Seewölfe 754 1
Davis J.Harbord
Zwei Lumpenkerle
Er hieß Robinson und war Engländer. Die Crew des schwarzen Viermaster...
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Seewölfe 754 1
Davis J.Harbord
Zwei Lumpenkerle
Er hieß Robinson und war Engländer. Die Crew des schwarzen Viermasters unter ihrem Kapitän Thorfin Njal hatte ihm allerdings einen anderen Namen gegeben, nämlich Muddy, und das war bezeichnend für diesen Mann. Er liebte weder Wasser noch Seife, und Reinlichkeit war für ihn ein Fremdwort. Zur Zeit saß er zwei Wochen harten Arrest in der Vorpiek des Viermasters ab. Zu dieser Strafe hatte ihn Kapitän Njal verdonnert, weil er als Ankerposten während der Mittelwache geschlafen hatte. Muddy war weit davon entfernt, Einsichten zu haben –zum Beispiel die, daß ein Gegnerin den Stützpunkt der Korsaren an der Cherokee-Bucht eindringen konnte, wenn ein Mann auf Wache schlief. Er fühlte sich zu Unrecht bestraft und hatte in den zwei Wochen, in denen er in sich gehen sollte, nichts Besseres zu tun, als etwas ganz Übles auszubrüten... Die Hauptpersonen des Romans: Robinson – genannt Muddy, büßt zwei Wochen harten Arrest in de Vorpiek des Schwarzen Seglers ab, aber ob er geläutert ist, scheint fraglich. Mißjöh Buveur – wer ihn zum Saufen einlädt, der ist sein Kumpel – und sollte es der Teufel persönlich sein. Thorfin Njal – der Wikinger verabscheut die neunschwänzige Katze, aber dann ergreift er sie doch. Barry Winston – entdeckt morgens nach vier Uhr, daß der Ankerposten verschwunden ist, und schlägt Alarm. Edwin Shane – genannt Eddy; der fünfjährige Sohn der O'Flynns erlebt eine böse Überraschung, aber die wirft ihn nicht um.
1. Cherokee-Bucht an der Ostküste der Bahamainsel Great Abaco, 15. April 1600. Am Morgen dieses Tages hatte Muddy seine vierzehn Tage harten Arrest hinter sich gebracht. Harter Arrest bedeutete, daß er nur mit Wasser und Brot verpflegt worden war. Und er hatte eine halbe Stunde lang jeden Tag frische Luft an Deck des Viermasters schnappen dürfen. In dieser Zeit an Deck hatte man ihn zwar im Auge behalten, aber niemand hatte mit ihm gesprochen. Man mied seine Nähe, denn er stank mal wieder. Das Sprechverbot hatte der Wikinger angeordnet, aber im Grunde erübrigte sich das, denn über was sollte man sich schon mit einem Kerl unterhalten, der die Muffigkeit in Person war. An diesem Morgen nun hatte die Crew des Schwarzen Seglers auf der Kuhl eine hölzerne Waschbalje bereitgestellt. Dazu
gehörten Schmierseife und verschiedene Wurzelbürsten. Auch das hatte Thorfin Njal, der Wikinger, befohlen. Er meinte in einem Anflug von Optimismus, Muddy würde beim Anblick der Reinigungsutensilien von selbst endlich einmal die glorreiche Idee haben, sich einer gründlichen Körperwäsche zu unterziehen. Das wäre, so hatte der Wikinger erklärt, bei Muddy dann immerhin als ein äußeres Zeichen der Läuterung zu betrachten. Bei dieser hoffnungsfrohen Ansicht vergaß Thorfin Njal offenbar, daß die vielen gewaltsamen Reinigungskuren, welche die Crew dem Schmierlappen hatte angedeihen lassen, für die Katz gewesen waren. Einen eigenen Drang zur Sauberkeit hatten sie bei Muddy jedenfalls nicht hervorgebracht. Einige aus der Wikinger-Crew unkten bereits, dieses Ferkel lege es darauf an, von der Mannschaft abgeschrubbt zu werden,
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weil er selbst zu faul sei, diese Prozedur vorzunehmen. Sei dem, wie es wolle – an diesem sonnigen Morgen entriegelte der BostonMann das Schott zur Vorpiek, um Muddy zu verkünden, daß die zwei Wochen Arrest abgesessen seien. Der Boston-Mann – er stammte aus Boston in England, und sein richtiger Name war nicht bekannt – redete nie viel und war eher als schweigsam zu bezeichnen. Arrestanten pflegten in der Regel die Stunde ihrer Entlassung voller Ungeduld zu erwarten und schon bereitzustehen, um so schnell wie möglich ihren tristen Gewahrsam hinter sich zu lassen. Nicht so Muddy. Der schnarchte weiter, obwohl ihn das Entriegeln und Knarren des Schotts hätte hochscheuchen müssen. Ein Ausdruck des Grimms huschte über das scharfgeschnittene, kühne Gesicht des Boston-Mannes. Der Kerl pennte also noch, dabei war die neunte Morgenstunde längst vorüber, ebenso das Backen und Banken der Mannschaft. Im übrigen roch es in der Vorpiek wie in einem Schweinekoben, und der Boston-Mann rümpfte angewidert die Nase. Entgegen der Ansicht seines Kapitäns glaubte der Boston-Mann sowieso, daß zwei Wochen Arrest bei Wasser und Brot kaum das geeignete Mittel waren, eine Wildsau in ein appetitliches Borstenvieh zu verwandeln. Im stillen – und da wußte sich der Boston-Mann mit der Mehrheit der Crew einig – war er davon überzeugt, daß sich Muddy niemals verändern würde – ganz im Gegenteil, allmählich wurde er zu einer Belastung, möglicherweise zu einer Gefahr für den Bund der Korsaren. Er stieß den Kerl mit dem Fuß an und knurrte: „Raus mit dir!“ Muddy gab einen Grunzlaut von sich, wälzte sich auf die andere Seite und schien weiterpennen zu wollen. Der Boston-Mann verhinderte es – dieses Mal kräftiger mit einem Fußtritt. Muddy fuhr hoch, erkannte den BostonMann, und sein Blick wurde tückisch. Der Boston-Mann deutete mit dem linken Daumen über die Schulter und sagte kurz und knapp. „Raus! Deine Zeit ist uni.“
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„Was für 'ne Zeit?“ erkundigte sich Muddy in ziemlich pampigem Ton. „Dein Arrest.“ „Ach so.“ Muddy gähnte, kratzte sich im Nacken und schien unschlüssig, ob er aufstehen solle. In dem Boston-Mann stieg die Wut hoch, und er fauchte: „Wenn du deinen Arrest verlängern willst – bitte sehr. Von mir aus bleib hier, bis du in deinem eigenen Dreck erstickt bist.“ Er wollte das Schott wieder zuschlagen, aber Muddy schnellte hoch und flitzte an ihm vorbei und zu dem Niedergang, der zur Kuhl hochführte. Der Boston-Mann fluchte und folgte ihm, allerdings gemächlich, so daß er nicht mitkriegte, was sich jetzt auf der Kuhl abspielte. Dort hatte sich der größte Teil der Crew versammelt. Der Wikinger saß ausnahmsweise nicht auf seinem „Sesselchen“, dem Holzthron, der fest auf dem Achterdeck verschraubt war, sondern lehnte an der vorderen Querbalustrade, die das Achterdeck abschloß, die Ellenbogen gemütlich auf dem Handlauf abgestützt. Sein Gesicht zeigte ein wohlwollendes Grinsen. Er wirkte wie Gottvater am Himmelsfenster, der hinunter auf die Erde schaut, wo seiner Meinung nach alles seine Ordnung hat. Direkt unter ihm stand die Waschbalje, gefüllt bis zum Rand mit klarem Süßwasser aus der Inselquelle. Seine Kerle hatten sich am Backbordund Steuerbordschanzkleid auf der Kuhl aufgebaut und linsten wie er zu dem Niedergang am achteren Abschluß der Back, der in die Räume des Vorschiffs hinunterführte. Dort tauchte der Schmuddelmann Muddy auf, verharrte kurz und blinzelte in das helle Sonnenlicht, das ihn zunächst blendete. Dann entdeckte er die Waschbalje sowie den danebenstehenden Schemel, auf dem sich eine Schale mit Schmierseife, die Wurzelbürsten und sogar ein Handtuch befanden. Er fluchte lästerlich, warf sich herum und verschwand wieder im Niedergang.
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„Hiergeblieben, Robinson!“ donnerte der Wikinger. Sein wohlwollendes Grinsen war sozusagen vereist, seine These von der Läuterung des Schweinehirten wie ein Kartenhaus zusammengebrochen. Zornesröte flammte über sein Gesicht. Dafür grinsten jetzt seine Kerle, insbesondere jene, die diesen Ablauf vorausgesagt hatten und somit klüger gewesen waren als ihr Kapitän. Bei Muddy selbst standen die Ohren wieder mal auf Durchzug, das heißt, er ignorierte den Befehl seines Kapitäns. Er polterte bereits den Niedergang hinunter, auf dem inzwischen der Boston-Mann nach oben stieg. Eine Ramming war unvermeidlich, und die schlechteren Karten hatte der BostonMann. Wer bergan steigt, hat in der Regel das Nachsehen, wenn von oben etwas wie eine Lawine auf ihn nieder bricht. Muddy nahm auch keine Rücksichten. Er überrannte den Boston-Mann einfach und stürzte mit ihm gemeinsam den Niedergang hinunter. Geschickterweise hielt er sich an ihm fest und benutzte ihn als Landekissen, während der BostonMann beim Rücklingssturz mit dem Kreuz unsanft auf die Planken schlug und sich gleichzeitig auch noch den Hinterkopf an dem eisenharten Holz stieß. Der Boston-Mann konnte einiges wegstecken. Trotzdem schwanden ihm für einige Minuten die Sinne. Muddy lachte höhnisch, wälzte sich von dem BostonMann, sprang auf und flitzte in die Segelkammer. Zwischen Segeltuchballen versteckte er sich. Oben an der Querbalustrade dröhnte der Wikinger: „Holt den Kerl wieder an Deck – und dann ab mit ihm in die Waschbalje!“ Eike, der sich in der Nähe der Waschbalje befunden hatte, drehte sich zu dem Wikinger um. Er, Olig, Arne und der Stör bildeten eine Art Garde in der Crew und waren die unmittelbaren Gefolgsleute Thorfin Njals. Wie er waren sie in Felle gekleidet und trugen um die Waden geschnürte Riemensandalen, allerdings keinen Helm wie der Wikinger. Sie waren
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ausgezeichnete Seeleute und harte, verwegene Kämpfer. Eike blickte furchtlos zu seinem Kapitän hoch und sagte: „Davon rate ich ab. Wenn wir den Kerl suchen, wird mal wieder die ganze Mannschaft in Trab gebracht – nur wegen dieses Ferkels. Ich schlage vor, alle sechs Ausgänge an Deck werden von je einem Mann besetzt. Irgendwann zeigt sich Muddy, denn vermutlich wird er als erstes die ‚Rutsche ansteuern wollen, um nachzuholen, was er zwei Wochen lang versäumen mußte. Sobald er sich zeigt, wird er vereinnahmt und in die Balje gestopft.“ „In Ordnung“, sagte der Wikinger. „Hast recht, Eike. Bitte schau nach, wo der Boston-Mann steckt. Der müßte längst wieder an Deck sein.“ Die sechs Ausgänge wurden besetzt, Eike stieg den Niedergang hinunter. * Am Fuß des Niedergangs lag der BostonMann. Ein eisiger Schreck durchfuhr Eike – und gleich darauf Wut. Wenn der Schweinebastard den Boston-Mann umgebracht hatte, dann war er fällig für die Hochzeit mit des Seilers Tochter. Eike hatte einen unbestechlichen Blick für schräge Typen und schon oft prophezeit, daß es mit Muddy ein schlimmes Ende nehmen werde. Insofern gehörte er auch zu den kompromißlosen Gegnern des Mannes namens Robinson. Er traute ihm nicht über den Weg und betonte immer wieder, der Kerl habe in der Crew des Schwarzen Seglers nichts zu suchen. Jetzt beugte er sich hastig über den BostonMann, fühlte nach dem Puls der linken Hand und atmete auf, als er das Klopfen spürte. Eine flüchtige Untersuchung ergab, daß der Boston-Mann eine Beule und Platzwunde am Hinterkopf hatte. Eike brauchte nur zwei und zwei zusammenzuzählen, und der Hergang war klar. Der Boston-Mann hatte den Halt verloren und war den Niedergang hinuntergestürzt, als Muddy die Flucht zurück angetreten hatte. Der Mistkerl hatte
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den Boston-Mann einfach über den Haufen gerannt, ihn bedenkenlos liegenlassen und war in einem Versteck verschwunden. Es war zum Auf-die-Toppen-Klettern mit diesem Schmierlappen! Eike unterfing den Boston-Mann unter den Knien und Achseln, wuchtete ihn hoch und trug ihn den Niedergang nach oben auf die Kuhl. Die Männer starrten zu ihm – Entsetzen in den Augen. „Ist er ...?“ stieß der Wikinger hervor. „Nein!“ unterbrach ihn Eike hart. „Er ist ohne Bewußtsein. Holt eine Decke, verdammt noch mal!“ Die war schnell herbeigeschafft. Eike bettete den Boston-Mann bei der Waschbalje, schob ihm das zusammengeknüllte Handtuch unter den Kopf, nahm einen Waschlappen, der ebenfalls auf dem Schemel gelegen hatte, und säuberte die Platzwunde am Hinterkopf. Dann legte er den nassen Waschlappen dem Boston-Mann über die Stirn. Die Männer, auch der Wikinger, versammelten sich um ihn. „Was ist los?“ knurrte der Wikinger. Eike schaute zu ihm hoch und sagte erbittert: „Was schon? Er hat den BostonMann auf dem Niedergang umgerannt und ist in irgendein Versteck getürmt. Die zwei Wochen Arrest, Kapitän, hast du in den Sand gesetzt, damit das klar ist. Demnächst wird sich der Kerl auch einen Mord leisten – und dann sage keiner, er habe diesen Mister Robinson immer für einen Ehrenmann gehalten. Der Kerl taugt nichts, begreif das endlich!“ Der Wikinger runzelte die Stirn und wollte etwas erwidern, aber da kam der BostonMann zu sich – und wie! Er schnellte hoch, blickte sich wild um und knurrte: „Wo steckt der Kerl? Dem schlag ich die Klüsen dicht ...“ Dann taumelte er etwas, straffte sich aber sofort, spreizte die Beine und stand wie ein Baum. Er tastete nach seinem Hinterkopf und murmelte: „Hat mich auf dem Niedergang erwischt, der Hundesohn. Bin nach hinten
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gekracht und mit dem Kopf aufgeschlagen – aus. Wo ist er?“ „Verschwunden“, sagte Eike lakonisch. „Der Kerl pennte noch, als ich ihn rauslassen wollte“, erinnerte sich der Boston-Mann. „Das muß man sich mal vorstellen! Ich purrte ihn hoch und bot ihm an, in der Vorpiek zu bleiben, bis er an seinem eigenen Dreck erstickt. Da flitzte er raus.“ Er blickte Eike an. „Verschwunden, sagst du? Er könnte in der Segelkammer stecken. Die liegt dem Niedergang am nächsten.“ Er hatte kaum ausgesprochen, da war Eike schon auf dem Weg zum Niedergang und Sekunden später verschwunden. Er stieg leise hinunter, schlich zum Schott der Segelkammer und legte das Ohr an den soliden Zugang zu der Kammer, in der alles aufbewahrt wurde, was mit den Segeln zusammenhing: Segeltuch verschiedener Stärken, Lieken zum Einfassen der Segelkanten, Gattchen zur Umkleidung von Löchern, Takelgarn, Segelnadeln aller Größen und Stärken, Wachs, um Takelgarn geschmeidig zu machen, diverse Segelhandschuhe und so fort. Tatsächlich hörte er ein Rumoren in der Kammer. Dann tappten Schritte zu dem Schott und verhielten dort. Einige Minuten verstrichen. Der Kerl überlegt, ob er sein Versteck wechseln soll, dachte Eike. Oder er will die Lage peilen, um sich möglichst bald an Land zu verholen, natürlich zur „Rutsche“ zwecks Befeuchtung seiner Kehle. Muddy war häufig betrunken. Nur einer aus der Crew war dem Suff noch mehr verfallen als er: Mißjöh Buveur, der Obersaufbold der Wikinger-Mannschaft. Mit dem nimmt das auch kein gutes Ende, dachte Eike in diesem Moment. Hinter dem Schott war ein unterdrücktes Husten zu vernehmen – letzter Beweis dafür, daß Muddy dort stand. Das Husten und Räuspern gehörte zu ihm wie der Miefgeruch. Der Kutscher der Arwenacks hatte mal gesagt, der Kerl habe es auf der Lunge. Tatsächlich war das Husten in den letzten Jahren eher stärker als schwächer
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geworden. Tagsüber konnte man es überhören, aber nachts war es mehr als lästig, weil es den Schlaf der anderen störte... Langsam und vorsichtig wurde das Schott aufgedrückt. Eike spannte sich und trat etwas zurück. Als Muddy den Kopf vorreckte, um zum Niedergang zu peilen, hieb ihm Eike die eisenharte Faust aufs schmierige Haar, mit Wucht, versteht sich. Und der Zorn auf diesen verluderten Kerl verdoppelte die Wucht, ganz abgesehen davon, daß Eike – wie auch seine drei Genossen Arne, Olig und der Stör – kein Wichtelmännchen war, sondern zu den Riesen zählte. Mit einem Ächzen krachte Muddy auf die Planken. Vermutlich hatte er das Gefühl, ihm sei ein Amboß auf den Kopf gefallen. Eike packte den Kerl hinten am Wickel, schleifte ihn zum Niedergang, schleppte ihn hoch, ohne sich sonderlich darum zu kümmern, ob Muddy irgendwo gegenstieß, und zog ihn dann wie einen Mehlsack über die Kuhl zu der Waschbalje. Ohne lange zu fackeln, hievte er ihn einarmig hoch – er hätte zwei von Muddys Sorte so anlüften können –und tunkte ihn mitsamt Kleidung in die Balje. Sofort waren die anderen Mannen zur Stelle, und die große Wäsche begann. Der Spaß wäre noch größer gewesen, hätte der Schmierlappen gezetert und gegreint und verrückt gespielt. Aber leider war Muddy immer noch ohne Bewußtsein und erlebte nicht mit, wie segensreich sich Wasser, Schmierseife und Bürsten auswirkten. Zuerst wurde einfach die Kleidung eingeseift, auch schon mal das verfilzte Haar. Dann zogen ihn die Mannen ohne viel Federlesens aus und widmeten sich der eigentlichen Körperreinigung, dieses unter mehrfachem Eintauchen in die Balje. Das Wasser darin nahm zusehends eine schmutzige Farbe an. Da standen Pützen mit weiterem Süßwasser bereit, das dazu diente, den Kerl kräftig abzuspülen. „Sehr gut!“ lobte der Wikinger und empfahl, dem „Badegast“ auch gleich die Harre bis auf Stoppellänge abzuschneiden. Wenn schon, denn schon, nicht wahr?
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Diese Empfehlung wurde mit Feuereifer in die Tat umgesetzt, und so wurde Muddy innerhalb von ein paar Minuten seinen Schopf los, wobei auf guten Schnitt kein Wert gelegt wurde. Aber er konnte noch froh sein, daß ihm die Mannen keine Glatze schoren. Just nach Beendigung dieser Prozedur fand Muddy in die Wirklichkeit. zurück und stimmte ein Wutgebrüll an, als er erkannte, daß man ihm seine liebgewordene Dreckkruste entfernt hatte. Und als er die Mannen in rüdester Weise anpöbelte, empfing er ein paar saftige Maulschellen. Er hätte sich ja auch für die Reinigungskur bedanken können, aber Dankbarkeit und Höflichkeit waren ihm so fremd wie der Zweck von Wasser und Seife. Nach den Maulschellen. war er allerdings still, blickte tückisch und preßte die Lippen zusammen. „Robinson!“ dröhnte die Stimme des Wikingers. „Bei uns an Bord ist es üblich, daß man sich beim Kapitän vom Arrest zurückmeldet! Oder hast du das nicht nötig?“ Muddy bückte sich hastig, sammelte seine gewaschenen Plünnen ein, hielt sie sich vor den Unterleib, richtete sich wieder auf, starrte zum Wikinger hoch und murmelte: „Melde mich von Arrest zurück, Kapitän.“ „Lauter, Robinson!“ Der Wikinger hielt die rechte Hand hinters rechte Ohr. „Melde mich vom Arrest zurück, Kapitän!“ brüllte Muddy. „Bist du in dich gegangen, Robinson?“ erkundigte sich der Wikinger mit drohender Miene. „Ja, Kapitän“, erwiderte Muddy und fuhr mit leiernder Stimme fort: „Man soll auf Wache nicht schlafen.“ „Passiert das noch einmal, Robinson“, sagte der Wikinger grimmig, „dann stelle ich dich vor ein Bordgericht. Ist das klar?“ „Jawohl, Kapitän.“ „Könnte sein, daß du dann an der Rah zappelst, Freundchen!“ „Jawohl, Kapitän.“ 2.
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Am Abend versoff Muddy seine Heuer, die in den zwei Wochen Arrest einbehalten worden war, und sein Mitzecher in der „Rutsche“ war Mißjöh Buveur, den er an seinen Tisch eingeladen hatte. Gleich und gleich gesellt sich gern – der Spruch stimmte. Denn keiner der anderen Wikinger-Mannen – auch nicht von den anderen Schiffsbesatzungen –hätte sich Muddy zugesellt. Mißjöh Buveur hätte allerdings auch mit dem Teufel gezecht, wenn der einen ausgeben würde. Dieser etwas dickliche Seemann französischer Herkunft – er redete jeden mit „Mißjöh“ an, daher der Name, wobei „Buveur“ soviel wie Trinker bedeutete –, dieser Seemann also war ein etwas seltsamer Typ. Nüchtern – aber wann war er das schon? – war er anstellig, packte zu und versah seinen Dienst. Aber meistens war er im Tran, das heißt, er hatte sich wieder mal auf krummen Wegen „Stoff“ besorgt und ihn haltlos weggegurgelt. Dann konnte er frech und aufsässig werden und fing zu Krakeelen an. Mehr als einmal hatten ihn die CrewGenossen zur Abkühlung durch die Rutsche sausen lassen, jene Klappe vor dem Tresen der Pfahlbauschenke im Stützpunkt der Korsaren, die Old Donegal O'Flynn hatte errichten lassen. In seiner Abwesenheit besorgte sein trautes Weib Mary O'Flynn, geborene Snugglemouse, den Ausschank an die Mannen und verwaltete auch das GetränkeMagazin in der „Rutsche“, einen abgeschlossenen großen Raum, wo unter anderem Bier-, Wein- und Rumfässer lagerten. Ihr zur Hand gingen Don Antonio de Quintanilla, der ehemalige Gouverneur von Kuba, und Klein Edwin Shane, kurz Eddy genannt, der Sohn Marys und Old Donegals. Eddy war insbesondere zuständig für das Spülen und Abtrocknen des benutzten Geschirrs, der Gläser und Humpen. Außerdem kehrte er die „Rutsche“ aus und hielt sie sauber. Mißjöh Buveur war an diesem Abend schon reichlich abgefüllt und hielt Muddy für seinen besten Kumpel. „Bester
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Kumpel“ war immer derjenige, der für ihn einen ausgab. Tatsächlich war er zu dämlich, zu begreifen, daß Muddy dabei einen bestimmten Zweck verfolgte. Und es war keineswegs pure Nächstenliebe oder ein Anflug von Kameradschaft, wenn er seine Heuer so großzügig verflüssigte. Sie kübelten Bier und spülten mit Rum nach - eine höllische Mischung. Mißjöh Buveur war ein Faß ohne Boden, und es war wirklich erstaunlich, welche Mengen er verputzen konnte. Einer der Gäste an einem anderen Tisch beobachtete die beiden Zecher mit äußerstem Mißtrauen - Eike. Es geschah oft, daß einer der Männer für einen anderen die Zeche bezahlte. Das war so Brauch und noch lange kein Grund, darin etwas Außergewöhnliches zu sehen. Was aber nicht ins Bild paßte, das war die Tatsache, daß Muddy noch nie einen anderen zum Zechen eingeladen hatte. In der Regel saß er allein und abseits in der „Rutsche“, von den anderen gemieden eben wegen seiner infernalischen Duftnote. Hinzu kam seine Muffigkeit, sein Unvermögen, mit anderen einen freundlichen Kontakt aufzunehmen. Gespräche -mit ihm vereisten in einem tödlichen Schweigen. An diesem Abend war alles anders. Zum einen roch der Kerl endlich einmal nach frischer Sauberkeit - die leider nie lange vorhielt -, und zum anderen schien ihn das Quasselfieber gepackt zu haben. Jedenfalls redete er unaufhörlich auf Mißjöh Buveur ein, der von Bier zu Bier und von Rum zu Rum dämlicher grinste. Eike hatte den unbestimmten Verdacht, daß Muddy etwas ausheckte. Und Mißjöh Buveur schien das, was ihm Muddy zutuschelte, köstlich zu finden. Ab und zu kicherte er, schlug sich auf die dicken Schenkel oder klopfte Muddy auf die Schulter. Fehlt nur noch, daß er dem Schweinehirten um den Hals fällt, dachte Eike mit Grimm. Leider konnte er von der Tuschelei nichts aufschnappen, das ließ der Lärmpegel in der „Rutsche“ nicht zu.
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Siri-Tong, Edmond Bayeux und Jean Ribault waren vor anderthalb Tagen von ihrem Raid gegen die spanischen Kriegsschiffe unten bei Cat Island zurückgekehrt, und da gab es viel zu berichten und zu erzählen, zumal Edmond Bayeux von diesem Unternehmen etliche Fässer spanischen Weins hatte mitgehen lassen. Er hatte sie Mary O'Flynn großzügig zur Verfügung gestellt, und der Ausschank war frei. Muddy hatte höhnisch abgelehnt: er trinke das schlabbrige Zeug nicht. Und Mißjöh Buveur war scharf auf Rum, zumal er ihn nicht zu bezahlen brauchte. Daß sie sich aus der Gemeinschaft absonderten, störte die beiden Kerle nicht. „Möchte mal wissen, was der Mistkerl ausbrütet“, sagte jetzt Eike. Er saß zusammen mit Olig, Arne, dem Stör und dem Boston-Mann an einem Tisch in der Nähe der Theke. Wer mit dem „Mistkerl“ gemeint war, wußten die vier anderen. Sie blickten kurz hinüber zu Muddy und Mißjöh Buveur, Olig zuckte mit den Schultern. „Ein faules Ei, was sonst?“ sagte er. Grinsend setzte er hinzu: „Kannst ihn ja mal fragen.“ „Er hält Mißjöh Buveur frei und redet ununterbrochen auf ihn ein“, sagte Eike etwas verbissen. „Da stimmt doch was nicht.“ „Nach zwei Wochen Vorpiek, Sprechpause eingeschlossen, würde ich auch 'ne Menge quasseln“, sagte Olig voller Heiterkeit. „Du heißt aber nicht Muddy.“ „Nee, wär ja auch noch schöner“, meinte Olig, nahm einen Schluck aus seinem Humpen und fügte hinzu: „Laß ihn doch, Eike. Was geht's uns an? Vielleicht ist es gut, wenn er mal quatscht und sich was von der Seele redet.“ „Seele!“ höhnte Eike. „Wo die sein soll, hat der Kerl doch einen Dreckklumpen.“ Jetzt schaltete sich Arne ein und sagte: „Hör mal zu, Eike. Daß der Kerl ein Mistbolzen ist, wissen wir alle. Aber ich finde, du verrennst dich da in was oder siehst Gespenster, wo keine sind. Muddy hat seine zwei Wochen Arrest hinter sich
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gebracht, und jetzt haut er auf die Pauke, was jeder von uns in gleicher Situation auch tun würde. Und weil er weiß, daß keiner von uns mit ihm zechen würde, hat er sich Mißjöh Buveur ausgesucht, der mit Rum zu ködern ist. Das ist alles. Mehr dahinter zu vermuten, grenzt schon an die Absicht, ihm mit Gewalt was anhängen zu wollen.“ „Vielleicht wollen sie gemeinsam ein Fäßchen Rum klauen“, witzelte Olig. „Blödmann!“ knurrte Eike. „Und dir, Arne, sag ich, daß Muddy nicht mit der normalen Elle zu messen ist. Der Kerl ist eine Ratte, und ihr werdet noch euer blaues Wunder erleben. Wenn er den Mißjöh zum Saufen einlädt, steckt etwas dahinter, ausgerechnet den!“ „Dich konnte er ja schlecht einladen“, sagte Olig, „weil er weiß, daß du ihn für ein Stinktier hältst. Außerdem hat du ihn heute morgen umgehauen.“ „Ich hätte noch härter zulangen sollen“, sagte Eike bissig. „Schon weil er den Boston-Mann den Niedergang hinuntergestoßen hat. Und dann ist er getürmt, statt sich um ihn zu kümmern. Die eigene Person ist ihm wichtiger – genau wie sein Pennen auf der Mitternachtswache. Ob er uns alle damit in Gefahr bringt, interessiert ihn einen Dreck.“ „Wir müssen ihn so nehmen, wie er ist, Eike“, sagte jetzt Arne. „Wenn du auf ihm herumhackst, wird er noch störrischer.“ „Er paßt nicht in den Bund der Korsaren“, entgegnete Eike zornig. „Genau das ist der Punkt. Wir schleppen ihn durch, diesen faulen Hund, der für uns keinen Finger rührt und nur das tut, was ihm Vorteile verschafft. Und wenn ihm jemand auf die Zehen tritt, wird er entweder frech oder tückisch. Die zwei Wochen Arrest waren keine Strafe für den Kerl, sondern Ferien vom Schiffsdienst. Zum Dank besäuft er sich heute abend.“ „Du kannst ihn nicht ausstoßen“, sagte Arne. „Ja, leider“, murmelte Eike. „Aber ich kann darauf hoffen, daß er noch mal auf Wache einschläft. Denn dann muß das
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passieren, was ihm der Kapitän heute morgen angedroht hat: ihn vor ein Bordgericht zu stellen. Sollte ich dem Bordgericht angehören, werde ich dafür stimmen, den sehr ehrenwerten Mister Robinson an die Rah zu baumeln.“ Der Boston-Mann nickte mit grimmiger Miene: „Kein Einspruch, Eike. Wenn er sich diesen Bolzen noch einmal leistet, gehört er an die Rah, und ich werde ihm die Schlinge um den Hals legen.“ „Eine schlimme Sache, den eigenen Kameraden aufzuhängen“, sagte Arne nachdenklich. „So was hat .es bei uns noch nicht gegeben. Und ich hoffe, daß dieser Fall nie eintritt.“ Eike beugte sich vor. „Sagtest du, den eigenen Kameraden'?“ „Allerdings.“ „Ein feines Wort!“ höhnte Eike. „Mein Kamerad ist dieser Schmierlappen allerdings nicht. Und meine Kameraden pflegen in der Regel ein anderes Format zu haben.“ Zum ersten Male äußerte sich der Stör, und er sagte: „Dem stimme ich zu.“ „Na ja“, sagte Arne etwas lahm. Sie blickten jetzt alle zu Olig, aber der schwieg und starrte auf die Kringel, die er mit dem Zeigefinger auf die Tischplatte gemalt hatte – mit etwas Wein, der übergeschwappt war. Die Kringel sahen wie Schlingen aus. * Um Mitternacht befanden sich nur noch fünf Personen in der „Rutsche“: Mary O'Flynn, die hinter dem Tresen die letzten Humpen spülte und damit begann, aufzuklaren, Muddy und Mißjöh Buveur an ihrem Tisch sowie Eike und der BostonMann, die ihre Stühle an die Wand gekippt hatten und still dasaßen. Muddy und Mißjöh Buveur lärmten dafür um so lauter. Sie waren voll bis zur Halskrause. „Wirtschaft!“ grölte Mißjöh Buveur, drehte sich halb zur Theke und schwenkte seinen Humpen. „Schenk nach, du alte Schlampe!“ Und er rülpste dröhnend.
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Muddy warf den Kopf in den Nakken und meckerte wie ein Ziegenbock. Die Mienen von Eike und dem BostonMann versteinerten. Mary O'Flynn verzog keine Miene. Sie band ihre Schürze ab, verließ den Tresen und trat zu dem Tisch der beiden Kerle. Ihre Stimme allerdings hatte einen eisigen Klang. Sie sagte nur: „Raus! Alle beide!“ „Was?“ krakeelte Mißjöh Buveur und rekelte sich breit auf seinem Stuhl, grinste dreckig, winkte mit dem gekrümmten rechten Zeigefinger und flötete: „Setz dich auf meinen Schoß, Süße! und dann knutschen wir ein bißchen ...“ Vielleicht wollte er noch etwas Anzügliches sagen, aber daraus wurde nichts. Mary O'Flynn zog ihm die rechte Rückhand über die Visage, so daß Mißjöh Buveurs Kopf nach links flog. Die offene rechte Vorhand folgte umgehend und knallte nunmehr mit vollem Schwung auf die linke Wange des Franzosen. Es klang, als sei eine Pistole abgefeuert worden. Mißjöh Buveurs Kopf trat die umgekehrte Reise an – nach rechts. Es war die prächtigste Maulschelle, die Eike und der Boston-Mann je gesehen hatten. Und mit Genugtuung stellten sie fest, daß der Obersaufbold der Crew mit glasigen Augen und knallroter linker Wange nach rechts vom Stuhl kippte. Aus dem Ziegenbockgemecker Muddys war inzwischen ein Kreischen geworden. Auf dem Tisch stand noch ein halbvoller Bierhumpen. Den schnappte sich Mary O'Flynn, schüttete den Inhalt Muddy ins Gesicht und drosch ihm anschließend den Humpen aufs Haupt. Auch Muddy krachte auf die Dielen der „Rutsche“. Eike und der Boston-Mann brauchten nicht mehr einzugreifen. Die resolute Mary O'Flynn war Frauensperson genug, um mit zwei betrunkenen Randalierern fertig zu werden. Beide Männer waren bereits aufgesprungen und standen jetzt hinter Mary, die sich zu ihnen umdrehte. Ihre grauen Augen funkelten. Sie wischte sich eine rote Haarsträhne aus der Stirn und murmelte: „Das war's dann wohl.“
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Vorsichtig fragte Eike: „Soll ich dem Kapitän melden, was vorgefallen ist, Ma'am?“ „Wieso das?“ „Nun ja.“ Eike räusperte sich. „Der Mißjöh wurde beleidigend und ausfallend. „So ein Kerl kann mich nicht beleidigen“, sagte Mary O'Flynn verächtlich und winkte ab. „Außerdem habe ich mir bereits Genugtuung verschafft.“ Sie zuckte mit den Schultern. „Es ist doch immer das gleiche mit diesen Saufbolden – einer fängt bestimmt mit dem Krakeelen an, und dann kriegt er sofort Zunder. Donegal hätte ihnen sein Holzbein um die Ohren gedroschen. Manchmal frage ich mich, was ihr an diesen beiden Kerlen eigentlich verloren habt. Die passen nicht zu euch.“ Eike seufzte. „Wem sagst du das!“ „Schiebt sie doch einfach ab“, sagte Mary O'Flynn. „Geht nicht“, sagte Eike. „Wieso nicht?“ „Auf wen auch immer sie dann stoßen“, erwiderte Eike, „sie würden garantiert verraten, wo unser Stützpunkt liegt – und was es dort zu holen gibt. Außerdem haben die Dons ein Kopfgeld auf den Seewolf und Don Juan de Alcazar ausgesetzt.“ „O ja“, murmelte Mary O'Flynn, „daran hatte ich nicht mehr gedacht.“ Sie schaute Eike aufmerksam an. „Du traust ihnen Verrat zu?“ „Ja“, antwortete Eike, und der BostonMann nickte bestätigend. „Schlimm“, sagte Mary O'Flynn, nickte und fügte hinzu: „Ja, wir alle wären gefährdet. Eine verdammte Situation. Und was meint euer Kapitän zu diesem Problem?“ „Er hat Muddy gedroht“, sagte Eike. „Wenn er noch mal auf Wache pennt, wird er vor ein Bordgericht gestellt, das möglicherweise die Todesstrafe verhängt.“ „Du meine Güte!“ Jetzt war Mary O'Flynn ehrlich erschüttert. „Die Todesstrafe! Und wie hat Muddy das aufgenommen?“ „Eher gleichgültig, besser gesagt mit dem Erfolg, daß er sich mit dem Mißjöh heute abend hat vollaufen lassen. Hast du
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zufällig was aufschnappen können, was er mit Mißjöh Buveur getuschelt hat?“ Mary O'Flynn schüttelte den Kopf. „Nein, es war zu laut in der ‚Rutsche'. Aber es stimmt, er hat unaufhörlich auf den Mißjöh eingeredet. Und der lachte dauernd und freute sich. Vielleicht hat er ihm Witze erzählt.“ „Können nur dreckige gewesen sein“, knurrte Eike, „so dreckig wie er selbst.“ Mißjöh Buveur fing laut zu schnarchen an. Eike fluchte. Es war wie immer. Wenn der Franzose voll war, schnarchte er besonders laut. Er blickte zu dem Boston-Mann und sagte: „Was meinst du, lassen wir beide einfach durch die ‚Rutsche' sausen?“ „Gute Idee“, erwiderte der Boston-Mann grinsend. „Und wenn sie ertrinken?“ fragte Mary O'Flynn etwas beklommen. „Die doch nicht“, sagte Eike. „Außerdem passen der Boston-Mann und ich auf, daß den beiden Suffköppen nichts passiert. Und du weißt, Ma'am, unter der ‚Rutsche' ist noch keiner ertrunken, sondern meist nüchtern geworden.“ Mary kicherte und eilte hinter den Tresen, wo sich der Fußhebel befand. Wenn man ihn nach unten trat, öffnete sich vor dem Tresen eine Klappe, eine Art Falltür, und wer auf ihr stand, sauste abwärts ins Wasser. Zum Ertrinken war es dort nicht tief genug. Riesen wie der Wikinger oder Edmond Bayeux schauten noch mit den Köpfen aus dem Wasser, wenn sie auf dem Grund standen. Eike und der Boston-Mann grinsten sich zu und zogen den schnarchenden Mißjöh Buveur an den Füßen auf die. Klappe. Der Franzose wachte nicht auf. Sie zogen sich von dem Holzgeviert zurück, und Eike nickte Mary O'Flynn zu: „Ab mit ihm!“ Mary trat auf den Mechanismus, die Klappe schlug knarrend nach unten, und Mißjöh Buveur verschwand von der Bildfläche. Zwei, drei Lidschläge später war das Aufklatschen zu vernehmen. Die Klappe schloß sich selbsttätig und bildete
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wieder ein planes Geviert zum anderen Dielenboden. Von unten tönte ein Gurgeln herauf, dann ein Schnaufen und schließlich das lästerliche französische Wörtchen: „Merde!“ Die Frage lautete, ob Mißjöh Buveur zu der Wasserleiter schwimmen würde, die zu der umlaufenden Terrasse des Pfahlbaus hochführte, oder ob er es vorzog, zum Strand zu paddeln, sich dort in den Sand zu packen und seinen Schlaf fortzusetzen. Wenn er zur Leiter schwamm, konnte das nur bedeuten, daß er die Absicht hatte, in der „Rutsche“ wieder zu erscheinen und weiteren Stunk zu veranstalten. Eike huschte hinaus auf die Terrasse, die kein Geländer hatte, sondern ringsum wie auf einem Schiff mit einem massiven Schanzkleid versehen war. Bei der Wasserleiter war dieses Schanzkleid von einer Pforte unterbrochen, die man von beiden Seiten öffnen oder schließen konnte. Eine gleiche Pforte befand sich auf jener Seite der Terrasse, die dem Strand zugewandt war. Denn dort mündete der lange Steg vom Ufer her, dessen Bohlen abnehmbar waren. Die „Rutsche“ konnte jederzeit in eine kleine Wasserburg verwandelt werden. Denn an dem umlaufenden „Schanzkleid“ waren Halterungen zum Einsatz von Drehbassen angebracht worden. 3. Mißjöh Buveur war offenbar auf Krawall aus – oder fest entschlossen, weiterzusaufen. Oder beides. Vielleicht fühlte er sich auch in seiner sogenannten Mannesehre gekränkt, daß ihm die „Süße“, mit der er „knutschen“ wollte, zwei saftige Maulschellen verabreicht hatte. Gleichviel – er stieg die Wasserleiter hoch, triefend und fluchend. Doch jenseits der Pforte stand bereits Eike und verbaute somit den Zutritt zur Terrasse. Pforte sowie Schanzkleid waren brusthoch. „Verschwinde!“ fauchte Mißjöh Buveur wütend, als er auf der obersten Sprosse stand und Eike erkannte.
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„Genau das wollte ich dir raten, Mißjöh“, sagte Eike ruhig. „Du hast mir gar nicht zu raten, du blöder Hund!“ erklärte Mißjöh Buveur rabiat. „Hau ab und kümmere dich um deinen eigenen Scheiß ...“ Er hatte diese Freundlichkeit kaum heraus, da flog Eikes Rechte über die Pforte. Die eisenharte Faust krachte an die Stirn des Franzosen, und er stürzte rücklings zurück ins Wasser. Die zweite Abkühlung nutzte überhaupt nichts, und Eike wunderte sich im stillen. Irgendetwas war anders mit diesem versoffenen Kerl. Vor den vier Nordmännern des Wikingers hatte er jedenfalls bisher noch immer gekuscht und nie gewagt – auch im bezechten Zustand nicht –, einen von ihnen mit „blöder Hund“ anzureden. Hatte Muddy diesen Burschen aufgehetzt? Na warte, dachte Eike und beobachtete, wie der dickliche Franzose unten im Wasser herumschnaufte, auf die Leiter zupaddelte und nach den unteren Sprossen griff. Und ächzend zog er sich hoch. Eike öffnete die Pforte und trat etwas zur Seite. Die Sprossen knarrten, wenn Mißjöh Buveur draufstand und auf der nächsten höherklomm. Dabei brabbelte er unaufhörlich vor sich hin, aber keineswegs in freundlichem Ton. Es war unverständliches Zeug, und Eike verstand nur, daß er sich über die „Schlampe“ und den „Fellaffen“ ausließ. Damit waren offenbar Mary O'Flynn und er selbst, Eike, gemeint. Daß ihn der Kerl als „Fellaffen“ bei zeichnete, kratzte Eike nicht weiter, aber daß er die adrette, rothaarige Mary O'Flynn eine „Schlampe“ nannte, erboste den Nordmann maßlos. Mißjöh Buveur tauchte in der Pforte auf und torkelte einen Schritt weiter. Eike glitt hinter ihn, packte seinen rechten Arm, drehte ihn nach hinten und hebelte ihn hoch. Zwangsläufig mußte sich der Franzose verbeugen, wenn er sich nicht den Arm ausrenken lassen wollte.
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„Vorwärts, du Bastard!“ knurrte Eike. „Für die ‚Schlampe' wirst, du dich jetzt bei Missis O'Flynn entschuldigen, oder ich dreh dir den Arm aus der Schulter!“ Und damit schob er den Dicken voran. Mißjöh Buveur wurde bockig und trat nach hinten aus. Es bekam ihm gar nicht gut. Eike hebelte nur ein bißchen, und der Dicke mußte sich tief verneigen. Er tat es stöhnend und winselnd und setzte sich vornübergebeugt in Marsch, als Eike den Druck sanft verstärkte. So marschierten sie über die Terrasse zurück in den Schankraum. Muddy lag noch an Ort und Stelle, wo ihn Mary mit dem Humpen gefällt hatte. Der Boston-Mann bewachte ihn, denn wenn er ins Dasein zurückkehrte, war damit zu rechnen, daß er den wilden Mann spielte. Mary O'Flynn klarte wieder hinter dem Tresen auf. Eike schob den gebeugten Mißjöh Buveur auf das Geviert der Rutsche und sagte: „Er möchte sich für seine Unfältigkeiten dir gegenüber entschuldigen, Ma'am.“ „'tschuldigung“, brabbelte Mißjöh Buveur und verbeugte sich so tief –allerdings stöhnend –, daß er mit dem Kopf fast auf die Diele stieß. Es war ein sehr schöner, wenn auch erzwungener Diener, den er vorführte, und am liebsten hätte er laut gejault. „Ziemlich magere Entschuldigung“, knurrte Eike ungehalten. „Hast du der Lady nicht mehr zu sagen, du Flegel?“ „Du renkst mir den Arm aus“, japste Mißjöh Buveur, „ich – ich kann nicht mehr.“ „Du brauchst dich nur zu entschuldigen, wie sich das für einen Kavalier gehört“, sagte Eike erbarmungslos. „Wer eine Lady so infam beleidigt, wie du das getan hast, muß damit rechnen, daß ihm nicht nur der Arm, sondern auch die Schandschnauze ausgerenkt wird.“ „Ich – ich bitte um Entschuldigung, Ma'am“, sagte Mißjöh Buveur ächzend. „Es war ungehörig von mir –äh, ich war wohl etwas übergeschnappt.“ „Etwas übergeschnappt?“ höhnte Eike. „Bezecht warst du, voll bis obenhin, du
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verdammter Saufsack! Und jetzt darfst du dich noch mal abkühlen!“ Er blinkerte Mary O'Flynn zu, ließ den Arm los und trat zurück. Mary betätigte den Mechanismus unter dem Tresen, die Klappe öffnete sich, und Mißjöh Buveur, der sich noch nicht ganz aufgerichtet hatte, sauste in dieser Nacht zum zweiten Male durch die Rutsche ins Wasser. Daß er dabei noch einen Fluch ausstieß, zeugte keineswegs davon, daß bei ihm Reue eingekehrt war. Eike gab sich da auch keinen Illusionen hin. Aber vielleicht reichte dieser Denkzettel, daß sich Mißjöh Buveur zumindest in der nächsten Zeit etwas manierlicher verhielt. Wie Eike feststellte, schwamm der Franzose dieses Mal zum Strand und haute sich dort hin. Jetzt war Muddy an der Reihe. Der Boston-Mann hatte ihn bereits auf die Rutsche gezogen und schüttete dem Kerl eine Pütz Wasser über den Kopf – eine Vorsichtsmaßnahme. Denn wenn er bewußtlos ins Wasser stürzte, konnte es tatsächlich passieren, daß er seine letzte Reise antrat. Das Wasser erfüllte seinen Zweck. Muddy, der auf dem Rücken lag, bewegte sich und murmelte etwas Unverständliches. Dann öffnete er die Augen und fluchte, als er den Boston-Mann und Eike erkannte. Mühsam rappelte er sich zum Sitz auf. Daß er auf der Klappe saß, registrierte er nicht. „Wo ist Mißjöh Buveur?“ fragte er mit schriller Stimme. „An Land“, erwiderte Eike. „Du hast ihn bis oben mit Bier und Rum vollgetrichtert. Warum?“ „Das geht dich einen Dreck an!“ „Ich warne dich, Freundchen“, sagte Eike. „Du kannst mich mal!“ Das klang schon wieder nach Gift und Galle. „Du mich auch“, entgegnete Eike und nickte Mary zu. Es funktionierte zuverlässig wie immer, und Muddy verschwand mit Gebrüll von der Bildfläche in jenem Element, das ihm so zuwider war. Eike und der Boston-Mann traten hinaus auf die Terrasse, um festzustellen, wohin
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sich Muddy wenden würde. Vielleicht stach ihn wie seinen Saufkumpan der Hafer, und er wollte zurück in die „Rutsche“. Er wollte. Der Teufel mochte wissen, was in diesen beiden Kerlen derzeit vor sich ging. Sie waren von einer penetranten Aufdringlichkeit, und es interessierte sie die Bohne, ob Mary O'Flynn die „Rutsche“ schließen wollte. Mitternacht war vorbei, und sie hatte weiß Gott keinen Grund, wegen diesen beiden Krakeelern länger aufzubleiben. Muddy paddelte auf die Leiter zu, packte nach den Holmen und stieg nach oben. An der Pforte empfingen ihn Eike und der Boston-Mann und versperrten ihm den Weg in die „Rutsche“. „Troll dich, Robinson“, sagte Eike. „Missis O'Flynn will die ‚Rutsche' schließen, und dem hast du dich zu fügen. Sie hat das Hausrecht, nicht du.“ „Was heißt hier Hausrecht!“ giftete Muddy. „Ich will noch 'n Rum trinken, und das werde ich auch. Hab ja lange genug drauf verzichten müssen!“ In Eike stieg die Galle hoch. „Ja!“ brüllte er. „Du hast zwei Wochen Arrest abgebrummt, weil du auf Wache gepennt hattest, du Dreckskerl. Wäre das nicht passiert, hättest du auch auf nichts verzichten müssen und jeden, Tag Rum saufen können. Daß du verzichten mußtest, ist deine Schuld. Aber das scheinst du nicht zu kapieren, genauso wenig wie du offenbar nicht kapierst, daß wir alle uns hier nach bestimmten Gesetzen zu richten haben ...“ „Dein Quatsch interessiert mich nicht!“ fauchte Muddy. „Gebt den Weg frei oder ...“ Seine Rechte fuhr zu dem Messer im Gurt. Es war keine Drohgebärde. Er zog es, duckte sich lauernd und bewegte die Messerhand hin und her. Gleichzeitig rückte er mit kleinen Schritten vor. Eike und der Boston-Mann wichen zurück und auseinander. Auf Muddys Gesicht erschien ein triumphierendes Grinsen. Er hielt die Schlacht wohl schon für gewonnen – ein Zeichen dafür, daß es ihm
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derzeit an Realitätssinn ganz erheblich mangelte. Vielleicht hatte ihm der Alkohol das Gehirn vernebelt. „Habt wohl Angst vor einem kleinen Messerchen, he?“ höhnte er. „Könnte doch sein, daß ich euch was auf schlitze oder abschnipple, wie?“ „Nichts von beidem!“ ertönte eine Stimme von der Tür zur „Rutsche“ her, Mary O'Flynns Stimme, scharf und hart und energisch. „Laß das Messer fallen, Robinson, oder du fängst eine Musketenkugel ein. Und verlaß dich drauf: Ich kann mit dem Ding umgehen, und auf diese Distanz würde auch ein Blinder treffen.“ Sogar der vernebelte Muddy begriff, daß er jetzt einpacken konnte. Die rothaarige Frau würde schießen, ihre Courage hatte sie oft genug unter Beweiß gestellt. Das Messer polterte auf die Planken der Terrasse. Mary O'Flynn trat etwas vor, setzte die Muskete ab, lachte hart und sagte: „Der Schießprügel ist ungeladen, Robinson!“ * Muddy stieß einen gellenden Wutschrei aus und wollte sich auf Mary O'Flynn stürzen. Der Boston-Mann war schneller – er brauchte nur den Fuß vorzustellen und ihn beim Sturz Muddys etwas hochzureißen. Das bewirkte, daß der Kerl mit der Nase zuerst auf die Planken krachte. Dieses Mal stand ihm kein Landekissen zur Verfügung, das seinen Sturz abfing. Diese Landung war ungleich härter und für ihn äußerst schmerzhaft. Als. Stoßdämpfer sind Nasen auch ungeeignet. Muddy stimmte eine Jammerarie an, die jedem Schöngeist die Tränen in die Augen getrieben hätte. Den Boston-Mann berührt das Gejaule nicht sonderlich. Er schnappte sich Muddy an Kragen und Hosenboden, hievte ihn hoch, schwenkte ihn hin und her, um Schwung zu kriegen, und ließ ihn dann übers Schanzkleid ins Wasser fliegen:
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Es wurde eine Art Segelflug mit Bauchlandung. Die Kühle des Wassers würde der Nase gut tun, ihren schiefen Stand konnte sie natürlich nicht regulieren. Von weiteren Rumportionen nahm Muddy Abstand. Er schaufelte sich an Land und schnorchelte dabei wie ein sterbender Gänserich. Dann entdeckte er seinen Zechkumpan, änderte den Kurs und watete bei ihm auf den Strand. Mißjöh Buveur sägte wieder und ließ sich bei dieser Arbeit auch nicht stören. Muddy sackte schlaff in sich zusammen und streckte sich neben ihm aus. Seine Energien waren offensichtlich erschöpft. Kurz darauf beteiligte er sich an den Sägearbeiten Mißjöh Buveurs. Mary O'Flynn schloß die „Rutsche“ ab und wurde vom Boston-Mann und Eike an Land zu den Hütten gepullt. Eine Gestalt tauchte dort auf, groß und wuchtig – der Wikinger. Wenn der Schwarze Segler im Stützpunkt lag, schlief er meist in dem Blockhaus, das er, seine Frau Gotlinde und ihr Zwillingspärchen Thyra und Thurgill bewohnten. „Was war los?“ erkundigte er sich und half Mary O'Flynn an Land. „Ich hörte so ein merkwürdiges Geschrei aus Richtung der ,Rutsche'.“ „Ach, nichts Besonderes“, erwiderte Eike einsilbig. „Nichts Besonderes?“ Der Wikinger runzelte die Stirn. „Heraus mit der Sprache, mein Freund. Wenn mich nicht alles täuscht, muß es Robinson gewesen sein, der geschrien hat.“ „Na gut“, sagte Eike unwillig, „Mißjöh Buveur und Muddy haben ein bißchen herumkrakeelt, und wir mußten sie etwas zurechtstutzen. Das war alles. Du weißt ja, wie das ist, wenn der Mißjöh einen über den Durst getrunken hat. Er kann dann unangenehm werden.“ „Wie unangenehm?“ „Dumme Reden halten und so.“ „Was hat er gesagt?“ Der Wikinger ließ nicht locker, und das war richtig. Als Kapitän hatte er ein Recht darauf, über alles, was einen Mann seiner Crew betraf, informiert zu werden.
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„Missis O'Flynn wollte um Mitternacht den Ausschank einstellen, was dem Mißjöh nicht paßte“, sagte Eike. „Er nannte sie eine ,alte Schlampe', und dann wollte er mit ihr ‚knutschen', wie er sich ausdrückte. Missis O'Flynn schmetterte ihm zwei Maulschellen, die ausreichten, daß er vom Stuhl kippte. Dann ließen wir ihn durch die Rutsche sausen. Später entschuldigte er sich bei Missis O'Flynn. Ähnlich verlief es mit Muddy.“ „Wo sind die Kerle jetzt?“ fragte der Wikinger. „Die pennen unten am Südstrand“, erwiderte Eike. Er räusperte sich und fügte. hinzu: „Es war verkehrt, daß Muddy wachfrei hatte, Kapitän. Gerade nach seiner Arreststrafe hätte er auf Teufel komm raus Wache schieben müssen. Schließlich hat er sich zwei Wochen lang auspennen können. Er hat übrigens den Mißjöh freigehalten – bei seiner Ichbezogenheit eine recht merkwürdige Sache. Er teilt ja sonst mit niemandem. Ich habe den Eindruck, daß irgendwas dahintersteckt.“ „Was willst du damit sagen?“ Eike zuckte unglücklich mit den Schultern. „Ich weiß es nicht. Es ist einfach das Gefühl, daß da etwas nicht stimmt. Mich stört das Widersprüchliche bei der Sache. Ich habe noch nie erlebt, daß Muddy für einen von uns einen ausgegeben hätte. Plötzlich tut er das – und dann ist es ausgerechnet der Obersaufbold unserer Crew, der von ihm zu Bier und Rum eingeladen wird.“ „Bei jedem anderen wäre er ja auch auf Ablehnung gestoßen“, sägte der Wikinger und äußerte sich damit ähnlich wie Arne, als Eike dieses Thema an ihrem Tisch in der „Rutsche“ angeschnitten hatte. „Schon richtig“, entgegnete Eike. „Aber du weißt, daß Mißjöh Buveur wie ein Faß ohne Boden ist. Das heißt, daß Muddy vermutlich seine ganze Heuer drangeben mußte, um den Franzosen abzufüllen. Während der Sauferei hat er ständig auf den Mißjöh eingeredet – eine weitere Merkwürdigkeit, denn gewöhnlich verhält sich der Kerl muffig und maulfaul. Das
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alles paßt eben nicht zusammen. Und zuletzt waren die beiden Burschen auch frecher und aufsässiger als sonst.“ „Hm, das klingt alles nicht sehr gut“, murmelte der Wikinger. Er blickte zu Old Donegals Eheweib. „Du wurdest übel beleidigt, Mary. Und das ist eine Sache, die ich sehr streng beurteile. Es geht nicht an, daß eine Frau im Bund der Korsaren von einem unserer Kerle in derartiger Weise angepöbelt wird.“ „Er hat sich entschuldigt, Thorfin“, sagte Mary O'Flynn. „Gezwungenermaßen“, knurrte Eike, „weil ich ihm den Arm verdrehte.“ Der Wikinger horchte auf. „Wie war das?“ Da berichtete ihm Eike die ganze böse Geschichte von Anfang bis zum Ende und im Detail, und die Miene des Wikingers wurde immer grimmiger. Mit polternder Stimme sagte er: „Das geht mir entschieden zu weit. Die sind wohl verrückt geworden, diese beiden Schnapsdrosseln!“ „Reg dich nicht auf, Thorfin“, sagte Mary O'Flynn sanft. „Sie haben beide ihr Fett gekriegt, und das nicht zu knapp. Mit solchen Typen werde ich allemal fertig, und beide Kerle waren viel zu bezecht, um mir gefährlich zu werden.“ „Ich weiß, daß du dich zu wehren verstehst, Mary“, sagte der Wikinger, „und das ist auch gut so. Aber was wäre geschehen, wenn du allein gewesen wärst? Was wäre geschehen, eine weniger resolute Frau hätte sich mit diesen Kerlen auseinandersetzen müssen? Da ist noch etwas, aber es betrifft mich. Ich bin der Kapitän einer Mannschaft von recht wilden Kerlen, aber ich bin kein Räuberhauptmann. Ich kann und darf nicht zulassen, daß sich Männer meiner Mannschaft einer Frau gegenüber wie Strolche benehmen, sie anpöbeln und ihr möglicherweise Gewalt antun. Das nehme ich nicht hin, hier bin ich unmittelbar betroffen. Frauen sind in unserem Bund kein Freiwild, unsere Männer sind ihnen Respekt und Manierlichkeit schuldig. Das ist der Punkt.“
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„Ich verstehe“, murmelte Mary O'Flynn. Sie schaute den Riesen aufmerksam an. „Was willst du tun, Thorfin?“ „Sie auf meine Art bestrafen“, erwiderte der Wikinger hart, wandte sich an den Boston-Mann und sagte: „Hol mir die Neunschwänzige von Bord, mein Freund, und bringe sie zu der Stelle, wo die Kerle liegen. Ich gehe mit Eike schon voraus.“ Er verbeugte sich vor Old Donegals Frau. „Gute Nacht, Mary. Und ich möchte mich für die Verhaltensweise der beiden Männer aus meiner Crew entschuldigen. Es soll und darf nie wieder passieren.“ Mary O'Flynn nickte und sagte: „Gut, es ist deine Entscheidung, Kapitän. Gute Nacht!“ Sie drehte sich um und ging zu ihrem Blockhaus. Eike stieg an Land, der Boston-Mann pullte mit der Jolle zum schwarzen Segler, der in der Cherokee-Bucht vor Anker lag. Eike und der Wikinger gingen am Strand entlang zum südlichen Teil der Bucht, die von einer Landzunge abgeschirmt wurde. Diese Landzunge war wie eine Sichel geformt, deren Spitze nach Nordwesten zeigte. An ihrem tiefsten Punkt im Süden lag der Steg, der zur „Rutsche“ führte. An die dreißig Schritte östlich des Stegs schnarchten die beiden Kerle im Dünensand um die Wette. Zwei Doppelschläge mit der Schiffsglocke auf dem Schwarzen Segler verkündeten, daß es zwei Uhr morgens war. Über die Bucht fächerte ein leichter Wind aus Nordosten. Es war alles sehr friedlich. Dabei hatte das Drama längst seinen Anfang genommen, genauer gesagt seit dem Zeitpunkt, als der Mann namens Robinson seinen Arrest in der Vorpiek am Morgen des Vortages verlassen hatte. Da hatte er genau gewußt, was er wollte. Und am Abend hatte er seinen Zechkumpan Mißjöh Buveur in seinen Plan eingeweiht und überredet, mitzumachen. Eike hatte richtig beobachtet –aber nicht die richtigen Schlüsse gezogen. Vielleicht hätte sich dann alles ganz anders entwickelt.
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Der Bierdunst stand wie eine Wolke über den beiden Schläfern –trotz der klaren Nachtluft. Der Wikinger schnüffelte angewidert und murmelte: „Wie in der übelsten Hafenspelunke.“ Nun ja, da saß Thorfin Njal eigentlich im Glashaus. Denn wenn er sich ausgiebig dem Bier gewidmet hatte, umwehte ihn auch nicht der Duft eines Rosengartens – und dieses zum Leidwesen seiner Ehefrau Gotlinde. Und er pflegte ebenso zu schnarchen wie die beiden Kerle vor ihm im Sand. Das war nun mal so, und stets erregte sich derjenige, der sich in einem nüchternen Zustand befand. Eike dachte an den praktischen Teil der Dinge, die da kommen sollten, und. fragte: „Willst du sie beide gleichzeitig durchklopfen, Kapitän?“ „Das hatte ich vor. Warum fragst du?“ Eike seufzte und sagte: „Ich habe nach diesem Teil der Nacht keine Lust mehr, den Rest der Nacht damit zu verbringen, hinter Robinson herzulaufen. Denn der türmt garantiert, klettert auf eine Palme, flüchtet durchs Wasser oder rennt bis ans andere Ende der Insel. Und wenn ich ihn dann erwische, dann könnte es passieren, daß ich diese Ratte totschlage. Was mich betrifft, ich garantiere für nichts mehr.“ „Verstehe.“ Der Wikinger blickte zu dem Steg. „Na gut, wir binden ihn an einen Pfosten im Wasser. Einverstanden?“ „In Ordnung.“ Sie zogen den beiden Kerlen die Leibriemen aus den Schlaufen und schleiften Muddy zum Steg. Dort fesselten sie ihn an einen Pfosten, der etwa knietief im Wasser stand. Muddy schlief im Stehen weiter. Inzwischen glitt der Boston-Mann mit der Jolle heran und trieb sie auf den Strand. Er sprang heraus und warf seinem Kapitän die neunschwänzige Katze zu. „Danke“, sagte der Wikinger. „Ist eine Pütz in der Jolle?“ „Aye, Kapitän.“ „Gut so. Dann mal los. Weckt ihn auf.“
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Der Boston-Mann holte die Pütz, füllte sie mit Wasser und klatschte es Mißjöh Buveur ins Gesicht. Der dicke Franzose brauchte sechs Duschen, um wach zu werden. Als er seinen Kapitän erkannte, rappelte er sich auf und schwankte hin und her. „Ist was?“ fragte er und entließ einen Rülpser. „Allerdings ist was“, erwiderte der Wikinger eisig. „Stimmt es, daß du Missis O'Flynn eine alte Schlampe genannt und sie aufgefordert hast, sie möge sich zum Knutschen auf deinen Schoß setzen, wobei du auch noch die Bezeichnung ‚Süße' gebrauchtest?“ „Weiß ich nicht“, sagte Mißjöh Buveur frech. „Wer behauptet das?“ „Dafür gibt es drei Zeugen“, entgegnete der Wikinger, und seine Stimme war noch eisiger geworden. „Eike, der Boston-Mann und Missis O'Flynn selbst.“ „Die spinnen ja“, erklärte Mißjöh Buveur unverfroren. Die Augen des Wikingers wurden schmal. Was hatte Eike vor etwa einer Viertelstunde gesagt? Und zuletzt waren die beiden Burschen auch frecher und aufsässiger als sonst! Das fiel Thorfin Njal in diesem Moment ein. Bei diesem Kerl stimmte es. Der benahm sich anders als sonst, tatsächlich. „Du behauptest, daß Eike, der BostonMann und Missis O'Flynn spinnen, daß sie also lügen?“ fragte der Wikinger mit gefährlich leiser Stimme. „Die haben sich abgesprochen, um mir was anzuhängen“, erwiderte Mißjöh Buveur patzig. „Ist doch klar.“ Der Boston-Mann und Eike waren drauf und dran, dem Kerl an die Gurgel zu springen, aber der Wikinger hielt sie zurück. „Immer schön langsam“, sagte er zu ihnen, blickte wieder Mißjöh Buveur an und fragte: „Warum sollten sie dir was anhängen, Monsieur? Hast du dafür einen Beweis?“ „Das ist eine Verschwörung gegen mich“, sagte Mißjöh Buveur.
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„Wie schrecklich! Eine Verschwörung also. Aber wo ist der Beweis? Und wem soll ich mehr glauben – einem versoffenen Kerl, der wie Bierjauche stinkt, oder einer ehrbaren Frau und zwei gradlinigen Männern?“ Der Wikinger hatte die ganze Zeit die Hände hinter dem Rücken zusammengehalten, in der Rechten die Neunschwänzige. Jetzt löste er die Hände und ließ die Rechte an der Seite hin und her pendeln. Die neun Lederriemen mit den Knoten an den Spitzen schleiften durch den Sand und verursachten ein eigenartiges, scharrendes Geräusch. Mißjöh Buveur stierte zu der Peitsche, seine Augen quollen hervor, sein Gesicht schien sich zu verfärben und grau zu werden. „Hast du mich angelogen, Monsieur Buveur?“ fragte der Wikinger, und seine Stimme war immer noch leise. „Ich – ich sage überhaupt nichts mehr!“ stieß der Franzose hervor. „Hier – hier wird einem ja doch nur das Wort im Munde herumgedreht.“ Der Wikinger bewies Geduld. Er sagte: „So? Dir wird das Wort im Munde herumgedreht? Mir scheint eher, dies trifft auf dich zu. Einen Beweis für deine Behauptungen habe ich noch nicht gehört. Nicht einen einzigen. Nur Ausflüchte. Wäre es dir lieber, wir lassen ein Bordgericht darüber entscheiden, wer hier lügt?“ Mißjöh Buveur spuckte in den Sand. „Ein Bordgericht? Eins, das von dir bestochen ist, mir was anzuhängen?“ Da war es mit der Geduld des Wikingers vorbei. Mißjöh Buveur hatte kaum ausgesprochen, da fetzte ihm der Nordmann von unten her die Neunschwänzige über die Visage. Mißjöh Buveur brüllte wie ein Stier und wollte sich auf den Wikinger stürzen. Aber da pfiff bereits der zweite Peitschenschlag knapp über den Sandhoden, die Riemen wickelten sich um die Knöchel des Franzosen, und ein kurzer Ruck genügte, um den Kerl umzureißen. Er flog mit dem Gesicht in den Sand.
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Sekunden später tanzte die neunschwänzige Katze über seinen Rücken und zeigte ihre Krallen. Der Kapitän des schwarzen Viermasters „Eiliger Drache über den Wassern“, nunmehr auch Zuchtmeister, kannte kein Erbarmen. Dabei blieb er eiskalt. Es mußte getan werden – basta! Es geschah selten, denn der Riese Thorfin Njal verachtete die Prügelstrafe. Aber hier war das Maß voll. Mißjöh Buveur erhielt die Dresche seines Lebens. Aus dem Brüllen wurde ein Kreischen, dann ein Winseln, zuletzt ein Stöhnen. Er versuchte durch den Sand davonzukriechen, aber die Katze ließ es nicht zu. Sie blieb bei ihm, zerfetzte Hemd und Hose und zog ihre Krallen über seinen Rücken, bis das Wimmern verstummte und Mißjöh Buveur sich nicht mehr bewegte. Die Gnade der Bewußtlosigkeit war ihm zuteil geworden. „Ins Wasser mit ihm“, befahl der Wikinger, Eike und der Boston-Mann schleiften den Franzosen in knöcheltiefes Wasser und wälzten ihn dort auf den Rücken. Mißjöh Buveur kam schnell wieder zu sich. Das Salzwasser biß zu, aber es hatte auch eine heilende Wirkung. Der Wikinger starrte auf ihn hinunter. „Wer hat gelogen?“ fragte er grimmig. „Du oder Eike, der Boston-Mann und Missis O'Flynn?“ „Ich“, sagte Mißjöh Buveur mit schwacher Stimme. „Dein Glück“, sagte der Wikinger. „Und jetzt höre gut zu, mein Freund: Wer unsere Frauen im Bund der Korsaren beleidigt, anpöbelt oder gar versucht, ihnen Gewalt anzutun, muß damit rechnen, daß er an die Rah geknüpft wird. Das gleiche gilt für jeden, der seinen Kapitän derart schamlos anlügt. Ich habe dir das erspart und dir dafür die Neunschwänzige zu kosten gegeben. Beim nächsten Mal aber baumelst du. Hast du das verstanden?“ „Jawohl, Kapitän.“ Der Wikinger nickte. „Gut, das wäre das eine. Jetzt will ich wissen, warum dich Robinson zum Saufen eingeladen hat.“
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„Äh – sonst trinkt ja keiner mit ihm“, erwiderte Mißjöh Buveur. „Alle lehnen ihn ab, und da habe ich mich seiner erbarmt, als er mich fragte, ob er mich einladen dürfe ...“ „Er hat sich seiner erbarmt!“ unterbrach ihn Eike wütend. „Soll das ein Witz sein?“ „Halt's Maul, Eike“, sagte der Wikinger freundlich. „Ich glaube ihm –auch wenn das Erbarmen mit Saufsucht zu bezeichnen ist, nicht wahr, Monsieur?“ „Na ja“, murmelte Mißjöh Buveur, „ich trinke eben gern einen oder zwei, aber Robinson tut mir auch leid, weil keiner mit ihm spricht und alle ihn meiden.“ „Das ist unrichtig, mein Freund“, korrigierte der Wikinger. „Es ist Robinson selbst, der sich aus der Gemeinschaft der Crew absondert und den Teufel darum kümmert, ob er sie mit seinem Verhalten vor den Kopf stößt. Er denkt nicht daran, sich einzuordnen. Er vernachlässigt seine Körper- und Kleiderreinigung, er stinkt, er drückt sich vor jeder Arbeit, und zuletzt hat er auf der Mittelwache gepennt. Das letztere wiegt am schwersten, denn es bringt den ganzen Stützpunkt in Gefahr. Das sind die Tatsachen – und nicht wir haben uns nach Mister Robinson zu richten, was ja wohl absurd wäre, sondern er hat sich einzufügen und unsere Regeln zu respektieren. Und mir erzähle keiner, diese Regeln seien nicht einzuhalten. Sie erlauben uns ein Höchstmaß an Freiheit und Unabhängigkeit. Jeder von uns weiß das und ist auch bereit, dafür zu kämpfen. Nur den Mister Robinson kümmert das nicht, er lebt nach seinen eigenen Regeln und fordert damit die anderen heraus. Darüber solltest du nachdenken, mein Freund.“ „Jawohl, Kapitän“, murmelte Mißjöh Buveur, und es war nicht zu erkennen, ob der Wikinger tauben Ohren predigte. * Ein paar Pützen Wasser weckten auch die Lebensgeister des Mannes Robinson. Sie reichten allerdings nicht aus, sich von den Fesseln zu befreien oder gar den
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Stegpfosten aus dem Grund zu reißen. Diese Pfosten –auch die des Pfahlbaus – waren mit einem Dreibeingestell hoher Abaco-Kiefernstämme, Mehrfachtalje und einem eisenbeschlagenen Rammbock in den Grund getrieben worden. Er blickte tückisch, als er den Wikinger vor sich und hinter ihm den Boston-Mann und Eike sah. Dann entdeckte er seinen Zechkumpan. Der hockte im Sand neben der Jolle, den Kopf gesenkt, den Rücken gebeugt. Sein Hemd war als solches nicht mehr zu erkennen. Es bestand nur noch aus Fetzen. Hatte der Idiot was ausgeplaudert? Robinson preßte die Lippen zusammen. „Hör zu, Mister“, sagte der Wikinger, „mir wurde berichtet, du hättest nach Schluß des Ausschanks in der ‚Rutsche' versucht, dort wieder einzudringen, um weiterzusaufen. Dabei hättest du ein Messer gezogen und dem Boston-Mann und Eike angedroht, ihnen was aufzuschlitzen oder abzuschnippeln. Stimmt das?“ „Na und?“ schnappte Robinson, genannt Muddy. „Bestimmen hier vielleicht die beiden Kerle, ob unsereiner was trinken darf?“ „Wenn du frech wirst, Mister“, sagte der Wikinger und brachte die Katze hervor, die er wie zuvor hinter dem Rücken gehalten hatte, „dann können wir das Tänzchen gleich eröffnen. Ich warne dich. Ich warne dich insbesondere im Hinblick auf dein Wachvergehen, für das du von mir mit zwei Wochen Arrest bestraft wurdest. Du hast also allen Grund, hier nicht das Maul aufzureißen, klar?“ „Die beiden Kerle haben kein Recht, mir was zu verbieten!“ fauchte Muddy. „Irrtum, Mister“, entgegnete der Wikinger grollend. „Sie hatten ein Recht, und zwar deswegen, weil Missis O'Flynn die ‚Rutsche' geschlossen hatte. Sie bestimmt in Abwesenheit ihres Mannes darüber, ob und wann die ‚Rutsche' geöffnet oder geschlossen wird. Sie hat nämlich die Arbeit ...“ „Und verdient sich dabei 'n goldenen Arsch!“ unterbrach ihn Muddy giftig.
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Der Wikinger trat einen Schritt zurück und schlenkerte die Katze hin und her. „Nur zu, Mister“, sagte er kalt, „weiter so. Ich höre. Und ich zähle alles zusammen, was du hier an Dreck ausspuckst. Unter dem Strich ergibt das dann die Summe an Hieben mit der Katze, und da hat sich bereits einiges summiert. Möglich, daß es ausreicht, dir dein Fell in Fetzen zu schlagen.“ Muddy wechselte die Taktik und begann zu grinsen. „Ich bin wehrlos!“ jaulte er und zerrte an den fesseln. „Willst du ein Messer haben und auch deinen Kapitän angreifen?“ brüllte ihn der Wikinger an. „Na gut, bringen wir es hinter uns. Bindet ihn los und gebt ihm ein Messer. Und dann mögen dir die Götter beistehen, Mister!“ „Der haut doch ab“, sagte Eike verächtlich. Der Wikinger sagte über die Schulter: „Das war ein Befehl, Eike! Ist das klar?“ „Aye, Kapitän.“ Beide Männer traten zu Muddy und lösten die Riemen. Eike übergab ihm sein Messer – mit dem Griff voran. Muddy wog es in der Hand – und ließ es ins Wasser fallen. Und dann huschte er los wie ein Wiesel. Möglicherweise wäre ihm die Flucht gelungen, wenn er noch den Leibriemen gehabt hätte, der die Hose hielt. So aber war sie ihm nach drei Sätzen bis unter die Knie gerutscht, er verhedderte sich und stürzte der Länge nach in den Sand. Und dort empfing er seine Strafe, und sie war fürchterlich. Es gab keine Schonzeit, und der Zuchtmeister war von Zorn erfüllt, von Berserkerwut. Es war die Ohnmacht des Mannes, der plötzlich erkannt hatte, daß sich dieser Kerl nie ändern würde. Er war unbelehrbar. Kein Zureden, keine Ermahnungen, kein noch so harter und langer Arrest vermochten ihn umzuwandeln. Auch die Peitsche nicht, aber umso blindwütiger schlug der Wikinger zu. Es waren Eike und der Boston-Mann, die ihrem Kapitän in die Arme fielen und davon abhielten, Robinson, genannt
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Muddy, mit der neunschwänzigen Katze totzuschlagen. Er hatte längst auf einen Ohnmächtigen losgedroschen. „Verdammt, verdammt!“ sagte der Wikinger keuchend und wischte sich den Schweiß vom Gesicht. Er ließ die Katze in den Sand fallen wie eine heiße Kartoffel, wandte sich um, watete ins Wasser, nahm den Kupferhelm ab, füllte ihn mit Wasser und goß es sich über den mächtigen Schädel, immer wieder, als wolle er etwas abspülen, was ihn beschmutzte. Dann warf er den Helm zurück auf den Strand, watete tiefer und stürzte sich in voller Fellkleidung ins Wasser. Er schwamm bis zur Leiter der „Rutsche“, enterte dort auf, schüttelte sich und kehrte über den Steg zum Land zurück. Dumpf dröhnten die Bohlen. Dunkel klang auch seine Stimme, als er sagte: „Danke, daß ihr mich gebremst habt. Ich glaube, ich hätte ihn umgebracht. Ich weiß es jetzt: er wird immer die dreckige Ratte bleiben, die er ist. Das ist wie ein Fluch über diesem Mann. Und er bringt Unheil.“ Er strich sich über den nassen Bart. „Wo habe ich ihn damals aufgelesen – vor fünfzehn oder zwanzig Jahren? Bei Diego auf Tortuga in der ,Schildkröte`. Ich muß verrückt gewesen sein. Da greinte er mir die Ohren voll, daß er bei uns anheuern wolle.“ „Er hatte eine Frau vergewaltigt und dann umgebracht“, sagte Eike hart. „So war das. Die Kerle auf Tortuga wollten ihn an den nächsten Ast hängen. Du nahmst ihn unter deinen Schutz und verstecktest ihn bei uns an Bord.“ „Damals zeigte er Reue, und ich war bereit, ihm zu glauben. Wer eine Untat bekennt, muß die Chance erhalten, sie zu sühnen.“ „Und? Wie hat er die Chance genutzt, die du ihm gabst?“ fragte Eike schroff. „Er hat sie nicht genutzt, ich weiß“, erwiderte der Riese mit schwerer Stimme. „Ich habe mich geirrt.“ Eike nickte. „Ja, das hast du, und ich erinnere mich auch, daß Arne, Olig, der Stör und ich dir damals abrieten. Dafür wurden wir von dir zusammengestaucht.“
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„Wir waren damals unterbemannt, Eike“, sagte der Wikinger, und es klang wie eine Entschuldigung. „Ein Frauenmörder und Sittenstrolch hatte in unserer Mannschaft nichts zu suchen“, entgegnete Eike erbittert. „Jetzt darfst du darüber nachdenken, ob sich so ein Verbrechen, wie es auf Tortuga passierte, bei uns hier im Stützpunkt wiederholen könnte. Und vielleicht ist Gotlinde das Opfer!“ Der Wikinger prallte zurück. „Bist du verrückt?“ „Nein, aber nüchtern genug, eine solche Möglichkeit in Betracht zu ziehen“, knurrte Eike. „Das sind die Realitäten. Ein Mann wie Robinson ist nicht berechenbar. Du, zum Beispiel, sträubtest dich, dem Vorschlag des Seewolfs zu folgen und Don Antonio de Quintanilla in den Bund aufzunehmen. Und doch wurde Don Antonio vom Saulus zum Paulus. Er erhielt seine Chance, und er nutzte sie. Ich könnte mir heute keinen besseren Mann als Verwalter unseres Magazins vorstellen als ihn. Und diesen Mann wolltest du sogar aufhängen! Das Problem Robinson ist viel aktueller, als es ist zu fragen, was noch alles passieren muß, bis du eine endgültige Entscheidung triffst.“ „Die hätte ich wohl getroffen, wenn ihr nicht gewesen wärt“, erwiderte der Wikinger zornig. „Falsch!“ sagte Eike unerschrocken. „Totschlag im Affekt an einem Mann der Crew ist eines Kapitäns 'nicht würdig. Darum auch haben der Boston-Mann und ich dich zurückgehalten. Ein anderer sachlicher Grund war, daß Robinson in dieser Nacht keine Verbrechen begangen hat, die eine Todesstrafe rechtfertigen würden. Seine Antworten dir gegenüber waren unverschämt genug, berechtigten dich aber nicht, ihn totzuschlagen. So sehe ich das jedenfalls.“ „Ich auch“, sagte der Boston-Mann knapp und kurz. „Gut.“ Der Wikinger senkte den Kopf. „Ich werde über alles gründlich nachdenken und später auch mit unseren Kapitänen darüber sprechen. Bringt die
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Kerle an Bord. Morgen sollen sie den ganzen Tag das Oberdeck mit dem Holystone scheuern, unter Bewachung, versteht sich. Sie sollen beschäftigt werden und arbeiten, dass die Schwarte kracht. Entschuldigungen wegen ihrer zerdroschenen Rücken gibt es nicht. Laßt uns abwarten, wie sie sich verhalten.“ „In Ordnung, Kapitän“, sagte Eike, und der Boston-Mann nickte. Sie verfrachteten die beiden Kerle in die Jolle und pullten über die Bucht zu ihrem Schiff. Der Wikinger stapfte mit schweren Schritten am Strand entlang zu der kleinen Blockhüttensiedlung. Vieles ging ihm durch den Kopf. Es waren keine Gedanken, die ihn froh stimmten. 5. Es war doch seltsam, und Eike wunderte sich. Sie waren fleißig und willig, sie motzten nicht, und trotz ihrer zerschundenen Rücken packten sie jede Arbeit an, die ihnen zugeordnet wurde. Es lief wie Butter, und es gab nichts zu tadeln. Es war, als hätte es nie Ärger mit ihnen gegeben, und nicht ein einziger Mann der Crew hatte irgendeinen Anlaß, sich über Robinson oder Mißjöh Buveur zu beklagen. Ja, es passierte das Unfaßbare, daß sich Muddy, „die dreckigste Ratte an Bord“, am Morgen des nächsten Tages – es war der 17. April – eine Balje mit Wasser auf die Kuhl stellte, sich auszog, hineinstieg, einseifte und regelrecht badete. Die Kerle an Bord des Schwarzen Seglers kriegten das Maul nicht mehr zu. Ostern und Pfingsten schienen auf einen Tag gefallen zu sein. Das große Staunen ging um auf „Eiliger Drache über den Wassern.“ Eike stieß den Boston-Mann an und fragte verblüfft: „Verstehst du das?“ „Die Dresche“, erwiderte der Boston-Mann bedächtig, „die Dresche hat das bewirkt. Der Kapitän hat genau gewußt, was er tat. So ein Tänzchen mit der Katze schafft
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Wunder, und da werden auch die wildesten Burschen zahm.“ „Hm“, brummelte Eike und schaute zu, wie Muddy ein paar Kerle in seiner Nähe mit Wasser bespritzte und bis zu den Ohren grinste, als sie protestierend zurückwichen. Wirklich, ein feiner Spaß war das, eine Überraschung sowieso, eine vollendete Überraschung. Ich muß mich wohl verrannt haben, dachte Eike selbstkritisch. Und irgendwann werde ich mich bei Mister Robinson entschuldigen. Und was tat Mißjöh Buveur? Nun, der saß zur Zeit auf einer Stufe des Niedergangs zur Back, die Hände auf den Oberschenkeln verschränkt und drehte Däumchen. Seine sonst so gerötete Schnapsnase hatte eine ganz normale Tönung. Seine Miene wirkte freundlich und friedlich. Und wohlwollend sah er zu, wie sein Zechkumpan badete. Dessen Rücken sah allerdings übel genug aus, und Eike fragte sich, wie Muddy wohl schlief. Vermutlich auf dem Bauch, obwohl der auch schlimm gezeichnet war. Da war überhaupt keine Stelle an diesem Körper, die keine Spuren der Katze zeigte, Striemen saß an Striemen, zum Teil waren sie aufgeplatzt und hatten geblutet. Und die Nase Muddys stand auf gräßliche Weise schief, war immer noch verschwollen und, schillerte in bunten Farben. Ein zäher Hund, dachte Eike. In dem steckt mehr, als wir alle vermuteten. Er mußte nur gefordert werden, um zu zeigen, daß er sich selbst gegenüber Härte aufbringt. Muddy vergrößerte noch das Wunder seiner Wandlung, als er nach dem Bad frisches Wasser holte und in der Balje seine Plünnen durchwusch. Den Kerlen blieb schier die Spuke weg. Sie konnten sich nicht erinnern, Muddy je bei einer derartigen Tätigkeit gesehen zu haben. Ja, und die Krone war, daß er freundlich grinsend anbot, auch schmutzige Hosen oder Hemden der anderen zu waschen. Er habe nun mal damit angefangen, und da sei es sozusagen „ein Aufwaschen“. Mit diesem Angebot rannte Muddy nicht nur
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offene Türen ein, sondern überzeugte auch die letzten Zweifler, daß er sich von Grund auf gewandelt hatte. Knapp fünf Minuten später spielte Muddy die Waschfrau vom Dienst und wusch und wusch und wusch, unverdrossen, eifrig und sogar penibel. Dabei flötete er, wenn auch unmelodisch, aber das störte niemanden. Bald hingen an ausgespannten Leinen Hosen, Jacken, Hemden, Strümpfe, Halstücher, Unterwäsche. Die Kerle auf den anderen vor Anker liegenden Schiffen des Bundes glotzten, Spektive wurden herumgereicht, und man bestaunte das Wunder auf „Eiliger Drache über den Wassern“, der mit seinen bunt in der Sonne trocknenden Wäschestücken gewissermaßen über die Toppen geflaggt hatte. Aber Blickmittelpunkt war die an der Balje stehende Waschfrau namens Muddy, die ein Stück nach dem anderen einweichte, einseifte, über einem Waschbrett rubbelte und schrubbte, spülte, auswrang und an eine Leine hängte. Man konnte das nicht anders als eine Waschorgie nennen. Daß sie von jenem Mann betrieben wurde, der im ganzen Stützpunkt als eingefleischter Schmierlappen bekannt war, grenzte ans Unfaßbare. Wie oft waren sie alle Zeugen gewesen – grinsende Zeugen –, wenn dem Wikinger und seinen Mannen wieder mal der Geduldsfaden über das Ferkel Muddy gerissen war und sie ihn sich zu einer gründlichen Reinigungskur vorgenommen hatten, zuletzt am Morgen vor zwei Tagen! Und nun das! Es war wirklich nicht zu fassen. „Das gibt's doch gar nicht“, sagte Jean Ribault verblüfft zu Karl von Hutten, mit dem er auf dem Achterdeck der „Isabella IX.“ stand. In Abwesenheit des Seewolfs und seiner Arwenacks hatten die „Le Vengeurs“, also die Ribault-Crew, das Schiff übernommen, um diesen schönen und schlanken Dreimaster nicht an der Ankertrosse verrotten zu lassen. Jedes Schiff brauchte seine Pflege, und es gab an Bord immer
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etwas zu tun, um jederzeit segelklar zu sein. Karl von Hutten, Sohn einer indianischen Häuptlingstochter und des Deutschen Philipp von Hutten, lächelte und deklamierte: „Das ist vom Herrn geschehen und ist ein Wunder vor unseren Augen!“ „Wie bitte!“ fragte der schlanke Franzose mit dem verwegenen Gesicht etwas verdutzt. „Psalm einhundertachtzehn, Vers dreiundzwanzig“, erklärte Karl von Hutten freundlich. „Dieser Psalm steht auch unter dem Motto ,Siegesfreude der Gerechten`.“ „Aha!“ Das klang etwas gallig. „Aber ob das ,vom Herrn' geschehen ist, erscheint mir doch ziemlich fraglich. Eher vermute ich in den ‚Herrn' unseren Poltermann Thorfin Njal, der, wie du weißt, diesen Schmierkittel Robinson ganz fürchterlich durchgewalkt hat.“ „Trotzdem bleibt's ein Wunder“, sagte Karl von Hutten. „Denn wie oft ist Robinson schon verdroschen worden – und das nie zu knapp –, und trotzdem hat das nie etwas bewirkt. Im Gegenteil, ich hatte immer den Eindruck, es würde noch schlimmer mit dem Kerl.“ „Den Eindruck hatte ich auch“, sagte Jean Ribault nachdenklich. „Und nun dieser Wandel? Glaubst du, er ist echt?“ Karl von Hutten wiegte den Kopf hin und her. „Schwer zu sagen. Andererseits grenzt das an Selbstverleugnung, plötzlich mit Wasser und Seife umzugehen. Ich möchte gern glauben, daß er sich verändert hat, aber so etwas bezeichnet man mit Wunschdenken.“ „Du bist also. skeptisch?“ „Ja, bin ich“, erwiderte Karl von Hutten unumwunden. „In all den Jahren hat der Kerl doch immer wieder für Stunk gesorgt. Mir ging das alles durch den Kopf, als uns der Wikinger zu seiner Beratung bat und berichtete, was sich in der Nacht mit Mary O'Flynn, Eike und dem Boston-Mann abgespielt hatte, als die beiden Kerle frech wurden und randalierten – ein notorischer Trunkenbold und ein notorischer Querulant, Faulpelz und Schmutzfink, der
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noch dazu eine geschändete und ermordete Frau auf dem Gewissen hat. Ich hatte an diese üble Geschichte gar nicht mehr gedacht.“ „Ich hatte sie auch längst vergessen“, sagte Jean Ribault. „Aber plötzlich ist sie gegenwärtig und paßt genau in das Bild dieses Mannes. Ja, ich bin ebenfalls skeptisch. Der Charakter eines Mannes soll sich von heute auf morgen ändern? Ich kann mir das schlecht vorstellen, obwohl wir mit Don Antonio ein gutes Beispiel dafür haben. Thorfin Njal hat recht, wenn er meinte, wir sollten abwarten.“ Er grinste schief. „Was anderes bleibt uns ja auch nicht übrig. Irgendwie denkt man immer: Wenn das nur gut geht! Was mir nicht paßt, das ist die Tatsache, daß ein einziger Mann es schafft, ständig den ganzen Stützpunkt in Atem zu halten, eine schmutzige Laus namens Robinson! Schläft er wieder auf Wache? Was stellt er an, wenn er das nächste Mal betrunken ist? Wird er dann sein Messer ziehen und Amok laufen? Überfällt er noch einmal eine Frau? Wann inszeniert er dennächsten Krach oder provoziert die anderen? Der Unsicherheitsfaktor im Bund der Korsaren heißt Robinson.“ „Du hast Mißjöh Buveur vergessen, Jean“, sagte Karl von Hutten, „der ist von ähnlichem Kaliber und unberechenbar, sobald er einen über den Durst getrunken hat – siehe die Sache mit Mary O'Flynn. Das war hart an der Grenze.“ „Vorläufig hat Thorfin Njal verboten, den beiden etwas auszuschenken.“. „Bis zum nächsten Mal“, orakelte Karl von Hutten. * Ihren Coup konnte man getrost als den Gipfel einer phänomenalen Schlitzohrigkeit bezeichnen, und es war Mißjöh Buveur gewesen, der seinem neuen Kumpan Robinson geraten hatte, in die Rolle des reuigen und willigen Sünders zu schlüpfen. Fast war der Mißjöh dann selbst verblüfft, über welche schauspielerischen Talente
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sein Saufgenosse verfügte. Und Muddy selbst wiederum war erstaunt, wie gut das Theater klappte, das er den Narren auf dem Schwarzen Segler vorspielte. Nach anfänglichem Bangen ging es ihm immer leichter von der Hand. Die Rolle als Waschfrau war ihm spontan eingefallen, noch während seines Bades in der Balje, und er hatte sie sofort in die Tat umgesetzt. Er begeisterte sich an seinem eigenen Erfolg. Sein Selbstwertgefühl wucherte in himmlische Höhen. Er hatte nicht für möglich gehalten, wie wenig dazu gehörte, den anderen etwas vorzuspielen. Das faule Ei, das Robinson während seiner Arrestzeit ausgebrütet hatte, war der Plan zur Flucht aus dem Stützpunkt, also Desertion mit dem Ziel, nach Havanna zu segeln. Dort wollte er die genaue Lage des Stützpunktes der Korsaren an denjenigen verraten, der ihm am meisten dafür bezahlte. Der Hinweis auf das legendäre Schatzversteck der Korsaren würde der fette Köder sein, um einen geeigneten Beutegeier anzulocken. Muddy war überzeugt, einen zu finden. Nur – allein traute er sich nicht zu, dieses Unternehmen zu wagen. Er brauchte einen Bundesgenossen, und dazu hatte er Mißjöh Buveur auserkoren. Bei Bier und Rum hatte er dem Mißjöh vorsichtig in der „Rutsche“ beigebracht, was er für einen Plan gefaßt habe. Und er hatte ihm die einzelnen Details dargelegt – so zum Beispiel die „finanzielle Seite“ des Unternehmens, die ein sehr wichtiger Punkt sei, wenn man „die Früchte seiner Arbeit“ auch genießen wolle. Er hatte die Absicht, aus dem Schatzversteck des Bundes der Korsaren Golddublonen sowie Edelsteine und Perlen zu entwenden, deren Wert sich später um die Summe jenes Geldes erhöhen würde, das mit der Preisgabe der Lage des Stützpunktes zu erzielen war. Und er wollte mit der „Little Isabella“ fliehen, jener seetüchtigen und schnellen Jolle, die der Schiffsbaumeister Hesekiel Ramsgate für die Kinder des Bundes der Korsaren entworfen und gebaut hatte.
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Mit dieser Jolle waren Smokys und Gunnhilds Sohn David, genannt Dave, und der O'Flynn-Sproß Edwin Shane, genannt Eddy, Ende Februar aus dem Stützpunkt verschwunden und südwärts bis zur Bahamainsel Eleuthera gesegelt, wo sie die fünf spanischen Kriegsschiffe entdeckt hatten und sofort zurückgekehrt waren, um dem Bund der Korsaren diese wichtige Beobachtung mitzuteilen. „Was diese miesen kleinen Kröten geschafft haben“, hatte Muddy dem Franzosen verklart, „das kriegt unsereiner mit der linken Hand hin, stimmt's?“ Das hatte Mißjöh Buveur grinsend bestätigt, und es war auch der Moment gewesen, in dem er gesagt hatte, er würde „mit von der Partie“ sein. Allerdings hatte er eine Bedingung gestellt – augenzwinkernd. Er hatte gesagt, wenn Muddy für „den nötigen Stoff“ sorge, sprich einige Rumfäßchen, dann würde er mit ihm auch in die Hölle und zurück segeln. Dem wiederum hatte Muddy zugestimmt mit dem Versprechen, sich den „Stoff“ aus der „Rutsche“ zu besorgen. Das Knacken von einfachen Schlössern wie dem zum Magazin in der „Rutsche“ sei für ihn das geringste Problem. Und sie hatten beide lauthals gewiehert. Und der Mißjöh hatte sich grölend auf die linken Schenkel geklopft. Sie sahen sich bereits in Havanna –in den Schenken und Spelunken, wo sie die Puppen tanzen lassen würden. Sie waren ja reich, nicht wahr? Sie waren Nabobs oder wie man die Kerle in Indien nannte, die in Gold badeten und es mit Tempeltänzerinnen trieben. Und wer reich war, der bestimmte die Musik. Sie verirrten sich zu diesem Zeitpunkt in ihre betrunkenen, aber witzigen Vorstellungen, und Mißjöh Buveur löste das aus, was dann passierte und ihre Pläne fast zum Scheitern gebracht hätte. Die Peitschenhiebe des Wikingers waren der heilsame Schock gewesen – nur im negativen Sinne. Er hatte bewirkt, daß sie eiskalt zu planen begannen, aber noch besessener als zuvor. Jetzt trieb sie der Haß
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an, der Haß auf den Bund, auf den Wikinger, auf Eike, den Boston-Mann und „die alte Schlampe“ – auf alle. Sie hatten ihre Schmerzen in sich hineingefressen, und es war die Idee von Mißjöh Buveur gewesen, sich zu verstellen, keinen Argwohn zu erregen und alles das gehorsam zu tun, was man ihnen befahl. Weil sie den gestrigen Höllentag überstanden hatten, als sie die Decks des Schwarzen Seglers scheuern mußten, waren sie stärker geworden, ganz abgesehen davon, daß sie sich in unbeobachteten Augenblicken über ihre Verhaltensweise und Pläne hatten verständigen können. Daß keiner etwas verraten hatte, als sie von ihrem Kapitän ins Verhör genommen worden waren, festigte ihre unselige Kumpanei. Und sehr schnell hatten sie spitzgekriegt, daß die „Idioten“ – nämlich ihre Kameraden auf dem Schwarzen Segler – bereit waren, ihnen ihren Gesinnungswandel zu glauben. Sie genossen es innerlich, die anderen zu leimen und über den Tisch zu ziehen. Es verlieh ihnen Genugtuung und verführte sie zu der Annahme, gerissener und klüger als alle anderen zu sein. Daß sie schon jetzt Verrat übten, bekümmerte sie herzlich wenig. Und noch weniger dachten sie daran, welche Folgen es haben würde, wenn ihre Pläne durch einen Zufall durchkreuzt wurden. Sie ignorierten auch die Tatsache, daß die Männer vom Bund der Korsaren – schon aus dem Willen zur Selbsterhaltung – alles daransetzen würden, sie wieder einzufangen, sobald ihre Flucht bemerkt worden war. Und wurde man ihrer habhaft, dann war ihnen der Strick sicher. Aber diese Gedanken schlugen sie in den Wind. Ihr Anfangserfolg der gelungenen Täuschung berauschte sie in einem Maß, daß sie glaubten, die Größten zu sein. Bei allen Unwägbarkeiten ihres aberwitzigen Fluchtplans bestand tatsächlich eine gewisse Chance, daß er gelang. Es hing dies damit zusammen, daß
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sie die Absicht hatten, südwestwärts über die Große Bahama Bank zu segeln. Der unschätzbare Vorteil dieses riesigen Seegebiets bestand in seiner knappen Wassertiefe. Über die Große Bahama Bank konnten nur flachgehende Schiffe segeln. Die Jolle „Little Isabella“ war dafür hervorragend geeignet. Zudem hatte sich herausgestellt, daß sie schnell, wendig und ein ausgezeichneter Am-Wind-Läufer war. Auch die beiden kleinen „Empress“Karavellen des Bundes der Korsaren mußten vor der Großen Bahama Bank kapitulieren, obwohl sie ein Mindestmaß an Tiefgang hatten. Die Seetüchtigkeit der „Little Isabella“ beruhte auf ihrer Kentersicherheit. Vorund Achterschiff sowie die Räume unter den Dollborden waren mit Kork ausgefüllt und verliehen der Jolle einen immensen Auftrieb. Kenterversuche hatten gezeigt, daß sie auch bei extremer Krängungslage nicht umkippte. Sie war also allen anderen herkömmlichen Beibooten und Jollen überlegen und tatsächlich ein Fluchtboot, wie man es sich besser nicht wünschen konnte. Auf dem Fluchtweg südwestwärts lagen Inseln und Inselchen, die zum Teil tatsächlich nur mit einer Jolle anzusteuern waren. Sie boten Unterschlupf, auf einigen gab es Quellen zur Trinkwasserergänzung, und auf den meisten Eilanden wuchsen Kokospalmen, deren Früchte Milch und Nußfleisch lieferten. Bei aller Versoffenheit war Mißjöh Buveur ein guter Seemann, der sein Handwerk verstand, und zwar besser als sein Kumpan Muddy, der genau wußte, warum er sich den Franzosen als Fluchtgenossen ausgesucht hatte. Auch in der Navigation war Mißjöh Buveur nicht unbewandert, zumal er – bevor er zum notorischen Trinker wurde – ursprünglich das Ziel gehabt hatte, Steuermann zu werden. Seine geistigen Fähigkeiten hätten dafür allemal ausgereicht, aber es hatte ihm an Energie gefehlt, an Ausdauer, dieses Ziel unverdrossen anzusteuern. Er war in den Spelunken hängengeblieben und hatte sich
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mit dem Beruf des Seemanns zufriedengegeben. Das Korsarenleben behagte ihm insofern, daß es nicht unbedingt in harte Arbeit ausartete und ein Höchstmaß an Bequemlichkeit bot, wenn man es verstand, sich möglichst vor allem zu drücken, was mit Arbeit zu tun hatte. Ach ja! Und nie mangelte es an Rum in diesen Kreisen. Wenn man sie trotzdem verließ, dann natürlich nur unter Mitnahme eines erklecklichen Beuteanteils, der einem sowieso zustand und zudem die Garantie dafür war, nunmehr ein noch bequemeres Leben führen zu können. Das waren so die Vorstellungen Mißjöh Buveurs – er hatte sie schon lange in Erwägung gezogen –, und er war dem Mißjöh Muddy geradezu dankbar, diese Vorstellungen Wirklichkeit werden zu lassen. Ohne Kumpan hätte er sich nämlich auch nicht getraut, diesen Schritt zu wagen. Zwei Lumpenkerle hatten sich gesucht und gefunden. Ihre Schwäche war, daß sie sich überschätzten. 6. Sie erregten keines Menschen Mißtrauen, als sie am Abend des 19. April am Strand der Bucht badeten und vom Werftsteg aus, wo auch die Jolle „Little Isabella“ vertäut lag, ständig mit Juchhu und Juchhei ins Wasser hüpften. Sie hatten tagsüber wieder hart gearbeitet, und jedermann hatte Verständnis dafür, daß sie Schweiß und Dreck abspülen und sich erfrischen wollten. Es mangelte auch nicht an Anerkennung für Muddy, dem Reinlichkeit plötzlich eine Herzensangelegenheit zu sein schien. Der Wikinger saß auf der Terrasse seines Blockhauses und war eitel Wohlwollen, als er Mißjöh Buveur und Mister Robinson wie Frösche ins Wasser hüpfen sah. Was lange währt, wird gut, dachte er zufrieden und schmunzelte, als Mister Robinson den dicken Mißjöh husch-husch ins Wasser stieß, was dieser, kaum wieder aufgetaucht, mit Gelächter quittierte.
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Der Riese aus dem Norden war überzeugt davon, die beiden Kerle mit seiner Dresche auf den Pfad der Tugend zurückgeführt zu haben. Die Katze schien doch ein geeignetes Mittel zu sein, solche Burschen wie Muddy oder Mißjöh Buveur zu läutern. Vielleicht wollten sie sogar hart angepackt werden, so etwas gab es ja auch. Und eines Tages seid ihr mir dankbar, sinnierte der Wikinger, daß ich euch durchgeklopft habe. Einem Schwindel aufzusitzen, hätte der Wikinger entrüstet zurückgewiesen. Da er selbst ein ehrlicher Kerl war, neigte er zur Gutgläubigkeit. Daß er es mit zwei gerissenen Verstellungskünstlern zu tun hatte, wäre ihm nie in den Sinn gekommen. Als es dunkel wurde, marschierte er zur „Rutsche“, um noch einen „Schlummertrunk“ zu sich zu nehmen. Niemandem fiel auf, daß Muddy und Mißjöh Buveur zwischen den nördlichen Dünen verschwanden, sich dann aber ostwärts wandten. Ihr Ziel war die Tropfsteinhöhle, die Old Donegal O'Flynn entdeckt hatte. Wie sie entstanden war, vermochte keiner zu sagen, obwohl der Kutscher der Arwenacks seinerzeit allerlei gelehrtes Zeug darüber von sich gegeben hatte. Die Bezeichnung Höhle war in diesem Fall ein Sammelbegriff. Tatsächlich bestand dieser unterirdische Komplex aus einer Vielzahl von Höhlen, Kavernen und Grotten der unterschiedlichsten Größe. Die Männer vom Bund der Korsaren hatten sofort erkannt, daß diese Höhlen ideale Schatzverstecke darstellten. Es gab zu ihnen nur einen einzigen Zugang, und zwar an der Ostseite der Insel zwischen den Dünen. Diese Stelle lag etwa zehn Minuten Fußmarsch von der kleinen Siedlung an der Cherokee-Bucht entfernt. Der Zugang zu den Höhlen war ursprünglich eine Art Röhre gewesen, durch die Old Donegal damals unfreiwillig eine Reise abwärts angetreten hatte. Später hatten die Männer Stufen hineingehauen und den Eingang mit einer Steinplatte getarnt, über die dann Dünensand gehäufelt worden war. Sträucher und
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zusätzlich angepflanztes Buschwerk sorgen für eine vorzügliche Tarnung des Zugangs. Wer auch immer die Siedlung überfiel, ein Schatzversteck würde er dort nicht finden. Die Lage des Zugangs war nur den Angehörigen des Bundes der Korsaren bekannt. Das Lüften dieses Geheimnisses konnte nur durch Verrat möglich sein oder unter Anwendung der Folter, letzteres natürlich durch einen Gegner. Daß aus dem eigenen Lager jemand Verrat üben könnte, war für die Männer des Bundes der Korsaren nicht vorstellbar. Die vielen Jahre ihrer Existenz hatte sie zu einer verschworenen Einheit werden lassen - unter dem bestimmenden, guten Geist jenes Mannes, der Philip Hasard Killigrew hieß und als Seewolf oder El Lobo del Mar längst zur Legende geworden war, zu einer Legende, die von Tapferkeit, kühnen Raids und Ritterlichkeit sprach. Es gab keinen Schatten auf dem Leben dieses Mannes. Von dem guten Geist des Seewolfs waren diese beiden Kerle weit entfernt, als sie den Zugang erreichten und den Sand von der Steinplatte schoben, sich angrinsten und die schwere Platte zur Seite wuchteten. Hintereinander stiegen sie ein und tasteten sich an den Wänden aus Kalkstein hinunter in die Tiefe, aus der Kühle nach oben drang. Erst unten in der großen Tropfsteinhöhle entzündeten sie eine kleine Fackel, die Mißjöh Buveur mitgenommen hatte. Und dann wandten sie sich einem Gang zu, der wieder etwas anstieg und zu den trockenen Kavernen führte, wo die Schatzbeute der Korsaren-Raids sorgsam gestapelt war. Was hier lagerte, hatte einen nicht mehr schätzbaren Wert, der vermutlich die zerrütteten Finanzen Spaniens mit einem Schlag saniert hätte. Jede erbeutete spanische Schatzgaleone, deren Ladung hier ihren Platz gefunden hatte, war für die Allerkatholischste Majestät ein empfindlicher Schlag gewesen. Aber diese Schläge waren unaufhörlich gefallen, zäh und unerbittlich. Und sie hatten das Finanzsystem des spanischen Reiches erschüttert, bis es
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brüchig zu werden begann. Der Verfall war unaufhaltsam. Hier lagerte das, was Spanier unter Einsatz von Gewalt aus der Neuen Welt geraubt hatten. Und jetzt schauten sich zwei kleine Spitzbuben in dem Schatzparadies um mit glitzernden Augen, aus denen die Gier flackerte. Daß sie beide keuchten und hechelten, merkten sie nicht. Fast waren sie soweit, überzuschnappen, alle Kisten aufzubrechen und in Goldmünzen zu wühlen. Heißes Wachs tropfte auf die rechte Hand Mißjöh Buveurs, der die Fackel hielt. Das ließ ihn nüchtern werden. Er klemmte die Fackel in eine dafür vorgesehene schmiedeeiserne Halterung, trat an eine der Kisten und hebelte den Deckel mit einem Stemmeisen auf, das er aus der Schiffszimmerei hatte mitgehen lassen. Die Kiste war mit Golddublonen gefüllt. „Los!“ sagte Mißjöh Buveur keuchend. „Her mit den Segeltuchsäcken!“ Vier Stück hatte Muddy aus der Segelkammer gestohlen. Es waren zwiegenähte Säcke aus festem Segeltuch, solide gearbeitet und oben mit einem kräftigen Tampen verschließbar, der durch Metallgattchen lief. Diese Säcke hielten einiges an Gewicht aus, zumal sie auch als Werkzeugbehälter benutzt wurden. Muddy zog die Säcke unter seinem Hemd hervor, legte drei auf eine Kiste, öffnete einen und trat zu seinem Kumpan an die Kiste mit den Golddublonen. Mißjöh Buveur begann mit beiden Händen Münzen in den Sack zu schaufeln. Es klirrte und klimperte, und das waren angenehme Geräusche. Muddy hielt den Sack offen und starrte auf den rieselnden Goldregen. „Wenn wir nur mehr mitnehmen könnten“, sagte er mit heiserer Stimme. Im nüchternen Zustand war Mißjöh Buveur ein Mann, der sachlich und praktisch dachte. Er sagte: „Wir können uns nicht überladen, Mißjöh. Wenn jeder einen Sack mit Golddublonen und einen mit Edelsteinen und Perlen hat, ist das sowieso ein riesiger
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Batzen. Und die Klunker bringen Geld, verstehst du?“ „Bin ja nicht blöd“, erwiderte Muddy mürrisch und dachte: Wenn wir Havanna erreicht haben, du Fettmolch, dann ramme ich dir ein Messer ins Kreuz – und schon bin ich doppelt so reich! Mißjöh Buveur schaufelte weiter, bis der Sack voll war. Muddy packte die beiden Tampenenden, zog sie zusammen und sicherte sie mit einem Kreuzknoten. Als er den Sack anhob, um ihn zur Seite zu steilen, merkte er, was er für ein Gewicht hatte. Jetzt runzelte er die Stirn bei dem Gedanken, daß er es später in Havanna mit zwei schweren Münzensäcken¬ und zwei vermutlich ähnlich schweren Edelsteinund Perlensäcken zu tun haben würde. Keine leichte Sache, verdammt! „Weiter, weiter!“ drängte Mißjöh Buveur und warf einen hastigen Blick zu dem Gang, als könnte dort jeden Moment jene Männer auftauchen, die er zur Zeit übel beklaute. Und die Fackel war bereits zur Hälfte niedergebrannt. Sie mußten sich tatsächlich beeilen. „Ja doch“, murrte Muddy und war so verdrossen wie eh und je. „Wir haben wirklich keine Zeit zu verlieren, Mißjöh“, sagte der Franzose, „sonst passiert's nämlich, daß wir hier im Dunkeln stehen.“ „Wieso?“ fragte Muddy begriffsstutzig. „Weil die Fackel abbrennt.“ „Ach so.“ Und jetzt beeilte sich auch Muddy. Er schnappte sich den zweiten Sack, hielt ihn auf und sah wieder zu, wie der Mißjöh ihn füllte. Daß auch Golddublonen dabei zu Boden fielen und wegrollten, kümmerte die beiden nicht. War ja genug da, nicht wahr? Schnell war der zweite Sack gefüllt und wurde von Muddy verzurrt, während der Franzose bereits zu jener Kaverne hastete, wo, wie er wußte, die Schatztruhen mit den Perlen und Edelsteinen standen. Diese Truhen waren mit Vorhängeschlössern versehen. Mißjöh Buveur schob bei einer das Stemmeisen zwischen den Bügel und
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versuchte, ihn aufzusprengen. Er schaffte es nicht und begann zu schwitzen. Dann fluchte er, weil der Bügel absolut nicht aufzuknacken war. * Muddy war ihm gefolgt und sagte jetzt – in seiner Stimme lag ein hysterischer Unterton: „Nimm 'ne andere Truhe, verdammt noch mal! Muß ja nicht die sein.“ Mißjöh Buveur sprang zur nächsten Truhe, versuchte es und hatte wieder Pech. Auch das Schloß der dritten Truhe widerstand dem Stemmeisen. „Mann, Mann!“ geiferte Muddy und schaute sich gehetzt um. Sein Blick fiel auf eine Axt, die offenbar jemand hatte liegenlassen und mit der andere Kisten zugenagelt worden waren, natürlich mit der breiten Stumpfseite. Er stürzte zu der Stelle, hob die Axt auf und schmetterte die scharfe Seite auf die nächstbeste Truhe. Holz splitterte, während Schlag auf Schlag folgte. Mißjöh Buveur hielt sich die Ohren zu, Schweiß rann über sein Gesicht. Und er dachte: Jetzt ist es aus! Die Schläge hallten durch die Kavernen wie dumpfe Kanonenschüsse. „Hör auf!“ schrie Mißjöh Buveur und überlegte, ob er flüchten sollte. Oder sollte er diesem Verrückten das Stemmeisen über den Schädel ziehen und später sagen, er habe diese Ratte beim Klauen erwischt und sofort niedergeschlagen? Und er packte das Stemmeisen fester, denn seine Hände waren vom Schweiß glitschig geworden. In diesem Moment brach Muddy mit den Händen drei der Deckelhölzer auseinander, langte in die Truhe, riß die Hände wieder hoch und überschüttete sich kichernd mit einem Regen funkelnder Steine. „Los, die Säcke!“ kreischte er wie irre. Mißjöh Buveur ließ das Stemmeisen fallen, raste in die andere Kaverne, wo noch die beiden letzten Säcke auf der Kiste lagen, grabschte sie sich und hastete zurück.
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Jetzt schaufelte Muddy, und wieder spielte es überhaupt keine Rolle, ob Perlen oder Edelsteine daneben flogen. Wo viel ist, kann man aus dem Vollem schöpfen. Und Muddy schöpfte – mit einem Ausdruck in der Visage, die kaum noch als die eines Menschen zu bezeichnen war. Eine Fratze war es, die vor Gier, Angst, Haß und Lust verzerrt war. Mißjöh Buveur sah es mit Schaudern und wußte nicht, daß sich auch sein Gesicht in eine Fratze verwandelt hatte. Der Sack war voll und wurde von ihm mit fliegenden Fingern verschnürt. Und schon folgte der vierte Sack – der letzte. Muddy hing über der Truhe und schaufelte wie ein Wahnsinniger. Mißjöh Buveur hielt den Sack ganz nah an die Bruchstelle. Sein Atem fauchte wie ein Blasebalg. Vor seinen Augen flirrte es. Sein Herz hämmerte im Stakkato, und er hatte das Gefühl, als zerplatze sein Kopf. „Voll!“ tönte Muddy. „Weg hier!“ Er schnellte von der Truhe weg, schnappte sich den bereits vollen und verschnürten Sack und flitzte zurück zu dem Gang. Mißjöh Buveur schlang irgendeinen Knoten in den vierten Sack und hechelte hinter Muddy her. Jeder langte sich einen der Säcke mit den Golddublonen, und dann keuchten sie die ausgehauenen Stufen hoch. Auf der Hälfte des Weges nach oben verlosch die Fackel. Als sie den Ausgang erreichten, waren sie fix und fertig, ihre Nerven flatterten, ihre Beine waren wie Pudding, ihre Hemden schweißdurchtränkt. Sie warfen sich einfach in den Sand und röchelten sich die Seele aus dem Leib. Klauen war schwere Arbeit, weiß Gott. Schwerstarbeit war das – und diese, verbunden mit dem Druck der Angst, warf auch Männer um, die stark genug waren, einen Stier bei den Hörnern zu packen und in die Knie zu zwingen. Aber das traf bei ihnen sowieso nicht zu. Bei Mißjöh Buveur ersetzte das Fett keine Muskelkraft, und der Mister Robinson war eh eine ausgemergelte Type, die es auf der Lunge hatte. Zur Zeit pfiff er auf dem letzten Loch.
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Und bei dem Mißjöh jubelte die Säuferleber. Sie brauchten eine Viertelstunde, um sich wieder zu erholen. Dann setzte ihr Ächzen erneut ein, als sie die Steinplatte über den Einstieg wuchteten. Sie hatten es beide im Kreuz, was aber auch damit zusammenhängen mochte, daß ihres Kapitäns Katze ihren Rücken am meisten zugesetzt hatte. Dann stritten sie sich, ob sie wieder Sand über die Steinplatte häufen sollten. Mißjöh Buveur war dafür, Muddy dagegen letzterer aus purer Faulheit. „Das muß sein“, beharrte Mißjöh Buveur. „Ab und zu kontrollieren sie das Versteck.“ „Da merken sie sowieso, daß jemand geklaut hat“, nölte Muddy, und sein Argument war richtig, weil sie die Spuren ihres Raubes unten in den Kavernen nicht beseitigt hatten. „Scheiße!“ knurrte Mißjöh Buveur – in der Einsicht, daß es völlig ausgeschlossen war, jetzt noch da unten aufzuräumen. Zum einen hatten sie keine Fackel mehr, die unbedingt nötig war, wenn. sie jede einzelne Münze, jeden Edelstein und jede Perle wiederfinden wollten, die beim Füllen der Säcke danebengeflogen waren. Zum anderen hatte Muddy den Deckel der Schatztruhe mit der Axt derart zertrümmert, daß sein ursprünglicher Zustand nicht mehr hergestellt werden konnte – von ihnen schon gar nicht. Trotzdem schaufelte Mißjöh Buveur jetzt Sand über die Steinplatte, um wenigstens die ersten Spuren zu beseitigen. Vielleicht kehrte derjenige, der kontrollieren wollte, wieder um, wenn er sah, daß sich am Einstieg nichts verändert hatte – eine ziemlich idiotische Hoffnung, denn entweder kontrollierte man richtig oder ließ es überhaupt bleiben. Muddy rührte keinen Finger und sah ihm grinsend zu. „Unsere Fußspuren müssen auch verwischt werden“, sagte er. „Das kannst du ja machen“, sagte Mißjöh Buveur gereizt. „Wieso ich?“ fragte Muddy lauernd.
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„Weil einer die Säcke wegschleppen muß!“ fauchte Mißjöh Buveur. „Und du brichst ja schon zusammen, wenn du nur einen trägst!“ Das hörte Muddy gern – und darum hatte er auch gefragt. „Ist gut“, sagte er und brach einen Gebüschzweig ab, „ich verwische die Spuren. Einer muß sich ja darum kümmern.“ Mißjöh Buveur fluchte. Dunkel stieg ihm die Ahnung auf, daß sein Kumpan noch gerissener als er war, wenn es darum ging, sich vor Schwerarbeit zu drücken. Dieser Mistkerl! „Ich bin ja nicht so“, sagte jetzt Muddy und zog eine kleine Tonkruke aus der Hose, grinste und fügte hinzu: „Hab' 'ne kleine Stärkung für dich, Mißjöh. Abgefüllt vom Rumfaß in der Kombüse. Magst du?“ Und ob der Mißjöh wollte! Schon die ganzen Tage hatte ihm das gefehlt, und er hatte gelitten wie noch nie in seinem Leben. Später würde die medizinische Wissenschaft diesen Zustand mit „Entzugserscheinungen“ bezeichnen. Er griff nach der Kruke, die ihm Muddy hinhielt, fummelte mit zittrigen Fingern den Korken raus und soff wie ein Verdurstender. Als er sie Muddy zurückgab, war sie leer. „Danke“, sagte er keuchend und wischte sich über den Mund. „Das tat gut.“ Jetzt war Muddy wieder ein feiner Kerl und die Welt im Lot. Er nickte ihm zu, packte mit jeder Hand zwei Säcke und marschierte los. Muddy schlenderte hinter ihm her, den Gebüschzweig unter den linken Arm geklemmt. Die Spuren zu verwischen, hielt er nicht für nötig. Da hätte er sich ja bücken müssen. Außerdem würde der Seewind dafür sorgen, daß die Spuren verwehten. Er hatte den Fettsack ganz schön aufs Kreuz gelegt, und er lobte sich selbst für diese glorreiche Idee. Am liebsten hätte er jetzt gepfiffen. Einen Rum hätte er auch gern getrunken, aber es war wichtiger, den Mißjöh bei Laune zu halten. Rum war das
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Mittel, ihn zu Kreuze kriechen zu lassen. In Havanna würde er ihn mit dem Zeug vollpumpen, bevor er ihn ins Jenseits beförderte – ein angemessener Tod für einen Säufer, dem man statt eines Kreuzes eine Rumflasche aufs Grab stellen müßte. Oder besser gleich ein Faß. Muddy grinste in sich hinein und fand seine Gedanken einfach köstlich. Wenn Mißjöh Buveur pausierte und die Säcke absetzte, wischte Muddy, rückwärts gehend, fleißig mit dem Zweig über die Spuren. Der Franzose mußte immer häufiger eine Pause einlegen. Allmählich hatte er das Gefühl, daß seine Arme immer länger wurden. Er atmete auf, als er die Werft vor sich sah. Alles war ruhig und friedlich im Stützpunkt. Niemand hatte ihr Verschwinden zur Kenntnis genommen. Die Rückkehr an Bord war kein Problem. Sie hatten Cookie, dem Koch an Bord des Schwarzen Seglers, angeboten, Kokosnüsse zu sammeln. Cookie verwandte Milch und Nußfleisch für verschiedene Gerichte. Sie vergruben die vier Säcke in einem Dünenhang in der Nähe des Werftstegs, holten den Sack mit den Kokosnüssen, die sie vor dem Baden gesammelt hatten, setzten mit einer Jolle über und meldeten sich bei der Ankerwache zurück an Bord. Niemand schöpfte Verdacht: Sie hatten ja freiwillig etwas für die Bordküche und damit für alle getan. 7. In der Nacht vom 21. auf den 22. April wurde Mißjöh Buveur als Ankerposten für die Mittelwache von null bis vier Uhr morgens eingeteilt. Von acht Uhr abends bis acht Uhr morgens waren die Ankerposten die einzigen Wachen an Bord der Schiffe des Korsarenbundes. Natürlich hatten sie die Aufgabe, unter anderem zu kontrollieren, ob sich die Lage des Schiffes auf dem Ankerplatz verändert hatte. Dazu genügte eine einfache Kreuzpeilung zu markanten Punkten an Land.
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Aber vorrangig bei ihren Wachpflichten war die ständige Kontrolle des Zugangs zur Cherokee-Bucht sowie der Dünenlandschaft ringsum. Ein Gegner konnte mit Schiffen oder Booten durch den Zugang in die Bucht eindringen – oder irgendwo an einem der Strände von Great Abaco landen und zu Fuß zur Siedlung vorstoßen. Aber als kampfstärkstes Schiff des Bundes ankerte „Eiliger Drache über den Wassern“ in unmittelbarer Nähe des Buchtzugangs und versperrte ihn fast. Allenfalls konnten Jollen oder Boote an dem Viermaster vorbei, keineswegs aber Karavellen oder gar Galeonen. Die Breite des Zugangs maß vierzig Yards. Insofern hatte der Ankerposten auf dem Viermaster eine wichtige Funktion. Wenn überhaupt, dann war er es, der einen Gegner, der sich von Süden her der Bucht näherte, sichtete. Er hatte dann sofort Alarm auszulösen und selbständig mit einer der schußbereiten Drehbassen auf dem Ankerdeck das Feuer auf den Gegner zu eröffnen. Bei dem steten Nordostwind lagen die Hecks der Schiffe in SüdwestRichtung, waren also einem von Süden herauf segelnden Gegner zugewandt. Es bestanden Pläne, drüben auf der Westseite der Bucht in Höhe des Zugangs oder der Einfahrt eine Bastion mit Culverinen zu errichten – und ebenso gegenüber auf der Huk der Landzunge. Hesekiel Ramsgate war damit beschäftigt, wenn ihm seine Arbeit auf der Werft oder an den Schiffen die Zeit dazu ließ. Als die Wacheinteilung für diese Nacht bekannt gegeben wurde, war für die beiden Lumpenkerle sofort klar, daß dies ihre einmalige Chance bedeutete. Fast hätten sie ganz offen gegrinst – wie erlöst, denn seit ihrem nächtlichen Raubzug hatte ihnen die Angst im Nacken gesessen, man könne die übliche Kontrolle der Schatzgrotte durchführen. Es wäre der Anfang vom Ende gewesen. Noch einmal dorthin zurückzukehren, um Ordnung zu schaffen, das hatten sie nicht gewagt. Die letzten zwei Tage waren für sie zu einer Zitterpartie geworden, und sie hatten
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ihre ganze Beherrschung aufbringen müssen, ihre Angst nicht offen zu zeigen. Was ihnen jedoch andererseits den Rücken gestärkt hatte, das war die Tatsache, daß der erste Teil ihres Plans gelungen war. Solange der Raub nicht entdeckt wurde, konnten sie sich sicher fühlen. Den nächsten Part für ihr Unternehmen – und nun war es soweit –hatte Muddy zu spielen, und zwar sobald Mißjöh Buveur seine Mittelwache angetreten hatte. Nur dieser Umstand gab Muddy die Möglichkeit, ungeschoren mit der Jolle von Bord verschwinden zu können und zur „Rutsche“ hinüberzupullen. Er hatte dem Franzosen ja versprochen, aus dem Magazin dort Rum zu besorgen. Außerdem verwahrte Mary O'Flynn in dem Magazin bestimmte Lebensmittel wie Brot, Hartwurst, Speck, Käse und anderes, was sie auftischte, wenn sich bei den Zechern hungrige Mägen einstellten. Am beliebtesten war eine kräftige Erbsensuppe mit Speckeinlage. Von den Lebensmitteln wollte Muddy auch einiges mitgehen lassen, ebenso die Muskete samt Munition. Vermutlich fand er dort noch andere Waffen. Was den Fluchtplan begünstigte, das war die Jahreszeit. In der Regel bildeten sich um Mitternacht Nebelschwaden auf der Bucht. Es war dies die Achillesferse oder der schwache Punkt hinsichtlich der Sicherheit des Stützpunktes. Andererseits: Wenn man selbst nichts sah, dann galt das auch für einen möglichen Gegner. Kaum hatte Mißjöh Buveur um Punkt Mitternacht Mike Kaibuk, den Ankerposten, abgelöst – Mike war sofort unter Deck verschwunden –, da tauchte auch schon Muddy auf. Sie verständigten sich kurz, dann enterte Muddy an der Jakobsleiter an Steuerbord in die Jolle ab, löste die Vorleine, drückte das Boot von der Bordwand ab, legte die Riemen ein und pullte leise durch die Nebelschwaden hinüber zur „Rutsche“. Da er sich auf der Back befunden hatte, war ihm nicht entgangen, daß die letzten Zecher die „Rutsche“ vor einer halben Stunde verlassen hatten. Mary O'Flynn war
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vor einer Viertelstunde über den Steg zur Siedlung marschiert. Also befand sich niemand mehr in der Pfahlbauschenke – dachte er! Er steuerte sein Ziel trotz des Nebels sehr genau an, denn was ihm half, das war eine Richtbake in Form einer hohen einzelnen Kiefer, die östlich des Stegs zur „Rutsche“ aufragte. Die Spitze war über den Schwaden zu sehen. Kiefer, „Rutsche“ und vorderer Mast des Schwarzen Seglers lagen in einer Linie, und auch dieser Mast stand mit seinem Topp über den Schwaden. Als die Umrisse des Pfahlbaus vor der Jolle auftauchten, verhielt Muddy, nahm den einen Riemen ein und stieg mit dem anderen nach achtern, um jetzt zu wriggen. Mit ein paar Riemenbewegungen umkreiste er den Pfahlbau und legte an der Leiter an, wo er die Jolle vertäute. Die Fensterblenden waren alle geschlossen, wie er festgestellt hatte. Das war gut, denn dann konnte er im Magazin eine Funzel anzünden und sich in aller Ruhe umsehen. Er stieg auf die Terrasse, schlich zur Tür, fand sie verschlossen und brach sie mit einem Stemmeisen auf. Der Nebel verschluckte die Splittergeräusche. Das Stemmeisen schob er in den Gürtel, während er durch den Schankraum und hinter den Tresen schlich, wo sich die Tür zum Magazin befand. Links von ihr war eine Pantry mit kleiner Kochstelle und wiederum links neben der Pantry eine weitere Tür. Sie führte in einen WohnSchlaf-Raum, der für Old. Donegal gedacht war. Bei Anwesenheit im Stützpunkt schlief er manchmal dort, wenn zulange in der „Rutsche“ gezecht worden war. Eine Verbeugung vor seiner Mary, die er dann im Blockhaus nicht aus dem Schlaf scheuchen wollte. Außerdem war er ein beachtlicher Schnarcher vor dem Herrn – insbesondere, wenn er einen gegluckert hatte. Muddy fackelte nicht lange und brach auch die Tür zum Magazin auf. Dann fand er auf dem Tresen eine Petroleumfunzel und entzündete sie. Mit ihr drang er in das Magazin ein und stellte sie auf ein Bierfaß.
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Er zog ein Messer und säbelte vier Speckseiten von einer Querstange. Zehn Hartwürste, die dort ebenfalls hingen, folgten. Alles verstaute er in einem großen Korb, den er im Magazin fand. Hinzu gesellten sich Hartbrote und Käse. „Was tust du da, Mister Robinson?“ fragte eine helle und strenge Stimme von der Tür her. „Klaust du hier?“ Muddy wirbelte herum. * Edwin Shane O'Flynn, genannt Eddy, stand sehr gerade, und seine grauen Augen blickten den Mann furchtlos an. „Das gleiche könnte ich dich fragen!“ zischte Muddy. Für Momente war er wie gelähmt. „Ich schlafe hier“, erklärte Eddy, „schon seit einigen Nächten. Eine Absprache mit meiner Mom. Dann kann ich gleich früh am Morgen hier aufklaren, das Geschirr spülen, ausfegen ...“ Mit einem riesigen Satz sprang Muddy auf ihn zu und schmetterte dem Jungen den Knauf des Messers brutal und mit Wucht an den Kopf. Lautlos sackte Eddy in sich zusammen. Muddy schlug noch einmal zu, auf dieselbe Stelle. Die Kopfhaut platzte auf, Blut sickerte durch das von der Sonne hellgebleichte Haar, das ursprünglich die rote Farbe der Mutter gehabt hatte. Den Entschluß zu dieser Tat hatte Muddy innerhalb von Sekunden gefaßt. Erst hatte er den Jungen einfach niederstechen wollen. Dann war ihm jedoch eingefallen, daß der Bengel eine Geisel darstellte, wie man sie sich besser nicht wünschen konnte. Denn um die Kinder des Bundes wurde ein Affentheater aufgeführt –fand Muddy –, daß man glauben konnte, es mit den Bälgern von Königen oder Fürsten zu tun zu haben. Dieser Ramsgate hatte eine Jolle für diese Kröten gebaut! Das mußte man sich mal vorstellen! Damit die lieben Kleinen auf dem Wasser spielen konnten! Er hatte in diesem Alter nicht auf dem Wasser spielen können. Er war von seinem Stiefvater jeden Tag verdroschen worden
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und hatte die Spucknäpfe und den Abtritt in dessen Spelunke reinigen müssen. Wütend spuckte er zur Seite, suchte nach Riemen, fand welche und fesselte dem Jungen Hände und Füße, die Hände natürlich auf dem Rücken. Schließlich knebelte er ihn noch, denn daß der Bursche zu brüllen anfing, sobald er aus der Bewußtlosigkeit erwachte, war klar. Und Knebel waren das richtige Mittel, das zu verhindern. Die Kopfwunde des Jungen interessierte Mister Robinson nicht, auch nicht, ob es vielleicht eine ernsthafte Verletzung war. Er schleifte ihn durch die Schenke, dann auf die Terrasse und ließ ihn roh von der Leiter aus ins Boot fallen. Da er aber zwischen den Duchten Platz brauchte, mußte er ihn nach achtern bugsieren. Auch da ging er mit Eddy wie mit einem Mehlsack um. Als nächstes holte er den Korb, den er noch mit ein paar Flaschen auffüllte, die er wahllos dem Regal hinter dem Tresen entnahm. Auch der Korb fand seinen Platz im Boot. Dann waren die Rumfäßchen dran. Er entschied sich dafür, vier mitgehen zu lassen. Schließlich fand er die Muskete samt Munition und Pulverhorn unter dem Tresen und ebenso 'eine doppelläufige Pistole, die daneben lag. Und da war in einem Fach auch die Eisenkassette, in der die O'Flynns ihre Einnahmen aufbewahrten. Sie war schwer und ihr Inhalt schepperte verlockend. Klar, daß er sie ebenfalls mitnahm. Aus dem Faß unter dem Tresen zapfte er sich ein Bier ab und goß es sich in die Kehle. So gut hatte es noch nie geschmeckt. Darauf durchwühlte er den Wohn-Schlaf-Raum, öffnete einen Schrank und ein Schapp, warf alles durcheinander oder einfach zu Boden, fand aber nichts, was sich mitzunehmen lohnte, und verließ schließlich die „Rutsche“. Fast gemütlich pullte er zurück zum Schwarzen Segler, ein böses Grinsen im Gesicht mit der schiefen Nase. Das böse Grinsen beruhte darauf, daß er sich sicher fühlte, nichts konnte ihm passieren,
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niemand würde sich an ihn heranwagen, denn er hatte dieses O'Flynn-Balg an Bord, was einen Wert darstellte, der nicht mehr zu überbieten war, jetzt jedenfalls und auf den nächsten Etappen ihrer Flucht. Er kicherte vor sich hin. Und dann? Ja, dann sollte man diese Rotznase vielleicht wie eine junge Katze ersäufen. Oder? Kein Problem. Einen Stein an die Füße und ab in die Tiefe – aus! Niemand würde den Bengel je wiederfinden. Da war auch schon „Eiliger Drache über den Wassern“. Und der Fettsack enterte bereits an der Jakobsleiter ab. Der würde die Augen aufreißen, wenn er den Lümmel sah. Ja, Köpfchen mußte man haben, Mißjöh, Köpfchen! Er lavierte das Boot an die Jakobsleiter, so daß Mißjöh Buveur übersteigen konnte. Der schien vor Angst schweißgebadet zu sein. „Alles klar!“ zischte Muddy. „Setz dich hin, Mißjöh!“ Der Dicke sackte auf die Vorderducht und atmete heftig. Muddy pullte um das Heck des Viermasters herum und hinüber zur Westseite der Bucht. Als der Strand durch die Nebelschwaden sichtbar wurde, nahm Muddy Kurs nach Norden. Jetzt brauchte er nur dem Strandverlauf zu folgen, der ihn zu dem Steg führen würde, an dem die „Little Isabella“ vertäut war. Noch am Abend hatten sie festgestellt, daß sich alles an Bord befand, auch die beiden Segel, Riemen und Ruderblatt samt Pinne. „Wer liegt da achtern?“ flüsterte Mißjöh Buveur mit verzerrter Stimme. „Der O'Flynn-Bengel.“ „O Gott – ist er tot?“ „Quatsch! Hab' ihm nur was auf die Rübe gegeben, 'ne bessere Geisel gibt's nicht, klar?“ Darauf schwieg der Dicke. Offenbar hatte es ihm die Sprache verschlagen. Muddy erreichte den Steg, steuerte neben die „Little Isabella“, nahm die Riemen ein und vertäute das Boot an der Jolle der Kinder. Er stieg hinüber und zischte: „Los,
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reich mir die Sachen! Ich hab's heute verdammt eilig!“ Sie mußten sich wieder schinden –ohne Fleiß kein Preis! Alles wanderte hinüber zur „Little Isabella“, Rumfäßchen, was den Dicken endlich belebte, Korb, Muskete, Kassette und auch die beiden Riemen der Jolle. Zuletzt bugsierten sie den Jungen hinüber. Er war immer noch bewußtlos. Die Pistole hatte sich Muddy unter den Gurt geschoben. Dann wateten sie einfach an Land und zu dem Dünenhang, wo sie die vier Schatzsäcke vergraben hatten. Sie wurden freigeschaufelt und zur „Little Isabella“ gebracht. Dieses Mal war es Muddy, der zur Eile trieb. Auf den Schiffen und im Stützpunkt rührte sich nichts. Bei Nebel wurde die CherokeeBucht zu einer Geisterlandschaft. Binnen weniger Minuten hatten sie Großsegel und Fock gesetzt und die Schoten angeschlagen. Das Ruderblatt wurde eingehängt und die Pinne in den Ruderkopf geschoben. Die Jolle des Schwarzen Seglers hängten sie achtern an. Das hatte den einfachen Grund, daß man später auf dem Viermaster erst die andere Jolle aussetzen mußte, wenn man sich mit den anderen treffen wollte. Um vier Uhr morgens bei Wachwechsel würde ihre Flucht bemerkt werden. Und dann war keine Jolle da! Eine Verfolgung würde wohl erst dann einsetzen, wenn sich der Nebel gelichtet hatte. Anderenfalls segelte man ins Blinde. Erfahrungsgemäß verschwand der Nebel bei Sonnenaufgang, also hatten sie an die fünf, sechs Stunden Vorsprung, und der mußte genutzt werden. Mißjöh Buveuer setzte sich an die Pinne, Muddy löste die Vorleine, stieß den Bug der Jolle vom Steg weg südwestwärts, der Nordostwind fiel in die Segel, und die „Little Isabella“ zog los, über Steuerbordbug mit raumem Wind. Wie zuvor Muddy hielt sich Mißjöh Buveur an den Westrand der Bucht, die später in die langgestreckte, fast gerade Eight Miles Bay überging, die fast genau in Nord-Süd-Richtung verlief.
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Ihren Viermaster sahen sie nur als Schemen, als sie ihn passierten. Am liebsten hätten sie laut etwas Unflätiges hinübergegrölt, aber das verbot sich von selbst. So schwangen sie nur die Fäuste, schnitten Grimassen und wünschten Kapitän und Mannschaft samt Schiff zum Teufel. Ihren Triumph begossen sie mit dem Inhalt einer Flasche aus dem Tresenregal, und sie enthielt schottischen Whisky, von dem wiederum der Teufel wissen mochte, wo sie sich Old Donegal an Land gezogen hatte, vielleicht bei Diego, dem „Schildkröten“-Wirt auf Tortuga. Jedenfalls war ihr Inhalt eine Rarität und in diesen Gefilden so selten wie ein Eisberg. Muddy hatte genau den richtigen Griff gehabt und wurde von Mißjöh Buveur über die Maßen gelobt. Für Whisky ließ er sogar Rum stehen, und Muddy war der Held des Tages. Sie lenzten die Flasche, was wirklich nicht lange dauerte und Muddy veranlaßte, zur Feier des Tages noch eine Flasche aus dem Korb zu angeln. Sie enthielt einen Schnaps, den sie nicht kannten, was sie aber nicht hinderte, ihrem Inhalt zu Leibe zu rücken. Es war „Wasser des Lebens“, nämlich dänischer Aquavit, den die Arwenacks auf Bornholm kennen und schätzen gelernt hatten. Old Donegal hatte damals „ im Hinblick auf die „Rutsche“ einige Flaschen gekauft und zwei davon noch im Restbestand gehabt – für besondere Gelegenheiten, etwa die, daß einer der beiden Dänen der Crew, Nils Larsen oder Sven Nyberg, mit einem holden Mägdelein den Bund fürs Leben schließen sollte. Diese beiden Flaschen hatte Old Donegal wie seine Augäpfel gehütet, und sie gehörten zum eisernen Bestand seiner Sammlung exquisiter oder besonderer Branntweine. Hätte er zu diesem Zeitpunkt gewußt, daß sich die eine Flasche in einem gewissen Korb befand und die andere gerade von zwei verluderten, wüsten Lumpenkerlen ihres Inhalts beraubt wurde, er wäre schier wahnsinnig geworden. Das Leben dieser beiden Kerle –trotz des „Lebenswassers“ – wäre keinen Pfifferling
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mehr wert gewesen. Niemand, auch kein Boston-Mann und kein Eike, hätten ihn daran hindern können, einen Mord zu begehen. Sie hatten wirklich Glück, diese beiden Lumpenkerle, daß Old Donegal zur Zeit weitab war – im Inselgewirr von SüdostNeuguinea, wo sich die Arwenacks auf der Jagd nach der legendären Manila-Galeone befanden und wieder mal ihre Haut zu Markte trugen. Wäre der „Admiral“ jetzt im Stützpunkt und erlebte alles mit, er wäre der Erste, der trotz Nebels mit seiner „Empress of Sea II.“ auslaufen würde, um die Kerle zu verfolgen, wohin auch immer, und sei es bis in die arktischen Gewässer. Nein, nicht nur wegen des Flaschenraubs aus seinem eisernen Bestand! Sein jüngster Sohn war entführt worden! 8. Um vier Uhr morgens war auf allen Schiffen des Bundes der Korsaren Wachwechsel. Die Morgenwache löste die Mittelwache ab, vorher geweckt vom Posten der Mittelwache. Auf dem Schwarzen Segler sollte der glatzköpfige Barry Winston, ein alter, ehrlicher Karibik-Pirat, die Morgenwache von vier bis acht Uhr übernehmen und Mißjöh Buveur ablösen. Aber er wurde nicht geweckt –eben weil es dieser Mißjöh vorgezogen hatte, gegen ein Uhr morgens das Schiff zu verlassen, und zwar auf Nimmerwiedersehen. Barry Winston wachte von selbst um vier Uhr dreißig auf. Männer, die jahrelang Wachdienst versehen, entwickeln eine eigene Zeituhr, die ihnen sagt, daß es Zeit ist, ihre Wache anzutreten. Als Barry zu diesem Zeitpunkt aufwachte, hatte er sofort das Gefühl, daß er längst auf Wache sein müsse. Ein anderes Gefühl sagte ihm, daß irgendetwas an Bord nicht stimmte. Zum Beispiel fehlte das ungeduldige Trappeln des derzeitigen Ankerpostens auf dem Oberdeck, der darauf wartete, nun endlich nach vier Stunden abgelöst zu werden. Und die Mittelwächter waren ganz erpicht
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darauf, von Wache gehen zu können, denn die Mittel- oder Hundewache war die übelste von allen. In der Regel purrten sie die Ablösung auch zwanzig Minuten vor dem eigentlichen Wachwechsel hoch, obwohl sonst fünfzehn Minuten genügten. Aber sie geizten mit jeder Minute – in der nie erfüllten Hoffnung, der Nachfolger würde dann auch fünf Minuten früher ablösen. An Deck war es merkwürdig still, was Barry Winston vermuten ließ, der Mißjöh sei auf Wache eingeschlafen. Er kannte das. Der Kampf der Mittelwächter gegen den Schlaf setzte zwischen zwei und vier Uhr morgens ein – übrigens auch genau die Zeit, in der man aus eben diesem Grund mit Vorliebe angriff oder enterte. Barry Winston schwang sich aus der Koje, stieg in die Stiefel – die Hose hatte er für den schnellen Wachwechsel gleich anbehalten – und enterte zur Kuhl auf. Nebelschwaden umwehten ihn. Über der Bucht lag Stille. Er schaute sich um. „Mißjöh Buveur?“ rief er leise. Keine Antwort. Barry Winston spürte ein leises Kribbeln im Nacken. Er schlich zum Niedergang des Achterdecks, lauschte, enterte nach oben, blickte sich wieder um und sah, daß die Holzkohleglut im Kupferbecken erloschen war. Dabei mußte sie ständig in Gang gehalten werden, um jederzeit feuerbereit zu sein. Er setzte wieder auf die Kuhl hinunter, überquerte sie mit ein paar Sätzen und fegte zur Back hoch. Ein Mißjöh Buveur war nicht zu sehen –nirgendwo. Barry Winston zögerte nicht. Er sprang zur Schiffsglocke, griff nach dem Glockenstropp, setzte ihn in Bewegung und ließ den Klöppel tanzen. Es war das Alarmgeläut für den Bund der Korsaren, das Signal, daß Gefahr im Verzug sei. In diesem Moment würden alle anderen Ankerposten ebenfalls ihre Schiffsglocken läuten, dann zu den Holzkohlebecken springen, die Glut anfachen und die Lunten bereithalten. Barry Winston handelte folgerichtig. Er hielt die Hände an den Mund und brüllte in
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Richtung der anderen Ankerlieger: „Hier Barry Winston auf ,Eiliger Drache'! Kein Feind, aber Mißjöh Buveur ist nicht auf Wache!“ „Verstanden!“ klang es durch den Nebel zurück. In diesem Moment tauchte Eike neben Barry Winston auf und fragte keuchend: „Was? Der Mißjöh nicht auf Wache? Was ist los, Barry?“ „Weiß nicht – ich wurde nicht zur Ablösung geweckt und wachte selbst auf. Die Holzkohle im Becken auf dem Achterdeck ist erloschen. Ich habe nach dem Mißjöh gerufen, aber der scheint sich in Luft aufgelöst zu haben.“ Eike fluchte und stürzte zum Schanzkleid der Steuerbordseite, wo die Jakobsleiter hing, natürlich, die war noch da. Aber die Jolle war weg. In Eike explodierte etwas. „Schau nach, ob Muddy in seiner Koje liegt!“ brüllte er. Barry Winston begriff und sauste davon. Die ersten Mannen stürmten an Deck. Auf den anderen Schiffen war es genauso. Rufe ertönten. Fragen wurden gestellt. Eike brüllte zu den anderen Schiffen: „Mißjöh Buveur ist nicht an Bord, unsere Jolle ist verschwunden!“ Es herrschte ein Durcheinander –aber nur scheinbar. Alles lief nach bestimmten Regeln ab. Boote wurden bemannt und zum Viermaster gepullt. Barry Winston kehrte zurück und meldete grimmig: „Koje leer, kein Schwanz hat den Kerl gesehen!“ Da fluchte Eike zum zweiten Male, und was er von sich gab, hätte jede Nonne in Ohnmacht fallen lassen. Da waren die beiden Kerle also mit der Jolle getürmt, und zwar während der Mittelwache von Mißjöh Buveur, klarer Fall. Und bei dem verdammten Nebel hatte sie natürlich keiner der anderen Ankerposten gesehen. Diese Schweinehunde! Wachvergehen, nämlich das Verlassen der Wache, so daß jede Sicherheit in Frage gestellt war, und Desertion. Ha-ha! Zum Angeln waren sie bestimmt nicht rausgefahren!
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Es war zum Kielschwein-Ausreißen! Zum Auf-die-Toppen-Klettern! Aber weit konnten sie noch nicht sein, auch wenn sie jetzt vielleicht vier Stunden Vorsprung hatten. Die Jolle des Schwarzen Seglers war nicht aufgetakelt gewesen. Das Rigg befand sich wie sofort festgestellt wurde, noch an Bord des Viermasters. Sie waren gepullt, diese Blödmänner, und Eike hatte seine Zweifel, wie lange die beiden Kerle die Riemenarbeit durchhielten. Hervorragende Rudergasten waren sie nie gewesen. Bei diesen Überlegungen atmete Eike auf. Es gab gute Chancen, die Kerle wieder einzufangen. Da waren nur zwei Routen, die sie wählen konnten: nordwärts oder südwärts entlang der Ostküste von Great Abaco. Daß sie die Jolle über Land auf die Westseite der Insel geschleppt hatten, schied aus. Dazu wären mindestens sechs kräftige Männer nötig gewesen. Eike tippte darauf, daß sie sich nach Norden gewandt hatten. Dort verlief die Ostküste der Insel nicht mehr gerade, sondern wies zahlreiche kleinere und größere Buchten auf. Und dort, wo die Insel lagemäßig nach Nordwesten abknickte, begann vor der Küste eine Kette von Inseln und Inselchen, die sich als Verstecke anboten. Da brachte Hesekiel Ramsgate die erste Hiobsbotschaft, und Eikes Überlegungen zerplatzten wie Seifenblasen. Hesekiel war mit einer Werftjolle zum Schwarzen Segler gepullt und tauchte als Erster bei Eike auf der Kuhl auf. Keuchend sagte er: „Sie sind mit der ,Little Isabella' abgehauen! Die Jolle liegt nicht mehr am Werftsteg!“ Eike stierte den Schiffbaumeister an, als habe der einen Kalbskopf mit zwei Hörnern. „Was sagst du da?“ zischte er. „Die Jolle ist weg? Irrst du dich nicht?“ „Meine Augen sind noch recht gut“, sagte Hesekiel Ramsgate trocken. „Und wenn die Jolle noch da wäre, könnte man sie kaum übersehen. Groß genug ist sie ja.“ „Ach du dickes Ei!“ Eike war so erschüttert, daß er das Fluchen vergaß.
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„Das ist noch nicht alles“, sagte Hesekiel Ramsgate und kratzte sich hinter dem rechten Ohr. „Da verlaufen neben dem Werftsteg Fußspuren zu einem nahen Dünenhang, und zwar zu einer Stelle, wo sie was ausgebuddelt haben müssen.“ „Ausgebuddelt? Was denn?“ „Wenn ich das wüßte! Sieht aus, als hätten dort vier Säcke gestanden –nach den Abdrücken im Sand zu urteilen.“ Sie starrten sich beide an, fragend, ratlos, aber plötzlich sagte Eike ächzend: „Sollten sie – sollten sie aus der Schatzgrotte was geklaut haben?“ „Das wäre ihnen zuzutrauen“, erwiderte Hesekiel Ramsgate grimmig. Jean Ribault sprang auf die Kuhl, dann folgten Siri-Tong und Edmond Bayeux. Kurz darauf war auch der Wikinger an Bord seines Schiffes. Eike erstattete kurz und präzise Bericht. Wenn er gedacht hatte, sein Kapitän würde wie ein Berserker lostoben, dann war das ein Irrtum. Ganz einfach: Thorfin Njal war erschüttert, fassungslos, wie vor den Kopf geschlagen. Diese beiden Kerle hatten ihn getäuscht, wie er noch nie im Leben getäuscht worden war. Er hatte ihnen wieder vertraut und bereits erwogen, das Ausschankverbot zurückzuziehen. Mit einer Durchtriebenheit sondergleichen hatten sie ihm das Fell über die Ohren gezogen, und er stand da wie der letzte Einfaltspinsel. Fast tonlos sagte er jetzt: „Wenn sie mit der ,Little Isabella' geflüchtet sind, wird es verdammt schwierig werden, sie zu erwischen. Wir haben keine gleichwertige Jolle, um sie auf flachem Gewässer zu verfolgen. Unseren Schiffen sind die Grenzen der Wassertiefen gesetzt.“ „Somit erhebt sich die Frage, in welche Richtung sie sich gewandt haben“, sagte Jean Ribault nachdenklich. Er blickte zu Eike und Hesekiel Ramsgate. „Ihr glaubt, sie könnten sich in unserem Schatzversteck bedient haben?“ Beide nickten. „Wenn dem so ist“, fuhr Jean Ribault fort, „dann wollen sie auch von ihrer Beute etwas haben, will sagen, sie werden
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dorthin segeln, wo sie auf die Pauke hauen und ihre Beute verjubeln können. Da bietet sich Diegos ‚Schildkröte' auf Tortuga an. In Betracht käme auch einer der Häfen an der Nordküste Kubas, vielleicht sogar Havanna. Aber erst mal sollte nachgesehen werden, ob die tatsächlich etwas aus dem Schatzversteck gestohlen haben. Ich schlage vor, ich setze über und schaue nach.“ Sie waren einverstanden, und Jean Ribault enterte wieder ab in die Jolle der „Isabella IX.“, die an Steuerbord längsseits lag. * Eine Viertelstunde später standen Jean Ribault, Karl von Hutten und Mel Ferrow, der Haijäger, vor der Steinplatte. Sie hatten im Magazin noch Fackeln geholt und schon zwei entzündet. Auf Anhieb entdeckten sie Fußspuren, zum Teil sehr deutlich, zum Teil nachlässig verwischt. „Verdammt, verdammt“, murmelte Jean Ribault, „die beiden Kerle müssen tatsächlich vom wilden Affen gebissen sein – Desertion und Diebstahl von Schätzen, das ist so gut wie ein Todesurteil.“ „So wir sie noch erwischen“, sagte Karl von Hutten gelassen. „Wir erwischen sie, verlaß dich drauf“, knurrte Jean Ribault. „Und wenn wir sie bis ans Ende der Welt verfolgen müssen. Das geht auf keine Kuhhaut 'mehr. Und wir müssen sie finden, denn jetzt könnte auch noch Verrat ins Spiel kommen – ist dir das klar?“ „Leider ja“, erwiderte Karl von Hutten. „Laßt uns unten nachsehen.“ Sie bückten sich, hoben die Steinplatte zur Seite und stiegen nach unten. Schon im Gang zu den Kavernen traten sie auf weggerollte Perlen. Und dann entdeckten sie die ganze Bescherung – die geöffnete Kiste mit den Golddublonen, das Stemmeisen, herumliegende Münzen, die Schatztruhe mit dem zerborstenen Deckel, eine Axt, auf dem Boden verstreut Perlen und Edelsteine und eine heruntergebrannte kleine Fackel in der schmiedeeisernen Halterung.
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„Sie haben Golddublonen, Perlen und Edelsteine mitgehen lassen“, sagte Karl von Hutten. „Nun wissen wir's.“ „Amen!“ sagte Jean Ribault. „Diese Scheißkerle! Es ist wirklich nicht zu fassen. Sie haben genau geplant und uns alle aufs Kreuz gelegt.“ „Klaren wir noch auf?“ fragte Mel Ferrow sachlich. „Dafür ist später noch Zeit“, entschied Jean Ribault. „Von jetzt ab läuft die Sanduhr, jede Minute zählt. Ihr kehrt gleich auf die ,Isa' zurück und macht sie seeklar. Ich berate mit den anderen, welche Sektoren abgesucht werden sollen. Schätze, um die nördlichen Gebiete brauchen wir uns nicht zu kümmern.“ Die beiden anderen nickten. Sie verließen die Schatzgrotte, stiegen nach oben, legten die Steinplatte wieder über den Zugang und eilten zum Stützpunkt zurück. Die Männer auf den Schiffen rüsteten bereits zum Auslaufen. Jean Ribault setzte Karl von Hutten und Mel Ferrow bei der „Isabella“ ab und pullte hinüber zum Schwarzen Segler. Sie saßen alle in der Kapitänskammer: Siri-Tong, der Wikinger, Edmond Bayeux, Oliver O'Brien, derzeitiger Kapitän der „Pommern“, Jerry Reeves, Kapitän der „Golden Hen“, Gustave Le Testu, Montbars sowie Hesekiel Ramsgate. So war es also der schlanke Franzose mit dem verwegenen Gesicht, der den anderen die zweite Hiobsbotschaft überbrachte. Die Betroffenheit zeichnete alle Gesichter, das des Wikingers versteinerte. Jean Ribault endete: „Jetzt sind wir also etwas klüger, und ich halte meine These aufrecht, daß sie einen Hafen zu erreichen versuchen, um ihren derzeitigen Reichtum in Schnaps und Weiber umzusetzen, insbesondere Mißjöh Buveur, der wird dann von einer Trunkenheit in die andere taumeln. Bei Muddy sehe ich das ähnlich. Sie dürften jetzt einen Vorsprung von etwa sechs Stunden haben. Ich schlage vor, daß ein Schiff auf der Atlantikseite der Inseln bis hinunter nach Tortuga segelt.“ „Das übernehme ich“, sagte der Wikinger.
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„In Ordnung, Thorfin.“ Jean Ribault nickte. „Das zweite Schiff sollte bis zur Crooced Island Passage vorstoßen und das dortige Inselgebiet einschließlich der Acklins-Inseln absuchen. Ich glaube, dafür ist die ‚Isa' geeignet, einverstanden?“ Alle nickten. „Das dritte Schiff“, fuhr Jean Ribault fort, „durchquert den Exuma Sound südwärts und konzentriert seine Aufmerksamkeit auf die Exuma Islands und Long Islands sowie die Jumentos-Inseln. Das wäre etwas für die ,Le Griffon meine ich.“ „Geht klar!“ rief der normannische Riese Edmond Bayeux.“ „In das Gebiet zwischen den Exuma Islands und Andros könnte die ,Golden Hen' segeln, und zwar bis hinunter zur Großen Bahama Bank“, schlug Jean Ribault vor. Jerry Reeves hob die Hand und rief: „Einverstanden!“ „Gut Jerry“, sagte Jean Ribault. „Bleiben noch unsere beiden ,Empress`-Karavellen ...“ „Und die ‚Pommern'!“ dröhnte Oliver O'Brien. „Habe ich nicht vergessen, Oliver“, sagte Jean Ribault, „aber ein Schiff, nämlich eine kampfstarke Galeone, muß hierbleiben, um den Stützpunkt abzusichern. Könntest du das übernehmen?“ „In Ordnung“, sagte Oliver O'Brien sofort. „Kein Einspruch.“ „Danke.“ Jean Ribault wandte sich SiriTong zu. „übernimmst du die ,Empress II.', Madame?“ „Ja, Monsieur.“ Die Rote Korsarin lächelte hintergründig. „Und ich weiß auch schon, daß ich die Berry-Inseln absuchen soll sowie die Westseite von Andros, stimmt's?“ „Stimmt, schöne Korsarin.“ Jean Ribault grinste und schaute dann zu Gustave Le Testu und Montbars. „Bleibt für euch die ,Empress III.', die westwärts bis zu den Bimini-Inseln vorstoßen und sich dann südwärts wenden müßte, etwa bis zu den Orange Cays. Irgendwie habe ich so das
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Gefühl, daß sich die Kerle über die Große Bahama Bank zu mogeln versuchen.“ „Verstehe“, sagte Le Testu energisch. „Wir werden unser Bestes tun.“ „Noch Fragen?“ erkundigte sich Jean Ribault. Der Wikinger hob die Hand und sagte: „Nur eine Bitte oder Empfehlung. Ich möchte, daß die Kerle – wer auch immer sie schnappt – zum Stützpunkt zurückgebracht und vor ein Gericht gestellt werden. Es soll keine Selbstjustiz geübt werden. Das ist mein Wunsch.“ . Jean Ribault nickte und schaute sich in der Runde um. „Gibt es dagegen einen Einspruch?“ Sie schüttelten alle die Köpfe, und Edmond Bayeux sagte: „Das geht völlig in Ordnung, Thorfin.“ „Danke, Freunde.“ Das klang still und verhalten und da war nichts von der sonst so poltrigen Art des Nordmanns. Er litt unter dieser Geschichte, das war deutlich sichtbar. Jean Ribault wollte noch etwas Tröstliches sagen, da polterten Schritte durch den Gang zur Kapitänskammer, die Tür wurde ohne Klopfen aufgerissen, Eike stürzte in die Kammer, hinter ihm tauchte Mary O'Flynn auf. „Eddy ist weg!“ stieß Eike hervor. „Sie sind in die ‚Rutsche' eingebrochen, haben Lebensmittel geplündert, die Kassette mitgenommen, ferner Rumfässer, Flaschen aus dem eisernen Bestand für besondere Zwecke, Marys Muskete und eine doppelläufige Pistole ...“ Der Wikinger stöhnte auf und schlug die Hände vors Gesicht. Zwischen zusammengebissenen Zähnen sagte Mary O'Flynn: „Jetzt haben sie eine Geisel, Donegals und meinen Sohn, einen fünfjährigen, unschuldigen Jungen. Es ist weit gekommen mit dem Bund der Korsaren. Und wenn ihr mir den Jungen nicht zurückholt, dann verlasse ich euch und suche auf eigene Faust weiter ...“ „Du nicht allein, Mary“, unterbrach SiriTong mit metallener Stimme, „ich werde dabei sein, und ich schätze, noch einige
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andere. Und wir werden nicht aufgeben, das verspreche ich dir.“ „Sie – sie müssen ihn verletzt haben“, sagte Mary O'Flynn mit stockender Stimme. „Da war Blut auf den Dielen und draußen auf der Terrasse, verwischtes Blut, als hätten sie ihn nach draußen geschleift, diese Bestien.“ Sie schluchzte auf, diese sonst so tapfere und resolute Frau. „Sie – sie werden ihn umbringen, wenn sie–wenn sie es nicht schon getan haben.“ „Falsch, Mary“, sagte Jean Ribault. „Das macht keinen Sinn. Eine Geisel ist ein Pfand, eine lebende Geisel, wohlgemerkt. Sie garantiert das Leben der beiden Kerle. Ich meine, daß eine gute Hoffnung besteht, diese böse Geschichte zum Besseren zu wenden. Wir haben bereits die Schiffe und die Gebiete eingeteilt, die abgesucht werden sollen. Ich glaube fest daran, daß wir es schaffen und Eddy zurückbringen. Und noch etwas, Mary: Eddy ist unser aller Sohn, damit das klar ist.“ Eine halbe Stunde später setzten die Schiffe die Segel, hievten die Anker und verließen die Cherokee-Bucht. Die dritte Hiobsbotschaft war die schlimmste gewesen, und sie hatte gezeigt, wie ernst die Situation geworden war. Es ging um das Kind, das entführt worden war. 9. Der Junge namens Eddy war wach, aber er verhielt sich mucksmäuschenstill, trotz der Schmerzen im Kopf. Ein Instinkt sagte ihm, daß es richtig sei, sich nicht zu rühren und so zu tun, als schlafe er oder sei noch bewußtlos. Ja, der Schmierlappen hatte ihn niedergeschlagen, das wußte er genau, und es mußte zwischen null und ein Uhr morgens gewesen sein. Jetzt wurde es im Osten an der Kimm hell, und der Sonnenaufgang kündigte sich an. Sie hatten ihm die Fesseln und den Knebel abgenommen, und er lag etwas zusammengekrümmt im Dreieck des Vorschiffs. Es war ihre Jolle, das Boot der Kinder, die „Little Isabella“, und sie war
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etwas Vertrautes, etwas Gutes, das ihm Mut machte. Wohin segelten sie? Jedenfalls südwärts, da die Sonne im Osten aufging. Dann segelten sie also noch an der Ostküste von Great Abaco entlang – auf dem gleichen Kurs, den Dave und er gesteuert hatten, als sie einfach aus der Cherokee-Bucht nachts auf Fahrt gegangen waren. Damals hatten sie auch Nordostwind gehabt und waren nur so abgezischt. Jetzt war die Jolle schwerer. Vier prallgefüllte Segeltuchsäcke befanden sich zwischen der Mittelducht. Und da waren auch vier Rumfässer – geklaut aus der „Rutsche“, klar, von dem Schmierlappen, der ihn niedergeschlagen hatte. Was hatten sie mit ihm vor? Eddy war klar, daß die beiden Kerle desertierten. Und ihn hatten sie als Geisel mitgenommen. Er wußte, was eine Geisel war. Man benutzte sie, um andere zu erpressen – oder um sich die Freiheit zu erkaufen. Mißjöh Buveur und der Kerl namens Muddy waren böse Menschen. Die Kinder des Bundes der Korsaren mochten beide nicht. Der eine war ständig betrunken, und der andere stank vor Schmutz. Eddy erwog, hochzuschnellen, über Bord zu springen und zum Ufer hinüberzuschwimmen. Das Rauschen der Brandungswellen über den flachen Strand war deutlich zu hören. Aber er tat es nicht. Die „Little Isabella“ gehörte den Kindern, man ließ sie nicht im Stich, und er war der „Erste Offizier“ in der Jungmannschaft. Irgendwie mußte es ihm gelingen, die beiden Kerle zu überlisten, vielleicht, wenn sie schliefen, denn sie konnten nicht ständig wach sein. Außerdem soffen sie. „Southwest Point!“ sagte plötzlich Mißjöh Buveur, der an der Pinne saß. Eddy spitzte die Ohren. Southwest Point war die Südspitze von Great Abaco. „Na und?“ fragte der andere Kerl und rülpste. „Dort gehen wir auf Südwestkurs, Mißjöh“, erwiderte der dicke Franzose
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belehrend, „und brausen genau vor dem Wind auf Whale Cay zu, die südlichste Insel der Berry Islands. Dort verstecken wir uns erst mal und nehmen 'ne Mütze voll Schlaf, bevor wir an Nord-Andros vorbei über die Große Bahama Bank nach Havanna geigen.“ Er kicherte. „Und wie lange wollen wir uns noch mit dem O'Flynn-Balg belasten?“ fragte Muddy, und seine Stimme hatte einen häßlichen Klang. „Solange wir damit rechnen müssen, daß wir verfolgt werden, Mißjöh“, entgegnete der Dicke. „Später setzten wir ihn auf der Großen Bahama Bank auf 'ner Insel aus. Da gibt's ja genug, und da kommt nie jemand hin.“ „Aussetzen?“ Muddy lachte gemein. „Wir ersäufen den Burschen wie 'ne Katze. Dann ist er weg.“ „Du bist ja verrückt“, erklärte Mißjöh Buveur. „Das wäre Mord.“ „Was meinst du, was mich das kratzt!“ fauchte Muddy. „Der Bengel und der andere, Dave, haben mich in die Pfanne gehauen, als ich auf Wache pennte.“ „Das ist doch kein Grund, ein Kind umzubringen“, sagte Mißjöh Buveur. „Halt's Maul, das entscheid ich, verstanden?“ „Reg dich ab, Mißjöh“, erwiderte der Franzose. „Und hör auf, zu streiten. Noch brauchen wir den Burschen.“ „Ja, noch“, sagte Muddy zynisch. In diesem Moment rief Mißjöh Buveur: „Rund Southwest Point!“ Er drückte die Pinne nach Backbord, und Muddy fierte hastig die Fock- und die Großschot. Die Jolle schwenkte auf den neuen Kurs ein und lief nunmehr vor dem Wind nach Südwesten. Es war jetzt gegen sechs Uhr morgens. Sie hatten etwa vier Stunden von der Cherokee-Bucht bis zur Südspitze von Great Abaco gebraucht – und Verfolger von Norden her waren noch nicht aufgetaucht Mißjöh Buveur hatte den Bootskompaß vor sich und steuerte genau den neuen Kurs ein.
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„Ein feines Schiffchen!“ lobte er die „Little Isabella“. „Läuft wie ein Rennpferdchen.“ „Darum wollte ich ja auch mit ihr türmen“, brüstete sich Muddy. „Die holen uns nicht mehr ein, die nicht, diese Scheißer! Wer weiß, wann die überhaupt begriffen haben, daß wir auf und davon sind! Und das unter Mitnahme von vier Säcken voller Klunker und Goldmünzen! Das macht uns keiner nach, eh?“ „Keiner!“ bekräftigte Mißjöh Buveur. Sie waren wieder die Größten, schwafelten herum und tranken zwischendurch aus einer Flasche. Als sie leer war, warf Muddy sie über Bord und verkündete: „Ich hau mich jetzt hin, hab' ja die meiste Arbeit gehabt heute nacht.“ „Schon gut“, murmelte Mißjöh Buveur und peilte zu dem Korb vor der Mittelducht. Aber vor die legte sich Muddy genau quer, schob sich eine zusammengeknüllte Jacke unter den Kopf und war binnen Minuten eingeschlafen. Mißjöh Buveur fluchte leise und brummelte irgendwas vor sich hin. Als Muddy zu schnarchen begann, band Mißjöh Buveur die Pinne fest, stand vorsichtig auf, bewegte sich etwas vor, beugte sich über Muddy und langte in den Korb. Was er herauszog, war wieder eine Flasche. Er grinste lüstern und schob sich zurück auf die Achterducht. Den Korken stocherte er mit dem Messer heraus, und schon wanderte wieder ein Teil des Inhalts durch Mißjöh Buveurs Kehle hinunter in den Magen. Es war Rum. Eddy blinzelte immer mal wieder durch die Wimpern und registrierte alles. Und er hatte auch genau zugehört, über was von den Kerlen gesprochen worden war. Der Schiffsbaumeister Hesekiel Ramsgate hatte den Kindern des Bundes der Korsaren im Februar beim Bau der „Little Isabella“ sehr viel beigebracht. Unter anderem hatte er ihnen auch eine große Seekarte gezeigt – das ganze Gebiet der Bahama-Inseln. Und er hatte ihnen genau erklärt, was diese Karte darstellte, wie sie ausgerichtet war und was man aus ihr herauslesen konnte.
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Wo die Berry Islands lagen, wußte Eddy von dieser Karte her, und in Gedanken zählte er die größten Inseln dieser Gruppe auf: Great Harbour Cay, Holmes Cay, Bonds Cay, Chub Cay und schließlich Whale Cay. Whale Cay wollte der dicke Säufer – so hatte er gesagt - ansteuern, und dort wollten sie „'ne Mütze voll Schlaf“ nehmen. Wenn sie fest schliefen, würde das die Gelegenheit bieten, zu fliehen, natürlich unter Mitnahme der „Little Isabella“. Dann saßen die Kerle auf Whale Cay fest. Eddy grinste in sich hinein, als er sich vorstellte, wie die Kerle glotzen würden, wenn Boot und Geisel verschwunden waren. Ja, er mußte fliehen, sonst brachten sie ihm um – der Dicke vielleicht nicht, aber der Schmierlappen, der hatte das klär und deutlich gesagt. Wie eine Katze sollte er ersäuft werden. Wie das vor sich ging, wußte Eddy nicht. Es gab auch keine Katzen auf Great Abaco und ihm war schleierhaft, warum Katzen überhaupt ersäuft werden sollten. Aber was Schlimmes war es bestimmt. Die Natur hatte diesen Jungen mit Intelligenz und einem Sinn für das Praktische ausgestattet. Er hatte die Zähigkeit seines Vaters und die Energie seiner Mutter. Auch Tapferkeit gehörte zu seinen Tugenden – Tapferkeit in dem Sinne, sich Anforderungen zu stellen und nicht einfach zu kneifen. Alle Eigenschaften zusammen ließen ihn in dieser Situation nicht verzweifeln, sondern weckten seinen Trotz und den Willen, es den Kerlen zu zeigen. Er fühlte sich herausgefordert. Und am meisten wurmte ihn, daß sich der Säufer und der Schmierlappen die „Little Isabella“ angeeignet hatten. Außerdem hatten sie Schätze aus dem Versteck gestohlen. In den vier Säcken befanden sich Goldmünzen und Klunker, wie der Schmierlappen verkündet hatte. Eddy wußte, daß er auf sich allein gestellt war, niemand konnte ihm jetzt helfen. Er mußte selbst zusehen, wie er die Kerle
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überlistete. Die Männer des Bundes der Korsaren würden nach ihm suchen, und bestimmt waren ihre Schiffe schon unterwegs. Aber niemandem war bekannt, in welche Richtung die Kerle gesegelt waren. Also muß ich es selbst anpacken, sagte sich Eddy. * Am Mittag dieses 22. April setzte eine Flaute ein. Die Segel flappten und beide Kerle fluchten, als die Jolle dümpelnd im Wasser lag. „Wir müssen pullen“, entschied Mißjöh Buveur. „Whale Cay kann nicht mehr weit sein.“ „Sagtest du wir?“ zischte Muddy. Er hatte drei Stunden geschlafen und war gereizt. „Wir haben doch einen Ruderknecht!“ Und schon sprang er auf, stieg über die Duchten und stieß Eddy roh mit dem Fuß an. „Komm hoch, du Kröte! Hast lange genug gefaulenzt! Jetzt wird gepullt, verstanden?“ Eddy hatte tatsächlich geschlafen, wußte jedoch von einem Augenblick zum anderen, wo er sich befand — und in welcher Situation. Trotzdem spielte er den Unwissenden. Er fuhr auf, blickte dumm um sich und murmelte scheinbar schlaftrunken: „Wie — was? Wo bin ich ...“ „Halt's Maul, du Lümmel!“ keifte ihn Muddy an. „Nimm die Riemen, und dann pullst du! Hast es ja gelernt. Und hier werden keine dummen Fragen gestellt, sondern hier wird gehorcht, sonst kriegst du was an die Löffel, klar?“ „Jawohl, Sir“, sagte Eddy artig, tastete über seinen Kopf und zuckte zusammen, als er die Beule spürte. Muddy lachte häßlich. „Stell dich bloß nicht an, du Wanze. Du hast 'ne kleine Schramme an deiner Rübe, mehr nicht. Und jetzt vorwärts!“ „Jawohl, Sir“, wiederholte Eddy brav. „Pullen hab' ich gelernt. Soll ich mich auf die Mittelducht setzen?“ „Wohin denn sonst?“
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„Da sind aber die Säcke im Weg —und der Korb, Sir.“ „Nimm sie weg, verdammt noch mal!“ „Jawohl, Sir. „ Eddy rappelte sich auf, stieg zur Mittelducht und wuchtete die Säcke einen nach dem anderen nach vorn. Ebenso den Korb. „Kann ich 'n Stück Brot essen, Sir?“ fragte Eddy. „Erst wird gearbeitet, ohne Arbeit kein Brot“, erklärte Muddy. „Jawohl, Sir, ohne Arbeit kein Brot“, sagte Eddy, seufzte, setzte sich auf die Mittelducht, legte die beiden Riemen in die Rundseln und pullte los. Die beiden Kerle saßen auf der Achterducht, sahen ihm zu, grinsten und drehten Däumchen. „So läßt sich's leben“, äußerte Muddy selbstzufrieden. „Man braucht nur andere für sich arbeiten zu lassen, das ist die ganze Weisheit, Mißjöh.“ Der Mißjöh nickte und sagte: „Insofern ist der Bursche äußerst nützlich für uns – und das gilt auch für spätere Flauten, wenn du weißt, was ich damit meine, Mißjöh.“ „Ach so“, murmelte Muddy. „Mal sehen. Könntest direkt recht haben. Du meinst, wegen der Katze, eh?“ „Genau.“ Der Dicke rekelte sich auf der Achterducht. „Was hältst du jetzt von einem kleinen Schluck, Mißjöh?“ Die Flasche, die er dem Korb entnommen hatte, während Muddy schlief, hatte er allein ausgelenzt und über Bord geworfen. „Gute Idee“, sagte Muddy träge. „Lang uns mal 'ne Flasche aus dem Korb, Ruderknecht!“ „Jawohl, Sir.“ Eddy zog die Riemen ein, schob sie schräg hinter sich, so daß die Blätter in die Luft standen, drehte sich um und angelte eine Flasche aus dem Korb. Drei waren jetzt noch drin. „Hier, Sir“, sagte er und reichte Muddy die Flasche. „Weiterpullen“, sagte Muddy. Und die beiden Kerle soffen – diese Flasche, die zweite, die dritte und schließlich die vierte. Eddy pullte unentwegt und im Gleichmaß. Ihr kriegt mich nicht klein, dachte er, ihr
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nicht! Und er sah, wie die beiden Kerle sich sozusagen um ihren Verstand soffen. Es ging allmählich auf den Nachmittag zu. Die Sonne brannte, Eddy hatte einen trockenen Mund, aber er biß die Zähne zusammen. Irgendwann drehte er sich einmal um und sah voraus den Landstreifen mit den Palmen. „Land voraus, Sir!“ meldete er. Beide Kerle hatten gedöst und schrecken jetzt hoch. Sie stierten an Eddy vorbei voraus, und der Junge sah, daß Mißjöh Buveur heftig schielte. Aber Muddy bestätigte, was Eddy entdeckt hatte, sprang von der Ducht auf, warf die Arme hoch und grölte: „Land! Land! Pull schneller, Ruderknecht! Hier wird nicht gefaulenzt!“ Eddy legte etwas zu, nicht viel. Und es dauerte noch eine ganze Stunde, bis Mißjöh Buveur die „Little Isabella“ in eine Lagune auf der Südseite von Whale Cay steuerte. Kokospalmen umstanden sie, ein paar Seevögel flogen auf und strichen davon. In dem klaren Wasser der Lagune tummelten sich Schwärme bunter, kleiner Fische und stoben auseinander, wenn der Schatten des Jollenrumpfes über sie weg glitt. Es war ein Paradies, das zwei Lumpenkerle, betrunken ohnehin, jetzt betraten. Der Sandstrand war unberührt, es gab keine Trittspuren. In der Lagune war eine winzige, von Strandgebüsch versteckte Nebenbucht. Dort wurde die Jolle an Land gezogen. Die Kerle schlugen sich gegenseitig auf die Schultern und tanzten torkelnd herum. Sie neigten zu der Ansicht, es bereits geschafft zu haben. Und zur Feier des Tages, wieder mal, wurde ein Rumfaß angezapft.
Zwei Lumpenkerle
„Darf ich mir eine Kokosnuß holen, Sir?“ fragte Eddy artig. Mister Robinson zeigte Großmut. „Hol dir eine, von mir aus auch zwei“, sagte er gnädig. „Aber nur hier, verstanden?“ „Jawohl, Sir.“ „Jawohl, Sir – jawohl, Sir!“ äffte ihn Muddy nach und meckerte wie ein Ziegenbock. „Bist 'n bißchen blöd, wie?“ „Glaube nicht, Sir“, sagte Eddy und grinste dümmlich. Es gelang ihm recht gut. „Aber ich glaub's!“ tönte Muddy. „Dein Alter ist ja auch so 'n Blödmann. Und deine Alte ist 'ne rothaarige Hexe, so was, das man auf'm Scheiterhaufen verbrennt, klar?“ „Jawohl, Sir, völlig klar“, sagte Eddy und würgte die Wut herunter, die in ihm hochkochte. Er suchte sich ein paar Kokosnüsse zusammen, die im Sand lagen, und stieß dabei gegen etwas Hartes, Scharfes – eine längliche Muschel. Sie verschwand einen Lidschlag später in seiner rechten Hosentasche. Mißjöh Buveur war so freundlich, ihm mit einem Marlspieker die Augen von drei Kokosnüssen aufzustechen. Eddy trank alle drei Nüsse leer, schlug dann die Nüsse mit einem Stein auf und futterte das Fleisch. Die Kerle hielten sich an das Rumfäßchen. Doch bevor sie in Volltrunkenheit verfielen, fesselten sie den Jungen wieder. Sie laberten herum, grölten unfeine Lieder und sanken schließlich auf eine Persenning, die sie in einer Mulde unter Buschwerk ausgebreitet hatten. Kurz darauf schnarchten sie. Da wußte Eddy, daß er eine gute Chance hatte...
ENDE