen (41),
ursächlich (25), bekannten Beziehungen (24), ursächlichen Bedingungen (31), in ursächlicher und klinischer Beziehung (38), jene Gruppe von Geistesstörungen (56),
Aetiologie (44), ätiologische und symptomatische Gruppen des Irreseins (55), ätiologischen Faktoren (61), Funktionen (16), psychische Funktionen (19), psychische Funktionen (36), sexuelle Funktionen (38), psychische Funktionen (44), intellektuelle Verarbeitung (39), intellektuelle Funktionen (52), intellektuelle Funktionen (57), intellektuelle und moralische Kraft des
Entstehung (60), verschiedenartiger Formen des Irreseins (75), Krankheitsursachen (85), Leistungen (17), psychische Verrichtungen (19), psychische Vorgänge (47), sexuelle Vorgänge (50), psychische Leistungen (59), geistige Verarbeitung (52), höheren Geistestätigkeit (72), Ausbildung des Verstandes (78), geistige und moralische Kraft des
ätiologisch (22), bekannten ätiologischen Beziehungen (21), ätiologische Moment (25), in ätiologischer Beziehung (29),
331 Einzelnen (59), intellektuelle Ausbildung des Kindes (65), melancholische Verstimmung (24), melancholischen und maniakalischen Aufregungszuständen (27), maniakalische und melancholische Zustände mit Selbstmordneigung (28), verwirrten maniakalischen oder melancholischen Aufregungszuständen (35), melancholische Depression (39), melancholische Verstimmung (42), maniakalische Erregung (52), Pathogenese (23), pathologische Alteration der Genitalorgane (37), pathologische Zustände (38), pathologische Grade (41), Pathogenese (42), Pathogenese des Irreseins (44), pathologische Störung des psychischen Lebens (47), Pathogenese psychischer Krankheiten (62), Prädisposition (20), disponirten Personen (36), Prädisposition (45), prädisponirende Wirkung (48), Disposition (50), Disposition (52), Disposition (55), Prädisposition (57), prädisponirenden Einfluss von Race und Nationalität (58), psychopathische Disposition (65), Symptome (17), Symptome (20), (28), Symptome (62), Symptomenkomplex (19),
Symptomenkomplex (28), Symptomenkomplex (64), symptomatischer Ausdruck (60).
Einzelnen (81), verstandesmässige Ausbildung des Kindes (92), traurige Verstimmung (30), depressiven und expansiven Aufregungszuständen (33), psychische Depression mit Selbstmordneigung, seltener Aufregungszustände (38), verwirrten expansiven oder depressiven Aufregungszuständen mit Sinnestäuschungen (46), depressive Verstimmung (52), psychische Depression (56), expansive Erregung (72), Entstehung (28), krankhafte Vorgängen in den Geschlechtsorganen (50), Krankheitszustände (50), krankhafte Grade (53), Entstehung (57), Entstehung des Irreseins (60), krankhafte Störung des Seelenlebens (63), Einflusse der Erblichkeit (85), Disposition (21), veranlagten Personen (36), krankhaften Anlage (61), krankmachende Wirkung (64), Anlagen (70), Neigung (71), Verletztlichkeit (75), Veranlagung (78), Frage der Neigung der einzelnen Volksstämme (79), psychopathische Anlage (87), Krankheitszeichen (17), Anzeichen (21), (38), Störungen (82), verschiedenartigsten Formen aus den Zeichen der Reizung und Lähmung (20), das ganze Krankheitsbild (33), Erkrankung (89), klinischer Ausdruck (84).
332 An diesen Ersetzungen werden folgende Richtungen sprachlicher Professionalisierung sichtbar: – die metaphorische Übertragung von bspw. Funktionen vom physischen auch den psychischen Bereich, die in den vorherigen Kapiteln als lexikalische Demarkationslinie gedeutet worden ist, wird präzisiert (ähnliches gilt für Disposition oder Symptome); – die alten Krankheitsbezeichnungen Melancholie und Manie werden durch weniger konnotathaltige, kulturell aufgeladene Begriffe (besonders expansiv statt manisch/maniakalisch) ersetzt und – medizinische Kernbegriffe wie Pathogenese werden nur dort eingesetzt, wo ihre Verwendung berechtigt ist. Das Lehrbuch von Kraepelin (in der fünften Auflage von 1896) ist insgesamt durch Kontinuität und durch Erneuerung geprägt: Der Aufbau des Buches bricht mit der bis dahin etablierten Lehrbuchtradition. Die Ambitionen der Psychiatrie, als wissenschaftliche Disziplin zu gelten, werden durch die Gliederung des Buches unterstrichen. Anders als herkömmlich setzt das Buch bei einer Ursachenlehre an, bei der eine Kausalität zwischen körperlicher und psychischer Erkrankung und den entsprechenden Symptomen in unterschiedlichen Krankheiten angenommen wird. Die angenommene Kausalität, also das regelhafte Eintreten bestimmter Krankheitszeichen, kann nicht überall überzeugen, da die medizinische Forschung, worauf Kraepelin im Einzelnen hinweist, Leerstellen aufweist. In seinem Lehrbuch tauchen sprachliche Handlungen wie das Definieren und das Festlegen von Begriffen – oft in Auseinandersetzung mit anderen Autoren – auf. Während bei Griesinger das Erzählen zugunsten des Beschreibens zurückgedrängt wird, markiert die Veröffentlichung von Kraepelin einen weiteren Schritt. Die Orientierung am Typischen verdrängt Fallbeispiele und der Versuch des Erklärens dominiert. Entscheidend sind vom Individuum relativ unabhängige Kausalverhältnisse oder, wo diese fehlen, Symptome, die mit einer gewissen Regelmäßigkeit erscheinen, so dass Krankheitsbilder auf bestimmte Merkmale festgelegt werden. Bei Kraepelin erscheinen die Kranken vornehmlich als Gruppe, wobei ihn von Griesinger unterscheidet, dass der Umschwung von bürgerlicher Unversehrtheit in Erkrankung keinen sprachlich adäquaten Ausdruck mehr findet. Kraepelin schreibt für Experten bzw. für die Ausbildung späterer Experten, die mit den häufig genannten klinischen Erscheinungsbildern zureichend vertraut sind, insofern fehlt eine Reihe von induktiven Verfahren, die für frühere Lehrbücher charakteristisch ist. Durch diese Orientierung wird die beobachtungssensitive Vagheit charakteristischer Formulierungen durch eine indexikalisch-wissenssensitive Betrachtungsweise abgelöst, bei der von der zureichenden Kenntnis des sich 1870 herausbildenden Spezialdiskurses ausgegangen wird. Der Wahrnehmungsbereich der Klinik ist nicht mehr als
333 Erfahrungsraum für Einzelschicksale präsent, sondern nur als Arbeitshintergrund des Auszubildenden. Wenn historische Verweise auftreten, sind sie häufig markiert: „… in welchen sich uns die fast unabsehbare Mannigfaltigkeit der psychischen Persönlichkeiten, der ‚Naturen‘, ‚Charaktere‘ und ‚Temperamente‘ ausdrückt!“ (ebd., 61). Alte Krankheitsbilder tauchen nicht mehr auf, z. B. die Hypochondrie hat sich gänzlich überlebt. Man findet sie nur noch mit einem „Assoziationshof“ gemeinsprachlicher Bedeutungen: „Vielfach beobachtet man, besonders in der ersten Zeit, hypochondrische Klagen, Selbstvorwürfe, Befürchtungen für die Zukunft, auch wol vorübergehende Verfolgungs- und Größenideen.“ (ebd., 427). Das Verfahren, sich an „klinischen Krankheitsbildern“ zu orientieren und nicht mehr einzelne Fälle zu generalisieren und so in die Lehrbuchtextur einzubetten, bringt es mit sich, dass das lexikalische Material erneut einer Umgestaltung unterliegt, mit folgenden Kennzeichen: a) Metaphern, die für Initialdiskurs und darauf folgende Ausbauphase charakteristisch sind, begegnen als monosemierte Fachbegriffe. b) Aus der philosophischen Anthropologie stammende Basisdichotomien, obwohl durch die Rückübersetzung sprachlich z. T. identisch, sind hinsichtlich ihres Ursprungs weitgehend unkenntlich geworden; die philosophische Vermögenslehre ist durch die für Menschen charakteristische Leistungs- und Widerstandsfähigkeit adaptiert und reorganisiert. c) Nahezu durchgängig sind Pluralbildungen zu finden, die die Heterogenität von Erscheinungsbildern sprachlich bündeln und in die alte Kernbegriffe wie Angst, Verwirrtheit oder Delirium eingehen. Neu ist bei Kraepelin Folgendes: Es finden sich einige Begriffe, die vorher nicht oder in einer anderen Gebrauchsvariante auftreten (z. B. expansiv). Gleichzeitig kann man eine weitere Phase der Nutzung gemeinsprachlichen Vokabulars feststellen, mit entsprechenden Wortbildungsmustern und Suffigierungen, so cretinistisch oder kindisch. Bei Kraepelin werden die früheren Bezugsdisziplinen der Psychiatrie kaum noch erkennbar, obwohl sie sprachlich noch vorhanden sind. Durch die Art der Verwendung früherer Kernbegriffe setzen sie nicht mehr entsprechende Kontexte und Wissen voraus; intertextuelle Verweise auf andere Diskurse sind also nicht mehr vorhanden. Die gelungene Loslösung von der Philosophie zeigt sich an dem nahezu vollständigen Verschwinden der auf die Aufklärungsphilosophie zurückgehenden phraseologischen Termini. Man könnte ggfs. davon sprechen, dass die entsprechenden Termini – denn um solche handelt es sich jetzt – nicht mehr primär, sondern nur noch sekundär zu motivieren sind, nämlich aus dem begrifflichen Rahmen der Psychiatrie heraus. Daneben zeigt sich jedoch auch, dass die Psychiatrie kein Schattendasein mehr führen möchte und selbstbewusst eine staatstragende Rolle beansprucht. Dies hat zur Folge, dass sie nun selbst Topoi hervorbringt, die den
334 öffentlichen Diskurs prägen bzw. mit eben diesem in einem engen Zusammenhang stehen (vgl. Kap. 6.).
5.3.5
Das Verschwinden des Kranken: Andere Lehrbücher im Vergleich zu Kraepelin
Wie Kraepelin einzuordnen ist, wird daran deutlich, wenn man ihn in die gängige Lehrbuchtradition einzureihen versucht. Ich ziehe hier Sommer (1894) und Binswanger et al. (1904) heran. Obwohl es sich bei Sommers Werk eher um eine Diagnostik als um ein Lehrbuch handelt, wird es thematisiert, weil er die Gießener Universitätsklinik 20 jahrelang geleitet und auch in den im letzten Teil der Arbeit ausgewerteten Krankenakten in ihrer Struktur bestimmt hat (Kap. 6.2). Das Lehrbuch von Binswanger versammelt einige für die Jahrhundertwende maßgebliche und prominente Universitätspsychiater. 21 Die Herausgabe eines Lehrbuchs durch sechs wirkungsmächtige Psychiater wäre in der Initialphase undenkbar und deutet allein schon auf die intersubjektive Relevanz des Ausgeführten und vom Individualstil gelöste Schreibpraxis hin. Anhand dieser Veröffentlichungen lässt sich zwar zeigen, dass die skizzierten sprachlichen Erscheinungen nicht nur typisch für Kraepelin sind, sondern auch Prozesse von intersubjektiver Relevanz wirksam werden. Jedoch gibt es auch beträchtliche Unterschiede, die dadurch bedingt sind, dass im Vordergrund von Kraepelin ein theoriegeleiteter Wissensaufbau steht. Sommer und Binswanger et al. orientieren sich stark am klinischen Handeln und seinen Abläufen. Die unterschiedliche Orientierung schlägt sich auch textstrukturell nieder. Zunächst ziehe ich die spätere Veröffentlichung von Binswanger et al. (1904) heran. Auch diese Autoren trennen zwischen allgemeiner und spezieller Psychiatrie. Man könnte wohl die Entwicklungen innerhalb der Psychiatrie auch daran festmachen, dass die „psychischen Ursachen“ in der allgemeinen Psychiatrie, die bei Griesinger und selbst bei Kraepelin noch großen Raum einnehmen, bei diesen Verfassern (zuständig für die allgemeine Psychiatrie ist Otto Binswanger) gerade mal eine dreiviertel Seite einnehmen. Bins______________ 20
21
Die Geschichte der Universitätspsychiatrie Gießen ist von Jakobi/Chroust/ Hamann (1989) und Chroust (1994) gut dokumentiert worden. O. Binswanger – Professor der Psychiatrie, Leiter der psychiatrischen Klinik in Jena, E. Siemerling – Professor der Psychiatrie, Leiter der psychiatrischen Klinik in Kiel, A. Cramer – Professor der Psychiatrie, Leiter der psychiatrischen Klinik in Göttingen, A. Westphal – Professor der Psychiatrie, Leiter der psychiatrischen Klinik in Greifswald, A. Hoche – Professor der Psychiatrie, Leiter der psychiatrischen Klinik in Freiburg i. Br., R. Wollenberg – Professor der Psychiatrie, Leiter der psychiatrischen Klinik in Tübingen.
335 wanger et al. argumentieren konsequent von der Hirnanatomie aus: „die psychischen Krankheiten sind Allgemeinerkrankungen der Großhirnrinde“ (ebd., 1); gleichzeitig wird hier immer wieder auf biochemische Prozesse verwiesen. Der mögliche Vorteil eines Autorenkollektivs zeigt sich daran, dass die Kapitel zu den speziellen Krankheitsformen einen ähnlichen Aufbau besitzen und somit eine feste Orientierung und subthematische Gliederung vorgeben. Sie gliedern ihre Kapitel in: „Begriffsbestimmung“, „Symptomologie und Verlauf“, „Prognose und Ausgänge“, „Ätiologie“, „(Differential)diagnose“ und „Therapie“, gleichzeitig folgt ein Verzeichnis der relevanten Sekundärliteratur. Das gesamte Lehrbuch mit seinen 341 Seiten ist wesentlicher kürzer als die entsprechende Veröffentlichung von Kraepelin. Die Thematisierung einzelner Krankheitsformen nimmt selten mehr als zehn Seiten in Anspruch, obwohl relativ viele Stichpunkte abgearbeitet werden. Griesingers und Kraepelins Lehrbücher besitzen eine unaufwendige Gestaltung des Layouts, während bei Binswanger et al. mit diversen Mitteln der Hervorhebung gearbeitet wird. Auffällig sind v. a. die Vielzahl von Gliederungsebenen und Untergliederungen in den einzelnen Teilkapiteln, die Nutzung unterschiedlicher Schriftgrößen zur Hierarchisierung der Information und grafische Mittel wie Kapitälchen, Sperrung (gerade bei der Wiedergabe von Hauptsymptomen) oder Fettdruck. Infolgedessen – anders als bei den Vorgängen – kann sich der Rezipient leicht im Text orientieren und die relevanten Informationen sichten. Der wesentlich geringere Umfang des Textes ist ein Indikator dafür, dass die Art der sprachlichen Präsentation anders als in den vorherigen Veröffentlichungen ausfällt. Fallschilderungen fehlen gänzlich. Auf Patienten und ihr Handeln wird allenfalls illustrierend, und dann nicht geschlossen, sondern nur auf situationsenthobene Einzeläußerungen oder -handlungen, Bezug genommen. Der Kranke verschwindet und wird Träger von Krankheitszuständen, z. B. hier: „Illusionen und Halluzinationen sind in der Mehrzahl der Dämmerzustände vorhanden. Meist sind es zusammenhanglose, in raschem Wechsel auftauchende und wieder verschwindende Visionen und Akoasmen mit lebhafter Affektbetonung.“ (ebd., 15) oder „Die reinsten Formen des primären Stupors bieten die langsam sich entwickelnden zerebralen Erschöpfungszustände (sogenannter Erschöpfungsstupor) dar.“ (ebd., 21). Im Gegensatz zu Kraepelin – geradezu im radikalen Gegensatz zu ihm – wird unabhängig vom jeweiligen Autor von Fremdwörtern gerade exzessiv Gebrauch gemacht. Diese Tendenz – hier sei eine sprachkritische Bemerkung erlaubt – hat bisweilen einen absurden Charakter, bspw. die imperativen Phänomene im folgenden Zitat: Praktisch am bedeutungsvollsten sind die ganz plötzlichen und unvermittelten impulsiven Handlungen der Kranken, welche an imperativen Phonemen leiden. Ein chronischer Halluzinant hackte sich eines Tages im Holzstalle, in welchem er seit
336 Jahren ohne jede Störung beschäftigt war, das Endglied des kleinen Fingers der linken Hand ab. Lächelnd gab er an, daß ihm eine Stimme dies befohlen habe. Aber auch Hemmungen der psychomotorischen Aktion (wochen- und monatelang dauernde Zwangsstellungen des Körpers) können durch Halluzinationen bedingt sein. (ebd., 12)
Der Eindruck der Verdichtung ergibt sich nicht nur durch das Fehlen von Fallschilderungen, das Fehlen des Patientensubjekts und die Verwendung von Fremdwörtern, sondern v. a. durch den durchgängigen Gebrauch von Nominalisierungen (vgl. Kap. 5.2). Neben den schon thematisierten werden insbesondere die Kompositabildung zur Subklassifikation von Phänomenen gebraucht: So unterscheiden sie Agoraphobie, Claustrophobie, Mysophobie, Erythrophobie (ebd., 27f.), unterteilen ebenfalls Halluzinationen in: Gehörshalluzinationen, Geruchs- und Geschmackshalluzinationen, kineästhetische Halluzinationen, zusammengesetzte Halluzinationen, vermittelte oder begleitende Halluzinationen, halluzinatorischer Stupor, halluzinatorische Zwangsbewegungen, halluzinatorische Delirien (ebd., 7ff.). Das Lehrbuch wird von Formen sprachlicher Ökonomie diktiert. Statt, wie unten noch zu sehen sein wird, besondere Empfindungen mit charakterisierenden und qualifizierenden Adjektiven zu versehen, wird über jegliche Form der Abweichung ein Begriffspaar gelegt, das die frühere Beschreibung zu einer z. T. asyndetischen Reihung von Symptomen führt, die auch bei den Symptomen jeweils nur das Typische fokussiert. Der auszubildende Psychiater bekommt dadurch – relativ breit gefächert – ein Vokabular an die Hand, an dem sich jede Patientenäußerung und jede Handlung klassifizieren lässt. Parallel zu dieser Entwicklung erstrecken sich die Begriffsbestimmungen, die sich bei Griesinger und in den thematisierten Ausgaben von Kraepelin noch primär auf die Krankheitsbezeichnungen beziehen, nun auch auf die Symptome, vgl. dazu: „Als Halluzinationen bezeichnen wir Sinnesempfindungen …“ (ebd., 5). Besonders interessant erscheint mir, dass sich Bestimmungen auch auf den tradierten Metaphernbestand beziehen und die bisher nur pragmatisch regularisierten Metaphern nun definiert werden, vgl.: Diejenige Bewußtseinstätigkeit, bei welcher Merkfähigkeit und die Aufmerksamkeit sowie der Ablauf der Ideenassoziation in formaler Hinsicht nicht geschädigt ist, nennt man Besonnenheit. … Unter Dämmerzuständen sind akut oder subakut einsetzende Bewußtseinsstörungen meist vorübergehender Art … zu verstehen. … Die Dämmerzustände sind dadurch ausgezeichnet, daß auf Grund eigenartiger, bislang unaufgeklärter Verschiebungen der cortikalen Erregungszustände äußere und innere Reize und Empfindungen mehr oder weniger weit ausgeponnene Ketten von Erinnerungsbildern auslösen, welche in assoziativer Verbindung untereinander stehen und zu geordneten, wenn auch unzweckmäßigen Handlungen Veranlassung sind.“ (ebd., 14), „Diese krankhafte Erleichterung und Beschleunigung der Reproduktion der Vorstellungen und die Häufung psychomotorischer Entladung
337 (Ideenflucht) kann primär auftreten, z. B. als Reminiszenzenflucht bei den neurasthenisch-hypochondrischen Krankheitszuständen. (ebd., 21)
Lexeme wie Affekt oder Gefühlstöne, deren Traditionslinien in den vorherigen Kapiteln aufgezeigt worden sind, werden in ihrer Bedeutung erheblich verengt, so dass sie kaum noch ihren Ursprung erkennen lassen. Zum Teil weisen sie kaum über Griesinger hinaus, was jedoch durch Überblendungsvorgänge kaum deutlich wird: „Unter Affekten versteht man plötzlich einsetzende und rapide anschwellende Gefühlsvorgänge, welche einen Einfluß auf die Ideenassoziation und die motorischen Innervationen ausüben.“ (ebd. 37). Bei Binswanger et al. findet man – anders als bei Griesinger und noch bei Kraepelin – kaum die rhetorische Überformung des Textes (eine Ausnahme unten), was einerseits durch die andere textliche Organisation, den anderen sprachlichen Umgang mit Symptomengruppen begründet ist, andererseits aber auch mit der damit verbundenen Entagentivierung und Nivellierung des Patientensubjekts und mit dem vollkommenen Verlust der „Wir“Beziehung verbunden ist. Es dürfte in diesem Kontext nicht verwundern, dass die schon bei Jacobi ansatzweise zurückgedrängte Anthropologie bei Binswanger et al. nicht mehr vorhanden ist. Bei ihnen gelten neben körperlichen Ursachen (vornehmlich Krankheiten) als prädisponierende Momente nur noch die Vererbung, das Lebensalter und sehr rudimentär der Berufsstand; Zivilisationskritik ist nur noch in kurzen Anmerkungen vorhanden. Wie oben schon angedeutet, sind die Wortbildungsverfahren Indikator eines bestimmten Duktus. Im Folgenden möchte ich der syntaktischen Realisierung des Textes auf zwei Ebenen nachgehen: Zum einen werde ich darstellen, was ich mit dem Übergang von der Deskription (mit entsprechend aufwändig gestalteten syntaktischen Mustern) zur asyndetischen Reihung gemeint ist. Zum anderen werde ich im Vergleich mit den schon thematisierten Lehrbüchern (mit Ausnahme von Jacobi) den Verlust der Nominalgruppe und besonders des qualifizierenden Adjektivattributs thematisieren. Herauszustellen ist nochmals: In der Initialphase ist die syntaktische Gestaltung insofern heterogen, als dass sich mit Ausnahme von Nominalgruppen mit Komitativangaben oder Adjektivattributen für die Bezeichnung von Krankheiten keine die Psychiatrie kennzeichnenden syntaktischen Muster ausmachen lassen. Die sich ergebenden syntaktischen Präferenzen 22 zu einem komplexen Aufbau von Nominalgruppen, v. a. mit starker Linkserweiterung, und zu komplexen Satzgefügen mit vielen Relativsätzen und Partizipialkonstruktionen ebenso zu starker syntaktischer Hierarchisierung erklären sich durch die thematische Orientierung. ______________ 22
Knapp befassen sich Herman/Enck (1997, 45–48) mit der syntaktischen Entwicklung in medizinischen Fachtexten.
338 Um zu zeigen, dass die syntaktische Gestaltung im Schreiben über psychisch Kranke zunehmend wichtiger wird, sollen einige Textstellen von verschiedenen Autoren des Lehrbuchs zunächst zur Ätiologie, Symptomen und Verlauf der jeweiligen Krankheitsform herangezogen werden. [1] Zur Ätiologie, den Symptomen und dem Verlauf der Amentia (Siemerling, 171ff.): Die wichtigste Rolle beim Zustandekommen spielen körperliche und seelische Schädigungen, Infektionskrankheiten, Vergiftungen (Alkohol, Morphium, Kokain, Atropin, Blei, Tabak, Arsenik), Gravidität, Puerperium, Laktation, Pubertät, Menstruationsbeschwerden, Klimakterium mit den im Organismus vor sich gehenden Umwälzungen. Blutverluste, Erschöpfungen infolge von schweren körperlichen Erkrankungen, nach Operationen (Augenoperationen), Trauma, besonders des Gehirns, Haftstrafen, gemütliche Erschütterungen (starker Schreck, schwerer Kummer, Sorgen, unglückliche Ehe, häusliche Zwistigkeiten), geistige Überanstrengung sind als auslösende Momente anzusehen. Dem eigentlichen Ausbruch geht meist ein kürzeres oder längeres Prodromalstadium voraus. Klagen über nervöse Beschwerden: Kopfdruck, Sausen in den Ohren, Schlaflosigkeit werden geäußert. Die Stimmung ist leicht gereizt, häufiger Stimmungswechsel fällt der Umgebung auf. Die Lust zur gewohnten Tätigkeit geht verloren. Die Kranken versinken bei der Arbeit in Träumereien, unterbrechen diese unmotiviert, sind scheu, halten sich allein … Der eigentliche Ausbruch erfolgt sehr plötzlich. Die ängstliche Stimmung steigert sich: Versündigungsideen werden geäußert. Sie haben unrecht getan, sind nicht fromm gewesen, haben sich versündigt (Erbsünde sitzt im Herzen), sprechen von drohendem Unglück (es kommt Krieg) durch ihre Schuld. Häufig sind ekstatische und dämonomanische Stellungen: die Kranken liegen im Bett in Kruzifixstellung der Arme wie zum Gebet erhoben, knieen mit gesenktem Kopf, stehen mit ausgebreiteten Armen, offenen und geschlossenen Augen. Ihre Sprechweise nimmt einen theatralisch-pathetischen Ton an, sie sprechen vom Ertragen des Schmerzes, … Diese ekstatischen Anfälle können stunden-, tagelang dauern. Sie wechseln mit ausgesprochenen Stuporzuständen: flexibilitas cerea, stereotype Haltungen und Bewegungen, Mutismus, Negativismus. Im Prodromalstadium herrschen allgemeine nervöse Beschwerden und Reizbarkeit. Der Ausbruch erfolgt mit schwerer Bewußtseinstrübung, Sinnestäuschungen, Wahnvorstellungen, motorischer Erregung, wechselnden Affekt, ängstlicher Ratlosigkeit, primärer Inkohärenz und Perseveration, unterbrochen durch Remissionen. Im dritten Stadium kommt es zur Aufhellung, wechselnd mit Verwirrtheit, Unruhe. Merkfähigkeit noch gering. Im vierten Stadium Reizbarkeit, misstrauisch, oft Beziehungswahn. Im fünften Stadium Rekonvaleszenz: Orientierung kehrt wieder. Krankheitseinsicht. Amnesie ist stark. [2]Ätiologie, Symptome und Verlauf der Neurasthenie (Westphal, 104ff.) Die wichtigste Vorbedingung für die Entstehung der Neurasthenie bietet die neuropathische Anlage, d. h. die in der Familie bestehende, durch Vererbung sich fortpflanzende Neigung zu Erkrankungen des Nervensystems. Auf dem Boden dieser angeborenen nervösen Veranlagung kommen einerseits Fälle von Neurasthenie zur Beobachtung, in denen sich die neurasthenischen Erscheinungen bis in die frühste Kindheit, nicht selten in Verbindung mit anderen körperlichen und geistigen Zeichen der Degeneration verfolgen lassen, andererseits entwickelt
339 sich bei bestehender Heredität häufig im späteren Leben eine Neurasthenie unter der Einwirkung der verschiedenartigsten psychischen und körperlichen Schädigungen. Die reizbare Schwäche, welche wir als Grundlage aller Erscheinungen der Neurasthenie bezeichnet haben, tritt uns auf den verschiedensten Gebieten des Nervensystems teils in pathologischen Herabsetzungen der Erregbarkeit, teils in abnormen Steigerungen derselben in überaus mannigfacher Weise entgegen. Zu den wichtigsten Symptomen gehören Kopfschmerz, Schwindelgefühl und Schlaflosigkeit, die in sehr verschiedener Intensität und Ausbildung vorhanden sein können. Die Störungen des Schlafes pflegen zu den quälendsten und hartnäckigsten Erscheinungen der Neurasthenie zu gehören. Unter den Störungen der höheren Sinnesorgane kommen Störungen der Gesichtsempfindung (Flimmern vor den Augen, gesteigerte Lichtempfindlichkeit, Ermüdbarkeit der Augen usw.), die man unter dem Namen der neurasthenischen Asthenopie zusammengefasst hat, sowie eine Überempfindlichkeit gegen Schalleindrücke (Hyperacusis) zur Beobachtung. Sensible Reizerscheinungen in den verschiedensten Teilen des peripherischen Nervensystems spielen eine erhebliche Rolle in dem Krankheitsbilde. Mannigfache neuralgiforme Schmerzen und Parästhesien werden von den Kranken an den Extremitäten und an dem Rumpfe angegeben. Der Verlauf der Neurasthenie ist meistens ein chronischer, die Krankheit zieht sich mit mannigfachen Exacerbationen und Remissionen der neurasthenischen Erscheinungen über Jahre hin. Akute, in einigen Monaten zum Ablauf kommende Fälle gehören zu den Ausnahmen. Die günstigste Aussicht auf dauernde Heilung bieten die ohne nervöse Belastung infolge einer nachweisbaren äußeren Veranlassung entstehenden Fälle, in denen es gelingt, ehe die Krankheit weit fortgeschritten ist, diese Schädlichkeiten für die Zukunft zu beseitigen. [3]Ätiologie, Symptome und Verlauf der Alkoholpsychosen (Cramer, 184ff.) Die meisten Alkoholpsychosen entstehen auf dem Boden des chronischen Alkoholismus. Der chronische Alkoholismus ist in den meisten Fällen entstanden aus der Trunksucht. … Der Zwang, der den eigenen Willen ausschaltet, kann angeboren oder erworben sein. Wir sehen häufig, daß die chronischen Alkoholisten von Haus aus pathologisch belastete Individuen sind: Kinder von Alkoholisten, von Prostituierten, mehr oder minder belastete usw. Auch schwere Erkrankungen in der Kindheit (Meningitis, Encephalitiden, Traumen usw.) können die krankhaft bedingte geringere Widerstandsfähigkeit vorbereiten, welche das Individuum später der Trunksucht in die Arme treibt. Der chronische Alkoholist ist ein ethisch total verkommener Mensch, der bei dem geringsten Anstoß in hochgradige Wut verfällt; um dann wieder in einer rührseligen Stimmung alles Gute zu versprechen, obschon er weiß, daß ihm jede Energie fehlt, sein Versprechen zu halten, er ist geneigt zum Lügen und läßt sich leicht zu irgend einem Verbrechen verleiten. Wenn er vorübergehend in der Zornattacke und im Rausch Eifersuchtsideen äußert, so darf das noch nicht als Eifersuchtswahn aufgefaßt werden. Dabei findet sich häufig bei Trinkern eine sehr gesteigerte Schreckhaftigkeit, welche sie gelegentlich veranlasst, unter dem Einfluß eines solchen Schrecks in ganz unüberlegter und gefährlicher Weise zu reagieren.
340 Obwohl die Struktur der einzelnen Kapitel den Autoren vorgegeben ist, unterscheidet sich die sprachliche Gestaltung. Bei dem, von Siemerling geschriebenen Artikel zur „Amentia“ [1] findet man eine einfache Syntax, deren Hauptmerkmale sind: – fast ausschließliche Verwendung von Hauptsätzen, die nur in seltenen Fällen parataktisch koordiniert werden (eine Ausnahme bilden spärlich verwendete Partizipalkonstruktionen), – keine Konjunktionen zur Verbindung der Hauptsätze und – eine Tendenz zur elliptischen Auslassung von Handlungsträgern. Bei Siemerling ist darüber hinaus bemerkenswert, dass Ursachen und Symptome hauptsächlich asyndetisch, ohne entsprechende Gewichtung aufgezählt werden und ohne detaillierte Beschreibungen auch nur anzudeuten. Das Sprechen, Verhalten und Handeln der Kranken erscheint, indem Fragmente von Patientenäußerungen oder charakteristische Handlungsweisen dargestellt werden. Die Struktur der Nominalgruppen ist reduziert: die wenigen Adjektivattribute bei z. B. „motorischer Erregung“ sind klassifikatorisch zu verstehen. Dem Wegfall von qualifizierenden Adjektivattributen entspricht auch die Bildung von Nominalkomposita, die wie Bewußtseinstrübung auf den tradierten Bestand von metaphorischen Adjektiven zurückweisen. Von den drei Verfassern weist Siemerling die reduzierteste syntaktische Ausformung auf. Die Vertextungsstrategie von Westphal [2] unterscheidet sich trotz einer Orientierung an der Parataxe von Siemerling dadurch, dass die Tendenz zur umfassenden Nominalisierung und Bildung von Nominalkomposita auf der Grundlage des Traditionsbestandes sowohl durch relativische Attribute als auch durch gewichtende Konjunktionen und Textdeiktika durchbrochen wird. Daneben ist die Organisation der Parataxen, da keine asyndetischen Reihungen vorhanden sind, wesentlich komplexer als bei Siemerling. Die syntaktische Gestaltung der Ausführungen zu „Alkoholisten“ (Cramer) [3] ist insofern interessant, weil bei der Ätiologie auch die Orientierung an der Parataxe erhalten bleibt. Die emotionalisierende Beschreibung von Symptomen führt allerdings zu einem hypotaktischen Bau. Jedoch ist m. E. der syntaktische Bau an dieser Stelle stilistisch markiert und zeugt möglicherweise von der sozialen Bedeutung des Alkoholdiskurses, der eine nivellierend-neutrale Darstellungsweise verbietet. Insgesamt kann aus den drei Beispielen Folgendes geschlossen werden: Das am Individuum orientierte zunächst narrative, dann deskriptive Schreiben weicht einer Darstellung, bei dem einzelne Handlungen und Äußerungsweisen nicht mehr einem Individuum zuzuordnen sind. Die durchgängige, bis in die Symptomebene hinein zu verfolgende Durchsetzung des Krankheitstyps ist mit einer hochanonymen sprachlichen Darstellungsweise verbunden, bei der die formale Ausprägung (Tendenz zur Nominalisierung und para-
341 taktischen Verknüpfung) mit einer wissenssensitiv-indexikalischen Semantik zusammentrifft. Die Darstellungsweise von Siemerling mit minimalen Vertextungsindikatoren deckt sich stark mit der Darstellungsweise von Sommer in der Diagnostik der Geisteskrankheiten (1894) und gibt eine Richtung vor, wie diese sprachlichen Kennzeichen zu interpretieren sind. Meine These ist: Die auffällige Vertextung orientiert sich am Vorbild der Krankenakte und damit am Vorgehen in der psychiatrischen Klinik. Während sich der Wissensaufbau in Kraepelins Lehrbüchern stellenweise auf den klinischen Beobachter bezieht, gestaltet Sommer seine Diagnostik auf der Basis klinischen Materials. Im Gegensatz zu den bisher betrachteten Lehrbüchern wird der Beurteilung von Fällen der größte Raum gegeben. Allerdings unterscheiden sich seine Darstellungen von Fällen stark von früheren, da der Krankheitsverlauf und damit die temporale Struktur früherer Ereignisse kaum thematisiert bzw. nur punktuell dargestellt werden. Darin zeigt sich eine beachtliche Umorientierung im psychiatrischen Schreiben selbst: Psychische Krankheit wird erst mit dem Eintritt in die Psychiatrie in ihren Merkmalen erfahrbar und medizinisch validierbar, während bspw. Pienitz noch auf andere Gewährspersonen vertraute – die Aufarbeitung der biographischen Daten bleibt klinischen Testverfahren überlassen. Dazu einige Beispiele (unterschiedliche Schriftgrößen werden übernommen): [1] H.Z., Kaufmann, aufgenommen am 23. April 1893, im Alter von 56 Jahren. Bei der Aufnahme in einem manieähnlichen Zustand. Erzählt fortwährend in pathetischer Weise mit lebhafter Gestikulation, renommirt sehr stark. Pupillen sehr weit, sind gleich, reagieren gut. Die Patellarreflexe sind bei vielfachen Versuchen beiderseits fast aufgehoben. Starke Albuminurie. Bei diesem Befund lag nach unserer diagnostischen Regel die Annahme einer progressiven Paralyse sehr nahe. Dazu stimmte jedoch die Anamnese nicht ganz. Patient ist von Seiten der Mutter stark erblich belastet: Mutter war früher melancholisch, im späteren Alter geisteskrank, Schwester und Vater der Mutter geisteskrank gestorben, ein Bruder des Patienten ist epileptisch. Er war bis circa zum 40. Jahr ganz normal. Vor 14 Jahren bei Gelegenheit einer Mittelohrentzündung viel Morphium genommen. Von da an öfter psychische Erregungen. Seit circa 4 Jahren periodische Zustände, in welchen Gier nach Spirituosen im Vordergrunde steht. Seit einigen Wochen vor der Aufnahme wieder ein dipsomanischer Anfall, in welchem er den ganzen Tag Weisswein getrunken hat. (ebd., 17). [2] Ich gebe nun zunächst ein Beispiel von einem typischen Delirium tremens, und zwar mit der Aufeinanderfolge von Krankenbeobachtungen und späterer Anamnese, wie sie bei solchen acut ausbrechenden Krankheitsfällen die Regel ist. R.S. aus M. Aufgenommen: 26. Mai 1890. Diagnose: Delirium tremens. Alter: Geboren 29. August 1857. Stand: Wirth. Entlassen: 7. Juni 1890 nach Hause.
342 Patient wurde gestern Nachmittag inhaftirt, da er sich zu seinem Strafantritte nicht gestellt hatte. Er war wegen Nahrungsmittelfälschung zu 13 Tagen Gefängniss verurtheilt worden. Sogleich nach seinem Eintreffen in der Frohnfeste begann er irre zu reden, glaubte, er sei zu Hause, wurde dann in der Nacht sehr unruhig, lärmte und klopfte an die Thür, hatte Thiervisionen (sah Katzen und Hunde), schrie, der Teufel sei bei ihm im Zimmer. – Anamnese fehlt im Uebrigen ganz. Status: Kräftiger Mann ohne Organerkrankungen. Gesicht congestioniert, Conjunctivitis. Hochgradiger Tremor der Hände und des ganzen Körpers. Sehr aufgeregt und unruhig. Verkennt seine Umgebung. Glaubt er sei zu Hause. Will beständig an seine Arbeit. Hat die verschiedensten Gehörstäuschungen; sieht Hunde und Katzen, Schwalben, Krebse, Fische, Fliegen, Mücken, seine Frau und Bekannte. Urin stark eiweisshaltig. 28. Mai. In beständiger Unruhe und völliger Verwirrtheit. Hat weniger Thiervisionen, behauptet aber, es seien vier Leichen im Zimmer. 29. Mai. Beruhigte sich im Laufe des gestrigen Tages, konnte Abends zu Bett gebracht werden, schlief während der Nacht. Heute noch in benommenem Zustande, hat nur unklare Vorstellungen von den Ereignissen der letzten Tage. Zeitweise sind noch Gehörstäuschungen zu constatiren. Der Eiweissgehalt des Urins ist unverändert. (ebd., 72). [3] III. Beobachtung. 24jähriges Mädchen, bekam in ihrem 17. Lebensjahr beim Passiren einer Brücke, Abends, plötzlich von einem Rowdy einen Messerstich in die rechte Stirnseite, war nach einer Reihe von Tagen wieder geheilt. Arbeitete wieder als Büglerin. Seit mehreren Tagen heftige Kopfschmerzen in der rechten Stirnseite, Mattigkeit, Schlafsucht, Aengstlichkeit. Kommt selbst zum Nervenarzt, weil sie meint, es sei ein Nerv verletzt. Bei der Untersuchung zeigt sich über der äusseren Seite des Arcus superciliaris rechts an der Stirn eine unregelmässig gestaltete Narbe. Diese ist verschieblich. Der Knochen ist intakt. Symptome einer Hirnerkrankung sind nicht vorhanden. (ebd., 129)
Sommers Darstellung von Fällen ist ökonomisch und reduziert. Auch hier ist die Orientierung an Hauptsätzen gegeben, wobei diese durch die Ellipse von Subjekten (besonders, wenn sie auf den Patienten referieren) und Prädikaten reduziert wird. Die wenigen vollständigen Hauptsätze, denen allenfalls Relativsätze untergeordnet werden, werden nicht durch koordinierende Konjunktionen miteinander verflochten, so dass auch die propositionelle Integration der Inhalte stellenweise offen bleibt. In vielen Fällen dürfte sie jedoch als additiv und nicht als temporal oder gar als kausal zu lesen sein. Die temporale Vertextung wird dabei vornehmlich über Datumsangaben gewährleistet. Es findet sich in den anamnestischen Teilen eine thematische Engführung hin auf Krankheiten, die kaum mit den früheren Darstellungen des bürgerlichen Subjektes zu vergleichen ist. Als in gewisser Weise neuartig, wobei man den Ursprung dieser Schreibweise zurückverfolgen müsste, ist die Reduzierung der halböffentlichen
343 Kommunikation zwischen der Klinik bzw. dem behandelnden Arzt und anderen Ärzten bzw. Verwandten. Reduzierung deshalb, weil v. a. Laiendarstellungen von Krankheitsvorläufen nicht auftauchen und Patientenäußerungen in eigentümlich selektiver Weise präsentiert werden. Letztere stellen so etwas wie eine implizite Argumentationsbasis her, da sie den mentalen und zumeist abweichenden Zustand des Kranken illustrieren, ohne ihn in einen Gesamtzusammenhang zu stellen. Auffällig und als Verweis auf schreiberische Praxen in der Klinik zu deuten, ist das äußerliche Erscheinungsbild des Textes. Die vielfache Unterbrechung des Textes durch Absätze, die die Allgemeinverbindlichkeit der Aussagen unterstreicht, weisen ebenfalls eine textmusterspezifische Intertextualität zur Krankenakte auf und sind als Art textueller Ikonismus zu deuten. Denn: Die Krankenakten und die sie konstituierenden Textsorten (so Anamnese, Wachbericht etc.) werden häufig tabellarisch wiedergegeben. Es ist augenfällig, dass die hypotaktisch strukturierten frühen Fallschilderungen sowie die ebenfalls syntaktisch aufwändigen und rhetorisch überformten theoretischen Abhandlungen parataktisch strukturierten Ausformungen sowohl im Rahmen der allgemeinen Psychiatrie, die ja die Weiterführung und Kondensation der theoretischen Abhandlungen ist, als auch der speziellen Psychiatrie weichen. Dabei scheint sich die folgende Korrelation zu ergeben: Umso stärker das Schreiben in der Klinik ist (und das ist v. a. bei einer Diagnostik der Fall), umso stärker ist die Orientierung am Hauptsatz und an entsprechenden Nominalisierungen und wenig komplexen Nominalgruppen. Obwohl sich dadurch so etwas wie eine stilistische Homogenität ergibt, sind die Gründe für die syntaktische Präferenz jedoch unterschiedlich: In der allgemeinen Symptomologie wird dies durch – unter Ausschöpfung der oben skizzierten Wortbildungsmöglichkeiten – die Orientierung an eher wissenssensitiven Termini und durch die Präferenz eines feststellenden, selten instruktiven gegenüber einem argumentativen Gestus erreicht. In der speziellen Symptomologie ist der vollständige Verlust narrativer und der partielle Verlust deskriptiver Textbasen dafür verantwortlich, wobei in einzelnen Fällen (z. B. bei Siemerling) die beiden Tendenzen zusammenwirken. Dass sich hier ein übergreifender Stil herausbildet, lässt auch an dem sehr wirkungsmächtigen Lehrbuch von Bleuler (1916) darstellen, das sich trotz seiner psychoanalytischen Orientierung den Tendenzen anschließt und diese sogar weiterführt: [aus der allgemeinen Symptomologie]: Zustandsbilder. Der manische Zustand: Von Seiten der Affektivität gehobene, stark labile, namentlich leicht in Zorn umschlagende Stimmung; im Denken Ideenflucht; zentrifugal Tätigkeitsdrang; akzessorisch nicht selten Überschätzungs- und Größenideen. … Die Depression (melancholischer Zustand) mit schmerzlicher Betonung aller Erlebnisse,
344 Hemmung des Denkens und der Zentrifugalität. Als akzessorische Symptome: Kleinheitswahn. (ebd., 114) [zum manisch-depressiven Irresein]: Die drei Kardinalsymptome … gehobene und depressive Verstimmung, Ideenflucht und Denkhemmung, Betätigungsdrang und Willenshemmung, stellen die Gegensatzpaare dar. Die ihnen entsprechende Funktion der Affektivität des Ideengangs, der Zentrifugalität sind in der Krankheit – wie in ihrer geringeren Ausprägung beim Gesunden – in der Regel gleichsinnig verändert, so in den bisherigen Typen. … Die wichtigsten Mischformen: die depressive ‚ängstliche Manie‘ (Affekt negativ, Gedankengang und Zentrifugalität positiv), wobei die Kranken bei depressivem Affekt mit Versündigungsideen viel reden und schreiben und darüber klagen, daß die Gedanken ihnen von selber kommen. (ebd., 357).
Dass dieser Stil nicht nur für die Psychiatrie, sondern wie die gesamte Entwicklung der Medizin typisch (vgl. Schefe 1975, 147; Löning 1981, 89f.) ist, zeigt die Anschlussfähigkeit der Psychiatrie. Auf eine ebenfalls sehr auffällige Entwicklung möchte ich zum Abschluss des Kapitels noch einmal gesondert hinweisen. Es handelt sich um die Zurückdrängung bisweilen den Verlust von qualifizierenden und – wie noch bei Griesinger – ornamentativen, dem Wie der Darstellung verpflichteten Adjektiven. Dargestellt wird dies an der Behandlung der einfachen Melancholie in den bisher thematisierten wissensvermittelnden Texten.
öde, Gefühl der inneren Verödung Gleichgültigkeit gegen die Umgebung
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apathisch
Anomalien der Selbstempfindung
Färbung des traurigen Affekts
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der allgemeine depressive Grundton der Stimmung, depressive Gemüthsbewegungen, unmotivierte Depression
Energielosigkeit und Schlaffheit, Mangel an Energie
energielos / widerstandslos; psychische Tätigkeiten, die ihre Energie bleibend verloren haben.
Erstarren der Ausdrucksbewegungen des Affekts
krankhaft verändertes Selbstgefühl, Stimmungsanomalie
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Sommer (1894)
depressiv [Affekt], Gemütsdepression, psychische Depressionszustände
cataleptisch [Zustände]
Kraepelin (1883)
Griesinger (21867)
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nicht genügend motivierte traurige Verstimmung (Depression), innere Traurigkeit
psychomotorische Hemmung
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Apathie / Gleichgültigkeit
Binswanger et al. (1904)
345
Kraepelin (1883) Unterdrückung der gesunden Motive durch die hemmenden Unlustgefühle Alteration in der Auffassung der Aussenwelt
leer
Erschwerung und Verlangsamung der geistigen Operationen alle Eindrücke haben einen pessimistischen und nihilistischen Zug dumpfes Hinbrüten
intensive Unlustgefühle ---
Griesinger (21867)
gehemmt
insichgekehrt/-versunken [Staunen], ein der Aussenwelt entfremdetes Insichversinken
leer [Denken], psychische Leerheit des Blödsinns
monoton [Denken, Vorstellen, geistiges Leben]
negativ [Affekt, Stimmung]
niedergeschlagen [Stimmung], psychische Oppression
passiv [Wesen]
als eine Form des raptus melancholicus
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Gefühl innerer Erkaltung und Leere ---
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--Raptus melancholicus
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Stimmungsdelirium
Reaktionslosigkeit
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Hemmungserscheinungen
Binswanger et al. (1904)
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Sommer (1894)
346
„leidet unter Energielosigkeit auch Nahrungsverweigerung die Befriedigung des Nahrungsbedürfnisses“ (195)
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Angstgefühl (Präkordialangst), lebhafte Angstaffekte
Angst
peinliche Vorstellungen
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motorische Gebundenheit
Affekterregbarkeit
Gemütserregung, motorische Erregung
affektartige Gefühlsschwankungen, elementare nervöse Störungen
unruhig
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Bewusstseinstrübung
trübe/finster [Blödsinn]
psychomotorische Hemmung
Nahrungsverweigerung
nicht genügend motivierte traurige Verstimmung [Depression]
Gemüthsverstimmung
[tiefe] [krankhafte] [melancholische] Verstimmung
traurig [Affekt, Delirium, Gemütsverstimmung, Stimmung, Verstimmung], verstimmt
Binswanger et al. (1904) gemütliche Stumpfheit
Sommer (1894) ---
Kraepelin (1883)
stumpf/abgestumpft [Willen, stumpfe [Gleichgültigkeit], Nerven]; Abstumpfung der Gemüts- Gemüthsstumpfheit, gemütliche reaction, psychische Anästhesie Regsamkeit verloren; Herabsetzung der früheren Regsamkeit
Griesinger (21867)
347
Kraepelin (1883) innere Spannung Verlangsamung der Wahrnehmung und des Vorstellungsablaufs Versündigungsideen
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Griesinger (21867)
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Wahnbildung
stereotype Satzproduction
Selbstmordneigung
hypochondrische Vorstellungsreihen
Versündigungswahn, melancholischer Verfolgungswahn
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Sommer (1894)
Sinnestäuschungen trauriger und beängstigender Natur
krankhafte Willenlosigkeit (Abulie)
Verarmungsvorstellungen
Kleinheitswahn
Beziehungswahnideen
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hypochondrische Wahnideen
Versündigungsideen, Verfolgungsvorstellungen
Denkhemmung
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Binswanger et al. (1904)
348
349 Aus der Tabelle lässt sich entnehmen, dass die gemeinsame Schnittmenge von identischen Lexemen gering ist (sofern sie bei allen Autoren vorhanden sind, wurden sie mit Fettdruck gekennzeichnet). Sie ist allerdings höher anzusetzen, wenn man die quasi-synonymischen Realisierungen einbezieht. Es bleiben jedoch dann auch Lexeme oder Lexemverbindungen, die nur bei einem oder allenfalls bei zwei Autoren verwendet werden (z. B. niedergeschlagen bei Griesinger). M. E. zeigt sich, dass bei Griesinger Adjektive (auch auf der Grundlage von Partizipien), die Verbindungen mit unterschiedlichen Nomen eingehen können, eine wesentlich größere Rolle als bei späteren Autoren spielen: Nahezu durchgängig qualifizieren oder charakterisieren Adjektive das entsprechende Nomen und treten zumeist in attributiver, selten in prädikativer Funktion auf. Bei Sommer findet sich nahezu keine Qualifizierung von Zuständen durch Adjektive. Die durch ein Adjektiv linkserweiterte Nominalgruppe wird durch Nominalkomposita oder Nominalisierungen ersetzt. Es zeigt sich hier auch eine weitere Tendenz: Bei Kraepelin spielen Rechtserweiterungen, vornehmlich durch Genitivattribute, eine große Rolle. Eine Tendenz, die sich weder bei Sommer noch bei Binswanger nachweisen lässt. Gleichzeitig dürfte im Kontrast von auf der einen Seite Griesinger und Kraepelin, auf der anderen Seite Binswanger und Sommer deutlich werden, dass bestimmte Lexeme (so das früh nachzuweisende in-sich-gekehrt) eventuell nicht mehr zum psychiatrischen Grundbestand gehören. Die Schnittmenge zwischen Griesinger und Kraepelin ist erheblich höher als die zwischen Griesinger und den anderen nachfolgenden Autoren. Inhaltlich zeigt diese Tabelle, dass die bei Binswanger thematisierte Tendenz zur Subklassifikation auch bei der Melancholie nachzuweisen ist. Gleichzeitig zeigt sich der sprachliche Fixpunkt „Klinik“ auch bei Sommer, dessen Begriffe wie Stimmungsanomalie einen eher vagen Horizont besitzen; allerdings werden auch Sachverhalte (Nahrungsverweigerung) spezifiziert, die für Griesinger keine Relevanz besitzen. Dem entspricht auch Sommers Auffassung von Melancholie: „Es kommt bei der Auffassung von Psychosen viel weniger auf den blossen Bestand an Symptomen, als auf die pathogenetische Abhängigkeit an“ (1894, 183). Insgesamt zeigt sich hier ein interessantes Auseinanderfallen des thematischen Profils. Bei Griesinger hat ganz eindeutig die Charakterisierung von Empfindungen Vorrang, während schon bei Kraepelin und verstärkt bei den anderen Autoren andere Artikulationsmöglichkeiten menschlichen Verhaltens und Handelns thematisiert werden (z. B. Ess- und Sprachverhalten). Thematische Erweiterung bei gleichzeitiger Engführung auf der Ebene der Subklassifikation bringt es mit sich, dass sich im Vergleich zu Griesinger eine Einschränkung syntagmatischer Kombinationsmöglichkeiten ergibt. Der Vergleich der Melancholiedarstellungen zeigt noch eine weitere interessante Tendenz. Nominalisierungen finden sich bei Griesinger fast nur
350 dort, wo gleichzeitig das Adjektiv psychisch eingesetzt wird. Da das Adjektiv in diesem Fall nicht dazu dient, die Opposition zu einem körperlichen Zustand zu betonen, könnte es möglicherweise dahingehend interpretiert werden, die Nominalisierung abzusichern. Konfrontiert man die obige Tabelle mit der Zusammenstellung aus Kap. 3.3.5, so zeigt sich die Dynamik der Wortschatzentwicklungen, die im gesamten Kapitel thematisiert worden sind, noch einmal gebündelt: – Tendenz zur Tilgung von trübsinnig, tiefsinnig und abgespannt, tendenzielle Zurückdrängung von gemeinsprachlichen Lexemen (niedergeschlagen); – Adaption und Monosemierung durch Nominalisierung oder Kompositabildung -stumpf (Stumpfheit), gehemmt (Denkhemmungen/Hemmungserscheinungen), reizbar (Reizbarkeit) oder verstimmt (Verstimmung, Gemütsverstimmungen); dies gilt besonders auch für die Metaphern widerstandslos, energielos etc.; – Bildung von Komposita auf der Basis des sprachlichen Materials der Frühphase, jedoch nur mittelbar auf diese zu beziehen (depressive Grundton der Stimmung, Färbung des traurigen Affektes, besonders auch: Stimmungsdelirium, Stimmungsanomalie), – Neubesetzung unterschiedlicher Lexeme (cataleptisch, passiv), Hin- und Herpendeln zwischen apathisch/gleichgültig. Hinzutreten von Lexemen, die nicht auf die Initialphase verweisen und auf nun erarbeiteten Subklassifikationen beruhen (z. B. die stereotypen Satzreproductionen, Präkordialangst). An dieser Auflistung zeigt sich, dass Griesinger, obwohl er alte Krankheiten neu zu fassen versucht, in relativer Nähe zur Initialphase verbleibt. M. E. deutet sich hier schon eine über die Lehrbücher hinausreichende Dynamik an: Das einzige Lexem, was von allen verwendet wird, ist Verstimmung. Der Werdegang von einem schon in der Initialphase unhinterfragt geltenden Hauptsymptom (verstimmt) geht über die Nominalisierung und/oder die Stabilisierung von Nominalgruppen (Verstimmung von X) zu einer terminologischen Krankheitsbezeichnung (depressive Verstimmung).
351
5.4
Zusammenfassung: Die Herausbildung eines einheitlichen Stils
Wissensvermittelnde Texte der Psychiatrie umfassen in je unterschiedlicher Gewichtung die allgemeine und die spezielle Psychiatrie. Die Integration dieser zwei Textbestandteile wird unterschiedlich gehandhabt. Während bei Jacobi Fallschilderungen und ihre Interpretation im Mittelpunkt stehen, reduzieren sie sich bei Griesinger auf sprachlich nicht einheitliche Illustrationen, die nicht im allgemeinen, sondern nur im speziellen Teil erscheinen. Bei Krapelin und Binswanger et al. tauchen sie gelegentlich, unsystematisch und punktuell auf, während sie bei Sommer wiederum durchgängig erscheinen. Sind zunächst Kranke durch die ausführlichen, beinahe ausschweifenden Fallschilderungen präsent, sind sie bei den letzt genannten Autoren nur noch als Krankheitstyp vertreten. Hier zeigt sich ein Zusammenhang zwischen Klinikorientierung und Entsubjektivierung. Wesentlich ist also der Übergang von der Schilderung des Kranken als integeres bürgerliches Subjekt und der Individualisierung des Falls bis zur stichwortartigen Organisation von Symptomen, so dass sich eine Deckungsgleichheit zwischen textlichen Aneignungsformen der Klinik und der Wissensermittlung ergibt. Die bei Binswanger et al. und v. a. bei Sommer herausgearbeitete Tendenz, Patientenäußerungen als Manifestation eines Krankheitsbildes herauszuarbeiten, ist – verglichen mit dem Anfangsstadium der Psychiatrie – neuartig. Der Rückgang von Fallschilderungen ist selbst Indikator für die Wandlungen, die Lehrbücher in dem skizzierten Zeitraum von nur 50 Jahren erfahren. Durch Fortschritte in der medizinischen Forschung erfährt die allgemeine Psychiatrie eine spezifische Ausformung, die eine Verbindung – trotz immer noch gegebener stilistischer Varianz – zum speziellen Teil aufweist, so dass die Trennung zwischen Philosophie, Anthropologie und Krankengeschichten, die in frühen Zeitschriften unverbunden nebeneinander stehen, tendenziell aufgehoben wird. Es ergibt sich hier eine auf immer stärkere Integration angelegte Entwicklung: Von der nur losen Verbundenheit spezieller und allgemeiner Psychiatrie hin zu ihrer stärkeren, intratextuellen Vernetzung, die an körperlicher Prozesshaftigkeit und einem naturwissenschaftlichen Vorgehen orientiert ist und die Kausalzusammenhänge bestimmen soll, was nicht immer gelingt. Hinsichtlich der ermöglichten Lernstrategien unterscheiden sich die Lehrbücher beträchtlich: Obwohl sowohl Griesinger als auch Kraepelin auf das klinische Handeln bezogene Textteile in ihren Lehrbüchern haben, besitzen beide eher den Charakter eines letztlich zum vertieften Lernen geeigneten Nachschlagewerks, während die anderen Texte eher zum Reproduzieren und Nachahmen geeignet sind
352 (möglicherweise allein schon durch ihren sprachlichen Reduktionismus). Es stehen also eher enzyklopädische Werke Leitfäden gegenüber. Die Ausbildung eines genuin psychiatrischen Diskurses und die voran getriebenen Forschungen zeigen Kontinuität, jedoch auch Bruch mit den Anfangsjahren der Psychiatrie, so dass es zu einem Arbeiten am und Ergänzen des Sprachmaterials kommt. Grundsätzlich sollte hier deutlich geworden sein, dass die in den vorherigen Kapiteln skizzierte transitorische Varietät einen Bestand bereitstellt, an den vielfältig angeknüpft wird. Der Prozess lässt sich folgendermaßen skizzieren: Von der Kontextualisierung und dem Abgleich unterschiedlichster, obgleich schon kanalisierter Diskurse und ihrer Synthetisierung hin zur Herstellung einer rein praxisspezifischen Intertextualität und Intersubjektivität mit den entsprechenden sprachlichen Prozeduren, so dem Bestimmen fachspezifischer Gebrauchsbedingungen im Gegensatz zur Übernahme definierter philosophischer Bestimmungen einzelner Lexeme. M. E. kann man die anhand der wissensvermittelnden Texte dokumentierte Entwicklung als einen Übergang vom individuellen Typ zum Krankheitstyp deuten, wobei diese Entwicklung ganz offensichtlich auch durch die zunehmende Verwissenschaftlichung bedingt ist. Im Wissen um die Interdependenz dieser Faktoren möchte ich dennoch versuchen, sie zunächst getrennt voneinander zu behandeln. I. Der Übergang vom sozialen Typ zum Krankheitstyp zeigt sich an dem Übergang von einer hypotaktischen zu einer parataktischen Realisierung. Dieser Übergang ist mit einer jeweils anderen Dominanz der Darstellungsformen verbunden: von der Narration mit ihrer grundsätzlichen temporalprozesshaften Orientierung zur jeweils anders realisierten Deskription. Mit der parataktischen Realisierung gehen morphologische Kennzeichen einher, die zur Ökonomisierung des syntaktischen Duktus beitragen, so durch: verstärkte Pluralbildung bei Nominalkomposita, vornehmlich mit der Nutzung von: -zuständen, -prozessen oder -komplexen. Die mit Nomen gebildeten Komposita besitzen oft ein deverbales Ableitungszentrum (z. B. Aufregung, Vorstellung), verstärkte Nominalisierungen und Bildung von Nominalkomposita (Univerbierung) auf der Basis von syntagmatischen Präferenzen des Traditionsbestandes (z. B. trübes Bewußtsein – Bewußtseinstrübung; vor sich hin brüten – Hinbrüten). Tendenziell sind viele die Frühphase prägenden Adjektive und Verben nominalisierungsfähig, dabei zeigt sich auch hier die Fragmentarisierung von Bildern und metaphorischen Vergleichen (Seele als Musikinstrument – Gefühlstöne); Nominalisierungen und Pluralbildungen werden bei pragmatisch regularisierten Lexemen fortgesetzt (z. B. Bizarrieen oder Fixieren);
353 Nutzung von neuen Präfixen – wahrscheinlich nach dem Vorbild der allgemeinen Medizin – wie: hyper-, hyp-, dys- oder a(n)-, wobei Präfixe wie über- und hoch- analogisch nach ihrem Vorbild gestaltet werden könnten. Als letztes, genuin auf die Psychiatrie verweisendes Stadium können sowohl die Verwendung von Konfixen (psycho-, hystero- oder neuro-) als auch Komposita mit Krankheitsbezeichnungen (z. B. Erschöpfungszustände) gewertet werden; – die Orientierung an Nominalisierung und an der Kompositabildung geht auf Kosten vornehmlich der Adjektiv(attribut)e und zeigt sich an dem Wegfall qualifizierender Adjektivattribute. Im Längsschnitt, oftmals zusammenwirkend mit der Ausschöpfung von Wortbildungsmöglichkeiten, zeigt sich der Ausbau lexikalischer Demarkationslinien auf der Grundlage des Traditionsbestandes, so: zunehmende Verfremdung traditionsbehafteter Lexeme und Basisdichotomien (z. B. unordentlich – inkohärent), wobei immer stark vorhandene Alternativen als Kontextualisierungen anderer Diskurse (so Kraepelins Sprachpurismus) eingesetzt werden können, z. B.: Alienationen, Abnormitäten, Anomalien oder Aberrationen. Sie stehen der Kompositabildung offen, so Gemüthsalienationen; Beibehaltung und Übertragung von Lexemen vom physischen auf den psychischen Bereich (z. B. Funktionen), wobei – nicht metakommunikativ reflektiert – physiologische Lexeme allgemein nur auf den Bereich der menschlichen Empfindungen übertragen werden (z. B. Reizbarkeit). II. Verwissenschaftlichung ist sichtbar an: der Ablehnung der Temperamentenlehre und von Teilbereichen des anthropologischen Wissens, was zum Wegfall eines auf sie verweisenden Wortschatzes (z. B. sanguinisch) und entsprechender Argumentationsmuster führt; vollständig getilgt werden die Lexeme Wuth, Raserei und Tollheit; der Integration des gehirnanatomischen, neurologischen und experimentalpsychologischen Wortschatzes, allerdings vornehmlich in der „allgemeinen Psychiatrie“; der Bildung von neuen Krankheitsbezeichnungen mit gleichzeitiger Definition (!), z. T. fußend auf der Bedeutungsverengung früherer Kernbegriffe (z. B. Melancholie); der Schaffung neuer Lexeme wie Echolalie oder Verbigeration, die nicht in der Frühphase angelegt sind; der allmählichen, allerdings nur punktuellen Definition von bisher pragmatisch regularisierten Lexemen (so Besonnenheit); die Integration neuer Lexeme wie oberflächlich, läppisch oder leer ist Ausdruck einer
354 neuen wissenschaftlichen Orientierung hin auf die „progressive Paralyse“ und überhaupt Demenzerkrankungen; Formen der Bedeutungsverengung, die nicht nur auf definitorischem Wege erreicht werden, sondern auch dadurch, dass sich zum einen die Verwendungsweisen von der gemeinsprachlichen Verwendung abkoppeln (z. B. barock), zum anderen sich in der Frühphase angelegte, aber selten gebrauchte Latinismen einspielen (z. B. furibund). Wie ausgeführt (Kap. 3.1.3) sehe ich das Schreiben über psychisch Kranke als Teil einer Praxis einer bestimmten Art. Mit einer Praxis ist verbunden, dass sie intrinsische Güter ebenso wie Maßstäbe der Vortrefflichkeit aufweist, die sich verändern können. Anhand der Entwicklung wissensvermittelnder Texte wird der Wandel der Maßstäbe der Vortrefflichkeit, die mit der sprachlichen Organisation und Etablierung von Krankheitstypen verbunden ist, transparent. Während für Jacobi und andere Psychiater seiner Generation gilt, das Phänomen „psychisch krank“ getreu der Beobachtung zu verschriftlichen, so dass sich intertextuelle Vernetzungen zu eben jenen Praktikern ergeben, stellt sich die Situation für den über psychische Erkrankungen Schreibenden ab Griesinger komplexer dar. Denn: In der folgenden Phasen ergibt sich insofern ein Professionalisierungsschub, dass es nun diejenigen, die den Universitätspsychiatrien vorstehen, sind, die über ihre Patienten schreiben. Diejenigen, die nach dem Tod Jacobis oder Pienitz die früheren Modellanstalten leiteten, sind nur im Einzelfall neben ihrem Beruf auch Forscher. Die Doppelrolle, Kliniker auf der einen, Forscher auf der anderen führt zunächst zu anderen Intertextualitätsbezügen in der „allgemeinen Psychiatrie“. Relevant sind nun prinzipiell alle Forschungen, die etwas zur Erklärung psychischer Erkrankungen beitragen können, was u. a. dazu führt, dass der Wortschatz anderer Disziplinen und sowohl entsprechende Begriffsprägungen als auch Definitionen integrationsfähig sind. Die höheren Anforderungen an Interdisziplinarität erhöhen nicht nur die Komplexität der Schreibaufgabe, sondern sie überlagern die Wahrnehmung von Kranken in der Klinik selbst und erhöhen die Indexikalität des Schreibens, bei der Kranke Objekt wissenschaftlicher Betrachtung, potentielles Objekt der Verifizierung von Hypothesen ebenso wie zu behandelnder konkreter Fall sind. In diesem Zusammenspiel von Klinik und Wissenschaft gestalten sich offensichtlich textliche Aneignungsformen um und münden in die skizzierten Veränderungen. Als grobe Tendenz ist anzugeben: Erscheinen des Patienten nach dem Vorbild der ihrerseits stark standardisierten und das Vorgehen systematisierenden Krankenakten, sichtbar in der speziellen Psychiatrie, Orientierung an innovationsorientierten Aufsätzen in der „allgemeinen Psychiatrie“. Die Maßstäbe der Vortrefflichkeit beziehen sich somit einerseits auf eine der Krankenakte gemäße souveräne Vertextung des Materials, auf der anderen Seite auf die Kenntnis neuer oder neuartiger Erkenntnisse aus
355 angrenzenden Disziplinen. Nach dem nun wichtigsten intrinsischen Gut der Psychiatrie gefragt, bleibt zwar der Heilungsgedanke prinzipiell vorhanden, wichtiger scheint jedoch die wissenschaftliche Verifizierung von Hypothesen zu sein. Dies bringt es auch mit sich, dass die dominante Entwicklung zum Krankheitstyp wissenssensitive sprachliche Einheiten ebenso bedingt wie die Präsuppositionslastigkeit der Textur (vgl. auch Kap. 6.). Nicht nur die sprachliche Kreativität, sondern auch das verstärkte Herstellen eines wissenschaftlichen Dialogs, sichtbar an längeren Zitaten sowie an abwägenden Darstellungen von Forschungsmeinungen, der sich nicht mehr nach den rhetorischen Mustern der traditionellen Streit- und Beschreibungskultur entfaltet (diese im Gegenteil eher nivelliert) und die damit verbundene Intersubjektivität, führen zu einer anderen Annäherung an den Gegenstand. Trotz des jeweils um Neutralität bemühten Abarbeiten eines Forschungszusammenhanges und der deutlichen Markierung und Hierarchisierung von gesichertem und ungesichertem Wissen bleibt Wertung und Meinungsbetonung auch in den späteren Lehrbuchausgaben erhalten. Sie verstärken sich sogar noch in dem Moment, in dem die Introspektion des Patientensubjekts wie noch bei Griesinger aufgegeben und nach der sozialen Rolle der Psychiatrie gesucht wird, die ihrerseits zu einer schon eingeführten Stigmatisierung von Gruppen führt. Die psychiatrische Sprache behält damit grundsätzlich ihr seismografisches Potential. Soweit der interne Blick auf die Psychiatrie: Als letzte Phase der Psychiatrie kann das Erstarken ihrer gesellschaftlichen Bedeutung gesehen werden. In den Begriffen „Hysterie“ und „Schizophrenie“ laufen beide Entwicklungen zusammen, erstarktes Forschungsprofil und erstarkte soziale Bedeutung – dieses soll in den letzten Fallstudien betrachtet werden (Kap. 6.). Bei beiden Krankheitsbildern, so wie sich ihre Formierung zumindest an der Jahrhundertwende und später darstellt, schleichen sich neue Interpretationen ein: so die Degeneration, die überhaupt ein Zeichen für die Prozesshaftigkeit psychischer Erkrankungen wird, die Ansatzpunkt für die neue soziale Rolle der Psychiatrie wird, deren Allmacht im Nationalsozialismus früh und an prominenter Stelle gesteigert wird. Die Psychiatrie wird zu einer diskurssetzenden Macht, die bestimmte Segmente des öffentlichen Lebens mit Interpretationen speist, deren Wirklichkeit sie allerdings selbst nicht einlösen kann. Diese Topoi erlauben eine leichte Verflechtung mit nationalsozialistischen „Angeboten“, so dass Politik und Psychiatrie Hand in Hand gehen.
6.
Psychiatrie und Gesellschaft: Hysterie und Schizophrenie
Im Folgenden wird die sprachliche Konstitution der Krankheiten „Hysterie“ und „Schizophrenie“ betrachtet, die das Bild der Soziogenese der psychiatrischen Schreibpraxis vervollständigen sollen. Es zeigen sich bei beiden Krankheitsformen Wortschatzentwicklungen, die in den vorherigen Kapiteln thematisiert worden sind: so die Tilgung, Nivellierung und kreative Weiterführung von Traditionsbeständen. Im Falle der Hysterie tragen vornehmlich auf die französische Schule zurückgehende Entlehnungen, im Falle der Schizophrenie u. a. jedoch auch auf einzelne Psychiater zurückgehende Neubildungen zur Bereicherung des Wortschatzes bei. Die sprachliche Konstitution beider Krankheiten erfolgt in einer Zeit, in der sich die Psychiatrie als Institution etabliert und als Wissenschaft formiert hat. In dieser Zeit zeigt sich eine neuartige Entwicklung, die dadurch bestimmt ist, dass zunehmend psychiatrische Deutungen menschlichen Verhaltens und Handelns in den gesellschaftspolitischen Diskurs diffundieren und ihn stellenweise sogar prägen. Diese Entwicklung führt von einer Unidirektionalität (vgl. Kap. 4.) hin zu einer Bidirektionalität, also dem Austausch von psychiatrischen und common-sense-Deutungen abweichenden Verhaltens und Handelns. Zwar verbinden sich mit dem Nachdenken über psychische Auffälligkeiten besonders zu Beginn der Initialphase Momente der Zivilisationskritik (vgl. Kap. 2.1.1), jedoch schließen sich diese meist an die schon vorhandene Kulturkritik an (vgl. auch: Kap. 4.3.2). Durch den Anschluss an die Medizin scheinen zunächst sowohl Zivilisationskritik als auch pädagogischer Anspruch zurückgedrängt zu werden. Umso überraschender ist es auf den ersten Blick, dass in der Zeitspanne von 1880 bis zum Nationalsozialismus Psychiater zunehmend in die Rolle von „Volkserziehern“ rücken, deren Wirken als Antwort auf drängende soziale Probleme begriffen wird. Der damit verbundene Prestigegewinn lässt sich aus der Entwicklung der Psychiatrie selbst erklären. Generell wird dieser Prestigegewinn erst dadurch möglich gemacht, dass die Akzeptanz für die Psychiatrie – als Institution und Teilgebiet der Medizin – vorhanden ist und kein grundsätzlicher Legitimationsbedarf mehr besteht. Der Fortschrittsoptimismus, jedwede psychische Auffälligkeit auf körperliche Prozesse zurückzuführen, erfüllt sich jedoch nicht. Die Adaption des Wortschatzes angrenzender medizinischer Disziplinen ist eher eine medizinische „Anmutung“, die ein Versprechen auf eine genauere Fassung der Prozesse enthält, oft jedoch spekulativ bleibt. Sie führt nicht zu den erwünschten therapeutischen Erfol-
358 gen, da die Ursachen psychischer Erkrankungen mit Ausnahme der Demenzerkrankungen kaum aufgeklärt werden. Nach Engstrom (1997, 165) ist trotz großen Fortschrittsoptimismus’ „das Spannungsverhältnis zwischen Heilanspruch und therapeutischer Effektivität“ groß. Dies führt allerdings nicht zu einem denkbaren Prestigeverlust, da zeitgleich ein Aufstieg von Deutungsmustern, nämlich Hereditäts- und Degenerationslehren im Anschluss an den französischen Psychiater Augustin Morel (1809–1873) wahrnehmbar ist (als „Entartungstheoretiker“ verstehen sich Heinrich Schüle, Richard von KrafftEbing und Emil Kraepelin). In seinen Büchern Traité des Dégénérescences (1857) und Traité des Maladies Mentales (1860) wird angenommen, dass Degeneration durch Vergiftung, soziales Milieu, krankhaftes Temperament sowie angeborene und erworbene Schäden entstehe. Einflussreich ist sein „Gesetz der Progressivität“: „Die Degenerationen sind krankhafte Abweichungen vom normalen menschlichen Typ, sind erblich übertragbar und entwickeln sich progressiv bis zum Untergang.“ (Morel, zit. n. Weingart et al. 1992, 47). Engstrom führt bspw. zu Kraepelin aus: Kraepelin sah sich außerstande, die Ergebnisse der experimentellen Methode für den psychiatrischen Alltag fruchtbar zu machen. Der ausbleibende therapeutische Nutzen führte dazu, wie Hans Gruhle betont hat, daß bei Kraepelin ‚die Wissenschaft kein Mittel zu einem Zweck, sondern das größte Idol [wurde], sie war Zweck an sich‘. Insofern das psychologische Experiment weder für die therapeutische Praxis noch für die nosologische Klassifikation von Krankheitseinheiten einen Ertrag abwarf, hatte Gruhle recht: bei Kraepelin klafften Forschung und Therapie auseinander, der Mensch wurde zum bloßen Objekt experimenteller Untersuchungen. Aber gerade deshalb erhielt das Experiment eine andere Zweckbestimmung; und zwar diente es dazu, die Psychiatrie als Wissenschaft gleichrangig neben anderen Branchen der naturwissenschaftlichen Medizin zu verankern und ihre Legitimität als Hüter des Kulturgutes Gesundheit durch den ‚Schutz des Volkskörpers‘ vor ‚sozialen Krankheiten‘ im ‚Kampf ums Dasein‘ zu erweisen. (1997, 188f.)
Es ist zu betonen, dass weder Vererbungs- noch Degenerationslehre auf einem positiven Wissen über einen spezifischen Erbgang bei bestimmten Krankheiten basieren; sie stützen sich auf Beobachtungen, die nur unzureichend statistisch verifiziert werden, entsprechend vage und eher intuitiv plausibel sind (vgl. Kap. 6.1.2). Ihre Brisanz gewinnt gerade die Degenerationslehre dadurch, dass für die Verschlechterung des Erbmaterials sowohl eine bestimmte Lebensweise (Alkoholkonsum, Müßiggang, Prostitution u. v. m.) als auch eine bestimmte Lebenseinstellung (z. B. der Wille zum Kranksein) verantwortlich gemacht werden. Vor dem Hintergrund der Tatsache, dass auch der Darwinismus von Psychiatern breit rezipiert wird (vgl. Kap. 6.1.2), geraten Repräsentanten (auch sog. psychologische Typen) bestimmter, durch Degeneration belasteter Milieus besonders ins Visier der Psychiater. Dies mündet in ein Panoptikum gesellschaftlicher Randfiguren,
359 deren Existenz kaum durch detaillierte Fallschilderungen nachgewiesen, sondern zumeist postuliert wird, wodurch auch die vorher aufgebauten Grenzlinien zwischen Krankheit und moralischem Gebrechen tendenziell nivelliert werden. Es werden eben nicht klar profilierte Krankheitstypen erreicht, sondern soziale Typen, die ideologische Verwendungskontexte vorbereiten: Kraepelin hegte die Hypothese von ‚Keimschädigung‘ insbesondere durch Syphilis und Alkohol, die sich in einer Verschlechterung des Erbgutes niederschlagen sollte. Auf diese Weise erhielt sein Entartungs- und Vererbungsbegriff unbegrenzte Dehnbarkeit, da jede beliebige Auffälligkeit durch Keimschädigung im Erbgang erklärt werden konnte … Dabei standen für Kraepelin nicht körperliche Veränderungen im Vordergrund, sondern psychische Auffälligkeit galt ihm als entscheidendes Degenerationsmerkmal. Diese Auffassung machte Kraepelins Entartungsbegriff zur Grundlage des moralischen Urteils im Kern seiner Krankheitsauffassung; … (Herzog 1984, 213)
Für den Aufstieg der Psychiatrie kann verantwortlich gemacht werden, dass einerseits die Psychiater attraktive neue Angebote (Degenerationslehre, Sozialdarwinismus) machen, um Gesellschaftsprobleme zu erklären. Andererseits ist auch erkennbar, dass gleichzeitig alte Denkmodelle – sei es die müßiggängerische und lasterhafte Frau, deren Lebensstil allein für eine psychische Erkrankung prädisponiere – erhalten bleiben, jedoch sprachlich neu konstituiert, überblendet wird (vgl. auch Kap. 5.1.1). Im gesellschaftlichen Raum ergibt sich dadurch eine maximale Anschlussfähigkeit. Diese ergibt sich darüber, dass manch neue Leitbegriffe auch in der Psychiatrie in so vagen Gebrauchsvarianten vorliegen – sei es nun Degeneration, Entartung oder auch Psychopathie 1 –, dass sie leicht adaptierbar sind. Dabei erweist sich auch der schon erreichte Grad an Professionalisierung als folgenreich: Die Verschiebung von der Beobachtungs- zur Wissenssensivität, bei der klinische Erfahrungen nur bedingt und oft nur punktuell zugänglich gemacht werden, begründet eine argumentative Immunisierungsstrategie (vgl. Kap. 6.1.2). Ihre Plausibilität gewinnt nämlich die Degenerationslehre durch einen ______________ 1
Der Begriff „Psychopathie“ geht auf J.L.A. Kochs Buch Die psychopathischen Minderwertigkeiten (1891) zurück: „Unter ‚psychopathischen Minderwertigkeiten‘ faßte er alle angeborenen und erworbenen psychischen ‚Regelwidrigkeiten‘ zusammen, die jedoch auch in schlimmen Fällen keine Geisteskrankheiten darstellten. Als Ursache galten organische Zustände und Veränderungen, die Konstitution des Gehirns und Nervensystems. Aufgrund ihrer pathologischen Bedingtheit rechnete Koch die ‚psychopathischen Minderwertigkeiten‘ zum Aufgabengebiet der Psychiatrie. Damit machte Koch das weite Spektrum ‚psychopathischer‘ Erscheinungen vom ‚weinerlichen Gemütsmenschen‘, ‚Bummler‘, ‚Exzentriker‘, ‚Bösewicht‘ über den Menschen mit Zwangsvorstellungen bis zu den Menschen mit sittlichen Schwächen der psychiatrischen Betrachtung zugänglich.“ (Walter 1996, 221)
360 eher vagen Verweis auf das eigene klinische Arbeiten, das die Autorität und Legitimität des Behaupteten stützt. Freud hat nach Pörksen (1986, 152) die damit korrespondierende Form der Darstellung 1938 als dogmatische Methode bezeichnet, die er selbst von einer genetischen, explizit oder implizit dialogischen Methode abgrenze, die den Leser in den Erkenntnisprozess einbinde bzw. diesen dem Leser vorführe. Die Hysterie nun, die seit Hippokrates bis weit in das 19. Jahrhundert hinein als Organkrankheit und im Besonderen als Krankheit des Uterus galt, wird vornehmlich durch die Forschungen von Jean-Martin Charcot an der Salpêtrière zu einer Nervenkrankheit (Neurose). 2 Im deutschsprachigen Raum steht sie um die Jahrhundertwende im Brennpunkt psychiatrischer Reflexionen und avanciert neben der Neurasthenie (nervöse Erkrankung) zu einer Modekrankheit, die zu einem Anstieg der Diagnose „Hysterie“ führt (vgl. Weickmann 1997, 35). Die Forschungen zur Hysterie werden von einem regen öffentlichen Interesse begleitet: Die Untersuchungen von Charcot reichern nicht nur die fachwissenschaftliche Diskussion an und leiten die Geburtsstunde der Psychoanalyse ein (1885/86 studierte Freud bei Charcot), sondern die fotografische Dokumentation des Anfallsgeschehens, der so genannten „grande hysterie“, durch den Kliniksfotografen Paul Règnard (Iconographie photographique de la Salpêtrière, 1878) 3 inspirieren auch, wie bspw. Schneider (1985, 879–895) gezeigt hat, zahlreiche Künstler (so die Symbolisten um Gustav Klimt). Augustine, eine 15jährige Hysterikerin, kann mit Showalter als eine Art Starmodel des ausgehenden 19. Jahrhunderts bezeichnet werden: Women were not simply photographed once, but again and again, so that they became used to the camera and to the special status they received as photogenic subjects. Some made a sort of career out of the modelling for the iconography. Among the most frequently photographed was a fifteen-year-old girl named Augustine, who had entered the hospital in 1875. … Intelligent, coquettish, and eager to ______________ 2
3
Die Zuordnung der Hysterie zu den Nervenkrankheiten geht auf William Cullen (1710-1790) zurück. Charcot ist ab 1862 Professor der Neurologie und Chefarzt an der Salpêtrière, die zu diesem Zeitpunkt 8000 Menschen beherbergt: „Als Charcot sich dem weiten Gebiet der Neurosen zuwandte, herrschte auch im Hinblick auf die Hysterie große Ratlosigkeit. Im Rahmen des pathologisch-anatomischen Denkens wurde die Hysterie zur rätselhaftesten aller Neurosen erklärt und als eine Affektion mit unbekanntem Ursprung definiert.“ (Schaps 1982, 51) „Im Verein mit seinen Patientinnen kreierte Charcot legendäre, geradezu beispielhafte ‚attaques‘, die auf photographischen Platten festgehalten wurden. Damit war die Hysterie im Zeitalter ihrer technischen Reproduzierbarkeit angekommen. Charcot verpaßte ihr einen gesetzesmäßigen, chronologischen Ablauf und erklärte, die ererbte Veranlagung sei das ursächliche Moment des hysterischen Furors, während alle anderen Faktoren als ‚agents provocateurs‘ hinzuträten.“ (Weickmann 1997, 27)
361 please, Augustine was an apt pupil of the atelier. All of her poses suggest the exaggerated gesture of the French classical acting style, or stills from silent movies. Some photographs of Augustine with flowing locks and white hospital gown also seem to imitate poses in nineteenth-century paintings … Among her gifts was her ability to time and divide her hysterical performances into scenes, acts, tableaux, and intermissions, to perform on cue and to schedule with the click of the camera. (Showalter 1987, 154; Hervorhebung im Text) 4
Bei der Hysterie, die heute nicht mehr als Krankheitsbezeichnung in psychiatrischen Klassifikationen, jedoch in der Psychotherapie existiert (vgl. Israël 1976, 30), bereitet sich relativ früh die Auflösung des Krankheitsbegriffes vor. Die bei Charcot im Zentrum stehenden Stigmata (vgl. Kap. 6.1.1) sowie der gleichmäßige Verlauf des Anfallgeschehens lassen sich in der Praxis nicht immer nachweisen. Die Hysterie wird jedoch nicht aus der psychiatrischen Nosologie verbannt: Bei ihr verengt sich das Bild auf einen vererbbaren „hysterischen Charakter“, bei Jaspers auf einen „hysterischen Typus“ bzw. bei Jung auf einen „extravertierten Typus“, der nicht nur körperliche, sondern psychische Degenerationszeichen aufweise. Das Krankheitsbild verschiebt sich damit von der Neurose zu einer Psychose, die ihre Plausibilität vornehmlich aus einer hereditären Disposition und einer angenommenen Degeneration gewinnt. Die „Kriegszitterer“ des Ersten Weltkrieges, die zu den Hysterikern gerechnet werden, führen zwar die Vorstellung einer weiblichen Nervenkrankheit ad absurdum, geben jedoch der inzwischen weithin geteilte Auffassung einer hereditären Verursachung der Hysterie neue Nahrung. So werden Kriegshysteriker, sieht man von der psychoanalytischen Schule ab, als psychisch Degenerierte bzw. Psychopathen beurteilt, denen darüber hinaus „Organminderwertigkeit“ und/oder „Wille zum Kranksein“ unterstellt wird. Der Begriff „Schizophrenie“ wird zwar 1911 durch den Schweizer Psychiater Eugen Bleuler geprägt, die Betrachtung der entsprechenden Krankheitsform besitzt jedoch eine längere Tradition, die auf die 1863 veröffentlichten Katatonie-Studien Ernst Kahlbaums zurückgeht, die ihrerseits Kraepelin zur Annahme der Krankheitsform „Dementia praecox“ veranlassten. Die „Schizophrenie“ löst Krankheiten ab, die zunächst relativ allgemein unter Begriffen wie „Wahnsinn“ und/oder „Demenz“ gefasst worden sind. ______________ 4
Die Diskussion um und entsprechend auch die sprachliche Gestaltung von hysterischen Hauptsymptomen obliegen nicht ausschließlich psychiatrischen Monographien, sondern werden auch in (populärwissenschaftlichen) Zeitschriften (z. B. der Gartenlaube) oder Kunstmagazinen (die Gegenwart u. ä.) geführt. Zudem tragen literarische Frauengestalten wie Effi Briest, Cecile, Emma Bovary, Anna Karenina, Nana, Hedda Gabler oder Nora Grundzüge hysterischer Frauen. Weickmann kann plausibilisieren, dass sich Gestik und Mienenspiel (z. B. die weit aufgerissenen Augen) am Vorbild der ikonographischen Gestaltung der Hysterie orientieren (vgl. Weickmann 1997, 133).
362 Ähnlich wie der Hysterie lässt sich eine Ursache für die Krankheit nicht finden, was Bleuler dazu führt, die Existenz einer Krankheit beim Vorliegen bestimmter Symptome (z. B. Autismus und Transitivismus) anzunehmen. Die symptomologische Zugangsweise wird als unbefriedigend wahrgenommen und eine Vererbbarkeit angenommen, die unter schlechtem Einfluss wiederum zur Degeneration führen könne. Der Erbgang der Schizophrenie konnte allerdings noch nicht nachgewiesen worden: Die Erbanlage der Schizophrenie (Zahl, Art und Lokalisation der pathogenen Gene) ist ebenso wie der Erbgang (Modus der Übermittlung) bisher nicht bekannt. Sicher ist es kein einfacher Mendelscher Erbgang … Es kann sich um eines, wenige oder viele pathogene Gene handeln (Monogenie versus Polygenie); darüber hinaus müssen noch unterschiedliche Penetranz und unterschiedliche Expressivität des unbekannten Genotyps zum polymorphen Phänotyp berücksichtigt werden. … (Scharfetter 31990,137)
Weder konnte der von Kraepelin schon in der Begrifflichkeit „Dementia praecox“ postulierte Verblödungsprozess von Bleuler bestätigt werden, noch ist bis in die 20er Jahre hinein unumstritten, was wirklich unter Schizophrenie zu verstehen ist. Trotz der Zweifel an der Krankheitsform „Schizophrenie“ wird im Nationalsozialismus ihre Vererbbarkeit unterstellt. Zu ihrem Nachweis stützt man sich auf Mittel der Statistik und Wahrscheinlichkeitsrechnung „Erblichkeitsprognosen“, die von Ernst Rüdin 1916 in die Forschung eingeführt werden (später ist dieser Reichskommissar für Rassenhygiene). 1933 fällt die Schizophrenie dann unter das „Gesetz zur Verhütung des erbkranken Nachwuchses“ (vom 14.7. 1933, am 1.1. 1934 in Kraft getreten), in dessen Folge eine Vielzahl von Menschen im fortpflanzungsfähigen Alter sterilisiert wird. Neben der Diagnose „angeborener Schwachsinn“ stellte diese Diagnose nach den Angaben von Walter (1996, 550) und Weingart et al. (1992, 469) den häufigsten Grund für die Einleitung von Sterilisationsmaßnahmen dar. 5 Mit dem Gesetz ist die Vorgabe verbunden, in den Folgejahren die Sterilisation von ungefähr einer Million Menschen einzuleiten (!); schon im Jahr 1934 werden ca. 30.000 Menschen sterilisiert (nach den Angaben von Bock 1986). Obwohl nach Schmuhl die rechtsstaatliche Praxis der Sterilisation (so das Wirken des Erbgesundheitsamtes) durchaus bezweifelt werden kann, wurde der Anschein eines ordentlichen Verfahrens, für das ein Gutachten nach genauen Vorschriften anzufertigen ist, gewahrt. ______________ 5
Die weiteren Diagnosen sind: „zirkuläres (manisch-depressives) Irresein“, „erbliche Fallsucht“, „erblicher Veitstanz“, „erbliche Blindheit“, „erbliche Taubheit“ und „schwere körperliche Mißbildung“. Für die psychiatrischen Diagnosen soll gelten: „Im wesentlichen enthielten sie Beschreibung der ‚Abweichung‘ vom Normalen und waren mit sozialen Werturteilen angereichert.“ (Weingart et al. 1992, 469)
363 Obwohl im Unterschied zur ‚Euthanasie‘ bei der Sterilisierung Verwaltungs- und Gerichtsinstanzen mit einem gesetzlich vorgeschriebenen Antrags- und Entscheidungsverfahren beauftragt waren, ließ das Gesetz den Erbgesundheitsgerichten einen so weiten Ermessensspielraum und stattete sie mit so großen Machtmitteln aus, daß die Sterilisierungspraxis weit vom Prinzip der Rechtsstaatlichkeit entfernt war. Insofern bereitete die Form der Gesetzgebung die spätere Gesetzeslosigkeit vor. (Schmuhl 1987, 158)
Die gewandelten Rahmenbedingungen, Festsetzung der Zweckmäßigkeit ärztlichen Handelns und Quotendruck einerseits, genaue Vorschriften für das Verfassen ärztlicher Gutachten andererseits, die erstmals nicht aus der psychiatrischen Praxis erfolgen, sondern einem staatspolitischen, totalitären Ordnungsgedanken folgen, machen die Frage danach virulent, welche Handlungsfelder in der Praxis erhalten geblieben sind. Die linguistische Betrachtung wird in den folgenden Kapiteln, geordnet nach „Hysterie“ im Kap. 6.1 und „Schizophrenie“ im Kap. 6.2, folgende Themen behandeln: Es werden die neuartigen Wortschatzressourcen bei zum Teil relativer Konstanz der Symptome thematisiert, die den psychiatrischen Wortschatz ergänzen. Bei der Hysterie, die als Krankheitsentität nicht bestätigt werden kann und ein irritierendes polymorphes Erscheinungsbild besitzt, wird nicht nur deutlich, dass sich Experten- und Laienwahrnehmung annähern, sondern auch, dass die Suche nach ihrer Ursache zu einem Experimentierfeld psychiatrischer Deutungsversuche wird. Auffällig dabei ist, dass, umso weiter sich die Darstellung der Hysterie von Charcot und damit auch von ihrer klinischen Erforschung entfernt, umso mehr verschiebt sich die Hysterikerin (später der Kriegszitterer) zu einem vor-erfahrenen, vertrauten personalen Typ, was z. T. zu einer stark evaluativ-moralisierenden Betrachtung führt (vgl. Kap. 6.1.1). Das schon skizzierte Verschwinden des Narrativen und das Wiedererstarken personaler Typen korreliert in Zeitschriftenartikeln und Monographien mit einem argumentativen Zugriff, bei dem eine Vielzahl von Plausibilitätsindikatoren, Formen strategischer Argumentation, strategisch anverwandelte Bilder, evokative Termini und ein charakteristischer Umgang mit Unsicherheitszonen nachweisbar sind (vgl. Kap. 6.1.2). Manche Texte ähneln deshalb eher auch Pamphleten als wissenschaftlichen Texten. Interessanterweise, was in Kapitel 6.1.3 beleuchtet wird, führt die Revitalisierung der Krankengeschichte in der Psychoanalyse zu einem gänzlich anderen Bild der hysterischen Erkrankung. Bei der Schizophrenie liegt ein besonderer Schwerpunkt auf der Frage, wie diese Krankheitsform sprachlich konstituiert und ob durch gewandelte kommunikative Rahmenbedingungen in der Klinik (die angeordnete Sterilisation von Schizophrenen im Nationalsozialismus), sich das klinische Schreiben verändert. Zur Beantwortung dieser Frage wurden 87 Krankenakten aus der Universitätspsychiatrie Gießen bis 1939 herangezogen (vgl. Kap. 6.2.2).
364
6.1
Die Karriere des Krankheitsbildes „Hysterie“ (1870–1930): Die sprachliche Erfassung eines unbegriffenen Phänomens
6.1.1
Die sprachliche Konstitution des Krankheitsbildes in der Nachfolge Charcots
Die Hysterie löst sich mit der Annahme einer neuronalen Ätiologie von ihrem psychiatrischen Schattendasein und wird zu einer Modekrankheit, auf die sich neben Psychiatern die Aufmerksamkeit von Gynäkologen (z. T. in offener Feindschaft zu den Ideen von Psychiatern),6 Kulturphilosophen und Künstlern konzentriert. Das Nachwirken der alten Vorstellung einer Organkrankheit bestimmt zunächst die vor-charcotschen Vorstellungen der Hysterie. Griesinger bspw. bezeichnet die Hysterie als weibliche Form des Irreseins, der man nur in äußerst seltenen Fällen auch bei jungen Männern begegne. Er beobachtet Krampf- und Neuralgiebeschwerden, die ‚eigentümliche hysterische Gemütsbeschaffenheit‘, die sich in Launen, Sympathie für das eigene weibliche Geschlecht, aufgeweckter Intelligenz, Neigung zu Täuschung und Lüge, Unentschlossenheit und Willenlosigkeit zeige. Einfluss auf den Verlauf des Irreseins hätten für die Frau generell Menstruationsbeschwerden, Erkrankungen im Bereich des Genitalsystems, Schwangerschaft, Geburt und Laktation. 7 Der Aufstieg der Hysterie zu einer „Modekrankheit“ erfolgt in der Nachfolge Martin Charcots. Er schafft hinsichtlich der Verlaufsformen ein einheitliches Bild der Erkrankung (so durch die Annahme notwendig vorhandener hysterischer Stigmata und eines relativ einheitlichen Anfallverlaufes mit unterschiedlichen Phasen), obwohl er unterschiedliche ______________ 6
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Bei den geringsten Anomalien des Genitalapparates empfahlen die Gynäkologen operative Korrekturen oder Radikalkuren, die im 19. Jahrhundert häufig in England und Amerika, aber auch in Deutschland durchgeführt wurden. Demgegenüber kritisierten die meisten deutschen Psychiater diese Operationsfreudigkeit der Gynäkologen: damit sei die Hysterie nicht zu heilen, … (Schaps 1982, 73) Griesingers Ausführungen weisen eine Kontinuität zu früheren Lehren aus 18. Jh. auf: „Nach der damals vorherrschenden Meinung werden von dieser Krankheit nur Frauen befallen. Besonders gefährdet sind Jungfrauen, junge Witwen, aber auch Schwangere und Frauen im Klimakterium werden erfasst … Falsche Lebensführung fördert die Krankheitsbereitschaft. Allgemein wird Müßiggang für schädlich gehalten …, besonders anfällig sind Töchter und Frauen aus reichem Hause, die dem Müßiggang und dem Vergnügen leben … Zu viele Ruhe und fehlende Bewegung können leicht eine Säftestauung verursachen und seien deswegen schädlich … Nichts schwäche aber die Nerven und erschöpfe die Lebenskraft mehr als zu häufige Liebesübung …“ (Hayd 1968, 20)
365 Ursachen der Erkrankung benennt. Er nimmt eine möglicherweise degenerativ bedingte „dynamische Läsion des Gehirns“ an, dessen körperliches Substrat jedoch nicht nachgewiesen wird. Da Charcot die Anfälle seiner Patientinnen suggestiv hervorrufen kann, nähert er sich gleichzeitig einer möglichen psychogenen Entstehung der Hysterie an, die er auch dort bestätigt sieht, wo die Hysterie durch Unfälle entstandene körperliche Traumen auch Jahre nach der eigentlichen Verletzung noch festhält bzw. fixiert. 8 Seine Vorstellungen geben unterschiedliche Argumentationslinien vor: eine spekulative körperlich-degenerative Ätiologie im Gegensatz zu einer möglicherweise psychogenen Entstehung aufgrund körperlicher Traumen – ein im engeren Sinne psychisches Trauma wie später Freud und Breuer nimmt er nicht an. 9 Nach der Auffassung von Charcot gehört zur Hysterie in ihrer klassischen Ausformung der „große Anfall“ (grande attaque oder grande hysterie), der auch als hystero-epileptischer Anfall bezeichnet wird, da er epileptoide Züge aufweise: … will ich ihnen nochmals einige der grossen Erscheinungsformen der Hysterie bei Frauen in classischen Typen vorführen … Ich habe dabei die Hystero-epilepsie a crises mixtes oder grosse Hysterie, wie sie sich bei einer grossen Anzahl der in unserer Pflege befindlichen Kranken zeigt, im Auge … (Charcot 1886, 65)
Die Anfälle selbst weisen einen charakteristischen Verlauf auf: Die spontanen Anfälle werden durch einen Zustand von Traurigkeit, Klopfen in den Schläfen und die Empfindung einer Kugel, welche von Präcordialangst bis zum Kehlkopf aufsteigt, eingeleitet. Ob die Anfälle spontan oder künstlich hervorgerufen sind, immer zeigen sie zuerst eine epileptoide, in der einen Körperhälfte stärker hervortretende Periode. Der Kranke bekommt tonische und klonische Krämpfe, die auf der linken Seite vorwiegen, verliert das Bewusstsein, beisst sich aber nicht in die Zunge. Dann beschreibt er mit seinem Körper einen Kreisbogen … In einer dritten Phase geht er mit offenen Augen umher und stösst einen Schrei des Entsetzens aus (er sieht nämlich seine Mutter todt vor sich liegen). (Charcot 1886, 73). Der Kreisbogen taucht in deutschsprachigen Veröffentlichungen öfter als arc de cercles auf.
Zu den Stigmata werden neben der Hemianästhesie (die Empfindungslosigkeit einer Körperhälfte) vor allen Dingen gezählt: Anästhesien an Haut und ______________ 8
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„CHARCOT hat also eine Psychogenie der Hysterie erkannt, aber er hat nie geglaubt, damit die Ursache der Neurose entdeckt zu haben. Dazu war er auch als Psychologe zu sehr Naturwissenschaftler. Es bedurfte einer Abwendung des psychologischen Denkens vom medizinisch-naturwissenschaftlichem Denken, daß diese Auffassung für falsch angesehen werden konnte.“ (Fischer-Homberger 1971, 45) Stigma verstehe ich hier im Sinne von Goffman (1974), der unter einem Stigma ein Merkmal, eine Eigenschaftsattribuierung versteht, das dazu führe, dass soziale Distanz zu einem stigmatisierten Individuum aufgebaut und dieses sozial diskreditiert werde.
366 Organen, concentrische Gesichtsfeldeinengungen, hysterogene Körperzonen, aufgehobene Geruchs- und Geschmacksempfindungen, veränderte Sinnesempfindungen, Lähmungen einzelner Glieder, Kontrakturen der Gelenke, Krämpfe und Muskelspannungen, Mutismus, Aphonie, Anorexie, Sehstörung, Clavus, globus hystericus sowie hysterisches Erbrechen (vgl. auch Schaps 1982, 65). Neben Begriffen wie hysterogen, die direkt auf Charcot verweisen: Was sind nun diese hysterogenen Zonen? Es sind mehr oder minder gut begrenzte Körperstellen, in deren Bereich ein Druck oder ein einfaches Reiben der Haut mehr oder minder rasch die Phänomene der hysterischen Aura hervorruft, auf welche mitunter, wenn man die Reizung lange genug fortsetzt, ein hysterischer Anfall folgen kann. (Charcot 1886, 70)
gibt es eine Reihe von Lexemen, die auf die Tradition der Anfallsbeschreibung zurückgehen. Unter diesen befinden sich die eben zitierte hysterische Aura und der globus hystericus 10, vgl.: Empfindung einer Kugel, welche vom Uterus auszugehen, nach dem Magen zu eine mehr oder minder lebhafte Wärme oder eisige Kälte auszuströmen scheint, dann zum Halse aufsteigt, und mehr oder minder das Athmen beengt, Zusammenziehung und Spannung des Unterleibes, zuweilen durch Aufblähung desselben u.s.w. … Zweiter Grad. Zunahmen der angegebenen Symptome in den intensiven hysterischen Anfällen – Zuweilen Verlust des Bewusstseins, konvulsivische Bewegungen der Glieder, des Rumpfs und des Kopfes. (Pinel, zit. n. Dubois 1840, 182)
Die Wirkungsmacht der Charcotschen Begriffsbildung lässt sich vornehmlich an den im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts veröffentlichten wissenschaftlichen Artikeln festmachen, die oftmals an den Fall angepasste Übersetzungen der Charcotschen Kasuistik zu sein scheinen: Der Befund bei der Aufnahme ergab: Mittelkräftig gebautes, gut genährtes Mädchen. Frische Gesichtsfarbe. An den inneren Organen und am Nervensystem nichts Pathologisches nachweisbar. Acht Tage nach ihrer Aufnahme bekam Patientin einen Anfall: Als Prodromalerscheinungen: Kopfschmerzen, Schwindel und leichte Zuckungen im rechten Bein. Sodann klonische Krämpfe, zuerst im rechten Bein, dann übergreifend auf das linke Bein, die oberen Extremitäten und das Gesicht. Pupillen im Anfall weit und starr. Schaum vor dem Mund. Keine Enuresis. Kein Zungenbiss. – Dauer des ______________ 10
„Globus hystericus“ verweist nach den Angaben von Hayd auf eine lange Traditionslinie: „Die hippokratische Vorstellung vom Umherwandern des Uterus findet sich darin wieder, daß Hysterische das Gefühl beschreiben, es bewege sich eine Kugel im Bauch …, steige zum Diaphragma … oder im Schlund hinauf. Auch von einer verschluckten Kugel ist die Rede, durch die es dann zu Schluckschwierigkeiten komme …“. (1968, 36)
367 Anfalls 11/2 Minuten. – Nach dem Anfall Kopfschmerzen, Puls 108, leichte Zuckungen in den Unterarmmuskeln. Am folgenden Tage wieder subjectiv völliges Wohlbefinden. Am 14. Januar 97 wird bei der Aufnahme des Gesichtsfeldes eine hochgradige concentrische Gesichtsfeldverengung für Weiss und Farben constatirt, die rechts noch stärker ist als links. – Sonst keine hysterischen Stigmata. … In der darauf folgenden Zeit eine Anzahl von stärkeren Anfällen. Während dieser Periode war das Befinden der Patientin wechselnd: zeitweilig verwirrt, ängstlich; dann wieder unmotivirt heiter, freundlich. In einem Moment der Klarheit spricht sie sich aus über das letzte Depressionsstadium, …“ (Steffens 1900, 902). Aus den Folgeberichten: Dann plötzlich wirft sie sich der Länge nach hin auf das Bett. Tonische Krämpfe der Extremitäten. Ausgesprochener „Arc des cercle“. (ebd., 896). Ferner finden wir bei Mary B. die ‚hysterische Aura‘ in Form einer maniakalischen Erregtheit, wobei Patientin nach unmotiviertem Lachen ebenso unmotivirt plötzlich zum Weinen kommt, während sie in der übrigen anfallfreien Zeit ein absolut vernünftiges Mädchen ist, in dessen Charakter keinerlei pathologische Züge aufzufinden sind. Den Beweis, dass es sich hier um eine ‚paroxysmale Hysterie‘ und nicht vielleicht um ein ‚periodisches Irresein‘ oder um ‚epileptische Äquivalente‘ handelt, erhalten wir wiederum durch den Nachweis von ‚hysterischen Stigmata‘. (ebd., 913)
In jedem herangezogenen Text zur Hysterie vor und um die Jahrhundertwende findet sich die Übernahme des Charcotschen Vokabulars, z. B.: Ihren überraschendsten Ausdruck finden beide in denjenigen Reaktionen der Hysterie, die sich in eigenthümlichen Veränderungen am eigenen Körper des Kranken zeigen und als hysterische Stigmata bezeichnet werden.“ (Hellpach 1903, 17). Hellpach nennt auch: die grande hysterie (ebd., 90), arc de cercle (ebd., 90) oder die Phase des ebenfalls auf Charcot zurückgehenden Clowinismus (90).
Wie die Folgeveröffentlichungen zeigen, ist jedoch der auf Charcot zurückgehende Wortschatz wiederum veränderbar. Während das Lexem Stigmata bei seinem Schöpfer eindeutig auf die körperliche Symptomatik der Hysterie verweist, ist es in der Folgezeit nicht unüblich, auch von psychischen oder hereditären Stigmata bzw. Stigmen zu sprechen. Es sind allerdings nicht nur kreative Weiterbearbeitungen, die im deutschsprachigen Raum erfolgen, sondern es verschlechtert sich auch die Bedeutung einzelner Lexeme: So ist Suggestibilität bei Charcot und Nachfolgern ein eher neutrales deskriptives Lexem, das zunehmend pejorativ verwendet wird. Während bis zur Jahrhundertwende die Autorität Charcots geradezu unangefochten gilt, wird ab der Jahrhundertwende sowohl das notwendige Vorliegen von Stigmata als auch das notwendige Auftreten eines Anfalls bezweifelt. So mehren sich die Stimmen, dass die Hysterie bisher eigentlich eine unbegriffene Krankheit bzw. es selbst zweifelhaft sei, ob die Hysterie als Krankheit überhaupt existiere – wiederum erweist sich das Erreichen von Beobachtungsadäquatheit als Stolperstein:
368 Die Hysterie ist das Schmerzenskind er Nervenpathologie … (Binswanger 1904, 1), Man ist versucht zu sagen: so viele Individualitäten, so viele Variationen der hysterischen Zustandsbilder. (ebd., 7) Eine selbstständige, einige und unteilbare Krankheit ‚die Hysterie‘ gibt es gar nicht, es gibt nur bestimmte Stigmata, die man seit alters ‚hysterische‘ nennt. Diese Symptome sind für kein bestimmtes Leiden ausschlaggebend, es sind Ermüdungsund Erschöpfungszeichen, … Folglich ist das, was wir Hysterie nennen, kein Morbus, sondern eine Cohors morborum, ein buntes Heer aus allen Krankheitsgebieten zusammengelesener Typen, denen nichts, aber auch gar nichts gemeinsam ist, als eben jene Stigmata. (Steyerthal 1911, 120) Eine wesentliche Schwierigkeit der Behandlung dieser Frage sehe ich darin, daß Hysterie hier als bekannte Größe in die Rechnung gestellt ist. Nun ist Begriff und Wesen der Hysterie nichts weiter als geklärt. … Die psychogene Entstehung der hysterischen Krankheitserscheinungen ist, obwohl nicht immer ersichtlich, doch unbestritten. Ist aber nun das wesentliche in den körperlichen Stigmen gelegen …, oder ist das Wesentliche das hysterische Temperament, der hysterische Charakter? … So kann man dazu gelangen, wie Wilmans, Hysterie als Krankheitsentität überhaupt abzulehnen und nur hysterische Symptome und einen hysterischen Typus gelten zu lassen. Aber auch was als hysterischer Typus zu gelten hat, ist nicht ohne weiteres leicht zu definieren. (Bonhoeffer 1911, 373) Unter den Krankheitsbegriffen, mit denen wir tagtäglich arbeiten, ist kaum einer nach Inhalt und Umfang so strittig wie derjenige der Hysterie. An dem Krankenbette selbst freilich werden, abgesehen von diagnostischen Schwierigkeiten, die Meinungen der Fachgenossen über die Frage, was als hysterisch zu bezeichnen sei, zumeist gar nicht so weit auseinandergehen. (Kraepelin 1913, 261)
Mit dem Nachdenken über die polymorphe Gestalt der bei Charcot festen Krankheitsentität verbindet sich z. T. vehemente Kritik am Vorgehen Charcots und an seiner Stigmata-Theorie: Wohlgemerkt nichts, aber auch gar nichts weiter, denn ob es eine solche Krankheit wirklich gibt, ist eine andere Frage. … berechtigt jenes eine Symptom, die halbseitige Anaesthesie, zur Annahme einer Hysterie? Weil die Hysterischen an Anaesthesien leiden, deshalb ist jeder der eine empfindungslose Stelle hat, ein Hysterischer! (Steyerthal 1911, 117)
Die bei Charcot angelegte Spannung zwischen der Annahme eines somatogenen und eines psychogenen Ursprungs führt im deutschsprachigen Raum dazu, dass sich Vertreter der unterschiedlichen Richtungen formieren, wobei der psychogene Ursprung im Anschluss an Möbius (1888, 66–71) favorisiert wird: Die seelischen Eigentümlichkeiten, an welche wir gewöhnlich bei der Hysterie denken, die Launenhaftigkeit, die Sucht aufzufallen und Aehnliches können da sein oder fehlen. … Wie müssen nun diese körperlichen Störungen beschaffen sein? Ich glaube, man kann antworten: Hysterisch sind alle diejenigen krankhaften
369 Veränderungen des Körpers, welche durch Vorstellungen verursacht sind. Dass Vorstellungen, welche mit lebhaften Lust- oder Unlustgefühlen verknüpft sind, allerhand körperliche Veränderungen hervorrufen, weiss jedes Kind … Die hysterische Art besteht eben darin, dass sowohl diese Veränderungen ungewöhnlich leicht und ungewöhnlich heftig durch Vorstellungen hervorgerufen werden, als dass Vorstellungen körperliche Störungen hervorrufen, welche bei Gesunden überhaupt nicht beobachtet werden, z. B. Hemianästhesie. 11 (Möbius 1888, 66f.; Hervorhebung v. d. Verf. – B-M. Sch.)
Möbius ist einer größeren Öffentlichkeit allerdings durch das misogyne Traktat Der physiologische Schwachsinn des Weibes (71905) bekannt. Diese Veröffentlichung befasst sich mit den Unterschieden zwischen Mann und Frau und ist für die Hysteriebetrachtung insofern relevant, als dass sie eine lange Tradition des Nachdenkens über die Hysterie fortsetzt und in der Koppelung mit alten Stereotypen die Hysterielehre überblendet. Möbius postuliert: Körperlich genommen ist, abgesehen von den Geschlechtsmerkmalen, das Weib ein Mittelding zwischen Kind und Mann, und geistig ist sie es, wenigstens in vielen Hinsichten, auch. Im einzelnen giebt es freilich Unterschiede. Beim Kinde ist der Kopf relativ grösser als beim Manne, beim Weibe ist der Kopf nicht nur absolut, sondern auch relativ kleiner. (Möbius 71905,14). Der Instinkt nun macht das Weib thierähnlich, unselbständig, sicher und heiter. In ihm ruht ihre eigentümliche Kraft, er macht sie bewundernswert und anziehend. Mit dieser Thierähnlichkeit hängen sehr viele weibliche Eigenthümlichkeiten zusammen. Zunächst der Mangel ______________ 11
Der Gießener Psychiater Robert Sommer bspw., der in alle psychiatrierelevanten Debatten mit eigenen Vorschlägen eingebunden ist, schlägt sogar vor, die Bezeichnung „Hysterie“ ganz aus der psychiatrischen Nosologie zu verbannen und durch Psychogenie zu ersetzen (diese Bezeichnung wird sich allerdings nicht durchsetzen): „Ich suche mit dem Wort Psychogenie die Consequenzen aus den wissenschaftlichen Erörterungen zu ziehen, welche besonders von Moebius und Rieger in Deutschland über die Natur der sogenannten Hysterie angestellt sind, erkläre jedoch ausdrücklich Hysterie im jetzigen Sinne für den weiteren Begriff. Es handelt sich um Krankheitszustände, welche durch Vorstellungen hervorgebracht und durch Vorstellungen beeinflussbar sind.“ (Sommer 1894, 127). Eine Begründung für den Bezeichnungswechsel liegt auch in der konnotativen Überladung des Begriffes, die Sommer anschaulich zeigt: „Während also ein Arzt z. B. einer Mutter die in Bezug auf die Prognose erfreuliche Mittheilung macht, dass die fürchterlichen Krampfanfälle ihrer 7jährigen Tochter auf Hysterie beruhen, entsetzt sich die Mutter im Stillen oder auch manchmal sehr laut über die Zumuthung, dass ihr Töchterchen schon in diesem Alter sexuell verdorben sein soll … Aber nicht einmal als Bezeichnung für eine bestimmte Krankheitseinheit kann das Wort Hysterie bestehen bleiben, weil die unter diesem Namen zusammengefassten Zustände durchaus verschiedener Natur sind. Die Symptomologie dieser künstlichen Einheit hat sich allmählich so erweitert, dass es geradezu unmöglich ist, dem Praktiker ein bestimmtes Krankheitsbild zu geben, …“ (ebd., 126)
370 des eignen Urtheils. Was für wahr und gut gilt, das ist den Weibern wahr und gut. (ebd., 18) 12
Die Tierähnlichkeit, die gleichzeitige Kindlichkeit und damit Unselbstständigkeit der Frau, für die diese Entwürfe stehen, erinnern an die Vergleiche, dass psychisch Kranke sich wie Tiere oder Kinder verhielten und in ihrem Denken und Fühlen gebunden seien (vgl. Kap. 4.3.2.3). Der durch Möbius pointierte biologische Determinismus und die gleichzeitig bei Charcot nachgewiesene Suggestibilität der hysterischen Erkrankungen haben zur Folge, dass in die Symptomatik der Hysterie solche Theoreme wie das der naturwüchsigen Triebhaftigkeit der Frau einfließen. Sie machen die hysterische Frau zum Paradefall für unterschiedlichste Projektionen. Interessant ist, dass mit diesen Behauptungen die eigentlich schon verabschiedete Ätiologie (Hysterie als Krankheit des Uterus) über einen Umweg wieder erstarkt: Die körperlichen Merkmale der Frau begründen ihre Hysteriefähigkeit. Das Wirken dieses biologisch determinierten Frauenbildes ist nicht ungewöhnlich – auch bei angesehenen Psychiatern der Jahrhundertwende: In der weiblichen wie in der kindlichen Seele ist etwas Letztes, das aller Geschichte trotzt und alle Wandlung im Laufe der Zeiten nur als einen gewandelten Schleier erkennen läßt. Das ist eben jene selbe Phantasiehaftigkeit und Begriffsfeindschaft … Es ist weiterhin die Labilität des Nervensystems, rein physisch genommen, die jeder Erregung rascher und ausgiebiger Bahnen zur Ausbreitung und Entladung eröffnet. Und es ist, beim Weibe wenigstens, aber auch beim reifenden Kinde, die Neigung, gewisse Erlebnisse (wie die Erlebnisse der erotischen Sphäre!) zu verdrängen, zu umschleiern und damit Unordnung ins seelische Gewebe zu bringen. Diese Eigenschaften bringen es mit sich, daß noch heute bei Weib und Kind überhaupt nervöse Störungen leicht in die Richtung der hysterischen Erscheinungen geleitet werden, fragmentarische Hysterie die weitaus häufigste Seelenveränderung ins Krankhafte bei beiden ist. (Hellpach 1906, 1035; Hervorhebung v. d. Verf. – B-M. Sch.)
Das Zurückführen der Hysterie auf eine der Frau zukommende Konstitution und die aus dieser Konstitution resultierenden Eigenschaften prägt auch die Vorstellungen bei einigen Psychoanalytikern (nicht bei Freud!). Jung beispielsweise geht von einer „extravertierten Einstellung“ aus. Für den extravertierten Typus selbst besitzen Frauen eine besondere Anlage, wobei sich ______________ 12
Ähnlich auch Hoffmann: „Abgesehen davon, daß das Weib an und für sich durch seine Constitution von einer ganzen Anzahl von Berufen, die für den Culturfortschritt der Menschheit von großer Wichtigkeit sind, ausgeschlossen ist, so stellt doch überhaupt jedes Weib so sehr die ganze irdische, ich möchte sagen thierische Abstammung des Menschen durch verschiedene seiner leiblichen Functionen vor Augen, daß es begreiflich ist, wie es im höheren Flug der Gedanken immer wieder gestört wird, ja meist gar nicht dazu kommt.“ (Hoffmann 1903, 233; Hervorhebung v. d. Verf. – B-M. Sch.)
371 auch hier der schmale Grad von normaler Frau auf der einen und Hysterikerin auf der anderen Seite zeigt: Wenn das extravertierte Fühlen das Primat besitzt, so sprechen wir von einem extravertierten Fühltypus. Die Beispiele, die mir bei diesem Typus vorschweben, betreffen fast ohne Ausnahme Frauen. Diese Art Frau lebt nach der Richtschnur ihres Gefühls. … Damit soll nun keineswegs gesagt sein, daß eine solche Frau überhaupt nicht denke; im Gegenteil, sie denkt vielleicht sehr viel und sehr klug, aber ihr Denken ist niemals sui generis, sondern ein epimetheisches Anhängsel ihres Fühlens. (ebd., 387f.; Hervorhebung v. d. Verf. – B-M. Schuster)
An die Argumentationskette „anderes Nervensystem/Gehirn – anderer Charakter – prinzipielle Hysteriefähigkeit der Frau“ lassen sich – wie wohl bei keiner anderen Krankheit – Argumentationstopoi anlagern, die zum Grundbestand psychiatrischen Argumentierens in der Initialphase gehören. Sowohl in psychiatrischen und populärwissenschaftlichen Publikationen wird der Topos der müßiggängerischen hysterischen Frau, die sich immer neuen Sensationen hingebe, wieder bedient (vgl. Kap. 2.3 und 4.3): Es wäre das nun noch nicht so schlimm, wenn nicht das Weib, sobald ihm Gelegenheit dazu gegeben wird, auf irgend einem Gebiet hervorzutreten und einen Einfluß auszuüben, von jener Nervosität ergriffen würde, die so recht das Merkmal der Weltdame ist, von der Hysterie. Gewiß, es hat auch unter den hochbegabten Männern nervöse Naturen gegeben und giebt es noch; aber der eigentliche Kern dieser Männer wird nicht davon berührt, und sie wurzeln fest in dem harten Boden ihrer Persönlichkeit, während das Weib, sobald ihm die Möglichkeit gegeben ist, Etwas zu bedeuten, wie ein Irrwisch hin- und herfährt. Charakterlosigkeit ist so recht das Kennzeichen der hysterischen Dame. (Hoffmann 1903, 233)
So finden sich auch alte Typisierungen, die um 1803 kaum anders formuliert wurden: Dahin gehört auch die Putz- und Vergnügungssucht. Concerte, Theater, Bälle, Badeörter zu besuchen, Reisen zu machen, fortwährend etwas Neues zu sehen, davon träumt die Hysterische beständig. (ebd., 234), Thatsache ist, daß die hysterische, exaltirte und excentrische Frau in den sogenannten besseren und besten Kreisen der Gesellschaft sehr verbreitet ist und einen Einfluß ausübt, der auf Kunst und Literatur verderblich wirkt. (ebd., 234)
In seriösen fachwissenschaftlichen Magazinen wie der Zeitschrift für die gesamte Neurologie und Psychiatrie finden sich Pamphlete, so der Aufsatz von Friedrich Mörchen zu den „degenerierten Frauen höherer Stände“ von 1911, in dem sich die neue Erblehre mit dem Bild der hysterischen Frau verbindet: Es ist nun ganz besonders wesentlich, daß diese Frau als Erwachsene geistig völlig auf dem Standpunkt eines Backfischs stehen geblieben ist. Das bedingt bei ihr die ganz eigentümliche Mischung von kindlich-naivem, unschuldig und liebenswürdig-heiterem Wesen mit größter Raffiniertheit und Verdorbenheit.
372 ‚Lasterhafter Backfisch‘, das kennzeichnet den Typus am besten. … Irgendwelche Konflikte erschüttern das sehr labile seelische Gleichgewicht dieser Minderwertigen, und so kommt sie unter dem Bilde der Affektpsychose in psychiatrische Behandlung. Dem sachverständigen Urteil erweist sie sich dann als ein absolut debiler Mensch. … Dies alles, zusammengenommen mit dem Mangel an geistigen Interessen, ergibt das Bild eines ausgesprochenen Persönlichkeitsdefekts, im wesentlichen das, was man ‚moral insanity‘ nannte. Das Ganze ist unseres Erachtens ein degenerativer Schwachsinn mit Neigung zu interkurrenten Erregungszuständen … (Mörchen 1911, 109f.; Hervorhebungen v. d. Verf. – B-M. Sch.)
Dieses Zitat und der gesamte Aufsatz zeigen komprimiert für die Psychiatrie charakteristische Entwicklungen: so die Verwendung eines genuin psychiatrischen Wortschatzes (Affektpsychose, interkurrente[n] Erregungszustände[n], sehr labiles seelisches Gleichgewicht und neuer: Persönlichkeitsdefekt) als Ausweis von Professionalität, die Überblendung alter Typisierungen (kindlich-naivem, unschuldig und liebenswürdig-heiteren Wesen des Backfisches, jedoch auch lasterhaft als Merkmal der Frau) und die Bezugnahme auf einen sozialdarwinistischen Diskurs, der von der Psychiatrie in Anspruch genommen wird (Minderwertige[n], degenerativer Schwachsinn). Der lasterhafte Backfisch ist nicht eine kreative Wortschöpfung von Mörchen, sondern ein Typus, der in den 1920er Jahren immer wieder auftritt. Bei Kretschmer, dessen Unterscheidung bestimmter Körpertypen in die Bildungssprache eingegangen ist (z. B. der leptosome Körperbau), verbinden sich psychologischer Typus, Prädisposition zur Hysterie und konstitutioneller Biotypus miteinander. Seine Darstellungen zur Hysterie lesen sich wie ein Panoptikum gesellschaftlicher Randfiguren: So gibt es unter den Hysterikern der höheren Stände gelegentlich knabenhaft schlanke, schmalhüftige Frauen, die raffiniert überlegen mit den Männern zu spielen scheinen, in Wirklichkeit aber eine auch in ihrem Körperbau zum Ausdruck kommende, unausgereifte Sexualität haben, mit einer Phantasie, die immer begierig nach erotischen Verhältnissen hindrängt und immer im letzten Moment zurückzuckt; oder die, sofern es zum körperlichen Verkehr kommt, diesen mehr dirnenhaft, ohne tiefere Befriedigung und ohne feste Fixierung an den Mann und bei mehr oder weniger völliger Verkümmerung der Mutterinstinkte ausübt. Oder wir denken unter den männlichen Hysterien an die etwas fettsüchtig-weichen Männer mit blassen Schauspielergesichtern oder an den ‚schönen Mann‘, wie wir ihm unter den hysterischen Schwindlern begegnen: schlanker, betont leptosomer Körperbau, akzentuierte lange Eiform des Gesichts, weiches, zurückgekämmtes Haar, feuchter Blick, gelegentlich feminine Stigmen im Körperbau. (51948, 51f., Hervorhebung v. d. Verf. – B-M. Sch.)
Neben diesen Äußerungen lassen sich unter dem Stichwort „Hysterie“ nur wenige „aufgeklärte“ Stimmen vernehmen: Die Schmerzenskinder unter den verachtesten oder mißbehandelten Nervösen sind die Hysterischen. Jahrtausende alter Aberglaube steckt in der noch heute allgemein
373 verbreiteten Auffassung, daß die Hysterie die Krankheit unbefriedigter Mädchen und Frauen sei, daß man nur nach dem rechten Manne zu suchen brauche, um die Krankheit zu heilen. … Dabei ist die Hysterie in Wahrheit eine ganz bestimmte Form unter den nervösen Leiden, eine wirkliche, sogar sehr ernste Krankheit, von bestimmten Ursachen und bei richtiger und rechtzeitiger Behandlung auch von günstigen Heilungsaussichten. Sie kommt übrigens fast ebenso oft bei Männern vor wie bei Frauen, ist also nicht etwa eine der angeblichen Minderwertigkeiten des weiblichen Geschlechtes. (Dornblüth 1904, 431)
Das Schreiben über Hysterie leistet also in einer besonderen Weise die sprachliche Durchformung der Geschlechtercharaktere. Sie weist der Frau zunächst einen Kernbereich an Merkmalen zu, die für die Hysterie, wie die folgende kurze Synopse auch deutlich machen kann, insgesamt gelten. Nach den Ergebnissen der vorherigen Kapitel dürfte es nicht mehr erstaunen, dass es auch bei der Symptombezeichnung wieder eine Reihe von begrifflichen Alternativen gibt, die u. a. auch den jeweils unterschiedlichen Standpunkt der Schreibenden reflektieren. So findet sich nebeneinander:
Stimmungslabilität, Schwankungen der Stimmungen, Flüssigkeit der gemütlichen Schwankungen, erhöhter Labilität der Stimmung, krankhaft labile Vorstellungen; (erhöhte) Beeinflussbarkeit, Suggestibilität, Lenksamkeit, aber auch mangelnde Reproduktionstreue; Selbstüberschätzung, erhöhtes Selbstgefühl. An diese Symptome schließen sich dann die hysterische Aufschneidesucht, Triebhaftigkeit und Unberechenbarkeit der Willensäußerungen oder die Sprunghaftigkeit und Launenhaftigkeit des Willens an. Es ist hervorzuheben, dass nur a) und b) in der Tradition angelegt sind, in der sich bspw. nicht die hysterische Aufschneidesucht, sondern das genaue Gegenteil findet (z. B. die Uneigennützigkeit der Hysterischen, vgl. Dubois 1840, 65). Zum Teil treten die Symptome, entsprechend des Lehrbuchtypus, der sich nun durchgesetzt hat, in besonderer Verdichtung auf. Gerade das Lehrbuch von Weygandt, der Atlas der Geisteskrankheiten (1920), zeigt jedoch auch die Stigmatisierung von hysterisch Kranken. Während bei Charcot die psychischen Symptome noch in einem engen Zusammenhang mit den körperlichen Äußerungsformen stehen, wird bei Weygandt nahezu jedwede soziale Auffälligkeit hysteriefähig: Egozentrische labile Gemütslage, auf Grund deren sich Eindrücke und Vorstellungen unter gesteigerter Affektbetonung in krankhafte Bewusstseinszustände, sowie motorische und sensorische Reaktionen umsetzen. Erhebliche Belastung. Anlage schon in der Jugend auffällig, Eitelkeit, Reizbarkeit, Launenhaftigkeit. Sucht eine Rolle zu spielen und aufzufallen. Psychisch beeinflussbar durch Beispiele. Abnorm erhöhte Empfindlichkeit, Uebelnehmerei, Reiz-
374 barkeit, jähe Stimmungsschwankungen, plötzliche Gefühlsergüsse ohne zureichenden Grund, Kälte und Mangel an Ernst bei wichtigen Ereignissen, Flatterhaftigkeit, Snobismus, Sensationssucht, Klatschhaftigkeit, Renommisterei, hochgradige Verlogenheit, Neigung zu Träumerei und Phantasterei, Schwindelhaftigkeit, immer unter dem Drange, das Ich in den Vordergrund zu schieben. Bei Frauen extreme Gefallsucht, Bestreben sexuell anzureizen, gewöhnlich ohne selbst besonders intensiv sexuell zu empfinden. Mangel an jeglicher Ausdauer … Neigung zu theatralisch erregten Szenen, Verzweiflungsausbrüchen, Weinkrämpfen, Kokettieren mit Lebensüberdruß, demonstrative Selbstmordversuche, die fast ausnahmslos im letzten Augenblick verhindert werden. (Weygandt 1920, 216)
Die Auflistung als charakteristische Form der Diagnostik wird hier ad absurdum geführt. Symptome sind eigentlich im Zusammenhang mit einem Krankheitsverlauf zu sehen und ganz besonders für diesen kennzeichnend. Da Rang und Stellenwert möglicher Hauptsymptome nicht ersichtlich sind, nivelliert sich auch das Krankheitsbild selbst. Man findet hier die These bestätigt, dass dem/der Hysteriker/in alle negativen Charaktereigenschaften zugesprochen werden, die prinzipiell denkbar sind: Kein Fehler, keine Eigenschaft, sei sie moralisch oder intellektuell, die man in den Beschreibungen der Hysterie nicht wieder finden würde. Kein Wunder, daß die Diagnose Hysterie für den Mann (wie übrigens auch für manche Frauen) geradezu ein Schimpfwort, ein Zeichen der Schwäche, mit einem Wort eine Kastration ist. (Israël 1976, 67)
Die Geschlechtercharaktere, die das Bild der Hysterie maßgeblich prägen, berufen sich auf eine Konstitution des weiblichen „Nervenkostüms“. Allerdings lässt sich diese Theorie nicht aufrechterhalten. Besonders befördert wird das Aufrechterhalten von Geschlechtercharakteren zunächst durch die Annahme eines psychogenen Ursprungs. Bei der Hysterie, durch Charcot vorbereitet, setzt sich, wie einige Zitate schon deutlich machen konnten, die Degenerationslehre durch, die in gewisser Weise einen Ausweg aus der Ätiologie darstellt. Eine sehr auffällige Eigenschaft des psychiatrischen Schreibens über Hysterie ist folgende: Während die Adaption und auch Kritik von Charcot zunächst durch tradierte textuelle Aneignungsformen erfolgen – so durch die nun ökonomische, aber doch vorhandene Darstellung und Interpretation von Fällen –, verschiebt sich, was schon als Ausweis der vorhandenen Bidirektionalität und der maximalen Anschlussfähigkeit zu deuten ist, das Schreiben zum Teil in Richtung eines essayistischen und kulturkritischen Schreibens (auch in psychiatrischen Fachzeitschriften), das einem erfahrungssynthetisierenden Schreiben gegenübersteht. Gerade zwischen Hereditäts- und Degenerationslehren, der häufigen Annahme eines psychogenen Ursprungs und sozialen Typen ergibt sich eine interessante Allianz.
375 6.1.2
Degenerierte, lasterhafte Backfische und verweichlichte Kriegszitterer: Die Rückkehr der sozialen Typen
Die Auseinandersetzung mit der Hysterie leistet eine sprachliche Modernisierung der Geschlechtscharaktere und bedingt allein dadurch eine maximale Anschlussfähigkeit der Hysterie. Im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts wird, wie viele der Zitate in Kap. 6.1.1 schon verdeutlichen, auch zunehmend eine Vererbung der Hysterie angenommen. Anhand der Monographie Binswanger (Die Hysterie, 1904) soll hier stellvertretend für andere Monographien gezeigt werden, wie im Rahmen psychiatrischen Argumentierens Vererbung plausibilisiert wird. Binswanger versucht an einer körperlichen Verursachung festzuhalten und nimmt Fehler des Nervensystems an, die die Hysterie bedingten, vgl.: Bestimmte Formen von Empfindungsstörungen, von denen wir hier nur die sensible und die sensorische Anästhesie und concentrische Gesichtsfeldeinengung hervorheben, sind für uns die Kennzeichen einer unterwerthigen Erregbarkeit functionell zusammengehöriger Rindenelemente, durch welche die physiopsychologischen Bedingungen für das Zustandekommen von Bewusstseinsvorgängen, d. h. hier Empfindungen, aufgehoben sind. Es gibt also nach dieser Auffassung elementare hysterische Krankheitssymptome, die ganz für sich allein, gewissermassen losgelöst von jedem psychischen Elemente, bestehen können. (Binswanger 1904, 11; Kursivierung hier wie nachfolgend von Binswanger).
Er fasst seine Überlegungen folgendermaßen zusammen: Die hysterische Veränderung besteht darin, dass die gesetzmässigen Wechselbeziehungen zwischen der psychischen und materiellen Reihe gestört sind, und zwar in doppelter Richtung: auf der einen Seite fallen für bestimmte Reihen materieller Rindenerregungen die psychischen Parallelprozesse aus oder werden nur unvollständig durch jene geweckt; auf der anderen Seite entspricht der materiellen Rindenerregung ein Uebermaass an psychischer Leistung, das die verschiedenartigsten Rückwirkungen auf die gesammten Innervationsvorgänge, die in der Rinde entstehen oder von ihr beherrscht werden, hervorruft. (ebd., 15)
Binswanger argumentiert neurologisch und gehirnanatomisch. Allerdings liegt diesen Ausführungen kein spezifisches Wissen über die Verursachung der Hysterie zu Grunde, da er in ähnlicher Weise, bspw. als Rindenlähmung, auch depressive Zustände hätte erklären können. In Bezug auf Hysterie ist diese Redeweise nicht weniger evokativ als die Vorstellung von Jacobi, dass die Manie auf einer inflammatorischen Reizung des Gehirns basiere (vgl. Kap. 4.3). Für Binswangers Ausführungen trifft ziemlich genau das zu, was Breuer zu den neurologischen Forschungen zur Hysterie ausführt: Psychische Vorgänge sollen in der Sprache der Psychologie behandelt werden, ja, es kann eigentlich gar nicht anders geschehen. Wenn wir statt ‚Vorstellung‘
376 ‚Rindenerregung‘ sagen wollten, so würde der letztere Ausdruck nur dadurch einen Sinn für uns haben, daß wir in der Verkleidung den guten Bekannten erkennen und die ‚Vorstellung‘ stillschweigend wieder restituieren. Denn während Vorstellungen fortwährend Gegenstände unserer Erfahrung und uns in all ihren Nuancen wohlbekannt sind, ist ‚Rindenerregung‘ für uns mehr ein Postulat, ein Gegenstand künftiger, erhoffter Erkenntnis. Jener Ersatz der Termini scheint eine zwecklose Maskerade. (Breuer 42000, 203; Hervorhebung v. d. Verf. – B-M. Sch.)
Es wird ein allgemeiner körperlicher Mechanismus prestigeträchtig überblendet. Das polymorphe und neurologisch beschriebene Erscheinungsbild resultiert nach Binswanger aus einer hereditären Prädisposition. Wie diese wesentliche argumentative Stütze hergeleitet wird, veranschaulicht folgende Zitatauswahl (Unterstreichungen v. d. Verf. – B-M. Sch.): Dass die unfertigen und voll entwickelten Psycho-Neurosen in engem Zusammenhang miteinander stehen, ist vom ätiologisch-klinischen Standpunkte aus wohl allgemein anerkannt. … Im besonderen wird heute kaum mehr bestritten, dass auf dem Boden neuro-, resp. psychopathischer Prädisposition, trotz Gleichartigkeit der schädigenden Einwirkungen sich nicht nur bald diese, bald jene Nerven- oder Geisteskrankheit für sich allein entwickeln kann, sondern auch zusammengesetzte Krankheitsbilder entstehen. (ebd., 17); Wir haben genugsam Thatsachen kennen gelernt, die uns beweisen, dass die Merkmale der psychischen, ethisch-intellectuellen Degeneration mit hysterischen Symptomen sich vermengen. Bald sind es vereinzelte degenerative, psychopathische Merkmale, welche dem Krankheitsbilde der Hysterie aufgepropft sind, so das Heer der Phobien oder auch motivlose Angstzustände … (ebd., 20f.); An dieser Stelle sei nur darauf aufmerksam gemacht, dass, wie uns die Symptomologie der erblich degenerativen Geistesstörungen in zahlreichen Beispielen lehrt, die ausgeprägtesten Formen degenerativer Constitution die gesetzeslosesten Krankheitsbilder hervorrufen. (ebd., 18), Denn dieser Zustand der Einengung und Verflachung der Bewusstseinsphänomene findet sich in voller Deutlichkeit und Ausprägung nur in der Domäne der degenerativ-hysteropathischen Constitution … (ebd., 22): So ist es leicht verständlich, dass bei prädisponirten constitutionell hysteropathischen Individuen ein Affectshock nicht nur den ersten hysterischen Anfall, sondern auch eine Reihe hysterischer Krankheitssymptome hervorrufen kann, welche den Anfall für kürzere oder längere Zeit überdauern. (ebd., 25) Diese Erfahrungen drängen uns zu dem Schlusse, dass der Krankheit ganz bestimmte Zustände des Centralnervensystems zu Grunde liegen, welche ihren Ausdruck in den vorbezeichneten gewaltigen Functionsstörungen finden. Diese Zustandsänderung nennen wir eben die neuro-, respective psychopathische Prädisposition … Man hat mit Recht als das Wesen dieser pathologischen Zustandsänderung eine verringerte Widerstandsfähigkeit gegen physiologische und pathologische Reize bezeichnet. (ebd., 34) Die ätiologisch-klinische Erfahrung
377 lehrt vielmehr, dass oft die elterlichen Keimsubstanzen erst während des Individuallebens derselben geschädigt werden können. (ebd., 35) Für die erworbenen neuropathischen Zustände ist bemerkenswerth, dass sie umso leichter eintreten, je frühzeitiger in de extrauterinen Entwicklung eine schädigende Entwicklung auf die Gesamternährung und speciell auf das Nervensystem stattgefunden hat. Wir heben dies mit Rücksicht auf die Thatsache hervor, dass Traumen, Infectionskrankheiten, Intoxicationen, welche den unfertigen kindlichen Organismus treffen, in naher Beziehung zu der Entwicklung der hysterischen Prädisposition stehen. (ebd., 35)
Polymorphe Krankheitsformen entstehen auf der Basis einer degenerativen neuro- und psychopathischen Prädisposition, wobei das Zustandsbild umso facettenreicher ist, je schwerer die Prädisposition ist. Die Berufung auf die eigene klinische Erfahrung ist wesentliches Bindeglied zwischen Ätiologie und dem heterogenen Erscheinungsbild der Hysterie. Der Verweis erfolgt formelhaft („wir haben genugsam Thatsachen kennen gelernt“, „die aus den klinischen Thatsachen leicht erkennbare Erscheinung“, „wie uns die Symptomologie … in zahlreichen Beispielen lehrt“, „die ätiologischklinische Erfahrung lehrt vielmehr“), ohne dass entsprechende Fallschilderungen angegeben würden. Im engeren Sinne argumentationsstrategisch sind solche Formeln zu beurteilen, die eine gewisse Zwangsläufigkeit der dargelegten Behauptungen betonen („wohl allgemein anerkannt“, „Im besonderen wird heute kaum mehr bestritten“, „die Erfahrungen drängen uns zu dem Schlusse“, „Man hat mit Recht“). Andere Autoren, die als mögliche Zitierautorität angeführt werden könnten, erscheinen nicht, so dass der gesamte Argumentationsgang an einen (vermeintlichen) psychiatrischen common-sense appelliert und der Text somit eine suggestive Struktur erhält. Einerseits ist die Berufung auf die klinische Erfahrung durchaus legitim, andererseits stützt sie sich, fehlen Fallschilderungen oder genauere Statistiken, ausschließlich auf die Autorität des Arztes. Damit ist die Verknüpfung von Äußerungen präsuppositionslastig und führt zu einer argumentativen Immunisierungsstrategie. Auf den folgenden Seiten versucht Binswanger besonders die These stark zu machen, dass die Hysterie eine vererbbare Krankheit sei, die sich schon in der Kindheit zeige. Dies führt zur Adaption des prestigeträchtigen neurologischen und des eugenischen Wortschatzes (Keim, Ahnenplasma, Ascendenz, cumulativ etc.). Obwohl neurologische Forschungen die Krankheitsentstehung ebenso wenig wie eugenische Forschungen ausweisen und auf einen spezifischen Erbgang auch nur annäherungsweise hinwiesen, dienen die Übernahmen dem Ausweis psychiatrischer Autorität. Irritierend aus heutigem Blickwinkel ist die Tatsache, dass ältere Behauptungen unhinterfragt übernommen werden und andere, möglicherweise gegenläufige Theorien nicht zu Wort kommen: Die Ausführungen sind kompilativ, und es wird keine Ge-
378 wichtung von Forschungsmeinungen, keine Relativierung von Erkenntnissen vorgenommen, vgl. z. B.: Speciell für die Hysterie hat zuerst Georget im Jahre 1824 auf neuropathische Vorläufererscheinungen der späteren Krankheit aufmerksam gemacht. … Pitres glaubt, dass die Mehrzahl der zur Hysterie prädisponirten Kranken, während der Kindheit schon nervöse Zustände verschiedener Art gehabt hat. (ebd., 37) Dagegen hatte schon im 18. Jahrhundert Friedrich Hoffmann den Satz ausgesprochen, dass zahlreichen und regelmässigen Beobachtungen zufolge die weibliche Hysterie durch die Geburt (per nativitatem) auf die Kinder übergehe. (ebd., 46) Briquet zieht hieraus den Schluss, dass die von hysterischen Eltern stammenden Individuen 12mal mehr zur Hysterie prädisponirt sind als diejenigen, welche von nicht hysterischen Eltern herstammen. … Es ist klar, dass je grösser die Intensität der Hysterie bei den Eltern ist, desto mehr Kinder der Gefahr ausgesetzt sind, selbst hysterisch zu werden.“ (ebd., 46); [Untersuchungen von Batault] Es fanden sich unter den 26 directen und unmittelbaren Ascendenten 4mal Hysterie, 1mal Epilepsie, 9mal leidenschaftlicher Charakter, 1mal Hemiplegie, 1mal Geistesstörung, 1mal Somnabulismus, 1mal Alkoholismus, 1mal Absythismus, 1mal neurophathischer Zustand ohne convulsivische Erscheinungen. Pitres untersuchte ferner 31 männliche Hysterische seiner Abteilung und fand, dass 26 unter denselben der neuropathischen Familie angehörten. …. Ziehen spricht sich dahin aus, dass mindestens in 40 Procent aller Fälle erbliche Belastung vorliege. Jolly zählt die erbliche Belastung zu den wichtigsten Ursachen, welche die Disposition zur Hysterie und die volle Entwicklung der Krankheit bedingen können. (ebd., 47). Unsere eigenen Erfahrungen sind mit denjenigen der neueren französischen Schule völlig im Einklang; wir glauben, dass es sich bei der Hysterie in der Mehrzahl der Fälle um eine ererbte Prädisposition handelt. Unter 90 weiblichen Hysterien fand ich 40 mit ausgesprochener erblicher Belastung; bei weiteren 18 wurde dieselbe durch das Vorhandensein somatischer Degenerationszeichen wahrscheinlich. Unter 19 männlichen Hystericis stellten sich diese Zahlen auf 9, resp. 2. (ebd., 47f.)
Die ungenauen Angaben gerade der älteren Autoren führen zu weit reichenden Schlüssen hinsichtlich der Vererbbarkeit von Krankheiten. Bestimmte kindliche Charaktereigenschaften werden zum Indiz für die entsprechende erbliche Belastung, wobei der charakterisierende Wortschatz einen vagen und (vermeintlich) beobachtungssensitiven Anteil besitzt, so bspw. die „abnorme, disharmonische, intellectuelle Entwicklung“: Die besondere hysterische Ausprägung erlangen diese Krankheitserscheinungen namentlich dann beim degenerativ belasteten Individuum, wenn die gleiche Erkrankung schon bei einem der Ascendenten vorhanden ist. Schon aus diesem Grunde werden wir den kindlichen Affectstörungen die grösste Aufmerksamkeit zu schenken haben. (ebd., 38). Dazu gehören: Labilität der Gemütsstimmung, expressive Zornesausbrüche, Angstaffecte (die pathologisch schreckhaften Kinder), pathologischer Eigensinn, trübe, unzufriedene, misanthropische Stimmungslagen, mangelhafte ethische und ästhetische Entwicklung, abnorme, disharmonische,
379 intellectuelle Entwicklung sowie excessive Phantasiewucherung (ebd., 38f.) sowie körperliche(n) Degenerationszeichen (ebd., 43). Die ätiologischen Bedingungen, unter welchen die einfache in die degenerative Vererbung übergeht, sind heutzutage nur zum geringsten Theile aufgehellt. … Man wird in dieser Annahme bestärkt durch die klinische Erfahrung, dass erblichdegenerative Belastungen in beschleunigter und ausgedehnterer Weise zustande kommen, wenn beide Eltern aus neuro- oder psychopathisch belasteten Familien stammen. Die convergirende Belastung wird zur cumulativen, wenn das Elternpaar zugleich blutsverwandt ist. Hinsichtlich der Hysterie ist bemerkenswerth, dass wir Kennzeichen der degenerativen Vererbung, nämlich die gleichseitige erbliche Übertragung, z. B. von einer hysterischen Mutter auf die Tochter, so häufig vorfinden, während die einfache Vererbung vorwaltend eine gekreuzte ist. In den ersteren Fällen können wir auch am besten den fortschreitenden degenerativen Einfluss an der Art der klinischen Verschiedenheit der hysterischen Krankheitsbilder bei Mutter und Tochter deutlich erkennen. Während wir bei der Mutter noch einfachere Krankheitsbilder vorfinden, sind bei der Tochter schon merkwürdige Krankheitsbilder zwischen einfacher Hysterie und sogenannter hysterischer Geistesstörung oder Hysterie und Epilepsie u.s.w. vorhanden. (ebd., 44f.)
Durch die Annahme einer kindlichen Prädisposition werden charakteristische Symptome der Erwachsenenhysterie in die Kindheit zurückverlagert (so bspw. die häufig angeführten Stimmungsschwankungen). Auf die ohnehin schon schwach gestützte Vererbungstheorie bezieht er noch die Morelsche Annahme, dass sich das Krankheitsbild in der Generationenabfolge verschlimmere und dass Keimschädigungen (Alkoholismus und Syphilis) ebenfalls zur Hysterie prädisponierten. Die schwache Stützung der Vererbung, so bspw. durch die Annahme, ein leidenschaftlicher Charakter oder Somnabulismus der Eltern bedingten Hysterie, wird wiederum durch den Rekurs auf die eigene klinische Erfahrung kompensiert („die klinische Thatsache hervorheben“, „Man wird in der Annahme bestärkt durch die klinische Erfahrung“, „können wir … deutlich erkennen“, „Unsere eigenen Erfahrungen sind … der neueren französischen Schule völlig im Einklang“). Dem Anschein nach, durch den Rekurs auf andere Autoren und das Anführen von statistischen Daten, bleibt die wissenschaftliche Seriösität und Kohärenz des Textes erhalten. Sprachlich untermauert werden seine Ausführungen durch ein Lexem, nämlich ausgesprochen. Durch die Zurückverlagerung der Hysterie in die Kindheit und die Annahme der dort schon zu beobachtenden Degenerationszeichen pointiert, wie auch aus dem Text ersichtlich, die erzieherische, gleichzeitig jedoch auch die prophylaktische Rolle, die die Psychiatrie einnehmen möchte, vgl.: Wie sehr die neuropathische Veranlagung die Affecterregbarkeit pathologisch abändert, haben wir früher gesehen, und so begreift man auch, dass prädisponirte Individuen der Hysterie so leicht anheim fallen. Diese ätiologisch-klinischen Beziehungen haben eine eminent praktische Bedeutung für den Hausarzt, zu dessen
380 hauptsächlichen Aufgaben ja die Prophylaxe gehört. Er wird seinen Einfluss geltend machen müssen, dass übermässige, exaltirte Gefühlsreactionen bei der Erziehung von Kindern vermieden werden … Hier ist vor allem vor unzweckmässigen Mitleidsäusserungen und vor Verweichlichung gegen körperlichen und psychischen Schmerz Verwahrung einzulegen. (ebd., 68)
Nachdem Binswanger den Erblichkeitsfaktor bestimmt hat, versucht er, der allgemeinen psychiatrischen Ätiologie folgende andere Faktoren für die Entstehung der Hysterie auszumachen: So diskutiert er zunächst die Intoxicationen durch Alkohol, Blei, Quecksilber, Schwefelkohlenstoff, Morphium und „vielleicht auch Tabak.“ (ebd. 50) und kommt dann zu anderen Erkrankungen, z. B.: [Frauenkrankheiten] Ueberblicken wir nüchtern und vorurtheilsfrei die verhängnisvollen Einwirkungen der Genitalerkrankungen auf die gesammte psychische und nervöse Reaction, studiren wir vor allem Krankheitsfälle, für welche die Entwicklung der hysterischen Erkrankung sich genau verfolgen lässt, so werden wir auf Beobachtungen stossen, in welchen die Genitalerkrankung den directen und einzigen Anstoss zur Entfaltung der Hysterie gegeben hat. Eine andere Frage ist es, ob diesen Localaffectionen auch eine prädisponirende Bedeutung in dem Sinne zugeschrieben werden darf, dass sie für sich allein ohne das Vorhandensein einer neuropathischen Constitution die Hysterie erzeugen können. Unsere eigenen Erfahrungen widersprechen einer derartigen Annahme, indem wir durchwegs in solchen Fällen die angeborene neuropathische Veranlagung nachweisen konnten. (ebd., 59); Den geistigen Ueberanstrengungen wird von den neueren Autoren übereinstimmend nur eine geringe Bedeutung zugemessen. Doch glauben wir nach eigenen Erfahrungen, die Hysterie bei jungen Lehrerinnen sicher mit der immensen Arbeitsleistung während ihrer seminaristischen Ausbildung in Zusammenhang bringen zu müssen. Es ist nahezu unglaublich, welcher Wissensstoff in diese jugendlichen Gehirne gepfropft wird. Die unzweckmässige Anstrengung des Gedächtnisses bei diesen jungen, so häufig chlorotischen Geschöpfen führt zu schweren Erschöpfungszuständen, zu Schlaflosigkeit, und ist damit besonders bei hereditär prädisponirten Individuen der Boden zur Entwicklung der Hysterie präparirt. (ebd., 63) [Zivilisation und Ethnie] Die neueren Erhebungen über die Häufigkeit der männlichen Hysterie in den grossen Städten und industriellen Verkehrscentren lassen diesen Satz dahin erweitern, dass alle die Gefahren, welche in der erhöhten Betriebsamkeit unseres technischen Zeitalters gelegen sind, sowie die Häufung grosser Menschenmassen mit ungenügenden Existenzmitteln und verderblichen Neigungen auch eine Häufung der Hysterie und zwar vornehmlich bei der männlichen Arbeiterclasse bewirkt haben. Die hauptsächlichen Ursachen hierfür sind das Trauma, Intoxication und Infection. (ebd., 81f.). Je niedriger die Culturstufe eines Volkes ist, desto mächtiger wird begreiflicherweise die Einwirkung des emotiven Shocks sein: Eine besondere Disposition zur Hysterie wird von manchen Autoren den Juden zugeschrieben. Wenn es auch unleugbar ist, dass die in den Culturländern lebenden jüdischen Einwohner einen sehr hohen Procentsatz an Nervenkrankheiten aufweisen, so lässt sich doch nicht mit Sicherheit feststellen,
381 dass speciell die Zahl der Hysterischen im Verhältnis zu der der übrigen Nervenkranken bei den Juden eine grössere ist als bei den andern Einwohnern desselben Landes. … Wenn wir die deutsche und englische Kasuistik mit der französischen vergleichen, so bemerken wir, dass in der letzteren die Fälle der schweren Hysterie mit ausgeprägten grossen Anfällen viel häufiger sind. Auch haben wir in der Praxis 15 Fälle schwerer Hysterie beobachtet, bei welchen, abgesehen von zwei Ausnahmen, die Patienten entweder rein slavischen oder romanischen Ursprungs waren … oder aus Mischehen zwischen romanischen oder slavischen und germanischen Eltern hervorgegangen waren. (ebd., 82)
Bei Binswanger werden viele Ursachen aufgeführt, deren Zusammenstellung die entsprechenden Lehrbücher der Zeit in mehr oder minder starkem Umfang prägen. Auch hier zeigen sich wieder Verweise auf die eigene und allgemein-psychiatrische Erfahrung in der Klinik, die den Argumentationsgang stützen. Viele Angaben bleiben auch in diesem Textteil vage (so bspw. der hohe Prozentsatz von nervenkranken Juden). Nach den bisherigen Untersuchungen nicht bemerkenswert ist die Überblendung der Geschlechtercharaktere durch die Hysterielehre. Auffälliger ist jedoch die Nennung der jungen Lehrerinnen, die durch geistige Erschöpfung Kandidatinnen für die Hysterie sind. Dass der Arbeiterklasse als solcher über den zivilisations-kritischen Diskurs und durch die keimschädigende Wirkung von Intoxicationen eine Disposition zur Hysterie zugesprochen wird, ist allerdings neuer und hängt wahrscheinlich mit der Wahrnehmung der Arbeiter als Klasse zusammen. Bei Binswanger zeigt sich die modernisierte Restituierung des alten vitalistischen Denkmodells (Überblendung). Der Gebrauch neurologischer und eugenischer Zentralbegriffe ist dabei als ein code-shifting zu betrachten. Er stützt seine Argumentation durch Autoritätszüge, hier verstanden als der Verweis auf die eigene, allerdings nicht profilierte Erfahrung, und durch das allerdings zumeist kurze, fast aseptische Referat anderer Psychiater. Das Nebeneinander eines prestigeträchtigen Vokabulars und einer bruchlosen Übertragung von Vererbungs- und Degenerationslehren auf der einen, einer argumentativen Immunisierungsstrategie und einem unkritischen, kompilativen und homogenisierenden Verweis auf andere Psychiater auf der anderen Seite ist, wie auch spätere Ausführungen zeigen, nicht untypisch. Die in Kap. 5.3 schon thematisierte Tendenz zur Entindividualisierung führt nicht zur Bildung medizinisch fundierter Krankheitstypen, sondern zu vertrauten sozialen Typen. Stehen bis in das letzte Drittel des 19. Jahrhunderts noch die Wechselfälle einer individuellen Erkrankung und einer individuelle Lebensführung im Zentrum, wird der Lebenslauf nur noch auf der Folie einer Zwangsläufigkeit gesehen. Die nur postulierte Disposition wird dabei wesentlich wichtiger als andere, möglicherweise krank machende Faktoren. Das skizzierte Nebeneinander lässt sich an vielen Veröffentlichungen zeigen:
382 Ein großer Teil der als Hysterie bezeichneten Krankheitsformen baut sich auf dem Boden der degenerativen Keimanlage, geistiger Schwäche, familiärer Disposition. So hören wir bei genauerem Eingehen auf die Familiengeschichte ungemein häufig vom Vorkommen zahlreicher Fälle von nervösen und psychischen Erkrankungen in Aszendenz und Seitenlinien; d. h. oft genug sind die hysterischen Krankheitsformen Zeichen erblich degenerativer Veranlagung … (Becker 1911, 148f.)
In Kraepelins Psychiatrie wird in den Ausgaben um die Jahrhundertwende der Entartungsgedanke fortgeführt. Bei einer Häufung krankhafter erblicher Einflüsse entstehe eine organische Belastung, die sich auch auf geistigem wie sittlichem Gebiet zeige und zum Entartungsirresinn führe. Dabei löst sich die körperliche Form der Entartung immer mehr in eine Persönlichkeitsstörung auf: „Mit Entartung wird noch schärfer nur jenes Auftreten vererbbarer Eigenschaften gekennzeichnet, die beim Träger die Erreichung der allgemeinen Lebensziele erschwert oder unmöglich macht.“ (51896, 542). Mit Kraepelin ist dabei noch etwas anderes verbunden: der Darwinismus wird zum bildspendenden Bereich. So führt Kraepelin die Darwinische Substitutionstheorie in die Hysterielehre ein: Wenn man den hier dargelegten Anschauungen zustimmt, so wird man zu dem Schlusse kommen müssen, daß ein Fortbestehen der triebartigen Ausdrucksmittel unserer Gemütsbewegungen das Verharren auf einer Entwicklungsstufe bedeutet, die durch die Erziehung zu überlegtem und zielbewussten Handeln allmählich überwunden wird. Das Wesen der hysterischen Krankheitserscheinungen würde demnach in einer Entwicklungshemmung zu sehen sein, die stammesgeschichtlich alten Einrichtungen bei der seelischen Verarbeitung der Gemütsbewegungen einen unverhältnismäßig weiten Spielraum läßt. … Die hysterischen Störungen würden damit in Beziehung zu manchen andern Gestaltungen des Entartungsirresinns treten, die eine ähnliche Auffassung gestatten. (Kraepelin 1913, 269; Hervorhebung v. d. Verf. – B-M. Sch.)
Er unterscheidet eine Entwicklungs- von einer Entartungshysterie. Nach der Entwicklungshysterie folgt die zweite Form: So entsteht nach meiner Ansicht die zweite Form der Hysterie, die ich als ‚Entartungshysterie‘ bezeichnen möchte. Ihre Häufigkeit scheint im Gegensatze zu der urwüchsigen Entwicklungshysterie durch die verweichlichenden und keimschädigenden Wirkungen des Kulturlebens gesteigert zu werden; sie findet sich auch vorwiegend in den stärker domestizierten Volksschichten. Hier bleiben bestimmte Seelengebiete, …, dauernd ‚infantil‘, während auch bei anderen die Entwicklung ganz ungestört verlaufen kann. … Weiterhin ist daran zu erinnern, daß sich neben dem Infantilismus des Willens mit seinen hysterischen Entäußerungen oft genug auch noch andere Zeichen der seelischen Entartung finden, namentlich Unzuverlässigkeit der leben- und arterhaltenden Triebe. Auch jene Eigenschaften sind hierher zu rechnen, die man gewöhnlich unter der Bezeichnung des ‚hysterischen Charakters‘ zusammenfasst. Manche derselben erinnern ohne weiteres an das Wesen unerzogener Kinder, die Sprunghaftigkeit und Oberflächlichkeit der
383 Aufmerksamkeit und des Denkens, die Neugierde, der Eigensinn, die Launenhaftigkeit, die Begehrlichkeit, die unbekümmerte Selbstsucht. (Kraepelin 1913, 277; Hervorhebung v. d. Verf. – B-M. Sch.)
Die Adaption und Attraktion darwinistischer Lehren fußen letztlich auf einem kritisierbaren Analogieschluss (s. u.), der in ähnlicher Weise auch für Kretschmer gilt: „Die hysterischen Symptome sind entwicklungsgeschichtlich vorgebildete Reaktionsweisen des triebhaften seelischen Untergrundes.“ (Kretschmer 51948, 8). Er kommt zu der erweiterten Definition: Hysterisch nennen wir vorwiegend solche psychogenen Reaktionsformen, wo eine Verstellungstendenz sich instinktmäßig, reflexmäßig oder sonstwie vorgebildeter Mechanismen bedient. (ebd., 11). Es wird der „Bewegungssturm“ und der „Totstellreflex“ besonders herausgearbeitet: Der hysterische Anfall ist ein besonders schönes Beispiel eines atavistischen Bewegungssturmes, sofern er ein ganzes Feuerwerk aller überhaupt denkbaren Willkür-, Ausdrucks- und Reflexbewegungen durcheinander fesselt. (ebd., 16); Die Ansicht, daß gewisse hysterische Reaktionstypen zu allgemein tierischen Instinkten nahe Beziehung haben, findet eine besondere Stütze darin, daß die große Masse der hysterischen Reaktionen sich um das Triebleben gruppiert. (ebd., 27)
Der vermeintliche Atavismus, der sich im hysterischen Anfall ausdrücke, wird gerade bei Frauen als sexueller Infantilismus gedeutet: „Im Gegensatz zur Zwangsneurose finden sich bei unseren Hysterischen zwar sehr häufig diese Zeichen des sexuellen Infantilismus, 13 aber nur relativ selten stärkere Einschläge von Sexualperversion.“ (ebd., 37). Wir finden stark typisierende Darstellungen. Während bei Charcot – das sei hier ausdrücklich betont – die Wahrnehmung an die Klinik gebunden ist, verschieben sich in der Nachfolge von Kraepelin und Kretschmer die Darstellungen zu dem So-Sein der Zeitgenossen. Der enge Raum der Klinikbeobachtung wird verlassen, die Hysterie wird zur Projektionsfläche anders gearteter Erfahrungen (z. B. der Prostituierten, s. u.) – sie bedingen im übrigen, wie an den obigen Symptombeschreibungen auch schon deutlich geworden sein sollte, einen Rückfall in nun qualifizierende Attribute. Die sozialen Typisierungen sind mit vielen sprachlichen Distanzsignalen verbunden, so dass sie eher Stigmatisierungen als Typisierungen sind: ______________ 13
Ebenso: „Infolgedessen fühlt der Beobachter das zur Schau getragene Gefühl nicht mehr als einen persönlichen Ausdruck des Fühlenden, sondern vielmehr als eine Alteration seines Ich, also eine Laune. Je nach dem Grade der Dissoziation zwischen dem Ich und dem jeweiligen Gefühlszustand treten mehr oder weniger Zeichen des Uneinsseins mit sich selber auf, d. h. die ursprünglich kompensierende Einstellung des Unbewußten wird zur manifesten Opposition.“ (Jung 131978, 388f.) und „Die hauptsächlichste Neurosenform dieses Typus ist die Hysterie mit ihrer charakteristischen infantil-sexuellen unbewussten Vorstellungswelt.“ (ebd., 390)
384 … ein jetzt 22jähriges, an Verstimmung, hysterischen Zuckungen und Selbstbeschädigungsdrang leidendes Mädchen ist erst nach dem 17. Lebensjahr menstruiert. Sie hat heute noch körperliche Abscheu vor Männern, leidet dabei an starken Sexualerregungen, die sie nach Frühpubertätsweise in der Phantasie und durch Masturbation auslebt. Ihr Briefstil hat noch jetzt jene charakteristische Mischung von kindlicher Naivität und Pathos, …, wie er der Backfischzeit, d.h. dem ersten Übergang vom Kindlichen zum Erwachsenen, das Gepräge gibt … (ebd., 38)
Der Infantilismus wird im engeren Sinne als Steckenbleiben in der Pubertätsphase gedeutet. Allerdings bleibt die Erfahrungsgrundlage opak: Ganz ähnlich geht es der sexuell infantil gebliebenen Frau, wenn sie in die Ehe tritt. Auch hier die frühpubertätsartige, aus ekelnder Ablehnung und unbefriedigtem, idealistisch sehendem Hinstreben gemischte, dumpf drängende Gefühlsverwirrung, die überhitzt und erkaltet, kein geordnetes Liebesleben aufkommen läßt und sich zuletzt in den alten hysterischen Instinktformen nebenwegig entlädt. (ebd., 39)
Daneben gibt es auch andere „Verkümmerungsformen“: Ihnen schließt sich das ganze Heer der schweren seelischen Defektmenschen, der Schwachsinnigen, Kriminellen und Prostituierten an, die nicht auf Grund einer streng spezifischen seelischen Struktur, sondern einfach durch ihren Mangel an höheren psychischen Regulationen zu primitiv triebmäßigen seelischen Entladungen, u. a. auch häufig zu hysterischen Reaktionen neigen. Ferner findet man seltener, aber dann oft in ausgewachsenen Exemplaren, mit sehr häufigen und reich entwickelten hysterischen Reaktionen den Typus der ‚kalten Kanaille‘, launisch, von rücksichtslosem Egoismus und vollkommen amoralisch, lügnerisch, diebisch, grausam und voll boshafter Ränke. (ebd., 43; Hervorhebung v. d. Verf. – B-M. Sch.)
Kretschmers Hysterielehre wurde direkt nach dem ersten Weltkrieg das erste Mal verlegt (und unbearbeitet übrigens noch in den 50er Jahren). Die Rede von schweren seelischen Defektmenschen und biologischen Minusvarianten von vermindert Lebenstüchtigen (vgl. ebd., 46), zeigt zumindest, dass stark negativ konnotierte Lexeme zur Kennzeichnung von psychisch Kranken schon vor dem Nationalsozialismus gebraucht worden sind – und zwar von einem weithin geachteten Tübinger Professor. Die Versuche von Kraepelin und Kretschmer, Hysterie als einen Atavismus zu interpretieren und sie von diesem Analogieschluss her zu verstehen, bleiben nicht unwidersprochen. Allerdings stellen diese Gegenstimmen keinesfalls die Mehrheit der Psychiater dar: Was z. B. den Kretschmerschen Versuch angeht: Ist denn der hysterische Anfall wirklich wesensmäßig gleich den sogenannten stammesgeschichtlich alten, dem Selbsterhaltungstrieb dienenden Verhaltensweisen? Es handelt sich höchstens um Analogien der äußeren Darstellungsformen; diese analogischen Beziehungen aber als
385 identische anzunehmen, fehlt doch jeder Beweis. … Der Häufigkeitsbefund gewisser somatischer und seelischer Züge beim Hysteriker bedeutet keine Strukturanalyse seines Wesens. Ob es eine charakteristische seelische Artung des Trägers hysterischer Symptome gibt, ob wir gar von einer hysterischen Persönlichkeit als einem besonderen charakterologischen Typus sprechen können, und wie er zu umreißen sei, wird sehr verschieden beantwortet. Nicht jeder Mensch, an dem hysterische Mechanismen auftreten, ist ein hysterischer Charakter. (Hansen 1930, 254)
Bei Kretschmer finden wir eine idiomatische Prägung, den Willen zur Krankheit oder Willen zum Kranksein (s. auch Kap. 6.1.3), die die Debatten um die Hysterie in den ersten Jahrzehnten bis in den Nationalsozialismus hinein strukturieren wird. Die Verwendung dieser Prägung hat zwei Ursprünge: Auf der einen Seite lehnt sie sich an die Freudsche Vorstellung einer möglichen Flucht in die Krankheit an und führt zur Integration psychoanalytischen Denkens. Auf der anderen Seite geht eine andere Gebrauchsvariante auf den Rigaer Psychiater Ernst Sokolowsky zurück, dessen Wirken von Gaupp 1938 folgendermaßen beurteilt wird: Im Unterschied von Charcot und seinen Schülern trennt er aber die Hysterie nicht von der psychischen Degeneration, hält sie vielmehr auch für die Grundlage alles Hysterischen. Ihm ist nun aber für den Begriff des Hysterischen der Wille zum Kranksein das Wesentliche. … Mit dieser Auffassung Sokolowskys ist ein gewaltiger Schritt nach vorwärts getan. (Gaupp 1938, 237)
Der Hysteriker ist für Sokolowsky eine Person, die, unfähig im Leben etwas zu erreichen, durch Krankheit die Aufmerksamkeit auf sich lenken möchte und sich vom Kranksein selbst einen Imagegewinn verspricht. Hysteriker sind eine Gruppe … derjenigen Entarteten, die den Rettungsanker für ihre Minderwertigkeit im Kranksein finden; gleichzeitig wird die Krankheit zum Blitzableiter für die Verzweiflung über das erlebte oder drohende Fiasco. Und in der That ist nunmehr erreicht, was ersehnt oder gewünscht wurde: 1. Ist ein Patient ja eo ipso befreit vom lästigen Kampf um’s Dasein und entschuldigt wegen seines Nichterscheinens auf dem Plane, wobei die tröstende Erwägung im Hintergrunde steht, dass man Grosses hätte leisten können, wenn nicht die ‚leidige Krankheit‘ dazwischengetreten wäre. (Sokolowsky 1896, 304)
Daraus folgt das wirkungsmächtige Diktum: „Denn die Hysterie ist: Kranksein als Äquivalent des psychischen Gleichgewichts bei subjectiv empfundener Unzulänglichkeit entarteter Individuen.“ (ebd., 312). Schon bei Sokolowsky ist eine Tendenz wahrzunehmen, die von Breuer und Freud 1895 herausgegebenen Studien zur Hysterie gegen den Strich zu lesen und neben offener Anfeindung die beiden Autoren im eigenen Sinne zu interpretieren – in einer Weise also, die m. E., wie das Kap. 6.1.3 zeigen wird, mit Freud bei nur sehr oberflächlichem Lesen überhaupt zu vereinen ist. In der Sekundärliteratur zu Breuers und Freuds Veröffentlichungen wird immer wieder
386 hervorgehoben, wie stark auf der einen Seite die psychoanalytischen Vorstellungen angefeindet und von der Universitätspsychiatrie abgelehnt worden sind, auf der anderen Seite wird jedoch auch der immense Einfluss psychoanalytischer Termini auf die Bildungssprache (vgl. Pörksen 1986, 1994, 1998). Jedenfalls in den mir bekannten Veröffentlichungen zu Freud wird nicht darauf hingewiesen, dass nicht nur die Bildungssprache von seinen Wortschöpfungen profitierte, sondern dass auch die etablierten Psychiater bestimmte Lexeme verwenden, in jedoch anderen Gebrauchsvarianten. Denn Breuer und Freud wehren sich gegen eine ideologische Vereinnahmung von solchen Begriffen wie Degeneration: Immerhin aber bewegt sich Freud mit seinen Erwägungen über die Hysterie auf dem Boden der Degenerationslehre, indem er schon früher vereint mit Breuer den psychischen Mechanismus bei der Hysterie auf eingeschränkte Associationsfähigkeit zurückführt. (Sokolowsky 1896, 303)
Dagegen Freud, dessen Denkmodell viel komplexer ist: Natürlich muß man sich bei solcher Arbeit von dem theoretischen Vorteile freihalten, man habe es mit abnormen Gehirnen von Dégenerés und Déséquilibrés zu tun, denen die Freiheit, die gemeinen psychologischen Gesetze der Vorstellungsverbindung über den Haufen zu werfen, als Stigma eigen wäre, bei denen eine beliebige Vorstellung ohne Motiv übermäßig intensiv wachsen, eine andere ohne psychologischen Grund unverwüstlich bleiben kann. Die Erfahrung zeigt für die Hysterie das Gegenteil; hat man die verborgenen – oft unbewußt gebliebenen – Motive herausgefunden und bringt sie in Rechnung, so bleibt auch an der hysterischen Gedankenverknüpfung nichts rätselhaft und regelwidrig. (Freud 1895/42000, 311; im Folgenden werden Freud und Breuer mit 42000 zitiert)
Bis in die 20er Jahre des 20. Jahrhunderts hinein ergibt sich damit folgendes Bild: Es wird von einer neuro-, stellenweise psychopathischen Disposition ausgegangen, die selbst als Degeneration gewertet wird. Das Bild verschiebt sich dabei von der schwächeren Frau zum Milieu, das die Entstehung und Auslösung der Krankheit vorbereitet. Die Anlage selbst zeigt sich, vereinfacht gesprochen, in einem Missverhältnis von Reiz und Reaktion. Die erschwerte und/oder beschleunigte Verarbeitung von Reizen ist zwar eine hysterische Reaktion, ihre Fixierung selbst wird in Teile des Ich verlagert (hier zeigt sich der Einfluss psychoanalytischer Deutungen), die dem Individuum nur bedingt zugänglich sind. In einer je unterschiedlichen Profilierung ist es der Wille, der die hysterische Reaktion festhält, wobei dieser intentional markierte Begriff mehr oder weniger stark gedeutet wird. Verfolgt man das Nachdenken über die Krankheit „Hysterie“, so wird deutlich, dass damit der Boden bereitet wird, um über die so genannten Kriegszitterer zu urteilen. In den Kriegs- und Nachkriegszeiten gewinnt die Krankheit eine soziale Dimension, die vorher im Nachdenken über diese Krankheit nur an-
387 gelegt ist. Die Ernsthaftigkeit des Krieges kuriere einerseits nervös veranlagte Patienten und heile von den schädlichen Wirkungen der Zivilisation: In bezug auf Kriegswirkungen, die wir jetzt in nervöser und psychischer Hinsicht zu sehen bekommen, ist besonders auffallend, wie zahlreich Genesungen von funktioneller Nervosität eingetreten sind, wie genau in der von mir schon vor Jahren prophezeiten Weise die Luxus-Sanatorien sich geleert haben, wie wir auch von neurasthenischen Individuen, die im Frieden relativ unbrauchbar waren, überraschende Leistungen im Felde erleben. (Hoche 1916, 331). Die Nervengesundheit unseres Volkes erwies sich besser, als viele von uns erwartet haben. Der Satz von His: ‚wenn es an den Kragen geht, hört die Nervosität auf‘, hat sich oft bewahrheitet. (Gaupp 1915, 1)
Den hysterisch gewordenen Männern wird ebenfalls unterstellt, dass sie sich in die Krankheit flüchteten, um den Kriegsdienst zu umgehen. Hier wird die bei Sokolowsky angelegte Flucht vor dem „Kampf ums Dasein“, eine Flucht vor und aus dem Krieg: Wer sich mit der seelischen Eigenart dieser Leute genauer befasst, der findet immer wieder auf dem Grunde ihrer Seele als ursächlichen Faktor die mehr oder weniger bewusste Angst vor der Rückkehr ins Feld. (Gaupp 1915, 1) Im dunkeln Gefühl, nicht mehr Herr der Lage zu sein, sondern unterliegen zu müssen, flüchtet sich die ‚erschöpfte‘ Seele in die Krankheit.“ (ebd., 1), Es ist weniger die akute Angst des Schreckens, auch nicht in erster Linie die Angst vor dem grauenvollen Kriege, als vielmehr die relative Insuffizienz des Willens gegenüber den physischen und moralischen Anforderungen des militärischen Dienstes … (ebd., 2)
Gaupp schlägt vor, Hysteriker aus dem Kriegsdienst zu entlassen, damit sich hysterische Symptome nicht verstetigten. Hier tritt auch die nach dem Weltkrieg häufig geäußerte Auffassung, dass der Weltkrieg zu einer „negativen Auslese“ geführt habe. Die Vorstellung einer kriegsbedingten „negativen Auslese“ („dysgenetische Wirkung des modernen Krieges“ – Bonhoeffer, zit. n. Walter 1996, 213) – tapfere und fähige Soldaten starben im Feld, während Hysteriker und andere psychisch Erkrankte überlebten – bestimmt auch die retrospektive Analyse des Kriegsgeschehens in den Folgejahren (1920 wird auch das Buch von Binding/Hoche zur Vernichtung des lebens-unwerten Lebens vorgelegt) und erreicht ihre praktische Relevanz durch eine Güterabwägung zwischen individuellem Existenzrecht, Volksgesundheit und ökonomisch-wirtschaftlichen Perspektiven: Fast könnte es scheinen, als ob wir in einer Zeit der Wandlung des Humanitätsbegriffes stünden. Ich meine nur, daß wir unter den schweren Erlebnissen des Krieges das einzelne Menschenleben anders zu werten genöthiget wurden als vordem und daß wir in den Hungerjahren des Krieges uns damit abfinden mußten, zuzusehen, daß unsere Kranken in den Anstalten in Massen an Unterernährung dahinstarben, und dies fast gutzuheißen in dem Gedanken, daß durch diese Opfer vielleicht Gesunden das Leben erhalten bleiben konnte. In der Betonung dieses
388 Rechts auf Selbsterhaltung, wie sie eine Zeit der Not mit sich bringt, liegt die Gefahr der Überspannung, die Gefahr, daß der Gedanke der opfermütigen Unterordnung der Gesunden unter die Bedürfnisse der Hilflosen und Kranken, wie er der wahren Krankheitspflege zugrunde liegt, gegenüber den Lebensansprüchen der Gesunden an Kraft verliert. (Bonhoeffer 1920, zit. n. Faulstich 1998, 81)
Den Äußerungen von Walter ist in diesem Zusammenhang nichts hinzufügen – bezogen auf Bonhoeffer: In seinen Aussagen zur ‚dysgenetischen‘ Wirkung des Krieges und zur Wechselbeziehung von ‚körperlicher Minderwertigkeit‘ und sozialer Lage zeigt sich der Einfluß genuin sozialdarwinistischer Vorstellungen … Diese Theorie lebte von der Annahme, daß auch in der Gesellschaft das Gesetz der Selektion galt. … In Verbindung mit der Degenerationslehre steckte in dem Gesellschaftsbild ein eminent politisches Potential, das als Waffe gegen unterprivilegierte Schichten gebraucht werden konnte, insbesondere, wenn neben die biologistische Deutung der Degeneration eine moralisierende Argumentationslinie trat und damit der moralisch bedenklichen Lebensführung sozialer Gruppen eine Mitschuld an der Degeneration zugesprochen wurde. (Walter 1996, 216)
Die moderne Geschichte der Hysterie, beginnend mit den wirkungsmächtigen Forschungen Charcots, ist davon gekennzeichnet, dass sich die Annahme der Erblichkeit parallel zu Vorstellungen der Degeneration durchsetzt. Die gleichzeitige Hypothese, die Hysterie sei psychogenen Ursprungs, eröffnet einen Interpretationsspielraum, der in die Stigmatisierung von Hysterikern mündet. Die Fähigkeit der Psychiatrie, Anschluss an kulturelle Deutungen zu finden und seismografisch auf sie zu reagieren, erweist sich in dem Moment als ihr Nachteil, in dem sie selbst – versehen mit den gezeigten Autoritätszügen – kulturelle Deutungen prägt. Es muss betont werden, dass das Bemühen um wissenschaftliche Neutralität, das die Veröffentlichungen der französischen Schule prägt, zugunsten eines Wortschatzes aufgegeben wird, der die hysterischen Patienten wahlweise als infantil gebliebene „Backfische“ oder antisoziale, egozentrische und dem Gemeinschaftsgedanken nicht verpflichtete Patienten sieht. Ausdrücklich möchte ich noch einmal darauf hinweisen, dass bei Charcot und in der ersten Phase der Charcot-Rezeption die Klinik als illustratives und bei Charcot als inszeniertes Zeigfeld präsent bleibt, das narrativ oder deskriptiv vertextet wird. Mit dem Aufstieg von Degenerationslehren und der Adaption darwinistischer Lehre entfernt sich das Nachdenken über Hysterie vom Erfahrungsraum der Klinik und bleibt als präsuppositionslastiges und nur bedingt nachvollziehbares Verweisen auf die eigene klinische Erfahrung erhalten – die klinische Erfahrungsgrundlage wird zunehmend opak. Auf der Basis der Hysterie – und das deckt sich mit den Schwärmern und Hypochondern des Anfangs – wird ein bürgerlicher Wertekanon formuliert, der für jedes Lebensstadium Formen der Normalität profiliert und der sich sowohl vom Proletariat als auch von der mangelnden
389 Funktionstüchtigkeit und vermeintlichen Pflichtvergessenheit einzelner Mitglieder abgrenzt. Eine solide, durch einen Fall geleitete Erfahrungsgrundlage wird durch einen fast voyeuristischen Blick, teils fasziniert, teils abgestoßen, in die Schlafzimmer des Bürgertums, in das Rotlichtmilieu oder in die engen Wohnverhältnisse unterer sozialer Schichten geleitet. Dies korrespondiert damit, dass einige psychiatrische Aufsätze und Monographien zu gesellschaftskritischen Essays geraten, die mehr einem persuasiv-integrativen als einem professionellen Sprachspiel verpflichtet zu sein scheinen. Ihre gesellschaftliche Sprengkraft gewinnen sie durch die oben skizzierten Autoritätszüge. Allerdings gibt es eine alternative, psychoanalytische Deutung hysterischer Erscheinungsbilder. Oben wurde schon darauf aufmerksam gemacht, dass die Psychoanalyse trotz großer Anfeindungen breit rezipiert wird und z. T. mit ihren neuen Begriffen gearbeitet wird. Vor der Folie der oben skizzierten Theoreme lesen sich die psychoanalytischen Erkenntnisse, obwohl sie zunächst auf Charcot verweisen, zeit-untypisch: Die Ausführungen von Freud und Breuer stellen eine bedeutende Alternative zu dem mit Degenerationstheorien letztlich verbundenen therapeutischen Nihilismus dar.
6.1.3
Die Rückkehr der Individualität: Die Krankengeschichten der Psychoanalyse
Einen anderen und letztlich von kulturellen Deutungsmustern wenig verstellten Blick auf die Hysterie präsentieren Freud und Breuer in ihren 1895 erschienenen Studien zur Hysterie. Freud äußert sich selbst verwundert über sein Schreiben, über seine psychiatrischen Novellen und propagiert die Rückwendung zur individuellen Fallschilderung: Ich bin nicht immer Psychotherapeut gewesen, sondern bin bei Lokaldiagnosen und Elektroprognostik erzogen worden wie andere Neuropathologen, und es berührt mich selbst noch eigenthümlich, daß die Krankengeschichten, die ich schreibe, wie Novellen zu lesen sind und daß sie sozusagen des ernsten Gepräges der Wissenschaftlichkeit entbehren. Ich muß mich damit trösten, daß für dieses Ergebnis die Natur des Gegenstandes offenbar eher verantwortlich zu machen ist als meine Vorliebe; Lokaldiagnostik und elektrische Reaktionen kommen bei dem Studium der Hysterie eben nicht zur Geltung, während eine eingehende Darstellung der seelischen Vorgänge, wie man sie vom Dichter zu erhalten gewöhnt ist, mir gestattet, bei Anwendung einiger weniger psychologischer Formeln doch eine Art von Einsicht in den Vorgang der Hysterie zu gewinnen. Solche Krankengeschichten wollen beurteilt werden wie psychiatrische, haben aber vor letzterem eines voraus, nämlich die innige Beziehung zwischen Leidensgeschichte und
390 Krankheitssymptomen, nach welcher wir in den Biographien anderer Psychosen noch vergebens suchen. (Freud 42000, 180, Frl. Elisabeth v. R.) 14
Freud orientiert sich wie Breuer am individuellen Fall, den er nicht in der Klinik, sondern in seiner Privatpraxis oder an anderen Orten trifft. Dies mag auch der Grund dafür sein, dass ihre chronologischen, bisweilen narrativen Fallschilderungen mit dem Spannungsbogen des ärztlichen Handelns, mit der Kenntlichmachung der eigenen subjektiven Perspektive, den Gesprächsprotokollen und des Zitats von Patientenäußerungen in ihrem Sinnzusammenhang (also nicht nur als Ausweis eines krankhaften Zustandes) und den fast liebevollen Skizzen der Krankheitserscheinungen fast als ein Paradigmenbruch und als eine Revitalisierung der Du-Beziehung der ersten psychiatrischen Krankengeschichten zu lesen sind. 15 Das Zusammentreffen von Arzt und Patientin, wo sich im Falle von Anna O. stellenweise die Rolle zu vertauschen scheinen, 16 jedoch immer auf Augenhöhe miteinander gear______________ 14
15
16
Pörksen sieht auch in Freuds Arbeit zum „kleinen“ Hans eine linguistische Krimininalnovelle. Er betont: „Die naturwissenschaftliche Sprache war, als Instrument, erprobt und hatte einen hohen sachaufschließenden Wert. Sie verpflichtete zu Genauigkeit und systematischer Beobachtung. Sie blieb aber, übrigens auch in den Augen Freuds, eine Bildersprache.“ (1994, 171) Pörksen (1986, 152f. u. 158) stellt dar, dass sich Freud nicht nur im Bereich der Krankendarstellung, sondern auch in seinen theoretischen Schriften von der etablierten Psychiatrie absetzt. So bevorzuge er gegenüber dem dogmatischen, deduktiven das genetische, induktive Schreiben, dass keine Voraussetzungen mache und den Rezipienten Schritt für Schritt mit neuen Erkenntnissen konfrontiere. Wie in Kap. 2.3.3. ausgeführt, charakterisiert Pörksen Freuds Schreiben als bildungssprachlich, was selbstverständlich Auswirkungen auf den gebrauchten Wortschatz hat: „Freud verwendet Termini, aber er schreibt wenig terminologisch. Er gebraucht die Termini nicht in der Art spezialsprachlicher, etikettierender Namen, deren Bedeutung als bekannt vorausgesetzt wird, sondern läßt ihre Bedeutung im Darstellungszusammenhang erschließbar werden. Darin liegt m. E. die besondere Qualität seines wissenschaftlichen Sprachstils. … Er bedient sich überwiegend allgemein bekannter, oft bildlicher Ausdrücke der Gemeinsprache und aktualisiert die spezifische Bedeutung, die sie in seinem Begriffssystem haben, indem er den diese Bedeutung definierenden Kontext mitliefert: der okkasionelle Gebrauch ist geregelt und die Begriffsdefinitionen – sozusagen die Gebrauchsregeln des künstlich geschaffenen Vokabulars der Psychoanalyse – werden im sprachlichen Kontext so weit wiederholt, daß die Meinung der Termini verständlich ist; …“ (Pörksen 1986, 155, vgl. auch ebd., 161) Der Fall Anna O. geht auf das Jahr 1880 zurück: „Ein Grund dafür, daß Anna O. eine so beispielhafte Patientin war, liegt darin, daß sie einen großen Teil der Gedankenarbeit selbst erledigte. In Anbetracht der Bedeutung, die Freud später der Gabe des Analytikers zuzuhören beimessen sollte, ist es nur folgerichtig, daß eine Patientin beinahe ebensoviel zur Entstehung der psychoanalytischen Theorie beitrug wie ihr Therapeut, Breuer, oder der Theoretiker Freud.“ (Gay 61999,79). So geht beispielsweise das „talking cure“ auf sie zurück.
391 beitet wird, führen beide dazu, scharf mit den gängigen Theorien ins Gericht zu gehen und sie in ihrem Sinne zu deuten und zu modifizieren: Noch eine Bemerkung muß ich anfügen, ehe ich die Krankengeschichte der Frau v. N. … beschließe. Wir kannten sie beide ziemlich genau, Dr. Breuer und ich, und durch ziemlich lange Zeit, und wir pflegten zu lächeln, wenn wir ihr Charakterbild mit der Schilderung der hysterischen Psyche verglichen, die sich seit alten Zeiten durch die Bücher und die Meinung der Ärzte zieht. Wenn wir aus der Beobachtung der Frau Cäcilie M … ersehen hatten, daß Hysterie schwerster Form mit der reichhaltigsten Begabung vereinbar ist, …, so hatten wir an Frau Emmy v. N. … ein Beispiel dafür, daß die Hysterie auch tadellose Charakterentwicklung und zielbewußte Lebensführung nicht ausschließt. … Eine solche Frau eine ‚Degenerierte‘ zu nennen, heißt die Bedeutung dieses Wortes bis zur Unkenntlichkeit entstellen. … Ich gestehe auch, ich kann in dieser Geschichte der Frau v. N. … nichts von der ‚psychischen Minderleistung‘ finden, auf welche P. Janet die Entstehung der Hysterie zurückführt. Die hysterische Disposition entstünde nach ihm in der abnormen Enge des Bewußtseinsfeldes (infolge hereditärer Degeneration), welcher zur Vernachlässigung ganzer Reihen von Wahrnehmungen, in weiterer Folge zum Zerfalle des Ich und zur Organisierung sekundärer Persönlichkeiten Anlaß gibt … bei Frau v. N. … aber war von solcher Minderleistung nichts zu bemerken. Während der Periode ihrer schwersten Zustände war und blieb sie fähig, ihren Anteil an der Leitung eines großen industriellen Unternehmens zu besorgen, die Erziehung ihrer Kinder niemals aus den Augen zu verlieren, ihren Briefverkehr mit geistig hervorragenden Personen fortzusetzen, kurz allen ihren Pflichten so weit nachzukommen, daß ihr Kranksein verborgen bleiben konnte. (Freud 42000, 122f., Frau Emmy v. N.; Hervorhebung v. d. Verf. – B-M. Sch.)
In die Krankenbeschreibung wirkt selbstverständlich das Charcotsche Vokabular hinein – selbstverständlich deshalb, da es ja Freud war, der sowohl Charcots als auch Bernheims Werke ins Deutsche übersetzte. Zitierautorität für Breuer und Freud ist auch das Werk von Janet (Der Geisteszustand der Hysterischen, dts. 1892). Während andere Psychiater Janets These einer cerebralen Insuffizienz in den Mittelpunkt stellen, ist für beide Autoren die These, dass Bewusstseinsspaltung oder Amnesie ein Wesenszug hysterischer Patienten sei, von zentraler Bedeutung. Kritisch setzen sie sich allerdings davon ab, dass hysterisches Denken nicht synthesefähig sei. Neben Janet, der die Vorstellung einer gespaltenen Psyche einer weiteren Öffentlichkeit bekannt macht, sind auch die Veröffentlichungen von Bernheim interessant, die die Art des Bewusstseins selbst versprachlichen: Das Gebiet der vorstellenden psychischen Tätigkeit fällt bei ihnen also nicht zusammen mit dem potentiellen Bewußtsein; sondern dieses ist beschränkter als jenes. Die psychische vorstellende Tätigkeit zerfällt hier in eine bewußte und unbewußte, die Vorstellungen in bewußtseinsfähige und nicht bewußtseinsfähige. Wir können also nicht von einer Spaltung des Bewußtseins sprechen, wohl aber von einer Spaltung der Psyche. (Breuer 42000, 244). Je mehr wir uns mit diesem Phänomen beschäftigten, desto sicherer wurde unsere Überzeugung, jene Spaltung
392 des Bewußtseins, die bei den bekannten klassischen Fällen als double conscience so auffällig ist, bestehe in rudimentärer Weise bei jeder Hysterie, die Neigung zu dieser Dissoziation und damit zum Auftreten abnormer Bewußtseinszustände, die wir als ‚hynoide‘ zusammenfassen wollen, sei das Grundphänomen dieser Neurose. (Freud 42000, 35, Frau Emmy v. N.). Denn es findet sich darin die Erinnerung an frühere psychische Vorgänge. Diese halbe Psyche ist also eine ganz vollständige, in sich bewußte. Der abgespaltene Teil der Psyche ist bei unseren Fällen ‚in die Finsternis gebracht‘, wie die Titanen in den Schlund des Ätna gebannt sind, die Erde erschüttern mögen, aber nie im Licht erscheinen. In den Fällen Janets hat eine völlige Teilung des Reiches stattgefunden. Noch mit einem Rangunterschiede. Aber auch dieser schwindet, wenn die beiden Bewußtseinshälften alternieren wie in den bekannten Fällen von double conscience und sich an Leistungsfähigkeit nicht unterscheiden. (Freud 42000, 248; Hervorhebung v. d. Verf. – B-M. Sch.)
Das Innovative ihres Vokabulars liegt in der Sicht der Hysterie als Konversionshysterie, auf der Basis eines psychischen Traumas, wodurch der Charcotsche Trauma-Begriff erweitert wird: Solche Beobachtungen scheinen uns die pathogene Analogie der gewöhnlichen Hysterie mit der traumatischen Neurose nachzuweisen und eine Ausdehnung des Begriffes der ‚traumatischen Hysterie‘ zu rechtfertigen. Bei der traumatischen Neurose ist ja nicht die geringfügige körperliche Verletzung die wirksame Krankheitsursache, sondern der Schreckeffekt, das psychische Trauma. (Breuer/Freud 4 2000, 29)
Das psychische Trauma kann sich selbst in körperlichen Symptomen auf der Grundlage einer Konversion manifestieren: Die hysterische Art der Abwehr – zu welchen eben eine besondere Eignung erforderlich wird – besteht nun in der Konversion der Erregung in eine körperliche Innervation, und der Gewinn dabei ist der, daß die unverträgliche Vorstellung aus dem Ichbewußtsein gedrängt ist. Dafür enthält das Ichbewußtsein die durch Konversion entstandene körperliche Reminiszenz – in unserem Falle die subjektiven Geruchsempfindungen – … (Freud 42000, 141, Frau Lucy R.; vgl. auch 165, Elisabeth v. R., derselbe Fall: 176; auch Breuer 42000, 224)
Die dabei wirksamen neurologischen Prozesse sind allerdings, dort, wo es um ihre Verortung geht, von eher modernisierten traditionellen Metaphern geprägt, die unverwunden Neurologie und Elektrizität miteinander verknüpfen: Es wird wohl kaum Verdacht erregen, ich identifizierte die Nervenbahnen mit der Elektrizität, wenn ich noch einmal auf den Vergleich mit der elektrischen Anlage zurückkomme. Wenn in einer solchen die Spannung übergroß wird, so besteht die Gefahr, daß schwächere Stellen der Isolation durchbrochen werden. Es treten dann elektrische Erscheinungen an abnormen Stellen auf; oder, wenn zwei Drähte nebeneinander liegen, bildet sich ein ‚kurzer Schluß‘. Da an diesen Stellen eine bleibende Veränderung gesetzt wird, kann die dadurch bedingte Störung immer
393 wieder erscheinen, wenn die Spannung genügend gesteigert ist. Es hat eine abnorme ‚Bahnung‘ stattgefunden. (Breuer 42000, 220)
Grundlage der von Breuer und Freud vorgeschlagenen „Redekur“ (oder sog. karthatischen Methode) ist die Beobachtung, dass das Sprechen über bestimmte, v. a. traumatische psychische Erlebnisse, es dem Kranken gestatte, sich von den hysterischen Erscheinungen zu lösen. 17 Zum Grundvokabular der Psychoanalyse 18 gehört das Wiederdurchleben von Ereignissen in der Rede, wodurch es auch möglich wird, die einzelnen Affekte abzureagieren (Breuer 42000, 53, 120; Breuer/Freud 42000, 32). Das Wiederdurchleben von psychischen Traumata erfolgt oft nicht freiwillig, so dass der Psychiater seinerseits gezwungen ist, Widerstände in der Rückerinnerung abzubauen, die durch Verdrängung entständen: … der Widerstand, den sie zu wiederholten Malen der Reproduktion von traumatisch wirksamen Szenen entgegengesetzt hatte, entsprach wirklich der Energie, mit welcher die unverträgliche Vorstellung aus der Assoziation gedrängt worden war. (Freud 42000, 176, Elisabeth v. R.). … aus anderen Fällen kann man wahrscheinlich machen, daß auch vollständige Konversionen vorkommen und daß bei diesen in der Tat die unverträgliche Vorstellung ‚verdrängt‘ worden ist, wie nur eine sehr wenig intensive Vorstellung verdrängt werden kann. (Freud 42000, 187, Elisabeth v. R.)
Neu ist die metaphorische Konzeptionierung des Arbeitsprozesses, der auch erhebliche Nachwirkung auf das Bild der Psyche haben wird und aufgrund des sehr anderen Charakters der Psychotherapie – 1896 wird Freud den Begriff „Psychoanalyse“ das erste Mal gebrauchen und mehr als drei Jahrzehnte dann an der Landkarte der Psyche basteln – als im Diskurs nicht angelegte begriffliche Alternative zu deuten ist. Zentral ist die Vorstellung, dass das ______________ 17
18
Zur Bedeutung der Interaktion und der Kommunikation im psychoanalytischen Prozess sowie der durch die Psychoanalyse aufgedeckten Symbole siehe die folgenden Veröffentlichungen von: Habermas (91988, 262–299), Klann (1977, 129–167; 1978, 52–66), Lorenzer (1970, 21973, 1976, 1977), Flader (1982), Baus/Sandig (1985) und Wrobel (1985). Die Sichtweise von Habermas ist die folgende: „Die Kommunikationsstörung verlangt einen Interpreten, der nicht zwischen Partnern verschiedener Sprachen vermittelt, sondern ein und dasselbe Subjekt die eigene Sprache begreifen lehrt. Der Analytiker leitet den Patienten an, damit er die eigenen, von ihm selbst verstümmelten und entstellten Texte lesen und Symbole von einer privatsprachlich deformierten Ausdrucksweise in die Ausdrucksweise der öffentlichen Kommunikation übersetzen lernt.“ (ebd., 279f.) Freud nimmt nach Pörksen bei der Terminologiebildung eine Sonderrolle ein, da etwa ein Drittel der psychoanalytischen Termini auf dem Erbwortschatz des Deutschen beruhe, während ein weiteres Drittel sich fest eingebürgerter Lehnwörter bediente und Termini auf der Basis des griechisch-lateinischen Wortmaterials ein weiteres Drittel stellten: „Die Abweichung Freuds von dem terminologischen Typus der heutigen Wissenschaftsprache ist auffällig …“ (Pörksen 1986, 156)
394 Unterbewusstsein geschichtet sei und man diese Schichten ausräumen müsse. Zum Status dieser Metaphorik führt Breuer Folgendes an, das sich wie eine interessante Vorwegnahme der Äußerungen von Lakoff/Johnson anhört: All unserem Denken drängen sich als Begleiter und Helfer räumliche Vorstellungen auf, und wir sprechen in räumlichen Metaphern. So stellen sich die Bilder von dem Stamme des Baumes, der im Lichte steht, und seinen Wurzeln im Dunkel oder von dem Gebäude und dem dunklen Souterrain fast zwingend ein, wenn wir von unseren Vorstellungen sprechen, die im Gebiete des hellen Bewußtseins sich vorfinden, und den unbewußten, die nie in die Klarheit des Selbstbewußtseins treten. (Freud 42000, 246)
Die gewählte Metaphorik ist für die Psychoanalyse kennzeichnend: So gelangte ich bei dieser ersten vollständigen Analyse der Hysterie, die ich unternahm, zu einem Verfahren, das ich später zu einer Methode erhob und zielbewusst einleitete, zu einem Verfahren der schichtweisen Ausräumung des verschütteten Materials, welches wir gerne mit der Technik der Ausgrabung einer verschütteten Stadt zu vergleichen pflegten. Ich ließ mir zunächst erzählen, was der Kranken bekannt war, achtete sorgfältig darauf, wo ein Zusammenhang rätselhaft blieb, wo ein Glied in der Kette der Verursachungen zu fehlen schien, und drang dann später in tiefere Schichten der Erinnerung ein … Ich gehe daran wiederzugeben, was sich als oberflächlichste Schichte der Erinnerungen ergab … (Freud 42000, ebd. 158, Frl. Elisabeth v. R.; Hervorhebung v. d. Verf. – B-M. Sch.). Ich setzte meine Analyse aber fort, weil ich der sichern Erwartung war, es werde sich aus tieferen Schichten des Bewußtseins das Verhältnis sowohl für die Verursachung als auch für die Determinierung des hysterischen Symptoms gewinnen lassen … Mit dieser Erwähnung des jungen Mannes war ein neuer Schacht geöffnet, dessen Inhalt ich nun allmählich herausbeförderte. (ebd., 164; Hervorhebung v. d. Verf. – B-M. Sch.). Ich habe die Gruppierung gleichartiger Erinnerungen zu einer linear geschichteten Mehrheit, wie es ein Aktenbündel, ein Paket u. dgl. darstellt, als Bildung eines Themas bezeichnet. Diese Themen nun zeigen eine zweite Art von Anordnung; sie sind, ich kann es nicht anders ausdrücken, konzentrisch um den pathogenen Kern geschichtet. Es ist nicht schwer zu sagen, was diese Schichtung ausmacht, nach welcher ab- oder zunehmenden Größe diese Anordnung erfolgt. Es sind Schichten gleichen, gegen den Kern hin wachsenden Widerstandes und damit Zonen gleicher Bewusstseinsveränderung, in denen die einzelnen Themen sich erstrecken. Die periphersten Schichten enthalten von verschiedenen Themen jene Erinnerungen (oder: Faszikel), die leicht erinnert werden und immer klar bewußt waren; je tiefer man geht, desto schwieriger werden die auftauchenden Erinnerungen erkannt, bis man nahe am Kern auf solche stößt, die der Patient noch bei der Reproduktion als solche verleugnet. (ebd., 305f., Hervorhebung v. d. Verf. – B-M. Sch.)
Die Vorstellung von unterschiedlichen Schichten des Bewusstseins, die abzutragen seien, verbindet sich mit der Vorstellung, dass der Abtragungsprozess eine Arbeit sei, die man zu erledigen hätte – immer verwendet Freud mit Arbeit zu verbindende Kollokationen bis hin zu einer spezifischen Verwendung der Lexeme erledigen, abarbeiten und durcharbeiten:
395 Die Arbeit, die ich diesmal mit ihr vorzunehmen hatte, bestand in der hypnotischen Erledigung der unangenehmen Eindrücke, die sie während der Kur ihrer Tochter und während des eigenen Aufenthalts in jener Anstalt in sich aufgenommen hatte.“ (Freud 42000, 98, Frau Emmy v. N.). „… diese assoziative Unzulänglichkeit selbst rühre aber davon her, daß die Vorstellungen des gelähmten Gliedes in die mit unerledigtem Affekt behaftete Erinnerung des Traumas einbezogen seien. (ebd., 108, Frau Emmy v. N.). Meine Therapie schloß sich dem Gange dieser Erinnerungstätigkeit an und suchte Tag für Tag aufzulösen und zu erledigen, was der Tag an die Oberfläche gebracht hatte, bis der erreichte Vorrat an krankmachenden Erinnerungen erschöpft schien. … (ebd., 109, Frau Emmy v. N.). … ich trage jedes Mal ein gewisses Quantum von Schmerzmotiven weg, und wenn ich alles abgeräumt haben würde, werde sie gesund sein. (ebd., 168, Elisabeth v. R.). Man kann dieselbe Tatsache der nachträglichen Erledigung während der Krankenpflege gesammelter Traumen gelegentlich auch antreffen, wo der Gesamteindruck des Krankseins nicht zustande kommt, der Mechanismus der Hysterie aber doch gewahrt bleibt. (ebd., 182, Elisabeth v. R.). Je mehr man dergleichen Rätsel bereits gelöst hat, desto leichter wird man vielleicht ein neues erraten, und desto früher wird man die eigentlich heilende psychische Arbeit in Angriff nehmen können … (ebd., 299). … der Zustand der Patientin, in dem wir arbeiteten, hatte darum von seinen Eigentümlichkeiten, der Fähigkeit, sich an Unbewußtes zu erinnern, der ganz besonderen Beziehung zur Person des Arztes nichts eingebüßt. (ebd., 301). Gewöhnlich wird die Arbeit zunächst um so dunkler und schwieriger, je tiefer man in das vorhin beschriebene, geschichtete psychische Gebilde eindringt. Hat man sich aber einmal bis zum Kerne durchgearbeitet, so wird es licht, und das Allgemeinbefinden des Kranken hat keine starke Verdüsterung mehr zu befürchten. (ebd., 316)
Freud und Breuer werden immer wieder angefeindet, allerdings aufgrund noch späterer Veröffentlichungen, in denen eine sexuelle Ätiologie angenommen wird (und das obwohl die anderen Psychiater Sexuelles in eigentlich perfiderer Weise thematisieren – siehe eben Kretschmer zur Hysterie!). Beweise für eine solche im höchsten Grade unwissende Ablehnung kamen aus ganz Europa und den Vereinigten Staaten. Kongresse von Fachleuten auf dem Gebiet der psychischen Störungen ignorierten Freuds Ideen oder applaudierten Vorträgen, die sie als einen Mischmasch von unbewiesenen Behauptungen oder (was den Kritikern noch besser zu gefallen schien) als ein widerliches Bukett von Unanständigkeiten verurteilten. … Sie nannten Freud einen ‚Wiener Wüstling‘, psychoanalytische Schriften ‚pornographische Geschichten über reine Jungfrauen‘ und die psychoanalytische Methode ‚geistige Masturbation‘. Im Mai 1906 bezeichnete Gustav Aschaffenburg, Professor für Neurologie und Psychiatrie in Heidelberg, auf einem Kongreß von Neurologen und Psychiatern die psychoanalytische Methode kurz und abfällig als ‚in den meisten Fällen falsch, in vielen Fällen nicht einwandfrei und in allen überflüssig. (Gay 31999, 222)
Gaupp führt 1938 allerdings an: Wertvolle Begriffe wurden gewonnen (z. B. der ‚Konversion‘, der ‚Verdrängung‘, der ‚Symbolbildung‘, der ‚Organminderwertigkeit‘) … Ein bedauerlicher Pan-
396 sexualismus, viele voreilige Deutungen und eine einseitige Vorstellungsmechanik standen der Anerkennung der Psychoanalyse im Wege; … (Gaupp 1938, 235)
Hier zeigt sich ein interessantes Hineinholen zu Freud in den gängigen Diskurs, da bestimmte Begriffe intentional oder degenerativ gedeutet werden. Während bei Freud die Flucht in die Krankheit nur so gedeutet werden kann, dass hysterischen Symptomen eine Konversion aufgrund unerledigter und nicht mehr bewusster psychischer Traumata zu Grunde liegt, wird, wie schon gesehen, diese idiomatische Prägung zum einen intentional umgedeutet (Wille zur Krankheit) und mit anderen, mit Freud nicht zu verbindenden Theoremen amalgiert. Es ist, wie im folgenden Zitat, fast schon ein Kunststück, sich durch den gebrauchten Wortschatz (z. B. seelische Tiefenschichten) so stark auf Freud zu beziehen, ihn gleichermaßen jedoch ebenso stark zu verfremden: So spielen bei Freud hysterische Willensvorgänge keine Rolle und er ist selbst davon entfernt, hysterische Äußerungen auf einen entwicklungsgeschichtlich frühen Funktionstypus zu beziehen. Die ‚Flucht in die Krankheit‘ könnte dem Hysterischen nach herkömmlicher Moral leicht vor andern und vor allem vor sich selbst den Vorwurf der Feigheit und Unehrlichkeit zuziehen; er sucht deshalb, wie jeder gesunde Mensch in derselben Lage, die Tatsache seiner eigenen Mitarbeit am hysterischen Bild möglichst zu vergessen, gedächtnismäßig umzuschmelzen, oder von vornherein nach Art einer Triebhandlung sich gar nicht motivisch klar herauszuarbeiten. (Kretschmer 5 1948,139). Ist der Erlebnisreiz überstark oder die Persönlichkeit infolge Entartung abnorm leicht dissoziabel, so bleibt es nicht immer bei der einfachen Verdrängung, sondern auf dem Wege der Persönlichkeitsspaltung werden die seelischen Tiefenschichten bloßgelegt, die wir schon bei den hysterischen Willensvorgängen zu studieren begonnen hatten. Diese Tiefenschichten, nunmehr isoliert arbeitend, liefern uns auf dem Gebiet der Vorstellungsinhalte die hynoische Bildung von entwicklungsgeschichtlich frühem Funktionstypus. (ebd., 140)
Während die Ausführungen von Kretschmer wenigstens noch – wenn auch in Grenzen – der Komplexität des Freudschen Denkmodells gerecht werden, zeigt sich bei anderen die Trivialisierung der Freudschen Erkenntnisse: Wenn Kehrer ferner zweifelt, ob bei allen hysterischen Delirien und Dämmerzuständen ein Krankheitswunsch zentral wirksam sei, ob es sich nicht viel mehr um eine Flucht aus unerfreulicher Lebenslage handelt, so ist darauf zu antworten, daß sich eben bei der hysterischen Symptombildung die Flucht aus der unerfreulichen Lebenslage mit dem Wunsch der Befreiung aus dieser Lebenslage unmittelbar wieder findet. (Gaupp 1938, 249)
Die Orientierung am individuellen Fall führt Breuer und Freud dazu, die gängigen Hysterielehren abzulehnen. Ihre Auseinandersetzung mit der französischen Schule (Charcot, Janet) ist dabei wesentlich produktiver als die konkurrierenden Versuche – es handelt sich um eine erfahrungsgestützte Typ-Modifizierung und nicht um Reverbalisierung von vorerfahrenen Typen.
397 Die ausführlichen Fallschilderungen sind dabei nicht in den Rahmen und damit die textlichen Aneignungsformen klinischen Handelns eingebunden. Dadurch dass die Geburtsstunde der Psychoanalyse mit dem Fall der Anna O. zusammenfällt, beruhen Erkenntnisse und so die Ausformulierung einer neuen Theorie – die entlastende Funktion des Sprechens selbst – auf einer intensiven Arzt-Patienten-Interaktion. Freud und Breuer schaffen eine Theorie, die unabhängig von ihrer Richtigkeit den Vorzug hat, dass sie den Patientinnen hilft und körperliche Symptome lindert (was bei der Elektroschock-Therapie, mit der man die Kriegszitterer behandelte, nicht der Fall ist). Der sprachliche Beitrag der Psychoanalyse in diesem frühen Stadium ist folgender: – die Revitalisierung ausführlicher, das soziale Umfeld einbeziehender Krankengeschichten, – die Revision schon eingeführter Termini wie „Suggestibilität“, – die Erweiterung eines sich um das Bewusstsein legenden Vokabulars, was auch in charakteristische metaphorische Komposita wie Bewusstseinsschichten oder Lexeme wie Verdrängung mündet, – der Gebrauch neuartiger Lexeme wie wiederdurchleben sowie idiomatische Prägungen, die mit Kernbegriffen der Psychoanalyse verbunden werden können (psychisches Trauma, Affekte abreagieren oder das spezifisch verwendete Arbeit erledigen). Die Sonderrolle der Psychoanalyse wird auch daran deutlich, dass Freud und Breuer – zumindest in dieser Phase – doch relativ sparsam mit Fremdwörtern umgehen und dass die Neueinführung von Lexemen häufig mit explikativen Definitionen korrespondiert. Die Ergebnisse des vorherigen Kapitels lassen sich folgendermaßen zusammenfassen: Durch die französische Schule werden neue Lexeme und Kollokationen eingeführt. Sie gehören auch dann noch zum Bestand, als sich Psychiater von der Stigmata-Lehre befreien, was die deutschen Psychiater um die Jahrhundertwende tun. Es zeigt sich auch hier eine metaphorische Übertragung vom körperlichen auf den psychischen Bereich oder anders geartete Krankheitserscheinungen (so psychische und hereditäre Stigmen). Zwar gibt es über den betrachteten Zeitraum bis in die 30er Jahren hinweg einige Kernlexeme bei der Symptombeschreibung (z. B. Suggestibilität/Beeinflussbarkeit/Lenkbarkeit). Die sprachliche Umsetzung der hysterischen Symptomologie gleicht prinzipiell jedoch einer offenen Liste, die allerdings nicht nur die Verschiedenheit des Krankheitsverlaufes verbalisieren, sondern auch zunehmend als eine Zusammenführung negativer Etikettierungen zu deuten sind. Die psychiatrische Betrachtung der Hysterie wird gleichermaßen von der ebenfalls durch die Psychiatrie geleisteten Neumodellierung der Geschlechtercharaktere überblendet. Die Lehre der Geschlechtercharaktere zeigt
398 sich auch noch dann, als eine rein weibliche Ätiologie der Krankheit verabschiedet wird. Es ergibt lange Zeit keine Präferenz für eine bestimmte Theorie, wohl aber für Theoreme, die u. a. auf unterschiedliche Spielarten der Degenerationslehre zugreifen und zu einem entsprechenden Wortschatz führen. Parallel zur Überblendung, die zu interessanten thematischen Retentionen führt, werden andere Disziplinen, vornehmlich die Neurologie und die Eugenik, nutzbar gemacht, so dass viele Beschreibungen von Hysterikerinnen ein recht eigentümliches Konglomerat von eingeführten psychiatrischen Lexemen, Charcotschen Termini, neurologischen Rückübersetzungen alten vitalistischen Denkens und von neueren Lexemen aus der Eugenik sind. Diese Zusammenführung erklärt sich dadurch, dass Hysterie auf einer neuround psychopathischen Prädisposition fuße, die das Nervensystem und dort vor allem die Möglichkeit, auf Reize zu reagieren, betreffen solle. Die Temperamentenlehre wird in der Konstitutionslehre anverwandelt und fördert die „Auferstehung“ von personalen Typen. Mit der Dominanz der Erblehre und mit dem Postulat der Keimschädigung ist verbunden, dass sich die Krankheit von der hysterischen Frau zu einer Krankheit der unteren Schichten verschiebt. Die Annahme einer hereditären Disposition ist kritisch zu beurteilen: Sie verweist auf autoritative sprachliche Schachzüge der Psychiater, deren Überprüfbarkeit von ihnen – hier steht Binswanger stellvertretend für weitere – nicht gewährleistet wird. Die sprachliche Markierung von Unsicherheitszonen, die durch den bescheidenen Stand der Erblehre auf dem Gebiet psychischer Erkrankungen eigentlich gegeben sein müsste, erscheint nicht. Vielmehr, und dies ist einer Interpretation offenes Faktum, zeigt sich eine geradezu überpointierte Kennzeichnung der eigenen Sprecherhaltung: Hier verschiebt sich das frühe Postulat, dass man sich an Beobachtungen zu orientieren und nicht deduktiven Entwürfen Glauben schenken sollten, zugunsten der nicht mehr eigens dargestellten, sondern autoritativen und unhinterfragten klinischen Beobachtung. Interessanterweise bedingen sich eine sprachliche Typik und Idiomatisierung und vom heutigen Standpunkt aus unbewiesene Behauptungen. Die Popularität psychiatrischer Erkenntnisse dürfte sich allerdings nicht auf ihre Seriosität gründen, sondern darauf, mirandafähige und kondensierte, vermeintlich erklärende, letztlich jedoch nur evokative Termini bereitzustellen. Die Anverwandelung psychoanalytischer Begriffsbildung stellt einen interessanten Fall der Ideologisierung dar und zeigt unter der Hand die Bedeutung dieses psychiatrischen Neuansatzes, so die trivialintentionale Umdeutung der ‚Flucht in die Krankheit‘. Das Kapitel dürfte auch deutlich gemacht haben, dass lange vor dem Nationalsozialismus bestimmte Kernbegriffe wie Entartung, Degeneration, Psychopathie, schlechtes Erbgut, aber auch soziales Parasitentum hoffähig gemacht worden sind. Diese Lexeme führen nicht nur einige Außenseiter im Munde, sondern nahezu alle bekannten Psychiater, die sich ab der Jahrhundertwende mit der
399 Hysterie beschäftigen. Es werden in diesen ca. fünfzig Jahren von psychiatrischer Seite nur wenige Stimmen laut, die vor einem unreflektierten Umgang mit entsprechenden Begriffen warnen. Die vorher schon erarbeiteten sprachlichen Verfahren: eine rudimentäre Kasuistik, aseptische Fallbeispiele, die bloße Auflistung von Symptomen, die autoritativen Schachzüge scheinen, konfrontiert man sie mit der Wiener psychoanalytischen Schule, Maßstäbe der Vortrefflichkeit zu formulieren, die vom alten Heilgedanken: Unterstützung eines hilfsbedürftigen Menschen dauerhaft abzurücken. Die Genesung des geschädigten Volkskörpers nach den Erfahrungen des Ersten Weltkrieges, nach der letztlich gescheiterten Reformierung der Psychiatrie (vgl. Kap. 6.2) und nach der Weltwirtschaftskrise machen den Einzelnen zum Träger einer möglicherweise vererbbaren und den ‚Volkskörper‘ schädigenden Krankheit.
6.2
Die Erfindung der Schizophrenie zu Beginn des 20. Jahrhunderts
6.2.1
Die Versprachlichung von schizophrenen Symptomen
Der Begriff „Schizophrenie“ geht auf Bleuler zurück (seit 1898 Direktor der Züricher Universitätsklinik Burghölzli) und löst den bis dahin eingeführten Begriff „Dementia praecox“ von Kraepelin (in der 6. Auflage seines Lehrbuchs) ab, die ihrerseits auf Morels „Démence précoce“ zurückweist. Die Wahl einer neuen Krankheitsbezeichnung ist nicht unbegründet, sondern weist auf pragmatische ebenso wie auf theoretische Defizite der alten Begriffe zurück: Leider konnten wir uns der unangenehmen Aufgabe nicht entziehen, einen neuen Namen für die Krankheitsgruppe zu schmieden. Der bisherige ist zu unhandlich. Man kann damit nur die Krankheit benennen, nicht aber die Kranken, und man kann kein Adjektivum bilden, das die der Krankheit zukommenden Eigenschaften bezeichnen könnte, wenn auch ein verzweifelter Kollege bereits ‚präkoxe Symptome“ hat drucken lassen … Es gibt aber noch einen viel wichtigeren, materiellen Grund, warum es mir unausweichlich schien, neben den bisherigen Namen einen neuen zu stellen: der alte Name ist gebildet worden zu einer Zeit, da sowohl der Begriff der Dementia wie der der Präcocitas auf fast alle einbezogenen Fälle anwendbar war. Zu dem jetzigen Umfange des Krankheitsbegriffes passt er nicht mehr, denn es handelt sich weder um lauter Kranke, die man als dement bezeichnen möchte, noch ausschließlich um frühzeitige Verblödungen. (1911, 4)
Er begründet sein Vorgehen folgendermaßen:
400 Ich nenne die Dementia praecox Schizophrenie, weil, wie ich zu zeigen hoffe, die Spaltung der verschiedenen psychischen Funktionen eine ihrer wichtigsten Eigenschaften ist. Der Bequemlichkeit wegen brauche ich das Wort im Singular, obschon die Gruppe wahrscheinlich mehrere Krankheiten umfasst. (ebd., 5)
Darauf folgt die bekannte Definition: Mit dem Namen der Dementia praecox oder der Schizophrenie bezeichnen wir eine Psychosengruppe, die bald chronisch, bald in Schüben verläuft, in jedem Stadium Halt machen oder zurückgehen kann, aber wohl keine volle Restitutio ad integrum erlaubt. Sie ist charakterisiert durch eine spezifisch geartete, sonst nirgends vorkommende Alteration des Denkens und Fühlens. (ebd., 6)
Gegenüber der Definition, die Kraepelin für die Dementia praecox vorschlagen hatte und die eher als Abweichung von einer ideellen inneren Ordnung interpretierbar ist, fasst Bleuler die Alteration des Denkens und Fühlens ebenso vage wie wertneutral: Wir dürfen daher erwarten, daß eine Abschwächung oder Vernichtung des Einflußes, den Allgemeinvorstellungen, höhere Gefühle oder dauernde, allgemeine Willensrichtungen auf unser Denken, Fühlen und Handeln ausüben, jene Zersplitterung, jene ‚schizophrenen‘ Störungen nach sich ziehen muß, denen wir in der Dementia praecox begegnen. (ebd., 189)
Zwischen Bleuler und Kraepelin gibt es generell Gemeinsamkeiten, jedoch auch Unterschiede: Gemeinsames besteht in der Annahme ähnlicher Symptome, in der Annahme einer ähnlichen prognostischen Ansicht (häufiges Einmünden der Krankheit in eine Verblödung), wobei beide auch von plötzlichen Heilungen wissen, in der Vermutung einer physischen, jedoch nicht nachweisbaren Ursache und in der Annahme einer gespaltenen Persönlichkeit. Das Trennende zwischen beiden Psychiatern ist, dass Bleuler stärker systematisiert und die Symptome nach ihrer diagnostischen Wertigkeit in Grund- und akzessorische Symptome unterteilt. Daneben nimmt Bleuler eine psychologische Deutung mancher Krankheitssymptome im Sinne der Psychoanalyse an. Beide Autoren wirken sprachschöpferisch, wobei es zumeist Bleulerische Vorschläge (z. B. Autismus) sind, die fortan zur Krankheit „Schizophrenie“ gehören werden. Bleuler grenzt diese Bezeichnung nicht nur von Kraepelin, sondern auch von einer Vielzahl von Vorgängerveröffentlichungen ab. Hier nur ein kleiner Ausschnitt, der die psychiatriespezifische Kookkurrenz von Krankheitsbezeichnungen zeigt: Zu einseitig erscheinen uns auch der von Bernstein empfohlene Name der ‚Dementia paratonica progressiva‘ oder ‚Paratonica progressiva‘ und Evensens (211) ‚Amblythymia‘ oder ‚Amblynoia simplex et catatonica‘. In allen Beziehungen unpassend ist natürlich ‚Adolescent Insanity‘ (Conaghey) und ‚Jugendirresein‘. – Wolff hat neuestens ‚Dysphrenie‘ vorgeschlagen. Der Ausdruck ist aber schon in anderem Sinne gebraucht worden, er ist so leicht verständlich und seine
401 Bedeutung so weit, daß die Versuchung, ihm einen unpassenden Sinn unterzuschieben, zu groß wird. (1911, 5)
Kraepelin und Bleuler wird von Gruhle eine rein symptomologische Betrachtung und damit eine nur soziale Konstruktion des Krankheitsbildes vorgeworfen, zu Kraepelin: Es ist schwer, dem von Kraepelin gewählten Verfahren der Darstellung methodisch gerecht zu werden: er schildert keine Individuen und keine individuellen Verläufe, er beschreibt keine Durchschnittstypen, er stellt keine Idealtypen auf: er vermittelt nur die Kenntnis einer Fülle einzelner, nur lose gruppierter Beobachtungen aus dem Reichtum seiner persönlichen Erfahrung. (Gruhle 1913, 115)
Zu Bleuler: Aus den angeführten Bleulerschen Formulierungen geht wohl deutlich hervor, daß sein Krankheitsbegriff rein symptomatisch ist. Er begründet ihn nicht auf eine einheitliche Ursache, nicht auf einen einheitlichen Ausgang, nicht auf einen gleichen anatomischen Befund, sondern auf ‚Symptome, die nur ihm zukommen und immer bei ihm vorhanden sind.‘ (Gruhle 1913, 117)
Bleuler hingegen hält die „Schizophrenie“ für eine Krankheit, die zweifelsfrei vorliege, wenn bestimmte Grundsymptome und zum Teil – zumeist damit verbunden – akzessorische Symptome gegeben seien (die Grundsymptome haben also eine ähnliche Relevanz wie die Stigmata der Hysterielehre): In bezug auf den zeitlichen Ablauf der Assoziationen kennen wir nur zwei speziell der Schizophrenie angehörende Symptome, das Gedankendrängen, d. h. ein pathologisch vermehrtes Zufließen von Gedanken, und dann die besonders charakteristische Sperrung.“ (1911, 10; Hervorhebung v. d. Verf. – B-M. Sch.)
Bei der Neueinführung von Lexemen greift Bleuler auf eingeführte und für die Psychiatrie charakteristische metaphorische Formulierungen zurück: Der von Kraepelin geschaffene Begriff der Sperrung ist von fundamentaler Bedeutung für die Symptomatologie und die Erkennung der Schizophrenie … Die Sperrung ist prinzipiell verschieden von der Hemmung, … Das Psychokym bewegt sich wie eine viskose Flüssigkeit in einem Röhrensystem; dieses ist aber überall passierbar. Bei der Sperrung wird eine sich leicht bewegende Flüssigkeit plötzlich gehemmt, indem da oder dort ein Hahn geschlossen wird. Oder vergleichen wir den psychischen Mechanismus mit einem Uhrwerk, so entspricht die Hemmung einer starken Reibung, die Sperrung dem plötzlichen Abstellen des Werkes. (ebd., 27)
Bleuler postuliert eine Krankheitsentität, deren genauere Erforschung jedoch der Zukunft vorbehalten sein wird: Die Zerlegung der Schizophreniegruppe ist also eine Aufgabe der Zukunft. Ich halte es aber noch wichtiger als die Abgrenzung der Krankheit nach außen, daß
402 einmal klar ausgesprochen worden ist: innerhalb dieser Gruppe kennen wir noch keine natürlichen Grenzen; was man bis jetzt für Grenzen ausgab, sind Grenzen von Zustandsbildern, nicht von Krankheiten. … Nach zwei Seiten allerdings ist der Begriff noch nicht gut abgeschlossen, gegen die Paranoia und die Alkoholpsychosen. (ebd., 228f.)
Mit der Schizophrenie hätte die Psychiatrie einen Durchbruch erreicht: Nachdem aus den ‚funktionellen Psychosen‘ die Paralyse ausgeschieden worden war und ihr ganz von selbst die anderen organischen Formen folgten, blieb die theoretische Psychiatrie siebzig Jahre dem Chaos der häufigsten Geisteskrankheiten gegenüber vollständig hilflos. Man wußte nicht, was von den verschiedenen Symptombereichen zusammengehörte; man sah, daß von den akuten Zuständen die einen heilten, die anderen in ‚sekundären Blödsinn‘ und ‚sekundäre Verrücktheit‘ übergingen, aber man wusste nicht, welche. … Der erste, der mit dem Bewußtsein des Zieles und des dahinführenden Weges aus dem Nebel herauszukommen suchte, war KAHLBAUM … (Bleuler 1916, 277). Zu Kraepelin: Die Heraushebung der manisch-depressiven und der Dementia-praecox-Gruppe und ihre gegenseitige Abgrenzung ist der bedeutsamste Fortschritt, den die systematische Psychiatrie je gemacht hat. (ebd., 278)
Interessant ist, dass Bleulers Monographie zur Schizophrenie zum Teil wieder von sehr ausführlichen Fallschilderungen Gebrauch macht: Der Tonfall hat oft etwas Besonderes, namentlich fehlen manchmal die Modulationen, oder sie sind übertrieben oder am falschen Ort. Die Sprache ist oft abnorm laut, abnorm leise, zu schnell, zu langsam; der eine redet durch die Fistel, der andere murmelt, der dritte brummt oder grunzt beim Sprechen; eine Katatonika spricht bei der Inspiration wie bei der Exspiration; eine andere intoniert gar nicht. Manchmal wechselt die Stimme mit dem Ideenkreis, die Patienten reden mit den Halluzinationen in ganz anderem Ton als mit wirklichen Menschen, … (ebd., 122)
während sein Lehrbuch von 1916 sich offensichtlich an den strukturellen Maßstäben der nun eingeführten Kasuistik orientiert (vgl. Kap. 4.2.3): Depressive Katatonie. Dauerndes Stimmenhören. Lehrer. Schien vorher ganz normal. Mit 34 Jahren zum erstenmal ein Jahr lang gereizt, schlaflos, gelegentlich Schwindel; dann deliriöses Stadium. Nach 28 Wochen Sanatoriumsaufenthalt ‚geheilt‘. Anderthalb Jahre später ähnlicher Anfall. Dann war er wieder guter Lehrer, fühlte sich sehr gesund und munter. Auf einer Reise nach Tirol, 40 Jahre alt, fühlte er seine Ideen unklar werden, konnte nicht mehr sprechen, trat wieder ins Sanatorium ein. (ebd., 314)
Bleuler und zum Teil auch seine Vorläufer prägen, wie oben schon kurz erwähnt, eine Reihe von neuen Begriffen. Sie beruhen auf einem in der Psychiatrie noch nicht gebrauchten, nicht adaptierten Vokabular: Dieses Symptom hat eine äußerliche und gewiß manchmal auch eine innere Ähnlichkeit mit dem, was Sommer als Nennen und Abtasten bezeichnet. Bei manchen
403 Patienten, namentlich bei etwas benommenen, besteht die einzig erkennbare Assoziation an von außen gegebene Eindrücke im Nennen des Eindruckes: ‚Spiegel‘, ‚Tisch‘ … (ebd., 22)
Allerdings gilt es zu beachten, dass das Kardinalthema „Wahnsinn“, dem die Schizophrenie zumindest der Tendenz nach, verwandt ist, selbstverständlich eine Reihe von metaphorischen Gebrauchsvarianten bietet, die im psychiatrischen Rahmen schon verwendet worden sind und erneut aktualisiert werden (hier kursiviert): Im gewöhnlichen Sprechen und Schreiben ist dieses eigenartige Zerreißen der Assoziationsfäden meist vermischt mit anderen Störungen, … (ebd., 15), Wo die zerrissenen Assoziationsfäden mehr nebensächlicher Natur sind, werden die Assoziationen nicht gerade unsinnig; sie erscheinen aber fremdartig, bizarr, verschroben, auch wenn sie in der Hauptsache richtig sind. (ebd., 14). Auch die Klangassoziationen haben häufig den schizophrenen Charakter des Bizarren. (ebd., 19). Allerdings sieht man ebenso häufig, daß auch die gut arbeitenden Kranken einfach wie Maschinen ihr Tagewerk tun in immer derselben Stimmung, bei Regen oder Schnee, Hitze oder Kälte. (ebd., 38)
Auf Bleuler gehen z. T. auch Lexeme zurück, die im Zusammenhang mit der Fokussierung neuer Themen bzw. neuer Phänomenebenen stehen (v. a. im Zusammenhang mit der Spaltung der Persönlichkeit) und nicht durch den bereits geprägten Wortschatz gestützt werden (also bspw. nicht als Rückübersetzungen, Anverwandelungen oder Amalgierungen zu verstehen sind) – so Transitivismus (das vorherige transitorisch bezog sich lediglich auf den Krankheitsverlauf) oder Autismus: Eine Teilerscheinung des Transitivismus ist die Lokalisation der Halluzinationen in eine andere Persönlichkeit. Viele Schizophrene glauben nicht nur, ihre Umgebung müsse die Stimmen so gut wie sie selbst hören; sie meinen auch, entfernte Leute nehmen sie wahr. Von hier aus ist es nur noch ein kleiner Schritt bis zu den transitiven Halluzinationen, von denen der Patient annimmt, daß eine dritte Person sie höre, während er selbst nur auf irgendeinem geheimnisvollen Weg Kunde davon bekommt.“ (ebd., 92). Einzelne gefühlsbetonte Ideen respektive Triebe bekommen eine gewisse Selbständigkeit, so daß die Person in Stücke zerfällt. Diese Teile können nebeneinander bestehen und abwechselnd die Hauptperson, den bewußten Teil des Kranken einnehmen. Es kann aber auch der Kranke von einem gewissen Zeitpunkt an definitiv ein anderer sein. (ebd., 118) Eine ganz besondere und für die Schizophrenie charakteristische Alteration aber erleidet das Wechselverhältnis des Binnenlebens mit der Außenwelt. Das Binnenleben bekommt ein krankhaftes Übergewicht (Autismus). (ebd., 51). Diese Loslösung von der Wirklichkeit zusammen mit dem relativen und absoluten Überwiegen des Binnenlebens nennen wir Autismus. (ebd., 52)
Relativ neue Begriffe sind auch die, die vorher noch nicht präzisierend gefasst worden sind: vor allem im Bereich sprachlicher Äußerungen und der
404 Motorik. In diesem Zusammenhang steht die Stereotypie von sprachlichen Äußerungen, Gedanken oder Handlungen: Die Neigung zum Stereotypwerden in Verbindung mit dem Mangel eines Zieles im Denken führt auf der einen Seite zum ‚Klebedenken‘, zu einer Art Persevation, auf der anderen zu einer Verarmung des Denkens überhaupt. – Die Kranken reden dann immer nur vom gleichen Thema (Monoideismus) und sind nicht fähig, auf etwas anderes einzugehen. (ebd., 21)
Die Grundsymptome sind die schizophrene Assoziationsstörung, Sperrung, Spaltung, Autismus und der Transitivismus. Eher akzessorische Symptome sind: das Auftauchen abrupter Ideen, Halluzinationen, Para- und Afunktionen der Affektivität, katatone Symptome, Befehlsautonomie, Negativismus, Stereotypien, Manieren und Stupor. In den Horizont der Schizophrenie, folgt man Sommer, der einen „primären Schwachsinn“ annimmt, gehören auch folgende, z. T. schon auf Kahlbaum zurückgehende Begriffe: Bei der Katatonie werden auch aufgeführt: „Stereotypie der Bewegungsimpulse“ (1894, 221), auch Echolalie, Echopraxie, Verbigeration, Negativismus, Stupor (ebd., 221f.), die bei Bleuler unter dem Begriff Paragrammatismus fungieren. Unter den degenerativen Formen des Irreseins werden bei ihm gezählt: 1. angeborener Schwachsinn, 2. der später ausbrechende ‚primäre‘ Schwachsinn, 3. das periodische Irresein, 4. die originäre Paranoia, 5. die Paranoia tarda und 6. die Zwangszustände.
Dass sich Bleulers Begriff hat durchsetzen können, liegt vielleicht an der Handhabbarkeit des Begriffes, gleichzeitig auch daran, dass er sich zwar in der Entstehung nicht festlegt, Gehirnpathologen und Psychoanalytiker jedoch gleichermaßen einlädt, seiner theoretischen Konzeption zu folgen: Bleulers Theorie ist vor allem eine Theorie der Inhalte. Es unterliegt keinem Zweifel, daß die Kraepelinischen Lehren im allgemeinen dazu verleiten, den Inhalt der Symptome gering anzusetzen. Dem Lernenden pflegt man dies etwa in der Form zu vermitteln: ob ein Kranker Kaiser von China oder Papst zu sein glaubt, ob er sich von Mädchen oder Schutzleuten verfolgt sieht, darauf kommt gar nichts an. Bleuler wie die gesamte Freudschule haben die Aufmerksamkeit der Wissenschaft wieder mehr auf die Inhalte der Störungen gelenkt: auch darin liegt ein unzweifelhaftes Verdienst. (Gruhle 1913, 131)
Insgesamt sind bestimmte symptomologische Kernlexeme vorhanden, die sich sowohl bei Bleuler als auch bei Kraepelin u. a. mit dem Begriff „Schizophrenie“ verbinden: ein Psychiater auf der Höhe der Zeit hat diese begrifflichen Neuerungen gekannt. Bei Kraepelin geht sie in den endogenen Psychosen auf, deren Vererbung nur vermutet wird. Bei Bleuler und auch Kraepelin finde ich keine starken Indizien, die die spätere „negative“ Karriere des Krankheitsbildes stützen würden, zumal bspw. von Bleuler der demente Charakter der Schizophrenie öfters bestritten wird und, wie schon gesagt, ein
405 Verblödungsprozess nicht durchgängig zu sehen ist. Ebenso wenig ist auch klar, ob und unter welchen Umständen die Schizophrenie nicht auch geheilt werden kann, da beide Psychiater aus eigener Praxis auch geheilte Schizophreniepatienten kennen. Auch die theoretische Diskussion, die Roelcke (2000) für die 20er Jahre in groben Strichen mehrfach nachgezeichnet hat, und die sich um die Krankheitsentität rankt und z. B. in Gruhles Worte mündet, dass man kein positives Wissen über die Schizophrenie habe, scheinen die Krankheit nicht gerade dafür zu prädestinieren, als eine der schlimmsten Erbkrankheiten gesehen zu werden. Der Mosaikstein, der an dieser Stelle fehlt, ist eine Veröffentlichung von Ernst Rüdin (1874–1952) zur Vererbung der Schizophrenie im Jahr 1916 (Studien über Vererbung und Entstehung geistiger Störungen. 1. Zur Vererbung und Neuentstehung der Dementia praecox), die sicherlich auch aufgrund des steilen Aufstiegs von Rüdin in den 20er Jahren und im Nationalsozialismus in den folgenden Jahrzehnten zur Zitierautorität wird, wenn es um Erblichkeitsfragen geht. Aus wissenschaftstheoretischer und -kritischer Perspektive ist sicherlich viel zu dieser Veröffentlichung zu sagen, von denen einiges in ähnlicher Weise auch von den Zeitgenossen gesehen worden sind: Das heterogene Erscheinungsbild der Schizophrenie und die unterschiedlichen Abläufe der Krankheit führen späterhin zum Teil zu einer Annahme eines Schizoids (sozusagen analog zur hysterischen Reaktion). Die 20er Jahre sind der Tendenz nach mit der Auflösung von Krankheitsbegriffen beschäftigt. So schreibt Karl Birnbaum 1928: „Die bisher herrschende Stellung des nosologischen Prinzips hat eine unverkennbare Abschwächung erfahren, die sich sowohl in den allgemeinen psychiatrischen Anschauungen wie in ihren Arbeitsbestrebungen zeigt. …“ (Birnbaum, zit. n. Roelcke 2000, 44). Selbst von den Kommentatoren des „Gesetzes zur Verhütung erbkranken Nachwuchses“, zu denen auch Rüdin gehört, wird die zum Teil nicht scharfe Trennlinie zwischen Schizophrenie und dem bloßen Vorliegen eines Schizoids auch eingeräumt und bewusst jedoch einer sozialen Diagnostik der Vorrang gegeben. Nach alldem, was in den vorherigen Untersuchungen schon angeführt worden ist, erscheint es höchst zweifelhaft, ob sich über zwei oder drei Generationen, auf die Rüdin bei der Feststellung der Erblichkeit – auf der Hauptuntersuchungsbasis von Krankenakten – zurückgehen muss, eine Konstanz ergibt, die nicht eine soziale Konstruktion im Sinne des Betrachters ist. Denn selbst Kraepelin, aus dessen Münchner Klinik die Krankenakten stammen, führt die „Dementia praecox“ erst um die Jahrhundertwende ein (1899, 6. Aufl. seines Lehrbuches) und hat vorher sehr heterogene und unterschiedliche Begriffe für ähnliche Phänomenkomplexe gebraucht. Immer wieder wird auch in der psychiatrischen Literatur darauf verwiesen, dass Diagnosen stark von der theoretischen Ausrichtung der Klinik abhängig sind. Zudem gibt Rüdin in seiner Darstellung nicht an, auf welche Hauptsymptome er sich stützt, was
406 bei der Heterogenität des Krankheitsbildes sicherlich notwendig wäre. Die Gefährlichkeit der gesamten Erkrankung ist eigentlich nur von dem Standpunkt einer Verblödung, die allerdings nicht notwendig eintreten muss, zu sehen. Hier verbindet sich aber Rüdins Theorie mit der ebenfalls sehr spekulativen Annahme, dass Alkohol und Syphilis zu einer Keimschädigung führen können, die eine Degeneration wahrscheinlich mache. Verglichen mit der heutigen Annahme, dass für ein 1% der Bevölkerung ein Schizophrenierisiko bestehen könnte, muten die Angaben von Rüdin fast astronomisch an (bis zu 15,78%, wenn ein Elternteil Alkoholiker oder Alkoholikerin ist – vgl. Rüdin 1916, 163). Rüdins Veröffentlichungen nutzen die Wahrscheinlichkeitsrechnung auf der Basis des Krankenbestandes und haben durch die von ihm eingeführte „Erblichkeitsprognose“ wohl große Überzeugungskraft besessen: Die Bedeutung dieses Faktors begründete Rüdin mit den Ergebnissen der auch von ihm selbst betriebenen empirisch psychiatrischen Erbprognosebestimmung, einem Zweig der psychiatrischen Erbbiologie, der durch die Berechnung von Erkrankungswahrscheinlichkeiten bei Nachfahren von psychisch Erkrankten an sogenannte ‚Erbprognose-Skalen‘ als Grundlage für praktisch-eugenische Maßnahmen arbeitete. … Bezugspunkt der Erbprognose war das Volk und nicht das Individuum, das als Träger von Erbanlagen in der Argumentation mit Durchschnitts- und pathologischen Familien, Mindest- und Häufigkeitsziffern, Erkrankungswahrscheinlichkeiten und Korrelationen nur noch als statistische Größe wahrgenommen wurde. Die auf den ersten Blick zwingende Überzeugungskraft der rechnerischen Beweisführung bestätigte die Existenz erblicher Leiden und untermauerte in Verbindung mit der bevölkerungspolitischen Annahme einer überproportionalen Fortpflanzung ‚Minderwertiger‘ die Vision einer ‚drohenden Erbkatastrophe‘ und ‚Durchseuchung‘ der Menschheit. (Walter 1996, 393)
Wie immer man auch die wissenschaftliche Zuverlässigkeit des Datenmaterials aus dem historischen Rückblick beurteilen möchte, so zeigt die Rezeption des Buches besonders nach dem Ersten Weltkrieg, dass es zumindest für zeitgenössische Psychiater große Überzeugungskraft hatte. Für Rüdin waren jedenfalls seine Studien ein Ansatzpunkt, um eugenische Maßnahmen immer wieder vehement und später als Leiter der Abteilung „Genealogie und Demographie“ des Deutschen Forschungsinstitutes für Psychiatrie (gegründet 1917) zu propagieren, so z. B. 1930 mit dem Vortrag Die Bedeutung der Eugenik und Genetik für die Psyche auf dem Kongress des Deutschen Vereins für psychische Hygiene, dem zu diesem Zeitpunkt Robert Sommer vorsaß: Unsäglich viel geistiges und körperliches Elend, Krankheit, Defektheit, Siechtum, Armut, Trunksucht, Verbrechertum usw. haben als Hauptgrund eine schlechte erbliche Veranlagung. Sind solche Menschen einmal geboren, so bedürfen sie selbstverständlich unbedingt auch der besten und ausgedehntesten psychischen Hygiene.
407 Denn es wäre ein großer Irrtum zu glauben, daß man bei erblichen Leiden mit psychischer Hygiene nichts ausrichten könne. Besser aber wäre es, solche Menschen würden erst gar nicht geboren, und das eben will die Eugenik. (Rüdin, zit. n. Walter 1996, 392)
Mit diesen eugenischen Maßnahmen, darauf wurde in der psychiatriegeschichtlichen Literatur zuletzt verstärkt hingewiesen, ist eine Art therapeutischer Nihilismus verbunden. Da dieser therapeutische Nihilismus letztendlich aus Entwicklungen der 20er Jahre in Deutschland resultiert, sei diese hier kurz in Grundzügen skizziert: Zwar zeichnen sich die 20er Jahre durch einen Ausbau des Wohlfahrtsstaates und z. T. eine reformfreudige Psychiatrie aus: so durch das Konzept der offenen Fürsorge und der aktiveren Krankenbehandlung durch Hermann Simon (statt der sich im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts durchsetzenden Bettbehandlung), doch leiten verstärkt die arbeitstherapeutischen Maßnahmen eine letztlich kontraproduktive Entwicklung ein, da sie Psychiatriepatienten verstärkt nach dem Grad der Arbeitsfähigkeit bemisst und unterteilt. Im Zusammenspiel mit einer Entwicklung, die nach dem Muster von Kraepelin exogene und endogene Psychose trennt und letztere nach psychischen Degenerationszeichen beurteilt, wird einer Entwicklung Vorschub geleistet, die Gruppen von Patienten, u. a. auch die Gruppe der Schizophrenen, als therapieresistente Kranke aburteilt. Dass eine entsprechende Entwicklung tatsächlich historisch stattfand, lässt sich letztlich an Simon selbst zeigen, der nach der Weltwirtschaftskrise und nach ersten Misserfolgen in der Arbeitstherapie auf die spätere nationalsozialistische, hier noch sozialdarwinistische Linie einschwenkt: Aber auch die von Hermann Simon entwickelte aktivere Therapie gab dem Radikalisierungsprozeß der Psychiatrie in der Weltwirtschaftskrise eine bestimmte Richtung. Die aktivere Heilbehandlung setzte ein Differenzierungsprozeß innerhalb der psychiatrischen Anstalten in Gang. … Der Grad der Arbeitsfähigkeit wurde zum Selektionskriterium, das nicht zufällig ab 1939 zum zentralen Kriterium bei der Vernichtung von Anstaltsbewohnern wurde. (Siemen 1993, 107)
Die Entwicklung in der Psychiatrie ist also zwiespältig und hat dem therapeutischen Nihilismus und dem gleichzeitigen eugenischen Optimismus eines Ernst Rüdins sicherlich Vorschub geleistet: Als Kranke waren die Insassen der psychiatrischen Anstalten insbesondere in Überlegungen zu eugenisch-rassenhygienischen Maßnahmen eingeschlossen. Die Erfahrung des Ersten Weltkrieges hatte die öffentliche Diskussion über die Gesundheitsverhältnisse zur ‚völkischnationalen‘ Frage erhoben. Zur Hebung und Mehrung der ‚Volkskraft‘ sollte der diagnostizierten erblichen Degeneration durch eine gezielte gesellschaftliche Auslese entgegengewirkt werden. Objekt der Rassenhygiene war nicht mehr der kranke Mensch, sondern der Mensch als Träger ‚kranker‘ Erbanlagen. … ‚Positive Eugenik‘ sollte durch die Förderung der Träger
408 guter Erbanlagen, ‚negative Eugenik‘ durch die Ausschaltung minderen Erbgutes zur Besserung der Volksgesundheit beitragen. Rassenhygiene als Wissenschaft hatte mit der Biologie als Bezugsdisziplin das notwendige Wissen für die erforderlichen Selektionsvorgänge zu liefern. (Walter 1996, 218)
Gleichzeitig, wie auch die finanzielle Förderung und staatlich gelenkte Wissenschaftspolitik deutlich macht, erfolgt eine Verengung auf das Erblichkeitsparadigma, das ja auch an andere Richtungen aufgrund seines vagen Horizontes anschlussfähig bleibt. Im „Gesetz zur Verhütung erbkranken Nachwuchses“ wird trotz theoretischer Kontroversen in den 20er Jahren die Vererbung der Schizophrenie postuliert und, wie Walter herausarbeitet, den Ärzten sogar ein weiter Ermessensspielraum zugebilligt. Auch ‚Schizophrenie‘ war also keine physiologisch und medizinisch abgrenzbare ‚Krankheit‘ im eigentlichen Sinne. Das hinderte die Kommentatoren nicht daran, die ‚ganz überwiegende Mehrzahl‘ der Abweichungen vom Gesunden als ‚diagnostisch einwandfrei feststellbare Fälle‘ zu sehen. Sorge bereitete ihnen der Versuch einiger Autoren, die Gruppe der Schizophrenie, des manisch-depressiven Irreseins und der Epilepsie enger zu ziehen, als die Mehrzahl der Psychiater es taten, insbesondere wenn eine äußere Ursache oder ein reaktiver Zustand ausgenommen wurde. In diesen Fällen und auch bei ungeklärten Diagnosen billigten sie den Antragstellern keinen Ermessungsspielraum zu. In Zweifelsfällen sollte der Antrag vorsorglich gestellt werden und dem Erbgesundheitsgericht die Entscheidung überlassen werden. (Walter 1996, 559)
Das Kapitel sollte gezeigt haben, dass die Krankheit „Schizophrenie“, obwohl sie auf keine körperliche Ursache zurückgeht, eine relativ feste und – anders als die Hysterie – keine beliebig erweiterbare Symptomatik aufweist. Kahlbaums, Bleulers, Kraepelins als auch Sommers Einführungen von Lexemen geben in ihrem Gesamt eine Richtschnur vor, an der sich jede professionelle Erörterung zu orientieren hat. Obwohl auch bei der Schizophrenie die Krankheitsentität bestritten wird und die oben genannten Vorschläge durch die Annahme eines Schizoids relativiert wurden, führt dies nicht zur gänzlichen Infragestellung der Bleulerischen Grundsymptome und seines Ansatzes. Die Annahme einer Vererbung, in Kombination mit der möglichen Keimschädigung, erfolgt auf der Basis relativ unspezifischer Postulate. Das polymorphe Erscheinungsbild der Schizophrenie lässt sich zudem wie das der Hysterie durch besonders schlechtes Erbmaterial begründen; die Annahme eines Hirndefektes liegt gleichermaßen nahe. Allerdings erfolgt die Diagnose „Schizophrenie“ nun nicht vor einem primär ärztlichen/wissenschaftlichen Blickwinkel, sondern ist in einen anderen Handlungsrahmen eingebettet. Wie und auf welche Weise das Krankheitsbild „Schizophrenie“ in Krankenakten auftritt, die notwendiger Bestandteil der nationalsozialistischen Vollzugspraxis sind, wird im folgenden Kapitel dargestellt.
409 6.2.2
Die Konstitution von Krankheiten auf der Basis von Krankenakten in der Giessener Universitätspsychiatrie (1897–1939)
Wie schon bei der Auseinandersetzung mit frühen Krankenakten betont, stellen Krankenakten ein heterogenes Textsortenensemble dar. Es gibt dennoch einige Textsorten, die notwendig in jeder Krankenakte auftreten. Im Gegensatz zu den frühen Krankenakten (vgl. Kap. 4.) lassen sich die Textsorten zwei Bereichen zuordnen: Textsorten, die die Verständigung im Bereich der Klinik ermöglichen und somit die klinikinterne Binnenkommunikation gewährleisten und Textsorten, die einer halböffentlichen Kommunikation zuzurechnen sind, da sie auf Nachfrage und/oder im Auftrag anderer Institutionen (z. B. Versorgungsämter, Versicherungen) verfasst werden und zwischen den Institutionen „zirkulieren“. Alle Textsorten, die der Binnenkommunikation zuzurechnen sind, sind in frühen Krankenakten, wie gesehen, nur im Ansatz vorhanden. Zwar erfolgt, sofern die Patienten nicht selbstständig in der Klinik vorstellig werden, die Einweisung eines Patienten im 20. Jahrhundert durch einen Hausarzt, Neurologen oder Psychiater, allerdings begnügt dieser sich zumeist mit einer kurzen Überweisung, die aus einer Krankheitsbezeichnung und einem Einweisungsgrund besteht. Obwohl die verwendete Krankheitsbezeichnung des einweisenden Arztes die Wahrnehmung der Ärzte selbstverständlich in eine bestimmte Richtung leitet, erfolgt die Feststellung der Krankheit im Raum der Klinik. Damit werden textlich wahrnehmbare Grenzen zwischen Privatpraxis und klinischem Betrieb gezogen: Die Anamnese-Autorität liegt bei der Klinik selbst. Im Gegensatz zu der 1916 veröffentlichten „Regulativ für die psychiatrische Klinik zu Gießen“ habe ich in den Krankenakten keine Krankengeschichten gefunden, die vom vorher behandelten Arzt geschrieben worden sind. Es wurden 87 Krankenakten herangezogen: 32 Akten zur SchizophrenieGruppe, 25 Akten zur Hysteriegruppe und jeweils zehn Akten zu den Diagnosen „angeborener Schwachsinn“, „Epilepsie“ und „Depression“. Bei der Schizophrenie stammen 12 Akten und bei der Hysterie (resp. Psychogene Neurose, Psychopathie) 11 Akten aus der Zeit vor dem Inkrafttreten des „Gesetzes zur Verhütung erbkranken Nachwuchses“. Es wurde darauf geachtet, dass für die 30er Jahre jeweils Akten aus der Zeit Robert Sommers (1895–1934), Heinrich Hoffmanns (1934–36) und Heinrich Bönings (1936– 1960, 1936 kommissarisch auch der Marburger Oberarzt Mauz) vertreten sind. Es muss darauf hingewiesen werden, dass der Assistenzarzt Wilhelm Grünberg, der sehr viele Anamnesen verfasst hat, und der Privatdozent Alfred Storch, der existenzphilosophisch orientiert war, im Zuge des „Gesetzes zur Wiederherstellung des Berufsbeamtentums“ vom 7.4. 1933 entlassen worden sind (vgl. Jakobi et al. 1989, 53f.). Heinrich Hoffmann gilt
410 als ein offensiver Vertreter der Sterilisierungen, mehr noch: er gehört in die erste Riege nationalsozialistischer Rassenhygieniker, die auch gerne „sozial abnorme Psychopathen“ sterilisiert gesehen hätten (Jakobi et al. 1989, 104). Es ist von nicht unerheblicher Bedeutung, dass Arbeitsbefähigung bei ihm zu einem genuin psychiatrischen Kriterium wird, er verurteilt eine ausschließlich am Patienten orientierte Ethik. Dieser Kurs von Hoffmann wurde von Böning nicht fortgeführt, seine Sicht auf vererbbare psychische Krankheiten war ambivalent. Jakobi et al. (1989, 114) sind sogar der Ansicht, dass er versucht hätte, Sterilisationsmaßnahmen zu unterlaufen – in meinem, allerdings nicht umfangreichem Bestand finden sich dafür keine Indizien. Böning gehört jedenfalls zu den ganz wenigen Mitgliedern der medizinischen Fakultät, die nach dem Zweiten Weltkrieg nicht entlassen wurden. Die Krankenakten füllen je nach Verweildauer in der Klinik und möglicher Wiederaufnahme zwischen 15 und 80 Seiten, einige ältere Akten wurden schon in meinem Aufsatz 1999 zur allgemeinen Entwicklung zu Gießener Krankenakten der Jahre 1897–1845 herangezogen. Da es sich um eine Universitätsklinik handelt, deren Zweck auch die Heranziehung von Patienten zum Unterricht ist, wird die Verweildauer auch vom fachlichen Interesse beeinflusst, im Regulativ von 1916 heißt es demnach unter § 27: „Kranke, welche im Interesse des Unterrichts oder mit Rücksicht auf die beschränkten Raumverhältnisse der Klinik in derselben nicht weiter belassen werden können, der fortgesetzten Pflege und Behandlung innerhalb der Irrenanstalt aber noch immer bedürftig sind, werden aus der Klinik in einer der übrigen Großherzoglichen Landesirrenanstalten versetzt.“ 19 Bei den gesamten Krankenakten ist ein Tatbestand besonders auffällig: das ärztliche Handeln wird durch Formulare (sog. Schema) vorstrukturiert und thematisch fixiert. Darunter fallen: Aufnahme- ebenso wie Frage- und Testbögen für z. B. Assoziationsversuche, wobei sich alle hinsichtlich ihrer Gestaltung ständig verändern; zu Beginn liegen sie noch in handschriftlicher Form vor. Von den Schemata – besonders im Falle der Anamnese und der zumeist nachfolgenden Epikrise – wird sehr unterschiedlich Gebrauch gemacht: Einige Psychiater nutzen den Freiraum, der ihnen durch freie Seiten ermöglicht wird, indem sie beispielsweise mit der Anamnese verbundene Untersuchungen verbalisieren, während sich andere mit kurzen Bemerkungen, z. B. beim Fragebogen für den körperlichen Befund, begnügen. Auch ist auffällig, dass nicht in jedem Fall, von entsprechenden Fragebögen, die die notwendigen Untersuchungen leiten sollen, überhaupt Gebrauch gemacht wird. Auf der einen Seite zeigen die Krankenakten also durchaus individuelle Aneignungsstrategien der entsprechenden Formulare und zwar unabhängig von ______________ 19
Mit den Krankenakten aus der Heil- und Pflegeanstalt Gießen haben sich Riecke/ Feuchert beschäftigt (www.holocaustliteratur.de/pdf/akten.pdf).
411 der Schwere der Erkrankung, auf der anderen Seite ist diese individuelle Aneignung auch begrenzt, da man eines zumindest in den 30er Jahren nicht mehr findet: die schildernde Umsetzung eines Falles. Unabhängig von der Länge der Anamnese überwiegt der Telegrammstil, der schon in Kap. 5 skizziert worden ist. Wie die Verfasserin anhand einiger um die Jahrhundertwende geschriebener Anamnesen schon herausstellen konnte (Schuster 1999, 183–202), ist dies nicht immer der Fall gewesen, da sich um die Jahrhundertwende z. T. noch zehnseitige Anamnesen finden, die sich hinsichtlich ihrer sprachlichen Elaboriertheit und des Stils erstaunlicherweise kaum von den frühen Krankengeschichten unterscheiden, obgleich auch sie stellenweise Ellipsen besitzen: In direct hereditärer Beziehung ist nichts zu ermitteln. Der Vater des Kranken starb vor ca. 30 Jahren im Alter von 60 Jahren. Derselbe war ein gesunder, vernünftiger, sparsamer und regelmässig arbeitender Mann. Die Mutter wird ebenfalls als eine verständige, vernünftige Frau geschildert. Dieselbe starb vor ca. 15 Jahren im Alter von 70. Der Vater hatte zwei Brüder, beide gesund. Ein Sohn des einen Bruders – also der Vetter des Kranken – war in späteren Jahren im Gegensatz zu seinen früheren nüchternen und ordentlichen Lebenswandel dem Trunk stark ergeben. (1897) In hereditärer Hinsicht ist nichts zu eruieren. Der Vater ist Kaufmann in Büdingen, immer gesund gewesen, 68 Jahre alt, von cholerischem Temperament, war früher in Amerika, hat den Bürgerkrieg dort mitgemacht. Die Mutter ist ebenfalls am Leben und gesund (66 Jahre alt). Der Kranke hat eine Schwester im Alter von 30 Jahren, unverheiratet, gesund. Als Kind war Patient immer gesund, litt nie an Krämpfen, entwickelte sich in normaler Weise. … Er war gutmütig und stand mit seinen Angehörigen im besten Einvernehmen. In Unterprima verließ er das bis dahin besuchte Gymnasium, weil er Differenzen mit Lehrern bekommen hatte. (1897)
Da die Anamnese im Beisein des Patienten und in den allermeisten Fällen im Beisein von Angehörigen und/oder des Hausarztes erfolgt, werden je nach Schwere der Erkrankung autoanamnestische Daten vertextet. Im folgenden Duktus: Seine Frau sei von anderem Temperament wie er. Daher sei die Ehe nicht immer harmonisch verlaufen. Wegen der Erziehung der Kinder oft Streit. Mischehe. Er evangel.; sie kathol. Kinder werden kathol. Erzogen. Er mache wegen der Religion keine Schwierigkeiten. (1931)
Leidet der Patient an (paranoiden) Wahnvorstellungen, enthalten die Akten im gesamten Zeitraum auch Sequenzen längerer Gesprächspassagen und entsprechende Reformulierungshandlungen, die beispielsweise Indiz für das schizophrenietypische „In-den-Tag-Hinein-Antworten“, wie Bleuler es in seiner Schizophrenielehre bezeichnet, sind. Es gehört zu den größten Auffälligkeiten, dass sich im Laufe des Jahres 1934 unter dem Einfluss der nationalsozialistischen Diktatur die Form des Aufnahmebogens verändert
412 und Prioritäten verdeutlicht: Wie aus den folgenden Formularen ersichtlich, bleibt der Kopf des Formulars weitgehend erhalten. Vor 1934 erfolgt nach dem Kopf freier Platz, der unterschiedlich genutzt wird, dann allerdings, wie aus den nachstehenden Blättern ersichtlich, steht die Erblichkeit an allererster Stelle und scheint den Spielraum ärztlichen Handelns einzuschränken: Allerdings füllen manche Ärzte diese Formulare nicht oder nur nachlässig aus bzw. ergänzen die Schilderungen durch längere Krankenberichte. Nach der Aufnahme anamnestischer Daten, die den Stationsärzten, kaum den Oberärzten und in keinem Fall den Klinikleitern obliegt, die sich nur mit kurzen Bemerkungen und mit dem Abzeichnen begnügen, erfolgt zumeist, geleitet durch die Anamnese und den Einweisungsgrund, eine erste Diagnose (teilweise im Rahmen einer Epikrise), die – dies ist erstaunlich – nicht immer direkt vertextet wird. Der Anamnese folgen dann auf der einen Seite nicht notwendig im gleichen zeitlichen Abstand Krankenberichte durch die behandelnden Ärzte, auf der anderen Seite kontinuierliche Wachberichte durch das Pflegepersonal, die zumeist nur eine Grobcharakteristik des Patientenverhaltens (z. B. ruhig und geordnet) enthalten und v. a. Schlaf- und Essverhalten beschreiben. Immer ist ein Formular für die Verabreichung von Medikamenten und eine Körpergewichts- und Fieberkurve enthalten. Fakultativ erscheinen Formulare für unterschiedliche Tests, die mit dem Patienten durchgeführt worden sind, wobei es sich in der Regel um Intelligenztests handelt. Die klinikinterne Kommunikation stützt sich also auf: die Anamnese, die fakultative Epikrise oder die Beschreibung des status praesens, diskontinuierliche Krankenberichte und kontinuierliche Wachberichte, flankiert von entsprechenden Untersuchungen. Die halböffentliche Kommunikation wird bestimmt durch: – Briefwechsel mit den Angehörigen des Patienten, – Kommunikation mit Versicherungsträgern, zumeist über Art und Dauer des Aufenthalts und – Gutachten, die hauptsächlich für jene, in Einzelfällen auch für die Justiz verfasst werden. Nach dem „Gesetz zur Verhütung des erbkranken Nachwuchses“ verändert sich das textliche Erscheinungsbild der Krankenakten: Durch ein in allen Krankenakten des betreffenden Zeitraums eingeheftetes Formular zur potentiellen Sterilisation und durch die gesamte Kommunikation, die sich um die potentielle oder tatsächlich stattgefundene Sterilisation gruppiert. 20 Dazu ge______________ 20
„Anlaß für einen Antrag auf Sterilisierung war die Annahme, daß bei einer Person eine Erbkrankheit im Sinne des Gesetzes vorlag. Die dem Antrag zugrunde liegenden ‚Tatsachen‘ mußten durch ein ärztliches Gutachten oder auf ‚andere Weise‘ glaubhaft gemacht werden. Das Erbgesundheitsgericht hatte die zentrale
413 hören: die Anzeige beim Erbgesundheitsgericht durch die Klinik, das Gutachten über den Patienten (ebenfalls ein Vordruck), die Entscheidung des Erbgesundheitsgerichtes und die mit der Sterilisation verbundene Kommunikation: z. B. das Ersuchen an den Patienten, zur Sterilisation in der chirurgischen Klinik zu erscheinen. Erfolgt die Anzeige durch die Klinik – hier ist in jedem Fall der Klinikleiter gefragt – sind die Kommunikationsschritte auf der Grundlage der Akten nachzuvollziehen. Allerdings kann auch ein Privatarzt einen Patienten zur Begutachtung der Klinik übermitteln, so dass sich in den Kommunikationsprozess die Kommunikation mit diesem Arzt einschaltet. Aus den Krankenakten geht hervor, dass Patienten auch dann angezeigt wurden, wenn sie für die Sterilisation zu jung oder zu alt waren, dann mit der kurzen Notiz, dass sich eine Sterilisation erübrige. Es ist hervorzuheben, dass das staatliche Gesundheitsamt Akten aufgrund sog. erbbiologischer Angelegenheiten anfordern kann. Am 6.5. 1938 fordert bspw. das staatliche Gesundheitsamt Wiesbaden eine Akte aus dem Jahre 1897 an – damals litt der Patient an der periodischen Manie. Um die potentielle Ideologisierung v. a. des Krankheitsbildes „Schizophrenie“ beurteilen zu können, möchte ich zunächst auf der Basis der Krankenakten die Frage beantworten, wie durch eine Krankenakte prinzipiell eine Krankheit sprachlich konstituiert wird. Im engeren Sinn möchte ich die Frage so stellen: An welchen Stellen der Binnen- und halböffentlichen Kommunikation zeigt sich die sprachliche Professionalität ärztlichen Handelns? Eine erste Klassifizierung der Krankheit erfolgt durch den einweisenden Arzt. Aus unterschiedlichen Gründen müssen die Einschätzungen nicht deckungsgleich sein: 1931 bspw. wird eine Frau mit dem Grund eingewiesen, dass sie an „hochgradig nervösen Störungen“ leide, woraufhin – der von Sommer eingeführten Terminologie folgend – eine „psychogene Neurose“ diagnostiziert wird. Im Aufnahmebogen, auch in seiner nationalsozialistischen Fassung, ist auf der rechten Seite ein großes Feld für die Diagnose freigehalten, wobei sich bei der Wiederaufnahme im Nationalsozialismus (im Gegensatz zu den 20er Jahren) Unterschiede finden lassen, so die häufige Diagnose „Psychopathie“ für die früheren psychogenen Störungen, was schon eine thematische Fokussierung bedeutet. Wer diese Diagnose wann einträgt, unterscheidet sich: Es ist jedenfalls, wie an den jeweiligen Handschriften deutlich wird, nicht der Regelfall, dass der Arzt, der die primäre Datenerhebung vornimmt, gleichzeitig die Diagnose stellt. Es ist ______________
Aufgabe, aufgrund eigener Ermittlungen die Annahme zu bestätigen oder zu widerlegen. Die jeweilige Entscheidung kam einer Tatsachenfeststellung, einem endgültigen Diagnose-Urteil gleich und präjudizierte die weiteren Schritte. Im diagnostischen Verfahren und in der Diagnosebegründung sowohl des Antragstellers als auch der Erbgesundheitsrichter vollzogen sich die Weichenstellungen des Verfahrens.“ (Walter 1996, 550)
414 allerdings auch nicht der Fall, dass der Leiter sie quasi autorisiert und selbst einträgt. Die Anamnese muss zudem nicht notwendig von nur einem Arzt durchgeführt werden, so finden sich in den Krankengeschichten Spuren, dass es sich, wenn nicht um ein Miteinander, so dann doch um ein Nacheinander gehandelt hat. Neben dem möglichen, zeitgleich mit der Anamnese erfolgten Eintrag der Krankheitsbezeichnung in das entsprechende Feld im Aufnahmebogen, werden zumeist im Anschluss an die Anamnese die Krankheit festgestellt und Symptome aufgelistet. In keiner Krankenakte finden sich argumentative Handlungen wie Begründungen oder Schlussfolgerungen bei der Krankheitsfeststellung. Feststellungen beruhen auf pragmatischen Präsuppositionen. Die Feststellung der Krankheit und ihre sprachliche Umsetzung, z. B. Apathisch, misstrauisch, verschlossen, Stimmungslage nicht depressiv. Pat. gibt zu, mehrere Suicidversuche gemacht zu haben. ‚Ich weiss nicht, wie ich dazu kam.‘ Näheres vorläufig nicht zu erfahren. (1931)
sind eine Scharnierstelle in der gesamten klinischen Binnenkommunikation und sind, wie weiter unten gezeigt wird, in der halböffentlichen Kommunikation wichtig, da sie einen argumentativen, wenn auch nicht vertexteten Zusammenhang zu den nachfolgenden Krankenberichten schaffen und die fachlich geleiteten Beobachtungen in die Formulierungen als Zitat einfließen können. Während des Klinikaufenthalts wird diese Primärdiagnose selten widerrufen oder wie im folgenden Zitat auch nur in Frage gestellt: Seine angenommenen Haltungen behält er oft stundelang bei, und macht überhaupt mehr und mehr den Eindruck eines an Katatonie Erkrankten, ein Umstand, welcher die Prognose, die bisher gestellt wurde, erheblich verschlimmern würde. (1931)
Das kann sich jedoch ändern, wenn ein Patient mehrere Male in die Klinik eingewiesen wird. In keinem Fall in meinem Korpus werden mögliche Ursachen genannt: Sie erscheinen nur im Kontext elaborierterer Texte wie Gutachten. In den nachfolgenden Krankenberichten tauchen mehr oder weniger häufig Fachlexeme auf, mit denen der Zustand des Patienten beschrieben und eingeordnet wird. Die Krankenberichte unterscheiden sich allerdings hinsichtlich ihres Auftretens stark, was v. a. dadurch bedingt ist, dass die Formulierungen von den folgenden Faktoren abhängig sind: von der Art der Erkrankung, von dem behandelnden Arzt, dem Zweck der Einweisung (bloße Begutachtung oder längere Einweisung) und der Polyfunktionalität des Krankenberichts. Zwar werden diese Krankenberichte ähnlich wie Anamnesen kürzer und syntaktisch weniger komplex, jedoch sind sie dann am auffälligsten, wenn der Patient nur wenige Tage in der Klinik bleibt: Diese beschränken sich zumeist auf die Vertextung einiger weniger für das Krankheitsbild bestimmender Merkmale. Auffällig an den
415 Krankenberichten ist, dass sie einesteils mit der Schreibmaschine, anderenteils handschriftlich verfasst worden sind. In jedem Fall sind mehrere Ärzte an dem Verfassen entsprechender Krankheitsbilder beteiligt. Fachliche Einschätzungen erscheinen sonst nur auf Anfrage und – das heißt in einem Gutteil der Fälle – im Kontext von Gutachten oder in kurzen Briefen, die an die Versicherungen gerichtet werden. Das Bild einer Erkrankung entsteht in der Binnenkommunikation also aufgrund einer Primärwahrnehmung des Kranken (dann verstärkt auch seiner Familie), die bestimmte sprachliche Anschlusshandlungen ermöglicht, die, wie man vielleicht behaupten könnte, unter einem Kohärenzgebot stehen, da Ersteinschätzungen zumeist bestätigt und selten revidiert werden. Die Gutachten selbst sind eine Schnittstelle zwischen den Daten, die in der Klinik erhoben worden sind (z. B. auch Ergebnisse von Intelligenztests) und der Interpretation dieser Daten unter dem Zweck bspw. die Frage zu beantworten, ob der Patient in der Zukunft arbeitsfähig bleiben wird oder ob der Patient zu sterilisieren sei. Das Verhältnis zwischen erhobenen Daten und der (Re)Konstruktion von Krankheitstypen in Gutachten ist ein äußert sensibles Verhältnis. Die für das Gutachten notwendige thematische Fokussierung, die daraus resultiert, dass eine Frage definitiv beantwortet werden soll (Zweifel und Unbehagen an der eigenen Einschätzung werden jedenfalls nicht angemeldet), kann in eine ideologisch geleitete Fokussierung umschlagen. Die durch den Kotext gesteuerten Vertextungsbedingungen psychiatrischen Vokabulars und die durch den Kontext bedingten Textstrukturen bedingen sich wechselseitig und schaffen, um hier auf einen Begriff von Foucault zurückzugreifen, ein Machtdispositiv, das nicht zwangsläufig ideologisiert werden muss, jedoch einer Ideologisierung prinzipiell offen steht, ohne dass sich Psychiater sprachlich wesentlich anders als zuvor verhalten müssten. Nun könnte vielleicht eingewendet werden, dass sich Psychiater bei der Formulierung von Gutachten auf andere, eben nicht im engen Rahmen der Krankenakte vertextete Wahrnehmungen der Kranken berufen könnten (z. B. die sich um die Präsentation eines Kranken in einer Vorlesung rankenden Beobachtungen), allerdings zeigt die Formulierung von Gutachten eine sehr enge intertextuelle Vernetzung (zum Teil eine Kopie, s. u.) mit den in der Krankenakte formulierten Eindrücken und Einschätzungen. Selbstverständlich ist auch dies der Tatsache geschuldet, dass mehrere Ärzte an der Erstellung eines Krankheitsbildes, jedoch nicht an der Formulierung von Gutachten beteiligt sind. Generell nach der sprachlichen Konstitution von Krankheiten gefragt, ist also Folgendes zu beachten: die Fokussierung von Themen von der Anamnese bis hin zu den möglichen Formulierungen von Gutachten;
416 das charakteristische Auftreten von psychiatrischen Termini in bestimmten Kotexten; das Verhältnis von diesen zu gemeinsprachlichen Beschreibungen oder die Offenheit zu bestimmten sinnrelevanten Umfeldern. Die Ideologisierung, nach der unter den Kommunikationsbedingungen einer Diktatur zu fragen ist, ist m. E. folgendermaßen möglich:
durch die Übernahme von Ideologemen (Hoch- und Schlagwörter der politischen Kommunikation), die nicht oder anders in der psychiatrischen Symptomologie und Ätiologie auftreten. Wie v. a. bei der Hysterie beleuchtet worden ist, teilen allerdings die nationalsozialistischen Vorstellungen von gesunden und kranken Menschen viele Lexeme mit der Psychiatrie, so dass die Frage noch präziser gestellt werden muss: Gibt es semantische Verschiebungen innerhalb des bis dato etablierten psychiatrischen Wortschatzes? Gibt es also Indizien dafür, dass sich psychiatrisches Vokabular so weit der gemeinsprachlichen Verwendung anschließt, dass die konkrete Verwendung nur noch einen Assoziationshof von Bedeutungen mit dem ehemals psychiatrischen Vokabular besitzt? Ist bspw. Psychopathie nur eine Etikette für jemanden, der arbeitsfaul ist? Es wird also generell die Frage zu beantworten sein, ob sich die Psychiater anders verhalten, als man es nach der bis dahin etablierten Praxis erwarten könnte. durch die Erweiterung des symptomologischen Vokabulars in Richtung auf eine verstärkte Stigmatisierung der erkrankten Patienten. Im Einzelfall ist auch diese Beurteilung sehr schwer möglich. Trotzdem: Während eine Kollokation wie läppische Erregung im psychiatrischen Diskurs tradiert ist ebenso wie das Adjektiv weinerlich, sprechen Bleuler, Kraepelin und auch Sommer bei ihren Schizophrenieabhandlungen (bzw. primärer Schwachsinn) von den Klebegedanken der Schizophrenen, jedoch nicht davon, dass sie sich klebrig verhalten würden. Auffällig – und das betrifft die Vertextungsbedingungen – sind Belege, bei denen positive zugunsten von negativen Eigenschaften des Patienten verschwinden und in ganze Kaskaden von Symptomen münden. Auch hier gilt also wie in der gesamten Untersuchung, dass die kotextuelle Umgebung eines Lexems zu betrachten ist. M. E. ist eine Äußerung wie die folgende ideologisch markiert: „Bei der Blutdruckmessung fängt der Patient plötzlich an zu taumeln; sein Verhalten wirkt ausgesprochen psychogen … ist übertrieben schreckhaft, sehr redselig, weitschweifig und plump vertraulich, distanzlos, aufdringlich, klebrig.“ Ideologisierung betrifft jedoch nicht nur den symptomatisch-attribuierenden Wortschatz und seine kotextuelle Einbettung, sondern auch den Wandel von Krankheitsbezeichnungen selbst. In den Krankenakten – um ein Ergebnis der nachfolgenden Untersuchung vorweg zu nehmen – zeigt sich eine Entdifferenzierung von Krankheitsbezeichnungen, so dass unterschiedliche
417 funktionell-nervöse Beschwerden an die Krankheitsbezeichnung „Psychopathie“ gebunden werden. Dem liegt eine Homogenisierung tendenziell disparater Diskurswelten zu Grunde. durch die Veränderung von Formularen, also standardisierter Textsorten, die im Bereich der Klinik und in der halböffentlichen Kommunikation verwendet werden. Dies betrifft nicht nur, wie oben schon gezeigt, den Aufnahmebogen, sondern auch an der Neuformulierung von Intelligenztests, in denen nun auch danach gefragt wird, „ob die politischen Ereignisse der letzten Zeit“ bekannt sind. Dazu treten die Anzeige- und Gutachtenformulare im Bereich der Sterilisationsgesetzgebung, die sprachliches Handeln durch ihre Abfragepraxis (s. u.) in eine bestimmte Richtung lenken. durch die Formulierung von Gutachten in der Kommunikation mit Versorgungsämtern und Versicherungen. Hier liegt meines Erachtens die „Hauptverführung“ durch den Nationalsozialismus. Um es vorweg zu schicken: Einige Gutachten lesen sich wie agitatorische Pamphlete. Ideologisierung liegt bspw. dann vor, wenn, wie in einem extremen Fall, keine Indizien für eine erbliche Anlage und keine Indizien für eine schizophrene Erkrankung vorliegen, sondern aus dem Gutachten lediglich Abneigungen gegen einen unangenehmen Charakter sprechen. Extrem deshalb, weil dieses Gutachten nicht einmal versucht, den Anschein einer neutralen Bewertung zu wahren. Aus den Krankenakten geht hervor, dass über den betrachteten Zeitraum hinweg die Wahrnehmung der Kranken in den Krankenberichten professionell gesteuert wird, d. h. dass Psychiater sich an der eingeführten Krankheitssymptomatik orientieren. Das gilt 1939 bei einer Schizophreniepatientin (entsprechende Belege sind kursiviert): 2.7 Pat. liegt im Bett, ohne an ihrer Umgebung Anteil zu nehmen. Der Gesichtsausdruck ist maniriert, verzückt und entrückt. Pat. ist wesentlich und sichtlich mit sich selbst beschäftigt. Erst nach einiger Zeit ist sie zu fixieren und antwortet. Sie freue sich, den Ref. zu sehen. Er sei ein guter Mensch. Das sehe sie ihm an. Sie merke so etwas einfach. Sie wolle noch mit ihm sprechen. Auf die Frage nach Stimmen geheimnisvoll bejahendes Kichern und Flüstern: ‚Nicht immer‘. Wahnhafte Glücksgefühle. 3.7. Heute schlaff, will nichts Rechtes sprechen: … ‚Es ist alles tot, was mein war.‘ Krankheitsgefühl fehlt ganz: ‚Ich bin vollkommen klar.‘ ‚Man trachtet mir nach dem Leben.‘ Klammert sich an den Ref. Er solle ihr helfen … Die Möglichkeit zu Fixation ist gering, da Pat. innerlich stark abgelenkt ist. … Zeitliche und räumliche Orientierung infolge innerer Ablenkung und Wahnideen nur scheinbar gestört. Affekte vollkommen wahngebunden, zur Zeit stuporös. Nicht von Affekten zu provozieren. … Läppisch und leer. Gibt keine genaue Auskunft. Weicht aus, doch manchmal scheint das Nichtvermögen zu präzisen Auskünften organische Ursachen zu haben. Z. B. ist die zeitliche Störung, ich fixiert anfangs, jetzt einer tatsächlichen geistigen Desorientiertheit gewichen. Daneben
418 steht völlige Interessenlosigkeit. Mangel an Spontaneität. … 20.7. Dauernd mit sich selbst beschäftigt. Ohne jeden Kontakt mit der Umwelt. Unterhält sich oft mit Halluzinationen, die sie auf Anfrage abstreitet. Immer sehr sanft und süßlich, ohne je einen entsprechenden Affekt zu zeigen. … 2.9 „Im Wesentlichen dasselbe. Immer freundlich, etwas leer beschäftigt sich, kein sicherer Anhaltspunkt für Halluzinationen mehr, jedoch sehr süßlich, einförmig. Gibt über keine Krankheitserscheinungen noch immer keine Auskunft. Bemüht sich sichtlich um Kontakt mit der Umwelt, was aber nicht so ganz gelingt. Es bleiben oft deutliche Manierismen. Wird heute von ihrem Mann nach Hause geholt. Anzeige.
Dieses Beispiel sollte deutlich machen, dass sowohl direkt auf das Krankheitsbild verweisende Lexeme verwendet werden, als auch etwas beschrieben wird, das leicht dem entsprechenden Krankheitsbild zugeordnet werden kann. Hinzu treten Informationen, die den Klinikaufenthalt als solchen betreffen. Bei der Schizophrenie ist die Konstante vorhanden, dass eingehende Gespräche mit dem Patienten geführt und diese protokolliert (teilweise hand-, teilweise maschinenschriftlich) bzw. semioral aufgearbeitet werden, um seinen oder ihren Geisteszustand zu elaborieren: (Wie in Klinik?) Vom Polizeigefängnis. Da sollte ich Aussage machen, habe es verweigert, Beamter hat mich geschlagen. Paar Tage gehalten, erst später herüber. (Weshalb?) Da kam ich von Darmstadt, später. War mir gekündigt wegen Arbeitsmangel, 23. Dez. Bin ich heruntergereist nach Eidorf a.d. Sieg, fuhr nach Siegburg, um Arbeit zu suchen; dann Streich, Diebstahl begangen, dann eingesperrt. (Verurteilt?) jawohl. Abgemacht; zwei Monate, in Bonn. In Tübingen frei gesprochen. (1908) Pat ist bei der Aufnahme ruhig, läßt sich willig auf die Station bringen. Sie macht einen gehemmten und etwas ratlosen Eindruck. 27.12. liegt ruhig zu Bett, lächelt vor sich hin, führt leise Selbstgespräche. Macht einen hebephrenen Gesamteindruck. 28.12 Versuch einer Exploration. Auf die Frage, weswegen hierher gekommen: ‚Weil ich zu Hause so getobt habe.‘ ‚Es steckt so vielerlei im Unterbewusstsein bei mir.‘‘Es können ja viele verwandlungsfähig sein, Theater spielen.‘ Auf Befragen abwehrend … Pat. ist schwer zu fixieren, weicht dauernd aus.“ „Warum sie nicht aus dem Elternhause ausgezogen sei? ‚Es war ein gewisser Zwang, ich konnte nicht, hatte schon den Gedanken gehabt, aber man erträgt das eben, kam nicht davon, will mich nicht entzweien mit der Mutter.‘ „Ich war als Schulkind immer das beste Kind, die Mutter hat sehr an mir gehängt.‘ ‚Die ganze Familie stand unter dem Willen der Mutter.‘ (1932)
Dass Psychiater nicht nur etikettieren, sondern mit den Patienten auch kommunizieren, ist auch für die spätere Zeit noch deutlich. Eine so ausführliche Beschreibung und Protokollierung von Patientenäußerungen wie an folgender Textstelle stellt allerdings über den betrachteten Zeitraum hinweg eher die Ausnahme von der Regel dar: Heute ausgeprägte Logorrhoe. Pat. spricht, ohne Rücksicht auf die Person, die ihr gegenübersteht, und auf den Inhalt der Worte einen breiten rheinhessischen
419 Dialekt; der Gesichtsausdruck hat dabei etwas herausforderndes, sensationslüsternes. Sie lächelt dauernd. Wichtige und unwichtige, ernste und heitere Dinge sind vom gleichen Affekt begleitet, in demselben Tonfall gesprochen. Sie irrt von einem Thema schnell auf ein anderes ab, so daß vielfach der Eindruck einer gewissen Inkohärenz erweckt wird, die mitunter auch zweifellos vorhanden ist. … Sie fährt dann in demselben Tone, in ideenflüchtiger Weise fort, liebt es sich in moralisierenden Sentenzen zu ergehen, scheut sich aber auch nicht, sozial bedenkliche Urteile mit einer gewissen Selbstverständlichkeit vorzutragen. – Am nächsten Tag Pat. spricht fast den ganzen Tag fast ununterbrochen, stier auf einen Punkt starrend, vor sich hin. Mitunter gestikuliert sie dabei lebhaft, schimpft unflätig. Ihre Äusserungen sind wegen des raschen Sprechens und der Inkohärenz nur schwer zu verstehen … Alle diese Äusserungen macht sie in der Weise, dass die unter häufigem Kopfnicken vor sich hin, oder Ref. vorwurfsvoll von der Seite anblickt. Nur selten lässt sie eine kleine Pause eintreten. Wenn sie aufgefordert wird, eine Äusserung zu wiederholen, antwortet sie meist mit einer ganz anderen, gar nicht zusammenhängenden. (1913)
Es ist allerdings darauf aufmerksam zu machen, dass die Protokolle der Kommunikation mit dem Arzt die Beschreibung des Patienten auch überlagern können. Ein Patient bleibt 1931 zwei Monate in der Psychiatrie. Wir finden neben der Exploration von Wahnideen nur wenige psychiatriespezifische Formulierungen, so: „bot einen stark gehemmten Eindruck“, „Gedankenübertragung“, „desorientiert“, „weinerliche Stimmung“. In der halböffentlichen Kommunikation wird stärker in Fachsprache gebraucht (Brief an eine Versicherung): Bei A. besteht ein ausgeprägtes Wahnsystem mit Sinnestäuschungen und ‚Eingebungen‘. Es handelt sich um eine wahnhafte Verarbeitung eines inneren Konfliktes (Untreue gegen die Frau) in der Weise, daß er sich von der andern Frau, zu der er Beziehungen unterhielt, infiziert und vergiftet glaubt … Stimmungsmäßig ist A. gedrückt, aber im ganzen ruhig, schwerere Erregungen sind bisher nicht aufgetreten.
Immer in der halböffentlichen Kommunikation wird der Anteil freier Formulierungen begrenzt und der symptomologische Wortschatz verstärkt: In der ersten Zeit der hiesigen Beobachtung bot sie ausgesprochen hebephrene Züge. Gegen Mitte September traten katatone Erregungszustände auf, sie wurde dann gesperrt, mutistisch, negativistisch, in den letzten Tagen zunehmend apathisch, sie bot zuletzt Zeichen von Herzschwäche und einige organisch neurologische Symptome … (1931)
Die Gutachten, die für unterschiedliche Institutionen geschrieben werden, richten sich gerade im Falle von Versicherungsträgern nach der durch Fragen vorgegebenen Form, die vom Psychiater beantwortet werden. Besonders im Falle hysterischer Erkrankungen ist dabei auffällig (für die Schizophrenie fehlt Entsprechendes!), dass sich die Psychiater bei der Erklärung des körper-
420 lichen Befundes an die gängigen psychiatrischen Theorien anlehnen. Sowohl an die intentionalen Theorien, die einen Willen zur Krankheit postulieren, vgl.: Es handelt sich bei A. um einen Neurotiker mit einem ausgesprochenen hysterischen Symptomenkomplex vorwiegend auf körperlichem Gebiet, z. B. Anästhesien, wie sie den anatomischen Vorstellungen des Patienten entsprechen. Lähmungen, Zittererscheinungen und sonstigen nervösen Ausfallerscheinungen (besonders auch bei der Ataxieprüfung), die in dieser Form niemals anatomisch, sondern nur psychisch bedingt sein können. Der unterhaltende Anlass zu dieser in vorliegenden Fall sehr schweren neurotischen Reaktion ist der Wunsch, das Begehren nach Rente, wobei ein früheres Unfallereignis (1903 beim Militär) als ein affektives Ereignis, das zunächst die Möglichkeit zur Produzierung der Symptome gab, die im Sinne der Kretschmerschen Reflexuntersuchung in primitivdemonstrativer Art jetzt eine Dauerform gefunden haben, den ersten äußeren Anlass gegeben hat. (1931; Hervorhebung v. d. Verf. – B-M. Sch.) Nach längerer Beobachtung und wiederholten Aussprachen stellten sich als Ursachen der Erkrankung neben der neuro- und psychopathischen Konstitution der Patientin Konflikte in der Familie heraus. Als Reaktion auf die Milieuschwierigkeiten kam es zu den angeführten neurotischen Organstörungen, die von der Patientin anfangs sichtlich gepflegt wurden und sich der Therapie gegenüber sehr refraktär verhielten. (1934; Hervorhebung v. d. Verf. – B-M. Sch.)
als auch an Kretschmers Konstitutionstheorie, die bis in den Wortschatz hinein übernommen wird: Die Ausführungen des Beschuldigten, der hinsichtlich seiner Führung sonst gut beurteilt wird und der sich auch hier immer tadellos benahm, sind nicht nur nicht zu widerlegen, sondern auch glaubhaft. Es hat sich hier um eine Entfesselung echter hypobulischer und hynoischer Mechanismen und im entscheidenden Zeitpunkt um eine wirkliche hysterische Bewusstseinstrübung im Sinne des §51, Abs. 1 StGB darstellt …wahrscheinlich hat es sich nur um Äusserungen eines affektiv ausgelösten, ungeordneten Bewegungssturmes gehandelt, der von einem typischen hysterischen Zitteranfall (Chefarztaussage) mit eingeleitet wurde. Die in den Zeugenvernehmungen erwähnte theatralische Färbung im Verhalten A’s spricht durchaus nicht gegen einen echten hysterischen, der Bewusstseinskontrolle entgangenen Ausnahmezustand. Bei A. konnte ein echter hysterischer Zustand nachgewiesen werden. Er zeigte als seelische Fixierung eines ehemals echt neuritischen Zustandes eine offenbar schon länger bestehende psychogene Lähmung des linken Armes. (1939; Hervorhebung v. d. Verf. – B-M. Sch.)
Gutachten basieren auf Reformulierungshandlungen, die aus den Daten der Krankenakten diejenigen selegieren, die auf die mit dem Gutachten verbundenen Fragen am ehesten antworten. Dabei ist zu beobachten: Umso kürzer der Aufenthalt in der Klinik, umso enger – bis zur Kopie – knüpfen die Handlungen an die sprachlichen Fassungen in der Anamnese und den Krankenberichten an. Die Gutachten müssen sich nicht unbedingt auf externe
421 Kommunikationspartner beziehen, sondern Stellungnahmen werden z. T. auch von anderen Kliniken angefordert (insbesondere von der Neurologie). Egal, welcher Kommunikationspartner eine Anfrage formuliert, diese gibt das thematische Feld vor, das in kürzeren Stellungnahmen und längeren Gutachten erscheint. Die Interdependenz zwischen dem Eröffnen eines thematischen Feldes und den notwendigen Reformulierungshandlungen möchte ich an einigen Krankenakten zeigen. Im Juli 1938 verbleibt ein Patient für eine Woche in der psychiatrischen Klinik. Es soll überprüft werden, ob Selbstmordgefahr vorliegt. Die Einweisung selbst gibt schon den thematischen Grundtenor vor: Wir verlegen am Samstag zu Ihnen Herr X. Es handelt sich um einen hochgradigen Psychopathen, der nach jahrelanger Arbeitslosigkeit in Wien jetzt wieder angefangen hat, an der Autobahn zu arbeiten.
Die Eintragungen in den Krankenakten sind relativ kurz: Intelligenz: mittelgut, kennt die Ereignisse der letzten Zeit, Psychisch: weich, labil, wenig widerstandsfähig, stimmungslabil, egozentrische Züge, läßt sich etwas hängen, deprimiert über seinen sozialen Abstieg, für den er lediglich familiäre und wirtschaftliche Verhältnisse verantwortlich macht. Früher Zwangsangst, …, Suicidabsichten gelegentlich früher, mehr spielerisch, zu wenig aktiv …
Der Arzt diagnostiziert im Anschluss an Anamnese und weitere Untersuchungen: Psychopathie (selbstunsicher, labil, egozentrisch, weich) und: depressiv-hypochondrisches Zustandsbild“ (endogene Komponente).
In der erforderten Stellungnahme werden die Formulierungen dann wieder aufgegriffen: Wir verlegen Ihnen Herrn X nach Beobachtung wieder zurück. Die Mutter des Pat. litt an progressiver Paralyse. Eine Schwester des Pat. soll schwachsinnig gewesen sein. X. selbst zeigt bei vorherrschender Asthenie deutliche dys- und hypoplastische Konstitutionsanomalien, die sich auch im neurologischen Befund feststellen lassen. Es liegt eine ausgesprochen psychopathische Anlage vor. Bei mittelguter Intelligenz halten wir ihn für weich, wenig widerstandsfähig, stimmungslabil, selbstunsicher … Selbstmordgefahr besteht nicht; gelegentlich die Beschäftigung mit solchen Gedanken hat durchaus spielerisches Gepräge. Das Versagen bei der Arbeit hat seinen Grund viel weniger im körperlichen Leiden, als in der psychischen Unzulänglichkeit. (Hervorhebung v. d. Verf. – B-M. Sch.)
Neben der Komprimierung der Daten wird hier ersichtlich, dass in der Stellungnahme – durch die Eröffnung des entsprechenden thematischen Feldes – auch die Arbeitsfähigkeit des Patienten wichtig wird, obwohl dies gar nicht Thema der entsprechenden Ausführungen ist, offensichtlich jedoch im thematischen Horizont liegt. In der Zeit vom 24.7.1933–29.9.1933 und
422 8.9.1939–10.9.1939 wird ein Patient wegen Schizophrenie in der Klinik behandelt: 1933 wird dieser von seinem Vater gegen ärztlichen Rat wieder mit nach Hause genommen. Die Versicherungsanstalt erfordert ein Gutachten hinsichtlich der Arbeitsfähigkeit des Patienten, das dann am 10.10.1933 erstellt wird. Die Diagnose lautet: Schizophrenie. Patient kam in einem akuten Erregungszustand zur Aufnahme. Innerhalb von 3 Wochen wurde er ruhiger, zeigt aber deutliche psychische Veränderungen im Sinne einer schizophrenen Demenz. Zur Zeit besteht eine sog. Remission, auf die aber jederzeit ein erneuter schizophrener Schub folgen kann. Zu einer geordneten Tätigkeit ist Pat. nicht in der Lage. Ob die Invalidität nur eine vorübergehende sein wird, kann heute noch nicht mit Sicherheit entschieden werden, da bei dem vorliegenden Krankheitsbild einerseits weitgehende Remissionen, die die Wiederaufnahme der Arbeit ermöglichen, andererseits tiefgreifende Defekte der Intelligenz und Gesamtpersönlichkeit beobachtet werden.
Es handelt sich bei der Gutachtenformulierung wieder um eine direkte Vertextung der entsprechenden Angaben [1], wobei genauere Beschreibungen des Patientenverhaltens [2] nicht, andere wiederum direkt übernommen werden [3]. [1] Mutter sei angeblich psychisch gestört. Er selbst sei früher nie ernstlich krank gewesen. Psychisch unauffällig. Am 24.7.1933 akut einsetzender Erregungszustand; wurde aggressiv gegen Angehörigen; deshalb von San.-Rat Dr. Seipp Krofdorf eingewiesen. [2] Steht den ganzen Morgen mit ausgebreiteten Armen vor dem Fenster. Ab und zu schlägt er gegen die Tür. Am Nachmittag stärkere motorische Unruhe, schlägt einen Pfleger. Essen spuckt er wieder aus. [3] Verlauf im Sinne einer schizophrenen Demenz. Sonst unverändert. Gleichgültig, stumpf, interesselos. Lacht mitunter in läppischer Weise, unmotiviert. Gänzlich inaktiv. Machte auf der Abteilung in den letzten Tagen keine Schwierigkeiten.
Am 11.9.1938 wird dieser Patient wieder aufgenommen. Es soll überprüft werden, ob sein Zustand es rechtfertigt, einen Führerschein zu erhalten (was mit Verweis auf den früheren Klinikaufenthalt zunächst abgelehnt worden ist). Bei der Wiederaufnahme ist auffällig, dass die Anamnese zunächst eine reine Arbeitsbiographie ist; psychiatrische Kriterien findet man nur am Schluss: „keine paranoischen Ideen, keine Halluzinationen, keine Antriebslosigkeit, immer tätig gewesen“, dann schreibt der Patient einen eigenen Lebenslauf. Insgesamt machen Anamnese und Krankenbericht nur zwei Seiten aus, woraufhin ein längeres Gutachten verfasst wird. In diesem zeigt
423 sich wiederum eine Amalgierung unterschiedlicher Textbestandteile der Krankenakte: Im Jahre 1933 befand sich X vom 24.7 bis 29.9 in unserer Behandlung. Er zeigte damals nach der uns vorliegenden Krankengeschichte ein katatones Bild. Eingeliefert wurde er wegen eines Erregungszustandes mit starker motorischer Unruhe, in dem er mit Schimpfwörtern um sich warf. … Er verweigerte die Nahrungsaufnahme, warf das Essen im Zimmer umher, stand in katatoner Haltung mit ausgebreiteten Armen am Fenster, riss seinen Fußverband ab, lachte viel, war negativistisch und halluzinierte.
Hier wird eine möglicherweise unvermeidliche Schwierigkeit beim Formulieren von Gutachten deutlich: Es werden Handlungen des Patienten gerafft und in einer Weise gewichtet, die sie, folgt man den kontinuierlichen Wachberichten, zum Teil nicht verdienen. Dadurch werden die Handlungen des Patienten aus ihrer kontextuellen Umgebung herausgelöst: Aus dem Nacheinander der sehr spezifischen Äußerungsformen wird ein Nebeneinander, die den damaligen Zustand tendenziell verfälschen. Durch dieses Gutachten erfährt man, dass der Patient schon sterilisiert worden ist. Dann erfolgt die Einschätzung seiner kognitiven Fähigkeiten: Sein Gedächtnis ist gut, er spricht 6 Zahlen ohne weiteres richtig nach. Seine politischen Kenntnisse sind wesentlich besser, als man sie bei seinem Milieu voraussetzen dürfte. Er zeigt dabei nicht nur, dass er Kenntnisse hat, sondern auch, dass er nachdenkt. Von Hitler z. B. erzählt er: Er sei 1933 ans Ruder gekommen, habe sämtliche sonstige Parteien in Deutschland vernichtet, die Arbeitslosigkeit beseitigt, indem er Autobahnen baute und Land urbar machte. Er habe die allgemeine Wehrpflicht eingeführt, das Sudetenland und Österreich wieder zu Deutschland zurückgeführt, und jetzt drehe es sich noch um die deutsche Ernährungspolitik und um die deutschen Kolonien. X zeigt sich in der psychischen Untersuchung zugewandt und gut ansprechbar, etwas primitiv, kindlich, zutunlich, ohne jede Verstellung, seine Mängel eher herausstellend als verdeckend. In der Ausdrucksweise ist er etwas gleich bleibend und wortarm, aber er weiß, worauf es ankommt, kann gut und selbständig denken und zeigt keine Störungen, die auf einen schizophrenen Restzustand schließen ließen. Er ist in keiner Weise paranoid eingestellt, hat keine Halluzinationen und ist nicht einmal antriebslos, sondern dauernd tätig gewesen. … Seine Kenntnisse entsprechen den Anforderungen, die man an Menschen seines Milieus stellen kann. Er kann auch folgerichtig denken. U. a. deshalb wird ihm der Führerschein auch nicht verweigert. (Hervorhebungen v. d. Verf. – B-M. Sch.)
Dieses Gutachten karikiert in gewisser Weise die vorher gestellten Diagnosen. Sie zeigt jedoch auch deutlich, dass die Feststellung der allgemeinen Orientiertheit und der Intelligenz eines Patienten, die für die Schizophrenie wesentlich sind, politisiert wird. Offene Formulierungen wie „aber er weiß, worauf es ankommt“ habe ich in keinem der vor dem
424 Nationalsozialismus verfassten Gutachten gefunden. Sie sind nur vor dem Hintergrund der nationalsozialistischen Diktatur einzuordnen und zu verstehen. Bei der Gutachtenformulierung zeigt sich, wie auch die nachfolgenden Beispiele deutlich machen, eine Absetzungsbewegung von genuin psychiatriespezifischen Maßstäben der Patientenbewertung – selbst, wenn sie Entwicklungen in den 20er Jahren einbezieht. Diese Absetzbewegungen sind nicht nur durch Eindringen neuer thematischer Felder, sondern, wie das folgende Beispiel deutlich machen soll, auch dadurch bedingt, dass psychiatrische Kriterien für die Feststellung eines schizophrenen Zustandsbildes nivelliert werden können. Ein weiterer Patient bleibt vom 12.11.1930–15.2.1931 und 24.11.1933– 22.7.1934 in der Psychiatrie; er wird auf Wunsch des Vaters gegen ärztlichen Rat im ersten Zeitraum nach Hause geholt. Am 12.11. erfolgt die Einweisung aufgrund eines Antrags der Ortskrankenkasse (Diagnose: „akute Geistesverwirrung“ (Paranoia?). Aus den ersten Kranken- und Wachberichten lassen sich die folgenden psychiatrischen Lexeme extrapolieren: „Schreit in stereotyper Weise: ‚Heilige Maria.“, „Erregungszustand“, „sang laut in stereotyper Weise“, „spannungsfrei“, erst am 3.12. erfolgt eine Exploration, der in den folgenden Befund mündet, der im nachfolgenden Jahr eine interessante Karriere machen wird: „Unmotiviertes Lachen, leerer Gesichtsausdruck, läppisches Wesen, groteske Bewegungen“. Auch hier werden die Äußerungen des Patienten protokolliert. Nachdem sich das Verhalten des Patienten bessert, kommt er Ende 1933 wieder in die Klinik, wird von demselben Arzt weiter verwiesen. An dieser Akte zeigt sich ein weiterer beachtenswerter Umstand. Im Gegensatz zu 1931 wird die Familie kaum darüber informiert, wie es dem Patienten geht: Auf die wiederholte Klage des Vaters, dass er nicht wisse, wie es seinem Sohn gehe, bekommt dieser am 10.7.1934 den Brief: „Auf Ihre Anfrage teilen wir Ihnen mit, dass bei Ihrem Sohn die Unfruchtbarmachung durchgeführt worden ist und er in den nächsten Tagen von Ihnen abgeholt werden kann.“ Dieser in vielen Hinsichten bemerkenswerte Fall bedarf einer genaueren Rekonstruktion: Der Patient bleibt ungewöhnlich lange, nämlich acht Monate in der Universitätspsychiatrie. Am 6. Juli erfolgt die Sterilisation, wobei die Anzeige und das entsprechende Gutachten schon am 4. April 1934 gestellt werden. Wie aus den Akten hervorgeht, ist die Entscheidung, ihn anzuzeigen, schon Anfang März erfolgt, wobei der Patient sich am 16.3. so gut fühlt, dass er entlassen werden möchte. Der Zeitraum der ersten drei Monate sollte neben dem ersten Aufenthalt in der Klinik also Aufschluss darüber geben, warum auf eine Sterilisierung des Patienten neben der Tatsache, dass er 23 Jahre alt und damit im fortpflanzungsfähigen Alter ist, gedrungen wird. Der Patient zeigt ein stellenweise eher depressives Verhalten, schizophrene Grundsymptome wie Ichspaltung, Sperrung, Halluzinationen, Paranoia tauchen nicht auf, seine Intelligenz und Orientierung ist
425 dabei nicht beeinträchtigt, weshalb der Beschluss des Erbgesundheitsgerichtes vom 27.4. 1934 erstaunt: Nach den einwandfreien Feststellungen ist X. an Schizophrenie erkrankt und darnach erbkrank im Sinne des § 1 Abs. 2 Ziffer 2 des Gesetzes. Nach den Erfahrungen der ärztlichen Wissenschaft ist mit grosser Wahrscheinlichkeit damit zu rechnen, dass die Nachkommen des erst 23jährigen Mannes an schweren geistigen und körperlichen Schänden leiden werden. Es ist deshalb seine Unfruchtbarmachung in seinem eigenen Interesse, im Interesse etwa zu erwartender Nachkommenschaft sowie im Interesse der Allgemeinheit geboten.
Dieser Entscheidung geht ein Gutachten voraus, das die Sterilisation begründen helfen soll. Da sich keine Indizien für die Erblichkeit der Schizophrenie ergeben und auch keine körperlichen „Degenerationszeichen“ wahrnehmbar sind, liegt die Begründung für die Diagnose „Schizophrenie/Defektzustand“ beim psychischen Befund: Etwas stumpf, steif und lahm; äusserlich geordnet, freundlich, oberflächlich zugänglich, aber doch nicht ganz offen. Wirkt im ganzen flach. Gibt geordnet Auskunft mit gleichgültigem, halb ver-, halb überlegenen etwas leerem Lächeln. Verhalten z. Zt. geordnet, hat gewisse Krankheitseinsicht für seine akute Phase, geht aber über die Erlebnisse etwas oberflächlich und mit deutlicher Dissimulationstendenz hinweg. Formale Intelligenz dabei gut.
Einmal davon abgesehen, dass nicht alle Beobachtungen notwendig vertextet werden müssen, stützt sich die Diagnose auf wenige Einträge, weil der Patient oft als zufrieden, freundlich und zugänglich charakterisiert wird. Kennzeichnend ist bspw. der Eintrag vom 2.1. „Gibt geordnete Antworten, lacht dabei in läppischer Weise.“, was dann Ansatzpunkt für die Einschätzung des Arztes ist: „äußerlich stumpf, lahm, deutlich defekt, äußerlich geordnet“. Für besonders bemerkenswert halte ich die Tatsache, dass selbst für den Patienten sprechende Eigenschaften, so seine Freundlichkeit, eher negativ ausgedeutet werden. Eine akute Phase, von der im Gutachten gesprochen wird, kann ich aus der Krankenakte nicht rekonstruieren, so dass das Bild eines „flachen“ und „leeren“ Menschen bleibt. Ich möchte nur erwähnen, welche Konsequenzen dieses Gutachten hatte: 1950, nachdem offensichtlich nie wieder ein Schub erfolgte, muss er noch um eine Eheunbedenklichkeitsbescheinigung werben. Man kann an diesem Fall sehen, dass hier – sicherlich in einem extremen Fall – die Krankheitsindizien die für mehr als eine psychotische Störung sprechen, sehr gering sind und mit dem Krankheitsbild „Schizophrenie“ eigentlich kaum zu vereinbaren sind (kein Transitivismus, kein Autismus etc.), die Krankheit rekonstruiert sich nicht aus der Aktenlage. Im Kontrast zu anderen Gutachten aus der Zeit wird deutlich, dass die angegebenen Symptome durch die Schizophrenielehre gedeckt
426 sind. Allerdings sind sie im Sinne von Bleuler eher als akzessorisch zu betrachten, weil sie keinen Ansatzpunkt für eine Differentialdiagnose geben: … so daß die körperliche Dürftigkeit mit dem psychischen Verhalten erklärt werden muß. Psychisch ist der Patient sehr auffällig. Er ist autistisch und stark ablehnend. In seinem formellen Denken ist er kaum gestört, doch sind seine Gedankengänge verschroben, inkohärent, paralogisch, anscheinend halluziniert Patient noch jetzt sehr stark, doch dissimuliert er, wenn er danach gefragt wird. In seinem Affektleben ist er außerordentlich verflacht. Ganz teilnahmslos, der Umwelt scheinbar abgestorben, lebt er in sich hinein. In seiner Mimik zeigt sich ein leichtes Grimassieren und als Antwort auf manche Fragen ein überlegenes Lächeln. Seine Arbeit verrichtet er ohne Affekt, automatenhaft, mechanisch, ohne Interesse an der Arbeit und nach Angabe des Bruders nur unter ständiger Aufsicht … Rudolf Albert bildet also das Bild eines schizophrenen Defektzustandes. (1938)
Aus einer weiteren Akte (Verweildauer des Patienten: 6.7.1934–20.7.34) geht hervor, dass die soziale Diagnostik, die ich hier im Sinne eines Eindringen von fachfremden Themen und Bearbeitungsstandards deute, jedoch nicht soweit geht, dass Krankheiten vollständig entdifferenziert werden: Auf Ihr Schreiben in obiger Sache teilen wir Ihnen mit, dass nach unserem Dafürhalten X nicht unter das Gesetz zur Verhütung des erbkranken Nachwuchses fällt, da es sich bei ihm nicht um Schizophrenie bei angeborenem Schwachsinn (diese Diagnose wurde nach den Versorgungsakten früher mehrmals gestellt) sondern um eine Angstneurose bei einem degenerativen Psychopathen handelt. (3.11. 34)
Am 12. Juli 1934 ergeht ein fachärztliches Gutachten an das Versorgungsamt unter der Fragestellung, ob der Patient eine 100%ige Rente beziehen darf. Es besteht auch hier in weiten Teilen nur ein minimaler Unterschied zwischen Anamnese/Krankenbericht und Gutachten: Es wird die Anamnese wortgleich übernommen und die körperlichen und die Untersuchungen des Nervensystems zusammengefasst. Danach folgt die Erhebung des „psychischen Befundes“[1] sowie eine „Zusammenfassung“ und Beurteilung [2]: [1] Bei der Aufnahme machte Patient einen ängstlichen Eindruck, erinnerte auf den ersten Blick etwas an das Bild eines schizophrenen Defektmenschens. Bei der ersten Unterhaltung war er zunächst noch etwas zurückhaltend, wurde dann aber zusehends freier und schilderte seine Krankheit in der vorher gegebenen Weise. Dabei zeigte sich, was auch durch die später durchgeführte Intelligenzprüfung bestätigt wurde, dass von einer Herabsetzung der intellektuellen Fähigkeiten keine Rede sein kann, dass A. vielmehr über eine treffende Ausdrucksweise, gute Urteilsbildung und ein für seine Vorbildung recht gutes Allgemeinwissen verfügt. … Über die auffallende Besserung war der Patient selbst erstaunt. Bei der Entlassung sprach er erfreut darüber, „dass er jetzt wieder ein anderer Mensch sei“, er wolle den Versuch machen, in seinem Beruf Arbeit zu finden.
427 [2] Es handelt sich um einen von Haus aus degenerativen ängstlich hypochondrischen Psychopathen, der von jeher den Anforderungen des Lebens gegenüber versagte. Schon als Kind scheu und verschlossen, war er nach der Lehrzeit im Geschäft seines Vaters nicht dazu zu bringen, den Lebenskampf auch ausserhalb des Elternhauses aufzunehmen. Die harte Schule des Krieges warf ihn, dem jede soldatische Eigenschaft fehlte, dann vollends aus dem unter der Hut der Eltern mühsam aufrecht erhaltenen seelischen Gleichgewicht. … Auf Grund des während der Lazarettbehandlung beobachteten Stuporzustandes wurde in der abschliessenden Begutachtung der Verdacht auf Dementia praecox ausgesprochen; … Nach dem Ergebnis unserer Untersuchungen kann diese Diagnose nicht weiter aufrecht erhalten werden. A. zeigte weder eine Herabsetzung der intellektuellen Fähigkeiten im Sinne eines angeborenen Schwachsinnes, noch konnten Zeichen, die auf Schizophrenie bzw. einen schizophrenen Defektzustand hindeuteten, bei ihm nachgewiesen werden. Es handelt sich vielmehr u. E. um die neurotische Fixierung gewisser Angsterlebnisse aus dem Kriege bei einem willensschwachen, ängstlichen, von Kind auf zu hypochondrischer Verstimmung neigenden Psychopathen. … Was nun die Auffassung der bei A. vorliegenden Erkrankung als Kriegsdienstbeschädigung betrifft, so muss ein solcher Zusammenhang nach unserem Dafürhalten abgelehnt werden. Zwar ist das Leiden des A. in seiner seit 1918 gezeigten Form im Kriege entstanden. Als Ursache ist aber nicht der Krieg verantwortlich zu machen, sondern die konstitutionelle Unfähigkeit des A., auf eigenen Füssen zu stehen und sich im Lebenskampf zu behaupten. In diese Situation wurde er zufällig durch den Krieg gestellt und hat versagt. (Hervorhebung v. d. Verf. – B-M. Sch.)
Eine eingehende sprachwissenschaftliche Betrachtung dieses Gutachtens könnte Seiten füllen, ich möchte zu dieser Textstelle nur einige Anmerkungen machen: Einerseits entgeht der Patient einer drohenden Sterilisierung aufgrund der vorherigen Diagnose, auf der anderen Seite wird ihm möglicherweise die entsprechende Rente aufgrund seiner Kriegsverletzungen nicht mehr gewährt werden. Dies zeigt in positiver Hinsicht, dass die Diagnose nicht so weit ausgeweitet wird, dass sie die Psychopathie umfasste. Bei der Feststellung der Erkrankung selbst werden diejenigen Argumentationstopoi aufgeboten, die sich nun eng mit der Psychopathie verbinden: das „Versagen im Lebenskampf“ bzw. „die konstitutionelle Unfähigkeit des A., auf eigenen Füssen zu stehen und sich im Lebenskampf zu behaupten“, insbesondere im Ersten Weltkrieg. Hier zeigt sich allerdings auch, dass Psychopathie vollends zu einer Etikette geworden ist, um Abweichungen von der Normalität und Sozialunverträglichkeit zu markieren. Diese soziale Unverträglichkeit misst sich nun ausschließlich daran, dass er nicht lebenstüchtig ist. Mit diesem autoritär-behauptenden Stil lassen sich Gutachten, die von Robert Sommer noch zu Beginn der 30er Jahre geschrieben worden sind, nicht vereinbaren, die einem „im Zweifel für den Patienten“ zu gehorchen scheinen:
428 …, daß ein ausgesprochener Depressionszustand vorliegt. Vor allem in den Morgenstunden zeigte A. das Bild schwerer depressiver Hemmung und Entschlusslosigkeit. Gegen Abend löste sich der Zustand etwas, er wirkte freier und lebhafter. Bei Besprechung seines Zustandes geriet er immer wieder ins Weinen. Es äußerte sich sehr unglücklich über seine Arbeitsunfähigkeit. … Er erzählte von den impulsiven Selbstmordanwallungen, die sich gegen seine Frau richten. Irgendeine zureichende normal-psychologische Erklärung hat sich für beides nicht finden lassen. A. machte im ganzen einen hilflosen Eindruck, der durchaus mit den Angaben der Ehefrau übereinstimmt. Über Wahnideen konnten wir nichts in Erfahrung bringen. Irgendwelche intellektuellen Ausfallserscheinungen über die depressive Hemmung hinaus bestehen nicht. A. zeigt sogar ein gutes Allgemeinwissen und ist über den Durchschnitt begabt. Es fehlen alle Zeichen neurotischer Übertreibung und hysterischer Krankheitsdemonstration. A. wirkt in allen seinen Äußerungen und in seinem ganzen Verhalten echt und wahrhaftig. (1931)
Die Sterilisationsgutachten erlauben schon von ihrer Form her keine Abwägung und gerade das Abwägen scheint nicht mehr vorhanden wie im folgenden Beispiel (ein 23seitiges Gutachten): Was die eventuell jetzt bestehende Art der Störung betrifft, so muss von vornherein eine Reihe von Krankheitsformen ausgeschaltet werden, wie Paralyse, arteriosclerotisches Irresein etc. Auch von Schwachsinn erheblicheren Grades kann keine Rede sein, da kein wesentlicher Intelligenzdefekt nachweisbar ist. Von moralischem Irresein, d. h. Idiotie mit vorwiegend moralischer Abnormität, kann auch nicht geredet werden, da er erst in seinem 20. Jahre zum ersten Mal kriminell wurde. Ferner ergibt die Untersuchung des Nervensystems keine der Erscheinungen, wie sie bei „Nervösen“ (Hysterie, Epilepsie etc.) gefunden werden, bei denen auch transitorische Geistesstörung in Gestalt von Dämmerzuständen mit eventuell nachheriger Erinnerungslosigkeit auftreten.
Die fachlichen Einschätzungen sind insofern Scharnierstellen der Ideologisierung, insofern sie Ansatzpunkte für die Gutachtenpraxis sind. Totalitäre Vorstellungen von psychischer Gesundheit und psychiatrische Einschätzungen überlagern sich dabei. Für die Veränderung von Krankenakten lässt sich jetzt Folgendes angeben, was selbstverständlich durch weitere Untersuchungen gestützt werden müsste: Grundsätzlich zeigt sich ein Unterschied zwischen Texten, die der Binnenkommunikation zuzurechnen sind, und Texten, die Auftragsarbeiten sind. Die primäre Konstitution des Krankenbildes durch Anamnese und fortlaufende Krankenberichte bleibt über den gesamten Zeitraum hinweg fachlich motiviert. Es findet sich bei der Schizophrenie und Hysterie dasjenige Vokabular, das durch die bekanntesten Lehren gedeckt ist. Daneben zeigt sich bei der Schizophrenie auch, dass die textlichen Aneignungsformen (so das Protokollieren von Äußerungen oder Gesprächssequenzen) tendenziell konstant bleiben, während bei anderen Krankheiten, wo die direkte Interaktion mit dem Arzt nicht wesentlich ist, diese auch sprachlich zurückgedrängt wird. Es ist erkennbar, dass die Ärzte über den Wechsel hinaus die Bearbeitungsstrategien beibehalten und
429 ihrem wissenschaftlichen Interesse folgen. Grundsätzlich verführt die Zweckgebundenheit psychiatrischen Schreibens offensichtlich zu einer Ideologisierung, teils offen ausgesprochen, teils versteckt zeigen sich ideologie-trächtige Anpassungsleistungen. Sie zeigen sich v. a. am Folgenden: an der thematischen Aufwertung der Arbeitsbiographie und damit der Arbeitsfähigkeit des Patienten auch in Gutachten, in denen der Rekurs auf die Arbeitsbiographie nicht gefordert ist; an der thematischen Aufwertung politischer Kenntnisse, die zuvor nur im Rahmen von Intelligenztests von Bedeutung waren (unter dem Stichwort „allgemeine Orientiertheit“). Beide Aufwertungen führen dazu, dass sich in die Gutachtenformulierung eine schon aus dem öffentlichen Diskurs bekannte Güterabwägung einschleicht, die manchmal zum Vorteil des Patienten, häufiger jedoch zum Nachteil des Patienten erfolgt; an den Gutachten, die eine schwierige Textsorte sind, da ihre Formulierungen zu einem Gutteil Reformulierungen der Anamnese und der Krankenberichte sind. Hier scheint es sehr vom Psychiater abhängig zu sein, auf welche Daten er sich stützen möchte. Nach dem Durchgang durch die Krankenakten möchte ich jedoch festhalten: Die Gutachtenpraxis (gerade bei den Sterilisationsverfahren) zwingt zur Selektivität und lässt ein potentielles Abwägen von Krankheitsformen kaum zu. Sofern sich die Gutachter nur auf die Feststellung der Krankheit bei der Diagnose und auf fachliche Lexeme richten und zudem das Nacheinander in ein Nebeneinander von Symptomen verwandeln, somit den Werdegang enttemporalisieren, ist dies meist ein Indikator dafür, dass Diagnose im Sinne einer sozialen Erwünschbarkeit erfolgt. Sehr auffällig ist bei den Gutachten auch, dass, obwohl entsprechend propagiert, die Erblichkeit der Schizophrenie eine unwesentliche Rolle spielt. Sie wird vor allem dort eingeblendet, wo Gutachten zu Psychopathen geschrieben werden, mit denen, wie schon gezeigt, ein Milieuverdacht verbunden ist – dort ist der Gebrauch von solchen Lexemen wie Sippe, Erbmasse und Ahnenplasma notorisch. Möglicherweise lässt sich daraus folgern, dass Erblichkeit nur dort vollmundig propagiert wird, wo der mit ihr verbundene Nachweis nicht geführt werden muss. Die Hypothese, dass sich die Psychiater dazu verleiten ließen, entsprechende Handlungsstrategien bei der klinischen Binnenkommunikation zu verändern, kann nicht bestätigt werden. Die Tatsache, dass sich dennoch viele Lexeme wie bspw. widerstandsfähig finden und die Tatsache, dass sich stellenweise Symptomenkaskaden finden lassen, zeigt ein eher generelles und nicht für den Sprachgebrauch des Nationalismus spezifisches Problem, das schon für die vorherigen Kapitel beleuchtet worden ist: Mit manchen Krankheitsbildern wie das dem Psychopathie, das zu einer Entdifferenzierung von Krankheiten beiträgt, ist eine sprachlich markierte soziale Distanz verbunden, die keine Wertneutralität bean-
430 spruchen kann, obwohl entsprechende Lexeme fachlich kodifiziert sind. Im öffentlichen Diskurs über psychisch Kranke und behinderte Menschen im Nationalsozialismus werden diese unverhohlen stigmatisiert. Andere Wertungen, die zur Diskursivität einer Demokratie gehören, werden ausgeblendet bzw. gehören, wie die punktuelle kirchliche Gegenwehr zeigt, schon dem Widerstand an. Diese unverhohlene Stigmatisierung zeigt sich bei der Konstruktion von Krankheitsbildern nicht, jedoch zeigt sich eine stärkere Tendenz, die charakterlichen Qualitäten von Kranken generell abzuwerten. Das heißt also: Krankenakten aus der NS-Zeit fügen sich in Entwicklungen ein, die bspw. mit dem Aufstieg der psychologischen Typenlehre und/oder Degenerationslehren verbunden sind und deren markantestes Zeichen die Entindividualisierung zugunsten eines Aufbaus von Krankentypen sind, die Korrumpierbarkeit und gesellschaftliche Anfälligkeit der Psychiatrie wird daran deutlich. Der Unterschied – und davon sollte eine sprachwissenschaftliche Analyse nicht abrücken – besteht jedoch darin, dass die Psychiater im Nationalsozialismus (im Gegensatz zu den 20er Jahren) mit einer Handlungsmacht ausgestattet sind, die das individuelle Leben von Patienten negativ beeinflusst. Das Machtdispositiv, das sich vor dem Hintergrund der Professionalisierung entfaltet und durch einige Textsorten instrumentalisiert wird, wird dort besonders deutlich, was in der Universitätspsychiatrie jedoch nicht der Fall war, wo Psychiater über Leben und Tod entschieden haben. Das Verhältnis von Psychiatrie und Gesellschaft vom letzten Drittel des 19. Jahrhunderts an lässt sich möglicherweise auf diesen Nenner bringen: Die Gesellschaftsfähigkeit der Psychiatrie ist von der Ambivalenz geprägt, dass sie einerseits aus den Professionalisierungsschüben von Beginn des 19. Jahrhunderts profitiert und durch die sie sich zunehmend als medizinische Disziplin ausweisen kann, die fortwährend auch im positiven Sinne – so beispielsweise durch die Bleulerische Schizophrenie – umgestaltet wird, neue Erkenntnisse zeitigt und ihr Vokabular geradezu zyklisch umgestaltet. Die Gesellschaftsfähigkeit der Psychiatrie zeigt jedoch auch die andere Seite der Psychiatrie: ihre Fähigkeit, sich an populäre, in ihrem thematischen Feld liegende Diskurse anzuschließen, diese anzuverwandeln und selbst weiterzuentwickeln, macht die gesellschaftliche Sensivität dieser Disziplin aus. Sie verleitet jedoch auch dazu, eigene Erkenntnisse in der skizzierten Weise zu überblenden und auch zu funktionalisieren. Die durchaus professionell motivierte Abwendung vom Individuum hin zu Krankheitstypen, die an den psychiatrischen Lehrbüchern ersichtlich geworden ist, enthält in dem Moment ein Ideologisierungspotential, als Theorien hoffähig werden, die das Individuum nur im Zusammenspiel mit einem größeren Kollektiv sehen – der Umschlag von Krankheitstypen in personale Typen kann diesen ideologischen Umschlag wohl deutlich machen. Die andere Sichtweise von Freud/ Breuer auf die Hysterie stützt wohl eine Sichtweise, nach der die Orientierung am Einzelfall die Disziplin selbst von der in ihr angelegten Korrumpierbarkeit schützt.
7.
Schlussbetrachtung
Foucault (121996, 405f.) nimmt an, dass die Begriffe der Psychiatrie bis zu Kraepelin und Bleuler Oszillationen zwischen den nicht miteinander zu vereinenden Bereichen „Wahrnehmung von Kranken“ und „theoretische Modellierung des psychischen Krankseins“ darstellten. Oszillation bezeichnet in der Physik ‚Schwingungen‘, insbesondere eines Pendels, und Oszillationskurven sind demnach „Schwingungskurven“. In der Tat wurde in den vorherigen Untersuchungen an der einen oder anderen Stelle von einer verwandten Metaphorik gebraucht gemacht, so bei der Annahme, die Krankengeschichten pendelten zwischen eigener Beobachtung und kultureller Prägung hin und her (vgl. Kap. 4.3.4). Auch die Tatsache, dass manche sprachliche Erscheinung früherer oder späterer Psychiatrietexte nur mit solchen randständigen linguistischen Begriffen wie „vage“ oder „evokativ“ zu bezeichnen sind, könnte Foucaults Annahme unterstützen. Doch wurde sowohl in den Fallstudien als auch im theoretischen Teil zu zeigen versucht, dass – um im Bild zu bleiben – das Pendel nicht nur schwingt, sondern auch in eine bestimmte Richtung ausschlägt; die Richtungsgebundenheit wird bspw. anhand der Transit-Metapher („transitorische Varietät“, vgl. Kap. 4.1) deutlich. Das Ausschlagen des Pendels in eine bestimmte Richtung, wofür in dieser Untersuchung an vielen Stellen argumentiert worden ist, ist nicht oder nur bedingt nach fachsprachlichen Kriterien zu modellieren. Ein gutes Beispiel stellen hier die Krankheitsbezeichnungen dar, deren Heterogenität bis zur ICD bestehen bleibt. Selbst Bleuler führt 1916 in der Einleitung zu seinem Lehrbuch aus: Leider muß sich aber heute noch jeder die spezielleren psychologischen Begriffe selber schaffen; die hier benutzten sind aus der Beobachtung herausgewachsen und seit 35 Jahren an der Wirklichkeit gemessen worden. Eine theoretische Färbung derselben war aber unvermeidbar, weil uns die Sprache keine unparteiischen Ausdrücke zur Verfügung stellt. Wer andere psychologische Grundanschauungen hat als der Verfasser, wird Begriffe und Worte, wenn er sie verstanden hat, nicht zu schwer in seine Denkweise übersetzen. (ebd., 5)
In diesem Zitat findet sich die mittlerweile vertraute Klage über die Heterogenität der Bezeichnungen, die babylonische Sprachverwirrung, über die Unmöglichkeit, sich vom Rahmen- und Diachroniebezug (vgl. Kap. 3.1.3) vollständig zu emanzipieren sowie die Schwierigkeit, eine intersubjektive Verbindlichkeit der psychiatrischen Begriffe zu erreichen. Gleichzeitig wird jedoch auch angedeutet, dass es eine prinzipielle Durchlässigkeit und Übersetzbarkeit des jeweils verwendeten Vokabulars ergibt. Die Verständigung
432 zwischen Psychiatern auch unterschiedlicher Schulen ist also möglich, obgleich die von ihnen gebrauchten Begriffe oft nicht eindeutig sind und nicht immer definiert werden. Jedoch sollten Zitate wie diese, mit denen sich Seiten füllen lassen, nicht darüber hinwegtäuschen (vgl. Kap. 3.1.3 und Kap. 4.1), dass sich im betrachteten Zeitraum aus sprachlicher Perspektive viel geändert hat, wobei der lexikalische Wandel vielleicht am auffälligsten ist. Zwar wird die Verwendung bestimmter Krankheitsbezeichnungen lange Zeit nicht vereinheitlicht, jedoch ist das gesamte 19. Jahrhundert davon geprägt, dass traditionelle Lexeme allmählich, nachdem sie zunächst nur noch in bestimmten kotextuellen Umgebungen erscheinen, vermieden werden, wobei es in erster Linie volkssprachliche Lexeme wie Raserei, Wut, Tobsucht oder Grillenkrankheit oder Kennwörter des frühen französischen Diskurses wie Monomanie sind, die nicht mehr verwendet werden (vgl. Kap. 4.3.2.4). Parallel entkoppelt sich der psychiatrische Wortschatz immer stärker von solchen konnotierten Begriffen wie Gemüthskrankheiten, die je nach Art der Krankheit entweder zu Psychosen oder Neurosen werden. Von den alten Krankheitsbezeichnungen, die am Beginn des 19. Jahrhunderts gebraucht werden, überlebt keine, sie werden allmählich ausgeblendet (vgl. bspw. die Verdrängung der Melancholie, Kap. 5.2.3). Gleichzeitig bleiben jedoch – das wohl keine Besonderheit der Psychiatrie – Variationsmöglichkeiten auf der Basis des tradierten Bestandes erhalten (z. B. Neurasthenie auf der Grundlage der Brownsche Asthenie, vgl. Kap. 4.3.2.1). Die Existenz von Synonymen und bedeutungsähnlichen Lexemen, die zumeist unterschiedlichen Traditionsschichten angehören (vgl. u. a. Kap. 4.3.2.5, 4.1, 5.1 und 5.3.4), ist ein wesentliches Movens lexikalischen Wandels, da ihre Existenz es ermöglicht, mit der Verwendung des einen oder anderen Lexems Traditionen oder die Sichtweise einzelner Psychiater zu umgehen. Nicht immer ist damit notwendig eine andere Sichtweise auf eine psychische Erkrankung verbunden, sondern häufig nur ein Versprechen auf eine genauere Fassung der körperlichen Prozesshaftigkeit (s. bspw. die Ausführungen zu Griesinger im Kap. 5.2.3), und nicht immer korrespondiert damit eine intentionale Auswahl aus dem vorherrschenden Traditionsbestand. Grundsätzlich ergibt sich die Dynamik lexikalischer Entwicklungen auch daraus, dass mit obsoleten Traditionsbeständen identifizierte Lexeme nicht mehr verwendet werden. Dies ist sowohl im 19. Jahrhundert als auch im 20. Jahrhundert der Fall. Manisch-depressives Irresein wird durch zunächst vergleichsweise neutrale Bezeichnungen, heute bspw. bipolare Störung, ersetzt (dazu genauer auch: Kap. 5.3.2). Eine Nachfolgeuntersuchung wäre es wert, inwieweit sich nach 1945 (vorher ist diese Tendenz nicht wahrzunehmen) eine Verfremdung durch Anglizismen (bezeichnenderweise keine Begriffe mehr aus der Romania) erreicht wird, dafür steht bspw. die Ablösung der früheren endogenen Depression durch die heute gebräuchliche Bezeichnung major depres-
433 sion. Gleichzeitig wäre es auch vorstellbar, dass einzelne Psychiater wieder zu dem Begriff Schwermut zurückkehrten, z. B. um einen deutlichen Abstand zur naturwissenschaftlichen Orientierung herzustellen. Insgesamt zeigt sich jedoch, dass der Aufbau eines psychiatrischen Wortschatzes alles andere als konsistent erfolgt. Er stellt sich vielmehr – mit einer Variabilität zu unterschiedlichen Zeitpunkten – als ein Konglomerat unterschiedlicher Traditionsschichten und damit Annäherungsversuche an das Phänomen „psychische Krankheit“ dar. Von besonderer Bedeutung in diesem Prozess ist auch, dass bestimmte Traditionsbestände nicht nur nach und nach verschwinden, sondern durch den Aufbau lexikalischer Demarkationslinien auch unkenntlich gemacht werden oder überblendet werden (vgl. Kap. 4.3.2; 5.1.1 und 6.1). Das Ausschlagen des Pendels hat mich also interessiert oder, erneut Feer (1987) zitierend, wie man in der Psychiatrie trotz vieler Schwierigkeiten dennoch vorankommt, bzw., wie man dazu gekommen ist, überhaupt voranzukommen. Dass die Skizze einer Praxis einer bestimmten Art, die einen rasanten (wissenschaftlichen) Aufstieg (und gewissermaßen auch Fall) in einer vergleichsweise kurzen Zeit erlebt, tendenziell bruchstückhaft bleiben musste, liegt auf der Hand. Wie der enorme Zuwachs psychiatrischen Wissens besonders um die Jahrhundertwende und in den nachfolgenden Jahrzehnten zu erklären ist, der die letzte von Kraepelin redigierte Ausgabe seines Lehrbuchs zu einem mehr als 1000 Seiten starken Werk werden lässt, die Psychiatriekritiker die ganze Disziplin mit einer gewissen Skepsis betrachten lässt und in einem Spannungsverhältnis zum vergleichsweise langsamen Beginn bis zur Jahrhundertmitte (19. Jh.) steht, ist hier sicherlich nicht befriedigend beantwortet worden. Dennoch sollte deutlich geworden sein, dass es unterschiedliche Stadien der Professionalisierung gibt, unter denen ich nur folgende herausheben möchte: a) Die Ablösung von Texthybriden durch sich ausdifferenzierende Textsorten mit einem distinkten sprachlichen Profil, das in der Folgezeit, wie die Lehrbuchentwicklung zeigen sollte, wieder einer Homogenisierung unterliegt. Es ergibt sich also ein Wechselspiel zwischen Ausdifferenzierung und Homogenisierung. b) Die zunehmende Emanzipation von der Philosophie auf der einen, von alt hergebrachten medizinischen Theoremen auf der anderen Seite, was auf unterschiedlichen sprachlichen Ebenen, besonders aber an der Verfremdung der Lexik, an der potentiellen Redefinition philosophischer Kernlexeme, jedoch auch am Rückgang aller damit verbundener Formen der Intertextualität zeigt. Im Folgenden soll versucht werden, den Ertrag der Untersuchungen noch einmal zusammenzufassen und mögliche Anschlussuntersuchungen zu skizzieren. Ausgangspunkt war die Annahme einer transitorischen Varietät, die zu einer Praxis einer bestimmten Art führt, die ihrerseits ausbaufähig ist. Dabei bin ich der Auffassung und halte dies durchaus für verallgemeinerungsfähig, dass die Konstitution von modernen Disziplinen, d. h.
434 von Disziplinen vor dem Hintergrund einer ausgebauten Schriftlichkeit, mit transitorischen Varietäten verbunden ist. Die herausgearbeiteten Kennzeichen der Initialphase dürften somit auch für die Entwicklung und Herausbildung bspw. auch von anderen Humanwissenschaften wichtig sein. Zu den Kennzeichen der Initialphase gehören: Die Kontextualisierung des Wortschatzes anderer Diskurse, die größtenteils schon in die Bildungssprache eingegangen sind, wobei es sich hier eher selten um einzelne Lexeme (und dann vornehmlich Metaphern), sondern v. a. um idiomatische Prägungen handelt, die durch Amalgamierung unterschiedlicher Wortschatzressourcen und metaphorische Übertragungen verfremdet und enthistorisiert werden. Die sprachliche Konstitution des psychisch Kranken ist ohne den Gebrauch von Metaphern nicht möglich. Im historischen Verlauf zeigt sich die Tendenz, sprachliche Bilder zu fragmentarisieren, nur partielle metaphorische Modelle zu verwenden und Metaphern verstärkt auf bestimmte kotextuelle Felder zu begrenzen und zumeist in ihrer Bedeutung einzuschränken. Die Bezugnahme auf andere Diskurse zeigt sich nicht nur am Wortschatz, sondern auch am Aufbau texttypologischer und referentieller Intertextualität und an charakteristischen sprachlichen Handlungen (z. B. an der Art des Definierens) (vgl. dazu besonders: Kap. 4.3.2); neben dem Aufbau lexikalischer Demarkationslinien, der sich in der Initialphase nur in seltenen Fällen an sprachlichen Taufakten zeigt, sind v. a. wichtig: die Tilgung und die pragmatische Regularisierung von bestimmten Gebrauchsvarianten einzelner Lexeme und idiomatischer Prägungen (vgl. zusammenfassend Kap. 4.3.2.4). Da sich am psychiatrischen Vokabular zudem ein Nebeneinander von Gebrauchsvarianten einzelner Lexeme (Polysemie) sowie ein Nebeneinander von bedeutungsähnlichen Lexemen zeigt, können bestimmte Lexeme markiert werden. So kann, beim Bestehen von Bezeichnungsalternativen, die Verwendung von Lexemen, die bspw. Schibboleths der französischen Schule sind (ohne dass es sich notwendig um Entlehnungen aus dem Französischen handelt), jemanden als besonders fortschrittlich ausweisen (vgl. Kap. 4.3.2.5). Es ist allerdings auch möglich, zu volkssprachlichen Bezeichnungen zurückzukehren und sich dadurch, selbstverständlich in einem anderen Sinne, als besonders fortschrittlich auszuweisen, was z. B. an Kraepelins sprachpuristischen Bemühungen deutlich (vgl. Kap. 5.2.4). An den Untersuchungen hat sich zudem gezeigt, dass einmal thematisch gebundenes Vokabular morphologisch variiert und z. T. in neue kotextuelle Umfelder eingebettet wird, so dass sich von der Gemeinsprache unterschiedene Gebrauchsvarianten ergeben, die für die sich etablierende Praxis
435 bestimmend werden. Es zeigt sich auch, dass einmal an bestimmte Krankheitsformen thematisch gebundenes Vokabular beim Bestehen von Bezeichnungsalternativen wieder aktualisiert und z. T. auch terminologisiert werden kann. Dies wird besonders dann deutlich, wenn eine Kookkurrenz zwischen lateinisch/griechischen und volkssprachlichen Lexemen besteht. Die Rückkehr zum lateinischen Fremdwort kann dann auch bedeuten, dass dieses Lexem weniger konnotiert ist und einen stärker sachaufschließenden Charakter besitzt. Im Einzelnen zeigen sich im Nachgang zur Initialphase die folgenden Möglichkeiten: die Präferenz zum Fremdwort, sofern Bezeichnungsalternativen vorliegen, oder zur Übersetzung eines schon eingeführten psychiatrischen Begriffs. Als besonderer Vorgang wurde zudem die Überblendung ausgewiesen (vgl. Kap. 5.1.1); die Tendenz zur weiteren Integration gemeinsprachlichen Wortschatzes, das sich bspw. an eine neuartige thematische Fokussierung, so der Demenzerkrankungen, bindet. Allerdings kann es auch der Fall sein, dass schon eingeführtes gemeinsprachliches Vokabular definiert oder redefiniert wird, wobei sich auch der Vorgang des Definierens selbst wandelt (vgl. Kap. 5.3.3 und 6.2.1). im Gegensatz zur Initialphase, die nur wenige, nicht der Tradition verhaftete Lexeme aufweist, setzen sich, gebunden an bestimmte Krankheitsbilder und obgleich auf das lexikalische „Spielmaterial“ der Psychiatrie verweisend, Lexeme wie Neurasthenie oder Schizophrenie durch. Dabei, wie im Kap. 6 gezeigt wurde, kann die Orientierung an neuen Krankheitsformen auch bedingen, dass Lexeme wie Sperrung auftauchen, die sich mit den gemeinsprachlichen Gebrauchsvarianten nicht überschneiden. Zudem finden sich eine Reihe neu geschaffener Lexeme, besonders im Bereich des Sprachverhaltens (z. B. Echolalie) (vgl. Kap. 6.2.1). Der Wortschatz der Psychoanalyse bereichert durch neuartige metaphorische Kompositabildungen wie Bewusstseinsschicht, durch Kollokationen wie Flucht in die Krankheit oder durch den spezifischen Gebrauch der Kollokation Arbeit erledigen ebenfalls den psychiatrischen Wortschatz (vgl. Kap. 6.1.3). Der Nachklang der Initialphase zeigt auch, dass nicht nur neue Lexeme integriert werden, sondern auch einige Lexeme wie Wahnsinn nicht und einige wie Depression anders als in der Initialphase verwendet werden. Zudem zeigt sich das allmähliche Ausblenden vieler tradierter Krankheitsbezeichnungen (vgl. Kap. 5.3.2). Während in der Initialphase in morphologischer Hinsicht v. a. Derivationen im Vordergrund stehen, sind für die nachfolgenden Entwicklungen Konfixbildungen mit Psycho-, Neuro- oder Hystero- wichtig
436 (vgl. Kap. 5.2). Die bis hierin zusammengefassten Prozesse reflektieren den zunehmenden Grad an Professionalität, den jemand aufwenden muss, um über psychisch Kranke zu sprechen: Jemanden um 1900 nur als wahnsinnig oder blödsinnig zu bezeichnen, weist nur noch auf ein nicht spezialisiertes Laientum zurück. Die Professionalität psychiatrschen Schreibens äußert sich nicht nur an der Verwendung bestimmter Lexeme und Lexemverbindungen, sondern auch daran, wie, d. h. in welchen Kotexten innerhalb welcher Textsorte, ein bestimmtes Lexem eingesetzt wird, in welchen syntaktischen Realisationsformen es erscheint und welche Handlungen insgesamt vollzogen werden. In dem Gesamt der sprachlichen Realisierungsebenen ergibt sich, wie gezeigt wurde, ein verpflichtender und tendenziell homogenisierender Stil. Die Wortschatzentwicklung vollzieht sich nicht unabhängig von der Textsortenentwicklung. Für die Soziogenese des psychiatrischen Schreibens ist es wesentlich, wie Kranke und ihre Krankheitsverläufe überhaupt vertextet werden. Hier zeigt sich eine Linie von der Dominanz eines anekdotischen Herangehens über die Etablierung der Krankengeschichte (von einfachen bis zu ausgebauten Formen in einer Monographie) bis zur psychiatrischen Kasuistik. Die Abwendung vom anekdotischen sowie panoptischen Zugriff, der „individuelle“ Schicksale nur unter dem Gesichtspunkt der Illustration und/oder der Übermittlung von Lebensweisheiten sinnfällig macht, und die Hinwendung zum Erzählen, das Krankheitsverläufe erfahrbar macht, halte ich für ein wesentliches Moment bei der Entwicklung psychiatrischen Schreibens. Während in der frühen Krankengeschichte ein später ökonomisierbares Textmuster entlang der angeschlagenen Themen deutlich wird, bleibt die syntaktische Gestaltung relativ variabel bis hin zu syntaktisch komplexen Realisationsformen. Es wurde dafür argumentiert, dass Krankengeschichten und Krankenakten in einem dialektischen Wechselverhältnis stehen: Einerseits trägt die Fülle der veröffentlichten Krankengeschichten neben theoretischen Abhandlungen dazu bei, bestimmte Merkmale einzelner Krankheitsformen für wesentlich zu halten, so dass sich in Krankenakten eine stärkere Schematisierung ergibt und Richtlinien zur Abfassung von Krankengeschichten formuliert werden, wodurch sich wiederum die Möglichkeit ergibt, die narrative Aneignungsform zu stärker sprachökonomischen Mustern zu leiten. Dass mit der Zusammenführung zwischen praktischem Handeln und wissenschaftlichem Interesse, also mit dem Übergang von einer Zeitschriften- zu einer Handbuchwissenschaft nach Fleck genau dies passiert, wurde auf der Basis von Lehrbüchern und auch bei der Beleuchtung der Hysterie und Schizophrenie gezeigt (vgl. Kap. 5.4 und 6.1.2). Mit der Textsortenentwicklung entwickelt sich auch ein homogenisierender syntaktischer Zugriff, wobei, wie an der Verarbeitung der Schizophrenie in den Krankenakten der Gießener Universitätspsychiatrie gezeigt werden konnte, sich mit
437 einzelnen Krankheiten auch besondere textuelle Aneignungsformen wie das semi-orale Protokollieren verbinden können. Betrachtet man nun die Rolle, die dem Wortschatz bei dieser Textsortenentwicklung zukommt, so lässt sich eine parallele Linie beschreiben: Die Krankengeschichten, die die Schicksale von Kranken überhaupt einer temporalen und räumlichen Situierung zugänglich machen, leisten die thematische Bindung und die Selektion eines bestimmten wiederkehrenden symptomologischen Wortschatzes, der sich in andere mit der Psychiatrie verbundene Publikationen einschreibt. Den Krankengeschichten fällt die Rolle zu, Beschreibungstraditionen bei paralleler Selektion und Kombination von Wortschatzbestandteilen überhaupt sichtbar gemacht zu haben. Einige Lexeme, die in den frühen Krankengeschichten erscheinen, bspw. stumpf oder Ideenflucht, werden der Psychiatrie lange erhalten bleiben. Mit der Abwendung von anekdotischen und panoptischen Verfahren hin zur individuellen Erkrankung und dann zu Krankheitsgruppen ist eine Abwendung von personalen Typen hin zu individuellen Fällen (damit der Dynamisierung von Typen) und dann zu Krankheitstypen verbunden. Wie gezeigt, machen jedoch auch die Krankengeschichten von sprachlichen Formulierungen Gebrauch, bei denen Wahrnehmung und Typisierung zusammenfallen (so bei der Nutzung der Temperamentenlehre und physiognomischer Lehren) und gleichzeitig die Richtung der medizinischen Argumentation vorgeben. Anekdoten, Krankengeschichte und die spätere psychiatrische Kasuistik beschreiben den Kranken. Wie in Kap. 6.1.3 gezeigt werden konnte, ist es möglich, die Krankengeschichte als textuelle Aneignungsform zu revitalisieren, wie dies Freud und Breuer getan haben. Gleichzeitig wurde jedoch auch gezeigt, dass die individuelle Fälle kanalisierende Bildung von Krankheitstypen dadurch unterwandert werden kann, dass wiederum hoch-anonyme Typen wie „der Alkoholiker“ oder „der Psychopath“ gebildet werden können. Die Abkehr vom individuellen Fall ist dabei dem Umstand geschuldet, dass die Krankenwahrnehmung nun zumeist in großen Kliniken und oft vor dem Hintergrund eines wissenschaftlichen Interesses erfolgt. Gleichzeitig besitzt die Disziplin Anschluss an die großen Theorien am Ende des 19. Jahrhunderts, die einer modernisierten anthropologischen Ausdeutung von psychischer Erkrankung wiederum Vorschub leisten. Hier zeigt sich einerseits ein Fortschreiben und eine Weiterbestimmung der etablierten Praxis einer bestimmten Art, es zeigt im positiven Sinne die Möglichkeit der Psychiatrie, sich Diskurse sprachlich anzuverwandeln, die in ihrem thematischen Feld liegen (insofern erfolgt die Entwicklung kontinuierlich), auf der anderen Seite wird auch deutlich, dass die Psychiatrie in ihrem seismografischen sprachlichen Reagieren auf unterschiedliche ebenfalls sprachliche Angebote die schon etablierte Praxis wieder untergraben kann. Das heißt: Professionalisierung bedeutet nicht notwendig
438 eine Abschottung, sondern eher im Gegenteil: Sie ist verbunden mit einer Verführbarkeit gegenüber benachbarten Deutungen. Die Achse „Anekdote ĺ Krankengeschichte ĺ psychiatrische Kasuistik“ ist mit einer anderen Achse verbunden. In der Initialphase dominieren bei den theoretischen Abhandlungen, die das Wesen der psychischen Krankheiten thematisieren, Darstellungsformen, die vornehmlich der Philosophie, v. a. der Anthropologie und Naturphilosophie, zugerechnet werden können. Daneben ist auffällig, dass die entsprechenden Texte variantenreich von rhetorischen Traditionen, so der Strukturierung der Abhandlungen, Ge-brauch machen (z. B. durch fingierte Dialoge oder die Punkt-für-Punkt-Zerlegungen gegnerischer Argumente) (vgl. Kap. 4.3.3.3). Der Bezug zu anderen Disziplinen lässt sich neben der Textstruktur bspw. auch an der Art und Weise erkennen, wie definiert wird. Mit der Entkoppelung des psychiatrischen Schreibens, dem auf unterschiedliche Weise, u. a. durch die Auseinandersetzungen zwischen Psychikern und Somatikern, Vorschub geleistet wird, entwickeln sich auf der einen Seite eine von der Philosophie autonome allgemeine Psychiatrie, auf der anderen Seite innovationsorientierte Aufsätze, deren Anfänge hier nur gestreift wurden, die die Psyche auf allgemein menschliche Eigenschaften zurückführen und bspw. physiologisch und/oder neurologisch erklären (vgl. Kap. 4.3.5). Die Achse, die sich also neben der geschilderten etabliert, ist: von der theoretischen Abhandlung nach dem Beispiel der Philosophie mit einer erheblichen rhetorischen Varianzbreite hin zur allgemeinen Psychiatrie, die sich gleichermaßen als Bestandteil von Lehrbüchern und innovationsorientierten Aufsätzen herausbildet. Mit dieser Entwicklung geht die Zusammenführung von Praxis (als Kasuistik) und Theorie (als innovationsorientierte Forschung) durch wissenvermittelnde Texte einher. Es lässt sich auch hier ein Weg nachzeichnen, der mit großer syntaktischer Komplexität beginnt, die die Heterogenität psychischer Erscheinungsbilder festhält, und bei syntaktischen Reduktionsformen endet: Es ergibt sich, selbstverständlich auch durch die Art des Wortschatzes selbst, eine syntaktische Präferenzbildung zu parataktischen, gar elliptischen Formen, die natürlich auch mit dem Erscheinen oder Nichterscheinen von Krankheitsträgern in einem Zusammenhang stehen. Gleichzeitig – und dies ist sicherlich eine einschneidende Entwicklung – werden die Texte in ihrem Bezug auf das klinische und damit verbunden wissenschaftliche Arbeiten zunehmend voraussetzungsvoll und wissenssensitiv (indem sie bspw. auch die Kenntnis größerer Kontroversen voraussetzen) (vgl. Kap. 5.3.3). Während die beiden Achsen der Textsortenentwicklung sozusagen die beredte Sprache einer Wissensanhäufung sprechen, die mit einer institutionalisierten sekundären Sozialisation einhergehen, zeigt sich, wie bei der Hysterie gezeigt werden konnte, eine andere Tendenz: Zunächst einmal bedeutet die zunehmende Verwissenschaftlichung der Disziplin, die sich einer thematischen
439 Fokussierung, fachspezifischen Intertextualität und an der Selektion von obsoleten Traditionsbeständen zeigt, nicht, dass sie nicht weiterhin Metaphern, selbst wenn diese aus dem Bereich der Neurologie stammen, oder evokative Termini gebrauchen würde. Es zeigt sich auch, dass Wertneutralität bei der Auseinandersetzung mit psychisch Kranken nicht immer gegeben sein muss, und es zeigt sich wiederholt, dass der Verweis auf die klinische Erfahrung, so berechtigt er im Einzelfall auch sein mag, kotextuell so eingebettet werden kann, dass er eher ein Indikator für strategisches Argumentieren ist (vgl. Kap. 6.1.2). Es verändert sich in der Entwicklung auch das psychiatrische Argumentieren selbst: von akribisch durchgeführten argumentatio-refutatio-Strukturen mit der Frage, wie sich nun das Verhältnis von Leib und Seele verhalte, hin zur einer argumentativen Struktur, bei der die Bezugnahme auf die Klinik punktuell erfolgt und die Modellierung körperlicher Prozesshaftigkeit im Vordergrund steht (Kap. 5.3.2 und Kap. 5.3.3). Durch den Eintritt der Psychiatrie in den öffentlichen Diskurs wird jedoch auch deutlich, dass auch in angesehenen Fachzeitschriften Beiträge erscheinen, die nicht als medizinisch im engeren Sinne, sondern – mit allen sprachlichen Konsequenzen – auch gesellschaftspolitisch zu verstehen sind. Die Herstellung psychiatrischen Wissens ist notwendig auf die immer zu leistende Arbeit verwiesen, ein sprachliches Bild von Patienten und Primärwahrnehmungen zu versprachlichen. Diese Versprachlichung erfolgt zunehmend vor dem Hintergrund wissenschaftlicher Erkenntnisse, die eine schnelle Einordnung des Wahrgenommenen und Beobachteten erlauben und die nachfolgenden Untersuchungen leiten. Obwohl – vom heutigen Standpunkt aus gesehen – Eindrücke zunehmend operationalisiert werden können (durch Intelligenztests, durch spezielle Untersuchungen und den Einsatz therapeutischer Gesprächsstrategien, die sich z. B. bei der Schizophrenielehre zeigen) und diese Operationalisierungen wiederum von ätiologischen Erkenntnissen und theoretisch gestütztem Wissen geleitet werden, bleibt die Psychiatrie darauf verwiesen, die Grenzen zwischen normalem und abweichendem Verhalten und den Grad der Abweichung von einer nicht immer klaren Normalität zu konstituieren. In dem Austarieren dieser Grenzen liegt eine sprachliche Vagheit und Unschärfe, die einerseits Veränderungen und Bestimmungsvorgänge bedingt. Andererseits liegt hier wohl ein unabdingbarer Bezug auf das soziale Leben und entsprechenden Theorien über das soziale Leben, das nach dem Ersten Weltkrieg und im Nationalsozialismus die Korrumpierbarkeit der Psychiatrie und ihre Ideologisierung befördert haben könnte. Die historische Fachsprachenforschung könnte es als eine Aufgabe begreifen, nach der Genese von kommunikativen Praxen einer bestimmten Art zu fragen. Diese Genese kann m. E. nur dann überzeugend beschrieben werden, wenn integrativ auf unterschiedliche sprachliche Einheiten zurück-
440 gegriffen wird und die Kriterien für Fachsprachlichkeit einer kritischen Revsion unterzogen werden (vgl. Kap. 3.1). Die historische Fachsprachenforschung sollte sich verstärkt dieser Aufgabe unterziehen, weil davon aus mehreren Gründen auch Impulse für die jüngere Sprachgeschichtsschreibung zu erwarten sind: a) Gängige Urteile über die Entwicklung von Fachsprachen, nach denen z. B. ein systematischer Ausbau des Wortschatzes und damit auch die Linearität von Entwicklungen angenommen wird, könnten insgesamt relativiert werden: Diese Vorstellungen sind grundsätzlich Ausdruck einer Wahrnehmung, die die Beziehung von Sprache und Gesellschaft auf einen Funktionalismus reduziert, zu dem hier zumindest ansatzweise Alternativen aufgezeigt werden sollten. Da eine Orientierung am „Objektivismus reiner Tatsachen“ interdisziplinär nicht anschlussfähig ist, wäre auch die Fachsprachenforschung gefordert, die zur sprachlichen Konstitution vermeintlicher „Objekte“ notwendigen sprachlichen Prozesse nachzuzeichnen; dies hätte nicht nur Schnittstellen zu anderen wissenschaftlichen Fächern wie der Philosophie und Soziologie, sondern könnte auch synchron und diachron arbeitende Fachsprachenforschung miteinander verbinden. b) Im 19. Jahrhundert vollzieht sich m. E. ein Wandel der elaborierten Schriftlichkeit, an der Aufstieg des Fachlichen einen entscheidenden Anteil hat. Hier wäre insbesondere danach zu fragen, wie fächerübergreifende Tendenzen bspw. zur Deagentivierung und Ökonomisierung (z. B. auf der Grundlage welcher Textsorten) entstehen und aus welchen Gründen sie sich vollziehen. Der Entstehungsprozess moderner Fachsprachen und damit Fachtextsorten wäre von zunächst heterogenen Ausgangsbedingungen her zu entfalten. So zeigt auch Haßler (1999, 2445f.), wie die Orientierung am Narrativen, so auch in mathematischen Texten, der Tendenz zur Formalisierung gegenübersteht, oder, wie die Orientierung des Dialogischen langsam zugunsten des Monologischen aufgegeben wird (vgl. dazu auch: Hoppe 1989, 115–167). Eine besondere Bedeutung dürfte m. E. dem Aufbau der sprachlichen Grenzlinie zwischen Gelehrsamkeit (z. B. in illustrierten Wochenzeitungen) und Wissenschaftlichkeit zukommen. Daran könnte nicht nur die jüngere Sprachgeschichte, insb. die Textsortengeschichte, ein Interesse besitzen. c) Die Entstehung moderner v. a. wissenschaftlicher Fächer wird im 18. und 19. Jahrhundert durch den Übergang von der traditionsverhafteten, kompilatorischen Allo- zur Autopoiesis (Stichweh 1994) und damit durch den Übergang von vormodernen zu modernen Wissenschaftstraditionen bestimmt. Die historische Fachsprachenforschung könnte es bspw. als ihre Aufgabe begreifen, diesen Wandel sprachlich nachzuzeichnen (Ansätze
441 dazu: Kap. 3.2) und sich damit auch an Tendenzen zur Erforschung von Wissenschaftskommunikation generell anschließen. Mit den einzelnen wissenschaftlichen Fächern ist eine erhebliche Ausdifferenzierung des Textsortenspektrums mit bemerkenswerten Stilähnlichkeiten verbunden – Differenzierung und Homogenisierung stehen in einem Spannungsverhältnis. Zudem tragen von der Psychiatrie aus in die Bildungssprache diffundierende Lexeme zur Konstitution einer Sprache der Moderne bei, was auch schon daran ersichtlich wird, dass kaum ein Roman der klassischen Moderne sich nicht des entsprechenden Wortschatzes bediente. Gerade unsere Gefühlswelt können wir nicht ohne die Hilfe diffundierter Lexeme darstellen (im Gegensatz zu Menschen am Beginn des 19. Jahrhunderts). Nicht nur solche Lexeme wie Beziehungsarbeit oder Verdrängung, die auf die Psychoanalyse zurückweisen, sondern auch Lexeme wie entnervt, abgespannt, oberflächlich, flach, leer, depressiv, aber auch neurotisch, schizophren, Psychopath oder neuere Bildungen (wie burn-out, vgl. ausgebrannter Defekt) sind feste Bestandteile unserer Selbst- und Fremdbeschreibung. Eine kulturwissenschaftliche Linguistik (nicht ausschließlich in der Sprachgeschichtsschrei-bung) könnte sich als eine begreifen, die einen Teil unserer heutigen sprachlichen Selbstverständlichkeiten aufzuklären.
8.
Literatur
8.1
Quellen
8.1.1
Ungedruckte Quellen
Sächsisches Hauptstaatsarchiv Dresden (HSTADD): Bestände der ehemaligen Heilanstalt Sonnenstein/Pirna bei Dresden (LA Sonnenstein), Krankenakten aus den Jahren 1800–1850. Universitätsarchiv Gießen (UAG): Krankenakten aus der Universitätspsychiatrie Gießen aus den Jahren 1897–1939.
8.1.2
Gedruckte Quellen 1
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Bei vielen Autoren wird kein Vorname angegeben. Sofern es sich um Autoren handelt, die oft publiziert haben und aus der Psychiatriegeschichte bekannt sind, wurde der Vorname ergänzt. Bei weniger bekannten Ärzten ist dies oft nicht möglich bzw. es können nur die Initialien des Vornamens angegeben werden. Gerade beim Magazin für Erfahrungsseelenkunde sind Abkürzungen z. T. nicht aufzuschlüsseln (zumal sie auch bei Bennholdt-Thomsen/Guzzoni 1978 nicht genannt werden). Sie werden hier in der Form, wie die Namen im Magazin auftauchen genannt. Gibt es einige Indizien, dass Moritz selbst der Autor sein könnte, wird dies mit einem Fragezeichen versehen.
444 Anonymer Verfasser (1783): Geschichte des Kindermörders J. F. D. Seybell. In: Magazin 1,1, 24–26. Anonymer Verfasser (1783): Grundlinien zu einem ohngefähren Entwurf in Rücksicht auf die Seelenkrankheitskunde. In: Magazin 1,1, 27–32. Anonymer Verfasser (1784): Sonderbare Äußerungen des Wahnwitzes in einem Briefe aus Russland an Herrn Buchhändler W** in Berlin. In: Magazin 2,2, 103–112. Anonymer Verfasser (1785): Einfluß der Dogmatik auf die Ruhe und Heiterkeit der Seele. Reflexionen eines ehemaligen Hypochondristen. In: Magazin 3,1, 96–98. Anonymer Verfasser (1785): Genesungsgeschichte eines Jünglings von einem dreimonathlichen Wahnwitz. In: Magazin 3,2, 110–142. Anonymer Verfasser (1788): Aus den Papieren eine Hypochondristen. In: Magazin 6,2, 113–115. Anonymer Verfasser (1790): Übergang des Aberglaubens in den Wahnwitz. In: Magazin 9,1, 116–126. Anonymer Verfasser (1821): Ein Fall von Melancholie und Manie mit glücklichem Ausgang. In: ZfpÄ 4,1, 221–222 (ZfpÄ = Zeitschrift für psychische Aerzte, ab 1820 Untertitel: mit besonderer Berücksichtigung des Magnetismus. Hrsg. v. Friedrich Nasse, Leipzig 1818–1822). Anonymer Verfasser (1825): Geschichte eines periodisch Tobsüchtigen. In: ZfAnthro 3,4, 321–335. Anonymer Verfasser (1782): Über Anstrengungen des Geistes. Bemerkungen von eben diesem ehemaligen Hypochondristen. In: Magazin 1,3, 253–255. Armstrong, James (1821): Ueber Manie und Melancholie. In: ZfpÄ 4,4, 197–227. Arnold, Thomas (1784): Beobachtung über die Natur, Arten, Ursachen und Verhütung des Wahnsinns oder der Tollheit. Übersetzt v. Johann Christian Gottlieb Ackermann. Leipzig. Aschaffenburg, Gustav (1907): Die neueren Theorien der Hysterie. In: Deutsche Medizinische Wochenschrift 33, 44, 1–4. (Protokoll einer Sitzung). Autenrieth, Johann Heinrich Ferdinand (1836): Ansichten über das Natur- und Seelenleben. Stuttgart. Basedow, Johann Bernhard (1783): Selbstgeständnisse des Herrn Basedow von seinem Charakter. In: Magazin 1,2, 114–116. Bauer, M. Carl Ludwig (1786): Sprache in psychologischer Rücksicht, vom Herrn Rektor Bauer in Hirschberg. In: Magazin 4,1, 46–55. Bayle, A.L.J./Hohnbaum, Carl (1826): Neue Lehre von den Gemüthskrankheiten. In: ZfAnthro 4,1, 104–149. Becker, Theophil (1911): Über Hysterie. In: Deutsche Militärärztliche Zeitung 40,4, 145–163. Bendavid, Lazarus (1790): Selbstmord aus Rechtschaffenheit und Lebensüberdruß. In: Magazin 9,1, 99–105. (1790): Sonderbare Art des Trübsinns. In: Magazin 9,3, 246–258. Beneke, Friedrich Eduard (1822): Ueber die Möglichkeit einer Physik der Seele, mit Rücksicht auf Seelenkunde. In: ZfpÄ 5,2, 1–56. (1826): Worauf kommt es für die Vervollkommnung der Seelenkrankheitskunde an? Ein Schreiben an Herrn Prof. Dr. Grohmann, in Beziehung auf dessen Aufsatz im 2ten Hefte des vorigen Jahrganges dieser Zeitschrift. In: ZfAnthro 4,3, 123– 168.
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448 (1818b): Ueber die krankhaften Affektionen des Willens; ein Beitrag zur Beurtheilung krimineller Handlungen. In: ZfpÄ 1,4, 471–506. (1819): Eintheilung der psychischen Krankheiten. In: ZfpÄ 2,2, 179–205. (1821): Wunderbare Erzählungen. In: ZfpÄ 4,2, 111–123. (1822): Ueber das Gehirnleben in seiner verschiedenen organischen und psychischen Ausbildung. In: ZfpÄ 5,3, 1–111. (1823): Physiologische und psychologische Bemerkungen. In: ZfAnthro 1,3, 264–269. (1825): Über die zweifelhaften Zustände des Gemüths; besonders in Beziehung auf ein von dem Herrn Hofrath Dr. Carus gefälltes gerichtärztliches Gutachten. In: ZfAnthro 3,2, 291–337. (1826): Einige gerichtsärztliche Erörterungen. In: ZfAnthro 4,4, 221–256. (1834): Ueber den Wahnwitz, der sich besonders auf eine krankhafte Affektion des Willens gründet. In: Archiv für Psychologie 2, 228–234. Groos, Friedrich (1822): Einige Resultate aus der ärztlichen Tabelle für das Jahr 1820 von der Irren- und Sichenanstalt zu Pforzheim. In: ZfpÄ 5,2, 57–88. (1823): Krankengeschichte. In: ZfAnthro 1,1, 129–162. (1826): Untersuchungen über die moralischen und organischen Bedingungen des Irrseyns und der Lasterhaftigkeit: Ärzten und Philosophen zur Würdigung vorgelegt. Heidelberg, Leipzig. (1828): Entwurf einer philosophischen Grundlage für die Lehre von den Geisteskrankheiten. Heidelberg, Leipzig. (1834): Ueber Criminal-Psychologie. Mit besonderer Rücksichtsnahme auf das Friedreich’sche Werk über gerichtliche Psychologie. In: Archiv für Psychologie 3, 295–325. Gruhle, Hans W. (1913): Bleulers Schizophrenie und Kraepelins Dementia praecox. In: Zeitschrift für die gesamte Neurologie und Psychiatrie 17, 114–133. (1932): Geschichtliches. In: Bumke, Oswald (Hrsg.): Handbuch der Geisteskrankheiten. Bd. IX. Spezieller Teil V. Berlin, 1–30. Gruner, Johann Ernst (1789): Beitrag zur Bestätigung des Satzes, daß die Einbildungskraft und das Gedächtniß mehr dem Körper als der Seele zugehören. In: Magazin 7,3, 200–203. (1789): Rau, ein Vatermörder, von J.E. Gruner. In: Magazin 7,3, 203–208. Günther, ? (1824): Auch einige Anmerkungen über den Begriff der Seelenkrankheit. In: ZfAnthro 2,3, 274–283. (1825): Einige Beobachtungen über das Delirium tremens. In: ZfAnthro 3,1, 180– 187. Haindorf, Alexander (1811): Versuch einer Pathologie und Therapie der Geistes- und Gemüthskrankheiten. Heidelberg. (1818): Ein von selbst entstandener Speichelfluß hebt eine Schwermuth, gegen welche, während des Zeitraums vieler Jahre, viele andere Mittel fruchtlos angewandt wurden. In: ZfpÄ 1,3, 394–408. (1819): Eine durch zurückgetretenen Hautausschlag und durch sitzende und meditierende Lebensart erzeugte Hypochondrie wird gemindert durch einen wohlthätigen Einfluß der Musik und Poesie. In: ZfpÄ 2,3, 375–385. Hansen, Karl (1930): Hysterie, Neurasthenie, Neurose. In: Sonderdrucke aus der Neuen Deutschen Klinik, Bd. V, 241– 274.
449 Haslam, Johann (1819): Über die psychische Behandlung der Wahnsinnigen; übersetzt vom Herrn Dr. Wagner, F. H. Braunschw. General-Stabsarzte. Nebst Anmerkungen vom Herrn Geheimen Medicinalrath Dr. Horn. In: ZfpÄ 2,1, 105–156. Hayner, Christian August Fürchtegott (1817): Aufforderungen an Regierungen, Obrigkeiten und Vorsteher der Irrenhäuser zur Abstellung einiger schwerer Gebrechen bei der Behandlung der Irren. Leipzig. (1818a): Ueber einige mechanische Verrichtungen, welche in Irrenanstalten mit Nutzen gebraucht werden können. In: ZfpÄ 1,3, 339–366. (1818b): Würmer in der Leber eines Wahnsinnigen; eine Krankengeschichte nebst Sektionsbericht. In: ZfpÄ 1,4, 507–513. (1821): Uebersichten von dem Personal der Irren in der Verpflegungsanstalt zu Waldheim in Sachsen. In: ZfpÄ 4,2, 124–128. (1822): Von der Verpflegungsanstalt zu Waldheim in Sachsen. In: ZfpÄ 5,2, 89–138. (1818a): Krankheitsberichte. In: ZfpÄ 1,2, 231–254. (1818b): Lehrbuch der Störungen des Seelenlebens oder Seelenstörungen: Vom rationalen Standpunkt aus entworfen. 2 Teile. Leipzig. (1819a): Auch eine Rhapsodie über das Princip der psychisch–krankhaften Zustände. In: ZfpÄ 2,4, 545–559. (1819b): Vierter Krankheitsbericht. In: ZfpÄ 2,4, 560–571. (1822): Lehrbuch der Anthropologie. Leipzig. (1825): System der psychisch-gerichtlichen Medizin oder theoretisch-praktische Anweisungen zur wissenschaftlichen Erkenntnis. Leipzig. (1827): Die Psychologie als Selbsterkenntnislehre. Leipzig. (1847): Gerichtsärztliche und Privat-Gutachten hauptsächlich in Betreff zweifelhafter Seelenzustände. Gesammelt und hrsg. von Hermann Theodor Schletter. Leipzig. Hellpach, Willy (1903): Hysterie und Nervösität. In: Psychische Studien 30, 1, 2 u. 3, 14–21; 89–95; 152–159. (1906): Historische Hysterie. In: Die neue Rundschau 17, 2, 1025–1045. (1917): Die Physiognomie der Hysterischen. In: Universitas litteratum. Gesammelte Aufsätze von Willy Hellpach. Hrsg. von Gerhard Hess und Wilhelm Witte. Stuttgart, 236–241. (auch in: Münchner Medizinische Wochenschrift 31). Henke, Adolph (1819): Ueber die zweifelhaften Zustände bei Gebärenden, in Bezug auf die gerichtsärztliche Untersuchung bei Verdacht des Kindermordes. In: ZfpÄ 2,2, 219–251. Hill, G. R. (1821): Krankengeschichten. In: ZfpÄ 4,2, 129–187. Hirsch, von (1825): Einige Rückblicke auf die Urtheile der Vorzeit über Seelenkunde. In: ZfAnthro 3,1, 16–23. Hoche, Alfred (1906): Kritisches zur psychiatrischen Formenlehre. In: Allgemeine Zeitschrift für Psychiatrie 63, 559–563. (1916): Ueber Hysterie. In: Archiv für Psychiatrie und Nervenkrankheiten 56, 3, 331–335. Hoffbauer, Johann Christoph (1801–1807): Untersuchungen über die Krankheiten der Seele und der verwandten Zuständen. 3 Bde. Halle. Hoffmann, Max (1903): Hysterische Frauen. In: Die Gegenwart: Zeitschrift für Literatur, Wirtschafsleben und Kunst 15, 233–235. Hohnbaum, Carl (1818): Ueber die poetische Ekstase im fieberhaften Irreseyn. In: ZfpÄ 1,3, 311–338.
450 Horn, Ernst (1800): Beiträge zur medizinischen Klinik, gesammelt auf meinen Reisen durch Deutschland, die Schweiz und Frankreich 1–2 Teil. Braunschweig. (1818): Beschreibung der in der Irrenanstalt des Königlichen CharitéKrankenhauses zu Berlin gebräuchlichen Drehmaschinen, ihrer Wirkung und Anwendung bei Geisteskranken. In: ZfpÄ 1,2, 219–231. (1818): Öffentliche Rechenschaft über meine zwölfjährige Dienstführung als zweiter Arzt des Königl. Charité–Krankenhauses zu Berlin, nebst Erfahrungen über Krankenhäuser und Irrenanstalten. Berlin. Ideler, Karl Wilhelm (1827): Anthropologie für Ärzte. Berlin, Landsberg a. d. W. (1838): Grundriss der Seelenheilkunde. 2. Bde. Berlin. (1841): Biographien Geisteskranker in ihrer psychologischen Entwickelung. Berlin. (1847): Der religiöse Wahnsinn, erläutert durch Krankengeschichten: ein Beitrag zur Geschichte der religiösen Wirren der Gegenwart. Halle. (1848): Der Wahnsinn in seiner psychologischen und sozialen Bedeutung. Ein Beitrag zur praktischen Philosophie. Berlin. (Hrsg.) (1854): Neue Auswahl medicinisch-gerichtlicher Gutachten zur Gerichtlichen Psychologie. Eine Auswahl von Entscheidungen der Königl. wiss. Deputation für das Medicinalwesen. Berlin. Jacobi, Carl Wigand Maximilian (1822/1825): Sammlungen für die Heilkunde der Gemütskrankheiten. Bd. 1: 1822, Bd. 2: 1825. Elberfeld. (1826): Ein Beitrag zu der Lehre von den in gewissen chronischen Krankheitszuständen erscheinenden fixen Wahnvorstellungen. In: ZfAnthro 4,1, 77–103. Jacobi, Maximillian (1830): Beobachtungen über die Pathologie und Therapie der mit Irresein verbundenen Krankheiten. Elberfeld. (1834): Über die Anlegung von Irren-Anstalten, mit ausführlicher Darstellung der Irren-Heilanstalt zu Siegburg. Elberfeld. (1838): Fortgesetzte Erörterungen zur Begründung der somatisch=psychischen Zustände, In: Zeitschrift für die Beurtheilung und Heilung der krankhaften Seelenzustände, 34–118. Jacobi, Carl Wigand Maximilian (1844): Die Hauptformen der Seelenstörungen in ihren Beziehungen zur Heilkunde, nach der Beobachtung geschildert. Bd. 1. Leipzig. Jakob, Ludwig Heinrich von (1783): Etwas aus Robert G...s Lebensgeschichte, oder die Folgen einer unzweckmäßigen öffentlichen Schulerziehung, vom Herrn Jakob, Lehrer am Gymnasium in Halle. In: Magazin 1,3, 179–197. (1784): Fortsetzung von Robert G...s Lebensgeschichte, oder die Folgen einer unzweckmäßigen öffentlichen Schulerziehung, vom Herrn J. L. H. Jakob, Lehrer am Gymnasium in Halle. In: Magazin 2,1, 7–15. Janet, Pierre (1894): Der Geisteszustand der Hysterischen. Übers. v. M. Kahane. Leipzig, Wien. Jaspers, Karl (51948): Allgemeine Psychopathologie. Berlin, Heidelberg. Jenisch, Daniel (1787): Über die Schwärmerey und ihre Quellen in unseren Zeiten. In: Magazin 5,3, 211–224. Nebst einem Anhang über den nämlichen Gegenstand von P., 224–229. Jessen, Peter (1838): Aerztliche Erfahrungen in der Irrenanstalt zu Schleswig. In: Zeitschrift für die Beurtheilung und Heilung der krankhaften Seelenzustände, 582–702. (1855): Versuch einer wissenschaftlichen Begründung der Psychologie. Berlin.
451 Jolly, Friedrich (1873): Bericht über die Irren-Abteilung des Juliusspitals in Würzburg für die Jahre 1870, 1871 und 1872. Würzburg. Jördens, Karl Heinrich (auch Karl Philipp Moritz?) (1783): Verschiedenheit unserer Empfindungen bei der Vorstellung vom Tode. In: Magazin 1,1, 64–69. Jung, Carl Gustav (131978): Psychologische Typen. Olten, Freiberg i. Br. K. (1784): Zwei Selbsterfahrungen und eine Krankheitsbeobachtung von Herrn K. in T. In: Magazin 2,3, 216–222. Kahlbaum, Karl (1863): Die Gruppierung der psychischen Krankheiten und die Eintheilung der Seelenstörungen. Danzig. (1874): Die Katatonie oder das Spannungsirresein. Berlin. Kahn, Eugen (1924): Schizoid und Schizophrenie im Erbgang. Berlin. Kehrer, Ferdinand Adolf (1922): Über Spiritismus, Hypnotismus und Seelenstörung, Aberglaube und Wahn. Zugleich ein Beitrag zur Begriffsbestimmung des Hysterischen. In: Archiv für Psychiatrie und Nervenkrankheiten 66, 381–438. Kieser, Dietrich Georg (1855): Elemente der Psychiatrik: Grundlage klinischer Vorträge. Breslau. Kleist, Heinrich von (1977–61982): Sämtliche Werke und Briefe. 4. Bde. Hrsg. v. A. Schmeders. Berlin. Knape, Christoph (1783): Hat die Seele ein Vermögen, künftige Dinge vorher zu sehen? In: Magazin 1,1,154–63. König, ? (1824): Ein Fall von Hyperästhesie mit einigen Bemerkungen über diese Krankheit. In: ZfAnthro 2,3, 230–239. (1825): Zwei glücklich geheilte Fälle von Irreseyn. In: ZfAnthro 3,3, 136–151. (1826): Ein Fall von versuchtem Selbstmord. In: ZfAnthro 4,3, 328–334. Köppen, Johann Heinrich Just (1788): Ähnlicher Fall zu der im zweiten Stück des fünften Bandes erzählten sonderbaren Ohnmacht. In: Magazin 6,2,112. Kraepelin, Emil (1883): Compendium der Psychiatrie: zum Gebrauche für Studirende und Aerzte. Leipzig. (51896): Psychiatrie. Ein Lehrbuch für Studierende und Ärzte. Leipzig. (1913): Über Hysterie. In: Zeitschrift für die gesamte Neurologie und Psychiatrie 18, 261–279. Krafft-Ebing, Richard von (1879): Lehrbuch der Psychiatrie: auf klinischer Grundlage für praktische Ärzte und Studirende. Stuttgart. (1890): Psychopathia sexualis. Stuttgart. Kranz, H. (1953): Die Entwicklung des Hysteriebegriffs. In: Fortschritt der Neurologie, Psychiatrie und ihrer Grenzgebiete. Bd. 21., 223–238. Kretschmer, Ernst (51948): Hysterie, Reflex und Instinkt. Stuttgart. Leupoldt, Johann Michael (1819): Versuch einer ganz allgemeinen Beantwortung der Frage: Wie verhalten sich somatische Krankheiten, psychisches Irreseyn und Sünde zu einander? In: ZfpÄ 2,1, 56–71. (1823): Grundriß der allgemeinen Pathologie und Therapie des somatischen und physischen Menschenlebens. Leipzig, Berlin. (1825): Über Leben und Wirken und über psychiatrische Klinik in einer Irrenheilanstalt. Nürnberg. (1837): Lehrbuch der Psychiatrie. Leipzig. Maimon, Samuel (1935): Geschichte des eigenen Lebens. Berlin. Mauchart, Immanuel David (1784): Geschichte einer merkwürdigen Krankheit, in Rücksicht auf den damaligen Seelenzustand des Kranken. Aus einem Briefe, von
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