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Roy Palmer 1.
Zwei völlig unterschiedliche Charaktere stießen an Bord der „Vanguard“ aufeinander und gaben sich nicht die geringste Mühe, ihre beiderseitige Abneigung voreinander zu verbergen. Sir Andrew Clifford, Earl of Cumberland, war ein eitler Stutzer von grenzenloser Arroganz, der seine Verachtung gegenüber dem „gemeinen Schiffsvolk“ immer wieder kundtat. Kapitän Oliver O'Brien hingegen war ein gerechter, geradliniger und offener Mann. Er erfreute sich bei seiner Crew größter Beliebtheit. Sir Andrew Clifford war der Befehlshaber des Verbandes von drei Kriegsschiffen, O'Brien gehorchte seiner Order. Trotzdem bahnte sich eine Auseinandersetzung zwischen ihnen drohend an, seit sie England verlassen hatten. Sie schien unvermeidlich zu sein. Der Earl hatte sich zwecks größerer Bequemlichkeit einen Stuhl auf das Achterdeck der Dreimastgaleone „Vanguard“ bringen und ihn festschrauben lassen. Hier saß er nun und vertrieb sich die Zeit damit, über die Stellung der Segel, über die angebliche Unordnung an Bord und über den Ungehorsam der Decksleute herumzumäkeln. Zwischendurch ließ er sich von seinem Kammerdiener die Uniform zurechtzupfen oder beauftragte seinen persönlichen Adjutanten, ihm eine Tasse heißes Wasser mit Whisky zu servieren. Er hatte seinen eigenen Stab von acht Mann mit an Bord gebracht und ließ sich von vorn bis hinten bedienen - ganz im Gegensatz zu O'Brien, der sogar seine Uniform und seine Schuhe selbst abbürstete, wenn es erforderlich wurde. Eine Kluft gähnte zwischen diesen beiden so verschiedenen Männern. Auch rein äußerlich hatten sie nichts miteinander gemein. Der Earl hatte kalte und herablassend wirkende Augen, seine Wangenknochen hoben sich scharf aus seinem Gesicht ab, auf dem der überpuderte bläuliche Bartschatten zu erkennen war. Sein Mund war schmal und
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verkniffen, das Kinn leicht eckig, die Nase hart und gerade. In diesem Gesicht stand der Ausdruck von Boshaftigkeit und Übellaunigkeit, gleichzeitig drückte es Hochmut gegenüber allem aus, was nicht seinem Rang und Stand entsprach. Er trug eine lange blaue Jacke mit silbernen Knöpfen, Hosen von derselben Farbe, die unterhalb des Knies endeten, weiße Strümpfe und kostbare Schnallenschuhe. In seinem Wehrgehänge steckte ein teurer ziselierter Degen. auf dessen Knauf er oft die Hand zu legen pflegte, wenn er mit jemandem sprach. Oliver O'Brien indes war ein Seemann von echtem Schrot und Korn, der auf ein piekfeines Aussehen keinen Wert legte, sondern seine Aufmerksamkeit lieber dem Zustand des Schiffes und dem Wohl seiner Mannschaft widmete. Er war stämmig gebaut, hatte graue Augen in einem kantigen, wettergegerbten und gebräunten Gesicht und kurze dunkelblonde Haare. Er hatte als Moses und Schiffsjunge seine seemännische Laufbahn begonnen und sich von der Pike auf hochgedient. Nie hätte er sich träumen lassen, einmal von einem Mann wie diesem Earl of Cumberland Befehle zu empfangen. Doch es gab Gründe dafür, und O'Brien mußte sich den Umständen natürlich anpassen, was er auch zu tun versuchte. Der Dreier-Verband bestand aus den Dreimast-Galeonen „Vanguard“, „Serapis“ und „Antiope“. Sie waren von London nach Nordwesten unterwegs. und hatten den fünfundfünfzigsten Grad nördlicher Breite überquert, so daß sie nicht mehr weit von der Rockall-Bank entfernt waren, die zwischen Irland und Island lag. Sir Andrew Clifford hatte bewegte Zeiten hinter sich. Mitte März dieses Jahres war er wieder in London eingetroffen, nachdem er an dem Auftrag, den er in der Ostsee hatte durchführen sollen, kläglich gescheitert war. Erfolglosigkeit, Meuterei und Ungerechtigkeiten am laufenden Band hatten seine Reise begleitet, bis er einem gewissen Philip Hasard Killigrew begegnet war, der all dem ein Ende gesetzt hatte. Dieser „schwarzhaarige Bastard“ hatte sich
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erdreistet, ihn, den Earl of Cumberland, mitsamt seinem Profos und der kompletten Achterdecks-Clique auszusetzen. Seitdem hatte er, Sir Andrew, sein Schiff „Goliath“ nicht wiedergesehen. Über Schweden und Norwegen war er nach England zurückgekehrt und hatte in London dem Marineamt vorgeschwindelt, seine Galeone sei in der Ostsee von dem „Piraten“ Killigrew aufgebracht und versenkt worden. Das Marineamt indes hatte neue Pläne. Es war in Fortsetzung der Expeditionen des John Davis an weiteren Erkundungen einer möglichen Nordwestpassage interessiert. Kurzfristig war Sir Andrew zum Befehlshaber des Dreierverbandes „Vanguard“, „Serapis“ und „Antilope“ ausgewählt worden, weil der ursprünglich für diese Reise vorgesehene Kapitän Sir Martin Frobisher plötzlich er- krankt war. Der Verband war bereits fix und fertig ausgerüstet zum Auslaufen, es sollte keine Verzögerungen geben. Zwar hatte es im Marineamt einige kritische Stimmen gegeben, die Sir Andrew für nicht genügend qualifiziert hielten, ein Unternehmen dieser Art durchzuführen, aber der Earl hatte auch Freunde und Gönner bei Hof, von denen die Kritiker glatt überstimmt worden waren. So hatte der Verband Ende April Deptford verlassen. Alle Bedenken, die O'Brien und auch die anderen Offiziere der Schiffe von Beginn an gegen Sir Andrew gehegt hatten, waren bestätigt worden. Dieser Mann war in ihren Augen ein ausgesprochener Versager und konnte Sir Martin Frobisher nicht im entferntesten das Wasser reichen. Aber er war nun mal der Geschwaderchef - und das sollte noch verheerende Folgen haben. Bereits kurz nach dem Auslaufen ließ Sir Andrew an Bord der „Vanguard“, des Flaggschiffes, ein paar Männer auspeitschen, weil sie sich angeblich „unbotmäßig“ und „aufsässig“ verhalten hatten. Mal hatte jemand einen Befehl nicht schnell genug ausgeführt, mal ging es darum; daß eine Nagelbank nach Meinung des Earls nicht vorschriftsmäßig klariert
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war, mal hatte ein Mann „dreist gegrinst“, wie er behauptete. Diese Lappalien zogen eine strenge Ahndung nach sich, acht bis zehn Hiebe und mehr mit der neunschwänzigen Katze waren die Regel. All das wäre von der Crew der „Vanguard“ noch zu ertragen gewesen, wenn Sir Andrew nicht seinen eigenen Profos mit an Bord gebracht hätte, einen wahren Gorilla an Gestalt und Verstand, der besonders brutal vorzugehen pflegte. Dieser Profos war ein übler Schläger, ein Rohling mit einem Gesicht wie aus den schlimmsten Alpträumen. Breitgeschlagen, zerfurcht und voller Narben war diese Visage, und es fehlte ihm mindestens die Hälfte aller Zähne. Er hatte auch nur ein Ohr, das blumenkohlartig verunstaltet war. Kurz - er war ein wandelndes Monstrum, vor dem alle einen Heidenrespekt und viele sogar Angst hatten. Dieser Kerl kujonierte und schikanierte die Mannschaft, wo und wann er nur konnte, und wenn wieder mal ein Mann an die hochgestellte Gräting gebunden und ausgepeitscht wurde, dann nickte Sir Andrew Clifford wohlgefällig dazu, und die Achterdecksclique lächelte süffisant. Besondere Freude an dieser Art von Züchtigung schienen Christopher Norton, der sogenannte „Navigationsoffizier“ des Earls, George Snyders, der Offizier für „Sonderaufgaben“, der Kammerdiener Burt Harrison und der Adjutant Raymond Keefer zu haben. Anders ausgedrückt: es bereitete ihnen eine sonderbare Art von Vergnügen, Menschen leiden zu sehen. Als Oliver O'Brien dies registrierte, kannte sein Zorn gegen die Bande, die sich auf seinem Schiff eingenistet hatte, keine Grenzen mehr. Am 1. Mai 1593 kam es zur ersten offenen Auseinandersetzung. Sir Andrew hatte sich von seinem Achterdecksstuhl erhoben und unternahm einen Spaziergang bis zur Querbalustrade, blieb stehen und ließ seinen Blick über die Kuhl schweifen. Sofort fielen ihm zwei Seeleute auf, die sich untereinander mit den Ellenbogen anstießen und über irgendetwas lachten,
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sich dann aber gleich wieder ihrer Arbeit zuwendeten. „Profos!“ rief Sir Andrew mit näselnder Stimme. „Sir?“ Der Bulle von Mann erschien auf der Kuhl. Er hatte sich gerade in der Kombüse aufgehalten und einen Blick in die Kessel geworfen, was eigentlich nicht zu seinen Aufgaben gehörte, wozu der Earl ihn aber anhielt. Nicht zu viel Fleisch sollte in der Suppe schwimmen, die da brodelte, ebenso keine zu großen Fettaugen. Rigoros hatte Sir Andrew die „unverantwortliche Vergeudung“ von Proviant eingeschränkt und hielt die Rationen so knapp und mager, daß den Männern von früh bis spät der Magen knurrte. Was der Crew entzogen wurde, landete auf der Tafel im Achterkastell, wo die hohen Herren zu speisen pflegten und sich bedienen ließen. „Notieren Sie die zwei Kerle dort!“ rief der Earl. „Den mit der Glatze und den mit dem roten Bart! Sie haben über mich gelacht! Daher kriegen sie jeder zehn Hiebe mit der Neunschwänzigen!“ „Aye, aye, Sir“, sagte der Profos mit Donnerstimme und schritt unverzüglich zur Tat. Er war nicht gewohnt, Befehle seines Herrn und Gebieters zu diskutieren. er dachte nie über eine Anweisung nach er war lediglich das ausführende Organ, der verlängerte Arm des Earls auf Cumberland, dem es nie eingefallen wäre, sich selbst die Hände am „niederen Schiffsvolk“ zu beschmutzen. Kapitän Oliver O'Brien verließ genau in diesem Augenblick das Achterkastell, rammte das Schott hinter sich zu und trat auf der Kuhl vor die beiden Männer hin, deren Gesichter sich in ungläubigem Entsetzen verzerrt hatten. Der Profos war schon auf drei Schritte heran, aber der Blick, den O'Brien ihm zuwarf, stoppte ihn. „Mister Jason und Mister Brix“, sagte der Kapitän zu dem Glatzkopf und zu dem Bärtigen. „Ich will aus Ihrem Mund hören, über was Sie gelacht haben.“ „Über einen Witz, Sir“, entgegnete Jason. „Brix meinte, wenn der Sturm, den wir
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demnächst aufs Fell kriegen, mir schon nicht die letzten Haare vom Kopf reißen könne, so würde er mir aber doch die Glatze polieren. Verzeihung, aber wir haben beide darüber lachen müssen.“ „Sie brauchen sich deswegen nicht zu entschuldigen“, sagte O'Brien. „Auf meinem Schiff ist es noch nie wie auf einem Friedhof zugegangen. Ich lache selbst gern mal mit, wenn jemand eine Posse reißt.“ Er sah wieder den Profos an. „Profos, die Bestrafung findet nicht statt. Sie können wieder gehen.“ Der Zuchtmeister wurde dunkelrot im Gesicht. „Ich nehme meine Befehle von Sir Andrew entgegen“, sagte er finster. „Mister O'Brien!“ rief Sir Andrew vom Achterdeck. „Ich ersuche Sie dringend, sich nicht der Insubordination schuldig zu machen! Außerdem muß ich Sie berichtigen: Dies ist nicht Ihr Schiff, sondern eine Kriegs-Galeone Ihrer Majestät, der Königin von England!“ O'Brien fuhr zu ihm herum. „Ja, Sir, und ich bin für das Schiff verantwortlich. Es hängt von der Mannschaft ab, ob es jemals wieder nach England zurückkehrt. Wenn die Mannschaft unzufrieden ist, läßt die allgemeine Disziplin nach, und das wiederum ist schlecht für das Schiff. Verstehen Sie, was ich meine, Sir?“ „Ja. Sie stellen sich mit diesem Gesindel auf eine Stufe.“ „Sir Andrew“, sagte O'Brien scharf. „So lasse ich über meine Crew nicht reden, und so lasse ich sie auch nicht behandeln. Es steht Ihnen frei, einen entsprechenden Bericht abzufassen, den Sie später bei Hof oder beim Marineamt vorlegen.“ „Das werde ich auch tun, verlassen Sie sich darauf!“ „Aber eins stelle ich jetzt ein für allemal klar“, fuhr der Kapitän der „Vanguard“ unbeirrt fort. „Sie sind der Geschwaderchef und bestimmen den Kurs unseres Verbandes. Was aber vor dem Mast der ,Vanguard` geschieht, ist einzig meine Sache. Ich lasse meine Leute nicht von Ihnen mißhandeln, Sir.“ „Das ist - ungeheuerlich!“ stieß der Earl spitz hervor.
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„Eine bodenlose Frechheit“, pflichtete Christopher Norton ihm sofort bei. „Lassen Sie diesen dreisten Burschen doch selber auspeitschen, Sir.“ Auf der Kuhl und auf der Back hatten sich die Blicke aller Seeleute auf Kapitän O'Brien gerichtet. Die Männer rechneten es ihm hoch an, daß er sich derart furchtlos für sie einsetzte - und etwas von der gärenden und schwelenden Wut, die sich immer mehr ausbreitete, bekam nun auch Sir Andrew mit. Blitzschnell stellte er seine Berechnungen an. Wenn eine Meuterei ausbrach, hatte er mit seiner Clique keine Chance. Die Crew war dreißig Mann stark. Er wollte nicht noch einmal ausgebootet werden wie in der Ostsee - eine solche Demütigung würde er, das wußte er mit Sicherheit, nicht ertragen. Schließlich war er im Grunde seines Herzens ein sensibles Gemüt, wie er sich in diesem Moment innerlich bescheinigte. Deshalb steckte er zurück und sagte: „Sie werden das noch bereuen, Mister O'Brien. Ich fange sofort mit der Niederschrift meines ausführlichen Berichtes an.“ „Tun Sie das“, sagte Oliver O'Brien. Fast hätte er gegrinst. Sir Andrew zog sich schmollend in seine Achterdecksgemächer zurück. O'Brien und die Crew hatten Wichtigeres zu tun. Dunkle Wolken ballten sich im Westen zusammen und schoben sich heran. Eine Gewitterfront bildete sich. Der Wind legte zu und wurde böig. Es würde nicht mehr lange dauern, bis tatsächlich ein heftiger Sturm über den Verband hereinbrach. * Der Sturm brauste am 2. Mai mit Orkanstärke von Westen heran und peitschte die See zu haushohen Brechern hoch. Für die „Vanguard“, die „Serapis“ und die „Antiope“ begann die Hölle. Fauchend griff der Wind nach den Luvwanten und Pardunen, in grimmiger Wut schüttelte das Wetter die Masten und das Rigg, und dröhnend rollten die schwarzen Wassermassen gegen die Bordwände der Schiffe an. Der Verband
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war den Urgewalten der Natur ausgeliefert, bald tanzten und taumelten die Galeonen in den aufgewühlten, gischtenden und schäumenden Fluten. Blitze zerteilten die dunkle Himmelswand, Donnergrollen begleitete das Heulen und Jaulen des Windes und das Rauschen der See. Sturzbäche ergossen sich auf die drei Schiffe, das Wasser konnte kaum noch durch die Speigatten ablaufen. Verzweifelt klammerten sich die Männer an den längst gespannten Haltetauen fest, glitten aber doch immer wieder auf den Decks aus, die sich in reißende Kaskaden verwandelten. Oliver O'Brien kämpfte sich auf das Achterdecksschott der „Vanguard“ zu, öffnete es unter erheblichen Mühen und wurde von dem Druck der in diesem Augenblick über das Hauptdeck schießenden Wassermassen in den Mittelgang der Poop befördert. Er stürzte, stieß sich den Kopf und die Schulter, schluckte Wasser, spie es wieder aus und rappelte sich fluchend auf. Dann rammte er das Schott zu und verschalkte es wieder, so gut es ging. Er bewegte sich wankend durch den Mittelgang nach achtern und erreichte die Kapitänskammer, die er für Sir Andrew hatte räumen müssen. Er selbst bewohnte eine andere Kammer des Achterdecks. O'Brien öffnete die Tür und sah, daß der Earl und sein Stab vollzählig versammelt waren: Der Erste, Zweite und Dritte Offizier hockten auf dem Rand der Koje. Keefer, Harrison, Snyders und Norton hatten sich um Sir Andrew gruppiert. Längst hatte die Clique das Achterdeck geräumt, wo es schon zu gefährlich für sie geworden war, als sich der Sturm zusammengebraut hatte. Von seiner Kammer aus hatte der Earl jedoch einen jener unsinnigen Befehle erlassen, die das Schicksal des Verbandes unheildrohend beeinflußten. -O'Brien konnte nicht mehr zögern, er mußte etwas dagegen unternehmen, daß die Schiffe geradewegs in ihr Verderben segelten. „Sir!“ stieß er hervor. „Ich bitte Sie lassen Sie uns nach Norden ablaufen! Wir können den Ostkurs nicht länger halten!“
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Sir Andrew Clifford musterte den nassen Mann, der im Dunkel mehr wie ein Schemen anmutete, mit offenkundigem Mißfallen. Wie konnte sich dieser Mensch erdreisten, in einem solchen Zustand seine Kammer zu betreten? „Mister O'Brien“, sagte er scharf. „Aus welchem Grund glauben Sie den Ostkurs nicht halten zu können?“ „Das habe ich Ihnen vorhin schon erklärt!“ „Schreien Sie nicht so, ich bin ja nicht schwerhörig!“ Der Earl wollte sich rächen, O'Brien sollte spüren, wie falsch er sich verhalten hatte, als er sich vor seine Leute gestellt und sie öffentlich verteidigt hatte. „Vom seemännischen Standpunkt aus ist Ihre Darstellung der Situation und der sich daraus ergebenden Konsequenzen völlig falsch, wissen Sie das?“ „Wir befinden uns auf dem richtigen Kurs“, stellte Norton höhnisch fest. „Wer davon auch nur um einen Deut abweicht, der ist ein ausgesprochener Narr!“ „Und ein Anfänger dazu“, fügte Snyders lachend hinzu. „Herrgott, Verlassen Sie sich doch auf die Entscheidungen der Geschwaderleitung, Kapitän. Sie machen sich ja nur selbst verrückt.“ O'Brien kochte vor Wut. Er hatte auf Frobisher geschworen, doch jetzt mußte er sich von diesem Adelsschnösel und dessen bornierter Gesellschaft auf der Nase herumtanzen lassen. Sir Andrew war sein Vorgesetzter - doch er, O'Brien, konnte nicht zulassen, daß der Verband geradewegs in die Hölle raste. Ein Brecher rollte brüllend gegen die „Vanguard“ an, hob sie hoch und ließ sie wieder fallen. Das Schiff stampfte und schlingerte wie verrückt, O'Brien mußte sich an der Türfüllung festhalten, um nicht zu Boden gerissen zu werden. Der Zweite Offizier rutschte vom Kojenrand und wälzte sich auf den Planken, Keefer und Harrison purzelten ebenfalls quer durch den Raum. Sie schrien und fluchten. Sir Andrew, Snyders und Norton lachten dazu, als sei die ganze Sache in höchstem Maße amüsant. Narrenbande, dachte O'Brien zornig, nichtsnutziges Pack! Die Kerle hielten sich
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für wichtig und unersetzlich, führten das große Wort und waren in Wirklichkeit doch nur erbärmliche Landratten, denen die Seebeine niemals wachsen würden. „Ich habe es Ihnen erklärt, Sir!“ rief O'Brien noch einmal. „Wir befinden uns in der Nähe der gefährlichen Rockall-Bank! Unsere einzige Chance besteht darin, nach Norden abzulaufen, dann die Segel zu bergen und vor Topp und Takel zu lenzen, sonst kann uns nichts mehr vor diesem Weststurm retten!“ „Ich weiß selbst, was ich zu tun habe!“ schrie Sir Andrew zurück. „Wir suchen in Lee der Rockall-Insel mit unserem Verband Schutz! Eine andere Möglichkeit haben wir nicht!“ „Sie vergessen die Klippen! Wir riskieren, mit voller Wucht aufzulaufen!“ „Unsinn! Hören Sie endlich auf, gegen meine Befehle zu rebellieren!“ Sir Andrew wollte sich von seinem Platz hinter dem Kapitänspult erheben, wurde aber durch die Schiffsbewegungen auf den Stuhl zurückgeworfen. „Die Rockall-Insel ist auch nicht hoch genug!“ stieß O'Brien fast verzweifelt hervor. „Ich kenne sie! Sie ist nur ein flacher Felsen, sonst nichts! Sie bietet uns keinen Schutz, das dürfen Sie mir ruhig glauben!“ „Ihnen glaube ich gar nichts mehr!“ brüllte der Earl, der sich jetzt nicht mehr beherrschen konnte und wollte. „Wir bleiben auf östlichem Kurs - und damit basta!“ „Dann lassen Sie uns wenigstens die Sturmsegel setzen!“ schrie O'Brien. „Nein! Nichts da! Wir steuern die RockallBank unter vollen Segeln an, damit wir sie so schnell wie möglich erreichen! Ist Ihnen nicht bewußt, wie gefährlich dieser Sturm für uns wird, wenn er sich zu seiner vollen Kraft entfaltet?“ Sir Andrews Stimme hatte sich zu schrillen Tönen gesteigert. Wären die Lichtverhältnisse günstiger gewesen, hätte O'Brien jetzt auch sehen können, wie seine Augen sich weiteten und aus ihren Höhlen hervorzutreten drohten. O'Brien war zutiefst erschüttert. Der Earl gebärdete sich wie ein Verrückter, die
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ganze Lage war mehr als grotesk und absurd. Doch was sollte er tun? Er konnte die Order dieses Mannes nicht mißachten, er durfte nicht zulassen, daß man ihn der Meuterei bezichtigte. Er hatte keine andere Wahl und mußte sich beugen. „Auf was warten Sie, Mister O'Brien?“ schrie der Earl. „Wollen Sie nicht endlich an Deck zurückkehren, um Ihren Dienst zu versehen, wie es sich gehört?“ „Ja, Sir“, sagte O'Brien zähneknirschend. Er verließ die Kammer und warf die Tür hinter sich zu. Als er sich in das tobende Inferno zurückbegab, das an Oberdeck herrschte, wußte er, daß sie alle ihr Todesurteil unterschrieben hatten, als sie zu diesem Wahnsinnsunternehmen aufgebrochen waren. Brüllend ergossen sich die Wassermassen über das Schiff, er mußte sich an einem Manntau festklammern, sonst wäre er außenbords gerissen worden. Mit einem ellenlangen Fluch entließ er seine ganze Wut und Verzweiflung in das Sturmheulen, das an Lautstärke immer mehr zunahm. Das ist das Ende, dachte er. 2. Am Nachmittag dieses verhängnisvollen 2. Mai jagte der Verband unter vollem Preß auf die Rockall-Bank zu. Der Sturm hatte zu diesem Zeitpunkt seine volle Kraft entwickelt, und so trat ein, was Oliver O'Brien prophezeit hatte. Zuerst brachen den Schiffen im Wüten von Wind und Wasser die Masten weg, dann packte das gnadenlose Schicksal die „Serapis“ und die ,.Antiope“ und stieß sie hinunter in die Tiefe. O'Brien wurde Zeuge des Dramas und mußte in ohnmächtiger Wut und voll Entsetzen verfolgen, wie sich beide Schiffe seinen Blicken entzogen. Ein einziger, vielstimmiger Schrei schien durch das Tosen und Heulen zu gellen, dann war von den Galeonen nichts mehr zu sehen, und die „Vanguard“ raste allein weiter durch diesen tobenden Hexenkessel. Für die Besatzungen der „Serapis“ und der „Antiope“ gab es keine Rettung mehr.
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O'Brien und seine Crew wußten es, und doch war etwas in ihnen, das sich der furchtbaren Wahrheit verschloß. Der schnelle Ablauf der Ereignisse ließ ohnehin nicht zu, sich mit dem Drama zu befassen. das sich eben vor ihrer aller Augen abgespielt hatte - die Macht der Natur besiegelte nun auch das Los der „Vanguard“. Plötzlich wurde sie von vorn bis achtern durchgeschüttelt, und ein gewaltiges Krachen durchlief den Rumpf. „Sir!“ brüllte ein Mann. „Das ist der Untergang!“ Und dann verschwand er von der Kuhl, denn der Brecher, der über die Galeone fegte, riß ihn mit sich über Bord. „Wir krachen vierkant auf die Klippen!“ schrie Jason. „Herr im Himmel, steh uns bei!“ rief Brix. Wieder ging ein Donnern durch das Schiff, wieder verschwand ein Mann von Deck und wurde nicht mehr gesehen. Die „Vanguard“ hing bereits in den Klippen von Rockall, sie saß fest, und der Sturm hieb auf sie ein, es gab kein Erbarmen und keine Erlösung. Die Männer schrien durcheinander, die Beiboote wurden zerschlagen, alles schien in einem einzigen explosionsartigen Bersten unterzugehen. An Bord herrschte das Chaos. Es gab nur noch einen einzigen Mann, der sich einigermaßen in der Gewalt hatte - Oliver O'Brien. Auch Sir Andrew Clifford und seine Clique lernten die Angst von ihrer schlimmsten Seite kennen. Sie saßen in der Kapitänskammer fest und waren Gefangene des Achterkastells. Es gab keinen Ausweg aus dem Inferno, keine Fluchtmöglichkeit. Die Bleiglasfenster in der Heckwand zersplitterten, die Scherben flogen quer durch die Kammer. Sir Andrew schrie auf. Die Offiziere gingen in Deckung, Keefer und Harrison rollten über die Planken und hielten sich zeternd aneinander fest. Snyders versuchte, die Tür zu öffnen, doch die war wie zugenagelt. Norton wollte auf die Heckgalerie kriechen, aber eine Flutwelle schoß rauschend durch die zerstörten Fenster herein und beförderte ihn bis zur
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gegenüberliegenden Querwand. Er prallte mit dem Rücken dagegen, stieß sich den Kopf und sank bewußtlos zu Boden. Der Earl of Cumberland lag zu diesem Zeitpunkt bereits unter dem Pult, schützte seinen Kopf mit beiden Händen und tat etwas, was er sonst nie zu tun pflegte: er betete. Er flehte Gott und den Himmel an, ihm beizustehen. Was er stammelte, war unverständliches Zeug. Er wußte nicht, daß die beiden anderen Galeonen bereits auf Nimmerwiedersehen verschwunden waren, doch er spürte, daß das unabwendbare Ende nah war. Ich will nicht sterben, dachte er immer wieder verzweifelt, o Gott, ich will nicht sterben. Alle Männer, die sich jetzt noch an Bord befanden, wollten leben. O'Brien kroch auf allen vieren über die Kuhl und hielt nach seinen Männern Ausschau. Die ersten, die er wiederfand, waren Jason und Brix. „Durchhalten!“ brüllte er ihnen zu. „Noch ist nicht alles verloren!“ Wenn sie nicht sterben wollten, mußten sie kämpfen. Vielleicht gab es noch eine winzige Chance für sie, doch es bedurfte nur einer weiteren Laune der Natur, und auch sie war vertan. Das Leben der Männer hing an einem seidenen Faden, der jeden Augenblick reißen konnte. * In fieberhafter Eile gab Oliver O'Brien seine Anweisungen. Er hatte sich bis zu seinem Schiffszimmermann vorgearbeitet, und es war ihm gelungen, mehr als ein Dutzend Männer um sich zu scharen. Spieren, Balken und Grätings wurden jetzt in größter Hast zusammengesucht und zu Flößen zusammengenagelt. Die Männer waren mit verbissenen Mienen am Werk, jeder Augenblick war kostbar, das wußten sie. Die immer wieder heranrasenden Brecher behinderten sie, sie mußten sich an den Manntauen, am Schanzkleid und an den noch heilen Nagelbänken festklammern, um nicht über Bord gerissen und auf die tödlichen Klippen geschleudert zu werden. Dann, wenn das Wasser wieder durch die
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Speigatten ablief, stürzten sie wieder an die Arbeit. Panik zeichnete ihre Gesichter. Jede Woge, die die „Vanguard“ traf, beschleunigte den Zerfall des Schiffes. O'Brien ging mit gutem Beispiel voran. Er legte selbst Hand mit an und wirkte durch sein umsichtiges Handeln auf das Gemüt seiner Männer ein. Sie bezwangen ihre immer wieder aufkeimende Panik, bissen die Zähne zusammen und trieben mit schweren Hämmern die Nägel in das Holz. Schon war das erste Floß fast völlig fertig gestellt. Brix trieb ein paar losgerissene Planken auf und reichte sie an den Zimmermann weiter, der daraus sofort eine Plattform zimmerte, auf der ein halbes Dutzend Seeleute Platz hatten. Die Flöße waren die einzigen Rettungsmittel, die es gab, die letzte Möglichkeit also, sich auf die etwa sechzig Yards entfernte Insel zu retten, bevor die „Vanguard“ endgültig von der See zertrümmert wurde und auseinanderbrach. Die Männer trafen Anstalten, das erste Floß außenbords zu hieven. Der Zeitpunkt schien günstig zu sein, sie nutzten die Pause zwischen zwei anrollenden Brechern aus. Doch in diesem Augenblick erschien Sir Andrew Clifford auf der Kuhl. Snyders war es endlich gelungen, die Tür der Kapitänskammer aufzureißen, und sofort hatte der Earl die Gelegenheit wahrgenommen. Ausgesprochen flink war er unter dem Pult hervorgekrochen, hatte Snyders zur Seite gedrängt und war durch den Mittelgang der Hütte zum Schott gerannt. Raus! dachte er, an die Luft! Das Gefühl der Platzangst hatte ihn gepackt, er wollte keinen Moment länger in der Enge des Achterkastells verweilen. So stolperte er auf die Kuhl und erfaßte mit einem Blick, was Kapitän O'Brien und die Crew zu tun im Begriff waren. „Halt!“ schrie Sir Andrew. „Was treiben Sie da?“ O'Brien fuhr zu ihm herum. „Sehen Sie das nicht? Wir bereiten uns auf das Übersetzen zur Insel vor!“ Ihre Stimmen gingen in dem Sturmtosen fast unter. Aber der Fluch, den der Earl of
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Cumberland ausstieß, als er auf den nassen Planken ausglitt und der Länge nach hinschlug, war nicht zu überhören. Er rappelte sich mit Mühe wieder auf, hielt sich an der noch halb intakten Nagelbank des Großmastes fest und brüllte: „Ich verlange, sofort mit meinem Stab auf die Insel übergesetzt zu werden!“ „Womit denn?“ schrie O'Brien. Der Earl wies mit bebendem Finger auf das Floß. „Damit natürlich, was haben Sie denn gedacht?“ Doch eine gigantische Woge schob sich auf das Schiff zu, rauschte über die Klippen und türmte sich an der Steuerbordseite der „Vanguard“ auf. Sie wurde hochgehoben und wieder auf die Bank gesetzt, ein ohrenbetäubendes Krachen ertönte. Die Männer schrien auf. Das Floß, das schon halb über dem Schanzkleid der Kuhl hing, wurde ihren Händen entrissen und zwischen die schroffen Felsen entführt, die überall aus der Dunkelheit aufragten. Es zerschellte, ihre ganze Arbeit war umsonst gewesen. Sie hatten nichts tun können, um es noch zu verhindern. „Das ist das Ende!” schrie ein Mann, der kaum noch die Kraft hatte, sich aufrecht zu halten. „Weitermachen!“ brüllte O'Brien jedoch. „Zur Hölle, was seid ihr denn für Kerle? Laßt ihr euch von diesem lausigen Sturm unterkriegen? Brix, Jason - ist dies das erste Wetter, das ihr auf die Jacke kriegt?“ . „Nein, Sir!' riefen die beiden gleichzeitig, und schon packten sie wieder zu, um neue Spieren, Planken und Balken heranzumannen und dem Zimmermann bei der Wiederaufnahme seines Werks behilflich zu sein. Mit wütendem Eifer arbeiteten sie an dem nächsten Floß. Die „Vanguard“ hatte auch diesem Brecher standgehalten, die Vollstreckung des Todesurteils erfuhr einen Aufschub. O'Brien trieb seine Männer zu immer schnellerem Arbeiten an und hantierte wieder selbst mit. Er tat für seine Männer, was er konnte, und wollte sie vor einem entsetzlichen Ende bewahren.
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Dem Earl hatte er keine Beachtung mehr geschenkt. Dieser erhob sich von den Planken der Kuhl, wo er erneut ausgerutscht war. Inzwischen hatten auch die drei Offiziere, Norton, Snyders, Harrison und Keefer das Achterkastell verlassen, und auch der bullenstarke Profos war zur Stelle. Er hatte im Vordeck gelegen und war unter einem herabstürzenden Deckenbalken begraben worden, doch das Leben hatte es ihn nicht gekostet. Er humpelte ein bißchen, doch schwere Verletzungen hatte er nicht erlitten. Sir Andrew registrierte dies mit Genugtuung. Sein Stab war also immer noch komplett die Crew indes war durch das Auflaufen auf die Rockall-Bank erheblich reduziert worden. Das Kräfteverhältnis zwischen Achterdeck und Hauptdeck an Bord der „Vanguard“ schien sich allmählich auszugleichen. „Wo sind die Boote?“ schrie Sir Andrew O'Brien zu. O'Brien hätte am liebsten höhnisch aufgelacht, aber er verkniff es sich. „Dort!“ rief er und deutete auf die Trümmerhaufen an Deck. Drei Beiboote hatte die „Vanguard“ gehabt, doch nicht ein einziges ließ sich soweit instand setzen, daß es noch halbwegs seetüchtig war. „Wollen Sie immer noch auf die Insel übergesetzt werden, Sir?“ „Ich verbitte mir diesen Ton!“ schrie Sir Andrew mit greller Stimme. „Was nehmen Sie sich eigentlich heraus? Ich verlange von Ihnen, daß Sie sofort ein entsprechend langes Tau zur Insel verfahren und es dort an der höchsten Stelle belegen! Ich will mit meinen Leuten hinüberhangeln, und ich denke nicht daran, auch nur noch einen Augenblick länger zu warten! Ich will dieses Wrack verlassen!“ „Zum Teufel“, sagte Jason wütend. „Irgendwer sollte ihm erklären, daß es seine Schuld ist! Wir sitzen hier fest, weil er diesen idiotischen Befehl gegeben hat! Und die armen Kerle von der ‚Serapis' und von der ‚Antiope' sind jämmerlich ersoffen, weil er unbedingt zur RockallBank wollte.“
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„Ruhe“, sagte O'Brien. „Ich will kein Wort mehr hören. Vergeßt nicht, daß er weiterhin der Befehlshaber ist.“ „Mister O'Brien!“ brüllte der Earl. „Ich erwarte, daß Sie meinen Befehl unverzüglich ausführen! Auf was warten Sie noch?“ „Wie stellen Sie sich das ,Verfahren des Taues praktisch vor, Sir?“ schrie O'Brien. „Das fragen Sie mich? Sie sind ja ein feiner Seemann!“ Sir Andrew lachte verächtlich auf. „Einer Ihrer Männer hat sich mit dem Tau gefälligst ins Wasser zu begeben und damit zur Insel hinüberzuschwimmen!“ „Was sagt er da?“ stieß der Schiffszimmermann entsetzt und aufgebracht zugleich hervor. „Das ist doch völliger Käse. Ein Mann allein wäre gar nicht in der Lage, das Tau über eine Länge von sechzig Yards durchzusetzen.“ Oliver O'Brien ließ von der Arbeit am Floß ab und trat drei Schritte auf den Earl zu. Er hielt sich mit beiden Händen am Stumpf des Großmastes fest und rief: „Ein Mann kann das nicht schaffen! Es wäre sein sicherer Tod!“ „Dann müssen eben zehn bis zwanzig Leute hinüberschwimmen!“ schrie der Earl of Cumberland. „Ist denn das so schwierig, Mann?“ „Ja, Sir, das ist schwierig, und Sie wissen auch genau, warum!“ „Schnickschnack! Dummes Zeug!“ schrie der Earl. „Die Kerle haben gefälligst für mich und meinen Stab ihr Leben einzusetzen!“ „In der kochenden See? Und bei dieser Finsternis?“ „Ja, Mister O'Brien!“ brüllte Sir Andrew. „Wenn einer dieser Leute dabei ertrinkt, dann hat er eben Pech gehabt! Kann ich das vielleicht ändern? Das Leben der Schiffsführung ist doch wohl wichtiger als das der Mannschaft!“ Oliver O'Briens Miene veränderte sich, sie wirkte jetzt wie aus Stein gemeißelt. Starr waren seine grauen Augen auf den Earl gerichtet, es wirkte so, als wolle er ihn mit seinem Blick allein erdolchen.
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„Tut mir leid“, sagte er kalt. „Aber das kann ich nicht verantworten -nicht vor meinen Männern und auch nicht vor mir selbst.“ „Was? Sie verweigern mir Ihren Gehorsam?“ „Angesichts dieser Menschenverachtung ja!“ schrie O'Brien. „Suchen Sie doch ein paar Leute aus Ihrem Stab für dieses Todeskommando aus!“ „Sie wissen nicht, was Sie sagen, O'Brien!“ schrie der Earl mit überkippender Stimme. „Ich opfere von meiner Crew keinen einzigen Mann für einen solchen Schwachsinn!“ rief O'Brien. Am übrigen habe ich Sie vor dem Ansteuern der Rockall-Bank gewarnt. Oder haben Sie das bereits vergessen?“ „Sie sind ein Meuterer, Kapitän O'Brien!“ „Und Sie sind ein Versager, Sir Andrew! Es ist Ihre Schuld, daß wir hier festsitzen!“ „Sie haben die Schiffe auf die Klippen gesteuert, nicht ich!“ brüllte Sir Andrew im Heulen und Tosen des Sturmes. Wieder wurde die „Vanguard“ durch Hiebe erschüttert, wieder mußte er sich an der Nagelbank festklammern, um nicht umgerissen zu werden. „Ich habe meine Bedenken rechtzeitig genug angemeldet!“ rief Oliver O'Brien. „Aber Sie haben ja alles besser gewußt!“ „Ich lasse Sie in London vor ein Gericht stellen!“ „Das Kriegsgericht wartet auf Sie, verehrter Sir!“ schrie O'Brien zurück. „Profos!“ stieß der Earl in ohnmächtigem Zorn und Haß hervor. „Walten Sie Ihres Amtes. Legen Sie den Kapitän wegen Befehlsverweigerung und Anstiftung zur Meuterei in Ketten!“ Der Profos drehte sich zu O'Brien um und stapfte mit schweren Schritten auf ihn zu. O'Brien rührte sich nicht vom Stumpf des Großmastes fort, aber seine Männer ließen von der Arbeit am Floß ab und bewegten sich halb geduckt und in drohender Haltung auf den Profos zu. Der Profos griff zur Peitsche. Er war fest entschlossen, den eben erhaltenen Befehl rigoros auszuführen, zumal er mit O'Brien
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auch noch ein Hühnchen zu rupfen hatte wegen der Sache mit Jason und Brix. Nur zwei Schritte trennten den Profos noch von Oliver O'Brien, der nach wie vor völlig unbeweglich dastand und nicht im geringsten beeindruckt zu sein schien, da bäumten sich die Wogen der See zu einem neuen Ausfall, zu einer Attacke auf das Schiff auf. Gischtend und schäumend bahnten sich die Fluten ihren Weg durch die schroffe Felsenbarriere und donnerten gegen die Bordwand der Galeone. Ein Stoß erschütterte sie, gleichzeitig flutete eine riesige Welle über die Decks. Der Profos versuchte, sich an der Nagelbank festzuklammern, doch da stand bereits der Earl und dachte nicht daran, seinen Platz zu räumen. Sie prallten zusammen, und es war nicht ganz unbeabsichtigt, daß Sir Andrew dem Gorilla mit voller Wucht auf den Fuß trat. Der Profos brüllte auf, der Brecher riß ihn mit sich fort, eine Wasserwand richtete sich auf, alles ging für Augenblicke in dem Rauschen und Gurgeln, dem Dröhnen und Tosen unter. Der Profos verlor seine neunschwänzige Katze aus der Hand, sie verschwand auf Nimmerwiedersehen. Er unternahm noch einen verzweifelten Versuch, sich irgendwo festzuklammern, doch er fand keinen Halt. Er wurde über Bord gefegt und zwischen die mörderischen Klippen geschmettert. * Völlig durchnäßt richteten sich die Männer wieder vom Hauptdeck der „Vanguard“ auf. Sir Andrew Clifford richtete seinen Blick sofort wieder auf O'Brien, der ihn seinerseits ebenfalls fixierte. Zwei Todfeinde standen sich gegenüber, aber keiner bewegte sich. Der Stab des Earls of Cumberland war ebenfalls tüchtig überduscht worden, die ganze Clique bot ein Bild des Jammers. Natürlich waren die Kerle viel zu feige, den Befehl ihres Herrn anstelle des Profos' auszuführen. Auch Sir Andrew wußte dies,
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und so unterließ er es, ihnen eine entsprechende Anweisung zu geben. O'Brien wandte sich mit verächtlicher Miene ab und kümmerte sich weiter um den Bau der Flöße. Der Zimmermann, Jason, Brix und die anderen Männer der Crew waren bereits wieder an der Arbeit, die erneut mit größter Eile vorangetrieben wurde. Der Profos war unterdessen tief in die kochenden Fluten getaucht. Er war gegen einen Felsen geprallt, aber wieder hatte er Glück gehabt: Er hatte sich den Schädel nicht eingerammt, sondern ihn mit seinen Pranken geschützt, die er geistesgegenwärtig hochgerissen hatte, als er außenbords geflogen war. Er schluckte Wasser, er mußte husten und drohte zu ertrinken, aber wie durch ein Wunder schoß er doch rechtzeitig genug aus den Fluten hoch und spuckte einen Schwall Wasser aus. Er röchelte, spuckte wieder, fluchte und keuchte, dann begann er zu schwimmen und hielt auf die Rockall-Insel zu. Um ihn herum tobte die See, der Tag war zur Nacht geworden, kein Ende des Infernos war abzusehen. Die See hieb auf ihn ein und drohte ihn unterzutauchen, aber er kämpfte gegen sie an und schlug um sich, als gelte es, einen unsichtbaren Gegner abzuschütteln. So erreichte er in der donnernden Brandung, die ihn wie eine Marionette hochhob und auf die Felsen zutrug, die Insel. Er streckte die Arme und Beine vor, fing den harten Aufprall auf diese Weise ab und landete, ohne. nennenswerte Blessuren davonzutragen. Nur sein Kopf und seine Beine schmerzten etwas, doch das war zu ertragen. Heilfroh, sich gerettet zu haben, kroch er den Inselfelsen hoch, blieb eine Weile liegen, richtete sich dann wieder auf und winkte triumphierend zur „Vanguard“ hinüber. „He!“ brüllte „Ich hab's geschafft! Ich bin nicht verreckt! Ich lebe, ich lebe!“ Sir Andrew zeigte sich darüber keineswegs erfreut, im Gegenteil, er war wütend und begann zu toben. „Verfluchter Kerl!“ schrie er. „Hättest du doch wenigstens ein Tau mitgenommen!“
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„Das finde ich auch!“ rief Norton. „Er ist ein Schweinehund, ein elender Bastard! Er denkt nur an sich und läßt uns im Stich!“ „Ich will nicht sterben!“ schrie Burt Harrison, der Kammerdiener. „Ich habe das nicht verdient! Ich haue ab!“ Mit diesen Worten, die halb im Wahn ausgestoßen waren, sprang er außenbords und traf Anstalten, dem Profos auf die Insel zu folgen. Doch er hatte Pech: Kaum im Wasser gelandet, geriet er zwischen der Bordwand der „Vanguard“ und einem der schroffen Steine in eine mörderische Falle. Er blieb mit dem rechten Bein stecken und schaffte es nicht, es rechtzeitig wieder herauszuziehen. Sein Kopf befand sich nur einen halben Yard unterhalb der Wasseroberfläche, doch er war eingeklemmt und konnte sich trotz seiner verzweifelten Anstrengungen nicht mehr befreien. So ertrank er. 3. Wieder wurde die „Vanguard“ kräftig durchgeschüttelt. und ein bedrohliches Knacken und Knirschen lief durch den gesamten Rumpf. Jeden Augenblick schien das Schiff auseinanderzubrechen, aber die Flö13e waren immer noch nicht fertig. O'Brien hatte sich selbst mit einem großen Zimmermannshammer bewaffnet und trieb Nagel um Nagel in die Gräting, mit der er gerade beschäftigt war. Die Gräting hatte auf einer der Luken zu den Frachträumen gelegen, und es war überhaupt ein Wunder, daß sie in dem Sturm nicht über Bord gegangen war. Bei einer der ruckenden Bewegungen des Schiffes wurde auch der Leichnam von Burt Harrison wieder frei. Er stieg, von der Auftriebskraft des Wassers mitgenommen, zur Oberfläche auf, wurde von den Wogen hochgehoben und wieder fallen gelassen. Deutlich genug war seine leblose Gestalt trotz der herrschenden Dunkelheit zu erkennen. Ausgerechnet Sir Andrew Clifford war es, der sich in diesem Augenblick über das Schanzkleid beugte und den toten Mann erblickte.
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Sir Andrew stieß einen gurgelnden Laut des Entsetzens aus. Der Tod schien auch ihm selbst immer näher zu sein, grinsend stieg er mit seiner Sense an Bord. Sir Andrews schluckte heftig. Dann aber zuckte er wie unter einem Peitschenhieb zusammen, denn sein Erster Offizier hatte ihm die Hand auf die Schulter gelegt und rief ihm ins Ohr: „Sir, ist Ihnen nicht wohl?“. Der Earl schüttelte die Hand ab, fuhr mit einem wilden Ausdruck im Gesicht herum und brüllte: „Doch, mir geht es prächtig! Ich warte nur darauf, daß eins der Flöße fertig wird!“ O'Brien und die Crew konnten diese Worte nicht vernehmen, sie waren in diesem Moment zu weit entfernt von der Achterdecksclique, die sich bis an die Querwand des Achterkastells zurückgezogen hatte. Sie schufteten wie die Besessenen, doch die hohen Herren dachten nicht daran, selbst mit Hand anzulegen. Dazu waren sie sich selbst zu fein. Außerdem war es ja nach ihrer einmütigen Überzeugung die Aufgabe des ..Schiffsvolkes“, für die Rettung der Kommandoführer zu sorgen. Sir Andrew, die drei Offiziere, Snyders, Norton und Keefer beschränkten sich darauf, sich über den Profos aufzuregen, dem die Rettung zur Insel gelungen war. Immer noch wetterten sie darüber, daß der Mann nicht daran gedacht hatte, ein Tau mitzunehmen. Daß es praktisch gar nicht möglich gewesen wäre, ließen sie außer acht. Auf irgendjemanden mußten sie ihren Zorn abladen, wenn schon nicht mehr auf O'Brien, dann wenigstens auf den Zuchtmeister. Der nächste Brecher ergoß sich über das Schiff, wieder wurden die Gestalten der Männer in Sturzbäche von Wasser gehüllt. O'Brien bangte um seine Männer und schrie ihnen immer wieder zu, sie sollten sich festhalten. Von den Achterdecksgästen dachte jeder nur an sich. Sir Andrew flehte zum Himmel, daß die anderen, nicht er, sterben könnten und eine wundersame Kraft ihn von diesem
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Schiff des Satans auf die Felseninsel entführen möge. Das Wunder trat jedoch nicht ein, sie alle schienen dazu verdammt zu sein, an Bord der „Vanguard“ zu verweilen und das bittere Ende zu erleben. Das Wasser lief wieder ab, und aus dem Rumpf ertönte ein langgezogenes Stöhnen und Ächzen, als läge ein Gigant in seinen letzten Zügen. „Sir!“ stieß der Zweite Offizier mit verzerrtem Gesicht aus. „Wir sollten uns vielleicht wieder in die Kapitänskammer zurückziehen!“ „Niemals!“ schrie Sir Andrew. „Dort kann jeden Augenblick alles zusammenkrachen - und was passiert dann? Dann werden wir unter den Trümmern begraben und zerquetscht!“ „Aber wir müssen etwas unternehmen!“ rief Snyders, dem die Furcht jetzt ebenfalls aus den Zügen abzulesen war. „Entern wir das Achterdeck! Versuchen wir, von dort aus ins Wasser zu springen und zur Insel zu schwimmen!“ „Damit wir wie Harrison enden?“ brüllte der Earl ihn an. „Auf gar keinen Fall lasse ich mich auf einen solchen Irrsinn ein!“ Bis auf die Knochen durchnäßt waren sie, ihre Kleidung war teilweise zerfetzt, ihre Schuhe durchweicht. Die Haare klebten ihnen an den Köpfen, ihre Hüte hatten sie verloren. So boten sie eher einen jämmerlichen, denn einen durchlauchten und hochwohlgeborenen Anblick, und es trat in ihrem Wesen kraß zum Vorschein, was auch sonst ihr Leben und Wirken bestimmte: der reine Selbsterhaltungstrieb, die Niedertracht und die Verschlagenheit. Jeder ist sich selbst der Nächste, dachte Sir Andrew - und genauso sahen es auch seine Begleiter und Berater. Ihre Angst hatte einen Punkt erreicht, an dem sie bereit waren, sich gegenseitig umzubringen, sollte es um die eigene Rettung gehen. „Sir“, sagte Christopher Norton plötzlich. „Wir sollten aufpassen. Es wird immer dunkler, gleich ist es Nacht. Wir sollten uns an O'Brien und das Gesindel heranpirschen und zuschlagen, sobald eins der Flöße fertig ist. Ist Ihre Pistole noch schußbereit, Sir?“
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„Sie ist tropfnaß“, entgegnete Sir Andrew wütend. „Ich könnte damit höchstens noch zuschlagen.“ „Ich versuche, ein paar Waffen aus den Achterdeckskammern zu holen, deren Ladungen noch trocken sind“, sagte Norton gerade so laut, daß es in dem Heulen und Orgeln der entfesselten Naturgewalten noch zu verstehen war. „Diese Pistolen könnte ich in ölgetränkte Lappen einwickeln¬, damit sie an Deck nicht ebenfalls naß werden. Was halten Sie von dieser Möglichkeit, Sir?“ „Das ist eine gute Idee, Norton. Nehmen Sie Keefer mit, er soll Ihnen gefälligst dabei helfen. Keefer!“ „Sir?“ sagte der Adjutant untertänigst. „Sie begleiten Mister Norton ins Achterkastell. Was Sie dort zu tun haben, wird er Ihnen schon erklären. Beeilen Sie sich, und kehren Sie zurück, bevor hier alles auseinander kracht und absäuft.“ „Aye, aye, Sir“, sagte Keefer, aber ihm war gar nicht wohl in seiner Haut. Sir Andrew mied die Hütte, weil er Angst hatte, daß sie ihm über dem Kopf zusammenstürzte. Das Risiko war tatsächlich groß. es knackte und knarrte wieder in allen Ecken und Winkeln des Schiffes. Keefer verfluchte Norton wegen der großartigen Idee, die er gehabt hatte, doch er hatte keine andere Wahl, er mußte dem Navigationsoffizier in das düstere Innere der Hütte folgen. Sie durchsuchten sämtliche Kammern und stießen auf insgesamt fünf Pistolen, die sich noch in einem brauchbaren Zustand befanden und nicht erst getrocknet zu werden brauchten. Norton brach jeden Schrank und jedes Schapp auf, ertastete im Dunkeln hier und da kleine Lederbeutel und ließ auch deren Inhalt in seinen Taschen verschwinden. Es handelte sich um Gold- und Silbermünzen; teils gehörten sie Oliver O'Brien, teils waren sie das Eigentum der anderen Offiziere, die im Sturm nicht mehr daran gedacht hatten, ihre Habseligkeiten an sich zu nehmen. Christopher Norton grinste. Er konnte zufrieden sein. Keefer hatte nichts bemerkt. Der war damit beschäftigt, eine Öllampe zu entleeren und Tücher zu
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tränken, die er in einer Nebenkammer des Kapitänsraumes entdeckt hatte. Norton arbeitete sich zu ihm vor, und nun wickelten sie die Pistolen sorgfältig ein. Norton hatte sich einen erklecklichen Nebenverdienst verschafft, den er zu Hause auf die hohe Kante legen würde. Er hatte sich fest vorgenommen, nach England zurückzukehren, und er war bereit, dafür selbst den Earl of Cumberland vom Schiff oder von der Felseninsel zu stoßen, falls es im weiteren Verlauf dieses haarsträubenden Abenteuers zu eng für sie alle werden sollte. Und die Kameraden vom Achterdeck? Nun, auch die konnten von ihm aus ersaufen, er würde ihnen keine Träne nachweinen. Keefer dachte ebenfalls nach und sagte sich im stillen, daß es ihm schon gelingen würde, Norton das Geld abzunehmen, daß dieser sich heimlich zugesteckt hatte. Oder glaubte der Kerl etwa allen Ernstes, daß er, Keefer, so dumm war, das nicht bemerkt zu haben? Sie kehrten mit den fünf Pistolen auf das stockdunkle Hauptdeck zurück. Man konnte kaum mehr die Hand vor Augen sehen. Nur die Blitze, die hin und wieder auf die See niederzuckten, ermöglichten es der Clique, den, jeweiligen Standort von O'Brien und dessen Leuten festzustellen. Sir Andrew nahm eine der in ölgetränkte Lappen gewickelte Pistolen entgegen und nickte Norton anerkennend zu. „Ausgezeichnet“, zischte er. „Verteilen Sie auch die anderen Waffen, Mister Norton. Es dürfte für uns jetzt ein Kinderspiel sein, diese Narren zu überrumpeln.“ * Mit lauernden Mienen beobachteten die Männer der „Achterdecksstabes“ den Fortgang der Arbeiten an den Flößen. Es regnete nicht mehr, nur die Blitze erhellten nach wie vor den Nachthimmel. Donnergrollen mischte sich unter das Orgeln des Windes und das Rauschen der Fluten. Es schien nur eine Frage der Zeit zu sein, wann der nächste Guß auf die „Vanguard“ niederprasselte.
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Sir Andrew Clifford war jedoch von der grimmigen Gewißheit erfüllt, daß er diesen Sturzregen nicht mehr an Bord des Schiffes, sondern bereits auf der RockallInsel über sich ergehen lassen würde. O'Briens Bemühungen hatten endlich den erwarteten Erfolg - zwei Flöße waren so gut wie fertig gestellt. „Aufpassen jetzt“, sagte der Earl zu seinen Vertrauten. „Verteilen Sie sich schon mal auf das Hauptdeck, meine Herren, und warten Sie dann auf mein Zeichen. Wer uns ernsthaft Widerstand leistet, wird wegen Meuterei erschossen.“ Norton, die drei Offiziere und er hatten die schußbereiten Pistolen, die anderen würden sich eben auf ihre Degen verlassen müssen, falls es tatsächlich zum Kampf kam. Geduckt schwärmte der „Stab“ aus und versuchte, die Männer an den Flößen einzukreisen. Brix war der erste, der es im Niederzucken eines Blitzes bemerkte. „Achtung, Sir“, sagte er zu seinem Kapitän. „Da braut sich was zusammen. Die Kerle pirschen sich an.“ Sofort begriff O'Brien, daß er die Clique schon zu lange Zeit unbeachtet gelassen hatte. Er drehte sich um und griff instinktiv nach seinem Degen, doch es war schon zu spät. „Mister O'Brien!“ schrie der Earl. Er stand keine drei Schritte von ihm entfernt, hielt sich mit der linken Hand an der Nagelbank des Großmastes fest und richtete mit der anderen Hand die Pistole auf ihn. „Ich sehe, Sie haben es geschafft! Sehr gut! Meine Waffe ist trocken und damit schußbereit - ich halte es für notwendig, Sie darauf hinzuweisen, ehe Sie irgendeine Dummheit begehen!“ Langsam richtete sich O'Brien von dem Gräting-Floß auf, dessen letzte Planke er soeben durch kräftige Hammerschläge befestigt hatte. „Das kann doch nicht Ihr Ernst sein“, sagte er. „Es ist mein voller Ernst!“ stieß der Earl scharf hervor. „Keine Bewegung jetzt, O'Brien, oder Sie kriegen als erster eine Kugel in den Kopf!“
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„Sir!“ brüllte Oliver O'Brien. „Ist Ihnen klar, daß Sie sich eines schweren Verbrechens schuldig machen?“ „Schweigen Sie! Mit einem Meuterer lasse ich mich nicht auf Diskussionen ein! Sie haben mir deutlich zu verstehen gegeben, wie Sie über mich denken! Ich nehme nicht die geringste Rücksicht auf Sie und Ihr dreckiges Gesindel!“ „Sir“, sagte der Zimmermann. „Die Kerle schwindeln uns was vor. Sie können keine trockenen Pistolen haben, sämtliche Waffen sind naß geworden.“ „Mister Norton!“ schrie Sir Andrew. „Zeigen Sie diesen Hundesöhnen, daß wir nicht spaßen!“ Norton feuerte. Der Schuß brach donnernd, ein gelbroter Schlitz stand für den Bruchteil eines Augenblicks in der Dunkelheit. Geistesgegenwärtig duckte Sich der Schiffszimmermann, und die Kugel pfiff über seinen Kopf weg. Ob Norton wirklich bewußt auf ihn gezielt oder aber nur zur Warnung über ihn hinweggeschossen hatte, ließ sich nicht feststellen. Jede Erörterung darüber war müßig. „Her mit den Flößen!“ schrie der Earl. „Zurück mit euch bis zum Vorkastell, ihr verfluchten Bastarde, oder wir knallen euch ab, wie ihr es verdient habt!“ „Zurück!“ rief nun auch O'Brien. „Das ist ein Befehl, Männer!“ Er hielt Sir Andrew für völlig übergeschnappt und wollte das Leben seiner Crew nicht leichtsinnig aufs Spiel setzen, obwohl es noch die Frage war, wer im Falle eines Kampfes wirklich gesiegt hätte. Immerhin fehlten dem Earl inzwischen der Profos und der Kammerdiener in seinem glorreichen Stab, er war mit seiner Gruppe also der Crew unterlegen. Doch O'Brien wollte kein Blutvergießen, solange er das vermeiden konnte. Er wich mit seinen Männern bis zur Querwand der Back zurück. In ohnmächtiger Wut mußten sie mit ansehen, wie sich die Achterdecks-Clique der Flöße bemächtigte und höhnisch lachend anschickte, sie zu Wasser zu bringen. Ausgerechnet jetzt schien auch eine
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Sturmpause einzutreten, die das Vorhaben der Kerle begünstigte. „Sir“, sagte Jason und ballte seine groben Hände zu Fäusten. „Bitte lassen Sie das nicht zu. Erlauben Sie, daß wir uns gegen diese Schweinerei wehren.“ „Nein, kommt nicht in Frage.“ „Sollen wir denn alle verrecken?“ fragte Brix verzweifelt. „Keineswegs“, erwiderte der Kapitän mit eiserner Beherrschung. „Es gibt immer noch genügend Holz, wir können weitere Flöße bauen. Ich weiß, wie hart das für Sie ist, aber wir dürfen uns mit diesen Hurensöhnen nicht auf eine Stufe stellen. Wir wollen bleiben, was wir sind - ehrbare Seeleute.“ „Mister O'Brien!“ schrie der Earl of Cumberland. „Ich unterstelle die ,Vanguard' hiermit Ihrem Befehl! Sie können ja ohnehin auf mich verzichten, nicht wahr? Das ist es doch, was Sie erreichen wollten, oder?“ „Sir, ich hoffe, Sie wissen, was Sie tun!“ brüllte O'Brien. „Und ob! Ich gehe von Bord! Ich wünsche Ihnen eine angenehme Nachtruhe!“ Norton, Snyders, Keefer und die Offiziere lachten zu dieser Bemerkung. Dann klatschten die Flöße ins Wasser, und im Nu war die Clique von Bord der Galeone verschwunden. Soweit Oliver O'Brien und seine Männer in der Nacht zu erkennen vermochten, gelang es Sir Andrew und seinen Männern, unbeschadet zur Rockall-Insel überzusetzen, wo der Profos bereits auf sie wartete und sich vor Vergnügen die Hände rieb. Die Landung verlief auch ohne Zwischenfälle. Im Licht eines niederzuckenden Blitzes war zu beobachten, wie die Männer drüben auf die Felsen krochen und die Flöße ein Stück hinter sich herzogen. Es waren große und starke Flöße gewesen, die gesamte Besatzung der „Vanguard“ hätte sich damit retten können. Doch Sir Andrews abgrundtiefe Verachtung gegenüber dem „Decksgesindel“ ließ eine solche Lösung nicht zu. Nur O'Brien hätte sich auf seine Seite schlagen können, indem er sein
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„Versagen“ und seine „Fehler“ öffentlich bekannte. Aber es gab nichts, was O'Brien heftiger widerstrebte. Er hatte sich zu seiner Mannschaft bekannt, und dabei blieb es für ihn. Er ließ sich weder erpressen noch beugen - jetzt gerade nicht. „Weitermachen“, sagte er zu seinen Männern. „Die Nacht ist noch lang, und wir haben eine Menge zu tun. Ich erwarte von jedem, daß er bis zum Umfallen schuftet, klar?“ „Aye, Sir“, murmelten die Männer. Wieder bewunderten sie ihren Kapitän, der als erster die Arbeit wiederaufnahm und mit verbissenem Eifer Schiffstrümmer, Plankenreste und Spieren zusammentrug. Ersatz für die beiden verlorenen Flöße mußte her - er exerzierte seiner Crew vor, wie man eisern durchhielt, gegen den Wind spuckte und dem Teufel was hustete. „Entweder erhalten wir alle eine Chance, uns auf die Insel zu retten“, sagte O'Brien etwas später. „Oder wir bleiben alle an Bord des verdammten Kahns.“ Daß er sowieso als letzter von Bord zu gehen gedachte, erwähnte er nicht, das war für ihn eine Selbstverständlichkeit. Er würde keinen Platz auf einem Floß für sich beanspruchen, auch das war für ihn Ehrensache. Für ihn galten die ungeschriebenen Gesetze der Seefahrt, seine Crew konnte sicher sein, daß er sie nicht mißachtete. * Im Morgengrauen waren endlich fünf Flöße fertig, auf denen je vier Mann Platz fanden. Zwanzig Männer, das war der Rest der „Vanguard“-Crew. Sir Andrew Clifford hatte sich beim Zählen leicht verrechnet, es gab doch mehr überlebende, als er für möglich gehalten hatte. Er konnte jetzt froh sein, daß er sich nicht mehr an Bord der Galeone befand, denn die Männer waren an einem Punkt angelangt, an dem sie ihn ohne großes Nachdenken leicht hätten packen können, um ihn an der Großrah zum Zappeln hochzuziehen.
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Sie hatten gehofft, der Sturm würde im Verlauf der Nacht nachlassen, doch das Gegenteil war eingetreten. Er hatte um einiges zugelegt, und es war ein großes Risiko, die Flöße jetzt zu Wasser zu lassen. „Wir warten noch ab!“ schrie Oliver O'Brien im Toben der Urgewalten. „Sobald der Wind nachläßt und die See sich etwas beruhigt, verlassen wir das Schiff!“ Er ließ an die völlig erschöpften Männer Rum austeilen und gab den Befehl, die halb unter Wasser stehende Proviantlast zu plündern, auch, um später auf der Insel überhaupt Lebensmittel zu haben. Er selbst war zum Umfallen müde und erschöpft, aber er half wieder fleißig mit und gönnte sich keine Ruhepause. Die Flöße wurden entsprechend ausgerüstet, mit Proviant, Wasserfässern, Werkzeug, Waffen und Munition. Schließlich ging es O'Brien um das Leben seiner Männer, sein eigenes Schicksal war ihm ziemlich gleichgültig. Unablässig warf das Meer sich mit donnernden Brechern zwischen die Klippen und setzte der „Vanguard“ zu. Inzwischen hatte sich das Wrack jedoch derart zwischen den Felsen verkeilt, daß es wieder eine gewisse Stabilität erlangt hatte. Das brachte eine Spur von Sicherheit solange der Rumpf nicht endgültig auseinanderbrach. Die Männer hatten sich inzwischen ausnahmslos achtern versammelt, weil dieser Teil des Schiffes höher lag. Die Kuhl und das Vorschiff wurden ständig von den schwersten Brechern überschwemmt. wer dort gestanden hätte, wäre kaum noch in der Lage gewesen, sich länger als ein paar Augenblicke zu halten. Brix und ein paar andere Männer hielten immer wieder nach allen Seiten Ausschau. Sie fluchten mörderisch, wenn sie zu Sir Andrew Clifford und dem „Stab“ auf die Insel spähten, aber ihre Beobachtungen dienten in erster Linie dem Zweck, etwaige Schiffe draußen auf See zu erkennen. Befand sich denn niemand in der Nähe, der ihnen helfen konnte? Bestand nicht die Aussicht, daß auch andere Galeonen die Rockall-Bank ansteuerten?
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Gegen zehn Uhr vormittags an diesem 3. Mai wurde Brix' Mühe endlich belohnt. „Sir!“ stieß er plötzlich erregt hervor. „Da sind Segel - an der nördlichen Kimm!“ „Unmöglich, Brix“, sagte O'Brien. „Sehen Sie doch selbst!“ schrie Brix. „Herrgott, wir kriegen endlich Hilfe! Wir müssen ihnen ein Zeichen geben!“ Oliver O'Brien zog sein MessingPerspektiv auseinander und richtete es nach Norden. Tatsächlich - an der zerfetzten, unruhigen Kimm zeigten sich die Segel mehrerer Schiffe. Aber wie sollten sie den Besatzungen dieser Segler signalisieren? Die „Vanguard“ war entmastet, kein Posten konnte mehr in ihre Toppen aufentern und den Schiffen Zeichen übermitteln. Und die Kanonen? Es gab keine Handvoll trockenes Pulver mehr an Bord, so daß auch die Möglichkeit, eins der Stücke zu zünden, ausfiel. „Wir können nichts tun, um sie auf uns hinzuweisen“, sagte O'Brien. „Auch schreien hat keinen Sinn, jeder Laut geht im Donnern der Brecher unter.“ „Ja, Sir, Sie haben recht“, pflichtete Jason ihm bei. „Wir können nur hoffen, daß sie uns sichten und Kurs auf uns nehmen.“ Sie waren zur Tatenlosigkeit verdammt. Mit angespannten, verzerrten Mienen standen sie auf dem Achterdeck der „Vanguard“, klammerten sich am Schanzkleid und an den letzten Manntauen fest und spähten wie gebannt zu den fremden Schiffen hinüber, die sich allmählich näherten. 4. Es waren drei Schiffe - die „Isabella IX.“, die „Wappen von Kolberg“ und „Eiliger Drache über den Wassern“, das schwarze Schiff also, das unter dem Kommando von Thorfin Njal stand. Unter Sturmsegeln steuerten sie südwärts, um an Irland vorbeizulaufen und Kurs auf Plymouth zu nehmen, wo Hasard Lord Gerald Cliveden, dem Sonderbeauftragten der Königin, über die Reise durch die Ostsee berichten wollte. Außerdem galt es, dem Lord die
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.Ladung der _Isabella“ zu übergeben: Bernstein, Felle und Holz. Arne von Manteuffel, Hasards Vetter, hatte sich den Seewölfen mit seiner „Wappen von Kolberg“ angeschlossen, weil es nach dem Tod seiner Verlobten, Gisela von Lankwitz, nichts mehr gab, was ihn noch in Pommern hielt. So waren sie gemeinsam durch die Nordsee nach Island hinauf gesegelt, und hier hatte es ein Wiedersehen mit Thorfin Njal, dem Wikinger, gegeben. Hasard war es dank der Umstände gelungen, den Wikinger samt seiner jetzigen Frau Gotlinde Thorgeyr vom IsaFjord in Island zu lösen, wozu nicht unwesentlich auch Ase Thorgeyr, der ehemals verschollene und wieder aufgetauchte Bruder Gotlindes beigetragen hatte. Ase würde den Thorgeyr-Hof im IsaFjord nunmehr übernehmen - und „Eiliger Drache“ segelte wieder im Verband mit der „Isabella“. Der Wikinger und seine verwegenen Kerle hatten die sagenhafte Insel Thule zwar nicht gefunden, wie sie dereinst vorgehabt hatten - doch Thorfin hatte nun seine Gotlinde, so daß die ganze beschwerliche Reise in den Norden für ihn doch zu einem überwältigenden Erfolg geworden war. Sowohl die Männer der „Isabella“ als auch die Besatzungsmitglieder der „Wappen von Kolberg“ blickten hin und wieder zum Schwarzen Schiff hinüber, wo es sich Gotlinde auch bei härtester See und im heftigsten Regen nicht nehmen ließ, neben ihrem Thorfin zu stehen. Sie war ein prachtvolles Frauenzimmer, so lautete das einmütige Urteil der Männer, keine Walküre zwar, aber eine urwüchsige Schönheit von eindeutiger nordischer Prägung. Der Weststurm tobte sich an diesem Vormittag aus, aber Hasard, Arne und Thorfin hatten keine andere Wahl, als ihn mit ihren Schiffen abzureiten. Denn zwischen Island und Irland gab es nur eine einzige Insel, die Rockall-Bank mit dem winzigen gleichnamigen Eiland. Hasard war sich mit seinem Vetter und dem Wikinger darüber einig, daß sie die Bank meiden mußten, die mit ihrem
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scharfen, kantigen Granitporphyr schon vielen Schiffen zum mörderischen Verhängnis geworden war. So planten sie, in Lee an der Rockall-Insel vorbeizusegeln. Wenn es ihnen gelang, ohne Verzögerungen Irland zu erreichen, konnten sie am 7. oder 8. Mai in Plymouth eintreffen, wie Hasard sich ausgerechnet hatte. Dort wollten sie sich auch endlich wieder mit Jean Ribault treffen, der auf der Werft des alten Hesekiel Ramsgate neue Schiffe im Bau hatte, mit denen sie gemeinsam in die Karibik zurücksegeln wollten - zur Schlangen-Insel, wo sie sicherlich schon sehnsüchtig erwartet wurden. Noch mit diesen Gedanken beschäftigt, stand Hasard auf dem Achterdeck der „Isabella“ und hielt sich an der BesanNagelbank fest, während er seinen Blick prüfend auf das Rigg richtete. Würde es den Sturmböen standhalten? Schafften sie es auch dieses Mal, dem Wetter zu trotzen und dem Teufel ein Ohr abzusegeln? Noch war das Schlimmste nicht überstanden. Der Orkan orgelte aus Westen heran und warf sich auf den kleinen Verband, als habe er es einzig auf ihn abgesehen. Die Sintflut und der Untergang der Welt schienen gleichzeitig stattzufinden, sie segelten mitten durch die Hölle. So jedenfalls stellte Old Donegal Daniel O'Flynn die Lage dar, dessen Orakel und Schwarzmalereien wieder einmal sich selbst übertrafen. Sam Roskill, der trotz der schweren See einen Posten im Großmars beibehalten hatte, stieß plötzlich einen Schrei aus. Hasard war alarmiert, er glaubte, Sam habe seinen Halt verloren und stürze aufs Deck. Die Schiffsbewegungen waren dort oben verstärkt zu spüren, man hatte das Gefühl, wie ein winziger Käfer auf der Spitze eines im Wind hin und her wogenden Strandhaferhalmes zu sitzen. Die Ursache für Sams Schrei war jedoch eine andere. Er brüllte etwas, das weder Hasard noch die anderen Männer an Bord der „Isabella“ wegen des Sturmheulens verstehen konnten, doch dann war seinen Handzeichen zu entnehmen, was er meinte:
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Ein Schiff schien auf der Rockall-Bank festzusitzen. Ein Wrack hing zwischen den Klippen, Schiffbrüchige winkten zu ihnen herüber. Hasard richtete seinen Kieker nach Backbord voraus und hatte die RockallBank wenig später ebenfalls gesichtet. Er sah das Wrack in den Klippen und konnte auch die Gestalten an Bord erkennen. Sie hatten sich auf dem Achterdeck versammelt und winkten wie verrückt. Auch auf dem Eiland standen Menschen und gestikulierten. Die Maße der winzigen Felseninsel, auf der sonst nur Seevögel nisteten, waren Hasard aus seinen Aufzeichnungen bekannt. Knapp neunzig Yards betrug der Umfang, und sie war nicht höher als etwa zwanzig Yards. Man konnte sich an diesem kahlen und trostlosen Steinklotz festklammern, aber man konnte auf ihm nicht überleben, denn es gab außer den Vogeleiern nichts zu essen und vor allem nichts zu trinken -keine Süßwasserquelle entsprang zwischen den Felsen, so daß ein längeres Verweilen unmöglich war. Die Klippen waren eine Todesfalle, das Wrack würde früher oder später zwischen ihnen zerbrechen. All dies hielt sich Hasard vor Augen, als er den Kieker wieder sinken ließ. Er sah Ben Brighton, Shane und Ferris Tucker, die sich über das schwankende Deck auf ihn zuarbeiteten, aber bevor sie eine Frage stellen konnten, schrie er bereits: „Wir segeln so dicht wie möglich an der Rockall-Bank vorbei und peilen erst mal die Lage! Dann entscheiden wir, was zu tun ist!“ „Aye, Sir!“ brüllten sie. Hasard legte den Kopf in den Nakken und schrie zu Sam Roskill hinauf. „Sam, kannst du mich hören?“ „Nur schwach, Sir!“ „Signalisiere dem Wikinger und Arne! Sie sollen mit uns Kurs auf die Insel nehmen!“ „Kurs auf die Insel - aye, Sir!“ brüllte Sam. „Sie sollen auf Untiefen achten!“ „Was?“ „Sie sollen aufpassen, daß sie mit ihrem Achtersteven nicht irgendwo
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aufbrummen!“ brüllte jetzt Ed Carberry mit einer Stimme, die bis nach Island und Irland und gleichzeitig auf den Hebriden, den Färöer- und den Shetland-Inseln zu vernehmen war. „Ja!“ schrie Sam Roskill. Er begann, zum Schwarzen Schiff und zur „Wappen von Kolberg“ zu signalisieren, was auch keine leichte Aufgabe für ihn war, denn er drohte ständig den Halt zu verlieren und vom Mars zu kippen. Doch er schaffte es, und drüben, im Großmars von ..Eiliger Drache“ und von Arnes Schiff waren es der Stör und der Decksmann Georg, die die Zeichen verfolgten und entsprechende Meldungen weitergaben. Auf der „Isabella“ warf Carberry, der breitbeinig auf der Kuhl stand, seinem Kapitän einen Blick zu Und grinste, dann wandte er sich wieder der Crew zu. „Matt Davies!“ brüllte er. „Luke Morgan! Paddy Rogers! Was steht ihr da 'rum und glotzt Löcher in die Wolken? Habe ich euch nicht gesagt, ihr sollt die Zurrings der Beiboote verstärken? Braucht ihr eine Sondereinladung? Hölle und Teufel, paßt auf, daß ihr nicht einpennt!“ Er wollte einen Schwall seiner schönsten und längsten Flüche vom Stapel lassen, doch jetzt stieg wieder ein Brecher an der Bordwand der „Isabella“ auf und ergoß sich donnernd und rauschend über das Oberdeck. Carberry schnaubte und prustete, klammerte sich an einem der Manntaue fest, rutschte, von dem gewaltigen Druck der Wassermassen bewegt, ein Stück nach vorn und prallte mit Matt Davies zusammen. Er konnte dabei noch von Glück sagen, daß er nicht mit Matts scharfgeschliffener Eisenhakenprothese in Berührung geriet. „Kannst du nicht aufpassen?“ brüllte er Matt ins rechte Ohr. Matt wartete, bis das Wasser halbwegs abgelaufen war, dann spuckte er in einem langen Bogen mindestens eine halbe Gallone von dem Naß, daß er geschluckt hatte, über die Bordwand, drehte sich zu dem Profos um und rief : „Ich schlage vor, wir binden dich irgendwo fest, dann rasseln wir nicht dauernd mit dir
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zusammen, Mister Carberry! Wie wär's mit der Großrah? Wäre das nicht ein feines Plätzchen?“ „Dich hänge ich gleich unter den Bugspriet, du Klammeraffe!“ brüllte Carberry. „Ed!“ schrie Smoky von der Back. „Reg dich doch nicht so auf! Sei lieber froh, daß es heute nicht so windig ist, sonst würden dir deine frisch gewachsenen Haare wegfliegen!“ Unwillkürlich strich sich Carberry tatsächlich mit der Hand über den Kopf, hielt dann aber mitten in der Bewegung inne. „Ach, ihr könnt mich alle mal, ihr Satansbraten!“ stieß er hervor, mußte aber doch grinsen. Wegen der Wette, bei der er seine Haare eingebüßt hatte, war viel gelacht und gelästert worden, und auch sonst hatten die Arwenacks ihren Humor nicht eingebüßt, trotz aller Strapazen und Entbehrungen, die sie in der letzten Zeit wieder über sich hatten ergehen lassen müssen. Daran änderte auch der dickste Sturm nichts - da mußte es schon schlimmer kommen. Die eigentliche Überraschung stand ihnen bei dem jetzt beginnenden Manöver, mit dem sie sich an die Rockall-Bank heranarbeiteten, aber noch bevor. Alte „Bekannte“ hockten auf dem kahlen Felsen, doch das ließ sich in den aufsteigenden Brandungsfelsen und den Gischtnebeln, die Rockall einhüllten, erst einige Zeit später feststellen. * Nicht nur Hasard, sondern auch Arne von Manteuffel und dem Wikinger war auf Anhieb klar, daß sich hier eine Tragödie abgespielt haben mußte. Nur zu gut konnten sie sich ausmalen, wie die Männer des fremden Schiffes gekämpft hatten, um das Unglück zu vermeiden, wie tapfere Seeleute in der Nacht über Bord gegangen und der tobenden See zum Opfer gefallen waren. Sie konnten sich in die Situation der armen Teufel versetzen, die am Leben geblieben waren, und wußten, daß sich
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diese nichts sehnlicher wünschten, als so schnell wie möglich aus ihrer fatalen Lage befreit zu werden. Es war Hasards Pflicht, die Schiffbrüchigen von der Insel und vom Schiff zu bergen. Doch wie sollte er zu ihnen gelangen? Zur gegenwärtigen Stunde wäre es glatter Selbstmord gewesen, entsprechende Maßnahmen einzuleiten. Er mußte abwarten und darauf hoffen, daß das Wrack den Brechern noch eine Weile standhielt, daß der Sturm endlich nachließ und er beidrehen und die Beiboote abfieren konnte, um mit ihnen zwischen die Klippen zu pullen. Darum segelte er mit der „Isabella“ erst einmal an der Westseite des Eilands vorbei, gefolgt von der „Wappen von Kolberg“ und dem Schwarzen Segler. Er ließ den Schiffbrüchigen durch Zeichen mitteilen, daß man sie gesichtet hätte, hob noch einmal das Spektiv ans Auge und vergewisserte sich, daß das Schiffswrack dem Anrollen der Brecher noch trotzte. Er wußte nicht, wie lange die Galeone auf der Bank festsaß, doch er stellte eine einfache Rechnung auf: Wäre sie nicht zwischen den Felsen verkeilt gewesen, dann wäre der Rumpf längst in der Mitte auseinandergebrochen. So gab es einige Chancen für die Crew, auch die nächsten Stunden noch unbeschadet zu überstehen. Sie mußte durchhalten, sie würde begreifen, warum die Männer der „Isabella“ und ihre Begleiter nicht wagten, jetzt die Insel anzusteuern. Südlich der Rockall-Bank drehte Hasard mit der „Isabella“ wieder nach Norden hoch. Thorfin Njal und Arne von Manteuffel folgten seinem Beispiel, und die drei Schiffe segelten zur Ostseite der Insel, also nach Lee. Hier liefen sie nicht mehr Gefahr, vom Sturm auf die Klippen getrieben zu werden, hier wurden jetzt die Segel geborgen und die Treibanker ausgeworfen. „Wir warten die weitere Wetterentwicklung ab!“ rief Hasard Ben Brighton, Ferris Tucker, Shane und Old O'Flynn zu. „Irgendwann muß der Sturm
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nachlassen, und dann holen wir die armen Teufel vom Schiff und von der Insel weg!“ „Vergiß nicht, daß der verdammte Sturm unsere Schiffe allmählich immer weiter nach Osten versetzt!“ schrie Old O'Flynn. „Ich denke daran, Donegal!“ brüllte der Seewolf. „Wenn wir außer Sichtweite der Insel geraten, kreuzen wir unter der Sturmbesegelung wieder nach Westen auf!“ „Eine gute Idee!“ rief Ben Brighton. „Damit beweisen wir den Schiffbrüchigen wenigstens, daß wir dranbleiben! Sie werden begreifen, was wir vorhaben!“ „Ja, und vielleicht können sie sogar beobachten, wie wir selbst absaufen!“ schrie der alte O'Flynn in seiner unnachahmlich optimistischen Art. „Donegal!“ brüllte Big Old Shane. „Wenn du nicht endlich dein Schott verschalkst, stopfe ich es dir zu!“ Hasard verfolgte den Streit, der sich zwischen den beiden entwickelte. nicht weiter. Er hangelte an den Manntauen bis zur Balustrade, des Quarterdecks, gab Sam den Befehl, aus dem Großmars abzuentern, und erkundigte sich bei Carberry, ob auf der Kuhl und auf der Back alles in Ordnung sei. „Keine Lecks, keine Verluste!“ brüllte Carberry. „Ich hoffe jetzt nur, daß uns ein paar dicke Dorsche auf die Kuhl hüpfen, damit der Kutscher und Mac Pellew endlich mal wieder was anderes in ihre Pfannen zaubern!“ Er fügte noch etwas hinzu, doch seine letzten Worte gingen in dem Donnern und Brüllen des Brechers unter, der heranrollte und sich über das Schiff ergoß. Die Isabella“, die „Wappen von Kolberg“ und „Eiliger Drache“ zerrten an ihren Treibankertrossen und taumelten wie verrückt in den aufgewühlten Fluten. Was Hasard im Hinblick auf die Schiffbrüchigen plante, schien zur Stunde wirklich ein Himmelfahrtskommando zu sein. Eine Wetterbesserung war nicht abzusehen. 5.
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Sir Andrew Clifford. Earl of Cumberland, hatte sich von dem Inselfelsen erhoben, um einen besseren Ausblick auf die drei Schiffe zu gewinnen, die Rockall soeben umsegelt hatten. Er stieß einen würgenden Laut aus und begann zu schwanken. Um ein Haar hätte ihn eine Brandungswoge weggerissen. Nur dem geistesgegenwärtigen Einsatz des Profos' war es zu verdanken, daß er nicht von dem Eiland verschwand und in den Fluten unterging. „Sir!“ brüllte der Profos. „Ist Ihnen nicht wohl?“ Sir Andrew ließ sich auf den Felsen sinken. Alle Blicke richteten sich auf ihn, der Stab war ratlos. Hätte er nicht jetzt, da die Rettung nicht mehr fern war, eigentlich vor Freude lachen und tanzen müssen? Was war los? „Mir geht es bestens!“ schrie er wütend. Er bebte am ganzen Körper. Snyders beugte sich zu ihm vor, Norton wollte pflichtgemäß etwas Beschwichtigendes sagen, obwohl auch er keine Ahnung hatte, was geschehen war - doch der Earl schlug wild mit den Fäusten um sich. Es hätte nicht viel gefehlt, und er hätte auch noch mit den Augen gerollt. „Er ist total übergeschnappt“, sagte der Dritte Offizier zu Keefer, dem Adjutanten. „Ich hab ja geahnt, daß es mit ihm noch soweit kommen würde.“ Sir Andrew konnte das zum Glück nicht verstehen. Er hatte sich seinem Profos zugewandt und schrie ihn an: „Zum Teufel, haben Sie das Schiff nicht erkannt, Mann? Zum Henker, sind Sie blind? Kerls, seid ihr denn alle blöd?“ Die höchst unadlige Ausdrucksweise, derer er sich bediente, wurde kritiklos hingenommen. Sehr durchlaucht wirkte ja auch der gesamte Achterdecksstab nicht mehr: naß bis auf die Knochen und zitternd hockten sie da, die Kleidung klebte ihnen am Leib, und ihre Gesichter waren vom Grauen zerfurcht. Die Clique befand sich in einem höchst zerrupften Zustand und war zu einem Häuflein erbärmlicher Gestalten geworden. Was bedeuteten da
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schon ein paar Flüche und üble Beleidigungen? „Sir!“ rief der Profos. „Welches Schiff meinen Sie? Das eine scheint ganz schwarz zu sein, vielleicht war Feuer an Bord ausgebrochen, das erst vor kurzem gelöscht worden ist. Die anderen beiden sind Galeonen und ...“ „Rede doch keinen solchen Quatsch!“ unterbrach ihn der Earl. Er war weiß vor Wut. „Die größere der beiden Galeonen wir sind ihr schon mal begegnet! Hast du Schuppen auf den Augen?“ Der Gorilla riß die Augen weit auf, doch das war nicht dem sehr erstaunlichen und ungewöhnlichen Umstand zuzuschreiben, daß der Earl ihn plötzlich duzte. Vielmehr reifte eine Erkenntnis in seinem Hirn heran und verdichtete sich zur Gewißheit. „Ich hab's!“ brüllte er plötzlich. „Das ist das Schiff dieses Bastards, dieses Killigrews!“ „Ja“, sagte Sir Andrew. „Er ist es, daran besteht kein Zweifel.“ „Sir!“ rief der Erste Offizier. „Würden Sie die Güte haben, uns zu erklären, was es mit dem von Ihnen erwähnten Killigrew und der Galeone auf sich hat?“ „Haben Sie sich den Teufelskahn genau angesehen?“ schrie Sir Andrew. „Ja, Sir. Eine schlanke Galeone mit niedrigen Aufbauten und auffallend hohen Masten - es handelt sich um ein ziemlich neues Schiff fortschrittlicher Bauweise, nicht wahr?“ „Zur Hölle mit dem Fortschritt!“ brüllte Sir Andrew. „Es ist das Piratenschiff des Schnapphahns Killigrew! Philip Hasard Killigrew - von einem schlimmeren Galgenstrick könnten wir nicht heimgesucht werden!“. Die Mitglieder des Stabes blickten sich untereinander an. Jetzt ging ihnen endlich auf, warum Sir Andrew und jetzt auch der Profos nicht sonderlich glücklich über das Auftauchen der drei Schiffe waren. Waren sie vom Regen in die Traufe geraten? Würde man ihnen die Gurgel durchschneiden und sie ins Wasser werfen? Lohnte sich das Ganze für den „Piraten Killigrew“ überhaupt?
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Ich habe das Geld, dachte Norton, ich kann mich notfalls freikaufen. Keefer beobachtete ihn heimlich und überlegte, daß es vielleicht ratsam wäre, Norton recht bald die Gold- und Silbermünzen abzunehmen. Snyders indes sann über die Möglichkeit nach, Sir Andrew und den Profos an die „Piraten und Galgenstricke“ auszuliefern - als Geiseln. Offenbar hatten die beiden ja schon mit diesem Kerl zu tun gehabt, und es hatte den Anschein, als sei da noch eine Rechnung offen, die beglichen werden mußte. Warum aber, zum Teufel, sollte der Stab dabei mit für etwas büßen, das er überhaupt nicht begangen oder verschuldet hatte? Sir Andrew Clifford rückte näher an seine Männer heran, seine Miene hatte den Ausdruck eines Verschwörers angenommen. „Die Galeone heißt ‚Isabella' „, erklärte er. „Seinerzeit, als ich mit der ‚Goliath' in der Ostsee unterwegs war, wurden wir von Killigrew aufgebracht und geentert. Stimmt's, Profos?“ „Ja, Sir.“ „Die ‚Goliath' wurde versenkt, aber das werde ich Killigrew noch heimzahlen. Die Gelegenheit dazu ist günstig.“ „Wie bitte?“ sagte Snyders. Er glaubte, nicht richtig gehört zu haben. „Haben Sie wirklich günstig gesagt, Sir?“ „Zum Teufel, ja! Ihnen mangelt es an dem nötigen Verstand und auch an der Phantasie, Snyders!“ schrie der .Earl. „Ich habe schon bessere Leute unter mir gehabt, beispielsweise in der Ostsee! Haben Sie denn gar keinen Ehrgeiz?“ „Selbstverständlich, Sir“, entgegnete Snyders. „Sagen Sie mir, was ich tun soll.“ Er hoffte inständig, daß der Earl ihm nicht befehlen würde, zur „Vanguard“ zu schwimmen oder gar zur „Isabella“, die wie die andere Galeone und das merkwürdige, unheimliche schwarze Schiff inzwischen kaum noch zu erkennen war, weil der Sturmwind sie immer weiter nach Osten versetzte. Dieser Sir Andrew war unberechenbar, man wußte nie, was er wirklich dachte und plante. Wollte er
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seinen Stab opfern? Welches Interesse konnte er daran haben? „Dieser Killigrew ist der größte Freibeuter und hinterhältigste Hurensohn, den es überhaupt gibt“, sagte Sir Andrew. Er legte eine kurze Pause ein und ließ seine Worte auf die Clique einwirken. Eigentlich schnitten die Männer jedoch recht dümmliche und verständnislose Mienen, so daß er sich veranlaßt sah, lieber fortzufahren. „Unverständlicherweise wurde er von der Königin sogar zum Ritter geschlagen“, erklärte er. Die Verwirrung der Männer wuchs. Wie konnte ein Sir ein Schnapphahn und obendrein noch ein Hurensohn sein? Sir Andrew wußte die Antwort auf die Frage. „Er treibt Mißbrauch mit seinem Kaperbrief“, sagte er mit zornblitzenden Augen. „Er ist ein Betrüger und Gauner, ein Schlagetot und Beutelschneider der übelsten Sorte.“ „Ersäufen sollte man ihn“, sagte der Profos. „Ja, oder an der Rah aufhängen“, fügte Norton hinzu. „Solche Kerle gehören an den Galgen.“ Eigentlich war ihm egal, was mit diesem Philip Hasard Killigrew geschah, den er ja gar nicht kannte, aber er hielt es für richtig, sowohl Sir Andrew als auch dem Profos gut zuzureden. „Jawohl, das hätte er verdient!“ stieß Sir Andrew hervor und wirkte in dem Sturmwind, der seine Haare zerzauste und an seiner Gestalt zerrte, wie ein Gespenst der Finsternis. „Sein Adelstitel wird mich nicht daran hindern, dieses Schiff, die ‚Isabella', zu beschlagnahmen. Sie, meine Herren, werden dabei die einmalige Gelegenheit haben, sich auszuzeichnen.“ „Vielen Dank, Sir“, sagte der Zweite Offizier und täuschte echte Begeisterung vor. „Haben Sie bereits einen Plan?“ „Natürlich. Killigrew wird ein Boot mit einer kleinen Crew zur Insel schicken, um uns auszuplündern und zu töten. Wir aber überrumpeln die Kerle und nehmen sie als Geiseln gefangen.“ „Ausgezeichnet!“ stieß Norton überschwenglich hervor. „Und dann
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erpressen wir den Piraten Killigrew, nicht wahr?“ „Sie haben es erfaßt“, erwiderte der Earl nicht ohne Sarkasmus. „Ich kenne ihn. Er wird das Leben seiner Männer nicht aufs Spiel setzen wollen. Untereinander halten diese Hunde ja zusammen wie Pech und Schwefel. Nun, damit brechen wir ihm das Genick. Killigrew und seine Schiffsführung werden unseren Platz auf der Insel Rockall einnehmen, wir setzen sie hier aus. Danach übernehmen wir völlig unbeschadet das Schiff und segeln nach London zurück.“ „Ja“, sagte Snyders, „So einfach ist das.“ Keefer hätte gern die berechtigte Frage gestellt, ob denn nun alle verrückt geworden seien, aber er konnte sich rechtzeitig genug beherrschen und erhob nur einen schwachen Einwand. „Was geschieht. wenn die beiden anderen Schiffe unser - unser tollkühnes Unternehmen nicht billigen, Sir?“ Der Earl of Cumberland winkte verächtlich ab. „Sie werden sich den Tatsachen beugen müssen, meine Herren! Sie haben sich meinem Kommando zu unterwerfen! Haben Sie vergessen, wer ich bin?“ „Natürlich nicht, Sir“, beeilte sich Snyders zu versichern. „Ja, das ist doch klar - wenn sie erst wissen, daß Sie der Earl of Cumberland und ein Kapitän der Royal Navy sind, werden sie nicht versuchen, uns irgendwie zu behelligen.“ „Sie werden vor uns zittern“, sagte Norton ohne jegliche Überzeugung und überlegte dabei unausgesetzt, wie er am besten seine Haut und die erbeuteten Gold- und Silbermünzen retten konnte. Sir Andrew grinste. „Die Kerle werden staunen!“ rief er und malte sich schon jetzt aus, wie es sein würde, wenn er den verhaßten Killigrew auf der Insel zurückließ. „Wer aufmuckt, wird ausgepeitscht oder aufgehängt! Schließlich handle ich im Auftrag der Krone und führe der Royal Navy für den Verlust unserer drei Expeditionsschiffe drei andere Schiffe als Ersatz zu. Ist das vielleicht nichts?“ Der Stab hegte gelinde Zweifel an dem Gelingen des „tollkühnen Handstreichs“,
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aber keiner hatte den Mut, dem Earl offen zu widersprechen. Im übrigen befanden sie sich in einem desolaten Zustand, in dem ihnen jede Möglichkeit, den Inselfelsen zu verlassen, willkommen war, so oder so. Sie froren. Die Stunden, die sie auf Rockall verbracht hatten, waren verheerend gewesen. Sie hatten Hunger und Durst, und da war kein Bediensteter, der sich um ihr Wohl kümmerte oder dem sie Befehle erteilen konnten, zumal Burt Harrison, der Kammerdiener, ja die Unverschämtheit gehabt hatte, einfach zu ertrinken. Sie entpuppten sich als das, was sie waren: reiche Nichtstuer, die bei der ersten Belastung in die Knie gingen und ihr eigenes Leid beklagten. Und natürlich hatte dieser Kapitän O'Brien an allem die Schuld, denn seiner Unfähigkeit war es zuzuschreiben, daß die „Vanguard“ zwischen die Klippen geraten war. Sir Andrew entsann sich dieser „Tatsache“, vergaß für kurze Zeit seinen Plan, die „Isabella“ zu kapern, und erhob sich von dem blanken, nassen, kalten Gestein. In ohnmächtiger Wut blickte er zur „Vanguard“, wo O'Brien und seine Crew nach wie vor auf dem Achterdeck versammelt waren. „Eine Frechheit ist das!“ stieß er mit schriller Stimme hervor. „Wir sitzen hier fest, und das verdammte Pack bequemt sich nicht einmal, uns zu versorgen!“ „Jawohl!“ brüllte Snyders, dem jetzt wieder so richtig bewußt wurde, wie sehr sein leerer Magen knurrte. „O'Brien hätte sofort eine Jolle für uns aussetzen müssen!“ „Aber die Jollen sind doch kaputt“, gab Keefer zu bedenken. „Das ändert nichts!“ schrie der Zweite Offizier. „O'Brien hätte dafür sorgen müssen, daß zumindest eins der Rettungsboote für uns erhalten blieb! Er hätte niemals zulassen dürfen, daß alle Boote vom Sturm zerschlagen wurden!“ „Ganz meine Meinung!“ rief Norton. „Er gehört vor ein Kriegsgericht, der elende Hund!“ Krasser Egoismus, Selbstmitleid und das Unvermögen, die Situation zu meistern,
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waren die Komponenten in ihrem aberwitzigen, völlig widersinnigen Auftreten. Ihre Angst brachte die absonderlichsten Auswüchse hervor, sie schienen sich tatsächlich auf jenem schmalen Grat zu bewegen, der das Normalsein vom Wahnsinn trennt. Sir Andrew schritt ein Stück den Felsen hinunter, gefolgt vom Profos, der hilfreich die Hand nach ihm ausstreckte. Auch der Erste und der Zweite Offizier schlossen sich ihnen an, Norton, Snyders, Keefer und der Dritte aber bewegten sich nur zögernd. Nur wenige Schritte von der donnernden Brandung entfernt blieb Sir Andrew auf dem nun stark abschüssigen Gestein stehen und hob beide Hände. Selbst dem Profos, der ihn ja nun bereits länger kannte als die ehrenwerten Gentlemen des Achterdecks, war nicht ganz klar, was er damit bezweckte. Wollte er eine Probe seines Mutes geben? Oder wollte er nur zeigen, wie total übergeschnappt er war? „Kapitän O'Brien!“ brüllte der Earl. „Ich befehle Ihnen, mir und meinem Stab Proviant und Trinkwasser zu bringen! O'Brien - hören Sie mich?“ „Er kann Sie nicht hören, Sir!“ rief der Profos. „Halt doch dein Maul!“ fuhr der Earl ihn an, dann wandte er sich wieder der zwischen den Klippen gefangenen „Vanguard“ zu. „Wir brauchen Essen und Trinken, ferner trockenes Zeug und Wolldecken, Holz und Holzkohle, Geschirr und Töpfe - und einen Koch, zum Teufel!“ Er erhielt keine Antwort. Zornig stampfte er mit dem rechten Fuß auf, dann brüllte er: „Das werden Sie mir büßen, O'Brien! Ich vergesse Ihnen nicht, wie Sie mich behandelt haben! Sie wollen mich töten, das weiß ich, aber Sie werden für Ihre Schandtaten bezahlen, das schwöre ich Ihnen!“ Damit drehte er sich um und kehrte zu seinen wartenden Männern zurück. Die Furcht, die Verzweiflung, der Hunger und der Durst trieben seltsame Blüten, die Vernunft hatte keinen Platz auf der Rockall-Insel. Sir Andrew ließ sich zwischen zwei platten Felsblöcken nieder,
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zog die Knie an den Leib und blickte aus geröteten Augen zur „Vanguard“ und dorthin, wo sich die „Isabella“ und die beiden anderen Schiffe befinden mußten. „Dieser O'Brien“, sagte er und schnitt eine Grimasse des Hasses. „Wenn ich erst die ‚Isabella' unter mein Kommando gebracht habe, kriegt auch er sein Fett. Ungeschoren kommt er mir nicht davon. Himmel, wie kalt es doch ist.“ „Wenn wir wenigstens ein bißchen Holz hätten“, sagte der Profos. „Dann könnten wir ein Feuer anzünden.“ „Womit denn?“ herrschte Sir Andrew ihn an. „Keiner von uns hat einen Flint oder ein Stück Feuerstahl bei sich, oder?“ „Wir sind verloren“, sagte Norton. „Haltet durch, Männer!“ rief der Earl. Es klang fast pathetisch. „Laßt euch nicht unterkriegen! Bald läßt der Sturm nach, dann wendet sich das Blatt!“ Er schien fest an das zu glauben, was er sagte. * Oliver .O'Brien stand am Schanzkleid des Achterdecks der „Vanguard“ und spähte aus schmalen Augen zur Insel hinüber. „Ich verstehe nicht, was der Kerl schreit“, sagte er. Am Felsenufer zeichneten sich die Umrisse der Gestalt von Sir Andrew ab. Er gestikulierte und brüllte mit voller Lautstärke etwas Zorniges, Befehlendes in das Donnern und Brausen der Wogen. „Sir!“ rief der Schiffszimmermann. „Vielleicht hat er den Verstand verloren!“ Unter anderen Bedingungen hätte O'Brien den Mann jetzt scharf zurechtgewiesen und sich den nötigen Respekt für den Geschwaderchef ausgebeten. Aber Sir Andrew Clifford war kein Befehlshaber und kein Kommandant, er war nur ein Versager, der drei Schiffe ins Unglück gejagt hatte und dessen Schuld es war, daß viele gute und tapfere Seeleute hatten sterben müssen. Vor einem solchen Menschen empfand auch er, O'Brien, nicht die Spur von Hochachtung - im Gegenteil. „Ich höre etwas von Proviant und Trinkwasser!“ schrie Brix. „Ob die Kerle
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sich einbilden, daß wir ihnen zu essen und zu trinken bringen?“ „Zuzutrauen ist es ihnen!“ rief Jason. „Ich glaube, die sind völlig durchgedreht und wissen nicht mehr, was sie reden! Vielleicht sind sie auch betrunken!“ „Mir ist egal, ob sie blau oder nüchtern sind“, sagte O'Brien. „Was immer sie von uns wollen, wir ignorieren sie. Wenn sie uns etwas mitzuteilen haben, sollen sie sich gefälligst auf ihre Flöße schwingen und zu uns übersetzen. Wir bereiten ihnen dann einen gebührenden Empfang. Von jetzt an kümmere ich mich einen Dreck um Sir Andrews Befehle.“ Er drehte sich um und hangelte an einem Manntau über das schräge Deck zur anderen Schiffsseite. Von hier aus versuchte er, etwas von den drei fremden Schiffen zu erkennen. Gischt und Dunst hatten ihre Umrisse geschluckt. Was hatte das zu bedeuten? Hatten sie nicht die Treibanker ausgeworfen - oder hatte er sich geirrt und sich alles nur eingebildet? Hatten die Kapitäne eingesehen, daß sie für die Schiffbrüchigen von Rockall nichts tun konnten? Hatten sie daraufhin wieder die Sturmsegel gesetzt und sich entfernt? O'Brien wehrte sich gegen diese Erkenntnis, er wollte einfach nicht daran glauben. Doch für einige Zeit wurde er von schweren Zweifeln geplagt. Wenn die Schiffe fort waren, gab es keine Hoffnung mehr. Die „Vanguard“ würde zerbrechen, und wer es trotz allem schaffte, sich auf die Insel zu retten, der war dem Tod durch Verhungern und Verdursten ausgeliefert. Plötzlich aber stieß Oliver O'Brien einen Laut der Erleichterung aus. Ein Schiff tauchte wie ein Schemen aus dem Grau des Sturmes auf: die große Galeone mit den niedrigen Aufbauten und den hohen Masten! Jason, Brix und ein paar andere Männer, die ähnliche Bedenken wie ihr Kapitän gehegt hatten, ließen begeisterte Rufe vernehmen. „Bei allen Heiligen!“ schrie Jason. lassen uns nicht im Stich! Sie kreuzen wieder nach Westen auf und wollen uns zeigen, daß sie an der Bank bleiben! Seht doch - da ist auch wieder das schwarze Schiff!“
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Tatsächlich tauchten auch die Umrisse von „Eiliger Drache“ aus dem gischtdurchsprühten Halbdunkel auf, gleich darauf war auch die „Wappen von Kolberg“ zu erkennen. Die drei Schiffe schienen auf den Wogen zu reiten, sie hoben und senkten sich, verschwanden und tauchten wieder auf. Sie rollten, stampften und schlingerten, und manchmal wirkte es fast so, als müßten sie querschlagen. Doch sie trotzten dem Wetter, sie waren da und pflanzten allein durch ihre Anwesenheit neue Hoffnung in die Herzen der Männer. „Der Mann, der den Verband führt, ist ein großartiger Seemann“, sagte O'Brien anerkennend. „Wenn ich nur wüßte, wie er heißt. Mein Gott, hätten wir doch einen solchen Kommandanten gehabt!“ „Der Earl hätte ja nur auf Sie zu hören brauchen, Sir!“ rief der Zimmermann. „Dann wäre alles in Ordnung gewesen! Warum überläßt er die Schiffsführung nicht Leuten, die mehr davon verstehen als er?“ „Schon gut, ich will das jetzt nicht wieder aufwärmen“, sagte O'Brien. „Aber wir sollten auch weiterhin ein waches Auge auf Sir Andrew und seine Leute haben. Ich habe den Verdacht, daß sie irgendetwas planen -etwas Teuflisches. Es entspräche ganz ihrer Art. Passen wir auf, daß sie kein neues Unheil anrichten.“ „Darauf können Sie sich verlassen, Sir“, versicherte Brix. „Wir sorgen dafür, daß unsere Rettung von diesem elenden Eiland reibungslos verläuft und die Bande uns nicht die Suppe versalzt. Das ist es doch, worauf Sie anspielen, oder?“ „Ja“, erwiderte O'Brien. „Sir Andrew Clifford ist zu jeder Gemeinheit fähig.“ 6. Am Nachmittag ließ der Sturm nach, der Wind flaute merklich ab, und auch die Wogen gingen bei weitem nicht mehr so hoch wie am Morgen. Hasard hatte das Achterdeck der „Isabella“ die ganze Zeit über nicht geräumt und fast unablässig die Insel und das Schiffswrack durch den Kieker beobachtet.
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Jetzt schob er den Kieker zusammen und steckte ihn weg, suchte das Quarterdeck auf und rief: „Wir bergen zuerst die Männer von dem Wrack ab! Sie sind in größerer Gefahr als die Männer auf der Insel, die sich offenbar dorthin retten konnten! Ed, laß die große Jolle aussetzen!“ „Aye, Sir!“ „Du übernimmst sie als Bootssteurer, such dir acht Männer aus!“ „In Ordnung!“ Carberry fuhr zur Crew herum, scheuchte die Männer an die Boote, ließ die Zurrings lösen und dann die große, achtriemige Jolle mit Tauen, die durch an den Rahnocken angeschlagene Taljen liefen, hochhieven, ausschwenken und außenbords abfieren. Als Begleiter für sein Unternehmen wählte er Roger Brighton, Jack Finnegan, Paddy Rogers, Jan Ranse, Piet Straaten, Stenmark, Luke Morgan und Blacky aus. Er wollte mit diesen Männern gerade abentern und ablegen, da stieß Dan O'Flynn einen Ruf aus. Dan war in den Großmars aufgeentert, um sich die Schiffbrüchigen auf dem Wrack und auf der Insel ebenfalls eingehend durch den Kieker zu betrachten. „Achtung!“ schrie er. „Sir! Zwei Gesichter drüben auf der Insel kommen mir bekannt vor! Der Teufel soll mich holen, wenn das nicht zwei ganz ausgekochte Satansbraten sind, mit denen wir eine unliebsame Begegnung hatten!“ Hasard zögerte keinen Augenblick, er enterte zu Dan in den Großmars auf und spähte durch das Rohr. „Das gibt's doch nicht!“ stieß er betroffen hervor. „Du hast dich wirklich nicht geirrt! Das sind Sir Andrew und sein Profos.“ Mit einemmal wurde die Erinnerung in ihm wach, als ob sich alles erst vor wenigen Tagen zugetragen hätte: das unerfreuliche Zusammentreffen mit der englischen Kriegsgaleone „Goliath“, deren Kommandant, Sir Andrew Clifford, Earl of Cumberland, zwölf Männer aus Hasards Crew ganz einfach „zwangsrekrutiert“ hatte. Nun, Sir Andrew hatte sich dabei gründlich ins eigene Fleisch geschnitten, denn die
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zwölf Seewölfe hatten, sobald sich die „Isabella“ außerhalb der Reichweite der „Goliath“-Kanonen befunden hatte, eine handfeste Meuterei vom Zaun gebrochen. Sir Andrew, der Profos und die gesamte Achterdecksclique waren über Bord geflogen und hatten zum schwedischen Festland schwimmen beziehungsweise pullen dürfen. Die Crew der „Goliath“ hingegen war nach Pommern gesegelt, um dort das Schiff zu verkaufen und anschließend ihrer eigenen Wege zu gehen. Hasard hatte das Logbuch der „Goliath“ wohlweislich in seinen Besitz übernommen, damit der Earl of Cumberland anhand der Aufzeichnungen später nicht gegen seine ehemalige Mannschaft vorgehen konnte - es lag noch immer in der Schublade des Pults der Kapitänskammer an Bord der „Isabella“ und war ein Beispiel dafür, wie gut sich der Earl in der Kunst des Lügens auskannte. Das Buch war von vorn bis hinten gefälscht, da war von regem Handel und Wandel in der Ostsee die Rede, von Ankäufen von Bernstein und famosen Geschäften - doch in Wirklichkeit waren die Laderäume der „Goliath“ leer gewesen. Da Sir Andrew in seiner grenzenlosen Borniertheit nicht den winzigsten Abschluß zustande gebracht hatte, hatte er beschlossen, seine Reise auf andere Weise „erfolgreich“ abzuschließen: Er hatte die „Goliath“ versenken und das Logbuch zu seiner Entlastung beim Marineamt vorlegen wollen, wo er dann sicherlich sein tiefes Bedauern über den Tod vieler braver Seeleute ausgesprochen hätte - die er selbst auf dem Gewissen gehabt hätte. Hasard kriegte noch nachträglich die kalte Wut, als er wieder daran dachte. „Die beiden Kerle ausgerechnet hier, auf der Rockall-Bank, anzutreffen, hätte ich mir wirklich nicht träumen lassen“, sagte er. „Wie sind die bloß hierher gelangt?“ „Das ist mir auch schleierhaft“, erwiderte Dan. „Aber die Tatsache, daß er anwesend ist, schafft eine neue Situation.“ „Das kannst du laut sagen!“ stieß der Seewolf hervor. „Ein Wiedersehen mit so
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guten alten Freunden bedarf einiger Vorbereitungen. Warte mal, ich besorge das gleich.“ Dan mußte trotz des Ernstes der Lage grinsen, als Hasard wieder auf das Hauptdeck der „Isabella“ abenterte und Waffen an die Jollencrew verteilen ließ. Schließlich schickte er die Männer in das Boot hinunter und enterte selbst mit ab. Seine Mitteilung, daß auf der Rockall-Insel der Earl of Cumberland und sein Profos säßen, versetzte die Männer in Aufruhr. „Was?“ brüllte Carberry. „Der Earl? Und dieser Riesenaffenarsch von einem Profos? Oh, ich werd' nicht wieder! Wenn es nach mir ginge, würden wir diese lausigen Kanalratten für ewige Zeiten da drüben hocken und vergammeln lassen!“ „Jawohl!“ rief Luke Morgan. „Die Kerle haben nicht verdient, daß wir sie da wegholen!“ „Mit den Satansbraten an Bord versauen wir uns die ganze Rückreise nach Plymouth!“ schrie Blacky. Damit brachte er zum Ausdruck, was sie alle dachten: Sir Andrew Clifford würde sich keineswegs dankbar erweisen, sondern eher nach einer Möglichkeit suchen, späte Rache an ihnen zu üben. Aber Hasard ließ sich nicht beirren. Sie legten von der Bordwand der „Isabella“ ab und pullten durch den wüsten Seegang zum Wrack der „Vanguard“. Die Blicke ihrer Kameraden folgten ihnen, und auch von Bord des Schwarzen Seglers und der „Wappen von Kolberg“ wurde ihr Unternehmen, das immer noch waghalsig genug war, von dem Wikinger, von Gotlinde Thorgeyr, Arne von Manteuffel, Renke Eggens, Hein Ropers und allen anderen aufmerksam und gespannt zugleich beobachtet. O'Brien und die Männer auf dem Achterdeck der „Vanguard“ stießen freudige Rufe aus, als sie registrierten, daß die Jolle Kurs auf sie nahm. Sir Andrew und sein glorreicher Stab jedoch stimmten ein zorniges Gebrüll an. „Unerhört!“ schrie Sir Andrew empört. „Pullt hierher, ihr Dreckskerle! Wir wollen
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zuerst geborgen werden! Das ist unser gutes Recht!“ „Hierher!“ brüllte auch der Profos. Doch selbst ihm war inzwischen aufgegangen, daß die Männer der „Isabella“ den Earl und ihn erkannt haben mußten. Es war also nicht nur die Wahrscheinlichkeit, daß die „Vanguard“ bald auseinanderbrechen mußte, sondern auch die Tatsache, daß sie identifiziert worden waren, die sie dazu veranlaßte, zunächst das Wrack anzulaufen und die Clique auf dem Eiland schmoren zu lassen. Hasard kümmerte sich nicht im geringsten um das Gebrüll der Bande. Er gab Carberry und den Rudergasten ruhig seine Anweisungen und manövrierte sein Boot zwischen den gefährlichen Klippen hindurch. Der Abstand zwischen Schiff und Jolle schrumpfte immer mehr zusammen. Die Brecher rollten gegen die Klippen und gegen das Boot an, Gischt sprühte hoch und näßte die Gestalten der Männer, doch es gelang ihnen, ungehindert bis zum Wrack zu pullen. Die Gefahr, auf einen der Felsen zu laufen, war vorerst gebannt. „Nun hört euch das an“, sagte Roger Brighton. „Die Kerle auf der Insel führen sich auf wie die wildgewordenen Affen.“ „Man sollte ihnen was auf ihre durchlauchten Nasen geben!“ rief Carberry. „So wie in der Ostsee, an Bord der ‚Goliath'? Hölle, sie hätten es verdient! Wenn mich nicht alles täuscht, hat der ehrenwerte Earl eine - ähnliche Höllenbande wie damals um sich versammelt!“ „Die Männer auf dem Wrack scheinen aber aus einem anderen Holz geschnitzt zu sein“, sagte der Seewolf. Er hatte die ganze Zeit über unablässig das Achterdeck der „Vanguard“ im Auge behalten. „Sie benehmen sich ausgesprochen diszipliniert.“ Oliver O'Brien ließ dicke Fender achtern an Backbord ausbringen, dann wurden Jakobsleitern abgefiert. Seine Befehle tönten zu der Jolle der „Isabella“ herüber, und Hasard spähte zu ihm hoch.
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Ein stämmiger Mann mit einem offenen Gesicht, dachte er, ein Seemann von echtem Schrot und Korn. Herrgott, wie konnte ein solcher Mann mit dem Earl of Cumberland auskommen? O'Brien winkte ihnen lächelnd zu. Hasard erwiderte die Geste, dann ging er mit der Jolle an der Backbordseite des Wracks längsseits, richtete sich auf und klomm an den Sprossen der einen Jakobsleiter hoch. O'Brien streckte ihm hilfreich die Hand entgegen. Hasard nahm sie an, ließ sich über das Schanzkleid an Bord hieven und blickte die Männer, die ihn mit erlösten, erwartungsvollen Mienen empfingen, der Reihe nach an. Nein, hier war keiner, der der Clique auf der Rockall-Insel auch nur entfernt glich, das stellte er sofort fest. Sie waren zu Tode erschöpft, zerrupft und bis auf die Knochen durchnäßt, aber ihre Gesichter drückten aus, was sie waren: gute, ehrliche Deckshands, Männer wie mit der Axt gehauen, die auch dem härtesten Sturm trotzten und nicht verzweifelten. „Willkommen an Bord der HMS ,Vanguard', Sir“, sagte O'Brien. „Ich bin Oliver O'Brien, der Kapitän. Sie glauben nicht, wie dankbar wir Ihnen sind.“ Hasard schüttelte ihm die Hand. „Mein Name ist Philip Hasard Killigrew“, sagte er. „Wie lange sitzen Sie hier schon fest, Mister O'Brien?“ „Wir sind gestern gestrandet. Die beiden anderen Galeonen unseres Verbandes, die ,Serapis` und die ‚Antiope`, sind mit Mann und Maus untergegangen.“ „Entsetzlich“, sagte der Seewolf. Aber war Ihnen die genaue Position der RockallBank nicht bekannt?“ „Das schon, aber ich habe trotzdem ersagt.“ „Das ist nicht wahr“, sagte Jason. Verzeihung, Sir, aber ich kann nicht zulassen, daß Sie die Schuld an dem Unglück auf sich nehmen.“ Er sah Hasard an und nickte ihm zu. „Jason ist mein Name, Sir. Ich schwöre Ihnen, daß Mister O'Brien alles getan hat, was in seinen Kräften stand, um uns vor dem Auflaufen zu bewahren. Aber es war dieser verdammte Sir Andrew, der nicht auf ihn
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hören wollte. Wir haben dem Earl zu verdanken, daß wir hier festsitzen und unsere Kameraden ertrunken sind.“ „Sir Andrew“, wiederholte Hasard nachdenklich. „Er ist mir kein Fremder. Ich habe ihn drüben auf der Insel entdeckt. Mister O'Brien, würden Sie die Freundlichkeit haben, mir zu berichten, was es mit ihm auf sich hat, bevor wir Sie und Ihre Leute von der ‚.Vanguard` abbergen?“ „Selbstverständlich, Kapitän Killigrew.“ O'Brien räusperte sich, dann schilderte er, wie der Verband in London zusammengestellt und ausrüstet worden war, welches Ziel er hatte und warum Sir Andrew Clifford als Geschwaderchef ausgewählt worden war. „So ist das“, sagte Hasard, als er geendet hatte. „Jetzt wird mir einiges klar. So, der Earl hat ersatzweise für den guten alten Frobisher einspringen müssen.“ „Kennen Sie Sir Martin Frobisher, Sir?“ fragte der Schiffszimmermann überrascht. „Ich habe ihn aus der Schlacht gegen die Armada noch in bester Erinnerung“, entgegnete Hasard. „Sie haben mit gegen die Armada gekämpft?“ stieß Brix verdutzt aus. „Jetzt verstehe ich! Männer, Kapitän Killigrew ist der Mann, der auch der Seewolf genannt wird! Hölle, Sir, äh - ich meine, Sie habe ich immer schon mal kennenlernen wollen!“ „Danke, das ehrt mich“, sagte Hasard lächelnd. „Im übrigen kann ich Ihnen mitteilen, daß es eine Nordwestpassage tatsächlich gibt. Ich habe sie bereits vor einigen Jahren gesucht und gefunden, aber ich bin nicht sicher, ob sie zu jeder Jahreszeit befahrbar ist.“ „Hochinteressant“, sagte O'Brien. „Dem Marineamt scheint darüber aber nichts bekannt zu sein.“ „Dem Marineamt scheint so mancher Fehler zu unterlaufen“, sagte Hasard trocken. „Sir Andrew zum Expeditionsleiter zu bestimmen, bedeutete, den Bock zum Gärtner zu machen. Himmel, was ist denn bloß in die Royal Navy gefahren?“
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„Ich weiß es auch nicht“, erwiderte O'Brien. „Aber ich versichere Ihnen, daß das ganze noch ein Nachspiel haben wird. Was sich der Earl und seine Clique geleistet haben, darf nicht ungestraft bleiben.“ „Da haben Sie recht“, sagte Hasard. „Aber zunächst einmal haben wir die elende Bande auf dem Hals - und das gefällt mir gar nicht. Ich habe eine starke Abneigung gegen Menschenschinder. Andererseits darf ich mich nicht der Hilfeleistung entziehen.“ O'Brien nickte. „Ich kann Sie gut verstehen. Ich an Ihrer Stelle könnte mich nicht anders verhalten.“ „Sir!“ brüllte Carberry aus der Jolle. „Was ist los, gibt es Schwierigkeiten'? Verflucht und zugenäht, diese morsche Kabeljautonne von einem Kahn knackt euch bald unter den Füßen weg! Es wird Zeit, daß wir mit dem Abbergen anfangen, zum Henker!“ „Wer ist das?“ fragte Jason verblüfft. „Das ist mein Profos“, antwortete der Seewolf und konnte sich ein hartes Grinsen nicht verkneifen. „Er tut aber nur so ruppig, in Wirklichkeit ist er eine Seele von Mensch. Mit dem Kollegen drüben auf der Insel hat er nichts gemein. Er hat ihn nur schon mal kräftig zur Brust genommen -aber das soll er Ihnen lieber selber erzählen.“ Das Rettungsmanöver konnte beginnen, aber die Jolle konnte die Männer der „Vanguard“ nicht in einer einzigen Fahrt zur „Isabella“ befördern. Dreimal mußte sie zur „Isabella“ und wieder zurück zum Wrack gepullt werden, da mit sie nicht überlastet wurde. O'Brien teilte seine Leute in Sechser-Gruppen ein, wieder verlief alles ruhig und diszipliniert. Hasard beobachtete den Kapitän insgeheim und bescheinigte sich im stillen, daß er sich in dem Mann nicht getäuscht hatte. Mehr noch, er gefiel ihm sogar ausgezeichnet. O'Brien war der Typ eines Seemannes, mit dem man durch dick und dünn gehen und die waghalsigsten Abenteuer bestehen konnte - ein Mann, der zu seiner eigenen Crew gepaßt hätte.
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Die erste Gruppe von Männern wurde in die Jolle übernommen, Carberry gab barsch seine Kommandos, dann legte das Boot ab und kehrte zur „Isabella“ zurück. Hasard blieb bei O'Brien und der Crew auf dem Achterdeck der „Vanguard“ zurück, blickte durch sein Spektiv zur Insel und betrachtete Sir Andrew, den Profos und die anderen Gestalten in aller Seelenruhe. „Ein feiner Haufen“, sagte er dann. „Bestimmt hat der Earl mein Schiff längst erkannt, aber das hindert ihn nicht daran, trotzdem wie ein Verrückter herumzutoben. Hat er während der Überfahrt viele Ihrer Männer auspeitschen lassen, Mister O'Brien?“ „Fast ein Dutzend“, entgegnete O'Brien. „Und mich wollte er in Ketten legen lassen, als ich mich dagegen verwahrte.“ „Die Lektion, die er in der Ostsee bezogen hat, hat ihm nichts genutzt“, sagte Hasard. „Aber ich hoffe, daß ich ihm trotzdem noch den nötigen Anstand beibringen werde.“ Er begann zu erzählen, was sich seinerzeit an Bord der „Goliath“ zugetragen hatte. * Erst bei der dritten Bootsfahrt zur „Isabella“ verließ auch Oliver O'Brien sein Schiff. Hasard und er waren die letzten Männer, die an der Jakobsleiter der „Vanguard“ abenterten und in die Jolle kletterten. Als O'Brien sich neben Hasard auf einer Ducht niederließ, warf er einen letzten Blick auf die „Vanguard“. „Adieu, alter Kasten”, sagte er bedrückt. „So sollte es zwischen uns nicht enden, aber nun muß ich dich doch aufgeben. Ich hoffe, du kannst es mir verzeihen.“ „Nicht doch, Kapitän!“ rief Carberry, der inzwischen nun auch über alles Bescheid wußte, im Donnern der Brecher. „Es ist doch nicht Ihre Schuld! Sie verlieren das Schiff wegen des unseemännischen Verhaltens dieses Rübenschweins Sir Andrew und brauchen sich selbst nichts vorzuwerfen!“
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„Er tut es aber doch“, sagte Brix, ohne daß sein Kapitän es vernehmen konnte. „So ist er nun mal, Himmel, Arsch, ich könnte diesem Earl eigenhändig den Hals umdrehen.“ „Das laß man lieber“, sagte Jack Finnegan, der neben ihm hockte. „Deswegen würde man dich in Old England nämlich hängen. Gesetz ist Gesetz, und ein stinkiger Earl of Cumberland ist nun mal mehr wert als ein kleiner Seemann. Aber die Saftsäcke da drüben kriegen trotzdem noch, was sie verdienen, verlaß dich drauf.“ Es wurde nicht näher erörtert, wie dies geschehen sollte - die Jolle legte erneut von der „Vanguard“ ab und glitt durch die schäumenden Wellen zur „Isabella“. Hasard sah O'Brian deutlich an, wie er sich um den Verlust seiner über Bord gespülten Männer und den Schiffbruch grämte. Er stellte ihm keine Fragen mehr und ließ ihn in Ruhe. Er wußte genug über die Tragödie, die sich hier abgespielt hatte. Hätte er den Earl of Cumberland jetzt vor sich gehabt, er hätte nicht gewußt, wie er sich verhalten sollte. So gesehen, war es nur gut, daß sich Sir Andrew Clifford und der Stab nach wie vor - gezwungener- maßen - auf dem Eiland aufhielten. Das Brüllen und Fluchen nutzte ihnen nichts, sie waren dazu verurteilt, noch eine Weile in der Kälte und Nässe auszuhalten. Die Jolle schor bei der „Isabella“' längsseits, und O'Brien enterte mit seiner letzten Gruppe von Männern auf. An Bord wurden sie wie die anderen Schiffbrüchigen sofort versorgt und mit trockener Kleidung versehen. Sie nahmen erstaunt zur Kenntnis, daß der Seewolf auch zwei Söhne hatte - Philip junior und Hasard junior, die Zwillinge, die sich so fleißig wie die anderen um sie bemühten und pausenlos Hemden, Hosen und Stiefel anschleppten, die erfreulicherweise in ausreichender Menge vorhanden waren. Der Kutscher und Mac Pellew hatten bereits eine heiße, kräftige Erbsensuppe mit viel Speck zubereitet. Die Männer der „Vanguard“ wurden in das Logis begleitet, hier durften sie zum Backen und Banken
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Platz nehmen. Sie löffelten die Erbsensuppe in sich hinein und tranken das heiße Wasser mit dem Rum, das von den Zwillingen ausgeteilt wurde. „Mann“, sagte Jason, und er schämte sich nicht der Tränen, die ihm heiß und brennend in die Augen traten. „Das ist, als wären wir noch mal zur Welt gekommen. Ich dachte schon, wir müßten alle verrecken. Daß wir so viel Glück gehabt haben -ich kann's überhaupt noch nicht fassen.“ So ging es auch den anderen. Alles hatte sich wieder zum Guten gewendet. Sie befanden sich in der Obhut von Landsleuten, von echten Kameraden, die sich wie Freunde um sie sorgten und es ihnen an nichts mangeln ließen. Die meisten von ihnen konnten schon wieder zaghaft lächeln - auch O'Brien, der nun wußte, daß er wenigstens seine Crew wieder heil nach England bringen würde. Auf der Rockall-Insel tobten unterdessen nach wie vor die hochwohlgeborenen Gentlemen. Sie schrien sich die Seele aus dem Leib und konnten nicht begreifen, daß der „Schiffspöbel“ samt dem „unfähigen Meuterer“ O'Brien zuerst abgeborgen worden war. In ohnmächtiger Wut ballte Sir Andrew seine Hände zu Fäusten und schüttelte sie gegen die „Isabella“, gegen die „Wappen von Kolberg“ und das Schwarze Schiff. „Killigrew!“ brüllte er. „Das wirst du mir büßen!“ Daß er froh sein konnte, dem grenzenlosen Zorn und Haß der „Vanguard“-Crew bislang entgangen zu sein, wollte ihm nicht in den Kopf. Er war der Verbandsführer, er hatte den Oberbefehl - etwas anderes hatte für ihn keine Bedeutung. 7. Wieder legte die große Jolle mit Hasard, Carberry und den Bootsgasten an Bord von der „Isabella“ ab. „Wir pullen zur Leeseite der Insel!“ rief Hasard. „Nach Osten also, ich habe dort eine kleine Bucht entdeckt, die relativ geschützt liegt!“
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„Aye, Sir!“ stieß der Profos grimmig hervor. „Aber ich sage dir noch mal - diese Mistkerle haben nicht verdient, daß wir sie abholen! Von mir aus können sie auf Rockall für ewige Zeiten ihre Ärsche einpökeln und der Nachwelt als Dingsbums dienen - als Mahnmal!“ Der Seewolf ließ sich jedoch durch die Flüche nicht beeinflussen. Die Fairneß war sein oberstes Prinzip, sie verlangte, daß er auch Sir Andrew Clifford und den Stab rettete. Daher ließ er sich durch die Klippen und an dem Wrack der „Vanguard“ vorbei zu der kleinen Bucht pullen und hielt dabei pausenlos Ausschau nach den „Gentlemen“. Die liefen auf dem Inselfelsen auf und ab und gestikulierten wie besessen, weil sie offenbar wieder Angst hatten, nicht beachtet zu werden. Erst als die Jolle der Bucht bereits sehr nah war, ging ihnen auf, daß das Manöver dieses Mal ihnen galt. „Hierher!“ brüllte Snyders. „Anlegen! Wir wollen endlich runter von der verfluchten Insel!“ Hasard dachte aber nicht daran, die Jolle zu landen, sondern blieb etwa zwanzig Yards von dem Ufer des Eilands entfernt liegen und gab seinen Männern das Zeichen, das Pullen einzustellen. Er erhob sich, glich die schwankenden Bootsbewegungen durch einen breitbeinigen Stand aus und schrie: „Fünf Mann dürfen zur Jolle schwimmen! Aber vorher müssen sie ihre Hieb- und Stichwaffen ablegen, und zwar sichtbar!“ „Wie war das?“ stieß Christopher Norton in grenzenloser Verblüffung aus. „Ich habe wohl nicht richtig gehört!“ „Die Waffen weg!“ rief Keefer jedoch. „Es ist unsere einzige Chance, sonst lassen die Kerle uns hier zurück!“ „Halten Sie Ihr dämliches Maul. Keefer!“ brüllte Sir Andrew ihn an. „Haben Sie vergessen, was ich vorhabe?“ „Nein, Sir“, entgegnete Raymond Keefer mit ungewohntem Mut. „Aber ich glaube, Sie müssen Ihren Plan mit der Geiselnahme fallenlassen. Wir haben nämlich keine andere Wahl.“
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„Zum Teufel!“ schrie der Earl. Er war drauf und dran, sich auf seinen persönlichen Adjutanten zu stürzen. Er tobte und fuchtelte mit den Armen, aber allmählich begriff auch er, daß Keefer recht hatte. Sie saßen in Teufels Küche, wenn sie nicht auf die Befehle von Philip Hasard Killigrew eingingen und sie befolgten. So bitter diese Erkenntnis für ihn war - er mußte sie akzeptieren. „Also gut“, sagte er. „Werft die Waffen weg, Männer.“ Die Pistolen, Degen, Säbel und Messer klirrten auf das Gestein. Sir Andrew verfolgte es - und dann gewann noch einmal die Wut in ihm die Oberhand. Er schimpfte und zeterte, trampelte mit den Füßen auf der Stelle und schüttelte die Fäuste. Hasard verfolgte es halb belustigt, halb verärgert. Er wußte nichts von dem Plan des Earl of Cumberland, aber er war vorsichtig und mißtrauisch genug, sich auf nichts einzulassen. Wie hinterhältig der Mann war, hatte er ja bereits zur Genüge erfahren und richtete sich entsprechend darauf ein, während Sir Andrew nichts, aber auch gar nichts hinzugelernt zu haben schien. „Killigrew!“ brüllte Sir Andrew. „Als Geschwaderchef und Kapitän der Royal Navy erteile ich Ihnen hiermit den dienstlichen Befehl, sofort zu landen, um die Schiffbrüchigen zu übernehmen! Falls Sie diesen Befehl verweigern, werden Sie sich vor einem Gericht der Royal Navy und wegen Mißachtung wertvoller Leben zu verantworten haben!“ Schallendes Gelächter aus der Jolle war die Antwort. Carberry, Roger Brighton, Blacky, Luke Morgan und die anderen Männer hatten sich diese Kerle sehr genau angesehen und wußten gut genug, mit wem sie es zu tun hatten. Von „wertvollem Leben“ konnte da kaum die Rede sein, ganz abgesehen von der maßlos arroganten Frechheit des Earls, Hasard Befehle erteilen zu wollen. „Nun hör sich einer diesen Lackaffen an“, sagte Piet Straaten. „Er sitzt im Heringsfaß gefangen und will auch noch mit Steinen
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schmeißen. So was von Dummheit und Dreistigkeit habe ich noch nicht erlebt.“ Hasard rief zur Insel: „Sir Andrew, Sie sollten bedenken, daß der Mister Geschwaderchef in dieser Situation wohl kaum noch auf seine Funktion pochen kann, zumal seine drei Schiffe aufgrund seiner eigenen Dummheit und seemännischer Unfähigkeit nicht mehr existieren!“ „Killigrew, ich verbitte mir ...“ „Sir Andrew Clifford!“ fiel Hasard ihm ins Wort. „Ich weise Sie im übrigen darauf hin, daß ein Kapitän der Royal Navy mir keine Befehle zu erteilen hat! Sie sollten lieber froh sein, daß wir Sie aus Ihrer mißlichen Lage befreien!“ „Ich werde Sie wegen Ihrer Frechheit und Ihrer ungeheuerlichen Unterstellungen zur Rechenschaft ziehen!“ brüllte der Earl. „Was fällt Ihnen ein, mir so zu antworten?“ „Sie haben die Wahl!“ rief der Seewolf. „Entweder fügen Sie sich, oder Sie bleiben, falls Ihnen das alles nicht paßt, auf der Insel! Mir soll es recht sein!“ „Landen Sie, Killigrew!“ schrie der Earl. „Sir!“ rief Hasard. „Der Geschwaderchef von drei Schiffen bin jetzt ich, und ich gebe die Kommandos, schreiben Sie sich das hinter die Ohren! Also: Ich warte auf die ersten fünf Männer, die ich bereit bin, zu übernehmen!“ „Ohne Waffen!“ fügte Carberry mit Donnerstimme hinzu. „Sonst gibt es was auf die Rüben, und zwar kräftig, ihr krummgeschissenen Prielwürmer!“ „Profos“, sagte der Earl of Cumberland. „Wenn Sie sich diesen narbigen Kerl ansehen, überfällt Sie da nicht der Wunsch, ihn zu töten? Hören Sie, wie er uns beleidigt? Ist das nicht Grund genug, ihm ein Messer zwischen die Rippen zu jagen?“ Er bediente sich jetzt wieder der Sie-Form, denn nach reiflicher Überlegung erschien es ihm taktisch klug, den GorillaMann wieder ein bißchen freundlicher zu behandeln. Nach allem Dafürhalten war er der Mann, der ihm die größte Treue und Verbundenheit bewiesen hatte -ganz im Gegensatz zu Norton, Snyders und den
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anderen, die offenbar nur auf ihren persönlichen Vorteil bedacht waren. „Ja, Sir“, erwiderte der Profos. „Ich verspreche Ihnen, daß ich mich an ihm rächen werde, auch wegen der Sache an Bord der ‚Goliath' bei Bornholm.“ „Und ich besorge es diesem Killigrew“, sagte Sir Andrew. „Wir nehmen zwei Messer mit, es dürfte uns nicht schwerfallen, sie zu verbergen. Wir schwimmen zur Jolle, klettern an Bord und beseitigen sofort Killigrew und diesen Bastard von einem Profos - der Rest dürfte ein Kinderspiel sein. Die übrigen Hundesöhne werden viel zu verwirrt sein, um uns ernstlich Widerstand zu leisten, wir räumen sie einen nach dem anderen aus dem Boot ab.“ „Das ist eine gute Idee“, sagte der Profos. „Das ist Wahnsinn!“ stieß Snyders hervor. „Darauf lasse ich mich nicht ein! Wir haben versagt, wir sind am Ende, wir können uns nur noch abbergen und wieder hochpäppeln lassen, wenn's geht - das ist alles! Zur Hölle, ich habe die Nase voll!“ „Was?“ Sir Andrew fuhr zu ihm herum. „Das ist Insubordination! Meuterei! Ich stelle Sie vor ein Kriegsgericht, Snyders!“ „Tun Sie doch, was Sie wollen!“ brüllte der Offizier für Sonderaufgaben. „Mir ist alles egal! Ich will hier weg! Ich bin schon jetzt ganz krank!“ „Sie verlassen die Insel Rockall nur, wenn ich Ihnen das befehle!“ schrie der Earl mit schriller, nahezu kreischender Stimme. „Und wenn ich mich widersetze?“ rief Snyders höhnisch. „Was passiert dann? Hängen Sie mich dann auf? Wo denn? Hier gibt's ja nicht mal einen lausigen Baum!“ Der Earl wollte sich auf ihn stürzen, wie er es auch schon bei Keefer vorgehabt hatte, doch Norton und der Erste Offizier hielten ihn zurück. Es Wurde wieder geflucht und gezetert, die Männer warfen sich die schlimmsten Verwünschungen an die Köpfe. Es fehlte nicht mehr viel, und auf Rockall begann die schönste Prügelei. *
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„Das ist wirklich das letzte“, sagte Carberry. „Sir, wie lange wollen wir uns das noch mit ansehen? Mir wird gleich schlecht. Die sind ja schlimmer als die Hofschranzen und miesen KontorKakerlaken in London.“ „Man sollte ihnen eine Höllenflasche zwischen die Beine schmeißen“, meinte Stenmark. „Dann würde ihnen das Geschrei schon vergehen.“ „Was unternehmen wir jetzt?“ wollte Roger Brighton wissen. „Wir pullen an“, entgegnete der Seewolf. „Wir drehen und kehren ganz gemütlich zur ‚Isabella' zurück. Mal sehen, wie sich die Gentlemen dann verhalten.“ Gesagt, getan - sie ruderten an und entfernten sich in gemächlichem Tempo. Carberry grinste, spitzte sogar die Lippen und begann, eine Melodie zu pfeifen - so entsetzlich falsch, daß selbst Blacky, der nicht sonderlich musikalisch war, entsetzt das Gesicht verzog. „Erbarmen“, sagte Luke Morgan. „Mir ist viel lieber, wenn du fluchst, Ed.“ „Ja, aber ich habe keinen Grund zum Fluchen. Ich freue mich darüber, daß wir die Saubande auf der Insel sitzenlassen, verstehst du? Deshalb pfeife ich ein Liedchen.“ Doch jetzt hatten auch die Mitglieder des Hochwohlgeborenen-Stabes bemerkt, daß sich die Jolle wieder in Bewegung gesetzt hatte. Schlagartig endete der Streit. Sir Andrew fuhr zur Bucht herum und brüllte: „Haaalt! Zurück! Was fällt euch ein?“ „Wir wollen doch mit!“ schrie Snyders¬, dann schleuderte er das letzte Messer, das er als Reserve noch im Gurt stecken hatte, weit von sich und rannte zum Wasser. Der Erste, Zweite und Dritte Offizier folgten seinem Beispiel, sie waren sich inzwischen darüber einig geworden, daß es klüger war, den Earl im Stich zu lassen als die einmalige Gelegenheit, von der RockallBank gerettet zu werden, zu vertun. Die vier Männer stürzten zur Bucht. Snyders glitt auf dem nassen Gestein aus, schlug der Länge nach hin, schrammte sich die Brust und die Arme auf und verkratzte
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sich das Gesicht, rappelte sich aber sofort wieder auf und setzte seine wilde Flucht fort. Die drei Offiziere hatten ihn inzwischen erreicht. Gemeinsam liefen sie in die tosende Brandung, arbeiteten sich hindurch und begannen zu schwimmen. „Nehmt uns mit!“ brüllte Snyders den Männern der „Isabella“ zu. „Wir haben keine Waffen! Wir tun alles, was ihr von uns verlangt!“ „Snyders!“ schrie der Earl of Cumberland bebend vor Zorn. „Ich lasse Sie als Meuterer und Deserteur hinrichten! Das gilt auch für die anderen!“ „Aye, Sir!“ rief der Erste, dann gab er einen blubbernden Laut von sich, weil er Wasser geschluckt hatte. Sir Andrew Clifford bückte sich und hob seinen Degen wieder von den Inselfelsen auf. Mit einem Ruck drehte er sich zu Norton, Keefer und dem Profos um. „Nun, meine Herren?“ fragte er lauernd. „Will noch jemand fliehen? Nur zu, ich warte darauf.“ „Sir“, sagte Christopher Norton. „Sie kennen uns, Sie wissen, daß wir uns Ihnen gegenüber absolut loyal verhalten. Sie brauchen nicht zu befürchten, daß wir gegen Ihre Anordnungen verstoßen.“ „Dann bin ich ja beruhigt“, sagte Sir Andrew. Doch er wußte, daß Nortons Erklärung nur auf dem Respekt beruhte, den er vor der Waffe hatte. In der Jolle der „Isabella“ hatten die Männer auf Hasards Anweisung hin wieder mit dem Pullen aufgehört und blickten zu den vier Männern, die sich ins Wasser gestürzt hatten und zu ihnen herüberschwammen. Luke Morgan mußte unwillkürlich lachen. „Sieh mal, Ed“, sagte er. „Die Kerle haben keinen Grund. Aber du hast auch keinen Grund mehr zum Pfeifen, was?“ „Was bist du doch für ein Witzbold, Luke Morgan“, sagte Carberry mit säuerlicher Miene. „Aber recht hast du. Das gefällt mir gar nicht.“ „Mister Carberry“, sagte der Seewolf scharf. „Darf ich dich daran erinnern, daß es unsere Pflicht ist, sie zu bergen und ihnen zu helfen?“
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„Ja. Aber damit nähren wir eine Schlange an unserem Busen, wie Donegal vorhin gesagt hat“, erwiderte der Profos. „Diesmal übertreibt er nicht, Sir.“ „Das weiß ich genauso gut wie du.“ Er wollte noch etwas hinzufügen, schwieg aber, weil einer der Männer im Wasser Snyders - jetzt zu schreien begann. „Helft mir! Ich kann nicht - so gut schwimmen!“ Prompt verschwand sein Kopf unter Wasser, nur seine Hände waren noch zu sehen. Die drei Offiziere kümmerten sich nicht weiter um ihn, sie hatten bei dem Wellengang selbst genug damit zu tun, sich an der Oberfläche zu halten. „Auch das noch“, sagte Jack Finnegan. „Schon geht der Ärger mit den Kerlen los.“ Er schwenkte aber seinen Riemen aus und hielt ihn so, daß Snyders, der eben wieder mit verzweifeltem Gesicht auftauchte, das Blatt packen konnte. Snyders klammerte sich fest und gab japsende und keuchende Laute von sich. Die drei Offiziere hatten die Jolle inzwischen erreicht. Carberry streckte ihnen mit versteinerter Miene die rechte Pranke entgegen und hievte sie einen nach dem anderen an Bord. Luke Morgan half George Snyders, ein wenig später hockten sie zitternd zwischen den Duchten. Das Wasser war eiskalt, es nahm einem den Atem und setzte auch einem abgehärteten Körper schwer zu. „Herhören!“ fuhr Carberry die Männer an. „Wenn ihr stänkern wollt wie auf der Insel, kriegt ihr was aufs Maul. Klar?“ „Klar“, murmelte Snyders. Verschüchtert kroch er in sich zusammen. Die Offiziere wagten ebenfalls nicht, auch nur ein Wort zu sagen. Von der Ausführung des Planes, gegen die Seewölfe zu kämpfen und Geiseln zu nehmen, waren sie weit entfernt. Was sollten sie gegen diese harten Männer ausrichten, die im Gegensatz zu ihnen einen gestärkten und rundum zufriedenen Eindruck erweckten und sich außerdem in der Überzahl befanden? Sir Andrew war verrückt, er sollte sein Vorhaben selbst verwirklichen, ihnen war das zu riskant.
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Mehr noch - es wäre mit Selbstmord gleichzusetzen gewesen. Die Jolle kehrte unter dem zügigen Riemenschlag der Seewölfe zur „Isabella“ zurück. Kaum waren sie an Bord angelangt, wurden die vier Schiffbrüchigen noch einmal von Smoky gefilzt. Er tastete sie sorgfältig ab. Als die Reihe an dem Zweiten Offizier war, stockte er plötzlich in seinen Bewegungen. Er griff dem Mann hinter den Hosenbund und sagte: „Sieh mal einer an.“ Ein Messer erschien und landete auf den Planken des Hauptdecks. Smoky richtete sich auf, holte aus und verpaßte dem Zweiten Offizier eine Ohrfeige, die ihn bis an die Querwand des Vorkastells beförderte. Der Mann stöhnte vor Schmerz und Entsetzen auf. Smoky packte den Dritten Offizier, der sich vor ihm zurückzuziehen versuchte, und nach kurzer Suche förderte er auch aus dessen Hosenbund ein verstecktes Messer zutage. Wieder klatschte es hell, und der Mann torkelte rückwärts bis zu seinem Achterdeckskollegen, mit dem er hart zusammenprallte. Sie wankten und stürzten auf die Planken, hielten sich die schmerzenden Wagen und blickten betroffen zu dem Decksältesten der „Isabella“, der sich mit der Hand durch die leicht zerzausten Haare strich. „So, ihr Ratten“, sagte er. „Jetzt wißt ihr gleich, von wo der Wind hier auf der ‚Isabella` weht. Richtet euch gefälligst danach, sonst könnte es sein, daß ihr bald den nächsten Sturm auf die Mütze kriegt.“ 8. Hasard ließ Sir Andrew, dessen Profos, Norton und Keefer zunächst eine Weile auf der Insel zappeln und schmoren, er hatte keine Eile. Während O'Brien und die Crew der „Vanguard“ sich stärkten und sich mit der _Isabella“ vertraut machten, empfing Hasard den Wikinger und Arne von Manteuffel, die sich mit Booten vom Schwarzen Segler und von der „Wappen von Kolberg“ zur „Isabella“ übersetzen ließen.
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Sie enterten an Bord, und Thorfin Njal polterte sofort los: „Wir wollen jetzt endlich wissen, was hier los ist! Bei Odin, wer sind denn diese beknackten Hampelmänner, die auf dem Eiland herumhüpfen und schreien?“ „Das sind sehr liebenswerte Leute“, erwiderte Hasard grinsend. „Sie verdienen nicht, daß du sie so beschimpfst. Thorfin.“ „Aber ich hätte große Lust, sie mit meinem Messerchen zu kitzeln. Woran liegt das?“ „Spaß beiseite“, sagte Arne von Manteuffel, der sich von Nils Larsen alles übersetzen ließ. „Sie sind eine Clique von ausgekochten Hundesöhnen, nicht wahr? Was haben sie angestellt?“ Hasard berichtete, was sich seinerzeit in der Ostsee bei Bornholm zugetragen hatte, wo sie zum ersten Male mit Sir Andrew aneinandergeraten waren. Der Wikinger und Arne lauschten gespannt. Dann, als Hasard seine Erzählung abgeschlossen hatte, war es wieder Thorfin Njal, der einen wüsten Fluch ausstieß und rief: „Bei Geri und Freki, ich würde diesem Drecksack von Earl am liebsten das Logbuch der ,Goliath' um die Ohren hauen! Das hätte er nachträglich verdient! Aber warum lassen wir ihn nicht auf der Rockall-Insel vergammeln?“ „Das habe ich auch schon gefragt“, sagte Carberry trocken. „Aber wir sind ja anständige Leute, und wir lassen keinen noch so großen Schweinehund verrecken. Es ist unsere Pflicht, die Affenärsche zu retten, jawohl.“ „Sehr richtig, Ed“, sagte der Seewolf. „Deswegen kannst du mit deiner Jollencrew auch gleich wieder abentern. Wir legen wieder ab und nehmen noch einmal Kurs auf die Insel.“ „Ein tolles Stück!“ stieß der Wikinger hervor. „Soll ich euch begleiten?“ „Wir schaffen das auch allein“, erwiderte Hasard lächelnd. „Na, dann kehren wir eben auf unsere Schiffe zurück“, sagte der Wikinger grollend. Er hieb zuerst Hasard und dann Arne auf die Schulter, daß es krachte, dann schwang er sich über das Schanzkleid und hangelte an der Jakobsleiter in seine Jolle,
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wo Arne, Eike, Oleg und der Stör auf ihn warteten. Arne von Manteuffel wechselte noch ein paar Worte mit seinem Vetter, dann verließ auch er die „Isabella“ und kletterte in seine Jolle, die wie Thorfins Boot mit vier Rudergasten besetzt war. Die Boote schoben sich auf „Eiliger Drache“ und die „Wappen von Kolberg“ zu und schwankten in der Kabbelsee. Thorfin Njal richtete sich trotzdem hoch auf und winkte Gotlinde zu, die auf dem Achterdeck seines Schiffes stand und lachend die Hand hob. „Bei Wotan!“ rief er. „Was für ein prächtiges und allerliebstes Frauenzimmer sie doch ist! So zart und so jung!“ „Zart und jung“, echote der Stör, der auch nach der Reise durch den hohen Norden seine alte Gewohnheit, immer die letzten Worte nach - zuplappern, nicht abgelegt hatte. Der Wikinger verpaßte ihm sofort einen Boxhieb, der ihn um ein Haar von der Ducht fegte und ins Wasser beförderte. „Für dich haben nur die Sprotten zart und jung zu sein, du Lorbas!“ brüllte er ihn an. „Und daß du es ja nicht wagst, Gotlinde anzuglotzen!“ „Gotlinde nicht anglotzen“, stammelte der Stör. „Nein, ja. Ich meine - natürlich.“ Thorfins Gesicht verzerrte sich zu einer gräßlichen Fratze, seine Augen weiteten sich. „Wie war das?“ schrie er. „Ich werde dein Weib nicht ansehen“, sagte der Stör zaghaft. Die Züge des Wikingers glätteten sich wieder. „So ist's recht“, sagte er. „Im Grunde bist du ja doch ein kluges Kerlchen, Stör, wenn du auch manchmal blödes Zeug redest.“ Auch die Jolle der Seewölfe hatte unterdessen von der Bordwand der „Isabella“ abgelegt und näherte sich wieder der kleinen Bucht an der Ostseite der Rockall-Insel. Dort hatte sich inzwischen fast unbemerkt von den Männern der Schiffe - wieder einiges abgespielt. *
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„Jetzt ist alles verloren“, sagte Raymond Keefer, als die Jolle hinter dem Wrack der „Vanguard“ verschwunden war. „Die kehren nicht noch einmal zurück. Wir bleiben hier und sterben einen gräßlichen Tod.“ Norton äußerte nichts, er wartete nur darauf, daß Sir Andrew den Degen sinken ließ und nicht mehr zu ihm blickte. Sobald seine Aufmerksamkeit auch nur einen Moment nachließ, würde er das zu nutzen wissen. , „Killigrew ist nicht der Mann, der sich eines solchen Verbrechens schuldig macht“, sagte der Earl. „Er muß uns abbergen, etwas anderes bleibt ihm gar nicht übrig.“ „Ja“, pflichtete der Profos ihm bei. „Das ist doch klar.“ „Verzeihung, Sir, aber da bin ich anderer Meinung”, sagte Keefer. Sir Andrew fuhr zu ihm herum. „Sie benehmen sich in letzter Zeit ziemlich aufmüpfig und regelwidrig, Keefer!” schrie er ihn an. „Ich will Ihnen jetzt mal was sagen ...“ „Achtung, Sir!“ unterbrach der Profos ihn durch einen Ruf. Norton hatte die Flucht ergriffen. Er lief zur Bucht und wollte sich ins Wasser stürzen, wie Snyders und die drei Offiziere das getan hatten. Da der Sturm nachgelassen hatte, hatte er eine echte Chance, schwimmend bis zum Wrack der „Vanguard“ zu gelangen. Von dort aus konnte er diesem Philip Hasard Killigrew wenigstens zurufen, er möge ihn retten und wenn er Geld dafür bot, würden die Männer der „Isabella“ sicherlich nicht zögern, ihn abzuholen. Der Profos wollte ihm folgen. geriet aber mit dem fluchenden Sir Andrew ins Gehege. Keefer war es, der am schnellsten an ihnen vorbei war und sich an Nortons Fersen heftete. Bevor dieser das Wasser erreichte. warf er sich auf ihn und packte seine Beine. Sie fielen beide auf das harte Gestein, überrollten sich und hieben dann mit den Fäusten aufeinander ein, wobei Keefer auch nach zwei Treffern gegen seine Brust und gegen seinen
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Wangenknochen nicht daran dachte, nachzugeben. Er kämpfte wie eine Katze. Norton :fluchte und schrie, es gelang ihm nicht, sich aus der Umklammerung zu befreien. „Laß mich los!“ rief er. „Rück erst das Geld raus!“ brüllte Keefer. „Ich habe kein Geld!“ „Du Lügner ! Du dreckiges Schwein! Ich weiß, daß du es geklaut hast !“ Sir Andrew Clifford und der Profos waren zu ihnen geeilt. Sir Andrew bückte sich und zog Norton den Knauf seines Degens über den Hinterkopf. Norton gab nur noch einen schwachen Laut von sich und brach dann zusammen. Reglos blieb er auf den Felsen liegen. „Hochinteressant“, sagte der Earl. „Mister Keefer, vielleicht habe ich mich doch in Ihnen getäuscht. Bitte, durchsuchen Sie den Mann.“ Keefer befolgte den Befehl und förderte die Gold- und Silbermünzen zutage, die Norton aus den Achterdecksräumen der „Vanguard“ hatte mitgehen lassen. Sir Andrew schob die Unterlippe leicht vor und schien angestrengt nachzudenken. Als Norton wenig später ins Bewußtsein zurückkehrte und sich stöhnend den Kopf rieb, hielt ihm Sir Andrew das Häufchen Münzen mit beiden Händen entgegen. „Wir wollen nicht mehr darüber reden“, sagte er zur Überraschung seiner Männer. „Ich habe Ihnen einen Vorschlag zu unterbreiten. Es nutzt uns nichts, daß wir uns herumstreiten, es führt zu nichts. Nur gemeinsam sind wir stark. Zu viert sind wir, wenn wir klug vorgehen, immer noch eine ansehnliche Streitmacht.“ Norton war da völlig anderer Ansicht, aber er hütete sich, jetzt zu widersprechen. Er konnte froh sein, daß ihn Sir Andrew wegen des Gelddiebstahls nicht sofort zur Rechenschaft zog. „Diese Münzen“, sagte der Earl. „Ich bin bereit, sie gerecht an Sie zu verteilen - an Sie, Norton, an Sie, Keefer, und selbstverständlich auch an Sie, Profos. Hatte ich Ihnen nicht versprochen, daß Sie sich durch einen kühnen Einsatz gegen
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Killigrew und dessen Piratenmeute auszeichnen könnten?“ „Ja, Sir, das hatten Sie“, erwiderte Keefer schwach. Um Himmels willen, dachte er, was hat er sich jetzt wieder ausgedacht? Sir Andrew erklärte: „Sie erhalten nicht nur eine ansehnliche Geldprämie von mir, ich werde Sie auch befördern, wenn Sie bei dem, was ich vorhabe, mitmachen. Mister Keefer, ich wäre durchaus bereit, Sie zum Offizier zu ernennen. Und Sie, Profos - wie würden Sie sich als Navigationsoffizier fühlen?“ „Prächtig, Sir!“ „Einen Augenblick!“ stieß Norton entsetzt hervor. „Sie wollen mich meines Postens entheben, Sir, mich degradieren?“ „Ich gebe Ihnen eine Chance, Norton. Nutzen Sie die. Ich befördere Sie zum Kapitän, wenn Sie sich bewähren, wie ich das von Ihnen erwarte.“ Sir Andrew wartete die Wirkung seiner Worte ab, doch bei Norton wollte sich keine rechte Begeisterung zeigen, was zweifellos aber auch daran lag, daß Hunger, Durst, Müdigkeit, Kälte und Nässe ihm schwer zusetzten - und natürlich die Beule, die sich allmählich auf seinem Hinterkopf bildete. „Ich, äh - werde versuchen, Sie nicht zu enttäuschen, Sir“, sagte Norton, doch wie diese Formulierung genau auszulegen war, blieb vorerst ungeklärt. Sir Andrew genügte sie als Zusicherung, er war jetzt davon überzeugt, daß diese drei Männer - im Gegensatz zu Snyders und den drei Offizieren, die feige die Flucht ergriffen hatten - zu ihm halten würden.. Es gelang ihm, seine „Streitmacht“ unter Versprechungen, Geldprämien und Beförderungen dahin aufzuputschen, daß sie zwar zu der Jolle schwammen, wenn sie noch einmal zu ihnen zurückkehrte, sie dann aber im Sturm nahmen. „Im Sturm“ Norton erschien dieser Ausdruck zweideutig, aber er behielt seine Meinung wieder für sich. „Da!“ stieß der Profos plötzlich hervor. „Die Jolle!“ Sie wandten ihre Köpfe und blickten zu dem Wrack der „Vanguard“, das sich
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zwischen den Klippen etwas nach Backbord geneigt hatte und nun auch tiefer im Wasser zu liegen schien. Die Umrisse der achtriemigen Jolle tauchten aus den Gischtnebeln auf, die nach wie vor über den Wogen aufstiegen, und es war deutlich zu erkennen, daß die Besatzung Kurs auf die kleine Bucht von Rockall-Eiland nahm. „Nun, Mister Keefer?“ fragte der Earl mit triumphierender Miene. „Habe ich es Ihnen nicht gesagt? Sie kehren zu uns zurück. Killigrew kann sich gar nicht anders verhalten. Es wäre ein todeswürdiges Verbrechen, wenn er uns auf der Insel zurücklassen würde - und das weiß er.“ „Ja, Sir, Sie hatten recht“, entgegnete Raymond Keefer. „Es tut mir leid, daß ich an Ihren Worten gezweifelt habe.“ „Ich verzeihe Ihnen“, sagte Sir Andrew großzügig. Er war versöhnlich gestimmt, denn das Ende all ihrer Leiden schien nah zu sein. Man mußte es nur richtig anpacken, dann wendete sich das Blättchen zu ihren Gunsten. Philip Hasard Killigrew, so dachte der Earl, rechnet nicht mehr damit, daß wir noch etwas gegen ihn unternehmen, er glaubt, wir seien restlos am Boden. Aber er täuscht sich -noch gebe ich mich nicht geschlagen. Ein Earl of Cumberland hat den längeren Atem. Die Stunde der Rache hat geschlagen. Doch er beging wieder einen Fehler - wie damals bei Bornholm. Er unterschätzte die Umsicht und das Urteilsvermögen des Seewolfs. * „Seht euch die Kerle an“, sagte der Seewolf und gab seinen Männern das Zeichen, mit dem Pullen innezuhalten. „Die planen schon wieder etwas gegen uns. Aber was immer es ist, wir durchkreuzen es.“ „Dieser Earl of Cumberland lernt es nicht mehr“, sagte Blacky. ,.Er ist total verbohrt, und das wird ihm das Genick brechen.“ „Man braucht sich nur die Visagen der vier Kerle anzuschauen“, sagte Carberry, der seinen Kieker auseinandergezogen und auf
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die Insel gerichtet hatte. „Dann weiß man, was sie wollen. Sie bilden sich ein, sie könnten unsere Jolle kapern.“ „Aber sie bilden es sich wirklich nur ein“, sagte der Seewolf. Er richtete¬ sich von seiner Ducht auf. „Ed, bring achtern eine Wurfleine aus.“ „Aye, Sir, wird sofort erledigt.“ Carberry steckte den Kieker weg, bückte sich und zog eine Taurolle unter der achteren Ducht hervor. Er schleuderte sie achteraus und begleitete das Klatschen, mit dem sie im Wasser landete, mit einem grimmigen Laut der Genugtuung. Die anderen Männer grinsten sich untereinander zu, sie hatten ebenfalls begriffen, was Hasard vorhatte. „Sir Andrew Clifford!“ rief Hasard zur Insel. „Wir warten auf Sie! Brauchen Sie eine Sondereinladung?“ „Nein! Sie wollen immer noch nicht landen?“ „Sie müssen leider schwimmen!“ „Ich nehme das auf mich!“ brüllte Sir Andrew. „Aber das wird seine Konsequenzen für Sie haben, Killigrew, das ist gewiß!“ „Die Waffen weg!“ schrie Hasard. „Ich will sehen, wie Sie sie auf die Felsen werfen!“ „Wir haben sie bereits fallengelassen!“ rief der Earl. Demonstrativ öffnete er die Finger seiner rechten Hand, und auch der Degen, den er bislang noch gehalten hatte, klirrte zu Boden. „Sehr eindrucksvoll!“ rief Hasard höhnisch. „Aber Sie haben die Messer vergessen, die Sie unter Ihrer Kleidung verbergen! Sagen Sie auch Ihrem Profos und den beiden anderen durchlauchten Herrschaften Bescheid - wir wollen die Messer sehen!“ „Also gut!“ zischte Sir Andrew seinen drei Begleitern zu. „Weg mit den verdammten Messern! Wir schaffen es auch ohne Waffen, die Kerle zu überwältigen. Ich nehme mir Killigrew vor, sobald ich an Bord der Jolle bin, und wenn seine Halunken sehen, wie ich ihm seine eigene Pistole an die Kehle halte, geben sie sofort jeden Widerstand auf.“
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„Sir“, sagte Norton heiser. „Sind Sie wirklich überzeugt, daß es klappt?“ „Verlassen Sie sich ganz auf mich.“ Norton warf Keefer einen vielsagenden Blick zu. Keefer hatte ihm das Geld abgenommen, doch er trug es ihm nicht nach, welchen Sinn hätte das jetzt noch gehabt? Nortons Überzeugung nach waren sie beide die einzigen auf Rockall, die noch halbwegs vernünftig denken konnten. Sir Andrew und der Profos hingegen hatten sich in die Wahnsinnsidee verrannt, die Männer der „Isabella“ übertölpeln zu können. Wie schwerwiegend ihr Irrtum war, würde sich gleich zeigen. So verständigten sich Norton und Keefer miteinander, ohne ein einziges Wort zu sprechen. Sie waren sich einig - der Earl war durchgedreht, es hatte keinen Zweck, seinen Versprechungen Glauben zu schenken. Die vier Männer zückten ihre Messer und hielten sie für kurze Zeit in den Händen, fast schien es ihnen leid zu tun, sich davon zu trennen. Dann aber klirrten auch diese Waffen auf die Felsen, und Sir Andrew hob bedeutungsvoll beide Hände. „Sehen Sie?“ schrie er. „Wir gehorchen! Genügt Ihnen das?“ „Ja“, antwortete Hasard. „Sie können kommen!“ „Was hat die Leine zu bedeuten?“ wollte Sir Andrew wissen. „Sie können sich daranhängen!“ schrie Hasard unter dem Gelächter seiner Kameraden. „Wir schleppen Sie bis zur ‚Isabella'. Leider können wir Ihnen nicht gestatten, zu uns an Bord der Jolle zu entern, wir sind bereits vollzählig!“ „Das geht zu weit!“ brüllte Sir Andrew. „Sir!“ schrie Hasard zurück. „Wenn Sie wirklich Wert darauf legen, zu unserem Schiff geschleppt zu werden, dann ergreifen Sie die Gelegenheit, bevor wir uns das anders überlegen! Hängen Sie sich an die Leine!“ „Niemals!“ „Sollten Sie aber versuchen, sich an der Leine zur Jolle zu hangeln, werfen wir die Leine los, und Sie können Ihr weiteres Leben auf der Insel beschließen!“ Hasard
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nahm wieder auf seiner Ducht Platz und sagte zu seinen Männern: „Los, es ist genug gesprochen worden. Ich habe keine Lust, noch mehr Zeit zu verlieren.“ Langsam ließ er anrudern. Die Leine spannte sich ein wenig. Mit halb amüsierten, halb neugierigen Mienen verfolgten die Männer, was auf der Insel geschah. „Teufel!“ brüllte Sir Andrew. „Bastarde!“ Aber auch das nutzte ihm nichts mehr, die Partie war verloren. Sämtliche Pläne waren zunichte, er konnte nur noch kapitulieren. Doch immer noch zögerte er und wollte nicht einsehen, daß er sich fügen mußte. Anders Christopher Norton und Raymond Keefer: Plötzlich liefen sie einfach los und stürzten sich ins Wasser. Sie begannen zu schwimmen, als säßen ihnen sämtliche Teufel der Hölle im Nacken. Sie waren mit ihren Nerven am Ende und hatten es satt, auf die vagen Versprechungen ihres Kommandanten zu hören. „Verräter!“ brüllte Sir Andrew ihnen nach. „Feige Hunde!“ Norton und Keefer waren durchaus bereit, jede Belastung hinzunehmen. Auch die Aussicht, später von Sir Andrew bestraft zu werden, konnte sie nicht mehr schrecken. Nichts konnte so schlimm sein wie ein weiteres Verweilen auf der öden Insel. Entgeistert blickte der Profos den Männern nach, dann wandte er sich langsam zu Sir Andrew um, der einen Schritt hinter ihm stand und wieder vor Zorn am ganzen Leib zitterte. „Sir“, sagte er mit dumpfer Stimme. „Sollten wir nicht auch nachgeben? Es wir gehen hier doch vor Hunger und Durst ein, wenn wir uns nicht fügen.“ „So eine Gemeinheit“, sagte der Earl of Cumberland, und sein Blick war jetzt entrückt und seltsam weltfremd. „Womit haben wir verdient, daß man uns wie den letzten Dreck behandelt? Oh, wie ungerecht doch alles ist.“ „Sir, hätten Sie etwas dagegen, wenn ich auch losschwimmen würde?“
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„Rächen werde ich mich“, murmelte der Earl. „Es wird Todesurteile hageln, jawohl.“ „Die Jolle ist schon ein ganzes Stück weg“, sagte der Gorilla-Mann. ...Wenn wir nicht endlich springen, haben wir auch diese Chance verpaßt.“ „Was sagen Sie da, Profos?“ „Daß wir uns wie Norton und Keefer an der verfluchten Leine festklammern sollten.“ „Wenn dies wirklich Ihr Wunsch ist, so will ich ihm stattgeben.“ „Vielen Dank, Sir“, sagte der Profos und setzte sich vorsichtig in Bewegung. Sir Andrew blickte zur Jolle, die immer weiter davonglitt, dann wanderte sein Blick zum Wrack der „Vanguard“ und wieder zurück zur Insel. Kahle, nasse Felsen, von denen nicht einmal ein lausiger Vogel aufflatterte - hier sollte seine Karriere als Geschwaderchef und Verbandsführer zu Ende sein? Plötzlich geriet Bewegung in seine Gestalt, er folgte dem Profos und schrie: „He, warte auf mich, du Hund! Willst du mich hier allein zurücklassen!“ Er lief zum Wasser, erreichte den Profos, ehe dieser sich mit ausgebreiteten Armen in die Fluten warf, versetzte ihm einen kräftigen Stoß in die Seite und sprang selbst. Mit einem lauten Klatscher landete er im Wasser. Der Profos taumelte, fluchte, erlangte das Gleichgewicht wieder und stieß sich von den Felsen der kleinen Bucht ab. Mit einem Kopfsprung tauchte er ein, brachte sich mit zwei, drei mächtigen Zügen unter Wasser voran, schoß wieder hoch und war neben Sir Andrew Clifford. Er schwamm mit ihm um die Wette. Aber es war nicht so leicht, das Tempo des Earls zu halten, denn der wurde jetzt von der nackten Angst und Panik gepackt, doch noch auf dem Eiland zurückbleiben zu müssen. . Endlich langten sie bei der rettenden Leine an und klammerten sich daran fest. Norton und Keefer waren vor ihnen, ihre Mienen waren verbissen. Es war nicht leicht, sich über Wasser zu halten, immer wieder drohten sie unterzutauchen.
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„Killigrew!“ brüllte Sir Andrew. „Lassen Sie wenigstens mich, den Kapitän, an Bord!“ Hasard schüttelte den Kopf. „Tut mir leid, das kann ich nicht riskieren. Meine Männer sind der Ansicht, daß es weitaus weniger gefährlich wäre, eine Pütz voll Wasserschlangen im Boot zu haben.“ Wieder lachten die Seewölfe. Carberry schaute von der achteren Ducht zu den vier erbärmlichen Gestalten im Wasser und hob mahnend den Zeigefinger. „Schön festhalten, ihr Bilgenratten!“ rief er. „Wir kehren nicht noch mal um! Wer auf der Strecke bleibt, wird nicht eingesammelt! Wir haben sowieso schon eine Menge Zeit mit euch verplempert!“ „Ogottogott!” jammerte Sir Andrew. „Es ist so bitter kalt!“ „Was, wie?“ fragte Carberry und drehte sein Gesicht wieder der Crew zu. „Habt ihr verstanden, was er gesagt hat?“ „Nein, nicht die Bohne“, erwiderte Luke Morgan. „Ich glaube, das liegt daran, daß er zuviel Wasser in seinem Schott hat.“ Brüllendes Gelächter ertönte und verklang erst wieder, als sie die „Isabella“ fast erreicht hatten. Keiner von ihnen hatte Erbarmen mit dem Earl of Cumberland und seiner Clique. Mit der achtern hängenden Last war die Jolle schwerfälliger als zuvor, die Rückkehr zum Schiff nahm etwas mehr Zeit in Anspruch als die vorherigen Fahrten. Und auch sonst verlief nicht alles so reibungslos, wie sich das beispielsweise Norton und Keefer ausgemalt hatten: Immer wieder schluckten die vier Kerle Wasser, außerdem war es wirklich gräßlich kalt. Sie fluchten und zitterten, klagten und jammerten. „Gut so“, sagte Carberry gelassen. „Das wird ihnen die Grillen austreiben.“ Auf seinen Profos-Kollegen hatte er sowieso einen besonderen Pik, seit er ihm in der Ostsee zum erstenmal begegnet war. Rücksicht? Nein, die gab es für dieses Gesindel nicht. Wenn jemand die Betreuung und Obhut der Seewölfe verdiente, dann waren es Oliver O'Brien und dessen Crew, sonst niemand.
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Die Jolle schor an der Bordwand der „Isabella“ längsseits, und sogleich begannen die Arwenacks mit vereinten Kräften, die vier Kerle aus dem Wasser zu bergen und an Bord zu schaffen. Sir Andrew, der Profos, Norton und Keefer waren mehr tot als lebendig, sie waren kaum noch fähig, ein Wort zu sagen. Selbst das Stöhnen fiel ihnen schwer. Sie wurden zur „Isabella“ aufgehievt. Der Kutscher und Mac Pellew nahmen sie in Empfang und untersuchten sie, doch rasch vergewisserten sie sich, daß die vier zäher waren, als man ursprünglich vielleicht angenommen hatte. „Wenn sie erst mal einen Schlag Erbsensuppe weg haben, sind sie gleich wieder voll bei Sinnen“, sagte Mac Pellew mit säuerlichem Gesichtsausdruck. „Sie kriegen höchstens eine Erkältung, sonst aber auch nichts.“ „Ganz meine Meinung“, sagte der Kutscher. „He, Bob. Sam und Bill, faßt ihr mal mit an? Wir tragen die Gentlemen in den Krankenraum.“ „Warum?“ fragte Sam Roskill. „Ich denke, die sind nicht krank.“ „Und selber laufen können sie auch“, fügte Bob Grey hinzu. „Seht mal, sie bewegen sich schon wieder.“ „Ich finde, es ist schade um die schöne Suppe“, sagte Bill. „Die reine Verschwendung. Ich würde ihnen lieber Schlick zu futtern geben.“ „Nun redet doch keinen Tang“, sagte der Kutscher. „Da sie an Bord sind, ist es auch unsere Pflicht, uns um sie zu kümmern. Ich kann nicht riskieren, daß sie sich eine Lungenentzündung wegholen.“ „Nein, das will ich auch nicht“, sagte Hasard, der eben auf enterte und das Hauptdeck betrat. „Ab mit den Burschen in die Krankenkammer. Packt sie warm ein und gebt ihnen genug heiße Suppe, das hilft.“ „Ja, ja, schon gut”, brummelte Sam Roskill. „Aber wir werden ja sehen, was wir davon haben. Als Dank scheißen sie
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uns vielleicht noch an Deck. Zuzutrauen ist es ihnen.“ „Mister Roskill“, sagte der Kutscher. „Ich wäre dir dankbar, wenn du dich einer etwas gewählteren Ausdrucksweise bedienen könntest.“ „In Ordnung“, sagte Sam. „Also, ich hätte lieber gesehen, wenn sich diese Gentlemen zur ewigen Ruhe auf den Grund der See begeben hätten, wo auch die armen Teufel von der ‚Serapis' und der ,Antiope` liegen. Zufrieden, Mister Kutscher?“ „Besser hättest du es nicht sagen können.“ Die Männer schleppten den Earl samt seiner Gefolgschaft fort und verfrachteten sie in die Krankenkammer an der Steuerbordseite des Vorkastells, wo Snyders und die drei Offiziere bereits untergebracht worden waren. Hasard ließ seine Jollencrew an Bord, dann wurde auch die Jolle hochgehievt, eingeschwenkt und wieder auf dem Hauptdeck festgezurrt. Hasard hielt Inspektion und überzeugte sich davon, daß auf den Manöverstationen alles bereit war. Er erkundigte sich auch bei Ferris Tucker, ob er den Schiffsinnenraum noch einmal untersucht hätte. „Ja, Sir“, antwortete der rothaarige Riese. „Die ‚Lady hält sich tapfer, wir haben keinen Tropfen Leckwasser. Wir können sofort weitersegeln.“ „Gut. Ist bei Thorfin und Arne auch alles in Ordnung?“ „Ja“, erwiderte Ben Brighton, der jetzt zu ihnen trat. „Wir haben uns durch Signale verständigt. Der Wikinger will wissen, ob wir auch die Nacht noch hier verbringen wollen.“ Hasard mußte lachen. „Für die RockallBank scheint ja wirklich niemand etwas übrig zu haben. Also los - bergt den Treibanker und setzt die Segel, wir gehen auf Südost-Kurs!“ Bevor die Dämmerung einsetzte, gingen die drei Schiffe wieder unter Segel und nahmen südöstlichen Kurs. Hasard hatte sich entschlossen, durch die Irische See nach Plymouth zurückzukehren. Der Grund dafür war, daß er auf diese Weise bei den um diese Zeit häufigen
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Weststürmen immer die Möglichkeit hatte, an der Ostküste von Irland Schutz zu suchen. Rundete er die grüne Insel hingegen im Westen, war er den Stürmen ausgeliefert. Es war nur klug, den Weg durch die Irische See zu wählen. Neue Überraschungen waren ihm nicht willkommen, er wollte jetzt so schnell wie möglich nach Cornwall gelangen. * Oliver O'Brien und seine Männer hatten frische Energien geschöpft, sie erschienen schon jetzt wieder an Deck und meldeten sich zum Dienst, obwohl Hasard ihnen befohlen hatte, im Mannschaftslogis zu bleiben. „Mister O'Brien!“ rief Hasard, als der Mann auf dem Quarterdeck vor ihn hintrat und klar zeigte. „Sie verstoßen gegen meine Anweisungen! Ich will nicht, daß Sie und Ihre Männer auch nur ein Fall anrühren!“ „Sir!“ sagte O'Brien mit fester Stimme. „Wir sind Seeleute! Wir werden krank, wenn wir nicht mit zupacken dürfen. Bitte teilen Sie uns zum Dienst ein - oder glauben Sie nicht, daß wir mit einem Schiff wie diesem zurechtkommen?“ Hasard mußte lächeln. „Das ist noch die Frage. Schließlich ist die ,Isabella' nicht die ,Vanguard'. Hier ist einiges anders, Mister O'Brien. Haben Sie gesehen, wie hoch unsere Masten sind?“ „Sir, glauben Sie etwa, meine Männer fallen von den Rahen wie nasse Säcke, wenn wir die Segel wechseln?“ stieß O'Brien empört hervor. „Sie werden noch die Gelegenheit erhalten, sich zu bewähren. Bald tauschen wir die Sturmsegel gegen das normale Rigg aus, dann brauche ich jede Hand“, sagte der Seewolf. „Mit anderen Worten - wir treten zum Dienst an?“ „Himmel, ja!“ rief Hasard. „Aber daß mir keine Klagen kommen! Mit unserem Profos ist nicht zu spaßen -und mit Ben Brighton, Big Old Shane, Old O'Flynn, Ferris Tucker und Smoky ebenfalls nicht!“
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„Das haben wir schon bemerkt“, sagte O'Brien lachend, dann zeigte er wieder klar, wandte sich ab und ließ seine Männer antreten. Sie spuckten in die Hände und griffen tüchtig mit zu, und bald zeigte sich, wie sehr sie sich auf ihr Metier verstanden. Hasard beobachtete sie. Er erhielt die Bestätigung dafür, daß eine Crew wie diese aus eigenem Handeln niemals die „Vanguard“ auf die Klippen gesteuert hätte. Es war wirklich alles die Schuld von Sir Andrew Clifford, der mit seinen Kerlen im Krankenraum saß und sich von den Schwimmübungen im eiskalten Seewasser erholte. Dies führte prompt zum Krach - der Earl of Cumberland gab sich immer noch nicht geschlagen, sein innerer Widerstand war wieder geweckt. Aus dem Vorkastell ertönte Geschrei, dann flog das Schott an der Steuerbordseite auf, und Philip junior erschien auf dem Hauptdeck. Er lief zu seinem Vater, verharrte auf dem Niedergang zum Quarterdeck und stieß etwas atemlos hervor: „Dad, Sir - der Earl spielt verrückt! Er verlangt eine Sonderbehandlung?“ „Eine Sonderbehandlung?“ wiederholte der Seewolf. „Na, die kann er haben, wenn er unbedingt will.“ Schon richtete er seinen Blick auf das Vordeck, denn in diesem Augenblick erschien Sir Andrew in Begleitung seines stiernackigen, affengesichtigen Profos. Die Arwenacks behielten recht. Kaum hatte sich der Earl mit heißer Erbsensuppe gestärkt und war mit trockenem Zeug versehen worden, schlug er auch schon wieder laute Töne an. „Killigrew!“ schrie er. „Ich wünsche die Kapitänskammer zu beziehen!“ „Wie bitte?“ sagte Hasard. „Ich habe mich wohl verhört, Clifford.“ „Für Sie immer noch ,Sir`!“ brüllte der Earl. Carberry, Smoky, Batuti und Blacky wandten sich ihm mit grimmigen Gesichtern zu, und auch die anderen Männer trafen Anstalten, sich auf den Kerl zu stürzen. Aber Hasard stoppte sie durch einen scharfen Ruf.
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„Stehenbleiben! Keiner rührt sich vorn Fleck! Wo bleibt die Disziplin, Männer?“ „Das sollten wir lieber mal den Earl und seinen Hanswurst fragen“, fauchte Old Donegal Daniel O'Flynn aufgebracht. „Die haben sie ja wohl nicht mehr alle. Man sollte ihnen die Ärsche mit Pech vollschmieren.“ „Noch einmal!“ schrie der Earl of Cumberland. „Ich verlange, unverzüglich in der Kapitänskammer untergebracht zu werden, wie es mir nach Rang und Würde zusteht!“ „Clifford, alter Freund, treten Sie mal ruhig näher“, sagte Hasard erstaunlich gefaßt. „Bitte - hierher, zu mir, damit ich Sie besser verstehen und auf Ihre Wünsche eingehen kann.“ Sir Andrew marschierte über das Hauptdeck auf die Querwand des Achterkastells zu, sein Profos folgte ihm. Beide warfen wilde Blicke um sich. Sie mußten an Carberry, Batuti, Blacky, Matt Davies und Jeff Bowie vorbei und rechneten damit, angegriffen zu werden, aber die Seewölfe verhielten sich ebenfalls ruhig. Sir Andrew und der Profos verharrten unmittelbar unterhalb des Einschnittes, den die Balustrade des Quarterdecks bildete. Hasard blickte auf sie hinunter. „Nun, Clifford“, sagte er. „Was verlangen Sie sonst noch von mir?“ „Das will ich Ihnen sagen, Killigrew. Dieses Schiff muß nach London segeln, und zwar unverzüglich.“ „Leider hatte ich etwas anderes vor, wenn Sie gestatten. Mein Kurs regt auf Plymouth an.“ „Sie ändern Ihre Pläne! Das ist ein Befehl!“ „Aha“, sagte Hasard. „Aber jetzt passen Sie mal auf, mein Freund. Sie müssen mit der Krankenkammer vorlieb nehmen, denn zufällig ist die Kapitänskammer bereits belegt. Sie wären der allerletzte Mensch, für ich sie räumen würde.“ Der Earl schnappte nach Luft, sein Profos lief im Gesicht dunkelrot an. Ehe sie wieder zu fluchen anfangen konnten, fuhr Hasard seelenruhig fort:
Roy Palmer
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„Ferner denke ich gar nicht daran, London anzulaufen. Mein Ziel ist Plymouth, und dabei bleibt es auch. Dort werde ich übrigens wich von Lord Gerald Cliveden, dem Sonderbeauftragten der Krone, erwartet. Diesem Mann werde ich in allen Details schildern, was sich bezüglich der ‚Goliath' in der Ostsee zugetragen hat, oder haben Sie etwas dagegen, Clifford?“ „Ja!“ brüllte der Earl, wobei sein Gesicht die gleiche Färbung wie das seines GorillaMannes annahm. „Und ob! Sie haben kein Recht ...“ „Doch!“ unterbrach ihn Hasard scharf. „Ich habe das Recht auf meiner Seite. Wenn Sie wollen, hole ich jetzt das Logbuch - oder besser, das Lügenbuch der ‚Goliath' und haue es Ihnen um die Ohren. Einer meiner Kameraden, ein gewisser Thorfin Njal, der drüben auf dem Schwarzen Segler zufällig der Kapitän ist, hat das sowieso bereits vorgeschlagen.“ „Das wagen Sie nicht!“ stieß Sir Andrew in ohnmächtigem Zorn hervor. Wieder einmal konnte er sich nicht beherrschen. Er wandte sich mit einem Ruck seinem Profos zu und brüllte: „Profos, nehmen Sie den Piraten Killigrew fest, und legen Sie ihn in Ketten! Ich entere jetzt das Achterdeck dieses Schiffes und übernehme das Kommando!“ „Aye, aye, Sir“, sagte der Profos. „Aber - das ist doch der reine Wahnwitz“, sagte Ben Brighton, der neben seinen Kapitän getreten war. „So etwas habe ich wirklich noch nicht erlebt. Ist der Mann irre?“ „Nein“, erwiderte Hasard. „Er leidet nur an grenzenloser Borniertheit und kann keine Situation richtig einschätzen. Vielleicht denkt er auch, er könne durch Frechheit das erreichen, was ihm bisher versagt geblieben ist.“ Der Gorilla-Mann näherte sich schweren Schrittes dem Steuerbordniedergang zum Quarterdeck. Carberry gab einen ächzenden Laut von sich und rief: „Sir ich bitte um eine Sondererlaubnis!“ „Was, du auch?“ fragte Hasard überrascht.
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„Ich flehe dich an, Sir! Laß mich nur ein Wörtchen mit meinem Kollegen reden, ja?“ „Na schön“, sagte der Seewolf, wobei er sich Mühe geben mußte, das diabolische Grinsen seiner Männer nicht zu erwidern. „Deinem Antrag wird stattgegeben, Ed. Aber daß mir solche Sitten nicht einreißen. Sondergenehmigungen erteile ich gar nicht gern.“ „Danke.“ Carberry rieb sich die Pranken, dann setzte er sich in Bewegung. Sir Andrew ahnte, was nun folgte, und wollte ihm den Weg verstellen, doch Carberry rammte ihm nur ganz freundschaftlich den Ellenbogen in die Seite, und schon war dieses Hindernis beseitigt. Mit einem keuchenden Laut sank Sir Andrew auf die Planken. Carberry hatte seinen „lieben Kollegen“ erreicht und tickte ihm mit dem Zeigefinger auf die Schulter. Der Kerl stieß ein Geräusch aus, das wie eine Mischung aus Grunzen und Knurren klang, dann drehte er sich auf dem Niedergang um. Er war ein sturer Befehlsempfänger und tat nur das, was sein Kommandant ihm befahl. Da Sir Andrew zur Zeit außer Gefecht gesetzt war und keine Anweisungen geben konnte, war der Profos leicht irritiert. Zu spät erfolgte seine Reaktion, als Carberry seinen ersten Fausthieb auf sein Kinn abschoß. Es knackte verdächtig in der Kinnlade des Gorillas, und er begann zu wanken. „Nicht umfallen“, sagte Carberry. „Bitte noch nicht wegkippen, ja?“ Der Gorilla riß beide Fäuste hoch und setzte sich zur Wehr, doch Carberry tauchte mit ungeahnter Behändigkeit weg, durchbrach die feindliche Deckung und ließ ein Trommelfeuer von Hieben auf den Kerl los. Er möbelte ihn so richtig durch und hörte erst auf, als der „liebe Kollege“ zusammensank und bewußtlos liegenblieb. Sir Andrew hatte sich inzwischen wieder aufgerappelt. Mit einem Wutschrei stürzte er sich auf Carberry, doch der war auf der Hut. Er fuhr zu ihm herum und empfing ihn mit einem trockenen Hieb gegen das Brustbein. Dann setzte er die andere Faust
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nach, traf das durchlauchte Kinn des hochwohlgeborenen Earls und verfolgte mit kummervoller Miene, wie auch dieser sich auf den Planken ausstreckte. „Schade“, sagte er. „Das ging viel zu schnell. Von mir aus hätte es länger dauern können.“ „Ganz meine Meinung“, pflichtete der alte O'Flynn ihm bei. „Aber wir können ja warten, bis sie aus ihrem Schlummer erwachen. Dann lassen wir mein Holzbein auf ihrem Rücken tanzen.“ „Nein“, sagte der Seewolf. „Das reicht jetzt. Sperrt die beiden in die Vorpiek.“ „Aye, Sir“, brummten die Männer. Hasard enterte das Achterdeck, suchte das Ruderhaus auf und beschäftigte sich mit der Seekarte. Von der Rockall-Bank nach
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Irland waren es gut zweihundert Seemeilen, die Entfernung von der Irischen See nach Cornwall betrug ebenfalls zweihundert bis zweihundertfünfzig Meilen. Um den 8. Mai 1593 konnten sie mit der „Isabella“ in Plymouth eintreffen, wenn es keine Zwischenfälle mehr gab. In Kiellinie segelten die „Isabella“, der schwarze Viermaster und die _Wappen von Kolberg“ - ein stolzer Verband, der daheim in Cornwall einiges Aufsehen erregen würde. Es würde ein Wiedersehen mit Ribault und mit Ramsgate geben - und natürlich mit Nathaniel Plymson, dem dicken Wirt der „Bloody Mary“, der schon jetzt angefangen hätte zu zittern, wenn er gewußt hätte, was ihm bevorstand ...
ENDE