Jakob Loewenberg
Aus zwei Quellen Die Geschichte eines deutschen Juden Roman
Mit je einem Nachwort herausgegeben von ...
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Jakob Loewenberg
Aus zwei Quellen Die Geschichte eines deutschen Juden Roman
Mit je einem Nachwort herausgegeben von Peter Frielingsdorf und Karl-Martin Flüter
Igel Verlag Literatur
REDAKTION: STEFANIE NOELLE Umschlaggestaltung unter Verwendung eines Fotos von Jakob Loewenberg. Der Text folgt dem Erstdruck, Berlin 1914. Lediglich offensichtliche Druckfehler wurden korrigiert. Zeichensetzung und Orthographie blieben unangetastet. Den Untertitel – „Die Geschichte eines deutschen Juden“ – hatte Loewenberg erst in der 2. Auflage 1922 hinzugefügt.
Erste Auflage 1993 Alle Rechte vorbehalten Copyright © by Igel Verlag Literatur Brüderstr. 30, 33098 Paderborn Tel. 05251-72879 Layout: Melanie Wieland Herstellung: Druckpartner Rübelmann, Hemsbach ISBN 3-927104-48-5
„Aus zwei Quellen“ (Erstdruck 1914) enthält das literarische Glaubensbekenntnis Loewenbergs. Die zwei Quellen, aus denen sich sein Selbstverständnis speiste, waren seine Herkunft als Jude und als Deutscher. Im Roman schildert Loewenberg die glückliche Kindheit eines Jungen, die Jahre seiner Ausbildung und der Diskriminierung als jüdischer Deutscher und zuletzt die Choleraepedimie in Hamburg 1892. Der autobiographische Roman war, wie viele der mehr als 30 Bücher Loewenbergs, äußerst erfolgreich. Das Dritte Reich hat den einst so populären Dichter vergessen gemacht. Jakob Loewenberg wurde 1856 in Niederntudorf bei Paderborn geboren. Von 1886 an lebte der Autor und Pädagoge als Leiter einer fortschrittlichen Privatschule in Hamburg. Er war Mitbegründer der Hamburger literarischen Gesellschaft und stand mit Otto Ernst, Richard Dehmel, D. v. Liliencron u. a. in enger Verbindung. Loewenberg gehörte zu den meistgelesenen Dichtem seiner Zeit. In weiten jüdischen Kreisen galt er als Autorität im Kampf um Emanzipation und Toleranz. Ein großer Teil des umfangreichen Nachlasses liegt im Leo BaeckInstitut in New York.
Der Heimat- und Verkehrsverein Tudorf hat die Neuherausgabe dieses Buches ideell unterstützt und zusammen mit anderen Vereinen des Dorfes finanziell ermöglicht. Verlag und Herausgeber bedanken sich hierfür herzlich. – Ebenso gilt der Dank Frau Brigitte Bolik für ihre Mithilfe.
Meinen Freunden Dr. M. Spanier – Berlin und Fritz v. Borstel – Hamburg
Der neue Lehrer.
„Was willst du werden?“ „Lehrer!“ Wer mir die Antwort zuerst eingeflößt, oder ob sie gleich von innen herausgekommen, weiß ich nicht. Einmal hat ja jeder Junge den Wunsch, Lehrer zu werden, sei es auch nur in den ersten Schultagen, wenn der Gewaltige noch in voller Glorie thront, sei es später in dem leicht erklärlichen Verlangen, auch einmal nach Herzenslust strafen zu dürfen. Bei mir aber stand die Wahl jenes Berufes schon lange vor der Schulzeit fest, und es ist mir in meinen Werdejahren nie in den Sinn gekommen, daß ich mich überhaupt zu etwas anderm auswachsen könne. Vielleicht verdanke ich diese Festigkeit einer nachsichtigen Tante, welcher der kleine Bursche einmal ein langes Gedicht fehlerfrei vorgeplappert hatte. „Nein, meiner Seel, was der Junge klug ist, der muß Lehrer werden!“ Wer ist so jung oder auch so alt, daß er für Lob unempfänglich sei? „Junge, was willst du werden?“ „Lehrer.“ Da knie ich, ein vierjähriges Kerlchen, auf dem Stuhl vor dem niedrigen Fenster, presse den Kopf dicht an die kalten Scheiben und spähe hinaus auf den weißen Kiesweg, der um die gegenüberliegende neue, große Kirche führt. Gleich müssen sie kommen, da rechts um die Ecke her, ich höre schon den strammen, forschen Tritt, da sind sie, die Knaben der Dorfschule, die, vom Lehrer angeführt, ihren Turnerrundgang um die Kirche machen. „Da ist er, Mutter, sieh doch hin, da ist
er, unser Ascher, da, da – Ascher!“ rufe ich laut, und erschrocken ob meiner eigenen Kühnheit, spring ich vom Stuhl hinunter und halte mir beide Hände vors Gesicht. Ob er mich wohl gesehen hat? Wie stolz er zwischen den andern Jungen einherging! Unser Ascher besuchte die Volksschule des Ortes, die deutsche Schule, wie wir sie nach alter Überlieferung nannten. Das Turnen war damals in Aufschwung gekommen und hatte seinen Weg auch nach dem kleinen Dorf gefunden. „Nun kommen wir vorwärts, wir erziehen ein starkes, freies Geschlecht“, meinten die Aufgeklärten, und die Jungen marschierten tapfer drauflos, – immer um die Kirche herum. Als ich schulpflichtig wurde, hatten wir wieder eine eigene jüdische Schule. Das war dem glücklichen Umstände zu verdanken, daß ich in demselben Alter mit dem ältesten Sohne des reichsten Gemeindemitgliedes war. Bis dahin hatten die Kinder genug in der allgemeinen Volksschule lernen können; aber nun mußten sie mehr davon abbringen. Das Leben stellt sofort größere Ansprüche, wenn ein reiches Kind zur Schule kommt. Und das sieht ja jeder ein, zehn Kinder in einer Klasse können mehr lernen als hundert, und außerdem müssen die Kinder auch etwas von ihrer Religion wissen, und es ist sehr schön, wenn uns jemand am Sonnabend und an den Festtagen etwas vorpredigen kann. Diese Gründe schlugen um so eher durch, als alle Gemeindemitglieder schon seit Jahren von ihrer Richtigkeit überzeugt waren, mit Ausnahme des einen, der sie nun mit überzeugender Kraft und einwandfreiem Geldbeutel vorbrachte. Die Gemeinde bestand nur aus wenigen Familien, die fast alle ihr Stückchen Brot sauer verdienen mußten. Der einzige Wohlhabende unter ihnen trieb Landwirtschaft; einer war Färber, und die andern waren Handelsleute. Der eine handelte
mit Korn, der zweite mit Fellen, der dritte mit Zeugstoffen und Wollgarn, der vierte mit Vieh und der fünfte mit allem zusammen und noch mit vielen andern Dingen. Der fünfte war mein Vater. Von seinen Vorfahren weiß ich wenig. Sie sollen aus Bayern nach Westfalen eingewandert sein. Geschwister hatte er nicht, die Eltern waren beide früh gestorben, und wie von sich selber, so mied er es auch, von ihnen zu sprechen. Seine Jugend war, wie sein ganzes Leben, Arbeit und Sorge gewesen. Meine Mutter hat’s mir oft erzählt: „Als wir uns verheirateten, hatten wir vierundzwanzig Taler Vermögen.“ Sie sagte das in einem Tone, aus dem ich nie klar entnehmen konnte, ob das im Vergleich zu jetzt sehr viel oder sehr wenig sei; ich vermute aber, sie meinte sehr viel. Einkommensteuer brauchte mein Vater also nicht zu zahlen; aber da er mit aller Entschiedenheit für die Anstellung eines eigenen jüdischen Lehrers eingetreten war, so war es auch ganz natürlich, daß man ihm einen großen Teil der Kosten aufbürdete. An und für sich waren diese zwar nicht allzu groß; denn man hatte aus der Zahl der sich bewerbenden Lehrer den billigsten herausgesucht. Das war ein ältlicher Mann, der unverheiratet und schon seit einiger Zeit ohne Stellung war, sonst hätte ja die Lehrerwohnung, die nur aus einer Schlafkammer und einem Kohlenraum bestand, nicht ausgereicht. Außer der freien Wohnung erhielt der Lehrer auch noch hundert Taler und das Recht, sich ‘rund zu essen’. Das ging so zu. Jeden Tag der Woche speiste er bei einer andern Familie, und am Ende der Woche war er rund, das heißt er war ‘rund’, aber bei der wenig üppigen Kost wurde er es nie. Die Einrichtung war übrigens vortrefflich. Es war die einfachste Lösung der heute noch so vielfach umstrittenen Frage, wie die Verbindung von Schule und Haus herzustellen sei. Wenn der Lehrer in die Lage
versetzt ist, so gründlich den Geschmack eines jeden Hauses kennen zu lernen, wenn die Mutter es wenigstens einmal in der Woche in der Hand hat, die ihrem Liebling widerfahrene Ungerechtigkeit an dem Übeltäter durch salzige Suppen und verbranntes Gemüse zu rächen: dann müssen sich auch die schroffsten Gegensätze in reinste Harmonie auflösen. – An einem Freitag nachmittag hielt der neue Lehrer seinen Einzug. Auf einem Eselskarren hatte man seine Sachen holen lassen: einen Koffer mit Kleidern, eine Kiste Bücher und ein Bett. Er selber kam langsam hinterhergeschritten, Stock und Schirm in der einen Hand, die lange Pfeife in der andern. So zieht die Weisheit hinter den Eseln her ins Land. Hinter dem Zaun eines benachbarten Gartens lagen die Schulkinder, Knaben und Mädchen, und ich bei ihnen. Der lange Zender hatte mich mitgenommen; „das Jüngelchen kommt ja nun auch zur Schule“, sagte er zu seiner Rechtfertigung. „Da ist er, da ist er!“ Die Mädchen kreischten mit einem halb unterdrückten Schrei auf, dann wurde es totenstill, und ein paar Dutzend neugieriger Augen lugten forschend und bangend durch das junge Frühlingsgrün der Hagedornhecke. „Wie groß er ist!“ „Und was für lange Stieweln er anhat!“ „An dem Rock hinten sind zweierlei Knöpfe!“ „So alt hätt ich ihn mir nicht vorgestellt.“ „Hu, sieht der aber schlimm aus!“ „Schlimm? Er soll mir mal was tun!“ „O Junge, wenn er das hört!“ „Er ist ja schon längst in der Schule.“ Und dann sprangen sie alle auf, um die große Neuigkeit in das Elternhaus zu tragen. –
Pünktlicher als gewöhnlich fanden sich die männlichen Mitglieder der Gemeinde beim Einbruch der Dämmerung zum Gottesdienst in der ‘Schul’, der Synagoge, ein. Selbst mein Vater, der weit über Land gewandert war, kam früh genug heim, um noch in aller Ruhe den blauen Bauernkittel gegen den schwarzen Sabbatrock zu vertauschen, sich schnell zu rasieren und sich wie gewöhnlich mehrere Mal dabei zu schneiden. Er durfte heute unter keinen Umständen zu spät kommen, war er doch Vorsteher der Gemeinde. Warum man gerade ihn zu dem Amt gewählt? Das Schreiben wurde ihm sein Lebtag herzlich sauer. Aber vielleicht just deshalb. Die Gemeinde stand sich nicht schlecht dabei; denn in der Regel vergaß er, die kleinen Ausgaben, die er für sie zu machen hatte, anzuschreiben. Stolz auf seine Würde kannte er nicht, sie war ihm nur eine Pflicht mehr, die erfüllt werden mußte, wie die andern auch. Gesenkten Hauptes, ohne nach rechts oder links zu sehen, schritt der neue Lehrer aus der Schulstube über den schmalen Flur die Synagoge hindurch zum Vorbeterpult. Bedächtig legte er sich den Tallis∗ um, begann die Abendgebete zu rezitieren, und andächtig kritisch lauschte die Gemeinde. Fieberhafte Spannung lag auf allen Gesichtern, als die ersten Psalmen beendet waren. „Nun kommt’s drauf an, der Lechodaudi, das ist die Hauptsache.“ Mit zitternder Stimme trug er eine wehmütige Weise des Sabbatbrautliedes vor. Seitwärts und rückwärts wandten sich die Köpfe der Zuhörer, um nach der ersten Strophe ihre Bemerkungen auszutauschen. „Ganz schön!“ „Nit übel!“ „Da kann man noch was von lernen.“ ∗
Gebetsmantel
„Ein ganz neuer Nigun∗.“ „So schön wie meiner ist er nit.“ Das sagte Meiers Salme, der stellvertretende Vorbeter, der als musikalische Autorität galt. Aber die meisten waren doch der Meinung, daß er noch schöner sei, und es sei auch mal was andres. Gegen Schluß der Gebete sprach der Lehrer den schönen Segensspruch über den Wein: „Gelobt seist du, Ewiger, unser Gott, der die Frucht des Weinstocks erschaffen.“ Er nippte nur an dem silbernen Becher und drehte sich um, ihn den Knaben zu reichen, damit sie ihn leer trinken sollten. Aber scheu wichen alle zurück, auch die, welche sich sonst unverschämt vorzudrängen pflegten; nur der lange Zender blieb stehen und trank kalt lächelnd die ganze Broche∗∗ allein aus. Nach dem Gottesdienst traten die älteren Männer zu dem Lehrer hin, um ihn zu bewillkommnen. Wir Jungens aber stürmten hinaus, Eilbotenpflichten im Herzen. Draußen vor der Schulmauer standen die Mädchen, die Freitags abend nicht zur ‘Schul’ gingen. „Nun, wie war’s? Sagt’s doch!“ Verächtlich ließen wir sie stehen und rannten weiter. In allen jüdischen Häusern gab’s an dem Abend nur eine Frage und ein Diskussionsthema: „Nun, wie hat er geort∗∗∗ ?“ Und als sich am andern Morgen der männliche Teil der Gemeinde, jung und alt, wie gewöhnlich vor dem Gottesdienst im Vaterhause des langen Zender, das nahe bei der Synagoge stand, versammelte, da wurde nicht wie sonst von den Dorfereignissen oder von Geschäften gesprochen, da gab’s nur einen Gesprächstoff: der neue Lehrer. Man war voller Erwartung. ∗
Melodie Segenswein ∗∗∗ gebetet ∗∗
Die günstige Stimmung, die sich trotz Meiers Salme für ihn verbreitet hatte, wurde am folgenden Morgen noch wesentlich gesteigert. Zwar neue Melodien gab es nicht mehr, selbst beim Ausheben der Gesetzesrollen aus dem heiligen Schrein erklangen die alten bekannten Weisen, so daß die Gemeinde sofort im Chor mitsingen konnte. Auch das Vorlesen des Wochenabschnitts, natürlich in der alten Singsangweise, und das Einheben der Thora brachte nichts Neues, Überraschendes. „Er muß mal eine schöne Stimme gehabt haben“, meinten die Kenner. Aber dann kam vor dem Schlußgebet die Predigt. Als er frei auf der höchsten Stufe vor der heiligen Lade stand, konnte man ihn zum ersten Mal recht sehen. Eine hohe, hagere Gestalt, die Wangen blaß und eingefallen, die Nase ein wenig rot, und ein weicher, wehmütiger Zug auf dem ganzen Gesichte. War er alt oder jung? Unter dem schwarzen Käppchen sahen ganz weiße Haare hervor, auch der Backenbart war schon grau; aber die Augenbrauen und der Schnurrbart waren noch kohlschwarz. Von der Predigt selber verstand ich nicht viel, es lag wohl am Ton allein, daß sie mich traurig stimmte. Zuletzt sprach er viel von den Kindern, und daß sie das Schönste und Beste auf der Welt seien, – das hatten wir noch nie gehört – und dann lobte er die Mütter, die so viel Sorge und Kummer um uns hätten, das hatten wir schon oft gehört, und was ein Mutterherz empfände an Freud und Leid, das könne ein Mann gar nicht sagen. Von der Frauenschule her tönte lautes heftiges Schluchzen, und ich hörte ganz deutlich die Stimme meiner Mutter darin. – So hatte der neue Lehrer mit einem Schlage die Herzen der Frauen für sich gewonnen, also auch die der ganzen Gemeinde. Darin waren nach dem Gottesdienste alle einig: „Ein guter Chasen∗ und ein feiner Prediger ist er, wenn er nun auch noch ∗
Vorsänger
ein guter Kinderlehrer ist, haben wir unser Geld nicht in den Dreck geworfen.“ Damit der Lehrer aber nicht übermütig werde und vielleicht schon nach einem halben Jahr um eine Gehaltserhöhung einkomme, vermied jeder, wie auf Abrede, ihm irgend ein anerkennendes Wort zu sagen. Nur Schmuel Musikant ging auf ihn zu, gab ihm die Hand und sagte: „Du, olle Bummel, dat hest du ganz gud makt, du büst en verdammt geschickten Kerel. Wo kümmst du man in dit klatrige Nest?“ Aber Schmuel Musikant hatte kein Ansehen in der Gemeinde. „Er ist unsre Familienschande“, pflegte sein Neffe, bei dem er eine ererbte Hausstelle innehatte, von ihm zu sagen. Die ganze Woche trieb er sich auf den Dörfern umher und spielte den Bauern zu Hochzeiten, Kindtaufen und Tanzvergnügen auf, und da er aus religiösen Gründen nur wenig mit ihnen essen durfte, so trank er desto mehr mit ihnen. In seinem normalen Zustand war er nur dann, wenn er betrunken war. Dann war er lustig und vergnügt, ging sichern Schrittes über die Straße, sprach jedermann auf Platt und mit du an, und wußte hundert Schnurren zu erzählen und tausend Melodien zu pfeifen. War er aber nüchtern, so war er mürrisch und griesgrämig, zitterte an Händen und Füßen, sagte ‘Sie’ und sprach hochdeutsch. Schmuel Musikant sprach aber sehr selten hochdeutsch, in der Regel nur am Jom Kippur∗ . Nachmittags nach dem Gottesdienst machte der Lehrer Besuche bei den Gemeindemitgliedern. Ich stand auf der Haustreppe und sah ihn zu uns kommen. Im Nu war ich in der Stube. „Da ist er, da ist er!“ Dann schnell in die Kammer, durchs Fenster in den Garten hinein, und erst hinter dem fernsten Holunderbusch fühlte ich mich sicher. ∗
Versöhnungstag, an dem gefastet wird
Nach einer Weile getraute ich mich wieder durch die Hecke auf die Straße, dann vorsichtig weiter auf die Haustreppe, dann auf den Flur. O weh, da kam er gerad aus der Tür heraus, und ich konnte nicht entrinnen, die Mutter hielt mich fest. „Das ist er, unser kleiner Nixnutz!“ „Wie heißt du, mein Junge?“ „Moses.“ „Wie noch mehr?“ „Moses Lennhausen.“ „Wie alt bist du?“ „Sechs.“ „Was denn sechs? Sechs Wochen?“ „O nee, sechs Jahre.“ „Und was willst du werden, du Krauskopf?“ „Lehrer.“ „Lehrer? Junge, bist du ein Optimist!“ Ich biß die Zähne aufeinander, um nicht laut lachen zu müssen. Wie konnte der Lehrer nur ein solch unanständiges Wort gebrauchen. Hastig riß ich mich los, lief auf den Hof, und hell auflachend rief ich aus: „Op de Mist!“ und dann immer wieder und immer wieder: „Op de Mist! Op de Mist!“ Plötzlich durchzuckte mich ein neuer Gedanke. Der neue Lehrer hatte mich gewiß ausgeschimpft. Optimist, das war ein Scheltwort. Wenn nur keiner von den andern Jungens es gehört hat! Noch jahrelang lastete das Wort geheimnisvoll schwer auf meiner Seele. Und manchmal, wenn ich etwas recht Böses tun, der Mutter einen Apfel oder ein Stück Zucker stehlen wollte, sagte ich warnend zu mir selber: „Der Lehrer hat recht gehabt, du bist ein Optimist!“ Während ich schon seit Wochen und Monaten voll fröhlicher Erwartung immer gefragt hatte: „Wann komme ich denn zur Schule?“ überfiel mich jetzt, nachdem ich den neuen Lehrer
gesehen, ein leises Grauen. Zwar konnte ich drei Gedichte auswendig: ‘Ein junges Lämmchen weiß wie Schnee’, ‘An das Fenster klopft es pick, pick’ und ein ganz langes ‘Der Glockenguß zu Breslau’, mein geheimer Stolz. Ascher hatte sie mir beigebracht. Auch konnte ich ein i schreiben und bis hundert zählen, vor- und rückwärts. Aber was wollte das bedeuten? Der Lehrer verlangte gewiß noch viel mehr. Daß ich die Segenssprüche beim Brotessen und Händewaschen auswendig wußte und die ersten Stücke vom Tisch- und Nachtgebet hersagen konnte, natürlich alles auf hebräisch, das zählte nicht mit, das konnten die andern Jungens auch. Aber von dem großen Einmaleins wußte ich gar nichts, und Ascher sagte immer, das große Einmaleins, das sei das Schwerste von allem. Wenn man es ganz gut könne, dann könnte man es doch noch lange nicht. O, wie wird’s mir gehen, wenn ich das große Einmaleins nicht kann! Mit größerer Andacht als je hielt ich beim Sabbatausgang dem Vater das brennende Wachskerzchen, und als er es in dem auf den Tisch ausgegossenen Branntwein verlöschte und die bläulichen Flammen des Spiritus auf- und niederzuckten, da war es mir, als ob sie höhnend fragten: „Kannst du auch das große Einmaleins?“ Und während der Vater die alte Weise sang: „Seht der liebe Schabbes Kaudesch∗ geht dahin, Die Wuch soll kommen mit Masel∗∗ und Broche∗∗∗ und einen guten Gewinn“, tunkte ich eifrig die beiden Zeigefinger in das brennende Naß und betupfte die Augen damit, immer auf hebräisch murmelnd: „Das Gebot Gottes erleuchtet die Augen.“ ∗
heilige Sabbat
∗∗
Glück Segen
∗∗∗
„Davon wird man klug“, hatte mir die Mutter gesagt, und ich wollte ja jetzt so recht klug werden, ich hatte es so nötig, schon des großen Einmaleins wegen. Dann brachte mich die Mutter zu Bett. „Jung, schlaf, du mußt morgen früher aufstehen, morgen geht die Schule an.“ Ich seufzte tief. „Brauchst nit bange zu sein, Jung, ich bring dich hin.“ Ich seufzte noch tiefer. Die Mutter wollte aus dem Zimmer gehen. Da rief ich ihr ängstlich nach: „Mutter!“ „Was ist dir, Jung?“ Und sie kam zu mir zurück. „Mutter“, flüsterte ich und legte beide Arme um ihren Hals, „Mutter, willst du mir denn auch morgen nicht mein Stühlchen bestellen?“ Das war immer nach Art liebevoller Mütter, die ihrem Kinde gegenüber die eigene Autorität nicht geltend machen können, ihre Drohung gewesen: „Wart nur, Jung! Wenn du erst in die Schule gehst, will ich dir schon dein Stühlchen beim Lehrer bestellen.“ Und morgen wollte sie mit mir gehen und vielleicht die fürchterliche Drohung ausführen. „Sag doch, Mutter, sag, willst du auch nicht?“ Die Mutter lachte. „Morgen nit, Jung, aber wenn du mal wieder ungezogen bist, bestell ich es gleich.“ „Mutter, ich will jetzt immer artig sein!“ Sie küßte mich, und trunken von Schlaf und guten Vorsätzen schlummerte ich beruhigt ein.
Der erste Schultag.
Der erste Schultag! Bangen und Stolz und Erwartung; aber zumeist doch Bangen. Die ganze Nacht haben unruhige Geister in dem kleinen Hirn und Herzen gehaust, haben allerlei wunderliches Zeug darin zusammengebraut, so daß der kleine Schläfer sich schweratmend von der einen Seite auf die andere wirft. Und nun stehen sie in aller Herrgottsfrühe am Bettchen und wecken: „Auf! Auf! Sonst kommst du zu spät!“ Seid unbesorgt, am ersten Schultage hat sich noch kein Kind verschlafen. Aber das Anziehen und Feinmachen dauert an dem Morgen viel zu lange, und der Kaffee will gar nicht schmecken. Wozu auch? Gibt’s doch ein Butterbrot, ei, sogar einen Apfel zum Frühstück. Merkwürdig, ein Butterbrot in der Hand haben und nicht gleich hineinbeißen! Aufheben für später, für die Pause. Was für seltsame Einrichtungen es doch in der Welt gibt! Wie die Pause wohl aussehen mag, und ob sie überhaupt wohl kommt? Der Apfel in der Tasche sitzt auch zu unbequem. Abbeißen will ich gewiß nichts davon, aber – ich möcht doch mal probieren, ob er saftig ist, und ob’s ein saurer oder ein süßer ist. Ein Weinapfel! Und mit dem ersten tiefen Biß ist auch ein Stückchen abgebröckelt. O weh, schnell wieder in die Tasche! Aber bis die Pause kommt, ist der Apfel verschwunden. Die Tasche muß ein Loch haben. Endlich fix und fertig. Auf der neuen Tafel liegt das ABCBuch, darüber die Griffeldose mit den wunderschönen blauen und roten Griffeln und daneben das sorglich in Papier gehüllte Butterbrot. Ich zerre die Mutter vor Ungeduld an dem Kleide zur Tür hinaus. „Nun komm doch!“
Es ist Sonntagmorgen. Die Glocken rufen’s ganz laut, und die Nachbarskinder gehen alle zur Kirche. Ich aber komme heute in die Schule! Verstohlen schaue ich mich rechts und links um, ob die Vorübergehenden mir das wohl ansehen. Nachbars Spitz weiß es ganz genau. Bis zur Straßenecke geht er mit, dann läuft er schnell wieder zurück. Was soll so ein dummer Hund auch in der Schule tun? Ich trippele immer einige Schritte vor der Mutter her, sie geht so entsetzlich langsam. Halt, da bei Jamburens Garten steht eine Gans mit ihren Gößeln. Wie sie den Hals reckt und schon von weitem mir entgegenzischt! Jetzt hebt sie die Flügel hoch, das schreckliche Tier! Schon will ich schreien und bei der Mutter Hilfe suchen, da fällt mir ein, daß ich doch heut ein Schuljunge bin, und kühn schreite ich vorwärts. Ganz dicht komme ich an dem gefährlichen Tier vorbei, fast kann es mit dem Schnabel mein Bein berühren, ich aber gehe mutig weiter, freilich nicht, ohne mich einige Mal umzusehen, ob auch die Mutter ganz nahe bei mir ist. „Siehst du, Mutter, jetzt bin ich auch nicht mehr vor Gänsen bange“, sage ich ganz stolz – „und da ist die Schule.“ Sie muß doch noch gefährlicher sein als eine Gans, denn unwillkürlich fasse ich der Mutter Hand, und mäuschenstill schreite ich an ihrer Seite hinein. Der Lehrer steht in der offenen Schultür und begrüßt uns mit freundlichem Lächeln. Meine Mutter drückt ihm ein Geldstück in die Hand. „Wöhnegeld“, sagt sie leise. Ich hab’s aber doch gehört, haben Ascher und ich doch erst vor ein paar Tagen unsre Ziege zum Dorfhirten gebracht, und da hat er ihm auch was gegeben, und genau dasselbe Wort gesagt: Wöhnegeld. Die Ziege hat’s gut. Die kommt jeden Morgen aus dem dunkeln Stall, und dann darf sie über die helle Straße laufen und draußen auf den Feldern und Wiesen umherspringen, wie
sie will, und an den Hecken und Büschen hinaufklettern, wo sie will. Wie wird’s mir wohl gehen? Ich höre noch etwas von artig und fleißig sein – und fort ist die Mutter, und der Lehrer nimmt mich an die Hand, und einen Augenblick später sitze ich in der Bank zwischen lauter fremden Kindern. Ich kenne sie eigentlich alle, aber sie sehen heute so ganz anders aus als sonst, und Ascher ist nicht bei ihnen. Eine furchtbare Angst überfällt mich. Wenn nun auf dem Wege nach Hause die Gänse wiederkommen, oder der Bulle sich mir entgegenstellt, oder wenn ein toller Hund daherläuft – ein leises Schluchzen steigt in mir auf, da greift’s nach meiner Hand, und ein zitterndes Stimmchen sagt ganz laut: „Komm, Moses, wir wollen nach Haus gehen.“ Erfreut blicke ich auf. Das ist ja die kleine Hendel, die neben mir sitzt, mein liebster Spielkamerad, und da ist auch der David und der Albert und der Abraham, die Ida, lauter gute Bekannte und ebenso alt wie ich. Mit einem Male fangen alle an zu plappern, und die großen Kinder, mit denen der Lehrer gerade gesprochen hatte, lachen hell auf. „Still, ihr kleinen Rangen“, ruft der Lehrer, „wollt ihr wohl!“ „Ich will aber nach Hause!“ weint die kleine Hendel, und die Tränen laufen ihr stromweise die Backen hinunter. Ich verzerre den Mund auch schon bedrohlich. Da sagt der Lehrer: „Ruhig, du Kleine da, du kommst auch nach Hause, und du, Junge, Jungens weinen doch nicht!“ Im Nu ist mein Gesicht aufgehellt. Und dann beschäftigt sich der Lehrer mit uns. Wir müssen ihm unsre Namen nennen, und darauf erzählt er uns eine Geschichte von kleinen Kindern, die immer gern zur Schule gehen und immer fleißig und artig sind und ihren Lehrern und Eltern viel Freude machen. „Wer von euch will das?“ „Ich, ich, ich!“ rufen alle Kinder durcheinander.
„Halt, Kinder, das war nicht artig. Wenn ein Kind sprechen will, muß es aufzeigen und warten, bis der Lehrer es fragt.“ Und nun wurden uns die Schulregeln eingeübt: wie man aufsteht und sich setzt, wie man aufzeigt und antwortet, und wie man fragt, wenn man hinaus will, und dergleichen komische Dinge mehr, und dann durften wir bis zur Pause unsre Tafel vollmalen. Die Pause brachte mir eine große Enttäuschung. Ich hatte so oft davon sprechen hören; das dritte Wort bei den großen Kindern war immer: in der Pause. Ich dachte, das müsse etwas ganz Wunderbares, Seltsames sein, und allerhand Märchenbilder von goldenen Königshallen und der Wiese der Frau Holle schwebten mir dabei unbestimmt vor. Und nun war die Pause da. Wir gingen auf den Schulhof; die großen Kinder schrien und spielten und aßen ihr Butterbrot. Ich drückte mich in eine Ecke und aß mein Butterbrot auch. Erwartungsvoll blickte ich umher. Kommt sie jetzt? Vielleicht ist es die Frau Holle selber oder eine von Dornröschens guten Feen. Die größeren Mädchen kommen zu mir her, streicheln mir übers Haar und wollen mit mir spielen. Ich drehe mich um und spähe durch die Hecke in den benachbarten Garten. Vielleicht kommt sie daher. Wieviel Blüten der Apfelbaum schon hat! Wenn die Äpfel erst reif sind – da guckt der Lehrer durchs Fenster und ruft: „Herein!“ und die Kinder rufen einander zu: „Die Pause ist aus! Die Pause ist aus!“ Was war das nur? Hab ich sie denn nicht gesehen? Betrübt schleiche ich in die Schule auf meinen Platz. Ja, so geht’s, wenn man träumend an den Hecken steht und auf Erscheinungen wartet, während die schönsten Augenblicke zum Genuß locken. Später hab ich denn die Pause auch kennen gelernt und auch gesehen, daß sie eine richtige Fee ist, eine segenspendende Fee der Schule.
Nach der Pause fing das eigentliche Lernen an. Der Lehrer machte die drei berühmten Striche an die Wandtafel und sagte uns, das wäre ein i. Natürlich wußten wir das alle schon längst. Das muß ein dummes Kind sein, das kein i kennt, wenn es zur Schule kommt. „Kennt nun auch einer von euch ein Wort, in dem ein i vorkommt?“ Tiefes Schweigen. „Denkt mal nach, denkt mal an eure Namen, ich möchte einmal so gern ein Wort hören, in dem ein i vorkommt!“ Er sagte das in so wehleidigem Tone, daß ich ihn voll Mitgefühl ansah und traurig fragte: „Hast du denn dein Lebtag noch keins gehört?“ Die Großen lachten wieder, auch der Lehrer lächelte. Warum lachten sie mich denn aus? Ich hatte es doch ganz gut gemeint. Nach vielem Hin- und Herfragen wurde endlich herausgefunden, daß der gesuchte Laut in Ida vorkomme, und die Trägerin dieses Namens blickte so verlegen und so stolz darein, als ob gerade der Königssohn zu ihr getreten sei und sie gefragt habe, ob sie nicht seine Frau Königin werden wolle. Um Mittag wurden wir entlassen. Auf jeder Tafel stand fein säuberlich ein i, von des Lehrers Hand geschrieben. „Davon müßt ihr morgen eine ganze Tafel voll mitbringen! Verstanden?“ Und glückstrahlend, etwas müssen zu müssen, trabten wir von dannen. Aber kaum war ich zu Hause angekommen und hatte von den großen Erlebnissen des Tages erzählt, da faßte mich ein eigentümliches fremdes Gefühl. Es wehrte mir, als ich ins Freie hinausspringen wollte, und flüsterte mir zu: „Jetzt darfst du nicht auf der Straße umherlaufen, darfst auch nicht im Garten spielen, erst mußt du für den Lehrer eine ganze Tafel voll i schreiben.
Eine ganze Tafel voll, und sauber und gut, hörst du?“ Sie hat meine Hand seit der Zeit nicht mehr losgelassen, die Frau Sorge.
Festtage.
So getreu ich mich der Einzelheiten des ersten Schultages erinnere, so wenig weiß ich von der folgenden Schulzeit. Nur die Wellen, die über das Ufer strömen, lassen sichtbare Spuren zurück. Zuweilen jedoch, wenn die Wasser des Tages ablaufen, sehe ich auf dem Ebbegrund alte Zeichen und seltsame Bilder. Gerate ich über meine alte Lesefibel, so kommen plötzlich Gedanken und Vorstellungen aus jenen Tagen zurück. Da weiß ich ganz genau, hier hast du dieses und dort jenes gedacht. Bilder gab es leider in unserer Fibel nicht; aber die einzelnen Wörter verwandelten sich in Bilder und führten ein selbständiges Leben, das gar nichts mit dem zu tun hatte, was sie eigentlich bedeuteten. Ein langes schweres Wort war ein Wagen, der nicht von der Stelle konnte, und das kleine ‘und’ davor war der Fuhrmann, der es antrieb. Und dann wieder war ein Wort neidisch auf ein anderes, weil ich es nicht so gut gelesen hatte wie seinen Nachbarn, und ich ging wieder zu ihm zurück und las es viele Male, bis es mir ein ganz freundliches, vergnügtes Gesicht machte. Bis die Herbstfeiertage herankamen, konnte ich schon lesen und schreiben. Am Rauschhaschonohabend∗ , so um Michaelis herum, lag ein sauber nachgemaltes Briefchen unter dem Teller des Vaters. Darin standen allerhand großtönige Versprechungen und Danksagungen, und ein Gefühl von Stolz und Scham zugleich beschlich mich, wenn ich an mein Briefchen dachte. Ob’s der Vater wohl findet? Da kommt er mit seinem schweren Tritt aus der ‘Schul’; sein ernstes Gesicht ∗
Neujahrsabend
ist noch ernster als gewöhnlich, und die Falten noch tiefer als sonst. Er schreitet auf die Mutter zu und küßt sie. Ich wende mich um, halb kichernd, halb erschrocken; ich schäme mich, und es ist mir recht unbehaglich zumute. Es ist das einzige Mal im ganzen langen Jahre, daß wir Kinder sehen, daß die Eltern sich küssen. Kaum wage ich mich an sie heran, um mich von ihnen benschen∗ zu lassen. Der Vater legt mir die Hände aufs Haupt und murmelt denselben alten Segensspruch, mit dem einst Jakob seine Enkelkinder gesegnet, und die Mutter segnet mich auch; aber sie drückt mich noch hinterher in ihren Arm und küßt mich und nennt mich leise ihren Goldjungen. Der Segen über Brot und Wein wird gesprochen, und noch immer sieht der Vater meinen Brief nicht. Da verrückt die Mutter den Teller ein wenig, endlich! „Was ist denn das?“ Ich lasse den Kopf hängen wie ein Missetäter, und als Ascher den Brief vorliest, gleite ich leise vom Stuhl unter den Tisch hinunter. Den ganzen Abend fühle ich mich wie in einer Zwangsjacke; nicht plaudern, nicht lachen, nicht springen, sonst könntest du etwas tun, was gegen die Gelöbnisse des Briefes verstößt. „Ich will mich immer bestreben, recht artig und folgsam zu sein.“ Ach, die Eltern begreifen gar nicht, wie entsetzlich schwer es einem Kinde wird, immer artig und folgsam zu sein. Glücklicherweise war am andern Morgen Brief und Versprechen vergessen. Nach dem ernsten Neujahrsfest folgt das noch ernstere Versöhnungsfest. Da dauert der Gottesdienst von morgens früh bis zur dunklen Nacht, bis die Sterne am Himmel glänzen. Kein Wunder, daß die christlichen Dorfbewohner den Tag den langen nannten, nicht nur wegen des vielen Betens, sondern auch wegen des langen vierundzwanzigstündigen Fastens, dem alle Erwachsenen unterworfen sind. Auch die größern Kinder ∗
segnen
müssen fasten, und die jüngeren doch mindestens bis zum Mittag. Unser guter dicker Nachbar, der Jamburensmeier bedauerte mich immer: „So’n Jungsken!“ Ich war aber nicht wenig stolz darauf, mitfasten zu dürfen, und dann, das wußte der Jamburensmeier gewiß nicht, vor dem Feste gab es eine große, große Mahlzeit, bei der es nicht nur ein Recht, sondern sogar eine Pflicht war, so viel wie nur eben möglich zu essen. Der Versöhnungsabend brachte uns eine große Genugtuung. Während des ganzen Jahres waren wir es, die bei Kirchgängen, Prozessionen und großen Beerdigungen die Zuschauer bildeten, und – wenn auch nur heimlich und verstohlen und gegen der Mutter Gebot – den Prunk und den Pomp der Heiligenbilder, der Meßgewänder und Fahnen bewunderten. Obgleich wir stolz darauf waren, daß wir an ‘so was’ nicht glaubten, sahen wir es doch gern und ergötzten uns an der reichen Farbenpracht. Am Versöhnungsabend aber kamen die Christen zu uns. Da standen sie im Hinterraume der Synagoge bis auf den Vorplatz, dichtgedrängt: die Männer, die ausgegangene Pfeife und die Kappe in der Hand, die Frauen, die kleinen Kinder auf dem Arm. Und sie sahen in den hellen Kerzenglanz hinein und blickten neugierig auf die Leute, die in Sterbegewand und Gebetmantel gehüllt, so ganz andere Wesen zu sein schienen, als die, welche ihnen täglich auf der Straße begegneten. Und sie standen und lauschten der wehmütigen, tiefergreifenden Weise des Kol Nidre-Gebetes und hörten der Predigt zu, die merkwürdigerweise gar nichts enthielt, was nicht der Herr Pastor auch hätte sagen können: Tut Buße, reinigt euer Herz, versöhnet euch mit euren Nebenmenschen, erst dann könnt ihr Versöhnung von Gott verlangen. Zwischen den Ständern, den einzelnen Betpulten, hindurch spähten wir Kinder neugierig nach den Zuschauern hin, ob nicht vielleicht Nachbars Kasper oder Wilhelm da wären und sähen, wie wir da ganz vorn bei dem Vorbeter standen. Mit
besonderm Stolz blickten wir auch auf den Peter Henrik, den Polizeidiener, der die rotgeränderte Dienstmütze auf dem Kopfe, den Säbel an der Seite, mitten vor den Zuschauern stand und voll Würde und Selbstgefühl da hinten Ordnung und Ruhe hielt. Heute war er sozusagen zu unserer Ehre da, und wir durften ihn ganz frei ansehen, und er durfte uns gar nichts tun. Die Mutter harrte immer bis zum letzten Augenblicke des folgenden langen Tages im Gotteshause aus, und wenn sie dann nach Hause kam in ihrem weißen Kleide und in der weißen Haube, dann glühte ihr Gesicht vor innerem Glück, und ihre Augen leuchteten in einer stillen, reinen Freude, so daß es ganz selbstverständlich klang, wenn sie sagte: „Der Jom Kippur ist mein schönster Jontef. ∗“ Und dann kamen die lustigen, fröhlichen Tage des Succoth, des Laubhüttenfestes. Aber ach, vor dem nächsten Frühjahr gab es keinen Feiertag mehr. Der lange, lange Winter brachte nur noch zwei Halbfeste. Zuerst das Tempelweihefest, an dem uns einzig die reichlicheren Gaben von Nüssen und Äpfeln und die kleinen Wachskerzchen erfreuten, deren wir Abend um Abend eins mehr anzündeten, und zu denen wir uns häufig das Wachs, das von den großen Kerzen in der Synagoge heruntergeträufelt war, gestohlen hatten. Sie brannten darum nicht weniger hell, und wenn wir sie auf den Boden stellten und über sie hinweg sprangen, war der Jubel auch darum nicht geringer. Das eine Kerzchen tat mir immer leid, der Schammes, der Diener, mit dem wir die andern anzündeten, und das dafür stets allein stehen mußte. Ascher sagte: „Das sind wir, wir haben den andern Völkern das Licht gebracht und müssen jetzt abgesondert stehen.“ Aber das verstand ich ebenso wenig, als wenn er in unsrer besten Stube auf eins der fünf bunten ∗
Festtag
Frauenbilder zeigte und mit bedeutungsvoller Stimme erklärte: „Das ist Europa, das sind wir.“ Mich dauerte es nur, daß das arme Kerzchen so abgesondert in der Ecke stehen mußte. Um diese Zeit hörte ich zum ersten Male ausführlich die Geschichte der Makkabäer, die der Lehrer den älteren Kindern erzählte. Die Kämpfe Judas mit den Syrern gewannen mir nur geringe Teilnahme ab; aber die Erzählung von der Mutter mit den sieben Söhnen drang mir tief in die Seele. Wegen seines Glaubens leiden und sterben müssen wie der jüngste Knabe, o, das muß eine Seligkeit sein! Und tagelang träumte ich mich in sie hinein, und ich stand selber vor dem stolzen König, und mit frommem Opfermut und wollüstigem Todesgrauen erklärte ich ihm, er solle mich nur martern lassen, ich sei nicht bange vor ihm. Der liebe Gott sei mir lieber als sein ganzes Königreich. Was eigentlich ein Königreich sei, davon hatte ich keine Ahnung; aber es mußte etwas ganz Schönes und Großes sein, schöner noch als die goldglänzende Apfelsine, die wochenlang hinter den Scheiben des verschlossenen Glasschrankes verlockend auf uns hernieder sah und deren Schale so wundervoll duftete, und größer noch als der Kirchturm, zu dessen Spitze ich kaum hinaufsehen konnte. „Und wenn es mein halbes Königreich wäre, es soll dir gewährt werden“, so hieß es in der neuen Geschichte, die wir bald nach dem Tempelfest zur Vorbereitung auf Purim∗ hörten. Ach, war das eine köstliche Geschichte: die schöne Esther, der fromme Mordechai und der übermütige böse Haman, und wie jener belohnt und dieser bestraft wurde. „So tue alles, was du gesagt hast, dem Juden Mordechai!“ Und hinter dem Zuge trippelten wir her durch die Straßen der Stadt Schuschan, die genau so aussahen wie unsere Dorfstraßen, und wir schrien und lachten und freuten uns, wie Kinder sich freuen, wenn die Belohnung der Guten und die ∗
Losfest
Bestrafung der Bösen prompt und reichlich erfolgt. Und wie mußte sich diese Freude noch steigern, wenn sie, was alljährlich wiederkehrte, abends durch Schokolade mit Butterkuchen und mittags durch Rübenschnitzel mit Pflaumen unterstützt wurde. Freilich, auf solch menschlich reine Höhe, wie sie die feuchtfröhliche Frömmigkeit der Rabbinen verlangt: „Ihr sollt nicht mehr unterscheiden können zwischen dem Segnen Mordechais und dem Verfluchen Hamans“, kam sie auch bei den Erwachsenen nicht. Selbst Schmuel Musikant sprach an diesem Tage ein ziemlich gutes Hochdeutsch, sei es, daß er zuviel vertragen konnte, sei es, daß er das alte Sprichwort wahr haben wollte: „Das ganze Jahr schicker∗ und Purim nüchtern.“ Die Geschichte von Mordechai und der schönen Esther ergriff mich so, daß ich eines Tages, allerdings ein paar Jahre später, beschloß, ein Drama daraus zu machen und es aufzuführen. Das heißt, umgekehrt war es gekommen, wie es schon im Sabbatliede ausgedrückt wird: das Ende der Tat ist der Anfang des Gedankens. Wir, mein Vetter und ich, wollten etwas aufführen, und darum dichtete ich. Und da wir die beiden einzigen Schauspieler waren, die mittun wollten, so ließ ich kurzerhand die Esther, den König und alle andern Nebenpersonen einfach fort, und Mordechai und Haman tragierten das ganze Drama allein. Ohne eine Ahnung von der klassischen französischen Tragödie zu haben, machte ich es doch genau wie sie und verwandelte die meisten und packendsten Handlungen in Erzählung, selbstverständlich, des höheren Schwungs wegen in gereimte. So gab es zumeist Monologe. Aber an der Stelle, wo der hochmütige Haman dem frommen Mordechai befiehlt, vor ihm niederzuknien, setzte ein packender Dialog ein. Natürlich spielte ich selber den Haman. Unsre Bühne war ein kleines Schlafzimmer, unser Vorhang die ∗
betrunken
Kammertür, die in die Wohnstube führte, in der das Publikum saß: Eltern und Geschwister und sonstige Verwandte und Freunde. Wenn ich nicht auf der Szene zu tun hatte, stand ich hinter der Kammertür und soufflierte meinem Kollegen, der, wie alle großen Schauspieler, miserabel gelernt hatte. Am Schluß des aufregenden Dramas, als Mordechai den Befehl des Königs, daß Haman gehenkt werden sollte, mir überbracht hatte, warf ich mich mit großartiger Geste auf das im Hintergrunde stehende hochaufgeschichtete Bett und erlitt mit ausgebreiteten Armen und mit unsagbar bezwingender Würde den Tod am Galgen. Dem jubelnden Beifall folgte noch ein klingender Lohn durch eine Pfennigsammlung, in welcher der zum Minister avancierte Mordechai nach dörflichem Vorbild einen Rundgang mit seiner als Teller hingehaltenen Mütze machte. Ich hielt mich noch inzwischen im Dunkel der Kammer verborgen. Aber um mich und in mir war es hell. So groß bin ich mir nie wieder vorgekommen, und so vieles hab ich nie wieder geleistet. Hätt ich Shakespeare und Kleist gekannt, gewiß hätt ich ausgerufen, was ich innerlich fühlte: O Shakespeare divus, die Leiter setz ich an, an deinen Stern! – Sie waren alle schön, die Festtage und die Halbfesttage, lauter Familienfeste, dem Kinde die leuchtenden Meilenweiser des langen Jahres, mit heißer Sehnsucht erwartet, mit banger Wehmut verabschiedet; sie waren alle schön, sogar die Fasttage hatten ihre geheimen Freuden, am schönsten von allen aber war das Pessach-, das Osterfest. Es war das Fest unter den Festen. Was den andern den geheimnisvollen, lockenden Reiz verlieh, daß sie anders waren als die Werk- und Sabbattage, daß sie etwas Neues brachten, das besaß dieses Fest in zwiefachem Maße: es unterschied sich nicht nur scharf von den Wochentagen, sondern auch von allen übrigen Festtagen.
Andere Sitten und Gebräuche brachte es mit, andere Speisen und sogar anderes Geschirr. Wochenlanges Vorbereiten und Rüsten ging ihm voraus. Ach, das war ein Jubel, wenn alle Ecken und Winkel durchsucht und gereinigt, alle Taschen und Schiebladen um- und ausgekehrt wurden, ob sich nirgends ein hinterlistiges Krümchen gesäuertes Brot verborgen hätte, das mitten in der Festesfreude hervorlugen wollte: „Seht, hier bin ich; etsch, etsch, nun ist alles verdorben!“ Denn was sonst das ganze Jahr hindurch das liebe Brot, die Gottesgabe hieß, das war nun das Chomez, das Gesäuerte, das Verpönte, Verfemte, etwas Entsetzliches, vor dem der fromme Blick zurückschauderte. So kann auch das Beste, wenn es nicht zur rechten Stunde kommt, ein Unheil bedeuten. Wir Kinder waren mit dieser Achterklärung des Brotes mitleidslos, ja freudig einverstanden. Uns mundete das schale Gebäck aus Mehl und Wasser, der dünne, trockne Osterfladen, besser als der feinste Kuchen, und wenn ich an einem recht großen Stück knuspernd vor der Türe stand, dann blickte ich hochmütig stolz auf die Nachbarskinder herab, die nichts Besseres als ihr Butterbrot zu essen hatten und neidisch auf mich hinsahen. Ein Kind ist schon glücklich, wenn es nur etwas anderes hat, und ich bin überzeugt, im Mittelalter waren die jüdischen Kinder stolz auf den gelben Lappen, die sie an ihrer Kleidung tragen mußten. Worauf wir uns aber vor allem freuten, das war der Vorabend des Festes, der Sederabend. Da saßen wir alle um den festlich gedeckten Tisch, auf dessen weißem Linnen die Sederschüssel mit ihren seltsamen Gaben prangte: mit Knochen und Ei, mit Petersilie und Meerrettich und Salzwasser und mit den geheimnisvoll versteckten Mazzoth. Jedes Ding hatte seine Bedeutung und stand in Beziehung zu dem Auszug aus Ägypten; aber daneben führte es noch für mich ein ganz eigenes Leben, wovon nichts in den alten Schriften stand.
Wußte ich doch, wie das Huhn aussah, das uns das Ei gelegt hatte, wo Petersilie und Meerrettich gewachsen waren, und hatte ich doch mit dem Lämmchen gespielt, dessen Knochen dort auf der Schüssel lagen. Ich durfte nicht lange träumen; schon hob der Vater die Schüssel hoch und begann in singender Weise aus der Hagadah, dem Festbuch dieses Abends, vorzulesen: „Seht das armselige Brot, das unsere Väter im Lande Ägypten gegessen haben. Wen es hungert, der komm und esse mit, wer bedürftig ist, der komm und feire mit; dieses Jahr hier, künftiges Jahr im Lande Israel, dieses Jahr Knechte, künftiges Jahr Kinder der Freiheit!“ – Kinder der Freiheit! Ach, wie oft waren Wahn und Haß in solch einer Nacht in das stille Haus gebrochen, hatten die frommen Beter überfallen und gemordet, und der Tod, bald auf die Schlächter, bald auf ihre Opfer blickend, hatte grinsend gehöhnt: „Kinder der Freiheit!“ Mir war dieser Ruf nur das Stichwort, daß ich als Jüngster aufstehen und lesen und übersetzend fragen mußte: „Was zeichnet diese Nacht aus vor allen andern Nächten?“ Was die Hagadah darauf antwortet, sind nur unbedeutende äußerliche Dinge, und schon als Kind hatte ich das lebhafte Gefühl, da fehlt noch etwas. Von dem, was diese Nacht wirklich auszeichnet: von dem heiligen Schauer der Geschichte, der sie durchweht, von der Macht der Poesie, die Vergangenes vergegenwärtigt, sagt die Antwort nichts. Dann folgen in kunstloser Aneinanderreihung Stellen aus der Bibel, die sich auf den Auszug beziehen, spitzfindige Deutungen dieser Stellen aus dem Talmud, ergreifende Psalmen, trockne Erzählungen von Wundertaten, bis ganz zum Schluß, nachdem das Festmahl in gar anmutender Weise die Vorlesung unterbrochen, die wundersame Erzählung von dem Lämmchen kommt.
Wie manchesmal habe ich mit zitternder Hand des Vaters alte Hagadah durchblättert, habe mich an den schlechten Reimen ergötzt und die noch schlechteren Holzschnitte mit seligen Augen betrachtet. Noch seh ich sie vor mir: wie Moses aus dem Wasser gezogen wird, ein ganz, ganz kleines Kindchen, wie er todesmutig vor dem Pharao steht, indes die Schlangen vergnügt am Boden umhertanzen, und wie die Ägypter samt und sonders in dem tiefen Wasser ertrunken sind; es muß sehr tief gewesen sein, denn nur ein Pferdekopf guckte daraus hervor. Auch den Tempel mit den vielen Mauern, aus denen ich nie klug werden konnte, seh ich noch und die vier Charakterköpfe: den Weisen, den Bösewicht, den Einfältigen und das unschuldige Kind. Vor allem imponierte mir der Bösewicht, der Heuchler, der zwar ein ganz engelfrommes Gesicht hatte, aber mit verruchter Hinterlist das linke Bein gegen den Weisen hob. Doch mehr noch als die Bilder fesselte mich stets die Schlußgeschichte von dem Lämmlein, „das sich einst kaufte der Vater mein, um zwei Suse, ein Lämmlein, ein Lämmlein.“ Und dann kam die Katze und fraß das Lämmlein, und da kam der Hund und zerriß die Katze, und da kam der Stock und erschlug den Hund, und da kam das Feuer und verbrannte den Stock, und da kam das Wasser und verlöschte das Feuer, und da kam der Ochse und trank das Wasser aus, und da kam der Schlächter und schlachtete den Ochsen, und da kam der Todesengel und tötete den Schlächter, und dann kam der Heilige, gelobt sei er, und tötete den Todesengel, „der getötet den Schlächter, der geschlachtet den Ochsen, der getrunken das Wasser, das gelöscht das Feuer, das verbrannt den Stock, der erschlagen den Hund, der zerrissen die Katze, die gefressen das Lämmlein, das sich kaufte der Vater mein, um zwei Suse, ein Lämmlein, ein Lämmlein.“
Das arme Lämmchen – ich sah es immer deutlich vor mir, es sah grade so aus wie das Lämmchen, das ich im vorigen Jahre großgezogen hatte, weiß mit einem schwarzen Fleck auf der Stirn, und da lag es blutend, zerrissen am Boden. Nur die beiden dauerten mich in der ganzen tieftragischen Geschichte, das Lämmchen und der Todesengel. Daß auch ein Engel etwas Unrechtes tun könnte und sterben müsse, das wollte mir nicht in den Sinn. Die Geschichte machte mir viel Beschwerden und Unruhe. Es hieß zwar in der Erklärung kurz und bündig, in dieser Geschichte offenbare sich Gottes Gerechtigkeit, die nichts unbestraft lasse; ich glaubte das auch, aber ich fragte doch immer wieder: Und warum muß ein Engel sterben, warum das arme Lämmlein, das sich kaufte der Vater mein, um zwei Suse, ein Lämmlein, ein Lämmlein?
Der Tod des Lehrers.
Schon drei Jahre war der Lehrer in der Gemeinde, aber er war ihr noch fast so fremd wie am ersten Tage. Er kam zu den Familien nur ins Haus, wenn er dort zu Mittag essen mußte, und gleich nach der Mahlzeit ging er wieder fort. Den Morgenkaffee bereitete er sich selber, das Abendbrot ließ er sich bringen. Von einer gemütlichen Plauderstunde, in der man in dem einen Hause über die Leute des anderen „ruddeln“ konnte, wollte er nichts wissen. Kartenspielen verstand er nicht, weder Klawerjas noch Sechsundsechzig. Nach den Schulstunden lief er wie ein Verrückter, wie die Leute sagten, in Feld und Wald umher; abends saß er bis spät in die Nacht bei seinen Büchern. Hin und wieder ging er wohl in das Wirtshaus, trank einige kleine „Alte“, las das Kreisblatt und hörte schweigend dem Gespräch der Bauern zu. Ließ er einmal eine Äußerung fallen über Wetteraussichten, über Eisenbahnbauten, über Kriegshändel, so klang es wie eine Prophezeiung, und es dauerte nicht lange, so hieß es im ganzen Orte: „De Judenlehrer is en Spökenkieker.“ Der einzige, mit dem er vertrauter verkehrte, war Schmuel Musikant. Ihn traf er zuweilen auf einsamen Spazierwegen, mit ihm wanderte er nach den benachbarten Dörfern, und an manchem Abend sah man ihn nach dem öden Schulhause gehen. Da geigten sie denn beide laut zusammen, wie alle Leute hörten, und tranken heimlich zusammen, wie alle Leute vermuteten. Aber beweisen ließ sich nichts; denn Schmuel war nach wie vor immer betrunken, und den Lehrer hatte man noch nicht anders als nüchtern gesehen. Aber merkwürdig, nach kurzer Zeit des Verkehrs redete Schmuel, der sonst in
demokratischer Gleichheit keine Ausnahme kannte, den Lehrer hochdeutsch und mit Ihr an, während dieser zum vertrauten Du überging. Den Leuten in der Gemeinde, besonders den Frauen, war dieser Verkehr gar nicht recht. Es sei ein Schimpf für die Erwachsenen und ein schlechtes Beispiel für die Kinder. Mehr als einer kam zu meinem Vater, um sich zu beklagen. „Was wollt ihr?“ erwiderte er ihnen. „Tut der Lehrer nit seine Schuldigkeit bei den Kindern und in der Schul? Wenn er nit mit Schmuel Musikant verkehren soll, dann geht ihr doch abends zu ihm hin und spielt die Viggelin mit ihm!“ Und der Lehrer tat seine Schuldigkeit. Wir lernten viel bei ihm und lernten es gern und leicht. Oder vielmehr wir lernten es gar nicht. Wenn wir aus der Schule kamen, konnten wir zumeist schon immer, was der folgende Tag verlangte, und die Mütter beklagten sich, daß wir zu wenig aufkriegten. Der Lehrer aber lächelte: „Das macht nichts, wenn sie es auch nicht aufkriegen, wenn sie es nur können.“ Das Lächeln war überhaupt seine Kunst, damit erwirkte er alles. Es war Belohnung und Strafe. War er zufrieden, dann ging es wie ein heller Sonnenschein über sein Gesicht, daß die ganze Schule leuchtete; war er ärgerlich, dann wetterleuchtete es grell und stechend auf seinem bleichen Antlitz, so daß wir das Gefühl hatten, er müsse irgendwo einen schweren körperlichen Schmerz empfinden, und es tat uns selber mit weh. Als er sich eines Tages über einen sehr faulen und sehr unaufmerksamen Schüler aufgeregt hatte, machten drei von den besseren Schülern ein Bündnis, abwechselnd jeden Tag mit dem Faulen eine Stunde insgeheim zu lernen, damit der Lehrer sich nicht mehr über ihn zu ärgern brauche. Gegen Ende des dritten Jahres fing der Lehrer an zu kränkeln. Er kam nur noch selten zum Mittagessen, und die derbe Hausmannskost, die man ihm mittags zur Schule brachte,
wurde oft abends unberührt wieder mitgenommen. Die Schulstunden ließ er fast nie ausfallen, wenn er sich auch oft mitten im Unterricht aus dem Schulzimmer ins Schlafzimmer schleppen mußte, um sich erschöpft für eine Weile aufs Bett zu werfen. Am Sabbat aber war er gewöhnlich sehr schwach und stand gar nicht auf. Er hustete viel und hatte häufig Fieberanfälle; aber von einem Arzt wollte er nichts wissen. „An der Fettsucht sterbe ich nicht“, meinte er. Des Nachmittags nach der Schule mußte ich oft zu ihm kommen und ihm vorlesen. Was ich ihm vorlas, war für mich zumeist nur eine Leseübung; ich verstand wenig von dem Inhalt. Stellen aus Mendelssohns „Phädon“ wechselten mit „Uli, der Knecht“ von Jeremias Gotthelf, mit Kapiteln aus Jesaias und mit Auerbachs „Neuem Leben“, das mich noch am meisten interessierte. An einem Sonntag nachmittag mußte ich wieder zu ihm kommen. Es war gegen Ende April, ein warmer sonniger Frühlingstag. Das Fenster des Schlafzimmers stand offen, und der Apfelblütenduft aus dem benachbarten Garten wehte herein. Der Lehrer lag im Bett; ich mußte mich dicht zu ihm auf einen Stuhl setzen. Auf der Bettdecke lag ein Büchlein. Er reichte es mir und sagte: „Lies laut, Kapitel neun.“ Als ich eine Zeitlang gelesen hatte, fragte er mich: „Hast du das verstanden, Moses?“ „Nein, Herr Lehrer.“ „Lies den Titel des Buches!“ Ich las: ‘Leben des vergnügten Schulmeisterleins Maria Wuz.’ „Verstehst du das?“ „Ja, er war Lehrer und vergnügt dabei. Aber warum heißt er Maria?“ Er überhörte meine Frage und fragte hinwieder:
„Und du willst auch Lehrer werden?“ „Ja, Herr Lehrer.“ „Junge, Junge, Lehrer sein und gar jüdischer Lehrer, das ist schwer, sehr schwer, aber macht nichts, werde es nur, es ist auch schön, und vielleicht wirst du doch noch vergnügt dabei. – Lies weiter.“ Und ich las und las, bis die Dämmerung hereinbrach und mir die Augen fast versagten. Hörte der Lehrer zu? Er hielt die Augen meistens geschlossen und atmete unruhig und schwer. Aber wenn ich einen Augenblick aufhörte, schlug er sie sofort auf und sah mich fragend an. Nun merkte er, daß ich nicht mehr gut weiter konnte. „Hör auf, Moses. Es tut mir leid um dich; die andern Jungens laufen bei dem schönen Wetter auf der Straße rum, und du mußt hier in dem dunklen Stübchen sitzen. Mach das Fenster zu, Kind, es ist so kalt.“ Ich schloß das Fenster. „Und nun möchtest du gern nach Hause gehn? Sag nicht nein, warum auch nicht? Aber Kind, tu mir die Liebe und bleib noch ein bißchen. Ich weiß nicht, wie mir ist, ich möchte heute nicht allein sein. Es wird ja wohl bald einer kommen. Setz dich dort auf den Sessel in der Ecke.“ Ich wollte schon hingehen, aber er griff nach meiner Hand und hielt sie fest. „Moses, mein Kind, ich weiß nicht mehr, wie’s tut, küß mich einmal auf die Backe.“ Er hielt mir das Gesicht hin, die Augen geschlossen, den Mund halboffen. Zagend und leis schaudernd und doch zu gleicher Zeit von einem innigen Wehgefühl ergriffen, küßte ich ihn; aber dann eilte ich schnell zu dem Sessel hin. Als ich nach einer Weile aus leisem Schlummer erwachte, sah ich Schmuel Musikant zur Tür hereintreten. „Ihr seid allein, Herr Lehrer?“
„Ja und nein, Schmuel. Da in der Ecke sitzt das Jüngelchen, es schläft.“ „Ich will ihn wecken, daß er nach Haus geht.“ „Laß ihn noch ein bißchen liegen. Wer schläft, den soll man nicht wecken.“ Ich schloß geschwind die Augen und atmete hörbar. „Ich hab Euch was mitgebracht, Herr Lehrer, aber lacht nit, einen Kirschzweig mit Blüten. Ein guter Kirsch ist mir lieber. Aber dies ist auch schön, und wenn die Kirschen reif sind, pflücken wir sie wieder zusammen. Wißt Ihr noch, damals auf dem Wege nach Alden, wo uns das Mädchen von dem Baum fortjagte?“ „Ich pflücke keine Kirschen mehr, Schmuel. Wenn die Kirschen reif sind, lieg ich längst, na, du weißt ja, ich bin ein Spökenkieker!“ „Ach was, macht keine Faxen. Unkraut vergeht nit. Wann geht Ihr wieder mit nach Alden?“ Der Lehrer antwortete nicht, und auch Schmuel schwieg eine Zeitlang. Plötzlich fuhr er in beinah barschem Ton heraus: „Lehrer, warum habt Ihr nit gefreit?“ „Meinst du, zu zweit ließ sich leichter hungern?“ „Dann hättet Ihr ‘ne Reiche nehmen sollen!“ „Wenn mich nun aber keine Reiche gemocht hat?“ „Aber irgend eine wird Euch doch gemocht haben?“ „Irgend eine hat mich gemocht. Und sie war reich und schön, Schmuel, o, sie war schön!“ „Und war sie auch gut?“ „Sie war auch gut, erst gegen mich und dann gegen ihre Eltern. Ich war Hauslehrer bei den Jungens, und als der Vater gemerkt hat, daß seine Tochter zu gut gegen mich war, hat er mir die Tür gewiesen.“ „Und sie?“
„Sie hat erst geweint und gejammert, und nach einem halben Jahr hat sie einen geheiratet, der ebenso reich war wie sie.“ „So war sie nit gut, Lehrer!“ „Nein, sie war nicht gut, sie war schlecht; sie hat sich unglücklich gemacht und mich auch. Es sieht wie ein Segen aus; aber es ist ein Fluch, der auf unsern Kindern ruht, ein Fluch aus der Nomadenzeit, aus dem Ghettoleben: So lang die Eltern leben, haben die Kinder keinen eigenen Willen. Verflucht sei dieser Fluch!“ Er hatte sich halb aufgerichtet und die rechte Faust drohend in die Luft gestreckt. Nun fiel er kraftlos ins Bett zurück. Nach einer Weile aber fragte er ganz ruhig: „Und Schmuel, warum hast du nicht geheiratet?“ „O, das ist eine lustige Geschichte. Ihr wißt, zum Handelsmann hab ich nicht Verstand genug gehabt, zum Lehrer bin ich zu klug gewesen, und so bin ich Musikant geworden. Auf den Bauerndielen bin ich am liebsten gewesen, da sind die Leut am lustigsten. Und ich hab immer gespielt, und sie hat immer getanzt. Natürlich hat sie blaue Augen gehabt und zwei lange blonde Flechten. Und einmal hab ich nit gespielt, und sie hat nit getanzt. Im Bauernhof unterm Apfelbaum haben wir gestanden. Sie hat mir die Hand gedrückt, und ich hab sie geküßt, und dann hat sie mich wieder geküßt und gesagt: ‘Schade, Schmuel, daß du ein Jude bist.’ Und dafür hab ich sie wieder geküßt und gesagt: ‘Schade, Anternettken, daß du eine Christin bist.’ Und dann haben wir uns beide wieder geküßt, und nach jedem Kuß haben wir schade gesagt, und für jedes ‘schade’ haben wir uns von neuem geküßt. Aber einmal mußte das Küssen doch aufhören, und wie das Küssen aus war, da war’s überhaupt aus. Auf ihrer Hochzeit hab ich auch gespielt, und alle haben gesagt: So schön hätt ich’s noch nie gekonnt. Und da ist’s auch das einzige Mal gewesen, daß ich besoffen gewesen bin, ordentlich
besoffen, wißt Ihr, wo man keine Augen und keine Ohren mehr hat, nur noch vier Beine. Auf einen Mistwagen haben sie mich geladen und mit lautem Hallo in der Nacht nach Hause gefahren. Sonst habe ich immer zu Fuß gehen müssen. War das nicht lustig?“ „Das war lustig, gerad so lustig wie meine Geschichte. Gib mir deine Hand, Schmuel, wir sind beide ein Paar gute alte Schlemihls.“∗ Bei dem Worte mußte ich ein Kichern gewaltsam unterdrücken, und unruhig rückte ich auf dem Sessel hin und her, daß er laut knarrte. Schmuel trat zu mir heran, ich riß die Augen unverschämt auf. „Junge, es ist Zeit, daß du nach Hause gehst.“ Der Lehrer streckte mir die Hand hin. „Gut Nacht, mein Kind, und grüß deinen Vater und deine Mutter und sag ihnen, du hättest heut eine Mizwah∗∗ an mir getan. Gut Nacht, mein Kind!“ Als ich am andern Morgen erwachte, war das erste, was ich hörte, daß der Lehrer in der Nacht gestorben sei. Niemand war bei ihm gewesen als Schmuel. Schrecken und Bestürzung und Trauer herrschten in der Gemeinde; aber sie wichen bald vor dem Gefühl des Unrechts, das der Lehrer getan, so plötzlich zu sterben. Ihm selber konnte man keine Vorwürfe mehr machen; aber Schmuel, der Hanswurst, warum hat er die Leute nicht zusammengerufen? Es wäre doch Minjan∗∗∗ zusammengekommen, und er wäre gestorben wie ein jüdisch Kind.
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Pechvögel Wohltat ∗∗∗ Zehn Leute zum Beten ∗∗
Er habe sie nicht nötig zum Sterben gehabt; zum Leben hätten sie ihm so wie so nix gegeben, erwiderte Schmuel gelassen. „Der alte Schickerjan∗, der Lump! Wer weiß, ohne ihn hätte der Lehrer noch gelebt. Der hat ihn zum Trinken verführt. Der Leichtfittich! Der Lehrer hätte ihn nit um sich leiden sollen. Er war sonst ein guter Mann, ein bißchen schwach. Aber was für eine Stimme hat er gehabt, und was für ein Kinderlehrer war er, so einen kriegen wir nit wieder. Schade, schade! Er war noch gar nit so alt, und nun so mit einem Mal zu sterben, so unversehens, so ganz allein!“ Aber er war gar nicht so unversehens gestorben. Es fand sich ein Testament von ihm vor, in dem er mit ziemlicher Sicherheit die Zeit seines Ablebens vorausgesagt und alles genau bestimmt hatte, was bei seinem Tode geschehen sollte. Seine Kleider sollte man an arme Leute schenken, seine Bücher sollte mein Vater haben, den Lehrer aus dem Nachbarorte sollte man nicht zur Beerdigung bemühen, die Predigt, die er halten würde, hätte er schon vor zehn Jahre gedruckt gelesen, die Kinder sollten hinter seinem Sarg hergehen, die Kleinen zuerst, und Schmuel sollte den Kaddisch∗∗ sagen. Schmuel und wieder Schmuel! Es ist eine Schande für die ganze Gemeinde! Der arme Lehrer war doch kränker gewesen, als man glaubte. Aber Schmuel behauptete sein Vorrecht. Er litt auch nicht, daß ein anderer als er bei der Leiche wache. Es habe da keiner was zu suchen, meinte er. Und als doch jemand diese Pflicht mit ihm teilen wollte, zumal einer allein nicht bei einem Toten wachen darf, fand er die Tür von innen verschlossen. ∗
Säufer Gebet für den Verstorbenen
∗∗
Wir Kinder verlebten den Tag in großer, fast angenehmer Aufregung. Nicht allein, daß wir unverhofft frei hatten, wir waren auch dadurch, daß der Lehrer gestorben war, selber mit in den Mittelpunkt des Interesses gerückt. Was sollte mit uns jetzt geschehen? Und dann dieser plötzliche Tod, dieses geheimnisvolle Sterben, und daß er’s schon im voraus gewußt hatte, und daß er von dem Schmuel so viel hielt. In der Abenddämmerung wanderten wir wieder zur Schule, die wir schon tagsüber mehr als einmal umkreist hatten. Aber da das Rouleau des einzigen Schlafzimmerfensters heruntergelassen war, konnten wir nichts erblicken. Ich mußte den Gefährten immer und immer wieder erzählen, wie ich den gestrigen Nachmittag bei dem Lehrer verbracht hätte. Was ich von seinem Lebensschicksal gehört hatte, verschwieg ich, vielleicht, weil ich’s durch eine Täuschung erfahren hatte. Ob er denn gar nichts vom Sterben gesagt hätte, wollten sie wissen. Ob man ihm denn den Tod nicht hätte ansehen können? Ob man nicht gefühlt hätte, daß der Todesengel schon im Zimmer wäre? Und immer wieder der Tod und der Tod. Mit fast wollüstigem Schauder forschte das junge Leben nach den Spuren des Todes. Und als sie vom Tode nichts mehr erfahren konnten, zwitscherten sie unkluge Bemerkungen über den Toten, daß es schade um ihn sei, daß er schon gestorben wäre, er wär doch ein tüchtiger Lehrer gewesen, er lebte gewiß noch, wenn er nicht getrunken hätte, wenn der Schmuel ihn nicht verführt hätte. Da standen wir wieder vor der Schule und schlichen leise an das jetzt erleuchtete Fenster. Wir konnten nichts sehen, wie eifrig wir auch die Blicke schärften. Nur ein Schatten wanderte zuweilen hin und her. Aber plötzlich – wir stieben erst mit einem lauten Schrei auseinander, um dann mit noch lauterem Lachen wieder zusammenzufliegen – aus dem Sterbezimmer
erscholl Geigenklang, und klar und hell tönte es in die stille Nacht hinein: „Muß i denn, muß i denn zum Städtele hinaus, Städtele hinaus – “
Dorffreuden.
Glücklich das Kind, das auf dem Dorfe aufwächst. Eine in sich fest abgeschlossene Welt umgibt es, eng genug, um sie ganz kennen lernen zu können, weit genug, um zu immer neuen Entdeckungen zu reizen. Die Grundlagen aller Kultur zeigen sich ihm hier. Alles steht ihm offen: Feld und Wald, Stall und Scheune, die Werkstätten der Handwerker und selbst die Kammern der Häuser. Wie es selber wächst und wird, sieht es das Wachsen und Werden aller Dinge um sich. Die Geschichte des Brotes, das vor ihm liegt, ist ihm – vom Tage der Aussaat an bis zu der Stunde, da die Mutter oder der Bäcker es aus dem Ofen zieht – vertraut wie seine eigene, und in der Geschichte der Menschen, die es umgeben, erkennt es nicht nur, erlebt es Lebensläufe in auf- und absteigender Linie. Der Lehrer war tot, und für uns Kinder begann eine selige Zeit. Die Eltern verhandelten noch darüber, ob wir wieder einen eigenen Lehrer bekommen, oder ob wir in die ‘deutsche’ Schule gehen sollten. Eigentlich verhandelten sie gar nicht; sie warteten nur ab, was der reiche Mendel tun würde, der mit dem Plane umging, sich für seine Kinder eine Gouvernante zu halten. Von seiner Entscheidung hing unser Schicksal ab. Vorläufig waren wir mit ihm, so wie es war, sehr zufrieden. Wir hatten Ferien auf unbestimmte Zeit. Ferien! Auch das Herz eines Stadtkindes schlägt fröhlicher, wenn es heißt, die Ferien sind da. Keine Schule, keine Pflichten und keine Sorgen haben, ist allein schon eine Glückseligkeit. Aber bald glätten sich ihm die Wellen der Freude, und wie ein ödes, flaches Gewässer liegt die lange, lange freie Zeit vor den Augen des Kindes. Was beginnen? Die
Stadt ist freilich groß, und dahinter soll auch noch ein ganzes Stück Welt liegen. Aber die Etage ist so eng, und nur selten darf man sie verlassen. Wie man sich dreht und wendet, immer stößt man an öde, steinerne Mauern. Ist es da zu verwundern, daß bei ihm zuweilen der ganz und gar krankhafte Zustand eintritt, daß es sich nach der Schule mit ihren Pausen, Erlebnissen, Freundschaften und Feindschaften zurücksehnt? Die armen Stadtkinder! Ein Glück, daß sie nicht wissen, wie gut es die Prinzen und Prinzessinnen vom Lande haben. Das ganze Dorf ist ihr Korridor, jeder Garten ihr Balkon, und Wiesen, Felder und Wälder sind ihre Kinderstuben. Vom ersten Januar an früh morgens bis spät am Silvesterabend bringt jeder Tag seine eigenen Freuden, Freuden, die nicht vorbereitet, die nicht gemacht oder gekauft werden, Freuden, die ihre tiefen Wurzeln haben, ganz von selber wachsen und blühen. „Weißt du“, flüstert es abends im Schummern heimlich, „ich kenne in der Tweete eine ganz sonnige Stelle; sollst mal sehen, morgen kommen die Veilchen schon heraus, sie haben schon ganz dicke Knospen.“ „Wenn du mir sagst, wo, mach ich dir eine Hupfe oder eine Flötepfeife. Die Pappeln sind jetzt voller Saft.“ „He, kann ich selber machen. Ich weiß auch den Vers dazu: Hermann, fla Lärm an, Lat piepen, lat trummen, De Kaiser will kummen Met Hacken und Tangen, Will Hermann uphangen!“ „Na und weiter?“ „Weiter weiß ich nicht. Dann fang ich wieder von vorn an, bis der Bast losgeht.“ „Och, sag mir doch, wo die Veilchen stehn. Ich schenk dir auch zwei Lexe∗ und zeig dir noch mein Buchfinkennest dazu.“ Der Vertrag wird geschlossen. ∗
bunte Papierstreifen
Nestersuchen gehört zum ersten Frühlingsprogramm. Wer am meisten gefunden, wird als eine Art Columbus angesehen. Er hat neue Welten entdeckt. Einmal wußten mein Vetter und ich siebenunddreißig Stück, jeden Tag machten wir getreu die Runde, um zu sehen, was sich Neues ereignet habe. Es klingt unglaublich moralisch und gar nicht jungenhaft, aber es ist buchstäblich wahr: wir haben nicht ein einziges ausgenommen. Freilich bei dem einen, bei dem wir’s doch planten, waren die Jungen gerade ausgeflogen, als wir ans Nest kamen. Als Trost für meine getäuschte Hoffnung tauschte ich gegen ein altes Lineal und drei blanke Hosenknöpfe eine ‘Sprehe’ ein, von der ich wußte, daß sie sprechen lernen konnte. An Lehreifer hat es mir nicht gefehlt. Manche Viertelstunde habe ich ihr meinen Namen vorgesprochen, umsonst. „Du mußt ihr die Zunge lösen“, rieten die Kameraden. Wenn mich aber dann das Tierchen mit seinen verschüchterten großen Augen anstarrte, kam es wie Mitleid über mich. „Das tue ich dir nicht an.“ Dabei hatte ich das bestimmte Gefühl, es könnte schon sprechen, wenn es nur wollte, und ich würde mich gar nicht gewundert haben, wenn es eines Tages gesagt hätte: „Ich bin eine verzauberte Prinzessin, und du mußt mich erlösen.“ Ehe die letzten Vögelchen flügge geworden, waren die ersten Erdbeeren reif. In der ‘Schonung’ standen sie am reichlichsten, auf den sonnigen Plätzen um die alten morschgewordenen Baumstümpfe, unter den niedrigen Buchen- und Eichenbüschen. Am frühen Sonntagmorgen zogen wir hinaus mit einer Dippe, einem topfartigen Zinngefäß, oder einem Körbchen versehen. Durch taufeuchte Wiesen und dunkle Wälder führte der geheimnisvolle Weg. Stundenlang wurde eifrig gepflückt, kaum eine Beere gekostet, kaum ein Wort
gesprochen. Groß war die stille Freude, wenn unter einem Busch zwischen den dunkelgrünen Blättern die roten Köpfchen in reicher Fülle hervorschimmerten. Den höchsten Lohn aber fühlten wir, wenn wir mit den vollgefüllten offenen Gefäßen, in denen natürlich immer oben auf die schönsten und dicksten Beeren lagen, durch den ‘Lauweg’ heimgingen und die neidischen Blicke der aus der Kirche kommenden Jungen sahen. Sich gern beneidet zu sehen, ist dem Kinde ein ebenso natürliches Gefühl wie das der Schadenfreude. Je heißer der Sommer wurde, desto heißer wurde in uns Kindern das Verlangen, etwas zu erwerben. Nutzbringende Tätigkeit war das Losungswort. Auf den Brachfeldern wurden Knochen aufgesucht, an den tiefen Kolken schnitt man mit Lebensgefahr Weiden, und in den hohen Kornfeldern suchte man mit einer Angst vor dem Feldhüter, welche die vor dem Ertrinken weit übertraf, Kamillen. Die Kamillen erstand die Mutter selber, die übrigen Dinge wurden für wenige Pfennige das Pfund an den Krämer verkauft. Und wenn auch nur Pfennig um Pfennig, der Schatz wuchs und stieg in besonders gesegneten Jahren wohl auf sechzig bis siebzig Pfennige. Nun konnte Libori, der große Paderborner Jahrmarkt, kommen; wir waren gerüstet. Und Libori kam. Ach, lag ein Zauber in dem Wort! Von dem altersgrauen Heiligen, dessen Reliquien so viele Wunder verrichtet haben sollen, wußten wir wenig; aber Libori tat Wunder auch für uns. Alles, was es Schönes und Schimmerndes und Sehnsuchtweckendes auf der Welt gab, verknüpfte sich mit seinem Namen. „Libori!“ stammelten schon die Drei- und Vierjährigen, wenn die glücklichen älteren Geschwister frühmorgens in das Wunderland zogen. Wochenlang dreht sich jedes Gespräch um Libori. „Wenn erst Libori ist“ – „wenn ich mir auf Libori das
und das kaufen werde“, – „wenn ich auf Libori was gewinne“, – „Libori! Libori!“ Auch die kürzeste Sommernacht kann lang werden, wenn sie der Riegel zu einem glückverheißenden Tag ist. Doch auch sie geht endlich zu Ende, die Tür springt auf. Der erste Blick, den die noch schlaftrunkenen Äuglein tun, ist ein Wetterblick, und – hurra, die Sonne scheint! Auf des Nachbars langem Erntewagen findet sich auch noch ein Plätzchen, und wenn sich auch der Rücken krümmen muß, wenn die Beine auch noch so sehr gedrückt werden, gehen kann man jeden Tag und jeden Augenblick, aber fahren, und sei es noch so unbequem, vorwärts kommen, ohne sich dabei anzustrengen, das ist eine Lust! Wenn die Pferde nur nicht so langsam gehen wollten! Schritt um Schritt, durch Felder und Wälder und Dörfer, endlich eine kleine Anhöhe hinauf, und da, wo die vielen hohen Türme ragen, da ist die Stadt! Nun hat das Auge sein Ziel. Und bald lösen sich Einzeldinge aus dem duftumschwommenen Gesamtbilde: Telegraphenstangen, ein kleiner Landsitz, eine Gärtnerei, Eisenbahnschienen, die Wegschranke, ein rangierender Zug, eine Kapelle, eine Kaserne – und der Zeigefinger springt hin und her. Was ist das? Was ist das? Bis endlich dem Fragenden die tiefgründige Weisheit wird: „Kleine Kinder dürfen nicht immer zeigen und fragen, das ist nicht artig!“ Da knickt der Finger beschämt zusammen; aber die Augen schauen weiter und werden immer größer, und die kleine Seele kann sich nicht satt sehen. Diese großen Straßen, diese hohen Häuser, diese wunderbaren Dinge in den Schaufenstern, und endlich Libori selber mit seinen Buden, Karussells und Schießständen, mit seinem Schieben und Stoßen, seinem Schreien und Klingeln, seinem Lärmen und Lachen! Halb vor Seligkeit, halb vor Angst bebend hält sich der Junge am Rock der Mutter fest.
Er muß sich vergewissern, daß er in diesem brausenden, tobenden, strahlenden Durcheinander auch noch etwas bedeutet, daß er all diesen Mächten gegenüber, die auf ihn einstürmen, auch noch einen eigenen Willen besitzt, und schüchtern fragt er: „Mutter, kann man von den Sachen auch was kaufen?“ „Hast du denn Geld, Junge?“ „O, ganz viel!“ „Wieviel denn?“ „Dreiundzwanzig Pfennige!“ „Was möchtest du denn haben?“ Da gieren und sondern die Augen. Die ganze Welt steht zur Wahl; aber eins kann’s nur sein. „Die Uhr da mit der Kette!“ Der kleine Tropf meint, es wäre eine richtige Uhr. Voll Stolz steckt er sie in die Kitteltasche und hakt die Kette ein: „Seht ihr, Jungens, so ein Kerl bin ich!“ – Die Enttäuschung wird schon kommen, und das Stückchen Lebensklugheit, das er dafür einheimst, wird er damit teuer bezahlen müssen. Doch vorläufig ist sein Glück noch schattenlos. Die Mutter kauft ihm ein Stück Kuchen, richtigen Kuchen, den es sonst nur an den höchsten Feiertagen gibt. Auch auf dem Karussell läßt sie ihn reiten und geht mit ihm in eine Bude, wo man durch Gläser alle großen Städte der Welt sehen kann. Wie groß und schön doch die Welt ist! Selbst vor den Buden gibt es viel Herrliches zu sehen: Wilde Tiere und Zaubermenschen und Schlachtenbilder. Und in einem fortwährenden Staunen und in einer immer trinkenden, durstigen Freude wandert er dahin von Bude zu Bude, auf und ab, von Straße zu Straße, von Laden zu Laden, bis es endlich heißt: „Nun müssen wir nach Hause fahren!“ Vorbei! O die glücklichen Stadtkinder, die das jeden Tag sehen können! Schöner kann’s auch im Himmel nicht sein!
Wieder sitzt der kleine Kerl in kümmerlicher Enge auf dem Wagen. Die Sonne geht unter, die Ähren flimmern in goldenem Licht, die müden Äuglein schließen sich, und zwischen Wachen und Traum hört er hoch über sich die Lerchen singen. Was singen sie denn? Libori! Libori! Noch eh das junge Herz sich grämen kann, daß das so lang ersehnte Glück des Libori so schnell vergangen ist, ist ein Tröster gekommen, der Herbst. Mit reichen Händen streut er seine Schätze hin, aber nicht so, daß man sie bequem auflesen kann. Wie ein rechter Wohltäter verlangt er Anstrengung und Eifer, so daß man zuletzt glaubt, man habe alles sich allein zu verdanken. An den Büschen schimmert es, von den Bäumen winkt es, hinter den Dornhecken im feuchten Grase lockt es, Frau Holle geht ersichtlich überall umher, und alle Bäume rufen: „Schüttel mich, schüttel mich, ich bin reif!“ Also durch die Hecke auf den Baum geklettert, auch wenn die Dornen dich blutig ritzen, und geht das nicht, nimm einen langen Stock, schlag einen Nagel ans äußerste Ende und – hu, da kommt der Bauer! Im Nu sind die Jungens nach allen Seiten zerstoben, um sich wenige Minuten darauf lachend und in freudiger Aufregung an irgend einem sichern Ort zu treffen, den keiner vorher bestimmt hat, und den doch alle wie auf Verabredung finden. Bodenlos verderbt ist die Bande. Fast alle haben ihren eigenen Garten und ihre eigenen Obstbäume, und doch lungern sie im ganzen Dorf nach Beute umher, und nicht einem von ihnen fällt auch nur im entferntesten ein, daß Obststehlen auch Stehlen ist und unter das achte Gebot fällt. Sie verschenken wohl im nächsten Augenblick, was sie in diesem mit Lebensgefahr ergattert haben, aber haben, haben! Das ist die Hauptsache. Wenn die Blätter sich gelben, blühen ihre Freuden. Ein Herbststurm ist ein einziger Jubelschrei. Und wenn er nachts
um das Haus fährt und sie aus erstem Schlafe rüttelt, dann horchen sie in banger, froher Erwartung: puck, puck, da fällt’s – das ist der Apfelbaum, bums, bums – das sind die Pfundbirnen, knick, knack – das sind die Walnüsse, die springen auf des Nachbars Scheunendach, und die kleinen Füßchen trampeln ungeduldig im Bette umher und möchten am liebsten hinausspringen und mitten in der Nacht in den Garten laufen; sonst, wer weiß, die Brüder und des Nachbars Heinrich und der Fritz, wenn ich nur früh genug wach werde! Und kaum graut der Morgen, da kommt’s auch schon aus Tor und Tür und Fenstern heraus, halb angezogen, ohne Wams, barfuß und manchmal nur im Hemde. O, o, wie viel! Wie arm ist doch ein Kind, das nie einen Garten besessen, das nicht unter und mit den Obstbäumen groß geworden ist! Die Obsternte ist oft zu reich; gegessen kann nicht alles werden, aber dafür gibt’s ja auch eine Mooke, ein heimliches Nest, in der Kleiderkiste, im Bett, im Stroh oder im Heu auf dem Boden, dicht unter dem Dach. Je versteckter, je besser. Kein wanderlustiges Huhn barg seine Eier vorsichtiger als wir unser Obst, und kein Marder schlich listiger auf der Suche umher, als wir es taten, um die Heimlichkeit der andern zu entdecken. Eine Mooke war wie ein Sparpfennig. Damit stillten wir unsern Hunger, bezahlten unsere Schulden oder bauten uns Häuser. Einmal fehlte es mir an einem ‘Spruch’ zu des Lehrers Namenstag. „Wenn du mir die drei schönsten Äpfel und Birnen aus deiner Mooke gibst“, sagte der lange Zender, „mach ich dir einen!“ Der lange Zender galt nicht als besonders klug; aber er konnte auf die höchsten Bäume klettern, die schönsten ‘Flötenpfeifen’ und ‘Nachtigallen’ machen, die schwierigsten Vogelstimmen nachpfeifen: er konnte eben alles, was wir andern nicht konnten. Hoffnungsfreudig holte ich meine besten
Schätze, und als der junge Dichter erklärte, erst müsse er sie schmecken, damit er in die rechte Verfassung käme, gab ich sie ihm auch vertrauensselig hin. Zwei Stück aß er von jeder Sorte, und dann dichtete er: Zu dem schönsten Namenstage Komm ich heute ohne Frage. Aber weiter ging es nicht und ging es nicht, wie er sich auch die Hand vor die Stirn drückte und finster in die Luft guckte. Da wurde mir beklommen zumute. Ich forderte meine Äpfel und Birnen zurück; er aber erwiderte dreist, sie seien sauer gewesen, und darum habe er nicht dichten können, und als ich nun dringender mahnte, lief er fort. Betrübt brachte ich den einen Apfel und die eine Birne wieder in die Mooke zurück. – Mein Pfannenbirnbaum sollte mir den Schaden wieder gut machen. Es war mein Baum, nicht, weil er mir gehörte, er stand nicht einmal in unserm Garten, aber ich war der einzige der Jungen, der seinen Wert erkannt hatte. Weit ab von den andern Bäumen stand er im äußersten Winkel des nachbarlichen Gartens, dicht an der Hecke reckte er sich empor, so daß die Hälfte seiner Zweige sich zu uns herüberneigte. Mit liebendem Auge sah ich im Frühling seine Knospen kommen, freute mich an der Fülle seiner schimmernden Blüten und beobachtete mit stillem Glück, wie die kleinen ziegelbraunen Früchte dicker und dicker wurden. Fiel dann mal eine hinunter und ein naschhafter Mund biß hinein, so ward sie sogleich fortgeworfen: Pfui, wie steinhart, wie sauer! Ich aber wußte es besser, meine Mooke hatte es mich gelehrt: wenn sie erst einige Monate liegen, so bis Weihnachten, sind sie butterweich und zuckersüß. Und der Baum, der von allen verachtet wurde, war mein bester Freund; selbst im Winter besuchte ich ihn, kroch durch die Hecke und befühlte seinen Stamm, ob er auch wohl nicht erfriere. Noch jetzt seh ich ihn oft vor mir mit allen seinen Ästen und Zweigen und spüre seinen Duft und seine Süße.
Buchholen.
Alle Sammelfreude und alle Heimlichkeit der Obsternte wurden aber durch das Buchholen übertroffen. Wochenlang war es verboten, die braunen, dreikantigen Nüsse aufzusuchen. Wer es doch wagte, lief Gefahr, daß ihm der Forsthüter Beutel und Nüsse und alle Mundvorräte abnahm, und daß er hinterdrein noch eine Geldstrafe erhielt. Da hieß es mit einem Mal: „Morgen abend neun Uhr wird das Buch freigegeben, der Gemeinderat hat es in seiner letzten Sitzung beschlossen; aber es soll noch geheim gehalten werden.“ Und das Geheimnis flüsterte sich durch das ganze Dorf von Mund zu Mund, und als am folgenden Tage die Bauernglocke die Leute zusammenrief, wußten schon alle, was der Polizeidiener Neues verkünden werde, und jeder hatte sich schon vorbereitet. Oberhalb des Flusses am Bergabhang stand eine Anzahl uralter Buchen. Die None hießen sie. Die gaben immer die reichste Ernte, und alle eiferten um ihren Besitz. Mit neidisch sehnsüchtigem Blick hatte ich jedes Jahr von dorther die hellen Feuer an dem bedeutsamen Abend brennen sehen; diesmal aber, o Wonne, sollte ich selber mitgehen. Ascher war groß genug, um auf eigene Faust mitzutun, und der Verwalter vom Lauhof wollte uns in seinen Schutz nehmen. Mit Sack und Harke und Besen standen wir neben vielen andern lauernd an der Grenze des Dorfes, und als die Turmuhr neun schlug, rannten alle Wartenden bergauf den Buchen zu. Wer zuerst bei einem der Riesenbäume ankam, erklärte ihn nach altem Erobererrecht als sein Eigentum, zog, soweit die Nüsse gefallen waren, mit dem Besen einen Kreis und bezeichnete damit feierlich die Grenzen seines Gebietes. Ich
hatte das Vertrauen, das man in mich gesetzt hatte, nicht getäuscht. Ganz in der Nähe meines Bruders am Bergrand hatte auch ich einen Baum errungen, und mit dem selbstbewußten „De hürt mi!“ behauptete ich ihn tapfer gegen jeden, der mich verdrängen wollte. Als unser Besitzrecht zweifellos feststand, erquickten wir uns vor dem Beginn der eigentlichen Arbeit erst durch einen Imbiß, und ich erging mich in üppigen Phantasien, welch einen Reichtum wir heute nacht für die Eltern einheimsen würden. Einen Scheffel unter jedem Baum fanden wir gewiß, und daraus ließ sich manches Maß Öl schlagen, so daß die Mutter noch davon verkaufen könnte und doch genug für uns übrig bliebe. „Und Pellkartoffeln mit Buchöl, das ist doch das Feinste, was es gibt, nicht wahr, Ascher?“ Nicht weit von uns hatten auch die Leute vom Lauhof ihr Revier gefunden. Ich suchte sie auf, um dem Verwalter zu sagen, wo er uns treffen und früh morgens unsere Säcke mit aufladen könne. Zu meinem Erstaunen fand ich auch Franziska da, die einzige Tochter der Lauhöferin. „Jüngsken, du hier?“ sagte sie gleichfalls erstaunt und gab mir die Hand. „Und du, Franziska, du auch! Du willst doch ins Kloster gehn.“ Sie drückte meine Hand krampfhaft fest, dann sagte sie laut, so daß alle die andern es hören konnten: „Darum gerad, Junge, ich wollte noch einmal im Wald sein, wer weiß, ob ich in meinem Leben wieder hinkomme.“ „Dann bleib doch ganz bei uns.“ „Das verstehst du nicht, Junge“, sagte sie traurig. „Geh, grüß Ascher.“ Spornstreichs lief ich zurück. „Du, Ascher, ich soll dich grüßen, rat mal von wem?“ „Von Lauhofs Ziska.“
„Richtig, woher weißt du das? Vom Verwalter?“ Der hatte heute wiederholt heimlich mit ihm gesprochen. Ascher antwortete nicht, aber mich quälte die Neugierde. „Sag mal, Ascher, warum geht Ziska eigentlich ins Kloster? Sie war doch immer so lustig. Die Leute sagen, sie muß für die Mutter büßen. Sie will gewiß den kleinen Jungen nicht wiegen, den die Klütschke der Lauhöffsche gebracht hat. Das war aber auch dumm von der Klütschke, da ist ja gar kein Vater im Haus. Uns bringt sie keinen, und ich hab es ihr schon so oft gesagt.“ „Schweig still, dummer Junge, und laß uns arbeiten.“ Und wir arbeiteten drauf los, wir fegten und harkten und siebten, stopften die blanken Nüsse in einen kleinen Sack, die noch umhülsten in andere größere. Gegen Mitternacht war das Erträgnis unserer beiden Bäume eingeerntet – und ich todmüde. Ascher lehnte die Säcke an seinen Baum, ich mußte mich dazwischen setzen, und er deckte mich mit seinem Rock und mit Laub zu, obgleich es gar nicht so kalt war. „Schlaf ein bißchen, Jung, ich will sehen, ob ich noch einen andern Baum finde. Du bist doch nicht bange?“ „Ich? Wo hier so viele Leute sind?“ Aber durch die Frage wurde ich erst gerade bange, und als er fortgegangen war, schloß ich kein Auge. Nah und fern leuchteten die Feuer auf, dunkle, große Gestalten huschten um sie her, dann und wann tönte ein Hahnenschrei vom Dorf herauf, Hundegebell hallte herüber, und tief unten im Tale rauschte der Fluß. Da kamen leichte Schritte gegangen, und schwere hinterdrein. Ich verkroch mich ganz unter die Säcke. An meinem Baum blieb es stehen. „Wohin, Ziska?“ Das war der Verwalter. Wie sicher ward mir zumute.
„Ich will nach Haus. Ich will den kleinen Moses mitnehmen, ich hab’s seiner Mutter versprochen. Wo mag er nur sein?“ Die Freude am Versteckspielen ließ mich ruhig verharren. Sie wollte weitergehen, er mußte sie wohl festhalten. „Ziska, bleib! Wer weiß, ob wir uns je wieder allein sprechen. Schon übermorgen willst du fort. Willst du denn wirklich, Ziska?“ „Ich muß.“ „Du darfst nicht!“ „Ich muß die Sünde meiner Mutter wieder gutmachen.“ „Und eigene auf dich laden. Mir gehörst du, und ich leid es nicht!“ „Ich hab’s meiner Mutter versprochen.“ „Und dem Kaplan. Wer weiß, ob das Kuckuckskind am Leben bleibt! Der verfluchte Kerl, dem’s gehört, ist ja schwindsüchtig; aber euer Hof ist gesund und groß, und das Kloster kann alles gebrauchen. Laß deine Mutter doch selber büßen.“ „Sie grämt sich genug, die Arme, und ich hätt keine ruhige Stunde mehr, wenn ich nicht alles täte, um ihrer Seele den Frieden wiederzugeben.“ „Und hab ich denn keine Seele? Ist dir an meinem Leben nichts gelegen?“ „Quäl mich nicht so, Franz, ich hab schon genug zu tragen. Die Mutter Gottes weiß es, was ich leide!“ „Ziska!“ Totenstille, und dann, ich hörte es ganz deutlich, die beiden küßten sich. „Franz, laß mich, laß mich!“ Dann raschelte es im Laub wie von davoneilenden Schritten. Bebend richtete ich mich auf, und ich sah noch, wie die beiden bergabwärts dem dichten Wald am Fluß zueilten. Ich kauerte mich wieder hin und horchte und horchte. Nüsse fielen
nieder, trockne Zweige schlugen an im Wind, hier und da ein Schrei, ein Lachen, und unten summte der Fluß: Schlafe, schlaf! – Als ich wieder aufwachte, hob mich Ascher von Lauhofs Wagen, der vor unserer Tür hielt. Das sonderbare Begebnis der Nacht wollte mir am hellen Tage fast wie ein Traum vorkommen, als sich aber nachmittags die Leute lachend zuflüsterten – Kinder hören immer solche Flüstereien der Erwachsenen – der Verwalter und Lauhofs Ziska sind nicht nach Haus gekommen, die seien gewiß durchgebrannt, da sah ich wieder alles klar vor Augen. Aber noch ehe ich irgend einem mein Wissen großtuerisch auskramen konnte, kam die Schreckensbotschaft: Der Verwalter und Ziska sind tot; im Kolk an der None hat man sie gefunden. Zitternd vor Angst und doch wieder in einer Art freudiger Aufregung lief ich heim, um der Mutter die Nachricht zu bringen und ihr alles zu erzählen, was ich wußte. Sie schlug die Hände über dem Kopf zusammen und rief schluchzend ein über das andere Mal: „Das schöne Kind! Das gute Kind!“ Dann hielt sie mir die Hand vor den Mund, und mit einer Strenge, die ich noch nie an ihr bemerkt hatte, herrschte sie mich an: „Jung, du bist unglücklich, wenn du ein Wort von dem sagst, was du mir da erzählt hast! Hörst du! Das arme Kind und die arme Frau!“ – Und dann sah ich, wie die Mutter langsamen Schrittes nach dem Lauhof ging. Oft hatte ich sie mitten im Gespräch der Erwachsenen, wenn wir Kinder unwillkürlich aufhorchten, sagen hören: „Stike∗ vor den Jelodim∗∗!“ ∗
still Kindern
∗∗
Nun hatte die hellhörige Nacht im Walde, und was die Leute im Dorfe sich zuzischelten, mir den Schleier von den Geheimnissen des Lebens gelüftet.
In der deutschen Schule.
Einen ganzen Sommer lang Ferien, das Ende ist gar nicht abzusehen, und es kommt auch gewiß niemals. In fröhlicher Sorglosigkeit halfen wir noch bei der Kartoffelernte, sprangen im Übermut durch den hellblauen Rauch der Kartoffelfeuer und labten uns an den frischgebratenen Knollen. Um diese Zeit starb Schmuel Musikant. Seit dem Tode des Lehrers hatte man ihn nie mehr lachen hören, und fast immer war er nüchtern. Das hatte er wohl nicht vertragen können. Eines Septembermorgens – er hatte abends vorher noch bei einem Erntetanz aufgespielt – fanden ihn die Bauern an einer Korngarbe nahe am Wege liegen. Die Nacht war warm gewesen, erfroren konnte er nicht sein. Er hielt seine Fidel noch in der Linken unter dem Kinn, aber der Kopf war ganz weit niedergesunken, und die Rechte, die den Bogen umspannte, hing schlaff zur Erde. Man glaubte erst, er sei eingeschlafen, wollte ihn wecken und fand, daß er tot war. Am Wasserberg wurde er beerdigt, neben dem Lehrer. Es hat ihm niemand nachgetrauert. Kaum war dieses Ereignis überwunden, da hieß es auf einmal: „Mendels nehmen eine Gouvernante, und ihr kommt in die deutsche Schule.“ Schrecken und Bestürzung, Erwartung und Freude. Denn wo gibt’s eine Lage, aus der nicht ein Kind, wie eine Biene aus einer Blume, noch geheime Süße zu saugen wisse? Und vor allem, es gab ja etwas Neues für uns. Nicht nur einen neuen Lehrer, auch eine neue Schule, neue Kameraden. Wir sollten nun mit ihnen auf einer Bank sitzen, zusammen lernen und
arbeiten, mit denen wir bisher nur gespielt oder uns gescholten und geschlagen hatten. Wären nicht die Erwachsenen störend dazwischen gekommen, die jüdischen und christlichen Knaben und Mädchen würden in derselben einträchtigen Weise weiter verkehrt haben, wie sie es als kleine Kinder getan. Kindern ist jedes gegebene Verhältnis natürlich; da ihnen alles neu, alles anders ist, ist ihnen eben nichts anders, und sie würden von selber nie auf den Gedanken kommen, daß man gegen Menschen von anderer Haarfarbe oder anderer Nasenbildung auch ein anderes Verhalten zeigen müsse. Hieß es aber bei irgend einer Gelegenheit: „Da heste den Jiuden, – “ oder „so was kann nur bei Eiszew∗ passieren“, so horchten die jungen Ohren auf, und der Ruf „olle Jiude“, „olle Christ“ flog bald herüber und hinüber. Und mehr der Unterschiede taten sich dann den spähenden Äuglein kund: andre Speise, andre Feiertage, andre Gotteshäuser, ja selbst auch eine andere Sprache; denn in den jüdischen Familien wurde, abgesehen von einigen süddeutschen Dialektanklängen und einzelnen hebräischen Wörtern, nur Hochdeutsch gesprochen, obgleich jeder Platt verstand und es im Verkehr gebrauchte. Nun fühlten wir uns durch das Wort Jude wohl beleidigt, aber nicht gekränkt. Im innersten Grunde des Herzens hielten wir uns nicht nur für anders, sondern auch für viel besser als unsre christlichen Gefährten und blickten mit derselben Geringschätzung auf ihre kirchlichen Gebräuche und Einrichtungen hinab, wie sie auf die unsrigen. Nur wenn der Pastor, die angesehenste Persönlichkeit des Dorfes, vorüberging, und alle Kinder auf ihn losstürzten und ihm die Hand reichten, und er so freundlich mit ihnen war, dann beneideten wir sie. Der Pastor galt auch in unsern Augen als ein höheres, heiliges Wesen, einer, der ganz anders lebt und ∗
Esau, Nichtjuden
ganz anders ist wie gewöhnliche Menschen. Es wollte mir lange Zeit gar nicht in den Sinn, daß auch er essen und trinken müsse und natürliche Bedürfnisse habe, wie andere Menschen auch. De Har Pestaur! So tief zog ich nie die Mütze wie vor ihm, und ich war schon beglückt, wenn er meinen Gruß freundlich winkend erwiderte. Er war ein echter Landpfarrer, der die Sorgen und Mühen seiner Pfarrkinder mitempfand und miterlebte, der zwar strenge auf Zucht, Ordnung und fleißigen Kirchenbesuch hielt, ihnen aber auch in wetterunsicherer Erntezeit gestattete, die nötige Feldarbeit am Sonntag zu verrichten und selber den Anstoß dazu gab, daß im Dorf ein allgemeines Schützenfest mit Musik und Tanz gefeiert wurde. So trug auch er dazu bei, daß Christen und Juden in größter Eintracht beisammen lebten. Und so fanden sie sich, trotz aller Unterschiede, bei allen rein menschlichen Ereignissen in Vertrauen und Hilfe schnell und leicht zusammen. Und nun saßen wir auf einmal mitten unter den christlichen Kindern, den Knaben und Mädchen. Neugierig musterten uns ihre Augen, als ob sie uns noch nie gesehen hätten, und neugierig wanderten die unsern in dem großen Schulraum umher, in dem so manches anders war als bei uns. Und mitten an der Wand hing ein großes Kruzifix! Neckereien, Sticheleien, auch höhnische Fragen wurden laut. Da trat der Lehrer ein. Eine hohe, hagere Gestalt in mittleren Jahren mit glattrasiertem Gesicht, dem ein paar schmale dunkle Backenbartstreifen eine fast viereckige Form gaben. Der Mund fest zusammengebissen, die Stirn voll tiefer Falten. Er war wegen seiner Strenge gefürchtet, aber ich war nicht bange vor ihm; seine Frau kam ja zuweilen zum Kaffee zu meiner Mutter. Finsteren Blickes sah er umher. Es war totenstill in der Schule; aber er schüttelte doch den Kopf, er bemerkte die innere Unruhe unter den Kindern. Er schlug mit dem Lineal
auf das Pult, daß jeder den Rücken krümmte, als ob es auf ihn niedersausen wollte. Dann schrie er: „Betet!“ Das Vaterunser wurde gebetet; wir standen mit auf, meine Lippen bebten, aber sie blieben fest geschlossen. Die Kinder wollten sich nach beendigtem Gebete in gewohnter Weise hinsetzen. „Bleibt stehen!“ herrschte der Lehrer sie an, und dann fuhr er in eintöniger Gebetsweise, aber mit scharf eindringlicher Stimme, die Endsilben stark betonend, fort: „Führe uns nicht in Versuchung. Kinder, ihr werdet in Versuchung geführt. Von jetzt ab gehen die israelitischen Kinder mit euch zusammen zur Schule. Hütet euch, daß ihr sie Juden oder Mauschel oder Itzigs oder sonstwie ausscheltet. Es sind jetzt ebenso gut meine Schüler wie ihr, und es sind auch ebenso gute Menschen wie ihr. Hört ihr? Hütet euch!“ Und dabei schlug er wieder mit dem Lineal auf. „Setzt euch!“ Mit niedergeschlagenen Augen, als ob alle Finger auf mich hinwiesen, hatte ich den Worten des Lehrers gelauscht. Ein unsägliches Frohgefühl umfing mich, ein freudiger Stolz, so ausgezeichnet zu werden. Und ich empfand ein inniges Dankgefühl gegen den Lehrer, der so gut von uns sprach. Seine Worte hatten gefruchtet. Die Schimpfreden wagten sich nur selten an uns heran, und es dauerte nicht lange, so waren wir heimisch in der Schule. Wenn’s nur nicht so langweilig gewesen wäre! Jeden Morgen Katechismus, jeden Nachmittag biblische Geschichte. Und wir mußten inzwischen ewig lange Rechenreihen addieren und substrahieren, oder abschreiben, abschreiben! In solchen Stunden war alle Gemeinsamkeit wieder aufgehoben, und da gab es wieder Juden und Christen. Trotz aller Arbeiten folgten wir immer mit halbem Ohr den religiösen Definitionen, den Erklärungen und Erläuterungen des Katechismus und vor allem den biblischen Geschichten.
War das alte Testament an der Reihe, dann hatte ich eine geheime, stille Freude. Wir waren ja das auserwählte Volk, von dem alles Heil kam, die Kinder Gottes, denen er sein Gesetz anvertraut hatte. Wir standen ihm am nächsten. Aber o weh, wie wurde das anders im Neuen Testament. Mit Widerstreben, mit dem Gefühl, du darfst nicht, das ist verboten und doch mit banger, schauriger Spannung, mit süßem Mitgefühl lauschten wir der wundersamen Lebens- und Leidensgeschichte Jesu. Einmal ließ ich mich sogar hinreißen, eine Antwort zu geben. Der Lehrer hatte gefragt, warum der eine der beiden Schächer am Kreuze ins Himmelsreich kommen sollte. Keiner wußte es; ich wagte nicht aufzuzeigen, aber ich blickte auf, und Augen und Mund verrieten, daß ich sprechen möchte. „Nun, Moses?“ Und erst stotternd, dann sicher und stolz erzählte ich, wie auf der Flucht durch die Wüste das Jesuskindlein einmal fast verhungert wäre. Da sei ein Wüstenräuber vorübergekommen und hätte es gelabt und gestärkt, und das sei der eine Schächer gewesen. „Woher weißt du das, Moses?“ „Das hab ich wo gelesen.“ „Schön, daß du das behalten hast, setz dich.“ - Ich hatte bei meinen christlichen Kameraden durch dieses Wissen bedeutsam gewonnen; aber die jüdischen sahen es doch wohl mit andern Augen an. Noch am selben Tage erhielt ich ganz unerwartet von meiner Mutter eine schallende Ohrfeige mit der einzigen Erklärung: „Kümmer dich nit um Geschichten, die dich nix angehen.“ Aber sie gingen mich an, ich mußte zuhören, auch wenn ich es nicht wollte. Wenn’s nur nicht immer geheißen hätte: „da sprachen die Juden“, „da gingen die Juden“, und immer wieder die Juden, die Juden. Wie fest ich auch die Augen auf die Ziffern auf meiner Tafel richtete, ich fühlte, wie meine
Nachbarn mich ansahen, ich spürte an der leisen Armbewegung, wie Grimm und Haß in ihnen kochten. Wenn der Lehrer doch einmal wieder ein gutes Wort von den Juden sagen wollte! – Ach, es ist alles nicht wahr, alles nicht, tröstete ich mich im stillen, Jesus hat ja gar nicht gelebt, das sind nur so Geschichten, – aber, grübelte ich weiter, Hans und Fritz und Kasper glauben es doch, und Anna und Threschen und Mariechen auch, und der Lehrer auch, und er spricht von dem Fluche, der seitdem auf den Juden lastet, die wie Kain, der Brudermörder, ruhelos in der Welt umherirren, und nun mag er dich gewiß auch nicht mehr leiden – und denkt vielleicht, auch du könntest morden. Und die Augen schielen zu ihm hinüber, und die Ziffern auf der Tafel springen durcheinander und grinsen: Wenn es aber wahr wäre! – Und dann kommt der Lehrer heran und sieht die Aufgaben nach: „Alles falsch!“ Und die Schläge hageln nieder für Faulheit und Unaufmerksamkeit! In den Pausen wurde dann das seelische Gleichgewicht mit einigen empfangenen und zurückgegebenen Scheltworten und Püffen wieder hergestellt, und nachmittags beim Spiel auf der Straße oder beim Kuhhüten auf dem Felde waren alle Gegensätze wieder ausgeglichen. Und als der Winter kam und wir an langen Stäben jubelnd den übereisten Brookmannsweg hinunterglitten oder mit wildem Indianergeheul Schneeballschlachten schlugen, da waren Schwarzkopf und Blondkopf so gemischt, als ob sie nie von brennenden Gegensätzen gehört hätten. Eines Winters wurde ich sogar eine begehrte, angesehene Persönlichkeit. Auf dem Boden unter altem Eisen hatte ich einen alten Schlittschuh aufgestöbert, und auf diesem einen Schlittschuh, dem sich trotz allen Suchens kein Genosse paaren wollte, lernte die halbe männliche Dorfjugend Schlittschuhlaufen, das heißt nur auf dem rechten Fuße.
Kungeln.∗
Der Besuch der deutschen Schule brachte mir noch eine besondere stille Freude. Ich ging jetzt den ganzen Winter hindurch mit Threschen in dieselbe Schule, und wenn sie auch erst in der ‘kleinen’ war, und ich gleich in die ‘große’ rückte, wir hatten doch denselben Schulweg und saßen in demselben Hause. Ach, die Freude sollte nicht lange dauern. Threschen war die Tochter unsres Nachbars Feldmann, sein einziges Kind aus seiner zweiten Ehe. Unsere Mütter hielten gute Nachbarschaft, und so lange ich mich erinnern konnte, war Threschen meine Spielgefährtin gewesen. Ob auch die andern Kinder und besonders ihr Halbbruder Anton uns oft darüber neckten, wir hielten immer zusammen. Beim Holz im Schuppen, im Stroh auf der Scheune, unterm Haselbusch im Garten – was gab es da für heimliche Nester, und wie wohlig hatten wir uns darin gefühlt! Wir brauchten keine andern Kinder; wenn wir allein spielten, war es immer am schönsten. Als die erste Trennung kam und ich in die Schule mußte, stand sie jeden Morgen beim Heiligenhäuschen an der Straßenecke und wartete auf meine Rückkehr und lauschte mit gespannten Blicken, wenn ich von den Wunderdingen erzählte, die in der Schule vorgingen. Zwei Jahre später war auch sie ‘groß’ genug, und nun wurde der Spielkamerad zum Lehrer, der die Kunststücke des ABC mit ihr einübte und ihr die Rätsel der Rechenexempel knacken half. Mehr als das Lob, das ich selbst erhielt, freute es mich, wenn sie mir erzählen konnte, daß sie die Beste gewesen. Dann griff ich ihr wohl in die ∗
heimliche Tauschgeschäfte
hellbraunen Locken, guckte ihr stier in die blauen Augen und sagte lachend: „Bist doch ein dummes Mädchen!“ Nun war es Frühling geworden; aber ich spielte und lernte nicht mit Threschen. Das arme Kind lag krank im Bette. Es war an einem hellen Mainachmittag. Schneider Frünnekens hatten einen Hund bekommen. Das war ein großes Ereignis, nicht nur für Frünnekens Karl, sondern auch für sämtliche Jungen der Nachbarschaft. Karl hatte so lange um einen solchen Spielgenossen gebeten und gebettelt, bis der Alte ihn von dem benachbarten Dorfe mitgebracht hatte. Ammi war er getauft worden. Nun aber fehlte es in dem engen Schneiderhäuschen an einem geeigneten Raum für den neuen Ankömmling. In den Ziegenstall könne das Untier nicht, hatte Mutter Frünneken aufs bestimmteste erklärt, draußen vor der Türe wäre Platz genug. Da war guter Rat teuer. Es war ein so niedlicher kleiner Kerl, braun mit schwarzen Flecken. Aber wir Jungen überlegten doch schon, wie wir ihn am besten ertränken könnten: in Jamburens tiefer Mistahle oder in der Alme, so hoch von der Brücke aus. Karl hörte betrübt zu; die zwinkernden Augen zerpreßten eine Träne. „Hurra! ick weit wat!“ rief da Janschmees Wilhelm, „Ick weit wat! Wi bugget ehm en Huus.“ „Wi bugget ehm en Huus, hurra!“ Der Plan war schon fix und fertig. Zeit war genug da. Es war ja Mittwoch nachmittags, der herrliche, schulfreie Mittwochnachmittag! Und Platz war auch da. Zwischen dem Schneiderhäuschen und Wessels hoher Gartenmauer lag ein unbenutzter, einige Fuß breiter Rasenplatz. Der war wie geschaffen zu einer Baustelle. Die Baumaterialien aber lagen in Niederndorf mit seinen vielen Steinbrüchen nur so auf der Straße, zumal für ein Dutzend händiger Jungen. Maurers
Heinrich sorgte für Mörtel, Schreiners Christian für Holz, Schmieds Kasper für Nägel; nach wenigen Minuten waren wir alle an der Arbeit. Es wurde gegraben, gehackt, gekarrt, geklopft, gehämmert, das Fundament gelegt, und bald stiegen die Grundmauern in die Höhe. Der alte Birnbaum in Wessels Garten schüttelte bedenklich seine weißen Blütenzweige: „Dat Blagentüg, wat dat vor Nester in’n Kopp hiärt! Dat sall nu allens in enen Freujohrsnamiddag farrig wären, un use ene hiärt den ganzen Summer nadig, bit sine Beeren riep sünd.“ Aber der alte Spatz lachte ihn aus: „Davor sünd’t Jungens, davor sünd’t Jungens!“ Und die Mauern stiegen höher und höher, daß man sie ordentlich wachsen sehen konnte. Die Maisonne brannte heiß, und den kleinen Kerlen troff der Schweiß von den Backen. „Jungens“, meinte plötzlich Janschmees Wilhelm, der immer die guten Einfälle hatte, „Frünnekens Moder künn uns auk gud einen to drinken giewen.“ Aber Frünnekens Mutter wollte davon durchaus nichts wissen. Es war schon genug von ihr, daß sie den ganzen dummen Kram überhaupt zuließ. Da war wieder guter Rat teuer, und wieder wurde er gefunden. „Jungens, wi legget tosamen.“ In allen Hosen-, Wams- und Westentaschen wurde nachgesucht, eine Unmenge alter Knöpfe, Bohnen und Marmelkugeln wurde zutage gefördert, und hier und da fand sich auch ein Pfennig. So kam die stattliche Summe von acht Pfennigen zusammen. Was dafür holen? Schnaps? Bier? Bischof? Ja, den roten Likör hätten wir alle am liebsten getrunken, aber dafür langte es nicht.
Da kam Feldmanns Anton dahergetrottet, ein großer, stämmiger Bursche, und mit seinen dreizehn Jahren um einen Kopf größer als alle andern. Wir wußten, er hatte bei dem letzten Ochsenverkauf einen halben Taler Trinkgeld bekommen und ihn dem Alten trotz Schelte und Schläge nicht abgegeben. Er war ein gutmütiger, dummer Kerl, der mußte herhalten. Wir riefen ihn heran, wir baten ihn mitzutun, und schließlich rückten wir mit unsrer wahren Absicht heraus. Er blieb breitspurig, ruhig stehen, nur die Hände in den Hosentaschen ballten sich noch fester zusammen: „Ick hewwe nix.“ „Moses, segg du et ehm, du drafst ehm süß nit mehr bi sin Schauisaken helpen.“ Ich war noch immer beschäftigt, Steine herbeizuschleppen und den Weiterarbeitenden Handlangerdienste zu tun. Jetzt ließ ich meinen Stein zu Boden fallen und stellte mich neben den großen Freund, mit dem ich in einer Schulabteilung saß. „Man tau, Antun, giw us wat!“ mahnte ich. „Ick hewwe nix.“ „Och, man tau!“ „Ick hewwe nix.“ Ich mochte nicht drohen. Vielleicht glückte es auf einem Umwege. „Wie geiht’t Thresken?“ fragte ich. „Jo, wie geiht’t dine Süster?“ riefen die andern im Chor. „Wat geiht mi min Süster an?“ „Un dat is gor nit recht, dat du se nit liden kannst. Se is en gud Mäken!“ rief ich empört. „Se is man min Halfsüster.“ „Deut nix, se is so’n fien Mäken.“ „Dei hiärt’t auk fien genaug. Wien un Schukelade un Schinken, un ick krieg nix.“
„Büst doch dick genaug!“ „Awer, Anton, is se denn noch nix beter?“ „Lot mi tofreen, Moses.“ „Denn giw uns wat, man tau! man tau!“ „Man tau! man tau!“ drängten sie von allen Seiten, bis er uns zuletzt halb verdrossen, halb stolz einen Groschen hinwarf. „Hurra!“ Und wieder ging das Beraten los: Bischof, Bier oder Schnaps? und schließlich einigten wir uns auf ein halbes Pfund gestoßenen Zucker und einen Ort Essig. Beides in richtigem Verhältnis mit Wasser gemischt, mußte ein wundervolles Getränk geben. Ich wurde zum Krämer geschickt, den Einkauf zu besorgen, und Anton wurde mit ins Arbeitsverhältnis gezogen. Bald waren nach Ansicht aller Sachverständigen die Mauern für den ‘Röen’ hoch genug, und wir konnten daran denken, das Dach zu richten und Haushebung zu halten. Schreiners Christian hatte inzwischen in des Vaters Werkstätte die Sparren fertig gemacht und schleppte sie mit zwei Kameraden herbei. Ich kam mit Zucker und Essig angelaufen, und Mutter Frünneken ließ sich herab, einen großen Topf Wasser zu stiften. Ja, wir vermochten sogar, sie schließlich zu bewegen, uns auch ein Wasserglas zu leihen. Dabei gab sie uns noch eine Fülle Ermahnungen in den Kauf: es sei ihr einziges, und die Jugend heutzutage sei so leichtsinnig, und wir sollten es uns nur nicht einfallen lassen – aber wir hörten schon nicht mehr auf den Schluß der Rede. Das Getränk war fertig; doch nach sorgsamem Überlegen hatten wir uns dahin geeinigt, daß es erst zur Feier der Haushebung selber getrunken werden sollte. In kurzer Zeit waren die Sparren gerichtet.
Aber der Giebelsparren müsse doch auch mit Kranz und Schleife geschmückt werden, sonst habe die ganze Sache keinen rechten Schick, meinte Christian. „Jo, Kranz un Schliepe!“ stimmten wir alle dem Vorschlag bei. „Kümmt gliek! Teuwt en bitken!“ Die Antwort kam von den kleinen, rotbackigen, flachshaarigen Mädchen, die in angemessener Entfernung das Wachsen des Wunderbaues angestaunt hatten und nun ihre Zeit für gekommen erachteten. Im Nu waren sie in den benachbarten Gärten verschwunden, und nach wenigen Minuten kamen sie zurück, jede ein paar Blumen und einen grünen Zweig in der Hand. Schnell wurde ein Kranz gewunden, zwei der Kleinsten reichten opferfreudig ihre Haarbänder hin, und das herrliche Gewinde wurde an einer Stange befestigt. „Nu kann’t losgohen!“ Knaben und Mädchen ordneten sich zum Zuge. Voran ging Wilhelm, die Stange mit dem Kranz hoch in der Rechten, ihm folgte Karl, der den Hund an einer Leine führte, und dann wir andern alle, Paar um Paar. Zweimal zogen wir die Straße auf und ab und sangen dabei andächtig und feierlich: „Heil dir im Siegerkranz!“ Dann hielten wir vor dem neuen Haus. Das Essigzuckerwasser wurde eingeschenkt, und das Glas wanderte von Mund zu Mund. „Ha, dat schmeckt!“ Nun sollte der Kranz an den Giebel gehängt werden. Aber dabei muß ein Spruch gesagt werden. „We deut dat? We kann dat?“ Jeder trat zurück. „Antun, du büst de Grötste.“ „Ne“, grinste er, „pleugen und saien kann ick, awer keinen Spruch seggen kann ick nit.“
„Willem, du.“ „Nee! fällt mi nit in.“ „Christian.“ „Nee, so dumm bünn ick nit.“ „Heinrich!“ „Nee!“ Noch war man die Reihe nicht ganz durchgegangen, als mehrere Stimmen zugleich riefen: „Moses! Moses!“ Man zerrte mich in den Vordergrund. Aus dem Stall wurde ein Kübel herbeigeschleppt, umgestülpt und ich daraufgestellt. Ängstlich blickte ich einen Augenblick um mich her; aber dann begann ich mit fester, lauter Stimme das Lied, das ich vom Nähanternettken gelernt hatte, und das mir immer so ausnehmend gut gefiel: An einem Fluß, der rauschend schoß, Ein armes Mädchen saß, Aus ihren blauen Äuglein floß Manch Tränchen in das Gras. Sie wand aus Blumen einen Strauß Und warf ihn in den Strom. „Ach, guter Vater“, rief sie aus, „Ach, lieber Bruder, komm!“ Ein reicher Herr geritten kam Und sah des Mädchens Schmerz, Sah ihre Tränen, ihren Gram, Und dies brach ihm das Herz. „Was fehlet, liebes Mädchen, dir? Was weinest du so früh?“
So weit hatte ich mit tiefbewegter Stimme und einer Begeisterung, würdig des erhabenen Augenblickes, vorgetragen, als aus unserm Hause jenseits der Straße die Stimme der Mutter erscholl. „Moses! Moses!“ Erschrocken hielt ich inne und sprang vom Kübel herab. „Hurra! Hurra!“ schrien die Jungen und befestigten den Kranz. Ich wollte nach Hause eilen, aber Anton hielt mich noch fest. „Mine Meume is bi dine Moder. Ick hewwe se röwer laupen seihn. Wenn se mi de Lappen vull schenken will, mi is’t ein dauhn. Ick goh gliek nah Hus.“ Zu meinem großen Erstaunen wurde ich von der Mutter in die Fremdenstube geführt, an den geheiligten Ort, den ich sonst nur bei außergewöhnlichen Gelegenheiten betreten durfte. Das Rollo, das einzige, das irgend ein Fenster des Hauses aufzuweisen hatte, war niedergelassen, und in der Ecke auf dem Sofa saß im Halbdunkel Frau Feldmann, Thereschens Mutter. Sie hielt die Schürze vor das Gesicht und suchte vergebens ein heißes Schluchzen zu unterdrücken. Unwillkürlich mußte ich daran denken, wie ich als ganz kleines Kind einst mit andern Dorfkindern vor Olmmeiers Haus gestanden, in dem die blutjunge Frau plötzlich gestorben war. Das ganze Dorf hatte damals von dem traurigen Fall gesprochen. Und als ich nun neugierig auf die Tenne geblickt und eine laut weinende Frau, die sich die Schürze vor das Gesicht hielt, aus einer Stube in die andere hatte gehen sehen, da hatte ich ganz bestimmt gemeint, das sei die Tote. Jetzt wußte ich’s schon besser, wie der Tod aussieht; aber es war mir doch beklommen zumute, und meine Augen wanderten ängstlich von der Mutter zur Bäuerin und von dieser zu jener.
„Mutter, Threschen ist doch nicht – “, stotterte ich endlich heraus. „Threschen soll, so Gott will, noch hundert Jahr leben“, unterbrach mich die Mutter schnell, „und du sollst mit Gottes Hülf dazu beitragen.“ Ich sah sie mit großen Augen an. „Du gehst heute nachmittag noch nach der Stadt“, fuhr die Mutter fort, „gehst nach Doktor Richel und bestellst ihm, er soll so schnell wie möglich zu uns kommen, wenn’s geht, heut noch, ich war krank.“ „Aber, Mutter, du bist doch nicht krank.“ „Jung, sei nicht so dumm!“ „Moses, du weeßt doch“, schluchzte die Bäuerin, „de Buer darf et nit witten, süß gift Mord und Brand. De Dukter sall bi use Thresken kummen. Ob hei noch helpen kann? O, min Kind! Min Kind!“ „Still, Nahwersch, God liwt auk noch, de kann noch ümmer helpen.“ „Nee, ick beholl et nit. Ick weit nit, woran ick mi versünnigt heff. Et was so’n scheun Engelken an Witten Sunndag, dat scheunste von allen. Dat günnt mi de Mutter Gottes nit. O heilige Mutter Gottes, lot et mi doch, du kriegst et noch freuh genaug!“ Und aufs neue begann sie zu schluchzen und zu weinen. Ich weinte mit, und die Mutter dreht sich um und preßte die Hand vor die Augen. „Also, Jung“, wandte sie sich aber alsbald wieder an mich, „du verstehst nun, ich bin krank. Man kann ja auch krank sein, wenn man nit zu Bett liegt. Und daß der Doktor erst zu uns ins Haus kommt! Du verstehst doch.“ Ich verstand alles. Hatte ich doch oft genug von dem Geiz des Bauern reden hören, und wußte ich doch auch, daß seine zweite Frau, die früher bei ihm Magd gewesen war, nicht über
einen Pfennig Gewalt hatte. Er hielt sie jetzt schlimmer als eine Magd, und sie ließ es Anton entgelten, zumal, nachdem ihr Thereschen geboren war. Die Bäuerin stand auf, um fortzugehen. „Nahwersch, ick mak allens weer gud. Lotet de Hinnerdür in’n Goren open; ick kume villichte vunawend noch. Und du, Moses, goh man rasch tau un verteil usen langen Schleif man jo nix.“ „O, Fru Feldmann“, sagte ich mit fast entrüstetem Tone, „ick wer doch nit, ick bün doch kein Schafskopp. Und Thereschen wird wieder gut, nicht wahr, Mutter? Und dann spielen wir wieder zusammen. In drei Stunden bin ich wieder hier. Sollt mal seihn! Ick wünsch auk gude Beterung, Fru Feldmann!“ – Wenige Minuten später glitt ich durch die Hintertür des Gärtchens in die Tweete, von wo ich auf einem Gartenweg auf die Chaussee gelangen konnte. Der Lärm und das Hurra der Knaben klang noch von fern zu mir herüber. Aber ich sehnte mich nicht zu ihnen hin. Nur als ich den Brookmannsberg hinaufschritt und auf halber Höhe die vielen schönen Steine beim Steinbruch liegen sah, dachte ich einen Augenblick daran, wie gut die für unser Häuschen gepaßt hätten, und wie schön es sein müßte, wenn es endlich fertig wäre und der Hund seinen Einzug hielte. Damit jedoch waren alle Rückgedanken an das unterbrochene Fest abgetan. Ich war mir der Bedeutung meines Auftrages zu sehr bewußt, um nicht einen freudigen Stolz darüber zu empfinden, – und dann tat ich doch auch alles für Thereschen. Sie mußte wieder gesund werden. Sie war doch ein so gutes Kind, und wie schön war sie! Das ganze Dorf war am Weißen Sonntag, an dem Tage, an dem jedes Mädchen, das zur heiligen Kommunion geht, von zwei kleineren Mädchen zur Kirche begleitet wird, darin einig, daß sie das schönste ‘Engelchen’ gewesen wäre. Aber wie hatte meine Mutter sie auch herausgeschmückt! Goldne Sterne auf dem weißen
Musselinkleidchen, blaue Bänder in den Locken und ein Blumenkränzchen auf dem Kopf. Ja, so müssen die Engel aussehen! Die Engel! Von jenem Tag an hatte sie gekränkelt, erst gehustet, und dann war das Fieber gekommen. Und es wollte und wollte nicht besser werden. Sollte Frau Feldmann nicht recht haben? Die Mutter Gottes nicht, aber sollte der liebe Gott nicht wirklich ein so schönes Engelchen – nein, so etwas darf man nicht denken. Aber wenn es nun doch stürbe? Dann würde ich auf ihr Grab gehen und ihr Blumen bringen, und den Anton wollte ich schon überreden, daß er mitginge. Es war doch ihr Bruder. Er war auch gar nicht so bös, nur so schrecklich dumm, und wenn ihn auch Frau Feldmann nicht leiden mochte und immer sagte, er hätte was gegen das Kind, er tat ihm doch nie etwas, wenn sie allein waren. Er würde schon mitgehen. Aber noch besser wär’s, wenn Thereschen wieder gesund würde. Freilich, der große Leichenzug, der Pastor und der Lehrer im weißen Ornat, die vielen weinenden Leute, das wäre auch schön, und ich selber würde auch mitgehen und weinen, und beinahe hätte ich wirklich geweint, wenn ich nicht im selben Augenblick die reichblühenden Kirschbäume am Wege bemerkt und mir vorgestellt hätte, wie fein es wäre, wenn die Kirschen erst reif wären, wenn ich auf dem Baume säße und Thereschen darunter stände und ich sie ihr in die Schürze würfe. Fröhlicher und schneller schritt ich dahin. Da kam der Wald, zwischen dessen Stämmen schon heimlich die Dämmerung hervorguckte. Von fern sah ich einen Mann auf mich zukommen. Einen Augenblick wollte mich etwas wie Furcht beschleichen, und ich wünschte, daß ich jetzt den Anton bei mir hätte. Dann aber vergegenwärtigte ich mir, daß einem, wenn man ein gutes Werk vorhabe, doch nichts geschehen
könne, und außerdem – der Mann trug einen Regenschirm, und Leute mit einem Regenschirm tun einem nichts. Die Nacht war schon hereingebrochen, als ich von meinem Botengange zurückkehrte. Glücklicherweise war mein Vater, von dem man im Dorf scherzweise sagte, er käme immer erst mit dem letzten Zug von seinen Geschäftswegen in die umliegenden Ortschaften zurück, noch nicht heimgekommen. Auch Ascher war noch nicht zu Hause. Die Mutter war schon in großer Aufregung über mein langes Ausbleiben. Aber sie konnte mir keine Vorwürfe machen. Ich wollte mit dem Doktor selber sprechen und hatte lange auf ihn warten müssen. Morgen früh wolle er kommen. „Und nun, Mutter, gib mir was zu essen, ich bin so hungrig.“ Aber kaum hatte ich in mein Butterbrot gebissen, als es an der Küchentür, die in den Garten führte, leisewissend klopfte. Die Mutter öffnete, und Frau Feldmann, einen Sack Korn auf dem tief gekrümmten Rücken, und einen Korb mit Eiern am Arme, trat, sich scheu umsehend, ein. „Wi sünd alleen. Kummet man näger, Nawersch. Moses, sieh mal nach, ob die Gartentür hinten zu ist.“ Ich ging in den Garten. Als ich das Pförtchen vorsichtig, geräuschlos zuziehen wollte, legte sich eine Hand schwer auf meinen Arm, daß ich erschrocken aufschrie. „Lot man open, Moses, se geiht villichte hier weer rut.“ „Ah, du bist es, Anton.“ „Jo, ick bün et, Moses. Ick hew allens seihn!“ „Wat heste seihn?“ „Dat Kungeln. Un ick segg allens weer, minen Vadder un dinen. De will von de Kungelerigge auk nix witten. De Wiwer draget ut de Hinnerdör in ehr Schört mehr rut, as de Mannslüd in de Vörderdör rinfahren könnt. Dat gift en Murdspektakel. Ick segg allens weer.“ „Dat deuste nit.“
„Dat dau ick doch.“ „Dann büste en schlechten Kerel.“ „Und du büst noch dusendmol schlechter.“ „OlleOisse!“ „Jiudenjunge!“ „Antun!“ „Un ick will dat Kungeln nit hewwen, dat olle Wiw kann dat bliwen loten.“ „Schafskopp! Weißt du auch, was du tun willst? Du willst – du willst deine Schwester tot machen.“ „Ick? daut?“ „Ja, du, du Düwel! Dein Vater ist zu geizig. Der läßt ja den Doktor nicht holen, und nun lassen wir ihn kommen für unser Geld, und ich hab ihn heute nachmittag bestellt, und morgen kommt er schon, und darum ist die ganze Kungelei. Und wenn du es jetzt anbringst, dann kommt der Doktor nicht, dann bestell ich ihn morgen ganz früh wieder ab, und dann muß das arme Threschen sterben. Und du allein hast sie totgemacht!“ „Is auk nit schlimm!“ „Is auk nit schlimm? O du, du, du Schinnerhannes! So’n Kind, so ein gutes Kind! Du bist gar nicht wert, daß es dich leiden mag. Gestern, als ich bei ihm war und deine Mutter auf dich geschimpft hat, da hat Threschen sie so traurig angeguckt und gesagt: ‘Modder, mußt nit daun, Antun is en guden Jung!“ „Dat hiärt et seggt?“ „Dat hiärt et seggt.“ „Do schwör op!“ „Denn will ick woll en Spier Strauh sien.“ „Is nit genaug.“ „Denn will ick woll ‘ne gleuhende Tange sien.“ „Dat hiärt et seggt?“ „Ja, wahrhaftigen Gotts! Und wenn du jetzt ein Wort anbringst, dann sprech ich im ganzen Leben nicht mehr mit dir,
und denn kannst du zusehen, wie du deine Aufgaben alleine machst. So ein gutes Mädchen und so schön! Meine Mutter hat auch gesagt: es ist das artigste und schönste Kind im ganzen Ort. Und wenn es nun sterben muß – Antun, seggst du wat weer?“ „Ick weit nit. Gunnacht, Moses!“ Und er war in der Dunkelheit verschwunden. – Doktor Richel stellte sich am folgenden Morgen schon zeitig ein. Frau Feldmann, von seiner Ankunft verständigt, ließ sich herüberrufen, obgleich der Bauer es auch jetzt nicht haben wollte. Die dummen Frauensleute, meinte er, wären immer gleich aus dem Häuschen, die Bangebüxen. Dem Kinde fehle ja gar nichts, das rappele sich schon allein wieder durch. Aber der Doktor war anderer Ansicht. Das Kind sei krank, schwer krank, habe eine heftige Lungenentzündung. Ich solle noch heute Medizin holen, ich könne mit ihm fahren, und morgen – er verstand den Blick der tief erschrockenen Mutter – wolle er noch einmal wieder vorkommen, da er ja so wie so im Orte zu tun habe. Als wir einige Stunden später, es hatten sich urplötzlich noch eine Anzahl Kranke im Dorfe gefunden, langsam den Brookmannsberg hinauffuhren, riefs plötzlich hinter uns her: „Herr Dukter, Herr Dukter!“ und aus einem Seitenwege kam Anton hergerannt. Ich duckte mich in den Hintersitz. „Herr Dukter! Herr Dukter!“ Der Arzt hielt den Wagen an. „Was willst du, Junge?“ Der große Bursche senkte den Kopf und rang nach Atem. „Nun, raus damit!“ „Herr Dukter, hier“ – und dabei krabbelte er in seiner Tasche herum – „hier“, – und dabei zog er ein sorgsam verschnürtes Beutelchen hervor, – „hier!“ und damit reichte er es ihm hin – „machen Sie doch use Thresken weer gesund!“ „Junge, was soll ich damit?“
„Nehmen Sie man, Herr Dukter!“ Der Doktor öffnete das Beutelchen. „Junge, bist du verrückt?“ „Herr Duktur, es is en halben Taler, fufzehn Groschen, nein, nein, es sind nur vierzehn, ich höbe nich mehr.“ „Junge, du bist wohl nicht – “ „Tun Sie’s man davor, Herr Duktur, machen Sie es man davor gesund.“ Der Doktor guckte den großen Kerl noch einmal scharf an; aber die Falten auf seiner Stirn glätteten sich schnell. Nein, der wollte keinen Jux mit ihm machen. Auf dem breiten Gesicht lag eine dumpfe Angst, und aus den glanzlosen hellblauen Augen flehte es schüchtern um Hilfe. „Junge, wie heißt du?“ „Antun.“ „Was für’n Antun?“ „Feldmanns Antun.“ „Ach so. Hier, Anton, hast du dein Geld wieder. Na, schnell!“ Nur zögernd griff Anton danach. „Hast du denn deine Schwester so lieb?“ „Ich weiß nich. Jo.“ „Na, dann wollen wir mal sehen, ob wir sie wieder gesund kriegen. Der liebe Gott muß zwar verteufelt viel dabei helfen. Wie kommst du übrigens an das Geld?“ „Hab ich von die Ossen bekommen, Trinkgeld.“ „Dann verwend es nur für dich, kauf dir ein paar neue Hosenträger, kannst sie gebrauchen. Adjüs!“ „Adjüs!“ Tiefbetrübt blieb er stehen. Der Dummkopf! Als ich spät am Nachmittag von der Stadt zurückkam, trat er mir kurz vor dem Dorfe so plötzlich aus einem Heckenbusch entgegen, daß ich zusammenschrak. „Ick dau di nix, Moses, ick hew hier up di luert.“
Er hielt sich die rechte Hand fest unter seinem Wams. Mir ward doch bange. „Wat hiärst du do?“ „Ick dau di nix. Ick weit wull, du büst mit’n Dukter fohrt; hiärst du dat Tüg in de Apteik kregen?“ „Jo, wenn du’t wissen wist. Dat is doch nix Schlimmes. Segg, wat hiärst du do?“ Da zog er ein kleines rotes Umschlagtuch unter dem Wams hervor: „Kiek hier, is dat nit fein? Dat, dat is vor use Thresken.“ „Vor Thresken? Und von di, Antun?“ Und nun erzählte er mir bald stotternd zage, bald fließend froh, wie er seit gestern abend immer daran habe denken müssen, daß Threschen gesagt hätte, daß er ein guter Junge wäre. Und aus meinem schönen Spruch bei der Haushebung hätten ihm immer die Worte in den Ohren geklungen: „Ach, lieber Bruder, komm!“ Da habe er sein Geld dem Doktor angeboten, aber es wäre wohl nicht genug gewesen, man sage ja auch immer, so teuer wie Doktor und Apotheker. So viel Geld! Der Doktor habe ihm geraten, sich ein Paar Hosenträger dafür zu kaufen, aber ein starker Bindfaden tat denselben Dienst, und dann gäbe es noch viel hundert andere Dinge, die man für so schweres Geld kaufen könne. Und auf einmal sei ihm das rote Umschlagtuch eingefallen, das Threschen immer so gerne haben wollte. Wenn’s nur nicht fort sei, wenn’s nur nicht mehr koste. Aber er habe Glück gehabt, obgleich ihm frühmorgens auf seinem ersten Weg die alte Brennersche begegnet und die Schafe an der linken Seite vorbeigekommen wären. „Un hier is dat Dauk, un du sust et ehr gewen.“ „Ick? Ne, Antun, dat mußt du selwer daun.“ „Ick kann’t nit.“
„Ick goh mit di, ick mut ja auk de Medizin bringen.“ „Ick draf nit in de Kammer gohn.“ „Kumm man, wi find all’n Weg.“ Durch eine Seitenpforte gelangten wir auf den Hof, und zaghaft, als ob wir etwas Böses vorhätten, schlichen wir von dort durch die Wohnstube in die Kammer, und dann leise, leise an das Bettchen der Kranken. „Jesses Maria un Jausäp!“ rief Anton halblaut. Ich hielt an mich, um nicht aufzuschreien. War das unser Threschen? Mit starren Augen und offenem Munde lag das Kind da, laut röchelnd ging sein Atem, und das Gesichtchen so klein, so weiß! Anton zog das Tuch hervor und beugte sich über sie. Mit den Fingerspitzen betastete er ihre hageren Händchen. „Hier, Thresken, ick hewwe di wat mitbrocht. Dat rode Ümschlagsdauk, dat du ümmer hewwen wullst. Kiek hier, kiek hier!“ Es flimmerte ihr vor den Augen. Sie lächelte. „Moses“, hauchte sie. Sie wollte nach dem Tuche greifen, sie versuchte sich aufzurichten. Es ging nicht. „Ick bün et, Thresken“, sagte er stotternd, „ick!“ und hielt ihr das Tuch noch näher hin. „Antun!“ flüsterte sie, und in demselben milden Ton, mit dem sie eben ‘Moses’ gesagt hatte. „Antun!“ „Thresken, use gude Thresken! Hier, nimm et man!“ Und er drückte ihr das Tuch zwischen die hageren Fingerchen und freute sich, wie sie es krampfhaft fester und fester umklammerte und sich mit einem Ruck gewaltsam aufrichtete. „It is dien“, flüsterte er, „aber keinen wiesen, keinen wiesen!“ „Antun, du – “ röchelte sie und sah ihn mit starrem Auge an, „min Antun“ – schnappte noch einmal nach Atem und sank tot
in die Kissen zurück. Wir sahen sie erstaunt an, warteten und guckten und warteten, als ob noch etwas kommen müsse. Und da trat Threschens Mutter ein. Sie drohte Anton mit der Faust. Aber ein Wort von mir klärte sie auf, und ein Blick auf das Kind sagte ihr alles. Da schrie sie auf und wäre hingestürzt, hätte der große Junge sie nicht aufgefangen. Und an seinem Halse schluchzte sie: „Min Kind, min Kind!“
Der lange Gettschlek. ∗
Wer da glaubt, das Leben auf dem Lande sei einförmig und langweilig, der hat nie auf dem Lande gelebt. Erscheinen auch die Ereignisse, die sich hier zutragen, klein und unbedeutend, so stehen doch die Menschen, die sie erleben, unmittelbar an ihrer Quelle, stehen da, wo der Stein ins Wasser geworfen wird, und wenn auch nur kleine, aber tiefe Wellenkreise zieht. Das gilt schon für den Erwachsenen und wie viel mehr für das Kind. Ihm ist ja alles Ereignis, alles, was es sich Neues eräugt. Ein Koffer, der geleert, ein Schrank, der verrückt, ein Bäumchen, das verpflanzt wird, – sind Hebel, die ganze Welten seiner Phantasie in Bewegung setzen können. Es erwartet immer noch etwas, sieht immer noch etwas hinter den Dingen liegen. Und kommt nun gar ein ganz Fremdes, Neues in das Haus seiner Seele, dann wird alles andere bis in die fernsten Winkel zurückgedrängt, und rückt nicht eher wieder auf den alten Platz, bis es mit dem Fremden vertraut geworden ist und ihm Heimatsrecht gegeben hat. „Die Tarters kommen, die Tarters!“ „Sie können aus deiner Hand lesen, wann du tot gehst.“ „Sie können in die Zukunft gucken.“ „Sie stehlen kleine Kinder.“ „Sie stehlen überhaupt alles, was sie kriegen können.“ „Sie kommen aus Afrika, wo die Sonne alle Menschen schwarz brennt.“ „Sie sind aber nur gelb.“
∗
Gottschalk
„Ja, weil sie fortgelaufen sind, als sie eben angebrannt waren.“ Und in wohliger Angst und banger Neugier umdrängten wir die kleinen Zeltwagen, die vor dem Dorfe ihren Standplatz hatten. Kam einer von den großen schwarzhaarigen Männern oder eine alte verhuzzelte Frau auf uns zu, dann stoben wir wie die Vögel auseinander, wenn ein Habicht sich naht; aber mit den zerlumpten, halbnackten Kindern verständigten, ja befreundeten wir uns bald. Ihnen gegenüber empfanden wir nur Mitleid und Neid. Immer in solch kleinem engen Raum zu wohnen und zu schlafen, das kann man ja nicht aushalten; aber immer in der Welt umherziehen zu können und niemals zur Schule gehen zu müssen – ach, muß das herrlich sein! Unsere Mütter atmeten auf, wenn es hieß, die Zigeuner ziehen fort; wir aber blickten ihnen mit Wehmut und heimlicher Sehnsucht nach. Für uns jüdische Kinder kamen fremde Gäste und mit ihnen die unbewußt begehrten Aufregungen häufiger. Die polnischen Schnorrer suchten, zumal im Sommer, auch unser abgelegenes Dörfchen auf. Ein bißchen schämten wir uns vor unsern christlichen Kameraden, daß diese schmierigen, schäbig gekleideten Bettler, diese ‘Pollacken’, auch Juden seien; aber sie bettelten ja nur bei uns, und unsere Eltern nahmen sie freundlich auf, gaben sie ihnen doch Gelegenheit, Wohltätigkeit zu üben. Sie ließen sie mit uns am Tische essen, und wenn einer noch gar am Freitag abend oder Sabbat mittag nach der Mahlzeit ein Stück lernen, einen Vortrag über einen religiösen Gegenstand halten konnte, dann wurde er mit bewunderndem, dankbarem Auge angesehen, und aus dem Bettler war ein Reicher geworden, aus dem Empfänger ein Geber. Und ein solcher Geber ward uns Kindern der lange Gottschlek, der gewöhnlich zur Herbstzeit kam und oft
wochenlang im Dorfe blieb. Eine seltsame Gestalt. Die dünnen Beine vermochten den überlangen Oberkörper kaum zu tragen, und das glatte, fahle Gesicht war so klein und weich, als ob es einem Dreijährigen gehörte. Nur die großen, traurig blickenden Augen verrieten, daß er die Welt schon manches Jahrzehnt kenne. Gewöhnlich ging er tief vornüber geneigt, als ob er etwas suche, und wenn er sich dann im Scherz oder Zorn hoch aufrichtete, schrak man unwillkürlich vor dem Riesen zusammen. Merkwürdig, ich habe später nie eine Giraffe gesehen, ohne daß ich an ihn denken mußte. Der lange Gottschlek war mein bester Freund. Er zog mit mir auf den Osterberg und half mir Kuh und Ziege hüten, er schleppte Holz herbei und zündete ein Feuer an, er schnitt die Dornen mit den halbreifen Schlehen ab, die wir an der Flamme reifen ließen, und holte von den benachbarten Feldern Kartoffeln, die wir in der Asche brieten. Und wenn er dann die Hälfte meines Butterbrotes dazu verzehrt hatte, und mein letzter Apfel aus der Tasche in seinem Mund verschwunden war, dann schürte er das Feuer wieder an, daß die rote Flamme und der blaue Rauch lustig in die Höhe wirbelten, streckte die langen Glieder behaglich aus, schlug sich den Sack, der mir im Notfalle als Regenschirm dienen sollte, um die schmalen Schultern, lehnte sich an die Rückwand unsres Feldhüttchens, und mir den Wunsch vom Gesichte lesend, begann er mit schelmischem Schmunzeln: „Nu, nu, Jung, verzähl ich dir ‘ne Geschichte!“ „Ach ja, ja, Gettschlek!“ Und nun erzählte er, indem er immer versuchte, seinen Dialekt meinem Verständnis anzupassen: „Eines Tages ist mol der Todesengel zu Schemjisborach, zum lieben Gott – “ „Weiß ich, Gettschlek, nur weiter!“
„Zum lieben Gott gekommen und hot gesogt, du mußt mer helfen, sonst verlier ich mein Gewalt ibber de Menschen, und se sind nit mehr bange vor mir.“ ‘Wie so?’ fragt der liebe Gott. ‘Da steht geschribben: En schlimm Weib ist stärker denn der Tod. Wenn das die Menschen heren, von wannen soll ich mein Gewalt nemmen?’ ‘Wenn’s aber nu wohr is?’ sogt Schemjisborach. Wülste mol de Prob machen? ’ ‘Gern’, sogt der Tod, ‘gern.’ ‘Un Schemjisborach gibt ihm en Weib, ne Klafte∗ , ne Schruze∗∗, sog ich dir, wie du se dir nur denken kannst. Abber der Tod hot Courage gehabt un gesogt: ‘Nu wellen mer doch mol sehen.’ Un wie’n Johr rum wor, hon se’n Jungen gekriggt, un länger hot er’s nit mehr ausgehalten. Den ganzen Tag hot se geschennt ∗∗∗ und spektakelt, un da is er fortgeloffen. Der Jung is in de Höcht geschossen un is stark und klug gewesen. Un da hot sein Vatter gesogt, der Tod: ‘Er soll stedieren, er soll Dokter werden. Da kann ich ihm helfen und er mir.’ Un der Jung is Dokter geworden und hot en Ruf gekriggt weit und breit. Er hot immer gewußt, ob die Kranken gesund werden oder sterben missen. Wenn der Vatter bei de Fieß gestanden is, hon se in de Erd missen, hot er abber beim Kopp gestanden, hot’s ne Refueh, ne vullständige Heilung, gegeben. Einmol is de Kenigstochter krank gewesen, kaan Dokter in der ganzen Welt hot mehr helfen kennen. Da hot der Kenig den Suhn rufen lassen. Und wie er beim Bett steiht, da sieht er ∗
eine Hündin böse Sieben ∗∗∗ geschimpft ∗∗
seinen Vatter am Fußend steihen. Se kucken sich an – die andern hon aber nix geschaut – da dreht der Dokter das Bett schnell um, abber der Tod macht, wupps, en Sprung un steiht widder bei de Fieß. Da kuckt ihn der Dokter so witend an, un er packt das Bett fest an, un im Augenblick, wo er’s umdreihen will, da schreit er laut: ‘Mutter, kumm mol rin!’ und da verschreckt sich der Tod sau, daß er ein ganz benebbicht ∗ Gesicht macht und stur steihen bleibt, obben an dem Koppend, un dann, als de Tür ufgeht, springt er zum Fenster raus. „Aus?“ „Aus.“ „Und die Königstochter?“ „Is natirlich gesund geworden.“ „Und hat der Dokter sie zur Frau bekommen?“ „Das waaß ich nit.“ „Dann hat die Geschichte ja kein Ende.“ „Das End ist ja der Anfang: En schlimm Weib ist stärker als der Tod. – Nu lach doch, Jung!“ „Was ist da zu lachen? Weißt du keine andere Geschichte mehr, Gettschlek?“ „Ich glaab, ich weiß noch eine, aber eh ich die verzählen kann, muß ich mich stärken. Haste kein aanzig Stickche Butterbrot mehr?“ Ich durchsuchte meine Taschen. „Hier, Gettschlek.“ „Wußt ich’s doch! Davor sollste auch was Schenes heren: Die Geschieht vun Ring Salomos. Schlaume Meilech, der Kenig Salomo, hat Macht gehabt ibber alle Schedim, das sind Geister, nur nit ibber den oberschten, ibber Aschmedai. Wie nun die schene Frau Kenigin von Seba bei ihm wor, un se hon sich mit Rätselfragen traktiert, un mit andern Dingen, un wie nu die Frau noch ∗
bemitleidenswert
immer mehr wissen wollt, wie das die Weibsleut so an sich hon, un wie seine Weisheit zu End wor, da schickt er seinen Feldherren Benaja fort, un sogt ihm: ‘Du kummst mer nit eher widder unter de Augen, bis du mer den Aschmedai bringst.’ Un Aschmedai hot gehabt seinen Sitz mitten in de Wüste, und da waar kaan Baum un kaan Blatt un kaan Gras un kaan nix. Nur en graußer Brunnen wor da, aus dem hot er jeden Tag einmol getrunken. Un Benaja läßt den Brunnen auslaufen, und schittet ihn vull mit Wein. Da kummt Aschmedai un is dorschtig und trinkt – un es schmeckt, un trinkt un trinkt, bis er sich ganz schicker uf de Erd legt. Und Benaja geht hin und legt ihm die güldene Kett mit dem Schemhafauresch, das is der heilige Gottesnam, um ‘n Hals, un Aschmedai is gefangen. Un wie er wach werd, will er sich losreißen und tut en gewaltigen Schrei un werd ganz stille un geiht mit. Sie kummen an’n Baum vorbei, und Aschmedai gibt ihm en Tritt, un der Baum sterzt hin.Sie kummen bei ‘ner Chasne∗ vorbei, un die Leit singen un tanzen un lachen. Un Aschmedai weint. ‘Warum weinste?’ frogt ihn Benaja. ‘Ibbermorgen werd der Choßen∗∗ tot sein’, sogt Aschmedai. Se kummen bei’n Schuhmacherhaus vorbei, un en Bauer hot en Poor Schuh in de Hand und sogt: ‘Ich nemm dich beim Wort. Sibben Johr missen sie halten.’ Un Aschmedai fangt an ze lachen. ‘Warum lachste?’ frogt Benaja. ‘Vor sibben Johr will er noch Schuh hon’, sogt Aschmedai, ‘un heit in sechs Tag tut er den letzten Schritt.’ Un endlich kummen sie vor den graußen Kenig Salomo. Un Aschmedai brennt inwennig vor Wut und schmeißt dem Kenig en Stock vor die Fieß. ∗
Hochzeit Bräutigam
∗∗
‘Was machste da?’ sogt der König. ‘Der da’, sagt Aschmedai, ‘nemmt mehr Platz in wie du, wenn du mol taut bist, un doch bist du nit zufridden, un willst nit bloß ibber de ganze Erd un alle Menschen herrschen, auch ibber de Geister willste Gewalt hon.’ ‘Schweig un tu meinen Willen’, sogt der König. Un Aschmedai muß ihm den Tempel bauen helfen un neie Paläste un neie Städte, un muß ihm Gold un Silber un Demanten holen, un Weiber un Sklaven, un muß neie Speisen un neie Getränke machen, un neie Tänze im Festlichkeiten herrichten. Un die Kenigin sieht und hert alles und sogt zu Salomo: ‘Ja, du bist der weiseste vun allen Kenigen’, und nemmt en ganzen Wagen vull Geschenke un schene Sachen mit un reist fort nach Seba. Abber Salomo wor noch nit zufridden, un Aschmedai merkt es. Da sogt er eines Tages zum Kenig: ‘Nu haste gesehen, was ich kann, wenn ich gefangen bin. Nimm mer de Kett ab, borg mer deinen Siggelring en aanzigen Agenblick, un ich mach dich greßer wie alle Kenige der Welt.’ Un Salomo tut es. Abber wie Aschmedai frei is, da wächst er hoch wie en Ries’ in de Höcht, seine Fieß steihen noch uf de Erd, aber sein Kopp geiht bis in de Wulken, un er packt den Ring, der dem Kenig alle Macht gibt, un schmeißt ihn ins Meer, un er packt den Kenig und schmeißt ihn tausend Meilen weit. Dann macht er, daß er selber so aussieht wie Kenig Salomo, un de Generale präsentieren vor ihm, un de Minister bicken sich vor ihm, und Aschmedai wor Kenig vun ganz Jisroel. Un Kenig Salomo irrt in de Welt umher, arm und blauß, abber stolz un hochmitig im Sinn. Ze allen Leiten sogt er, daß er Kenig Salomo is. Un alle Leit lachen ihn aus un sogen: ‘En Kenig vun’n Bettelsack biste.’
Un do er leben will, muß er arbeiten: Holz klaan machen und Schof hiten, abber immer sogt er: ‘Ich bin doch Kenig Salomo!’ un immer hält er den Kopp hoch, un immer lachen ihn de Leit aus. Un er denkt daran, wie de Leit vor ihm gezittert hon un weint. Da geiht grad de Kenigstochter vorbei und leichtet in ihrer Schenheit. Un wie se hert, worum er weint, gibt se ihm de Hand und sogt: ‘Ich glaub, daß du der König Salomo bist.’ Da schaut er se an, und do wird er lustig in seinem Herzen, und se hon sich beide gewaltig lieb. Se will nit leiden, daß er noch länger dienen soll; er soll nach Jeruscholajim geihen und widder Kenig werden, auch ohne Ring. Und so fliehn se aus dem Land. Abber der Weg wor weit un sehr schwer zu geihen. Wilde Tiere woren da, Lewen und Tiger, und Derner und harte Stein, un manchmal wor es ganz kalt, un se hatten kaan Stickche Brot ze essen und mußten in ner Scheune uf Strauh schlofen. Abber se hon sich doch gewaltig lieb gehabt. Eines Tages abber, wie se am Meeresufer woren, konnt das Weib nit weiter, es wor verhungert un verdurscht, un schlägt da sau hin un liggt in’n Sand un regt sich nit. Un wie Kenig Salomo das sieht, da geiht all sein Stolz un Hauchmut von’m weg, un er werd ganz klaan un fällt uf de Kniee un betet: ‘Kenig aller Kenige, tu mit mir, was de willst, aber sie laß leben.’ Un wie er aufschaut, kummt en Fisch geschwummen, ganz nah ans Land, un er kann’n mit der Hand packen. Un er macht an Feier an und will’n kochen. Und wie er’n uffschneid’t, is sein Ring darin. Da tut er en Freidenschrei, un de Kenigstochter schlägt de Augen uf, un er nemmt se in seine Arm, steckt den Ring an, un im Nu sind se in Jeruscholajim.
Abber keiner kennt den Kenig, un keiner will was von’m wissen. Er will in’n Palast gehen, abber de Wach’ läßt ihn nit rin. Da kummt gerad sein Mundschenk raus, der’m hundertmol den Wein ingeschenkt hot. ‘Kennste mich nit?’ frogt er. ‘Ich bin dein Kenig Salomo.’ Abber der Mundschenk sogt: ‘Du bist nit bei Sinnen’ und gibt ihm en Tritt. Un wie er de Trepp runterfliegt, steiht da unten en armer Schnorrer, un der Kenig hot ihm einmol en Taler gegeben. Un der sogt zu ihm: ‘Ich kenn dich widder, du bist der Kenig Salomo, du hast mer einmol en Taler gegeben.’ Un erzählt ihm, wie hart und grausam der neie Kenig is, und daß se ihn alle vor den alten halten. ‘sfur ich nit’, sogt er, ‘er hat mer noch kaanen Heller gegeben, und das will en Kenig sein!’ ‘Und wie sehen seine Fiß aus?’ frogt der Kenig. ‘Die hat noch kaaner gesehen’, sagt der Schnorrer, ‘er hot immer en ganz langen Mantel an.’ Weil er Hahnenfiß hot’, sogt der Kenig, ‘er hot mein Gesicht angenummen; abber er is Aschmedai, ich waaß es. Ruf Benaja, meinen alten Feldherrn, und das Synhedrium, sie sullen in’n Palascht kummen.’ Un der Schnurrer tut es. Un wie se alle beisammen sind un sich vor Aschmedai bicken, da tritt der Schnorrer mit Salomo ein. Un der Kenig streckt seinen rechten Zeigefinger in de Höcht un läßt seinen guldnen Siggelring hell leichten. Wie Aschmedai den sieht, tut er en schrecklichen Schrei un is verschwunden. Un Salomo wird widder Kenig, und der gute Schnorrer wird sein Schatzmeister.“ – „Und die Königstochter?“
„Die hot er gefreit. Un se hon Hochzeit gemacht, un Kinder gekriggt, un wenn se nit gestorben sind, so leben se noch heite. – Nu, wor das sehen, Jung?“ „Ja, das war schön, Gettschlek.“ Und ich seh ihn noch vor mir, wie er sich an seinem Erfolg weidet, den Kopf auf die Brust senkt und still in sich hineinlächelt.
Theater.
Was wollten aber die Zigeuner, die Schnorrer, die tanzenden Bären, die Akrobaten gegen ein Ereignis bedeuten, das leider nur allzu selten vorkam. Ich hab es nur einmal erlebt. „Wir kriegen Theater. In Scheurers Saal wird ‘Kommedije’ gespielt!“ so flüsterte, frohlockte, jauchzte es eines Wintertages in der Schulpause von Mund zu Mund. Die Wissenden, die älteren Kinder, erzählten Wunderdinge von dem, was sie schon einmal in früheren Tagen gesehen. „In den Himmel kann man sehen, und in die Hölle, hu!“ „Aus dem Schnee wachsen blühende Bäume, und die Vögel können sprechen.“ „Menschen werden geköpft und dann wieder lebendig. Ah!“ Mit offenem Munde und starren Augen lauschten wir und hatten nur einen Gedanken: O Gott, wie muß das schön sein! Wenn du das doch auch zu sehen kriegtest! Und nachmittags zog ein phantastisch gekleideter Mann hoch zu Pferde durch das Dorf, die ganze Dorfjugend ihm nach. Alle hundert Schritte stieß er dreimal in eine Trompete, und mit einer Stimme, die noch viel lauter dröhnte, rief er: „Heute abend sieben Uhr bei dem Herrn Gastwirt Scheurer: Genoveva, die Pfalzgräfin vom Rhein, oder die verleumdete, verurteilte, verstoßene und glorreich gerettete und wieder ans Tageslicht gekommene Unschuld. Großes romantisches Ritterschauspiel in fünf Akten mit Verwandlungen, Engeln, Teufeln und einer Hirschkuh. Erster Platz für die feinen Herrschaften einen Silbergroschen, zweiter für jedermann einen halben Groschen.“ –
Ach, war das ein Bangen und Betteln und Zerren, bis die Mutter mir endlich die Erlaubnis und den ersehnten Groschen gab. Schon um sechs Uhr stand ich auf Scheurers Diele und war doch noch lange keiner der ersten. Aber es glückte mir doch in einer der vordersten Reihen einen Platz zu bekommen. Der Saal füllte sich bald. Alt und jung saßen durcheinander. Hinter den letzten Bänken standen die Burschen, Knechte und Mägde, die mit ihrem fortwährenden Gekicher und Gekreisch meinen tiefsten Mißmut erregten. Mit einer wahren Andacht saß ich da, mit einer heiligen Erwartung auf den roten Vorhang starrend, hinter dem es sich geheimnisvoll hin- und herbewegte. Gläubig bis in die tiefste Seele hinein, war ich auf jede Offenbarung gefaßt. Und hätte sich mein Schutzengel mir leibhaftig gezeigt, um was ich so oft heimlich gebeten hatte, oder wäre Gott selber da auf der kleinen Bühne erschienen, ich hätte es für ganz natürlich gehalten. Als aber der Vorhang nun zur Seite flog, war ich enttäuscht. Was sich da bewegte, was da hantierte, das waren ja gar keine Menschen; Zwerge hätten es sein können, Kobolde und Wichtelmännchen, aber Menschen? Genoveva, der Pfalzgraf und Golo? Und doch merkwürdig, wie sie sprechen konnten, wie sie scherzten und lachten, wie sie drohten und weinten, ganz mit einer Menschenstimme. Die arme Genoveva, wenn sie nur standhaft bleibt, der Golo, der verfluchte Bösewicht, diese Kanaille! Der Pfalzgraf ist aber auch zu dumm, das alles zu glauben, wenn doch nur – da mitten im lebhaftesten Spiel, die kleinen Marionetten waren mir längst zu Menschen geworden, mitten in einer großen Aktion – eine Unterbrechung, eine Pause bei offener Szene. Der Direktor tritt dicht vor die Rampe, mustert mit finsterm Blick das Publikum und spricht mit langsamer, gewichtiger Stimme:
„Unter den hochverehrten Anwesenden war jemand niederträchtig genug, einen elenden Heller auf der Fensterbank weiß zu putzen und ihn für einen Silbergroschen auszugeben. Ich kenne den Verräter, und wenn er sich nicht sofort meldet, werde ich ihn zum Saal hinausschmeißen!“ Erwartungsvolle Stille. Einer guckte den andern an; aber niemand meldete sich. Dreimal wiederholte der Direktor seine Aufforderung, dreimal umsonst. Noch einmal blickte er finstern Gesichts durch den Saal, dann sagte er mit ruhiger Stimme: „Ich will die Vorstellung nicht stören; aber so sicher wie der Teufel den Golo holt, wird das Unglückswurm seine Strafe erhalten.“ Mit einer tiefen Verbeugung zog er sich zurück, und das Spiel nahm seinen Fortgang. Aber die Stimmung war vernichtet, wenigstens für mich. Mein Interesse war zwischen Bühne und Zuschauerraum geteilt; jeden Augenblick hoffte ich, daß Golo alles gestehen werde, und jeden Augenblick erwartete ich, daß einer aus unserer Mitte hervorstürze und schluchzend bekenne: ‘Verzeihen Sie, Herr Direktor, ich bin es gewesen.’ Doch das Stück ging zu Ende, Genoveva bekam ihren Lohn, Golo seine Strafe, aber der Missetäter schwieg. – Ich weiß nicht, war es dieses Vorgangs wegen, war es, weil alles Schöne zu Ende geht, so fröhlich, wie ich gekommen war, so traurig ging ich nach Hause. Ich hätte weinen können. Die Genoveva kam mir nicht mehr aus dem Sinn. Leise wiederholte ich mir die Szenen, die den tiefsten Eindruck auf mich gemacht hatten, und die treu im Gedächtnis haften geblieben waren: Ihre Verteidigung, ihren Abschied, ihr Gottvertrauen, ihre Klage um Schmerzenreich. Wie gern hätte ich das alles noch einmal gehört oder noch lieber gelesen! Gibt
es denn gar keine Bücher, in denen solche Stücke stehen? Das einzige Gedichtbuch, das wir besaßen und das ganz einsam zwischen Gebet- und Schulbüchern lag, waren Schillers Gedichte. Darin stand es nicht, die konnte ich ja fast alle auswendig. Aber oben auf dem Boden in der großen Rumpelkiste lagen noch eine ganze Anzahl alter, verstaubter Bücher, eine Hinterlassenschaft des verstorbenen Lehrers. Wer weiß, ob nicht in seinen Büchern etwas von Genoveva steht. An einem schulfreien Mittwoch nachmittag gleich nach Tisch kletterte ich heimlich auf den Boden und fing an zu suchen. Kistchen und Kästchen, alte Briefe, Bindfaden, zerbrochene Bilderrahmen, tausenderlei Dinge, die mich sonst interessiert hätten, räumte ich jetzt achtlos beiseite, bis ich endlich auf die Bücher stieß. Shakespeares theatralische Werke, übersetzt von Eschenburg, stand immer auf der ersten Seite. Wer war das, Sha- kes- pe- are? Komischer Name! Ich schlug eins der alten wurmzerfressenen Bücher auf: König Karl, Dauphin, Chorus, König Heinrich – das stand immer dick gedruckt vorne an den Reihen und wieder in einem andern: Hamlet, Horatio, der König, Laertes. Ich versuchte, ein paar Zeilen zu lesen; es war kein Sinn hineinzubringen. Achtlos blätterte ich weiter; von Genoveva konnte ich nichts finden. Aber was war das? „Erste Hexe, zweite Hexe, dritte Hexe?“ Das erregte mich ungemein. Hexen! Ha! Ich las die ersten Zeilen; der Zusammenhang fehlte mir. Erste Hexe, Punkt, und der Satz war aus. Zweite Hexe, wieder Punkt, und wieder war der Satz aus, und so auch mit der dritten. Was soll das nun: Hexe, Hexe, Hexe! Die müssen doch auch etwas tun, oder es muß etwas von ihnen erzählt werden. Da blitzte es mir auf einmal auf. Da fehlt ja ein Wort hinter Hexe, man braucht da bloß zu ergänzen, die erste Hexe fragt, und dann, die zweite Hexe antwortet, die dritte sagt oder erwidert,
oder wünscht, oder bittet, oder so irgend ein Wort, und dann ist alles klar und verständlich. Da hatte ich den Schlüssel zu dem Zauberschloß gefunden. Und unaufhaltsam eilte ich weiter. Duncan fragte, Malcolm erwiderte, der Soldat berichtete. Und immer weiter. Da sind die Hexen wieder – ah! Macbeth spricht, Banquo fragt verwundert, Macbeth redet sie an. Sie antworten. Und immer weiter in dem Zauberschloß. Da sind Treppen, über die ich stolpere, da sind Ecken und Winkel, die immer ganz dunkel bleiben, da stiert’s von den Wänden mich seltsam fremd an; aber ich finde mich doch zurecht. Mit klopfendem Herzen schreite ich weiter. Angst und Erwartung, Freude und Hoffnung gehen mit mir. Wohin wird es führen? Der Kopf brennt mir, die Augen tun mir weh, und die Füße zittern vor Kälte; aber ich muß weiter. Ich muß wissen, ob der Held Macbeth sich verführen läßt; ich muß wissen, wie es dem guten König Duncan ergeht und dem edlen Banquo. Ach, sie müssen beide sterben! Da kommen sie ja schon: erster Mörder, zweiter Mörder, dritter Mörder, hu, wie gräßlich! Und die Hexen kommen wieder und triumphieren! Weiter, weiter! Es läßt mich nicht los. Was geschieht jetzt mit ihm? Und mit seiner Frau, der Lady? Und ein ganzer Wald tritt auf. Und Macbeth muß kämpfen. Ich erschrecke über mich selber. Mitten im Kampf wünsche ich im stillen, daß Macbeth, der Mörder, siegen möchte, und wie er erschlagen wird, könnte ich weinen. Mit einem tiefen Seufzer schlage ich das Buch zu und springe erschrocken auf. Wo bin ich denn? Es ist ja fast ganz dunkel. Wenn jetzt die Hexen kämen! Fort, fort! Und als ob ich etwas Unrechtes getan, stürz ich die Treppe hinunter, hinaus aus dem Zauberschloß. Aber es zog mich immer wieder hin. Monatelang genoß ich da oben auf dem Boden alle Freuden des Geheimnisvollen, Aufregenden, Spannenden. Und kein Entdecker kann stolzer auf sein Neuland, kein Erfinder auf sein Neuwerk sein, als ich
darauf, daß ich den Zugang zum Verständnis dieser wunderbaren Geschichten gefunden hatte. Wenn jetzt Thereschen noch lebte, wenn ich ihr von meinem Funde berichten, wenn ich ihr diese herrlichen Geschichten erzählen könnte! Im Überdrange meiner Finderseligkeit ließ ich mich eines Tages verleiten, dem langen Zender mein Geheimnis zu verraten. Ich wußte, daß er gern las, und er hatte mir die Geschichte von ‘Johannes von der Wewelsburg’ oder ‘Das Femgericht um Mitternacht’ geliehen. So stieg ich mit ihm auf den Boden, ich erklärte ihm, wie man aus diesen Namen und Sätzen eine Geschichte machen könne, ich las ihm ein Stück vor und ließ ihn selber etwas lesen; aber er warf das Buch bald verächtlich hin und erklärte mir mit Kennermiene: „Das ist lauter verrücktes, langweiliges Zeug! Da solltest du nur lieber ‘Johannes von der Wewelsburg’ oder die ‘Feme um Mitternacht’ lesen. Das ist doch was!“
Mein Schulweg.
Seitdem ich den Shakespeare gelesen, hatte ich keine rechte Freude mehr an der ‘deutschen’ Schule. Immer Katechismus und immer biblische Geschichte. Was nützte es mir, daß ich mit meinen Rechenreihen gewöhnlich am weitesten kam, oft bis hoch in die Tausende; das Endresultat war immer dasselbe: Langeweile und Sehnsucht. Und selbst, was sonst noch zwischen den Religionsstunden lag, Lesen, Schreiben und preußische Geschichte, konnte mich nicht befriedigen; ich hatte immer noch Zeit genug, von meinem Shakespeare zu träumen, und mir ahnte, daß es noch eine Welt mit viel schöneren und interessanteren Dingen geben müsse. Immer wieder lag ich meinen Eltern in den Ohren: „Wenn ich Lehrer werden soll, müßt ihr mich nach einer andern Schule schicken. Die beiden Religionsstunden und die eine deutsche Stunde bei Mendels Fräulein sind ja auch wunderschön; aber es ist doch nicht genug, schickt mich doch wo anders hin!“ Wohin? An das Gymnasium in der nahen Kreisstadt dachte man nicht, nur die jüdische Schule in dem noch näheren Flecken konnte in Betracht kommen. Aber auch bis dahin war noch weit über eine Stunde Weges, und es war nicht daran zu denken, daß die Eltern mehr als das Schulgeld für mich bezahlen konnten. „Aber das ist ja auch nicht nötig, ich bin doch ein großer Junge, so’n Weg, den kann ich dreimal laufen, und Butterbrote nehm ich für den ganzen Tag mit.“ Und ich ließ nicht nach und bat und flehte, steckte mich hinter die Schürze der Mutter, bis man mir endlich willfahrte. Sommers um halb sechs, Winters um halb sieben zog ich von Haus, das Ränzel auf dem Rücken, das Buch in der Hand, und
an dunkeln Wintermorgen statt des Buches eine Laterne. Die neue Schule und der neue Lehrer gefielen mir. Einmal waren sie neu, und dann merkte ich bald, daß es was zu lernen gab. Der Lehrer, eine hohe, rüstige Gestalt, mit hellen freundlichen Augen, gewann mich mit dem ersten Blick. Er war in jüngeren Jahren Lohgerber gewesen, war weit in der Welt umhergekommen und hatte für alles Praktische, Verständige einen festen, sicheren Griff. Seine Frau hatte ihn zum Studium angetrieben, und mit ihrer Hilfe hatte er sein Ziel erreicht. Sie kam nie in die Schule; aber sie stand mit ihrem feinen, klugen Wesen hinter allem, was er tat und lehrte. „Dorfjunge schelten dich die andern Kinder?“ fragte sie mich eines Tages. Und ein paar Tage darauf, als ich einmal eine gute Antwort gegeben hatte, meinte der Lehrer, indem er seinen Knebelbart strich: „Na, Dorf junge, du willst den Stadtkindern mal zeigen, was eine Harke ist. Nur tapfer weiter, und du steckst sie alle in den Sack.“ Von dem Tag an hörte ich das Scheltwort nicht mehr, und mein Eifer war verdoppelt. Der Lehrer ließ mir völlige Lernfreiheit. Ich durfte Weltgeschichte und Geographie, zwei ganz neue Fächer für mich, nach Herzenslust lernen und die Gedichte nach freier Wahl mir selber aussuchen. Natürlich waren mir die längsten die liebsten, natürlich lernte ich bald die Glocke, und ebenso natürlich verstand ich sie nur zum Teil. Noch heute höre ich, wie ich mit Andacht deklamierte: Heil’ge Ordnung, segensreiche, Himmelstochter, die das Gleiche – und so weiter und dann am Schluß der Strophe das Wort wob als Interjektion auffaßte und mit feierlichem Schwunge schloß: Und das teuerste der Bande – Wobb!! den Trieb zum Vaterlande! Aber wenn ich auch nicht alles verstand, ich fühlte doch, daß das Gedicht schön war, und vor allem, es war so schön lang,
fast ein Viertel meines Schulweges ging damit hin, wenn ich es laut im Gehen aufsagte. „Do rabbeinert de Jung all weer“, hörte ich oft die Feldarbeiter hinter mir herrufen; aber das kümmerte mich nicht, ich rabbienerte die Glocke, des Sängers Fluch, den wilden Jäger und wie sie alle hießen, unverdrossen weiter. Das war mein liebster Zeitvertreib, mir mit dem Hersagen der Gedichte den langen Weg zu kürzen. Und waren die Gedichte zu Ende, dann erging ich mich gern in allerhand Phantasien. Ein großer, gelehrter Mann wollt ich werden und meinen Eltern und meinem guten Lehrer recht dankbar sein. Und jede Mitschülerin, die irgend einmal besonders freundlich gegen mich war, wollte ich dann zur Belohnung heiraten. Nicht alle zusammen, bewahre, nur immer die, die ich gerade gern hatte. Aber daß es wirklich eine Belohnung sei, wenn sie mich als Mann bekäme, daran zweifelte ich nie. Jeder echte Junge hält was von sich. Aber ein Zweifel andrer Art kam mir. Ich hatte irgendwo das Lied gehört: ‘O selig, o selig, ein Kind noch zu sein.’ Und nun fragte ich mich selber, ob es denn so selig sei, ein Kind zu sein. Unwillkürlich stellte ich mir vor, ich sei schon alt, ganz alt und dächte an meine Kindheit zurück, so wie sie jetzt war. Da wollte mir vieles doch nicht gefallen, nicht der weite sonnige Schulweg, nicht das karge Mittagessen, das nur aus ein paar mitgenommenen Butterbroten bestand, nicht das einsame Kuhhüten auf dem Osterberge und manches andre nicht. Bist du denn selig? fragte ich mich. Und immer sagte ich: nein! – Wie lange mir oft der Weg trotz aller Gedichte und Phantasien wurde, wie lange! Wenn ich zuweilen noch ein Halbstündchen vom Dorf entfernt war und von der Waldhöhe her einen Wagen aus der Stadt kommen sah, warf ich mich ins Gras und wartete zuversichtlich eine Stunde lang, bis er heranzögerte, um gar oft
zu hören, daß er nur nach der Ziegelei fahre und ich die paar Minuten bis dahin aufsitzen könne. Zuweilen auch schlief ich ein, und wenn ich die Augen wieder auftat, war vom Wagen nichts mehr zu sehen. Es war ein langer Weg, und die Sonne brannte oft sehr heiß, und der kalte Nordwind verbiß sich oft in die Backen und Ohren, und manches Gewitter erschreckte das einsame Kinderherz. Aber doch, wie war er schön, mein Schulweg! Alle Felder an der Straße kannte ich, und ich wußte, wie sie aufeinander folgten. Jetzt kommt der Roggen, dann der Hafer, dann die Esparsette, dann die Kartoffeln, das große Weizenfeld und so immer weiter und weiter. Und ich lebte mit ihnen, sah, wie sie gesät wurden, wartete mit Sehnsucht, bis sie aus der Erde hervorkamen, fröstelte mit ihnen, wenn der Frühling zu kalt wurde, und freute mich, wenn sie sich mit Blüten und Blumen schmückten und die Lerchen über ihnen sangen. Und mit jedem Busch und jedem Baum am Rain war ich gut Freund. Irgend einmal hatte ich mich zu ihnen gesetzt, irgend einmal hatte mir ein jeder von ihnen etwas Gutes getan. Aber mein bester Freund war der Wald, der ungefähr in der Mitte des Weges einen Arm bis an die Straße streckte. Er winkte mir zu, sobald ich aus dem Elternhause trat, er lockte mich, sobald ich das Städtchen hinter mir hatte. ‘Eil nur, eil nur, Jung, ich hab wieder was für dich!’ Und immer hatte er was Neues, immer was Schönes: eine Anemone, eine Primel, ein Finkennest, einen Kuckucksruf, Erdbeeren, Brombeeren und Bucheckern und Haselnüsse, und was es sonst noch für schöne Dinge auf der Welt und im Wald gibt. Und noch eins hatte er für mich, eine heilige, geweihte Stelle. Mitten auf dem Pfad, der durch den Wald führte, stand auf einer Grasinsel eine hohe, mächtige Buche. Ich weiß nicht, wie es gekommen: ich konnte nicht vorübergehen, ohne stehen zu bleiben und mich an den Stamm des Riesenbaumes zu lehnen,
und unwillkürlich fing ich eines Tages an, leise zu beten. Innere Worte, Dankesworte, daß ich so gute Eltern hätte und einen so guten Bruder und einen so guten Lehrer und dann, indem ich sie mir leibhaftig vorstellte, zählte ich still alle Menschen auf, die ich gern hatte, dachte auch der Toten und nahm mir vor, recht gut zu werden. Dann bat ich um Schutz und Segen für alle Lieben und zuletzt auch für mich. Ich wollte ja Lehrer werden; aber dazu fehlte mir, wie ich schon oft gehört hatte, die Gabe des Singens, und so schloß ich denn mein Gebet mit der heißen Bitte: ‘Und gib mir Kraft und Anlagen zu dem Beruf, für den du mich bestimmt hast.’ Tag um Tag wiederholte ich das Gebet, sobald ich zu dem Baume kam; die Worte standen zuletzt formelhaft fest und wurden mechanisch hergesagt, wie bei anderen Gebeten auch. Nur der Schlußsatz blieb um so lebendiger, je mehr ich fühlte, was mir fehlte. Da kam eines Tages der Zweifel über mich: Für den Beruf, für welchen du mich bestimmt hast? Und wenn mich nun Gott für einen andern Beruf bestimmt hat? Und zagend änderte ich um: ‘Gib mir Kraft und Anlagen für den Beruf, den ich mir erwählt habe.’ Ich habe niemals singen gelernt. Aber ein Hauch der Andacht umweht mich noch jetzt, wenn ich an meinen Baum im Walde denke. Ach, er war doch schön, mein Schulweg!
Krieg.
Es ist Hochsommer. Um elf Uhr ist die Schule geschlossen worden. Wieder wandre ich die Feldmark entlang, dem Heimatdörfchen zu. Heiß brennt die Sonne, und still und stur stehen die Saaten. Erwartungsvoll still, als ob sie sagen wollten: Kommen sie morgen, die Schnitter? Ich eile an ihnen vorüber. Was gehen mich jetzt Korn und Blumen an? Und beklemmend legt sich mir der Staub auf Stirn und Lippen; aber umsonst lockt der Schatten, ich muß weiter, ich trage eine schwere Botschaft. Der Himmel klar weißblau, nur fern hinter der Ziegelei liegt eine dunkle Wolke. Kein Vogellaut in der Luft, unheimliche Stille ringsum. Da ruft es plötzlich laut hinter mir her: „Junge, giwt wat Nigges?“ Erschrocken dreh ich mich um – und mitten aus dem hohen Korn kommt der alte Feldhüter auf mich zu. Ich wäre sonst scheu davongelaufen; ein Dorf junge hat dem Feldhüter gegenüber immer etwas auf dem Gewissen. Aber heute bleibe ich ruhig stehen. „Giwt wat Nigges?“ „Et giwt Krieg, Petter Hinrik“, sage ich gewichtig und recke mich höher, und er faßt meine Hand, wackelt mit dem greisen Kopf und sagt weiter nichts als: „Anno drittein hew ick sülwer mitmakt, Jung, Jung, Krieg!“ Ich eile weiter. Jetzt ist das Geheimnis offenbar geworden. Alle haben das Wort gehört, über Weg und Rain, über Busch und Felder fährt ein Schauer. Staub fliegt auf, Halme schütteln und beugen sich und wispern’s einander zu: „Krieg, Krieg!“
Hinter mir kommt’s die Straße hinaufgesprengt, ein Reiter im blinkenden Helmbusch, ein Soldat! Kaum bin ich an die Seite getreten, um ihn anzustaunen, da ist er schon vorüber. Krieg! flüstere ich erschauernd vor mich hin. Am Waldrand sind die Arbeiter aus ihrem Mittagsschlaf aufgesprungen und unterhalten sich in lebhafter Erregtheit. Und durch den Wald selbst geht eine seltsame Bewegung. Es rauscht in den Kronen, und durch die Stämme läuft ein Zittern, als ob sie sich losreißen wollten aus der Erde: Wir bleiben nicht hier, wir marschieren mit! Bei meiner Buche blieb ich stehen, drücke die Stirn fest an ihren Stamm und umfasse sie mit den Armen: „Weißt du’s schon?“ Wie sonst sage ich mein gewohntes Gebet; aber zu denen, die ich lieb habe, füge ich jetzt noch einen hinzu: Segne und beschütze Vater und Mutter und Ascher und auch unsern guten alten König. Und Ascher muß mit. Er ist erst vor einigen Monaten auf Reklamation entlassen worden, da der Vater alt und kränklich ist. Nun rüstet er sich zum Abmarsch mit den andern Burschen. „Er muß ja, es ist ja Krieg, und der liebe Gott ist überall!“ tröstet die Mutter, und die Tränen stehen ihr in den Augen. Der Vater sagt kein Wort. Er wankt in den Garten, lehnt sich an den alten Apfelbaum und guckt starr und regungslos in die blaue Ferne. Mir schlägt das Herz höher vor Freude und Stolz. „Unser Ascher muß auch mit!“ juble ich den Spielgenossen zu, und die Augen des Zwölfjährigen hängen mit Begeisterung an dem großen Bruder. – Der Abschiedsmorgen kommt. Auf zwei großen, mit Laub geschmückten Leiterwagen wollen die jungen Krieger zum nächsten Bahnhof fahren. Sie haben es unter sich ausgemacht, daß niemand sie begleiten darf, kein Vater und keine Mutter. Nur ich darf mit, sie fahren ja meinen Schulweg. Der eine Wagen hält vor unserm Hause, und im Nu sitze ich hinten auf.
Ascher folgt mir mit langsamem, ernstem Schritt. Schon will er aufsteigen, da stürzt die Mutter aus dem Hause ihm nach, umfangt ihn noch einmal mit beiden Armen und schluchzt laut: „Mein Kind! Mein Kind!“ „Still, Mutter, still!“ weist Ascher sie sanft zurück und reißt sich von ihr los. Auf der Straße, vor jeder Tür, in jedem Garten stehen die Leute und rufen und winken und scherzen und weinen. Hü! Hott! und die Pferde ziehen an. Hurra! ertönt es von allen Seiten, die jungen Burschen schwenken die Mützen: „Adjüs! adjüs!“ „Adjüs Korl!“ „Adjüs Vaar!“ „Adjüs Trina!“ Und die Kirchenglocken – es ist Frühmesse – läuten dazwischen, und plötzlich fangen einige der Fortziehenden, weiß der Himmel, woher sie es haben, an zu singen: „Es braust ein Ruf wie Donnerhall, Wie Schwertgeklirr und Wogenprall, Zum Rhein, zum Rhein, zum deutschen Rhein!“ Es war wohl das erste Mal, daß das Lied auf unserer Dorfstraße erklang. Wie mit einem Ruck ist alles still geworden, kein Laut sonst mehr und keine Bewegung. Es klingt aus dem Lied durch alles Bangen hindurch eine siegesstarke Zuversicht, es zuckt darin, wie wenn Blutströme aufspringen, und die Fahnen rauschen und flattern, und die Herzen zittern und jubeln, und alles quillt und strömt zusammen in den einen Ruf: Zum Rhein, zum Rhein! Alle stehen starr und horchen. Und andere Lieder folgen, Todesahnung geht durch sie alle. „Drei Lilien, drei Lilien, die pflanzt ich auf mein Grab, Da kam ein stolzer Reiter und brach sie ab.“
Nach den ernsten kommen die fröhlichen Soldatenlieder, die lustigen alten Lieder aus der Reservezeit. Wenn es auf unserm Wagen schweigt, fängt’s auf dem andern, der dicht hinter uns fahrt, wieder an. Bei der Ziegelei müssen wir halten. Die Teilhütter hatten sich alle am Wege aufgepflanzt. Auf dem Steinhaufen neben ihnen stehen Bierflaschen, Gläser und Butterbrote. Sie kennen die jungen Burschen nicht, sie gehen ja fast nie nach dem Dorfe. Jedes Frühjahr kommen sie, ältere, verheiratete Männer, vom Lippe-Detmoldschen hergezogen, um den Sommer über auf der Ziegelei zu arbeiten. Da sie eine andere Mundart, andere Sitten haben, und vor allem, da sie ‘Luthersche’ sind, kommen sie mit den Dörflern fast nie in Berührung. Wenn es aber geschieht, setzt es gewöhnlich Stich- und Schimpfreden ab, oft auch Püffe und Hiebe. Das ist jetzt alles vergessen. „Jungens, rrunter!“ rufen sie in ihrer ‘lorchenden’ Sprechweise, das V noch stärker gurgelnd als gewöhnlich. „Ihr müßt erst einen mit uns trinken!“ Und die Jungens steigen ab und trinken und essen mit ihnen. „Prost! Und daß ihr alle wiederkommt und die Franzosen tüchtig Haue kriegen! Prost! Prost!“ Und sie stoßen an und drücken sich die Hände, und als es heißt: „weiter!“ pressen die alten fremden Männer die jungen fremden Burschen an die Brust, und manch einem rinnt die Träne in den Bart. Denken sie der eigenen Söhne? Auch im Städtchen, auf der Straße und am Bahnhof werden wir mit fröhlichem Hoch empfangen. Von allen Seiten sind die jungen Krieger herbeigeströmt; alte Bekanntschaften werden aufgefrischt, neue geknüpft, es wird gesungen und getrunken, gelacht und geschrien, und mitten dazwischen, wenn einer ein ernstes Wort ruft, ist es auf Augenblicke still, andächtig, erwartungsvoll still, als ob plötzlich ein düsterer, großer Fremder zwischen ihnen stände.
Da läuft der Zug ein. Hurrarufe aus den heranrasselnden Wagen, Hurrarufe vom Perron und von der Straße her. Alles drängt zum Kupee. Ich mit, unwillkürlich setz ich den Fuß auf das Trittbrett, es ist ja ganz selbstverständlich, daß ich mitfahre. Da schickt mich Ascher zurück: „Jung, du bist närrisch! Mach, daß du zur Schule kommst!“ Das Wort weckt mich aus allen Träumen von Ruhm und Heldentaten. Kaum weiß ich, ob er mich noch einmal geküßt hat, kaum hör ich sein letztes Wort: „Grüß die Eltern!“ und der Zug braust dahin. Ich sehe ihm sehnsüchtig nach, dann schlendre ich langsam zur Schule. Der Lehrer empfangt mich mit staunendem Blick. „Kommst du aber heut spät, Moses, das bin ich ja gar nicht bei dir gewohnt!“ „Ich habe unsern Ascher zur Bahn gebracht. Er muß auch mit.“ Und der Lehrer nickt mir freundlich zu, und die Jungens sehen mich neidisch an.
Tagelang, wochenlang kein anderer Gedanke, keine andere Unterhaltung als Krieg. Womit auch die Rede beginnt, ob mit den allergewöhnlichsten Tagesdingen, ob mit fernliegenden Plänen und Hoffnungen, nach wenigen Schritten steht sie mitten im Krieg. Und ganz einerlei, mit wem man spricht, ob mit seinem Nachbarn oder einem Fremden, ob mit einem Bauer oder dem Pastor. Das Töchterchen des Lehrers greift am Klavier eine falsche Taste, und ich sehe noch jetzt, wie ihre Mutter, die ein feines Ohr hatte, zusammenfährt, um im nächsten Augenblick zu
sagen: „Ich wollte, ich hörte erst die Siegesmärsche auf den Drehorgeln ableiern.“ Die Knaben spielen natürlich nur Krieg, wenn es auch schwer hält, die Franzosenpartei zusammenzukriegen. Nur das Versprechen, daß sie im nächsten Spiel nicht mehr die verdammten Franzosen zu sein brauchen, sondern auch den Rhein verteidigen dürfen, kann einige veranlassen, auf eine halbe Stunde den notwendigen Verrat am Vaterlande zu begehen. Wir halten eine Zeitung, eine ungeheure Neuerung. Es wäre den Eltern früher niemals eingefallen, solch eine große verschwenderische Ausgabe zu machen, jetzt versteht es sich von selber. Jeden Abend muß ich das Blatt vorlesen, das ich heimlich für mich schon längst durchflogen habe. „Steht nichts von Ascher drin?“ fragt die Mutter zuweilen, und der Vater lächelt, aber so traurig, als ob er sagen wollte: Wenn nur nichts drin steht! Am Sonntag, an dem kein Briefträger kommt, laufe ich nach dem Postamt in meinem Schulstädtchen, um die Zeitung selber zu holen. Wer kann sich bis Montag gedulden, was kann bis dahin nicht alles geschehen sein! Nach langem Warten treffen die ersten Nachrichten vom Kriegsschauplatze ein. Eh man sich über Saarbrücken noch eigentlich gebangt, kommen die Siegesdepeschen von Weißenburg, Wörth und Spichernberge in so verwirrender Menge, daß man gar nicht mehr recht weiß, wie und wo und wann. Ich nehme mit gewichtiger Miene die Karte vor, um allen alles strategisch auseinanderzusetzen, obgleich mir selber vieles dunkel bleibt. Ascher schreibt, so oft er kann, manchmal nur ein paar Worte, einen Gruß, aber immer kampfes- und hoffnungsfroh. Nur einmal heißt es: ‘Gestern hab ich das erste Schlachtfeld
gesehen. Wir leben in einer großen, herrlichen Zeit, aber das war schrecklich, fürchterlich.’ Die Eltern denken an nichts als an ihn. Ich sehe, wie sie sich beide sorgen, und krame all mein Wissen aus, um sie zu trösten. Ich erzähle ihnen mit einem stillen unbewußten Stolz auf meine Gelehrsamkeit von den Makkabäern, von den Spartanern, von den alten Germanen, und alle Gedichte, die unser Blatt bringt, lerne ich auswendig und deklamiere sie ihnen mit feuriger Begeisterung vor. Die Mutter streichelt mir die Backen: „O Kind, wie ist das schön!“ Und dann, nach einer Pause, als Schluß eines stillen Gedankens: „Wir sind ja nicht mehr als die andern.“ Wieder Siegesdepeschen auf Siegesdepeschen. Die Kämpfe um Metz. Es ist an einem Freitag abend. Der Vater ist so spät heimgekommen, daß er die Kleider nicht mehr wechseln kann und mit dem Werktagskittel zur Synagoge gehen muß. Als wir ins Haus treten, steht die Mutter vor den Sabbatlichtern und betet. Eine heilige, zuversichtliche Freude glänzt auf ihrem Gesicht. Der Vater spricht den Segensspruch über Brot und Wein, den schönen Dank, daß Gott uns die Frucht des Erdbodens und des Weinstocks geschenkt, und ich gehe zur Mutter, um mir den Sabbatsegen zu holen, den mir der Vater schon im Gotteshause erteilt hat. Dann singt der Vater das uralte Loblied von dem edlen Weib, das köstlicher ist denn Perlen, und begrüßt mit inbrünstiger Wonne die Engel, die mit dem Sabbat ihren Einzug halten. „Friede mit euch, ihr Engel des Friedens, Ihr Diener des Höchsten, Friede mit Euch!“ Und wie die beiden Laute ineinanderklingen, Friede und Sabbatruhe, Sabbatruh und Friede, da pocht es an die Türe, und der Briefträger tritt herein.
Der gutmütige, sonst so geschwätzige Alte sagt kein anderes Wort als: „Da!“ und wirft einen Brief auf den Tisch. Einen Expreßbrief! Vater und Mutter stehen wie erstarrt da und blicken einander in namenloser, hilfloser Angst an. Keiner wagt, den Brief zu berühren. Endlich sagt der Vater tonlos: „Mak ihn up, Tünjes!“ Der Briefträger tut es und eilt hinaus. Er müsse noch weiter. „Moses, lies!“ stammelt der Vater. Mit Zittern und Weinen bringe ich den ersten Satz heraus: „Ich habe die unendlich traurige Pflicht, Ihnen den Heldentod Ihres Sohnes, der bei Mars-la-tour gefallen, anzuzeigen.“ Weiter kann ich nicht. Der Vater sinkt, ohne einen Laut von sich zu geben, auf den Stuhl nieder, stützt den Kopf in beide Hände und starrt wie abwesend ins Leere. Die Mutter, die sonst bei der kleinsten Erregung heftig weinen muß, preßt die Lippen fest zusammen und vergießt keine Träne. Sie tritt zu dem Vater heran, legt ihm die Hand auf den Kopf und bittet und fleht: „So sag doch was, Mann, so sag doch was!“ Kein Laut. Und dann wieder nach einer Weile, als ob er ihr geantwortet hätte: „Sei stille, Mann, sei stille, Schemjisborach∗ hat’s so gewollt. Sei doch stille, Mann!“ Und noch immer sagt der Vater keinen Laut. Da taste ich mich an ihn heran und fasse seine Hand: „Vater, ich will kein Lehrer werden, ich will Handelsmann werden, daß ich dir bald helfen kann.“ Und der Vater, den ich noch nie im Leben hab weinen sehen, schluchzt so gottserbärmlich auf, daß ich erschrocken meine, ich hätte was Unrechtes gesagt. Und dann findet er das erste Wort: „Mein Jung, mein Jung!“
∗
Der liebe Gott
Lernjahre.
Ich hatte gut reden, daß ich Handelsmann werden und dem Vater helfen wolle, er sah mit einem traurigen Blick den schmächtigen, bleichen Jungen an und lächelte wehmütig. Ich hatte gut trösten, wenn ich ihm von Vaterlandsliebe, Aufopferung und ewigem Ruhm sprach; er hörte geduldig zu, nickte mit dem Kopfe und holte sich bald selber den besten Trost und starb. Auf dem ‘guten Ort’, wie die alten Juden ihren Friedhof nennen, am Wasserberg haben wir ihn begraben. Keine Mauer und kein Zaun schützte den Platz. Zwischen den kleinen grünen Hügeln weideten die Schafe, und spielten die Kinder. Kein Stein stand da, der an die erinnerte, die darunter schlummern; aber die Söhne und Töchter, die Brüder und Schwestern, die Männer und Frauen kannten genau die Gruft, die ihnen gehörte, und an jedem Jahrzeittag standen sie da und blickten auf das stille Grab und schauten hinunter auf die Mühle und den Bach, auf das weite Tal und das kleine Dorf. Und gingen noch einmal sinnend und seufzend allen den Wegen nach, die von dort drunten nach hier oben führen. Und maßen den Weg, der wohl ihnen noch bestimmt sei, und dachten, wie schwer sie zu tragen hätten, und sagten zufrieden: „Ein guter Ort.“ Die Mutter war nach dem Tode des Vaters wie umgewandelt. Die zarte, schwächliche Frau, die immer gegen die Aufregungen ihres Gemüts zu kämpfen hatte, die selten aus dem Hause ging, die am liebsten in ihren freien Stunden im Gebetbuch und in der ‘Zennerenne’, einem jüdischdeutschen Geschichtenbuch, las, wies alle Hilfe der Verwandten und
Freunde zurück und sagte beherzt: „Ich bring mein Kind schon allein durch.“ Es war, als ob die alte Tatkraft des Verstorbenen, als ob ein Teil der siegesstarken Energie, die in dieser Zeit das ganze Volk durchflutete, auf sie übergegangen sei. Kaum waren die Trauertage vorbei, da ging sie ‘auf den Handel’. Den Henkelkorb am Arm zog sie wie der Vater von Dorf zu Dorf, verkaufte Garn und Spitzen und Bänder, kaufte Felle und Korn, Obst und Samen und was Weg und Tag mit sich brachten; nur Großvieh kaufte sie nicht. „Eine Frau darf nit auf den Markt gehen“, meinte sie, „und was man nit selber ausführen kann, soll man nit anfangen.“ Die Bauern sahen sie gern, und bei den Dingen, deren Wert sie noch nicht genau kannte, stellten sie selber die Preise und keine zu hohen. Sie waren mit dem alten Nathan immer gut ausgekommen und hatten Respekt vor ‘sien Fruggensminsch’. Halb mit Bedauern, halb mit Bewunderung sah ich, wie die Mutter sich mühte und quälte. Von meiner Hilfe wollte sie nichts wissen, nicht jetzt und auch später nicht. „Mach keine Flausen, Jung“, pflegte sie zu sagen, wenn ich mit dem alten Plan hervorkam, „zum Handelsmann bist du viel zu dumm, du wirst Lehrer, wie der selige Vater gewollt hat.“ Frühmorgens begleitete sie mich oft eine Strecke auf dem Schulweg. Dann war das Hauswesen schon geordnet und Stube und Küche blank geputzt. Ich mußte ihr von meinem Lernen berichten, ein Gedicht hersagen, aus der Weltgeschichte erzählen, fremde Länder und Städte beschreiben, und es gab keine aufmerksamere Zuhörerin und Schülerin als sie. Wochenlang später knüpfte sie an eine alte Geschichte, an einen Namen, an eine Behauptung an und zeigte mit neuen Fragen, daß sie inzwischen in sich verarbeitet, was ich nur obenhin gelernt hatte. Gewöhnlich trat mitten in der eifrigsten Unterhaltung der Scheideweg dazwischen. Wir drückten uns
die Hand, und, schon den Fuß nach verschiedenen Richtungen gewandt, klang es hinüber und herüber: „Mach gute Geschäfte, Mutter!“ „Lern gut, mein Jung!“ Und endlich war ich vorbereitet. Zum ersten Mal in meinem Leben fuhr ich mit der Eisenbahn. Die Vorfreude auf dieses Ereignis war größer als die Sorge um das Examen. Ich wußte, daß ich es bestehen müßte, und ich bestand es auch. Aber merkwürdig, als ich mit der frohen Nachricht triumphierend heimkehrte, war die Mutter gar nicht so erfreut darüber, wie ich erwartet hatte. Ach, sie dachte wohl mehr an die Folge als an den Erfolg. Ein Druck lag von nun an auf ihr. Und eines Abends rief sie mich vom Spiel auf der Straße in die Stube herein, stellte sich vor mich hin, faßte mich mit beiden Händen an und fragte: „Jung, du willst Lehrer werden?“ „Aber, Mutter, das weißt du doch!“ sagte ich ganz erstaunt. „Na, Kind, dann probier mal deine Kunst an mir. Man sagt wohl, ein alter Bär lernt kein Tanzen mehr, aber probieren geht über studieren. Wollen’s mal versuchen.“ Und sie ließ das Rollo herunter, setzte sich an den Tisch, schlug ein neues Schreibheft auf und tunkte die Feder ein. „Nu man zu, Kind, fang an!“ „Was denn, Mutter?“ Und dann kam’s heraus, zagend, halb wie ein Geheimnis, halb wie ein Liebeswort: „Du sollst mir das Schreiben beibringen.“ Ich sah sie betroffen an. „Ja, es ist mir Ernst. Das bißchen, was ich in der Dorfschul gelernt hab, ist so gut wie vergessen, und wenn mein Kind in der Fremde ist, muß ich ihm doch ‘en ordentlichen Brief schreiben können. Nu, Jung, mach so kein dumm Gesicht und fang an.“
Und ich fing an. Und einen ängstlicheren Lehrer und eine willigere Schülerin hat’s wohl nie gegeben.
Im Seminar.
Noch halb ein Kind wurde ich ins Seminar aufgenommen. Es fehlte an Lehrern. Der Andrang zu dem wenig einträglichen Beruf ist nie groß gewesen. Unser Seminar war ein Internat mit allen seinen Vorzügen und Fehlern. Der stete Verkehr mit Gleichstrebenden gibt ein stärkendes Bewußtsein von der eigenen Bedeutung und hält den Blick immer auf das eine Ziel gerichtet; aber freilich schließt er auch zugleich das Auge ab gegen die ganze übrige Welt, die man entweder gar nicht kennenlernt, oder doch nur einseitig von seinem engbegrenzten Wege aus beurteilt. Den noch größeren Gefahren, die ein solches enges Zusammenleben herbeiführen kann, entgingen wir um so leichter, als wir fast alle noch sehr jung waren. Was wir an Kenntnissen und Wissen mit ins Seminar nahmen, war gering genug; aber wir brachten alle einen staunenswerten, ungeheuren Appetit mit. Leider wurde er weder körperlich noch geistig recht befriedigt. Die eine Hälfte unserer Phantasie und Verstandeskraft ging darauf, nachzusinnen, wie wir unsere schmalen Rationen auf irgendeine Weise vergrößern könnten, und wer sich zum Abendbrot einen Hering errungen hatte, wurde als Wundermann und Schlemmer zugleich angestaunt. Die andere Hälfte aber wurde gänzlich dazu verbraucht, unsere Lehrer zu ärgern. Wir hatten ihrer zwei Sorten: Solche, die Geschick und redlichen Willen, aber kein Wissen besaßen, höchst lautere und ehrenwerte Charaktere, und wiederum solche, die wohl ein Tüchtiges gelernt hatten, vom Lehren aber nicht mehr verstanden, als daß sie uns fortwährend die Überzeugung aufdrängten: so darf man’s nicht machen.
Nur unser Musiklehrer bildete eine Ausnahme; er war an Können und Lehren ein Künstler, und ihm gegenüber bestand ohne Verabredung ein geheimes Bündnis unter uns, dessen Erkennungsformel etwa lautete: Wer sich untersteht – alles andere wurde durch eine geballte Faust ausgedrückt. Am unfähigsten von allen war unser Direktor, der später in Amerika sich als Prediger einen großen Namen gemacht haben soll. Der liebe Gott hatte ihm sicherlich sein Amt nicht gegeben, oder sonst hatte er die zweite Hälfte des Sprichwortes ganz vergessen. Der Herr Direktor war nicht ohne Kenntnisse, beileibe nicht, er hatte viel studiert, alte und neue Sprachen, und noch vieles andere, er hatte auch Dramen und Gedichte geschrieben, aber er hatte nicht die leiseste Ahnung davon, wie es in der Seele eines Kindes oder eines heranwachsenden Menschen aussieht. Er war ein Gelehrter, aber ein dummer. Wir konnten ihm aufbinden, was wir wollten, wir konnten tun und treiben, was uns behagte, und uns behagte gar vieles, er kam uns wissenschaftlich und suchte uns mit allen Gründen der Logik zu beweisen, daß wir unrecht hätten. Rauchen war verboten. Selbstverständlich rauchten wir, meistens Pfeife. Eines Wintertags vor Beginn der Stunden wurden die offenen Köpfe der angezündeten Pfeifen mit dem Taschentuch bedeckt und nun mit aller Lungenkraft der Rauch zum Rohre hinausgeblasen, bis schließlich die ganze Stube eine Rauchwolke war. Erfreut ob der Heldentat, spazierten wir auf dem Korridor umher, und als der Direktor zur Stunde kam, jubelte es ihm entgegen: „Es raucht, es raucht, es raucht!“ „Was denn?“ „Der Ofen. Wir können unmöglich Stunde haben!“ Er öffnete die Tür, prallte zurück, schlug sie zu, öffnete sie wieder, schnüffelte hinein und behauptete mit großer Kühnheit, das sei Tabakrauch. Und als wir naiv fragten, wie
denn der Tabak in den Ofen kommen könne, hielt er uns eine große Vorlesung über die Schädlichkeit des Tabakrauchens, vergaß auch nicht zu erwähnen, daß Goethe ein abgesagter Feind alles Rauchens gewesen, und setzte uns gleichzeitig in einem sehr interessanten Vortrag auf dem Korridor auseinander, daß Goethes größte Bedeutung in seiner Lyrik läge, daß aber an der Iphigenie, besonders vom griechischen Standpunkt aus, viel auszusetzen sei. Der Herr Direktor hatte fuchsrote Haare. Darüber ließ sich eigentlich nicht streiten, aber er stritt doch darüber. Wir behaupteten in allerlei Reimen und Redensarten, die ihm natürlich ganz unabsichtlich zu Gesicht und Gehör kamen, daß seine Haare fuchsrot seien; er hingegen bestand darauf, sie seien hochblond. In mehr als einer mündlichen Abhandlung wies er uns nach, daß diese Farbe die eigentliche Haarfarbe der alten Germanen gewesen sei, daß Menschen mit hochblondem Haar das reinste, gesündeste Blut hätten, daß Frauen mit solchem Haar sich besonders gut für die Ehe eigneten und glückliche Mütter würden: alles mit Zitaten belegt und streng wissenschaftlich nachgewiesen. Aber wir blieben doch dabei, daß er, wenigstens den Haaren nach, ein Fuchs sei. Wir gaben unsere Aufsätze gewöhnlich um Wochen zu spät ab. Zur Strafe dafür mußten wir einmal ein Extrathema bearbeiten: Ordnung ist das halbe Leben. Ich hielt mich an den Wortlaut und suchte mit großem Scharfsinn und noch größerer Frechheit zu beweisen, wie verderblich die Ordnung sei. Alle Menschen, und ginge es ihnen noch so schlecht, hätten das Bestreben, ihr Leben ganz zu leben; aber die Ordnung gewähre uns nur, wie das Sprichwort so wahr und klar sage, das halbe Leben. Darum müsse man sich vor ihr hüten und es mit der Unordnung halten, die uns ungezählte Freuden biete. Wofür denn männiglich Beispiele angeführt wurden. Und das Prädikat? „Das Thema ist verfehlt.“
Merkte er es nicht, oder wollte er es nicht merken, wie wir ihn mit unverschämtem Gesicht anglotzten, wie ihn unser Hohn erbarmungslos traf? Oder sollte er vielleicht im tiefsten Innern die ganze Sache und sich selber dazu humoristisch angesehen haben? Dem größten Übeltäter unter uns, dem frechsten Spötter, dem Anführer bei allen dummen Streichen, schrieb er ins Semesterzeugnis: Der Sinn für Humor ist zu stark bei ihm entwickelt. Und trotz alledem lernten wir. Aus allen Ecken und Winkeln unsrer alten Stuben, aus den Rissen und Spalten der morschen Mauern guckte bald lächelnd und zustimmend, bald ermahnend und drohend ein guter Hausgeist heraus und rief uns zu: Vorwärts, Jungens, vorwärts! Und nun tat ich auch zum ersten Mal einen tiefen Blick in die Welt unsrer Dichtung. Nicht, daß mich die Lehrer hingeführt hätten; aber ich fand die Werke der großen Dichter vor, und sie begleiteten mich auf meinen einsamen Spaziergängen. – Als ich einmal aus den Seminarferien heimkam, saß vor unserer Tür ein kleines, fremdes Mädchen. Hatte das Kind Augen! Ihr zartes, blasses Gesicht, ihre blauschwarzen Haare sah man erst, wenn man aus diesen großen leuchtenden Augen wieder herauskam. „Wie heißt du?“ „Als wir noch auf dem Dorfe wohnten, hieß ich Hinde, jetzt heiße ich Helene.“ „Wie alt bist du?“ „O, ich geh schon in die Schule.“ „Was willst du denn hier?“ „Wir haben Mamas Grab besucht.“ „Wer war denn deine Mama?“ „Meine Mama war, war – meine Mama. Und da ist sie fortgereist, und da sagen die Leute auf einmal, sie ist tot, und sie kommt nie wieder. Und da sind wir zu ihr gegangen.“
Ein Schatten flog über die hellen Augen, und der Mund zuckte, als ob sie weinen wollte. Ich faßte ihr Händchen. Da trat ihr Vater aus unserm Haus, ein großer robuster Mann, man hätte ihn für einen Bauern halten können. „Achten Sie mir auf das Grab, Frau Lennhausen, es kommt mir auf das Geld nicht an. Wenn das Jahr rum ist, soll ein Denkmal darauf, echter Marmor. Komm, Kind!“ Ich war zur Seite getreten. Erst als sie beide fortgegangen waren, sah mich die Mutter. „Was wollten die hier?“ fragte ich nach der ersten Begrüßung. „Das ist eine eigene Geschichte, Kind. Ich wollt’s dir nicht schreiben. Du erinnerst dich doch noch unsres alten Lehrers, weißt du, der hier gestorben ist.“ „Gewiß, gewiß, Mutter.“ „Sieh, Kind, wie ich da vor einigen Wochen den Wasserberg runter komme, hält da unten eine Kutsche. Und in der Kutsche sitzt eine bleiche, todkranke Frau. Sie muß mal schön gewesen sein. Sie fragt mich, ob ich ihr wohl das Grab von dem Lehrer Stein zeigen kann. Ich geh nu natürlich mit. Sie kann kaum den Berg rauf, aber wie sie bei dem Grab ist, bittet sie mich, ich soll sie allein lassen. Das darf man ja nun nit, aber sie kuckt mich mit so gottserbärmlichen Augen an, daß ich zurückgeh. Und wie sie wieder runterkommt, geht sie ganz gerade und aufrecht; aber ihr Gesicht ist weiß wie der Kalk an der Wand. Ich versteh so was nit, und sie merkt, daß ich nit gern fragen will. ‘Er war Hauslehrer bei uns gewesen’, sagt sie da ganz ruhig, ‘er hat mir viel Gutes getan. Und ich wollt ihm noch einmal danken.’ Und da kann sie nicht mehr weiter und bricht mir unter den Händen zusammen. Ich laß sie nach unserm Haus bringen; aber eh wir den Doktor rufen konnten, war sie tot. Sie
hat auch nix andres mehr gesagt, als wie sie heißt, und daß sie am Wasserberg liegen will, so nah wie möglich bei seinem Grab. Da liegt sie nu auch. Ihr Mann war gleich hier, und nu ist er noch mal gekommen, weil das Kind ihm keine Ruh gelassen hat. Was mag das arme Weib in ihrer Todesangst hergetrieben haben?“ – Mir ahnte es. Aber ich sagte kein Wort.
Im Amte.
‘Wenn ich erst einmal im Amte bin’, das war das Ende von hundert Gesprächen und der Anfang von hundert Hoffnungen, Plänen und Versprechungen. ‘Wenn ich erst einmal im Amte bin’, das war die Zauberformel, mit der wir den Berg Sesam der Zukunft öffneten und frohbeglückt die schimmernden Goldschätze anstaunten. Und nun war ich im Amte. Mit noch nicht achtzehn Jahren Lehrer, Prediger und Vorbeter in einer kleinen Gemeinde in einem kleinen Dörfchen, das, wie ein Vogelnest im Gebüsch, versteckt zwischen den Bergen lag. Wär ich nicht gar so jung gewesen, ich wäre der Bürde und Würde meiner vielen Ämter erlegen; aber ich fühlte mich so stark und bedeutend, daß ich mit Freuden noch ein halbes Dutzend dazugenommen hätte. Zwar das Vorbeten machte mir einige Schwierigkeiten; aber es fiel mir gar nicht ein, daran zu denken, wie lächerlich es war, daß ein blutjunger Mensch, ein grüner Junge, einem Brautpaar bei der Trauung von der Heiligkeit und den hohen Aufgaben und den Pflichten der Ehe sprach oder den alten ergrauten Männern Reden von den Kämpfen und Versuchungen des Lebens hielt. Es fiel mir gar nicht ein, und was noch merkwürdiger war, es fiel auch den Leuten nicht ein. Sie hatten Respekt vor dem Amt und der gebildeten Büchersprache. Und auch die Kinder hatten Respekt vor mir, vor dem ‘Herrn Lehrer’. Es waren Knaben und Mädchen unter ihnen, die nur um einige Jahre jünger waren als ich, und hätten sich ihrer zwei oder drei verschworen, zu revoltieren, ich wäre verloren gewesen. Sie verschworen sich aber nicht. Sie blickten mich
mit neugierigen, erwartungsvollen Augen an, und ich gab ihnen alles, was ich selber besaß: Frische und Freude und Jugendlust. Unsere Schulstube war klein und dürftig, aber der Bergwald guckte herein, und wir lernten frisch darauf los und waren so fröhlich wie die Vögel, die von den nahen Zweigen herübersangen. War es zu heiß, oder hatten wir Naturgeschichte, Geographie, Turnen, so gingen wir einfach in den Wald, und wenn wir zurückkehrten, wußten wir oft selber nicht, hatten wir nun gelernt oder gespielt? Wir, denn ich lernte und spielte mit ihnen wie ihresgleichen, höchstens wie der Anführer im Spiel. Ich war ja ihnen auch nur einige Schritte voraus. Die Blumen und Sträucher, die ich mit Hilfe meines Buches am frühen Morgen mühsam kennen gelernt hatte, zeigte ich ihnen oft wenige Stunden später als Unterrichtsobjekt an Ort und Stelle, und keiner ahnte, wie blutjung meine Weisheit war. Ich konnte ja führen, ich wußte ja, wo sie wuchsen, und wie gut wußte ich bald in Busch und Wald Bescheid! So trieben wir alles frisch und fröhlich, was in der einklassigen Volksschule zu treiben ist, neben- und durcheinander: Lesen, Rechnen und Schreiben, Geschichte und Geographie und Naturgeschichte, auch Religion natürlich. Manchmal zwei-, dreierlei in einer Stunde. Kämpfte ich im Beginn der Stunde mit den Abc-Schützen gegen die kleinen schwarzen Fibelzwerge, so las ich mit der Oberklasse oft unmittelbar darauf den Tell, und es war ein beglückender Gedanke: Diesen ganzen langen Weg gehören sie dir, und alles, was sie aus der Schule einst mitnehmen, hast du ihnen allein gegeben. – Nur an der einklassigen Volksschule kann man ganz Lehrer sein! Lag es an der Gegend, oder waren die Jahrgänge einmal alle gut geraten? Ich hatte in der ganzen Schule kaum einen faulen
oder dummen Schüler. Lernen müssen, schien ihnen so selbstverständlich wie Essen und Spielen, und wollte es einem sauer werden, und schien er zu verzagen, so hatte er doch einmal einen glücklichen Augenblick, wo ich ihm bei einer treffenden Antwort die Hand geben und ihn heranziehen konnte: „Siehst du wohl, du kannst, so laß uns mal rüstig weiter wandern.“ Und die Großen halfen den Kleinen, und die Kleinen spornten die Großen an. Kein Samenkorn wurde verweht, fiel es bei dem einen nicht in die Furche, so wurzelte es bei dem andern, und oft geschah es, daß sich ein Knirps aus der Unterklasse meldete, wenn den Großen die Antwort fehlte. War ich aber ganz besonders zufrieden mit ihnen, und das geschah ungefähr jede Woche einmal, so machten wir einen Ausflug in die Berge. Ein doppeltes Quantum Butterbrot – und alle Vorbereitungen waren getroffen, und alle Ausgaben bestritten. Alles übrige gaben uns die Wälder und Berge: Beeren und Blumen, Spielplätze und Klettergerüste, Quellwasser und Nüsse, Lauben und Echos, und sie konnten es uns nicht freudiger geben, als wir es empfangsfroh annahmen und ihnen mit Sang und Sprung und Spiel dankten. Aber es war nicht alles im Amte schier Freude und Glück. Manchmal mußte ich mich mit aller Kraft gegen den Vorsteher der Gemeinde wehren, der mich gern als Untergebenen behandelt hätte und mir in Dinge dreinreden wollte, von denen er nichts verstand. So biegsam auch meine grüne Jugend war, der Autorität des ehrwürdigen Alters, die nichts einzusetzen hatte als ihr Alter selber, beugte sie sich nicht. Auch der Kulturkampf warf seine Schatten in unsre hellsten Stunden. An jedem Sedantag feierten wir ein großes Schulfest. Da zogen wir in den Wald, sangen Lieder, trugen Gedichte vor und führten ein Märchen auf, zu dem ich die einfachen Verse geschmiedet hatte. Ein freier runder Platz, von Busch und Baum umstanden, war unser Theater. Die Zuschauer, die
Eltern und Geschwister, nahmen den einen Halbkreis ein, auf dem andern spielten wir. Es war die herrlichste Märchenbühne, die man sich denken kann. Aus dem dichten Buchengehege kamen Hänsel und Gretel hervorgesprungen, in den dunklen Wald hinein lockte die alte Hexe, und die Vöglein, Finken und Meisen, warnten vernehmlich im Dämmer der Kronen. – Wenn wir dann nach Spiel und Tanz abends singend ins Dorf zogen, mußten wir manches böse Scheltwort hören, oder aus der Hand irgend eines dummen Jungen flogen auch wohl Steine in unsre Reihen, weil der Unverstand wähnte, wir feierten aus Trotz und Hohn, während die Kirche in heißem Kampf mit dem Staat lag. Die Ferien verbrachte ich natürlich bei meiner Mutter. Einmal aber besuchte ich sie ganz außerhalb dieser Zeit. Ich hatte nur einen freien Schultag, aber es trieb mich, die alte Frau zu sehen. Sie würde schelten, daß ich das Geld so unnütz ausgäbe, aber ich wußte auch, sie würde sich doch darüber freuen. Als ich von der Bahnstation unserm Dörfchen zuwanderte, nahm ich die Richtung über den Wasserberg. Es war ein kleiner Umweg, aber ich hatte so lange des Vaters Grab nicht besucht und nicht das des Lehrers, und – hatte die Mutter nicht erzählt, daß das fremde Kind jedes Jahr zum Jahrzeitstage ihrer Mutter herkäme, und war es nicht merkwürdig, daß der Tag gerade heute war? Ich hatte Helene nur einmal wiedergesehen, und das war schon drei Jahre her. So fest erwartete ich, sie zu treffen, daß ich gar nicht erstaunt war, als ich sie nun wirklich an den Grabstein der Mutter angelehnt stehen sah. Eine fremde Frau, offensichtlich ihre Begleiterin, harrte am Wege. Das Kind sah mich noch nicht, als ich schon die großen goldenen Buchstaben auf dem hohen, schwarzen Marmorstein lesen konnte: Hier ruht meine heißgeliebte Gattin, die edle und tugendsame Frau Henriette Bergheim.
„Helene!“ Sie schrak empor. Wie groß sie geworden war! „Fräulein Helene!“ „Herr Lennhausen!“ Sie reichte mir froh betroffen die Rechte, mit der Linken schnell über die Augen fahrend. „Das hätte ich nicht gehofft. Ihre Mutter sagte mir doch – “ „Meine Mutter weiß auch von nichts. Ich hatte auf einmal solche Sehnsucht nach ihr.“ „Und machen solchen Umweg?“ „Es ist kein Umweg, wenn man bei den Gräbern seiner Lieben vorbeigeht.“ Das klang wahrer, als es war. „Sie haben Ihre Mutter wohl besonders lieb gehabt?“ fuhr ich fort. Sie sah mich groß an. „Warum besonders? Ich habe sie sehr lieb gehabt. Aber ich habe auch meinen Vater sehr lieb. Er ist so gut zu mir, so gut!“ Und dann ganz unvermittelt: „Haben Sie den Lehrer meiner Mutter gekannt, ich meine den, neben dem sie hier ruht?“ „Es war auch mein Lehrer, und ich darf wohl sagen, ich war sein Lieblingsschüler. Noch am Tage vor seinem Tode war ich bei ihm.“ „O, erzählen Sie mir von ihm. Es quält mich, und je älter ich werde, je mehr, daß ich so gar nichts von dem Manne weiß, neben dem meine Mutter begraben sein wollte.“ „Kommen Sie mit. Ich erzähl es Ihnen auf dem Wege.“ Ich ging langsam voraus. Sie blieb noch einen Augenblick am Grabe. Dann kam sie schnell nach, und ihre Begleiterin, ihre alte Magd, folgte in einiger Entfernung. Und nun erzählte ich, erzählte alles, was ich wußte, nur das eine nicht, was sie aber doch wohl ahnte, daß die beiden, die
da im Tode nebeneinander ruhten, sich im Leben heiß nach einander gesehnt hatten. Als ich geendet hatte, faßte sie meine Hand, und als wollte sie jeden fremden Gedanken von mir abwehren, sagte sie zuversichtlich: „Wie muß meine Mutter ihren Lehrer verehrt haben, und welch ein herrlicher Beruf muß es sein, der solche Dankbarkeit trägt. Sie müssen glücklich sein, ihn gewählt zu haben!“ Und dann sprang sie wieder gleich zu ihrem Vater über, der immer so viel Sorge um die Mutter gehabt habe. Seit das erste Kind, ein Brüderchen, gestorben, habe die Mutter immer gekränkelt, und erst als sie selber geboren sei, viele Jahre später, sei es der Mutter besser gegangen; aber dann mit einem Mal sei es so schnell gekommen, keiner hätte ja gewußt, wie krank sie gewesen, sonst hätte man sie nicht allein hierher fahren lassen, der Vater habe sie immer gehalten wie seinen Augapfel. Immer der Vater! Ich sah nur sein kaltes, brutales Geschäftsgesicht, wie es sich mir bei unserer ersten Begegnung eingeprägt hatte, und je mehr sie ihn herausstrich, je mehr war er mir zuwider. Wie ich es vorausgeahnt, die Mutter schalt und freute sich. Freute sich um so mehr, als sie eine wichtige Sache mit mir zu besprechen hatte. Das heißt, nur der Form nach, in Wirklichkeit war sie schon erledigt, wie sie alles Geschäftliche ohne mich abtat. Wolff Bergheim hatte ihr in seinem Wohnorte, einem aufblühenden kleinen Hafenplatz, ein Häuschen mit einem kleinen Kramladen zur Miete angeboten. Es sei so durch Zufall in seine Hand gekommen, und da er günstige Bedingungen stellte, hatte sie angenommen. Zum Herbst wolle sie hinziehen!
Mich durchfuhr ein Schreck. Unser Haus! Unser Garten! Ach, sie waren ja gar nicht unser, aber ich war doch in beiden groß geworden. Die Mutter sah, was ich fühlte. „Verarg es mir nicht, Kind. Ich sitz ja nun hier schon bald ganz allein. Einer nach dem andern zieht fort aus der Gemeinde, und das Gehen auf die Dörfer wird mir auch bald zu sauer.“ Helene erfuhr die Neuigkeit mit mir zugleich; sie schien sich mehr darüber zu freuen als ich. „Da werde ich oft zu Ihnen kommen, Frau Lennhausen. Darf ich auch?“ „Und ob, mein Kind. Wenn so ein jung Mädchen nur besser zu solch alter, verbauerter Frau paßte. Der da, der muß nun schon mal mit mir vorlieb nehmen, aber du – “ Sie wußte nicht, was sie erwidern sollte, und strich der Mutter die Hand. So willig sie sich mein ‘Sie’ gefallen ließ, so entschieden hatte sie es sich bei ihr verbeten. Wie schnell die Stunden dahingingen! Gegen Abend fuhr ich mit Helene zur Bahn zurück, beide still und schweigsam. „Auf Wiedersehen in meiner Heimat!“ war ihr letzter Gruß. Es war ein schöner Tag gewesen. Und wenn ich an ihn zurückdenke, ist mir, als ob ich durch einen Tannenwald wandre, und ich höre ein heimliches Rauschen, und der blaue Himmel sieht durch die grünen Zweige. – So gern ich mit meiner jungen Schar wanderte, öfter und lieber noch, besonders seit diesem Tage, ging ich allein in den Wald, am liebsten in den Abend hinein. Im Gras zu liegen und mit dem Marienkäfer auf schmalem Steig über bodenlose Abgründe zu klettern, mit den Sonnenstrahlen durch die Buchenkronen zu huschen, wie der Wind mit einem Blatt den ganzen Himmel auf- und zuzudecken, im Rauschen der Tannen ein Weltfriedenslied zu erlauschen, oder auf hohem Berge zu stehen und mit einem
Blicke Wald und Dorf, Feld und Bach, den Himmel und die Sonne, die ganze weite, schöne Welt zu umfassen: war das ein Glück, eine Seligkeit! Dann stieg eine heiße Sehnsucht in mir auf und zugleich eine zagende Wehmut: Ach, wer das malen, wer das sagen oder singen könnte! Ich fühlte wie ein Dichter, tief und lebendig und mit heißer Glut, aber wenn ich ein Wort dafür suchte, wenn ich eines gefunden glaubte, war alles kalt und schal. Immer und immer wieder rang ich danach, jahrelang, ich empfand alle Wehen und Nöte des Gebärens, aber kein lebendiges Gebild lohnte die Schmerzen. Aber etwas nahm ich doch mit aus diesem Streben und Ringen, was mir zeitlebens mit der Freude an der Natur das tiefste Glück gegeben. Ein Gedicht, eine Erzählung, ein Drama konnte mich durchsonnen, erschüttern, erheben, daß eine Unendlichkeit in mir wogte und ich mich still allem Nahen und Fernen verbunden fühlte. Könnten die Dichter einmal eine solche Wirkung erleben, die erlösende Träne und das befreiende Lächeln sehen, es würde sie mehr belohnen als alle laute Anerkennung. So suchte ich Trost in den Büchern. Umsonst hatte ich meine Mutter gebeten, zu mir zu ziehen. Sie meinte, es könne mir nur schaden, wenn sich solch alte ungebildete Frau den Leuten als Lehrersmutter präsentierte, und außerdem ginge ihr Kramgeschäft, das sie sich eingerichtet hatte, immer besser. Ich brauchte nicht so sparsam zu sein, sie könnte bald von ihren Renten leben, und wenn ich Lust hätte, weiter zu studieren, so sollte ich es ihrethalben nur tun. Ahnte sie meine geheimen Kämpfe und Gedanken? Ich fühlte den Boden unter meinen Füßen schwanken, ich durfte nicht mehr Prediger und Vorbeter bleiben, ich war nicht mehr gläubig.
Es war ganz von selber gekommen, ohne einen äußeren Anstoß, wie die Blütenblätter fallen, wenn die Sonne steigt und das Licht greller wird. Was ich in vertrauensseligem Kinderglauben als hoch und heilig gehalten, begrub ich kalt und stolz, als sei’s ein Stein, als sei’s für immer abgetan. Aber es war eine Wurzelknolle. Der tief religiöse Sinn war lebendig geblieben, und stärker als zuvor wuchs die Verehrung für die Geschichte und den Geist des Judentums, den Geist der Propheten, daraus hervor. Das Buch, das ich eine Zeitlang verächtlich angesehen, weil ich an seine Wunder nicht mehr glaubte, das Buch der Bücher erfüllte mich, als ich wieder zu ihm zurückkam, nur als Mensch zurückkam, mit unbegrenzter Ehrfurcht. Es erschien mir wie ein großes Epos, wie das Epos der Menschheit. Helden und Verräter, Weise und Toren, Fromme und Gottlose treten auf und gehn unter. Alles, was ein Menschenherz durchwühlt oder umfriedet, Haß und Liebe, Schuld und Reue, Zweifel und Glaube offenbart sich mit hinreißender Naturwahrheit. Ein ewiges Kampfgewoge auf und ab, nur zuweilen ein Idyll zwischen den Schlachten. Bis zuletzt die Stimme der Propheten erschallt, schicksalstönig, grollend wie ein Donner in der Wetternacht und wieder siegeshell in eine goldne Zukunft weisend wie eine Lerche, die in den jungen Frühlingstag steigt. Aber gläubig ward ich nicht wieder. Ich nahm beim Dorfpfarrer lateinische Stunden, lernte Mathematik bei einem Lehrer in der benachbarten Stadt, trieb für mich Geschichte und neue Sprachen und bestand nach einigen Jahren eifrigen Arbeitens die Reifeprüfung.
Auf der Universität.
Vier freie Wochen zwischen dem Examen und der Universität, Muluszeit, dreimal gesegnete selige Zeit! Eine schwere Aufgabe glücklich beendet, und vor sich ein leuchtendes Ziel. Man hat etwas Großes erreicht, oder wenigstens glaubt man es, und nun hat man das unendlich wohltuende Gefühl, es ist deine Pflicht, nichts zu tun, du mußt dich nur erholen, nur genießen, nur faulenzen. Und wie faulenzt sich’s so gut, wenn man in die knospenden Büsche und Bäume blickt, wenn man das Wachsen in allen Gliedern spürt, und wenn eine sorgliche Mutter einem den Tisch deckt und keinen andern Dank wünscht, als daß man esse und viel esse. Muluszeit, dreimal gesegnete! In dem Alter, wo andere sie verlassen, kam ich auf die Universität. Ich hatte mir eine kleine mitteldeutsche Bergstadt ausgesucht, deren Bild, einmal im Vorbeifahren aufgegangen, mich mächtig lockte. Hoch oben auf dem Berge steht die Burg wie ein alter Professor, und die Häuser klettern, eines über dem andern, wie junge Studenten hinauf, während tief unten die ehrwürdige gotische Kirche wie eine besorgte Mutter zu ihnen emporschaut. Freudig windet sich der Strom in weitem Bogen um die Stadt, als wolle er sie von allen Seiten betrachten, als könne er sich von ihrem Anblick nicht losreißen. Und nun war ich mitten drin, war auch ein ‘unser Herr’, wie jeder Student bezeichnend von seinen Wirtsleuten genannt wurde. Nun konnte ich selber durch die engen, krummen, holprigen Straßen auf- und abwandern, konnte mich an den lieblichen Durchblicken auf Berg und Wald, auf Strom und Tal
erfreuen, konnte im Abenddämmern auf dem Friedhof auf halber Bergeshöhe umherwandern und an die Märchenbrüder denken, die hier vor langen Jahren als blutjunge Studenten gestanden und sich an derselben lieblichen Aussicht ergötzt hatten. War’s nicht auch wie ein Märchen, daß ich hier stehen und genießen konnte? In Märchenstimmung, erwartungsvoll, bangend ging ich in das erste Kolleg. Gut, daß ich so früh gegangen, daß ich allein war. Hätten die Kommilitonen gesehen, wie ich von dem Platz, den ich mir in der letzten Bank ausgesucht hatte, entsetzt in die Höhe fuhr, sie hätten mich unbändig ausgelacht. Da stand’s in großen Buchstaben eingekerbt: Juden raus! Und auf einer zweiten und dritten Bank wieder: Juden raus! Und dazu allerhand Glossen, die lustig und witzig sein wollten. Ach, ich hatte genug von dieser ‘neuesten Bewegung im deutschen Volke’ gehört und gelesen. Ich hatte genugsam mit meinen Bekannten darüber gesprochen, und wir hatten uns redlich bemüht, ihrer Berechtigung nachzuspüren. Aber es sprach sich darüber wie über eine große Hungersnot in Indien oder China: es tut einem unendlich weh und leid, und man trinkt im nächsten Augenblick sein Bier mit etwas geringerem Behagen, aber man trinkt es doch. Nun sollte ich’s zum ersten Mal am eigenen Leibe erfahren. Es war wie ein Schlag ins Gesicht! Juden raus! O, daß ich den Beleidiger vor mir hätte, den feigen Gesellen! Ich drückte die geballte Faust vor die eigene Stirn – und mußte lächeln. Wie kann man sich nur aufregen über den Tätigkeitsdrang eines albernen Jungen, der einmal aus purer Langeweile statt ‘süße Anna’ ein ‘Itzig raus’ eingeschnitzt hat? Aber besucht dieser alberne Junge nicht die Universität, und soll er nicht dereinst
mal Lehrer oder Richter oder Prediger seines Volkes werden? An Genossen wird’s ihm auch nicht fehlen, die Bänke da zeugen davon. Es war keine Märchenstimmung mehr, in der ich das erste Kolleg anhörte, und es brachte mir eine Enttäuschung, wie so viele nachfolgende auch. Mich ärgerte schon die schlechte Art des Vortrages oder vielmehr die schlechte Art des Ablesens, mich ärgerte, daß die Professoren gar keinen Zusammenhang, keine Verknüpfung mit den früheren Studien ihrer Zuhörer suchten, daß sie jede Brücke zwischen sich und ihnen ängstlich vermieden: Wir hüben, ihr drüben. Studierende im achten Semester hörten und mußten dasselbe hören wie andere im ersten. Kein Zusammenarbeiten, keine lebendige Wechselwirkung zwischen Lehrenden und Lernenden. War ich dümmer, war ich schlechter vorgebildet, als die andern um mich her? Ich konnte keine Feder ansetzen, und sie schrieben und schrieben, selbst die ganz jungen Studenten, die frisch vom Gymnasium gekommen waren. Aber als mir einmal einer sein Kollegienheft gutmütig stolz borgte und ich es zu Hause abschreiben wollte, da verlebte ich eine der lustigsten Stunden meines Lebens. Herr Gott, was hatte das Menschenkind an verrücktem, unsinnigem Zeug zusammengeschrieben! Ob schon jemals irgend ein Professor auf irgend einer deutschen Universität von dem Kollegienhefte irgend eines Fuchses Einsicht genommen hat? Ach, die armen Lehramtskandidaten! Was sie gelernt haben, können sie nicht brauchen, was sie brauchen, haben sie nicht gelernt. Ach, dereinst ihre armen Schüler! „Kommen Sie doch einmal an einem wissenschaftlichen Abend in unsern Verein und erzählen Sie uns aus Ihrer Lehrzeit und von Ihren Lehrererfahrungen“, bat mich eines Tages ein Examenskandidat, der gehört hatte, daß ich schon jahrelang unterrichtet hätte.
Und ich kam und erzählte ihnen, was jeder Volksschullehrer sich an den Schuhen abgelaufen, und sie hörten zu und dankten mir, als hätte ich ihnen neu entdeckte pädagogische Weisheiten geschenkt. Auch zur Fidelitas mußte ich bleiben. Da saß ich denn mitten zwischen ihnen, plauderte mit ihnen, trank und sang mit ihnen. Prost Blume! Und zum ersten Male schlürfte ich den Duft dieser Blume reinster Fröhlichkeit. Wo der Komment als Sport, als Zweck betrieben wird, ist er ein Unsinn; wo er aber, wie an diesem Abend, nur Mittel ist, um die Grenzen heiterster Geselligkeit abzustecken, nur Gefäß, um die fröhlichste Laune aufzufangen, da ist er ein ganz köstliches Ding. Solch ein rechter Kneipabend gehört mit zu den Dingen, um die es sich lohnt zu leben; diese Bowle, gebraut aus Jugend, Frohsinn, Begeisterung und Poesie, ist ein Göttertrank, wie ihn die Himmlischen nicht reiner und duftiger genießen. Du trinkst, um zu trinken, du singst, um zu singen, du lebst, um zu leben. Alles ist Selbstzweck, und du bist das Universum oder doch wenigstens sein Mittelpunkt. Kein Vor- und kein Rückschauen, die Gegenwart umfaßt dich wie die Meeresflut und schaukelt dich auf leichten, lockenden Wellen. Und will die Stimmung einen Augenblick sinken, dann ertönt das Zauberwort: Der Cantus steigt! Und all die guten Geister, die der Menschheit je gedient, die lachenden, lustigen, wie die ernsten, traurigen werden entfesselt und tragen dich zu lichten Höhen. Der Cantus steigt, und du steigst mit, und in dir steigt alles an Ahnungsvollem, Heiligem empor, was dir in tiefer Seele schlummert. Es war ein schöner Abend, und ich hielt mich wacker. Einige Kommilitonen begleiteten mich auf dem Heimwege, und der letzte, der mit bis zu meiner Haustür ging, legte mir die Hand auf die Schulter und sagte mit lallender Zunge in treuherzigem
Ton: „Sie sind ein famoser Kerl, Lennhausen, schade, daß Sie nicht mit zum Verein gehören.“ „Ich kann ja eintreten.“ Er lachte in halber Trunkenheit laut auf. „Das können Sie aber nicht, Herr Lennhausen!“ „Und warum denn nicht?“ „Weil wir keine Juden aufnehmen, das heißt, wir sagen es nicht“, lachte er, „aber wir tun es. Ist aber auch zu dumm von Ihnen, Jude zu sein.“ „Gute Nacht!“ – Und da saß ich wieder allein auf meiner Bude, saß und hielt den Kopf gestützt, stand auf und wanderte ruhelos umher und murmelte: „Juden raus!“ Tagelang war ich unfähig zu arbeiten. Wie kleinlich, wie erbärmlich klein erschien mir alles, was die Professoren da vorbrachten. Manchmal packte mich eine Wut, ich hätte mich auf das Katheder stürzen können: Weg da, ihr Wortkrämer, ihr Silbenschacherer, weg aus dem Tempel, wo die Jugend lernen soll, das Allerheiligste anzubeten! Das ist ja alles ganz gut und nett und nützlich, was ihr da auf den Markt bringt, aber sagt ihnen doch auch einmal ein begeisterndes, ein befreiendes, ein vom Vorurteil erlösendes Wort. Humanistische Bildung haben sie übersatt genossen, sind bis zum Ekel damit vollgestopft, aber Humanität, Menschentum? Es war mir unmöglich, ins Kolleg zu gehen. Ich streifte am Fluß, auf den Bergen, in den Wäldern umher: ich wollte erst wieder reine Luft trinken. Aber es war, als ob man’s auf mich abgesehen hätte. Ich reiche einem Bettler am Wege eine kleine Gabe, und er vergiftet mich mit seinem Mitleid: „Ich hab die Juden immer gern gehabt, die lassen einen in der Not nicht im Stich. Wissen Sie, mein Herr, die weißen Juden, ich meine die Christen, wenn die schlimm sind, das sind die schlimmsten.“
Die weißen Juden! Ich trinke in einem Dorfkrug ein Glas Bier und durchblättre die Zeitung, nur Annoncen, ich will mich nicht ärgern. Ein Bad wird empfohlen: ‘Bester, billigster, gesündester Aufenthalt. Schwindsüchtige und Juden ausgeschlossen.’ Da ist auf der Lahn ein entsetzliches Unglück geschehen. Ein Kahn ist gekentert, und ein junges jüdisches Brautpaar nebst der Mutter der Braut und ihren zwei kleinen Geschwistern sind ertrunken. Es muß wohl in der Zeitung da etwas ganz Gemeines darüber gestanden haben, denn wie ich das Blatt, das ich achtlos durchflogen, an die Seite lege, weist ein Handwerksbursche darauf hin. „Ja, das ist unrecht, was da steht. Das muß einem doch sehr leid tun, wenn’s auch nur Juden sind, Menschen sind’s doch auch. Aber das gewöhnliche Volk kennt keine Bildung nicht, ich meine, wenn einer solch Unglück hat, da soll man nicht über spotten, und wenn’s auch nur Juden sind. Wenn der Mensch tot ist, dann ist er tot, ob er nun Christ, Jude oder Heide ist.“ Ich drücke dem Wackern die Hand und stoße mit ihm an: „Prost die Bildung, prost die Toleranz!“ So allein wie in diesen Wochen bin ich nie im Leben gewesen; es war, als ob mich eine unsichtbare Macht von allem trennte, was Menschenantlitz trug. Ich sah die Menschen gehen, ich hörte sie sprechen; aber wollte ich einem ein Wort sagen, dann flüsterte es mir zu: „Still, du bist Jude!“ Wollte ich einem die Hand hinstrecken, dann riß es sie mir gewaltsam fort: Jude zurück! Und schlimmer noch als dieses Mißtrauen peinigte mich etwas anderes. Sprach jemand mich freundlich, ja nur höflich an, um sich nach dem Weg zu erkundigen, oder um Feuer für seine Zigarre zu bitten, so hätte ich ihm danken können. Ich erschrak vor mir selber. War ich denn noch im Ghetto, trug ich noch den gelben Flecken am Leibe? Sklavenseele!
Keiner meiner Kommilitonen und Bekannten, die mir guten Tag wünschten, sahen mir die bösen Tage, die grausigen Nächte an, die meine Seele zerquälten. Da kam eines Tages ein älterer Student, der sich mit offenbarer Beflissenheit von allen andern fernhielt, nach einem Kolleg auf mich zu. „Verzeihen Sie, mein Herr, darf ich mich Ihnen anschließen?“ Ich sah ihn groß an. Er war hoch und schlank gewachsen, fast hager, hatte blaue Augen und blondes Haar. „Joseph Mainzer, ich bin Jude, und wenn ich nicht irre, fühlen Sie sich ebenso vereinsamt wie ich.“ Ich gab ihm die Hand, und es währte nicht lange, so ging der Mund von ihm dem über, weß das Herz so voll, ach so voll war! Er lächelte, als er meine Erregtheit bemerkte. „Sind Sie noch jung, lieber Freund!“ Er hatte Schwereres durch Taten als ich durch Worte erfahren. Schon vor einem halben Dutzend Jahre hatte er sein Staatsexamen, hatte den Doktor gemacht, hatte die besten Zeugnisse in Mathematik und Naturwissenschaften erhalten, aber die Aussicht auf eine Anstellung war noch so gering, als ob er seit eben so langer Zeit jährlich einmal durchgefallen sei. Mit knapper Not war es ihm geglückt, als Probekandidat beschäftigt zu werden. Sein Direktor hatte ihm ein glänzendes Zeugnis gegeben. Als aber der junge Kandidat ihn gebeten hatte, ihm noch ferner zu gestatten, einige Stunden unentgeltlich zu geben, damit er doch in der Übung bleibe, hatte er erwidert: „Ja, wenn ich Ihnen erst den Finger gebe, wollen Sie später die ganze Hand; hab ich Sie erst einmal unentgeltlich beschäftigt, kommen Sie demnächst um Anstellung ein.“ Nachdem ihm so sein schwarzes Innere plötzlich aufgehellt war, hatte er, erschrocken über seine eigene Vermessenheit,
nur noch einige schüchterne Versuche gemacht, Anstellung zu finden. Umsonst. Da verfiel er aufs Stundengeben und aufs Weiterstudieren, wie er mir nach kurzer Zeit unsrer Bekanntschaft anvertraute. „Weiterstudieren? Sie haben doch, meine ich, die Staatsprüfung bestanden.“ „Aber erst in zwei Fächern. Inzwischen hab ich auch Fakultas in Deutsch und Geschichte erlangt und für Mittelklassen in Latein.“ „Mensch, wie ist das möglich?“ Er lächelte. „Wenn man erst einmal im Lernen ist, und wenn man so viel freie Zeit hat! Ich hab hier jetzt eine Hauslehrerstelle, der Junge ist kränklich, darf nur jeden Tag zwei Stunden Unterricht haben. Jetzt hab ich’s aufs Englische abgesehen.“ „Französisch wollen Sie am Ende auch noch nehmen?“ „Aber ganz gewiß.“ „Ja, worauf wollen Sie denn eigentlich hinaus?“ Da machte er ein ganz verschmitztes Gesicht, als ob er einen wahren Geniestreich ausgesonnen, und den Zeigefinger waagerecht vorstreckend, flüsterte er: „Aufs Heiraten will ich hinaus. Im Vertrauen – “ Und nun erzählte er mir leuchtenden Auges von seinem Glück. In Berlin wohne sie, sei Lehrerin, fest angestellt an der Volksschule, man denke nur! Durch seine Privatstunden habe er sie kennen gelernt, sie habe in demselben Haus Klavierunterricht gegeben, wo er Nachhilfe in Mathematik erteilt habe. O, sie spiele fein, und singen könne sie auch. Man solle es nicht glauben, was alles in der stecke, so eine kleine zierliche Person, kaum bis zur Brust reiche sie ihm, und ein Wille so fest wie Kieselstein, aber eine Seele so weich wie Musik. „Hab ich nicht recht, daß ich immer weiterstudiere?“ schloß er seine begeisterte Schilderung.
„O gewiß, wenn’s nur zum Ziele führt!“ „Wird’s schon. Wenn ich erst noch Englisch und Französisch habe, dann will ich mal sehen, wer mit mir konkurrieren kann. Dann müssen sie mir schon eine Stelle geben. Und dann, wenn ich meine Fanny heimführen kann, heim, Junge, heim, das Leben ist doch schön!“ – Mein Freund mußte nach kurzer Zeit mit seinem Zögling nach dem Süden gehen. Da war ich wieder ganz allein; aber ich hatte mich an seiner sonnigen Natur aufgerichtet. Und ich hatte meine Mutter, meine Bücher. Was kümmerte mich alles andere?
Probejahre.
Das Studium machte mir Freude, nicht das im Kolleg, aber das daheim in meinen vier Wänden. Besonders das Gotische tat’s mir an. Wie klang das so voll, so kräftig, so lebenswarm! Wie die Kindheitssprache unseres Volkes erschien es mir, mit allem Zauber der Jugend und der Heimat. Es war mir zuweilen mehr ein Erinnern als ein Lernen. Manchmal stieß ich auf ein Wort, das mir ein ganzes Stück Kindheit zurückbrachte: ‘Uhtwo’, die Dämmerung – und ich hörte in früher Winterstunde die Dreschflegel gehen: Klippe, klippe, klapp; klippe, klippe, klapp, und eine ‘Uchte’ war gedroschen. ‘Moks’, weich – ach, meine Mooke! Wie die Äpfel im Heu sich goldeten und weich wurden! Und bei ‘Atta’ stand die Mutter mit liebevollem Schelten vor mir: „Jung, Jung, was zerreißt du vor Zeug, und der Ätte muß sich um jeden Groschen so plagen!“ Die gute Mutter, der arme Ätte! Es waren doch reiche, schöne Jahre. Und wenn ich auch oft bedauerte, daß die meisten der Professoren so gar keine Lehrer waren, so fühlte ich doch bald mit stiller Ehrfurcht, wie sie in selbstloser Hingabe Stein um Stein losgruben und herbeischleppten für die große Baumeisterin Wissenschaft. War diese selbstlose Hingabe den Studenten ganz fremd geworden, oder trugen sie sie verschwiegen in der Brust, als ob man sich ihrer in der neuen Zeit des Erfolges schämen müsse? Einen Freund fand ich nicht wieder, wohl aber ‘gute Freunde’, jüdische und auch christliche, mit denen sich eifrig lernen, fröhlich wandern und gemütlich zechen ließ. Aber seltsam, immer, wenn man von Zukunftsplänen sprach, drehte sich alles
darum, wie man am besten vorwärts käme, am schnellsten Karriere machen könne. Waren wir denn alle Handelsleute geworden? War auf den Schlachtfeldern Frankreichs gefallen, was deutsche Jugend an Idealen trug? Harte, frohe Arbeitsjahre: Kolleg, Stundengeben, Lernen, Wandern, Büffeln. Nimm dich zusammen, da ist noch ein dunkles, enges Tor, voll unsichtbarer Fallen, nimm dich zusammen – das Examen. Hindurch, bestanden! Hurra! Wie flutet das Licht auf mich ein, wie ist die Welt so hell, und weit und groß! Heim zur Mutter! Ich streichle ihre alten runzligen und doch so weichen Backen, ich sitze neben ihr und presse ihre guten, arbeitsharten Hände, und sie sieht mich stolz und glückstrahlend an. Nur ganz fern in ihren leuchtenden Augen steht eine Frage: Was nun, mein Jung? „Jetzt noch ein Probejahr, Mutter, und dann tauschen wir die Rollen, dann arbeite ich für dich.“ „Und dann?“ Sie lächelte wie ein junges Mädchen, das ein seliges Geheimnis weiß. Und nach einem stummen Weilchen sagt sie ganz unvermittelt: „Ich soll dich auch grüßen von Helene.“ „Ist sie hier?“ „Sie war hier, ist schon wieder fort. Ihr Vater kann sie nicht klug genug kriegen. Erst in Pension, dann nach England, nu in Frankreich. Das arme Kind soll wohl alles lernen, ist aber gar nit stolz, immer besucht sie mich, und schön ist sie, Jung, schön wie die Königin Esther.“ „Hast du die denn gekannt Mutter?“ „Moses, lach nit so! Es steht doch so geschribben.“ Und ich umschlang sie und küßte ihr den Unwillen vom Munde. So leicht ging’s mit dem Probejahr nicht. Ich wäre gern in der Stadt bei der Mutter geblieben. Aber überall klopfte ich
umsonst an, die Türe ward nur spaltenweit aufgemacht, wie wenn draußen ein Bettler steht und die Kette vorsichtigerweise nicht gelöst wird. Und wenn ich hindurchsah, hieß es überall: „Man habe schon Kandidaten genug.“ Nur bei dem Direktor des Realgymnasiums, Doktor Reimers, fühlte ich einen warmen menschlichen Händedruck. Auch er bedauerte, daß er keine Verwendung für mich habe, aber sein Bedauern war mehr als Worte. Er hieß mich bleiben, fragte nach meinem Lebensgang, meinen Studien, meinen Plänen, meinen Ansichten, nickte zustimmend und lächelte abwehrend. Es war mir, als ob ich mit einem alten Freunde plauderte. Wie wohl das tut, einen Menschen finden! „Heute also nicht, aber hoffentlich später, Herr Doktor, und so sage ich auf Wiedersehen!“ „Auf Wiedersehen, Herr Direktor!“ Endlich schlüpfte ich mit Hilfe der Regierung in einem kleinen, westfälischen Nest unter. Man sah mich nicht gern am Gymnasium, ich fühlte es vom ersten Augenblick an. Der Direktor war ein gutmütiger, milder Herr, der vor seinen Oberlehrern, besonders den Reserveleutnants, den heiligsten Respekt hatte. Er kam nur in die Klassen, wenn sie ihn hinschickten, um die Jungen auszuschelten. Die armen Jungens! Sie hatten nicht nur ein Probejahr, sie hatten nur Probejahre. Es wurde an ihnen herumprobiert, wieviel wohl so eine gesunde, frische Knabennatur vertragen kann, bis man ihr alle Lust und Freude am Lernen und an der Schule, wenn nicht gar am Leben, ausgetrieben hat. Aufgeben, abhören, aufgeben, abhören und als Zugabe Strafarbeiten und Nachsitzen. Daß in diesen jungen Herzen auch ein eigenes, warmes Leben flutete, daß da draußen ein Leben mit tausend Reizen und Anregungen lockte, wer dachte daran? In Büchern, in Vokabeln, in Regeln, Namen und Daten soll der deutsche Knabe sich ausleben. Ein Glück, daß das eigentliche Leben zäh
und wurzelreich ist, wie das Gras am Boden. Es kommt immer wieder hoch, wenn es auch noch so stark getreten wird. An den freien Nachmittagen reckt es sich, in den Pausen streckt es sich, und selbst durch die harten Kieselsteine der Unterrichtsstunden bohrt es seine feinen, grünen Spitzen. Da sollt ich nun lehren und lernen. Es gab auch ein paar feine, tüchtige Lehrer da, ältere Herren, aber die wollten sich mit dem Kandidaten nicht mehr abplagen. Und so hörte ich denn zu, wie aufgegeben und abgehört, wie gescholten und gestraft wurde, und lernte im stillen aufs neue, was ich schon bei unserm Seminardirektor gelernt hatte, wie es nicht gemacht werden muß. Nach einigen Wochen sollt ich selber lehren, Französisch, Plötz natürlich. Der Weg war fest umgrenzt, da gab’s kein Irren. Aber etwas anderes gab’s bald. Ich glaubte, ich könnte die Quartaner lehren und könnte mit ihnen verkehren, wie mit meinen Kindern in der Dorfschule; aber die kleinen Kerle wurden bald unruhig, verwegen, frech, die reinen Gassenbuben. Ich war zu nachsichtig, zu freundlich, zu kameradschaftlich mit ihnen gewesen. Das waren sie nicht gewohnt, das konnten sie nicht vertragen. Sie sahen mich auch nicht als voll, nicht als richtigen Lehrer an. Er ist nur Kandidat. „Weißt du, was für ein Unterschied zwischen einem Oberlehrer und einem Kandidaten ist?“ hörte ich einmal einen Schüler seinen Kameraden fragen. Und die Antwort lautete: „Ein Oberlehrer darf die Hefte in den Stunden korrigieren, ein Kandidat aber nicht.“ „Nein“, meinte der zweite, „ein Oberlehrer darf uns bestrafen, aber ein Kandidat wagt es nicht.“ So mußte ich streng sein, noch strenger als die andern. ‘Doktor Lennhausen ist ein Schinder’, las ich einmal auf einem Zettel, der mir, natürlich unabsichtlich, auf das Blatt geflogen war. Die armen Kerlchen, wenn sie nur geahnt hätten, wie schwer mir das Schinderamt geworden. Aber wer in einer
Maschine mitarbeitet, muß sich herumdrehen, wie alle die andern Räder auch. – Wie kam’s denn nur, daß mir mit einem Mal die Disziplin schwer wurde, die mir als jungem Lehrer niemals etwas zu schaffen gemacht hatte? Freilich in meiner Dorfschule war ich der einzige Lehrer, der einzige Vorgesetzte, da gab’s kein Vergleichen und kein Beschweren, da gab das Amt schon Würde und Ansehen und heischte Gehorsam und Ehrfurcht. Und selbst, als ich einmal in der christlichen Volksschule vertreten mußte, hatte ich keinerlei Schwierigkeiten; aber hier? Wo liegt eigentlich das Geheimnis der Disziplin? Riesengestalten unter den Lehrern werden von Sextanern ausgelacht, und Zwerge beherrschen mit einem Blick die Sekundaner, oder was noch mehr sagen will, die Tertianer. Feinsinnige Gelehrte verspottet, verhöhnt man, und stumpfen Dummköpfen lauscht man mit ehrfurchtsvollem Schweigen. Hier, wie überall in der Welt, entscheidet die Persönlichkeit, oder vielmehr, wie sie sich gibt, entscheidet ihr Wille, ihre Konsequenz, ihr Selbstgefühl, entscheidet – aber wer kann das Geheimnis der Disziplin ergründen? Dann wär es ja kein Geheimnis mehr. Viele Stunden waren mir eine Qual, ein Bangen vorher, ein Verzagen nachher. Dazwischen aber gab es auch Stunden, wo doch der Geist die Körper zwang, in denen Schüler und Lehrer ganz eins wurden und wie in einem fröhlichem Wanderbund zusammen in die Welt zogen. Der Lehrer nur den Weg weisend, und die Schüler um ihn her bergauf und bergab, durch Wald und Feld, durch Busch und Bruch, lustig, wie die Wässerlein, die zu Tal springen. Ältere deutsche Geschichte in der Tertia, vertretungsweise. Wir ließen Städte und Dörfer, Landstraßen und Eisenbahnen, Gärten und Felder versinken und wanderten durch Germanien, jagten in den Wäldern, zogen in den Krieg, lagen auf der Bärenhaut und opferten den
Göttern in den stillen, dunklen Hainen. Die Jungen halfen finden und erfinden, Ursache und Folge verknüpfen, und eines Tages – auf eine leise Anregung hin – hatten sie aus der Geschichte eine Geschichte gemacht: Ein deutscher Knabe, der in Rom gefangen gewesen, entflieht zu den Seinen in die Heimat und erfahrt, ein junger deutscher Tacitus, durch die Gauen ziehend, germanische Art und germanisches Leben. Die besten phantasiereichsten Schüler hatten jeder ein Kapitel übernommen. War das eine Spannung, ein Miterleben, eine Freude! Und als wir an die Völkerwanderung kamen, war es nicht recht und billig, daß wir selber mitwanderten und mitkämpften um neuen Herd und neue Weidestätten? Und war es nicht selbstverständlich, daß abends ein alter Barde in die Halle des Herzogs trat und den metfrohen Gästen das Lied von Hildebrand und Hadubrand sang? Das wundersame, wehmütig frohe Lied, das schon allen Kern germanischer Poesie in sich trägt? War es nicht ebenso natürlich, daß am Hofe von Aquitanien der Sang von Walther und Hildegunde ertönte? Wie die Augen der Knaben leuchteten bei den Kämpfen der Recken, wie sie lachten bei ihren grausigen Späßen! O weh! Der Direktor kam und prüfte. Man hatte ihm von dem Unfug erzählt. Wann war die Schlacht bei Adrianopel? Keiner wußte es! Wie hieß der letzte König der Burgunder? Peinvolles Schweigen. Und nachher unter vier Augen: „Keine Allotria, lieber Herr Doktor, das Pensum, das Pensum!“ So hörte denn der Unfug auf. Ich gab Geschichte wie Französisch. Genau nach dem Buche: aufgeben, abhören, aufgeben, abhören. Und als der Direktor wiederkam, wußten die Jungen alles, aber sie hatten nichts gelernt und nichts erlebt. Das Probejahr ging vorüber. Ich stellte mich der Regierung zur Verfügung, und meine Mutter hoffte. Ich gab Stunden und
wartete, wartete und gab Stunden. Und meine Mutter hoffte. Sorgfältig schrieb ich ein Dutzendmal meine Zeugnisse ab, sie waren nicht schlecht, ließ sie ein Dutzendmal amtlich beglaubigen und schickte sie an staatliche, städtische und Privatschulen, wo nur irgend eine passende Stelle frei war. Sie kamen getreulich alle zurück, wie gute Brieftauben, die dem heimatlichen Schlag immer wieder zufliegen. Stets hieß es nach geraumer Wartezeit: ‘Die Stelle ist schon besetzt.’ Und zweimal war in dem beigefügten Lebenslauf, wohl nur aus Versehen, die ‘jüdische Konfession’ blau unterstrichen worden. Da nahm ich eine Hauslehrerstelle an. Ach Hauslehrer! Der Junge war dumm, aber die Mutter, die Frau Kommerzienrätin, war noch viel dümmer. Sie wollte mich durch widerliches Protzentum in gehöriger Distanz halten und hätte doch zugleich gern eine Liebelei angeknüpft. Da rettete ich mich aus dieser dumpfen, schwülen Atmosphäre mit einem Sprung über den Kanal. Nach England zu gehen, den Shakespeare an Ort und Stelle im Original lesen zu können, war ein alter Jugendtraum. Die Mutter erschrak über das ungeheure Unternehmen; aber ich hatte die ‘gefährliche Seefahrt’ schon überstanden, als sie davon erfuhr.
In England.
Bei dem ersten Zusammentreffen mit einem Engländer an der Zollrevision versagte mein Englisch, und beim ersten Blick in das Straßenleben Londons versagten meine Augen. Ich war betäubt, überwuchtet von diesen Menschen- und Wagenfluten. Stundenlang stand ich an der Bank, auf London Bridge und starrte hinein. Als ob jedes Haus eine Kirche wäre, und nun alle Kirchen zu gleicher Zeit ‘aus’ wären. Und jeder Kirchgänger ist ein Gutsbesitzer und hat ein Fuhrwerk herbestellt, und da strömten sie nun hin, eilig und doch geordnet, Kopf an Kopf, Wagen an Wagen, immer mehr, immer mehr. Fangen die Häuser nicht auch an, mitzugehen? Ich kam erst wieder zu mir selber, als ich mit kühnem Entschluß auf einen Omnibus kletterte und den Sitz neben dem Kutscher einnahm. So, jetzt bist du auch ein Tropfen in dem ungeheuren Strom, nun schwimme mit! Von der Bank zum Hyde Park, von Piccadilly zur Bank. Seht euch satt, ihr Augen, auch das ist groß, auch das ist schön! Ich mußte mich erst gewaltsam daran mahnen, daß ich nicht zu einer Vergnügungsfahrt nach London gekommen war, daß mich das deutsche Gasthaus nicht aus landsmannschaftlicher Liebe aufgenommen hatte. Ich mußte billig leben, mußte auch bald etwas verdienen. So fand ich denn nach einigen Tagen in einer nördlichen Vorstadt in einer stillen, ruhigen Straße ein billiges Zimmer. Bei einem Lehrer, das war entscheidend für mich. Da konnte ich schnell und gut Englisch lernen. Mister Elkin war noch ein junger Mann, der mit zwei Schwestern bei seiner Mutter wohnte. Er war Hilfslehrer an einer städtischen Volksschule, aber er werde bald, wie er mir
in der ersten Stunde erzählte, Hauptlehrer werden. Er brauche nur noch ein kleines Examen zu machen, und das sei spielend leicht für ihn. Ich zweifelte nicht daran. Er war ein begabter, kluger Kopf. Ich war um Jahre älter als er, aber wie jung war ich neben ihm! Was wußte er nicht alles, was hatte er nicht alles gesehen! Auf jedem Gebiet war er daheim. Als wir einmal die Vorzüge der deutschen und englischen Literatur besprachen, erstaunte ich, daß er Namen und Daten wußte, die mir kaum bekannt waren. Freilich rühmte er dabei Halms ‘Sohn der Wildnis’, den er einmal vor Jahren auf einer englischen Bühne gesehen, als ein Stück von Shakespeare, und als ich ihn auf den kleinen Irrtum aufmerksam machte, meinte er ganz ruhig, nun ja, es habe aber doch Shakespearesche Qualitäten. Und wenige Tage später, als er mit einem Kollegen dasselbe Thema behandelte, natürlich ganz zufällig, hörte ich zu meinem Erstaunen, wie er alle die Ansichten, die er mir bestritten, als die seinigen ausgab. „Sehen Sie, die deutsche Literatur ist so bedeutend, daß ein Uneingeweihter ein ganz mittelmäßiges Stück von einem mittelmäßigen Dichter, zum Beispiel Halms ‘Sohn der Wildnis’, für ein Shakespearesches halten könnte.“ Und dabei sah er mich herausfordernd an, ob ich ihm etwa widersprechen wolle? Ich las Dickens und Thackeray mit ihm und gab ihm dafür deutschen Unterricht. Aber viel schneller als ich englisch, lernte er deutsch sprechen. Und hatte nicht die geringsten Vorkenntnisse. Aber jedes Wort, das er neu lernte, machte er sich gleich zu eigen und gebrauchte es bei jeder Gelegenheit. Nach wenigen Wochen sprach er deutsch, nicht gut, nicht richtig, aber bewundernswert geläufig. Da mußte ich mit ihm zu einem deutschen Barbier gehen. Die Stube war voller Menschen. „Uissen Sie Schiller?“ fragte er so plötzlich und so laut den Barbier, daß der erschrak und sein Kunde ‘Äau!’ schrie.
„Ja, uissen Sie Schiller? Schiller ist der größte deutsche Dichter, er ist worden geboren zu Marbach am 9. November 1759.“ Die ganze Stube hörte erstaunt zu. Und Mister Elkin fuhr triumphierend fort: „Uissen Sie auch sein berühmtestes Gedicht“ – er hatte es am Tag vorher bei mir gelernt – „‘Das Mädchen aus der Fremde’? Nein? Das sollten Sie zu wissen. Hören Sie, Herr Bast!“ Und er stellte sich hin und deklamierte mit erstaunlicher Sicherheit und noch erstaunlicherer Unverfrorenheit: Das Mädchen aus der Fremde. Alle stoppelbärtigen Gesichter blickten ihn wie ein Wundertier an; aber Herr Bast hörte mitten im Rasieren auf, drückte ihm begeistert die Hand und sagte: „Mister Elkin, ich will Ihnen nicht loben, aber Sie sprechen besser deutsch, wie einer, der in Deutschland geboren ist.“ Von diesem Tage an hörte Mister Elkin auf, deutschen Unterricht bei mir zu nehmen. Aber für mich wollten sich keine neuen Stunden finden, Stunden, die bezahlt wurden. Ich annoncierte und annoncierte. Jede Annonce in der Times kostete vier Mark, und mein kleines Kapital ging bedenklich dem Ende zu. Wenn ich eine Annonce aufgegeben hatte und die Stunde kam, in der ich Antwort erwarten durfte, ging ich vorher vom Hause fort nach Highgate-Hill oder nach Regents Park, um die Zeit froher Erwartung zu verlängern. Da malte ich mir aus, wie irgend ein reicher Cityherr oder ein Lord auf meine Dienste begierig sei, oder was für glänzende Anerbieten mir irgendeine Schule machen könnte. Und wenn ich dann langsam zurückging, immer langsamer, endlich ins Haus schritt – richtig, da lagen Stadtbriefe für mich. Ich öffnete sie erwartungsvoll. Ach, Annoncenexpeditionen hatten meine Offerte ausgeschnitten und versicherten mir, daß ich am besten zum Ziele käme, wenn
ich mich ihrer Hilfe bediente. Und das wiederholte sich von Tag zu Tag, von Woche zu Woche. Das Annoncieren wurde mir zu teuer. Ich ging in die City, ging den stundenlangen Weg zu Fuß, um die paar Pence zu sparen. Und seltsam, bald fühlte ich mich in dem wogenden Trubel so wundersam allein wie nur je auf dem verlassensten Waldwege, ich konnte da träumen und sinnieren wie in tiefster Heideeinsamkeit. In einem Zeitungsbureau durchstöberte ich Tag um Tag die Unterrichtsannoncen aller Zeitungen. Angebote für deutsch genug, Gesuche keine. Auf Mister Elkins Rat wandte ich mich an eine pädagogische Agentur. Es waren zwei Stuben da. Eine für die Herrschaften, eine für die Dienstboten. Ja, so ungefähr war das Verhältnis. Die Direktoren und Direktorinnen von Privatschulen auf dem Lande ließen sich die Ware der Reihe nach vorführen – mich wollte keiner kaufen. Als ich bedrückt zur Tür hinausschlich, klopfte mir jemand auf die Schulter. „Verzeihen Sie, Herr Kollege, Baumann ist mein Name!“ „Lennhausen.“ „Aber Sie fangen es auch zu ungeschickt an. Ich hab Sie nun schon ein paar Mal beobachtet. Mit Höflichkeit und Zurückhaltung erreichen Sie hier nichts. Wer setzt sich denn ans Ende der Bank und wartet, bis die Reihe an ihn kommt? Zylinder aufbehalten, für die letzten Groschen sich eine gute Zigarre kaufen, stracks auf den Kerl zugehen und sie ihm ins Gesicht paffen: ‘Zum Donnerwetter, noch immer nichts für mich?’ Das imponiert. Versuchen Sie es mal!“ „Wenn Sie meinen, Herr Kollege, es liegt mir nicht.“ „Es muß Ihnen liegen. Und dann – wie haben Sie sorgfältig den Zettel studiert, um durchzustreichen, was Sie nicht unterrichten können. Alles können Sie, alles.“ „Aber wenn ich es doch nicht kann?“ „Dann lernen Sie es. Was wissen denn die andern Esel?“
Ich lächelte, aber er merkte in seinem Eifer gar nicht, welches Kompliment er mir gemacht hatte. „Sehen Sie, ich konnte kein Wort Italienisch und übernahm eine italienische Stunde. Höchst einfach. Methode Plötz. Der Lehrer braucht nur immer eine Lektion voraus zu sein. Und fragte mich mal der Junge ein Wort außer der Reihe, so gab ich ihm irgend eine Vokabel, die er so schnell vergaß wie ich. Aber da kommt eines Tages ein Onkel aus Italien. Man tut mir die Ehre an, mich ihm vorzustellen. Ich spreche ruhig ein paar italienische Redensarten und sage dann noch ruhiger: ‘Ein so fein gebildeter Mann spricht doch sicherlich auch deutsch’ – so daß der arme Kerl froh ist, daß wir uns schließlich auf neutralem englischem Boden unterhalten. Verstanden, Kollege? Aber auch beherzigen. Sie haben es doppelt schwer. Auf Wiedersehen!“ Ich sah ihn nicht wieder. Er hatte wohl bald gefunden, was er begehrte, und ich suchte weiter. Ich wurde auch kühner, mußte es werden. Aufs Geratewohl ging ich in einige Schulen und fragte, ob sie einen Lehrer für Deutsch gebrauchen könnten. Nein, immer nein. Aber einmal gab mir doch ein Hauptlehrer die Adresse eines deutschen Herrn, des Doktors Waiden, an den solle ich mich wenden, der habe viele Beziehungen. Wie kann ich zu dem fremden Mann gehen? dachte ich; aber ich wagte noch einen seltsameren Weg. Vor einem prächtigen Landhause auf Highgate-Hill hatte ich einmal zwei schulaltrige Kinder, einen Knaben und ein Mädchen, spielen sehen. Und eines Tages trat ich hinein – Hunger hat eine treibende Kraft – fragte nach dem Hausherrn und sagte keck, ich hätte gehört, er suche einen deutschen Lehrer. Der Herr sah mich erstaunt an, fragte nach diesem und jenem, ich fühlte, wie mein Gesicht brannte, und dann rief er einer jungen, eleganten Dame im Nebenzimmer lächelnd zu: „Alice, ob wir einen deutschen Lehrer für unsre Kinder gebrauchen?“ Und dann ganz ernst zu
mir: „I am very sorry, aber wir sind erst ein halbes Jahr verheiratet.“ Ich habe nie mehr in einem Hause nach deutschen Stunden gefragt. – War ich unglücklich? O nein. Jeder Tag winkte mir mit neuen Hoffnungen. Und kam die Zeit zum Mittagessen – ich durfte jedesmal, wenn ich fehlte, einen Schilling vom Pensionspreis abziehen – so hatte ich unweigerlich in der City zu tun. Dann saß ich wieder im Zeitungsbureau oder beim Agenten, oder auch im Lesezimmer des Britischen Museums. Im Zimmer? In einem Schloßsaal, in einer Götterhalle. Und ich selber war der Lord, war einer der Götter. Man wartet nur meines Winkes, um mir zu dienen. All die Hunderttausende von Büchern, die bequemen Schreibpulte, die Lederstühle, die vielen Beamten, alles, alles nur für mich! Oder ich ging in einen Park, mit einem Brot, einem Apfel und las in meinem Schilling-Shakespeare. Durch einen weichen, grauen Schleier gleißt die Sonne, die Blätter in der hohen Platane über mir flüstern leise, fernher über den Rasen dringt das Jauchzen spielender Kinder, und ich lese den Sommernachtstraum. Lese und lese, und lache und weine vor Lachen, der Welt so fern und den Menschen so nah, und mir ist so heiter und klar zumute. So glücklich wie in jenen Stunden bin ich selten gewesen. Als ich nach Hause kam, hörte ich Mister Elkin mit lauter, greller Stimme zu seiner Mutter sprechen. Das Englisch tat mir weh. Ich ging auf mein Zimmer und schloß die Tür hinter mir. Eine seltsame Wehmut überfiel mich, ein Herzdrücken, als ob eine Krankheit auf mich laure. Ich öffnete das Fenster. Die Dämmerung graute schon. Hastig, immer hastiger schritt ich im Zimmer auf und ab, die innere Unruhe gewaltsam niederkämpfend. Vor meinem kleinen Bücherschrank blieb ich stehen. Ich hatte ihn seit dem Tage, da ich meine deutschen Bücher hineingestellt, nicht mehr geöffnet. Unwillkürlich
schließe ich ihn auf! Schiller, Goethe, Kleist, Lessing – blickt’s mich an. Da seh ich unsere alte Stube wieder, seh meine Mutter darin, sehe mein Dorf, meinen Wald und meine Berge – und halte mir krampfhaft die tränenden Augen zu. Heimweh! Meine kleine Barschaft, ich bemerkte es mit Grausen, ging zur Neige, obgleich ich seit Monaten kein warmes Mittagessen gekostet hatte, den Sonntag ausgenommen. Den Tag blieb ich in der Familie. Frau Elkin war eine gute alte Frau, die ihr Witwenleid geduldig trug, und auch das Leid, sich von einem Kinde ernähren lassen zu müssen. Die älteste Tochter aus der ersten Ehe ihres Mannes war die Herrscherin im Hause, wenn der Bruder nicht da war. Sie war von solch abschreckender Häßlichkeit und hatte solch wuchtige Kau- und Sprechwerkzeuge, daß man schon gar nicht wagte, ihr zu widersprechen, wenn sie nur den Mund auf tat, aus Furcht, sie könne ihn noch weiter auftun. Das jüngste Töchterchen, die kleine Nelly, war ein liebes, feines Kind, wie verirrt in diese Umgebung. Ich plauderte am liebsten mit ihr, und nie klang mir das Englische schöner, als wenn sie mir abends das Händchen reichte: „Good night, Sir, sweet dreams, soft repose!“ Mister Elkin war mir nicht sympathisch. Aber er war immer so bereit, mir gefällig zu sein, so erpicht darauf, mir einen Dienst zu erweisen, daß ich meinen Entschluß, von ihm fortzuziehen, stets wieder verschob. Das englische Haus hatte mich, rein äußerlich genommen, ein wenig enttäuscht. My home, my castle. Und ich hatte mir ganze Straßen voll kleiner Landhäuser mitten in Gärten gelegen, vorgestellt, eins noch schöner als das andere. Und ich fand ganze Straßen, deren Häuser sich ähnlich sahen wie ein Ziegelstein dem andern, und die auch nichts anderes darstellten als hohe Ziegelsteine mit ein paar Löchern als Fenster darin. Freilich, noch immer besser als unsere Mietskasernen. Es wohnt doch jede Familie in ihrem
Haus allein, und ein Gärtchen, wenn auch noch so klein, ist auch da. Und in dem Gärtchen ein paar Büsche, ein paar Blumen, ein Hauch der Natur, ein Gruß der Mutter Erde. Sie sind doch nicht ganz so losgerissen wie unsere Großstädter von allem, was da wächst und blüht, was grünt und erquickt. Und am Sonntag nachmittag, besonders in den dämmerigen Wintertagen, war es selbst in Mister Elkins Hause gemütlich und traulich. Da saßen wir alle nach dem Dinner um den großen Kamin in der besten Stube im Erdgeschoß. Mister Elkin rauchte aus seiner Pfeife, und ich gönnte mir eine Zigarre, die einzige in der Woche. Wenn dann die Scheite hell aufflammten, wenn die Flammen so lustig auf- und niedersprangen und Lichter und Schatten an den dunklen Wänden Kriegen spielten, da ließ sich fröhlich plaudern von Kindertagen und alten Zeiten, vom großen London und von dem kleinen Dorf in Westfalen. Und die graue Sorge zog mit dem Rauch in den Schornstein, und auf jedes Gesicht, selbst auf das der Frau Elkin, flog ein rosiger Schimmer von Frieden und stillem Glück. Und Mister Elkin stand auf und küßte feierlich seine Mutter, drehte sich dann, höchst zufrieden mit sich selbst, um, und fragte mich, ob ich meine Mutter auch so lieb habe? Und ein andermal in ebensolcher Stunde fragte er mich, ob ich auch hebräisch verstünde? Gewiß, sagte ich, ich sei ja Jude und wäre früher Lehrer in einer jüdischen Gemeinde gewesen. Ob ich ihm denn sagen könne, was das hebräische Wort ‘Johrzit’ bedeute? „Johrzit“, lachte ich, „das ist ja gar kein Hebräisch, das ist ja Deutsch. Der Jahresgedenktag des Todes eines nahen Verwandten. Wie kommen Sie zu dem Wort?“ „Heut ist ‘Johrzit’ unseres seligen Vaters.“ So hatte sich das Wort vielleicht seit Jahrhunderten, seit den Tagen Cromwells, da zuerst wieder Juden in England wohnen durften, festgewurzelt, Wort und Brauch, ein Erbteil der
Familie, während alles andere so gut wie vergessen war. Und so erfuhr ich denn auch, daß die Elkins eigentlich Juden seien. Ich kann nicht sagen, daß meine Zuneigung zu Mister Elkin dadurch größer wurde, und mein Vorsatz, kein Geld von ihm zu borgen – er hatte mir schon oft freundliche, dahin zielende Andeutungen gemacht – stand nur um so fester. Aber meine kleine Barschaft war zu Ende. Da raffte ich mich zu einem kühnen Entschluß auf. Ich wollte meine goldene Uhr und Kette, ein Geschenk meiner Gemeinde, versetzen. In einem ganz fernen Stadtteil suchte ich mir abends ein Pfandgeschäft auf. Wie einer, der von den schönen Sachen, die in den Auslagen locken, sich etwas aussuchen will, stellte ich mich vor das Schaufenster, ging hin und her, betrachtete die silbernen und goldenen Dinge, studierte die Preise und schielte nach dem kleinen dunklen Nebeneingang, in dem hin und wieder jemand verschwand. Und jedesmal, wenn das geschah, griff ich nach Uhr und Kette. Sind sie noch da? Wie lange noch? Hättest du das damals gedacht, als man sie dir feierlich überreichte? Und gerade als das Mitleid mit mir selber mich übermannen wollte, sah ich eine bleiche junge Frau mit einem großen Paket in den engen Gang gehen. Du Hansnarr, dachte ich da, willst dich bedauern, weil du eine Uhr und eine Kette entbehren sollst, und ahnst nicht, wie viel Not und Sorge sich durch diese kleine Tür drücken, um für Bett und Kleid ein bißchen Brot zu tauschen? Und sah die Tausende und Abertausende in dieser großen, glänzenden Stadt und daheim im großen mächtigen Vaterland, die jahraus, jahrein ringen und kämpfen, nur um einen Bissen Brot, den Hunger zu stillen, nur um ein Stück Zeug, sich vor Kälte zu schützen, sah sie ringen und kämpfen und hörte sie aufschreien vor Not und Elend. Und ich biß die Lippen aufeinander und schritt dem Eingang zu; aber noch im letzten Augenblick sah ich mich scheu wie
ein Dieb um, ob da nicht doch irgendein Bekannter hinter mir stände und lächelnd zusähe, wie Doktor Lennhausen Uhr und Kette versetzt. Ich hielt die errungenen Geldstücke fest in der in die Tasche gesteckten Hand, und froher, als ich gekommen, schritt ich nach Hause. Vor meiner Zimmertür, schon halb ausgekleidet, stand die kleine Nelly, als ob sie auf mich warte: „Good night, Sir, sweet dreams, soft repose!“ „Good night, my darling!“ Auf meinem Tisch aber lag ein Brief von meiner Mutter. Sie schrieb: ‘Mein lieber Sohn! Ich freue mich von Herzen, daß es Dir so gut geht und Du so gut Englisch lernst. Vergeß nur das Deutsche nit. Und eß immer gut, denn Essen hält Leib und Seele zusammen. Und ich möcht Dich, will’s Gott, bald gesund widdersehen. Ich bin auch gesund und zufriden. Helene Bergheim ist auch widder hier. Ein großes, schönes Fräulein, und ihr Vatter möcht sie mit gewalt bald verheiraten, sie will aber noch nit. Englisch hat sie auch gelernt, da könnt ihr ja zusammen so sprechen. Wir beiden wollen aber immer deutsch reden. Haste auch noch gelt genug? Sei nur ja vorsichtig mit Dir, ich bet jeden Tag zum lieben Gott, daß er Dich in der großen, großen Stadt behüt und bewahr. Es grüßt Dich Deine Mutter.’ Ich küßte den Brief. Und sweet dreams and soft repose kamen in der Stille der Nacht.
Doktor Waiden.
Der Erlös für Uhr und Kette war bald bis auf einen kleinen Rest verzehrt. Was nun? Mutter schreiben, schick mir Geld zur Heimkehr? Pfui, schäme dich! Es läßt sich wohl noch etwas sparsamer leben. Man kann auch ein Mittagsmahl aus einem Brötchen ohne Apfel machen, und die alten Semmeln sind halb so teuer wie die frischen. Die kaufte ich mir denn, und als Zubrot schenkte ich mir eine ganze Schüssel voll Mitleid mit mir und sagte leise vor mich hin wie’s in dem alten Märchen heißt: „Wenn das deine Mutter wüßt!“ Und stellte sie mir vor, wie sie so oft einem armen Handwerksburschen ein warmes Mittagessen gegeben und ein gutes freundliches Wort dazu. Und nun sitzt ihr Kind in der Fremde und hungert: Wenn das deine Mutter wüßt! – Ja, solcher Trost schmeckt gut. Und eines Tages überwand ich die alte dörfische Scheu und suchte meinen Landsmann, den Doktor Waiden, auf. Ich traf ihn in seinem Arbeitszimmer, als er sich gerade zu einem Ausgang rüstete. Es war ein kleiner untersetzter Mann, mit einem großen Kopf, einem breitrunden, blühenden Gesicht, mit langem schwarzem Haar und starkem Vollbart. Seine kleinen tiefen Augen blitzten mich an wie ein paar kreisende Sternlein, indes um den Mund ein Lächeln spielte, das zwischen Spott und Güte hin und her sprang. „So, so! Und was wollen Sie eigentlich in England?“ „Land und Leute kennen lernen und so gut Englisch lernen, daß mir der Shakespeare Freude macht, wo ich ihn aufschlage.“ „So, so. Und keine Schätze erwerben?“ Ich sah ihn staunend an.
„Nun, machen Sie nicht solch seltsames Gesicht. Sie wissen schon, wie es um die deutschen Schulmeister hier steht. Ich muß fort, muß Unterricht in Greenwich geben, Marineschule, haben Sie Zeit, mich zur Bahn zu begleiten?“ Als wir uns am Bahnhof verabschiedeten, mußte ich ihm versprechen, an seinem nächsten Besuchsabend wieder zu ihm zu kommen. Das war eine bunte Gesellschaft, die sich da zusammenfand: Engländer und Deutsche natürlich, aber auch Franzosen, Italiener, Portugiesen, Chinesen und Japaner. Nur keine Russen. „Werden Sie nie bei mir finden. Ich hasse das Volk. Es ist das Unglück Europas.“ Es wurde in allen möglichen Sprachen geplaudert und erzählt. Ein japanischer Student fragte mich nach den größten deutschen Dichtern, und ich stellte ihm höflich die Gegenfrage, vergaß aber seine Antwort noch am selben Abend, während er mir noch nach Monaten Goethe, Schiller und Kleist nannte. Wie das leise Knistern eines Kaminfeuers erwärmte die allgemeine Unterhaltung das Zimmer, bis plötzlich ein paar Akkorde auf dem Klavier erklangen und nun alle dem feinen Spiel der jugendlich anmutigen Hausfrau lauschten. Noch ehe es zu Ende, zupfte mich Doktor Waiden am Rock: „Empfehlen Sie sich auf französisch, und gehen Sie oben auf mein Zimmer.“ Eine Weile darauf kam er selber. „Die Gesellschaft ist aufgebrochen, ich möchte noch ein Stündchen mit meinem jungen Landsmann plaudern. Eine Zigarre? Sie rauchen doch? Es ist eine deutsche, eins von den wenigen guten Dingen, die aus Deutschland herüberkommen.“ Ich sah ihn betroffen an. Er lächelte. „Natürlich Sie und ich auch. Aber wie gefällt es Ihnen hier, und was gefällt Ihnen besonders in London?“
„Der Lesesaal des Britischen Museums, und daß man über die Rasenplätze des Parks laufen kann, ohne daß ein Schutzmann einen anschreit oder aufschreibt.“ „Sehen Sie, da haben Sie gleich zwei gute Dinge herausgefunden. Das Britische Museum, wie alle öffentlichen Anstalten, sind für das Volk und nicht für die Beamten da. Und der Parkrasen mag Ihnen ein Bild der englischen Freiheit geben. Haben Sie bemerkt, wie frisch und grün er ist? Warum? Weil jeder überall hintreten darf. Wäre es verboten, so gäbe es Richtpfade darin, und der Saum wäre abgetreten. Ihr Deutschen laßt euch alles vorschreiben, selbst eure Hohenzollern- und Bismarckverehrung.“ Ich stand auf und sagte erregt: „Ich sollte meinen, die sind echt und ursprünglich. Bismarck ist groß genug dafür.“ „Ruhig, junger Freund. Groß? Dafür fehlt ihm doch wohl die freie, tiefe Menschlichkeit. Dafür ist er zu kleinlich, zu rachsüchtig und zu habgierig. Ein süddeutscher Landsmann wettete kürzlich mit mir, daß er die Nationalspende zu einer großen volkstümlichen Stiftung verwenden werde. Und als er sie zum Ankauf seines Stammgutes verbrauchte, meinte er entschuldigend: ‘Na, er ist halt a Preiß.’ Ihr werdet ihn noch lange in den Knochen spüren.“ „Wir hoffen es, seine Kraft und – “ „Seine Moralität. Merkwürdig, wie konservativ ihr Juden seid – Sie sind doch Jude?“ „Gewiß, Herr Doktor.“ „Merkwürdig, Revolutionäre solltet ihr sein.“ „Sind wir auch, so lange wir um Recht und Freiheit kämpfen müssen. Aber in unsern Herzen sind wir konservativ wie die Engländer: immer beharrlich, Altes zu erhalten, aber auch immer bereit, neues Gutes einzuführen. Wir sind zu alt und haben zu viel erfahren, um nicht zu wissen, daß alle Entwicklung langsam geht.“
„Und sind zufrieden – nehmen Sie’s nicht übel, – wenn wir in Ruhe leben und verdienen können.“ „Gewiß, wie die ungeheure Mehrheit aller Menschen. Wer anders denkt, gehört zu den Ausnahmen, und ich glaube, die finden sich auch beiden Juden.“ „Ich weiß es, ich weiß es. Sie sind wohl orthodox?“ „Ich bin aus Westfalen“, sagte ich lächelnd. „Das heißt?“ „Ich glaube, in der ganzen Provinz ist kein Rabbiner, kein orthodoxer und auch kein anderer.“ „O, ich bin kein Gegner glaubensfrommer Menschen. Ich verstehe nur eins nicht. Die englischen Juden, auch die orthodoxen, sind in erster Linie immer Engländer; aber in Deutschland stehen die Juden ganz abseits, sondern sich ab, wollen nur Juden sein und sehnen sich heimlich nach Palästina zurück.“ „In Worten vielleicht, mit der Seele nicht. Sie sondern sich auch nicht mehr ab als die Katholiken von den Protestanten, die Adligen von den Bürgerlichen, und die Bürgerlichen von den Arbeitern. Sie sind ebenso gute Deutsche wie die Katholiken, die man jetzt ultramontan schimpft.“ „Und die es doch auch sind?“ „Manche Geistlichen vielleicht, das Volk nicht, sicherlich nicht. Das kenne ich. Ich bin unter Katholiken groß geworden. Das ist so gut deutsch, so gut unbewußt deutsch, wie ein Volk es sein kann und muß. Das ist übrigens das Dritte, was mir in England so gut gefällt. Es wird so wenig zum Patriotismus erzogen. Ich habe eine ganze Anzahl Schulen besucht und nirgends ein Bild der Königin gefunden, nichts von Majestätsbeleidigungen, von der Geburtstagsfeier der Fürstin, von patriotischen Gedenktagen gehört. Wir ersticken in Deutschland in Patriotismus, in künstlich gemachtem und ekelhaft ruhmredigem.“
„Sie meinen also auch, daß man den Patriotismus nicht pflegen soll?“ „Pflegen? Ja, aber nicht züchten. Echte Vaterlandsliebe wurzelt in der Heimatliebe, und Liebe zur Heimat ist den Menschen angeboren wie die Liebe zur Mutter, wie der andächtige Aufblick zu den Sternen. Es ist etwas Gutes und Hohes darum; aber es ist nicht das Beste und nicht das Höchste.“ Doktor Waiden klopfte mir auf die Schulter: „Ich glaube, wir werden uns verstehen. Ich möchte Ihnen etwas aus meinem Leben erzählen.“ Und nun erfuhr ich, daß Doktor Waiden aus Heidelberg, Sohn eines Geistlichen und ein alter Achtundvierziger sei. Der junge, heißblütige Student hatte sich an dem badischen Aufstand beteiligt, war nach Frankreich geflüchtet, hatte gegen Napoleon den Dritten auf den Barrikaden gestritten, war ins Gefängnis geworfen worden und fand schließlich nach langen Kämpfen und Entbehrungen in der Verbannung in England sein Brot und sein Heim. Nun verstand ich seinen Groll gegen das neue Deutschland, das auf einem andern Wege Einheit und Macht gefunden, als auf dem, den die tapfern idealbeseelten Alten gehen wollten, verstand den Groll gegen die neuen Männer, die diesen Weg gebahnt hatten, verstand auch, daß dieser tiefe Groll nichts als verborgene heiße – Liebe war. Spät in der Nacht, oder vielmehr früh am Morgen ging ich von Doktor Waiden fort, stiller Gedanken voll. Bei den kleinen, lampenerleuchteten Buden standen schon die ersten Arbeiter und kauften sich eine Tasse Tee oder Kaffee. Da fiel mir ein, daß ich meinen Landsmann ja auch nach Arbeit hatte fragen wollen, und mit stillem Neid blickte ich nach den Buden hin – nach den Leuten, die zur Arbeit gehen konnten.
Ob sie nicht auch vielleicht neiderfüllt mich ansahen, als einen, der die Nacht durchschwärmen durfte? Noch oft, oft kam ich zu Doktor Waiden; er verschaffte mir keine Stunden, aber kein Haus in England hat mir so viel gegeben wie seins.
Mister Elkin.
Und die Stunden fanden sich auch. Erst bei zwei Ärzten, Brüdern, die in Wien studiert hatten. Ich sollte mit ihnen deutsche medizinische Bücher lesen. Meine Furcht, daß ich die Fachausdrücke nicht verstehe, sei belanglos, die verständen sie schon selber. Ich sollte ihnen nur durch die langen verwickelten Satz-Konstruktionen helfen. Sie verstrickten sich darin wie in Schlinggewächse und kämen nicht lebendig heraus. Und eine zweite Stunde fand sich an einer kleinen Privatschule. Die Vorsteherin war eine Pastorswitwe, eine feine, kluge Frau, die weiter keinen Fehler hatte, als daß sie an zeitweiliger Trinksucht litt und dann einige Tage im Bett liegen mußte. Meine Jungen waren begabt und machten gute Fortschritte. Sie suchten sich zwar, gerade wie unsre deutschen Jungen, auch auf allerlei Weise vor dem Lernen zu drücken; aber nie kam ein unwahres Wort über ihre Lippen. Sie hätten lieber jede Strafe auf sich genommen, als sich durch eine Lüge herauszureden. Es war eine rechte Freude, mit ihnen zu arbeiten, und wenn ich auch nicht Cricket oder Fußball mit ihnen spielen konnte, sie hatten doch Respekt vor mir. Bei der nächsten öffentlichen Prüfling in der Schule erhielten zwei von ihnen einen Preis für Deutsch, insbesondere für gute Aussprache – aber ich war nicht gefragt worden, ob sie ihn verdienten. Trotz meiner eifrigen Studien fand Mister Elkin, daß ich nicht genug Fortschritte im Englischen mache. Und eines Tages fragte er mich ganz unvermittelt: ob ich nicht eine ‘living grammar’ nehmen wolle? Eine lebendige Grammatik?
Er denke auch daran, sich demnächst eine fürs Deutsche zu erwerben. Er würde sich vielleicht mit einer jungen Deutschen verloben. „Ich darf noch nicht ans Heiraten denken.“ „Ist auch nicht nötig. Kommen Sie heute abend mit mir zu meiner Freundin.“ Die Freundin war eine junge, üppige Frau von vielleicht dreißig Jahren. Ihr Mann, ein Freund Mister Elkins, war Reisender. Sie bewohnte ein behaglich eingerichtetes Haus, und Mister Elkin gab ihr Stunden im Deutschen und las ihr Englisch vor: Gedichte und Novellen, fremde und eigene. Denn Mister Elkin war auch, wie ich an dem Abend erfuhr, ein anerkannter Dichter, dessen Schriften aber alle pseudonym erschienen waren. Mich selber stellte er als einen deutschen Schauspieler vor, der zur englischen Bühne übergehen wollte, einen Künstler von bedeutendem Ruf. Ich hörte das geduldig mit an, mußte sogar seine Aussage bestätigen und fragte mich immer in stiller Erwartung: Warum das alles? Das Warum kam. Eine Freundin der Freundin, ein hübsches, junges, schlankes blondes Ding mit keck verlangenden Augen. Auch ihr wurde ich als Schauspieler vorgestellt, aber inzwischen war meine Bedeutung gewachsen. Ich war einer der ersten Künstler Deutschlands geworden, die Hofbühne in Berlin hatte mir die glänzendsten Anerbietungen gemacht, aber mein Ehrgeiz ging weiter. Nicht Deutschland, die Welt wollte ich mit meinem Ruhm erfüllen, und darum wollte ich jetzt die englische Bühne beglücken. Mrs. White ging hinaus, um nach den Kindern zu sehen, und Mister Elkin folgte ihr bald. So blieb ich mit der Freundin allein, und ob sie mich auch noch so schwärmerisch anblickte, ob mein Blut auch in Wallung geriet, ich kam nicht weiter, als zu den Lügen Mister Elkins neue zu erfinden, um die alten zu
stützen. Und dafür mußte ich alles Sinnen und alle Phantasie verbrauchen. Und als Mister Elkin nach einer Weile wieder zu uns hereintrat, war er ganz erstaunt, uns in eifrigstem Gespräch und auf denselben Stühlen wie zuvor zu finden. Zur weitern Pflege der neuen Freundschaft wurde ein gemeinsamer Theaterbesuch verabredet. Auf dem Heimwege fragte ich Mister Elkin, warum er mich denn eigentlich als Schauspieler vorgestellt habe? „Sie Unschuldslamm“, er lachte, „begreifen Sie nicht? Alles Künstlertum, alles, was nach Bohemien riecht, zieht die Weiber an.“ Und nun erzählte er mir von seinen ungeheuren Don Juan-Erfolgen. Ich wußte, er schnitt auf; aber ich wußte auch, es steckte ein gut Teil Wahrheit in dem, was er sagte. Seine außergewöhnliche Beredsamkeit, sein leise angedeutetes Weltschmerzentum und sein geschickt eingeflochtener Dichterruhm – er reimte auch wirklich ganz nett – ließen die Frauen seine Häßlichkeit ganz und gar vergessen, machten ihn interessant und anziehend. Mister Elkins Erziehungsversuche hätten doch vielleicht Erfolg gehabt, wenn nicht seine Verlobungspläne und eine schwere Krankheit der Kleinen Nelly dazwischen gekommen wären. So wurde nichts aus dem verabredeten Theaterbesuch. Dafür ging Mister Elkin um so fleißiger zu der deutschen Familie, deren neues Mitglied er zu werden wünschte. Er berichtete immer regelmäßig, welch tiefen Eindruck er auf alle und besonders auf sie, die Eine, gemacht habe, und wie erstaunt man über seine Begabung und seine Fähigkeiten sei. Auch seinen Freund, der in Deutschland eine so hervorragende Stelle als Pädagoge und Schriftsteller einnehme, wünsche man kennen zu lernen. Dieser Freund, der noch nie eine Zeile veröffentlicht hatte, war über diesen seinen Ruhm nicht wenig verwundert; denn dieser Freund war ich. Ich hütete mich aber, eine der Stufen zu sein, auf denen Mister Elkin zu seiner
Erwählten klimmen wollte, ich hatte genug an meinem Schauspielerruhm und schlug es ihm rundweg ab, mit ihm einen Besuch bei meinen Landsleuten zu machen. Er kam auch ohne mich weiter, und die Verlobung wurde festgesetzt. Aber Klein Nelly blieb krank. Der Arzt wußte nicht recht, wo’s hinaus wolle, schließlich aber stellte er Scharlach fest, schweren Scharlach. Durch die Krankheit des Kindes, das in der strengen Januarkälte neben dem Wohnzimmer gebettet war, kam in das wirre, unruhige, unwahre Haus eine Stille, ein Friede, wie es ihn noch nie gesehen hatte. Jeder ward leiser, reiner, besser denn je. Und in diesen Frieden brach eines Tages Mrs. White herein, tobend, zermalmend, wie ein Hagelschauer. Sie hatte von der bevorstehenden Verlobung Mister Elkins Kunde bekommen, und eh einer es ahnte, stand sie mitten im Zimmer, mit heißem Atem und glühenden Augen: „Wo ist Mister Elkin?“ „Er ist nicht zu Hause“, sagte die Mutter. „Er muß zu Hause sein, ich muß ihn sehen.“ „Er ist nicht da“, bestätigte ich. „Und wo ist er, der Betrüger, der Verräter?“ schrie sie auf. „Bitte, stille, leiser, Mrs. White, kommen Sie nach oben. Drinnen liegt ein todkrankes Kind.“ Ich wies nach der Kammer, in der Klein Nelly lag. Man konnte ihr schweres Röcheln hören. „Was kümmert’s mich?“ schrie das entsetzliche Weib. „Ich bin auch todkrank. Meine Ehre, mein Gewissen sind schon tot. Und meine Kinder, hab ich sie nicht preisgegeben um ihn? Sie und mich und alles! Aber ich lasse ihn nicht, ich klammere mich an ihn, er soll sich mit keiner andern freuen. Wir gehören zusammen in Schuld und Buße!“ „Kommen Sie doch, um Himmels willen kommen Sie!“ bat ich. Aber sie rührte sich nicht.
„Ich will nicht, hier will ich ihn erwarten. Wo hat er sich versteckt?“ Und dann faßte sie mich bei der Hand. „Sagen Sie’s mir, Sie haben Gastfreundschaft bei mir genossen, sagen Sie’s mir, um Ihrer Mutter willen, wo finde ich ihn?“ „Sprechen Sie nicht von meiner Mutter! Gehen Sie doch nach oben, Sie hören ja, wie das Kind stöhnt.“ Da trat Mister Elkin ins Haus, ins Zimmer. Sie stürzte wie eine Rasende auf ihn zu und faßte ihn an die Schulter. „Du? Du? Ist’s wahr? Du willst mich verlassen, Charles? Willst eine andere nehmen? Du? Du, Elender! Sag, daß es nicht wahr ist, schwör es mir!“ „Ich kann dir hier nicht Rede stehen, hier vor meiner Mutter, und drinnen liegt mein Schwesterchen, todkrank.“ „Ich weiß es, ich weiß es, ihr wollt mich alle betrügen, groß und klein. Aber ich weiche nicht von hier. Du sollst mir antworten, hier, hier, hörst du, du Verräter!“ Er war totenbleich geworden, aber sagte in ganz ruhigem, sicherem Ton: „Du weißt, daß ich nie ein unwahres Wort gesprochen habe, du weißt es, Gertie!“ War es der Klang ihres Namens in seinem Munde? Plötzlich mit ganz anderm, mit weichem, bittendem Ton schluchzte sie: „Ich weiß es, Charly, ich weiß es. Und ich weiß, du wirst auch jetzt dein Wort halten. Mach mit mir, was du willst, aber du darfst mich nicht verlassen. Ich gehe mit dir, wohin du willst, nach Amerika, nach Indien, nach Australien, wohin du willst, morgen, heute schon, ehe Frank zurückkommt. Alles will ich tun, alles aufgeben, alles, alles, nur dich nicht!“ Und sie umklammerte ihn und küßte ihn in wilder Glut. Mich packte ein Schauer vor dem Ausbruch solcher Leidenschaft, und doch neidete ich sie ihm in tiefster Seele. „Wenn du mir noch glaubst, Gertie, so komm, komm mit auf mein Zimmer.“
Sie gingen hinaus. Und Mrs. Elkin folgte tränenden Auges. Ich schritt leise, ganz leise in die Kammer zu dem kranken Kind. Das lag im zerwühlten Bettchen, den Kopf nach dem Fußende hin, die Beinchen halb aus dem Bett gestreckt, als ob es habe aufspringen wollen und nicht mehr gekonnt hätte. Ich faßte sein Händchen – kalt! „Nelly, dear little Nelly, darling!“ Da schlug es die Augen noch einmal auf, machte eine krampfhafte Anstrengung, den Kopf zu heben und hauchte mir zu: „Sweet dreams, soft repose“ – sank hin – und war tot. – Einige Tage später reisten Mister Elkin und Mrs. White nach Amerika. Nach kurzer Zeit meldete er mir auf einer Postkarte, daß er Professor der deutschen Sprache an einer amerikanischen Universität geworden sei, und daß er demnächst ein epochemachendes Werk über Althochdeutsch herausgeben und es mir widmen werde. – Ich habe nie mehr von dem Werk noch von seinem Autor gehört. Fast gleichzeitig mit der Karte aus Amerika, erhielt ich einen Brief von Direktor Reimers. Ein Lehrer an seiner Schule sei plötzlich erkrankt, es werde Monate dauern, ehe er seine Tätigkeit wieder aufnehmen könne. Ob ich die Vertretung übernehmen wolle? Zwei Tage darauf reiste ich heim.
Claus Martens.
Der Winter war vergangen, die Osterferien waren vorüber, und der kranke Kollege, den ich vertreten mußte, war noch immer nicht genesen. Gott sei Dank! Ich sagte es nicht; aber ich war schlecht genug, es jeden Morgen zu denken, wenn ich zur Schule ging. War das ein heller Frühling! Meine Jungens, das Kunststück hatte ich in England gelernt, hatte ich mir zu Freunden, zu Kameraden gemacht. Das gefährlichste und das schönste Alter, diese Knaben mit ihren dreizehn bis fünfzehn Jahren. In unersättlichem Wissensdurst streckt ihre Seele die Hand aus: Mehr, mehr, immer mehr! Aber das Auge prüft und wägt schon zugleich: Ist’s denn auch wertvoll genug, daß ich es nehme? Es ist eine Lust, mit solchen Jungen zu wandern, es ist überhaupt eine Lust, unterrichten zu dürfen, wachsen zu sehen. Der Direktor war mit meiner Arbeit zufrieden. Die Mutter strahlte vor Glück, wenn ich nach Hause kam, und Helene kam öfter denn je zum Besuch. Die Blüten hingen an allen Zweigen, ich brauchte nur zuzulangen, – und sie brechen? Nein, ausblühen sollten sie, nur eine reife Frucht wollte ich pflücken. Und zu allem Glück, das mir diese Monde brachten, das sie mir in greifbarer Nähe schimmernd vor Augen hielten, gaben sie mir auch noch einen Freund. Ein Freund unter den Kollegen, das ist ein doppeltes Glück. Sie waren alle höflich, gefällig, liebenswürdig gegen mich; aber darüber hinaus ging keiner. Ich fühlte, da lag eine Schranke, ich war ihnen immer noch ein Fremder, und dem einen gar, dem Reserveleutnant Kurt Wehler, mehr als das, ein Unberechtigter, ein Eindringling. Und weil ich das fühlte, hielt
ich mich von allem zurück, was nicht von Schulwegen nötig war, tat kalt und verschlossen; mochte man mich für dumm oder hochmütig halten, nur nicht zudringlich erscheinen. Mit den Lehrern der Vorschule kam ich kaum in Berührung. Sie hielten sich zumeist in den Pausen in dem oberen Lehrerzimmer im zweiten Stock auf. Vor Jahren, so erfuhr ich später, gab es keine Trennung zwischen Vorschullehrern und Oberlehrern; aber als Kurt Wehler an die Schule gekommen war, hatte er erstaunt aufgehorcht: Wie, ihr verkehrt ja mit ihnen, als ob sie euresgleichen seien? Und da war es bald anders geworden. Man erwähnte ihrer noch kaum im Oberlehrerzimmer. Nur von einem Vorschullehrer wurde immer wieder gesprochen. „Der Kerl ist rein verrückt“, sagten die einen, die es gut mit ihm meinten, und die andern schalten ihn einen ‘Sozialdemokraten’, einen ‘Anarchisten’. Er mußte wirklich ein seltsamer Kauz sein, man erzählte sich die wunderbarsten Dinge von ihm. Privatstunden wollte er nicht geben, trotzdem er bei seiner zahlreichen Familie wohl eine Nebeneinnahme gebrauchen könne, dazu habe er keine Zeit. Aber in Bürgervereinen, Volksheimen, Jugendbünden unentgeltliche Vorlesungen und Vorträge zu halten, dafür habe er immer Muße. Wer ihn in den Wochen vor Weihnachten gesehen, wie er Abend für Abend mit einem kleinen Köfferchen voll Bücher von einem Verein zum andern gerannt wäre, hätte ihn für einen übereifrigen Weinreisenden halten können. Er schwirre nur so durch die Straßen. Und was wolle er wunder Großes? Die Leute sollten für sich und vor allem für ihre Kinder nur gute Bücher kaufen, darum müsse man sie auf echte Dichtung aufmerksam machen und ihnen Freude daran einflößen. Verrückter Kerl das, als ob das Volk, als ob die Philister je Verständnis für klassische Werke haben könnten. Und solch ähnliche tolle Ideen, für die er draußen eintrete, wolle er auch in der Schule verwirklichen. Lehren und lernen
sei Unsinn, sage er, Kräfte entwickeln sei alles. „Ich bitt Sie, Herr Professor, entwickeln Sie mal bei ihrem Hans Büttler Kräfte! Kräfte zum Radaumachen, ja. Es ist geradezu ein Unfug, wie der geehrte Herr es in seiner Klasse treibt; wer nebenan unterrichtet, ist rettungslos verloren. Ich begreife nicht, wie der Direktor das noch duldet. Versuchen, sagt er zwar immer, ich freue mich, wenn einer mal was Neues versuchen will. Aber das ist kein Versuch mehr für eine Schule, das ist ein Versuch für ein Tollhaus, und da hinein gehört der Mensch.“ So lauteten die Urteile über Claus Martens im Oberlehrerzimmer, und wie ich bald merkte, klangen sie auch im andern nicht viel günstiger. Das reizte mich um so mehr, mit eigenen Augen zu sehen. Als die jüngste Osterkiasse ein wenig ‘eingefuchst’ war, bat ich Herrn Martens um die Erlaubnis, einmal in einer seiner Stunden zuzuhören. Er gewährte sie gern. „Und wann komme ich Ihnen gelegen?“ „Immer.“ Da wählte ich denn eine meiner nächsten Freistunden. Als ich vor seiner Klasse stand, war es drinnen so laut, daß man mein Klopfen gar nicht bemerkte. Offenbar war der Lehrer nicht da. So öffnete ich denn die Türe, und da stand Herr Martens mitten im Schulzimmer. Ein seltsames Schulzimmer. Rings an den Wänden Kinderzeichnungen, buntfarbige und schwarze jeglicher Art, und querüber, hoch an Fäden hängend, Boote und Schiffsmodelle aus Papier, aus Pappe und Holz. Ein oder zwei Dutzend Jungen umringten den Lehrer, und die andern saßen, standen, lagen, hockten zwischen und auf den Bänken, und alle wollten reden, und alle schauten heitern, eifrigen Auges zu ihm hin. Ein etwas sonderbarer, aber sehr vergnüglicher Anblick. Und ganz vergnügt blickte auch Herr Martens sich um und nickte mir zu, ohne sich weiter stören zu lassen. Und auch die Jungen schienen mein Kommen kaum zu
beachten. Ihre Augen hingen an einem kleinen Dampfermodell, das der Lehrer hoch in Händen hielt. Jeder wollte etwas darüber erzählen, und einer nahm dem andern das Wort vom Munde. Eine leise Handbewegung des Lehrers, und auf einen Augenblick ward es stille. „Was meint ihr, Jungens, sollen wir nun alle siebenundvierzig erzählen oder soll’s einer tun?“ „Einer, einer!“ schrien alle siebenundvierzig. „Und wer denn?“ „Fritz Erichsen, sein Vater ist Vorarbeiter auf der Werft.“ Fritz Erichsen trat vor und erzählte, wie so ein Schiff entsteht. Es war ganz wunderbar, was der kleine Knirps alles gesehen hatte. Und dann kam ein anderer, dessen Vater Steuermann war, und gab kund, was er von der Maschine wußte. Und dann ein dritter, der schon mal eine große Seereise gemacht hatte, und berichtete von allerhand Abenteuern. Und schließlich wußte jeder etwas vom Schiff zu erzählen. Wie sicher und geläufig das ging, wie die Worte sprudelten und die Augen leuchteten! Zuletzt stand die ganze Klasse um den Lehrer oder vor den Bänken und in den Gängen. „So, Jungens, nun setzt euch, nun geht’s an die Arbeit. Formen oder malen!“ „Formen! Malen! Malen! Formen!“ „Gut, jeder nach Belieben, schnell die Tafeln her, die Hefte, die Kasten!“ Nach wenigen Augenblicken war die ganze Gesellschaft in Tätigkeit. Nicht ruhig und mäuschenstill wie in andern Klassen, das surrte und schwirrte wie um einen Bienenstock. Ohne zu fragen, ging einer vom Platz und borgte sich von einem andern einen Buntstift oder zeigte ihm, was er schon fertig gebracht oder ließ es sich vom Nachbarn zeigen, aber alles, wie beim Bienenkorb – in einem lebendigen Eifer, in sonnenheller, rastloser Tätigkeit, und jeder brachte etwas heim,
Honig oder Wachs. Mit einem Male ertönte von einer Bank her leises Schluchzen, und ehe der Lehrer noch fragen konnte, was geschehen, standen schon ein paar Jungen um den Weinenden und hatten ihm den Arm um den Nacken gelegt. „Ach, wissen Sie, Herr Martens“, und dabei ging einer der Jungen zum Lehrer hin und flüsterte, „vorigen Winter ist sein Vater auf See verunglückt, und darum.“ Da trat auch der Lehrer zu dem Jungen hin und legte ihm die Hand auf den Kopf: „Stille, Heini, nicht weinen, aber auch nicht vergessen. Und immer brav sein und deiner Mutter Freude machen! Sieh mal, da stehen zwei gute Freunde bei dir und wollen dir helfen. Und wir alle wollen deine Freunde sein, nicht wahr, Jungens?“ Nur halblaut, aber innig fest erscholl es aus jedem Mund: „Ja, ja!“ Das war keine Schulklasse mehr, das war eine Familie. Und merkwürdig, als ich jetzt Herrn Martens ansah, da schien er mir ganz verändert. Ich hatte ihn immer für häßlich gehalten mit seiner eckigen, hagern Gestalt, mit seinem knochigen, gelblichen Gesicht, seinem schwarzen wirren Bart; aber nun lag um seinen Mund ein so feines, wehmütiges Lächeln, und die tiefen dunklen Augen leuchteten in einem so heiligen Glanze, daß ich unwillkürlich an Pestalozzi dachte. Ja, dieser verrückte Kerl, dieser Sozialdemokrat und Anarchist war ein echter Jünger des Hein Wunderli von Thorliken. Ich drückte ihm ergriffen die Hand. Und wieder und wieder kam ich in seine Klasse – und so wurden wir Freunde.
Schulausflug.
Es war an einem Junimorgen auf dem Schulhof. Ich hatte die Aufsicht, und ich hatte sie gern. Dies lustige, heitere Treiben war so ganz sommermorgendlich, und die Vögel hoch in der alten Linde zwitscherten nicht heller als die jungen Knabenstimmen hier unten. „Herr Doktor Lennhausen!“ „Herr Direktor!“ Und die Jungen, die mich im dichten Kreis umtanzten, stoben nach allen Seiten des Schulhofes. „Wohin wollen Sie denn morgen mit Ihrer Tertia?“ „In die Wälder und Berge, wenn ich sie so nennen darf.“ „Und ihr Ziel?“ „Wandern!“ „Aber wo kehren Sie ein?“ „Überall und nirgends, Herr Direktor. Unsere Stadtjungens müssen mal lernen, daß die Welt auch da, wo es kein Restaurant gibt, schön sein kann, ja, daß sie da am allerschönsten ist.“ „Recht so, Herr Doktor. Ich möchte mich Ihnen schon anschließen; aber Sie wissen, mein Bein – “ und der Direktor lächelte und stakte, die Hände auf dem Rücken, weiter auf dem Schulhof umher, scheinbar nichts sehend und doch alles beobachtend. Die überraschendsten Einblicke in die Seele eines Knaben, die er uns oft in den Konferenzen gab, hier hatte er sie sich geholt. Wie ein Junge ging, spielte, verträumt sich absonderte oder lebhaft den Führer machte, alles sah er, und alles wußte er mit psychologischem Scharfblick zu deuten.
Eine Unterredung unter vier Augen, und er kannte ihn in wenigen Minuten besser als wir oft in Monaten. Noch hing ich dieser Betrachtung nach, und die Jungen waren schon wieder um mich herumgeflogen wie ein Haufen Spatzen, die ein Steinwurf vertrieben, bald zu der alten Stelle zurückkehrt, als sich der Direktor wieder an mich wandte. „Noch ein Wort, Herr Doktor.“ Mit einer Handbewegung hatte er einen weiten, freien Raum um sich. „Ich kann’s Ihnen gleich sagen, Sie können sich darauf vorbereiten. In den nächsten Tagen wird der Herr Schulrat kommen und Ihre Klasse inspizieren, die Sie nun, wie lange doch, vertretungsweise führen?“ „Fast fünf Monate, Herr Direktor!“ „Gut. Es hängt viel von diesem Besuch für Sie ab. Seien Sie vorsichtig mit jedem Wort. Der Herr Schulrat ist ein frommer Herr, sehr fromm. Vorsichtig, Herr Doktor.“ „Ich werd’s schon sein, Herr Direktor!“ Es schellte, die Pause war zu Ende. In fröhlicher Aufregung eilte ich nach der Schulzeit nach Hause. Wurde meine Klasse inspiziert, dann mußte die Anstellung folgen. Und dann – eine ganze Kette seliger Träume hing an dem Wörtchen. Die Mutter sah das Glück in meinen Augen. „Kind, dir ist was Gutes passiert.“ „Ist’s auch, Mutter, rat mal!“ „Deine Jungens haben alles fein gewußt!“ „Mehr als das!“ „Mainzer hat dir was Fröhliches geschribben.“ „Mehr als das.“ „Helene ist dir begegnet. Nu? Hab ich recht?“ „Noch mehr. Der Schulrat kommt und prüft meine Klasse.“ „Das ist doch kein Glück.“
„Aber es wird eins, Mutter. Und dann hat alle Not ein Ende. Und dann können diese fleißigen Hände, laß sie mich nur drücken, sich mal endlich ausruhen. Fest angestellt, Mutter, weißt du, was das bedeutet? Immer bei meinen Jungens bleiben, immer unterrichten können!“ „Sie haben dich lang genug warten lassen, einen mit deinem Kopp!“ „Aber es ist noch früh genug. Ich bin noch so jung, Alte, ich könnte dich auf den Rücken nehmen und huckepack mit dir durch die Stube laufen. Soll ich mal?“ „Untersteh dich, du Nixnutz!“ Nach Tisch hielt’s mich im Hause nicht mehr. Ich suchte Martens auf, um ihm mein großes Glück zu verkünden. Er blieb merkwürdig ruhig. Glück? Einmal hatt ich’s noch nicht, und wenn ich’s hätte, was dann? Ein Glück? Ein Recht, auf das jeder andere Lehrer nach bestandenem Examen poche. Ach, der Gute, er wußte noch immer nicht, daß ich eben keiner der andern war, oder vielmehr, daß ich in den Augen der Behörde ein anderer war. Ich mußte mir eine Seele suchen, die mir mehr Widerhall gab. Ich strich die Straßen auf und ab, vielleicht traf ich sie, Helene. In ihr Haus mochte ich nicht gehen, ein Blick, ein Wort des Vaters, zu dem ich noch immer kein Zutrauen fassen konnte, hätte mir alle Freude stören können. Aber ich traf sie nicht. Dann fort, fort, hinaus ins Freie, zu meinen Bäumen, zu meinen Träumen. Und frohgemut wanderte ich durch Feld und Wald, stundenlang, bis die Sterne am Himmel aufgingen und ich leichten Herzens jubelte: Das gibt morgen ein Wanderwetter! „Guten Morgen, Jungens!“ „Guten Morgen, Herr Doktor!“ „Habt ihr ein Wetterglück! Mehr, als ihr verdient.“ „O, wir verdienen schon was, Herr Doktor!“ „Du, Köhler, besonders, kriegst es leider nicht immer.“
Die ganze Tertia lachte verständnisinnig und Köhler mit. „Ordnet euch zu zweien in vier Kompagnien!“ Im Nu hatte sich die Gesellschaft unter dem breiten Torbogen des alten Hansastädtchens in langer Reihe aufgestellt, die Freunde nebeneinander, je zehn einen selbstgewählten Hauptmann zur Seite. Schwer beladen mit Mundvorrat, aber in leichtem Sommeranzuge und mit leichtem Herzen blickten sie durch das halbdunkle Tor in den sonnigen Junimorgen hinein. „Vorwärts, marsch! marsch!“ Und unter Plaudern, Scherzen, Lachen und Singen ging’s vorwärts in die weite grüne Welt. Zuerst durch die Felder, über denen die Lerchen ihnen ein fröhliches Willkommen entgegenschmetterten. Ein Wort, eine Handbewegung lenkte ihren Blick auf die Wunder, die sie umgaben. Die vom Lande waren, stellten, wenn sie in meiner Hörweite waren, Examenfragen. „Du, Fritz, ist das ein Kuckuck oder eine Nachtigall, was da singt?“ „Ist das ein Roggenfeld oder ein Kartoffelfeld?“ „Nein, Herr Doktor, das kann doch kein Roggen sein, die Ähre, die ich vorgestern in der Klasse vor mir hatte, war viel kleiner.“ „Hast recht, Reimers, du kannst ja kein Tertianer sein, du bist ja viel kleiner als Böttger.“ Der Kleine machte ein beleidigtes Gesicht, und der Lehrer wollte ihm gerade wie zum Trost mit der Hand über den Kopf fahren; aber er hielt sich zurück, es war ja der Sohn des Direktors. „Nicht stehen bleiben, weiter!“ „Aber das ist doch eine Birke, Herr Doktor, die erkennt man gleich an der weißen Rinde, das haben Sie selber gesagt.“
„Ist die denn weiß, Ahrens? Das ist ja eine Esche. Die Birke erkennt man auch noch an den dünnen, schwanken Zweigen, die zu allerhand Sachen, zu Besen und sonstigen nützlichen Dingen gut sind. Ratet mal!“ „Herr Doktor, haben Sie denn nie welche mit der Rute gekriegt?“ Das war wieder Köhler. Die ganze Truppe wurde mit einem Mal totenstill. Sie blickten den Lehrer an, von dem sie wohl einen kühlenden Niederschlag auf solche gefährliche Hochtemperatur erwarten mochten. Der aber schmunzelte vergnügt. „Und ob, Köhler, sonst wäre ich solch ein Schlingel wie du geblieben.“ Hei, gab das ein befreiendes Lachen. Und weiter ging’s durch taufeuchte Wiesengründe dem Walde zu. Ich wanderte vor und zurück, von einem Truppenteil zum andern, bald mit diesem, bald mit jenem ein Wort tauschend, oder auch mich eilig zurückziehend, wenn ich merkte, daß ich störend in ein Gespräch kam. Unweit des Waldes stand ein Wirtshaus, vor seiner Tür zwei große Automaten. Einzelne Hände glitten suchend in die Taschen. „Kehren wir ein, Herr Doktor?“ „Nein, Jungens, ich hab Quartier im Wirtshaus zur Waldesruh bestellt. Ohne Aufenthalt durch! Wißt ihr, wenn ihr nun Mädchen oder Naschmäuler wäret, würdet ihr erst gern euren Obolus dem Automaten bringen!“ Alle Groschen glitten tief in die Taschen zurück. Nach zweistündigem Marsch wurde unter einer großen Eiche bei einer Quelle Halt gemacht. „Eine halbe Stunde Frühstückspause. Für alle, die nicht erhitzt sind, Freibier, frisch vom Quellenfaß!“
Da lagen sie auch schon hingestreckt auf weichem Rasengrund, und die Proben aus Mutters Küche kamen zu ihrem vollen Recht. Das schmauste und schmatzte, das schluckte und schnalzte, da wurden Tauschgeschäfte gemacht, Anleihen abgeschlossen, Liebesgaben verteilt, angestoßen und Hochs ausgebracht – es war eine arge Schlemmerei! „Neunundzwanzigeinhalb Minuten, gleich schlägt die letzte Sekunde. Auf!“ Ein Ruck kam in die lärmende, lachende, sich fröhlich wälzende und kugelnde Schar. Im Nu standen sie wieder in Reih und Glied. „Nein, Jungens, der Wald ist keine Chaussee. Hier wird gewandert und nicht marschiert. Geht, wie’s euch beliebt.“ In kleinen Abteilungen schwärmten sie fröhlich schwatzend dahin. Als sie aber weiter in die Dämmerung der hohen, dicken Buchen kamen, wurde es allmählich stiller. Ein heiliger Schauer vor der Majestät des Waldes durchbebte die jungen Herzen, und unbewußt guckten aus dem tiefen Schatten der ersten Kindheitserinnerung Rotkäppchen und der böse Wolf, Hänsel und Gretel und die böse Hexe sie an. Ich schritt in einiger Entfernung langsam hinter ihnen her. Auch mir war die Brust voll Wehmut und Erinnerungen. In wenigen Tagen mußte sich mein Geschick entscheiden. Nicht nur mein äußeres. Ich mußte mit Helene sprechen, klar und offen, ich wußte, wie der Vater sie bedrängte, den Bitten des reichen Werbers nachzugeben. Ich fühlte auch, daß sie um meinethalben widerstand, daß sie auf ein erlösendes Wort von mir hoffte. Aber konnte ich, der Bettler, bisher sprechen, ich, der noch bis vor kurzem der Mutter auf der Tasche gelegen und vielleicht bald ihr wieder zur Last fallen konnte? Durfte ich das junge, vertrauensselige Kind an mein schwankendes Leben ketten? Aber, wenn es mir diesmal glückt, wenn ich angestellt werde, wenn ich vor den Vater hintreten kann: „Ich
will nur dein Kind, nichts anderes!“ Nicht eine Sekunde will ich zögern. Und in das Glück dieses stolzen, seligen Augenblicks stellte sich das widerwärtige Bild des alten Bergheim. Er hatte meiner Mutter nur Gutes getan, ich hatte manch schönen wohltätigen Zug von ihm gehört, ich wußte nicht, ob die Gerüchte, die über den Ursprung seines Reichtums umherschwirrten, wahr seien; aber er war und blieb mir zuwider. Vielleicht wirkte die Erinnerung jener Stunde noch nach, da der sterbende Lehrer erzählte, wie er ihm die Braut gestohlen habe. Merkwürdig, wenn ich in stillen Träumen Helenes Hand in meiner hielt und mir war, als müsse ich nun die Eltern um ihren Segen bitten, dann sah ich nur die blasse, todkranke Frau und den blassen, todkranken Lehrer, als ob die beiden immer zusammengehört hätten, als ob er ihr Vater sei. Ach, der würde – Ein Schuß knallte. Mädchen hätten aufgeschrien, aber die Jungen stimmten sofort an: „Eine Kugel kam geflogen, gilt sie mir oder gilt sie dir?“ Und im Takte marschierten sie weiter. Nach der Sangeslust kam die Spiellust. „Herr Doktor, es ist hier solch schöner Platz, sollen wir denn nicht spielen?“ „Ei gewiß, Jungens, wo ist denn der Platz?“ „Sehen Sie doch, diese Berge und Gräben und Schluchten.“ „Aber was denn, Jungens?“ „Räuber und Gendarm!“ „Indianer und Weiße!“ „Römer und Cherusker!“ Der Unterschied ist nicht allzu groß; aber zur Veranschaulichung unseres alten Geschichtspensums bin ich für Römer und Cherusker. Nach einigen Schwierigkeiten – jeder wollte natürlich Cherusker sein – waren die beiden Kriegsvölker gesondert.
„So, Jungens, jetzt wählt eure Hauptleute, eure Lagerstatt und eure Waffen.“ „Fäuste oder Knüttel?“ „Nein, da laßt mich wählen. Seht ihr, dort in eurer sogenannten Schlucht liegen fußtief die vorjährigen Blätter. Hier ist der Sammelplatz. Nun auf die Schanzen!“ In wenigen Augenblicken waren beide Heere verschwunden. Ich schloß mich den Römern an. Es war die größere Zahl, und ich fürchtete Ausschreitungen. Nach längerem Hin- und Herwandern ward ein geeigneter Platz für das Lager gefunden; eine kleine, freie Stelle, von dichten Büschen umgeben. Das Lager wurde abgesteckt, Munition herbeigeholt, Posten ausgestellt. „Von hier aus können wir sicher vorgehen“, sprach Heinz Köhler, der Hauptmann, mit gewichtiger Stimme. „Jetzt aber müssen wir Spione ausschicken, um die Feinde zu erkundschaften. Freiwillige vor!“ Die ganze Armee trat vor. „Nein, das ist zu viel. Robert und Ferdi und Albert, das sind die schlausten und flinksten. Guido ist klein und gewandt, der kann auch mitgehen. Vorwärts, sucht!“ Die kleinen Spione, sie fühlten sich als solche mit Leib und Seele, machten sich auf den Weg. Nach einiger Zeit meldeten sie: „Wir haben sie entdeckt. Die Fahne flattert auf dem untersten Zweig eines Eichbaumes, der hoch auf einem Berge steht. Und hinter der Eiche haben sie sich gewiß versteckt; vor der Eiche krochen nämlich einige durchs Gras, aber so dumm, daß man sie sehen konnte.“ „Ist der Berg steil und hoch?“ fragte der Hauptmann. „Nein, er geht ganz sachte an.“ „Sind Bäume zur Deckung da?“ „Bäume sind da.“
„Römer, wir nehmen die Fahne im Sturm! Verseht euch mit Waffen!“ Jeder nahm einen Arm voll Laub, und mit der Wichtigkeit, der Aufregung, der ungeheuren Erwartung, die alles Abenteuerliche für Knaben hat, schlichen sie durch den Wald. Da flatterte die Fahne weit sichtbar auf dem niedrigsten Ast der Eiche, und unten am Abhang balgten sich laut schreiend einige Cherusker. Durch das Buschwerk krochen die Römer näher. „Rührt euch“, kommandierte Heinz Köhler, „zum Avancieren, vorwärts marsch, Sturm!“ Mit einem schrecklichen Hurra stürmten sie auf die Eiche zu. Entsetzt flohen die Cherusker den Berg hinauf. Die Römer ihnen nach. Da, unweit der Fahne, was war das? Krach, krach, einer nach dem andern stürzte in einen tiefen Graben, der lose mit grünen Zweigen belegt und mit Blättern dicht zugedeckt war. Gleichzeitig stürmten die Cherusker den Berg herunter, flogen aus dichtem Seitenbuschwerk hervor, kletterten von den Bäumen herab und begruben die schon halb versunkenen Römer völlig unter den schweren Blättersalven. Ich gab das Signal zum Halten. Keuchend und ächzend krochen die Römer hervor, triumphschreiend eilten die Cherusker herbei. „Die Cherusker haben gesiegt“, entschied ich, „kein Zweifel. Wer aber war ihr Anführer?“ „Franz Quast!“ erscholl es stolz. „Franz Quast?“ fragte ich erstaunt. Der Genannte zog sich scheu zurück. „Komm mal näher, Quast.“ Erwartungsvoll drängten die Kameraden sich um ihn. Er wird ihm doch nicht, weil er so faul ist und immer die schlechtesten Extemporalien schreibt – so las ich auf allen Gesichtern.
„Du hast den Plan ausgesonnen, Quast?“ „Ja, Herr Doktor, Sie sagten doch in der Stunde, die Cherusker hätten eine List gebraucht.“ „Ich will dir auch keinen Vorwurf machen. Gib mir die Hand, Quast, das hast du brav gemacht! Ich hab mir’s ja immer gedacht, der Franz Quast kann viel mehr als er zeigt. Nun beweis es auch mal in der Schule, daß du ein tüchtiger Kerl bist. Willst du?“ „Ja, Herr Doktor.“ Einige Jungen tuschelten untereinander. „Herr Doktor, es war zu schön! Noch einige Einzelkämpfe, bitte, bitte! In alten Zeiten wurden ja die Schlachten durch Einzelkämpfe entschieden.“ „Ich dachte, die Entscheidung wäre schon gefallen?“ „Das schadet nichts.“ „Wer will denn kämpfen? Köhler und Quast wohl?“ „Ja, Herr Doktor, Köhler und Quast.“ „Gut, aber unten im Tal – und ohne verdeckte Gräben. Offener Feldkampf.“ Im Nu stürmte die Schar den Berg hinunter, im Nu hatte jeder eine Blätterschanze vor sich aufgeworfen, und nach wenigen Augenblicken, wirbelten die braunen Geschosse so dicht durch die Luft, daß die Kämpfenden kaum mehr zu sehen waren. „Hurra!“ „Tapfer!“ „Holl fast!“ scholl es im Kreise ringsum. Wieder blieb Quast Sieger. Kaum hatte ich das Entscheidungswort gesprochen, als sich schon wieder ein Kämpferpaar meldete, und ein drittes und viertes war am Unterhandeln. Eine fröhliche Kampfeslust überkam alle; Freunde und Gegner wollten ihre Kräfte messen.
Mir selber ward bei dieser Knabenlust jung und froh zumute. Vergessen alles, was hinter mir lag, vergessen alles, was drohen konnte. Nur der Freude hingegeben, Kraft sich bewähren zu sehen, Kräfte entwickeln zu können und selber Kraft zu fühlen. Ein jungenhafter Übermut ergriff mich. Eine kurze Pause zwischen zwei Waffengängen war eingetreten. „Wie wär es, Jungens, wenn ich einmal mit euch kämpfte?“ „Hurra, Herr Doktor! Los!“ Und alle standen um mich herum. „Nein, das wäre feige von euch. Vierzig gegen einen; ich denke, eure vier Kompagniehauptleute genügen.“ „Tun sie auch.“ „Aber, Jungens, nehmt euch zusammen! Wenn wir verlören, – “ mahnte der Chor. Schnell warf ich Hut und Stock und alle Würde unter einen Baum, häufte hinter einem Busch einige Arme voll Blätter auf und erwartete die Anstürmenden. Sie ließen nicht lange auf sich warten. Ein kurzes Zögern vor dem ersten Wurf, dann raschelte Salve auf Salve nieder. Hin und her flogen die Geschosse und ich war, wie meine Gegner, mit ganzem Herzen bei der Sache. Immer erregter stürmten die Jungen auf mich ein. Da sprang ich mitten durch meine Feinde hindurch, bergaufwärts in scheinbarer Flucht. Mein Horatier-Plan gelang. Ich trennte sie und vermochte nun jeden einzeln zurückzuschlagen. Aber alle vier blieben am Leben und waren immer wieder zu neuen Anstürmen bereit. Da tönte das Haltesignal. Die Kämpfenden traten staub-, schweiß- und blätterbedeckt zu den Zuschauern zurück, und ich erklärte: „Jungens, ihr habt euch tapfer gehalten, ich glaube, ihr habt gesiegt.“
„Nein, Herr Doktor, nein, und dann vier gegen einen!“ protestierte es. „Gut, also der Sieg bleibt unentschieden. Aber nun ist’s auch genug. Wir haben noch einen weiten Weg bis zur Hochburg, und während wir kämpften, hat der Himmel ein böses Gesicht aufgesteckt.“ Und ich nahm Hut und Stock und Würde wieder auf und geleitete meine Schar wegkundig weiter durch den Wald. Als wir eine Weile gewandert waren, wurden wir von einem Regenschauer überfallen. Kein Haus, keine Waldhütte war zu erspähen; aber eine gewaltige, dichtkronige Buche bot sich von selber als Regenschirm dar. Schleunigst suchten alle unter ihr Schutz, und als einige niederhockten und erst zum Spiel, dann aber zum Schutz sich bis zur Brust hinauf mit Blättern bedeckten, folgten bald alle, auch ich selber, dem guten Beispiel. „Die Erschlagenen auf dem Schlachtfelde“, kennzeichnete ein Witzbold die Situation. Lachende Zustimmung belohnte ihn, und jeder suchte nach einer neuen Bezeichnung dieser eigentümlichen Lage, bis auf einmal ein halb Dutzend Stimmen zugleich rief: „Herr Doktor, eine Geschichte, eine Geschichte!“ „Bitte, bitte!“ stimmte es ringsum ein. Dann ward’s still, und ich richtete mich halb auf und begann. In knappem Auszug versuchte ich, ihnen Jung Stillings Jugend zu erzählen. Alle horchten gespannt. War es das leichte Ticken der fallenden Regentropfen oder das leise Klopfen der jungen Knabenherzen, das die alte berg- und waldduftige Erzählung begleitete? – „Ach, schade, daß sie aus ist.“
„Aber aus ist sie, und auf müßt ihr! Jetzt haben wir genug gefaulenzt. Und der Himmel ist wieder klar, und dort, seht ihr, dort durch die Lichtung, das ist die Hochburg!“
Heimkehr.
Als ich spät in der Dämmerstunde von dem Ausflug mit meiner Tertia zurückkehrte, konnte ich noch nicht gleich nach Hause gehn. Es war ein so schöner Tag gewesen, und um sein reines Glück zu krönen, sollte er mir noch vor dem Scheiden mit einem letzten hellen Strahl Licht und Glanz in jedes Dunkel werfen. Ich wollte einmal ein Genießer sein. Ich hatte Helene seit Wochen nicht gesehen; nun drängte es mich heiß, einmal wieder ihre Stimme zu hören, sie nur mit einem Blick zu streifen. Auf Umwegen schritt ich meiner Wohnung zu, und langsam, langsam ging ich weiter, als ich mich ihrem Hause näherte. Da schallten barsche, schreiende Stimmen von dort, die Haustür wurde geöffnet, ein altes Bäuerlein, die Faust nach der Tür ballend, stolperte heraus: „Verfluchter Jud!“ „Halt’s Maul“, schrie der alte Bergheim, „oder ich schicke zur Polizei.“ „Tut’s nur, laßt mich nur einsperren, dann weiß ich doch, wo ich bleiben kann. Haus und Hof habt Ihr mir doch genommen.“ „Nicht ich, deine Faulheit und dein Schnapsbuddel!“ „Nein, Ihr, Ihr, mit Euren verdammten Wechseln, Ihr Satanshund, Ihr Schinderhannes! Verfluchter Jud!“ Die Tür wurde zugeschlagen, und der Alte taumelte schimpfend und fluchend weiter. Da hatte ich nun meinen letzten Strahl. Aus der Ecke, in die ich mich gedrückt, schlich ich wie ein Dieb hervor, und statt geradeaus weiterzugehen, eilte ich schnell zurück, einen zweiten größeren Umweg machend. Nur nicht da an dem Hause, an der Tür vorbei. Feuchte, kalte Abendnebel zogen
durch Straße und Gassen. Wie war es mit einem Mal so dunkel geworden! Fort, fort, zur Mutter, da ist Licht, da ist Reinheit, da ist Friede. Als ich in das noch unerleuchtete Zimmer trat, sah ich mit dem ersten Blick, daß die Mutter auf dem Sofa und Helene vor ihr auf einem Schemel saß. Sie erhob sich schnell, aber die Mutter blieb müde sitzen. „Guten Abend, Mutter, was ist mit dir? Nicht wohl? Wie geht’s denn?“ „Gut, Kind, besonders wenn man so lieben Besuch hat. Siehst du denn nit, Moses?“ „Guten Abend, Herr Doktor!“ und sie streckte mir die Hand entgegen. Ich horchte noch einen Augenblick auf den milden, vollen Klang ihrer Stimme. Der tat noch wohler als der Druck der weichen Hand. „Ah, guten Abend, Fräulein Bergheim. Ich habe Sie so lange nicht gesehn.“ „Die Wege in der Stadt gehen leicht auseinander. Wie oft haben wir uns in Ihrem Dorf getroffen!“ „Wie oft denn?“ fragte ich, um nur etwas zu sagen. „Dreimal!“ rief sie ohne Überlegung und wandte schnell den Kopf, und ganz zu der Mutter gerichtet, sagte sie: „Frau Lennhausen, da haben wir mal wieder ein Stündchen geplaudert von alten Zeiten und von alten Orten. Ja, es waren schöne Tage, wenn ich zu Ihnen aufs Dorf durfte, traurige Tage eigentlich, aber doch schön. Ich hab mich immer das ganze Jahr darauf gefreut. Nun sind’s schon über zwei Jahre, daß ich am Grabe der Mutter gestanden.“ Und ihre Stimme zitterte.
„Darüber brauchen Sie sich keine Vorwürfe zu machen“, tröstete die Mutter, „deshalb können Sie doch ein gutes Kind sein. Wer kann denn immer, wie er will?“ „Wir Frauen nicht.“ „Die Männer denn, liebes Kind? Fragen Sie doch mal den, und er ist auch einer.“ Sie sah mich lächelnd an, und ich schüttelte unmutsvoll den Kopf. Da lenkte die Mutter schnell ein: „Nein, er kann nit, wie er will. Er möchte jetzt gern zu Abend essen, und ich hab nix für ihn fertig machen können.“ „Also ging’s doch nicht gut, Mutter. Nun, sei ohne Sorge, der Tag hat mir vieles gebracht, aber keinen Hunger.“ „Aber wohl Müdigkeit, Herr Doktor. Sie sagten es ja einmal selber, solch ein Tag mit seiner großen Verantwortung sei anstrengender als eine ganze Schulwoche. Und die Eltern meinen immer, die Lehrer richteten ihn nur zu ihrer Erholung und zu ihrem Vergnügen ein. Ich gehe schon, der Vater wartet auf mich.“ „So geh ich mit, um Ihnen zu zeigen, daß ich nicht müde bin. Darf ich, Mutter? Ich bin gleich wieder da.“ „Aber, Jung – “ Da schritten wir in der warmen duftigen Juninacht dicht neben einander her, lautlos, stumm. Ich mußte aus den Straßen heraus und nahm den Weg über die alten Wallanlagen beim Mühlbach vorbei. Tausend Gedanken stürmten durch meine Seele, kein Wort wollte sie lösen. Da tauchte das Realgymnasium auf, und ich blieb stehen und zeigte auf das alte klösterliche Gebäude. „Das ist unser Schulhaus“, sagte ich endlich, als ob ich die ganze Zeit nur gesonnen, das Wort zu finden. „Sie freuen sich wohl, da Lehrer sein zu können, Herr Doktor!“
„Ob ich mich freue, Fräulein Helene! Es weiß ja gar keiner, wie gern ich unterrichte! Es lag jahrelang wie ein Bann auf mir, so untätig sein zu müssen. Jetzt soll ich in allen Ehren des Bannes losgesprochen werden.“ „Ich weiß, Herr Doktor, Ihre Mutter hat es mir erzählt, und ich habe mich mit ihr gefreut.“ Ein jubelndes, banges, wehmutsvolles Flöten drang durch die Nacht. „O hören Sie, Fräulein Helene, das ist eine späte Nachtigall!“ Und ich griff nach ihrer Hand und deutete nach dem Busch. Sie wollte sie mir leise entziehen, ich drückte sie fester. Wie der Mühlbach rauschte, wie die Nachtigall sang! Jetzt, ich fühlte es, kein Wort, kein Laut, nur dem Drange nachgeben, der jede Fiber in mir sprengen wollte, und sie lag an meiner Brust und war mein auf ewig. Da, wie aus den Nebeln des Wassers tauchte das Gesicht des alten Bäuerleins auf und drohte mit der geballten Faust. Die Nachtigall brach plötzlich ab, ich ließ seufzend ihre Hand los. Wieder schritten wir eine Weile nebeneinander, wortlos, stumm. „Ich muß nach Hause“, sagte sie, eiliger gehend, „der Vater wartet, lassen Sie uns den nächsten Weg nehmen.“ Aber mich drängte es noch, sie auf meinen Weg zu führen. „Wissen Sie, Fräulein Bergheim“, knüpfte ich wieder tastend an, „warum ich mich so auf meine Anstellung freue? Weil ich nun endlich einmal auf eigenen Füßen stehen kann, weil nun mein Beruf auch mein Brotherr wird. Ein Beruf soll auch seinen Mann ernähren. Ein Beruf, der unsre ganze Kraft fordert, soll uns auch das gewähren, daß wir uns ihm ganz widmen können, ohne Sorgen, ohne Bangen um die Zukunft. Mit freier Seele müssen wir uns ihm hingeben können. Ich möchte aber auch nicht so reich sein, daß ich des Einkommens eines Berufes entbehren könnte.“
„Warum nicht?“ „Weil ich fürchte, ich könnte ihm untreu werden.“ „Sie, Herr Doktor?“ „Mißverstehen Sie mich nicht. Ich könnte einmal in dem Unmut einer Stunde hochmütig auf ihn herabblicken: ich hab dich ja gar nicht nötig, ich kann auch ohne dich leben. Ich weiß, ich kann es nicht, es wäre kein Leben, wäre nur ein Existieren, und darum ist es so recht, daß wir von einander abhängen. O, ich denke es mir so schön“ – da stand der alte Bergheim vor mir. „Was denn? Nun? Bitte sagen Sie es doch!“ „Es wird nicht sein. Aber ich habe es mir schon so manchesmal ausgemalt. So nur von seiner eigenen Tätigkeit zu leben und keinem, keinem, auch dem nächsten Verwandten nicht, verpflichtet zu sein. Beruf und Einkommen und Wünsche, alles richtet sich nach einander, alles legt gleiche Maße an und baut sich ein Häuschen, darin sich sicher und traulich wohnen läßt.“ „Sie sind ein Schwärmer, Herr Doktor, mein Vater würde Sie nicht verstehen.“ „Aber Sie, Fräulein Bergheim, würden Sie mich verstehen?“ „Ich bin eines Kaufmanns Tochter, man hat mich anders rechnen gelehrt, und doch, ich hab schon manches arme Mädchen beneidet. Aber da ist unser Haus, ich danke schön, Herr Doktor. Gute Nacht!“ Fort war sie. Und dunkel ging der Tag zu Ende.
Beim Schulrat.
Als ich am folgenden Morgen in meine Klasse trat und meine Jungens mit hellem Auge überschaute, erstarrte mein fröhlicher Blick auf halbem Wege. Was war es nur? Ich freute mich immer auf die erste Schulstunde, es war mir wie ein Wiedersehen, wie wenn der junge, helle Tag ins Fenster hereinschaut. Am Schluß der Ferien packte mich geradezu eine Sehnsucht nach der Schule. Aber am heitersten war mir zumute, wenn ich am Tage nach einem Ausfluge meine junge Schar musterte. Da meinte ich auf allen Gesichtern noch einen Abglanz der sonnigen Stunden zu sehen, noch eine Spur vom Schimmer der Felder und Wälder, und wenn ich einem oder dem andern zunickte, dann lachte es mir entgegen: Weißt du noch? Weißt du noch? Ja, es war schön! – Aber heute? Nichts von alledem, das waren ja gar nicht meine Jungens. Starr und stumm saßen sie da, und schauten mich mit so neugierig fremden Augen an, als ob sie mich nie gesehen hätten. Ich wurde unruhig. War etwas an meiner Kleidung nicht in Ordnung? Was gucken sie denn? Was wollen sie denn? An die Arbeit! Und ich fing an zu unterrichten, aber es wollte heute nicht glücken. Was war’s denn nur? In der ersten großen Pause sollte ich den Grund erfahren. Als ich in das Lehrerzimmer trat, herrschte darin die plötzliche Stille, die uns laut zuruft, man hat eben von dir gesprochen. Ein Kollege wandte sich um und sah zum Fenster hinaus, ein anderer zerknitterte schnell ein Zeitungsblatt, ein dritter machte eine zwecklose Bemerkung. Ich ging unruhig an meinen Bücherschrank und blätterte in den Schülerheften.
„Haben Sie schon den Unsinn in der Zeitung gelesen, Lennhausen?“ Es war der mir freundschaftlich zugetane Kollege Weinhöfer, der die peinliche Stille unterbrach. „Welchen Unsinn?“ „Denselben, den man im alten Rom den ersten Christen angeblödet hat, den heute die Chinesen den Missionären vorwerfen. Ich halte es für eine Beleidigung, nicht mit Ihnen darüber sprechen zu wollen.“ „Aber ich weiß noch immer nicht, Herr Kollege – “ „Na, dann lesen Sie mal.“ Und er reichte mir das Blatt und wies auf eine Stelle hin, wo an den Bericht eines Knabenmordes allerlei Betrachtungen über Ritualmord angeknüpft waren und schließlich unverblümt die Warnung ausgesprochen war: Hütet eure Kinder vor den Juden! Ich durchflog die Stelle und reichte das Blatt gezwungen lachend zurück: „Das ist wirklich ein Unsinn, jetzt, wo es noch so weit von Ostern ist.“ Aber keiner der Kollegen stimmte in mein Lachen ein, und Kurt Wehler meinte herablassend: „Es ist ja selbstverständlich, daß so etwas nicht von einem gebildeten Juden gilt; aber sollte die ungebildete, rohe Masse, sollte nicht irgend eine abergläubische Sekte so etwas für erlaubt, für geboten erachten? Man sagt doch, es stände im Talmud.“ Das Blut stieg mir zu Kopfe. Wie war es nur möglich? In unsern Tagen, ein Jahrhundert nach dem Zeitalter der Aufklärung! Wenn ein Gebildeter das nachsprach. Und da sah ich meine Jungens vor mir mit dem fremden suchenden Blick. Sie sahen mich wohl darauf an, ob auch ich – ah, das war wirklich Brunnenvergiftung. Es gärte, es kochte in mir. In einem Augenblick durchlebte ich ein ganzes Stück Mittelalter mit allen seinen Folterqualen. Mein Puls flog, meine Lippen zitterten, und krampfhaft
umfaßte ich mit beiden Händen die halbgeöffnete Schranktür. Aber ich hielt es für eine Selbstschändung, ein Wort der Abwehr zu sagen. Da klopfte es, der Schuldiener trat ein. „Herr Doktor Lennhausen, Sie möchten sofort zum Herrn Direktor kommen.“ Und flüsternd fügte er in der Türe hinzu: „Ich glaube, es riecht nach dem Schulrat.“
Audienz beim Schulrat in meiner Wohnung. Die Sache soll privaten Charakter haben. Von Ihnen hängt es ab, ob Sie angestellt werden. Seien Sie vorsichtig. Ich sagte es Ihnen schon, der Herr ist sehr fromm. Seien Sie vorsichtig. Das war’s ungefähr, was ich aus der Unterredung mit dem Direktor behalten hatte. Und nun war ich auf dem Wege zur Audienz. Erinnerungen, Hoffnungen und Träume jagten sich mir wirr durcheinander. So bange war mir noch nie zumute gewesen, und war doch oft genug ins Examen gegangen. Was war’s denn, was ich verlangte? Nichts als Gelegenheit, wirken zu können. Ich schalt mich selber unmännlich und feige und wurde doch die Angst nicht los, die eine folgenschwere Entscheidung, die ein Schicksal vorempfindet. Jahrelang hatte ich gewartet, um nun vielleicht noch weiter warten zu müssen, vielleicht auch nicht einmal hoffend weiter warten zu dürfen. Mit bangem Herzklopfen trat ich in das Haus, in das ich sonst so heitern Mutes gegangen. Einen Augenblick mußte ich im Wohnzimmer warten, nur einen Augenblick; aber mir schien er unendlich lang. Da traten die beiden Herren ein. Der Direktor stellte mich dem Schulrat vor und führte uns in sein Arbeitszimmer. Der Schulrat, eine behäbige, hohe Gestalt mit glattrasiertem Gesicht und dünnen, fest zusammengepreßten Lippen wandte
sich zu mir und legte mir mit freundschaftlichem Blick die Hand auf die Schulter. „Mein junger Freund, ich habe von unserm lieben Herrn Direktor so viel Gutes über Sie gehört, daß es kaum nötig sein wird, Ihre Klasse anders als pro forma zu inspizieren. Sie scheinen der geborene Lehrer zu sein, der Mann, der gar kein anderes Streben, keine anderen Interessen kennt, als ganz in seinem Berufe aufzugehen.“ „Ich danke Ihnen, Herr Schulrat, und auch Ihnen, Herr Direktor“, erwiderte ich und streckte dem Schulrat die Hand hin. „Bitte, bitte“, wehrte er ab. „Wie alt sind Sie, Herr Doktor?“ „Vierunddreißig Jahre.“ „Und Volksschullehrer waren Sie auch schon. Nicht übel. Sind meist ein bißchen eingebildet, aber verstehen was von Methodik. Und privatim haben Sie sich für die Universität vorgebildet?“ „Jawohl, Herr Schulrat.“ „Bin gerade kein Freund von Autodidakten, treiben sich leicht auf Umwegen herum. Warum haben Sie kein Gymnasium besucht?“ „Weil meine Eltern zu arm waren.“ „Ihr Vater war Kaufmann?“ „Handelsmann, Herr Schulrat.“ „Hm, und Sie sind Lehrer geworden, sind jetzt Lehrer an einem christlichen Realgymnasium. Welches sind doch Ihre Fächer?“ „Deutsch und Geschichte.“ „Oh – Gesinnungsfächer.“ „Ich habe für die Mittelklassen auch Fakultas in den neuern Sprachen und könnte mir leicht die volle Fakultas nachholen.“ „Aber Ihre Lieblingsfächer?“ „Sind Deutsch und Geschichte.“
„Und glauben Sie, mein junger Freund, daß Sie diese Fächer in rechtem Sinne lehren können?“ „Ich bestrebe mich, sie der Pädagogik und Wissenschaft gemäß zu lehren.“ „Wissenschaft! Was wollen Sie damit bei Knaben, bei Kindern?“ „Ich weiß es, daß sie allein nicht ausreicht. Kinder wollen den warmen Herzschlag der Begeisterung fühlen, die große Männer und große Taten wecken.“ „Und diese Begeisterung woraus entspringt sie, mein junger Freund?“ Ich zögerte einen Augenblick. Man wollte meine Klasse nicht inspizieren, aber man inspizierte mich. Es schien mir albern, entwürdigend, eine solche Frage zu beantworten. „Nun woher? Sie stocken. Ich will’s Ihnen sagen“, sprang mir der Schulrat gütig bei. „Die rechte Begeisterung kommt nur aus dem rechten Glauben, nur aus dem rechten Glauben.“ Ich sah den Schulrat verwundert an. Wohin sollte das führen? Das wäre ekelhaft, das sollte gar nicht an mich heran. „Herr Schulrat“, sagte ich fest, „ich hoffe, Sie wissen, daß ich Jude bin.“ „Ich weiß es, daß Sie jüdischer Herkunft sind. Und ich schätze das, mein junger Freund. Ich weiß auch, was wir dem auserwählten Volke schuldig sind, und es betrübt mich in tiefster Seele, daß eine zwar gutgemeinte, aber irregeführte Agitation Ihnen die Rasse zum Vorwurf macht. Ich liebe Israel, an dem der Herr solche Wunder getan und noch täglich tut.“ „Herr Schulrat, ich verstehe nicht – “ „Sie werden schon. Bei Ihrer Intelligenz müssen Sie leicht einsehen, daß es doch eigentlich ein Unding ist, daß ein jüdischer Lehrer christlichen Kindern Geschichte vortragen soll.“
„Verzeihen Herr Schulrat die Schwäche meiner Intelligenz. Ich sehe das nicht ein, ebensowenig wie ich das Widersinnige in der Umkehrung erkennen könnte. Auch jüdische Kinder werden von christlichen Lehrern unterrichtet.“ „Das ist ein ganz anderer Fall; da gibt es keinen Punkt, der Anstoß erregen könnte. Wie aber könnte ein jüdischer Lehrer beispielsweise das Auftreten des Christentums, seine Heilswahrheiten darstellen.“ „Das letztere gehört wohl in den Religionsunterricht. Die weltgeschichtliche Bedeutung des Christentums wird aber keinem Menschen mit freiem Blick verschlossen bleiben. Und von einem Juden dargestellt, wirkt es vielleicht noch mehr. Man könnte ja auch gegenfragen, wie kann ein Protestant einem Gregor VII. ein Katholik einem Luther gerecht werden? Ich bin überzeugt, jeder vorurteilsfreie Lehrer kann es, aber vielleicht wird es gerade einem Juden leichter, weil er zwischen den Parteien steht.“ „Und die Kreuzzüge, bei denen das Herz mitschlagen muß, Herr Doktor?“ „Das Herz schlägt mit, Herr Schulrat. Wer könnte das Erhabene, das Herrliche da verkennen, wo Menschen Leib und Leben für eine Idee einsetzen? Ein Ideal hat damals, bewußt oder unbewußt, Tausende von Kreuzfahrern begeistert, hat sie in Not und Tod geführt; aber auch einer Idee wegen, um ihre Religion, sind auch damals Tausende meiner Glaubensbrüder in den Tod gegangen. Ein jüdischer Lehrer sollte die tiefere Bedeutung der Kreuzzüge, ihre rein geistigen und religiösen Motive nicht würdigen können? Nicht können? Ist denn nicht unsere ganze mittelalterliche Geschichte ein Kämpfen und Leiden um geistige Güter gewesen, eine Pilgerfahrt voll unerhörter Entbehrungen und Qualen um unserer gläubigen Sehnsucht willen, ein Kreuzzug nach dem gelobten Lande reiner Menschlichkeit?“
„Sie sehen, Herr Doktor, wie Sie auf falschen Weg geraten. Sie wollen deutsche Geschichte lehren, sprechen von unserer mittelalterlichen Geschichte und verstehen darunter die jüdische. Deutscher und Jude läßt sich doch wohl schwer einigen.“ „Doch, Herr Schulrat, doch. Ein Westfalenkind ballt auch die Faust, wenn es hört, was seinen Ahnen von Karl dem Großen angetan wurde, ist stolz auf seine Stammesgeschichte und freut sich doch wiederum des großen Fürsten, fühlt sich doch ganz als Deutscher. Auch der Bach, der aus zwei Quellen strömt, eint sein Wasser geruhig dem großen Meere.“ „Aber dieses Meer, das alles einet und ausgleicht, kann doch nur eins sein. Ich will Sie nicht bedrängen, mein junger Freund, ich will Ihnen auch Zeit zur Überlegung lassen, aber – aber ich könnte Ihre Anstellung bei der Regierung ganz anders befürworten, wenn das eine Hindernis des Glaubens hinweggeräumt wäre.“ „Herr Schulrat!“ „Überlegen Sie es sich, mein junger Freund.“ „Es bedarf keiner Überlegung. Sie verlangen doch, daß ich aus Überzeugung übertrete, Herr Schulrat.“ „Aber selbstverständlich, mein lieber Herr Doktor.“ „Und wer bürgt Ihnen dafür, daß es so wäre, wenn ich’s täte? Und wenn es nicht so wäre? Wenn ich des langen Harrens und Kämpfens müde, um eines äußern Vorteils willen meinen Glauben, meine Überzeugung, meine Mannesehre preisgäbe? Dann dürfte ich christlichen Kindern Geschichtsunterricht erteilen, dann dürfte ich, den Meineid auf der Seele, vor sie hintreten und ihnen mit Begeisterung von den großen Männern erzählen, die um ihrer Überzeugung willen ihr alles hingegeben, dann, Herr Schulrat, wäre ich wert, daß mir die Jungens ins Gesicht spuckten.“ „Mäßigung, Herr Doktor, Mäßigung!“ beruhigte der Direktor.
„Nein, keine Mäßigung, ich habe sie jahrelang geübt. Wer kann’s uns denn nachfühlen, was wir dulden bei jedem Gang über die Straße, bei jedem Tritt ins Wirtshaus, bei jedem Blick in die Zeitung. Die zartesten Nervenfaden unserer Seele hat man mit rauher, mit roher Hand betastet, die Freude an unserm Vaterlande hat man uns vergällen wollen, zu Schurken, Verbrechern, Kindermördern hat man uns gestempelt. Wären wir, was man uns nachgesagt hat, und lebte noch ein Funken menschlichen Gefühls in uns, ein Grauen über uns selber müßte uns befallen.“ „Herr Doktor, das gehört nicht hierher.“ „Das gehört doch hierher, Herr Schulrat. Keinem andern würde man zu bieten wagen, was Sie mir geboten haben, keinem Katholiken und keinem Protestanten. Aber wir sind ja die Schacherjuden, mit uns läßt sich ein Geschäft machen, auch wenn Ehre und Gewissen der Kaufpreis sind.“ „Herr Doktor, Sie beleidigen mich.“ „Herr Schulrat, Sie haben mich beleidigt.“ „Ich habe Ihr Bestes gewollt.“ „Sie haben Unwürdiges von mir verlangt.“ „Unwürdiges?“ „Sie mußten gemein von mir denken, um eine Gemeinheit von mir zu erwarten. Ein Hundsfott stände ich hier, wäre ich Ihrer Lockung gefolgt.“ „Lennhausen, Lennhausen, mäßigen Sie sich!“ rief der Direktor dazwischen. „Herr Direktor, Sie verstehen mich.“ „Ich auch, Herr Doktor, Sie sind entlassen, hier und in der Schule. Von heute ab darf ich Sie nicht mehr in einer christlichen Schule dulden.“ Ich zuckte zusammen. Der Direktor streckte mir die Hand hin.
„Es tut mir leid um Sie, Lennhausen“, sagte er halblaut, „nun ist alles verloren.“ „Alles, Herr Direktor, hab ich vielleicht verloren, alles, nur mich selber nicht!“
Schatten.
Mit großen, hastigen Schritten eilte ich nach Hause. Wie im Traum schritt ich dahin. Tausend Gedanken und Vorstellungen kreuzten sich, zerrissen einander, wirbelten auf und sanken unter, und dabei ein quälender Druck auf Kopf und Hirn und eine namenlose Angst im Herzen. Weiter, weiter! Vor dem Häuschen der Mutter blieb ich stehen. Mit halbem Auge blickte ich scheu empor, ob sie vielleicht am Fenster stünde. Sie kannte die Wichtigkeit dieser Stunde, und ich wußte, daß sie auf mich wartete. Aber langsam, leise, daß sie meinen Schritt nicht höre, ging ich weiter. So durfte sie mich nicht sehen, ich mußte mich erst selbst wiederfinden. Seit Jahren hatte ich nur das eine Ziel erstrebt: Unterrichten dürfen, unterrichten und die Mutter sorgenfrei machen. Mir war, als ob ich einen hohen, steilen Berg hinaufgeklettert sei, und in dem Augenblick, da ich mich der leuchtenden Aussicht erfreuen wollte, habe mir jemand einen betäubenden Schlag vor die Stirn versetzt. Alles versunken, alles nebelhaft dunkel. Was nun? Ich umklammerte mit der rechten Hand den linken Arm, drückte ihn schmerzhaft fest, als müßte ich mich an mir selber festhalten. Draußen, unweit des Tores lag ein Sandbruch. Oben an seinem schroff abfallenden Rande standen einige Bäume und etwas Buschwerk, der Rest eines Waldes; eine kleine Quelle rieselte querdurch hinunter in die Tiefe. Dorthin lenkte ich meine Schritte. Der Platz war mir vor allen lieb geworden. So wenige auch der Bäume und Büsche waren, sie konnten einen Menschen umfrieden, sie gewährten, wonach meine Seele
immer wieder verlangte: Stille und Einsamkeit. Jeder Baum war mir ein Freund, jeder Busch ein Vertrauter, und kein Pflänzchen wuchs hier, das ich nicht kannte. Winterstürme und Frühlingswehen hatten mich hier umrauscht, und ganze Alpenreisen war ich hier schon gewandert. Was konnten die Alpen auch Größeres, Herrlicheres bieten? War es nicht eine sonnige Schönheit, die droben in den Kronen glänzte? Lockte nicht saftiges Grün der Matten da unten am Boden? Schimmerte es nicht wie schroffe Felsen durch die Büsche, und zog es nicht geheimnisvoll murmelnd in den Abgrund? Höher und höher stiegen in der Ferne bläuliche Berge empor, und darüber, sind das Wolken, sind das der Urgebirge leuchtende Firnen? Aber von alledem sah ich jetzt nichts. Wie ein Tier in seinem Käfig, den Kopf gesenkt, rannte ich den kurzen Pfad zwischen den Bäumen auf und ab, unzählige Mal, bis ich plötzlich in blinder Hast hart gegen einen Stamm stieß. Ich stöhnte auf, und erschrocken über meine eigene Stimme blickte ich auf. Grad über mir sprang ein Eichhörnchen von Ast zu Ast. Da umschlang ich den jungen Baum, preßte ihn fest an mich, zog die Beine hoch und kletterte dem Tierchen nach. Nicht weit. Auf dem zweiten Ast schon blieb ich sitzen. Aber meine Augen waren wieder hell geworden. Was will ich denn? lachte ich vor mich hin, ich kann ja noch klettern. Bin ich nicht noch jung? Kann ich nicht noch alles werden? Journalist, Versicherungsagent oder Weinreisender? Hab ich nicht eine Mutter noch? Und – Helene? Helene! Und da kam die alte Dumpfheit wieder. Darf ich noch an sie denken? Was bin ich? Was kann ich? Ihr blühendes, festgewurzeltes Leben an ein haltloses Bettlerdasein knüpfen, damit eine neue Tatsache es beweise, was kürzlich Doktor Kurt Wehler im Kollegium behauptet hatte, die Juden studieren nur, damit sie eine reiche Partie machen können. Hund! Hund ich selber. Ein Schuljunge
darf mit so viel Recht auf die Freite gehen wie ich. Aus! Vorbei! Und doch – durch dieselbe Tür, durch die mein Entschluß mühsam aufrecht hinausgegangen war, kam die Hoffnung ganz leise, wenn auch tiefgebückt, wieder herein: wenn sie dich wirklich liebt, wenn sie warten kann, warten, ohne daß du’s ihr zu sagen brauchst, wer weiß? Vielleicht doch? Ich sprang zu Boden, raffte meinen Hut auf und schritt festen Schrittes zum Städtchen hin. Zu Hause traf ich meine Mutter in großer Aufregung. Sie hatte schon lange auf mich gewartet. Sie saß am Fenster, es dämmerte schon, und las in ihrer Techinah, ihrem deutschen Erbauungsbuch, was sie sonst nur am Sabbat oder an Festtagen zu tun pflegte. Sobald ich ins Zimmer trat, schlug sie das Buch zu und fragte mit zitternder Stimme: „Was ist passiert, Kind?“ „Du weißt es schon, Mutter? Ich werde nicht angestellt, ich bin entlassen worden, sofort, auf der Stelle.“ „Das ist nit schlimm, Moses. Die Schulräte sind nit dazu da, um die tüchtigsten Leut herauszufinden und anzustellen, und ein Mann wie du, der findt noch immer sein Brot. Wenn’s weiter nix ist.“ „Was könnt’s sonst sein, Mutter?“ „Ich bin ne alte Frau mit’n alten dummen Kopp, und da hab ich mir schon allerhand Gedanken gemacht. Gott sei Dank, daß du bei mir sitzest.“ Und sie hielt meine Hand und preßte sie so fest, als ob ich ihr entrinnen wollte, und sie müsse mich halten. Da hörte man Tritte auf dem Hausflur, und da kam es auch schon polternd und brummend die Treppe herauf, und eh auf das laute, heftige Anklopfen eine Antwort erfolgte, wurde die Tür geöffnet, und Wolff Bergheim trat ein. „Guten Abend, Frau Lennhausen, guten Abend, Herr Doktor. Machen Sie nicht miese Gesichter, ich weiß schon alles. Ich
wollte euch eigentlich gratulieren, bin erst zum Direktor gegangen; er hat mir alles erzählt.“ „Es ist nicht seine Schuld, Herr Bergheim.“ „Mutter, du brauchst mich nicht in Schutz zu nehmen.“ „Sie mögen ein sehr gescheiter Mann sein, Herr Doktor, aber klug sind Sie nicht.“ „Es gibt noch Höheres, Herr Bergheim, als Klugheit.“ „So mit’n hohen Herrn umzuspringen, mit’n Herrn Schulrat. Er wollte doch nix von Ihnen, Sie wollten doch was von ihm!“ „Nichts wollte ich von ihm, gar nichts, nur gerecht sollte er sein.“ „Das is auch was und nit wenig. Wenn man’n Menschen reizt, kann er nit gerecht sein. Na, die Sache is nit so schlimm, den Doktor kann er Ihnen doch nit nehmen. Und was wollen Sie denn nun anfangen?“ „Ich weiß nicht, vielleicht bemühe ich mich um eine andere Stelle, obgleich ich jetzt gar keine Aussicht habe; vielleicht werde ich wieder jüdischer Elementarlehrer, vielleicht werde ich auch Hausknecht oder so was.“ „Machen Sie keine Witze, Herr Doktor. Sagen Sie mal, was hätten Sie eigentlich als Lehrer verdient?“ Ich schwieg, und die Mutter antwortete statt meiner: „Viel, viel, Herr Bergheim, über zweitausend Mark.“ „Sehr viel“, wiederholte Bergheim mit verächtlichem Tone. „Wissen Sie was, Herr Doktor, treten Sie in mein Geschäft. Ja, ja gucken Sie mich nicht so an, es ist mein Ernst.“ „Ich tauge nicht zum Geschäftsmann, das wissen Sie besser als ich.“ „Sie führen mir die Bücher, das können Sie schon lernen.“ „Dazu finden Sie leicht eine bessere Kraft.“ „Es ist mir aber etwas wert, wenn es heißt, daß ein Doktor in mein Geschäft is. Die Leut können meinen, es wär ein Advokat.“
„Tu’s, mein Kind, tu’s!“ ermunterte die Mutter. „Na, wollen Sie?“ „Ich kann nicht, Herr Bergheim.“ „Sie meinen wohl, ich wollte Sie um ‘en Appel un Brot haben. Zweitausend hätten Sie verdient, ich geb Ihnen das Doppelte, viertausend Mark. Na? Nu wollen Sie.“ „Nein, Herr Bergheim.“ „Sie halten sich wohl zu gut dazu, in meinem Geschäft zu arbeiten, Herr Doktor?“ „Jawohl, Herr Bergheim!“ „Und warum?“ „Das darf ich für mich behalten.“ „Hören Sie, junger Mann, das ist Hochmut, nix wie studierter Hochmut. Weil Sie ein bißchen mehr gelernt haben, sind Sie noch nicht mehr als ich. Wie ich fünfzehn Jahr alt war, hab ich schon meine Mutter und Geschwister ernährt.“ „Herr Bergheim, Sie sind in meinem Hause!“ fuhr ich auf. „Stille, Kind“, beschwichtigte die Mutter. „Stille, Herr Bergheim. Er hat’s ja gar nit bös gemeint. Er versteht ja gar nix vom Geschäft. Aber wie er füfzehn Jahr alt war, hat er mir schon so viel Freud gemacht, geb der liebe Gott, daß alle jüdischen Eltern so viel Freud an ihren Kindern haben.“ „Essen Sie davon, Frau Lennhausen?“ „Essen, essen!“ führ ich auf. „Geld! Geld! Das ist Ihnen alles, Herr Bergheim! Aber mich kaufen Sie nicht!“ „Adjö, Frau Lennhausen, ich hab’s gut mit euch gemeint, aber das hat man davon, wenn man sich von seinen Kindern raten läßt. Und das wollt ich noch eben sagen, ich und meine Helene betreten eure Schwelle nit wieder. Nie! Adjö, Frau Lennhausen!“ Polternd, wie er gekommen, schritt Wolff Bergheim davon.
Lange saß ich schweigend der Mutter gegenüber. Sie wußte, was mich drückte, und ich kannte ihr Leid. Die letzten Abendstrahlen fielen durch die Blätter des Birnbaums in unsres Nachbars Garten, spielten auf der bunten Tischdecke, kletterten höher und vergoldeten das Bild des Vaters, das an der gegenüberliegenden Wand hing. Der Blick der Mutter folgte dem hellen Strahl, und vertrauensvolles, sonniges Leuchten glänzte in ihren Augen. Höher bis zur Decke hin stieg der goldige Schimmer, dann verschwand er, und die Schatten der Nacht brachen dunkler und dunkler herein. Da rückte die Mutter ihren Stuhl dicht an den meinen, faßte meine Hand, und halb mitleidig, halb vorwurfsvoll sagte sie: „Moses, warum hast du das getan?“ „Weil ich mußte, Mutter.“ „Weißt du, Moses, du hast den alten Mann gekränkt.“ „Er hat mich auch gekränkt. Solche Leute wie er verschulden unser Unglück. Darum guckt man uns mit scheelen Augen an.“ „Kind, wie du sprichst. Mit solchem Gered entschuldigst du die andern. Die machen es grad so. Wenn aus einem Haus ein Besoffener rauskommt, hat gleich die ganze Straße getrunken.“ „Wenn die Straße in Verruf ist, soll der eine auch nicht trinken.“ „Schilt du mit dem lieben Gott, daß er die Menschen nit alle so gemacht hat, wie dich? Und Wolff ist noch keiner von den schlechtesten.“ „Aber schlecht genug ist er.“ „Es ist noch keiner von ihm mit leerer Hand fortgegangen. Er hat ein gutes Herz!“ „Das muß er noch beweisen.“ „Das hat er schon lange bewiesen. Auch an uns. Ohne ihn hättest du nit studieren können.“
„Mutter!“ und ich riß meine Hand los und sprang auf. „Mutter, – dann hättest du mich sollen lieber Steinklopfer werden lassen.“ „Jung, sei doch nit gleich aus dem Häuschen.“ „Wieviel schulden wir ihm noch, Mutter?“ „Nix sind wir ihm schuldig, gar nix.“ „Für sein Geld! Für solches Geld! Und das muß ich mir nachsagen lassen!“ „Nit für sein Geld, für mein Geld hast du studiert. Jeden Groschen, den ich dir geschickt hab, hab ich ehrlich verdient. Aber damals, als ich den Kramladen anfing, hat er mir das Geld dazu geliehen.“ „Und du konntest es von keinem andern bekommen?“ „Er ist zu mir gekommen und hat’s mir angeboten, noch eh ich was gesagt hatte. Er hat kein schlechtes Herz, ich sag’s dir ja. Und wenn man an den Menschen nur sehen will, was gut an ihnen ist, ist mit ihnen auszukommen. Etwas Gutes haben sie alle und etwas Schlechtes auch. Wir beiden auch, mein Kind. Nu setz dich nur.“ Und ich setzte mich und stützte den Kopf in die Hände. Die Mutter sprach weiter auf mich ein; aber ich hörte kaum, was sie sagte. Meine Gedanken jagten hin und her und suchten einen Ausweg. Wie bei dem Verknüpfspiel, wo sich der eine Knoten schürzt, wenn der andere sich löst, ging es los und fest, los und fest, und immer wieder zog sich die Schlinge zu. – Da stand Mutter auf und öffnete die Tür des Vorplatzes. Ich hatte nichts bemerkt, aber sie mußte den leichten Schritt gehört haben. „Ich wußte, daß du kommen würdest, Kind.“ „O, Frau Lennhausen, was ist denn geschehn? Vater ist außer sich vor Wut. Er hat mir verschworen, herzugehen. Ich bin ein schlechtes Kind; aber einmal mußte ich doch noch.“
„Man kann auch mal recht tun, wenn man anders tut, wie die Eltern just wollen. Er ist drinnen, Kind; soll ich Licht machen?“ Ich sprang auf, aber ich blieb im Zimmer stehen. Helene trat ein und reichte mir zitternd die Hand. Ich berührte sie kaum. Was wollen diese Leute von mir? Ich brauche ihr Mitleid nicht, ich will es nicht. Und doch, wie sie so vor mir stand, in ihrer schüchternen Hilflosigkeit, die großen Augen ängstlich auf mich gerichtet, mußte ich unwillkürlich an das kleine Mädchen denken, das ich vor langen Jahren zum ersten Mal auf dem Dorf gesehen. Und weicher, als ich wollte, kam es heraus: „Es tut mir leid, Fräulein Bergheim.“ „Vater meinte es gut“, sagte sie ermutigt. „Er hält was von Ihnen. Warum haben Sie sein Anerbieten so schroff abgelehnt?“ „Weil ich mußte.“ „Mußte? O, Sie sind stolz!“ „Es war nicht Stolz.“ „Was denn?“ „Selbstachtung.“ „Ich versteh Sie nicht. Ist es denn eine Schande, wenn ein Studierter Kaufmann wird?“ „Das nicht. Aber lassen wir das, Fräulein Bergheim.“ „Nein, ich muß es wissen. Sie müssen es mir sagen. Was hat Vater Ihnen getan, daß Sie ihn so behandeln? Sie haben immer so fremd gegen ihn getan.“ „Ich konnte nicht anders, Fräulein Bergheim. Es ist am besten so, wie es nun gekommen ist. Es wäre auch anderswie vielleicht nicht gegangen. Ich bin ein Träumer. Ich phantasiere mir alles leicht zurecht, nicht bloß die Sachen, auch die Menschen. Das ist alles gut, das fügt sich alles, so lange man im Traum bleibt; aber wenn man wach wird, stößt man sich an
allen Ecken und Kanten. Und es ist besser, daß ich allein mich stoße.“ „Sie weichen mir aus, Herr Doktor. Nach Ihren Träumen darf ich nicht fragen.“ „Sie dürfen es. Sie wissen, was ich fühle und wünsche, und was ich jetzt nicht aussprechen darf. – Aber Sie wissen auch, daß ich frei sein wollte, so weit ein Mensch frei sein kann, von keinem Menschen abhängig. Wenn man mich angestellt hätte, wollte ich hier wohnen bleiben, hier in diesen einfachen Räumen. Und meine Frau hätte hineinziehen sollen, so wie sie ist, kein Pfennig von ihres Vaters Vermögen sollte mir ins Haus kommen. Jeder sollte wissen, daß ich sie nur ihrer selber halber begehrte, sie nur allein.“ „Und ihr Vater? Würde er sein Kind so ziehen lassen? Das ist ja alles Phantasterei.“ „Ich weiß es, daß ich ein Träumer bin. Es ist ja nun so wie so vorbei, auch mit dem Träumen.“ „Sie wollen mir die Wahrheit nicht sagen, Herr Doktor?“ „Können Sie denn die Wahrheit vertragen, Fräulein Bergheim?“ Sie sah mich mit stolzem, herausforderndem Blick an. „Gut denn!“ Und mit rauhem, festem Ton begann ich: „So mögen Sie es hören, auch um Ihrer selbst willen.“ Und da stockte ich. Aber vor mir stand das alte Bäuerlein und daneben mit grinsendem Gesicht Kurt Wehler, und sie peitschten mich weiter: Nur zu, wenn du Mut hast! Und mit dem festen, predigerhaften Ton, wie ihn selbstzufriedene Moral einzugeben pflegt, fuhr ich fort: „Fräulein Bergheim, Sie sind nicht nur Kind, Sie sind Mensch, Sie sind Jüdin.“ Und wieder stockte ich. Da drängte mich ihr Auge zum Weitersprechen. Und unbarmherzig kam es heraus: „Es klebt Schande an dem Vermögen Ihres Vaters. Die Spatzen pfeifen es von den
Dächern, er habe seinen Reichtum erwuchert. Er habe ihn mit den Tränen Unglücklicher erworben.“ „Man sagt es, aber ist es wahr?“ „Es ist wahr, ich weiß es.“ „Sie verachten meinen Vater!“ Sie sah flehend zu mir empor. „Ich achte ihn nicht.“ „Mein armer Vater!“ „Ein wahres Wort, – arm. Ja arm, weil er gar nicht fühlt, was ihn drücken sollte. Und Ihre Pflicht ist es, Fräulein Helene, es ihm fühlbar zu machen. Wir alle tragen Verantwortung für einander, alle Menschen, am meisten aber wir Juden. Was der eine verschuldet, wird allen aufgebürdet. Das ist das geheime Bündnis unter uns, von dem unsere Feinde faseln: das Bündnis der gemeinsamen Verantwortung. Es gewährt keine Rechte, aber es legt Pflichten auf, und Ihre Pflicht ist es, Ihren Vater auf andere Wege zu bringen.“ „Meine Pflicht ist es, ihn zu lieben. Ich kann sein Richter nicht sein, ich will es auch nicht. Mir ist er der beste, sorglichste Vater gewesen. Wenn er sich Reichtum erworben hat, er ist selber so anspruchslos, hat er es meinethalben getan. So bin ich selber die Mitschuldige. Verurteilen Sie mich auch, Herr Doktor!“ Sie sah mich mit flammendem Blick an. Dann schritt sie zur Tür hinaus. In demselben Augenblick kam die Mutter mit dem alten flachen Öllämpchen aus der Küche. Sie stellte es schnell auf die Kommode im Vorflur hin und blickte Helene erwartungsvoll an. Dann fragte sie mit hastigen Worten: „Schon gehen, Kind? Ist alles wieder in Reih, alles wieder gut?“ Da fiel Helene ihr um den Hals und schluchzte leise. „Was ist denn, Kind?“ „Ach, wenn ich noch eine Mutter hätte!“
Und sie küßte die alte Frau, wie man nur eine Mutter küßt, und eilte die Treppe hinunter. – Ich sah ihr nach, wie sie über die Straße ging. Den Kopf hoch, mit festem, entschlossenem Schritt eilte sie dahin. Wie schön sie war, wie anmutig in jeder Bewegung! Aber sie ist doch die Tochter Wolff Bergheims. Sie hätte sich nie in deine ärmlichen Verhältnisse gefügt! Die Mutter kam ins Zimmer, ging wieder hinaus und kam wieder. Sie wollte mir keine Vorwürfe machen und fand doch kein Wort des Trostes, der Hoffnung. Zeitiger als sonst begab sie sich nach dem bewegten Tag zur Ruhe. Mich drängte es, ins Freie zu gehen, in die Nacht hinaus zu wandern, aber dann wäre die Mutter nicht eingeschlafen. So blieb ich, nahm ein Buch, schlug es auf und las, ohne zu wissen, was ich las.
Aus alten Tagen.
Meine Gedanken gingen ihre eigenen Wege. Mein ganzes Leben wanderte vor mir her. Die helle, fröhliche Kinderzeit, die heitern Schultage, der Tod des Bruders, des Vaters, das unermüdliche Sorgen der Mutter, die lustigen, hungrigen Seminaristenjahre, das glückselige Lehrertum in dem Bergdorf, die Studentenzeit, mein Streben und Ringen, meine Liebe und mein Leid. Und dazwischen blühten überall wie welke Blumen, die man ins Wasser setzt, die alten Träume auf. Geschehenes hatte ich vergessen, aber was ich zu der und der Zeit, an dem und dem Orte geträumt, das wußte ich ganz genau. Träume von gesegneter Tätigkeit, Träume von Ruhm und Erfolg, Träume von Reisen in ferne, schöne, altheilige Länder, nach Norwegen, nach Hellas, nach Palästina, und ein Traum über allen, ein stilles häusliches Glück und die Mutter dabei, sich sonnend in ihren alten Tagen an dem warmen Sonnenschein meines Glücks. Und jetzt – nichts! nichts! nichts! – Was nun weiter? Wieder versuchen, wieder Zeugnisse und Bewerbungen in alle Welt umherschicken, um Tag auf Tag Ablehnungen zu erhalten, oder umsatteln, etwas Neues versuchen? Ich war ja noch jung, ich hatte doch Kraft; wenn ich wollte, konnte ich alles lernen, aber die Mutter! Sie konnte nicht mehr warten. Nur an mich hatte ich gedacht, als ich Bergheims Antrag zurückwies. Wäre es doch nicht vielleicht – war ich meiner Mutter nicht mehr schuldig als Helene ihrem Vater? Nein, nein, das wäre Selbstmord gewesen. Aber war es denn recht von mir, was ich an Helene getan? War’s meine Pflicht, die Axt an die Wurzel ihrer Kindesliebe zu legen? Sie, die so sicher ihren Weg gegangen,
in Verwirrung und Zwiespalt zu bringen? Bah, sie wird sich schon trösten, es wird sie schon einer trösten. Nein, nein, sie ist nicht von der Art, die sich leicht trösten läßt. Und wenn auch, was kümmert es mich? Mag sie doch nehmen, wen sie will. Ich habe an Wichtigeres zu denken. Was soll jetzt geschehen, jetzt gleich, die nächsten Tage, um der Mutter zu helfen? Und in diesem Augenblick fühlte ich, daß sie hinter mir stand. Ich hatte sie nicht kommen hören, aber ohne mich umzusehen, sagte ich halblaut: „Mutter!“ Und da war sie neben mir, im leichten Nachtkleid, ein Wolltuch umgeschlagen, und legte mir die Hand auf den Kopf. „Es ist schon so spät, Kind, die Uhr geht auf zwei. Und gegessen hast du auch nichts. Und deine Stirn ist so heiß.“ „Mir fehlt nichts, aber deine Hand ist kalt, Mutter. Warum schläfst du denn nicht ruhig weiter?“ „Ich hab geschlafen; aber ich konnt nicht wieder einschlafen. Mir ist ein Gedanke gekommen, Moses.“ „Laß hören, Mutter.“ „Wir wollen fortziehen.“ „Wohin?“ „Nach Amerika.“ „Mutter, du?“ „Kind, ich bin noch nit so alt. Laß erst mal diese paar Tage vorbei sein, und ich bin widder wie ein jung Mädchen.“ „Aber Mutter, du, weißt du denn, was du verlassen willst?“ „Weiß ich, aber du gehst ja mit.“ „Aus der Heimat, aus dem Vaterland! Auf immer fort von dem Ort – “ „Ich weiß, was du sagen willst. Den guten Ort, wo dein Vater selig ruht, hab ich jeden Tag vor Augen, ob ich ihn seh oder nit, und wo dein Bruder liggt, mein Oscher selig, das weiß ja doch nur der Herrgott im Himmel.“
„Wandern, wandern, ewig Ahasver, ewig Fremdling auf Erden!“ „Sind wir’s denn nit, mein Kind! Sind’s denn nit alle Menschen? Und wir sind’s doch auch widder nit. Weißt du, was der Talmud sagt? Wie der liebe Gott den Menschen geschaffen, hat er Staub dazu genommen von Sonnenaufgang und Staub von Sonnenuntergang, Staub vom Norden und Staub vom Süden. So ist der Mensch nirgendwo fremd auf der Welt, und wo er auch stirbt, kehrt er zurück zu seiner Mutter, zur Erde.“ „Mutter, wie bist du stark!“ „Ich bin nit stark. Aber ich weiß, ‘n guten Ort zum Sterben find’t man überall, zum Leben wird sich auch wohl noch einer finden. Überleg dir’s, mein Jung, ich zieh mit, gern mit, ich bin nit bang, ich hab das Wasser und das Wandern all mein Tag gern gemocht.“ „Und was sollen wir drüben anfangen, Mutter?“ „Arbeiten, Kind, und auf den lieben Gott vertrauen.“ „Haben wir’s nicht schon probiert, Mutter?“ „Dann probieren wir’s nochmal. Es hilft noch immer.“ „Und wenn’s nicht hilft? Du weißt ja, wie’s uns Juden geht! Hast es mir ja selber oft genug gesagt: Kommt der Stein zum Kruge, weh dem Kruge, kommt der Krug zum Stein, weh dem Kruge! Uns stößt man immer. Ach, es wird nicht besser auf der Welt!“ „Es wird schon, Kind, es geht nur langsam, ganz langsam. Weißt du, was mein Großvatter zu kämpfen gehabt hat?“ Ich hatte es schon als Knabe von ihr gehört, aber ich fragte doch: „Was denn Mutter?“ „Im Siegerland hat er gewohnt als junger Mensch. Auf einem kleinen Dorf hat er sein Geschäft betrieben, und die Bauern haben ihn gut leiden können. Er ist auch mit dabei gewesen,
wie sie Napoleon besiegt haben, weißte, den alten, den großen. Und wie er nu zurückkommt, verlobt er sich mit ‘nem jungen, schönen Mädchen aus Frankfurt am Main. Sie hat zu ihm aufs Dorf wollen; er aber hat gemeint, es wär zu schad um sie, so ihr Leben lang zwischen den Bauern, und da mietet er in der Stadt ‘ne Wohnung. Es durften aber seit uralten Zeiten keine Juden mehr in der Stadt wohnen. Eine Gaß war noch da, die hieß die Hundsgaß. In der hatten sie früher wohnen dürfen. Wie aber einmal eine große Krankheit ins Dorf gekommen war, hat man gesagt, die Juden seien Schuld daran, und hat sie mit Hunden aus der Stadt gehetzt. Und von der Zeit an hat die Gaß, die früher die Jüdengaß hieß, ihren neuen Namen bekommen. Das alles hat der Großvatter gewußt, und er hat doch in der Stadt gemietet; denn, hat er gemeint, nu sei eine andere Zeit, und er dürfe alles tun, was die andern auch tun. Wie er aber Hochzeit gemacht hat und des Nachmittags vor die Stadt kommt, ist das Tor geschlossen, und sie weisen ihm die alten Briewe und Rechte, daß sie keinen Juden aufzunehmen brauchen. Was soll er tun? Er geht mit seiner jungen Frau aufs Dorf und fängt an, zu prozessieren. Er war ein harter Kopp. Reiche Verwandte von der Frau wollten ihm das Bürgerrecht von Frankfurt beschaffen, was dazumal ‘ne große Sach war, er will aber nit, er will sein Recht. Und er prozessiert ‘ne ganze lange Zeit, und sein Vermögen geht dabei hin. Und wie die Richter seine junge, schöne Frau sehen, das arme Weib hat Zeuge sein müssen, haben sie Mitleid und erkennen als Recht, daß, wenn die Stadt ihnen ‘ne Wohnung vermietet hat, sie auch beide drin wohnen dürfen. Und so ziehen sie denn ein. Als aber das erste Kind kommt, is ‘n großer Aufstand in der Stadt. Sie wollen keine Judenzucht, sagen sie, und der Richter hätt nix von den Kindern gesagt, nur die beiden dürften da allein wohnen, und sie ließen sich solche Betrügerei nit gefallen. Und kommen mit
Knitteln und Äxten und Gewehren vor das Haus und schlagen an die verschlossene Tür. Der Großvatter aber stellt sich mit seiner Flint an das Fenster und schreit: ‘Wer mir ins Haus kommt, den schieß ich nidder wie ‘n Hund!’ Und die ganze Nacht liggt er vor dem Bett der Großmutter, die Flint im Arm und hält Wache. Sie schlagen noch ein paar Mal an die Tür, sie schmeißen die Fenster ein; aber weiter tun sie nix. Es waren doch auch viele vernünftige, gute Leut im Ort, und da der Großvatter ein sehr ordentlicher Mensch war und keiner was gegen ihn sagen konnte, so legten sie sich ins Zeug für ihn, daß er bleiben konnte. Und Großmutter erst! die mochten alle leiden. Die Nachbarn schickten ihr Milch und Butter und Eier, wo sie nu so krank darniederlag. Die Leut sind nämlich immer besser, als sie selber wissen. Als sie aber zum ersten Mal ausging und ihr Kindchen im Arm hatte, da kamen sie alle angelaufen und waren ganz verwundert, daß so ein Judenkind gerad so aussieht wie alle kleinen Kinder. Und so blieben sie denn in dem Ort und haben noch viele Kinder gekriegt. Und als die Kinder groß waren, da verheirateten sich die Töchter nach auswärts, die Jungens gingen alle nach Amerika, wo sie gut vorankamen, nur dein Großvatter, mein Vatter selig, blieb hier; aber er zog auch fort von seinem Geburtsort. Meine Großeltern selber aber blieben wohnen und waren jahrzehntelang ganz allein die einzige jüdische Familie in der Stadt. Und wie die Kinder auch baten, sie sollten zu ihnen ziehen, Großvatter wollte nit; so’n Ort, meinte er, gäb’s nit zum zweiten Mal, es wär ein Krönche von einer Stadt. Und da ist er auch gestorben und begraben, und da hat sich die Großmutter, die zu ihrer ältesten Tochter gegangen war, auch später neben ihm begraben lassen. Siehst du, Jung, so haben andere Menschen auch ihr Teil von Leid und Sorg gehabt. Aber besser ist es doch geworden. – Und nu, mein Kind, hol ich dir noch was zu essen. Du hast den ganzen Tag noch nix
Rechts gehabt, und wenn der Magen sein Recht nit hat, steht die ganze Welt aufm Kopp.“ „Laß nur, Mutter, ich bin nicht hungrig, ich bin nicht müde. Ich könnte dir noch lange zuhören.“ „Du hast heut genug gehabt. Morgen ist auch ein Tag. Und ein neu Werk muß ‘en neuen Tag haben. Morgen sieht alles ganz anders aus. Ich muß mich auch legen, ich kann nit mehr.“ „Gute Nacht, Mutter!“ „Gute Nacht, mein Jung!“ –
Freunde.
Leichter, als ich gedacht, wurde mir die Trennung von der Schule. Die Mutter fühlte sich am Morgen so krank und schwach, daß ich gar nicht daran denken durfte, sie allein zu lassen. Noch überlegte ich, ob ich mich so ohne weiteres fügen solle, ob der Schulrat ein Recht habe, mich wie einen Tagelöhner auf die Stunde zu entlassen. Mit Bangen dachte ich daran, daß ich nie mehr lehrend vor meinen Jungens stehen, nie mehr in diese frischen, erwartungsfrohen Gesichter blicken sollte. Ich hatte ihnen noch so viel zu sagen, hatte mich schon darauf gefreut, wie dies und das auf sie wirken werde, wollte noch so schöne, weite Wanderungen mit ihnen machen – alles vorbei! Ich fühlte, wie sie mir ans Herz gewachsen waren, nicht bloß einige, die begabten, fleißigen, anschmiegsamen, als Ganzes, als Klasse waren sie mir lieb, und keinen von ihnen hätte ich missen mögen. War doch keiner unter ihnen, von dem ich nicht wenigstens einmal einen dankbaren Blick empfangen hätte, und einem Dankenden gegenüber fühlt man sich gleich wieder zu Dank gerührt. Ich meinte, sie gehörten zu mir, ich zu ihnen wie Truppe und Führer, die zusammen im Feuer gestanden. Nun sollte ein Fremder an meine Stelle treten. Was würden meine Jungen sagen? Aus allen Überlegungen und Bangnissen riß mich nun mit einem Mal der Gedanke: Die Mutter ist krank. Sie wollte es zwar nicht zugeben. Sie war aufgestanden und wollte mich bewegen, auszugehen; sie hantierte auch umher und meinte: „Ich werd doch auf meine alten Tage nit so’ne
Dummheit machen.“ Aber sie legte sich doch bald wieder hin und war froh, daß ich bei ihr blieb. Und ich ging nur von ihrer Seite, um eine Privatstunde zu geben, um für sie tätig zu sein, um etwas für sie zu besorgen. In einem Haushalt, in dem es keine Dienstboten gibt, lernt auch der Mann allerlei kleine Kunstgriffe und Geschicklichkeiten, die sonst nur der Frau eignen. Sie brauchte mir nur eine Anweisung für die Küche zu geben, und ich wußte schon, wie es zu schaffen sei. Und war es auch nicht ganz geraten, aus des Kindes Hand schmeckte ihr alles. „Schad, daß du kein Mädchen geworden bist“, sagte sie, mir lächelnd zunickend. „Ja, Mutter, dann könnt ich besser für dich sorgen.“ „Und weißt du, Kind, so lang es einem noch schmeckt, braucht man sich keine Sorg zu machen.“ Aber ich machte mir doch Sorge. Ganz ‘zufällig’ kam der Arzt herein, ein guter Bekannter, der sich wunderte, daß die Schlafstubenfenster bei dem warmen Wetter geschlossen wären. Frau Lennhausen sollte krank sein, eine Frau wie die, die mitten im Winter, wenn sich die Leute hinter dem Ofen verkrochen, vergnügt spazieren ging und meinte, es wehe nur ein kühles Lüftchen, eine Frau, die gar nicht wußte, wozu es Ärzte auf der Welt gäbe, krank, das wäre nur ein Scherz. „Ich bin’s auch nit, Herr Doktor, ich bin nur ein bißchen ab; aber mein Sohn ist ‘ne Bangebüx, der weiß gar nit, was wir von der alten Welt aushalten können. Nu? Sind Sie fertig mit Untersuchen? Wie heißt sie? Das Kind muß doch ‘nen Namen haben.“ „Hat keinen Namen. Sie sind wirklich nicht krank, Frau Lennhausen, aber ein bißchen sehr ab sind Sie, und Sie müssen sich schonen. Ich werde Ihnen was verschreiben.“ „Aber nix Teures, Herr Doktor, das hilft nur dem Apotheker und nit mir.“
„Und was fehlt ihr wirklich?“ fragte ich draußen beklommen. „Mir dürfen Sie, müssen Sie alles sagen.“ „Es ist wirklich keine eigentliche Krankheit. Ihre Mutter leidet am Leben; die Jahre machen sich geltend, und sie hat wohl nie gefaulenzt. Gute Pflege, keine Aufregung, alles andere muß die Natur machen. Sie ringt sich vielleicht wieder durch.“ An diesem ‘Vielleicht’ hing meine Seele. Da hörte ich, daß Helene Bergheim sich verlobt habe. Die Mutter sagte mir, daß sie es schon gewußt hätte. Helene wäre noch einmal bei ihr gewesen, als ich ausgegangen war, um Stunden zu geben. Sie hatte ihr erzählt, wie gut der Vater immer gewesen sei, und wie er immer alles für die kränkelnde Mutter getan, kein Arzt und kein Bad sei ihm zu teuer gewesen. Die arme Mutter! Sie sei nie fröhlich gewesen, habe solch schöne Stimme gehabt, aber sie habe fast nie gesungen, habe immer still und traurig ihre Arbeit getan. Es sei gut gewesen, daß der Vater vor lauter Arbeit und Geschäften das gar nicht gemerkt habe. So ein Mann, der sich immer müht und quält, müsse doch auch ein bißchen Freude haben. Nun wolle sie das wieder gut machen. Sie habe dem Vater erklärt, sie wolle ihm zu Willen sein und den reichen Frankel heiraten, aber nur unter der Bedingung, daß der Vater sich endlich ausruhe und alle Geschäfte, alle, aufgebe, Korngeschäfte und Bankgeschäfte. Was solle er sich noch quälen, wenn ein anderer für sie arbeiten könne? Der Vater habe sie ganz überrascht und erstaunt angesehen, aber sie sei fest geblieben, entweder setze er sich zur Ruhe und sie heirate nach seinem Wunsche, oder er arbeite weiter und sie heirate nie, nie! Unverständige Schrullen, Kindereinfälle, habe er gebrummt, er sei noch so jung und rüstig. Da habe sie gebettelt und gebeten, er solle doch ihren Wunsch erfüllen, sie wolle auch nie wieder etwas von ihm erbitten, und gut solle er es haben, was sie ihm
an den Augen ablesen könne, wolle sie tun, und immer wolle sie Zeit für ihn haben, wolle immer fröhlich sein und singen, wenn er es auch gar nicht verlange. Sie habe nicht losgelassen mit Bitten und Küssen und Weinen, bis der Vater endlich gesagt habe: ‘Gut. Punktum, gelesen und unterschrieben.’ – „Ich weiß nicht, Frau Lennhausen“, habe sie dann ganz leise gesagt, „ob ich recht getan, aber der Herr Doktor wird mir beistimmen, und wenn ich auch keine“ – sie habe die Worte verschluckt, und dann schnell hinzugesetzt – „ich bin ein glückliches Kind.“ „Sie hat recht getan, Mutter“, sagte ich, zugleich schmerzlich bewegt und doch stolz auf den Erfolg meiner Worte. Aber unwillkürlich hielt ich mir die Augen zu, so wie wenn man sich ein Bild aus fernen, fernen Zeiten zurückrufen will. Noch am selben Abend kam Claus Martens zu mir; ich hatte ihn schon sehnsüchtig erwartet. Er freute sich, mich so ruhig und gefaßt zu finden, aber er wußte nicht, daß eine größere Sorge die kleinere Not verdrängt hatte. Ich könne mich übrigens freuen, meinte er, daß es so gekommen. Es sei eine große Verschwörung gegen mich im Anzuge gewesen und ich wäre doch bald so oder so gestürzt worden. Erstaunt sah ich ihn an, und halb scherzend, halb in verbissener Wut erzählte er mir, Kurt Wehler habe die Kollegen, während ich beim Schulrat war, veranlassen wollen, gemeinsam dagegen zu protestieren, daß ein Jude definitiv an der Schule angestellt werde. Es gälte, die Einheit des Kollegiums zu wahren, es dürfe sich kein Fremdkörper darin festsetzen, man sei es der eigenen Ehre, dem Interesse einer christlich nationalen Erziehung schuldig, daß diese Eindringlinge wenigstens der höheren Schule ferngehalten würden. „O, er soll sehr schön, sehr begeistert gesprochen haben, der Herr Kurt Wehler; er glaubt ja auch alles, was er sagt, und vor allen Dingen, er glaubt an sich.“
„Und die andern, die andern?“ „Ja, alter Junge, das muß ich sagen, da hab ich eine schöne Enttäuschung erlebt. Einmütig haben sie es zurückgewiesen, gegen einen Kollegen vorzugehen, und der alte stille Sorfelder ist aufgesprungen und hat ihn gefragt, woher er denn seine Kenntnis von den Juden und vom Talmud, den er so verdamme, habe. Wir sollten uns doch auch einmal an der eigenen Nase zupfen. Sie beide unterrichteten doch Geschichte, und Herr Doktor Wehler auch noch Religion. Wäre es ihm jemals in den Sinn gekommen, auch nur ein Viertelstündchen seinen Jungens von den entsetzlichen Verfolgungen und Leiden der Juden im Mittelalter zu erzählen? Hätte er jemals versucht, den jungen, offenen Herzen klar zu machen, woher die Quellen der Vorurteile hüben und drüben kämen, die so verderblich wirkten? Und dann gab es eine erbauliche Debatte über den Talmud. Kennst du ihn eigentlich, Lennhausen?“ „Nein, Martens. Dazu gehört ein langes, schweres Studium. Da er Aussprüche und Meinungen von Tausenden von Köpfen und aus Hunderten von Jahren enthält, mag viel Krauses, Wirres und Anfechtbares darin stehen. Aber sieh hier, das ist das Gebetbüchlein meines Vaters, das er mitgenommen auf seinen Wanderungen, in Hitze und Kälte, in Sommer und Winter, wenn er von Ort zu Ort zog, um die paar Groschen zu verdienen, mit denen er seine Familie ernährte. Aus diesem Büchlein hat er Trost und Kraft gesogen in allen Nöten und Bitternissen des Lebens, und in diesem Büchlein wie in allen Gebetbüchern der Juden stehen Aussprüche aus dem Talmud, die sinnig ‘Sprüche der Väter’ heißen. Sie stellen sich dem Besten gleich, was je ein edler, großer Geist gedacht und gesagt, ein tiefes Herz empfunden hat. Das ist der einzige Talmud, den alle Juden kennen oder doch kennen sollten.“
„Ja, Lennhausen, ihr solltet etwas mehr von euch halten. Weißt du, was euer Fehler ist, ihr seid nicht harmlos, nicht naiv genug. Bei allem, was ihr tut, denkt ihr gleich, wie wohl die andern, wie wir Christen es beurteilen könnten. Zum Kuckuck nochmal, was geht das euch, was geht’s dich an? Weil einer blaue Augen und blonde Haare hat, – hat er darum das Recht, über dich zu Gericht zu sitzen? Tu, was dir rechtens dünkt und schere dich den Teufel um die andern.“ „Wir gehen wie mit einer offenen Wunde umher, und da blickt man sich ängstlich um, daß keiner sie berühre.“ „Die Zeit wird sie schon heilen, und wir wollen wacker mithelfen. Nur geradeaus gehen, nicht nach links und rechts schielen. Frei drauflos!“ „Frei drauflos! Was würdest du sagen, wenn ich die reiche Tochter eines – hab ich dir nie von ihr erzählt?“ „Nie.“ Und ich erzählte ihm alles von Helene bis auf die letzte Begegnung mit ihr. „Nun, was soll ich tun, Martens?“ „Was du tun sollst? Du bist ein Tor, Lennhausen. Liebst du das Mädchen, so ist alles andere Nebensache, und wenn ihr Vater Zuchthäusler wäre.“ „Es ist zu spät.“ Und ich erzählte ihm weiter, wie es gekommen. Da fuhr er wütend auf. „Du bist ein Egoist, ein ganz vermaledeiter Egoist! Wie konntest du so zu einem Mädchen sprechen, das du liebst, das dich liebt. Wie sie in solche Seelennot stürzen? Weißt du, das ist wieder das Schielen nach den andern hin, was werden sie dazu sagen? Mach’s wieder gut, geh hin zu ihr und mach’s wieder gut, und kannst du’s nicht, dann verfall nicht wieder in deinen alten Fehler. Hast du nach dem Verstand gehandelt, so laß nicht das Gefühl über dein Tun richten, und umgekehrt auch nicht. Aber wenn’s geht, mach’s wieder gut!“
„Es geht nicht. Was kann ich Hungerleider ihr bieten? Sie ist auch schon mit einem andern verlobt, aber ich hab sie dazu getrieben.“ „Sie hat dich schnell aufgegeben; vielleicht war’s auch gar nicht die rechte für dich, also such eine andere. Ich werde auch bald suchen müssen.“ „Du? Was denn?“ „Eine neue Stelle.“ Und nun berichtete er mir so nebenher, daß er auch zum Schulrat gerufen worden sei. Man habe ihn als Sozialdemokraten denunziert, weil er wiederholt in sozialdemokratischen Vereinen geredet hätte. Es drohe ihm eine Disziplinaruntersuchung, und wie die ende, wisse er schon. Ich faßte erschrocken seine Hand. Er lächelte mild und sagte ganz ruhig: „Diese Flachköpfe, die nichts kennen als Partei und Bestrebungen im Dienste der Partei. Die politischen Parteien mögen ja notwendig sein, und es mag auch eines rechten Bürgers Pflicht sein, sich zu einer von ihnen zu schlagen. Ich tu es nicht, ich kann es nicht. Ich wollte bloß dem Volke helfen, so gut wie ich kann. Ich sah die Sehnsucht in seinen verlangenden Augen, den Heißhunger in seinem stummen Gesicht: Gebt auch mir von euren reichen Tischen, auch der Geist will sein Brot haben! Und da bin ich hingegangen und hab mit meinen armen Händen gegeben, was ich geben konnte; und nicht erst gefragt, zu welcher Partei gehörst du denn? Aber sie werden es mir schon eintränken, diese Flachköpfe!“ „Und deine Frau?“ „Sie ist meine Frau. Und für die Kinder werden wir schon sorgen.“ „Martens, ich schäme mich vor dir!“ „Lennhausen, du bist ein – ein Rhinozeros!“ Und er drückte mir die Hand und ging.
Nach diesem Abend sah ich den Freund wochenlang nicht mehr. Er hatte wohl nichts Gutes zu melden, und alle meine Sorge flüchtete sich in den einen Wunsch: Wenn nur die Mutter wieder gesund wird! Und in der Zeit des bittern Bangens ließ mich der Direktor zu sich kommen. Er hatte gute, liebe Worte für mich. Er brauche mir nicht zu sagen, wie leid es ihm täte, einen solchen Mitarbeiter zu verlieren. Auch die Jungens sehnten sich nach ihrem alten Lehrer. Nach dem bedauernswerten Vorkommnis sei natürlich vorab an keine Anstellung im Staatsdienst zu denken; aber nach dieser traurigen Rückschrittszeit müsse es bald wieder vorwärts gehen. Pestalozzi und Diesterweg hätten doch nicht umsonst gelebt. Was ich aber nun beginnen wolle? Ob ich’s nun nicht mal wieder mit einer Privatanstellung versuchen wolle. Und wenn mir seine Empfehlung nur irgend etwas nützen könne, daran solle meine Bewerbung gewiß nicht scheitern. Lauter gute, liebe Worte, aber ach, nur Worte. Und Wochen gingen hin, dumpfe, lange Wochen. Tag um Tag schien die heiße Sonne, blendend, sengend. Gras und Baum und jede Kreatur lechzte nach Erquickung, nur die Kinder waren glücklich. Hitzferien jeden Tag und keine Aufgaben. Wie ist doch die Welt so schön! Ich wachte treulich am Krankenbett der Mutter. Und mußte ich sie auf Stunden verlassen, so ging ich in Angst fort und in Angst kehrte ich zurück. Aber dazwischen lagen oft Minuten reinsten Glücks, wenn meine Jungens auf der Straße auf mich zustürmten und mich fragten, wann ich wiederkäme. Aber die Mutter wollte nicht besser werden. Ihre Kräfte nahmen zusehends ab. Sie schob alle Schuld auf das unvernünftig heiße Wetter, das so matt mache. Bei solcher Hitze, meinte sie, müsse es besonders angenehm auf dem Wasser sein. Und dann erging sie sich in Plänen und
Hoffnungen, deren zuversichtliches Ende immer war, wie weit es die Brüder ihres Vaters in der neuen Welt gebracht hätten. Einmal aber dachte sie wieder ans Bleiben. Es war ein Brief aus Berlin gekommen, ein übermütiger, lachender, glückseliger Brief, der mich selber fröhlich stimmte. Joseph Mainzer hatte geschrieben, einen ganzen Berg voll Neuigkeiten. Erstmal hatte er wieder ein Examen bestanden, das sechste oder siebente, und dann hatte er vom Herbst ab eine Anstellung erhalten, eine feste, an einer Berliner Schule. Und dann wollte Fanny Heinemann ihre Stelle an der Gemeindeschule niederlegen, und dann, nein, nicht dann, schon gleich im Anfang der Sommerferien wollten sie Hochzeit machen. Nun, was ich dazu sage, der Pessimist? Seien die Behörden nicht wirklich liberal? Er sei doch schon längst über das Anstellungsalter hinaus. Und vielleicht bekäme er sogar eine Klasse. Gäbe es keinen Fortschritt in der Welt? Sei so etwas vor hundert Jahren möglich gewesen? Und solch ein Glück, wie ihm bevorstände, sei früher auch gar nicht möglich gewesen. Nur ruhig warten müsse man. Das Gehalt sei im Anfang ja etwas klein, aber es steige doch von drei zu drei Jahren, und dann die Pension, und Privatstunden könne er geben und sein Frauchen auch! Frauchen! Wisse denn ein so verstockter, knöcherner Junggeselle, der noch nicht einmal verlobt sei, was für eine Lieblichkeit, was für heimliche und heimische Seligkeit in dem Wort läge. Er selber wisse es ja auch noch nicht so ganz, aber er, er ahne es doch schon, und er greife sich manchmal an beide Ohren: Joseph Mainzer, ist’s denn möglich? – Und ob ich es nicht auch einmal in Berlin versuchen wolle. Es halte zwar schwer, aber ich dürfe mich getrost auf ihn und seine Fanny beziehen, sie wollten gern ein Wort für mich einlegen. „Versuch’s wirklich mal“, meinte die Mutter.
„Hab’s schon zweimal getan.“ „Tu’s noch einmal, der dritte Schlag gibt Öl.“ „Und Amerika?“ „Das nimmt uns keiner fort. Du weißt, ich geh jeden Tag mit. Es ist auch vielleicht am besten, wir bleiben dabei. Ich dacht nur, weil du mal wieder so ein froh Gesicht machst.“ „Ich bin auch froh, Mutter. Er ist ein so guter Kerl. Solltest ihn mal kennen.“ „Ich kenn ihn doch, Moses.“ „Sehen müßtest du ihn auch. Ein Kopf wie der größte Gelehrte, und ein Herz wie’n Kind. Sehen müßtest du ihn nur!“
Fanny und Joseph.
Und sie sah ihn auch. Mitten in der heißen, schwülen Sommerzeit kam es zu uns herein wie ein verspäteter Maientag. Joseph Mainzer und Fanny Heinemann waren auf ihrer Hochzeitsreise, und sie wollten ihrem Freund Lennhausen eben guten Tag sagen. Wenn sie gewußt hätten, daß seine Mutter so krank wäre – sie saß im Sessel am Fenster – dann wären sie nicht gekommen. Nein, dann wären sie gerade gekommen, sie sähen ja, wie sie sich freute. Herr Joseph Mainzer war ihr doppelt dankbar dafür. Er hatte erst ein Gefühl der Schuld gehabt, es sei rücksichtslos von ihm gewesen, mit all seinem Glück zu dem armen Freund zu kommen. Aber keine Spur von Neid fände er, auch bei der Mutter nicht. So viel Liebe von der alten Frau! Und er drückte ihr immer die Hand und nickte ihr zu, als wolle er sagen: Kriegt er auch noch mal! Und dabei blickte er mit zärtlicher Innigkeit auf seine Frau, die vor zehn Jahren wahrscheinlich recht hübsch gewesen war, aber jetzt, wie ihre Kleidung, ein bißchen verkümmert und altmodisch aussah. Wenn er neben ihr stand, der starke Mann mit dem auffallend großen Kopf, und behutsam seinen Arm um sie legte, fühlte man mit, wie es ihn zu durchzittern schien: Nur nicht zerbrechen! Wir sprachen bald von unserer Studentenzeit und unsern Studien. Mainzer erzählte mit einiger Verlegenheit, daß er an einem wissenschaftlichen geschichtlichen Werke arbeite, und ich gestand ihm im Vertrauen, daß ich einer Berliner Zeitschrift eine kleine Erzählung eingesandt habe. „Eine eigene?“ „Was sonst?“
„Mensch, das hätt ich dir nicht zugetraut! Wenn meine Fanny die liest!“ „Still! Sie wird nicht, ich krieg sie ja wieder zurück; sie kennt schon den Weg zum Stall.“ „Wenn ihr euch Geheimnisse zu erzählen habt, geht doch draußen spazieren“, mahnte die Mutter. Und als Mainzer sie erschrocken anblickte, fügte sie lächelnd hinzu: „Na, keine Entschuldigung! Geht nur, es tut meinem Moses mal gut, wenn er an die frische Luft kommt. Und wir Frauen sind auch mal gern allein.“ Wir gingen hinaus, plauderten weiter von den alten Zeiten, sprachen von unsern Hoffnungen und Enttäuschungen, und da standen wir vor Claus Martens’ Tür. Ich hatte gar nicht die Absicht gehabt, ihn aufzusuchen, wie von selber hatten sich meine Schritte zu ihm gelenkt. Den mußte Mainzer kennen lernen, so zwei seelengute Kerle durften einander nicht fremd bleiben. Es war eine glückliche, reiche Stunde, die wir da verlebten. Unterricht, Erziehung, die ersten Keime einer neuen Pädagogik, Volksschule und höhere Schule, Universitätsstudium, die geistige Not des Volkes, und alles, was ein Lehrerherz bewegen kann, wurde berührt. Und als ich vor dem Fortgehen noch Martens leise nach dem Ausgang der Disziplinaruntersuchung fragte, sagte er ganz ruhig und laut genug, daß Mainzer es auch hören konnte: „Die ist schon beendet, ich bin abgesetzt.“ „Du?“ rief ich bestürzt, „du? Das ist ja nicht möglich! Du, der beste, der eifrigste, der idealste Lehrer, du? Sind die Menschen denn mit Blindheit geschlagen?“ „Durchaus nicht, und ich habe auch nichts getan, um sie nicht klar sehen zu lassen. Ich habe ohne weiteres zugestanden, daß ich in sozialdemokratischen Versammlungen geredet oder vielmehr Vorträge gehalten habe, um das Volk von dem Giftwasser der Schundliteratur zum reinen Quell echter
Dichtung zu führen, und daß ich’s für meine Pflicht hielte, es auch fernerhin zu tun. Damit war mir jede Brücke abgeschnitten, und so stehe ich nun am andern Ufer.“ „Wirst also nun Sozialdemokrat?“ Er lächelte. „Du weißt ja, Lennhausen, was ich vom Parteiwesen halte. Aber ich habe das Angebot des ‘Volkswillen’, sein Mitarbeiter zu werden, angenommen. Und ich schreibe nun für das Blatt genau so, wie ich geredet habe. Seit vierzehn Tagen schon, aber ich befürchte, es wird keine vierzehn Wochen dauern. Man will mir auch dort Leitseile anlegen. So, so – und nicht anders. Und das kann ich nicht. Und außerdem, die Kinder fehlen mir, ich muß sie um mich haben; ich muß unterrichten. Will die Feder nicht mehr, so versuch ich es mal in der freien Hansestadt Hamburg oder in dem noch freieren Amerika.“ „Junge, da könnten wir ja vielleicht zusammen fahren!“ rief ich froh. „Vielleicht, Lennhausen. Aber wer hier wirken kann, soll hierbleiben.“ Das bezog Mainzer auf sich und mit herzlichem Dankgefühl drückte er Martens die Hand, und in seinen Augen leuchtete ein heller Glanz, einen Menschen gefunden zu haben, dessen selbstloses Streben und Wirken so ganz und gar den Charakter der Selbstverständlichkeit trug. Als wir heimkehrten, ganz leise, um die beiden Frauen zu überraschen, saß die Junge auf einem Schemel vor der Alten, die mit aufgehobenem Finger auf sie einsprach. Frau Fanny hatte ihr von ihrer Heimat im Frankenland erzählt, von Vater und Mutter, die schon so lange gestorben, von ihren Brüdern und Schwestern, die alle für sich zu sorgen und zu kämpfen hätten, und sich um sie, die Jüngste, so wenig kümmern konnten. Und hatte von ihrer Schule erzählt, von den vielen Kindern und von ihrer großen Einsamkeit. Und dann von
ihrem Sepp und ihrer glücklichen Brautzeit. Und was für ein tüchtiger, gescheiter Mann er sei, und wie er bei all seiner Gelehrsamkeit so leicht den rechten Ton bei Kindern finde. Sie selber habe sich in der Volksschule auch so glücklich gefühlt. Es sei ja manchmal schwer, in den großen Klassen fertig zu werden und das Pensum zu erreichen, aber die Kinder seien so dankbar. So viele fanden keine rechte Liebe zu Hause, die Eltern hätten gar keine Zeit dazu. Und wenn man sich ihnen nur ein bißchen nähere, nur ein bißchen besonders freundlich und gut mit ihnen sei, ach, die Blicke solle man mal sehen! Wenn es so hell über ein Kindesgesicht laufe und man das kleine Herzchen ordentlich aufhüpfen sähe – so was könnten einem die andern Kinder, die alles im Überfluß hätten, Nahrung und Kleidung und Liebe, gar nicht bieten. Sie für ihr Teil möchte nie anders als an einer Volksschule unterrichten. Freilich, das müsse nun aufhören. Jetzt gäbe es ja andere Pflichten für sie. Und dann hatte sie tausenderlei zu fragen. Sie sei ja noch so unerfahren im Hauswesen. Sie habe ordentlich Angst davor. Und ob man wohl mit so einem kleinen Gehalt auskommen könne. Und ob es wahr sei, daß ein Mann viel mehr brauche als eine Frau. Und wie man am besten einkaufe und wie man am meisten sparen könne. Tausend Fragen und tausend Ratschläge. Und nun hörten wir gerade, wie die Mutter sagte. „Wird alles schon gehen, Frau Mainzer, Sie werden sich schon alles gut und fein einrichten, mein lieb Kind, aber eines Tages kommt was ins Haus und wirft alles übern Haufen.“ Erschrocken blickte die Junge auf. Da stand in dem bleichen, hagern Gesicht der Alten ein so feines, geheimnisvolles Lächeln, so wie nur eine Mutter lächeln kann, daß die Junge über und über rot wurde, verschämt die Hände vor die Augen
hielt, und doch nicht die Tränen zurückhalten konnte, die hell daraus hervorquollen. Und da traten wir laut ein, und die Mutter fragte, warum wir so vergnügt aussähen.
Die Mutter.
Das war der letzte frohe Tag im Leben der Mutter. Als das junge Paar Abschied nahm und Mainzer noch in der Türe lächelnd sagte: „Auf der Hochzeit Ihres Sohnes tanzen wir beide noch zusammen“, da schüttelte sie den Kopf und in ihren Augen stand: Euch seh ich nie wieder. Zum ersten Mal fühlte sie mit sicherm Bewußtsein, daß es mit ihr zu Ende ging, und ganz ruhig, fast fröhlich sprach sie es aus. War es ihr doch mehr ein Wiedersehen als eine Trennung. Eltern und Geschwister, Mann und Kind warteten schon auf sie und noch so viele andere, die sie gekannt hatte, und die ihr gewiß alle gern die Hand entgegenstrecken würden. Freilich, von ihrem Jungen müsse sie sich losreißen, wenn sie die andern wiedersehen wolle, aber in der bitteren Angst um ihn kam der tröstende Gedanke: Eine Sorge hat er weniger. Er ist jung und stark, und wenn er die alte Mutter auf seinem Weg nicht mehr mitzunehmen braucht, geht es noch einmal so leicht. So matt sie sich auch fühlte, so war sie tagsüber doch nicht zu bewegen, sich zu Bett zu legen. „Wenn man noch nit krank is, im Bett wird’s man gewiß“, wehrte sie sich. Sie wollte nicht, daß ich den ganzen Tag in dem dumpfen, engen Kämmerchen säße, und für sie selber wäre es auch zu langweilig. Man hätte keine Augenweide im Schlafzimmer. So in der Stube, das sei ganz was anderes. Da sei alles heller, und jedes Ding wisse was zu erzählen, die Bilder da an der Wand: Moses und Aaron, Kaiser Friedrich und der alte Kaiser Wilhelm und Bismarck, wo kämen nochmal so fünf Leut beisammen? Und die Tasse da auf dem Bort, der selige Vater hätte zuletzt daraus getrunken und die Schabbeslampe, die sie von der Großmutter geerbt und
über die sie selber als junge Frau den ersten Segensspruch gesprochen habe, das Soldatenbild ihres Ascher, – da an dem Tisch hatt er immer gesessen – „ach, du lieber Gott, wer hat nit an dem Tisch da gesessen!“ Dinge und Gestalten flossen zusammen. Nie hat sie so viel geredet wie in diesen letzten Tagen. „Guck, mein Jung“, fing sie gewöhnlich an, als ob ich es vor Augen sehen könne, wie sie selber. „Guck, mein Jung“, und aus ihren fernsten Tagen kam Kunde. „Ein ganz klein Mädchen bin ich noch gewesen, die Mutter war tot, die Brüder waren schon von Haus, und der Vatter war die ganze Woch draußen. Wenn er des Morgens fortging, hab ich noch geschlafen, und wenn er abends widderkam, war ich schon im Bett. Bloß am Schabbes waren wir zusammen. Und da hab ich mich denn manchmal in der Woch, so im Abendschummer, auf die Bank hinterm Ofen gesetzt, hab die Augen zugemacht und geträumt: jetzt ist Freitag nachmittag, jetzt kommt er, da geht ein Schritt auf der Straße – das ist er! Und’s Herz im Leib hat mir gelacht. Aber ich hab die Augen nit aufgemacht, ich wußt ja, dann war alles vorbei.“ Und sie erzählte, wie sie ihr Brot in der Fremde verdient, wie mein Vater um sie geworben und sie ihn zuerst, weil sie noch gar so jung war, auf eine Verwandte hingewiesen, und wie er ganz wütend gebrummt hätte: „Dumme Gans, wenn ich die hätt haben wollen, hätt ich dich nit gefragt!“ Sie habe ihn so gern gehabt, aber ihr Jawort habe sie da doch vor lauter Angst gegeben. Und dann aus den Jahren der jungen Ehe, von ihrer Not und ihrem Frieden und von jenen Tagen, die ich schon selber miterlebt. Und da fand sich, daß uns beiden die liebste Zeit doch die war, wo wir morgens früh zusammen fortgewandert, jeder zu seiner Arbeit, sie zum Handeln und ich zum Lernen. „Mach gute Geschäfte, Mutter!“
„Lern gut, mein Jung!“ Das klang jetzt aus fernen Tagen wie ein Vogelruf in später Abendstunde. Und eines Nachmittags – die Sonne guckte noch eben durch das Fenster – steht sie von ihrem Sessel auf und stellt sich ganz sacht hinter mich, der ich am Tisch in einem Buch lese. Und sie guckt mir wie früher einen Augenblick über die Schulter und legt mir die Hand auf den Kopf: „Kind, mir ist so eigen, ich glaub, ich werd wieder gesund. Komm, gib mir die Tefillah∗, ich kann noch Minchah∗∗ oren∗∗∗, es ist noch Zeit.“ „Aber du kannst nicht stehen, Mutter.“ „Ich kann’s. Du siehst ja.“ Und sie hält sich mit der einen Hand an einem Stuhl und fängt an halblaut zu beten, und wie sie mitten in der Schemaunoh-Esrah∗∗∗∗ ist, wird sie unruhig und blättert und blättert und sagt leise, wie vor sich hin: „Die Jom-Kippur Schemaunoh-Esrah – die Newidde∗∗∗∗∗“ und sucht und wankt. Ich rücke ihr schnell den Sessel hin, sie sinkt hinein und greift nach meinen Händen: „Da ist das Schiff, guck, mein Jung, guck, unser Vatter fährt auch mit übers Wasser, übers große, große Meer – Schemah Jisroel∗∗∗∗∗∗!“ – Und ist tot.
∗
Gebetbuch Das Nachmittagsgebet ∗∗∗ beten ∗∗∗∗ Gebet für den Versöhnungstag ∗∗∗∗∗ Das Sündenbekenntnis ∗∗∗∗∗∗ Höre, Israel, Anfang des Glaubensbekenntnisses
∗∗
Allein.
Die Mutter war begraben. Die Mitglieder der kleinen jüdischen Gemeinde, auch Wolff Bergheim, waren ihrem Sarge gefolgt, und der Direktor und mehrere Kollegen hatten ihr das Geleite gegeben. Claus Martens war neben mir hergegangen wie ein Bruder, und wie ein Bruder hatte er mir in den ersten Tagen beigestanden, aber dann hatte er verreisen müssen, um sich nach einer neuen Stelle umzusehen. Nun saß ich allein in meiner leeren Stube. In der Frühe des folgenden Tages wollte ich abreisen, nach Amerika. Meinen Koffer hatte ich schon nach Hamburg vorausgeschickt. Mit der Normannia wollte ich fahren. Es war noch über eine Woche bis zur Abfahrt, aber ich mußte fort, fort! Ich hielt’s nicht mehr aus, nicht in dem Ort, wo so viele Menschen mich neugierig fragend anstarrten, nicht in dem Hause, in dem es so schaurig einsam war. Die Sommerferien gingen zu Ende, die Jungens kamen zurück, und wenn ich einen aus meiner Klasse erblickte, gab’s mir einen Stich ins Herz. Und dann – in zwei Tagen war Helenens Hochzeit – da durfte, da konnte ich nicht mehr bleiben. Ich war töricht genug, noch immer zu hoffen, der Tod der Mutter werde sie noch einmal zu mir führen, sie müsse kommen, mir ein Wort des Trostes zu sagen. Sie war klüger, sie war besser als ich, sie kam nicht; aber ich erfuhr doch, daß sie um die alte Freundin traure. Einmal dachte ich auch daran, Mainzer aufzusuchen, aber ich verwarf es bald wieder. Warum in sein helles Heim einen düstern Schatten werfen? Er wird mich nicht vermissen, mich vermißt keiner.
Erst hatte ich nach dem Tode der Mutter noch in qualvollen Zweifeln gestanden, wohin? Aber ihr letztes Wort riß mich doch schließlich heraus. Übers Wasser! Bei ihrem Totenhemd, das aus so feinem Linnen gemacht war, wie sie es nie im Leben getragen, lag ein Beutelchen voll Taler, ersparter, vielleicht erhungerter, und dabei ein Zettelchen: ‘Eine Wegzehrung für mein Kind.’ Und ob sie vielleicht kaum daran gedacht, ich nahm es wörtlich: Eine Wegzehrung. Übers Wasser und dann ein neues Leben! Aber wie? Kann man noch ein neues Leben beginnen, wenn man schon über die dreißig? Und wenn schon ein neues, auch ein rechtes? In einem fremden Land? Alles, was in mir gut und stark und rein war, hatte seine tiefsten Wurzeln im Boden der Heimat, wehte mir entgegen aus den Bäumen, zu denen ich als Kind emporgeschaut, leuchtete von den Hügeln, wo ich die Sonne hatte aufgehen sehen, klang auf bei einem Wort der Muttersprache, wie ein Stein, der in einen tiefen Brunnen gefallen. Was ich geben konnte, so als Mensch zum Menschen, das fühlte ich, mußte ich hier reichen, wo ich es empfangen, reichen wie einen Trunk frischen Quellwassers, aus einem hölzernen Becher, aus der hohlen Hand vielleicht, aber an Ort und Stelle, wenn es munden soll. Ich war kein Mann der Tat. Mainzer hatte mir einmal lächelnd gesagt, einer meiner Ahnen hätte das Lied verfaßt: ‘An den Bächen Babels saßen wir und weinten.’ Und ein anderer wäre wohl später wie Süßkind von Trimberg umhergezogen von Burg zu Burg, und hätte, wie der die seltsamen Minnelieder gesungen: ‘Gedanken sind stärker denn Stahl und Eisen’. Gedanken und Träume! Ich horchte in die stille Nacht hinaus. Fern über die Straße hallten Schritte, halblaute Worte klangen herüber, unverständlich, aber ihr Ton war wie in Lachen gebadet. Rief es nicht einmal: Bleib! Bleib!?
Auf den Dächern drüben und im Garten unterm Seitenfenster lag milder Mondglanz. Leichte Nebel stiegen aus dem Grase empor, und da und dort wuchs es zu bleichen, zitternden Gestalten auf und streckte die Arme nach mir hin: Bleib! Bleib! Ein leiser Wind ging, der Atem der Nacht, durch die Bäume, und die schlafenden Eschen wiegten das Haupt hin und her und lallten im Traume: Bleib! Bleib! Da zog ein Trupp halbtrunkener Burschen mit schweren Schritten durch die Straße. Und sie sangen: Die Juden haben ein Kind geschlacht’t In dem Tempel Moses, Das Blut in ihre Mazzen gebracht, Ist das nichts Kurioses? Ein Schauder durchlief mich. Verlassen, verloren und verhöhnt! Ich eilte zu meinem Handkoffer, nahm einen Revolver heraus, öffnete das Fenster und – legte ihn auf das Fensterbord. Warum hatte ich ihn gekauft? Ich wußte es selbst nicht recht. Vielleicht in Erinnerung an alte Knabenpläne. Ich wollte ja nach Amerika gehen, da mußte man doch mit den Indianern kämpfen. Und außerdem – eine Waffe ist auf alle Fälle gut. Auf alle Fälle, auch – auch – ich wollte es nicht denken, ich drückte die geballten Hände gegen die Brust, um es zurückzupressen, und dann dachte ich es ruhig und klar zu Ende: eine Waffe ist auch gut für den einen Fall, der allen andern ein Ende macht. Und ich nahm das kalte, harte Ding, steckte es in die Tasche und schritt hinaus. Festen Schrittes ging ich die Straße entlang, sicher und aufrecht, den nächsten Weg über den Wall, durch einen Heckengang. Da blieb ich stehen und wischte mit dem Finger
am rechten Auge. Es war mir da etwas hineingeflogen, vielleicht eine Mücke. Eine ganze Weile stand ich da, nahm das Taschentuch zur Hilfe, schob eifrig das Lid hin und her und ruhte nicht, bis das Hindernis entfernt war. Dann mußte ich doch lächeln: Auf dem Wege zum Tode macht das Leben sich noch so wichtig. Die Friedhofspforte war geschlossen. Mit Leichtigkeit kletterte ich hinüber. Dabei fiel mir ein, wie mir die Mutter nach dem Tode des Vaters eingeschärft hatte, man dürfe nicht allein zum Friedhof gehen, und im Trauerjahr dürfe man überhaupt nicht hingehen. Warum nicht? Das konnte ich damals nicht einsehen. Ich hatte dabei nur an die Toten gedacht. Von jeher, schon von Kindestagen an, war ich gern auf Friedhöfen umhergegangen; sie hatten nie etwas Schauriges für mich gehabt. Die Blumen blühten da schöner als sonstwo, und die Grabsteine lasen sich wie eine alte Chronik. Neben dem frischen Grabe der Mutter kniete ich nieder und umfaßte es mit ausgestreckten Armen: „Mutter!“ Mein Mund berührte die feuchtkalte Erde, und meine Stirn stieß gegen kleine, flache Steinchen, die man auf das Grab gelegt. Ich kannte die alte Sitte. Aber wer mochte sie dort hingelegt haben, wer? Helene? Und ich nahm die Steine, als ob sie die Schlafende bedrücken könnten, und schleuderte sie weit weg. Dann richtete ich mich auf, und meine Hand umspannte fest die Pistole. Ich schloß die Augen, um mir noch einmal das Bild der Mutter zurückzurufen. Sie sehend, wollte ich sterben. So beugte ich mich ein wenig vor und – ließ zitternd den gekrümmten Arm sinken. Sie stand ja hinter mir. Sie tippte mir leise auf die Schulter: „Jung, dummer Jung, was machst du da?“
Und ich sah, wie sie lächelte in ihrer Milde und in ihrer Lebensfreudigkeit. „Mutter!“ Und jenseits der Hecke fiel die Pistole zur Erde.
Hamburg.
Welch lockender Zauber lag immer für mich in diesem Namen. Er schien mir wie ein Sesamruf zu sein, der eine Welt von blinkenden Schätzen und schimmernden Herrlichkeiten erschließt. Nach Griechenland, nach Italien, nach Palästina wirst du doch nicht kommen; aber Hamburg mußt du sehen. Etwas ganz Neues wirst du da finden, etwas, was ganz anders ist, als in andern Städten, andere Dinge und andere Menschen. Alte Sehnsucht wird sich erfüllen, und wie im Märchen vom Fischer un syner Fru kann jeder Wunsch Wirklichkeit werden. Manntje, Manntje, Timpe Te, Buttje, Buttje in der See. Und das Meer flutet heran, und die Wogen rauschen stärker, und aus der Tiefe taucht das Märchenkind empor und starrt dich an mit großen, blauen, starren Fischaugen. Hamburg! Das Herz klopfte mir hörbar, als ich über die Elbbrücke fuhr und mir vom Hafen her Schiff auf Schiff entgegengrüßte. Eins von diesen, dachte ich, wird dich von dannen tragen, weit fort aus der Heimat. Ich hatte mir die Richtung des Hafens gemerkt und nahm gleich meinen Weg dahin. Merkwürdig genug, in London hatte ich ihn nicht gesehen. Er lag zu weit von der eigentlichen Stadt, und mein Studium und die Sorge um das tägliche Brot nahmen alle Zeit und Kraft in Anspruch. Langsam schlenderte ich den Zollkanal entlang. Schuten und Ewer, Barkassen und Oberländer, Jollen und Boote fuhren geschäftig hin und her, schienen sich gegenseitig anrennen zu wollen und schossen auf Handbreite an einander vorbei. Wie Elefantenrüssel streckten sich die Arme der Kräne aus und hoben und senkten mit sicherm Griff die schweren Warenballen. Da fährt ein Nachen
unter einer Brücke hin, ich folge seiner Spur und sehe mit neuem Erstaunen in das lange, schutenbelebte Fleet hinab. An einem Eckhause hält ein Bild mich fest: Ein Schiff in Sturm und Not. Holger Drachmann hat es gemalt. Darüber steht: ‘Gedenket der armen Seefahrer um Gottes willen!’ Sinnend bleibe ich lange stehen, sehe das Schiff kämpfen und sinken und höre das Wehgeschrei der armen Mütter, die Klagen der verlassenen Witwen und Waisen. Ein dumpfer, langgezogener Trompetenton schreckt mich auf. Wieder wende ich mich dem Hafen zu, umschreite mit schnellem Schritt die stumpfe Ecke am Stubenhuk und blicke mit halboffenem Munde auf den gewaltigen Strom. Mein Auge ist ganz Erstaunen und Verwunderung. Zwei mächtige Segelschiffe liegen dicht vor mir, und dahinter wird ein großer Überseer eingeschleppt. Dabei muß ich unwillkürlich an das Schiffchen denken, auf dem ich einmal über die Fulda gefahren, und nach dem ich mir lange Jahre hindurch meine Vorstellung geformt hatte. In einem fortwährenden gierigen, verwundernden Schauen schreite ich den Kai entlang, steige beim Hafentor den Stintfang hinauf, um noch einmal mit einem Blicke den Strom zu umfassen. „Ein Wald von Masten“, wie oft hatte ich das gehört und gelesen. Was war das Wort bisher gewesen? Ein leerer Rahmen, zu dem ich jetzt das Bild erhielt. Und mein Auge schwelgt in dem neuen Besitz. Wie stolze Potentaten kommen die großen Schiffe auf, und die kleinen, grünen Fährdampfer jagen wie übermütige Kinder dazwischen hin und her; die Flaggen wiegen sich sacht im weichen Heimatwind, die Pfeifen schrillen und gellen, Matrosenrufe schallen, herüber von den großen Werften tönt Gerassel und Gehämmer, ich kann das Einzelne nicht mehr fassen und suche für das Ganze ein bezwingendes Wort, ein Wort für dieses hohe Lied der Arbeit.
Gemächlich schreite ich den Hügel hinab, und nun geh ich noch einmal denselben Weg, aber an der Häuserreihe entlang. Die Tage bis zur Abfahrt meines Dampfers will ich hier wohnen. Ich muß noch so vieles genauer sehen und kennen lernen. Vielleicht finde ich hier ein einfaches Gasthaus oder ein Zimmer, das ich tagweise mieten kann. Während ich nach den Zetteln an den Häusern ausspähe, sehe ich halb mit Schrecken, halb mit neugierigem Erstaunen durch einen dunklen Torweg unter einem Hause hindurch in einen langen, schmalen, finstern Gang. Auch da wohnen Menschen? Zagend schreite ich hinein. Ich habe von Kaschemmen und Verbrecherhöhlen gehört. Alle Schrittlang ist eine Tür. Die Wände bestehen fast nur aus kleinen Fenstern, die wie hungrige Bettleraugen ausspähen, ob nicht irgendwo ein Bröckchen Sonne oder Licht zu finden sei. Bleiche, schmutzige Kinder schieben sich an mir vorbei. Ich trete zur Seite, um sie nicht zu quetschen. Ein halbwüchsiger Junge pflanzt sich keck vor mir auf. „Wat wull de Herr?“ „Ist hier kein Zimmer zu vermieten?“ Der Junge weist auf einen Zettel. Beherzt schreite ich die Treppe zum ersten Stock empor, die schon in der Haustür beginnt. Statt des Geländers hat sie einen Strick, an dem ich mich vorsichtig hinaufleite. Die Vermieterin merkt mir gleich an, daß ich irre gegangen. Sie soll mir das Zimmer zeigen, aber sie erklärt mir mit bitterm Lachen, daß sie mit ihrem Manne und ihren vier Kindern nur selber ein Zimmer bewohne. Sie will einen Einlogierer, keinen Mieter. Das Lachen tut mir weh wie Messerschnitte. Ich entschuldige mich stotternd, eile wie ein Verbrecher aus dem Gange und seufze draußen tiefatmend: Großstadtelend! An den Vorsetzen, in der Nähe des Commercial-Hotels finde ich bei der Kapitänswitwe Ahrens ein Zimmer. Gegen Abend will ich den Jungfernstieg aufsuchen, den vielgerühmten.
Durch das Gedränge der Wagen und Menschen bahne ich mir einen Weg. Einmal ist mir, als ob ich mitten im Gewühl eine Bekannte sähe. War das nicht Helene am Arme eines jungen Mannes? Sie sind wohl auf der Hochzeitsreise. Ich folge ihnen mit raschen Schritten – und sehe sie nicht mehr. Aber ich gehe in Gedanken mit ihnen, mit ihr. Wenn es anders gekommen wäre, wenn ich denn anders gehandelt hätte, könnte ich jetzt – aber konnte ich anders handeln? War es nicht trotz alledem meine Pflicht gewesen, ihr die reine Wahrheit zu sagen? Und hätte sie nicht warten können? Wenn sie mich geliebt hätte, wie ich sie – Du mich? Du! Deine Ehre, deine Eitelkeit hast du geliebt. Nicht um die Stimme in deiner Brust, um die Stimme der Leute da draußen, ja, nur um die Stimme der Herren Kollegen hast du mich weggeworfen, du! – Wo kam das her? Das war ihre Stimme, so hart, wie ich sie nie gehört hatte und doch so voller Weh und Leid. Ich wanderte und wanderte, ohne etwas zu sehen, bis mich zuletzt ein kühler Lufthauch aus meinen dumpfen Träumen weckte. Da stand ich an der Alster. Ah, wie das wohltut! Mitten in dem Häuserwall ein Stück Natur; freier Wellenschlag in dem steinernen Zwinger. Mit innerster Heiterkeit hing mein Auge an dem lieblichen Bild, und in tiefen Zügen atmete die Brust die reine, kühle Luft. In ein Boot! Schwerer als auf der Lahn wird es hier auch nicht sein. Langsam vorwärts rudernd steuere ich der Lombardsbrücke zu, mit vorsichtigem Schlag rechts und links den Dampfern und Böten ausweichend. Nahe vor dem mittleren Brückenbogen ziehe ich die Ruder ein und lege mein Boot still. Das muß ich festhalten, diesen Blick, der einen Sterbenden noch laben könnte.
Geradeaus, in den Halbkreis des Brückenbogens gespannt, ein Ausschnitt hellblauen Himmels, rechts und links dunkelgrüne Bäume, und vor dem blauen Himmelsvorhang und zwischen den grünen Wäldern gleiten auf der stahlgrauen, schimmernden Fläche Hunderte von Segelbooten mit sonnengolddurchwebten Segeln, gleiten dunkelbraune Ruderboote und blendend weiße Schwäne. Traumhaft sacht ziehen sie dahin wie stille Wünsche, die von einem Eiland der Seele zum andern fahren, und die kein Staub der Straße beschmutzen kann. Es bedarf erst eines neuen Entschlusses, ehe ich es wage, in diese Wunderwelt hineinzufahren. Und immer neue Schönheit trinkt das Auge. Alles Glanz und Licht und Duft und Bewegung. Aus dem Dunkel der Bäume leuchten hohe, weiße Häuser märchenhaft auf, und unter schlanken Brückenbogen locken halbdunkle Eingänge zu neuen seligen Reichen. Die Sonne will untergehen. Gleich einem Sterbenden, der mit dem letzten Hauch seine Seele erschließt, öffnet sie ihre geheimen Schatzkammern, und in goldenen, violetten purpurnen und grünen Wellen flutet’s daraus hervor und überschüttet Erd und Himmel mit blendender Pracht. Wie auf dem Wasser unten, ziehen auch oben auf der blauen Flut weiße Segler, die das Sonnengold trinken und still heruntergrüßen. Das Auge schließt sich, Heimweh und Sehnsucht drücken das Herz. Die Hand streckt sich aus, als ob sie eine andere greifen möchte, das Ohr lauscht gespannt auf einen Laut, einen Klang, der ihm zuruft: Auch du! Und da klingt es herüber von drüben, wo die Lichter schimmern und die Kähne und Nachen sich dichtgedrängt schaukeln, klingt herüber in weichen, welligen Tönen, die sich bestrickend ums Herz legen. Und ich horche und schaue in dieses Märchenreich. Ach, wenn meine Mutter das einmal gesehen!
Die Cholera.
Am Donnerstag sollte die Normannia abfahren; am Dienstag morgen trat der alte Kapitän Hinrich Pien in die Schenke des Commercial-Hotels: „En Kognak! Nu is dat doch wohr! Die Choleraplakate sind schon angeschlagen!“ Schon seit einiger Zeit schwirrten Gerüchte von der unheimlichen Krankheit durch die Stadt, waren leise geglaubt und laut verneint worden. Die Pest in Hamburg! Das erste, was sie mit ihrer Schreckgestalt verjagen werde, wäre der Handel, das leicht bewegliche Geschöpf. Das wußten alle, oben und unten. Und Hamburg ohne Handel, das sagten alle, sei ein Hafen ohne Schiffe, eine Börse ohne Geld, ein Brotkorb ohne Brot. Ich saß gerade am Kaffeetisch, als ich die grausige Botschaft hörte. Und im selben Augenblick stand mein Entschluß fest. „Nun reise ich nicht. Es wäre wie eine Flucht, und ich kann vielleicht irgendwo helfen.“ Je näher der Tag der Abfahrt gerückt war, je heißer hatte ich gehofft, unausgesprochen, unbewußt, käme doch etwas, was dich festhielte, und wenn’s auch ein Unglück wäre. An ein eigenes hatte ich nur gedacht, und nun war es ein allgemeines. Ich ging auf die Straße. Alles wie sonst. Die Pferdebahnwagen trabten gemächlich auf und ab, die Karrenhändler schrien in hellen und dumpfen Tönen ihre Waren aus, die Fischfrauen hatten noch nie so große Butts gehabt, und von der Elbe her tuteten unaufhörlich, wie übermütige Jungen, die Schiffe, während der breite Strom behaglich in der gleißenden Sonnenglut dahinschwamm, als freue er sich, daß er sich in sich selber baden könne.
Und doch, hier und da standen die Leute gruppenweise beisammen, sprachen halblaut und sahen sich scheu um, als ob sie ein Geheimnis verhandelten. Vor den Anschlagsäulen drängte es sich förmlich. Ein merkwürdiges Schriftstück: ‘Verhaltungsmaßsregeln, die zur Beachtung empfohlen werden’, aber kein Wort warum. Und ohne Unterschrift. „De Kerl kriegt dat woll mit de Angs, dat de Kullero em toeers holt, wall’e gegen ehr schrieben deit. Nu is’e seker, nu weet se sin Adreß nich.“ Mit eiligen Schritten geht eine Mutter mit ihrem kleinen Jungen über die Straße. Sie trägt sein Ränzel. Sie hat ihn von der Schule abgeholt. Ihr Auge ist voller Angst; aber der Junge strahlt vor Glückseligkeit. Dicht hinter ihnen jagt eine elegante Equipage vorbei, hoch mit Koffern beladen. Sie führt eine ganze Familie von dannen. Hat eine neue Reisezeit begonnen? Ich gehe zum Bureau der Paketfahrt. Ich will mein Billett auf vier Wochen verlängern lassen, will meinen Koffer noch zurückbehalten. Zu spät. Ich solle mich freuen, daß ich jetzt aus Hamburg rauskäme. Ich blieb dennoch. Über den nächsten Tagen liegt eine blendende, betäubende Glut, die das Auge hindert, klar zu sehen. An den Fuß klemmt sich die Furcht, bange Erwartung drückt die Brust. Noch kämpfen Zweifel und Spott mit ihnen. Man ist ja selber noch gesund. Wenn so viele daran glauben müßten, würde man doch mehr Krankenwagen sehen. „Da ist ja einer!“ „Wo?“ „Der da, der schwarzgrüne, mit den verhängten Fenstern.“ „Und zwei Leute auf dem Bock?“ „Ja, Kutscher und Transporteur.“ Nun kann man ihnen nicht mehr entgehen. Überall tauchen sie auf, kommen aus den engen Gassen und halten auf den
breiten Straßen. Am Freitag wurde ein neues Plakat angeschlagen. Man gab jetzt zu, daß eine ‘choleraartige’ Krankheit in der Stadt sei; aber nun wußte schon alle Welt, daß die choleraartige Krankheit die Cholera selber war. Die Luft wurde heißer, schwüler, schwerer. Sie lastete fühlbar, man strich an dem Kopf herum, als ob man sie wie eine Decke abstreifen könne. Jeden Morgen um neun kamen die Schulkinder scharenweise hergestürzt und jubelten: „Hitzferien!“ Und endlich erfüllte sich ihre geheime Hoffnung: „Hurra, Choleraferien!“ Das war auch die einzige Freude, die sich hervorwagte. Heiterkeit und Lachen hatten sich versteckt wie Kinder, die etwas Böses begangen haben. Eine Musikbande fing an, auf der Straße zu spielen. Die kleinen Mädchen setzten schon den Fuß zum Tanzen; aber die Frauen trieben sie weg und schimpften und wetterten auf die Musikanten, daß diese mitten im Takt aufhörten und geduckt abzogen. Eine Furcht, ein Grauen vor etwas Ungewissem, Schauerlichem stierte aus den Gesichtern. Ein wildes, reißendes Tier war ausgebrochen. Mit rotglühenden Augen, mit fingerlangen Zähnen und eisernen Pranken lauert es in der Straße, irgendwo, und jeden Augenblick kann es auf dich losstürzen. Es ist ein allgemeines Bangen, wie beim Ausbruch eines großen Krieges. Und doch wiederum nicht. Es ist nichts Großes, Gemeinsames, um das man sorgt, jeder denkt nur an sich selbst. Wer in die Wirtschaft tritt, hat eine neue schaurige Geschichte zu erzählen, und will er auch von etwas anderm sprechen, es geht einfach nicht. „Schön Wetter heut.“ „Den Deubel auch, en Fressen für die Cholera.“ „Bei der Bosch soll die Florida festsitzen.“
„Die Tide wird sie schon wieder losbringen, und gestern sollen dreihundert gestorben sein.“ „Sechshundert.“ „Und weißt du, der Korl Ewer, der baumstarke Kerl, gestern ist er von Brasilien angekommen. Heute haben sie ihn bei Hüerbaas Quast abgeholt. Sein Bruder liegt am Sandtorkai, ist aber nicht hingegangen; kann ja auch nicht helfen.“ „Da ist ein junges Paar gewesen, Hamburger Hof oder da herum, war auf der Hochzeitsreise nach Helgoland. Wie sie nach der Landungsbrücke fahren wollen, kriegt sie’s, und nun fährt sie nach Ohlsdorf.“ „Da kann er ja man allein nach Helgoland reisen. Im Binnenland wollen sie ja doch keinen mehr aufnehmen, der aus Hamburg kommt.“ „Die Landratten sind lauter Bangebüxen. Machen ‘n großen Spektakel und schmeißen sich in die Brust, als ob jeder ein kleiner Bismarck wäre: Wir Deutsche fürchten Gott und sonst nichts auf der Welt! Nun muß es heißen: Wir Deutschen fürchten Gott und die Cholera. – Noch en Lütt un Lütt.“ „Mir halb und halb.“ „Mi en Stieben.“ „Minsch, büst verrückt? Bei die Hitze!“ „Man soll sich ja warm halten, und doppelt genäht, reißt nicht. Das ist so gut wie ‘ne Cholerabinde.“ Nun weiß jeder ein Mittel: Choleratropfen, Cholerapillen, Choleratücher. „Un Diät.“ „Wat is dat,Diät?“ „Dat is Eten. Kein rohes Obst, alles kochen, Schinken und Butter und Käse. Am besten ist, gar nichts essen, die verdeibelten Kommas sitzen überall. Kognak ist das Sicherste. Hörst du nicht?“
Und von der Straße her singt es: „Juchheidi, juchheida, Schnaps ist gut vor die Cholera.“ Eine Droschke hält vor der Tür. Die ganze Gesellschaft schrickt zusammen. „Hat sie hier auch schon wen?“ Und einer guckt den andern verdächtig an. „Adjüs, Hein, holl di munter!“ „Adjüs Klas. Du ok!“ „Nee, Handgeben is nich mehr.“ Und jeder geht von dem andern mit dem stillen Gedanken: Ob du ihn wohl wiedersiehst? Und sofort schleicht wie ein Hund, der einen von rückwärts anfallen will, ein anderer Gedanke hinterdrein: Und ob er dich wohl wiedersieht?
Heiße Arbeit.
Ich hatte gehört, daß es an Pflegern fehle und ging zum Allgemeinen Krankenhause. Der auskunftgebende Arzt sah mich prüfend an. Ich sähe so bleich aus, ob ich denn selber gesund sei? Ja. Ob ich geübter Pfleger sei? Nein. Dann könnten sie mich hier nicht gebrauchen. Ich sollte einmal zur Sankt Georger Turnhalle gehen, da sei auch ein Hospital eingerichtet. Ich ging hin, aber auch da hatte man keine Verwendung für mich. Da meldete ich mich als Helfer bei den Sanitätskolonnen. Die Arbeiter waren rar und selbst für schweres Geld nicht zu haben. Der Polizeisergeant Ohlsen zögerte einen Augenblick, mich anzunehmen. Er betrachtete mich von oben bis unten und stellte allerhand Fragen, die auf einen durchgegangenen Kassierer hindeuteten. Die einfache Wahrheit schien ihm zu unglaublich, und sein Verdacht wuchs noch, als ich keinen Entgelt verlangte. Doch was tat’s? In dieser Zeit waren auch durchgebrannte Kassierer zu gebrauchen. So ward ich denn bei der Sanitätskolonne angestellt und zog wie alle andern einen weißleinenen Arbeiteranzug an. Ein unvorsichtiges Wort verriet meiner Wirtin mein Tun. Sie fragte sofort, ob ich doch nicht lieber ausziehen wolle. Es sei zwar jetzt sehr schwer, einen Mieter zu bekommen, aber dennoch – . Ich beruhigte sie, wenn ich mich krank fühle, käme ich erst gar nicht nach Hause; sie solle keine Last mit mir haben. Da ließ sie mich wohnen.
Und nun zog ich von früh morgens bis abends spät mit auf die Arbeit. Wo in unserm Bezirk ein Cholerakranker abgeholt worden war, mußte ich mit ein oder zwei andern Arbeitern, über die ich bald eine Art Oberaufsicht erhielt, hingehen, um alles zu desinfizieren. Betten, Kleider und Gardinen wurden eingepackt, mit Zetteln versehen und zur Desinfektionsanstalt fortgeschafft. Lebensmittel, die offen umherstanden, wurden vernichtet. Die Wände, Fenster und Türen mußten mit Chlorkalk gestrichen werden. Diese Arbeit war mir nicht ganz neu. Wie manchesmal hatte ich schon die Decke in der Wohnung der Mutter geweißt. Polizeisergeant Ohlsen hörte von meiner Tätigkeit mit steigendem Interesse. Und in seinen forschenden Augen stand: Und so was soll ein Studierter können? Nach Verlauf einer Woche bat ich doch um meinen Tagelohn; man könne das Geld in dieser Zeit gut gebrauchen. Polizeisergeant Ohlsen stand wieder in heißem Zweifel. Also doch wohl kein Kassierer? Ich setzte ihm auseinander, daß es nicht damit allein gut wäre, daß wir immer desinfizierten und den Leuten das Brot vom Tisch fortnähmen und die Sachen fortschleppten. Es müßte auch sonst was getan werden. Wir müßten ihnen doch etwas anderes zurücklassen als nur den Hunger. Ob wir gegen den nichts tun könnten? Er zuckte die Schultern. Das sei nicht unsres Amtes. Ich ließ nicht locker. Es müsse und müsse was geschehen. Da sei ein Arbeiter, der mit fünf Kindern im vierten Stock im Paradiesgang wohne. Kein Tisch, kein Stuhl, kein Bett sei im Zimmer, sie schliefen alle auf einem Strohsack und deckten sich mit Pappdeckel zu. „Ist auch jetzt reichlich warm genug“, meinte er lächelnd. Ich hörte es nicht und berichtete weiter. „Und im Specksgang einhundertzweiunddreißig, der Mann ist Musiker, liegt im
Krankenhaus. Die Frau hat zwei Stuben vermietet. Die Mieter sind ausgerissen. Die Kinder hungern und weinen, und die Frau sagt mit zitternder Stimme, es fehle ihnen gar nichts, sie wollten bloß den Vater wiederhaben. Aber sie kann sich kaum auf den Beinen halten. Sie hat noch nie gebettelt, sie lernt es auch nicht. Herr Sergeant, wir müssen da helfen.“ Da meinte er, dann solle ich mal zum Hilfskomitee unsres Bezirks gehen. Es sei immer noch eine Abendsitzung von sieben bis neun. Vielleicht könne ich da was erreichen. Aber dahin ging ich wohl nicht gern? – Warum nicht? Ah, der Herr Sergeant hatte wohl noch einen Nebengedanken. Im Hilfskomitee saßen gewitzte Leute. Wenn ich mich dahin wagte, war’s doch wohl nichts mit dem Kassierer. Und ich wagte mich hin, und ich schilderte das Elend, das ich gesehen, und bat um Hilfe. Der Vorsitzende, eine behäbige, robuste Gestalt, hörte mich wohlwollend an. Der Schriftführer, offenbar ein jüdischer Herr, blätterte in seinem Protokollbuch, kniff die Augen ein, blickte über die Brille hinweg und steckte die Feder in das volle dunkle Haar. „Kann stimmen“, sagte er, „der eine Fall ist schon eingetragen, aber noch nicht untersucht. Herr Petersen hat es übernommen.“ Herr Petersen war noch nicht zurückgekehrt. Man beriet über eine Unterstützung. „Nur nicht so eilig! Erst kontrollieren und dann nachkontrollieren. In Hamburg verhungert keiner“, meinte ein wohlbeleibter, recht satt aussehender Herr. „Aber Herr Behnke“, entgegnete ein anderer, „wenn dem so ist, wie der Mann da sagt – “ „Man darf den Leuten nicht gleich alles glauben. Sie wissen doch, das alte Ehepaar Mickel hatte auch um Unterstützung gebeten, und nachher stellte sich heraus, daß sie tüchtig geerbt hatten. Und wie ich der Frau Vorwürfe mache, daß sie sich
schämen solle, bei vierzigtausend Mark um Unterstützung einzukommen, wird sie grob: ‘Veertigdusend, dat sünd Lögen, man twintigdusend!’ Hätte ich unsern guten Hernn Petersen nicht nachkontrolliert – “ „Sie wollten bei dem armen Handwerksburschen wegen des einen Mittagsessen auch erst kontrollieren, und ein paar Tage später kommt der Mann wieder: ‘Ich hab nu Arbeit, ich bedank mich auch für das Essen’, und legt fünfzig Pfennige auf den Tisch.“ In demselben Augenblick trat ein kleiner, untersetzter Herr mit rundem, rötlichem Gesicht, keckem Schnurrbart und dichtem, aufrechtstehendem blonden Haar ein. Eine kleine Narbe saß auf der linken Seite der Stirn, unter der die hellblauen Augen scharf umherspähten. Trotz des zierlichen Schrittes war der ehemalige Militär unverkennbar. Er legte ein Goldstück auf den Tisch: „Komm gerad vorbei, meine Herren, ist nicht viel, die teutschen Tichter sind keine Millionäre, aber alle Bäte helpet.“ „Danke schön, Herr Baron“, sagte der Schriftführer. Da guckt ihn der Geber groß an, lächelt, dreht sich auf dem Absatz um und schreitet schnell hinaus. „Wer war das?“ fragen die andern. „Ein Baron?“ „Jawohl! Der Dichter Detlev von Liliencron!“ „Man ‘n Dichter? Hm!“ Ich aber wäre gern hinausgestürzt und hätte dem Dichter der ‘Adjutantenritte’ dankbar die Hand gedrückt, ihm gesagt, wie ich ihn verehre, wie ich ihn liebe. Hätt’s für mein Leben gern getan und blieb stehen und schaute nur unverwandt nach der Türe. Da kam Herr Petersen. Aus seinen kleinen hellen Augen leuchtet eine solche Fülle von Gutmütigkeit, daß sie sich noch über die dicken, roten Backen ergießt und vergnügt zwischen dem Doppelkinn
hängen bleibt. Er hält sich mit der linken Hand den Bauch und wischt sich mit der rechten den Schweiß von der Stirn. Kein Wunder, daß ihm heiß sei, den ganzen Tag sei er treppauf, treppab gelaufen. Aber das macht nichts. Fettwaren und Delikatessen werden doch jetzt nicht gekauft, und es sei doch ein so wunderschönes Amt, und es tue so gut, den armen Leuten zu helfen. „Waren Sie schon im Specksgang einhundertzweiunddreißig, dritte Etage rechts, Frau Jensen?“ fragt der Schriftführer. „Komm ich gerad von. Ach, die arme Frau! Und die vier lieben Kinderchen!“ „Lieb sind die Kinderchen ja immer bei Ihnen“, bemerkt der Vorsitzende, „wenn Kinder da sind, bewilligen Sie gleich jede Bitte.“ „Is auch nötig. Und nun erst hier. Der Mann ist Musikant, liegt in Eppendorf, schwerer Fall, kommt wohl nicht wieder. Und die kleine Frau is so fein und so adrett. Und die Kinder sind so tutig. Hier ist’s wirklich nötig. Ja, Herr Behnke, kucken Sie mich man nich so an, ich bin ein Kenner der Menschheit.“ Herr Behnke erhob mahnend den Zeigefinger. „Man twintigdusend Mark, Herr Petersen!“ „Is mich bloß einmal passiert. Aber diesmal, meine Herren, wenn wir hier nichts bewilligen wollen, denn können wir man die Bude schließen, dann tu ich nich mehr mit!“ Es wurde alles bewilligt, um was Herr Petersen und auch ich gebeten hatten. Aber zwei Tage später tat der gute Herr Petersen doch nicht mehr mit. Als ich nach ihm fragte, hörte ich, daß auch er abgeholt worden sei und nie mehr zurückkäme. Es ist eine schwere Zeit. Ich habe harte, häßliche, oft ekelhafte Arbeit zu tun, und doch ertappte ich mich heute dabei, wie ich vergnügt vor mich hinpfiff. Erschrocken blickte ich auf. Gut, daß keiner die Rohheit bemerkt hatte.
Wenn nur die Abende nicht so lang wären! Wohin soll man gehen? Die Cafés, die Restaurants sind leer. Man wird erstaunt angesehen, wenn man hineintritt, und es wird einem bange, wenn man ganz allein in dem großen Raum sitzt. Lesen? Ich habe keine Bücher bei mir, und welches Buch wäre stark genug, mich zu fesseln, wenn das Leben mit solch harter Hand an unsere Tür klopft? Wie ist man doch so allein unter den vielen tausend Menschen! –
Lange, bange Wochen.
Ich habe angefangen zu schreiben – meine eigene Geschichte. Stundenlang, Abend für Abend bin ich am Werk, fleißig wie ein Schuljunge, der morgen seinen Aufsatz abgeben soll. Und ich bin nicht mehr allein. Die Mutter sitzt neben mir und lächelt zustimmend oder schüttelt abwehrend den Kopf bei allem, was ich niederschreibe. Und die goldenen Tage der Kindheit steigen auf und werfen ihren hellen Schimmer in mein dürftiges, dunkles Zimmer, und der alte Lehrer lernt mit mir, und Schmuel Musikant spielt auf seiner Geige. Der Vater kommt müde von seinen Wegefahrten heim, und Ascher zieht fröhlich in den Krieg. Und Threschen holt mich aus der Schule ab, und Helene steht neben mir am Wasserberg. Und so kommen sie alle, alle, die ich je gegrüßt und die ich je geliebt, kommen und gehen wieder, aber die Mutter bleibt bei mir. – Für wen schreib ich denn eigentlich? Für den Direktor? Er bat mich einmal, ihm aus meinem Leben zu erzählen. Aber was könnte ihn das jetzt noch interessieren? Für Helene? Ich muß lächeln. Für Mainzer? Der weiß ja alles. Für Claus Martens? Vielleicht. Ich will erst mal seine Adresse vorn auf die erste Seite setzen. Wer weiß, ob die nächste Stunde noch mein ist. Ihm soll auch alles gehören, was ich besitze. Und kommt es anders, nun gut, so hab ich’s für mich geschrieben und mir die langen, einsamen Abende gekürzt. – Seitdem ich einmal mit dem Hilfskomitee in Verbindung getreten, gehe ich fast täglich hin und finde immer williges Gehör. Man hat wohl erkannt, daß meine Angaben zuverlässig sind. Ach, wenn man nur der Armut, der Not an die Wurzel könnte! Nie habe ich aus meinen ländlichen und
kleinstädtischen Verhältnissen heraus geahnt, welches Elend sich hinter den stolzen Prunkbauten der Großstadt birgt, welche grausige Kluft Vorder- und Hinterhaus trennt. Das sind ja gar nicht mehr Menschen derselben Zeit, desselben Landes, desselben Volkes. Es ist, als ob eine Mauer zwischen ihnen stünde, über die nur selten einer hinüberblickt, über die sich selten die Hände herüber und hinüber strecken. Und nun kommt die Pest, das fremde, wilde Ungeheuer, aus dem Dunkel der Hintergasse hergestürzt, springt mit Leichtigkeit über die Kluft hinweg und holt sich seine Opfer hüben und drüben. Ob die entsetzten Zuschauer nun wohl in ihrem Jammer fühlen, daß sie doch zusammen gehören?
Wie mir das wohltut, wie das kräftigt: Du wirkst für ein Ganzes, du gehörst zum Ganzen. So aufrecht bin ich noch nie durch die Straßen gegangen. Eine Art Polizeigefühl überkommt mich, als ob ich von Amts wegen auf alles achten müsse. Ich treibe die Kinder von den Trinkbrunnen an den Anschlagsäulen fort und schicke sie zu den Plätzen, wo immer gekochtes Wasser, warm und kalt, zu haben ist. Ich reiße einem halbwüchsigen Jungen die Tüte mit frischen Pflaumen aus der Hand und werfe sie in die Gassenrinne. „Was fällt dir ein, Kerl, willst du dich totfressen?“ „Ick will ok mol tweespännig fohrn.“ Eine schallende Ohrfeige belehrt ihn über seinen frechen Leichtsinn, und heulend und schimpfend trollt er von dannen. Und wie ich weiterschreite und noch zweifle, ob ich recht getan oder nicht, ob ich mich über solchen Leichtsinn ärgern oder über den unverwüstlichen Lebensmut freuen soll, da schiebt sich eine kleine weiche Hand in meine. Fast erschrocken blicke ich mich um. Ein kleines Mädchen steht neben mir und guckt mit hellen Augen zu mir empor.
„Guten Tag, Herr!“ „Guten Tag, mein Kind, was willst du denn?“ „Wir kriegen jetzt jeden Tag frische Rundstücke, so viel wir essen wollen, und Milch und Kaffee auch. Und ich, ich danke auch.“ „Das ist ja fein. Wie heißt du denn?“ „Lieschen Jensen.“ „Und wohnst?“ Da sieht sie mich erstaunt an. „Specksgang einhundertzweiunddreißig. Sie waren ja doch bei mein Mutter. Und Mutter hat uns gleich für den Taler zu essen gekauft, und Vater kommt bald wieder. Er hat schon geschrieben. Einmal haben wir auch Kuchen bekommen. Und wir danken auch.“ Und sie machte mir mitten auf der Straße einen Knix. Ich streichelte ihr sacht das blonde Haar. „Grüß Mutter, Kind, und sag, ich hätt mich sehr gefreut. Ich guck mal wieder vor, Lieschen. Adjö!“ Da trippelte sie von dannen. Mir aber war in der schwülen, sengenden Glut, als ob ein frisches Frühlingslüftchen vorübergeweht sei.
In der Stube, die wir heute gereinigt haben, wurde eine junge Mutter tot aufgefunden. An ihrer Brust lag ihr Kind, ein Säugling, lebend und lächelnd. Gottlob, daß es wieder hell ist! Jeden Morgen erwacht man mit dem Gedanken: Du lebst noch, du bist noch gesund. Nur gut, daß jeder Tag seine volle Arbeit hat. Die Sonne scheint heißer und heißer, und selbst die Nächte sind dumpf und drückend. Die Pest will nicht weichen. Sie atmet heimische Luft, und es ist, als ob sie sich hier ganz zu Hause fühle. Mitten auf der Straße liegt sie in siedender Sonne
und brütender Stille. Die Händler bieten keine Waren mehr auf den Straßen aus, die Kutscher knallen nicht mehr, die Kinder spielen nicht mehr. Die Menschen gehen wortlos an einander vorüber, ängstlich bemüht, nur nicht einander zu berühren. Jeder fühlt, wie es mit unsichtbaren Händen nach ihm greift, ihm den Bissen Brot vergiftet, den er essen will, ihm den Atem verpestet, den er ziehen will. Das Leben schleicht sich scheu in dem Schatten der Häuser entlang, drückt sich an den heißen Mauern vorbei, berührt mit zitterndem Fuß den gelblichweißen Chlorkalk, der vor die Türen hingestreut ist, und sieht sich ängstlich um, ob nicht der Mörder ihm dicht auf den Fersen sei. Aber trotz allem arbeite ich mit frohem Mut weiter, mit einer Selbstzufriedenheit, mit einem reinen Glück, wie ich es noch nie empfunden habe. Buddha hat wohl recht, das Beste, was das Leben lehrt, ist Mitleid und Entsagung.
Heute morgen war ich mit meinen beiden Arbeitsgenossen zum Rosenhof gegangen, einem engen, halbdunklen Wohnhof, zu dem unter dem Vorderhause her ein schmaler, finstrer Torweg führt. Sie sollten eine kleine Wohnung von zwei Kammern desinfizieren; ich sollte die beiden Kinder zur Kuranstalt bringen. Aber wir waren zu früh gekommen. Die kranke Mutter war noch gar nicht abgeholt worden. Vor dem Hause standen in neugieriger Angst ein Haufen Frauen und Kinder, andere wagten sich nur bis in die Tür ihrer Kellerwohnung, oder blickten verstohlen aus den Fenstern ihrer Etage; aber alle warteten mit wollüstigem Grauen auf den Wagen’. „Da kommt er!“ Aber er kam nicht in den Torweg hinein, er muß draußen halten. Die Leute stürzen auf die Kutsche zu. „Kiek dor, kiek
dor!“ Zwei Kranke sind schon darin. Entsetzlich! Diese wächsernen Gesichter! Wie sie stieren! Wie sie die Fäuste ballen und sich in Krämpfen winden! Der Kutscher war bei den Pferden geblieben, und der ‘Transporteur’ konnte die Kranke nicht allein tragen. Die Männer unter den Gaffern traten zurück, keiner mochte anpacken. Auch meine Arbeiter nicht. Ich trat hinzu und half, die Kranke in Decken zu hüllen. Sie stöhnte laut auf und wand und wehrte sich. Ich drückte sie fest an mich. Die Kinder schrien auf, als wir die Mutter nach dem Wagen trugen. Der Transporteur stieg auf den Bock, und der Wagen rasselte davon. In dumpfem, stummem Schauder sahen die Nachbarn ihm nach. Nun wollte ich die Kinder fortbringen und ging wieder in den halbdunklen Keller zurück. Das achtjährige Mädchen saß auf einem Stuhl und wimmerte leise vor sich hin. „Komm her, mein Kind, Mutter wird schon wieder besser werden. Was hast du denn am Fuß, Kind? Der ist ja ganz eingewickelt.“ „Den hab ich mich verbrannt.“ „Wie denn, Kind?“ „Mit kochend Wasser.“ Und nun erzählte sie mir, wie sie seit drei Tagen die Wirtschaft ganz allein geführt habe. „Hast du nicht auch einen Bruder?“ „Ja.“ „Wo ist er?“ Sie zeigte unter das Bett. Da hatte sich der kleine, fünfjährige Kerl verkrochen. Er will nicht mit. Sie sollen ihn nicht tot machen wie die Mutter. Kein Bitten, kein Befehlen hilft. Er geht nicht mit. Mit beiden Händchen klammert er sich fest an den Bettfuß. Mit Gewalt muß ich ihn hervorziehen, mit Gewalt
ihn hinausschleppen. Ich merke, so bekomme ich ihn nicht mit und schicke einen meiner Arbeiter fort, eine Droschke zu holen: „Sagen Sie nur, es wird alles bezahlt, Reinigung und alles.“ Der Junge brüllt wild auf, hält sich noch an der Haustür fest, stößt mit den Füßen nach mir und will nicht weiter. Da drängen sich die Frauen heran. Der Schreck ist gewichen, das Mitgefühl hat ihre Zungen gelöst. „Loten Sedat Kind!“ „He sall hierbliewen.“ „Wi wüllt em schon satt kriegen!“ „Wenn Se ‘n in de Fingers hewt, is allens vörbi!“ „Lotlaten! Schinnerknecht!“ Und die Fäuste heben sich drohend. Mit knapper Not kann ich die Frauen beruhigen und die Kinder endlich zur Droschke bringen. „Zum Kurhaus, Kutscher!“ Erst als ich mit ihnen im Wagen sitze, in jedem Arm eins, atme ich auf. Das waren heut böse Stunden. Wieviel Elend hab ich gesehen, wieviel Jammer gehört. So schwer ist mir noch keine Arbeit, so heiß noch kein Tag geworden. Auch der Abend will keine Kühlung bringen. Langsam, träge wälzt die Elbe ihre schmutziggelben Fluten dahin, es ist, als ob sie müde wäre und alle Energie verloren hätte. – Ich kann nicht mehr weiter schreiben. Ich will einmal an die Alster gehen. Vielleicht ist es da kühler, frischer.
Es ist tief in der Nacht, und ich kann noch immer keine Ruhe finden. Will’s denn zu Ende gehen? Es kommt mir so wahnwitzig vor, daß ich das alles noch niederschreibe. Und doch schreibe ich, so geht die Zeit doch hin. Wo bin ich denn
in den wenigen Stunden gewesen? Was hab ich alles gesehen, erlebt? Auch an der Alster war es erdrückend heiß, und der Jungfernstieg war leer. Ich dachte, auf dem Wasser wird mir wohler werden und bestieg einen Alsterdampfer. „Wohin?“ „So weit Sie fahren.“ Als ich bei Uhlenhorst vom Hinterdeck auf die weite, dunkle Fläche blickte, die von Hunderten von Lichtern umgeben war, erschien sie mir wie ein ungeheurer Sarg, um den die Totenlichter brennen. Kein Ruderboot, kein Segler war auf der großen Außenalster zu schauen. Bleiche Nebel webten über dem Wasser, flossen zusammen, teilten sich und verschwanden wieder. Und da tauchte es aus dem Grunde empor: weiße, luftige Gestalten mit großen, leeren Augen und langem, wallendem Haar. Und sie rangen die Hände in unendlichem Jammer, und der halboffene, schmerzverzerrte Mund schien zu fragen: Wie lange noch? Wie lange noch? Wann sehen wir wieder Spiel und Scherz, wann hören wir wieder Lied und Lust? Wann? Wann? Und ein Schrei klang über das Wasser hin, ein Schrei voll Qual und Schmerz, ein Todesschrei, und sie hoben sich mit halbem Leib empor, streckten die Arme zum Greifen aus und sanken seufzend in die Tiefe. – „Winterhude! Alles aussteigen!“ Ich starrte empor. War es Traum, war es Wirklichkeit, was ich gesehen? Ich war der einzige Gast, der ausstieg, der einzige, der überhaupt mitgefahren war. Aber auf der Fahrstraße bei der Anlegestelle des Schiffes war es um so lebendiger. Da drängte sich Fuhrwerk auf Fuhrwerk in endloser Reihe. Was nur je auf Rädern ging, war da zu sehen. Droschken und Kutschen, Karren und Möbelwagen, Federwagen und Rollwagen, Gemüse- und Bierwagen, und alle, alle beladen mit Toten.
„Wohin?“ „Nach dem Ohlsdorfer Friedhof.“ Unwillkürlich schloß ich mich dem Zuge an. Wie matt ich auch war, es drängte mich vorwärts, immer mit, immer mit. Und wie ich so schauend und sinnend neben dem Wagen herschritt, da hör ich mitten in dem Rädergeknarr und Peitschengeknall ein Hüe-Hott!, daß ich froherschrocken aufhorche. Die Stimme muß ich doch kennen. Wo hab ich denn dieses eigentümliche Hüe-Hott schon gehört? Und ich gehe auf den Fuhrmann zu, einen stämmigen, untersetzten Bauernburschen, sehe ihn an und wieder an, und als er abermals sein Hüe-Hott erschallen läßt, bricht’s aus mir heraus: „Antun du?“ Erstaunt sieht er mich an. „Ich bün Antun.“ „Antun Feldmann?“ „Jawoll! Aber ich kenne Ihnen nicht!“ „Ich bin Moses, Moses Lennhausen. Junge, wo kommst du hierher?“ „Jo, dat seggen Se man.“ „Segg doch man du, Antun.“ Und nun erzählte er mir im Weiterfahren bei fortwährendem Hüe-Hott, daß nach Threschens Tode auch die Mutter bald gestorben sei. Der Vater habe zum dritten Mal gefreit und noch einen Jungen bekommen, und der solle, die Mutter habe ganz die Herrschaft gehabt, den Hof erben. Er selber sei abgefunden worden, und habe sich erst als Großknecht verdungen, dann sei er als Kutscher nach Paderborn gekommen und dann nach Hannover und dann nach Hamburg. Und hier verdiene er jetzt in einem Tag mehr als beim Bauern in der ganzen Woche. Die Cholera habe doch auch ihr Gutes. „Hüe-Hott!“ Und dann sprachen wir von unserm Heimatdorf. Er war noch vor kurzem dort gewesen. Das habe sich mächtig verändert. Vom
Osterberg, wo wir die Kühe gehütet, ginge ein Stück nach dem andern fort. Da seien jetzt lauter Kalksteinbrüche und Fabriken und die Bauern hätten jetzt mehr Nutzen von ihren Steinen als früher von dem besten Kleeboden. Eine Eisenbahn werde auch schon gebaut. Alles sei anders. Von den jüdischen Familien sei nur noch eine einzige da, und die Judenschul solle auf Abbruch verkauft werden. Ob ich von dem langen Zender nichts gehört habe? „Nein.“ Der sei ein mächtig reicher Mann geworden, habe ein großes Kolonialwarengeschäft und halte sich Wagen und Pferd. Aber mit dem Sohn des reichen Mendel, dem Siegfried, sei es gerade umgekehrt gekommen. Der sei ganz auf dem Hund, und die Leute erzählten sich, wenn der Zender nicht wäre, könne er betteln gehen. Wer hätte das gedacht! „Hüe-Hott!“ Und vor mir sah ich das hochmütige Gesicht des alten Mendel, vor dessen Türe wir Kinder nicht vorbeizugehen wagten, wenn er nur zum Fenster hinaussah. Und ich stand im Kornfelde, um Kamillen zu pflücken, und sah ihn in seiner Kutsche stolz über die Landstraße nach unserm Dorfe fahren, vorbei an dem gebrechlichen, halblahmen Vater des langen Zender, der mühsam seinen Weg nach Hause humpelte. „Hüe-Hott!“ erscholl es wieder. Kornfeld, Kamillen, Mohn und Raden! Und die jungen, seligen Kinderjahre standen vor mir, und ich erinnerte meinen Gefährten an alles, was wir zusammen erlebt hatten. An die Erdbeeren in der Schonung, an die Kirschbäume am Oberndorfer Weg, an die Kartoffelfeuer, an das Schlittschuhlaufen und Schlindern auf Olmeiers Mistahle, und an all die Freuden, die wir Dorf jungen genossen. „Et was doch ne feine Tid, Antun!“
„Meenst du dat würklich, Moses?“ fragte er verwundert und sah mich mit zweifelndem Auge an. „Ick gläuw, ick hew et nu beter. Hüe-Hott!“ Und da fiel mir ein, daß dem Ärmsten ja der Sonnenschein der Kindheit gefehlt hatte, die Liebe der Eltern. Und ich dachte an eine Stunde seines Lebens, die vielleicht seine größte, schönste war, und ich sprach von Threschen. Da hörte er zu, als ob ich ihm etwas ganz Neues erzähle, so eine Art Märchen, nickte nur dann und wann zustimmend, und wiederholte immer wieder in einem eigentümlichen, halblauten, wehmütigen Tone, nicht, als ob es den Pferden, als ob es meiner Erzählung gelte: „Hüe-Hott! Hüe-Hott!“ Am Friedhof mußte der Wagen halten und warten. Anton fragte mich, ob ich mit ihm zurückfahren wollte, und ich, der ich schon die Müdigkeit in allen Knochen spürte, sagte es ihm gern zu. Hier am Eingang auf der ersten Bank wolle ich auf ihn warten, dann trennten wir uns, und ich schritt allein in den Friedhof hinein. Aber ist denn das auch ein Friedhof? Ist das nicht ein Garten, ein Park mit großen Alleen, mit waldartigem Baumbestand, mit Beeten und Teichen? Wenn man nur nicht so matt und schlaff wäre! Aber ich ging doch immer weiter, durch Hauptund Seitenwege, bis es zuletzt hinter den Bäumen hell aufschimmerte und Wagen an Wagen die breite Straße sperrte. Pechfackelschein flatterte um Wagen, Pferde und Menschen, flatterte über eine weite, weite Grube. Da hinein wurden die Toten gelegt, wie man sie von den Wagen herunterholte, mit Särgen und ohne Särge, einer neben den andern, ein einziges großes Familiengrab. Kein Wort, kein Sang klang ihnen nach. Gespenstische Schatten jagten zwischen Toten und Lebenden hin und her, deckten dort ein verzerrtes, schmerzentstelltes Gesicht milde zu und legten sich hier ebenso milde auf gleichgültig
gewordene, mitleidslose Augen; doch schon im nächsten Augenblick zeigte das hetzende Licht alles wieder nur um so greller. Ein Schauer durchrann mich: Ist das das Ende? Aber in den Wipfeln rauschte es leise: Ruhe! Friede! Lange starrte ich in die Gruft, dann ging ich langsam zurück. Am Ausgang setzte ich mich auf die Bank im Gebüsch, die ich Anton gezeigt hatte. Wie still es hier war! Nur ganz von fern drang ein leises Summen herüber. Da umfing mich ein seltsamer Traum. Ich sitze wieder in der kleinen Schulkammer und lese meinem alten Lehrer die Geschichte von dem vergnügten Schulmeisterlein Wutz vor. Plötzlich ertönt draußen Geigenklang, und herein stürmen die Studenten, Feldmanns Anton an der Spitze, und schreien: „Olle Oisse! Juden raus! raus!“ Entsetzt springe ich auf und renne an dem höhnisch grinsenden Bergheim vorbei ins Freie. Da faßt mich das kleine Mädchen aus dem Specksgang an die Hand, und wir laufen und laufen immer weiter über den Osterberg, die Schonung hindurch, meinen Schulweg entlang, in den Wald hinein. Und wie ich einen Augenblick bei meiner Buche rasten will, ist es Threschen, die meine Hand hält, und dann rennen wir beide weiter, vorbei an Busch und Graben, an Feld und Wiese, bis wir auf dem Friedhof am Wasserberg stehen bleiben, und nun ist es Helene, die neben mir steht und mich mit verweinten Augen anblickt. Ich will aufschreien, da legt sich eine weiche Hand auf meinen Kopf: „Still, Kind! Lern gut!“ – „Mutter! Mutter!“ rufe ich und erwache. – Anton hat mich gefunden und heimgebracht. Mir ist so weh, so bang. Die Eingeweide brennen mir im Leibe. – Ich darf hier nicht sterben, ich hab’s meiner Wirtin versprochen. – Ich wollt, es wär heller Tag, und ich könnt an meine Arbeit gehen. – Mutter, Mutter, ich wollt – – Mutter, –
So weit die Aufzeichnungen meines Freundes. Der Polizeisergeant Ohlsen schickte sie mir zu, da er auf der ersten Seite meine Adresse fand. Moses Lennhausen hatte sich noch einmal frühmorgens nach dem Schulhause geschleppt, in dem seiner Sanitätskolonne die Arbeit zugewiesen wurde. Da hat ihn die grausige Krankheit mit vernichtender Wucht gepackt. Ehe Sergeant Ohlsen einen Arzt herbeiholen konnte, war er tot. Er ist auf Posten gestorben.
Zur Geschichte des einen und der anderen deutschen Juden Nachwort von Peter Frielingsdorf
Das Beste, was wir von der Geschichte haben, ist der Enthusiasmus, den sie erregt. (Goethe) Unsere Feinde sagen, wir sind schlecht. Ich wünsch’, ich hätte einmal sehen können, wie sie sich auf unserem Platz gemacht hätten. (Zvi Kolitz: Autor des „Jossel Rakover“, ein Testament aus dem Warschauer Ghetto)
I Mit dem von Jakob Loewenberg so bezeichneten „guten Ort“ am Wasserberg in Niederntudorf verbindet sich in meiner Erinnerung der erste Kontakt mit dem Judentum. Gemischte Gefühle waren immer dabei, wenn wir Jungen eine gute Handvoll von Jahren nach dem Krieg das verwilderte Gelände unter den düsteren, reichlich zerzausten Tannen durchstöberten, Grabinschriften zu entziffern versuchten und uns wieder mal wunderten über die so ganz anderen
Grabstätten. Hier lagen Juden. Mehr wußten wir nicht… Juden. „Weitwegzusein“, trotz unmittelbarer Nähe zum Dorf, war das vorherrschende Empfinden. Fremd blieb uns das Gelände; auch war uns nie ganz klar, ob wir es überhaupt betreten durften. Da soll es einen Dichter in Tudorf gegeben haben, der in Hamburg gelebt hat, ein Jude, Loewenberg, so hörte ich rund 35 Jahre später. „Da müßte man nachforschen“, war auch für andere die eher vage Reaktion. Wie kommst „du man in dit klatrige Nest?“ möchte man Loewenberg mit seinen eigenen Worten fragen. Und warum hat man von dir noch nichts gehört? Wäre Jakob Loewenberg „nur“ Deutscher und nicht auch noch Jude gewesen, zweifellos hätte sein Lebenswerk in seiner westfälischen Heimat und darüber hinaus früher und überhaupt größere Beachtung gefunden. Vor aller weiteren Beschäftigung mit Jakob Loewenberg ist das Versäumnis einzugestehen. In bemerkenswertem Umfang befassen sich schon seit vielen Jahren überall im Land Heimatvereine mit dem kulturellen Erbe ihrer Gemeinden und Städte. Seit einiger Zeit schließt die Suche nach den „verlorenen Zeiten“ vermehrt auch jene zwölf Jahre mit ein, die als das „dunkelste Kapitel“ der deutschen Geschichte zu etikettieren man sich schon allzu sehr gewöhnt hat. Wie konnte Jakob Loewenberg, der an dem Kapitel unmittelbar vor „jenem“ mitgeschrieben hat, vergessen werden? Das vom „Judentum in Salzkotten e. V.“ unter Leitung Dr. Bernd Wackers und Winfried Kempfs 1992 herausgegebene Buch „Jakob Loewenberg – Erinnerung an sein Leben und Werk“, in dem sich wichtige Materialien und eine weiterführende Bibliographie befinden, hat das Vergessen beendet. Für mich war der Besuch der vom selben Verein eingerichteten Ausstellung zu Leben und Werk Jakob
Loewenbergs Beginn einer zweiten Begegnung mit dem Judentum und dann auch der Anstoß, die Schriften des Dichters wieder zugänglich zu machen. Die mit diesem Band jetzt begonnene Neuausgabe ausgewählter Werke versteht sich zum einen als Fortsetzung der schon geleisteten Arbeit, zu allererst jedoch soll sie, das gleiche gilt ebenso für dieses Nachwort, das Lebensziel Jakob Loewenbergs auch heute noch erreichen helfen. „Wenn ich durch mein Tun und Streben erreicht habe, daß einer oder der andere ein bißchen besser über die Juden denkt, bin ich zufrieden.“∗ Sein Lebensziel wohl hatte Loewenberg rückblickend im Sinn, als er in einem seiner letzten Gedichte über einen am Stamm eines Baumes erst langsam, dann immer schneller herabgleitenden Tropfen dichtete: „Ob nicht der Baum im tiefsten Mark / Den kleinen Tropfen doch gespürt?“ Arnos Oz, der letztjährige Friedenspreisträger des Deutschen Buchhandels, meint, Schriftsteller träfen bei ihrem Schreiben, mit der Auswahl ihrer Worte im besonderen, „in einem bescheidenen Maße eine moralische Entscheidung… mit zumindest mikroskopisch kleinen ethischen Folgen“. Das hätte Jakob Loewenberg sehr gefallen. Viele gut gewählte Worte müßten dann zu ethischen Erfolgen führen, die schon mit dem bloßen Auge sichtbar wären. Angesichts der Vorgänge auf dem Balkan kommen einem allerdings Zweifel. Wir sind Zuschauer eines blutigen Schauspiels: Rückfall in die Barbarei. Wieder führt angestachelter Nationalismus zu ethnischen Säuberungen. Religiöse Hintergründe spielen eine entscheidende Rolle. Im eigenen Land müssen wir mit Sorge das Aufkommen ∗
Zit. nach Ernst Loewenberg, „Lebensbild“, S. 138
rechtsradikaler Kräfte zur Kenntnis nehmen. In einem Hearing vor dem Innenausschuß des Deutschen Bundestages (Frühjahr 1993) äußerten Experten übereinstimmend die Erwartung, daß sich extremistische Einstellungen verfestigen und wohl noch vermehren werden. Die Juden in unserem Land – heute etwa 40.000, 1910 waren es 615.000 – fragen sich besorgt, wie es um ihre Sicherheit bestellt ist in einem Land, in dem man es sich als ausgeschlossen wünschen möchte, daß auch nur ein einziger jüdischer Grabstein geschändet werden könnte. Was haben all die Bücher, die vielen Filme im Fernsehen über das Schicksal der Juden bewirkt? Manche sprechen sogar von einer „verordneten Vergangenheitsbewältigung“ und meinen, diese sei wohl auch kontraproduktiv gewesen, habe z. B. zu einer negativen Auratisierung damaliger Geschehnisse geführt. Was können Worte, Informationen und Aufklärung im Sinne einer Beförderung von Humanität bewirken? Für Jakob Loewenberg wäre ein zweifelsfreies „Alles“ die Antwort gewesen: „Die Entwicklung der Menschheit schreitet langsam vorwärts“. ∗ Da ist Jakob Loewenberg ganz Kind der Aufklärung, sein Glaube an geradezu naturgesetzlichen Fortschritt vollkommen ungebrochen. Eine gute Erziehung und die Dichtung sind die zwei Förderer der insgesamt hin zu guten Zielen verlaufenden Entwicklung. Selbst als mit dem Verlauf des 1. Weltkrieges (1916, Erhebung über den Militärdienst der Juden, deren für die Juden „positive“ Ergebnisse nicht veröffentlicht wurden) und danach („Judenfrieden“) „die antisemitische Radikalisierung gewaltig zunahm“∗∗ , blieb Jakob Loewenberg unerschüttert. Für ihn gab Deutschland mit der Gründung der parlamentarischen Republik allen Völkern ein Beispiel, wie durch Überwindung des Nationalismus eine ∗
Kunstwart, Jg. 25, 1912, Heft 22, S. 248 Th. Nipperdey, Deutsche Geschichte, Bdl, München 1990, S. 412
∗∗
ganz neue Zeit eröffnet werden könnte; eine neue Zeit auch für sein Volk, in der es bald kein einziger mehr bezweifeln würde, daß Juden Deutsche sind. „Mögen sie fortfahren, uns Unrecht zu tun, wenn nur Deutschland eine Spitzenposition behält“, schreibt Jakob Loewenberg mit einem fast nicht mehr verständlichen Anteil an Selbstverachtung nach dem 1. Weltkrieg in sein Tagebuch.∗ Ein stärkeres Bekenntnis zum Deutschsein ist nicht denkbar. Macht es Sinn, ist die Frage, Jakob Loewenbergs Roman vorzulegen, für die Lektüre desselben in den Schulen zu werben, alles in der Hoffnung, daß vielleicht doch, „mikroskopisch klein“, etwas in Gang gesetzt werde? Wiederum Jakob Loewenberg: Die Poesie ist für ihn eine Macht, „sie rührt an den Kern des Lebens selber“, ist wesentlicher Bestandteil der „geistigen Nahrung“ und „enthält alle Säfte und Kräfte sowohl für die Knochenbildung des Charakters wie für die Muskelfasern des Herzen… Darum sind untergegangene Völker heute nur insofern kulturfordernd für uns, als ihre Kunst, ihre Poesie insbesondere, es vermag, auf uns einzuwirken“. ∗∗ Jakob Loewenbergs Roman ist Poesie einer vergangenen Generation. Und wenn es überhaupt ein Lernen aus der Geschichte gibt, dann nur, wenn es „erzählte Geschichte“ (Ricarda Huch) ist, die nicht „bloß Zusammenhänge der Vergangenheit verstehen“ hilft, sondern „uns auch in unserer Gegenwart anspricht“, nicht in Form von „Gleichungen, wohl aber wie Gleichnisse, anregende, erhellende, helfende“ (Golo Mann). Für den Literaturwissenschaftler Friedrich Gundolf (1880-1931) erwächst die „Sagekraft“ dargestellter Geschichte aus der Fähigkeit des Autors, jenseits von geschichtswissenschaftlicher ∗
Zit. nach Ernst Loewenberg: Excerpts from his Diaries and Letters, LeoBaeck-Institute, S. 193. Rückübersetzung des Verfassers. ∗∗ Geheime Miterzieher, Hamburg 1904, S. 177 ff.
Gelehrsamkeit, dieser geradezu entgegenstehend, mit naiv staunendem Auge die Zeit zu sehen und sie in anschaulichfaßbare, die Menschen berührende Sprache zu kleiden. Wohl bedacht, daß „Aus zwei Quellen“ nicht im engeren Sinn Geschichtsschreibung ist, kann man doch sagen, daß Jakob Loewenberg genau in diesem Sinn seine „Geschichte“ geschrieben hat.
II Seit rund 2000 Jahren leben die Juden nicht mehr in einem geschlossenen Territorium, sprechen keine gemeinsame Sprache, besitzen nicht die gleiche Kultur, und doch unterliegt die Zugehörigkeit zum Volk der Juden bis heute, gleich wo auf der Welt, keinem Zweifel. In der allen Juden gemeinsamen Geschichte, die auch Jakob Loewenbergs Geschichte ist, liegt der Grund für diese Eindeutigkeit. Schon zu biblischer Zeit werden Juden verfolgt und vertrieben, die Geschichte der Juden Europas allerdings ist, von einigen Phasen relativ friedlicher Koexistenz zwischen Juden und Nichtjuden abgesehen, eine einzige Kette von Verfolgungen und Toten bis zum Holocaust, dem von wahnhaften Ideologien vorbereiteten, schließlich fabrikmäßig durchgeführten Völkermord an sechs Millionen Juden im deutschen Machtbereich. Aus der kaum übersehbaren Menge der grausamen Nachrichten aus der Geschichte seien einige der wichtigsten stellvertretend aufgeführt: nach 135 n. Z. Vertreibung der Juden aus Jerusalem und dem Kernland Judäa; Ende des 4. Jahrhunderts, als das Christentum römische Staatsreligion war, zahlreiche Synagogenzerstörungen. Im 7.-10. Jahrhundert, unter byzantinischen Kaisern und Westgotenkönigen,
Anordnung der Zwangstaufe mit nachfolgenden umfangreichen Abwanderungen. 1066 erstes großes Judenmassaker im spanischen Granada, das damals muslimisch war. Die Zeit der Kreuzzüge, ca. 1100-1200, war eine Zeit schlimmster Verfolgungen. Überall, wo sich Christen als „Befreier“ auf den Weg ins Heilige Land machten, auch in Palästina selbst, wurden Tausende von Juden umgebracht. Ab 1348, mit der Ausbreitung der Pest (Juden sollten in der Absicht, die Christen auszurotten, die Brunnen vergiftet haben), Vernichtung der meisten Gemeinden in Deutschland und eines Drittels aller Juden in Europa. Im Spätmittelalter Zwangsbekehrungen und weitgehende Vertreibung der Juden in allen Ländern Westeuropas. 1648 in Polen Massenmord an ca. 100.000 Juden. 1744 Vertreibung von 20.000 Juden aus Prag. Holocaust/Shoa mit sechs Millionen ermordeten Juden. Nach dem 2. Weltkrieg unter Stalin „Fortsetzung“ der russischen Pogrome. Wie kann man in eine solche „Geschichte“ geraten! Jakob Loewenberg wird 1856 im westfälischen Niederntudorf geboren. Von seinem Großvater weiß er so gut wie nichts. Dieser soll, aus Süddeutschland vertrieben, nach Norden gewandert sein. Und doch: Trotz seiner genealogischen Unkenntnis und noch bevor Jakob Loewenberg später die Geschichte des eigenen Volkes studieren wird, hat er dieselbe in sich. Jede Lesung der Bibel anläßlich eines der zahlreichen jüdischen Feiertage im strenggläubigen Elternhaus, das in unmittelbarer Nachbarschaft der gerade erbauten katholischen Kirche lag, ist eine Lehrstunde in Sachen Geschichte. Welches Volk verfügte wie die Juden über ein vergleichbares Buch, buchstäblich von Adam und Eva an?
Noah, so erzählt die Bibel – zehn Generationen nach jenem 1. Paar, zehn vor Abraham – ist Vater des Sem, dem Namensgeber der semitischen Völkergruppe in Mesopotamien, unter der die Israeliten neben Akkadern, Assyrern, Babyloniern, Phöniziern nur einen Teil bilden. Die eigentliche jüdische Geschichte beginnt vor rund 3000 Jahren. Die Vorväter Abraham, Isaak und Jakob können wir uns als Wanderhirten eines Nomadenvolkes vorstellen. Deren Nachfahren sind es, die irgendwann im Verlauf des 2. Jahrtausends v. Z. sich als Zwangsarbeiter in Ägypten aufhielten. Die Zeit in Ägypten und die Flucht (etwa 1220 v. Z.) haben in der jüdischen Tradition und so auch in der christlichen tiefe Spuren hinterlassen. Die Nächstenliebe – „einen Fremdling darfst du nicht bedrücken“ – hat hier ihren Ursprung. „Ihr wißt ja, wie es einem Fremdling zumute ist, da ihr selbst Fremdlinge in Ägypten gewesen seid“ (Ex. 23,9). Die Pesach-Erzählung, die am Sederabend, dem Vorabend des jüdischen Osterfestes, vorgelesen wird, läßt den Exodus aus der ägyptischen Gefangenschaft alljährlich wieder lebendig werden. „Es war das Fest unter den Festen“ (S. 25). So erinnert sich Jakob Loewenberg. Und jene Nacht vor dem Fest war „durchweht“ „von dem heiligen Schauer der Geschichte,… von der Macht der Poesie, die Vergangenes vergegenwärtigt…“ (S. 26). Das ungesäuerte Brot (Mazza), das „Brot des Elends“, ist der Proviant beim Auszug, das Bitterkraut (Maror) als Zeichen der Knechtschaft ist so bitter wie der Frondienst. So wie bei Nennung der zehn Plagen (Blut, Frösche, Ungeziefer, wilde Tiere…) jeder Festteilnehmer aus dem vor ihm stehenden Glas Wein zehn Tropfen vergießt, so wird der Freudenbecher des Lebens vermindert um das menschliche Leid. Aus religionsgeschichtlicher Perspektive wird es als außergewöhnlicher Vorgang gewertet, daß die im Laufe der
Zeit seßhaft werdenden Israeliten ihren Glauben an ihren einen Gott „Jahwe“, ihren Führer auf den Wüstenwanderungen, nicht aufgaben zugunsten der Fruchtbarkeitsgötter der Kanaanäer mit „El“ und „Baal“ an der Spitze, entschieden doch die neuen Götter über die nun für die Israeliten wesentliche Grundlage ihrer Existenz: den Ackerbau. Ihr Einzelgott behauptete sich gegen einen ganzen Götterhimmel. In dieser Phase der jüdischen Geschichte formen sich über die schon vorhandene monotheistische Grundauffassung hinaus zwei weitere wesentliche Elemente des jüdischen Gottesverständnisses: Jahwe wird zum allen anderen Göttern überlegenen, einzig wahren Gott aller Völker und Zeiten, und Israel ist das Volk der Auserwählung. Die Auserwählungsgewißheit als Anspruch gegenüber allen anderen Völkern, von den Christen unverändert übernommen, ist nicht irgendein abstrakter Glaubensinhalt, er bestimmt das tatsächliche Selbstgefühl der Juden wie der Christen im alltäglichen Umgang mit dem jeweils Andersgläubigen bis in die Tage Jakob Loewenbergs hinein – und, zumindest in den orthodoxer eingestellten Kreisen, sogar bis heute. „Wir standen ihm am nächsten“ (S. 49), so erinnert sich Jakob Loewenberg als kleiner Junge während der katholischen Bibelstunden in der Volksschule von Niederntudorf empfunden zu haben. „Im innersten Grunde des Herzens hielten wir uns nicht nur für anders, sondern auch für viel besser als unsere christlichen Gefährten und blickten mit derselben Geringschätzung auf ihre kirchlichen Gebräuche und Einrichtungen hinab, wie sie auf die unsrigen“ (S. 47). Trotz der Gemeinsamkeiten beim nachmittäglichen Kinderspiel, der Unterschied zwischen katholischen und jüdischen Kindern konnte bei den damals selbstverständlichen zwei Religionsstunden täglich nicht in Vergessenheit geraten. Und wenn Jakob Loewenbergs einmaliger Beitrag zu einer dieser Stunden, die Beantwortung
einer vom Lehrer gestellten Frage, von der eigenen Mutter mit einer Ohrfeige und dem Kommentar „kümmer dich nit um Geschichten, die dich nix angehen“ quittiert wurde, kann man wohl daraus schließen, daß das Eis dünn gewesen sein mußte, auf dem Christen und Juden sich bewegten. Besser keine „vorökumenischen“ Gespräche. Ein falsches Wort, eine unachtsame Bemerkung hätten das dünne Eis zum Knistern oder gar Brechen bringen können. Im 10. Jahrhundert v. Z. konstituiert sich das Königtum, aus dem das Nord- und das Südreich hervorgehen. Das Südreich gerät, nachdem das Nordreich unter assyrischer Vorherrschaft zerfallen war, in den babylonischen Einflußbereich. Mit schwerwiegenden Folgen: Der Tempel in Jerusalem wird zerstört, und große Teile des Volkes geraten in Gefangenschaft. Gleichzeitig mit der Rückkehr (538 v. Z.) aus der babylonischen Gefangenschaft, viele Juden bleiben in Babylonien, und dann parallel zur Ausbreitung des Hellenismus beginnt eine starke Siedlungstätigkeit der Juden im gesamten Mittelmeerraum. In Alexandria leben bald mehr als 200.000 Juden. Die Griechen wie später auch viele gebildete Römer zeigten zunächst großes Interesse, die altorientalische Kultur des Judentums kennenzulernen. In das ursprünglich sehr positive Bild schlichen sich jedoch bald negative Einschätzungen ein. Wesentliche Quellen der sich verändernden Beurteilung waren schlichte Unkenntnis, Unverständnis für die Rigorosität des jüdischen Glaubensanspruchs und auch die relativ stark ausgeprägte, selbstgewählte Abgeschlossenheit der jüdischen Siedler. Auch rein böswillige Beschreibungen der fremden Kultur fanden bald reichlich Resonanz. So behauptete Mnaseas von Patara, im Tempel von Jerusalem würde ein Eselskopf verehrt.
Legendenbildung dieser Art hat es in der Geschichte immer wieder gegeben, wenn fremde Kulturen aufeinandertrafen. Der römische Historiker Tacitus hat all die negativen Einschätzungen vom damaligen Judentum in seinen Schriften zusammengefaßt. Der Jude Jesus markiert dann den zeitgeschichtlichen Punkt, in dem die Christen die gesamte Geschichte in eine vor- und eine christliche teilen werden; letztlich eine gegen die Juden sich wendende Inanspruchnahme eines originär jüdischen Geschichtsinhalts zur Beschreibung von Geschichte. Wir verwenden: v. (vor) und n. (nach) Z. (unserer Zeitrechnung). In der nur scheinbar nebensächlichen, aber allgegenwärtigen Formalie ist der Vorwurf an die Juden mitenthalten, Jesus als den Messias, von dem an alle Geschichte neu zu schreiben sei, nicht erkannt, ja ihn verraten zu haben. Das „jüdische Verkennen“ Jesu Christi bezeichnet der soeben erschienene katholische Katechismus als „Drama“ (Art. 839). Fast genau in zeitlicher Symmetrie zum römischen Eroberungsdatum (63 v. Z.) – bis zu diesem Zeitpunkt dauerte die griechische Fremdherrschaft – führen zahlreiche Aufstände gegen die Römer schließlich zur Zerstörung Jerusalems und des zweiten Tempels (70 n. Z.). Mit dem gescheiterten Aufstand des Bar Kochba (135 n. Z.) beginnt die endgültige Zerstreuung der Juden. Aus Jerusalem und dem Kernland Judäa werden die Juden fast vollständig vertrieben. Alle hebräischen Namen werden getilgt. In Erinnerung an die Gefangenschaft sowie in dem traumatischen Wissen um die Zerstörung des 2. Tempels und der endgültigen Vertreibung bildet sich allmählich neben den grundlegenden religiösen Vorstellungen von Monotheismus und Messianismus bei den Juden eine dritte heraus: die des Exils. Exil, erzwungenes wie freiwilliges, als eine den Juden eigene Daseinsform. Viele Juden empfinden ihre Existenz
fortan insgesamt als tragisch. Die Frage, wie Gott dieses Schicksal ausgerechnet für sein auserwähltes Volk hat zulassen können, bleibt für die weitere Zukunft eine das religiöse Denken des Judentums wesentlich mitprägende, brisante und natürlich – ungeklärte Frage. Vom Exil als Prüfung bis zum Exil als Bestrafung reichen die Antworten. Auch in einem messianistischen Ansatzpunkt wurden in der Vergangenheit Lösungen gesucht: Exil als Sendung mit dem Ziel weltweiter Bekehrung. Trotz der Säkularisation der westlichen Juden in der Neuzeit, trotz Emanzipation und Assimilation im 19. Jahrhundert und trotz des neuen Selbstverständnisses der Juden, „normale“ Bürger mit Heimat in dem jeweiligen Staat zu sein, ist der Exilgedanke für viele Juden in seinem Kern erhalten geblieben. Die zu Lebzeiten Jakob Loewenbergs aufkommende Bewegung des Zionismus hatte nur das eine Ziel, dem unerträglichen Zustand andauernder Heimatlosigkeit durch die Gründung eines jüdischen Staates ein Ende zu setzen. Loewenberg lehnte den Zionismus für sich strikt ab; er bekämpfte ihn nicht, fühlte sich aber zu sehr zu Hause, als daß er einem anderen Ziel als dem der Einrichtung in diesem Zuhause hätte dienen wollen. „Aber Mutter, du, weißt du denn, was du verlassen willst?“ (S. 160) fragt Moses Lennhausen/Jakob Loewenberg, als die Mutter vorschlägt, nach Amerika auszuwandern. „Wandern, wandern, ewig Ahashver, ewig Fremdling auf Erden!“ Ahashver ist eine Legendengestalt. Für die rohe Beleidigung Jesu auf dem Weg nach Golgatha wird Ahashver mit ewiger Rastlosigkeit bestraft. Für Jakob Loewenberg, der die „Bindungsenergie“ des in unbeschwerten Kindertagen erworbenen Heimatgefühls in sich spürte, kam Auswanderung nicht in Betracht. „Alles, was in mir gut und stark und rein war, hatte seine tiefsten Wurzeln im Boden der Heimat“ (S. 176). Und diese Heimat
war für Jakob Loewenberg zuerst dörflich westfälisch, später auch norddeutsch, in jedem Fall aber deutsch. „Nie kann mir eine Zeder werden, was mir die deutsche Buche war“. ∗ Der in Jakob Loewenbergs Werk überaus stark sich ausformende Heimatgedanke bezieht seine Kraft gerade aus dem Wissen um die jüdische Geschichte. Zu schmerzhaft müssen ihm die Einblicke in die Vergangenheit seines eigenen Volkes gewesen sein. „Und erst unsere Geschichte, unsere Jahrtausende alte Geschichte mit der Fülle ihrer Ereignisse, mit der Menge ihrer Helden und Märtyrer, mit der Flut unserer Leiden und Hoffnungen, unserer Qualen und Sehnsucht! So staunenerregend ist kein Wunder als wie dasjenige, das sich in dieser Geschichte offenbart. Niederlage auf Niederlage, Unterdrückung auf Unterdrückung, Leiden auf Leiden, und doch leben wir, doch haben wir gesiegt“. ∗∗ Wenig später formuliert er einen Gedanken, der auch heute von vielen Juden vertreten wird: „Ahashver, der Weitumhergetriebene, der bei allen Völkern gelebt, ihre Leiden und ihre Sehnsucht kennt, sollte er nicht gerade sie anspornen, sich die Hand zu reichen zum stärkenden brüderlichen Bund?“∗∗∗ Der amerikanische Soziologe Daniel Bell interpretiert die Exilerfahrung als eine „Parabel der Entfremdung“. Entfremdung als ein charakteristisches Merkmal des modernen Lebensgefühls. Aufgrund ihrer Geschichte seien die Juden in besonderer Weise prädestiniert, Wege zur Überwindung des existentiellen Mangels zu finden. Für Michael M. Meyer, einen renommierten amerikanischen Historiker, ist die Vorstellung von der Wegbereiterfunktion sogar eines der wichtigsten Merkmale des derzeitigen jüdischen Selbstverständnisses. ∗
Lebensbild, S. 150 Ebd. S. 144 ∗∗∗ Ebd. S. 145 ∗∗
Im römischen Einflußbereich sind die Juden in den jeweiligen Gesellschaften integriert, genießen sogar ihrer Glaubenspraxis wegen Sonderprivilegien. Mit dem Sieg des Christentums im 4. Jahrhundert, der Anerkennung als verbindlicher Staatsreligion, wandelt sich das Verhältnis der Juden zur nichtjüdischen Umwelt jedoch grundlegend. Das Christentum hatte den Absolutheitsanspruch, im Besitz des einen wahren Glaubens zu sein, vom Judentum übernommen und sah sich jetzt gezwungen, diesen Anspruch, der ihm von den Juden streitig gemacht wurde, im religiösen wie im weltlichen Bereich durchzusetzen. Eine schier paradoxe Situation. Die vom Judentum übernommenen Glaubensinhalte werden jetzt als die eigenen christlichen gegen die eigentlichen Urheber und Vermittler behauptet und instrumentalisiert. Dies ist der Ausgangspunkt des in den weiteren Jahrhunderten sich unaufhaltsam entwickelnden Antijudaismus. Der Theologe Norbert Greinacher dazu: „Im Laufe der Christentumsgeschichte wurde die christliche Theologie und Verkündigung regelrecht antijudaistisch durchtränkt… Hier trifft beide großen Kirchen eine nicht zu überschätzende Schuld“. Das Zusammenleben von Juden und Christen war von da an bis heute nicht nur belastet, sondern fundamental gestört. Der gegen die Juden erhobene Vorwurf, den Sohn Gottes getötet zu haben, ließ nur ein Verhältnis zu: das des Klägers zum Angeklagten, das des Richters zum Verurteilten. Judenfeindschaft – in den Köpfen die theologische Begründung, in den Herzen die Abneigung, oft gesteigert bis zum Haß – blieb strukturelles Element der christlich-jüdischen Beziehungsgeschichte. „Ich spürte… wie Grimm und Haß in ihnen [den Mitschülern, wenn vom Jesusmord die Rede war; der Verf.] kochten… Hans und Fritz und Kaspar glauben es doch, und Anna und Threschen und Mariechen auch, und der Lehrer auch, und er spricht von dem Fluche, der seitdem auf
den Juden lastet, die wie Kain, der Brudermörder, ruhelos in der Welt umherirren,… und denkt vielleicht, auch du könntest morden“ (S. 50 f.). Neben dem religionsgeschichtlichen Element sind natürlich auch andere Elemente für die Beziehung zwischen Juden und Christen wesentlich, so u. a. soziokulturelle und psychosoziale. Auch ist davor zu warnen, die Beziehungsgeschichte nach einfachen Kategorien wie gut-böse zu schematisieren. Erklären und Bewerten sind zwei verschiedene Dinge, bleiben aber zugleich notwendig aufeinander bezogen. Erst auf dem 2. Vatikanischen Konzil von 1962 bis 1965 wurde der Christusmordvorwurf von der katholischen Kirche fallengelassen. Noch bei seinem historischen Besuch in der römischen Synagoge 1986 konnte sich Papst Johannes Paul II. nicht entschließen, über die während des Konzils in der Enzyklika „Nostra Aetate“ getroffene Sprachregelung, alle Äußerungen des Antisemitismus seien zu beklagen, mit einer deutlicheren Formulierung hinauszugehen. Erst im Oktober 1992 kommt es mit dem Höhepunkt fremdenfeindlicher und antisemitischer Ausschreitungen in Deutschland und anderswo in Europa endlich zu einer klaren Verurteilung des Antisemitismus durch den Papst. Jetzt ist von „Verdammung“ die Rede und davon, daß jede Form von Rassismus eine Sünde sei. Dem konnten sich dann auch die deutschen katholischen Bischöfe im November anschließen. Wie viele Jahre darf es dauern, bis jahrhundertealte Einstellungen, die sich tief in unserer Psyche eingenistet haben, ihre verhaltenssteuernde Kraft verlieren werden? „Nach abermals 100 Jahren – wir haben hoffen und warten gelernt – “, schreibt Jakob Loewenberg im Jahre 1912, der neue Antisemitismus hatte längst die öffentliche Meinung infiziert, „wird es vielleicht keinem einzigen mehr einfallen, zu
bezweifeln, daß wir Deutsche sind, wie denn schon heute ungezählte der besten und feinsten Geister es nicht tun“. ∗ Im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts entwickelt sich das, was wir mit dem 1879 in Deutschland entstandenen Begriff „Antisemitismus“ bezeichnen; obwohl Deutschland nach Thomas Nipperdey „vor 1914 nicht das klassische Land des Antisemitismus“ war.∗∗ Der Antisemitismus knüpft an den alten, hauptsächlich religiös motivierten Antijudaismus an und ist zugleich eine qualitative Erweiterung. Mit pseudowissenschaftlicher Begründung werden jetzt die Juden über den Glaubensunterschied hinaus als Volk bzw. andere Rasse, die semitische, zu beschreiben versucht und im Vergleich mit der eigenen arischen abgewertet. Ein Jude kann prinzipiell kein Deutscher sein. Die mißgönnte Emanzipation, der beneidete soziale Aufstieg der Juden, die als zu groß empfundene Präsenz, z. B. im Kultursektor, dazu in der nichtjüdischen Öffentlichkeit weit verbreitete Ressentiments gegen die industrielle Entwicklung, überhaupt gegen Modernität, begünstigen das Entstehen des neuen Antisemitismus. Über die Zähigkeit des zutiefst verwurzelten antijüdischen Vorurteils war Jakob Loewenberg sich im klaren. Er hielt es für ein anerzogenes bzw. ererbtes Gefühl, ein Relikt eigentlich, das sich zudem durch Gewöhnung schon von seinen Ursprüngen entfernt hat. Es fällt aber auf, daß Jakob Loewenberg in seinen Schriften den Glaubensgegensatz in einem weniger scharfen Licht erscheinen läßt. Gewiß sind die entsprechenden Passagen im Roman unzweideutig, sie treten jedoch in ihrer Bedeutung hinter eine alles in allem harmonisch zu nennende Sicht des Zusammenlebens von Christen und Juden zurück. Der Glaube sollte die Menschen ∗
Kunstwort, Jg. 25, 1912, H. 22, S. 249 Deutsche Geschichte, Bd. 2, München 1992, S. 289
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eben nicht länger trennen dürfen: Menschsein vor Christ- oder Judesein. Außerdem war wohl auch Jakob Loewenbergs persönliche Glaubensentwicklung ausschlaggebend. In einem strenggläubigen Elternhaus war Jakob Loewenberg aufgewachsen, wurde schon mit 17 Jahren Lehrer und Vorbeter der jüdischen Gemeinde im sauerländischen Padberg. Der gut 20jährige aber fühlte „den Boden unter seinen Füßen schwanken“. Er konnte nicht mehr gläubig sein. „Es war ganz von selber gekommen, ohne einen äußeren Anstoß, wie die Blütenblätter fallen, wenn die Sonne steigt und das Licht greller wird“ (S. 98). Obwohl der Bruch mit dem Glauben der Väter ziemlich radikal erfolgte, kehrte Jakob Loewenberg nach einigen Jahren seiner Hamburger Zeit, die 1886 begann, zu den Wurzeln seiner Religiosität zurück; allerdings nicht im Sinn orthodoxer Gläubigkeit und Gesetzestreue, die waren verloren, sondern aus tiefer Verehrung für Tradition und Kultur „seines“ Judentums. Die jüdischen Festtage werden eingehalten, die Söhne jüdisch erzogen, am Sabbat wird der verstorbenen Mutter zuliebe zeitlebens nicht geraucht. Mit aller Deutlichkeit beklagt er die Neigung vieler jüdischer Familien, den Kindern die Bibel vorzuenthalten; die Inspirationskraft der Bibel sei durch nichts in der Erziehung zu ersetzen. Den damals nicht seltenen Übertritt zum Christentum durch Taufe, wenn er nicht aus wirklich innerer Überzeugung erfolgte, verurteilt Jakob Loewenberg aufs schärfste. Jakob Loewenbergs Mittelweg zwischen Orthodoxie und radikaler Abwendung vom Glauben ist typisch für viele Juden damals. Bis zur Mitte des 19. Jahrhunderts bewahrten Juden in ihrer großen Mehrheit, zumal auf dem Lande, ihren traditionellen Glauben. Mit den umwälzenden Veränderungen in der 2. Hälfte des Jahrhunderts – sozialer Aufstieg, Verstädterung, die Emanzipationserfolge auf der einen und vor
allem der Assimilationsdruck auf der anderen Seite – veränderten sich auch die religiösen Einstellungen. Vor allem beim bürgerlichen Judentum kam es zu einer deutlichen Abschwächung der Glaubensbindungen. Offiziell wird die Zugehörigkeit zur Gemeinde aufrechterhalten, die religiöse Praxis aber beschränkt sich bei den meisten auf nur wenige Synagogenbesuche. Die Speiseregeln werden nicht immer strikt eingehalten, Religionsunterricht für die Kinder ist längst nicht mehr selbstverständlich. Eine Minderheit läßt alles hinter sich, was die christliche Umwelt an ihr Jüdischsein hätte erinnern können. Nicht wenige legen sogar ihre jüdischen Vorund Familiennamen ab. Der Weihnachtsbaum, auch von Loewenberg in einem Gedicht besungen, hält Einzug bei manchen ganz „progressiven“ Familien. Jakob Loewenberg war wohl beeindruckt von der Art der Christen, Weihnachten zu feiern, wollte, daß auch seine Söhne die fremde Weise religiöser Frömmigkeit kennenlernten, Adaption aber lehnte er entschieden ab. Nebenbei sei bemerkt, daß der Prozeß zunehmender Entfernung vom Glauben nicht nur bei den Juden zu beobachten war. Tendenzen einer „Entkirchlichung“ zeigten sich auch bei den Christen, zwar nicht auf dem Land, wohl aber in den rasch wachsenden Großstädten. Jakob Loewenberg war dreizehn Jahre alt, als die Juden im Norddeutschen Bund nach einem fast 100 Jahre dauernden „Erziehungsprozeß“ im Jahr 1869 die volle bürgerliche Gleichberechtigung erhielten (mit dem Reichsgesetz von 1871 wurde die Gleichstellung auch auf Bayern ausgedehnt). Anders als in Frankreich, wo die Juden 1789/91 sozusagen mit einem Schlag gleichberechtigt wurden, war man in Deutschland der Meinung, die Juden auf ihre Bürgerrechte vorbereiten zu müssen. Dies erscheint kaum verwunderlich, zum einen hinsichtlich der sozialen Stellung der Juden im 18. Jahrhundert, vor allem aber
angesichts des Zerrbildes vom Judentum, das sich im Verlauf des „jüdischen Mittelalters“, das anders als das „bürgerliche“ eigentlich erst mit dem Ausgang des 18. Jahrhunderts endete, entwickelt hatte. In „ihrem Mittelalter“ waren die Juden ausgegrenzt: Verbot bürgerlicher Berufe, Abdrängung in das Zins- und Geldgeschäft (schon im 12. Jahrhundert) und vor allem im Klein- bzw. Kramhandel. So muß Jakob Loewenbergs Vater wie die meisten anderen jüdischen Familienväter in Niederntudorf sein „Stückchen Brot sauer“ im Kleinhandel, d. h. Hausierhandel verdienen (S. 8). Die Juden waren für die Versorgung der Landbevölkerung mit den Gütern des täglichen Bedarfs zuständig. Außerdem war den Juden Grundbesitz verboten, jegliche Freizügigkeit blieb ihnen verwehrt. Die Juden im 18. Jahrhundert hatten als sogenannte „Schutzjuden“ den jeweiligen Landesherren für die Aufenthaltserlaubnis und die Gewährung des Schutzes vor Übergriffen hohe Summen zu zahlen. Als Geldleiher für die ebenfalls abgabepflichtigen und nicht selten infolge von Mißernten zahlungsunfähigen Bauern erfüllten sie außerdem im Hinblick auf den ständigen Geldbedarf der Fürsten und Fürstbischöfe eine wichtige „fiskalpolitische“ Funktion. Sie zahlten selbst und halfen mit, daß auch die Bauern zahlen konnten. Wer die Schutzgelder nicht zahlen konnte, ging betteln; das war bittere Wirklichkeit für rund 10 % der etwa 200.000 in Deutschland lebenden Juden am Ende des 18. Jahrhunderts. Als „Betteljuden“ ohne Wohnrecht zogen sie durchs Land. Insgesamt lebten, von einer nur ganz wenige Prozent umfassenden Oberschicht wohlhabender Juden abgesehen, mehr als drei Viertel aller Juden in Armut bzw. am Rande des Existenzminimums. Von geradezu verhängnisvoller Bedeutung waren die vorurteilsbedingten Typisierungen des „Bildes vom Juden“,
die sich im Laufe der Jahrhunderte, verstärkt vom späten Mittelalter an, entwickelt hatten. Der Jude als „Antichrist“, als „Weltverschwörer“ (vgl. S. 158), als „Wucherer“. Die Legende von der Weltverschwörung war zu Zeiten des „schwarzen Todes“ im 14. Jahrhundert entstanden. Die Juden sollten sich verschworen haben, die Christen umzubringen und hatten angeblich zu diesem Zweck die Brunnen vergiftet. Der Wuchervorwurf, der auch heute noch durch die Köpfe geistert, muß damals so stark und allgemein gewesen sein, daß selbst Jakob Loewenberg als Jude in der Darstellung des Kaufmanns Bergheim (vgl. S. 141 und 155) diesem Vorurteil weiteren Vorschub leistet. Es scheint geradezu, sei mit aller Vorsicht gesagt, als wolle Jakob Loewenberg der christlichen Umwelt in Form einer sein Volk treffenden Selbstbezichtigung ein diese Umwelt gnädig stimmendes Opfer bringen. Alle neueren Untersuchungen weisen aus, daß der Wuchervorwurf unhaltbar ist. Die Juden wurden in das von den Christen als unehrenhaft angesehene Geldgeschäft mit dem Verbot der zünftigen Berufe geradezu hineingedrängt. Das Zinsverbot, schon frühzeitig gelockert, haben die Christen von den Juden übernommen. Die Juden machten die „Drecksarbeit“. Außerdem: „Da mochten die christlichen Geldverleiher noch so üble Burschen sein, sie werden aus dem Bewußtsein radikal verdrängt“. ∗ Wucher war eben typisch jüdisch. Die schlimmsten Folgen aber, weil verbunden mit Tausenden von Folterungen und Morden, hatten die Legendenbildungen vom Hostienfrevel und vom Ritualmord. Juden werden beschuldigt, mit der Marterung von Hostien und mit der Ermordung von Christen, getrieben von Haß, die Passion Christi nachzuvollziehen. „Die Juden haben ein Kind ∗
G. B. Ginzel in einer Anmerkung zu: W. P. Eckert, Antisemitismus im Mittelalter, in: G. B. Ginzel (Hg.), Antisemitismus, Bielefeld 1991, S. 7199, hier S. 86
geschlacht’t / In dem Tempel Moses, / Das Blut in ihre Mazzen gebracht / Ist das nichts Kurioses?“ (S. 177). Die Hostienfrevellegende verlor mit der Aufklärung an Bedeutung, der Ritualmordvorwurf allerdings hielt sich auch über Loewenbergs Zeiten hinaus, wurde von dem später der Fälschung überführten Professor der Theologie Dr. August Rohling in seiner Schmähschrift „Talmudjude“ mit gewaltigem Erfolg (17 Auflagen von 1877 bis 1922 im Paderborner Bonifatius-Verlag und in viele Sprachen übersetzt) wieder unters Volk gebracht und diente später auch Julius Streicher in seinem „Stürmer“ zu skrupelloser antisemitischer Hetze. Der im Schulratkapitel (S. 144 ff.) erwähnte Zeitungsbericht bezieht sich, so kann man annehmen, auf die sogenannte Buschhoff-Affäre, die 1891 in ganz Deutschland großes Aufsehen erregte. Ein später freigesprochene Jude namens Buschhoff sollte an einem christlichen Jungen einen Ritualmord verübt haben. Der an gleicher Stelle zu findende Hinweis des christlichen Lehrers, es stünde doch im Talmud, wird wohl die Rohling-Schrift zum Hintergrund haben. Rohlings Pamphlet wurde, muß man zur Kenntnis nehmen, vom Paderborner Bischof Konrad Martin dem Christenvolk zur Lektüre empfohlen; wie überhaupt Paderborn während der Kulturkampfzeit der 70er Jahre „ein Zentrum des katholischen Antisemitismus“ gewesen ist.∗ So kann es nicht verwundern, daß der Emanzipationsprozeß von den Historikern mehr im Kontext der allgemeinen gesellschaftlichen Veränderungen, Stichwort Verbürgerlichung, denn als Folge einer neuen „Judenfreundlichkeit“ gesehen wird. Insbesondere die rapide ∗
Neues Lexikon des Judentums, Stichwort Paderborn, Gütersloh, München 1992, S. 353; vgl. auch: M. Naarmann, Die Paderborner Juden 1802-1945, Paderborn 1988
industrielle Entwicklung mit dem Entstehen kapitalistischer Wirtschaftsformen begünstigte die Juden in ihrem traditionellen Betätigungsfeld des Handels, führte für viele zu raschem sozialen Aufstieg und machte die rechtliche Gleichstellung geradezu notwendig. Der Hausierhändler am Rande der Gesellschaft wurde zum bürgerlichen Kaufmann der gehobenen Mittelschicht. Ende des 19. Jahrhunderts waren nur noch drei Prozent der im Handel tätigen Juden Hausierer. Das neue Gesetz war das eine, die Lebenswirklichkeit, der sich Jakob Loewenberg ausgesetzt sah, aber das ganz andere. Religiöse Gründe sollten bei der Anstellung im Staatsdienst keine Rolle mehr spielen, taten es aber. Die höhere Beamtenlaufbahn blieb den Juden so gut wie verschlossen. Jüdische Dozenten gab es relativ viele, Professoren aber nur ganz wenige; die konservativen Fakultäten waren dagegen. Nach wie vor gab es, von Ausnahmen in Bayern abgesehen, keine jüdischen Offiziere; der Verband der Reserveoffiziere war antisemitisch eingestellt und hatte großes politisches Gewicht. Jakob Loewenbergs Darstellung einiger Reserveoffiziere im Roman ist offensichtlich zutreffend. Lehrer an einer höheren Schule zu werden, war kaum möglich. Jüdische Volksschullehrer fanden nur an jüdischen Schulen Anstellung; es sei denn, man ließ sich taufen. Jakob Loewenberg geht auf Anraten seines späteren Verlegers Leon Goldschmidt nach Hamburg. In der als liberal geltenden Großstadt hofft er eine Stelle zu finden. Er geht damit den Weg, den viele Juden damals gegangen sind: weg vom Land. Im Mittelalter hatte man die Juden aus den zünftigen Städten aufs Land verdrängt, im 19. Jahrhundert ging der Weg zurück in die Städte. Die Städte versprachen Erfolg; außerdem ließ die Anonymität vor allem der Großstädte mehr Schutz vor antisemitischen Bedrängungen erhoffen.
In Niederntudorf blieb von den acht Familien in der Mitte des 19. Jahrhunderts (13,6 % der 640 Einwohner im Jahre 1829; die ersten zwei Familien waren 1740 gekommen) 1930 noch eine Frau. Es war Henriette Stern, sie starb 1930 und wurde auf dem jüdischen Friedhof in Niederntudorf begraben. Im Reich wuchs die Zahl der Juden in den Großstädten von 29 % im Jahr 1871 auf 58 % 1910 und 67 % im Jahr 1933. Jakob Loewenberg hat großes Glück. Er bekommt 1886 eine Lehrerstelle an einer Mittelschule. Seine „Karriere“ kann beginnen. 1889 erscheint ein erster Gedichtband. 1891 ist Loewenberg Gründungsmitglied der „Literarischen Gesellschaft“, als deren geistiger Vater er gilt, wiewohl er den Vorsitz ablehnt, um die Gesellschaft nicht als „jüdisch“ erscheinen zu lassen. 1892 übernimmt er die Leitung einer Höheren Töchterschule, die bald seinen Namen trägt. Der Bildungs- bzw. Kulturbereich bot den Juden damals so wie der Handel die besten Aufstiegschancen. Nur eine Zahl: Bereits Mitte der 80er Jahre waren die Juden unter den Studenten achtfach „überrepräsentiert“. Die Schule ist selbstverständlich eine Simultanschule, 1913 hat sie 180 jüdische, 36 evangelische und 6 katholische Schülerinnen. Die nach reformpädagogischen Grundsätzen arbeitende Schule ist neben dem „Philanthropin“ in Frankfurt die einzige ihrer Art in Deutschland. An „seiner“ Schule kann Jakob Loewenberg endlich auch die „Gesinnungsfacher“ Deutsch und Geschichte unterrichten. Es kommt zu einer fruchtbaren Zusammenarbeit mit dem Kunsthistoriker und Kunstpädagogen Alfred Lichtwark sowie mit dem Reformpädagogen Heinrich Scharrelmann. Jakob Loewenbergs Ansehen reicht bald über Hamburg hinaus. Mitglieder der „Literarischen Gesellschaft“ – diese lassen Hamburg zu einem der Zentren des deutschen Literaturbetriebes um die Jahrhundertwende werden – sind seine Freunde: u. a. der Dichter Detlev von Liliencron, die
Lehrer Meier Spanier und Fritz von Borstel, die Schriftsteller Gustav Falke und Otto Ernst; letzterer hat die bekannte Ballade „Nis Randers“ geschrieben. Christliche Freunde zu haben, war für Juden damals nicht selbstverständlich. Die gesellschaftlichen Barrieren waren kaum zu überwinden. Die Mitgliedschaft in einem Schützenverein oder in den Sängerbünden war für Juden so gut wie ausgeschlossen. Die Vereine deutscher Studenten waren stark antisemitisch. Glaubensjuden fanden keine Aufnahme, ab 1896 galt das auch für getaufte Juden. In ihren Anfangsjahren ab 1880 bestand die Hälfte der studentischen Mitglieder aus Theologen. „Juden raus“ fand Jakob Loewenberg 1884 auf Bänken der Marburger Universität eingeritzt. Für ihn ein Schock. Ein Schock auch war für Jakob Loewenberg später der Verlust seines engen Dichterfreundes Otto Ernst, der in seinem Roman „Hermannsland“ (1921) das häßliche Bild eines jüdischen Schulleiters gezeichnet hatte. Trotz allem, trotz der sich mit dem 1. Weltkrieg für die Juden dramatisch verschlechternden „Stimmung“ – Jakob Loewenberg gibt seine Hoffnung, daß der „Spuk“ irgendwann vorbei sein werde, nicht auf. Die großen Feierlichkeiten zu Anlaß seines 70. Geburtstages im Jahre 1926 können seine Hoffnungen nur bestätigen. Er sei zu einem blühenden „Kulturfaktor“ der Hansestadt geworden, beglückwünschen ihn Vertreter des Senats. Als einen „Tag glückhafter Ernte“ soll, so sein Sohn Ernst, der „jüdische Dorf junge von einst“, der „Jakob von Tudorf“ seinen Geburtstag empfunden haben.∗ Im Alter von siebzig Jahren besucht Jakob Loewenberg noch einmal Niederntudorf, die Eindrücke hält er in seinem Gedicht „Von ihren Leuten wohnt hier keiner mehr“ fest, er arbeitete weiterhin schriftstellerisch und als Lehrer an seiner ∗
„Lebensbild“, S. 134
„Loewenbergschule“ – bis zuletzt. Jakob Loewenberg stirbt nach einer schweren Grippe am 9.2.1929. Das Ende der deutsch-jüdischen Weggemeinschaft nur vier Jahre später hat er nicht mehr erlebt. Im Beileidsbrief an Jakob Loewenbergs Frau Jenny schreibt der Hamburger Senat: „Ein vorbildlicher Erzieher der Jugend, ein feinsinniger Dichter, ein allzeit gütiger und hilfsbereiter Mensch ist mit ihm dahingegangen. Als hervorragendes Mitglied jenes Kreises von Männern, deren Schaffen um die Jahrhundertwende unsere Vaterstadt zu einem Vorort verantwortungsbewußten, zukunftsweisenden kulturellen Strebens machte, verdankt Hamburg dem teuren Entschlafenen Wirken und Werke, die unvergessen bleiben werden.“∗ Am 13.2.1929 erhält Niederntudorf von Hamburg aus Nachricht vom Tode Jakob Loewenbergs. 1952 wird in Hamburg, 1992 in Niederntudorf eine Straße nach Jakob Loewenberg benannt.
III Jakob Loewenbergs „Aus zwei Quellen“ ist, genau betrachtet, weniger ein Roman, als vielmehr „erzählte Geschichte“. Es ist die Lebensgeschichte eines deutschen Juden, zusammengesetzt aus einzelnen Geschichten, die zumeist authentische Erlebnisse des Autors sind, vom Tod Lennhausens u. a. einmal abgesehen. Geschildert wird ein Stück Vergangenheit, ein Stück, weit vor dem Holocaust gelegen, zu diesem in keiner geschichtsnotwendig ursächlichen Beziehung stehend, wohl aber, so spürt man, zu diesem in einem inneren bedingenden ∗
Ursula Randt, Zur Geschichte des jüdischen Schulwegs in Hamburg (ca. 1780-1942). In: Arno Herzig (Hg.), Die Juden in Hamburg 1590 bis 1990, Hamburg 1991, S. 126
Zusammenhang. Der Roman ist das Portrait eines Stückes unserer eigenen gut 100 Jahre zurückliegenden Vergangenheit, er macht vielleicht das möglich, wovon der Philosoph Karl Jaspers meint, es sei das einzig Mögliche, was getan werden könne: den Menschen „an sich selbst zu erinnern“. So behutsam Jakob Loewenberg bei der Schilderung seiner Kindheit verfährt, so läßt er, gleichermaßen einfühlsam, auch ein Abbild der Zeit danach bis 1892 vor unseren Augen entstehen. Die dargestellten Geschehnisse dienen ihm nicht als Stoff für zeitkritische Analysen, es geht „nur“ um deren Wieder- und Weitergabe, um die unmittelbare, nicht intellektuell bestimmte Reflexion im Spiegel seiner persönlichen Empfindung. Jenseits simpler, politisch gefärbter Parteilichkeit gewinnt das ganze so ein Höchstmaß an Glaubwürdigkeit. Nicht so sehr bloße Gegnerschaft – den alten Antijudaisten wie den neuen Antisemiten gegenüber – ist ihm Richtschnur, sondern der feste Glaube an die Möglichkeiten des Guten im Menschen, an eine gemeinsame Humanität jenseits ethnischer und sonstiger Unterschiede. Hohe Glaubwürdigkeit kommt allen Aussagen zu, die das Leben der Juden in Deutschland in der 2. Hälfte des 19. Jahrhunderts betreffen. In Jakob Loewenbergs Biographie, das gilt auch für die über den Roman hinausgehende Zeit, spiegelt sich das Leben der deutschen Juden beim Übergang in die Moderne wieder. Vieles kann dabei als typisch gelten: der soziale Aufstieg der Juden, das Bildungsstreben, Verlust strenger Gläubigkeit, Abwanderung vom Land in die Städte, vor allem aber das Ringen der Juden um die eigene Identität. In ihrer großen Mehrheit wollten die Juden Deutsche sein, ohne dabei ihren Glauben, ihre jüdische Tradition aufgeben zu müssen. Die 1893 in Berlin als Reaktion auf den neuen, sich völkisch-rassistisch gebärdenden Antisemitismus gegründete Abwehrorganisation zur praktischen Durchsetzung der 1871
erhaltenen vollen rechtlichen Gleichstellung der Juden nannte sich „Centralverein deutscher Staatsbürger jüdischen Glaubens“. Jakob Loewenberg blieb zeitlebens konsequenter Verfechter einer deutsch-jüdischen Doppelidentität. „Die Heimat meiner Seele ruht in beiden. Und wenn ich jemals auf etwas stolz war, so war es darauf: Deutscher und Jude zu sein“.∗ Die Heimat seiner Seele… Nur auf dem Hintergrund der Problematik jüdischer Identitätsfindung ist Jakob Loewenbergs wie auch vieler anderer Juden überaus starke Betonung des Heimatgedankens zu verstehen. „In der Heimatliebe“, schrieb Kurt Tucholsky, wolle er sich von niemand übertreffen lassen – „ nicht einmal von jenen, auf deren Namen das Land grundbuchamtlich eingetragen ist“. Immer wieder im Lauf seines Lebens, zuletzt noch als Siebzigjähriger, kehrte Jakob Loewenberg an den Ort zurück, wo in Kindertagen mit dem Wachsen des Dorfjungen sein Begriff von Heimat mitgewachsen war. „Jakob von Tudorf“ nannten ihn schon die Salzkottener Mitschüler, häufig unterschrieb er so private Briefe; er soll sogar erwogen haben, seine schriftstellerischen Arbeiten unter dem Verfassernamen „Jakob von Tudorf“ drucken zu lassen. Im Roman, in den Erzählungen, in den Gedichten, den Dramen, im gesamten Werk ist die im westfälischen Tudorf erfahrene Heimat als konkreter Natur- und Lebensraum wie auch im ideellen Sinn als Heimat überhaupt wiedererkennbar. Heimat als Heimatliebe und stärker noch als Heimatsuche ist das alles zusammenhaltende Motiv in Jakob Loewenbergs Schriften. Wo darf oder kann ein Mensch zu Hause sein? Diese Frage hat ihm die Feder geführt und, bezogen auf seine Person, in vielen Variationen immer wieder die gleiche Antwort gefunden: in Deutschland als Deutscher und Jude. Zwei Quellen vereint in einer Person, in einem Land. Der Vereinigung der zwei ∗
Jüdisch-liberale Zeitung, 1925, V, 42, zit nach „Lebensbild“, S. 151
Quellen zu einem einzigen Lebensstrom diente sein ganzes Lebenswerk. Die übergroße Mehrheit der heute in Deutschland lebenden Juden, von denen mehr als zwei Drittel erst nach dem Krieg eingewandert sind, versteht sich selbst als Juden in Deutschland. Darunter Marcel Reich-Ranicki, für den Deutschland „portatives Vaterland“ ist; nicht das Land, er ist „gern“ dessen Bürger, sondern die deutsche Literatur und die Musik, die er an jeden Ort der Erde mitnehmen kann, sind sein Zuhause. Eine Minderheit, vornehmlich sind es die jungen Juden, betrachtet sich wieder als deutsche Juden. Juden, scheint es, finden wieder Mut, Deutschland als ihre Heimat ansehen zu können. „Sie sind deutscher Staatsbürger jüdischen Glaubens. Ihre Heimat ist doch Israel. Ist das richtig so?“ Das ist die Frage! Sie wurde im Herbst 1992 von dem Rostocker Kommunalpolitiker Karlheinz Schmidt an Ignatz Bubis, den Vorsitzenden des „Zentralrates der Juden in Deutschland“ gerichtet. Es kam zu einem heftigen Wortwechsel, zu vielen Beteuerungen und Entschuldigungen, zum großen Wirbel in den Medien und zum Rücktritt des Politikers. Kann es wahr sein, daß deutsche Juden ihr Heimatrecht in Deutschland noch heute in Frage gestellt sehen müssen? Die faktische Kompliziertheit der Frage jüdischer Identität wird vollends offenkundig, wenn Ignatz Bubis, der bis in die sechziger Jahre hinein sich als Jude in Deutschland fühlte, der jetzt wie damals Jakob Loewenberg von sich sagt: „Ich bin deutscher Staatsbürger jüdischen Glaubens“, doch in Israel beerdigt sein möchte, weil er „nicht daran denken will“, daß sein „Grab eines Tages geschändet“ werden könnte. Jakob Loewenberg ist in Hamburg beerdigt. In seiner Heimaterde? Jedenfalls mit seiner Erde. In einem Gedicht hatte er den Wunsch geäußert, und so ist es auch geschehen: dem am
9.2.1929 Verstorbenen wurde eine Handvoll Erde aus seinem Stück Gartenland mitgegeben. Ein Stück der Heimat, die Jakob Loewenberg mit der Verbrennung seiner Bücher 1933 und dem Jahrzehnte dauernden Vergessen seines Lebenswerkes genommen worden ist, möchte dieses Buch posthum dem Dichter und Pädagogen zurückerobern.
„Es kann keiner hinaus.“ Nachwort von Karl-Martin Flüter
„Was er äußert, ist mein eigenstes Bekenntnis“.∗ Die Geschichte des Moses Lennhausen ist die Geschichte von Jakob Loewenberg. Zwar gibt es einige Hinzufügungen, einige Kürzungen, doch im Kern bleibt es die Lebensgeschichte Loewenbergs, von der wir in „Aus zwei Quellen“ erfahren. Anfang der 90er Jahre des letzten Jahrhunderts erlebte der Mitdreißiger Loewenberg in Hamburg die glücklichste Zeit seines Lebens. Nach langem Bemühen hatte er eine Stelle als Lehrer gefunden, zu seinem großen Freundeskreis gehörten viele junge aufstrebende Künstler. Die Zeit der Suche war vorbei – Zeit für einen ersten Rückblick auf sein Leben. Dieser Rückblick sollte nicht nur Zusammenfassung sein, sondern auch ein Zeugnis ablegen von der Schwierigkeit, als Deutscher jüdischer Konfession trotz gesetzlicher Gleichstellung ein selbstbestimmtes, „normales“ Leben zu führen. „Wo immer ich mich gemeldet hatte, stand mir der Jude im Weg“∗∗, kommentierte er in seinem Tagebuch die Absagen der preußischen Schulbeamten, bei denen er sich beworben hatte.
∗
Jüdisch-liberale Zeitung, 1925, V, S. 42, zitiert nach Loewenberg, Ernst, Jakob Loewenberg. Le bensbild eines deutschen Juden, in: Jahrbuch für jüdische Geschichte und Literatur 27 (1931), S. 99-151 („Lebensbild“), hier S. 151 ∗∗ Tagebuch, 25.9.1924, zitiert nach „Lebensbild“, S. 151
Doch Loewenberg setzte – wie viele andere selbstbewußte Juden des Kaiserreiches – auf die Zukunft. Es könne nur eine Frage der Zeit sein, so glaubte er, bis sich der Antisemitismus überlebt habe. Der Name des 1893 gegründeten „Centralvereins deutscher Staatsbürger jüdischen Glaubens“ verriet das feste Vertrauen, irgendwann sei es ebenso leicht ein Jude und ein Deutscher zu sein wie ein Katholik und ein Deutscher. Jakob Loewenberg, der ein bekanntes Mitglied des „Centralvereins“ wurde, stellte sein schriftstellerisches Schaffen in den Dienst der gesellschaftlichen Aufgabe, die Diskriminierung der Juden in Deutschland zu beenden. Indem er in seinem autobiographischen Roman von den Entwürdigungen und psychischen Verletzungen des Moses Lennhausen erzählte – die seine eigenen waren –, klagte er an. Die Wiedergabe der glücklichen Kindheit in Niederntudorf mit der, wenn auch brüchigen Harmonie zwischen Juden und Katholiken bewies, daß das soziale Miteinander möglich und ausbaufähig war. Und die Schilderung der Seelenwelt des jungen Moses zeigte, daß das Naturerlebnis, die behütete Kindheit inmitten des dörflichen Lebens in einem jungen Juden dasselbe Heimatgefühl wachsen ließen wie in jedem anderen Kind. Das richtete sich gegen das gängige Vorurteil, Juden seien heimat- und wurzellos. „Aus zwei Quellen“ kann als Versuch verstanden werden, den Leser zu überzeugen: Jemand, dessen Heimatliebe so intensiv war und so ins Detail ging, dem konnte man nicht vorwerfen, er sei wurzellos, eben kein echter Niederntudorfer, Westfale, Deutscher, sondern nur „ein Jude“.
So sind die wichtigsten Motivstränge des Romans eindeutig von Loewenbergs Biographie inspiriert. Das gilt nicht nur für den Lebensweg des Juden, der Lehrer werden will. In
Loewenbergs Lebensgeschichte findet auch die gescheiterte Liebe zwischen Moses Lennhausen und Helene Bergheim ihr Gegenstück, ebenso wie die enge Beziehung zur Mutter und der Tod der Mädchen Threschen und Nelly. Die Niederntudorfer werden noch jetzt, ein Jahrhundert nachdem „Aus zwei Quellen“ entstand, ihr Dorf wiedererkennen: die plattdeutschen Namen alteingesessener Familien, die Landschaft rund um die Ahne, „das weite Tal und das kleine Dorf“ (S. 84), den Schulweg des kleinen Moses. Wie Lennhausen wurde Loewenberg in einem Seminar in Münster zum Lehrer ausgebildet, trat er die erste Lehrerstelle in einem kleinen Ort im Sauerland an, lebte er in London, studierte er in einer alten traditionsbewußten Universitätsstadt. Allerdings geht Moses Lennhausen anders als Loewenberg, der sich als Autodidakt bis zur Promotion (über Schillers „Don Carlos“) durchkämpfte, den „einfachen Weg“ über Abitur und Universität. Auch Loewenberg war einer der Helfer, die 1892 gegen die Choleraepidemie in Hamburg kämpften. Bei der Schilderung der schlechten Wohn- und Lebensverhältnisse im proletarischen Hamburg konnte er auf eigene Erfahrungen zurückgreifen, hatte er doch einige Zeit in der Nähe des Hafens in einem der Elendsviertel gewohnt. Den Namen Lennhausen nahm Loewenberg vom Geburtsort seiner Schwiegermutter. Diese, eine talentierte Erzählerin, scheint Loewenberg zu mehreren Episoden in dem Roman angeregt zu haben. Nur weniges ist voll und ganz erfunden. Ernst Loewenberg, der Sohn Jakob Loewenbergs, hat aufgelistet, was im Roman nicht dem tatsächlich Geschehenen entspricht: Reifeprüfung, Probejahr, Zurückberufung aus England, die Schulratsszene und die Schilderung vom Tod der Mutter.
Die Mutter spielt im Roman wie im wirklichen Leben Loewenbergs eine wichtige Rolle. Zu ihr, Friederike (Friedchen) Loewenberg, hatte der Schriftsteller zeit seines Lebens eine enge Beziehung. Sie ging, wie später im Roman Lennhausens Mutter, nach dem Tod ihres Mannes als Händlerin über die Dörfer und lernte ebenfalls erst im Alter das Schreiben. Dem Vater, Levi Loewenberg, hat der Autor im Roman den Namen „Nathan“ gegeben – den Vornamen seines Großvaters. Der hart arbeitende, aber nicht gut verdienende Kleinhändler, Vorsteher der kleinen jüdischen Niederntudorfer Gemeinde, wird im Roman wie in Tagebuchnotizen mit einer Mischung aus Respekt, Mitgefühl und Trauer beschrieben; zwischen Vater und Sohn scheint nie das vertraute Verhältnis bestanden zu haben wie zwischen Mutter und Sohn. Da wankt zuerst ein alter Mann daher, Gebückt am Stock, bepackt mit schwerem Bündel, Die Stirn durchfurcht von tiefen Sorgenfalten, Mein Vater!…∗ Die Familie Loewenberg lebte in einem Haus am Matthäusring. Aus den Fenstern konnten die Kinder, wie es in „Aus zwei Quellen“ heißt, auf die „neue, große Kirche“ (S. 5) schauen. Während Moses im Roman nur einen Bruder hat, Ascher, gebar Friederike Loewenberg zehn Kinder. Ernst Loewenberg vermutet, daß sein Vater im Roman die Kinderzahl bewußt klein gehalten habe. Nach dem frühen Tod Aschers und des Vaters bleiben nur die Mutter und Moses zurück – eine Konstellation, die es dem Autor erlaubte, die Beziehung zwischen Mutter und Sohn besonders eng zu gestalten. Neben seiner Mutter hat Loewenberg in dem Roman ein weiteres Mitglied der Familie hervorgehoben. In den Gestalten von Threschen und Nelly setzte er seiner früh ∗
Zitiert aus dem Gedicht „Auf einem alten Weg“ aus dem Band „Aus jüdischer Seele“, Hamburg 1901
verstorbenen Lieblingsschwester Julie ein literarisches Denkmal. Ein zentrales Motiv des Romans ist die Liebesgeschichte zwischen Moses Lennhausen und Helene Bergheim. Mit ihr hat Loewenberg auf kunstvolle Weise die oft unvermittelt nebeneinander stehenden Episoden verknüpft. Denn Helene ist die Tochter von Henriette Bergheim, der Frau, die der Lehrer Stein unglücklich liebte. Stein wiederum ist der Mann, der eine wichtige Rolle in Moses’ Leben spielt und so etwas wie ein Vorbild für den kleinen Lennhausen wird. Gelehrt, aber arm; ein guter Pädagoge, aber ein einsamer Mensch; alles das ist Stein nicht zuletzt geworden (und wird Moses Lennhausen im Laufe des Romans werden), weil ihn die nicht erfüllte Liebe aus der Bahn warf. Die Liebe zwischen Helene und Moses – sie lernen sich an den Gräbern von Henriette Bergheim und des Lehrers kennen – wiederholt die Geschichte. Die Liebe endet wie beim ersten Male unglücklich: eine Doppelung der Tragödie, in deren Mittelpunkt der jüdische Geschäftsmann Bergheim steht, der Mann von Henriette. Seiner Härte und seinem Geschäftssinn können die beiden idealistischen Kopfmenschen Stein und Lennhausen wenig entgegensetzen. „Im Hintergrunde steht eine unglückliche oder vielmehr ungetreue Jugendliebe… Ein Mädchen, das mehr der Stimme der Eltern als der Liebe folgt“∗, schrieb Loewenberg über seine unglückliche Liebesbeziehung. Die Trennung muß eine traumatische Wirkung auf Loewenberg gehabt haben – ein Verlust, den er schreibend bewältigte. Doch die Ereignisse um den Lehrer Stein, Moses, Henriette und Helene Bergheim sind nicht nur tragisch, sie transportieren auch eine aufrührerische Botschaft: Es ist besser, den Gefühlen mehr zu folgen als den (jüdischen) Konventionen. „… es ist ∗
Brief an Ernst Loewenberg, 1918, „Lebensbild“, S. 117
wie ein Fluch“, kommentiert der Lehrer, „der auf unsern Kindern ruht, ein Fluch aus der Nomadenzeit, aus dem Ghettoleben: So lang die Eltern leben, haben die Kinder keinen eigenen Willen. Verflucht sei dieser Fluch.“ (S. 29)
Die Sympathie für Außenseiter, das Verständnis für ein Gegen-die-Regeln-leben durchzieht „Aus zwei Quellen“. Vermutlich ist es Loewenbergs eigene Situation gewesen, als Jude ausgegrenzt zu sein, die dieses Mitgefühl für den Lehrer Stein, Schmuel Musikant, den langen Gottschlek und Claus Martens erzeugte. Sie alle sind Außenseiter, seltsame Käuze, „Spökenkieker“ – in jedem Fall aber Individualisten. Und sie alle sind Künstler: ob nun als Pädagoge, Geschichtenerzähler, Musiker. Lebenskünstler sind sie ohnehin: verkrachte Existenzen oder „Schlemihls“ – wie der Lehrer Stein sich selbst nennt – in den Augen der Dorfbewohner und Bürger, denn so groß ihre Kreativität ist, so leer sind ihre Taschen. Es gibt etwas, das die materielle Armut aufhebt: geistige Stärke und Solidarität. Solidarität ist ein Grundprinzip der jüdischen Gemeinde in Niederntudorf. Die polnischen „Schnorrer“ finden in der Familie Lennhausen wie in allen anderen jüdischen Familien des Ortes stets Unterstützung. Ihre Anwesenheit bietet die Gelegenheit, „Wohltätigkeit zu üben“. Besonders gern aber kommen die Dorfbewohner diesem Gebot nach, wenn sie dafür eine Gegenleistung bekommen, und die kann auch immaterieller Natur sein. Wenn der „Schnorrer“ einen religiösen Vortrag halten kann oder gar Geschichtenerzähler ist wie der lange Gottschlek, dann wird aus dem Nehmer ein Geber. Wie ein Erlöser kommt der Lehrer Stein zu Beginn des Buches in das Dorf: „Mit einem Eselskarren hatte man seine Sachen holen lassen: einen Koffer mit Kleidern, eine Kiste
Bücher und ein Bett. Er selber kam langsam hinterhergeschritten. Stock und Schirm in der einen Hand, die lange Pfeife in der anderen. So zieht die Weisheit hinter den Eseln her ins Land“ (S. 7). Loewenberg ließ es in der Beschreibung seiner Antihelden nicht an ironischer Sympathie fehlen. Er verzichtete auch nicht auf die Melancholie: der Tod des Lehrers, Schmuel Musikant, der mit der Geige im Arm stirbt – einsam sind sie auf ihre Art alle. „Es hat ihm niemand nachgetrauert“ (S. 44), heißt es lakonisch über Tod und Beerdigung des Dorfmusikers. Auch als Pädagoge war Loewenberg wie sein literarisches Gegenüber Lennhausen jemand, der die kreative Unruhe, das Unordentliche liebte. Kinder, die alles wissen, aber nichts gelernt und nichts erlebt haben, das ist nicht sein Ziel als Pädagoge – auch wenn sich Lennhausen den Anforderungen des Direktors unterwerfen muß: „Keine Allotria, lieber Herr Doktor, das Pensum, das Pensum!“ (S. 108) Loewenberg war immer zuerst Lehrer, dann erst Schriftsteller. „Aus zwei Quellen“ ist zwei Pädagogen und Freunden gewidmet, Meier Spanier, Vorkämpfer für künstlerische Erziehung, und Fritz von Borstel, „Führer der Hamburger Lehrerschaft im Kampf um die pädagogische Reform“. ∗ So ist der Roman auch ein pädagogisches Glaubensbekenntnis. Angefangen mit der bewundernden Beschreibimg des Lehrers Stein über die genauen Beobachtungen im münsterischen Seminar und in der Universität, von den eigenen Erfahrungen als Lehrer bis zur Beschreibung des „seltsamen Schulzimmers“ von Claus Martens, in dem es „surrte und schwirrte wie um einem Bienenstock“. (S. 130) Jakob Loewenberg hielt ein Plädoyer für die Reformpädagogik in der Nachfolge von Pestalozzi, und das war Ende vergangenen Jahrhunderts sehr fortschrittlich. ∗
„Lebensbild“, S. 127
Die pädagogische Beobachtung beschränkt sich nicht auf das Klassenzimmer. Vor allem in den ersten Kapiteln traf Loewenberg Feststellungen über die kindliche Seele und ergriff, in der Sache genau, Partei für Kinder. Der Dichter und Lehrer beendete die Beschreibung des ersten Schultages von Moses gleichsam mit einem Seufzer: „Sie hat meine Hand seit der Zeit nicht mehr losgelassen, die Frau Sorge“. (S. 17)
„Aus zwei Quellen“ ist in seinem ersten Drittel auf die enge Welt Niederntudorfs eingeschränkt, auf „das weite Tal und das kleine Dorf“. (S. 86) Nur einmal verläßt Moses für kurze Zeit den Wohnort. Die Exkursion in die fremde Welt des LiboriVolksfestes schildert Loewenberg durchgehend aus der Perspektive des Kindes. Die Kirmes und die Stadt Paderborn erscheinen als eine bunte, staunenswerte und unbegreifliche Welt, aus der es abends wieder zurück ins heimatliche vertraute Niederntudorf geht. Der Roman profitiert von der Begrenzung. Alltäglichkeiten, Kleinigkeiten, Selbstverständliches werden in dem selbstgesteckten engen Rahmen wichtig, das Detail gewinnt an Bedeutung. Der Anspruch, vollständig und wirklichkeitsgetreu die sozialen Beziehungen literarisch nachzubilden, kann, so scheint es, eingelöst werden. Zudem bleibt die Übersichtlichkeit gewahrt, Ursache und Wirkung stehen in einem erkennbaren Zusammenhang. So eine Welt eignet sich gut als Modell, an dem sich aufzeigen läßt, woran es der großen Welt, der unüberschaubaren, gebricht. „Erscheinen auch die Ereignisse, die sich hier zutragen, klein und unbedeutend, so stehen doch die Menschen, die sie erleben, unmittelbar an ihrer Quelle, stehen da, wo der Stein ins Wasser geworfen wird, und wenn auch nur kleine, aber tiefe
Wellenkreise zieht“ (S. 62), schreibt Loewenberg zu Beginn des „Gottschlek“-Kapitels. Die Begrenzung auf die Dorf-Welt hat in der Literatur des 19. Jahrhunderts eine lange Tradition. Loewenberg nannte die literarischen Wegbereiter in seinem Roman. Moses liest dem Lehrer aus Auerbachs „Neuem Leben“ und Gotthelfs „Ulli, der Knecht“ vor. Berthold Auerbach (1812 – 1882) und Jeremias Gotthelf (1799 – 1854) stehen am Beginn des „Dorfromans“ oder der „Dorfgeschichte“, Heimatliteratur, die durch die Begrenzung aufs ländliche Leben indirekt die Folgen der aufkommenden Verstädterung kritisierte. Auerbach, der als der eigentliche Begründer des Genres gilt, wuchs als Jude in einem Schwarzwalddorf auf. Er wurde wie Loewenberg von der Erfahrung geprägt, daß Landjuden und katholische Bauern verträglich zusammenlebten. Für Auerbach – auch darin gleicht ihm später Loewenberg – wurde die Erinnerung an die Kindheit zu einem wegweisenden Modell deutsch-jüdischer Harmonie.
Die Welt aus der Perspektive der kleinen Leute wiederzugeben, das war seit etwa 1880 auch die Forderung einiger Literaturpublizisten und Schriftsteller vor allem in Berlin und München. Nach ihren literarischen Vorbildern aus Frankreich nannten sie sich Naturalisten; sie selbst bezeichneten sich als Vertreter eines „Realismus in Angriffsstellung“. In der Beschreibung moralischen und wirtschaftlichen Elends, von Krankheit, Armut, Laster und Verbrechen prangerten sie die Gleichgültigkeit und Doppelmoral der bürgerlichen Gesellschaft an. Die „Literarische Gesellschaft“, die Jakob Loewenberg zusammen mit Otto Ernst, Gustav Falke und anderen 1892 in Hamburg gründete, hatte sich den Zielen des Naturalismus
verschrieben. In Hamburg mußten die Schriftsteller nicht lange suchen, um ihre Themen zu finden. Wie in den anderen schnellwachsenden Großstädten lagen die sozialen Mißstände offen zutage. Doch wie das Volk literarisch zu Wort kommen lassen? Ein Stilmittel der „Neo-Realisten“ war die Sprache. Nicht mehr die Hochsprache sollte ausschließlich als literarisch verwertbar gelten, auch die Sprache des Volkes sollte zu ihrem Recht kommen. Die plattdeutschen Dialoge und jiddischen Wörter in „Aus zwei Quellen“ stehen in dieser Tradition und sind ein Bekenntnis Loewenbergs zu den „kleinen Leuten“ auf dem Lande. Indem er sie sprechen läßt, bestimmte Loewenberg den gesellschaftlichen Standort seiner Romanfiguren. Die Bauern reden plattdeutsch, der Lehrer und der Arzt hochdeutsch. Die Juden richten sich nach ihren Gesprächspartnern. Mit den katholischen Kindern im Dorf spricht Moses Dialekt; wenn ihn jemand hochdeutsch anspricht, antwortet er ebenso. Die Juden im Dorf sprechen, wenn sie unter sich sind, hochdeutsch, in das sie jiddische Wörter einflechten. Schon die jüdischen Kinder gehen mit diesen ständigen Wechseln geschickt um. Der kleine Moses wechselt manchmal während eines Dialogs mehrfach von Hochdeutsch zu Platt und zurück. Doch die Sprache kann nicht an- und ausgezogen werden wie Kleidung. Sie ist auch Ausdruck der seelischen Befindlichkeit. Jemand wie der „verrückte“ Schmuel Musikant wechselt die Sprache je nach seelischer und körperlicher Verfassung: Platt, wenn er betrunken ist und zufrieden, Hochdeutsch, wenn er nüchtern ist und sich nicht wohl fühlt. Die Dialoge stellen Unmittelbarkeit zwischen dem Erzählten und dem Leser her – eine Wirkung, die Loewenberg noch steigerte, indem er die Erzählperspektive wechselte. Im ersten Drittel des Romans, in der Beschreibung Niederntudorfs,
wechselt die Erzählung häufig vom Präteritum ins Präsens. Erlebnisse, Gedanken und Gefühle werden aus der Perspektive der Hauptfigur geschildert. Die Leser sehen die Welt plötzlich mit Moses’ Augen. Mehrere Kapitel sind durchgängig so geschrieben, etwa „Der erste Schultag“. Die Ängste und Verwirrungen des Jungen in der ungewohnten Umgebung werden wiedergegeben, als hätte ein Tonband die äußeren wie die inneren psychischen Ereignisse präzise festgehalten. Dazwischen streute der Autor nachdenkliche, das Geschehen kommentierende, mitunter auch belehrende Einschübe – und entsprach damit der Forderung Auerbachs, man müsse die Dorfgeschichten so schreiben, wie die Geschichtenerzähler früher ihre Zuhörer unterhalten hätten: die erzählten Ereignisse mit manch guter Lehre versetzt, so daß die Moral nicht zu kurz kommt. Im Laufe des Romans wird das Präsens immer seltener, die konventionelle Erzählweise bleibt im Präteritum. Erst gegen Ende, mit der Ankunft Lennhausens in Hamburg, gewinnt die Handlung wieder an Tempo. Die Präsens-Einschübe sind jetzt häufiger und verstärken den Eindruck, das Geschehen beschleunige sich. Dieser erneute formale Bruch wird im Roman erklärt. Lennhausen, der fiktionale Ich-Erzähler, muß mit seiner Ansteckung rechnen und schreibt angesichts des um ihn herrschenden Todes in einem gehetzten, deshalb ungekünstelt wirkenden, und sehr emotionalen Stil. Erst zuletzt erfahren wir, daß es sich um Tagebuch-Notizen handelt. Die Vermutung liegt nahe, daß „Aus zwei Quellen“ in mehreren Arbeitsstufen entstand, die den jeweils verschiedenen Erzähltechniken entsprechen. Bestärkt wird diese Einschätzung durch die Tatsache, daß den formalen Wechseln jeweils andere Stoffe zugeordnet werden können. Zuerst ist es das Dorfgeschehen, dann folgt die Tragödie um
Liebe und Beruf, zuletzt steht die Cholera in Hamburg im Mittelpunkt der Erzählung. Die einzelnen Teile hat der Autor nur locker verknüpft. So kann der Eindruck entstehen, Loewenberg habe alles oder doch das ihm Wichtigste in den Roman packen wollen und darüber den inneren Zusammenhalt vernachlässigt: Niederntudorf, das Leben als jüdischer Deutscher, Helene, Hamburg. Zu jedem dieser Komplexe gibt es auch andere literarische Arbeiten Loewenbergs. Hier ist nicht der Ort zu klären, in welchem Verhältnis diese Arbeiten zum Roman stehen. Doch „Aus zwei Quellen“ wirkt zeitweilig wie der Versuch, die Ergebnisse verschiedener literarischer Beschäftigungen unter dem Titel eines Romans als Paket anzubieten. Der lockere Zusammenhalt dieser Bestandteile war allein schon durch die Hauptfigur des Werks gewährleistet.
War Loewenberg ein „typisch“ jüdischer Autor seiner Zeit? Die Antwort lautet Ja, auch wenn die Begründung dafür paradox scheint. Denn das „Typische“ am „jüdischen Schriftsteller“ Loewenberg war einerseits seine glühende Liebe fiir Deutschland, andererseits aber war es ein Gefühl, das er mit vielen anderen Juden, nicht nur Autoren, teilte: der „jüdische Selbsthaß“. Die Liebe zur deutschen Nation hat Loewenberg trotz aller Enttäuschungen nie aufgegeben. Selbst als Mitglied des revolutionären Hamburger Lehrerrates nach der „Revolution“ von 1918 verlor er den Glauben an Deutschland nicht. Zwar habe der Nationalismus versagt, gestand er in einem Brief an seinen Sohn∗, doch im Sozialismus sei Hoffnung. Wenn der 7 ∗ Loewenberg, Ernst: Jakob Loewenberg. Excerpts from his Diaries and Letters, in: Yearbook of the Leo Baeck Institute 15 (1970), S. 241-310, hier S. 300
deutsche Staat den Sozialismus übernehme, könne er allen Nationen den Weg weisen – was nichts anderes war als eine Variation der alten Losung „Am deutschen Wesen wird die Welt genesen“. In der Rolle des konservativen Nationalisten war Loewenberg ein Beispiel für das Verhalten weiter jüdischer Kreise: „Deutschlands Juden waren völlig mit der deutschen Kultur verwoben, und Deutschland färbte seine Juden durch und durch. Sie trugen seine Farben – schwarz, weiß, rot – ohne Entschuldigung, sogar mit Stolz. Es war keine Tarnfärbung, sondern ihre eigene. Jedenfalls glaubten sie das.“∗ Das Wort vom „jüdischen Selbsthaß“ war schon zu Lebzeiten Loewenbergs ein feststehender Begriff. Der Publizist Theodor Lessing – selbst ein Jude – hatte ein Buch über dieses Phänomen verfaßt. Der Begriff meint das Gefühl des PeinlichBerührtseins, das Juden ergriff, wenn sie Zeugen eines Verhaltens waren, das sie für typisch „jüdisch“ hielten, etwa bei der Abwicklung von Geschäften. Besonders betroffen von diesem „selektiven ∗∗ Antisemitismus“ waren die eingewanderten Ostjuden. Sie traf die Ablehnung der deutschen Juden mit voller Wucht: „Dies gestatte es den deutschen Juden, im Verein mit anderen Deutschen, jüngere jüdische Einwohner zu verachten, nichts verbindet schließlich so sehr wie ein gemeinsamer Feind… durch den Haß auf den Außenseiter wurde der Selbsthaß auf andere Ziele umgelenkt.“∗∗∗
∗
Gay, Peter: Begegnung mit der Moderne – Deutsche Juden in der deutschen Kultur, in: Mosse, Werner E. und Arnold Paucker, Juden im Wilhelminischen Deutschland 1890-1914, Tübin gen 1976, S. 241 – 310, hier S. 300 ∗∗ Gay, S. 292 ∗∗∗ Gay, S. 292
Anders als die Mehrzahl der jüdischen Autoren und Publizisten grenzte Loewenberg die osteuropäischen Juden nicht aus. Die polnischen „Schnorrer“ in „Aus zwei Quellen“ haben nicht nur die Sympathie des Verfassers, sie erfahren auch die Solidarität der jüdischen Einwohner Niederntudorfs. Zwar schämen sich die Juden des Dorfes ein wenig für ihre abgerissenen und bettelnden Glaubensbrüder – doch von Ausgrenzung ist nichts zu spüren. Ein anderes Feindbild pflegte Loewenberg durchaus: die negative Figur des harten jüdischen Geschäftsmannes, der die antisemitischen Vorurteile vom jüdischen Wucherer bestätigte. „Es klebt Schande an dem Vermögen ihres Vaters. Die Spatzen pfeifen es von den Dächern, er habe seinen Reichtum erwuchert Er habe ihn mit den Tränen Unglücklicher erworben… Ich verachte ihn“ (S. 156), so urteilt Moses Lennhausen über Helenes Vater Wolff Bergheim. Diese Negativbeschreibung gewinnt an Gewicht, weil Loewenberg sie mit dem bereits geschilderten zentralen Konflikt des Romans verknüpfte, der unglücklichen Liebesgeschichte zwischen Helene und Moses, die die Wiederholung der gescheiterten Liebe zwischen Helenes Mutter und dem Lehrer Stein ist. Beide Beziehungen scheitern an Wolff Bergheim, seinem Einfluß und seinem Reichtum. Loewenberg macht hier eine Ungleichung auf: Seele und Geist auf der einen Seite und Geschäft und Geld auf der anderen vertragen sich nicht. Während die jüdische Tradition und die historischen Erfahrungen der Juden im Sinne der gesellschaftlichen Verbesserung wirken können, kann jüdischer Geschäftssinn abschreckend, unmoralisch und sogar zerstörerisch sein. Der Schulleiter Loewenberg schrieb in sein Tagebuch: „Geschäft! Geschäft! Das klingt mir nun fortwährend in den Ohren. Die Schule ein Geschäft. Und ich
habe keine Spur von Geschäftsmann in mir, keine Spur. Muß ichs doch werden, auch wenn es mich noch so sehr anekelt?“
Ein Leben zwischen den Fronten. Der stolze Jude, fortschrittliche Lehrer, heimatbewußte Dichter Jakob Loewenberg war den antisemitischen Deutschen zu jüdisch; in den Augen der Zionisten jedoch fehlte es ihm an der richtigen jüdischen Einstellung. Das „deutsch-jüdische Wollen“∗ Loewenbergs stieß bei der zionistischen Literaturkritik auf scharfe Ablehnung. Schon der Gedichtband „Lieder eines Semiten“ hatte negative Urteile hervorgerufen, Loewenberg fehle es an der „Glut jüdischen Empfindens“. ∗∗ Wesentlich schärfer noch äußerten sich die Kritiker aus diesem Lager über den Roman „Aus zwei Quellen“. Über die Hauptfigur Moses Lennhausen und indirekt damit auch über den Verfasser heißt es in einer Rezension: „Denn einem, der nicht auf die Ehre verzichten kann, ein deutscher Lehrer zu heißen und deutsche Kultur zu machen, der aber auch als Jude seiner Menschenwürde nichts vergeben will, bei dem es so stark aus beiden Quellen strömt, dem kann sich das Leben nicht voll erschließen, er geht in jenen Wellen unter, wenn er nicht hüben und drüben verzichten kann.“∗∗∗ Loewenberg wollte nicht auf hüben und drüben verzichten. Eine der wenigen Gelegenheiten, bei denen er sich öffentlich zu diesem Thema äußerte, war die „Kunstwart-Debatte“ 1912. ∗
Shedletzky, Itta, Ludwig Jacobowsky (1868 -1900) und Jakob Loewenberg (1856-1929). Li terarisches Leben und Schaffen aus „deutscher und jüdische Seele“, in: Moses, Stephane und Al brecht Schöne: Juden in der Deutschen Literatur. Ein deutsch-israelisches Symposium, Frankfurt a. M. 1986, S. 194 – 209, hier S. 194 ∗∗ Zit. nach Shedletzky, S. 199 ∗∗∗ Jüdische Rundschau 19 (1914), Nr. 30, S. 324
Der Publizist Moritz Goldstein hatte in der nationalkonservativen Zeitschrift „Kunstwart“ einen Aufsatz veröffentlicht, in dem er gegen die – wie er meinte – allgemeine Neigung der Juden polemisierte, sich bedingungslos zu assimilieren. Die Toleranz der Deutschen sei nur eine scheinbare, die Juden müßten sich auf sich selbst besinnen. Die im „Kunstwart“ veröffentlichte Stellungnahme Loewenbergs ist ein Bekenntnis zu Deutschland und zum Judentum. Der Zionismus könne zwar eine Lösung für die unterdrückten russischen Juden sein, schrieb er, für die deutschen Juden sei er nicht einmal ein „Linderungsmittel“. „Wir haben uns unser Vaterland unter schweren Kämpfen, mit mehr Blut und Schweiß errungen als unsere Vorfahren ihr gelobtes Land, wir wohnen auf seinem Boden seit mehr als einem Jahrtausend… hier ruhen unsere Toten, und hier ist die Heimat unserer Seele. Wir sind Deutsche, und wir wollen es bleiben. Wir lieben unser Vaterland mit aller Kraft unsres schwergeprüften Herzens, und wenn Goldstein sagt, es ist eine unglückliche Liebe und eines Mannes unwürdig, so erwidern wir mit Goethe: ‘Wenn ich dich liebe, was geht es dich an.’… Daß wir dabei unsere Väter nicht vergessen, daß wir uns stolz und frei als Juden bekennen, ist selbstverständlich.“∗
Moses Lennhausen muß sterben, um in die Gemeinschaft der Deutschen aufgenommen zu werden. Als die Choleraepidemie einsetzt, liegt sein Leben in Trümmern, seine privaten und beruflichen Perspektiven sind zerstört, weil er Jude ist; es bleibt nur noch die Emigration oder der Freitod. In der ∗
Der Kunstwart 25 (1912), Heft 22, S. 248 ff
Notgemeinschaft der durch die Cholera Bedrohten jedoch sind plötzlich alle gleich; der Verdienst des Einzelnen für die Gemeinschaft zählt mehr als die Herkunft. Das ist die letzte Chance für Moses Lennhausen. Die gefährliche Arbeit als Helfer gibt ihm endlich das ersehnte Gefühl: „Du wirkst für ein Ganzes, du gehörst zum Ganzen“. (S. 189) Moses Lennhausen gibt alles, er opfert sein Leben für die anderen wie der Soldat „auf Posten“ vor dem Feind. Welch größeren Beweis könnte er liefern für das Recht, ein Deutscher zu sein: „Aber was hätte Moses Lennhausen noch mehr werden können, als was er geworden war? Wodurch sein ganzes Wesen besser bestätigen können als durch sein letztes Tun?“∗ hat Loewenberg den abrupten Schluß des Romans kommentiert. Lennhausen, so muß der Leser vermuten, wird in dem Gefühl gestorben sein, daß die folgenden Generationen von jüdischen Deutschen auf sein Opfer weisen und ihre Rechte einklagen können. Mehr ist nicht möglich angesichts der Mauer, die die Gesellschaft gegen die jüdischen Mitbürger aufgebaut hat. So vereint der Schluß des Romans Resignation und Hoffnung auf die Zukunft. Doch die Geschichte hat die Hoffnungen Lennhausens und Loewenbergs widerlegt. Loewenbergs Werk ist vergessen. Daran ändern auch die Benennungen zweier Straßen in Hamburg und Niederntudorf nichts. Seine Bücher brannten 1933 auf den Scheiterhaufen, die die Nazis für die verfemte Literatur errichteten. Nur weniges ist über ihn erschienen. Sein Sohn Ernst ordnete den literarischen Nachlaß des Vaters und veröffentlichte mehrere Aufsätze. Sie erregten kein weiteres Aufsehen. In einer 1986 erschienenen Untersuchung verglich Itta Shedletzky das Werk von Jakob Loewenberg mit dem von Ludwig Jacobowsky. Theo Hamacher erinnerte in einem Artikel der „Warte“ an den ∗
Tagebuch, zitiert nach „Lebensbild“, S. 116
Heimatschriftsteller. Hin und wieder erscheint eines seiner Gedichte in einer Anthologie. Doch wer Bücher von ihm erwerben will, muß dies antiquarisch versuchen. Das vorliegende Buch ist die erste Wiederveröffentlichung. In den meisten modernen Literaturlexika ist Loewenberg aufgeführt, doch noch immer geschehen Fehler wie im „Neuen Lexikon des Judentums“, das „Lieder eines Semiten“, „Aus jüdischer Seele“ und „Kämpfen und Bauen“ als drei verschiedene Bücher ausgibt, obwohl die beiden letztgenannten Bände fast identisch sind und die Gedichte aus „Lieder eines Antisemiten“ enthalten. Loewenberg hatte nur den Titel von Mal zu Mal geändert. „Die Einen werfen mir vor, daß ich ein Jude sei, die Anderen verzeihen es mir, aber alle denken daran. Sie sind gebannt in diesem magischen Judenkreise, es kann keiner hinaus.“∗ Auch Loewenberg entkam diesem „magischen Judenkreis“ nicht. Und die Generationen, von denen er hoffte, daß sie es schaffen könnten, sind ausgerottet als wären sie Ungeziefer – von Mördern aus dem Volk, dem Loewenbergs Liebe galt. Der Antisemitismus lebt immer noch in Jakob Loewenbergs Heimat. Loewenbergs Utopie vom Deutschland, das auch seinen jüdischen Bürgern eine unangefochtene Heimat ist, scheint niemals mehr realisiert werden zu können. Nicht der Idealismus eines Loewenberg, sondern der Pessimismus eines Heinrich Heine hat recht behalten. Schon Jahrzehnte vor Loewenberg dichtete der Jude Heine einen Abgesang auf seine Heimat; heute wirken die nüchternen Verse wie eine vorweggenommene Antwort auf Loewenbergs hoffnungsvollen Patriotismus.
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Börne, Ludwig, Gesammelte Schriften. Neu bearbeitet und herausgegeben von Inge und Peter Rippmann, Düsseldorf 1964, Bd. 3, S. 511, hier S. 43
„Ich hatte einst ein schönes Vaterland Der Eichenbaum Wuchs dort so hoch, die Veilchen nickten sanft Es war ein Traum.“∗
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Heine, Heinrich: Neue Gedichte, in: Heine Werke. Hg. und kommentiert von Stuart Allans unter Mitwirkung von Oliver Boeck, München 1977, Bd. 2, S. 504