Britta Glodde Das Haus an den Klippen Roman
Eine junge Frau und ein Mann im Zug. Gemeinsam fahren sie von Paris an die ...
51 downloads
1580 Views
888KB Size
Report
This content was uploaded by our users and we assume good faith they have the permission to share this book. If you own the copyright to this book and it is wrongfully on our website, we offer a simple DMCA procedure to remove your content from our site. Start by pressing the button below!
Report copyright / DMCA form
Britta Glodde Das Haus an den Klippen Roman
Eine junge Frau und ein Mann im Zug. Gemeinsam fahren sie von Paris an die Atlantikküste. Ihr Ziel ist ein einsam gelegenes Ferienhaus. Man hält sie für ein Liebespaar. Doch in Wirklichkeit ist er ein gesuchter Mörder. Und sie seine Geisel... Ein Krimi? Eine Liebesgeschichte? Oder beides? Britta Gloddes erster Roman gleicht einem Kammerspiel, in dem sich die Spannung von Szene zu Szene mehr verdichtet.
Britta Glodde Das Haus an den Klippen Umschlaggestaltung: Bauer + Möhring Foto: Elena Inga/Photonica
© 1999 Ullstein Buchverlage GmbH & Co. KG, Berlin ISBN 3-548-24670-2
Dieses E-Book ist nicht zum Verkauf bestimmt
Das Buch Die achtundzwanzigjährige Joëlle Fréjour steckt in der Krise. In einem einsamen Ferienhaus in der Bretagne hofft sie, Abstand zu ihrem Freund und den Entwicklungen der letzten Zeit zu gewinnen. Doch bereits auf der Fahrt von Paris an die Küste überschlagen sich die Ereignisse: Ein Mann auf der Flucht vor der Polizei überwältigt Joëlle in ihrem Zugabteil und nimmt sie als Geisel. In dem kleinen Ferienort angekommen, zwingt der gesuchte Verbrecher die junge Frau, ihn Einheimischen gegenüber als ihren Freund auszugeben. Auch im Haus weicht er nicht von ihrer Seite. Nach anfänglichem Widerstand entdeckt Joëlle allmählich positive Seiten an ihrem Entführer, der sich ihr als Serge vorstellt. In langen, mal haßerfüllten, mal erstaunlich offenen Gesprächen erkennt sie in ihm einen Seelenverwandten. Wie sie hat Serge in seinem Leben niemals Anerkennung gefunden, wie sie ist er geprägt von einer tiefen Traurigkeit. Als Joëlle zufällig auf einen Zeitungsartikel stößt, in dem Serge als »verrückter Mörder« betitelt wird, der seinen Bruder umgebracht haben soll, wendet sich das Blatt. Ein Krimi? Eine Liebesgeschichte? Oder beides? Britta Gloddes erster Roman gleicht einem Kammerspiel, in dem sich die Spannung von Szene zu Szene mehr verdichtet.
Die Autorin Britta Glodde, 1962 in Essen geboren, hat nach einem zweijährigen Aufenthalt in Frankreich lange Jahre in einer Anwaltskanzlei gearbeitet. Mittlerweile widmet sie sich nur noch dem Schreiben und der Malerei. Derzeit entsteht ihr zweites Buch, ein historischer Roman aus der Zeit der Kelten.
Britta Glodde
Das Haus an den Klippen Roman
Ullstein
Ullstein Buchverlage GmbH & Co. KG, Berlin Taschenbuchnummer: 24670 Originalausgabe 2. Auflage November 1999 Lektorat: Anette Selg, Berlin Umschlaggestaltung: Bauer + Möhring Foto: Elena Inga/Photonica Alle Rechte vorbehalten © 1999 Ullstein Buchverlage GmbH & Co. KG, Berlin Printed in Germany 1999 Gesamtherstellung: Ebner Ulm ISBN 3 548 24670 2 Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier mit chlorfrei gebleichtem Zellstoff
Die Deutsche Bibliothek – CIP-Einheitsaufnahme Glodde, Britta: Das Haus an den Klippen: Roman / Britta Glodde – Orig.-Ausg., 2. Aufl. – Berlin: Ullstein, 1999 (Ullstein-Buch ; Nr. 24670) ISBN 3-548-24670-2
ERSTER TAG
Meinen Koffer fest an mich gepreßt, stehe ich im letzten Wagen der Metro. An jeder neuen Haltestelle quetschen sich mehr Menschen in den Waggon, und jedesmal werde ich noch etwas mehr gegen den Mann hinter mir gedrückt, dessen dicker Bauch sich unangenehm an meinen Rücken schmiegt. Mir ist heiß, Schweiß steht auf meiner Oberlippe, und ich versuche angestrengt, etwas von der vermeintlich frischen Bahnsteigluft zu erhaschen, bevor sich die Türen wieder schließen. Mir wird übel. Das Bild eines Viehtransports blitzt in meinen Gedanken auf. Ich muß mich zwingen, an etwas anderes zu denken. Ungeduldig vergleiche ich die Stationsschilder mit dem Metroplan. Gare de l’Est. Endlich. Ich packe meinen Koffer fester, bereite mich darauf vor, kräftig schieben zu müssen, aber dann werde ich ganz von allein aus dem Wagen gedrückt. Die Metro erleichtert sich ihrer Gäste. Unaufhaltsam spuckt sie geräuschvollen Menschenbrei aus. Ich lasse mich von der Masse durch die Gänge schieben und lande auf einer Rolltreppe. Wieder so ein Transportband, von dem man nicht abspringen kann. Wenigstens geht es aufwärts. Es bringt mich an die Erdoberfläche. Und mich erwartet kein Schlachtermesser, sondern lediglich die überlaute Geräuschkulisse der Bahnhofshalle. Ich entferne mich ein paar Schritte vom Schlund der Metro, dann bleibe ich stehen. Die Menschentraube löst sich auf. Alles läuft durcheinander. Ist das Freiheit? -6-
Verstohlen tastet meine Hand nach der Fahrkarte in meiner Manteltasche. Sie ist noch da, mahnt mich trocken und raschelnd, mein Vorhaben durchzuführen. Mein Blick irrt auf den grünen Lichtpunkten der Abfahrttafel hin und her. Lichterkettenworte. Wie Weihnachten. Nur nicht so still. Und doch, irgendwie ist mir ganz feierlich zumute. Ich muß mich zwingen, die ständig wechselnden Worte und Zahlen zu entziffern. Endlich haben meine Augen gefunden, wonach mein Hirn sucht: Lorient, Gleis 21. Und als hätte jemand einen Mechanismus betätigt, vollführt mein Körper eine Vierteldrehung nach links, und meine Füße bewegen sich in Richtung des angegebenen Gleises. Ich stelle meinen Koffer neben einer Reihe orangefarbener Schalensitze ab und lasse mich auf der äußersten Kante nieder. Mein Zug wird nicht vor einer Stunde abfahren. Es ist kalt. Fröstelnd ziehe ich die Schultern zusammen. Im Bahnhofsrestaurant hätte ich es wärmer. Doch dazu müßte ich zurückgehen. Entschlossen sehe ich geradeaus. Auf keinen Fall werde ich noch einmal umkehren. Angespannt gleitet mein Blick immer wieder den Bahnsteig entlang, zur Eingangshalle. Zwischen bunten Anoraks flackert er hin und her, erschrickt vor jedem hellblonden Schopf, vor einer vermeintlich vertrauten Bewegung. Ich weiß nicht, was passieren würde, wenn George jetzt in der Halle auftauchte. Ich versuche, mich auf das Treiben auf den Bahnsteigen zu konzentrieren. Angestrengt lausche ich dem Gewirr fremder Sprachen. Ich betrachte Gesichter hinter nicht sehr sauberen Scheiben und versuche mir vorzustellen, warum all diese Menschen auf der Reise sind. So viele Menschen… fahren weg, kommen an, steigen um. Bewegung, wohin ich sehe. Hektisch, gelassen, weltgewandt, gelangweilt. Einfache Fahrt, Hin- und Rückfahrkarte oder einfach immer weiter, immer weiter… Vorsichtig atme ich ein. Ich habe Züge immer geliebt. Oh, ich spreche nicht von den überfüllten Vorstadtzügen, die einen in übelriechender Enge -7-
zum Arbeitsplatz und wieder nach Hause bringen. Nicht diese Menschentransporter, durch deren beschlagene Scheiben müde und abgespannte Gesichter starren und die man für jede Minute, die sie zu spät kommen, haßt. Nein, ich spreche von Zügen, auf die man gerne wartet, weil sie uns in fremde Regionen entführen. Der Staub und Schmutz, der auf ihnen liegt, trägt einen Hauch ihres Herkunftslandes zu uns herüber, und neugierig, manchmal neidisch, betrachten wir die Menschen, die in ihnen reisen. Anzeigetafeln und Lautsprecherdurchsagen wecken Träume oder bringen Erinnerungen. Und wir schauen mit klopfendem Herzen dem Zug hinterher, der, unsere Sehnsüchte im Schlepptau, den Bahnhof verläßt. Ein Seufzer entfährt mir. Ich habe Angst. Angst, versagt zu haben. Angst, mich noch mehr vom Ziel zu entfernen. Als mein Zug endlich einläuft, stehe ich nur zögernd auf, und für einen Moment gellt mir das Kreischen der Bremsen unerträglich in den Ohren. Ein Moment, in dem ich mir fast wünsche, George würde erscheinen und mich von meinem Vorhaben abbringen. Dann, mit einem Zischen, das die automatischen Türen öffnet, ist es vorbei. Ich nehme meinen Koffer und bin erstaunt, wie schwer er wiegt, obwohl ich doch kaum etwas eingepackt habe. Ich werde auch nicht viel brauchen. Es wird keine Parties geben, kein Kasino, keine Restaurants. Es wird nur mich und das Haus geben. Tage, angefüllt mit langen Spaziergängen und salzigem Wind und Abende mit knisterndem Feuer und einem einfachen Bett. Ich verstaue mein Gepäck in dem leeren Abteil und warte. Die Hände auf den Knien gefaltet, den Rücken stocksteif, sitze ich da und warte. Unerträglich ist mir jetzt der Gedanke an munteres Kindergeschrei, Leute, die jedem ihre Lebens- oder Krankengeschichte beichten müssen, oder gar solche, die in stummer Penetranz jeden Wimpernschlag ihres Gegenübers verfolgen. Solche Menschen machen mich schon an ganz normalen Tagen nervös. -8-
Ich schließe die Augen und horche auf die Schritte, die über den Gang eilen. Wenn sie nur nicht stehenbleiben. Wenn sie nur immer weitergehen. Erst als der Zug seine Höchstgeschwindigkeit erreicht hat, gebe ich meine starre Haltung auf. Erleichtert rutsche ich tiefer in die Polster, lege meine Füße auf den gegenüberliegenden Sitz und zünde mir eine Zigarette an. In meinem Hinterkopf melden sich unzählige Stimmen, die mich mahnen, meine Gesundheit nicht so gedankenlos aufs Spiel zu setzen. Und ich möchte ihnen entgegenschreien: »Wenn ich in den letzten Monaten keine Zigaretten gehabt hätte, wäre ich wahrscheinlich gestorben, wäre zitternd in einer Ecke zusammengebrochen und verreckt.« Aber ich sage nichts. Ich nehme nur genüßlich einen tiefen Zug. Draußen rasen die Vororte von Paris vorbei. Kaum merklich hebe ich zum Abschied die Hand. *** Das gleichmäßige Rattern des Zuges und der Regen, der gegen die Scheiben trommelt, lullen mich ein. In Gedanken habe ich den Bahnhof von Quimper bereits erreicht. Ob ich wohl alles so unverändert vorfinden werde wie vor sieben Jahren? Wie gerne wäre ich schon früher hingefahren, aber George hatte es nicht gewollt. Er hatte es nicht einmal in Erwägung gezogen. In schillernden Farben hatten seine Worte exotische Bilder von fernen Ländern in die Luft gezaubert. Ich wäre sehr dumm, wenn ich mir das entgehen ließe, hatte er gesagt. Und ich hatte nicht dumm sein wollen. Und nun sitze ich im Zug und sehe die Regentropfen wie Tränen an der Fensterscheibe herabrinnen. Zum ersten Mal habe ich erlebt, daß George die Worte fehlen. Und er hat so verdammt einsam ausgesehen, wie er da mit hängenden Armen im Wohnzimmer gestanden hat. -9-
Ich schließe die Augen, um das Bild zu vertreiben und lausche dem Rattern des Zuges. Die Bahnschwellen schlagen einen harten Rhythmus. Schwer und laut. Mir ist, als krache im Abteil neben mir ein Hammer gegen die Wand, gleichmäßig, brutal und unerbittlich mahnend. Es dauert lange, bis die Hammerschläge sich in der Ferne verlieren. Lange, bis ich aufhöre, an George zu denken. Vielleicht höre ich auch gar nicht auf, an ihn zu denken. Vielleicht ist er sogar in meinen Träumen, an die ich mich nie erinnere, wenn ich erwache. Glücklicherweise erlöst mich bald eine starke Müdigkeit von der quälenden Bilderflut in meinem Kopf. Nur noch entfernt höre ich das Schlagen der Schwellen, schaukele mit dem Strom, der mich fortträgt. Ich merke nicht einmal, wie der Zug in Rennes hält, und auch nicht, daß er wieder anfährt. Plötzlich schwillt das gedämpfte Rattern des Zuges zu einem ohrenbetäubenden Crescendo an. Eine Kreissäge scheint meinen Traum zu zerfetzen, und mein Herzschlag gerät unangenehm aus dem Takt. Riesengroß und dreifach stark schlägt es gegen meine Brust. Sofort fällt mir wieder der Hammer im Nebenabteil ein. Ich reiße erschrocken die Augen auf – und komme mir nur töricht vor. Ein Mann hat mein Abteil betreten. Eben schließt er hastig die Tür, und das metallene Rattern flaut wieder zu einem wohltuenden Gemurmel ab. Er wirft einen kurzen prüfenden Blick auf mich. Automatisch nehme ich die Füße vom Sitz, als wäre es von Bedeutung, was dieser Fremde von mir hält. Doch er hat sich bereits auf der gegenüberliegenden Sitzbank, direkt neben der Tür, niedergelassen. Mißmutig lasse ich den Kopf gegen das Polster fallen und schließe wieder die Augen. Mein Traum von einer friedlichen Reise ist dahin. Nichts von der gerade erst eingekehrten Ruhe ist geblieben. Am liebsten möchte ich so tun, als sei der fremde Reisende gar nicht da, aber ich spüre fast körperlich sein Eindringen in meine Intimsphäre. Immer deutlicher fühle ich, wie er -10-
mich ansieht, mich mustert, penetrant zu mir herüber starrt. Mit einem Ruck öffne ich die Augen und sehe ihn an, aber er hält den Blick auf seine Hände gerichtet. Schöne Hände. Kräftig, aber nicht klobig. Unbehaart, mit schlanken Fingern, aber nicht weich. Und – sie sind sauber. Gott sei Dank! Ich neige dazu, mir mehrmals in der Stunde die Hände zu waschen, und habe ein wahres Ekelgefühl gegen Menschen mit schwarzen Krusten unter den Fingernägeln entwickelt. Manchmal geht es soweit, daß ich mich woanders hinsetze, aus Angst, solche schmutzigen Hände könnten mich zufällig berühren. Ob er einen Ring trägt, kann ich nicht sehen. Unablässig verschränkt und dreht er seine Hände umeinander. Sein Blick streift mich kurz aus den Augenwinkeln und heftet sich dann an die gegenüberliegende Wand. Kein Lidschlag unterbricht das Starren seiner Augen. Im krassen Gegensatz dazu reibt seine linke Hand nun so heftig den Oberschenkel, als wolle sie ihn massieren. Jetzt schlägt er die Beine übereinander und räuspert sich mehrmals. Schlagartig wird mir bewußt, daß ich genau das getan habe, was ich bei anderen Leuten so sehr verabscheue. Beschämt sehe ich aus dem Fenster. Eine groteske Situation. Zwei Fremde, gefangen in höflichem Schweigen; im hoffnungslosen Vorhaben, so zu tun, als sei man allein und sich dabei der fremden Anwesenheit so sehr bewußt, daß sie die Köpfe ausfüllt. Einen Moment bin ich versucht, die peinliche Stille zu durchbrechen. Nur einen verrückten Augenblick lang, dann entscheide ich mich für meinen Gedichtband. Ich nehme die Kämmchen aus dem Haar, so daß es links und rechts wie ein Vorhang herabfällt und will mich in die Lektüre vertiefen. »Stört es Sie, wenn ich mich ein wenig ausstrecke?« Ganz unvermittelt bricht seine Stimme über mich herein. Ich habe nicht mit ihr gerechnet. Kann nicht einmal sagen, ob sie tief oder hoch klingt. -11-
»Äh, nein. Machen Sie es sich ruhig bequem«, sage ich und lächele ihm halbherzig zu. Er nickt nur knapp, legt sich dann quer über die Bank und dreht mir die Kehrseite zu. Abwesend betrachte ich seine Rückenpartie. Er trägt eine dunkelbraune Lederjacke, nicht neu, aber ziemlich teuer. Seine Jeans füllt er gut aus, und seine Füße stecken in Wildlederboots. Ich bin mir nicht sicher, ob er schläft. Aber allein die Tatsache, daß seine Augen nichts anderes sehen können als die blaue Velourspolsterung der Rückenlehne, beruhigt meine angespannten Nerven. Erneut schlage ich das Büchlein auf. Einen Moment lang sehen meine Augen nur unzusammenhängende Buchstaben und Worte. Doch bald darauf beginnt mein Hirn die Sätze zu verarbeiten, die Bedeutungen zu verstehen. ›Ich selbst bin verantwortlich für das, was ich dir erlaube, mit mir zu tun.‹ Wie eine Anklage steht der Satz da, und sofort bin ich in Gedanken wieder bei George. War ich zu leise, zu unklar, zu hysterisch gewesen, um ernst genommen zu werden? Würde er überhaupt verstehen, warum ich in diesen Zug steigen mußte? Hastig blättere ich die Seite um. Ich will ein schönes Gedicht. Etwas Positives. Etwas, das mich nicht an George erinnert. Die Seiten rascheln. Ich lese erste Strophen, dann nur noch Anfangszeilen, Überschriften und weiß, ich brauche nicht weiter zu suchen. Jeder Satz handelt von ihm. Geräuschvoller als beabsichtigt, klappe ich das Büchlein zu. Mein Kopf ist voll von lästigen Fragen: »Warum, verdammt, höre ich nicht auf, George zu lieben? Warum suche ich mir nicht jemanden, mit dem das Leben angenehm ist? Jemanden, mit dem ich reden kann. Jemanden, der mir zuhört. Jemanden, der… Die Liste meiner Wünsche ist lang. Doch jedesmal, wenn ich Georges Stimme höre, die mich ›seine kleine Prinzessin‹ nennt, jedesmal, wenn er so väterlich auf mich herablächelt, dann be-12-
ginnt wieder das Warten, das Hoffen auf mehr. Ich sehe seinen unwiderstehlichen Mund, sehe seinen blauen Unschuldsblick und vergesse die Welt. Eine kleine Geste von ihm, und ich glaube wieder daran, daß Träume wahr werden. Denn ich kann alles, alles, was ich will, in dieses Blau hineinträumen. Dieses wundervolle Blau… Ein geräuschvolles Klappern unterbricht meine Gedanken. Verwirrt hebe ich den Kopf. Der Mann wollte sich wohl auf den Rücken drehen. Dabei ist ihm etwas aus der Tasche gerutscht und heruntergefallen. Als ich mich vorbeuge, um zu sehen, was es ist, schnellt er herum. Unwillkürlich weiche ich zurück. Ohne ein Wort greift er nach dem Ding und steckt es wieder ein. Als wäre nichts geschehen. Mir läuft ein eiskalter Schauer über den Rücken. Ich wünschte, ich hätte nicht hingeschaut. Doch dafür ist es nun zu spät. Ich weiß jetzt, daß es da ist. Und es macht mir Angst. Angestrengt starre ich aus dem Fenster, starre vergeblich in die Nacht, sehe nichts als Schwarz. Und in dem Schwarz zeichnet sich überdeutlich das Spiegelbild des Abteils ab. Ich kann sehen, daß der Mann mich beobachtet. Mein Herz klopft unangenehm im Hals, meine Hände sind feucht, und ich fühle jeden Muskel meines Körpers. Und das alles wegen einer kleinen Pistole, die friedlich in einer Jackentasche ruht. Wahrscheinlich ist sie nicht einmal geladen. Schließlich gibt es auch gute Gründe, eine Waffe zu tragen. Leute, die in einer unsicheren Gegend wohnen, tun so etwas. Frauen, die mit der Metro fahren oder nachts in die Tiefgarage müssen. Überhaupt Menschen, die nachts arbeiten und vielleicht überängstlich sind. Ich könnte ihn fragen, warum er sie bei sich hat. Einfach fragen, und alles wäre klar. Aber welche Klarheit würde ich erhalten, wenn er kein harmloser Bürger ist? Mein Herzklopfen will sich einfach nicht beruhigen. Es wäre klüger, das Abteil zu wechseln. -13-
Aber noch bevor ich den Gedanken in die Tat umsetzen kann, legt der Mann seine Beine auf den gegenüberliegenden Sitz vor die Abteiltür. Ich werde ihn bitten müssen, mich vorbei zu lassen. Oder ich muß über ihn hinweg steigen. Nein, das nicht! Angespannt starre ich wieder nach draußen in die Schwärze. Sie grinst mich an, die Dunkelheit. Was habe ich verbrochen? Wer bin ich, daß mich die Dunkelheit so angrinst? Ich schließe kurz die Augen, und als ich sie wieder öffne, sehe ich in der Finsternis mein Spiegelbild. Lange blonde Haare umrahmen glatt ein schmales blasses Gesicht. Das muß das Licht in dem Abteil sein, denke ich. So hohlwangig und ausgezehrt, das bin doch nicht ich! Und auch die riesengroßen Augen, so dunkel, so erschöpft, sind nicht meine. Ich erkenne den bitteren Zug um den Mund und kann nicht länger schauen. Ich möchte raus aus dem Abteil. Ich will mich an ein Fenster setzen mit einem Vorhang, groß bedruckt mit Blumen. Doch deutlich zeigt das Spiegelbild das Bein des fremden Mannes, wie es den Weg versperrt. Geradeso, als wüßte es, daß ich nicht wagen werde aufzustehen, daß ich den Mut nicht finde, um Durchlaß zu bitten. Und es hat recht, das Bein. Ich wüßte gern, wie es das macht, mich nach so kurzer Zeit so gut zu kennen. Mir bleibt nichts anderes übrig, als weiterhin das spiegelverkehrte Bild des Abteils anzusehen. Zwei reglose Personen, ein Mann und eine Frau. Sie sitzen sich schräg gegenüber. Eine Photographie, eine Momentaufnahme. Und doch liegt eine unerträgliche Spannung in dem Bild. Das Schweigen zwischen uns scheint sich zu materialisieren. Wie eine dunkle Wolke wabert es über mir, schneidet Fratzen und lacht mir ins Gesicht. Als der Zug in Pontivy einfährt, schmerzen meine Rückenmuskeln. Ein Blick auf die Uhr sagt mir, daß ich beinahe eine halbe Stunde völlig verkrampft dagesessen habe. Dabei ist gar nichts geschehen. Nicht einmal miteinander gesprochen haben wir. Ganz harmlos und ruhig haben wir dagesessen. Viel harmloser als die Bilder in der Fensterscheibe. Bin ich verrückt, mich -14-
so aus der Fassung bringen zu lassen? Entschlossen stehe ich auf und ziehe das Fenster herunter. Der Regen hat nachgelassen. Die Unterarme auf den Rahmen gestützt, halte ich den Kopf in die kalte Nachtluft. Ich bin froh über die Lichter aus dem Bahnhofsgebäude, und nach der beklemmenden Stille möchte ich den Lärm auf dem Bahnsteig am liebsten lauthals begrüßen. Für diese späte Uhrzeit sind ungewöhnlich viele Menschen unterwegs. Die große Mehrheit der Reisenden scheint aus Männern zu bestehen. Die meisten haben kein Gepäck. Vor dem Eingang zum Bahnhofsgebäude steht ein Flic. Ich schaue den Bahnsteig hinunter. Da ist wieder einer. Und noch einer. In den Menschentrauben sind sie fast nicht zu erkennen. Und dann, als ich genug geschaut habe, genügend Farben und Geräusche aufgesogen habe, spüre ich die Gänsehaut auf meinen Armen. Die Kälte ist nicht länger erfrischend. Irgend etwas ist verkehrt. Fröstelnd ziehe ich die Schultern hoch und versuche herauszufinden, was es ist. Sind es zu viele Menschen? Zu wenig Gepäck? Wo sind die Frauen? Die Szenerie wirkt unrealistisch. Ein falsch besetzter Film. Je länger ich die Männer betrachte, desto mehr gewinne ich den Eindruck, daß sie etwas verbindet. Sie werfen sich Blicke zu, stehen in gleichförmigen Abständen. Und sie halten Sprechfunkgeräte in den Händen. Das sind keine Fahrgäste! Ich trete vom Fenster zurück, drehe mich um und kann gerade noch einen Aufschrei unterdrücken. Der Mann muß direkt hinter mir gestanden haben. Auch er verfolgt das Geschehen auf dem Bahnsteig. Seine Augen sind sehr hell, fast farblos, ein harter Kontrast zu den riesigen Pupillen. An seiner rechten Schläfe pocht eine Ader. Einen Moment stehen wir unbeweglich. Dann kommt Leben in ihn. Mit zwei Schritten ist er bei der Tür und reißt sie auf. Ein schneller Blick nach links, dann nach rechts, und er ist verschwunden. -15-
*** Einige Sekunden starre ich auf die Tür, dann lasse ich mich ganz langsam auf dem Sitz nieder. Automatisch nehme ich das Buch wieder zur Hand. Meine Hand streicht abwesend über den Buchrücken. Wie entsetzt dieser Mann ausgesehen hat! So verzweifelt. Ob die Polizisten da draußen tatsächlich hinter ihm her sind? Und, wenn ja, warum verfolgen sie ihn? Was hat er getan? Wäre da nicht die Pistole gewesen, ich wäre nie auf den Gedanken gekommen, daß er… Ich hätte ihm nichts Schlechtes zugetraut. Ich ziehe eine neue Zigarette aus dem Päckchen, und als ich sie anzünde, bemerke ich, daß meine Hände zittern. Ich sehe dem Qualm hinterher und wünsche mir, ich könnte meine wirren Gedanken ebenso in Rauch aufgehen lassen. George hat einmal gesagt, ich dächte zuviel nach, eines Tages würde ich noch verrückt. Ich habe ihn dafür gehaßt, aber im Moment muß ich ihm recht geben. Für mich gibt es wahrhaft Wichtigeres, als mir über einen wildfremden Mann den Kopf zu zerbrechen. Die Zigarette ist viel zu schnell aufgeraucht. Als ich den Stummel im Aschenbecher zerquetsche, wird plötzlich die Tür aufgerissen, und ein Mann stürzt in das Abteil. Er fällt direkt vor meine Füße. Jetzt erkenne ich den Schaffner. Haltsuchend stützt er eine Hand auf mein Knie. »Was soll denn das?« stößt er hervor, während er versucht, wieder auf die Füße zu kommen. »Sind Sie…?« Ein unangenehmes Geräusch ertönt, als der Pistolenknauf auf seinen Kopf trifft. Dann sackt der Alte lautlos in sich zusammen. Entsetzt starre ich auf den leblos daliegenden Körper. »Helfen Sie mir!« Verständnislos hebe ich den Kopf. Der Mann mit der Lederjacke schließt hastig die Tür und zieht die Vorhänge zu. »Sie müssen mir helfen, ihn auszuziehen. Ich brauche seine Uniform.« -16-
Hektisch fuchtelt die Hand mit der Waffe hin und her. »Jetzt machen Sie schon!« Mit einer hektischen, ungelenken Drehung rutsche ich vom Sitz und beuge mich über den Schaffner. Ohne einen Gedanken an die Ungeheuerlichkeit meines Tuns zu verschwenden, greife ich nach dem obersten Knopf seiner Uniform. Meine Hände bewegen sich ruckartig, führen mechanisch den Befehl des Mannes aus. Ich schnaufe, als ich den Alten auf den Bauch drehe, um ihm die Jacke herunterzuzerren. Der Fremde reißt sie mir aus der Hand. Als ich den obersten Knopf des Hemdes öffne, schnauzt er mich an: »Herrgott, lassen Sie das! Ich habe selbst eins an. Die Hose, schnell!« Auf dem Gang werden Stimmen laut. Mit einem Ruck ziehe ich die Hosen von den mageren Beinen des Schaffners. Der Fremde zieht seine Jeans aus. Die Pistole hat er neben sich auf den Sitz gelegt. Sie ist kaum mehr als eine Armeslänge von mir entfernt. Um mich herum steht alles still. Keine Bewegung, kein Geräusch, nur der Pulsschlag in meinen Ohren und der stählerne Lauf direkt vor mir. Das ist meine Chance. Ich schnelle vor. Mein ganzer Körper schmerzt vor Anstrengung. Ich habe mich schneller bewegt als je zuvor in meinem Leben. Und jetzt liege ich auf den Knien und starre meine leere Hand an, keinen Zentimeter von seiner entfernt. Fast berühren wir uns. Staunend versuche ich zu begreifen, wie der Fremde es angestellt hat, vor mir die Pistole zu fassen. Etwas in mir lacht hämisch auf. Ich hätte es wissen müssen. Ich hätte wissen müssen, daß ich es nicht schaffe. Ich wage nicht, den Mann anzusehen, brauche es auch gar nicht. Ich weiß auch so, was sich jetzt so kalt an meine rechte Schläfe preßt. »Mach das nicht noch mal.« Seine Stimme verrät mühsam unterdrückte Wut. Überdeutlich höre ich sein heftiges Atmen. -17-
»Wenn du mich reinreißt, erschieße ich dich. Das muß ich tun, verstehst du?« Ohne eine Antwort abzuwarten, zerrt er mich auf die Füße. »Und jetzt knebele ihn!« »Womit denn?« »Was weiß ich? Mit seinen Socken!« Ich beeile mich, seinem Befehl nachzukommen. Mit einem Griff ziehe ich die Socken von den Füßen des Schaffners. Der Fremde ist jetzt vollständig angekleidet und wirft seine Sachen in meine Tasche. Gemeinsam schieben wir den Schaffner unter die Sitzbank. Die Geräusche auf dem Gang kommen näher. Hastig fesseln wir den Bewußtlosen mit seinem Gürtel an die Verstrebung unter den Sitzen. Nebenan wird eine Abteiltür geöffnet. »Los, setz dich ans Fenster!« befiehlt der Mann. Er legt meinen Mantel neben mich und läßt ihn so herunterhängen, daß man den Schaffner nicht mehr sehen kann. Vor dessen Füße plaziert er meinen Koffer. »Jetzt hör mir zu!« Er packt mein Handgelenk und beugt sich zu mir herunter. Er spricht sehr schnell und ein wenig atemlos. »Sie werden jeden Augenblick hier sein. Wenn die Tür aufgeht, dann bitte ich dich um die Fahrkarte. Und du wirst sie mir brav geben. Spekuliere nicht darauf, daß ich dann das Abteil verlasse, damit du mir die Polizei hinterherhetzt. Was ich auch tue, benimm dich ganz normal, dann passiert dir nichts!« Zur Bekräftigung klopft er mit der Hand auf seine Jackentasche. Sein Gesicht drückt grimmige Entschlossenheit aus. Ich zweifele nicht daran, daß er die Waffe benutzen wird, wenn irgend etwas schief geht. Die Tür wird geöffnet. »Kriminalpolizei. Guten Abend.« Der Fremde zieht sich die Schaffnermütze ins Gesicht und verlangt nach meiner Fahrkarte. Automatisch greife ich in die -18-
Manteltasche. Einer der Beamten hält mir einen Ausweis unter die Nase. Meine Hand wühlt hektisch in der Tasche. Den Blick halte ich starr auf die beiden Polizisten gerichtet. Endlich finden meine Finger die Karte. Ich reiche sie dem vermeintlichen Schaffner, und als er danach greift, hält er meine Fingerspitzen einen Moment lang fest. Ich sehe in seine Augen, und sein Blick jagt mir einen kalten Schauer über den Rücken. »Mademoiselle, Ihren Ausweis bitte«, dringt wie von weit her eine ungeduldige Stimme an mein Ohr. Ich reiche dem älteren der beiden Beamten meine Carte d’Identité. »Reisen Sie allein?« »Ja.« »Waren Sie die ganze Zeit allein im Abteil?« »Ja«, sage ich, während ich aus dem Augenwinkel beobachte, wie der vermeintliche Schaffner sich bückt, um meine Fahrkarte aufzuheben, die ihm heruntergefallen ist. »Haben Sie das Abteil während der Fahrt verlassen?« »Nein.« »Dann haben Sie also niemanden gesehen?« »Nein.« »Was ist das Ziel ihrer Reise?« »Quimper«, antworte ich wahrheitsgemäß, während ich mit einem verbindlichen Lächeln meine Fahrkarte zurückerhalte. »Freunde besuchen?« »Nein, ich mache dort Urlaub.« »Um diese Jahreszeit?« Der Polizist schaut skeptisch. Muß ich eigentlich diese Fragen beantworten? Ich blinzele und versuche mich zu erinnern, was er mich gefragt hat. »Ich habe dort ein Haus gemietet«, füge ich automatisch hinzu. -19-
»Nun gut. Wir werden Sie nicht länger belästigen, Mademoiselle, äh, Fréjour«, sagt der Ältere und gibt mir meinen Ausweis zurück. »Ich möchte Sie nur noch bitten, sofort das nächste Polizeirevier zu informieren, falls Sie diesen Mann sehen.« Er hält mir ein Foto vors Gesicht. Ich schaue auf das Bild und nicke. Oder träume ich, daß ich nicke? Wäre dies das wahre Leben, dann müßten sie doch merken, daß der Gesuchte, der mich vom Foto her anlächelt, genau hinter ihnen steht. Gerade schnaubt er laut und putzt sich umständlich die Nase. Die Welt bewegt sich von mir weg. Scheinbar bin ich nur Statist, ein unbeteiligter Zuschauer. Oder bin ich in einem Traum gefangen? Ich höre nicht mehr, was der Kriminalbeamte sagt. Ich nicke, lächele brav und sehe zu, wie ›Schaffner‹ und Gesetzeshüter das Abteil verlassen und sich schließlich in entgegengesetzte Richtungen entfernen. *** Ohne etwas zu erkennen, schaue ich auf den Bahnsteig. Ich warte nur auf das Rucken, wenn der Zug wieder anfährt. Mir ist egal, wohin er mich bringt. Wenn es nur weiter geht. Wenn ich nur diesem Mann nicht mehr begegnen muß. Dem Mann in der Lederjacke. Die Sonne scheint in sein Gesicht, und er lächelt. Neben ihm steht ein großes Tier. Ich kann es nicht deutlich erkennen. Langsam, von den Rändern her, beginnt das Bild sich aufzulösen. Und im gleichen Moment spüre ich ein deutliches Kribbeln in Armen und Beinen. Mir fällt der arme Alte ein, der noch immer gefesselt unter den Sitzen liegt. Mir fällt die Pistole ein, meine Angst und eine Stimme, die sagt: »Kriminalpolizei. Guten Abend.« -20-
Wann wird die Kripo eingeschaltet? Bei Einbruch? Mord? So sehr ich es mir auch wünsche, ich träume nicht. Das alles passiert ganz real. Eben jetzt! Ich muß Alarm geben, muß mich bewegen, darf nicht länger hier sitzen. Wenn ich nur nicht so müde wäre. Meine Knochen tun mir weh, und meine Beine zittern, als ich mich von meinem Sitz erhebe. Die wenigen Schritte bis zu der Schiebetür lege ich mit alptraumhafter Langsamkeit zurück, wie in diesem Traum, in dem man läuft und läuft, um jemandem zu entkommen, und je mehr man sich anstrengt, desto langsamer wird man. Als sich meine Hand endlich um den blanken Griff legt, gleitet die Tür wie von allein zurück. Dann sehe ich den Mann und begreife, daß nicht ich es war, die die Tür geöffnet hat. Ein Gurgeln entringt sich meiner Kehle. »Wo willst du hin?« fragt er und drängt mich zurück ins Abteil. Hinterrücks zieht er die Tür zu und schließt die Vorhänge. Ich möchte ihn anschreien. Ich möchte auf ihn einschlagen und wegrennen. Stattdessen lasse ich mich wie eine Puppe von ihm auf die Sitzbank drücken. Er läßt sich mir gegenüber nieder. Halb hinter dem Fenstervorhang versteckt, wirft er einen Blick nach draußen. »Sie ziehen wieder ab«, sagt er leise, fast so, als spräche er zu sich selbst. »Das Karussell dreht sich weiter.« Der Zug fährt an, und der Bahnsteig zieht langsam am Fenster vorbei. Ich kann sehen, wie die Polizeibeamten im Bahnhofsgebäude verschwinden. Eine Weile sitzen wir uns schweigend gegenüber. Ich vermeide es, ihn anzusehen. Der Regen hat wieder eingesetzt. Unregelmäßig klatscht er gegen die Scheiben. Überlaut erscheint mir das Geräusch. Und darunter mischt sich ein unangenehmes Knacken. -21-
Der Mann auf der anderen Seite zieht an seinen Fingern, preßt die Hände zusammen, biegt die Glieder nach oben. Nervös kaut er auf seiner Zunge. Ich spüre, wie mein Körper erstarrt. Plötzlich steht er auf und kniet sich auf den Boden. Mit einer rüden Bewegung stößt er den Schaffner an, der unter der Bank liegt. Doch der gibt keinen Laut von sich. »Ist er tot?« frage ich. Ich weiß nicht, woher ich den Mut nehme, zu sprechen. Aber der Gedanke, daß er den Mann umgebracht haben könnte, macht mich verrückt. Der Fremde hebt den Kopf. »Nein, er lebt. Und er wird bald wieder aufwachen, verdammt!« Er schlägt mit der Faust auf das weiche Polster und steht abrupt auf. Er beginnt, auf und ab zu gehen, seine rechte Hand umklammert die Pistole, die er aus der Jackentasche gezogen hat. »Mir muß etwas einfallen. Mir muß was einfallen.« Er wiederholt diesen Satz, als könne er damit eine Idee erzwingen. Eine tiefe Falte erscheint an seiner Nasenwurzel, und seine Augen blicken starr, fast beschwörend auf den Boden. Es ist unheimlich, ihm zuzusehen. Als ich mein Gewicht verlagere, um meine Beine übereinander zu schlagen, fährt er mich an: »Beweg dich bloß nicht! Ich muß nachdenken. Und sieh mich nicht an!« sagt er dann. »Das macht mich nervös. Sieh aus dem Fenster!« Ich tue wie geheißen. Umso erschrockener bin ich, als er mich plötzlich am Arm packt. »Hast du eine Reiseapotheke dabei?« »Ich, ich hab ein paar Medikamente.« »Auch Schlaftabletten?« »Ja.« -22-
»Gut. Du wirst ihm ein paar davon geben, wenn er aufwacht.« Verdattert starre ich ihn an. »Warum ich?« »Warum nicht? Du hast ihn doch auch ausgezogen, und du hast ihn gefesselt. Du hast sogar für mich die Polizei belogen.« »Sie wissen genau, daß ich das nur getan habe, weil ich Angst um mein Leben hatte.« »Und? Hat sich daran etwas geändert?« Mein Magen beginnt zu flattern. Ich kralle die Hände in die Polster, als ginge davon das Zittern in meinen Knien weg. »Also?« Seine Finger trommeln auf das kleine Fenstertischchen. Die Pistole liegt neben ihm auf dem Sitz. »Ja.« »Ja, was?« »Ich gebe ihm die Tabletten.« »Gut.« Er nickt zustimmend mit dem Kopf. Er sieht aus, als wolle er mich zu meiner Einsicht beglückwünschen. Dann greift er nach meiner Zigarettenschachtel auf der Ablage, beäugt die Marke und zieht eine Zigarette heraus. Er bricht den Filter ab und steckt sie sich zwischen die Lippen. Dann hält er mir die Schachtel hin. »Beruhigt die Nerven«, sagt er. Ich wage nicht abzulehnen. Eingehend betrachtet er mein Feuerzeug. »Hübsch«, sagt er. Er legt es auf das kleine Tischchen, und ich greife schnell danach. Es ist das goldene, das mir George geschenkt hat, das mit der Gravur. Eigentlich war es mir immer zu schwer. Jetzt wiegt es fast nichts in meiner Hand. Plötzlich habe ich ein beinahe schmerzhaftes Verlangen nach ihm. Aber George ist nicht hier. Ich bin allein mit einem Mann, -23-
von dem ich nicht weiß, was für ein Verbrechen er begangen hat, und von dem ich nicht einmal ahne, was er als nächstes tun wird. Im Moment sieht er aus dem Fenster, und seine Pupillen verfolgen ruckartig die vorüberfliegenden Lichter einer kleinen Ortschaft. Ich sehe seine weißen Fingerknöchel, den schmerzhaften Zug um den weichen Mund und seine unruhigen Augen, und unwillkürlich stelle ich mir die Frage, ob er nicht zu Unrecht verfolgt wird. Er hat die Schultern hochgezogen, als erwarte er einen Schlag. Zusammengesunken wie ein gescholtenes Kind sitzt er da. Seltsam traurig blicken seine Augen. Ich ertappe mich bei der Regung, meine Hand beruhigend auf seinen Arm legen zu wollen. Und dann sieht er mich an, als habe ich laut gedacht und sagt: »Wo liegt dein Haus?« »Hinter Douarnenez. Vielleicht acht Kilometer« »Abgelegen?« Ich nicke. »Ich brauche ein Versteck.« Wieder nicke ich. Ich kann nicht sprechen. Ich kann noch nicht einmal den Kopf schütteln. Wie so oft geben meine Augen ein stilles Einverständnis. Nicht aus freien Stücken und doch auch nicht erzwungen. Es fühlt sich an, als müßte es so sein. Ob ich es will oder nicht, ist völlig unerheblich. »Ich werde mit dir kommen«, sagt er und nickt zur Bekräftigung. So lange, bis auch ich nicke. Ich muß die Augen niederschlagen, kann ihn nicht länger ansehen. Die nächsten vier Stunden verbringen wir schweigend. Ab und zu rauchen wir. Ich nehme eine Dose Cola aus meiner Tasche und teile sie mit ihm. Ich kann nicht sagen, daß ich mich wohl fühle, aber allmählich weicht die Angespanntheit von mir. Mein Gegenüber verhält sich ruhig. Es gibt eine Stille, die ist bedroh-24-
lich, und eine Ruhe, die behaglich ist. Diese hier ist anders als alles sonst. Sie birgt eine Spannung, die kaum zu ertragen ist, und dennoch kann ich nicht mit Absolutheit sagen, daß sie mir unangenehm ist. Dann mischt sich ein Stöhnen in unser Schweigen. »Es ist soweit«, sagt der Fremde und stößt den Rauch seiner Zigarette hörbar aus. Mit steifen Knien hocke ich mich hin und nehme dem Schaffner den Knebel aus dem Mund. Er starrt verängstigt auf den Mann, der jetzt mit der Pistole auf seinen Kopf zielt. Wie vereinbart gebe ich dem Alten eine Dosis, die einige Stunden reichen wird. Er leistet keine Gegenwehr. Wenn ich ihm doch nur erklären dürfte, warum ich gezwungen bin, so zu handeln. Dann entscheide ich mich, die flehenden Augen des Schaffners zu übersehen und stopfe den Sockenknebel zurück in seinen Mund. Als er wieder wohlverwahrt unter der Sitzbank liegt, bin ich froh, daß der Mantel ihn verdeckt. *** Nur noch wenige Minuten bis zur Ankunft in Lorient. Der Mann zieht die Schaffneruniform aus und versteckt sie unter dem Sitz. Während er seine eigenen Sachen überstreift, läßt er mich nicht aus den Augen. Der Zug hält, und wir steigen aus. Er, mit dem Mantel über dem Arm, ich, mit der Pistole im Rücken. Wie ein braves Kind lasse ich mich von ihm durch das Bahnhofsgebäude führen, bleibe stehen, wenn er »halt« sagt, und setze mich in Bewegung, wenn ich »weiter« höre. Vier Uhr morgens. Die wenigen Reisenden, die hier ausgestiegen sind, verlassen schnell das Gebäude. -25-
»Wie wolltest du weiterreisen?« fragt er mich. »Mit dem Zug.« »Wann?« »In einer halben Stunde.« »Zu gefährlich.« Er dirigiert mich in Richtung eines Bahnbeamten. »Frag nach, ob es hier eine Autovermietung gibt.« Der Mann bedauert, aber das Büro würde nicht vor sechs Uhr geöffnet. »Wir sind hier nicht in Paris, Madame«, fügt er hinzu. Hinter mir höre ich ein leises Fluchen. »Was haben Sie vor?« »Wir nehmen deinen gottverdammten Zug. Hier können wir nicht bleiben. Das hier ist die Endstation für den Zug, mit dem wir hergekommen sind. Es wird nicht lange dauern, bis sie den Schaffner entdeckt haben. Warum, zum Teufel, konntest du nicht die Direktverbindung nach Quimper wählen? Sogar der TGV hält da.« »Der fährt aber erst wieder morgen früh. Solange konnte ich nicht warten.« Ich weiche seinem Blick aus. Schließlich braucht er nicht zu wissen, wie leicht mich mein Mut verläßt. Ich kaufe eine Fahrkarte für ihn. Dann begeben wir uns zu dem angegebenen Gleis. Er befiehlt mir, am Automaten zwei Becher Kaffee zu ziehen. Ich kauere mich auf die Bank und lege meine kalten Hände um das schwarze Gebräu. Es schmeckt gräßlich, aber wenigstens ist es heiß. Der Mann sitzt neben mir, die Hand mit der Pistole immer noch unter meinem Mantel. Mir ist zum Gotterbarmen kalt unter meinem schicken, aber kaum wärmenden Hosenanzug. Ich wage jedoch nicht, ihn um den Mantel zu bitten. Beständig suchen seine Augen den Zug auf dem gegenüberliegenden Gleis ab. Es ist der, mit dem wir hergekommen sind. Seinen Kaffee rührt er nicht einmal an. -26-
Mit zitternden Fingern wühle ich in meiner Handtasche. Irgendwo muß doch noch ein Schokoladenriegel sein. Ich bin sicher, daß ich einen eingepackt habe. Abrupt halte ich inne, frage mich ernsthaft, ob ich beginne, den Verstand zu verlieren? Ich starre in meine geöffnete Tasche. Überdeutlich sehe ich halb benutzte Taschentücher, meine Geldbörse, mein Schminktäschchen, die Bürste, bei der eine der Gumminoppen fehlt. Auf wundersame Weise beruhigt mich dieser Anblick vertrauter Gegenstände. Nachdenklich mache ich die Tasche zu und konzentriere mich wieder auf die dampfende, schwarze Brühe. Ich spüre, wie die heiße Flüssigkeit durch meine Kehle bis in meine Eingeweide rinnt, und ganz langsam breitet sich in mir so etwas wie Wärme aus. Ein seltsames Gefühl, völlig allein zu sein, nachts, in einer fremden Stadt, der Willkür eines Unbekannten ausgeliefert. Es ist nicht das, was ich wollte, aber das Gefühl, nichts tun zu können, keine Verantwortung zu haben, macht mich seltsam ruhig. Eine ganz eigene Faszination liegt darin, wie bei einer Fahrt in einer Geisterbahn. Man steigt in eine Gondel, ein Eisenbügel klappt herunter und verdammt zur Bewegungslosigkeit. Ein Tor öffnet sich, man fährt hindurch, und mit Donnerhall fällt es hinter einem zu. Erst in der Finsternis wird man sich bewußt, daß es keine Möglichkeit gibt, auszusteigen aus dieser Reise durch eine fremde, unheimliche Welt. Und obwohl man zu Tode erschrickt, genießt man doch das bange Gefühl der Erwartung, was sich hinter der nächsten Kurve verbergen mag. Der Verlauf dieser Reise liegt nicht mehr in meiner Hand. Vielleicht sollte ich Angst haben. Vielleicht ist diese Spannung, die ich fühle, sogar Angst. Vielleicht ist es aber auch das erste aufgeregte sich rühren meines eigenen Mutes. Ein Mut, der auf einen Fehler des Fremden wartet, einen Moment der Unachtsamkeit, um dann endlich zuzuschlagen. Ohne Widerstand lasse ich mich von meinem ›Begleiter‹ am -27-
Arm hochziehen, als unser Zug einläuft. Wir landen in einem leeren Abteil, und ich strecke mich augenblicklich auf den Sitzen aus. Hastig zieht er die Vorhänge zu und wirft einen ungeduldigen Blick auf seine Uhr. Zwischen zusammengebissenen Zähnen stößt er hervor: »Fahr endlich ab!« Die Nervosität des Mannes steigert sich immer mehr. Ich sehe die Hand, die sein Kinn massiert, die geweiteten Augen, die unruhigen Füße. Als der Zug anfährt, finden seine Bewegungen ein jähes Ende. Aber es liegt keine Ruhe darin. Fast eine Minute verharrt er in einer gespannten Haltung, bis endlich ein tiefer Atemzug die Starrheit seines Körpers löst.. Mir werden die Lider schwer. Zu gerne würde ich die Augen schließen und mir den Ausgang dieses Stückes träumen, doch das Rattern des Zuges erinnert mich daran, daß ich kein unbeteiligter Zuschauer in einem Kinosessel bin. Ich bin gefangen in einem Zwei-Personen-Stück, in dem der Regisseur zugleich die Hauptrolle spielt. Knapp eine Stunde später kommen wir in Quimper an. Als wir endlich in dem Leihwagen sitzen, drehe ich die Heizung voll auf. Mein Mantel liegt auf seinem Schoß. Die Pistole ist nicht sichtbar, aber ich weiß, daß sie da ist. Ich muß versuchen, sie zu ignorieren, wenn ich den Leihwagen nicht in einen Graben fahren will. Ich bin ohnehin keine gute Fahrerin. George hat mich nur unter größten Vorbehalten ans Steuer seines Jaguar gelassen. Nie ließ ich seinem Wagen die korrekte Behandlung angedeihen. Ich fahre nach Norden. Langsam wird es hell, und ich blicke teilnahmslos auf die erwachende Landschaft, auf die ich mich so gefreut habe. Nebel liegt über den Feldern und kriecht aus dem Meer. Ich habe dieses alte Land immer geliebt, mit all seinen Legenden und dem Hauch von Mystik, den es sich bewahrt hat. -28-
Aber heute erscheint es mir verschlagen und bedrohlich. Als ich vor dem letzten Haus der Dorfstraße anhalte, blafft der Mann mich an: »Was soll das? Ich denke, das Haus liegt abgelegen.« »Ich muß die Schlüssel holen. Hier wohnt der Vermieter.« »Ich warne dich.« Mit einem Ruck zieht er mich zu sich heran. Die Waffe gleitet über meinen Hals. »Wenn du mich anlügst, ist dein kleines Spielchen ganz schnell beendet.« »Sie können mitkommen, wenn Sie mir nicht glauben.« »Das werde ich, du kleines Miststück. So wirst du mich nicht los.« Er kommt um den Wagen herum und überwacht jede meiner Bewegungen. Wir gehen zur Tür. Ich klopfe, höre ein paar schnelle Schritte, und Sekunden später öffnet Monsieur Huchette die Tür. Als er mich erkennt, beginnt sein Gesicht zu strahlen. Tausend kleine Fältchen um seine wachen Augen begrüßen mich. Wenn er wüßte, wie wohl es mir tut, seinen vertrauten kahlen Kopf wiederzusehen. Monsieur Huchette bedeutet Ruhe, Geborgenheit, unbeschwerte Ferien. Bevor ich George kennenlernte, war ich fast jeden Sommer hier. Und jetzt, nach all den Jahren, stehe ich vor ihm wie ein Häufchen Elend und möchte mich am liebsten in seine Arme werfen und den Geruch seiner Strickjacke einatmen. »Guten Morgen, Mademoiselle. Sie sind aber pünktlich. Kommen Sie herein.« »Guten Morgen, Monsieur Huchette.« Dankbar ergreife ich seine warmen Hände. Dann sieht er meine Begleitung. »Ich dachte, Sie wollten allein kommen.« »Es hat sich erst im letzten Moment so ergeben.« Monsieur Huchette zwinkert uns schelmisch zu. -29-
»Darauf habe ich schon lange gewartet. Ist nicht gut, allein zu sein. Trinken Sie einen Kaffee mit mir?« Ein Zeichen in meinem Rücken. »Seien Sie mir nicht böse«, sage ich. »Wir sind beide sehr müde. Die lange Fahrt, Sie verstehen?« »Natürlich, Kindchen.« Richtig enttäuscht sieht er aus. Ich mache mich steif, als mein Begleiter einen Arm um mich legt. Bei Monsieur Huchette verfehlt diese Geste jedoch ihre Wirkung nicht. Wohlwollend blickt er zwischen uns hin und her, wackelt ein wenig mit dem Kopf und sagt: »Ich hole die Schlüssel. Sie werden alles unverändert vorfinden. Ich denke, das ist in Ihrem Sinne.« »Ja, sicher.« »Waren Sie schon mal in der Bretagne?« fragt er den Mann, der mich festhält. »Nein.« »Na, dann lassen Sie sich von Ihrer kleinen Freundin mal die versteckten Reize unseres Landes zeigen.« Er zwinkert mir verschwörerisch zu, und ich fühle mich wie eine Verräterin, als ich zurücklächele. Lieber, ahnungsloser Monsieur Huchette. »Und wenn Sie Zeit haben, kommen Sie mich mal besuchen. Ich würde mich freuen. Sie wissen ja, seit meine Frau tot ist, bekomme ich selten Besuch.« »Ja, gerne«, sage ich und möchte am liebsten losheulen. Wie er da so allein unter der Haustür steht und uns nachsieht, kommt er mir winzig klein vor. »Ich habe etwas für den ersten Hunger in den Kühlschrank gepackt«, ruft er uns hinterher. »Danke, das ist nett«, sagt mein Begleiter und winkt tatsächlich zum Abschied. -30-
Ich fahre sofort los. Immer noch sehe ich den einsamen Monsieur Huchette vor mir. Und plötzlich habe ich Tränenschleier vor den Augen. Der Mann neben mir spricht kein einziges Wort. Und doch spüre ich nur zu deutlich, daß er mich nicht aus den Augen läßt. Ich klimpere heftig mit den Lidern, um die Tränen zu vertreiben. Die Straße ist kaum noch zu erkennen. Ich muß mich konzentrieren, um den kleinen Feldweg nicht zu verpassen. Die vom Blitz gespaltene Eiche habe ich doch längst passiert. Bin ich etwa schon zu weit gefahren? Angestrengt suchen meine Augen nach einem Zeichen, und ich merke nicht, daß ich viel zu schnell fahre. Als ich die Abzweigung endlich entdecke, muß ich heftig bremsen. Wütend fährt sein Kopf herum. »Wir sind gleich da«, sage ich beschwichtigend. »Ich werde jetzt langsamer fahren. Der Boden ist voller Schlaglöcher.« Endlich kommt das Haus in Sicht. Es ist nicht groß. Die Grundfläche beträgt keine fünfzig Quadratmeter. Aber die grob behauenen Steine lassen es viel wuchtiger erscheinen. Dicke Mauern mit tiefen Fensternischen. Blaue Holzläden – Geborgenheit. Was wird es mir diesmal sein? Geistesabwesend ziehe ich die Handbremse an. Als ich die Schlüssel abziehe und aussteigen will, schnippst der Mann mit den Fingern. Verwirrt drehe ich mich zu ihm. »Die Schlüssel!« Ich schalte das Licht ein und bleibe einen Moment stehen. Monsieur Huchette hatte recht. Es hat sich nichts verändert. Vor dem riesigen, aus Natursteinen erbauten Kamin, für mich das Glanzstück des Hauses, steht noch immer die gleiche abgewetzte Couch und daneben der Sessel, der nicht dazu paßt. Auf dem kleinen Tisch davor hat mir der gute Alte einen blumigen Willkommensgruß bereitet. »Wieviele Räume gibt es hier?« Ich deute nach links. -31-
»Da vorne ist eine Wand gezogen worden, um die Küche vom Wohnraum zu trennen. Dahinter liegt eine Abstellkammer, und darunter ist ein kleiner Keller.« »Kein zweiter Ausgang?« »Nein.« »Wohin führt die Wendeltreppe?« »Zum Dachstuhl mit dem Bad und einem Schlafzimmer.« »Gut.« Er geht in die Küche und öffnet den Kühlschrank, nickt und richtet sich wieder auf. »Mach uns was zu essen!« Wortlos setze ich meine Tasche ab. Während ich nach Pfanne, Öl und Eiern suche, wirft er einen Blick in die Speisekammer. Dann entfernt er sich, offenbar, um die oberen Räume zu inspizieren. Gespannt lausche ich auf seine Schritte. Die Wendeltreppe knarrt. Jetzt bleibt er stehen. Stille. Nicht das leiseste Geräusch einer Bewegung. Forschend schaue ich zur Decke. »Ich möchte hören, wie du arbeitest«, ruft er. Ich presse die Lippen zusammen, nehme Salz- und Pfeffermühle vom Bord und knalle beides auf die Arbeitsplatte. »Gut so!« tönt es von oben. Mit wütenden, heftigen Bewegungen schlage ich die Eier auf und lasse sie in eine Schüssel klatschen. Ich streue Kräuter und geriebenen Käse darüber und verschlage alles zu einer Masse. Viel länger als notwendig rühre ich, und die Gabel klappert laut gegen die Schüssel. Ganz gegen meine Art stehlen sich leise Flüche über meine Lippen, Verwünschungen gegen den Mann da oben. Und als ich dann mit beiden Händen die Pfeffermühle packe, wünschte ich, sie lägen um seinen Hals. Ich starre auf die gelbe Masse in der Pfanne, die langsam zu stocken beginnt, und der vertraute Duft macht mich ein wenig -32-
ruhiger. Erst jetzt merke ich, wie hungrig ich wirklich bin. Ich drehe mich um und bleibe wie angewurzelt stehen. Am Küchentisch sitzt der Mann und sieht mich an. Nichts in seinem Gesicht deutet darauf hin, wie lange er mich schon belauscht. Die Mahlzeit verläuft schweigend. Als er den leeren Teller von sich schiebt, stelle ich das Geschirr in die Spüle und lasse heißes Wasser darüber laufen. Unschlüssig drehe ich das Geschirrtuch in meinen Händen. »Verschwinde!« befiehlt er. »Ich will keinen Mucks mehr von dir hören.« Ich beeile mich, der Aufforderung nachzukommen und zerre meine Reisetasche die schmale Wendeltreppe hinauf. Schwer atmend lasse ich mich auf das Bett fallen und betrachte die spärliche Einrichtung, die ehemals weißen Wände, als könnten sie mir sagen, wie ich aus dieser Situation wieder herauskomme. Ich sollte wenigsten versuchen zu schlafen. Aber als ich die Augen schließe, beginnt meine Halsschlagader so heftig zu pochen, daß ich die flatternden Lider schnell wieder öffne. Ich setze mich auf, fummele eine Zigarette aus meiner Tasche und zünde sie an. Stunden vergehen mit sorgsam inhaliertem Rauch, glühenden Zigarettenenden und blauen Schwaden, die bald das kleine Zimmer ausfüllen. Die Schachtel ist fast leer, als ich mir endlich ein Herz fasse und mich ausziehe. Zögernd und immer wieder innehaltend, um zu lauschen. Doch unten rührt sich nichts. Als ich unter die Laken schlüpfe und die Beine anziehe, sind meine Füße eiskalt. Ein frierender Embryo. Genauso klein, genauso wehrlos. Hundemüde und zerschlagen fühle ich mich. Doch der ersehnte Schlaf will sich nicht einstellen. Mit offenen Augen liege ich da, beobachte die Schatten an der Wand, horche auf jedes Geräusch und warte. Ein Gedanke hat sich in meinem Kopf eingenistet, die Erinnerung an ein Gefühl, -33-
das ich nie wieder haben wollte. Jetzt ist es da. Groß und mächtig und vertraut. Ich warte auf Schritte auf der Treppe, warte auf den Mann, seine Gier, meine Ohnmacht. Ich wälze mich herum, geplagt von grausamen Vorstellungen. Die Erinnerung ist schlimm genug. Doch die Szenen, die mein Hirn nun ersinnt, sind unverhältnismäßig brutal. Und dann höre ich die Schritte tatsächlich. Ich schüttele den Kopf, um mich zu vergewissern, daß mir meine Phantasie keinen Streich spielt. Aber nein. Die Schritte werden lauter, je näher sie kommen. Mir bricht der Schweiß aus. Mit beiden Händen ziehe ich die Decke bis unters Kinn, starre mit weit aufgerissenen Augen auf die Tür. Gleich wird sie sich öffnen, und der dunkle Umriß einer großen Männergestalt wird erscheinen… Aber nichts dergleichen passiert. Stattdessen dreht sich quietschend der Schlüssel im Schloß. Gleich darauf entfernen sich die Schritte wieder die Treppe hinunter. Draußen zwitschert ein früher Vogel. Quälend langsam, wie kleine Ewigkeiten, verrinnen die Minuten. Ich lege den Kopf an die Wand und mahne mich zur Ruhe. Egal, wer der Mann da unten ist oder was er getan hat – er ist nicht George! Nicht George und keiner von seinen Freunden.
-34-
ZWEITER TAG
Als ich erwache, scheint trübes Winterlicht durch das kleine Fenster. Im ersten Moment will ich mich herumdrehen und weiterschlafen. Aber einen Herzschlag später erinnere ich mich, daß ich nicht alleine bin. Da unten wartet er auf mich. Und kein Weg führt an ihm vorbei. Im Haus ist alles still. Einen kurzen Moment keimt Hoffnung in mir auf. Hoffnung, daß er weg ist, mich einfach hier zurückgelassen hat. Dann höre ich ein Geräusch aus der Küche und weiß, daß dieser Alptraum noch nicht zu Ende ist. Mutlos werfe ich einen Blick aus dem Fenster. Kein schöner Tag. Könnte ich den Mann doch wenigstens aus meinen Gedanken verbannen. Wenn ich ganz still bin, wird er denken, ich schlafe noch. Aber die Ruhe will nicht kommen. Ich bin so wach, daß meine Muskeln förmlich nach Bewegung schreien. Leise richte ich mich auf, greife Jeans und Pulli aus der Tasche und schleiche zur Tür. Sie ist unverschlossen. Vorsichtig öffne ich sie und husche ins Badezimmer. Als ich mein Gesicht im Spiegel erblicke, halte ich erschrocken inne. Meine Augen sind geschwollen, als hätte ich stundenlang geweint, das Weiße ist von roten Äderchen durchzogen. Die Lippen sind bleich und schmal. Ich sehe mehr tot als lebendig aus. Angewidert wende ich mich ab und steige in die Dusche. Das Wasser in den alten -35-
Rohren gurgelt beunruhigend laut. Als es endlich gleichmäßig und in der richtigen Temperatur fließt, halte ich ihm mein entstelltes Gesicht entgegen. Unbemerkt vermischen sich Salziges und Süßes. Das heiße Naß rieselt wohltuend an mir herab. Am liebsten würde ich ewig unter dem warmen Wasser bleiben. Meine seifigen Hände gleiten über meinen Körper. Erst heftig, als wollten sie etwas wegwaschen, dann langsamer, als wüßten sie, daß sie eben nichts weiter sind als seifige Hände. Seifenschaumhände, die beruhigend meine Brust, mein Herz und mein Gesicht streicheln. So lange wie möglich zögere ich den Moment hinaus, in dem ich den Hahn zudrehen muß. Als ich aus der Dusche steige, lehnt der Mann im Türrahmen. Er hat die Arme über der Brust verschränkt und sieht mich an. Auf seiner Stirn steht eine tiefe Falte. Schnell greife ich nach dem Handtuch und wickle es um mich. »Das nächste Mal fragst du mich, wenn du duschen willst.« Ich nicke. »Hast du die Sprache verloren? Sieh mich wenigstens an, wenn ich mit dir rede!« Ich wende ihm meinen nassen Kopf zu. »Komm in die Küche, wenn du hier fertig bist!« sagt er und verläßt das Badezimmer. Leidlich erfrischt und ungeschminkt erscheine ich in der Küche. Ich hasse mein Gesicht, wenn es so blaß ist. »Willst du Kaffee?« Wieder will ich nicken, besinne mich jedoch rechtzeitig und bringe ein »Ja« über die Lippen. Er sieht zu, wie ich mit gierigen Schlucken trinke. Es stört mich nicht einmal. Der heiße Kaffee tut mir gut. Vorsichtig mustere ich mein Gegenüber. Er sieht erholt aus. Offenbar scheint er gut geschlafen zu haben. Sein -36-
dunkles Haar ist noch feucht und kringelt sich leicht hinter den Ohren. Wie tief muß ich geschlafen haben, daß ich nicht gehört habe, wie er geduscht hat! »Wie spät ist es?« frage ich. »Fast drei.« Also habe ich doch wenigstens ein paar Stunden geschlafen. »Hör zu!« sagt er. »Wir werden eine Zeitlang miteinander auskommen müssen. Es liegt an dir, wie unangenehm du sie verbringen willst. Verstanden?« »Ja.« Er steht auf, weicht meinen Augen aus, beginnt wieder aufund abzugehen. »Ich habe keine Lust, dir weh zu tun. Aber ich werde tun, was immer nötig ist, um dich daran zu hindern, mich zu verraten. Klar?« »Klar.« »Wirklich?« Dicht vor mir bleibt er stehen, beugt sich herab. »Du hast mein Vertrauen schon einmal ausgenutzt.« »Vertrauen?« »Ich habe dir gestern eine Chance gegeben, deine Vertrauenswürdigkeit zu beweisen, und du hast sie verschenkt.« »Wie? Ich verstehe nicht…« »Schlechtes Gedächtnis, was? Gestern im Zug hat dein Gehirn besser funktioniert. Ich habe die Pistole auf den Sitz gelegt, und sofort hast du versucht, sie an dich zu reißen. Gleich bei der ersten Gelegenheit. Wolltest du mich erschießen?« Ich muß ein paarmal schlucken, ehe ich antworten kann. »Ich weiß nicht.« »Tsss.« Er schüttelt den Kopf. »Das glaube ich dir sogar. Denk demnächst vorher nach, was du tust!« Ohne eine Antwort abzuwarten, dreht er sich um. -37-
»Wenn du Hunger hast, sieh zu, was du findest! Ich bin im Wohnzimmer.« Verdattert bleibe ich in der Küche zurück. Eigentlich sollte ich froh sein, daß er mich allein frühstücken läßt. Aber der Gedanke, nicht zu wissen, was er im Nebenraum tut, macht mich unruhig. Und was, zum Teufel, sollte diese Vertrauensnummer? Ratlos starre ich auf die aufgebackenen Brötchen. Ich schlinge eines hinunter und gieße mir frischen Kaffee nach. Noch kauend erscheine ich mit der Tasse in der Hand im Wohnzimmer. Der Mann läuft vor den zwei kleinen Fenstern hin und her. Ich stelle die Tasse ab und setze mich auf die Couch. Wachsam beobachte ich, wie er im Zimmer umhergeht und nervös an seiner Zigarette zieht. Ab und zu bleibt er stehen und betrachtet das glühende Ende. Mich scheint er nicht zu bemerken. Nachdem ich ihm eine Weile zugesehen habe, ohne daß ein Wort gefallen wäre, lullt mich das gleichmäßige Geräusch seiner Schritte ein. Meine Gedanken sammeln sich, kreisen um eine Idee, werden zu einem Plan. Und dann sage ich ganz ruhig: »Ich habe meinem Freund versprochen, ihn anzurufen, wenn ich angekommen bin.« Er hält inne. Langsam dreht er sich zu mir um, sieht mich an, als erinnerte er sich eben jetzt wieder an meine Anwesenheit. »Er wird sich Sorgen machen«, füge ich hinzu. Kaum merklich lächelt er. »Normalerweise macht man sowas direkt nach der Ankunft und nicht erst am nächsten Mittag, oder?« »Unter diesen Umständen ist es wohl nicht verwunderlich, daß ich nicht daran gedacht habe.« Mit hochgezogenen Augenbrauen sieht er mich an. »An deiner Stelle wäre ich nicht so keck. Du bist nicht in der Position, -38-
Forderungen zu stellen. Und du wirst niemanden anrufen, um ihm was zu stecken. Das willst du doch, oder?« Er beugt sich zu mir herunter. Seine Stimme trieft vor Ironie. »Wenn du wirklich mit deinem Freund einen Anruf vereinbart hast, dann brauchst du ja nur abzuwarten, bis er sich solche Sorgen macht, daß er nach dir sucht. Wollen wir gemeinsam auf das Ergebnis seiner Forschungen warten?« Mit spöttischem Lächeln läßt er sich in den Sessel gegenüber fallen. Eine Weile sieht er mich an, als warte er auf eine Entgegnung. Als ich nicht reagiere, fährt er fort: »Du bringst dich mit solchen Mätzchen nicht gerade in eine günstige Lage. Ich habe wirklich Sorgen genug. Was soll ich denn deiner Meinung nach tun, wenn du dich auch noch als Problem entpuppst?« Krampfhaft starre ich auf den Tisch. Ich höre, wie er wieder an seinen Fingern zieht. Dazwischen seufzt er laut. Dann sagt er: »Ich hatte so gehofft, daß du mir helfen würdest.« Ungläubig hebe ich den Kopf. »Es macht mich nicht gerade froh, wenn ich feststellen muß, daß du schon wieder versuchst, mich reinzulegen.« Sein Gesicht zeigt deutlich seine Enttäuschung. Ja, er sieht beinahe traurig aus. »Ich brauche einen Verbündeten«, fährt er fort. »Einen Menschen, der zu mir hält. Wenigstens einen, verstehst du?« Vornübergebeugt sitzt er da und sieht mich eindringlich an. Verzweifelte Ungeduld in seinen Augen. Besser, ich lasse mich auf das Spiel ein. »Dazu müßte ich erst einmal wissen, was Sie getan haben«, entgegne ich zögerlich. »Ich brauche niemanden, der über mich Urteile fällt«, fährt er auf. »Ich habe dich um dein Vertrauen gebeten, sonst nichts.« -39-
»Und wie soll ich jemandem vertrauen, den ich gar nicht kenne?« »Kennst du mich denn, wenn ich dir erzähle, daß die Polizei mich zu Unrecht verfolgt? Woher willst du wissen, ob ich dir die Wahrheit sage?« Er hebt die Schultern und holt tief Luft. »Du siehst: Das Vertrauen steht immer am Anfang. Damit beginnt alles. Es bleibt dir gar nichts anderes übrig, als zu vertrauen und zu hoffen, daß ich aufrichtig und gut zu dir bin.« Verblüfft ob der seltsamen Logik, starre ich ihn an. Und doch kann ich mich seinen Worten nicht entziehen. »Nun gut«, sagt er, während er auf seiner Unterlippe kaut. »Vielleicht verlange ich zuviel. Glaub mir, ich verstehe deine Situation. Aber du mußt auch meine verstehen. Ich hoffe, ich bin hier vorerst in Sicherheit. Einen weiteren Plan habe ich noch nicht. Also finde dich damit ab, daß wir noch eine ganze Weile zusammen verbringen werden. Und es liegt ganz allein bei dir, wie sich unser Beisammensein gestaltet: Ist das jetzt klar?« Ich nicke. Dann besinne ich mich und sage schnell: »Ja, klar.« »Gut.« Er steht auf, sieht auf meinen gebeugten Nacken. Ich kann seinen Blick spüren, glaube sogar zu wissen, daß er jetzt die Arme in die Seiten gestützt hat. Etwas an dieser Situation ist mir vertraut. »Das Holz ist ein wenig knapp«, wechselt er plötzlich das Thema. »Aber ich habe hinter dem Haus Brennholz gesehen. Ich werde gehen und es holen.« Die Tür fällt ins Schloß, und ich hebe den Kopf. Von draußen dringt mit einem dumpfen Geräusch ein Beilschlag zu mir. Pause. Noch ein Schlag. Ich sehe ihn fast vor mir, wie er die dicken Scheite in kleine Stücke hackt. Mein Blick fällt auf das Telefontischchen neben der Eingangstür. -40-
Langsam erhebe ich mich. Wie lange wird er da draußen brauchen? Wird die Zeit reichen, um einen Notruf zu tätigen? Ich nehme den Hörer in die Hand, und dann starre ich einen quälend langen Moment auf die Wählscheibe, als mir bewußt wird, daß es niemanden gibt, den ich anrufen könnte. Niemanden, außer George. Mir bleibt nichts anderes übrig, als seine Nummer zu wählen. Die Zeit bis zum ersten Tuten zieht sich ins Endlose. Hoffentlich ist er schon zu Hause. Wie oft hat es jetzt schon geklingelt? Viermal, fünfmal? Endlich wird abgehoben. Eine Frauenstimme meldet sich. Eine Sekunde stehe ich wie erstarrt. Dann schiebe ich den häßlichen Gedanken beiseite. »Hier ist Joëlle. Sagen Sie George, ich bin in…« Mit einem Knall fliegt die Tür auf. Die Arme voller Holz steht er da, und ich lasse die Hand sinken. Aus dem Hörer dringen unverständliche Laute. Ein leises Knacken, als er die Gabel herunterdrückt, und plötzlich ist es unheimlich still. Da ist es wieder. Dieses Gefühl, bei etwas Verbotenem ertappt zu werden. Der schreckliche Moment zwischen Entdekkung und Bestrafung. Er steht immer noch unbeweglich. In seinem Gesicht zuckt es. Der Ausdruck seiner Augen ist mir unerträglich. Ich spüre, wie Schamesröte mein Gesicht überzieht. Dann weicht seine Erstarrung. Er schließt mit dem Fuß die Tür und geht langsam an mir vorbei zum Kamin. Ich halte den Atem an, wage nicht, mich nach ihm umzudrehen. Ich höre, wie er das Holz stapelt, höre, wie er den Staub von seinen Händen an seiner Hose abklopft, seine Schritte. Als er mich beim Arm packt, zucke ich zurück. »Angst?« Er lächelt. »Recht so! Du weißt, daß du Strafe verdient hast, nicht wahr?« Ein Schauer läuft mir über den Rücken. »Setz dich!« -41-
Er nimmt seinen Platz im Sessel gegenüber ein. Die Stille schwebt wie ein Damoklesschwert über mir. Und dann sagt er: »Joëlle heißt du also. Joëlle und George! Wie nett!« Bedächtig zündet er sich eine Zigarette an. »Was hat George denn gesagt, Joëlle? Geht es ihm gut?« »Er, er war nicht da.« »Aber du hast doch mit jemandem gesprochen. Wer war das?« »Seine Haushälterin.« »Seine Haushälterin, so, so.« »Und sie sollte George sagen, daß er dich retten soll, ja?« Ich schweige. »Joëlle, ich rede mit dir.« »Hören Sie auf!« schreie ich. »Wenn Sie mich bestrafen wollen, dann tun Sie es. Aber hören Sie auf, mich auf diese Art zu verhören.« »Willst du bestraft werden, Joëlle?« »Was?« »Ich meine, ist dein schlechtes Gewissen so groß, daß du glaubst, Strafe verdient zu haben?« Verwirrt starre ich ihn an. Er lächelt jetzt, kommt zu mir herüber, setzt sich neben mich. »Das ist gut, Joëlle«, sagt er sanft. »Wenn du jemanden betrügst, sein Vertrauen mißbrauchst, und in dir regt sich nicht ein Fünkchen von schlechtem Gewissen, dann bist du verloren. Ich mag Menschen mit Ehrgefühl.« Er drückt meine Hand. »Vielleicht können wir ja doch zusammenarbeiten. Was meinst du?« Ich weiß nicht, was ich sagen soll, zucke mit den Schultern, schaue ihn an, sehe wieder weg. Und er tätschelt meine Hand. »Ich bin kein Unmensch, Joëlle. Wenn du mir hilfst, hast du nichts zu befürchten. Und wenn du zu mir hältst, kannst du dich immer auf mich verlassen, okay?« -42-
Ich nicke vorsichtig. »Dann gib mir die Hand drauf.« Zögernd ergreife ich seine Hand. Sie ist trocken und warm. Ein bißchen dünn und knochig vielleicht. Fast zart. »Hör zu, Joëlle.« Während er spricht, hört er nicht auf, meine Hand festzuhalten, als könne das seine Worte bekräftigen. »Wir sind aufeinander angewiesen. Es bringt nur Ärger, wenn wir uns gegenseitig das Leben schwer machen, und ich kann nicht noch mehr Ärger gebrauchen. Wir fangen einfach bei Null an. Also, schenke ich dir jetzt mein Vertrauen. Und dafür vertraust du mir. Einverstanden?« »Einverstanden.« »Und ein kleines mutmachendes Lächeln vielleicht?« Mühsam ziehe ich meine Mundwinkel nach oben. »Na also«, sagt er und klopft mir auf den Rücken. »Betrachte mich einfach als deinen Gast. Wird schon werden, hm?« Und dann nickt er mir wieder bestätigend zu. »So, und jetzt fahren wir ins Dorf. Wir brauchen Vorräte.« Er springt auf, klatscht in die Hände und geht zur Tür. *** Während der Fahrt betrachtet er aufmerksam die Landschaft. Er wirkt auf mich beinahe wie ein Kind, das zum ersten Mal ins Ausland gereist ist und mit großen Augen die Andersartigkeit der Umgebung in sich aufsaugt. Ich parke den Wagen vor dem Inter-Marché. Der Einkauf verläuft reibungslos. Er schiebt den Einkaufswagen, und ich lege die Waren in den Korb, die er mir ansagt. Er achtet sehr darauf, daß ich mich nicht weiter als eine Armeslänge von ihm entferne. -43-
Auf dem Rückweg studiert er aufmerksam die Zeitung. Mir ist klar, wonach er sucht, aber er wird offenbar nicht fündig. Ein Radio würde uns sicher schlauer machen, doch der Leihwagen verfügt nur über ein defektes Exemplar. »Du warst eine brave Frau heute mittag.« »Wie bitte?« »Hast du es denn nicht bemerkt?« »Was?« »Wie die Leute uns wohlwollend zugelächelt haben?« »Nein.« Er sieht mich an wie ein Vater, der großzügig ein unerwartetes Lob verteilt und sich nun an der Verblüffung seines Kindes weidet. »Ach, komm schon! Es muß dir nicht peinlich sein. Die Frau an der Wursttheke wußte ja nicht, wer ich bin.« »Das weiß ich auch nicht.« »Dann finde es doch heraus.« Sein Blick ist in weite Ferne gerichtet. Und um seinen Mund liegt immer noch dieses zufriedene Lächeln. »Ich glaube, wir gefallen den Leuten als Paar«, fährt er nachdenklich fort. »Wer weiß, vielleicht ist unsere Art der Beziehung die einzig mögliche zwischen Mann und Frau.« Prüfend sehe ich ihn an. Er sieht nicht so aus, als wolle er sich über mich lustig machen. »Wie meinen Sie das?« frage ich vorsichtig. »Ich meine, die einzig lebbare Beziehung. Ohne Auseinandersetzungen, ohne Gefühlsschwankungen, ohne Verrat.« Er zieht die Augenbrauen hoch, und seine Augen verraten ein diebisches Vergnügen. »Jetzt bist du neugierig, nicht wahr? Du fragst dich, wie das gehen soll.« -44-
»Allerdings.« »Indem man sich einig ist!« Triumphierend, als habe er gerade eine große Neuigkeit verkündet, sieht er mich an. Das unangenehme Gefühl in meinem Magen verstärkt sich. »Es war in unser beider Interesse, kein Aufsehen zu erregen. Wir haben zusammengearbeitet wie ein gut eingespieltes Team. Jeder von uns hat sich genau an seine Rolle gehalten, und nur deshalb hat alles so reibungslos geklappt. Du mußt zugeben, daß es ein sehr gutes Gefühl ist, sich so aufeinander verlassen zu können.« Einen Moment bin ich sprachlos. »Sie scheinen zu vergessen, daß ich nicht aus freiem Willen gehandelt habe«, bemerke ich. Aber er lacht nur. So, als hätte ich etwas sehr Dummes gesagt. »Aber das ist es doch gerade«, fährt er fort. »Wenn sich jeder an die Regeln hielte, wäre alles ganz einfach. Aber was tun wir? Wir reden von der Befreiung des Geistes und von Selbstverwirklichung. Und wohin führt es uns, wenn jeder nach seinem Willen leben will? Na?« Fragend beugt er sich zu mir hinüber. Aber ich ziehe es vor, nicht darauf zu antworten. Es scheint auch gar nicht nötig zu sein, denn er fährt bereits mit seiner Rede fort: »In Streit und Chaos führt uns das. Wir tun uns gegenseitig weh, nur weil wir unseren Willen durchsetzen wollen. Dabei wissen die meisten nicht einmal genau, was sie wollen. Und insbesondere Frauen sind viel zu abhängig von ihren Gefühlen, um eine klare Willensäußerung abzugeben und auch dazu zu stehen. Heute wollen sie ›Schwarz‹ und morgen ›Rot‹. Das ist für mich keine wohlüberlegte Entscheidung, sondern schlicht Unentschlossenheit und Unsicherheit.« »Das hört sich so an, als könnten Partnerschaften nur dann -45-
funktionieren, wenn die Frauen nach dem Willen ihrer Männer leben. Finden Sie das nicht ein bißchen mittelalterlich?« »Und wenn schon! Muß es deshalb falsch gewesen sein? Damals wußten die Menschen noch, was sie erwartet, wenn sie eine Ehe eingehen. Und daran haben sie sich gehalten. Vielleicht war nicht jeder Tag ein Sonntag, aber die Verhältnisse waren klar, und die Beziehung hat dementsprechend lange gehalten.« Er meint es tatsächlich ernst, fährt es mir durch den Sinn. Aber wie kann er nur so sachlich über ein Thema sprechen, das hauptsächlich von Gefühlen lebt? »Was ist mit der Liebe?« frage ich vorsichtig. »Wo bleibt sie in dieser Form von Beziehung?« »Was soll damit sein?« Für einen Moment verläßt das Lächeln sein Gesicht. »Willst du etwa behaupten, du wüßtest, was das ist?« »Ich weiß zumindest, daß man sie nicht befehlen kann.« Sofort erscheint wieder das zufriedene Lächeln. »Sie kommt und geht also ganz nach Belieben, was?« »Natürlich nicht!« Irritiert sehe ich ihn an. »Aber Gefühle haben nichts mit dem Willen zu tun. Ich kann mich weder zwingen, jemanden zu lieben, noch ihn zu hassen. Jedes Gefühl ist die Reaktion auf eine Situation, und dementsprechend kann es sich verändern.« Er lächelt mich an, und dann lehnt er sich demonstrativ zurück. Genüßlich verschränkt er die Arme hinter dem Kopf: »Du gibst also zu, daß die Liebe ein wankelmütiges Gefühl für dich ist?« Ohne eine Antwort abzuwarten, lacht er trocken auf. Und noch bevor er weiterspricht, weiß ich, daß ich verloren habe. »Damit hast du genau das bestätigt, was ich vorhin gesagt habe. Das ist typisch Frau. Ihr wollt überall mitreden, auch wenn ihr keine Ahnung habt, worum es eigentlich geht. Du glaubst, -46-
ich würde die Liebe verleugnen, dabei bist du es, die sie zu einem unsteten Gefühl degradiert. Ich jedoch glaube, wenn es eine wahre Liebe gibt, dann ändert sie niemals ihr Gefühl. Aber vielleicht erkennst du das ja noch.« Er scheint sehr zufrieden mit seinem Vortrag zu sein. So zufrieden, wie ich entsetzt bin. Entsetzt über das seltsame Gedankengerüst, das sein Gehirn konstruiert. Zu Hause angekommen, übergebe ich ihm auf seinen Wink hin die Autoschlüssel. »Bring das Zeug in die Küche!« Er deutet auf die Tüten. »Ich habe Hunger!« Als ich schon an der Tür bin, ruft er mich zurück. »Ach Joëlle, da wäre noch etwas.« Er macht eine bedeutungsschwangere Pause. »Wir sind doch jetzt Verbündete, oder?« Ich nicke vorsichtig, nicht ahnend, worauf er hinaus will. Er nickt ebenfalls. »Dann solltest du damit aufhören, mich immer noch zu siezen. Ich duze dich schließlich auch. Und irgendwann wird es mich ziemlich wütend machen, so kühl von dir behandelt zu werden. Ich könnte das als herablassend auffassen.« Ich murmele eine Entschuldigung, und er sagt: »Na ja, du mußt dich noch daran gewöhnen. Aber denk in Zukunft dran!« Ich hauche ein »Ja« und verdrücke mich in die Küche. Mit zitternden Händen verstaue ich die Lebensmittel. Ich will mir nicht vorstellen, was passiert, wenn dieser Mann einmal wirklich wütend wird. Aber wie soll ich es anstellen, ihn nicht wütend zu machen? Er scheint seine eigenen Regeln zu haben, und zwar sehr strikte. Scheppernd kracht eine Pfanne zu Boden. Schnell stelle ich sie wieder in den Schrank zurück und schaue -47-
zur Tür. Fast erwarte ich, ihn hämisch grinsend hinter mir stehen zu sehen. Ratlos gleitet mein Blick über Töpfe und Schüsseln. Ich soll etwas zu essen machen, erinnere ich mich. Entschlossen greife ich nach einer Auflaufform. Ich werde mir Mühe geben. Vielleicht stimmt ihn das versöhnlich. Mit fahrigen Händen bereite ich die Lammkoteletts vor und belege sie mit Zwiebeln, Knoblauch und Käse, begieße das Ganze mit Weißwein und schiebe die Kasserolle in den Backofen. Gerade will ich mich an die Zubereitung der provençalischen Kartoffeln machen, als er die Küche betritt. In jeder Hand eine Kartoffel, halte ich inne. Ohne mich zu beachten, geht er an mir vorbei, wäscht sich die Hände über der Spüle und sagt: »Das Feuer brennt. Gleich wird es schön warm sein.« Er wirft einen Blick auf den Ofen. »Das riecht gut. Was gibt es denn?« »Lammkoteletts«, antworte ich tonlos. »Dann werden wir einen Roten dazu trinken.« Prüfend betrachtet er die Flaschen, die ich gekauft habe. »Wir werden im Wohnzimmer essen. Ist gemütlicher.« Spricht’s, nimmt eine Flasche und zwei Gläser und verschwindet wieder. Er betritt und verläßt die Küche mehrmals, rumpelt und klappert in Schränken und Schubladen herum und scheint mich vergessen zu haben. Die letzten zwanzig Minuten verbringe ich allein. Von ihm ist nichts zu hören oder zu sehen. Als ich das Essen ins Wohnzimmer bringe, kostet es mich einige Mühe, mir meine Überraschung nicht anmerken zu lassen. Im Kamin knistert ein Feuer, und auf dem Tisch liegt eine weiße Decke. Zwei Kerzen brennen in silbernen Leuchtern. Weiß der Himmel, wo er die aufgetrieben hat. Und er sitzt hinter seinem Teller und strahlt wie ein Kind an Weihnachten. Mit betont ernstem Gesicht verteile ich die Speisen auf den Tellern. Er prostet mir zu. -48-
Seine Tischmanieren sind gepflegt. Aufmerksam schenkt er mir nach und versäumt auch nicht, meine Kochkunst zu loben. Er scheint das Essen direkt zu genießen. Die Szenerie ist so unwirklich, daß alle meine Alarmglocken klingeln sollten. Und dennoch denke ich die ganze Zeit nur daran, wie lange ich mir schon einen romantischen Abend mit George gewünscht habe. Wie geschickt er es doch immer wieder verstanden hat, jedes unserer Tête-à-têtes in eine wilde Party zu verwandeln. Unsere seltenen Momente der Zweisamkeit beschränkten sich auf eine, zugegeben, äußerst teure Flasche Champagner und einen heftigen Abschluß des Abends im Schlafzimmer. George war nicht interessiert an Menschen und ihrem Leben, schon gar nicht an ihren Gedanken und Träumen. George interessierten bestenfalls Kurzgeschichten, Anekdoten, die ihn zum Lachen brachten und die man weitererzählen konnte. »Woran denkst du?« Die fremde Stimme holt mich zurück. »Interessiert dich das wirklich?« frage ich und merke, daß ich langsam sprechen muß, will ich nicht den Fehler der falschen Anredeform wiederholen. Er registriert meine Bemühung mit einem wohlwollenden Lächeln. Etwas in seinen Augen irritiert mich. Sie haben ihre Kälte verloren. »Aber natürlich. Ich sagte doch, wir fangen bei Null an. Das heißt, ich verzeihe dir diesen lächerlichen Anruf, und du verzeihst mir meine Grobheit. Wir vergessen es einfach. Ab heute sind wir Verbündete. Da ist es doch nur natürlich, daß ich wissen möchte, was in deinem Kopf vorgeht.« Unsicher schaue ich ihn an. »Heißt das, ich darf auch fragen, was in deinem Kopf vorgeht?« -49-
»Aber sicher. Du darfst alles fragen. Was du willst.« »Was ich will? Und du wirst auch nicht wütend werden?« Er hält die Handflächen hoch. »Verbündete, schon vergessen?« »Ein seltsames Bündnis, in dem eine Partei die Geisel der anderen Partei ist. Oder hast du beschlossen, mich freizulassen?« »Das kann ich nicht.« Unruhig fährt sein Blick zwischen meinen Augen hin und her. Dann seufzt er. »Es war dumm von mir, dich um Verzeihung zu bitten. Um zu vergeben, braucht man ein großes Herz. Aber, nun gut. Laß uns für heute abend wenigstens einen Waffenstillstand schließen.« Beinahe hätte ich gelacht. »Du scheinst zu vergessen, daß ich nicht bewaffnet bin.« »O doch. Das bist du. Auch wenn du keine Pistole hast, bin ich doch überzeugt, daß deine Zunge messerscharf sein kann. Oh, du hast dich sehr bemüht, sie im Zaum zu halten. Aber ab und zu kannst du dich einer frechen Bemerkung nicht enthalten. Normalerweise verzeihe ich so etwas nicht. Und wenn du nicht so hübsch wärst…« Geschickt untergebracht, diese kleine Schmeichelei. Damit habe ich nicht gerechnet. »Also gut«, sage ich. »Waffenstillstand. Wenn ich schon hier eingesperrt sein muß, dann möchte ich die Zeit doch wenigstens so angenehm wie möglich verbringen.« »Sehr vernünftig von dir.« Er nickt anerkennend. »Ich bin froh, wenn ich keine Maßnahmen gegen dich ergreifen muß. Ich möchte dir wirklich nicht weh tun.« Er lächelt feierlich. Ich lächele zurück. Er prostet mir zu, wir trinken. Das Spiel beginnt. -50-
*** »Weißt du, was ich mich schon die ganze Zeit frage?« »Nein.« »Ich frage mich, was eine schöne Frau, im bitterkalten November, allein in dieser unwirtlichen Gegend macht.« Seine Augen blicken mich über den Rand des Glases hinweg an. »Ich finde diese Gegend ganz und gar nicht unwirtlich«, antworte ich. »Nein?« »Nein!« »Willst du mir weismachen, es gefalle dir hier in der Provinz? Ganz allein, ohne Freizeitangebot, ohne Shopping, ohne Theater?« »Sehe ich so aus, als brauchte ich all das?« »Allerdings. Du siehst genauso aus, als könntest du nicht einen Tag ohne deine Maniküre, deinen Fitness-Trainer und den abendlichen Partyrummel überleben. Ich hasse solche Menschen.« »Dann hast du vielleicht nie richtig hingesehen. Nicht jeder, der teure Schuhe trägt, ist ein oberflächlicher Mensch.« »Mag sein.« Er lächelt. Dann wischt er meine Bemerkung mit einer Handbewegung beiseite. »Aber das beantwortet nicht meine Frage, was dich hierher verschlagen hat.« »Also gut. Sagen wir, ich hatte genug von Palmen, Drinks und all dem, was du gerade angedeutet hast.« »Warum?« »Vielleicht hat es mir nie richtig gefallen.« »Vielleicht? Warum hast du es dann mitgemacht?« Sein Lächeln nimmt etwas Spitzbübisches an. -51-
Ich lächele ebenso zurück. »Um zu wissen, was einem nicht gefällt, muß man es doch wenigstens einmal probiert haben, oder nicht?« Er legt den Kopf schief. »Du vielleicht.« »Oh, ich ganz sicher. Schließlich bin ich nur eine Frau, nicht wahr?« Er grinst. »Du bist also nur hier, weil es hier keine Palmen gibt und so weiter?« »Und weil ich hier bestimmt nicht jene Leute mit viel Geld und noch mehr Langeweile treffen kann. Ist das so verwunderlich?« Er nickt heftig und zieht dabei die Augenbrauen hoch. »Und weil die Bretagne im November das beste Ferienwetter bietet?« »Nein!« Ich werfe ihm einen vernichtenden Blick zu, und er lacht. »Entschuldige, aber deine Erklärung ist wirklich ein bißchen dünn. Ferien in der Bretagne, weit ab vom Trubel, na gut. Aber im November?« Als er meinen Unmut bemerkt, nimmt sein Gesicht einen versöhnlichen Ausdruck an. Und in freundlichem Ton fordert er mich auf, fortzufahren: »Es interessiert mich wirklich, weshalb du gerade hierher gekommen bist. Erzähl mir doch, was du an diesem Flecken Erde findest.« Ich horche auf. Die Ironie ist aus seiner Stimme gewichen. Es klingt fast wie eine Bitte. Trotz allen Mißtrauens kann ich nichts Falsches darin entdecken. »Nun, es ist eben noch ursprünglich. Es hat sich seine Kraft bewahrt. Gerade jetzt im Winter kann man das ganz deutlich -52-
spüren. Wenn das Meer gegen die Klippen brandet und der Wind an einem zerrt, dann kann man spüren, daß man lebt.« »Dann kommst du also hierher, um dich lebendig zu fühlen?« unterbricht er mich, und ich kann an seinem Gesichtsausdruck sehen, daß ihn meine Antwort nicht befriedigt. »Ist das etwa kein guter Grund?« frage ich zurück. »Wenn du dir die Leute in den Designerpalästen im Süden mal angesehen hättest, würdest du mich verstehen. Die lassen ihre Zähne blitzen und halten es für ein Lächeln. Sie aalen sich in ihrem Schmuck am Strand, und wenn keiner hinguckt, ziehen sie fröstelnd die Schultern zusammen. Denkst du, das sei Leben?« »Ich denke das bestimmt nicht.« Eigenartig. So, wie er den Satz betont hat, könnte man meinen, er habe noch eine ganze Menge mehr dazu zu sagen. Aber er schweigt und lächelt. Nicht höflich, nicht herablassend. Eher wie ein Vater, der aufmerksam den Schilderungen seines Kindes lauscht. Er will, daß ich weiterspreche. Und plötzlich bin ich ganz aufgeregt. Kein Gedanke mehr an seine Beweggründe. Er will mehr von mir hören. Und ich möchte erzählen, warum. Ich merke nicht, wie meine Begeisterung für dieses Land mich hinwegträgt. Ich merke nicht, daß ich weit davon entfernt bin, unverfängliche Konversation zu machen. Es sprudelt geradezu aus mir heraus. Und ehe ich mich versehe, erzähle ich ihm alles, was ich George so gern gesagt hätte. Als ich geendet habe, sehe ich ihn an. Unsicher, aber immer noch voller Enthusiasmus. Er wirkt nachdenklich, aber entspannt. Keine ironisch hochgezogene Augenbraue, keine spöttische Miene. Zum ersten Mal fällt mir auf, wie ebenmäßig sein Gesicht ist. Die weichen Lippen stehen nicht im Gegensatz zu den kantigen Kieferknochen. Sie verleihen der Härte eine Sanftheit, die sich jetzt auch in seinen Augen widerspiegelt. »Eigentlich weiß ich nur sehr wenig von diesem Teil des Landes und den Menschen hier«, sagt er nachdenklich. »Ich -53-
glaube, man muß länger hier sein, um es zu verstehen. Aber ich kann es mir vorstellen. Es klingt schön.« Ermutigt fahre ich fort: »Die Gegend hier steckt voller Geschichten. Jeder Ort hat seine eigene Legende. Und wenn ich die Augen zumache, kann ich alles ganz deutlich vor mir sehen. Die Bretagne ist nicht so schnellebig wie Paris. Hier vergißt man nicht. Und wenn man die Menschen ein wenig kennt, sind sie sehr warmherzig. Man sagt, die Bretonen seien dickschädelig und langsam. Aber ich glaube, daß sie nur mehr nachdenken, bevor sie etwas sagen. Und sie meinen, was sie sagen. Auch morgen noch. Das gefällt mir. Man kann sagen, was man denkt, muß keinen Smalltalk machen und sich hinterher überlegen, ob ein Kompliment ehrlich gemeint war oder nicht. Ach ja«, seufze ich, »früher bin ich viel öfter hier gewesen.« Früher, als ich George noch nicht kannte. Als ich mich noch nicht zu seiner ergebenen Sklavin degradiert hatte. Wie konnte ich nur so naiv sein, zu erwarten, daß er versteht, warum ich mich auf diese Reise begeben habe? *** »Wozu?« hat er gefragt. »Um nachzudenken«, war meine Antwort. »Was macht dir denn so großes Kopfzerbrechen, kleine Prinzessin? Du brauchst dich doch um nichts zu kümmern. Benutze du nur dein kleines Köpfchen, um heute abend besonders hübsch auszusehen.« George hat gelacht und versucht, mich in die Arme zu nehmen, und ich habe schnell einen Schritt rückwärts gemacht. »Ich muß über mein Leben nachdenken.« »Unser Leben«, unterbrach er mich. -54-
»Nein, George! Mein Leben. Ich frage mich langsam, ob ich nicht etwas mehr verdient habe. Mehr Eigenständigkeit, mehr Freiheit. Ich kann kaum einen Schritt ohne dich tun. Selbst meine Gedanken stiehlst du mir. Und wenn du nicht da bist, dann ist es einer von deinen sogenannten Freunden.« Große Kinderaugen hat er gemacht und mich dabei so rührend verständnislos angesehen, daß ich fast wieder dahingeschmolzen wäre. Dann hat er mit dem Zeigefinger mein Kinn angehoben und den gewissen Blick aufgesetzt. Wie schmeichlerisch seine Stimme geklungen hat. »Hey Kleines, sag nicht so dumme Sachen. Wir sind doch das Traumpaar des Jahres. Alle lieben dich.« »Für meinen Geschmack lieben sie mich etwas zu sehr!« schrie ich ihn an. Verblüfft ließ er mich los, fing sich dann aber schnell wieder. »Jetzt fang doch nicht wieder davon an«, sagte er beschwichtigend. »Geht es uns jetzt etwa nicht viel besser? Ich liebe dich dafür, und ich werde dir das niemals vergessen.« »Dann sei wieder so wie früher.« »Was meinst du mit ›früher‹?« »Früher haben wir gemeinsam etwas unternommen, wir haben miteinander geredet, wir…« »Aber das tun wir doch jetzt auch, Kleines.« »Nein. Nicht mehr. Du führst mich nicht aus, du führst mich vor wie einen seltenen Schmetterling. Du redest nicht mit mir, du redest über mich. Du bist nicht mehr an mir interessiert, sondern nur daran, wie ich bei deinen seltsamen Bekannten ankomme, die uns ständig umgeben.« Ich habe mich abwenden müssen. Der Blick, mit dem er mich ansah, erinnerte mich an meinen Vater. Enttäuschung und ein stummer Vorwurf standen darin. Er würde mich niemals schlagen, genauso wenig wie Papa. Aber sie gaben mir beide das Ge-55-
fühl, versagt zu haben. Kein gutes Mädchen gewesen zu sein. Und immer haben sie mich damit gekriegt. Denn böse Mädchen liebt man nicht. Aber müssen gute Mädchen leiden? An jenem Abend sollte er begreifen, wie sehr ich litt. Es würde keine Liebesnacht geben, aus der ich lächelnd erwachte und er mit der Bemerkung: »Na bitte, jetzt lacht sie wieder, meine kleine Traumfrau« zur Tagesordnung überging. Deshalb mußte ich gehen. Ich hatte keine andere Wahl. Er hat es mir nicht leicht gemacht. Seine Augen blickten so traurig, daß ich am liebsten seinen Kopf an meine Brust gezogen hätte, um ihn zu trösten. »Bitte geh nicht«, sagte er. »Wir brauchen nicht auszugehen, wenn du nicht möchtest. Ich mache eine Flasche Champagner auf, und wir verbringen den Abend allein. Nur du und ich.« Seine bittenden Augen zogen an mir, und ich schüttelte heftig den Kopf, damit er die Tränen nicht sah. »Ich denke, du solltest die Zeit nutzen, um über meine Worte nachzudenken.« Dann habe ich mich auf die Zehenspitzen gestellt und ihm einen schnellen Kuß gegeben. Mein Koffer war bereits gepackt. Ich habe meinen Mantel genommen und mich an der Tür noch einmal umgedreht: »In spätestens vierzehn Tagen bin ich zurück.« Gerne hätte ich gesagt: »Ich liebe dich«. Aber die Worte blieben mir im Hals stecken, genauso wie der klägliche Versuch eines Lächelns. *** »Warum hörst du auf? Es macht Freude, dir zuzuhören, wirklich. Und ich kann gut verstehen, was du an diesem Ort empfindest.« -56-
Ich starre den Mann mir gegenüber an, als sähe ich ihn zum ersten Mal. Wie lange wartet er wohl schon auf die Fortsetzung meiner Plauderei? Er lächelt vertrauensvoll, und seine Augen haben einen warmen Glanz. Fast so wie ein Freund, der meine Geschichte hören will. Aber er ist nicht mein Freund. Auch wenn seine Stimme jetzt ganz sanft klingt und er mir aufmunternd zulächelt. Ich sehe, wie sein Mund sich bewegt, höre ihn Worte sprechen von Freiheit und Wind und Pferden und verstehe nicht, was er sagt. Seine Worte und auch sein vertraulicher Blick sind fehl am Platz. Irgendetwas stimmt nicht. Er redet und redet und lächelt. Er lächelt viel zu sehr. »Wirklich«, sagt er noch einmal. »Ich höre dir gern zu. Was du über die Bretagne sagtest, war mitreißend. Man konnte fühlen, daß du mit dem Herzen dabei warst. Erzählst du mir jetzt etwas über dich?« Seine Hand legt sich auf meine, und ich habe das Gefühl, mich nicht mehr bewegen zu können. »Wo bist du geboren? Hier in der Bretagne?« »Paris«, presse ich gegen meinen Willen hervor und starre auf seine Hand. »Ein echtes Großstadtkind also.« Etwas in mir lacht trocken auf. Vor meinem geistigen Auge entsteht das Bild von tristen Straßen mit hohen Wohnblocks, einer wie der andere, schmucklos und eintönig. »Ich bin nur eine Vorortgeschädigte.« »Wie meinst du das?« »Das heißt, wir lebten in einer »Cité dortoir«, einer Schlafstadt. An einem Ort, an den die Menschen nur zum Schlafen heimkehren, weil sie den Rest des Tages damit zubringen, weit entfernt zu arbeiten. Dabei sind die Erwachsenen noch gut dran, denn sie können dieser Betonwüste wenigstens für kurze Zeit -57-
entfliehen, vielleicht in ihrer Mittagspause in den Jardin de Luxembourg gehen. Aber die Hausfrauen und Kinder haben nichts anderes als ihre identisch geschnittenen Wohnungen und grauen Mauern. Bäume oder Blumen kennen sie nur aus dem zur Siedlung gehörenden Einkaufszentrum.« »Das tut mir leid.« Jetzt drückt seine Hand die meine. Es beginnt. Die Stacheln bohren sich in mein Fleisch. Nur zu gut erinnere ich mich an die jungen Männer, die mir die Hand reichten, als sei ich eine von ihnen. Es ist doch keine Schande, nicht reich zu sein, sagten sie. Aber ihren Eltern stellten sie mich nicht vor. Alles, was ich von ihnen bekam, waren ein paar Küsse und dieser mitleidige Blick, in dem sich gleichzeitig Erleichterung darüber ausdrückte, daß ich es war und nicht sie, die im Dreck saß. Erinnerungen würgen in meinem Hals. Ich schlucke mühsam, doch lassen sie sich nicht vertreiben. Ich höre auf, an den Mann zu denken, der meine Hand in seiner hält. Die Hand gehört mir nicht einmal mehr. Sie ist mir ebenso fremd wie die Stimme, mit der ich nun zu erzählen beginne: »Mein Vater arbeitete in einer Autofabrik, aber eigentlich war er Tänzer. Ich weiß nicht, ob er wirklich gut war. Ich habe ihn nie auf einer Bühne gesehen. Er gab sein Engagement auf, als meine Mutter mit mir schwanger war. Wenn man keine Soli tanzt, noch dazu in der Provinz, reicht die Gage kaum für einen allein. Uns drei hätte er nie ernähren können«, füge ich entschuldigend hinzu. »Aber außer Tanzen hatte er nichts gelernt. Er brauchte möglichst schnell einen Job, und so landete er schließlich in der Automobilfabrik. Oh, er hat sich nie beklagt. Aber ich glaube, er war nicht glücklich mit seiner Arbeit. Meine Mutter fragte niemals: ›Wie war dein Tag, Schatz?‹, und er erzählte niemals davon. Aber jedesmal, wenn er über das Ballett sprach, dann leuchteten seine Augen, sein Körper straffte sich, und manchmal -58-
tanzte er uns ein paar Schritte vor. Es war nicht schwer zu erraten, woran sein Herz immer noch hing.« »Er hat nie wieder getanzt?« »Nein.« »Oh!« Er sieht ehrlich betroffen aus. »Und was ist mit dir? Bist du zufrieden mit deinem Beruf?« »O ja! Ich liebe ihn.« Ich warte auf seine nächste Frage, aber er sieht mich nur an. Irgendetwas drückt von innen gegen meine Kehle, und meine Hand tastet nervös meinen Hals ab. »Was arbeitest du denn?« »Ich, ähm, arbeite zur Zeit gar nicht.« »Du hast deinen Beruf aufgegeben?« »Ja.« »Für deinen Freund?« Eine quälend lange Pause entsteht. »Für George?« fragt er nochmals. Ich kann nicht sprechen. Das Schlucken fällt mir schwer. Ich muß mich auf dem zugigen Bahnsteig erkältet haben. »So sehr liebst du ihn?« fragt er, als ich nicht antworte. Und seine Stimme klingt über die Maßen verwundert. Schnell greife ich nach dem Glas und leere es in einem Zug, entschlossen, den Schmerz zu ignorieren, den mir das Schlucken bereitet. Wortlos schenkt er mir nach. Das dritte Glas Rotwein, und ich spüre immer noch keine Wirkung. »Wenn du ihn so sehr liebst, daß du sogar deinen Beruf für ihn aufgibst, warum hast du ihn dann verlassen?« Er bleibt hartnäckig. »Ich habe nicht gesagt, daß ich ihn verlassen habe«, sage ich heiser. -59-
»Nein?« »Nein! Also, was soll die Frage?« »Ich möchte wissen, was das für eine seltsame Art von Liebe ist, die du mir hier verkaufen willst.« »Ich will dir gar nichts verkaufen. Wozu sollte ich mir diese Mühe machen? Du glaubst doch sowieso nicht an die Liebe.« Ungeduldig schüttelt er den Kopf. Und halb enttäuscht, halb mitleidig, klärt er mich auf: »Du hast mir nicht zugehört. Ich habe gesagt, daß das, was ihr Frauen für Liebe haltet, keine wahre Liebe ist. Denn wahre Liebe schwankt nicht.« »Dann glaub ruhig weiter daran. Ich werde nicht versuchen, dich vom Gegenteil zu überzeugen.« »Schade!« »Wie?« »Schade, daß du nie die Chancen ergreifst, die ich dir gebe.« »Was soll das heißen?« Mein Gesicht fühlt sich glühend heiß an. Ich wage nicht zu fragen, wage nicht mal, daran zu denken, worum es in diesem verrückten Spiel der Chancen und Vertrauensbeweise wirklich gehen mag. »Vielleicht rührt deine Liebe zur Bretagne daher, daß du, als Stadtkind, den Kontakt mit der Natur immer vermißt hast?« Verwirrt schaue ich ihn an. Macht er sich lustig über mich? Oder ist dieser abrupte Themenwechsel wieder eine seiner ›Chancen‹? Während ich nervös nach einer befriedigenden Antwort suche, führt er lächelnd sein Glas zum Mund. »Natürlich verbrachte ich die meiste Zeit auf der Straße«, beginne ich, unsicher, ob ich das Richtige sage. »Nur in den Ferien fuhren wir immer zu meiner Großmama -60-
nach Plessis. Das Meer sah ich zum ersten Mal, als ich sechzehn war. Das heißt aber nicht, daß mir die Natur damals gefehlt hat. Was man nicht kennt, vermißt man auch nicht.« »Das klingt sehr hart. Glaubst du nicht, daß man von etwas so sehr träumen kann, daß man es fast schmerzlich vermißt, obwohl man es nur aus dem Fernsehen kennt oder aus einer Illustrierten?« »Ich denke, Kinder schaffen sich ihre eigenen Phantasiewelten«, entgegne ich fest. »Mein Bruder zum Beispiel war nicht darin zu übertreffen, sich immer neue Spiele auszudenken. Wir waren Bonnie und Clyde, Tarzan und Jane, und unser Dschungel war der Schrottplatz oder der Hof, in dem die Müllcontainer standen. Ist es nicht eigentlich schade, daß die meisten Kinder heutzutage mit so einfachen Mitteln gar nicht mehr spielen können?« Keine Antwort. Er starrt in die Flammen. Der Widerschein zuckt über sein Gesicht und läßt es seltsam verzerrt aussehen. »Langweile ich dich?« frage ich vorsichtig. »Nein, nein. Ich… ich dachte nur gerade… an meinen Bruder.« »Na, dann weißt du ja, wie das ist.« »Leider nicht. Wir haben uns immer gehaßt.« An seinem Gesicht kann ich sehen, daß seine Gedanken in der Vergangenheit weilen. Die Spannung in meiner Kehle läßt ein wenig nach. Mucksmäuschenstill gieße ich uns Wein nach und lehne mich zurück. Ohne mich anzusehen, greift er nach dem Glas, trinkt, zieht eine Zigarette aus der halbleeren Schachtel und zündet sie an. Geräuschvoll stößt er den Rauch wieder aus. Es klingt wie ein Seufzer. Beide schauen wir den Schwaden hinterher. Als er anfängt zu sprechen, kommen seine Worte von weit her.
-61-
»Mein Bruder war ein gefühlloser Mensch. Ich habe ihn nie verstanden. Ich frage mich heute, ob er mit seinen Hänseleien, daß ich nicht Vaters richtiger Sohn sei, nicht den Nagel auf den Kopf traf. Immer wieder hat er mir das unter die Nase gerieben. Und es hat mich immer getroffen. Auch wenn ich nie glauben wollte, daß mein Vater nicht mein Vater ist, so konnte ich doch nicht übersehen, daß der Gedanke aufgrund unserer Verschiedenheit gar nicht so abwegig war. Irgendwie fühlte ich mich in dieser Familie immer fehl am Platze.« »Hast du nie versucht, es herauszufinden? Hast du nie deine Mutter danach gefragt?« wende ich ein. Doch er spricht weiter, ohne mich eines Blickes zu würdigen. Nur sein Sprechtempo erhöht sich rapide. »Mein Vater besaß eine Autofabrik. Wer weiß, vielleicht ist es sogar die, in der dein Vater arbeitete. Er war besessen von der Firma, und er kannte nur ein Bestreben: mich und meinen Bruder zu seinen würdigen Nachfolgern zu machen. Mehr noch, er wollte zwei Ebenbilder seiner Größe schaffen.« Er kichert. »Wenn er mich jetzt sehen könnte. Kann man etwa nicht sagen, daß etwas Großes aus mir geworden ist? Immerhin stehe ich in der Zeitung, und es interessieren sich eine Menge Polizisten für mich.« Er macht eine Pause, und ich kann nur hoffen, daß er keine Antwort von mir erwartet. »Er fand bald heraus, daß ich mich nicht für das Geschäft interessierte. Im Gegensatz zu meinem Bruder. Der saugte alles begierig in sich auf und erkannte bedingungslos die Meinungen unseres alten Herrn an. So kam es, daß Vater sich bald ausschließlich mit ihm beschäftigte. Für mich hatte er nur Maßregelungen und abfällige Worte übrig. Mein Bruder genoß solche Szenen, und wenn wir allein waren, hänselte er mich damit, daß Vater ihn offensichtlich viel -62-
mehr liebte als mich. Es endete jedesmal in einer Prügelei. Und natürlich gab man mir die Schuld. Und natürlich erhielt ich auch die dafür vorgesehene Strafe. So entdeckte mein Bruder ein neues Vergnügen. Er heckte irgendeine Boshaftigkeit aus und schob sie dann mir in die Schuhe. Mein Vater konnte schrecklich zornig werden. Trotzdem war er anfangs so fair, mich zu fragen, ob ich wirklich der Übeltäter gewesen war. Vielleicht hätte ich es ihm erklären können. Aber ich hätte es nicht ertragen, wenn er mir nicht geglaubt hätte. Also schwieg ich. So wurde ich zum schwarzen Schaf der Familie.« Mit einem schiefen Lächeln schaut er mich an. »Trotzdem hat er offenbar niemals seinen Plan aufgegeben, daß mein Bruder und ich eines Tages gemeinsam das Geschäft führen würden. Nur glaube ich nicht, daß er mir damit seine Liebe beweisen wollte. Ich nenne es schlicht und einfach Verbohrtheit, vielleicht sogar Rache. Oder was würdest du davon halten, wenn dir der Testamentsvollstrecker eröffnet, du würdest nur unter der Bedingung erben, daß du mindestens sieben Jahre in der väterlichen Firma gearbeitet hast?« »Vielleicht hoffte er, du würdest doch noch Geschmack daran finden«, wende ich vorsichtig ein. »Geschmack an muffigen Büros, trockenen Zahlen und toter Materie?« Seine Stimme klingt verächtlich. »Mein Vater wußte, daß meine Liebe den Pferden gehört. Er wußte, daß ich ein Gestüt leiten wollte. Die besten Rennpferde des Landes wollte ich züchten. Das hat er nie verstanden. ›Wenn du das Geschäft weiterführst‹, sagte er stets, ›dann kannst du dir so viele Pferde kaufen, wie du willst.‹ Das war einer der Gründe, weshalb ich mich schließlich doch entschied, in den sauren Apfel zu beißen.« »Und der andere Grund?« »Meine Frau.« -63-
Verheiratet! Auf den Gedanken wäre ich nie gekommen. »Sie hätte es nicht ertragen, sich einschränken zu müssen. Sie liebt den Luxus – wie alle Frauen.« Er lacht kurz auf und dreht das leere Weinglas in seinen Händen hin und her. »Und ich liebte sie«, fügt er hinzu und stellt das Glas härter als nötig auf dem Tisch ab. »Und so habe ich mich vier Jahre lang in klimatisierten Büros herumgequält. An meiner Tür steht Geschäftsleitung, aber ich weiß, daß jeder Buchhalter meine Stellung besser ausfüllen würde. Und weißt du was? Es ist mir egal. Es ist mir egal, daß alle denken, ich hätte keinen Ehrgeiz, oder ich sei faul. Ich habe immer auf den Tag gewartet, an dem ich an meiner Tür den Titel ›Versager‹ finde. Aber das wäre meinem lieben Bruder wohl zu einfach gewesen. Er genoß es viel mehr, mich öffentlich bloßzustellen und zu demütigen.« Mit einem Zug kippt er den Rest des Rotweins hinunter, und diese Geste hat etwas Endgültiges. Mir ist klar, daß er nicht mehr erzählen wird. Aber etwas kommt mir seltsam vor, und ohne nachzudenken frage ich: »Warum redest du von deinem Bruder eigentlich immer in der Vergangenheit? Ist er denn tot?« Sein Blick geht durch mich hindurch. Und sein trockenes »Ja« spiegelt nichts von dem wieder, was ich in seinem Gesicht sehe. Eine Mischung aus Haß, Erleichterung und Trauer. »Tut mir leid.« »Mir auch«, sagt er, und es klingt, als spucke er aus. Geräuschvoll zieht er den Atem durch die Nase. Sein Blick irrt durch den Raum, mit beiden Händen fährt er sich durch die Haare. Er sieht aus, als stünde er kurz vor einem Wutanfall. Und dann, übergangslos, lächelt er mich fast verzeihend an. »Ich glaube, es ist besser, wenn du jetzt weitererzählst. Das ist bestimmt unterhaltsamer.« -64-
Ich reagiere sofort. Ich weiß, daß er diesmal nicht an meiner Geschichte interessiert ist, sondern nur daran, daß ich rede. Wahllos erzähle ich von rauschenden Festen und wichtigen Leuten, die ich kennengelernt habe, von meiner Lieblingsmusik, meinem Fitneßprogramm und unseren Segelausflügen in die Ägäis. Ich gebe kleine Anekdoten zum Besten, genauso, wie es George immer tut. Offenbar mache ich alles richtig, denn er sieht mich jetzt wieder aufmerksam an und scheint sich beruhigt zu haben. Seine Frage trifft mich völlig unvorbereitet: »Liebst du es?« »Was?« »Das Leben, das du führst?« »Was meinst du?« »Nun, als du über die Bretagne gesprochen hast, hat mich deine Erzählung mitgerissen. Ich habe alles ganz deutlich vor mir gesehen. Du hast deine Worte mit lebhaften Gesten unterstrichen, und deine Augen glänzten.« »Und?« »Gerade hast du mir lauter Belanglosigkeiten aus deinem Leben erzählt. Und du hast jede Menge nichtssagender Worte dazu benutzt, tote Worte.« »Ich verstehe nicht.« »Ich will damit sagen, daß dein Leben zu einer Belanglosigkeit geworden ist. Es ist angefüllt mit Dingen, die dir nichts bedeuten. Wie kannst du ein Leben leben, das du nicht magst? Warum änderst du es nicht?« »Und das muß mich jemand fragen, der sich eben noch über sein eigenes Leben bitter beklagt hat«, entgegne ich. Warum änderst du deines nicht, wenn du es so haßt?« »Aber mein Leben hat sich geändert. Und zwar kurz bevor ich in diesen Zug gestiegen bin.« »Was hast du getan? Die Fabrik angezündet?« -65-
Verblüfft schaut er mich an, dann grinst er, und seine Augen verengen sich ein wenig. »Und wenn es so wäre?« fragt er. »Wie würdest du das finden?« »Ist deswegen die Polizei hinter dir her?« »Du hast meine Frage nicht beantwortet.« Kritisch beobachtet er jede Regung meines Gesichts. Trotzdem versuche ich, seine Frage ernsthaft zu beantworten. »Ich könnte verstehen, warum du es getan hättest«, sage ich schließlich. »Aber ich würde es nicht billigen.« »Warum nicht?« »Weil du damit einer Menge Leute den Arbeitsplatz weggenommen hättest.« Dann kommt mir ein furchtbarer Gedanke. Entsetzt sehe ich in seine wachsamen Augen. »Sind etwa Menschen dabei umgekommen?« »Ich habe nicht gesagt, daß ich es getan habe.« Sein Gesicht zeigt deutlich, welches Vergnügen ihm dieses Katz- und Mausspiel bereitet. Seine Augen haben einen enthusiastischen Glanz angenommen. »Stell dir vor, ich wäre dein Freund. Stell dir vor, George wäre in meiner Lage gewesen, und er hätte es getan. Könntest du es dann billigen?« »Was soll das? George würde so etwas niemals tun.« Was rede ich da? Das einzige, was ich mit Sicherheit weiß ist, daß George sich niemals selbst die Hände schmutzig machen würde. »Aber wenn doch. Was dann?« »Es würde nicht passieren«, beharre ich. »Es kann gar nicht passieren.« »Und warum nicht?« -66-
»Weil er dazu keinen Anlaß hat. Weil ich nie von meinem Mann verlangen würde, daß er eine Arbeit verrichtet, bei der er unglücklich ist, nur damit ich mir eine Perlenkette mehr um den Hals hängen kann.« »Oh, wie selbstlos.« »Auch wenn du es dir nicht vorstellen kannst, es gibt auch Frauen, die einen Mann um seiner selbst willen lieben.« »Und du bist so eine…«, er zögert, »eine Heilige? In dir scheinen ungeahnte Tugenden zu schlummern. Wenn du mir jetzt noch erzählst, du machst dir nichts aus Komplimenten, kriegst du einen Orden von mir.« Er beugt sich vor und flüstert: »Den Lügnerinnen-Orden.« »Ich lüge nicht.« »Nein. Natürlich nicht. Noch so eine weibliche Tugend. Du erstaunst mich immer mehr. Aber gut! Nehmen wir einmal an, du sagst die Wahrheit. Nehmen wir an, du machst dir wirklich nichts aus Geld und Prestige, und dein einziges Bestreben ist es, deinen Mann glücklich zu machen.« Er gibt ein kaum hörbares Lachen von sich. »Fast könnte man deinen Freund beneiden. Wenn da nicht…« »Wenn was…« »Wenn da nicht der seltsame Umstand wäre, daß du dich ohne erkennbaren Grund, im bitterkalten November, freiwillig in diese Einsamkeit begeben hast. Du bist ihm weggelaufen, nicht wahr?« »Nein.« »Hat er dich etwa weggeschickt?« »Nein, verdammt! Ich brauchte Zeit, einfach nur Zeit für mich allein.« »Warum?« -67-
»Das geht dich wohl wirklich nichts an.« Diese Antwort scheint seiner Neugier und Phantasie nur noch mehr Nahrung zu geben. Seine Augen flackern. »Sind da etwa doch unerfüllte Wünsche?« fragt er beharrlich. »Befriedigt es dich nicht mehr, deinen Mann glücklich zu machen?« Ich wünschte, ich könnte seinem hämischen Eifer Einhalt gebieten. Ich wünschte, ich könnte einfach aufstehen und gehen. Aber ich hocke da und schweige, wie ein Zuschauer, der mißmutig den provokanten Reden eines Darstellers lauscht und sich dennoch der Faszination des Ekels nicht entziehen kann. »Oh, ich verstehe«, fährt der Mime fort. »Es gibt einen anderen, nicht wahr? Du triffst dich hier mit deinem Liebhaber.« »Das ist doch Schwachsinn«, entfährt es mir. »Das ist kein Schwachsinn! Ich kenne die Frauen.« Er lächelt böse. »Es ist immer das Gleiche. Man kann euch alles geben, und es ist nie genug. Immer findet ihr einen, der irgend etwas besser macht. Was ist es bei dir, Joëlle?« Er stößt mein Knie mit dem Finger an. »Es ist sein Geld, oder?« Wieder ein Stoß vor mein Knie. »Sag schon, was ist es? Was macht der andere mit dir? Ist er von der intellektuellen Sorte, oder fickt er ganz einfach gut?« Diesmal bin ich es, die ein Lachen ausspuckt. »Ich wünschte, es wäre so einfach.« Entschlossen stürze ich den Rest Wein hinunter. »Es ist nichts. Nichts und niemand. Weil da niemand ist! Niemand, der mir geben könnte, was mir fehlt.« »Aha«, macht er gedehnt. »Es fehlt also doch etwas! Sag mir, was es ist, Joëlle! Was macht der gute George falsch?« Mit zusammengepreßten Lippen schüttele ich den Kopf, möchte den Mann, der mir gegenüber sitzt, am liebsten anspuk-68-
ken. Und obwohl mir klar ist, daß er nur darauf lauert, mir auch den nächsten Brocken, den ich ihm hinwerfe, zurück in den Schlund zu stopfen, stürzt es auf einmal aus mir heraus: »Es ist egal, was George falsch macht. Vielleicht ist es gar nicht so schlimm. Vielleicht bist du viel schlimmer als er. Denn du verachtest alle Frauen. Jedes Recht, jedes positive Gefühl, sprichst du ihnen ab. Das ist unmenschlich. George ist vielleicht oberflächlich, und er versteht nur sehr wenig von mir. Aber er ist weder zynisch, noch bemitleidet er sich ständig selbst, so wie du.« Mit langsamen Bewegungen klatscht er in die Hände. Ein ironischer Applaus, der in dem kleinen Raum widerhallt wie Peitschenhiebe. »Bravo, Joëlle!« sagt er feierlich. »Welch flammende Rede. Schade, daß George dich nicht hören kann.« »Ja, spotte nur«, entgegne ich mutig. »In Wahrheit bist du doch nur verbittert, weil nie jemand für dich Partei ergriffen hat. Aber das ist dein Problem, nicht meins.« »Ach ja? Dann müssen wir wohl beide das gleiche Problem haben.« Seine Arme holen zu einer weitschweifenden Geste aus. »Sieh dich um! Ergreift irgendjemand deine Partei? Ist jemand für dich da? Nein! Du bist ganz allein, Joëlle. Und ich überlasse dir die unbequeme Antwort, wer schuld daran ist.« Seine Augen richten sich prüfend auf mich, und ich habe keine Worte mehr. Was ich empfinde, ist nichts anderes als reine Scham. Eine Weile herrscht Schweigen. Er zerbröselt eine Zigarette, wirft die Reste mit einer heftigen Bewegung ins Feuer. »Du bist kein glücklicher Mensch«, stellt er fest. »Kein Mensch kann pausenlos glücklich sein«, blaffe ich ihn an. »Oh bitte, spiel hier nicht die Harte. Das paßt nicht zu dir.« -69-
»Sag mir nicht, was zu mir paßt und was nicht! Ich hasse das.« Mit vor der Brust verschränkten Armen ziehe ich mich in die Couchecke zurück und ziehe die Beine an, wappne mich gegen seinen nächsten Angriff. Aber wider Erwarten ist meine trotzige Reaktion kein Auftakt für ein neues Streitgespräch. Stattdessen betrachtet er nachdenklich meine böse Miene, und in seinem Blick ist keine Spur mehr von Sarkasmus, Hohn und Ironie. Doch was ich jetzt darin erblicke, erschreckt mich fast noch mehr. Unverhohlenes Bedauern, ja Mitleid schwingt darin. Beklommen schlage ich die Augen nieder. Zu allem Überfluß kommt er auch noch zu mir herüber und legt eine Hand auf meine Schulter. Ich sitze steif und starr. »Verzeih, Joëlle«, sagt er. Mehr nicht. Nur seine Hand liegt weiterhin warm und leicht auf meiner Schulter. Ungläubig hebe ich den Kopf und sehe ihn an. Eine kleine, ängstliche Stimme in mir sagt, daß seine sanfte Geste nur wieder eine Falle ist. Und doch kann ich den schwachen Funken Hoffnung nicht unterdrücken, der ihm so gerne trauen möchte. Und, wie um mir Mut zu machen, erwidert er offenherzig meinen Blick. Ganz ruhig und sehr verständnisvoll. »George tut dir weh, nicht wahr?« Ich fliehe seine Augen, beuge mich vor, um die Hand von meiner Schulter zu streifen. »Da muß ich dich leider enttäuschen«, sage ich. »Hör auf, dich selber zu belügen. Sag mir endlich, was es ist. Du kannst mir vertrauen. Bitte, ich muß es wissen.« Entgeistert schaue ich ihn an. »Du mußt? Wozu?« »Weil ich dir helfen will. Ich sehe dir doch an, daß du es erzählen willst. Also warum nicht mir? Ich kenne dich kaum und George gar nicht. Was könnte unverfänglicher sein?« -70-
»Du bist absolut voreingenommen. Egal, was ich sage, du wirst seine Partei ergreifen.« »Ach, das mußt du nicht so ernst nehmen.« Er lacht plötzlich laut und heftig. »Ich provoziere gern, und von Zeit zu Zeit schieße ich eben übers Ziel hinaus.« Halb schelmisch, halb entschuldigend ist sein Blick. »Was könntest du denn verlieren, wenn du es mir erzählst?« fragt er. »Wahrscheinlich nur meine Selbstachtung. Wenn ich schon von meinen Problemen erzähle, dann jemandem, der Verständnis für mich hat und nicht einem Verbrecher, dem es Spaß macht, mich zu demütigen.« Seufzend schüttelt er den Kopf. »Ich will für dich hoffen, daß du das mit dem ›Verbrecher‹ nicht ernst gemeint hast. Du bist verletzt, Joëlle. Aber nicht ich habe dich verletzt. Wann begreifst du das endlich? Niemand kann dich demütigen. Das tust du ganz alleine.« »Was soll das heißen?« »Hast du nicht auch versucht, mich zu beleidigen?« Er hält den Kopf ein wenig schief, und als ich nichts sage, spricht er weiter: »Und habe ich so ausgesehen, als fühlte ich mich gedemütigt? Nein. Und warum nicht? Weil ich es nicht zulasse. Deine Worte erreichen mich gar nicht, weil ich weiß, wer ich wirklich bin. Du hingegen glaubst nur an die Bewertungen anderer. Du weißt nicht, was die Wahrheit ist, und du weißt nicht, wer du bist, geschweige denn, was du wert bist. Du läßt dich demütigen, weil du es so willst. Du hältst dich für wertlos.« Er macht eine Pause. Dann steht er unvermittelt auf und fragt: »Möchtest du noch Wein?« -71-
Ohne eine Antwort abzuwarten, geht er in die Küche und kommt mit einer neuen Flasche zurück. Im Gehen dreht er bereits den Korken heraus. Er sieht aus, als wäre er hier zu Hause oder zumindest im Urlaub. Verrückt! »Vielleicht gebe ich wirklich zu viel auf das Urteil anderer. Aber ist es nicht genauso falsch, keine andere Meinung gelten zu lassen? Das zeugt doch nur von einer maßlosen Ichbezogenheit und totalem Desinteresse an deinen Mitmenschen, wenn nicht gar von Mißachtung. Ich meine, es muß doch für jeden Menschen wenigstens einen anderen geben, an dem ihm liegt und auf dessen Meinung er Wert legt.« »George?« »Warum nicht George?« »Hat er dir deine Rücksichtnahme jemals gedankt?« »George ist ein sehr lebensfroher Mensch. Nein, wirklich, er bringt jeden zum Lachen. Man fühlt sich unwiderstehlich in sein Lachen hineingezogen. Er kann einem das Gefühl vermitteln, als wäre das ganze Leben ein Spiel. ›Wenn man nicht alles so ernst nimmt, bleibt man immer jung‹, hat er mal gesagt.« »Was für eine unbekümmerte Seele«, unterbricht er mich. »Worüber sollte er sich auch sorgen? Er verfügt ja über genug Geld. Und warum soll man nicht sein Leben genießen und sich amüsieren, wenn man es sich leisten kann?« »Sorgt er sich um dich?« »Das verstehst du nicht. Es belastet ihn emotional viel zu sehr, sich mit Problemen auseinander zu setzen. Ja, man könnte fast sagen, es bereitet ihm körperlichen Schmerz.« »Du scheinst diesen Unsinn, den du da von dir gibst, wirklich zu glauben.« »Aber es ist doch so. Ich meine, man kann reden und reden, aber seine Probleme lösen kann man nur allein. Was wäre denn, wenn meine Unzufriedenheit gerade daraus resultierte, daß ich -72-
mir eigentlich über nichts Sorgen machen muß? Ich habe alles, was man sich wünschen kann. Ich glaube nur dem Leben seine Fröhlichkeit nicht mehr. Wer weiß, vielleicht erschaffe ich meine Sorgen selbst, nur um mich interessant zu machen.« »Bist du denn nicht interessant?« Verblüfft sehe ich ihn an. »Findet George dich nicht interessant?« »Er ist sogar sehr stolz auf mich.« »Und natürlich liebt er dich.« »Jawohl, das tut er.« »Und er liest dir jeden Wunsch von den Augen ab?» »Ja!« Mein Blick weicht den prüfenden Augen des Zuhörers aus, rettet sich in das heruntergebrannte Kaminfeuer. Eine Weile unterbricht nur das leise Knistern des Holzes die Stille. Und dann, ganz unvermittelt, fängt der Mann an zu lachen, so als habe ich gerade einen besonders guten Witz erzählt. Als er sich erneut ein Glas einschenkt, muß er sich einen Moment das Lachen verkneifen, um nicht alles zu verschütten. Ich spüre, wie mir die Röte ins Gesicht steigt. »Kannst du mir sagen, was daran so komisch ist?« fahre ich ihn an. »Nein, das kann ich nicht. Das kann ich dir beim besten Willen nicht sagen.« Langsam beruhigt er sich. Aber das Grinsen steht immer noch unübersehbar in seinem Gesicht. »Nur soviel, daß ich jetzt ziemlich sicher bin, daß George uns hier bestimmt nicht stören wird.« Er hebt sein Glas. »Auf dein Wohl, Joëlle!« Und dann überkommt ihn ein neuer Lachanfall. Ich hasse ihn. »Den empörten Gesichtsausdruck kannst du dir sparen«, un-73-
terbricht er seine Heiterkeit. »Wenn dein Freund nichts mehr von dir wissen will, hast du es wohl verdient.« Meine Wangen brennen, als hätte er mir ins Gesicht geschlagen. »Ich hätte es wissen müssen. Dieses ganze Gespräch zielte nur darauf ab, mich ins Unrecht zu setzen, mich zu demütigen.« »O bitte, komm mir nicht mit der Tour! Denk lieber über deine eigenen Sünden nach, als ständig die Männer für deine Unzufriedenheit verantwortlich zu machen. Jeder bekommt, was er verdient.« »Was muß man denn getan haben, um als Geisel genommen zu werden?« »Das solltest du besser wissen als ich.« »Allerdings. Das weiß ich jetzt. Mein Fehler war es, mich niemals wirklich zu wehren.« »Mir kommen gleich die Tränen.« Er greift nach dem Rotwein. Aber anstatt nachzuschenken, nimmt er einen langen Schluck aus der Flasche. »Weißt du eigentlich, daß diese sogenannten ›schwachen‹ Frauen einem Mann mehr wehtun können als jeder Mann, der einem im ehrlichen Kampf eins auf die Nase gibt? Manchmal frage ich mich, wozu Frauen eigentlich auf der Welt sind. Sie halten nie, was sie versprechen. Sie bereiten nur Schmerz.« »Oh natürlich, es ist ja auch so verdammt einfach, alle über einen Kamm zu scheren. Eine schlechte Erfahrung, und schon sind alle Frauen schlecht. Wenn du von ›der Schlechtigkeit der Frauen‹ sprichst, meinst du im Grunde doch nur eine Frau.« Ein spöttisches Lachen. Seine Augen funkeln. »Denkst du, ich habe nur eine Frau gekannt?« »Es ist wohl egal, wie viele es waren. Ich rede von der einen, die offenbar klug genug war, sich nicht von dir unterkriegen zu lassen.« -74-
Das ironische Lächeln vergeht mir in dem Moment, als ich in sein starres Gesicht schaue. »Du willst über meine Frau reden?«, fragt er lauernd. »Also gut! Meine Frau ist eine Verräterin.« Er betont jede einzelne Silbe. »Ich dachte, ich könnte ihr trauen. Ich dachte, sie würde zu mir halten. Sie hat es mir sogar versprochen. ›Wir beide gegen die Rest der Welt‹, hat sie gesagt. Und ich war begeistert. Ich fand das toll. Bis dahin hatte ich gedacht, so etwas wie Teamgeist gäbe es nur unter Männern.« Beifallheischend sieht er mich an, als er weiterspricht: »Hätte ich ihr doch niemals geglaubt. Sie dachte nur an sich. Sie hat mich für ihre Zwecke benutzt. Und als ich ihr endlich auf die Schliche gekommen bin, hat sie ihr wahres Gesicht gezeigt. Nicht einen Augenblick lang hat sie sich geschämt. Im Gegenteil, sie hat sich offen gegen mich verbündet, hat mir das Leben so schwer gemacht, wie sie nur konnte. Und so seid ihr alle.« »Ohne Ausnahme?« »Ohne Ausnahme!« »Selbst deine Mutter?« »Meine Mutter?« Er wirft den Kopf in den Nacken und lacht. »Meine Mutter war die Meisterin. Die Größte von allen und die Erste.« »Die Erste?« »Die erste Frau, die mich im Stich gelassen hat.« »Wie?« »Was weiß ich? Glaubst du, dafür gäbe es irgendeinen Grund?« »Diesmal hast du meine Frage nicht beantwortet. Was hat sie getan?« »Sie hat sich verpißt, als ich sie am meisten brauchte!« Wieder nimmt er einen großen Schluck Wein und macht dann eine weit ausholende Geste. »Oh, entschuldige bitte vielmals meine -75-
Gossensprache. Aber ich nenne die Dinge gerne bei ihrem richtigen Namen. Und du…« Ruckartig beugt er sich zu mir. Seine Alkoholfahne ist deutlich zu riechen. »Du hast nichts anderes gemacht, Joëlle.« »Ich habe mich nicht verpißt, wie du das ausdrückst. Ich bin…« »Oh, noch besser. Du bist abgehauen, um George einen Denkzettel zu verpassen. Ich hoffe nur für deinen Freund, daß er nicht so dumm ist, dir nachzulaufen.« »Du weißt doch gar nicht, was vorgefallen ist«, erwidere ich ärgerlich. »Dann erzähl es mir.« »Das geht dich nichts an.« Mit übertriebener Geste zieht er einen imaginären Hut vor mir. »Genau diese Antwort habe ich erwartet. Du kannst nämlich nicht das Geringste zu deiner Verteidigung vorbringen. Im Grunde weißt du, daß ich recht habe. Wieviele deiner großen Lieben waren echt, Joëlle? Wie oft hast du nur Liebe geheuchelt? Willst du mir erzählen, wieviele Herzen du gebrochen hast?« »Ganz bestimmt nicht.« »Aber warum denn nicht? Ich bin ein guter Zuhörer. Also, fangen wir an. Wer war deine erste große Liebe?« Ich antworte ihm nicht, zünde mir nur demonstrativ eine Zigarette an. »Ich wette, es war ein pickliger junger Mann, den zwar keine deiner Freundinnen wollte, der dir aber so glühende Liebesbriefe schrieb, daß du ihn schließlich doch erhört hast. Natürlich nur so lange, bis einer kam, der bei deinen Freunden besser ankam. Dann hast du ihn fallengelassen, stimmt’s?« -76-
Wieder schweige ich, sehe ihn nicht einmal an. Aber er läßt sich nicht bremsen. »Na schön«, sagt er. »Wir sind ja erst am Anfang. Laß mich nachdenken. Wer könnte deine erste Liebe gewesen sein?« Lauernd sieht er mich an. »War es etwa dein Vater?« »Laß meinen Vater aus dem Spiel.« »Warum sollte ich? Jetzt wird es doch erst interessant. Was war mit deinem Vater, Joëlle? Na los, sag’s mir. Du hast jetzt die einmalige Gelegenheit, alles loszuwerden, was du bisher noch niemandem erzählt hast. Was war denn mit dem kleinen Mädchen und seinem Papa? Hat er etwa die Ehefrau dem Kinde vorgezogen? Hat der Papa die kleine Joëlle nicht genügend gewürdigt?« »Hör auf!« schreie ich. »Hör endlich auf damit.« »Ich werde aufhören, wenn es mir paßt, Joëlle. Ich weiß nicht, in was für versponnene Ideen du dich verrannt hast, aber es wird Zeit, daß dir mal jemand den Kopf wäscht.« Er beugt sich vor, umfaßt mit einer Hand meinen Unterarm, zwingt mich, ihn anzusehen. »Du bist nicht besser als andere Frauen, Joëlle. Du willst dich als Opfer sehen und mich als bösen Buben. Du machst hier auf ›armes reiches Mädchen‹, das nichts anderes will als Liebe. Dabei spielst du doch nur mit der Liebe.« Er macht eine wegwerfende Handbewegung. »Bei euch Frauen hat nichts Bestand, am allerwenigsten die Liebe. Das HappyEnd ist nur ein Traum aus Hollywood. Und niemand erzählt, wie es weitergeht, wenn das Liebespaar sich endlich gefunden hat. Was passiert, wenn im Kino die Lichter wieder angehen? Ich kann es dir sagen: Die Liebe der Frauen währt nicht lange. Sie ist wankelmütig und unstet. Zuerst beklagen sie sich über das Unverständnis der Männer. Dann kommt die mangelnde Zärtlichkeit, zu wenig Zeit, zu wenig Geld, zu wenig Lachen, zu wenig Weinen. Irgend etwas findet ihr immer.« -77-
Er rüttelt an meinem Arm. »Ihr seid es, die nicht lieben können. Ihr schwört ewige Treue, und wenn es euch langweilig wird, dann fangt ihr an zu nörgeln. Ihr haltet uns so lange unsere Schwächen vor, bis wir nicht mehr anders können, als uns zu wehren. Und dann habt ihr endlich einen Grund, abzuhauen. Eure ganze Leidensmasche ist nichts anderes als eine präzise vorbereitete Flucht. Und am Ende habt ihr das Mitleid und das Verständnis der gesamten Nachbarschaft auf eurer Seite. Aber keiner sieht, wie ihr es dahin gebracht habt. Ihr seid unehrenhaft und berechnend. Ich scheiß auf eure Liebe!« Er ist laut geworden. Doch dank seiner gehässigen Worte scheue ich mich nicht, zurückzuschlagen. »Und was ist mit all den Männern, die ihre Frauen schlagen, sie betrügen oder sitzenlassen? Sind das alles kleine Heilige, die nicht anders handeln konnten?« Sein Gesicht zeigt übertriebenes Erstaunen, ja Unverständnis. »Denkst du etwa, ein Mann tut so etwas ohne Grund?« Fassungslos sehe ich ihn an. »Das meinst du nicht im Ernst. Das schreit doch zum Himmel.« »Schrei ruhig«, ist seine Antwort. Er hat sich wieder gefaßt, und seine Stimme ist nun gefährlich sanft: »Schrei nur, Joëlle. Es wird dich niemand hören.« Er sollte mich niederschmettern, dieser Satz, aber ich kenne ihn zu gut. Mit einem verächtlichen Lächeln stehe ich auf. »Gestern hast du mich gebeten, dir mein Vertrauen zu schenken. Und dieser Wunsch war so absurd, daß ich fast soweit war, ihn ernst zu nehmen. Aber heute abend habe ich erfahren, wie du deine ›Verbündeten‹, wie du es nennst, behandelst. Grausamer kannst du auch nicht mit den Gefühlen deines Feindes spielen. Nenn mir also einen Grund, weshalb ich dir jetzt noch vertrauen sollte.« -78-
Stille breitet sich aus. Fahrig greift er sich an den Hals, kratzt mit den Fingern an seinen Bartstoppeln. Und erst, als ich einen Schritt in Richtung Treppe machen will, faßt er mein Handgelenk. Nicht hastig, nicht brutal, aber doch so, daß ich gezwungen bin, stehenzubleiben. Er hebt den Kopf und betrachtet wachsam und forschend mein regloses Gesicht. Ich weiche nicht. Ich spüre keine Angst. Alles, was ich fühle, ist Zorn. Und so verharren wir wie zwei Skulpturen. Ein sitzender Mann blickt auf eine Frau, die mitten in der Bewegung erstarrt scheint. Nur wenn man ganz genau hinsieht, erkennt man den flach gehaltenen Atem, der die Brust der Frau schnell hebt und senkt. Jetzt seufzt er tief auf, und mit gar nicht grober Manier ergreift er meine beiden Hände und zieht mich sehr sanft zu sich herunter. Ich bin gezwungen, ihm in die Augen zu sehen. Eine kleine betroffene Falte erscheint zwischen seinen Brauen. »Es tut mir leid, Joëlle. Ich wollte das nicht tun. Du hast ganz recht, wenn du sagst, daß ich alle Frauen über einen Kamm schere. Aber ich wußte doch nicht, ob ich dir trauen kann.« »Und weißt du es jetzt? Haben dir die Gemeinheiten, mit denen du mich traktiert hast, irgendeinen Aufschluß gegeben?« Er schüttelt den Kopf. Seine Stimme klingt belegt, als er weiterspricht: »Nein. Aber ich wünschte, es wäre so.« Meine Miene bleibt ausdruckslos. Sein zerknirschter Tonfall berührt mich nicht. Diesmal bin ich auf der Hut. Langsam läßt er mich los. Fast widerstrebend gleiten seine Hände von den meinen. Dann sinkt er in den Sessel zurück. Unentschlossen bewegt sich seine Rechte durch die Luft, müde weist er auf das schmutzige Geschirr. »Räum das weg!« Als ich zurück ins Wohnzimmer komme, sitzt er noch immer unverändert auf der Couch. Demonstrativ stelle ich mich vor -79-
ihn, warte auf seine nächste Anweisung. Doch er sieht durch mich hindurch, während er so heftig an seinen Fingern zieht, daß die Gelenke knacken. Dann, ohne Vorwarnung, springt er auf. So unverhofft, daß ich zusammenzucke. Alarmiert beobachte ich, wie er mit dem Feuerhaken im Kamin hantiert. Das Feuer ist fast heruntergebrannt. Funken stieben aus den glühenden Resten. Scheppernd fällt der Schürhaken auf den Steinboden. Mit zwei Schritten ist er bei mir, zerrt mich hinter sich her und schiebt mich die Treppe hinauf ins Schlafzimmer. »Zieh dich aus.« »Was?« »Du sollst dich ausziehen, oder schläfst du angezogen?« »Nein.« »Also?« »Wo wirst du schlafen?« »Das Bett ist groß genug für uns beide.« »Nein, bitte!« Es ist nur ein Flüstern. »Was glaubst du eigentlich? Daß das hier ein Hotel ist? Die Couch ist nicht gerade bequem.« »Ich kann ja auf der Couch schlafen.« »Damit du unbemerkt das Haus verlassen kannst oder mit deinem Freund telefonieren, was?« Ich schweige. Nur meine Finger zupfen nervös an den Enden meiner Ärmel. Wenn mir doch nur etwas einfallen würde, um dieser Situation zu entkommen. Und dann sagt er: »Versuch bloß nicht, mit mir zu feilschen. Dadurch machst du es nur noch schlimmer. Also, was ist jetzt?« Abwartend sieht er mich an, die Hände in die Hüften gestemmt. Ich wende den Blick ab und öffne den Reißverschluß meiner Jeans. Bis aufs T-Shirt ziehe ich mich aus und lege mich -80-
aufs Bett. Dann kommt er zu mir, zieht eine Kordel aus der Tasche und legt eine Schlinge um mein rechtes Handgelenk. Er wickelt das Ende der Schnur ein paarmal um das schmiedeeiserne Gitter des Bettes und befestigt es dort. Als er sich entkleidet, dreht er mir den Rücken zu. Vorsichtig ziehe ich an der Kordel. »Je mehr du daran ziehst, um so fester zieht sich der Knoten zusammen«, sagt er, ohne sich umzudrehen. »Ich fürchte, mein Arm wird einschlafen. Kannst du den Strick nicht ein bißchen länger lassen, damit ich mich bewegen kann?« Einen Moment sieht er mich stumm an. Fast sieht es so aus, als würde er seine Meinung ändern und mich wieder losbinden. Dann schüttelt er den Kopf. »Es tut mir leid, Joëlle. Aber ich kann dir nicht trauen.« Nackt bis auf den Slip legt er sich an meine rechte Seite. Ich starre an die Decke, während er das Plumeau über unsere Körper zieht. Dann endlich löscht er das Licht. Ich wage kaum zu atmen. Mein Herz schlägt heftig, und mein Puls rast. Von ihm kommt kein Laut. Aber ich sehe seine Augen in der Dunkelheit glitzern. Der Kloß in meinem Hals beginnt zu schmerzen. Ich muß durchatmen. Wenigstens einmal. Wenn er doch nur etwas sagen würde. Ich fühle mich in das Zugabteil zurückversetzt. Dazu verdammt zu warten, um mich nicht noch mehr in Gefahr zu bringen. Und wie im Zug wünsche ich, er würde endlich etwas tun. Etwas, was die Ungewißheit beendet. Im Zug hat mich wenigstens das Rattern daran erinnert, daß sich etwas bewegt. Aber hier steht alles still. Ich bin allein. Kein Fahrgast, der sich in der Tür irrt, könnte erscheinen. Nichts regt sich, gar nichts. Keine Bewegung, kein Geräusch. Noch nicht einmal Atemzüge. Nach endlosen Minuten höre ich kühl und körperlos seine Stimme in der Dunkelheit. »Ich werde dich nicht anrühren. Schlaf jetzt!« -81-
Ich warte, bis ich das Glitzern in seinen Augen nicht mehr sehe. Dann erst weicht die Verkrampfung. Ich strecke mich vorsichtig, spüre die Weichheit und Wärme des Federbetts, und ganz langsam stellt sich so etwas wie Erleichterung ein. Wenn auch nur darüber, daß sich mein müder Körper endlich erholen kann. Ich kann noch nicht lange geschlafen haben, als sich Laute von unterdrückter Gewalt in meinen Traum mischen. Der Traum verblaßt ohne Erinnerung, doch die Geräusche bleiben. Ich halte den Atem an. Die Quelle dieser seltsamen Laute liegt neben mir. Nein, sie wälzt sich heftig im Bett herum, stöhnt und keucht. »Nein«, stammelt er. »Nein, ich war es nicht… ist nicht tot.« Entsetzt starre ich in die Dunkelheit, und dennoch bemühen sich meine Ohren, mehr von diesem Monolog zu verstehen. »Steh auf… hilf mir… habe nicht gewollt… nein, nein… habe ihn umgebracht… Ungeheuer… hasse dich… geh weg.« Seine Arme fuchteln wild in der Luft herum, und sein Kopf rollt von einer Seite zur anderen. Undeutlich sehe ich seine Faust auf mich herabsausen. Reflexartig hebe ich meinen linken Arm und bekomme sein Handgelenk zu fassen. Ich bin aufs Schlimmste gefaßt, aber der Mann neben mir beruhigt sich augenblicklich. Sein Arm sinkt herunter, das Keuchen hört auf. Sein Stöhnen ist jetzt nur noch ein Wimmern, aber ebenso qualvoll und schmerzlich. Einen Augenblick später rollt er sich auf die Seite und legt einen Arm über mich. Wie erstarrt liege ich da. Ich spüre sein verschwitztes Haar an meiner Wange und seinen Atem an meinem Hals. Der Arm wiegt schwer auf meiner Brust. Mit der freien Hand will ich ihn wegschieben, da beginnt er wieder zu stöhnen und umklammert fest meine Taille. Wie ein kleines Kind drückt er sich an mich. Ich spüre den Schmerz dieses Mannes so deutlich, als wäre es mein eigener. Ein unbe-82-
stimmtes Gefühl zwischen Déjà-vu und Vertrautheit breitet sich in mir aus. Und ich erschrecke. Ich kenne diese Art von Kummer, kenne ihn nur zu gut. Das qualvolle Wimmern erinnert mich an mein eigenes Leid. Mein Leid, dem ich nie ein Geräusch gegeben habe, keine Tränen, keine Worte. Alles, was ich mir gestattete, war der Wunsch, es wäre jemand da, der mich in sichere Arme nimmt, der meinen Kopf an seine Schulter legt und mir verspricht, daß alles wieder gut wird. Und dann legt sich wie von selbst mein Arm um den Mann. Zögernd streichelt meine freie Hand seine bebende Schulter. Ich spüre, wie er sich langsam entspannt. Einmal noch zuckt ein Muskel an seinem Bein, dann wird er ganz schwer. Das Gesicht vergraben in meiner Armbeuge, atmet er tief und gleichmäßig. Ich spüre seine weiche Haut unter meinen Fingern und merke, wie wohl mir die Nähe eines warmen Körpers tut. Er ruht in meinem Arm, und ich spüre seine Erleichterung. Ich denke daran, wie anders alles wäre, wenn dieser Mann kein Verbrecher wäre. Wenn wir uns irgendwo kennengelernt hätten und ich diesen warmen Körper völlig bedenkenlos umarmen und ihn noch ein wenig mehr an mich drücken könnte. Die Locken an meiner Wange sind weich und feucht. Ich drehe vorsichtig den Kopf, atme ihren Duft und möchte weinen. Wenn er mein Geliebter wäre, würde ich jetzt sanft seine Stirn küssen. Er würde sich im Schlaf an mich schmiegen und vielleicht einen kleinen wohligen Laut von sich geben. Und ich würde lächeln und glücklich sein.
-83-
DRITTER TAG
Als ich erwache, empfängt mich heller Tag. Das weiße Winterlicht blendet meine Augen. Als ich fröstelnd das Oberbett über die Schultern ziehe, stelle ich fest, daß meine Hand nicht mehr ans Bett gefesselt ist. Aufatmend schließe ich die Augen und versuche, wieder einzuschlafen. Ich will nichts von dem kalten trüben Tag. Ich wünschte, es wäre wieder Nacht. Aber die Helligkeit läßt sich auch mit geschlossenen Lidern nicht vertreiben. Mit einem Seufzer drehe ich mich auf die andere Seite und sehe in sein Gesicht. Den linken Ellenbogen hat er aufgestützt, die Hand unter dem Kinn. Verlegen wische ich mir den Schlaf aus den Augen. »Guten Morgen«, sagt er. »Gut geschlafen?« Ich nicke stumm, und ein ungewolltes Lächeln schleicht sich in mein Gesicht. Er lächelt ebenfalls, während er zusieht, wie ich mich strecke. Dann steht er auf und zieht sich an. »Wenn du duschen willst, ich bin in der Küche.« Diesmal bin ich schnell fertig mit meiner Morgentoilette. Die Frau, die mir aus dem Spiegel entgegenblickt, sieht mir schon sehr viel ähnlicher als dieses erbärmliche Wesen gestern. Das Frühstück verzehren wir schweigend. Nur unsere Blicke wandern ziellos umher, um dann auf dem Gesicht des anderen kurz innezuhalten. »Wir haben uns gestern ganz schön gestritten«, sagt er plötzlich. -84-
»Ja, das haben wir.« »Worum ging es eigentlich?« »Ich weiß nicht mehr.« »Ziemlich dumm, nicht wahr?« »Ja.« »Wollen wir einen kleinen Spaziergang machen, bevor wir ins Dorf fahren?« »Gern. Aber was willst du im Dorf? Wir haben doch alles, was wir brauchen.« »Zeitung«, sagt er nur, und augenblicklich hat er wieder diesen harten Zug um den Mund. Als wir das Haus verlassen, sehe ich, daß er die Pistole in seine Tasche steckt. *** Ich führe ihn über einen Feldweg Richtung Meer. Der Wind ist eiskalt und schneidend. Trotzdem begrüße ich ihn, wie heute morgen die heiße Dusche. Er rüttelt mich wach. Pustet meinen Kopf frei. Er zerrt an meinen Haaren und wirbelt sie durcheinander. Ich fummele ein Haargummi aus der Jackentasche und binde mir einen Pferdeschwanz. An den Klippen mache ich halt. Schweigend betrachten wir das großartige Panorama. Unter uns liegt der Strand. Auf der gegenüberliegenden Klippe steht ein einsames Haus. Er schaut es lange an. Und mehr zu sich selbst, als zu mir, sagt er: »Es muß schön sein, dort zu wohnen. Kein anderes Haus weit und breit und davor das Meer. Eine phantastische Aussicht.« Ich sage nichts. Ich lächele. Ich habe mich schon vor langer Zeit in dieses Haus verliebt. -85-
»Das Land hier nennt man Finistère«, erkläre ich ihm. »Weißt du, was das bedeutet?« »Sagst du es mir?« »Das Ende der Welt. Das stammt aus der Zeit, als man noch nicht wußte, daß hinter diesem Ozean Amerika liegt.« »Das gefällt mir. Eine Naivität, die nichts mit Dummheit zu tun hat, die gläubig und ehrlich und entschlossen ist.« Er sieht aus, als wären seine Gedanken weit entfernt. Es müssen schöne Gedanken sein. Sein Gesicht sieht in diesem verträumten Zustand richtig hübsch aus. »Du würdest gerne hier leben, nicht wahr, Joëlle?« »Ja.« »Meine Frau könnte das nicht.« »Warum verläßt du sie nicht?« »Ich habe sie verlassen. Vor langer Zeit schon.« »Aber du denkst noch an sie.« »Du denkst doch auch an George.« »Ich habe ihn auch nicht verlassen.« »Wirklich nicht?« Betreten schweige ich. Er sieht mich an. Sein Lächeln ist leicht spöttisch. Geradeso, als erwarte er gar keine Antwort. Geradeso, als kenne er sie besser als ich selbst. »Ich weiß nicht, wie du darauf kommst«, entgegne ich und versuche, ihm fest in die Augen zu sehen. »Ich habe nicht die Absicht, ihn zu verlassen. Alles, was ich will, ist ihn zurückzubekommen. Und zwar so, wie er früher war. So wie ich es mir immer gewünscht habe.« »War er je so, wie du es dir erträumt hast?« Der Wind brennt auf meinen Wangen. -86-
»Willst du mir meine Träume verbieten?« frage ich leise. Der Mann neben mir schaut mich an. »Nein, das will ich nicht. Aber manchmal warten wir auf Dinge, die eigentlich nur ein Traum sind, und merken nicht, daß sie niemals wahr werden können.« »Auf mich trifft das jedenfalls nicht zu. Ich glaube an meine Träume. Ich glaube fest daran, daß alles möglich ist, und ich alles haben kann, wenn ich es mir nur lange genug wünsche. Ich gebe nicht so schnell auf.« »Das habe ich schon gemerkt. Und trotzdem bist du unglücklich.« Er hebt abwehrend die Hand, als ich den Mund öffne. »Wir sind beide unglücklich, Joëlle. Du, weil du vergebens einem Traum hinterherjagst, und ich, weil ich mir meine Träume verboten habe.« Erschrocken sehe ich ihn an. Wie schrecklich hoffnungslos sich das anhört. Aber er wendet seinen Blick ab. Ich bin allein. Mein Kopf ist ganz leer. Ich sehe aufs Meer und höre nicht das Tosen der Brandung. Ganz still ist es. Und dann höre ich mich sprechen: »Es könnte doch sein, daß uns eines Tages etwas völlig Neues passiert, etwas, woran wir nie gedacht haben, also etwas, von dem wir auch nicht träumen konnten. Und dieses Etwas würde uns glücklich machen, so glücklich, wie wir nie zu träumen wagten. Wäre es nicht möglich, daß es ein Glück gibt, das wir noch nicht kennen?« Er lächelt, aber seine Augen blicken traurig, als er antwortet: »Ich wünschte, ich hätte diese Zuversicht, Joëlle. Manchmal tut es gut, dir zuzuhören. Gerade jetzt wünschte ich, du hättest recht, und es gäbe so ein unbekanntes, noch unentdecktes Glück. Auch wenn ich glaube, daß du mit dem ›wir‹ nicht uns beide gemeint hast.« -87-
Ich kann diese Augen nicht länger ansehen. Spüre eine tiefe Traurigkeit, als habe er mit dem Leben abgeschlossen. Und gleichzeitig höre ich die unausgesprochene Anklage: ›Warum hilfst du mir nicht?‹ Etwas in mir zieht sich zusammen. Die letzte Nacht fällt mir wieder ein. Ich spüre die feuchten Locken an meiner Wange und seinen Arm um meine Taille. Ich wende mein Gesicht dem Meer zu, spüre den Salzgeschmack auf meinem Gaumen. Aus den Augenwinkeln bemerke ich seine Hand, die sich mir entgegenstreckt. »Ich heiße Serge«, sagt er, und mir ist, als legten sich diese Worte wie hilfesuchende Arme um meinen Hals. Nun ist er nicht länger ein seelenloses Monstrum, ein namenloser Trabant, der meine Umlaufbahn streift. Mit seinem Namen erkauft er sich einen Platz in meiner künftigen Vergangenheit, wird von nun an in meiner Erinnerung immer so heißen. Ich übersehe die Hand. Ich darf nicht zulassen, daß sein Name von mir Besitz ergreift. »Wollen wir zum Strand runtergehen?« frage ich. Er schüttelt den Kopf, und ein Seufzen begleitet seine Worte: »Wir sollten besser zurückgehen.« Schweigend gehen wir nebeneinander her. Jeder in seine eigenen Gedanken versunken. Plötzlich bleibt er stehen, schaut hinüber zu der Koppel, die ein paar Meter weiter beginnt. In einiger Entfernung steht ein Pferd. Jetzt dreht es den Kopf, und seine Ohren bewegen sich. Serge ist an das Gatter getreten. Erstaunt höre ich zu, wie er mit der Zunge schnalzt und leise, lockende Laute von sich gibt. Mich scheint er vergessen zu haben. Langsam kommt das Pferd näher, schnuppert und läßt sich dann bereitwillig von Serge streicheln. Der Mann und das Pferd bieten ein Bild der Vertrautheit. Und obwohl sich mein Verstand -88-
dagegen sträubt, rührt mich dieser Anblick. Hände, die sanft über eine Blesse streichen. Ein Mensch und ein Tier im Zwiegespräch. Vorsichtig nähere ich mich den beiden. Leise redet er auf das Tier ein. Seine Stimme klingt ganz anders als sonst. Ein wenig traurig, aber zärtlich. Genauso wie seine Augen. »Das Tier scheint dich zu mögen«, flüstere ich. »Das wundert dich wohl, was?« Seine Stimme hat wieder diesen abweisenden Tonfall angenommen. »Mußt du so sarkastisch sein?« frage ich. »Es ist ein gutes Mittel, um nicht enttäuscht zu werden. Vielleicht bräuchte ich es nicht, wenn ich dir trauen könnte.« »Bist du es denn?« Er flüstert dem Pferd etwas zu und tritt dann bedauernd vom Gatter zurück. »Komm jetzt!« sagt er, ohne mich anzusehen. »Der Spaziergang ist vorbei. Fahr mich ins Dorf.« *** Auf der Rückfahrt studiert er aufmerksam die Zeitung. Es hat angefangen, heftig zu regnen. Der Himmel ist fast schwarz, und die Blitze, die in immer kürzeren Abständen darüber zucken, wirken riesengroß. Ab und zu werfe ich einen Blick auf den Mann neben mir. In der Dunkelheit kann er wohl kaum noch etwas erkennen. Dennoch sucht er akribisch weiter. Ein Donnern läßt mich zusammenfahren, und der Wagen macht einen Schlenker. Er schaut kurz hoch. »Halt an! Du siehst doch, daß die Scheibenwischer diese Wassermassen nicht bewältigen können.« -89-
Während ich rechts heranfahre, schaltet er die Innenbeleuchtung ein und vertieft sich wieder in die Zeitung. Dann endlich faltet er sie zusammen, schiebt sie ins Seitenfach der Tür und schaltet das Licht wieder aus. Sein Gesicht gleicht einer Maske. Schweigend sitzen wir in der Dunkelheit. Das Prasseln des Regens ist beängstigend laut, als würden Tausende von Tischtennisbällen auf das Auto niedergehen. Als es erneut blitzt, schließe ich vor der plötzlichen Helligkeit die Augen und warte auf den Donner. Er folgt direkt danach. »Wir sind mittendrin«, murmele ich. »Hast du keine Angst?« fragt er. »Nein. Im Moment gibt es keinen sichereren Ort als ein Auto.« »Ich meine, ob du keine Angst vor mir hast oder vor dem, was ich mit dir tun könnte.« Wie gerne würde ich kaltschnäuzig »nein« sagen. Doch mein Gehirn produziert Schreckensbilder, und ich bringe keinen Ton heraus. »Willst du gar nicht wissen, warum die Polizei hinter mir her ist?« Mein Schweigen dauert zu lange. Verächtlich zieht er die Mundwinkel herab, und sein Kopf nickt, als hätte ich bereits eine Antwort gegeben. Hilflos senke ich meinen Blick. »Ich verstehe«, sagt er bitter. »Du denkst, je weniger du weißt, um so besser.« Sein Gesicht erschreckt mich. Sein Lächeln ist das Grinsen der sich selbst erfüllenden Prophezeiung. »Wer zuviel weiß, wird umgebracht! So wie im Kino, nicht wahr?« Sein Blick ist herausfordernd, fast aggressiv, und seine Stimme klingt kalt und gefühllos. -90-
»Hast du mal daran gedacht, daß es völlig egal ist, wieviel du von mir weißt? Du kannst mich schließlich genau beschreiben und identifizieren. Also muß ich dich so oder so umbringen, nicht?« Er lacht. Dann packt er mich beim Arm, zwingt mich, ihn anzusehen. »Daran hast du doch gerade gedacht, nicht wahr?« Sein Griff wird fester. Er schüttelt mich hin und her, doch ich bringe keinen Ton raus. »Sag es ruhig. Sehe ich aus wie ein Mörder? Dafür hältst du mich doch, oder?« Entsetzt sehe ich ihn an, kann immer noch nicht sprechen. Und dann ist er es, der meinem Blick ausweicht. Er läßt mich los und sinkt kraftlos in seinen Sitz zurück. »Du hast recht«, sagt er tonlos. »Ich bin ein Mörder.« Ich spüre, wie mein Magen sich zusammenkrampft. Meine Hände werden feucht vor Angst, und der prasselnde Regen auf dem Autodach verstärkt noch meine Sintflutgedanken von Tod und Untergang. Serge sitzt nur da und starrt schweigend in den Wasservorhang auf der Frontscheibe. Und dann fragt er: »Wieso willst du dich eigentlich so völlig kampflos in dein Schicksal fügen? Willst du denn nicht leben? Ist dir egal, was mit dir geschieht?« Etwas in seiner Stimme läßt mich aufhorchen. Ich schaue zu ihm hinüber und erkenne in seinem Gesicht genau den Ausdruck, den ich wohl manchmal habe, wenn ich über die Maßen bestürzt bin über eine Handlungsweise von George. Das Gefühl, den anderen überhaupt nicht zu verstehen. »Es ist mir nicht egal«, sage ich. »Also hast du doch Angst?« »Würde dir das gefallen?« »Ich stelle hier die Fragen. Also, hast du Angst?« -91-
»Ich versuche, nicht daran zu denken.« »Aber sie ist doch trotzdem da. Warum akzeptierst du sie nicht einfach?« »Weil es mir dann noch schlechter ginge. Es ist schon schwer genug für mich, die Nerven zu behalten. Wenn ich mich meiner Angst ergebe, stehe ich das niemals durch. Ich würde wahrscheinlich hysterisch, und das wäre dann vielleicht genau der Moment, der dich wütend genug macht, um mich…« Wieder herrscht Schweigen. Die Stille, die auf meinen angefangenen Satz folgt, dauert viel zu lange. Meine flache Hand klatscht aufs Lenkrad. »Warum quälst du mich so? Du hast gerade deutlich zu verstehen gegeben, daß du mich töten willst. Also, warum tust du es nicht endlich?« »Ich habe nie gesagt, daß ich es will. Es wird sogar schwerer, je besser ich dich kenne.« »Dann solltest du aufhören, mir Fragen über mein Leben zu stellen.« »Ich kann nicht. Nicht, wenn ich sicher sein will, das Richtige zu tun, verstehst du?« Entsetzt schaue ich ihn an. Versuche, sein Gesicht in der Dunkelheit zu erkennen. »Willst du damit sagen, du suchst nach einer Rechtfertigung für meinen Tod?« Ich fixiere sein Gesicht. Er hält den Kopf gebeugt, massiert seine Finger. Und endlich sagt er leise: »Vielleicht entdecke ich ja auch genau das Gegenteil.« Obwohl mich diese Antwort eigentlich beruhigen sollte, platze ich heraus: »Du bist ja verrückt!« Serge schnellt herum wie ein Pfeil. »Sag das nie wieder!« -92-
Trotz der Dunkelheit kann ich sehen, wie unbeherrscht seine Augen flackern. Doch mich kümmert nicht die Gefahr. Mich leitet allein die Angst. »Warum nicht? Wäre das ein Grund, mich zu töten? »Vielleicht.« »Verdammt, worauf wartest du dann noch?« Ich muß sein Gesicht sehen. Wer ist dieser Mensch? Doch er schiebt mich zurück in meinen Sitz, als wäre ich ein Requisit. »Jetzt nicht«, ist alles, was er sagt. Ratlos starre ich in die Dunkelheit, erschlagen, wie nach einem Kampf. Stumme Minuten verstreichen. Ich zünde mir eine Zigarette an und sauge daran wie eine Verdurstende. Fröstelnd ziehe ich die Schultern zusammen, im Ohr noch seine Frage, ob ich mich kampflos ergeben will. Nun, da der Regen nachgelassen hat, könnte ich weiterfahren. Ich könnte Vollgas geben und frontal gegen einen Baum fahren, wenn ich nicht solche Angst vor dem Tod hätte. Der Mann neben mir verfolgt die Regentropfen auf der Windschutzscheibe. Er sieht nicht so aus, als wäre er mit dem Ausgang des Gespräches sehr zufrieden. Eher so, als wäre es für ihn noch nicht beendet. Ein kleiner Funke Hoffnung keimt in mir auf. Mühsam schlucke ich. »Gibt es für mich eine Chance, daß du mich am Leben läßt?« »Hast du das immer noch nicht verstanden?« »Ich bin mir nicht sicher.« »Es gibt eine. Nur eine einzige.« Mein Mund wird trocken. »Welche?« »Wenn ich dir vertrauen könnte.« Er lächelt freudlos vor sich hin. »Aber leider bist du viel zu dumm, um die Chancen, die ich dir biete, auch nur zu erkennen.« -93-
Das trockene Geräusch, das aus meinem Hals dringt, ist nicht mehr als ein Schluchzen. »Das sagst du doch wieder nur, um falsche Hoffnungen zu wekken. In Wahrheit kann ich gar nichts tun, um dich umzustimmen.« »Ist das deine ganze Philosophie? Der Glaube, daß du nichts tun kannst. Hast du es denn je versucht?« Für einen Moment sehe ich mich, wie ich vor George stehe. Mit flehenden Augen bitte ich ihn, mich nicht auszuliefern. Auch seine Augen sind feucht, und als er mich bei den Schultern faßt und sagt: ›Bitte Joëlle, tue es für mich. Nur noch dieses eine Mal!‹, da senke ich den Kopf. Mit beiden Händen fahre ich durch mein Haar. »Ich glaube nicht, daß ich ausgerechnet bei dir damit anfangen sollte zu kämpfen. Es könnte eine Falle sein. Der rechte Grund, mich zu töten. Vielleicht macht es dir aber auch einfach nur Spaß, mich zu quälen. Du willst dich an meinen kläglichen Versuchen weiden, dein Vertrauen zu gewinnen. Dabei wirst du dich ohnehin gegen mich entscheiden. Egal was ich tue, du hältst mich für schlecht, für schuldig und für eine Verräterin. Und alles nur, weil ich eine Frau bin.« »Vielleicht hast du recht, vielleicht aber auch nicht. Ich habe meine Gründe für mein Verhalten, und ich werde es dir nicht leicht machen. Und dennoch wünschte ich, du würdest irgend etwas tun, um mich vom Gegenteil zu überzeugen.« Unsicher sehe ich ihn an, bete, daß er diesmal die Wahrheit sagt. »Warum?« »Ich weiß nicht. Vielleicht wegen dem, was du über das Glück gesagt hast.« Ich antworte nicht, warte, daß er weiter spricht. Wünsche mir verzweifelt einen Hoffnungsschimmer. »Wenn du es schaffst, daß ich dir vertraue – vielleicht kannst du dann auch mir trauen.« -94-
Seine Augen dringen in mich. Ich erschrecke nicht einmal, sehe ihn nur staunend an. »Bitte Joëlle! Versuch es wenigstens.« Ich schaue auf die Straße, versuche, meinen Kopf freizubekommen. Habe ich eine Wahl? »Also gut«, sage ich dann. »Was muß ich tun?« »Verdammt, Joëlle!« Hilflos schüttelt er den Kopf. »Das mußt du schon selbst herausfinden.« »Was ist denn, wenn ich auf eine Chance warte, die du mir gar nicht geben willst? Was, wenn dies dein Spiel ist?« Ungeduldig winkt er ab. »Ach, so funktioniert das nicht. Du bist zu mißtrauisch, Joëlle. Aber ich verspreche dir jetzt, daß du noch Gelegenheit bekommst, dich zu beweisen.« Feierlich hält er zwei Finger hoch, und ich denke an all die Schwüre, die George mir gegeben hat. Dann deutet er nach draußen. »Siehst du nicht, daß es aufgehört hat zu regnen? Laß uns zum Haus zurückfahren.«
*** Wieder im Haus, schickt er mich in die Küche. Küchenarbeit scheint zu meinem ganzen Lebensinhalt zu werden. Eigentlich mache ich es sogar gerne. George hat mir nur selten Gelegenheit dazu gegeben. ›Seine‹ Frau sollte nicht arbeiten. Ein Restaurant oder ein Partyservice waren immer angemessener. Doch ich bin nicht recht bei der Sache. Der Gedanke, was Serge in der Zeitung entdeckt haben mag, läßt mich nicht los. Ich bin allein in -95-
der Küche. Er läßt sich nicht blicken. Kein Laut dringt aus dem Wohnzimmer. Das macht mich unruhig. Endlich höre ich, wie er nach oben geht. Vorsichtig husche ich in den Wohnraum. Die Zeitung liegt aufgeschlagen auf dem Tisch. Gleich werde ich sie kennen, die ganze Wahrheit. Und dann stehe ich da, wie in Stein gemeißelt, und wage nicht, mich dem Tisch zu nähern. Als ich seine Schritte auf der Treppe höre, flüchte ich wieder an den Herd. Er ist still während des Essens. Nur ab und zu fange ich einen grüblerischen Blick von ihm auf. Als ich das Geschirr abräume, sagt er: »Du hast sehr anmutige Gesten.« Verblüfft schaue ich ihn an. »Ich meine, du bewegst dich mit einer Leichtigkeit und Grazie, wie man sie selten sieht.« »Ich weiß nicht, was du meinst«, antworte ich und verdrücke mich in die Küche. Ich brauche viel länger als notwendig, um den Abwasch zu erledigen. Als ich auf die Treppe zum Schlafraum zusteuere, höre ich, wie er mit der Zunge schnalzt. Widerwillig sehe ich ihn an. Er schüttelt leicht belustigt den Kopf, und sein Zeigefinger bewegt sich verneinend hin und her. »Ah, ah«, macht er. »Es ist gerade sieben Uhr. Du willst mir doch nicht weismachen, daß du schon müde bist. Komm her zu mir.« Seine Hand klopft auf das Sofa. »Ich möchte mich mit dir unterhalten.« Es ist offensichtlich, daß es ihn nicht interessiert, was ich möchte. Ein Seufzer entfährt mir, und ergeben nehme ich neben ihm Platz. »Wo waren wir stehengeblieben?« fragt er und reicht mir ein Glas Wein. -96-
»Ich weiß nicht.« »Macht nichts. Ich weiß es noch. Ich sprach von deiner Anmut, deiner aufrechten Haltung.« Gespannt sieht er mich an. »Gehe ich recht in der Annahme, daß diese Gabe nicht angeboren ist?« »Was soll das werden? Ein Quiz?« Er lacht. Kurz und spöttisch. »Du bist Tänzerin, nicht wahr?« »Das ist kein Geheimnis.« »Dein Vater muß sehr stolz auf dich sein.« Ich gebe keine Antwort. »Hat er dich trainiert?« »Anfangs ja.« »Und dann?« Monoton spule ich einen Text ab. »Als sich herausstellte, daß ich ein gewisses Talent hatte, schickte er mich in eine Ballettschule. Abends überprüfte er dann regelmäßig meine Fortschritte.« »Ich wette, er war ein harter Lehrmeister.« »Das war er.« »Erzähl mir davon!« Keine Bitte, diesmal ist es ein Befehl. »Nun«, seufze ich. »Er war zwar unnachgiebig und streng. Aber er konnte sich genauso überschwenglich freuen, wenn ich zum Beispiel eine Arabesque perfekt ausführte. Dann tanzte er mit mir durch das ausgeräumte Wohnzimmer, strahlte und sagte immer wieder: ›Ich wußte ja, daß einer aus unserer Familie das Zeug dazu hat. Ich bin so stolz auf dich, Joëlle. Du wirst mich nicht enttäuschen, versprichst du mir das?‹ -97-
»Hast du es versprochen?« »Natürlich.« »Und hast du dein Versprechen gehalten?« »Den Tag, als er mit mir meinen ersten Pas de deux tanzte, werde ich nie vergessen. Ich fühlte mich endlich erwachsen.« »Der Prinz wirbt um die Prinzessin.« »Was?« »Ach nichts. Ich habe auch schon mal ein Ballett gesehen. Das ist es doch, worum es im Pas de deux meistens geht. Oder nicht?« »Doch, doch.« Verblüfft schaue ich ihn an. »Wie war das, als du das erste Mal auf der Bühne standest, dein erstes Solo hattest. Warst du glücklich?« »Oh ja. Ich glaube, es war einer der glücklichsten Momente meines Lebens. Papa platzte vor Stolz. Er brachte mir einen riesigen Strauß Rosen in die Garderobe. Er sagte, ich habe ihm seinen Traum zurückgegeben. Ihm standen Tränen in den Augen.« Rasch greife ich nach meinem Glas. Wie oft habe ich mir diese Szene ins Gedächtnis gerufen, wenn ich kurz davor war aufzugeben, weil das Training so hart war und weil es meine ganze Freizeit fraß? Und als stünden mir meine Gedanken auf der Stirn geschrieben, sagt Serge plötzlich: »So glücklich kannst du nicht gewesen sein.« »Was?« »Schließlich hast du deinen Beruf aufgegeben. Das hast du selbst gesagt.« Seine Stimme dringt in mich. »Du hast dein Versprechen gebrochen, Joëlle. Du hast deinen Vater im Stich gelassen. Und wofür? Für George?« »Na und? Vielleicht war er es wert?« -98-
»Weißt du es nicht?« »Natürlich weiß ich es. Ich habe mir diesen Schritt reiflich überlegt.« »Ach, hast du das? Und warum mußtest du George dann verlassen? Du hast auch ihn verraten, Joëlle. Ich hatte also doch recht mit dem, was ich über Frauen sagte.« Er macht eine bedeutungsschwere Pause. »Wie enttäuscht muß dein Vater von dir sein, Joëlle? Wie bitter enttäuscht?« Mein Stichwort. Die alte Spitze, die schon lange in mein wundes Herz bohrt. Und so spreche ich zu ihm genau die Worte, die der, dem sie galten, nie gehört hat. »Es ist doch aber mein Leben. Nicht das meines Vaters.« »Hör auf, mich anzulügen!« schreit er. »Es ging doch gar nicht um dein Leben. Du wolltest Liebesbeweise. Bei deinem Vater mußtest du hart dafür arbeiten. Aber bei George war es ganz einfach, nicht?« Seine Augen sind weit aufgerissen. Dann nickt er. »Ja, am Anfang war alles ganz leicht. Aber dann ist etwas passiert, was die Sache schwieriger machte. Es war dir wieder mal zu anstrengend, was? Oder war es einfach nicht genug?« »Du erwartest wohl nicht, daß ich darauf antworte.« »Doch, das wirst du! Ohne eine Antwort lasse ich dich nicht zu Bett gehen.« »Das ist grotesk. Ich werde nichts mehr sagen.« Nervös greife ich nach den Zigaretten. Ich weiß, daß Serge mich beobachtet. Weiß, daß er keinen Blick von mir läßt. Aber ich werde ihn nicht ansehen, nicht diesem wissenden Blick begegnen, unter den leicht hochgezogenen Augenbrauen. Als ich den Zigarettenstummel ausdrücke, fühle ich mich kein bißchen ruhiger. Ich verschränke die Arme vor der Brust und starre ins Feuer. »Sieh mich an, Joëlle.« -99-
Unwillig hebe ich den Kopf. »Wie sehr brauchst du das Gefühl, geliebt zu werden?« Ich weiche seinem bohrenden Blick aus. Auf dem Teppich suchen meine Augen nach einer unverfänglichen Antwort. »Brauchen wir es nicht alle?« »Sicher. Aber, wie sehr brauchst du es?« »Ich weiß nicht.« Ich bin verärgert, über die Frage, über meine dumme Antwort. »Hast du noch nie darüber nachgedacht, Joëlle?« »Nein.« »Ich behaupte, du wünschst dir nichts sehnlicher, als geliebt zu werden.« »Unsinn. Nicht mehr als jeder andere Mensch auch.« »Ja, nicht mehr als jede andere arme Seele, die alles tut, um geliebt zu werden. Aber je mehr du dich anstrengst, desto weniger wird man dich für wert befinden.« »Hör auf, bitte!« »Arme Joëlle«, sagt er. »Sie bemüht sich so sehr, macht alles, selbst wenn es gegen ihre Natur ist, und kriegt doch nicht mehr als ein Almosen.« »Du lügst. Das stimmt doch gar nicht.« »Und warum mußtest du dann dieses harte Balletttraining über dich ergehen lassen?« »Weil ich es liebte, verdammt noch mal!« »Nein«, triumphiert er. »Du liebtest deinen Vater. Du fühltest dich schuldig daran, daß er nicht mehr tanzte. Du wolltest vollenden, was er nicht vollbracht hat. Hat er dir jemals gesagt, daß er stolz auf dich ist, bevor du mit dem Ballett angefangen hast?« »Was soll das?« frage ich, will nicht, daß er an den Stachel rührt, der so geheim in meinem Herzen steckt. »Ich will dir nur helfen», sagt er. »Also hör mir zu. -100-
Und unterbrich mich nur, wenn ich etwas Falsches sage.« Mit Entsetzen sehe ich die Begeisterung, mit der er versucht, meine geheimsten Empfindungen bloßzulegen, meine Vergangenheit zu demontieren. »Also, dann kam George, richtig? Der wunderbare, immer lächelnde George, und er sagte dir all jene Dinge, die du so gerne hören wolltest. Und du brauchtest nichts dafür tun. Endlich jemand, der dich liebte, ohne daß du dafür akrobatische Verrenkungen anstellen mußtest. Er hat es dir leicht gemacht zu gehen, nicht wahr, Joëlle?« Ich kann nicht sprechen, höre hilflos zu, wie er mein Leben herunterbetet. »Aber die Liebe hat nicht lange gedauert, oder?« Nein, bitte nicht weitersprechen! »Es ist nicht schwer festzustellen, Joëlle. Wie lange hat es gedauert, bis er anfing, eine Gegenleistung zu verlangen?« Mein Kopf sinkt herab. Erinnerungen pressen mir den Brustkorb zusammen, daß ich kaum noch Luft bekomme. »Sieh mich an, Joëlle! Was hat er von dir verlangt?« Er hebt mein Kinn mit zwei Fingern an, zwingt mich, ihm in die Augen zu sehen. »Was mußtest du für seine Liebe tun, Joëlle?« Ruckartig ziehe ich den Kopf zurück. Mein Atem geht pfeifend. Ich kann nicht sprechen. Nicht zu ihm. Zu niemandem. Der Schmerz in meiner Brust wird unerträglich. Bis sich langsam und qualvoll ein hoher Ton von meinen Lippen löst. Zu schwach, um ein Schrei zu sein. Aber stark genug, um den Schmerz etwas zu lindern. Ich spüre, wie sich mein Gesicht verzerrt und verberge es in meinen Händen. Ich weine, ringe nach Luft, doch meine Augen bleiben trocken. Serges Stimme sagt: »Verzeih«. Seine Hand legt sich auf meinen Arm, und ich springe auf, als müsse ich ein todbringen-101-
des Insekt abschütteln. Einen Augenblick starren wir uns an. Zwei erschrockene Augenpaare. Dann stürze ich an ihm vorbei die Treppe hoch. Ich werfe mich aufs Bett und weine hemmungslos. Ich weine, bis mein Kopf ganz leer wird. Das Gefühl für die Zeit verschwindet. Wachen und Schlafen unterscheiden sich nicht. *** Ich liege auf dem Bett, und um mich ist völlige Stille. Fast so, als wäre ich alleine hier. Mehr noch, als existiere außerhalb dieses Raumes nichts mehr. Und plötzlich bekomme ich Angst. Angst, daß auch ich beginne, mich aufzulösen, aufhöre zu existieren. Dunkelheit umgibt mich. Träume ich vielleicht nur? Werde ich gleich aufwachen und feststellen, daß ich George nie verlassen habe? Ich weiß nicht, welcher Gedanke mir mehr Angst macht. Jetzt höre ich Schritte, und wie im Traum wende ich mein Gesicht. Ein Mann erscheint. Ich schaue zu, wie er näherkommt. Kein Gefühl ist mehr in mir. Kein Gefühl von Vertrauen, von Gefahr. In mir ist nichts. Er setzt sich zu mir auf die Bettkante und fragt, ob ich ihn hören kann. Langsam bewegt sich mein Kopf auf und ab. »Was tust du hier?« fragt er. »Weißt du, wo du bist?« Ich möchte meinen Kopf schütteln, aber er läßt sich nicht bewegen. »Du bist auf einer Insel«, höre ich seine Stimme. »Eine Gestrandete. Möchtest du fort von hier?« »Ja«, möchte ich schreien, doch ich kann nur versuchen zu nicken und hoffen, daß er mich versteht. »Hast du denn ein Boot?« Bedauernd schlage ich meine Augen nieder. »Dann mußt du wohl hierbleiben.« -102-
Wie grausam dieser Satz ist. Wie unerbittlich. Gibt es denn keinen anderen Weg? »Du könntest ein Boot bauen.« Das kann ich nicht. Er muß doch wissen, daß ich es nicht kann. Mein Magen gerät in Bewegung. Verzweifelt bemühe ich mich, die Tränen zu unterdrücken. »Kennst du nicht jemanden, der ein Boot hat?« Ja, oh Gott, ja. Ich kenne jemanden. Er hat ein Boot. Ein großes, weißes. Gar nicht weit von hier. Ein Mann. Ein alter Mann. Mir fällt nur sein Name nicht ein. Er trägt eine Strickjacke, und er hat einen kahlen Kopf. »Ja«, krächze ich. Oh Gott, ich hoffe, er versteht, was ich sage. Ich will nicht hierbleiben. Bitte! »Dann brauchst du es doch nur zu holen«, höre ich. »Hole das Boot, und du bist frei.« Ich hebe den Kopf, und mit einer unendlich schwachen Bewegung nicke ich ihm zu. Gott sei Dank. Ich bin gerettet. Endlich läßt mein Körper den Tränen freien Lauf. Ich höre nicht mehr die Stimme des Mannes, sehe nichts mehr als Schwarz. Ich lausche nur noch dem eigenen Schluchzen. Als auch die Tränen ganz tief in meiner Brust sich einen Weg nach draußen bahnen, fühle ich mich wie hochgehoben. Jetzt tropfen sie auf sein Hemd, auf seine Arme. Ich klammere mich an die Gestalt auf meinem Bett, vergrabe mich darin und wünsche mir, erst wieder aufzutauchen, wenn alles gut ist. So bleibe ich in seinen Armen liegen, ohne zu sprechen, ohne mich zu rühren. Ein krankes Kind. *** Das nächste, das ich bewußt wahrnehme, ist ein kleines Licht. Eine brennende Kerze, auf einem improvisierten Nachttisch. Ihr -103-
leises Flackern beruhigt mich. Es ist so warm und stet. So, wie der Atem, der mich hebt und senkt. Atem aus einer Brust, viel größer als meine eigene. Es tut so gut, an ihr zu lehnen und sich mit ihr zu wiegen. Ich kann auf das Kopfteil des Bettes sehen. Es ist aus Messing und glänzt im Kerzenschein. Auch das Kopfkissen mit der Lochstickerei erkenne ich. Die Hand auf meinem Rücken ist groß und warm. Ich weiß, wem sie gehört. Ich genieße diese Hand, die beruhigend über meinen Rücken streicht. Die Hand, die mit meinem Haar spielt. Wenn sie doch nie aufhören würde. »Es tut mir leid, Joëlle.« Serges Stimme ist leise. Ganz sanft. »Ich wußte nicht, daß es so schlimm für dich ist.« Langsam hebe ich den Kopf. Sein Gesicht trägt keine Spur von Zorn. Kein Anzeichen von Verachtung wegen meines Gefühlsausbruchs. Die Art, wie er mich ansieht, tut mir wohl. Ich schüttele den Kopf. »Ich kann nicht. Ich kann es niemandem erzählen.« Er atmet ganz tief ein. »Ach, Joëlle«, seufzt er. »Warum machst du es dir so schwer? Vertraust du mir denn immer noch nicht?« Meine Stimme klingt immer noch weinerlich. »Nicht das. Bitte verlange nicht von mir, daß ich das erzähle.« »Doch Joëlle. Gerade das. Alles andere wäre kein Vertrauensbeweis.« »Aber ich kann nicht. Versteh das doch. Ich habe es noch nie jemandem gesagt. Ich schäme mich. Es tut weh, wenn ich nur daran denke.« Traurig sieht er mich an. »Es wird so lange weh tun, wie du es nicht ausgesprochen hast. Denke darüber nach. Aber zuerst schlafe ein wenig. Du bist erschöpft.« -104-
Fürsorglich zieht er die Decke über mich. Dann verschwindet er nach unten. Augenblicklich rolle ich mich zusammen. Ich mag die Art, wie er mich angesehen hat. Ganz so, als nähme er mich ernst. Als ich erwache, ist es stockfinster. Ich bin allein. Aber von unten dringt eine Stimme herauf. Ich erkenne die Melodie von Billy Joels ›Honesty‹. Serge singt. Sehr leise und nicht besonders gut, aber es rührt mich auf eine Weise, die ich nicht erklären kann. Ich fühle mich beklommen und irgendwie schuldbewußt. Ein Blick auf das Leuchtzifferblatt des Weckers sagt mir, daß es noch nicht so spät ist, wie ich dachte. Gerade halb zehn, und ich fühle mich einigermaßen kräftig und erholt. Nur meine Augenlider fühlen sich dick und schwer an. Kurz entschlossen gehe ich ins Bad und spritze mir kaltes Wasser ins Gesicht. Ich ziehe meinen Pulli glatt und steige die Treppe hinab. Er sitzt auf dem Boden vor dem Kamin. Offenbar üben die Flammen auf ihn die gleiche Faszination aus wie auf mich. Er hat aufgehört zu singen. Als ich mich im Sessel niederlasse, fragt er ohne den Blick vom Feuer zu wenden: »Geht es dir jetzt wieder besser?« »Viel besser.« Und nach einer Pause füge ich hinzu. »Es tut mir leid, daß ich hysterisch war.« »Schon gut.« Sein Ton ist knapp, aber nicht unfreundlich. »Ich verstehe das. Ich bin kein Unmensch. Hast du es dir überlegt?« Ich zögere. Er dreht den Kopf, und ich spiele nervös mit einem leeren Glas. Wortlos steht er auf, hält meine Hand gerade -105-
und füllt das Glas bis zum Rand. Dankbar trinke ich ein paar Schlucke. »Es ist nicht so, daß ich es nicht erzählen möchte«, fange ich an. »Ich weiß, daß ich das irgendwann tun muß. Es ist sogar schon lange überfällig. Aber ich weiß nicht…« »… ob du mir trauen kannst?« vollendet er meinen Satz. Betreten senke ich den Kopf. Eine Weile spricht keiner von uns ein Wort. Umso erschrockener bin ich, als er unvermittelt aufspringt und meinen Arm packt. »Ich werde dir jetzt mein Vertrauen beweisen,« sagt er. »Komm mit, ich zeige es dir. Komm mit!« Er zieht mich hinter sich her, zur Tür hinaus. Dann fingert er die Autoschlüssel aus der Tasche und drückt sie mir in die Hand. »Steig ein!« Meine Knie zittern, als ich hinter dem Steuer Platz nehme. »Mach die Scheinwerfer an!« Er hat sich direkt vor den Kühler gestellt. Direkt unheimlich sieht er bei der Beleuchtung aus. »Und jetzt«, intoniert er mit einer theatralischen Geste, »tue, was immer du tun mußt!« Ich spüre, wie ich hinter dem Lenkrad steif werde. Mit ausgebreiteten Armen steht er da, die Augen geschlossen, das Kinn erhoben. »Siehst du nicht, welche Möglichkeit ich dir biete?« ruft er. »Du kannst verschwinden, Joëlle. Du kannst einfach fahren und mich hier meinem Schicksal überlassen. Und wenn du mich ein für alle Mal los sein willst, brauchst du nur mit Vollgas über mich hinwegzudonnern.« Meine Finger stecken wie von selbst den Schlüssel ins Zündschloß. -106-
»Nun, Joëlle, wie entscheidest du dich?« Meine Hände klammern sich an die Lenkung. Ich kann mich nicht bewegen, kann keinen Blick von ihm wenden. Wie er so dasteht, sieht er übermenschlich aus. Kraftvoll und breitbeinig, die Arme ausgebreitet, um den Tod zu empfangen oder das Leben. Die Augen geschlossen, den Kopf leicht zurückgelegt. Wie kann er so sicher sein? Und dann macht er die Augen auf und lächelt. Er lächelt mich an wie ein übermütiger Junge, und ich fühle eine Erleichterung, als sei er gerade von den Toten auferstanden. Ich ziehe den Schlüssel ab und seufze. Immer noch lächelnd kommt er um den Wagen herum und öffnet die Tür. Mit einer Hand zieht er mich aus dem Auto und schlägt die Tür zu. Sein Gesicht strahlt. »Was ist?« ruft er aus. »Immer noch Zweifel?« »Nein, aber ich…« »Ganz recht, jetzt bist du dran, dein Vertrauen zu beweisen.« Widerstrebend stemme ich die Füße gegen den Boden. »Es ist zu früh. Ich kann das noch nicht.« »Ja, weil du gar nicht weißt, was Vertrauen ist. Aber ich werde es dir zeigen. Ich bringe es, dir bei.« Übermütig zerrt er mich hinter sich her. Durch meinen Bauch schießt ein heißer Strahl, als ich merke, daß er auf die Klippen zusteuert. Er läuft ziemlich schnell. Ich kann nicht mal den Boden vor mir erkennen, und er rennt, als sei es heller Tag. Selbst das Meer ist unsichtbar. Nur das Tosen wird immer lauter. Ganz plötzlich bleibt er stehen und wirbelt mich herum. Ich stoße einen Schrei aus, als ich weit unter mir etwas Weißes erkenne. »Wir stehen direkt am Abgrund«, schreie ich und klammere mich an ihn. »Ich kann die Brandung sehen.« »Dann ist es richtig«, lacht er. -107-
»Hör jetzt auf, dich so festzukrallen. Gib mir deine Hände.« Nicht brutal, aber bestimmt, löst er meine Hände von seinen Armen. Wir stehen dicht voreinander. Er hält meine Hände fest. Keine Chance, an ihm vorbeizukommen. »Sieh mich an!« sagt er. »Sieh nur in meine Augen. Hab keine Angst.« Wie hypnotisiert starre ich ihn an. Kann immer noch nicht fassen, was hier passiert. »Und jetzt – laß dich fallen!« »Nein!« Automatisch dränge ich mich näher an ihn. Er schiebt mich wieder weg. Immer noch strahlt er über das ganze Gesicht. »Laß dich einfach nach hinten fallen. Und vertraue mir. Ich halte dich fest.« Er muß von Sinnen sein. Wie kann er nur einen so verrückten Vorschlag machen? Ich fühle mich so absolut hilflos, daß ich schreien könnte. Und dann tue ich es. Ich schreie und lasse mich nach hinten fallen. Es gibt einen Ruck, und dann spüre ich die Dehnung in meinen Armen. Ich spüre den Druck seiner Hände, die die meinen festhalten, und dann fühle ich, wie ich schwebe. Etwas zieht an mir, zieht mich an, ganz ohne daß ich etwas dagegen tun will. Ich öffne die Augen und sehe sein Gesicht, das langsam näher kommt. Ich überlasse mich diesen Händen, diesen Armen, und atemlos vergrabe ich mein Gesicht an seinem Hals. »Sag jetzt, daß du mir vertraust.« »Ich vertraue dir.« »Sag, Joëlle vertraut Serge.« »Joëlle vertraut Serge.« Tränen laufen über meine Wangen, aber mein Mund lacht. Ich lache, werfe den Kopf in den Nacken, und immer wieder schaue ich ihn an. -108-
»Joëlle vertraut Serge.« Mit beiden Händen stütze ich mich auf seiner Brust ab. Meine Arme zittern ebenso wie meine wiedergefundene Stimme. »Ich werde es dir erzählen. Ich will alles sagen. Bitte laß uns ins Haus gehen.« Eine eigenartige Hochstimmung hat mich erfaßt. Ich fühle mich so frei, und dennoch kann ich die Tränen nicht aufhalten. Ich weine, aber ich bin nicht traurig. Alles in mir ist Lächeln. Als ich wieder im Warmen auf der Couch sitze, fällt alle Euphorie von mir ab. Ich weiß, daß ich nun mein Versprechen einlösen muß. Das Glücksgefühl läßt nach, und das soeben Erlebte erscheint mir auf einmal seltsam irreal. Ich sehe Serge an und frage mich, ob ich diese absurde Situation soeben wirklich erlebt habe. Verlegen taste ich nach einem Taschentuch. Serge sagt kein Wort. Er sitzt neben mir und wartet. Er schaut mich nicht an, er fragt nichts, aber ich weiß, daß er wartet. Diszipliniert richte ich meine Wirbelsäule auf und atme mehrmals tief ein und aus. Vor jedem Auftritt habe ich das getan. Als hätte ich damit jemals das Lampenfieber vertreiben können. Er steckt mir eine Zigarette zwischen die Lippen, und ich nehme dankbar ein paar tiefe Züge, wappne mich für das, was nicht mehr aufzuhalten ist. Viel zu lange haben die Worte in meinem Bauch gesteckt, hart und unverdaut. Sind hochgestiegen, an die Wände meines Hirns gestoßen und haben mir Kopfschmerz bereitet. Ungeduldig schaue ich in den nächtlichen Himmel, suche vor dem Fenster nach einem Zeichen, einem Signal. Ein Blitz vielleicht, der mir den Startschuß gibt. Serge ist in die Küche gegangen. Jetzt kommt er zurück und hält mir ein Glas von dem schweren Roten hin. Ich trinke gierig. Kommentarlos schenkt er mir nach und sieht zu, wie ich auch dieses Glas fast leere. -109-
»Alles okay?« fragt er. Statt einer Antwort greife ich nach dem zweiten Kissen und stopfe es mir in den Rücken. »Wir scheinen beide Opfer widriger Umstände zu sein«, fährt er fort. »Woher weißt du das? Du kennst meine Geschichte doch noch gar nicht.« »Ich fühle es, Joëlle. Ich kann es sogar sehen. Deine Augen bergen eine große Traurigkeit. Ich kenne diesen Blick. Ich habe ihn oft genug im Spiegel gesehen.« Ich bringe ein schwaches Lächeln zustande. Ich weiß, was er meint. Ich habe diesen Ausdruck auch schon an ihm bemerkt. Gestern auf den Klippen. »Vielleicht können wir einander helfen, Joëlle. Die Sorgen ein bißchen kleiner machen.« »Und den Schmerz…?« Er nickt mir aufmunternd zu. »Ach! Ich will es ja. Aber ich weiß nicht, wo ich beginnen soll. » »Am Anfang. Erzähl mir alles. Auch wenn es dir dumm vorkommt. Alles ist wichtig.« »Du wirst mich nicht auslachen oder verachten?« »Ich verspreche es.« Feierlich hebt er zwei Finger, und ich fühle mich in meine Kindheit zurückversetzt. Damals, als ich mit meinem Bruder solche Schwüre ablegte. Schwüre, die Geheimnisse banden, die niemand je erfahren durfte. Vor allem nicht Papa. »Wie hast du George kennengelernt?« Ich betrachte die rote Flüssigkeit im Glas, und mir entfährt ein leises Seufzen. Ich denke an den roten Samtvorhang im Theater, -110-
wie er nach der letzten Verbeugung fällt. Und gleich ihm fällt ein Stein der Erleichterung von meinem Herzen. Ich habe es gut gemacht an diesem Abend. Keiner hat mir die Erkältung angemerkt. Der Schweiß läuft in Strömen von meinem Körper, und die alte Nanette kommt mit einem Umhang und führt mich in meine Garderobe. Die heiße Schokolade steht schon bereit. Liebe, gute Nanette. *** »Es war nach der Samstagabendvorstellung von ›Giselle‹. Ich hatte mich ziemlich anstrengen müssen, weil ich erkältet war. Aber alles lief glatt. Als ich dann, in einen warmen Umhang gehüllt, in meiner Garderobe eine heiße Schokolade schlürfte und die Garderobiere meine Füße von den Spitzenschuhen befreite, ging plötzlich die Tür auf, und George stand da. Weiß der Himmel, wie er es geschafft hat, unbemerkt dorthin vorzudringen. Er stand also da, mit einem riesigen Strauß roter Rosen und strahlte mich an. Ich sah seine weißen Zähne und seine blitzblauen Augen und dachte nur, wie abgekämpft und müde ich doch aussehen mußte. Gerne hätte ich zurückgestrahlt, aber ich brachte nur ein schüchternes Lächeln zustande. Mit zwei Schritten war er bei mir, küßte mir die Hand und sagte: »Mademoiselle, Sie waren wunderbar. Sie müssen mit mir zu Abend essen.« Er sah mich unverwandt an, und seine Stimme klang so überzeugend, daß ich nicht widersprechen konnte. Ja, ich war sicher, daß ich diese Einladung annehmen mußte. Ich glaube, bereits in diesem Moment brachte er mich dazu, daß ich ihm nie mehr -111-
etwas abschlagen konnte. Er war so voller Begeisterung, daß ich mich geschämt hätte, ihn zu enttäuschen. Ich vergaß, daß ich gerade eine anstrengende Vorstellung hinter mir hatte. Ich vergaß, daß ich nicht ganz gesund war. Ich sagte nur: »Geben Sie mir ein wenig Zeit, mich frisch zu machen«, und er sprang auf und rief: »Phantastisch. Ich warte vor dem Bühneneingang auf Sie.« Es wurde ein wundervoller Abend. Wir aßen im Coupole, und ich genoß seine ganze Aufmerksamkeit. Er war offensichtlich sehr stolz, in meiner Begleitung dort aufzutauchen. Immer wieder sah er nach rechts und links und machte mich hocherfreut darauf aufmerksam, wenn uns die anderen Gäste anstarrten. Mir war das etwas peinlich, aber er sagte nur: »Wieso peinlich? Weswegen wollen Sie sich denn schämen? Die Leute bewundern doch nur Ihre Schönheit. Genauso wie ich.« Als er mich anschließend nach Hause brachte, küßte er mich auf die Wange und hob mein Kinn an, um mir direkt in die Augen zu sehen. »Der Abend hat mir sehr gefallen. Wir haben ein hübsches Paar abgegeben, finden Sie nicht? Ich meine, wir sollten das unbedingt wiederholen.« Und überglücklich sagte ich zu. Nach unserem zweiten Treffen schliefen wir zusammen, und er war so zärtlich und leidenschaftlich, wie man es sich nur wünschen kann. Von da an war es für ihn klar, daß wir zusammenbleiben würden. Er war sich seiner Sache so sicher, und ich war so verliebt in ihn, daß auch ich keinen Moment daran zweifelte, daß uns das Schicksal zusammengeführt hatte. Die ersten drei Monate waren der Himmel auf Erden. Nie im Leben war ich so glücklich gewesen. Immer öfter kam ich zu spät zum Training. Es kümmerte mich nicht. Das Ballett nahm -112-
nicht mehr den ersten Platz in meinem Leben ein. Ich dachte auch immer seltener an meinen Vater.« Mir wird heiß. Unter meinem Haaransatz beginnt es zu kribbeln. »Du hattest recht, Serge«, seufze ich. »Ich habe alles daran gesetzt, meinen Vater stolz zu machen. Ich dachte, so bekäme ich auch seine Liebe. Aber das war ein Irrtum. Er wollte sich durch mich verwirklichen. Immer wieder sprach er davon, daß die Tochter von Luc Fréjour es der Welt zeigen würde. Ich sollte nicht wie er enden. Als George vorschlug, das Ballett aufzugeben, dachte ich nicht an meinen Vater. Ich dachte nur daran, daß ich meinen Körper nicht mehr bis zur Erschöpfung würde treiben müssen. Und ich dachte daran, daß ich viel mehr Zeit für George haben würde. Denn George begann, sich zu beklagen. »Du läßt mich viel zu lange allein«, sagte er. »Was soll ich denn ohne dich machen, während deiner endlos langen Trainingsstunden? Und außerdem bist du viel zu schön, um abends todmüde ins Bett zu fallen. Ich will nicht, daß du dich so abmühst. Ich will, daß du lachst, mit mir ausgehst und das Leben genießt. Ich will dich lieben.« Es war leicht für ihn, mich zu überzeugen. Ich fühlte mich geschmeichelt. Noch nie war ich so wichtig für jemanden gewesen. Und dann kam der Tag, an dem ich Papa gegenübertreten mußte, ihm ins Gesicht sagen mußte, daß ich das Ballett aufgab. Ich hatte schreckliche Angst. Ich erwartete Zorn, ja sogar Tränen, aber Papa sah mich nur an. So verächtlich, daß er mich ebenso gut hätte schlagen können. Er sprach kein Wort. Er hatte nur diesen Blick, der sagte, wie sehr ich ihn enttäuschte. Er hat nie wieder mit mir gesprochen. Wenn ich meine Mutter besuchte, war er nicht da. In den ersten Wochen litt ich sehr darunter, aber George ließ mich meinen Kummer schnell vergessen. Sein fröhlicher Über-113-
schwang ließ keinen Zweifel in mir aufkommen, daß ich das Richtige getan hatte. Er sorgte für mich, und das nicht nur finanziell. Es machte ihm Spaß, für mich Kleider auszusuchen, für mich im Restaurant zu bestellen, mich ins Bett zu bringen, mich zu baden. Ich genoß seine Aufmerksamkeit in vollen Zügen. Ich weiß gar nicht mehr, wann mir zum ersten Mal auffiel, daß ich kaum noch etwas alleine machte. George war allgegenwärtig. Und im Laufe der Zeit wurden auch seine Freunde zur allgegenwärtigen Einrichtung in unserem Leben. Sie kamen und gingen nach Lust und Laune, luden sich ungefragt ein, und George war immer bereit für eine Party, einen Casinobesuch, eine Show. Wenn ich einmal keine Lust hatte, warf er mir vor, daß ich ihm den Tag verderben wolle. Oder er sah mich zutiefst traurig und enttäuscht an und fragte mich, ob ich denn nicht wisse, daß ihm das alles ohne mich keinen Spaß machen würde? Ähnlich reagierte er, wenn ich mich einmal allein anzog und seinen Geschmack nicht getroffen hatte. Die Vorstellung, ich könne ihn blamieren, schien ihm echte Sorge zu bereiten. Für dich hört sich das vielleicht verrückt an, Serge. Aber ich weiß, daß George sich nicht so aufführt, um mich zu ärgern. Er quält sich vielmehr selbst. Er steigert sich in jedes Detail hinein, bis sich seine Trauer und Wut verselbständigen. Und es zerreißt mir jedesmal das Herz, ihn so außer sich zu sehen.« Serge zieht die Augenbrauen hoch, und ich weiß, daß er mich nicht versteht. Er kann mich nicht verstehen, weil er George nicht kennt. Niemand kennt ihn so wie ich. »Es waren ja nur Kleinigkeiten, die er von mir verlangte«, setze ich erklärend hinzu. »Und ihn wieder lächeln zu sehen, war mir Belohnung genug. Ich wollte ihn um jeden Preis glücklich machen…« »Und merktest nicht, welchen Preis du dafür zahltest«, beendet Serge meine Gedanken. -114-
Er hat recht. Ich fliehe seine Augen. Es ist erschreckend, wie gut er auch über das nicht Gesagte Bescheid weiß. Dennoch glaube ich nicht, daß er die volle Wahrheit ahnt. Ich würde sie selbst nicht glauben, hätte ich sie nicht erlebt. Und so ist meine Stimme zaghaft und leise, als ich fortfahre: »Richtig schlimm wurde es erst, als er anfing, sich mit diesen Leuten aus Versailles zu treffen. Ich habe nie erfahren, womit sie ihr Geld verdienten. Jedenfalls waren sie steinreich und füllten ihre Langeweile mit phantasievollen Spielen. Das Mörderspiel kennst du ja vielleicht. Manchmal waren es auch schwarze Messen oder einfach Abende, die unter einem bestimmten Motto standen. Zum Beispiel Louis XIV oder das Alte Rom oder Tausendundeine Nacht. Der Alkohol floß jedesmal in Strömen, und ich gebe zu, daß auch ich bald gerne zum Glas griff. Wenn auch nur, um mit ihrer übertriebenen Fröhlichkeit mithalten zu können, die mir so suspekt war. Alles begann mit einem orientalischen Fest. Man forderte mich auf zu tanzen. Den Tanz der Salomé. Die sieben Schleier. Selbstverständlich trug ich darunter Dessous. Aber das schien ihnen nicht zu genügen. Sie wollten, daß ich mich ganz ausziehe und begannen, mir Tausendfrancsscheine zuzuwerfen. Irritiert sah ich George an. Er nickte mir begeistert zu, und als ich nicht reagierte, legte er bittend die Hände zusammen, und seine Lippen formten die Worte: ›Tue es für mich.‹ Und ich tat es. Aber George ließ die Sache nicht auf sich beruhen. Immer wieder fing er davon an, wie toll ich gewesen sei. Alle hätten ihm zu mir gratuliert. Einer hatte sogar gefragt, ob er mich ihm einmal überlassen würde.« »Welcher Verrückte war das?« fragte ich halb entrüstet, halb im Scherz. »Jean-François«, antwortete er. »Der, den du immer so nett fandest. Er hat mir wirklich ein gutes Angebot gemacht.« -115-
»Sehr witzig finde ich das nicht«, habe ich geantwortet. »Oder nimmst du das etwa ernst?« George hat nicht geantwortet. Ein paar Wochen hörte ich nichts von dem Thema. Dann, eines Abends, machte er mir einen Vorschlag. Ich hätte gleich stutzig werden sollen, denn es war seit langer Zeit der erste Abend, den wir allein verbrachten. George hatte Champagner und Kaviar aufgefahren, und ich dachte, ihm würden unsere romantischen Momente genauso fehlen wie mir. Aber ich wurde bald eines Besseren belehrt. Er eröffnete mir, daß er nicht unbedeutende Spielschulden habe und fürchte, mir nicht mehr das bieten zu können, was ich gewohnt war. Ich wollte ihn beruhigen. Er sollte doch eigentlich wissen, daß ich auch mit weniger auskam. Da fing er an zu weinen: »Aber ich nicht. Ich kann mir ein anderes Leben nicht vorstellen, und ich könnte es nicht ertragen, dich in irgendwelchen billigen Fummeln zu sehen oder mit wertlosem Modeschmuck. Mir blutet das Herz bei dem Gedanken.« Und sofort war es mein Herz, das blutete. »Wie kann ich dir nur helfen?«, hatte ich gefragt. Er hat sich ein wenig geziert und gesagt, er sei sich nicht sicher, ob er mich darum bitten dürfte. Und dann rückte er mit der Sprache heraus. »Du erinnerst dich doch noch an das Angebot, das JeanFrançois mir gemacht hat?« Und bevor ich etwas erwidern konnte, sprudelte es aus ihm heraus: »Es handelt sich wirklich um eine Menge Geld. Nicht bloß ein paar Tausender. Joëlle, versteh doch! Mir gefällt der Gedanke genauso wenig wie dir. Glaub bitte nicht, daß ich dich verkaufen will. Aber es handelt sich um eine Riesensumme. Und es ist -116-
doch schließlich kein Fremder. Er ist nicht alt und sieht gut aus. Und du hast gesagt, du magst ihn. Das könnte uns retten. Du könntest uns retten, Joëlle.« Zuerst war ich fassungslos. Aber dann erkannte ich, daß er wirklich verzweifelt war, und sofort fühlte ich mich verantwortlich, ihm zu helfen. Er beteuerte mir seine Liebe und daß sich nichts zwischen uns ändern würde. Er schwor mir ewige Dankbarkeit. »Das ist der größte Liebesbeweis, den eine Frau erbringen kann«, sagte er. »Auch wenn wir nicht verheiratet sind, laß uns einander schwören, in Zeiten der Not immer zusammenzuhalten. Wir wollen uns immer auf einander verlassen.« Da willigte ich ein. Ich war richtig stolz, daß man sich auf mich verlassen konnte. Schließlich wünschte auch ich mir einen Menschen, der in Zeiten der Not zu mir stand. Das war das Wichtigste. Er hatte recht. Und als ich sah, wie gerührt er über meinen Liebesdienst war, vergaß ich, auf welche Ungeheuerlichkeit ich mich da eingelassen hatte. Seine Dankbarkeit war grenzenlos in jener Nacht. Nie wieder liebte er mich mit dieser Zartheit und Ehrfurcht. Er sagte: »Die Entscheidung, die du heute getroffen hast, wird uns auf immer zusammenschweißen. Ich habe den größten Respekt vor dir. Ich liebe dich und bete dich an.« Und ich war glücklich. Als der Abend mit Jean-François heranrückte und George mich ausstaffierte, fühlte ich mich wie eine Märtyrerin. Mein romantisches Hirn gaukelte mir Bilder wie aus alten Angélique-Filmen vor. Die liebende Frau, die sich dem größten Feind hingibt, um ihren Mann vor dem Schafott zu retten. Im Vergleich dazu hatte ich noch Glück. Es war nicht mal ein übler Kerl. Es war einer von unseren Freunden. Ich mochte ihn sogar. Das hatte George selbst gesagt. -117-
Ich erlebte Jean-François wie im Traum. Er behandelte mich gut, ich meine, er war nicht pervers oder so etwas und schien wirklich Freude an dem Abend beziehungsweise der Nacht zu haben. Ach, was rede ich?« Mit einem trockenen Lachen lasse ich den Rotwein in meiner Kehle verschwinden. Auffordernd halte ich Serge das leere Glas hin, und er gießt schweigend nach. »Was rede ich? Die Geilheit sprang ihm aus den Augen, und er ging alles andere als sanft mit mir um. Am nächsten Tag hatte ich am ganzen Körper blaue Flecke. Meine Märtyrerhaltung war dahin, und ich schämte mich vor George. Er wollte mich in die Arme nehmen, aber ich floh ins Schlafzimmer. Ich legte mich aufs Bett und weinte. Später merkte ich, wie er sich hinter mich legte. Ganz langsam tastete er sich an mich heran. Vorsichtig legte er einen Arm um meine Taille und drückte mich an sich. Voller Erstaunen hörte ich, wie er in mein Haar schluchzte, und dann fragte er: »Haßt du mich jetzt? Hast du mich jetzt nicht mehr lieb?« Ich weinte noch mehr. Ich nahm ihn in meine Arme, und gemeinsam heulten wir und versicherten uns immer wieder, wie sehr wir uns liebten. »Ich will nicht, daß du traurig bist. Versprich mir, nie mehr an diese Sache zu denken«, bat er unter Tränen, und ich versprach es.« Einen Moment überlege ich, was Serge jetzt wohl von mir denkt. Dann fahre ich schnell fort. Ich darf nicht aufhören zu sprechen. »Die darauffolgenden zwei Monate kümmerte George sich ausschließlich um mich. Uns ging es gut. Der Lohn für diese eine Nacht war wirklich außerordentlich gewesen. George war stolz auf mich. Und ich war beinahe so etwas wie froh. -118-
Dann, von einem Tag auf den anderen, traten wieder seine Freunde in unser Leben, und alles war so wie vorher: Lachen, Parties, Spiele. Es wurde sehr viel gespielt. Und der Einsatz war hoch. George war ein Glückskind. Ein Sonntagsgeborener. Aber selbst er hatte seine schlechten Tage. Er wußte nie, wann er aufhören mußte. So passierte es hin und wieder doch, daß er verlor. Sehr hoch.« Ich schnappe nach Luft, brauche meinen ganzen Atem, um das Folgende über die Lippen zu bringen. »Er verlor achtmal im letzten Jahr. Achtmal, daß er am Boden zerstört vor mir kniete. Achtmal, daß ihm jemand ein Angebot machte. Die Höhe des Preises schien ihre Phantasie anzuregen. Und ich… Ich habe… Mein Gott!« Ich erinnere mich, wie ich in mancher Nacht einfach meinen Körper verlassen habe, um mich nicht schreien hören zu müssen. Tränen schnüren meine Kehle zu, und ich verberge mein Gesicht in meinen Händen. Die Tränen lassen sich nicht länger aufhalten. Meine Schultern zucken heftig. Aber ich kann nichts dagegen tun. Es dauert lange, bis ich mich wieder beruhige. Dann fühle ich etwas Weiches an meinem Arm. Serge hält mir wortlos ein Taschentuch hin. »Es ist vorbei«, sagt er. »Du mußt das nie wieder tun.« Während ich mich schneuze, merke ich, wie er vorsichtig einen Arm um meine Schultern legt. Ich gebe keinen Laut von mir, bin noch immer stumm vor Scham und Schmerz. Und auch Serge sagt nichts. Kein hämisches Lachen diesmal. Keine verletzenden Worte. Er sitzt nur einfach neben mir, den Arm etwas unbeholfen um meine Schultern. In dieser Nacht fesselt er mich nicht. Ich bin erschöpft. Mein Augen brennen, und meine Glieder schmerzen, als hätte ich Schwerarbeit geleistet. Habe ich das nicht auch? Eigentlich müßte ich mich jetzt besser fühlen. Aber in mir ist nur eine gro-119-
ße Leere. Und ich fühle mich einsam. Ich möchte mich verkriechen in eine weiche warme Höhle oder in schützende Arme. Für einen Moment taucht Georges Gesicht vor meinem inneren Auge auf, und sofort ist die Trauer wieder da. Ich reiße die schmerzenden Augen auf, doch das Gefühl der Traurigkeit bleibt. Immerhin, ein Gefühl. Nicht schön, doch wohlbekannt. Die Leere hat mir Angst gemacht. In meine Gedanken mischen sich die Atemzüge von Serge. Ich drehe den Kopf zu seiner dunklen Silhouette und fühle mich ein bißchen getröstet. Irgendwann in dieser Nacht findet Serges Hand die meine, und ich entziehe sie ihm nicht.
-120-
VIERTER TAG
Als ich in die Küche komme, ist es schon fast Mittag. Trotzdem verspüre ich keinen Appetit. Ich trinke nur in hastigen Zügen meinen Kaffee, und auch Serge kaut nur lustlos an seinem Croissant. Er spricht gerade das Nötigste, und sein Blick weicht mir aus. Nur ab und zu ertappe ich ihn dabei, wie er mich ansieht. Fast könnte man meinen, er sei verlegen. Dann sagte er: »Komm, laß uns nach draußen gehen. Du wolltest mir doch den Strand zeigen.« Wir verlassen das Haus in Richtung Klippen, und als mir der kalte Wind ins Gesicht schlägt, atme ich tief durch. Der Pfad zur Bucht hinunter ist steil und eigentlich nicht für die Öffentlichkeit freigegeben. Serge hält meine Hand, damit ich nicht stürze. Der Strand besteht nur aus einer kleinen trichterförmigen Sandfläche. Aber er ist sauber und unberührt. Keine Fußspur ist zu sehen. Nachdem wir eine Weile an der Brandungslinie entlang gelaufen sind, die eine oder andere Muschel aufgehoben haben, zieht Serge mich zu einem flachen Felsen, der aus dem Sand ragt. Hinter uns erhebt sich steil die Felswand, und so sitzen wir beinahe windgeschützt. Er schaut lange aufs Meer, und dann sagt er: »Es tut mir leid, daß ich ausgerechnet dich als, ähm, ›Geisel‹ genommen habe. Ich wünschte, ich wäre in einem anderen Abteil gelandet. Wenn ich gewußt hätte, was du durchgemacht hast; ich hätte…« Er beendet seinen Satz nicht, wirft stattdessen -121-
eine Muschel ins Meer. »Ich habe nicht geahnt… Es tut mir leid, daß ich dich gezwungen habe, mir all diese Sachen zu erzählen.« Der Absatz seines Schuhs hackt in den Sand, macht häßliche Löcher, eines neben dem anderen. »Ich bin froh, daß ich es erzählt habe.« Er unterbricht sein wütendes Hacken und sieht mich halb überrascht, halb hoffnungsvoll an. »Es ist gut, daß ich es endlich losgeworden bin«, fahre ich fort. »Dadurch ist mir zum ersten Mal bewußt geworden, wie selbstverachtend ich mit mir umgegangen bin. Verstehst du, Serge? Es war nicht nur George! Ich war diejenige, die es zugelassen hat. Obwohl ich es haßte, habe ich mich niemals gewehrt. Ich habe immer geglaubt, ich müßte es tun.« »Willst du George jetzt auch noch entschuldigen?« »Nein. Im Gegenteil. Zum ersten Mal geht es nicht um ihn, nicht um seine Bedürfnisse, sein Glück. Es geht um mich und darum, wie ich mich habe manipulieren lassen, weil ich meinte, es unserer Liebe schuldig zu sein.« »Ach, Joëlle!« unterbricht er mich mit einem lauten Seufzer. »Du bist wahrhaft zu gut für diese Welt. Ich weiß…« Er winkt ab. »So etwas Ähnliches habe ich schon einmal gesagt. Aber heute meine ich es ehrlich. Du bist keine von den Frauen, die ich so sehr verabscheue. Du hättest wirklich jemanden verdient, der deine Liebe richtig zu würdigen weiß. Jemanden, der Liebe genauso absolut versteht wie du.« Er hat seine Hand auf mein Knie gelegt. Ganz ernst sieht er mich an. Und etwas in seinen Augen läßt mich denken, daß er noch mehr sagen möchte, aber kein Wort kommt über seinen Lippen. Er sieht so aus, als schmerze es ihn, nicht sprechen zu können, nicht sprechen zu dürfen. Fast flehentlich hängen seine Augen an mir. Mein Herz beginnt zu klopfen, aber auch ich kann den Blick nicht von ihm wenden. Ganz langsam, als könne eine schnellere Bewegung mich erschrecken, nähert er mir sein -122-
Gesicht. Du brauchst nur deinen Kopf zur Seite drehen, denke ich, und alles ist vorbei. Aber ich bin bereits gefangen, von seinen klaren Augen, die jetzt fast mein gesamtes Blickfeld ausfüllen. Ich spüre seine Sehnsucht. Ich fühle seinen warmen Atem. Und dann berühren seine Lippen meinen Mund. So weich, so zart, daß ich erschauere. Noch einmal schaut er mir in die Augen, als müsse er sich meiner Zustimmung versichern. Dann verschmilzt sein Mund mit meinem zu einem langen Kuß. Ich spüre keinen Wind mehr, keine Kälte. Mir wird heiß in seiner Umarmung. In mir ist kein Denken mehr, nur noch Fühlen. Ich dränge mich näher an ihn heran, erwidere seine Umarmung, als wolle ich diesen Moment niemals mehr enden lassen. Ich fühle mich so lebendig wie lange nicht mehr. Um uns herum tost die Brandung, aber ich höre nichts. Nur das aufgeregte Schlagen meines Herzens. Dann spüre ich, wie Serge sich zurückzieht. Er streichelt meine Wange, gibt mir einen Kuß auf die Stirn und wendet sich wieder dem Meer zu. »Verzeih«, sagt er rauh. »Ich hätte das nicht tun dürfen.« Verständnislos sehe ich ihn von der Seite an, begreife nicht, was er meint. »Ich bin auf der Flucht! Hast du das vergessen?« Seine Stimme klingt abweisend. »Das ist weiß Gott keine gute Basis, um eine Romanze zu beginnen.« Ich zucke zusammen, als hätte er mich geschlagen. Er hat recht, denke ich. Und ich erschrecke über meine eben noch so heftigen Gefühle. Überdeutlich spüre ich nun den Wind auf meinem heißen Gesicht. Ich weiß, daß er recht hat. Dennoch muß ich sprechen. »Willst du das für mich entscheiden?« Er dreht sich um. »Glaubst du denn, du kannst das entscheiden?« fragt er zurück. »Was meinst du damit?« -123-
»Ich meine damit, daß du noch nicht soweit bist. Du hast dich noch nicht von George gelöst. Ich habe gespürt, daß du nur an ihn gedacht hast.« »Aber das ist doch gar nicht wahr.« »Heißt das, du willst ihn nie wiedersehen?« Ich bin verwirrt. Soviel ist geschehen. In den letzten Stunden habe ich kein einziges Mal an George gedacht. Die Frage, ob ich ihn wiedersehen will, habe ich mir nicht gestellt. Serge hat mir unrecht getan mit seiner Behauptung, ich hätte während unseres Kusses an George gedacht. Dafür bewahrheitet sich sein Vorwurf jetzt. Mein Kopf ist voll von George. Serge deutet mein Schweigen falsch. »Damit ist wohl alles klar«, sagt er und steht auf. »Laß uns zurückgehen.« Wie ein begossener Pudel laufe ich neben ihm her. Als wir den steilen Pfad erklimmen, nimmt er wieder meine Hand. Sie brennt wie Feuer in der meinen. Schweigend nehmen wir den Weg entlang der Koppel. Das Haus kommt in Sichtweite. Und plötzlich sträubt sich alles in mir. Weshalb dorthin zurückgehen? Was sollen wir dort tun? Beieinander auf engem Raum, mit diesem Gefühl, das zwischen uns steht. Mit diesem Kuß, den ich wie nichts auf der Welt genossen habe, und dem Wissen, daß weitere Zärtlichkeiten alles nur noch schwerer machen würden. »Bitte, ich will noch nicht zurück.« »Wo sollen wir denn hin?« Serge bleibt stehen, und mit einer Handbewegung umfaßt er der den kargen Landstrich und die vom Meerwind gebeugten Krüppelkiefern. »Oder dachtest du an einen Theaterbesuch mit anschließendem Candle-Light-Dinner in Quimper? Wir können uns in keiner Stadt sehen lassen.« »Das weiß ich auch. Aber ich ertrage einfach den Gedanken nicht, den Rest des Tages mit dir im Haus zu sein, ohne daran zu denken…« -124-
Mein Gesicht glüht, diesmal vor Schamröte. »Schon gut«, sagt er. Abwesend streicht seine Hand über meinen Arm, während sein Blick in die Ferne geht. »Also, was schlägst du vor?« »Etwas weiter die Küste hinunter ist einer meiner Lieblingsplätze. Ich würde ihn dir gern zeigen.« Er seufzt, legt den Kopf in den Nacken. »Ich würde nur zu gern deine Lieblingsplätze kennenlernen, wenn ich nicht in dieser vertrackten Lage wäre. Ich kann es mir nicht leisten, unterwegs in eine Fahrzeugkontrolle zu kommen.« »Das werden wir auch nicht. Wir können dem Klippenpfad folgen. Um diese Jahreszeit begegnen wir hier keinem Menschen. Und ein wenig Entspannung würde uns beiden gut tun.« Schräg von unten herauf sieht er mich an. Ein kleines Lächeln zeichnet sich auf seinem Gesicht ab. Und schon stockt mir wieder der Atem. »Also gut. Du hast gewonnen«, sagt er. »Wo geht es lang?« »Dorthin.« Mein Arm deutet nach Westen. Und während wir uns auf den Weg machen, tief unter uns das Meer, erkläre ich ihm, daß dieser Weg, wenn wir ihm noch ungefähr vierzig Kilometer folgen würden, uns bis zur Pointe du Raz bringen würde. »Was ist das?« fragt er. »Das ist der westlichste Zipfel Frankreichs. Ein schmaler Felsrücken, der weit in den Ozean hinausragt. Es ist ein unvergleichliches Erlebnis, dort zu stehen und einen Blick auf das kochende Meer zu werfen.« »Kochend? Wieso?« »Weil es dort viele kleine Felsen gibt, an denen sich die Wellen brechen. Manche kann man nur an den weißen Schaumkronen erahnen. Und zwischen diesen Felsen hindurch bahnen sich kleine Boote ihren Weg zur Ile de Sein. Man sagt, daß die Drui-125-
den, die in der Bucht des Trépassés dahingeschieden waren, dort, auf dieser kleinen Insel, ihre letzte Ruhestätte fanden.« Er wirft mir einen anerkennenden Blick zu. »Du kennst dich aus mit diesen Geschichten«, sagt er dann. »Bist du schon einmal dort gewesen?« »Aber ja! Die Insel ist winzig klein, nur fünf Hektar groß. Und bei Flut ragt sie gerade noch anderthalb Meter aus dem Wasser. Du kannst sie bequem in zwei Stunden zu Fuß umrunden. Aber es leben immer noch Menschen dort. Immerhin gibt es dort eine Grundschule und einen Arzt. Wenn man jedoch Zahnschmerzen hat oder einen Spezialisten braucht, muß man zum Festland übersetzen. Autos sind dort verboten. Das einzige Fahrzeug, das es dort gibt, ist eine Art Mini-Trecker, mit dem größere Lasten befördert werden. Auf der Insel selbst gedeiht nichts, außer den Blumen in den Gärten. Früher haben die Leute dort ausschließlich vom Fischfang gelebt. Aber die Zeiten sind lange vorbei. Heute ist die Ile de Sein eine Touristenattraktion.« »Klingt schrecklich.« »Ach, es geht. Die Fahrpläne der Boote sind so aufeinander abgestimmt, daß nie zu viele Fremde auf einmal dort sind. Jedesmal, wenn eines der kleinen Schiffe in den Hafen einfährt, wird es mit großem »Hallo« begrüßt, denn es sind immer auch Inselbewohner an Bord, die auf dem Festland waren, um einzukaufen oder um Freunde und Verwandte zu besuchen. Und wenn sie dann zurückkommen, ist immer jemand da, der sie empfängt.« Ich breche ab. Eine Weile laufen wir schweigend nebeneinander her. Ab und zu bricht die blasse Wintersonne durch den bewölkten Himmel. Aber ihre Strahlen sind zu schwach, um zu wärmen. Und dann sagt Serge leise, fast so als spräche er zu sich selbst: »Es muß schön sein, zu Menschen zurückzukehren, die sich freuen, dich wiederzusehen.« -126-
Ich nicke nur und sehe starr gerade aus. Ein Kloß sitzt in meiner Kehle. Und dieses traurige Gefühl begleitet mich, bis wir uns der Stelle nähern, die unser Ziel ist. Ich bleibe stehen und deute nach vorn. Serge hebt den Blick, und seine Schritte werden langsamer. Vor uns steigt der Pfad an. Und an seinem höchsten Punkt wird ein uraltes Hügelgrab sichtbar. Majestätisch thront es dort oben, und ich spüre die gleiche Ehrfurcht wie jedesmal, wenn ich hierher komme. Ich bedeute Serge, mir zu folgen, denn hier macht der Pfad einen Knick, der uns zum Hauptweg bringt. Und dieser Weg ist mit Bedacht gewählt. Aus dieser Perspektive erscheint das Monument noch eindrucksvoller. Auf halbem Weg halte ich an. »Siehst du die dreieckige Kerbe dort, zwischen den beiden großen Deckplatten?« Serge nickt. »Im Sommer versinkt die Sonne am Abend genau an dieser Stelle. Ich weiß nicht, ob das Zufall ist oder damals irgendeine Bedeutung für die Leute hatte. Aber auf jeden Fall sieht es phantastisch aus. Der orange Ball liegt dort wie in einer Schale, und seine Strahlen lassen die Ränder der Steine aufleuchten. Dieser Anblick hat etwas Sakrales. Ich könnte jedesmal weinen, so schön ist es.« Serge hat den Blick nicht von den großen Steinen gewandt. »Es ist auch so sehr schön«, sagt er. »Ich kann nur das Gefühl noch nicht genau deuten.« Dabei legt er die Hand auf seine Brust. »Es ist sehr stark, aber es ist nicht nur schön. Macht es dir nicht ein wenig Angst?« »Angst? Wieso? Denkst du dabei an Opferrituale?« »So etwas in der Art, ja.« »Ich weiß es nicht«, gebe ich zu. »Wahrscheinlich hat es welche gegeben. Aber daran denke ich nicht. Diese Steine sind -127-
mehrere tausend Jahre alt. Ich weiß, sie werden immer mit den Druiden in Verbindung gebracht. Aber sicher ist, daß nicht die Druiden sie aufgestellt haben. Sie haben sie nur für ihre Zwecke benutzt. So, wie wir heute Kirchen an ehemaligen Kultplätzen errichten. Ich glaube, daß hinter den Steinen viel mehr steckt, als wir uns träumen lassen. Und wenn ich an die Zeit vor den Druiden denke, dann fühle ich keine Qual, kein Blut, keine Opfer.« »An welche Zeit denkst du denn da?« »Das kann ich nicht sagen. Es ist nur so ein Gefühl. Komm, laß uns nach oben gehen.« »Das sieht ja aus wie ein Gang«, meint Serge atemlos. Ich nickte. »Ja, das ist ein Ganggrab. Aber in der Mitte ist eine der Deckplatten eingebrochen, siehst du? Man kann es nicht mehr ganz begehen.« Wir gehen um das Monument herum, bis wir aufs Meer blikken können. Serge hat sich an einen der aufrecht stehenden Steine gelehnt, die den Eingang zum Grab bildeten. Er holt eine Schachtel Zigaretten aus seiner Jacke und hält sie mir hin. Ich winke ab. Er steckt die Packung wieder in seine Tasche und schaut weiter in die Ferne. Eisig kalt ist es und der Himmel verhangen. Das Meer verliert sich im Novembergrau. Nicht einmal der Horizont ist zu sehen. Trotzdem stehen wir unbeweglich da. Tief atme ich die salzige Luft ein und schließe einen Moment die Augen. Der Zauber tut seine Wirkung. Trotz allem Unglück, das mich hierher gebracht hat, fühle ich mich in diesem Moment frei und leicht. Auf meinem Gesicht breitet sich ein Lächeln aus. Keine Angst mehr, keine Sorgen. »Fühlst du, wie man hier oben frei wird?« frage ich und drehe mich zu Serge um. »Spürst du nicht auch die Kraft, die von diesem Ort ausgeht? Ich fühle mich herrlich.« Beinahe ausgelassen strahle ich ihn an. -128-
Mit schiefgelegtem Kopf sieht er mich an, etwas Vertrautes liegt in seinem Blick. Und mit einem Mal ist mir, als kenne ich ihn schon lange. Ich taumele, als wir uns so gegenüberstehen. Nur zu gerne möchte ich mich in seine Arme werfen. Er sieht so ruhig aus, so stark und fest, wie die Steine hinter ihm. Aber ich finde nicht den Mut, mich zu bewegen. Lieber will ich mich mit diesem stillen Moment, in dem nur die Augen sprechen, begnügen. Und dann ist er es, der mich mit einer raschen, festen Bewegung zu sich heranzieht. Er hält mich fest umschlungen. Kein Kuß, kein Blick mehr. Nur dieses gegenseitige Halten. Ich muß mich beherrschen, nicht laut zu seufzen. Wie warm und sicher er sich anfühlt. Halb vom Wind davon getragen, höre ich seine Stimme, die in mein Haar flüstert: »Ich wünschte, wir könnten hierbleiben.« Das wünsche ich mir auch, Serge, antwortet eine Stimme aus meinem Innern. Aber meine Lippen bleiben verschlossen. »Du hättest soviel mehr verdient«, spricht er weiter. Und ganz langsam beginnt er sich zu bewegen, wiegt mich hin und her, als wären wir ein Teil des Windes. »Wenn ich nicht in dieser Situation wäre… Ich würde dich glücklich machen.« Ich kneife die Augen zusammen, um nicht zu weinen. Ein paar Stunden erst ist es her, daß ich mir diese Worte gewünscht habe. Nun höre ich sie, und ich fühle, wie ich unruhig werde. Ein Teil von mir möchte um nichts in der Welt diese wärmenden Arme verlassen, ein anderer möchte weglaufen und sich in Sicherheit bringen. »Wenn ich nur fliehen könnte. Dann wäre alles gut.« Ich drücke mich noch ein wenig enger an ihn. Vor meinem geistigen Auge taucht das weiße Boot von Monsieur Huchette auf. Ich könnte dir helfen, Serge, denke ich. Aber was wird aus mir, wenn du übers Meer fliehst? Ich drücke mein Gesicht an seine Brust. Ich will nicht an morgen denken. Ich will nur diesen Augenblick. Und daß es immer so wäre. -129-
Den Rückweg legen wir schweigend zurück. Die ganze Zeit hält er meine Hand. Ein Spaziergänger hätte uns für ein trautes Paar gehalten. Wie doch der Schein trügen kann, denke ich. Und sofort korrigiere ich meinen Gedanken. Wir sind vertraut miteinander! Für diese wenigen Stunden sind wir ein Paar. Nur haben wir keine Zukunft. Oder bin ich es, die keine Zukunft zuläßt? Ist er es? Vorsichtig streift mein Blick sein Profil. Wie ernst und verschlossen er aussieht. Er ist hübsch, wenn er lacht. Könnte ich ihn zum Lachen bringen? Könnten wir jemals ein sorgloses Leben führen? Und dann denke ich daran, wie sein Arm mir Trost gespendet hat, gestern erst. Ich denke an seinen Kuß und an seine Worte, die außer mir nur der Wind gehört hat. Meine Hand drückt die seine etwas fester, und in Gedanken höre ich mich sagen: »Oh Serge, ich bin dir so dankbar, daß ich dir alles erzählen durfte und – daß du mich nicht dafür verachtest. Ich will nicht daran denken, daß George auf meine Rückkehr wartet. Ich will mich nicht daran erinnern, daß du gesucht wirst und daß unser kleines idyllisches Häuschen nicht mehr als ein Versteck ist. Irgendwann gestern abend wurdest du vom Feind zum Freund. Und seit ein paar Stunden wünsche ich mir, ich wäre deine Geliebte. Wenigstens heute soll die Zeit uns gehören.« In diesem Moment wendet mir Serge den Kopf zu. Unsicher und ein bißchen traurig, als könne er meine Gedanken lesen. Dann erwidert er den Druck meiner Hand. Als ich die Tür zu dem kleinen Haus öffne, habe ich zum ersten Mal in diesen drei Tagen das Gefühl, als heiße es mich willkommen – als heiße es uns willkommen. Hier ist es warm und ruhig. Die Kälte und die Geräusche von Wind und Meer bleiben draußen. Es gibt nur uns und das Haus und das Feuer im Kamin. Ich mache uns Kaffee, und Serge wärmt den Calvados in den Gläsern. Ein stilles Einvernehmen herrscht zwischen uns, das -130-
keiner Worte bedarf. Das Trinken des Kaffees, das Anstoßen mit den bauchigen Cognacschwenkern, hat fast rituellen Charakter. Manchmal, wenn einer der Fensterläden klappert, zuckt Serge zusammen, und er schließt einen Moment die Augen. Und ich fühle mich hilflos. Denn mehr, als meine Hand auf seinen Arm legen, kann ich nicht. Die Angst, die in seinem Innern tobt, kann ich nicht vertreiben. Trotzdem ertappe ich ihn immer wieder dabei, wie er mich nachdenklich, fast flehentlich, von der Seite ansieht. Und etwas in seinen heimlichen Blicken läßt mich an eine stumme Bitte denken. Es ist, als baue er darauf, daß ich ihm helfe und fände doch nicht den Mut, mich darum zu bitten. Und immer wieder muß ich an Monsieur Huchettes Boot denken. Das Boot, das all seine Probleme lösen könnte. Das Boot, das ihn von mir entfernen würde. Wenn ich doch nur Gewißheit hätte. Gewißheit, daß er unschuldig verfolgt wird. Gewißheit, daß er mich mitnähme. Da fühle ich, wie er seine Hand unter mein Kinn legt und es leicht zu sich dreht. Mit der anderen Hand zeichnet er die Konturen meines Gesichtes nach, und ich spüre, wie ich erschauere. Schon öffnen sich meine Lippen, aber er ist ganz in meinen Anblick versunken. »Ich liebe die kleinen gelben Funken in deinen Augen«, sagt er. »Deine Augen können nichts verbergen. Sie sagen alles über dich. Und ich bin froh darüber. Froh darüber, daß du einen ehrlichen Blick hast.« Endlich vertraust du mir, denke ich. Und ich fühle mich seltsam geehrt. Was ist das nur, daß ich am liebsten hinausschreien möchte, daß ich ihn liebe und es dennoch nicht tue? So herrlich aufgehoben fühle ich mich in dieser unmöglichen Liebe und gleichzeitig so unsicher. Aber vielleicht ist es gerade diese Absurdität, die sie so bedingungslos macht und so aufregend. Ich weiß es nicht. Ich will auch gar nicht darüber nachdenken. Ich will nur in seine verliebten Augen sehen, mich an ihn schmiegen und alles andere vergessen. -131-
Wie selbstverständlich legen sich seine Arme um mich. Keine nervösen Finger, die suchend unter mein Hemd grapschen, nur Hände, die ein wenig unbeholfen meine Schulter streicheln. Ich verhalte mich ganz still und genieße jede Minute. Aber urplötzlich, als habe er sich verbrannt, macht er sich wieder los von mir. Ich muß an heute morgen denken. Erwarte beinahe, daß er mir wieder einen Korb gibt. Stattdessen steht er auf und sagt: »Das Feuer zieht nicht richtig. Ich seh mal draußen nach, ob ich Scheite finde, die trockener sind.« Als er das Haus verlassen hat, räume ich die leeren Tassen und Gläser in die Küche. Mein Magen knurrt, klagt das versäumte Frühstück von heute morgen ein. Ich nehme eine Tüte Croissants aus dem Schrank und lege sie zum Aufbacken in den Ofen. Als ich die Klarsichtverpackung in den Mülleimer werfe, entdecke ich die Zeitung. Es ist die vom Vortag. Eigenartig, daß mir gerade jetzt die Zeitung in die Hände fällt. Als wollte sie mich daran erinnern, daß ich gestern versäumt habe, sie zu lesen. Aber wozu? Es ist doch jetzt ein leichtes, Serge einfach zu fragen, was wirklich passiert ist. Ich bin sicher, er wird mich nicht anlügen. Egal, wie schlimm es ist. Schon habe ich den Eimer geschlossen und mache mich daran, den Tisch zu decken. Ich setze mich auf den Stuhl vor den leeren Teller und warte, daß Serge mit dem Holz zurückkommt. Aber meine Gedanken sind ganz woanders. Eine eigenartige Nervosität hat von mir Besitz ergriffen. Mein Zögern währt nur wenige Minuten, aber sie kommen mir vor wie Stunden. Dann halte ich es nicht mehr aus. Ich gehe zum Abfalleimer und krame die Zeitung aus dem Müll. Als ich die zerknüllten Seiten ausbreite, beginnen meine Hände zu zittern, als täte ich etwas Verbotenes. Meine Augen überfliegen die Rubriken und bleiben schließlich an einem Foto von Serge hängen. Es ist das Foto, das mir -132-
die Polizeibeamten im Zug gezeigt haben. Er steht neben einem Pferd und lächelt. Er sieht so glücklich aus. Der Anblick der roten Lettern darüber jedoch fährt mir wie eine Faust in den Magen. »BRUDERMORD AN FABRIKBESITZER« heißt es da. Ich muß den Artikel zweimal lesen, bevor ich ihn verstehe. Rennes Am Abend des 24. November fiel Philippe B. (42), Direktor der Renault-Werke, Etrepagny, einem brutalen Mord zum Opfer. Unter einem Vorwand lockte ihn sein Bruder und Kompagnon, Serge (35), in sein Haus und gab dort einen tödlichen Schuß auf ihn ab. Das Hausmädchen und die Ehefrau des Täters waren Zeugen der Tat. Nach Aussage der Ehefrau litt Serge B. unter Wahnvorstellungen, glaubte, sein Bruder wolle ihn aus der Firma drängen. Judith B.: ›Seine Eifersucht war krankhaft. Aber ich habe nicht gedacht, daß er eines Mordes fähig ist. Es ist meine Schuld, daß ich nicht darauf bestanden habe, ihn in psychiatrische Behandlung zu geben. Erst im Augenblick der Tat erkannte ich das Ausmaß seiner geistigen Verwirrung. Er sagte, er habe seinen Bruder für einen Einbrecher gehalten.‹ Laut einiger Firmenangehörigen habe Serge es nur der Gutmütigkeit seines Bruders zu verdanken, daß er noch Gehalt bezog. Er sei oft heftig mit Philippe aneinander geraten. Die Polizei verfolgte die Spur des Täters bis zum Bahnhof in Rennes. Inzwischen ist sicher, daß er sich in die Bretagne abgesetzt hat. In Lorient wurde ein geknebelter Schaffner gefunden, der zu Protokoll gab, der Flüchtige habe ihn zu-133-
sammen mit einer Frau überwältigt. Seither fehlt jede Spur von den beiden. Über die Identität der Frau gibt es keine Hinweise. ›Wenn er nicht den nächsten Tanker nach Amerika genommen hat, kriegen wir ihn‹, so Polizeiinspektor Truchet zuversichtlich. Es folgt eine genaue Beschreibung von Serge und der Aufruf an die Bevölkerung, sachdienliche Hinweise an das nächste Polizeirevier zu geben. Dank der Aussage des Schaffners gibt es auch eine Beschreibung seiner Komplizin: Anfang 30, langes blondes Haar, schmales Gesicht, auffallend große graublaue Augen, schlank, etwa 1,65 m, Pariser Akzent. Auf meiner Stirn haben sich kleine Schweißtröpfchen gebildet. Meine Knie zittern so heftig, daß ich mich setzen muß. Serge, ein Mörder? Ein geistesgestörter Mörder noch dazu? Und mich hält man für seine Komplizin. Meine Hand massiert heftig meine Stirn, als könne sie so meine Gedanken ordnen. Alles hätte ich geglaubt: Brandstiftung, Notwehr, ein Unfall. Aber niemals ein im Irrsinn ausgeführter Mord. Nicht nach den letzten Stunden mit Serge. Nach unseren langen Gesprächen. Ich erinnere mich an sein Gesicht im Wind, sein Lächeln im Kerzenschein, sehe ihn das Pferd streicheln, spüre seine schützenden Arme und höre seine Stimme, die mir sanft zuredet. Seine Lippen in meinem Haar, sein Wunsch, mich glücklich zu machen. Ich muß mir auf die Lippen beißen, um nicht laut aufzuschluchzen. Immer wieder lese ich die schreckliche Nachricht. Höhnisch tanzen die Buchstaben vor meinen Augen, so daß ich Mühe habe, sie in die richtige Reihenfolge zu bringen. Ich bin versucht, das närrische Papier einfach wieder in den Eimer zu stopfen, wünschte, ich hätte es nie gelesen. Zu verwirrend ist das alles, als daß ich mich damit befassen möchte. Doch nun ist der Zwei-134-
fel da, hält meinen Kopf besetzt und hat eine eiserne Klammer um mein Herz gelegt. Und plötzlich fallen mir all die übertrieben heftigen Reaktionen von Serge ein, wenn es um das Thema »Frauen und ihre vermeintliche Unfähigkeit zur Treue« ging. Mit welcher Besessenheit er immer wieder über Vertrauen geredet hat. Wie schwer nachvollziehbar seine plötzlichen Stimmungswechsel waren. Die ganze Zeit habe ich seine Nervosität auf seine Angst, von der Polizei gefaßt zu werden, zurückgeführt. Ich schüttele den Kopf. Das kann nicht sein, darf nicht sein. Wenn Serge doch endlich reden würde. Wenn ich nur wüßte, was wirklich geschah. Wie aufs Stichwort höre ich das Knarren der Eingangstür. Ich rege mich nicht. Entfernt nehme ich wahr, wie Serge das Holz stapelt, höre, wie Schaufel und Feuerhaken über den Kaminboden kratzen. Erst als seine Schritte näherkommen, kommt wieder Leben in mich. Mir bleibt mir gerade noch Zeit, die Zeitung unter das Sitzkissen auf der Bank zu schieben. Als Serge die Küche betritt, schlage ich irritiert die Augen nieder. An der Spüle wäscht er sich die Hände. Dann dreht er sich mit einem Lächeln zu mir um. »Was für eine gute Idee! Die Croissants riechen herrlich. Jetzt merke ich erst, welchen Hunger ich habe.« Es schneidet mir ins Herz, ihn anzusehen. Sein sanftes Gesicht, in das ich mich gerade erst verliebt habe. Seine Worte von gestern fallen mir ein: »Du hast recht. Ich bin ein Mörder!« Und ich habe sie nur für eine weitere Provokation gehalten. Die Kehle wird mir eng, als seine Hand meine Schulter streichelt. Ich gleite unter seiner Hand weg und hole die Croissants aus dem Ofen. Serge nimmt auf der Bank Platz. Als ich mit fahrigen Händen das Gebäck auf den Tellern verteile, bemerkt er mein Zittern. »Was ist denn mit dir?« Prüfend und beinahe besorgt schauen seine hellen Augen mich an. »Immer noch die Geschichte von gestern abend?« -135-
Ich nicke, froh darüber, daß er mir den wahren Grund meiner Nervosität nicht ansieht. »Machst du dir etwa Sorgen, daß ich dich jetzt verachte?« fährt er fort. »Glaubst du, ich war deshalb so abweisend heute morgen?« Dankbar greife ich das Thema auf: »Ja, ich, ich schäme mich.« »Das brauchst du nicht.« Er legt eine Hand auf meinen Arm. »Ich gebe zu, daß ich Vorurteile hatte. Ich habe wirklich geglaubt, daß sich nur Frauen Liebe erschleichen, um dann den Partner auszunutzen. Es tut mir leid.« »Und du denkst nicht mehr, daß ich selbst daran schuld bin?« frage ich schnell. »Irgendwie schon. Aber schließlich habe ich auch sehr lange gebraucht, bis ich merkte, daß meine Frau mich nur benutzt.« Jetzt nimmt er auch noch die zweite Hand zu Hilfe, um meinen Arm zu drücken. »Ach Joëlle, ich glaube, das ist der Grund, weshalb ich mich so seltsam in deiner Gegenwart gefühlt habe. Ich fühlte mich zu dir hingezogen, aber ich wollte es nicht. Irgendwie habe ich gespürt, daß uns etwas verbindet. Aber ich hatte Angst, daß ich wieder zum Narren gehalten werde.« »Erzählst du mir von deiner Frau?« Meine Stimme zittert. Aber ich bin entschlossen, dem Gespräch eine Richtung zu geben, die mich der Wahrheit ein Stückchen näher bringt. Sofort zieht er die Hände zurück. »Erinnerst du dich, was du über das Vertrauen gesagt hast?« frage ich mutig. Er nickt ohne große Begeisterung. »Dann zeige mir jetzt dein Vertrauen, und erzähl mir deine Geschichte.« Ich kann sehen, wie er sich windet. Schmerz steht in seinen Augen. Und ich muß aufpassen, daß mich mein Mitleid nicht vom Wesentlichen ablenkt. -136-
»Also gut. Wie du willst.« Umständlich steht er auf, nimmt die Kaffeekanne von der Wärmeplatte und gießt uns beiden nach. Abwesend wirft er vier Stück Zucker in seine Tasse. Laut klappert der Löffel gegen die Keramik. »Meine Frau ist das geldgierigste und gefühlsärmste Geschöpf, das mir jemals untergekommen ist.« Triumphierend sieht er mich an, als hätte er damit alles gesagt, als würde das alles erklären. »Warum hast du sie dann geheiratet?« »Sie war sehr raffiniert. Wie alle Frauen…« Er wirft mir einen leicht verlegenen Blick zu. »Entschuldige! Sie war sehr schön, sehr charmant, und von Geld war nie die Rede. Sie kam ja nicht aus armen Verhältnissen. Jeder schwärmte von ihr, von ihrer Schönheit, ihrem Witz. Den hat sie schnell verloren. Und von ihrer Intelligenz. Ich sollte vielleicht besser sagen, Gerissenheit. Sie hätte jeden haben können, aber sie wollte mich, und ich fühlte mich geschmeichelt. Sie war es, die zuerst von Heirat sprach. Es ging alles so schnell. Mein Vater empfing sie mit offenen Armen. Und sie war begeistert von ihm. Das hätte mich hellhörig machen sollen. Aber ich war so froh, daß ich Vater endlich einmal etwas recht machen konnte, daß ich nicht weiter darüber nachdachte. Bis ich darauf kam, was sie einander so sympathisch machte. Die beiden waren vom gleichen Schlag. Ich hatte in Judith keine Verbündete, sondern einen weiteren Gegner, der mich dazu bringen wollte, in Vaters Unternehmen einzusteigen. Nach Vaters Tod sprach ich mit ihr über das Testament. Ich sagte ihr, daß ich in einem Büro ersticken würde. Ich erzählte ihr von meinen Plänen mit der Pferdezucht. Aber sie hat nur gelacht. Wie mein Vater! Als sie merkte, daß es mir ernst damit war, fing sie an zu jammern. Von einer windigen Zucht könne man keine Frau standesgemäß versorgen. Ob ich denn wolle, -137-
daß sie auf alles verzichte? Und so weiter und so weiter. Es war leicht, mich zu überreden. Schließlich fühlte ich mich für sie verantwortlich. Ich tat also, was ich für meine Pflicht hielt und kastrierte mich dadurch selbst. Mein Leben machte keinen Sinn mehr. Denn jetzt litt ich nicht mehr nur unter dem Eingesperrtsein in einen Beruf, der mir nicht das Geringste gab, nun war ich auch noch permanent ihren Vorwürfen ausgesetzt. Und Judith bearbeitete mich nach allen Regeln der Kunst.« Er bricht ab, sieht mich resigniert an. »Verstehst du jetzt, warum ich über dich nicht gelacht habe? Dich nicht verachtet habe?« Ich nicke knapp. »Und weiter, Serge?« »Sie trieb mich ständig an, meinen Bruder auszustechen. Sie konnte nicht verstehen, daß ich keinen Ehrgeiz entwickelte und nannte mich immer öfter einen Versager. Dann wieder wollte sie mir einreden, daß ich viel mehr wert sei als er und daß eigentlich ich an der Spitze des Unternehmens stehen müßte. So ging es in einem fort. Zuckerbrot und Peitsche. Und eins war so unerträglich wie das andere. Ich hielt es nicht mehr aus. Ich wollte mich scheiden lassen, um endlich aus allem aussteigen zu können. Aber sie sagte, sie würde niemals in eine Scheidung einwilligen. Und dann fing sie an, meinem Bruder schöne Augen zu machen.« Ich horche auf. »Sie hat sich an ihn herangemacht? Nicht umgekehrt?« Serge lacht sein trockenes Lachen. »Nein. Mein Bruder machte sich nichts aus ihr. Er hatte einen Hang zum Vulgären. Judith war ihm viel zu fein und distinguiert.« »Dann hattest du also gar keinen Grund, auf ihn eifersüchtig zu sein.« -138-
Überrascht sieht er mich an. »Wie kommst du darauf? Ich war nie eifersüchtig. Ich will nichts von dem, was er hat oder was er darstellt. So wie er würde ich nie leben wollen.« »Aber du hast ihn gehaßt.« »Das ist kein Geheimnis. Was soll die Fragerei? Ich denke, du willst etwas über Judith erfahren.« »Ich will etwas über dich erfahren.« »Ich habe dir alles gesagt.« »Gestern hast du gesagt, daß du ein Mörder bist.« »Ich war wütend.« »Und weswegen sucht dich die Polizei?« »Was soll das werden, ein Verhör? Mißtraust du mir etwa?« »Ich möchte dir ja gerne trauen. Aber wie soll ich das, wenn du mir nicht alles sagst?« Er holt tief Luft, sieht mir fest in die Augen. Mit gezwungener Ruhe erklärt er mir: »Die Polizei glaubt, ich hätte meinen Bruder umgebracht.« Mein Herz klopft bis zum Hals, aber ich kann nicht mehr zurück, muß die Frage stellen: »Hast du?« Wütend springt er auf. Ich zucke zusammen. Ängstlich wandern meine Augen zwischen ihm und dem verrutschten Sitzkissen, unter dem nun eine Ecke der Zeitung hervorlugt, hin und her. »Wie kannst du mir so eine Frage stellen?« braust Serge auf. »Ausgerechnet du!« »Warum läufst du weg, wenn du unschuldig bist?« »Weil niemand mir glauben würde.« »Vielleicht glaube ich dir.« -139-
Mißtrauisch sieht er mich an. »Serge, bitte sag mir die Wahrheit. Selbst wenn du es getan hast, vielleicht war es Notwehr.« »Du redest wie ein Sozialarbeiter.« »Ich habe mein Vertrauen bewiesen, jetzt bist du dran.« »Also schön. Ich habe ihn gefunden. Aber ich habe ihn nicht umgebracht. Bist du jetzt zufrieden?« »Nein.« »Was denn noch?« »Ich möchte es verstehen. Wenn du ihn lediglich gefunden hast, wie kommt die Polizei dann darauf, daß du der Täter warst?« Beiläufig zuckt er die Achseln. »Jeder wußte, daß ich ihn haßte.« »Das reicht doch nicht aus. Hat dich irgend jemand bei der Leiche gesehen?« »Nein.« Will ich dem Zeitungsbericht Glauben schenken, dann ist seine Antwort eindeutig eine Lüge. Aber etwas in mir klammert sich daran, daß es nicht wahr ist. Trotzdem läuft es mir kalt den Rücken herunter, bei seinem gleichgültigen Ton. Ich muß ihn dazu bringen, die Wahrheit zu sagen. »Wenn es keine Zeugen gibt, kann man dir auch nichts beweisen.« »Meine Frau wird es schon so drehen, daß man es beweisen kann.« »Das ist doch verrückt«, entfährt es mir. Mit der flachen Hand schlägt er auf den Tisch. »Ich habe dir schon einmal verboten, so etwas zu sagen.« »Es tut mir leid«, murmele ich. »Aber das klingt für mich einfach nicht logisch.« -140-
»Willst du etwa behaupten, daß ich lüge?« Seine Augen flakkern. »Nein. Aber du mußt mir schon die ganze Wahrheit erzählen, wenn ich es verstehen soll.« »Deine Geschichte war auch nicht logisch, meine Liebe. Und trotzdem habe ich sie geglaubt. Warum kannst du nicht das gleiche tun?« Seine Augen haben einen fiebrigen Glanz angenommen. Schweiß steht auf seiner Stirn. Es ist nicht zu übersehen, wie mühsam er versucht, sich zu beherrschen. »Okay«, lenke ich ein. »Vielleicht hast du recht. Ich werde jetzt duschen gehen. Und dann vergessen wir das Ganze.« Er antwortet nicht, sieht aus, als habe er mir gar nicht zugehört. Ich bin froh, als ich die Badezimmertür hinter mir zumachen kann. Ich lehne mich gegen das glatte Holz und presse beide Hände vor den Mund. Entweder ist Serge der glaubwürdigste Lügner, der mir je begegnet ist, oder er ist wirklich nicht zurechnungsfähig. Vielleicht weiß er gar nicht, was er getan hat. Oh Gott, was soll ich nur tun? Ich flüchte unter die Dusche, unter das prasselnde Wasser, das jedes Geräusch übertönt, nur nicht die Gedanken in meinem Kopf. Viel länger als nötig bleibe ich unter dem warmen Strahl. Trotzdem friere ich sofort wieder, als ich den Hahn zudrehe. Eine Gänsehaut überzieht meinen Körper. Aber mein Kopf ist klar. Ich will nicht, daß meine Liebe einem vorschnellen Urteil zum Opfer fällt. Ich muß mehr erfahren. Ein Blick auf die Uhr sagt mir, daß ich fast eine Stunde hier oben verbracht habe. Schnell ziehe ich meinen dicksten Pullover über und beeile mich, nach unten zu kommen. Ich habe meinen Entschluß gefaßt: Wenn Serge seinen Bruder nicht mit Vorsatz getötet hat, dann werden wir eine Lösung finden. Und wenn er wirklich krank ist, dann werde ich ihm helfen. Aber bis ich die volle Wahrheit kenne, gilt es, ihn nicht aufzuregen. -141-
Serge sitzt immer noch in der Küche – vor sich die Zeitung. Wie gelähmt stehe ich da, unfähig, meinen Blick von seiner gebeugten Gestalt loszureißen. Ich sehe, wie seine Tränen auf das Papier tropfen. Mit dem Zeigefinger verteilt er die Flüssigkeit, so daß die Druckerschwärze der Buchstaben verwischt. Dann hebt er den Kopf und zeigt mir sein schmerzverzerrtes Gesicht. »Du hast mich belogen«, schluchzt er. »Du hast mir nicht gesagt, daß du den Artikel gelesen hast. Warum mußtest du das tun, Joëlle? Warum? Ich habe dir doch vertraut.« Hilflos hebe ich die Hände, weiß nicht, was ich sagen soll. »Jetzt sieh mich nicht so mitleidig an!« brüllt er. Tränen der Enttäuschung laufen über sein Gesicht, als er aufsteht. Und im nächsten Moment ist da nur noch Wut. Mit voller Wucht zerschellt seine Kaffeetasse dicht neben meinem Kopf am Türrahmen. Ich sehe den Haß in seinen Augen und weiß, daß nun kein Wort von mir ihn noch erreichen kann. Ich zögere keine Sekunde. Mit einer schnellen Drehung stürze ich zur Tür. Ich renne den Weg zur Straße hinunter. Ich bin noch nicht weit gekommen, da höre ich ihn hinter mir schreien. Verzweifelt versuche ich, meine Beine noch weiter ausgreifen zu lassen, da knickt mir plötzlich der linke Fuß ein. Ich stürze zu Boden. Für einen Moment bleibt mir die Luft weg. Mit einer einzigen Bewegung komme ich wieder auf die Füße und renne weiter. Meine Knie bluten, aber seltsamerweise spüre ich keinen Schmerz. Ich möchte um Hilfe schreien, aber meine Lungen stechen so, daß ich kaum noch Luft bekomme. Tränen laufen mir über die kalten Wangen. Wieder höre ich ihn meinen Namen brüllen. Ganz nah. Viel zu nah. Im nächsten Moment reißt er mich zu Boden. Endlich kann ich schreien. Ich schreie ebenso laut wie er, schlage wie wild auf ihn ein. Er versucht, meine Arme zu fassen -142-
und auf den Boden zu drücken. Ich bäume mich auf, komme frei. Ganz kurz nur. Dann wirft er sich auf mich. Sein Gewicht scheint die letzte Luft aus meinen Lungen zu pressen. Verzweifelt ramme ich meine Knie in seinen Rücken. Wieder und wieder, wie eine Maschine. Er brüllt wie ein wütendes Tier. Ich will ihn nicht mehr hören. Ich will, daß er von mir runtergeht. Ich schlage und trete und schlage, bis mich ein dumpfer Knall in meinem Kopf erlöst. Dunkelheit. *** Als ich wieder zu mir komme, liege ich auf der Couch. Mein Kopf schmerzt höllisch. Ich möchte meine pochenden Schläfen reiben, doch meine Hände reichen nicht heran. Ich kann sie nicht bewegen. Etwas hält sie fest. Ich öffne die Augen und sehe den Strick um meine Handgelenke. Und wie auf Kommando ertönt in meinem Innern das irrwitzige Lachen des vertrauten Dämons Angst. ›Du hast es wieder mal nicht geschafft‹, spricht er, und ich weiß, daß er dabei grinst. ›Du bist zu langsam und zu schwach. Hast keinen Mumm in den Knochen.‹ Flüsternd entgegnet ihm meine eigene Stimme: »Ich kann nicht mehr. Bitte, ich habe keine Kraft mehr.« Doch vor meiner Nase tanzt unerbittlich der Zeigefinger von Papa. Ich möchte widersprechen, die Stimme in meinem Kopf übertönen. Was aber ist, wenn sie recht hat? Was, wenn ich bisher nur verleugnet habe, was für andere offensichtlich ist? Vielleicht gehören Erniedrigung und Schmerz zu mir, wie Kraft und Dominanz zu anderen? Entsetzt reiße ich die Augen auf. Vor mir sitzt Serge. Und der Blick, mit dem er mich ansieht, bestätigt mich in meinem Zweifeln. -143-
»Was willst du noch?« frage ich matt. »Warum hast du mich nicht umgebracht? Dann wäre es endlich vorbei. Ich hasse dich! Ich hasse dich!« Er steht auf, legt eine Hand auf meinen Arm. Ich sehe, wie sein Mund sich bewegt und will nur, daß er schweigt. Tränen ohnmächtiger Wut schießen aus meinen Augen. Und er – läßt mich los und geht. Leise schluchze ich vor mich hin. Kein klarer Gedanke mehr in meinen Kopf. Nicht einmal Schmerz. Nur Leere. Ich bin so müde. Ich möchte schlafen. Immer nur schlafen. Ewigkeiten. Aber meine überreizten Nerven gönnen mir keinen erlösenden Schlaf. Erschreckend wach erlebe ich meine ganze Schwäche und Ohnmacht. Wieder und wieder zähle ich die geschwärzten Holzbalken an der Decke, nur um die Stimmen in meinem Kopf zu vertreiben. Ich habe keine Ahnung, wieviel Zeit vergangen ist, als Serge zurückkommt. Er setzt sich wieder in den Sessel. Er stützt die Ellbogen auf die Knie, eine Hand unter seinem Kinn, und blickt mich an. Noch immer fühle ich mich von seinem Blick angezogen. Aber jetzt schmerzt dieses Gefühl. Serge, was tust du mir an? Warum konntest du nicht ein ganz normaler Reisender sein? Hättest du mich nicht niedergeschlagen, ich hätte alles getan, um dir zu helfen. Würde ich jetzt nicht gefesselt hier liegen, ich hätte weiter an deine Unschuld geglaubt. Aber jetzt ist alles zu spät. Ich kann dir nicht mehr glauben. Als meine Augen sich wieder mit Tränen füllen, hebt Serge beschwichtigend die Hand. »Nicht weinen, bitte! Es ist vorbei. Ich wollte dir nicht weh tun.« Traurig sieht er mich an. Hilflos öffnen und schließen sich seine Hände. »Ich möchte so gern mit dir reden, dir alles erklären. Aber ich weiß nicht, wie. Wie kann ich auch erwarten, daß du mir -144-
glaubst, nach allem, was passiert ist? Und nach dem, was du in der Zeitung gelesen hast? Wie beweist man, daß man nicht geisteskrank ist? Solange du das glaubst, hat es doch keinen Zweck, dir die Wahrheit zu erzählen.« Er ringt die Hände. »Aber was in der Zeitung steht, ist nicht wahr. Meine Frau hat sich das ausgedacht.« Ich sehe in seine verzweifelten Augen, sehe seine unruhig gestikulierenden Hände und halte erschrocken die Luft an. Das ist nicht das Gebaren eines kaltblütigen Lügners. Er weiß es nicht besser, schießt es mir durch den Kopf. Wahrscheinlich glaubt er wirklich, daß er seinen Bruder nicht umgebracht hat – oder er hat es vergessen. »Du weißt nicht, wie gemein sie sein kann«, jammert er nun. »Sie kennt keine Skrupel. Sie hat alles von Anfang an geplant. Aber ich kann es nicht…« Mitten im Satz bricht er ab, kommt zu mir herüber und beginnt, meine Knie zu verarzten. Unwillkürlich denke ich an einen Film, aus dem eine wesentliche Szene herausgeschnitten wurde. Ich war gefaßt auf weitere haarsträubende Erklärungen. Stattdessen beginnt er ruhigen Gesichts eine andere Tätigkeit auszuführen. Ich beiße die Zähne aufeinander, als er den Verband anlegt. Es schmerzt höllisch. Als er fertig ist, fragt er: »Hast du sonst noch Verletzungen?« »Ich habe Kopfschmerzen.« »Du warst hysterisch. Ich mußte dich niederschlagen. Es tut mir leid. Ich hole dir was.« Als er zurückkommt, setzt er sich neben mich. »Mund auf.« »Was ist das?« »Nur eine Schmerztablette. Aus deiner eigenen Reiseapotheke.« -145-
Eine Schlaftablette wäre mir lieber gewesen. Fast beneide ich den Schaffner aus dem Zug. Seltsam, daß mir das jetzt einfällt. Es scheint so lange her zu sein. Serge schiebt einen Arm unter meinen Nacken und hebt mich an. Mit der anderen Hand führt er ein Wasserglas an meinen Mund. Ich schlucke und würge. Mir ist, als brauchte ich Unmengen von Flüssigkeit. Vorsichtig läßt er mich wieder in die Kissen zurücksinken und schaut unschlüssig auf mich herunter. »Ich denke, es hat jetzt keinen Zweck, mit dir zu reden. Du bist zu verwirrt«, sagt er, nun wieder völlig ruhig. Er legt eine Decke über mich. »Versuche zu schlafen, Joëlle. Vielleicht bist du danach bereit, mir zuzuhören.« Er rückt den Schaukelstuhl so ans Fenster, daß er die Umgebung beobachten kann und gleichzeitig mich im Auge hat. Ich beschließe, ihn ebenfalls nicht aus den Augen zu lassen. Ab und zu sieht er zu mir herüber, wendet aber nach kurzer Zeit seinen Blick wieder ab. Ich kann sehen, wie seine Kiefer aufeinander mahlen. Er beginnt hin und her zu schaukeln. Bei jedem Rückwärtsschwung gibt der Stuhl ein knarrendes Geräusch von sich. In immer kürzeren Abständen sieht Serge auf die Uhr. Er wischt sich mehrmals über die Stirn, wie um imaginäre Schweißperlen zu entfernen. Ich bemerke den tiefen Kratzer an seiner Schläfe. Das muß bei unserem Kampf passiert sein. Jetzt registriert auch Serge das Blut an seinen Händen. Er wirft mir unter zusammengezogenen Brauen einen kurzen Blick zu, steht dann ruckartig auf und geht nach oben. Ich höre das Wasser im Bad rauschen. Und die Stimme in meinem Kopf sagt: ›Böses Mädchen! Das muß bestraft werden.‹ Verzweifelt starre ich auf meine gefesselten Hände. Als Serge zurückkommt, bleibt er neben mir stehen. Ich spüre ihn mehr, als ich ihn sehe. Ich will auch gar nichts sehen. Angst füllt meinen Kopf aus. Angst, diesen unbeherrschten Zorn in seinen Augen zu finden. Zorn über die Verletzung, die ich ihm beigebracht habe. Und dann sagt er: -146-
»Ich werde dich jetzt losbinden, Joëlle. Vielleicht kannst du dann schlafen.« Wie aus weiter Ferne sehe ich zu, wie er den Knoten löst. Kann nicht glauben, daß die Gefahr vorüber sein soll. Als ich den Strick los bin, rolle ich mich augenblicklich zusammen und schließe die Augen. Will nichts mehr sehen, nichts mehr hören, nichts mehr spüren. Ich wünsche mir das große Nichts, die Dunkelheit, Vergessen. Und plötzlich taucht hinter meinen geschlossenen Lidern das Gesicht von George auf. Mal ist es traurig und sagt: ›Wie konntest du mich verlassen‹, und ich möchte ihm entgegenlaufen, mich in seine Arme werfen und ihm sagen, daß es mir leid tut. Dann sagt sein Mund: ›Noch niemand hat mich so enttäuscht wie du‹, und ich habe vor Scham keine Worte. Jetzt sieht er mich an, und sein Mund schweigt. Sein Gesicht ist eine einzige Anklage. Und trotzdem wünschte ich, er wäre hier und würde mich hier herausholen. Ich würde mich schuldig bekennen. Ich würde zugeben, daß ich nicht reif für die Unabhängigkeit bin, daß ich ihn brauche, daß er der einzige ist, der mir helfen kann. Und dann würde er alles wieder gut machen. George ist stark. Und dann fallen mir Serges Worte ein, als er sagte, daß er sicher sei, daß George uns ganz bestimmt nicht stören wird, und ich weiß, er hat recht. Ich fürchte, das einzige, was George hierher führen könnte, wäre seine große Wut darüber, daß ich mich über ihn hinweggesetzt habe. Und wenn ihm die Frau gar nichts von meinem Anruf gesagt hat, kann ich mich nicht einmal darauf verlassen. Die Frau, diese Frau… Verzweifelt reiße ich die Augen auf. Der Schaukelstuhl ist leer. Das Schicksal gönnt mir eine Pause. *** -147-
Als ich erwache, ist es bereits dunkel. Ein Feuer knistert im Kamin. »Ich habe dir eine Suppe gekocht. Du mußt was essen.« Fast bittend zeigt Serge auf den Teller, der auf dem Tisch steht. Ich habe keinen Appetit, aber ich wage nicht, sein Angebot abzulehnen. Vorsichtig richte ich mich auf und unterdrücke ein Stöhnen. Ich muß überall blaue Flecke haben. Gehorsam nehme ich den angebotenen Teller und beginne zu löffeln. Er wartet geduldig, bis ich fertig bin. »Geht es dir jetzt besser?« Stumm sehe ich ihn an. »Möchtest du Wein?« Ich nicke. »Zigarette?« »Danke, ja.« Offenbar bereitet er sich auf eine längere Rede vor. Umständlich gibt er mir Feuer, nimmt wieder im Schaukelstuhl Platz. Er sieht auf das Glas in seiner Hand, und sein Finger streicht unaufhörlich über den Rand. Minuten verstreichen, zäh und still. Nur das sanfte Knarren des Schaukelstuhls ist zu hören. Meine Lippen saugen so heftig an der Zigarette, als enthalte ihr Rauch ein Lebenselexier. Doch meine Hände zittern. Ich bin erschöpft, am Ende meiner Kräfte, und allein meine Furcht hält mich wach. Entsetzen vor dem, was in seinem Kopf vorgehen mag. Und Entsetzen vor mir selbst. Vor meiner Unfähigkeit, die Gefahr zu erkennen, und vor meinem Herzen, das den Verstand nicht zu Wort kommen läßt. Unsicher und ohne Glauben kann ich niemandem mehr trauen. Nicht einmal mehr mir selbst. Wer ist Joëlle Fréjour? Sein Finger hat aufgehört, über das Glas zu fahren, der Schaukelstuhl steht still. »Joëlle, ich weiß, ich habe dein Vertrauen verloren, und ich bin verzweifelt, weil ich nichts dagegen tun kann.« -148-
Der gequälte Zug um den Mund sieht echt aus. Wäre da nicht meine sich erhärtende Vermutung, daß Serges Psyche verwirrt ist, würde ich seinem traurigen Gesicht glauben. Mein weiches Herz würde alles entschuldigen, und ich würde ihn in die Arme nehmen und trösten. »Du bist die einzige Person, die ich um Hilfe bitten kann«, spricht er weiter und schickt mir einen flehenden Blick. Abwartend sieht er mich an, wartet darauf, daß ich zu ihm spreche, aber mein Mund ist trocken. Was kann ich sagen, das ihn nicht wütend macht? Meine Worte kommen atemlos und brüchig. »Früher oder später wird man dich hier finden. Warum fliehst du nicht?« Da springt er auf und schreit: »Wohin denn? In die Wälder? Ohne Proviant? Soll ich mich bis zum jüngsten Tag in einer Höhle verstecken? Mein Foto war in der Zeitung. Irgendjemand wird mich erkennen. Ich kann hier nicht weg.« Wie ein Tiger läuft er auf und ab. Immer wieder fährt seine Hand durch sein Haar. Selbst meine verkümmerten Alarmsignale stehen jetzt auf Rot, und entsetzt lausche ich seinem Monolog. »Vielleicht hat mich im Dorf schon jemand erkannt. Vielleicht ist die Polizei schon auf dem Weg hierher. Wenn der Fall eintritt, muß ich dich als Geisel benutzen. Mir bleibt gar nichts anderes übrig.« Mit einer dramatischen Wende fällt er auf die Knie und ergreift meine Hände. »Aber ich will dir nicht mehr weh tun. Du mußt einwilligen, meine Geisel zu sein. Wir tun nur so, verstehst du?« Weit aufgerissene Augen blicken mich an, hängen an mir, als wüßten sie, daß ich nicht widerstehen kann. Beinahe hätte ich diesen Blick geliebt. Angewidert entreiße ich ihm meine Hände. -149-
»Du bist ja krank!« brülle ich und ziehe die Knie an, weiche vor ihm zurück. »Du bist vollkommen verrückt. Du hast deinen Bruder umgebracht. Du hast mich gekidnappt und mißhandelt. Und jetzt erwartest du, daß ich dir helfe?« Meine Stimme kippt über. Normalerweise würden jetzt Tränen fließen, aber meine Wut erstickt sie. Serge packt meine Hände. Sein Griff ist schmerzhaft. »Hör auf! Schweig!« Seine Stimme ist nicht wiederzuerkennen. Das Gebaren des verletzten Jungen ist von ihm abgefallen. Namenlose Wut verzerrt sein Gesicht. Doch mein eigener Geist ist aus dem Ruder gelaufen, und nur noch Haß bestimmt mein Handeln. »Oh, habe ich dich gekränkt?« flöte ich. »Verzeihung, ich wußte nicht, daß Mörder Gefühle haben.« Sofort wendet Serge sich von mir ab, erhebt sich mit einer heftigen Bewegung. Ich glaube, mein Mund lächelt. Und ich genieße es sogar, mein grausames Lächeln am Rande der Normalität. Mit einem Satz bin ich neben ihm. Ich muß sein Gesicht sehen. Ich will sehen, wie sehr ihn meine Worte treffen, will spüren, wie es ist, einmal nicht das Opfer zu sein. Der Gedanke, daß sich in ihm ein Ausbruch vorbereitet, kommt mir nicht. Ich will die fremde Macht auskosten, die sich in mir ausbreitet, will das nie gekannte Gefühl auf die Spitze treiben. »Sag mir, was ein Mörder fühlt, wenn er tötet«, flüstere ich heiser. »Sieh mir in die Augen, Serge! Macht es Spaß, Herr über Leben und Tod zu sein? Kriegst du einen Orgasmus, wenn du es tust?« Seine Gesichtsmuskeln bewegen sich heftig. Ich kann es kaum glauben, seine Augen sind feucht. Ich habe es geschafft. Ich kann es. Macht ausüben, Schmerz bereiten. Es ist gar nicht schwer. Es ist sogar viel leichter, als ihn auszuhalten. -150-
»Was ist?« fahre ich fort und trete noch näher an ihn heran. »Fallen deinem kranken Hirn keine Ausreden mehr ein?« Hämisch lächelnd halte ich sein Kinn in meiner Hand, will ihn zwingen, mir ins Gesicht zu sehen. Das Gefühl der Macht hat von mir Besitz ergriffen, und so trifft mich völlig unvorbereitet Serges Schlag. Seine Hand klatscht in mein Gesicht, daß ich rückwärts stolpere und gegen den Sessel falle. Mehr erstaunt als erschrocken starre ich Serge an, verstehe nicht, wie er so einfach aus dem Spiel ausbrechen kann. Aber noch ehe ich ganz zur Besinnung komme, hat er mich wieder gepackt. Seine Hände umklammern meinen Kopf wie ein Schraubstock. »Was willst du? Ein Geständnis, ja? Ja, ich habe es getan, mein Gott. Aber ich wollte es nicht. Es war ein Unfall.« Er nimmt die Hände weg, und mein Verstand setzt wieder ein. Der Machtrausch ist verschwunden. Mein Herz zieht sich zusammen, und einen kurzen Moment erschrecke ich vor mir selbst, vor dem sadistischen Wesen, daß ich vor einer Minute noch in mir gespürt habe. Dennoch fühle ich keine Reue. Stattdessen kommt eine kühle Ruhe über mich. In meinem Kopf sind nur noch die Zeitungsfakten. »Ein Unfall«, sage ich und sehe ihm fest in die Augen. »Deine Frau sieht das aber anders.« »Meine Frau.« Seine Spucke klatscht auf den Boden. »Meine Frau ist eine kalte, berechnende Lügnerin.« Tränen stehen in seinen Augen, als er an seinem Ehering zerrt. Mit Wucht wirft er ihn in den Kamin. Unbeeindruckt fahre ich fort: »Und was ist mit deinem Hausmädchen? Lügt das auch?« »Nein, aber… Du glaubst mir ja doch nicht. Du denkst, ich bin verrückt.« Mein Schweigen spricht Bände. Kraftlos sinken Serges Arme herab. Mehrere Minuten lang rührt er sich nicht. Kühl und ge-151-
faßt warte ich auf seinen nächsten Zug. Dann, ganz langsam, setzt er sich in Bewegung, nimmt die Zeitung vom Tisch und hält sie mir vors Gesicht. »Hier. Du glaubst doch, was in der Zeitung steht. Gut. Hier steht, ich habe meinen Bruder ermordet und gehöre in psychiatrische Behandlung. Aber hier steht auch, daß du meine Komplizin bist. Und wenn die Zeitung es abdruckt, muß es doch wahr sein, nicht? Aber du und ich wissen, daß es nicht stimmt. Wir allein wissen, wie es wirklich war. Vielleicht wird dir auch niemand glauben. Keiner wird verstehen, daß du der Polizei nichts gesagt hast, als du Gelegenheit dazu hattest. Wie erklärst du, daß du den Leuten im Dorf oder deinem Vermieter kein Zeichen gegeben hast? Niemand wird dir glauben, Joëlle. Sie werden sagen, daß du dir alles nur aus den Fingern gesogen hast. Vielleicht denkst du darüber mal nach.« Die Zeitung segelt vor meine Füße. Serge dreht sich ohne ein weiteres Wort um und verschwindet über die kleine Treppe nach oben. Stille. Unbeweglich, wie in einem Vakuum, stehe ich da. Nicht einmal meine eigenen Atemzüge sind zu hören. Ich starre auf das Papier. Anklagend leuchtet mir die blutrote Schlagzeile entgegen. Und gleichzeitig höre ich wieder und wieder Serges letzte Worte. Und ganz weit hinten in meinem Kopf fängt jemand an zu lachen. Ich erinnere mich, gelesen zu haben, daß Geisteskranke erstaunlich logische Gedankengerüste konstruieren können, wenn es darum geht, ihre Scheinwelt anderen gegenüber aufrecht zu erhalten. War Serges Rede wieder nur ein Versuch, mich auf die falsche Fährte zu locken? Müde sinke ich in den Sessel vor dem Kamin. Meine Knie zittern, und ich muß mich an den Armlehnen festhalten. Meine Gedanken rasen. Mühsam versuche ich, sie zu ordnen. Ich muß -152-
Fakten sammeln, sonst nichts. Ich darf keine Gefühle in meine Überlegungen eindringen lassen. Ich kenne mich, weiß, daß ich ihm nur zu gerne glauben würde. Aber wieviel von dem, was er sagt, kann ich ihm glauben, wenn er wirklich geistig verwirrt ist? Und – wie viele Wahrheiten gibt es? Verdammt, warum denke ich überhaupt darüber nach, ob er wirklich verrückt ist? Er hat mir wehgetan. Ich habe ihn gehaßt und verflucht. Ich habe ihm sogar den Tod gewünscht. Und immer wieder habe ich mich in seiner Gegenwart auch wohl gefühlt. Wenn er lächelte, mir aufmerksam zuhörte, mich zum Reden brachte. Oh ja, er hat mich zum Reden gebracht. Ach Serge, laß mich nicht nach Erklärungen suchen, wo es keine gibt. Ich sitze hier und zermartere mir das Hirn, ob möglicherweise alles anders gewesen sein kann, als die Zeitung schreibt und suche nach Gründen, dir zu glauben. Jedoch welchen Zweck hat er denn, dieser Glaube? Mein Glaube hat keine Beweiskraft. Ob ich dir vertraue oder nicht, wird nichts daran ändern, daß du früher oder später gefaßt wirst. Selbst wenn sich der Himmel auftut und die Wahrheit in Kübeln über mich ausschüttet, die Wahrheit, wie ich sie mir wünsche. Wer würde mir glauben? Es ist völlig egal, wie verrückt du wirklich bist. Du wirst aus dieser Zwickmühle nicht mehr rauskommen. Es sei denn… Es sei denn, jemand hilft dir. Erschrocken starre ich in die Dunkelheit, frage mich, aus welcher Ecke dieser Gedanke hervorgekrochen ist? Kann ich das wirklich wollen? Warum sollte ich ihm helfen zu entkommen, nach allem, was er mir angetan hat? Und doch möchte ich nichts lieber, als ihm glauben. Vielleicht bin ich es, die verrückt ist. Fröstelnd kuschele ich mich unter die Decke. Das Kaminfeuer ist ausgegangen. Kein Knistern mehr, kein knackendes Holz, nur noch schwelende Glut. Unheimlich still ist es. So still, als sei ich der letzte Mensch auf Erden. Und plötzlich bin ich hellwach. -153-
Bei all meiner Gedankenschwere ist mir eines völlig entgangen. Etwas sehr Wichtiges. Ich bin nicht gefesselt. Und ich bin allein hier unten. Von Serge ist nichts zu hören. Mein Blick fällt auf seine Jacke, die er achtlos über den Sessel geworfen hat. Versehen oder Absicht? Leise stehe ich auf. Ich habe keinen Plan. Will nur mal sehen, ob sie noch da sind, aus reiner Neugier. Kurz darauf wühlt meine Hand in der Tasche, und dann halte ich die Autoschlüssel in der Hand. Es ist kaum zu glauben. Nach all den Strapazen, nach all der Hoffnungslosigkeit und meinen verzweifelten Todesgedanken, kann ich nun einfach aus dem Haus spazieren und wegfahren. Ganz still stehe ich in der Dunkelheit. Nur die Schlüssel klingeln zart in meinen bebenden Händen. Wie schnell sich das Blatt doch wenden kann. Der einzige Ausweg, an den ich nie geglaubt habe, ist der Zufall. Serges kleine Unachtsamkeit schenkt mir die Freiheit. Nur ein paar leise Schritte, und ich bin frei. Es ist ganz leicht. Wenn ich erst im Auto sitze, kann mich nichts mehr aufhalten. Ich werde zu Monsieur Huchette fahren, und der wird die Polizei alarmieren. Und dann, wenn ich meine eigene Haut retten will, werde ich Serge der Polizei ausliefern müssen. Wieder das leise Klingeln der Schlüssel. Wenn ich nur aufhören würde, an seine Unschuld glauben zu wollen, dann wäre alles ganz leicht. Hat er nicht zugegeben, seinen Bruder ermordet zu haben? Aber er hat auch gesagt, daß es ein Unfall war. Was, wenn seine Frau wirklich eine Lügnerin ist? Was, wenn er die Wahrheit sagt und ich sie nicht erkenne? Was, wenn ich trotz allem immer noch etwas für ihn empfinde? Ein Poltern reißt mich aus meinen Gedanken. Nur in Jeans kommt Serge die Treppe heruntergestürzt. Die Waffe in der Hand, stürmt er an mir vorbei und reißt die Haustür auf. Dann wirft er sie wieder zu und verriegelt sie. -154-
»Wo bist du?« zischt er. Regungslos stehe ich da. Eigentlich will ich mich gar nicht verstecken, aber es kommt kein Laut über meine Lippen. Ich höre seinen Atem in der Dunkelheit und mein eigenes klopfendes Herz. Ein paarmal bewegt er den Kopf hin und her, dann haben mich seine Augen in der Dunkelheit entdeckt. Mit drei schnellen Schritten ist er bei mir, und ich stehe da wie eine Salzsäule und lasse mir die Schlüssel aus der Hand nehmen. Widerstandslos lasse ich mich die Treppe hochzerren. Er wirft mich aufs Bett, und meine kaputten Knie machen sich bemerkbar. Ich stöhne auf. »Warte«, möchte ich sagen, »ich habe mich noch nicht entschieden. Nicht für dich und nicht gegen dich.« Aber dann sehe ich, wie er nach dem Strick greift und weiß, kein Wort von mir kann ihn noch umstimmen. Er fesselt mich in der gewohnten Weise ans Bett, und die Art, wie er das schweigend tut, hat etwas Endgültiges. Fast geräuschlos streckt er sich neben mir aus. Ich starre in die Dunkelheit und habe das Gefühl, daß etwas in mir stirbt. In dieser Nacht gibt es keine Alpträume, nur meine Tränen fließen lautlos.
-155-
FÜNFTER TAG
Am nächsten Morgen habe ich dunkle Schatten unter den Augen. Serge läßt mich alleine duschen, beaufsichtigt mich aber anschließend in der Küche. Während ich den Kaffee aufbrühe, sitzt er am Tisch. Ich fühle seine Blicke in meinem Rücken. »Du hättest gestern nacht abhauen können. Hättest du es getan, wenn ich nicht dazwischen gekommen wäre?« Ohne zu antworten, fahre ich mit meiner Tätigkeit fort. Soll ich ihm sagen, daß ich es heute nacht wohl hundert Mal bereut habe, so lange gezögert zu haben? Hämisch schlägt mein Herz gegen die Rippen, als müsse es mich noch einmal daran erinnern, wie sehr ich mich von meinen Gefühlen zum Narren halten lasse. »Vielleicht hättest du mich ja überrascht.« sagt er jetzt. »Wenn ich dich nicht gewaltsam nach oben geschleppt und gefesselt hätte, dann wüßte ich vielleicht endlich, ob ich dir trauen kann.« Als ich wieder nicht reagiere, erhebt er sich umständlich und kommt um den Tisch herum. Seine Hand auf meiner Schulter zittert leicht. »Gib mir noch eine Chance, Joëlle. Laß mich dir alles erklären.« Meine Augen sind starr auf die Kaffeetassen gerichtet. »Setz dich, bitte.« -156-
Teilnahmslos nehme ich Platz. »Als ich dir sagte, ich will mit dir zusammen sein, habe ich das ernst gemeint. Ich habe bei dir etwas gefühlt, das ich nicht kannte. Und ich weiß, daß auch du etwas für mich empfindest. Erinnerst du dich nicht, was du mir auf den Klippen gesagt hast? Über das Glück, das wir nie erträumten, weil wir es nicht kannten? Jetzt kenne ich es. Und ich will es nicht wieder verlieren. Als mir klar wurde, daß du den Zeitungsartikel gelesen hast, war ich so enttäuscht. Ich dachte, du hättest dir längst deine Meinung gebildet und mir all diese Fragen nur gestellt, um zu sehen, wie ich mich quäle. Ich war verletzt und wütend. Deshalb habe ich die Tasse nach dir geworfen. Und als du so Hals über Kopf aus dem Haus gerannt bist, hatte ich nur den einen Gedanken, dich aufhalten zu müssen. Ich war wie von Sinnen, weil ich dachte, du hättest mich reingelegt, belogen, mir was vorgemacht.« Er geht in die Hocke und greift nach meiner Hand. »Ich wollte dir nicht wehtun, Joëlle. Das mußt du mir glauben. Aber du hast um dich geschlagen und getreten wie eine Wilde. Du warst nur mit Gewalt zu bändigen. Ich hatte Angst, daß du dich selbst verletzt. Deshalb habe ich dich gefesselt.« Er bricht ab, sucht nach Worten. »Genauso war es gestern abend. Ich war so verzweifelt, als ich merkte, daß du mir nicht glaubst. Dein Haß hat mir sehr weh getan. Als mir dann einfiel, daß du, wenn du die Schlüssel fändest, einfach wegfahren könntest, hatte ich wahnsinnige Angst, daß du es wirklich tust. Ich will nicht, daß du mich verurteilst, ohne die Wahrheit zu kennen. Ich will nicht, daß du gehst und an mich immer nur als einen Verrückten und Mörder denkst. Es tut mir leid, Joëlle, daß alles so verfahren ist. Es tut mir leid, daß du weinen mußtest. Du hast es verdient zu lachen. Und wenn ich es schaffe zu fliehen, dann haben wir immer noch eine Chance. Ich weiß, ich kann dich glücklich machen. Bitte laß es mich beweisen.« -157-
Seine Augen flehen mich an, und ich muß unwillkürlich an George denken. Welch leichtes Spiel er doch immer mit mir gehabt hat. Mit mir und meinem verzeihenden Herzen – mit meinem schwachen Selbstwertgefühl. Fast unmerklich strafft sich etwas in mir. Ich sehe in Serges flehenden Augen, aber ich fühle nichts mehr, bin unerreichbar geworden. Auch Serge scheint die Veränderung zu spüren. Nachdenklich forscht er in meinem Gesicht. Dann erhebt er sich, scheinbar mühsam, erschöpft, geschlagen. Langsam beginnt er, auf und ab zu gehen. Ich kann förmlich sehen, wie er nach Worten sucht. Worte, die mich gnädig stimmen sollen. – Ach, Serge, deine Anstrengungen werden umsonst sein. – Seine belegte Stimme, sein zerknirschtes Gesicht werden von mir lediglich registriert, so, als müsse ich die Glaubwürdigkeit eines Schauspielers prüfen. »Du brauchst jetzt nichts zu sagen, Joëlle. Es ist soviel passiert, was dich verwirrt. Aber sag mir, wenn du soweit bist, mich wenigstens anzuhören. Ich lasse dich jetzt allein. Ich werde sehen, ob ich das Autoradio in Gang bringen kann. Du findest mich draußen.« Er geht. Ich bleibe zurück. Meine Finger zerbröseln die Reste des Baguettes. Für einen unbeteiligten Betrachter muß ich aussehen wie immer. Zerbrechlich, schwach, ohne eigenen Antrieb. Niemand würde hinter meiner zerfurchten Stirn wilde Entschlossenheit vermuten. Entschlossenheit, die nur auf den richtigen Moment wartet. Ungeduldig. Als Serge wieder in der Küche auftaucht, ist meine Zigarette ungeraucht im Aschenbecher verbrannt. »Nichts zu machen«, sagt er und hält die schmutzigen Hände von sich. »Ich geh mich erst mal waschen.« Ich sehe zu, wie er die Küche verläßt, lausche auf seine Schritte auf der Treppe. Als er im Bad das Wasser aufdreht, ste-158-
he ich auf. Unbeirrt bewege ich mich auf die Tür zu. Es knirscht, als ich die Klinke herunterdrücke. Der Wagen ist offen. Die Schlüssel stecken im Anlasser. Freund Zufall meint es gut mit mir. Ich gleite hinters Steuer und starte. Der Motor gurgelt, aber er springt nicht an. Ungläubig starre ich auf den Zündschlüssel. Noch einmal drehe ich ihn. Ganz langsam, mit Gefühl. Wieder nichts. Meine Kaltblütigkeit ist verschwunden. Wie weggeblasen meine ruhige Überlegenheit. Ich schicke Stoßgebete zum Himmel, während meine Hand immer hektischer den kleinen Schlüssel hin und her dreht. Noch ein Versuch und noch einer. Nichts! Dann knallt es, daß ich zusammenfahre. Serges Faust ist auf die Motorhaube gedonnert. Seine Augen sprühen vor Wut. Instinktiv springe ich aus dem Auto und beginne zu laufen. Zu spät merke ich, daß ich auf die Klippen zulaufe. Ich weiß, daß Serge mir folgt. Er weiß, daß er sich nicht zu beeilen braucht. Ich kann ihm nicht entkommen. Trotzdem renne ich weiter. In ziemlich großer Entfernung habe ich einen Mann entdeckt. Einen Mann, der seinen Hund ausführt. Auch Serge hat jetzt den Mann bemerkt und beschleunigt seine Schritte. Ich rufe dem Mann zu und fuchtele wild mit den Armen. Er winkt zurück. Er hat mich nicht verstanden. Ich laufe weiter. Immer dicht am Rand der Klippen entlang. Die langgezogene Bucht ist schwer einzuschätzen. Bestimmt trennen mich noch über zweihundert Meter von dem Mann. Serge hat mich fast eingeholt. Gerade will ich zu einem neuen Hilferuf ansetzen, da gibt das lose Gestein unter meinen Füßen nach. Ich verliere den Halt und rutsche über die Kante. Verzweifelt klammere ich mich mit einem Arm an einen vorspringenden Stein. Meine Hände werden augenblicklich feucht, als mir bewußt wird, in welcher Höhe ich mich befinde. Geröll rieselt auf mich herab, als Serge über mir ankommt. -159-
Ich spüre, wie der Stein, den meine rechte Hand umklammert, sich lockert. Er knirscht leicht, während er sich neigt. O Gott, warum machst du es Serge so leicht? Er wird mich abstürzen lassen, und der Mann mit dem Hund wird glauben, Serge sei zu spät gekommen. Ich kneife die Augen fest zusammen, als könne ich so das Unvermeidliche abwenden. Da packt jemand mein Handgelenk. Vorsichtig hebe ich den Kopf. Über mir ist Serges Gesicht. Seine Augen sehen mich an, und ich höre auf zu denken, hänge an seiner Hand wie eine leblose Puppe. So schwer bin ich jetzt. Meine Augen schließen sich. Ich fühle nicht mehr, wie eine angstvolle Fratze mein Gesicht verzerrt. Ich erlebe das Gefühl zu fallen, und mein Sturz will nicht enden. Gleich wird mein Körper auf dem steinigen Boden aufprallen. Alles schmerzt. Ich möchte schreien. Aber aus meinem weit geöffneten Mund dringt kein Laut. Und dann beginnt das Zittern. Es läuft in Strömen durch meinen Körper, schüttelt mich. Ich bekomme keine Luft mehr. So hab ich mir das Sterben nicht vorgestellt. *** Ich spüre etwas Weiches. Es hüllt mich ein, hält mich fest. Mir ist, als öffnete ich die Augen. Kann man sehen, wenn man tot ist? Blau und Schwarz. Karos sind es, flauschig, weich und warm. Meine Hand bewegt sich. Ich kann sie wirklich sehen, und ich fühle festen Boden unter meinen Beinen, unter meinem Po. An meiner Wange spüre ich eine Schulter. Ein großer Mensch hält mich umfangen. Und meine Hände klammern sich an ihn, graben sich in das blau-schwarz-karierte Hemd wie kleine Rettungsanker. Er spricht beruhigend auf mich ein. Seine Hand streicht über meinen Rücken. Ganz langsam begreife ich, daß ich außer Gefahr bin. Ein Hund winselt, und eine fremde Stimme sagt: »Na, das ist ja gerade noch mal gut gegangen, Mademoiselle. Geht’s wieder? Oder brauchen Sie Hilfe?« -160-
Hilfe? Lieber, ahnungsloser Mensch. Meine Finger krallen sich noch ein wenig fester in das Hemd des Mannes. Wenn er mich nur wegbringt, dann wird alles wieder gut. Mühsam hebe ich den Kopf, um das Gesicht meines Retters zu sehen. Aber ich erstarre mitten in der Bewegung, als ich Serges Stimme höre: »Nein, danke. Haben Sie vielen Dank. Ich kümmere mich um sie.« Und dann drückt seine Hand meinen Kopf wieder an seine Brust. Das blauschwarzkarierte Muster seines Hemdes verschwimmt vor meinen Augen. Teilnahmslos höre ich zu, wie sich die Schritte des Spaziergängers entfernen. Und dann sagt Serge: »Komm! Laß uns ins Haus gehen. Wir holen uns sonst den Tod hier.« Jetzt erst spüre ich die Kälte. Staunend sehe ich zu, wie der Wind meine zerrissene Bluse flattern läßt. Serge faßt mich unter und dirigiert mich zurück zum Haus. Wie im Traum lasse ich mich von ihm führen. Nur langsam kehrt mein Gefühl für die Umgebung zurück. Der eisige Wind, das Rauschen des Meeres, meine wackeligen Schritte auf dem steinigen Boden. Serges Arm, der mich umfaßt hält, so eng, so fest, macht mir Angst. Hart reibt sich sein Beckenknochen bei jedem Schritt an meiner Seite, und die Gedanken in meinem Kopf überschlagen sich. Auf halbem Weg reiße ich mich von ihm los. »Warum hast du das getan?« brülle ich. Verständnislos sieht er mich an. »Warum hast du mich gerettet?« »Was für eine Frage. Sollte ich zusehen, wie du abstürzt? Ich hätte mir nie verziehen, wenn du durch meine Schuld umgekommen wärst.« »Und was willst du damit beweisen? Daß dein Bruder auch nicht durch deine Schuld starb? Daß du nicht in der Lage bist, jemanden zu töten?« -161-
»Mein Gott. Was geht in deinem Hirn vor, Joëlle? Ich hatte gar keine Zeit nachzudenken. Ich wollte dich retten.« »Das glaube ich dir nicht. Du konntest mich nicht abstürzen lassen, weil der Mann mit dem Hund da war. Tut mir wirklich leid. Beinahe hättest du deine lästige Zeugin vom Hals gehabt.« »Du machst es dir wirklich einfach, Joëlle. Für dich wäre es viel bequemer, wenn ich verrückt wäre, denn dann könntest du dich ohne Schuldgefühle gegen mich entscheiden.« Er zerrt an meinem Arm, zwingt mich, ihn anzusehen. Wütend halte ich ihm mein verzerrtes Gesicht entgegen. »Du willst die Wahrheit doch gar nicht wissen. Und das nur, weil du Angst hast. Und das, meine liebe Joëlle, ist verrückt. Deine Denkweise ist absolut schizophren. Wenn du eine Irrsinnige sehen willst, dann sieh mal in den Spiegel.« Er gibt mich frei und läßt mich stehen. Mit weit ausholenden Schritten läuft er zum Haus zurück. Und über die Schulter ruft er mir zu: »Mach, was du willst. Du bist frei. Denunziere mich!« Zum zweiten Mal verliere ich den Halt. Meine Beine knicken ein, und ich lande unsanft auf den Knien. Ich spüre nicht, wie die kleinen Steinchen in mein Fleisch schneiden. Ich spüre nicht den Wind. Mein Körper fühlt sich völlig taub an. Es gibt nur noch den Schmerz in meinem Kopf. Bin ich dabei, den Verstand zu verlieren? Alles ändert sich so schnell. Ändert sich und wiederholt sich doch auch. Wie auf einer Umlaufbahn, die ich nicht verlassen kann. Meine Faust beginnt, auf den harten Boden zu schlagen. Wieder und wieder. Solange, bis es richtig weh tut. Solange, bis ich einen Schmerzensschrei ausstoße. Ich rolle mich auf dem harten Boden zusammen und weine. Weine, bis ich völlig leer bin, bis auch der Schmerz in meinem Kopf endlich aufhört. -162-
*** Wie durch Watte nehme ich ein Wiehern wahr. Das erste, so scheint es mir, was ich nach einer langen Zeit der Stille höre. Vorsichtig richte ich mich auf. Es dauert eine Weile, bis das Schwindelgefühl nachläßt. Ein Pferd steht am Gatter und nickt mir zu. Ich zwinkere, reibe mit beiden Fäusten kräftig die schmerzenden Augen. Das Pferd ist immer noch da. Es sieht mich direkt an, als wenn es auf mich warten würde. Ich schwanke leicht, als ich wieder auf den Füßen stehe. Das Pferd wiehert leise. Noch etwas unbeholfen gehe ich auf das Tier zu. Es steht ganz still. Wäre es kein Tier, würde ich sagen, es lächelt mich ein wenig traurig an. Die Sanftheit, die aus den langbewimperten Augen spricht, macht mich ruhig. Ich strecke meine Hand aus und berühre vorsichtig seine Blesse. Der Pferdekopf ist ganz warm und schmiegt sich vertrauensvoll in meine Hand. Meine Arme legen sich um seinen Hals, und ich lehne mein Gesicht an sein Fell. Nie hätte ich gedacht, daß ich einmal dankbar sein würde für die Anwesenheit eines Pferdes. Seine Wärme tröstet mich. Sein Geruch ist voller Leben. Und noch etwas spüre ich. Ein Gefühl von Liebe und Vertrauen. Liebe, wie ich sie mir immer gewünscht habe. So stark, daß ich erschrecke. Erstaunt blicke ich in die dunklen Augen. Das Pferd rührt sich nicht. Nur die Ohren spielen leise im Wind. Wie leicht es doch ist, ein Tier zu lieben, denke ich. Hier gibt es nichts zu zweifeln. So rein und sicher kann kein Gefühl für einen Menschen sein. Und dann erinnere ich mich an Serges Gesicht, an seine sanfte Stimme, als er mit dem Pferd sprach. Ich streiche zärtlich über die Stelle oberhalb der Nüstern und betrachte aufmerksam das Gesicht des Tieres. »Du bist schön«, flüstere ich. »Und klug.« Das Pferd schnaubt leise. Ernst sehen mich seine Augen an, und plötzlich schäme ich mich. -163-
*** Die Schlüssel stecken noch immer im Wagen. Ich ziehe sie ab und gehe ins Haus. Serge sitzt in der Küche, vor sich eine Flasche Rotwein. »Du kannst fahren. Das Auto springt jetzt an«, sagt er, ohne aufzuschauen. Ich lege die Schlüssel auf den Tisch und setze mich ihm gegenüber, betrachte seinen gebeugten Nacken. »Bekomme ich auch ein Glas?« Wortlos schenkt er mir ein, wartet auf ein Wort von mir. Als ich nichts sage, fragt er: »Heißt das, du bleibst?« Ein vorsichtiger Blick streift mich. »Du sagst, was die Zeitung schreibt, stimmt nicht«, entgegne ich statt einer Antwort. »Ich möchte die Wahrheit hören.« Er seufzt. »Du wirst mir nicht glauben«, sagt er traurig. »Ich kann es ja selbst kaum.« »Wir werden sehen. Fang an.« Er legt in den Kopf in den Nacken, atmet hörbar ein. »Gib mir ein paar Minuten«, bittet er. »Das alles ist auch für mich sehr verwirrend.« »Ich habe Zeit.« Er fährt sich durchs Haar, streicht abwesend mit den Fingerspitzen über den Tisch, die Flasche, das Glas, während sein Blick suchend im Raum umherschweift. Schließlich steht er auf, beginnt, auf und ab zu gehen, und dann, endlich, spricht er: »Ich gebe zu, ich habe meinen Bruder gehaßt. Ich haßte ihn für seine täglichen Sticheleien und seine herablassenden Bemerkungen. -164-
Daß er mich bei wichtigen Entscheidungen überging, war mir egal. Das Geschäft interessierte mich nicht. Aber daß es ihm Spaß machte, mich vor den Mitarbeitern zu demütigen und bloßzustellen, das verzieh ich ihm nicht. So gerieten wir häufig in Streit, was nicht unbemerkt blieb. Aber ich hatte niemals den Wunsch, ihn zu töten, das mußt du mir glauben. Ich haßte ihn, wie ich das Eingesperrtsein hasse oder die Geldgier gewisser Menschen.« Sein Gesicht verzieht sich grimmig. »Ich habe dir ja schon erzählt, wie Judith mich angetrieben hat. Sie war besessen von Machtgier. Und ich war ihr Spielball. Aber ich hätte nie gedacht, daß sie so weit gehen würde, mir einen Mord anzuhängen.« »Keine Mutmaßungen. Bitte. Sag mir nur, was wirklich passiert ist.« »Gut. Also, an dem besagten Abend hatte ich beschlossen, früher zu Bett zu gehen. Ich fühlte mich angeschlagen und müde. Wir hatten zu dem Zeitpunkt bereits getrennte Schlafzimmer. Ich wollte mich gerade ausziehen, als sie in mein Zimmer kam. Sie schloß übertrieben vorsichtig die Tür und benahm sich sehr seltsam. Sie legte den Finger an den Mund und flüsterte: »Ich habe unten ein Klirren gehört. Ich habe Angst, daß jemand im Haus ist.« »Willst du, daß ich nachsehe?« fragte ich. Sie nickte. Sie sah wirklich ängstlich aus. Ich war schon an der Tür, als sie mich zurückhielt. »Warte«, sagte sie, ging an die Kommode und holte die Pistole raus.« »Wieso hattest du überhaupt eine Pistole?« unterbreche ich ihn. »Wir hatten sie ein paar Monate zuvor angeschafft, weil in der Nachbarschaft eingebrochen worden war. Wenn ich es recht be-165-
denke, war es sogar Judiths Idee gewesen. Ob sie damals schon geplant hat…?« Serges Blick verliert sich in nicht vorhandene Weiten. Dann fährt er sich mit der Hand über das Gesicht, als müsse er einen bösen Traum wegwischen und fährt fort: »Sie reichte mir die Waffe und sagte: »Hier, nimm das. Wenn es wirklich ein Einbrecher ist, ist er vielleicht bewaffnet.« Sie schlich mit mir die Treppe hinunter und machte mich auf den Lichtschein aufmerksam, der unter der Tür des Arbeitszimmers hervorleuchtete. Ansonsten war es völlig dunkel. Ich tastete mich zu der Tür vor und lauschte. Meine Frau war am Fuß der Treppe stehengeblieben. Dann hörte ich Schritte hinter mir. Ich drehte mich um und sah undeutlich eine große Gestalt aus dem Wohnzimmer in die Halle treten. In diesem Moment muß er mich wohl in der Dunkelheit entdeckt haben, denn er stürzte auf mich zu.« Serge hält inne, und ich beobachte schaudernd, wie seine Fingernägel über seinen Unterarm kratzen und rote Striemen zurücklassen. »Ich, ich habe bis heute nicht kapiert, was eigentlich passiert ist«, stottert er. »Aber als, als ich diesen Körper auf einmal riesengroß vor mir auftauchen sah, habe ich abgedrückt. Ich hatte einfach Angst. Er fiel auf mich, und dann ging das Licht an. Der Mann rollte von mir herunter, und erst da erkannte ich meinen Bruder. Ich glaube, ich stammelte etwas wie: »Mein Gott, sieh nur, es ist Philippe! Judith, ich glaube er ist tot.« Aber sie sagte kein Wort. Ich kann den Blick nicht von seinem Unterarm abwenden. Ängstlich warte ich darauf, daß Blut unter seinen Nägeln hervorquillt. Ich muß mich beherrschen, das furchtbare Schaben nicht zu unterbrechen. Fast scheint es mir, als wolle er mit dieser Geste die Eindringlichkeit und Echtheit seiner Worte unterstreichen. Im gleichen Rhythmus, wie die Hand hinauf- und wieder herunterfährt, stößt Serge seine Erzählung hervor: -166-
»Wie kommt er hierher?« schrie ich. »Er hatte doch gar keinen Schlüssel zu meinem Haus.« Judith stand immer noch auf der Treppe. Ihr Gesicht glich einer Maske. Und dann sagte sie: »Du hast ihn doch selbst hereingelassen. Erinnerst du dich nicht?« Ich war fassungslos. Ich hörte, was sie sprach, aber ich verstand nicht ihre Worte. Plötzlich sah ich das Hausmädchen. Sie war wohl wach geworden und stand im Morgenrock auf der Treppe. »Was redest du denn da?« fragte ich entsetzt. »Wie kommst du nur darauf?« Um mich begann sich alles zu drehen. Mit fürchterlicher Ruhe befahl Judith dem Hausmädchen: »Anne, rufen Sie die Polizei. Mein Mann hat seinen Bruder umgebracht.« »Es war ein Unfall!« schrie ich noch. Da erschien ein häßliches Lachen in ihrem perfekten Gesicht, und sie sagte die vernichtenden Worte: »Das wird dir niemand glauben.« Ich gab es auf, begreifen zu wollen, was da geschah. Ich wußte, die Polizei würde meiner Frau und dem Hausmädchen glauben. Niemals würde ich sie überzeugen können, daß meine geldgeile Frau diese Straftat geplant hatte. Wie, das wußte ich ja selber nicht. Ich mußte verschwinden, wollte ich nicht hinter Gittern landen. Und was Eingesperrtsein für mich bedeutet, habe ich dir ja schon erklärt. Ich raste also zum Bahnhof nach Rennes. Ich sprang in den erstbesten Zug, fand kein leeres Abteil, und so stieß ich auf dich. Joëlle, du mußt mir glauben, daß ich niemals vorhatte, eine Geisel zu nehmen. Ich wollte nur weg, allem entfliehen, erst einmal wieder zu mir kommen. Aber als mir die Pistole aus der Tasche fiel, dachte ich, du müßtest mich auch sofort für einen Verbre-167-
cher halten. Und als dann die Polizei den Zug durchsuchte, hatte ich keine Wahl mehr. Sie kamen von beiden Seiten. Ich schlug den Schaffner nieder und… und von da an warst du mit im Spiel. Ich konnte dich nicht mehr laufen lassen.« Er macht eine kurze Pause, und ein fast schalkhaftes, der Situation völlig unangemessenes Grinsen huscht über sein Gesicht. »Du kannst übrigens ganz schön anstrengend sein. Es wäre sicher einfacher gewesen, dich niederzuschlagen.« »Warum hast du es nicht getan?«, frage ich, und viel zu schnell kommt seine Antwort. »Weil ich Gewalt verabscheue, weil…« Er bricht ab, meidet meinen Blick. »Ich weiß, ich habe dir wehgetan. Aber ich wollte es nicht. Ich wollte dich nur aufhalten. Und wenn du dich nicht gewehrt hättest, wäre es auch gar nicht so schlimm geworden. Bitte, du mußt mir glauben! Es ist mir schon schwergefallen, den Schaffner mundtot zu machen. Aber ich mußte schnell handeln. Ich hatte keine Zeit zu überlegen. Ich hatte keine Wahl.« »Man hat immer die Wahl.« »Verdammt, was hättest du denn an meiner Stelle gemacht?« »Das steht jetzt nicht zur Diskussion.« Beinahe erschrocken sieht er mich an, dann gleitet sein Blick von mir ab. Er sackt in sich zusammen. »Du glaubst mir nicht.« Seine Stimme klingt resigniert. Und wieder einmal gibt es mir einen Stich, ihn so entmutigt zu sehen. Was soll ich sagen? Die Geschichte klingt zu weit hergeholt, um wahr zu sein. Aber ist es nicht andererseits so, daß gerade das Leben die verrücktesten Geschichten schreibt? Ach, Serge, ich will dir ja glauben. Aber ich weiß nicht, ob ich dir trauen kann. Weiß nicht einmal, ob ich mir trauen kann. Gib mir ein Zeichen, irgendeines, damit ich nicht mehr zweifeln muß. -168-
Aber Serge rührt sich nicht. Er hat die Unterarme auf die Knie gestützt und den Kopf in den Händen vergraben. Und plötzlich fühle ich mich schlecht. Könnte ich doch nur mit meiner Hand über seinen gebeugten Nacken fahren. Da zerreißt ein schriller Laut die angespannte Stille. Wir zukken beide zusammen, und es dauert einen Augenblick, bis ich verstehe, daß nur das Telefon mich aus meinen Gedanken gerissen hat. Einen Moment starren Serge und ich uns an. Dann springen wir fast gleichzeitig auf. Serge erreicht das Tischchen als Erster. Seine Hand liegt auf dem Hörer. Es klingelt wieder. Wachsam sieht er mich an. Ich kann sehen, wie es in seinem Gesicht arbeitet. »Bitte Serge, laß mich drangehen.« Wieder ein Klingeln. In mir krampft sich alles zusammen. Blicke irren hin und her. Und das Telefon klingelt, wieder und wieder. Oh Gott, wieviel Geduld wird der Anrufer haben? Vor allem, wer ist es? Dann, nach einer kleinen Ewigkeit, nimmt Serge die Hand vom Hörer und bedeutet mir, abzuheben. »Hallo?« »Gut, daß Sie da sind. Sind Sie wohlauf?« »Monsieur Huchette!« rufe ich erleichtert und ein wenig atemlos aus. »Was gibt’s denn?« »Die Gendarmerie war bei mir. Wollte wissen, ob und an wen ich mein Häuschen vermietet habe.« »Was? Wieso denn?« Erschrocken blicke ich Serge an. »Nun, Sie haben doch sicher von dem Mord in Rennes gelesen. Und der Flüchtige soll sich irgendwo hier an unserer Küste aufhalten. Die Kriminalpolizei hat um die Mithilfe der örtlichen Behörden gebeten. Aber Sie kennen ja unseren kleinen Ort. Die wenigen Gäste des einzigen Hotels konnten sie schnell zu den -169-
Akten legen, wie man so schön sagt. Tja, und dann hat sich der alte Maubert wohl daran erinnert, daß ich mein Häuschen manchmal an Feriengäste vermiete und hat mal bei mir vorbeigeschaut. Aber machen Sie sich keine Sorgen, er wird Sie nicht behelligen.« »Warum sollte er auch?« frage ich und gebe ein nervöses Lachen von mir. »Nun, Sie müssen zugeben, daß die Beschreibung von dem Mörder und seiner Komplizin auch auf Sie passen könnte. Oder haben Sie die Zeitung nicht gelesen?« Serge läßt mich nicht aus den Augen. Heftig zieht er an seinen Fingern. Wie schrecklich angespannt sein Gesicht ist. Diese tiefe Falte auf seiner Stirn. Ich muß wegsehen, um mich auf das Gespräch zu konzentrieren. »Ach, das meinen Sie.« Ich hole tief Luft und zwinge mich zu einem Lächeln. »Doch, doch. Ähm, wir haben sehr gelacht über die Vorstellung, ein Verbrecherpärchen zu sein. Was haben Sie der Polizei denn gesagt?« »Ich mußte denen natürlich sagen, daß ich an Sie vermietet habe. Das mit der Ähnlichkeit habe ich natürlich für mich behalten. Ich wollte erst mit Ihnen sprechen.« »Das war sehr nett von Ihnen, Monsieur Huchette. Aber Sie brauchen sich wirklich keine Sorgen zu machen.« »Hab ich doch gleich gewußt, daß das nur ein dummer Zufall ist. Aber ein bißchen komisch kam mir die Sache doch vor. Und ich hab Sie doch so gern. Da wollte ich mich eben vergewissern, daß alles in Ordnung ist. Wenn ich Sie jetzt nicht an den Apparat gekriegt hätte, hätte ich doch die Polizei nach dem Rechten sehen lassen. Das bin ich Ihnen schuldig.« »Um Gottes Willen, Monsieur Huchette! Ich versichere Sie, bei uns ist alles in Ordnung.« »Nicht wahr, Sie sind mir nicht böse?« -170-
»Aber nein. Sie haben ja nichts Falsches getan.« »Na, da bin ich aber beruhigt. Ist sonst alles zu Ihrer Zufriedenheit?« »Aber ja. Wie immer. Sie haben an alles gedacht.« »Dachte mir, daß die Blumen Sie freuen würden. Frauen mögen so etwas. Ich erinnere mich noch gut, wie sehr meine Frau Blumen liebte. Aber ich will Sie nicht länger stören. Machen Sie sich ein paar schöne Tage. Und wenn Sie mal bei mir vorbeikommen – Sie wissen ja, daß ich mich immer freue, Sie zu sehen.« »Ich weiß. Danke für alles, Monsieur Huchette.« »War doch selbstverständlich, Kindchen. Also, bis bald.« »Ja, bis bald.« Ich warte auf das Knacken in der Leitung, dann lege ich auf. »Was ist? Rede!« Serge hat mich bei den Schultern gepackt. »Hat er Verdacht geschöpft?« Stumpf sehe ich ihn an, fühle mich wie betäubt. Mein Kopf fühlt sich an, als wäre ich soeben aus einem tiefen Schlaf erwacht. »Ich weiß nicht genau«, höre ich mich sagen. »Aber wenn, dann habe ich ihn gerade vom Gegenteil überzeugt«, füge ich nachdenklich hinzu. Ich tauche unter Serges Händen weg und lasse mich aufs Sofa fallen. Der Wunsch nach einer Zigarette ist übermächtig. »Das war doch nicht alles«, fragt er mißtrauisch, und plötzlich tut er mir leid. »Nein«, sage ich langsam und deutlich. »Die Polizei war bei ihm und hat nach uns gefragt.« »Was?« Das blanke Entsetzen steht ihm ins Gesicht geschrieben. -171-
»Beruhige dich. Er hat ja nichts gesagt. Und wenn sie ihm noch mal Fragen stellen, wird er hoffentlich das weitergeben, was ich ihm erzählt habe. Er mag mich, also glaubt er mir. Das ist unser Vorteil.« »Unser Vorteil?« Ich beiße mir auf die Lippen, wage nicht, Serge in die Augen zu sehen. »Du glaubst mir also?« Meine Finger zupfen nervös an einer Haarsträhne. Mein Zögern muß eine Qual für ihn sein. »Vorerst, ja«, sage ich leise. Ehe ich mich versehe, sitzt er neben mir und ergreift meine Hände. In seinem Überschwang drückt er zwei Küsse darauf, und ich schäme mich. »Danke«, sagt er. »Du weißt nicht, was das für mich bedeutet.« »Mir ist kalt«, sage ich und entziehe ihm verlegen meine Hände. »Können wir den Kamin anmachen?« »Gute Idee.« Er steht auf. »Im Kühlschrank ist noch Käse. Ich habe plötzlich einen Mordshunger.« »Ich kann auch was kochen.« »Nein. Ich möchte reden. Und, ich möchte deine volle Aufmerksamkeit.« Sein Lächeln ist etwas unsicher. So, als habe er es lange nicht gebraucht. Und ich lächele ebenso vage zurück, weiß nicht, ob ich noch mehr hören will. Zu sehr fürchte ich mich davor mitzuerleben, wie Serge sich um Kopf und Kragen redet. Will nicht ein weiteres Mal beschämt meine Meinung revidieren müssen, vor dem strengen Blick der Vernunft. Trotzdem bringe ich kein Wort über die Lippen. Nur in meinem Kopf wiederhole ich stumm die Bitte an mein übervolles Herz, mich nicht zum Narren zu halten. Diesmal nicht. -172-
Serge kommt mit aufgeschnittenem Baguette und Käse zurück, hockt sich auf den Boden vor den Kamin und öffnet eine neue Flasche Rotwein. Ich setze mich ebenfalls auf den Boden, lehne den Rücken gegen die Sitzfläche der Couch. Nachdem die Zeremonie des Kostens, Einschenkens und Anstoßens vorüber ist, frage ich mutig: »Also, worüber willst du reden?« Sein Blick brennt auf mir, und ich kann ihn nicht deuten. Immer noch fremd ist dieser Mann. Manchmal so nah, und dann wieder an Orten, wohin ich ihm nicht folgen kann. Und doch zieht er an mir wie ein Magnet. »Wieso hast du deine Meinung geändert?« Da ist sie, die unausweichliche Frage. »Ich weiß es nicht«, seufze ich. »Ich habe nach wie vor keinen Beweis, daß du mir die Wahrheit erzählt hast. Es ist mehr so ein Gefühl.« »Was für ein Gefühl?« »Ach Gott, eben das Gefühl, daß ich dir glauben kann.« »Aber du hast immer noch Angst, daß dein Gefühl dich trügt, nicht wahr?« »Ja.« Ich winde mich unter seinem Blick, entscheide mich für die Flammen im Kamin. »Täuschst du dich oft in deinen Gefühlen?« Ein wahres Höllenfeuer, das da im Kamin brennt. Aber ich werde nicht einfach so in Flammen aufgehen. »Ich glaube nicht, daß du in der Position bist, hier den Psychoanalytiker zu spielen«, entgegne ich. »Okay. Aber immerhin hast du Monsieur Huchette ein ganz schönes Märchen aufgetischt, und das ziemlich überzeugend. Wieso?« -173-
»Was willst du mit der Fragerei erreichen? Willst du was Bestimmtes hören, dann sag es.« »Was macht dich denn so wütend?« »Hör endlich auf damit! Ich will jetzt nicht darüber nachdenken. Sag mir lieber, warum du glaubst, daß deine Frau dich reingelegt hat. Und vor allem, wie?« Jetzt ist er es, der in die Flammen starrt. Minutenlang kein Wort, keine Bewegung. Er bereitet sich vor. Welche Bekenntnisse werde ich hören? Geläuterte Wahrheit oder der Not entsprungene Lügen? »Ich kann nur Vermutungen anstellen«, sagt er endlich. »Etwas war nicht richtig in dieser Nacht. Und ich weiß immer noch nicht, was es war. Ich habe keine Erklärung dafür, warum mein Bruder nachts in mein Haus kam, und wie. Ich weiß nur, ich habe ihn nicht töten wollen.« Wieder macht er eine Pause, starrt gedankenschwer auf den Teppich. »Und ich weiß auch…«, spricht er weiter. »Ich weiß auch, daß meine Frau nur eine große Liebe hat, und das ist Geld. Viel Geld. Sie ist süchtig nach Luxus und Macht. Ihr mußte mittlerweile klar geworden sein, daß ich es niemals in der Firma zu etwas bringen würde, geschweige denn, meinen Bruder verdrängen könnte. Sie wußte, daß ich es kaum noch aushielt, jeden Tag ins Büro zu gehen. Sie mußte befürchten, daß ich über kurz oder lang alles hinschmeißen würde. Je länger ich darüber nachdenke, desto mehr frage ich mich, warum sie mich nicht umbrachte. Als meine Frau hätte sie meinen Firmenanteil geerbt.« Prüfend schaue ich Serge an. Aber er verbirgt seine Gefühle hinter zynisch heruntergezogenen Mundwinkeln. Dennoch spinne ich seinen Faden weiter. »Und wenn es so war?« -174-
»Wenn was so war?« fragt er tonlos, ganz so, als wolle er meine Antwort gar nicht hören. »Wenn eigentlich du das Mordopfer warst?« Serges Augen weiten sich. Ich kann sehen, wie sich hinter seiner Stirn eine entsetzliche Erkenntnis zusammenbraut. Dann schüttelt er den Kopf. »Was ist, Serge? Woran denkst du?« »Ich… Nein, das kann nicht sein.« »Was kann nicht sein?« Nervös ringt er die Hände. »Wenn du mit deiner Vermutung recht hättest«, preßt er hervor, »dann hieße das ja, daß mein eigener Bruder…« Hilfesuchend blickt er mich an. Und auch ich schnappe nach Luft, als mir die Ausmaße dessen, was ich da angedeutet habe, klar werden. »Dann hätte sie deinen Bruder in euer Haus gelassen, damit er dich umbringt? Damit sie dich beerben kann?« Er nickt, unfähig, ein Wort zu sprechen. »Aber warum sollte dein Bruder so handeln?« frage ich. »Ich denke, er mochte Judith nicht. Warum also sollte er mit ihr gemeinsame Sache machen?« »Ich habe nicht gesagt, daß er sie nicht mochte. Ich habe nur gesagt, daß er andere sexuelle Vorlieben hatte. Sonst kamen sie ausgezeichnet miteinander aus. Schließlich hatten sie die gleichen Interessen und…« Er zögert. Sein Gesicht verzieht sich schmerzlich. »Und den gleichen boshaften Charakter«, fügt er hinzu. »Wenn sie ihm einen Anteil am Erbe versprochen hat, halte ich ihn durchaus dazu fähig.« Mir läuft ein Schauer über den Rücken. Was für ein ungeheuerlicher Verdacht! Wie Serge so da sitzt, ganz in sich zusam-175-
mengesunken, einen verletzten Zug um die weichen Lippen, tut er mir leid. Gern würde ich ihm irgendetwas Tröstliches sagen. Doch ich sitze wie angenagelt. Schweigen breitet sich aus. Einziges Geräusch das knisternde Feuer. Umso mehr erschreckt mich Serges laute, plötzlich wütende Stimme: »Das kann nicht sein! Das kann alles nicht wahr sein! Es muß noch einen anderen Grund geben. Wenn ich nur wüßte, warum mein Bruder in dieser Nacht kam. Was hoffte er zu finden? Wie kam er ins Haus? So viele offene Fragen.« Er schlägt mit der Faust auf seinen Oberschenkel, und seine verzweifelte Geste läßt mich zusammenzucken. »Immer wieder läuft dieser Abend wie ein Film in meinem Kopf ab. Aber ich finde einfach keinen Hinweis.« Hilfesuchend sieht er mich an, und es kostet mich meine ganze Kraft, ihn nicht in die Arme zu nehmen. Stattdessen zünde ich uns zwei Zigaretten an und stecke ihm eine zwischen die Lippen. Dankbar nimmt er einen tiefen Zug. Als er weiterredet, spricht er mehr zu sich selbst als zu mir. »Warum hat sie nichts gesagt?« »Was meinst du?« »Judith. Sie war dicht hinter mir, als wir nach unten gingen. Es war dunkel, bis auf den Lichtschein, der unter der Tür des Arbeitszimmers hervorleuchtete. Wenn man zum Arbeitszimmer will, muß man am Wohnzimmer vorbei. Judith blieb auf den letzten Stufen der Treppe zurück. Ich passierte die offene Flügeltür des Wohnzimmers und bewegte mich auf den Lichtschein zu. Als ich ungefähr vier Meter zurückgelegt hatte, hörte ich Schritte aus dem Wohnzimmer und drehte mich um. Ich sah einen Mann, der auf mich zukam, konnte jedoch in der Dunkelheit nicht erkennen, daß es mein Bruder war.« Seine Stimme wird leiser. Das Sprechen bereitet ihm große Mühe. -176-
»Und als er immer näher kam, da habe ich… Ich habe einfach…« Er bricht ab und läßt den Kopf auf die Brust fallen. Sein Atem geht schnell und geräuschvoll. Unbeholfen lege ich meine Hand auf sein Bein. »Schon gut. Du mußt nicht weitersprechen.« »Ich will aber.« Seine Stimme ist drängend. »Vom Wohnzimmer zum Arbeitszimmer sind es fast fünf Meter. Er muß direkt an Judith vorbeigekommen sein. Er lief nicht schnell. Sie muß ihn eher als ich gesehen haben. Aber sie hat mich nicht gewarnt. Sie hat nicht den leisesten Laut von sich gegeben.« Er sieht mich an, als wolle er von mir hören, daß nicht wahr sein könne, was er soeben erkannt hat. »Sie muß gewußt haben, daß er im Wohnzimmer wartete – auf mich wartete, als ich zum Arbeitszimmer ging, wo doch der Lichtschein war.« Er fährt sich durch die Haare. Sein Gesicht sieht zehn Jahre älter aus. Er schlägt die Hände vor den Mund. »Mein Gott, das ist zu abscheulich, das kann ich nicht glauben.« Behutsam ziehe ich ihm die Hände vom Gesicht. »Wir wissen nicht, ob es so geschehen ist, und die ganze Wahrheit werden wir wohl nie erfahren. Aber ich denke, wir kommen ihr ziemlich nahe, auch wenn wir nicht jede Einzelheit ermessen können. Und ich glaube jetzt, daß alles geplant war.« »Aber wir können nichts beweisen, Joëlle.« Seine Hand krallt sich in meinen Unterarm. »Weißt du, was das für mich heißt? Wenn meine feine Frau nicht in einem unwahrscheinlichen Anfall von Reue ein Geständnis ablegt, werde ich Zeit meines Lebens für alle ein Mörder sein. Alles spricht gegen mich. Ich habe keine Beweise.« -177-
Mit unverhüllter Verzweiflung sieht er mich an. Und die tausend Dinge, die ich darin zu erkennen glaube, machen mir das Herz eng. Stumm ziehe ich seinen Kopf an meine Brust. Ich spüre seinen inneren Kampf. Seine Hände umfassen meine Taille, und er drückt sich ein wenig dichter an mich. Hilflos streichele ich seinen Hinterkopf. Doch ich kann sein Schicksal nicht ändern, weiß keine Lösung für sein Problem. Wenn es überhaupt einen Trost geben kann, dann sind es meine geflüsterten Worte: »Für mich wirst du kein Mörder sein, Serge. – Und diesmal weiß ich, daß es wahr ist.« Sofort fühle ich, wie sein Widerstand bricht. Die mühsam aufrecht gehaltene Fassade bröckelt, und mit einem trockenen Schluchzen drängt Serge sich an mich, als wäre ich sein Rettungsanker. Ich brauche keine Beweise mehr. Dieser Mann ist weder verrückt noch ein Mörder. Und obwohl es meine Arme sind, die ihm in diesem Augenblick Halt geben, klammere ich mich gleichermaßen an ihn. Ob er wohl ahnt, daß ich wie er auf das Seil warte, das mich aus dem Wasser zieht? Wir sind beide Ertrinkende, die sich gegenseitig Mut machen, noch eine Welle auszuhalten, um dann das Land zu sehen. Wer soll uns retten, wenn nicht wir selbst? Eng umschlungen sitzen wir da. Unbeweglich wie eine Skulptur, bis auf unseren Atem, der sich langsam beruhigt. Wir sitzen noch so, als das Feuer längst heruntergebrannt ist. Vorsichtig löst sich Serge aus meinen Armen. »Laß uns zu Bett gehen.« Schweigend steigen wir die Treppe hinauf. Schweigend ziehen wir uns aus. Schweigend liegen wir nebeneinander. Ganz nah. Die Dunkelheit schweigt nicht so laut wie wir. Bis unsere Hände sich berühren und mein Kopf den Weg an seine Schulter findet. Als ich seine Lippen spüre, wünsche ich mir, ich könnte ihm all jene Zärtlichkeiten sagen, die mir auf der Seele brennen. -178-
Stattdessen laufen Tränen aus meinen geschlossenen Augen. Um nichts in der Welt möchte ich seine Arme verlassen. Sein leiser Seufzer sagt mir, daß er genauso fühlt. Und doch spricht keiner von uns diesen Wunsch aus. Zu mächtig ist das Wissen um die Ausweglosigkeit unserer Situation. So übernehmen unsere Hände das Sprechen, und für die Dauer eines Traumes ist alles gut.
-179-
SECHSTER TAG
Am nächsten Morgen fällt das Reden schwer. Unsere Blicke sind mit dem Kaffee, den Biscottes, der Butter, der Konfitüre beschäftigt. Berührungen finden nur zufällig statt. Und selbst dann ziehen sich unsere Hände bedauernd zurück. Als Serge fertig ist, steht er auf und verläßt die Küche. Fast könnte ich meinen, er bereue die gestrige Nacht. Ich finde ihn im Wohnraum. Er lehnt am Fenster, und als er spricht, klingt seine Stimme verzweifelt: »Joëlle, ich kann nicht ins Gefängnis gehen. Ich könnte es nicht ertragen, eingesperrt zu sein.« Stumm lasse ich mich auf der Couch nieder. Ich sehe seine Augen, die sehnsuchtsvoll in die Ferne schauen, weit über die verregnete Landschaft hinaus. Ich sehe das Zucken um seinen Mund, der um Beherrschung ringt und doch nicht wagt zu reden. Aber ich schweige. Kein Wort von mir kann seinen Schmerz lindern. Draußen rauscht unaufhörlich der Regen. Es ist bereits so dunkel wie am Nachmittag, als würde es überhaupt nicht mehr hell. »Ach Joëlle«, seufzt er. »Ich kann gut verstehen, warum du so gern hierher kommst. Ich weiß, was du empfindest, wenn du auf der Klippe im Wind stehst und aufs Meer schaust. Das ist Leben. Freies Leben.« Diese Worte sind schlimmer als sein Schweigen. -180-
»Ich konnte nicht mal ins Büro gehen, ohne das Gefühl zu ersticken. Die langen Gänge mit den vielen Türen, in manchen Räumen nicht einmal Fenster. Tagtäglich sehnte ich die Pause herbei, nur um den Mauern zu entfliehen. Aber während andere ihre Mägen füllten, lief ich in den Park. Wenn es die Zeit zuließ, fuhr ich auf die Koppel. Dort konnte ich durchatmen. Weiche Erde und Gras unter den Füßen. Wind auf der Haut, und die Pferde fühlten sich so warm an. Sie rochen nach frischem Heu.« Er bricht ab, dreht sich um, kommt auf mich zu. »Und ich soll in einer Zelle auf- und ablaufen und auf Beton starren? Das wäre mein sicherer Tod. Wenn ich doch nur ein Boot hätte, ein Boot«, murmelt er vor sich hin. Und vor meinem geistigen Auge taucht abermals die weiße Yacht von Monsieur Huchette auf. ›Josiane‹ steht auf dem Bug. Der Name seiner Frau. »Du willst fliehen?« »Ich muß.« Er beugt sich zu mir herab und ergreift meine Handgelenke. »Verstehst du das?« Ich nicke. Natürlich verstehe ich. Aber allein wird er es nicht schaffen. Er braucht mich. Ich weiß, wer ein Boot hat. »Laß mich mit dir kommen, Serge.« Ruckartig läßt er mich los. Aber schon im nächsten Augenblick läßt er sich auf die Knie nieder, so daß sein Gesicht auf gleicher Höhe mit meinem ist und legt einen Finger auf meine Lippen. »Schsch…«, macht er. »Ich weiß, was du sagen willst, Joëlle. Ich habe mir auch gewünscht, es zu sagen. Aber es würde alles nur noch schlimmer machen.« Sein Finger streicht über meine Lippen, als könne er so meine Worte zurückhalten. -181-
»Es wäre nicht fair, Joëlle. Ich habe keine Zukunft. Aber du hast eine.« Seine Finger spielen zärtlich auf meiner Wange, dann zieht er die Hand zurück, als habe er sich verbrannt. Er steht auf und dreht mir den Rücken zu. »Ich werde mich allein durchschlagen. Ich bitte dich nur um eines: Bleib noch ein paar Tage hier, nachdem ich weg bin. Ich will weit weg sein, wenn du die Fragen der Polizei beantworten mußt.« Ich sehe den Mann am Fenster. Ich sehe gerade Schultern und Beine, die fest auf dem Boden stehen. Und obwohl er mir den Rücken zudreht, sehe ich sein schönes, trauriges Gesicht vor mir. Ernste Augen, nicht dafür geschaffen, unbesonnenen Charme zu versprühen. Augen, die ihre Gefühle nicht verbergen. Mal wild, manchmal sanft, aber niemals gleichgültig. Ich erinnere mich an sein Lächeln und wünsche mir nichts mehr, als ihn endlich lachen zu sehen, so wie auf dem Photo. Der Mann im Lederblouson, der neben seinem Pferd in die Sonne lacht. »Serge, ich liebe dich.« Ruckartig dreht er sich um, geht zum Kamin. Mit abgehackten Bewegungen stochert er mit dem Schürhaken in den glühenden Scheiten herum, legt neues Holz nach. Es knistert und knackt. Das Feuer von gestern lebt wieder auf. Mit unnötig lautem Scheppern stellt Serge den Feuerhaken zurück zum übrigen Kaminbesteck. Eine Hand auf den Sims gestützt, starrt er in das Flackern der Flammen. Dann schüttelt er den Kopf. »Es hat doch keinen Sinn.« Ich aber sehe nur das weiße Boot von Monsieur Huchette vor mir. Ein Lächeln breitet sich in meinem Innern aus, und ich frage: »Braucht Liebe denn einen Grund?« »Schön gesagt.« Serge hockt sich auf den Boden. Hinter ihm das Feuer. Schmerzhaft schön erscheint mir seine Gestalt. -182-
»Aber wie lange kann deine Liebe dauern?« Endlich sieht er mich an. »Wie lange, Joëlle, bis es dir zuviel wird, auf der Flucht zu sein. Was bleibt davon übrig, wenn wir kein richtiges Zuhause haben? Du würdest es bereuen, Joëlle, bitter bereuen. Und das könnte ich nicht ertragen.« »Mir ist egal, wie lange es dauert. Die Liebe ist das wertvollste Gefühl, das wir haben können. Wer könnte es jemals bereuen?« Er legt die Hände auf die Ohren, als wolle er nichts mehr hören. »Verstehst du denn nicht?« Jetzt streckt er mir die leeren Handflächen entgegen. »Ich will nicht, daß du meinetwegen in Gefahr gerätst. Ich will nicht dein Leben zerstören.« »Das kannst du gar nicht.« »Dann werde ich verhindern, daß du es tust. Ich werde dich nicht mitnehmen. Hast du das jetzt endlich verstanden?« Seine Miene soll Strenge ausdrücken, vielleicht sogar Ärger. Aber mich kann er nicht täuschen. Ich habe meinen Entschluß gefaßt. »Ich höre deine Worte, Serge. Aber dieses ›Nein‹ kommt nicht aus deinem Herzen.« Er schweigt, doch glaube ich in seinen Augen ein Flehen zu erkennen. Den Wunsch nach einem Satz von mir, der ihn nachgeben läßt. »Du mußt jetzt nichts sagen. Hör mir nur zu.« Fast beschwörend lege ich die Hände zusammen. »Als ich hierher fuhr, fühlte ich mich hohl wie eine leere Weinflasche, die morgens im Papierkorb landet. Ich fühlte mich überflüssig und wertlos und einsam. Ich lebte in einer Seifenblase. Ich sah George und seine Freunde lachen und verstand nicht, worüber. Ihre Oberflächlichkeit tat mir weh. Ich wollte lange nicht glauben, daß auch George so war. Aber seit ich hier bin, seit ich dich traf, weiß ich, daß ich mich selbst belogen habe. Ich -183-
dachte, bei ihm würde ich die wahre Liebe finden. Ich glaubte, er könnte mir Geborgenheit geben. Aber eigentlich war ich immer allein. Ich habe mich von seinen breiten Schultern täuschen lassen. Ich wollte mich bei ihm anlehnen und fiel ins Bodenlose. Und im Grunde braucht auch George mich nicht. Er braucht niemanden – nur Dinge, die ihn aufwerten. Aber du bist anders. Du hast dir meine Sorgen angehört. Und wenn du nicht solche Angst hättest, wieder betrogen zu werden, würdest du zugeben, daß du dir ebenso sehr einen Menschen wünschst, der zu dir hält, wie ich. Wir sind beide verletzt worden, Serge. Ich hatte beinahe schon resigniert, aber du hast mir neuen Mut gegeben. Du würdest niemals aufgeben. Und das ist keineswegs verrückt. Das weiß ich jetzt. Verleugne deine Träume nicht. Lebe sie mit mir.« Mit zwei Schritten bin ich bei ihm, nehme sein Gesicht in meine Hände. »Du wirst mir niemals mit selbstgefälligem Lächeln erzählen, das ganze Leben sei ein Paradiesapfel, wenn man nur Geld genug hat, um den Rummelplatz zu kaufen.« Er sieht mich an, ein trauriges Glitzern in den Augen, noch immer hoffnungslos und zweifelnd. Draußen rauscht der Regen. Deutlich höre ich, welch unterschiedliche Geräusche die Tropfen machen, wenn sie auf die Erde, auf die Bäume, auf das Dach oder in die Regentonne treffen. Es ist, als stünde die Zeit still, bis ich endlich den entscheidenden Satz aussprechen kann. Die Enthüllung, vor der ich so lange zurückgeschreckt bin. Aber nun habe ich keine Angst mehr. Ich liebe diesen Mann, dessen Gesicht sich ganz warm zwischen meinen Händen anfühlt. Und ich werde alles tun, damit wir eine Zukunft haben. Aufmunternd lächele ich ihm zu. »Monsieur Huchette hat ein Boot, Serge.« Ein Zwinkern unterbricht seinen Blick. Es ist, als kehre das Leben in seine Augen zurück. »Was hast du gesagt?« -184-
»Ja, Serge. Es ist wahr.« Freudestrahlend sehe ich ihn an. »Ich kann ihn sicher dazu bringen, es mir zu leihen. Wir könnten irgendwo hinfahren, wo uns keiner kennt. Wohin du willst. Du mußt mich mitnehmen, Serge!« »Huchette hat ein Boot.« Leise, zögernd und ungläubig wiederholt er meine Worte. Und ganz langsam breitet sich ein Lächeln in seinem Gesicht aus. Sein erstes wunderbares Lächeln. Doch, als sei es ihm peinlich, seine Freude zu zeigen, legt er eine Hand über den Mund. »Du kannst mir glauben, Serge. Ich meine es ernst. Ich will mit dir weggehen.« Ganz langsam sinkt seine Hand herab. Immer noch staunend sieht er mich an, aber in seinen Augen leuchtet es. »Bist du dir auch ganz sicher?« fragt er, und als ich nicke, schüttelt er lachend den Kopf. »Ich weiß gar nicht, was ich sagen soll. Ich kann es immer noch nicht glauben. Weißt du eigentlich, was das für mich bedeutet?« Und plötzlich springt er auf die Füße und zieht mich hoch. Mit beiden Händen hält er mich von sich ab und sieht mich an, als müsse er sich vergewissern, daß er nicht träumt. »Ach, Joëlle. Ich hatte keine Hoffnung mehr, weder für mich noch für uns. Und mit einem Mal, mit einem kleinen Satz, ist alles anders.« Er zieht mich an sich, bedeckt mein Gesicht mit Küssen. Er scheint gar nicht damit aufhören zu wollen. Sein Lachen und seine Freude springen auf mich über. Er hat recht. Mit einem Mal ist alles anders. Ich bin glücklich. »Das muß gefeiert werden«, ruft er aus und verschwindet in die Küche. »Um Himmels Willen, Serge. Es ist elf Uhr morgens. Du willst doch jetzt keinen Alkohol trinken«, rufe ich ihm lachend nach. -185-
»Viel besser«, gibt er zurück. »Setz dich nur hin, und laß dich überraschen.« Übermütig lasse ich mich auf das Sofa gegenüber dem Kamin fallen. In mir ist eine solche Freude, daß ich kaum stillsitzen kann. Am liebsten möchte ich keine Sekunde mehr alleine sein. Ich möchte aufspringen und Serge in die Küche folgen, nur um ihn zu sehen, ihn berühren zu können. Trotzdem folge ich seinem Wunsch und warte. Erwartungsvoll lausche ich den Geräuschen aus der Küche. »Augen zu!« ruft er, als er wieder kommt. Es klappert leise, und dann sagt er: »Voilà, Madame, es ist serviert.« Und als ich die Augen öffne, stehen auf dem kleinen Tischchen zwei dampfende Tassen mit Sahnehäubchen. »Was ist denn das?«, lache ich. »Einen Moment noch, es kommt noch besser.« Dann macht er sich am Sideboard neben der Treppe zu schaffen. Es knackt und rauscht ein paarmal ganz fürchterlich, und dann füllt Musik den kleinen Raum. Edith singt: Hymne à l’amour. Kein Stereoton, es klingt etwas blechern, aber für mich ist es das schönste Lied der Welt. Le ciel bleu sur nous peut s’effrondrer et la terre peut bien s’écrouler peu m’importe, si tu m’aimes, je me fous du monde entier. Ja, denke ich, auch wenn der Himmel über uns einstürzt und die Erde unter uns zusammenbricht. Was macht das schon, solange du mich liebst? Feierlich reicht Serge mir die große Tasse. -186-
»Es gibt nichts Besseres für die Seele als heißen Kakao mit Sahne, weißt du? Ich hoffe, du magst Chocolat chaud.« »Ob ich sie mag? Ich liebe sie. Auch wenn sie zehnmal zuviel Kalorien hat.« »Als wenn du darauf achten müßtest«, entgegnet er augenzwinkernd. Und dann schlürfen wir andächtig unsere Schokolade und lauschen der Musik. »Ich wußte gar nicht, daß der ausrangierte Plattenspieler noch funktioniert«. »Hast du dir je die Mühe gemacht, es auszuprobieren?« »Wenn ich ehrlich bin, weiß ich nicht einmal, ob er bei meinem letzten Besuch da war. Es ist lange her, weiß du?« Er nickt. »Eine große Auswahl hat uns Monsieur Huchette allerdings nicht da gelassen«, fährt er fort. »Ein bißchen Charles Trenet, George Brassens und sogar Maurice.« »Chevalier?« frage ich lachend. »Allerdings.« Er verzieht das Gesicht. »Ich gebe zu, ich bin kein Freund von Techno oder Hip-Hop und ähnlichem. Aber Maurice Chevalier ist auch für mich zuviel.« »Zuviel wovon?« »Zuviel Schönfärberei, zuviel Harmlosigkeit. So schön waren die alten Zeiten auch nicht.« »Und warum hast du gerade die Piaf ausgewählt?« Etwas verlegen streift mich sein Blick. »Ich fürchte, ich bin ein wenig altmodisch. Ich mag ihre Lieder, weil sie immer von wahrer Liebe sprechen und weil sie so schön melancholisch sind.« »Und ein wenig traurig?«
-187-
Si un jour la vie t’arrache à moi Si tu meurs, que tu sois loin de moi Peu m’importe, si tu m’aimes Car moi j’aimerais aussi »Traurig? Ich würde es nicht traurig nennen, wenn man jemanden bis in den Tod liebt. Es gibt nur das oder gar nichts.« Ich fühle, wie ich erschauere. Trotz der schönen Stimmung muß ich wieder daran denken, welches Unbehagen mir seine Absolutheitsansprüche an die Liebe bisher eingeflößt haben. Und als hätte er meine Gedanken erraten, fragt er: »Ich weiß, das macht dir angst. Aber ist es nicht genau das, was du dir in letzter Konsequenz immer gewünscht hast? Ist es nicht das, was du bei George immer vermißt hast?« Er hat recht. Oh, wie ich weiß, daß er recht hat. Trotzdem fühle ich mich unsicher. So fühlt es sich an, wenn man endlich bekommt, was man sich wünscht und Angst hat, daß es einen doch enttäuschen könnte. Wortlos schmiege ich mich an Serge und hoffe, daß er versteht. Und er lehnt sich zurück und hält mich ganz ruhig und fest. Ab und zu berühren seine Lippen meine Stirn, und ich fühle nur noch Zufriedenheit. Ich weiß, kein Wort könnte meine Gefühle beschreiben. Die Nähe des anderen zu genießen, dem fremden Herzschlag zu lauschen, ist uns genug der Worte. Und unsere Berührungen geschehen so vorsichtig, als könnte eine falsche Bewegung die Zärtlichkeit, die uns einhüllt, verletzen. Und dann beginnen meine Gedanken zu reisen. Sehnsuchtsvoll und leise lächelnd schaue ich in das Kaminfeuer und sehe lauter kleine Zukunftsschimmer. »Worüber lächelst du?« holt Serges Stimme mich zurück. Zurück aus grünen Hügeln. Aus einem Land, das keine Mauern hat. Aus einem Land, wo Pferde ohne Sattel galoppieren. Ich kuschele mich noch enger an ihn. -188-
»Ich dachte gerade an einen Platz, an einen wunderbaren Ort, an dem wir bleiben können, an dem niemand uns finden kann.« »Und was ist das für ein Ort?« »Ich dachte an Irland oder die britischen Inseln. Irgendein grünes Land, wo man dich nicht verfolgt. Ein Land, das Pferde liebt.« Spontan schließt er mich wieder in die Arme. »Ach, Joëlle, daß du daran gedacht hast. Dafür liebe ich dich. Und ich bin froh, bei dir zu sein. Froh, daß du dich für mich entschieden hast.« Den Rest des Mittags verbringen wir damit, unsere Flucht und unser künftiges Leben zu planen. Meine Stimmung pendelt zwischen logischem Kalkül und phantastischen Vorstellungen hin und her. Und immer wieder staune ich, wenn mir bewußt wird, welch großen Schritt ich im Begriff bin zu tun. Vor ein paar Tagen hat mein Leben in Scherben vor mir gelegen, und ich hatte keinen Plan, wie es weitergehen sollte. Mein einziges Bestreben war es, George dazu zu bringen, der Mensch zu werden, den ich in ihm gesehen hatte. Jetzt weiß ich, daß ich unweigerlich gescheitert wäre. Und heute, nachdem ich Erlebnisse hatte, die andere Menschen nur aus einem Kriminalroman kennen, sitze ich hier und lasse mich auf ein Abenteuer ein, das weitaus größer ist, als eine Beziehung zu beenden und sich einen neuen Job zu suchen. Meine Lebensumstände sind nicht besser geworden, die Situation sogar noch schwieriger, und trotzdem fühle ich mich nicht hoffnungslos. Im Gegenteil. Jeder Blick, jede Berührung, die Serge mir schenkt, gibt mir die Zuversicht, das alles gut wird. Etwas Neues beginnt. Und ich werde nie mehr so sein, wie ich einmal war. Es dämmert schon, als Serge sich endlich entspannt zurücklehnt und die Arme hinter dem Kopf verschränkt. Mit einem zufriedenen Lächeln sieht er mich abwartend an. -189-
»Was ist?« frage ich. »Haben wir irgend etwas nicht bedacht?« »Im Gegenteil.« Sein Lächeln wird noch breiter. »Es bleibt nichts mehr zu tun, als unseren Plan in die Tat umzusetzen.« »Du meinst, heute nacht?« Er nickt. Sofort klopft mir das Herz bis zum Hals. Dennoch kann ich nicht anders, als Serges erwartungsfrohe Stimmung zu teilen. Eine nie gekannte, freudige Erregung hat von mir Besitz ergriffen. »Also gut.« Forsch halte ich ihm meine leere Hand hin. Er grinst mich an, und ich fühle mich herrlich bei dem Gedanken, daß wir von nun an eine verschworene Gemeinschaft sind. Irgendwie macht mich dieses stille Einvernehmen sehr stolz. Serge greift in seine Hosentasche und legt die Autoschlüssel hinein. »So entschlußfreudig kenne ich dich ja gar nicht«, sagt er. »Ich werde auf dich aufpassen müssen.« Ich werfe lachend den Kopf in den Nacken. »Ja, paß nur auf. Vor dir steht eine neue Joëlle. Und die ist voller Tatendrang. Ich weiß gar nicht, wovor ich die ganze Zeit Angst hatte.« Serge lächelt. Dann ergreift er meine Hand. »Werde jetzt nur nicht übermütig. Wir müssen sehr vorsichtig sein. Ist dir das klar?« »Sonnenklar.« Ich drücke ihm einen Kuß auf die Lippen. »Weißt du noch, was du sagen sollst?« »Aber ja, mach dir keine Sorgen. Heute abend haben wir das Boot.« ***
-190-
Monsieur Huchette freut sich über die Maßen, mich zu sehen. Unmöglich, seine Einladung zum Aperitif abzulehnen. Die Gendarmerie sei nicht wieder aufgetaucht, erzählt er. Auch habe er nichts von einer Suchaktion gehört. »Wissen Sie«, sagt er und macht eine weitausholende Geste, »das hier ist die Provinz. Wenn die Gendarmen hier die Order kriegen, in ihrem Bezirk Nachforschungen anzustellen, dann tun sie das natürlich. Und natürlich werden sie überall auf ein Glas eingeladen. Wahrscheinlich ist das der Grund, weshalb sie es überhaupt tun. Aber ansonsten betrachten sie die Sache nicht als ihre Angelegenheit. Denn Rennes ist für uns, auch wenn es noch gerade am Rande der Bretagne liegt, schon fast Paris, und damit haben wir nichts zu tun. Also sind die Gendarmen froh, wenn sie keinen Hinweis finden und wieder zur Tagesordnung übergehen können.« »Glauben Sie, die schicken jemanden von Rennes hierher?« »Warum sollten sie das tun?« »Nun, immerhin ist die Tat doch dort begangen worden, und der, …ähm Mörder soll sich doch in dieser Gegend hier aufhalten.« »Na ja, mag sein. Allerdings glaube ich nicht, daß er ausgerechnet hier ist. Er soll doch wohl in Lorient ausgestiegen sein.« »Und wenn er weitergefahren ist? Haben die Gendarmen nichts darüber gesagt, ob sich seine Spur von Lorient aus weiterverfolgen läßt?« »Glauben Sie etwa, daß er sich hier aufhält? Da kann ich Sie beruhigen, Kindchen. Warum sollte er sich auch in unserem Nest verstecken? Im Winter fällt hier jeder Fremde sofort auf. Haben Sie ja am eigenen Leib erfahren, ha, ha.« Etwas gekünstelt stimme ich in sein Lachen ein. »Wenn Sie mich fragen, Kindchen, ist der längst über alle Berge. Die Polizei vermutet auch, daß er gleich nach seiner Ankunft mit dem nächsten Tanker ausgelaufen ist. Entweder als -191-
blinder Passagier, oder er hat sich irgendwo anheuern lassen. Das kommt häufig vor, und die Seeleute stellen nicht viele Fragen, wenn sie eine billige Arbeitskraft bekommen können. Und für die Rückfahrt findet sich wieder ein anderer. Wenn die Polizei tatsächlich jemanden aus Rennes kommen läßt, wird der sich bestimmt auf Lorient konzentrieren und nicht seine Zeit bei uns vergeuden. Aber warum interessiert Sie das so?« »Na, ich bitte Sie, Monsieur Huchette«, sage ich und ziehe die Brauen hoch. »Schließlich haben Sie mich selbst schon für eine Komplizin des Täters gehalten. Da ist es doch nur natürlich, daß ich mich dafür interessiere, was aus ihm geworden ist.« »Ha, ha, sehr witzig, ja. Sie sind nicht auf den Mund gefallen. Aber lassen Sie uns doch von etwas Erfreulicherem reden.« »Sie haben ganz recht. Haben Sie eigentlich noch das Boot?« »Die ›Josiane‹?« »Ja. Als ich gestern an den Klippen spazieren ging, bekam ich auf einmal wahnsinnige Lust, segeln zu gehen.« »Bei dem Wetter, Kindchen? Ich weiß nicht. Das kann gefährlich werden. Trauen Sie sich das zu?« »Aber ja, Monsieur Huchette. Machen Sie sich keine Sorgen. Mit George war ich zweimal im Jahr segeln. Und nicht nur in der Karibik.« »Wer ist George?« »Mein, äh… Ex-Freund.« »Aha. Und was ist mit Ihrem jetzigen Begleiter? Kann der auch segeln?« Ich kann schlecht zugeben, daß wir darüber gar nicht gesprochen haben. Aber Monsieur Huchette ist so gewillt, mir zu glauben, daß er mein Zögern gar nicht bemerkt. Schnell sind wir uns einig, und dann nimmt sein Gesicht einen schwermütigen Ausdruck an, als er sagt: -192-
»Josiane und ich hatten eine schöne Zeit auf dem Boot. Auf dem Wasser ist immer alles ganz leicht. Jegliche Belastung fällt von einem ab, und die Sorgen bleiben weit weg an Land.« Seine Augen sehen Erinnerungen, und ich muß schlucken, als er mit brüchiger Stimme beginnt zu erzählen. Obwohl ich eigentlich nur noch zurück zu Serge will, um ihm die gute Nachricht zu überbringen, komme ich nicht umhin, mir Monsieur Huchettes Geschichten anzuhören. Bewegt beobachte ich, wie sein altes Gesicht abwechselnd strahlt und in Wehmut versinkt. Als er geendet hat, sieht er mich an und sagt: »Verzeihen Sie einem altem Mann seine Melancholie. Die Erinnerung ist das einzige, was ich noch habe. Aber ich wünsche Ihnen, daß Sie und Ihr Freund ebensoviel Freude haben werden, wenn Sie das alte Mädchen über die Wellen jagen. Ach ja, ich würde mich auch gerne noch einmal so lebendig fühlen.« *** Ich kaufe im Dorf Proviant, eine Taschenlampe, warme Socken, ein paar T-Shirts und Unterwäsche, eine Mütze und einen dikken Pullover für Serge. Ich gebe mir reichlich Mühe bei der Auswahl, obwohl die Sachen eigentlich nur den Zweck haben, ihn auf dem Boot warm zu halten. Aber es macht mir solchen Spaß, etwas für ihn zu kaufen. Und die ganze Zeit beantworte ich freundlich, aber zurückhaltend, die Fragen einiger Dorfbewohner, die wissen wollen, ob es uns hier gefiele und ob wir im Sommer wiederkommen wollen. Als ich aus dem Laden auf die Straße trete, fühle ich mich beschwingt. Ich schmunzele bei dem Gedanken, welches Abenteuer vor mir liegt. Ich kann es kaum noch erwarten, die ›Josiane‹ von ihrem Liegeplatz loszumachen. Aber dann wird meine gute Laune jäh getrübt. Meine Augen bleiben an einer Gestalt auf der gegenüberliegenden Straßenseite hängen. Ungläubig registriere ich den teuren Lodenmantel und -193-
die glänzenden Schuhe. Dann wendet sich der kurzgeschnittene blonde Schopf in meine Richtung. Die blauen Augen zweifeln keinen Moment, als sie mich erblicken, und ich schaue schrekkensstarr in sein breites Lächeln. Als er die Fahrbahn betritt, kommt Leben in mich. Auf dem Absatz mache ich kehrt, und ohne ihn eines weiteren Blickes zu würdigen, renne ich zu meinem Wagen. Ich höre ihn meinen Namen rufen, und seine Stimme gellt mir in den Ohren, als habe er in ein Megaphon gesprochen. Wütend knalle ich die Tür zu und gebe Gas, rase die Dorfstraße runter. Im Rückspiegel sehe ich ihn mitten auf der Straße stehen, die Arme halb erhoben. Und obwohl sein Abbild viel zu klein ist und sich schnell entfernt, weiß ich, welche Blicke er mir jetzt hinterher schickt. Mein Herz klopft wie wild. Mein Tempo ist halsbrecherisch auf den ungeteerten Wegen, aber ich muß so schnell wie möglich zu Serge. Allein bin ich dieser Situation nicht gewachsen. Mein Gott, ich schmiede Fluchtpläne, versuche, die Polizei zu überlisten und habe Angst, meinem langjährigen Partner gegenüber zu treten. Mit der flachen Hand schlage ich auf das Lenkrad, verfluche unsere vertrackte Lage und am heftigsten mich selbst. Was, zum Teufel, macht George hier? Ich habe nie ernsthaft damit gerechnet, daß er mich suchen würde. Sollte ich mich so sehr in ihm getäuscht haben? Sollte er doch mehr Liebe für mich empfinden, als ich ihm zugetraut habe? Bin ich vielleicht diejenige, die nicht weiter geblickt hat als bis vor sein Lächeln? »Verdammt, verdammt!« Wieder schlage ich mit den Händen auf das Lenkrad, als könne ich so den Schreck über meine Zweifel unterdrücken. Immer wieder schaue ich in den Rückspiegel, erwarte, Georges Jaguar jeden Moment hinter mir zu sehen. Aber die Straße ist leer. Trotzdem fahre ich mit unverminderter Geschwindigkeit weiter. Mit einem Ruck, daß die Päckchen von der Rückbank fliegen, halte ich vor dem Haus. Serge erscheint in der Tür, aber sein -194-
Willkommenslächeln erstirbt, als er meinen gehetzten Gesichtsausdruck bemerkt. Ich stürze aus dem Wagen und werfe mich in seine Arme. »Wir müssen sofort weg hier! George hat mich im Dorf gesehen.« »Was? Er ist hier?« »Ja, und er wird bestimmt schnell herausgefunden haben, wo wir sind. Ich bitte dich, Serge, wir müssen weg. George wird alles kaputt machen.« »Beruhige dich.« Er zieht mich ins Innere des Hauses. »Wir können nicht so Hals über Kopf fliehen. Nicht vor Einbruch der Dunkelheit. Das Risiko, daß mich im Hafen jemand erkennt, ist einfach zu groß, Joëlle.« Ich rede unbeirrt weiter. Zu groß ist meine Angst. »Ich hab die Schlüssel für das Boot, Serge.« Ich ziehe die Schlüssel aus meiner Tasche und halte sie ihm unter die Nase. »Laß uns jetzt endlich gehen. Bitte!« »George ist nicht die Polizei.« Seine Stimme ist ganz ruhig. Zu ruhig. »Und er sucht dich, nicht mich. Wenn er hier auftaucht, mußt du mit ihm reden. Ich werde mich verstecken, bis er wieder weg ist. Tust du das für mich? Für uns?« »Ich habe Angst, Serge, Angst, daß er alles zerstört.« Einen Moment sieht er mich seltsam kühl an. Dann sagt er: »Ich auch. Aber es ist deine Angst, die mich beunruhigt. Denn George kann uns nur schaden, wenn du ihn zerstören läßt.« »Wie meinst du das?« »Er scheint doch mehr für dich übrig zu haben, als du angenommen hast. Vielleicht will er dich zurück nach Paris holen.« Sprachlos starre ich ihn an. »Hast du denn nicht begriffen, daß ich nicht mehr zu George zurück will?« -195-
Aber statt einer Antwort mustert er mich nur mit diesem Blick, der sich nicht zwischen Vertrauen und Verurteilung entscheiden kann. »Ich hole die Sachen aus dem Wagen.« Achtlos lasse ich mich auf einen Küchenstuhl fallen. Die Autotür quietscht, und raschelnde Geräusche dringen aus dem Innern des Wagens. Serge rafft eilig Päckchen und Tüten zusammen. Auch ich würde meinen Teil leisten müssen, um uns zu schützen. Doch würde ich imstande sein, George wegzuschicken? Einfach so, ohne Erklärung, ohne ihm richtig Lebewohl zu sagen? Ich habe ihn niemals zum Flughafen gebracht, weil ich Angst vor dem Abschied hatte. Und jetzt sollte ich lächeln und ihm vorlügen, daß ich in ein paar Tagen wieder da bin? Nein, das nicht. Serge kommt mit meinen Einkäufen zurück und beginnt, den Inhalt in den Schränken zu verstauen. Als er die Kleidung entdeckt, sagt er: »Ich werde die Sachen mit in den Keller nehmen. Wäre nicht gut, wenn George sie hier sieht. Gibst du mir die Schlüssel vom Boot?« Ich reiche sie ihm. Ohne ein weiteres Wort steckt er sie ein, und ich sehe wie gelähmt zu, wie er die Falltür öffnet und hinabsteigt, wie die Beine, dann die Hüften und der Rücken verschwinden, zuletzt sein Kopf. Schon wieder ein Abschied. Ich knie neben der Öffnung und sehe nur ein paar Holzstufen. Der Rest ist Dunkelheit. Ich weiß nicht einmal, ob es da unten überhaupt Licht gibt. »Komm wieder rauf«, bitte ich. »Es ist kalt da unten. Du kannst immer noch runtersteigen, wenn es soweit ist.« Serge ist erst halb wieder aufgetaucht, als das Geräusch eines sich nähernden Autos ihn innehalten läßt. Starr sieht er in meine geweiteten Augen. »Es ist soweit. Du bist dran.« -196-
»Serge, liebst du mich?« »Ja.« Die Falltür schließt sich. Ich bin allein. Meine Knie zittern. Es dauert Ewigkeiten, bis ich auf das Klopfen reagiere. Groß und imposant steht George in der Tür. Er lächelt strahlend, wie an einem schönen Sommertag. »Hallo, Prinzessin. Kriege ich keinen Kuß?« Flüchtig berühren meine Lippen seine Wange. Der vertraute Geruch seines teuren Eau de Toilette hüllt mich ein. Mit zwei Schritten ist er an mir vorbei, sieht sich um, als gehöre ihm das Haus. Er beherrscht den Raum. »Hier haust du also. Gar nicht so übel, wie ich dachte. Gibt’s wenigstens ein Klo, oder muß man dazu in den Garten?« »Bist du deswegen hergekommen?« »Oh, verzeih. Ich wollte dich nur ein wenig auflockern. Nach deinem Abgang im Dorf mußte ich befürchten, daß du den Hofhund auf mich hetzt.« »Mach dich nicht lustig über mich. Wir sind hier nicht auf einer deiner verdammten Parties.« Erschrocken registriere ich den hysterischen Unterton in meiner Stimme. Er sieht mich an, als habe ich den Verstand verloren. »Ich habe nicht den Eindruck, als würde dir die Landluft besonders gut bekommen. Ich dachte, du bist hierher gekommen, um deine Ruhe zu haben, um dich zu entspannen. Stattdessen benimmst du dich schlimmer denn je. Was zum Teufel soll das, dich hier zu verkriechen?« Mein Stichwort. Da ist es. Bevor ich unsere Wohnung verließ, habe ich mir unsere Wiedersehensszene wieder und wieder vorgestellt. Ich wußte genau, was ich sagen wollte. Habe gebetet, daß er mir diese Frage stellt. So oder ähnlich. Und jetzt? -197-
»Wozu noch darüber reden, George? Meine Worte haben dich nie erreicht, und jetzt ist es nicht mehr wichtig, ob du mich verstehst.« »Du sagst mir jetzt endlich, was los ist, Joëlle!« Die blauen Augen blitzen. So, wie er dasteht, die Hände in die Seiten gestemmt, erinnert er sehr an Papa. Daß mir das niemals aufgefallen ist! »Ich warte, Joëlle.« Wie gut ich diesen Gesichtsausdruck kenne. Ich sehe seine Ungeduld. Ich sehe seine Wut, und ich verstehe sie sogar. Aber diesmal werde ich ihr nicht aus dem Weg gehen. »Du willst wissen, wieso? Na schön. Ich hatte es satt, unser Leben. Die Oberflächlichkeit, den Mißbrauch der Gefühle. Und am allermeisten dein Wegsehen, deine Schönfärberei. Zu gehen war mein letzter Versuch, mir Gehör zu verschaffen. Vielleicht habe ich auch gehofft, daß mein Weggang dich zum Nachdenken anregen würde, vielleicht sogar verändern würde. Vielleicht wollte ich auch einfach nur testen, wie es mir ohne dich geht.« »Was soll das heißen, vielleicht, vielleicht? Dein Kopf scheint immer noch nicht klarer geworden zu sein. Was du mir in Paris beim Abschied gesagt hast, war genauso wirr wie dein Verhalten jetzt. Du erwartest doch nicht, daß ich das ernst nehme.« »Nicht mehr, George! Aber genau darum ging es. Ich wollte, daß du dir endlich einmal ernsthafte Gedanken über uns machst.« »Wäre ich hier, wenn ich mir keine Gedanken machte? Wenn du mich so absolut nicht sehen wolltest, warum hast du dann angerufen?« Eine gefährliche Frage. »Ich wollte nicht, daß du dir Sorgen machst.« »Ich denke, so ein Mensch, wie ich deiner Meinung nach bin, macht sich keine Sorgen?« -198-
»Oh nein, George! Nicht dieses Spiel. Das hast du zu oft mit mir gespielt. Ich weiß, was du vorhast. Du wirst mir jedes Wort im Mund herumdrehen. Alles, was ich jetzt sage, wirst du so verdrehen, daß es nur noch lächerlich und kindisch klingt. Und dann glaubst du, hast du gewonnen. Aber am Ende wirst du der Verlierer sein.« »Was soll das? Willst du mir Angst machen?« Er gibt ein dröhnendes Lachen von sich. »Nein, George.« Ich bin jetzt ganz ruhig. »Ich glaube nicht, daß mir das gefallen würde.« »Worum geht es dann?« »Darum, daß dich meine Gefühle niemals interessiert haben. Du gestehst dir ja nicht einmal eigene zu. Ich bin sicher, deine Bestürzung über meinen Weggang hat nicht lange gedauert. Wahrscheinlich hast du dich ziemlich schnell gefragt, was mir einfällt, dich so zu behandeln. Und dann hast du dir überlegt, wie du mich am besten bestrafen kannst, wenn ich reumütig zurückkomme. Denn damit hast du fest gerechnet. Aber bestimmt hast du dich nicht gefragt, warum ich gegangen bin. Du kämst nie auf die Idee, daß mir an dir etwas nicht gefallen könnte und zwar so sehr, daß ich mir überlegt habe, ob ich noch bei dir sein will.« »Das ist doch nicht dein Ernst.« Sein Lächeln ist eine Karikatur. »Es ist mein Ernst. Und es zeigt deutlich, daß wir in zwei verschiedenen Welten leben. Für mich ist es wichtig, ernst genommen zu werden. Du ziehst es stattdessen vor, nichts und niemanden ernst zu nehmen. Und so will ich nicht weitermachen. Ich will jemanden, der sein Leben lebt, statt es zu spielen. Ich will jemanden, der mit mir lebt, nicht mit mir spielt. Und dieser Jemand kannst du niemals sein.« Erschrocken halte ich inne. Er sieht mich an, als hätte ich ihm ein Messer in den Leib gestoßen. -199-
»Heißt das, du willst Schluß machen?« Ich zögere nur einen Moment. Dann nicke ich. »Ja.« Mit großen ungläubigen Augen sieht er mich an. Sein Gesicht ist grau geworden. »Wie kannst du das so einfach entscheiden? Ohne mir eine Chance zu geben? Laß uns noch einmal darüber reden, Joëlle. Du kannst doch nicht alles wegwerfen, was wir miteinander hatten.« »Ich werfe nichts weg, George, und ich bereue auch nichts. Dazu habe ich dich zu sehr geliebt.« Meine Stimme wird plötzlich ganz ruhig, fast so, als spräche ich von etwas, das schon lange vergangen ist. »Ich habe dir so viele Chancen gegeben, George. Jetzt ist es zu spät. Ich habe genug von deiner Wortverdreherei. Ich weiß, du bist ein Meister in der Wahl der richtigen Argumente, und du verstehst es wunderbar, deinen Charme im richtigen Moment einzusetzen. Aber du kannst meinen Entschluß nicht ändern. Du hast keine Macht mehr über mich.« Mit vor der Brust verschränkten Armen mache ich mich auf einen längeren Wortschwall gefaßt, aber er schweigt. Und in seinem Schweigen liegt mehr Schmerz, als er jemals gezeigt hat. Nervös fummelt er eine Zigarette aus der zerdrückten Packung. Er klopft die Taschen nach seinem Feuerzeug ab, findet es nicht und blickt sich suchend um. Mir wird heiß vor Schreck, als er nach dem Feuerzeug auf dem Tisch greift. Hektisch verbreitet er ein paar Rauchwolken um sich herum. Nervös dreht er das silberne Feuerzeug in seinen Händen. Ich weiß, wie sehr es ihn treffen muß, daß eine Frau genug von ihm hat. Beziehungen zu beenden, war bisher immer sein Part gewesen. Und nun breche ich die Regel. Die erste, die seine Vollkommenheit, seinen Witz, seinen unwiderstehlichen Charme, seinen Erfolg in Zweifel zieht. -200-
»Willst du was trinken?« frage ich, und ohne eine Antwort abzuwarten, verschwinde ich in die Küche. Keine sauberen Gläser mehr da. Mit zitternden Händen spüle ich zwei Wassergläser. Als ich ins Wohnzimmer zurück will, lehnt George in der Küchentür. Er hält das Feuerzeug hoch. »Wer ist S. B.?« fragt er langsam, jedes Wort prononciert. Seine Stimme klingt ganz so, als wüßte er schon alles. Ich schweige, fühle mich wie ein ertapptes Kind und fürchte, daß mir die Röte ins Gesicht steigt. Auf dem Tisch steht noch unser Frühstücksgeschirr. Auch George hat es jetzt entdeckt. Sofort breitet sich ein triumphierendes Grinsen auf seinem Gesicht aus. »Bravo, Joëlle! Du hast dich wirklich schnell getröstet. Oder geht das schon länger?« »Du hast es nötig«, sage ich und setze die Gläser hart auf den Tisch. Ich muß ihn irgendwie von diesem Thema ablenken. »Wer war denn die Frau, die in unserer Wohnung das Telefon abgenommen hat?« »Meine Haushaltshilfe. Oder hast du gedacht, ich werde über Nacht zum Hausmann, nur weil du Hals über Kopf davonrennst?« Sein Grinsen hat etwas Unverschämtes. Entsetzt stelle ich fest, daß ich gerade diese Unverfrorenheit einmal sehr gemocht habe. »Was gehört denn so zu ihren Pflichten?« fahre ich mit meinem Ablenkungsmanöver fort. »Kann sie auch saubermachen oder deckt sie nur das Bett auf?« Mit zwei Schritten ist er bei mir, muß sich herunterbeugen, um mir ins Gesicht zu sehen. Seine Stimme wird ganz ruhig. »Warum die Aufregung, Joëlle? Du willst mich doch nicht mehr. Es kann dir doch egal sein, mit wem ich es treibe. Nein, sieh mich an, meine Süße. Du willst vom Thema ablenken, nicht wahr? Warum? Kenne ich ihn?« -201-
Wortlos bewege ich mich an ihm vorbei und beginne, das Geschirr zusammenzuräumen. George langt über den Tisch nach der Tasse, die ich in der Hand halte. »Noch warm«, stellt er fest. »Lange ist er noch nicht weg. Wer weiß, vielleicht ist er sogar noch hier.« Seine Stimme sinkt herab zu einem Theaterflüstern. »Wo ist er, Joëlle? Sag’s mir! Ist er oben?« Ohne eine Antwort abzuwarten, stürmt er die Treppe hinauf. Dann ruft er von oben, nein, er singt fast. »Es ist jemand, den ich kenne, nicht wahr?« Die böswillige Heiterkeit in seinem Ton läßt mich schaudern. So habe ich ihn noch nie erlebt. Instinktiv stelle ich mich auf die Falltür. George poltert die Treppe herunter. Schwer atmend erscheint er wieder in der Küchentür. »Wo ist er, Joëlle? Ist es etwa Jean-François? Das würde zu dir passen. Mir ein Drama vorspielen, wie sehr du dich geopfert hast und dann überlaufen.« Mit großen Schritten stürmt er an mir vorbei und reißt die Tür zur Vorratskammer auf. Ein paar Konserven fallen vom Regal. »Wo hat er sich verkrochen? Antworte mir!« »Er ist nicht hier!« schreie ich. »Warum hast du dann solche Angst? Ich kenne dich. Ich weiß, daß du lügst. Also, wohin ist dein Kavalier geflüchtet? Oh, ich weiß…« Sein Grinsen ist nur noch eine Fratze. »Er steckt im Keller. Ratten sind gern in Kellern.« Blitzschnell stößt er mich beiseite und reißt die Falltür auf. »Komm raus«, brüllt er. »Laß dich ansehen, du Feigling! Ich möchte dein Gesicht sehen, bevor ich es einschlage.« Wie gebannt starre ich auf die schwarze Öffnung, bete, daß -202-
Serge sich ruhig verhält. Einen stillen Moment sieht George mich prüfend an. Dann, ein Geräusch aus dem Keller. Georges Augen weiten sich böse und erwartungsvoll. Sein linker Mundwinkel zuckt. Serge erscheint Stufe um Stufe auf der Treppe, und ungläubig beobachte ich, wie George, mein immer überlegener George, zurückweicht. Dann gewahre ich die Pistole in Serges Hand. George hat sich bis zur Anrichte zurückgezogen und sieht den anderen Mann jetzt mit schiefgelegtem Kopf und zusammengekniffenen Augen an. Er hat die Zeitungen gelesen, schießt es mir durch den Kopf. Er hat Serge erkannt. Serge ist stehengeblieben. Kaum zwei Meter trennen ihn noch von George. Absolut reglos ist sein Gesicht, und seine Waffe deutet unmißverständlich auf George. Ein wenig geduckt steht jener da und fixiert seinen Gegner. Nach einer schier endlos scheinenden Minute fragt er lauernd: »Was haben Sie mit Joëlle gemacht?« Serge antwortet nicht. Er sieht stattdessen mich an. Aber ich verstehe nicht, was er von mir will. Beunruhigt huscht mein Blick zwischen seinem kalten Gesichtsausdruck und der Waffe hin und her. Sein steif ausgestreckter Arm deutet auf George, als wolle er mich daran erinnern, was dieser mir angetan hat. Und nun wendet auch George mir sein Gesicht zu. Maßlos verwirrt sieht er mich an. Serge dagegen ist kühl und hart wie Fels. Und plötzlich fühle ich mich wie ein Richter, der ein Urteil fällen soll und nicht mehr weiß, wer Kläger und Beklagter ist. So viele Dinge sind geschehen. So viele Für und Wider. Nicht genügend Beweise für ein eindeutiges Urteil. Wenn nur die Pistole nicht wäre. Beide warten auf eine Antwort, und ich fühle nichts als Angst. Angst, wieder einmal die falsche Entscheidung zu treffen. George unterbricht als erster mein qualvolles Schweigen. »Was zum Teufel ist hier los, Joëlle?« -203-
Sein Gesicht spiegelt blankes Entsetzen. So, als habe er endlich begriffen, daß dies kein Gesellschaftsspiel ist. Er tut mir beinahe leid. Hilflos sehe ich Serge an, doch sein Gesicht bleibt unbeweglich. »Joëlle, weißt du, wer dieser Kerl ist?« wiederholt George. »Ja, George. Ich weiß es.« Meine Antwort wirkt wie ein Stichwort im Theater. Serge nimmt die Waffe herunter, und George sinkt zu Boden. Er hockt sich einfach auf die kalten Fliesen des Küchenbodens. Nur schwach kommt seine nächste Frage. »Machst du etwa mit ihm gemeinsame Sache?« Sein Anblick tut mir weh, doch kann ich ihm die Wahrheit nicht ersparen. »Bitte setz dich zu uns, George. Ich werde dir alles erklären.« Mit einer Hand bedeute ich Serge, sich zu setzen, mit der anderen will ich George dazu bewegen, aufzustehen. Er steht auf, übersieht jedoch meine Hand, die ich ihm entgegenstrecke. »Ich setze mich nicht mit einem Mörder an einen Tisch.« Serge rutscht unruhig auf dem Stuhl hin und her, und ich muß daran denken, wie er sein kann, wenn er sich in die Enge getrieben fühlt. »In Ordnung«, sage ich rasch. »Wie du willst. Ich bitte dich nur um eines, George. Hör dir meine Geschichte bis zum Ende an!« George läßt sich Zeit mit einer Antwort. »Und wenn ich einfach aus diesem Irrenhaus hinausspaziere und die Polizei alarmiere?« »Das darfst du nicht. Bitte, George, wenn dir jemals etwas an mir gelegen hat, hör mich an. Egal, wie du entscheidest, ich will, daß du die Wahrheit hörst!« -204-
Er richtet sich auf. Unschlüssig tritt er von einem Bein aufs andere. Dann zieht er langsam und umständlicher, als es seine Art ist, den Mantel aus. »Okay.« Er lehnt sich an die Anrichte und verschränkt die Arme vor der Brust. »Fang an!« »Als erstes sollst du wissen, daß dir nichts geschehen wird. Serge ist genauso wenig ein Mörder wie ich oder du.« Ganz bewußt mache ich eine Pause. Aber Georges Gesicht gleicht einer Maske. Ich kann nur hoffen, daß sich das im Laufe meiner Schilderung ändert. Dann beginne ich zu erzählen, wie Serge und ich uns trafen, wie er mich zwang, mit ihm zu kommen, den ganzen Weg bis hierher. Ich lasse nichts aus. George kennt mich zu gut. Er würde sofort merken, wenn ich lüge. Und so schildere ich auch den Tathergang in Serges Haus und unsere Vermutungen. Vielleicht ist es nicht sehr klug, George einzuweihen. Vielleicht ist es sogar gefährlich. Aber um keinen Preis will ich meinen Weg in die Freiheit mit einer Lüge beginnen. Als es nichts mehr zu sagen gibt, lege ich die Hände auf den Tisch und warte. Ich wage nicht, George anzusehen. Ich höre, wie er sich eine Zigarette ansteckt. »Da haben wir der Kleinen aber einen schönen Bären aufgebunden«, sagt er schließlich. Mein Kopf fährt hoch. »Du glaubst mir nicht?« Mitleidig sieht er mich an. »Doch«, sagt er. »Ich glaube dir. Ich weiß, daß du jedes Wort, das du gesprochen hast, auch so meinst. Was deinen Part in der Geschichte angeht, weiß ich, daß es die Wahrheit ist.« Sein Blick gleitet zu Serge und nimmt augenblicklich einen verächtlichen Ausdruck an. -205-
»Aber was die Mordgeschichte angeht oder fahrlässige Tötung, wie ihr das nennt, und das Märchen von seiner Frau, die ihn aufs Glatteis geführt hat, da kann ich nur lachen. Joëlle, wie konntest du nur auf so etwas reinfallen?« Eine Welle der Hitze schwappt über mich. Ich senke meinen Blick, kann weder ihm noch Serge in die Augen sehen. Und dann höre ich Serge sagen: »Es ist die reine Wahrheit, das schwöre ich bei Gott.« Offen blickt er George in die Augen. Doch der verzieht nur geringschätzig die Mundwinkel. »Ihre Märchentour zieht bei mir nicht. Ich bin nicht verliebt in Sie. Ich verlange Beweise.« »Wenn ich die hätte, wäre ich längst zur Polizei gegangen.« Serge steht auf und geht auf George zu. »Ich kann Sie nur bitten, uns nicht zu verraten, George. Nicht um meinetwillen, sondern für Joëlle. Tun Sie es um der Liebe willen, die Sie einmal für sie empfunden haben.« »Das ist doch wohl nicht zu fassen!« George schnaubt vor Wut. Wild fuchtelt sein Finger in der Luft herum. »Jetzt versucht er es auf die Tour. Kein Wunder, daß er dich damit rumgekriegt hat. Joëlle, merkst du nicht, daß der Junge eiskalt und abgebrüht ist?« »Nein, George! Dir kommen seine Worte nur falsch vor, weil du sie niemals sagen könntest. Ich weiß, er sagt die Wahrheit. Ich fühle es.« »Joëlle, Schätzchen. Du kannst doch nicht, nur weil einer romantisches Zeug schwätzt, alles glauben, was er sagt. Er nutzt doch nur aus, was dir bei mir gefehlt hat. Du hast es ihm doch selber erzählt.« Er verstummt. Sein eben noch so eindringlicher Blick findet keinen Halt in meinem Gesicht. »Ich bin nicht so naiv, George, daß ich nicht unterscheiden -206-
kann, ob jemand Süßholz raspelt oder ob er es ernst meint. Ich habe in diesen Tagen viel durchgemacht. Ich habe mich lange an meinen Haß geklammert, bis ich das Bild, das ich mir von Serge gemacht hatte, nicht länger aufrechterhalten konnte. Ich weiß, daß er kein schlechter Mensch ist, George.« Ich warte auf ein Wort von ihm. Aber George steht immer noch mit verschränkten Armen da und starrt auf die Stelle vor meinen Füßen. »Ich weiß, das sind für dich keine Beweise, aber wenn du unbedingt logische Erklärungen brauchst, sollst du sie haben«, fahre ich fort. »Denkst du, ein kaltblütiger Mörder hätte mich heute einfach so ins Dorf gehen lassen? Er mußte damit rechnen, daß ich zur Polizei ging. Und gestern hat er mir das Leben gerettet, obwohl es die Chance war, mich loszuwerden. Und als er wußte, daß ich ihn liebe, hat er alles getan, um mich davon abzuhalten, bei ihm zu bleiben. Um meinetwillen. George, sag selbst, handelt so ein Mörder? Glaubst du, ich könnte einen Mörder lieben? Hältst du mich für so naiv?« »Ja, verdammt. Du bist sogar noch einfältiger, als ich dachte. Deine Dummheit kotzt mich an.« Ganz still ist es jetzt in der Küche. Sein Gesicht ist weiß geworden. Er preßt die Lippen aufeinander, als wolle er sich daran hindern, noch Schlimmeres zu sagen, endgültig zu verraten, was er von mir denkt. Mir wird schlecht, als ich die Verachtung in seinem Gesicht bemerke. Ich habe ihn oft herablassend gesehen, aber dieser Abscheu, den er mir entgegenbringt, tut mir unendlich weh. Hilflos hebe ich die Hand, will irgendetwas sagen, das ihn gnädig stimmt. Aber sein angewiderter Blick läßt mich verstummen. »Ich kann dich nicht mehr sehen!« stößt er zwischen zusammengebissenen Zähnen hervor, und sein Mund sieht aus, als -207-
wolle er mich anspucken. Mit Riesenschritten durchmißt er die Küche. Dann knallt die Haustür ins Schloß. Alarmiert renne ich zum Fenster. Serge folgt mir auf dem Fuß. George läuft in der Auffahrt hin und her, und der Stock in seiner Hand schlägt kraftvoll und brutal auf ein paar niedrige Büsche ein. Dennoch, bei ihm sieht es aus, als schlüge ein Tennisprofi ein paar imaginäre Bälle. Beruhigend lege ich Serge die Hand auf den Arm. »Er wird nicht zur Polizei gehen«, flüstere ich in sein Ohr. »Sonst wäre er schon weg. Daß du wegen Mordes gesucht wirst, ist für ihn zweitrangig. Was ihn wirklich wütend macht, ist die Tatsache, daß du ihm etwas weggenommen hast. Ich zähle dabei gar nicht. Trotzdem wird er mich nicht so kampflos aufgeben. Er kann es nicht. Sein Stolz läßt das nicht zu. Er wird es uns nicht leicht machen.« Serge wendet sich ab, setzt sich wieder an den Tisch. Ich wünsche, er würde etwas sagen, das mir Mut macht. Mut und Kraft verleiht, weiter um uns zu kämpfen. Aber er sitzt stocksteif da, den Kopf erhoben, als lausche er auf die Geräusche, die von draußen kommen. Ich bin gerade dabei, frischen Kaffee nachzuschenken, als George zurückkommt. Der Blick, mit dem er uns beide mißt, ist nicht zu deuten. »Wenn du hier fertig bist, will ich dich sprechen, Joëlle!« Ich werfe einen Blick auf Serge, aber er gibt weder ein Zeichen des Einverständnisses noch der Ablehnung. Seufzend verlasse ich die Küche. George erwartet mich im Wohnzimmer. Lässig, dekorativ hängt er in einem Sessel vor dem Kamin, ein Bein über der Lehne. Das hohe Gericht gibt seine Abschiedsvorstellung. Ohne mich anzusehen, hält er ein Glas Wein hoch, betrachtet die rote Flüssigkeit von allen Seiten. -208-
»Ein Weinkenner, was? War dir mein Champagner nicht gut genug?« »Dein Champagner war ausgezeichnet. Du hast nur die Korken zu laut knallen lassen.« »Drück dich bitte klarer aus. Ich bin nicht hier, um Rätsel zu raten.« »Das heißt, daß ich sehr wohl weiß, daß du keine Kosten gescheut hast, um dir und mir ein angenehmes Leben zu bieten. Nur hast du nie verstanden, daß ich etwas ganz anderes brauche.« »Und was soll das sein, bitte? Willst du, daß ich albernes Zeug schwätze, so wie in einem Kitschroman?« »Wenn hier jemand in einem Roman lebt, dann du. Sonst wüßtest du, daß das, was ich am allerwenigsten brauche, albernes Zeug ist. Ich brauche jemanden, der mir zuhört, der mich versteht. Jemand, der sich für mich interessiert. Für meine Wünsche, meine Sorgen…« »Und dieser… dieser Irrsinnige, Serge, tut das natürlich.« »Allerdings! Und er ist nicht irrsinnig.« George bricht in unangenehmes Gelächter aus. »Und das ist alles? Ein bißchen Lächeln und verständnisvolles Nicken? Das hat dich so beeindruckt, daß du mich verlassen willst, oder verfügt er noch über andere Qualitäten?« »Du erwartest wohl nicht, daß ich auf diese Frage antworte?« »Ich habe wohl ein Recht auf eine Antwort. Du bist immer noch meine Frau.« »Ich gehöre dir nicht.« »Ach, auf einmal? Es hat einmal eine Zeit gegeben, da wolltest du mir gehören und zwar mir allein. Für immer hast du gesagt, weil du mich liebst. Du kannst jetzt nicht einfach gehen, weil es dir so in den Kram paßt.« -209-
Ein Déjà-vu blitzt in meinem Kopf auf und hinterläßt ein unangenehmes Gefühl. Eilig wische ich den Gedanken beiseite. »Ich gehe auch nicht einfach so, George! Ich habe lange Zeit meine Bedürfnisse hinter deine gestellt. Ich habe mehr für dich als für mich gelebt, weil ich nicht egoistisch sein wollte. Ich habe mich demütigen lassen, weil ich für alles Verständnis hatte. Ich vermute, daß du mich liebst… auf die Art, die dir möglich ist. Und nur deshalb habe ich dir immer wieder verziehen. Ich habe deine Launen ertragen, weil ich hoffte, du würdest dich irgendwann ändern. Aber jetzt kann ich nicht mehr warten. Ich will ich es nicht mehr. Ich will leben.« »Ach jetzt, aus heiterem Himmel, was? Du hättest mich doch nie verlassen, wenn da kein anderer Mann aufgetaucht wäre. Dazu fehlte dir immer der Mut. Aber bitte, Joëlle, warum so ein Versager? Willst du mich beleidigen? Konntest du dir nicht jemanden mit mehr Klasse aussuchen? Ein Typ wie Hervé zum Beispiel. Das hätte ich noch verstanden. Ich hätte es sogar respektiert. Aber so ein Niemand? Da muß ich mich ja schämen, daß ich mit dir zusammen gewesen bin.« »Hervé hätte mich nicht besser behandelt als du.« »Aber er, dieser Serge, behandelt dich gut? Daß ich nicht lache. Was kann er dir schon bieten? Was hat er dir geboten? Er hat dich als Geisel genommen. Er war brutal zu dir. Du hast mir selbst alles erzählt. Oh, ich verstehe…« George macht eine bedeutungsvolle Pause. Sein Gesicht verzieht sich höhnisch, und sein Grinsen wird gemein. »Verzeih, Joëlle, aber ich wußte nicht, daß dich sadistische Spiele reizen. Das hättest du mir doch nur zu sagen brauchen.« »Gar nichts verstehst du. Du drehst dir alles so, wie es dir gefällt. Du willst gar nicht die Wahrheit hören, du willst nur gewinnen, Sieger der Auseinandersetzung sein. Wozu jetzt noch? Kannst du mir nicht wenigstens jetzt, wo es vorbei ist, einmal wirklich zuhören?« -210-
»Es ist erst vorbei, wenn ich sage, daß es vorbei ist!« herrscht er mich an. Und gleich darauf fährt er in ekelhaftem Plauderton fort: »Sag’ mal, diese Sado-Maso-Sache – bist du bei JeanFrançois auf den Geschmack gekommen?« Ich starre ihn an. Für einen Moment scheint die Zeit stillzustehen. Ein Gefühl vollkommener Leere breitet sich in mir aus. »Du hast es gewußt, George?« Meine Stimme ist nicht mehr als ein heiseres Flüstern. »Du wußtest, daß er das mit mir machen würde, und es war dir egal?« »Was… das?« Er schüttelt mit einem bedauernden Lächeln den Kopf. »Ich weiß schon wieder nicht, wovon du redest. Nie drückst du dich klar aus. Wie soll ich dich da ernst nehmen?« Es ist soweit. Ohne Scham, ohne Gewissensbisse könnte ich jetzt endlich tun, was ich immer tun wollte, wenn er unsere Gespräche auf die Spitze trieb: schreien, etwas an die Wand werfen, ihn vielleicht sogar schlagen. Ich sehe sein mühsam beherrschtes Gesicht, die Stirn, hinter der sich neue Gemeinheiten zusammenbrauen, und etwas in mir stirbt. Es tut nicht einmal besonders weh. Und dann weiß ich, daß ich weder weinen noch schlagen will. Ich will nur diese Leere nicht mehr spüren. »Schon gut, George. Es ist nicht mehr wichtig.« »Nicht mehr wichtig? Willst du mir jetzt sagen, was wichtig ist und was nicht?« höhnt er. Müde schüttele ich den Kopf. Da packt er mich hart an den Schultern. »Ja, verdammt noch einmal! Was habe ich dir denn schon getan, daß du mich so abfertigst? Ich liebe dich doch. Bedeutet dir das gar nichts mehr?« Verzweifelt stemme ich mich gegen ihn, versuche, ihn wegzudrücken. Aber er zieht nur noch stärker an mir, zwingt mich, ihm in die Augen zu sehen. -211-
»Ich liebe dich, Kleines. Es tut mir leid, Prinzessin. Ich werde mich ändern. Ich verspreche es.« »Nein, George. Das wirst du nicht. Du wirst dich nie ändern.« »Du gibst mir nicht mal eine Chance?« »Du hast genug Chancen gehabt.« »Da wußte ich auch noch nicht, wieviel du mir bedeutest.« »Hör auf damit, bitte! Es ist nicht mehr wichtig, versteh das doch.« Wieder versucht er, mich in seine Arme zu ziehen. Ich muß meine ganze Kraft aufwenden, um ihn auf Abstand zu halten. »Hör endlich auf, George«, stoße ich hervor. »Es geht doch hier gar nicht um mich, sondern nur um dein gekränktes Ego.« »Nein, ich will dich, Joëlle! Ich liebe dich.« Er zieht mich weiter an sich. Ich sträube mich. Tränen der Wut laufen über meine Wangen. Und dann höre ich plötzlich die eiskalte Stimme von Serge: »Lassen Sie sie los!« Und George gehorcht. Widerstandslos. Verblüfft drehe ich mich um und erstarre. Serge hat die Pistole auf George gerichtet. »Serge, nein!« »Was ist? Hängst du noch immer an dem Scheißkerl? Hast du vergessen, was er dir angetan hat?« »Nein. Aber…« »Dann komm hier rüber!« Entsetzt sehe ich ihn an. Ich kann seine Angst fühlen. In mir zieht sich alles zusammen. »Joëlle, du hast dich doch nicht wieder von ihm rumkriegen lassen?« »Nein, Serge. Es ist vorbei.« »Warum kommst du dann nicht zu mir?« -212-
Sein Blick streift mich nur knapp. Serges eigentliche Aufmerksamkeit gilt George. Die Blicke der Männer offenbaren blanken Haß. »Wenn du bei ihm bleiben willst, dann sag es.« Serges Stimme zittert leicht. »Du kannst tun, was du willst. Du bist frei, und ich bin frei. Und er«, die Hand mit der Waffe deutet auf George, »er kann so weitermachen wie bisher. Willst du das, Joëlle? Willst auch du mich verraten?« Seine Augen schimmern verdächtig. Ich bereite ihm Schmerz, das ist alles, was ich denken kann, dabei wollte ich ihn so gerne lachen sehen. Meine Füße bewegen sich wie von selbst. Mit zwei Schritten bin ich bei ihm. »Ich bleibe bei dir, Serge.« Ich lege eine Hand auf den Lauf der Waffe und drücke ihn langsam nach unten. Die andere stiehlt sich in seine Linke. Die Hand ist feucht. »Bist du dir ganz sicher?« Sein Gesicht ist immer noch hart, wie versteinert. Dennoch nicke ich. »Ja, laß uns gehen. Laß uns nur einfach weggehen.« »Und ihn hier zurücklassen? Auf keinen Fall. Er wird uns verraten.« »Das wird er nicht.« »Woher willst du das wissen?« Unsicher schaue ich auf George, doch der weicht meinem Blick aus. »Ich glaube nicht, daß er dazu fähig wäre.« »Egal, was du glaubst. Du hast dich schon einmal in ihm getäuscht. Ich jedenfalls traue ihm nicht. Er muß weg.« »Serge, bitte! Du willst ihn doch nicht umbringen?« Doch Serge hat nur Augen für George. Ihre haßerfüllten Blicke schwirren und umkreisen sich, verhaken sich ineinander und näh-213-
ren nur meine Angst. Bis Serge mich wieder ansieht. Seine Hand zuckt kurz in meiner, und seine Augen nehmen einen Ausdruck an, als sei er gerade zurückgekehrt von einer langen Reise. »Natürlich nicht«, sagt er. »Aber fesseln müssen wir ihn. Wir können kein Risiko eingehen. Im Vorratsraum ist ein Seil. Hol es!« Ohne zu zögern führe ich den Befehl aus. Und noch einmal ist mir so, als seien es nicht meine Beine, die da gehen, nicht meine Hände, die das Seil tragen. »Jetzt binde ihn an den Sessel.« »Serge, bitte! Muß das sein?« »Denk an unsere Zukunft, Joëlle! Wir dürfen nichts riskieren. Oder hast du es dir anders überlegt?« Ich schüttele den Kopf. »Es tut mir leid, George«, flüstere ich, als ich seine Hände binde. »Ich wollte nicht, daß es so endet!« »Spar dir dein Gesülze, du kleine Nutte«, sagt er. Meine Hände erstarren mitten in der Bewegung. Entsetzt sehe ich ihn an. Ich denke an die Männer, die ich seinetwegen ertragen habe, und langsam richte ich mich auf, erhebe mich zu voller Größe. Ich kann auf seinen Scheitel sehen. »Wenn ich eine Nutte bin«, sage ich, »dann, weil du mich dazu gemacht hast.« »Es hat dich niemand gezwungen.« »Du bist gemein, George. Widerlich!« Meine Stimme ist heiser. »Schluß jetzt!« unterbricht uns Serge. »Wir haben nicht ewig Zeit, Joëlle. Du siehst doch, was er für ein Schwein ist. Jetzt gib ihm, was er verdient.« Ich unterdrücke meine Tränen und hocke mich wieder hin. Mit zitternden Fingern ziehe ich den letzten Knoten zu. Als ich fertig bin, sagt Serge: -214-
»Nimm etwas Proviant und warme Sachen mit. Pack nur das Nötigste. Wir müssen uns beeilen.« Als ich mit der Tasche zurückkomme, verläßt Serge gerade das Haus. George sitzt in seinem Sessel, die Hände auf dem Rücken. Starr sieht er an mir vorbei. Langsam gehe ich zur Tür. Die Tasche zieht schwer an meinem Arm. Als ich über die Schwelle trete, fühle ich seinen Blick in meinem Rücken, und mühsam ziehe ich die Tür ins Schloß. *** Während der Fahrt zum Hafen sprechen wir kein Wort. Serges Gesicht ist angespannt, als er den Wagen abstellt. Er greift nach der Tasche und nimmt mich am Arm. »Beeil dich, Joëlle, wo ist das Boot?« »Da hinten.« Ich strecke einen Arm aus, um es ihm zu zeigen, aber er zieht mich bereits zum Steg. Ich muß laufen, um mit ihm Schritt zu halten. »Bitte renn doch nicht so, Serge. George ist doch außer Gefecht. Er kann gar nicht die Polizei rufen.« »Man kann nie wissen. Ich werde erst wieder ruhig sein, wenn ich aus diesen Gewässern raus bin. Verdammt, Joëlle! Wir sind hier nicht auf einer Vergnügungsfahrt. Wir haben nicht die Zeit, spazierenzugehen. Es geht um mein Leben.« »Unser Leben.« »Natürlich.« Er läßt mir keine Zeit, unser Gepäck zu verstauen. Kurz und knapp gibt er die Befehle. Erleichtert stelle ich fest, daß er sehr genau weiß, wie man mit einem Boot umzugehen hat. Immer wieder sieht er auf die Tonnen im Wasser. -215-
»Erst eine Meile, Joëlle. Sieh zum Ufer. Kannst du sehen, ob man uns verfolgt?« »Ich sehe nichts.« »Gibt es auf diesem Kahn denn keinen Feldstecher?« »Ich weiß nicht. Ich muß unten nachschauen.« »Tu das!« Ich verschwinde in der winzigen Kajüte. Während ich die kleinen Schubfächer durchwühle, höre ich ihn immer wieder rufen. »Was ist? Hast du ihn?« Ich kann seine Angst fühlen. Wenn er sich doch nur beruhigen würde. Ich möchte ihm gerne sagen, daß alles gut werden wird, daß er sich keine Sorgen zu machen braucht. Aber irgendetwas hält mich davon ab. Auch ich habe Angst, und ich weiß nicht wovor. Ich kann es nicht erklären, dieses Unbehagen. Endlich finde ich den Feldstecher und haste nach oben. »Ich hab ihn, Serge.« »Gib her!« Hastig reißt er mir das Glas aus der Hand. Minutenlang sagt er nichts, während er die Küste absucht. Trotz des eisigen Windes ist mein Rücken schweißnaß. Endlich setzt er das Fernglas ab und sagt: »Niemand zu sehen, der uns folgt. Und aus der Uferzone sind wir raus. Der erste Teil des Plans ist aufgegangen.« »Gott sei Dank.« Ein Schritt, und ich bin bei ihm. Mit beiden Armen umfasse ich seine Taille und lege mein Gesicht in seine Halsbeuge. Ich könnte weinen vor Erleichterung. »O Serge. Wir sind frei. Endlich frei«, rufe ich aus und hebe den Kopf. Sein Lächeln ist schwach. »Ja«, sagt er nur. »Ich weiß. Es ist kalt, Joëlle. Kannst du uns Kaffee machen?« -216-
»Natürlich. Aber freust du dich denn nicht, Serge?« »Später. Ich bin noch nicht am Ziel.« »Sei doch nicht so pessimistisch. Wir sind schon so weit gekommen. Es kann doch nichts mehr schiefgehen, oder?« »Das wird sich zeigen. Was ist mit dem Kaffee?« »Kommt sofort.« Ich beeile mich, seinem Wunsch nachzukommen. Armer Serge. Die Anspannung der letzten Tage ist ihm deutlich anzumerken. Und uns steht noch ein langer Törn bevor. Ich verbrenne mir fast die Finger, als ich die dampfenden Tassen an Deck bringe. »Danke«, sagt er. »Aber du brauchst nicht hier bei mir in der Kälte zu sitzen.« »Ich möchte es aber. Serge, ich liebe dich, und ich will bei dir sein. Willst du das nicht?« »Ich muß mich konzentrieren. Es wird eine kalte Nacht werden, und ich werde keinen Schlaf bekommen. Aber wenn du unbedingt auch frieren willst… Ich kann dich nicht davon abhalten.« Ich glaube, er hat eben gelächelt. Ein schwaches, ein wenig verunglücktes Lächeln. Wenn er doch nur endlich richtig lachen könnte. Ein glückliches befreites Lachen. Aber er hat ja recht. Hier ist weder Zeit noch Ort für Ausgelassenheit. Die Überfahrt wird eine Strapaze werden. Und deshalb werde ich dafür sorgen, daß Serge keinen trüben Gedanken nachhängen kann. Ich hole zwei Decken aus der Kajüte und lege ihm eine um die Schultern. Dann hocke ich mich im Indianersitz zu seinen Füßen auf den Boden. »Wofür hast du dich entschieden?« frage ich munter. Meinst du, es gefällt uns in Cornwall? Oder willst du lieber nach Irland?« Er schweigt, gibt keine Antwort. Er sieht mich nicht einmal an. Deutlicher kann er mir nicht zu verstehen geben, daß er nicht -217-
daran interessiert ist, sich die Zeit mit Plaudern zu vertreiben. Ich muß mir auf die Lippen beißen, um keine weiteren Fragen zu stellen. Ich verstehe gut, wie es in Serge aussieht. Aber auch ich habe alles zurückgelassen, alles aufgegeben! Ich weiß genausowenig wie er, was uns erwartet. Inzwischen ist es stockfinster geworden. Nur der Wind und das Klatschen der Wellen begleiten uns. Es ist, als würden wir ins große Nichts fahren. Wenn er nur ein bißchen Freude über unsere gelungene Flucht zeigen würde, wäre mir leichter ums Herz. Aber Serge schweigt hartnäckig, und seine Augen starren auf die schwarze Wand vor uns. Ich kann es nicht verhindern, daß mir die Tränen kommen. Erst ganz leise. Aber als die Stimme in meinem Innern immer lauter wird, ist auch mein Weinen unüberhörbar. »Was heulst du?« »Es tut mir leid, Serge. Aber ich habe mich so darauf gefreut, mit dir ein neues Leben anzufangen und jetzt…« »Was jetzt?« »Jetzt ist alles so kalt und beängstigend. Ich fühle mich verlassen. Bitte, nimm mich in die Arme. Sag mir, daß alles gut wird. Ich brauche dich jetzt.« »Ich habe dir schon mal gesagt, daß dies kein Sonntagsausflug ist.« »Das weiß ich doch. Und deswegen brauche ich dich umso mehr. Der Entschluß, mit dir zu gehen, ohne eine konkrete Aussicht, wie meine Zukunft mit dir aussehen mag, ist für mich das größte Wagnis meines Lebens. Ist es nicht normal, daß ich da ein wenig Angst habe? Ich brauche jetzt deine Nähe. Ich will fühlen, daß ich das Richtige getan habe. Und du willst nicht einmal, daß ich bei dir sitze. Laß mich doch bitte nicht glauben, daß ich George unrecht getan habe.« -218-
»Aha, das ist es also! Bereust du schon, daß du mit mir gegangen bist? Tut George dir leid?« »Nein. Ich habe nur nie damit gerechnet, daß er mich tatsächlich sucht. Auch wenn ich es mir gewünscht habe, ich habe nicht daran geglaubt. Vielleicht hat er doch mehr für mich empfunden, als ich dachte. Und ich… ich habe ihn gefesselt wie einen ausgesetzten Hund, den niemand mehr haben will. Das hat er nicht verdient. Niemand verdient so etwas.« »Mir kommen gleich die Tränen. Wäre es dir lieber gewesen, er hätte mich verpfiffen?« »Natürlich nicht. Aber er hat so traurig ausgesehen. Zum ersten Mal hat er seine Gefühle nicht versteckt.« Serge schüttelt den Kopf. »Und das glaubst du? Der wollte dich doch nur rumkriegen.« Er drückt mir seinen leeren Kaffeebecher in die Hand und fährt fort: »Es ist ja auch wirklich nicht schwer. Du bist so leicht zu durchschauen, Joëlle. Man braucht sich nur einmal mit dir zu unterhalten und weiß sofort, daß du für ein bißchen Liebe und Anerkennung alles tun würdest. Und deshalb kann jeder mit dir machen, was er will. Bei meiner Frau war es das Geld, bei dir ist es die Liebe. Und um eure Sucht zu befriedigen, habt ihr euch beide zu Huren gemacht.« Mir stockt der Atem. »Meinst du damit auch mich?« Serge lacht. Zum ersten Mal, seit wir auf See sind, sieht er mir wieder direkt ins Gesicht. Aber sein Lächeln ist nicht mehr als ein fürchterliches Grinsen. »Natürlich meine ich dich. Hast du es nicht sogar mit anderen getrieben, nur um ein dankbares Lächeln von deinem Angebeteten zu bekommen?« Fassungslos starre ich ihn an. Das kann er unmöglich ernst meinen. -219-
»Aber ich habe dir doch erklärt, wie es dazu gekommen ist. Du hast mich doch verstanden.« »Natürlich habe ich dich verstanden. Was hätte ich auch sonst tun sollen?« »Was willst du damit sagen?« frage ich vorsichtig. »Was ich damit sagen will?« Er schüttelt den Kopf und lächelt mich nachsichtig an, während er weiter spricht: »Daß du mir auf den Leim gegangen bist, heißt das. Daß du genauso dumm und leicht zu manipulieren bist wie alle Frauen. Ha, das bestätigt mal wieder meine Theorie.« In meinem Kopf beginnt sich alles zu drehen. Ihm auf den Leim gegangen? Was soll das heißen? Und wieso plötzlich wieder seine Haßtiraden gegen Frauen? Ich muß dem Spuk ein Ende machen. Wütend springe ich auf. »Dumm wie alle Frauen, ja?« Er nickt selbstgefällig. »Und was ist dann mit deiner Frau, Judith? So dumm kann sie nicht gewesen sein. Schließlich war sie es, die dich aufs Glatteis geführt hat. Sie hat dir einen Mord angehängt, und du kannst nichts dagegen tun.« »Hat sie das?« Mitleidig lächelnd sieht er mich an. »Was soll das heißen, Serge?« »Was soll das heißen, Serge?« äfft er mich nach. »Hast du das immer noch nicht kapiert? Du bist wirklich noch naiver, als ich dachte. Das heißt, meine Frau ist unschuldig. Jedenfalls am Tod meines Bruders. Ich selbst habe ihm die Schlüssel zum Haus gegeben. Ich habe ihn spät abends dorthin bestellt, um mit ihm über den angeblichen Verkauf meiner Anteile zu reden. Judith kam erst dazu, als sie den Schuß hörte.« Er wirft mir einen prüfenden Blick zu. Als müsse er sich davon überzeugen, daß seine Worte mich an der richtigen Stelle treffen. Er hat sich leicht nach vorn gebeugt, um mir direkt ins -220-
Gesicht zu sprechen: »Ja, ich habe ihn umgebracht. Weil ich seine Demütigungen nicht mehr ertragen konnte. Weil er mit meiner Frau ein schmutziges, kleines Verhältnis hatte.« »Aber du hast doch gesagt, daß er nicht an ihr interessiert war.« »Dann habe ich wohl gelogen.« Wie gelassen er diese Worte ausspricht. »Dann war es auch eine Lüge, daß du sie nicht mehr geliebt hast? Sonst wäre dir ihr Verhältnis wohl egal gewesen.« »Aber ganz und gar nicht. Glaubst du, ich hätte keine Ehre im Leib? Ich konnte sie mir doch nicht einfach so wegnehmen lassen. Mein Bruder hat mich weiß Gott genug beleidigt. Das hätte er nicht auch noch tun sollen.« Wieder überläuft mich ein Schauer, als ich ihn lachen höre. »Und die beiden hielten sich für so schlau. Ha, ha! Weißt du was, Joëlle? Ich hätte auch Judith erschossen, wenn nicht plötzlich das Hausmädchen dazugekommen wäre. Weiß der Teufel, wo die plötzlich herkam. Eigentlich hatte sie ihren freien Abend. Aber was macht das jetzt noch? Das Kapitel ist abgeschlossen.« Ich zittere am ganzen Leib. Will immer noch nicht glauben, was ich da höre. »Aber du hast mir doch das Leben gerettet«, sage ich leise. »Und unsere Gespräche, unsere langen Gespräche… Wieder lacht er. Es klingt albern und dünn. »Unsere Gespräche haben mir wirklich großen Spaß gemacht. Ich mußte doch wissen, aus welch morschem Holz du geschnitzt bist. Und ich habe es sehr schnell herausgefunden. Du bist schwach, Joëlle. Schwach und naiv. Und du wirst es immer sein. Ich habe nie vorgehabt, dich mitzunehmen. Ich habe keinen Hehl daraus gemacht, oder? Du wolltest unbedingt mit mir kommen. -221-
Sag, hättest du mir geholfen, wenn ich dich abgewiesen hätte?« Tränen schießen mir in die Augen. »Warum hast du dann die Autoschlüssel stecken lassen? Ich hätte wirklich fahren können. Ich hätte dich ausliefern können.« Sein Zeigefinger nähert sich meinen Gesicht, kreist davor herum und landet schließlich mit einem kleinen Stups auf meiner Nase. »Jeder andere, aber nicht du, Joëlle. Denn für die bloße Hoffnung auf Liebe, die kleinste Aussicht darauf, bist du bereit, alles zu glauben. Es bedurfte nicht mehr als ein paar verständnisvoller Worte und einiger Küsse. Der abfahrbereite Wagen war mein letzter Trumpf. Ich wußte, daß du danach nicht mehr an meiner Ehrlichkeit zweifeln würdest. Du wolltest mich lieben, unbedingt. Auf deine Art bist du wirklich erstaunlich hartnäckig, Joëlle.« Meine Wangen brennen, als hätte er mich geohrfeigt. »Warum, Serge? Warum?« Mit gesenktem Kopf stelle ich diese Frage. »Ich hätte doch alles für dich getan.« »Ich weiß.« Seine Stimme tönt schneidend, ohne jegliches Gefühl. »Aber jetzt hast du genug getan. Ich brauche dich nicht mehr.« »Was?« »Ich brauchte das Boot, Joëlle. Mehr nicht. Ich danke dir vielmals.« Meine Gedanken überschlagen sich. Angst breitet sich in meinem Körper aus. Dennoch will ich auf keinen Fall darüber nachdenken, welche Pläne Serge mit mir nun haben mag. Verzweifelt klammere ich mich an den Gedanken, daß er mir etwas vormacht. Etwas stimmt nicht an seiner Geschichte. »Ich verstehe das nicht. Du wußtest doch gar nichts von dem Boot. Erst als ich dir sagte, ich wolle mit dir fliehen, habe ich dir -222-
davon erzählt. Welchen Nutzen habe ich bis zu diesem Zeitpunkt für dich gehabt? Du hättest mich bestenfalls weiter als Geisel behalten können.« »Bravo! Gut kombiniert.« Er klatscht in die Hände. »Ich gebe zu, daß das zuerst mein einziger Plan war.« Sein Grinsen verrät eine diebische Freude. »Erinnerst du dich an unseren ersten Tag in deinem hübschen kleinen Haus?« Verständnislos sehe ich ihn an, warte darauf, daß er weiterspricht. »Du warst ungezogen an dem Morgen. Du hast versucht, deinen Freund anzurufen.« Er hebt tadelnd den Finger, aber noch immer lächelt er. »Dann waren wir einkaufen, weißt du noch?« Ich nicke. »Und was haben wir danach gemacht?« Er klingt jetzt wie ein Lehrer, der mit einem lernbehinderten Kind spricht. »Dann habe ich gekocht, und du hast den Kamin angezündet und den Tisch gedeckt. Ich war richtig überrascht, so schön war es.« »Ja, ja.« Er nickt und zieht dabei die Augenbrauen hoch. »Aber ich habe noch mehr gemacht als das.« Wieder läßt er mich zappeln, weidet sich an meinem ratlosen Gesicht, meiner zunehmenden Nervosität. »Ganz recht, ich habe den Kamin angezündet. Und dabei bin ich auf etwas gestoßen, das mir am Morgen, als ich das Brennholz geholt habe, entgangen war. Das war ja auch nicht weiter verwunderlich, nach der Enttäuschung, die du mir mit deinem Telefonanruf bereitet hast. Willst du wissen, was es war?« Die Kehle wird mir eng. Angstvoll beobachte ich, wie er sich umständlich eine Zigarette anzündet, bevor er diesem Rätselraten ein Ende bereitet. »Hinter dem Holzstapel habe ich ein Bild entdeckt. Ein ge-223-
rahmtes Foto, das wohl von der Wand gefallen ist. Das Glas hatte einen Sprung, weißt du? Aber auf dem Bild war deutlich dein entzückender Vermieter, Huchette, zu erkennen. Eine Frau stand neben ihm, vermutlich seine eigene. Aber, was mich viel mehr interessierte, war die kleine weiße Yacht, auf der sie sich so anmutig in Pose geworfen hatten. Wirklich ein schmuckes Schiffchen.« Er klopfte anerkennend auf den Bootsrand. »Der Weg übers Meer war meine einzige Chance. Aber ein Boot zu mieten, wäre zu riskant gewesen. Wahrscheinlich haben sie die Kontrollen verdoppelt, nachdem die Sache in Rennes und meine Flucht hierher bekannt geworden war. Aber eine Frau, die sich von ihrem alten Freund und Gastgeber sein Boot ausleiht, um damit »spazierenzufahren«… Was wäre unverdächtiger?« »Aber das Foto ist alt«, wende ich ein. »Du konntest gar nicht wissen, ob Monsieur Huchette die Yacht noch hat oder nach dem Tod seiner Frau verkauft hat«, begehre ich auf in einem letzten, verzweifelten Versuch, mich vor der traurigen Wahrheit zu drücken. »Nein, das konnte ich nicht wissen«, gibt er zu. »Aber ich habe es gehofft. Und schließlich, was hatte ich zu verlieren? Wenn die Polizei uns tatsächlich in ›unserem trauten Heim‹ aufgespürt hätte, hätte ich dich immer noch als Geisel benutzen können. Aber da ist noch etwas.« Er grinst mich an. »An unserem dritten Abend im Haus, als du dich völlig hysterisch ins Schlafzimmer zurückgezogen hast und nur noch heulen konntest, da war ich bei dir. Und ich habe dir Fragen nach dem Boot gestellt. Deine Antworten waren nicht sehr präzise, aber immerhin hast du mir bestätigt, daß du jemanden kennst, der dir ein Boot leihen kann. Und von da an gab es für mich keinen Zweifel mehr.« Ein leises Stöhnen entringt sich meiner Brust. Alle Fragen sind beantwortet. Es gibt nichts mehr, daß ihn entlasten könnte. Diesmal haben mir meine Gefühle einen Streich gespielt, der nicht mehr wiedergutzumachen ist. Mir wird heiß vor Scham und Angst. -224-
Serge ist aufgestanden. Seine Hände machen sich am Heck zu schaffen. Ein lautes Zischen ertönt. »Komm her, Joëlle.« Ich rühre mich nicht. Entsetzt schaue ich mich um. Wohin soll ich fliehen? In dem kalten Novembermeer würde ich keine Viertelstunde überleben. Aber da kommt Serge schon auf mich zu. Mitleidlos zerrt er mich hinter sich her. Am Heck bleibt er stehen, hält mich von hinten an den Schultern fest. Das kleine Schlauchboot tanzt wenige Meter voraus an einer dünnen Leine. »Du hast Glück, Joëlle«, sagt er. »Vielleicht überlebst du. Vielleicht findet dich jemand. Aber ich werde dann über alle Berge sein.« Verzweifelt starre ich auf das kleine Boot. O Gott, kennt er denn kein Erbarmen? Ich sehe nicht mehr die Hand, die mich stößt. Sie fühlt sich nicht einmal besonders unsanft an. Für einen kurzen Moment höre ich Serges Lachen. Das Klatschen, mit dem mein Körper auf dem Wasser aufschlägt, nehme ich kaum wahr, wohl aber den mächtigen Sog. Die eisige Kälte läßt mich aus meiner Lethargie erwachen. In panischer Angst schlage ich um mich. Hustend und spuckend tauche ich aus den Wellen empor, reiße die Augen auf und sehe… nichts, glaube in meiner Todesangst, blind geworden zu sein. Dann erkenne ich das schwache Leuchten des weißen Hecks, daß sich schnell entfernt. Schwarze Berge türmen sich um mich her auf, heben mich hoch und lassen mich wieder fallen. Die Kälte lahmt meine Bewegungen. Wo ist nur das Schlauchboot, meine Rettungsinsel? Meine Hand streift eine Kordel. Automatisch greift sie zu. Dann spüre ich eine pralle Rundung. Ich brauche mehrere Anläufe, um mich in das Boot zu hieven. Rücklings, beide Arme ausgebreitet, liege ich da. Lange höre ich nur mein eigenes schweres Atmen. Aber es ist ein Atmen, immerhin. Und dann fühle ich die Wellen, die das Boot schaukeln. Die Wellen wiegen mich. Ich schließe die Augen, höre nicht mehr den Wind, -225-
spüre nicht mehr die Kälte. Es ist beinahe schön. Auf und ab, und auf und ab wiegen mich die Wellen. Empor und hinunter. Ich beginne zu schweben. ›Man sieht nur mit dem Herzen gut‹, sagte Antoine de SaintExupéry. Doch meines ist fast blind. Oder ist Liebe nichts als Illusion? Ein hohles Brummen ist in meinem Kopf. Das sanfte Schaukeln ist verschwunden. Wo bin ich? Ich spüre mein Herz klopfen. Das dumme Herz, es schlägt wie wild, höhnend, mir gegen die Brust. Und ich fürchte mich davor, die Augen zu öffnen. »Können Sie mich hören?« fragt eine fremde Stimme, und ich möchte verschwinden. Möchte mich auflösen, gar nicht mehr sein. Will keine neuen Schrecken mehr, keine Enttäuschungen. »Können Sie mich hören?« Die Stimme insistiert. Sie zwingt mich. Sie hat Hände. Ich fühle sie auf meinen Armen. Eine Hand streicht über meine Stirn, und sie ist warm und angenehm. Meine Lider sind tonnenschwer. Alles ist verschwommen. Da ist ein Gesicht über mir, das ist mir unbekannt. Es sagt, ich solle schlafen. Es spricht in leisen Tönen. Und ich überlasse mich nur zu gern wieder der Dunkelheit. Ich fühle mich getragen. Doch nicht von Wellen und von Wind. Arme sind es, die mich halten. Ich kenne sie nicht. *** Das erste, was ich sehe, als ich wieder zu mir komme, ist das Gesicht von Monsieur Huchette. -226-
»Dieu merci!« sagt er, aber ich bin zu schwach, den Druck seiner Hand zu erwidern. Doch er zieht mich auch so, ganz ohne Worte, in seine Arme. Und ich schmiege mich an sein unrasiertes Gesicht und atme den Geruch seiner feuchten Jacke, als wäre es das Paradies. »Es tut mir so leid«, flüstere ich. »Es tut mir so leid.« Mehr kann ich nicht sagen. »Schon gut«, sagt er. »Alles wird gut. Sie haben es überstanden.« »Was?« »Sie waren ein bißchen unterkühlt und völlig erschöpft. Aber Sie sind außer Gefahr. Außer einem Schnupfen werden Sie wohl keine Nachwirkungen haben.« Er bricht ab, richtet sich auf. »Was Ihren Freund angeht… Der ist über alle Berge.« »Es tut mir leid, Monsieur Huchette«, schluchze ich. »Es tut mir leid, daß ich Sie angelogen habe. Es tut mir leid um Ihr Boot. Ich dachte, er sei ein guter Mensch. Ich dachte, er werde zu Unrecht verfolgt. – Ich dachte, ich könne ihm trauen.« »Schon gut. Beruhigen Sie sich. Das können Sie mir alles später erzählen. George ist da. Wollen Sie ihn sehen?« George?! Hier? Wie kann das sein? Bin ich wirklich verrückt? Geschehen mit mir Dinge, die ich anschließend vergesse? Oder träume ich sie nur? »Ich… ich kann ihn jetzt nicht sehen. Bitte, Monsieur Huchette. Ich muß mich ausruhen.« »Verstehe, Kindchen. Ich lasse Sie allein.«
-227-
DIE NICHT GEZÄHLTEN TAGE
Ich weiß nicht, wie George es geschafft hat, sich zu befreien und die Polizei zu alarmieren. Monsieur Huchette sagt, er sei mit zwei Gendarmen aus dem Dorf bei ihm ›eingefallen‹. Ein dritter Kriminalbeamter habe sich als Inspektor Truchet aus Rennes vorgestellt. Der gute Alte muß einen tüchtigen Schreck bekommen haben, als er erfuhr, wer Serge wirklich ist. Natürlich will er nichts davon wissen, daß ich mit ihm gemeinsame Sache gemacht habe. Als sie zum Hafen kamen, waren wir schon weg. Trotzdem fuhr die Küstenwache aufs Meer. Und dort, hinter der DreiMeilen-Zone, fanden sie mich. Nachdem ich der Polizei alles erzählt habe, erteilen sie mir die vorläufige Erlaubnis, nach Paris zurückzukehren. Monsieur Huchette gewahrt meine unglückliche Miene und bietet mir an, bei ihm zu bleiben. »Sie müssen nicht gehen, Kindchen«, sagt er. »Nicht, solange Sie sich nicht ganz erholt haben.« Aber ich fühle mich immer noch wie in Trance. Es scheint mir unmöglich, zu entscheiden, was ich will und was ich nicht will. Und als George entscheidet, mich mit nach Hause zu nehmen, wehre ich mich nicht. Vielleicht ist es das Wort ›zu Hause‹, vielleicht ist es auch nur die Erleichterung, daß ich die Ent-228-
scheidung nicht treffen muß. Jedenfalls sträube ich mich nicht. Ich wundere mich nur immer noch, daß George nicht einfach seine Haut gerettet, sondern sich auf die Suche nach mir gemacht hat. Fühlte ich mich kräftiger, würde ich ihn nach seinen Beweggründen fragen. Aber alles, woran ich im Moment interessiert bin, ist nur meine eigene Genesung. Ich möchte aus dieser Apathie erwachen, mich endlich wieder dem Leben gewachsen fühlen. Habe ich das eigentlich je? Ich kann mich nicht erinnern, wie das ist. Wir reden nicht viel auf dieser nächtlichen Autofahrt. Zwar versucht George wiederholt, mich aufzuheitern, doch ich reagiere nicht. Und wie immer hat er die beste aller Erklärungen parat. »Du stehst noch unter Schock«, sagt er. »Wahrscheinlich wird es eine ganze Weile dauern, bis du wieder unbeschwert durchs Leben tanzt.« Aus den Augenwinkeln werfe ich ihm einen Blick zu, und schmerzlich werde ich mir der Leere in seinem schönen Gesicht bewußt. Dann zucke ich innerlich die Schultern. Was kümmert mich George? All die Gefühle, die ich für ihn gehabt habe, sind endgültig verschwunden. Ich stelle das Radio an und denke daran, wie schön es wäre, einen Ort zu haben, an dem ich ankommen möchte. Erst, als ich merke, daß nicht einmal in meiner Phantasie ein solcher Ort existiert, laufen Tränen über mein Gesicht. George reicht mir ein Taschentuch. Blitzsauber und mit Monogramm. Als wir in Paris ankommen, ist die Stadt bereits erwacht. Paris ist niemals still und leer, und doch, in den frühen Morgenstunden, wenn die eigenen Schritte noch nicht vom Straßenlärm übertönt werden, kann man sich auch hier frei fühlen. Jetzt sind die Straßen bereits verstopft. Ich betrachte die Gesichter hinter den Lenkrädern. Und irgendwie fühle ich mich nicht mehr so allein. Auch diese Menschen sind gefangen. Und wenn sie glau-229-
ben, glücklich zu sein, dann nur, weil sie ihr Gefängnis noch nicht erkannt haben. Widerstandslos lasse ich mich in unsere Wohnung bringen. Wie immer ist sie staubfrei und aufgeräumt. Der Anblick der vertrauten Kostbarkeiten läßt mich kalt. Müde sehe ich mich um, frage mich, ob das der Ort ist, an dem ich zu Hause war. Dann lasse ich mich auf das Designersofa fallen, und George macht nicht einmal eine Bemerkung über meine schmutzigen Schuhe, die die makellose Eleganz der Einrichtung beeinträchtigen. Es ist mir egal, wo ich bin oder was hier geschehen ist. Es ist nur ein Ort für mich, an dem ich ausruhen kann. Beim Abendessen kaue ich gleichgültig an einem Stück Käse, während George redet und redet. »Du warst verwirrt«, sagt er. »Du hattest eine schwierige Phase, und ausgerechnet dann taucht dieser Kerl auf und kidnappt dich. Unter normalen Umständen hätte er dich nie dazu gebracht, mich zu verlassen. Du wolltest mich doch gar nicht verlassen, oder?« Als ich nicht antworte, tätschelt er gönnerhaft mein Knie und fährt fort: »Wir sollten die Geschichte so schnell wie möglich vergessen. Hauptsache, du bist wieder da, und dir geht es bald wieder gut. Ich will, daß du weißt, daß ich dir verzeihe, Joëlle. Du kannst dir sicher vorstellen, daß es nicht leicht für mich ist, nach allem, was vorgefallen ist. Aber ich verzeihe dir.« Ich bin sicher, er ist sehr zufrieden mit seiner Großzügigkeit. Lustlos würge ich das Essen hinunter und gehe ins Bett. George läßt sich nicht blicken. Ich schlafe ungestört und friedlich, und was George tut und denkt, kümmert mich nicht. Zum ersten Mal. So verbringen wir die nächsten Tage. George redet auf mich ein, daß man meinen könnte, er wolle mich einer Gehirnwäsche unterziehen. Aber seine Worte erreichen mich nicht. Ich hänge meinen eigenen Gedanken nach. Je weniger ich auf ihn eingehe, desto deutlicher spüre ich, daß es aufwärts mit mir geht. -230-
Und ich beschließe, solange wie möglich in diesem erfreulichen Zustand zu verharren. Ich rede nur das Nötigste. Aber langsam beginne ich, mich wieder um mich zu kümmern. Ich wasche und frisiere mich sorgfältig. Ich schminke mich weniger als früher, und als ich meinen Kleiderschrank inspiziere, gibt es da erschreckend wenige Kleidungsstücke, die ich anziehen möchte. Aber kaum, daß George mein Interesse an meinem Aussehen bemerkt, schleppt er mit Feuereifer die elegantesten Kleider für mich an. Er ist Tag und Nacht für mich da. Er läßt mein Badewasser ein, ölt mich mit teuren Essenzen, er kleidet mich, und wir verbringen alle Zeit allein. Nur wir zwei. So, wie in unserer allerersten Zeit. So, wie ich es mir immer gewünscht habe. Er besorgt uns zu essen, er bringt mich ins Bett und verfolgt mit Begeisterung meine zaghaften Schritte aus dem Schattendasein. Er bringt mir Geschenke und fragt sogar nach meinen Wünschen. Aber ich habe keine.
-231-
ERSTER TAG
Nach fast zwei Wochen fühle ich mich stark genug, alleine auszugehen. George will unbedingt mitkommen. Er überhäuft mich mit Vorschlägen. Aber ich bestehe darauf, alleine zu gehen. Und er läßt mich gehen. Nicht ganz einverstanden, ein wenig verstimmt vielleicht, aber letztendlich doch erstaunlich nachgiebig. »Also gut«, spricht er väterlich. »Geh nur, wenn es dir soviel bedeutet. Aber sei rechtzeitig wieder zurück!« Und als ich ihn fragend anschaue, fährt er fort: »Ich wollte dich eigentlich damit überraschen. Aber jetzt muß ich dir wohl oder übel verraten, daß heute abend eine Riesenparty steigt. Es soll eine Welcome-Back-Feier werden. Ganz großer Stil. Du weißt schon. All unsere Freunde werden da sein. Sie sind so sehr gespannt auf dich. Ich meine, sie freuen sich wirklich auf dich. Also, sei bitte spätestens um sechs Uhr wieder da, damit wir dich noch richtig hübsch machen können.« Und ich nicke, lächele, lasse mich von ihm auf die Wange küssen und verlasse die Wohnung. Ich habe kein Ziel; will nicht einkaufen, nicht ins Kino oder ins Museum. Ich will einfach nur durch die Straßen gehen und mich umschauen, Normalität spüren. Menschen sehen, die Besorgungen machen, Liebespaare, die sich in Cafés treffen, Kinder, die zur Schule gehen oder sie schwänzen. -232-
Die Metro führt mich zum Centre Pompidou. Ich stehe mitten zwischen Passanten und Touristen auf dem großen Platz und sehe den Straßenkünstlern zu. Ein Mann sitzt nur da und hält sich einen leeren Bilderrahmen vors Gesicht. Und die Leute fotografieren ihn und werfen Münzen in seinen Hut. Ich gehe weiter zum Forum Les Halles, und wieder einmal bedauere ich, daß man die alten Markthallen abgerissen hat. Nichts ist mehr zu spüren von der Lebendigkeit, mit der die Marktschreier ihr buntes Sortiment von Waren feilboten. Jetzt ist alles chromglänzend, durchsichtig und blankpoliert. Rolltreppen und gläserne Aufzüge bringen einen mit vornehmem Surren in obere Etagen, wo die Sonne, gedämpft durch Plexiglas, einem nicht die Haut verbrennt. Und mitten in diesem High-Tech-Wunderland entdecke ich ein altes Paar auf einer Bank. Sie sitzen zwischen zwei Blumenkübeln, hinter sich einen Designer-Springbrunnen, und halten sich an der Hand. Sie sind bestimmt zwischen siebzig und achtzig. Zuerst kommen sie mir ein bißchen verloren vor in dieser künstlichen Oase. Aber dann betrachte ich sie genauer. Sie holt aus ihrer Einkaufstasche ein Baguette und Salami hervor, teilt das Brot und reicht ihrem Mann die Wurst. Bedächtig schneidet er ein paar Scheiben ab. Sie essen und lächeln sich zu. Dann holt er aus einer kleinen Tüte ein Schächtelchen hervor und öffnet es. Gemeinsam betrachten sie den Ring, der darin liegt. Selten habe ich so eine stille Freude gesehen. Sie nehmen den Ring nicht heraus, er steckt ihn ihr nicht an den Finger. Sie sehen ihn nur an. So, als hätten sie sich sehr lange darauf gefreut. Dann packen sie alles wieder ein und gehen weg, Hand in Hand. Ich gehe zu der Bank und setze mich. Ganz leicht kann ich noch die Wärme der beiden Alten fühlen. Ich schließe die Augen, und plötzlich ist es wieder da. Dieses Gefühl, als ich den Pferdehals -233-
an meiner Wange spürte. Ich erinnere mich an die Liebe, die von dem Tier ausgegangen ist, und muß daran denken, wie sehr ich mich von diesem Gefühl habe täuschen lassen. Ich werde beinahe ein bißchen böse. Böse, daß es soviel Liebe in mir geweckt hat, mich quasi zu einer Liebe aufgefordert hat, die mich dann so enttäuscht hat. Soviel vergeudete Zeit. Da spüre ich ganz dicht ein Raunen. Und obwohl ich die Worte nicht verstehe, empfinde ich sie als tröstend. Doch als ich die Augen öffne, ist da nur der alte Mann von vorhin. »Entschuldigung«, sagt er. »Ich habe meinen Stock hier stehengelassen.« Ich nicke, und als er sich schon wieder entfernt, bemerke ich die Zeitung, die neben mir auf der Bank liegt. »Hallo«, rufe ich. »Gehört die Zeitung vielleicht auch Ihnen?« Doch er hört mich nicht mehr. Achselzuckend schlage ich das Blatt auf. Überall die üblichen Schreckensmeldungen. Schaudernd blättere ich weiter. Ich überfliege Kulturteil, Sport und die Kontaktanzeigen. Verrückt, was sich die Leute so einfallen lassen, denke ich und schlage die nächste Seite um. Und dann bleiben meine Augen an einem umrandeten Kästchen hängen. «Ballettlehrerin gesucht.« steht da. »Über dem Studio kleine Wohnung vorhanden.« Und eine Adresse am Stadtrand von Paris. Ich erinnere mich recht gut an die Gegend. Nicht außergewöhnlich, nicht exklusiv, aber ruhig und friedlich. Mehr aus Spaß reiße ich die Anzeige aus und stecke sie in meine Tasche. Vielleicht werde ich sie George unter die Nase halten, um ihn daran zu erinnern, daß ich nicht auf ihn angewiesen bin, daß ich immer noch einen Beruf habe. Ich setze mich in ein Straßencafé. Trotz der Winterkälte hat der clevere Patron auch draußen Tische und Stühle aufgestellt. Ich genieße ein paar schwache Sonnenstrahlen und trinke einen Cappuccino. Die Zigarette schmeckt nicht so richtig. Ich drücke sie aus. Ich denke lächelnd an das alte Ehepaar und träume mir -234-
ein bißchen Glück und ein eigenes Leben. Bis mein Blick auf meine Uhr fällt und ich erschrecke. Halb sechs schon. Ich habe gar nicht bemerkt, wie schnell die Zeit vergangen ist. Hastig stehe ich auf, lege das Geld für meinen Cappuccino auf das kleine Plastikschälchen und setze mich in Bewegung. Ich merke nicht einmal, daß ich in einen leichten Laufschritt verfalle. Atemlos komme ich um viertel nach sechs in unserer Straße an. George wird nicht gerade erfreut sein, daß ich so spät komme. Ich haste die Stufen zur Haustür hinauf, während meine Hand bereits in der Manteltasche nach dem Schlüssel kramt. Aber er ist nicht da. Weder in der linken noch der rechten. Auch nicht in meiner Umhängetasche. Wie peinlich. Ich werde klingeln müssen, und wahrscheinlich wird George mir einen Vortrag über meine Schusseligkeit halten. Jedenfalls hat er das früher immer getan. Heute wird ihm mein Mißgeschick besonders gelegen kommen. Ich sehe ihn schon vor mir, wie er auf meiner Willkommensfeier allen Gästen erzählt, daß ich noch nicht in der Lage sei, alleine auszugehen, aber unbedingt meinen Dickkopf habe durchsetzen müssen. Und dann wird er den Arm um mich legen und vor versammelter Mannschaft sagen: »Du wirst noch einmal deinen Kopf vergessen, Prinzessin. Aber mach dir keine Sorgen, du hast ja mich.« Und alle werden lachen. Meine Hand, die ich nach der Klingel ausgestreckt habe, erstarrt in der Bewegung. Der Glanz des blank polierten, goldenen Klingelschilds sticht mir in die Augen. Der elegante Schriftzug auf dem kleinen Schild verkündet: George Levallec & Princesse. George hatte das damals für eine originelle Idee gehalten. Und ich hatte an seinem Arm gehangen und zu ihm aufgeschaut, namenlos und lächelnd. Ich starre auf das goldene Schild, bis die Schrift vor meinen Augen zu verschwimmen beginnt. Ganz langsam sinkt meine Hand herab. -235-
Ich weiß nicht, wie lange ich so unbeweglich vor der Haustür stehe. Dann wische ich die Tränen weg und straffe meine Schultern. Abermals beginnt meine Hand in meiner Tasche zu kramen. Doch diesmal findet sich das Gesuchte. Meine Hand umschließt das Papier. Und plötzlich ist alles ganz leicht. Ich gehe die Stufen hinab und laufe die Straße hinauf. Und je weiter ich mich von dem Haus entferne, desto schneller und sicherer werden meine Schritte. Mein Mund beginnt zu lächeln, während meine Hand mit dem Papier spielt. Es ist, als verleihe mir dieser Schnipsel neue Kraft. Ich hebe die Hand, um ein Taxi heranzuwinken, und zu meiner Verwunderung und Freude habe ich gleich beim ersten Wagen Erfolg. »Bonjour, Mademoiselle«, begrüßt mich der Fahrer. Er spricht mit arabischem Akzent. »Wohin soll’s denn gehen?« Ich hole das Papierkügelchen hervor und streiche es glatt. Dann halte ich es ihn ihm unter die Nase. »Können Sie mich dorthin bringen?« Er zeigt ein Reihe schneeweißer Zähne. »Es gibt nichts, wo ich Sie nicht hinbringen kann.« Und dann gibt er auch schon Gas. Ich achte nicht auf seine halsbrecherischen Fahrmanöver. Ich habe nur Augen für das kleine Stückchen Zeitungspapier. Wenn man die Augen ein wenig zusammenkneift, sieht die gerahmte Anzeige fast aus wie ein Namensschild an einer Haustür. Nicht golden, nicht verschnörkelt, eben nur ein ganz einfaches Klingelschild, nur ein Vor- und Nachname, schwarz auf weißem Grund. »Ich will mich nicht einmischen«, unterbricht der Taxifahrer meine Gedanken und mustert mich aus den Augenwinkeln. »Aber diese Adresse, wohin ich Sie bringen soll…« Er schüttelt zweifelnd den Kopf. »Ist nicht Ihre Gegend.« »Was ist denn damit nicht Ordnung?« frage ich. »Nichts. Ein ruhiges Viertel. Aber nicht sehr fein.« Wieder gleitet sein Blick über mein Kostüm und die Handtasche. »Und -236-
wenn Sie Ballettstunden nehmen wollen… Ich kann Ihnen auch ein paar Studios im Zentrum zeigen.« »Nein, danke.« Ich muß lachen. »Die Gegend ist genau richtig, glauben Sie mir. Und ich will auch keine Stunden nehmen, sondern geben.« Diesmal sieht er mich wirklich erstaunt an. »Sie sind Ballettlehrerin?« fragten »Tänzerin?« »Ja, das bin ich.« In mir ist eine Freude, daß ich lachen möchte. Und sein bewundernder Blick tut mir so gut. Plötzlich ist er nicht mehr zu bremsen. Er erzählt mir von seiner kleinen Nichte, die auch Tänzerin werden möchte. »Ich weiß gar nicht, woher sie das hat. Wir sind doch nur einfache Leute. Aber sie ist wirklich talentiert. Sie müßten mal sehen, wie ihr Gesicht leuchtet, wenn sie uns was vortanzt. So schön ist sie dann. Wie von einer anderen Welt. Ich gebe ihr manchmal etwas dazu, weil mein Bruder arbeitslos ist. Die Tanzschule ist sehr teuer, wissen Sie?« Ich nicke. Und plötzlich bin ich ganz sicher, daß ich das Richtige tue. »Wissen Sie was?« sage ich. »Wenn ich die Stelle bekomme, schaue ich mir Ihre Nichte einmal an. Und wenn sie wirklich so gut ist und sie den Tanz um seiner selbst willen liebt, dann werde ich sie unterrichten. Und zwar umsonst.« »Umsonst? Das kann ich nicht annehmen. Da muß ich erst mit meinem Bruder sprechen.« »Tun Sie das.« Ich krame meinen Notizblock und einen Stift aus der Tasche. »Schreiben Sie mir ihre Telefonnummer auf, und ich rufe Sie an. Ich habe leider noch kein eigenes Telefon. Aber das wird sich bald ändern.« Ein eigener Telefonanschluß. Schon wieder hüpft mir das Herz im Leib. »Mon dieu«, sagt er und lacht ebenfalls. »Wenn ich das Saida -237-
erzähle. Die wird überglücklich sein. Privatstunden! Tss.« Wieder schüttelt er den Kopf. »So etwas hat es bei uns noch nicht gegeben. Und Sie meinen es wirklich ernst?« »Ganz ernst.« Er schaut mich einen Moment prüfend mit seinen braunen Augen an. Dann hält er am Straßenrand und schaltet die Uhr aus. »Wenn Sie das für Saida tun wollen, dann fahre ich Sie umsonst«, sagt er und streckt mir die Hand hin. »Ich bin Abderrhaman Masouk.« Ohne zu zögern, ergreife ich seine Rechte. Und es kommt mir vor, als habe ich nie eine Hand herzlicher und sicherer ergriffen als seine. »Und mein Name ist Joëlle.« sage ich freudestrahlend. »Joëlle Fréjour.«
-238-